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]]> elbstverständlich kommen Sie doch zum Festessen? hieß es am
Tage vorher, und: Selbstverständlich gehen Sie doch zum Kommers
des Kriegcrvercins? am Tage selbst. — Warum denn selbstver¬
ständlich? antwortete ich. Nun, alle wohlgesinnten Bürger werden
doch aufgefordert, ihren Patriotismus an diesem Tage freudig zu
„mcinifestiren," wie es in der Einladung des Bürgermeisters heißt. — Die
Herren gingen kopfschüttelnd weiter. — Man möchte ihn für einen Sozial¬
demokraten halten, meinte der Assessor, wenn er nicht früher einmal schlechte
Verse ans Seine Majestät veröffentlicht hätte. — An seinem Patriotismus möchte
ich nicht gerade zweifeln, antwortete der Oberlehrer, anf dessen urdeutschen Durst
seine sekundärer in der „Tentvnia" und „Cheruskia" immer wieder als ans
ein leuchtendes Vorbild hinweisen, aber ein unbrauchbarer Duckmäuser und
Mäßigkcitsvercinler ist er, und wenn unsereins daran denkt, wo man „einen
Guten schenkt," reitet er auf irgendeinem Prinzip herum, wie weiland
Heinrich I.XXII. von Neuß-Lobenstein. — Und sie schüttelten noch einmal die
Häupter, als sie im Mehl as ?rü8so oder im Vak6 national — diese Kneipen
liegen nicht etwa in Frankreich, sondern in einer Kleinstadt im Herzen Deutsch¬
lands — beim Frühschoppen saßen. Und so wackelten wohl auch in, manchen
andern Städten wohlgesinnte Bürgerköpfe über einen, der sich ausschloß.' Denn
„Herrnhuter und Separatisten" giebt es ja überall, und Bierphilister erst recht,
so weit die deutsche Zunge klingt.
Ich setzte meinen Weg in ebenso vergnügter Stimmung fort wie der Herr
Oberlehrer und der Herr Assessor, und zog ein Schreiben ans der Tasche von
dem Schatzmeister einer wohlthätigen Stiftung in Leipzig; der letzte Satz gefiel
mir am besten. „Mit Überreichung des Betrages mittels Postanweisung von
heute freuen wir uns, Ihrem begabten, fleißigen und strebsamen Schüler gerade
am Geburtstage unsers erhabnen Kaisers den Ausdruck der Menschenfreundlichkeit
zu bieten." Ein Satz zum nachdenke»! Zwar Hütte ich mit dem Betrage der
Postanweisung nicht unternehmen können, für ein Dutzend begeisterter „Hono¬
ratioren" das Festessen zu bezahlen, aber der arme Teufel, der dies Geschenk von
wildfremden Menschen erhält, wird zweihundert Mittagessen damit bezahlen!
Wie viel Gutes hätte sich thun lassen mit dem Gelde, das die deutschen
Patrioten am 22. März auf ihren Magen und ihre Kehle gewandt haben, zur
Feier und Ehre, wie sie es nennen, ihres greisen Heldenkaisers. Unsre Stati¬
stiker berechnen ja alles; weiß denn keiner zu sagen, wie viele Tausende es sich
bei einem teuern Fest-„Diner" wohl sein ließen, wie viele Tausende am Abend
beträchtlich über den Durst getrunken haben, wie viele Tausende am andern
Morgen körperlich und moralisch gelitten haben? Wie sagt der lustige Hans
Breitmann-Leland?
t?or (Ismdrlnns isli <1s Emxoror
05 ello vvtiolo ok Ldsi'lui.n/!
Ja, wenn Gambrinus Kaiser von Deutschland wäre, könnten wir seinen Ge¬
burtstag anders feiern? Thun nicht die Leute, als wenn eine kaiserliche Bot¬
schaft ausgegangen wäre, die Wirte seien dem Hungertode nahe und ihr Unter¬
gang bedeute den Zusammenbruch des deutschen Reiches?
Die Botschaft, die wir als die letzte große That unsers einzigen Kaisers
verehren, klingt anders. Wer hat in ihrem Geiste den Geburtstag ihres Ur¬
hebers gefeiert? Wer wirklich den Kaiser meint bei der Feier und nicht sich
selber, sollte versuchen, in seinem kleinen Kreise so zu handeln, wie es der ehr¬
würdige Fürst gern sehen würde; er sollte in aller Heimlichkeit dem Kaiser einen
Wunsch erfüllen, sollte, soweit er vermag, einmal selber den rastlosen, leutseligen,
mitleidigen Kaiser im Kleinen spielen!
Die Nachrichten aus England, Frankreich und Belgien hätten manchem die
Feststimmung verdorben, wenn er ähnliches aus nächster Nähe erwarten müßte.
Der Kaiser und seine berufensten Diener sind rastlos bemüht, solche Versuche,
solche Verzweiflung, solches Elend von uns abzuwenden, die berechtigten Wünsche
der Schwachen und Bedrückten zu erfüllen. Wer von uns ist so klein, daß er
bei diesem Werke nicht helfen könnte? Kaisers Geburtstag soll ein Tag des
Jubels seil?, aber vor allem für die, die felten genug dazu kommen, das ein-
geborne Bedürfnis nach Vergnügen befriedigen zu können.
Es giebt kein Nest in Deutschland, wo man nicht ein paarmal im Jahre
eine „würdige" patriotische Feier vorbereitete. „Würdig" ist ja jetzt das
stehende Beiwort unsrer Tageblattsberichterstatter für Feierlichkeiten aller Art,
als ob es eigentlich selbstverständlich wäre, daß sie unwürdig verlaufen müßten.
Was für ein herrlicher, wahrhaft würdiger Tag würde der sein, wo die Großen,
die Reichen, die Gewordenen einmal nicht für das eigne Vergnügen sorgten,
sondern für das der Kleinen, Armen und Werdenden! Wo die Kommerzien-
rcite zu Hause blieben und die Fabrikarbeiter zum Festessen gingen! wo die
Konzerte und dramatischen Aufführungen von den Reichen bezahlt und von den
Armen besucht würden! wo jeder, der eine Batterie Champngnerflascheu auf¬
fahren lassen kann, den Champagner seinen Beruf verfehlen ließe und sich über¬
legte, ob er nicht einen strebsamen, armen Jungen kennt, den er zu seinem
wahren Berufe verhelfen könnte!
us Ausland wird in vielen Beziehungen über die verwickelten
Verhältnisse Österreichs entweder unrichtig, ungenügend oder gar¬
nicht belehrt. Selbst in Deutschland, mit dem Österreich auch
in geistiger Hinsicht den regsten Verkehr unterhält, wird die Be¬
völkerung nicht immer gehörig unterrichtet. Der Hauptgrund
dieses Übclstaudes liegt darin, daß in Österreich die einflußreichsten Zeitungen
nur einer einzigen, nämlich der sogenannten liberalen Partei, dienen, und im
Interesse dieser Partei die Thatsachen färben oder auch totschweigen. Da nun
hauptsächlich, wem, nicht ausschließlich, eben diese liberale Presse auch in Deutsch¬
land Zutritt erhält und Verbreitung findet oder doch dafür sorgt, daß in
den Blättern Deutschlands Berichte und Erörterungen nur ihrer Färbung auf¬
genommen werden, so erscheint es begreiflich, daß das deutsche Publikum vor
falschen Vorstellungen über die österreichische» Zustünde nicht bewahrt wird.
Ja in Österreich selbst werden die von den Mittelpunkten abseits liegenden Be¬
völkerungen nicht selten durch Thatsachen überrascht, von deren Vorbereitung
sie keine Ahnung hatten. Die Ursache liegt wieder in der Einseitigkeit und in
der Mangelhaftigkeit der Berichte, die von der erwähnten Presse ausgehen.
Das charakteristischste Beispiel einer solchen Überraschung bot der Ausfall der
vorjährigen Reichsratswahlen für die Residenzstadt Wie» selbst. Die liberale
Partei verlor scheinbar über Nacht vier Sitze, und die liberale Presse geriet
in die größte Verlegenheit, wie sie dem In- und Auslande diese Überraschung
erklären sollte, von deren Vorboten sie bis dahin nicht die geringste Erwähnung
gethan hatte. Ju Wahrheit lag in dieser Niederlage der liberalen Partei gar
nichts unerwartetes; denn es war Thatsache, daß totgeschwiegene Vereine und
Versaunnluugen längere Zeit ihre Thätigkeit in der Richtung entfaltet hatten,
in welcher sie für die Fernerstehenden zu so unverhofften Ergebnissen gelangten.
Nach dieser allgemeinen Bemerkung wird man es erklärlich finden, daß in
Österreich auch neue Parteien entstehen können, ohne das; über die Ursachen
solcher Bildungen genügende oder richtige Aufschlüsse gegeben werden. So wurde
denn anch über den neugeschaffnem „Deutschen Klub" im Abgeordnetenhause des
österreichischen Neichsrates von den liberalen Zeitungen ein falsches Licht ver¬
breitet, und selbst gegenwärtig wird das Publikum über die Ziele jenes Klubs
im Irrtume gelassen und auch absichtlich zu irrigen Vorstellungen geführt. Um
wie viel größern Entstellungen und Verdrehungen find erst jene Parteigruppen
in Österreich ausgesetzt, welche andern Nationalitäten angehören! Wenn schon
die Deutschen, welche der liberalen Partei nicht durchgehends zu Diensten stehen
könne», vor den Werkzeugen dieser Partei nicht geschützt sind, so erscheinen die
Slawen in dieser Hinsicht in buchstäblichem Sinne ausgeliefert. Gerade die sla¬
wischen Volksstämme Österreichs haben keine gemeinsame Zeitung, obgleich die
Prager „Politik" fälschlich dafür ausgegeben wird. Dieses Blatt vertritt gegen¬
wärtig nichts mehr und nichts weniger als die Politik des böhmischen Klubs
und allenfalls die Richtung jener slawischen Abgeordneten, welche mit diesem
Klub einigermaßen gleiche Wege gehen. Das Prager Blatt hat aber, ganz ab¬
gesehen von andern Slawen, nicht einmal das böhmische Volk für sich; denn
das letztere stimmt zum großen Teile mit ihm durchaus nicht überein. Die
übrigen Slawen Österreichs sind durch gar kein großes Blatt weder im Jn-
noch im Auslande vertreten, sie bleiben dem Belieben der herrschenden liberalen
Presse überlassen. Man hat daher volles Recht zu der Annahme, daß ins¬
besondre über die Bewegungen und Absichten der Slawen Österreichs im Aus¬
lande und besonders auch in Deutschland die unrichtigsten Vorstellungen ver¬
breitet werden.
Soweit sich die Slawen in den parlamentarischen Vertretungen äußern
können, kann allerdings auch das Ausland davon Kenntnis erhalten. Man
muß jedoch bedenken, daß z. B. im Budapester Reichstage die Slawen nur
zum geringsten Teile vertreten sind, und daß selbst im Reichsrate in Wien die
slawischen Vertreter nur den Willen von Bruchteilen der von ihnen vertretenen
Volksstämme zum Ausdruck bringen; dann wird man sich nicht darüber wundern,
daß Über- und Unterströmungen auch gewichtiger Art dem allgemeinen Publikum
des In-, noch mehr aber des Auslandes vollständig unbekannt bleiben.
Thatsächlich bestehen in Österreich neue Strömungen und Richtungen nnter
den verschiednen Volksstämmen. Will man aber diese neuen Bewegungen und
Ansätze zu »eilen Parteigebilden richtig erfasse», so muß man die Beschaffenheit
der bisherigen Parteien im Auge behalten. Die sogenannte liberale Partei,
welche sich längere Zeit hindurch den Namen Verfassungspartei beilegte und
zuletzt als Reichsratslinke xu.r kxvvil«zu<AZ die verschiednen Schattirnngen der
deutschen Volksvertreter aufs innigste vereinigt zu haben glnnbte, war stets
eins mit denjenigen Interesse», welche dem Kapital dienen, Sie wurde von
ihren Gegnern nicht blos; die kapitalistische oder manchesterliche Partei genannt,
sondern sie vertrat mich wirklich die österreichischen Bourgeois im Gegensatze
zu allem übrigen. Deshalb kümmerte sie sich auch nicht darum, die Nationalitätcn-
frage zu lösen, am allerwenigsten aber darum, die bis dahin in ihrer nationalen
Entwicklung zurückgebliebenen kleineren Vvlksstcimme zu befriedigen. Was sie
in dieser Hinsicht that, ließ sie sich durch Förderung ihrer spezifisch materiellen
Bestrebungen reichlich vergüte». Wie sie auch die deutsche Nationalität aus
diesem Grunde nicht schützte, beweist ihr Verhalten den Italienern Süd¬
tirols und auch andrer Länder gegenüber, die sich auch auf Kosten der Deutschem
verbreite» durften, wenn sie der Partei nur sonst im kapitalistischen Sinne zum
Vorteile gereichten. Aus denselben Beweggründen lieferte die Partei auch die
Deutschen Ungarns aus, indem sie nicht nur in den Dualismus einwilligte,
sondern auch gegenwärtig kein Wort des Bedauerns angesichts der Thatsache
hat, daß die Deutschen neben andern Völkern von den Magyaren mit allen
Mitteln unterdrückt und entnatioualisirt werden. Aus einem solchen Verfahren
und Verhalten einer Partei, welche jahrelang auch formell das Staatsruder
lenkte, läßt sich leicht erklären, daß die allgemeinen staatswirtschaftlichen Inter¬
esse» vernachlässigt, sowie die Bestrebungen der einzelnen Volksstämme zurück¬
gedrängt wurden.
Nach der Herrschaft der Bourgeois mußte» notwendigerweise entgegen¬
gesetzte Strömungen an die Oberfläche gelangen. Die Feudalen waren für
sich nicht mächtig genug, fanden jedoch eine willkommene Stütze an den Vertretern
der bis dahin vernachlässigten Nationalitäten. Die kapitalistische Partei blieb
auf diese Weise in der Minderheit, aber in ihrer Presse noch immer stark genug,
die Mehrheit der Deutschen an ihre Seite heranzuziehen. Auf der linken Seite
des Neichsrates blieben also die Bourgeois, auf der andern Seite vereinigten
sich die Fendalkonservativen mit den Volksvertretern der nichtdeutschen Natio¬
nalitäten. Somit ersclfienen zwar auf der linken Seite fast alle Deutschen,
die mithin einen nationalen Gegensatz zu den übrigen Volksstämmen ans der
Rechten bildeten; allein dieser Gegensatz trug auch noch einen andern, nämlich
den der Bourgeois gegen den Grundadel und Großgrundbesitz auf der Rechten,
in sich. Diejenigen Deutschen, welche aus rein deutscheu Länder» mese»det
wurden und konservative Interessen zu verfechten hatten, sahen ein, daß die
nationale Frage für sie ohne Belang sei, und schlossen sich demnach, nicht im Gegen¬
satz zum Deutschtum, sondern im Gegensatz zu deu Bourgeois, der Rechten an.
Die nichtdeutschen Vertreter hatten in erster Reihe nationale Interessen
zu verfolgen; sie vereinigten sich also zunächst unter einander und dann eben¬
falls mit den Konservativen. Das konnten sie umso leichter thun, als unter
ihnen die Großindustriellen und Großhändler, also die Bourgeois, überhaupt
nicht zu suchen sind. Dies ist in dem Grade wahr, daß noch unlängst ein
ernstes, hochpolitisch angelegtes Blatt es bedauerte, daß auf der Rechten kein
Sachverständiger zu finden sei, der die Steuerfrage für die Börse gründlich
behandeln könnte.
Nach alledem konnte auch das Programm der nun folgenden Taaffcschcn
Regierung kein andres sein, als die von der kapitalistischen Linken im Argen
gelassene volkswirtschaftliche Seite zu heben und für die nichtdeutschen Na¬
tionalitäten eine Verständigung zu erzielen. Was die Staatswirtschaft betrifft,
so wurden unter Taaffe mitunter sehr wichtige Fragen in Angriff genommen
und auch mit Hilfe der Rechten mehr oder weniger glücklich gelöst. Diese Art
der Hebung rein nationalökonomischen, insbesondre auch staatsfinanziellen
Charakters brachte die Negierung, sowie die Rechte in einen noch stärkern
Gegensatz zu der manchesterlich-liberalen Linken, als er ohnehin schon von An¬
fang an vorhanden war. Es gab Regierungsvorlagen, die in dem Grade den
allgemeinen Wohlstand ins Auge faßten, daß ihnen keine Partei grundsätzlich
hätte gegenübertreten dürfen; die Linke that es dennoch und erntete dafür die
Bezeichnung der „faktiösen Opposition" ein.
Eine solche, man könnte sagen blinde Opposition konnte nicht verfehlen,
diejenigen deutscheu Mitglieder der Linken, die sich aus wirklichem Liberalismus
oder aus dem Bestreben nach einer ungeschmälerten Herrschaft der »5«/'?^
deutschen Partei an die Kapitalisten angeschlossen hatten, unzufrieden zu machen.
Sie fingen nach und nach an, bedenklich zu werden, und entpuppten sich zuletzt
als Männer, die die verderblichen Seiten der Kapitalistenpartei bloßzulegen
und zu bekämpfen suchten. Anfangs fanden nur wenige den Mut, hervorzutreten;
aber diese wenigen hatten das Bewußtsein, stille Anhänger zu besitzen, und sie
waren es, welche den Keim zu jenem Klub legten, welcher bei Eröffnung der eben
begonnenen Legislaturperiode schou verhältnismäßig kräftig hervorgetreten ist.
Dieser Klub mußte sich von der bisherigen vereinigten Linken als ein selb¬
ständiges Gebilde abtrennen, wenn er nicht in volkswirtschaftlicher Beziehung
unrichtige Wege wandeln wollte. Der zurückgebliebene ^größere Nest der Linken
nahm nunmehr den Namen eines „Deutsch-österreichischen Klubs" an und ver¬
folgt in nationaler Richtung wesentlich dieselben Ziele, wie der deutsche Kind
selbst, im übrigen aber gehen beide Abteilungen selbständig ihre eignen Wege.
Der deutsche Klub muß grundsätzlich seine Selbständigkeit wahren, denn sonst
müßte er in volkswirtschaftlichen Fragen, die in der Interessensphäre der kapita¬
listischen Partei liegen, unter der Stimmenmehrheit des jene Partei vertretenden
deutsch-österreichischen Klubs regelmäßig unterliegen.
So sehen wir denn und werden es noch weiterhin öfters erleben, daß der
deutsche und der deutsch-österreichische Klub bald zusammen, bald auseinander
gehen. Das ist nach den teils verschiednen, teils wiederum gleichen Zwecken
ihrer Zusammensetzung ganz natürlich, und das Wiener Hauptorgan der
Bourgeois sollte sich daher garnicht verwundert stellen, wenn beispielsweise der
deutsche Klub das Branntweinmonopol auch für Österreich beantragt und hierfür
die Zustimmung der Rechten, sowie der Regierung aller Wahrscheinlichkeit
nach erlangen wird.
Wenn die Parteien konsequent bleiben, so wird der deutsche Kind, mit
oder ohne Absicht der Regierung, in vielen von der Einseitigkeit freien volks¬
wirtschaftlichen Fragen gemeinsam mit der Rechten vorgehen, und es ist eine
solche Übereinstimmung bei sonstigen nationalen Gegensätzen schon in der nächsten
Zeit zu gewärtigen.
Man sieht auch, daß der deutsche Klub weiß, was er will, und wenn die
Organe der deutsch-österreichischen Partei die Abtrennung des deutschen Klubs
als eine Überflüssigkeit hinstellen oder letzteren gar die „schärfere Tonart" vor¬
werfen, so vermengen sie hierbei das rein Nationale mit dem Volkswirtschaft¬
lichen oder suchen vielmehr eine der wichtigsten mitbestimmenden Ursachen zur
Bildung einer eignen Partei auf der Linken gänzlich zu verwischen. Gerade
in der Bekämpfung der Manchesterpartei und der in ihrem Gefolge großgezognen
Verderbnis in materieller, geistiger und insbesondre in der allgemeinen Kultnr-
richtung hat der deutsche Klub eine der Hauptirrsachen für seine Zukunft zu
suchen, da ihm von allen Nation alitüten schon allein aus diesem Grnnde An¬
hänger erwachsen werden. Der Vorwurf aber, mit welchem man die „schärfere
Tonart" des deutschen Klubs treffen will, fällt zum großen Teile auf die Partei
des deutsch-österreichischen Klubs selbst zurück, dessen Zeitungen nicht müde werden,
die nationalen Gegensätze zu nähren und zu steigern. Die Deutschen im all¬
gemeinen und uoch mehr der deutsche Klub müssen selbst zu der Meinung ge¬
langen, es sei notwendig, die bisherige „Tonart" zu erhöhen. Und da der
deutsche Klub, wie er es selbst betont, nicht zu heucheln versteht, so tritt er so
auf, wie es seinen frischen Kräften entspricht. Doch haben wir uns vorläufig
mit der Erklärung der volkswirtschaftlichen Bestrebungen des deutschen Klubs
zu begnügen; seine stärkere Anspannung in nationaler Hinsicht bedarf noch einer
besondern Auseinandersetzung, die uns zu den Zuständen und Verlegenheiten im
Hinblicke auf die nationale Gleichberechtigung, sowie zu deu Durchführungs¬
versuchen der letztern in Österreich überhaupt führen soll.
Wie schon erwähnt, besteht der eigentliche Gegensatz im österreichischen Ab¬
geordnetenhaus nur zwischen den Bourgeois ans der Linken und den Feudal-
konservntivcn auf der Rechten. Die erster» können die verlorene Herrschaft im
Parlamente aber nur dnrch die Besiegung nicht der Konservativen, sondern der
Gesamtheit der nichtdeutschen erringen. Im Gründe genommen stehen nämlich
der Hauptpartei der Opposition nicht solche Gruppen als Hindernis im Wege, deren
materielle Interessen den ihrigen entgegengesetzt sind, sondern nationale Gruppen der
nichtdeutschen Völker. Daher verlegt sich die Partei des modernen Kapitals nicht so
sehr auf die Bekämpfung der Feudalen oder überhaupt Konservativen, fondern der
nichtdeutschen Volksstümme. Dieser Partei liegt es also vor allem daran, die Deut¬
schen und die übrigen Nationalitäten in möglich großen Gegensatz zu bringen, und
da sie die Presse des In- und Auslandes für ihre Zwecke beherrscht, so hat
sie ihre Hauptabsichten unter dem Vorwande des Kampfes für die deutschen
Interessen mich wirklich in hohem Grade gefördert, obgleich sie gegenwärtig
über den Verlust ihrer parlamentarischen Herrschaft trauern muß. Würde es
hingegen dem deutschen Klub gelingen, mit der Rechten irgend eine Ver¬
ständigung zu erzielen und die Führung zu erringen, so würde dieselbe man¬
chesterliche' Partei sogleich nicht mehr den Vorwnnd des Kampfes für das
Deutschtum bei der Verfechtung ihrer Sonderintercsscn benutzen können, sondern
sie würde dann ihr altes Schlagwort des Liberalismus im Gegensatze zur Re¬
aktion wieder hervorsuchen.
Daraus ersieht man, daß die Nationalitäten in Osterreich von einer mächtigen
Partei je nach deren jeweiligem Bedürfnisse, das sich nach verschiednen Konjunk¬
turen ändert, bald so, bald anders ausgespielt werden, und es ist ebenso be¬
greiflich, daß diese verschiednen Nationalitäten in ihrem reinen Interesse ohne
Einmischung dieser in ihrem Wesen national farblosen Partei viel schneller zu
einer Verständigung gelangen könnten, als es thatsächlich der Fall ist. So aber
wissen weder die Deutschen noch die andern Volksstämme, daß sie eigentlich als
Werkzeuge einer für ihre nationalen Bestrebungen im Grunde gleich giltigen
Partei ausgenutzt werden. Die letztere sucht bei den jetzt für sie unangenehmer
gestalteten politischen Verhältnissen wenigstens im Trüben zu fischen, und weiß
daher nur Feuer zu schüren, um die Nationalparteien zu blenden und sie zu
ihrem Schaden auseinander zu bringen. Die Nationalparteien beladen einander
infolge dessen mit einem Haß, der sonst nie einen solchen Grad erreicht hätte.
Eine derartige Verhetzung wird gegenwärtig in Österreich thatsächlich geübt,
und die Erbitterung ist wirklich eingetreten. Die Verwirrung der Gemüter
wird noch dadurch vergrößert, daß die österreichische Verfassung in ihren be¬
sondern Formen keineswegs geeignet ist, die Lösung der Natioualitätenfrage zu
fördern. Die im österreichischen Neichsrate vertretenen Völkerschaften besitzen
zwar eine besondre Länderautonomie, welche ihnen, als sie ins Leben trat, ohne Be¬
denken als ein Fortschritt in der Völkerbefreiung zu einer selbständiger!! Entwicklung
erschien. Diese Entwicklung kann auch in Österreich im Nahmen der Selbstverwal¬
tung der Lüuder überall dort ungehemmt von statten gehen, wo in den einzelnen
Ländern die Bevölkerung einer einzigen Nationalität ausschließlich vorherrscht. Auch
könnte eine derartige Autonomie selbst in sprachlich gemischten Ländern in einer
andern Zeit noch als leidlich befunden werden, in der Ära jedoch, in welcher
das NationälitätsprinziP die Wandlungen und Gestaltuugeu beherrscht, erweist
sich die Autonomie ohne Berücksichtigung dieses Prinzips sofort als ungenügend.
Im Hinblicke darauf wurden die Länder in Österreich wirklich ungünstig ge¬
staltet, indem die meisten von ihnen Bestandteile von verschiednen Nationalitäten
umfassen. Abhilfe dagegen ist nicht leicht zu schaffen. Denn jene Nationalitäten,
welche in den einzelnen Ländern die Majorität bilden, behalten gewöhnlich die
Herrschaft auch in den Landtagen, wenn anch die Verkünstelungen der Wahl¬
ordnungen hin und wieder zu andern Ergebnissen führen mögen und thatsächlich
geführt habe». Die Mehrheiten sündigen in der Regel gegen Minderheiten/
mögen erstere in welchem Lager immer anzutreffen sein. Solche Mehrheiten
fühlen sich nicht veranlaßt, gegen eine für sie günstige Länderverfassung oder
Lünderarrondirung Klage zu führen; desto mehr fühlen die Minderheiten den
Druck der Mehrheiten in der Zeit der Nationalitätenverhetzungen, wie sie gegen¬
wärtig in Osterreich aus den oben angeführten Gründen in verschärften Maße
betrieben werden. Gesündigt wird int-rg. rnnrvs «t extra; keine Partei und
keine Nation ist frei von Schuld dort, wo sie der Zahl nach überwiegt. Die
Verblendung der Majoritäten hier und dort bildet ein Hemmnis für eine er¬
trägliche Veränderung der Sachlage. Die Reformversuche, die natürlicherweise
von den Minderheiten ausgehen, werden einfach zurückgewiesen. Oft sind solche
Entwürfe zur Umgestaltung aber auch darnach, daß sie entweder nicht ver¬
handlungsfähig sind, oder daß sie schon in ihrer Alllage durch demütigende Zu<
mutuugen den Gegner gleichsam herausfordern.
Wenn die Deutschen in Böhmen den Vorschlag auf Zweiteilung des König¬
reiches eingebracht haben, so haben sie hierbei die Zustände andrer Länder nicht
berücksichtigt und z. V. die Stammgenossen Steiermarks nicht aufgemuntert,
der Forderung der Sloweuen dieses Landes auf Abtrennung des von ihnen be¬
wohnten Landgebietes gerecht zu werden. Die Zerstückelung einzelner Länder
bei Belastung andrer in ihrer bisherigen Form sührt jedoch nicht zum natio¬
nalen Frieden in Österreich.
Verfehlt erscheint darnach auch jeder Antrag oder Entwurf bezüglich des
Deutschen als Staatssprache, solange man mit einigen Ländern, wie in Ga-
lizien, Tirol, Küstenland?c., in dieser Hinsicht zu Gunsten gewisser Nationalitäten
Ausnahmen machen zu müssen meint. Solche Anträge, zu denen auch der kürz¬
lich im Abgeordnetenhause des österreichischen Neichsrates von Schcirschmid ein¬
gebrachte und nunmehr einem Ausschuße zur Beratung zugewiesene gehört,
sind ganz geeignet, die Verdachtsgründe zu vermehren und neue Herausforde¬
rungen zu erzeugen.
Man würde fehlgehen, wenn man annähme, es sei nicht aufrichtiger Wille
vorhanden, sich gegenseitig zu verständigen; nur müssen auch die Grundlagen
darnach sein, daß eine Verständigung möglich ist.
Es giebt nun in Österreich schon seit einiger Zeit eine Partei, die eine
Grundlage zur Einigung der Deutschen und der übrige» Volksstämme in
nationaler Hinsicht gefunden zu haben glaubt. Diese Partei wird jedoch bisher
totgeschwiegen, und zwar umso leichter, als sie noch keine offnen Gesinnungs¬
genossen im Reichsrate hat. Das Totschweigen geht von jener Partei aus,
in deren Interesse es liegt, die Nativnalitätenhetze fortzuschüren und da¬
gegen gerichtete Strömungen möglichst hintanzuhalten. Es liegt hierin el»
wichtiges Anzeichen dafür, daß in dem Programme der totgeschwiegenen Partei
doch etwas liegen muß, was Beachtung aller echt nationalen Parteien
verdient.
Die fragliche Partei nun geht von der Überzeugung ans, daß die gegenwärtige
Autonomie der beliebig, vielfach sehr unnatürlich abgegrenzten Länder grundsätzlich
zu verwerfen sei. Die Gruppirungen sollen nicht nach Ländern, sondern nach
Nationalitäten nen hergestellt werden. Die Nationen, wie sie sind, nicht aber
ihre geschichtlich berechtigten oder nicht berechtigten Ansprüche, sollen hierbei
allein entscheiden.
Um bei den im Neichsrate vertretenen Nationen zu bleiben, sollen nach
diesem Grundsatze die Deutschen aller Länder Cisleithaniens durch eine ein¬
zige autonome Körperschaft vertreten werden. Ebenso sollen die Tschechen Böh¬
mens, Mährens, Schlesiens gleichfalls eine einzige Gesamtgruppe bilden n. s. w.
Diese Körperschaften, welche rein nach dem Nationalitätsprinzip zu stände kämen,
hätten die Aufgabe, jeden Volksstamm in seinen besondern nationalen Interessen
zu vertreten, also eine Autonomie für sich zu beanspruchen, wie sie vergleichungs-
weise den gegenwärtigen Landtagen zukommt. Dort, wo innerhalb ein und
derselben Nationalität verschiedne auseinandergehende Interessen, z. B. in kirch¬
lichen Angelegenheiten vorhanden sind, ferner dort, wo die Volksstümme auch
geographisch eine große Ausdehnung haben oder weit auseinander liegen, können
für dieselbe nationale Gruppe Kreistage und neben ihnen Kreisregiernngen ge¬
schaffen werden.
Auf diese Weise bekäme mau sozusagen Nativnallandtage mit einer echt
nationalen Autonomie, und das Zentralparlament, welches anch nach diesem
Programme notwendig erscheint, hätte hiernach nur die wirklich gemeinschaftlichen
Reichsangelegenheiten zu verhandeln.
Dieselbe Partei, die man mit Fug und Recht als diejenige der National-
autouvmisten bezeichnen könnte, ist dadurch, daß sie die wichtigsten Staatsinter¬
essen dem Zentralparlamcnte zur Verhandlung überläßt, prinzipiell gegen jede
Schwächung des Staates dnrch autonome Gewalten nach Art der Bestrebungen
der bisherigen Länderantonomisten; die Partei ist zentralistisch gesinnt und
perhorreszirt jedwede Art des Föderalismus.
Nach diesem Programme würden sich die einzelnen Nationalitäten frei ent¬
wickeln können, ohne durch Mehrheiten andrer Stämme vergewaltigt zu werden,
und die Völker würden sich, da ihre nationale Existenz nicht gefährdet erschiene,
kräftig entfalten und das Reich selbst dnrch sie erstarken können.
Die Partei, die sich zu einem solchen Programme bekennt, läßt auch das
Deutsche als Staatssprache gelten, wo immer die Rcichsinteressen es er¬
fordern.
Damit würde den nationalen Kämpfen auf einmal ein Ende gemacht sein,
und die Deutschen hätten doch vor den übrigen Nationen den Vorrang. Einen
Schaden hätte keine Partei, mit Ausnahme derjenigen, der der Nationalitäten¬
kampf nur als Mittel für abseits gelegne Zwecke so treffliche Dienste leistet.
Die Polen und die Magycireu würden die bisherige Rolle, die sie unverdienter-
wcise in die Hand bekamen, freilich anch mit einer bescheidneren neben den andern
Nationalitäten vertauschen müssen; umsomehr würden alle Völkerstämme und
das Gesnmtreich gewinnen. Deshalb werden neben den Magyaren anch die
Polen von den Nationalautonvmisten gleichmäßig bekämpft.
Das Programm der Nationalantvnvmisten findet seine nähere Begründung
und Durchführung in einer Broschüre, welche dieser Tage in Wien erschienen
ist und sich als Programm zur Durchführung der nationalen Auto¬
nomie in Österreich betitelt.*) Der Partei dient bisher nur eine einzige
Zeitung, der „Parlamentär" in Wien; dennoch zählt sie schon zahlreiche An¬
hänger in verschiednen Ländern Österreichs, namentlich anch in Ungarn, obgleich
dem genannten Blatte der Vertrieb dorthin durch die Post entzogen ist.
Da das Programm nach einem natürlichen, gegenwärtig ausschlaggebenden
Grundsatze durchgeführt ist, so ist man zu der Annahme berechtigt, daß sofort
bei seinem Bekanntwerden in weitern Kreisen die Gesinnungsgenossen zahlreich
und mächtig anwachsen werden.
Wenn man die Parteien der verschiedensten Richtung in Österreich über¬
blickt, so stellt es sich heraus, daß keine derselben dem Reich sinteresse und den
Bedürfnissen der Völker Österreichs in dem Grade zu entsprechen vermag, als
die Partei mit dem Programme der nationalen Autonomie. Diese einzige hat
auch in der Konsequenz mit sich selbst die Bildung des deutschen Klubs sym¬
pathisch begrüßt, während ihm andre teils absichtlich, teils aus Mißverständnis
feindlich begegnet sind. Einzelnen Mitgliedern des deutschen Klubs werden
jetzt allerdings mit Recht mancherlei Ausschreitungen zur Last gelegt; allein es
ist dieser Vorwurf derjenigen Partei mit zu übertrage», in deren Schule einzelne
Mitglieder des deutscheu Klubs Jahre hindurch gegangen sein mögen. Auch
ist zu bedenken, daß der Klub bisher noch keine Zeit gewinnen konnte, um in
Ruhe seine Aufgaben vorzunehmen. Deshalb ist zu hoffen, daß er als Ganzes
nach und nach eine Stellung einnehmen werde, die seiner und des deutschen
Volkes würdig erscheint, und von der aus es ihm möglich wird, die Vor¬
würfe, mit denen er gegenwärtig überschüttet wird, durch Thatsachen zu wider¬
legen.
Jedenfalls kann dieser Klub alsdann vor allem auf die moralische Unter¬
stützung der Nationalautonvmisten rechnen; die letztern gehen nämlich von der
Ansicht aus, daß ein Klub, welcher gegen die „Korruption" offen vorzugehen
gewillt ist. auch am geeignetsten erscheint, mit andern Parteien zur Verständigung
in Verhandlungen zu treten. Die Partei der Nationalautonomisten kommt
ihm mit ihrem fertigen Programme wie gelegen, um ihm Gelegenheit zur Be¬
thätigung zu geben. Denn er selbst hatte bisher keine Muße zu selbständigen
Entwürfen und versuchte zunächst zu dem Stellung zu nehmen, was ihm in
politischer Hinsicht von der Manchesterpartei geboten wurde.
Nach aller Berechnung haben nunmehr der deutsche Klub und die National¬
autonomisten, die im Ncichsrate, noch durch keine Mitglieder vertreten er¬
scheinen, die größte und beste Aussicht, sich nicht nur als lebensfähig, sondern
als mächtig genug zu erweisen, um schließlich den nationalen Frieden in Öster¬
reich herzustellen, und die nächste gründliche Umgestaltung der Verfassung und
der Neichsform vorzunehmen. Die bisherigen Länderautonomisten sind ohnehin,
mit Ausnahme etwa der Polen, in ihrem Wesen eigentlich Nationalautonomisten;
nur wußten sie nicht, wie sie sich aus der .Klemme der Länderautonomie, in
die sie ohne ihre Absicht gerieten, heraushelfen sollten.
So bleibt nur die Partei der Bourgeois übrig, die mit dem deutscheu
Klub auf die Länge umsoweniger in Freundschaft einhergehen kann, als dieser
Klub den ernsten Willen zeigt, die Hebel für die Wirtschaft der österreichischen
Völker dort anzusetzen, wo Schätze für das Reich und die Nationen zu heben
sind. Zwischen ihm und den Bourgeois im deutsch-österreichischen Klub muß
sich schließlich die Kluft umsomehr erweitern, je wahrscheinlicher es wird, daß
sich die Nationalautonomisten (zu deuen sich ohne Zweifel die gegenwärtige
Rechte bekehren wird) und der deutsche Klub einander nähern werden, so¬
bald die Spannung abnimmt oder sobald auch nur allgemeiner begriffen wird,
daß dieselbe bloß künstlich genährt wird.
Es könnte sich wirklich ereignen, daß sich die echten Volksvertreter und
wahren Patrioten in Österreich über die liberale Partei hinweg einigen. Als¬
dann trifft die Bourgeois dasselbe verdiente Loos, welches ihnen im deutschen
Reichstage schon reichlich zuteil geworden ist. Auf jeden Fall ist ersichtlich,
wie sich in Österreich neue Parteien und Parteigruppirungen bilden mußten,
und wie gerade die Macht der neuen Parteien wächst, trotz des Totschweigens,
des Verdrehens und der Verdächtigungen, welche gegenwärtig in Österreich
mehr denn je an der Tagesordnung sind.
!^
cum in meinem letzten Aufsatze über die Wildenbruchschcn Dramen
trotz mancher Ausstellungen der Vorzug dein Stücke „Väter und
Söhne" gegeben wurde, so soll es nun im folgenden meine Auf¬
gabe sein, nachzuweisen, daß vou allen.bisher besprochnen Stücke»
die Palme dem „Menoniten" gehöre. Dieser Beweis wird nach
allen den Richtungen, welche in den frühern Besprechungen in Frage gekommen
sind, leicht zu erbringen sein.
Was zunächst die Erfindung anbetrifft, so hat damit Wildenbruch ohne
allen Zweifel einen glücklichen Griff gethan. Den Titel hat er von dein
Glaubensbekenntnis feines Helden hergenommen, dem dieser während seines
kurzen Lebens zugethan war, das er aber mit den zu seinem Tode führenden
Handlungen von sich abstreift. Das ist alles — dem Anschein nach freilich
wenig, aber, wie man sehen wird, doch ausreichend.
Man wird zwar sagen: Was ist uns Heknba? was sind und bedeuten in
der Gegenwart uoch die Menoniten? Kaum hat jemand Kenntnis von ihnen,
und wen» es solche giebt, wie viele von diesen wissen die Unterschiede, welche
die Sekte von Andersgläubigen trennen? In der That, die wenigen Menoniten.
die heutzutage noch in Deutschland leben, sind stille, ruhige Menschen, in deren
Glaubenssätzen, wie sie sich von denen andrer Leute unterscheiden, kaum noch
die Möglichkeit eines Konflikts mit der außer ihrem Kreise liegenden Welt ent¬
halten ist. Nicht als ob dies zu der Zeit, in der das Drama spielt, im
wesentlichen anders gewesen wäre. Schon seit Jahrhunderten haben sie die
Wildheit und Gefährlichkeit der Grundsätze abgelegt, welche einst die Wieder¬
täufer in Münster zur Herrschaft bringen wollten. Aber sie hielten im Anfange
dieses Jahrhunderts und auch später noch mit starrer Unbeweglichkeit an einigen
Sätzen fest, die sie in merklichen Gegensatz zu andern Unterthanen desselben
Staates wie zu diesem selbst setzten. So war ihre Deutung des göttlichen
Gebotes „Du sollst nicht töten" eine so buchstäbliche, daß sie auch die Tötung
eines Menschen in rechtmäßigem Kriege für eine große Sünde hielten. Waren
sie nun auch im übrigen gehorsame und höchst achtbare Unterthanen des Staates,
in dem sie lebten, und zeigte sich besonders darin ihre tiefe Religiosität, in allem,
was ihr Gewissen nicht berührte, dem Staatsoberhaupte zu geben, was ihm
gebührte, so war doch ihre Renitenz, dem Landesfürsten Kriegsdienste zu leisten,
allerorten dieselbe. Ans Gründen, die auf der Hand liegen, konnten sie dies
ihr Privilegium überall durchsetzen, und selbst im Staate Friedrichs des Großen,
kriegerisch vom Wirbel bis zur Zehe, dachte niemand daran, die ruhigen Leute,
die ihre Steuern bezahlten und durch einträglichen Handel, Landwirtschaft und
Gewerbe oft viel Geld in Umlauf setzten, in ihrem gottergebenem Stillleben
zu stören. Aber die Ausnahme vom Gesetze war auch hier ein Unrecht, und
die Menoniteu konnten nur so lange daran denken, einen Staat im Staate zu
bilden, als dieser sich nicht gezwungen sah, die einschlagenden Fragen einer
ernstlichen prinzipiellen Erörterung zu unterziehen. Denn dem Gemeinwesen,
dessen Wohlthaten und vor allem dessen Sicherheit man genießt, bloß die er¬
forderlichen Abgaben zu zahlen und ihm auch sonst nicht hinderlich zu sein,
damit ist Gottes Gebot vom Gehorsam gegen die Obrigkeit nicht erschöpft.
Ausreichenden Dank kann man ihm nur in etwas andern: abstatten, in dem
Vinke, das mai? entströmen zu lassen bereit ist, nicht den Adern andrer, sondern
dem eignen Herzen. Der Satz: Ich will die Waffen nicht tragen, damit ich
nicht in die Lage komme, einen Mitmenschen zu töten, kann auch als Deckmantel
einer allzugroßen Vorsicht für die eigne Person gedeutet werden. Dagegen
gehört zu dem Köstlichsten auf dieser Welt der Mann, der, ohne Streit an
einem andern zu suchen, die Wehr in die Hand nimmt, um das Vaterland und
damit das Beste zu verteidigen, was er auf der Erde sein nennt.
Hierin liegt, was soeben nach dem Vorgange der Alten, die „Erfindung"
des Wildenbruchschen Stückes genannt worden ist. Man wird zugestehen, daß,
wenn ein junger Memorie mitten in der ihn umgebenden Regungslosigkeit über¬
lieferter Glaubenssätze durch Vorgänge von ergreifender Art zu andern Über¬
zeugungen gelangt und dadurch nicht bloß mit den eignen Glaubensgenossen,
sondern auch mit den Feinden seines ihm eben zum Bewußtsein gekommenen
Vaterlandes in Konflikt gerät, darin ein so tragisches Moment enthalten ist,
als man sich es nur wünschen mag.
Ist aber dies die allgemeinste Grundlage, aus der sich die Handlung ent¬
wickelt, so ist spezieller das Jahr 1809 und die Schilderhebung des Majors
von Schill der historische Hintergrund, aus welchem die Personen heraustreten
und von welchem sie eine jede die ihr zukommende Beleuchtung und Färbung
erhalten. Vor allem übrigen sei dies bemerkt, daß durch einen Erlaß des
Kommandanten von Danzig in eine nahewohnende menonitische Gemeinde eben
die Kunde vom Schillschen Aufstande gedrungen ist. Zu derselben Zeit kehrt
nach einjähriger Abwesenheit Reinhold, der Pflegesohn Waldemars, des Ältesten
dieser Gemeinde, ins Vaterhaus zurück, aber nicht, wie er gehofft hat, zu seinen.
Glücke. Der Freund, dem er vor seiner Abreise sein teuerstes Geheimnis an¬
vertraute, hat ihn schmählich hintergnngen, und Maria, die Tochter Waldemars,
die er liebt, ist die Braut des verräterischen Mathias. Damit ist der erste
Anstoß zu einem tiefen Zwiespalt zwischen denen gegeben, welche bis dahin durch
Religion und Freundschaft verknüpft waren, wenn er auch an und für sich noch
nicht genügt, der Handlung den schicksalsvollen Gang einer Tragödie zu geben.
Da kommt Reinhold in die Lage, die Geliebte vor der frechen Zudringlichkeit
eines französischen Offiziers schützen zu müssen. Dieses Ereignis findet statt in
Gegenwart des Mathias, der dem Angriffe auf seine Braut mit mehr als
gleichgiltiger Teilnahmlosigkeit zuschaut, und hat für Reinhold die Folge, daß
er sich in eiuen lebensgefährlichen Ehrenhandel mit dem Franzosen verwickelt
sieht. Wenn derselbe ausgefochten wird und zur Kenntnis der menouitischen
Gemeinde gelaugt, so kommt er mit dieser in einen Gegensatz, der in reichem
Maße alle die 7r«F^ in sich birgt, welche das Wesen der Tragödie bilden. So
die Schürzung des Problems im ersten Akte.
Will man streng sein, so kann man an diesem Pnnkte zu tadeln finden.
Reinhold will uns vom ersten Augenblicke an, man verzeihe den Ausdruck, nicht
als besonders satisfaktionsfähig vorkommen. Es ist nicht leicht zu sagen, woran
das liegt: mag es die einfache ländliche Umgebung sein, in der er lebt, oder
ist es der Widerspruch, in welchem von vornherein die Begriffe Meuouit und
Zweikampf miteinander stehen, jedenfalls erscheint diese Austragung des Ehren¬
handels befremdlich und will uns nicht recht in den Sinn. Auch daß der
Franzose nach der derben Zurechtweisung, die ihm zu teil geworden ist, sich mit
dieser Schlichtung des Streites zufrieden giebt, ist wenig verständlich. Eigentlich
erwartet man, wenn er sich im Ul'ermüde des Siegers an dein Mädchen ver¬
griffen hat, er werde auch nicht viele Umstände mit ihrem Verteidiger machen,
von dem er doch schwer beleidigt worden ist. Indes, alles in allem gerechnet,
darf man sich mit der vom Dichter beliebten Verwicklung zufrieden geben; ver¬
mag es der Held, in edler Aufwallung seines Blutes und von einem lebhaften
Gefühle seiner Mannesehre gehoben, sich über die enge Auffassung seiner nächsten
Umgebung hinwegzusetzen, so mag er vor dem starren Kanon einer strengen
Moralität nicht bestehen, aber menschlich kann er in unsern Augen nur gewinnen,
nud was den Franzosen betrifft, so kommt mau über eine Inkonsequenz, wenn
sie überhaupt eine solche ist, deshalb leichter hinweg, weil sie bei einer sonst
nicht wieder auftretenden Nebenperson stattfindet. Hat man aber diesen Anstoß
erst überwunden, so ist nicht mir die angemessene Grundlage für die Weiter¬
entwicklung der tragischen Handlung gefunden, sondern man muß auch gestehe»,
daß diese mehr als in irgendeinem andern Wildeubruchscheu Stücke der Forderung
der Einheit entspricht. Folgendes ist in Kürze der Gang derselben.
Reinholds Absicht, dem französischen Offizier im Duell zu begegnen, wird
von Mathias an die Gemeinde verraten. Da ersterer nun, zwar nicht durch
deren Gebot, aber durch die Vorstellungen Waldcinars bewogen, in der Hoffnung,
Maria für sich zu gewinnen, auf sein Vorhaben verzichtet, so bleibt allerdings
sein Zusammenhang mit den Glaubensgenossen erhalten, aber jene Hoffnung
erfüllt sich nicht, da Maria dem Mathias zugesprochen wird. Darüber und
weil er von den Franzosen für ehrlos erklärt wird, ist er der Verzweiflung
ucche. In dieser Stimmung trifft ihn der Abgeordnete Schills, und von diesem
über die Lage des Vaterlandes in Kenntnis gesetzt, ist er alsbald entschlossen,
am Kampfe für die Befreiung desselben teilzunehmen; mit ihm ist auch Maria,
der ini Drange der Dinge der eigentliche Zug des Herzens zum Bewußtsein
gekommen ist, zu entfliehen bereit. Aber die von den dreien gefaßten Beschlüsse
werden von Mathias erlauscht. Nachdem er der Gemeinde Mitteilung gemacht
hat, wird zuerst Reinhold in Gewahrsam gebracht und dann der Plnu gefaßt,
Heunekcr — so heißt der Agent Schills — zu der mit seinem Freunde verab¬
redeten Zeit festzunehmen. Indes weiß Reinhold, der sich mit Hilfe Marias
befreit hat, dies zu vereiteln. In einer nächtlichen Szene, in dem Augenblicke,
wo Henneker von den versammelten Meuoniteu gefaßt werden soll, fällt Mathias
von der Hand Reinholds. Während der gewärmte Parteigänger in der Ver¬
wirrung flieht, wird der letztere von den herbeigerufenen Franzosen verhaftet,
und Maria stirbt in den Armen ihres unglücklichen Vaters.
Daß in dieser Aufeinanderfolge von Vorgängen das Prinzip der Einheit
durchaus aufrecht erhalten wird, bedarf Wohl keines Beweises. Zuvörderst ist
hier eine Persönlichkeit, die ebenso hervorragend durch große Leidenschaften wie
durch starken Willen in allen Stadien der Handlung die Richtung derselben an¬
giebt, und dann sind auch die Beweggründe seines Thuns überall dieselben.
Reinhold handelt im ersten und untersten Grunde aus Liebe zu Maria, und
wenn sich im Fortschreiten des Dramas zu dem Aufangsmotive uoch andre ge¬
selle», im ersten Akte das erwachende Bewußtsein seiner Mannesehre, im dritten
die heißauflodernde Liebe zum Vaterlande, so ist es klar, daß diese Flammen
sich an der Glut der ersten entzünden. Auch kann mau nicht sagen, daß der
eine Antrieb durch den andern gehindert oder gar aus der Richtung gedrängt
werde. Im Gegenteil, die Leidenschaft der Liebe, die anfangs eine rein selbst¬
süchtige war, findet Veredlung und Läuterung in dem aufsteigenden Prozesse
des seelischen Erwachens des Helden. Die Flamme brennt später nicht minder
stark als zuvor, und wenn ein Unterschied da ist, so ist es der, daß sie unter
der Nahrung einer höhern Erkenntnis nur Heller und reiner leuchtet. So findet
sich hier das Umgekehrte von dem, was im „Harold" zu tadeln war. Wurde
dort das Strebe» für das Vaterland durch die Liebe zu einem Weibe aus seinem
geraden Gange geworfen und dadurch Verbreiterung und Verflachung des dra¬
matischen Gegenstandes herbeigeführt, so ist hier diese Leidenschaft die Anfangs¬
bewegung und erhält durch neu hinzutretende Kräfte Steigerung sowohl als
Vertiefung. In demselben Maße mithin, wie jenes Stück verliert, gewinnt der
Wert des vorliegenden.
Auf eines könnte man tadelnd hinweisen wollen. Reinhold hält sein dem
Franzosen gegebnes Wort nicht, und hierin liegt eine Inkonsequenz. Aber es
ist da zu bedeuten, daß es gewichtige Dinge sind, die auf das Herz und den
Entschluß des jungen Mannes eindringen, außer dein einstimmig verdammenden
Urteile der Gemeinde die liebevollen, von einem höhern Gesichtspunkte als dem
der engherzigen Glaubensbrttder gemachten Vorstellungen des Pflegevaters und
vor allem die Hoffnung auf den Besitz der Maria. Also auch hier giebt die
Liebe die Entscheidung, und wenn ein Mangel an Folgerichtigkeit vorhanden
ist, so bezieht er sich auf ein Moment, das an und für sich betrachtet das
wichtigere sein mag, aber in diesem bestimmten Falle als das später hinzu¬
tretende die geringere Bedeutung hat. Auch darauf muß hingewiesen werden,
daß in diesem Zurückweichen seines Helden der Dichter das Mittel gewinnt, um
das beklagenswerte Geschick desselben zu begründe». Hat man eine tragische
Schuld nötig — und ich glaube nicht, daß der wahrhaft dramatische Dichter
ohne eine solche fertig werden kann —, so liegt sie im gegebnen Falle darin,
daß Reinhold im Konflikt seiner Liebe mit der Mannesehre der letztern un¬
treu wird.
Fast in demselben Maße aber wie in der Handlung wird auch in den
beiden andern Beziehungen die Einheitlichkeit des Stückes gewahrt. Daß hier
die Herrschaft des Unbewußten sich geltend mache, wird man von einem Dichter
wie Wildenbruch nicht annehmen wollen. Haben demnach Plan und weise
Absicht gewaltet, so ist es umsomehr anzuerkennen, daß er den Regeln der Alten
so weitgehende Zugeständnisse gemacht hat. Nicht zwar, als ob er auch nur
die Lessingsche Einfachheit erreicht hätte, aber das darf doch nicht übersehen
werden, daß, was den Ort anlangt, kaum ein Szenenwechsel stattfindet. Die
ganze Folgenreihe der Auftritte spielt sich entweder i» dem am Hanse Wcildcmars
gelegnen Garten oder in einem Betsaale dieses Hauses ab. Es kommt hinzu,
daß das Ganze in weniger als achtundvierzig Stunden vom ersten Momente
der Verwicklung an gethan ist. Das ist wenig Zeit, wenn der Dichter den Zu¬
schauer aus dem Lichte glücklicher Hoffnung durch die Wirren des Lebens in
die Schatten des Todes hinüberführen soll. Freilich werden wir später noch
zu rügen haben, daß es dabei ohne Sprünge und Willkürlichkeiten nicht abgeht,
aber dieser Maugel liegt mehr an etwas anderen, als daran, daß die Ereignisse
ihrer Natur nach nicht in den Rahmen dieser Zeit hineinpaßten. Da ist ein
rasches und überaus belebtes Aufeinander der Auftritte; doch wenn es an
logischem Aufbau derselben selbst an wichtigen Stellen fehlt, so hätte dem der
Dichter mit verhältnismäßig geringer Mühe abhelfen können.
Ist dies schon viel des Lobes, so haben wir demselben doch noch ein weiteres
hinzuzufügen. Mit welchem der besprochnen Schauspiele mau auch den „Menoniten"
zusammenhalten mag, in keinem findet sich eine striktere Durchführung der
Charaktere. Von dem des Helden ist schon die Rede gewesen; nächst ihm nimmt
das meiste Interesse Mathias in Anspruch- In diesem hat der Dichter einen
Bösewicht geschaffen, von dem man im Gegensatze zur Gestalt des Bernhard in
den „Karolingern" sagen kann, daß er in Wirklichkeit Fleisch und Vink habe.
Ich möchte die banale Phrase vermeiden, er sei eine aus dem Leben
gegriffene Figur, besonders aus dem Grunde, weil man mit der Versicherung,
irgendeine Erscheinung des Lebens aus diesem einfach in die Dichtung übertragen
zu haben, einem Dichter nichts weniger als ein Kompliment macht. Wäre das
Gegenteil der Fall, so müßte auch Julius Stinte mit den Plattheiten seiner
Madame Buchholz ein Dichter sein. Wildenbruch hat den Charakter des
Mathias aus der frei schaffenden Phantasie heraus gestaltet und ihn dann
nach Maßgabe der ersten Antriebe seines Handelns weitergebildet. Aber deshalb
ist er nicht etwa eine bloße Jdealgestalt, welche den Fuß nicht auf die Erde
zu stellen vermag, wie jener Markgraf von Barcelona, sondern er steckt voll
gesunder Realität, die darin ihren Grund hat, daß neben der bloß formenden
Phantasie im Dichter auch die freie Beobachtung der Menschennatur thätig
gewesen ist. Genau nach der alten Wahrheit von der fortzengenden Kraft des
Bösen, wächst es anch hier unaufhaltsam aus sich heraus und schwillt an bis
zur Vernichtung, nicht bloß andrer, sondern auch seiner selbst. Man kann nicht
sagen, daß man der Person des Mathias in der Wirklichkeit schon begegnet sei,
aber man muß zugestehen, daß man ihr genau so, wie sie ist, begegnen könnte.
Es ist also die innere Wahrheit, welche aus den Zügen des Böscwichtes hervor¬
tretend die Gemüter ergreift, die Wahrheit, mit welcher der Dichter ans eigenster
Beobachtung und freiester Gestaltung der Menschenart nach ihrer schlimmen
Seite hin den Spiegel vorhält. Dabei muß anerkannt werden, daß Wildenbruch
in der Ausmalung dieses Charakters sich weise Beschränkung auferlegt hat. Es
ist das sonst seine Tugend uicht, und hier war die Versuchung groß genug, sich
gehen zu lassen. Aber wenn man auch stellenweise ein Wort weniger heftig,
eine Geberde maßvoller wünschte, so bleibt er doch im ganzen von dem Vorwurfe
frei, der ihm sonst mit Recht gemacht wird, daß die Leidenschaften seiner
Menschen sich überschlagen.
Von den übrigen Personen des Stückes ist nur noch Maria es wert,
genannt zu werden, und zwar nicht sowohl deshalb, weil sie im Drama selber
hervorragt, als weil sie überhaupt von allen Wildenbruchschen Frauengestalten
die anziehendste ist. Ist es an dieser Stelle gestattet, einen Rückblick zu thun,
so kann man weder die Adele im „Harold," noch die Adelheid in den „Vätern
und Söhnen" als eigentliche Charaktere bezeichnen, weil sie, wenn man den
Ausdruck gelten lassen will, nur unterschiedslose Flächen der Beobachtung dar¬
bieten. Sie sind sanfte, liebende Weiber, und so bleiben sie auch. In der
Judith der „Karolinger" ist neben großem Ehrgeiz nichts andres bemerkbar,
als die unmotivirte Hingebung an einen Mann, den sie nicht kennt. Das ist
bei Maria nicht so. Da ist ein sichtbares, fesselndes Anderswerden, ein reiz¬
voller Wechsel der Farbengebung, der von der sanftesten und ruhigsten Abtönung
aufsteigt zu flammender Glut. Wie es in einer mcuonitischen Gemeinde nicht
anders sein kann, noch mehr als die männlichen Mitglieder derselben ohne den
Mut der Selbstbestimmung, erzogen in gottergebnem Gehorsam gegen den
liebevollen Willen des Vaters, folgt sie den sanften Vorstellungen desselben
und willigt in die Verlobung mit Mathias, Zwar ist sie von ihrer ersten
Jugend durch eine zarte Neigung mit Reinhold verbunden, aber sie hat doch
von der eigentlichen Kraft desselben keine Ahnung, und erst die Ereignisse,
welche stürmischen Ganges den Inhalt des Dramas bilden, geben ihr Aufschluß,
wohin die Richtung ihrer Gedanken und ihres Herzens geht. So ist hier eine
psychologisch durchaus richtige und daher umso fesseludere Steigerung des
Seelenlebens eines Menschen von seinem ersten unschlüssiger Erwachen bis zu
kraftvollster Selbstbestimmung, In demselben Maße wie bei Reinhold, wächst
auch in ihr die Erkenntnis nicht allein des Rechtes ihrer Freiheit, sondern anch
das ihrer Pflichten, welche eine weitere und höhere Gemeinschaft als die der
Glaubensbrüder ihr auferlegen. Es ist in Wahrheit in hohem Grade rührend
und ergreifend, wie das kaum den Kinderjahren entwachsene Mädchen in steter
Folgerichtigkeit, zuerst im Widerspruch mit sich selbst, dann in milden Aus¬
einandersetzungen mit dem Vater und endlich in spannenden und doch nicht
überspannten Szenen mit dem Geliebten, sich zu seiner höhern Wahrheit durch¬
kämpft.
Nach dem, was bisher über den Inhalt des Dramas gesagt worden, ist
es nur selbstverständlich, daß dem auch die Form entsprechend sein muß. In
der That hat die dichterische Sprache Wildenbruchs nirgends den gleichen Höhe¬
punkt erreicht. Mau hat wohl darauf hingewiesen, daß dieselbe nicht in Über¬
einstimmung sei mit der einfachen bürgerlichen Stellung, welche die Maroniten
einnehmen, und das würde dann ungefähr dasselbe sein, was oben von Rein¬
hold gesagt wurde, daß er dem Leser oder Hörer zur Austragung eines Ehren¬
handels mit der Waffe wenig geeignet erscheine. Indes kann der Fehler
hier anch an unsrer Vorstellung liegen, WÄche unbewußt diese Leute tiefer stellt,
als es in der Absicht des Dichters liegt. Jedenfalls ist die vorgestellte Ein¬
fachheit doch mir eine äußerliche, und da man von den Menoniten weiß, daß
sie durch fortgesetztes Forschen in der heiligen Schrift an scharfes Denken ge¬
wöhnt sind, so können wir wohl begreifen, daß ihre Gedanken, wenn sie durch
große Ereignisse aus der Richtung gedrängt, von der Leidenschaft getrieben
werden, den Ton und die Form annehmen, welche der Dichter gewählt hat.
Wenn aber im übrigen Wort und Gedanke sich decken, wenn der Ausdruck in
Kraft und Tiefe hinter keiner Bewegung weder des Verstandes noch des Ge¬
mütes zurückbleibt, aber auch nicht darüber hinausgeht, dann hat der Dichter
eine der obersten Aufgaben erfüllt, die ihm gestellt sind, und wer billig und
unparteiisch urteilen will, der muß zugestehen, daß Wildenbruch nirgends dieser
Aufgabe in höherm Grade gerecht geworden ist als hier. Eine Auswahl von
Stellen zu geben sei mir diesmal erspart, ich wüßte auch kaum, welcher der
Vorzug zu geben wäre. Überall ist dieselbe Kraft und Geschmeidigkeit, dasselbe
Feuer und derselbe Glanz der Diktion. Es ist viel, wenn von einem Buche
gesagt wird, daß man es gern zum zweiten oder dritten male in die Hand
nimmt; so oft man den „Menoniten" aufschlägt, legt man ihn nicht leicht eher
beiseite, als bis das Ende erreicht ist.
Bis zu diesem letzten Punkte geht uuter sachlicher Würdigung der zu
berücksichtigende!! Momente das Lob, welches ich der Wildenbruchschcu Muse
zu erteilen habe, aber darüber hinaus auch keinen Schritt weiter. Vielleicht
sogar, daß, um Mißverständnissen vorzubeugen, die gezollte Anerkennung noch
in eineni Pnnkte zu beschränken ist. Es wurde oben gesagt, daß die dichterische
Form im vorliegenden Drama überall dieselbe Höhe inne halte. Das möchte
ich jedoch nur auf die Hauptpersonen und außer ihnen vielleicht noch ans Wcil-
deniar und Henneker bezogen wissen. Es ist möglich, daß dem Dichter die
sichere Zeichnung und farbenreiche Ausmalung dieser Charaktere deshalb so gut
gelungen ist, weil ihm mit ihrem Heraustreten aus einem engen und beengenden
Rahmen in eine weitere und freiere Welt ein größerer Spielraum in Bezug
auf die Sprache gewährt war; jedenfalls bleibt die Chnraktcrisirnng der übrigen
Menoniten, wie auch die Darstellung des Menvuiteutums im allgemeinen weit
hinter jener zurück. Ja man kann sagen, daß zu einer irgend vertiefenden
Schilderung seines Wesens der Dichter kaum den Versuch gemacht hat. Aus
dem Munde seines Hauptvertreters - es ist dies neben Waldemar Justus —
kommt wenig andres als Trivialitäten. Und doch wäre hier eine schöne Ge¬
legenheit für Wildenbruch gewesen, seine poetische Begabung zu zeigen. Ich
muß an einen Roman Walter Scotts denken. Im „Herzen von Midlvthian"
ist eine der Hauptpersonen der alte David Denis, ein Nachkomme der alten
schottischen Preöbhterianer, die in einer Zeit grausamer Verfolgung und in blutigen
Kämpfen ihren Glaubenseifer und ihre Glaubenskraft bewährt haben. Wenn
nun auch der Charakter des Alten den veränderten Zeitumständen gemäß we¬
sentlich anders erscheint als der jener Glaubenshelden aus dem vorangegangenen
Jahrhundert, so hat ihn Scott doch mit fester Pinselführung so sicher gezeichnet,
hat ihn in einen so sichern Zusammenhang mit seinen Vorfahren gebracht, daß
man denken muß, es könne jeden Augenblick in dem Herzen des sonst mild
denkenden Mannes die ganze Glut des Fanatismus wieder aufflammen, in
der sich jene verzehrten. In einem ähnlichen Verhältnisse wie dieser zu den
Presbyterianern stehen die Menouiteu des Wildenbruchscheu Schauspiels zu den
Wiedertäufern der Reformationszeit. Aber Wildenbruch hat sie weder äußer¬
lich mit diesen in Verbindung gebracht, noch hat er ihnen einen Tropfen jenes
heißen Blutes gelassen, das einst ihre Vorfahren in der Verteidigung ihres
Gottesreiches vergossen haben.
Noch nach einer andern Seite hin darf ein Tadel nicht zurückgehalten
werden. So gern man die Folgerichtigkeit in der Entwicklung der Charaktere
zugeben mag, umsomehr muß man sich darüber wundern, wie wenig der Dichter
sich Mühe gegeben hat, den Gang der Handlung aus dieser selbst hervorwachsen
zu lassein Zweimal wird ihre Fortführung nur durch den Zufall möglich.
Zuerst belauscht Mathias die Unterredungen Reinholds mit Henneker und Maria,
und dann wieder dieser den Anschlag der Menoniten gegen Henneker, Was soll
man zu einem solchen Mangel an Begründung sagen? So leicht darf sich der
dramatische Dichter über aufsteigende Schwierigkeiten nicht hinwegsetzen. Aber
es kommt noch schlimmer, Henneker hat alle Ursache, seine Aufreizung zum
Freiheitskämpfe mit der äußersten Vorsicht zu betreiben. Besonders gegen die
Menoniten. deren Wesen er kennen muß, denn sonst Ware er kein richtiger
Emissär, bedarf es der größten Behutsamkeit, aber davon scheint er keine
Ahnung zu haben; er führt sich ein, als ob List und Verschlagenheit fiir ihn
die am ersten zu entbehrenden Eigenschaften seien. Woher weiß er denn, daß
er in dem Garten, in den er sich nächtlicher Weile einschleicht, Reinhold finden
wird und daß dieser gerade in der Stimmung ist, seinen Plänen Gehör zu
geben? Von einer Begründung, daß er eben zu dieser Zeit und an eben diesem
Orte erscheinen muß, findet sich keine Spur, und so ist hier dieselbe Willkür
wie an einer andern Stelle, von der noch die Rede sein muß. In dem furcht¬
baren Hereinbrechen der Katastrophe, welche alle schönen Hoffnungen Waldemars
zertrümmert, stirbt auch seine Tochter, Mnu kann mit dem Dichter darüber
einverstanden sein, daß mit dem Zusammensturz alles übrigen auch Maria nicht
mehr leben kann. Aber wie plausibel auch die Notwendigkeit ihres Todes er¬
scheinen mag, so ist doch damit der Dichter nicht schon der Verpflichtung über¬
hoben, uns auch die Ursache desselben zu zeigen. Maria stirbt plötzlich in den
Armen ihres Vaters, aber wodurch dieser Tod herbeigeführt wird, unterläßt
der Dichter zu sagen. Das ist eine Fahrlässigkeit, die gerügt werden muß,
und das umsomehr, als sie eben nicht allein dasteht, sondern mit den oben an¬
geführten Beispielen eine ganze Reihe bildet und auch in diesem Stücke jene
Wildenbruchsche Art kennzeichnet, die wir schon häufig haben tadeln müssen,
jene Art, welche in dem Bestreben, einem erregungsbedürftigen Publikum die
verlangten Effekte zu bieten, eine der höchsten dichterischen Verpflichtungen über¬
sieht. Gegen diese Art oder, um den richtigen Namen zu gebrauchen, gegen
diese Mache, denn ?r»/i?<7es ist das nicht, sollen denn auch die letzten Bemer¬
kungen, die ich zu den Wildenbruchschen Schauspielen zu machen gedenke, ge¬
richtet sein.
In der Besprechung des „Menoniten" hat es an Lob nicht gefehlt, aber
es ist doch nur ein beziehungsweise gespendetes, kein unbedingt geltendes ge¬
wesen. Ist es nach den aufgestellten Gesichtspunkten von allen andern Dramen
Wildcnbruchs das beste, so bleibt doch die andre Frage, wie es den Vergleich
mit den bessern, um nicht zu sagen den besten Stücken unsrer klassischen Literatur
auszuhalten vermag. Ich glaube, daß selbst eine oberflächliche Kritik da noch
manches finden wurde, was die Probe nicht aushalten könnte. Schon vielfach
ist er auf die großen Dichter unsrer letzten Literaturepoche hingewiesen worden,
auch darin geben sie ein nachahmenswertes Beispiel, daß sie nicht bloß ihr
eigentliches dichterisches Schaffen mit seltenem Fleiße betrieben, sondern auch
die vielfachen Vorbedingungen mit eben so unermüdlicher Ausdauer herge¬
stellt haben! Mühe und Sorge nicht sowohl in der immer von neuem wieder
begonnenen Arbeit des Glcittens und Feilens, sondern auch in schwerem und
gründlichem Studium der Alten, der Geschichte und Philosophie. Es soll nicht
behauptet werden, daß Wildenbruch nicht arbeite, daß er nicht fleißig sei, aber
seine Schauspiele verraten es nicht, auch der „Memorie" nicht. Talent, dich¬
terische Begabung reichen allein nicht aus, das meiste thut ernste, gewissenhafte
Arbeit. Aber der Fleiß ist eben nicht die Signatur unsrer Tage; wie könnten
auch sonst so viele poetische Erzeugnisse ohne Wert auf den Markt kommen?
Die meisten Dichter der Gegenwart arbeiten, das eine Auge gläubig und an¬
dachtsvoll auf den Genius der Poesie und auf die Regeln der Kunst gerichtet,
aber das andre schielt nach dem Götzen Publikum und sucht zu erspähen, was
seine Laune befiehlt. Auch Wildenbruch ist von diesem Vorwurfe nicht frei
zu sprechen. Möge er sich hüten, daß man nicht sogar schlimmeres von ihm
sage, nicht sage, sein Blick sei noch tiefer gerichtet. Auf dem Parquetboden
der Berliner Salons mögen Blumen wachsen, und es mag verlockend sein, sie
zum Kranz für die Stirne zu winden, aber die echten Vorderen sind das nicht.
Die wachsen anderswo, die gedeihen auf dein Boden unsers gesamten Volks¬
lebens, auf den die treibende Kraft eines umfassenden Wissens und die fördernde
Macht treuer und ehrlicher Arbeit übertragen wird.
le Begrenzung des Begriffsgebietes der im alltäglichen Leben oft
ineinander übergehenden Bezeichnungen Spiel und Wette hat der
juristischen Wissenschaft schon viele Schwierigkeiten verursacht.
Vielleicht ist es einer andern Wissenschaft, der Ästhetik, gestattet,
von ihrem Standpunkte aus eine Begrenzung der Begriffe zu
versuchen. Oder sollte es unmöglich erscheinen, daß die Entscheidungsgründe der
einen Wissenschaft auch für eine andre in förderlicher Weise sich verwenden ließen?
Die Ästhetik geht, um ihr Gebiet zu begrenzen, von dem Wesensunterschiede
Von Natur und Kunst aus; in der Natur ist alles das, was es zu sein scheint;
in der Kunst — das Wort Kunst im objektiven Sinne als die Zusammen¬
fassung alles durch künstlerische Thätigkeit geschaffenen genommen — giebt sich
alles absichtlich durch die Erscheinung als etwas andres, als was es thatsächlich
ist. Wo dieses Bewußtsein, daß das Kunstgeschaffcne in seiner Erscheinung und
in seinem wirklichen Sein auseinandergeht, bei der Betrachtung ausholt, tritt
die Täuschung ein, und die Kunst hört auf, als solche zu wirken. Der Stein,
wie ihn die Natur schafft, ist Stein und will nichts andres sein; die Marmor¬
statue ist, ihrer Naturbeschaffenheit nach, Stein und erscheint durch die Kunst
als eine Gestaltung, die mit der Wirklichkeit des Steines nichts zu thun hat;
sie erhebt nicht deu Anspruch, zu sein, was sie scheint. Die lebensgroße Wachs¬
figur ist objektiv zur Kunst zu rechnen, solange wir uns bewußt sind, daß die
Gestaltung keine Wirklichkeit ist, daß das Material, in welchem die Gestaltung
erscheint, nicht dasjenige ist, aus welchem die Natur diese Wirklichkeit geschaffen
hätte. Erkennen wir diesen Wesensuuterschied von Erscheinung und Wirk¬
lichkeit nicht, erscheint uus die Gestaltung als aus dem ihr von Natur zu¬
kommenden Stoffe geschaffen, so tritt die Täuschung ein, und das Werk hört
auf, uns als Kunstschöpfung bewußt zu werden. Damit hört es auf, in das
Gebiet der Ästhetik zu fallen.
Nun ist es aber nicht immer notwendig, daß, um die Annahme einer die
natürliche Gestaltung eines Stoffes verlassenden und diesem nicht von Natur
zukommenden Gestaltung zu bewirke», also um Kunstschöpfung zu werde», der
fragliche Stoff diese materielle Umgestaltung auch thatsächlich erleide; diese
Umgestaltung kaun vielmehr auch in der Einbildungskraft allein vorgenommen
werden. Der Gegenstand, der Stoff, bleibt alsdann unverändert, die künstlerische
Gestaltung vollzieht sich zwar nur in der Einbildungskraft, ist aber doch wirksam
genug, um zu ermöglichen, daß der. Gegenstand so behandelt wird, als ob die
materielle Umgestaltung hinzugetreten wäre. Da die Umgestaltung nur in der
Einbildungskraft stattfindet, also rein subjektiv bleibt und keinerlei objektives
Merkmal trägt, so ist sie nur für deu giltig, dessen Einbildungskraft diese Um¬
gestaltung vornimmt, sei es, daß er selbst deren Urheber ist, oder daß er infolge
von Mitteilung andrer seine Einbildungskraft denselben Prozeß vornehmen läßt.
Eine solche Bethätigung der Einbildungskraft ergiebt das ästhetische Spiel.
Spielen heißt also durch seine Einbildungskraft einen Gegenstand umgestalten,
und dieser Unigestaltung gemäß behandeln, ohne daß ihr eine an dem Gegen¬
stände sich vollziehende materielle Umgestaltung parallel ginge. Das Kind nimmt
einen Stock, gestaltet ihn sich durch seine Einbildungskraft zum Säbel, Gewehr,
Pferd um, und ohne daß dieser Umgestaltung ein gleichmäßiger Vorgang am Stoffe
entspräche, behandelt das Kind den Stock seiner Annahme gemäß. Die Puppe
hat eine materielle Umgestaltung erfahren: sie sieht aus wie ein Kind — in¬
sofern ist sie Kunstschöpfung. Das Spiel mit ihr beginnt aber erst, wenn das
Kind in seiner Einbildungskraft die Puppe zu einem lebenden Wesen umge¬
staltet und sie, obgleich diese Umgestaltung nicht materiell einende, die Puppe
also nicht wirklich lebendig wird, doch so behandelt, als ob sie es wäre: die
Puppe wird gebadet, angezogen, spazieren geführt, erhält Essen und Trinken,
wird ausgezogen, ins Bett gelegt und schläft ein.
Von dem ästhetischen Spielen ist das natürliche Spiel zu unterscheiden.
Dieses besteht in der Bethätigung irgendwelcher TlMgkcitsanlcige und beruht
auf der allgemein giltigen Thatsache, daß eilte ihrer Natur entsprechende Be¬
thätigung einer Anlage Befriedigung erweckt. Bei dem ästhetischen Spielen
liegt das natürliche Spielen zu Grunde: die Bethätigung der Einbildungskraft
in einer ihrer Anlage entsprechenden Weise ist der Grund für die durch sie ge¬
wonnene Befriedigung nud wird durch das Streben nach dieser veranlaßt; soll
aber das natürliche Spiel zum ästhetischen werden, so kommt gerade diese
Bethätigung der Anlage der Einbildungskraft zur Umgestaltung neu hinzu. Das
natürliche Spielen hat daher ein viel weiteres Gebiet als das ästhetische: dieses
ist Vorrecht des Menschen, jenes kommt außer beim Menschen bei allen selb¬
ständig sich bewegenden und bestimmenden Organismen vor. Zuweilen wird der
Charakter des ästhetischen Spieles fälschlich dem natürlichen Spiele zugeschrieben.
Wenn die Katze mit einem Garnrvllchen, mit einem Knäuel Papier oder Wolle
spielt, so ist dies Bethätigung ihrer natürlichen Anlage, das Bewegte zu haschen.
Wir legen ihr aber leicht die Annahme unter, als dächte sie sich unter dem be¬
wegten Gegenstände eine Maus. Thäte sie das wirklich, so spielte sie ästhetisch.
Wendet sie aber ihre Einbildungskraft nicht in der Weise subjektiv umgestaltend
an, wie es der Mensch in gleichem Falle thun könnte, so spielt sie natürlich.
Und sie spielt sicherlich nur so, weil die willkürliche und daher zur Umgestaltung
befähigende Verwendung der Einbildungskraft, wie sie dem Menschen zu Gebote
steht, dem Tiere versagt ist; das Tier bleibt auf der Stufe stehen, welche der
Mensch von Geburt an so lange ausschließlich ausübt, bis die allmählich ge¬
wonnene Erfahrung ihm die umgestaltende Thätigkeit der Einbildungskraft, ihrer
bei ihm vochandnen Anlage entsprechend, ermöglicht. Sobald sich diese Anlage
zu bethätigen beginnt, gewinnt sie in dem Kinde sehr rasch eine solche Macht,
daß es alles Wirkliche nach seiner Willkür in Wort nud That umgestaltet, sodaß
es oft die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit verliert und mit aller Energie
zur Unterscheidung beider angehalten werden muß. Als geläuterter Rest dieser
Anlage rettet sich in das reifere Leben die Befähigung, die Kunst als solche
aufzufassen und in selteneren Fällen die Kraft, sie auszuüben; das dieser Aus¬
übung zu Grunde liegende poetische Gestalten und Schaffen hat seine Quelle in
jener subjektiv umgestaltenden Thätigkeit der Einbildungskraft, die uus zuerst
als ästhetisches Spiel begegnet.
Dieser Charakter des ästhetischen Spieles liegt nun auch dem Gesellschafts¬
spiele zu Grnnde, und zwar sowohl dann, wenn der Gegenstand der umgestaltenden
Thätigkeit ver Einbildungskraft die spielenden Personen selbst sind, als auch
wenn sie sich eines Spielmittels bedienen, Bon ersterer Art sind die Kinder¬
spiele, wie wenn sie einander fangen; einer ist der Fänger — diese Bedeutung
muß erst, ihn selbst umgestaltend, auf ihn übertragen werden. Hascht er einen
andern, so überträgt der erste auf den zweiten, etwa durch einen Schlag, diese
Bedeutung, der Fänger zu sein — er selbst kehrt in den „Urständ der Natur"
zurück. Aber auch die Fangbarkcit ist keine unbedingte; gewisse Haltungen, wie
Niederhocken, Erhöhtstehen, befreien davon, nehmen also die auf den Einzelnen
übertragene Fangbarkeit weg und gestalten ihn z» einem Nichtfangbaren um.
Welcher Art diese Merkmale sind, ist ganz der subjektiven Willkür überlassen.
Diese muß aber, sobald mehrere spielen, sich über diese Punkte vereinigen und
gestaltet sich dadurch zur Regel, bleibt jedoch nichtsdestoweniger durchaus der
subjektiven umgestaltenden Thätigkeit der Einbildungskraft anheimgegeben; das
einfache Wort: „Ich spiele nicht mehr mit" hebt die Giltigkeit für den Einzelnen
auf, und sobald alle das Spiel aufgeben, fallen die Eigenschaften des Fangen¬
könnens und der Fangbarkeit sofort weg — dieselben Kinder, die sich eben noch
gejagt und verfolgt haben, gehen jetzt ruhig nebeneinander.
Der zweite Fall setzt Spielmittel voraus. Mögen diese nun direkt der
Nntnr entnommen sein, wie Steine, mögen sie selbst erst durch Umgestaltung
hervorgebracht sein, für das Spiel werden sie erst lebendig, sobald ihnen eine
Bedeutung beigelegt wird, die ihnen von Natur aus und an und sür sich
nicht zukommt. So kann den natürlichen Steinen eine Bedeutung beigelegt
werden, die sie sür ihren Besitzer haben sollen; ebenso und viel häufiger geschieht
dies bei den künstlich zubereiteten Spielmitteln, wie den beliebten Guatem oder
steinern, dem kugelförmig gerundeten Spielmittel der Knaben. Je nach den
besondern Spielregeln und dem aus ihrer Beobachtung entstehenden besondern
Spiele können die übertragnen Bedeutungen wechseln. Dieselbe Karte, welche
den Einer darstellt, gilt in dein einen Spiel eins, in dem andern Spiele elf.
Ja innerhalb desselben Spieles erhält bei jeder Erneuerung, jeder Partie, die
Farbe und das Zeichen die stets erneuerte Bedeutung des Atonts und wechselt
damit Bedeutung und Kraft. Beides geht verloren, sobald das Spiel aus ist
und die Karten hingeworfen bedeutungslos da liegen, denn auch die ihnen aus¬
gedrückten Bilder und Zeichen haben keinen Wert an sich.
Das Gesellschaftsspiel beruht somit auf denselben Grundbedingungen wie
das ästhetische Spiel. Allein es kommt ein neuer Umstand hinzu, welcher es
dem rein ästhetischen Gebiete entzieht und auf das Gebiet des Rechtes hinüber¬
führt; das Spiel hat ein Ziel, welches sich für den einen als Gewinn, für den
oder die andern als Verlust darstellt. Es wird hierdurch Gegenspiel und veranlaßt
außer der Bethätigung der Einbildungskraft die Teilnahme des Willens, womit
die Möglichkeit einer unter der Herrschaft des Eigennutzes stehenden, sich wider¬
rechtlich äußernden Begehrlichkeit gegeben ist.
Sobald dieser neue Umstand in das ästhetische Spiel eingetreten ist, beginnt
er mit der Freude an der Bethätigung der umgestaltenden Einbildungskraft
einen lebhaften Kampf, der allmählich dazu führt, daß von der Bethätigung
der Einbildungskraft nur uoch gleichsam das roheste Element übrig bleibt, ohne
welche ein Gegenstand überhaupt nicht mehr zum Spiele benutzt werden kann,
während das Streben nach Gewinn allein das Interesse beherrscht: das Spiel
begiebt sich auf den Weg zur Wette.
In der Entwicklung des Spieles zur Wette läßt sich verfolgen, wie in
demselben Grade, in welchem die Freude an der Bethätigung der Einbildungs¬
kraft vorwiegt, das Streben nach Gewinn zurücktritt, und wie jene abnimmt
und endlich fast ganz verschwindet, je ausschließlicher das letztere die Herrschaft
gewinnt.
Es giebt kein Gegenspiel, welches die umgestaltende Einbildungskraft in
höherem Grade in Bewegung setzte als das Schachspiel. Schon die Bedeutung,
welche den einzelnen Steinen beigelegt ivird, die damit verbundene Art der Be¬
wegung und der Kraftentfaltung ist höchst mannichfaltig. Geradezu unerschöpflich
ist aber die Möglichkeit der aus diesem Verhältnisse sich ergebenden Kombina¬
tionen, sodaß eine stete Neuheit des Verlaufs von stets gleicher Ausgangs¬
stellung die Einbildungskraft unablässig anregt. Und gerade hier genügt den
Spielern in der Regel die Thatsache des Siegen« oder des Verlierens, um die
Thätigkeit der Einbildungskraft zum Streben nach dem Gewinnen so sehr an¬
zuspornen, daß das Streben nach Gewinn wegfallen kann. Es bedürfte erst
der Professionsfpieler, welche die Betreibung dieses Spieles zu ihrer Lebens¬
aufgabe machen, um ein Spielen um Gewinn auch hier eintreten zu lassen.
Immerhin bewahrt sich auch dann dieses Spiel den Charakter der Vornehmheit,
indem auch hier die Ehre des Sieges die Hauptsache bleibt, und der ausgesetzte
Preis mehr die Bedeutung trägt, die gänzliche Hingebung eines Lebens an diesen
einen Zweck zu ermöglichen.
Das Streben nach Gewinn tritt kräftiger hervor, sobald sich die Führung
des Spieles der Berechnung mehr entzieht und sich dem Zufalle aussetzt. Bei
dem Schachspiele liegt das Spiel des Gegners ebenso offen vor wie das eigne;
die Bedingungen sind von vornherein die gleichen; nur der Vorteil des ersten
Zuges giebt eine Ungleichheit, die jedoch durch Abwechslung bei wiederholtem
Spiele sich wieder ausgleicht. Beim Kartenspiele liegt die Sache anders. Seine
Grundbedingungen sind die Unmöglichkeit, das Spiel des Gegners zu sehen,
und die durch den Zufall geleitete Ungleichheit in der Ausgangslage. Sofort
wächst auch das Streben nach Gewinn: es kommt das Versuchen des Glückes
neu hinzu, welches sür deu Gewinnsüchtigen umso verlockender ist, je weniger
es von der selbständigen Thätigkeit der Einbildungskraft abhängig ist. Zum
Spielen um Gewinn eignen sich daher diejenigen Kartenspiele am besten,
welche bei geringster Beanspruchung der Einbildungskraft zugleich und eben-
deshalb die Möglichkeit des Gewinnes möglichst häufig erneuern. Bei Spielen
wie Whist und Lhombre mögen die Einsätze gelegentlich recht hoch sein — der
Gewiunzweck verdrängt doch noch nicht die Freude an der Mannichfaltigkeit der
Kombinationen, welche der Einbildungskraft stets neuen Reiz bieten. Er tritt
erst in sein uneingeschränktes Recht, wenn die Mannichfnltigleit der Kombinationen
auf die Benutzung der nackten Zahl herabsinkt, um schließlich in der geistlosen
Öde des Schwankens zwischen zwei Farben zu münden; hiermit ist jedoch als Ent¬
gelt die denkbar rascheste Erneuerung der Möglichkeit des Gewinnens errungen.
In diesem Stadium kann das Spiel zur Lotterie werden. Bei dieser ist
von dem ästhetischen Spiele nur noch die Thatsache geblieben, daß irgendwelcher
Zahl die Bedeutung des Gewinnens beigelegt wird, die ihr an und für sich
ebenso wenig zukommt wie jeder andern. Allein diese Beilegung einer will¬
kürlichen Bedeutung findet unter Ausschluß nicht nur jeder Bethätigung der
Einbildungskraft, sondern auch jeder Möglichkeit der Berechnung einzig und
allein durch deu Zufall statt. Charakteristisch für den ästhetischen Grundzug
der menschlichen Natur ist die Thatsache, daß im Gegensatze zu dieser Grund¬
bedingung des Spieles die Einbildungskraft sich gewaltsam in die Lotterie wieder
hereindrängt und in Gestalt von Träumen und Vorbedeutungen aller Art so
festen Platz nimmt, daß schließlich das absolut phantasielose Spiel der Lotterie
sich zu einem sehr beliebten Tummelplätze für die Bethätigung der Einbildungs¬
kraft gestaltet.
Bei der Lotterie veranlaßt ein von außen her wirkender Zufall die gerade
giltige Bedeutung der Zahlen; die Spielenden sind nur darüber übereingekommen,
das Ergebnis dieser Wirkung anzunehmen und ihm entsprechend die gerade in
Betracht kommende Zahl als Gcwinnzcchl oder Niete anzusehen. Man kann
aber auch die in den Gegenständen selbst liegenden Bedingungen als die allein
entscheidende Kraft benutzen; zum Zufalle und dadurch zum Spiele werden sie
nnr durch die bei den spielenden Subjekten obwaltende Unkenntnis der in den
Objekten liegenden Kräfte und Bedingungen. Die Einbildungskraft läßt hierbei
die Natur der Gegenstände absolut unverändert, selbst in der Auffassung des
Subjektes; es kommt ja gerade darauf an, die objektiv vorhandnen Kräfte und
Bedingungen, die nur subjektiv unbekannt sind oder als solche angenommen und
behauptet werden, sich in ihrer wahren, ihnen thatsächlich zukommenden Eigenart
bethätigen zu lassen. Das einzige, was die Einbildungskraft bei diesem Spiele
zu thun hat, ist die Zueignung der einzelnen Gegenstünde an bestimmte Persön¬
lichkeiten, sodaß deren Gewinn und Verlust von der durchaus objektiven Be-
wahrheitung der von der betreffenden Persönlichkeit an den Gegenstand geknüpften
Voraussetzung von dessen objektiver Beschaffenheit abhängig gemacht wird.
Dieses Spiel ist die Wette.
In einem bekannten Beispiele wetten zwei Engländer auf zwei Schnecken:
es handelt sich darum, welche zuerst an einen als Ziel angenommenen Ort
kommen wird. Keiner kennt die natürliche Beschaffenheit der Schnecken in Bezug
auf ihre Kräfte oder auch nnr auf den Willen, gerade nach dem als Ziel an¬
genommenen Orte zu krieche». Juden? nun der eine sich für diese, der andre
sich für jene Schnecke erklärt und. für die Bewahrheitn»«, seiner Behauptung
eine Summe Geldes einsetzt, giebt er sich dem Zufalle preis. Allein dieser
Zufall wird nicht durch ein Eingreifen von außen her veranlaßt, er erscheint
nnr als solcher infolge der den waltenden Subjekten innewohnenden Unkenntnis
des objektiven Thatbcstcmdes, der sich unabhängig von äußerer, vorher durch
Übereinkommen in ihren Folgen festgestellter Einwirkung vielmehr nnr durch
die den Tieren eigentümlichen Kräfte und Neigungen wird bewähren müssen.
Es ist dabei ganz gleichgiltig, ob die Schnecken als Träger der Wette in dem
Zustande gelassen werden, in welchem sie sich eben befinden, oder ob die beiden
Wettenden sie nehmen und an einen Ausgangspunkt setzen, der dem Ziele gegen¬
über das Verhältnis äußerlich ausgleicht und somit umsomehr die persönlichen
Kräfte und Eigenschaften der Tiere zur Geltung bringt. So ist es bei den
Gelegenheiten der Fall, die am regelmäßigsten Anlaß zu den Wetten geben,
bei Pferderennen und Regatten. Hier ist die Unkenntnis von der objektiven
Beschaffenheit der zur Wette gebrauchten Gegenstände meist keine unbedingte: der
Rückschlag macht sich sofort in der Verschiedenheit der von den Wettenden ein¬
gesetzten Summen geltend. Diese sind nur gleich, wo die Unkenntnis über die
objektiven Verhältnisse bei den Subjekten gleich ist.
Hiernach lassen sich folgende Sätze aufstellen:
Das natürliche Spiel ist die Bethätigung einer vorhandnen Anlage; eine
solche Bethätigung erweckt, solange sie der Anlage und der gegebenen Kraft
gemäß ist, Frende. Das Streben nach solcher Frende ist die Triebfeder zu der
Bethätigung der vorhandenen Anlage.
Das ästhetische Spiel ist die Bethätigung der ganz speziell menschlichen
Anlage, die Einbildungskraft in willkürlicher, d. h. von etwa gerade Eindrücke
veranlassenden Objekten unabhängiger Weise zu bethätige», und zwar so, daß
einem Gegenstände eine ihm objektiv nicht zukommende Bedeutung aus subjektiven
Gründen beigelegt wird.
Das Kinderspiel zeigt dieses ästhetische Spiel in seiner reinen Gestaltung,
von welcher sich die Kunstschöpfung dadurch unterscheidet, daß ihr eine objektive
Giltigkeit auch nicht vorübergehend beigelegt wird, wie es Vonseiten des Kindes
geschieht, sei es, daß das Objekt eine der neuen Bedeutung entsprechende ma¬
terielle Umgestaltung erfahre», sei es, daß diese Unigestaltung nur subjektiv in
der Einbildungskraft stattgefunden hat.
Das Gesellschaftsspiel benutzt die Bedingungen des Kinderspiels, bringt
aber durch die Einführung des Abzielens auf Gewinn und Verlust einen neuen
Umstand herein, durch welchen das Spiel zum Gegenspiele wird und außer der
Einbildungskraft den Willen in Mitleidenschaft zieht.
Das Gegenspiel giebt allmählich mehr und mehr die Bethätigung der Ein¬
bildungskraft auf und erstrebt vorzugsweise die Bethätigung des Interesses und
damit des Willens. Immer aber bleibt als Grundbedingung die durch die
Einbildungskraft ermöglichte, einem Gegenstände dnrch sie nach bestimmten Vor¬
aussetzungen zucrteiltc, ihm jedoch an und für sich nicht zukommende Bedeutung,
mit deren Wegfall das Spiel aufhört. Hierher gehört auch die Lotterie.
Es giebt endlich ein Gegenspiel, bei welchem die Einbildungskraft sich nur
noch in der Erklärung äußert, daß ein Gegenstand dieses, der andre jenes
Subjekt vertreten soll. Das Ziel des Gewinnes soll aber durch die den Ob¬
jekten als solchen innewohnenden Eigentümlichkeiten und Kräfte entschieden
werden. Die Einbildungskraft bewirkt also weder eine objektiv sum Objekte)
noch eine subjektiv (im Subjekte) sich vollziehende Umgestaltung, sondern nur
die Zuteilung eines Gegenstandes als des Trägers einer Annahme an eine
bestimmte Person. Die Entscheidung des Kampfes ist also nicht die
Folge einer nach subjektiv giltigen Voraussetzungen auf den Gegenstand über¬
tragenen Annahme, sondern der objektiv und thatsächlich dem Gegenstände
innewohnenden Kräfte und Bedingungen, die sich unabhängig von dem Subjekte
und seiner Annahme vollziehen. Die Willkür der Einbildungskraft knüpft also
nur Objekt an Subjekt, hat aber an dem Objekte selbst keinerlei umgestaltende
Thätigkeit ausgeübt. Dieses Gegenspiel ist die Wette, die man insofern ein
Spiel nennen kaun, als auch bei ihr eine Bethätigung der Einbildungskraft
in jener Zuteilung sich noch äußert. Der Weseusuntcrschied von dem im
engern Sinne so zu nennenden Spiele wird dadurch nicht aufgehoben; von einer
das Objekt irgendwie betreffenden Umgestaltung ist keine Rede.
Für die juristische Betrachtung kommen nur die Spiele in Betracht, bei
denen durch den Ausgang eine Verinögensänderung bewirkt wird. Allein
auch diese Spiele lasse» sich ihrem Wesen nach nur im Zusammenhange mit
dem Wesen des Spieles überhaupt erkennen, welches allein eine scharfe Unter-
scheidung von der Wette ermöglicht. Es ließe sich hiernach für Spiel und
Wette, soweit es sich um Vermögensgewinn und -verlnst handelt, etwa folgende
Erklärung aufstellen.
Das Spiel ist ein Vertrag, welcher festsetzt, daß die den Vertrag schließenden
sich den Folgen einer bestimmten Gegenständen beigelegten willkürlichen Be¬
deutung und der durch diese veranlaßten Bedingungen in Bezug ans die gemachten
Vermögenseiuscitze unterwerfen.
Die Wette ist ein Vertrag, welcher festsetzt, daß die den Vertrag schließenden
dem Ergebnis der den Gegenständen, welche als Träger der Behauptungen
und Annahme» eines jevcn Beteiligten gewählt worden sind, thatsächlich inne¬
wohnenden Kräfte und Bedingungen, sowie den ans diesen sich ergebenden Folgen
in Bezug auf die gemachten Vermögenseinsätze sich unterwerfen.
Einige Beispiele werden diese Unterscheidung erläutern.
Zwei Leute würfelin Es wird ausgemacht, daß, wer mit den drei ersten
Paschen die höhere Summe erreicht, den Einsatz gewinnt: sie spielen. Zwei
Leute würfeln: es behauptet der eine, der erste Wurf ergebe einen Pasch, der
andre behauptet das Gegenteil. Es wird geworfen; der, dessen Behauptung
richtig war, gewinnt den Einsatz: sie haben gewettet. Im ersten Falle wird
einer im voraus festgesetzte,, Anzahl von Paschen, und zwar in einer festgesetzten
Ordnung, sodaß ein vierter nicht mehr giltig wäre, eine entscheidende Bedeutung
beigelegt; dem Zufall bleibt die Herstellung der Summe überlassen. Im zweiten
Falle wird eine die objektive Beschaffenheit des nächsten Wurfes betreffende
Behauptung und Gegeubehnuptung aufgestellt. Die objektiv eintretende Bewahr¬
heitung entscheidet über Gewinn oder Verlust. Die Einbildungskraft war nur
in der Zuweisung der einen Behauptung als in ihren Folgen giltig für diesen,
der andern für jenen thätig.
Gretchen zerpflückt die Blume und spricht bei jedem Blatte abwechselnd:
er liebt mich, liebt mich nicht: sie legt den Blättern Bedeutungen bei, die sie
an und für sich nicht haben, es ist ein Spiel. Wenn sie der willkürlichen An¬
nahme eine objektive Wahrheit unterschiebt, so wird das Spiel zum Aberglauben,
an der objektiven Beschaffenheit des Vorganges wird dadurch nichts geändert.
Wenn aber Mephistopheles behauptet, den Faust von Gott abziehen zu können,
und Gott dagegen erklärt: dies sei nicht möglich, da der Mensch in seinem
dunkeln Drange sich doch des rechten Weges bewußt sei, aber doch dem Mephi¬
stopheles gestattet, den Versuch zu machen, so ist das eine Wette: der objektive,
von der Narnr des Faust abhängige, durch des Mephistopheles Künste zeit¬
weilig gestörte Verlauf giebt die Entscheidung und den Verlust des Einsatzes
für den Teufel.
Das „Börsenspiel" ist kein Spiel, sondern eine Wette. Der eine behauptet,
daß an einem bestimmten Tage der Kurs eines Wertpapieres so oder so sein
werde, indem er erklärt, einem andern dieses Wertpapier in einer gewissen
Anzahl von Stücken zu dem ausgemachten Kurse liefern zu wollen. Er denkt
so wenig an das Liefern, wie sein Partner an das Abnehmen; am entscheidenden
Tage wird der Unterschied von dem behaupteten Kurse je nach dem dann
wirklich giltigen ausgezahlt. Die Entscheidung für eine Behauptung über den
objektiven Stand wird also den vielen Zufälligkeiten und Einwirkungen über¬
lassen, die sich unabhängig von den Subjekten und ohne daß diese eine Kenntnis
davon haben, vollziehen. Wenn zwei Leute behauptet hätten, der eine, in vierzehn
Tagen werde um zwölf Uhr mittags die Sonne unbewölkt scheinen, der andre,
sie werde dann bewölkt scheinen, und jeder hätte für die objektive Bewahrheitung
seiner Behauptung einen Einsatz gegeben, so wäre dies eine in der Möglichkeit
der Berechnung des Ausganges nicht gewagtere Wette als jene, welche sich unter
dem Scheine eines Geschäftes vollzieht und infolgedessen geeignet ist, auf das
wirkliche Geschäft ein unliebsames Licht zurückstrahlen zu lassen.
Mit Spiel und Wette verwandt ist das Loosen. Mit dem Spiele hat
es den Umstand gemein, daß der Zufall entscheidet, mit der Wette, daß der
objektive Thatbestand die unmittelbare Beziehung zu der tosenden Persönlichkeit
besitzt, ohne daß ihm eine anderweitige, ihm nicht zukommende Bedeutung und
Wirkungsfähigkeit beigelegt wurde. Diese letztere Beschaffenheit würde das
Loosen zum Spielen machen, während eine der Feststellung des unbekannten
Thatbestandes oder Verlustes vorausgehende, diese vorweg bestimmende Be¬
hauptung das Loosen zur Wette machen würde. Es soll z, B. beim Schachspiel
entschieden werde», wer die weißen Figuren und damit den Anzug hat. Der
eine Spieler nimmt in die eine Hand einen Weißen, in die andre einen schwarzen
Stein. Der andre, welcher nicht weiß, in welcher Hand der Weiße Stein ist,
wählt eine Hand und damit die Farbe seiner Steine. Beide unterwerfen sich
dem durch den Zufall festgestellten Thatbestand, nachdem die Voraussetzung
der Giltigkeit des gewühlten Steines für den Wählenden, des andern Steines
für den zweiten Spieler gemacht worden ist. Hätte der Wählende die Be¬
hauptung aufgestellt, er werde eine bestimmte Farbe wählen, und das Treffen
oder Nichttreffen dieser Farbe ziehe bestimmte Folgen für Gewinnen oder
Nichtgewinnen nach sich, so wäre ans dem Loosen eine Wette geworden. Wäre
dem Treffen einer bestimmten Farbe, unabhängig von einer subjektiven Be¬
hauptung über den noch unbekannten Thatbestand, eine fördernde Kraft und
Wirkungsfähigkeit für das Erreichen eines vorher bestimmten Zieles beigelegt
worden, so Hütte ein Spiel stattgefunden.
Das Loosen ist somit ein Vertrag, welcher festsetzt, daß die, welche den
Vertrag schließen, dem Ergebnis einer dnrch den Zufall geleiteten Wahl unter
Gegenständen, welche alle oder vereinzelt Giltigkeit für bestimmte Personen
erhalten haben, mit den sich daraus ergebenden, vorher festgesetzten Folgen sich
unterwerfen.
Es wäre nun die Frage, ob sich mit Hilfe dieser Erklärung Ergebnisse
für die juristische Behandlung von Spiel und Wette gewinnen ließen. Darüber
zu entscheiden muß den Fachmännern überlassen bleiben. Immerhin mag es,
wenn dies auch nicht der Fall sein sollte, von allgemeinem Interesse sein, die
häusig begegnenden Begriffe einer Prüfung zu unterziehen, um durch ein sicheres
Unterscheidungsmerkmal zugleich eine gerechte Beurteilung der ihnen entsprechenden
Handlungen zu gewinnen.
er Plan, mit welchem Gladstone die irische Frage zu lösen hoffte,
hat, als er den Ministern in seinen Grundzügen mitgeteilt wurde,
zu einer Kabiuetskrise sehr ernster Art geführt, welche nun schon
zwei Wochen anhält und nicht bloß dem Ministerium Gladstone,
^ sondern der gesamten liberalen Partei in Großbritannien ver¬
hängnisvoll zu werden droht. Wenn Gladstone seinen Plan nicht aufgiebt
oder nicht sehr wesentlich umgestaltet, bevor er ihn dem Unterhause vorlegt,
so werden, wie ans guter Quelle berichtet wird, zunächst die Herren Chamberlain
und Trevelyan sowie verschiedne untergeordnete Mitglieder des Kabinets ihre
Posten niederlegen. Versuche des Premiers, die beiden erstgenannten für seine
Gedanken zu gewinnen, sind erfolglos gewesen. Die Bedenken derselben richten
sich nicht allein gegen den Vorschlag Gladstones, nach welchen, das Parlament
eine ungeheure Summe — nach dem niedrigsten Anschlage l20, nach dem
höchsten 200 Millionen Pfd, Sterl,, d, h, so viel wie die fünf Milliarden der
französischen Kriegsentschädigung von 1871 — zur Expropriation der irischen
Grundherren bewilligen soll, sonder» auch gegen jede Absicht, den Irländern
irgendwelches Home Rule zu gewähren, welches ein besondres Parlament mit
Regierungsvollmachten einschlösse, Ihre Einwürfe gegen das Doppclprojekt
des Premiers fassen sich in die Sätze zusammen: „Dieses Home Unke würde
eine Vermehrung der britischen Armee um 50000 Mann, eine beträchtliche
Verstärkung der Kriegsflotte, die Errichtung einer kostspieligen Kette von Forts
an der englischen und schottischen Westküste erfordern und uns der sichern Gefahr
mehr oder weniger ernsthafter Verwicklungen mit fremden Mächten aussetzen,
die nicht zögern würden, sich Irlands gegen unser Interesse zu bedienen. Kein
Engländer und kein Schotte wird darein willigen, einzig um die sentimentalen
Nörgeleien der Iren loszuwerden. Es ist Thorheit, von einem Parlamente
mit Vollmachten, wie Gladstone sie den Parnclliten zugestehen will, zu sagen,
es werde nicht bald eine Stellung einnehmen und Maßregeln beschließen, wo¬
durch Großbritannien in schwere Kosten gesteckt und vor große Gefahren ge¬
stellt werden würde. Vorbeugung ist besser als Heilung, deshalb sollen alle
patriotisch gesinnten Liberalen und Radikalen bereit sein, den Jrländern alles,
was billig und möglich ist, alles, was sie als nnablösbares Glied des Or¬
ganismus beanspruchen können, welcher sich das »Vereinigte Königreich« nennt,
zu geben, aber auch nur das, nicht ein Titelchen über dieses Maß," Noch
hofft man unter den Mitgliedern der Negierung, ihr Chef werde in letzter
Stunde diesem Widerstande weichen und seinem irischen Plane eine annehmbare
Gestalt geben, aber die genauer unterrichteten Freunde desselben teilen diese
Hoffnung nicht und versichern, er werde an ihm festhalten.
Und doch schließt ein Beharren ans solcher Bahn zwiefache Gefahr ein:
nicht bloß Zerreißung des Reiches, sondern, was Gladstone als ehrgeiziger
Parteiführer wahrscheinlich mehr fürchtet, Zerrüttung und Schwächung der groß-
britannischen Liberalen. Gladstone und seiue Partei haben bereits Lord
Hartington und Henry James verloren, sie können sich jetzt auch Trevelyan ent¬
fremden; aber wie hoch man auch diese Staatsmänner stellen mag, die liberale
Partei bleibt ohne sie immer noch stark, wie sie es blieb, als der Herzog von
Argyll, Bright und Forster sich aus der Administration zurückzogen, zu der sie
gehörten. Ganz anders aber verhält es sich mit Chamberlain, der sich durch
seine Grundsätze und Bestrebungen, durch seine Thatkraft, fein Geschick und seine
Rednergabe eine Popularität erworben hat, welche ihm unter dem Einflüsse
des neuen Wahlsystems eine sehr bedeutende Rolle weissagen läßt. Er huldigt
sehr vorgeschrittenen politischen Ansichten, aber dieselben breiteten sich im eng¬
lischen Volke seit Jahren schon mehr und mehr ans und werden ohne Zweifel
in naher Zukunft weiter Boden gewinnen. Er wird unausbleiblich bei zu¬
künftigen Kampagnen der Führer, der Oberfeldherr der Parteigruppen sein, die
bis jetzt der Leitung Gladstones folgten. Darf er unter solchen Umständen,
mit solchen Aussichten jetzt mit Gladstone gehen? Wir glauben nicht. Die
ganze Partei würde sich für jetzt und für Jahre, vielleicht für Generationen,
mit dieser Lösung des irischen Problems einen Mühlstein um den Hals hängen.
Der König der Liberalen und sein Kronprinz würden Seite an Seite zu Felde
ziehend das Schicksal der ganzen Dynastie auf den Ausgang des gewagten
Waffenspieles setzen. Man würde nicht bloß den Liberalismus, der heute noch
obenauf ist, sondern auch den Radikalismus, der morgen vorherrschen wird, auf
einen Vorschlag verpflichten, der bei seiner Ausführung, wenn nicht gleich, doch
in kurzer Zeit den gesamten britischen Patriotismus gegen sich aufflammen
lassen würde, auf eine Lösung, die in Wirklichkeit nichts lösen, auf einen Ab¬
schluß, der im Ernste nichts schließen würde. Fox beging zu Ende des letzten
Jahrhunderts einen ähnlichen Mißgriff: er ergriff, als England über das Pa¬
riser Schreckensregiment schauderte, Partei für die französische Revolution, und
die Strafe war, daß die Whigs von der Gewalt ausgeschlossen wurden und die
Reform für mehr als drei Jahrzehnte zum Stillstände kam. So rächte sich
damals die antinationale Politik der whigistischen Führer an der ganzen Partei.
Wie Fox sich zu den Franzosen stellte, so stellt sich Gladstone jetzt zu den Jr-
ländern. Aber Chamberlain, von den Umständen zu seinem Nachfolger in der
Führerschaft berufe», kann die Partei durch Sezession retten und ihre Zukunft
vor der Verbindung mit einer Politik bewahren, welche über kurz oder lang in
England allgemeines Mißvergnügen erwecken und allgemein verworfen werden
würde. Schließt er sich, was jetzt kaum noch anzunehmen ist, Gladstone in
Bezug auf dessen irische „Reform" an, so wird die gesamte Partei, ihr libe¬
raler und ihr radikaler Flügel im Unterhaus?, mit den beiden Führern gehen
müssen. Es ist möglich, daß einzelne abfallen, aber das Gros der Gefolgschaft,
Whigs, Liberale vom geraden und krummen Horne und Radikale, werden jenen
beiden Lcitstieren folgen, selbst wenn sie gemerkt haben, daß deren Weg in
einen Sumpf endigt. Dann wird man eine weitverzweigte Organisation ans
Jahre hinaus mit gebundener Marschroute eine einzige Richtung zur Ordnung
der Angelegenheiten Irlands verfolgen und entweder regierend oder oppv-
nircnd durch Bündnis mit den Parnelliteu verkettet und deren Willen zu
thun gezwungen sehen. Setzen wir den nicht sehr wahrscheinlichen Fall, daß
die Liberalen unter einer solchen doppelten Führung, unterstützt dnrch die
irischen Mitglieder des Unterhauses, den Plan eines besondern Parlaments
für Irland siegreich durchdringen, so wird die Sache damit noch keineswegs
zu Eude sein. Die Ausgestaltung jenes Planes im einzelnen und die Ver¬
wirklichung seiner Einzelheiten im praktischen Leben wird ein Gegenstand fort¬
dauernder politischer Arbeiten und Streitigkeiten sein, und obwohl es vielleicht
dem englischen Volke unmöglich sein wird, die Zeiger zurückzuschieben und die
einmal erteilten Zugeständnisse zu widerrufen, so wird es doch die Urheber
des Unheils, das sich aus letztem entwickeln muß, strafen können. Die britische
Nation war 1782 nicht imstande, die Abtrennung der amerikanischen Kolonien
rückgängig zu macheu, wohl aber stieß sie den Lord North, der den Schaden
angerichtet hatte, vom Nuder. Die Liberalen werden, wenn Chamberlain doch
noch schwach genug sein sollte, sich von Gladstone verblenden und ins Schlepptau
nehmen zu lassen, in der Geschichte Großbritanniens als die Partei fortleben,
welche die Zerbröckelung des Reiches begann. Nachdem sie Irland aus dem
Verbände desselben herausgelöst haben, wird man sich fragen: welches Glied
wird nun an die Reihe kommen, von diesen politischen Operateuren amputirt
zu werden? Wann werden sie Gibraltar für Spanien, wann Malta für
Italien abschneiden? Wie steht es mit Kanada, und wird nicht gar am Ende
Indien geopfert werden? Wenn dagegen Chamberlain fest bleibt wie bisher,
wenn er es am 8. April, wo Gladstone seinen irischen Plan dem Unterhause
mitteilen und zur Entscheidung unterbreiten will, dem Führer des rechten
Flügels der liberalen Partei und diesem Flügel überlassen will, das betreffende
Risiko auf sich zu nehmen, so wird er von dem Radikalismus einen großen
Nachteil abwenden: er wird verhüten, daß derselbe in Zukunft den Vorwurf zu
tragen hat, ein Minderer des Reiches, ein Schwächer der Macht desselben zu
sein. Es existirt keine notwendige Verbindung zwischen demokratischen Grund¬
sätzen und Nachgiebigkeit gegen die Forderungen der irischen Wortführer, obwohl
Demokraten überall viel von der Berechtigung des Volkswillens, von dem Rechte
des Volkes, seine Stellung und Zugehörigkeit selbst zu bestimmen, zu reden
pflegen. Wir können uns recht wohl ein Großbritannien vorstellen, wie es die
Radikalen vom Schlage Chamberlains und Brights im Auge haben, ein England
und Schottland mit Stimm- und Wahlrecht für alle Einwohner männlichen
Geschlechts, mit bäuerlichen Grundbesitzern und ohne Oberhaus, selbst ohne eine
allergnädigste Königin, ein vollständig nach amerikanischem Stil und Muster
ungestaltetes Britenland, das trotz alledem stolz und eifersüchtig auf seine aus¬
wärtigen Besitzungen und zu den größten Opfern an Gut und Blut bereit ist,
wenn sein Recht und Interesse an diesen Gebieten oder die Integrität eignen
Territoriums in Frage kommt. Demokratische Ansichten brauchen einen Staats¬
mann nicht unbedingt, ja überhaupt nicht darauf hinzuweisen, daß es seine
Pflicht sei, einem Bruchteil des Volkes Rechte zu gewähren, die dem Volke nnr
als Gesamtheit zustehen. Die grimmen Schreckensmänner des Jahres 1793
gelangten großenteils dadurch zur Übermacht, daß einige von ihren Gegnern,
den Girondisten, von einer Teilung Frankreichs geträumt hatten, und der Ruf:
„Die Union steht auf dem Spiele!" war die Parole, die 1861 bis 1865 alle
amerikanischen Parteien in Norden von Dixons und Masons Linie znsammen-
schaarte und sie zur Niederwerfung eines Teiles ihres Volkes entflammte,
welcher sich vom Zusammenhange mit dem Bundesstaate zu befreien strebte.
Chamberlain but einmal den letztern Präzedenzfall angeführt, um die wahre
Stellung Englands zu den irischen Ansprüchen der irischen Nationalisten und
die Pflicht des erster» zu beleuchten, und er hat damit auch für sich bewiesen,
daß es, obwohl der Radikalismus im allgemeinen kosmopolitisch denken sollte,
anch patriotische Radikale, nationale Demokraten giebt. Sicher existiren nicht
wenige Liberale in England und Schottland, welche eine Spaltung des Reiches,
wie sie in Gladstones irischen Plane liegt, zu dulden geneigt sein können, weil
die Hände eines Staatsmannes sie vollziehen wollen, der ihnen trotz aller seiner
Mißerfolge in auswärtigen Fragen groß und vcrehrnngswert erscheint, der
mächtigen Einfluß über weite Kreise übt, und der durch seine Redegabe
sie überwältigt und gefangen nimmt, wo er sie nicht überzeugen kann. Wenn
jedoch Chamberlain, wie es allen Anschein hat, ihm im Wege bleibt und
sich zu der Gruppe von Liberalen hält, deren Wortführer Lord Hartingtvn,
Forster, Goschen, der Herzog von Arghll und Trevelyan sind, so ist fast mit
Bestimmtheit zu hoffen, daß Gladstones Pläne scheitern werden. Seine irische
„Reform" wird in diesem Falle nicht das Unternehmen der liberalen Partei,
sondern der Gedanke eines einzigen Mannes, die persönliche und die letzte
Leistung des Herrn Gladstone selbst sein. Mit ihm, mit seinem endlichen
Rücktritte vom Staatsruder wird alle Mitschuld der Liberalen an dieser un¬
würdigen Nachgiebigkeit verschwinden, alle Befleckung durch eiuen Vorschlag,
der von der Furcht geboren und von der Parteieifersucht großgezogen wurde.
Die Freunde Gladstones bauten in der letzten Zeit, als dessen Anstren¬
gungen, Chamberlain zu überzeugen, fehlgeschlagen waren, einige Hoffnungen
auf die Nachricht, daß Bright, der Gesiuuungsgenosse des letztern, den Versuch
unternommen habe, zwischen den in Sachen Irlands geschiednen beiden Gruppen
des Kabinets zu vernütteln und wenigstens einen ni»ein8 vivvncli zustande zu
bringein Aber der Premier Hütte dann Wohl erst Bright selbst zu seiner Ansicht
bekehrt haben müssen. Wenigstens war es bis dahin kein Geheimnis, daß dieser
demokratische Quäker stark zu der Meinung hinneigte, der Chamberlain und
Trevelyan in Betreff der irischen Frage huldigten, und Bright gilt für einen
Mann, der die Ansicht, die er sich gebildet hat, ziemlich hartnäckig festzuhalten
gewohnt ist. Kein Zweifel, daß Gladstone viel darum geben würde, wenn er
den älteren Vertreter Birminghams bewegen könnte, dem jüngern Kollegen seine
Abfallsgedanken leid zu machen, daß er infolge dessen nicht abgeneigt gewesen
ist, den Beistand Brights dnrch materielle Zugeständnisse zu erkaufen, und daß
er bei seinen Besprechungen mit demselben alle seine Überredungskünste aufge¬
wendet haben wird, um zum Ziele zu gelangen. So ist es denn möglich, daß
die Konferenzen des Ministers mit Chamberlains demokratischen Parteifreunden
das Ergebnis gehabt haben, letzterem den irischen Plan in einigermaßen neuem
Lichte erscheinen und weniger als bisher mißfallen zu lassen. Er kann da er¬
fahren haben, daß die oder jene Einzelheit, gegen die er bisher besonders starke
Bedenken empfunden, noch nicht unbedingt feststehe, sodaß es — Gladstone ist
ein Minister in vorsichtigen und wenig Sagenden Redewendungen — immerhin
denkbar sei, daß das ministerielle Projekt dem Parlamente ohne sie vorgelegt
werden könnte. Bei einer Politik, die im Geiste ihres eignen Urhebers schwerlich
schon eine vollkommen deutliche und in allen Einzelheiten endgiltig ausgearbeitete
Gestalt gewonnen hat, ist manche Umbildung möglich. Die Bildsamkeit des
Ungeformten oder nur in den gröbsten Umrissen geformten ist sehr groß, ein
Kameel könnte ein Hase werden, wenn der Hase Herrn Brights Geschmack besser
entspräche. Indes wird sich so schwerlich viel helfen lassen. Die wichtigsten
Umrisse des Gebildes sind in unserm Falle festgestellt und werdeu von dem
Bildhauer schon deshalb nicht geändert werden können, weil Parnell sie mit¬
bestimmt hat und nun sagen würde: 8int ut sunt, g.ut non «int,. Um Bright
und durch diesen Chamberlain zu gewinnen, müßte man Parnell fallen lassen,
und um den und seine 86 Genossen zu haben, ist ja der ganze Handel ange¬
fangen. Wir müssen infolge dessen annehmen, daß Gladstone nicht imstande
sein wird, Chamberlain und die ihn bei seiner Opposition unterstützenden zu
versöhnen. Wenn Gladstone am 8. April dem Parlamente seinen endgiltig
gestalteten Plan vorlegen wird, so wird er, wenn nicht alles täuscht, damit das
Signal zu einem Auseinanderfallen seines Kabinets geben. Weiter über die
schwebende Krisis, die nicht bloß eine Ministerkrisis, sondern zugleich eine Krisis
der jetzt noch vereinigten liberalen Parteigruppen ist, zu prophezeien, ist noch
nicht an der Zeit. Indes läßt sich wohl so viel sagen, daß, wenn auf jene
ministerielle Katastrophe eine Verwerfung des irischen Blaues Gladstones in
einem der beiden Hänser des Parlaments folgen sollte, der Premier nicht, wie
manche erwarten, das Unterhaus auflösen, sondern die Königin um Erlaubnis
zum Rücktritt von seinem Amte bitten und es entweder den Konservativen oder
der ans verschiednen Fraktionsgruppen zusammengesetzten Majorität, die ihm
die Niederlage beigebracht hätte, überlassen würde, eine neue Negierung zu bilden.
Nachschrift. Die Krisis hat sich rascher entwickelt, als im obigen ange¬
nommen wurde: Chamberlain und Trevelyan haben bereits der Königin ihr
Entlassungsgesuch eingereicht, und dasselbe ist bewilligt worden. An den vor¬
stehenden Betrachtungen wird dadurch etwas wesentliches nicht hinfällig.
er Reiterzug, dem die Gedanken der jungen Hirtin nachflogen,
hatte längst die Sohle der Waldschlucht erreicht, welche sich
westwärts vom Hochthal der Mutter aller Gnaden gegen Quin-
tinha hinzog und in die großen Forsten um Peua Verde aus¬
mündete. Dom Sebastian hatte, sobald die nachschauende
Gruppe aus den Augen schwand, die Zügel des Jagdpferdes seiner Begleiterin
fahren lassen. Nachdem er gewiß war, daß sein und Donna Katarinas Gefolge
in gehörigem Abstand hinter ihnen bleibe, ritt er langsamer. Aber weder der
König noch die junge Gräfin sprachen zunächst ein Wort, Dom Sebastian
kämpfte im Stillen noch mit dem Groll darüber, daß ein paar seiner Unter¬
thanen seinen Willen gekreuzt hatten und daß er um des Mädchens willen nach¬
gegeben hatte, welches jetzt stumm und fast scheu neben ihm ritt. Durch Katarinas
Seele wogten die Erlebnisse der letzten Tage und des heutigen Morgens und
trübten ihr die klare Sicherheit, mit der sie bis heute aller Welt und auch
dem Könige gegenüber gestanden hatte. Sie ahnte, daß ein Unausgesprochenes
zwischen ihr und dem König sei, und konnte zu dieser Stunde mir wünschen,
daß es unausgesprochen bleibe. Sie hatte Dom Sebastian heute anders ge¬
sehen als je zuvor und war zum erstenmale in seiner Gegenwart von Furcht
beschlichen worden. Und doch — als er endlich sein Schweigen brach und mit
leisem Vorwürfe fragte, warum sie so stumm bleibe, und als er immer ein-
dringlicher zu ihr sprach, fühlte sie wieder den Zauber, der in seiner Stimme
lag. Er hatte ihr eine Felswand mit wenigen schroffen Vorsprüngen gezeigt
und ihr erzählt, daß er vor wenigen Wochen gewagt habe diese zu erklimmen,
in der Hoffnung junge Falken aus dem hochhängeuden Neste zu rauben, die
er ihr zu bringen beabsichtigt habe. Als Catalina nur leise erwiederte, sie
könne nicht wünschen, daß der König sich um ihretwillen in Gefahr setze, lächelte
er geringschätzig über das Wort Gefahr und sagte dann: Ihr wollt nicht von
meiner Jagd sprechen — Ihr zürnt mir noch, Herrin — ich bin Euch hart
erschienen. Aber Ihr wißt nicht, wie mich jedes Hindernis schmerzt, das
mich auf dem Siegeswege aufhält, den ich mein Volk in Afrika führen will!
Tag und Nacht sehe ich die Minarets von Marokko vor Augen, auf die ich
Gottes Kreuz pflanzen muß, und leider, leider, kann ich dabei der Hilfe des
ungläubigen Fürsten nicht entbehren, dem Euer Täufling entflohen ist. Da war
es wohl verzeihlich, daß ich nicht sogleich gut hieß, was die Herren Barreto
und Camoens beliebt haben.
Ihr habt Euch groß und gnädig erwiesen, Herr! sagte Katarina leise, und
mir, der Unerfahrenen, ziemt kein Urteil über das, was Eure Majestät sonst sagt.
Der junge König richtete sich heftig in den Bügeln empor, sein Gesicht
zeigte wieder einmal jene Blässe, die bei großer Erregung mit jäher Röte ab¬
wechselte: Ihr sollt zu mir nicht so sprechen, Donna Catarina, nicht so! Wie
lange habe ich darauf gehofft, Euch einmal in Wald und Feld zu begegnen,
mit Euch reden zu können, wie mit niemand in der Welt, von Euch zu hören,
was mir keiner an meinem Hofe und keiner in meinem Lande sagt! Gerade
hier in meinen Jagdgründen, wo ich sonst immer frei atmen konnte, preßt Ihr
mir das Herz, als wenn wir im Palast zu Lissabon stünden, die Herzogin
neben Euch und Pater Tellez hinter mir!
Ich verstehe Eure Majestät nicht! entgegnete Catarina und wandte ihr
Gesicht von dem König hinweg. Welch ein Recht hätte ich, meinem erlauchten
Herrn zu widersprechen, und weshalb dürfte ich »vagen, was keinem Eurer
Unterthanen zusteht?
Das Recht giebt Euch die Bitte, die ich nicht zum erstenmale an Euch ge¬
richtet habe, Gräfin Catarina! sagte Dom Sebastian und dämpfte die Stimme
so, daß niemand aus dem Gefolge eiuen Laut derselben vernehmen konnte. Ich
will aus einem Munde und am liebsten ans der Welt aus dem Euern die
reine Wahrheit hören, Herrin! Ich weiß wohl, daß anch der größte König sie
nicht befehlen darf, doch ich hoffte, daß Ihr tiefern Anteil an mir mahnet und
mir Euers Herzens Meinung nicht vorenthalten würdet. Ihr schweigt im
Kreise meines Hofes, Donna Catarina; löst Euch auch die Stille hier die Lippen
nicht, so gebe ich jede Hoffnung auf.
Der junge Fürst ritt, indem er dies sprach, mit dem schönen Mädchen
unter schlanken Kastanien hin, die rechts und links vom Wege standen und
deren Laubkronen sich zu einer Art grüner Halle verschränkten. Wo der movs-
nberwachsenc Boden sich nur etwas erhob, drohten die Zweige den Reitenden
ins Gesicht zu schlagen; Dom Sebastian vergaß trotz aller Erregung des Augen¬
blickes nicht, sie vor dem Haupte seiner schonen Begleiterin znrückzubiegen. Die
Sonne, die zum Mittag stieg, drang auch hier herein, das Licht floß an den
Ästen und Stämmen herab und flirrte dnrch das dichteste Laubdach; so oft
der König einen Zweig hob, schien er goldne Funken über das Haupt seiner
Begleiterin zu schütten. Catariua konnte in der grünen Dämmerung den düstern
Ausdruck seines Gesichtes nicht wahrnehmen, aber der Klang seiner letzten Worte
und die ritterliche Sorgfalt, die er auch jetzt für sie zeigte, ergriffen sie so,
daß sie ihre stummen Gelübde kluger Vorsicht brach und aufwallend rief:
So laßt mich Euch sagen, Herr, daß es mich schmerzt, wenn Ihr Menschen
Euer Ohr leiht, denen die Niedrigkeit und die Lüge ans der Stirn geschrieben
steht, wie das Gezücht, das vor zwei Abenden zu Euch herankroch! Laßt mich
sagen, daß es mir königlicher schiene, Eure Majestät leistete ans alle Eroberungen
Verzicht, als daß Ihr in Eurem Lande den Mohrenfürsten mit seinen Stummen
und Henkern duldet und ihm Gewalt gebt — daß Ihr —
Ihr werdet aus dem Sattel stürzen in Eurem Eifer, Herrin! unterbrach
der König die Schöne, welche in der That vergaß, daß sie ein Pferd zu lenken
hatte, und erst, als Dom Sebastian hilfreich ihren Arm ergriff, die Gefahr
bemerkte. Der König zürnte offenbar nicht, aber er schwieg einige Minuten,
und als sie den Schatten der Kastanien hinter sich ließen und eine Strecke
auf sonniger, baumloser Straße ritten, vernahm Catarina einen tiefen Seufzer.
Vor sich hinblickend sagte der junge Fürst:
Ich habe es gefürchtet, daß Ihr denkt, wie Ihr eben kundgabt, Donna
Catarina! Ich fühle mich oft versucht, wie Ihr zu denken, doch hat man mich
gelehrt, der eignen Wallung immer zu mißtrauen und sie niederzukämpfen!
Ihr verzeiht mir eine Frage: Seid Ihr sicher, daß Euer Beichtiger streng und
rein und ohne Wanken in unserm heiligen Glauben ist?
Ich bin es gewiß! versetzte die junge Gräfin, welche mit Befremden die
Frage vernommen hatte. Eure Majestät sieht, daß ich besser gethan hätte, in Ehr¬
furcht zu schweige»; meine Thorheit, meine kindische Offenherzigkeit laßt Ihr
auf meinen Beichtvater zurückfallen, Herr!
Nicht doch, nicht doch! murmelte König Sebastian, ich bin Euch dankbar,
daß Ihr zu mir sprecht, wie Ihr fühlt, und ich habe dort oben schon nach
Eltern Worten gethan. Versagt mir das Glück nicht, Eures Herzens Meinung
zu vernehmen! Wußtet Ihr, wie oft ich einsam durch diese Thäler gestreift
bin und nach einem wahren Worte heißer gelechzt habe als nach einem Trunk
aus dem Quell! Im Palast meinten sie, daß ich mit Eifer den Wildkatzen nach¬
stellte, die im Dickicht der Bergschluchten Hausen, und mögen oft über meine Jagdlust
gescholten haben, wenn ich nur darüber grübelte, ob ich mein Alleinsein als ein
Unglück oder als eine Gnade Gottes betrachten sollte. Wußtet Ihr, wie öde,
wie furchtbar zu Zeiten das Alleinsein ist, es würde Euch nicht reuen, mir
eine Stunde wie diese gegönnt zu haben!
Catarina Palmeirim sah und hörte mit wachsendem Bangen auf den König.
In ihrer Seele regte sich ein tiefes, zartes Mitleid für den jungen Herrscher,
welcher sonst so schroff und unnahbar erschien und jetzt sein innerstes Herz vor
ihr enthüllte. Zugleich aber fühlte sie eine dunkle Furcht; sie wußte nicht, was
der nächste Augenblick bringen würde, und rang umsonst nach einem Worte, das
dem König ihre Teilnahme ausdrückte und ihn dennoch hinderte, ihr mehr zu
sagen. Sie blickte rückwärts, ob das Gefolge nicht rascher herankomme, allein
Senhor Casalinho, des Königs Jägermeister, hielt die Reiter fortgesetzt in gleichem
Abstand und verhinderte selbst den alten Miraflores, sich seiner Herrin auch nnr
um eine Pferdelänge zu nähern. Ihr war zu Mute, als ob die Luft schwüler
und schwüler würde, die Pinien, welche hier zwischen dem Lnubholz wuchsen,
strömte» in der Mittagsglut ihren Harzduft weithin ans, und Catarina zog
ihren Hut tiefer in die Stirn, um die Rügen besser vor den heißen Strahlen
zu schirmen oder um die Blicke Dom Sebastians abzuwehren, die erwartend
auf sie gerichtet waren. Sie öffnete und schloß die Lippen wieder und fühlte,
daß sie in Gefahr stand, dem Könige ihren tiefen Widerwillen gegen seine Um¬
gebungen und namentlich gegen den Prior von Belem zu verraten. Doch
wartete der König selbst nicht ab, daß sie sich zum Sprechen zwang.
Auf den Eingang zu einem engen Felsthale deutend sagte er: In jenem
Waldgrunde hätte ich heute Morgen gejagt, Herrin, wenn mir nicht die Kunde
geworden wäre, daß ich Euch bei der Mutter aller Gnaden finden würde. Da
hielt ich mich nicht und strebte Euch nach, und nun möchte ich, daß Ihr alles
fähet und vernahmet, was mir wert ist. Ihr tragt doch keine Scheu, mir dort¬
hinein zu folgen? Der Weg ist ein wenig unbequemer als dieser, aber mit
einem guten Pferde wie dem Euern völlig gefahrlos. Ich will Euch die Plätze
zeigen, wo ich deu letzten Bären bestanden habe, der in dieser Schlucht hauste,
und wo ich ganz allein den Eber niederstieß, dessen Hauer ich der Herzogin
sandte. Und vor allem den Quell, an dem mir der heilige Jakob vom Schwert
erschienen ist und mich in dem Gedanken des Zuges gegen Marokko bestärkt
hat. So oft ich in meinem Vorsätze wankend wurde, habe ich an dieser Stelle
Glauben und Zuversicht wiedergewonnen. Mir ist, als könnte ich besser zu
Euch reden, wenn Ihr die stillen Plätze alle zuvor geschaut habt, an denen ich
meine glücklichsten Stunden verlebt habe.
Catarina hauchte auch jetzt nur mühsam hervor: Gern werde ich sehen,
Herr, was Eurer Majestät gefällt, mir zu zeigen! In dem gleichen Augenblicke
aber fuhr ein Windstoß daher und wirbelte eine Staubwolke um den König
und Catarina auf. Als das junge Mädchen betroffen emporblickte, nahm sie
wahr, daß das Stück blauen Mittagshimmels über dem engen Felsthale und
dem Waldrande, an dem sie hielten, halb verfinstert war. Gleichzeitig galoppirte
der Jägermeister des Königs heran, hielt zwar in respektvoller Entfernung, aber
doch so, daß er von dem jungen Fürsten verstanden werden konnte, und sagte:
Erlauchter Herr! so viel sich hier urteilen läßt, zieht ein schweres Wetter über
die Berge von Nazarros heran. Eure Majestät wolle entscheide», ob der Ritt
fortgesetzt werden soll.
Dom Sebastian vernahm mit Unmut die Worte des ehrerbietig harrenden.
Ehe er noch etwas erwiedern konnte, drängte der alte Miraflores sein Pferd
an Senhor Casalinho vorüber und rief der Gräfin zu: Es ist keine Zeit zu
verlieren. Herrin, wenn Ihr noch vor dem Schlimmsten Cintra erreichen wollt.
Die Wetter, die von dort herüber kommen, Pflegen die raschesten und die zor¬
nigsten zu sein.
Wie zur Bekräftigung der Warnung trieb ein neuer plötzlicher Windstoß,
der zu Füßen der Pferde Sand und vertrocknetes Laub aufwirbelte, hoch über
den Reitern dunkle, gelbgerändcrte Wolken in wildem Fluge hin. Auf Augen¬
blicke ward der Himmel wieder Heller, doch nur um alsbald von tiefer hängenden
Wolkenmassen aufs neue verfinstert zu werden. König Sebastian blickte mehr¬
mals empor, ehe er sich entschloß zu sagen:
Ich weiche keinem Wetter, doch möchte ich Euch in Sicherheit wissen, Donna
Catarina! Wenn Ihr es nicht vorzieht, Zuflucht in der Jagdhütte zu suchen,
die ich mir eine Stunde von hier im Dickicht der .Lerdaschlucht errichten ließ,
so gebe ich den Befehl, den Rückweg nach Cintra einzuschlagen.
Obschon Catarina in den Zügen des Königs den Wunsch las, daß sie den
Schutz seiner Jagdhütte vorziehen möchte, so entgegnete sie doch rasch: Eure
Majestät, ich bin es meiner mütterlichen Beschützerin, der Herzogin, schuldig, sie
nicht in peinlicher Sorge um mich zu lassen!
Wie Ihr wollt, Gräfin, wie es Euch gefällt! sagte Dom Sebastian und
scheuchte mit einem Blicke den Stallmeister Catarincis zu dem übrigen Gefolge
zurück. Wollen wir zurück, so müssen wir die nächste Straße einschlagen, dn
kennst sie, Casalinho, reite uns vorauf und führe uns gut!
Der Jägermeister bat um Erlaubnis. das Gefolge in Kenntnis zu setzen,
eine Minute später kam er zurück: Eure Majestät gestattet, daß wir im
schärfsten Trab reiten, vielleicht erreichen wir Cintra noch vor Losbruch des
Wetters!
Vorwärts also! sagte der König, indem er seinen Mißmut bezwang. Viel¬
leicht sehen die Dinge hier schlimmer aus, als sie in Wahrheit stehen. Je
weniger Ihr Euer Pferd schont, Donna Catarina, umso früher wird die Her¬
zogin von ihrer Unruhe erlöst.
Die kleine Reiterschaar stob weiter, als ob sie der Gewitterwind beflügelte,
welcher sich in der Thalschlucht verfangen hatte. Hinter ihnen drein grollten
die ersten zwischen den Bergen widerhallenden Donner, vor ihnen durchleuchtete
ein zackiger Blitz die dunkle Wolkenwand, die sich ins Thal hereinsenkte. Kata¬
rinas Pferd bäumte erschreckt auf, der König, welcher wieder in die Zügel seiner
Begleiterin griff, riß es nieder und sagte lächelnd: Mein Roß scheut nicht, ich
habe es an den Blitz von Geschützen gewöhnen lassen.
Sie vermochte nichts zu antworten. Die fremdartigen Erlebnisse dieses
Tages begannen sie zu überwältigen, sie empfand plötzlich die erstickende Schwüle
und Schwere der Luft und hatte jetzt nur den einen Gedanken, ins Freie hinaus¬
zukommen. Beim Licht der nächsten Blitze bemerkte sie, daß die Felswände
bereits zurücktraten, die Straße breiter ward und der Laubwald an sanftern
Abhängen emporstieg. Das Gewitter grollte noch immer nur von ferne, aber
die Blitze folgten sich häufiger, der Donner klang rascher hinter ihnen drein,
Catarina sah, daß auf dem Hute des Königs bereits die ersten schweren Tropfen
lagen. Wo sich der Blick nach Westen aufthat, rauschte der Regen wie eine
fließende Wand nieder, und ungeheure Wolkenballen wälzten sich den Reitern
entgegen.
Es ist noch eine Stunde bis Ciutra, bemerkte der König. Ihr hättet auch
für Euch besser gethan, Donna Catarina, meinen Vorschlag anzunehmen. Ich
hätte Gelegenheit gefunden, Euch noch so vieles zu sagen! Nun der Tag so
früh und so unhold zu Ende geht, ist mir, als ob er nicht gewesen wäre. Ich
habe wieder einmal die Gunst der Stunde verscherzt! Und Casalinho galoppirt,
als jagte er mit den Wolken um die Wette.
Der Jägermeister, der von Zeit zu Zeit mahnend nach Dom Sebastian
und seiner schönen Begleiterin zurückschallte, hatte guten Grund zur drängendsten
Eile. Die Laubkronen des dichten, weitgedehnten Waldes wogten wie ein sturm-
gepeitschtes Meer, längs der Straße hin klang das Gekrach brechender und
splitternder Äste, und nnn stürzten auch die Wolken, die ihnen zu Häupten
standen, in wilden Güssen herab. Der cmftreffeude Platzregen, der durchs Laub
rauschte, verschlang noch anhaltender als der Donner den Klang der Worte.
Der König fuhr fort zu Catarina zu sprechen, ohne daß sie von seiner Rede
mehr verstand, als daß er sie zu ermutigen suchte. Er selbst schien der Wut
des Wetters kalten Gleichmut entgegenzusetzen, aber er sah bedauernd und be¬
wundernd zugleich auf die schöne Gestalt an seiner Seite. Catarinas leichte
Gewänder schmiegten sich regennaß immermehr an den schlanken Leib an, die
Locken ihres Haares lösten sich unter dem vom Hute hcrabtraufenden Wasser,
sie mußte alle ihre Kraft aufbieten, um sich im Sattel zu halten. Von Minute
zu Minute riß ein zackiger Blitz den schweren Dunstvorhang entzwei, hinter
dem das Land in Feuer zu stehen schien, dann wurde es wieder halbe Nacht
um die Reiter, sodaß sie nicht vor und nicht hinter sich zu sehen vermochten.
Catarina Palmeirim senkte mit einem klagenden Ruf ihr Auge tiefer und blickte
auf den Weg, über den rasch entstandne Wildbäche hinrauschte». Der König
beugte sich so zu ihr hin, daß sein Ohr ihrem Munde nahe kam. Mit bebenden
Lippen sagte sie: Die Welt scheint mir verwandelt, Herr, mir ist, als würden
wir Cintra niemals wiedererblicken!
Wir können nicht mehr weit davon sein! rief der König. Mir scheint die
Welt auch verwandelt, immer und immer, wenn ich an Eurer Seite bin! Mir
ist, als wüßtet Ihr von meinem Leben, von dem ich nichts weiß, und bei jeder
Pfeilwunde meines Schutzpatrons! ich will dies Leben kennen lernen!
Catcirina Palmeirim hätte nichts mehr zu erwiedern vermocht, auch wenn
der rollende, hundertfach widerhallende Donner nicht jeden Laut verschlungen
hätte. Der König sah, daß das junge Mädchen in äußerster Erschöpfung sich
auf den Hals ihres Pferdes neigte, er hielt an und ließ das Gefolge näher
kommen. Nach seinem Wink nahmen Miraflores und der alte Falkner das
Pferd der Gräfin zwischen die ihrigen, der Stallmeister schoß dabei einen Blick
auf den König, der klagend sein sollte und in Wahrheit ingrimmig zürnend war.
Dom Sebastian achtete auf den Alten nicht, er sah nur auf die totbleiche
Catcirina und trieb mit ungeduldigem Zuruf vorwärts. Und so jagte der
Reitertrupp in wildester Hast durch die immer neu herabstürzenden Wettergüsse
hindurch, dem Schlosse von Cintra entgegen, das jetzt, beim grellen Lichte der
Blitze, auf Augenblicke aus der Dunkelheit hervortrat, um alsbald wieder, wie
eine Fata Morgana, hinter dichtgeballten und wildzerflatterndem Gewölk zu
versinken. (Fortsetzung folgt,)
So oft in Deutschland auf das Treiben der Revanchepartei in
Frankreich und auf die Gefahren hingewiesen wird, welche dasselbe heraufbeschwören
könnte, finden sich stets weise Politiker, welche die Reichsregierung in belehrendem
oder tadelnden Tone über die gänzliche Bedeutungslosigkeit jener Agitationen auf¬
klären. Es denke ja außer dem kaum zurechnungsfähigen Deronlede und seiner
Gefolgschaft niemand in Frankreich daran, einen Krieg mit Deutschland vom Zaune
zu breche», und wer die Dinge anders darstelle, gefährde selbst den der ganzen
Welt so notwendigen Frieden. Daß die, die so sprechen, wirklich die Verhältnisse
so schlecht kennen sollten, ist nicht anzunehmen; es kommt ihnen wohl im Geschäfts¬
interesse die Beunruhigung ungelegen. Aber wenn in der That die Patriotenliga
so einflußlos wäre und so allein stünde: ist es denn nicht bezeichnend genug, daß
die französische Regierung nicht wagt oder nicht wagen mag, den Hetzern Schweigen
zu gebieten? Blicken wir doch nach Italien! Die dortige Regierung, welche mehr,
als den- Lande dienlich ist, unter dem Druck der sogenannten öffentlichen Meinung
steht, scheut sich doch nicht, die Jrredenta in Schranken zu halten, um das freund¬
nachbarliche Verhältnis zu Oesterreich nicht zu stören. In Frankreich aber läßt
man, wie in Piemont bis 1866, Friedensschlüsse und Verträge als nicht bestehend
behandeln, während doch nicht zwischen Frankreich und Deutschland, wie damals
zwischen Italien und Oesterreich, die diplomatischen Beziehungen abgebrochen sind.
Man kann darüber lachen, wenn in gelehrten Werken der Frankfurter Friede einfach
ignorirt wird, wie in der kunstgeschichtlichen Publikation über den Domschcch zu
Trier von den Herren L. Pnlustre und X. Barbier de Montault, wo Metz noch
heute zu Frankreich gehört: aber ob nun die Verfasser selbst zur Revanche schworen
oder doch es mit den Schreiern nicht verderben wollen, ein Symptom bleibt es
immer.
Wahrend eines mehrivöchentlichen
Aufenthaltes in verschiednen Provinzen („Kronländern") Oesterreichs habe ich jede
Gelegenheit benutzt, mich über die Stimmung der deutscheu Bevölkerung zu unter-
richten. Die dortigen Verhältnisse zu verstehen, ist ja für uns außerordentlich
schwer, und was uns darüber die Zeitungen vermitteln, gewöhnlich ganz lückenhaft
und überdies parteiisch gefärbt. Aber wenn ich bei dem Ueberschreiten der Grenze
mich meiner Unkenntnis schämte, so bringe ich jetzt den Eindruck mit zurück, daß
man im Durchschnitt jenseits über Deutschland nicht viel besser unterrichtet ist.
Sehr häufig begegnete ich der Meinung, daß wir nur auf den günstigen Augen¬
blick warten, um die früher zum deutschen Bunde gehörigen Teile Oesterreichs mit
dem Reiche zu vereinigen; besonders scharfsichtige versicherten, wohl zu wissen, daß
„der Bismarck den Taaffe" nur unterstütze, weil dieser ihm bei seinen Plänen in
die - Hände arbeite. Der Einwand, daß die Neichsregierung weder die Stärkung
der katholischen noch der nichtdeutschen Elemente anstreben könne, wollte selten ver¬
fangen. Den letztem Punkt betreffend hieß es regelmäßig: Preußen werde mit den
Tschechen, Slowenen u. s. w. schon fertig werden, und was die „Klerikalen" be¬
treffe, so bildeten diese ja in Oesterreich selbst eine Minderheit, welche nur in
Betracht komme, solange sie Schutz von oben genieße. Die Redner waren fast
ausnahmslos Katholiken, gehörten aber zu der großen indifferenten oder freigeistigen
Mehrheit, welche weder für die Macht des Papsttums und des Klerus, noch für
die Stellung, welche beide einer protestantischen Regierung gegenüber behaupten,
das rechte Verständnis zeigen. Männer in reiferen Jahren erklärten sich größten¬
teils für Gegner der innern Politik Deutschlands, weil dieselbe nicht liberal sei;
dagegen äußerten mehrere Besorgnisse wegen der Hinneigung der Jngend, sowohl
der studirenden wie der kaufmännischen ?c., zu Deutschland. Bei solcher Gelegen¬
heit hörte ich mehrmals die bekannten Klagen über die Abnahme des „Idealismus."
Das führte naturgemäß zur Besprechung der neuen Schutzwehren gegen das Ein¬
dringen des deutschen Geistes, der Entfernung „deutsch-nationaler" Bücher ans den
Schulbibliotheken, der Weigerung, Professoren aus Deutschland zu berufen u. a. in.
Meine Frage, ob mit Berufenen üble Erfahrungen gemacht worden seien, wurde
von allen, mit denen ich darüber gesprochen habe, auch festen „schwarzgelben,"
entschieden verneint. Im Gegenteile wurde einzelnen nachgesagt, dnß sie sich über¬
eifrig in spezifisch-österreichische Gesinnung hineingearbeitet hätte,:. Darin sei man
früher viel freierer Anschauung gewesen, noch Graf Thu», ein tschechischer Aristokrat,
habe den jetzigen Geheimrat Bonitz zur Organisirung des höhern Schulwesens aus
Preußen berufen, und weder diese noch ähnliche Maßregeln zu bereuen Ursache
gehabt. Woher denn die angeblichen Sympathien der Jngend mit Deutschland
stammten? Darauf wurde mir von mehreren Seiten eine Erklärung, welche durch
meine eignen Wahrnehmungen bestätigt worden ist. Meine Reise fiel in die Zeit
der aufregenden Eisenbahndebatten im Reichsrate, und in der Besprechung dieser
Vorgänge und ihrer Veranlassung kam eine Bitterkeit, teilweise ein pessimistischer
Hohn zu Tage, welche den Unbeteiligten erschrecken mußten. Man erzählte Dinge,
die ich nicht nacherzählen würde, auch wenn sie vollständig beglaubigt wären. Was
Wunder, wenn die Jugend, welche noch rascher und lebhafter fühlt, deren Nechts-
und Wahrhcitsgcfühl noch nicht dnrch das Leben gedämpft ist, noch härter urteilt,
und zwar nicht allein (wie gewöhnlich die ältern) über die Regierung und deren
Maximen! Sie macht allen Parteien ohne Unterschied den Vorwurf, daß sie aus
Parteirücksichten beide Augen zuzudrücken pflegten, vertuschten oder schnell vergäßen,
Personen, auf bereu Charakter Flecken haften oder deren Unwissenheit und Un¬
fähigkeit offenbar ist, nicht fallen ließen, weil sie über eine gewisse Redegewandtheit
verfügen oder weil der betreffende „Sitz" für die Partei nicht ganz sicher ist und
dergleichen wehr. Die „Gesinnung" soll vielfach ihren festen Preis haben, ebenso
das kritische Urteil, die Ansicht von der Ersprießlichkeit einer Maßregel, dem Vor¬
teile einer Bahnlinie u, s, w. Wie viel daran übertrieben sein mag, kann ich nicht
beurteilen, ich berichte nur Vernommenes. Und stets schlossen die jüngern Leute:
Das ist in Deutschland anders, da ist ein „zielbewußtes," festes, ehrliches Regiment,
dn fürchtet man sich nicht vor jedem Schreier im Parlamente und noch weniger
vor einer korrupten Presse; da existiren die Gesetze nicht nur auf dem Papiere,
da werden die Verordnungen nicht nur erlassen, sondern auch durchgeführt, mit
Strenge, vielleicht mit Härte; aber man weiß doch, was Rechtens und was Ordnung
ist, mau hat das Bewußtsein, einem kräftigen Staatswesen anzugehören. — Ich
glaube mich nicht zu irren, wenn ich die Meinung ausspreche, daß dasjenige, was
die Tschechen die „Prenßenseuchc" und die „Korublumeusucht" nenneu sollen, durch¬
aus nichts landesverräterisches an sich hat, sonder« gerade der Ausfluß eiues ge¬
sunden, patriotischen Gefühls ist, und daß Oesterreich diesen seinen Söhnen am
allerwenigsten Mißtrauen entgegenbringen sollte. Der tschechische „Radau" fällt
glücklicherweise schon der Lächerlichkeit anheim; so wurde in der Gründung eiues
geselligen Vereins der Deutschen („Reichsdeutschen") in Wien eine Beleidigung und
Bedrohung der böhmischen Nation erkannt. Wie traurig muß es um diese Nation
bestellt sein, wenn die Absingung der „Wacht am Rhein" sie schon erschüttert!
Bei Herausgabe der „Freundcsbriefe von Wilhelm
und Jnkob Grimm konnte A. Reifferscheid 1378 die Klage erheben, daß so wenige
Briefe der Brüder bekannt geworden seien. Seitdem ist eine stattliche Reihe von Brief¬
sammlungen und sind zahlreich einzelne Briefe der Brüder veröffentlicht worden. Den
neun, an Umfang freilich sehr verschiednen Bänden der Korrespondenz, welche Hera.
Fischer, Wendcler, Sijmvns n. ni. herausgegeben haben, sind „als Festschrift zum
hundertsten Geburtstag Wilhelm Grimms den 24. Februar 1336" zwei weitere
Bände gefolgt, die wir E. Stengels Entdeckcrglück und Sammlerfleiß verdanken:
„Private und amtliche Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen. Eine Sammlung
von Briefen und Aktenstücken" (Marburg i. H., N. G. Elwertsche Verlagsbuchhand¬
lung, 1386. VIII, 420 u. 443 S. Oktav). Wenn der Herausgeber auch das Juter-
esse der engeren Heimat in den Vordergrund stellt, so darf der Inhalt der beiden
Bände doch die allgemeinste Teilnahme in Anspruch nehmen, ja es ist nicht zu viel
behauptet, wenn wir diese Sammlung als die inhaltreichste Publikation bezeichne!?,
deren sich die Grimmliteratur neben dein „Briefwechsel zwischen Jakob und Wil¬
helm Grimm aus der Jugendzeit" (Weimar 1881) überhaupt rühmen kann. Für
Jakobs diplomatische Thätigkeit, von der man bisher so gut wie nichts wußte, siud
hier zum erstenmale umfassende, akteumäßige Mitteilungen erfolgt, sodaß dieser Ab¬
schnitt seiner Biographie künstig viel mehr hervortreten wird. Die unglaublich
schlechte Behandlung, welche beide Brüder während ihrer bibliothekarischen Thätig¬
keit in Kassel erdulden mußten, wird durch eine Reihe von Eingaben und Ver¬
weisen illustrirt. Jakob Grimm mußte einmal Beschwerde führen, weil das Hof¬
sekretariat ihm beharrlich die Titulatur „Herr" verweigerte. Namentlich durch
diese Beziehungen zur Bibliothek erhält der hier mitgeteilte Briefwechsel besondre
Bedeutung. Die Brüder snudten an verschiedne Freunde, besonders an Hupfeld,
Suabedisseu, den Pfarrer Bang neue Erwerbungen der Bibliothek und begleiteten
diese Bücherscndungen mit ihren Urteilen über die Werke selbst. So erhalten wir
über die wichtigsten der zwischen 1816 und 1829 erscheinenden Bücher verschiedensten
Inhalts Bemerkungen, besonders Wilhelm Grimms; und für die Literaturgeschichte ist
es eben kein unwichtiger Beitrag, zu erfahren, welchen unmittelbaren Eindruck die
besten der Zeitgenossen von den literarischen Erscheinungen gewannen. Ich hebe in
dieser Hinsicht aus vielem Wilhelm Grimms Urteile über die einzelnen Hefte von
Kunst und Altertum, über Goethes italienische Reise, über Calderon, von dem er trotz
seiner romantischen Neigungen sich abgestoßen fühlte, hervor. Allein auch über Er¬
eignisse und Personen sprechen beide Brüder, an vertrauteste, gleichgesinnte Freunde sich
wendend, ihre Ansichten so rückhaltlos aus, wie dies in andern Briefwechseln Wohl kaum
der Fall sein dürfte. Urteile wie Wilhelms über Tiecks Novellen: „Der Mann hat
einen eiskalten Stein im Herzen liegen, aber ungemeine Gaben und eiuen scharfen Blick"
verdienen gewiß mehr als manche kleine Rezension der Brüder, welche die kleineren
Schriften wieder hervorgezogen haben, unsre Aufmerksamkeit. Am 29. Mai 1821
schreibt Wilhelm um Suabedissen: „Unwillkürlich, wegen der Gebrechlichkeit der
menschlichen Natur, wird jeder zu einer Partei gehören, aber das Unrecht fängt
da an, wo man mit Bewußtsein oder Absicht sich absondert und nur den Irrtum,
der in jeder Partei liegt, weiter treibt. Denn das Gute ist keine, ob man es
gleich gesagt hat. Ich neige mich mehr zu der geschichtlichen Partei, weil ich
denke, die beste Vernunft hat sich in der Geschichte kundgegeben, und in dem ge¬
waltsamen Gegeneinandertreiben einer langen Zeit sind die hellsten Funken herauf-
gesprungen." Neben den freundschaftlichen Briefwechseln finden sich auch solche,
welche aus gemeinsamem wissenschaftlichen Streben ihren Ursprung nahmen, so Jakobs
Briefwechsel mit Vilmar, L. Diefenbach, I. W. Wolf und die umfangreiche Kor¬
respondenz beider Brüder mit Weigand, der nach Jakobs Tode die Fortführung
des deutscheu Wörterbuches übernahm. Aufsehen, unangenehmes und angenehmes,
je nach der Parteistellung, werden Jakob Grimms wiederholte scharfe Urteile über
Lachmann und seine Sympathien für Franz Pfeiffer erregen. Es war ihm lieb,
daß Pfeiffer der Haupt'schen Zeitschrift eine neue Zeitschrift (die Germania) ent¬
gegensetzte; Landmanns „durchgeführte Reduktion des Textes" der Nibelungen er¬
schreckte thu. Im Gegensatze zu Wilhelm, welcher sich zur Berliner Germnnisten-
schule hielt, drückt Jakob öfters seine Abneigung gegen Lachmnnns Theorien aus.
Interessante Briefe Mülleuhvffs an Weigand, in welchen er über sein Lebenswerk,
die deutsche Altertumskunde, spricht, sind in den Anmerkungen, die den größern
Teil des zweiten Bandes füllen, mitgeteilt. Neben Auszügen aus den an die
Grimms gerichteten Briefe enthalten die Anmerkungen auch eine erkleckliche Anzahl
von Grimmbriefen selbst, die Stengel zu spät zur Verfügung gestellt wurde», um
noch an richtiger Stelle eingeschaltet werden zu können. Dem Herausgeber der
hübsch ausgestatteten (leider nicht gehefteten) Bände gebührt für die schöne, die
verschiedenartigsten Interessen befriedigende Sammlung und den Eifer, mit welchem
er auf einem ihm fernliegenden Gebiete erklärendes Material in den Anmerkungen
zusammenzustellen suchte, der warme Dank aller derjenigen, die Teilnahme und Ver¬
ständnis besitzen für die herrliche Erscheinung des einzigen, unvergleichlichen Bruder-
Einer von unsern Bismarcks, Roman von Fürst W. Mestscherski. Aus dem Rus¬
sischen von G. Keuchel, Berlin, Deubucr, 1336.
Die russische Literatur ist jetzt vorwiegend satirisch: die Gährung des ganzen
nationalen Lebens, die Unzufriedenheit mit allen Zuständen, das Bedürfnis nach
Reformen in allen Richtungen gelangen in ihr zum Ausdruck. Auch dieser uus
neu vermittelte Roman hat einen eminent satirischen Charakter. Während aber
Turgenjew, Gontscharvw, Dostojewski.), vollends Tolstoi in die Tiefen der Volks¬
seele tauchen, diesen Volkscharakter darstelle» und dabei, obgleich satirisch, immer
noch ihren Werken einen großen Poetischen Geduld verleihen, tritt bei Fürst Mest¬
scherski, ein so genauer Kenner des Volkes er anch zu sein scheint und so wirksam
sich auch seine flotte, leicht hingeworfene Skizze erweist, die sogenannte Gesellschaft
in den Vordergrund und die Poesie hinter die Satire stark zurück. Ju dem vor¬
liegenden Romane hat er das Politische Strebertum aufs Korn genommen, nud
obwohl der Autor selbst dem hohen Adel angehört, so läßt er gerade auf die hei¬
mische Aristokratie die wuchtigsten Keulenschläge seines Hohnes fallen. Der Streber-
typns, der im Mittelpunkte dieses politischen Sittengemäldes steht, ist Graf Iwan
Alcxandrowitsch Obedjäsinow. Eine oberflächliche Erziehung in einer Militärbildungs-
austalt, eine im Salon erworbene höhere Offiziersstelluug, ein paar Jahre leichtfertigen
Lebens in Paris, intime Beziehungen zu den stellenvcrleihenden Petersburger
Kreisen: dies hält der Graf für genügend, einen wichtigen Gvuverneurposten, die
oberste Leitung der politischen Verwaltung einer Provinz zu übernehme». Er ver¬
körpert, nach der Absicht des Autors, im Grunde nur seine ganze Gattung; denn
in der That sind — nach Mestscherski — alle Gouverneurs und die Leiter der
meisten obersten Behörden von diesem Schlage; sie repräsentiren nur, die eigentliche
Arbeit und That fällt ihrem „Kanzleidirektor" zu, einem Bürgerlichen natürlich, der
sich durch Fleiß und Talent emporgearbeitet hat. Das erste, was der Graf nach seiner
Ernennung thut, ist daher auch — abgesehen von der eiligen Anschaffung sämtlicher
Werke, welche die Politik, Geschichte, Landwirtschaft, Statistik?c. Rußlands behandeln —
die Anstellung eines tüchtigen Kanzleidirektors. Aber der ehrliche Mann kam: es im
Dienste des Grafen nicht lange aushalten. Seit Sedan schwärmt der Graf für Bismarck,
wie er vorher für Napoleon III. geschwärmt hat Er meint, mit dem Einzelnen der
politischen Geschäfte brauche er sich nicht abzugeben, er will nur immer so ein bei¬
läufiges Resümee des Akteneinlaufs haben, und glaubt, er habe nur so im allge¬
meinen die Leitung zu führen, und da wäre ein rechter strammer Wille allem
schon allsreichend, damit allein werde er schon die Literaten, die Sozinlisten, die
Nihilisten, kurz eos rouZvL 1^, die er auch dort wittert, wo keine sind, zu Paaren
treiben, mit rechter Energie werde er, worauf es allein ankommt, die Regierungs-
gewalt schon stärken — ganz s. I» Bismarck. Dabei ist das Komische einmal, daß
der gute Graf vou seinem deutschen Ideale immer in französischen Phrasen schwärmt,
und sodann, daß er bei seiner Eitelkeit und bodenlosen Unwissenheit sich von den
ersten besten Schurken nasführen läßt. Man kaun sich nun denken, wie seine Re¬
gierung der Provinz anschlägt. Er. der kein Gesetz über sich anerkennt, iuaugurirt
die Herrschaft der Willkür, der Bestechlichkeit, der Korruption überall. Die ehr¬
lichen Leute ziehe» sich von ihm zurück, die Speichellecker bekommen die Macht.
In dein Gefühle seiner Souveränität scheut er auch nicht den Skandal, indem er
stadtkundig mit einer verheirateten Fran — auch einer Streberin — im Konkubinat
lebt. Seine größte politische That ist, daß er gleich bei seinem Regierungsantritte
rückständige Steuern von den Bauern in einer Weise eintreiben läßt, daß ganze
Dörfer darüber zu Gründe gehen; auch gelegentlich sich selbst ans Kosten des Landes
zu bereichern, vergißt der ehrenwerte Graf nicht. Nur eins fürchtet er: die Oeffent-
lichkeit der Presse. Darum respektirt er auch das Briefgeheimnis nicht. Aber schließlich
wird er auch dieses Lebens in der Provinz satt; ist er doch gleich von vornherein
mit keinem andern Gedanken hingegangen, als von dort längstens nach zwei Jahren
wieder in das geliebte Petersburg zurückzukehren, um eine höhere Stellung einzu-
nehmen und Karriere zu machen. Aber in Petersburg muß er erfahren, daß beim
Ministerium eine Unzahl von Klagen gegen seine Negierung eingelaufen sind —
Verleumdungen natürlich, die er nicht einmal der Erwiederung für wert hält. Er
kehrt also nicht wieder in die Provinz zurück, obgleich er dort jene Fran mit zwei
Kindern hinterlassen hat; diese wird mit Geld abgefertigt. Auf die Nachricht von
dem Rücktritte des Grafen fallen sich die Provinzialen ans offener Straße jubelnd
in die Arme. Allein der Neffe eines fürstlichen Generaladjutanteu und vielfachen
Millionärs hat uoch lauge nicht ausgespielt. Protektion verschafft ihm, eine andre
hohe Anstellung, in der natürlich wieder nicht er, sondern ein Kanzleidirektor die
eigentliche Arbeit zu verrichten hat. Aber da er auch diesem gegenüber Bismnrck
spielen will und durch seine Frechheit das ganze Departement zur Demission ver¬
anlaßt, so muß er — krankheitshalber — ins Anstand verreisen, denn die Zei¬
tungen haben schon über sein Auftreten zu sprechen begonnen.
Dies ist ungefähr der Inhalt des erwähnten Buches, welches einen tiefe»
Einblick in die russische» Zustände gewährt. Man hat bei all seinem Streben
nach künstlerischer Objektivität stets das Gefühl, daß man es mit einem Satiriker
zu thun hat, dein bei seinem bittern Spotte das Herz über die Schäden des Vater¬
landes blutet; zuweilen macht er sich auch, aber nie pathetisch-sentimental, nnmittel-
bnr Luft, Dem deutschen Geiste aber konnte keine größere Huldigung dargebracht
werde» als dadurch, daß er zur idealen Folie für ein solches Bild benutzt wurde.
Zur Beachtung.
Mit dem vorliegenden Beste beginnt diese Zeitschrift das Guartal ihres 45. Jahr¬
ganges, welches durch alle Buchhandlungen und Postanstalren des In- und Auslandes zu
beziehen ist.
preis sür das Guartal g Mark, wir bitten um schleunige Ausgabe des neuen
Abonnements.
Leipzig, im April Mo. Die Verlagshandlung.
is Fürst Bismarck in der berühmten Rede vom 28. Januar d. I.
sagte, die Deutschen gäben in Ungarn ihren Besitzstand auf, da
beeilte sich sofort der „Pester Lloyd," das deutsche offiziöse Organ
der ungarischen Negierung, bestimmt, da es in der verständlichen
deutschen Sprache geschrieben ist, Deutschland über die magyarische
Politik zu täuschen, dieser Behauptung des Reichskanzlers entgegenzuhalten
(Ur. 30 vom 30. Januar), daß die Deutschen in Ungarn in ihrem Besitzstand
nicht zurückgingen: „Es giebt nach der letzten Volkszählung in Ungarn nicht
ein Komitat, wo sich nicht Deutsche vorfänden, und in einzelnen Komitaten erhebt
sich ihre Zahl bis zu 70 Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie haben ihre alten
Sitze behalten und ihren alten Besitz, wie ihre alten politischen Tugenden. Stets
haben sie ein lcmdestrcues und verläßliches, selbstbewußtes und freiheitlich
gesinntes Element der Bevölkerung Ungarns abgegeben, und so ist es auch heute
der Fall. Wir wüßten fürwahr keine Veranlassung, um derentwillen sich die
Deutschen irgend unbehaglich fühlen sollten auf diesem ungarischen Boden, wo
kein Minister es wagen würde, mit einer Versammlung von 300 unbescholtenen
deutschen Kleinbauern in der Art zu sprechen, wie Fürst Bismarck mit dem
preußischen Landtage und mit dem deutschen Reichstage spricht."
Es ist in der That rührend, wie der „Pester Lloyd" sich hier plötzlich
der Deutschen annimmt. Wenn er keine Ursachen weiß, warum sich die Deutschen
in Ungarn nicht wohl fühlen sollen, in Deutschland kennt man sie: man kennt
die unerhörten Magyarisirungsanläufe, die Mißhandlungen durch eine ungarische
Verwaltung, die es ermöglicht, daß freie Bauern von Beamten an den — Juden
verpachtet werden zur Straßenarbeit, die Bestechlichkeit der Richter, sodaß
der Justizminister soeben gegen den Strafsenat des Pester Gerichtshofes
eine Untersuchung eingeleitet hat, den Sprachenzwang, der mit dem Gesetz und
gegen dasselbe in Verwaltung und Gericht platzgegriffen hat u. s, w. Insbe¬
sondre ist jene Erinnerung an 300 unbescholtene deutsche Kleinbauern durchaus
unpassend. Denn sie ruft aller Welt sofort ins Gedächtnis, daß im vorigen
Jahre die Banaler Schwaben einen landwirtschaftlichen Verein gründen wollten,
und das; ihnen dies ganz ohne Grund nicht gestattet wurde. Und als mehr
als 300 derselbe» eine Deputation ans Ministerium nach Pest schickten, ließ
man sie garnicht vor!
Die Zeit ist vorüber, wo die Welt sich durch magyarische Freihcitsphrasen
blenden ließ. Hier soll im Augenblicke nicht die ganze Unwahrheit des unga¬
rischen „Staates" aufgedeckt werden; wir begnügen uns, ohne viel Worte darüber
zu machen, eine ungeschminkte Darstellung der deutschen Schulverhältnisse in
Ungarn zu geben. Das Ergebnis wird auch hier deutlich zeigen, inwieweit
der Reichskanzler recht hatte zu sagen: die Deutschen geben ihren Besitzstand auf,
d. h. sie werden darin durch die ungarische Staatsgewalt immer mehr geschädigt,
sei es durch offnen Angriff, sei es durch bewußte Vernachlässigung ihrer natio¬
nalen Interessen.
Es ist stets ein Fest für den ungarischen Reichstag und die Regierung,
wenn der jährlich erscheinende Bericht über das Unterrichtswesen wieder einen
Rückgang der deutschen Schulen in Ungarn feststellt; anch der „Pester Lloyd"
hat nie die jährlich sich bietende Gelegenheit ergriffen, gegen diesen Rückgang,
den er selbst stets freudig begrüßte, irgend ein verurteilendes Wort zu sprechen.
Im Jahre 1869 gab es in Ungarn und Siebenbürgen 1232 deutsche Schulen,
im Jahre 1880 867. Es hat sich also in elf Jahren die Zahl der deutschen
Schulen um 365 vermindert. Seitdem hat die Abnahme nicht stillgestanden.
Im Jahre 1883 zählte der Minister in seinem Bericht nur noch 690 deutsche
Schulen, und Ende 1884 nur noch 676! Also fast die Hälfte der deutschen
Schulen ist in fünfzehn Jahren „ungarischer Freiheit" zu Grunde gegangen!
Dieser Verlust wird aber noch bedeutender, wenn wir erwägen, daß dazu
noch die Aufhebung der deutschen Gymnasien kommt, deren es heute im engern
Ungarn kein einziges mehr giebt, wie auch seit 1883 der deutsche Parallelkursus
an der Aug.-Altenburger landwirtschaftlichen Akademie aufgehoben ist. Auch
das vermehrt die Verluste, daß die eingegangenen deutschen Schulen sich bloß
im engerm Ungarn befinden, da Siebenbürgen an denselben — es soll später
berührt weiden, warum — keinen Anteil hat. Zieht man also die in Sieben¬
bürgen bestehenden deutscheu Schulen ab von den uugarländischen, so bleiben
sür die im engern Ungarn wohnenden etwa anderthalb Millionen Deutschen etwas
mehr als 400 Schulen, in denen deutsch unterrichtet wird. Das ist verzweifelt
wenig. Noch viel bedenklicher wird das im einzelnen. Im Jahre 1832 war
die Unterrichtssprache in allen Schulen Ofen-Pesth die deutsche; im Jahre 1843
gab es unter neun Volksschulen bloß zwei magyarische; im Jahre 1882 aber
kounte der Unterrichtsminister Trefort in seinem Bericht schreiben: „Die vierzehn
Schulen mit magyarischer Unterrichtssprache haben sich bis auf 133 vermehrt;
die im Jahre 1869 noch vorhandnen zwei Schulen mit deutscher Unterrichts¬
sprache sind vollständig eingegangen, und die Zahl der magyarisch-deutschen ist
von 28 auf sechs herabgesunken. Auf diesem Gebiete hat das Munizipium der
Hauptstadt ein Resultat erreicht, das den Dank der Nation mit Recht verdient."
Im Pester Kvmitat ist bei mehr als 12,000 schulbesuchenden deutschen Kindern
eine einzige rein deutsche Volksschule, im Temescher Landkreise besteht für 22,949
deutsche Kinder keine einzige deutsche Schule; dasselbe ist der Fall im Vesprimer
Landkreise mit über 6000. im Stuhlweißenbnrger mit über 3000, im Abaujer
und Gömörer mit über je 1000 deutschen Schulkindern der Fall.
Aber selbst den noch vorhandnen deutschen Volksschulen ist die Axt an die
Wurzel gelegt. Denn die Hauptsache für die Schule ist doch der Lehrer. Es
giebt aber in Ungarn (wieder ohne Siebenbürgen) keine einzige deutsche Volks-
schullchrerbildnngsanstalt. Nun mag man sich vorstellen, was für ein deutscher
Unterricht das sei» kann, den ein Lehrer erteilt, welcher, wenn er im besten
Falle eine deutsche Volksschule besucht hat, dann nichts Deutsches weiter für seine
Bildung erhalten hat, bis er selber deutsch unterrichten sollte! Ein einziger
Blick in die im Bruat erscheinende „Neue ungarische Schulzeitung" zeigt die
ganze Trostlosigkeit. Die Zeitung hat das rühmenswerte Bestreben, für die
deutsche Schule einzutreten, aber die wenigsten, die hinein schreiben, können ein
fehlerloses Deutsch schreiben! Uuter solchen Umständen läßt es sich nicht leugnen,
daß Fürst Bismarcks Wort vom Verluste des deutschen Besitzstandes, auf die
Schulen in Ungarn angewendet, seine unanfechtbare Wahrheit hat.
In Siebenbürgen kann man von einem Rückgange der deutschen Schulen,
wenn man bloß die Zahl ins Auge faßt, nicht rede«. Die Ursache liegt darin,
daß da die Schule seit uralter Zeit mit der Kirche in Verbindung steht, sie von
ihr erhalten und beschützt wird. Die evangelische Landeskirche Augsburgischen Be¬
kenntnisses in Siebenbürgen, die im wesentlichen zusammenfällt mit dem sächsischen
Volke in Siebenbürgen, erhält sämtliche deutsche Schulen Siebenbürgens, d. h.
die Einzelgemeinde erhält überall die Volksschule, und wo sie nicht allein imstande
ist, das zu thun, tritt die Gesamtkirche helfend ein. Sie hat noch keine einzige
deutsche Dorfschule preisgegeben, und diesem Zusammenhange allein ist es zu
verdanken, daß ein Verlust noch nicht zu verzeichnen ist.
Umso größer aber ist die innere Bedrückung dieser noch vorhandnen deutschen
Schulen. Mit Gesetzen und Verordnungen, und wo diese nicht auszureichen
scheinen, gegen diese Gesetze, wird gegen sie vorgegangen, wie das Gesetz auch
auf audern Gebieten in Ungarn dazu da ist, daß man es in allen den Fällen
übertritt, wo es den nichtmagyarischcn Nationalitäten Schutz gewährt. So
lautet § 17 des 44. Gesetzartikels von 1868 wörtlich: ,,Nachdem(!) der Erfolg
des öffentlichen Unterrichts aus dem Gesichtspunkte der allgemeinen Bildung
und des öffentlichen Wohles das höchste Ziel des Staates ist, so ist der
Minister für öffentlichen Unterricht verpflichtet, in den Staatslehraustalten
möglichst dafür zu sorgen, daß die Bürger einer jeden Nationalität des Landes,
wenn sie in größern Massen zusammenleben, in der Nähe der von ihnen be¬
wohnten Gegend sich in ihrer Muttersprache bilden können bis dahin, wo die
höhere akademische Bildung beginnt/' Wie dies gehalten wird, das beweisen
auch die oben mitgeteilten Zahlen,
Die Bedrückung der deutschen Schulen in Ungarn stützt sich aber vor allein
auf den 18. Gesetzartikcl von 1879 „über den Unterricht der magyarischen
Sprache in den Volksunterrichtslehranstalten." An seine Spitze stellt das Gesetz
eine Unwahrheit: „Damit jedem Staatsbürger Gelegenheit zur Aneignung der
magyarischen Sprache als der Staatssprache geboten werde," verfügt es
folgenden Zwang: Jeder Volksschullehrer, der von 1872 an bis 1881 ein
Seminar durchgemacht hat, muß binnen vier Jahren, sowie jeder, der es
von 1882 an durchmacht, die magyarische Sprache sich so angeeignet haben,
daß er sie „in Wort und Schrift" beherrscht, und seit dem 30. Juni 1882
darf niemand angestellt werden, der diese Forderung nicht erfüllt. Der
staatliche Schulinspektor hat die Zeugnisse der aus nichtmagyarischen Lehr¬
anstalten austretenden Schullehrcrkandidaten zu unterschreiben. I» sämtlichen
Volksschulen wird die magyarische Sprache als Zwangsunterrichtsgegenstand
gelehrt.
Es war nur natürlich, wenn gegen dieses Gesetz alle nichtmagyarischen
Völker Ungarns — und das sind zwei Drittel der Gesamtbewohner — sich
entschieden wehrten. Von den Magyaren hatte ein einziger, Mocsary, den
Mut, seine Überzeugung dahin auszusprechen, daß es unwahr sei, zu behaupten,
das Gesetz bezwecke die Förderung der Kultur: „Ich muß es aussprechen, daß
ich einen solchen Mangel an Aufrichtigkeit weder der magyarischen Rasse noch
des Staates würdig halte. Denn es ist uns allen sehr wohl bekannt, daß wir
unter der Ausbreitung der magyarischen Sprache nichts andres verstehen als
die thmilichste Beseitigung des großen Übelstandes, daß nämlich jene fünfzehn
Millionen Menschen, die dieses Vaterland bewohnen, nicht sämtlich ihrem Ur-
stamm nach Magyaren sind."
Genug, das Gesetz wurde angenommen. Es muß dabei besonders betont
werden, und der Motivenbericht sagt es ausdrücklich: „daß es nie die Absicht
des Staates oder der Gesetzgebung war und auch jetzt nicht ist, die Nationali¬
täten ihrer eignen Muttersprache zu berauben oder auch nur darin einzuschränken.
Die anderssprachigen^) Staatsbürger dazu zu zwingen, daß sie außer ihrer
Muttersprache auch noch die Staatssprache sich aneigneten, wäre ein zweckloses
Bestreben. Aber jedermann die Möglichkeit zu bieten, daß er dieselbe schon im
Kindesalter sich aneigne, ist eine solches!) Wohlthat, wofür(!) dem Staate nur
Dank gezollt werden kann." Man sieht die Gleißnerei! Die Möglichkeit soll
geboten werde», der Zwang wird geleugnet in dem Motivenberichte zu dem¬
selben Gesetze, das den schwersten Zwang verhängt!
Aber ärger war noch, was nachkam. Kaum war das Gesetz geschaffen, so
erließ der Minister unter dem 29. Juni 1879 einen „Lehrplan für die Volks¬
schulen mit nichtmagyarischer Unterrichtssprache," der dem ganzen Gesetze sofort
eine andre Deutung und Bedeutung gab. Es ist das überhaupt in Ungarn
etwas ganz Gewöhnliches, daß die Verordnungen den Gesetzen schnurstracks ent¬
gegenstehen. Das Gesetz ist Schein, die Ausführung enthält erst die wahren
Gedanken. Der achtunddreißigste Gesctzartikel von 1868 giebt (Z 11) den Kon¬
fessionen das Recht. Schulen zu errichten und das Lehrsystem festzustellen; es
ist eine der Grundbestimmungen, durch welche auch die nationale Bildung ge¬
währleistet ist, da nationale Schulen in Ungarn bloß von den Konfessionen er¬
halten werden. Im Handumdrehen wird also — ohne daß man es ausdrücklich
sagt — eine solche grundlegende gesetzliche Anordnung abgeschafft. Jener Lehr¬
plan vom 29. Juni bestimmt wörtlich: „Als Mittelpunkt des Elementar¬
unterrichts dient die Muttersprache, mit welcher in Verbindung die magyarische
Sprache gelehrt werden muß____ Sowohl in dem Unterrichte der Muttersprache
als der in Verbindung mit dieser zu lehrenden magyarischen Sprache müssen
die Schüler in solcher Art geleitet werden, daß das Kind in denselben sowohl
seine eignen Gedanken als auch seine im Wege der Anleitung erworbenen Kennt¬
nisse deutlich ausdrücken" u. s. s. kann. Wenige Stunden ausgenommen sollen
Muttersprache und magyarische Sprache sofort kombinirt, gleichzeitig und gleich¬
mäßig getrieben werden, wie denn für beide Sprachen dasselbe Ziel festge¬
setzt ist.
So hatte denn das Gesetz, das die Aufnahme des Magyarischen unter die
Zwnngslehrgegenstände anordnete, eine überraschende Auslegung gefunden. Alle
Vorstellungen dagegen haben natürlich nichts gefruchtet. Und die Folgen? Die
„Neue ungarische Schulzcitung" schildert sie (Ur. 14 vom 2. April 1885)
traurig: „Der Erfolg ist, daß Kinder nichtmagyarischen Stammes, welche eine
Schule mit gemischter Sprache bis zum vollendeten zwölften Lebensjahre besucht
haben, nicht in eiuer einzigen Sprache erklecklich lesen, noch viel weniger schreiben
können, ja im Erkennen und Benennen der Buchstaben noch Schwierigkeiten
finden, das aus den Schulbüchern gelesene nicht verstehen, einfach erweiterte
Sätze nicht fehlerlos auszusprechen imstande sind, ja nicht einmal den Artikel
ihrer Muttersprache richtig gebrauchen können und die magyarische Sprache
noch unvollkommener als ihre Muttersprache sprechen." In der That: Loli-
tucliirsm ks,oiunt>, xg-osur g,WSl1g,ut,.
Aber die eine Ungerechtigkeit gebiert sofort eine zweite. Es mußte nun
von selbst die Frage entstehen: Wie soll der Unterricht in den vielen Schulen
erteilt werden, wo die Lehrer nicht magyarisch können? Das Gesetz giebt sichere
Antwort; K 4 des achtzehnten Gesetzartikels von 1879 sagt: „Bis dahin
jedoch, als(!) zum Unterricht in der magyarischen Sprache längliche Lehrer in
hinreichender Zahl vorhanden sind, kann diese Vorschrift des Gesetzes nur stufen¬
weise durchgeführt werden. In jenen (!) Schulen, bei denen ein befähigter Lehrer
nicht angestellt ist, hat dieser Unterricht sofort zu beginnen, sobald ein tauglicher
Lehrer in Verwendung kommt. (!)" Das heißt doch unzweifelhaft: Solange
die vor 1872 angestellten Lehrer, die nach dem Gesetze zur Kenntnis des
Magyarischen nicht verpflichtet sind, und thatsächlich die Befähigung zu diesem
Unterrichte nicht haben, angestellt sind, soll das Magyarische nicht gelehrt werden.
Da trat nun wieder die allzeit bereite Verordnung ein, die sich durch das Gesetz
nicht beirren läßt. Im Juni 1886 verordnete der Unterrichtsminister Trcfvrt,
daß in allen den Schulen, wo des Magyarischen unkundige Lehrer angestellt
seien, Hilfslehrer für die magyarische Sprache anzustellen seien. Ein gesetzlicher
Grund hierfür fehlte gänzlich. Darum und weil es vom pädagogischen Stand¬
punkte ans geradezu unausführbar ist, erhob die evangelische Landeskirche
Augsburgischen Bekenntnisses in Siebenbürgen, deren deutsche Schulen am tiefsten
getroffen werden, dagegen Einspruch. Die Sache schien auf dem besten Wege
zur Beilegung; der Minister erledigte die Eingabe der evangelischen Landeskirche
dahin, daß — er kennt doch die Bedürftigkeit der sächsischen Kirchengemeinden,
die ihre Schulen aus eignen Mitteln, durch Anlage erhalten — die Hilfslehrer
bloß in denjenigen Gemeinden angestellt werden sollen, die zur Bezahlung der¬
selben das Vermögen haben, in den andern also von deren Anstellung abgesehen
werden dürfe. Aber zu derselben Zeit — es klingt unglaublich — läßt D. Bcmffy,
der extremste Heißsporn des Ultramagyarismns, Obergespan des Bistritz-Naß-
oder Komitats, in welchem unter einer Bevölkerung von 23 113 Deutschen und
62 048 Rumänen sich auch — 3540 Magyaren befinden, den Verwaltungs¬
ausschuß des Komitats, welchem hierfür jede gesetzliche Kompetenz fehlt, eine
fünfprozentige Steuer auf alle diejenigen Gemeinden legen, welche Lehrer
haben, die vor 1872 angestellt und der magyarischen Sprache nicht mächtig
sind, um mit diesen Mitteln die „Hilfslehrer" zu erzwingen. Ja wer regiert
denn in dem Lande? Und was will der ganze Sturm? Als 1851 unter
Napoleon in Lothringen den deutschen Schulen das Lesen auch in französischer
Sprache und abwechselnd deutsche und französische Diktate befohlen wurden, als
das Reglement vom 30. Januar und 30. Juni 1869 für die Elementarschulen
im untern Elsaß anordnete, daß auch die Elemente der französischen Sprache
unterrichtet werden sollten, da war es anf eine Entnationalisirung jener Schulen
und der Deutschen dort abgesehen. Dasselbe geschieht in Ungarn auf Grund
eines Gesetzes, dessen Motivcnbericht sagt: „Es ist nicht die Absicht des Staates
oder der Gesetzgebung, die Nationalitäten ihrer Sprache zu berauben oder sie
auch nur darin einzuschränken." Weiter kann die offizielle Unwahrheit doch
nicht getrieben werden.
Zu derselben Zeit aber hat der Angriff auf die deutschen Schulen auch
Von einer andern Seite begonnen. Der oben schon berührte § 11 des 38. Gesetz¬
artikels von 1868 läßt den „Konfessionen" das alte Recht, über das „Leyr-
shstem" in ihren Schulen zu verfügen; die zu Recht bestehenden siebenbürgischen
Religionsgesetze gewährleisten den siebenbürgischen Konfessionen dieses Recht
»och ganz besonders. So hat denn die evangelische Landeskirche Augsburgischen
Bekenntnisses in Siebenbürgen die Schulpflicht ihrer Angehörigen aus acht Jahre
für die Mädchen, auf nenn für die Knaben festgestellt. Es ist bezeichnend, in
welcher Weise nun hier der Kampf aufgenommen wird. Der Obergespau, wieder
der von Bistritz, B. Banffh, hält sich durch jene Bestimmung des Gesetzes nicht
gebunden und wendet die vom Gesetz für Staats- und Gemeindeschulen gegebne
Vorschrift, die für diese bloß eine sechsjährige Alltagsschulc festsetzt, auch auf
die evangelisch-sächsische an, indem er verfügt, daß auch die evangelischen Schul¬
kinder zum Besuche ihrer evangelischen Schule über das sechste Schuljahr, d. i.
das zwölfte ihres Lebens, nicht verpflichtet seien und eine Strafe für un¬
gerechtfertigte Versäumnisse nicht auferlegt werden dürfe.
Der Zweck dieser Maßregel liegt auf der Hand: auf diefem Umwege soll
die längere Schulpflicht der Deutschen, deren Bildungsziel so wie so durch Ein¬
führung des magyarischen Unterrichts hcrabgeorückt worden ist, unmöglich
gemacht, ihre Bildung noch mehr gemindert und sie selbst damit weniger wider¬
standsfähig gegen die Magyarisirung gemacht werden. Vor zweihundert Jahren
stellten die Jesuiten in Ungarn einen ähnlichen Grundsatz auf, uur einem andern
Ziel zuliebe: erst machen wir sie ungebildet, dann zu Magyaren. Daß unter
solchen Umständen der „Besitzstand der Deutschen" in Ungarn auf das schwerste
gefährdet und in dem eigentlichen Ungarn in der That auf dem Gebiete des
Unterrichts und der Erziehung traurig zurückgegangen, in Siebenbürgen auf das
schwerste bedroht ist, ist unzweifelhaft.
Natürlich haben auch die Gymnasien unter diesem System zu leiden. Für
sie ist maßgebend der dreißigste Gcsetzartikel von 1883 des sogenannten Mittel-
schulgesetzcs. Es hat insbesondre die sächsischen Gymnasien in Siebenbürgen,
und das sind die einzigen deutschen in Ungarn, schwer geschädigt, unter anderm
dadurch, daß das Griechische in jenen Gymnasien nur in den vier letzten Klassen,
statt wie früher in sechs Klassen Unterrichtsgegenstand ist, eine tiefe Scheidung
vom Lehrsystem der deutschen Gymnasien. Insbesondre wird die Zukunft dieser
Anstalten dadurch schwer bedroht, daß alle Lehramtskandidaten, auch die sich
bloß an deutscheu Gymnasien wollen anstellen lassen, die Lehramtsprüfung vor
magyarisch-staatlichen Kommissionen ablegen müssen, statt vor der Kommission
der eignen Landeskirche, die jene Anstalten erhält und die jenes Recht nach dem
geltenden Kirchenstaatsrecht Siebenbürgens stets ausgeübt hat, nicht zum Schaden
der Bildung und des Landes. Vom Jahre 1893 an darf diese Prüfung nur in
magyarischer Sprache abgelegt werden, wie auch bis dahin von jedem Kandidaten
ein großes Maß magyarischer Sprach- und Literaturkenntnis verlangt wird. Das
alles ist geradezu wie gerichtet auf eine Verkürzung des Besuchs deutscher Hoch¬
schulen für die Nichtmagyaren.
Dazu kommt auch hier, daß schon der Anfang gemacht worden ist, über
das Gesetz hinauszugehen. Es ist z, B. darin keine Rede von einem Kollegicn-
zwang; er wurde in der Debatte des Reichstages seinerzeit vielmehr geleugnet.
Jetzt beginnen aber die Prüfungskommissionen einzelne Kandidaten nicht zuzu¬
lassen, weil diese nicht alle Vorlesungen gehört hatten, die nach ihrer Ansicht
hätten gehört werden sollen.
Vor allem aber trat auch dieses Gesetz mit einer Unwahrheit ins Leben.
Es behauptete, den Konfessionen von ihrer gesetzlich gewährleisteten Freiheit in
Bezug auf die Einrichtung von Schulen nichts zu nehmen, während es sie
thatsächlich nahezu vernichtet. Dabei muß wieder betont werden, daß in Ungarn
bloß von den Kirchen uichtmagharische Gymnasien erhalten werden, da der Staat
gegen das Gesetz keine deutschen Anstalten errichtet. So kommt es, daß die
gesamte Intelligenz der Deutschen in Ungarn, z. B. in Pest, im Banat, nur
durch magyarische Mittelschulen geht. Hochschulen giebt es auch bloß magyarische
im Lande; da läßt sich denken, wie schwer es dem jungen Manne deutscher Nation
werden muß, auf solchen: Bildungsgang deutsches Fühlen und Empfinden, die
Wertschätzung deutscher Lebeusideale zu bewahren, wiewohl diese zur Treue
gegen den ungarischen Staat in keinem Gegensatze stehen, vielmehr die aus solchen
Wurzeln erwachsene Arbeit Jahrhunderte lang einer der ersten Träger aller
Kultur in Ungarn gewesen ist und geradezu den Staat mit hat gründen helfen.
In demselben Sinne wie gegen die deutschen Volksschulen geht die Ne¬
gierung endlich auch gegen die deutschen Gewerbeschulen vor. Noch ehe nach
dem neuen Gewerbegesetze die Gewerbelehrlingsschulen überall anbefohlen wurden,
hatte die sächsische Nationsuniversität (d. i. die frühere politische Vertretung
des Sachsenlandes) Unterstützungen an Geld bewilligt, daß in den einzelnen
sächsischen Orten derartige Schulen begründet werden krönten. Bezüglich der
unmittelbaren Aufsicht bestehen zwischen der Universität und den einzelnen Orten,
die zur Erhaltung jener Schulen selber noch namhafte Zuschüsse geben, Ver¬
einbarungen. Auf Grund derselben sind überall Schulkommissionen eingesetzt,
welche von den betreffenden Ortsvertretungen (Kommumtäten) gewählt werden.
Die Durchführungsverordnung des Ministers vom 23. Juli 1884 wurde überall
genau eingehalten. Da machte, gegen alle gesetzlichen Bestimmungen, an den
einzelnen Orten die Negierung die Forderung geltend, in den einzelnen Gewerbe¬
schulkommissionen zwei Vertreter zu haben. In Schäßburg sollte sie der Ober¬
gespan, in Hermannstadt der Schulinspektor dem Minister vorschlagen, während
sonst bei andern Gewerbeschulkvmmissiouen, selbst solcher Schulen, die eine staat¬
liche Unterstützung genießen, der Staat keine Vertreter hat, so nicht in den
magyarischen Städten Vasarhely, Szentes, Bekes-Csaba u. a. Die sächsische
Universität wies auf den Rechtsstandpunkt hin — der Minister entschied nnter
dem 13. November 1885 gegen das Gesetz, gegen die von ihm selbst genehmigte
Organisation, daß die Universität nicht kompetent sei, über diese Frage zu
sprechen, und so wurden alle jene ungesetzlichen Vorgänge aufrecht erhalten.
Was der Obcrgcsvan Bcmffy in Bistritz in dieser Angelegenheit gethan hat,
kann hier im einzelnen, da es zu weit führen würde, nicht auseinandergesetzt
werden. Eine durch die Akten belegte Darstellung der unglaublichen Vorgänge
hat das siebenbürger Deutsche Tageblatt Ur. 3578 vom 19. September 1885
gebracht. In jedem zivilisirtcn Staate würde man einen solchen Beamte»
disziplinarisch behandeln; B. Banffy geht frei aus. Derselbe Banffy verlangte
der von der sächsischen Universität gegründeten Bistritzer Ackerbauschule gegen¬
über ähnliche ungesetzliche Beeinflussung, kassirte die Anstellung eines Gärtners,
da dieser nicht magyarisch könne, und die Verwaltung des Schulfonds wurde
den Eigentümern geuvnunen und der Komitatskasfe zugewiesen. Und solchen
Übergriffen der Verwaltung ist der deutsche Mann, die deutsche Gemeinde, das
deutsche Vermögen schutzlos preisgegeben!
Diese Untreue in nahezu allen Fragen, diese Mißachtung des Rechtes und
der Gesetze hat das Ansehen des ungarischen Staates in seiner eignen Mitte
tief zerstört. Gerade die chauvinistischesten Vertreter des magyarischen Staats¬
gedankens führen darüber die heftigste Klage: der ungarische Staat erscheine
in Verwaltung und Rechtspflege und Steuerforderung und auf allen andern
Gebieten des staatlichen Lebens in seinen Behörden derart, daß niemand Achtung
vor ihm und Vertrauen zu ihm haben könne. Gerade diese Tiefblickenden
sind auch mit dem plumpen Vorgehen unzufrieden, mit dem der magyarische
Chauvinismus gegen Slawen und Rumänen losstürmt. Welche Flut von
Verdächtigungen und Mißhandlungen und Ungerechtigkeiten z. B. gegen die
Slowaken losgelassen worden ist, das lehren die magyarischen Zeitungen täglich,
und der deutsche Leser mag es aus den Mitteilungen des Korrcspondenzblattes
des Deutschen Schulvereius 1885 Ur. 4 ersehen.
Das sind Thatsachen, die sich nicht aus der Welt schaffen lassen. Und
gegen all diese erdrückenden Anklagen, die das schwer heimgesuchte Deutschtum
gegen sie erhebt, haben die Magyaren eine kahle Ausflucht: sie »vollen ihre an¬
gebliche Liebe zum Deutschtum, mit der sie noch immer mich in gewissen Kreisen
Deutschlands ihr Glück versuchen, beweisen durch den Hinweis auf den obligaten
Unterricht in der deutschen Sprache, den sie an ihren Gymnasien (nicht Volks¬
schulen) eingeführt haben. Auch diese Ausflucht ^ so fadenscheinig sie an sich
ist, denn das kann doch nimmermehr die Mißhandlung der deutschen Schulen
beschönigen — leidet an einer Unwahrheit: denn dieser Unterricht ist zu einem
großen Teile bloß auf dem Papier. Die staatlichen Schulinspektoren selbst
berichteten über diesen Unterricht: in Ödenburg, einer durchaus deutschen Stadt,
sei er „uur bei großer Nachsicht einigermaßen genügend"; in Ofen-Pest war die
Unkenntnis in der deutschen Sprache „wahrhaft überraschend," „es zeigen sich
auf Schritt und Tritt die Wirkungen der Vernachlässigung der modernen Sprachen,
insbesondre des nachlässigen Unterrichts in der deutschen Sprache." „Ähnlich skan¬
dalös wie im Lateinischen — berichtet der Kommissär von Debreczin und Hodmezö-
Vasarhely — war die Unbewandertheit auch in der deutschen Sprache. Es scheint,
als verfolge die öffentliche Meinung diese am meisten."
Die Folgen von cilledem lassen nicht auf sich warten. Als Rückschlag
gegen die Magyarisirung entsteht eine solche Fülle von Erbitterung in den nicht¬
magyarischen Nationalitäten, daß ein friedliches Zusammenleben, ein einträchtiges
Zusammenarbeiten für gemeinsames Wohl, für die Segnungen der Bildung und
Gesittung sich beinahe in keinem Teil Ungarns mehr findet. Dahin hat der
neue Staatsgrundsatz geführt, daß man sich immer mehr entfernt hat von den
alten Grundlagen des ungarischen Staates, dem auch Deal noch seiner Zeit Aus¬
druck gegeben hat: deu andern Nationalitäten in Ungarn die Verhältnisse lieb
machen. Welch ein erschütterndes Bild hat gerade die Verwaltungsdebatte des
ungarischen Reichstages kürzlich geboten: überall wittern die Magyaren Ver¬
schwörung, überall läßt sich die wachsende Unzufriedenheit nicht mehr leugnen.
Aber statt umzukehren vou der verfehlten Bahn der Unterdrückung, steifen sie
sich auf das alte unheilvolle Wort: 0äurwt, nimm inötug-ut. Aber auch im
alten Nöttierreiche hat das Wort zu keinem guten Ende geführt.
meer der Hand ist eine Sache groß und einflußreich geworden, die
anfangs wenig beachtet wurde: die deutschen Kriegervereine. Sie
bilden eine jener Nachwirkungen des deutsch-französischen Krieges,
die wir heute noch als „Nebenwirkungen" betrachten, die sich aber
in Zukunft vielleicht als bedeutsam und tiefgreifend herausstellen
werden, und sind überhaupt ein hochinteressantes Beispiel der Wege, welche
eine in den Gemütern vor sich gehende Umstimmung oder ein Entstehen gewisser
Gedankengänge annimmt, um diese neuen Ideen allmählich in weiten Kreisen
eines Volkes zur Herrschaft zu bringen. Der Bastiat, welcher über die Vorgänge
im Seelen- und Empfindungsleben der Menschen eine lesenswerte Schrift verfaßt
von dem, „was man sieht und was man nicht sieht," ist noch nicht gesunde»;
aber daß sich gegenwärtig in unserm Volke Dinge vollziehen, die man „noch
nicht sieht" und die doch für ein künftiges Geschlecht von der höchsten Wichtigkeit
sein werden, das unterliegt für uns so wenig einem Zweifel, als daß man
seiner Zeit den Kriegervereinen eine nicht zu verachtende Stelle unter diesen
Dingen einräumen wird.
Wie lange ist es her, daß der Kriegsdienst gerade den besseren, achtbareren
Klassen unsers Volkes oder wenigstens unsers Mittelstandes als etwas schimpf¬
liches, bestenfalls doch als etwas mit solider bürgerlicher Gesinnung schlechter¬
dings unverträgliches erschien! Auch glaube man nicht, die Freiheitskriege hätten
dieser Anschauung ganz und gar ein Ende gemacht. Man bedenke wohl, daß,
wie selbst Gewinns zugeben muß, in der Schmalzschen Auffassung dieser Kriege
immerhin „zwar nur halb wahres, aber doch etwas halbwahres" liegt. Gewiß,
der „Befehl des Königs" hatte einen sehr starken Einfluß auf die gewaltige
Volkserhebung in den altpreußischen Landen, und dieser Befehl war (ob dies
notwendig gewesen oder nicht, mag dahingestellt bleiben) von einer so schneidigen
Schärfe, daß das Bewußtsein des außerordentlichen sich dem geringsten Manne
schon hierdurch aufdrängen mußte. Damit hängt es aber auch zusammen, daß
die preußische Erhebung in West- und Süddeutschland keineswegs auf das Ver¬
ständnis und die begcisteruugsvollc Zustimmung stieß, wie wir uns dies nachher
wohl gern glauben machten. Die vielverherrlichte Lützowsche Freischaar ging,
soweit sie nicht einen lediglich militärischen Charakter trug, uicht aus dem
Volke, sondern ans der studirenden Jugend und gewissen, von ähnlichem Geiste
durchwehten Kreisen hervor; der Übergang der Sachsen und Würtenberger hat
seine Vorgeschichte und würde ohne die moralische Mißhandlung dieser Truppen
durch die napoleonischen Generale und ihre vielfache Verwendung zu Kanonen¬
futter niemals stattgefunden haben; von eigentlichen „Volksbewegungen" außerhalb
Preußens sind uns nnr der wahrlich schon aus materiellen Gründen sehr
erklärliche Aufstand der Hanseaten und außerdem einige Ausbrüche i» den
Städten des „Königreichs Westfalen" bekannt. Ja als der Sieg der Alliirten
schon entschieden war, sah es doch mit dem opferfreudigen, auch die eigne
Person einsetzenden Patriotismus in manchen Teilen Deutschlands noch sehr
schlecht aus; 1815 erließ General von Hüncrbein an seine im ehemaligen
Großhcrzogtnm Berg ausgehobene Brigade einen Tagesbefehl, welcher, unter
Hinweis auf die zahllosen Desertionen, mit den Worten begann: „Die bergische
Infanterie führt sich schändlich auf" und einer Pastorswitwe Erwähnung that,
welche ihren Sohn brieflich aufgefordert hatte, doch auch zu desertircn. Dann
kam die Friedenszeit, und während derselben sank in vielen und nicht den
schlechtesten Teilen Deutschlands der Soldatenstand, selbst die Offiziere nicht
ausgeschlossen, wieder in ziemliche Mißachtung. Das Jahr 1848 gestaltete diese
Verhältnisse keineswegs besser, sondern fügte in weiten Kreisen einen neuen
Stachel hinzu. Erst die Kriege der sechziger Jahre, daran anknüpfend die
Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht auch im außerprcußischen Deutsch¬
land und vor allem der große Krieg haben eine durchgreifende Änderung zu
Wege gebracht. Bis dahin wurde der Militärstand außerhalb Altpreußens nicht
als viel mehr denn als ein notwendiges Übel augesehen, und selbst in Altpreußen
hatte die Pflege des militärischen Geistes vielfach etwas forcirtes. Der moderne
und nationale Gedanke, der es als selbstverständlich hinnimmt, daß wir alles,
was wir sind und haben, dem Vaterlande schuldig sind, und der in dem
Militärdienste beides, eine Pflicht und eine Ehre, erblickt, ist ziemlich neuen
Ursprunges, und seine allgemeine Geltung ist jedenfalls erst der allerneuesten
Zeit zu verdanken; ja man gebe sich keinen Täuschungen darüber hin, daß
es mit dieser Geltung heute noch in manchen Kreisen hapert, lind daß sie in
andern sehr auf die Oberfläche beschränkt geblieben ist. Der entscheidende Schritt
ist gethan, das ist wahr; es ist dem Volke zum Bewußtsein gekommen, daß auch
diese Last getragen werden muß, und zwar soweit möglich von jedem auf eignen
Schultern, und daß, wenn es auch nicht als Schande augesehen werden darf,
wegen körperlicher Unfähigkeit vom Militärdienste freigebliebcn zu sein (weshalb
ja auch das für die preußische Landwehr zuerst vorgeschlagene Motto „Wehrlos,
ehrlos" mit Recht nicht beliebt und durch das billigere „Mit Gott für König
und Vaterland" ersetzt wurde), doch die eigne Ableistung der Militärpflicht etwas
rühmliches und schönes darstellt. Aber bei der Schwere der Lasten, welche für
den Einzelnen und für die Gesamtheit mit dem Militärwesen verknüpft sind,
erscheint es sehr wünschenswert, einen festen Punkt zu haben, von dem aus diese
patriotischen Anschauungen stetig gepflegt und in voller Kraft erhalten werden
können, und um dies bewerkstelligen zu helfen, hat das „Unbewußte" in uns
unter anderm auch die Kriegervercine ins Leben gernfei?.
Es ist wahr, daß die Militärdienstzeit allgemein aufgehört hat, eine Zeit
des Schreckens und Grausens für unsre Jugend zu sein, wie sie dies uoch bis
in dieses Jahrhundert hinein in großem Umfange war. Die schimpflichen, ge¬
wöhnlich einen schimpflichen und qualvollen Tod herbeiführender Strafen, wie
Spießrutenlaufen, haben aufgehört; rohe oder böswillige Behandlung kommt
wohl hie und da noch einmal vor, dann aber stets nur vereinzelt, und ist stets
auf einzelne Personen oder Verhältnisse zurückzuführen; die vielseitigste Fürsorge
für jeden Manu ist nicht eine bloß theoretische, sondern sie findet wirklich statt,
und unsre Offiziere haben sich längst daran gewöhnt, in der Stetigkeit und
rationellen Ausbildung dieser Fürsorge eine ihrer wichtigsten Ausgaben zu er¬
blicken. Dabei sind reichliche Lichtpunkte in das Leben des Soldaten von heute
eingestreut. Kleine Festlichkeiten, die teils der Gesamtheit des Soldatenstandes,
teils der besondern Abteilung gelten, finden alljährlich mehrmals statt; das
Manöver ist zu einer Zeit wenn auch doppelter Anstrengungen, so doch auch
tausend kleiner Erheiterungen geworden; mit Urlaub, frühzeitiger Entlassung und
dergleichen wird nicht gegeizt; die Einquartierung verläuft oft trocken, hat aber
oft auch mancherlei offene und heimliche Freuden im Gefolge. Denn, und das
ist die Hauptsache, die Stellung des ganzen Publikums zum „Soldaten" ist
eine freundliche, entgegenkommende, achtungsvolle geworden — eine eigentlich
verächtliche Behandlung, wie sie dem englischen, auch dem französischen Soldaten
immer noch so häufig zu Teil wird, hat auch der gemeine deutsche Soldat
gegenwärtig nirgendwo mehr zu befürchten. Das alles will sehr viel heißen,
und auch das mag wahr sein, daß schon die bloße Kommisverpflegung für
manchen armen Burschen aus Oberschlesien oder Masuren eine bessere ist, als
er sie je vorher gehabt hat; zu geschweige:!, daß das dürftige Geistesleben un¬
zähliger junger Burschen während der Militürzeit Anregungen und Bereiche¬
rungen erfährt, an die sonst nie zu denken gewesen wäre. Und dennoch! dennoch
ist die Militärdienstzeit eine Zeit harter Ansprüche, die an den jungen Mann
gestellt werden, vielfacher Selbstverleugnung, schwerer, uur durch das harte
„Muß" erträglich werdender Anforderungen. Die militärische Disziplin ist und
bleibt ein harter Zwang, der sich für lebhafte Naturen zu einer Art Marter
steigern kann; die Verpflegung bleibt für den, der nichts zuzusetzen hat (und
es giebt deren doch nicht wenige!), eine knappe und rauhe; das Weggcrissen-
werden ans Heimat und Familie, die Unterbrechung des Berufes bleiben furcht¬
bare Lasten, unter denen schon mancher zusammengebrochen ist. Dabei steht im
Hintergründe doch immer die Möglichkeit des Krieges und des „Totgeschvssen-
werdens." Man verschone uns hier gütigst mit Redensarten von „nationalem
Bewußtsein," von „kriegerischer Anlage unsers Volkes," von „schönem Tode
fürs Vaterland" ?c,; wenn die Sache mit dein gemacht werden müßte, was der
einfache junge Dnrchschnittsmann aus dem Volke von allen diesen schönen Dingen
in sich selbst trägt, so würde es mit unsrer staatlichen und nationalen Herrlich¬
keit sehr dünn bestellt sein. Der gewaltige Zwang des Staates und die den
gebildeten Teil des Volkes durchwehenden Überzeugungen und Ideen sind es,
wodurch auch der einfachste, kälteste Bursche vom Lande oder aus städtischen
Arbeiterquartieren mit fortgerissen werden muß, und wodurch manche dieser
Burschen freudig, andre gleichgiltig, noch andre widerwillig sich fortreißen
lasten ; aber man sei versichert, daß im sozialdemokratischen Staate der Zwang
der Umstände schon ein ganz außerordentlicher sein müßte, um bei freier, ge¬
heimer Abstimmung ein Votum der zum Auszuge bestimmten jungen Mannschaft
sür den Krieg herbeizuführen. Man kann ohne Zweifel trefflich darlegen, daß
Staat und Volk Einheiten bilden, die auch als solche einmal aktionsfähig sein
müssen, daß ein Großstaat allerdings (auch in Bezug auf die Möglichkeit ge¬
fahrvoller Kriege) größere Lasten auferlegt, aber doch schließlich einem preis-
gegebenen kleinern Staatswesen vorzuziehen ist, daß es Verhältnisse giebt, denen
gegenüber alle andern Rücksichten schweigen müssen, daß selbst solche Forderungen
des Staatslebens, welche dem einfachen Manne schwer begreiflich zu machen
sind, vom Standpunkte einer gereifteren Einsicht als unausweislich zu bezeichnen
sein können, und daß endlich, wo die staatliche und nationale Unabhängigkeit
in Frage kommt, absolut kein Opfer zu hoch ist — „wohlfeiler kaufen wir die
Freiheit als die Knechtschaft ein." Über alle diese Dinge lassen sich, schriftlich
und mündlich, die prachtvollsten Worte vorbringen, und an Effekt wird es den¬
selben gewiß auch nicht fehlen. Aber für die Masse würde, wenn die Staats¬
gewalt und der altgewohnte Respekt vor ihr uicht wäre, und wenn die tausend
Einflüsse unwirksam geworden wären, welche heute aus den gebildeten, geistig
und gemütlich angeregten Klassen ans das Volk überstrahlen, mit alledem nichts
auszurichten sein. Die Masse würde auf alle diese hohen und schönen Worte
mit Hohngelächter antworten: „Und dafür soll ich mich totschießen lassen?"
Es existirt nun ein Punkt, von dem aus in altpreußischen Landen die
Massen schon längst in Bewegung zu setzen, mit einer volkstümlichen Form
nationaler und patriotischer Begeisterung zu erfüllen waren; das ist eben die
spezifisch altpreußische königstreue Gesinnung. Gewiß, diese in Jahrhunderten
großgezogene moralische Kraft war es, welche die Freiheitskriege ermöglichte,
welche die nordöstlichen Armeekorps zu den recht eigentlichen Trägern des
militärischen Geistes in Preußen machte, welche auch heute noch ein starkes
Gegengewicht gegen mancherlei, allmählich auch in das Heer eingedrungene
demokratisireude und selbst sozmldcmokratische Tendenzen bildet. Dazu ist, wie
gewiß nicht geleugnet werden soll, in neuester Zeit ein gewisses Maß nationalen
Selbstbewußtseins getreten, dasselbe mag bei unsern West- und süddeutschen Sol¬
daten eine ähnliche, jedoch immerhin wohl schwächere Grundlage persönlicher, di¬
rekter Zuverlässigkeit des einzelnen Mannes (natürlich nicht hinsichtlich der all¬
täglichen Fälle, souderu mir hinsichtlich solcher, wo eine stete, bewußte und freudige
Selbstaufopferung verlangt wird) gewähre», wie solche bei den altpreußischen
Regimentern von jener strammen, traditionellen Königstreue genährt wird, die
schon die Sachsen und die Rheinländer nicht mehr, die Schlesier nur teilweise
besitzen. Aber mau überschätze weder das eine noch das andre. Das Alt-
preußentum wird allmählich von der fortschreitenden Bildung an- und auf¬
gefressen, und das Nationalbewußtsein des geringen Mannes ist gleichfalls eine
Sache, welche eigentlich am besten im Schoße einer gewissen Zurückgebliebenheit,
ja man kann geradezu sagen der Unkultur gedeiht; zudem ist dieses Bewußtsein
ein Pflänzchen, welches eben auch gepflegt werden und laugsam großwachsen
muß, und bei uns ist Jahrhunderte lang nicht im Sinne einer solchen Pflege,
sondern eher im entgegengesetzten Sinne ans das Volk gewirkt worden. Noch
um das Jahr 1866 konnte man in süddeutschen Blättern lesen, die Süddeutschen
stünden eigentlich in Bezug auf Kultur und Lebensanschauungen den Franzosen
näher als den Norddeutschen; die bessere Jngend im Badischen und Würtem-
bergischen wußte noch in den sechziger Jahren sehr viel von deu Marschällen
des ersten französischen Kaiserreiches, aber sehr wenig von Blücher, Scharnhorst,
Jork und Gneisenau, und das Wort „Veteran" war damals in diesem Teile
Deutschlands uoch gleichbedeutend mit „alter Sausbruder." In den meisten
andern Teilen Deutschlands war es nicht viel besser, in manchen, so namentlich
in Hannover und in gewissem Sinne auch in Baiern, auch in den Hansestädten,
war es entschieden schlimmer. Was nützte da alle Flut patriotischer Gesinnung,
die sich in Reden, Gedichten, Schriften, geschichtlichen Werken, Rumänen ergoß,
die doch alle nur für einen beschränkten, gar sehr beschränkten Kreis von Lesern
berechnet waren, und denen überdies noch die Wirkung Dumasscher Romane,
Heinescher und Börnescher Schriften, französirender Vaudevilles u, dergl. (man
denke um die ehemals gerade auf den „Volksbühnen" so viel aufgeführten Stücke:
Pariser Taugenichts, Zwei Sergeanten, Rataplcm u. a.) Abbruch that? Es
ist wahrlich nicht zu verwundern, wenn heute noch jene naive, als selbst¬
verständlich empfundene nationale Gesinnung, wie sie von Enthusiasten bei der
Masse unsers Volkes vorausgesetzt zu werden pflegt, bei jedem slowakischen
Kesselflicker, bei jedem armseligen polcikischen Tagelöhnerweib stärker vorhanden
ist als selbst bei gar vielen „gebildeten" Söhnen unsers Volkes. Heute noch
kann man ja fortwährend beobachten, wie der polnische Arbeiter seinen deutschen
Herrn zwingt, polnisch oder masurisch mit ihm zu sprechen, und dieser sich auch
ruhig zwingen läßt, indem er gutmütig (eigentlich zwar schwachherzig und
bequem, wie er eben ist) meint, „man müsse auf die Leute doch Rücksicht
nehmen, und das thue ja auch nichts." Ja, es thut weiter nichts, als daß
dies der Weg ist, auf dem die Schwarzenberg zu Swarzcnperks, die Wollschläger
zu Wolszlegiers geworden sind! Unser Volk hat, um es gerade heraus zu
sagen, bis jetzt wenigstens eine armselig schwache nationale Eigenart, und es ist
nicht viel Rechnung darauf zu machen, daß dieselbe bei unsern Massen sich
auf die Dauer sehr wirksam erweisen werde. Die Frage, ob jener tiefe Kern
der Volkskraft, der in nationaler Individualität wurzelt, durch die moderne
Bildung mit ihrem Gefolge öffentlichen und politischen Lebens, Zeitungslesers
u. s. w. gestärkt oder geschwächt werde, mag auf sich beruhen bleiben (wir
unserseits befinden uns in guter Gesellschaft, wenn wir das letztere annehmen
zu müssen glauben), aber daß die Art, wie nationale Gesinnung sich auch bei
dem geringsten Manne in freudige Opferwilligkeit und rückhaltlose Hingabe über¬
setzen kann, durch die in unser Volk eindringenden Bildungselemente nicht ge¬
kräftigt wird, das wird schwerlich jemand im Ernste bestreikn wollen. Unser
Gesamtresultat ist also, daß zwar im Altpreußeutum etwas und in dem neu¬
erwachsenen Nationalbewußtsein unsers Volkes auch etwas zu finden ist, was
auch den geringen Mann günstig beeinflussen und ihn zu selbstloser Hingabe
an das Vaterland tüchtig machen kann, daß aber diese beiden moralischen
Faktoren weder allenthalben vorhanden, noch an sich sonderlich zuverlässig, uoch
überall mit einem tüchtigen, widerstandsfähigen Wurzelwerke ausgestattet sind.
Sie bieten eine Stütze, und in Momenten der Erregung, wo von den Gebil¬
deten her die Flamme in allen deutschen Gauen loh emporschlug, konnten sie
wohl die breiten Massen mächtig mit sich fortreißen; aber zu andern Zeiten
mag diese Stütze sich einmal als eine recht schwache erweisen. Der vormalige
belgische Minister Devcmx wird in seinen MuäW po1it,iqnö8 (um 1875) wohl
Recht gehabt haben, als er nachzuweisen suchte, daß der Krieg die in einem
Volksleben vorhandenen moralischen und staatserhaltenden Kräfte steigere, der
Friede aber sie allmählich aufzehre und Selbstsucht, Parteigeist und Eigensinn
an deren Stelle setze.
Da ist nun das „Unbewußte" dem Volksgeiste zu Hilfe gekommen und
hat die Kriegervereine geschaffen. Mit ihnen sind tausend verzettelte, schwache
Einzelwirkungen befähigt worden, sich zu sammeln und sich gegenseitig zu stützen,
und infolge hiervon ist eine Nachhaltigkeit der erhaltenen guten Eindrücke er¬
zielt, an welche andernfalls garnicht zu denken gewesen wäre. Denn so ist der
Mensch ja nun einmal beschaffen: in seinem Innern lebt die Idee eines absolut
Guten, und die ganze reelle Kulturarbeit besteht darin, daß der Mensch sich
selbst die Stützen und .Haltepunkte schafft, an denen er sich, um dem Ideal nach¬
streben zu können, höher und höher emporzuarbeiten sucht. Er fühlt es wohl,
daß die im Militärdienste von ihm geforderte selbstlose Hingabe an das Ganze
ihn hebt und veredelt und dabei für einen wohlgefestigten allgemeinen Fort¬
schritt unerläßlich ist; er fühlt auch, daß die einzelnen Einflüsse, die während
der Dienstzeit auf ihn wirken, überwiegend gute, einem höhern Ideenkreise als
dem gewohnten entspringende sind; er fühlt endlich selbst das, daß diese auf
ihn geübten Einflüsse erhalten, gepflegt und weiter entwickelt werden müssen,
wenn sie ihren vollen Wert für ihn und für die Gesamtheit haben sollen.
Aber dieses in ihm vorhandene unklare Bewußtsein würde nicht stark genug
sein, um sich ohne weiteres in Gedanken und Handlungen zu übersetzen; es
würde, wenn ihm nicht fortwährend neue Nahrung zugeführt und ihm über¬
dies Gelegenheit gegeben würde, sich allmählich zu größerer Klarheit und Sclbst-
bewußtheit zu entwickeln, nach und nach seine Kraft verlieren und auf eine bloße
schattenhafte Sehnsucht zusammenschmelzen, die zwar nnter Umständen auch ihre»
Wert haben, aber doch nur auf langen, mühsamen Wegen wieder zur Aktion
gebracht werde» könnte. Hier aber, in der bleibenden Bereinigung der Genossen,
in der Pflege und steten Wiederauffrischung der alten Reminiscenzen, in der
hohen Begünstigung, welche hier der ohnehin beim Menschen vorhandnen Nei¬
gung, die Schattenseiten zu vergessen und die Lichtseiten rosig zu verkläre», zu
Teil wird, da kräftigt, schärft und klärt sich die instinktive Auffassung, welche
der Einzelne von seiner Stellung im Ganzen und von seinen alles andre
zurückdrängenden Pflichten gegen dasselbe gewonnen hat. Die innere Berechtigung
und Unerläßlichkeit einer scharfen Disziplin, die Notwendigkeit rücksichtsloser Ein¬
setzung des Lebens, selbst für den Landwehrmann, der Weib und Kind und gesicherte
bürgerliche Stellung daheim hat, die Unumgänglichkeit der Ertragung von
Beschwerden und Entbehrungen, die leidige Einsicht endlich, daß nun einmal
nichts menschliches vollkommen sei: das alles rückt dem Angehörigen eines solchen
bleibenden Verbandes nicht minder immer näher wie der warme nationale,
staatliche und monarchische Gedanke, die Erinnerung an viele Fürsorge und
Vaterliebe Gesinnung, die Wahrnehmung der allgemeinen Achtung, in der heute
auch der geringste brave Soldat steht, und nicht am letzten auch die Erkenntnis,
daß Ordnung, Reinlichkeit, gute Haltung, körperliche Tüchtigkeit, Kenntnis von
Land und Leuten während des Militärdienstes entschieden gewonnen haben.
So wandelt sich das Wesen des Menschen um; die guten Reminiscenzen und
die guten Einflüsse bleiben lebendig, der ganze Mensch bleibt gleichsam unter
dem Banne der Idee, welche die allgemeine Wehrpflicht geschaffen und durch¬
geführt hat, und das stete Gedenken an die nationale Grundlage des Staats¬
wesens, dem er dient, wird ihm aufgezwungen. Und dies alles geschieht in einer
Form, welche ihm Freude macht. Kameradschaftliche Feste (wie sehr fehlt es
nicht unserm Volke an öffentlichen Festen!), gemütlich und doch von einer Idee
getragen und belebt, finden von Zeit zu Zeit statt; regelmäßige Zusammenkünfte
unterhalten das Gefühl der Zusammengehörigkeit und stellen einen geselligen
Verkehr her, dessen sehr viele sonst entbehren würden; Hilfskassen entfalten ihre
segensreiche Wirksamkeit; feierliche Begleitung bei Beerdigungen hebt das Selbst¬
gefühl; die frühern Offiziere bis zum General hinauf treten als Kameraden in
den Kreis der Vereinsmitglieder — hier sind sie alle nur ehemalige Krieger.
Wie es sich aber von selbst giebt, daß auch hier Stand und Erziehung eine
Grenze ziehen, die jeder anständige Mensch schon aus eignem Antriebe respektirt,
so trägt auch dies wiederum dazu bei, das Band der Disziplin als ein natur-
notwendigcs erscheinen zu lassen.
So ist hier eine neue Kraft geschaffen. Wird sie stark genug sein, um
einmal in brausenden Stürmen Widerstand zu leisten? Wir müssen es ab¬
warten. Festzuhalten ist, daß wir ja erst im Beginne dieser Entwicklung und
des Einflusses stehen, den dieselbe üben kann, und dieser Einfluß kann ja, wenn
er gesund fein soll, nur ein indirekter sein. Das eigentlich politische Partei-
treibeu muß den Kriegervereinen natürlich fern bleiben; es ist völlig ausreichend,
wenn dieselben (wie es thatsächlich heute schon der Fall ist) an gewissen Voraus¬
setzungen streng festhalten. Die volle Wirkung wird sich erst bei künftigen Gene¬
rationen fühlbar machen. Wenn wir Zeit haben, sie abzuwarten, so dürfte sie
sich wohl einmal als eine sehr bedeutende herausstellen.
Warum nur die hübschen Leute
Mir nicht gefallen sollen?
Manchen hält man für fett,
Er ist nur geschwollen.
is im Jahre 1830 die französische Julirevolution den Zündstoff
in Flammen setzte, der während der stillen, allzustillen Nestcm-
rationsjahre auch in deutschen Köpfen und Gemütern aufgehäuft
Morden war, gesellte sich zu deu politischen Bewegungen jene
liternrische Revolution, welche nach den Vorvcrknndigungen ihrer
Leiter der deutschen Literatur eine neue glänzende Zukunft eröffnen sollte. In
allen Tonarten wurde nicht bewiesen, aber behauptet, daß die Schöpfungen der
deutschen Literatur von Lessing bis Uhland lind Grillparzer im Grunde äußerst
dürftig gewesen seien und höchstens als fragmentarische Vorbereitungen sür die
Herrlichkeit der Zukunft gelten dürften. Die Apostel Wienbarg und Mundt
verkündeten das Zeitalter der „modernen Prosa," die dem erstern „ein kolossales,
alle Töne der Welt umfassendes Instrument" hieß und deren höchste Vollendung
er in Heines „Reisebildern" erblickte, sie mühten sich mit und ohne Umschrei¬
bungen ab, das deutsche Volk zu überzeuge», welche kläglichen Stümper und
Tröpfe Lessing und Goethe gewesen seien, sie offenbarten der gläubig lauschenden
Welt, daß mit Börne und Heine nicht nur eine neue Periode der Literatur,
sondern eine Weltära des freien Geistes begonnen habe. Sie fanden in den
Gutzkowschen „Briefen eines Narren an eine Närrin," in Börnes „Briefen aus
Paris" und Heines „Memoiren des Herrn von Schnabelewopski" die Politik,
Wissenschaft und Religion der Zukunft bei einander. Der einzige wahrhaft
poetische Vorkämpfer der neuen Richtung, Heinrich Heine, war freilich ehrlicher,
wenn er sang:
Schlage die Trommel und fürchte dich nicht
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.
Aber wenn ihm seine Genossen auch bezüglich des Trommelns Recht gaben und
die Schlägel kräftig rührten, so besaßen sie im allgemeinen weder Heines leicht¬
fertige Grazie, noch den Trieb zu gelegentlichen Eingeständnissen wie dem obigen.
Sie fuhren einige Jahre hindurch fort, zu behaupten, daß alle „alte" Literatur
in die Rumpelkammer geworfen werden müsse und der erleuchtete Geschmack
der Gegenwart nur das „Modernste" vertrage. Das dauerte den» genau so
lange, bis den ernstem Naturen und den klugem Schriftstellern dieses jungen
Deutschland bei ihrer Gottähnlichkeit bange ward, bis sie merkten, daß die ver¬
achteten Formen der alten Poesie: die dramatische Dichtung, die wirkliche Er¬
zählung und so weiter langlebiger und lebensfähiger seien als die Zwitter-
gebilde und der widrige, zu einem Drittel (flach) räsonnirende, zu einem Drittel
(vag) philosvphircnde, zum letzten Drittel (lotterig) darstellende Mischmasch, mit
denen sie die alte Poesie „abgelöst" hatten. Einige von den starken Geistern
gingen dann bei den verachteten schonen Geistern von ehedem in die Schule
und brachten es dazu, in der Reihe unsrer Dramatiker und Romanschriftsteller
einen achtbaren Platz zu gewinnen. Andre entfalteten hier nur geringes Geschick
und blieben, was sie von Haus gewesen waren: „Pedanten, die es juckt, locker
und lose zu sein." Immerhin aber hatte der dröhnende Generalmarsch, mit dem
eine neue Zeit, neue Bahnen und neue Menschen angekündigt worden waren,
den Erfolg gehabt, daß die Schriftsteller des „jungen Deutschlands" noch vor
ihren wirklichen Leistungen „Namen" geworden waren, daß ihre spätere Ent¬
wicklung nicht in der Stille, sondern unter den Augen eines mehr oder minder
bewundernden Publikums vor sich ging, daß endlich ein Beispiel gegeben war,
wie man es anfangen müsse, den deutschen Philister aus seiner schläfrigen Gleich-
giltigkeit zu wecken und die Tausende der gebornen Elfolganbeter von vorn¬
herein auf seine Seite zu bringen.
Nun denn, das gegebne Beispiel ist seit den dreißiger Jahren wiederholt
wenn nicht redlich, so doch gründlich befolgt worden. So oft eine Dichter- und
Schriftstellergruppe einen neuen Vorzug zu besitzen glaubte oder auch besaß,
wurde die Trommel schallend gerührt, wurde der alberne Satz, daß die deutsche
Literatur erst von heute und hier beginne, mit Hartnäckigkeit nen vorgetragen,
lind die unschöne Gewohnheit des eilfertigen Straßcnremplers, alle Nebenleute
wie alle Begegnenden aus dem Wege und womöglich in die Gosse zu reimen,
für salon- und literatursühig erklärt. Wir schieben die Frage, welchen Anteil
die wachsende Erwerbs- und Genußlust der Vertreter der Literatur an den
jeweilig wiederkehrenden Umwälzungen hatte, zunächst ruhig beiseite. Wir wollen
annehmen, daß die auseinander folgenden Generationen von Neuentdeckern
und Nenerfüldern der deutschen Literatur von wirklicher Überzeugung beseelt
waren. Jedenfalls aber lief neben der wachsenden Selbstüberschätzung, neben
der schlechten Überlieferung, daß die Geltung vor der Leistung vorhanden sein
müsse, auch eine falsche Auffassung und Ausdeutung der Geschichte unsrer
Literatur mit unter. Die Jungdeutschen, die politischen Dichter, die (längst
lvieder verschollenen) „Junggermanen" der fünfziger Jahre und die Naturalisten
des Augenblicks, sie alle beriefen und berufen sich auf den Kampf des Neuen
und Alten, auf die wilde und dennoch segensreiche Gühruug in der Sturm- und
Drangperiode des achtzehnten Jahrhunderts. Wir sind die letzten, die von der
Sturm- und Drangperiode gering denken, wir mißbilligen durchaus das beliebte
literarhistorische Verfahren, die problematischen und rasch wieder vergessenen
Erscheinungen dem „Sturm und Drang" zur Last zu schreiben, und uicht uur
Goethe und Schiller, welche mit ihren Jugenddichtungen der Gähruugsperivde
angehören, sondern alle Naturen und Talente von ihr abzutrennen, die von
Bürger und Voß bis zu Jung-Stilling und dem Wandsbecker Boten zu
bleibenden Schöpfungen und Leistungen gediehen sind. Wir halten fest daran,
daß die Sturm- lind Drangperiode eine der Hauptquellen des prächtigen Stromes
unsrer klassischen Dichtung, zugleich diejenige Quelle war, welche diesem Strom
bei aller seiner Majestät lebhafte Bewegung und den frischesten Hauch lieh.
Doch was beweist diese Thatsache für die Erfinder und Verkünder neuer
Sturm- und Drangperioden, was für ihr Gebühren? Die Bedeutung des
Sturmes und Dranges erwuchs aus der großen Bewegung des Lebens, der
mächtigen gesellschaftlichen Umbildung, sie erwuchs aus der Fülle strebender
Talente, welche zum Teil vou unbedingter Hingebung an ihre Ideale erfüllt waren,
erwuchs aus der unbefangnen, frischen Produktionslust, sie ward verklärt durch
das Erwachen und die Jugend eines Genius, wie er in Jahrhunderten eben
nur einmal aufleuchtet. Was davon kommt den Ansprüchen der verschiednen
vorgeblichen Sturm- und Drangperioden unsers Jahrhunderts zu Gute? Die
Sturm- und Drangperiode wäre nichts als ein Stück höchst unerquicklicher
Kultur- und Literaturgeschichte, wenn ihre Hinterlassenschaft aus nichts anderen
als aus den polemischen Streit- nud Flugschriften, den renvmmistischen Krast-
versicheruugen, aus Hamanns „Chimairischen Einfällen," aus Leopold Wagners
„Prometheus, Dentalivm und seinen Rezensenten," aus Klingers „PlimplamplaSko,
den, hohen Geist," aus Goethes „Göttern, Helden und Wieland," oder auch aus ge¬
wissen Produktionen, etwa ans Klingers „Sturm und Drang," „Simsone Grisaldo"
und „Stilpo," aus Lenz' Komödien „Der Hofmeister" und „Die Soldaten," aus
Philipp Hahns „Aufruhr in Pisa," aus Goucs „Masuren," aus Wezels „Tobias
Knaul," Heinses „Begebenheiten des Enkvlp," aus Bürgers „Frau Schuips"
und „Jungfer Europa," aus Johann Fr. Hahns verzückten Gedichtsragmenten
und Vossens ältesten Tyrannenhaß und Teutschheit atmenden Oden bestünde!
Würde es irgendwem im Ernste eingefallen sein, daß diese Werke einen Fortschritt
über Lessing und Wieland hinaus bedeuteten, würde ein literarischer Frühling,
der nur sie und keine andern gezeitigt Hütte, nicht für einen klüglich frostigen
und dürftigen gelten müssen? Und doch enthalten alle die genannten Werke
und poetischen Versuche etwas vou jenen Elementen, durch welche die großen
Schöpfungen des Sturmes und Dranges ihre mächtigste Wirkung und Nach¬
wirkung erlaugt und die zierlich-heitern Dichtungen Wielands wie die reifen
Meisterwerke Lessings hinter sich gelassen haben. Was sich demnach als „Sturm
und Drang" legitimiren will, darf sich nicht bloß auf die Ausschreitungen und
Ungezogenheiten der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts berufen, darf
nicht in der Wiederholung äußerlicher Genialitätsgeberdcn bestehen, die seit einem
Jahrhundert durch schlechte Schauspieler in verdienten Verruf gekommen sind,
sondern muß etwas von dem Schwung, der Wärme und Lebensfülle, der gewaltigen
Leidenschaft, dem überquellenden Gefühl, etwas von der himmelstürmenden und
erdumspannenden Phantasie des echten Sturmes und Dranges besitzen. Die
Größe und weit nachwirkende Frische der vielzitirten Periode entsprang vor allem
aus dem gewaltigen Überschusse an Unmittelbarkeit, an Naturkraft und Naivität,
an poetischem Instinkt und an Gestaltungslust über die Reflexion, über die
traditionelle VerstandeSbildnng der Aufklärungsperiode. Wer sich auf die
Sturm- und Drangperiode beruft, mag wohl zusehen, ob er „dieses Geistes
einen Hauch verspürt," sofern die Berufung nämlich mehr sein soll als eine
der klingelnden Phrasen, die allesamt ans die Unbildung des Publikums be¬
rechnet sind.
Der neueste „Sturm und Drang," welcher mit großem Getöse seinen Ein¬
zug in die Literatur hält, nennt sich der „naturalistische." Er kündigt sich un-
umwunden als Schule des großen französischen Naturalisten, des einzigen und
größten Meisters unsrer Tage an, und verfällt damit von vornherein einem
sonderbaren Widersprüche. Sturm und Drang und die strenge rein wissenschaft¬
liche Beobachtung, die Zola als Ideal und Aufgabe der modernen Literatur
prvklcunirt, Sturm und Drang und die methodische Analyse der gesellschaftlichen
Erscheinungen und Mißbildungen, Sturm und Drang und eine literarische Tech¬
nik, welche jede unmittelbare Thätigkeit der Phantasie, jede Intuition und jedes
poetische Traumleben rigoristisch verurteilt! Sturm und Drang und dazu die
tiefste Verachtung aller Unmittelbarkeit, aller schwärmerischen Gefühlsgaukelei,
aller Phantome, Fabeln, Jdcalitätslügen, die ausschließliche Lobpreisung der
„wissenschaftlichen Exaktheit," der zergliedernden Tortur, der vergleichenden Vivi¬
sektion! In der That, wenn eine literarische Richtung mit dem Sturm und
Drang nichts zu schaffen hat, dem eigentlichen Urquell der lebeusvollsteu Poesie
des achtzehnten Jahrhunderts fernsteht, so ist es die naturalistische, welche sich
rühmt, im Alleinbesitz der künstlerischen Wahrheit zu sein, und die Darstellung
eines rüstigen Fußgängers um deswillen für Lüge und schöngeistigen Schwindel
erklärt, weil die Füße, mit denen der Wandrer ausschreitet, uuter der Folter
allerdings morsch zerbrechen und zu blutüberströmten Fetzen und Knochen¬
splittern werden würden. Nur einem Publikum wie dem heutigen, das in dem Wirr¬
warr von Politik, Börseneindrttcken und Zeitungsbildung die einfachsten Unter¬
scheidungen verlernt hat, kann man in derselben Reklame die urwüchsige Energie,
die überschäumende Bildkraft, welche an die Sturm- und Drangperiode erinnern,
und die kalte Schärfe untrüglicher Einzelbeobachtung, welche angeblich die Ge¬
setze des sozialen Daseins erschließt und jede Willkür durch die Notwendigkeit ver¬
drängt, rühmen. Zu gleicher Zeit das poetische Vermögen als ein ganz unter¬
geordnetes und armseliges behandeln und einem modernen Schriftsteller das
höchste poetische Vermögen zusprechen, das ist eine der zahllosen Sinnwidrigkeiten,
welche die jüngste literarische Bewegung zu Tage gefördert hat und voraussichtlich
noch weiter zu Tage fordern wird. Wir vermögen angesichts der naturalistische,!
„Umwälzung" der Literatur bis jetzt mir drei Momente zu entdecken, die eine
schwache Ähnlichkeit mit gewissen Erscheinungen (nicht den Hanpterscheiuungen)
der Sturm- und Drangperiode haben. Erstens die besondre Bevorzugung von
Problemen und Vorkommnissen des geschlechtlichen Lebens. Zweitens die un¬
reife Lust an einer Polemik, die so weit über die Ziele hinausschießt, daß sie
die zum Tode bestimmten ungefähr in gleicher Weise vernichtet, wie der Obcron-
dichter durch die Tiraden der Göttinger Haiubündlcr oder Lessing durch Lenz
vernichtet worden ist. Drittens das bedenkliche Auftreten jenes Größenwahu-
sinns, dem in der Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts Lenz,
Wezel, I. Chr. Fr. Schulz und andre zum Opfer fielen. Diese „Ähnlich¬
keiten" räumen wir ein, andre nicht. Und alles in allem, hat die ganze jüngste
Schule der Literatur eine durchaus unerfreuliche, nichtsdestoweniger sehr nahe
Verwandtschaft mit der jungdeutschen Bewegung. Dieselbe abenteuerliche Über¬
schätzung des wirklichen und vermeint Neuen, derselbe Köhlerglaube an den Zeit¬
geist, dieselbe Verwechslung von Großmannssucht und Größe, dieselbe hochmütige
Verachtung der bleibenden und ewigen Elemente in Leben und Kunst, dieselbe
demonstrativ lärmende Nvrdriugtichkeit der Wortführer, dieselbe Unfähigkeit, auch
nur von fern zu verstehen, daß und warum andersgeartete Naturen Welt- und
Menschendasein mit andern Augen anschauen und in anderen Lichte darstellen
müssen als die Herren selbst, es erinnert alles an die schönen Tage, in denen
Heinrich Laube die Losung ausgab: „Was nicht vou selbst sterben will, muß
totgeschlagen werden" und Theodor Munde die alleinseligmachende moderne
Prosa als eine Heilige apostrophirte.
Doch wie sehr immer die jüngste deutsche naturalistische „Schule" an die
jungdeutsche erinnern und wie sehr sie mit dieser in ihren bedenklichsten Aus-
schreitungen wetteifern möge, die Kritik wird gut thun, sich dadurch nicht zu
hochmütigem Totschweigen der wunderlichen Bewegung verleiten zu lassen und
sowohl das ganze Prinzip, um das es sich hier handelt, als die einzelnen Ta¬
lente oder Nichttalcnte, die unter dessen Panier treten, etwas näher ins
Ruge zu fassen. Auch in den dreißiger Jahren Hütte man besser gethan, nicht
mit ein paar Schlagwörtern wie „Emanzipation des Fleisches" und „Politisch
Lied ein garstig Lied" über die Moderne» hinwegzugehen, sondern von vorn¬
herein den ganzen Umfang der geistigen Ansprüche, welche erhoben, die Trag¬
weite der Ziele, welche erstrebt wurden, ruhig zu ermessen. Würde man damit
auch schwerlich die Verwirrung und Verwilderung der Empfindung, die Ver¬
wüstung des Stilgefühls abgewendet haben, welche unmittelbare und mittelbare
Folgen der jungdeutschen Literaturrcfvrm waren, so hätte man mindestens dem
kleinen denkenden Teile des Publikums, welcher für klaren Nachweis der Eigen-
schalsten einer literarischen Richtung empfänglich bleibt und im Fieber für das
Neue nicht ganz die Frage nach dem Wert und Unwert des Neuen vergißt,
viel unnütze Zweifel, Kämpfe und Irrtümer ersparen können. Der Augenblick
legt Betrachtungen gleicher Art nahe genug. Die naturalistische Schule fordert
die Zukunft der Literatur für sich, und kauu sie natürlich gar nicht allein für sich
fordern, ohne die ganze Vergangenheit eben dieser Literatur für eine unzuläng¬
liche, armselige zu erklären. Da ist es denn an der Zeit, das Recht der neueste»
Reformer und die Wirkung klar zu machen, die sie auf unsre literarischen Zu¬
stände ausüben und möglicherweise ausüben werden.
Von vornherein befindet sich jeder Vertreter einer lebensvollen und charak¬
teristischen Poesie dem Naturalismus gegenüber in der Übeln Lage des braven
Zimmermeisters aus Goethes „Egmont," der einen Seufzer darüber nicht unter¬
drücken kann, daß Bansen und sein Gefolge mit ihm scheinbar übereinstimmen.
„Die brauchen das zum Vorwande, worauf wir uns auch berufen müssen, und
bringen das Land ins Unglück." In der That begegnen wir in den allgemeinen
Sätzen, von denen die naturalistischen Reformer scheinbar ausgehen, in den For¬
derungen, die sie für höchste Leistungen und Wirkungen erheben, in den Aus¬
sprüchen über gewisse Zustände der Literatur und der Gesellschaft gar vielen
Anschauungen, denen man unumwunden zustimmen muß und die dennoch in der
praktischen Anwendung durch die Jünger Zvlas zu höchst wundersamen Konse¬
quenzen führen.
Wer, der nicht ein ganz flacher Bekenner der poetischen Sentenz oder ein
ebensolcher Bewunderer des bloßen sinnlichen Wohlklanges schöner Verse ist, hat
jemals geleugnet, daß der Gehalt und die Wirkung poetischer Erfindungen und
poetischer Gestalten in eben dem Maße wachsen, als ihnen ein tieferes Ver¬
ständnis der Natur, in diesem Falle also des Menschenlebens, zu Grunde liegt?
Wer, dem nicht in der Flachheit der Tagcsreklcnne kannibalisch wohl ist, täuscht
sich darüber, daß ein guter Teil der Belletristik der Gegenwart konventionell,
und zwar konventionell im schlimmsten, schwächlichsten Sinne ist? Wer stellt in
Abrede, daß unsre Literatur vielfach unter dem Drucke einer falschen Genüg¬
samkeit steht, einer Genügsamkeit, welche, anstatt auf Wahrhaftigkeit und ethische
Tiefe zu dringen, sich mit dem Scheine der Anständigkeit zufrieden giebt? Wer
hat nicht empfunden, daß in unsrer gesellschaftlich approbirten Poesie die Prüderie
und Gouvernantenmoral unvermittelt neben der gemeinen Frivolität und der
Brutalität des modernen Strebertums steht? Alles das und noch viel mehr
ist wahr und unleugbar und soll auch nicht geleugnet werden, wenn es uns
aus dem Munde der Naturalisten entgegentönt. Wenn jedoch diese Naturalisten
in erster Linie auch Sophisten sind, die aus unbestreitbaren und wahren Vorder¬
sätzen bedenklich falsche Schlüsse ziehen, wenn die Allgemeinheiten, in denen man
ihnen zustimmen muß, beuutzt werden, um zu folgern, daß die naturalistische
Schule die Alleinbefähigung und Alleinberechtigung für künftige Schöpfungen
besitze, so wird man gegen die Übereinstimmung auf der Hut sein müssen. Eine
genauere Untersuchung dessen, was wir und was „die Modernen," wie sie sich
mit Vorliebe nennen, unter Natur und Leben, unter akademischer und kon¬
ventioneller Poesie, unter der vielzitirten „Herrschaft der höhern Tochter" über
unsre Literatur verstehen, erscheint zunächst notwendig und unerläßlich.
Es sollte freilich seit geraumer Zeit keine Frage mehr sein, daß der Poesie
das ganze Menschendasein mit allen seinen Höhen und Tiefen zugehört und der
Goethische Satz: „Wir wissen von keiner Welt als in Bezug auf den Menschen;
wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist" der Grund-
und Schlußstein aller Litcraturbetrachtung ist. In seiner Totalität bestreiten
denn auch die fanatischen Naturalisten den Goethischen Satz nicht, und gestehen
dem Dichter die Weite und Breite dieses ungeheuern Gebietes zu, sie räumen
vielleicht sogar ein, daß die Individualität des poetischen Talentes frei darüber
bestimmen müsse, welche Teile des ungeheuern Gebietes, welche Erscheinungen
des Lebens, welche Empfindungen, Antrieb, Leidenschaften und Lebenszustände zur
wirklichen Grundlage der Dichtung dienen sollen. Aber schon dies Zugeständnis ist
ein halb widerwilliges und wird durch die Behauptung abgeschwächt, daß kein
echtes Talent unsrer Zeit etwas andres darstellen wolle, solle und könne als
das Leben der Gegenwart. Jeder Schritt in die Vergangenheit hinein sei ein
Beweis für die Unselbständigkeit, für das Bedürfnis nach Anlehnung, jeder
Versuch, die urewigen bleibenden Momente des Lebens, die edlern Seiten der
Menschennatur über das Zufällige, Unwesentliche oder das Platte und Arm¬
selige zu erheben, sei ein Pakt mit der lügenhaften Unwirklichkeit und dem
Schein der „abgelebten" und „überlebten" Literatur. Doch auch hiermit würden
unsre Naturalisten immer nur harte, starre und einseitige Realisten sein. Zum
vollen Glaubensbekenntnis des Naturalismus gehört die Behauptung, daß es
überhaupt kein andres echtes Leben gebe als das Leben der Massen, keines,
welches nicht in den Schlamm des Häßlichen, Niedrigen getaucht, welches nicht
mit den widrigsten Spuren des vielberufenen Kampfes ums Dasein gezeichnet ist.
Die „UnWirklichkeit," welche unsre Naturalisten in der, gleichviel ob idealistischen,
ob realistischen, Kunst überall erblicken und befehden, beginnt nach ihrer Auf¬
fassung allemal da, wo eine der Mächte, die den einzelnen Menschen über die
Gemeinheit erheben, heraufbeschworen und als wirksam aufgefaßt wird. Der
echte Naturalist (wir entnehmen die folgenden Sätze einem Panegyrikus auf
Zola in der Flugschrift: „Der Naturalismus und die Gesellschaft von heute,"
Briefe eines Modernen an Jungdeutschland von Klaus Hermann, Hamburg,
Hermann Grüning, 1886) „erzählt uns nicht vom Leben aus dem Monde
und verwirrt durch phantastische Schönmalerei unsre Lebensanschauungen,
oder entfremdet uns griechisch und römisch geaichte Menschen, die wir von der
Schule gewaltsam dem Leben entfremdet werden, noch mehr der Jetztzeit und
der Handelnden Wirklichkeit, sondern er greift da den Nachbar vor uns, dort
den Arbeiter, wie sie das heutige Leben aufweist, und bringt ihr Leben und
ihre Schicksale uns nahe. Statt Logik der Worte giebt er uns Logik der That¬
sachen, statt mit abgedienten Begriffen ein schönrcdnerisches Redcgewebe zu
spinnen, hält er sich an den neuen Inhalt, den die Begriffe im veränderten
Laufe der Zeiten erhalten haben, statt ein phantastisches Weltbild mit Trug¬
schlüssen ans dem Papiergelde vou Namen und Worten hinzuzaubern und damit
die Gemüter zu verirren, hält er sich an die Thatsachen und die fordernde
Wirklichkeit, giebt er baare, blanke, harte Münze, Er hat es nicht zu thun mit
Menschen, die sich mir immer sehnen, die durch Handlung die Reinheit ihres
Herzens zu beflecken fürchten, mit den unglückliche» schonen Seelen, die in sich
verglimmen und als gestaltloser Dunst verschwinden," der echte Naturalist giebt
uns nicht „Ausgeburten einer sehnsüchtigen Phantasie," nicht „Menschen, die
von einer übertriebenen Liebe leben," sondern „Leute, vom Weibe ans diesem
schmutzigen Planeten geboren, die im Sturme des Lebens mit Not, Laster
Elend ringen, die Hunger haben, die der Versuchung unterliegen, ihr jämmer¬
liches Lebensgefühl durch Branntwein zu erhöhen, die nnr den siebenten Tag
Feiertag haben." Bei ihm ist „uicht bloß das Leben vor der Ehe," sondern siud
„die Resultate geschildert, die sich aus dem leidenschaftlichen Drange nach Ver¬
einigung ergeben, hier wird scharf gewogen, ob auch die geschlechtliche Liebe und
jene Gefühle, die auf die menschliche Seele so gewaltigen Einfluß haben, nicht
zum Teil Illusion sind, ob sie wirklich wert sind, den Mittelpunkt alles mensch¬
lichen Strebens und Ringens zu bilden und die Menschheit vorwärts zu bringen
auf der Bahn des Sieges." Der echte Naturalist schildert die rastlose Arbeit,
vor allem aber schildert er, wie sie „umlagert ist von den Schatten der Krank¬
heit," wie „der Glanz verdunkelt wird vou den Flecken," „der gerade Wuchs
verunstaltet von den Schmarotzern am Baume des Lebens Nervenkrankheit,
erbliches Elend aller Art, Wahnsinn, Verbrechen." In diesem Tenor erklingen
alle mehr oder minder kritischen Auseinandersetzungen der Naturalisten. Ihr
Verhältnis zur „Wirklichkeit" läßt sich kurz damit ausdrucken, daß sie Staub,
Schmutz, Schlamm und Kot als Realitäten ansehen, wie wir wohl oder übel
auch thun, das Wasser aber, das helle, leuchtende, frische, staublöschende,
schmutzhinwegspüleude, das für uus nicht minder „wirklich" ist, am liebsten für
eine „phantastische Schönmalerei" und einen „abgedienten Begriff" erklären. Und
wenn sie im physischen Sinne, trotz der Verachtung, mit der sie von Wald und
Berg, von Morgen- und Abendröten sprechen, die Geschenke der Natur uicht
geradezu als Ausgeburten sehnsüchtiger Phantasie bezeichne» können, so be¬
sinnen sie sich im moralischen Sinne keinen Augenblick, alle seelischen Erhebungen,
welche die Individuen und damit wenigstens einen Teil der Gesellschaft über das
Platte Bedürfnis und den nackten, frechen Egoismus emportragen, als Trugschlüsse,
Illusionen und mindestens als verblaßte Ideale, die niemand mehr begeistern, z»
bezeichnen. Der Naturalismus entwickelt scheinbar viel ethisches Pathos für
die Bekämpfung der Lüge (und wer leugnet ihm dem«, daß recht gemeine, höchst
verächtliche und niedrige Lüge tausendfach unser gesellschaftliches Leben, dem¬
gemäß auch einen Teil unsrer Literatur durchsetzt?), aber indem er jede Ehre
und Treue, jede reine Zärtlichkeit und innige Hingebung, jede Vornehmheit und
Tiefe der Empfindung, jeden Idealismus der Bildung, jede Opferfähigkeit un¬
moderner oder den obern Klasse» der Gesellschaft angehöriger Menschen ohne
weiteres als Lüge und Heuchelei brandmarkt und ihrer angeblichen Unwirklichst
ein- für allemal die Darstellung gemeiner und häßlicher Lebensverhältnisse,
Handlungsmotive, gemeiner Leidenschaften und Gesinnungen als allem wirkliche
entgegensetzt, verdächtigt er seine angeblich ethischen Gesichtspunkte und (woran
ihm mehr liegen wird) die Sicherheit und Unbefangenheit seiner Naturbeobachtung
aufs ärgste.
Ohne uus sonach irgendwie dagegen zu verblenden, daß die deutsche Poesie
ber Gegenwart zu einem guten Teile akademisch und konventionell geworden
ist, können wir den Naturalisten nicht einräumen, daß alles, was sie akademisch
und konventionell zu schelten und unter die alten, wirkungslos gewordnen Fabeln
Shakespeares und Goethes und Scotts zu rechnen belieben, darum schon aka¬
demisch und traditionell sei. Ju dem Augenblicke, wo wir erfahren, daß Dichter
wie Gottfried Keller oder Theodor Storm, die den reinsten lind tiefsten Blick
für verborgne Erscheinungen des Lebens besitzen, des Mangels an echtem Natur-
studium bezichtigt werden, wo wir die Losung erklingen hören, daß die einzige
greifbare und unverfälschte Wahrheit für den Schriftsteller der Gegenwart im
Leben der Großstädte zu finden sei, wird ein gewisses Mißtrauen gegen die kritische
Charakteristik, welche die Naturalisten von charakteristischen, realistischen, aber
poetischen Lebensdarstellern entwerfen, entschieden zur Pflicht. Einer Schule
gegenüber, welche die Bedeutung eines Darstellers nicht sowohl in die Wärme,
Macht und charakteristische Mannichfaltigkeit des von ihm geschaffenen Lebens,
als vielmehr in die dumpfe Wiederholung möglichst widerwärtiger Erscheinungen
setzt, aus welcher sich angeblich ein Gesetz des Lebens abstrahiren läßt, muß
das gute Recht der Dichtung ans Reichtum der Erfindungen und Gestalten,
auf phantasievollen Wechsel der Stoffe und der Formen gewahrt werden. Es
ist wohlfeil, allzuwohlfeil, ganze Gebietsteile der Poesie für „abgebaut" zu er¬
klären, und zahlreiche Schöpfungen, die ans dem Innersten der betreffenden
Dichter kommen, ohne weiteres als akademische Machwerke und konventionelle
Wiederholungen zu brandmarken. Wenn die weit über das Ziel hinaus fliegenden
Behauptungen der naturalistischen Reformer deu Erfolg hätten, in Zukunft
unsre Kritik zur schärferen und schärfsten Prüfung des wahrhaften Lebens¬
gehaltes, der subjektiven Eigenart jedes poetischen Werkes zu veranlassen, so
wollten wir für die Anregung dazu herzlich dankbar sein. Wir fürchten indes,
daß das Resultat des naturalistische» Ansturmcs gegen unsre angeblich aka¬
demische Poesie ein ganz andres sein wird. Mit gewohnter Schnellfertigkeit
Wird man sich des Schlagwortes bemächtigen, wird alle Poesie, die über die
Geschichte der sozialen Krankheit der Gegenwart hinausgeht, die sich „im Interesse
ästhetischer Geiiicßlinge" (sagen die Naturalisten) von der großen staubigen
Heerstraße entfernt, akademisch nennen, und wird umgekehrt alles, was sich auf
der Bühne der moderne» Großstadt bewegt, alles, was das Scheingepräge der
„Aktualität" trägt, ohne weiteres für unmittelbar, lebendig und lebensvoll er¬
achten. Und wie weit ist schon jetzt in seinen Anfängen dieser Naturalismus
nicht akademisch (dazu sind seine Produkte meist zu formlos), aber konventionell
durch und durch! Dies ängstliche Wandeln in den Spuren Daudets, Zolas,
Kjellauds, wie wenig Selbständigkeit verrät es! Diese getreulich wieder und
wieder kopirten Szenen und Figuren, diese eintönige Schilderung der geistlosen
und geldhungrigen bürgerlichen Kreise, diese Krcinkheits- und Elendsgeschichten,
wie oft liegen ihnen nichts weniger als Lebenseindrücke und sorgfältige
Studien zu Gründe, wie oft sind sie bis auf die Nachstammlung der gleichen
Zorn- und Schmerzlautc, bis auf die Grimassen, mit denen satirische Be¬
merkungen eingeleitet werden, armseliger Abklatsch der großen Muster und
Vorbilder! Die Mode hat an der Entstehung dieser Produkte einen genan
so großen, vielleicht einen größern Anteil als die künstlerische Tradition
an der Entstehung akademischer Epen und Dramen; in beiden Fällen
handelt es sich um einen Mangel wirklichen Lebensgefühls und selbständiger
Gestaltungskraft, Die tiefste und schwerste Probe der innern Lebensfähigkeit
poetischer Werte: die Probe der Wirkung in der Dauer, haben natürlich die
naturalistischen Versuche noch nicht bestehen können, ohne daß ihnen daraus ein
Vorwurf erwächst. Die Erfahrung, welche den Aposteln Jungdeutschlands nicht
erspart blieb, daß ihre durchaus modernen, ganz vom Zeitgeist inspirirter
Werke noch vor Ablauf eines Jahrzehnts geradezu ungenießbar wurden, dürfte
auch den Naturalisten beschert sein, obschon sie ganz sicher in dem Maße, als
wirklicher Odem der Natur durch ihre Erfindungen hindnrchwcht, mich Bürg¬
schaften für ihre längere Dauer und Wirkungsfähigkeit besitzen.
Auch in Bezug auf die augenblickliche Gesamtlage unsrer Literatur und
die Herrschaft gesellschaftlicher Vorurteile und falscher oder enger Anstandsbcgriffe
über die poetische, namentlich die erzählende Produktion führen die Naturalisten
das große Wort und rühmen sich Luft und Licht zu schaffen. Wäre die
Herrschaft dieser Begriffe auch uoch thranuischer, als sie in der That ist, so
würden wir immer noch nach dem Preise fragen dürfen, um den wir befreit
werden sollen. Es ist ganz richtig, daß die allgemeinen Sittenzustande der
Gegenwart und die Forderungen, die man an die poetische Literatur stellt, oft
im schärfsten Gegensatze stehen, daß die Ausschließlichkeit, mit welcher Dichtungen
und Romane von Frauen gelesen werden, eine Reihe von falschen Maßstäben
hervorgerufen hat. Jedoch ist es von altersher ein mißliches Unternehmen
gewesen, den Teufel durch Beelzebub zu beschwören, und hinter der angebliche»
Befreiung unsrer Dichtung vom Druck der Prüderie und der falschen Vornehm¬
heit lauern Erscheinungen, nach denen niemand Begehr tragen wird, der sich noch
Glauben an die Zukunft, und eine glückliche Zukunft, unsrer Literatur bewahrt hat.
Die nähere Betrachtung der seitherigen Leistungen der naturalistischen Schule
wird klar machen, daß die Freiheit der poetischen Darstellung, die sie erstrebt
und verheißt, eine verzweifelte Ähnlichkeit mit der Freiheit zeigt, welche unter
Konvent und Wohlfahrtsausschuß in Frankreich üblich wurde, und hinter der
die straffste und unbarmherzigste Ordnung als ein Segen empfunden wurde. Nur
ein Moment mag hier noch hervorgehoben werden. Unsre Naturalisten spielen
wundersam mit den Begriffen vom Recht der Masse und des Einzelnen. Jenen
Dichtern, welche Schicksale und Wesen hervorragender, ungewöhnlicher Menschen
darstellen, setzen sie die Behauptung entgegen, daß diese Helden der vergangnen
Periode der Literatur angehören, und daß die einzig würdige Ausgabe des modernen
Schriftstellers in der Darstellung des Massenlebens bestehe. Wo jedoch die
Massen der Leser, die Hunderttausende der Abnehmer illustrirter Familienblättcr
das Schwergewicht ihrer berechtigten und unberechtigten — Anschauungen
und Vorurteile in die Wagschale der Literatur werfe», begehren dieselben Re¬
former volle Freiheit für das genirte Individuum. Sehen wir zu, wie sich
all diese Forderungen und Widersprüche in den Leistungen der naturalistischen
Schule geltend machen und welchen Wert diese Leistungen als Ausgangspunkte
einer neuen Entwicklung unsrer Literatur haben können.
elgien, das Musterland des Parlamentarismus, bisher viel gerühmt
und als Beispiel des Segens angeführt, den dieses politische System
über alle, die nach ihm regiert werden, verbreitet, hat in den letzten
Wochen die Lobsprüche, welche die Liberalen ihm bei jeder Ge¬
legenheit zu spenden gewohnt waren, in arger Weise Lügen gestraft
und gezeigt, daß es nicht nur selbst recht faule Stellen an seinein staatlichen
und gesellschaftlichen Körper hat, sondern auch zu einer Gefahr für die Nachbar»
werdeu kann. Ein Bürgerkrieg, ein Aufstand der Arbeiter gegen die sie be¬
schäftigenden Kapitalisten brach aus und führte zu Auftritten, welche bei den
aufständische» Massen sehr bedenkliche Instinkte enthüllten. In der Umgebung
von Lüttich beginnend, griff die Bewegung rasch um sich und breitete sich
zunächst über die Bezirke um Mons und Charleroi aus, ohne daß die Behörden
rechtzeitig imstande gewesen wären, ihr Einhalt zu thun. Von Arbeitseinstellungen
ging man zu Zwang gegen die, welche weiter arbeiten wollte:?, über, und bald
schritten die Meuterer sogar zur Niederbrenuung von Fabriken und Hüttenwerken,
zu Plünderungen, zur Zerstörung von Maschinen und zu andern Eigentums¬
verletzungen. Es kam zu Zusammenstößen mit den kleinen Abteilungen vou
Militär, welche die Regierung anfangs zur Stelle hatte, und eine nicht un¬
beträchtliche Zahl von den Empörern bezahlte ihre verbrecherische Aufhetzung
gegen Gesetz und Ordnung mit dem Leben. Zuletzt wurde mit Aufbietung
größerer militärischer Mittel die sozialistische Revolution zwar niedergeworfen
und allenthalben die Ruhe wiederhergestellt. Aber inzwischen ist vielmehr Unfug
verübt und vielmehr Schaden angerichtet worden, als die Regierung zu beklagen
haben würde, wenn sie sich eher auf ihre Pflicht besonnen hätte, ans ihre Pflicht
zur Sorge für die Arbeiter und zum Schutze der Arbeitgeber.
Allerdings trägt die Negierung nicht die Schuld an dem niedrigen Stande
der Löhne, welcher den unmittelbaren Aulnß zu der Empörung gab. Die Unter¬
nehmer konnten infolge der ungünstigen Lage der Industrie, welche jetzt fast
allenthalben, nicht bloß in Belgien, mehr oder minder schwer empfunden wird,
meist ohne sich selbst zu ruiniren, die Arbeit nicht besser bezahlen. Die Bergleute
in der Gegend von Mons erhalten in der That für acht Stunden Arbeit in
den dortigen Kohlengruben nur etwa zwei Mark, und das ist, wenn man die
schweren Mühen und das Gefährliche ihrer Beschäftigung bedenkt und sich er¬
innert, daß die Lebensbedürfnisse in Belgien im Vergleiche selbst mit denen in
teuern Gegenden Deutschlands nichts weniger als wohlfeil sind, ein sehr geringer
Lohn. Indes ist auch der Erlös aus der Ausbeute der betreffenden Kohlen¬
bergwerke schon seit geraumer Zeit ein äußerst kärglicher: in den letzten acht
Jahren verzinste sich das auf sie verwendete Kapital nur mit einem Prozent, und
wollte man das dem Lohne der Bergleute zulegen, so würde es nnr einem
Mehrverdienstc derselben von sechs Centimes täglich gleichkommen. Ähnlich steht
es in? Kohlenbecken von Charlervi, ähnlich auch in den Gegenden, wo die Glas¬
industrie, die Verfertigung von Eisenwaaren und Steingut und die Weberei
große Massen der Bevölkerung beschäftigen. Allenthalben zeigt sich, daß man
zuviel unternommen und erzeugt hat, überall haben die Fabrikanten mit ver¬
minderter Nachfrage und gefährlichem Wettbewerb der Nachbarn auf dem Welt¬
markte zu kämpfen. Daneben aber geht eine künstlich geschürte Unzufriedenheit
der arbeitenden Massen her, die Wirkung sozialistischer Wühlerei und Hetzerei,
eine Strömung, die überall ihre Wellen schlägt, in den Streiks und Dynamit-
Verbrechen französischer Fabrikgegenden, in den aufrührerischen Auftritten, welche
vor kurzem die Bewohner Londons in Schrecken versetzten, und in der großen
Eisenbahnrcvolte, die in den Freistaaten von Nordamerika durch die „Ritter
der Arbeit" organisirt wurde. In Belgien hatte das Treiben der sozialistischen
Agitatoren schon vor mehreren Jahren weite Kreise der arbeitenden Bevölkerung
ergriffen, da die Gesetze, nach den Grundsätzen fast unbeschränkter Freiheit zu¬
geschnitten, keinen Schutz dagegen gewährten. Günstigere Gelegenheit für die
Vorbereitung ihrer Absichten auf einen Umsturz der gegenwärtige« gesellschaft¬
lichen Verhältnisse fanden die leitenden Geister der Sozialdemokratie nirgends
als in dem liberalen Musterstaate Belgien. Im Jahre 1865 begannen sie hier
Fuß zu fassen, und schon 1876 schätzte Lavelehe die Zahl ihrer organisirten
Anhänger — wohl etwas zu hoch — auf 200 000. Einige Jahre vorher wurde
dem Baseler Kongresse ein Bericht vorgelegt, nach welchem die sogenannte Inter¬
nationale in ihren Listen 60 000 Namen belgischer Arbeiter führte. Hinsichtlich
der Organisation des sozialistischen Bundes in Belgien ist zu bemerken, daß
1870 zehn „Föderationen" desselben bestanden: die von Brüssel, die von Ant¬
werpen, die von Gent, die von Dampremy (beide im Becken von Charlervi),
ferner die von Lüttich, die des Borinage, die des Zentrums, die im Vesdrethal
und die von Huy. Preßorgane besaß der Bund damals in Belgien schon sechs,
darunter ein täglich erscheinendes Blatt, die in Brüssel herauskommende, nicht
ungeschickt geleitete „Liberte," in Antwerpen den vlämisch geschriebenen „Werker,"
in Verviers den „Mirabeau" und den „Proletaire," in Brügge den „Vooruit,"
ebenfalls für die Vlüminger bestimmt, und in Seraing den „Reveil." Außerdem
konnten die Agitatoren auf die Unterstützung der Lütticher Blätter „Le Petit
Cvrscire" und ,,L'Eclair" sowie auf die der Brüsseler Monatsschrift „La Soli-
darite" rechnen, welche der „sozialistische Philosoph" Fauvety, ein Schüler von
Pierre Leroux, herausgab. Die Föderationen oder Sektionen hatten nach ihrer
Vereinigung, der auch die „freien Arbeiter" von Verviers beitraten, einen General¬
rat von sechzehn Mitgliedern und beschickten einen alljährlich einmal tagende»
allgemeinen Kongreß. Arbeitseinstellungen und sonstige Zerwürfnisse zwischen den
belgischen Unternehmern und Arbeitern verhalfen der Internationale zu einer
großen Bedeutung, indes waren deren Führer nicht für Streiks, da sie auf
gewaltsamere und weniger lokale Lösung der Arbeiterfrage hinsteuerten, und
damit fanden sie bei der Mehrzahl der Bundesglieder kein Verständnis, auch
erfreuten sich die atheistischen Lehren der Marxianer und Bakunins wenigstens
bei den meist bigott katholischen vlämischen Massen keines Anklanges, zumal da
ihnen die Ultramontanen durch die Gründung des Taviersvereins, der nach dem
Muster der katholische» Gesellenvereine in Deutschland organisirt war und in
der Zeit seiner Blüte gegen 50 000 Mitglieder zählte, nicht ohne gute» Erfolg
entgegenwirkte. Als die Internationale aufhörte, versuchten ihre belgischen An¬
gehörigen sich als nationale Partei zu gestalten, doch zerfielen sie sofort in
zwei Parteien: die eine wollte sich, wie die deutscheu Sozialisten, der Mittel
zur Venvirklichung ihrer Pläne auf dem Wege der Wähle«? bemächtigen und
verband sich mit den radikalen Elementen des Bürgertums zu der Forderung
des allgemeinen Wahlrechts, die andre, deren Organ der „Mirabeau" wurde, be¬
hauptete, nur auf der Bahn der gewaltsame»! Niederwerfung des Bestehenden
könne geholfen werden. Die neuesten Ereignisse zeigen, daß diese Gruppe der
belgischen Svzicilisten in den letzten Jahren viel Einfluß erlangt hat.
Laveleye ist in seinem Buche I.ö soviÄliMUZ vontvillpor^in der seltsamen
Meinung, die freiheitlichen Einrichtungen, deren sich Belgien und die Schweiz
rühmen, seien das beste Schutzmittel gegen die Ausschreitungen der sozialistisch
bearbeiteten untern Schichten der Bevölkerung. Die Regierung oder, was das¬
selbe ist, die abwechselnd herrschende« Parteien der Mittelklasse teilten diese
Ansicht, nach welcher die Freiheit alles zuletzt ganz naturgemäß sich ordnen und
ausgleichen laßt, und nach welcher sie zwar Wunden schlagen kann, sie aber
immer auch heilen muß, weshalb der Staat sich in ihr Wirken nie einmische»
darf. Diese Überzeugung bewog die Regierung, die Dinge gehen zu lassen, wie
sie wollten. Sie sah keine Gefahr in der Preßfreiheit, in dem unbeschränkten
Vereins- und Versammlungsrechte, wie sehr alle diese Institutionen auch zur
Vorbereitung einer sozialistischen Revolution, zur Erregung von Klassenhaß und
zum Predigen der krassesten Irrtümer gemißbraucht wurden. Eine Zeit laug
schien es, als ob sie richtig urteilte: die Ordnung wurde kaum jemals wesentlich
gestört. Jetzt aber hat die Sache ein andres Gesicht bekommen, und die Re¬
gierung und das Land büßen ihr falsches Vertrauen auf die alleinseligmachende
Kraft der liberalen Doktrin. Sie büßen aber mich andre Irrtümer. Wie nichts
zur Einschränkung der mißbrauchten Presse geschah, so unterblieb mich jede Sorge
für das materielle Bedürfnis der untern Volksschichten. Gleichartig gegen diese
erblickt der belgische Bourgcvisstaat seine Lebensaufgabe einzig und allein in der
Handhabung und Ausbildung der konstitutionellen Theorie, des Parlamentaris¬
mus, der Majoritäteuwirtschaft. Mit der Regelmäßigkeit des Perpendikels einer
Wanduhr schaukelten sich die beiden Parteien der allein mit Stimmrecht versehenen
Zensusklassen auf und ab. In fast mathematisch genauen Perioden wurde das
Laud jetzt von den Liberalen und jetzt vou den Klerikale« regiert, je nachdem
die einen oder die andern bei den Wahlen mehr Glück oder mehr Geschick hatten.
Diese Nebenbuhlerschaft und dieses Ringen der politischen Parteien nahm alles
Denken und alle Kräfte des Volkes in Anspruch, sodaß für die eigentlichen Auf¬
gaben desselben, besonders für die wirtschaftlichen, in den leitenden Kreisen weder
viel Muße noch viel Neigung übrig blieb. Weder die Liberalen noch ihre Gegner,
die Jesuiten und ihr Schweif, legten irgend welches ernste Interesse dafür
an den Tag, und die Krone, welche sich der Sache hätte annehmen sollen, war
„gewissenhaft konstitutionell," d. h. sie folgte ausnahmslos den Schwingungen
der Parteien und war nur deren Dienerin. Belgien ist ein Fabriklaud, es
hat eine Bevölkerung von Fabrikarbeitern so zahlreich wie kein andres, und
trotzdem ist man mit der Gesetzgebung für die Arbeiter hier weiter zurück¬
geblieben als in irgeud einem andern. In echt manchesterlicher Art sah man ein
Eingreifen des Staates in die Entwicklung dieser Fragen nicht bloß als über¬
flüssig, sondern als Versündigung am Prinzip an. Daß die Arbeiter kein Stimm-
recht haben, ist kein Unglück; man weiß ja, was sie anderwärts damit leiste,?.
Aber sie hatten bisher auch keinen Befürworter ihrer Interessen von andrer
Seite und außer der herkömmlichen Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit
kaum andre Rechte. Die liberale Partei, die jahrelang am Ruder stand, war
in dieser Hinsicht fast vollständig unthätig. So lange die Klerikalen nur Op¬
position waren, machten sie sich diese Enthaltsamkeit zu nutze, beklagten sie als
Trägheit, Unfruchtbarkeit und Unfähigkeit und versprachen ihrerseits eine gro߬
artige Initiative, weitgehende Zugeständnisse und umfassende Reformen. Als sie
aber ans Regiment kamen, zeigten sie sich nicht weniger impotent als ihre Vor¬
gänger in der Verwaltung und ließen ihre Versprechungen unerfüllt. Sie be¬
sitzen die Macht, zu helfen, jetzt zwei volle Jahre und haben sie bis heute noch
in keiner Hinsicht angewendet. Sie glaubten besseres zu thun zu haben. Alle
Erscheinungen auf den: Gebiete des neuern wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Lebens, alle Versuche, die Lage der arbeitenden Klassen zu heben und zu bessern,
alle Erfolge solcher Versuche in den Nachbarländern gingen an den neuen bel¬
gischen Staatsleukern vorüber, ohne ans sie Eindruck zu machen und sie zur
Nacheiferung zu veranlassen. Sie hatten sich ihrer Meinung nach in erster Reihe
mit der Sorge für die Kirche zu beschäftigen, neue geistliche Pfründen zu schaffen,
das Klosterwesen zu begünstigen, die Schulen den Priestern unterzuordnen,
Friedhofsfragen im Sinne ihrer Partei zu entscheiden und ähnliches zu besorgen,
während doch die Geschäfts- und Arbeitskrisis mit jeder Woche dringender
Maßregeln zur Vorbeugung gegen die ärgste Not zu ergreifen gebot. Im
deutschen Reiche und in Österreich, Länder, welche die belgischen Phrasendrechsler
als tief unter ihrem Mustcrstaate stehend, als zurückgeblieben, als despotisch
beherrscht ansehen und behandeln, haben längst schon die Frauen- und Kinder¬
arbeit billig geregelt lind der Ausbeutung der Arbeiter nach Möglichkeit Schranken
gezogen, sie haben die Unfall- und Krankheitsversicherung ins Leben geführt
und sind nahe dabei, anch die Altersversicherung ihrem Reformwerke hinzuzu¬
fügen. Den Belgiern mit ihrem thörichten Dünkel ist es meist nicht einmal
bekannt, daß solche gesetzliche Ordnung und Verbesserung des Looses der Ar¬
beiter überhaupt existirt, geschweige denn, daß etwas der Art bei ihnen von
Staatswegen auch nur begonnen worden wäre. Langdauernde Arbeit bei kärg¬
lichem Lohn, keinerlei Schutz gegen gewissenlose und mibarmherzige Ausbeutung,
traurigste Unsicherheit gegenüber der Möglichkeit von Unfällen und Erkrankungen,
trübste Aussichten auf die Zeit des Alters, das ist das Loos des Arbeiters in
dem Staate, welcher das Ideal der Liberalen vom Schlage unsrer Deutsch-
freisinnigen ist.
Das Elend der untern Bevölkeruugsschichtcn blieb also in Belgien während
der letzten Jahrzehnte durchschnittlich immer dasselbe, und die regierenden Klassen,
ihre Parteiführer und Minister schienen es einfach als natürlichen und keine
Besserung zulassenden Zustand zu betrachten. Die Betreffenden klagten zwar,
thaten aber sonst nichts zur Änderung ihrer Lage. Sie mußte also wenigstens
nicht ganz unerträglich sein. In Zeiten, wo der Handel blüht, sind die Menschen
zu beschäftigt und zu wenig schlecht gelohnt, um an ihr Schicksal viel zu denken
und dessen Härten so zu empfinden, daß sie sich dagegen auflehnen. Fehlt es
dagegen an genügendem Absatz, stockt die Arbeit und sinken die Löhne, so sieht
man sich mit andern Augen an, die Unzufriedenheit erwacht, der Neid und der
Haß, der bisher nur glimmte, flammt auf, und die politischen und sozialistischen
Demagogen, die sich dann beeilen, ihn zu Gewaltthat«» anzufachen, finden für
ihre Brandreden bereitwillige Ohren. Die Regierung mußte, auch wenn sie
sonst kein Auge und Herz für die traurige Lage der Arbeiter hatte, solche Fälle
voraussehen und für sie gerüstet sein. Sie hatte wenigstens rasch zu sorgen,
daß die Klasse der Besitzenden, aus der sie hervorgegangen war und die sie
vertrat, nicht zu schwer unter den Folgen der Unterlassungssünden litt, deren
sie, die klerikale Regierung, sich gleich ihrer liberalen Vorgängerin gegenüber
den Arbeitern schuldig gemacht hatte. Sie mußte wissen, dnß es im Lande viel
Pöbel und Gesindel giebt, immer bereit, sich Meutereien anzuschließen, um
Plünderungen und Zerstörungen von Eigentum vornehmen zu können. Sie
kannte die Wühler aus höhern Ständen, welche die Massen aufsetzten, schritt
aber weder gegen deren Reden noch gegen deren Flugschriften ein. Sie war
gewarnt durch den Streik und die Mordszene zu Decazeville im benachbarten
Frankreich. Dennoch versäumte sie, rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen. Jetzt,
wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, will sie ihn zudecken. Aber in¬
zwischen habe» die erhitzten Massen viel Unheil angerichtet und in ihrer Ver¬
blendung durch Niederbrcnnung von Arbeitsstätten und andre Zerstörung sich
für die nächste Zeit selbst die schwache Lebensluft entzogen, die ihnen bisher
gegönnt war. Man hat verhältnismäßig viele von den Aufständischen zusammen¬
schießen müssen. Hätte man eher Soldaten gebraucht und eher geschossen, so
wären unzweifelhaft viel weniger Schüsse nötig geworden. Jetzt herrscht die
Ruhe des Belagerungszustandes. Der aber kann nicht ewig währen. Was
soll geschehen? Was wird die Regierung thun, um die billigen Ansprüche der
Arbeiter zu erfüllen? Am 30. März sagte der Minister Bernaert in der De-
putirtenkammer, man müsse jetzt an die Zukunft denken, und die Regierung
werde dies in aller Ruhe thun und nach Mitteln suchen, den Arbeitern zu
helfen und Arbeit für sie zu finden. Sie werde zu dem Zwecke von den Volks¬
vertretern einen Kredit von 43 Millionen Franks fordern, und man werde
damit Vizinallinien bauen, deren Vollendung in der Ausdehnung von 352 Kilo¬
metern noch in diesem Jahre zu hoffen sei. Das wird aber nur für eine kleine
Zeit der Verlegenheit steuern, und der Minister wird nach weitern Maßregeln
zur Abhilfe, zu dauernder Abhilfe suchen müssen. Der Generalrat der belgischen
Arbeiterpartei verlangt in dem sozialistischen Blatte „Le Peuple" für die Arbeits¬
losen Beschäftigung mit genügendem Lohne durch Anordnung öffentlicher Ar-
beiden, was durch die Erklärung Bernaerts versprochen ist, ferner volkswirt¬
schaftliche Reformen, Schutz der Arbeit vor Ausbeutung durch das Kapital,
was in dieser Allgemeinheit möglich und gerecht, aber auch unmöglich und un¬
gerecht sein kaun, Kreditorganisation, Übernahme der Bergwerke durch den Staat,
was den Manchesternen ein Greuel sei» wird, Revision des Steuersystems,
endlich das allgemeine Wahlrecht, „Wenn die Negierung und die herrschenden
Kapitalisten, heißt es dann weiter, die Abstellung unsrer gerechten Beschwerden
verweigern und fortfahren, den Arbeiter als Paria zu behandeln, hat dieser
dann nicht das Recht, zu einem allgemeinen Streik seine Zuflucht zu nehmen?
Das Recht zur Koalition und Arbeitseinstellung besteht, und wir sind befugt,
es auf alle Industrien des Landes auszudehnen. Jedenfalls ist für die Arbeiter
die Stunde gekommen, zu zeigen, daß sie es fatt haben, sich als Lasttiere und
Kanonenfutter gebrauchen zu lassen," Der letzte Satz ist Phrase. Die Aus¬
dehnung des Streiks über alle Industrien Belgiens ist gesetzlich nicht verwehrt,
wird aber ohne Zwang nicht durchzusetzen sein, und Zwang kann selbstverständlich
nicht gestattet werden. Wir meinen, der Musterstaat Belgien wird am besten
thun, sich das deutsche Reich zum Muster zu nehmen und recht bald mit Ver¬
suchen zu beginnen, seine Arbeiter nach dem Beispiele der Bismarckschen Re¬
formen besser zu stellen. Sonst wird er über kurz oder lang wieder eine Gefahr
für die Nachbarn sein und vielleicht einmal als solche behandelt werden müssen.
l
e große Schlacht im Reichstage über das Sozialistengesetz ist
geschlagen. Die gesunde Vernunft hat schließlich doch wieder
gesiegt; das Gesetz ist nach dreitägiger Verhandlung mit erheb¬
licher Mehrheit, die durch Zutritt eines Teils des Zentrums
sich bildete, angenommen worden. Die Vertreter der Sozial-
demvkmtie tobten und wüteten; zahlreiche Ordnungsrufe fielen auf ihre Häupter.
Herr Bebel ließ sich sogar hinreißen, den Königsmord anzupreisen für den
Fall, daß bei uns ähnliche Zustände wie in Rußland entstehen würden. Der
Reichskanzler beleuchtete in seiner am zweiten Tage gehaltenen Rede die damit
offen eingestandenen Ziele dieser Partei. Aber weder diese Äußerung des sozial-
demokratischen Führers noch alles übrige, was aus seinem und seiner Genossen
Munde kam, konnte uns überraschen. Es sind ja nur Konsequenzen ihrer
Lehren. Die Krone der Verhandlung gebührt in unsern Augen nicht ihnen,
sondern der deutschsreisinnigen Partei. Im Namen derselben redete bei der
zweiten Lesung or. Hänel, bei der dritten Dr. Bamberger. Diese Reden, ge¬
halten angesichts der blutigen Greuel dicht an der Grenze unsers Vaterlandes,
waren das Verschrobenste und Roheste, was jemals Parteifanatismus zu Wege
gebracht hat. Es würde uns ein Trost sein, wenn wir annehmen dürften, Hänel
selbst habe an das alles, was er geredet, nicht geglaubt, er habe es nur ge¬
redet, weil seine Partei, um Opposition zu machen, gegen das Gesetz stimmen
wollte, und dafür doch Gründe gefunden werden mußten. Da uns aber die
Achtung vor seinem moralischen Charakter nötigt, an die Aufrichtigkeit seiner
Gründe zu glauben, so müssen wir gestehen, daß es uns wahrhaft mit Schrecken
erfüllt hat, wenn wir daran denken, daß ein Mann, der von solchen Verschroben¬
heiten erfüllt ist, zugleich Lehrer unsrer juristischen Jugend ist. Was für Dinge
muß ein solcher Lehrer den jungen Männern, die bei ihm hören, in den Kopf
setzen!
Hänel legte zunächst sein Kredo dahin ab: „Ja, wir sind der Überzeugung,
daß ausschließlich und allein geistige Waffen, die Waffen der Diskussion, aus¬
reichen, um eine so große Strömung, wie die Sozialdemokratie ist, dauernd be¬
kämpfen zu können. Gerade zu dieser Grundanschauung bekennen wir uns."
Diese Grundanschauung wurde dann mit einem salbungsvollen geschichtlichen
Exkurse belegt. Zwar wollen auch sie, die Freisinnigen, vollste Pflichterfüllung
von denjenigen, welchen sie die volle geistige Freiheit gewähren; auch sie wollen
den Appell an die Gewalt mit Gewalt beantworten. „Können wir denn das
aber nicht vollkommen erreichen auf dem Boden des gemeinen Rechtes?" Es
ist wirklich schade, daß Hänel seine pathetischen Reden wohl nur in deutscher,
nicht auch in wallonischer Sprache halten kann. Sonst würde es sich em¬
pfohlen haben, daß er bei Ausbruch der Unruhen in Belgien sofort dorthin
geeilt wäre und sich der belgischen Regierung zur Verfügung gestellt hätte.
Gewiß würden vor der geistigen Waffe seiner Reden die dortigen Mordbrenner
und Plünderer demütig zu Kreuze gekrochen sein.
Was die Wirksamkeit des Svzialistengesetzes betrifft, so will Hänel zwar
die Bedeutung desselben für die Minderung der sozialdemokratischen Bewegung
nicht ganz in Abrede stellen. Aber — „dieses Gesetz ist doch ein Element der
Demoralisation unsers deutschen Volkes." Es habe den Klassenhaß geschärft.
Es habe zu unzähligen Umgehungen geführt und dadurch den Sinn für Un¬
gesetzlichkeit genährt. Es habe die übrigen Schichten der Bevölkerung in eine
falsche Ruhe eingewiegt. „Wenn wir nicht dem Bürger die Überzeugung
bringen, daß nur das Selbsttätige Bürgertum den Sieg des Liberalismus, den
Sieg unsrer Staats- und sozialen Einrichtungen verbürgen könne, dann wird
diese Staats- und Gesellschaftsordnung rettungslos zu Grunde gehen." Mit
allen diesen Gründen könnte man auch dafür plädiren, daß das gesamte Straf¬
gesetzbuch außer Anwendung gesetzt werde. Ohne Zweifel vermehrt es den
Klassenhaß der Spitzbuben gegen die Besitzenden, daß sie dieselben nicht ohne
Gefahr der Bestrafung bestehlen können. Und wenn dies offen erlaubt wäre,
so brauchte es nicht so viel heimlich „mit Umgehung des Gesetzes" zu geschehen.
Also der Sinn für Gesetzlichkeit würde dadurch befördert werden. Auch ließe sich ja
mit voller Emphase aussprechen: „Wenn wir nicht dem Bürger die Überzeugung
bringen, daß nur das selbstthätige Bürgertum den Sieg über Diebstahl und
Raub verbürgen könne, dann wird diese Staats- und Gesellschaftsordnung
rettungslos zu Grunde gehen." Dieser Satz enthielte genau dieselbe Weisheit,
die unser Professor des Staatsrechts jüngst im Reichstage ausgesprochen hat.
Viel feiner zugeschliffen war die Rede Bambergers. Dieser hat in frühern
Jahren für das Gesetz gestimmt und damals mit voller Klarheit die Gefahren
geschildert, welche die Sozialdemokratie für Deutschland in sich trage. Die
Frage, ob diese Gefahren im Wege der freien Diskusston zu besiegen seien, be¬
antwortete er auch jetzt wieder — im Gegensatz zu der „Grundanschauung"
seines Kollegen Hänel — mit einem entschiednen Nein. Aber — die Neichs-
regieruug habe ja selbst seit jener Zeit ein Stück Sozialismus auf ihre Fahne
geschrieben, womit sie sein — Bambergers — System des Manchestertums durch¬
kreuze. Da müsse man ihr die Sozialdemokratie auf den Hals Hetzen, damit sie
besser Mores lerne. Sie müsse begreifen lernen, daß Krankenkassen-, Unfall¬
versicherung oder auch Jnvalidenvcrsorgung in den Augen der Sozialdemokratie
nur Brimboria seien. Dann werde sie nicht mehr auf diese Weise mit dem
Feuer spielen, sondern sich seinem alleinseligmachenden Wirtschaftssystem des
unbedingten Gehenlassens wieder in die Arme werfen. Eine ganz ähnliche Rede
hatte der Abgeordnete Bamberger bereits am 12. Mai 1884 gehalten. Bam-
berger trägt also kein Bedenken, die Gefahr von Aufruhr, Mord und Plünderung
über unser deutsches Vaterland heraufzubeschwören, weil er vermeint, dadurch
die Neichsregierung für Verlassen seines Wirtschaftssystem zu bestrafen.
Aber vielleicht thun wir unsern Freisinnigen doch Unrecht. Wie sich aus
der Einleitung der Hämelschen Rede ergab, hatten sie sich sehr genau überlegt,
wie sie abstimmen wollten: erst für die von Windthorst eingebrachten Ab-
schwächungsanträge zu dem Gesetz, dann aber doch wieder gegen das mit diesen
Abschwächungen behaftete ganze Gesetz. Bei der bekannten Stimmung eines
Teiles des Zentrums war hiernach vorauszusehen, daß die unveränderte Re¬
gierungsvorlage (nur mit abgekürzter Zeitdauer) durchgehen werde. Vielleicht
ist es daher doch ihre Absicht gewesen, das Gesetz durchbringen zu helfen, aber
dabei ihre „Prinzipien" zu wahren. Nun, dann wollen wir ihnen ihre gran¬
diosen Reden verzeihen.
leder schi
mmerten am warmen Sommerabend die Prunksäle und
endlosen Zimmerreihen des Schlosses von Cintra im Kerzen¬
glanz, während sich die Strahlen der untergehenden Sonne
noch in den Bogenfenstern des riesigen Baues brachen. Nie¬
mals, seit König Sebastian hier Hof hielt, ja niemals, seit er
regierte, waren die großen Feste im Palast so rasch aufeinander gefolgt, als
in diesem schwülen, gewitterreichen Sommermonate, Die Zahl der Gäste des
Königs schien mit jedem Abende zu wachsen, in ganz Cintra war kein Dach,
unter dem nicht Edelleute aus allen Teilen des portugiesischen Landes her-
bergten. Am heutigen Abend hatte Graf Vimioso, der Großkämmerer, wiederum
eine Flucht von Gemächern öffnen lassen müssen, weil die weiten Empfangssäle
dem Andrange nicht genügten. Durch alle vordern Räume flutete, rauschte,
gleißte eine Woge buntfarbiger Gewänder, leuchtenden Goldes, wallender Federn,
funkelnder Steine; alle Schätze Brasiliens und Indiens schienen zur Schau
gestellt und blendeten die Augen der wenigen, die hier des Anblickes nicht
gewohnt waren. In langen Reihen und dichtgedrängten Gruppen erfüllten die
Geladnen namentlich die beiden großen Säle und jene Zimmer, welche un¬
mittelbar an die Säle grenzten. In den weiter zurückliegenden Gemächern, die
den Hof der Trabanten umschlossen, herrschte größere Stille und im Gegensatze
zu den Haupträumen wohlthuende Kühle. Die drei mächtigen Wassersäulen,
die aus dem Brunncubecken im Hofe emporstiegen, sandten einen frischen Hauch
durch die geöffneten Fenster, und Herr Manuel Barreto, der sich halben Leibes
aus einem dieser Fenster nach dem Springbrunnen hinausbeugte, war nicht der
einzige Gast des Königs, der klüglich diese Zuflucht aufgesucht hatte. Der
wackere Edelmann hatte auf dem Wege bis in das letzte der mäßig erhellten
Zimmer manchen ehemaligen Kampfgefährten, manchen Gutsnachbar begrüßt,
der gleichfalls Luft schöpfe» wollte. Wenn er dennoch allein zu sein strebte,
so war es nur, um den Fragen nach dem Freunde auszuweichen, der vor einer
Stunde mit ihm in den Königssaal eingetreten war und den er umsonst mit
sich aus dem Glänze und Geschwirr der großen Versammlung in diese Ein¬
samkeit zu ziehen versucht hatte.
Beide Freunde hatten vorhin den König und die Gräfin Palmeirim seit
dem Morgen bei Joanas Hütte zum erstenmale wiedergesehen, Dom Sebastian
hatte Barreto mit kühler Gelassenheit, Camoens jedoch mit seinem gnädigsten
Kopfnicken begrüßt und noch während des Handkusses lachend zu dem Dichter
gesagt: Du siehst, Senhor Luis, ich habe Donna Catarina glücklich durch alle
Wetter heimgcleitet. Man hat mir berichtet, daß du während des schlimmen
Nachmittages aus Sorge um die Gräfin schier von Sinnen gewesen bist! Dort
ist sie — schöner als je, also entrunzle deine Stirn und bringe ihr deine
Huldigung! Dabei hatte der König auf das schöne Mädchen gedeutet, das,
wiederum an der Seite der Herzogin, in der ersten Reihe der Damen saß,
Camoens hatte ohne Zögern Catarina begrüßt und dann atemlos ihrer Er¬
zählung von dem Heimritt gelauscht. Er war so in dem Augenblicke befangen
gewesen, daß erst der hinzutretende Barreto die Nächstliegende Frage nach Esmahs
Ergehen gethan hatte. Auch dann war es Barreto nicht gelungen, Camoens
von den Augen Catarinas loszureißen, wieder und wieder hatte es den Dichter
in die Nähe der Gräfin gezogen, und noch eben jetzt hatte er die Aufforderung
Barretos: Kommt, kommt, Luis — laßt uns einen frischen Atemzug thun! voll¬
ständig überhört. Senhor Manuel hatte sich unmutig und allein nach den
Hinterzimmern am Hofe der Trabanten begeben und lauschte nun hier bald auf
das Rauschen des Brunnens draußen, bald auf das gleichmäßige Geräusch ferner
Stimmen und auf die vereinzelten Schritte, welche über die Marmorfnßböden
der benachbarten Gemächer klangen. In der Stille, die um ihn herrschte, sann
er über die jüngsten Erlebnisse nach und gestand sich mit Sorge, daß ihm seit
Jahren die nächste Zukunft nicht so dunkel erschienen sei als heute.
Viel Zeit ward Manuel Barreto in dieser Stille nicht gegönnt. Indem
er, auf den plätschernden Brunnen hinausblickend, noch darüber nachsann, ob
der heutige Abend wohl geeignet sei, sich die Erlaubnis zu seiner Heimkehr vom
Könige zu erbitten, vernahm er hinter sich Stimmen, von denen er wenigstens
die eine, die des Priors von Belem, Wohl kannte. Dom Joao erschien mit Tellez
Alucita und mehreren andern Priestern des königlichen Haushaltes und mit
einem Edelmanne, den Barreto gleichfalls schon in der Umgebung Dom Se¬
bastians gesehen zu haben glaubte. Wenige Schritte von der Schwelle blieb
der Prior stehen, sein mißmutiges Gesicht und ein paar flüchtige Worte zu
seinen Begleiter» verrieten, daß er darauf gerechnet hatte, dieses Gemach leer
zu finden. Er trat höflich grüßend zurück, Vcirreto aber spürte kein Verlangen,
in der Nähe gerade dieser Müuner zu verweilen. Er ging an ihnen vorüber
und hatte das Gefühl, daß ihm die Blicke aller folgten, es war ihm selbst, als
ob sich die Schritte eines oder des andern der kleinen Gesellschaft an seine
Sohlen hefteten, aber er blickte nicht eher hinter sich, als bis ihn das bunte
Gewühl der vorder» Zimmer und Säle aufs neue umfig. Dann versagte er
sich nicht, dem graubärtigen Pedro Evora, seinem Kampfgefährten aus Indien,
mit einer zornigen Geberde zuzuflüstern:
Dort hinten tritt eben wieder des Königs geistlicher Rat zusammen, Dom
Joao von Belem hat den Vorsitz. Was sie reden, ist vom Übel, was sie
raten, ist Unheil — wir Werdens morgen oder etliche Tage später verspüren!
Nicht doch, Manuel — diesmal habt Ihr Unrecht! entgegnete der Fidalgo,
Wenn Ihr hente den König beobachtet hättet, wie ich oder Euer poetischer
Freund, so würdet Ihr nicht zweifeln, daß eine neue Zeit im Anzüge ist.
Glaubs wer kann! versetzte Barreto und blickte wiederum nach der Zimmer¬
reihe zurück, von der er herkam. Ihr laßt Euch heute alle von einem Traume
wiegen, aus dem man Euch mißtönig aufwecken wird. Ich hoffe auf nichts,
bevor nicht der König den Prior von Belem in das letzte algarbische Kloster
verbannt; Ihr wißt recht wohl, daß dies niemals geschehen wird.
Er überließ es Evora, über das Vernommene nachzudenken; durch die
offne Thür des großen Hauptsaales bemerkte er eben, daß Camoens, wie vom
Beginn des Abends an, fast unbeweglich in dem Kreise von Edelleuten ver¬
harrte, welcher den König umgab. Dom Sebastian aber stand im eifrigen Ge¬
spräche mit der Herzogin von Braganza und ihrer schönen Pflegebefohlenen,
sein Gesicht strahlte in jugendlicher Heiterkeit, das Lächeln, das er von Zeit zu
Zeit auch seinen Umgebungen gönnte, war das eines Glücklichen. Umso be¬
fangner und düsterer schaute Camoens drein, und selbst als Barreto wieder
neben ihn trat und mit leiser Mahnung seine Schulter berührte, ließ der
Dichter nicht ab, die Augen und Lippen des Königs mit gespannter Teilnahme
zu beobachten, während der Ausdruck seiner eignen Züge immer lcidvvller wurde.
In dem Gemache, welches Manuel Barreto vor dem Prior von Belem
und seinen Genossen geräumt hatte, weilten inzwischen die Geistlichen und der
Edelmann, um Dom Joao Rede zu stehen. Der Prior hatte Tellez Alucita
mit einem Winke hinter Barreto drein entsendet, der Kaplan war der Weisung
augenblicklich gefolgt und hütete, als er zurück kam, umso lieber, auf- und ab¬
schreitend, das Zugangszimmer zu dem letzten Gemache, als er nicht zu hören
verlangte, was der Hochwürdige sprach und sich berichten ließ. Dom Joao
war ermüdet auf die einzige Polsterbank gesunken, die sich in dem kühlen Raume
vorfand, er gönnte seinen Gliedern Rast, aber sein Gesicht zeigte ruhelose
Spannung. Er heftete seine dunkeln Augen auf den Edelmann, welcher ihm
hierher gefolgt war, und sagte dann:
Wem? Ihr also nichts wißt als die Thatsachen, Seichor Trueba, so be¬
richtet diese kurz und klar, laßt Euer Schelte» und Klagen. Wann ließ Euch
der König rufen?
Gestern in der Stunde vor Sonnenuntergang, erzählte der Edelmann.
Er sagte mir rasch und herrisch, daß er einen besondern Befehl für mich habe,
und zögerte dann doch, ihn auszusprechen. Ich stutzte sogleich, er nahm es
zum Glück nicht wahr, weil er sich nach dem Fenster gekehrt hatte. Und dann
gebot er mir ein halbes Dutzend Hellebardiere von der Palastwände zu nehmen
und den galizischen Mönch und die Pilger, welche mit ihm in Okaz' Herberge
hausten, zu verhaften und sie in den Turm des alten Schlosses zu führen.
Ich konnte natürlich nichts andres thun als ihm gehorchen, und pries meinen
Heiligen, daß ich, noch ehe ich den Saal der Trabanten erreicht hatte, auf
Bruder Eustazio stieß und ihm zuraunen konnte, was im Werke sei. Ich
brauchte Zeit, bis ich mir meine Begleiter ausgesucht hatte, und führte dann
meine Schaar auf dem längsten Wege nach Cintra hinunter. Der König hatte
mir ausdrücklich befohlen, kein Aufsehen zu erregen, sonst hätte ich auch das
nicht wagen können.
Euer Wagemut scheint nicht der größte, Senhor! sprach der Prior gering¬
schätzig. Ihr fandet also die Pilger in Okaz' Gehöft nicht mehr vor und kamt
natürlich unverrichteter Sache zurück. Wie nahm der König Euern Bericht auf?
Wunderlich! entgegnete Senhor Trueba. Er ließ es sich dreimal wieder¬
holen, daß die Pilger eine Stunde, ehe ich mit meinen Häschern gekommen sei,
ihren Heimweg angetreten hätten. Dann ward er nachdenklich und sah nach
dem großen Bilde der allerheiligsten Jungfrau, das in seinem Arbeitsgemache
hängt. Zuletzt entließ er mich mit einem stummen Winke und als ich, kühn ge¬
worden, ihn fragte, ob ich reitende Alguazils nachsenden solle, rief er: Nein, gewiß
nicht! so eifrig und hastig, als hätte ich ihm etwas Unerhörtes angesonnen!
Ihr geht rasch von der Verzagtheit zur Kühnheit über, sagte wiederum der
Prior. Man soll die Könige dieser Welt nicht in Versuchung sichren, es war
genug, daß die Majestät ihren schlechten Einfall, die frommen Pilger in ihrer
Herberge aufgreifen zu lassen, schweigend zurücknahm, Ihr durftet kein Wort
von Verfolgung äußern.
Ich wußte gut genug, nachdem ich einmal das Nest bei Okaz leer gefunden,
daß niemand den Mönch und den Engelseher samt ihrer Rotte wieder erblicken
würde, und wenn der König alle Gerichtsboten von Portugal zu Pferde steigen
ließe, antwortete Senhor Alfonso Trueba und verneigte sich ehrfürchtig vor
Dom Joao.
Mit alledem ist uns noch wenig geholfen, grollte der Prior. Seid Ihr
gewiß, daß der König seit vorgestern Nachmittag, wo er mitten im Gewitter
mit der jungen Gräfin Palmeirim aus den Bergen zurückkehrte, Manuel Barretv
und seinen Poeten nicht empfangen hat?
Darüber kann ich Euch beruhigen, erwiederte Trueba. Sofern die Herren
den König nicht bei Dom Antonio, dem Marschall, erwartet haben, den Seine
Majestät gestern zweimal besuchte, so bürge ich Euch dafür, daß sie ihn erst
vorhin erblickten. Was bei Pacheco geschehen ist, weiß ich freilich nicht. Prinz
Mulei Muhammed, der Marokkaner, der den König zu sprechen begehrte, ward
zum Marschall beschieden und verließ eine Stunde darauf die Wohnung des
Alten mit zornfunkelndem Augen. Ihr wißt, daß der König jenes maurische
Mädchen in seinen Schutz genommen hat, welches Senhor Barretv und Luis
Camoens vor zwei Tagen zur Herzogin von Braganza geleitet haben. Es ist
dieselbe, welche dem Emir aus demi Käfig von Pera Verba entfloh, und er weiß,
daß er sie nicht wieder erhalten soll.
Überläßt ihn seinem thörichten Zorn, warf der Prior leicht hin. Uns
kümmert es nicht, ob der Mohrenprinz eine Beischläferin mehr oder weniger
besitzt! Für uns ist nur wichtig, daß der König in dieser Angelegenheit einem
neuen fremden Einfluß folgt, einem Einfluß, dem wir begegnen müssen. Tretet
zum Fenster dort, Bruder Bartolomeo — faßt den Hof scharf ins Ange, daß
wir nicht etwa vom Brunnen aus belauscht werden. Ihr aber, Bruder Mareos,
geht zur Gesellschaft zurück und gebt dem Grafen Juan Navarrete von der
spanischen Gesandtschaft einen Wink, daß er uns hier findet. Euch, Trueba,
empfehle ich, Euer Amt als des Königs Thürhüter in diesen Tagen doppelt
ernst zu nehmen, es darf niemand zum König ein- und von ihm ausgehen, den
Ihr nicht sehet.
Hochwürdiger Herr, Ihr sinnt mir Unmögliches an! Die, von welcher wir
am meisten fürchten, daß sie den König irre leite, kommt schwerlich durch jene
Thür, die ich hüte, zu unserm jungen Fürsten, lächelte Tueba.
Schämt Euch doppelt der Sünde und der Thorheit! rief der Prior und
sah den Kämmerling strafend an. Hättet Ihr Recht und Gräfin Catarina
käme insgeheim zum König, so brauchte uns das wenig zu beunruhigen. Der
König würde rasch genug Reue empfinden. Wir haben viel ernstere Sorgen
zu hegen, und es kann Euch nicht entgangen sein, daß Donna Catarina von
der Herzogin von Braganza nur zu gut beraten wird. Der Alten würde es
gefallen, Portugal eine Königin zu geben und als Schwiegermutter das Reich
zu lenken. Seine Majestät darf nicht unter solchen Einfluß geraten, wir müssen
mit allen Mitteln den Kriegszug nach Afrika beschleunigen. Und dazu werdet
Ihr Euch nach Kräften anstrengen, und jeder von Euch wird unweigerlich dus
Seinige nach unsrer Weisung thun.
Die Männer, welche um den Prior standen, neigten zustimmend das Haupt,
Senhor Trueba verriet durch eine lässige Geberde, daß er keine besondern
Hoffnungen auf die Weisungen des priesterlichen Herrn setze; da aber durch die
Vorderzimmer neue Schritte hercmklangen, so schwieg er wie die andern. Und
da sich Don Juan Navarrete in der Thür zeigte, so bedürfte es nicht einmal
eines Winkes des Priors, um seine bisherigen Begleiter alsbald verschwinden
zu lassen. Dom Joao blieb mit dem Spanier allein, nur von Zeit zu Zeit
ward der im Nebengemach unmutig auf- und abwandelnde Kaplan des Königs
sichtbar. Für den Grafen Navarrete hatte sich der Prior aus seiner bequemen
Stellung erhoben, lud ihn jedoch alsbald ein, neben ihm auf dem Polster Platz
zu nehmen. Der Gesandte entsprach der Aufforderung und fragte: Ist es etwas
besondres, das Ihr mir zu sagen habt, Dom Joao, oder wolltet Ihr nur von
dem reden, was heute alle Welt ficht?
Und was sieht alle Welt? fragte der Prior dagegen, die Frage Navarretes
zu beantworten.
Die Glut des Königs, die in hellen Flammen emporschlagt, versetzte der
Spanier heiter, indem er den gewohnten würdevollen Ernst seines Wesens
verleugnete. Er wirbt vor den Augen seines ganzen Hofes um die Gunst der
schönen Catarina, und ich gestehe Euch gern, daß es mir leid ist, auch nur eine
Szene des wunderbaren Schauspiels zu versäumen.
Ihr sprecht leichtfertiger, Herr Graf, als einem Abgesandten des katho¬
lischen Königs ziemt, sagte der Prior. Bedenkt Ihr auch, daß der Schluß des
Schauspiels, das Euch so sehr behagt, die Krönung der Königin Catarina von
Portugal und Algarbien sein kann?
Gewiß habe ich es bedacht, hochwürdiger Herr, versetzte der Spanier. Das
träfe sich so glücklich für meinen erhabnen Herrn, daß ich noch nicht mit Sicher¬
heit auf diesen Ausgang zu hoffen wage.
Der Prior von Belem maß den spanischen Gesandten mit einem Blicke,
welcher minder höflich war als seine Worte. Denn während er nur entgegnete:
Ihr kennt dies Land und dies Volk nicht genug, Herr Graf! schaute aus seinen
Augen deutlich die tiefste Geringschätzung für Navarrete heraus. Der Graf
ließ sich indessen nicht beirren, er fuhr ruhig fort: Laßt mich Euch sagen, daß
König Philipp selbst eine unebenbürtige Heirat mit einer Unterthanin als einen
besonders günstigen Fall zu betrachten geruhte, als er mir in Segovia seine
Befehle erteilte.' Mir scheint, daß Seine katholische Majestät auf diese Weise
am besten dem Vorwurf entginge, seinem Vetter von Portugal die Freuden der
Ehe zu mißgönnen und doch seine Ansprüche auf Krone und Land aufrecht
erhielte.
Wenn dies wirklich die Meinung Euers Königs ist, so befindet sich der
erhabne Fürst in einem bedauerlichen Irrtume, sagte der Prior nachdrücklich.
Merkt wohl auf, Herr Graf! Die Furcht der Portugiesen, der kastilischen Krone
anheimzufallen, ist stärker, viel stärker als jedes andre Gefühl. Wenn König
Sebastian sich mit einer Dame aus gutem und edelm Blut vermählte, wie die
junge Gräfin Palmeirim unzweifelhaft ist, so würde das Land ihm zujauchzen,
und höchstens ein paar neidische große Häuser würden der Königin Catarina
nicht aufrichtig huldigen. Niemand in Portugal würde wagen, den Infanten
ans solcher Ehe den Anspruch auf die Krone dieses Reiches zu bestreiten, ja
mau würde Gut und Blut fiir die Nachkommen des alten Königshauses umso
williger einsetzen, je trotziger ihr Spanier das Erbrecht derselben bestrittne. Sagte
Euch König Philipp nicht ein Wort, daß Ihr in portugiesischen Dingen vor
allem meiner Erfahrung vertrauen solltet, Graf Navarrete?
Gewiß, gewiß, Dom Joao! antwortete der Gesandte. Ihr seht jedoch die
Dinge in einem Lichte, das mir völlig neu ist. Und wenn ich Euch Recht gäbe,
Hochwürdiger, was würdet Ihr mir nun raten? Ihr könnt nicht leugnen, daß
meine alte Kunst diesmal unanwendbar ist. Es war leicht, den König im allge¬
meinen zu einer Vermählung zuzureden und darnach jedem einzelnen Vor¬
schlage schwere Bedenke» gcgenüberzusctzen, spottleicht, so lange es sich um ferne
Prinzessinnen handelte, von denen Dom Sebastian höchstens ein Bild erblickte.
Doch damit gegen die junge Schönheit zu streiten, in deren Augenschimmer er
wandelt —
Dennoch werdet Ihr Eure Pflicht wie seither thun müssen, unterbrach der
Prior die Auseinandersetzungen Navarrctes. Ihr als Weltmann habt den
unschätzbaren Vorteil, der Leidenschaft des Königs schmeicheln zu dürfen, Ihr
könnt ihm selbst andeuten, daß es einem großen Fürsten unverwehrt sei, sich
eine Herzensfreundin so schön und klug wie Donna Catarina zu gesellen. Aber
laßt ihn keinen Augenblick in Zweifel, daß Euer königlicher Herr gegen die
Rechtmäßigkeit solcher Heirat protestirt und Himmel und Erde in Bewegung
setzen wird, sein besseres Recht gegen unebenbürtige Kinder König Sebastians
zu wahren.
Graf Navarrete lauschte bestürzt und verdrossen den Worten des Priors,
deren Ton immer schärfer und fast gebieterisch geworden war. So sehr er be¬
müht war, sich der höher» Einsicht Dom Joaos unterzuordnen, so konnte er
doch nicht umhin, noch einmal einzuwenden: Und wenn ich thue, was Ihr ratet,
und Euer König dennoch bei seinem Entschlüsse beharrt, steht die Angelegenheit
dann nicht umsoviel schlimmer für uus?
Er wird aber seine» Entschluß nicht festhalten, wenn Ihr den rechten Ton
anschlägt, antwortete der Prior. Ihr solltet Dom Sebastian kennen, solltet
wissen, daß er vor keiner Gefahr zurückschreckt, aber in seinem Gewissen wie in
seine» Vorsätzen leicht beirrt wird. Ihr müßt reden, denn wir können es nicht
sein, die ihm von einer christlichen Ehe mit Donna Catarina abraten.
Der Gesandte hatte inzwischen ans den Mienen des Priors mancherlei
herausgelesen, was unausgesprochen blieb. Er seufzte und sagte, indem er sich
langsam von seinem Sitze erhob: Ihr werdet Recht behalten wie immer, Dom
Joao. Und wenn Ihr Euch zufällig einmal irren solltet, so wird der Irrtum
nichts kosten als einen Gesandten; König Philipp kann mich ja abberufen und
erklären, daß ich meine Vollmachten überschritten Hütte. Habe ich Euch jetzt
ganz verstanden, Hochwürdigster?
Vollkommen, Herr Graf, erwiederte der Prior von Belem ruhig. Und nun
sorgt allein noch dafür, daß man Euch und mich heute Abend und in den
nächste» Tagen so wenig als nnr immer möglich bei einander sehe!
Graf Navarrete murmelte undeutlich etwas, das nicht für den Prior be¬
stimmt war, und aus dem er nur die Worte: Armer junger König! heraus¬
hören konnte. Dom Joao, der jetzt sicher wußte, daß der Spanier seine» Winken
gehorchen würde, versagte sich jede Entgegnung und verließ mit, höflichem Gruße
den kühlen Raum. Den zurückbleibenden Grafen verlangte es nicht, dem Ge¬
spräche zu lauschen, welches der Prior im nächsten Zimmer mit Tellez Alucita
anknüpfte. Er erriet, daß sich der erlauchte geistliche Herr wegwerfend genug
über sein langsames Verständnis äußern würde. Er wartete noch geraume Zeit,
nachdem die Priester ihren Rückweg angetreten hatten, ehe auch er die vordern
Räume wieder aufsuchte. Das Gewühl in den Festsälen war noch dichter und
bunter geworden als eine halbe Stunde zuvor, es schien unmöglich, daß irgend¬
wer unter den vielen Hunderten, die sich hier drängten, den Grafen Navarrete
vermißt haben sollte. Und doch war ihm unbehaglich zu Mute, und nachdem
er sich einen Augenblick in dem schimmernden Kreise gezeigt hatte, in dessen
Mitte der König stand, zog er sich in den Nebensaal zurück, wo er sich zu einer
Gruppe von portugiesischen Edelleuten gesellte. Er wechselte gleichgiltig-höfliche
Worte mit den ritterliche» Herren und sah seine Voraussicht erfüllt, daß in
Gegenwart des spanischen Gesandten das eine Gespräch verstummen werde,
welches sonst überall den Saal durchschwirrte. (Fortsetzung folgt.)
Die Vereinigten Staaten sind das Land der ge¬
heimen Orden, Verbrüderungen und Gesellschaften, wie sie das Land der wunder¬
lichen Sekten sind. Es scheint, daß die ungeheure Prosa des öffentlichen Lebens
die Leute bewegt, sich auf diese Art eine gewisse poetische Befriedigung zu verschaffen.
Ein Hauptreiz des Mormoncntums war anfangs sein mysteriöses Wesen. Neben
der Freimaurerei mit ihren Logen und ihren 33 Graden hat die Oddfellowship,
die Bruderschaft der „närrischen Kerle," in ihren „Lagern" mehrere hunderttausend
Mitglieder. Daneben bestehen in zahlreichen „Hainen" Druiden, Söhne der Freiheit
und ähnliche Verbindungen mit harmlosen Zwecken, die lediglich deshalb hinter
dichtem Vorhang „arbeiten," weil das Geheimnis wohlthut. Die Demokraten hatten
ihre Tammanyhall, ihre sechs Stämme, ihre „Beratungsfcuer" und „Wigwams."
Viel Aufsehen machte der Knklux-Klar mit seinen grotesken Masken, der sich
gegen die freigewvrdnen Neger richtete. Kein Wunder daher, daß sich auch die
mehr oder minder sozialistischen Bestrebungen der amerikanischen Arbeiter einen
Geheimbund geschaffen haben, und daß derselbe in der Stille rasch zu einer ein¬
flußreichen Organisation gediehen ist. Wir meinen damit den Orden der Kuigl>K
ol I^dom-, der Ritter der Arbeit, welche gerade gegenwärtig viel von sich reden
macht. Er wurde schon vor siebzehn Jahren in Philadelphia gestiftet und zwar
als geheime Genossenschaft mit dem Zwecke gegenseitiger Hilfe, wo die Mitglieder
sich von der Macht des Kapitals bedroht oder geschädigt sahen. Begründet wurde
er von Urias Stevens, einem Schneidergesellen. Letzterer war ein ungebildeter,
aber thatkräftiger Fanatiker, der durch Lesen und Nachdenken zu der Ueberzeugung
gelangt war, daß der Besitzer des allmächtigen Dollars der natürliche Feind des
arbeitenden Volkes sei und sich von dem mäste, was dessen Hände schaffe» — eine
Ueberzeugung, die im Lande der Gonlds und Fifth natürlicher ist als anderwärts.
Das Geheimnis, welches die von ihm gestiftete Gesellschaft umgab, desgleichen die Titel,
die in ihr wie in ähnlichen Berbindnngcn zu erlangen waren, übten ihren Zauber aus,
und schon nach einem halben Jahrzehnt war eine sehr große Anzahl der Gewcrksgehilfen
und kleinen Gewcrktreibenden Philadelphias dem Orden beigetreten, der gleich den
Freimaurern seine Zeichen, Griffe und Hieroglyphen hatte. Oft bemerkte man am
Tage auf den Trottoirs Kreuze und andre Symbole, die mit Kreide hingezeichnet
waren, und in der folgenden Nacht sah man zwei- oder dreitausend Arbeiter sich
auf einem entlegnen Platze zu der Versammlung einfinden, zu der mit den Symbolen
eingeladen worden war. Acht Jahre lang wußte man außerhalb der Gesellschaft
nicht einmal, wie sie sich nannte, und erst 1381 erfuhr das Publikum, daß in ihr
ein geheimer Mittelpunkt des Kampfes der Arbeit gegen daS Kapital existire,
welcher damals bereits in verschiednen Symptomen zum Ausbruche gekommen war.
Der amerikanische Zeitungsreporter sieht und hört durch sieben Schlüssellöcher
hindurch, und so gelangte er mit seineu Beobachtungswerkzcngen auch hinter den
Vorhang, der die Ritter der Arbeit verbarg, und bald war die Presse so ziemlich
über sie unterrichtet. Man weiß jetzt ziemlich genau, wie sie organisirt und
gegliedert sind, wozu sie sich bekennen, was sie fordern und erstreben. Der
Bund ist heutzutage über alle Staaten der Union verbreitet und hat an seiner
Spitze eine Art Großmeister, den vouoM Nastor VV»rI<man. Daneben bestehen
Haupt-, Bezirks- und Ortsversammluugeu sonne ein Ansführnngsrat. Die
Ortsversammlungen beschränken sich auf Mitglieder eines und desselben Gewerbes
oder Handwerks, sodaß jede Stadt ihren Schuster-, Schneider-, Tischler-, Maurcr-
klub n. s. w. hat, die sich dann in besondern Fragen zur Bezirksversammlung
vereinigen. Die Bezirksversammlungcn ihrerseits treten gelegentlich durch Ab¬
geordnete zur Hauptversammlung zusammen, die über Maßregeln im Interesse
aller Bundesglieder verhandelt und Beschlüsse faßt. Mitglied des Ordens
kann mit einigen Ausnahmen jedermann ohne Unterschied der Nationalität, der
Farbe, des Geschlechts und des Glaubens werden. Nur Advokaten, Bankiers,
Börsenmakler, Spieler von Profession und Schenkwirte sind ausgeschlossen. Die
Beamten der Gesellschaft thun ihren Dienst in der Regel umsonst, sie werden nur
besoldet, wenn er ihre ganze Zeit beansprucht, und dann erhalten sie nur so viel,
als sie mit ihrem Gewerbe verdienen würden. Das Motto des Ordens ist: ^n in-
sni> to pro is ins eonesrn ol all, der Schaden eines von uus geht alle an. In
der Auseinandersetzung der Grundgedanken des Bundes stoßen wir ans Sätze wie:
„Die Entwicklung und das aggressive Wesen der großen Kapitalisten und Kon¬
sortien muß gehemmt werden, sonst endigt es mit Verarmung und hoffnungsloser
Unterdrückung der arbeitenden Massen," und: „Ungerechter Anhäufung von Reichtum
und der Macht angehäuften Reichtums, zu schaden, muß Einhalt gethan werden."
Als Ziele des Ordens werden bezeichnet: „Zu bewirken, daß industrieller und mo¬
ralischer Wert, nicht Größe des Besitzes als wahres Maß persönlicher und nationaler
Grüße gelten, sowie den Arbeitern den vollen Genuß des Reichtums, den sie schaffen,
hinreichende Muße zur Entwicklung ihrer geistigen, sittlichen und gesellschaftlichen
Fähigkeiten und alle Wohlthaten und Freuden geselligen Lebens, kurz einen Zu¬
stand zu sichern, der sie zur Teilnahme an den Gewinnen und Ehren der fort¬
schreitenden Bildung befähigt." Im einzelnen wird u. a. verlangt: Abschaffung
der Kindcrbeschäftigung in Werkstätten, Fabriken und Bergwerken, Auslöhnung in
Geld, nicht, nach dem Trucksystem, ganz oder teilweise in Waaren, achtstündige
Tagesarbeit als Regel, Beseitigung der Bauten und Ausgabe von Noten oder
Münze direkt vonseiten des Staates, Verbot der Einfuhr fremder, kontraktmäßig
gebundener Arbeitskraft, endlich freie Kooperation zur Ueberwindung des Lohn¬
systems. Stevens wollte nicht, daß seine Ritter der Arbeit das würden, was
sie jetzt sind, Urheber und Leiter von Arbeitseinstellungen. Nach seinem Plane
sollte „der Orden den Charakter und die Einsicht des Arbeiters heben, indem er
ihn seine Rechte kennen lehrte und ihn dann darauf hinwies, diese Rechte dnrch
schiedsrichterlichen Spruch zu erlangen"; nur als letztes Mittel sollte man streiken,
dann aber „den Unterdrücker mit der ganzen Kraft der Organisation im Lande
zum Nachgeben nötigen." Die Ritter der Arbeit sind diesen Grundsätzen ihres
ersten Großmeisters in den letzten Jahren untren geworden. Die großartigen
Arbeitseinstellungen, welche seitdem die Kapitalisten Amerikas ängstigen und schädigen
und den Bahnverkehr stören, sind auf Agitatoren zurückzuführen, welche direkt mit
den Arbeitgebern unterhandeln und ihnen die Friedensbedingungen vorschreiben.
Die Genossenschaft scheint den Händen ihrer maßvollern und klugem Führer ent¬
schlüpft zu sein; wenigstens hat sich der Nachfolger des verstorbenen Stevens nicht
unverständig ausgesprochen. Der unvermeidliche Interviewer, der in Amerika
alle hervorragenden Leute ausfragt, setzte auch bei dem jetzigen (Zrönoriü Nastor
V<u'I<in-M seiue Preßschraube an und erhielt eine Antwort, nach welcher sich
viele Streitigkeiten auf friedlichem Wege beseitigen lassen würden. „Schieds¬
richterspruch also," schloß diese Antwort, „und keine Niederlegung der Arbeit.
Verständigung, wenn irgend möglich, und Streik nur äußerstcufalles, denn aber
tüchtig, ernstlich und gründlich und kein Nachgeben bis zu billigem Zugeständnis.
Die Ritter der Arbeit und die Arbeitcrgenosseuschafteu, die mit ihnen sympathisiren,
bilden gegenwärtig die mächtigste Organisation arbeitender Menschen, welche die
Weltgeschichte ausweist. Ihre Stärke wächst mit jedem Tage, und ihr Einfluß
wird ans allen Gebieten gewerblichen Verkehrs empfunden. Es ist aber gefährlich,
diese Macht zu mißbrauchen." Sie ist nun seitdem in der That gemißbraucht
worden zu allerhand Gewaltthat und Unfug. Die Ritter sind vom Appell an
Schiedsgerichte zu Streiks und von solchen zu „Boykottirungen" und sogar, ebenso
wie in Belgien, zu schweren Verbrechen gegen das Eigentum übergegangen. Die
öffentliche Meinung war ihnen anfangs nicht ungünstig gestimmt, wenn sie aber
jetzt alle Unternehmungen des Kapitals zu zerstören drohen, falls mau ihre maßlosen
Forderungen nicht gewährt, so wird die rechte Antwort der amerikanischen Gesell¬
schaft nicht auf sich warten lassen. Nirgends in der Welt ist man so rasch bei
der Hand als hier, wenn es gilt, gesetzlose Rotten mit Kartätschen zur Ruhe
zu bringen.
In dem 1727
zu Dresden bei Joh. Christoph Zimmermann und Joh. Nicol. Gerlach erschienenen
Buche: L^xcmig, votus se umM» W pg,rvo, oder: Beschreibung des alten Sachsen-
Landes :e., beschrieben von Caspar Schneidern, nunmehro nach dessen Ableben ver-
mehret, adjustiret und cdiret von Johann Conrad Knnuth, findet sich zu Seite 155
ein Kupferstich mit der Unterschrift „Blocks Berg." Das Blatt stellt den Brocken
dar mit der Hexenvcrsammlnng in der Walpurgisnacht. Von rechts und vou links
kommt aus der Tiefe ein Weg, beide vereinigen sich noch im untern Teile des
Berges und führen dann nach dem Gipfel empor. Auf dem Wege links reitet
eine Hexe auf einem Ziegenbocke, zur Seite steigt aus einer Kluft eine gehörnte
und geflügelte Gestalt, mit einer Tabakspfeife in der Hand. Mitten in dem Raume
zwischen beiden Pfaden thront ein Bock auf einem dreifüßiger Schemel, vor ihm
steht ein dampfendes Mucherbeckcn, eine hinter ihm stehende Hexe ist eben im
Begriffe, die Prozedur vorzunehmen, welche in den Paralipomena S. 159 der Hempel-
schen Ausgabe geschildert wird:
X.: Was fordert denn das Ritual?
Zeremonienmeister: Beliebt dem Herrn den hintern Teil zu küssen.
Ein lustiger Zug ist auf dem Wege zur Rechten sichtbar. Voran schreitet ein Dudel-
sackblüser (S. 138: Seht, da kommt der Dudelsack! und S. 156: Musik nur her, und
wär's ein Dudelsack!), welchem, durch die verführerischen Weisen verlockt, gleichwie
die Kiuder dem Rattenfänger von Hameln (S. 155: der liebe Sänger von Ha¬
ndeln u. s. w.), mehrere Pärchen tanzend folgen (S. 138: Ein Pärchen: Kleiner
Schritt und hoher Sprung, und S. 141: Es eint sie hier der Dudelsack). Zwei
andre Paare wandern bereits auf dem Hauptwege, dieser Gruppe voran, dem
Gipfel zu. Rechts davon, in der Mitte des Bildes, geht eine Beschwörung vor
sich, vor dem Beschwörer liegt ein aufgeschlagenes Buch mit kabbalistischen Zeichen;
ein Totenschädel und eine Katze sind neben ihm angebracht. Diese Szene gab Wohl
Veranlassung zu dem Zwiegespräch zwischen Mephistopheles und Faust (S. 125):
Hier ist so ein Mittelgipfel,
Wo mau mit Erstaunen sieht,
Wie im Berg der Mammon glüht.Faust : Wie seltsam glimmert dnrch die Gründe
Ein morgenrötlich trüber Schein!
Den obern Teil des Berges nehmen zwei getrennte Gruppen ein. Zunächst ge¬
langt der Wanderer zu einer Gesellschaft, welche an einer Tafel Platz genommen
hat und sich die Zeit mit Trinken und Liebkosen vertreibt; von ihr sagt Mephisto
zu Faust (S. 130):
Es ist ein muntrer Klub beisammen.
Auf dem darüber hinausragenden Gipfel führen nackte und bekleidete Gestalten
(Da seh ich junge Hexchen, nackt und bloß
Und alte, die sich klug »erHüllen >^S. 130))
um ein Licht den Reihen. Bei den obern Gruppen gilt der Vers (S. 130):
Man tanzt, mau schwatzt, man kocht, man trinkt, man liebt.
Eine der tanzenden Gestalten trägt eine lodernde Fackel, Faust wünscht diese Ge¬
sellschaft in der Nähe zu sehen:
(Doch droben möcht' ich lieber sein!
Schon seh' ich Glut und Wirbelrauch !s. 130»
Auf der obersten Spitze streckt ein Mann sehnsüchtig seine Arme einer heran¬
fliegenden Hexe entgegen. Bekleidete und unbekleidete Hexen reiten auf Böcken,
(Der Puder ist so wie der Rock
Für alt' und graue Weibchen,
Drum sitz' ich nackt auf meinem Bock
Und zeig' ein derbes Leibchen sS. 13Sö)
Besen lind Ofengabeln dem Berge zu, auch eine Eule umschwirrt die Höhe.
(S. 125: Uhu! Schuhu! tönt es näher). Die schmale Mondensichel
(Wie traurig steigt die uuvvllkonunne Scheibe
Des roten Monds mit später Glut heran sS. 124j)
und vereinzelte Sterne scheinen von dem wolkenumzognen Firmamente
(ES schweigt der Wind, es flieht der Stern,
Der trübe Mond verbirgt sich gern >S. 128»
ans das bunte Treiben herab.
Die dem Stiche beigegebene Schilderung des „Blocks oder Brockerbcrges" hat
Goethe nicht benutzt, auch nicht die darin zitirte Schrift des Joh, Prätorius,
„Blockes-Berges Verrichtung."
Melnjine. Trauerspiel in fünf Auszügen vou Martin Wohlrab. Leipzig, Breitkopf und
Härtel, 188S.
Der Verfasser hat den uralten Sagcnstoff, der auf der Anschauung beruht, daß
die Götter des überwundneu Heidentums zwar an sich böse Dämonen seien, aber
durch das Eingehen in menschliches Leben und Weben auch der Erlösung teilhaftig
werden können, zum Gegenstande eines Trauerspieles gemacht. Das Uebermensch¬
liche oder Anßcrmenschliche, das im Wesen der Titelheldin liegt, macht sie allerdings
nicht zu einer tragischen Gestalt im modernen Sinne, da ihr als einem mit der
Natur im engsten Zusammenhange stehenden Wesen die wirkliche Freiheit des
Willens, also die volle sittliche Verantwortlichkeit fehlt, wohl aber zu einer solchen
nach antiker Auffassung, denn sie erliegt dem Schicksal, das ans ihren Existenz¬
bedingungen entspringt, ohne eigne Schuld. Um sie gruppiren sich Graf Raimund
von Lusignan, ihr Gemahl, dessen Untreue sie in ihr feuchtes Reich zurückstößt,
sein Bruder, Graf Sebald, und der Vater beider, endlich Pater Augustin als die
Hauptfiguren, von deuen der letztere als der eigentliche Gegenspieler Melusinens am
schärfsten individualisirt ist. Die Handlung schreitet in raschem Gange und klarer
Motivirung ihrer Wendungen vorwärts; die Sprache ist durchweg edel gehalten,
belebt durch treffende Bilder und gewürzt mit sinnigen Sentenzen. Da, wo das
Außermeuschliche der Nymphenwelt in die Handlung hineinspielt, erhebt sie sich zu
melodischen Bildern, während sie da, wo das volkstümliche Element, das die
Dienerschaft vertritt, zur Geltung kommt, eine mehr realistische Färbung annimmt.
Alles in allem wünschen wir dem Dichter, daß sein Werk die eigentliche Feuerprobe
des Dramas, die Aufführung, erlebe. Eine Komposition der eingelegten Lieder ist
bereits erschienen.
s ist ans deutsch-österreichischer Seite heute beinahe zum Glaubens¬
satz geworden, in dem achtjährigen Regime des Grafen Taaffe
gewissermaßen den Quell all des politischen Übels und Unheils,
von dem Österreich gegenwärtig heimgesucht wird, insbesondre
also der nationalen Verbitterung, die einer Steigerung kaum mehr
fähig ist, zu erblicken und die Taaffesche „Versöhuuugspvlitik" für die das
Reich mehr und mehr zerrüttende staatsrechtlich-politische Krise ausschließlich
verantwortlich zu machen. Wir können dieser Ansicht auf die Gefahr hin, unter
die „ Auchdeutschen" geworfen zu werden, nicht ganz und ohne weiteres bei¬
pflichten. Der Grund zu dem jetzigen österreichischen Babel wurde schon im
Jahre 1868 durch den Dualismus gelegt, der aus dem Grvßstaate Osterreich
einen „Bund zweier Mittelstaaten" schuf und das altehrwürdige Reich in
Trümmer schlug; ob in zwei oder fünf oder zehn und mehr, wie die Föderalisten
wollen, bleibt sich gleich, zertrümmert war es um einmal, und in diesem Sinne
hatte Grillparzer 1868 Recht zu sagen:
Ihr österreichischen Herren und Geschöpfe,
Österreichs Adler hat wieder zwei Köpfe,
Mir wäre lieber, er hätte nur einen,
Wenn's weiter so geht, hat er bald keinen.
und an einer andern Stelle (mutxckis wutÄiMZ):
Einen Selbstmord hab ich euch anzusagen:
Der König von Ungarn hat den Kaiser von Österreich erschlagen.
Man hatte damals, wie so oft in Österreich, das alte kriruziM« obstA außer
Acht gelassen und — den heutigen nationalen, speziell tschechischen Ansprüchen
den Weg gebahnt. Die Tschechen denken, von ihrem Standpunkte aus, nicht mit
Unrcch': dasselbe, was die Magyaren erreicht haben, dürfen wir, kraft desselben
historischen Rechtes, eben auch beanspruchen, umsomehr, da wir auf einer unstreitig
höhern Bildungsstufe stehen als die Nation der Pußtasöhne. Mit letzteren Punkte
hat es, trotz Kuchelbad, Königiuhvf :c., allerdings seine Nichtigkeit, wenn auch
diese Bildung auf deutscher Grundlage beruht. Ein einfacher Blick auf die Sta¬
tistik beweist dies. Der Prozentsatz der Lese- und schreibkundiger in Tschcchisch-
Böhmen ist fast noch einmal so groß als der unter den Magyaren. In kultur¬
geschichtlicher und zivilisatorischer Hinsicht haben die Magyaren nie und nirgends
auch nur das geringste geleistet^) und sich einzig durch ihre endlosen Revolutionen
bemerkbar gemacht, während die Tschechen doch auf ihren Huf, den Vorläufer
Luthers, als eine welthistorische Größe hinweisen können. Auch die Ge¬
schichte der innern Entwicklung der Tschechen ist so thatenrcich und ehren¬
voll wie die irgend eines andern Volkes, die zivilisirtesten Staaten Europas
uicht ausgenommen. Unter allen Slawen sind sie die tüchtigsten, die wahren
Ehrenretter des Slawismus in seiner bisherigen Entwicklung, denn sie allein
haben sich (nur die Polen kommen noch einigermaßen in Betracht) neben den
übrigen Nationen einen ehrenvollen Platz in der Kulturgeschichte errungen. Die
Erinnerung an diese Herrlichkeit ist auch in Böhmen nie ganz erloschen, und
sie lebte in unsern Tagen, wo nationale Bestrebungen ein Hauptkennzeichen des
Zeitgeistes bilden, leider nur zu kräftig auf. Die magyarische Sprache endlich
ist eine der barbarischsten, die es giebt, die tschechische ist viel bildungsfähiger
und viel verbreiteter, wenn es auch lächerliche Übertreibung des tschechischen
Lokalpatriotismus ist, zu behaupten, daß sie an Biegsamkeit, Einfachheit und
Naturwahrheit mit der griechischen wetteifere. In einer Beziehung allerdings
sind die Magyaren deu Tschechen noch immer und trotz alledem überlegen,
nämlich in der Drangsalirung und Knebelung der Deutschen, einer Knebelung,
die — als von einer nach Art und Menge so zurückgebliebenen Rasse aus¬
gehend — ohne Beispiel in der Geschichte dasteht und für immer ein Schand¬
fleck Österreichs, bald hätten wir gesagt, Deutschlands bleiben wird.
Die deutschen Blätter sprechen in der Regel von dem tschechischen Uej
slvvWv als von einem „Hctzliede" gegen die Deutschen, wir aber fragen: Wie
wollt ihr dann das magyarische NvM IrunWut g. »vuot, d. h. der Deutsche
ist doch ein Hundsfott, nennen, welches man in Ungarn in jeder magyarischen
Kneipe brüllen hören kaun (oder wenigstens noch vor fünf Jahren hören konnte).
Auch ist es Unwissenheit oder es heißt absichtlich Vogel Strauß spielen, wenn
immer nnr von den siebenbürger Sachsen als den Unterdrückten die Rede ist,
als ob die übrige» 1^/,, Millionen Deutschen im eigentlichen Ungarn wo möglich
nicht noch zehnmal mehr geknechtet wären. In Pest z. V., einer noch immer
halb deutschen Stadt, giebt es nicht eine deutsche Volksschule (so wenig wie im
ganzen .Königreiche), das Ausstecken einer schwarzrotgelben Fahne, wo und bei
welcher Gelegenheit es auch immer sei, wird als Landesverrat bestraft, Urteile,
selbst über Kapitalverbrechen, werden nnr in magyarischer Sprache verkündet
n. s. w. Es wäre für gewisse deutsch-böhmische Heißsporne gut, eine Zeit lang
in Pest oder sonst einer deutsch-ungarischen Stadt zu verweilen oder sich we¬
nigstens im Geiste die Lage eines deutschen Familienvaters dort auszumalen.
Kurz, mau kann ohne Übertreibung sagen, daß, wenn uns die Tschechen mit
Geißeln schlagen oder doch schlagen möchten, es die Magyaren mit Skorpionen
thun. Dieser unbändige, alles andre geringschätzende Chauvinismus der Ma¬
gyaren und seine das Reich preisgebende Befriedigung dnrch einen Ausländer
(Veust) war es, welche auf die Erstarkung der nationalen slawischen Ansprüche
den mächtigsten, nachhaltigsten Einfluß ausübte und selbst den Adel ansteckte,
der sich, dem Beispiele seiner magyarischen Standesgenossen folgend, aus Wien in
seine Provinz zurückzog und sich dort an die Spitze und in die Reihen der neu¬
erwachten Nation stellte; und die provinzielle Journalistik, die häusliche Erziehung,
die nationale Schule, die allgemeine Geistesrichtung beförderten und beschleunigten
diese Tendenzen.
Dieser Erscheinung gegenüber, sollte man nun denken, hätte auch der Gang
einer vernünftigen Regierung ein andrer werden müssen, denn wenn es, so lange
die einzelnen Nationalgefühle noch nicht erwacht, noch nicht zum Bewußtsein ihrer
Stärke gekommen waren, ratsam sein konnte, diese gewähren zu lassen nach
dem Grundsätze: viviäs et üuxoiA, so kann dieser Grundsatz nicht mehr gelten,
wo sich die Umstände so sehr geändert haben, wo die Nationalitäten immer
stärker auseinandergehen und zuletzt das Band ihrer Vereinigung im Staate
zu sprengen droht, wenn nicht bei Zeiten um dieselben ein fester, eiserner Ring
— in unserm Falle, um das Kind gleich beim Namen zu nennen, in Gestalt
der Staatssprache — geschlagen wird, der jene unwirscher Gewalten stark und
dauernd zusammenhält. Nun geschah aber im Reiche der UnWahrscheinlichkeiten
schon unter den dcutschliberalen Vorgängern Taasfes für diesen Zweck nichts
(s. Art. XIX^) des Staatsgrnndgcsetzcs), unter dem jetzigen Versöhnnngs-
ministerium sogar das gerade Gegenteil, sodaß heute nnr noch eine schwache Mauer,
die auch schon hie und da bedenkliche Sprünge und Nisse zeigt, die deutsche Sprache
in ihrem letzten Zufluchtsort, dem Heere, schützt. Und doch ist gerade in Österreich
eine Staatssprache umso nötiger, als es hier an einem allgemeinen Bindungsmittel,
an einem Zusammengehörigkeitsgefühle, wie es sonst in jedem Staate besteht und
an welches die einzelnen Nationalgefühle wie an einen Krystallisationspunkt an¬
schießen könnten, fehlt, und als selbst die spezifisch österreichische Loyalität an einem
Wendepunkt angelangt zu sein scheint. Statt dessen hat M, abgesehen von dem
magyarischen, ein tschechisches, ein polnisches, ein italienisches, ja sogar ein slowe¬
nisches Nationalitätsprinzip ausgebildet, das sich sozusagen stündlich verstärkt,
alles Fremde von sich abstößt und mit rücksichtsloser Heftigkeit um sich greift.
'In leicht erklärlicher Folge und Gegenwirkung hiervon haben sich natürlich auch
die Sympathien der Deutschösterreicher mit verdoppelter Gewalt, welche bald
allen Widerstandes spotten wird, ihren Brüdern im Norden und Westen zu¬
gewendet. Leider hat sich in diesem Scheidungsprozesse auch nicht von fern
etwas gezeigt, was dem Erwachen eines den ganzen Staat umfassenden Gemein-
sinnes ähnlich sähe, im Gegenteil, und so hat dieser Zersetzungsprozeß seine
gegenwärtige Stufe erreicht, in welchem Abhilfe und Gegenmittel vielleicht noch
möglich sind; aber mir ein Weilchen noch, und alle die Töchter der Mutter
Austria werden unter sich nur noch ein gemeinsames Band haben, nämlich das
des gegenseitigen Hasses und der Abneigung und des Widerstandes gegen die
Regierung, im Falle diese das verweigern sollte, was jede von ihnen im Gefühl
ihrer Kraft beansprucht, oder das der immer steigenden, immer dringender
werdenden Anforderungen ein die Negierung, nachdem sie den ersten gutwillig
nachgegeben hat. Der Ausgang eines derartig krankhaften Zustandes kann
weder fern noch zweifelhaft sein.
Schon gegenwärtig wird man schmerzlich überrascht, den gänzlichen Mangel
jenes Gefühls der Gesamtheit zu bemerken, welches in andern Staaten sämtliche
Bürger unter sich verbindet, besonders wenn man diese Gleichgiltigkeit mit der
thätigen, immer wachen Teilnahme vergleicht, welche alles, was die materiellen
und geistigen Bedürfnisse der Provinz oder des Volksstammes betrifft, unaus¬
gesetzt begleitet und dieselben recht eigentlich und ausschließlich als natürliche
Interessen erscheinen läßt. Noch ominöser aber ist der Mangel an Zutrauen
in die Zukunft Österreichs, welches seine Bewohner, zum Teil, ohne daß sie sich
selbst klare Rechenschaft darüber zu geben wüßten, durchdringt; sie scheinen alle
von einer trüben Ahnung ergriffen', als könne der gegenwärtige Zustand nicht
dauern, als müsse es bald zu großen Änderungen kommen, und als sei die
Politik der Regierung mir eine lindernde, fristende, sozusagen von der Hand in
den Mund lebende, unbekümmert darum, wie es im nächsten Augenblicke aus¬
sehen werde. Aus diesem bloßen Gehenlassen kann nie und nimmer etwas Gutes
erwachsen, denn der Zahlungstag erscheint endlich doch, und ein verzweifelter
Bcmkerottircr hält dadurch, daß er den verfallenen Wechsel verlängert, seinen
Ruin nicht auf. sondern verzögert ihn mir, damit er desto gewisser hereinbreche.
So also sehen die Ergebnisse dieser sorglosen Eintagspolitik ans. Im Innern
die Deutschen entfremdet, die Slawen nicht befriedigt, der Staat mit einer stets
wachsenden Schuldenlast behaftet, der natürliche Wohlstand in äußerst langsamem
Fortschreiten begriffen, das Reich auf dem Punkte, durch die immer weiter aus¬
einandergehenden Bestrebungen seiner Teile vollends zerrissen zu werden, »ach
außen bin, trotz des deutschen Bündnisses, an Ansehen und Einfluß gesunken,
und, als „Bund zweier Mittelstaaten," seinen Platz unter den europäischen
Großmächten nur noch einer Art von althergebrachter Pietät verdankend — das
sind die Früchte eiuer zwanzigjährigen, Fehler an Fehler reisenden Politik.
Es fragt sich um: Lassen die gegenwärtigen Krankheitszustände Österreichs
eine Hoffnung auf Heilung zu? Läßt sich die Zerstörung, womit sie den
österreichischen Patriotismus bedrohen, abhalten, abwenden durch zeitgemäße,
wirksame Gegenmittel? Oder bliebe den Deutschen nichts andres übrig, als
mit der Ruhe der Verzweiflung die Hände in den Schoß zu legen und den
Staatswagen in seinem verderblichen Laufe gewähren zu lassen, bis er in den
Abgrund hinabrollt? Niemand, der es mit der Monarchie gut meint, wird
sich einer so traurigen Hoffnungslosigkeit hingeben und an der Möglichkeit der
Rettung verzweifeln. Doch helfen dazu keine halben Maßregeln, sondern nur
eine thatkräftige Reform; es muß mit der Vergangenheit gebrochen werden, ein
neuer Geist muß an ihre Stelle treten, und neue Männer, von denen Heil
und Rettung kommen kann. Wer immer der Nachfolger des Ministeriums
Taaffe sein wird — die Zeit ist vielleicht nicht mehr fern —, der muß wissen,
daß er vor einer der größten Aufgaben Österreichs steht, welche nicht dnrch
schwächliche Vermittlung und „Versöhnung," sondern nur durch eine kühne That
zu lösen ist, und diese ist die Schaffung oder vielmehr gesetzliche Bestimmung
einer Staatssprache, als welche selbstverständlich nur die deutsche gelten kann.
Von der deutschen Minorität eingebracht und von dieser allein gestützt, ist
der Vorschlag eines solchen Gesetzes freilich mir ein Schlag ins Wasser (siehe
die Anträge Wurmbrands und Scharschmids); ganz anders wird sich jedoch
die Lage gestalten, wenn eine thatkräftige, echt deutsch und dabei doch wahr¬
haft österreichisch gesinnte Negierung die Sache in die Hand nimmt, zu der
ihrigen macht, und mit der von der Krone gebilligten Erklärung, daß die
endliche Lösung der Sprachenfrage eine unabweisliche Forderung, eine Lebens¬
frage für den österreichischen Staat sei, auf den in der laufenden Session
so schnöde aufgenommenen und augenblicklich aussichtslosen Scharschmidschen
(oder einen ähnlichen) Antrag, der den Nationalitäten mehr als hinreichende
Freiheit der Bewegung und Entwicklung gewährt, zurückgreift. Es wird
sich dann zeigen — man braucht kein Prophet zu sein —, daß die Tschechen
(und allenfalls noch die Handvoll Südtiroler Jtalianissimi) nach wie vor über
„Provokation," „Impertinenz," „Dynamitbomben," „Geßlerhut" u. dergl.
schreien werden, daß aber weder Polen und Dalmatiner, da diese ja — leider! —
längst vou der deutschen Staatssprache ansgenvmmc» sind, noch Deutsch-Klerikale
und Demokraten, denen ein Veto unzweifelhaft das Mandat kosten würde, dieses
Grundgesetz eiuer geordneten Verwaltung zu Falle zu bringen den Mut haben
werden, und so werden die Tschechen allein stehen. Sie drohen zwar mit einer
abermaligen „Sezession," falls der Scharschmidsche Entwurf je Gesetz werden
sollte, allein diese Drohung kann nur politische Kiuder schrecken. Die Verhältnisse
liegen eben heute ganz anders als zur Zeit und während der Dauer jenes ersten
Exodus. Sollte» sie selbst jene Drohung im ersten Augenblicke der Erbitterung
und der verletzten Nationaleitelkeit ausführen und dem Neichsrate auf kurze Zeit
den Rücken kehren, auf die Dauer ist heute bei deu stürmisch wogenden poli¬
tischen Verhältnissen an die Abstinenz einer politisch so regsamen, lebenskräftigen,
nichts weniger als auf Selbstmord ausgehenden Nation wie der tschechischen,
nicht entfernt zu denken. Die „Führer" vielleicht, keinesfalls aber die Wähler¬
schaft, würden sich ein zweitesmal in die Rolle des schmollenden Achilles finden.
Es gab eine Zeit, wo das Tschechische gewissermaßen Staatssprache in
Böhmen war, allein diese Periode liegt in so weiter Ferne, war übrigens von
so kurzer Dauer und die politische Lage hat sich seitdem insbesondre durch die
Begründung der deutschen, Böhmen wie eine Zange umklammernden Weltmacht
so gründlich verändert, daß tschechische Phantasterei von der Wiederherstellung
eines Nationalstaates und dessen Attributes, der tschechischen Staatssprache, wohl
träumen, der vernünftige Politiker aber an eine Verwirklichung derselben kaum
ernstlich denken kann. Diese Wandlung geschah übrigens auf ganz naturgemäßen
Wege, keineswegs durch künstliche Germanisirung, wie die Tschechen behaupten.
Wie es gekommen ist, daß im Laufe der Zeit die tschechische Sprache, aus ihrer
ehemals bevorzugten Stellung verdrängt, aufgehört hat, die alleinige Landes¬
sprache zu sein, darüber giebt uns der slawische Gelehrte Pater I. Schalter
in seiner 1770 erschienenen Topographie Böhmens Aufschluß. Dort heißt es
in der Einleitung: „Obschon die slawische Sprache, welche unsre ersten Vor¬
fahren aus ihren alten Wohnsitzen nach Böhmen gebracht haben, sowohl im
ganzen Lande, als auch bei Hofe selbst, so lange einheimische Herzoge und Könige
das Land regierten, herrschend gewesen war, so weiß man doch zuverlässig aus
deu allerciltcsten Urkunden des zehnten und elften Jahrhunderts, daß alle Neichs-
sachen, wie auch die Inschriften der Münzen in lateinischer Sprache verfaßt
worden sind. Diese Hof- und Landessprache blieb unverändert bis auf die
Zeit des Königs Johann. Hier pflogen die Böhmen einen genauen Umgang
mit auswärtigen Völkern und fingen zugleich an, sich der deutschen, italienischen
und französischen Sprache zu bedienen. Dessen ungeachtet räumten die Böhmen
zu allen Zeiten ihrer Muttersprache den Vorzug ein, ja man bemühte sich um
desto fleißiger, besonders zu Rudolfs II. Zeiten, dieselbe auszubilden und
allezeit mehr und mehr in Aufnahme zu bringen. Zu diesem Ende wurde
wurde 1615 ans dem Landtage zu Prag beschlossen: 1. daß in allen Pfarr¬
kirchen und Schulen, wo die böhmische Sprache zu solcher Zeit üblich war, sie
auch ferner gepredigt, gelehrt und beibehalten, in den übrigen aber dieselbe als¬
bald nach dem Ableben des Pfarrers oder Schulmeisters hergestellt werden
solle; 2. daß man niemand, der dieser Sprache nicht kundig ist, das Bürger¬
recht erteile, und 3. alle diejenigen, welche böhmisch können und nicht reden,
aus dem Lande schaffen solle(!). Dieser Eifer aber für die tschechische Sprache
nahm bald ab, besonders unter Ferdinand II., da die deutsche Sprache bei
allen öffentlichen Gerichten erlaubt und eingeführt worden ist. Von dieser Zeit
an drang diese von Sachsen, Baiern und Österreich mit großen Schritten alle¬
zeit tiefer ins Land ein, und man trifft jetzt ganze Kreise deutsch an, wo ehedem
die tschechische Sprache allein üblich war."
Wenn also später unter den Nachfolgern Ferdinands II. die tschechische
Sprache in den höhern und mittlern standet? weniger gepflegt wurde als
früher, so ist dies einerseits der lateinischen Sprache, die damals Schul- und
Lehrsprache war, anderseits der beginnenden Kultur und der Verbreitung der
deutscheu und andrer Sprachen, keineswegs aber volksfeindlichen Bestrebungen
der Negierung zuzuschreiben. Josef II. z. B-, dem man speziell die Be¬
günstigung der deutschen Nationalität auf Kosten der tschechischen andichtet,
hat vielmehr letztere eher begünstigt und belebt. Er war es, der die Ver¬
öffentlichung aller Gesetze in beiden Landessprachen, die Verpflichtung aller
öffentlichen Beamten zur Kenntnis der deutschen und tschechischen Sprache, die
Aufnahme aller Verhöre in der Sprache der Vernommenen, die Verpflichtung
aller Behörden zur Annahme aller Eingaben in der von dem Eiubriuger ge¬
wählten Sprache, endlich die Verpflichtung des Klerus zum Gebrauche der in
der Gegend am meisten üblichen Landessprache vorschrieb und nachdrücklich em¬
pfahl. Kaiser Josef II. war also ein Freund und Wohlthäter der Tschechen,
und wenn er anstatt der lateinischen die deutsche Sprache zur Schul- und Unter¬
richtssprache erhob, so that er dies eben nur in der Absicht, die geistige und
wissenschaftliche Bildung des Volkes zu fördern, nicht aus Vorliebe, sondern
nnr in gerechter, väterlicher Fürsorge für die Deutschböhmen und in weiser Be¬
achtung der Forderungen der Zeit und des Staates.
Also nicht erst in der Neuzeit, durch gewaltsame Germanisirung, sondern
durch die Macht und den Drang der Verhältnisse hat die deutsche Sprache
allmählich Verbreitung im Lande gefunden und das Recht erworben, von ihr
als Staatssprache ganz abgesehen, gleich der tschechischen geachtet und gepflegt
zu werden. Ja die Tschechen selbst müßten, wenn sie statt nach allerhand
Utopien nach dem schönern Ruhme strebten, geistige Vermittler zu werden zwischen
dem hente schroff einander gegenüberstehenden Deutschtum und Slawentum,
wozu Böhmen durch seine geographische Lage und durch den Dualismus seiner
Bewohner bestimmt scheint, der deutschen Sprache dieselbe Pflege angedeihen
lassen wie der tschechischen.
Aus der andern Seite können wir leider aber auch den Deutschen in ihrem
Verhalten zur zweiten Landessprache den Vorwurf eines allzu schroffen, ein¬
seitigen Standpunktes nicht ersparen; möge uns dieses freimütige Bekenntnis
immerhin in den Verdacht eines „Auchdeutschm" von der famosen „Wirtschafts¬
partei" bringen. Wir haben hier vor allem die sogenannte lox lOiviüg, vor
Augen. Durch diesen von dem tschechischen Professor Kvmala im böhmischen
Landtage eingebrachten Gesetzentwurf soll bekanntlich bestimmt werden, daß beide
Landessprachen an sämtlichen Mittelschulen Böhmens, die tschechische an den
deutschen, die deutsche an den tschechische», zum Zwaugslehrgegenstande erklärt
werde. Diese lex wird von den Tschechen als höchst patriotisch angepriesen, da sie
unter andern insbesondre dem immer fühlbarer werdenden Mangel an Elementen,
die des Deutschen hinreichend mächtig sind, im Heere (Reserveoffiziere) und
im Zivilstaatsdienst mit einemmale abhelfen soll, und für sie wird mit allen
möglichen Mitteln gewirkt. Voraussetzung soll dabei sein, daß umgekehrt auch
die Deutschen zur Erlernung des Tschechischen angehalten werden. Gegen diese
Zumutung, gegen diesen gesetzlichen Zwang sträuben sich nnn die Deutschen aus
Leibeskräften, indem sie ein derartiges Gesetz als eine Demütigung und Schmach,
als einen Frevel an der Majestät der deutsche» Weltsprache bezeichnen. Damit
schießen sie aber doch wohl ein wenig übers Ziel hinaus. Eine Schmach ist
das Zurückdrängen und Zurückweichen des Deutschen vor dem magyarischen
Pescheräs-Idiom in Ungarn, eine Schmach ist aber nicht die Kenntnis eines der
Zweige der slawischen Weltsprache, die von hundert Millionen gesprochen wird.
Nützlich kann diese Kenntnis, dieses Verständnis selbst in rein deutschen
Städten wie Reichenberg, Numburg u. s. w. sein. Die Kenntnis mehrerer
Sprachen begründet, wenn auch vielleicht keinen Vorzug, doch gewisse Vorteile,
da hierin das Mittel liegt, sich, wenn wir auch von dem geistigen absehen wollen,
wenigstens den materiellen Verkehr mit andern Völkern zu erleichtern. Wohl
ist die Sprache ein wesentliches Bestandteil jeder Nationalität, aber die Sprache
allein schafft noch keine Nation, ein Volk kann seine Sprache ändern oder sich
in gewissem Grade mehrere zugleich aneignen, ohne deshalb seine Nationalität auf¬
zugeben. Wie weit soll aber diese Kenntnis der tschechischen Sprache gehen? Das
ist die Frage. Von dem Deutschgebornen zu verlangen, er solle ihrer in Schrift
wie in Wort gleich seiner Muttersprache mächtig sein, wie dies jetzt von den
Staats- (Justiz-) Beamten selbst in rein deutscher Gegend gefordert wird, ist un¬
billig, ungerecht, und gegen eine solche Zumutung sträuben sich die Deutschen
mit Fug, folglich auch gegen ein Gesetz, das ein solches sprachliches Zwittertum
für alle Zukunft festsetzen soll. Vollends für den künftigen Privatmann enthielte
die ganze Zumutung eine überflüssige Quälerei. Kurz, so wie der Gesetzentwurf
vorliegt, ist er für die Deutschen kaum annehmbar; mit einer kleinen Abänderung
aber, die den Kern unverändert läßt, erscheint er uns der Erörterung fähig und
geeignet, auf diesem wichtigen Gebiete wenigstens eine Verständigung herbeizuführen.
Wir denken uns nämlich die vielbesprochene lex in folgender Weise eingeschränkt.
Die deutsche Sprache werde an sämtlichen tschechischen Mittelschulen Böhmens
als Zwangsfach eingeführt und ihrer Bedeutuug als thatsächliche Staatssprache
gemäß möglichst eifrig, wenigstens viel eifriger und gründlicher als bisher, wo
sie freier Gegenstand war, betrieben. Anderseits möge, da die Tschechen auf
dieser Forderung als eonclitio sine pus, non nun einmal bestehen, auch die
tschechische Sprache an den deutschen Mittelschulen für obligat erklärt werden,
jedoch wohlverstanden nur in einem solchen Maße, als dies ohne wesentliche
Beeinträchtigung der andern Unterrichtsgegenstände geschehen kann, der Schüler
nicht überbürdet wird und sich nur ein gewisses Verständnis dieser Sprache er¬
werben soll, ihm also nicht etwa zugemutet wird, sich eine gründliche Kenntnis
derselben anzueignen. Man hätte sich also — so denken wir uns die Sache — im
Untergymnasium (Unterrealschule) auf die Übersetzung einfacher Aufgaben aus
dem Böhmischen ins Deutsche, in den vier obern Klassen auf die Übertragung
nicht zu verwickelter Übersetzungsstücke aus dem Deutschen ius Böhmische zu be¬
schränken. Dagegen müßten größere selbständige Stilübungen, welche ein selbst¬
thätiges Denken in der betreffenden Sprache voraussetze», durchaus ausgeschlossen
sein. Denn mit der gründlichen Aneignung des Tschechischen hat es für den
Deutschen eine eigne Bewandtnis: die Muttersprache leidet ganz entschieden
darunter, das Sprachorgan wird verdorben, ein Nachteil, der sich dem Ohr
recht unangenehm bemerkbar zu machen weiß, wie wir dies täglich in Orten
mit gemischter deutsch-tschechischer Bevölkerung wahrnehmen können. Auf die
angedeutete Weise wäre ein wichtiges Streitobjekt beseitigt, dem Selbst¬
bewußtsein und Nationalstolz der Tschechen ohne allzugroße Opfer der Deutschen
Rechnung getragen, und eine Verständigung in den weitern Punkten dürfte dann
nicht allzulange auf sich warten lassen.
Die endliche Beilegung der eisleithanischen, also hauptsächlich deutsch¬
tschechischen Sprachenkämpfe wäre von unabsehbaren, segensreichen Folgen nicht
bloß für „Österreich," sondern für die ganze Monarchie. Ja wir sind sanguinisch
genug, zu glauben, daß ein in sich gefestigtes Cisleithcmien der erste Schritt
wäre zur Brechung der immer übermütiger und toller sich geberdenden magya¬
rischen Großmannssucht, und daß im Laufe der Zeit, sollte es auch nicht mehr
möglich sein, die erste Forderung und Eigenschaft eines konstitutionellen Groß-
staatcs: ein Zentralparlament für die innern Angelegenheiten von Cis und
Trans, wieder ins Leben zu rufen, der Einheitsgcdanke des Gesamtreiches we¬
nigstens nach außen hin in einer Art Zentraldelegation (für die gemeinsamen
und äußern Angelegenheiten), deren herrschende Verhandlungssprache die deutsche
sein müßte, zum Ausdruck gebracht werden könne. Eine derartige, gewiß höchst
bescheidene Reform, mit der vielleicht anch die Wiedereinsetzung des alten Namens
„Österreich" schlechtweg (statt österreichisch-ungarische oder richtiger ungarisch¬
österreichische Monarchie) Hand in Hand gehen könnte, würde selbst in Trans-
leithanien (von den Magyaren natürlich abgesehen) kaum auf ernsten Widerstand
stoßen, weder bei den Deutsch-Ungarn noch bei den die grünweißrote Fahne
verabscheuenden, viel eher dem schwarzgelb zuneigenden Kroaten und Slowaken.
egen die Sonntagsarbeit wird von drei Gesichtspunkte ans ge¬
arbeitet: mit Rücksicht auf die Sonntagsheiligung, die Sonntags¬
ruhe und, leugnen wir es nicht, um dem „Arbeiter" mehr als
bisher Gelegenheit zum materiellen Lebensgenusse zu bieten. Bei
dieser gemeinsamen Arbeit von allen Seiten, wenn mich von den
verschiedensten Gesichtspunkten aus, wird die Frage nicht zur Ruhe kommen,
bis sie ihre Lösung gefunden hat. Es ist schon so viel darüber geschrieben
worden, daß es einer ausführlichen Erörterung der Angelegenheit nicht mehr
bedarf. Hier sollen nur einige gegen die Einführung der Sonntagsruhe geltend
gemachten Punkte kurz besprochen werden.
Zunächst stört es viele, von einer Sountagsheiligung reden zu hören; das
sind die Menschen, welche es überhaupt nicht mehr für zeitgemäß halten, von
Religion und Befriedigung religiöser Bedürfnisse zu reden, wenigstens wenn es
sich um christliche Religion handelt, welche aber die strenge Beobachtung jüdischer
Religionsvorschriften, namentlich auch des jüdischen Sabbaths, für etwas höchst
anerkennenswertes erklären; die Träger solcher Anschauungen sind meist so liberal,
daß sie vor lauter Liberalismus illiberal werden, und es ist deshalb mit ihnen
nicht zu streiten. Umso entschiedner aber muß ihnen gegenüber betont werden,
daß wir, die wir noch den christlichen Sonntag anerkennen, uns die Freiheit,
diesen Sonntag zu heiligen, nicht nehmen lassen wollen, und da die überwiegende
Mehrheit unsers Volkes bis jetzt noch ihr christliches Bewußtsein auch bezüglich
des Sonntags gewahrt hat, eine Sonntagsfeier ohne Sonntagsruhe aber un¬
möglich ist, so hat der Staat bei aller ihm sonst zukommenden Neutralität gegen
die einzelnen Konfessionen diese für die Mehrheit des Volkes notwendige Sonntags¬
ruhe unter seinen Schutz zu nehmen. Will jemand außer unserm Sonntag noch
einen andern Wochentag heilig halten, so bleibt ihm das ja unbenommen, es
ist aber kein Grund vorhanden, z, B. wegen der jüdischen Sabbathfeier unsern
Sonntag herabzusetzen. Damit wollen wir noch lange nicht für einen puritanisch
streng gehaltenen Sonntag eintreten. Es giebt ja auch unter uns einzelne
Leute, welche an einer solchen Art Sonntagsbegehung (eine Feier kann man das
nicht mehr nennen), an einer solchen Selbstquälerei Gefallen haben; die Freiheit,
ihren Sonntag auf diese Weise hinzubringen, wird man diesen Leuten nicht
nehmen können, aber daß sie viel Nachahmer finden sollten, ist nicht zu be¬
fürchten. Puritanische Svnntagsheiligung entspricht dem deutschen Charakter
zu wenig, als daß man zu fürchten hätte, sie könne bei uns epidemisch werden;
ohnehin hat man es ja in der Hand, die Vorschriften über die Sonntagsfeier
dergestalt zu fasse», daß sie zu einem solchen Mißbräuche keinen Anlaß geben,
Doch stehen wir durchaus nicht an, zu behaupten, daß es vielen jungen Leuten
beiderlei Geschlechts heilsamer wäre, den Sonntag-Nachmittag oder -Abend in
einem christlichen (evangelischen oder katholischen) Vereine zuzubringen, als auf
dem Tanzboden oder in der Schenke,
Andre erklären um, zum Schutze der Sonntagsheiligung oder der Sonn¬
tagsruhe seien keine neuen Vorschriften notwendig, weil die Bestimmungen
des Strafgesetzbuches und der Neichsgewerbevrdnung, sowie die Berechtigung
der Polizeibehörden zum Erlaß entsprechender Vorschriften bereits vollständig
genügten. Dabei wird aber übersehen, daß die entsprechende Strafbestimmung
des Strafgesetzbuches (Z 366 Satz 1) nur die Übertretung der gegen die Störung
der Feier der Sonn- und Festtage erlassenen Anordnungen mit Strafe bedroht,
solche Anordnungen also vor allen Dingen vorhanden sein müssen, ehe diese
gesetzliche Bestimmung in Kraft treten kann. Man übersieht ferner, daß nicht
nur in jedem deutschen Vnndesstaate, sondern in den Staaten von einigem
Umfange auch noch in deren einzelnen Teilen verschiedne Sonntagsvrdnungeu
bestehen, und daß viele Gegenden unsers deutschen Vaterlandes noch so zer¬
stückelt sind, daß man bequem in einem Tage die verschiedensten Staatsgebiete
durchwandern kann. Mit Rücksicht hierauf ist es unbedingt notwendig, daß für
das ganze deutsche Reichsgebiet einheitliche Bestimmungen erlassen werden, soweit,
wie auf dem Gebiete der Gewcrbegesetzgebnng, das Reich zuständig ist, auf dem
Wege der Reichsgesetzgebung, soweit es zur Zuständigkeit der einzelnen Bundes^
Staaten gehört, durch diese, aber nach vorgängiger Vereinbarung über den Inhalt
der zu erlassenden Vorschriften, damit überall in Deutschland gleiches Recht herrsche.
Es bedarf nicht der Bemerkung, daß alle solche Vorschriften den Lokalbehörden
einen gewissen Spielraum lasse» müssen, um nach den örtlichen oder zeitlichen
Bedürfnisse!, weitergehende Vorschriften zu erlassen oder Befreiungen zu be¬
willigen; allein mit Rücksicht ans die Lokalpolizeibehörden müssen die allgemeinen
Vorschriften so gefaßt werden, daß wirklich nur Ausnahmefälle zur Entscheidung
dieser Behörden gelangen, daß nicht allsonntäglich regelmäßig wiederkehrende,
an und für sich unschuldige Dinge, z, B. Bestellung vou Garten- und Bect-
land in deu frühen Morgenstunde» u, dergl., der polizeilichen Genehmigung
unterbreitet werden müssen. Auch die Bestimmungen der Neichsgewerbevrdnung
genügen nicht: gehen sie (Paragraph 103, 120 und 136) auch von dem ganz
richtigen Gesichtspunkte aus, daß niemandem für seine Person die Sonntagsfeier
aufgedrängt, wohl aber alles beseitigt werden soll, was ihn (abgesehen von Aus-
nahmefällen) daran hindern könnte, so ist doch die Verwirklichung dieses Gedankens
ungenügend, indem mir allgemein gesagt wird, daß die Arbeiter zur Sonntagsarbeit
nicht gezwungen werden können, daß den Lehrlingen Zeit zum Besuche des Gottes¬
dienstes gelassen werden muß und daß jugendliche Arbeiter nicht an Sonntagen be¬
schäftigt werden dürfen, und auf die Übertretung dieser Bestimmungen'zwar Strafen
angeordnet werden, aber alles wieder dadurch abgeschwächt wird, daß man die Ver¬
pflichtung zur Sonntagsarbeit für die Arbeiter allgemein in Fällen, welche keinen
Aufschub und keine Unterbrechung gestatten, zuläßt, und die Freiheit der jugend¬
lichen Arbeiter von der Sonntagsarbeit auf die Zeit von sechs Uhr morgens bis
sechs Uhr abends beschränkt hat. Um bei dem letzten Punkte stehen zu bleiben, so
ist es selbstverständlich, daß, wenn ein jugendlicher Arbeiter die ganze Nacht von
Sonnabend Abend bis Sonntag früh sechs Uhr beschäftigt gewesen ist, und
von Sonntag Abend sechs Uhr die ganze Nacht wieder beschäftigt werden soll,
die zwölf Stunden dazwischen zwar Ruhestunden, aber keine Stunden für
Sonntagsruhe sind, souderu durch Schlaf, Ehlen und Trinken und allenfalls
einen kleinen Spaziergang genügend ausgefüllt werden, Zeit zum Besuche des
Gottesdienstes aber oder einer Sonntagsschule nicht gewähren. Und was das
Verhältnis der übrigen Arbeiter anlangt, so ist die ganze Naivität eines richtigen
Manchestcrmanncs dazu nötig, um zu glauben, daß das Verbot der Verpflichtung
zur Sonntngsarbeit den Arbeiter schütze, da es genügende Mittel in der Hand
des Fabrikanten giebt, dies Verbot zu umgehen. Er braucht ja nur allen
Arbeitern, welche die Sonntagsarbeit nicht übernehmen wollen, zu kündigen, ja
er braucht als der wirtschaftlich stärkere uur gegenüber den von ihm abhängigen
Arbeitern den Wunsch, daß Sonntags gearbeitet werde, mit einiger Lebhaftigkeit
auszusprechen, um alles zu erreichen, was er will. Oder glaubt man vielleicht,
der Arbeiter werde seinen Arbeitgeber, bei dem er sein gutes Brot hat, zur
Anzeige bringen, weil dieser Sonntagsarbeit verlangt, die die Einnahme des
Arbeiters noch dazu steigert? Wie unbestimmt ist ferner der Begriff der Aus¬
nahmen gefaßt mit der Bezeichnung „Fülle, welche keinen Aufschub oder keine
Unterbrechung gestatten." Der Fabrikant, welcher Sonnabends die Feuer unter
dem Dampfkessel ausgehen lassen soll, um sie Montags wieder anzuzünden, ist
natürlich der Ansicht, daß die dabei eintretenden unzweifelhafte» Verluste von
Heizmaterial beweisen, daß eine Unterbrechung nicht eintreten könne, wie er
anderseits bei jeder einigermaßen eiligen Bestellung annimmt, daß ein Aufschub
nicht zulässig sei. Und doch kann in den meisten derartigen Fällen mit etwas
Verlust an Feuerungsmntericil oder etwas mehr Produktionskosten bei Anstellung
einer größern Arbeiterzahl allen Arbeitern Sonntagsruhe gegönnt werden, und
wir stehen also nur vor der Frage: Soll der Fabrikant etwas mehr verdienen
oder der Arbeiter besser gestellt sein? Es werden freilich Fabriken errichtet,
welche nur verdienen können, wenn die Produktionskosten auf ein Minimum
herabgedrückt werden, da sie sonst keine Konkurrenz aushalten können; diese
können bei Einführung der Sonntagsruhe möglichenfalls nicht mehr bestehen.
Wer ein richtig in der Wolle gefärbter Anhänger der Adam Sandschen Theorie
ist, müßte schon solchen Fabriken gegenüber die Sonntagsruhe verwerfe»; wer
aber nicht bloß das Hervorbringen von Gütern, sondern auch die Art und Weise,
wie sie hervorgebracht werden, für der Betrachtung wert hält — und diese An-
schaumig gewinnt heutzutage immer mehr Anhänger —, wird nicht solche
Fabriken, welche doch immer eine Notexistenz führen, gegenüber andern Inter¬
esse», namentlich denen der Arbeiter, in Schutz nehmen wollen, wenn nicht ganz
besondre Beweggründe zu Gunsten solcher Fabrikationszweige hinzukommen,
z. B. daß es sich darum handelt, unbedingt notwendige Gegenstände hervorzu¬
bringen, deren Erzeugung gerade in unserm Gebiete Vonnöten ist, oder daß in
einer armen Gegend nur auf dein Wege einer solchen Fabrikation der dortigen
Bevölkerung überhaupt der zum Lebensunterhalte nötige Verdienst zu verschaffen
sein würde. Für solche sehr seltenen Ausnahmefälle lassen sich aber Ausnahme¬
bestimmungen treffen. Es läßt sich nicht bezweifeln, daß diese Bestimmungen durch
schärfer gefaßte, namentlich vorbeugende, ersetzt werden müssen. Zunächst sollte
im allgemeinen alle Arbeit untersagt werden, welche geeignet ist, Geschäftsgehilfen
irgend welcher Art, auch vou Geschäftsbetrieben, welche nicht der Gewerbeordnung
unterworfen sind, vom Gottesdienste abzuhalten, oder welche die sonntägliche
Ruhe zu stören geeignet sind, wie allen öffentlichen Gewerbebetrieb, wozu auch
das Offenhalten der Läden gehört; das Verbot des Verkaufens bei offen¬
gehaltenen Läden genügt erfahrungsmäßig nicht, es muß durch Schließen der
Läden der Zutritt zu denselben unmöglich gemacht werden, wenn das Verbot
wirklich Bedeutung haben soll. Die Behauptung, daß sich die Läden mit Rücksicht
auf den Verkehr nicht schließen lassen, widerlegt sich durch die Erfahrung der Lan¬
desteile, wo diese Schließung jetzt schon zwangsweise durchgeführt ist, doch würde
auch nichts entgegenstehen, etwa zwischen den Kirchen oder vor der Vormittags¬
kirche eine gewisse Zeit zum Öffnen der Läden zu bestimme». Alle Feldarbeit, außer
der bereits erwähnten geringfügigen Bestellung kleiner Grundstücke am frühen
Morgen, jeder mit Geräusch verbundne Gewerbebetrieb, namentlich der der Fabriken,
erledigt sich, als die Sonntagsruhe störend, damit von selbst; wegen der übrigen
Betriebe muß die bisherige Bestimmung der Gewerbeordnung beibehalten und
auf die nicht der Gewerbeordnung unterworfenen Gewerbebetriebe ausgedehnt
werden, daß niemand zur Sonntagsarbeit gezwungen werden kann. Als Aus¬
nahme ist nur ein Notstand oder ein besondres unvermeidliches Drängen der
Arbeit, sowie der Betrieb von Gewerben zuzulassen, deren Unterbrechung un¬
möglich ist, z. B. der Betrieb der Hochöfen, der Fabriken mit längern Gähr-
prozesfen, der Verkehrsanstalten, der Wirtschaften u. dergl.; ob die jetzt zu
Fabriken mit gewaltiger Leistungsfähigkeit herangewachsenen Kunstmuster noch
die für die alten Wassermühlen im Interesse der Volksernährung bewilligten Pri¬
vilegien beanspruchen können, bedürfte vielleicht der Überlegung. Weitergehende
Beschränkungen der Sonntagsarbeit möchten zwangsweise nicht einzuführen
sein; will der Handwerker in müßigen Stunden still für sich hin etwas ar¬
beiten, so kann man ihm das ebenso wenig wehren wie seine Buchführung.
Hat der Fabrikarbeiter Lust in seinem Gärtchen oder auf seinem kleinen Feld-
gruudstücke früh morgens etwas zu arbeiten, so wird man dies auch nicht ver-
hindern wollen; anders liegt es freilich mit einer solchen in die Öffentlichkeit
tretenden Arbeit bezüglich der übrigen Stunden des Sonntags, Die Beschäftigung
jugendlicher Arbeiter muß deu gauzeu Sountcig von zwölf Uhr nachts bis
zwölf Uhr nachts verboten werden. Von manchen Seiten wird nun auch das
Verbot der Frauenarbeit an Sonntagen verlangt; ich hätte auch hiergegen
nichts einzuwenden, wie ich überhaupt kein Freund der Beschäftigung von
Frauen oder Mädchen in Fabriken bin, nicht gerade aus deu von der Sozial-
demokratie vorgebrachten Gründen, daß dadurch die Löhne herabgedrückt würden,
sonder» weil eine Frau besseres zu thun hat, als in einer Fabrik zu arbeiten,
nämlich ihrem Haushalte vorzustehen und ihre Kinder zu erziehen, und weil ein
Mädchen das Hauswesen erlernen soll, um einem solchen später vorstehen zu
können, was ihm bei einer Fabrilbeschäftigung unmöglich ist, Erfahrungsmäßig
sind eine sehr große Menge unglücklicher Ehen gerade darauf zurückzuführen,
daß die Frau als Mädchen in einer Fabrik arbeitete, deshalb die Haushalts¬
führung nicht gelernt hat, dann dem Manne das Haus uicht angenehm machen
kann und ihn dadurch ins Wirtshaus treibt, Und wie viele solcher Ehen
mußte» geschlossen werden, weil Mann und Frau bei ihrer gleichzeitigen Be¬
schäftigung in einer Fabrik nähere Beziehungen anknüpften, als gut war! Muß
infolge der Beseitigung der Frauenarbeit in den Fabriken eine Steigerung der
Löhne eintreten, so hat dies nichts zu sagen, und ich hätte auch aus den aus¬
geführten Sätzen nichts dagegen einzuwenden, wenn die mir auf die billige
Arbeit von Frauen und Mädchen gegründeten Fabriken ans Mangel an diesen
Arbeitskräften eingingen. Neben der Thätigkeit im Haushalte bleibt den Frauen
und aus der Schule entlassenen Töchtern der Arbeiterfamilien noch genug Be¬
schäftigung, mit denen sie Geld verdienen können, .Kann man aber der weib¬
lichen Arbeiterbevölkerung die Arbeit in den Fabriken nicht ganz verbieten, und
das möchte ans praktischen Gründen fürs erste noch der Fall sein, dann
untersage man ihnen wenigstens die Sonntagsarbeit, damit sie doch einen Tag
für ihren Haushalt haben. Dazu gehört dann freilich noch weiter, daß sie auch
Sonnabends zeitig, etwa um vier oder fünf Uhr nachmittags, entlassen werden
müssen, damit sie ihr Hauswesen i» sonntäglichen Stand setzen können, weil
ohne dies der Sonntag nur Flink- und Scheuertag wird. Endlich muß der
Staat und müssen die Gemeinden mit einem guten Beispiele bezüglich der Be¬
schäftigung ihrer Beamten vorausgehen; denn das wirkt mehr als alle gesetz¬
lichen Bestimmungen.
Der dritte und schwerste Einwand gegen die Einführung der Sonntagsruhe
ist der, daß die Leute nicht wüßten, was sie mit dem Sonntage anfangen
sollten, und daß es daher besser sei, sie arbeiteten, als sie ergäben sich dem
Trunke und Müßiggang; dieser Einwand ist erst noch kürzlich von einem unsrer
beliebten Schriftsteller unter der Forderung: „Gebt dem Sonntag eine Seele"
ausgeführt worden, wobei so recht die geistige Ode, welche in vielen Arbeiter-
und andern Kreisen herrscht, zum Ausdruck gelaugte. Diesen Inhalt des
Sonntags kann die Gesetzgebung nicht schaffen, sie kann nur durch Vermeidung
extremer Maßregeln verhindern, daß der Sonntag noch leerer werde, als er
vielen schon jetzt ist. Der puritanisch durchgeführte Sounwgw urbe allerdings
den Arbeiter zum Trunk und zu sonstigen Lastern führen. Aber hier ist ein Feld,
ans dem sich andre Kräfte geltend machen können. Sache der Geistlichkeit wird
es sein, die leider vielfach der Kirche entfremdete Bevölkerung dem Kirchenbesuch
zurückzugewinnen, Vereine mögen für geistig und sittlich fördernde Zerstreuung
namentlich der ledigen Arbeiter sorgen, nicht mit Theater und modernem Luxus
oder mit Vortragen, welche die Masse des garnicht oder schlimmer noch des falsch
verstandnen Wissens vermehre», sondern in zwangloser nud doch anregender
Unterhaltung auf Ausflügen oder in Vereinslokalen; ähnliche Vereine können
die Arbeiterinnen, die Mägde sammeln und ihnen dabei noch Gelegenheit zur
Erlernung von nützlichen Handarbeiten bieten, für Lehrlinge und jüngere Ge-
werbsgehilfen mögen Sonntagsschulen (natürlich außerhalb der Kirchzell) ge
schaffen inertem. Vor allem aber muß das Fnmiliculebcu gefördert werden,
namentlich durch die Arbeitgeber selbst, indem sie ihre Gehilfen wie früher in
das Haus aufnehme» oder ihnen daselbst Zutritt gestatten, und wo dies, wie
i» größer» Geschäfte», nicht angeht, dnrch Anregung und Beispiel, bei dem
verheirateten Arbeiter durch Sorge für gute Familienwohnungen u. s. w.; hier
können wir alle dnrch Pflege des Familiensinnes im eignen Hause mitwirken.
Wen» der Familienvater seine Hauptfreude im Verkehr mit seinen Familien¬
mitgliedern sucht, dann hat er sür deu arbeitsfreien Sonntag genug Zeitvertreib,
daun freut er sich auf diesen Ruhetag, der ihm Gelegenheit geben soll, diesen
in der Woche gestörten, wenn nicht unmöglichen Verkehr zu genießen; jedes
Volk aber ist gesund, wo die Grundlage des Volkslebens und Familienlebens
gesund ist. Mehr als Andeutungen können über die letzten Anregungen hier
nicht gegeben werden, aber man darf überzeugt sein, daß, sofern die Gesetzgebung
nur durch Beseitigung der Sonntagsarbeit den Boden schafft, unsre jetzige rege
gemeinnützige Thätigkeit für das übrige schon sorgen wird.
n Karl Friedrich, dem letzten Markgrafen und ersten Großherzoge,
verehrt Badens Volk den größten, weisesten und gerechtesten seiner
Fürsten, Deutschland einen der wenigen Herrscher, für die selbst
Napoleon eine mit Ehrerbietung gemischte Achtung empfand, die
ehrwürdige Hochschule endlich, zu deren fünfhundertsten Geburts¬
tage wir alle, froher Ahnungen voll, uus rüsten, ihren Erneuerer, ihren dritten
Schöpfer, Den bescheidnen Erbländer des Zähringer Hauses hatte eine Hoch¬
schule gefehlt; Karl Friedrich empfing rin der Kurwürde 1803 durch Napoleon
die herrliche Pfalz und in ihr als köstlichste Perle die berühmte Universität,
nächst Prag und Wien die älteste des heiligen römischen Reichs deutscher Nution,
Sie war jedoch unter der Regierung des Hauses Pfalz-Neuburg wie unter der
Karl Theodors, dessen Standbild unsre Brücke ziert, völlig in die Hände der
Jesuiten geraten, mit denen die Lazaristen, freche und beutegierige Idioten, um
die Alleinherrschaft rangen; ganz unwissende Subjekte, meist auch charakterlose
Meuschen, saßen auf ihren Kathedern, jede freie wissenschaftliche Entfaltung
hemmend, und vererbten überdies häufig das akademische Amt in der Familie.
Wie das gesamte Schulwesen der Pfalz lag unsre Hochschule darnieder, der
Verlust ihrer linksrheinischen Besitzungen und Renten durch die französische
Revolution hatte ihre Finanzen furchtbar betroffen und belief sich auf mehr als
eine halbe Million Gulden; die Bibliothek war seit langen Jahren ohne Zuwachs
geblieben. Selbst der Fortbestand der Nnperta stand in Frage, vielfach sprach
man von ihrer Auflösung, und im Februar 1802 hatten sämtliche Zünfte der
Stadt den Kurfürsten Max Joseph um ihre Erhaltung angefleht. Karl Friedrich
trat nun mit dem innigen und andauernden Eifer seines der Wissenschaft zu¬
gewandten Geistes und Herzens als Reformator der Universität auf, die so sehr
der Pflege bedürfte, und Freiherr von Reitzenstein, der freisinnige Freund von
Wissen und Forschung, unterstützte ihn bei dieser Reformation mit Herz und
Hand, rastlos thätig und in ganz Deutschland Umschau nach belebenden Kräften
haltend. Fürst und Minister erblickten in der Universität das Juwel des Landes,
den Stütz- und Entwicklungspuukt geistiger Freiheit und das höchste Erziehungs-
institut der Menschheit; Karl Friedrichs Lieblingswunsch war die Erhöhung
Heidelbergs zu neuem Glänze, und Reitzenstein schwebte als Vorbild die Hoch¬
schule zu Göttingen vor Augen. Diesen Gesinnungen entsproß das hochwichtige
dreizehnte Organisationsedikt Karl Friedrichs von» 13. Mai 1803 mit seinen
Bestimmungen für das gesamte Schulwesen, mit der sorgsamen Gliederung aller
Stufen von Volks- und Mittelschulen zu den Lyceen, Gymnasien und zur neuen
Universität, die alle wieder das heilige Band des Strebens nach Licht, nach
Reinheit, Wahrheit, Schönheit verknüpfte.
Die Universität war ganz verarmt, eine Staatsdotation die erste Lebens-
bedingung; Karl Friedrich setzte sie auf 40 000, bald auf 50 000 Gulden jährlich
an, wovon 28 200 bis 32 000 für die Lehrer verwendet werden sollten, für die
Bibliothek nur 1500, für Instrumente und Apparate nur 1000 Gulden an¬
gesetzt waren. Wiederholt aber wies er dem Universitätsfonds Geschenke zu, z. B.
1804 12 000 Gulden, und aus den zahlreichen ausgehöhlten Klöstern strömten
Schütze an Büchern und Handschriften in die weiten Hallen der Bibliothek, die
bald auch die Büchersammlung der 1804 mit der Universität verschmolzenen
staatswirtschaftlichen hohen Schule im jetzigen Cuntzschen Hause ausnahm. Karl
Friedrich fand es für ratsam, daß nicht nur der Staat, sondern auch die Kirche
zum Unterhalte der Universität beitrage, und lies; darum vou den 40 000 Gulden
die Kirchenstiftungen 10 000 übernehmen, derart, daß die katholischen zwei, die
lutherischen zwei und die reformieren ein Fünftel beisteuern mußten. Da die
drei christlichen Konfessionen am Aufbaue der Wissenschaft gleichberechtigt mit¬
wirken sollten, so setzte Karl Friedrich eine aus Katholiken, Reformirten und
Lutheranern gemischte kirchliche Sektion (Fakultät) mit neun theologischen Lehr¬
stühlen ein und ließ jeden Einfluß des Unterschieds der Konfession bei der Be¬
setzung der Lehrstühle in den andern Fakultäten außer Geltung kommen. Die
juristische Fakultät, die der den Bedürfnissen des Staates und des weltlichen
öffentlichen Unterrichts sonderlich Rechnung tragende Neubegründer als staats¬
rechtliche zu bezeichnen liebte, erhielt fünf, die medizinische sechs, die allgemeine
Sektion, die seit 1807 wieder als philosophische Fakultät erscheint, sechs bis
sieben Lehrstühle, zu denen ein achter für Astronomie mit dem Sitze in
Mannheim kam; der staatswissenschaftlicher fünften Fakultät, die in wunderlicher
Mischung die wirtschaftlichen Fächer, die Gewerbstunde, die Scheidekunst und
die Polizeiwissenschaft umschloß, wurden drei bis vier Professuren zugewiesen,
doch trat sie unter Großherzog Ludwig 1822 als Unterabteilung in die
philosophische Fakultät ein. Eine „bildende" sechste Sektion umfaßte vier
Exerzitienmeistcr für Reiten, Fechten. Tanzen und Zeichnen und zwei Sprach¬
meister für Englisch, Französisch und Italienisch. Der akademische Senat von
zwanzig Ordinarien sollte alle allgemeinen Studien- und Universitätsangelegen-
heiten beraten. Wie einst 1652 Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz, ihr
zweiter Vater und Neorganisatvr, so übernahm Karl Friedrich für sich und
seine Thronerben das Rektorat der Universität und ließ sich durch einen Pro¬
rektor vertreten. Neben das akademische Gericht unter dem Vorsitze des Pro¬
rektors trat ein Ephorat von sechs Ordinarien, um über die sittliche Führung
der Studenten zu wache»; doch hatte es sich „aller strengen Splitterrichtercy,
womit unschuldige, wann auch dem reifern Alter geschmacklose Vergnügen gestört,
und eine schon männliche Geseztheit und Zurückhaltung von der aufblühenden
Jugend gefordert wird," gänzlich zu enthalten, Karl Friedrich setzte als
Studienzeit der Badener drei und ein halbes Jahr für die Juristen, drei für
die Theologen und Mediziner und dritthalb für die Kameralisten an und ver¬
pflichtete jeden Studenten des Landes, so lange in Heidelberg zu weilen. Hatte
unter den pfälzischen Regierungen bei den Studenten Sittenlosigkeit und zügel¬
loses Treiben geherrscht, so trat alsbald diesen Übeln das akademische Gericht,
aus Thibaut, Martin und Heise bestehend, voll Energie entgegen, bis am 7, Mai 1810
ein Universitätsamtmauu es ablöste. Die Oberaufsicht der Anstalt wurde un¬
mittelbar dem Gehcimratskollegium in Karlsruhe anvertraut, in welchem der
protestantische Staatsminister Freiherr von Edelsheim und der katholische geheime
Referendar von Hofer als Kuratoren angestellt wurden. So legte Karl Friedrich
den Grund zu einem neuen Heidelberg, wie er den Deputirten der Universität
im Juni 1803 in Mannheim und bald auch persönlich den Heidelberger Be¬
hörden verhieß, als er hier trotz der Antipathie der Pfälzer gegen sein Haus
herzlich begrüßt wurde. Er sprach ein neues „Werde!" über die Stiftung
Ruprechts I,; in dankbarer Anerkennung nennt sie sich seitdem Nuperto-Carola
und begeht feierlich sein Geburtsfest, an dem sie aus seiner 1807 gemachten
Stiftung denen eine Denkmünze ans badischem Golde zuerkennt, welche die von
den Fakultäten gestellten wissenschaftlichen Fragen gelöst haben. Ein tiefer Sinn
sprach sich in der Sage aus, ein auf der Brücke eingeschlummerter Student
habe erwachend gehört, wie Minerva Karl Friedrichs Lob Karl Theodor zurief.
Zahllose anderweitige Sorgen und Arbeiten, welche die Neubildung des ganzen
Staates mit sich brachte, verhinderten Karl Friedrich, die Reorgcinisirung der
Hochschule sofort zu vollende»; nur allmählich und höchst vorsichtig konnte
das Werk vollführt werden. Auch war eine Epoche beständiger Kriege der
Pflege der Studien wenig günstig, und 1804 zählte die Universität bloß
27 Ordinarien und Extraordinarien, vou denen nur ein Ordinarius den höchsten
Satz, 2000 Gulden, bezog; die Frequenz betrug 1803/4 250 Studenten.
Und doch wurde die Ruperto-Carola eine moderne wissenschaftliche Anstalt
ersten Ranges, die ihr durchlöchertes klerikales Gewand abstreifte und einen
weltlich-staatlichen Charakter annahm; allmählich schwand die katholische Über¬
macht im Senate, ein protestantisch freier Geist brach sich Bahn, und das
Protestantische Deutschland durfte jubelnd den Tag begrüßen, an dem die
alte Universität, siech und hinfällig, aus den Händen einer pfäffischen Clique
in die einer freidenkenden, aufgeklärten Regierung übergegangen war, um
sich unter ihrer sorgsamen Vaterhand neu zu beleben und zu verjünge».
In dem akademischen Senate begegneten sich freilich noch die wunderlichsten
Gegensätze; Männer, die am Kopfe und im Herzen einen zärtlich gehegten
Zopf trugen, ergraute Mönche saßen neben den Pionieren einer neuen Zeit
voll Ruhm und Herrlichkeit. Am auffallendsten war diese Mischung in der theo¬
logischen Fakultät, und trotzdem bot sie ein Bild der Einigkeit, so ferne ihr auch
Einheit blieb. An ihrer Spitze stand der Karmeliter Bonifacius vom heiligen
Wunibald, der unter Karl Friedrich seinen Familiennamen Schnappiugcr wieder
annahm. Ein grenzenlos gutmütiger Mensch, paßte er nicht in seine Zeit,
höchstens ins dreizehnte Jahrhundert; seine Vernunftbeweise in der Dogmatik
waren stets die denkbar unvernünftigsten, und er besprach die einzelnen Para¬
graphen seiner in Augsburg erschienenen Oootrina, avg-ur^rum. erst „fusius,"
dann etwas „fusiusser," um absolut konfus zu enden; dabei behauptete er, Gedanken
' zu haben wie noch kein Sterblicher; seine Kollegien dienten der Jugend zur
Ergötzung und zu schrankenlosen Mutwillen. Der geistliche Rat trieb es schließlich,
nach Freiburg übergesiedelt, so arg, daß er abgesetzt wurde. Ein ganz andrer
war Matthäus Kübel, der Professor des kanonischen Rechts, ein hochgelehrter,
seiner Jurist vou ehrwürdigen Sitten, der sich die Hochachtung Savignys und
Thibauts errang und 1809 als Senior der Universität, lange unersetzlich, starb.
Eine gewisse Bedeutung ließ sich auch dem Karmeliter vom heiligen Adam,
Anton Thaddäus Dcreser, nicht absprechen, der einst ein begeisterter Jünger der jo-
sephinischen Ideen gewesen war, sich dann mit dem berüchtigten Eulogius Schneider
für die Greuel der Jakobiner erwärmt, durch schwere Kirchenbußen aber Ver¬
nunft und Ruhe wieder erlangt hatte; als Professor der biblischen Exegese und der
orientalischen Sprachen übte er bei weitem den größten Einfluß aus die Jugend
aus und galt für einen aufgeklärten Katholiken, bis er bei dem Tvtenamte
Karl Friedrichs in die gröbste Taktlosigkeit ausartete. Ganz bedeutungslos
hingegen war der Professor Saar, auch ein ehemaliger Mönch. Die prote¬
stantische Abteilung der theologischen Fakultät zählte jetzt mir zwei, dafür umso
hervorrageudere Ordinarien, den allseitig wohlbeschlagucu Daniel Ludwig Wundt,
der die pfälzische Kirchengeschichte schrieb, und den gewaltigen Vertreter des
eigentlich theologischen Prinzips, den großen philosophischen Denker Karl Daub.
Daub wußte durch den Reichtum seines Geistes die UnVollständigkeit der Fa¬
kultät weniger fühlbar zu machen, las über alle Gebiete der Theologie und
manche der Philosophie, die er mit jener zu versöhnen suchte, wie er auch die
Religion nicht im Verstände, sondern in, Herzen begründete; er galt für eine
der berühmtesten Stützen der Orthodoxie. Auf Karl Friedrichs dringende Bitten
lehnte er 1803 einen glänzenden Ruf nach Würzburg mit doppelt so hohem
Gehalte ab; er war zur Restauration der Hochschule am Neckar zu wichtig, auf
ihn rechnete der neue Rektor als auf die Bürgschaft einer bessern Zeit, und
Daub vergalt dies Vertrauen mit hingebender cinuudvierzigjähriger Wirksamkeit.
Weit schlimmer als mit der theologischen war es mit der juristischen Fakultät
bestellt; sie hatte nur zwei ordentliche und einen außerordentlichen Professor,
die alle drei Mittelmäßigkeiten waren; wer spricht heute noch von Gcimbsjäger,
Wedekind und Jnnson? Nicht besser stand es mit der medizinischen Fakultät;
sie zählte mir dunkle Namen außer Franz Anton Mai, 1805 dem ersten und
einzigen Geheimrat der Hochschule; an ihm hingen mit innigster Hochachtung
die Studenten, denen er auch darüber vortrug, wie sie im Berufe lange und
gesund leben könnten; ohne einen Orden zu stiften, bildete er in populären Vor¬
trägen barmherzige Schwestern heran, und die Kranken blickten mit unbedingtem
Vertrauen auf den „alten Mai," den praktischsten aller praktischen Ärzte, den
Wohlthäter der Armen und Verlassenen; vor Thibaut hat kein Professor ein
solches Leichengeleite gehabt wie 1814 Mai. Die staatswirtschaftlichc Fa¬
kultät bestand ans den ordentlichen Professoren Georg Adolph Suckow, der
die Aufsicht über die bald sehr bereicherten physikalischen Sammlungen führte'
und an der Universität hohes Ansehen genoß, Gatterer und Seiner, dessen hell¬
grauer Frack mit rosa Sammetkragen, gepudertes Haar und langer Zopf an
cntschwnndne frohe Tage erinnerten. Sehr öde sah es in der philosophischen
Fakultät aus: von ihren vier Ordinarien besaß nur Jakob Schmitt, ein früherer
Mönch, einige Bedeutung, Verstand, Geist und Kenninisse, aber seine exzentrische
Natur führte ihn mit den Jahren dahin, ein Hanswurst zu werden; stand er
jetzt noch dnrch seine Vorzüge in Geltung, so wurde er in Freiburg, wohin er
später übersiedelte, zur komischen Figur, forderte gebieterisch von seinen Zu¬
hörern unbändiges Lachen über seine schlechten Witze, tyrannisirte die Stipen¬
diaten und als Ephorus des Gymnasiums die Lehrer und sandte, von einem
Korpsburschen eingeschult, seinem Kollegen, dem Theologen Hug, zwei Heraus¬
forderungen; da aber erging es ihm wie Schnnppinger, es erfolgte seine Ab¬
setzung. Die Philologie war in Heidelberg ohne alle Vertretung, hier that
Hilfe am meisten Not.
Es lag nicht in der konservativen Natur Karl Friedrichs, alles umzustoßen
und ans Ruine» einen Neubau zu errichten; vielmehr fügte er gerne auf er¬
probte Grundsteine kräftige neue Pfeiler und hielt darum mit Opfern und
eifrigem Bemühen die wenigen tüchtigen Gelehrten der kurpfälzischen Zeit in
Heidelberg. Da aber mit ihnen allein die Hochschule nicht gedeihen konnte, so
ließen Karl Friedrich und Reitzenstein, der ihm wie einst Johann vou Dcilberg
dem Kurfürsten Philipp dem Aufrichtigen von der Pfalz zur Seite stand, ihr
Auge durch ganz Deutschland schweifen, um Namen von Autorität für Heidel¬
berg zu gewinnen. Am empfindlichsten klafften die Lücken in der juristischen
Fakultät und in der Philologie; so ergingen denn die ersten Berufungen nach
Marburg an den jungen Friedrich Karl von Savigny und auf Dands An¬
regung an Georg Friedrich Creuzer. Savigny lehnte ab, weil er noch in Paris
Studien machen wollte, ließ aber eine spätere Annahme in Aussicht und torre-
spondirte lange mit dem Kurator von Hofer, machte mit ihm Projekte für die
neue juristische Fakultät und lenkte seine Aufmerksamkeit auf Putz und den
scharfsinnigen Heise, der bald zu den Zierden Heidelbergs gehören sollte. Creuzer
hingegen nahm freudig den Ruf an, ein neues Heidelberg begründen und bauen
zu helfen, und wirkte hier vierundvierzig Jahre; der humane, geistvolle Mann,
der vertieft in das Studium der Sprachen und Formen der Vorzeit, doch nie
ein Knecht des Buchstabens, sondern ein Sohn des Geistes gewesen ist, schuf
gleichsam aus dem Nichts den Lehrstuhl der Philologie, alten Literatur und
Geschichte, mancher Anfeindung durch Kollegen nicht achtend; mit viel Phantasie
ausgestattet, war er ein abgesagter Feind der nüchternen Verstandesausklärung,
Zu Schellings Berufung, an die man in Karlsruhe dachte, kam es nicht, auch
nicht zu der Ludwig Tiecks, die Clemens Brentano, welcher Heidelberg über alles
liebte, anregte und auch Scivigny empfahl. Bald richtete sich die Aufmerksamkeit
'Deutschlands auf das neu emporblühende Neckar-Athen; von allen Seiten kamen
Wißbegierige; hier studirte Joseph von Eichendorff, der große Lyriker seelen-
voller Rührung, hier arbeiteten Brentano und Armin eifrig in ihrer Wohnung
im Faulen Pelz, hier hielt ihr Freund Görres Vorlesungen an der Universität,
ohne aber zu einer festen Anstellung zu gelangen, und im Herbste 1808 ging
das romantische Kleeblatt auseinander; wie fröhlich hatten sie und der junge Jakob
Grimm an ihrer „Zeitung für Einsiedler" oder „Tröst Einsamkeit" vom April bis
zum August 1808 geschrieben! Immer wieder zog es Jean Paul, zog es Goethe
nach Heidelberg, in dessen Schloßruine Friedrich von Mntthisson seine Elegie
dichtete. Kotzebue sprach es aus: „Wenn ein Unglücklicher mich fragt, wo er
leben müsse, um dem lauernden Kummer dann und wann eine Stunde zu ent¬
rücken, so nenne ich ihm Heidelberg; und wenn ein Glücklicher mich fragt,
welchen Ort er wählen soll, um jede Freude des Lebens frisch zu kränzen, so
nenne ich ihm abermals Heidelberg." Bald konnte mau ohne Schmeichelei von
dem goldenen Zeitalter der Universität reden; war sie doch „gediegen in all
ihren Bestrebungen, reich an Geist und Poesie, glänzend weithin durchs deutsche
Vaterland in dem gesprochenen und geschriebenen Worte großer Lehrer"; ein
Geist edelsten wissenschaftlichen Gemeinlebens verknüpfte die jugendkräftig sich
entfaltenden Fakultäten, deren Vertreter nicht nach eignen Interessen, sondern
nach den höchsten Zielen der Menschheit strebten; für ewig war die knrpfcilzische
Zeit vorbei, in der hiesige Professuren an die Wiege gebunden wurden. Unter
den zahlreichen Berufungen verdienen nicht wenige Erwähnung; besonders lenkten
viele Gelehrte ans Jena ihre Schritte nach Heidelberg. In die theologische
Fakultät trugen neben Daub neues Licht Schwarz, Jung-Stillings Schwieger¬
sohn, Bauer, Marheiuecke, der aber 1811 uach der neuen Universität Berlin
übersiedelte, und Leberecht de Wette, der schon ein Jahr zuvor denselben Weg
einschlug; bereits regten sich bei dem Dozenten Neander die Schwingen. Sie
alle aber ebneten gewissermaßen nur den Pfad, auf dem der Hohepriester
der Fakultät, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, daherschritt, jene gewaltige
Persönlichkeit, die für lauge Dezennien dem theologischen Studium hier ihren
Stempel aufdrückte; in welchem Gelehrten standen in so vollem Einklange An-
spruchslosigkeit und eminentes Wissen, Bescheidenheit und Vielseitigkeit, Wahr¬
heitsliebe, Freisinn und Gründlichkeit? Die juristische Fakultät aber wurde bald
für die Universität die entscheidende; nicht mehr die theologischen, sondern die
juristischen Studenten bildeten das Hauptkontingent, und Heidelberg ward, was
es seitdem blieb, eine in erster Linie juristische Universität; damals konnte es
sich rühmen, die größte juristische Fakultät Deutschlands zu besitzen: an ihr
leuchteten Sterne ersten Glanzes, neben Heise Christoph Reinhard Dietrich
Martin, der berühmte Publizist Johann Ludwig Klüber, der ungewöhnlich geist¬
volle und vielseitige Karl Salomo Zachariä, der auch durch zahlreiche Anek¬
doten als Original im Gedächtnisse der Bürgerschaft fortlebt, und der unbe¬
strittene König von Heidelberg während fünfunddreißig Jahren, Anton Friedrich
Justus Thibaut, eine wahrhaft europäische Persönlichkeit, der Gegner Savignys.
Die medizinische Fakultät erhielt eine belebende Kraft in dem genialen Anatomen
Ackermann, dem Schöpfer der Poliklinik, die außer der fünfhundert Gulden be¬
tragenden Staatsdvtation von den Studenten der Medizin Beiträge empfing;
wie er, kam von Jena Schelver, der Schwiegervater unsers Gervinus, und
neben ihnen und Heger stand seit 1807 als Autorität Franz Karl Nügcle, einer
von Deutschlands ersten Geburtshelfern und bestimmt, der große Vater eines großen
Sohnes zu werden, der Schwiegersohn des „alten Mai." Die philosophische
Fakultät rechnete zu ihren Zierden den Dichter Johann Heinrich Voß, der zu
cimtlvscr Mitwirkung an der Hochschule berufen worden war und sich an ihr
„zu Eutinischer Heiterkeit verjüngte," bald aber mit Creuzer in einen gelehrten
Streit geriet, und seinen Sohn, den Philologen Heinrich Voß; mit großem
Beifalle wirkten neben ihnen der tüchtige Philosoph Jakob Friedrich Fries, der
als Ästhetiker und Historiker geschätzte Aloys Schreiber, der Orientalist Friedrich
Willen, dessen Geschichte der Kreuzzüge noch immer gern gelesen wird, und
leider nur ein Jahr der Philologe August Böckh, den uns wiederum Berlin
1810 entriß, um ihn volle 37 Jahre den Seinen zu nennen. Welch eine Fülle
berühmter Namen, die von den Ahnen zu deu Enkeln fortklingen, welch eine
Legion Unsterblicher! Karl Friedrich und Reitzenstein hatten wahrlich ihr Bestes
gethan, um die ^.Inn iriatsr zu heben; einige Tage bekleidete letzterer im April
1807 selbst das Kuratorium; als unbefugte Hände in sein Werk cingrifsen, zog
er es zwar vor, dem Amte zu entsagen, kämpfte jedoch nach wie vor mit offenem
Visir gegen römische Verdummuugs- und Herrschsucht und nährte mit uner¬
müdlichem Eifer die heilige Flamme des Geisteslebens, der Wahrheit und des
Rechts. Als 1806 mit dem Breisgau eine zweite Universität, die Albertina
in Freiburg, an Baden gefallen war, verlegte der Großherzog Ostern 1807 die
katholische theologische Fakultät von Heidelberg dorthin; so ließ sich besser die
protestantische Richtung in Heidelberg konzentriren. Am 26. Juli 1810 hob er
für das Grvßherzvgtum den Universitätsbann auf, der ihm in wissenschaftlicher
Beziehung hinderlich und für mancherlei Verhältnisse drückend erschien; von nun
an konnten die Unterthanen studiren, wo es ihnen behagte, nur mußte jeder
Jurist auf einer der beiden Landesuniversitäten einen Kursus über das neue
badische Landrecht hören.
Es konnte als die erste Großthat des um erwachten literarischen Lebens
in Heidelberg gelten, als 1804 Daub und Creuzer die zeitgemäße Zeitschrift
„Die Studien" gründeten, welche im Frühjahr 1805 ans Licht trat; sie zählte
außer deu Stiftern die ersten Größen der Universität unter ihre Mitarbeiter,
erntete Karl Friedrichs warmes Lob und Goethes besondern Beifall. Schon
1808 folgten den „Studien" die weithin gefeierten „Heidelberger Jahrbücher,"
in jener Zeit von epochemachender Bedeutung für die Entwicklung der deutschen
Literatur und unerreicht in Hinsicht auf die Vereinigung großer Männer aus
den verschiedensten Zweigen der Wissenschaft zu einem Zwecke, auf die allseitige
Gediegenheit ihres Inhalts, auf die schöpferische Produktivität in Abhandlungen
und Kritiken. Eine Reihe Stiftungen umschloß, teilweise von Reitzenstein an¬
geregt, wie eine Strahlenkrone die Hochschule. Aus den Bücherschätzen in Bruchsal,
aus den Klöstern und Sammlungen der Nitterkantone erlangte die Bibliothek
einen solchen Zuwachs, daß sie 1812 von 20 000 auf 46 000 Bände stieg.
Einem dringenden Bedürfnisse wurde dadurch abgeholfen, daß Karl Friedrich
das Dominikanerkloster in der Borstadt, an der Stelle des heutigen Friedrichs¬
baues, für 11000 Gulden kaufte, um in ihm 1804 ein anatomisches Theater,
ein akademisches Hospital und eine geburtshilfliche Klinik zu errichten und den
es umschließenden großen Garten, geschmückt mit Gewächs- und Treibhäusern,
zum Studium der Botanik anzulegen. War Deutschlands herrlichste Ruine
nahezu ein Schutthaufen geworden, durchrcmkt von Gestrüpp, überwuchert von
Unkraut und teillveise bepflanzt mit dem Gemüse und der Cichorie des Geheim¬
sekretärs Leger, so brach auch für sie ein Frühling an, um nie mehr dem
Winterfroste weichen zu müssen; die Getreide- und Kartoffelfelder an ihren Ab¬
hängen verschwanden und ebneten sich zu den saftig prangenden Wiesen, die
unser Auge entzücken; droben aber legte der Schwetzingcr Hofgärtner Zeyher
unter der Leitung des kunstsinnige» Professors Gatterer den Schloßgarten mit
seinen prächtigen Bäumen an, deren Schatten uns Enkel erquickt; auch hier
wurde dem Studium der Botanik ein Feld eröffnet. 1807 entstand durch
Creuzer das philologische Seminar, und neben den Fachwissenschaften hörten
viele Studenten wie auch Personen reiferen Alters eifrig Vorlesungen bei Daub,
Creuzer und andern Koryphäen. Die Frequenz der Universität stieg mit dem
Ruhme ihrer Lehrer von 250 Studenten 1809/10 ans 437, sank freilich
im Todesjahre des Nenbegründers auf 393 zurück; die meisten Studenten
waren Juristen. Erscheint die Zahl klein, so kann dies uns nicht verwundern;
war es doch eine Zeit steter Kriegslciuftc! Das Studentenleben trat eben¬
falls in eine neue Phase, vorteilhaft hohen sich Gesittung und Haltung der
Akademiker; an Stelle der Verbindungen der Kvnstantisten und Harmonisten
tauchten, dem Zeitgeiste mehr entsprechend, Landsmannschaften auf, zuerst die
Badenser und die Rheinländer, dann die Oberrheiner, die Niederrheiner, die
Westfalen und die Cnronen. Überall pulsirte frisches, jugcndkräftiges Streben
und Leben, ein neues Blut durchströmte die alte Akademie, und mit dem Dichter
durfte man ausrufen:
Da, Schule Heidelbergs! stiegst du in armer Zeit
Aus schauervoller Dunkelheit,
Und Scharen deutscher Sühne zogen,
Sich deiner Fülle zu erfreun;
Sie eilten hin und sogen
Die jungen Strahlen ein.
Ein wahrer Fürst des Friedens, ein reiner und erhabener Charakter, schied
der unvergeßliche Großherzog am 11. Juni 1811 im 33. Lebensjahre nach einer
segensvollen Negierung von 73 Jahren von seinem ihn aufrichtig beklagenden
Volke, und in die Gruft zu Pforzheim weinte ihm die Heidelberger Hochschule
heiße Thränen nach. Schmückt sie sich jetzt mit Prunkgewänderii, die strahlende
Jubilarin, um ihre fünfte Säkularfeier zu begehen, und schaut nach denen
ans, denen sie den Kranz innigsten Dankes zu reichen hat, so gebührt wohl
ihr erster Gruß Karl Friedrich, dem Restaurator, und seinem treuen Sigmund
Karl von Reitzenstein.
l
e naturalistische Schule in Deutschland spricht Zolas große
Lösung eifrig nach, daß es keine Psychologie, sondern nur eine
Physiologie gebe und jede Darstellung des Seelenlebens der
Menschen, ohne fortwährende Beziehung auf ihren Gesundheits¬
zustand, ihre Abstammung und den Einfluß ihrer täglichen Um¬
gebung und Beschäftigung eine idealistische „Unwahrheit" in sich schließe. Wie
beschränkt diese Anschauung auch sein, zu welchen falschen Konsequenzen sie
führen möge, jedenfalls eröffnet sie der vergleichenden Beobachtung, der Auf-
faffungs- und Zusammenfassungskraft des Schriftstellers ein bedeutendes Gebiet.
Man sollte meinen, daß die Apostel des naturalistischen Evangeliums ihren fran¬
zösischen Vorbildern auch in dieser Beziehung nacheifern und versuchen müßten, die
Gesamterscheinung des deutschen Lebens der Gegenwart in großen Nomanfolgen,
wie der zusammenhängende Rongon-Macquart-Zyklus Zvlas oder die Reihe
der Rvmmie Daudets darzustellen. Wenn doch die ganze seitherige Darstellung
des Lebens phantastisch und unwirklich ist, wenn selbst die richtig dargestellte
Einzelheit auszer allem Zusammenhang mit anderm Leben und ohne Nachweis
des Gesetzes, das ihr zu Gründe liegt, angeblich nur geringen Wert hat, so kann
sich die naturalistische Kunst eigentlich nur in großen oder sagen wir besser
breiten Formen genug thun. Da muß es denn auffallen, daß bei der Mehrzahl
unsrer deutscheu Naturalisten bisher das gerade Gegenteil der Fall ist, daß sie
in kleinern Formen: Gedichten, einzelnen Lebensbildern und Novellen, ihr neues
Lebens- und Kunstgefühl zu vertreten suche». Da von einem Zweifel an die
eigne Gestaltungskraft wenigstens bei der Mehrzahl der hierher gehörigen Schrift¬
steller nicht die Rede sein kamt, so scheint in der That hier eine Abweichung
von der Pariser Routine, vielleicht ein schweigendes Eingeständnis zu bestehen, daß
die künstlerischen Formen, die frühere Dichtergenerationen geschaffen haben, denn
doch nicht so unbedingt verwerflich sind und nnr nötig haben, mit einer neuen
Art der Probleme und Konflikte wie der Charakteristik erfüllt zu werden. Die
letztere allerdings gilt für unerläßlich, denn nicht genug, daß die seitherigen
Dichter mit Vorliebe in den unmöglichsten Regionen der Vergangenheit umher¬
geirrt sind, sie haben auch das Unglaublichste in der gefälschten, lügenhaft oder
phantastisch verschönerten, bis zum Albernen vergeistigter Wiedergabe der un¬
mittelbaren Gegenwart geleistet. Da thut es denn Not — sagen die Natura¬
listen —, nicht nnr überhaupt das Leben des Tages und seine Erscheinungen
kräftiger, wahrer, unmittelbarer darzustellen, sondern vor allen: auch einmal jene
Momente des Daseins, jene Erscheinungen unsrer Kulturwelt, jene Thatsachen
und Stimmungen zu bevorzugen, denen die ästhetisircnde und von der tradi¬
tionellen Lüge beherrschte Literatur mehr oder weniger geflissentlich aus dem
Wege gegangen ist. So oder ähnlich irrten die Auseinandersetzungen, mit denen
unsre Naturalisten ihre besondre Art einführen. Soviel sich im allgemeinen
diese besondre Art kurz charakterisiren läßt, scheint sie uns auf dreierlei
hinauszulaufen. Zuerst auf die entschiedne Betonung und die breite Behandlung
der geschlechtlich-sinnlichen Regungen, Thatsachen und Wirkungen im Leben über¬
haupt und in dem der modernen Gesellschaft vor allem. Soweit es sich hier nicht
um die ganz gewöhnliche, auf die Lüsternheit blasirter und verlotterter Naturen
berechnete Pornographie handelt (und es handelt sich allerdings viel öfter darum,
als die Lobredner des „Wirklichen" zugeben wollen), mischt sich in der Be¬
vorzugung gerade dieser Szenen ein poetischer Instinkt und ein Stück modernster
Brutalität in der seltsamsten Weise. Es ist an sich völlig richtig und unbestreitbar,
daß die Dichtung auf ihr Recht, die sinnliche Seite der menschlichen Natur
darzustellen, ebensowenig verzichten kann als auf die Darstellung der (von den
Naturalisten geleugneten und gering geschätzten) geistigen Seite. Je ängstlicher
eine gewisse Heuchelei und ein gewisser Mangel an starkem und vollem Lebens-
gcfühl der Darstellung ganzer Menschen aus dem Wege gehen, oder je blinder
sie das Vorhandensein des sinnlichen Einschlags im Lebeusgewebe in Abrede
stellen, umso hartnäckiger werden diejenigen, deren Augen dafür besonders geschärft
sind, darauf bestehen, den bewußten Einschlag nachzuweisen. Dazu aber gesellt
sich das, was wir moderne Brutalität nennen: die Neigung für die Hervor-
kehruug alles Tierischen, von der bloßen Blutwallung erzeugten, alles Noh-
kräftigen und frech auf die körperliche Kraft pochenden, die Vorliebe für das
Abstoßende, schamlos Herausfordernde, der dämonische Trieb, aus jeder Leiden¬
schaft die geistigen Elemente herauszudestillireu und nach ihrer Verflüchtigung
zu behaupten, daß sie überhaupt nicht vorhanden gewesen seien. Alles das
aber bewirkt neben der bloßen Nachahmungslust und der Verehrung der Pariser
Meister von Flaubert bis Gvndreeourt, daß auch in den Schriften unsrer
Naturalisten jene Situationen breit in den Vordergrund treten, in denen die
Neufranzosen ihre interessantesten und pikantesten Aufgaben erkennen.
Als zweite Besonderheit erscheint fast in allen Anläufen der naturalistischen
Schule die Schilderung des Proletariats. Seit Eugen Sue in den „Geheim-
nissen von Paris," wenn auch uoch mit „romantischer" Zaghaftigkeit und Un-
wirklichkeit, die große Fundgrube drastischer Darstellung erschlossen hat, wieder¬
holen sich in allen die Gegenwart spiegelnden Werken die Gestalten n»d Situationen,
welche ans die große Krankheit der Zeit nud in gewissem Sinne auf das erwachte
Bewußtsein und erwachte Gewissen der Gesellschaft gegenüber dem Elend und
der rohen Verkommenheit großer Volksklcisseu hindeuten. Die naturalistische
Schule macht es sich um zur besondern Aufgabe, den Finger in die eiternde
Wunde zu legen. Sie schildert beinahe nie, ja wie es uns vorkommt, nur mit
einem gewissen Widerwillen die glückliche Seite der harten Arbeit, den Genuß
nud das Behagen am Thun und Schaffen, welche denn doch auch Gott sei
Dank noch vorhanden sind. Hierin unterscheidet sie sich vou den Realisten,
die nach den Begriffen ihrer Nachfolger zu schön gefärbt haben und namentlich
übersehen solle», daß im letzten Jahrzehnt eine große und unerquickliche Wendung
eingetreten sei, uach welcher die Arbeit auf jedem Gebiete härter, auspauueuder,
die Menschen aufreibender geworden sei, während sie nur wenigen noch Gewinn und
Genuß gewähre. Mit dieser pessimistischen Auffassung der Dinge tritt wenigstens
ein Teil der Naturalisten bewußt und unbewußt den Lehren der Sozialdemo-
kratie bei. Indem sie die Angen absichtlich und oft geradezu gewaltsam vor
den lichteren Erscheinungen verschließen (sollten selbst diese lichteren Erscheinungen
nnr „Ausnahmefülle" sein), fördern sie vielleicht die Erkenntnis des sozialen
Elends und, wo es gut geht, deu Willen zu helfen. Aber schwerlich ist dies
das alleinige treibende Motiv der ausführlichen Schilderungen von hungrigem,
stumpfem und rohem Elend, von hoffnungslosen Familienzerrüttungcn, Prosti¬
tution und anderen Greuel. Der literarische Effekt, die Wirkung auf die blasirte,
gegen die reineren Wirkungen der Darstellung abgestumpfte Lesewelt, die un-
fehlbare Sicherheit, damit neue und eigentümliche Enthüllungen zu geben, spielen
bei der Bevorzugung dieser Seiten der Wirklichkeit eine große Rolle. Wenn
man zudem nach dem Vorgang der französischen Naturalisten das besondre Elend
und die besondern Krankheitsformen der einzelnen Arbeiterklassen, aller schmutzige»,
peinlich anstrengenden, eintönigen Beschäftigungen besonders schildert, so er¬
öffnet dies eine Perspektive auf unübersehbare, weder abgeerntete noch abge-
baute Felder.
Die dritte Besonderheit, durch welche die naturalistische Schule auch bei uns
in Deutschland den Eindruck der Wahrheit, der ganzen Wahrheit hervorrufen
will, ist die Vorführung des männlichen Teils gewisser Klassen, die von Wohl¬
leben und Reichtum umgeben und dabei innerlich von der tiefsten Rohheit und
Gemeinheit erfüllt find. Ohne Frage liegt den betreffenden Schilderungen und
Charakteristiken der Naturalisten ein Stück Natur zu Grunde. Leben, Ge-
sinnung und vor allem die aus Brutalität und widriger Frivolität wundersam
gemischte Redeweise unsrer „ goldnen Jugend" fordert jeden heraus, der auch
nnr im entferntesten das Zeug zu einem Juvenal in sich verspürt. Wer sie
je gesehen, gehört hat, diese durch und durch verkommenen und mit ihrer Ver¬
kommenheit frech prcchlendeu Bursche, tadellos sauber in Kravatten und Hand¬
schuhen, aber schmutzig bis in die letzte Falte ihres geistigen Wesens und na¬
mentlich ihrer Phantasie hinein, wer es weiß, wie sie unter sich sprechen und sich
selbst in bester Gesellschaft in den Ecken für den Zwang entschädigen, den sie
eben an der Seite anständiger Frauen sich angethan und erduldet haben, wer
die rohe Sicherheit kennt, mit der sie von jedem Menschen ihrer Erziehung und
Lebenslage die gleiche tiefinuere Gemeinheit voraussetzen, der kann den Natura¬
listen nicht Unrecht geben, wenn sie gegen jede verschönernde oder beschönigende
Charakteristik gerade dieser Vertreter der gebildeten Klassen Protestiren. Wenn
ein Teil unsrer dramatischen und erzählenden Literatur von diesen Erscheinungen
des modernen Lebens nichts weiß, so liegt dem ebensoviel unberechtigte Schön¬
rednerei und Heuchelei als berechtigter menschlicher und ästhetischer Widerwillen
zu Grunde. Die eigentümliche Sophistik der naturalistischen Schule folgert nun
freilich, daß, weil diese Erscheinungen in großer Zahl vorhanden sind, sie die
einzigen und herrschenden, die maßgebenden im deutschen Leben der Gegenwart
wären. An der Bevorzugung der Charakterbilder und Schilderungen dieses
Schlages haben aber wiederum nicht bloß die pessimistische Grundstimmung und
der moralisirenoe Zug, welcher einigen Naturalisten eigen ist und von andern
vorgegeben wird, sondern die rein literarische Erkenntnis Anteil, daß sich hier
eine Fülle von Neuen, und Niedargestelltem ergäbe. Denn so verächtlich die
ganze Gesellschaft ist, um die es sich hier handelt, so große (scheinbare) Mannich-
faltigkeit bietet sie dar, das Verhältnis aller Einzelnen zu der gemeinsamen
egoistisch-cynischen Grundanschauung, die Abstufungen und Grade der Heuchelei,
mit denen sie sich innerhalb des gesellschaftlichen Lebens behaupten, die Ab-
wechslnngen, die durch Vorgeschichte, Lebensalter und Beruf herbeigeführt
werden, die grundverschiedncn Schicksale, in die je nach Zufall und Glück der
modern-materialistische Mensch hineinwächst, sie lassen sich allesamt vertausend¬
fachen. Den Darstellern dieser Welt entgeht eben, welche Eintönigkeit, welche
armselige Öde in einer Mannichfaltigkeit liegt, die jedes geistigen Reizes, jedes
tiefern Empfindens, jeder edlern Lebenshaltung entbehrt. Die Freude am
äußerlich Neuen paart sich bei ihnen mit der prinzipiellen Voraussetzung, daß
die Gemeinheit und die cynische Gennßlust die eigentliche Seele der Wirklichkeit
seien, und so verschließen sie ihre Augen gegen die naheliegende Thatsache, daß
gesunde Tüchtigkeit, Herzenswärme und reine Güte, daß geistiger Schwung und
ideale Erhebung, trotz allem, nicht aussterben in der Welt, und daß es das
Vorrecht des Dichters bleibt, sie hervorzuheben und im schlimmsten Falle, wo
sie nur noch vereinzelt vorhanden sind, nach ihnen zu suchen. Und so kindisch
es wäre, unsre Naturalisten zu beschuldigen, daß sie insgesamt Freude und Be¬
hagen gerade an diesen widrigen und abschreckenden Erscheinungen empfänden,
so macht sie doch der Fanatismus eiuer neuen und vermeintlich ausgiebigen
künstlerischen Richtung wenig geneigt, die ganze Fülle der Wirklichkeiten zu
sehen, welche der pessimistischen Überzeugung von der Erbärmlichkeit des mensch¬
lichen Daseins widersprechen. Ausdrücklich sei übrigens noch hervorgehoben,
daß die Schilderung und Charakteristik der jüngern „gebildeten" Männerwelt,
auf welche sich der Naturalismus nicht wenig zu Gute thut, eine Besonderheit
gerade des deutscheu Naturalismus ist. Die leichtfertigen und ausschweifenden
Jünglingsgestalten Daudets und selbst Zolas haben nicht die Prahlsucht der
Gemeinheit, dnrch welche sich die dentschen Vertreter dieser Art Zeitgeist so
unvorteilhaft auszeichnen. Leicht möglich auch, daß selbst den äußersten fran¬
zösischen Naturalisten ein Bestreben beherrscht, wenigstens in gewissem Sinne
gesellschaftsfähig zu bleiben, während der deutsche Nachfolger das Prinzip der
Wirklichkeitsdarstcllung bis zur letzten Konsequenz treibt.
In der Reihe der deutschen Naturalisten, die sich mit jedem Tage ver¬
größert und bereits den Schwarm jener Nachahmer hinter sich drein zieht,
welche in allen Perioden der Literatur alles nachahmen, was augenblicklich neu
ist und Wirkung verspricht, ragt vor allen andern der Münchner M. G.
Conrad hervor, irren wir nicht, Herausgeber einer besondern Zeitschrift, welche
die Dogmen des reinen Naturalismus auf allen Kunstgebieten und gegenüber
allen Bestrebungen versieht, die sich erkühnen, nicht „naturalistisch" zu sein, jeden¬
falls der Verfasser vortrefflicher, von scharfer Beobachtungsgabe und noch un-
verkümmerter Bcobachtungslust zeugender Pariser Skizzen. Verteidiger Zolas
gegen seine deutschen Widersacher, ist er zugleich ein Schüler des Franzosen,
freilich einer der wenigen Schüler, denen sich selbständiger Geist und eigne Kraft
nicht absprechen läßt. Die im Eingänge charakterisirten Mängel und die über¬
reizten Besonderheiten der Schule fehlen bei ihm nicht, wir begegnen der über-
lauten Verkündigung eines neuen Zeitalters, der falschen Zuversicht, daß jede
treue und packende Auffassung des wahren Lebens modern und nur modern
sei, der pessimistischen Grundstimmung, welche im Verein mit seinem künstlerischen
Verlangen das Auge des Naturalisten vorzugsweise auf häßliche und widrige
Wirklichkeiten hinlenkt, wir begegnen der Lust an Zwei- oder vielmehr Ein¬
deutigem, die Gewohnheit, die Neigung der Geschlechter mit einer gewissen Ver¬
achtung herabzuziehen, sie jedes Glanzes zu berauben und sich doch fast aus¬
schließlich mit ihr zu beschäftigen, der Virtuosität in der Darstellung der
weiblichen und noch mehr in der der männlichen Halbwelt auch bei Conrad.
Aber es lebt und wirkt ein geistiges Etwas in seinen Versuchen, was über die
ganz Äußerlichen Nachbeter des neuesten Pariser Messias hinauswächst und
hinauswill, ein Hauch eiguen Empfindens, selbst ein gelegentliches trotziges
Aufbäumen gegen die Schlagbäume, die der französische Naturalismus der Be¬
obachtung und dem Verständnis des Lebens höchst willkürlich in den Weg legt.
Es wäre gegen das Prinzip, wenn ein naturalistischer Schriftsteller sich oder
gar andern eingestehen wollte, daß die ergreifendsten Momente in aller Lebens-
darstcllung aus Offenbarungen und nicht aus Analysen stammen, aber gleich¬
wohl steckt in Conrads bessern Novellen ein Element, welches die Hoffnung
erweckt, daß er früher oder später mit dem gedachten Prinzip selbst die nötige
Abrechnung halten werde. G. Conrnd ist jedenfalls zu gut und viel zu gut
zu dem, was elegante Wcinreisende, Börsenjobber, die sich am Schcwbcs eine
Lektüre gönnen, und auf der Wache gelangweilte Leutnants einen „pikanten
Schriftsteller" nennen.
Leicht aber macht es der Verfasser der beiden Novellcnsammlnngeu:
Lntetias Töchter (Leipzig, Wilhelm Friedrich) und Totentanz der
Liebe, Münchner Novellen (Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1885) dem Beurteiler
wahrlich uicht, ihn von dem Gesindel, das in Winlelleihbibliotheken und bei
Bahuhosskolporteureu vorzugsweise gesucht wird, zu unterscheiden. Von den
beiden erzählenden Büchern ist das letztgenannte schon um deswillen das be¬
deutendere, weil es selbständiger und freier vom Einfluß des Vorbildes ist, als
die unter dem Titel „Lntetias Töchter" gesammelten Pariser-deutschen Liebes-
geschichten. Die letztern könnte ein unkundiger, um die Formeigentümlichkeit
unbekümmerter größtenteils für Studieublätter zu einem Romane im Zolaschen
Stil halten. Doch scheint Conrad nichts von der zähen, am Detail haftenden,
Strich an Strich setzenden Weise des Verfassers von „Assommoir" und „Pot
Bvuille" zu besitzen, von der Weise, die in Umkehrung eines bekannten malerischen
Experiments mit Hilfe vou lauter Einzelzügen den Apoll von Belvedere in
einen Frosch umbildet und darnach erklärt, daß sie ihn auf seine Grundform
zurückgeführt habe. Er ist ein rascher, zu einer knappen und vorwärts drängenden
Darstellung neigender Erzähler, ein Novellist, dem der Feuilletonist da und
dort ein Schnippchen schlüge, ein kecker Skizzist, der mit ein paar glücklichen
Strichen den Schein eines vollausgestalteten Bildes zu erwecken versteht. Was
ihn an Zola und dem Naturalismus angezogen hat, sind ganz offenbar die
kühnen Rücksichtslosigkeiten, ist der Bruch mit dem Überlieferten, Herkömmlichen.
Das Naturstudium mag ihn an sich fesseln und reizen, aber in erster Linie
steht ihm offenbar die gewisse Art der Natur, welche von den Naturalisten be¬
vorzugt wird, weil sich ein begehrliches Publikum um die allerechteste und un¬
verfälschteste Wahrheit, um die „Wirklichkeit," sofern sie nicht „pikant," nicht
lüstern, nervenaufregend und atmeuversctzcnd, nicht gewissen Ä priori gegebnen
Liebhabereien entsprechend erscheint, um keinen Pfifferling mehr bekümmert, als
um den idealistischen „Schwindel." Die Liebhaber dieser Art finden sowohl in
„Lutetias Töchtern" als im „Totentanz der Liebe" ihre Rechnung. Das erste
Buch wird mit einem „Nachtstück aus dem Bois de Boulogne" eröffnet, einer
jener Schilderungen Verlornen weiblichen Lebens, die für moderne Autoren einen
unwiderstehlich-unheimlichen Reiz haben. Zugegeben, daß es dem Verfasser
nur Ernst mit Gestalten wie Amelie und der entsetzlich-unseligen Severine sei,
daß er mit der abschreckenden Lüsternheit und parfümirten Gemeinheit der
in 8g,ri8 Loour dargestellten Wirklichkeit, bei der wir keinen Augenblick die
Treue der Beobachtung, des Naturstudiums in Zweifel ziehen, nicht bloß zer¬
streuende Heiterkeit erwecken wollte, sieht er die tiefe, unüberbrückbare Kluft nicht,
welche dann notwendig fein Bewußtsein, seine Absicht und seine Wirkung trennt?
Der herausfordernde Übermut, welcher Geschichten wie „Im Bade" und „Die
Frau Majorin" erfüllt, muß als verhältnismäßig harmlos betrachtet werden
gegenüber den peinlichen Eindrücken, welche die Liebesbriefe der Erzählung
„Adrienne" und die sämtlichen Vorgänge der größern Novelle „Recht sonderbar"
hinterlassen. Wahr bis in den letzten Einzelzug mag der Verlauf der in
„Recht sonderbar" geschilderten Künstlcrehe sein, aber jene Wahrheit der echten
Komödie oder Tragödie, mit der die Poesie in letzter Instanz allein zu thun
hat, besitzt sie nicht. Was wir bei allem warmen Kolorit, über das G- Conrad
wahrlich verfügt, doch mit dem Gefühl lesen, daß es uns auch nicht das min¬
deste angehe, was uns in keinerlei Mitleidenschaft zu ziehen, was nach allem
keine andre Wirkung als die des Ekels zu erwecken vermag, dessen „Wirklich¬
keit" ist in der That gleichgiltig. Der Gewinn dieser Wirklichkeit für die Lite¬
ratur bleibt ein höchst zweifelhafter, und keine Berufung auf die Uner-
schrockenheit, mit welcher der Schriftsteller den Dingen ins Auge sehe oder ihnen
zu Leibe gehe, keine Lobpreisung „gesunder Sinnlichkeit" (mit welcher unsre
Feuilletonisten allemal dann um sich werfen, wenn alle Kennzeichen der Gesund¬
heit fehlen), kein starkgeistiger Trotz vermögen über die Verschwendung so echten
Talents an so zweifelhafte Aufgaben hinwegzuhelfen. Wir lassen dahingestellt,
in welchem Verhältnis die in „Lutetias Töchtern" belauschten und gespiegelten
Wirklichkeiten zum Gesamtleben von Paris stehen, aber wir werden, wenn uns
in den Münchner Novellen die naturalistische Phantasie auf gleich wunderlichen
Seiteupfadeu und in gleich bedenklichen Winkeln, in gleich sorgfältiger Vermeidung
der Straßen und Stellen begegnen sollte, an denen noch andre, bessere Wahr¬
heit zu gewinnen wäre, Wohl schließen dürfen, daß sie auch in Paris noch andre
Wege hätte einschlagen können, als die, die wir geführt werden,
(Fortsetzung folgt,)
oller wir uns mit einem bescheidnen Rabatt begnügen oder sollen
wir unsre Bücher dort kaufen, wo nur sie am billigsten be¬
kommen? Zehn Prozent oder zwanzig? Das ist auch eine von
den Fragen, die garnicht oder zu selten erwogen und besprochen
werden: für Professoren und sonstige illustre Geister ist sie zu
praktisch und geringfügig, und weiter unten in den Thälern der Menschheit hat
man die Autwort sofort bereit und überlegt nicht erst lange. „Denn das sagt
doch der gesunde Menschenverstand: wenn ich ein Buch brauche, das ich von
Leipzig oder Berlin für 7^ Mark erhalte, während ich hier 9 Mark bezahlen
muß, daß ich dem hiesigen Buchhändler nicht die 13 Groschen schenke! Oder
haben Sie etwa ein besseres Einkommen als unsre Buchhändler?" Und dabei
schauen einen die Leute so an, wie wenn man nach seinen Ohren fühlen sollte,
ob sie nicht eben ins Eselhafte gewachsen seien.
Mit Verlaub, der gesunde Menschenverstand sagt viel dummes Zeug, und
ich mochte nicht für alles Unheil verantwortlich sein, was der schon angerichtet
hat. Zehn Prozent Rabatt glaube ich allerdings verlangen zu können unter
der Bedingung, daß ich ein fleißiger Käufer bin und sofort bezahle. Ich meine,
es sollte ein Reichsgesctz sein, daß mau bei Rechnungen zwischen fünf und fünfzig
Mark mir neun Zehntel der Forderung zu bezahlen brauchte, wenn man sofort
bezahlt. Die Handwerker und die kleinen Kaufleute wären dadurch ihren
schlimmsten Feind, den Anschrcibeteufel, los, und wer mit Gewalt Waare auf
Borg haben will, hätte seine Zinsen zu bezahlen, wie es sich gebührt. Daß sie
ihren bessern Kunden zehn Prozent ablassen tonnen, geben ja die meisten Buch¬
händler gern zu, und die Frage ist nur die, ob man eine größere Ermäßigung
verlangen oder einnehmen darf.
Unsre Ansichten hängen wesentlich von unsern persönlichen Erfahrungen
ab, und so ist mein Standpunkt zum Teil verursacht durch die nähere Bekannt-
schcift mit zwei Buchhändlern, die ich als charakteristische Vertreter der beiden
Enden ihres Standes ansehen möchte. Der eine war ein emporgekommcner
Antiquar; eigentlich hatte er Schreiber werden sollen, man konnte ihn aber in
keiner Amtsstube brauchen. Ein lieber Mann! Namentlich die Gymnasiasten
schätzten ihn als helfenden Freund in allen Lebenslagen. Die meisten verkehrten
zwar auch bei einem vornehmeren Vnchhändlcr und kauften dort auf Rechnung
des Elternhauses. Aber wenn man eine wörtliche Übersetzung zu Vergil und
Ovid nötig hatte, so wagte man doch nicht, dorthin zu gehen; wußte man doch
auch, das; unser Freund in der Seitengasse alle erforderlichen Eselsbrücken ans
Lager hatte, selbst die Übersetzungen, die „nur an Lehrer" verschickt werden.
Und wenn alle Schwarten nichts halfen und das Qnartalzengnis zu schlecht
ausfiel, als daß mau es dem gestrengen Herrn Papa hätte zeigen können, so
konnte man bei unserm liebenswürdigen Antiquar für gute Worte und drei Mark
getreue Nachahmungen der bekannten Zengnisformularc bekommen und diese
mit verstellter Handschrift selber ausfüllen. Was konnte man nicht alles in dem
Laden erhalten! Sogar Taschengeld! Kam da zuweilen ein verlegner sekundärer
mit Schillers Werken, dem Geburtstagsgeschenk, unterm Arm. „Thut mir leid,
Schillers habe ich jetzt zu viel auf Lager — wenn Sie vielleicht einen gut
erhaltenen Goethe hätten, aber wie neu müßte er sein!" Einen Goethe hatte
der arme Junge freilich nicht, aber Kredit bei einem andern Buchhändler, und
so geschah es denn zuweilen, daß am selben Tage dasselbe Exemplar von Goethe?
Werken in einem Laden als neu gekauft wurde, im andern als alt verkauft und
von dem schlauen Antiquar wiederum als neu einem Besteller zugeschickt wurde,
der mit Gewalt 26 Prozent Rabatt haben wollte. Illib<zue sua tatir lidvlli!
Es bekam nicht etwa jeder Kunde zwanzig bis dreißig Prozent: soviel gebührte
mir den Gescheiten und Hartnäckigen; je weniger gerieben der Käufer war, desto
weniger Rabatt, und die ganz Dummen bezahlten gar mehr, als in den Kata¬
logen stand. Man sieht, unser Freund hatte Grundsätze, ganz moderne Grundsätze.
Die Polizei konnte ihn jedoch nicht ganz würdigen, sie wußte auch, daß er
verbotene politische Bücher unter dem Siegel der Verschwiegenheit verschaffte.
Sie hätte ihn gern unschädlich gemacht, aber die Weisheit biederer Wachtmeister,
die sich an Spitzbuben und Landstreichern gebildet haben, reicht nicht hin,
moralische Giftmischer zu fangen. Und so gedeiht denn dieser dunkle Ehren¬
mann immer noch, und wenn der geneigte Leser seine Firma wissen will, so mag
er nur in der pikante» Ecke des Anzeigenteiles unsrer Wochenblätter — einige
Fmnilienl'kälter eingeschlossen — nachsehen, dort steht auch sein edler Name von
Zeit zu Zeit.
Einen ganz andern Eindruck machte mir der zweite Buchhändler, von dem
ich hier reden will; er wollte sich anfangs nicht einmal zu zehn Prozent Rabatt
bequemen. Er war gelernter Buchhändler, hatte aber auch recht armselig als
Antiquar angefangen und sich langsam empvrgetampft; doch bald gehörte er zu
den verehrnngswürdigsten Vertretern seines Standes, Von Anfang an war er
sich seiner großen Verantwortlichkeit bewußt gewesen. Nie kaufte er Bücher
von Knaben, die noch kein Eigentumsrecht über ihre Bibliothek hatten; wo er
von Erwachsenen antiquarische Werke erwarb, suchte er nie aus der Verlegenheit
des Käufers deu niedrigsten Preis zu erpressen, sondern bot sogleich, was die
Bücher wirklich sür ihn wert waren. Nie gewährte er einem von der Büchcr-
kanfleidenschaft befallenen Jünglinge Kredit, nie verschaffte er Bücher, von deren
Schädlichkeit er überzeugt war; er bemühte sich stets, aus vortrefflichen Werken
seinen Nutzen zu ziehen, und sagte nie sein empfehlendes Sprüchlein über Böses
und Gutes, wie so viele Geschäftsleute, Die größten Verdienste erwarb er sich
aber als Verleger, und es ist kein Zweifel, daß er für den Fortschritt der
Wissenschaft mehr geleistet hat als zehn Durchschnittsprofessoren, Er gehörte
zu jeuer hochachtbaren Reihe vou Buchhändlern, die hervorragende Werke ver¬
legen, auch wo sie pekuniären Schaden voraussehen können. Erscheinen doch
viele Werke und Fachzeitschriften von größter Bedeutung jahraus jahrein
zum Segen unsers geistigen Lebens und zum Schaden ihrer Verleger! Selten
finden diese ihren gebührenden Dank, oft werden sie verspottet, „Wollen Sie
sich denn mit Gewalt ruiniren? fragte ich meinen Freund zuweilen, denken Sie
denn, daß Ihr neuester Verlngsartikel mehr als hundert Käufer findet?" —
„O, am andern Ende kommt schon wieder heraus, was ich hier zusetze, und
alle Sachverständigen sagen ja, das Buch sei notwendig und der Verfasser müsse
unterstützt werden. Freilich, fügte er dann lächelnd hinzu, die Berliner und
Leipziger Buchhändler, an die die Herren gern ihre größern Bestellungen richten,
um ein paar Groschen zu gewinnen, die können sich das nicht erlauben, die
müssen mit Büchern handeln wie andre mit Heringen und Gurken, Sehen
Sie, ich hätte nicht ebensogut Krämer werden können, wir haben eben anch
Ideale oder Steckenpferde. Lächeln Sie nicht über meine Kollegen, die vor
ihrer eignen Firma Ehrfurcht haben. Lassen Sie einmal alle idealistisch ange¬
hauchten Buchhändler mit einem Tage verschwinden, die Hälfte aller bessern
Literatur verschwindet zugleich! Niemand überlegt sich, daß wir der Seele des
Einzelnen und der Volksseele gerade so nützen und schaden können wie die
Apotheker dem Leibe, daß die Gesellschaft an unserm Gewerbe dasselbe Interesse
nehmen sollte wie an denen, die Arznei und Gift für den Körper feilhnbeu."
Wenn ich an die bekannten billigen Firmen in Berlin und Leipzig denke,
so fallen mir immer die großen Garderobengeschäfte ein, in denen man einen
Anzug für fünfzig Mark kaufen kann, der beim Schneider achtzig kostet. Ein
solches Geschäft versorgt jetzt einen Bezirk, in dem früher drei Tuchhändler und
zehn Schneider ihre Nahrung fanden. Es wird nach den Prinzipien der Neu¬
zeit geleitet: geringer Verdienst am einzelnen Stücke, riesige Ausdehnung des
Geschäftes, Akkord und möglichst weitgehende Teilung der Arbeit, rücksichtslose
Ausnutzung der Verhältnisse des Arbeitsmarktes, Anwendung der vollendetsten
Maschinen und möglichst weniger belebter Maschinen, denn zu Maschinen strebt
man auch die Handwerker von früher herabzudrücken. Thatsache ist, daß der
Rock immer billiger wird — je näher wir der sozialen Revolution kommen,
fügen einige hinzu.
Die Frage, von der wir ausgingen, hat sich bei der Betrachtung etwas
erweitert: in jeden: einzelnen Falle, wo wir etwas kaufen, sollen wir da im
eignen Interesse den niedrigsten Preis herauszupressen suchen, oder im allge¬
meinen Interesse dem Verkäufer einen angemessenen Verdienst gönnen? Egoismus
oder Altruismus? Materialismus oder Idealismus? Sollen wir uns vor
dem Kampfe uns Dasein, dem Kriege aller gegen alle, als vor einen, Natur¬
gesetze gehorsam beugen, oder in christlichem Geiste die göttlichen Gesetze in
unsrer Seele gegen die Triebe und das grausame Walten der Natur ius Feld
führen?
Daß unsre sozialen Zustände reformbedürftig sind, sehen allmählich die
Blindesten. Aber viele, und nicht die Schlechtesten, leben noch in dem Wahne,
ein großer Mann, ein Bismarck, könne allein die soziale Frage lösen. Wenn
sie seine Reden am Biertisch rühmen, meinen sie ihr Teil gethan zu haben.
Aber die soziale Not ist ein Inbegriff von hundert oder tausend Übelständen.
Die gewaltigen Schwierigkeiten brauchen gewaltige Menschen, Mannriesen wie
Bismarck; die meisten Hemmnisse des sozialen Friedens müssen durch gemein¬
same, unermüdliche Arbeit der Kleinen entfernt werde». Jeder, der eine Geld¬
börse hat, der Geld einnimmt und ausgiebt, ist berufen, an der Lösung der
großen Frage mitzuhelfen. Er muß nur lernen, in dem großen Schattenbilds
das man soziale Frage nennt, hundert kleinere greifbare, praktische Fragen zu
erkennen und diese 8ub sxsoiö aoterni zu betrachten. Eine dieser kleineren Fragen
heißt: Zehn Prozent oder zwanzig?
Wir stimmen dem Verfasser vollständig bei, sind
aber der Meinung, und sein buchhändlerischer Freund wird uns darin Recht
geben, daß auch das Fordern und Geben von zehn Prozent Rabatt vom Übel sei.
Das billig denkende Publikum sollte überhaupt bei dem knappen Budget, welches
es der Literatur gönnt, jeden Schacher für unanständig halten. Handelt es
denn an der Theaterkasse oder im Wirtshause um zehn Prozent? Die Gefahr
für den Buchhandel und damit für die Literatur, die Scixo betont, liegt nicht
allein in dem übertriebenen Nabattgeben einzelner Schleuderfirmeu, sondern darin,
daß man zu der Meinung gekommen ist, einen mäßigen Rabatt von zehn Prozent
müsse der Provinzialbuchhändler wohl auch geben können. Dies würde aber mit
Notwendigkeit dazu führen, daß die Bücherpreise durchgängig für deu Sortimenter
um zehn Prozent herabgedrückt würden (denn nicht nur der Baarzahler wird
den Rabatt für in der Ordnung halten, sondern auch der, welcher sich ein hübsches
Konto anschreiben läßt, der Menge wegen), und das könnte der Svrtimentcr
nicht aushalten. Es würde im Gefolge haben, daß der „idealistisch angehauchte
Buchhändler" dem Winkelgassenbibliopolen und dem Händler in, Gcirderobe-
gcschäft das Feld räumte.
l
adstone hat, wie angekündigt, seinen Gesetzentwurf in Betreff der
zukünftigen politischen Stellung Irlands dem Parlamente am
8, d, M, vorgelegt. Er macht darin den Vorschlag, zur Ver¬
söhnung der Jrlcinder in Dublin el» besondres Parlament zur
Erledigung gesetzgeberischer und administrativer Fragen, welche
Irland allein angehen, zu errichten. Wenn das geschehen, soll Irland weder im
Ober- noch im Unterhause Englands mehr vertreten sein, außer in dem Falle,
daß materielle Änderungen des jetzigen Vorschlages eingebracht würden. Die
fiskalische Neichseinheit soll erhalten bleiben. Das neue Parlament würde aus
zwei Klassen von Abgeordneten zusammengesetzt sein, deren erste aus dem 28
jetzigen Peers und 75 nach einem neuen Wahlmodus gewählten Vertretern be¬
stehen soll, während die zweite 103 uach dem jetzigen Wahlgesetze gewählte
Mitglieder zählen würde. Beide Klassen sollen gemeinsam beraten, aber getrennt
abstimmen können. Das irische Parlament darf nach Gladstones Plan sich nicht
in Fragen mischen, welche die Prärogativen der Krone, das Heer, die Flotte,
die kolonialen und die auswärtigen Angelegenheiten betreffen. Es darf ferner
keine besondre Kirche zur Staatskirche erklären. Handel und Schifffahrt, Münze
und Notenumlauf sind seiner Entscheidung entzogen. Eine Kontrole in Sachen
der Zölle und der Verbrauchssteuern soll das Parlament nicht üben dürfen.
Der Vizekönig darf Katholik sein, aber keiner Partei angehören. Die Richter
werden von der irischen Negierung ernannt, die Polizei verbleibt bis auf weiteres
unter englischer Oberaufsicht. Der Beitrag Irlands zu den ordentlichen Rcichs-
ausgabeu fall fortan nur ^ betragen, und zu den Kosten etwaiger britischer
Kriege soll es künftig nichts beisteuern.
Hierzu ist zu sagen: Das wäre also ein ziemlich beschränktes Home Unke;
aber ein besondres irisches Parlament wird, sei es wie immer gestaltet, befugt
und beschränkt, stets wo nicht sofortige Zerreißung der Union mit Großbritannien,
doch die Vorbereitung und den Anfang eines solchen Ereignisses bedeuten und
so eine schwere Gefährdung der Machtstellung und der Sicherheit sein, deren
sich das Vereinigte Königreich bisher erfreute. Das geht aber nicht bloß die
Engländer, sondern ganz Europa, ja die ganze Welt an, der es selbstverständlich
nicht gleichgiltig sein kann, ob das britische Reich künftig stark wie jetzt oder
schwächer als jetzt sein soll, und so erklärt es sich, wenn wir der Frage, deren
Lösung Gladstone versuchen will, immer von neuem unsre Aufmerksamkeit zu¬
wenden.
Gladstone glaubt deu Gedanken des Home Rule ohne Schaden verwirk¬
lichen zu können, wenn er den Befugnissen seines irischen Parlaments Be¬
schränkungen und Bürgschaften beimischt. Die Geschichte aber zeigt, daß er
damit irrt: die Erfahrung sollte die Engländer mehr als genügend belehrt
haben, daß sich gegen gefährliche Ausschreitungen irischer Gesetzgeber keine hin-
reichenden Sicherheiten ersinnen lassen. Man darf mit Bestimmtheit behaupten,
daß von dein ersten Augenblicke an, wo ein irisches Parlament zu tagen begann,
zwischen ihm und der englischen Exekutive sich Streitigkeiten über die Ausdehnung
der beiderseitigen Rechte und Pflichten entwickelten. Gehen wir in die älteste
Zeit der Verbindung Englands mit Irland oder der Herrschaft des erstern über
das letztere zurück, so sehen wir, daß die Landtage, welche der Souverän bald
in Dublin, bald in Kiltenny, bald in Drogheda, gelegentlich auch in London
versammelte, nicht Parlamente im jetzigen Sinne des Wortes waren; denn die
ordentlichen Einnahmen Irlands kamen der Krone nach vererdenden Lehnrecht
von selbst zu, sie brauchten also nicht alljährlich oder überhaupt periodisch be¬
willigt zu werden. Diese Parlamente der Zeiten, in welchen die Eduards und
Heinriche herrschten, waren bloße Konvente von Vertretern der englischen Ein¬
wandrer und Ansiedler in Irland, unregelmäßig in ihrer Zusammensetzung, sowie
in der Zeit und dem Orte ihres Zusammentrittes und ohne die Eigenschaften
gesetzgebender oder auch nur beratender Körperschaften. Und doch machten selbst
diese wenig bedeutenden Parlamente den Engländern, als die Kriege der britischen
Rosen wüteten, wiederholt arge Not. Je nachdem die Partei Jork oder Lcmmster
obenauf kam oder sank, herrschte in Irland die eine oder die andre, die eine
widerrief nicht nur die Gesetze, welche die andre beschlossen hatte, sondern zog
auch die Güter ein, welche den Mitgliedern der andern gehörten. Einmal gab
es sogar zu einer und derselben Zeit zwei irische Parlamente, eins von der
Partei der Weißen und eins von der Partei der roten Rose. Im Jahre 1486,
also vor genau vierhundert Jahren, erklärte sich das irische Parlament für deu
politischen Betrüger Lambert Simmel und ließ ihn in der Dubliner Christus¬
kirche als Richard den Sechsten zum Könige von England und „Herrn" von
Irland krönen. Dies führte nach Unterdrückung dieser Rebellion zum Erlasse
der sogenannten Poyningsatte, welche die Selbständigkeit des irischen Parlaments
sehr einschränkte. Um nämlich den damals tiefgesunkeneu Einfluß Englands in
Irland wieder zu heben, schickte Heinrich der Siebente den Sir Eduard Pohnings
als Lordstatthaltcr mit Heeresmacht nach der Insel, und dieser gab der Ver¬
fassung derselben eine Gestalt, nach der es dem irischen Parlamente nur mit
Genehmigung des Königs von England oder dessen Stellvertreters gestattet war,
sich zu versammeln, und nach der die Landesvertretung nur solche Gesetzvorschläge
beraten durfte, welche die englische Regierung vorher geprüft und gutgeheißen
hatte. Dieser Akte folgten verschiedne andre, die gleichfalls den Zweck hatten,
die Versammlungen der weltlichen und geistlichen Lehnsleute und der Vertreter
der Städte Irlands an Beschlüssen zu verhindern, welche Gefahren für die
übrigen Teile des Reiches enthielten. Ein späterer Erlaß Heinrichs des Siebenten
erklärte die englischen Statuten zum obersten Gesetze auch für Irland, ähnlich
wie in der nordamerikanischen Union die Akten des Kongresses als Gesetze gelten,
gegen welche die Akten der Einzelstaaten nicht verstoßen dürfen. Unter der
Regierung Georgs des Ersten wurden die Rechte des irischen Oberhauses ein¬
geschränkt. Gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts gab es sechsund-
zwanzig Jahre hindurch überhaupt kein irisches Parlament. Im Jahre 1753
erhoben sich heftige Streitigkeiten zwischen der inzwischen wieder ausgelebten
Vertretung Irlands und der Krone, da die Mitglieder jener Vertretung über¬
schüssige Einnahmen des Landes schamlos zu ihrem Privatvorteile verschwendete».
Kurz vor dem letzten Dezennium des vorigen Jahrhunderts legte das
irische Parlament wiederholt an den Tag, daß es den Interessen Englands
feindlich gesinnt war, freilich in vielen Beziehungen nicht ohne gute Gründe
dazu zu haben. Mit der Erhebung der amerikanischen Kolonien hatte anch in
Irland eine völlig neue Entwicklung der politischen Dinge begonnen. Bis
dahin hatte das Parlament nur die Nachkommen der englische!? Eroberer und
Einwanderer vertreten, die überhaupt allem politische und religiöse Rechte be¬
saßen. Die keltische und katholische Bevölkerung des Landes war so gut wie
rechtlos und besitzlos. Jetzt erwachte in ihr die Hoffnung auf Befreiung von
diesem Zustande lebhafter als je vorher. Zugleich aber gedachte jener allein
begünstigte, aber immerhin von England bedrückte Teil des Volkes Irlands
sich mehr Rechte zu verschaffen. War man nicht auch eine Kolonie wie Massa¬
chusetts und Virginien, und hatte man nicht auch die Fesseln eines falschen
Mertantilsystems zu sprengen, das Recht zu eigner Erledigung seiner Angelegen¬
heiten ohne britische Bevormundung zu fordern und die Grundsätze der Freiheit
selbst zum Vorteile der nicht stammverwandten und andersgläubigen Landsleute
zur Geltung zu bringen? Die Bewegung nahm bald aufrührerische Gestalt an.
Da der Krieg mit Nordamerika das Land von Truppen entblößt hatte, beschloß
das Parlament in Dublin schon 1779 die Bildung von Freiwilligenkorps, und
Tausende ohne viel Unterschied des Glaubens griffen zu den Waffen, mit denen
sie aber nicht sowohl ausländischen Feinden, als dem Ministerium in London
gefährlich zu werden drohten. Die Führer der amerikanischen Insurgenten be¬
anspruchten in einer Adresse an die Jrländer deren Sympathien, „Wir haben,
sagten sie darin, keinen Streit mit euch, euer Parlament hat uns kein Unrecht
zugefügt." Und Grädten, der begabteste und eifrigste Wortführer der irischen
BewegnngSpartei, antwortete ihnen indirekt, indem er Flvod, der für die Krone
aufgetreten war, wegen seiner Feindschaft gegen die Amerikaner tadelte, „von
denen allein Freiheit für Irland zu hoffen sei." Als ein Offizier lieber sein
Patent aufgab als gegen die transatlantischen Rebellen diente, sprach ihm die
Stadt Dublin durch ihre Vertreter ihren Dank aus. Das Ministerium North
mußte nachgeben. Es bewilligte zunächst ökonomische Reformen, Aufhebung der
Handelssperre, welche die Quellen des irischen Wohlstandes selbst gegen Eng¬
land verstopft hatte, denn parlamentarische, die auch im Parlamente Englands
und Schottlands durch die Jrlünder Burke und Sheridan befürwortet wurden.
1782 gewährte die geängstigte Negierung durch Widerruf der Statuten aus der
Zeit der Tudors und der Akte Georgs des Ersten eine Reform, nach welcher
das Dubliner Parlament hinfort dem Londoner ebenbürtig und nicht mehr wie
bisher von diesem abhängig sein sollte. Das war ein Zugeständnis, welches
zwei gesetzgebende Versammlungen mit dem Rechte der Entscheidung über Krieg
und Frieden nebeneinander uuter die Krone stellte, eine Ordnung, welche not¬
wendig über kurz oder lang zu vollständiger Trennung oder vollständiger Ver¬
einigung führen mußte. 1785 sagte der irische Schatzkanzler: „Die Dinge können
nicht bleiben, wie sie sind. Es ist kommerzielle Eifersucht erwacht, und dieselbe
wird bei zwei von einander unabhängigen gesetzgebenden Körperschaften zunehmen.
Trennung der Interessen bedroht uns mit Auflösung des politischen Zusammen¬
hanges, die jeder rechtschaffene Irländer als mögliches Ereignis mit Schauder
zu fürchten hat." Und fünf Jahre später fragte Grädten selbst: „Was hat
unsre neue Verfassung hervorgebracht? Irgendwelche große und gute Ma߬
regel? Nein. Nur ein Stadtpolizcigesetz, ein Preßgesctz, eine Aufruhraltc, be¬
deutende Vermehrung der Pensionen, vierzehn neue Sitze für Parlamentsmit¬
glieder und deu schändlichsten Verkauf von Peerswürden." Irland war als
selbständiger parlamentarischer Staat unfähig, mit den ihm gewährten Mitteln
sich ans sich selbst zu verjüngen. Bezeichnend ist, daß aus dem Dubliner Par¬
lamente kein eignes Ministerium hervorging wie ans dem Londoner, daß dieses
vielmehr die Regierung in Irland weiterführte. Pitt faßte, als er erster Mi¬
nister wurde, die vollständige politische Vereinigung beider Länder als das einzige
Heil ins Auge. Aber Jungirland durchkreuzte, berauscht von den scheinbaren
Erfolgen im eignen Parlamente, schon die Einleitung zur Allsführung dieses
Gedankens und warf sich später der Opposition der Whigs in die Arme. Die
englische Regierung griff daher, um den Gefahren des Dualismus zu begegnen,
zu dem verfänglichen Mittel, das Dubliner Ober- und Unterhalts durch gro߬
artigste Bestechung zu bewegen, hinfort sich Nieder mit den Klagen der keltisch
katholischen Bevölkerung noch mit den vorwaltende» Sonderinteressen Englands
zu befassen. Eine der Folgen hiervon war, daß der nationalirischc Teil des
Volkes in Verzweiflung verfiel. Die Lage Irlands war in der letzten Hälfte
der achtzehn Jahre von Grattans Parlament eine furchtbare. Die Distrikte des
platten Landes waren durch Fehden agrarischer und konfessioneller Art beun¬
ruhigt, die zahlreiche Verbrechen gegen Leben und Eigentum bezeichneten. Weder
politische Zufriedenheit noch soziale Sicherheit wollte sich einstellen. Dazu kam
die Einwirkung der Umwälzung in Frankreich, Zuerst waren es Presbyterianer
und Dissidenten, welche Feuer fingen, dann ergriff die Glut auch einzelne ka¬
tholische Verbindungen, Bald ahmte der Bund der Iliiitvä Irislurrui,, der
sich rasch über das ganze Land verbreitet hatte, mit allen Kräften die Pariser
Jakobiner nach, allen Mitgliedern voran der Protestantische Advokat Wolfe Tone,
der wie Hannibal den Feinden seines Volkes Tod und Verderben geschworen
hatte und mit seinen Gesinnungsgenossen rastlos auf die Losreißung von Eng¬
land und die Errichtung einer irischen Republik hinarbeitete. Die Verschwörung
brach endlich in der entsetzlichen Rebellion von 1798 ans, welche das Land mit
Blut überschwemmte und mit rücksichtsloser Grausamkeit niedergeschlagen wurde.
Das waren die Folgen eines irischen Svuderparlaments, welches Grattan und
seine Anhänger anfangs befriedigte, aber weder die Republikaner des Nordens
beruhigte, noch die Katholiken zufriedenstellte und niemals imstande war, der
unglücklichen Insel gesetzliche Zustände zu sichern.
Hierbei darf nicht außer Acht gelassen werden, daß dieser im vorigen Jahr¬
hundert unternommene Versuch, Irland sich selbst regieren zu lassen, unter viel
günstigern Umständen gewagt wurde, als die sind, über welche Gladstone jetzt
verfügen kann. England besaß damals eine Exekutive, die nicht nur durch deu Ein¬
fluß der Krone, sondern auch durch ihre Beziehungen zu einem irischen Parla¬
mente stark war, wo die Mehrheit der Sitze sich durch Kauf erwerben ließ. Die
irischen Parlamentsmitglieder waren allesamt Protestanten und meist von eng¬
lischer Abstammung, an die Verbindung mit England durch Baude der Loya¬
lität, der Religion und des Blutes geknüpft. Sie blickten auf die Engländer,
weil sie deren Unterstützung zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft über die
Katholiken der Insel wünschte,, und hofften. Und doch empfanden die letzter,,,
daß Grattans Parlament, solange es bestand, ihnen ein Pfahl im Fleische war.
Dasselbe war in Betreff der Rechte des Prinzen von Wales auf die Regentschaft
völlig andrer Meinung als die Mehrheit des Londoner Parlaments, und es zeigte
sich bei jeder Gelegenheit als erfüllt von einem Geiste aggressiver Feindschaft gegen
England. Wem, dies, so dürfen wir jetzt fragen, am grünen Holze geschah,
was wird am dürren geschehen? Die Mitglieder des neuen irischen Parlaments
werden zu zwei Dritteln katholisch sein. Es wird die Krönung und das Shmbol
einer erfolgreichen Verschwörung oder mehrerer, der Fenier und der Landliga,
sein. Es wird die freundschaftlichen Veziehuugen zu den amerikanischen Jrländern,
Englands bittersten Gegnern, wo nicht offen, so doch insgeheim unterhalten.
Wem, Grattans Parlament den Unitoä IriswriLQ nicht genügte, glaubt jemand,
daß Gladstones Parlament, das auf dem Papier weit mehr beschränkt ist, in
Irland auf die Dauer sich größer» Wohlgefallens erfreuen wird? Die Loha-
litätsversicherungeu der damaligen Pnrlameutsführer wurden von Lord Fitz¬
gerald und Wolfe Tone zurückgenommen. Ist ähnliches jetzt nicht zu erwarten?
Was zwang Gladstone,, Parnell zu Willen zu sein? Daß dieser jenem nud der
ganzen liberalen Partei bei den letzten Wahlen den Krieg erklärte und sie mit
dem Verluste von liberalen Parlamentssitzen bedrohte? Werden die Irländer
sich das nicht merken und sofort nach dem Zugeständnis eines beschränkten
Home Rule eine neue Bewegung für deu Abbruch der Schranken beginnen?
Welcher zukünftige Staatsmann wird den Mut besitzen, der Gladstone und
seinen Amtsgenossen fehlt? Die Ära der Pitt und Castlereagh ist in England
vorüber, und es ist kaum zu hoffe», daß, wenn die Früchte des Baumes reifen,
den Gladstone jetzt pflanzen will, wenn sich neue 1'»!>>>>! Irislrmvu bilden, ein
neuer Wolfe Tone aufsteht, und eine neue Rebellion mit separatistischen und
republikanischen Zielen ausbricht, sich wiederum der rechte Mann finden werde,
Englands Interessen erfolgreich wahrzunehmen.
ringende Geschäfte am Büffet haben mich abgehalten, in der De¬
batte über das Svzialistcngesetz mein Wort in die Wagschale zu
werfen. Aber zu meiner Beruhigung darf ich mir sagen, daß
mein Schweigen der guten Sache nicht geschadet hat, sie war
durch meinen Freund Bamberger so gut vertreten, daß selbst ich
es nicht hätte besser machen können. So bleibt mir nur übrig, den glänzenden
Triumph unsrer Partei auch in dieser Frage zu konstatiren. Das merkwürdige
Gesetz, mit welchem alle Parteien ohne Unterschied zufrieden sind, ist glücklich
durchgebracht, ohne daß wir nötig gehabt hätten, für dasselbe zu stimmen, und
wir konnten die Negierung nach Herzenslust necken und ärgern und die Sozicll-
dcmvkratcn uns zu Freunden machen: mehr kann man auf einmal nicht ver¬
langen! Eigentlich, meine Herren, wäre jetzt die Gelegenheit zu einem großen
parlamentarische» Versöhnnngsbankctt, denn die Majorität glaubt das Bollwerk
gegen die Feinde der Ordnung neu befestigt zu haben, die Partei Bebel-Singer-
Sabor versichert, daß das Gesetz ihre Geschäfte besorge, und wir, nun, daß wir
das Gesetz eingebracht haben würden, wenn uns die Regierung nicht die Mühe
abgenommen hätte, das werden Sie mir wohl aufs Wort glauben. Seit langem
haben wir uns in keiner so angenehmen Situation befunden. Vor den Herren
auf der Negierungsbank brauchen wir uns nicht zu fürchten, aber es giebt andre
Svzii, die Herren Sozianarchisten, und mit denen ist nicht gut Kirschen essen.
Herr Liebknecht hatte ja die kollegiale Freundlichkeit, uus vor der Rache seiner
Anhänger zu warnen. In dem Punkte haben wir uns nun salvirt, vorderhand
wenigstens. Für die Zukunft möchte ich mich nicht zu fest auf den Schutzbrief
verlassen, den wir uns durch unser Votum gegen das Gesetz verdient haben,
wenn die Herren einmal die Gewalt in die Hände bekomme» sollten, wurden
sie, fürchte ich, ein schlechtes Gedächtnis für unsre Freundschaftsdienste an den
Tag legen. Indessen will ich mir nicht mit Sorgen für die Zukunft Laune
und Appetit verderben. Auch darf ich mir schmeicheln, eine zu wenig bedeutende
Persönlichkeit zu sein, als daß der einstige Wohlfahrtsausschuß sich gerade mit
mir befassen würde. Und was meine „politischen Freunde" betrifft, so kann
ich mir das Schauspiel sehr erhebend denken, wie sie nach dem Greveplatz fahren
und Herr Professor Hänel anstimme:
Roni-ir ponr in. x»>ti'is
L'ost 1o sort lo xlus boiui, 1v plus ckiMv ü'onviv!
Und ich werde gewiß nicht der einzige sein, der ihnen in bescheidener Ver¬
borgenheit eine Thräne nachweint und seufzt: Ihnen ist Wohl, doch mir ist
besser.
Entschuldigen Sie diesen Herzenserguß eines Mannes, der nicht nur Volks¬
vertreter, sondern auch Rentner und Familienvater ist. Man hat ja nur einmal
ein Leben zu verlieren, und auch wenn die Geschichte weniger ernst werden
sollte, so gehört schon eine Tracht Prügel, gleichviel ob von den Fünften der
Schergen der Gewalt oder der Soldaten der „Freiheit," zu den weniger an¬
genehmen Erlebnissen und wird einem von niemand wieder abgenommen.
Machen Sie jedoch keinen Gebrauch davon, ich werde den bisherigen Teil
meiner Rede im stenographischen Berichte einer gründlichen Korrektur unter¬
ziehen.
Also, meine Herren, das Gesetz, unter welchem der Weizen unsrer sozial¬
demokratischen Freunde, ihrer wiederholten Versicherung zufolge, aufs üppigste
blühen, und derselbe Weizen nach der Ansicht unsrer Gegner elendiglich ver¬
dorren wird, das Gesetz ist wieder fertig; wir aber, die Alleinklarblickenden,
sagen: es ist überflüssig, daher schädlich. Es ist überflüssig, erstens, weil es
überhaupt keine Sozialdemokratie giebt, zweitens, weil die Sozialdemokratin!
keine Anarchisten sind, und drittens, weil es auch leine Anarchisten giebt. Da
wird ein großes Wesen aus den unbedeutenden Vorgängen in Belgien gemacht.
Was ist denn dort geschehen? Es ist, wie mein Freund Bamberger treffend
hervorgehoben hat, nicht der Rede wert. Eine Fabrik und einige wenige
Schlösser wurden zerstört, das kommt ja jeden Tag vor und gehört eben zum
Handel und Wandel. Handelte es sich um ein Schloß und einige Fabriken,
so läge die Sache schon ein wenig anders, namentlich wenn die Besitzer zu den
Unsern, zu unsern Leuten zählten. Aber dort hat die Unannehmlichkeit ja
wahrscheinlich Ultramontaue getroffen, auf jeden Fall Christen — was gehen
uns die an? Wir sind fortgeschritten, wir fragen nicht darnach, was einer
glaubt, sondern nur, ob er überhaupt so verworfen ist, einen Glauben zu haben.
Nun weiter. Sie meinen, aufgesetzte Arbeiter hätten sich die unschuldigen
Scherze erlaubt? Weit gefehlt! Zum Teil die Besitzenden selbst, zum Teil
irgsuts xrovoo^tsurs. Es ist hohe Zeit, dies festzustellen, damit die Geschicht¬
schreibung nicht um eine neue Fabel bereichert werde. Die Zahl der Geschichts-
lügeu ist ja ohnehin schon so groß. Wird nicht fort und fort, um politische
Kinder gruselig zu machen, von der sogenannten französischen Revolution ge¬
sprochen wie von einer Zeit des Schreckens? Und wenn wir genau zusehen,
was ist schreckliches verübt worden? Man hat ein Herrscherpaar hingerichtet,
den Thronfolger zu Tode gemartert, höchstens hunderttausend Menschen ge¬
mordet, Frankreich verwüstet, und diese Kleinigkeiten sind von dem damaligen
Wolffschen Telegraphenbürean zu einem Schauergemälde aufgebauscht worden.
Aber das wurde und wird hartnäckig verschwiegen, das das Ganze ein Werk
der gMirtL pi'0Vit0!it,our8 war. Und der Beweis ist doch längst geführt, daß
Fouquier-Tinville, der große Ankläger, unter dem Despotismus Polizeispion
gewesen war. Der hat alles eingerührt, um die tugendhaftesten Männer aller
Zeiten zu verderben und in schlechten Ruf zu bringen.
Allein was wundere ich mich denn über die Fälschung einer Geschichts¬
periode, die fast um hundert Jahre von uns entfernt ist, da doch unmittelbar
nach den glorreichen Tagen der Pariser Kommune die albernsten Märchen auf
deren Kosten erfunden und verbreitet werden konnten! Einer erzählte dem andern
nach, daß das Stadthaus eingeäschert worden sei, und doch steht es, wie jeder¬
mann sich überzeugen kann, unversehrt da, wie neu. Die Tuilerien, nun ja;
allein es war ein Akt der höchsten Gerechtigkeit und Weisheit, jenen Schauplatz
der Tyrauuenwirtschaft vom Erdboden zu vertilgen. Hätte man das Haus der
Schande stehen lassen, wie leicht könnten sich die alten Greuel wiederholen!
Das ist nun unmöglich gemacht. Und wie abgeschmackt, den Rändern der Frei¬
heit und Ehre Frankreichs einen besondern Vorwurf daraus zu macheu, daß
sie sich dabei des Petroleums bedient haben! Hat man denn den armen Leuten
etwas andres gelassen? Wachslichter sind das Privilegium der Reichen, der
Bedrücker und Aufhänger. Von den wenigen Füsilirnngen will ich garnicht
reden. Das Volk hatte gerichtet, und das Volk, wie Ihnen bekannt sein dürste,
richtet immer gerecht, irrt niemals! denn die Menschen, welche sich in den Dienst
reaktionärer Ideen begeben, sind eben kein Volk mehr. Und endlich haben auch
damals die Polizeiagenten das meiste gethan, und das Wolffsche Korrespondenz-
bürecm hat alles übertrieben.
So! Nun darf ich wohl erwarten, von Herrn Liebknecht ein Zeugnis zu
erhalten, welches von seinem Volke respektirt werden wird, wenn dieses seiner
Aufforderung nachkommt, die Abgeordneten für ihre Abstimmung persönlich zur
Verantwortung zu ziehen. Ich bin nicht unbescheiden, ich weiß, daß mir der
„Geist" des Herrn Bamberger, die Liebenswürdigkeit des Herr» Richter, der
staatsmünnische Blick des Herrn Virchow, die Weisheit und Anmut des Herrn
Rickert, der attische Witz des Herrn Dirichlet nicht verliehen sind. Doch was
den wahren, den fortschrittlichen Patriotismus anlangt, räume ich keinem von
ihnen den Vortritt ein. Auf diese Art vou Patriotismus legt ja auch Herr
Liebknecht großen Wert, und falls er ihn bei den genannten Herren nicht ganz
prvbeholtig finden sollte, so nehme er sie meinetwegen hin. Nur an mir bitte
ich ihn uicht zu zweifeln, ich mache mich verbindlich, für alle Anträge der sozial-
demokratischen Partei zu stimmen, solange dieselben keine Aussicht haben, durch¬
zugehen. Die Eingangssätze meiner heutigen Rede wolle er gefälligst vergessen,
ich ziehe sie hiermit in aller Form zurück.
5rotz der vorgerückten Abendstunde und des frischern Hauches, der
ans den schattenreichen Gärten durch die geöffneten Fenster hereiu-
wehtc, war es in den Prachtsälen des Palastes schwüler und
schwüler geworden. Die Fächer der Damen zeigten sich in un¬
ablässiger Bewegung, und den kühlenden Getränken, von zahlreichen
Dienern ans goldnen Platten umher geboten, ward häusiger zugesprochen als
bei andern ähnlichen Gelegenheiten. Wie eine buutschillcrude, träg bewegte Flut
wogte die Menge der Gcladncn zu dem Saale heran und von ihm hinweg, in
welchem König Sebastian verweilte. Es gab genug unter den Gästen des
Königs, die seit einer Stunde zehnmal gegangen und gekommen waren und
deren Augen doch immer auf das gleiche Bild fielen. Denn wenn auch der
jenige Herrscher von Zeit zu Zeit einen der Auf- und Abwandelnden zu sich
heranrief, ja wenn er ein- und das andremal an der Reihe der sitzenden Damen
entlang ging, so wandte er sich nach kurzem Gespräch wieder und wieder zu der
Herzogin von Bragcinza und der Gräfin Palmeirim. Die umsichtige Herzogin
hatte sich vergeblich bemüht, für sich und ihre Pflegebefohlene einen Platz in der
schimmernden Reihe zu behaupten. Der Wunsch des jungen Fürsten, mit der
jungen Gräfin ungehemmt und ungehindert zu sprechen, war nur zu wohl ver¬
standen worden, unmerklich hatten ältere und jüngere Damen ihre Sessel zurück¬
gerückt, sodaß sich der Abstand zwischen ihnen und der Herzogin immer erweitert
hatte. Je weniger die nächstsitzenden ans diese Weise von der Unterredung Dom
Sebastians und Katarinas zu erlauschen vermochten, umso gespannter ruhten alle
Blicke auf den Zügen des Königs und dem Mienenspiele des schönen Mädchens.
Der freudige Schein, der bis vor wenigen Minuten das Gesicht Sebastians
erhellt hatte, war jetzt verschwunden, der jugendliche Herrscher sah noch immer
mit glänzenden Angen ans Catarina, aber um seinen Mund zuckte es halb zornig,
halb wehmütig, und man sah deutlich, daß er eifrig und eindringlich zu der
jungen Gräfin sprach. In der That hatte Catarina den König durch einige
Worte über seiue kriegerischen Pläne leidenschaftlich erregt.
Um aller Heiligen willen, könnt Ihr in Wahrheit daran zweifeln, daß es
Gottes Stimme sei, die mich gegen Marokko ins Feld ruft, auch wenn Ihr
Recht hättet, daß die verschwuudnen Pilger Betrüger wären? Ich träumte, daß
jedermann in meinem Reiche mir Sieg und Glück wünsche, und Ihr — gerade
Ihr, Gräfin Catarina, verschließt Eure Seele gegen das heilige Vorhaben, das
die meine bis zum Zerspringen erfüllt?
Eure Majestät weiß, daß ich ihr hundert Siege und die höchsten Ehren
aus der Tiefe meines Herzens wünsche, entgegnete Catarina. Daß ich vor den
Gefahren zittre, nach denen Euch verlangt, Herr, das müßt Ihr der Schwäche
des Weibes verzeihen; würdet Ihr es gut heißen, mein König, wenn ich nicht
um Euch bangte?
Es kann mir kein Haar meines Hauptes gekrümmt werden! sagte der König
mit feierlich schwärmerischem Tone. Gottes Hand, die mich über das Meer
weist, wird sich anch schirmend über mich breiten, daran zweifelt Ihr doch nicht,
Herrin?
Ich flehe zur heiligen Jungfrau darum! erwiederte das junge Mädchen
hastig. Aber Ihr habt die schwere Pflicht auf meine Seele gelegt, Euch die
Wahrheit zu sagen, soweit ich sie kenne. Ich darf Euch nicht verhehlen, Herr,
daß ich nicht allein zittre. Hunderttausende in Euerm Lande bürgen davor, daß
Eure Majestät über das Meer geht, das Land ohne Schutz läßt. Die Zukunft
liegt nicht hell und glorreich vor ihren Angen, und sie wagen zu denken, daß
es die erste Pflicht des Königs sei, des Landes Zukunft zu sichern —
Catarina verstummte plötzlich, und ihre Augen, die dem forschenden und
vorwurfsvollen Blicke des Königs kühn begegnet waren, senkten sich zu Boden.
Ein Lächeln der Herzogin, das aufblitzte und verschwand, brachte ihr zum Be¬
wußtsein, daß gerade sie uicht mehr sagen dürfe, wie sehr sie auch ihr selbstloser
Eifer dazu anspornen mochte. Es überwallte sie heiß bei dein Gedanken, daß
sie schon zuviel gesagt habe, doch war sie zu erregt, um das Gespräch mit einer
leichten Wendung abbrechen zu können.
Dom Sebastian, welcher einige Augenblicke auf ein weiteres Wort des
Mädchens geharrt hatte, sagte jetzt lauter als zuvor und auch den gespannt
lauschenden nächsten Umgebungen Vollkommen verständlich:
Der König denkt wie die Hunderttausende, von denen Ihr sprecht, schöne
Herrin, er wird den Boden Afrikas nicht betreten, ohne zuvor für seines Landes,
seines Hauses Zukunft Sorge getragen zu haben! Dann aber, Donna Catarina,
wie denkt Ihr dann über die Heerfahrt nach Marokko und den heiligen Krieg?
Erhabner Herr, antwortete Catarina, und so sehr sie nach Fassung rang,
so Wenig vermochte sie jetzt ein Zittern zu verbergen, was kommt in so ernster,
so heiliger Frcige auf die Stimme eines Mädchens an? Ich hege mir einen
Wunsch, wenn ich die Gefahr von Eurer Majestät geheiligten Haupte nicht mit
meinem armen Gebete abzuwenden vermag, sie zu teilen. Aber Ihr, Herr, Ihr
müßt zuvor die Stimme Euers Volkes hören!
Und wie soll ich sie hören? fragte Dom Sebastian fast ungeduldig. Soll
ich wie Harun-Al-Raschid, der Ungläubige, verkleidet Lissabon oder ganz
Portugal durchstreifen? Soll ich die Cortes berufen und ihnen den großen
Plan vorlegen, der nur gelingen kann, wenn er mein und meiner vertrautesten
Räte Geheimnis bleibt?'
Herr, ich weiß Euch auf solche Fragen nicht zu antworten, flüsterte Catarina.
Ich weiß nur, daß ich um Euch bange und gern an jedes Haus und jede
Hütte klopfen möchte, damit das Herz Portugals, das für Euch schlagt, statt
meiner Euch Antwort gäbe. Seht dort, Herr, dort steht Luis Camoens! Ihr
habt es selbst schon gefühlt, daß er wie kein Zweiter das Schicksal und den
Nuhm unsers Landes in der Seele trägt. Laßt ihn reden, fragt ihn, ob der
Zug uach Afrika Euch und dem Lande Heil bringen kann, erkennt seine Stimme
für Eures Volles Stimme, Herr!
Der König ließ seinen Blick von Catarina Palmeirim über den schimmernden
Kreis, welcher ihn umgab, hinweggleiten und einige Zeit fest auf Luis Camoens
verweilen. Dabei sagte er jetzt wieder leiser, unhörbar wie vorhin: Ihr habt
in kurzer Frist den Dichter hochhalten lernen, Donna Catarina. Soviel ich
weiß, fast Ihr ihn am gleichen Abend mit mir zuerst?
Gewiß, Eure Majestät, entgegnete Catarina unbefangen. Aber Senhor
Luis Camoens war mir kein Fremder mehr von dem Augenblicke um, wo ich
erfuhr, daß er meine Mutter gekannt und sie hoch verehrt hat. Ich danke ihm
zudem, daß er die Maurin Esmah retten half, und habe in der Stunde, wo er
sich um Beistand für sie um mich wandte, erprobt, daß er reinen Herzens wie
ein Kind ist. Was Euch aus seinem Gedicht entgcgcntönt, wird Wahrheit sein!
Senhor Luis mag sein Glück preisen, das ihm eine Meinung gewonnen
hat wie die Eure, Donna Catarina! Nicht alle, die gleichen Glückes wert sind,
erringen dasselbe. Euer Dichter will mir sein großes Gedicht zueignen, aus
ihm werde ich also die Stimme vernehmen, der Ihr so hohen Wert beilegt
und die ich schon um Euretwillen nicht geringschätzen darf. Mein Vertrauen
ruht dennoch mehr auf Euch als ans ihm, Herrin! Fragt Euer eignes Herz,
ob Ihr dem König helfen wollt, seine ganze Pflicht gegen sein Land zu thun,
ob Ihr, wenn er sie gethan hat, ihm den Heerzug nach Afrika auch dann noch
widerraten oder Glück und himmlischen Lohn desselben teilen wollt. Ich trage
es nicht länger, daß Ihr der entscheidenden Antwort ausweicht, Catarina, und
wenn Ihr Sebastian nicht hören wollt, wird Euch der König gebieten müssen,
Euch zu entscheiden.
Ehe Catarina ein Wort zu erwiedern vermochte, erhob sich die Herzogin
von Vraganza, welche der ganzen Unterredung und namentlich der letzten leiden¬
schaftlichen Ansprache des Königs mit halber Befriedigung und halbem Unmut
gelauscht hatte. Sie faßte mit großer Würde die rechte Hand ihrer schönen
Pflegebefohlenen und neigte sich ehrfurchtsvoll vor dem jungen Herrscher:
Die Antwort, die Eure Majestät begehrt, kann die Gräfin Palmeirim Euch
heute und hier nicht geben, allergncidigster Herr, Wenn es Euch gefallen sollte,
die Frage in meiner Wohnung zu wiederholen, nachdem Eure Majestät im
Staatsrat ihren unerschütterlichen Entschluß verkündet hat, Portugal eine
Königin zu geben, so wird dein König die Antwort werden, die ihm und
uns ziemt.
Catarina schien sich der mütterlichen Beraterin völlig zu überlassen. Sie
stand blaß und lautlos auf den Arm der Herzogin gestützt in der Mitte des
glänzenden Kreises und dem König gegenüber. Sie fühlte, daß die Angen von
mehr als dreihundert Menschen, welche sich im Saal und an den offene» Thüren
aller Nebenräume drängten, auf sie gerichtet waren, der schimmernde Ring um
sie und den König ward enger und enger, die Decke des Saales über ihr schwankte,
und die schwüle Luft und die heißen Wohlgerüche verdichteten sich zu einem
farbigen Nebel. Es war ihr, als ob sie aus diesem Nebel heraus nur noch
Dom Sebastian sehe. Der Blick des Königs hing noch immer an ihren bleichen
Lippen, zugleich aber klang die Stimme der Herzogin in ihr Ohr:
Komm, komm, mein Kind — Seine Majestät gewährt uns gnädigst Urlaub.
Du hast Ruhe und ein stilles Gebet zu deinen Schutzheiligen nötig. Der König
fordert nicht, daß wir jetzt hier verharren!
Die Herzogin faßte die Hand des zitternden Mädchens fester in die ihre
und zog Catarina ein paar schwankende Schritte hinweg. Die junge Gräfin
brachte auch jetzt keine Silbe hervor, aber in ihren Augen leuchtete ein Schimmer
auf, der des Königs Züge wieder erhellte, ohne Wort hatte die Scheidende ihn
wissen lassen, daß ihr Leben ihm gehöre.
Gute Nacht, Frau Herzogin — gute Nacht, Gräfin! rief Dom Sebastian
mit so lauter Stimme, daß seine Worte überall in dem weiten Raume gehört
wurden, in welchem mit einem male das hundertstimmige Gespräch und selbst
das Rauschen der Gewänder und Fächer verstummt war. Gute Nacht und auf
Wiedersehen morgen! Im Tone des Königs war ein Aufjauchzen, ein Heller,
silberner Klang von Glück und Hoffnung unverkennbar, die Männer, welche den
jungen Herrscher genauer kannten, sahen einander bedeutsam an, Casalinho, der
Jägermeister, flüsterte dein Grafen Vimioso zu: So hell, so lustig horte ich
sonst seine Stimme nur auf der Jagd, wenn er eine große Gefahr siegreich be¬
standen hat!
Die Wirkung!des frohen Klanges aber ward augenblicklich und weithin
sichtbar. Sowie die Herzogin >ab Gräfin Catarina jenem Ausgang der Fest-
Seite zugeschritten waren, der in der Richtung des von ihnen bewohnten Palast-
flngels lag, teilte sich der bunte Schwarm in zwei dichte Reihen, die Nacken
und Rücken der meisten, die hier standen, beugten sich tiefer und ehrfurchtsvoller
als je zuvor vor der ältern und der jungen Dame, mehr als ein bewundernder
Blick folgte Catarina, und viele der ältern Edelleute versagten sich ein freudig
zustimmendes Gemurmel nicht, Catarina wäre am liebsten durch die blitzenden,
zischelnden, sich beugenden und grüßenden Reihen hindurch geflogen, die Herzogin
an ihrer Seite gestattete ihr jedoch nicht, auch uur einen Schritt rascher zurück¬
zulegen, als es die Sitte gebot. Bis an die Pforten des Saales schaute ihr
König Sebastian fast unbeweglich nach, und die Thürhüter, die seinen Blick wohl
bemerkt hatten, rissen vor Catarina Palmeirim die Thürflügel auf, als trüge
sie schon die Krone.
Wie die Thür von beiden Seiten hinter der Entschwebenden zufiel, schien
der wundersame Baun gelöst, der in den letzten Minuten auf der ganzen großen
Gesellschaft gelegen hatte. Wieder durchschwirrte ein hundertstimmiges Gespräch
den Saal, und wer unsichtbar durch denselben hindurchgegangen wäre, würde
aus jeder Gruppe heraus den Namen Catarina Palmeirim vernommen haben.
Der König winkte seinen Großkämmerer Vimivso und den jugendlichen Herzog
von Braganza, seinen Pagen, zu sich heran und begann einen Umgang durch
die Reihen, welche sich auch auf seinem Wege bildeten. Der erste, vor dem Dom
Sebastian stehe» blieb, war Graf Juan Navarrete, der Gesandte König Philipps,
der unmittelbar bevor der König sich zu ihm wandte, hastige, leise Worte mit
Tellez Alucita getauscht hatte. Der junge Kaplan war an den Spanier heran¬
getreten, wahrend alle Welt der Herzogin und Catarina nachsah. Graf Na-
varette kehrte ihm nur flüchtig eine Schulter zu, ein kurzes, fast geringschätziges:
Was solls? klang in das Ohr des Priesters. Dom Joao, der Prior, läßt
Euch sagen, daß ihm Gefahr im Verzug scheine und daß Ihr morgen, wie
üblich in der Frühe, eine Audienz bei Seiner Majestät nachsuchen möchtet!
Mißmutig warf der Graf hin: Sagt dem hochwürdigen Herrn, daß ich selbst
die Augen offen habe und nur der Gelegenheit warte, mein Gesuch an den
König zu bringen. Und kaum war Frech Tellez in das zweite Glied der ge¬
drängten Reihe zurückgewichen, so bemerkte Graf Navarrete, wie nahe ihm der
König und die eben begehrte Gelegenheit seien. König Sebastian, welcher dem
stattlichen Grafen jederzeit eine gewisse Vorliebe bezeigt hatte und ihm auch
jetzt den huldvollsten Gruß gönnte, berührte die Schulter des Gesandten. Noch
lag der Glücksschimmer, den die letzten Augenblicke mit Catarina Palmeirim
hervorgerufen, auf den Zügen des Königs, und sein Ton war hell und klangreich
wie vorhin: Ihr macht Euch kostbar diesen Abend, Senhor Ambassadore! sagte
er lächelnd. Ich wünsche Euch morgen früh in meinem Kabinet zu sehen, ich habe
eine Mitteilung, die ich am liebsten durch Euch Seiner katholischen Majestät
übermittle. Um fünf Uhr morgens, wenn es Euch beliebt.
Eure Majestät kommen gnädig meinem eignen Gesuche zuvor. Ich wollte
um Gelegenheit bitten, Euch, erhabner Herr, eine Angelegenheit vorzutragen,
die für deu Dienst meines erHalmen Herrn und sür Eurer Majestät eignes Wohl
von Wichtigkeit ist und keinen Aufschub duldet.
Ein Schatten flog über Dom Sebastians Gesicht, seine blauen Augen
senkten sich fragend in die Augen des spanischen Gesandten, Graf Ncwarretes
Gesicht ließ nichts von dem erraten, was in seiner Seele vorging, ehrerbietig
harrte er der weiter» Ansprache des Königs, Dieser blieb unschlüssig noch
einen Augenblick bei Don Juan stehen, dann wandte er das blonde Haupt zur
Rechten und sagte kühl: Also bleibe es bei der Stunde nach Sonnenaufgang.
Du hörst, Vimivso, daß ich Graf Navarrete erwarte und daß er keiner be¬
sondern Meldung bedarf.
Ein flüchtiges Kopfnicken und eine lässige Hmidbcwcgung verrieten dein er¬
fahrenen Gesandten, daß sich der König von Portugal von der erbetenen Audienz
wenig Freude verspreche, Bon dem Spanier hinweg trat Dom Sebastian
weiterschreitend in einen Kreis portugiesischer Edelleute, die thu allesamt mit
freudestrahlenden Mienen und erwartenden Blicken begrüßten. Seine Augen
suchten nach Barretv und Campe'us, die er vorhin mitten in diesem Kreise er¬
blickt hatte, aber da er ihren Namen nicht nannte, fand der Großkämmcrer,
obschon er die Meinung des Königs erriet, keinen Anlaß, die beiden Männer
herzuzurnfen, (Fovtsetznng folgt,)
Der Stein der Weisen ist gefunden! In der Reichstagssitznng am 8, April
beantwortete ein freisinniger Abgeordneter, Herr Schrader, den Vorwurf, dnß seine
Partei immer nur negire, mit der Erklärung, dieselbe werde mit positiven An¬
trägen erst dann hervortreten, wenn sie der Majorität sicher sei. So nebenher
bei der Beratung der Unfallversicherung für land- und forstwirtschaftliche Arbeiter,
so anspruchslos hat der Mann eine große Idee hingeworfen, welche zeigt, ans eine
wie einfache Weise den vielen Klagen über ebenso nutz- wie endlose parlamentarische
Verhandlungen der Boden entzogen werden kann. Sobald das numerische Ver¬
hältnis der verschiednen Fraktionen in einer Versammlung festgestellt ist, treten die
in der Minorität befindlichen aus, die Mehrheit bleibt beschlußfähig und erledigt
die Geschäfte geschäftsmäßig, alle vexatorischen Interpellationen, alle aussichtslosen
Anträge und Untcrantrcigc, alle zum Fenster hinaus gesprochnen „großen" Reden,
alle Invektiven in Gestalt von Zwischenrufen und Persönlichen Bemerkungen, alle
Beschwerden über „gewissenloses" Anlächeln u, s, w. können vermieden werden;
die Zeitersparnis ist unberechenbar, da nicht nur die Sessionen eine viel kürzere
Dauer haben, sondern anch zahlreichen Professoren, Anwälten, Stadträtcn n, s, w.
Muße bleibt, ihrem Berufe nachzugehen und — in Ruhe die positiven Vorschläge
zu überlegen, welche sie machen wollen, sobald sie die Mehrheit haben. Daß dieser
Plan der Vereinfachung gerade von den Freisinnigen ausgeht, verdient umso größere
Anerkennung, da ihnen das Opfer augenscheinlich am schwerste» fallen wird.
l
adstones Plan zur Befriedigung der irischen Nationalisten ist
in seinem ersten Teile, der Gewährung eines beschränkten Sonder-
Parlaments, vom englischen Unterhause „in erster Lesung ange¬
nommen," d. h, zur Einführung und Prüfung angenommen morden;
doch will das wenig bedeuten, da nach dem Widerspruche, welchem
er auch auf liberaler Seite im Parlamente und fast in der gesamten Presse
begegnete, beinahe mit Sicherheit anzunehmen ist, daß er bei einer der spätern
Lesungen scheitern wird, falls sein Urheber ihn nicht noch zurückzieht oder in
wesentlich veränderter Gestalt vorlegt. Wir haben vor acht Tagen den Plan
nur in seinen Grundzügen mitteilen können. Betrachten wir ihn jetzt genauer,
so erscheint er als ein noch außerordentlicherer, noch revolutionärerer Schritt,
als ein Vorschlag, der trotz aller Vorbehalte und Sicherheitsklauseln die tief¬
gehendste und bedenklichste Umbildung der Verfassung des Vereinigten König¬
reichs in sich schließt, welche jemals einem britischen Parlamente zugemutet
worden ist. Die irischen Mitglieder des Unter- und ebenso die des Oberhauses
sollen — das ist der Hauptpunkt — das Parlamentsgebäude zu Westminster
praktisch sür immer verlassen, Irland soll also fortan keinerlei Einfluß auf die
Wahl und Unterstützung der Minister, auf die auswärtige Politik und auf die
Kriegführung des britischen Reiches mehr ausüben, es soll thatsächlich eine
Kolonie werden. Nur in einem einzigen Falle sollen seine Vertreter zurückkehren
dürfen. Wenn Großbritannien sich in Zukunft entschlösse, die „Magna Charta
Irlands," wie Gladstone seinen Gesetzentwurf nannte, abzuändern oder zurück¬
zunehmen, so sollen sie in Westminster wieder erscheinen, um entweder die Ma߬
regel durch ihre Stimmen zu vereiteln oder wieder zu ihrer jetzigen Macht und
Bedeutung zu gelangen. Es ist aber beim englischen Parlamente nicht Brauch,
Zugeständnisse zu gewähren und sie nach zehn oder zwanzig Jahren wieder für
ungiltig zu erklären, und so darf man behaupten: Wenn die Bill Glcidstones
in zweiter oder letzter Lesung im Unterhause durchgeht und die Lords sie gleich¬
falls gutheißen, so wird Westminster nach menschlichem Ermessen niemals wieder
irische Abgeordnete in seinen Räumen versammeln; denn in zehn oder zwanzig
Jahren wird Irland, sich selbst überlassen, in einer Weise umgestaltet sein, welche
das vollständig ausschließt.
Sehen wir uns Gladstones Projekt weiter an, so soll Irland, obwohl un-
vertreten im Reichsparlamente, seinen Anteil an der Verzinsung und Tilgung
der Neichsschulden und der übrigen ordentlichen Ausgaben des Reiches fort¬
zahlen. Doch soll dieser Anteil nur el» Fünfzehnte! des Ganzen, was das
jetzige Vereinigte Königreich aufzubringen hat, nach Gladstones Berechnung etwa
31/4 Millionen Pfund betragen, und dieser Beitrag soll auf keinen Fall erhöht
werden, kann sich aber, da der irische Anteil am Tilgungsfonds den irischen
Anteil an der Staatsschuld kürzt, vermindern. Irland wird also wie Kanada
abgetrennt, aber verschieden von Kanada als ein tributpflichtiger Staat. Die
Insel soll ferner als eine „gesonderte Nationalität" neben Großbritannien hin¬
gestellt werden. Der „gesetzgebende Körper Irlands" — Gladstone sagt nicht
„das Parlament" — soll eine einzige, aber aus zwei „Ordnungen" (Ol-üörs)
bestehende Versammlung von etwas mehr als dreihundert Mitgliedern sein.
103 von diesen werden die aristokratische oder konservative, vielleicht
dürfen wir auch sagen die protestantische Gruppe dieses neuen Parlaments
bilden. Die nchtundzwanzig irischen Peers, die jetzt lebenslänglichen Sitz im
Oberhause zu Westminster haben, können denselben mit einem Sitze in College
Green zu Dublin vertauschen, wo sie bis zu ihrem Ableben ein Kontingent zur
ersten Ordnung bilden würden. Die übrigen fiinfundsiebzig Angehörigen der
letztern sollen von besondern Wählerschaften, zusammengesetzt ans Haus- oder
Grundstücksbesitzern mit fünfundzwanzig Pfund Jahreseinnahme, gewählt werden
und müssen selbst ein jährliches Einkommen von zweihundert Pfund aus realem
oder personalen Eigentume haben. 204 Mitglieder des neuen gesetzgebenden
Körpers sollen nach der jetzt üblichen Weise gewählt werden, 103 werden die
jetzt in Westminster sitzenden und von da nach College Green abgehenden irischen
Laudbvten zählen, und jede Wählerschaft, ausgenommen die Dubliner Universität,
soll 101 Abgeordnete zu ihnen hinzusenden. So werden die Mitglieder zweiter
Ordnung oder Klasse des Dubliner Parlaments 204 Mann stark sein, wenn
jene Körperschaft nicht beschließt, der Universität zwei Vertreter zu gebe», in
welchem Falle die Zahl der Gruppe 206 betragen würde. Die erste Ordnung,
die das protestantische und das vornehmere katholische Element vertreten würde,
soll sich einer eigentümlichen Befugnis erfreuen. Sie soll bei jedem Gesetz¬
entwurfe verlangen können, daß jede Ordnung für sich über denselben abstimmt, und
wenn die Mehrheit der ersten Ordnung sich dagegen erklärt, so soll er auf drei
Jahre oder bis zu einer Auflösung nicht Gesetz werden. Dieses cinfschiebende
Veto würde aber kein wirksames Hindernis für Pläne sein, welche eine katho¬
lische Mehrheit des irischen Parlaments drei Jahre lang beharrlich auszuführen
drängte, und eine Auflösung könnte ihr dabei sogar förderlich sein. Der Vize¬
könig würde vermutlich dem Rate seiner irischen Minister folgen, und Parnell
brauchte nur eine schleunige Auflösung zu betreiben, und mit der Verzögerung
durch das Veto der ersten Ordnung wäre es zu Ende. Außer diesem Versuche
einer Beschränkung in innern Fragen enthält der Plan Gladstones auch Schranken
für das neue Parlament nach außen hin. Es darf sich nicht in die Präroga¬
tiven der Krone, nicht in Sachen der Armee und der Kriegsflotte, nicht in aus¬
wärtige und koloniale Angelegenheiten, nicht in Handels- und Schifffahrtsfragen
mischen und sich nicht mit der Münze befassen, obwohl es alle irischen Zettel¬
banken von einem einzigen Staatsinstitute aufsaugen lassen darf. Es kann keine
Zollabgaben und keine Acciseabgaben, die ans die Zölle einwirken würden, auf¬
erlegen, keine Kirche dotireu, keine bewaffnete Macht aufstellen und für jetzt keine
Kontrole über die königliche Gendarmerie (LoirstAvuI»^) ausüben. Dagegen
werden ihm nach Gladstones bestimmter Erklärung alle Befugnisse zustehen, die
ihm der Plan des Ministers nicht ausdrücklich entzieht. Es wird Gesetze geben
und verwalten, die Ordnung aufrecht erhalten und die Macht haben, direkte
Steuern auszuschreiben. Der Vizekönig wird ein dauernder Vertreter der Krone
sein, nicht ein Minister, der mit dem englischen Kabinet wechselt. Die gegen¬
wärtigen Richter sollen dnrch eine besondre Klausel geschützt werden, die ihnen
Ansprüche auf englische Entschädigung sichert, wenn sie infolge ihrer Entschei¬
dungen bei den neuen Herren mißliebig werden und sich unbilliger Behandlung
ausgesetzt scheu. Die irischen Verwaltungsbeamten sollen ebenfalls befugt sein,
von ihren Stellen mit erhöhter Pension zurückzutreten, und wenn die britische Kon¬
trole über die irische Gendarmerie bis ans weiteres beibehalten werden soll, so
waltet dabei offenbar gleichfalls die Absicht ob, die Interessen der Mitglieder der¬
selben gegen Verletzung zu schützen, die vom Dubliner Parlamentebefürchtet wird.
Das Wesentliche des Gladstoneschcn Planes ist, daß er Irland in eine
Kolonie mit einigen Nachteilen und Beschränkungen umwandeln will. Es wird
in Frieden und Krieg von Großbritannien so weit getrennt sein wie Kanada,
aber, wie schon bemerkt, ungleich Kanada zu den britischen Ausgaben beitragen
müssen, wenn auch weniger als bisher. Es wird, ebenfalls ungleich Kanada, nicht
befugt sein, Zölle zu erheben und eine Miliz aufzustellen, und seine Gendarmerie
wird für die nächste Zeit den Befehlen einer „fremden Macht" — so drückt sich
Gladstone selbst aus — unterworfen sein. Als eine Wohlthat wird englischen
Parlamentariern erschienen sein, daß künftig irisches Übelwollen die Beratungen
in Westminster uicht mehr stören und nicht mehr das Zünglein an der großen
Wage der englischen Parteien bilden soll. Die englische Gesetzgebung und Politik
würde nach Gladstones Plane freier und kräftiger wirken als bisher mit dem
Parnellschen Hemmschuh. Betrachten wir aber jenen Plan als Ganzes, so geht
durch ihn ein logischer Widerspruch hindurch. Im Namen der nationalen Freiheit
und der irischen Vaterlandsliebe will der englische Premier einen Staat ins
Leben rufen, von dem er sich augenscheinlich große und schöne Dinge verspricht.
Aber indem er demselben mit vollen Händen allerlei Attribute und Privilegien
verleiht, nimmt er ihm zu gleicher Zeit mit dem kleinen Finger wesentliche
Rechte. Neuirland wird nach ihm zwar verschiedne Tugenden besitze» und an
den Tag legen, aber man wird ihm gegenüber doch Vorsicht üben müssen, ihm
z. B. doch in Betreff der Richter, der Verwaltungsbeamten und der Gendarmerie
keinen Billigkeitssinn zutrauen dürfen. Sein Parlament muß ein konservatives
Element haben, das mit einem suspcnsiven Veto gegen Ausschreitungen der
übrigen Elemente ausgerüstet ist. Seine Besitzer von Grund und Boden sollen
nach einem vom Gedanken des Home Rule unabtrennbaren Nebcuplanc für die
Aufgabe ihres unbeweglichen Eigentumes im voraus mit Geld entschädigt, aus¬
gekauft werden, weil das Dubliner Parlament dasselbe sonst einfach kvnsiszireu
würde. Selbst über die Finanzverwaltung soll das englische Ministerium bis
zu einem gewissen Maße verfügen, weil zu befürchten ist, daß die Einnahmen
leiden würden, wenn irische Richter sich weigerten, Befolgung der fiskalischen
Gesetze zu erzwingen. Das alles sieht auf den ersten Blick ans, als solle die
Befriedigung der irischen Nationalisten mit dem Bedürfnisse der Sicherheit des
Reiches verbunden werden. Aber eS ist zugleich eine stillschweigende Bestätigung
aller Befürchtungen, welche die Gegner des Planes hegen. Das irische Par¬
lament wird, obwohl die Iren im Unterhause erklärten, mit diesem Plane zu¬
frieden zu sein, sich sehr bald versucht fühlen, die Beseitigung seiner Be¬
schränkungen und die Ausdehnung seiner Vollmachten zu fordern. Das war
die Geschichte der irischen Parlamente des letzten Jahrhunderts, und das ist
auch von dem Gladstoneschen „gesetzgebenden Körper" mit Bestimmtheit zu er¬
warten. Der Appetit wird mit dem Essen wachsen, und jeder Punkt des neuen
Vertrages zwischen den beiden Ländern wird zu einem Gegenstände unaufhör¬
lichen Streites zwischen ihnen werden. Irland wird weniger zu den Reichsaus-
gabcu beitragen, es wird eigne Zollhäuser und eine eigne Miliz besitzen wollen.
Seinen Agitatoren wird es nie an Stoff mangeln, solange noch ein Fetzen von
Gladstones Einschränkungen übrig ist, und die irischen Minister, die sich mit
den letztern einverstanden erklären, werden rasch unpopulär werden. Wenn man
glauben könnte, die Jrländer wären leicht zufriedenzustellende Leute und die jetzt
in England regierenden Politiker zeichneten sich durch festes und folgerichtiges
Auftreten in Sachen Irlands aus, so ließe sich vielleicht hoffen, der Gladstoneschc
Plan werde nach seiner Verwirklichung glatt wirken und ein Definitionen sein
und bleiben. Wie die Natur der Jrländer und das Wesen der englischen libe¬
ralen Staatsmänner in Wirklichkeit beschaffen sind, weiß die Welt, und darnach
läßt sich nicht viel Gutes hoffen.
Nach dein Gesagten darf es nicht Wunder nehmen, wenn Gladstones Home-
Nnle-Plan im Unterhause starker Opposition begegnete und selbst von den Libe¬
ralen nnr wenige sich bewogen fanden, für denselben in die Schranken zu treten.
Ähnliches gilt von der Presse. Alle großen Blätter, die liberalen nicht minder
wie die konservativen, bekämpfen Tag für Tag die Absichten des Premiers, selbst
die radikaleNg.I1 (?!^ot,es sagt ihm ab, ja sogar sein bisheriges Leiborgan,
die I>!>ü,v Uvvs, läßt ihn im Stiche oder verzweifelt wenigstens an seinem
Erfolge, wenn sie sagt: „Selten geschieht es, daß ein mit einer wichtigen Ma߬
regel betrauter Staatsmann sich in so ernster Verlegenheit befindet, wie jetzt
Herr Gladstone. Verlassen von einigen seiner geschätztesten Amtsgenossen, ent¬
behrt er offenbar jener Unterstützung der öffentlichen Meinung, die ihm früher
so viel Ermutigung gewährte und stets die Vorlänfcrin des Erfolges war. Es
ist eine ganz unbestreitbare Thatsache, daß es im Verlause der gegenwärtigen
Krisis schwer halten würde, eine Volksversammlung zustande zu bringen, die
sich zu Gunsten des irischen Home Rule äußerte. Wir sehen uns genötigt, die
Überzeugung auszusprechen, daß das Land dafür noch nicht reif ist." Weit
bitterer äußerten sich andre Zeitungen in der Sache. Die 'limss spottete: „Die
vorgeschlagene irische Verfassung gleicht der Nachbildung einer Eisenbahn, die
vor einigen Jahren von chinesischen Künstlern angefertigt wurde. Jede Einzel¬
heit war äußerlich dem Original säuberlich nachgemacht, nur die Bewegkraft
und das Zusammenwirken der verschiednen Stücke fehlte. Ebenso verhält sichs
mit dem ganzen Plunder der Bürgschaften und Einschränkungen Gladstones."
Nach der Meinung des vküls lelvgriipli ist der Gesetzentwurf bereits verurteilt.
Er kaun, darf und wird nicht durchgehen, hat aber das Reich in seinen Grund-
vesten erschüttert und dem Bedürfnis nach Versöhnung, gesicherter Ordnung und
Frieden gegenüber mehr geschadet, als Jahre weiser Negierung wieder gut macheu
tonnen. „Wir müssen — so heißt es weiter — der uns ans Leben gehenden
Gefahr ohne Verzug den Garaus machen. Wenn der Widerspruch den Sturz
des verehrenswertcu Ministers und sein endgiltiges Abtreten von dem Schauplatze
so vieler denkwürdigen Erfolge herbeiführt, so müssen trotzdem die Vertreter des
Vereinigten Königreiches sofort einem so undurchführbaren und bedauerlichen
Plane sich widersetzen und es ablehnen, Gladstones ruhmvolle Wirksamkeit mit
dem Beginne der Auflösung des Reiches zu krönen." Die englische liberale
Presse besitzt aber weit mehr als die Blätter des deutschen Liberalismus Staats¬
sinn und Nationalgefühl, und dazu kommt uoch der Umstand, daß in deu letzten
Jahrzehnten mancherlei geschehen ist, was den Engländern die Befürchtung ein¬
flößen kann, es nahe der Zeitpunkt, wo es mit dem Ansehen und der Macht
Englands rasch bergab gehen werde. Die mächtige Entwicklung Nordamerikas,
das Vordringen Rußlands in Mittelasien, die Nebenbuhlerschaft Frankreichs
an der afrikanischen Küste des Mittelmeeres, in Madagaskar, Hinterindien und
China lassen die englischen Patrioten mit Besorgnis in die Zukunft blicken, und
es geht mehr oder minder lebhaft und deutlich ein Wunsch und Streben dnrch
das Volk, wenigstens durch seine obern Schichten, dem Niedergange durch Zu¬
sammenfassung aller Glieder des Weltreiches zu steuern, die Kolonien dem Mutter¬
lande zu nähern, sie möglichst mit ihm zu verbinden und einen einzigen Körper
herzustellen. Dagegen verstößt Gladstone, wenn er die Vereinigung Gro߬
britanniens mit Irland lockern, es zur Kolonie machen will. Wären selbst viele»
englischen Liberalen nicht schon die Augen darüber aufgegangen, daß die Freiheit,
die Gladstone den Jrländcni geben will, eine Schwächung Großbritanniens be¬
deutet, so müßten sie ihnen aufgehen, wenn sie sehen, wie die französische und
die Murcepresse den Gladstoneschen Plan mit Wohlgefallen begrüßt. Die Fran¬
zosen sehen einerseits damit den Grund zu einer irischen Republik gelegt, ander¬
seits dem „treulosen Albiv»," das sich ihnen in der jüngsten Zeit wieder als
Nebenbuhler erwies, eine Zuchtrute aufgebunden, die sich bei passender Gelegen¬
heit in Bewegung setzen läßt. Man weiß, daß Napoleon, als er 1838 an seinen
italienischen Feldzug dachte, durch Sendlinge mit der Phönixbruderschaft, den
spätern Feinern, anknüpfte, um England, das seinem Plane einer Erwerbung
Frankreichs in Italien Widerstand leisten konnte, in Irland zu beschäftigen.
Ein irisches Parlament könnte unter Umständen einen besseren Ableiter abgeben
als eine geheime Gesellschaft. In Amerika denkt man ähnlich, zugleich aber hat
man nicht vergessen, in wie weiten englischen Kreisen 1861 bis 1864 der Wunsch
verbreitet war, der Bund der Sttdstaatcu möge siegen und die Union zerfallen,
und erwiedert diesen Wunsch jetzt mit der Hoffnung auf Zerspaltung und Abfall
in den Ländern im Osten und Westen des Georgskanals.
Die Opposition, die Gladstone auf seinem Wege fand, hat ihn nicht un¬
berührt gelassen. Er hat von der Kritik seines Planes in seiner Weise Nutzen
gezogen und scheint in gewissem Maße klein beigeben zu wolle». Die Rede,
mit welcher er auf die Angriffe Hicks-Beachs antwortete und die Debatte der
ersten Lesung abschloß, enthüllte, daß er Abänderungen seines Planes nicht un¬
zugänglich sein würde. Der Führer der Opposition hatte nochmals gegen „ein
Kapituliren vor denen, welche erfolgreich der ausübenden Gewalt und dein Ge¬
setze Trotz geboten," Verwahrung eingelegt und de» Premier selbst als Zeugen
für den Glauben zitirt, daß Parnell und die irische Landliga die ärgsten Feinde
Irlands seien. Gladstones Antwort zeigte deutlich, in welche arge Verlegen¬
heit ihn der Widerstand gegen seine Vorschläge im Unterhause gebracht hatte.
Er wollte jetzt in den Eintritt irischer Abgeordneter in Westminster willigen,
da „ihre Ausschließung kein wesentlicher Teil des Planes sei." Dieser Punkt
soll „weiterer Prüfung offen bleiben," und jeder Politiker weiß, was das be¬
deutet. Anderseits hat Gladstone im Laufe der Debatte entdeckt, daß das Ver¬
bleiben der Zölle und der Aeeiseeinunhmen unter der Verfügung des Neichs-
parlaments kein unbedingt notwendiges Zubehör seines Planes ist. Das sind
bedenkliche Umgestaltungen des letztern. Faßt man beide zusammen, so deuten
sie an, daß die Reichseinheit bis zu einem gewissen Grade erhalten, die fiska¬
lische Einheit dagegen geopfert werden könnte. Vielleicht entwaffnen diese Ver¬
sprechungen einer Abänderung einige von den Radikalen, welche sich gegen die
Bill erklärten, aber die hauptsächlichsten Einwürfe gegen diese bestehen in ihrer
vollen ursprünglichen Kraft fort. Sodann aber, und das ist wichtiger, ist das
Schauspiel einer solchen plötzlichen Frontvcränderung im Angesichte des Feindes
durchaus nicht geeignet, der Welt das Gefühl einzuflößen, daß der Feldherr ein
unerschrockener, geschickter und seiner Sache sicherer Geist sein müsse. Wir haben
hier eine Maßregel, welche das Grundgesetz des Reiches in seinen Lebenswurzeln
anfaßt, und doch sind die Urheber dieser Maßregel in Betreff einiger ihrer
Hauptgedanken so unklar und so unsicher, daß sie im letzten Augenblicke einige
ihrer wichtigsten Vorkehrungen über Bord zu werfen bereit sind, einzig und allein,
um für das Projekt ein oder zwei Dutzend schwankende Stimmen zu gewinnen.
Das ist eben nicht darnach angethan, die Reihen der Liberalen, über die Glad-
stone in dieser Angelegenheit noch verfügt, mit freudiger Zuversicht zu erfüllen.
Das Ergebnis der viertägiger Debatte über die Gladstvueschc Zcrspaltuugsbill
ist, daß ihm das Unterhaus gestattet hat, sie in aller Form einzudringen. Aus
verschiednen Gründen sah man von einer Opposition gegen diese Förmlichkeit
ab, aber es war ganz sicher, daß, wenn man es zur Abstimmung über den An¬
trag hätte kommen lassen, die verneinenden Stimmen überwogen haben würden.
Die zweite Lesung, die am 6. Mai stattfinden soll, wird höchst wahrscheinlich
das Begräbnis des Kindes einläuten, mit dem Gladstone sein Andenken zu ver¬
ewigen gedachte, und England darf ihm wohl schon jetzt ein L.ö<.ML80ü.t in xAve
zurufen.
l
e Anzeichen, daß die wirtschaftlichen und damit auch die politischen
Zustände der modernen Kulturvölker mehr und mehr einer ernsten
Entscheidung entgegentreiben, haben sich in der letzte» Zeit in bedenk¬
lichem Maße gehäuft, und es ist deshalb gewiß nicht unzeitgemäß,
einmal die allgemeinen Grundsätze, nach denen sich unsre wirt¬
schaftlichen Verhältnisse vollziehen, ans Grund der geschichtlichen Thatsachen
festzustellen und dadurch zu verhältnismäßig sichern Schlüssen zu gelangen
darüber, wie wir uns die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu
denken haben. Gelingt es auf diese Weise, ein richtiges Bild der sozialen
Krankheit zu erhalten, so wird sich auch die weitere Frage leichter beantworten
lassen, auf welche Weise diese Krankheit zu heilen oder wenigstens zu lindern sei.
Wie das ganze Getriebe der Welt erhalten wird durch das Zusammenwirken
zweier Faktoren, welche wir zwar als getrennte fühlen, aber deren Einzelexistenz
wir uns nicht vorstellen können, weil ohne ihr Zusammenwirken die Welt nicht
denkbar ist, wir selbst aber eben nur ein Teil dieser Welt und ebenfalls aus
diesen beiden Faktoren zusammengesetzt sind, wie diese beiden Faktoren, mögen
sie nun als Geist und Materie, als Kraft und Stoff oder wie sonst immer
bezeichnet werden, in ihrer Wechselwirkung den Inhalt des Lebens bilden, so
zeigen sich auch dem Volkswirt jene zwei Faktoren als die Grundlage seiner
Wissenschaft, so ist es das Verhältnis der im Menschen wohnenden, vom Geiste
bewegten Kraft zu dem ihn umgebenden Stoff der Außenwelt, welches den
Inhalt dieser Wissenschaft darstellt.
Selbst die denkbar einfachste Bethätigung des Befriedigungstriebes, die
Besitznahme zum sofortigen Gebrauch, beispielsweise das Pflücken einer wild¬
wachsenden Banmfrncht durch eiuen wildeu Australier, zeigt uns dieses Bild
der Einwirkung der menschlichen Kraft auf den andern Faktor, den Stoff der
Außenwelt. Jedes einzelne solche Einwirken heißt Arbeit, der Inbegriff dieser
Thätigkeit in Bezug auf das einzelne Individuum heißt Wirtschaft, und jegliches
Erzeugnis einer solchen Thätigkeit ist ein wirtschaftliches Produkt. Nur das¬
jenige Individuum befindet sich im Zustande wirtschaftlicher Freiheit, welches
einmal über eine genügende Menge Arbeitskraft im obigen Sinne des Wortes
und weiter über eine genügende Menge Arbeitsstoff verfügt. Jeder Mangel
eines dieser beiden Fakturen bringt notwendig das betreffende Individuum in
den Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit. Ein mit Arbeitskraft reich versehener
Landmann ohne Ackerfeld wird ebenso hilflos sein wie ein durch Krankheit ge¬
lähmter Grundbesitzer ohne fremde Arbeitskraft, die ihm sein Feld bestellt.
Solange der Mensch nur als Einzelwesen gedacht wird, ist die Frage der
Wirtschaft fehr einfach. Arbeitskraft und Arbeitsstoff sind in reicher Menge
gegeben, und schrankenlos bethätigen sie ihr naturgemäßes Zusammenwirken.
Ein andres Gesicht bekommt die Frage erst, sobald die Menschen und ihre
Einzelinteressen zusammentreffen, sobald wir aus dem Gebiete der Wirtschaft in
das Gebiet der Volkswirtschaft eintreten, sobald mit andern Worten die menschliche
Gesellschaft entsteht. Das Wesen des Menschen findet, wie Sander richtig sagt,
seinen Ausdruck in seiner Individualität, und es ist die Verschiedenheit der
menschlichen Individualität, welche die Interessen der einzelnen wirtschaftlichen In¬
dividuen aufeinanderstoßen läßt. Die Thatsache, daß die Arbeitskraft eines einzelnen
Individuums durch Vervollkommnung der Technik imstande ist, mehr Produkte
zu erzeugen, als dasselbe zu seinem notwendigen Lebensunterhalte braucht, legt
den Gedanken für den Stärkeren nahe, sich die Arbeitskraft des Schwächeren
zu Nutze zu machen. Anstatt daß der Schwächere nur für sich selbst produzirt
und den etwaigen Überschuß seiner Produktion für sich selbst aufspeichert, wird
derselbe jetzt sein Produkt dem Stärkeren abliefern müssen, nachdem er soviel
davon für sich behalten oder von dem Stärkeren zurückbekommen hat, als er zum
notwendigen Unterhalt bedarf. So steht an der Wiege der menschlichen Ge¬
sellschaft die Gewalt und fuhrt in Bezug auf die Arbeitskraft zur persönlichen
Gebundenheit.
Aber nicht bloß der Arbeitskraft gegenüber macht sich das Recht des Stärkeren
geltend. Die zunehmende Zahl der Menschen verleiht dem zweiten, ursprünglich
ebenfalls freien Faktor der menschlichen Wirtschaft, dem Stoff der äußern Natur,
mehr und mehr Wert und führt zum Privateigentum an demselben, und so
entstehen in der menschlichen Gesellschaft durch die Einwirkung der persönlichen
Gebundenheit und des Privateigentums bestimmte Gegensätze, wie Herren und
Sklaven, Besitzende und Nichtbesitzende, Gegensätze, die freilich nicht immer streng
geschieden sein werden, sondern die mehr oder weniger je nach den Verhältnissen
ineinander übergehen.
Tritt uns z. B. im Anfang der wirtschaftlichen Entwicklung die persönliche
Gebundenheit in ihrer schroffsten Form, der Sklaverei, entgegen, so hat der Lauf
der Zeit dieselbe in immer mildere Formen übergeführt; die letzten hundert
Jahre haben nahezu den Rest der persönlichen Gebundenheit in den zivilisirten
Staaten durch gesetzliche Aufhebung weggeschafft und nur noch wenige Schranken
stehen gelassen. An die Stelle des einstigen Gegensatzes von Herr und Sklave
ist das allgemeine gleiche Staatsbürgertum aller Angehörigen eines Volkes getreten-
Anders ging es mit demjenigen Gegensatz, welcher durch den Übergang des
Arbeitsstvffes in die Hände der einzelnen Individuen entstanden war, mit dem
Privateigentum. Je mehr wir den Unterschied zwischen Herr und Sklave schwinden
sehen, desto mehr sehen wir auch, wie gleichzeitig damit die Ausbildung des
Privateigentums immer weitere Kreise zieht; wir sehen, wie Hand in Hand mit
der Lockerung der persönlichen Gebundenheit immer mehr ehemals freies oder
Gemeineigentum in die Hunde einzelner übergeht, wie namentlich auch die Ent¬
wicklung des geltenden Rechts in dieser Richtung vorschreitet, sodaß man bei
genauer Untersuchung zu dem Schlüsse kommen muß, daß die Bestrebungen beider
Faktoren in einem umgekehrten Verhältnis stehen, das heißt, daß mit der zu¬
nehmenden Ausbildung des Privateigentums eine Abnahme der persönlichen Ge¬
bundenheit, und umgekehrt mit der Zunahme der persönlichen Gebundenheit eine
Minderung des Privateigentums verbunden ist.
Der Grund dieser Thatsache ergiebt sich aus unsern obigen Auseinander¬
setzungen über die menschliche Individualität, welche beim Zusammentreffen der
menschlichen Einzelinteressen den Stärkern veranlaßt, dem Schwächern gegenüber
seine Herrschaft geltend zu machen. Um dies zu können, wird der Stärkere
den Schwüchern teils in Bezug auf die Arbeitskraft, teils in Bezug auf den
Arbeitsstoff beschränken. In Bezug auf welchen der beiden Faktoren er dies
mehr thun wird, das werden lediglich die zeitlichen und örtlichen Verhältnisse
entscheiden. Da aber, wie wir gezeigt haben, der Mangel schon eines von
beiden Faktoren vollständig genügt, wird eben die obige Thatsache eintreten, daß
mit der Zunahme der einen Beschränkung eine Minderung der andern Be¬
schränkung verbunden sein wird, und umgekehrt. Die sittliche Berechtigung des
Stärkern zur Ausübung dieser Beschränkung liegt in der Thatsache, daß ohne
Zwang ein Bestehen der menschlichen Gesellschaft nicht denkbar ist, wie denn
auch Jhering sehr hübsch das Recht als die Sicherung der Existenzbedingungen
der Gesellschaft durch den Zwang bezeichnet. Ihr sittliches Korrektiv aber
findet diese Herrschaft der stärkern Elemente in der göttlichen Weltordnung,
welche jedem Mißbrauch der Herrschaft durch den Stärkern die gerechte Strafe
folgen läßt.
Die Entwicklungsgeschichte der Völker zeigt uns also, daß im Anfange der
wirtschaftlichen Entwicklung infolge des Überflusses an Arbeitsstoff bei schwach
bevölkerten Erdboden die Sklaverei als äußerste Art der Herrschaft über die
menschliche Arbeitskraft sich ziemlich folgerecht durchgeführt findet. Diese That¬
sache erklärt sich sehr einfach daraus, daß bei der unter den obwaltenden Ver¬
hältnissen gegebenen Leichtigkeit, die zum Unterhalte einer in der Kultur uoch
wenig vorgeschrittenen herrschenden Klasse notwendigen Bedürfnisse zu befriedigen,
eine extensive Arbeit, wie sie die Sklaverei ja nur gewähren kann, vollständig ge¬
nügt. Erst mit der Zunahme der Bevölkerung und ihrer Kulturbedürfnisse steigt
der Wert des Arbeitsstoffes und damit die Ausbildung des Privateigentums,
gleichzeitig macht sich aber auch durch die gesteigerte Schwierigkeit der Bedürfnis¬
befriedigung die Notwendigkeit einer intensiven Produktionsmethode geltend.
Sklaven werden mehr und mehr ein teures Arbeitsmaterial; denn sie wollen
erhalten sein und arbeiten verhältnismäßig schlecht, und so werden Verbesserungen
ersonnen und Erfindungen gemacht, welche geeignet sind, einen Teil der mensch¬
lichen Arbeitskraft durch andre billigere Kräfte zu ersetzen. Ein Bodenbesitzer
z. B. findet, daß ein Pflug, von gezähmten Tieren gezogen, eine billigere Pro¬
duktionskraft ist als eine Anzahl Menschen mit der Hacke, und so folgt eine
Erfindung der andern von der Verwendung von Haustieren und den einfachsten
Geräten bis zur Dampfmaschine und Elektrizität. Alle diese Verbesserungen
der Produktionstechnik sind von dem Gedanken geleitet, dem Besitzer des Arbeits¬
stoffes eine billigere Arbeitskraft zu verschaffen, als es die menschliche ist. Von
welchen Erfolgen diese Bestrebungen namentlich in den letzten hundert Jahren
begleitet waren, wer brauchte es zu beschreiben? Aber wer würde hierbei nicht
auch begreifen, daß der Besitz einer großen Zahl von Sklaven oder Leibeigenen
mit der Verpflichtung, diese jahraus jahrein zu erhalten, dem Besitzer unter
den veränderten Verhältnissen nicht mehr ein Vorteil, sondern geradezu eine
Last gewesen wäre! Was sollte er noch Sklaven halten, er hatte ja seine
Maschinen und ließ die Verrichtungen, welche diese nicht übernehmen konnten,
Viel besser von freien Arbeitern besorgen, die er jeden Tag wegschicken konnte,
wenn sie ihm entbehrlich wurden. Daß solche freie Arbeiter nicht teurer zu stehen
kommen als früher die Sklaven, dafür sorgte der Überschuß an menschlicher
Arbeitskraft, der durch die Einführung der Maschinen auf den Arbeitsmarkt ge¬
worfen wurde und den die Arbeiter selbst durch ihre zahlreiche Vermehrung
(xrolss) in überströmender Fülle in Vorrat hielten. Damit zeigt sich uns
freilich die Aufhebung der persönlichen Gebundenheit in einem weniger idealen
Lichte, als in dem sie die Freiheitsrufer von 1789 und 1848 erblickten. Sie
zeigt sich uns nicht mehr als eine politische Errungenschaft des nach Befreiung
strebenden Menschengeschlechts, sondern als die nüchterne praktische Folge der
durch die moderne Wirtschaftstcchnik gegebenen Änderung der Verhältnisse, als
eine selbstsüchtige Maßregel der besitzenden Klasse, des modernen Kapitalismus,
welcher gern die Vorteile der durch die moderne Maschinentechnik verbesserten
Produktionsmethode für sich behalten hätte und deshalb sehen mußte, wie er
die Verpflichtung los wurde, Leute zu erhalten, deren Arbeitskraft er nicht mehr
bedürfte. Der Unterschied zwischen Sonst und Jetzt ist also der, daß, während
vorher der Arbeitskraftherr durch seine Sklaven Produziren ließ, mit dem er¬
haltenen Produkte sodann seine Sklaven ernährte, wozu er gesetzlich verpflichtet
war, und den Rest für sich behielt, jetzt der Arbeitskraftherr zu bestehen auf¬
gehört hat und statt Herr und Sklave sich freie Staatsbürger gegenüberstehen.
Aber nur theoretisch hat dieser Unterschied aufgehört, praktisch ist die Sache
dieselbe geblieben. Ohne Arbeitsstoff kein Arbeitsprodukt, so wenig wie ohne
Arbeitskraft; da nun der Arbeitsstoff durch die zunehmende Entwicklung des
Privateigentums in ungleichster Weise unter die einzelnen Individuen verteilt
ist, so sind eben alle, welche keinen oder nur ungenügenden Arbeitsstoff besitzen,
genötigt, ihre Arbeitskraft den Besitzern des Arbeitsstoffes mehr oder weniger
zur Verfügung zu stellen, und diese werden ihnen dann einen gewissen Teil des
gewonnenen, nach dem bestehenden Rechte den Arbeitsstoffbesitzern gehörigen
Produktes als Entschädigung zukommen lassen.
Wir siud damit an der wichtigsten Frage der modernen Volkswirtschaft
angekommen, an der Frage von der Verteilung des Arbeitsproduktes.
Wie wir gezeigt haben, gehört heute das Arbeitsprodukt zunächst dem Be¬
sitzer des Arbeitsstoffes, der seinerseits wieder dem Besitzer der Arbeitskraft
einen verhältnismäßigen Anteil des genannten Produkts als Entgelt für seine
Thätigkeit zukommen läßt, sodaß sich also die bei jeder Arbeit gewonnene Menge
jeglichen Produkts in zwei Teile teilt, in den Anteil des Arbeitsstoffbesitzers
und in den Anteil des Arbeitskraftbesitzers.
Man muß sich nunmehr bei Verfolg dieser Theorie in erster Linie klar
sein, daß unter Arbeitskraftbesitzer überhaupt jeder Mensch zu verstehen ist, der
in irgendeiner Weise produktiv thätig ist. Arbeitskraftbesitzer oder schlechtweg
Arbeiter in diesem Sinne ist also nicht bloß der Fabrikarbeiter oder Bauers-
knecht, sondern auch der Fabrikant und Landwirt selbst, nicht bloß der Hand¬
werksgehilfe und kaufmännische Angestellte, sondern auch der Handwerksmeister
und Kaufmann selbst, soweit die persönliche Arbeitsthätigkeit der letztern in
ihrem Betriebe in Frage kommt; ja nicht bloß jeder Vertreter der produktiv im
eigentlichen Sinne thätigen Stände, d. h. der Produzenten von Sachgütern,
gehört dazu, sondern auch der Produzent von andern, von geistigen Gütern,
der Geistliche wie der Lehrer, der Künstler wie der Offizier, der Richter wie
der Arzt, der Minister, ja der regierende Fürst des Landes, der seine Zivilliste
bezieht, sie alle sind in diesem weitern Sinne Arbeitskraftbesitzer und stehen als
solche den Arbeitsstoffbesitzern gegenüber. Es ist diese Vorbemerkung namentlich
deshalb außerordentlich wichtig für die richtige Auffassung der ganzen wirt¬
schaftlichen Lage, weil auf ihr der Lehrsatz von der Solidarität der wirtschaft¬
lichen Interessen aller produktiven Stände beruht. Alles Einkommen, das die
Vertreter der Arbeitskraft beziehen, ist ihr verhältnismäßiger Anteil am Arbeits¬
produkte und heißt Arbeitsverdienst, mag dieser nun im gewöhnlichen Leben
Lohn des niedern Arbeiters, Gehalt, Scilair, Gage des höhern Arbeiters oder
persönlicher Arbeitsverdienst des selbständigen Geschäftsmannes oder Landwirtes
genannt werden. Alle diese Einkommen sind Arbeitsverdienst und stehen gegen¬
über dem Anteile am Arbeitsprodukte, welches der Arbeitsstoffbesitzer bezieht
und welches Rente heißt. Man übersehe dabei namentlich nicht, daß im Ge-
schästsertrcige des selbst mitarbeitenden Geschäftsmannes oder Landwirtes zwei
ganz entgegengesetzte Einkommensartcn stecken, sein persönlicher Arbeitsverdienst
und die Rente aus seinem Betriebskapital.
Nach welchem Prinzip nun wird sich diese Teilung des Arbeitsproduktes
in Arbeitsverdienst und Rente vollziehen? Unzweifelhaft nach dem bekannten
Gesetz von Angebot und Nachfrage. Ist das Angebot von Arbeitskraft größer,
so wird der Anteil des Arbeitskraftbesitzers oder der „verhältnismäßige Arbeits¬
verdienst" sinken, der „verhältnismäßige Anteil des Arbeitsstoffbesitzers" oder
die Rente aber steigen; ist dagegen Überfluß an Arbeitsstoff vorhanden, so wird
die Rente sinken, der verhältnismäßige Arbeitsverdienst aber steigen.
Es war die erstere Thatsache, der zunehmende Überfluß an Arbeitskraft,
welche im letzten Menschenalter namentlich ein stetiges Sinken des verhältnis¬
mäßigen Anteils der Arbeitskraftbesitzer am Produkt und Hand in Hand damit
ein rasches Steigen der Reute oder des verhältnismäßigen Anteils der Arbeits¬
stoffbesitzer mit sich brachte. Um hierbei allen Irrtum von vornherein zu ver¬
meiden, bleibe man sich wohl darüber klar, daß es sich nicht um das Steigen
und Fallen des absoluten Arbeitsverdienstes oder des Arbeitslohnes schlechtweg
handelt, sondern um das Steigen und Fallen des relativen, des verhältnis¬
mäßigen Anteils am Produkt. Es kann also, wie es gewiß vielfach der Fall
war, der Arbeitslohn in den letzten vierzig Jahren gestiegen, aber doch der ver¬
hältnismäßige Anteil des Arbeiters am Produkt gesunken sein. Rodbertus
drückt diese Thatsache besonders scharf so aus, „daß bei steigender Produktivität
der gesellschaftlichen Arbeit der Lohn der arbeitenden Klassen ein immer kleinerer
Teil des Nationalprodukts wird," und fügt erklärend hinzu: „Nicht um die
Quantität des Lohnes handelt es sich hier, nicht um den Betrag an Brot,
Fleisch, Zeug u. s. w., den der Arbeiter am Produkt erhält, sondern um den
verhältnismäßigen Anteil. Wenn z. B hunderttausend Arbeiter vor fünfzig
Jahren eine Million Scheffel Getreide, heute aber zwei Millionen herstellen,
jeder Arbeiter indessen heute wie vor fünfzig Jahren nur fünfzig Scheffel als
Lohn empfängt, so wird der Arbeitslohn seiner Quantität nach gleich geblieben,
aber als Quote, als verhältnismäßiger Anteil am Produkt uoch einmal so
niedrig sein wie früher. Er wäre als Anteil am Produkt nur dann sich
gleich geblieben, wenn er von fünfzig Scheffeln auf hundert Scheffel gestiegen
wäre."
Infolge der durch die verbesserte Maschinentechnik überflüssig gewordenen
menschlichen Arbeitskräfte und das Wachsen der Bevölkerung ist nun, wie wir
schon gesehen haben, das Angebot von menschlicher Arbeitskraft im letzten
Menschenalter mit wenigen Unterbrechungen durch Kriege?c. im großen Ganzen
fortwährend gestiegen, sodaß es den Besitzern des Arbeitsstoffes möglich wurde,
den verhältnismäßigen Anteil der Arbeitskraftbesitzer am Produkt stetig herab¬
zusetzen und einen immer größern Anteil am Produkt für sich selbst zu behalten
und aufzuspeichern.
Nachdem wir bis zu diesem Punkte gekommen sind, ist es um Zeit, auf
den Arbeitsstoff als solchen etwas näher einzugehen. Erstes und wichtigstes
Mittel zur Bethätigung der menschlichen Arbeitskraft ist der Erdboden. Er ist
die Urquelle aller Produktion, der ewige Born, aus dem der Mensch immer
neue Produkte schöpft und zu dem alle Produkte im Kreislauf des Lebens
wieder zurückkehren. So besteht denn auch im Anfang jeder Wirtschaft die
menschliche Arbeit lediglich darin, daß der Mensch mittels seiner Arbeitskraft
dem Erdboden als einzigem Arbeitsstoffe die zur Befriedigung seiner einfachen
Bedürfnisse nötigen Produkte abnimmt. Das gewonnene Produkt wird hierbei
lediglich als Gebrauchsvermögen dienen, insofern der Besitzer dasselbe entweder
sofort verbraucht oder zu späterem Verbrauch aufspeichert. Bald aber wird
sich mit dem Fortschreiten der Technik herausstellen, wie praktisch es ist, das
aufgespeicherte Produkt zu weiterer Produktion der verschiedensten Art zu ver¬
werten. An die Stelle der einfachen Ernte wildwachsender Früchte wird der
Ackerbau treten, der in Gestalt der Saatfrucht und nmninchfacher Geräte u. s. w. die
Verwendung von aufgespeicherten Produkt zu weiterer Produktiv» mit sich bringt,
mehr und mehr gesellt sich zur sogenannten Rohprvduktion mit der zunehmenden
Kultur die Fabrikationsproduktion oder die Weiterverarbeitung der dem Boden
abgewonnenen Rohprodukte und führt zu wachsender Bedeutung des seitherigen
aufgespeicherten Produkts, indem sie dieses mit einem Wort aus bloßem Ge-
brauchsvermögen in das verwandelt, was man Kapital nennt. So tritt ein
ganz neuer Faktor in das Wirtschaftsleben ein, der in erster Linie dazu beiträgt,
die Entwicklung des Privateigentums immer mehr zu beschleunigen: es ist die
Möglichkeit für den Besitzer von aufgespeicherten Produkt, dasselbe nicht bloß für
sich selbst zu gebrauchen, sondern es zu weiterer Produktion zu verwenden und
damit die aufgespeicherte Produkteumeuge immer noch zu steigern. Das auf¬
gespeicherte Produkt nimmt jetzt seinerseits eine Eigenschaft an, die seither nur
dem Erdboden zukam, es dient zur Erzeugung neuer Produkte und gewährt in
ähnlicher Weise Reute wie dieser. Neben der Grundrente oder dem Anteil des
Grundbesitzers an der Nohproduktion entsteht die Kapitalreute oder der Anteil
des Besitzers von aufgespeicherten Produkt an den durch produktive Verwendung
desselben erzeugten neuen Produkten.
Damit war für den Besitzer von aufgespeicherten Produkt eine neue Zeit
angebrochen; es trat das allgemeine Bestreben hervor, von der aufgespeicherten
Produktenmenge einen möglichst kleinen Teil zum eignen Gebrauch zu verwenden,
dagegen einen möglichst großen Teil zu weiterer Produktion zu verwerten oder
zu kapitalisiren; denn Kapital ist ja nichts andres als zu weiterer Produktion
verwertetes Produkt. Die Folge hiervon mußte eine großartige Entwicklung
der gesamten Produktion sein. Durch die Erfindungen der Neuzeit, durch die
Dampfmaschine und alle jene andern technischen Fortschritte, vollzog sich in ver¬
hältnismüßig kurzer Zeit eine totale Umwälzung der seitherigen mehr auf der
menschlichen Arbeitskraft basirten Produktionsmethode. Der Arbeitsstoffbesitzer
hatte das Mittel gefunden, mit einem Minimum vou menschlicher Arbeitskraft
Prvdnktenmengen auf den Weltmarkt zu zaubern, die in das höchste Erstannen
setzen mußten und schien sich damit von dem lästigen Mitbewerb des Arbeits¬
kraftbesitzers um das Produkt endgiltig befreit zu haben. Millionen von mensch¬
lichen Arbeitskräften waren für ihren seitherigen Beruf entbehrlich und aus ihrer
Existenz geschleudert worden. Doch machten sich die Folgen davon für dieselben
nicht sofort geltend, im Gegenteil hatte es zunächst den Anschein, als sollte auch
für den Arbeitskraftbesitzer mit dieser Änderung die goldene Zeit angebrochen
sein. Die rasch sich vollziehende Neuordnung der ganzen Prodnktions-
methode, die zahlreichen neuen Bedürfnisse, welche die sich überstürzenden Er-
findungen des Maschiuenzeitalters schufen, erzeugten vorübergehend einen gro߬
artigen Aufschwung. Alles war jetzt bestrebt, sein aufgespeichertes Produkt zu
Kapital zu machen, großartige Neuanlagen aller Art entstanden und brachten
die Produktenmengen unter die Leute; man denke nur daran, welches Leben die
rasche Versorgung des Erdballs mit Eisenbahnen in den Güterumlauf brachte,
welche Kapitalsummen es erforderte, all die neuen Fabriken und Anstalten zu
bauen und in Betrieb zu setzen.
Aber diese Zeit des Überganges verstrich, Eisenbahnen und Fabriken waren
gebaut, und ungezählte Mengen von Produkten wurden auf den Weltmarkt ge-
worfen. Große Ozeandampfer trugen Berge von Brotfrüchten übers Meer
herüber ans neuerschlossenen fernen Ländern. Und noch immer häuften sich
die Produkte auf dem Weltmarkte, daß man schließlich die doppelte Menschen¬
zahl mit ihnen hätte befriedigen können, und harrten des wichtigsten Faktors
bei dem ganzen Prozesse: der Konsumenten.
Wir sind damit in der Gegenwart angekommen, die weitere Handlung des
Schauspiels spielt sich zum Teil gegenwärtig ab, oder sie gehört erst der nähern
oder fernern Zukunft an, je nachdem sich die Verhältnisse in den einzelnen Staaten
der modernen Kulturwelt rascher oder langsamer entwickelt haben.
Es stellt sich jetzt ein Faktor in der Rechnung heraus, mit dem die Arbeits-
stofsbesitzer nicht gerechnet hatten. Wohl umstehen die Arbeitskraftbesitzer in
hellen Haufen den Markt und bewundern alle die Schätze, die da aufgehäuft
sind, ihre lüsternen Augen zeigen auch deutlich, daß sie dieselben gar zu gern
für sich erwerben würden, aber wie sollen sie das können? Hatte man sie doch,
nachdem die Hochflut der Übergangszeit vorbeigcrauscht war, entlassen, weil jetzt
die Maschinen ihr Geschäft besorgen konnten, hatte man doch die, welche man
nicht entbehren konnte, in geschickter Ausnutzung des herrschenden Arbciterüber-
slnsses auf so schmalen Anteil wie möglich gesetzt. So fehlt den Arbeitsstosf-
besitzern gar bald die Hauptsache, der Verbrauch ihrer Produkte. Wohl haben sie
die Produkte in reicher Menge für sich, aber sie wollen diese nicht behalten,
sondern weggeben und immer neue, weitere Produkte damit erzeugen. Die
Arbeitsstoffbesitzer haben eben nicht überlegt, daß die Arbeitskraftbesitzer auch
wieder die Konsumenten sind, daß, wie Leon Sah richtig bemerkt, „Produkte ebeu
nur mit Produkten gekauft werden," und eine zu ungleiche Verteilung der Pro¬
dukte unter die, welche bei deren Erzeugung mitgewirkt haben, wie das von
Kirchmann so treffend nachgewiesen hat, notwendig zu Absatzkrisen schlimmster
Art führen muß. Es entsteht ein unhaltbarer Zustand betreffs der Verteilung
des Nationalprodukts, der als nächste Folge mit sich bringt, daß die Arbeits¬
stoffbesitzer sich selbst den Krieg erklären, indem sie durch Herabsetzung des
Preises ihrer Produkte sich gegenseitig den Konsumenten gegenüber den Rang
abzulaufen suchen, eine Maßregel, durch welche ein stetiges Sinken der Preise
eintritt, das wahrscheinlich noch dadurch vermehrt wird, daß der Einzelne glaubt,
durch Vergrößerung seines Betriebes größern Absatz erzielen und damit den
verminderten Nutzen wieder steigern zu können; ein verzweifeltes Mittel, denn
die Prvduktenmenge steigt dadurch noch mehr, und der Marktpreis der Waaren
sinkt immer weiter.
Wie aber die Arbeitsstoffbesitzer sich gegenseitig durch Herabsetzung der
Preise des Produkts bekriegen, so machen es Hand in Hand damit die Arbeits-
kraftbesitzcr mit dem Preise ihrer Arbeitskraft, d. h. mit dem Arbeitsverdienst.
Werden die Produkte billiger, so können sie auch wieder billiger arbeiten. So
bleibt sich dann auch die Konsumtionsfähigkeit derselben wieder trotz der billigern
Produkte gleich, und keinem von beiden Teilen ist geholfen. schweren Herzens
muß sich schließlich ein Arbeitsstoffbesitzcr nach dem andern zur Produktions-
vcrmindernng entschließen, es wird stiller in den Werken, wo eine Zeit lang so
lautes Leben geherrscht hatte, aber es ist die Stille vor dem Sturm; denn
mit der Einschränkung der Produktion ist auch die Krisis ihrem Höhepunkt
am nächsten gekommen. War seither bei dem Mangel einer richtigen Thätigkeit
der Güterverteilung bei allem Produktenüberflusse Sparen und wieder Sparen
der Wahlspruch der weitesten Kreise geworden, so tritt mit dem zunehmenden
Mangel an Arbeitsgelegenheit geradezu der Hunger vor die Thüre zahlreicher
Arbeitskraftbesitzer. Tausende von kleinern Arbeitsstosfbesitzern haben längst
diese Eigenschaft eingebüßt; sie sind im freigegebenen Kampfe ums Dasein, den
die Arbcitsstoffbesitzer untereinander führen, unterlegen und haben die Reihen
der Arbeitskraftbesitzer vermehrt, die ihrerseits denselben erbitterten Kampf um
die Arbeitsgelegenheit führen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist, wie sich
immer mehr herausstellt, auf dem Wege einfachen Gehenlassens nicht mehr
möglich. Die menschliche Gesellschaft ist, wenn sie einmal so weit ist, am Ab¬
grunde angekommen, in den sie stürzen muß, wenn man das sreie Spiel der
wirtschaftlichen Kräfte noch ferner walten läßt. Während die Arbeitsstoffbesitzcr
sich gegenseitig im wilden Konkurrenzkampfe um die Produktenbeute zerfleischen,
bemächtigt sich der Arbeitskraftbesitzer dumpfe Verzweiflung. Die Bande der
Moral, schon vorher durch den allgemeinen Kampf um die Existenz stark ge¬
lockert, lösen sich immer mehr, und einzelne Ausbrüche wilder Leidenschaft, wie
sie die letzte Zeit in England, Frankreich und Belgien leider schon in hohem
Grade gezeitigt hat, mahnen wie naher, rollender Donner an das fürchterliche
Wetter, das sich über der Menschheit entladen wird, um gewaltsam zu lösen,
was auf gutem Wege zu entwirren jetzt nahezu unmöglich geworden ist.
Das Prinzip vollständiger Aufhebung aller persönlichen Gebundenheit und
unbeschränkter Herrschaft des Privateigentums hat abgewirtschaftet, weil die
Stärkeren bei diesem System Mißbrauch mit ihrer Herrschaft getrieben haben,
und die verdiente Strafe folgt auf dem Fuße nach. Wir haben oben gezeigt,
daß die Bestrebungen der persönlichen Gebundenheit und des Privateigentums M
einem umgekehrten Verhältnisse stehen, d. h. daß mit der zunehmenden Aus¬
bildung des Privateigentums eine Abnahme der persönlichen Gebundenheit, und
umgekehrt mit der Zunahme der persönlichen Gebundenheit eine Minderung des
Privateigentums verbunden ist. Dieser Lehrsatz wird auch hier wieder in sein
Recht treten- Die Sicherung der Existenzbedingungen der menschlichen Gesell¬
schaft wird eine Einschränkung des bestehenden übertriebenen Privateigentumsrechts
und eine Steigerung der persönlichen Gebundenheit durch das bestehende Recht
zur dringenden Notwendigkeit machen. Mehr und mehr wird sich herausstellen,
daß man sich in einem Extrem befand, indem man die Ordnung der mensch¬
lichen Gesellschaft ohne Einschränkung der Individualität zum Wirtschafts-
politischen Ideal machte, daß dieser Standpunkt ebenso ein Extrem war wie die
Zeit der übertriebenen persönlichen Gebundenheit, der Sklaverei, daß die Wahr¬
heit auch hier in der Mitte liegt, und die Völker desjenigen Staates am glück¬
lichsten sein werden, dessen Rechtsordnung jedes dieser beiden Extreme vermeidet.
Wie wir oben gezeigt haben, führt der Individualismus oder das System
des bloßen Geheulnssens, der übertriebenen Herrschaft des Privateigentums, bei
freiem Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zum wirtschaftlichen Ruin des Mittel¬
standes, zum Pauperismus, und damit zu Zuständen, welche ebenfalls nach den
obigen Deduktionen ihre Lösung finden müssen im Sinne der Einschränkung
des übertriebenen Privateigentnmsprinzips und der Vermehrung der persönlichen
Gebundenheit. Es kann sich, wenn man erst zu dieser Einsicht gekommen ist,
nur noch darum handeln, zu entscheiden, ob diese Richtung ebenfalls dem freien
Spiel der wirtschaftlichen Kräfte überlassen werden soll, d. h. ob man ab¬
warten will, bis die Arbeitskraftbesitzer es in die Hand nehmen, auf gewaltsame
Weise für ihre Existenzbedingungen durch Selbsthilfe zu forgen, wie es in Frank¬
reich, England und Belgien die herrschenden Klassen vorzuhaben scheinen, oder
ob der Staat als berufener Fürsorger für das Wohl des Volkes in richtiger
Erkenntnis der Verhältnisse die Neuordnung derselben auf dem ruhigen Wege
gesetzlicher Reform in die Hand nehmen soll, wie dies z. B. die Politik des
deutschen Reichs und feines Kanzlers seit längerer Zeit anstrebt, Krankenkassen¬
gesetz, Unfallversicherungsgesetz, Altersversorgung, aber auch Tabaks- und
Branntwcinmvnopvl und wie die Tagesfragen alle heißen, sie alle sind freilich
nur ein erster Anfang auf dem neu betretenen Wege sozialer Reform, aber sie
sind bereits ein erster sozialer Eingriff in die freie, schrankenlose Willkür des
Privateigentums, ein erster Schritt zur Einführung eines gewissen Grades per¬
sönlicher Gebundenheit, und deshalb von hoher prinzipieller Bedeutung, Gerade
deshalb finde» aber auch alle diese Bestrebungen den energischen Widerstand
jener weiten, mächtigen und leider so vielfach noch in dem schlecht unterrichteten
Volk so maßgebenden Interessentenkreise, welche mehr oder minder bewußt sich
dadurch in ihrem Privatinteresse geschädigt fühlen und nicht begreifen können,
daß es besser ist, Krankheiten bei Zeiten vorzubeugen, als später ihre Folgen
zu tragen.
Wir können im Rahmen dieser Zeilen, die ja nur den Zweck haben, die
großen Gesichtspunkte zu zeigen, von denen aus die heutige wirtschaftliche und
damit auch die politische Lage zu beurteilen ist, nicht auf Eiuzelvvrschläge ein¬
gehen — diese werden ja auch für die einzelnen Länder und ihre verschiednen
Verhältnisse verschieden ausfallen müssen —, aber das wird wohl überall die erste
Aufgabe sein, den weitesten Kreisen klar zu machen, daß es sich bei der gegen¬
wärtigen wirtschaftlichen Notlage, wie sie sich durch den Rückgang der Preise
der wichtigsten Produkte, den schlechten Geschäftsgang, die zunehmende Ent¬
wertung des Kapitals und den daraus entspringenden Rückgang des Zinsfußes,
der nebenbei gesagt noch stärker werden dürfte, als heute die Mehrzahl der Ka¬
pitalisten glaubt, den Rückgang der Bodenrenke, der Arbeitslöhne, die mannich-
fachen Streikbewegungen und alle jene andern Dinge offenbart, nicht um vor¬
übergehende, mehr oder minder harmlose Erscheinungen handelt, sondern daß
diese Dinge den Anfang eines gewaltigen Wirtschaftspolitischeu Kampfes be¬
deuten, der zwischen Arbeitskraft- und Arbeitsstoffbesitzern, zwischen Arbeitern
im weitesten Sinne und Kapitalisten ausgekämpft werden und umso größere
Ausdehnung annehmen wird, je weniger und je später dem Ausbruch des¬
selben durch vorbeugende Maßregeln entgegengetreten worden ist. Das Ende
dieses Kampfes aber kann nur eines sein, eine Beschränkung des heutigen indi¬
vidualistischen Kapitalismus durch eine gesunde soziale Reform des gesamten
Wirtschaftslebens.
Weil aber nach einem Naturgesetz ein Extrem zunächst immer ein andres
erzeugt, so liegt die Gefahr nur zu nahe, daß nach Beendigung dieses kritischen
Kampfes, der mehr oder weniger die ganze heutige Kulturwelt ergreifen muß, in
denjenigen Staaten, in welchen dem manchesterlich-individualistischen System und
seinen für die Güterverteilung so verderblichen Folgen nicht bei Zeiten ein Damm
durch soziale Maßregeln entgegengesetzt wurde, der Zeit der schrankenlosen Privat-
eigentumsherrschaft eine Zeit ebenso schrankenloser Reaktion in Bezug auf die
persönliche Gebundenheit folgen wird, d. h. mit dürren Worten, daß dereinst die
sogenannte politische Reaktion in denjenigen Staaten am größten sein wird, in
denen der Kapitalismus vorher seine stärksten Orgien gefeiert hat.
Mögen es sich darum alle die, welche sich seither aus bequemem Opti¬
mismus, aus eigensinniger Prinzipienreiterei oder aus welchen Gründen immer
nicht entschließen konnten, den wirklichen Verhältnissen gegenüber vor den
drohenden Gefahren die Augen zu öffnen, mögen es sich alle die wohl über¬
legen, ob es nicht im eignen Interesse besser wäre, den Standpunkt veralteter
individualistischer Denkungsart aufzugeben und statt dessen sich etwas mehr mit
dem Gedanken der sozialen Reform zu befreunden. Wenn erst die Arbeiter¬
bataillone zu marschiren beginnen, wie in der letzten Zeit in England, in Frank¬
reich und Belgien, dann ist es für Reformen zu spät geworden. Die Erfin¬
dungen der Neuzeit sind nicht bloß für die Arbeitsstvffbesitzer gemacht worden,
sie sollten und könnten auch ein Segen für die ganze Menschheit sein. Sie
haben zwar zunächst den Arbeitsstvffbesitzeru den Vorteil gebracht, die mensch¬
liche Arbeitskraft durch mechanische Kräfte zu ersetzen, und haben dadurch dem
Arbeitsstoff den Löwenanteil am Produkt verschafft, aber sie haben auch bereits
angefangen, durch die großartige Entwicklung der gesamten Produktiv» dafür zu
sorgen, daß die Bäume des Kapitalismus nicht in den Himmel wachsen, sie
haben durch die ungeheure Ausbildung des Verkehrswesens die gegebene Boden-
fläche, diesen wichtigsten Arbeitsstoff, mittels Erschließung fremder Weltteile in
nie geahnter Weise vermehrt und damit einen Druck auf die Grundrente aus-
geübt, der erst dann wieder nachlassen wird, wenn dereinst die ganze Erde über¬
völkert ist; bis dahin hat es aber trotz aller Malthusschen Schwarzseherei noch
seine guten Wege.
Eigentlich wären ja heute alle Grundlagen vorhanden, um einen glück¬
lichern Zustand des Menschengeschlechts zu schaffen: Nrbeitsstoff in reicher
Menge auf Generationen hinaus, Arbeitskraft, um diesen Stoff zu bearbeiten,
und Maschinen aller Art, um immer mehr mechanische Arbeit der menschlichen
Arbeitsthätigkeit abzunehmen und damit dem Menschen selbst das Dasein zu
erleichtern. Was dem Eintreten dieses glücklichen Zustands seither im Wege stand,
es war eben nichts andres, als die Herrschaft des übertriebenen kapitalistischen
Prinzips, welches bei der Teilung des Arbeitsprodukts dem Arbcitsstoffbesitzcr
zu viel, dem Arbeitskraftbcsitzer zu wenig zukommen ließ. Ist erst durch eine
gesunde, in den richtigen Grenzen sich bewegende Sozialrcform diese Ungleich¬
heit aus der Welt geschafft und damit dem Mittelstande und den untern
Schichten wieder die Grundlage zu einer sichern Existenz gegeben, wird erst das
Produkt zu seinem überwiegenden Teile wieder das sein, was es in Wirklich¬
keit sein soll, nämlich Gebrauchsgut und nicht Kapital, dann wird auch jenes
nerven- und glückzcrstöreude Hasten und Jagen nach Gewinn mehr und mehr
seinen Reiz verlieren, und die Menschen werden sich wieder mit mehr Ruhe und
Behagen ihres Lebens freuen können. Dann werden auch die ethischen Seiten
des menschlichen Daseins wieder jene Rolle im Leben finden, die ihnen so lange
vorenthalten war in einem Zeitalter, in welchem der Wert des Menschen von
vielen nur nach dem Geldsnck gewogen wurde, dann wird die Menschheit end¬
lich den verdienten Lohn ernten für die großen Leistungen des menschlichen
Geistes im letzten Jahrhundert.
art V. ist und bleibt trotz aller seiner Schwächen doch eine der
imposantesten Gestalten der neuern Geschichte. Von ihm selbst
ist erst jener lebendige Zusammenhang der deutschen und spanischen
Dinge geschaffen worden, vermöge dessen es ihm möglich wurde,
die Landsknechte bis hart vor Paris oder gar über das Meer vor
Tunis und Algier zu führen, wohl auch den Papst in Rom selbst heimzusuchen,
u»d anderseits wieder mit den spanischen Hakenschtttzcn und Rittern die Kraft
der Schmalkaldener zu brechen. Von ihm an wirft sich das Haus Habsburg
einerseits planvoll den Türken im Osten, den Franzosen im Westen entgegen,
und beherrscht gleichzeitig die fernen Eilande und Küsten, die ans dein Ozean
sozusagen neu emporgetaucht waren. Der bourbonische Familienpakt, den der
Herzog von Choiseul im achtzehnten Jahrhundert zu stände gebracht hat, ist doch
nur ein schwaches Gegenstück zu jenem Zusammenhalten des deutschen und des
spanischen Zweiges des habsburgischen Hauses, durch welches Kaiser Maxi¬
milian II. nicht am letzten abgehalten worden ist, dem Zuge seines Herzens zu
folgen und sich offen der evangelischen Lehre zuzuwenden, durch welches Philipp II.
in dem Augenblicke, wo er verzweifelte, die gesamten Niederlande bei der Krone
Spanien festhalten zu können, sich unter den deutschen Vettern den Erzherzog
Albrecht heraussuchte, um durch eine Seknndogenitur das reiche Erbe der Ahn¬
frau Maria wenigstens dem habsburgischen Hause zu erhalten. Gewiß, diese
deutsch-spanische Macht hat wiederholt schwere Niederlagen erlitten; aber oft
genug hat sie auch triumphirt, und so viel ist sicher: am Anfange des sieb¬
zehnten Jahrhunderts, hundert Jahre nach Karl V., ist sie noch weit entfernt
davon, überwunden zu sein; sie war noch die robusteste Thatsache der europäischen
Politik, deren Wucht auf den ganzen Weltteil drückte; wie Franz I. gegen KarlV.
gerungen hatte, wie er gegen dessen Bruder Ferdinand den Grvßtürkeu aus¬
gespielt hatte, so mußte auch Heinrich IV. sich vor allem bemühe», Frankreich,
das eine starke und skrupellose spanische Faltion enthielt, aus den Umschlingungen
dieser Macht zu befreien und ihm die Freiheit .des Adams und Lebens zu
sichern. Wer die Beschreibung der Schlachten liest, die noch der große Conde
gegen die Spanier schlug, wer den Todesmut der spanischen Veteranen bei
Nocrvh kennt, der weiß auch, wie mächtig noch bis zu der großen Niederlage
in Münster und Osnabrück das Haus Habsburg in Europa dastand.
Unter diesem Gesichtspunkte müssen die Ereignisse des Zeitalters betrachtet
werden, das nach dem Kriege der dreißig Jahre genannt wird. Vor allem
wichtig aber ist die berührte politische Kombination für Italien gewesen. Deutsch¬
land mochte um 1621 zusehen, daß nicht Spanien das that, was später
Frankreich vollführte; die Gefahr, daß die Kurpfalz von den Scharen Spiuolas
und Cordovas für Philipp IV. erobert ward und ein Bindeglied wurde zwischen
der Frcigrasschaft und den Niederlanden, lag längere Zeit nahe genug. Aber
was Deutschland erst bedrohte, das war in Italien zur Thatsache geworden;
in Neapel und in Mailand standen spanische Truppen, herrschten spanische
Statthalter. Mit Knirschen trug eine hochgebildete Nation die fremden Ketten;
als Herzog Karl Emanuel von Piemont-Savohen die Abhängigkeit von der
spanischen Politik zerbrach und mit dem Schwerte sein Anrecht ans das Herzogtum
Montserrat gegen die spanische Übermacht verteidigte, da war ihm der ungelenke
Jubel aller patriotisch denkenden Italiener entgegengebracht worden; es war der
Anfang jener kühnen Politik, die von der Losung getragen wurde: Lvmxro,a>plur>i,
gg.vom! und durch die das Herrschergeschlecht, das zu wagen verstand, am Ende
die Krone Italiens gewann.
Niemand aber w ar in üblerer Lage als die Republik Venedig, Von links
her drohten die Spanier aus Mailand, von rechts drängten die Habsburger
dem Meere zu, und Erzherzog Ferdinand von Jnnerösterreich versuchte in dem
„Gradiskcmer" Kriege die Mceresstellung seines Hauses zu befestigen, ohne daß
ihn dabei der Kaiser unterstützt, ja ihm auch nur guten Willen gezeigt hätte.
Es blieb am Ende so ziemlich wie es vorher gewesen war: die Republik ver¬
mochte nicht die Habsburger aus Triest zurück zuwerfen und ihnen den Zugang
zur Adria zu sperren; aber Ferdinand war auch nicht dazu gelangt, volle Freiheit
ans dem Meere zu gewinnen; es blieb dabei, daß fremde Kriegsschiffe in dem
Teile des Golfes, der zwischen Jstrien und der vcneticimscheu Küste liegt, nicht
erscheinen durften; der Löwe von San Marco beherrschte doch die heimischen
Gewässer noch allein. Als im Mai 1618 durch den Podeste und Hauptmann
von Capo d'Jstria nach Venedig gemeldet wurde, daß früher schon zwei große
Fahrzeuge in Triest eingelaufen seien und jetzt ein drittes von Neapel nach¬
gefolgt sei, welches Kanonen, achtzig neapolitanische Soldaten und vierzig Ra-
guscmer Seeleute a» Bord führte, da wurde der Gesandte der Republik in Ve¬
nedig, der Cavaliere Zorzi Giustiniani, sofort angewiesen, mit dem Kardinal
Kiesel Rücksprache zu nehmen und ihm folgendes zu erklären: „Das Vertrauen,
welches die Republik in den guten Willen des Kaisers setze, sei groß; wider¬
wärtig aber seien die Unternehmungen derjenigen, welchen eine gütliche Bei¬
legung der Streitigkeiten mißfalle, wie dies aus der Ankunft eines Kriegsschiffes
mit Truppen im Hafen von Triest hervorgehe. Die Republik müsse sich darüber
verwundern, daß in einer Zeit, in welcher alle Schatten und alle Eifersucht
zerstreut werden sollten, dieselben nur noch vermehrt würden; sie könne nicht
glauben, daß es in der Absicht Seiner Majestät liege, daß Kriegsschiffe nach
Triest komme» oder dort ausgerüstet werden; es sei klar und einleuchtend, daß
dies nicht erlaubt gewesen sei, da der Verkehr im Golfe in derselben Weise
wiederhergestellt werden müsse, wie er früher beschaffen gewesen, nämlich für
Handelsschiffe, aber nicht für- Kriegsschiffe."
Aus dieser amtlichen Mitteilung spricht deutlich der Entschluß der Signoria,
sich nicht hinter die Linie zurücktreiben zu lassen, welche sie seither behauptet
hatte; es galt jeden Schein zu vermeiden, als ob Venedig irgendwelchen Grund
habe, ein Auge zuzudrücken, falls Österreich weitere Pläne hatte und sie ins
Werk richten wollte. Man hatte freilich soeben erst den „gradiskanischcn" Krieg
durchgesuchten und dabei nichts wesentliches erzielt.") Aber gerade deshalb war
die Signoria der Meinung, daß sie jetzt keine Schwäche zeigen dürfe, wenn
nicht die schlimmsten Folgen daraus erwachsen sollten; sie forderte, daß die
Uskoken nicht bloß aus Zengg, sondern womöglich aus allen Küstenplätzen
entfernt und so weit als möglich ins Land getrieben werden sollten; die Piraten¬
schiffe müßten alle zerstört werden. In der That, die Republik hatte allen
Grund zu diesem festen Auftreten; erst vor kurzer Frist hatte sich gezeigt, wie
gefährdet doch im Grunde ihre Stellung war, wie leicht dies Zentrum eines
großen Reiches, dem die eigne militärische Volks kraft und die sichere Unterlage
überlieferter Popularität fehlte, einer Überrumpelung ausgesetzt war: der
französische Abenteurer Jacques Pierre, welcher im März 1617 nach Venedig
gekommen war, hatte den verwegenen Plan entwerfen können, mit Hilfe einer
Anzahl wagehalsiger Landsleute, welche während des Gradiskaner Krieges ge¬
worben worden waren, den Dogenpalast und das Arsenal zu überfallen und
sich durch Gewalt und Schrecken zum Herrn der Lagunenstadt zu machen; eine
in der Nähe lauernde spanisch-neapolitanische Flotte würde dann, so rechnete er,
von ihr Besitz nehmen können. Das Unterfangen war noch rechtzeitig vereitelt
worden, weil der Rat durch Verräterei davon benachrichtigt wurde; aber der
unheimliche Eindruck blieb doch zurück, daß Venedig ohne die angespannteste
Aufmerksamkeit sich nicht vor jähen Handstreichen seiner Feinde sichern konnte,
welche möglicherweise eine gänzliche Katastrophe herbeizuführen vermochten;
und es war fast noch schlimmer, wenn, wie dies Ranke für möglich hält, der
kühne Gedanke nur in Pierres Kopf entstanden war, als wenn der spanische
Vizekvnig von Neapel, der Herzog von Ossuna, und der Statthalter von
Mailand eigentlich die Sache veranlaßt hatten, wovon man in Venedig fest
überzeugt war. Im letztern Falle gehörte doch die Verwegenheit eines Lands¬
knechts und das Übelwollen der spanischen Behörden zusammen dazu, eiuen so
dreisten Plan zu zeitigen; im andern Falle aber schien Venedig einer überreifen
Frucht zu gleichen, welche jeder zum Falle zu bringen sich vermessen konnte.
Soviel ersieht man aber ans allem: die Signoria war mehr als je darauf
angewiesen, die gefährdete Lage des Staates zu verbessern, ihn aus seiner Ver¬
einzelung zu befreien, mit jedermann, welcher anch vom Hause Habsburg be^
droht oder behindert war, Beziehungen anzuknüpfen. So kommt es, daß man
in Venedig die Fäden der europäischen Politik in gewissem Sinne zusammen¬
laufen sieht; jede Opposition gegen den Kaiser Ferdinand und die Krone Spanien
wird in Venedig mit Freuden begrüßt; daher die Verhandlungen schon mit
Heinrich IV. von Frankreich, mit der deutschen Union, die im Jahre 1609 den
Dr. Johann Baptist Lenk als ihren Agenten nach Venedig sandte; daher anch
sofort eine beklemmte Stimmung am Markusplatze, wenn sich die Wolken für
das Haus Habsburg verteilen, wenn ihm feine Entwürfe gelingen; auch wenn
man nicht mit ihm im Kriege liegt, so hat man das Gefühl, daß es bald aus
irgendeinem Grunde dahin kommen könnte, und sieht es daher lieber, daß die
Herren in Wien und Madrid, die Hände nicht frei haben. Wie seltsam sich
unter diesen Umständen die Fäden verwirren, erkennt man daraus, daß die deutschen
Protestanten hofften, die Republik ganz in die Union hineinzuziehen, weil damals
Paolo Sarpi die schärfste Opposition gegen das Papsttum vertrat und die Union
im letzten Ende doch gegen den Papismus gerichtet sei: ja der Gesandte
Jakobs I. von England, Wotton, arbeitete geradezu darauf hin, in Venedig
der Reformation zum Durchbruch zu verhelfen, hart vor dem Ausbruch des
dreißigjährigen Krieges, am Vorabend der gewaltsamen Wiederkatholisirnug
Steiermarks, Österreichs und Böhmens.
Diese» Dingen ins einzelne nachzugehen ist das Verdienst eines kürzlich
zum Abschlüsse gelangten Buches/") auf dessen reichen archivalischen Mitteilungen
wir im folgenden fußen. Das Ganze der Situation haben wir gezeichnet; ihr
in allen ihren einzelnen Wandlungen zu folgen sind wir freilich bei dem Charakter,
den diese Studie haben soll, und bei dem Raum dieser Blätter nicht imstande,
aber auf die Hauptthatsachen wollen wir doch hinweisen.
Gleich der Ausbruch der böhmischen Revolution im Mai 1618 wurde für
Venedig von großer Bedeutung. Man freute sich über dieselbe, weil sie deu
damals erst mit der Königswürde bekleideten Ferdinand notwendig gegenüber
von Venedig nachgiebiger stimmen mußte; aber man konnte sich auch wieder
der Sorgen nicht entschlagen, weil Spanien sich möglicherweise für einen
Verlust der deutscheu Habsburger würde in Italien schadlos halten wollen; auch
war es möglich, daß es sich für die Truppenhilfc, die es den deutschen Vettern
gegen die böhmischen Rebellen sandte, in Italien bezahlen ließ; man Hai
eine Zeit lang in Venedig befürchtet, daß Ferdinand Jstrien und Friaul an
Spanien abtreten könne, eine Gebietsvcrändernng, die für die Republik die größten
Unzntrüglichteiten herbeigeführt hätte. König Ferdinand gab sich freilich alle
Mühe, diese Befürchtungen zu zerstreuen; er war in einer Unterredung, welche
er am 7. Juli mit dem Gesandten Zorzi Giustiniani hatte, so freundlich als
möglich; mit Bewunderung sprach er von den großen Galeonen der Venetianer,
die er vor zwanzig Jahren auf seiner Reise nach Loreto selbst gesehen habe,
und berührte dann anch andre Dinge, die ihm in der Stadt besonders gefallen
hätten; der Gesandte war ganz eingenommen von der Imumnitü, ALlltiloMl
des hohen Herrn; aber dabei ließ doch jeder die Krallen ein klein wenig sehen:
der Kaiser ließ einige Worte über die Größe und Stärke der neapolitanischen
Flotte fallen, mit welcher der Herzog von Ossuna jeden Augenblick über die
Republik herzufallen bereit war, und der Gesandte erwiederte darauf mit Lob¬
sprüchen über die venetianische Flotte, welche schlagfertig und nach Zahl und
Tüchtigkeit der Schiffe geeignet sei, das Ansehen der Republik in jeder Weise auf¬
recht zu erhalten. So blieb die Lage stets eine gespannte, und bald bemühte mau
sich Vonseiten der antihabsburgischen Liga, Venedig zum Angriff auf Österreich
zu bestimmen, wozu es an brauchbaren Vorwänden nicht fehlte; „noch sei kein
Dieb bestraft, konnte die Signoria klagen; keiner von den vielen verbrecherischen
Uskoken sei um seinen Kopf gekommen; man sperre sie ein und lasse sie ent¬
wischen, und daher sei es kein Wunder, wenn dieselben wieder Zutrauen faßten
und ihre gewohnten Verbrechen wieder aufnahmen, wie dies die Berichte der
Mftenkapitäne darthaten." Und während sich die österreichische Regierung so
benahm, hatte Venedig die böhmischen Rebellen noch mit nichts unterstützt: „sein
eignes Interesse verlangte die Aufrechterhaltung guter Beziehungen bei Wahrung
aller bereits anerkannten oder vertragsmäßig stipulirten Rechte." Während es aber
an diesen denn auch zäh festhielt, zeigte sich ein neuer Streitgegenstand: die Spanier
wollten 6000 Mann Fußsoldaten „zum Schutz der gefährdeten Religion" durch
den venetianischen Golf nach Trieft gehen lassen, von wo sie nach Böhmen
weiter ziehen sollten; über das lief wider das Recht der Republik, in ihren
Gewässern keine fremden bewaffneten Schiffe zu dulden, und wer bürgte dafür,
daß die Spanier wirtlich Trieft wieder räumen, daß sie nach Böhmen gehen
würden? „Das Ziel der Spanier, sagte der Senat, sei immer verborgen.
Die Republik sei überzeugt, daß der König nicht nur den verwirrenden Plänen
der Spanier fern bleiben wolle, sondern daß er auch alle Gelegenheiten dazu
abwenden werde, wie es seine Güte und Weisheit verlange, und wie es auch die
aufrichtige Herzlichkeit ihrer (d. h. der Venetianer) Gesinnung erfordere, welche
mit aller Klarheit erwiedert zu werden verdiene." Man kannte überall die Ge¬
spanntheit der Beziehungen Venedigs zum Hause Habsburg; man wußte, daß
die spanischen Drohungen der Republik ein wahrhaft friedliches Verhältnis
zur deutschen Linie dieses Hauses nicht auskommen ließen, selbst wenn dazu in
Venedig und Wien die Bereitwilligkeit vorhanden war, und so rechnete man auch
überall auf die Geldhilfe der Republik wider Ferdinand. Nun geschah es im
Januar 1619, daß Graf Ernst von Mansfeld und der Geheimsekretär des Mark¬
grafen von Ansbach, Bcilthasar Reh, nach Turin reisten, um mit Karl Emanuel
einen Bund zu vereinbaren. Im Mürz ergab sich, daß der Herzog bereit war
loszuschlagen, wenn ihm die Kaiserkrone und der böhmische Thron zugesichert
würden; Friedrich von der Pfalz sollte die österreichischen Vorlande, die geist¬
lichen Gebiete im Elsaß und eventuell Ungarn erhalten. Man wollte gleichzeitig
in Böhmen und im Elsaß Krieg führen, um für Savvhen und die Pfalz je ein
Faustpfand zu erlangen; dazu bedürfte es einer Unterstützung von anderthalb
Millionen Dukaten für drei Jahre; die Hälfte wollte Savvhen aufbringen, die
andre Hälfte erwartete man von Venedig. Aber der Rat war doch zu vorsichtig,
um sofort ins Feuer zu gehen; auch die Aussicht auf Görz, Gradista und einen
Teil von Wcilschtirol verführte ihn nicht; unter sehr höflichen Wendungen wurde
der Antrag thatsächlich abgelehnt. Als dann die böhmische Revolution besiegt
war und Bethlen Gabor, den die Empörer zum König von Ungarn gewählt
hatten, aus Furcht vor Kaiser Ferdinands absolutistischen Plänen aufs neue die
Waffen gegen denselben ergriff, entsandte er Boten nach Venedig, welche im
Juni 1621 mit dem Rate verhandelten; sie führten eine sehr zuversichtliche
Sprache, redeten von dem Bündnis Bethlens mit dem Sultan, von seiner recht¬
mäßig erfolgten Königswahl, von den Rüstungen des vertriebenen Königs Friedrich,
welcher nächstdem wieder mit Heeresmacht nach Prag zurückkehren werde; sie
trugen auf ein „allseitiges Bündnis" an, vermöge dessen ihr König, „der leben und
sterben wolle für die Republik," und Venedig Freund und Feind gemeinsam haben
sollten ; Siebenbürgen, die Walachei, das „lonföderirte Reich Böhmen," Osterreich,
Mührer, Schlesien und die Lausitz sollten in den Bund aufgenommen werden.
Der König verhieß alle möglichen Vorteile: so oft die Republik gegen irgend
jemand Krieg führen wolle, werde er ihr eine beliebige Anzahl leichter und
schwerer Reiter zur Verfügung stellen, „wovon Ungarn noch immer einen wunder¬
baren Überfluß hatte"; auch Handelsvortcile wurden in Aussicht gestellt, die
Zufuhr von Wachs, Holz, Quecksilber, Schweinen und Schafen verheißen. Von¬
seiten des Sultans und des Tatarenchans seien dem Könige 200 000 Mann ver¬
sprochen worden; da er aber ein christlicher Fürst sei, so ziehe er vor, mit der
Republik zusammen das feindliche Haus Österreich zu bekämpfen; sie Hütten die
Mittel dazu, Venedig das Geld, Ungarn die Soldaten. Auch auf diese An¬
erbietungen erwiederte der Rat höflich, aber ablehnend; man vermied es, Bethlen
einen Titel zu geben, um ihn nicht zu reizen, und doch auch nicht als König
anzuerkennen, was Ferdinand nicht Hütte ruhig hinnehmen können. Man erschöpfte
sich in Versicherungen der Zuneigung und des Vertrauens, berief sich aber darauf,
daß die großen Auslagen der Republik für Heer und Flotte es ihr unmöglich
machten, eine Geldhilfe zu leisten.
Es war eigentlich erst die Angelegenheit des Valtellin, was die zögernden
Aristokraten, die sich nicht gern mit Schwächeren und Bedürftigeren verbanden,
zu entschiedenen Schritten drängte. Als sich hier, an der Wasserscheide zwischen
Adda, Jnn und Etsch, da wo sich die Gebietsteile der beiden Zweige der Casa
d'Austria ganz nahe kamen, die Spanier festsetzten und eine Verbindung zwischen
ihrem Mailand und dem österreichischen Tirol schufen, da fühlten sich natur¬
gemäß Savoyen und Venedig in ihrem Dasein bedroht; was sollte werden,
wenn die seither noch auseinander gehaltenen Machtkomplexe sich hier berührten,
wenn die Wasser zusammenschössen in ein gewaltiges Bett? Auch der König
von Frankreich sah diesem Handstreiche nicht ruhig zu; im Frühjahre 1621 schon
ließ er durch seinen außerordentlichen Gesandten, den Marschall von Bassompierre,
die Wiederherstellung der frühern Zustände im Valtellin fordern; aber trotz
des Madrider Vertrages vom 25. April 1621, in welchem Philipp IV. seinen
Errungenschaften im Valtellin völlig entsagte, wurde die Lage nicht geändert;
die Schweizer Eidgenossen behielten Recht, wenn sie dem französischen Gesandten
Montholon gegenüber, der ihnen voll Genugthuung diesen Vertrag vorlegte,
die Ansicht äußerten: „Der Spanier werde das, was er sich durch das Schwert
erkämpft habe, nicht an Feder und Papier ausliefern." In Venedig kam man
zu derselben Überzeugung, daß das Werk des Schwertes nur durch das Schwert
rückgängig gemacht werden könne; als der spanische Gesandte Graf Onnate,
derselbe, welcher in Wallensteins Geschichte eine so bedeutsame Rolle spielt, dem
Botschafter der Republik, Gritti, die Gleichheit verweigerte, welche seit Jahr¬
hunderten an allen Höfen den Vertretern des Dogen eingeräumt war, und
Gritti die Wahrnehmung machen mußte, daß der spanische Minister in Wien
„mehr ein Diktator sei als ein Gesandter" — da entschloß sich der Rat, seinen
Vertreter im März 1622 von Wien abzuberufen, „weil die Selbstachtung der
Republik nicht erlaube, zuzusehen, wie gegen ihren Gesandten ein neuer Stil
und neue Gepflogenheiten in Anwendung kämen." Der Kaiser gab hierauf
eine vieldeutige Antwort, worin er indessen doch die Republik seiner besten Ge¬
sinnungen versicherte. Abhilfe aber gewährte er doch nicht; er griff nicht
direkt in die spanisch-venetianische Verwicklung ein; aber wo seine Sympathien
sein mußten, war nicht zweifelhaft. So schlössen Venedig, Frankreich und
Savoyen im Februar 1623 die Liga von Lyon, als deren Zweck die Vertreibung
der Spanier und des Erzherzogs Leopold aus dem Valtellin bezeichnet wurde,
welches an die „Bünde" zurückgegeben werden sollte. Frankreich verhieß 15-
bis 18000 Fußgänger und 2000 Reiter auszurüsten, Venedig 10- bis 12000
Fußgänger und 2000 Reiter, der Herzog von Savoyen 8000 Fußgänger und
2000 Reiter; alles in allem sollte sonach das Heer der Liga 33- bis 38000
Mann zu Fuß und 6000 Reiter oder etwa 40000 Mann im ganzen zählen. Für
eine vom Grafen von Mansfeld auszuführende Diversion sollten 900000 Livres
aufgebracht werden, die Hälfte von Frankreich, ein Drittel von Venedig, ein
Sechstel von Savoyen; im Falle eines Angriffes auf einen der verbündeten
Staaten, gehe er nun von Spanien direkt aus oder „ von andern unter ihrem
Namen," wollten sich die Verbündeten mit 9000, 6000 und S000 Mann bei¬
stehen. Venedig erreichte durch diese Liga, was es brauchte, Sicherheit gegen
ein Zusammenwirken der beiden Linien der Casa d'Austria gegen sein Dasein:
am 11. Februar 1623 wurde der Vertrag von dem Rate mit 145 gegen 19
Stimmen angenommen. Der Bund von Lyon hatte noch eine andre Folge:
„er hat Richelieu den Weg in den Staatsrat geebnet; denn er hat Frankreich
eine Aufgabe gestellt, welche zu lösen die alten Räte der Krone nicht gewachsen
waren." In Venedig aber hatte man allen Grund, stolz zu sein, daß man sich
nicht früher die Hände gebunden, sondern in der Vereinzelung ausgehalten hatte;
jetzt erst hatte man einen Vertrag in der Hand, welcher Spaniens Weltmacht¬
gelüsten ein mächtiges Hindernis in den Weg schob und ihm in ganz andrer
Weise Schach bot, als dies durch einen Bund mit dem Pfälzer oder Bethlen
Gabor hätte geschehen können; die Republik hatte mit gewohnter Umsicht ver¬
standen, ihre Zeit abzuwarten.
Freilich sollte sich auch in diesem Falle ergeben, daß Allianzen mit mehr
Feuer geschlossen als gehalten werden. Die Angelegenheit des Valtellin wurde
zunächst dadurch in ein ganz neues Stadium gebracht, daß Spanien, um
einem Kriege in Italien auszuweichen, bei dem es vielleicht vom Kaiser nicht
ausgiebig unterstützt wurde, die Vermittlung des Papstes anrief und diesem das
Valtelliu in äeposito übergeben zu wollen erklärte. Der Rat von Venedig
erblickte in diesem überraschenden Schachzuge des Madrider Hofes sofort nichts
als das Bestreben, Zeit zu gewinnen, und sich erst recht in dem Valtellin
dauernd einzurichten; deshalb drang er auch darauf, daß der Graf von Mans-
feld sich mit der ausbedungenen Heeresmacht von 26 000 Mann in Burgund
und der Frcigrafschaft festsetze und so einen Krieg entzünde, an dem Frankreich
notwendig hätte teilnehmen müssen. Trotzdem schien Ludwig XIII. bereit, sich
in das Dazwischentreten Gregors XV. zu fügen; aber die Bestrebungen Spaniens,
Frankreich zu vereinzeln und durch die Heirat einer Infantin mit dem englischen
Thronfolger Karl England auf seine Seite herüberzuziehen, mußten in Paris
doch auch andre Stimmungen erwecken, und indem Richelieu am 26 April 1624,
Mir <>'(',>n'n<>!>'> mvinoirs, wie Henry Martin sagt, in den Rat des Königs be¬
rufen ward, gelangte gerade derjenige Staatsmann, der die Schwächung Habs-
burgs als das oberste Ziel der französischen Staatskunst ansah, ans Ruder.
Nun wurde ein Heer unter dem Marquis de Coeuvre entsandt, dem sich Vonseiten
der protestantischen Kantone der Schweiz und der „Bünde" je 3000 Mann an¬
schlössen und das von Venedig Belagerungsgeschütz empfing; trotz des Widerspruches
der katholischen Kantone genehmigte die Tagsetzung den Durchmarsch der Fran¬
zosen, welche im November und Dezember 1624 die ganze Landschaft samt dem
Wormser Gebiete besetzten; auch der päpstliche Oberkommandant Marchese de
Bagni ergab sich, Anfang 1625 fiel Clüver (Chiavenna), und nur in dem Felsen-
schlvsse von Riva behaupteten sich die Spanier. Venedig nahm jetzt eine
immer schärfere Stellung gegen das Haus Österreich ein; es nahm damals
den landslüchtigen Grafen Thurn, den Führer der böhmischen Rebellen, in seine
Dienste, es ließ durch Oberst Kaplirsch deutsche Söldner werben und stellte dem
Sekretär Cavazza in Zürich Kreditbriefe bis zur Höhe von 15 000 Thalern
aus, als plötzlich wieder eine jähe Wendung erfolgte. Im März 1626 verein¬
barte der französische Gesandte Fargis in Madrid den sogenannten Vertrag von
Monzon, der am 16. Mai in Barcelona unterzeichnet wurde, und in dem Frank¬
reich alle die glänzenden Vorteile preisgab, welche der schneidige Marquis von
Coeuvre erfochten hatte; die Hoheitsrechte der „Bünde" wurden auf einige
Formalitäten beschränkt, Spanien ebenso wie Frankreich das Recht der Ein¬
mischung zugestanden und die festen Plätze von neuem dem Papste übergeben.
Der Vertrag läuft so schnurstracks der Politik Richelieus entgegen, daß man in
der That Ranke beipflichten muß, der darin einen Erfolg der streng katholischen
Hofpartei erblickt, welche einen offnen Zusammenstoß mit Spanien, zu dem
Savoyen und Venedig drängten, um jeden Preis verhüten wollte. Man kann
denken, wie die zwei andern Alliirten von Lyon über diesen Abfall Frankreichs
urteilten; der Prinz von Piemont, der in Paris zu Gaste war, als die Nachricht
von dem Vertrage daselbst ankam, geriet darüber in die größte Aufregung und
verließ in Unmut die Stadt; der französische Gesandte, welcher dem Rate von
Venedig die Nachricht amtlich übermitteln mußte, verließ den Palast des Dogen
„sehr bestürzt und unschlüssig, gerötet vor Verlegenheit oder Zorn."
Da erfolgte ein Ereignis, welches Nichelieus offenbar zurückgedrängtem
Einfluß plötzlich wieder aufhalf. Am Christtage 1627 starb der letzte Herzog
Mantnas aus dem Hause Gonzaga, Vincenz II., der „ein alleinstehender, kinder¬
loser, kranker Mann" gewesen war, und sein rechtmäßiger Nachfolger wurde der
Herzog Karl von Gonzaga-Nevers, „einer der vornehmsten Pairs von Frank¬
reich, ein Liebling des Königs und seinem zweiten Heimatlande Frankreich er¬
geben und zugethan," sodaß der Kardinal Richelieu ihn als das beste Werkzeug
ansah, um den französischen Einfluß in Oberitalien zu befestigen. Die An¬
sprüche Karls von Revers waren umso unbestreitbarer, als er wenige Stunden
vor dem Tode Vincenz' II. dessen Nichte Marie geheiratet hatte, und so auch
„die Rechte der savoyischen Dynastie in sich vereinigte." In Wien war zu¬
nächst die Stimmung gegen ihn nicht unfreundlich; die Kaiserin Eleonore, eine
mantuanische Prinzessin, sah in Karl den rechtmäßigen Erben ihrer Familie.
Aber wieder trat Spanien dazwischen und warf die ganze Macht der Casa
d'Austria gegen die Entwürfe Nichelieus in die Wagschale; zum erstenmale er¬
litten Wallenstein und sein Anhang eine politische Niederlage am Kaiserhofe,
als Ferdinand gegen ihre Warnungen taub blieb und im März 1628 der
spanischen Politik sich anschloß, welche in Karl von Revers lediglich einen
Vorposten Frankreichs sah, und, im Fall dieser Mantua und Casale ge¬
wönne, für Mailand selbst fürchtete. Am 1. April ernannte der Kaiser als
oberster Lehenshcrr einen Kommissar, den Grafen Johann von Nassau, welcher
das Herzogtum bis zum Austrag der Sache als Sequestrator verwalten sollte;
und da Venedig, das gewiß war, daß Ludwig XIII. den Herzog von Revers
nicht fallen lassen würde, trotz der geringen Zuverlässigkeit seiner aus Eingebornen
und Albanesen bestehenden 12 000 Mann Landtruppen sich doch für Revers
entschied, und anderseits Savoyen, das auch Ansprüche auf Mantua anmeldete,
seine Rechnung besser bei einem Bunde mit Ferdinand und Spanien zu finden
hoffte, so war die Liga von Lyon thatsächlich aufgelöst; der Herzog von Sa¬
voyen setzte auch dem ersten Versuch der Franzosen, in Oberitalien einzudringen,
glücklichen Widerstand entgegen und zwang sie zur Rückkehr in die Dauphins.
Diese Niederlage nahm nun aber Richelieu nicht ruhig hin. Seine Lage
war dadurch verbessert worden, daß Papst Urban VIII., welcher in Wien ver¬
geblich für Revers gewirkt hatte, mit seinen Wünschen auf feiten Frankreichs
stand, und daß am 30. Oktober 1628 La Rochelle, dem die Engländer ver-
geblich zu helfen versucht hatten, sich hatte ergeben müssen; als Ludwig XIII.
zwei Tage nachher seinen Triumpheinzug in die ausgehungerte Stadt hielt, da
war das Ausehen des Kardinals bei seinem Monarchen so befestigt, daß es allen
Kabalen widerstehen konnte, eine Empfindung, welche man überall sehr deutlich
hatte, in Paris selbst so gut als in Wien, in London, Madrid und Venedig.
Während alle Streitkräfte Spaniens das tapfere Casale nicht zu bewältigen
vermochten, wurde in Susa zwischen Frankreich und Venedig eine neue Liga
im Mai 1629 abgeschlossen, laut welcher beide Mächte mit einem Heere von
etwa 40000 Mann das Herzogtum für Revers halten wollten. Dem Ansturme
der Franzosen unter Ludwig XIII. konnte Savoyen nicht widerstehen. Die
turie ti-WeMSö von etwa 12 000 Mann Kerntruppcn Ludwigs warf am 3. März
im Thale der Dora Riparia bei Chaumont die Savoyer gänzlich auseinander,
und schon am 11. März unterzeichnete der Prinz von Piemont im Namen seines
Vaters eine Abkunft, nach der Savoyen den Franzosen den Durchmarsch ins
Montfermt versprach, sich zur Verproviantirung von Casale verpflichtete und
für den Fall, daß der König von Spanien nicht bereit sei, den Herzog von
Revers in Ruhe zu lassen, seinen Übertritt ans die französische Seite in Aussicht
stellte; Savoyen erhielt dafür den Besitz von Trino mit einem Jahreseinkommen
von 15000 Thalern in Gold von Ludwig XIII. zugesichert. Damit war der
Feldzug vor Casale entschieden; dem spanischen Feldherrn Don Gonzales von
Cordova, der über höchstens 17 000 Spanier und Neapolitaner verfügte, standen
über 20000 Franzosen, 10000 Venetianer und 7000 Mantuauer, also eine
mehr als doppelte Übermacht, gegenüber; er hob also die Belagerung von Ca¬
sale auf und zog sich nach Mailand zurück. Die venetianischen Staatsmänner
handelten in dieser Krisis mit ungemeinem Geschick; eine Vorbedingung des erfolg¬
reichen Kampfes gegen das Haus Habsburg war der Friede zwischen England
und Frankreich; es war ihrem Andringen, vor allem der Bemühung des Bot¬
schafters in London, Alvise Contarini, zu danken, daß Ludwig XIII. in Susa
am 24. April den Vermittlungsvorschlägen der Republik zustimmte, welche den
Ausgleich des Gegensatzes der Franzosen zu England zum Ziele hatten. Con¬
tarini war in London auch für ausgiebige Unterstützung der deutschen Prote¬
stanten thätig; auch mit dem Gesandten Gustav Adolfs knüpfte er Beziehungen
an. Der Schwedenkönig erkannte mit scharfem Blicke, daß der Augenblick, wo
sich der Kaiser in einen italienischen Krieg einlasse, ihm die beste Gelegenheit
zu einem Einfall in Deutschland biete; schon reiste Oberst Wolmar Farensbach
nach Siebenbürgen, um mit Bethlen Gabor einen Kriegsplan zu verabreden,
und er nahm seinen Weg über Mantua und Venedig, „um beide Staaten in
ihrem Widerstande gegen Spanien und Österreich zu bestärken und ihnen die
Hilfe Schwedens in Aussicht zu stellen, das durch die Landung von 60000
Mann an der deutschen Ostseeküste eine beträchtliche Anzahl kaiserlicher Truppen,
welche für Italien bestimmt seien, im Norden zurückhalten werde." Die Herren
vom Rate in Venedig erkannten auch den Wert dieser schwedischen Diversion
Wohl: Farensbach erhielt eine Galeere zur Fahrt nach Zara und das Ehren¬
geschenk einer goldnen Kette von dreihundert Dukaten Gewicht; man ließ es
an keiner Art von Aufmerksamkeit für ihn fehlen. Aus London schrieb Cvn-
tarini, welcher von dem schwedischen Gesandten Svens über alles unterrichtet
war, der König brauche für den Einfall in Deutschland 400 000 Thaler jähr¬
lichen Zuschuß, woran sich Venedig mit 80- bis 100000 Thalern zu beteiligen
haben werde. Weil aber Gustav Adolf erst im nächsten Jahre, 1630, los¬
schlagen konnte, so wollte sich die Republik nicht jetzt schon zu bestimmten
Leistungen verpflichten.
Die Erfolge des Bundes von Susa erweckten nun aber in Wien und
Madrid den festen Entschluß zu kräftiger Gegenwehr. Don Gonzales von
Cordova, der den Waffenstillstand mit Frankreich angenommen hatte, wurde
abgesetzt und an seiner Stelle der bekannte Marchese Spinola zum Statthalter
von Mailand ernannt; die glückliche Ankunft einer Silberflotte aus Peru setzte
Spanien in den Stand, den bewährten Feldherrn reichlich mit Mitteln auszustatten;
er erschien in Mailand mit zwei Millionen Thalern in baarem Gelde und der
Vollmacht, 20 000 Mann anzuwerben. Auch der Kaiser schickte sich zu großen
Anstrengungen an, wobei er freilich dem. heftigen Widersprüche Wallensteins
begegnete. Der Herzog von Friedland war schon früher gegen das italienische Aben¬
teuer gewesen, solange noch Christian IV. von Dänemark im Felde stand; eines jetzt
„gefiel ihm das italienische Wesen nicht"; erhielt es für unmöglich, „an beiden
Seiten zu kriegen"; in einem interessanten Schreiben an Bischof Anton von
Wien, das v. Zwiedinek-Südenhorst zum erstenmale zu veröffentlichen in der
Lage ist, bezeichnete er den Ausbruch des Krieges in Italien „als des Teufels
letztes Sfvrzo," um die Ausrottung der Ketzerei zu verhindern. Denn ohne
diesen Krieg wäre jetzt der Augenblick gekommen gewesen, um den Spaniern
gegen die Niederländer beizustehen und diese endlich niederzuwerfen. Es erschien
ihm unbegreiflich, daß der Kaiser, „der sich zu allen frühern Kriegen habe mit
Gewalt ziehen lassen, jetzt so vorsätzlich eile"; er sprach sein Mißtrauen gegen
die Spanier aus, „welche es doch nie dulden würden, daß der Kaiser sich in
Italien festsetze"; weshalb, das war des Friedländers Gedanke, der seinen ganzen
Gegensatz zu der Lehre von der Solidarität der Casa d'Austria ins Licht setzt,
weshalb für spanische Zwecke österreichisches Blut vergießen? Er behielt aber
doch nicht Recht; schon im September 1629 standen von des Kaisers Heer neun
Regimenter zu Fuß und 18 Kornete Reiterei in Italien, es waren rund
20 000 Mann unter dem Befehle des Generalleutnants Namboldo Collalto,
des Generalwachtmeisters Gallas und des Kommissars Oberst Aldringen; Collalto
traf mit Spinola das Abkommen, daß er selbst gegen Mantua operiren wolle,
während die Spanier und Savoyer, deren Herzog „als Galantuomo" nach
Wallensteins Ausdruck „Heuer zum drittenmale die Partei wechseln wollte," das
Montserrat besetzen und die Franzosen abwehren sollten. König Ludwig XIII.
war dem gegenüber nicht säumig; er stellte den Venetianern in Aussicht, daß
er abermals in Italien einmarschiren werde und Casale, das zuerst von Gallas,
dann von den Spaniern zum zweitenmale belagert wurde, zu entsetzen gedenke.
Wirklich erschienen die Franzosen unter Nicheliens Führung im März 1630 in
Piemont, und Karl Emanuel wich mit seinen 15 000 Mann nach Turin zurück,
um dort auf Zuzug von Spinola und Collalto zu warten; Richelieu eilte aber
um seiner Front vorbei und nahm Pignerol durch Handstreich weg. Er beherrschte
damit die Straße, welche über den Mont Genevre fast parallel mit der Dom
Riparia ins Pothal hinabführt. Da Collalto gleichzeitig Mantua, das er schon
im Winter 1629 vergeblich belagert hatte, mit erneuter Wucht angriff, so hielten
sich die Venetianer für verpflichtet, auch ihrerseits vorzugehen, und da Karl von
Revers Mantua mit 10 000 Mann verteidigte und das venetianische Heer etwa
13- bis 14 000 Mann zählte, so schien ein Vorstoß gegen Collaltvs 17- bis
18 000 Mann aussichtsreich zu sein; man mußte nur darauf denken, den Feind
zwischen zwei Feuer zu bringen und ihn so zu vernichten. In demselben Augenblicke
aber, in dem die Behörden der Republik dem Proveditore Sagredo die Weisung
zum Vorrücken gaben, entschloß sich auch Collalto zu einem Schlage gegen die
Venetianer, deren Gegenwart ihn hinderte, mit Mantua ein Ende zu machen.
Am 29. Mai 1630 überschritt Gallas mit höchstens 10 000 Mann den Mincio
und warf die ihm entgegenstehenden Feinde, 2000 Venetianer und 2000 Franzosen
unter Lavalette, vollständig über den Haufen, sodaß sie sich auf die in Valeggio
stehende Hauptmacht zurückzogen; als dann Gallas diese am 30. Mai angreifen
wollte, fand er den Feind in vollem Rückzüge nach Verona und Peschiera be¬
griffen und verfolgte ihn bis vor letztere Stadt. Damit war auch das Schicksal
Mantuas besiegelt; die ohnehin durch die Pest furchtbar heimgesuchte Stadt, in
welcher binnen zwei Monaten an 3000 Menschen hinstarben, wurde durch einen
Schweizer, den Leutnant Polino, der sich mit Aldringen verständigt hatte, in
der Nacht vom 17. auf den 18. Juni 1630 an die Kaiserlichen verraten und drei
Tage lang unter unglaublichen Schandthaten von der siegreichen Soldateska
geplündert; eine der bis dahin schönsten Residenzen Oberitaliens wurde durch
diese Katastrophe ihres Glanzes für immer beraubt. Der Herzog von Revers
wurde unter einer Bedeckung von 60 Mann nach Ferrara gebracht, wohin später
anch seine Gemahlin, die Prinzessin Maria, kam, welche von der Kaiserin
Eleonore eine Anweisung von 10 000 Dukaten in Gold erhielt, um den Unterhalt
der herzoglichen Familie solange zu bestreiten, bis die Einkünfte aus den
französischen Besitzungen des Herzogs diesem zukommen würden.
Der Fall von Mantua wurde von großer Bedeutung für die weitere Politik
Venedigs und anch für die ganze europäische Lage. Je erfolgreicher die Waffen
des Hauses Österreich in Oberitalien gewesen waren, desto notwendiger war es
nun, ihnen anderweitige Beschäftigung zu geben. Mit verstärktem Nachdruck
wandten sich Richelieu und die Republik jetzt der von Gustav Adolf beabsichtigten
Diversion zu; unter dem Eindrucke der Niederlage von Valeggio wurde am
13. Juni von Rate Venedigs die Vollmacht an Contarini ausgefertigt, daß er
sich im Namen der Republik zur Zahlung von jährlich 1200 000 Livres an
den König verpflichte, in der Weise, daß Frankreich den ihm zukommenden Teil
an dieser Summe übernehme. Schon am 21. Juni wurden dem Gesandten im
Haag zu diesem Zwecke 45 000 Thaler in Gold überwiesen. Wenige Tage
nachher, im Abenddunkel des 26. Juni, landete der König von Schweden nach
zehntägiger Meerfahrt an der Spitze der Insel Usedom. ^ota sse alsa, t,rg.usivit>
L, R. UgssstW non Rubiooneiri, sha og-soin mars, mit diesen Worten verkündigte
Camerarius den Generalstaaten des Königs Landung/") Eine neue Phase des
dreißigjährigen Krieges begann, die mythenreichste und verhängnisvollste von
allen. Der Feind war da, der die Kraft hatte, mit scharfem Zahn sich ins Fleisch
von Deutschland einzuhaken; er war doppelt gefährlich, weil sein Herrscher den
Protestanten nicht ohne guten Grund als Erlöser in der äußersten Not erschien.
Mit dieser bedeutungsvollen Perspektive schließt das Werk, dessen Spuren
wir seither im wesentlichen gefolgt sind. Die weitern Beziehungen Venedigs
zur Unternehmung Gustav Adolfs hat schon Johannes Bühring in seinem
Buche: „Venedig, Gustav Adolf und Rosen" so trefflich aus den Akten ins
Licht gestellt, daß für Zwiedinck jeder wissenschaftliche Anlaß zur nochmaligen
Behandlung dieser Dinge wegfiel. Der Sieg der Schweden bei Breitenfeld be¬
deutete auch den Sieg Karls von Revers; um Ruhe in Italien zu haben,
übertrug Kaiser Ferdinand dein 1630 Verjagten sein rechtmäßiges Erbe; Ve¬
nedig hatte sein Geld an Schweden nicht umsonst verschwendet.
Indem wir auf unsre Erzählung zurückblicken, drängt sich vor allem eine
Bemerkung auf. Es giebt im siebzehnten Jahrhundert schon eine allseitige, enge
Verflechtung aller europäischen Interessen. Der Hugenottenkrieg ist auch von Be¬
deutung für Italien; er lahmt Richelieus Arm, der auf die Spanier in Mai¬
land zerschmetternd niederfallen will; und damit ist er auch von Bedeutung für
Deutschland, wo er natürlich dem Kaiser zu statten kommt. Umgekehrt ent¬
scheidet die Landung Gustav Adolfs die politische Lage in Oberitalien, und
selbst der Tatarenchan und seine Naubhorden sind ein Moment in den Beziehungen
des Westens. Es beruht aber diese Verflechtung vor allem ans der gewaltigen
Stellung des Hauses Osterreich, das überall hin übergreift, mindestens überall
Änderungen zu verhindern strebt, die seine Vormacht erschüttern könnten. So
wird leider auch der innerdeutsche Kampf ein Moment der europäischen Politik,
und dieselben Interessen, welche sonst dem Hause Habsburg sich eutgegenwarfen,
sind auch maßgebend für den deutschen Bürgerkrieg. Die böhmischen Rebellen,
die in Prag die kaiserlichen Statthalter aus den Schloßfenstern stürzen, die
deutschen Protestanten, welche dem Restitutionsedikte widerstreben, Richelieu,
welcher jeden Feind Österreichs unter seinen Schutz nimmt, die schlauen Kauf¬
herren von San Marco, Urban VIII. selbst — alle kämpfen gegen einen und den¬
selben gewaltigen Feind politischer und religiöser Freiheit; jeder freilich ist von
besondern Motiven beherrscht. Was in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahr¬
hunderts die „Monarchie" Ludwigs XIV. in Europa war, das war in der
ersten die „Monarchie" der Casa d'Austria. Für uns Deutsche ist es wahrhaft
herzzerreißend, daß der westfälische Friede, welcher uns das Elsaß, halb Pommern
und die Lande an Weser- und Elbmündung kostete, doch wieder insofern er¬
freulich ist, als er das reaktionäre spanisch-deutsche Weltsystem unter Schutt
und Trümmern begrub. Es ist abermals der Fluch der Kaiserwahl von 1619,
dessen Folgen darin zu Tage treten, daß ein Tag nationalen Unglückes doch
wieder als ein Tag der Befreiung hat empfunden werden müssen.
MM'D^,AM
EZM^inen weit bedeutenderen Anlauf zur Darstellung und energischen
Charakteristik eines scharf beobachteten heimatlichen Lebenskreises
nehmen die „Totentanz der Liebe" überschricbncn Münchner No¬
vellen Conrads. Gewiß ist die bniriscyc Hauptstadt eine der
Stüdteiudividnalitüteu, welche es lohnt, in ihren Höhen und
Tiefen, mit den eigentümliche!? Doppelwirkungen ihrer ursprünglichen bajuva-
risch-katholischen und ihrer in diesem Jahrhundert erworbnen Kultur, mit dem
widerspruchsvollen Gemisch ihrer Gesellschaft aufzufassen. Wie billig entwirft
Conrad kein Städtebild, und doch steht uns Nong-ello N01rnollorv.rü in ziemlicher
Deutlichkeit vor Augen: die Besonderheit von Altmüncheu springt uns aus den
wenigen schildernden Linien der Erzählung „Die goldne Schmiede," die von
Ncumüuchen ans der Novelle „Marianna," den Malergesprächeu in der „Mai¬
fahrt" und dem Nachtstück „Schicksal" entgegen. Daß die Menschenschicksale und
Menschengestalten im Vordergründe stehen und der Verfasser sich jenes Übermaß
der Terrainbeschreibung spart, in dem sein französischer Meister schwelgt, wird
ihm im Ernst niemand zum Vorwurf macheu. Aber die Frage: Welche Ge¬
stalten, welche Schicksale sind es, für die Conrad unsre Teilnahme, unser
Verständnis fordert? muß trotz des Lobes, welches jeder energischen, straff auf
die Hauptsache losgehenden Darstellung gebührt, allerdings aufgeworfen werden.
Der Schriftsteller stellt sich und wünscht die Leser auf einen Standpunkt zu
stellen, wie ihn sein Philosoph Gurlinger mit Berufung auf den alten Epiktet
vertritt: „Mau gehört noch zum Pöbel, solange man immer auf andre die
Schuld schiebt; man ist auf der Bahn der Weisheit, wenn man immer nur sich
selber verantwortlich macht; aber der wirkliche Weise findet niemanden schuldig,
weder sich noch andre." Mit allem Respekt vor dem Tiefsinn des Stoikers
von Hierapolis, weisen wir die Berufung auf ihn von vornherein zurück, denn
die Frage ist nicht, ob schuldig oder schuldlos, sie bleibt vielmehr und würde
bleiben, auch „wenn die nächsten achtzehnhundert Jahre mittels Naturwissenschaft
und experimentaler Psychologie die glänzende Bestätigung des Epiktctschen Satzes
bringen werden," ob die poetisch sein sollende Darstellung in irgendeiner Weise
einen poetischen Eindruck hinterläßt. Wir müssen dies für den größern Teil
der im „Totentanz der Liebe" gegebnen Erfindungen oder Wirklichkeiten ent¬
schieden verneinen. Denn die Phantasie nud Sympathie, mittels deren wir
Schicksale und Gestalten des Dichters oder (da die Naturalisten die Worte
Poesie und Poet nicht hören mögen) des Schriftstellers in uns aufnehmen, sind
eben unerbittlicher als jene Reflexion, die alles verzeiht, weil sie alles versteht.
Wenn uns in „Marianna" eine Ehebruchsgeschichte vorgeführt wird, so dürfen,
ja müssen wir fordern, daß wir entweder an der Heldin oder am Helden irgend¬
welchen stärkern oder wärmern Anteil zu nehmen vermögen. Der Autor führt
uns eine „feurige Dreißigerin" vor, die einen impotenten Millionär geheiratet
hat und über die „blutig dumme Geschichte," mit der sie das ersehnte Sinnenglück
verwirkt hat, nicht hinwegkommen kann. Ihr Gatte braucht eine Marienbader
Kur gegen Fettherz und Asthma, und Marianna hat natürlich nicht bloß die wer¬
benden Liebhaber, sondern auch die kuppelude Helferin (einer Versucherin branches
bei ihr nicht) in der Person des Fräuleins Elisa von Hntzlcr an der Seite.
Fräulein Elisa ist „starkgeistige Schwereuötcrin von der malenden, dichtenden
und klavierklimpernden Dilettantenzunft zum »heiligen Gral,« zudem eifriges
Mitglied des Antivivisektionsvereins." Sie macht einige schwache Versuche,
Marianna auf dem breiten Wege aufzuhalten, als sie jedoch die Schöne ent¬
schlossen sieht, ihrem guten dicken Karl den Laufpaß zu geben, als die begehrliche
Freundin aufschreit: „Ich will einen ganzen lebendigen Mann. Einen Mann,
der mich bis zum Wahnsinn liebt, und den ich wieder lieben kann ohne Falsch,
ohne Komödie mit ganzer Kraft bis zum Tod, bis in den Tod. Ja wohl,
wenn er ein Grieche ist, so will ich den Griechen, und wenn er der Teufel selbst
ist, so will ich den Teufel," so zeigt sie sich hilfreich und vermittelt mit großem
Eifer die Zusammenkunft des Afrikareisenden Doktor Mikoras mit Marianna.
Sie weiß vermutlich genau, daß die geforderte große Passion fürs Leben ans
einen vorübergehenden und alltäglichen Rausch hinauslaufen wird, aber sie hat,
wie uns an andrer Stelle der Erzählung verraten wird, schon mehrfach bei
ähnlichen Anwandlungen als Elefant gedient, sie wähnt sonach, daß die Sache
schwerlich zum dauernden Bruch Mariannas mit ihrem Gemahl führen werde.
Besagter Gemahl wird jedoch leider durch die heimlichen Berichte der Zofe
Mariannas, durch ein ihm in die Hände gespieltes freches Gedicht eines französischen
Anbeters der Gemahlin (eines Anbeters übrigens, den Marianna eben nicht zu
beglttckeu beliebt) im fernen Marienbad in so krankhafte Aufregung versetzt, daß
er den ersten Schnellzug besteigt und nach München zurückdampft, um dort
genau in dem Augenblicke einzutreffen, in welchem sich Marianna mit dem Doktor
Mikoras in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hat. Bei den zuvor umständlicher
dargelegten Gesundheitsverhältnisseu des guten dicken Karl ist es kein Wunder,
daß ihn vor der Schwelle seiner Wohnung ein Blutsturz tötet. Ein schrecklicher
Fall; doch hat der Erzähler zuvor gründlich dafür gesorgt, daß auch die leiseste
Teilnahme am Schicksal dieses unseligen Hahnrei nicht aufkommen kann. Die
Charakteristik, welche die liebevolle Gattin von ihrem Gemahl giebt, gipfelt
darin, daß er seiner Zeit eine Passion für Pferde affektirt und bei Roßtäuschern
und Wettrennen große Summen verspielt hat, sich aber mit seiner Pferdekenntnis
vom dümmsten Reitknecht auslachen lassen muß und seine Kunstliebe damit er¬
wiesen hat, daß er ehemals einige Mädchen vom Ballet aushielt. Doch der
Verfasser läßt uns tiefer in Wesen und Seele seines Helden blicken. Wie er
am Morgen in seinem Hotel in Marienbad auf die Post wartet, welche ihm
Nachrichten von seiner „heißgeliebten" Marianna bringen soll, ein Glas Wasser
nach dem andern trinkt und bei dem „verteufelten Gesöff" bedenken muß, daß
es Hvfbräuhausbier und Rheinwein und Champagner auf der Welt giebt, und
daß man die Mittel in Fülle und Hülle hat, um sich von allem das Beste
leisten zu können, wie er bedenkt, daß ihm die Primadonnina des Marienbader
Theaters doch recht süße Augen gemacht, als er ihr nach der „Afrikareise" einen
kostbaren Kranz mit ellenlangen Atlasschleifen und Goldfranzen überreichen ließ,
da überwältigt ihn, kurwidrig genug, seine eigne alte Natur.
„Karl konnte doch ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als er sich so diesen
Abend der Afrikareise durch die Erinnerung streichen ließ. Der fürchterliche«
Hitze wegen vermochte er natürlich nur eine Auswahl von Szenen mit anzu¬
sehen. Er wandelte in der Nachtkühle vor dem Hause auf und ab und ein gut
eingeschulter Aufpasser mußte ihm immer sagen: „Jetzt kommts!" damit er
rechtzeitig sich in die etwas gelüstete und auf seine spezielle Anweisung
parfümirte Parterreloge hart an der Bühne drücken konnte. Die Primadonnina
hatte wahrhaftig nur Augen für ihn, sobald er in der reservieren Loge er¬
schien; jede ihrer lüsternen Gesten war auf sein persönliches Verständnis hinaus¬
gespielt. Wie er dann hinter die Coulissen zu ihr trat und sie ihre beiden
Hände auf seine Schultern legte und ihr kaum verhüllter Busen ihm vor der
Nase wogte, da ging ein merkwürdig erregender Duft von Schweiß und Schminke
und Gesundheit von ihr aus, der prickelnde väor all köinining., wie es die
Italiener nennen, Ja, es war ein schöner Abend, und Karl spürte jetzt noch
eine wohlthätige Wirkung, wenn er sich alle Einzelheiten ins Gedächtnis rief.
Es giebt junge Weiber mit einer heilenden, kräftigenden Atmosphäre. O was
vermöchte erst seine unvergleichliche Marianna, wenn sie ihre Zurückhaltung
gegen ihn überwinden wollte!"
Doch nein, wir fahren nicht fort, selbst sür das kritische Zitat ist der Ton
des Folgenden bis zum Zusammenbruche des Elenden zu widerwärtig, zu ab¬
stoßend. Die Wirklichkeit, welche mit einer Gestalt wie der dieses frühzeitig
verlebten und dabei brünstig verliebten Millionärs gegeben wird, was kann, was
darf sie uns sein? Was beweist die ckelerweckeude Wahrheit dieses Paares, bei
dem Mann und Weib einander wert sind, gegen die „übertriebene Liebe," gegen
die Illusion und den leidenschaftlichen Drang nach Vereinigung, was bedeutet
sie für die Erkenntnis der menschlichen Natur, wenn es sich in der Literatur
denn nun durchaus nicht nur um ästhetische Wirkungen handeln soll? Welche
Wichtigkeit vermögen wir Erscheinungen und Vorgängen, wie den in „Marianna"
geschilderten, für die vielgerühmte Physiologie der Gesellschaft beizumessen? Wir
trauen G. Conrad vollkommen zu, daß er auf alle diese Fragen selbst mit
Achselzucken antworten und bemerken würde, es sei ihm einzig und allein um
getreue und möglichst drastische Darstellung eines bestimmten Stückes Leben,
ohne jede Nebenabsicht, zu thun gewesen. Dieser Absicht darf der Leser und
Beurteiler die ebenso unmittelbare und naive Erklärung, daß ihm dies Stück
Leben nicht gefalle, entgegensetzen.
Ob es Leser giebt, welche an der die „Maifahrt" eröffnenden Künstler¬
gesellschaft, die unter der gemütlichen Losung: „Es lebe die Rotznase, es lebe
der Selbstmord" im Hvfbräuhausc beisammen sitzt, oder an dem Bericht des
naturalistischen Malers Gregor Knöbelseder mit Anmerkungen von Hans Deixl-
hofer wärmere Teilnahme zu gewinnen vermögen, lassen wir dahingestellt. Als
Erzählung knüpft die „Maifahrt" gewissermaßen an „Marianna" an, insofern
der auf Capri weilende Münchner Maler von den weitern Schicksalen der
schönen Witwe, die inzwischen ihren Doktor Mikoras geheiratet hat, einige,
wenn auch keineswegs klare Kunde giebt. Die Abenteuer Gregor Knöbelseders
wie die in diese Abenteuer eingeflochtenen Reflexionen seiner Münchner Kunst¬
genossen empfangen aber ihr stärkstes Interesse durch die Auseinandersetzungen
des fingirten naturalistischen Malers über den Naturalismus in der Kunst,
Auseinandersetzungen und Bekenntnisse, die bis auf einen gewissen Punkt wohl
auch die Meinung Conrads wiedergeben. Wenn Herr Gregor Knöbelseder sich
vernehmen läßt: „Jeder Künstler und Schriftsteller hat eben die Manier, das,
was er am besten kann und was ihm den sichersten Erfolg eingebracht, als
alleinseligmachendes Kunstdogma zu definiren, um seine Werke damit zu glori-
fiziren und die Werke der andern, die in abweichenden Punkten exzelliren, als
ketzerhaft und verpfuscht herunterzusetzen in den Augen aller rechtgläubigen
Philister. So hat jeder aus seiner spezifischen Stärke sich seinen Götzen zurecht¬
gemacht und will, daß derselbe von der ganzen Kuustgcmeinde kniefällig adorirt
und beweihräuchert werde. Immer und ewig das alte: Du sollst keine andern
Götter neben mir haben!" so ist das gewiß ein kräftiges Wort gegen verknöcherten
Dogmatismus und künstlerische Einseitigkeit, aber wunderlich genug klingend
beim Vertreter einer Schule, welche das Schillersche „Segen ist der Mühe
Preis" allein gepachtet zu haben glaubt und die Welt glauben machen möchte,
daß sie allen? der ernsten künstlerischen Arbeit huldige, überhaupt allein arbeite.
Zwar nur als Mitteilung des Malers Gregor Kuöbclseder aus Capri, aber
doch wohl als innerste Überzeugung des Schriftstellers lesen wir in demselben
Phantasiestücke:
„Nenne mir heute nur einen einzigen Schrcibkünstler, der sich mit Geduld
und Ausdauer dem Studium der wirklichen Natur hingiebt, ehe er sich an den
Werktisch setzt. Nenne mir den federgewandten Mann, der keine Anstrengung,
keine Rücksichtslosigkeit scheut, um in sein schöngeistiges Werk die höchstmögliche
Summe von lebendiger Wirklichkeit, von treuer expcrimentirter Beobachtung
knapp und gewissenhaft hineinzuarbeiten! Überall herrscht die Virtuosität der
Phrase, die Bequemlichkeit der brillanten Mache, das Spiel der Geistreichelei
und Schönthuerei. Dieses nichtsnutzige Wesen trifft man nicht nur bei den
Schreibern, sondern auch bei den Zeichnern und Malern von der heiligen
Schablone und Tradition Gnaden. Und das liebe Publikum ist stumpfsinnig
und verbildet genug, um an diesem Unfuge Geschmack zu finden, ja ihn als
Reichtum einer wohlgeborner Phantasie zu preisen. So kann natürlich die
künstlerische Gewissenhaftigkeit niemals zu ihrem schönen Rechte, noch zu
lohnender Anerkennung gelangen. Denn die Kritik macht gemeinsame Sache
mit den schöngeistigen Unfugtreibern und hat nicht Verachtung genug für die
wissenschaftliche Exaktheit, für die strenge Wahrhaftigkeit, für die peinliche Ana¬
lyse in der Kunst. Das gilt ihr ja alles für eitel Sterilität und wüsten museu-
verlassenen Naturalismus.--Also zum Teufel mit der naturalistischen
Ästhetik, der unbequemen Unterordnung unter die Wahrheit. Es lebe das
Phantom, es herrsche die Fabel, es blühe der pompöse Lügenstil. Amen!"
Angesichts solcher Tiraden wird es denn doch gestattet sein, die Frage
aufzuwerfen, wie viel Anstrengung und künstlerische Gewissenhaftigkeit (neben der
goldnen Rücksichtslosigkeit, die wir Conrad nicht bestreiten wollen) dazu gehört,
um die erotischen Erinnerungen des Herrn Knöbelseder, die Erinnerungen an
„die Kuhmagd und Aphrodite von Feldmoching" und die Schilderung des
Schäferstündleins mit ihr heraufzubeschwören? Welcher wissenschaftlichen Exakt¬
heit und experimentirten Beobachtung es bedarf, um Figuren wie den ver-
kommnen Kommerzienrat Blunzenmeyer oder den ultramontanen Malcrprvfcssor
Korbinian schnellerer in Szene zu setzen? Wir sagen nicht, daß diese Figuren
unwahr wäre», und geben zu, daß sie in dem Gesamtrahmen des Bildes ihren Platz
füllen, aber Studium, Beobachtung, Analyse und wie die Schlagworte sonst
lauten, erfordern sie wahrlich nicht, sie können von dem oberflächlichsten Darsteller
mit leidlich gesunden Augen von der Gasse gegriffen werden. Und wenn noch
ein paar Dutzend solcher Charaktere durch die Münchner Novellen stolzirtcn,
was wäre da groß Aufhebens von künstlerischer Gewissenhaftigkeit zu machen!
Es ist wahr, daß die Venus von Feldmoching nicht eine bloße episodische Rück¬
sichtslosigkeit des Verfassers ist, sondern die Voraussetzung zu der spätern
Novelle „Ein Schicksal" bildet, in der Gregor Knöbelseder, der Verschollene und
Totgesagte, nach München zurückkehrt und unter den Kellnerinnen des Hof¬
gartens heilt und der Kuhmagd von Feldmoching Kind entdeckt. In der Schick
salswendnng, wonach der Unselige, welcher sich an der Pflicht für sein Kind
emporzuraffen und zu neuem Leben zu stählen gedenkt, als vermeintlicher Ver¬
brecher verhaftet wird, steckt ein Stück ergreifenden Lebens, über welches freilich
wiederum die naturalistische Studie — das nächtliche Gespräch der Schenk¬
mädchen in dem Bodenraume, in welchem sie schlafen — ihre Schatten wirft.
Doch zum Zolafchen Pathos, welches jede andre Art der Darstellung für
himmelblaue Lüge erklärt, ist hier wahrlich überall kein Anlaß,
Jmpvnirender erscheint uns, nicht das Prinzip, aber das wirkliche Talent
Conrads in der Novelle „Die goldne Schmiede," einer Geschichte, welche die
goldne Zeit der Spitzcderschcn Bankherrschaft zum Hintergrund hat. Das glücklich
ergriffene Motiv dieser vermeinten goldnen Schmiede ist übrigens nicht genügend
ausgestaltet. Die wirkliche goldne Schmiede im Eckhaus der Sentlinger- und
Paradiesgasse aber, in welcher Meister Florian Schrvpper mit seiner Frau
Anastasia und seinem Sohne, dem kräftigen Schmiede Max, haust, ist ein Münchner
Bürgerhaus im ältern Stil. Die Mutter hat es durchgesetzt, daß der zweite
Sohn Joseph zum Priester erzogen worden ist, und „eine glückliche, beneidenswert
glückliche Familie, Söhne, die außerordentlich geraten sind, Arbeit, Wohlstand,
Eintracht im Hause — wahrhaftig die goldne Schmiede des Glücks am Paradies¬
gasseneck." Hinter diesem Schein lauern die schlimmen Wahrheiten, daß der
ältere Sohn Max einen schweren Fehltritt auf dem Gewissen und außerdem in
Gemeinschaft mit der thörichten Mutter das große Privatvermögen der Familie
in den Schlund der Dachauer Bank geworfen hat. Noch bevor er auf die
Wanderschaft ging, hat er sich mit Ursula Deixlhofer, der Tochter eines ent¬
fernten und übel beleumundeten Vetters in Giesing, in ein Liebesverhältnis
eingelassen, dem ein Kind entsprungen ist. Während der Schmiedegesell über
die Möglichkeit sinnt, das schlimme Geheimnis zu offenbaren, und Monate und
Jahre verstreichen läßt, in denen sein Knabe heranwächst, während inzwischen
sein geistlicher Bruder Joseph Florian zu einem beliebten Prediger und viel¬
gesuchten Beichtvater, dem echten, modernen Priester der streitbaren Kirche in dem
komplizirten Grvßstadtleben, emporsteigt, bereitet sich die Katastrophe vor, die
plötzlich und mit einem Schlage über das glückliche und vielbeneidete Haus
hereinbricht. An demselben Tage, an dem Meister Florian zu Ehren der fröh¬
lichen dreißig Jahre, in denen er in der goldnen Schmiede am Ambos gestanden,
eigenhändig eine Gedächtnistafel errichten und von dem geistlichen Sohne den
Segen über dieselbe sprechen lassen will, stellt die Spitzedersche Schwindelbank
ihre Zahlungen ein, stirbt draußen in Giesiug der herzige Bube des Schmiede-
gesellen Max Schroppcr und seiner Liebsten Ursula Deixlhofer und treibt der
ehrwürdige Joseph Florian eine der vielen tröst- und liebebedürftigen Frauen,
die sich an den geistlichen Ratgeber anklammern, dnrch seine kühle Abweisung
in den Tod in die Wellen der Jsar. Die Verknüpfung der Novelle läßt viel
zu wünschen übrig, allein immerhin ist Leben, Geist und feinere Beobachtung in
derselben, die Gestalten des alten Meisters Florian, des ältern Sohnes Max
und des jungen Priesters treten uus deutlich entgegen und halten dem Blick in
ihr inneres Leben Stand. Die der „Goldner Schmiede" folgende Erzählung
oder Skizze „Der Rechte" scheint uur den Zweck zu haben, die Personen der
frühern Novellen, welche noch nicht gestorben sind, einige Jahre später vorzu¬
führen. Dem naturalistischen Heißsporn Gregor Knöbclseder begegnen wir dabei
als Heiligenbildmaler, der in einem wunderlich unnennbaren Verhältnis zu Fräulein
von Hutzler, der Wagnerianerin der „Marianna," steht, dem Kommerzienrat
Bluuzcumeyer als ausgedientem Podagristen.Ehrwiirden Joseph Florian Schropper
als bischöflichen Rat nud erwählten Rüstzeug der streitenden Kirche. Der
einstige Damenprcdiger unterhält uach dieser Seite des Lebens keine Beziehungen
mehr, sondern lebt ausschließlich der polemischen Publizistik. In dem letzten
Nachtstück „Die Stimme des Blutes," einer schauerlichen Episode aus einer
Proletarierche, in welcher der Mann, Balzer, der „trinkbare" Veteran des großen
Krieges von 1870, berauscht in das Haus taumelt, während seine unglückliche
Frau am Sterbette des jüngsten und geliebtesten Kindes verzweifelt, erkennen
wir schließlich selbst die Kellnerin Franziska aus dem Hofgarten wieder, die
Tochter Gregors und der mehrerwähnten Kuhmagd von Fcldmoching. Die
Intention Conrads, die Erzählungen und Skizzen durch gewisse Einzelmomente
zu verbinden, den Zusammenhang hundert scheinbar zusammenhangsloser Er¬
scheinungen nachzuweisen, kommt hierin zu Recht, nud man könnte selbst wünschen,
daß dies Element des Gemeinsamen die Münchner Novellen noch stärker durch¬
flutete.
Alles in allem aber — wie verhält sich uun Lebensgehalt und Darstcllungs-
kunst dieses bis jetzt besten Buches der naturalistischen Schule zu den Ansprüchen,
welche der Naturalismus erhebt? Wie und wo eröffnen diese Novellen den
Blick in seither ungekannte oder auch nur unbeachtet gebliebne Gebiete des mo¬
dernen Lebens? Wodurch rechtfertigen sie die Behauptung, daß der Blick der
Naturalisten der Zukunft zugewandt sei und eine veränderte Anschauung des
ganzen menschlichen Daseins, der Menschennaturen, ihres Thun und Lassens,
ihrer Verantwortlichkeit hervorrufen? Wenn in der besten Geschichte des Bandes
der brave Schmied Max Schropper doch nichts andres zu thun vermag, als
am Schlüsse zu seiner armen, schmerzlich gebeugten Braut hinzugehen und ehrlich
einzustehen für die Lage, die er sich in der Wallung seines Blutes geschaffen hat,
wenn selbst der unfehlbare Doktor Gnrlinger, der mit aller Stärke und Rück¬
sichtslosigkeit seinem Volke so Wichtiges mitzuteilen hat, daß „alle Mittel der
Liebe und Aufopferung geboten sind, ihm volle Unabhängigkeit zu sichern," an einer
klugen, an geistigen und materiellen Schätzen reichen Frau eine heldenhafte Mit¬
kämpferin gewinnt, wodurch unterscheidet sich denn diese neue Welt von der so
tief verachteten seitherigen? Was geschieht in ihr, was nicht in der Welt der
„Philister," der aufs tiefste verachteten „anständigen" oder gar idealistischen
Menschen, auch geschehen könnte? Lohnt es der Mühe, die Augen gegen alle
Schönheit, allen feineren Neiz des Daseins zu verschließen, wenn nach so ener¬
gischer Bevorzugung des Häßlichen, nach so starkgcistiger und gelegentlich brutaler
Betonung der widerwärtigsten und abstoßendsten Erscheinungen ein paar glück¬
liche, von warmem Gefühl, von mutiger Selbstverleugnung und Opferfähigkeit
durchleuchte Momente, ein paar gesunde und menschlich maßvolle Gestalten
doch das Beste sind, was der radikale Schriftsteller zu bieten vermag? Wie
vollständig oder unvollständig Conrad das Leben der heitern Kunststadt ge¬
spiegelt hat, brauchte den unbefangnen Leser nicht zu kümmern, wenn sich der
Erzähler darauf beschränkte, sein Recht, mit eignen Augen zu sehen, in Anspruch
zu nehmen. In dem Augenblicke, wo die ihm eigentümliche Art der Anschauung
und der Darstellung als die alleinseligmachende verkündet, und der ganzen Ent¬
wicklung unsrer Literatur zum Trotz als die einzig zukunftreiche verkündet wird,
ergiebt sich ein andrer Maßstab. Caravaggio, der für das Ungestüm seiner
Leidenschaft, für die Eigenart seiner Beleuchtung, für die Energie und Schärfe
seiner Zeichnung Raum und Beachtung begehrt, ist in seinem guten Rechte;
Caravaggio, welcher Rcifacl einen Pfuscher schilt und seine Zeitgenossen Guido
Reni, Domenichino und Albani als lügnerische und konventionelle Schönmaler
brandmarkt, erscheint absurd. Aber dergleichen naheliegende Betrachtungen gelten
natürlich sür eine Schule nicht, mit welcher das tausendjährige Reich einer neuen
und nie dagewesenen Literatur beginnen wird. Sehen wir uns also die übrigen
deutschen Vertreter dieser Schule, von der emphatisch bereits behauptet wird, sie
und sie allein vertrete die von Goethe prophezeite Weltliteratur, des weiteren an.
arretv war es gewesen, der wenige Minuten zuvor Camoens
in den zweiten Festsaal entführt und ihn mit unwiderstehlicher
Nötigung der Pforte und Schwelle Angedrängt hatte, welche von
der westlichen Langseite dieses Saales an die große Garten¬
terrasse stießen. Mit immer wachsender Besorgnis hatte Manuel
Barreto in der letzten Stunde neben dem Dichter verweilt und hatte die ge¬
waltsam unterdrückte schmerzliche Bewegung desselben wahrgenommen. Die
leisen Mahnungen, mit denen er ihn ans dem wilden phantastischen Traume
zu wecken suchte, welchen Camoens mit wachem, dunkelglühenden Auge träumte,
waren verhallt. Sowie Catarina Palmeirim aus dem Saale verschwunden
war und Barreto plötzlich bemerkte, daß der Prior von Belem mit scharfer
Aufmerksamkeit in Camoens' Zügen las, da faßte der Fidalgo den Arm des
jüngern Freundes und sagte: Ihr müßt hier hinweg, Luis — müßt Euch draußen
besinnen, was Ihr Euch schuldet. Schon ein freier Atemzug wird Euch wohl¬
thun nach dieser heißen Stickluft!
Und so hatte er den Willenlosen, dumpf vor sich Niederstarrendcn nach
der Marmorbrüstung der Terrasse geleitet; die Luft, obschon schwül genug, be¬
rührte sie doch mit frischerem Zug. Camoens that jetzt selbst einige rasche
Schritte unter den Bäumen hin und bis zum Rande der Mauer. Es war tiefe
Nacht, die Königsgärten lagen in dunkeln, ununterscheidbaren Massen unter
ihnen; die einzelnen Sterne, welche mit Einbruch der Nacht aufgeblitzt waren,
schienen in den feuchten, schweren Wolken verlöscht, welche den beiden Männern
zu Häupten standen. Im äußersten Westen zeigte sich am Horizonte ein
flammender roter Streif, der mit jeder Sekunde schmäler ward. Camoens
hatte ihn kaum ins Auge gefaßt, als er sich zu seinem Begleiter wandte:
Dort habt Ihr mich, wie ich bin, Manuel, Die verschwimmende Glut
dort, den letzten Wiederschein der niedergehenden Sonne habe ich für eine
Morgenröte gehalten. Das letzte Licht erlischt beim Hinabtauchen in die große
Flut — möchte es auch mit meinen Tagen so sein.
Ihr sprecht in Rätseln, erwiederte Manuel, indem er sich vergewisserte,
daß ihnen niemand von drinnen auf die Terrasse gefolgt sei. Kommt zu Euch
selbst zurück, Luis, und was Ihr auch in diesen Tagen geträumt habt — Ihr
konntet doch in Wahrheit keine Hoffnung hegen, konntet nicht wähnen, daß Euch
die Tochter an die Stelle der Mutter treten würde!
Wißt Ihr so genau, Manuel, wo ein Mensch innehält, der nach neuem,
nie gekanntem, stets ersehnten Leben lechzt? Wußte ichs doch selbst nicht bis
diesen Abend, wie verwegen ich träumte! Ihr habt ganz Recht: es ist Wahn¬
sinn, zu erwarten, daß das Glück dem Alternden in den Schooß werfen werde,
was es dem Jngendmntigen, in der Fülle der Kraft stehenden versagte. Und
doch, doch! in mir Schreies auf — jene Stimme, die mich nie betrog, daß ohne
den König ein Wunder geschehen sein würde.
Eure innere Stimme täuscht Euch gleichwohl, versetzte Barrcto, Über den
Ausgang dieser plötzlichen Werbung des Königs um Catarina Palmeirim habe
ich meine eignen Gedanken — Euch würde es wenig geholfen haben — wenn
auch das Auge des Gebieters nie auf die Schöne gefallen wäre. Ihr müßt
Euch sammeln — und wir müssen hinweg, so bald als möglich.
Müssen wir? fragte Camoens halblaut und in einem Tone, der sein schmerz¬
liches Widerstreben verriet. Und glaubt Ihr im Ernste, daß es helfen werde?
Mir ist, als wäre ich an den Boden dieses Schlosses festgeheftet und solle
schauen und schauen, wie mein Traum Stück um Stück dahinsinkt, und mich
selbst verhöhnen, daß ich ihn geträumt habe. Es wird schwerlich lange währen,
bis die Entscheidung da ist!
Viel zu lang für Euch — für uns, Camoens! entgegnete der Edelmann.
Laßt uns noch diesen Abend den König um Urlaub bitten — und morgen in
der Frühe uach Almocegema reiten. Ich bin sicher, daß Ihr an meinem Herde
von dem Fieber genesen werdet, das Euch erfaßt hat. Ich tadle Euch uicht
und werde Euch nicht mit armselig verständigem Geschwätz Gift in die Wunde
träufeln. Aber wenn Ihr Euch nicht selbst aufgeben, wenn Ihr auch mir
um Euers Werkes willen leben wollt, so muß das erste sein, daß wir gehen.
So kommt denn — kommt! sagte Camoens, sich plötzlich gewaltsam auf¬
raffend. Wenn ich den König noch einmal sehen lind verehren muß, kann es
nicht bald geung geschehen. Ich möchte mein Auge auf den Grund seiner
Seele senken, um zu wissen, was er der Herrlichen sein wird. Dürfte ich es
ihm mit einem Blicke ins Herz glühen, daß nur der ihrer wert ist, der um
ihretwillen alles vergessen, sür sie alles opfern kann.
Im Dunkel vermochte Barrcto die Züge des Freundes nicht zu unter-
scheiden und die heiße Glut im Gesichte desselben nicht wahrzunehmen. Aber
Camoens' Stimme offenbarte ihm genug, und so sagte er nach kurzem Besinnen:
Wollt Ihr mir geloben, Luis, mich ruhig hier zu erwarten, so erspare ichs
Euch jetzt, vor deu König zu treten. Ich werde ihn wissen lassen, daß Ihr
Euch nicht völlig wohl fühlt und Euch vor ihm zeigen wollt, sobald der Druck
Eurer Lusiaden zu Ende geführt sei, oder sobald er es wünsche. Er wird nicht
anstehen, uns in Gnaden zu entlassen, und ich erachte es für einen Gewinn,
wenn wir Cintra und diesem Palaste den Rücken kehren. Haltet Euch eine
Viertelstunde hier still und laßt mich mit dem Könige sprechen,
Ihr seid und bleibt der Hilfreiche! antwortete Camoens, Thut, was Ihr
selbst für das Beste erkannt habt, Manuel, und seid gewiß, daß Ihr mich hier
findet, wie Ihr mich jetzt verlaßt, vielleicht schon um ein Teil ruhiger!
Während Barreto ohne Zögern sich in deu Saal zurückbegab, blieb Ca¬
moens still, nur von Zeit zu Zeit schwer atmend, an der steinernen Brüstung
der Terrasse stehen und versuchte uach jeuer Stelle hinzublicken, an der sich
vorhin der Glutstrcifcn gezeigt hatte. Aber mir ein blasser Schein unterschied
sich noch von dem Dunkel, welches Gärten und Thal gleichmäßig einhüllte.
Er vermied es, sich nach dem Schlosse hin zu wenden, aus dessen Fenstern
überall noch Lichtschein hervordrang. Die Bilder der letzten Tage, und vor
allem die der letzten peinvollen Stunde, drängten sich hastig durch sein Hirn,
und ans allen hervor leuchtete ihm Gesicht und Gestalt Catarinas, Umsonst
versuchte er sich jetzt zu fernen Zeiten zurückzuversetzen, wie ein Schauer durch¬
rieselte ihn die Erkenntnis, daß er in dem heißen, gliicklechzenden Traume der
letzten Tage nicht nur den kümmerlichen Frieden der Gegenwart, sondern auch
die selig-schmerzliche Erinnerung verloren habe, die ihn über das Weltmeer nud
wiederum zurück in die Heimat begleitet hatte. In tiefer Trauer stützte er das
Haupt in die Hände, und indem seine Lippen mehr als einmal den Namen
Catnrina wiederholten, wußte er selbst uicht mehr, ob es die Lebende, ob es die
Längstgeschiedene sei, an die er in diesem Augenblicke mit sich selbst hadernd dachte.
Der einsame Mann, welcher, nächtige Gedanken in der Seele, von der
Nacht umfangen dastand, konnte nicht ahnen, wie nahe ihm jenseits des Walles
von hochstämmigen Rosen, der die Terrasse nach Süden abschloß, das Fenster
war, aus dem Catariua Palmeirim zu gleicher Stunde in das Dunkel hinaus¬
sah und seiner, nicht leidvoll, nicht mit bitterm Schmerze, aber mit einer dunkeln
Empfindung dachte, welche sie selbst uicht auszudeuten wußte. Hauchte der
feucht nud schwül daherstreicheude Westwind die sehnsüchtigen Laute, mit denen
Camoens ihren Namen aussprach, dem jungen Mädchen in die Seele? oder
war es nur der Nachhall jenes scharfen, scheltenden Klanges, mit dem soeben
die Herzogin den Namen Luis Camoens genannt hatte? Catalina sah die
Züge des Dichters lebendig vor Augen, und sie schienen mit rührender Bitte
zu ihr zu sprechen.
Als Gräfin Catarina vorhin neben der Herzogin die mächtige Palasttreppc
emporgestiegen war, die zu ihrer gemeinsamen Wohnung führte, hatten die
Damen an der Schwelle des großen Vorgemachs beinahe ihre ganze zahlreiche
Dienerschaft versammelt gefunden. Kammerfrauen, Diener und selbst die Pagen
der Herzogin umringten den riesigen grauköpfigen Neger Absalon, der vor langen
Jahren mit dem Vater der Herzogin von der Guineaküste nach Lissabon ge¬
kommen war. In seinem noch immer gebrochnen Portugiesisch hatte der Mohr
den Erstaunten berichtet, daß ihm vor einer Stunde, als er vom Flecken nach
den Gärten des Schlosses emporgestiegen sei, einer der Verschnittnen des Prinzen
Mnlei Muhamed angesprochen und ihm eine hohe Belohnung verheißen habe,
wenn er dem fremden, im Hause der Herzogin aufgenommenen Mädchen den
Inhalt eines kleinen Krystallglases in ihren Mvrgcntrank schütten wolle. In
seiner Bestürzung hatte Absalon mit sinnlosem Nicken geantwortet und das
Glas war in seine Hände geglitten. Als aber der Versucher eine Hand voll
Goldstücke nachfolgen zu lassen gedachte, hatte der Betroffene seine Besinnung
zurückgewonnen und war in die nächtig dunkeln Gänge des Gartens entflohen.
Das Glas mit wenigen Tropfen von duukelgelber Flüssigkeit war in dem Augen¬
blicke von Hand zu Hand gegangen, als die Herzogin und Catarina hinter den
voranleuchteuden Fackelträgern über die Schwelle ihrer Wohnung getreten waren.
Sobald der Herzogin der Vorfall berichtet worden war, hatte sie ihrer greisen
Kammerfrau das verhängnisvolle Krystallgefäß aus der Hand genommen und
streng gefragt, ob Esmah etwas von der Erzählung des Negers erfahre« habe?
Und als ihr die Antwort zu Teil geworden war, daß die junge Maurin schon
zur Ruhe gegangen und bis jetzt ohne Ahnung von der ihr drohenden Gefahr
geblieben sei, hatte die Gebieterin im strengsten Tone jede Mitteilung an das
fremde Mädchen untersagt. Sie hatte die überlieferte Flüssigkeit mit gering¬
schätzigen Lächeln geprüft und der Dienerschaft zugerufen, daß dieselbe nichts
weniger als ein Gift sei — dann aber doch ernst befohlen, keine fremden Diener
und überhaupt keine Unbekannten die Wohnung betreten zu lassen. Dann hatte
die Herzogin selbst die tiefcrgriffeue und bestürzte Catarina in ihre Zimmer
geleitet und hier war es gewesen, wo die feste, willensstarke Frau in einen lauten
Weheruf ausgebrochen war und den Einfall des träumenden Poeten verwünscht
hatte, Esmah unter den Schutz dieses Daches und ihres geliebten Pfleglings
zu steilem Umsonst hatte Catarina die Erzürnte und Erregte zu beruhigen
gestrebt. Indem die Herzogin die kleine Phiole, in der sie ein tötliches Gift
ganz wohl erkannt hatte, im Vadegemach in das große wcissergcfüllte Marmor-
becken ausgoß und eigenhändig das Wasser entranschen ließ, hatte sie wiederholt
ausgerufen, daß Camoens ihr und Catarina und selbst der Fremden eine Lage
geschaffen habe, in der sie keine Stunde vor Erneuerung solcher Frevel sicher
wären. Für den Augenblick hatten selbst die Erlebnisse des Abends vergessen
geschienen, und erst als Catarina, wieder gefaßt, der Herzogin zugerufen hatte,
daß ja Esinah im besondern Schutze des Königs stehe, da hatte die Herzogin
ihre Pflegebefohlene umarmt und leidenschaftlich gerufen: Möchtest du wahr
sprechen, Kind, und zur Macht auch bald, bald das Recht erhalten, den König
an seine Pflicht zu mahnen. Immer bleibt es ein Mißgeschick, daß uns Senhor
Luis mit der Sorge um jenes Mädchen belastet hat, während wir um dich
sorgen müssen, Catarina! Der König ist des reinsten Willens voll und liebt
dich, wie du es verdienst, und dennoch — dennoch sehe ich Schatten über deinen
Weg fallen. Es wäre besser gewesen, wenn es heute nicht Hunderte von Neidern
und geheimen Gegnern vernommen hätten, daß er dich zu seiner Königin begehrt.
Gute Nacht, Catarina, mögen alle guten Engel um dich sein, der neue Tag
uns Licht in jedem Sinne bringen und den Willen des Königs stärken.
Catarina hatte zu diesen zweifelnden Worten der mütterlichen Freundin
nur gelächelt, hatte leise erwiedert: Der König wird das Rechte finden und
thun! und darnach der Herzogin sorglose, erquickliche Ruhe gewünscht. Sie
hatte noch den Gutenachtkuß auf ihrer Stirn gefühlt, als sie an das breite
offne Fenster getreten war. Und nun lauschte sie seit langen, langen Viertel
stunden in die lautlose Stille der Gärten hinaus, suchte vergebens im Dunkel
Berge und Wolken zu unterscheiden, vergebens ihre Gedanken bei dem König,
bei den Blicken und Worten festzuhalten, welche an diesem Abend zwischen ihm
und ihr gewechselt worden waren. Wider Willen entsann sie sich jetzt, wie
bleich Camoens drunten in dem schimmernden Kreise im Königssaal gestanden
hatte, wie leidvoll der Ausdruck seiner Züge, wie unverwandt sein Blick ihr
zugekehrt gewesen war. Es fiel ihr ein, daß sie nur flüchtige Worte mit ihm
gewechselt hatte und daß er Wohl auf mehr gehofft haben könnte. Catarina
wußte nicht, unter welchem geheimen Zwang sie jeder Begegnung gedachte, die
sie seither mit dem Dichter gehabt. Ein Ton in seiner Stimme, ein ernster Zug
um die geschlossenen Lippen, deren sie sich erinnerte, offenbarten ihr jetzt mit
einemmale, daß der Freund ihrer Mutter wenig Glück gelaunt habe, ein tiefes
und zartes Mitleid mit dem einsamen Manne beschlich sie und mischte sich mit
den frohen Schauern, die jeder Gedanke an den jungen König ihr erweckte.
Und seltsam, indem sie hier, in der nächtlichen Ruhe, wechselnd Esmahs,
Camoens' und des Königs gedachte, stand plötzlich der sonnenhelle Morgen
vor ihrem Blick, an dem sie mit Camoens im Hochthal der Mutter aller
Gnaden verweilt hatte, und dann wieder der schwüle Mittag und die wilden
Unwetter, durch welche sie an Dom Sebastians Seite geritten war. Eine tiefe
Sehnsucht, dem Freunde ihrer Mutter mehr und besseres zu sein, als die
Verklärte es jemals vermocht hatte, ergriff sie mit geheimer Gewalt. Und
dazwischen wogte dann das Bewußtsein auf, daß Dom Sebastian in seiner
Weise nicht minder glücklos sei als Luis Camoens; mit der Nachtluft. der sie
ihre brennende Stirn bot, drangen die Laute wieder an ihre Seele, in denen
der junge König ihr sein tiefstes Leben vertraut hatte. Als sich die wider-
streitende Empfindung in einen Thränenstrom löste, ward sie sich bewußt,
daß ihr Herz dem König gehöre. Und dabei fühlte sie doch noch immer den
bittenden Blick Camoens' auf sich gerichtet und gelobte sich, wenn jemals die
stolzen Hoffnungen dieses Abends Wirklichkeit würden, seiner vor allen andern
zu gedenken, (Fortsetzung folgt )
Den Lesern dieser Zeitschrift wird bekannt sein, dnß vor wenigen Monaten
der Versasser in einer Schrift „Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung"
mit ebenso vieler Offenheit als Schärfe die Mängel unsers neuen Verfahrens in
bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten bloßlcgte. Es war natürlich, daß bei der angesehenen
Stellung, die der Verfasser in Theorie und Praxis der Jurisprudenz anerkannter¬
maßen einnimmt, sein Urteil eine schwerwiegende Bedeutung haben, mußte, und nach
dem bekannten Sprichwort von dem Benagen der schönsten Früchte hat es seiner
Schrift an Gegnern nicht gefehlt. Dieselben haben den Kampf mit vieler Leiden¬
schaftlichkeit aufgenommen und ihre Gegenschrifteu werde» auf alle andern Lobsprüche
zu rechnen haben, als auf den der Objektivität. Weil Bähr nach dem ganzen
Charakter seiner frühern Schrift nur die Mängel kennzeichnete und nicht schon ganz
bestimmte Vorschläge für die Reform machte, so supponirte »lau ihm, daß er die
neu errungnen Grundsysteme der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit wieder verlassen
und lediglich zu dem altpreußischen Prozeß zurückkehren wollte. Noch andre ver¬
dächtigten das von ihm für feine Kritik mit vieler und anerkennenswerter Mühe
herbeigeschaffte Material, und es hat endlich auch an solchen Gegnern nicht gefehlt,
welche bei ihrer Polemik auf literarischen Anstand verzichteten. Sein gegenwärtiger
Aufsatz widerlegt nicht nur in sehr schlagender Weise die gegen den frühern vor¬
gebrachten Gründe, sondern zeigt auch, wie deu von ihn: gerügten Mängeln ab¬
geholfen werden kann, ohne an den vorhandnen Grundsäulen des gegenwärtigen
Prozeßgesetzes zu rütteln. Näher hierauf einzugehen würde eine Vertiefung in
juristische Details nötig machen, welche für die Leser dieser Zeitschrift nicht von
Interesse wäre. Bähr versteht es aber, die ganze Frage von einen, höhern Ge¬
sichtspunkt als dein der Privatjuristen zu behandeln. Mit stark ausgeprägtem
Realismus weist er auf die Schäden hi», welche dein wirtschaftlichen Leben der
Nation aus unsrer Zivilprozeßordnung erwachsen, und mit nicht minder beredtem
Idealismus kennzeichnet er die sittlichen Gefahren, welche den edelsten Gütern unsrer
Nation in der Zukunft noch drohen. Der Verfasser deutet in seinen, Schlußwort
an, daß eine Reform der Zivilprozeßordnung bei der gegenwärtig herrschenden
Stimmung wenig Aussicht habe, und die Verhandlungen in der jetzigen Reichstngs-
sessivn und namentlich in der Sitzung vom S. April dieses Jahres beweisen, daß
diese schmerzliche Resignation vorerst leider nur zu begründet ist. Wer hier helfen
könnte, ist immer wieder nur der Reichskanzler, der nach den in seinen, Auftrage
von dem Staatssekretär von Schelling in der Sitzung von, 11, Dezember 1884 ab¬
gegebnen Erklärungen die wirtschaftlichen Mängel mit dem ihm eignen genialen
Scharfblick wohl erkannt hat. Aber was soll nicht alles der Reichskanzler thun?
Die Nation muß glücklich sein, daß Fürst Bismarck unter Aufopferung seiner
Gesundheit überhaupt noch imstande ist, gegenüber den Chikanen der Parlaments¬
mehrheit und der auch an andern Stellen befindlichen vis inerte«? wenigstens soviel
zu leisten, um das mühsam errungene Werk der deutschen Einheit vor dem Verfall
zu wahren.
Zur Zeit wird die Nation von Frage» bewegt, die mehr das Interesse in
Anspruch nehmen, als um sich einer Reform der Zivilprozeßordnung zuzutuenden.
Eben weil das Parlament in seiner jetzigen Zusammensetzung deu vitalsten Inter¬
essen des Reiches Hindernisse und Anfechtungen bereitet, treten Fragen in den
Hintergrund, die weniger den Bestand des Reiches berühren. Das ist eine traurige
Erscheinung, über welche dereinst die Enkel die Sorglosigkeit der Voreltern an¬
klagen werden.
Wie dem aber auch sei, die Schriften Bcihrs haben mit schonungsloser Offenheit
die Hand an die Wunde gelegt und wenn er jetzt Anfechtung erfahren hat, so
wird die Zeit — hoffentlich nicht allzufern — kommen, in welcher man an die
Bährsche Kritik und Reform aukniipfcn wird. Mag auch heute auf Bahrs Be¬
strebungen der Satz: Vietiix causa aliis xla,vult> soä viotg, O^toni Anwendung finden,
die Wahrheit wird doch zum Siege gelangen und dann wird, wie in vielen andern
Beziehungen, der Name Bnhrs denjenigen seiner Gegner auch ans dem Gebiete der
Zivilprozeßordnung mit Hellem Glänze überstrahlen.
„Kaum ein Kreis irdischer Interessen — sagt G. Freytag einmal — prägt
so scharf die. Besonderheiten der Zeitbildung aus, als das Heer und die Methode
der Kriegführung. Die Armee entspricht zu jedem Jahrhundert merkwürdig genau
der Verfassung und dem Charakter des Staates." Diese Wechselbeziehungen zwischen
dem allgemeinen geschichtlichen Leben, insbesondre aber zwischen den wirtschaftlichen
Daseinsbedingungen der Völker und der Form ihrer Heercsverfassung darzulegen,
hat sich Jähns zur Aufgabe gestellt. Schon des Verfassers Handbuch einer Ge¬
schichte des Kriegswesens hat gezeigt, mit welcher Sicherheit er den gewaltigen Stoff
beherrscht. Das vorliegende Werk hebt aus jedem Zeitabschnitte die Hanpterscheinnngen
heraus. Mit den Heerformen der Wandervölker beginnt der erste Abschnitt, ihm
folgen in vier Büchern als ebensoviel verschiednen Stufen der Wehrverfassung: die
Einrichtungen der Kriegerkasten und Militärkolonien, die ans dem Grundbesitz beruhende
Kriegsverfassung Roms und Deutschlands im frühen Mittelalter, das Söldnerwesen,
endlich die Verbittdung der freien Werbung mit der Aushebung. Die Entwicklung
der allgemeinen Wehrpflicht der modernen Völker bildet den Schluß. Wir hätten
gewünscht, daß hier die unbeugsame Folgerichtigkeit noch stärker betont worden
wäre, welche gerade das deutsche Wehrsystem fordert, und welche es mit sich bringt,
daß auch in längern Friedenszeiten die Ausgaben fiir Heer und Flotte uicht oder
kaum herabgesetzt werden können. Jähns' „Heeresverfassungen" sind ein anregendes,
geistvolles, auf umfassender Sachkenntnis beruhendes Werk. Von eingehenden Studien,
gewiß veranlaßt durch die in Aussicht stehende Geschichte der Kriegswissenschaft,
zeugt namentlich auch die Benutzung handschriftlichen Materials im letzten Buche.
Erwähnung verdient hätten wohl Gustav Adolf und Wallenstein. Mit der ans
S. 117 geäußerten Ansicht: Rom war, was Hannibal nicht wußte und uicht glaubte,
gerade daheim am stärksten, dürfte der Verfasser ziemlich vereinzelt dastehen.
Der ab und zu etwas rhetorisch gefärbte Ausdruck des Buches stammt wohl
daher, daß ihm teilweise Vorlesungen zu Grunde liegen. Wie diese aber die Hörer
gefesselt haben werden, so wird es auch dein Buche nicht an dankbaren Lesern fehlen,
Seitdem Riehl seine kulturgeschichtlichen Novellen geschrieben hat, von denen
einige als Muster der Gattung gelten können, hat es nicht an Nachahmern gefehlt,
aber nur wenigen ist es gelungen, die Höhe ihres Vorbildes zu erreichen. Es ist
eben uicht leicht, den geschichtlichen Stoff, welcher ans dem Wege der Forschung
gewonnen wurde, künstlerisch so zu durchdringen und mit Hilfe der Phantasie zu
beleben, daß das Ganze sich wirklich zum dichterischen Gebilde abrundet und nicht
bloß als das Werk eines gelehrten Notizensammlcrs erscheint. Vielfach dienen ja
solche Novellen nnr dazu, das Wissen ihres Verfassers an den Mann zu bringen,
während von der schöpferischen Thätigkeit eines Dichters wenig oder garnichts
in ihnen zu verspüren ist. Dem Verfasser des obengenannten Büchleins dürfen
wir nachrühmen, daß er nicht zu der Zahl dieser PseudoPoeten gehört. Obwohl
er uus eine Fülle kunstgeschichtlicher Einzelheiten vorführt und Brauch und Sitte
der Stadt Lübeck zur Reformationszeit möglichst getreu darstellt, so drängt sich
doch das geschichtliche Beiwerk nirgends so sehr hervor, daß der Dichter hinter
dem Kulturhistoriker verschwände. Die durchaus erfundene Handlung, deren
Grundmotiv der Widerstreit deutscher und italienischer Renaissancekunst ist, kann
allerdings nicht als spannend bezeichnet werden, ebensowenig wie das bekannt¬
lich bei den meisten der Riehlschen Erzählungen der Fall ist; auch die Charak¬
tere der drei Hauptpersonen, die einzigen, die eingehender ausgeführt sind, er¬
scheinen ziemlich einfach, wen« nicht gar gewöhnlich; dennoch macht das Ganze
einen erfreulichen Eindruck. Dazu trägt außer der gewandten Sprache, die sich
von der heute so beliebten Altertümelei glücklich freihält, um meisten die warme
vaterländische Gesinnung des Verfassers bei, seine ehrliche Freude an unsrer hei¬
mischen deutschen Kunst, die um ihrer Gediegenheit und Keuschheit willen anch
neben den glänzendsten Schöpfungen der italienischen Renaissaneekünstler ein Recht
auf unsre Verehrung hat, jn um ihrer größern Innerlichkeit willen nicht selten
sogar den Vorzug vor ihrer wälschen Schwester verdient. Das ist nach Rüdigers
Erzählung auch bei den zwei Marienbildern der Fall, welche die beiden deutschen
Gesellen Siewert vom Rhyn und Werten von Israel im Wettkampfe mit dein
Italiener Giovanni herstellen. Diese Marienbilder find die letzten, welche in
Lübeck zur Andacht bestimmt waren, aber sie werden mehr bewundert als ange¬
betet, denn bereits ist Luther mit seinem Kampfe gegen die römische Kirche hervor¬
getreten, und auch in der alten Hansestadt Lübeck haben sich die Vorboten einer
neuen Zeit eingestellt. Indem der Verfasser in der angedeuteten Weise seine Ge¬
schichte auf dem Hintergrunde einer großen geschichtlichen Bewegung abspielen läßt,
ohne dieselbe in den eigentlichen Rahmen derselben hineinzuziehen, hat er ihr mit
geschickter Hand einen wirklich geschichtlichen Hauch zu verleihen gewußt. Wir
können das Büchlein der Beachtung unsrer Leser warm empfehlen.
l
e griechische Frage beschäftigt und verstimmt die Welt noch
immer. Da sie in engem Zusammenhange mit der bulgarischen
steht, so durfte man hoffen, sie werde gewissermaßen von selbst
einschlafen, wenn die letztere beigelegt sei. Diese Hoffnung scheint
aber trügen zu wollen. Wenigstens verdoppelten in den letzten
Wochen die Griechen ihre kriegslustiger Kundgebungen und ihre Vorbereitungen
zu einen« Kampfe mit der Pforte, Ohne deutlich zu erklären, daß er losschlagen
will, thut der griechische Ministerpräsident alles irgendmöglichc, um einen Zu¬
sammenstoß mit den Türken unvermeidlich zu machen, und er wird somit, wenn
derselbe erfolgt, dafür verantwortlich zu machen sein, gleichviel von welcher
Seite zuerst die Grenze überschritten und der erste Schuß gethan werden sollte.
Der König Georg scheint in ähnlicher Lage zu sein wie Napoleon der Dritte
im Sommer des Jahres 1870: er wird von einer Partei, der er nicht wider¬
stehen kann, zu einem Wagnis gedrängt, welches ihm die Krone kosten kann.
Ein ehrgeiziger Minister und eine verblendete Volksvertretung wollen es so,
während er selbst augenscheinlich friedfertig denkt, Delyannis wieder geberdet
sich, als ob er gleichfalls nur Impulsen außer ihm gehorchte, wenn er sich in
sichtliche Gefahr stürzte, als vollzöge er nur den Willen der Nation. Wir meinen
aber, er sei an die Spitze der Regierung gestellt, um zu regieren, nicht um
regiert zu werden, Verstand zu haben für das Volk, nicht der Diener von dessen
Unverstand zu sein, ganz abgesehen davon, daß schwerlich das ganze griechische
Volk, sondern sicher nur eine sehr laute und rührige Partei nach Krieg und
Raub schreit.
Was die Stellung der Mächte zu der Angelegenheit betrifft, so scheint
jetzt festzustehen, daß dieselben es Griechenland überlassen wollen, selber mit der
Pforte fertig zu werden, d. h. durch einen Krieg zu Lande, Zur See vorzu¬
gehen, wird ihm ebenso gewiß nicht gestattet werden, und da hier seine Haupt-
stärke liegt, ist immer noch zu hoffen, daß es sich in der zwölfte» Stunde eines
Bessern besinnen und der Verminst Gehör geben wird, gegen deren Ratschläge
es sich so lange verschlossen hat. Noch einmal werden die Vertreter der Mächte
in Athen friedliche Entschlüsse befürworten. Die Anregung dazu erfolgte durch
ein Rundschreiben der Pforte vom 12, April, in welchem die Regierung des
Sultans in nachdrücklicherer Sprache als je vorher die Notwendigkeit aus¬
einandersetzt, daß die Großmächte Europas allen ihren Einfluß in Athen auf¬
bieten, um dort eine Politik des Friedens herbeizuführen. Die Lage sei, so
heißt es in dem Schriftstücke, nicht mehr zu ertragen, sie bedrohe die allgemeine
Ruhe und verhindere das Wiederaufleben des Vertrauens zu den Verhältnissen.
Das ist unzweifelhaft richtig, und namentlich ist die Lage für die Türkei kaum
noch erträglich. Militärisch allerdings hat sie nichts zu befürchten, aber ihr fast
unzweifelhafter Sieg über die Griechen würde ihr nur einigen Ruhm einbringen.
Wichtiger ist die arge Finanznot, in die sie die griechische Bedrohung gebracht
hat. Nur mit großen Anstrengungen und Opfern hat der Sultan einen be¬
deutende« Teil seines Heeres ans den Kriegsfuß setzen, die unumgänglich not¬
wendigen Kriegsbedürfnisse beschaffen und die Truppen bisher notdürftig ver¬
pflegen können. Die vorhnudneu Mittel haben hierzu nicht ausgereicht, und so
hat die türkische Regierung sich gezwungen gesehen, zu außerordentlichen Ma߬
regeln zu greifen, Sie hat der Ottomanischen Bank die Kassababahn verpfändet
und für einen Vorschuß auf gewisse Bedingungen des Barons Hirsch (des
bekannten jüdischen Ausbeuters ihrer Geldverlegenheiten), welcher die Eisenbahnen
in Rumelien für seine Kasse „sruktisizirt," eingehen müssen. Die Pforte hat
ferner den von ihr in den letzten Jahren nicht angetasteten Fonds zu Pensionen
für die Witwen und Waisen angegriffen und vollständig verausgabt, sie ist zu
dem bedenklichen Mittel einer Zwaugsnuleihe geschritten, hat die meisten fälligen
Zahlungen eingestellt und sich sogar einen Vertragsbruch erlaubt, indem sie ihren
Gläubigern zwangsweise die ihnen verpfändete Hammelsteuer entzog, weil diese
gerade jetzt zu entrichten und so der Staatskasse noch einige Wochen Geld zu
liefern imstande ist, Ist auch diese Steuer verbraucht, und kann dann noch
nicht an Abrüstung gedacht werden, so bleibt der Regierung mir der von
der Ottomanischcn Bank angebotene Vorschuß von fünfzehn Millionen Mark
übrig, oder sie muß zu finanziellen Ungeheuerlichkeiten mit schlimmen Folgen
verfahrenen. Unter solchen Umständen aber konnte es ihr niemand ver¬
denken, wenn sie den griechischen Drohungen und Herausforderungen gegen¬
über endlich ihre Gelassenheit verlöre, Deutschland, Österreich-Ungarn und
Rußland haben das Rundschreiben vom 12, April bereits beantwortet und die
Zusage erteilt, neue Schritte zu thun, um die griechische Regierung zur Ab¬
rüstung zu bewegen. Von Frankreich und Italien wird erwartet, daß sie sich
ähnlich äußern werden. Was England anlangt, so war es von Anfang an
für die stärkste Pression in Athen, weil es seinen Handel in den Meeren der
Levante bedroht sah, falls es zum Kriege kam. Von London ging jetzt anch
die Idee aus, im Namen Europas an Griechenland in der Sache eine Note in
ultimatischer Form zu richten. Die Erfahrung habe, so sagt man dort, gelehrt,
daß freundschaftliche Mahnungen allgemeiner Art bei Dclyannis wirkungslos
bleiben, dagegen sei von einer Aufforderung, bis zu einem bestimmten Termine
abzurüsten, anzunehmen, daß der besonnenere Teil des griechischen Volkes sich
um Trikupis schaaren und den jetzigen kriegslustiger Minister vom Ruder ver¬
drängen würde. Genaues über den betreffenden englischen Vorschlag bei den
Kabinetten der Großmächte ist noch nicht bekannt. Doch verlautet mit Be¬
stimmtheit, daß darin beantragt wird, den Griechen eine Frist von einer Woche
bis zum Vollzuge der Abrüstung zu setzen. Dagegen soll eine direkte Be¬
drohung für den Fall der Nichterfüllung des Verlangens der Mächte darin
nicht empfohlen sein. Doch versteht sich Wohl von selbst, daß die Mächte sich
über ihr Verfahren in diesem Falle im voraus verständigen müssen, und dieses
Thema scheint sie in der That gegenwärtig zu beschäftigen. Daß unter den
Maßregeln, die dann zu ergreifen wären, der Abbruch der diplomatischen Be¬
ziehungen zu der Atheuischen Regierung und die Blockade der griechischen Küsten
und Haupthafen eine Rolle spielen würden, leuchtet gleichfalls ein. Doch ist
darüber noch kein Einverständnis erzielt. Die britische Regierung erachtet ihren
Vorschlag als jeder Modifikation fähig und legt nur Wert darauf, daß die von
ihr angeregte energischere Aufforderung an die Minister des Königs Georg im
Namen ganz Europas erfolge und diesen Charakter bis ans Ende bewahre.
Das aber hat, wie glaubwürdig behauptet wird, seine Schwierigkeiten. Es ist
möglich, eine Übereinstimmung der Großmächte, soweit es sich um den doch uur
diplomatischen Akt eines Ultimatums handelt, zu erreichen, aber gegenwärtig
unwahrscheinlich, daß dieses Einvernehmen auch in Betreff der Konseaucuzeu
dieses Schrittes Bestand haben würde. Wenn die griechische Negierung sich bis
jetzt noch nicht fügte, so rechnete sie offenbar auf das bisherige Auseinander-
gehen der Meinungen der Mächte in dieser Beziehung. Der griechische Kriegs¬
minister reiste zu den Truppen, die an der Nordgrenze zusammengezogen worden
sind. Zu deren Verstärkung ging zuletzt auch die Garnison von Athen ab, so
notwendig sie hier auch für den Fall war, daß friedliche Entschlüsse zuletzt bei
der Regierung die Oberhand gewannen und daraufhin die panhelleniftischen
Demagogen eine Revolution in Szene setzten. Triknpis, dessen Berufung zum
Premier unter den gegenwärtigen Verhältnissen den Frieden bedeuten würde,
zeigt keine Neigung, an die Stelle von Delyanuis zu treten. Offenbar denkt
letzterer: es wird sich mit unsern Plänen schon noch günstig gestalten, die Mächte
reden nur drein, wagen aber nicht, ernstlich dagegen zu handeln, um nicht ihr
Interesse zu beeinträchtigen. Frankreich trägt Sympathien für uns zur Schau,
weil es bei uns Sympathien zu erhalten wünscht, die es für sein Interesse am
Mittelmeere England gegenüber zu bedürfen glaubt. Rußland glaubt, daß in
Bulgarien noch nicht das letzte Wort gesprochen sei, daß es dort seinen Einfluß
wieder stärken^könne, daß es gut für feine letzten Ziele sei, wenn auf der Balkan¬
halbinsel Ungewißheit und Unzufriedenheit herrschen, und daß es ihm in gleichem
Maße nütze, wenn die Pforte durch langdauernde Kriegsbereitschaft finanziell
geschwächt oder gar zu Grunde gerichtet wird. Leider sieht es nach manchen
Anzeichen aus, als ob die griechische Berechnung zutreffen konnte, und als ob
das europäische Konzert in dieser Frage, d, h. in Sachen der Zwangsmaßregeln,
sich auflösen wollte. Jedenfalls ist es auffällig, daß die französischen Offiziere,
welche die griechische Armee als Drillmeister eingeübt haben, sich noch immer
im griechischen Lager befinden, und daß Schiffe der französischen Leucmtestation
noch immer im Piräus liegen und angewiesen sind, diesen Hafen nicht ohne aus¬
drücklichen Befehl des Mariueministers zu verlassen. Anderseits soll die russische
Negierung zwar gewillt sein, sich mit den andern Mächten an einer Blockade
zu beteiligen, aber der Verdacht ist nicht abzuweisen, sie werde sich dazu nur
herbeilassen, um kräftigere Maßregeln zu verhüten. Dazu kommt jetzt noch die
Reise des russischen Gesandten in Athen nach Livadia zum Kaiser, und die
Nachricht, daß er zuvor lange Unterredungen mit dem Könige Georg und
Delycmnis gehabt hat, in denen man eine Beruhigung und Ermutigung der
widerspenstigen Griechen erblicken will.
Am 7. April hat an Bord des englischen Admiralschiffes in der Suda-
hnese unter dem Vorsitze des Herzogs von Edinburg ein Kriegsrat stattgefunden,
an welchem die Befehlshaber des nunmehr dort vollzählig versammelten euro¬
päischen Geschwaders teilnahmen. Dem Vernehmen nach regte hier der Wort¬
führer Englands den Gedanken von Gewaltmaßregeln gegen die hellenische
Flotte, ja von einer eventuellen Vernichtung derselben an. Es kam aber nur zu
dem Beschlusse, die Buchten und Häfen Südgriechenlands streng zu überwachen,
da die Instruktionen der nichtenglischcn Admiräle nicht weiter reichten. Der
russische namentlich wollte nur Vollmacht haben, sich an einer Blockade zu be¬
teiligen, und der französische drückte sich zwar nicht so bestimmt aus, man weiß
aber, daß er, wenn es zum Handeln kommen sollte, wie der Russe verfahre»
würde. Die Einigkeit unter den Mächten läßt also zu wünschen übrig. Indes
ist anzunehmen, daß wenigstens keine derselben jetzt noch Einspruch thun würde,
wenn die Pforte endlich selbst kriegerisch gegen Griechenland vorgehen wollte.
Der Sultan hat bis jetzt große Geduld an den Tag gelegt und auch den Schein
vermieden, als dächte er daran, den Frieden zu stören. Treibt man aber in
Athen die Dinge weiter bis zum äußersten, so wird ihm, wenn er dann die
Waffen dagegen braucht, die Billigung der Mächte nicht vorenthalten bleiben,
da eine gewaltsame Entscheidung des von Griechenland angezettelten Handels,
die jedenfalls mir einige Tage dauern würde, immerhin den nunmehr schon
Monate dauernden Bedrohungen des europäischen Friedens durch den kleinsten
Staat des Weltteils vorzuziehen wäre. Griechenland hat von einem Angriffe
auf Epirus und Makedonien nichts zu erwarten als eine Niederlage. Seine
kriegerischen Mittel sind trotz aller Verstärkung seiner an der Grenze stehenden
Truppen unzureichend. Sein angebliches Recht existirt nur in seiner Einbildung,
es hat wenigstens mit dem Völkerrechte nichts zu schaffen, und selbst ein wirk¬
liches Recht gewinnt keine Kriege, wenn ihm nicht die Macht zur Seite steht
oder große Sympathien ihm entgegenkommen. Die letztern fehlen ihm in den
türkische» Provinzen, deren Eroberung es im Auge hat. Die dortigen helle¬
nischen Stammesgenossen werden geneigt sein, es zu unterstützen, sie bilden aber
nicht die Mehrheit der Bevölkerung und wohnen mir hin und wieder dicht bei¬
sammen. Die Griechen bauen auf ihre geistige Überlegenheit über die Albanesen
und Bulgaren in jenen Provinzen, lassen aber die Thatsache aus den Augen,
daß die Albanesen in Epirus ihnen jetzt an Nationalgefühl nicht nachstehen und
daß das griechische Element in Makedonien das bulgarische schon lange nicht mehr
so beherrscht und aufsaugt wie früher. Diese Bulgaren sehen jetzt einen bulgarischen
Staat neben sich, der ein energisches Leben zeigt, von dem er an sie abgiebt.
Selbstverständlich werden sie nicht in einen hellenischen Staat aufzugehen ge¬
neigt sein, der ein fremder ist und ihnen nicht dnrch Thatkraft imponirt. Griechen¬
land hat den rechten Augenblick versäumt. Es sollte das jetzt begriffen haben,
und man sollte meinen, nachdem die Anhänger der großgriechischen Idee sich
gezwungen gesehen haben, die Hoffnung auf Byzanz für immer aufzugeben,
müßte es ihnen leichter fallen, die Hoffnung auf den Besitz von hundert oder
zweihundert Dörfern und Kleinstädter in Mciccdomen und Albanien fahren zu
lassen. Können sie das nicht, so werden sie müssen, und müssen thut weh, be¬
sonders wenn das Anderswollen viel Geld gekostet hat.
Ähnliches gilt von Kreta, auf das man in Athen schon seit Jahrzehnten
begehrliche Blicke wirft und von dem vor kurzem ein „patriotischer," d. h. chau¬
vinistischer Redner in der dortigen Kammer wissen wollte, es sei zu sofortigen
Aufstande bereit und warte nur auf einen Wink dazu. Man behauptet, die
Jusel sei ein natürliches Zubehör zu Griechenland, ihrem „Mutterlande," ver¬
stößt aber damit nur insofern nicht gegen die Geschichte, als Kreta in halb
mythischer Zeit eines der letzten Ziele der dorischen Wanderung war und durch
diese zu der ursprünglich semitischen Bevölkerung ein starkes hellenisches Element
erhielt. Von einem Zusammenhange mit den Stammverwandten war hier später
bis auf die letzten Jahrzehnte viel weniger die Rede als selbst in Sizilien und
Unteritalien. Auch in der Zeit des regsten nationalen Lebens der altgriechischen
Zeit war das kretische Griechentum politisch gesondert von dem auf den Nachbar¬
inseln und auf dem Festlande Europas und Kleinasiens. Erst 67 v. Chr. wurde
Kreta ein Teil des römischen Weltreiches und so einigermaßen mit der übrigen
hellenischen Welt verbunden. Als jenes Reich in eine westliche und eine östliche
Hälfte zerfiel, verblieb die Insel mir verhältnismäßig kurze Zeit bei der letzter»,
denn 823 wurde sie dem griechischen Kaiser dnrch die Araber entrissen, in deren
Besitz sie sast anderthalbhundert Jahre verblieb. Nikevhorvs Pholas brachte
sie 961 Mieder unter die Herrschaft von Byzanz. Bald nach der Eroberung
Konstantinopels durch die Kreuzfahrer geriet sie in die Hände der Genuesen,
denen sie nicht lange darauf von den Venetianern abgenommen Mürbe, Diese
behaupteten ihre Eroberung bis 1645 gegen die Türken, welche das übrige
griechische Land erobert hatten, und die Hauptstadt fiel sogar erst 1696 in deren
Hände. Seitdem hat sie mit Ansncchme weniger Jahre, in denen sie Mehemed
Ali pfandweise besaß, zum Reiche der Pforte gehört, die deu 1863 ausge¬
brochenen und von Athen unterstützten Aufstand 1867 niederwarf und die Insel
sicher gutwillig nicht abtreten wird, da sie von größter Wichtigkeit für den
Bestand ihrer Herrschaft ist, und da sie bei einer solchen Weigerung mit aller
Bestimmtheit England an ihrer Seite haben wird. Ein Blick auf die Karte
reicht hin, um zu erkennen, daß die Linie Kreta-Rhodus es ermöglicht, die Ver¬
teidigung der Dardanellen gegen einen von Süden her kommenden Feind schon
in einer Entfernung von sechzig geographischen Meilen mit Aussicht auf Erfolg
zu beginnen, wenn man ihm mit genügenden Secstreitträften die schmalen Wasser¬
straße» im Osten und Westen Kretas verschließen kann. Der Verlust des letz¬
teren öffnet jeder feindlichen Flotte den Zugang von Südwesten her nach den
Dardanellen und sperrt anderseits der türkischen Kriegsmarine den Weg zu
Ausfällen nach dem westlichen Mittelmeere. Wir weisen auf die Verlegenheit
hin, welche der Pforte während des Krieges mit Mehemed Ali daraus erwuchs,
daß sich Kreta damals im Besitze des letztern befand, während das kurz vorher
unabhängig gewordene Griechenland die Inselgruppe der Cykladen mit dem
militärisch höchst wichtigen Syra inne hatte. Damals war das Ägeische Meer
den Schiffen des Kapudan Pascha, der es früher beherrscht hatte, vollständig
verschlossen, und keine osmanische Flotte wäre imstande gewesen, westlich von
Kreta durch die Meerenge von Cerigo und Cerigotto oder östlich durch die von
Karpathvs durchzubrechen. Es ergiebt sich aus dieser Erfahrung der strate¬
gische Wert Kretas: dasselbe ist für die Pforte, wenn sie überhnnpt für einen
Seekrieg genügende Mittel besitzt, von größter Bedeutung, eine Art Malta oder
Gibraltar.
l
e abstrakten Lösungen der großen Streitfragen kommen auf allen
Gebieten immer mehr in Mißkredit, Der liberale Doktrinarismus,
welcher mit Verfassungsbestimmungen, mit genauer Abgrenzung
der Machtkreise der verschiednen konstitutionellen Gewalten den
Frieden zwischen denselben für immer gesichert zu haben
Mabille, erscheint jetzt als ein Versuch, das Lebendige, Werdende und Ver¬
änderliche in das Bett des Proknstes zu zwängen und dadurch in seinem Dasein
selbst zu gefährden. Welche Hoffnungen hat nicht der alte Liberalismus auf
die Wirkung der Zauberformel gesetzt: Trennung von Staat und Kirche! Und
wie wenig haben sie sich in der Praxis bewährt! Italien, welches bereits vor
Jahren jene Trennung durchführte, kommt dennoch dabei so wenig zur Ruhe,
daß die Anrede „Sire" in dem Briefe des Reichskanzlers an den Papst zu einer
Ministerintcrpellation im italienischen Parlament Anlaß zu gebe» droht. In
Frankreich billigt das Ministerium Freycinet das große Heilmittel zwar im
Prinzip, hütet sich aber, es anzuwenden. In Belgien sind Staat und Kirche
seit sechsundfünfzig Jahre» gründlicher getrennt als irgendwo anders. Aber
der Kampf zwischen beiden ist dadurch keineswegs beseitigt oder auch nur gemildert,
sondern zuletzt in einer so heftigen Weise gesteigert worden, daß die liberalen
Staatsmänner der alten Schule, die Frere-Orban, Laveleye, Aviella u. s. w.,
demselben nahezu ratlos und verzweifelt gegenüberstehen. Das „ Nmbos oder
.Hammer sein" gilt auch von dein Verhältnisse zwischen Staat und Kirche,
welche übrigens auch nur zwei abstrakte Formeln sind, deren Jnhaltsfülluug
entscheidet. I» Belgien sind mit Ausnahme weniger Protestanten und Juden
dieselben Personen zugleich der Inhalt und Körper des Staates wie der katho¬
lischen Kirche. Je nachdem in der Mehrheit der Belgier das nationale Gefühl
das religiöse an Lebhaftigkeit übertrifft oder das letztere stärker ist als das
erstere, wird der Staat über die Kirche oder die Kirche über den Staat herrschen,
ungeachtet aller die eine von dem andern abzäunenden und abgrenzenden Ver-
fassnngsparagraphen.
Thatsächlich habe» seit dem Sommer des Jahres 1884 die katholischen
Bischöfe Belgiens sich den Staat unterthänig gemacht. Der Staat ist in
Gefahr, noch weiter erobert zu werden und sich jenem Ideale der Gläubigen
anzunähern, der Theokmtie. Was im Mittelalter der Kirchenbann und das
Interdikt bewirkte, die Unterjochung der widerspenstigen weltlichen Macht, das
bringt jetzt das moderne Mittel des Stimmrechts zuwege. Die katholischen Ab-
geordneten und Mehrheiten sind die wirksam gemachten Bannstrahlen Roms und
der Bischöfe. Die „streitende Kirche" steht jetzt kampflustiger und zuversicht¬
licher auf dem Plane als seit Jahren, und der Ausgang des Ringens ist geradezu
unheimlich zweifelhaft und besorgniserregend. Und was war der Anfang
dieses Kampfes zwischen den Liberalen oder Verfassungstreuen und den von
intransigenten und konsequenten Katholiken vorwärts getriebenen Klerikalen?
Die Schulfrage. Alle andern möglichen Streitpunkte glaubte man durch die
Verfassung von 1830 ausgeschlossen zu haben. Der Staat kannte keine bevor¬
rechtete Kirche, sondern nur religiöse Vereine. Es existirte eben deshalb kein
Konkordat zwischen Staat und Papst, es konnte somit nie Schwierigkeit ent¬
stehen über zu besetzende Bis- und Erzbistümer, über Klöster und Jesuiten, wie
z. B. in Deutschland. Der Verkehr der Bischöfe mit ihrem römischen Ober¬
haupte war vollständig ungehindert. Der Veröffentlichung der päpstlichen
Breves und Encykliken, der bischöflichen Hirtenbriefe stand Vonseiten des Staates
nicht das geringste im Wege. Die einzige, für die Kirche nicht unangenehme
Berührung mit dem Staate war der Bezug von 4^/g Millionen Franks jährlich
aus der Staatskasse zur Besoldung ihrer fünftausend Geistlichen. Auch hin¬
sichtlich der Volksschule glaubten die Gründer der Verfassung jeder künftigen
Reibung vorgebeugt zu haben, indem sie die vollständige Freiheit des Unterrichts
in derselben prvklmnirten. Allerdings war am Schlüsse des 17 ein Staats¬
unterrichtsgesetz in Aussicht gestellt. Aber der Staat beeilte sich durchaus nicht,
der Kirche und den Privatunternehmern auf dem Gebiete der Schule sonderliche
Konkurrenz zu machen.
Als im Jahre 1842 dem damaligen katholischen Ministerium die Not¬
wendigkeit einleuchtete, der thatsächlichen Anarchie des Unterrichtswesens ein
Ende zu bereiten und Musterschnlen und Staatsghmnasien in größerm Umfange
ins Leben zu rufen, mußte es sich zu Kompromissen an die katholische Geist¬
lichkeit verstehen, welche mit ihren Klosterschulen das ganze Land wie mit einem
Netze umspannt hielt. Das Schulgesetz von 1842 stellte die jetzt neben den
Klosterschulen errichteten Staats- oder Gemeindeschulen unter die Aufsicht der
Geistlichen. Dieselben hatten mittelbar durch die Gemeinderäte die Wahl der
Schullehrer in der Hand. Sie entschieden über die Wahl der Lehr- und Lese¬
bücher, der katholische Religionsunterricht stand an der Spitze des Lehrplanes,
kurz, der ganze Unterricht war konfessionell. Nichtkatholiken waren dnrch
das Gesetz von Besuch der (damals ausschließlich bischöflichen) Seminare wie
vom Lehramte in den Volksschulen geradezu ausgeschlossen. Als einige Jahre
später ein katholisches Ministerium zwei Staatsschullehrerseminare zu gründen
vorschlug, protestirte der gesamte Klerus dagegen, wie gegen eine Anmaßung
und ein Attentat auf die Rechte der katholischen Kirche. Die Liberalen, welche
1847 ans Ruder gelangten, suchten ihrerseits, soweit es ans dem Verwaltungs¬
wege geschehen konnte, den Klosterschulen zu Gunsten der Staatsschulen den
Boden abzugewinnen. Sie brachten es allmählich dahin, daß die Zahl der von
den Gemeinden als Gemeindeschulen adoptirten Klostevschnlen sich bedeutend
verringerte. Während 1848 noch 913 solcher adoptirten Schulen bestanden,
gab es 1879 nur noch 444 derselben. Das 1879 im Juli erlassene und die
volle Verweltlichung aller Gemeindeschulen, Gymnasien, Seminare und Uni¬
versitäten bewirkende liberale Schulgesetz verbot sogar für die Zukunft alle und
jede weitere Adoption der sogenannten freien oder Klosterschulen. Bis 1879
hatte die liberale Partei nur geplänkelt und unter der Hand gearbeitet. Im
Januar des genannten Jahres erfolgte durch deu Entwurf des neuen Schul¬
gesetzes und dessen Vorlage in der Kammer durch den Minister Frere-Orban
die offene Kriegserklärung gegen die Geistlichkeit und deren höhere und niedere
Unterrichtsanstnlten. Dem Einflüsse des Priesters auf die Gemeindeschulen
wird ein Ende gemacht, der Religionsunterricht vom Lehrplane gestrichen und
durch einen Moralunterricht ersetzt, welchen der Lehrer erteilt und welcher sich
etwa auf der Grundlage eines zum Deismus verdünnten Christentumes aufbaut.
Nur das Schullokal wird den Geistlichen für ihre Religionsstunden zur Ver¬
fügung gestellt, aber es steht den Eltern frei, ihre Kinder daran teilnehmen zu
lassen oder nicht. Die Seminare werden jeder bischöflichen Inspektion entzogen,
und zugleich wird nur den Inhabern von Staatsschulseminardiplomen die Lehr¬
berechtigung an den Gemeindeschulen zugesprochen. Die Zahl dieser Seminare
wie der StaatSgymnasicn wird wesentlich vermehrt, kurz, die ganze Macht des
Staates wird gegen die unter geistlichem Schutz und geistlicher Aufsicht stehen¬
den bischöflichen Seminare, Universitäten und Klosterschulen ins Feld geführt.
Eine besondre und interessante Episode während der Beratung des neuen
Schulgesetzes wie nach dem Erlaß desselben bildet das Verhalten Papst
Leos XIII. Frere-Orden, der seine Partei, die Liberalen, zur Wicderanstellung
eines Botschafters beim Vatikan zu bestimmen vermocht hatte, rief den Papst
selbst um Hilfe an gegen die belgischen Bischöfe, welche den Schnlgesetzentwurf
sofort in.der schärfsten Weise angegriffen hatten und dadurch auf die rechte
Seite der Kammer in gefährlichster Weise einwirkten. In einem von allen
Bischöfen unterschriebnen Hirtenbriefe wird das Recht der Leitung des gesamten
Unterrichts ganz autoritär und mittelalterlich für die Kirche in Anspruch ge¬
nommen. „Die Religion aus dein Schulplan verweisen — so lautet es in dem
Erlaß — heißt Schulen ohne Gott schaffen; und eine von Gott unabhängige
Moral bilden, heißt das christliche Leben in seiner Wiege ersticken." Die
Gläubigen werde» aufgefordert, für die Erhaltung des Glaubens zu beten und
auszurufen: „Vor den Schulen ohne Gott und vor den Schullehrern ohne
Glauben bewahre uns, o Herr!"
Der Papst ermahnt zwar zur Mäßigung. Aber da er sich im Prinzip
mit dem Protest gegen die „religionslosen" Schulen einverstanden erklärt und
nur in der Form und sür einzelne Fälle größere Vorsicht empfiehlt, wirkt seine
Dcizwischenkunft wenig. Zugleich schärft sich in der zweiten Kammer der bis
dahin ruhige Ton der Debatte zu offner Kriegserklärung. Malon, der Führer
der Rechten, entrollt plötzlich in seiner Rede die katholische Glaubensfahne,
erklärt sich gegen den Entwurf als Ganzes, weil er überhaupt keine „neutralen,"
die Kinder aller Eltern umfassenden Gemeindeschulen will, sondern nur die
konfessionelle Schule für jede Religiousgesellschaft, Und für jede beansprucht
er die Unterstützung aus Staatsmitteln. (Dieselbe auf Zerstörung der öffent¬
lichen Schulen gerichtete Forderung vertreten die katholischen Bischöfe in den
Vereinigten Staaten.) Zugleich kündigt er an, daß die echten Katholiken, d. h.
die nicht liberalen, dem Unterrichtsmouopvl des Staates die freien Schulen
entgegensetzen würden, gleichviel mit welchen Opfern, und daß der Sieg ihnen
zuletzt bleiben werde. Die freien Schulen, d. h. die nnter Leitung der Geistlichkeit
stehenden Klosterschulen, werden in noch größerer Zahl als bisher gegründet
(wie das auch in Paris und in Frankreich überhaupt geschehen ist), und alle
Mittel des Beichtstuhls, der Kanzel, der Versammlungen werden angewandt, um
die Eltern von der Beschickung der neuen Staatsschulen abzuhalten. Der Papst
ermahnt zwar, bei der Massenverdammung dieser Schulen, Ausnahmen zuzulassen,
aber ohne sichtbare Wirkung. Frere-Orban, der sich zuletzt vom Vatikan hinter¬
gangen glaubt, ruft den Baron Anethcm aus Rom zurück und bricht nach lungern
Depcscheuwechsel alle diplomatischen Veziehuugen mit Leo XIII. im Sommer des
Jahres 1880 ab. Der päpstliche Nuntius Nina verläßt bald darauf Brüssel.
Von 1880 bis 1884 dauert nun der Kampf zwischen den Gegnern der Staats¬
schulen und der sie verteidigenden Staatsregierung und deren Anhängern. Der
Riß dringt in jede Gemeinde, in jede Familie. Frauen verlassen ihre Männer,
Kinder werden von den Geistlichen zu offner Empörung und Ungehorsam gegen
ihre Väter verleitet. Der Bericht der von der Kammer 1881 eingesetzten
Untersuchungskommission beweist, wie groß der Einfluß der Geistlichkeit namentlich
in den vlämischen Provinzen ist, und bis zu welchem Grade er in Anwendung
gebracht wurde. Eine Zeit lang konnte man sich zwar noch der Hoffnung hin¬
geben, daß beide Unterrichtssysteme, das des Staates und das der Kirche, sich
noch länger Konkurrenz machen würden. Zuletzt jedoch schritt die bischöfliche
Partei zum Angriff auf die feindliche Zitadelle. Sie zog vor, sie mit einem
male zu erstürmen und zu zerstören, als sie durch langwierige Belagerung aus¬
zuhungern und zur Übergabe zu zwingen. Es ist möglich, daß die gedrückte
Geschäftslage die Fortsetzung der außerordentlichen Geldopfer zur Erhaltung
der Klosterschulen erschwerte. Thatsache ist, daß die Führer der Rechten im
Spätsommer des Jahres 1884 die bisherige Staatsuntcrricytsverwaltnng der
Verschwendung ziehen und Einschränkung und Sparsamkeit schon bei den Juni¬
wahlen desselben Jahres auf ihr Banner geschrieben hatten. Die Macht der
Geistlichkeit zeigte sich bei diesen Wahlen in überraschender Weise. Die siegreiche
katholische Partei zog mit einer größern Mehrheit in beide Kammern ein, als je
zuvor einer Partei zugefallen war. An die Stelle Frere-Ordens trat Malon
und später Bernaert. Sofort wurde die Aufhebung des Schulgesetzes von 1879
in Angriff genommen, und schon am 20. September 1884 war die Kon-
fessionalisirnng der Volksschule, der Seminare u. s. w. durch ein neues Schulgesetz
vollzogen. Dem Kampfrufe der Liberalen: „Hinaus mit den Priestern aus der
Schule!" wurde der diesmal wirksamere entgegengesetzt: „Hinaus mit dem Staate
aus der Schule!" Die Volksschule wurde thatsächlich der Geistlichkeit in die
Hände geliefert. Nicht nur wurde die Religion wieder an die Spitze des
Lehrplans gestellt, sondern auch den Gemeinderäten die Berufung der Lehrer,
die Auswahl der Lehr- und Lesebücher anheimgegeben. Hinter den Gemeinde-
rciten steht aber in den meisten Fällen der bestimmende und bei ihrer Erwählung
allmächtige Einfluß der Geistlichkeit. Selbst die scheinbar im Interesse der
Gewissensfreiheit in das neue Gesetz eingefügten Bestimmungen schlagen in der
Praxis zum Nachteil derselben aus. So sollen z. B. zwanzig Familienväter
allerdings das Recht haben, den Fortbestand der bisherigen Gemeindeschulen
zu verlangen, wenn der Gemeinderat an ihre Stelle — um die „gottlosen"
Lehrer los zu werden — eine freie Schule, d. h. eine Klosterschule adoptirt,
d, h. zur Gemeindeschule erhoben hat. Aber wo werden sich in den Land¬
gemeinden zwanzig Männer finden, die den Mut haben, sich die Feindschaft der
Geistlichkeit und ihrer Anhänger zuzuziehen, und damit nicht selten ernste ge¬
schäftliche Nachteile, ja Brotlosigkeit? Eine andre Bestimmung, nach welcher
gleichfalls zwanzig Familienväter (d. h. diesmal streng katholische), welche aus
Angst für das Seelenheil ihrer Kinder nicht die Gemeindeschulen beschicken
wollen, das Recht haben, eine eigne Schule, d. h, eine der Klosterschulen auf
Stadt- oder Staatskosten angewiesen zu erhalten, ist geradezu darauf berechnet,
zur Erschütterung der noch in den Großstädten vorhandenen, in Bezug auf
Religion neutralen Gemeindeschulen zu dienen und den Religionsstreit in die
Gemeinderäte derselben zu werfen. So hat sich unter andern der Gemeinderat
von Antwerpen geweigert, „den Priester in die Schule zuzulassen," d. h. der
Forderung von zwanzig Familienvätern sich zu beugen. Dieselben wenden sich
nun an den König, um zu ihrem „Rechte" zu gelangen. Der König wird nun
auf Staatskosten den Kindern jener Zwanzig eine eigne, d. h. thatsächlich kon¬
fessionelle Schule zur Verfügung stellen müssen. Ähnliche Reibungen stehen in
Brüssel, in Gent, in Lttttich bevor. Schon jetzt beginnt die Vorarbeit für die
Juniwahlen dieses Jahres. Die Durchführung des neuen Schulgesetzes hat das
Material dazu geliefert. Einer der Hauptzwecke desselben, die Verdrängung
der bisherigen Stantsschullchrer und ihre Ersetzung durch Werkzeuge der Geist¬
lichkeit, ist im großen Maße erreicht.
Schon im Oktober v. I. hatte die Zahl der ihrer Stellen verlustig ge-
wordnen und auf Wartegeld gesetzten Lehrer die Ziffer 1200 überschritten. Der
König wurde durch Abordnungen der großen Städte dringend ersucht, dem
weiteren Abschlachten der staatstreuen Lehrer Einhalt zu gebietein Dennoch ist
das Werk des Ausjätens des „Unkrauts" aus dem ultramontanen Weizen, wenn
auch in vorsichtigerer Weise, fortgesetzt wordein Auf wiederholtes Drängen des alten
Führers der Liberalen, Frsre-Orden, erstattete neulich der Minister des Innern
und des Unterrichts Bericht über die aufräumenden Wirkungen des Schulgesetzes,
Er giebt zu, daß 880 Lehrer auf Wartegeld gesetzt sind, daß von 1933 Volks¬
schulen 877 aufgehoben sind, ebenso daß 228 Kindergärten und 1079 Fortbildungs¬
schulen für Erwachsene dasselbe Schicksal ereilt hat. (Die Wichtigkeit der letzten
ist eine außerordentliche. Es ist notorisch, daß die große Mehrheit der Elementar¬
schüler, welche keine Fortbildungsschulen besucht haben, im Alter von 13 Jahren
kaum mehr lesen und schreiben können.) Es wurden ferner 3316 Lehrer mit
Gehaltsverminderung heimgesucht. (Ersparung von 959 220 Franken für den
Staat.) Dagegen wurden nicht weniger als 1465 Klosterschulen von den be¬
treffenden Gemeinden adoptirt, d. h. an Stelle der öffentlichen Schulen den
Steuerzählern von Gemeinde, Provinz und Staat aufgeladen und den Taschen
der sie bisher erhaltenden Bischöfe und der Gläubigen abgenommen. Wenn
man bedenkt, daß es im ganzen etwa 4200 Gemeindeschulen gab, nämlich 1483
Knaben-, 1042 Mädchen- und 1632 gemischte Schulen und etwa 5000 Lehrer¬
und 2242 Lehrerinnenstellen, kann man sich einen Begriff von der Umwälzung
machen, welche seit 1884 in dem Personal wie in dem Charakter der Volks¬
schule stattgefunden hat.
Das Unterrichtswesen Belgiens ist auf viele Jahre hinaus desorganifirt
und geschädigt, die Einwirkung des Staates auf dasselbe vollständig unzu¬
länglich geworden, das Niveau der Volksschule erheblich herabgedrückt. Die
Liberalen fürchten infolge dessen einen weiteren Niedergang der belgischen In¬
dustrie auf dem Weltmarkte, auf welchem die Deutschen sie ohnedies bereits zu
verdrängen anfangen. Die Schulfrage wird somit zugleich eine wichtige mate¬
rielle, finanzielle und volkswirtschaftliche Frage. Dennoch sind die Aussichten,
das Verlorne Feld wiederzugewinnen, für die Liberalen keine besondern. Die
zunehmende Spaltung der liberalen Partei in Liberale und Radikale war teil¬
weise mit die Ursache der Niederlagen der Jahre 1884/85, und die klerikale
Partei hat diesen Zwiespalt in ebenso geschickter Weise auszunutzen verstanden wie
in Deutschland das Centrum einen ähnlichen. Sie hat die radikalen Kandidaten
in den großen Städten ebenso gegen die Liberalen unterstützt wie in Berlin
die Katholiken den Kandidaten der freisinnigen Partei (Ludwig Löwe) gegen
Professor A. Wagner, den konservativen Kathedersozialisten. Sie wird auch
bei den Wahlen dieses Sommers dieselbe Taktik befolgen. Die Radikalen ver¬
langen nicht nur eine Aufhebung der Besoldung der Geistlichkeit aus der Staats¬
kasse, sondern auch Revision des § 47 der Verfassung, welcher das Wahlrecht
an die Zahlung einer nicht unbedeutenden direkten Steuer (nicht unter zehn Gul¬
den) knüpft. Von einer Million erwachsener Belgier haben jetzt nur 125 000
das Wahlrecht. Aber eine Ausdehnung desselben, eine Annäherung an das
allgemeine Stimmrecht wiirde, so behaupten Kenner der Verhältnisse, die Macht
der Klerikalen nur vermehren. Die Ergebnisse des allgemeinen Stimmrechts
in Deutschland sind in der That den Ultramontanen nicht weniger günstig ge¬
wesen als die des preußischen Dreiklassenwahlsystems, Karl Hillebrand giebt in
einem 1880 geschriebenen Aufsätze die Möglichkeit bereits zu, daß ein zweites
Paraguay aus Belgien werden könne. Daß er eine solche Befürchtung trotz
des eben erst erfochtenen Schnlgesrtzsiegcs der Liberalen von 1879 äußerte, be¬
weist, daß die Ursachen der Macht der Geistlichkeit tiefer liegen müssen und
daß sie durch keine bloße Gesetzgebung für oder Wider dauernd zu erschüttern sind.
Die Hauptstärke der katholischen Partei liegt in den alten flandrischen Pro¬
vinzen, denselben Provinzen, welche zur Zeit der Renaissance päpstliche Bullen
verbrannten, päpstliche Interdikte benutzten, um ihre Zehntabgaben an die Geist¬
lichkeit einzustellen, und für die Reformation Gut lind Leben einsetzten. Nachdem
die Führer unter Aldas Blutherrschaft entweder hingerichtet oder zur Flucht
und Auswanderung gezwungen waren, kam die Ruhe des Kirchhofs über Flan¬
dern. Und was noch schlimmer war, die ihrer besten Männer und kühnsten
Köpfe beraubte Bevölkerung konnte aus sich heraus keinen ihrer würdigen Nach¬
wuchs erzeuge». Unter der fortdauernden spanischen Herrschaft verkümmerte
alles. Die geistige Verbindung mit dem stanuuverwandten und Protestantischen
Holland war und blieb unterbrochen. Die Nachkommen der Helden des nieder¬
ländischen und protestantischen Befreiungskrieges wurden im Laufe des siebzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts in dumpfe Pfaffenknechte verwandelt, und die am
Ende des letzten gemachten Versuche Josephs des Zweiten, das damals unter
österreichische Herrschaft geratene Land der Aufklärung zu öffnen, beantworteten
die Flamänder mit dem Brabanter Aufstände. Die Einverleibung in die fran¬
zösische Republik stieß sie mir noch tiefer in den Katholizismus zurück. Als
man unter dem Direktorium die belgischen Priester zur Deportation, der soge¬
nannten trocknen Guillotine, abführte, die Kirchen, Klöster und Sakristeien ausplün¬
derte, erstand auch in Belgien jene Erneuerung des katholischen Glaubens, welche
durch ihre bis auf den heutigen Tag dauernden Nachwirkungen die Klugen und die
Freidenker in immer neues Erstaunen versetzt über die Auferstehung einer be¬
reits totgeglaubteu Macht. Seit jener Zeit sind die katholischen Volksmassen,
welche bis dahin nur als Staffage den Hintergrund gefüllt hatten, als Mit¬
redende und Mithaudelude auf die Weltbühne getreten und haben dadurch kirch¬
lich wie politisch die ganze Lage und die Zukunft der Dinge verändert. Nur
das nationale Moment Hütte dagegen ein wirksames Gegengewicht abgeben
können., Aber das Nationalgefühl war in Flandern seit Jahrhunderten ver¬
kümmert und eingeschlafen. Die große Vergangenheit ihres Stammes zur Zeit
der Renaissance war aus dem Volksbewußtsein entschwunden. Erst seit fünf-
unddreißig Jahre» siud Gesellschaften für vlämische Literatur mit der Wieder-
erweckuug dieser glänzenden Erinnerungen und mit der ernstern Pflege des
vlämischeu Volks- und Sprachtums beschäftigt. Der weitere Hauptgrund für
die geistige Vereinsamung des vlämischeu Volkes ist aber die Scheidewand,
welche die französische Sprache und Bildung zwischen den höhern Klassen und
dem eigentlichen Volke seit Menschenaltern errichtet haben. Die Gebildeten leben
in einer ganz andern geistigen Atmosphäre als das Volk. Ihre ernsten Stu¬
dien sind in französischer Sprache, ihre Reden vor Gericht, in den Kammern
gleichfalls. An den Universitäten in Lüttich und Gent wird fast ausschließlich
in französischer Sprache vorgetragen. Das Leben der Gebildeten wird dadurch
ein zwiespältiges. Sie bedienen sich der vlcimischen Sprache etwa wie wir mit
unsern pommerschen oder mecklenburgischen Dienstmädchen des Plattdeutschen.
Sie stehen mit den nur des Vlämischeu mächtigen Massen in keiner innerlichen
und tiefern geistigen Beziehung. Und doch besteht das wirklich treibende Leben
eines Volkes gerade in dieser beständigen Wechselwirkung zwischen Volk und
Gebildeten, und ohne die Füße im Volksboden wurzeln zu lassen, kaun der
Kopf der Gebildeten keine großen und dauernden, die Gcsamteutwicklung för¬
dernden Ideen und Werke erzeugen. Das niedere Volk hat somit an den Ge¬
bildeten seines Stammes weder Führer noch Förderer. Es wird dadurch zu
einer Nichtentwicklung des nationalen Bewußtseins verurteilt, zu einer geistigen
Atome und Kraftlosigkeit, in welcher, wie bei embryonischen, noch ans den
ersten Stufen sich befindenden Nationalitäten, die Religion die erste, be¬
stimmende Stelle einnimmt. (So hassen z. B. die griechisch-katholischen Serben
in Ungarn die römisch-katholischen Kroaten, trotz der gemeinsamen slawischen Ab¬
stammung, als Abtrünnige.) Dazu kommt, daß die Geistlichen die einzigen Ge¬
bildeten sind, welche zum Volke über andre als gewöhnliche Dinge in vlämischer
Zunge reden, und dadurch ihre geistigen Leiter und Vertreter in allen Verhält¬
nissen des Lebens geworden sind. Die Pflege des Vlämischeu bei Gebildeten
und Ungebildeten, die dadurch zu bewirkende Vereinigung beider zu einem neu-
gekräftigten nationalen Bewußtsein ist deshalb die erste Hauptbedingung zur
Brechung des übermäßigen und ungesunden Einflusses des Klerus. Die rege
geistige Verbindung mit Holland und Deutschland (zunächst mittels des ver¬
wandten Plattdeutschen) muß systematisch organisirt werden. Nur so kann zu¬
gleich ein Gegengewicht gegen den französischen Formalismus erwachsen, welcher
die großen Städte und die wallonischen Provinzen in einer gewissen geistigen
und seelischen Unfruchtbarkeit hält und für jenes konstitutionelle ewige Schankel-
systcm mit verantwortlich ist, das in seinen Wirkungen an die Arbeit der Pene-
lope erinnert. Die eine ans Nuder kommende Partei trennt sofort das Gewebe
auf, welches die andre, abtretende in den Jahren vorher mühsam geschaffen hat.
Frankreichs Niedergang und Englands steigende Verlegenheiten sind der welt¬
geschichtliche drohende Bankerott dieses Systems. Es fehlt in Belgien wie in
Frankreich an einer mächtigen und ununterbrochenen Vertretung der dauernden
Interessen des Landes. Es fehlt an einer starken, mit ihren Wurzeln durch
Jahrhunderte reichenden und von den Parlamenten unabhängigen Dynastie,
welche gegen die Kammern, den Ausdruck der Augenblicksstimmung der Wähler,
die entscheidenden Lebensbedingungen des Ganzen zu betonen und, wenn nötig,
auch trotz der Paragraphen der Verfassung durchzuführen Willens und imstande
wäre. Eben deshalb ist die Geschichte des Kampfes um die Schule nur Ma¬
terial, welches anderweitig zur Lösung der Volksunterrichtsfragc zu verwenden
sein wird. Belgien wird so wenig wie Frankreich der schwierigen Aufgabe ge¬
wachsen sein. Beide scheinen die Bestimmung zu haben, zwischen der rein utili-
tarischen, die Moral nur formal fassenden religionslosen Schule lind der ver¬
alteten konfessionellen hin und her zu schwanken oder besser hin und her zu zucken.
Die gewaltsame Ausstoßung des Protestantismus, aus welchem das moderne
wirkliche Leben hervorgegangen ist, hat offenbar eine Art geistiger Lähmung
zur Folge gehabt, deren Wirkung man sich trotz aller Anstrengung nicht zu
entziehen vermag. Es gilt von den Völkern wie von den Einzelnen:
Was man von der Minute ausgeschlagen,
Giebt keine Ewigkeit zurück.
Nur die großen paritätischen Nationalstaaten scheinen geeignet, die Aufgabe
vollständig zu erfassen und gründlich in Angriff zu nehmen. Wie der Krieg
die erhabene Mission der Völkerbildung zu seiner Rechtfertigung bedarf (man
verstehe nur die Deutschland einigende und damit schaffende Kraft der he¬
roischen Erhebung von 1370—71), so hat auch der Kampf zweier sich zu¬
gleich entgegenstehenden und ergänzenden Weltansichten, wie sie im Protestan¬
tismus und Katholizismus vorliegen, zuletzt eine zu neuen Bildungen führende
Wirkung. Vor allein aber wird und muß diese Neubildung durch den natio¬
nalen Boden bedingt sein, dem sie entkeimt. Wie die Sprache eines Volkes
ein genaues Bild seiner besondern Erfahrungen, Empfindungen und Ausdrucks-
cigentümlichkeiten darstellt, so wird auch die Lebensauffassung. die Sittlichkeits¬
richtung — und dahin wird die neue Ideal- oder Neligionsgründung aufzu¬
blicken haben — bei jedem Volke eine besondre, aus der bestimmten nationalen
Anlage hervorgegangene und durch sie bedingte sein. Das eigenartige Verhalten
eines Volkes gegen sich selbst und gegen die Nachbarvölker wird den Kern seiner
besondern Sittlichkeit ausmachen. Wie die gewaltige Gährung der Reformation
des sechzehnten Jahrhunderts das bis dcihiu naive und einfache Christentum in
eine Reihe verschiedenartiger selbständiger Konfessionen verwandelte und that¬
sächlich uatioualisirte, so wird auch das moderne Sichwiederbesinnen der ger¬
manischen Völker auf ihr Innerstes und Eigenstes eine Reihe neuer Sittlich¬
keit?'- und Moralarteu, d. h. die erhebende Herausgestaltung eben der nationalen
Eigenart und ihrer Vorzüge, zum Segen aller zur Folge haben.
s fehlt in der deutschen Literatur nicht an Gestalten, deren
Schicksal uns tragisch berührt, weil der grausame Tod einem
hoffnungsvollen Dasein mitten in seiner schönsten Lebensblüte
ein jähes Ende bereitete; man denke an I. Chr, Günther, Hölty,
^ Novalis, Collin, Büchner n. a. Doppelt rührend jedoch ist das
Schicksal der deutschen Kvusulstochter Margarethe von Bülow, der es bestimmt
war, bei einer wahrhaft edeln Handlung, bei der Rettung eines Menschenlebens,
jung zu sterben und allen begründeten Aussichten auf eine erfolgreiche literarische
Laufbahn plötzlich entrissen zu werden, der es nicht einmal vergönnt war, die Buch¬
ansgaben ihrer Novellen zu erleben, welche nur zum Teil in Zeituugsfeuilletous
und in Familienblättern dem Publikum bekannt geworden waren, „Am 2, Januar
1884 — so berichtet Julian Schmidt in dem Vorworte zu ihren Novellen (Berlin,
Hertz, 1885) — hörte Margarethe von Bülow, die mit ihrer Schwester auf
dem Rummelsburger See Schlittschuh lief, den Notschrei eines eingebrochenen
Knaben; sie eilte sofort hinzu, sprang in die Öffnung, hob den Knaben empor,
der auch gerettet wurde, sie selbst aber versank plötzlich unter dem Eise, wahr¬
scheinlich von einem Herzschläge getroffen. Vergebens versuchte ihre Schwester
sie zu retten: das heldenmütige Mädchen war tot, als sie unter dem Eise hervor¬
gezogen wurde. ... Da ihr Tod, erzählt Schmidt weiter, allgemeine Teilnahme
erregte, wurden in den letzten Monaten zahlreiche Manuskripte von ihr abge¬
druckt; die Auswahl derselben in dem vorliegenden Bändchen hat ihre Schwester,
die in treuer Liebe an ihr hing, besorgt. Sie war, als sie starb, noch nicht
vierundzwanzig Jahre alt: was bei größerer Reife ans ihr sich hätte entwickeln
können, kann man nur vermuten. Ich selbst schöpfte aus ihrer Persönlichkeit
die beste Hoffnung eines einstigen schönen Erfolges."
In der Kritik, deren Beruf es nnr zu häufig, um mit A. W. Schlegel zu
reden, mit sich bringt, das Totgeborne totzuschlagen, ist nichts weniger ange¬
bracht, ja geradezu nichts lächerlicher als mattherzige Sentimentalität. Indes
ist die Kritik niemals der Versuchung, sentimental zu werden, mehr ausgesetzt,
als bei der Betrachtung von Werken, deren Schöpfer vor den Zeit der vollen
Entfaltung ihres Talentes haben sterben müssen; niemals anch ist man mehr
zur Überschätzung geneigt als angesichts solcher Erscheinungen, nie mehr geneigt,
Mängel der künstlerischen Begabung auf Rechnung des unfertigen jungen Menschen
zu setzen. So fristet mancher Name in der Literaturgeschichte sein Dasein, nnr
weil der Autor jung und hoffnungsvoll gestorben ist, so wurde manches hinter-
lasseue Fragment eines gährenden Genies, wie etwa die dramatischen Entwürfe
Georg Büchners, aus purer Sentimentalität seinen, Werte nach ins Shakespearische
anfgebauscht. Offenbar hielt sich der nichts weniger als sentimentale Julian
Schmidt diese Erfahrungen vor Augen, und um nicht in den gleichen Fehler zu
geraten, zog er es vor. lieber etwas zu wenig als zu viel des Lobes über die
Novellen der Bülow zu sagen; darum fällte er das reservirte Urteil: „Was
bei größerer Reife aus ihr sich hätte entwickeln können" u. s. w. Nun ist aber
ein neues Buch ans dem Nachlasse der Bülow erschienen, die Erzählung Jonas
BriceiuS (Leipzig, Grunvw, 1886), und wenn man auch dieses Werk kennen
gelernt hat, dann erinnert man sich unwillkürlich ein das Schicksal der Beur¬
teilung des gleichfalls jung verstorbenen Franz Schubert. Ihm setzte der ängstlich
gewissenhafte Grillparzer die Grabschrift: „Der Tod begrub hier einen reichen
Besitz, aber noch schönere Hoffnungen." Gegen dieses reservirte „aber" trat
R. Schumann in seiner klassischen Charakteristik des liederreichen Sängers auf
und verwies auf den hinlänglich reichen Besitz, den jener hinterlassen, um die
Trauer über die unerfüllten tzvffnnngen zurückzubannen. In ähnlichem Falle
fühlte man sich auch hier beinahe versucht, die Dichtungen Margarethe von
Bülows gegen die stolze Bescheidenheit des eignen Landsmauus zu schützen, wenn
es uns nicht um eine ganz sachliche Darstellung ihrer Eigenart und keineswegs
um eine Apologie zu thun wäre.
Wenn die volle Beherrschung der Kunstnnttel bis zur Virtuosität, wenn
Klarheit über das eigne Wollen, wenn vor allem die sichtbar errungene Un¬
abhängigkeit von einem sehr mächtig einwirkenden Vorbilde Kennzeichen der
Reife sind, dann muß man sagen, daß die kaum vierundzwnnzigjährige Marga¬
rethe von Bülow von einer verblüffenden Frühreife war.
Sie geht in ihren Novellen und zumal im „Briecins" direkt auf die höchsten
Ziele los: auf die Schilderung tiefer und originaler Charaktere. Erfindung,
Handlung, Darstellung, alles ist der Charakteristik gewidmet. Sie hat eine
große Begabung für landschaftliche Schilderung und ist immer stimmungsvoll
in den Nnturbildern; aber sie legt sich selbst Zwang an und streicht die
Malereien, wenn sie ihr zu selbständig werden. Sie ist von der größten
Sparsamkeit in den Mitteln der Darstellung,' sie spricht und läßt nur das
Notwendigste sprechen, in kurzen Sätzen, die zuweilen die Kraft von Naturlauten
gewinnen. Sie reflektirt nie über ihre Figuren und Situationen, sie schildert
nur selten unmittelbar, sie charcckterisirt nur durch Handlungen oder dnrch die
Wirkungen der Figuren auf einander. Sie ist von der größten Objektivität
ihren Gestalten gegenüber und frei von jeder abstrakten Tendenz. Auch den Neben¬
personen trachtet sie durch wenige Striche Persönlichkeit zu verleihen. Ihre
Phantasie bewegt sich am liebsten aus dem Lande, in einer romantischen Natur¬
umgebung, und da sie viel herumgekommen ist, vermag sie für jede Handlung
ein passendes Lokal zu wählen, dessen Kolorit sie mit realistischer Treue zeichnet.
Dabei ist folgender Umstand bemerkenswert, Julian Schmidt, der die
Bülow aus persönlichem Verkehre kannte, erzählt mit unverhüllten Bedauern,
obgleich er selbst nicht wenig zu der großen Geltung Turgenjews in Deutsch¬
land beigetragen hat: „Vielleicht war es ein Zufall, daß unter den neueren
Dichtern sie hauptsächlich von Turgenjew angezogen wurde, der bei all seinen
großen Schönheiten ein nicht ganz unbedenkliches Vorbild für junge Dichter
ist," Wer da weiß, wie mächtig der große russische Dichter auf die poetischen
Werke unsrer Generation eingewirkt hat, und die Novellen der Bülow von
diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, der muß fürwahr die seltene Energie und
klare Selbständigkeit dieses jungen Talents bewundern. Denn nur in der
Novelle „Der Fieberquell" läßt sich die Spur des Turgenjewschen Einflusses
merklich nachweisen, und hier bekundet er sich auch nur in der Natur- und nicht
in der Menschenanschanung,
In dieser Eifersuchtstragödie werden die Menschen ans der volkreichen
Stadt und die Bewohner des einsamen Waldes, also Kultur und Natur gegenüber¬
gestellt, und da heißt es von dem jungen Fvrstgehilfen, der kaum je aus dem
Walde herausgekommen ist: „Diesem Kinde der Haide war die lösende Klage
nicht gegeben; was ihn peinigte, er trug es mit sich dnrch die Einsamkeit als
unentrinnbaren Begleiter, Er mußte schweigen, schwieg der Wald doch auch,
von dem er täglich lernte, Theodor wußte so wenig von dem, was Menschen
treiben, hier war Raum und Freiheit für jeden, hier konnte jeder arbeiten ohne
den Nachbar zu drängen, hier lebten die Leute dürftig vom dürftigen Boden
und verschenkten doch lieber, was sie halten, als daß sie es verkauften. Er
selbst hatte frischeren Sinn als die meisten seiner Landsleute, aber wenn einmal
die unbewußte Harmonie seines Lebens gestört war, verwirrte er sich mehr und
mehr dnrch die mißglückter Versuche, sie durch Grübeln wiederherzustellen."
Und als dann dieser Theodor an dem geplanten Attentat auf den städtischen
Rivalen nnr durch dessen überraschende und beschämende Todesverachtung ge¬
hindert wird und sich aus Reue selbst die dem Nebenbuhler bestimmte Kugel
durch die Brust jagt, da heißt es von diesem erschütterten Städter: „Hatte er
das denn gewollt? Nein, sicherlich hatte ers nicht gewollt, er, der keine Fliege
töten konnte! Aber draußen hob sich der Wind im Walde und erzählte den
Fichtcnwipfeln, wenn er sie kreuzte: der Mensch haßt das Leben nicht, das
Leben haßt ihn — und schüttelt ihn. Knackend, mit singendem Ton brachen
die alten Äste, Und das erzählte der Wald, als Ottfried langsam zurückging,
und die Wetterwolke am Himmel, die in des Bodens spärliches Korn ihren
verderblichen Regen senden wollte. Und die Insekten im Moor und die
schwankenden Gräser, alles, alles rief es ihm zu: Herunter, dn Mensch, ohn¬
mächtig bist du, wie wir!" Und um „einen Teil der Schuld zu sühnen, die
ihn beugte," schlägt er dem umstrittenen Mädchen — auch einem sehr anziehend
gezeichneten Naturkinde — vor, ihn zu heiraten, Sie lehnt es jedoch wehmütig
ab. „Sie sah ihn einige Augenblicke stumm an und dann in die Luft hinein.
Über ihr Gesicht breitete sich wieder der starre, ernste Ausdruck des Fatalismus,
deu die Natur, wo sie herrscht, dem Menschen aufzwingt."
Hier, in dieser trübseligen Auffassung von der Gewalt der Natur über den
Menschen, offenbart sich, wie ich glaube, die Abhängigkeit der Bülow von
Turgenjew. Denn der deutscheu Dichtung ist die Natur eine alllicbendc
Mutter, an deren Busen das kranke Herz gesundet, dem Deutschen ist die Natur
„vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual." Die
Anschauung, daß sie der Feind des Menschen sei, ist spezifisches Eigentum des
Dichters der weiten, wüsten Steppe, des Russen Turgenjew.
Aber merkwürdig ist, daß im übrigen sich ein Einfluß desselben auf unsre
Dichterin nicht bemerkbar macht, ja daß sie in Motiven, die sonst die meiste
Nachahmung fanden, z. B. durch Ossip Schubin, sich die vollständigste Unab¬
hängigkeit von seiner Poesie bewahrte. Es ist bekannt, daß Turgenjews
Männer man kann sagen durchwegs schwache, disharmonische, energielose
Menschen sind, daß Turgenjew mit Vorliebe das Hmnletmvtiv in wirklich be-
wundernswerter Weise variirte; die Gestalten der Bülow hingegen sind ebenso
Menschen von ganz ungewöhnlicher Willensstärke, von einer Macht der Leiden¬
schaft, die vor dem äußersten nicht zurückschreckt, und als ihre ganz besondre
Eigentümlichkeit kann man die Vorliebe bezeichnen, ans der gestörten Harmonie
mit sich selbst, in Naturen, die sonst mit der vollsten Selbstbeherrschung durchs
Leben gehen, die tragische Katastrophe abzuleiten. Das sahen wir schon bei
dem jungen Förster; auch sein Nebenbuhler, der Städter Ottfried, wird als eine
von Haus aus harmonische Natur charcckterisirt: „Man sah es ihm nicht an,
nicht an dem biegsamen Körper, nicht an den leichten Bewegungen, viel weniger
noch an den himmelsguten Augen: das Leben war noch niemals stärker gewesen
als er____ Er hatte als junger Mann dem Vergnügen gelebt, er wollte sehen,
was das Leben bot; aber sein scharfer Blick ließ ihn richtig greifen, er kam
niemals mit sich selbst in Kampf, und den klaren Blick der schönen Augen
brachte er ungetrübt aus der Sturmzeit heraus." Und als dieser Mann dann
das Fieber in sich spürt, da wird erzählt: „Seine Gedanken nahmen eine so
bedenklich romantische Richtung, daß er sich bestürzt nach dem Puls griff:
Fieber! Sobald ers wußte, wurde er darüber Herr." Das ist wohl der vollste
Gegensatz zu Turgenjewscher Unmännlichkeit.
Und erst der Oberleutnant Percy in der gleichnamigen Novelle, wohl der
originellsten, die der Band enthält. Auch er ein Mensch, der sich davor fürchtet,
die Herrschaft über sich selbst zu verlieren: „Denn so etwas, was einem über
Kopf und Willen wächst, ist ein Unglück, da magst du nun darüber denken, was
dn Lust hast," sagt er selbst einmal. „Peres ist ein ganzer Kerl und ich mag
ihn. Fein, ja furchtbar fein — er faßt keine Thürklinke ohne Handschuhe an —
aber wenn's Not thut, greift er mit denselben Handen in glühendes Eisen und
hält fest. Ein Kerl wie Stahl": so charcckterisirt ihn Kamerad Krimman, der
es noch am eignen Leibe erfahren sollte. Dieser Percy ist ein prächtiger Mensch,
so streng verschlossen er auch ist, ob seiner Redlichkeit lieben ihn alle. Ein
Engländer von Geburt, steht er in österreichischen Diensten und liegt eben in
einem ungarischen Neste — das Lokalkolorit des Pußtenlebens ist hier meister¬
haft wiedergegeben — in schläfriger Garnison. Es ist dort Sitte, daß jeder
Offizier sich, ganz ritterlich, für die Garnisonzeit einer einzigen Dame aus¬
schließlich widmet, die auch ihrerseits nur seine Huldigungen annimmt. Es fällt
auf, daß Percy, der vor einiger Zeit aus England zurückgekehrt ist, dieser Sitte
nicht huldigt; man spricht von einer geheimnisvollen Schönheit, die er mitge¬
bracht habe, und die ihn ganz ans Haus fesselt. Aber Percy selbst erzähle
uns die Wahrheit. „Es war auf der Rückreise in Pest; ich kam frühmorgens
aus der Stadt in den Gasthof zurück und hörte dort ans dem Gange zwei
Mädchen streiten: die eine weinte, die andre schien jene ihrer Häßlichkeit halber
zu verhöhnen. Als ich mich näherte, gingen sie auseinander, die Weinende mir
entgegen. Sie hatte das Gesicht in die Schürze verborgen; ich sah ihre pracht¬
vollen Arme, die gerade, ebenmäßige Gestalt — und sagte ihr, daß sie herrlich
gewachsen sei; ich sagte es in Hellem Ärger über die boshafte Blondine, Das
Mädchen ließ die Schürze fallen, und nie zuvor habe ich einen so seligen Blick
entgegengenommen," Zufällig wurde Percy an demselben Tage verwundet, und
Julischka kam, ihn zu pflegen, „Die weiche Berührung that mir gut; ich schlief
stundenweise, und wenn ich erwachte, sprachen wir miteinander. Sie sagte, sie
habe nichts auf der Welt, es möge sie niemand leiden, weil sie so häßlich sei;
sie sagte es nicht vorwurfsvoll, nur wie eine traurige Thatsache, und je länger
ich sie anhörte, desto weniger konnte ichs begreifen. Ihre Stimme war so weich,
und dann lachte sie bisweilen — wie ein kluges, ganz, ganz unerfahrenes
Kind. — Als ich morgens erwachte, war sie knieend, mit dem Gesichte auf
meinem Bette eingeschlafen. Sobald ich mich bewegte, sprang sie auf und ging
hastig fort. — Erst als es dunkel wurde, kam sie wieder; — ich hatte den
ganzen Tag ans sie gewartet und war erregt, — »Warum bist du so lange
fortgeblieben, Julischka?« — »Wenn es hell ist, magst du mich doch nicht um
dich haben!« erwiederte sie. Da befahl ich ihr das Licht anzuzünden, und als
sie's neben das Bett gestellt hatte, sagte ich: »Nun komm her und gieb mir einen
Kuß.« So war das. Als mein Fuß geheilt war, mußte ich fort, und sie —
sie sagte: »schieße mich tot!« — Derlei wäre vielleicht manchmal garnicht un¬
richtig, wenn's möglich wäre. Was meinst du?" Das Bild dieses großherzigen
Mannes wird von der Bülow mit Liebe ins einzelne ausgeführt. Die Handlung
ist auch hier eine Eifersuchtstragödie, aber aus Mißverständnissen, die den jähen
Percy unglücklich verwirren.
In dieser Vorliebe dafür, aus der Verwirrung des Gefühls die tragische
Katastrophe abzuleiten, erinnert Margarethe von Bülow einigermaßen an Heinrich
Von Kleist, wie sie überhaupt durch ihr energisches Naturell und die Liebe für
starke, leidenschaftliche Charaktere, zu denen noch andre hinzutreten, die an über¬
reiztem Pflichtgefühl leiden, sich als eine Geistesverwandte des grossen, spezifisch
Preußischen Dichters offenbart.
Zunächst stehen sich in der vollendetsten Novelle der Sammlung „Der
Herr im Hause" zwei gleich Willensstärke, selbstherrliche Menschen gegenüber,
ein Mann und ein Weib, die sich lieben, aber nur verbinden können, nachdem
das Weib sich dem Manne unterworfen hat. Die Handlung ist hier mit sehr
glücklichen Naturbildern in die Mark verlegt. Die Müllerin Jelde von der
Buchenmühle hat einen trunksüchtigen Taugenichts zum Manne; sie führt das
Regiment im Hanse, wie sie's schon als halberwachsenes Mädchen bei ihrem
kinderreichen, früh verwitweten Vater geführt hat. Und bei ihrer wackern Wirt¬
schaft gedeiht das Geschäft ganz trefflich. Sie hat einen tüchtigen Gesellen,
dem sie wegen seiner Brauchbarkeit eine vertrauliche Stellung in ihrem Hause
einräumt, aber jeden Übergriff ans seiner Dienstbarkeit energisch, oft auch hand¬
greiflich abwehrt; sie kann es thun, denn sie ist auch körperlich eine starke Person.
Da lernt sie den Schulmeister des Dorfes, Wrvukow, kennen: einen hübschen,
aber äußerlich schwachen Jungen, einen menschenscheuen, verschlossenen, sehr em¬
pfindlichen Mann, aber hinter dem schwachen Aussehe» verbirgt sich ein scharfer
Geist, ein klarer Beobachter, ein unbeugsamer Wille. Dieser Wronkow verliebt sich
in die Müllerin; ihr herrisches Wesen jedoch, die Art, wie sie mit ihrem Gesellen
verkehrt, dem er eifersüchtig jedes gute Wort der Müllerin mißgönnt, stößt ihn
wieder von ihr ab. Es wird nun sein Kampf gegen die Leidenschaft, sein Ringen
mit dem Nebenbuhler geschildert, der dem durch die Leidenschaft auch Physisch
stärker gewordenen Schulmeister das Feld räumen muß. Zufällig stirbt auch
noch der Manu der Müllerin und diese, welche längst Wronkow lieb gewonnen,
schlägt ihm vor, sie zu heirate». Aber da kommt sie schön an. „Was sagst
du? — Ich frage, ob du zu mir kommen willst und bei mir bleiben. — Ich
hierher kommen? rief er und seine Augen flammte» auf — daß du mich von
einem Winkel in den andern schiebst, hier auf den Stuhl drückst, wie eine Puppe,
über mich weg mit einem andern. . . Nie — und wenn es um mein — und
dein Leben ginge — mich hier zu Tode trinken! Glaubt es mir nur, Gott
selbst bringt mich nicht zur Mühle." Er ist eben zu stolz, ihr willenlos an¬
zuhängen, ihr „Spielpudel" zu sein, und so eilt er ohne Gruß von ihr. Aber
nach einigen Wochen erscheint die Müllerin bei ihm im Schulhause und erzwingt
sich Gehör bei dem Schmollenden. Sie hat die Mühle verkauft, sie kann ohne
ihn nicht leben, sie will seine Magd sein. Da endlich sagt er: „Bleibe bei mir,
wir werden uns vertragen!"
Die andern drei Novellen des Bandes können nicht auf den gleichen Wert
Anspruch erheben, wie die bisher skizzirten. Obgleich auch sie viel geistreiche
Züge enthalten, so leiden sie doch unter einer unüberwundenen Sentimentalität.
Aber wichtig sind sie für die Entwicklung der Bülow, denn hier erscheinen jene
Charaktere von allzustrengen Pflichtgefühl, deren Typus im „Jonas Briecius"
mit einer ganz seltenen dichterischen Kraft und Tiefe dargestellt ist, nur daß die
junge Dichterin in den Novellen noch nicht die rechte Stellung zu dem Motiv
gefunden hat und deshalb sentimental geworden ist.
Am unbedeutendsten ist „Gebunden" trotz der hübschen Slizziruug des die
Hauptsache umrahmenden kleinstädtischen Lebens. Auch hier spielt übrigens die
Unklarheit des Gefühls mit. Hildegarde ist mit ihrem Vetter Max in geschwister¬
lichen Verhältnis zusammen aufgewachsen, bis sie in ein Alter kamen, wo sie
sich nicht mehr als Geschwister betrachten durften und sich trennen nnißten.
Max heiratete, indes Hildcgarde mit Verwandten mehrere Jahre Italien be¬
suchte, erkennt aber bald, daß er eigentlich die Cousine geliebt und einen
thörichten Schritt gethan habe. Ein erneutes Zusammenleben beider läßt
Hildegardc die unbezähmbare Leidenschaft des Vetters erkennen; zu stolz, eine
Ehe zu zerstören, selbst wo sie den Mann liebt, flüchtet sie von ihm und führt
ein unstetes Wanderleben als alleinstehendes junges Mädchen. Jeder Versuchung,
zu heiraten, widersteht sie, auch dann, als sie selbst den Freier liebt, auch dann,
als sie erfährt, daß Max sein Weib verlassen und im Kriege den gesuchten Tod
gefunden hat. Warum? Aus Pflichtgefühl, aus Treue für den Toten.
Ebenso heroisch entsagungsvoll ist die schöne Adelheid von Dewden in den
„Tagesgespenstern." Sie hat die unselige Gabe des sogenannten zweiten Gesichts,
jedem Menschen nämlich untrüglich von Gesicht abzusehen, ob er in diesem
Jahre sterben werde oder nicht. Sie ist so unglücklich darüber, daß sie die
menschliche Gesellschaft flieht und sich in die tiefste Einsamkeit verbirgt. Aber
auch dort trifft sie die Liebe, und sie entsagt dem Glück, ob ihr auch das Herz
darüber bricht. Warum? Um keinen andern unglücklich zu machen.
Und vollends Gabriel, dieses Ideal von einem Menschen und Schulmeister,
ist ein Pedant, ein Märtyrer des Pflichtgefühls. Der vornehme Arzt aus der
Stadt besucht ihn, den hoffnungslos Kranken, aber leider kommt er vor dem
beendeten Unterrichte: Gabriel läßt ihn warten bis die Schulstunde aus ist.
Gabriel hat als einziges Erbgut von seinen fmhgeschiednen Eltern das Bild
der Mutter erhalten, das der Vater gemalt hat, er hätte mit dem Verkaufe
des bedeutenden Kunstwerks seine eignen Studien fördern können, und that es
aus Pietät nicht; aber die Schulden eines Vetters zu bezahlen, hat er sich zum
Verkaufe des einzigen Besitzes entschlossen, und wie berichtet er davon! „Ich
schäme mich zu sagen, daß die Erfüllung dieser Pflicht mir nicht ganz leicht
wurde, daß ich im Gegenteil rasch handeln mußte, um es überhaupt zu voll¬
bringen. Es ist nicht weit her mit dem Guten in mir." Und weiter: „Vielleicht
bin ich darum soviel allein gewesen, weil ich besonders viel Arbeit in mir
vorfand; ach, so klein die Aufgabe uus bedünkt, die wir übernehmen, sie ist noch
immer viel zu groß!" So also faßt er die menschliche Pflicht auf: stets bereit
zu sein, aller Welt zu helfen: dem Grafen im Schlosse, wenn Ball ist und
Gabriel als guter Musiker zum Tanz so lange aufspielen muß, als die physischen
Kräfte es ihm erlauben; der armen Bäuerin im Dorfe, wenn sie Pflege in ihrer
Krankheit bedarf. Und als ihn das eigne Leiden darnieder wirft, sagt er: „Ach,
mein Lieber, wie unangenehm ist es für unsern Eigenwillen, sich so gedemütigt
zu sehen! Es steckt in uns doch immer die stille Überzeugung: ich will, und
alles muß sich diesem Willen beugen. Es ist nichts damit; — nichts — nichts
— wir sind eben Spreu und Sand — ein Scherben in der Hand des Töpfers."
Alle diese Motive kommen nun im „Jonas Briecins" wieder, aber wie so
ganz anders ist die Stellung der Verfasserin dazu! Da ist jede Spur von
Sentimentalität überwunden, und aus der novellistischen Absonderlichkeit treten
sie heraus, um die Gestalt eines allgemein menschlichen Problems anzunehmen,
um den Charakter zu einem Typus der Menschheit zu machen. Denn es ist ja
in Wahrheit eine allgemein beobachtete Thatsache, daß junge hochstrebendc
Naturen bei ihrem ersten Eintritt in die praktische Welt die Neigung haben, an
alle Handlungen der andern wie nicht minder an sich selbst einen rigoros sitt¬
liche» Maßstab anzulegen; sie vermeinen, alles thun zu können, und rechnen auch
gern den äußern bösen Zufall zur sittlichen Schuld an, auch das Gefühl der
Verantwortlichkeit gern übertreibend, bis sie im Laufe des Lebens Erfahrungen
sammeln, gedemütigt werden und Nachsicht für die menschliche Schwäche und
Beschränkung lernen. Dies ist die Geschichte des Vikars Jonas Briecius von
Lottersleben.
Auch er ist el» Mann vou großer Energie des Geistes und Willens. Er
besitzt stählerne Nerven. „Er besaß die Gabe, seine Worte klug zu überlegen und
einen Umweg nicht zu scheuen. Er hatte ein außerordentliches Gedächtnis, und
wenn er seine Rede in Australien begann, sah er bereits, wie ein glider Schach¬
spieler, den ganzen Weg bis zum europäischen Endpunkte klar vor sich." Darum
gewinnt er eine merkwürdige Macht über alle, die mit ihm Verkehren; weil er
überreden will, bei dem gelingt es ihm gewiß. Und diese ganze dämonische
Macht seiner Persönlichkeit stellt er in den Dienst seines Glaubens. Und er ist
ein fanatischer Gläubiger. „Ich habe keine andre Kraft in mir, als die meines
Gottes, sagt er einmal, ich weiß nicht, wie man ohne ihn leben kann, doch ich
sehe, daß es ein Elend ist. Ich sehe, wie die Lüge herrscht statt der Wahrheit,
die Feindschaft anstatt der Liebe, und wie die Menschen tot sind mitten im
Leben." Die tiefe Leidenschaft seines Wesens verleiht seinem Glauben eine trotzige
Kraft, wie sie nur die Märtyrer der Vergangenheit gehabt haben mögen, und
man sagt von ihm nicht mit Unrecht, daß er vor dreihundert Jahren ein Hexen¬
richter geworden wäre. Diese Energie seines Charakters führt ihn mich zu der
streng weltentsagcnden Auffassung des Christentums und seines Berufs. Kein
Vergnügen, auch keine Kirchweih darf sich der wahre Christ gönnen. „Wir finden
das Vergnügen in der Sorge um den Nächsten, in der Ausübung unsrer Pflicht.
Wissen Sie nicht, daß des Herrn Leben uns in der Schrift zum Vorbild ge¬
geben ist? Ich fand dort nichts von Lustbarkeiten, nichts von Kirchweihtänzcn."
Diesen: Vikar ist die Welt ein Zuchthaus, in welchem man sich für das Jenseits
vorzubereiten hat; eine Krankheit, eine Blatternepidemie schickt Gott, um die
Erlösung zu beschleunigen, zur Buße zu mahnen. Dieser Vikar ist so verrannt
in seine Glaubenslehre, daß nicht die beispielgebende Milde seines ältern Pfarrers,
noch der Spott andersdenkender, noch die Verweise der ihm vorgesetzten Obrigkeit
ihn stutzig machen können. Er fühlt sich unmittelbar berufen, für den Glauben
zu kämpfen, die Menschheit zur Buße zu mahnen, und weil er wirklich so ehrlich
ist, die strenge Pflichterfüllung, welche er von andern fordert, zunächst selbst
aufopfernd zu üben, haben die Leute Achtung vor ihm. Sie hören auch seine
Predigten an, nicht weil sie einverstanden sind, sondern weil sie sich gern von
ihnen ergreifen lassen, weil sie dabei nicht einschlafen müssen. Im übrige» aber
thun sie ihren eignen Willen: sie feiern die Kirchweih nach altem Herkommen
mit Tanzen und Trinken, trotz der Gegenrede des Vikars, und da dieser seinen
Bekehrungseifer auch so weit treibt, ins Wirtshaus zu gehen, wo auch noch am
Montag Kirchweih ist, da rufen sie ihm zu: „Bleib du in der Kirche, Pfaffe!
Dort wollen wir dich hören, nicht hier!" Aber Brieeius läßt sich nicht wankend
machen. Als ein andrer dabei von einem Schlage schwer getroffen wird, der
ihm zugedacht war, da denkt er: „Für das Reich Gottes war es doch besser,
wie es geschehen," und setzt sein apostolisches Werk unerschüttert fort. Ein alter
Sünder stirbt mit blasphemischen Worten auf den Lippen, obgleich Brieeius
ihm zugesetzt hat, zu bereuen — Brieeius bleibt fest im Vertrauen auf feinen
Glauben. Zuweilen wohl wird ihm bange vor sich selbst, wie weit ihn sein
Pflichtgefühl wohl treiben werde: auch er fürchtet, daß ihm sein eigner Dämon
über den Kopf wachsen werde. Und er reißt ihn auch weiter, als er geahnt
hat. Hat er nicht jenen Sünder auf dem Totenbette retten können, so fühlt
er sich „verpflichtet," dessen Tochter Blandine, ein schönes, aber leichtfertiges
Mädchen zu retten, welches — eine Gefallene — in der Gefahr steht, ganz
unterzugehen; zu retten dadurch, daß er selbst sie heiratet, weil kein andrer
Mann, wie schon Hebbel ausgeführt hat, darüber hinweg kann; sie zu heiraten,
obgleich er selbst eine andre liebt und weiß, daß diese auch ihn lieb hat; ver¬
pflichtet fühlt er sich, die Gefallene zu ehelichen, obgleich ihm dadurch seine
geistliche Laufbahn weiterhin abgeschnitten wird und er ans diesem Stande aus¬
treten muß.
Er verläßt also die Kanzel und besteigt das Katheder, er wird Gymnasial¬
lehrer und Publizist im Dienste der orthodoxen Partei. Nun fällt auch von
seinem Wesen die mystisch-kirchliche Hülle, und es steht da als nackter, ver¬
körperter kategorischer Imperativ. Er ist der Schrecken seiner Schüler und der
ungemütliche Kollege der Professoren; seine Artikel machen durch eine schneidige
Schreibart, eine starre, unerbittliche Konsequenz böses Blut. Die aus Pflicht-
gefühl geheiratete Frau führt ein bitteres Leben bei ihm: sie hat es nicht viel
besser als im Zuchthause; selbst ihre auffallende Schönheit gereicht ihr zum Vor¬
wurf, da sie zur Sünde verführt. Briccius nimmt alles gleich schwer, die
kleinen, durch sein hartes Wesen entstehenden Notlügen des häuslichen Lebens
bringen ihn ebenso auf wie die größten Unthaten. Dabei ist er doch im Grunde
wohlmeinend, nimmt anch die Pflicht des Gatten so streng wie die andern, ist aber
so unliebenswürdig, mit seinen Moralpredigten so unsäglich hart, daß es die
demütig dankbare Blandine schließlich auch uicht mehr aushält und mitten im
strengsten Winter in die Heimat entflieht, wobei sie sich ans den Tod erkältet und
bald nach ihrer Ankunft in Lvttersleben stirbt. Diese Erfahrung endlich und
mehr noch eine zweite, gleichzeitig hinzukommende bewirken in Briecins die Er¬
kenntnis des großen Irrtums, in dem er bisher befangen war. Blandine hatte
Pflege bei eben jenem Doktor Emmerich gefunden, der immer ironisch den Fana¬
tiker der Pflicht beobachtet hat, und der jenes Mädchen heiratete, welches Briceius
damals der vermeintlichen Pflicht geopfert hat. Die wahre Humanität des
milden Arztes hatte Barbaras Liebe errungen, und Briceius ist Zeuge eines
ehelichen Glückes, von dem er kaum geträumt hat. Da gehen ihm endlich die
Augen auf, daß es außer der Pflicht noch etwas andres gebe, was göttlicher
ist. „Wir reden von dem Willen Gottes, sagte er, ist es nicht Narrheit? Als
ob wir diesen Willen begreifen könnten! Und von seinen Gesetzen, als ob es
dem Stande möglich sei, gegen die Ordnung des Ewigen zu leben! Uns rettet
nichts vor dem Aufblühen, Verwelken und Absterben, weder das, was wir Sünde
nennen, noch die Tugend; wir siud machtlos, blind, wahnsinnig, und nicht einmal
glücklich in unsrer Blindheit. ... Ich habe an die göttliche Liebe geglaubt, ohne
sie jemals zu begreifen; aber wenn die Liebe das höchste Gefühl der Menschen
ist, war es thöricht, sie anch in Gott zu denken? Wir erhoben sie in das Un¬
begreifliche, um die alten Sagen von der Heldenkraft menschlicher Liebe über¬
treffen zu können. Ach, es ist etwas Großes in diesem Wahne!" Und der
stolze Jonas Brieeins bittet in dieser Stunde bitterster Selbsterkenntnis zum
erstenmale um Liebe. Aber, o Ironie des Schicksals, die Fran, um deren Liebe
er so spät wirbt, ist die Gattin eines andern, und seine in so tiefer Not des
Herzens demütig angebrachte Werbung ist nichts mehr und nichts weniger als ein
Versuch der Verleitung zum Ehebruch! Hat da der hinzukommende, in einiger
Eifersucht auflodernde Gatte nicht das Recht, dem stolzen Briceius zu sagen:
„Für mich bitte ich, daß Sie mein Haus meiden, bis wir um zehn Jahre älter
siud, und dann wünsche ich, daß Sie sich dieser Stunde erinnern mögen, wenn
Ehr- und Rechtsgefühl wieder in ihrer Seele aufwachen"!
Nun erst ist dieser eiserne Charakter gebrochen, und die nächste Folge ist,
daß Jonas Brieeins in dumpfe Gleichgiltigkeit für alles versinkt: er vernach¬
lässigt seine Schule, er schreibt keine Artikel mehr, er entzieht sich aller Pflicht¬
erfüllung und gerät auf den Standpunkt der „Wurstigkeit," des rohen phili-
strösen Genusses, Bei der immer umgefüllten Flasche Wein verbringt er seine
Nächte in der ersten besten Kneipe und sitzt so lange, als sie überhaupt offen ist.
Aber, und es spricht daraus nicht bloß die Liebe der Dichterin zu ihrem Helden,
sondern es ist auch objektiv begründet: ein so tief und gut angelegter Mensch,
wie Briccins, kann in der Versumpfung nicht untergehen, Er rafft sich ans, er
hat die Erkenntnis gewonnen, daß der wahre Christ in Gott nicht bloß den
strengen Sündcnrichter sieht, sondern vom Glauben getragen wird:
Ob bei uns ist der Sünden viel,
Bei Gott ist mehr der Gnade,
In der werkthätigen Liebe, nicht in der kalten Pflichterfüllung erkennt er jetzt
das wahre Gebot der Moral, und also umgewandelt finden wir nach mehreren
Jahren Vrieeius als Pfarrer von Lvtterslebcn wieder. Die Leute verehren ihn
über die Maßen, und mit Recht. Und die Dichterin ist schließlich auch noch
gütig genug, ihm seine erste Liebe zur Gattin zu geben, nachdem der sich allzu
aufopfernde Arzt bei der Rettung der Kranken ans dem brennenden Spital
verunglückt und sie als vorzeitige Witwe zurückgelassen hat.
Es ist nicht zu leugnen, daß diese Handlung und mehr noch die Episode
des (hier übergangenen) Theodor, Blcmdinens Geliebten, an die Gläubigkeit des
Lesers starke Anforderungen stellt. Aber wo in aller Poesie setzt der Erzähler
nicht einen gläubigen Leser voraus? Nicht auf diese nüchterne Wahrscheinlichkeit
kommt es in der Poesie an, sondern auf das Vermögen des Dichters, sich den
Glauben des Lesers zu erzwingen, ihn für die Dauer seiner Darstellung in
seinem Banne festzuhalten. Und dies ist der Bülow in ausnehmenden Maße
gelungen. Der Reichtum an kunstvoll um die poetische Idee geordneten Cha¬
rakteren, die sich gegenseitig beleuchte» und ergänzen, die dichterische Kraft der
Belebung all dieser verschiedenartigen Menschen, die durchaus vornehme Dar¬
stellung, die jedes überflüssige Wort spart und immer nur Handlungen bringt,
die kühne Konsequenz in der Durchführung des Titelhelden: das sind Tugenden,
welche das nachgelassene Werk der tragisch dahingegangenen Dichterin zu einem
der Meisterwerke der zeitgenössischen Kunst machen. Mit diesem „Jonas Briceins"
hat sie sich eingeschrieben für alle Zeiten.")
es
fuhr im Juni 1845 wiederum nach Palermo und kehrte in
dem schönen Hotel der Trinacria ein. Nach kaum einer halben
Stunde wurde jedoch mein junger Freund, der Principe ti San
Cataldo, gemeldet, welcher mich gleich beim Eintritt schalt, daß
ich nicht Wort gehalten, da ich doch bei meiner letzten Abreise
seiner Frau versprochen hätte, in ihrem Paläste zu wohnen. Trotz meines
Sträubens ließ der Fürst sofort mein Gepäck hinabtragen und entführte mich
selbst in seiner Kutsche zu seiner ebenso frommen wie liebenswürdigen Gemahlin,
der Tochter des Duca Serra ti Falco, Auch diese begrüßte mich freundlich
und ließ mir ein schönes Zimmer anweisen, darin die Bettdecken und Vorhänge
aus schwerem Seidenzeuge bestanden. So liebenswürdig und zuvorkommend
sind die sizilianischen Familien gegen Fremde, wenn man nur erst einmal bei
ihnen eingeführt ist.
Nachdem ich meine alten Bekannte« besucht hatte, wurden die Studien in
der Capella Palatin», deu Kathedralen zu Palermo und Monreale, sowie in
der Campagna wieder aufgenommen. Nur zu schnell verging der Sommer bei
*) Der vorstehende Aussatz stammt aus der Selbstbiographie des am 27, April 1801
in Königsberg geborenen und im Jahre 1868 in Wiesbaden verstorbenen Hofmalers Karl
Runde. Bei seinem langen Aufenthalte in Italien (1829—1847) hatte er Gelegenheit, so
ziemlich alle Berühmtheiten, welche das Land der Sehnsucht besuchten, kennen zu lernen,
namentlich eine Reihe fürstlicher Persönlichkeitein dus russische Kniserpaar, die Herzogin von
Leuchtenberg, den Kronprinzen von Wiirtembcrg, die Großfürstin Olga, vor allem die Prinzen
des preußischen Königshauses. Der beim Könige Friedrich Wilhelm IV. sehr beliebte Künstler
erzählt, wie er einst in der Peterskirche, während er ein Bild für den König malte, mit fünf
prcusjischcn Prinzen auf einmal zusammengetroffen sei, welche er denn much als Stnffngc
auf dem Bilde der Peterskirche angebracht habe. Ganz eigentümlich ist seine Begegnung mit
dem allgemein gefürchteten Könige Ferdinand II, von Neapel in Palermo, dem spätern
„Re Bombn," dem er unumwunden die Wahrheit zu sagen deu Mut hatte.
Rundes Schilderungen aus der Kunstwelt und dem Volksleben Italiens, seine Be-
schreibung des Doms von Monreale, die Darstellung des Festes der heiligen Rosnlia u, a. sind
durchweht von einem liebenswürdigen Künstlergcmüt. Sein wiederholter Sommcraufcnthnlt
in den Klöstern von Snbinco, Monte Cnsino, Monreale gestattet uus einen Einblick in Ver¬
hältnisse, welche sonst Reisenden verschlossen bleiben. Seine persönliche Liebenswürdigkeit,
sein Freimut, seine Frömmigkeit, sein bibelfestes und echt protestantisches Wesen machten ihn
den Menschen überall lieb und wert. Rundes Bilder, meist Architekturstücke, befinden sich
zum größten Teile in den königlichen Schlössern in Berlin und Potsdam,
nützlicher Thätigkeit und angenehmer Geselligkeit. Am Sonntage war ich ein
für alle male zu dem Duca Serra ti Falco und dessen Kindern in die pracht¬
volle Villa in Olouzzo eingeladen. Zuweilen speiste ich bei der Familie des
biedern Principe Trabia, um den sich nach altpatriarchalischer Weise alle
Familienglieder versammelten. Selbst sein ältester Sohn, der Principe ti
Scordia, Vater von drei Kindern, wohnte bei den geliebten Eltern. Erst im
Herbste, wenn es am Meere zu windig wurde, bezogen sie ihren Palast in der
Strada Maequeda, dessen reiche Gemäldegalerie mich oft stundenlang fesselte.
Am Ende des Sommers kam die Nachricht, die Kaiserin von Rußland
werde den nächsten Winter in Palermo zubringen, und zwar werde sie in der
Villa der Fürstin Butera wohnen.
Am siebzehnten Oktober traf General Graf von Brandenburg mit seinem
Sohne in Palermo ein, vom König Friedrich Wilhelm IV. geschickt, um die
kaiserliche Schwester zu begrüßen. Ich besuchte den Grafen als alten Bekannten
sogleich und versprach ihn ebenso mit den ersten Familien Palermos, wie mit
den Sehenswürdigkeiten der Stadt und der schönen Umgegend bekannt zu macheu.
Wir machten in der That an jedem Nachmittage Auffahrten und am Abend
Familienbcsuche bei den Fürsten Partenna, Mouteleone und andern, oft
in deren Theaterlogen, woselbst mau im Vorzimmer wohl den Thee oder Er¬
frischungen einnahm, während die ältern Herrschaften sich einer Partie Karten
oder Schach Hingaben.
Am Nachmittage des neunzehnten Oktober fuhren wir nach Santa Maria
ti Gefü, dem schon früher erwähnten Minoritenkloster der Franziskaner. Die
Anhöhen prangten im üppigsten Baumwuchs, malerisch unterbrochen von Cypressen-
gruppen und den Anpflanzungen der indianischen Feige, deren weiße, gelbe,
feuer- und karmoisinrote Blüten ebenso mannichfaltig sind, als die Früchte,
namentlich die rvtfleischigen Moseatelli, wohlschmeckend. In diese Beobachtung
vertieft, erblickte ich in weiter Ferne über dein Monte Pellegrino einige Rauch¬
wolken: die längst erwartete kaiserlich russische Flotte. In der That, die fernen
Rauchsäulen kamen näher, wurden deutlicher; zuletzt konnte man bereits das
Hauptschiff unterscheiden.
Wir bestiegen den Wagen und fuhren nach Olouzzv zur Villa Butera.
Eine Kompagnie Grenadiere mit Bürenmützcn hatte bereits die Ehrenwache im
Nebengebäude bezogen. Equipagen mit geputzten Leuten und viele Fußgänger
füllten deu großen Platz.
Nach einer halben Stunde verkündigte ein vorreitender Courier den Wagen¬
zug der kaiserlichen Herrschaften. Im ersten offnen Wagen saß, zu unsrer
großen Überraschung, neben der Kaiserin der Kaiser Nikolaus, ihnen gegenüber
die Großfürstin Olga und unser Prinz Albrecht, welcher soeben aus dem Orient
zurückgekehrt war. Im zweiten Wagen saß die Schwester der Kaiserin, die
Fran Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin, mit ihrer Tochter Prinzessin
Marie, ihrer Hofdame Fräulein v, Meyerink und dem General v. Hopfgarten,
ihrem Hofmarschall. Dann folgten andre Wagen mit dem Gefolge und der
Dienerschaft, zusammen etwa fünfzig Personen; zuletzt ein Zug von Gepäck¬
wagen ohne Ende.
Der Herzog Serra ti Falco präsentirte sich Ihrer Majestät als dienst¬
thuender Kavalier, gemäß dem Befehl seines Königs Ferdinand II. Seine neben
der Villa Vutera gelegne herrliche Villa bezog die Schwester der Kaiserin mit
ihrer Tochter und der Bruder der Kaiserin. Eine Pforte stellte jedoch die Ver¬
bindung zwischen den Gärten der beiden nachbarlichen Villen her.
Am nächsten Nachmittage besuchte ich den Prinzen Albrecht, der mich sehr
freundlich empfing und über Palermo und dessen Umgebungen befragte. Als
ich fortgehen wollte, sagte der Prinz: Bleiben Sie doch, ich werde Sie gleich
der Kaiserin vorstellen! Nach einigen Minuten gingen wir zu Ihrer Majestät,
welche mich ebenfalls sehr gnädig empfing und mein Skizzenbuch in Augenschein
nahm. Neben den Landschaften schienen ihr namentlich einige Abbildungen von
Frauen vom Piano dei Greei sehr gut zu gefallen. Auch der Kaiser war
zugegen, ferner Seine Exzellenz Herr von Meyendvrf, der Stnatskanzler Fürst
Nesselrode und der Graf Orlow. Alle Damen befanden sich in halber Gala,
da der König Ferdinand von Neapel erwartet wurde. Der Kaiser in seiner
roten Kvsakennniform erschien mir als der schönste Mann der Welt.
Jetzt wurde demselben gemeldet, das königliche Dampfboot wäre in Sicht,
und sogleich begab er sich mit dem Grafen Orlow in das königliche Schloß,
und zwar in die Camera ti Nogerv, von welcher aus man die ganze Stadt
und den Hafen überschaut. Als der König gelandet und dem Schlosse nahe
war, stieg der Kaiser hinab und empfing ihn in dessen eignem Schlosse.
Die Palermitaner nahmen es König Ferdinand übel, daß er nicht schon
bei der Ankunft der kaiserlichen Herrschaften zum Empfange derselben anwesend
war. Doch ist zu seiner Entschuldigung zu bemerken, daß die kaiserliche Flotte
sechs Tage später ankam, als sie angemeldet war.
Der Kaiser kehrte um zur Kaiserin zurück, worauf uach einer halben Stunde
auch der König im Salon der Kaiserin erschien, um Ihre Majestät auf sizilia-
nischen Boden zu bewillkommnen.
Ich vollendete in dieser Zeit einige Skizzen von der Ankunft und dem Em¬
pfange der kaiserlichen Herrschaften und schickte sie in einem Couvert für des
Königs Majestät uach Berlin.
Der General von Rauch, unser Militärbevvllmächtigter in Se. Petersburg,
befand sich ebenfalls in der Begleitung der Kaiserin. Es dauerte nicht lange,
so erschien sein Sohn, damals Leutnant in der Garde, vom Könige gesandt mit
Depeschen für die Kaiserin und den General, seinen Meer. War es doch die
Art des Königs, womöglich einen jeden zu erfreuen: den Vater durch die
Ankunft des Sohnes, diesen durch die »cuc, belohnende Reise. Auch ich war
nicht vergessen, denn Herr von Neues brachte mir den Auftrag, alle Gemächer,
welche die Kaiserin bewohnte, und die Gegenden, welche sie besuchen würde, in
Zeichnungen für ein großes Album darzustellen. General von Rauch sollte
dieserhalb bei der Kaiserin allerdings erst anfragen; dieselbe willigte aber umso
lieber ein, als sie jemand bei sich zu h.aben wünschte, welcher über Palermo und
Sizilien genaue Auskunft zu erteilen vermochte. So kam ich, fast dauernd, in
die unmittelbare Nähe der hohen Frau.
Ich entwarf zuerst ein Aquarell von dem großen Saale neben dem Ka¬
binet der Kaiserin, oft unterbrochen von der Großfürstin Olga, welche gern
das Vorschreiten der Zeichnung kvntivlirte. Auch mußte ich in Betreff der zu
machenden Spazierfahrten mein Gutachten abgeben. Großfürst Konstantin,
welcher später, und zwar am ersten Weihnachtsfeiertage, direkt von England
nach Palermo kam, interessirte sich besonders für die Perspektive und die Kunst,
alle Gegenstände in ihrer natürliche» Größe erscheinen zu lassen.
Das Wetter blieb hell und klar; die Kaiserin war stets bei guter Laune
und erschien nach einigen Wochen sichtbar wohler und gekräftigt. Oft ging sie
des Morgens in den Garten und forderte mich zu einem Umgange auf, um
sie zu unterhalten. Den meisten Stoff bot die schöne Natur dar und die Welt
der Blume«, welche uoch täglich neue Blüten trieben. Später mußte ich der
Kaiserin ein Albumblatt mit der Villa und den beiden gewundenen eisernen
Treppen liefern, welche zu den Salons führten. Im ganzen ist das Leben
solcher hohen Herrschaften, trotz aller Abwechslung und Bemühung, neue Unter¬
haltungen aufzutreiben, einförmig, weil ihnen fehlt, was kein Mensch auf die
Dauer entbehren kann — eine lohnende Arbeit.
Für mich waren alle die kleinen Aufträge zwar sehr ehrenvoll, aber sie
brachten wenig ein und hielten mich von meinen größern Arbeiten ab.
Eines Mittags veranlaßte mich Prinz Albrecht mit den kaiserlichen Herr¬
schaften nach Monreale zu fahren, um ihnen die Kathedrale zu zeigen. Ich
begab mich sofort voraus und brachte die Mönche des Klosters in Bewegung.
Dann eilte ich zum Sindaeo (Bürgermeister), um einen Teil der Bürgergarde
zusammenzutrommeln, welcher die Eingänge der Kirche umstellen und dem An¬
drange der Bettler und Neugierigen wehren sollte. .Kaum war alles fertig, so
traf auch schon der lange Zug der Kaiserin ein. Dieselbe setzte sich in den
Wagenstuhl und rief mich zu sich heran. Ich stellte ihr erst den Generalvikar
Monsignore Taralle vor und diente ihr sodann als Begleiter.
Der Kaiser Nikolaus fragte den Duca Serin ti Falco, woher der Name
Basilika stamme, und wodurch sich eine solche von andern Kirchen unterscheide.
Da die Autwort etwas verworren auffiel, wandte der Kaiser sich zu mir, und ich
gab die gewünschte Aufklärung. So ging es langsam durch die drei Schiffe,
an den schönen Mosaikbildcrn vorüber, nach dem reichen .Klosterhöfe mit seiner
Fontäne und seinen interessanten Skulpturen. Alles war höchlich überrascht
von der Pracht und Anordnung des Ganzen und der genauen Durchführung
der einzelnen Teile. Am meisten aber entzückte die herrliche Lage, der Blick
über die „Goldene Muschel" und Palermo auf das Meer, im Norden bis zu den
Liparischen Inseln, im Osten bis zum Ätna.
Moureale war natürlich in Bewegung. Man rief: II no8t,ro Dur <üarlo
pittors im tatto al nostro xav80 Pi.v8to onoro!
Auch der Abt war überglücklich und dankte mir für die Vorstellung bei
Ihrer Majestät; als ob das alles mein Verdienst gewesen wäre.
Ein paar Tage später besuchte mich eines Morgens, bevor ich zur Kaiserin
fuhr, Monsignvre Taralle mit vier Bcnediktinermönchen und brachte mir ein
altes italienisches Werk über die Kathedrale, mit allen Kupferstichen der Mo¬
saiken, im Jahre 1702 in Palermo gedruckt, aber seit Langem vergriffen; (lo
äioata l>I Fig'nor 1). Giovanni liuano. Rosso. Diese Geistlichen wußten,
daß ich mich schon seit vier Jahren vergebens um das Werk bemüht hatte; der
Abt aber meinte, ich hätte ihnen ja schon durch die Vollendung meiner Bilder
von ihrem Tempel so viel Freude gemacht, noch mehr dadurch, daß derselbe
nicht bloß in Rom, sondern anch in Deutschland bekannt geworden wäre; darum
überbrachten sie mir dieses Andenken als den „Ausdruck ihrer aufrichtigen Ver¬
ehrung."
Da ich wußte, daß Graf Brandenburg abreisen wolle, fuhr ich morgens
bei ihm vor, um ihm Lebewohl zu sagen. In des Grafen Zimmer eintretend,
finde 'ich aus alle Stühle ausgebreitet Briefe zum Trocknen, Vater und Sohn
aber in nicht geringer Aufregung. Sie erzählten mir, wie sie in der vergangnen
Nacht von der Kaiserin zurückgekehrt wären, nachdem sie für die älteste Tochter
des Grafen von der Kaiserin, als deren Patin, ein goldnes Armband erhalten.
Dieses, mit Briefen für den König in eine Schatulle eingeschlossen, sei mit
etwa hundert Piastern baaren Geldes morgens aus dem Vorzimmer verschwunden.
Der hiervon benachrichtigte Konsul Wedekind habe einige Donnerwetter losge¬
lassen, auch mit der Galeere gedroht; und so habe man endlich die Schatulle ge¬
funden, aber erbrochen und im Meere schwimmend, und sie sei mit den nassen
Briefschaften ihnen wiedergebracht worden. Da liege nun die Bescheerung!
Was konnte ich thun! Mein Bedauern äußern, glückliche Reise wünschen,
mich empfehlen.
Doch ließ mir die Sache keine Ruhe. Zurückgekehrt, fand ich die Kaiserin
schon, im Garten und erzählte ihr die Geschichte. Sie erwiederte besorgt: Wenn
so etwas Männern Passire, sei sie wohl ihrer Juwelen auch nicht sicher! Ich
konnte sie indessen beruhigen, weil ganz nahe eine Kompagnie Grenadiere die
Ehrenwache habe.
Die Kaiserin, welche den Grafen beklagte, erteilte mir den Auftrag, ihrer
Kammerdame von Nvhrbeck zu sagen, sie möge die goldne Ährenkrone von ihrem
Putztische, sowie das Spiel von Achat in den Garten bringen. Dann schrieb
sie einige Zeilen des Bedauerns an den Grafen und sandte ihm durch mich die
Sachen als Ersatz für die gestohlenen.
Am nächsten Morgen, nachdem die Kaiserin einen Spaziergang im Garten
gemacht hatte, trugen die Kammerkosaken ein Sofn nach dem schattigsten Platze,
worauf die Kaiserin sich mit Sticken beschäftigte, umgeben von ihrer königlichen
Schwester und den andern Damen, welche ebenfalls mit farbiger Wolle nach
Mustern Selekten. Während der Pausen wurde aus einem Buche vorgelesen.
An dein Eingänge zu diesem kleinen Paradiese standen in einiger Entfernung
zwei Tscherkessen, gleich Schutzengeln, jedoch das Schwert in der Scheide, jeden
Eindringling abwehrend mit dem einfachen Ausrufe: „Nils!"
An einem der folgenden Tage war die Situation eine ganz ähnliche.
Auch ich saß, nicht weit von der hohen Gesellschaft, auf meinem Felostnhle,
unter dem weit ausgespannten Schirme, mit Zeichnen beschäftigt. Plötzlich fallen
ein paar große Tropfen, und es folgt ein dichter Platzregen. Die ganze Ge¬
sellschaft schreckt auf und stiebt auseinander wie eine Schaar flüchtiger Tauben.
Die Großfürstin Olga eilte gleich einer schnellfüßigen Diana ins Haus. Ich
sprang schnell auf und suchte den Stuhlwagen der Kaiserin mit meinem großen
Malerschirme zu schützen und vor dem Umfallen zu bewahren, da man ihn in
der Hast auf die Steiueinfassung des Bassins fuhr.
Nach einer Stunde, als sich die durchnäßten kaiserlichen Damen umgekleidet
hatten, lachte man im Garten bei einem opulenten Gabelfrühstück über die plötz¬
liche Überraschung aus dem „ewig heitern" sizilianischen Himmel.
Der Kaiser Nikolaus, ein Mann in frischer Fülle der Gesundheit, groß
und kräftig, ohne stark zu sein, schnell und bestimmt in seinen Bewegungen,
flößte mir immer Vertrauen, ja Liebe ein; seinen Russen gegenüber trat er als
Herrscher und Gebieter auf; sein Blick wurde oft starr und blitzend, sodaß er
wohl mehr Furcht als Liebe einflößen mochte. Bei öffentlichen Handlungen
schien jede Bewegung aufs Jmponiren berechnet.
Im engern Familienkreise war der Kaiser ein zärtlicher Gatte und Vater,
unter seinen Vertrauten liebenswürdig und unbefangen. Wohl mochte diese
Zeit die schönste seines Lebens sein. Sah er doch in diesem irdischen Paradiese
die Kaiserin täglich wohler und glücklicher werden; hatte er doch die Tochter,
Verwandte und Geliebte nahe und wußte sie alle zufrieden! Der Kaiser war
selbst dem Scherze nicht abgeneigt. Oft suchte er sich aus der Menge der zum
Spazierritt vorgeführten Esel den cillerkleinsten aus, sodaß er mit den eignen
Füßen auf der Erde laufen mußte. Auch mcmövrirte er vor dem Ausritt nicht
selten im Garten zu Esel mit seinen Staatsmännern und Generalen, die es sich
dann zum allgemeinen Gaudium gefalle» lassen mußten, von ihm in die Büsche
hineingeritten zu werden.
Eines Mittags kehrte er etwas früher als die übrige Gesellschaft zurück
und klagte mir sein Malheur. Der Esel habe ihn abgeworfen! So etwas
müsse dem Selbstherrscher aller Reußen Passiren! Ich bemerkte, daß solches
selbst bei den besten Reitern vorkomme, weil die Esel entweder den Kopf zwischen
die Beine nähmen und den Reiter nach vorn herabrutschen ließen, oder sich in
sich zusammenzogen und krümmten wie ein Aal, sodaß an ein Sitzenbleiben
nicht zu denken wäre,
Sie haben Recht, sagte der Kaiser, wer kommt wohl gegen Esel auf!
Nach ungefähr sechs Wochen nahm der Kaiser feierlichen Abschied von
seinen Hallsbeamten, Den Grafen Schuwalow umarmte er und erinnerte ihn
daran, daß er demselben seinen größten Schatz anvertraue; dem Arzte der
Kaiserin, Dr. v, Mandl, gab er die Hand und sagte: Ich weiß, Sie werden
Ihre Pflicht thun!
Der Kaiser war nun fort, und es herrschte mehrere Tage eine tiefe Stille
unter den Zurückgebliebnen, Selbst im Garten war es einsam. Ich saß meist
allein und zeichnete die schönen Pflanzen, den Pavillon des Kaisers, seine
Lieblingsstellen, kurz alles, was an diesen hervorragenden Fürsten erinnerte.
Hatte ich, als Maler, ihn doch schon wegen seiner schönen Gestalt liebge¬
wonnen!
Allmählich wurde das Leben wieder geselliger, lebhafter. Es kam Besuch
aus Neapel, Prinz Georg und der Fürst Windischgrätz, welcher im nächsten
Jahre der Gemahl der Prinzessin Maria von Mecklenburg wurde. Auch der
Kronprinz von Würtemberg traf ein, mit dessen Adjutanten ich schon in Rom
bekannt geworden war. Der hohe Herr war etwa eine Woche in Palermo und
verkehrte viel bei der Kaiserin, in deren Nähe sich ein starker Magnet zu be¬
finden schien, als die schlimme Nachricht kam, der königliche Vater in Stuttgart
wäre krank, der Prinz möge so schnell als möglich zurückkehren.
Am nächsten Vormittage verließ ich den Salon der Kaiserin und ging, um
mich vom Zeichnen zu erholen, in den Nachbargarten des Ducci Serra ti Falco.
Hier befand sich ein Schneckenbcrg, von dessen Höhe man nicht nur den Garten
der Fürstin Butera, sondern auch die Stadt Palermo übersehen konnte. In
diese weite Schau vertieft, tritt vor mein Auge, Arm in Arm, ein glückliches
Paar. Es klang in meinem Herzen wie Glockengeläute, und ich schwieg, in der
Hoffnung, bald ein schönes Fürstenpaar mehr zu wissen.
Am nächsten Vormittage fuhr die Kaiserin mit ihren Hofdamen in halber
Gala nach dem Hafen und auf die kaiserliche Flotte. Dort, auf dem Hinterdeck
des Hauptschiffes, wurde unter Glückwünschen, Musik und Tanz die Verlobung
Seiner königlichen Hoheit des Kronprinzen Karl von Würtemberg mit der sehr
huldreichen und schönen Großfürstin Olga von Rußland gefeiert. Zugleich brachte
der nächste Courier aus Stuttgart erfreulichere Nachrichten über das Befinden
des Königs. Jetzt durfte der Kronprinz noch länger in Palermo verweilen,
glücklich im Auschciuen seiner Braut, deren herrliche Gestalt mich immer an eine
Tochter der Niobe erinnerte.
Es vergingen unter diesem milden und klaren Himmel die Tage in
Heiterkeit und Frohsinn. Mau hielt sich fast immer im Freien auf. Sobald
aber die Sonue sich unter den Horizont des Meeres getaucht hatte, waren schon
wieder viele Hände geschäftig, einen Kerzenhimmcl anzuzünden. Oft wurden uns
von den Fürsten und Reichen Palermos Festlichkeiten bereitet mit Musik und
Tanz, oder wir wurden mit Dichtkunst und lebenden Bildern unterhalten. Denn
noch immer ist Sizilien wie im Altertum reich an dichterischen Talenten, und
der Boden erzeugt noch immer seine Theokrite. Eine junge Freundin, die Tochter
des Barons Torrisv, beschenkte uns mit schonen Blüten der Dichtkunst. Die
Kaiserin, davon aufrichtig erfreut, ließ sie zu sich laden und überreichte ihr
einen schönen Schmuck zum Andenken.
Auch der Karneval wurde im Winter mit ganz besondern! Glänze gefeiert,
und die Kaiserin besuchte ihn, in ihrem Wagen durch die geschmückten Straßen
fahrend.
Als ich eines Morgens im Garten, wie gewöhnlich, zeichne, ruft von der
Villa herab eine Stimme: „Guten Morgen, Runde! Gratulire zum neuen
Jahr! Welche himmlische Luft und Vlumenpracht!"
Es war die Kaiserin, welche mich an den ersten Januar des neuen Jahres
1846 erinnerte. Ich hatte seiner nicht gedacht; war doch für mich jeder dieser
Tage ein Neujahrstag. Er verging denn auch so sonnig wie alle andern Tage.
Am dreizehnten Januar wurde in der Kapelle, unter Lobgesang, Gebet und
Weihrauchduft, der Neujahrstag der Griechen gefeiert. Nach dem Gottesdienste
versammelten sich der russische Adel, die Offiziere der kleinen Flotte und der
sizilicmische Adel unten im Garten, um ihre Glückwünsche darzubringen. Wie
gewöhnlich war hier das Gabelfrühstück aufgestellt, nur etwas reicher. Die
Kaiserin thronte in einem großen Armsessel, die linke Hand zum Handkuß auf
die Armlehne gelegt. Zuerst kamen die Kavaliere, einer nach dem andern, und
verbeugten sich, nach ihnen die Damen, welche die segensreiche Hand küßten.
Die Großfürstin stand in ihrer natürlich-anmutigen Haltung in der Nähe der
Kaiserin und reichte auch ihre schöne Hand nach allen Seiten zum Kusse. Sie
unterhielt sich freundlich und schien überglücklich. Nachdem die Kaiserin die
Versammlung aufgehoben und sich in ihre Gemächer zurückgezogen hatte, wurde
die reichbesetzte Tafel von den Offiziere» gleich einer Festung bestürmt und,
wie ich vermute, auch erobert.
Ich sprach schon früher von den Frauen des Piano dei Greei. Nun
sollten auch diese uns ein Fest bereiten.
Mehrere Miglien von Palermo entfernt liegt auf einer Hochebene ein aus¬
gedehntes Dorf, welches seit länger als hundert Jahren von Albanesen bewohnt
wird. In einem Kriege vor den Türken geflohen, hatten sie in Sizilien ein
Asyl erhalten und sich ans dem „Piano" angebaut. Seit mehreren Jahren
kannte ich einen dieser „Griechen," wie sie hier allgemein genannt werden, den
Professor Giovanni Schirü, wacher an der Universität in Palermo als Lehrer
der Medizin angestellt war. Mit diesem Manne war ich ein paarmal zu dessen
Verwandten auf dem Piano gereist, um die albanesischen Frauen und deren
schöne Nationaltracht zu zeichnen. In der That ist sie einer nähern Betrachtung
nicht unwert.
Bei ihren Festanzügen — denn nur von solchen ist die Rede — haben
die Frauen Rock und Mieder aus starkem Seidenstoff mit Blumen durchweht,
deren untere zwei bis drei Ränder mit Gold gestickt sind; die Ärmel lang und
anschließend, die Hintere Naht offen und mit seidnen Schleifen zugebunden,
sodaß der gestickte Ärmel des Hemdes zwischen den Schleifei, in Puffen heraus-
tritt. Der Rock wird mit einer goldnen Schnur hinten fest gebunden; ihre
Enden hängen mit Goldquasten weit herunter. Der wohl drei Hand breite,
reichgestickte Hemdkragen sällt in Falten herab. Der breite Gürtel besteht ans
silbernen, durch Charniere miteinander verbundnen Schnallen. Unter der Brust
befindet sich ein handgroßer Schild mit erhabner Silberarbeit, gewöhnlich einen
griechischen Heiligen, meistens den heiligen Georg mit dem Lindwurm, darstellend.
Der Kopfputz besteht ans Goldbrokat, mit roter Seide gefüttert. Er liegt gleich
einer halben Nußsthale über dem Hinterkopf und endet in einen langen Streifen,
welcher nach hinten wieder aufgenommen und mit seidnen Schleifen an die
Haarflechten befestigt wird. Von dem Kopfputze fällt eine doppelte Goldschnur
über den Nacken herab, um in zwei Quasten an der Kniekehle zu endigen.
Die reichen Männer haben leider seit langem ihr griechisches Kostüm mit
dem häßlichen schwarzen Frack vertauscht.
Mein Freund Schiro hatte übrigens seit zehn Jahren physikalische Unter¬
suchungen in Betreff der klimatischen Verhältnisse Palermos angestellt und eine
LuoMopÄöäikl NsclicA geschrieben. Da bis dahin über dergleichen Beobachtungen
noch nichts publizirt, das Werk also interessant war, so wandte er sich an den
kaiserlichen Leibarzt, den Staatsrat I)r. von Meute, Exzellenz, überreichte ihm
das Manuskript und bat zu prüfen, ob das Werk wohl würdig wäre, Ihrer
Majestät gewidmet zu werden. Alles dieses war bald nach Ankunft der russischen
Herrschaften geschehen, und ich war gern bereit gewesen, die beiden Gelehrten
miteinander bekannt zu machen.
Einige Wochen vor der Abreise der Kaiserin erblickte dieselbe beim Durch¬
sehen meines Skizzenbuches wieder die griechischen Frauen und klagte mir, daß
die Herren ihrer Umgebung sie noch immer nicht nach dem Piano dei Greal
hingeführt hätten, und jetzt, so kurz vor der Abreise, werde sie gewiß um diese
Freude kommen.
Ist es denn nicht möglich? Könnte ich nicht hinfahren?
Ich mußte davon abraten. Der Ort sei eine starke Tagereise entfernt,
kein passendes Gasthaus vorhanden. Auch seien selbst die reichern Familien auf
solchen Besuch nicht eingerichtet. Wenn Ihre Majestät aber hauptsächlich die
griechischen Frauen in ihrem schönen Kostüme zu sehen wünsche, könnte ich
einige der mir bekannten einladen, welche es sich zur Ehre rechnen würden,
einer so gnädigen Dame aufzuwarten.
Sie sind mein guter Engel, Runde, sagte die Kaiserin freundlich lächelnd,
und nahm meinen Vorschlag dankend an.
Am dritten Morgen nach dieser Unterredung erhielt ich ein Briefchen von
einem Greco, aber schon aus Palermo, worin es hieß: lZoooing cjua, Likörs
von dg-rio! Lig-mo <M xsr ssrvir 1^ frei UÄsstA.
Nachmittags, als die Kaiserin von einer Spazierfahrt zurückkehrte und im
Salon, wie gewöhnlich, an meinen Zeichentisch herantrat, meldete ich die An¬
kunft der mittlerweile eingeladenen Familien in Palermo. Die Kaiserin er¬
wiederte erfreut, sie wolle dieselben am nächsten Tage, mittags ein Uhr, sehen,
ich möge nur alle zu ihr bringen.
Ich hatte einige Mühe, es alle» recht zu machen. Es waren nämlich drei
Familien erschienen, Männer, Frauen und Kinder, wohlhabende Gutsbesitzer,
sämtlich erfüllt von dem Gedanken, der Kaiserin vorgestellt zu werden. Ich
fand es aber zweckmäßig, mir einen der Männer, als Repräsentanten der
griechischen Gemeinde, einzuladen, nämlich den Professor Schire», welcher
französisch sprach und auch die Geschichte und Geschicke seiner albanesischen Lands
lente genau kannte. Die übrigen erhielten dafür von mir eine Einladung zu
einem Festessen, das ich ihnen nachmittags, natürlich auf meine Kosten, aus¬
richtete.
Nach elf Uhr holte ich in zwei Karrvsfen die Damen mit ihren kleinen
Töchtern und den Professor als Dolmetsch nach der Villa Butera ab. Welch
eine glänzende Fahrt durch die mit Menschen gefüllte Macqnedastraße! Man
sagte mir, die Kaiserin wäre zur Großherzogin von Mecklenburg, ihrer Schwester,
gefahren, die nicht Wohl sei. Ich führte daher meine griechische Gesellschaft zu¬
vörderst im Garten umher, später auch in dem des Herzogs Serro ti Falco, und
zeigte ihnen die schönsten Stellen. Bald darauf kam uns die Kaiserin in ihrem
Stuhlwagen entgegengefahren und ließ sich die schöne bunte Gruppe vorstellen.
Sie war sichtlich erfreut und wünschte, wir möchten in die Villa kommen, wo
sich der ganze Hofstaat zum Imbiß versammeln werde. Es war ein sonnen¬
klarer Tag. Die reiche und geschmackvolle Kleidung, die schönen geblümten
Seidenstoffe und besonders die graziösen Kinder gefielen allgemein. Professor
Schirv trug kurz die Geschichte der Kolonie vor. Als er bemerkte, daß sie in
Palermo den sprachgelehrten Bischof Crispi und auch eine große griechische Kirche
hätten, wünschte Ihre Majestät die letztere kennen zu lernen. Sie ließ auch
sofort die Equipagen vorfahren, um sich selber zu überzeugen, ob der hiesige
griechische Kultus dem in Rußland gleich sei.
Die ganze kaiserliche Gesellschaft war nun fort nach der griechischen Kirche;
wir blieben allein zurück und konnten die beiden paradiesischen Gärten mit ihrer
Palmen- und Blumenpracht bewundern. Nur die Kammerdamen, Frau von
Rohrbeck und Fräulein von Seidewitz, gesellten sich zu uns, um unsre Freude
zu teilen.
Als wir in unserm Hotel bei Tische saßen und von der huldvoller Teil¬
nahme der Kaiserin sprachen, besuchte uns zum Kaffee ein Vorsteher der grie¬
chischen Gemeinde in Palermo und erzählte, die Kaiserin habe sich nach allen
Verhältnissen der Griechen genau erkundigt und für die Armen ein Geschenk
von hundert Piastern zurückgelassen.
Am nächsten Tage reisten die Familien wieder nach ihrem Piano zurück,
um noch lange von der Herzensgüte der Kaiserin und ihren eignen Erlebnissen
zu sprechen.
Wie leicht ist es doch solchen hohen Herrschaften gemacht, gut zu sein!
Anfangs März wurden nun die Vorbereitungen zur Abreise getroffen. Da
besuchte mich eines Tages der Professor Schirö und klagte mir, daß es ihm,
trotz seiner vielen Bemühungen, nicht gelingen wolle, sein Manuskript von Seiner
Exzellenz Dr. v. Mandl zurückzuerhalten. Derselbe hätte ihn an Herrn von
Chandeau, den Sekretär der Kaiserin, gewiesen, und dieser wieder an den
Grafen Poloni'i. Der Graf hätte auf eine schriftliche Anfrage ihm durch
seine Diener sagen lassen, er wüßte von der Sache nichts und Schirm sollte
sich zum Teufel scheeren. So werde er gewiß um die Frucht einer zehnjäh¬
rigen Arbeit kommen, wenn ich ihm nicht hälfe oder wenigstens einen guten
Rat gäbe.
Ich riet ihm, nach so schlimmen Erfahrungen Geduld zu haben; ich würde
aber heute Nachmittag das Sachveryältnis der Kaiserin mitteilen.
Und so geschah es. Als die Kaiserin von der Spazierfahrt zurückkehrte,
kam sie, ehe sie in ihr Kabinet ging, zu mir heran, um mich über manches
Gesehene zu befragen. Als ich ihr die Verlegenheit des Professors Schirv
vorgetragen hatte, und wie derselbe von den hohen russischen Staatsdienern be-
handelt worden sei, erwiederte sie: „Morgen hat Chandeau bei mir Vortrag.
Sagen Sie ihm, er soll das Manuskript des Professors mitbringen; ich will
es durchsehen."
Die Exzellenzen v. Chandeau und v. Mandl wohnten mit ihren Familien
in der Trinacria. Ich war gerade bei ersterm für den Abend zum Thee ein¬
geladen und richtete sogleich bei der Begrüßung den Befehl der Kaiserin aus.
Es schien ihm unangenehm zu sein, daß ich mit der Kaiserin über das Manu¬
skript gesprochen hatte, und er ließ mich einige harte Worte hören.
Ich hielt dieselben der Reizbarkeit des alten Mannes zu Gute, erwiederte
aber bestimmt, da man meinen vieljährigen Freund, einen erprobten Ehrenmann,
so brutal behandle und die Abreise der Kaiserin nahe wäre, so hätte ich es für
meine Pflicht gehalten, mir auf dem direkten Wege Gewißheit über den Verbleib
des Manuskripts zu verschaffen.
In der That kam mir die ganze Sache äußerst verdächtig vor.
Einige Tage darauf zeigte mir mein Freund ein Schreiben des Herrn
v. Chandeau, Inhalts dessen er später durch die kaiserliche Gesandtschaft in
Neapel die allerhöchste Entschließung über sein Manuskript erhalten solle.
Ich gedachte einen Tag vor den kaiserlichen Herrschaften nach Neapel ab¬
zureisen. Ihre Majestät wünschte jedoch noch alle die Aquarellbilder und
Zeichnungen zu sehen, welche ich sür das Album meines Königs vollendet hatte.
Ich fand im Kabinet die Kaiserin, die Großherzogin, die Prinzessin Marie und
die Großfürstin Olga. Es wurde alles mit Interesse durchgesehen. Die Kaiserin
beauftragte mich, die Zeichnung von ihrem eignen Saal und dem ihrer Schwester,
sowie einige Kostümfigureu der griechischen Frauen für sie zu kopiren, indem
sie bemerkte, sie hoffe dieselben in Rom fertig zu finden. Auch wollte sie in
meinem Studio in Rom die angefangenen Ölgemälde von der Vorhalle der
Zisa und dem Mosaikzimmer des Königs Roger, welche sie bestellt hatte, in
Augenschein nehmen.
In Neapel angekommen, sah ich die kaiserlichen Herrschaften nur landen.
Ihr Aufenthalt dauerte hier aber mehrere Wochen. Denn man hatte nach einer
schlaflosen und unruhige» Nacht die Kaiserin, statt ihr Ruhe zu gönnen, sofort
mehrere Stunden nach de>i schönsten Punkten des Golfs umhergefahren, und
zwar bei scharfem Winde und unfreundlichem Himmel. Die Folgen zeigten sich
schon am nächsten Tage. Eine starke Erkältung und eine Gesichtsentzüudung
(Kopfrose) verhinderten die Abreise.
In Rom, wohin ich vorausgefahren war, hofften viele Künstler vergebens
auf die Ankunft der Kaiserin, obwohl sie selbst den lebhaften Wunsch hatte, die
ewige Stadt zu sehen. Nur Herr v. Chandeau kam nach Rom, um die bestellten
Aquarelle in Empfang zu nehmen. Auch sah er sich, an Stelle der Kaiserin,
die beiden angefangenen Ölgemälde an, deren Vollendung ich später nach
Se. Petersburg melden sollte.
Als Grund für das Ausbleiben der kaiserlichen Herrschaften wurden die
in Rom herrschenden Masern ausgegeben, welche die Großfürstin Olga noch
nicht gehabt hätte. Der wahre Grund war ein andrer. Der Kaiser Nikolaus
hatte bei seiner Anwesenheit in Rom vom Papst Gregor XVI. sehr bittere
Wahrheiten zu hören bekommen über die Unterdrückung der römischen Katholiken
in Rußland und Polen.
Und in Wahrheit, Menschenfurcht hat man den römischen Päpsten noch
niemals nachsagen können.
Am zweiten April empfing ich mich ein Schreiben von meinem griechischen
Freunde Schirü, worin er mir meldete, daß er von der kaiserlichen Gesandtschaft in
Neapel, mit der Erlaubnis der Dedikation an Ihre Majestät die Kaiserin, auch
sein Manuskript glücklich wiedererhalten habe. Später sei ihm durch den Staats¬
rath v. Chandeau, im Namen der Kaiserin, noch ein Brillantring mit einem
großen Rubin in der Mitte übersandt worden, der mit seinen Strahlen das
Auge förmlich blende.
Diese Nachricht machte mich sehr froh, und ich wünschte ihm Glück zum
Drucke seines Werkes.
ein Verfasser des Aufsatzes „Zur sozialen Frage" in Ur. 13
dieser Zeitschrift ist durch Vermittlung der Redaktion das nach¬
folgende Schreiben eines in Berlin wohnhaften Schriftstellers
zugegangen.
. . . Ohne Zweifel giebt es für uns, wie Sie am Schlüsse
bemerken, nur zwei Wege: Entweder wir behalten unsre Gesellschaftsordnung bei
und suchen durch eifriges Bemühen und mit nie erlöschenden Wohlwollen das Loos
der niedern Klassen zu bessern, oder wir schreiten der Revolution entgegen. Aber
das Loos der Armen nun auch wirklich zu einem bessern zu machen, ist die heilige
Pflicht der Gesellschaft und derjenigen, denen eigne Kraft oder Glück — immerhin
doch ein höheres Geschick — Reichtum gegeben haben. Leider vergißt auch der,
welcher aus der Armut zur Wohlhabenheit aufsteigt und früher ein lebhaftes Gefühl
für die Notleidenden besaß, die oben genannte Verpflichtung meist im Genuß des
Lebens, und diejenigen vollends, die überhaupt nie selber im Elend waren, wissen
erst recht nicht, was das bedeutet, sind immer geneigt, darüber hinwegzublicken
und mit Aeußerungen wie: „Diese Leute sinds uicht besser gewohnt," sich alle Last
vom Gewissen zu reden. Aber man muß in die ärmsten Kreise hineingedrungen
sein, in diese große Masse des Volks, vor allem der großer Städte! Und das
ist es, was ich sagen will: das Elend, welches Sie bestreiten, ist nach meiner An¬
sicht, nach meinen Erfahrungen vorhanden. Sie haben einen Karnevalszug der
armen Klasse» gesehen — o ja! Und die Leute waren vergnügt, freilich! Als
ich Hunger litt, was, ich gestehe es offen, öfter als einmal vorgekommen ist, habe
ich trotzdem versucht, fröhlich zu sein. Hätte ich nicht eine ziemliche Elastizität des
Geistes besessen, ich wäre, nimmer durchgekommen. So das arme Volk. Wollen
Sie ihm die ärmlichen Vergnügungen, zu denen es sich die letzten Groschen spart
oder — borgt, verargen, so wird es erst recht sinken, wird gänzlich abstumpfen, ver¬
rohen und dann — dann hätten wir die Revolution! Unser niedres Volk ist arm
und elend! Diejenige Kategorie, denen gute Fleischspeisen unerschwinglich sind und
die hauptsächlich von Kartoffeln und Kaffee leben, beginnt garnicht so sehr weit
unten, und wollte man die Masse derjenigen feststellen, die aus Mangel an kräftiger
Nahrung hinsiechen — Hungers sterben, oder derjenigen, welche frühzeitig dnrch
schlechte ärztliche und häusliche Pflege Krankheiten erliegen, es würde, eine er¬
schreckliche Anzahl herauskommen!
Wir zweifeln nicht, daß dieser Brief im besten Sinne gemeint und ge¬
schrieben ist. Und da vielleicht auch andre Leute ähnliche Gedanken haben,
wollen wir hier öffentlich darauf antworten.
Daß auch heute noch bei uns viel Elend besteht, daß dasselbe namentlich
in den großen Städten sich zusammendrängt, kann niemand bestreiten. Ebenso
erkennen wir durchaus an, daß es Pflicht der bessergestellten Klassen ist, dieses
Elend nach Kräften zu mildern. Es mag sein, daß manche sich dieser Pflicht
nicht genügend bewußt sind oder sich hoffärtig darüber hinwegsetzen. Im all¬
gemeinen aber müssen wir doch behaupten, daß der Sinn dafür, den Armen
und Elenden zu helfen, in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sehr lebendig
ist. Was geschieht nicht alles heute für diesen Zweck! Staat, Gemeinden und
Private wetteifern, für ihn zu arbeiten. Die Städte suchen eine Ehre darin,
gemeinnützige Anstalten zu schaffen und ihrer Armenverwaltung die möglichst
beste Einrichtung zu geben. Auf dem Wege freiwilliger gemeinnütziger Thätigkeit
erstehen überall Arbeiterkolonien, Herbergen zur Heimat, Svmmerpflegen für
Kinder, Knabcnhorte, Asyle für Obdachlose, Krankenhäuser, Schulen aller Art
von den Kleinkinderbewahranstalten bis zu den Schulen für Handfertigkeits¬
unterricht, Volksküchen, Vvlkskaffeehäuser, Volksbibliotheken und wie sie alle
heißen, die Anstalten, die man zum Besten der geringern Klassen gründet. Neben
diesen Anstalten verfolgen unzählige Vereine Zwecke der Wohlthätigkeit nach
allen Richtungen hin. Wenn anch manches, was auf diesem Gebiete geschieht,
nicht ganz frei von Ostentation sein mag, so geschieht es doch, und es kommt
den Notleidenden zu gute. Zu den: allen tritt nun noch die Thätigkeit des
Staates, welcher in großem Stile unternommen hat, für die Abhilfe der
schlimmsten Notstände, die unsre Arbeiter durch Krankheit, Unfall oder Alter
treffen, zu sorgen. Selbst für die allernnglücklichste Klasse unsrer Gesellschaft,
für die Verbrecher, wird durch die moderne Einrichtung unsrer Gefängnisse mit
einer Humanität gesorgt, die den Ernst der Strafe mitunter in Frage zu stellen
scheint.
Auf der andern Seite darf man nicht vergessen, daß es recht schwer ist,
die wirkliche Bedürftigkeit überall herauszuerkennen und dementsprechend eine
vernünftige Wohlthätigkeit zu üben. Eine verkehrt angewandte Wohlthätigkeit
wirkt nicht nützlich, sondern schädlich. Das kann man unter anderm daran er¬
kennen, daß in Städten, wo kraft alter Stiftungen oder ähnlicher Einrichtungen
mitunter eine verkehrte Wohlthätigkeit geübt wird, der Bettel in üppiger Blüte
steht. Nach dem allen glauben wir behaupten zu dürfen, daß in der heutigen
bürgerlichen Gesellschaft für die Notleidenden mehr geschieht als je zuvor.
Aber wenn anch noch weit mehr geschähe, würde doch nicht alles Elend
gehoben werden können. Gleichwohl behaupten wir, daß die Darstellung des
früher von uns besprochenen Schriftstellers, der auch jetzt unser Briefschreiber
beipflichten zu Wollen scheint, daß nämlich die große Masse unsers Volkes im
tiefsten Elend schmachte, während Einzelne in größter Üppigkeit leben, unrichtig
ist. Zunächst ist diese Darstellung darin unrichtig, daß sie das sehr bedeutende
Element der mittlern Stände ganz ignorirt, während doch gerade der Bestand
dieses Elements in hohem Maße geeignet ist, die obwaltenden Gegensätze zu
versöhnen. Aber auch die große Masse der geringern Stände lebt, bei uns in
Deutschland wenigstens, in Verhältnissen, die man nicht als tiefstes Elend be¬
zeichnen kann. Wer das behauptet, weiß garnicht, was tiefes Elend ist. Un¬
zweifelhaft hat sich die Gütererzeugung und der Güteraustausch seit fünfzig
Jahren enorm vermehrt. Dadurch ist uns zunächst die große Wohlthat zu Teil
geworden, daß wir vor der Gefahr einer Hungersnot, die in frühern Jahr¬
hunderten bald hier bald da auftrat und die auch noch vor einigen Jahren in
Indien Hunderttausende wegraffte, völlig gesichert sind. Auch haben wir ge¬
lernt — um dies gleich hier anzuschließen — das Umsichgreifen schwerer Krank¬
heiten in hohem Maße zu verhüten. Die Cholera, die im Laufe dieses Jahr¬
hunderts mehrfach unser Land heimsuchte, war garnicht zu vergleichen mit den
furchtbaren Krankheiten, die in frühern Jahrhunderten unsern Weltteil durch¬
wüteten. Die beiden schlimmsten Geißeln des menschlichen Geschlechts, Hunger
und Seuche, haben wir also fast gänzlich überwinden gelernt, und damit sind
zwei Hauptquellen wirklichen tiefen Volkseleudes verschlossen. Es ist aber auch
durch die vermehrte Gütererzeugung ein Wohlstand erwachsen, wie er zu keiner
frühern Zeit bestanden hat, ein Wohlstand, der allen Klassen unsers Volkes mehr
oder minder zu Gute kommt. Oder meint man wirklich, nur die Reichen profi-
tirten davon? Wir wollen mir auf folgende Produktionen hinweisen. In
Deutschland wird jährlich mindestens für neunhundert Millionen Mark Vier, für
dreihundert Millionen Mark Branntwein vertrunken und für dreihundert Mil¬
lionen Mark Tabak verraucht, eine Berechnung, die wahrscheinlich noch weit
hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Sind es nun die Reichen allein, welche
diese Genußmittel an sich wenden? Sie müßten in der That einen guten Magen
haben, um sie zu bewältigen. Nein, an dem Verbrauche dieser Genußmittel
nimmt unser Volk bis in die tiefsten Schichten hinab Teil. Nun fragen wir
weiter: Sind dieselben denn wirklich eine Lebensnotwendigkeit? Sind sie es,
mindestens gesagt, in dem Muße, in welchem sie verbraucht werden? Die Pyra¬
miden in Ägypten und das Kolossenm in Rom sind auch schwere Bauten ge-
wesen; und doch haben die Arbeiter dabei, so viel bekannt, weder Spirituosen
getrunken noch Zigarren geraucht. Und wenn man vielleicht sagt, das sei doch
schon so lange her und könne heute nicht mehr gelten, so verweisen wir darauf,
daß auch heute die größere Hälfte unsers Volkes, unsre Frauen, zum größten
Teile wenigstens sich dieser Genußmittel glücklicherweise uoch enthält. Sind
sie deshalb unglücklich zu nennen? Es wäre traurig, wenn dem so wäre. Sie
haben sich nicht daran gewöhnt und entbehren sie deshalb ohne Schmerzen.
Ist denn das Rauchen, dem sich das deutsche Volk mehr als irgendeine andre
Nation hingegeben hat, wirklich eine menschliche Notwendigkeit? Es ist in der
That nur ein angequältes Bedürfnis. Wer zum erstenmale raucht, hat nicht
leicht einen Genuß, wohl aber öfters recht üble Folgen davon. Aber jeder
Lehrjunge steckt sich schon ein Zigarre in den Mund, um zu zeigen, daß er ein
Mann sei. Diese Eitelkeit führt ihn zur Gewöhnung, die Gewöhnung zu einem
Bedürfnis, dem er dann zeitlebens einen guten Teil seines Einkommens opfert.
Und wie ist es mit dem Vier? Wird es etwa nur getrunken als Erquickungs-
trank für den Müden und Durstigen? Wer einmal unsern Volksfesten, Land¬
partien :e, beigewohnt hat, wird gesehen haben, wie es dort in Massen vertilgt
wird, daß man kaum begreift, wie die menschliche Natur das erträgt. Auch
wieder eine besondre Eigentümlichkeit des deutschen Stammes! Was bei dem
Manne das Verlangen nach jenen Genußmitteln ist, ist bei dem weiblichen
Geschlecht die Putzsucht. Unsre Dienstmädchen, statt sich für künftige Notfülle
einen Pfennig zurückzulegen, putzen sich wie moderne Damen heraus, wobei sie
freilich öfters kein ganzes Hemd auf dem Leibe tragen. Später als Frauen
führen, sie natürlich ihren Haushalt in gleichem Sinne.
Unser Briefschreiber fragt, ob wir denn nicht auch dem Armen sein Ver¬
gnügen gönnen wollen? Gewiß gönnen wir es ihm, von ganzem Herzen. Wenn
sein Verdienst dazu ausreicht, warum sollte nicht auch er an den Freuden des
Lebens teilnehmen? Als Fürst Bismarck jüngst in einer Rede sagte, er freue
sich, wenn er Sonntags in den Dörfern um Berlin die geputzten und ver¬
gnügten Menschen sehe, war uns dies ganz ans der Seele gesprochen. Aber
es muß doch alles im Verhältnis stehen; und der Arbeiter, der, um eine Ver¬
gnügung mitzumachen, seinen letzten Groschen ausgiebt oder gar Geld borgt,
während er sich sagen muß, daß er mit seiner Familie dafür nun vielleicht
wochenlang zu darben hat, handelt in unsern Angen unverständig. Jedenfalls
kann der, welcher sein Geld statt für die notwendigsten Lebensbedürfnisse für
Vergnügungen ausgiebt, doch nicht mit Recht darüber klagen, daß er im tiefsten
Elend leben müsse. ES ist berechnet worden, daß, wenn unsre Arbeiter nicht
rauchten und Spirituosen tranken, die meisten derselben regelmäßig Fleisch ge¬
nießen könnten. Wer aber an jene» Genüssen so hängt, daß er nicht von ihnen
lassen kaun, der darf auch keine Klage darüber führen, daß ihm nicht täglich
Fleischkost ins Haus wächst. Man kann eben nicht alles zugleich haben. Woher
sollten denn die Mittel kommen, wenn jeder reichlich leben wollte? Die Erde
erträgt nicht so viel.
Wir wollen hier nicht im einzelnen untersuchen, wie das Elend, wo es
wirklich vorhanden ist, entsteht. Unzweifelhaft kann es Menschen ohne alle
Schuld treffen. Vielfach ist es aber auch selbstverschuldet. Im allgemeinen
kann man behaupten, daß, trotz der Überfüllung aller Stände, auch heute noch
der tüchtige und solide Arbeiter regelmäßig sein Brot findet. Wenn in den
großen Städten vielfach Elend herrscht, so liegt ein Hauptgrund dafür darin,
daß nach diesen Städten alles hindrängt, weil sich vergnüglicher dort leben läßt,
während das platte Land, mitunter zum großen Schade» der Landwirtschaft,
sich entvölkert. Da- ist es denn kein Wunder, daß bei dem so gewaltig ge-
steigerten Kampfe ums Dasei» mancher unterliegt und vielleicht elend zu Grunde
geht. Unser Briefschreiber giebt eine traurige Schilderung davon, wie so manches
Leben ans Mangel an kräftiger Nahrung, wegen schlechter ärztlicher oder häus¬
licher Pflege ?e. frühzeitig ende. Das ist gewiß vom Standpunkt der betroffenen
Individuen recht traurig. Aber kann man auch im Namen der Menschheit eine
Klage darüber erheben? Daß viele Existenzen frühzeitig wieder zu Grunde gehen,
ist ein Schicksal, das der Mensch mit allen andern Geschöpfen dieser Erde teilt.
Wenn alle Menschen, die geboren werden, das höchste Alter erreichten, so hätten
wir schon längst so viel Menschen ans der Welt, daß ihnen nichts übrig bliebe,
als sich gegenseitig aufzufressen.
Bekanntlich klagen nicht bloß die Arbeiter über ihre Not, sondern diese
Klage geht auch in die höhern Kreise hinauf. Von dem „Notstand" der Land¬
wirtschaft ist schon lange geredet worden. In neuerer Zeit klagt auch Industrie
und Handel darüber, daß das Geschüft darniederliege. Mitten in der Fülle
aller produzirten Güter — der „Überproduktion" — meint fast jeder, daß er
nicht mehr leben könne. Und deshalb ruft er womöglich uach Hilfe des Staates,
statt zunächst daran zu denken, sich selbst zu helfen — durch Beschränkung
seiner Ausgaben. Ein namhafter Schriftsteller äußert sich über diesen Not¬
stand in folgender Weise: „Wenn die aus den großen Städten herüberschallenden
Klagen über die »schwere Zeit«, über Not und Elend wohlberechtigt sind, so
darf man doch billig fragen: Warum haben denn alle die Warnungen vor der
Überspannung des Industrialismus und der Konkurrenz keine Beachtung ge¬
funden? Und ferner: Wie reimen sich mit jenen Klagen diese Thatsachen? Die
Bevölkerungen nehmen überall zu, alle Länder überspannen sich mit Eisen¬
bahnen, mit Telegraphen- und Telcphonnetzen, Städte und Dörfer wachsen und
verschönern sich fortwährend, die Bequemlichkeiten und Behaglichkeiten des Da¬
seins steigen zusehends, der allgemeine Wohlstand nimmt sichtbar zu, der Lebens¬
genuß vervielfältigt sich unendlich, die Künste blühen, Fest reiht sich an Fest,
der Vereinsbummcl blüht jahraus jahrein, die Bankettsäle hallen wider von
Toasten, die Theater, die Kvnzertscile, die Museen, die Schaubuden strotzen von
Besuchern, die Vcchnzüge, die Dampfschiffe, die Gasthöfe, die Weiustuben, die
Bierhallen, die Bäder, die Sommerfrische», die Ballsäle und Tanzböden sind
voll, das reist, sährt, reitet, schießt, turnt, jagt, zecht, singt, tanzt, küßt, lacht,
jubelt — ja
Das ist die Not der schweren Zeit!
Das ist die schwere Zeit der Not! -c."
Der, welcher also schreibt, ist nicht etwa ein wenig volksfreundlicher Mann. Es
ist der Schweizer Johannes Scherr.
Wenn man ältere Leute befragt, so hört man von ihnen, daß vor fünfzig
und sechzig Jahren im Vergleich mit jetzt alles weit ärmlicher und dürftiger ge-
wesen sei und daß doch nicht eine solche Unzufriedenheit' geherrscht habe. Wie
erklärt sich das? Wir glauben, in folgender Weise. Das damals lebende Ge¬
schlecht hatte wirklich schwere Zeiten durchlebt. Es hatte erlebt, wie bis in das
zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hinein wieder und wieder schwere Kriege
mit allen ihren Schrecknissen über Deutschlands Fluren hinzogen; wie der
Fremde bei uns herrschte; wie er den Wohlstand unsers Volkes aussog und
die Söhne unsers Landes ans die Schlachtfelder Spaniens und in die Eis¬
gefilde Rußlands schleppte, wo sie elend verkamen. Es hatte auch selbst noch
'geholfen, unser Vaterland wieder zu befreien; es wußte, welche unsägliche Opfer
an Gut und Blut das gekostet hatte. Es hatte dann auch erlebt, daß zwei
Jahre nach Wiederherstellung des Friedens Deutschland durch eine Mißernte
ganz nahe an eine wirkliche Hungersnot gebracht war. Wer alle diese Dinge
in der Erinnerung hatte, dem mußten die nächstfolgenden Jahre, so kläglich auch
vieles !>arin bestellt war, doch wie eine glückliche Zeit vorkommen; und deshalb
waren die Menschen leidlich zufrieden. Heute sind alle jene Erinnerungen ge¬
schwunden. Seit länger als zwei Menschenaltern ist kein großes nationales
Unglück über Deutschland hingezogen. Wir sind deshalb ein verwöhntes Ge¬
schlecht. Und weil es uns im ganzen so Wohl geht, ist jeder Einzelne unzu¬
frieden und meint, es müsse ihm noch besser gehen. Das teuflische Wort von
der „verdammten Bedürfnislosigkeit unsrer Arbeiter," das Lassalle in die Welt
geworfen hat, ist wie eine Giftsaat aufgegangen. Bedürfnislosigkeit hat noch
nie jemanden unglücklich gemacht. Unglücklich aber wird der Mensch durch die
Unzufriedenheit, in welche er sich hineinlebt durch die angeregte Begier nach
Dingen, die er seine Bedürfnisse nennt und die doch das Leben ihm nicht zu
gewähren vermag.
Wir kommen zum Schluß. Wir wollen uns redlich bemühen, Mittel zu
finden, um das Loos der geringern Klassen zu erleichtern und wirkliche Not¬
stände von ihnen abzuhalten, und wollen redlich diese Mittel ins Werk zu setzen
suchen. Aber laut widersprechen müssen wir, wenn man jenen Klassen vorredet,
daß das Leben für sie nicht mehr zu ertragen sei und daß es nnr an dem
bösen Willen der Bessergestellten liege, daß sie nicht herrlich und in Freuden
leben können. Wenn sozialdemokratische Agitatoren, von Hans aus ungebildete
Menschen, die sich in diesen Fanatismus hineingeredet haben, solche Reden führen,
so ist das schlimm genug, aber immer noch subjektiv entschuldbar. Unverant¬
wortlich aber ist es, wenn gebildete Männer, solche, die sich Vertreter der
Wissenschaft nennen, diese Lehren ins Volk tragen. Sie schüren damit den
glimmenden Brand, der unsre ganze Kultur einzuäschern droht.
s war die schattigste und prächtigste Stelle in dem schattenreichen
Garten des Gutes Almoeegema, wo sich am goldnen September¬
morgen der Gutsherr und sein Gast Luis Camoens zum Früh¬
mahl niedergelassen hatten. Das alte Maurcnkastell, dessen West¬
türme sich vor Jahrhunderten unmittelbar über der Küste erhoben
haben mochten, hatte jetzt zwischen sich und der Flut des Welt¬
meeres einen breiten, sandigen Dünenslreifen, an dem sich die Wogen brachen und
der die landeinwärts gelegenen Felder und Triften des großen Besitzes schirmte.
Das Schloß selbst aber war wohlerhalten, die breite Mauer des Außenwerkes
gegen das Meer hinüber durch Erdanfschüttung und das Urpflanzen von Lorbeer-
Hecken in einen grünen Wall verwandelt, über dessen eine Ecke sich zum Ueber¬
fluß die vielästige Krone der mächtigen Platane streckte, welche König Diniz
vor Jahrhunderten im Hofe des eroberten Maurenschlosfes angepflanzt haben
sollte. Der tieferliegende Hof, zu dem von diesem Wall steinerne Stufen hinab¬
führten, war ganz und gar in einen dicht bewachsenen Garten verwandelt; unter
der Platane auf dem begrünten Wall aber befanden sich ein Secirtisch und
steinerne Bänke. Von hier ließ sich zugleich ein Stück der blau schimmernden,
ruhelos bewegten See und die Laubfülle der Baumreihen überschauen, aus denen
der Garten hauptsächlich bestand. Ueber die Baumkronen erhob sich das schlichte
Viereck des Haupthauses, ein farbiger Backsteinbau mit zierlichen Mauerzinnen,
der sich jetzt, in der Morgensonne, minder ernst als sonst vom Grün der Gärten
abhob.
Manuel Barreto sah mit geheimem Behagen, daß sein Gast nicht müde
ward, sich an der Doppelaussicht zu laben, welche der Sitz unter der Platane
des Königs Diniz gewährte. Der Fidalgo versagte sich zwar nicht völlig, den
Freund an Speise und Trank zu erinnern, mit denen der Tisch reich besetzt
war, aber er überließ ihn im ganzen der träumerischen Stimmung, in welche
der Aufenthalt zu Almoeegema Camoens versetzt hatte.
Etwa ein Monat war seit dein Tage verstrichen, an welchem Barreto seinen
Gefährten in die Stille dieses Landsitzes geleitet hatte. Und schon eine Reihe
von Tagen hindurch hatte der Schloßherr mit voller Befriedigung wahrgenommei?,
daß die schmerzliche Dumpfheit, in welcher Camoens anfänglich dahingelebt hatte,
von seinem Wesen und ans seinen Zügen wich, daß er den alten Ausdruck neu
gewann. An mehr als einem Morgen hatte ihn Barreto erblickt, wie er ihn
bei der ersten Wiederbegegnung auf der Höhe des Kreuzberges begrüßt hatte.
Stunde um Stunde war Senhor Manuels Gast klarblickender und mitteilsamer
geworden, seit vorgestern hatte er sich entschlossen, die Handschrift seiner Lusiaden
vor dem Freunde neu aufzuschlagen, um ihm nach und nach alle Gesänge des
großen Gedichts, die Barreto noch nicht kannte, mitzuteilen. Und Senhor
Manuel, obschon er die große Schöpfung des Dichters wahrlich zu genießen
und zu würdigen verstand, war noch beglückter dnrch Camoens' sichtliches
Wiederaufleben, durch die milde Ruhe seines Gesprächs, als durch die reichen
Bilder und die klangvollen Oktaven seines Werkes. Nur eines hatte ihm noch
Sorge bereitet: daß der Name Catarina Palmcirim seit dem Einritt in Almo-
cegema nicht über Luis' Lippen gekommen war. Heute aber schien es anch mit
dieser Zurückhaltung vorüber, denn mitten in die Unterredung über die köstliche
Frische des Morgens und den leuchtenden Glanz des Meeres hinein warf
Camoens plötzlich die Frage:
Habt Ihr wirklich keine neuern Nachrichten vom Hofe, Manuel? Ist es
gewiß, daß der König von Ciutra nach Lissabon zurückgeht, um den Rüstungen
näher zu sein, und daß gerüstet wird?
An den Rüstungen ist leider kein Zweifel, entgegnete Barreto. Nach dem,
was ich aus der Hauptstadt und deu Häfen von Lagos, Färö und Tavira ver¬
nehme, wird vieles vorbereitet, ohne daß der König darum weiß. Und Dom
Antonio, der Marschall, ist leider so hinfällig, daß sein Wort nicht mehr ans den
König zu wirken vermag.
Barreto hatte sich abgekehrt, er schien bereit, in jedem Augenblick das Ge¬
spräch abzubrechen. Allein Camoens hatte offenbar die krankhafte Scheu über¬
wunden, mit der er vor wenigen Wochen allen Erinnerungen an Cintm aus
dem Wege gegangen war.
Doch des Königs Vermählung, die vor der Heerfahrt nach Afrika statt¬
finden sollte — was hört Ihr darüber, Manuel?
Nichts— oder so gut wie nichts! versetzte der Schloßherr einigermaßen
zaudernd. Der König kommt zu keinem Entschluß. Er hat, alsbald nach unsrer
Entfernung und während alle Welt auf die Ankündigung harrte, daß er die
Gräfin Catarina zur Königin erheben wolle, sich zu Vußnbungen in das Kloster
Flores zurückgezogen und die junge Dame, die er liebt, eine Woche lang nicht
gesehen. Seitdem ist er wieder jeden Tag stundenlang an ihrer Seite erblickt
worden. Niemand weiß, was demnächst geschehen wird. Ich fürchte, der innere
Kampf, in dem er sich befindet und der von seinen Ratgebern geschürt wird,
endet mit einer Entsagung und der Einschiffung nach Marokko!
'
Camoens Gesicht zeigte dem sorglich prüfenden Blicke Barretos ruhige
Fassung. Mit leiser Stimme sagte er: Ihr scheint Recht zu behalte», doch ich
vermag es nicht zu verstehen, daß Dom Sebastian zögern kann. Und wenn es
kommt, wie Ihr meint, wie wird sie es tragen — was soll aus ihr werden?
Manuel Barreto rückte vertraulich näher an den Freund heran, dem er
bis jetzt gegenüber gesessen: Entschlagt Euch dieser Sorgen, Luis, bis alles klarer
ist. Sträubt Euch gegen jede Versuchung, Euch in den Znnberkreis zurückzu¬
ziehen, der für Euch weder Glück noch Hoffnung einschließt. Ihr könnt die
bittere Entsagung, welche Catarina Palmeirims Loos sein wird, wenn Gott nicht
unmittelbar ein Wunder thut, weder abwenden noch mildern, könnt nur gefährden,
Freund, was Ihr eben gewonnen habt. Allzulange wird die Entscheidung ja
nicht auf sich warte» lassen, und wenn Ihr Euch dann stark genug fühlt, sie
ohne Rückfall in Euern Traum, ohne bittere Sehnsucht wiederzusehen, so widmet
Ihr Euer Mitgefühl und Eure ritterlichen Dienste. Jetzt und bis Ihr ganz
fest und völlig geheilt seid, haltet Euch fern, die Sorge um Euer Heil ist mir
die nächste.
Wer Euch hörte, müßte glauben, daß Ihr ans Freundschaft für mich hart
und selbstsüchtig zu werden vermöchtet! rief Cano'e'us mit einem flüchtigen Lächeln.
Wie kann ich wissen, ob ich geheilt bin, bevor ich wieder in die Angen geblickt
habe, in denen so viel Glück und Weh liegt? Und was käme am Ende darauf
an, wie mir zu Mute ist, wenn ich ihr jetzt von Nutzen sein könnte?
Eben weil Ihr so denkt, müßt Ihr meiner Freundschaft gestatten, Euch ein
wenig zu behüten, versetzte Barrcto. Ihr werdet, dessen bin ich seit den letzte»
Tagen gewiß, die wilde» Wünsche besiege» und deu Schmerz, den sie Euch
bereitet, dazu. Euer Morgen und Mittag war schwer und schwül genug; wenn
je ein Mensch, so habt Ihr el» Recht auf einen sonnig-hellen Abend, den sollt
und müßt Ihr gewinne»! Für heute laßt es genug sein an diesen» Gespräch
und bedenkt meine Worte mit Nachsicht. Wann meint Ihr, daß wir die Hand¬
schrift Euers Werkes nach Lissabon bringe» solle»?
In einem Monat erwartet sie der Buchdrucker, sagte Camoens. Bis dahin
muß mir eine Erleuchtung komme», was ich dein König zu Eingang und
Ausgang des Gedichts sagen soll.
schmettert ihm mit Posauueutlang in Ohr und Herz, was er seinem Volke
und Lande schuldig ist! rief aufwallend der Edelmann. Sagt ihm, daß er sich
ehrt, wenn er die edelste Tochter des Landes z» sich auf de» Thron Manuels
des Großen erhebt, und laßt ihn nicht in Zweifel, daß der Weg gen Marokko
ihn und uns im? Verderben führt.
Camoens blickte über de» begrünten Wall und die ode Düuenstrecke nach
de» Wogen hinaus, welche von einem sanften, kaum merklichen Südostwinde leicht
gekränselt wurden. Vor seinem innern Ange belebte sich die Flut, ans der ein
einziges fernes Segel zu erblicken war, mit mächtige» wasfenschimmernde»
Schiffen, endlose» Segel» und bunten Flaggen, und es währte einige Minute»,
ehe er die Bilder verscheuchte, die vor ihm aufstiegen. Ernst, fast bekümmert
wandte er sich zu seinem Gastfreunde zurück:
Ihr wißt, Manuel, meine Ueberzeugung ist minder fest als die E»re! Wäre
der König vermählt und Portugals Unabhängigkeit durch sein blühendes Haus
gesichert, ich wüßte wahrlich nicht, ob ich ihn nicht selbst zu dem Kreuzzuge
aufriefe, von dem er träumt. Doch freilich, wie die Dinge jetzt liegen, mögt Ihr
Recht haben, ich hoffe auf eine glückliche Eingebung, mit der ich ihn warnen
kann, ohne ihn zu kränken!
Barreto hatte offenbar noch eine Erwiederung auf de» Lippen, schwieg aber,
als er seines Hausmeisters Joao unter dem spitzbogige» Thor, das vom Haupt-
Hause i» den Garten führte, ansichtig ward. Mit sicherm Blick ersah er, daß
sich der Alte rascher heranbewegte, als es sonst, selbst unter dem schattigen
Laubdach dieser Baumgänge, der Fall war. Er rief ihn daher schon von weitem
an: Was giebts, Joao? Was treibt dich aus deiner Halle so eilig hierher? Ist
Besuch gekommen? Ist einer von den Brüdern Evvra in Sicht?
Der Hausmeister, gleich seinem Herr» eine hohe und feste Kriegergestalt,
ein Fünfziger, dessen dunkles Haar sich kaum an den Schläfen grau zu färben
begann, schüttelte den mächtigen Kopf und rief: Kein Besuch, Herr, aber eine
Botschaft, nud wie mich dünkt, keine frohe, Jayme Leiras aus Okaz' Herberge
ist auf einem Klepper von Ciutra herübergekommen, er muß vor Tagesanbruch
weggeritten sein, will auch jetzt nichts als einen Trunk Wasser über die Lippen
bringen, bis er Euch und Senhor Luis Camoens gesprochen hat.
El, so führe ihn hierher, sagte der Schloßherr mit einiger Ungeduld. Was
hast du ihn warten lasse»! Um ein Gericht Fische sendet unser alter Bartolomeo
keinen besondern Boten, es muß etwas wichtigeres sein. Mach rasch, Joao!
Er wollte nicht mit allem Staub des Weges vor Euch treten, Senhor.
verteidigte sich Joao. Er soll alsbald vor Euch stehen. Aber schade ists
dennoch, daß Ihr Jayme nicht im Sattel gesehen, es hätte Euch für heute zu
lachen gegeben.
Während der Minuten, welche verstrichen, bis der ehemalige Matrose im
Geleite des Hausmeisters herbeikam, vermieden Barreto wie Camoens mit ein¬
ander zu sprechen. In den Zügen des letztern malte sich eine heftige Unruhe,
Barreto erriet uur zu gut, daß er die unerwartete Botschaft aus Ciutra mit
seinen geheimen Gedanken an Katarina Palmeirim in Verbindung brachte. Als
nun Jayme Leiras, den schwarzen, spitzigen Hut zwischen beiden Händen drehend,
die Stufen emporstieg, rief Senhor Manuel dem ehemaligen Matrosen entgegen:
Sei willkommen, Jayme, und komm hier herauf. Wie steht es in Cintra und
mit dem greisen Marschall?
Sie läuteten im Konvent der Christusritter und in allen Kirchen die
Totenglocken für den tapfern alten Herrn, als ich abritt, er ist ja verwiesene
Nacht heimgegangen, antwortete der Bote. Doch nicht darum hat mich Bar-
tolomeo an Euch abgeschickt. Ich bringe leider schlimmere Kunde.
Er hielt räuspernd inne, Barreto, welcher bei den letzten Worten Jaymes
das traurig gesenkte Haupt fast zürnend erhoben hatte, verstand die wunderliche
Geberde des Boten und sagte: Fahre nur ruhig fort. Was dir Okaz zur Be¬
stellung an mich mündlich vertraut hat, darf mein Joao immer hören.
Es Werdens noch viele hören müssen, Herr! versetzte Jayme Leiras, und
durch sein rauhes Gesicht zuckte es vor Wehmut und Ingrimm zugleich. Bar-
tolomeo läßt Euch also melden, daß er, nach Eurer Weisung, Herr, mich jeden
zweiten Tag abgeschickt hat, um nach Jonna, der kleinen Ziegenhirtin, zu sehen
und ihr zu bringen, was sie etwa bedarf. Es ging ihr immer recht wohl,
zweimal habe ich selbst das fremde Fräulein, die wir damals tauften und die
jetzt im Schlosse wohnt, zu ihr geleitet — Joana hatte eine große Freude
daran. Es sollte ihre letzte sein! Gestern am Nachmittage fand ich die gute
Kleine zwanzig Schritte vor ihrer Hütte tot auf dem Nasen — erwürgt! — die
Schnur noch um den Hals — die starrru Händchen krampfhaft zum Gebet ge¬
faltet! Ihre Herde weidete um sie herum, und die Ziegen leckten ihr die Hände,
sie konnten nicht begreifen, daß Joana nicht mehr mit ihnen um die Wette
herumsprang. (Fortsetzung folgt.)
assandra-Rufe sind sehr i» Mißkredit gekommen. Die Zeit ist spöt¬
tisch und skeptisch angelegt, und mit pathetischen Warnungen und
weitauSsehendeu Betrachtungen ist dem heutigen Publikum schwer
beizukommen. Aber man muß doch sagen: Kassandra hatte nicht
nur Recht, sondern sie konnte sich zur Begründung ihrer Warnungen
ans Dinge stützen, angesichts deren sie eigentlich garnicht der Prophetengabe,
sondern nur des „gesunden Menschenverstandes" bedürfte, um über die Blindheit
der Troer zu jammern; und wen» ein künftiger Dichter für unsre gegenwärtige
soziale Lage eine Kassandra-Figur schaffen will, so wird es derselben an innerer
Wahrscheinlichkeit durchaus nicht fehlen. Werden wir die soziale Revolution
haben? werden wir ihr widerstehen können? Das sind die großen Fragen des
Tages. Die erstere muß, darüber sind wohl alle Urteilsfähigen einig, ohne
weiteres bejaht werden. Die zweite — vor dem, der sie mit voller Kenntnis
der obwaltenden Verhältnisse entschieden zu bejahen wagt, will ich Respekt haben,
muß mir aber dennoch mein Urteil vorbehalten. Meine eigne Antwort würde
lauten: Ich weiß es nicht! Auf pathetische Fragen mit dieser trivialen Antwort
zu kommen, mag recht komisch sein, aber ich kann versichern, daß mir bei der
Sache durchaus nicht komisch zu Mute ist.
So gottverlassen, das Militär und dessen „unerschütterliche Disziplin" ster
eine unter allen Umständen ausreichende Schutzwehr zu halten, wird wohl
unter den Lesern der Grenzboten nicht ein einziger sein. So oft auch das
Wort Talleyrands schon zitirt (und ohne Zweifel auch manchmal mißbraucht)
worden ist, so anwendbar bleibt es: Bajonnette sind eine treffliche Sache, nur
setzen kann mau sich nicht ans sie. Die nämlichen epidemischen Gifte, welche
der Volksmasse das langegehegte Respektsgefühl vor der Obrigkeit und die Furcht
vor den Werkzeugen derselben rauben und sonst ruhige Leute zu wütenden
Ausbrüchen treiben, sind anch dem Militär gegenüber wirksam; und es hängt
zwar von den Umständen ab, inwieweit sie auch hier zur vollen Geltung
kommen, aber bis jetzt ist es mit einer größer» Widerstandsfähigkeit des
Militärs gegen diese in der Luft liegenden Einflüsse noch überall sehr schwach
bestellt gewesen. Man denke an 1848! Daß es damals sehr bald gelang, bei
den Truppen die Disziplin wiederherzustellen, und daß selbst die süddeutschen
Truppen der von Baden ausgehenden Versuchung über Erwarten gut wider¬
standen, ist ja richtig; aber man vergesse nicht, daß damals die Hochflut
der geistigen und nationalen Bewegung des Jahres 1848 schon verlaufen war,
daß die Frankfurter Morde und die Hecker-Struvcscheu Putsche in Baden unser
gutes deutsches Volk schrecklich ernüchtert hatten, daß die Vassermaunschen
„Gestalten" auch noch von andern Leuten gesehen worden waren, und last
not 1«zg,Kt> daß die Redensarten der damaligen Demokraten von „vertierten
Söldnern" u. dergl. und die in den Straßen von Mainz und andern Städten
gegen die Soldaten verübten Rohheiten unmöglich die Folge haben konnten, die
Soldaten zum „Volke" herüberzuziehen. Und trotz alledem stand die Sache eine
Zeit lang zweifelhaft genug! Wer konnte dafür bürgen, daß das in Baden
gegebene Beispiel keine Nachahmung fand? Wenn es irgendwo an einem
ernsthaften Grunde für den Ausbruch der Rebellion fehlte, so war dies doch
sicherlich gerade in dem liberalen, wohlhabenden Baden der Fall; hier war
es mit Händen zu greifen, daß wirklich weiter nichts als der zur Zuchtlosigkeit
gereifte „Geist der Zeit" es war, welcher Soldaten und Bürger zur Empörung
trieb. Und endlich ist noch eins nicht zu vergessen. Die Bewegung des Jahres
1848 war in ihrem Ursprünge keine deutsche, sondern eine von Frankreich her
importirte, und die geistigen Strömungen, denen sie zum Ausbruch verhalf, waren
gleichfalls ihrer Zeit importirt worden. So war die Seele des Volkes eigentlich
nicht bei der Sache; sie war sicherlich viel mehr bei dem Frankfurter Handwerker-
Parlamente als in den Räumen der Paulskirche. Nun, sollte es so ganz und
gar undenkbar sein, daß wir einmal eine spezifisch deutsche revolutionäre Be¬
wegung bekommen? Gewiß würde dieselbe immer nur einen Teil des deutscheu
Volkes erfassen und mit sich fortreißen, und gerade dies sowie die absolute
Rücksichtslosigkeit gegenüber allen Andersdenkenden, an der es dann sicherlich
nicht fehlen würde, wäre ja wieder etwas spezifisch Deutsches. Aber wer vermag
genügende Gründe dafür anzuführen, daß ein Ausbruch dieser Art für Deutsch¬
land ausgeschlossen erscheine, und daß die ansteckende Wirkung, die sonst überall
im gleichen Falle beobachtet worden ist, bei uns versagen würde?
Nun, daß wir in einer Zeit leben, welche ohne Übertreibung als eine
„sozialistisch erregte" bezeichnet werden kann, das wird wohl niemand in Abrede
stellen. Wenn in England, mit dem so lange Zeit für die angeblichen trefflichen
Wirkungen der Rede- und Versammlungsfreiheit Parade gemacht wurde, keine
Sicherheit des Lebens und Eigentums mehr vorhanden ist; wenn in den ge¬
priesenen Vereinigten Staaten die Arbeiterbewegungen eine Form anzunehmen be¬
ginnen, welche wie eine bittere Satire auf die guten Leute aussieht, von denen uns
versichert wurde, wenn die Arbeiter nur erst organisirt seien, so würden keine
einzelnen Ausschreitungen und Brutalitäten mehr stattfinden, sondern man werde
sachlich mit ihnen verhandeln können; wenn in Frankreich die regierenden Kreise
Anstalt machen, sich dem Anarchismus zuzuneigen oder doch eine Abmachung
n,ä too mit demselben unter ihre Berechnungen aufzunehmen; wenn aus Öster¬
reich, Italien, Spanien minder hervortretende, aber im Grunde nicht minder
beunruhigende Nachrichten kommen; wenn in Rußland das Feuer des Nihilismus
unter der Asche fortglüht und an den Erscheinungen, welche denselben erzeugt
haben, doch in Wahrheit nichts geändert ist; wenn endlich in Belgien die Flammen
loh emporschlagen — da ist es wahrlich nicht mehr um der Zeit, sich damit zu
trösten, daß in !it>Le,r^vo hier wohl Bedenken und Gefahren vorhanden sein
möchten, in (Zvnvröw aber doch wohl zur Zeit noch nichts Ernstes zu fürchten
sei. Man hat, wie wir glauben mit Recht, darauf aufmerksam gemacht, daß
der Ausbruch stürmischer Volksbewegungen an gewisse Perioden gebunden zu
sein scheine, und daß manches für eine Wiederkehr der französischen Revolutions-
sturme nach etwa hundert Jahren — also gerade jetzt — spreche; jedenfalls ist
es nach den seit einiger Zeit sich drängenden Nachrichten und Beobachtungen
nichts weniger als unwahrscheinlich, daß im Laufe der nächsten Jahre die belgi¬
schen Auftritte sich in großartigerer, mehr systematisch geleiteter und umfassenderer
Weise wiederholen und sich hierbei auf ganz Mitteleuropa, ja vielleicht auf
ganz Europa ausdehnen- In Österreich ist neulich aus hocharistokratischem
Munde das Wort gefallen, die nationalen Ideen und Antriebe fingen unter
den Völkern an zu verblassen, und die sozialen träten immer mehr in den Vorder¬
grund. Es mag dies nur in beschränktem Sinne wahr sein, denn wir sehen
ja auf Schritt und Tritt, daß einstweilen die nationalen Ansprüche und Ab¬
neigungen noch eine große Rolle spielen, aber jedenfalls ist etwas daran. Und
daß unter der Arbeiterwelt, namentlich soweit dieselbe zu revolutionären Aus-
brüchen disponirt ist, die Ideen der Jntcrnationalität eine große und anscheinend
immer mehr anwachsende Rolle spielen, scheint unzweifelhaft. So bleibt immer
wieder die Frage, was wir ans unsern eignen Kräften einem etwaigen Aus¬
bruche oder einem Überspringen desselben nach Deutschland entgegenzustellen
haben?
Stellen wir vor allem fest, in welchem Umfange unsre Svzialdemokmtie
als die natürliche Genossin und, sobald Aussichten auf Erfolg gegeben sind, zu
jeder Mitwirkung bereite Verbündete der europäischen Sozialrevolntion anzu¬
sehen ist. Dies ist in der That ein Punkt, über den, wenn man sich nicht
von der bestimmten Absicht leiten läßt, nicht sehen zu wollen, ein Zweifel nicht
obwalten kann. Die Führer der Sozialdemokratie haben unzcihligemnle, schriftlich
und mündlich (und letzteres erst in allerjüngster Zeit durch den Mund ihrer
Vertreter im Reichstage), ihren Standpunkt zur Frage des gewaltsamen Um¬
sturzes in folgende, nur durch präzise Fassung sich von den umschreibenden
und verhüllenden Sätzen jener Herren unterscheidende Formel zusammengefaßt:
„Wir sind bereit, die — logisch und sittlich unerläßliche — Überführung der
heutigen staatlichen und gesellschaftlichen Zustände in den sozialdemokratischen
Staat in friedlicher, gesetzlicher Weise zu bewerkstelligen; dazu gehört also
weiter nichts als die Kleinigkeit, daß der ganze gegenwärtige Staat, das ganze
Kapital, die ganze bestehende Gesellschaftsordnung ohne Vorbehalt vor uns ka-
pitulirt. Will man das, so gehts ruhig und friedlich zu. Will man nicht —
el nun, dann darf man sich nicht wundern, wenn es schließlich im geeigneten
Augenblicke zum gewaltsamen Umsturz kommt, und sür diesen sind dann nicht
wir, sondern seid lediglich ihr, die ihr euch dem Unvermeidlichen nicht fügen
wolltet, verantwortlich zu machen. Wir unserseits wollen und wünschen diesen
gewaltsamen Umsturz an und für sich nicht, sondern derselbe ist dann, wenn
man eben nicht rechtzeitig auf uus gehört hat, einfach als eine Notwendigkeit,
als ein natürliches Produkt unsrer ganzen Entwicklung hinzunehmen." So,
und nur so ist die freche und spöttische Behauptung der Sozialdemokraten, sie
wollten ja ganz gesetzlich zu Werke gehen, und wenn es schließlich doch zur
Gewalt kommen müsse, so seien nicht sie, sondern nur die „Bourgeois" schuld,
zu verstehen. Zur friedlichen Verständigung ist weiter nichts nötig, als daß
wir andern alle Sozialdemokraten werden; andernfalls sind wir allein schuld,
wenn die Sozialdemokraten zuletzt Gewalt brauchen müssen! Was der sozial-
demokratische Staat ist und soll, darüber sind wir gleichfalls nicht im mindesten
im Unklaren gelassen worden: es darf kein privates Kapital, d. h. keine in
privatem Besitze befindlichen Mittel der Produktion oder des Erwerbes mehr
geben, sondern alle diese Dinge befinden sich ausschließlich in den Händen des
sozialdemokratischen Staates, und dem Einzelnen und seiner Familie darf durch¬
aus nichts gelassen werden als Verbrauchs- und Genußgegenstände. Wer be¬
streitet, daß dies das Wesen der sozialdemokratischen Zukunftsidee ausmache, oder
daß die Sozialdemokratie keinerlei andre Form für etwas weiteres als für einen
Übergangszustaud halten werde, der nur insofern annehmbar sein kann, als er
die Mittel zu umso schnellerer Erreichung des Zielpunktes an die Hand giebt,
von dem muß einfach gesagt werden, daß er nicht weiß, was die Sozialdemo-
kratie ist und will. Die Sozinldcmokratie aber wird sich, wenn sie einmal in
der Lage ist, ihre Konsequenzen zu ziehen, mit Hohnlachen darauf berufen, daß
sie aus diesen ihren Bestrebungen niemals ein Hehl gemacht habe, und sie wird
Recht dabei haben. Den Vorwurf, mit ihren wirklichen Zielcir hinter dem
Berge zu halten, kann man der Sozialdemokratie nicht machen. Wie die sozial-
demokratische Gesellschaftseinrichtung ein- und durchgeführt werden soll und
welches ihre Wirkungen auf die produktiven Leistungen der Gesamtheit und auf
die Lebensweise der Einzelnen sein werden, daS ist freilich eine andre Frage,
der die sozialdemokratischen Redner und Schriftsteller bisher nach Kräften aus¬
gewichen sind. Bekanntlich haben geistvolle Nationalökonomen (so der alte
Hildebrand schon 1848) die logische Unmöglichkeit des Bestandes einer sozialistischen
Gesellschaftsform nachzuweisen versucht, und sofern man diese Nachweise als
zwingend gelten lassei, will (womit es freilich unsers Ercichtens seinen Haken
hat), so würde die Schlußfolgerung gerechtfertigt sein, daß schon der Versuch
einer selbst noch so vorläufigen oder geteilten Durchführung notwendigerweise
scheitern müßte. Wir unserseits halten es für richtig, daß eine Fort- und
Höherbildung, eine Veredlung und zukunftsvolle Entwicklung des Menschen¬
geschlechts auf sozialdemokratischer Grundlage unmöglich sein würde; aber damit
ist noch nicht gesagt, daß die Durchführung derselbe» in irgendeiner Form ab¬
solut undenkbar sei. Demnach begnügen wir uns zu sagen, daß wir das Ge¬
lingen des Versuches, den Traum einer sozialistischen Staats- und Gesellschafts¬
ordnung zu verwirklichen, für höchst unwahrscheinlich und in diesem Sinne
auch schon ein nur vorübergehendes Gelingen für fast ausgeschlossen halten. Die
Sozialdemokraten selbst haben sich, wie gesagt, bisher den Kopf nicht sehr dar¬
über zerbrochen, wie sie im Falle des äußern Sieges ihre Lehren zu verwirk¬
lichen gedenken; sie geben zu verstehen, das werde sich nachher in der „Praxis"
schon geben. Aber man sei versichert, daß diese Unsicherheit auch nicht einen
Augenblick von dem Erteilen des Losbruchsignals, wenn die Zeit für dasselbe
gekommen zu sein scheint, zurückhalten wird.
Wieder eine andre Frage (und hier begegnen wir freilich dem schwachen
Punkte der Sozialdemokratie) ist die, inwieweit die leitenden Personen und die
grundsätzlichen, bewußten Mitgliedschaften ans die ganze Masse der sozialdemo-
kratischen Anhängerschaft rechnen können. Fassen wir die Stufen dieser An¬
hängerschaft und deren ungefähre Stärke einmal ins Ange. Zuerst die Führer:
Reichstagsmitglieder, Zeitungsredakteure und Schriftsteller. Es sind Zweifel
gestattet, ob unter denselben volle Einmütigkeit herrsche, und früher — man
denke an Mühlberger und Rittiughausen — mochten selbst darüber Zweifel ge¬
stattet sein, ob sich nicht gerade unter der Führerschaft eine gemäßigtere Richtung
herausbilden werde. Hieran ist heute wohl nicht mehr zu denken, höchstens
daran, daß sich im Verlaufe etwa ausgebrochener revolutionärer Stürme mit
Viereck, Frohne, Hasenelever, ja anch Bebel von irgendeinem Punkte ab
doch eher reden lassen werde als mit dem seineu Rachedurst von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt schleppenden Liebknecht oder dem rasenden „Ritter von Vollmar."
Daß aber die ganze Masse dieser, Lassalle so verhaßten „Intelligenzen" grund-
sätzlich streng zusammenhalten und die gleiche Taktik auf die gleichen Ziele hin
verfolgen wird, unterliegt keinem Zweifel; anch wird mau annehmen dürfen,
daß diese Leute nicht vor der Aufgabe zurückschrecken würden, es mit der Neu¬
organisation von Staat und Gesellschaft praktisch zu versuchen, und es ist nicht
ausgeschlossen, daß sie hierbei ein beachtenswertes Maß von Geschicklichkeit und
Energie und, soweit dies möglich ist, auch von Mäßigung an den Tag legen
werden. Wie es freilich mit dem Zusammenhalten dieser Leute und mit dem
ihnen von unten auf gewährten Vertrauen auf die Dauer bestellt sein dürfte,
davon weiter unten ein mehreres. An die Führer reiht sich die literarisch
durchgebildete, in klarer und bewußter Erkenntnis des Prinzips gefestigte Masse
derer, aus denen die örtlichen Führer und Vertrauensmüuner und die neu zur
Führerschaft aufsteigenden Kräfte genommen werden. Dieser Nachwuchs ist
schwächer an Zahl und geringer an geistiger Tüchtigkeit, als er früher
— noch zur Zeit Schweitzers — war; hier hat das Sozialistengesetz, vor dessen
Erlaß in Versammlungen und in der Presse eine förmliche fortgesetzte Schulung
betrieben und die Heranbildung neuer Kräfte systematisch geleitet und kontrolirt
werden konnte, sehr geschadet, oder nach unsrer Anschauung natürlich sehr
genützt. Immerhin ist noch Nachwuchs vorhanden; die vorangegangene Zeit
war lang und fruchtbar genug, um solchen großzuziehen, und wer einmal
bis zu dieser Stufe gelangt ist, der fällt nur selten wieder ab. Nun kommt
die Masse der „Parteimitglieder," der „Wähler," der „Arbeiterbataillone,"
d. h. derjenigen, welche, wenn auch nicht immer, so doch zeitweise im Banne
einer festen Organisation stehen. Daß diese Organisation nicht mehr öffentlich
geleitet und gehandhabt werden kann, nimmt ihr nur wenig von ihrer Stärke;
im Gegenteil macht die Heimlichkeit, zu der die Zusammenkünfte, die Austeilung
der Losungsworte n, dergl. sich verurteilt sehen, alles dies nur umso pikanter
und giebt dem ganzen Parteitreiben den Anstrich von einer Art Sport. Aber
es läßt sich allerdings außerhalb der großen Städte und allenfalls sehr stark be¬
völkerter Jndustriebezirle etwas derartiges nicht durchführen, und selbst bei
Wahlen bedarf es immer großer, langwieriger und kostspieliger Veranstaltungen,
um die Sache wieder einigermaßen in Gang zu bringen; dies ist der eigentliche
Grund, warum die Sozialdemokratie bei Nachwahlen immer so viel mehr leistet
als bei der Hauptwahl; die letztere dient ihr als Generalprobe, Es ist
schwer zu schätzen, wie groß die feste sozialdemokratische Armee zur Zeit sein
mag, da eine große Menge vergleichsweise Vereinzelter in allen Wahlkreisen
zerstreut ist; aber auf mehrere Hunderttausend wird man sie unter allen Um¬
ständen anschlagen dürfen. Was den geistigen Standpunkt dieser Mitglieder
und ihr Verhältnis zum Parteiprinzip betrifft, so pflegt man beides gewöhnlich
zu unterschätzen. Mit dem eigentlich Wesentlichen in der sozialdemokratischen
Lehre und Anschauungsweise sind sie meistens ganz befriedigend vertraut — jeden¬
falls viel besser als die Masse der liberalen Wühler mit ihrem Parteiprinzip —,
und ganz „dumm" können Leute, die eine so verwickelte Reihe zum Teil seiner
und tiefsinniger Folgesätze zu fassen vermögen, von vornherein nicht sein, man
kann vielmehr mit einem gewissen Recht sagen, daß es immer die intelligenteren
und strebsameren Arbeiter sein werden, welche sich dieser Richtung anschließen.
Daß es auch hier wieder Gradunterschiede giebt und sehr viele nur einen
Teil der sozialdemokratischen Lehren, manche auch nur eine gewisse Praxis
der Agitationswcise begriffen haben, braucht Wohl nicht erst bemerkt zu werden,
aber ein bloßer gedankenloser Nachtreterhciufe ist die Masse dieser organisirten
Anhängerschaft nicht. Ans die Disziplin derselben angesichts gemisser, zum Los¬
bruch reizender Vorgänge oder auf ihren strengen Gehorsam gegenüber Befehlen,
welche etwa dem Losbruche gewisse, nach Mäßigung aussehende Bahnen weisen
wollten, möchten wir allerdings nicht bauen, und auch das soll sicherlich nicht
geleugnet werden, daß es ganz von den Umstünden abhängen wird, ob es
möglich ist oder nicht, diese Arbeiterbataillone auf die Barrikade« oder sonst
wohin zu führen. An schwachherzigen Gemütern wird es hier so wenig fehlen
wie anderswo! Hinter der organisirten „Partei" kommt als eine Art Land¬
wehr die Masse von Wählern, die bei jeder Wahl durch irgendeinen zufälligen
Umstand in die Reihen der Sozialdemokratie geführt werden. Zum Teil sind
dies ja Leute, die schon in irgendeiner, mehr lockern oder nur gelegentlichen
Verbindung mit der Sozialdemokratie gestanden haben, oder die mit Sozial-
demokraten persönlichen Verkehr unterhalten und dadurch etwas von der An¬
schauungsweise derselben aufgenommen haben, oder die durch eigne Lektüre, durch
Beobachtungen, Erfahrungen?e. mit dem sozialdemokratischen Gedankengange ver¬
traut geworden sind, ohne daß sie doch bis dahin Gelegenheit zu offnem Anschlusse
gefunden hätten; sehr groß ist jedoch stets auch die Menge derer, die über¬
haupt eine selbständige Meinung jetzt so wenig haben, wie sie früher eine solche
hatten, die aber aus Groll gegen die Negierung, oder aus Abneigung gegen deu
Gegenkandidaten, oder irgendeinem lokalen oder persönlichen Antriebe folgend,
sich dnrch die sozialdemokratischen Agitationsmittel gewinnen lassen. Hier darf
man natürlich kein Prinzipienbewußtsein verlangen, ja nicht einmal eine ernst¬
hafte Kenntnis vom Wesen der Sozialdemokratie; im Gegenteil, je weniger die
meisten Angehörigen dieser Klasse von Leuten begreifen, was die Sozialdemo-
kratie ist und will, desto eher laufen sie einmal zeitiveise mit. Gerade unter diesen
der geistigen Selbständigkeit entbehrenden Leuten, die bei allem mit laufe», was
ihrem augenblicklichen Groll am besten entspricht, giebt es ja richtige Philister in
großer Menge, denen die Haare zu Berge stiegen, wenn sie eine Ahnung hätten,
für welche Sache sie da thätig sind, und die auf eine ihnen gemachte Mit-
teilung hiervon zornig schreien würden, das sei weiter nichts als nichtswürdige
Verleumdung gegen die Sozialdemokraten, denn so boshaft und so dumm, so
etwas zu wollen, könne ja gar kein Mensch sein. Aus solchen Elementen setzt
sich die sozialdemokratische Landwehr zusammen; sie ist von wechselnder Stärke,
es ist aber nicht ausgeschlossen, daß letztere einmal uuter besonders günstigen
Umständen in die Millionen hineinreichen könnte. Aber das ist noch nicht alles;
es giebt auch noch einen sozialdemokratischen Landsturm. Das sind alle die
Leute, die ihrer geistigen und moralischen Anlage gemäß eigentlich Sozial-
demokratcn sein sollten, es aber aus zufälligen Einflüssen der Geburt, der Er¬
ziehung, der äußern Verhältnisse oder weil diese Lehre in verständlicher, an¬
regender Form noch nicht in ihre Abgeschiedenheit gedrungen ist, nicht geworden
sind. Diese Schaar ist beängstigend groß, und es gehört zu den schlimmsten
Seiten »nsrer öffentlichen Zustände, daß sie, recht aus dem „Geiste der Zeit"
heraus, noch in beständigem Wachstume ist. Denn man wisse: wer, sei es mit
seiner eignen sozialen und wirtschaftlichen Lage oder mit derjenigen der Ge¬
samtheit, unzufrieden ist und eine Besserung für ein Gebot der Gerechtigkeit
hält, und wer sich dabei nicht durch energisches Staatsgefühl, oder durch mon¬
archische Gesinnung, oder durch die Gebote der Religion gebunden fühlt, alles,
was er erstrebt, nur innerhalb eines festbegrenztcn Rahmens zu erstreben, diel¬
mehr die Frage nach den zu schaffenden Einrichtungen und den zur Geltung zu
bringenden Grundsätzen für eine offne, von der Masse der gegenwärtigen Inter¬
essenten nach ihrem bon xlaisir und dabei mit der Wahrscheinlichkeit vollen Er¬
folges zu beantwortende hält, der ist im Herzen ein Sozialdemokrat, und es
ist reiner Zufall, wenn er außerhalb derselbe» im Banne irgendeiner andern
Partei steht. Das Wesen der Sozialdemokratie läßt sich nämlich dahin defi-
niren, daß sie keinen Anschluß an eine geschichtliche Entwicklung, keine Rücksicht
auf etwas über die bloße „Verständigkeit" hinaus in der Menschennatur lie¬
gendes, keine Fesselung der menschlichen Antriebe durch eine dem Menschen an¬
zuerziehende sittliche Kraft und Entsngungsfähigkeit, und demgemäß anch keine
Einwirkung auf das Gemüt des Menschen durch jene tausend geheimen Einflüsse,
wie sie aus festen Einrichtungen und Anschauungen her sich zu einer Schutzwehr
der Sitte gestalten, für erforderlich hält, Ist aber nicht diese Anschauung, und
zwar nicht nur unter besitzlosen und gedrückten Arbeitermassen, die herrschende,
und wird sie es nicht mit jedem Tage mehr? Hat der Individualismus, der sich
an nichts unlösbar gebunden hält, der nur sein eignes Urteil und sein eignes Inter¬
esse für absolut maßgebend ansieht, einmal das ganze ihm offenstehende Gebiet
erobert, und sind dann die Leute einmal zum Bewußtsein dessen gekommen,
worauf ihre ganze Denkweise sie hinweist, dann — sind neun Zehntel unsers
Volkes Sozialdemokraten geworden. Auch hier nützt das Sozialistcngesetz ein
wenig, indem es diese ganze Entwicklung verlangsamt; einmal dadurch, daß es
in der energischen Geltung des Gesetzes für manche Leute doch eine Art Surrogat
dessen herstellt, was sonst durch Religion, gefestigte Sitte und staatliches Pflicht¬
bewußtsein geleistet wird, und sodann dadurch, daß die Thätigkeit der sozial-
demokratischen Agitation nun doch nicht so ausgebreitet, so gleichsam allgegen¬
wärtig sein kann, als dies zur Zeit der überall auftauchenden, allen lokalen
und provinziellen Verhältnissen sich anschmiegenden sozialdemokratischen Blätter
möglich war. Aber an der Sache selbst wird hierdurch natürlich nichts geändert!
Ja, wir sind immer noch nicht zu Ende, Es giebt noch einen Punkt, der
bei den Vertretern der Ordnung negativ wirkt und hierdurch natürlich dem
zu bekämpfenden Gegner zu Gute kommt; das ist der Mangel an Vertrauen
zur eignen Sache, der in den Reihen der Verfechter unsrer heutigen Stants-
und Gesellschaftsordnung eine so große Rolle spielt. Es ist ja sehr begreiflich,
daß die Einsicht in die Berechtigung, die einem großen Teile der sozialdemo¬
kratischen Bestrebungen nicht abgesprochen werden kann, und die Erklärbarkeit
derselben aus unsern Zuständen heraus, die einem noch weit größern Teile
beiwohnt, von vielen Leuten — namentlich auch vielen Arbeitgebern — allem
manchesterlichen Nebel zum Trotz klar oder instinktiv gewonnen worden ist; und
es ist nicht minder naheliegend, daß Leute mit einer Grundausfassung, welche
eigentlich von derjenigen der Sozialdemokratie nicht dem Wesen, sondern nur
dem Grade und der besondern Färbung nach verschieden ist, eine Art verbor¬
gener, sympathischer Hinneigung zu dieser sozialdemokratischen Auffassung niemals
ganz werden verleugnen können. Darum wird namentlich der in seiner Art
wohlmeinende und dabei nicht ganz ununterrichtete liberale Arbeitgeber stets
etwas in sich verspüren, was der Sozialdemokratie halb und halb Recht geben
will, und ganz besonders deutlich wird dies überall zu Tage treten, wo es
sich um die Stellung zur Handwerkerfrage, zu den Jnnungsbestrebungen und
zu den Kämpfen gegen den Kapitalismus handelt. Da fühlen sich Fabrik¬
besitzer, Bankier und Großkaufmann sofort geistesverwandt mit dem sozial¬
demokratischen Agitator und nicken wohlgefällig dazu, wenn derselbe alle diese
Bestrebungen als unzeitgemäß und undurchführbar verurteilt. Die bestehende
Gesellschaft wieder zu befestigen, scheint ihnen allen unzeitgemäß und undurch¬
führbar! Was bedarf der Sozialdemokrat weiter für Zeugnis? Und wo soll
unter solchen Umstünden die sittliche Energie herkommen, welche zur Gegenwehr
gegen eine Sache, die mit so furchtbarer Wucht auftritt, wie sie das anscheinend
handgreifliche Interesse der Massen verleiht, unerläßlich sein dürfte? Alle von dieser
Anschauung beherrschten Leute werde» mit dem Bewußtsein des Unrechts, also mit
halbem Herzen kämpfen, solange ein Niederdrücken der Massen ihnen möglich scheint;
ist eine solche ihres Einesteils nicht mehr durchführbar, so werdeu sie auf mög¬
lichst günstige Bedingungen für ihre Person hin zu kapitulircn suchen. Das
Bewußtsein, auf alle Gefahr hin den Kampf bis zum letzten Hauche fortsetzen
zu müssen, weil die in unserm Innern, im Gegensatze zu unsern Gelüsten,
aufgespeicherten Kräfte und Antriebe als das zu erhaltende und zu pflegende
Kulturlapital der Menschheit, als das Erbe des lebenden Geschlechts aus der
ganzen Entwicklung der Menschheit her betrachtet werden müssen, und daß die
Sozialdemokratie dieses Kapital nur aufbrauchen, aber nichts mehr hinzufügen,
also die sittlichen Grundlagen unsrer Kultur allmählich zerstören würde — dieses
Bewußtsein können ja die bezeichneten Leute nicht haben, weil sie selbst den Kern
des Menschen nicht in der Tiefe seines Gemütes, sondern an der Oberfläche
seiner Sorge für Essen und Trinken und für Befriedigung eigensüchtiger, sinn¬
licher u. s. w. Gelüste erblicken.
Bisher mußte unsre Betrachtung so trostlos wie möglich ausfallen. Nun
giebt es aber allerdings auch einige Punkte, teils allgemeine, die im Wesen der
Sache liegen, teils solche, die aus unsern besondern Verhältnissen und aus der
geschichtlichen Entwicklung unsrer Sozialdemokratie fließen, welche die Lage
minder düster erscheinen lassen und doch einige Hoffnung gewähren; zunächst
nach der Seite hin, daß sie ein Gelingen sozial-revolutionärer Stürme unwahr¬
scheinlich, ja so gut wie unmöglich erscheinen lassen, weiterhin aber auch im
Sinne einer Neuschaffung und Befestigung haltbarerer sozialer Zustände.
Da ist zuerst die große, große Schwäche, an welcher die Schlagkraft der
Svzialdemokmtie infolge des nun seit fast einem Menschenalter fortgesetzten
Predigens von der unmittelbar bevorstehenden sozialen Revolution leidet.
Ein Arbeiter, der als eben vom Militär entlassener feuriger junger Mann die
Leipziger oder Frankfurter Rede Lassalles gehört hatte und sich damals der Be¬
wegung einschloß, hat seitdem vieles durchgemacht. Nor seinen Augen hat Preußen
die Armeereorgauisatiou vollzogen, sind die siegreichen Kriege mit Dänemark,
Österreich und Frankreich geführt, ist das deutsche Reich begründet und sind
innerhalb desselben große und folgenreiche Entwicklungskämpfe durchgefochten
worden; und währenddem hat man ihm fortwährend versichert, der „Bourgeois¬
staat" sei faul und morsch bis ins Innerste hinein, schaffen und leisten könne
er überhaupt nichts brauchbares mehr, unsre Minister und Generäle seien im
Grunde lauter Dummköpfe, und allernächstens werde die Revolution kommen
und mit der ganzen Herrlichkeit aufräumen. Das läßt man sich ein paar Jahre
gefallen; ja es giebt auch Menschen, die einer solchen einmal wachgerufenen
Illusion ihr ganzes Leben zum Opfer bringen; aber die Masse kann und thut
dies nicht, und es ist tausend gegen eins zu wetten, daß unser Arbeiter aus
dem Anfange der sechziger Jahre inzwischen, wenn auch vielleicht nicht in seinem
Glauben an die sozialdemokratischen Lehren, so doch in seinem felsenfesten Ver¬
trauen auf deren baldiges, von ihm noch zu erlebendes Durchdringen wankend
geworden ist, und diese Zweifel auch auf sein Verhalten und schließlich selbst
auf seine Denkweise wirken läßt. Mindestens hat er gemerkt, daß der Staat,
die „verfaulte, schnöde Galeere," sich nicht in raschem Ansturme, sondern nur in
langem, mühsamem und opfervollcm Kampfe nehmen läßt, und die Geschichte der
zahllosen, teilweise so erbitterten Reibungen, die innerhalb der sozialdemokratischen
Führerschaft stattgefunden haben, hat mindestens auch den Erfolg gehabt, jene
schwung- und begeisterungsvolle Freudigkeit, welche Lassalle damals einer Schaar
intimer Anhänger einzuflößen vermochte, verfliegen zu lassen. Die Begeisterung läßt
sich nicht einpökeln; sie hält eine Zeit lang, sie hätt vielleicht ein paar Jahre
vor, aber dreiundzwanzig Jahre — das ist unter allen Umständen zu viel. Eine
furchtbare .Klippe aller demokratischen Bestrebungen ist, solange es eine Geschichte
giebt, das Mißtrauen in die Führer gewesen; es braucht wohl kaum bemerkt zu
werden, vou wie verhängnisvollen Einflüsse dieser Faktor auch hier sein wird
und muß. Je lebhafter man der Anhängerschaft die Unwiderleglichkeit der
sozialdemokratischen Lehren und die Notwendigkeit des bevorstehenden Umsturzes
gepredigt hat, desto drohender wird die Frage das Haupt erheben, warum
nicht jetzt, warum nicht in der und der Weise losgebrochen, warum nicht der
Losbruch so und so vorbereitet worden sei u, s. w., und das Kapital des Ver¬
trauens ihrer Anhängerschaften, mit dem unsre sozialdemokratischen Führer zu
arbeiten haben, ist ohnehin nur sehr schwach. Und dabei muß auch der radikalste
Sozialdemokrat, mag er vom heutigen Staate so schlecht und so gering denken
wie er immer will, sich doch — vorausgesetzt, daß er nicht ganz urteilsunfähig
ist — gestehen, daß der Staat seitdem nicht schwächer, sondern stärker geworden
ist, daß insbesondre gerade das ihm so widerwärtige und gefährliche Staats¬
bewußtsein gewaltige Fortschritte gemacht und in gewissem Sinne selbst unter
den Arbeitern, ja unter den eignen Parteigenossen um sich gegriffen hat. Auch
die Achtung oder wenigstens doch die Furcht vor dem Staate und seinen
Gesetzen ist durch das Sozialistengesetz und die gelegentliche energische Hand¬
habung desselben entschieden gekräftigt worden. Mau muß in der Lage gewesen
sein, die höhnische Art mit anzusehen, mit der lange Zeit in Wort und Schrift
die Staatsautvritcit besprochen und die Unfähigkeit des heutigen Staates, sich
anch nur noch ernstlich seiner Haut zu wehren, zu verstehen gegeben wurde,
um den Fortschritt zu würdigen, der immerhin auch auf diesem Gebiete nicht
zu verkennen ist. Das spöttische Lachen ist doch verstummt. Und auch in
Bezug hierauf dürfte das Wort gelten: Oäsrwt, arrr mvwkmt!
Einem vereinzelten Ausbruche aber stehen die Schwäche und der Mangel
an Schwungkraft bei der Sozialdemokratie, wie solche aus dem steten Verkünden
der bevorstehenden Revolution, ohne daß doch etwas aus der Sache geworden
ist, hervorgehen mußten, durchaus nicht im Wege. Im Gegenteil, es wird
umso wahrscheinlicher, daß die überreizten lind erbitterten Massen einmal bei
irgendeinem ihnen passend erscheinenden Anlasse losschlagen, und es ist nicht
unwahrscheinlich, daß in solchem Falle einmal, um aus der nicht mehr rück¬
gängig zu machenden Revolte den möglichst großen Nutzen zu ziehen, das Signal
zu allgemeiner Empörung gegeben werden würde. Welche Wahrscheinlichkeit ist
dafür vorhanden, daß eine solche Erhebung siegreich sein könnte? Mit den
Redensarten wie „unmöglich," wie „Treue unsrer Truppen" u. s. w. bleibe man
uns vom Halse; alles ist möglich, auch der Abfall großer Truppenteile zum
„Volke." Selbst an einer halbwegs befriedigenden militärischen Leitung braucht
es nicht zu fehlen; wie 1848 und 1849 preußische Offiziere zur Fahne der
Revolution übergingen, wie wir eben jetzt einen Major sehen, der in die
Reihen der Deutschfreisinnigen eingetreten ist, so ist es auch nicht ausgeschlossen,
daß die Sozialdemokratie in der Lage wäre, über eine hinlängliche Anzahl von
Offiziere» zu verfügen. Dennoch glauben wir allerdings, daß anf eine von
dieser Seite ausgeführte Revolution sehr schnell, und zwar noch ehe sie zur
vollständigen Herrschaft zu kommen vermag, die Gegenrevolution folgen würde.
Was uns hier retten wird, das ist das nämliche, was uns zu andern Zeiten
so viel zu schaffen macht: das Zentrifugale, Sonderbündlerische und Hartköpfige
im deutschen Wesen, und die gewaltige Kraft des monarchischen Gedankens wird
das noch Fehlende ersetzen. Die Erscheinung wie bei den französischen Föderalisten,
daß man es zwar zum äußersten kommen läßt, zuletzt aber doch vor dem
äußersten zurückschreckt, und daß die bloße Furcht vor der Hauptstadt auf eine
Menge sonst tapferer und entschlossener Leute geradezu lähmend einwirkt, diese
wird bei uns nicht vorkommen. In jeder preußischen Provinz wird es Dutzende
von Stellen geben, wo die Fahne des Königs erhoben wird; statt einer Vendee
werden wir deren, gering gerechnet, acht bis zehn haben; in mehreren der
Mittel-, ja selbst der Kleinstaaten werden ähnliche Erscheinungen zu Tage treten;
die Neuformirung ansehnlicher Truppenteile wird sehr bald stattfinden können,
und das Truppenmaterial wird massenhaft zuströmen; kurz, die Gegenrevolution
wird sehr schnell eine Regierung, zahlreiche Mittelpunkte und ein Heer haben.
Vieles halten wir für möglich. Daß aber eine sozialdemokrntisch-revolutionäre
Regierung in der überaus kurzen Zeit, die man ihr lassen wird, die Mittel sollte
finden können, sich gegen den Ansturm der Gegenrevolution zu behaupten nud
dieselbe dann auch noch niederzuschlagen — das halte» wir wenigstens beim
ersten Ansturme nicht für möglich.
Schlimm genug freilich, wenn es schon so weit kommen kann, und niemand
vermag ja zu sagen, welche politischen Folgen eine solche krampfhafte Zuckung,
wie wir sie bisher nur bei andern Völkern zu beobachten hatten, bei und für
uns haben mag. Hinsichtlich der Frage aber, ob denn ein solcher gewaltsamer
Lvsbruch nicht verhütet werden kann, sind wir, wie eingangs dargelegt worden, sehr
pessimistisch gesinnt. Doch läßt sich auch hierüber einiges tröstliche sagen, womit
wir denn auch zuguderletzt nicht hinter dem Berge halten wollen. Die Frage zwar,
ob nicht die begonnene Svzialrefvrm viele Arbeiter der Sozialdemokratie oder
wenigstens einem gewaltsamen Erstreben sozialistischer Ziele abwendig gemacht
haben werde, bedauern wir verneinen zu müssen; dazu tritt diese Reform zu
zaghaft, wir möchten sagen zu akademisch, zu wenig handgreiflich, auch zu
stückweise und abgerissen auf. Es ist vollkommen richtig, daß dies zum Teil
aus den systematischer! Widerstand gewisser Parteien gegen die einzelnen Teile
des Reformprojekts und die hierdurch einem raschen und umfassenden Vorgehen
sich entgegenstellenden Schwierigkeiten zurückzuführen ist, aber an der Sache
wird hierdurch nichts geändert; daß hier ein Bestreben im Gange ist, dahin
gerichtet, seinen ganzen wirtschaftlichen und sozialen Zustand auf eine gesündere
Grundlage zu stellen, das ist dem Durchschnittsarbeiter unsrer Zeit noch lange,
lange nicht zum Bewußtsein gekommen, und kann es auch noch gar nicht sein.
Aber etwas andres vollzieht sich, und zwar mit einer elementaren Kraft, der
auch der böseste Wille des verbissensten Sozialdemokraten nicht zu widerstehen
Vermag: das ist die Geltung der modernen Staatsidee und die Gewöhnung
an diejenige Form derselben, die bei uns zur Zeit in Wirksamkeit ist. Denn man
bedenke wohl, daß es sich hier nicht um ein äußerliches, formelles Eingewöhnen,
sondern um die letzte Phase eines großartigen Volksentwicklungs-Prozesses
handelt, dessen Einfluß aus die Tiefen der Menschennatur, wo die Gedanken
werden und wachsen, auch für den Widerwilligsten völlig unwiderstehlich ist.
Nicht umsonst hat sich das deutsche Volk Jahrhunderte hindurch in tausend Formen
und tausend von den Zeitverhältnissen geforderten Verkleidungen nach politischer
Existenz gesehnt, und nicht umsonst ist diese Existenz so machtvoll, wie ein ge¬
waltiger Trompetenstoß, in die Erscheinung getreten. Wenn nicht in dem ab¬
sterbenden, so doch umso gewisser in dem heranwachsenden Geschlechte lebt der
Reichs- und Vvlksgedanke; viele Einzelne mögen sich vorübergehend mit Haß
gegen denselben erfüllen lassen, für die Masse ist dies unmöglich, denn in die
Tiefen des Volksgemüth, welche sich hier mit neuen Vorstellungen und Idealen
zu erfüllen im Begriffe sind, dringen die Gehässigkeiten des Tages garnicht.
Die sozialdemokratischen Redner mögen sich heiser schreien und sich berauschen
in wütenden Redensarten — sie werden dennoch nichts daran ändern, daß das
Volk auf einmal dem Staate mit ganz andern Begriffen und Empfindungen
gegenübersteht, und die entsprechenden Gedanken werden dann von selbst kommen.
Dann werden die Sozialdemokraten gerade so verzweiflungsvoll die Hände ringen,
wie heute die alten Fvrtschrittler über das angebliche mors in «si-vitinm, welches
sie rings um sich her zu bemerken glauben, weil sie, gerade wie diese, „ihre Zeit
nicht mehr verstehen." Wer denkt hier nicht an das Schriftwort, daß Er „die
Herzen der Menschen lenket wie Wasserbäche"? Wer aber die Herzen hat, der
hat nach kurzer Frist auch die Gedanken. Und hier bewegen wir uns allerdings
auf einem Gebiete, auf dem auch die einfache Größe unsers greisen Kaisers, die
Pflichttreue und der Weitblick des großen Kanzlers, das Volksmäßige in so
vielen Gestalten unsers politischen Lebens ihre Rolle spielen werden. Nein,
die Zukunft ist nicht hoffnungslos, denn das Herz des deutschen Volkes, aus
dem die Reformation und die Wiedergeburt von Kaiser und Reich stammen,
wird anch eine seinem Volkstum und einem gesicherten Staatswesen entsprechende
soziale Zukunft zu gewinnen trachten.
Dem können aber selbst die sozialdemokratischen Agitatoren sich umso
weniger entziehen, als das Sozialistengesetz ihnen die Möglichkeit geraubt hat,
die Parteidoktrin wie eine undurchbrechliche chinesische Mauer um sich her zu
bauen. Es war hier in der That etwas Seltsames und Großartiges und für
die freie Entwicklung menschlicher Kultur unsäglich Gefahrvolles im Werke:
die Aufstellung eines nach allen Seiten hin ausgediftelteu Gebäudes von Partei-
grundsätzcn, an denen bei Strafe der Ausstoßung (fast hätten wir gesagt des
Bannes) nicht gerüttelt werden durfte. Alle sozialdemokratischen Blätter glichen
den von einem Punkte aus geleiteten Uhren einer Stadt; was sie dachten, was
sie forderten, was für Argumente sie anwendeten, wie sie sich zu den einzelnen
Tagesfragen stellten — das alles war von einer wahrhaft chinesischen Gleich¬
mäßigkeit. Denk ist ein Ende gemacht. Der Strom eigner Gedankengänge kann
und wird wieder in den einzelnen Köpfen finden, und nur bei wenigen wird die
Parteidoktrin stark und starr genug sein, um diesem Strome zu widerstehen.
Mögen einzelne Propheten des atheistischen Sozialismus oder Kollektivismus
noch so grimmig behaupten, ihre Lehren bildeten „der Weisheit letzten Schluß" —
die menschheitliche und nationale Entwicklung wird, so Gott will, anch dieses
Hindernisses Herr werden und es, statt sich von ihm in den Abgrund schleudern
zu lassen, auflösen in eine Welt von Ahnungen und Empfindungen, aus welcher
neue Bahnen und neue Ziele dem Lichte entgegenstreben!
Und dennoch Kassandra-Rufe? und dennoch halb verzweifelte Betrachtungen
darüber, ob denn überhaupt ein ausreichender Widerstand gegen die sozialdemo-
kratische Hochflut möglich sein werde? und dennoch die Besorgnis, daß die Ge¬
müter der Menschen sich aus einmal als von sozialdemokratischen Anschauungen
erfüllt zeigen werden? Ja dennoch, denn die in den Gemütern sich vollziehende
Bewegung, auf die wir in der That unsre besten Hoffnungen setzen, ist eine
langsame, sehr möglicherweise anch zu langsame; wenn es dem Eiseshnuche des
Atheismus und Materialismus gelingt, in die Gemüter der Massen tief genug
einzudringen, so vertrocknet der Strom des Lebens in uns, der aus Unbewußtein
heraus unsre Kultur bis hierher geführt hat und allein sie weiterzuführen ver¬
mag. Und wenn es auch so weit nicht kommt, so können doch furchtbare Stürme
und Verwüstungen, es kann ein neuer dreißigjähriger Krieg über uns dahin¬
gehen, ehe es uns gelingt, der bösen Einflüsse Herr zu werden und aus dem
Innersten unsers Volksgeistes heraus die Zukunft unsers Volkes zu retten. Die
Gefahr ist sehr groß. Es ist möglich, daß die Entwicklungsfähigkeit unsers
Volkes auf Jahrhunderte hinaus gebrochen, es ist auch das möglich, daß der
Geist der Barbarei über unser ganzes Kulturleben Herr und die Menschheit
aus emporstrebenden Geschöpfen in eine vegetirende Herde verwandelt werde,
wie dies unsrer Überzeugung nach bei dem doppelten Siege des Atheismus und
der Sozialdemokratie der Fall sein würde. Darum hüte mau sich. Die leben¬
digen Kräfte unsrer Kultur, deren Pflege allein uns zu retten vermag, sind:
Religion, soziale Monarchie und nationaler Staat. Wer helfen will, der
helfe hier. Wer aber unsern Staat, unser Volk und unsre ganze Kultur den
Mächten der Zerstörung ausliefern oder doch denselben gegenüber thunlichst
schwachen will, der fahre nur auf dem Wege fort, den die Mehrheit des deutschet,
Reichstages zur Zeit wandelt!
aß Deutschland einmal überseeische Kolonien erwerben würde,
haben sich auch diejenigen nicht träumen lassen, welche selbst im
Anfang der fünfziger Jahre, als die ungestümen Hoffnungen
auf einen deutschen Nationalstaat für lange zu Grabe getragen
schienen, noch an eine Wiedercrwerbung von Elsaß-Lothringen
dachten. Auch als die nationale Idee in der Gründung des Norddeutschen
Bundes ihre Verwirklichung zu finden anfing, war man weit davon entfernt,
an die Möglichkeit eines Kolonialbesitzes zu glauben. Schien doch in dieser Be¬
ziehung für Deutschland der Klageruf zu gelten, daß die Erde bereits weg¬
gegeben und an diejenigen Völker verteilt sei, welche früher als das zerrissene und
machtlose Deutschland die Gunst der Götter besaßen. Zwar findet sich im
vierten Artikel der Norddeutschen Bundes- und nachmaligen Reichsverfassung
die Bestimmung, daß der Aufsicht und der Gesetzgebung des Reiches auch die
Bestimmungen über „Kolonisation und die Auswanderung nach außerdeutschen
Ländern" unterliegen sollen. Allein es ergiebt sich weder ans den kärglichen
Materialien zur Bundesverfassung noch ans den Debatten im Reichstage, daß
unter „Kolonisation" im Sinne dieser Vorschrift der Erwerb überseeischer Ko¬
lonien verstanden sein sollte. Schmerzlich berührt waren die bessern Kreise der
Nation, daß sich alljährlich ungeregelt und ziellos ein Strom deutscher Aus¬
wanderer mit deutschem Vermögen, deutscher Kraft und deutscher Intelligenz
über überseeische Gebiete ergoß, daß eine Menge nationaler Bürger und natio¬
nalen Reichtums dem Vaterlande verloren ging, und man hatte deshalb den
Wunsch, sich diese Auswanderer zu erhalte» und durch geordnetes Kolonisations¬
wesen im Auslande noch dem heimischen Lande nutzbar zu machen. Erst
als im Anfange der siebziger Jahre der schwarze Erdteil mehr und mehr
erschlossen wurde, als deutsches Blut und deutsches Gut in reichlichem Maße
geopfert wurden, um den mystischen Schleier zu heben, der auf Afrika lag, da
kam manchen,, der die Beschreibungen der deutschen Afrikaforscher las oder
das Glück hatte, ihre Vorträge und Gespräche zu hören, der Gedanke, daß
hier für unser bei der Teilung der Erde zu kurz gekommenes Vaterland
noch etwas zu holen sei. Dieser Zusammenhang zwischen der wissenschaftliche»
Afrikafvrschung und dem Kolonialerwerb verkörpert sich in dem uns leider z»
früh entrissenen or. Nachtigal, der, wie er einer der ersten glücklich zurückge¬
kehrte» Deutschen war, die Licht über einen großen Teil des dunkeln Reiches
verbreiten konnten, auch der erste sein sollte, welcher die deutsche Flagge an
der Küste von Westafrika aufhißte. Denselben Zusammenhang sehen wir in der
Südsee, welche durch deutsche Reisende eigentlich erst der Zivilisation erschlossen
und für die Menschheit zum zweitenmale entdeckt werden mußte.
An allen diesen Punkten hat es an deutsche» Ansiedlungen nicht gefehlt.
Kühne hanseatische Kaufleute hatten an den afrikanischen Küsten wie auf den
Inseln der Südsee Faktoreien und Plantagen errichtet und in den Traditionen
der alten Hanse auf eigue Faust Hoheitsrechte und Länder von den wilden
Volksstämmen erworben. Der deutsche Unternehmungsgeist, neu gehoben durch
die Machtstellung des Vaterlandes, fing an, die Aufmerksamkeit der andern see¬
fahrenden Nationen auf sich zu ziehen, insbesondre seit die Kongobewegung die
Entstehung eines neuen überseeischen Staates in naher Aussicht zeigte. Es
war zu befürchten, daß Engländer und Franzosen den deutschen Kaufleuten das
Feld ihrer Thätigkeit dnrch Einverleibung dieser nur von Wilden bewohnten
Länder entreißen würden, und es war nur zu natürlich, daß die hanseatischen
Kaufherren ihre Blicke auf das mächtig gewordne Reich richteten, um von dem¬
selben für ihre überseeischen Unternehmungen Schutz und Unterstützung zu er¬
langen.
Leider fielen diese Gesuche in eine Zeit, in welcher der deutsche Patrio¬
tismus sich bereits im Niedergange befand. Der deutsche Partikularismus war
von den Höfen, wo er vor 1866 und 1870 eine sorgsame Pflanzstätte gefunden
hatte, in den deutschen Reichstag herabgestiegen. Dort fand ein nationaler Ruf
keinen Wiederhall mehr, seit die wichtigen sozialpolitischen Fragen die liberale
Partei gespalten hatten und sie ihrem unfruchtbaren Doktrinarismus sowie
der Verbohrtheit verblendeter Führer überlassen mußten. Das nationalfeindliche
Element hatte den Kulturkampf zu benutzen verstanden, um aus demselben für
die Regierung trotz der heterogenen Zusammensetzung eine mächtige Oppositions¬
partei zu bilden. Der nationale Begründer des neuen Reiches hatte in schwerer
Arbeit und hartem Kampfe zu ringen, um nur so viel dem widerstrebenden
Reichstage abzukämpfen, als zur Erhaltung des Reiches und zur Beschwörung
der sozialen Gefahren nötig war.
Solche Zeiten und Zustände waren für den Erwerb von Kolonien wenig
geeignet. Nichtsdestoweniger verlor der geniale Staatsmann bei allen seinen
Sorgen und Geschäften auch dieses Ziel nicht aus den Augen. Freilich mußte
er schon bei seinem ersten Debüt, als es sich um die Unterstützung des Samoa-
Unternehmens handelte, Vonseiten des Reichstages eine schroffe Zurückweisung
erfahren. Nur der Zähigkeit, mit welcher Fürst Bismarck einen als richtig an¬
erkannten Gedanken zu verfolgen versteht, verdankt es Deutschland, wenn es
nicht auch bei der zweiten Teilung der Erde unter die Völker leer ausge¬
gangen ist.
Die Kongofrage hatte eine neue Bewegung in die Nationen gebracht, man
begann Afrika und die Südsee nicht mehr bloß als Objekte wissenschaftlicher
Untersuchungen anzusehen, sondern strebte, die neuerschlossenen Länder auch der
Zivilisation und der Nutzbarmachung näher zu bringe».
Die Thatsachen, durch welche einzelne Gebiete in West- und Ostafrika und
in der Südsee unter deutschen Schutz gestellt worden sind, stehen noch frisch in
aller Gedächtnis und bedürfen hier einer Darstellung nicht mehr. Der Grund-
zug der deutschen Kolonialpolitik ist ein friedlicher, kein erobernder. Dem deutschen
Unternehmuugs- und Handelsgeistc liegt es ob, den ersten Schritt zu thun; erst
da, wo sich Angehörige des Reiches niedergelassen haben, folgt ihnen der Schutz
desselben. Da der Neichsregierung keine Mittel zur Verfügung stehen und die
Neichstagsmehrhcit nach fortschrittlicher Anschauung und Redeweise für die
„Kinderkrankheit der jungen Großmacht" nnr so viel bewilligt, als notwendig
ist, um nicht ganz der Sympathie der Wähler verlustig zu gehen, so mußte das
Reich als Regel aus eine eigne Kolonialverwaltung verzichten. Nur in West¬
afrika, nämlich in Kamerun, Togo und den Hvttentottengebieten in der Nähe der
Walsischbai, wollten die deutschen Interessenten die Verwaltung nicht selbst führen,
sie mußte von der Neichsregierung selbst übernommen werden. Ein Gouverneur
in Kamerun, ein Kommissar in Togo und ein solcher in Angra-Pequena sind
mit wenigen Beamten die Autorität des Reiches. Soweit es in der kurzen
Zeit möglich war, haben sie begonnen, die deutsche Herrschaft zu befestigen. Der
überwiegend größere Teil der Schutzgebiete befindet sich in der unmittelbaren Ge¬
walt von drei großen Privatgesellschaften.
Die deutsche Kolouialgesellschaft für Südwestafrika hat die von dem Kauf-
mann Lüderitz aus Bremen erworbnen und im Jahre 1884 von Dr. Nachtigal
unter deutschen Schutz gestellten Besitzungen in Südwestafrika (Angra-Pequena)
angekauft. Da ein allgemeines bürgerliches Gesetz für das Reich nicht besteht,
so mußte diese Gesellschaft ihre rechtliche Form dem preußischen Landrecht ent¬
nehmen, auf Grund dessen sie dnrch königliche Verordnung vom 13. April 1885
die Rechte eiuer juristische,! Korporation erlangte. Die eigentliche Herrschaft
auf dem Uuteruehmungsgebiet dieser Gesellschaft ist im Besitz der eingebornen
Kapitäne und Häuptlinge verblieben. Diese haben mit dein deutschen Reiche
Schutz- und Freundschaftsvcrträge geschlossen, durch welche sie die Oberhoheit
desselben anerkennt, sich auch bezüglich verschiedner Seiten der Souveränität
ihrer Macht zu Gunsten des Reiches entkleidet haben, im wesentliche» aber
ähnlich wie im Mittelalter die Territorialfürstcn gleichsam als Vasallen des
Reiches über ihre eignen Unterthanen nach Maßgabe ihrer Sitten und Gebräuche
zu herrschen fortfahren. Im einzelnen sind die Gebiete dieser einheimischen
Stämme noch nicht streng von einander abgegrenzt; es wird erst der deutschen
Regierung vorbehalten bleiben, den unter ihnen üblichen Fehden ein Ende zu
macheu und sie zu festern Wohnsitzen zu veranlassen. Den kaiserlichen Bevoll¬
mächtigten, insbesondre dem mutvollen Missionar Pastor Büttner und dem
Kommissar des Reiches Dr. Göhriug, ist in dieser Hinsicht schon ein gutes Stück
gelungen. Das Land ist besonders reich an Kupferminen, und gerade die
Ausbeutung dieser ist der Hauptzweck des Unternehmens der südwestafrikanischeu
Gesellschaft, welche, eben weil sie im wesentlichen auf die industrielle Ausbeutung
des Gebietes sich beschränkt, eines besondern Schntzbriefes nicht bedarf. Im
einzelnen wird hier das Eingreifen des Reiches darauf beschränkt bleiben, daß
der Gesellschaft in ihren Unternehmungen die freieste Bewegung gesichert wird.
Zu diesem Zwecke gilt es insbesondre noch, sich mit einzelnen englischen Privat¬
leuten anscinnnderznsetzen, welche ebenfalls den Erwerb gewisser Privatrechte in
diesem Gebiete behaupten. Eine englisch-deutsche Kommission hat in Kapstadt
die erforderlichen Erhebungen veranstaltet, und es ist nunmehr Aufgabe der
beiderseitigen Diplomatie, auf Grund derselben eine Vereinbarung zu erzielen.'
Die größere Gesellschaft in Afrika ist die deutsch-ostafriknnischc Gesellschaft,
an deren Spitze zur Zeit Dr. Peters steht. Diese Gesellschaft hat umfangreiche
Landcrwerbungeu in denjenigen Teilen des Kontinents gemacht, welche an das
Gebiet des Sultans von Zanzibar grenzen. Sie trägt den Keim einer deutschen
„Ostindischen" Kompagnie in sich, da sie überall von den Sultanen Hoheitsrechte
erworben hat. Für einen Teil ihrer Erwerbungen hat sie unterm 27. Februar 1885
einen kaiserlichen Schutzbrief erhalten, dessen Ausdehnung ihr zugesagt ist, sobald
sie eine feste rechtliche Form erlangt hat. Das von ihr erworbene Gebiet ist an
Umfang bereits größer als Deutschland und hat nach den Berichten über die Frucht¬
barkeit des Landes eine versprechende Zukunft. Die Gesellschaft hat zunächst die
Eifersucht des Sultans von Zanzibar zu überwinden, der bisher unter englischem
Einfluß sich wenig entgegenkommend zeigte, bis die Anwesenheit der deutschen
Flotte im Sommer vorigen Jahres ihm die nötige Achtung vor dem Reiche
einflößte. Der Abschluß eines Handelsvertrages sichert schou jetzt den deutschen
Kaufleuten in dem eignen Gebiete des Sultans die freie, zum Handelsbetriebe
nötige Bewegung. Auch ist eine Kommission aus deutschen, englischen und
französischen Vertretern in Zanzibar zusammengekommen, um die Grenzen des
Sultanats festzustellen, welche nach dem Innern eine etwas phantastische Richtung
genommen haben.
Endlich hat in Afrika noch der Sultan von Wien (Suaheli) durch den
Afrikareisenden Dehnhardt um den Schutz des deutschen Kaisers gebeten, und
es ist dieses Anerbieten vorbehültlich der Rechte Dritter angenommen worden.
In der Südsee (Neu-Guinea, Kaiser-Wilhelmsland, Bismarckarchipel) hatte
sich aus den Firmen, welche schon seit längerer Zeit Landcrwerbungen gemacht
hatten, bereits im Frühjahr 1884 die Neu-Guinea-Kompagnie gebildet, welche den
Zweck verfolgte, ein neues Staatswesen in jenen Gegenden zu begründen und,
ohne selbst Handel zu betreiben, Angehörige aller Nationen unter gleichen Be¬
dingungen zum Handel, Plantagenban und Gewerbebetrieb zuzulassen. Ein der
Gesellschaft am 17. Mai 1885 verliehener kaiserlicher Schutzbrief schließt sich im
wesentlichen dem der Ostafrikanischcn Gesellschaft verliehenen an. Die Neu-
Guinea-Kompagnie besteht aus Mitgliedern, welche in der finanziellen und poli¬
tischen Welt einen bedeutenden Namen haben; der frühere Admiral Freiherr von
Schleinitz ist als Landeshauptmann in das Schutzgebiet abgegangen, Dampfer¬
verbindungen sind zwischen den Hauptpunkten hergestellt, Kulturtechuiker sind zu
Aufnahmen, Vermessungen und Untersuchungen ausgeschickt, und das ganze Unter¬
nehmen deutet auf Ernst und volle, durch reiche Mittel unterstützte Hingebung.
Im allgemeinen steht der Umfang der Schutzgebiete fest, doch sind im einzelnen
wohl noch die Grenzen zu reguliren. Es war für Deutschland nicht leicht, anch
nur in den Anfang von Kolonialunteruchmnngen einzutreten. Die Regierung,
die nicht einmal in der gewählten Vcrtrcterschnft des Volkes eine Unterstützung
faud, hatte auch dem rivalisirenden Ausland gegenüber einen harten Stand.
Es gab namentlich mit Frankreich und England allerlei diplomatische Verhand-
lungen, von denen die mit Frankreich bereits zu einer freundschaftlichen Ver¬
ständigung geführt haben, während die mit England zum Teil erst angebahnt sind.
Um mit Energie in den Schutzgebieten deren Kultur und Nutzbarmachung
vorbereiten zu können, bedürfte es einer sichern rechtlichen Grundlage. Für eine
solche boten die Bestimmungen der Reichsverfassung keinen zweifellosen Anhalt.
Wenn so viel klar war, daß die Schutzgebiete nicht als Inland betrachtet werden
konnten, da sie nur durch Gesetz dem Reiche hätten einverleibt werden können,
so war nicht minder unzweifelhaft, daß sie auch nicht als Ausland angesehen
werden konnten, da dem Kaiser im Namen des Reiches daselbst wichtige Hoheits¬
rechte zustanden. Der Reichstag war aber zunächst nicht geneigt, zu einer end-
giltigen Regelung des staatsrechtlichen Verhältnisses die Hand zu bieten, es war
von ihm nur in dem Etat ein Panschquantum von 200 000 Mark zu erlange»,
welches, provisorischer Natur, die Sache nicht vorwärts brachte. Für die
Kolonialverwaltung war, soweit es sich um Administrativmaßregelu handelt,
keine Verlegenheit. Eine Summe von Hoheitsrechten war auf das Reich über¬
gegangen, und man konnte mit Fug und Recht sagen, daß bei dem Mangel
andrer Bestimmungen der Kaiser als das höchste Organ des Reiches zur Aus¬
übung dieser Rechte berufen war. Allein zweifelhaft konnte es schon sein, wie
weit ohne gesetzliche Ermächtigung die in den Schutzgebieten lebenden Reichs-
migehörigcn jener absoluten kaiserlichen Herrschaft zu unterwerfen waren, und
noch zweifelhafter, wie ohne Mitwirkung heimischer Gerichte eine rechtliche Or¬
ganisation herzustellen war. Diesen Zweifeln gegenüber war es wiederum un¬
zweifelhaft, daß eine gedeihliche Behandlung der Angelegenheit nicht an die
Form parlamentarischer Verfassung geknüpft werden durfte, daß die kaiserliche
Verwaltung volle Freiheit der Bewegung haben mußte und weder durch eine
Mitwirkung des Bundesrates noch durch eine Zustimmung des Reichstags ein¬
geengt und beschränkt werden durfte.
Von diesem Gesichtspunkte ans legte die kaiserliche Regierung mit Beginn
der gegenwärtigen Session dem Bundesrate einen Gesetzentwurf vor, wonach die
Ausübung der Gerichtsbarkeit in den Schutzgebieten, die Mitwirkung der in¬
ländischen Behörden hierbei und die zur Anwendung kommenden Vorschriften
des bürgerlichen Rechts und Strafrechts durch kaiserliche Verordnung geregelt
werden sollten. In der Begründung zu diesem Entwurf war der Gedanke aus¬
gesprochen, daß die Regelung der Verhältnisse in den Kolonien ausschließlich
durch kaiserliche Verordnung getroffen werden könnte, und daß nur vorliegenden
Falls wegen Mitwirkung der inländischen Gerichte der Weg der Gesetzgebung
der empfehlenswertere wäre. Überdies konnte die Negierung auf die Vorgänge in
den alten Kolonialstaaten hinweisen, in welchen ausnahmslos der Grundsatz der
unbeschränktesten Freiheit der Exekutive gilt. Selbst das englische Parlament,
welches eifersüchtig jede Angelegenheit von Bedeutung an sich zieht, hatte wegen
der Eigenartigkeit der Verhältnisse in den Kolonien davon abgestanden, auch
über diese ein Kontrvlrecht zu üben.
Wer noch zweifelhaft war über die außerordentlichen Rückschritte, welche der
nationale Gedanke seit fünfzehn Jahren gemacht hatte, der konnte sich davon im Laufe
des weitern Ganges durch einen Vergleich dieser Verhandlungen mit denen, welche
dereinst über die Einverleibung von Elsaß-Lothringen stattfanden, leicht überzeugen.
Die Blätter, welche von dem Abgeordneten I)r. Windthorst ihre Parole
empfangen, fielen wie eine Meute über den Entwurf her, indem sie einerseits
das föderalistische Prinzip der Reichsverfassung und die Rechte des Bundesrath,
anderseits die konstitutionellen Befugnisse des Reichstags für gefährdet erklärten.
Der letztere Gedanke wurde von den Blättern fortschrittlicher Färbung mit Leb¬
haftigkeit aufgegriffen und in allen Tonarten variirt. Auf die sachliche Be¬
handlung des Gegenstandes wurde nicht eingegangen; es schien, als ob bei diesem
höchst unschuldigen Gesetze das ganze Verfassungsrecht des deutschen Reiches auf
dem Spiele stehe.
Was war natürlicher, als daß zunächst der Bundesrat feine eigne Mitwirkung
in den Entwurf brachte und denselben dahin amcndirte, daß die kaiserliche Regelung
der vorliegenden Materie nur mit Zustimmung des Bundesrath erfolgen sollte.
Im Reichstage aber wurde Vonseiten des Zentrums, des Fortschritts und der
Sozicildemvkratie der Ruf laut, daß der Reichstag uicht schlechter gestellt werden
dürfe als der Bundesrat, und so verlangte die bekannte Mehrheit der Volks¬
vertretung außerdem noch die Zustimmung des Reichstages. Es liegt auf der
Hand, daß eine solche Forderung mir von denjenigen gestellt werden konnte,
welche das Gesetz zum Scheitern bringen wollten. Denn auf einem Gebiete,
wo zunächst Experimente gemacht werden müssen, wo ein Wechsel in den er¬
lassenen Verordnungen unausbleiblich ist, wo die Verwaltung genötigt ist, schritt¬
weise vorzugehen, unvermeidliche Irrtümer zu berichtigen — aus eiueiu solchen
Gebiete den Apparat parlamentarischer Gesetzgebung zu verlangen, das heißt
eben nichts andres als die ganze Regelung der Angelegenheit hintertreiben.
Auch widerspricht es vollständig der Verfassung, wenn der Reichstag eine Gleich-
Stellung mit dem Bundesrate fordert, da letzterer nicht nur Faktor der Gesetzgebung,
sondern auch zur Mitwirkung bei der Exekutive berufen ist.
Unter diesen wenig günstigen Vorbedeutungen gelangte der Entwurf an
eine Kommission. Aus dem vorliegenden gedruckten Bericht derselben ergiebt
sich ein eigentümliches, für unser Verfassungsleben interessantes Bild. Die kon¬
servative und die nationalliberale Partei waren bereit, der Regierung die weitesten
Vollmachten zu geben, um die Sache zu fördern; sie bildete» aber zusammen
nicht die Mehrheit, und so waren sie genötigt, sich nach Bundesgenossen umzu¬
sehen. Als solche hatten sie nur die Wahl zwischen Zentrum und Fortschritt.
Das Zentrum befand sich unter sehr schwacher Führung; für diese gab es
ein does noirs: die Zulassung der Jesuitenmission, welche der Reichskanzler in
der Neichstagssitzung am 28. November 1885 mit Entschiedenheit zurückgewiesen
hatte. Das Zentrum forderte deshalb eine Bestimmung über die Kultusfreiheit
und glaubte die Bundesgenossenschaft der radikalen Parteien dadurch erwerben
zu können, daß gleichzeitig eine so ausgedehnte Mitwirkung des Reichstages
für die Kolonialgcsetzgebung gefordert wurde, wie sie nicht anders erreicht worden
sein würde, als wenn sofort die Reichsverfassung auf die Schutzgebiete ausge¬
dehnt worden wäre.
Der Fortschritt, welcher in seiner weniger schroffen Seite in der Kommission
vertreten war, widerstand diesen Lockungen offenbar in der richtigen Annahme,
daß ein Scheitern der Vorlage verzweifelte Ähnlichkeit mit der Ablehnung der
Dampfersubventiou und der dritten Direktorstelle für das Auswärtige Amt
habe» würde. Die Tendenz dieser Partei lag keinesfalls in einer Begünstigung
der Kolonialpolitik, als vielmehr in dem Bestreben, für die sich in den Schutz¬
gebieten aufhaltenden Neichsnngehörigen denjenigen Rechtsschutz zu erlangen,
den dieselben im Auslande unter der Jurisdiktion der Konsuln genossen. Da¬
neben erstrebten diese Mitglieder eine Gleichstellung zwischen Bundesrat und
Reichstag.
Von diesen verschiedensten Gesichtspunkten aus regnete es eine Fülle von
Anträgen, bis es endlich den Bemühungen der Mittelparteien gelang, eine
Formel zu finden, welche den verbündeten Regierungen die Möglichkeit bot,
eine gemeinsame Grundlage zu einer Verständigung herzustellen.
Zu spät sah das Zentrum ein, daß es eine falsche Politik getrieben hatte,
und daß die Verfolgung einer Angelegenheit vom Parteistandpunkte statt von
sachlichen Beweggründen anch einmal zum Nachteil der Partei ausfallen
kann. Vergeblich bot der Abgeordnete Dr. Windthorst seine alten Taschcu-
spielerkünste auf, um die Parteien gegeneinander, den Bundesrat gegen den
Reichstag, die Mittelstaaten gegen Preußen zu verhetzen und das Gesetz zu
Falle zu bringen. Man merkte von allen Seiten die Absicht und hatte doch
Bedenken, daß der welfische Zentrumsführer verfassungstreuer und mehr für das
Wohl der deutscheu Bundesgenossen besorgt sein sollte als der Reichskanzler.
Die regierungsfreundlichen Parteien und der Fortschritt hielten diesmal gegen
das Zentrum zusammen Stand, und so kam es, daß die Kommissionsbeschlüsse
im Reichstage — hier auch wohl zur Freude mancher Zentrumsmitglieder, die
dem Abgeordneten Windthorst nicht aus eignem Triebe, sondern aus Not ge¬
horchen — und im Bundesrate angenommen wurden. Am 17. April 1886 hat
der Kaiser das Gesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutz¬
gebiete vollzogen.
Dieses Gesetz stellt einen weitern bedeutsamen Abschnitt in der Geschichte der
deutschen Kolonialpolitik dar. Wie bereits erwähnt, hat der Reichstag bisher nur
Pauschquanta zur Befriedigung der Geldbedürfnisfe für die Schutzgebiete be¬
willigt. Damit war der Charakter des Provisorischen noch immer nicht verlassen;
in den Augen des Auslandes wie in den Augen des deutschen Volkes mußte es den
Anschein gewinnen, als handle es sich um Versuche, die jeden Augenblick wieder
aufgegeben werden könnten. Durch das Gesetz ist zum erstenmale für die Schutz¬
gebiete etwas Endgiltiges geschaffen, es ist ein sicherer Rechtsboden für die
Verwaltung derselben gewonnen, es ist — wenn auch den Verhältnissen ent¬
sprechend nur lose — doch immer ein Band zwischen dem Reiche und seinen
auswärtigen Besitzungen hergestellt.
Auch für das innere Staatsrecht des Reiches ist das Gesetz nicht ohne
Bedeutung; gegenüber den mehr zentrifugalen Richtungen der letzten Jahre ist
hier wieder einmal dem Kaiser gegeben, was des Kaisers ist. Es ist zum Aus¬
druck gelangt, daß der deutsche Kaiser der erbliche Träger der beim Reiche be¬
ruhenden Souveränität ist, und an dieser Sanktion scheiterten auch die Be¬
mühungen des Abgeordneten Dr. Windthorst, der den deutschen Kaiser zu dem
Präsidenten eines Bundes machen wollte, welchem nur widerruflich gewisse Vor¬
rechte erteilt sind.
Inhaltlich steht das Gesetz in einem Gegensatze zu seiner Form insofern,
als die Gewichtigkeit des Inhalts mit der Kürze der Form wächst. Es in
Kraft treten zu lassen, was noch verschiedne und eingehende Erwägungen der
kaiserlichen Regierung erfordert, ist kaiserlicher Verordnung vorbehalten.
Vorbildlich für die Vorschriften war das Gesetz über die Konsulargerichts-
barkeit vom 10. Juli 1879, welches iusoferu auf die Schutzgebiete für anwendbar
erklärt wurde, als die besondern Verhältnisse derselben nicht Abweichungen er¬
fordern. Wie in den Kvnsularbezirkeu des Reiches, sollen auch in den Schutz¬
gebieten die privatrechtlichen Bestimmungen der Reichsgesetze und des preußischen
Landrechts, das Strafrecht, die Prozeßordnungen und die Gerichtsverfassung
Geltung erlangen. Doch erstrecken sich die Bestimmungen des Gesetzes nicht
bloß auf Neichsangehörige, sondern auf alle Personen, welche sich in den
Schutzgebieten aufhalten, auf die Eingebornen jedoch nur nach Maßgabe der
Rechte, welche das Reich durch die Verträge mit den Häuptlingen erworben hat.
Besondre Abweichungen von dem 5l!onsularge>.ichtsbarkeitsgesetze sind namentlich,
daß dem mit der Gerichtsbarkeit beauftragten Beamten ein weiteres lokales
Strafverordnungsrecht eingeräumt ist; er kann in unbeschränkter Höhe Geld¬
strafen festsetzen und Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten. Während ferner
in den Konsulargerichtsbezirken Schwnrgcrichtsfälle nicht zur Aburteilung ge¬
langen können, ist eine solche sür die Schutzgebiete unter gewissen Kautelen
vorgesehen. Es ist ferner die Möglichkeit gegeben, in bürgerlichen Rechtsstreitig-
keiten als zweite und letzte Instanz nicht das Reichsgericht, sondern das Hansea¬
lische Oberlandesgericht oder ein Konsnlargericht zu bestellen. Soweit nämlich
vorzugsweise hanseatische Kaufleute in ihren Unternehmungen bei den Schutz¬
gebieten beteiligt sind, entspricht es ihren Bedürfnissen, daß sie das letzte Gericht
in ihrer Heimat haben; soweit die Interessenten der Südsee in Betracht kommen,
wird es für diese bequemer sein, wenn ein Konsnlargericht in der Nähe die
letzte Entscheidung hat. Es ist sodann in Aussicht genommen, gewisse Vor¬
schriften der Neichsjustizgesetze, die auch in der Heimat wenig Beifall gefunden
haben, von deu Schutzgebieten auszuschließen, in denen alle Voraussetzungen
für ihre Anwendung fehlen. So soll der Anwaltszwang wegfallen, das Zu-
stellungs-, Vvllftreckungs - und Kosteuweseu entsprechend vereinfacht werden.
Endlich regelt sich die Eheschließung und die Beurkundung des Personenstandes
für alle Personen außer den Eingebornen nach dem Gesetze vom 4. Mai 1870
über die gleichen Verhältnisse der Neichsangehörigen im Auslande. Die hierzu
erforderliche kaiserliche Verordnung ist für Kamerun und Togo bereits unter
dem 21. April 1886 ergangen.
Das Schwergewicht für die Fortentwicklung der Schutzgebiete liegt aber
in dem § 1 des Gesetzes: „Die Schutzgewnlt in den deutschen Schutzgebieten übt
der Kaiser im Namen des Reiches ans." Dies war der viclnmkämpftc Angel¬
punkt des Gesetzes, und seine Annahme bedeutet deu Sieg des nationalen Ge¬
dankens und der Sachlichkeit gegenüber dem Partikularismus und dem Fraktions¬
geist. In dieser Vorschrift ist eine doppelte Seite enthalten, indem einmal
ausgesprochen ist, daß die oberste Exekutive in den Händen des Kaisers beruht,
und sodann, daß die Gesetzgebung, abgesehen von den durch das Gesetz selbst
festgestellten Bestimmungen, vom Kaiser allein ausgeübt werden soll. Hiernach
ist der Kaiser der absolute Herrscher in den Schutzgebieten, mir mit dem Unter¬
schiede von andern absoluten Staatsgebilden, daß die Souveränität ihre Be¬
schränkung findet in den vertragsmäßigen Rechten der Eingebornen. Deshalb
ist die Oberhoheit des Kaisers auch nicht als Souveränität — wie in Elsaß-
Lothringen — sondern als Schutzgewalt bezeichnet.
Mit diesen weitgehenden Befugnissen ausgerüstet, wird es der Exekutive
möglich sein, die ihr obliegenden Aufgaben zu erfüllen. Die Reichsangehörigen
und die Angehörigen andrer zivilisirter Nationen haben alle Garantien, welche
die moderne Staatslehre für die persönliche Freiheit und Bewegung der Staats¬
bürger erfordert. Den Eingebornen gegenüber hat die Exekutive den ihr »ach
den Verträgen gegebnen freien Spielraum; sie wird allmählich die Eingebornen
zur Zivilisation hinüberleiten können und ihnen jeder Zeit die volle Autorität
zur Geltung zu bringen imstande sein. Es wird die Zeit nicht ausbleiben, in
welcher anch Rechtsvorschriften für die Urbewohner der Schutzgebiete erlassen
werden können, und das Gesetz selbst gestattet, daß bei Prozessen der erster»,
in welchen diese als Beklagte oder Beschuldigte beteiligt sind, ein Gericht in den
Schutzgebieten die letzte Instanz bildet. Es ist aber auch die rechtliche Grund¬
lage gewonnen, um die Verhältnisse der großen Kolonisationsgesellschaften end-
giltig zu regeln.
In der dürren Wüste der Partcikcimvfe der letzten Jahre bildet das vor¬
liegende Gesetz eine erquickende Oase; es bietet einen neuen Beweis dafür, daß
ein großer nationaler Gedanke die Parteien auch wider ihren Willen mit sich
fortreißt und daß der Terrorismus derselben doch noch einen Widerstand findet,
wenn das Volk in seiner Mehrheit die Ziele der Zeit besser zu erfassen versteht,
als die ihm aus Parteirücksichten aufgezwungenen Vertreter.
ur die Veröffentlichung der Jugendbriefe von Robert Schu¬
mann, nach den Originalen mitgeteilt von Klara Schu¬
mann (Leipzig, 1885) gebührt der verehrten Herausgeberin der
wärmste Dank. Zwar umfaßt die Briefsammlung nur die Zeit
vom achtzehnte» bis zum dreißigsten Lebensjahre Schumanns —
bis zu seiner Vereinigung mit Klara Wieck; aber sie ist trotz mancher Auslassungen
reichhaltig genug, um diesen Abschnitt seines Lebens nunmehr vollkommen durch¬
sichtig erscheinen zu lassen. Im Vorwort ist mit Recht gesagt, daß die Welt
bisher „mehr von Schumanns Eigenheiten als von seinen Eigenschaften wisse";
umso freudiger ist die Veröffentlichung dieser Briefe zu begrüßen, die „den
ganzen Reichtum einer ideal angelegten, mit Kraft und Energie ausgestatteten
und den höchsten Zielen zustrebenden Jüngliugsnatur offenbaren." Herzerquickend
strahlt aus ihnen die schöne Menschlichkeit, der wahrhaft reine und edle Charakter
des reichbegabten Künstlers hervor.
Niemand aber wird diese Briefe mit größerer Freude begrüßt haben als
diejenigen Verehrer N. Schumanns, welche mit mir der Ansicht sind, daß eine
„Biographie" Schumanns erst noch geschrieben werden müsse. Die unter diesem
Titel 1858 (zwei Jahre nach Schumanns Tode) veröffentlichte, 1869 und 1880
erweiterte Schrift Wasielewskis ist als eine Vorarbeit zu betrachten, die neben
vielem Dankenswerten doch auch manche schwache Partien aufweist. Unter
den Schumann-Verehrern^) ist man lange darüber einig, daß Wasielewskis
Schrift, was Gründlichkeit in der Aufsuchung, Durchforschung und Sichtung
des Materials, was Sorgfalt der Darstellung, was insbesondre eine tiefere
Erfassung von Schumanns Individualität und gerechte Würdigung seiner
künstlerischen Bedeutung betrifft, den an ein wissenschaftliches Werk heutzutage
zu stellenden Anforderungen nur in geringem Grade entspricht. Freilich war es
auch bis jetzt nicht möglich, ein allen Anforderungen genügendes Lebensbild
Schumanns hinzustellen, da der wichtigste Teil des Materials — im Besitze
der Frau Klara Schumann — dem Verfasser verschlossen blieb.
Unsre Kenntnis von Schumanns Jugend- und Schulzeit ist schon durch
einen im Sommer 1833 veröffentlichte!, Aufsatz von Max Kalbeck: „Aus
N. Schumanns Jugendzeit"^) wesentlich erweitert worden. Diese wertvolle, mit
Benutzung von Schumanns handschriftlichen Nachlaß verfaßte biographische
Studie stellt ganz neue Gesichtspunkte auf und wird dem zukünftigen Biographen
Schumanns als Grundlage für seine Jugendgeschichte zu dienen haben. Im
Gegensatz zu Wasielewskis Behauptung, daß Schumann einer „nichts weniger
als musikalischen Familie entsprossen," und daß speziell die Mutter „ohne alles
Interesse für Musik" gewesen sei, zeigt Kalbeck, daß Schumann sein musikalisches
Talent gerade von der Mutter geerbt hatte."^) „Die Mutter, obwohl sie keine
Note lesen konnte, war eine gruudmusitalische Natur; von ihren Freunden
scherzweise »das lebendige Arienalbum« genannt, sang sie mit dem Knaben alle
ihre Lieder durch und war von dem guten Gehör und treuen Gedächtnis des
Kleinen so überrascht, daß sie darauf bestand, Robert müsse so früh als möglich
Musikunterricht nehmen." Sie war nur dagegen, als Schumann sich später
ausschließlich der Musik widmen wollte. Wenn Wasielewski ferner die Mutter
als eine Frau bezeichnet, die „keine über das Maß des Gewöhnlichen hinaus¬
gehende Bildung" gezeigt habe, so gewinnt der Leser aus den jetzt veröffent¬
lichen Briefen des Sohnes an sie ein durchaus andres, und zwar ein entschieden
vorteilhafteres Bild von ihr.
Schumanns Briefe an seine Mutter atmen nicht allein eine rührende kindliche
Liebe, sie bezeugen auch die hohe Verehrung, die er vor ihren Geisteseigen¬
schaften hatte. „Deine Briefe sind so geistvoll, wie du selbst, und ein schöner
Krystallspiegel deiner Seele, der das kindliche Herz erleuchtet und erwärmt,"
schreibt er ihr als Leipziger Student. Ein Jahr später aus Heidelberg: „Dein
herrlicher Brief ist in meinen Händen. Ich bekam ihn in der Dämmerstunde,
die mir die liebste im ganzen Tage ist, als eben Rosen hereintrat. Wie ich
diesem ihn vorgelesen hatte, sagte er schüchtern-freudig zu mir: Auf solch eine
Mutter kannst du stolz sein. Rosen, antwortete ich darauf, wir beide müssen
noch viel im Leben dulden und tragen, ehe wir mit solcher Ruhe und Würde
einen Brief schreiben können und mit solchem Geiste, der schon über dem Leben
und den Menschen steht. Das lebenswarme, heitere Gedicht am Ende machte
unsre Freude erst recht vollkommen, und wir sprachen den ganzen Abend hindurch
von dir und von hohen Menschen, sodaß ich ihm nach und nach deine ganzen
Briefe vorlas, die sich alle in Geist, Würde, Charakter und Stil gleich stehen."
Als Schumann 1834 die Mutter um ihre Beurteilung des Prospekts zur
„Neuen Zeitschrift" bat, schrieb er: „Deine Bemerkungen habe ich immer für
sehr sein und treffend, in Sachen, die dir fremder waren, wenigstens das Nichtige
ahnend, gehalten." Hätte sie nur eine gewöhnliche hausbackene Bildung genossen,
so würde er sie wohl auch schwerlich zu einer Korrespondenz mit Thibaut auf¬
gefordert haben.
Die Jugendbriefe Schumanns beginnen mit vier Schreiben des Zwickaner
Primaners an seinen damals schon in Leipzig studirenden Freund Flechsig.
Sie sind ganz und gar Jean-Paulisch wie alles, was Schumann damals
schrieb. Im Verlauf der nächsten Jahre kann man beobachten, wie er sich
nach und nach von der Nachahmung seines Ideals freimacht, nicht instinktiv,
sondern mit klarem Bewußtsein. Er spricht das geradezu gegen seine Braut
aus, als sie ihn einmal Jean Paul II. und Beethoven II. genannt hattte:
„Nenne mich beileibe nicht mehr Jean Paul den Zweiten oder Beethoven
den Zweiten; da könnte ich dich eine Minute lang wirklich hassen; ich will zehn¬
mal weniger sein als andre, aber nnr für mich etwas." Auf seine innere
Klärung und Festigung ist ohne Zweifel das Studium Goethes mit von Einfluß
gewesen. Ostern 1828, nach abgelegter Maturitätsprüfung, schreibt er: „Jenn
Paul nimmt noch den ersten Platz bei mir ein: und ich stelle ihn über alle,
selbst Schillern (Goethe» versteh' ich noch nicht) nicht ausgenommen." Goethe
hielt er „für schwerer als Klopstock." Erst in Heidelberg scheint er sich mehr
mit Goethe beschäftigt zu haben, und seit der Rückkehr nach Leipzig verlieren
sich in seinen Briefen mehr und mehr die Jean-Paulischen Überschwänglichkeiten.
1831 schreibt er seiner Mutter einen „herrlichen" Vers von Goethe, den sie
ihm „manchmal zuraunen soll." Die Schlußworte daraus zitirt er in der
Folge öfter in Briefen und in der Zeitschrift:
Heitern Sinn und reine Zwecke,
Nun — man kommt wohl eine Strecke.
Schon ein Jahr später drängt sich das Geständnis hervor: „Was hab' ich
doch Goethen zu verdanken!" Ein um Klara Wieck gerichteter Brief vom
28. August 1835 schlicht bezeichnend: „Es ist schön, daß ich Ihnen gerade an
Goethes Geburtstag schrieb." Dieser Hinweisung aus Goethes Geburtstag be¬
gegnet man in seineu spätern Briefen noch mehrfach. Er selbst scheint an eine
Einwirkung Goethes auch auf sein künstlerisches Schaffen geglaubt zu haben,
wie man aus seiner Äußerung schließen darf, daß „der Maler aus einer
Beethovenschen Symphonie ebenso gut lernen könne wie der Musiker von einem
Goethischen Kunstwerke.")
Schumann hatte ein ungewöhnliches Talent zum Briefschreiben. Da er
sehr rasch schrieb und sich ganz so gab, wie er war, so sind seine Briefe durch¬
aus treue Spiegelbilder seines Gemüts- und Gedankenlebens. Das gilt in
vollstem Maße von den Briefen an seine Mutter und an seine Braut, die in
der vorliegenden Sammlung weitaus deu größten Raum einnehmen. Es ist,
als wären die Briefe nicht geschrieben, sondern gesprochen, als kämen die Worte
unmittelbar von seinem Munde.
Ostern 1828 bezog der Achtzehnjährige die Universität Leipzig. Er
fühlte sich dort nicht sonderlich heimisch, was zum großen Teile seiner Abneigung
gegen das Studium der Rechtswissenschaft zuzuschreiben sein wird; die Kollegien
besuchte er, wie er offenherzig gesteht, „reget- und maschinenmäßig." Dagegen
schwelgte er in Musik; er nahm Klavierunterricht bei Wieck und sandte einige
selbstkomponirte Lieder an den Braunschweiger Kapellmeister Wiedebein, dessen
aufmunternde Worte ihn hoch beglückten. Ostern 1829 vertauschte er Leipzig
mit Heidelberg. Die Briefe von daher sind voll von Lebenslust und Frohsinn;
sogar das Ins schmeckt ihm bei Thibaut und Mittermayer „exzellent," was
freilich nicht lange anhielt. Schon nach einem halben Jahre schreibt er seiner
Mutter trauernd von seinem vernachlässigten Klavierspiel. „ Und doch glaube
mir, hätt' ich jemals etwas auf der Welt geleistet, es wäre in der Musik ge¬
schehen; ich habe in mir einen mächtigen Trieb für die Musik gefühlt, auch
Wohl schaffenden Geist, ohne mich zu überschätzen. Aber — Brotstudium! —
die Jurisprudenz verknorpelt und vereist mich noch so, daß keine Blume der
Phantasie sich mehr nach dem Frühlinge der Welt sehnen wird." Am 1. Juli
1830 folgt wieder eine leise Andeutung, daß ihn der Himmel „zu keinem Amt¬
manne geboren" habe, bis er dann vier Wochen später unumwunden gesteht,
er müsse die Jurisprudenz aufgeben und sich ganz der Musik widmen. Der
erschrocknen und ratlosem Mutter suchte er die Zweifel auch durch Hinweis auf den
(1826 gestorbnen) Vater zu benehmen; „denk' an den großen Geist unsers guten
Vaters, der mich srtth durchschaute und mich zur Kunst oder zur Musik be¬
stimmte." Da auch Wieck el» günstiges Urteil über seine Befähigung abgab
und vorschlug, daß er versuchsweise ein halbes Jahr bei ihm studiren solle, so
waren damit die Bedenken der Mutter einigermaßen zur Ruhe gesprochen.
Schumann traf Anfang Oktober 1830 wieder in Leipzig ein. Mit dem Be¬
suche juristischer Vorlesungen, die er auf den Wunsch seiner besorgten Mutter
weiter hörte, scheint es nicht lange gedauert zu haben. Aber mit wahrem
Feuereifer warf er sich nun auf das Klavierspiel, um sich zum Virtuosen aus¬
zubilden. Bekannt ist, daß er sich durch übertriebne Fingergymnastik eine
Lcihmnng des Zeigefingers der rechten Hand zuzog. Sein Plan war, nach
vollendetem Kursus bei Wieck seine Studien unter Hummels Leitung fortzu¬
setzen. Am 15. Dezember 1830 schreibt er der Mutter: „Ich warf neulich
den Plan wegen Hummel leicht und sorglos hin — er Wieck> ucchms aber
übel und fragte: ob ich Mißtrauen in ihn setzte oder wer? und ob er überhaupt
nicht der erste Lehrer wäre? Ich erschrak sichtbar über seinen übereilten Zorn,
aber wir sind wieder freundlich und er behandelt mich lieb wie sein Kind."*)
Theoretischen Unterricht nahm Schumann bei Heinrich Dorn. Er erfuhr
bei diesem den guten Einfluß strenger Studien. In den Kunstanschauungen
beider scheint nicht immer Übereinstimmung geherrscht zu haben, und es ging
ohne kleine Differenzen nicht ab. „Dorn will mich dahin bringen, unter Musik
eine Fuge zu verstehen," schreibt Schumann einmal; allein er harrte ans und
war bis zur dreistimmigen Fuge gekommen, als Dorn plötzlich den Unterricht
abbrach. Schumann arbeitete nun privatim (nach Marpurgs Schriften) weiter,
ersuchte aber nach einiger Zeit Dorn, ihm noch die Lehre vom Kanon vorzu¬
tragen. Es ist zweifelhaft, ob es dazu gekommen ist, denn im Herbste 1833
siedelte Dorn von Leipzig nach Riga über. Wenn Schumann, von dem „grünt-
lichen und sichern Lehrgang" Doms überzeugt, diesem schrieb, „er sehe auch das
durch und durch Nützliche der Theorie ein, da Falsches und Schädliches nur
in Übertreibung oder verkehrter Anwendung liege," so braucht die einfache
Wahrheit dieser Äußerung nicht weiter kommentirt zu werden, Sie fordert aber
zu einer Bemerkung über den Schumann-Biographen heraus, der einen
der Grundzüge in Schumanns künstlerischer Natur vollständig verkennt.
Wenn man Wasielewski glauben wollte, so müßte Schumann wirklich recht
dilettantische Begriffe von der Notwendigkeit theoretischer Studien gehabt haben.
Aber ist es denkbar, daß derselbe Schumann, dessen poetisches Formgefühl schon
so frühzeitig ausgebildet war, später in der Musik sich einem flachen Natura-
lismus hingegeben haben sollte? Aus schriftlichen Äußerungen Schumanns,
aus seinen Briefen und Kritiken ist das auch nickt entfernt zu erweisen; am
überzeugendsten wird es aber durch seine ersten Kompositionen widerlegt, die
reich an harmonischen und rhythmischen Feinheiten, teilweise auch in der Form
tadellos sind, was alles doch nicht nur aus glücklichem Instinkt hervorzugehen
pflegt. In der That arbeitete Schumann unausgesetzt an seiner theoretischen
Ausbildung und nutzte je nach Gelegenheit bald Lehrer, bald Bücher aus; am
meisten freilich richtete sich sein Augenmerk auf das, „was sich aus keinen
Büchern, sondern nur im steten Verkehr mit Meistern und Meisterwerken und
durch Vergleichung zwischen diesen und den eignen Leistungen lernen läßt,"
Bachs „WohltemperirteS Klavier" war schon seit 1828 sein tägliches Studium,
die Fugen hatte er der Reihe nach „bis in ihre feinsten Zweige zergliedert"
(Brief an Kuntsch); Beethoven und Schubert wußte er auswendig — konnte
denn das alles ohne nachhaltige Wirkung geblieben sein? Der Biograph freilich
sieht als ausgemacht an, das; das Selbststudium Schumann „nicht viel Nutzen
gebracht haben" könne, und klagt wiederholt über seine „zu spät begonnenen
Studien," speziell über seine mangelhafte Beherrschung der Formen; allein es
wäre doch wohl richtiger gewesen, wenn er versucht hätte, die Bedeutung der
Jugendwerke zu entwickeln, statt nur so obenhin seine Zufriedenheit oder Un¬
zufriedenheit mit Schumanns Kompositionen kundzugeben/')
Nach Dorns Abgang von Leipzig beschäftigte sich Schumann mit Partitur¬
lesen und Jnstrumentation, komponirte auch einen eignen Symphoniesatz. Dabei
machte sich die Notwendigkeit gründlicher Unterweisung in der Jnstrumentinmg
fühlbar, sodaß Schumann den Musikdirektor G. W. Müller svielmchr Christian
Gottlieb Müller?^ brieflich um seinen Unterricht anging. Ob es wirklich dazu
gekommen ist, erfahren wir nicht.
Die nnn folgende Zeit verging Schumann unter anregenden Arbeiten und
in glücklicher Stimmung, bis ihn im Herbst 1833 ein herber Schlag niederwarf:
der Tod seines Bruders Julius und seiner jungen Schwägerin Rosalie. „Ich
habe keinen Schmerz gekannt (schreibt er) — nun ist er gekommen, aber ich
habe ihn nicht zerdrücken können, und er hat's mich tausendfach." Nach und
nach gewann er aber wieder Ruhe und Thatkraft, woran der neugewonnene
Freund L. Schunde und die neugegründete, alle Kräfte anspannende Musikzeitung
wesentlich Teil gehabt haben werden. In den Sommer 1834 fällt sein Verlöbnis
mit Ernestine v. Fricker, das aber nach Verlauf vou etwa einem Jahre wieder
gelöst wurde. Doch scheint ein freundliches Verhältnis zwischen beiden fortbe¬
standen zu haben, da Schumann im Jahre 1841 — also nach seiner Verhei¬
ratung — der nunmehrigen „Frau Gräfin Ernestine v. Zedtwitz" ein Liederheft
idie „Löwenbraut" enthaltend) widmete.
Zu Klara Wieck stand Schumann schon von früh an in einem herzlichen
Freundschaftsverhältnisse. Aus seinen ersten reizenden Briefchen an die damals noch
im Kindesalter stehende ersieht man, wie hoch er von ihrem Talent dachte, und
welche innige Freude er an dem kindlichen Wesen seiner Freundin hatte. „Klara
rennt und springt und spielt wie ein Kind und spricht wieder einmal die tief¬
sinnigsten Dinge. Es macht mir Freude, wie sich ihre Herzens- und Geistes¬
anlagen jetzt immer schneller, aber gleichsam Blatt für Blatt, entwickeln" — so
schildert er sie seiner Mutter. Einmal schreibt er der dreizeh»zal,rigen Klara,
die sich aus einer Konzertreise in Frankfurt befand: „Ich denke oft an Sie, nicht
wie der Bruder an seine Schwester oder der Freund an die Freundin, sondern
etwa wie ein Pilgrim an das ferne Altarbild"; etwas weiter kommt nach einigen
ernsthaften Mitteilungen plötzlich die Frage: „Wie schmecken denn die Aepfel
in Frankfurt?"
Schumanns tiefe Herzensneigung zu Klara Wieck wuchs still und stetig;
Anfang des Jahres 1836 — am 4. Februar starb seine Mutter — kam es
zu einem Aussprechen nud zu einer Verständigung der beiden. „Wir sind vom
Schicksal schon für einander bestimmt, schon lange wußte ich das, aber mein
Hoffen war nicht so kühn, dir es früher zu sagen und von dir verstanden zu
werden," schrieb er hernach unterm 13. Februar an Klara. In seiner Hoffnung,
die Zustimmung des Vaters zu gewinnen, winde er aber so vollständig getäuscht,
daß er zuletzt resignirte.
Mit dem eben erwähnten Briefe schließt der erste Teil der Jugendbriefe.
Der zweite, mit der Aufschrift „Auszüge aus Briefen an Klara Wieck," stellt
einen neuen Abschnitt in Schumanns Leben dar: das erneuerte Verlöbnis mit
Klara, und beider Kampf um Erreichung des Zieles, ihre endliche Verbindung.
Am 13. September 1837, Klaras Geburtstag, wagte Schumann auf Zureden
seiner Braut den entscheidenden Schritt: er bewarb sich schriftlich bei Wieck um
die Hand feiner Tochter. Die Autwort war gänzlich entmutigend, „so zweifele
haft ablehnend und zugehend, daß ich nun gar nicht weiß, was ich anfangen
soll; gar nicht," schreibt er an seinen treuen Freund F. A. Becker. Das Ver¬
hältnis Schumanns zu Wieck, der zunächst nnr die unsichere Existenz Schu¬
manns als Weigerungsgrund angegeben zu haben scheint, verschlimmerte sich
allmählich, da bei Wieck immer unverhüllter eine feindselige Gesinnung gegen
Schumann zu Tage trat, die sich sowohl in geringschätzigen Urteilen über seine
bisherigen Leistungen, als auch in übertriebenen Anforderungen an die zukünf¬
tigen äußerte.
Schumanns Unwille war gerechtfertigt genug. Es kamen ihm allerlei höh¬
nische Äußerungen Wiecks zu Ohren, wie: „Kein Mensch laufe ja seine Komposi¬
tionen," oder: „er solle nur erst 'mal eine Symphonie zustande bringen," oder:
„wo denn sein Don Juan, sein Freischütz wäre?" Einmal hatte Wieck ihn als
phlegmatisch bezeichnet; das brachte ihn auf, und er schrieb an Klara: „Dein
Vater nennt mich phlegmatisch? Carnaval und phlegmatisch! 1'i8-NvI1-Sonate
und phlegmatisch! Liebe zu einem solchen Mädchen und phlegmatisch! Und das
hörst du ruhig an?" Noch eine andre Äußerung erregte seine Entrüstung; es
ist gleichgültig, ob sie von Wieck oder einem andern herrührt, denn nnr Schu¬
manns Zurückweisung derselben interessirt uns. „In Prag soll ich gesagt haben:
»eine Mozartsche Li-inoU-SymPhonie mache ich im Traum« — das hat ein Lügner
ersonnen. Du kennst meine Bescheidenheit gegen alles, was Meister heißt."
Daß Schumann und Wieck in ihren Knnstanschannngen erheblich von ein¬
ander abwichen, zeigte sich schon 1831, als Schumann den Unterricht bei Wieck
einstellte, um sich Hummel anzuvertrauen. 1833 schreibt er seiner Mutter, daß
er mit Wieck zwar täglich befreundeter werde, aber „wenig Aussicht habe, in
seiner Knnstnnsicht je mit ihm zusammenzutreffen." Wieck bezeichnete Schumann
gern als seinen „Schüler," »och im Jahre 1835. Später freilich änderte sich
das, und er behauptete auch seiner Tochter gegenüber: in Schumanns Kompo¬
sitionen sei „keine Melodie," worauf sie erwiederte: aber es sei ja „überall
Melodie."*) (Nach Frau Schumanns eigner Mitteilung.)
Ich muß mich darauf beschränken, über den weitern Verlauf von Roberts
und Klaras sturmvoller Brautzeit nur kurz zu berichten^ Wiecks Widerstand
gegen die Verheiratung verschärfte sich so sehr, daß eine Ausgleichung auf fried¬
lichem Wege zuletzt vollkommen aussichtslos war. Schumann sah sich gezwungen,
den Weg Rechtens zu betreten, Wiecks Weigerungsgründe wurden vom Gericht
verworfen, und so konnte denn endlich am 12. September 1840 die Heirat ge¬
schlossen werden. Noch kurz zuvor legten beide ein öffentliches Zeugnis ihres
Herzensbündnisses ab: Schumann widmete „seiner geliebten Braut" einen Lieder-
krcis, den er „Myrthen" nannte, Klara ihm ihr elftes Werk: Romanzen für
Pianoforte, die letzten unter ihrem Mädchennamen erschienenen Kompositioneis.
Während der letzten drei Jahre vermied Schumann es, in seiner Zeitschrift
über Klara zu schreiben (nur unter den vermischten Nachrichten ist sie einige
male kurz erwähnt), zuletzt in einem schönen Artikel über ihre „Soireen," am
12. September 1837, „dem Vorabend des Tages, der einer geliebten Künstlerin
das Leben gab," des Tages, an welchem er ihrem Vater seine Herzenshoffnungen
endlich kundzugeben wagte. Ein Jahr später feierte er sie uoch einmal durch
ein. „Traumbild," das am Abend ihres Konzerts am 9. September entstand,
in der Zeitschrift aber unter der verhüllenden Chiffre A. L. erschien.*)
Der Eindruck, den man von den Jugendbriefen Schumanns erhält, ist über¬
aus wohlthuend. Das Bild seiner Persönlichkeit wird durch eine solche Fülle
schöner Züge vervollständigt, daß es für den, der sie unbefangen auf sich wirken
läßt, unmöglich scheint, einen Mann von solchem Adel der Gesinnung, von
solcher Geradheit in seinem ganzen Verhalten und Thun nicht von Herzen lieb
zu gewinnen. Es würde zu weit führen, alle Einzelheiten des Buches zu be¬
sprechen ; nur einiges sei herausgehoben, was in diesen Selbstbekenntnissen Schu¬
manns den Kern seines Wesens Heller als bisher beleuchtet und namentlich
darthut, wie klar er über sich, seine Fähigkeiten, auch über seine Fehler und
Eigenheiten dachte. Von der innigen Anhänglichkeit an die Seinigen ist schon
die Rede gewesen. Vor ihnen lag sein inneres und äußeres Leben offen da,
über alles, was ihn bewegte in Freud und Leid, sprach er sich rückhaltlos aus.
Fremden gegenüber war das anders, da zeigte er sich — in jüngern Jahren
nicht so auffällig wie später — oft wortkarg und gesellig ungewandt. Daß er
sich damit leicht Mißdeutungen aussetzte, wußte er. „Eine gewisse Schüchtern¬
heit vor der Welt kann ich nicht ganz verbergen; und es hätte wenig zu be¬
deuten, wenn ich manchmal gröber wäre." „Bei der iMaraj Novellv war ich
neulich einmal; wir sprachen französisch — ist doch kaum deutsch ein Wort aus
mir zu bringen, also blutwenig vom Allergewöhnlichsten." „Bin ich manchmal
still, so haltet mich nicht für mißvergnügt oder melancholisch; ich spreche wenig,
wenn ich in einen Gedanken, ein Buch, ein Herz recht versenkt bin." Schön
spricht er sich gegen Klara ans: „Noch möchte ich dir manches über mich und
meinen Charakter vertrauen, wie man oft nicht klug aus mir wird, wie ich oft
die innigsten Liebeszeichen mit Kälte und Znriickhaltnng annehme und oft gerade
die, die es am liebsten mit mir meinen, beleidige und zurücksetze. So oft habe
ich mich deshalb befragt und mir Vorwürfe gemacht, denn innerlich erkenne ich
auch die kleinste Gabe an, verstehe ich jeden Augenwink, jeden leisen Zug im
Herzen des andern; und doch fehle ich noch so oft in den Worten und in der
Form. Du wirft mich aber schou zu nehmen wissen und verzeihst gewiß.
Denn ich habe kein böses Herz und liebe das Gute und Schöne mit tiefster
Seele. Nun genug, es überkommt mich nnr manchmal, an unsre Zukunft zu
denken, und ich möchte, daß sich unsre Herzen offen fanden wie die von ein paar
Kindern, die kein Hehl haben voreinander." Höflichkcitsrcdensarten, leere Artig¬
keiten oder wohl gar Unterwürfigkeit gegen Höhere sind nie seine Sache gewesen,
„Ich bin sehr gern in vornehmen und adlichen Kreisen, sobald sie nicht mehr
als ein höfliches Benehmen von mir fordern. Schmeicheln und mich unauf¬
hörlich verbeugen kann ich freilich nicht, wie ich denn auch nichts von gewissen
Salvnfeinheiten besitze. Wo aber schlichte Küustlersitte geduldet wird, besage
ich mich wohl und weiß mich auch recht leidlich auszudrücken." „Hofluft ist mir
Stickluft." Eine andre Seite seines Wesens tritt in der Äußerung: „Ich bin
überhaupt oft recht ledern, trocken, unangenehm und lache viel inwendig" hervor:
schalkhafter Humor. Seine Reisebriefe sind voll davon. Auch was er (im De¬
zember 1830) seiner Mutter über die Komposition einer Oper Hamlet schreibt,
gehört dahin, die Mystifikation ist deutlich genug, da er sich als „unendlich
bleich und garstig aussehend" schildert. Schumann wäre wohl auch der letzte
gewesen, aus dem Dänenprinzen einen Opcrnhelden zu machen. Das in den
Briefen der ersten Jahre oft wiederkehrende Thema „Geld" variirt der zum
Sparen wenig geschickte Studiosus sehr verschieden — ernsthaft, wenn er sich
an seinen gestrengen Vormund wendet, höchst launig, wenn er seiner gutherzigen
Mutter etwas abschmeicheln möchte.
Überhaupt sind die Briefe als Selbstschilderungeu Schumanns ganz un¬
schätzbar, da man überall die Überzeugung gewinnt, daß sie auf vollster Wahr¬
haftigkeit beruhen. Schwerlich dürfte sein tiefstes Wesen anschaulicher und
wahrer gezeichnet werden können, als es von ihm selbst geschehen ist, vorzüglich
in den Briefen an Klara. Es ist wunderbar, wie der sonst so schweigsame
Maun in dem Augenblicke, wo er die Feder zur Hand nahm, seinen Gedanken
immer den treffenden und schönsten Ausdruck zu geben wußte. Von Verstellung
war ja keine Spur in ihm; hier aber, in den Briefen an feine Braut, liegt
seine ganze Seele offen und klar vor uns.
Ein gesteigertes Interesse erregen diejenigen Briefe, in denen er sich über
sein Schaffen überhaupt und einzelne seiner Werke ausläßt. Man kann nicht
klarer über sich urteilen, „Ich kann nur vier Ziele haben: Kapellmeister, Musik¬
lehrer, Virtuos und Komponist, Bei Hummel ist z, B, alles vereint. Bei mir
wirds wohl bei deu beiden letzten sich bewenden" (1831). Die spätere Zeit be¬
stätigte, daß ihm die eigentlichen Dirigenten- und Lehrergaben versagt waren.
Obwohl vou regem Lerntrieb beseelt, fühlte er sich doch von jeder Art schul¬
meisterlicher Pedanterie abgestoßen; im Grunde ist er immer Autodidakt gewesen.
In einem Briefe an die Mutter (1832) sagt er: „Du schreibst: »suche eiuen
würdigen Mann, der dich beurteilen kann, nähere dich ihm mit Vertraue» und
bitte denselben, dich zu leiten.« Ach, liebe Mutter! ich habe dies immer gethan, fand
aber, daß dann alles schief ging, noch dazu auf Kosten meiner Selbständigkeit; ich
folge meinem moralischen Instinkt, höre das Urteil erfahrungsreicher Männer
gewiß gern und bescheiden an, aber erkenne es nicht blindlings san^." „Ich muß
mich immer von einigen Menschen mit hinaufziehen lassen; unter Leuten meines
gleichen oder gar unter solchen, deuen ich kein Urteil über mich gestatten kann,
werd' ich leicht stolz und ironisch," „Ich halte die Musik noch sür die veredelte
Sprache der Seele; andre finden in ihr einen Ohreurausch, andre ein Rechen-
exempel und üben sie in dieser Weise aus. Du schreibst sehr richtig: »jeder
Mensch muß auf das Allgemeine, Nützliche hin wirken« — mir nicht auf das
Verflachende, setz' ich hinzu. Durch Steigen kommt man auf die Spitze der
Leiter, Ich möchte nicht einmal, daß mich alle Menschen verstünden,"
Den Mangel frühzeitigen systematischen Unterrichts einPfand Schumann
wohl, und er mag an seine eigne Jugend gedacht haben, wenn er (18 3?) einmal
die Künstler glücklich pries, die schon „im Kindestraum Regel und Gesetz ein¬
sogen," die schon „beim ersten erwachenden Bewußtsein sich als Glieder der große«
Familie der Künstler fühlten, in die andre sich oft erst mit so zahllosen Opfern
einkaufen müssen." Ähnlich spricht er sich 1838 gegen Klara Wieck aus in einem
Briefe, der nach mehreren Richtungen hin besonders interessirt: „Zu Mendels¬
sohn bin ich wenig gekommen, er wohl mehr zu mir. Er bleibt doch der
eminenteste Mensch, der mir bisher vorgekommen. Man sagt mir, er meine es
nicht aufrichtig mit mir. Es würde mich das schmerzen, da ich mir einer edeln
Gesinnung gegen ihn bewußt bin und sie bewährt habe. Sage mir es aber
gelegentlich, was du weißt; man wird dann wenigstens vorsichtig, und verschwende»
will ich nichts, wo mir etwa übel nachgeredet wird. Wie ich mich als Musiker
zu ihm verhalte, weiß ich aufs Haar und könnte noch Jahre bei ihm lernen.
Dann aber auch er einiges von mir. In ähnlichen Verhältnissen wie er auf¬
gewachsen, von Kindheit zur Musik bestimmt, würde ich auch samt und sonders
überflügeln — das fühle ich an der Energie meiner Empfindungen. Nun, jeder
Lebensgang hat sein besondres, und auch über meinen will ich mich nicht beklagen."
Das Freundschaftsverhältnis zwischen Schumann und Mendelssohn scheint
übrigens keinerlei Trübung erlitten zu haben. Acht Tage nach seiner Rückkehr
aus Wien schrieb Schumann von Leipzig aus an Klara: „Über Mendelssohn
muß man doch seine Freude haben, wenn man ihn nur ansieht; er ist der ver¬
ehrungswürdigste Künstler, und auch er hat mich recht lieb,"")
Ungemein anziehend sind die Briefe, worin er seiner Schaffensfreude Aus¬
druck giebt. Und wie schlagend chnrakterisirt er seine Musik! Wie merkwürdig
übereinstimmend mit dem Urteil der Nachwelt! Ruhig und anspruchlos, die
Verdienste andrer freudig und neidlos anerkennend, hatte er doch die richtige
Schätzung auch seines eignen Wertes. Als Klara sich einst darüber betrübt,
daß er so wenig Anerkennung fände, redete er ihr freundlich zu: „Fürchte dich
nicht, meine liebe Klara, du sollst noch erleben, daß meine Sachen zu Ansehen
kommen, und daß sie noch viel von sich sprechen machen werden. Ich habe kein
Bangen, und es wird auch noch immer besser werden »in sich selbst.«" Solch
zuversichtliche Worte finden sich nur in den Briefen an seine Braut, der er sein
innigstes Denken mit vollster Unbefangenheit aufdeckt. „Überhaupt sehe ich mit
Freuden (schreibt er im Februar 1838), wie sich meine Kompositionen hie und
da Bahn brechen — ich schreibe jetzt bei weitem leichter, klarer und — glaube
ich — anmutiger. Überhaupt ist es mir seit etwa anderthalb Jahren, als wäre
ich im Besitze des Geheimnisses; das klingt sonderbar. Vieles liegt noch in
mir. Bleibst du mir treu, so kömmt alles an den Tag; wo nicht, bleibts be¬
graben." Im März: „Ich habe erfahren, daß die Phantasie nichts mehr be¬
flügelt als Spannung und Sehnsucht uach irgend Etwas, wie das wieder in
den letzten Tagen der Fall war, wo ich auf deinen Brief wartete und nun
ganze Bücher voll komponirte — Wunderliches, Tolles, gar Feierliches — da wirst
du Augen machen, wenn dn es einmal spielst; überhaupt möchte ich jetzt oft
zerspringen vor lauter Musik. Und daß ich es nicht vergesse, was ich noch
komponirte — war es wie ein Nachklang von deinen Worten, wo du mir einmal
schriebst, »ich käme dir mich manchmal wie ein Kind vor« — kurz, es war mir
ordentlich wie im Flügelkleide und hab' da an die dreißig kleine putzige Dinger
geschrieben, von denen ich etwa zwölf ausgelesen und Kinderszenen genannt habe.
Du wirst dich daran erfreuen, mußt dich aber freilich als Virtuosin vergesse».
Das siud denn Überschriften wie „Fürchten-machen," — „Am Kamin," —
„Haschemann," — „Bittendes Kind," — „Ritter vom Steckenpferd," — „Von
fremden Ländern," — „Kuriose Geschichte" ?c. und was weiß ich. Nun, man
sieht alles, und dabei sind sie leicht zum Blasen." Einen Monat später, als
die Kreisleriana entstanden waren: „Meine Musik kömmt mir jetzt selbst so
wunderbar verschlungen vor bei aller Einfachheit, so sprachvoll ans dem Herzen,
und so wirkt sie auf alle, denen ich sie vorspiele, was ich jetzt gern und häufig
thue. Wann wirst du denn neben mir stehen, wenn ich am Klavier sitze — ach,
da werden wir beide weinen wie die Kinder — das weiß ich, das wird mich
überwältigen." Nachdem dann in demselben Briefe davon die Rede gewesen
ist, daß Klara in der Ehe manchmal Geduld mit ihm haben müsse, und daß
sie ihn wegen allerlei schelmischer Fehler oft „auszanken" werde, heißt es: „Nun
aber kann ich auch sehr ernst sein, oft tagelang — und das kümmere dich nicht —
es sind meist Vorgänge in meiner Seele, Gedanken über Musik und Komposi¬
tionen, Es affizirt mich alles, was in der Welt vorgeht, Politik, Literatur,
Menschen; über alles denke ich nach meiner Weise nach, was sich dann durch
die Musik Luft machen, einen Ausweg suchen will. Deshalb sind auch viele
meiner Kompositionen so schwer zu verstehen, weil sie an entfernte Interessen
anknüpfen, oft auch bedeutend, weil mich alles Merkwürdige der Zeit ergreift,
und ich es dann musikalisch wieder aussprechen muß. Darum genügen mir auch
so wenig sneuere^ Kompositionen, weil sie abgesehen von allen Mängeln des
Handwerks, sich anch in musikalischen Empfindungen der niedrigsten Gattung,
in gewöhnlichen lyrischen Ausrufungen herumtreiben. Das Höchste, was hier
geleistet wird, reicht noch nicht bis zum Anfang der Art meiner Musik. Jenes
kann eine Blume sein, dieses ist das umso viel geistigere Gedicht; jenes ein
Trieb der rohen Natur, dieses ein Werk des dichterischen Bewußtseins. Dies
alles weiß ich auch nicht während des Kvmponirens, und ^ kömmt erst hinter¬
her — du wirst wohl wissen, wie ichs meine, die du auf solcher Höhe der Leiter
stehst. Auch kann ich nicht darüber sprechen, wie überhaupt über Musik nur
in einzelnen Sätzen, aber ich denke wohl darüber nach — kurz, sehr ernst wirst
du mich zuweilen finden und gar nicht wissen, was du von mir denken sollst."
Daß seine Klavierkompvsitivncn zum Vortrage im Konzert wenig geeignet seien,
verhehlte er sich nicht. „Dn hast wohlgethan, meine symphonischen > Etüden
nicht zu spielen; das paßt nicht fürs Publikum, und dann wäre es lahm, wenn
ich mich hinterdrein beklagen wollte, es hätte etwas nicht verstanden, was sür
solchen Beifall nicht berechnet und nur um seiner selbst willen da ist. Ich ge¬
stehe aber auch, daß es mir große Freude machen würde, wenn mir einmal
etwas gelänge, daß, wenn du es gespielt hättest, das Publikum wider die Wände
rennte, vor Entzücken; denn eitel sind wir Komponisten, auch wenn wir keine
Ursache dazu haben." „Du spielst oft jenen, die noch gar nichts von mir
kennen, den Carnaval vor — wären dazu die Phantasiestücke nicht besser? Im
Carnaval hebt immer ein Stück das andre auf, was nicht alle vertragen können.
In den Phantasiestücken kann man sich aber recht behaglich ausbreiten — doch
thue nur, wie du willst! Ich denke mir manchmal, was dn als Mädchen selbst
bist, ansteht du an der Musik vielleicht zu wenig, nämlich das Trauliche, einfach
Liebenswürdige, Ungekünstelte. Dn willst am liebsten gleich Sturm und Blitz
und immer nur alles neu und nie dagewesen. Es giebt auch alte und ewige
Zustände und Stimmungen, die uns beherrschen. Das Romantische liegt aber
nicht in den Figuren und Formen; es wird ohnehin darin sein, ist der Kom-
ponist nur überhaupt ein Dichter. Am Klavier und mit einigen Kindcrszenen
wollte ich dir dies alles beweisen." Einmal meint er, daß sie beide in ihrem
Urteil oft weit von einander wären. „Das; wir uns darüber später ja keine
bittern Stunden machen! Wieder vorgestern fiel es mir ein, als ich über die
Ouvertüren von Berlioz und Bennett in der Zeitung schrieb, wo ich gewiß wußte,
daß du nicht mit mir einverstanden warst, und doch nicht anders konnte. Nun,
wir wollen uns schon gegenseitig von einander belehren lassen."
Schumanns unbestechlicher Wahrheitssinn verleugnet sich auch seiner Braut
gegenüber nicht. „Wie geht das nur zu (schreibt er ihr), daß dir gerade meine
Bekannten so wenig zusagen — das thut mir weh, ohne dir dadurch nahe treten
zu wollen —, aber du darfst dich auch uicht der bloßen Antipathie hingeben,
und mußt dir Rechenschaft ablegen, warum der oder jener dir nicht gefallen
will. Ich bin doch auch nicht verschwenderisch in Freundschaftsbezeugungen;
aber wo ich schöne Vorzüge sehe, die wahre ich fest, und ist der Künstler
nicht mein Freund, so soll es doch der Mensch sein, oder auch umgekehrt."
„Prümc^) schlage ich aber höher an als du. Klärchen, laß dir etwas
sagen: ich hab' oft gefunden, daß auf dein Urteil das persönliche Benehmen
viel Einfluß hat. Gestehe es! Einer, der es recht gut mit dir meint, dir zu
deinem Urteil beipflichtet, überhaupt jeder, der etwas Ähnlichkeit mit deinem
Bräutigam hat, steht bei dir gleich gut angeschrieben. Eine Menge Beispiele
wollte ich dir anführen. Da thust du aber manchem Unrecht, und das ist doch
sonst deine Art nicht. Ich wette, wenn Prümc einmal zu dir käme, sich eine
Zigarre anzündete und sagte: »nun spielen Sie mir einmal von den herrlichen
Novelletten ze.«, dn schriebst mir dann: »der Prüme ist doch ein prächtiger
Mensch und als Künstler doch schon auf einer sehr hohen Stufe ?e.« — Hab'
ich Recht?"
Es kann nicht meine Absicht sein, hier auf alle Einzelheiten in den Briefen
näher einzugehen; nur der bedeutungsvollen Zeit sei noch mit wenigen Worten
gedacht, wo Schumann in so erstaunlicher Schnelle jene wunderbare» Lieder
schuf, die allein schon seinen Namen unvergänglich erhalten würden. Man kann
nicht ohne Bewegung die herzigen Zeilen lesen, die er überglücklich und wie
atemlos seiner Klara sendet. „Seit gestern früh habe ich gegen siebenundzwanzig
Seiten Musik niedergeschrieben, etwas neues, von dein ich dir weiter nichts sagen
kann, als daß ich dabei gelacht und geweint habe. . . . Das Tönen und Musi--
ziren macht mich beinahe tot jetzt; ich könnte darin untergehen. Ach, Klara,
was das für eine Seligkeit ist, für Gesang zu schreiben; die hatte ich lange
entbehrt." Dies schreibt er am 22. Februar 1340 über die „Myrrhen"; der
„Liederkreis" von Heine war vorher entstanden. Drei Wochen später sendet er
die ersten gedruckten Lieder, die er sie „nicht zu start zu kritisiren" bittet. „Wie
ich sie komponirte, war ich ganz in dir. Ohne solche Braut kann man auch
keine solche Musik machen, womit ich aber dich besonders loben will." Die
zwölf Eichendorffschen Lieder folgten bald; aber diese hatte er „schon vergessen"
(schreibt er am 15. Mai), als er wieder mit neuen beschäftigt war. „Heute ist
Jubilate, und ich möchte jnbiliren und weinen durcheinander über so viel Glück
und Schmerz, das mir doch der Himmel zu trage» gegeben. Doch glaube nur
nicht, daß ich traurig bin. So Wohl, so rüstig fühle ich mich, alle Arbeit geht
mir so von der Hand, so glücklich bin ich in dein Gedanken an dich, daß ich es
dir nicht verheimlichen kann." „Ich kaun dich garnicht erwarten — auch daß
du mich von der Musik losreißest. . . . Nun sollte ich einmal aufhören und kann
doch nicht." In diesem letzten Briefe der Sammlung erwiedert er Klara, die
ihn gern auf einen „rechten' Fleck" hinhaben möchte: „Versteige dich nicht zu
hoch mit mir — ich wünsche mir keinen bessern Ort, als ein Klavier und dich
in der Nähe." Das ist der ganze Schumann! Im stillen Heim erblühte ihm
sein ersehntes Lebensglück, an der Seite der geliebten Gattin, der gleichgestimmten
hohen Künstlerin. Der Abglanz dieses Glückes strahlt uns aus „Frauen-Liebe
und -Leben," aus der L-Äur-Symphonie, dem Quintett und den Variationen
für zwei Klaviere entgegen.
Der reiche Inhalt von Schumanns Jugendbriefen ist in Vorstehendem mir
angedeutet. Die Leser dieser Blätter mögen nicht säume», das kostbare Buch
selbst zur Hand zu nehmen. Ein paar Ausstellungen, welche ich zum Schlüsse
noch mache, mögen einer neuen Auflage zu Gute kommen.
Der harmonische Eindruck des Buches wird etwas beeinträchtigt durch die
Briefe S. 156, 190, 221 und 224, die rein geschäftlichen Inhaltes sind und
daher vielleicht besser ausgeschieden worden wären. Auf den warmherzigen Ton
der Familienbriefe wirken sie etwas erkältend. Sieben Briefe sind bereits ander¬
weitig gedruckt, und zwar die S 116, 199, 258, 262 und 263 bei Wasielewski,
der S.'?8 in A. v. Meichsners „F. Wieck und seine Töchter,""') der S. 224
in meinen ,,Davidsbiindlern"; dagegen vermißt man ungern den schönen Brief
Schumanns an F. Wieck vom 21. August 1830, den Wasielewski gebracht hat.
Höchst wünschenswert ist eine Vermehrung der erläuternden Nachweise über die
in den Briefen erwähnten Personen :c. Es seien mir hier ein paar Nachträge
dazu gestattet. Die S. 85 genannte Maden. Emilie Reichel, mit der Schu¬
mann musizirt hatte (S. 33), war eine damals gern gehörte Konzertspielerin;
sie verlobte sich rin einem Leipziger Kaufmanne, Werner, der sich später in
Frankreich niederließ. Dem Briefe an Rellstab (S. 167) hatte Schumann die
soeben erschienenen „Papillons" beigelegt. Rellstabs Rezension derselben in der
Iris (1832, S. 83) war nicht für die Leser dieser Mnsikzeitung, sondern nur
für den Komponisten, an dessen Brief sie anknüpft, berechnet. Ihr Wieder¬
abdruck wäre notwendig gewesen, da Schumanns Dcmkcsbrief (S. 195) darauf
Bezug nimmt. Das auf S. 185 erwähnte „italienische Dörfchen" bildete die
Umgebung des alten Dresdner Theaters. Es hatte seinen Namen von einem
Komplex kleiner Hänser, welche bei Erbauung der katholischen Kirche durch
italienische Bauleute diesen zur Wohnung gedient hatten. Bei dem Bau des
neuen, 1841 eröffneten Theaters wurde der größte Teil der Häuser beseitigt.
Der auf S. 207 erwähnte Becker in Schneeberg — F. A. Becker — war
Jurist, etwas älter als Schumann und damals bereits verheiratet. Später
lebte er als Fiuauzsekretär — in der Widmung der Nachtstücke nennt ihn
Schumann „Bergschreiber" — in Freiberg. Die auf S. 213 erwähnten Ge¬
brüder Günz waren: Dr. Emil Günz (Buchhändler) und Studiosus Felix Günz.
Der Brief auf S. 216 bezieht sich auf Klara Wiecks drittes Werk: linn-me«
varivv, ävckivo n, Monsieur liobkrt LobumMn. Das Thema regte Schumann
zu seineu Impromptus op. 5 an. In Klara Schumanns Variationen über ein
Schumcmnsches Thema — zwanzig Jahre später geschrieben — taucht am
Schlüsse noch einmal diese Romanze, geistreich mit dem ^I»-ckur-Motiv kombinirt,
auf. S. 280 schreibt Schumann, daß in den Kreisleriana ein Gedanke von
Klara „die Hauptrolle spiele"; eine nähere Bezeichnung desselben wäre von Inter¬
esse gewesen. Bekanntlich hat Schumann mehreremale Motive von Klara Wieck
benutzt; beiläufig sei bemerkt, daß die Melodie in der achten Novellette „Stimme
ans der Ferne" einem Notturno von Klara Wieck (op. (i) entnommen ist.
An einigen Stellen glaube ich Lesefehler annehmen zu müssen, zu denen
Schumanns oft schwer zu entziffernde Handschrift so leicht Anlaß giebt. Ohne
die Originale eingesehen zu haben, kann ich für die folgenden Aenderungen freilich
nur innere Gründe geltend machen. Auf S. 108 ist offenbar zu lesen: „Die
Söhne des Prof. Krug und Gr. ^Grafj Hvhenthcil ans Leipzig" statt in.'")
Auf S. 252 lese ich: „Dem karge» Klavier." Der „ätherischen" Flöte wird
schwerlich das „kurze" Klavier entgegengestellt worden sein. Auf S. 161 muß
es wohl heißen: „ein heiteres, frommes, weiches (statt reiches) Lied"; anf
S. 271: „einen großen wichtigen (statt richtigen) Artikel."^') Das S. 222
gebrauchte Bild: „Es fehlt ein Hermann mit einem Lessing unterm Arm"
wendet um dieselbe Zeit auch Florestan an (vergl. „Denk- und Dichtbüchleiu"),
er sagt aber: „ein Hamann" ?c. Der Herausgeber des Sophokles (S. 3) heißt
nicht Ertnrdt, sondern Erfurt, der der Inskriptionen (S. 16) nicht Grüter,
sondern Gruter, Endlich vermißt mau schmerzlich eine Numeriruug der Briefe
und ein Register zum Nachschlage».
as europäische Konzert
, von dem wir so viel in der Tagespresse
lesen, ist ein recht eigentümliches Ding, das bisweilen wie ein
Unding aussieht und sicher etwas von dem Wesen gewisser Leucht¬
türme hat, deren Feuer nur zeitweilig zu erkennen ist. Auch an
den alten Proteus kann man dabei denken. Vor etwa acht Tagen
meldet uns der Telegraph, daß die Kollcktivuote der Mächte, die
Lord Roseberry angeregt hat und die ultimatischen Charakter haben soll, nu» in
Athen überreicht worden ist, und wir fragen uns: Nun denn, wir werden jetzt wohl
sehen, daß das Spiel der griechischen Großmannssucht zu Ende ist — oder auch
nicht? Gleich darauf kommt die weitere Meldung, daß ein Geschwader britischer,
deutscher, österreichischer, russischer und italienischer Kriegsschiffe in die Phalarun-
bucht (das Phalerou des Altertums, im Osten des Piräus) eingelaufen und am
selben Tage durch drei andre englische Dampfer verstärkt worden ist. Es wird
also, sagen wir uns, wirklich Ernst. Die Mächte haben solange mit Einsprüchen,
Ratschlägen, Vorstellungen und andern Werkzeugen aus der unerschöpflichen
Vorratskammer der Diplomatie Zeit verloren, daß wir mit Fug an der Mög¬
lichkeit, auf diesem Wege zum Ziele zu kommen, zweifeln durften und Erfolg
nur von Mitteln hofften, welche ihn unbestreitbar sichern mußten. Jetzt wäre
denn ein solches zur Anwendung gebracht. Das europäische Konzert ist eine
schöne Einrichtung, und was man anch daran aussetzen mag, so wird niemand
leugnen können, daß vor der Hand und vielleicht auf drei oder fünf Jahre die
Schwierigkeit auf der Balkanhalbinsel, die jüngste Phase der orientalischen Frage,
von dem berühmten Orchester hiuweggeblasen worden ist. Freilich haben aller
Ohren gleichzeitig den Eindruck, daß die Instrumente sich schwer zum Einklang
stimmen lassen, und daß in kritischen Augenblicken, wo die Musiker aus dem
Piano zum Forte übergehen sollen, gewöhnlich eine Saite reißt oder sonst etwas,
das zu harmonischem Zusammenspiele gehört, in Unordnung gerät. Seit mehreren
Monaten schon war ein Sextett in Vorbereitung, aber erst jetzt soll es zur
Ausführung kommen, weil einer oder mehrere von den Mitwirkenden über Ton
und Stil des Stückes andrer Meinung waren als die übrigen, und darüber erst
eine Verständigung zu gewinnen war. Jetzt scheint das erreicht zu sein, nach
langem Verhandeln ist man einig. Ton und Stil waren, wie anzunehmen, ur¬
sprünglich zu rauh für den hellenischen Geschmack des französischen Ministers
des Auswärtigen, der, vermutlich in Uebereinstimmung mit russischen Wünschen,
einen sanfteren Klang vorzog und empfahl, als Lord Roseberrh vorgeschlagen
hatte. Indes war ein Ultimatum, gleichviel, ob mild oder hart geformt,
immerhin ein Fortissimo, falls es nur entschlossen klang und wirklich das letzte
Wort sein wollte. Und so schien es auch zu wirke». Zunächst brachte es den
griechischen Kriegsminister, Oberst Mavromichalis, von den Ebnen Thessaliens,
wo die Söhne des Miltiades sich zu einem neuen Marathon aufgestellt hatten,
wieder einmal nach Athen zurück. Der tapfere Oberst hatte einige Tage vorher in
Area, wohin er „mit glänzendem Gefolge" abgegangen war, eine „feurige Rede"
gehalten (immer glänzend, immer redefertig, diese modernen Griechenhelden!),
war dann in Athen, betrübt, weil es friedlich auszusehen anfing, von seinem
Posten zurückgetreten, hatte, als das Kricgssieber wieder ausbrach, sein Amt von
neuem angenommen und hatte sich, selbstverständlich abermals „mit glänzendem
Gefolge," zu den Truppen an der Grenze zurückbegeben. Es fah aus, als
brächte er große Dinge mit, Pulverdampf und Blutvergießen, und in der That
gab es bei Platamvna ein oder zwei Dutzend Flintenschüsse von Norden und
Süden über die Grenze herüber, aber zuletzt Versöhnung; es war ein Mi߬
verständnis gewesen. Und jetzt kehrte Miltiades wieder um, wie es heißt, auf
Befehl des Königs, um sich das Ultimatum der Mächte vorlesen zu lassen.
Niemand konnte in diesem Augenblicke mit Bestimmtheit sagen, welche
Wirkung das Ultimatum haben würde; denn man durfte der griechischen Re¬
gierung Patriotismus in panhellenistischem Sinne, aber auch gesunden Menschen¬
verstand zutrauen; auch war bei der ganzen merkwürdigen Reihenfolge von
Ereignissen, die sich aus der vstrumclischen Revolution entwickelt hatten, eine
starke Strömung unter der Oberfläche zu bemerken, die sich gegen eine schleunige
Beilegung der Streitigkeiten richtete, welche jene Umwälzung hervorgerufen hatte.
Die Politiker, welche allein mit der Flut der öffentlichen Meinung zu schwimmen,
sich von deren Wellenkämmen tragen zu lassen schienen, sind sicherlich insgeheim
auch von auswärts gehalten, ermutigt und gelenkt worden. Hätten sie nicht
solchen Verlaß und Rückhalt gehabt, so wäre die Hartnäckigkeit, mit der sie
die Pforte zum Kriege herausforderten, rein unbegreiflich, wenn man sie nicht
mit dem gröbsten Größenwahne erklären wollte. So lange der bulgarische
Streit währte, erwarteten sie offenbar Ereignisse, welche die Türkei ablenken
und schwächen mußten. Ihre Aussichten verblaßten, als der Bukarester Friedens¬
vertrag abgeschlossen war und Serbien und Bulgarien abrüsteten. Aber die
Unterstützung, ans welche das Kabinet Delyannis sich verließ, wurde ihm noch
nicht entzogen, wenigstens ließ man die Griechen weiter darauf hoffen. Dies
zeigte sich, als König Milan, einer Laune, einer Berechnung oder einem Drucke
nachgebend, plötzlich Garaschcmin durch Ristitsch ersetzte — ein sehr bezeichnendes
Ereignis, das ein Wiederaufleben des russischen Einflusses in Belgrad verhieß
und Aussicht auf größere Dinge zu passender Zeit eröffnete. Serbien machte
einen Augenblick Front gegen die Türkei, von deren Gebiet ihm ein Teil als
Belohnung vorschwebte, und natürlich auch gegen Oesterreich-Ungarn, dessen
Handelsstraße nach Salonik dadurch gefährdet werden konnte. Das war die
Zeit, wo der Kaiser Alexander unschlüssig war. wie er sich zu der Balkaufrage
stellen solle, und jetzt hatten die Griechen die beste Aussicht, bei einer Trübung
der Gewässer mit Erfolg zu fischen. Indes bewies sich der Wiener Einfluß in
Belgrad stärker als der Petersburger, und Ristitsch verschwand so schnell von
der Bildfläche, als er erschienen. Sobald Garaschanin wieder Minister geworden
und in Bulgarien die Stellung des Fürsten Alexander zu Ostrumelien durch
die Konferenz von Konstantinopel aus dem gröbsten geregelt war, hatte es mit
den Aussichten der Griechen sofort ein Ende, und es lag auf der Hand, daß
sie jetzt der Pforte Gesicht zu Gesicht allein gegenüberstanden und höchstens ein
Khevenhüllersches Halt zu hoffen hatten, wenn sie geschlagen waren, woran keine
Seele zweifeln konnte. Damit soll aber nicht behauptet werden, daß Rußland
und Frankreich — jedes ans verschiednen Gründen — ihnen nicht ein gewisses
Wohlwollen bewahrt hätten, nur war — so haben wir uus die Entwicklung
der Dinge in den letzten Wochen vorzustellen — Rußland zu der Überzeugung
gelangt, daß es für jetzt geraten sei, sich ruhig zu verhalten, und die Franzosen
folgten diesem Beispiele. Herr de Freheinet bewirkte nicht nur eine mildere
Fassung der Kollektivnote, sondern empfahl auch durch Herrn von Mvuy, den
französischen Gesandten um Hofe des Königs Georg, der Überreichung derselben
durch einen sofortigen Befehl zur Abrüstung der griechischen Armee zuvorzu¬
kommen. Delyanuis leistete dieser Empfehlung Folge oder versprach es wenigstens,
und so schien denn alles auf dem richtigen Wege zu sein.
Da kamen durch den Telegraphen uns rasch nacheinander zwei große Über¬
raschungen zu: die Mächte, deren Kriegsschiffe in der Bucht von Phalarun er¬
schienen waren, überreichten trotz des Befehls zur Abrüstung oder des Versprechens
eines solche» ihre Kollektivnote oder ihr Ultimatum, und jetzt erklärte der grie¬
chische Minister, nicht abrüsten zu können, weil ihm die Würde seiner Nation
oder seines Staates nicht gestatte, dem Zwange sich zu fügen. Tableau und
Erstaunen, großes Erstaunen. Jetzt aber haben wir die Erklärung des selt-
samen Vorganges, Die französische Regierung ließ demi griechischen Minister¬
präsidenten am Freitag vor Ostern durch Herrn von Mouy folgende Warnung
zugehen: „Frankreich hat Griechenland nicht mißzuverstehende Zeichen seiner
Freundschaft gegeben. Es hat ihm in der letzten Zeit wiederholt Ratschläge
erteilt, die durch aufrichtigstes Wohlwollen eingegeben waren. Heute glaubt es
ihm unter dem Einflüsse desselben Gefühles eine feierliche Warnung erteilen zu
dürfen. Die gegenwärtige Haltung der griechischen Nation setzt sie sehr ernsten
Gefahren aus. Verharrt sie dabei, so geht sie einer Katastrophe und einer De¬
mütigung entgegen. Ohne im voraus die Entschließungen Europas beurteilen
zu wollen, sind wir doch überzeugt, daß die Mächte der Ausführung von Unter¬
nehmungen Griechenlands gegen die Pforte einen Damm entgegenstellen würden.
Sie werden diese Absicht ohne Zweifel dem hellenischen Kabinette bald anzeigen
und es in die Lage bringen, auf seine Rüstungen zu verzichte». Was wird
dann Griechenlands Lage sein? Wird es nicht früher oder später diesem Be¬
fehle gehorchen müssen? Wir möchten Griechenland diese peinliche Erniedrigung
ersparen. Deshalb sagen wir seiner Negierung: Fügt euch der Notwendigkeit
und hört auf die Stimme einer befreundeten Macht. Befolgt Ratschläge, die
nichts beleidigendes für euer Selbstgefühl haben. Ergreift, solange es noch Zeit
ist, die Initiative, die noch in eurer Hand ruht, und deren Verdienst euch noch
ganz gehören wird. Wenn freundlichere Tage für Griechenland leuchten sollten,
so wird dessen Regierung sie durch diese weitblickende Haltung eingeleitet haben,
und Europa wird ihr dafür dankbar sein. Wir selbst werden das nicht ver¬
gessen, da es uns den Kummer erspart haben wird, uns Schritten ganz andern
Charakters anschließen zu müssen, denen unsre Mitwirkung zu versage», uns
unsre stete Sorge um Erhaltung des Friedens verbietet." Nach Empfang dieser
Erklärung, die sich selbst hinreichend charakterisier, ließ Delhannis dem franzö¬
sischen Gesandten anzeigen, daß die griechische Regierung sich entschlossen habe,
dem Verlangen Frankreichs nachzukommen. Die Gesandten der übrigen Mächte
hielten es aber aus guten Gründen für notwendig, ihr Ultimatum doch zu
überreichen. Die Pariser Presse, welche in der zustimmenden Antwort, die
Delhannis auf das Verlangen des Gesandten von Mouy erteilte, einen ,.wichtigen
Erfolg der französischen Politik" erblickte, sprach sich sehr verstimmt über jenen
Schritt der andern Mächte aus, und wir begreifen ihren Verdruß über diese
Enttäuschung. Nach dem „Erfolge" Monys wäre, wie diese Zeitungen be¬
haupten, die Lage vollkommen klar gewesen, dnrch Überreichung des Ultimatums
aber sei sie wieder getrübt und verwickelt geworden. Habe man dabei den
Zweck einer Einschüchterung Griechenlands verfolgt, so wäre die Stunde dazu
vorüber gewesen, und man habe sich nur mit dem Vorwurfe der Gehässigkeit
beladen. Habe man Frankreichs Verdienst schmälern und ihm den Nutzen seiner
Einmischung wegnehmen wollen, so sei im Gegenteile dadurch nur Frankreichs
Kredit erhöht worden. „Man konnte, sagt das Blatt ?aris, nicht deutlicher
hervorheben, daß unsre Diplomatie ein gutes Werk vollbracht hatte, als indem
man es zu zerstören versuchte. Griechenland hat hier, wenn es will, eine schone
Gelegenheit, den Großmächten eine Lektion in der höhern Klugheit zu geben:
es braucht nur ihr Ultimatum als überflüssig anzusehen und Frankreich das
ihm gegebene Wort zu halten. Die Kabinette von Berlin, London, Wien und
Rom (Petersburg ist absichtlich mit Stillschweigen übergangen) werden sich mit
ihrem hohlen Donner vergeblich bemüht haben." Dn halbamtliche Ismx«
äußert: „Wir müssen bald Aufschluß über die auf den ersten Blick ganz sonder-
bare Haltung erhalten, welche die Vertreter der Großmächte in Athen nach
offizieller Mitteilung der Beschlüsse Griechenlands einnehmen zu müssen meinten.
Allein wie groß auch die üble Laune dieser ersten Bewegung sein mag, so kann
Europa doch nicht die Wirklichkeit verkennen. Man ersparte ihm das Ver¬
drießliche eines Vorgehens, bei dem es gar keinen Ruhm einheimsen konnte,
und das Eingreifen Frankreichs wird schließlich als die natürlichste und gleich¬
zeitig glücklichste Lösung der Schwierigkeit erkannt werden. Die öffentliche
Meinung der zivilisirtcn Welt würde es nur schwer verstehen, wenn die Mächte
ans bloßer Formalitätenreiterei Anstand nähmen, eine Unterwerfung zu accep-
tiren, die im Gründe eine vollständige ist. Der verdienstvolle Akt Griechenlands
verlangt Belohnung, auch wenn die Frankreich gebührende Achtung den Kabi¬
netten nicht eine friedliche und maßvolle Haltung auferlegte."
Diesem Räsonnement fehlte nur eins: es beruhte auf einer falschen Vor¬
aussetzung, es nahm bei den Griechen gesunden Menschenverstand an, während
bei denselben an dessen Stelle mir blinde Thorheit und absurder Dünkel wohnten.
Delycmnis ergriff infolgedessen die schöne Gelegenheit nicht, den Mächten für
ihr Ultimatum eine Lektion in der höhern Klugheit zu erteilen, er hielt sein
Frankreich gegebnes Versprechen nicht, sorgte nicht, daß das Ultimatum über¬
flüssig erschien, und ließ seine französischen Freunde auf den verdienstvollen Alt
einer im Grunde vollständigen Unterwerfung, für den sie den Griechen schon
eine Belohnung zuerkannt, bis heute warten. Frankreichs Kredit aber ist nicht
erhöht worden, es hat kein gutes Werk gethan, es hat sich eher geschadet als
genützt. Am 27. April erging von Delycmnis ein Rundschreiben an die Ver¬
treter Griechenlands an den fremden Höfen, in welchem er ausführte, die
hellenische Regierung habe, dem Rate Frankreichs entsprechend, die Rüstuugs-
pvlitik, von der man geglaubt, sie könne den Frieden stören, in der Hoffnung
aufgegeben, daß Europa diesen Entschluß anerkennen werde. Griechenland habe
mit Beobachtung der durch die öffentliche Ordnung sowie durch militärische Er¬
wägungen gebotenen Rücksichten die Abrüstung vorbereitet. Da sei der Re¬
gierung aber ein Ultimatum zugegangen, welches die Freiheit ihres Handelns
aufhebe. Das verändere die Lage; denn es gewinne nunmehr den Anschein,
als ob Griechenland nicht mehr aus freier Entschließung, sondern unter dem
Zwange handle, welchen das internationale Geschwader ausübe. Die Regierung
müsse daher die geforderte Abrüstung von der Hand weisen, da sie große Ge¬
fahren heraufbeschwören könne. Sie werde jedoch, wenn die Mächte ihr die
Freiheit der Aktion belassen wollten, die von ihr Frankreich gegenüber aus
freien Stücken übernommenen Verpflichtungen getreulich erfülle»?, wie es die
Ehre und die Interessen Griechenlands erheischten.
In der zwölften Stunde noch also wagte es die griechische Regierung, ihr
ungebührliches Spiel mit der Ruhe Europas, das nun schon Monate getrieben
worden ist. fortzusetzen. Nachdem sie dein französischen Gesandten das Versprechen
gegeben, die jetzt ganz zwecklos gewordne, niemand Achtung einflößende Kriegs-
rttstung abzulegen, zieht sie dasselbe zurück, indem sie den Vorwand braucht, es
stimme nicht zu der Würde der Nation, dem Ultimatum der Großmächte nach¬
zugeben, die am Ende doch anch einigen Anspruch auf Beachtung ihrer Würde
besitzen. Das ist ärger als das Verfahren Dänemarks im Spätherbst des Jahres
1863, als es sich weigerte, die Verletzung des Londoner Protokolls von 1852
wieder gut zu machen.' Damals waren es doch nur zwei Großmächte, welche
Nachgiebigkeit verlangten, Oesterreich und Preußen, während England den Dänen
nach Möglichkeit zu helfen bereit war und Frankreich schwankte. Jetzt stellen,
da Rußland sich Deutschland, Oesterreich-Ungarn, England und Italien im letzten
Augenblicke angeschlossen hat, fünf Großmächte den Griechen ein Ultimatum,
und Frankreich, die sechste und letzte, hat. wie oben zu ersehen, erklärt, sich falls
dasselbe unbeachtet bliebe, ebenfalls anschließen zu müssen, und siehe da, Herr
Delyannis versucht weiter zu trotzen, indem er vorwendet, die Abrüstung, welche
gefordert wird, könne große Gefahren herbeiführen. Er kann dabei nur an eine
Revolution der demokratisch-panhellenistischen Partei in Athen denken, ganz wie
die dänischen Minister einst, als sie sich weigerten, die Einverleibung Schleswigs
in Dänemark rückgängig zu machen, an eine Revolution der eiderdänischen
Demokraten in Kopenhagen dachten. Sein Umkehren zu neuem kriegslustiger
Possenspiele kann niemand erschrecken und wird nicht lange mehr währen. Die
Griechen sind zu militärischen Leistungen von Erfolg völlig unfähig, und das
europäische Konzert kann als im wesentlichen wiederhergestellt gelten. Daß Frank¬
reich sich weigert, Rußland wenigstens noch zögert, an einem kräftige»? Zwangs¬
verfahren gegen die griechische Halsstarrigkeit teilzunehmen, kann den Griechen
kein großer Trost sein, wenn England, Deutschland, Oesterreich und Italien ent¬
schlossen sind, im Interesse Europas dem Hellenentume das Handwerk des Friedens¬
störers dnrch energisches Vorgehen endgiltig zu legen. Die Diplomatie hat in
der Sache mit der Kollektivnote ihr letztes Wort gesprochen. Bleibt Griechen¬
land bei seiner Weigerung, diesem Worte zu entsprechen, so wird das inter¬
nationale Geschwader mit Thaten weiter für Herstellung der Ruhe und gehörige
Sicherung derselben zu wirken haben. Die Griechen haben sich dann auf eine
Blockade ihrer Häfen und auf eine Wegnahme ihrer Kriegsschiffe, mit denen
allein sie den Türken einigen Schaden zu thun imstande wären, gefaßt zu
machen. Sie Mögen sich dann dafür bei ihrer demokratischen Verfassung be¬
danken, welche die Leidenschaft, den Dünkel und den Unverstand der Partei zur
Herrschaft brachte. Sie werden Millionen und abermals Millionen für Rüstungen
ohne Erfolg zusammengeborgt, sie werden Massen der Bevölkerung der Arbeit
auf dem Acker und in der Werkstatt ebenfalls nutzlos entzogen haben, sie werden
ihren Seehandel für geraume Zeit lahm gelegt sehen, und was wird damit
erkauft sein? Demütigung und Erniedrigung statt der erhofften Vergrößerung
und Erhöhung. Es wäre zu wünschen, daß damit auch mehr Selbsterkenntnis,
mehr Rücksicht auf die Verhältnisse, mehr Bescheidenheit und Genügsamkeit er¬
kauft würden. Nur durch diese Eigenschaften, nicht durch französische, am we¬
nigsten durch russische Hilfe können sie hoffen, das, was sie etwa noch wünschen
dürfen, einmal zu erreichen. Frankreich will sie bei seiner Mittelmeerpolitik
gegen England benutzen, Rußland zählt sie im Grunde zu seinen kleinen Neben¬
buhlern und Gegnern auf der Balkanhalbinsel. Sie müssen, um gefördert werden
zu können, aufhören, eine Gefahr zu sein. Sie müssen nicht bloß in Frankreich
Freunde suchen, sie dürfen nicht fortfahren, sich die Gunst und Unterstützung
der Mächte zu verscherzen, deren erstes und letztes Interesse der Friede der
Welt ist.
le Thränen, welche der ehemalige Seemann in, Auge hatte, ver¬
hinderten ihn, Barreto und Camoens genau ins Gesicht zu sehen,
die Bestürzung und Erschütterung beider malte sich nicht nur in
ihren Zügen, sondern zeigte sich auch in ihrer ganzen Haltung.
Ehe Barreto eine Frage thun konnte, fuhr Jayme fort:
Ihr könnt denken, Herr, daß ich trotz meines Jammers genau
auf alles achtete! Die Schnur, mit der sie erdrosselt worden, war von maurischen
Geflecht — ich wußte es ohne Besinnen, wer den feigen Mord an dem armen
Kinde vollbracht hat und warum Joana gestorben ist! Nach den Fußspuren
haben sich drei Männer an sie herangeschlichen und sie an ihrem Ruheplatze über¬
fallen — wenigstens haben Schreck und Schmerz für sie nur eine Minnte gewährt!
Und was habt Ihr gethan? fuhr Camoens auf. Riese Ihr den Richter
des Königs und Zeugen hinzu? Habt Ihr schon Anklage erhoben?
Nein, Senhor! erwiederte Jayme und wandte sein Gesicht fragend Barreto
zu. Nachdem ich mich fürs erste ausgemeint, trug ich die Tote unter ihr
Strohdach, die Schnur löste ich von ihrem Halse, sie ist in Bartolomcos Händen
für Euch — bis Ihr kommt! Dann wartete ich, bis ihr Liebster, der bei den
frommen Frauen von Santa Eufemia Waldhüter ist, herzukam und hatte ihm
die schlimme Kunde mitzuteilen und ihn, so gut ich konnte, zu trösten. Es waren
ein paar schwere Stunden, die ich nicht noch einmal erleben möchte. Er
ging, um einige Kameraden aufzubieten, und sie versprachen abwechselnd bei der
Leiche der Kleinen Wache zu halten, damit die heidnischen Hände, welche sie
ermordet haben, sich nicht etwa noch an der armen Hülle Jocmas vergriffen.
Dann ging ich zu Okaz hinunter, sagte ihm, was geschehen sei, und stieg auf
den Klepper, um Euch herzurufen. -
Der Gutsherr, welcher sich vor einigen Augenblicken unbewußt wieder auf
die Steinbank niedergelassen hatte, stand auf und sagte:
Ihr habt bei dem traurigen Falle recht und klug gehandelt, besonders du,
Jayme! Die Gerichte des Königs können hier nicht helfen. Wenn es über¬
haupt eine Sühne für den ruchlose» Frevel giebt — wenn es eine giebt, Luis!
ich zweifle daran! — so kann sie nur von dem König selbst kommen. Als er
Esmah Catarina seinen Schutz verhieß, war die arme kleine Hirtin in die Ver¬
heißung eingeschlossen. Ich muß unmittelbar vor Seine Majestät treten, vielleicht
empfindet er, wie schwer nicht nur Recht und Sicherheit im Lande, sondern auch
seine Ehre und Würde beschimpft sind! Bis wir unsre Vorbereitungen zum
Ausbruch getroffen haben, laß dich erquicken, Jayme; ich hoffe, dein Pferd ist
bereits versorgt, und Joao steht mir dafür, daß dir nichts mangelt!
Jayme Leiras dankte dem Gutsherrn durch eine stumme Gebrede, der Haus¬
meister faßte ihn am Ariye und flüsterte: Kommt, kommt, Mann, es ist keine
Zeit zu verlieren, und Ihr braucht Kräfte für den Rückweg,
Joao, der jede Falte im Antlitz Senhor Manuels kannte, erriet, daß sein
Gebieter mit dem ritterlichen Gast allein zu bleiben wünsche. Sobald er seinen
Diener und den Boten zwischen den Stämmen der Feigenbäume dahin gehen
sah, wandte sich Barreto in der That zu Camoens, welcher wortlos und in
sichtlicher Trauer zu Boden blickte. Das schlägt jäher und härter als ein Blitz
in unsern Frieden ein! Die arme Joana ist das Opfer ihrer hilfreichen Güte
geworden, ich hätte darauf bestehen müssen, daß sie mir hierher folge, und hätte
ihren Liebsten in den Kauf nehmen sollen. Freilich wenn Mulei Muhammed
seine Stumme» und Henker über Land schicken darf, als wären wir hier in
Marokko, so würde Almoeegema die kleine Hirtin nicht besser geschützt haben
als ihr einsames Weidethal/ Wißt Ihr einen bessern Rat, als daß wir Joana
mit allen Ehren bestatten und Gerechtigkeit fordernd vor den König treten?
Daß wir ESmah Ccitariua warnen! versetzte Camoens. Wenn der Mohrcn-
prinz an allen Rache zu nehmen gedenkt, welche zu Esmahs Befreiung geholfen
haben, so mögen leicht noch andre bedroht sein als das arme Mädchen. Ich
rede nicht von uns.
Ich weiß, Freund! fiel ihm Manuel in die Rede. Doch ich bitte Euch,
laßt die Warnung an die andern meine Sorge sein. Ihr ermeßt selbst, daß
Esmcch und ihre holde Beschützerin, die im Königspalast wohnen, nicht unmittelbar
Gefahr laufen, und daß es genügt, wenn auch sie erfahren, was ich dem König
zu sagen gedenke. Ihr aber gelobt mir eins! Es wäre vielleicht das Beste, Ihr
hieltet still hier aus, bis ich zurückkomme; doch will ich Euch nicht ansinnen, was
Euch unerträglich scheinen wird. Begleitet mich nach Cintra in Okaz' Herberge und
zur Mutter aller Gnaden hinauf. Helft mir feststellen, was sich nötig erweist,
und die arme Joana bestatten. Dann aber laßt mich allein vor den König
treten und vermeidet es, den Palast und Gräfin Catarina wiederzusehen. Bringt
meiner Freundschaft und Eurer Ruhe das Opfer einer schmerzlichen Stunde,
Ich sehe alles gefährdet, was ich diesen Morgen gewonnen wähnte, wenn Ihr
jetzt in den Zauberkreis zurückkehrt, dem ich Euch mit Mühe entrissen habe.
Wollt Ihr mir geloben, was ich erbitte?
Wer darf an sich selbst denken, wenn Glück und Leben andrer, die ihm mehr
gelten als sein eignes armes Ich, ans dem Spiele stehen? sagte Camoens mehr
vor sich hin als zu dem drängenden Gastfreunde. Ich folge keines Mannes
Rat lieber als dem Euern. Doch wie kann ich Euch geloben, fern zu bleiben,
wenn es vielleicht gilt, ein geliebtes Haupt zu schützen!
Ihr wißt wohl, daß ich nicht zögern würde, Euch zu rufen, wenn es das
gälte! rief Manuel. Nein, mein Luis, betrügt Euch nicht, in Eurer Seele wallt
der thörichte Wunsch auf, wieder neben Catarina zu stehen und Euch am Lichte
ihrer Augen zu sonnen — Ihr müßt die Wallung besiegen und mir vertrauen!
Für Euch ist durch die Trauer um Joana nichts an der Lage geändert, die
wir vor einer Stunde klar sahen, also ergeht Euch und seid versichert, daß es
zu Euerm Besten sein wird.
Nicht widerstrebend, aber zögernd und mit einem seltsam prüfenden Blick
in Barretos Gesicht bot Camoens seinem Gastfreunde die Hand. Ihr wollt
es, Ihr sagt es, Manuel, Euch widerstrebe ich nicht. Doch nicht wahr, Ihr
setzt in Ciiitra alles ein, um Gewisses über den König und Gräfin Catarina
zu erfahren, und Ihr verschweigt mir nichts von dem, was Ihr vernehmt?
Ich sage Euch im voraus, daß es uoch lange währen kann, ehe etwas ent-
schieden wird, doch was ich höre, verschweige ich Euch nicht! versetzte Barreto.
Jetzt laßt uns an unsre traurige Pflicht denken. Ihr nehmt eines meiner Pferde,
und Joao begleitet uns. Noch eins: wir müssen uns vielleicht darauf gefaßt machen,
daß wir nicht nur die arme Kleine, sondern auch Dom Antonio zur Gruft zu be¬
gleiten haben. Wer weiß, ob man nicht am Hofe eine rasche Beisetzung des alten
Helden beliebt, um ihm einen Teil der Ehren, die ihm gebühren, vorenthalten zu
können. Dom Joao, der Prior, hat den Marschall gehaßt, wie nur ein Priester
zu hassen vermag, und der König — doch nein! — ich will ihm in meinem Grimm
nicht Unrecht thun, vielleicht bewahrt er dem Alten die Ehrfurcht, die er ihm im
Leben gezeigt hat, über den Tod hinaus. Laßt uns gehen, Luis! Die arme, arme
Joana! Sie hat es erfahren müssen, daß dies leine Welt für kindliche Güte ist.
Camoens teilte die Trauer wie den Groll des Freundes, aber er fand kein
Wort der Zustimmung. In seiner Seele regte sich ein dumpfer Zweifel, ob ihn
und Barreto an Joanas Ende nicht eine Schuld treffe. Vielleicht war der
jungen Hirtin die Ruhe, in der er selbst und sein Freund sich hier gewiegt
hatten, verhängnisvoll geworden! Vor wenigen Minuten hatte Barreto seine»
Handschlag empfangen, daß er von Cintra still und ohne das königliche Schloß
betreten zu haben, nach Almvccgema zurückkehren wolle, und schon jetzt, während
er mit dem Gutsherrn dem Haupthause zuging, fühlte er eine geheime Ver¬
suchung, da selbst zu sehen und zu hören, wo niemand, auch der nächste Freund
nicht, Auge und Ohr für ihn sein konnte. Zunächst galt es freilich an Barretvs
Seite treu auszuharren und die geheimsten Wünsche still in sich zu verschließen.
Kaum eine Stunde später, als Jcchmc Leiras in Almoeegema eingetroffen
war und während die Sonne der Mittagshöhe zustieg, ritten vier schweigsame
nud in sich gekehrte Männer durch die dürstenden Maisfelder und über die
sommerlich verstaubten Haiden den schattenreichen Bergen der Serra de Estrella
entgegen. Camoens erinnerte sich keines Rittes, selbst aus seinem Kriegerleben,
der ihm heißer und drückender erschienen war. Der Gegensatz zwischen der
Stimmung eines Morgens, welcher milde Ruhe, ja eine Art Hoffnung in seine
Seele geträufelt hatte, und der düstern des sonnenhellen Tages, lastete schwer
ans des Dichters beweglichem Gemüt. Ein neuer dumpfer Schmerz hatte die
alten Qualen zu gespenstigem Leben erweckt, der Ausblick in die Zukunft erschien
mit einemmale wieder völlig lichtlos. Zum Überfluß gesellte sich das Bewußtsein
des geheimen Zwiespalts, den er zwischen sich und Barreto einPfand, auch auf
diejem Wege zu seinen dunkeln Gedanken. Jahme Leiras, den ans die Länge das
allgemeine Schweigen zu drücken begann, versuchte durch Erzählungen über die
großen Flottenrüstnngen in Lissabon und Lagos die Stirnen der Herren zu ent-
runzeln. Camoens lauschte mit einiger Teilnahme den Schilderungen des alten
Matrosen, Barreto aber, welchen heute jede Mahnung an den Seezug nach Afrika
Pciulicher als sonst berührte, schnitt weitere Berichte, zu denen Jahme Lust zeigte,
mit den Worten ab: Schweigt von dem unseligen Zug, der Menschenopfer ver¬
schlingt, noch ehe er begonnen hat. Unsre kleine Hirtin war das erste, es werden
ihr mehr folgen, als du zählen kannst, Jcchmc!
Camoens konnte den? Zürnenden nicht widersprechen, in dieser Stunde
weniger als je, und doch, doch vermochte er Manuels bittere Hoffnungslosigkeit
nie völlig zu teilein Wie oft schon, so spiegelten sich auch eben jetzt die golo-
glänzenden Kuppeln der Minarets von Marokko in seinem Auge, und durch sei»
Hirn zog die Frage, ob er nicht als Mitkämpfer an Bord der vaterländischen
Flotte steigen sollte? So versank er in jenes dumpfe Hinbrüten, in dem das
wirkliche Erlebnis zum Traum wird. Ein Traum schien es, daß er durch
Schluchten und Wälder an Barretos Seite zum Hochthal der Mutter aller
Gnaden emporkam, wie ein Traumbild erblickte er die grüne Einsamkeit, über
welcher die buntfarbigen Wolken des Spätnachmittags hinwcgzogen. Wie im
Traum betrat er die Hütte mit dem Ströhmer Dach und starrte auf die kleine
Leiche, die dort auf ihrem schlichten Lager gebettet lag. Der Schmerz, der bei
dem Anblick der Toten durch seine Seele schnitt, die lauten Wehklagen und Ver¬
wünschungen des jungen Waldförstcrs und seiner beiden Genossen, die an Joanas
entseelter Hülle Wacht gehalten hatten, weckten ihn für kurze Minuten auf, und
leidenschaftlich nahm er an den Fragen teil, die Manuel Barreto zur Feststellung
des Frevels an die Anwesenden richtete. Er versuchte auch den weinenden Perv,
den Liebsten der jungen Ziegenhirtin, zu trösten und stimmte eifrig zu, als dieser
die ritterlichen Männer bat, sich um ein Grab im Schatten des Klosters von
Santa Eufemia für Jocma zu bemühen. Doch als Manuel begann, die Einzel¬
heiten der Bestattung zu ordnen, und Camoens ersuchte, gleich jetzt nach dem
Kloster hinüberzureiten und am Spätabend nach Okaz' Herberge in Cintra zu
kommen, da ward der Träumer mit einemmale inne, daß sein stummes Träumen
fort und fort Catarina Palmeirim gegolten halle, an deren Seite er die Tote
zuletzt erblickt hatte, die jetzt in ärmlicher Verhüllung vor ihm lag. Er
beherrschte sich noch einmal und erklärte seine Bereitwilligkeit, sich sofort wieder
in den Sattel zu schwingen. Doch die inständige Weise, in der er Barreto
beschwor, beim Hinabkommen nach Cintra genane und zuverlässige Kunde über
Esmcch die Maurin und Catarina Palmeirim einzuziehen, verriet sein geheimstes
Empfinden. Barreto richtete einen mahnenden Blick auf den Freund und äußerte
kurz, er werde es an keiner Erkundigung fehlen lassen, hege übrigens um die im
Schutz der Herzogin von Braganza stehenden Mädchen keine Sorge. Camoens
blieb nur übrig, seine Bitte zu wiederholen und alsbald aufzubrechen.
Der Weg zum Kloster Santa Eufemia verließ nicht weit von dem steinernen
Gnadenbilde das Hochthal, senkte sich rasch in die Waldungen hinab und führte
dann als breite Straße an den langgestreckten Hügelreihen hin, auf denen der
berühmte Wein der Klosterfrauen wuchs. Einer von Pervs Kameraden, welcher
Camoens den Weg zeigte und mit dessen Pferde gut Schritt hielt, war offen¬
bar der Meinung, daß der Trauer um die Hirtin genug sei und pries ge¬
schwätzig die Vorzüge des Klosterweines, ohne eine Erwiederung zu ernten.
Camoens war jetzt einzig darauf bedacht, sein trauriges Geschäft im Kloster rasch
zu Ende zu führe«, der armen Jocma ihre Ruhestätte zu sichern und die Seelen¬
messen zu bestelle», welche Barreto freigebig verheißen hatte. Nichts, was zwischen
Joanas Hütte und dem ersehnten Cintra lag, sollte ihm Teilnahme abgewinnen,
selbst das schimmernd rosige Licht, in welches die Hügel und die Straße getaucht
erschienen, mahnten ihn nur daran, daß der Abend hereinbrecheund daß er vor
der Nacht an Bartolomeos Deck sein wolle. (Fortsetzung folgt.)
äh
rcnd die parlamentarische Entscheidung über die Vi8ruxt!on LM,
den Gladstoneschen Gesetzvvrschlag wegen der Trennung Irlands
von Großbritannien, vertagt worden ist, hat der Urheber des
Planes an die Wähler von Midlothian eine neue Ansprache ge¬
richtet, in welcher er denselben verteidigt und empfiehlt, und welche
nun seit acht Tagen in England das Tagesgespräch und das Zeitungsthemn
ist. ont/ Roos nennt dieses Manifest einen „feurig ermutigenden Aufruf,
gegen Irland Gerechtigkeit zu üben." Der konservative LtanäMä will in ihm
einen „Aufschrei zorniger Verzweiflung" hören. Die 1'uns8 erblicken darin
„das thatsächliche Eingeständnis, das Home Rule trotz alles Starrsinns und
trotz der Buiidcsgeuvsseuschaft Paruells nicht durchsetzen zu können" und „eine
Probe demagogischer Gemütsstimmung gefährlichster Art, wie sie in der ganzen
englischen Geschichte uicht zu finden sei." Das letztere ist polemische Über¬
treibung eines an sich richtigen Urteils, aber ob der demagogische Ton der An¬
sprache nicht wohlberechnet ist und bei einem großen Teile der Engländer Erfolg
haben wird, ist eine Frage, die wir nicht verneinen möchten. Die öffentliche
Meinung in England hat sich durch Gladstones Wirksamkeit verändert wie die
öffentliche Meinung in Deutschland, soweit sie nicht durch die Fortschrittspartei
ausgedrückt wird, seit Bismarcks Auftreten, nur in umgekehrter Richtung. In
den Jahren von 1847 bis 1866 hätte eine ähnliche Ansprache unter den
Deutschen großen Beifall gefunden, jetzt würde sie. wenigstens bei der Mehrzahl
derselben, ihre Wirkung verfehlen, ja mit Achselzucken aufgenommen werden;
denn wie viel uns auch am strengen und festen Realpolitiker noch mangeln
mag, so sind wir doch weniger gefühlsselig, weniger empfänglich für die Frei¬
heitsphrase, weniger kosmopolitisch, praktischer und verstündiger geworden. Ge-
Sünde nationale Selbstliebe und Erkenntnis des Wesens und der Bedürfnisse
des Staates haben sich, seit die Nation in einem Staate zusammengefaßt ist,
über weitere Kreise verbreitet, und Schwärmer für das Recht der Polen, sich
von uns loszureißen, sind selten geworden und berauschen nur noch wenige mit
ihrer kindischen Begeisterung, Umgekehrt ist es in England, Während wir
hier in dem frühern Geschlechte im großen und gauzeu ein Volk mit echt po¬
litischem Instinkte, nüchternsten Verstände, kräftigster Selbstsucht, die sich oft
hart und rücksichtslos geltend machte, vor uus erblickten, gewahren wir jetzt,
hauptsächlich durch Gladstone und seinesgleichen hervorgerufen und gefördert,
vielfältig dort eine Denkweise, die bei den Zielen, die sie sich setzt, vor allen
Dingen liberal sein will und darüber das eigne Interesse, das des Staates, des
Reiches vergißt. Damit verbindet sich Gefühlsseligkeit, ein theologisirendes
Wesen und eine bornirt tugendsame Träumerei für Humanität und Verbrüderung
aller Menschen, die alle politischen Organisationen zu erweichen und zu zersetzen
droht. An diese Denkweise richtet Gladstone sein Manifest, und wir fürchten,
daß es in ihr ein Echo finden wird, das auch auf die Entschlüsse des Unter¬
hauses wirkt, dessen Mitglieder doch alle — ganz wie bei uns — in erster
Reihe den Wunsch hegen, nach einer Auflösung wiedergewählt zu werden.
Fast nirgends stoßen wir in dem Manifest auf Erwägungen, die man
staatsmännisch nennen dürfte. Es sind vorwiegend Schlagwörter eines liberalen
Parteihauptcs und eines kosmopolitischen Demagogen, aus denen es sich zusammen¬
setzt. „Die Augen der Menschheit — so ruft Gladstone dem britischen Volte
zu — sind auf euch gerichtet, die irischen Vorlagen tönen durch die Welt wie
selten ein parlamentarischer Gesetzentwurf, und aus Amerika mit seinen hundert
Millionen Briten und Iren, aus Hauptstädten wie Washington, Boston und
Quebek dringen ermutigende Zurufe von Leuten zu uns herüber, die mit warmem
Beifall unsre Bemühungen beobachten, ein- für allemal die trüben Beziehungen
zu Irland zu ordnen, welche uns die einzige Stelle vor die Augen rücken, wo
der politische Genius unsers Volkes es nicht vermocht hat, Schwierigkeiten zu
überwinden und in vernünftigem Maße die Hauptziele eines politischen Daseins
zu erreiche». . . . Lasset uns diese irische Frage als eine Angelegenheit zwischen
Brüdern behandeln, als eine Frage der Vernunft und Gerechtigkeit. Meine
Gegner kommen mit der leider nur zu oft gehörten Rede, deren Einleitung eine
Weigerung voll Haß und Rache und deren Schluß bedingungslose und bart¬
lose Übergabe ist. Die seit Jahrhunderten traurige Geschichte Irlands giebt
einigen von uns den Mut, die Iren so zu behandeln, als ob sie an der großen
Erbschaft des Menschciirechts nur beschränkten und an dem gewöhnlichen Schutze
gegen grobe Beleidigungen gar keinen Anteil hätten — ich sage, einigen unter
uns, aber auch uur einigen, nicht, wie ich mit Jubel im Herzen denke, dem
Volke Schottlands und Englands." Das ist entschieden die Sprache des Dema¬
gogen, dem ein Plebiszit vorschwebt. Überzeugt augenscheinlich, daß er das
Parlament durch seine sophistische Beredsamkeit nicht wohl für sein irisches
Projekt gewinnen wird, spricht Gladstone gleichsam zu einer Massenversammlung
des britischen Volkes außerhalb der Hallen von Westminster. Für die wenig
urteilsfähige Masse sind seiue Phrasen und seine Beweisführung vorzüglich be¬
rechnet. Nur ihr konnte er zumuten, es gelten zu lassen, wenn er sich auf sein
Manifest vom letzten September als eine Andeutung seines jetzigen Planes zur
Zerspaltung des Reiches bezieht. Nur ihr durfte er mit dem Versuche kommen,
den „Grundgedanken" seiner Bill so harmlos darzustellen, daß er wie das all¬
gemein zugegebne Prinzip örtlicher Regierung aussah, die dem Reiche nichts
von seinem Rechte und Interesse entziehen kann. Auf ihre Eifersucht und ihren
Argwohn endlich bemüht er sich zu wirken, wenn er den großen nationalen
Streit mit der Beschränktheit und Selbstsucht der verschiednen Klassen in Ver¬
bindung bringt und die Opposition gegen seinen irischen Plan hauptsächlich sich
„aus den obern Schichten der Gesellschaft" rekrutiren sieht.
Der Hinweis auf das Manifest vom vorigen September ist praktisch eine
Appellation von seinen Thaten an seine Worte. Es ist ganz richtig, daß er
sich im letzten Herbste für „jedes Zugeständnis lokaler Selbstregierung in Irland,
welches der obersten Bedingung der Reichseinheit angepaßt sei," erklärt hat.
Aber fügte er damals etwa hinzu, daß nach seiner Ansicht die Errichtung eines
besondern irischen Parlaments in Dublin eine unter diese Voraussetzung fallende
Konzession sei? Er deutete dies nicht einmal an, und er muß wissen, daß, wenn
diese Voraussetzung nicht allgemein als eine solch vollständiges Eingehen auf
Parnells Forderungen ausschließende Schranke aufgefaßt wordeu wäre, seine
Partei zerfallen sein würde, ehe noch bei den letzten Wahlen der erste Wahl¬
zettel in die Urne gesteckt worden wäre. Natürlich behauptet er selbst, jetzt noch
die von ihm damals gezogne Grenze beobachtet zu haben. Darauf baut sich
die ganze Sophistik auf, mit welcher das Manifest seine Wähler und zu gleicher
Zeit die gesamte Wählerschaft Schottlands und Englands irrezuführen sucht.
Seht doch nur einmal, sagt er zu ihnen, wie maßvoll, wie verständig, wie billig
das Verlangen des irischen Volkes ist, dieses einzige Verlangen, dem das eng¬
lische Parlament seine Zustimmung erteilen wird, wenn es für die zweite Lesung
meines Gesetzentwurfes stimmt. Was kann, fragt er, gerechter und unschädlicher
sein als den Jrländern gesetzgeberischen Einfluß auf irische Angelegenheiten als
von denen des Reiches verschiedne Gegenstände zu gestatten? Darauf ist zu
erwiedern: Gewiß läßt sich nichts Gerechteres und Unschädlicheres denken, und
wenn Gladstone seine Zugeständnisse dem Parlamente in Gestalt eines wohl¬
überlegten und sorgfältig eingeschränkten Entwurfs zu lokaler Selbstregierung
in Irland vorlegen wollte, statt daß er ihm jetzt zumutet, einer durchaus ge¬
fährlichen Ordnung der Dinge beizustimmen, so würden sicher nur wenige Ab¬
geordnete seinen Plan abzulehnen geneigt sein. Sein jetziger Plan findet selbst
bei einem großen Teile seiner eignen Partei Widerstand, weil der gesetzgebende
Körper, den er in Dublin zu schaffen gedenkt, keineswegs darauf beschränkt sein
wird, Gesetze für irische Angelegenheiten im Unterschiede vou Reichsfragen zu
beraten und zu beschließen, weil im Gegenteil seine Bill, obwohl sie reichlich
mit allerlei Klauseln der Vorsicht versehen ist, weite Kreise gesetzgeberischen Ge¬
bietes, welche unzweifelhaft den Charakter von Reichssachen an sich tragen, dem
Belieben der irischen Gesetzgebung überantwortet. Hier ist der Punkt, von wo
aus dem Manifeste zu antworten und beizukommen ist. Hier werden vermutlich
die Univnisten der verschiednen Schattirungen im Unterhause einsetzen, wenn die
nächste Debatte über die irische Bill des Premiers sortgesetzt wird, Sie werden
sie nach dem Prinzip prüfen, auf das er sich selbst berufen hat, und sie an¬
nehmen oder verwerfen, je nachdem die Prüfung dahin, daß sie zu diesem Prinzip
stimmt, oder dahin ausfällt, daß sie ihm widerspricht. Mit andern Worten:
Gladstone wird auf die Einwürfe Göschens und andrer Liberalen, die das letztere
behaupten, befriedigend zu antworten haben. Er wird darthun müssen, daß die
Befugnis seines irischen Parlaments, das gesamte Kriminalrecht Irlands um¬
zugestalten, die Berechtigung, die Zinsen der englischen Hypothekengläubiger zu
in Beschlag zu nehmen, und die Macht, Verschwörern und verräterischen Geheim-
bündlcrn, denen es beliebt, Irland zur Basis feindlicher Operationen gegen die
britische Reichsregienmg zu machen, bei sich eine Zuflucht zu gewähren — daß,
sagen wir, alle diese Befugnisse der irischen Gesetzgeber sich wesentlich von der
Befugnis unterscheiden, auf die Reichsangelegenheiten bestimmend einzuwirken.
Wenn ihm dieser Nachweis gelänge, der ungefähr so leicht zu führen sein wird
wie der, daß zweimal zwei fünf giebt, so würde noch hinreichend Zeit übrig
bleiben, die übrigen charakteristischen Züge der „Zerreißnngsbill" in Augenschein
zu nehmen und im einzelnen zu untersuchen. Solange er aber jenes nicht
vermag, bleibt die von ihm empfohlene Maßregel ungedeckt und ungerechtfertigt
durch das Prinzip, an das er appellirt. Lord Spencer meinte in diesen Tagen,
die „souveräne Macht des Ncichsparlaments werde aufrecht erhalten werden,"
aber wie das unter dem Glndstoneschen Plane möglich zu machen ist, hat er
nicht einmal zu zeigen versucht. Er erklärte, die Negierung sei durchaus ge¬
willt, in der Sache jedem Ratschläge ihr Ohr zu leihen, aber er unterließ
anzugeben, welche Grundlage sich für Ratschläge zur Verbesserung in dieser
Hinsicht erdenken läßt, solange der Hauptgegenstand der Gladstoneschen Gesetz¬
vorlage und deren einzige Empfehlung für Partiell und seiue Leute die Er¬
richtung einer irische» Gesetzgebung ist, welche vou der englischen Kontrole
befreit sein soll.
Wie wir bereits bemerkten, hat Gladstone in seiner Ansprache an die
Wähler von Miolvthiau nicht bloß mit falscher Beweisführung gekämpft, sondern
es auch für erlaubt gehalten, nach dem Beispiele andrer Demagogen schlimmere
Waffen zu gebrauchen, er hat es in seiner Begier nach parlamentarischem Sieg
und Ruhm nicht verschmäht, Leidenschaften und Vorurteile zu erwecken und
anzurufen, an die sich ein Staatsmann von klarem Verstände und hohem Sinne
immer nur ungern wenden wird, wenn er um Beistand oder Auskunft verlegen
ist. Er hat, nicht gerade offen und unmittelbar, aber verständlich genug auch
für das Auge der Massen, an den Neid und die Eifersucht des niedern Volkes
gegen die höher» Klassen appellirt und von einem Konflikte der Stände ge¬
sprochen, indem er behauptet hat, das Vorgehen der Unionisten beruhe nicht
auf allgemeinen Rücksichten auf die nationale Wohlfahrt, sondern auf eng¬
herzigen Standesvornrteilen und persönlichen Bedürfnissen. „Reichtum, so ruft
er aus, gesellschaftlicher Einfluß, Stellung, Titel, gelehrter Beruf oder die große
Mehrheit derselben, mit einem Worte der Geist und die Macht der Klasse bilden
die Hauptstürke der gegnerischen Heeresmacht." Über die Beweiskraft dieser rein
willkürlichen Behauptung ist umsoweniger ein Wort zu verlieren, als Gladstone
jeden etwaigen Mangel seiner Klassifikation durch einen charakteristischen Zusatz
beseitigt. „Das große Heer der Klassen — er hat natürlich immer die obern
Klassen, den Adel, die Reichen, die Gebildeten im Sinne — hat, wie die alten
Ritter, einen Troß von Knappen als Dienstleute hinter sich, der aus den von
der Klasse abhängigen Leuten besteht." Mit dieser Darstellung, die dem Wähler
niederer Klasse einleuchten wird, während wir bisher immer meinten, je höher
jemand stehe, je wohlhabender er sei, desto weniger bedürfe er für sich, und desto
mehr könne er das Bedürfnis des Ganzen würdigen und handelnd wahrnehmen,
hat der Verfasser des Mcmifefts sich recht eigentlich als demagogischen Politiker
charakerisirt. Wer gegen sein irisches Projekt stimmt, thut es ans Selbstsucht.
Jeder Unionist, der sich reichen Besitzes, gesellschaftlichen Einflusses, eines hohen
Ranges, einer bedeutenden Stellung erfreut oder zu einer gelehrten Berufsart
gehört, wird so zu einem „Ritter des Klassenordens," und jeder Freund der
Neichseinhcit, dem diese Vorzüge nicht zuteil geworden sind, wird im Handum¬
drehen zu einem von seinen Knappen oder Troßknechten. Das läuft darauf
hinaus, daß jeder Reiche, jeder Hochgestellte, jeder Mann von sozialem Einfluß,
welcher sich der Zerschlagung des Staates widersetzt, dies lediglich seines
Reichtums oder der Erhaltung seiner Position und seines Einflusses wegen
thut, und daß Uneigennützigkeit und wahrer Verstand nur bei den Armen,
Niedrigen und Umgekehrten zu finden sind. Kann man demagogischer, kann man
weniger staatsmännisch reden? Aber freilich, der Politiker, welcher das Wahl¬
recht weitern Kreisen meente, welcher dem Oberhause ans Leben möchte, der
Mann, welcher England nach amerikanischem Muster demokratisircn will, setzt
uns damit nicht in Verwunderung.
Die Masse, zu welcher Gladstone sich wendet, wird ihm glauben. Im
Unterhause dagegen wird ihm diese Verdächtigung seiner Gegner vermutlich
nichts nutzen; wenigstens sollte man glauben, daß kein sich selbst achtender Ver¬
treter des britischen Volkes so schwachen Geistes sein werde, sich durch eine so
übel begründete Verdächtigung vor seiner Wählerschaft, sich durch diesen Vorwurf,
eigennützig oder abhängig zu sein, einschüchtern, von seiner Überzeugung abwendig
machen und zu den Anhängern Gladstones hinüberschcncheu zu lassen. Gladstone
selbst aber ist gutes Mutes oder scheint wenigstens an seinem Erfolge noch nicht
zu verzweifeln. Die allerdings furchtbare Armee seiner Gegner sei, erklärt er,
zwar jetzt durch eine wertvolle Truppe aus den Reihen des Liberalismus ver¬
stärkt, doch in ihrer Hauptmasse dieselbe, welche in allen Schlachten der letzten
sechs Jahrzehnte, in denen die Fragen des Freihandels, der Religionsfreiheit
und des demokratischen Stimmrechts entschieden worden seien, Widerstand geleistet
habe und geschlagen worden sei. Allerdings habe ein Abfall, eine Sezession in
der liberalen Partei stattgefunden. Aber das sei zur Freude und zum Vorteile
der Tories schon früher vorgekommen. „1793 hatte, so sagt er, eine große und
denkwürdige Sezession dieser Art den furchtbaren Krieg zur Folge, der erst
1815 endigte. Sie ließ die Partei geschwächt und verarmt hinter sich, aber die
Partei lebte fort, während die Sezession zu Grunde ging, und was mehr ist, wir
wissen jetzt, daß jene Recht, diese Unrecht hatte. Wir haben ein zweites Beispiel
aus dem Jahre 1835, wo Lord Derby und Sir James Graham von ihrer Partei
abfielen, um für Erhaltung der irischen Staatskirche zu wirken. Das Urteil
des Landes zeigt hier wieder, daß die Partei im Prinzip Recht, die Sezession
Unrecht hatte. Vergleichen wir die jetzige Sezession mit jenen frühern, so ergiebt
sich ein wesentlicher Unterschied. Jene waren in sich einig, diese ist es nicht.
Einige sind für unbeschränkten Zwang, andre für beschränkten, wie wir ihn achtzig
Jahre lang vergeblich geübt haben; einige wollen gar keine lokale Negierung,
andre eine solche für Provinzen oder Grafschaften zugestehen; einige möchten
Irland einen administrativen Mittelpunkt, aber keinen legislativen, andre mochten
ihm diesen, aber keinen exekutiven geben. Kurz, die Sezession ist ein vollständiges
Babel," was nicht unrichtig ist, wobei aber vergessen wurde, daß man in der
Verwerfung des Gladstoneschen Planes einig und insofern kein Babel ist.
Das Manifest fährt dann fort: „Die Tories wie die Liberalen von der
Opposition besitzen samt und sonders eins nicht: Vertrauen in ihren Wider¬
stand. Von der Hand in den Mund zu leben, ist das höchste, was sie er¬
warten. Sie wissen, daß der Streit, den sie schüren, nur mit dem Zugeständnisse
der Selbstregierung an Irland enden kann. Ist dies so, dann dreht sich die uns
vorliegende Frage nicht um den Triumph der irischen Autonomie, sondern um
die Länge und den Charakter des Kampfes um dieselbe. Wir sagen, laßt uus
ihn abkürzen, sie sagen, laßt uns ihn verlängern. Wir wollen frei und reichlich
geben, sie nur, wenn und so viel sie müssen." Auch hierin könnte Wahres
liegen, doch scheint uns die Ansicht Gladstones von der Unvermeidlichkeit des
Triumphs der Parnellitcu einer Einschränkung zu bedürfen. Unter zaghaften
Liberalen wie er werden sie siegen, ein entschlossener Minister dagegen, der nicht
Parteimann wäre, würde sie mit den Mitteln, die England zu Gebote stehen, ohne
Zweifel bald belehren, daß auch hier die Bäume nicht in den Himmel wachsen-
KM
Mmer der politischen Hanptschmerzen, die man hierzulande empfindet
und in unsrer Volksvertretung, dem Landcsansschusse, immer
wieder zum Ausdrucke bringt, ist der Mangel einer selbständigen
Gemeindeverwaltung in Straßburg, der Landeshauptstadt des
Neichslcmdes. Nicht als legte mau dabei allseitig auf die Haupt¬
stadt als solche Wert; die sonderbündlerischen Bestrebungen oder Neigungen der
Lothringer, wie sie in der jüngsten Tagung wieder hervortraten, haben wohl
zur Genüge gezeigt, daß den Meisten die Begriffe „Reichsland" und „Landes¬
hauptstadt" mehr oder weniger fernliegen. Aber man benutzt die Straßburger
Gemeindcfrcige gern als Mittel, der angeblich allgemeinen Mißstimmung im
Lande zum Durchbruche zu verhelfen und an ihr die Unzutrüglichkciten der
neuen Herrschaft vor Augen zu führen.
Auf feiten der Negierung hat man den berechtigten Kern dieser Klagen
längst erkannt, oder vielmehr nie aus dem Auge verloren. Die Aufhebung des
Straßburger Gemeinderates, der städtischen Selbständigkeit erfolgte genau vor
dreizehn Jahren, 1873, und zwar nur auf Zeit aus augenblicklich wirksamen
Politischen Gründen; der damalige, unter Führung des Bürgermeisters Lankh
mit der Negierung in Widerspruch getretene Gemeinderat lehnte die angebotene
Verständigung ab und wurde durch Oberpräsidialverfügnng aufgelöst. Seitdem
versieht ein Regierungsbeamter als „Bürgermeisterciverwalter" die Geschäfte der
Stadt und beschließt unter gesetzlicher Genehmigung durch den Bezirksprüsidentcn
einfach „in Ausübung der Rechte des Gemeinderath."
Dieser Zustand ist sicherlich für kein städtisches Gemeinwesen ein behaglicher,
und der freie Sinn der nur leicht mit gallischen Elementen durchsetzten alemannisch-
fränkischen Bevölkerung Straßburgs empfindet ihn sehr schmerzlich. In die
Bemühungen der Negierung, Abhilfe zu schaffen, ist seit Übernahme der Statt¬
halterschaft durch den Fürsten Chlodwig Hohenlohe ein frischer Zug gekommen.
Aber gerade weil die Angelegenheit von der andern Seite im Laufe der Zeit
Politisch viel zu sehr mißbraucht worden ist, erscheint es nötig, die Freigebung
der Straßburger Gemeindeverwaltung als eine Art politischen Trumpfes vor¬
zubehalten und nur gegen gewisse Bürgschaften auszuspielen, welche sich auf die
angefangene Stadterweiterung und die über das städtische Vermögen getroffenen
Verfügungen, sowie auf die Sicherstellung der bürgerlichen Rechtsansprüche der
neueingewanderten Bevölkerung beziehen.
Die Überzeugung, daß die bestehenden Schwierigkeiten nicht unüberwindlich
seien, gewann man ans der Verhandlung des Laudesausschusses vom 4. März
d, I,, in welcher ein junger Straßburger Abgeordneter beredt für die Freigabe
der Stadtverwaltung eintrat. Bei diesem Anlaß machte sich eine eigentümliche
Erscheinung bemerkbar. Je weniger dem betreffenden Abgeordneten politische
„Deutschfreundlichkeit" nachgesagt werden kann, umsomehr überraschte es, von
dieser Seite bestätigt zu hören, wie kräftig noch die Erinnerung an die alte
Zeit in der alteingesessenen Straßburger Bevölkerung lebt. In einer Volks¬
vertretung, deren geringerer Bruchteil sich heute noch gegen den parlamentarischen
Gebrauch des deutschen Wortes sträubt, wurde an jene Zeit gemahnt, in welcher
das deutsche Wort hier ausschließlich und machtvoll gebot, wurde die Verfassung,
welche Straßburg im alten deutschen Reiche gehabt hat, gegenüber der verfassungs¬
losen Gegenwart als erstrebenswertes Ideal hingestellt; man hörte von alt-
elsässischen Lippen die Namen der alten Behörden, der Dreizehner, Fünfzehner,
Einuudzwanziger, der Ammeister und Stadtmeister nennen. Kurz, alle die
Erinnerungen an die wunderbare Verfassung der freien Reichsstadt, an die alte
Straßburger Zunstherrlichkeit, die merkwürdige Handwerker-Republik wurden
wieder wachgerufen. Sehr gelegen! Um die Mißstimmung der Straßburger
in der wichtigen Gemeindefragc ganz zu verstehen, muß man den Blick rückwärts
lenken auf die stolze Zeit der Straßburger Selbstverwaltung, der Selbstherrlich¬
keit, welche einst die Bewunderung der ganzen abendländischen Christenheit auf
sich zog. Der schneidende Gegensatz zwischen heute und damals, zwischen der
einstigen Selbstherrlichkeit und der jetzigen Bevormundung schärft den Blick für
die Erkenntnis der Notwendigkeit einer baldigen Änderung, und es ist daher
wohl angebracht, sich das alte Straßburger Verfassmigsleben wieder einmal
näher anzusehen.
Die Verfassung, unter deren Segnungen Straßburg vier Jahrhunderte
lang lebte, wurzelt tief in den Anfängen deutscher Geschichte auf hiesigem Boden,
aus denen heraus sie sich organisch entwickelt hat. Sie ist nicht das Werk
einer kurzen, zielbewußter Arbeit, sondern steht da als das Erzeugnis jahr¬
hundertelangen Ringens und Schaffens. Als die alte römische Stadt Argen-
tvrcitum im fünften Jahrhundert von den Alemannen zerstört war, hat die
Stätte wohl lange wüst gelegen, denn die germanischen Eroberer siedelten sich
nicht auf, fondern dicht neben ihr, längs der von der xortii oooiäentaliL nach
Westen führenden Straße, der heutigen „Langenstraße," an. Das war die
Stadt, die Burg an der Straße, die Strazzeburg, welche sich neben der rö¬
mischen Trümmerstadt erhob und welche Ende des achten Jahrhunderts bereits
xoxrckosg. genannt wird, worunter Gustav Schmoller allerdings höchstens eine
Einwohnerzahl von 1500 verstanden wissen will. Daneben wurde später aber
auch die alte Römerstadt wieder belebt, als sich der Bischof dort niedergelassen
hatte, als an Stelle des römischen Heiligtums der erste Münsterbau und an
Stelle der Prütorenburg Se. Stephan gegründet wurde. Mit dem Bischof
aber siedelten sich in Argentvratum die Leute an, welche diesem unmittelbar
dienten und für seinen Hof arbeiteten und ans deren wachsender Gemeinschaft
der Stand der Handwerker, der spätern Herren der Stadt, wurde.
Unter der bischöflichen Oberherrlichkeit entwickelt sich dieser Stand aus
seiner Frvhnabhängigkeit heraus bedeutend, wobei der vom Tauschhandel zum
reinen Geldverkehr führende Umschwung der volkswirtschaftlichen Verhältnisse
wesentlich einwirkt. Von seinem Sitze, dem Frvhnhofe ans, der ans der Stätte
des bellte unsre große Landes- und Universitätsbibliothek bergenden Schlosses
lag, gebot der Bischof der Stadt, und die Ministerialen, seine Beamten, über¬
wachten die Ausführung seiner Befehle. Dieses Machtvcrhciltnis wird durch
das älteste Straßburger Stadtrecht (1130—1140) näher umschrieben. Noch
bleibt der Bischof Oberherr der Stadt; sein Schultheiß hält unter offner Halle
„by Se. Martin" — am heutigen Gntenbergplatze — Gericht; seine Mi¬
nisterialen stehen je einer einem Gewerke vor. Aber gerade diese Gewerke, der
Kern der spätern Stadtbürgerschaft, zeigt eine erheblich größere Selbständigkeit.
Nicht mehr brauchen sie ausschließlich für den Bischof zu arbeiten; das loro
i'orna vonÄliuur »tnäcro, das Arbeiten auf eigne Rechnung, wird ihnen aus¬
drücklich zugestanden. Die Zunftbildung, die Grundlage der großen Verfassung,
zeigt sich hier im Keime. Die Gewerke — als welche unter andern genannt
werden die Schwertfeger, Schmiede, Säckler, Schuster, .Kürschner, Becherer und
Wirkende — ordnen unter Leitung der bischöflichen Ministerialen ihre geringern
Angelegenheiten selber; allen zusammen gebietet der bischöfliche Burggraf. Von
nun ab geht es aber mit der Bischofsherrlichkeit schnell bergab; der Adel nimmt
mehr und mehr die Führung der Geschäfte in die Hand und drängt, gestützt
auf die wehrhafte Kraft des aufstrebenden Handwerks, die geistliche Gewalt un¬
aufhaltsam zurück. Etwa fünfzig Jahre später hat Straßburg bereits einen
mehr oder weniger selbständigen Gemeinderat, und nach abermals hundert Jahren
giebt es in der Stadt überhaupt keinen Bischof mehr; seine Macht wird von
den streitbaren Straßbnrgern in der Schlacht bei Hausbergeu 1263 für immer
gebrochen; von da an hat er seinen Sitz ans Hvhbarr bei Zabern. Der Nach¬
folger des besiegten Bischofs, der kluge Heinrich von Geroldseck, schloß mit der
Stadt neue Verträge, konnte indes die erkämpfte Unabhängigkeit Straßburgs
nicht mehr anfechten. Man ließ zum Schein noch einen losen Zusammenhang
mit der bischöflichen Gewalt bestehen, aber beispielsweise wurde sogar schon die
höchste richterliche Entscheidimgsstelle für die Ortschaften des Bistums bei
Straßburg gelassen. Auch das Handwerk wurde freier. Nicht mehr ein Mi¬
nisteriale, sondern ein vom Burggrafen ernannter Handwerksmeister war der
Oberste im Gewerke, und nur wenige Gewerke standen unmittelbar unter dem
städtischen Rate. Im allgemeinen bildete das frühere Verhältnis des Hand¬
werks zum Bischof die Grundlage fiir die spätere Entwicklung.
Unter Führung des Adels wuchs Straßbnrg vom zwölften zum dreizehnten
Jahrhundert mächtig empor. Die glanzvolle Zeit der Blüte des Mittelalters
mit ihrem staunenswerten Umschwunge in Sitte und Bildung, Handel und
Verkehr, welche durch die innigere Berührung mit Italien und dem Morgen¬
lande vermittelt wurde, überstrahlte vornehmlich diesen Hauptort des fruchtbaren
reichen Obcrrheinlandes und hob ihn mit riesiger Schnellkraft zu ansehnlicher
Höhe. Die adlichen Herren wußten durch staatsmännische Geschicklichkeit die
ans dem bischöflichen Verhältnisse heraus sich entwickelnde Selbständigkeit Straß-
burgs klug zik befestigen, und als die Zeit der großen innern Umwälzungen,
das vierzehnte Jahrhundert kam, traten die neuen Herren ein nach außen ziemlich
gesichertes Erbe an. Diese Umwälzungen waren vornehmlich begründet in zwei
Ursachen: einmal in dem Erdarten der bisherigen Machthaber, der Adlichen,
und dann in dem Aufstreben der bis dahin beherrschten, der Handwerker. Eine
eigenartige Entwicklung! Bei dem Kampfe zwischen Adel und Bischof lost sich
das Handwerk von der Bischofsmacht ab. Dann stehen Adel und Handwerk
gegen den Bischof, dann Adel gegen Handwerk, bis schließlich der Inbegriff aller
Adelshoheit, das Königtum — allerdings von außen her — die Handwerks¬
herrlichkeit in den Sand wirft.
Der Beginn des Jahrhunderts der Umwälzungen ist zunächst durch die
Fehden des Adels gekennzeichnet, welche, wie draußen im Lande, so in der Stadt
wüteten. Hier in Straßburg waren es in erster Reihe die Familien Zorn und
Müllnheim, welche durch ihre Befehdung fast die gesamte Einwohnerschaft in
zwei feindliche Lager spalteten. Der ursprünglich Wohl um die Herrschaft in der
Stadt geführte Streit wurde dadurch vertieft, daß die große kirchenpolitische
Frage hineinspielte, welche dem Streite Kaiser Ludwigs des Baiern gegen
Friedrich von Österreich mit zu Grunde lag; die Müllnheime waren gut kaiser¬
lich, die Zorne hielten es mit der Opposition, mit dem Österreicher. Alle
Vcrsöhnungsversuche blieben fruchtlos; selbst die Erbauung einer „neuen Pfaltz"
— eines genau in der Mitte zwischen den beiden feindlichen Hauptquartieren,
den sogenannten „Trinkstuben," liegenden neuen Rathhauses, welches für jede
der beiden Familien einen besondern Treppenaufgang erhielt") — nützte nichts.
An dieser UnVersöhnlichkeit scheiterte schließlich das ganze adliche Regiment,
schwangen sich die bis dahin machtlosen Handwerker auf den Herrschersitz. Die
Handwerker hatten allerdings einen Vertreter bei dem den Stadtschatz im Pfennig¬
turm verwaltenden Drei-Männer-Ausschuß. Im übrigen aber war ihre Be¬
teiligung an allgemein städtischen Dingen nicht weit her. Dafür zeigte sich
der Drang nach einer Änderung immer mächtiger. Im Jahre 1303 brach sogar
ein förmlicher Handwerkeransstand los. Der Chronist Königshöfen*) erzählt
über dies „alte gescheite zwüschent den edeln und den autwercken," daß am
31. Juli die „antwerg ze Strosburg byenandcr gezert und wol getrunken, und
meintent das her Claves Zorn der Schultheiße hette in vit wicderdrisses gelon.
Dernmbe nachdeme sich ein teil von den antwerken uf gar nngestiimerliche und
wollene zogen zu dem Hohenstege uf die driugstube über den Schultheißen."
Die Überrumpelung der Adlichen gelang aber nicht; nach kurzem blutigen Straßen-
kampfe flohen die Handwerker mit Zurücklassung vou sechzehn Toten. Zahl¬
reiche Verbannungen waren die Folge dieses Aufstandes.
Damit war indessen das „gescheite" nicht beseitigt, vielmehr lastete das
Joch der adlichen Herrschaft immer beschwerlicher auf dem Handwerk. „Under
den adeln, erzählt Königshöfen, wart etlicher so hochtragende, wen ime ein
snider oder ein schuchmeister oder ein ander antwergman phennige dieses, so
slug der edelmcm den antwergman und gap ime streiche dran." Diese Roheiten
des Adels, namentlich der adlichen Jugend, haben übrigens auch nach Zusammen-
bruch der Adelsherrschaft bis ins 16. Jahrhundert mit zunehmender Heftigkeit
angedauert. Nur muß man sich vor dem Wahne hüten, als wäre alles, was
Edelmann hieß, schlecht und nur der Handwerker der tüchtige Mann gewesen.
In dem nicht zum Handwerkerstande gehörigen Teile der Bevölkerung gab es
immer noch eine hohe Summe von Bildung und staatsmünnischcr Überlieferung,
und man darf die Versicherung des Chronisten bei Besprechung der Gewalt¬
thaten der Adlichen ruhig als thatsächlich und nicht bloß als naive Rand¬
bemerkung hinnehmen, daß nämlich „doch nit alle sü dotent, wand ir mcmiger
was, die niemanne keinen gewalt dotent." So zeitigte noch kurz vor dem
Sturze der Adelsherrlichkeit die in jenen Kreisen aufgespeicherte Bildung ein
stolzes Werk, das „Stetterecht," eine Snmmlnng und Aufzeichnung der bis
dahin uur als Überlieferung bestehenden oder verstreut in den Akten herum-
liegenden rechtlichen Bestimmungen. Zwölf adliche Ratsherren schlössen sich vier
Wochen lang in das Jvhannesstift ein und arbeiteten unermüdlich an diesem
wertvollen Gesetzbuch, nach welchem von nun an Recht gesprochen wurde. Gewiß
eine höchst rühmliche wissenschaftliche That inmitten der Unruhen und Fehden!
Trotz der durch das neue Stadtrecht gegebnen Bedingungen für bessere
Rechtszustände waren aber die Dinge immer unhaltbarer geworden. Die Hand-
Werker litten schwer unter dem adlichen Übermute, und je höher ihre Kunst¬
fertigkeit, ihr durch die eigne Waffentnchtigkeit gehobnes Selbstbewußtsein stieg,
desto unleidlicher mußte ihnen ihre Lage erscheinen. Wir werden uus denken
können, daß im Stillen auf den Zuuftstuben Beratungen gepflogen wurden,
vielleicht unter Beteiligung von Adlichen, welche, der Zorn-Müllnheimschen
Zänkereien müde, selbst nach höherm Einflusse strebten; man besprach eine
etwaige künftige Gestaltung der Dinge und erwog vielleicht anch schon die
dereinstige Zusammensetzung des Rates. Kurz, das Maß war voll; nur noch
der äußere Anlaß fehlte, daß es überlief. Und dieser kam in dem großen
Jahre 1332.
Am 2V. Mai jenes Jahres, an einer Mittwoch, war nach altem Brauche
die „Martsche" (ale-8 Nurlni»), Tnrnierspiele, auf welche ein festliches Gelage,
die „Rnntofcl," im Ochsensteinischen Hof*) in der Brandgasse folgte. Obgleich
die „runde Tafel" einen Vorsitz zuließ, also möglichst wenig Anlaß zu Streite¬
reien bot, brach doch, als sich die Frauen entfernt hatten, Zwist aus, der bald
unerhörten Umfang annahm. Es war, als ob die Zorne und Müllnheime den
Entscheidungskampf kämpfen wollten; von allen Seiten eilten die Verbündeten
herbei, und im Nu war der benachbarte Roßmarkt (der heutige Broglieplatz) ein
wüstes Kampfgefilde, auf welchem sich die eidlichen Herren nach Herzenslust
gegenseitig tot und siech schlugen. Aber — änolzus oorlMtiKuL tvrtinL Ag-naive.
Während sich die Edelleute die Köpfe blutig hämmerten, bemächtigten sich die
Zünfte des Stadtregiments, und an diesem Tage beginnt die Zeit der Znnft-
herrlichkeit, deren letzte Schatten erst im Jahre 1791 für immer verschwinden
sollten. Über diese höchst merkwürdige Revolution, bei welcher die Unordnung
von den Machthabern und die Thaten der Ordnung von den die Macht er¬
strebenden begangen wurden, berichtet Königshöfen: „Under der one gingent
die bürgere und die antwerglüte dar, und haltend einen ruwen rat und kusent
deriu crbere burgcr.. on underscheit und darzu vou icglichem antwerge senkend
sü ouch einen in den rolle und beruftent alle bürgere und antwerke, die Sorrent
dem rote, und der rot auch in."
Die hier in chronikmäßiger Kürze angedeuteten Maßregeln sind so durch¬
greifend und wurden so umsichtig und schnell durchgeführt, daß die vorhin
ausgesprochene Annahme, sie seien lange vorbereitet gewesen, an Wahrschein¬
lichkeit gewinnt. Die Besetzung der Pfalz und der Stadtthore, das an die
eidlichen Geschlechter erlassene Waffcnvcrbot, die Beschlagnahme der Schlüssel,
des Siegels und des Banners der Stadt, die Einsetzung und sofortige Ver¬
eidigung eines neuen Rates, alles das zeugt von kräftiger Durchführung eines
verabredeten Planes. Bewunderungswürdig bei der Größe und Vollständigkeit
des Sieges ist die weise Mäßigung, mit welcher die Zünfte ihren Vorteil aus¬
nützen. Nicht, wie in den Bauernkriegen, werden die Adlichen vernichtet, sondern
man läßt sie ruhig in der Stadt, ja sogar im Rate, setzt sie aber nachdrücklich
in die Minderheit. Die Zusammensetzung des neuen Rates finden wir zwei
Jahre später nach dieser „Ratsänderung" wie folgt: acht Adliche, vierzehn Bürger
(d. i, Kaufherren ?c.) und fünfundzwanzig Handwerker. Das Haupt der Stadt
war nicht mehr der jeweilige Stettmeister und das adliche Ratskollegium, sondern
der Ammeister. Diese Würde hatte sich gewissermaßen aus der des alten
bischöflichen Burggrafen entwickelt: er war der Meister der Am(ba)diente der
Handwerker, der oberste aller Zunftmeister; sein Eid galt an erster Stelle; in
ihm verkörperte sich die herrschende Gewalt des Handwerks. Der erste in diesem
wichtigen Amte hieß Burchard Twinger.
Daß mit dem neuen Regiment ein neues Leben, ein frischer Trieb in das
städtische Gemeinwesen gekommen war, erhellt am besten aus der stetigen Zu¬
nahme der Macht und des Ansehens, deren sich Straßbnrg gegen Ende des
Jahrhunderts erfreut. Dieses Wachstum ist umso bemerkenswerter, als gerade
die Jugendzeit der neuen Verfassung von schweren Stürmen heimgesucht wurde
Teuerung, Seuchen, Kriegsnvt und andre Nöte folgten einander in schnellem
Wechsel. Namentlich wurde Straßbnrg in die Kriege des Städtebundes wegen
der vielen sogenannten „Ausbürgcr" — der auswärtigen Adlichen, welche sich
als Bürger aufnehmen ließen und dafür Schutz begehrten — verwickelt; diese
Kriege fügten der Stadt schwere Verluste bei. Auch die durch wucherischer
Übermut herbeigeführten Judenverfolgungen gehören hierher.^') Das war indessen
für Straßbnrg die letzte größere revolutionäre Zuckung dieses aufgeregten wilden
vierzehnten Jahrhunderts, und sicher darf man sie nicht der politischen Ent¬
wicklung der Straßburger Zunftherrschaft ins Schuldbuch schreiben. Im Jahre
1374 störte noch ein blutiger Familienzwist die öffentliche Ruhe, das „gescheite
zwüschent deu von Rosheim und den Rebestöckcn." Von Versuchen zur persön¬
lichen Ausbeutung der Macht ist nur einer überliefert. Es war im Jahre 1385,
wo „die gewaltige Manne von antwcrklüten" Johanns Cantzeler, Philips Hans
und Walther Wassicher aus der freien Republik so etwas wie eine Thrannis
gemacht hatten. Dem weisen, thatkräftigen Einschreiten des Ammcisters Cuntz
von Gcispvltzheim gelang es, die drei Gewaltigen unschädlich zu machen und zu
bestrafen. Das ging aber alles ab „one liege und one stoße, das es mengelich
gros wunder hette wie mens möchte zubringen."
An der neuen Verfassung wurde nnn uuablässtg gearbeitet und verbessert.
Zunächst suchte man (1334—49) die Würde des Ammcisters und zweier Städte¬
meister lebenslänglich zu machen. Dann gelang es der Zvrnschen Partei 1349,
einen jährlichen Wechsel durchzusetzen, wobei aber die Getön.le der Städtemeister
sehr herabgedrückt wurde; dann gab es wiederum 1371 bis 1381 einen zehn¬
jährigen Ammeister. Trotz aller Unruhe vermochten aber die Adlichen nie wieder
die frühere Gewalt zu bekommen. Ja im folgenden Jahrhundert werden sie noch
mehr zurückgedrängt. Dies geschah vornehmlich durch die große Umwandlung der
Stadtordnung von 1405, welche Gustav Schmoller erst vor etwa zehn Jahren im
hiesigen Stadtarchiv entdeckt hat. Dieselbe muß wegen des dabei eingeführten
Grundsatzes der äußersten Sparsamkeit und der noch erheblich stärkern Befestigung
der Volksherrschaft dem Adel höchst unangenehm gewesen sein, denn 1419 folgt
ein Massenaustritt von Adlichen aus der Stadt, dem sich im Laufe des Jahr¬
hunderts noch verschiedne andre anschlössen. Das schwächte zweifelsohne zeit¬
weise die Macht der Stadt; ihre innere Ruhe gewann aber ganz entschieden,
da es gerade die unsichersten Elemente waren, welche die Stadt verließen.
Um noch die wichtigsten Thatsachen der weitern Entwicklung gleich hier ein¬
zufügen: nach dem Auszuge der Adlichen wurden die Vertreter der adlichen
Genossenschaften, der sogenannten „Constvfeln" (vonstÄdulg-rii), im Rat auf 14
beschränkt, während die durch je einen Ratsherrn vertretenen Zünfte die Zahl
28 behielten; 1425 bis 1433 wurde das Stadtrecht durchgesehen, eine ähnliche
Riesenarbeit wie die genau hundert Jahre früher geleistete; 1433 das wichtige
Kollegium der Füufzehncr (XVer) eingesetzt; 1441 die Satzungen und Ord¬
nungen zum letztenmale durchgesehen; 1448 endlich die Ordnung des obersten
Negierungskollegiums der Dreizehner (Xlller) festgestellt und damit die große
umgestaltende Bewegung in der Hauptsache abgeschlossen. Die Zahl der
Zünfte beschränkte man nach und nach (1463, 1471, 1482) auf zwanzig, sodaß
der Rat mit den zehn Adlichen nunmehr aus dreißig Mitgliedern bestand. Des
Rats Bedeutung wurde übrigens später immer mehr durch das wachsende An¬
sehen der dreihundert Schöffen, der unmittelbaren Zunftvertreter, deren jede
Zunft fünfzehn stellte, zurückgedrängt, sodaß die Schöffenversammluug allmählich
annähernd die Stellung einer Volksvertretung nach jetzigem Sinne erhielt.
Die zurückgebliebnen Adlichen aber schonte man thunlichst in ihren Gerecht¬
samen; sie widmeten dafür ihre höhern Geistesgaben und ihre feinere Bildung
dem Gemeinwesen, welches durch diesen lebendigen Austausch aller Kräfte zur
wunderbarsten Blüte gedieh. Das so entstandene städtische Patriziat stellte
zumeist den tüchtigen Beamtenstand, der Straßburg auszeichnete.
(Schluß folgt.)
eine Provinz Frankreichs trägt einen so romantischen Charakter
wie die Bretagne; wo wäre die Anhänglichkeit an das Hergebrachte,
die Vorliebe zu den alten dunkeln Sagen und Liedern wirksamer?
Es ist das Land feuriger Einbildungskraft, leidenschaftlicher
Stimmung, düsterer Bigotterie; hier stritten die Chouans für den
Enkel des heiligen Ludwig, hier stand die Wiege von Bertrand Duguesclin,
Chateaubriand und Lamennais.
Am 19. Juni 1782 zu Saint-Malo als Sohn eines mit dem Zusätze
Lamennais geadelten Nhcders Robert geboren, widersetzte sich Hugues Felicite
Robert de Lamennais des Vaters Wunsch, einst seine Geschäfte fortzuführen; von
Jugend auf bekundete er den Starrkopf eines echten Bretonen, große Leiden¬
schaftlichkeit und Schwärmerei, seine Schwester fand an ihm etwas so Eigentüm¬
liches, daß sie sagte: „Er wird ein Dämon oder ein Engel werden." Die
Revolution vernichtete das Vermögen der Familie, und er wuchs im Hasse
gegen die Jakobiner wie in der Verehrung des geächteten Kultus auf. Bei
einem ziemlich tollen Oheim erzogen, der ein Gelehrter und Geguer aller
Philosophie war, las er dessen ganze Bibliothek durch, raffte allerhand Kenntnisse
ohne Methode und Tiefe zusammen, arbeitete Tag und Nacht, obwohl er
lebenslang kränkelte, begeisterte sich für den Evangelisten des Tages, Rousseau,
und nahm eine so ungläubige Richtung, daß seine Kommunion wiederholt ver¬
schoben wurde. In engerm Verkehr mit den Toten als mit den Lebendigen,
litt er an verzehrender Melancholie. Er floh trotz seiner Jugend die Welt,
vergrub sich wie ein Anachoret in die Einsamkeit, betrachtete die Menschheit voll
unklaren Mißtrauens und war doch von ebenso ungeklärter Zärtlichkeit für sie
erfüllt; er mied die Brüder und liebte sie. Im Landhause von La Chorale
bei Dirnen, nahe der ewig ergreifenden Gewalt des Meeres, studirte er mit
Heißbegier Latein, Griechisch, Hebräisch, moderne Sprachen, die Kirchenväter und
die Kontroversschriftsteller, alles als Autodidakt, alles ohne theologische Vor¬
bildung. Religiöse Zweifel zerrissen das junge Gemüt, und erst mit zweiund¬
zwanzig Jahren entschloß er sich zur Kommunion; dann aber widmete er sich,
so viel neue Bedenken auch in ihm aufstiegen, voll Feuer der Theologie und
nahm 1811 die Tonsur; er trat in das von feinem Bruder gegründete kleine
Seminar der Vaterstadt, an dem er in Mathematik unterrichtete, entschloß sich
aber erst 1816, die Priesterweihe in Reimes zu nehmen und ließ sich schon 1819
in Rom vom Breviergebete dispensiren, sodaß er als Laientheologe gelten kann.
Voll Leidenschaft und Starrsinn warf sich Lamennais auf die kirchlichen und
politischen Zeitfragen, seit 1814 in recht ärmlichen Verhältnissen in Paris lebend.
Sein Stil war glänzend und verschaffte ihm einen Ehrenplatz unter den französischen
Prosaisten, aber seine Beredsamkeit war das Resultat der Begeisterung; bestechende
Dialektik und Keckheit der Behauptung ersetzten bei ihm Beweiskraft und Logik;
er schrieb voll Fanatismus in einem dauernden Rausche der Rechthaberei.
Rücksichtslos verfolgte er seine Ideen und Ziele, rückhaltlos haßte er seine
Gegner; wer nicht für ihn war, war unbedingt wider ihn; sein geistiger
Hochmut kannte keine Gnade; es lag ihm alles daran, sich zur ersten Kirchen-
autvrität aufzuschwingen. Noch anmaßender als Chateaubriand, bezog er alles
im Universum auf sich zurück und hatte vor niemand Ehrfurcht als vor sich.
Er zuerst machte die periodische Presse ultramontanen Zwecken dienstbar, und
seine Verehrer feierten ihn als „letzten Kirchenvater"; vor ihm beugten sich
Pius VII. und Leo XII., er schuf eine Schule, die feinen eignen Abfall lange
überdauerte und ihren höchsten Triumph 1870 im Dogma der Unfehlbarkeit
feierte. Seine Religion war kein Kind feines Herzens, sondern seiner Ein¬
bildungskraft.
Zum erstenmale trat der merkwürdige Mann 1808 in der Literatur auf;
ein Gegner des Kaiserreichs und des „Antichrist«?" Napoleon, schrieb er
gegen die religiöse Indifferenz die wiederholt aufgelegten Uölloxions sur l'owl,
as 1'6ZIi8ö on xvMimt 1v 6ix-tiuitiöiuiz M«1s se for hö, MriiMoir aotuollo.
Hier verherrlichte er die Kirche und stellte die Zeit selbst als ihr gegenüber
ohnmächtig hin. Napoleon fühlte die Keulenschlüge wohl, und seine Polizei
unterdrückte das kecke Buch, in welchem die Katholiken eine mächtige Stütze für den
hinsterbenden Glauben fanden. Offen sprach Lamennais seine Verzweiflung an
der Zukunft der französischen Gesellschaft aus, wenn nicht die Kirche in ihrer
alten Machtstellung restaurirt würde; ihm erschien die Kirche eine Zuchtanstalt
für das Volk, für das der religiöse Glaube notwendig sei; an allem Unheile
war die Reformation schuld, die sich auf die subjektive Vernunft des Einzel¬
menschen berief; ihre Folgen mußten der Jansenismus, die Philosophie des
achtzehnten Jahrhunderts und endlich die Revolution werden; gegen die Jesuiten,
das feste Bollwerk Ver Kirche, war ein Sturm des Unglaubens lvsgebraust und
hatte den Orden hinweggefegt; darum war die Revolution nicht zu verhüten
gewesen, Ludwig XVI. mußte das Schaffot besteigen und die Kirche ging unter;
die Jesuiten — so schloß Lamennais — müssen wiederhergestellt werden, dann
allein kann sich ein Neubau der Kirche im Staate Ludwigs des Heiligen erheben,
und die Pforten der Hölle vermögen nicht, ihn zu überwinden. Fortan lebte
Lamennais in beständiger Furcht vor dem Untergange der menschlichen Gesell¬
schaft, die ihm in einem Delirium oder einem Rausche erschien; er selbst wollte
lieber sterben als in dieser Korruption leben. Ihn und seinen Bruder, den
Abbe Jean Marie, beschäftigte dabei der Plan, die Legalität des Gewaltstrciches
gegen die Kirche, des Konkordats von 1801, darzulegen; sie arbeiteten seit 1810
an dem dreibändigen Werke I,Ä IriMtivn 60 l'vMsL sur l'inskitutioQ ass ovßquö8,
welches 1814 heimlich in Paris gedruckt und verbreitet wurde: es war ein
großer Schritt weiter nach Rom hin, und Lamennais mußte sich zur Verteidigung
desselben rüsten. Wie er geahnt hatte, erhob sich gegen das Buch mit seinen Ent¬
stellungen und Verdrehungen, die gar wenig Freunde sanden, eine Welt von
Feinden. Hatte er nach Napoleons Sturz der Rückkehr der Bourbons zu¬
gejubelt und das kaiserliche Regiment mit gewohnter Leidenschaftlichkeit verurteilt,
so fand er es in den Hundert Tagen geraten, vor Napoleons Zorn und der
Erbitterung der Bischöfe im April 1816 nach England zu flüchten, wo er mit
Stundengeben seinen Unterhalt fristete. Er fand bald, die protestantische Atmo¬
sphäre sei Stickluft für ihn, und lieber würde er in der Türkei leben. Unausgesetzt
beschäftigten ihn die Freiheiten der gallikanischen Kirche und die Unfehlbarkeit
des Papstes, er wetterte gegen erstere und griff Bossuet mit steigender Wildheit
an, wandte sich gegen die irischen Bischöfe, die 181S ihre Selbständigkeit Rom
gegenüber betonten, und trieb in das Fahrwasser der Journalistik, um die
wundersame Kraft seiner Feder Rom zur Verfügung zu stellen. Wie Graf de
Maistre, folgerte er aus der Souveränität des Papstes seine Jnfallibilität; er
machte de Maistres Ideen dem Volke mundgerecht, führte aus, der Papst
sei infallibel und repräsentire die Gesamtvernunft, ihm sei unbedingter Gehorsam
zu zollen. Das Haupthindernis für die Realisirung seiner Kirchenverbesserung
erkannte er in der Abhängigkeit des Klerus vom Staate, seinem Brodherrn;
darum forderte er eine feste Dotation für den Klerus und ging darauf aus, ihn
zu einer in sich abgeschlossene» unabhängigen Korporation zu machen; von diesen
Ansichten, die bleibendes Gemeingut seiner Schule wurden, schritt er mit der
Zeit zur Lehre von der vollen Trennung der Kirche vom Staate vor.
Eine Stunde des Entzückens schlug für den Bewunderer der Jesuiten, als
Pius VII. im August 1814 den Orden wiederherstellte; Lamennais erblickte hierin
eine mächtige Förderung seiner Lehren. Unter der zweiten Restauration kehrte
er im November 1815 aus England nach Paris heim und führte erbitterten Krieg
gegen das Lehrmvnopol des Staates; es bedurfte des freien Unterrichts, um
die Jesuiten zu Herren der Gewissen zu machen; sein Pamphlet „Das Recht der
Negierung auf die Erziehung" fand starken Absatz, und seine Schrift von 1318
„Über die Erziehung in ihrer Beziehung zur Freiheit" reklamirte die Freiheit
des Unterrichts auf Grund der Rechte des Vaters und der Familie, allein über
die Erziehung ihrer Angehörigen zu entscheiden. Bereits in England hatte er
ein großes Werk begonnen, den Lss^i Lur l'inäitlortZllLö on irilckiörs as rsliZion,
dessen erster Band jetzt 1817 in Paris erschien; derselbe erweckte außerordent¬
lichen Enthusiasmus, und auf Lamennais ergoß sich eine solche Überfülle von
Lob, daß sogar er beschämt niederbückte. Bonald, de Maistre, Lamartine über-
trafen sich in Ausdrücken der Bewunderung; Lamennais ward direkt neben den
großen Pascal gestellt; das Buch fand alsbald neue Auflagen, Übersetzungen
in spanischer und deutscher Sprache, und doch enthielt es uicht einen originellen
Gedanken, sondern war eine glückliche Kompilation aus Pascal, de Maistre,
Bonald, Chateaubriand u. a. nannten ihn manche Gegner einen „Lügenfabri¬
kanten" und „Skandalmacher," so verbreitete die ultramontane Partei sein Buch
und seinen Ruf weit über die Grenzen Frankreichs, Ohne Liebe und Freund¬
schaft in der Welt, suchte der hochbegabte Priester Ersatz in der Kirche; er
wollte herrschen, die unterdrückte Kirche zu neuer Allmacht erhöhen und in ihr
eine gebietende Rolle spielen. Mit der absoluten Sicherheit eines scheinbar un¬
erschütterlichen Glaubens trat er auf; seine rhetorische Gewalt war zumal im
Zorne, tu Donner und Blitz berückend, und mit echt populärer Feder riß er
die Indifferenten ans ihrem bequemen Schlummer; er sprach so verachtungsvoll
von den gesellschaftlichen Zuständen Europas, wie wenn er ihnen absolut fremd
wäre, stritt gegen die Philosophie des siebzehnten und den Unglauben des acht¬
zehnten Jahrhunderts und bezeichnete als einzige Regel der Gewißheit das
Grundprinzip der römischen Kirche, ihre Autorität in Glaubenssachen; was von
der Lehre der Kirche abwich, galt ihm als schnöder Abfall; wer dem Papste
nicht blind gehorchte, war ihm Rebell gegen Gott selbst; jeder Staat, der die
Ketzerei duldete, verließ seine kirchliche Grundlage und gab selbst seine Legiti¬
mität preis — kurz, die gesunkene europäische Gesellschaft konnte aus der all¬
gemeinen Anarchie nur gerettet werden, wenn sie zur Unfehlbarkeit der Päpst¬
lichen Autorität zurückkehrte. Jahrelang wurde das Buch in schärfster Weise
angegriffen und widerlegt, Lamennais selbst schrieb 1821 eine Dutenss. Als be¬
geisterter Streiter der Loolesia militM« wurde er Mitarbeiter am Lor8si'vat>cur,
trug nach Kräften zum Sturze des Ministerpräsidenten Decazes bei und be¬
kämpfte den ihm folgenden Villele in den Journalen 1,6 vraxeg-n vlluiv und
Ils Neinorial o-itllolicinv. Ohne eigentlicher Royalist zu sein und in beständiger
Anfeindung aller Ministerien der Restauration, arbeitete er für die Konser¬
vativen; ihm ging Rom über alle Könige. Der Katholizismus erschien ihm
die höchste Bildung der göttlich-menschlichen Vernunft; in der Autorität des
Papsttums glaubte er die ersehnte Garantie für die ewige Wahrheit zu finde»,
welche der individuelle Verstand anzweifle; alle obrigkeitliche Autorität schien
ihm vom Papste abgeleitet, und er wollte darum den Staat völlig der Kirche
unterordnen; fast heftiger uoch als den Protestantismus bekämpfte er den Galli-
kanismus, den Abscheu der Jesuiten. Er pries de Maistres merkwürdiges Buch
„Vom Papste," fand bei ihm neuen Stoff und war gewillt, ihn mit allen
Waffen des Geistes und der Sophistik zu unterstützen. Nicht minderes Auf¬
sehen als der erste erregten die drei letzten Bände des IZssÄi, die bis 1823
erschienen und wiederholt aufgelegt wurden. Lamennais sah in der Unfehl¬
barkeit des Papstes die gegebene Basis seiner Erkenntnistheorie, im Papste lag
die absolute Vernunft, Fand sei» Werk großen Anklang in Frankreich und im
Auslande, bekehrte es viele Ungläubige und Protestanten, so entsandte es auch
einen heftigen Sturm gegen ihn, der selbst in Rom fühlbar war, doch hier mit
seinem vollen Siege endete; er atmete auf, als Pius VII. ihm 1822 seine
Freude über sein Wirken aussprach. Die junge Priesterwelt Scharte sich um
seine Fahne, und die meisten neuernannten Bischöfe ließen „die wahrhaft katho¬
lische Doktrin" in ihren Seminaren lehren; daß ihn seine Ansichten in Konflikt
mit den Gerichten brachten, kümmerte ihn ebenso wenig wie die steten Angriffe;
er sagte sich: Viel Feind viel Ehr! Die I^idrsiriö olassique 616in.vlltiürs ent¬
stand unter Lamennais' Miteigcntümerschaft, die von seinem Bruder gestiftete
Kongregation der „Brüder des christlichen Unterrichts" war dafür thätig, die
Zeitschrift 1-v Nvworig.1 vgUiolicius war bis 1830 das ausschließliche Organ
von Lamennais' Schule. 1824 reiste der kühne Abbe nach Rom, um den neuen
Papst Leo XII. zum Bekenner seiner Lehre zu machen; unterwegs, wie in Rom,
Vertrieb er seinen Ksss-i sowie das Nöiuori^l oMwIiMv und verwendete Meß-
stipendie» für ultramontane Wühlereien. Seine Romfahrt war ein Triumphzug.
Der Papst bot ihm im Vatikan selbst Wohnung an, bewilligte ihm zwei
Audienzen, plauderte freundschaftlich mit ihm, pries ihn als „letzten Kirchen¬
vater" und schmückte den Empfangssaal, in dem nur die Madonna hing, mit
seinem Bildnisse. Kardinäle und Prälaten umbuhlteu den Abbe, Jesuiten be¬
suchten Hu, und niemand wagte es, ihm zu widersprechen; er nahm: den Kar¬
dinalshut nicht an, erwirkte hingegen Lambrnschinis Ernennung zum Nuntius
in Paris, des Mannes, der sein schlimmster Feind werden sollte, und kehrte,
von Leo mit Aufmunterungen »ut Geschenken entlassen, im Winter 1825 heim.
Er stand im Zenith seines Ruhmes und trat zuversichtlicher, herausfordernder
in den Streit als je. Aus eiuer ministeriellen Verfügung nahm er Anlaß, den
Unterrichtsminister Bischof Frayssinous anzugreifen, und ließ andern Arbeiten
1825/26 vo 1». RvliUon vousiävrvs äsus öff rspxorts avvv 1'orÄrv politiWS
vivit folgen, worin er die gallikanische Kirche und ihre grundlegende De¬
klaration von 1682 in leidenschaftlichster Herbe geißelte. Er fand es schmählich,
daß Karl X. den Gallikanismns schütze, und nannte seinen Staat geradezu
atheistisch. Die einzige Wahrheit, die er anerkannte, die christliche, wurde nach
Lamennais vom Papste, dem Schlußsteine der Gesellschaft, verkündet; auf der
Kirche beruhte alle soziale Ordnung, ihr mußte sich darum der Staat unter¬
ordnen und ihr sein weltliches Schwert leihen; nach völlig mittelalterlicher Auf¬
fassung sah er alle fürstliche Majestät lediglich als päpstliche Verleihung an;
jede nicht auf kirchlichem Boden fußende Verfassung galt ihm als illegitim;
Katholizismus und Demokratie waren unvereinbar. Der begeisterte Hierarch
brach schroff mit den Legitimisten wie mit den Liberalen; Rom war die Sonne,
aus der die Welt ihr Licht erhalten sollte. Das neue Buch versetzte Frankreich
in fieberhafte Sensation: vierzehn Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe ver-
darunter es am 3. April 1826 in einer Deklaration an Karl X,, in der sie
„die volle und absolute Unabhängigkeit der Souveräne in weltlichen Dingen
von jeder kirchlichen Gewalt" seinen maßlosen veralteten Prätensionen entgegen
betonten; noch sechzig Prälaten stimmten zu. Als ungehorsam gegen die
Staatsgesetze wurde Lamennais, obwohl Berryer ihn verteidigte, am 22. April
verurteilt; doch behandelte man ihn voll Schonung, und der Spruch erwähnte
seines ehrwürdigen Charakters; seine Schrift wurde unterdrückt, und er kam mit
dreißig Franks Buße davon. Voll Erbitterung verfolgte der Episkopat den
dreisten Nömling, dieser griff nach wie vor die Uuterrichtömnister und den
Gallikanismus an, war weit konsequenter als seine Widersacher und hatte an
Rom einen furchtbaren Hinterhalt, während er die ganze Priesterjngend an sich
zog. Mehr und mehr ekelte ihn die konstitutionelle Monarchie Karls X. an,
die ihm keine Stütze gewährte; er nannte sie den abscheulichsten Despotismus,
der je auf der Menschheit gelastet habe, sah in der Allianz des Priestertums
mit dem fürstlichen Absolutismus einen Fehler und verlangte die vollständige
Trennung der Interessen der Kirche von denen der Staatsgewalt, Im Hin¬
blicke auf die Verordnungen von 1828 wegen der religiösen Genossenschaften
und der geistlichem Erziehung ließ er 1829 seinen Gefühlen in I)s8 ?r0grss as
l^ rsvoleckion öl as bi. Airsrrs svrckrs l'sgliLö freien Lauf, wetterte gegen
den atheistischen Staat, gegen die Bischöfe und die Deklaration von 1682 und
verteidigte die berüchtigte Bulle Bonifaz' VIII, von 1302 Himur hö-llowill,
die den Staat und die Fürsten der Gnade des Papstes preisgab; in fast
prophetischen Worten verkündigte er die Revolution des nächsten Jahres; er
griff das Kabinet Martignae an, weil es die Gesellschaft entchristliche und alle
Anhänger der Kirche, voran die Jesuiten, verfolge; der Moment schien ihm nahe,
wo das unterdrückte Volk Gewalt anwenden müsse, um im Namen des infallibeln
Papstes gegen den atheistischen König aufzustehen; er nannte sich den Vor¬
redner von 25 Millionen Katholiken. Ungewöhnlich war die Wirkung auch
dieser für ihn charakteristischen Schrift; sie fand sofort in Frankreich eine, in
Belgien vier neue Auflagen; zahlreiche Widerlegungen tauchten auf, Lamennais
trat in einen hitzigen Federkrieg mit dem Erzbischofe von Paris, überwand ihn
aber mit Hilfe des Papstes, der ihm seine Aufmunterung und den apostolischen
Segen sandte. Ganz allmählich näherte er sich, das liberale Lager verlassend,
den Demokraten, eine Konsequenz seiner Lehren, 1829 gründete er unter herz¬
licher Billigung Leos XII. die „Gesellschaft zur Verteidigung der katholischen
Religion," die ihre Organe in I>s LlMoliqruz und I^s Lorrssxonäirnt, fand.
Aber beide waren ihm bald nicht dienstbar genug. Zu seiner höchsten Genug¬
thuung stieß die Julirevolution Karl vom Throne, und die Presse wurde frei.
War tuo Nvnroriirl czg.tnoliqus 1830 eingeschlafen, so gründete Lamennais nun
das christlich-revolutionäre Journal I.'.Vvciul- unter der Devise visu se, I,i-
bsrts — 1s l^axe se 1s ?sux1s; es erschien seit September 1830. In ihm
herrschte Lamennais, unterstützt von den fähigsten Schülern, Lacordaire, Graf
Montalembert, Gerbet u. a., die der Religion eine lange vermißte Popularität
gewannen und glühend die Sache der Freiheit verfochten, freilich in Gregor VII.
den großen Patriarchen des europäischen Liberalismus bekränzten. Diesmal
stülpte die Kirche die Freiheitsmütze auf. Lamennais that den Schritt zur freien
Kirche im freien Staate, bekämpfte das Konkordat, forderte seine Abschaffung
und die des Kultusbudgets, leugnete das Erncnnungsrccht des Königs, schlug
dem Klerus vor, auf die Staatsbesvldung zu verzichten und alle Notdurft nur
durch die freiwillige Spende der Gläubigen zu bestreiten; er versicherte, die
Kirche werde wieder mächtig auf das Gemüt der Nation einwirken, wenn sie
zur Armut zurückkehre und nur ihrer religiösen und moralischen Kraft vertraue.
Sein Losungswort war Freiheit der Kirche vom Staate und Verzicht auf alle
Staatsunterstützung; die Kirche aber wollte von Entsagung nichts hören: ihr
waren Güter und Besitz zu wert, ihr graute vor diesem Freunde. Während
er die Alleinherrschaft Christi und des Papstes predigte, trat Lamennais unter
dem Jnbel der Priesterjugend Europas für die unterdrückten Katholiken in
Irland, Polen und Belgien ein, focht für den Altar gegen den Thron. Von
letzter»! aber forderte er unbedingte Freiheit des Gewissens, des Unterrichts, der
Presse und der Assoziation, allgemeines Wahlrecht und Beseitigung des ver¬
derblichen Zentralisntivnssystems; hatte er früher Kirche und Demokratie unver¬
einbar genannt, so hoffte er jetzt, sie vermählen, Autorität und Freiheit ver¬
söhnen zu können. Die „Brüder des christlichen Unterrichts" verbreiteten zumal
in der Bretagne die Anschauungen des ^vouir im Klerus und Volk, und
Malestroit wurde Novizenanstalt einer Kongregation für Journalisten; am
29. April 1831 trat die „ Generalagentnr für die Verteidigung der religiösen
Freiheit" ins Leben, deren Präsidium Lamenncns führte und die alle Länder,
in denen Katholiken wohnten, umspannen sollte; sie verlangte den freien Unter¬
richt und eröffnete trotz Regiernngsvcrbots eine freie Schule. Es fehlte nicht
um Preßprozcsseu gegen Lamennais, an Strafen, aber auch nicht an Triumphen;
keck setzte er den Kampf gegen Universität und Bischöfe fort, bis sich ein Teil
der letzten? unter der Leitung des Erzbischofs Astrvs von Toulouse entschloß,
ein Memorandum gegen das revolutionäre ^.vsirir und seine Redakteure dem
Papste Gregor XVI. einzusenden. Dem entgegen riet Lacordaire dazu, selbst
das Urteil der Kurie anzurufen; Lamennais ging feurig darauf ein, und in
einem Glaubensbekenntnisse vom 2. Februar 1831 erneuerten die Redakteure
die Beteuerungen extremen Ultramontanismus wie die Verdammung des Galli-
kauismus. Der Papst schwieg, der Kampf gegen das ^.venir nahm bedrohlichere
Dimensionen an, es gebrach an Mitteln, das Blatt fortzusetzen, und so ent¬
schlossen sich Lamenncns, Lacordaire und Montalembert, am 15. November
dasselbe einstweilen einzustellen und selbst ihre Sache in Rom zu führen.
Lamenncns mochte wohl an die Triumphe seines ersten Auftretens in der
ewigen Stadt denken! Er fand zwar bei manchen freundliche Aufnahme,
aber die Jesuiten waren gegen ihn thätig, und Gregor empfing die drei
Führer des Neukatholizismus schließlich nur unter der Bedingung, daß sie
den Zweck ihrer Reise nicht erwähnten Lamennais' unermeßlicher Hochmut
mußte die schwersten Niederlagen durchkosten, und die Kurie wies das ihr
eingereichte Memorandum über den Zustand der Kirche zurück. Endlich wurde
Lamennais des Wartens auf die päpstliche Entscheidung müde und verließ tief
verstimmt mit Montalembert Juli 1832 Rom; war der Papst mit seiner Chimäre
eines päpstlichen Weltdespotismus recht wohl einverstanden, so verdammte er
die Irrlehre moderner Freiheit ebenso unbedingt wie die Regierungen von Frank¬
reich, Nußland, Österreich und Preußen, und in München ereilte Lamennais
seine Encyclila vom 15, August: sie verurteilte sämtliche Lehren des ^vsuir von
der bürgerlichen und Preßfreiheit, von der Berechtigung unterdrückter Völker,
aufzustehen, und vor allem „den Wahnsinn der Gewissensfreiheit"; ein Breve
vom 18. September verschärfte noch die Verurteilung, sein unfehlbarer Abgott
entschied somit gegen ihn; äußerlich unterwarf sich Lamennais, aber sein Herz
vergifteten Wut und Ehrsucht, Er schalt Rom deu Sitz der Furcht und
Schwäche, mo Dummheit und Ehrgeiz sich umarmten. Schon am 10. Sep¬
tember erklärte er das Aufhören des ^vonir und der Generalagentur zur Ver¬
teidigung der religiösen Freiheit. Gregor aber verlangte, Lamennais solle die
Lehren, die er gepredigt, offen verdammen, wies seine Erklärungen als ungenügend
zurück und trieb ihn zum Bruche. Am 5, November 1833 schrieb ihm der
Abka, seinem Gewissen zufolge dürfe der Christ nur in religiösen Dingen ge¬
horche,:, bleibe hingegen in allen das Zeitliche betreffenden Meinungen, Worten
und Thaten von der geistlichen Macht frei — und pnblizirte zur Entrüstung
Roms diesen Brief. Trotzdem erklärte er an: 11. Dezember ohne Vorbehalt
einen unbedingten Gehorsam, widerrief und äußerte dem Erzbischofe von Paris:
er unterzeichne damit irnxllelto, der Papst sei Gott. Aber die Kurie war hiermit
uicht zufrieden und er zog sich nach La Che-raie zurück, um zum Entscheidungs¬
akte seines Lebens, zum Bruche mit Nom, das ihn verleugnet hatte, zu schreiten.
Er kannte nur Extreme und sprang von einem zum andern über. Im Mai
1834 erschienen karolss ä'un orozwat, ein Empörungsschrei des Abgefallenen,
das Evangelium beleidigten Hochmuts und wildesten Zorns; er verkündete in
schwungvollster Sprache, im Tone eines Propheten des alten Testaments, deu
Untergang der teuflischen Staatsordnung und die Zukunft eines neuen christlichen
Reiches der Freiheit und Gleichheit; er rief die Armen anf gegen die Reichen,
mißbrauchte die Bibel zu revolutionären Zwecken und predigte den Krieg wider
Thron und Besitz, Demokrat geworden, redete er die Sprache Se. Justs und
Robespierres; gar wenig blieb von kirchlichen Dogmen übrig. Der Papst aber
schleuderte am 15. Juli 1834, das ganze Trugsystem des Apostaten verdammend,
eine Encyelika gegen die I'lo>!.'>, die er „das Erzeugnis der Gottlosigkeit und
Frechheit, unbedeutend an Ausdehnung, unermeßlich ein Verderbtheit" nannte.
Selten hat ein Buch derart die öffentliche Meinung beschäftigt; es erlebte binnen
wenig Jahren über hundert Auflagen, zahlreiche Übersetzungen, zahlreiche Wider¬
legungen und trug dem Verfasser den ewigen Haß seiner Gegner ein, während
ihn selbst seine Anhänger verließen. War Lacordaire längst von ihm gewichen,
so schnitt jetzt auch Montalembert das Tischtuch entzwei, und er blieb allein,
um unbeirrt und aller Rücksicht bar den Kampf bis aufs Messer fortzuführen.
Seine Vergangenheit weit hinter sich werfend, betrat er die Laufbahn des Volks¬
apostels; ihm galt die Autorität, sobald sie die Freiheit uicht beförderte, nichts
mehr, und er kehrte zu Rousseau, der Liebe seiner Jugend, zurück; stets pulsirte
sein Herz in seinen phantastischen Reden. In dem zweibändigen Werke ^tllüi'W
ä<z uomo (1836/37) schilderte er, ähnlich wie einst Luther, seine Romfahrt von
1832, vertrat Ansichten, die er früher verurteilt hatte, behielt aber die alte
Miene der Unfehlbarkeit bei; er warf das eitle Papsttum zu den Toten und
huldigte demokratischen Zulunflsidealen. Dem einsamen Oberpriester — so rief
er — bleibe nichts übrig, als sich in der Stille mit dem Stumpfe seines zer¬
brochenen Kreuzes ein Grab zu graben. Sein neues Journal 1^0 Noncis fristete
nur wenige Monate das Dasein. Bei Lamennais waren die Irrtümer keine
Meilensteine am Wege der Wahrheit, er verirrte sich immer mehr im Zwielichte.
1837 erschien sein die Volkssouveränität empfehlendes Buch Jto I-lors an xsupls:
es ließ vom Christentum nichts übrig als die Predigt von der allgemeinen
Bruderschaft; Christus ward zum ersten der heiligen Jakobiner, die für die
Freiheit arbeiten, das Volk zum echten Souverän, von dem alle Gewalt aus¬
gehe; starb es jetzt im Graben an der Landstraße, so war es doch berufen,
despotische Willkür zu stürzen und das Reich Christi wieder aufzubauen. So viel
an ihm war, bedrohte Lcnnennais die Gesellschaft mit einem wirklichen politisch'
religiösen Schisma. Er schleuderte ein Buch um das andre gegen die satanische Welt¬
ordnung und hetzte schnöde den Pöbel zum Kriege gegen die Besitzenden auf; dies
gilt von l^olitiaM a. l'usiZM du xeuxlv, vo 1a, Iiutts fuere la cour se 1v xouvoir
xarlöMvntairö, I)<z 1'Lsc.1a>vaZ<z moderne und deu (juestioirs xotitiques et xlnloso-
Mic^no». Die Sand wiederholte seine Tiraden in ihren sozialen Romanen. 1841—46
folgte die vierhändige D8(M88L ä'une piu1a8vpllie, ein überwiegend rhetorisches
Machwerk, welches wiederum dem gottlosen Zeitalter den Untergang prophezeite
und nur Chateaubriand in seiner Arche Noah die Sündflut zu überleben gestattete.
Das Pamphlet von 1840 Il<z I>a^L ge 1s ßauverueuient, ein Schlag gegen die
Optimatenherrschaft, war einer der übertriebensten und gehässigsten Ergüsse
seines Ingrimms; es schrie nach einer totalen Reform, die eigentlich den Namen
einer Revolution verdiente, damit Frankreich von seinen Feiglingen, Verrätern
und Aussaugern befreit werde; diesmal verurteilte thu die Jury zu 2000 Franks
und einjährigen Gefängnisse, und froh, zum Märtyrer werde» zu dürfen, bezog
er sofort Ste. Pelagie, wo er Uns Voix cke prison schrieb. Einer Reihe neuer
Schriften schloß sich 1848 of 1» Kooiötö xrvmiöre ot. alö hos lois, on ve 1a
liöligimi an, der letzte Bruch mit seiner römischen Vergangenheit; aller Glaube
an eine übersinnliche Ordnung war nun ein Frevel gegen die Menschheit. Wie
einst die Revolution von 1830, so begrüßte Lamennais die von 1848 mit
Frohlocken; er forderte von ihr den Schlag der Wünschelrute, um die satanische
Weltordnung zu zertrümmern und das erträumte Lichtreich heraufzuführen;
vom 27. Februar an erschien sein mit Dnprat und Barbet gegründetes Jour¬
nal I.s l^miplc! vvusliwimt, starb jedoch schon am 11. Juli an Marasmus.
Alles kam anders, als der Schwärmer vermutet hatte, die bittersten Ent¬
täuschungen wurden sein tägliches Brot, und er nahm verzweifelt von seinen Lesern
Abschied. Noch einmal vergoldete ein Hoffnungsstrahl sein Dasein, als ihn
das Seinedepartemcnt in die Konstituante und nachher in die Legislative ent¬
sandte, wo der Repräsentant des Sozialismus natürlich auf der äußersten Linken
Platz nahm; sein als Mitglied des Verfassungsnusschnsses schon in der ersten
Sitzung unterbreitetes fertiges Verfassnngsprvjekt für die Republik war so ra¬
dikal, daß es unbeachtet blieb; er aber verwahrte sich gegen jede Nachgiebigkeit.
Auch seine neuen Publikationen in ultrarevolutionären Geiste machten wenig
Eindruck mehr. Regelmäßig in den Sitzungen der Nationalversammlung an¬
wesend, protestirte er durch Stillschweigen gegen ihm mißliebige Akte. All seine
Illusionen begrub der unselige Staatsstreich vom 2. Dezember 1851; mit tiefer
Trauer fragte er sich, was seine christlich-sozialen Trünme nun noch bedeuten
sollten.
Er zog sich vom öffentlichen Leben zurück, ordnete die Gcsamtansgabe seiner
Werke an und betrieb mit jugendlichem Eifer das Studium Dantes. Er wies
alle Versuche Pius' IX., ihn mit der Kirche auszusöhnen, ebenso entschieden von
der Hand wie die Bckehrnngsbemühungen ans dem Sterbebette, blieb der un¬
versöhnliche Feind des herrschenden Chnstentnms und verbot, sein Grab durch
ein Kreuz oder einen Stein kenntlich zu machen, sowie ein Wort über seinen
Gebeinen zu reden. Ruhig verschied er in seinen Irrtümern, die bei ihm zum
festen Glauben geworden waren, am 27. Februar 1854. War sein Geburtstag
der Pascals, mit dem ihn einst seine Bewunderer verglichen, so starb er an dem
Tage, da Renan das Licht erblickte. Ungeheure VvMmasfen begleiteten die
Leiche des von Rom abgefallenen zum Pere Lachaise, die Polizei hatte Militär
aufgeboten und ließ nur acht Leute mit dem Sarge den Friedhof betreten. Dort
ruht er, aber kein Zeichen der Trauer oder Liebe nennt die Stelle. Er besaß
Kraft, aber keine Tiefe. Angst und Zweifel hatten die hochmütige Priestersecte
durchstürmt, Nacht auf Nacht sich um ihn geschichtet; er aber konnte es nicht
über sich gewinne», demütig die Hände zu falten und das Gewand des Erlösers
zu erfassen; er wagte den Kampf mit Gott, als ihn der Papst verstieß, aber
dem Israel der Bibel nicht gewachsen, sank er zerschmettert zu Boden. Und so
schluchzte er denn auf: „Wenn Fluten von Licht und Ströme von Feuer eine andre
Welt überschwemmen, bleibt die meine schwarz und unter Eis, Der Winter
umhüllt sie mit seinem Reife, wie mit einem ewigen Schweißtuche, Lasset die
weinen, die keinen Frühling kennen."
cum G
- Conrad in seinen Münchner Novellen trotz allem als
ein ernster Schriftsteller erscheint, der sich selbst der Erkenntnis
nicht völlig verschließt, daß es vor den Naturalisten einige große
LelienSdnrsteller gegeben hat, die man zwar der „Lüge" zeihen,
aber nicht überführen kann, so treten andre Mitglieder der Schule
in einer Haltung auf den literarischen Kampfplatz, als ob die Literatur und
die Wahrheit mit ihnen begonnen. Das Äußerste, nicht in Bezug auf die Dinge,
die er „wagt," sondern auf die Ansprüche, die er erhebt, finden wir bei Carl
Bleibtreu, dem Verfasser der „realistischen" Novellen Schlechte Gesell¬
schaft (Leipzig, W. Friedrich, 1886) und der Schlachtbilder Vio8 ir^s,
Napoleon bei Leipzig, Wer weiß es? Deutsche Waffen in Spanien,
einem Autor, welchem Conrad in einem Begleitbriefe zu dem erstgenannten
besonders charakteristischen Buche die Versicherung erteilt, „er sei als Erkennender
wie als Nachschaffender der Wahrheit bis in ihre abgründigsten Tiefen nach¬
gegangen," und dem er zuruft: „Dem ästhetisireuden Gesinde! mit seiner ober¬
faulen Sittlichkeit mag dein Thun fatal sein. Wir achten der grinsenden
Manier nicht und der lüsternen Fratzen, und wo mau uns ob unsrer rücksichts¬
losen Lust an der reinen Kunst und Erkenntnis mit denunziatorischen Blicken
verfolgt, gehen wir mit stolzer Verachtung vorüber." Herr Bleibtreu selbst
aber erklärt: „Ich wünsche meinem Buche nur dreierlei: daß die Heuchler es
unmoralisch, die Sentimentalen es brutal und gewisse jugendliche Se. Beuves
der Realistenschule es sentimental finden mögen. Dann wäre ich ja getrost in
meinem Gemüte, daß ich ein hvchmoralisches, gesundes und wahres Buch ge¬
schrieben haben muß."
Der Leser entnimmt schon aus deu angeführten wenigen Sätzen, daß die
„Schule" trotz ihrer „Heißsporne" die kälteste Berechnung auf eine weitverbreitete
Feigheit nicht außer Augen läßt. Es ist ja weder angenehm, sich öffentlich der
„Patentirten honetten Schurkerei" angeschuldigt zu sehen, noch besonders vergnüg¬
lich, als „Blaustrumpfschiuierer, Wonnebrunzler, Feigenblättler" angeredet zu
werden, und eine große Anzahl von Männern, welche berufen wären, dem Unfug
entgegenzutreten, geht ihm mit der stillen Hoffnung aus dem Wege, daß er über
kurz oder laug im Irrenhaus (Abteilung für Größcnwahnsinn) erlöschen müsse.
Wie viel inzwischen in unsern literarischen Zuständen, die wahrlich schon ver¬
worren und widerwärtig genug sind, noch verschlechtert, wie viel Talente auf
Irrwege gedrängt, wie viel „Empfängliche" im Publikum der Genußfähigkeit
für jede andre Lebensdarstcllnng beraubt werden, kümmert diese Vorsichtigen nicht.
Sie wünschen von niemand „verkannt" zu werden und sind ja ganz gewiß, daß
der groteske Kriegstanz, der mit wilder Bedrohung aller pscudoidealistischeu
„Schurken" aufgeführt wird, bald in lächerlicher Weise enden werde.
Einstweilen aber scheinen die Jünger der „unerschrocknen" und schon darum
„wahrhaft-sittlichen" Kunst ihres Sieges ebenso gewiß. In der Vorrede zu dem
Buche „Schlechte Gesellschaft" orakelt Carl Bleibtreu wie folgt: „Gerade durch
den Gegensatz höchster Sentimentalität zu der völlig ungeschminkt dargestellten
Rohheit des realen Lebens kann jener unheimliche Eindruck künstlerisch erzeugt
werden, den das Wesen des Menschen bei jedem denkenden Beobachter wachruft.
Der Mensch ist keine Maschine, und eine bloße physische Anatomie daher un¬
realistisch. Anderseits soll rücksichtslos die Einwirkung des Physischen betont
werden. Die verlogne Patchoulipoctik, in welcher das Menschentier mit be-
schnittner Krallen in Glacehandschuhen sich spreizt und gleichsam in Zuckerwasser
bcsäuft, muß solange befehdet werdeu, bis der tausendfältige Sündenschmerz der
Menschheit endlich das Gestüte der Aftervvesie mit seinem donnernden Aufschrei
erstickt hat. Es steckt ein dämonisches Element in jeder Rücksicht auf die
Feuerversichernngsanstaltcn der konventionellen Moral. Selbstverständlich sind
die Figuren und Handlungen samt und sonders erfunden; die Modelle dazu
sind leicht zu treffen, daß es sich hier für mich nnr darum handelte, gleichsam
Symbole zu schaffen. Mit solchen Einzelstücken des neudeutschen Daseins muß
begonnen werden, ehe es gelingt, die komplizirte Mechanik der Gesellschafts¬
ordnung analytisch in ihre Teile zu zerlegen."
Da hätten wir denn wieder alle Schlagwörter beisammen, deren es bedarf,
die zahlreichen Tröpfe und Pinsel einzuschüchtern, die an der Spitze der „geistigen
Bewegung" zu bleiben wünschen und nicht im Augenblick zu erkennen vermögen,
welcher armselige Humbug hinter diesem Wvrtgepränge steckt: die verlogne
„Patchoulipoetik" (welche die Poesie von zwei Jahrtausenden umfaßt), die das
„Menscheutier mit seinen Krallen" nicht darzustellen weiß und darum zum
„Geflvte der Aftervvesie" wird, die „konventionelle Moral" (Conrad nennt es
„polizeimäßige Scheinmoral") und endlich das „neudeutsche Dasein." Denn
niemand geringeres wird als der geistige Vater des brutalen Naturalismus
proklamirt als — Fürst Bismarck. Wie der große Staatsmann dazu kommt,
sich im Sinne der literarischen Naturalisten für den ersten modernen Menschen
erklären zu lassen, dürfte schwer zu erraten sein; die Berufung aber auf ihn,
den Schöpfer des neuen Deutschlands, die Huldigung, welche ihm gebracht wird,
und der Gebrauch des Wortes neudentsch sind ebensoviele Magnete für jene
naiven Gemüter, denen jede Phrase imponirt. Übrigens soll garnicht geleugnet
werden, daß die Berufung in gewisser Weise in gutem Glauben geschieht, das
Selbstgefühl der Herren ist so gewaltig, daß ihnen nur die Selbstvergleichung
mit den erlauchtesten und mächtigsten Gestalten genügt.
Im Ernst hat das alles ungefähr soviel Sinn und Bedeutung, als wenn
ein Seifenfabrikant sein neuestes Getöns BiSmarckseife tauft oder ein Liqueur-
fabrikaut auf seine Etiketten das Bild des Fürsten-Reichskanzlers druckt. Eine
Wirkung thut es immer, und so mag denn auch die Versicherung, daß es neu-
deutsches Leben sei, was in der „Schlechten Gesellschaft" den Lesern vorgeführt
wird, hie und da geglaubt werden.
Wir vermögen in den drei Hauptnovellen des Bandes „Die Prostitution
des Herzens; aus dem Tagebuch eines Überflüssigem," „Eine feine Familie"
und „Raubvögelchen" nichts andres zu erblicken als Studien aus der Berliner
Halbwelt, Studien, in denen zwei Momente „ neudeutschen" Lebens ganz gut
wiedergegeben sind. Erstens der schauerliche, aus Unflütereien der gemeinsten
Sorte und Stilblüten gelegentlicher Lektüre gemischte Umgangston, den eine
Anzahl junger Männer in ihren Kneipen für geistreich und zeitgemäß erachten
und, wie schon früher erörtert, gewohnheitsmäßig auch an Orte tragen, wohin
er noch weniger gehört als in die Spelunken, deren öde Gleichförmigkeit bei
scheinbarer Mannichfaltigkeit der Verfasser fleißig beobachtet und deutlich wieder¬
gegeben hat. Zweitens die dämonische Anziehungskraft, welche Kellnerinnen,
Ladenmädchen und ähnliche weibliche Existenzen ans die neudeutschen Jünglinge
mit dem eben ernährten Jargon äußern, sobald sie irgendeine innere oder äußere
Schranke zwischen sich und der frechen, zutäppischen Begehrlichkeit ansuchten.
Was allein unecht an diesen Schilderungen erscheint, ist die ihnen beigemischte
„heilige Ideologie." Nicht, daß wir in Zweifel zögen, daß sich ein oder der
andre ungeschickte Bursche, wie er in der „Prostitution des Herzens" geschildert
werden soll, gelegentlich uuter das „welterfahrue" Gesindel verläuft, welches als
die goldne Jugend Neudeutschlauds geschildert ist. Doch abgeschmackt und wider¬
wärtig zugleich ist es, daß sich dieser „swä. xllil. Gottlieb Ritter," in dessen
Tagebuchblätter und Herzensgeheimnisse wir eingeweiht werden, um einer
Chansonctteusängerin willen erschießt, und daß diese Holde ihm im Tode nach¬
folgt. Nebenbei erfahren wir allerdings, daß dieser Berliner Nachfolger des
seligen Rolla Alfred de Mnssetschen Angedenkens sein Leben überhaupt zwecklos
verschleudert und neben einigen Kolpvrtageromancn, die er um des Erwerbs
willen verbricht, eine Lyrik pflegt, bei deren Vergleich mit seinen Göttern Burns,
Byron, Heine und Musset ihm wohl weltschmerzlich zu Mute werden mag.
Auch zeichnet er wörtlich auf: „Ich bin ein elender Feigling. Um dieser degra-
direnden Leidenschaft zu entgehen, ergebe ich mich gemeiner Liederlichkeit. O
Ekel, Ekel, — Weiß Gott, wenn ich den Unflat der sonstigen Berliner An¬
rüchigkeit durchwatet habe, so ist mir stets, wenn ich Karolci wiedersehe, als sei
sie meine reine Liebe, als sei sie eine anständige Jungfrau. Bei mancher »höhern
Tochter« und Hciratsspckulcmtin habe ich dies Gefühl nie gehabt." Wir mögen
also glauben, daß Herr Gottlieb Ritter sich erschießt, weil er seiner ganzen
Existenz müde ist und sür sein eignes Bedürfnis mit diesem Selbstmorde den
theatralischen Coup verbindet, sich von einem Mädchen zum Tode verurteilen
zu lassen, welche auf seine Todesankündigungen wie auf seine Liebesvcrsichernngen
jederzeit mit dem charakteristischen Worte „Mehlsuppe" antwortet. Und was
Karolci anlangt, so ist ja leider möglich, daß ihr das entwürdigte und jeden
Tag neu beschmutzte Dasein eines Mädchens, die jedermann als Dirne be¬
handelt, auch wenn sie zufällig keine Dirne sein sollte, so unerträglich ge¬
worden ist, daß sie ihm ein Ende in der schlammigen Spree macht. Aber
wenn wir dafür empfinden und die Tragik eines solchen, durch die nichtigsten
Nichtswürdigkeiten zu Grunde gerichteten Lebens begreifen sollen, müßten wir
etwas andres über die Arme erfahren haben, als was uns in den Tagebüchern des
lyrischen Dichters Gottlieb Ritter mitgeteilt wird. Der drastische Lvkalton des
Anfangs und das Ende stehen hier in einem unlösbaren Widerspruch, und an
diesem Widerspruch leidet die ganze naturalistische Darstellung. Noch viel stärker
als in der „Prostitution des Herzens" tritt die hohle Unreife dieser Art der Er¬
findung und Ausführung in der Novelle „Nanlwögelchcn" hervor. Mit dem
Mvliereschen Motto: Vous vo/M c>no xvnt, uno inclig'us tcmärvssg wird
uns hier der tragische Ausgang einer Leidenschaft erzählt, welche der Komponist
Herr Ernst von Bullrich für eine Tirolerin Toni faßt, die als „Bnsfetmcnnsell"
im Nationalkostüm in einem im Norden der Reichshauptstadt gelegnen Schenk¬
lokal fungirt. Herr von Bullrich wird als ein wirklich talentvoller und
noch illusiousfcihiger Mensch geschildert. Ist er ein solcher, hat er alle die
Fähigkeiten, die er im letzten Teile der Bleibtrenschen Novelle entfaltet, so ist
es wohl möglich, daß er eine Art Leidenschaft für die Tiroler Toni faßt, aber
unmöglich, daß er sich Tag für Tag in der Gesellschaft dieser Galgenstricke und
seelisch pöbelhafter Gesellen bewegt, die in der Kneipe des Herrn Driesel zusammen¬
kommt. Das freche Gerede und die Don-Juan-Prahlcreien seines Kreises treiben
den feinempfindenden Komponisten immer tiefer in die Liebe für eine Person
hinein, welche der Schriftsteller folgendermaßen schildert: „Äußerst ungerecht
hatte Erdmann ^ein naturalistischer Poet^j sie »das raffinirte Naturmensch«
getauft und sie für eine abgefeimte Kokette erklärt. Auch die Natur ist kokett;
man beobachte die Löwin, wie sie mit hochgehvbnem ringelnden Schweif um den
Löwen herumstreicht. Das richtige Urweib treibts überall in gleicher Weise.
Sie war ganz Natur, das fesche Müdel. Es konnte in der That nichts Be¬
rückenderes geben, als diese Mischung von Brutalität und verlockender, schalk¬
hafter Grazie, von frivoler Lustigkeit und gefühlvoller Empfindelei. Ist »Poesie
mir Leidenschaft,« so mochte mal sie getrost ein hochpoetisches Wesen nennen.
Denn jeder Nerv an ihr fibrirte von Leidenschaft. Auch ihre Sinnlichkeit,
wahrscheinlich längst im ersten Austoben verraucht, wandte sich viel mehr nach
der Richtung der Gemütssinnlichkeit, der Hcrzensleidenschaft hin. In Wahrheit,
die Hälfte des jungen Berlin war in sie verliebt oder verliebt gewesen." Nach¬
dem Bullrich der Himmel weiß wie lange die Tirolerin umworben, kommt es
zu einer Katastrophe: der brutale Bierwirt wirft die widerspenstige Busfctdmne in
der hergebrachten Manier zum Hanse hinaus, und Ernst von Bullrich erfährt zu
seinem Unglück nachträglich, daß die schöne Toni den Liebeswerbungen reicher
Bankjuden und andrer nnqnalifizirbarer Liebeshelden siegreich widerstanden hat.
Da verlockt es ihn denn, als er auch noch einen Brief von ihr erhält, worin
sie bittet, ihr im Anhalter Bahnhofe bei ihrer Abreise nach Wien Lebewohl zu
sagen, sich und sein Schicksal auf diese gefährliche Karte zu setzen. Er begleitet
Toni nach Wien und gewinnt sie unterwegs zur Geliebten. Wie zweifelhaft der
Gewinn ist, wird ihm undeutlich schon in den paar Stunden klar, die er mit
ihr auf dem Semmering und in Maria-Zell verbringt, schauerlich deutlich aber,
als er sie im „Hotel Karpathia" in den Armen eines früheren Geliebten, eines
kaiserlichen Hnsarenoffiziers, findet. In der ersten Hitze schlägt er den Grafen
Leo Martinet, der ihn in gemütlicher Plauderei mit Toni einen Gimpel und
Haderlumpen genannt, ins Gesicht, und so wird ein Pistolenduell unvermeidlich,
welches auf der Margaretheuinsel bei Pi.'se stattfindet und mit dem Tode des
Musikers endet. Das; er zuvor Toni, welche ihm eingesteht, daß Graf Martinet
ihr erster Liebhaber gewesen ist, zur Erbin seines Vermögens einsetzt und noch
während des Duells seinen Gegner in einem Billet bittet, Toni wenigstens zu
seiner „legitimen Mätresse" zu machen, um sie vor Schlimmerem zu bewahren,
paßt zum übrigen. Geradezu blasphemisch aber im schlimmsten Sinne des
Wortes sind die patriotischen Anwandlungen, welche der Zutuuftsmusiker wenige
Stunden vor seinem „tragischen" Ende bei der Besichtigung eines Panoramas
der Schlacht von Nezonville anstellt. „Lange starrte Ernst auf diese Szene
in schauernder Erschütterung. Ihm schwanden Raum und Zeit, er glaubte sich
auf die Wahlstatt selbst versetzt, auf das Völlcrgvlgatha, wo das Schwert fährt
durch die Seele der Gottesmutter Natur in Trauer um die Menschheit, die ewig
gekreuzigte. O wie kleinlich, wie widrig das Ideal, für das er hier als Tod¬
geweihter stand — hier angesichts ringender Völker, die um die Größe ihres
Vaterlandes bluten." Und in noch unglanblicherem Stil ergeht sich der über¬
lebende Freund, der naturalistische Poet Fritz Erdmann, welcher bei dem Duell
mit Graf Martinet als sekundäre gedient hat, als er sich glücklich wieder in der
Kaiserstadt an der Spree befindet. „Erdmann dachte seiner toten Freunde. Ihr
müßtet noch die Kreuzigung erdulden, die das moderne Leben dem idealen Geiste
mit tausend schneidigen Nägeln in die blutrünstige Seele hineinmartert. Jedes
Gefühl, jede Stunde schlug euch Wunden. Aber ihr habt euer Loos verdient.
Ihr suchtet die Poesie, sie, die allein über die Misere des materiellen Lebens
erheben kann, in der erotischen Leidenschaft. Ist dies eine Zeit zum Tändeln?
Freilich suchtet ihr nicht die Rosen, sondern nur die Dornen — ihr suchtet im
Schmerz der Liebe das Geheimnis der wahren Liebe. Und der edle Mann,
der eine Gefallene liebt, der hat wahr geliebt." Folgen einige Kraftphrasen
vom Weltgeist, dem droben die unsichtbare Glocke erklingt, vor dem Äonen wie
ein flüchtig Jahr hinflattern im Sturme der Zeit, ,,o Weltgeist, thu dich mächtig
kund mit deiner donnernden allewigen Wahrheit und als Wiederhall deiner
Glocke entsiegle die Lippen wahrer Seher, die einsam und stolz über die klein¬
lichen Leidenschaften der Menschheit dahinschreiten. Das ewig Männliche zieht
uns hinan!" Ob Fritz Erdmann (alias Karl Vleibtreu) unter dem „ewig
Männlichen" die fröhliche Brutalität des neudeutsch hauptstädtischen Lebens
oder den Schlachtenmut versteht, dessen Verherrlichung sich Bleibtreu neben der
Charakteristik der schlechten Gesellschaft angelegen sein läßt, jedenfalls paßt der
pathetisch-prophetische Schluß zu „Raubvögelchen" und den vorangegangnen Ge¬
schichten wie ein Kirchenlied ins Bordell! Und wenn wir das so anspruchsvoll
als unerfreulich auftretende Buch im ganzen noch einmal mustern, so müssen
wir sagen, daß der Eindruck vor allem derjenige einer knabenhaften Unreife ist.
Da der Verfasser versichert, hochmvrcilische Tendenzen zu hegen, und die Bru¬
talität der Darstellung die Wirkungen der sinnlichen Szenen völlig aufhebt, so
bedarf es keiner Warnung vor dieser „Schlechten Gesellschaft" - sie verbreitet
einen Duft um sich, der ohnehin jeden Menschen zurückschreckt, welcher die
„heuchlerische" Neigung hat, etwas reinere Luft zu atmen.
Doch ist das alles unwesentlich der einen Hauptfrage gegenüber, die zwischen
uns und den Naturalisten zu schlichten bleibt. Ist das, was sie geben, was
sie mit Vorliebe und Ausschließlichkeit darstellen, in der That die Wahrheit,
die volle Wahrheit, ist es die Quintessenz und der Hauptinhalt des modernen
Lebens, bietet das ganze Deutschland dieses Jahrzehnts dem Dichter keine
andern Menschen, keine andern Bestrebungen und Empfindungen mehr, als die
im Eingangsartikel charakterisirten? Muß der Darsteller, der nicht lügen, nicht
akademisch das längst Dargestellte wiederholen, aus den Tiefen des echten
Lebens schöpfen will, gerade diese und nur diese Szenen und Gestalten wieder¬
geben, die ganze Mannichfaltigkeit unsers Kulturdaseins nur Schein nennen und
die schmutzige Eintönigkeit der naturalistischen Charakteristik und Schilderung
allein Wirklichkeit? Uns dünkt, anch wer mit dem schärfsten und zugleich mit
dem sorgenvollsten Blicke in die moderne Welt hineinsieht, wer jeder optimistischen
Täuschung und selbst dem holde» Leichtsinne fremd, der ein rechtmäßiges Erbteil
des Dichters wie des poetisch Genießenden ist, sein Gesamtbild des Lebens mit
dem Bilde in diesen und verwandten „realistischen" Novellen vergleicht, kann
über die Antwort nicht einen Augenblick im Zweifel sein. Es ist entweder eine
völlige Nichtkenntnis des Lebens, eine Armseligkeit des Auffassungsvermögens
und der nachschaffenden Phantasie, eine Unfähigkeit, die tüchtigen und reinen
Naturen zu erkennen und von der Durchschnittsmasse zu unterscheiden — oder
es ist einfach ein literarisches Raffinement, eine der Gier nach dem vermeintlich
„Neuen" entstammte Einseitigkeit, welche diese widerwärtigen Darstellungen hervor¬
bringen. Was soll die Berufung auf Natur und Leben, wenn sich überall die
Unempfänglichkeit für die Fülle der Erscheinungen, der Stumpfsinn gegen die
unendliche Mannichfaltigkeit der Mischung des Physischen und Psychischen, die
Vlasirtheit gegen die vornehmere und feinere Individualität (wir bedürfen wohl
keiner Versicherung, daß wir damit etwas völlig andres im Auge haben als das,
was man im gesellschaftlichen Alltagsjargon vornehm und fein nennt) die Lust am
Lärm geltend machen und die Wiedergabe der Natur anf einen kleinen und zwar
den unerfreulichen Teil dessen beschränken, was dein Dichter anch in der Gegenwart
und trotz der Gegenwart zu Gebote steht! Weder Bleibtreu noch einer seiner
jungen Genossen von der naturalistischen Schule haben bisher ein besondres
Recht, sich auf die Größe, Treue oder Tiefe ihrer Naturbeobachtung zu berufen,
die Wirklichkeit ist überall reicher, vielseitiger und bei aller Brutalität doch
minder brutal als sie.
Bleibtreus Schlachtbilder werden von ihm selbst als moderne Epen be¬
zeichnet. Ganz gewiß sind sie erfreulicher als seine Novellen ans dem neu-
deutschen Leben, aber ebenso gewiß keine Leistungen, auf welche sich der An¬
spruch gründen läßt, die deutsche Literatur um eine neue und ergiebige Gattung
bereichert zu haben. Denn auch das mäßigste Darstellungstalent würde im¬
stande sein, mit Hilfe einiger Studien, Schilderungen der Art wie Bleib¬
treus „Leipzig" und „Waterloo" zu entwerfen. Der Dichter hat vor dem
Maler den Vorteil voraus, die verschiednen wichtigen Augenblicke einer
Schlacht in ihrer Folge schildern zu können. Er kämpft mit dem Nachteil,
daß die erdrückende Masse der Äußerlichkeiten, welche in einer realistischen
und naturgetreuen Schlachtschilderung kaum fehlen darf, seiner eigentlichen
Aufgabe fortwährend im Wege ist und sich schwerlastend an die vorwärts
drängende Handlung anhängt. Unverkennbar empfindet Bleibtreu in seinen
Schlachterzählungen alle diese Hemmnisse, zu welchen sich bei ihm noch
zwei andre gesellen, die der Erreichung seines Zieles nicht minder hinderlich
sind. Die Verwandlung seiner Studien in lebendige Anschauung gelingt ihm
keineswegs vollständig, an die Stelle der zwingenden, fortreißenden Darstellung
tritt nur allzuoft die Lescfrucht. Auch die unbesiegbare Neigung Bleibtreus,
in dröhnenden Worten seine subjektive Meinung über Menschen und Dinge, über
Napoleons Strategie, das europäische Gleichgewicht und die Politik der Zukunft
kundzugeben, ist der Unmittelbarkeit der Wirkung nicht förderlich. Ein paar
Beispiele mögen zum Beleg des Gesagten genügen. Wenn in der Schilderung
der Schlacht von Leipzig wörtlich zu lesen steht: „Diese Verschiedenheit prägte
sich nur in der bunt gemischten wechselnden Farbe aus, durch welche die sonst
in Schnitt übereinstimmenden Uniformen der Fremden von denen der Franzosen
abstachen. Da strahlten die krapprvten Röcke mit himmelblauen Vorstoßen und
gelben Kragen der Schweizer neben den himmelblauen Uniformen mit gelben
Aufschlägen der polnischen Weichsellegion. Da sah man die kapuzinerbraunen
Fracks mit dunkelroten Klappen und grünen Epauletten und die lackirten Leder¬
helme von Portugiesen neben den weißen, mit hellgrünen Vorstoßen geschmückten
Uniformen des spanischen Gardcleibregiments Josef Napoleon. Da begrüßten
die grüntuchcnen Spenser der piemontesischen Dragoner die gleiche Kostümirung
der belgischen reitenden Jäger u. s. w.," ja wenn in der Schlacht von Waterloo
ein ähnlicher Armeeschneiderkatalvg sogar dem selbst erzählenden Helden in den
Mund gelegt ist, da spürt auch der naivste Leser, wie das Hühnchen des
„modernen Schlachtepos" die Eierschalen des gemalten Schlachtbildes noch mit
sich schleppt. Wenn mitten in die lebendige, Illusion erweckende Darstellung
des 18. Oktober eine lange Anzahlung der einzelnen Korps und ihrer Stärke-
Verhältnisse geschachtelt und dazu die Bemerkung zum Bestem gegeben wird-
„Man würde bei der ebenbürtigen Tapferkeit der Alliirten nicht begreifen können,
daß Napoleon — dessen Feldherrngenie unter diesen Umständen sehr wenig
wirksam sein konnte und sich nur in der richtigen Verteilung seiner schwächern
Streitkräfte zu erkennen gab — nicht am 18. entscheidend geschlagen wurde,
wenn man nicht die ausgezeichnet schlechte Führung der verbündeten Truppen
in Anschlag bringen müßte. Die Angriffe geschahen durchaus vereinzelt u. s. w."
so giebt sich darin aufs mindeste eine Gleichartigkeit des Schriftstellers gegen
den geschlossenen einheitlichen Eindruck seiner Kompositionen kund, welcher der
Meisterschaft noch bedenklich im Wege steht. Allerdings wäre es ungerecht zu
verkeimen, daß in den „vivs iruo, Erinnerungen eines französischen Offiziers"
betitelten Schlachtbildern von Sedan der Charakter unmittelbarer Darstellung
unendlich besser gewahrt ist, ungerecht zu verschweigen, daß auch die „Wer
weiß es?" überschriebenen, in Spanien, England und bei Waterloo spielenden
Novellen oder Szenen weniger mit Reflexionen, unreifen Urteilen und phan¬
tastischen Orakelsprüchen durchsetzt sind als „Napoleon bei Leipzig," es wäre
endlich der Gipfel der Ungerechtigkeit, einem Schriftsteller gegenüber, der nach
Aussage von Kttrschuers Litcratnrlulcnder fünfundzwanzig Jahre zählt, ein
schweres Gewicht auf einzelne Rohheiten und Geschmacklosigkeiten zu legen.*)
Anders aber erscheinen alle diese Dinge, die Bonaparte-Anbetung und die poli-
lischen Phantasien Bleibtreus eingeschlossen, im Zusammenhang mit den un¬
glaublichen und in der That an Größenwahnsinn streifenden Prätensionen
der neuen Schule. Was man als jugendliche Unreife, als Irrungen einer
starken und in ihrer eigentümlichen Stärke naturgemäß einseitigen Begabung, als
unvermeidliche Unvollkommenheiten einer zu raschen Produktion billig beurteilen
und in der Voraussicht hinnehmen könnte, daß der Autor selbst auf einer höhern
Entwicklungsstufe diese Mängel abstreifen werde, das gewinnt ein völlig andres
Gesicht, wenn es mit der Forderung auftritt, als Vorläufer einer neuen Ära
der deutschen Literatur, als Präludium zur poetischen Symphonie des zwanzigsten
Jahrhunderts anerkannt und bewundert zu werden. Erscheinungen wie diejenige
Vleibtreus können um deswillen leine Gesundung unsrer Literatur bedeuten,
weil die hohle Selbstüberschätzung, die theatralische Großmannssucht den reali¬
stischen Kern, die Empfänglichkeit für die soviel betonte Wirklichkeit rettungslos
zu zerstören droht. Wenn der Satz, der Mensch verehre nicht die Größe, sondern
ihren Schein, nicht die That, sondern ihren Ruhm, nicht den Cäsar, sondern
sein Staatsgewaud, innerhalb der Weltgeschichte eine Art Wahrheit hat — im
Bereiche der Kunst ist er die gefährlichste Maxime. Niemand scheint weniger
zu wissen als die Naturalisten, daß unsrer Literatur mit Neklamehelden, mit
Schriftstellern, die jeden Augenblick in theatralischer Pose stehen, nicht gedient
ist, und daß das Zeitalter der „Wirklichkeit" nicht mit Feuerwerken beginnen
wird, die man nach der Zahl der verbrauchten Raketen und Kanonenschläge ab¬
schätzen kann.
as ist die Strafe? Was ist der Zweck der Strafe? Wie muß
die Strafe beschaffen sein, damit sie ihren Zweck erreiche? Es
ist schon lauge her, daß sich Theorie und Praxis der Strafrechts¬
pflege mit diesen Fragen zu beschäftigen angefangen haben, und
dennoch kann noch immer nicht behauptet werden, daß eine all¬
seitig befriedigende Lösung derselben gefunden worden sei. So schwer wird es
dem Menschen, eines Amtes zu walten, das eigentlich das Maß seiner Kräfte
zu übersteigen und eine höhere Organisation seines Wesens vorauszusetzen scheint.
Der Stadien, welche die Theorie des Strafrechts*) — und die Theorie
hat in diesem Falle der Praxis in wunderbarer Weise vorgearbeitet und an¬
wendbare Resultate geliefert — durchlaufen hat, sind mannichfache zu unter¬
scheiden; sie erscheinen alle in inniger Wechselbeziehung zu dem Geiste der Zeit,
in der sie entstanden sind. Das vorige Jahrhundert, welches in dein Staate
mir eine vertragsmäßige Vereinigung seiner Mitglieder erblickte, suchte demzu¬
folge die Notwendigkeit der Strafe aus ihrer Nützlichkeit, aus einem außerhalb
der Strafe selbst liegenden Zwecke herzuleiten. So entstanden die sogenannten
relativen Strafrechtstheorien, welche mit den Schlagwörtern: Warnung, Drohung,
Abschreckung, Besserung, Sicherung und Prcivention, Verteidigung, Ersatz ge¬
kennzeichnet werden können. Nach und nach aber änderte sich die Auffassung
vom Staate; man erkannte in ihm einen Organismus, der die Voraussetzungen,
die Begründung seines Daseins in sich selbst trägt, also eine Notwendigkeit,
einen Selbstzweck darstellt; Hand in Hand damit ging nun auch die geänderte
Auffassung vom Wesen der Strafe, wie sie in den sogenannten absoluten Theorien
von Kant, Zacharici, Henke, Hegel und andern zum Ausdruck kommt. Hiernach
wird die Begründung der Strafe nicht an einen außerhalb derselben gelegnen
Punkt, sondern einzig und allein an das Verbrechen selbst angeknüpft und als
Voraussetzung ihrer Anwendung die innere Gerechtigkeit der Strafe hingestellt.
Unsre Zeit endlich, welche die Allmacht des Staates zum Grundsatz erhoben
hat, andrerseits aber das Banner der Menschlichkeit so hoch hält wie keine
ihrer Vorgängerinnen, mußte notwendig in dem Zwecke der Strafe ein Zusammen¬
gesetztes erblicken und demgemäß auch bei der praktischen Durchführung der
Straffrage sich von dem Bestreben der möglichsten Vereinigung lind Verschmelzung
der mannichfaltigen dabei in Betracht kommenden Gesichtspunkte leiten lassen.
So beruhen deun auch die neueren Strnfgesetzbiichcr, insbesondre das deutsche,
durchaus nicht, wie die früheren, ans einer einzelnen Theorie, sondern sie haben
den oben berührten Weg der Vereinigung der verschiednen Strafzwecke einge¬
schlagen, wobei allerdings, dem Geiste unsers Zeitalters entsprechend, die Rück¬
sicht auf den Bessernngszweck immer eine sehr hervorragende Rolle gespielt hat.
Gegen das Vorherrschen dieser Rücksicht, wie sie in dem heutigen System
und der heutigen Vollziehung der Strafen unverkennbar zum Ausdruck gelangt,
beginnen nun nach und nach Stimmen laut zu werden, die auf immer ein¬
dringlichere Weise zur Umkehr mahnen und die Forderung erheben, daß die
Strafen — um mit Mittelstädt zu reden — wieder werden sollen, „was sie
von Gottes- und Rechtswegen niemals aufhören durften zu sein, ein Strafübel
und nur ein Strafübel." Diesen Stimmen gebührt umso ernstere Beachtung,
als sie vorwiegend aus den Kreisen praktischer Fachleute herrühren, welche auf
Grundlage langjähriger Beobachtungen und Erfahrungen ans dein Gebiete der
Strafrechtspflege und des Gefängniswesens zu ihren Anschauungen und Vor¬
schlägen gelangt sind. Eine der beachtenswertesten, weil auf umfassendster Sach¬
kenntnis gegründete, zugleich aber auch sehr weitgehende und infolge der ge¬
zogenen Konsequenzen schwere Bedenken wachrufende Äußerung dieser Art liegt
in der von dem Amtsrichter Schmölder über „die Strafen des deutschen Straf¬
gesetzbuches und deren Vollzug" (besser und richtiger Vollziehung) kürzlich ver¬
öffentlichten „kritischen Studie" vor (Berlin, Frnnz Wahlen, 1385).
Wenn es irgendein Gebiet menschlicher Forschung giebt, wo Theorie und
Praxis Hand in Hand gehen müssen und wo die Einseitigkeit des Stand-
Punktes von den übelsten Folgen begleitet sein kann, so ist es sicherlich das
Gebiet der Strafrechtspflege, Es ist eben ein andres um eine Wissenschaft, die,
den Tagesströmungen entrückt, in der Studirstube des Gelehrten auf dem Wege
der Spekulation entsteht und weiter ausgebildet wird, und ein andres um eine
Wissenschaft, die, wie die Rechtswissenschaft und ganz besonders die Strafrechts¬
wissenschaft, ans dem Leben hervorgegangen und für die Bedürfnisse des Lebens
bestimmt, nur in inniger Anlehnung an dasselbe und in genauer Beobachtung
der Erscheinungen desselben Inhalt und Richtschnur finden soll. Namentlich
dann, wenn eS sich darum handelt, die Brauchbarkeit eines längere Zeit be¬
stehenden Gesetzes zu beurteilen, verdient die Stimme des Praktikers, der die
Wirkungen desselben wahrzunehmen Gelegenheit hatte, das aufmerksamste Gehör.
Was nun die Wirksamkeit der modernen Strafgesetzgebung und insbesondre
des deutschen Strafgesetzbuches anlangt, so läßt sich nicht leugnen, daß manche
Thatsachen vorliege», welche in dem um den Bestand und die ruhige Fortent¬
wicklung der Gesellschaft besorgten Beobachter menschlicher Zustände Zweifel
darüber zu erwecken geeignet sind, ob der eingeschlagne Weg auch der richtige
sei und ob er zum Wohle der Menschheit und des Staatswesens weiter verfolgt
werden dürfe.
Unter diesen Thatsachen sind es vornehmlich zlvei, auf die sich die Gegner
des jetzigen Strafsystems stützen und denen eine schwerwiegende Bedeutung
sicherlich nicht abzusprechen ist, nämlich das unausgesetzte Anwachsen der Zahl
der Sträflinge überhaupt und der erschreckend große Prozentsatz von Rückfälligen
unter ihnen.
Bezüglich des ersten Punktes sei beispielsweise hervorgehoben, daß in
Preußen die durchschnittliche Tagesbelegschaft der Gcfaugenanstalten auf rund
6200V Köpfe angewachsen ist, ohne die große, nicht festgestellte Zahl der Polizei¬
gefangnen. Hiernach kommt ein Gefangner auf 440 Einwohner, während sich
dies Verhältnis noch im Jahre 1826 wie 1 zu 2396 und im Jahre 1798 wie
1 zu 3671 stellte.
Was die Anzahl der Rückfälligen betrifft, so befanden sich von den im
Etatsjahr 1882/83 gewesenen 31616 Zuchthanssträflingen 23 950 oder 75,97
Prozent im Rückfall, und zwar waren schon vorher bestraft:
Forscht man den Ursachen dieser Mißstände nach, so ist es jedenfalls nahe¬
liegend, sie in Mängeln des Strafsystems und der Strafvollziehung zu suchen;
nur darf man aus der Verallgemeinerung einzelner Erscheinungen nicht zu weit¬
gehende Schlüsse ziehen wollen, denn sonst gerät man in die Gefahr, der, wie
uns scheint, Schmölder nicht entgangen ist, in dem löblichsten Bestreben des
Guten zu viel zu thun und das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Das deutsche Strafgesetzbuch ist — dies läßt sich nicht in Abrede stellen —
vom Geiste der Menschlichkeit und von der Rücksicht auf den Bessernngszwcck
durchdrungen. Die Fälle der Todesstrafe sind auf zwei beschränkt; die Herrschaft
der Freiheitsstrafe ist fast unbeschränkt geworden. Beseitigt erscheinen nicht nur
die andern Strafmittel (außer der Geldstrafe), sondern auch Verschärfungen der
Freiheitsstrafe, welche noch die meisten deutschen Partiknlarslrafgesetzbücher kannten,
wie die körperliche Züchtigung, die Anlegung von Ketten, die Einsperrung in
Dunkelarrest u. f. f. Beseitigt ist ferner der wichtigste Unterschied zwischen
Zuchthaus und Gefängnis, indem sowohl ehrlose, als im Besitz der Ehrenrechte
sich befindende Personen in beiden Anstalten untergebracht werden können. Durch
Aufnahme des Instituts der vorläufige» Entlassung ist die Abhängigkeit der
Strafdauer von der Strafthat in Frage gestellt. Endlich ist die Zulässigkeit
der Einzelhaft ausgesprochen, ja in den Motiven als der „richtige Vollstrcckungs-
modus" bezeichnet.
Dieser Vollstrcckungsmodns wurde nun in Deutschland zunächst bei den
langen Strafen in Anwendung gebracht, was Schmölder als verkehrte Maßregel
ansieht. Denn ihm zufolge hätte, solange noch die allgemeine Durchführung
der Einzelhaft sowohl wegen der mit der völligen Umwandlung der Strafan¬
stalten in Zellengefängnisse verbundnen ungeheuern Kosten (die Kosten einer
einzigen Jsolirzelle in deu neuen Zellengefängnissen stellen sich auf vier- bis
fünftausend Mark) als mit Rücksicht ans die vielen dabei in Betracht kommenden
und noch ganz ungelösten theoretischen Fragen sich als unthunlich erweist, die
Einzelhaft in erster Linie, sowie in Frankreich, auf die kurzen Strafen angewendet
werden sollen. Schon von Arnim*) hat die Gefängnisse, in welchen diese Strafen
bei uns vollstreckt werden „Verführungsvepiniercn" genannt, und auch jetzt noch
werden sie von urteilsfähigster Seite als „Pflanzschulen für die Zuchthäuser"^)
und als „Elementarschulen des Lasters""^) bezeichnet, ja der Strnfaustaltsdirektvr
Sichartf) hat das Ergebnis seiner langjährigen Erfahrungen dahin zusammen¬
gefaßt, „daß die Vollstreckung kurzer Strafen, insbesondre gegen die Anfänger
im Diebeshandwerk, gegenwärtig nachteiliger wirke als gänzliche Straflosigkeit."
Nachdem nun die Verbrecher zum größten Teile diese Verschlechterungs¬
anstalten durchlaufen haben, kommen sie in die zur Vollstreckung längerer
Strafen bestimmten, unter Aufwendung maßloser Kosten errichteten Anstalten,
um daselbst gebessert zu werden! „Was, so fragt Schmölder, wird mit diesen
Vesserungsbestrebnngen bei der Mehrzahl der Gefangnen erreicht? Wir ant¬
worten: Nichts andres als eine Umwandlung der Strafe in eine Wohlthat, sowie
eine Beförderung der Heuchelei und Selbstüberhebung, also eine weitere moralische
Verschlechterung der Gefangne»."
Der Sträflingsarbeit, die als einziges positives Übel der Freiheitsstrafe
verblieben ist, wurde durch die Strafvollziehung der Charakter eines solchen
geraubt und der Charakter der freien Arbeit verliehen. Die Lage des Gefangnen
stellt sich erheblich günstiger als die des freien Arbeiters, sodaß Gefängnisdirektvr
Strosser in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 30. November
1.882 erklären konnte: „Die Arbeit des Gefangnen erreicht selten an Anstrengung das,
was der freie Arbeiter leisten muß, er verdient auch nicht einmal soviel, als seine
Verpflegnngskosten betragen, welche die ehrlichen Leute im Lande ihrerseits be¬
zahlen müssen. Und doch giebt man ihm von diesem seinen Unterhalt nicht
deckenden Verdienst eine Prämie. Er soll die Anstalt verlassen mit einem
Überverdienst von sechzig, achtzig, hundert Thalern, d. h. mit einem Kapital,
welches der ehrliche Arbeiter fast nie sein eigen nennen kann."
Aber nicht genug damit, sollen in der Strafanstalt auch die Fähigkeiten
des Gefangnen erweitert werden. Hat er als Handwerker die Zeit der Freiheit
nutzlos verbracht, so sollen hier die Lücken seiner Bildung ausgefüllt werden;
fehlt es ihm an Elementarkenntnissen, hier, in den Gefängnisschnlen, werden sie
ihm geboten.
Kann man da jener armen französischen Mutter so Unrecht geben, wenn
sie in den Stoßseufzer ausbrach: ^.it, eins hö präsM Meor nroir eilf ü,
NeUra,^, in-iis v'oft inrvoL8it)I<z, it u'g. ni volo, ni insruliv, ni msnrtrL.
Und nicht minder begreiflich erscheint die Äußerung eines oft bestraften Ver¬
brechers, welcher bei der Entlassung dem Oberinspektor Wolfs in cynischer
Weise zurief: „Die Eltern sind recht einfältig, welche ihre Kinder in die Lehre
geben und sich große Kosten machen; sie sollen dieselben stehlen und ins Zucht¬
haus sperren lassen, dort lernt man alles mögliche; ich bin Glaser, Tischler,
Schlosser, Klempner, Schmied, Schuhmacher und Korbmacher und habe jede
Arbeit zur Zufriedenheit geliefert.*)
Aber in den Zuchthäusern wird auch Selbstüberhebung und Heuchelei ge¬
nährt; erstere besonders bei längerer Anwendung der Jsolirhaft. „Dort
schlummern die Leidenschaften und schlechten Gewohnheiten des Gefangnen.
Wie der Gefangne der Verwaltung unbekannt bleibt, so bleibt er sich selbst un-
bekannt. Indem er sich die negative Tugend, keine Übertretungen zu begehen,
als ein Verdienst anrechnet, erlangt er ein bedauerliches und schädliches Selbst¬
vertrauen."
Noch schlimmer ist die Heuchelei. Egoismus hat den Gefangnen der Regel
nach in das Gefängnis geführt, Egoismus lehrt ihn auch dem Geistlichen gegen¬
über das „schnelle Vonsichwerfen des Unglaubens,"-^) macht ihn dem Geistlichen
und denn auch dem ganzen Beamtenpersonal gegenüber zum Heuchler. So hat
der Staatsanwalt von Üchtritz-Steinkirch in der Sitzung des preußischen Ab¬
geordnetenhauses vom 1. Februar 1881 folgendes berichtet: „Es ist zu meiner
Kenntnis ein Fall gekommen, in welchem ein Zuchthaussträfling wegen ganz
außerordentlich musterhafter Führung im Zuchthause zur vorläufigen Entlassung
empfohlen und auch vorläufig entlassen worden ist. Das Zeugnis rühmte be¬
sonders die religiöse Begabung und die besondre Frömmigkeit des Verurteilten.
Kurze Zeit darauf erschien er wieder auf der Anklagebank unter der Anklage
desselben Verbrechens, und als der Staatsanwalt zu ihm sagt: »Sie haben ja
so außerordentliche Zeugnisse gehabt,« erwiederte er: »So dumm werde ich doch
nicht sein und mich im Zuchthause schlecht führen,« und als der Staatsanwalt
ihm bemerkte, er sei ja auch seiner Religiosität und Frömmigkeit wegen belobt
worden, da lächelte er höhnisch und erwiederte: »Herr Staatsanwalt, zuchthaus¬
fromm.« "
Wir haben uns bemüht, den Gedankengang des kritischen Teiles der vor¬
liegenden Abhandlung möglichst getreu wiederzugeben und auch die Quellen nam¬
haft zu machen, aus welchen er die Begrttndnng oder Bestätigung seiner Ansichten
größtenteils geschöpft hat. Damit allein ist aber anch schon, wie uns scheint,
die ausreichendste und treffendste Kritik der letztern gegeben. Kerkermeister, Ge-
fangenhausdirektoreu, Staatsanwälte, Untersuchungsrichter sind es nicht, die in
ausschlaggebender Weise über Wert oder Unwert eines Strafgesetzes und Straf-
shstems abzusprechen berufen erscheinen, so schätzenswert auch ihre Erfahrungen
bei Erwägung einzelner praktischen Fragen jedenfalls sind. Es ist sicherlich nur
zu begreiflich und in der menschlichen Natur tief begründet, daß sich recht¬
schaffener Männer, die ihr Amt zu stetem Verkehr mit den „Feinden der Ge¬
sellschaft" nötigt, die den Widerstand derselben zu brechen, den Rechtszustand
wiederherzustellen haben und die sich nun in ihrer schweren Aufgabe oftmals
selbst getäuscht, ihren Scharfsinn durch die Schlauheit jener in manchen Fällen
übertrumpft, ihre besten Absichten an der Hartnäckigkeit und Unverbesserlichkeit
einzelner haben scheitern sehen, nach und nach eine Stimmung bemächtigt, in
welcher sie in den Verbrechern ihre persönlichen Gegner erblicken und verfolgen
und dann keine Behandlung und Strafe hart genug finden, um jene nieder¬
zudrücken oder, wie sie sagen, für die menschliche Gesellschaft unschädlich zu
mache». In dieser Stimmung und von diesem Standpunkte aus läßt sich aber
keine unbefangne Kritik eines Gesetzes erwarten; denn diejenigen, die sie üben,
werden von vornherein geneigt sein, in der Mangelhaftigkeit des Gesetzes die
Erklärung und die Schuld für jene Mängel und Unvollkommenheiten zu suchen,
welche nun einmal von menschlichen Dingen überhaupt, am wenigsten aber von
dem so schwierigen Amte der Strafjustiz (und es handelt sich ja nur um
menschliche und nicht um göttliche Gerechtigkeit!) niemals vollständig zu trennen
sein werden. Die Kritiker dieser Art geraten dann, da sie mit vorgefaßter Mei¬
nung an ihren Gegenstand herantreten, nur zu leicht in die Gefahr, ans ge¬
wissen gegebnen Prämissen Schlüsse zu ziehen, die nur eine scheinbare Nichtig¬
keit haben, sowie sie anderseits rasch dabei sind, einzelne Fälle zu verallgemeinern
und zur Bedeutung typischer Erscheinungen aufzubauschen.
Hierin scheinen uns auch die Hauptgebrcchen der Schmöldcrschen Beweis¬
führung zu liegen. Was namentlich das mit so viel Nachdruck geltend gemachte
Anwachsen der Zahl der Sträflinge im allgemeinen und der Rückfälligen im
besondern betrifft, so läßt sich aus dieser Thatsache allein noch durchaus kein
sicherer Beweis für die Reformbcdürftigkeit der heutigen Strafgesetzgebung und
für die Zwecklosigkeit aller Bessernngsbestrebnngcn ableiten. Um hier zu halb¬
wegs sichern Schlüssen zu gelangen, muß vor allem berücksichtigt werden, daß,
wie Schmölder selbst zugiebt, etwa vier Fünftel aller Gefangnen nnr wegen
eines unbedeutenden Fehltritts kurze Strafen zu verbüßen haben. Ferner müßte
sich der statistische Nachweis sowohl auf die einzelnen Vergehen, als auch auf
die Beweggründe der That und die Person (Stand. Beschäftigung) des Thäters
erstrecken. Da wurde gewiß ein mannichfach verändertes Ergebnis zum Vor¬
schein kommen. Es würde sich zeigen, daß das Anwachsen der Sträflingsziffer,
welches dann überhaupt in weit geringerm Maße in Betracht käme, zum größten
Teil ans sehr natürliche Weise zu erklären wäre, ohne daß man diese Er¬
scheinung auf Rechnung unsrer Strafgesetzgebung zu setzen brauchte. Mau
würde bei dieser Untersuchvng finden, daß das unaufhaltsame Vorwärtsschreiten
des Menschengeschlechtes, welches eine fieberhafte Bewegung auf allen Erwcrbs-
gebieten, eine stets zunehmende Vergrößerung der Bedürfnisse und Schwierigkeit
ihrer vollständigen Befriedigung, eine früher ungeahnte Verwicklung aller Lebens-
verhältnisse erzeugt, den Kampf uns Dasein immer härter gestaltet und in
diesem Kampfe den Menschen auch immer leichter und häufiger in Widerstreit
mit den Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft bringen muß. Hier, und
nicht auf dem Gebiete der Strafjustiz, ist der Punkt, wo die Reformbestrebungen
>n erster Linie anzusetzen haben, und zum Glück für die Gesellschaft haben dies
auch schon erleuchtete und weitblickende Staatsmänner längst erkannt. Sind
aber einmal die sozialen Reformen in richtiger und umfassender Weise durch-
geführt und seit man ihnen Zeit gelassen, sich einzuleben und zu bewähren,
dann wird sich auch wie von selbst — wenn auch vielleicht erst in weiter Zu-
kunft — eine Besserung in den Wirkungen der Strafrechtspflege ergeben, ohne
daß es hierzu, wie der Verfasser unsrer Schrift im Ernste vorschlägt, der Wieder¬
einführung der Prügelstrafe, der Tretmühle und des Dllzeus der Sträflinge
bedürfte.
meer diesem herausfordernden Titel ist soeben in Paris ein Buch
erschienen, welches wir aus mehrfachen Gründen nicht unbeachtet
lassen dürfen. Dasselbe entrollt uns ein sehr vollständiges und
übersichtliches Bild der Anstrengungen, welche Frankreich in den
letzten fünfzehn Jahren gemacht hat, um sich für den Revanche¬
krieg vorzubereiten. Und gleichzeitig wird zu diesem Nevanchekricge aufgerufen
uuter Schmähungen und Drohungen, wie sie zwischen zivilisirten Nationen selbst
nach Ausbruch des Krieges kaum noch gebräuchlich sind. Wir würden diese Er¬
güsse der Leidenschaft, wie schon manche ähnliche, mit Stillschweigen übergehen,
da wir wohl wissen, daß in Schmähworten sich bellte nicht mehr, wie zu Homers
Zeiten, Heldensinn Luft macht. Umso eher könnten wir dies, als der ungenannte
Verfasser — man vermutet mehrfach, daß dies ein gewisser Herr Deroulede sei,
welcher in einem Vorworte den Verfasser verherrlicht, um dann seinerseits von
diesem in den Himmel erhoben zu werden — sich nicht verhehlt, daß die über¬
wiegende Mehrheit der französischen Nation sein Gelüste nach einem Kriege mit
Deutschland keineswegs teilt. Aber die Erfahrung lehrt uns, daß das Friedens-
bedürfnis der Mehrheit des französischen Volkes den Frieden nicht verbürgt,
daß die Leidenschaftlichkeit Einzelner dort leichter und plötzlicher als. anderwärts
die Oberhand gewinnt, besonders wenn der Antrieb scheinbar oder in Wirklichkeit
von maßgebender Stelle ausgeht.
Und dieser Schein haftet an dem vorliegenden Buche. Undenkbar zwar
erscheint es, daß dasselbe offiziellen Ursprungs sein oder seinem ganzen Inhalte
nach die Billigung leitender Persönlichkeiten gefunden haben könnte. Solcher
Verdacht muß als ausgeschlossen betrachtet werden angesichts der Thatsache,
daß die französische Regierung nicht nur friedliche Beziehungen zu der unsrigen
unterhält, sondern auch den guten Willen bethätigt, dahin mitzuwirken, daß das
Verhältnis zwischen beiden Nationen sich allmählich wieder frenndlicher gestalte.
Aber unbestreitbar' ist — jeder Laie fühlt es heraus, und jeder Fachmann kann
es leicht nachweisen —^ daß offizielles Material zu dem Buche in aus¬
gedehntem Maße Verwendung gefunden hat. Viele der darin enthaltenen An¬
gaben können den Budgets und ähnlichen, jedermann zugänglichen Quellen ent¬
nommen sein. Andre aber in großer Zahl tragen offenkundig den Stempel
ihres amtlichen Ursprungs an der Stirn, entstammen unzweifelhaft den Akten
einer Zentralbehörde. Vielleicht sind sie ursprünglich für irgendeinen amtlichen
Zweck zusammengestellt worden und dann durch Indiskretion in die Hände des
Herausgebers gelangt. Die Thatsache aber bleibt bestehen und verdient unsre
volle Beachtung, daß diese, alle Rücksichten des internationalen Anstandes bei¬
seite Setzende Schmäh- und Braudschrift mit amtlichen Material reich ausgestattet
erscheint.
Der letztere Umstand ist es, welcher das Buch sehr lesenswert für jeden
deutschen Offizier, nicht minder auch für alle diejenigen macht, welche mit ver¬
antwortlich dafür sind, daß unsre Verteidignngsmittcl nicht nur ausreichen, um
den aufs neue drohenden Angriff abzuwehren, sondern anch einen dauernden
Frieden zu erzwingen. Ihnen allen empfehlen wir dringend die Lektüre des
Buches, zu welcher die nachfolgenden kurzen Andeutungen über den Inhalt des¬
selben anregen mögen.
Diesen Inhalt faßt das Vorwort in den Satz zusammen: I^r I)g.kg.i1Is <z»t>
mvvitMg, l'armvs <zst xrZts! Das Wort ist ominös, das vorigemal war sie
bekanntlich N/olripröts. Daß in der That das zur Schau getragne Vertrauen
kein unbedingtes ist, geht hervor aus dem ebenso diplomatischen wie ritterlich
feinfühligen Anspielungen über die Art, wie der Krieg herbeizuführen ist, und
über den hierfür zu wählenden Zeitpunkt. „Wer wird den Krieg prvvoziren?
Gewiß nicht wir. Die Erkenntnis unsrer Lage gebietet, uns jedes Angriffes zu
enthalten. Die Deutschen gelangten 1870 nur dadurch zur Einigkeit gegen uus,
daß sie uns veranlaßten, einen ihrer Staaten anzugreifen. Die Narren allein
können zweimal in dieselbe Falle gehen. Wir sind jetzt zu einsichtig, um den
Fehler zu erneuern. Aber wir unserseits können Deutschland zwingen, aus
seiner Zurückhaltung herauszutreten. Die drei Männer, welche das deutsche
Reich gegründet haben, werden eines Tages nicht mehr sein, und Tags darauf
kann dem Gebäude Zerbröckelung drohen. Die kaiserliche Regierung wird dann
durch den natürlichen Verlauf der Dinge genötigt sein, die innern Gefahren ab¬
zuleiten, indem sie den Krieg sucht." Der Preis dieses Krieges wird nicht nur
die Wiedereroberung Elsaß-Lothringens, sondern die des ganzen linken Rhein¬
ufers sein, „welches zu allen Zeiten, schon im fünften Jahrhundert, (!) französisch
war, es heute noch ist und morgen wieder sein wird." Der Krieg wird zugleich
dem Handel und der Industrie Frankreichs wieder aufhelfen, dessen Niedergang
hauptsächlich die Deutschen verschulden. „Es giebt keine bessere Fabrikmarke
als den Sieg der Waffen."
Von den zahlreichen Unflätigkette», in welchen sich die sonst mit Recht
gerühmte französische Liebenswürdigkeit und Ritterlichkeit in diesem Buche Luft
macht, wollen wir mir noch die folgende Probe geben: „Lehrt eure Kinder,"
ruft der Verfasser den französischen Frauen zu, „was diese teutonische Horde
ist: hier ein Ölfleck, welcher sich überall langsam und allmählich einsaugt, dort
ein Blutgeschwür, welches sich annage und dann platzt. Erfüllt eure Familien
mit dem Gefühl, daß der neue Krieg ein Vernichtungskampf sein wird, wie man
ihn bisher noch nicht gekannt hat."
Interessanter ist für uns, was der Verfasser seinen Landsleuten, deren
schwerster Fehler nach seiner Ansicht darin besteht, daß sie von sich selbst eine
zu geringe Meinung haben, über unsre Schwächen sagt.
„Der Deutsche hat Pflichtgefühl und Gehorsam, unterwirft sich leicht einer
strengen Disziplin. Aber er ist langsamen, schwerfällige», wenig lebhaften
Geistes. Er ist mehr der Untergebene als der Gefährte seines Offiziers, in
welchem er im Kriege wie im Frieden immer seinen Vorgesetzten erblickt. Er
hat keine kriegerischen Eigenschaften. Der Elan, das heilige Feuer, die Ini¬
tiative fehlen ihm gänzlich. Er geht nicht von selbst vorwärts, sondern mir
wenn die eiserne Hand seiner Vorgesetzten ihn dazu zwingt. Euer Gegner wird
unfähig sein, im gebotenen Augenblick eine Kampfform anzunehmen, welche sich
mit Erfolg derjenigen entgegenstellen konnte, die ihr Franzosen im Feuer von
selbst finden werdet. Darin besteht eure Überlegenheit." Dasselbe gilt von
der deutschen Führung, sie kann nur das, was sie im Frieden mühselig erlernt
oder vorbereitet hat. Das hat sich schon 1870 gezeigt; der Kriegsplan der
Deutschen ging nur bis zur Einschließung von Paris, bis dahin führten sie
ihn Schritt für Schritt aus, dann aber war ihre Weisheit zu Ende. Das
Bischen, was sie können, verdanken sie übrigens den französischen Refugies.
Die schonende Behandlung, welche 1871 Paris zuteil wurde, wird lediglich
unsrer Furchtsamkeit zugeschrieben. „Diese Helden enthielten sich bei ihrem
Einmarsch des Durchzuges unter dem ^ro-ac-lrimrrpllv, weil sie ihn unterminirt
glaubten, ließen sich auf den Champs-Elisoes und dem Coneordienplatz mehr
als Gefangne wie als Sieger Parliren; aus dem Louvre, aus dem Tuilerien-
Gartcn und dem Jnvalidenhotel wiesen wir sie wie Schulbuben aus, unter dem
Vorwande, daß sie nach den Bestimmungen der Konvention dort keinen Zutritt
hätten."
Und vor solchen Gegnern, fragen wir, streckten die französischen Heere,
eines nach dem andern, die Waffen?
Der Verfasser muß von dem Denkvermögen seiner Landsleute eine geringe
Meinung haben, wenn er glaubt, ihr Selbstvertrauen heben zu können, indem
er uns als so verächtliche Gegner hinstellt. Sollte es ihm aber gelingen,
uns könnte es schon recht sein; der Rückschlag würde wie 1870 nicht ausbleiben.
Freilich erinnert alles, was i» dem Buche von Frankreichs Stärke und unsern
Schwächen gesagt wird, ein wenig an die sich granlenden Kinder in dunkler
Stube, die laut sprechen und durch einander schreien, um sich Mut zu machen.
Doch darf uns dies nicht abhalten, nunmehr auch den wertvollen positiven
Angaben etwas näher zu treten, welche das Buch über deu gegenwärtigen Stand
des französischen Heerwesens in ausführlichster Weise macht. Für diese Mittei¬
lungen verdient der Verfasser unsern besondern Dank. Wir besitzen noch keine so
vollständige und übersichtliche Darstellung des französischen Heerwesens. Daß
sie in französischer Sprache geschrieben ist, erschwert keinem deutschen Offizier das
Verständnis, bietet aber manchem derselben einen nützlichen Anlaß, nebenbei
auch seine Sprachkcnntnisse aufzufrischen. Selbst der gewiegteste Kenner des
französischen Heerwesens wird in dem Buche neue Aufschlüsse finden. Die darin
enthaltenen Übertreibungen und Schönfärbereien sind zu ungeschickt, um uns zu
täuschen; manche Schwäche des französischen Heerwesens aber tritt für uns un¬
verhüllt zu Tage, weil die Unbefangenheit und Urteilsfähigkeit des Verfassers
offenbar nicht ausreichte, um sie seinerseits zu erkennen. Auch recht wertvolle
Andeutungen über Maßnahmen, die im Falle des Krieges gegen uns beabsichtigt
find, findet man darin. Dem Verfasser selbst sind Bedenken aufgestiegen, ob
seine Veröffentlichungen nicht Frankreich schaden könnten, doch beruhigt er sich
hierüber mit der Bemerkung: „Es ist ja klar, daß, so gut wie wir ein Nach-
richtenbüreau eingerichtet haben, um zu erfahren, was jenseits der Grenze vor¬
geht, man auch uns gegenüber so verfahren wird." Wir sind doch gespannt
daraus zu erfahren, ob man den Verfasser und seine Mitschuldigen nicht auf
Grund des soeben in Frankreich erlassenen Gesetzes wider die Spionage zur
Verantwortung ziehen wird.
Nach den chauvinistischen Einleitungen behandelt das Buch in neunzehn
Kapiteln eingehend die Ergänzung, Organisation, Ausrüstung, Stärke und Ver¬
teilung der gesamten Streitkräfte Frankreichs im Frieden, die Mobilmachung
und Kricgsformation derselben, endlich die Konzentration des Heeres an der
Grenze und die damit zusammenhängenden Maßnahmen. Jedes Kapitel schließt
mit der Versicherung, daß bezüglich der darin behandelten Einrichtungen Frank¬
reich uns snxm'ioiÄu ineontestMö über uns besitzt. Leise Zweifel schimmern
nur durch, ob dies auch von der Kavallerie und von dem Offizierkorps gesagt
werden könne. Verfasser bekennt, daß das Mißtrauen in die Tüchtigkeit des
letztern ein in Frankreich fast allgemein verbreitetes sei, und ist sich augen¬
scheinlich der Gefahren bewußt, welche, zumal nach Einführung der allgemeinen
Wehrpflicht, daraus entspringen können. Zur Beseitigung dieses Mißtrauens
wählt er das eigentümliche Mittel, aus der Geschichte nachzuweisen, daß die
französischen Offiziere zu allen Zeiten nichts getaugt Hütten. Dies geschieht
allerdings, um daran einen Vergleich zu Gunsten der heutigen Offiziere zu
knüpfen. Ob solche Beweisführung aber geeignet ist, das Vertrauen seiner
Landsleute zu heben, mag dahingestellt bleiben; wir bekennen, daß sie auf uns
nicht überzeugend gewirkt hat. Wenig einverstanden ist endlich der Verfasser
auch mit der im Befestigungswescn eingeschlagnen Richtung, Er befürchtet
davon eine üble Rückwirkung auf den Geist der Truppen und die Heerführung.
Die etatsmäßige Friedensstärke des französischen Heeres*) beträgt:
Die Zahl der Bataillone (649) und Batterien (449) ist bedeutend größer, die¬
jenige der Kavallerieregimenter (78) etwas geringer als bei uns. Die Batterien
haben, wie bei uns, je sechs Geschütze, welche aber sämtlich schon im Frieden
bespannt sind. Die Stärke der Bataillone ist verschieden; diejenigen der öst¬
lichen Armeekorps befinden sich nahezu auf Kriegsfuß, die übrigen sind dagegen
schwächer als unsre Bataillone. Die Kavallerieregimenter haben ähnliche Zu¬
sammensetzung und Stärke wie die unsrigen. Die mitgeteilte Friedensdislvkation
bestätigt aufs neue die bereits bekannte Thatsache, daß das Gros der französischen
Streitkräfte in auffälliger Weise an der deutschen Grenze massire steht. Da die
Kavallerieregimenter stets die volle Kriegsstärke haben, die betreffenden Jnfanterie-
bataillone dieselbe nahezu erreiche», die Geschütze jederzeit sämtlich bespannt sind,
will es uns bedünken, daß weitere Maßnahmen ans deutscher Seite zum Grenz¬
schutz ganz unvermeidlich sind. Sollte, wie wir vermuten, von solchen bisher
der Wunsch abgehalten haben, die Reizbarkeit unsrer Nachbarn im Interesse des
Friedens zu schönen, so wird angesichts der mehr und mehr provozirenden
Haltung derselben solche zarte Rücksichtnahme hinter die Pflicht der Selbst-
erhaltung zurücktreten müssen.
Für den Kriegsfall verfügt Frankreich nach Berechnung des Verfassers
von ^v-nel lit da.wiI1v im ganzen über 4198665 Mann. In diese Zahl sind
freilich 701230 Mann einbegriffen, welche keinerlei militärische Ausbildung be¬
sitzen, und 686100 Mann, die nur eine Übuugszeit von zweimal vier Wochen,
bei Gelegenheit der Neservisteneinziehnngen, cibsolvirt haben. Immerhin bleiben
nach Abzug dieser zweifelhaften Elemente noch rund 2 700 000 ausgebildete
Soldaten übrig, von denen 20252S3 Mann nominell fünf Jahre, that¬
sächlich sechsundvierzig Monate, und 697 072 Mann nominell ein Jahr, that¬
sächlich zehn Monate, gedient haben oder in Erfüllung ihrer aktiven Dienstpflicht
begriffen sind. Von den zwanzig Jahresklasseu, welchen diese Mannschaften
angehören, fallen neun auf das stehende Heer einschließlich der Reserve, fünf
auf die Territorialarmee, sechs auf die Reserve der Territorialarmee.
Wir haben keinen Grund, an der Nichtigkeit dieser Zahlenangaben zu
zweifeln. Sie ergeben sich aus den jährlichen Nekrntenkoutingeuten nach Abzug
der unvermeidlichen Abgänge, unter Hinzurechnung der Offiziere, Kapitulanten ?c.
Die Zahl der letztern ist auffallend gering, sie wird auf uur 15 879 Köpfe
angegeben, sodaß etwa zwei Drittel der Unteroffiziersstellen mit dienstpflichtigen
Mannschaften besetzt sein müssen. Das jährliche Nckrutcnkontingent beträgt
156 142 Mann. Davon werden 109 634 Mann zu fünfjährigem, die übrigen
zu einjährigein Dienst eingestellt. Unter letztem befinden sich durchschnittlich
4584 Einjährig-Freiwillige. Die unsrer Landwehr entsprechende Territorial¬
armee besteht aus 145 Infanterieregimenten« zu 3 Bataillonen und einem
Depot, 148 Eskadrons. 288 Batterien. Für die Aufstellung dieser Truppen
sind dieselben Vorbereitungen getroffen wie für unsre Landwehr. Nach der
Mobilmachung der Feld- und der Territorialarmee mit ihren Depots bleibt noch
ein sehr bedeutender Bestand an ausgebildeten Mannschaften übrig, welche zur
Bildung von Marschrcgimentern und für die Reserve der Territorialarmee Ver¬
wendung finden sollen.
Die Jahresausgaben für das Heer betrage» im Ordinarium, nach Abrechnung
der Nückcinncchmen (wozu auch etwa 7 000 000 Franks Einzahlung der Ein¬
jährig-Freiwilligen gehören), 529 318 426 Franks. Nebenher läuft aber seit dem
letzten Kriege noch ein außerordentlicher Kredit (Netablisfementsfonds) in der
kolossalen Höhe von 2 289 421 461 Franks, welcher jetzt bis auf 200, für die
Jahre 1886 und 1887 vorbehalten« Millionen ausgegeben ist. Von diesem
Kredit fallen unter anderen auf:
Die Mobilmachung des Heeres ist dahin geregelt, daß am zweiten Mobil¬
machungstage sämtliche Reservisten bei ihren Truppenteilen eintreffen sollen. Am
vierten Tage ist die Kriegsfvrmation beendet, mit Ablauf des sechsten Tages
stehen die Truppen für den Eisenbahntransport bereit. Die Kavallerieoivisioncn
mit den ihnen zugeteilten reitenden Batterien stehen jederzeit — zum Teil nur
einen Tagemarsch von der Grenze — zu sofortigen Aufbruch bereit. Der Ver¬
fasser stellt in Aussicht, daß nach Ablauf des dritten Mobilmachungstages fast
die gesamte französische Kavallerie, in der Stärke von mehr als 250 Eskadrons,
in dem Aufmarschterrain oder vor demselben versammelt sein werde.
Sehr bemerkenswert erscheint uns ein Punkt, auf welchen der Verfasser
mit bedeutungsvoller Miene hinweist. Er hebt nämlich hervor, daß, wenn es
auch zur Kriegserklärung der Zustimmung der Gesetzgebungsfaktvren bedürfe, der
Entschluß und Befehl zur Mobilmachung doch dem Kriegsminister ohne alle
Beschränkung überlassen sei. Dadurch sinkt die Mitwirkung der Negierung und
Volksvertretung bei dem Beschluß über Krieg oder Frieden allerdings zu einer
leeren Form herab, da unter heutigen Verhältnissen der Mobilmachungsbefehl
Ah lÄoto der Kriegserklärung völlig gleichkommen dürfte. Der beständige Per¬
sonenwechsel an der Spitze des französischen Kriegsministerinms verleiht dieser
auffallenden Staatseinrichtung eine erhöhte Bedeutung.
Es ist bekannt, welche außerordentlichen Anstrengungen seit dem letzten
Kriege in Frankreich gemacht worden sind, um das Eisenbahnnetz, besonders in der
Richtung nach der Ostgrenze, zu entwickeln. Militärische Rücksichten sind hierfür
in erster Linie maßgebend gewesen, auch sind große Opfer gebracht worden, um
die Einrichtungen der Bahnhöfe und das Eisenbahnfahrmaterial den Anforde¬
rungen der Kriegführung anzupassen. Der Verfasser von ^part 1^ vÄtsills
weist ziffermäßig nach, daß mehr als ausreichendes Fahrmaterial vorhanden
ist, um die ganze mobile Armee gleichzeitig auf der Eisenbahn zu befördern.
An der Grenze eintreffend, findet die Armee dort die für ihren Unterhalt er¬
forderlichen Vorräte, welche in geeigneten Grenzorten schon im Frieden nieder¬
gelegt sind und mit Hilfe von Kontrakten, die mit Privatunternehmern geschlossen
wurden, regelmäßig aufgefrischt werden.
Am Schluß des von der Mobilmachung handelnden Kapitels heißt es
wieder: „Dieser Überblick muß meines Einesteils völlig ausreichen, um denen
Zuversicht zu geben, welche sich aus guten Gründen mit der täglich wahrschein¬
licher werdenden Möglichkeit beschäftigen, daß die Franzosen und die Deutschen
um die Nheingrenze kämpfen, dieses ewige Problem, welches alle ethnographischen,
geschichtlichen und geographischen Erwägungen unbestreitbar zu unsern Gunsten
entscheiden."
Wir müssen uns auf diese wenigen Mitteilungen beschränken und im übrigen
auf die Lektüre des interessanten Buches selbst verweisen.
In einem Schlußkapitel, überschrieben I^s. ventos clvs Maass, fordert der
Verfasser seine, wie er hofft, nun ermutigten Landsleute auf, ihm im Geiste an
die Grenze Elsaß-Lothringens zu folgen, wo er sich noch einmal in Schmähungen
und Drohungen ergeht.
o War es ihm eine unwillkommene Kunde, daß der rüstig an seiner
Seite schreitende Waldhüter, als sie etwa noch eine Wegstunde
bis zu dem Kloster zurückzulegen hatten, mit scharfen Augen ein
Gefährt erspähte, das auf der Straße von Flores daherkam
und offenbar in ihre Straße einlenken wollte. Der Versuchung,
sein Pferd in Trab zu setzen, widerstand Herr Luis im Hinblick auf seinen
Führer. Doch mit umso größerm Unmute sah er die Entfernung zwischen
dem heranrollenden, mit zwei Maultieren bespannten Wagen und sich selbst
immer kleiner werden. Der Waldhüter blickte fortgesetzt uach dem Fuhrwerke
zurück und rief nach einigen Minuten: Es ist Nodriguiz, der Klosterschaffncr
von Flores, der die Maultiere lenkt, Senhor, und ein Priester der Gesellschaft
Jesu sitzt im Korbe des Wagens. Unwillkürlich lenkte Camoens sein Pferd
nach rechts, zum äußersten Rande der Straße, in der Meinung, den Wagen
vorüberfahren zu lassen. Doch in demselben Augenblicke hörte er sich bei
seinem Namen angerufen, und es war noch hell genug, daß er Fray Tellez
Alucita, den Kaplan des Königs, so gut erkennen konnte, wie dieser den
Reiter schon seit längerer Zeit erkannt hatte. Nun galt kein Zögern mehr,
Camoens erwiederte den Gruß des jungen Priesters, ritt an den Wagen hinan
und sprach sein Erstaunen aus, Tellez auf diesem einsamen Wege zu begegnen.
Eine Verwandte unter den Schwestern von Santa Eufemia, die plötzlich
erkrankt ist, hat mich ans meinen Pönitenzen abrufen lassen, sagte ruhig der
Kaplan. Ich bin vor längerer Zeit mit dem Könige nach Flores gegangen
und habe seit drei Wochen dort der verheißenen Wiederkunft Dom Sebastians
geharrt — leider umsonst. Kommt Ihr vom Hofe, Senhor Luis, und wißt Ihr
Näheres von unserm junge» Gebieter?
Camoens erachtete es für genügend, mit stummem Kopsschütteln beide
Fragen zu verneine!?, und ritt mit zerstreuten Wesen neben dem aufmerksam
Beobachtenden her. Tellez Alucita entschloß sich noch einmal, das Schweigen
zu brechen: Ich vergaß, daß Ihr auf Senhor Manuel Barretos Güter ge¬
gangen wäret. Hoffentlich ist es eine frohe Veranlassung, welche Euch hierher
zurückgeführt hat?
Camoens hob den Kopf, aus seinem dunkeln Auge fuhr ein Blitz auf den
Frager herab. Er setzte voraus, daß Fray Tellez um den Mord Joanas wisse
und nahm die Frage als eine» versteckten Hohn auf. Ich reite zum Kloster,
um eine Grabstelle für ein armes erwürgtes Lamm zu erbitten, ehrwürdiger
Bruder, und ich weiß nicht, ob Euch das Freude bereitet.
Um des Heilands willen, rief Fray Tellez, doch nicht Eure Maurin?
Esmah Catarina? Der Ausdruck des Erschreckens in seinem Gesicht war so
überzeugend, daß Camoens begriff, der Kaplan wisse von dem Vorgange noch
nichts, obschon die Frage verriet, wie gut er die Gefahr kenne.
Ihr seid auf der richtigen Fährte; nur ist es diesmal ein minder edles Wild,
das erlegen ist, entgegnete er finster. Die kleine Hirtin Joana, welche die
flüchtige Maurin zuerst in ihre Hütte aufgenommen hat, ist von den Dienern
des Marokkaners ermordet worden, mitten im Frieden unsers Königs und im
Schutze der Kirche, in welchem sie ihre Herde weidete!
Ihr werdet bitter ungerecht, Senhor Luis, sagte der Priester mit leisem,
schonenden Tone. Nicht jeder Frevel läßt sich hindern, und Ihr werdet
hoffentlich weder Seiner Majestät noch der heiligen Kirche die Schuld an jenem
Unheil beimessen, das Gott aus unerforschlichen Gründen geschehen ließ! Klagt
gegen die Mörder beim König, wenn Ihr gewiß seid, daß es Diener des Emirs
waren! Ich zweifle nicht daran — Ihr aber dürft nicht vergessen, daß Ihr
und Manuel Barreto deu heidnischen Fürsten in dem getroffen habt, was ihm
das Heiligste, der Kern seiner Ehre ist. Ihr müßt den König schon um des¬
willen anrufen, weil der Schlag, der die arme thörigte Helferin getroffen hat,
sicher über kurz oder lang auf die eigentlich schuldige fallen soll. Am besten
wäre es, Eure Schutzbefohlene bliebe irgendwo versteckt, bis der Emir sich mit
dem Könige nach Tanger eingeschifft hat.
Wollte Gott, er schwämme schon auf den Wellen — Mulei Muhamed
meine ich — nicht den König! versetzte Camoens. Das Beste wäre, der König
jagte den Manrenzwinger allein in seine Wüste zurück; doch daran ist nicht zu
denken.
Und warum das Beste, Senhor? fragte der Kaplan geschmeidig, Verlangt
es Euch so gewaltig, daß unser junger Fürst die Gelübde breche, welche er seit
Jahren geleistet hat? Ich verstehe mich wenig auf weltliche Gefühle und Hoff¬
nungen, allein mich dünkt doch, daß Ihr, gerade Ihr. eher Ursache hättet, deu
König auf fernen Kriegspfaden als hier im Lande zu wünschen!
Camoens wünschte in diesem Augenblicke, daß es schon Nacht wäre, damit
der im Wagen sitzende Priester die Glut nicht gewahre, die er selbst auf seineu
Wangen brennen fühlte. Die Äußerung, welche Tellez Alucita lässig hinge¬
worfen hatte, durchschauerte Camoens doppelt, sie verriet ihm, daß andre um
deu Traum und den Schmerz wußten, welche er für sein und Barretos Ge¬
heimnis hielt. Und sie enthüllte ihm einen verborgnen Wunsch seiner Seele.
Er hatte den Gedanken noch nicht klar gedacht, daß der König demnächst gehen,
Caiarina Palmeirim bleiben könne; gleichwohl war es ihm in diesem Augen¬
blicke, als spreche der Jesuit uur aus, was seit Wochen in ihm lebte; er
mußte sich Gewalt anthun, um den Ton zu bewahren, in dem er seither mit
Tellez Alucita gesprochen hatte.
Von mir ist nicht die Rede, Ehrwürdiger! sagte er. Ob der König Ge¬
lübde geleistet hat, weiß ich nicht; doch der Schwur, seinem Lande und Volke
getreu zu sein, war vor allen Gelübden. Portugal bangt vor der Heerfahrt
nach Afrika, und so wird Dom Sebastian ans seines Herzens Wunsch Verzicht
leiste» müssen!
Bange denn auch Ihr, Senhor Luis — Ihr, der Sänger unsers alten
Ruhmes? fragte der Priester. Mich dünkt, ich lese in Eurer Seele, daß Ihr
nicht vor Schlachten und Gefahren, vor kühnen Thaten, sondern vor einem
Untergänge zittert, dem die Völker anheimfallen, welche nichts mehr zu Gottes
Ehre und für ihre eigne Herrlichkeit wagen.
Camoens schwieg, auch dies Wort des jungen Priesters schlug in seine
Seele; er mochte weder zustimmen, noch widersprechen. Unwillkürlich lenkte er
sein Pferd einige Schritte weiter von dem Wagen ab, in dem Fray Tellez saß.
Der Kaplan aber, der dies Ausweichen scheinbar nicht bemerkte, fuhr leb¬
hafter fort:
Ihr seid zu lange fern aus dein Lande gewesen, Ihr wißt nicht, wie not
diesem Volke ein läuterndes Bad des Mutes, der Anspannung aller Kräfte,
selbst der Not und der Sorge thut! Der König fühlt das Rechte, wenn er
auch noch zu jung ist, immer das Rechte zu thun. Er muß die ganze Kraft
Portugals einsetzen, muß einen großen Schlag wagen. Dann werden sie ihm
vertrauen, ihm williger folgen, wenn er sein Volk die Pfade führt, welche er
früh als die rechten erkannt hat.
Camoens' finstrer werdende Mienen, welche der Sprechende anch in der
zunehmenden Dämmerung noch unterschied, mahnten ihn, daß er keinen ver¬
wandten Ton im Herzen seines Begleiters erwecke. So schwieg auch der Priester
einige Minuten und hob dann ruhig wieder an:
Seid Ihr andrer Meinung, Senhor, teilt Ihr die Furcht der Kleinmütigen,
die des Apostels Wort „Alles ist euer" vergessen, und die da wähnen, das
Leben würde ärmer werden, wenn eine Zeit wiederkäme, in der ein christliches
Volk sich völlig der Führung der heiligen Kirche vertraut? Wohlan! ich will
es der Zeit überlassen, Euch hierin eines Bessern zu belehren. Das aber werdet
Ihr empfinden wie ich, daß es einem König übel ansteht, seine Jugend, die
ruhmreich sein könnte, in richtigen Treiben zu vergeuden und im Müßiggang
die Töchter seines Landes zu verderben!
Überrascht, fast bestürzt, vernahm Camoens die heftigen Worte, die zu dem
Kleide und zu der demütigen Haltung, welche Fras Tellez selbst hier im Wagen
zeigte, wenig passen wollten. Rasch gab er zur Antwort: Ihr richtet streng und
sprecht kühn, ehrwürdiger Bruder — ich wage Euch nicht auf diesem Pfade
zu folgen.
Hat man Euch auch erzählt, daß meinem Kleide zu mißtrauen sei? sagte
der Kaplan mit einem kurzen Lächeln. Ich will Euch nicht verhehlen, daß
ich von Herzen wünschte, Euch zu überzeugen, Eure Hilfe für meinen Zweck zu
gewinnen, den ich für einen Gott wohlgefälligen halten muß! Ich würde wie
tausende treuer Portugiesen Dom Sebastian freudig zugejauchzt haben, wenn
er die schöne Gräfin Palmeirim als Ehegemahl heimgeführt hätte. Ich weiß
besser als andre, wie oft der junge König dem Himmel ewige Keuschheit ge¬
lobt hat, doch ich hätte Tag und Nacht für ihn gebetet, daß ihm der Allmäch¬
tige den Bruch seiner Gelübde nicht anrechnen wolle! Nicht in Euch allein
wallt das Blut für dies Land und König Manuels ruhmreichen Stamm,
Senhor; auch unter diesem Kleide schlägt ein Herz dafür, und ich gestehe Euch,
daß ich schon den reichsten Segen des Himmels auf das Haupt der neuen Kö¬
nigin herabgerufen habe. Es sollte nicht sein.
Was sollte nicht sein? fragte Camoens ungestüm. Was der König hente
nicht thut, kann er morgen vollbringen, Hochzeit läßt sich an jedem Tage halten.
Was wißt Ihr, was könnt Ihr wissen, daß Ihr so bestimmt sprecht? Hinter
den rauhen, hastigen Worten barg sich eine heftige Bewegung; er beugte sich,
soviel er konnte, zu den Lippen des Kaplans hinüber.
Daß Gräfin Catarina niemals die Krone tragen wird, das weiß ich, er¬
wiederte Tellez Alucita. Ich sollte Euer Beichtiger sein, Ihr nicht der meine,
Senhor Luis; doch da es einmal so ist, so laßt mich gestehen, daß ich gegen
meinen Berus.und meine Gelübde Thränen darum geweint habe, das schöne
Haupt nicht ini königlichen Brautschmuck erblicken zu sollen. Doch was kümmert
es Euch, wie dem Kaplan des Königs zu Mute war! Nur wie ihm jetzt zu
Mute ist, sollt Ihr noch wissen, Senhor. Da der König den Schritt, den ihm
Gott um seines Volkes willen verzeihen würde, nicht wagen und thun wird
— nein, er wird ihn nicht thun, und wenn Ihr mir noch tiefer grollt! — so sehe
ich nur einen Weg für ihn. Er hat sich der irdischen Wünsche zu entschlagen,
die über ihn mächtig geworden sind, er muß sich der Sehnsucht vergangner
Jahre erinnern und der Welt das leuchtende Beispiel eines Herrschers geben,
der als Ritter Christi rein und makellos durch diese Welt der Sünde schreitet.
Der König darf sich nicht selbst verlieren, seine Seele nicht beschmutzen, und
am wenigsten darf er seine Liebe entweihen und mit wilder Leidenschaft die
bedrängen, die seines Thrones wert wäre und mit der er seinen Thron nicht
teilen kann.
Er darf es nicht! er soll es nicht! sagte Camoens mit dumpfem Groll vor
sich hin.
Fras Tellez wußte jetzt, daß er den rechten Toi? angeschlagen habe, er
sah, daß der Dichter in wilder Unruhe im Sattel hin- und herrückte. Und wenn
Ihr tausendmal wahr spräche, was vermag ich dabei zu thun? Habe ich ein
Recht, dem König gegenüberzutreten, wie seine geistlichen Berater? Und hätte
ichs, was hofft Ihr von meinem Wort, wo das Eure sich machtlos erweist?
Der König muß hinweg ans der Nähe Donna Katarinas! sagte der Priester
jetzt wieder leiser als zuvor und noch feierlicher. Er muß sich stählen und
heiligen zugleich in dem Gedanken an seine große Pflicht. Er darf von nichts
anderen mehr träumen als vom heiligen Kriege und von dem großen Siege auf
afrikanischen Boden. Helft dazu, so werdet Ihr Ehre und Seligkeit der Jung¬
frau schirmen helfen, deren Bild Euch ins Herz gewachsen ist, Luis Camoens!
Camoens hatte uicht die Kraft, dem Pferde die Sporen zu geben, wie er
einen Augenblick in Versuchung war. Die Worte des Priesters schienen in
seinem Hirn hundert Bilder zugleich entfesselt zu haben, die einander jagten;
er wollte nichts erwiedern und stammelte doch willenlos: Und was vermochte
ich zu dem guten Werke beizutragen, Fras Tellez? Was gelte ich dem König?
Was wollt Ihr mit Eurer Lockung?
Wenn Euch mein Wort eine Lockung dünkt, so seht es als nngesprochen
an, versetzte der Kaplan. Was Ihr beim König vermögt? Nehmt an, die
Versuchung zu bleiben und der Drang zu gehen seien zwei glcichgefüllte Schalen;
der Tropfen, den Ihr in die eine gießt, bringt die Entscheidung, welche von
beiden steigen, welche fallen soll.
Genug und zu viel, Ehrwürdiger, rief Camoens, Ihr mögt es gut meinen,
mir aber kann Euer Wink nicht frommen. Laßt uns ein andermal über den
König sprechen, wenn ich meiner besser mächtig bin als heute, wo mir Weh und
Zorn den Sinn umnachten!
Richtet ihn zum ewigen Licht empor, so werdet Ihr Klarheit empfangen,
sagte der Priester. Wir sind übrigens zur Stelle; Ihr könnt Euerm Begleiter,
der schwer keucht, etwas Ruhe gönnen. Hier sind die Pforten von Santa
Enfcmia, und dort seitwärts vor der Kirche liegt der Friedhof, anf dem Ihr
für die arme Hirtin ein Grab sucht.
Die Straße trat aus den Wcinhügeln heraus, eine grüne Fläche, von der
jetzt die weiße Mauer des Klosters selbst im Halbdunkel sich deutlich abhob,
that sich vor Camoens' Augen auf. Über die Fläche schwoll deu Heran¬
kommenden ein kühler, beinahe kalter Abendwind entgegen. Camoens spürte ein
leises Frösteln und fühlte doch zugleich, daß sein Gesicht und sein Leib glühe.
Er trieb das Pferd so ungeduldig dem Klostergebäude entgegen, das; der be¬
gleitende Waldhüter zum erstenmale hinter ihm zurückbleibe» mußte. Es drängte
ihn, aus der Gesellschaft des Kaplans hinwegzukommen, sein Geschäft im
Kloster so rasch als uur immer möglich abzuthun; er sehnte sich, allein zu sein,
allein mit sich und der wilden Unruhe, dem zornigen Weh, die ihn während
des Gesprächs mit Tellcz Alucita ergriffen hatten. Und so waren sie kaum
am Klosterthore angelangt, als Camoens sich fast ungestüm von dem Kaplan
trennte und das Anerbieten des Priesters, seine Bitten bei der Äbtissin zu be¬
fürworten, nicht einmal mehr vernahm.
Er begehrte von dem erstaunten Pförtner rasche Meldung bei der hoch¬
würdigen Oberin des Klosters und Kost und Erquickung sür sein Pferd, da er
noch diesen Abend nach Cintra zurück müsse. Der alte Thorhüter wandte um¬
sonst ein, das; die Äbtissin zu dieser Stunde niemand, am wenigsten einen
Fremden, empfangen werde. Camoens beharrte darauf, daß sein Geschüft keinen
Aufschub bis zum andern Tage leide. Der Waldhüter, der ihn von der Hütte
Joanas bis hierher geführt hatte, war inzwischen gleichfalls in das Pförtner-
Hans getreten, und seine Erzühlnng von dem, was im Hochthal der Mutter aller
Gnaden geschehen sei, machte den Pförtner doch wankend, ob er das unge¬
wöhnliche Verlangen des Ankömmlings nicht erfüllen müsse. Während Camoens
noch einmal wiederholte, daß und warum er die Äbtissin sprechen müsse, und
der Pförtner zögernd nach dem Strange der Glocke griff, dnrch welche in
dringenden Fällen der Klvsterschafsner herzugernsen ward, kam schon eine die¬
nende Schwester mit dem Auftrage, den Edelmann, der in den Vorhalle weile,
auf der Stelle in das Kloster selbst und zur Äbtissin zu führen.
Nicht zwei Stauden später, doch schon bei völliger Nacht, bestieg der rastlos
Nmhergetriebne hente zum drittenmale sein Pfetd, um auf der geraden Straße,
die über Kloster Flores nach Cintra führte, den Rückweg nnzntreten. Er hatte
seinen Führer von vorhin nach Kräften belohnt und das Anerbieten desselben,
ihn auch nach Cintra zu begleiten, freundlich zurückgewiesen. Er hatte ihm wie
dem Pförtner vertraut, daß die hochwürdige Oberin von Santa Enfemia
schmerzliche Teilnahme an dem Schicksale ihrer jungen Hirtin gezeigt, die Be¬
stattung Joanas auf dem Friedhofe des Klosters ohne Zögern bewilligt, ja
selbst erlaubt habe, daß die kleine Zahl von Männern, welche heute in der Hütte
der Ermordeten versammelt gewesen sei, morgen in der Frühe den Sarg Joanas
zur Gruft geleiten dürfe. Er hatte darnach jede Erfrischung, die Pförtner und
Schaffner gastfrei anboten, bis ans einen Trunk des brauugvldnen Klosterwcins
abgelehnt, und nun rückte er sich im Sattel zurecht und ermunterte mit kurzem
Zurufe das Pferd, zum Galopp aufzugreifen. Noch als er schon im Bügel
stand, hatte ihn der Waldhüter gefragt, ob er keine Besorgnisse wegen der ver¬
ruchten Mohren hege. Er hatte nur zurückgerufen: Ich fürchte sie nicht! als
er bereits die Straße dahinbrauste. Unwillkürlich hatte er bei diesen Worten
doch mi den Gürtel gegriffen, an dem sein Schwert hing und in dem sich ein
malaisches Dolchmesser mit doppelter Schneide borg. Er wiederholte noch
einmcil sür sich selbst: Ich fürchte sie nicht! und horte dabei sein Herz pochen
und wußte doch, daß es richt um die Gefahr war, welche ihm von Meuchlern
auf dem mächtigen Ritte drohen konnte.
Die Straße war nachtstill, zwischen den Hügeln hallte der Hufschlag seines
Pferdes wieder, ans dem großen Klosterwalde, der zur Rechten blieb, klangen
einzelne schrille Laute, die Camoens mit geübtem Jcigcrohr als die von Vögeln
und kleinen Raubtieren unterschied. Zugleich aber meinte der Einsame andre
Stimmen zu vernehmen, die aus seiner Seele klangen und dnrch das Gespräch
mit Tellez Alucita erweckt worden waren. Wieder und wieder horte er jeden
Ton, in welchem der Priester zu ihm gesprochen hatte, hörte sich selbst auf¬
schreie»: Er hat Recht, hat tausendfach Recht, der König muß hinweg, hinweg,
und würf in ein Kriegergrab in der Wüste! Die Herrliche taugt ihm nicht
zu seiner Königin — so will ich sie schützen, seine Buhle zu werden. Dazwischen
schrillten Hvhnworte des Zweifels: Was wähnst du, was vermagst du? Hast
du nicht an Barreto deine Ehre verpfändet, ihr Antlitz zu meiden und sie ihrem
Geschick zu überlassen? Dann wars auf Augenblicke, als ob es in ihm so stumm
würde, wie es um ihn her war, und in solchen Augenblicken empfand er, welche
Versuchung in den Worten des Kaplans gelegen habe; er trieb sein Pferd an,
als könne er mit der Schnelle des Tieres die verworrenen Stimmen hinter sich
lassen wie den Wald, die Rebenhügel und die vereinzelten Lichter, die seitwärts
ans dem Kloster von Flores schimmerten. Aber schon vernahm er sie aufs
neue, und aus dem wilden Gewühl der Bilder, die er im Dunkel zu sehen, der
hundertfältiger Laute, die er zu hören meinte, klang ein Ruf immer schriller,
immer stärker, und jetzt fuhr der einsame Reiter vor dem wirklichen Klang seiner
eignen Stimme zusammen. Denn nur er war es gewesen, der selbstvergessen,
im Krampf seiner Seele, lant in die Nacht hinausgerufen hatte: Der König
muß — er muß hinweg! (Fortsetzung folgt.)
Die Versorgung der invaliden Offiziere. Als Graf Motte'e es im
Reichstage von neuem anregte, besser als bisher für die Männer zu sorgen, welche
bei den Bemühungen um die Erhaltung eines schlagfertigen Heeres und die dadurch
hervorgerufenen Strapazen ihre Gesundheit untergraben und dadurch früher als die
in andern Berufszweigen thätigen Männer dienstunfähig werden, da konnte er
voraussehen, daß er auf allen Seiten des Hauses ein bereitwilliges Entgegenkommen
finden würde, wenn auch hin und wieder auf die Schwierigkeit bezüglich der Be¬
schaffung der nötigen Geldmittel hingewiesen wurde. Das beste Mittel, diese finan¬
ziellen Schwierigkeiten zu heben, würde nun darin bestehen, das; man die Arbeits¬
kraft der aus der Aktive ansgcschiednen Offiziere anderweit verwendet. Diese
Männer stehen oft noch in ihrer besten Manneskraft, und der Mangel an Be¬
schäftigung, zu welchem sie ihre Pensivinrung verurteilt, ist ihnen selbst höchst
peinlich; ließe sich also ihre Arbeitskraft durch Ueberweisung andrer Stellen aus-
nutzen, so würde der für diese Stellen ausgeworfene Gehalt zur Erleichterung des
Pensivnsfvnds benutzt werden können. Gegenwärtig kann, und zwar in jedem ein¬
zelnen Falle durch besondre Kabinetsordre, einem Offizier nach einer Dienstzeit
zwischen zwölf und fünfzehn Jahren der Anspruch auf Anstellung im Zivildienst
gewährt werden, eine Anzahl Stellen von Postdirektoren ist den ausgeschiednen
Offizieren vorbehalten; es kann sich also nur darum handeln, ob man diese Ein¬
richtung nicht erweitern und jeden ausgeschiednen Offizier zur Uebernahme einer
entsprechenden Zivilstclle für berechtigt und verpflichtet erklären könnte. Von einer
solchen Verpflichtung würden selbstverständlich diejenigen Offiziere auszuschließen sein,
welche durch Alter oder Gebrechen wirklich zur Uebernahme einer Zivilstelluug un¬
fähig sind, ans alle übrigen aber wäre diese Berechtigung und Verpflichtung aus¬
zudehnen.
Prüfen wir die Stellen, welche zur Besetzung mit Offizieren geeignet sein
könnten, so wird gewiß niemand bestreiten, daß z, B. ein Offizier des Eiscnbahn-
regimentes im Eiseubahudienste, ein Ingenieur im Baufache, namentlich beim
Straßen- und Wasserbau, ein Marineoffizier bei den verschiednen Behörden, welche
mit der Instandhaltung der Küsten und Wasserstraßen, der Beaufsichtigung der
Häfen u, s, w. zu thun haben, sofort eine Stellung würde übernehmen können.
Abgesehen von solchen Spezialfächern bringt es aber doch der Bildungsgang,
welchen ein Offizier durchmachen mußte, mit sich, daß derselbe für alle Staats-
ümtcr, zu denen nicht ein geradezu fachwissenschaftliches Vorstudium gehört, geeignet
ist, insbesondre für die Stellungen im Steuer- und Kassenwesen, bei der Post, bei
der Tclegraphie und im Eisenbahubetriebsdieuste, bei der höher» Pvlizeiexekutive,
für zahlreiche Stellungen in der Selbstverwaltung u. a. in. Es gehört ja zu allen
diesen Aemtern eine gewisse Ausbildung im praktischen Dienste, daß diese aber von
einem Mitgliede unsers Offizierkorps in einiger, zum Teil Wohl in recht kurzer
Zeit erfolgreich durchgemacht werden kann, liegt auf der Hand. Für eine solche
Vorbereitungszeit könnte die Pension ganz oder unter Kürzung des für die Zivil¬
stelle im Probedienste ausgeworfenen Gehaltes ausgezahlt werden, svdnß der Offizier
keinen Mangel litte, der Dienst für die betreffenden Zweige der Staatsverwaltung
aber auch nicht beeinträchtigt würde.
Gegen diese Vorschläge würde zunächst geltend gemacht werden können, daß
eine Reihe von Aemtern, welche darnach von Offizieren bekleidet werden könnten,
nicht die soziale Stellung besäßen, welche nötig sei, um einem Offizier eine solche
zu übertragen. Dies würde sich jedoch sehr bald ändern, wenn solche Stellungen
regelmäßig oder doch nur in größerer Zahl von Offizieren übernommen würden,
weil dies, soweit nötig, eine soziale Hebung solcher Stellen zur Folge haben müßte.
Die Verleihung eines Titels könnte auch das ihrige dazu beitragen, eine solche
Stellung der Persönlichkeit ihres Trägers anzupassen. Endlich aber darf man nicht
vergessen, daß die höhern oder gar höchsten Offiziersstelleu meist von Männern
so vorgerückten Alters bekleidet werden, daß diesen die Uebernahme eines Zivilamtes
nicht mehr würde zugemutet werden können. Man wird ferner entgegenhalten,
daß durch ein solches Einordnen von Offizieren eine Menge junger Männer, welche
sich den betreffenden Berufsarten gewidmet hätten, in ihrem Fortkommen gehindert
werden würden. Dies möchten wir aber doch bezweifeln; denn da ein solches Ein¬
ordnen von Offizieren nnr nach und nach geschehen würde, so würde sich im Ver¬
hältnis dieses Einrückens die Zahl der jungen Leute, welche diese Berufsarten
ergreifen wollen, wegen der geringeren Aussicht, darin fortzukommen, verringern.
Damit würde gleichzeitig eine Verminderung derer, welche sich dem Staatsdienste
widmen wollen, eintreten, und daß dies ein Vorteil im Vergleich zu dem jetzigen
Andrange zum Staatsdienste sein würde, bedarf sicherlich keines Beweises.
Wenn aber gesagt ist, daß die Offiziere nicht nur das Recht, sondern auch
die Verpflichtung haben sollten, Zivilstellen anzunehmen, so ließe sich dies bezüglich
der vom Reiche und vom Staate zu vergehenden Stellen derart einrichten, daß
dem Offizier statt der Anheimgäbe, seine Pension zu fordern, oder wenn er um
seine Pensionirung einkäme, aufgegeben würde, sich binnen einer ihm festzusetzenden
Frist um eine Zivilstelle zu bewerben. Eine Zurücksetzung des Offiziers gegen den
Zivilbeamten dürfte in diesem Zwange, nicht gefunden werden können, da der letztere
viel schwieriger, man kann sagen, überhaupt erst bei allgemeiner Dienstunfähigkeit
der Pensionirung teilhaftig werden kann, während das Ausscheiden eines Offiziers
aus dem aktiven Kriegsdienste aus militärischen Gründen oft zu einer Zeit erfolgt,
wo der Offizier noch im übrige» volle Arbeitskraft besitzt.
Ob der hier angedeutete Plan, so wie wir ihn hingeworfen haben, vollkommen
durchführbar ist, mag dahingestellt bleiben. Bei dem Streben nach möglichst guter
Versorgung unsrer zum aktiven Kriegsdienste nicht mehr brauchbaren Offiziere
einerseits und der ebenso sehr berechtigten Sorge um unsre Reichs- und Staatsfinanzen
muß danach getrachtet werden, einen Boden zu finden, auf welchem sich, soweit es
möglich ist, beides vereinigen läßt. Auch ein nicht vollständig ausführbarer Ge¬
danke kann immerhin die Anregung zu einem bessern sein, und auch nur eine
solche Anregung gegeben haben, würde als ein erwünschter Erfolg dieser Zeilen
anzusehen sein.
Henrard hat 1370 die Depeschen veröffentlicht, welche 1l>10 zwischen dem
Brüsseler Hofe und seinein Gesandten in Paris, Pierre Pecquins, während der
Verhandlungen über die Rückkehr der Prinzessin von Conds nach Frankreich ge¬
wechselt wurden. Jetzt hat er auch die Berichte Brulart de Bernys, des damaligen
französischen Gesandten in Brüssel, aufgefunden und giebt nun auf Grund dieses
neuen Materials in dem oben genannten Werke eine lebendig geschriebne, ein-
gehende Darstellung der Neigung Heinrichs IV. zur Prinzessin von Conto. Den
fast sechzigjährigen König hatte eine leidenschaftliche Liede zu Charlotte, der Tochter
des Connetable von Mo tmoreney, erfaßt; er zwang den Prinzen von Conto, sie
zu heiraten, und hoffte, sich ihr nur leichter nähern zu können. Um den Nach¬
stellungen des Königs zu entgehen, verließ Conds den Hof, floh schließlich uach
Brüssel, indem er seine Gemahlin mit sich nahm; frühzeitig trat er in Verbindung
mit Spanien. Heinrich IV. verlangte die Auslieferung des flüchtigen Ehepaares,
und als die Prinzessin, mit welcher sich der König heimlich ins Einvernehmen
gesetzt hatte, forderte, von ihrem Gemahl geschieden zu werden, wollte man sie in
Brüssel nicht eher ausliefern, als bis die Scheidung ausgesprochen sei. Dieses
die persönlichsten Interessen des Königs aufs tiefste berührende Ereignis verschärfte
noch den Zwiespalt mit den Habsburgern. Trotzdem daß von alle« Seiten ab¬
gemahnt wurde, rüstete Heinrich IV. eifrig, der Plan zu einem großartigen An¬
griffskriege wurde entworfen, des Königs Ermordung am 14. Mai 1610 Machte
alle Entwürfe zu nichte. Wenn Henrard allein in der leidenschaftlichen Liebe
Heinrichs IV. den Grund erblickt, weshalb sich Frankreich in den Jülichschen Erb¬
folgestreit mischte und Spanien mit so gewaltigen Truppenmassen bedrohte, so geht
er sicher zu weit; aber es wird ihm zuzugeben sein, daß die Herzensneigung des
greisen Königs unter den Gründen schärfer hervorzuheben sein wird, als es bisher,
namentlich auch in deutschen Geschichtswerken, geschehen ist.
Es ist bekannt, daß der im Württemberger Lande unvergeßliche Herzog Christoph
unmittelbar uach dem Abschluß des Augsburger Neligionsfriedens eine neue Kloster-
orduung begründet hat, wonach die Klöster zur Erziehung der künftigen Pfarrer
und Lehrer bestimmt sein sollten. Ein Abt und ein oder zwei pra-oesptoros sollten
die jungen Leute „in der Schrift unterrichten" und sie nach dreijährigem Kursus
an die Hochschule abgeben. Von den zwölf Klosterschulen, welche der Herzog er¬
richtete, bestehen heute noch vier unter dem Titel „Niedere evangelische Seminarien,"
alle an Orten, die durch die Schönheit ihrer Lage ausgezeichnet sind, und teilweise
siud sie auch in Bauten von hoher künstlerischer Vollendung untergebracht l^so zu
Maulbronn). DaS Leben in einer dieser Klosterschulen, in der zu Urach bestehenden,
wird uns in der obengenannten Erzählung anschaulich vorgeführt. Wer selbst mit
dem Verfasser dort die vier Jahre verlebt hat, welche zwischen 1862 und 1866
lagen, kann der Geschichte freilich mit doppeltem Genuß folgen und sich im Geiste
in den Hörsaal, in die tiefen, dunkeln Bergwälder, um den herrlichen Wasserfall,
in die Ruinen von Hvhcuurach zurückversetzen, von denen herab Nikodemus Frischlin
zu Tode fiel. Aber auch wer diesem Leben fernsteht, wird sich an den Poesie-
reichen, mit köstlichem Humor gewürzte» Schilderungen des Verfassers ergötzen,
der Dichtung und Wahrheit in freiem Spiel der Phantasie gemischt hat. Lebendig
tritt die Eigenartigkeit dieser württembergischen Klosterschulen hervor, die eine solide
und humane Bildung pflegen, und die deshalb, obwohl Kinder einer versunkenen
Zeit, ihr Daseinsrecht nicht eingebüßt haben.
eher das Darniederliegen unsers Wirtschaftslebens auch auf in¬
dustriellem Gebiete wird heute von den verschiedensten Seiten Klage
geführt. Als Grund dieser traurigen Erscheinung bezeichnet man
in der Regel die „Überproduktion." Von andrer Seite wird dem
entgegengehalten: Wie kann die Überproduktion, d. h. die Erzeugung
von zu viel Gütern, eine wirtschaftliche Niederlage herbeiführen? Leben wir
doch von der Summe der erzeugten Güter; und je mehr Güter wir erzeugen,
umso besser müßten wir leben können. An diese Betrachtung knüpfen manche
dann eine Schlußfolgerung, die wir für eine seltsame Verirrung halten. Sie
meinen nämlich, daß, da die Überproduktion doch nicht der eigentliche Grund
unsrer wirtschaftlichen Leiden sein könne, dieser Grund in etwas anderm, nämlich
in der Einführung der Goldwährung, zu suchen sei. Wir sehen jedoch von dieser
Frage ganz ab. Hier wollen wir nur erörtern, inwiefern die Überproduktion
mit jenen wirtschaftlichen Leiden zusammenhängt. Wir werden sehen, daß die
Überproduktion, d. h. das Vorhandensein vieler zur Zeit unverkäuflichen Waaren,
nur die äußere Erscheinung ist, in welcher die Schwächen unsers Wirtschafts¬
lebens zu Tage treten.
Es ist vollkommen richtig, daß wir von der Summe der Güter leben, die
wir erzeugen. Das Geld spielte dabei nur die Rolle des Vermittlers für
deu Austausch dieser Güter. Hiernach ist es anch grundsätzlich richtig, daß,
je mehr Güter wir erzengen, wir umso besser leben können. Auch ist die
Fähigkeit der menschlichen Gesellschaft, Güter zu gebrauchen und zu verbrauchen,
so groß, daß nicht leicht zu viel Güter für den menschlichen Bedarf geschaffen
werden können. Vorausgesetzt wird dabei freilich, daß die Gütererzeugung ver-
hciltnismäßig in gleicher Weise eins alle den menschlichen Bedürfnissen entsprechende
Güter sich verleite. Denn da jeder seine verschiednen Bedürfnisse gleichmäßig
befriedigen will, so ist er in der Fähigkeit, sich an dem Verbrauch der erzeugten
Güter zu beteiligen, doch wieder beschränkt dnrch das Maß, welches ihm seine
Verhältnisse bezüglich des Erwerbes von Gütern auferlegen. Dieses Maß
bestimmt sich durch das Maß, in welchem er selbst Güter produzirt, die er dann
gegen die von andern produzirten Güter austauschen kann. In diesem Sinne
können wir sagen, daß für den Verbrauch von Gütern doch in jedem Lande
immer nur ein relatives Bedürfnis besteht. Insbesondre kommt hierbei in
Betracht, daß diejenige Gütererzeugung, welche an den Umfang von Grund
und Boden gebunden ist, also namentlich die Gütererzeugung der Landwirt¬
schaft, einer beliebigen Steigerung nicht fähig ist, und daß dadurch auch die
Fähigkeit der Landwirtschaft, Industriegüter zu erwerben und zu verbrauchen,
eine bestimmte Grenze findet.
Dafür, daß die Güterprodnktion, anknüpfend an das Maß des relativen
Bedürfnisses, sich gleichmäßig verleite, ist eine äußere Garantie nicht gegeben.
Zufolge des durchgeführten Grundsatzes der Arbeitsteilung erzeugt jeder Einzelne
Güter von der Art und in dem Maße, als er glaubt, daß sie dem obwaltenden
Bedürfnisse entsprechen. Durch sein eignes Interesse ist er darauf angewiesen,
hierin das Richtige zu treffen. Denn wenn er Güter erzeugt, für die kein ent¬
sprechendes Bedürfnis vorhanden ist, so werden sie in seiner Hand wertlos.
Diese Erkenntnis hat im allgemeinen auch bisher genügt, um eine relativ gleich¬
mäßige Gütererzeugung hervorzurufen. Gleichwohl sind Irrungen auf diesem
Gebiete nicht ausgeschlossen. Es ist möglich, daß sich zu viele auf die Erzeugung
eines bestimmten Gutes werfen, oder daß die einzelnen Produzenten, das Maß
des obwaltenden Bedürfnisses verkennend, ein bestimmtes Gut in zu großen
Massen erzeugen. Dadurch bildet sich dann der Begriff der Überproduktion.
Die Möglichkeit eiuer solchen Überproduktion nud die damit verbundene
Gefahr wirtschaftlicher Mißstände würde aber nur gering sein, wenn wir lediglich
für die Bedürfnisse unsers eignen Landes produzirten und wenn diese Bedürfnisse
unsers Landes nur auf die inländische Produktion angewiesen wären. Das
Maß der Bedürfnisse des eignen Landes ist in der Regel nicht so schwer zu
überblicken, daß nicht die Produktion ihre Thätigkeit darnach richtig bemessen
könnte. Und selbst wenn in der einen oder andern Richtung das dem Bedürfnis
entsprechende Maß der Produktion augenblicklich überschritten wäre, so würde
man dieses doch bald gewahren und durch Wiedcreinschräukuug der Produktion
das richtige Gleichgewicht zwischen Gütererzeugung und Gütervcrbrcmch ohne
wesentlichen Schaden wiederherstellen können.
Wie alle Kulturvölker, befriedigen wir aber unsre Bedürfnisse schon lange
nicht mehr bloß mit den Erzeugnissen des eignen Landes. Eine Menge Dinge,
die unser Land gar nicht erzeugt, gehören bereits zu unserm Lebensbedarf, und
Wir sind daher auf ihren Bezug aus dem Auslande angewiesen. Andre Dinge
führen wir aus dem Auslande ein, weil die Erzeugung im eignen Lande das
obwaltende Bedürfnis nicht vollständig deckt. Endlich hat das Prinzip des
Freihandels dahin geführt, daß selbst für solche Dinge, die das eigne Land in
zureichender Weise erzeugt, doch zugleich die Einführung aus dem Auslande
gestattet wird. Alle diese Dinge, die wir aus dem Auslande einführen, müssen
wir mit Erzeugnissen unsers Landes, die wir dem Auslande zuführen, bezahlen.
Und da Deutschland nicht zu den vorzugsweise mit Naturprodukten gesegneten
Ländern gehört, so kann jene Bezahlung fast nur mit Erzeugnissen unsrer
Industrie geschehen. Nur durch ihre hochentwickelte Industrie, welche die übrigen
Länder mit Gütern versorgt, die diese selbst nicht in gleichem Maße zu erzeugen
verstehen, haben die großen Kulturländer gewissermaßen die ganze Erde sich
tributbar gemacht, und hierauf beruht der Reichtum, der diese Länder auszeichnet.
Während unsre Industrie, soweit sie für das Inland arbeitet, in diesem
zwar ein beschränktes, aber auch wohlübersehbares Arbeitsfeld besitzt, welches
nicht leicht zu der Verirrung einer Überproduktion führen kann, bietet ihr das
Ausland zwar ein weit umfaugrcichercs Gebiet dar, dessen andauernder Bedarf
aber auch weit schwerer zu überblicken ist. Ein Wechsel kann dort in der ver¬
schiedensten Weise eintreten; bald durch eine Änderung in der Art oder dem
Maße der obwaltenden Bedürfnisse; bald durch die größere Entwicklung der
eignen Industrie des betreffenden Landes, wodurch die Einführung auswärtiger
Erzeugnisse überflüssig wird; bald in der Konkurrenz noch andrer Länder, welche
dem betreffenden Lande bessere oder wohlfeilere Produkte zuzuführen vermögen.
Der Absatz unsrer Industrie in das Ausland hat hiernach eine weit unsicherere
und mannichfach gefährdete Existenz. Es können daher auch weit leichter
Irrungen über das Maß der Aufnahmefähigkeit des Auslandes für unsre
Waaren vorkommen, die dann in der Form der Überproduktion zu Tage treten.
Eine ähnliche Erscheinung kann freilich auch bei der zunächst für das Inland
bestimmten Produktion eintreten dadurch, daß das Ausland uns mit den näm¬
lichen Produkten überschwemmt zu Preisen, mit denen die inländische Produktion
nicht zu konkurriren vermag. Dann werden für den inländischen Produzenten
seine Produkte, ganz wie bei einer Überproduktion, unverkäuflich; und wenn
dieses Verhältnis andauernd wird, so muß seine Produktion zu Grunde gehen.
Diese Bedrohung der inländischen Produktion durch die auswärtige kann
nun der Staat abwehren oder wenigstens schwächen dadurch, daß er auf die
ausländischen Produkte Zölle legt, die deren Preis für den inländischen Gebrauch
dergestalt erhöhen, daß die inländische Produktion mit ihnen konkurriren kann.
Allerdings hat man als Folge hiervon zu gewärtigen, daß auch die auswär-
tigen Staaten Zölle auf die bei ihnen eingehenden Waaren legen und daß
dadurch unsrer Industrie, soweit sie für das Ausland arbeitet, die Beschreibung
des ausländischen Marktes erschwert wird.
Der seit dem Jahre 1879 vollzogene Übergang Deutschlands von frei-
händlerischen zu schutzzöllncrischen Grundsätzen hat hiernach die Bedeutung, daß
damit in erster Linie die für das Inland arbeitende Produktion geschützt werden
soll, selbst auf die Gefahr hin, daß unsre für das Ausland arbeitende Industrie
eine Schwächung erleide. Man kann dies auch so ausdrücken: Deutschland soll
in Beziehung auf Produktion und Konsumtion in erster Linie auf sich selbst
gestellt sein. Allerdings können wir, wenn wir auf der Höhe unsers Wohl¬
standes verbleiben sollen, die für das Ausland arbeitende Industrie nicht völlig
entbehren. Die wichtigsten und großartigsten Produktionszweige sind daran be¬
teiligt. Und es ist deshalb gewiß Aufgabe einer weisen Negierung, möglichst
dahin zu wirken, daß auch dieser Industrie ihr Arbeitsfeld erhalten bleibe oder
neue Felder gewonnen werden. Erwägt man aber, daß diese Industrie uuter
allen Umständen nur eine unsichere, von mannichfachen Zufälligkeiten abhängige
Existenz hat, und daß es deshalb unmöglich wohlgethan sein kann, ihr zuliebe
die für das Inland arbeitende Produktion einer, möglicherweise sie vernichtenden,
ausländischen Konkurrenz preiszugeben, so wird man ein System mäßiger
Schutzzölle nicht so unverständig finden, wie unsre Freihändler es darzustellen
suchen.
Wenn heute nun Klage darüber geführt wird, daß unsre Industrie ihre
Waaren nicht mehr absetzen könne, also zu viel produzirt habe, so ist es ohne
Zweifel in erster Linie die für das Ausland arbeitende Industrie, welche diese
Klage zu führen hat, wenn auch deren Notleidcu einigermaßen auf die gesamte
Industrie zurückwirkt. Das Ausland will uus nicht mehr unsre Waaren in
dem Maße abnehmen, in welchem die Industrie sie absetzen zu können gehofft
und wonach sie ihre Produktion eingerichtet hat. Die Waaren stapeln sich auf
und erscheinen als „Überproduktion." Natürlich stockt auch der Handel, welcher
die Überführung unsrer Waaren ins Ausland vermittelt. Was für Gründe für
die verminderte Aufnahmefähigkeit des Auslandes vorhanden sind, ist schwer zu
sagen. Unzweifelhaft aber sind es Gründe mannichfacher Art und nicht etwa
bloß neu hervorgerufene Zollschranken, welche sich dem Eingänge unsrer Waaren
entgegenstellen. Und so bildet schon die gegenwärtige Lage einen Beweis dafür,
daß das Ausland unter allen Umständen ein unsicheres Absatzgebiet darbietet,
das man, solange es vorhält, mit Eifer benutzen mag, dein man aber keinesfalls
die für das Inland arbeitende Produktion opfern soll.
Die Erscheinung, die man „Überproduktion" nennt, ist hiernach nicht der
Grund, sondern nur das äußere Zeichen unsrer wirtschaftliche» Krankheit. Diese
Krankheit besteht in dem Glauben an eine unabänderliche und unbegrenzte Auf¬
nahmefähigkeit des Auslandes für unsre Produktion, wie sie in Wahrheit nicht
vorhanden ist. Dauert die geminderte Aufnahmefähigkeit des Auslandes, wie
sie zur Zeit sich thatsächlich ausweist, längere Zeit fort, so werden wir dadurch
belehrt, daß wir eben nicht so reich sind, als die zeitweise günstigen Verhältnisse
uns haben erscheinen lassen. Und dann werden wir zu naturgemäßen Zuständen
nur dadurch wieder gelangen, daß wir uns entschließen, unsre ganzen Lebens¬
verhältnisse diesem mindern Reichtume entsprechend einzurichten.
i
ch in großen Zügen die Entwicklung der Verfassung.*) Nun
zu ihren Einzelheiten. Die Grundlage des staatlichen Lebens
in der freien Reichsstadt bildeten also die Zünfte. Über das
Wesen derselben hat noch vor garnicht langer Zeit Unklarheit
geherrscht, bis unser ehemaliger Universitätsrektor Gustav
Schmoller durch seine Mitte des vorigen Jahrzehnts hier betriebnen grund¬
legenden Studien nachgewiesen hat, worauf es dabei ankommt. Nicht volks¬
wirtschaftlich, sondern in Verbindung mit dem öffentlichen Rechte, mit Gerichts¬
verfassung und Verwaltungsrecht haben wir uns darnach das Wesen der Zünfte
zu erklären. Der vielbespöttelte Zunftzwang ist unmittelbar abzuleiten aus dem
Gerichtszwange der alten Zeit. Wie oben ausgeführt, ging allmählich die
öffentliche Gewalt vom Bischof in die Hände der Stadtinsasfen über. Mit dem
Beginn der Zunftherrlichkeit trat dieser Übergang noch deutlicher hervor; die
adlichen Zunftmeister, die Amtsnachfolger jener alten bischöflichen Ministerialen,
gaben ihre Macht an die Handwerksmeister ab, und den über alle gesetzten
bischöflichen Burggrafen ersetzte der Ammeister, der dann das Haupt der Stadt
wurde. Worauf es den Zunftverbindungen hauptsächlich ankam, war eignes
Recht und eignes Steuerwesen; die in der alten Zeit häufigen „Auflösungen"
der Zünfte haben sich weniger auf die Genossenschaften selbst, als vielmehr auf
die zeitweilige Verkümmerung dieser Rechte bezogen. Hier in Straßburg zeigte
der Sprachgebrauch deutlich das richterliche Wesen der Zünfte, denn der Zunft¬
meister hieß später nur „das Gericht." Aus dieser Gerichtsbarkeit entwickelte
sich dann die politische Stellung, und beides zusammen ergab die Notwendigkeit
des Zunftzwanges.
Den Zünften gegenüber standen die schon erwähnten eidlichen Constofeln,
in denen sich das frühere Adelsregiment der Stadt wiederspiegelt. Ursprünglich
eine Art militärischer Einteilung der freien Stadtinsassen bedeutend, nahmen
die Constofeln allmählich das Gepräge einer Bezirkseinteilung an; 1394 haben
wir die acht Cvnstofeln zu Se. Peter, vor dem Münster, in Kalbesgassc, zu
Se. Niclause, in Spettergasse, zu Se. Thoman, an der Oberstraßc und am
Hohlwege. Die Constofcln hatten die öffentliche Sicherheit, den Wachtdienst,
die Thorhnt, ferner auch die Steuerumlage zu besorgen. Sie thaten den früher
so wichtigen Dienst zu Pferde, während die Handwerker das Fußvolk bildeten.
Als letztere 1332 zur Herrschaft kamen, bedürfte es einer besondern Verordnung,
damit sie auch beritten wurden. Ausdrücklich erzählt Königshöfen: „Under den
kam die gewohnheit of, das die antwerglüte uf wegcne wurden: ritende wenn
man vszogete in reisen. Wan Vormols giengent sü zu fusse." Die Coustofeln
trockneten allmählich ein, jemehr sich das selbständige Zunftwesen entwickelte.
Der Adel hatte übrigens schließlich nach mannichfachen Schwankungen nur zwei
Kurier oder Stuben, welche für ihn politische Einigungspunktc bedeuteten:
„zum Hohensteg" und „zum Mühlstein."
Die Zahl der Zünfte schwankte nicht minder häufig; von 10 auf 28, auf
24 und schließlich auf 20, soviel es dann 309 Jahre hindurch geblieben sind.
Diese 20 hatten eine bestimmte, bei allen Amtshandlungen eifersüchtig beobachtete
Reihenfolge.*) Schon die geringe Anzahl deutet darauf, daß die Begriffe
„Zunft" und „Gewerbe" sich nicht decken könne»; vielmehr war eine Zunft der
Sammelort für verschiedne Gewerbe, meist in zufälliger Zusammensetzung ohne
organische Anglicdernng. In der Zunft zum „Spiegel" fanden sich beispiels¬
weise die Apotheker mit den Bettvertaufcrn zusammen; in der „Lucern" oder
„Latern" die Chirurgen und die Koruhändler; ja die Zunft der „Weiusticher"
bestand schließlich nur noch aus Perrückemmichern und Friseuren, und die
„Freyburger" aus Leuten, welche überhaupt kein Gewerbe betrieben, also so
etwas wie einen „Verein der Vereinslosen" bildeten. Unter dem drohenden
Beil des Zimmerlentwappcns vereinigten sich neben den Zimmerern die Ver¬
fertiger musikalischer Instrumente und die Wagner, bei der „Steitz" die Kunst¬
maler, Buchdrucker, Buchbinder und Buchhändler, also alles, was heute zur
Heranögnbc eines Prachtwerkes mitwirkt. Ob Gutenberg bei der „Steitz" ge¬
dient hat, weiß man nicht; wohl aber, wo andre berühmte Leute „gedient" haben,
*) Ein aus dem siebzehnten Jahrhundert stammendes Merkspriichlein giebt die
Reihenfolge:
Es wird bey löblicher Statt Straßburg freyem Wesen
Aus Edlen und Gemeind die Bnrgerschafft erlesen.
Des Adels Stuben seind: Hochsieg und Mi'chlcnstcin;
Die andern teilen sich in zwantzig Mufften ein:
Als Ureter, Spiegel, Blum, Freyburger, Tuch-, Lucerner,
Die Morin und die Steitz. Brodbecker, Kürschner. Ferner:
In Kueffer, Gerbersleuth, Wcinsticher, Schneider, Schmidt,
Den Schuft- und Fischeren der Zimmermann nachtritt;
Der dreyfach Gärtner Hauff und Maurer thun beschließen
Mit Wunsch, daß jeder Zunfft viel fangen mög zufließen.
Wie das Verhältnis der Zugehörigkeit zur Zunft genannt wurde. So heißt
es von Calvin ausdrücklich, er „diente bei den Snidern." Zur Schneiderzunft
muß übrigens auch Goethe während seiner hiesigen Studienzeit 1770/71 einen
unbestimmten wahlverwandten Zug gefühlt habe», denn er schlug sein Haupt¬
quartier behufs Ergründung des Straßburger Bierstoffes in der alten Schneider-
zuuftstube, LrüWvi'Jo du v-rnpllin, am Schneidcrgraben auf. Die mitunter
etwas seltsam klingenden Zunftuameu siud wohl auf Häusernameu zurückzuführen.
Die „Mohrin" besteht noch heute als L-re« av 1^ Ng-urssss; die „Blum" der
Metzger war wohl ein Wahrzeichen, vielleicht das der alten Straßburger Lilie
am Zunfthause. Ebenso zu erklären ist vielleicht die „Steitz" oder Stelze; wie
es heute noch ein Haus „zur Meise" genannt giebt. Die unter ihnen geltenden
Vorrechte hielten die Zünfte sehr hoch. Beispielsweise hatte der Ratsherr derer
„zum Encker", der Schiffleute, wegen der hohen Bedeutung der Schifffahrt für
das alte Straßburg den Ehrensitz im Rat, nächst dem Stettmeister. Als aber
die Bäcker im Jahre 1448 durch ihre Tapferkeit die Beste Wasselnheim zu
Falle gebracht hatten, wurde ihnen dieser Ehrensitz feierlich zuerkannt; auch
durften sie alljährlich am Gedenktage, bis an die Zähne bewaffnet, mit Fahne
und Musik einen festlichen Umzug durch die Stadt halten. Tapfer und zugleich
vaterlandsliebend im höchsten Grade zeigten sich die Schneider. Als an dem
verhängnisvollen 30. September 1081 die dreihundert Schöffen über den An-
schluß an Frankreich ihren Rat abgeben sollten, erhob allein die Schneiderznnft
den kräftigsten Widerspruch: eher müsse mau sich bis in den Tod verteidigen,
als die Freiheit Straßburgs aufgeben! Und als 109 Jahre später der fran¬
zösische Kommissar Dietrich in glatter Rede die Schöffen zur Niederlegung
ihres Amtes und zur Anerkennung der neuen revolutionären Gemeindeordnung
aufforderte, traten wiederum die Schneider voll Zorn dagegen auf und bewirkten
wenigstens einen mehrmonatlichen Aufschub. Das Gegenteil von diesem Vater¬
lands gefühl finden wir bei dem Gewerbe der Leineweber, welche sich bei Auf-
hebung der Zünfte 1791 nicht genug beeilen konnten, ihren Bruderschaftspokal und
andre kostbare Silber- und Goldgefäße, 14 Mark an Gewicht, auf die Münze
zu tragen und der rmUon damit ein Geschenk zu machen. Diese kleinen Züge
mögen für die Charakteristik des Zunftlebens genügen.
Wichtiger ist die innere Einrichtung der Zünfte, da sich ja ans ihr der
Verfassungsbau erhob. Wer als Bürger in Straßburg wohnte, mußte sich bei
einer Zunft einschreiben lassen, ihr „dienen"; und zwar ging, »verein Gewerbe
betrieb, dahin, wo seine Gewerbsgenossen waren, als „lcibzünftigcr Handwerks-
mann." Die Standespersonen, die Studirten und Rentner, wählten sich eine
Zunft und dienten dort als „lcibzünftige Herren Gelehrte und Zudieuer", die
Armen oder „NichtHandwerker" als einfache „Zudieuer." Wer an eine andre
Zunft noch Abgaben zu zahlen hatte, war letzterer „geldzüuftig"; so waren
alle, welche eignes Land bebauten, den Gärtnern geldzünftig. Wenn eines
Zunftgenossen Sohn ein andres als das väterliche Gewerbe erlernte, blieb er
bei der väterlichen Zunft, wurde aber derjenigen seines neuen Gewerbes geld¬
zünftig. Mit dem aus solchen Beitrügen, aus den Eintrittsgeldern und Um¬
lagen erwachsenden gemeinsamen Vermögen, von welchem die Hälfte an den
Staatsschatz im Pfennigturmc abgeführt werden mußte, scheinen indes die Zünfte
nicht immer glimpflich umgegangen zu sein, denn im Jahre 1466 bedürfte es
einer „Erkenntnus" der XXIer, daß keine Zunft oder Handwerk auf ihre Stube
Geld aufnehmen oder solche verkaufen dürfe ohne Erlaubnis der Räte und
XXIer. Die höchste Gewalt in der Zunft hatte der aus fünfzehn Mann be¬
stehende Schöffenrat, in welchem der Oberherr und dann der Ratsherr der
Zunft nebst einem Zumanne oder Stellvertreter an erster Stelle saßen. Der
gebietende Obcrherr*) mußte aus einer der drei Ratsstuben des „beständigen
Regiments" sein und wurde durch die Räte und XXIer gewählt, war also ge¬
wissermaßen vom Rate der Stadt zur Oberaufsicht für die Zunft eingesetzt.
Schöffe konnte im freien Straßburg und auch noch bis 1688 jeder fünfund¬
zwanzigjährige Bürger werden, welcher mindestens zehn Jahre hindurch der
Stadt angehört hatte.
Der Schöffenrat wurde früher von den Zunftgenossen gewühlt; später er¬
gänzte er sich durch eigue Wahl, bei der es aber strenge Vorschriften gegen
Beeinflussung und Bestechung gab; auch wurde für diese Wahlen in den Kirchen
eine besondre Fürbitte gethan, ein Zeichen, für wie wichtig man sie hielt.
Neben dem Schöffenrat bestand das teils von den Schöffen, teils von allen
Zunftgenossen gewählte Zunftgericht mit acht bis vierzehn Mitgliedern; das¬
selbe entschied die Streitfälle innerhalb der Zunft, und von seinem Urteil gab
es eine Berufung an die Natsstube der XVer. Der jährlich neu zu wählende
Zunftmeister verwaltete die Gelder, ein rechtskundiger Zunftschreiber besorgte
die Akten, der Zunftbittel und die Unger die polizeiliche Gewalt. Ein Zeichen
des beginnenden Verfalls ist wohl die 162ö erfolgte Einführung von „geheimen
Rügern," einer Art von Geheimpolizisten, welche nur dem Oberherrn berichten
durften und für jeden Fall den „sechsten Pfennig" von den Strafgeldern em¬
pfingen. Die einzelnen Gewerbe hatten noch besondre Behörden: den jährlich
unter Einspruchsrecht des Zunftmeisters zu wühlenden Handwerksmeister; dann
Schauer, Kieser und Messer für die verschiednen Gewerbshantierungen, teils
vom Rat, teils von der Zunft bestellt. Fast alle Zunft- und Stadtämter waren
ursprünglich Ehrenämter und unbesoldct. Jedoch fanden die Einzelnen ihre
Rechnung durch die „Präseuzgclder" bei den Sitzungen; jede neu angefangne
Sitzungsstunde wurde dabei vom Bittet sofort baar bezahlt, eine Einrichtung,
die natürlich allmählich zum Mißbrauch und schließlich zur festen Besoldung
führen mußte.
Der ungemein verwickelte Bau der städtischen Verfassung selbst wird von
den elsässischen Geschichtsfreunden nicht mit Unrecht als ein „Labyrinth" be¬
zeichnet; die vielverschlungnen Gänge der alten Verwaltung sind ja jetzt umso
schwerer zu erkennen, je gründlicher die Zerstörung gewesen ist. Ich hoffe aber,
nach dem hier bereits ausgeführten deutlich sein zu können. Den Ariadnefaden
in diesem Labyrinth giebt die Verfassung der Zünfte. Aus der Mitte der
letztern wurde die gebietende Mehrheit der Ratsherren gebildet, und an den Rat
gliederten sich die Kammern des „beständigen Regiments"; an die Zünfte oder
vielmehr an ihre unmittelbaren Vertreter, die dreihundert Schöffen, zurück ging
die Entscheidung in allen wichtigen Fragen, und der oberste aller Zunftgenossen,
der Ammeister, war das Oberhaupt des ganzen Staatswesens. Neben diesem
regierenden Oberhaupte gab es aber noch vier besondre Regierer, die vier adlichen
Seele- oder Städtmeister, von denen jeder auf zwei Jahre gewählt wurde, ein
Vierteljahr lang die Geschäfte leitete und das Siegel führte; die Natsverordnungen
gingen von dem Stettmcister aus und huben demnach an: „Wir, der Meister
und der Rat erkennen n. s. w." Wenn man einen Vergleich mit der heutigen
französischen Republik ziehen will, so kann man den Ammeister als den Präsidenten
der Republik, die Stettmcister als verantwortliche Minister und den jeweils
regierenden Stettmeister als den Ministerpräsidenten bezeichnen. Dabei beugte
der unmittelbaren Beunruhigung des Staatswesens durch Parteikämpfe jener
fortwährende Wechsel im Amte vor, der jeden einmal an die Reihe brachte und
in dem fein organisirten Wahlsystem sein Korrektiv fand. Um aber eine gewisse
Beständigkeit im Regiment, eine Geschäftsüberlieferung zu haben, wurden all¬
jährlich nnr zwei von den vier Stettmeistern neu gewählt. Eine gleiche Rücksicht
galt bei der Ratswahl; früher wurde der ganze Rat alle Jahre neu gewählt,
aber schon vom fünfzehnten Jahrhundert ab jährlich nnr die Hälfte. Der große
Rat zählte dreißig Mitglieder, von denen zwanzig durch die zwanzig Zünfte,
zehn durch die adlichen Stuben bestellt wurden; den Vorsitz im Rate führte
der Ammeister. Als eine Art Unterausschuß ist der aus sechzehn Zttnftischen
und sechs Adlichen bestehende kleine Rat anzusehen, welcher in Sachen der
Rechtspflege und Polizei gebot.
Die eigentliche ausführende Regierungsgewalt lag bei den drei Kammern des
„beständigen Regiments," den Dreizehnern, Fnnfzehnern und Einnndzwanzigern.
Die bedeutendste von diesen drei war die Kammer der Xlller, welche ursprünglich
aus neun, seit 1448 aus zwölf und schließlich aus dreizehn Mitgliedern bestand.
Die XHIer hatten die größte Gewalt, denn in ihrer Hand lag der Verkehr nach
anßen, das Kriegswesen und die Diplomatie. Durch ihre Hände ging der
Verkehr mit Kaiser und Reich, sie bestimmten über Krieg und Frieden. Im
Jahre 1448 wurde die Gewalt dieser Kammer enger umgrenzt; von da ab
mußten die Xlllcr in Geld- und Personenangelegenheiten den Rat befragen,
durften aber nach wie vor Gesandte abschicken und die Mannschaften der Stadt
auf den Kriegspfad senden. Gebildet wurde die Kammer der XHIer aus dem
Ammeister, vier Adlichen und acht Handwerkern, von denen vier frühere Am-
meister sein mußten.
Daneben stand die Kammer der XVer, geschaffen im Jahre 1433 aus der
Erkenntnis heraus, daß es nötig sei, die Ausführung der Verordnungen zu
überwachen. Als eine Art Staats- und Verwaltungsgerichtshof, dem kein in
Amt befindlicher Staatsbeamter angehören durfte und der sich selbst ergänzte,
bestand sie aus fünf Adlichen und zehn Handwerkern, von denen keiner uuter
33 Jahre alt sein durfte; seit 1554 mußte jeder XVer vorher einmal Rat oder
Schöffe gewesen sein. Aus dieser die Gesetze überwachenden Kammer entwickelte
sich allmählich eine gesetzgebende Behörde, welche schließlich die ganze innere
Verwaltung unter sich hatte.
Die Summe aller Lebensklugheit und Staatsweisheit des alten Straßburg
saß aber in der Kammer der XXIer. Diese war nur zusammengesetzt aus ehr¬
würdigen Männern, welche lange Jahre hindurch sich im öffentlichen Dienste
bewährt hatten. Sie wurden auf fünf Jahre gewählt und bei der dann folgenden
zweiten Wahl lebenslänglich. Nach der 1474 niedcrgeschriebncn XXIer-Ordnung
mußten diese „alten Herren" bei allen Angelegenheiten — außer in Sachen
von Erbe, Eigentum und Unfug — um Rat gefragt werden. Die meisten
Natsbeschlüsse erfolgten daher vom „Rat und XXIern." Selbstverständlich war
diese Kammer sehr bald verquickt mit den Xlllern und XVern, sodaß „ledige"
XXIer — das heißt solche, die nur bei den XXIern saßen — stets wenig vor¬
handen waren.
Schließlich gab es noch feste, besoldete, gewissermaßen niedrige Ämter, die
der Schreiber, Rentmeister, Zinsmeister und andrer, deren Besetzung aus der
Mitte und auf Empfehlung der Zünfte erfolgte. Eine im heutigen Sinne
strenge Abscheidung dieser niedrigern Ämter nach Bildung und gesellschaftlicher
Stellung hat es aber im alten freien Straßburg nie gegeben. Überhaupt beruht
ja die Hauptkraft dieser Verfassung auf der innigen Vermischung aller Elemente.
Jeder konnte zu den Würden in Staat und Zunft gelangen, nach dem höhern
oder geringern Grade von eigner Tüchtigkeit und öffentlichem Vertrauen. Durch
den in dem fein durchdachten Wahlsystem begründeten Stoffwechsel wurde der
politische Sinn im Volke fortwährend rege gehalten, wurde den einzelnen
Körperschaften immer wieder frisches Blut zugeführt, erhielt das Staatswesen
immer neue Schwungkraft. Der Wert der Verfassung an sich wird dadurch
nicht gemindert, daß sich die Machtverhültnifse der einzelnen Gewalten allmählich
verschoben, daß der Ammeister zu einer Repräsentativnsgestalt verblaßte, der
Rat seine Bedeutung an die Schösfenverscnnmlung verlor, und das „beständige
Regiment" die wirkliche Herrschaft in die Hände bekam. Die Grundzüge der
Volksherrschaft, der Demokratie im edelsten Sinne, blieben bestehen; sie waren
es, welche Straßburg die innere Ruhe verbürgten und seinen Glanz nach innen
und außen schufen und mächtig förderten.
Nebenbei sei bemerkt, daß das Kriegswesen dieses Zunftstaates auf gleicher
Höhe stand. Als der Glanz des Rittertums gegen Ende des dreizehnten Jahr¬
hunderts verblich. blühte die Tüchtigkeit des städtischen Fußvolks aus, und be¬
sonders waren es die Straßburger Zünfte, welche einen ausgezeichneten Stamm
streitbarer Männer stellten. Das bischöfliche Ritterheer erlag 1213 bei Haus¬
bergen bereits dieser neuen Macht, und als zu Anfang des folgenden Jahr¬
hunderts das Handwerk zur Herrschaft gelangte, war diese Macht wohl geeignet,
den Forderungen der ,, antwerckslüt" Nachdruck zu geben. Erst bei der Be¬
schießung von 1870 ist die kleinere der beiden Stadtfahnen, unter deren
Führung die Straßburger ihre Kriegszüge unternahmen, zu Grunde gegangen,
Prächtig gearbeitete Stücke, auf denen die Mutter Maria mit dem Kinde prangte,
wie sie heute noch — nur in andrer Farbenzusammenstellung — das mittlere
Glasfenster des Hochaltars im Münster ziert. Unter diesem Zeichen pflegten die
Stmßburgcr zu siegen und ihren Ruhm weit über die Grenzen des Reiches zu
tragen; als Kaiser Friedrich III. 1442 zur Krönung nach Rom zog — als der
letzte deutsche Kaiser, der sich dort krönen ließ —, nahm eine Schaar von fünfzig
berittenen Straßburgern mit Stadtbanner und „besonderm" Trompeter an diesem
Zuge teil, wofür Straßburg seine Freiheiten und Rechte feierlich bestätigt erhielt.
Die letzten Spuren dieser kriegerischen Herrlichkeit wurden ein Jahr nach der
Einnahme der Stadt durch die Franzosen vernichtet. Im Jahre 1682 hatten
nämlich die bewaffneten Zünfte noch die Thorhut zu versehen. Am 22. August
dieses Jahres beschlossen aber die Räte und XXIer, „die Herren Franzosen darzu
suchen zu disponiren, daß sie die Thorschließerei selbsten übernehmen thäten."
Der Znnftchronist C. F. Heitz setzt mit schwerem Humor hinzu: „welches auch
sogleich erfolgte." Frankreich ließ sich um so etwas nie lange bitten.
Die Verfassungsurkunde des alten freien Straßburg hieß der Schwörbrief.
Er stammt ans dem Umwülzungsjahre 1332 und hat im ganzen zehn Ände¬
rungen erfahren, die letzte im Jahre 1482; zweihundert Jahre später, als die
Franzosen die Stadt genommen hatten, wurden die Merkmale der königlichen
Gewalt hineingeflickt, und so blieb der Schwörbrief bis zur großen Revolution,
die auch ihn verschlang. Laut dieser Urkunde mußte die Wahl des Ammeisters**)
jeden ersten Donnerstag nach Neujahr vorgenommen werden und zwar von den
zwanzig zünftlerischen Ratsherren in der Frühe; nur völlig unbescholtene und
unabhängige Leute konnten zu dieser Stelle gewählt werden.
Höchst feierlich war nach der Ainmcisterwahl die Vereidigung der gesamten
Bürgerschaft auf den Schwörbrief. Das geschah früher in des Bischofs Garten,
dem heutigen Schlosse, sehr bald aber auf freiem Platze dicht vor dem Münster-
Portal. Dort wurde ein Holzgerüst aufgeschlagen, mit Teppichen und in der
Mitte mit rot und weißem Damast behängt und darüber ein Baldachin auf¬
gerichtet. Nachdem der Anflug auf dem Münsterturm mit Wachen besetzt und
Berittene auf die vier Hauptstraßen hinaus entsendet waren, ging die Feierlich¬
keit vor sich. Früh um 7 Uhr versammelten sich die Zünfte auf den Stuben,
wo ihnen der Schwörbrief und einige alte Ordnungen vorgelesen wurden. Um
i/z9 Uhr fing die Ratsglocke des Münsters^) an zu läuten, und die Zünfte
zogen dem Münster zu. Auf dem Holzgerüste stellte» sich die Rats- und Ober¬
herren auf, die übrigen unten im Kreise. Dann riefen die Stadtknechte dreimal:
„Ihr Herren trett hernach und hört in Gottes Namen!" Einer der Herren
Fünfzehner verlas den Schwörbrief, und nun wurden die Meister und Räte
vereidigt, die Zünfte und alles Volk; wer nicht dawar, mußte später auf seiner
Zunftstube nachschwöreu. Am Schlüsse rief der Stettmeister dem Volke zu:
„Glück, Heil, Segen, langes Leben woll Gott euch und uns allen geben!" Und
„alsbald gehen unter Paneten- und Trommeten-Schalle die Herren wieder von
dem Gerüste und läuft alles auseinander." Zwei Tage darauf war die Nats-
predigt im Münster, bei welcher die ganze offizielle Welt erschien, und am
Sonntag nach dem Schwörtag hielt der neue Ammeister eine Umfahrt auf den
Zunftstnben, wo er in feierlicher Weise eine festgesetzte Ansprache hielt und die
Zunftgenossen zur Gesetzmäßigkeit und Verträglichkeit aufforderte, eine feierliche
Handlung, welche vier bis fünf Stunden in Anspruch nahm.
Dies alles wurde dem prachtliebenden Sinne der Alemannen gemäß mit
großem Prunk vollzogen, und ein wirkungsvolleres Bild kann man sich wohl
kaum denken als beispielsweise den Schwörtag vor dem Münsterportal. Da
standen die freien Bürger, die Handwerker und Edelleute, alle gleich vor der
geweihten Verfassungsurkunde, und schworen einander von neuem Treue. Und
über alle ragte das ehrwürdige Münster empor, welches Geschlechter kommen
und schwinden sah, bis — eines Tages die feierliche Versammlung da unten
ausblieb; ein schwerer Sturm war über die Vogesen hereingebrochen und hatte
den ganzen stolzen Verfassungsbau wie Spreu hinweggefegt.
An Erwins Dome erhob sich diese Verfassung, selbst ein herrlicher, hoch¬
strebender Bau, in dessen weiten Hallen die alten Straßburger friedfertig ihre
Angelegenheiten ordneten und von dem aus sie machtgebietend Einfluß auf das
Land ringsum ausübten, ihre Freundschaft und ihren Schutz den Fürsten und
Städten begehrenswert zu machen wußten. Erwins Dom hat den schweren
Stürmen der Zeit getrotzt und strahlt jetzt verjüngt, in der Morgensonne des
neuen Reiches, so jugendfrisch wie damals am Johannistage des Jahres 1439,
wo die Bauzünfte abgerüstet hatten. Von des Münsters stattlichem Schwester¬
bau aber, der Verfassung, ist kaum eine Spur mehr vorhanden; nur hie und
da finden sich dürftige Erinnerungen, mahnt der Name dieser oder jener Gasse,
dieses oder jenes Haus oder Abzeichen an die alte Znnftherrlichkeit. Urkunden
und Abschriften geben uns freilich Nachricht davon, wie diese Verfassung ge¬
wesen. Nirgends finden wir aber eine Kunde, wer eigentlich die Schöpfer dieses
Wunderwerkes waren, Ihre Namen sind mit verweht; wie ja auch alte Volks¬
lieder auf unsre Zeit gekommen sind, ohne das; wir wissen, wer sie gedichtet hat.
Solange jene feierlichen Versammlungen in dem alten freien Straßburg
gehalten wurden, so lange blieb den Bürgern der Sinn für den hohen Wert
ihrer zuuftmäßigen Verfassung rege, und es erfüllte sie mit Stolz, wenn das
Lob des Hortes ihrer bürgerlichen Freiheit und Macht gesungen wurde. Voll
Bewunderung hingen denu auch die Blicke der Zeitgenossen an diesem Staats-
wesen, und Geschichtschreiber, Schriftsteller und Dichter erschöpfen sich in ihren
Lobsprüchen. Sebastian Franck rühmt in seiner „Chronim des ganzen Teutschen
Reiches" die trotz der großen Freiheit bestehende gute Polizei und große Einig¬
keit der Bürger. Es werde „auch selten allda etwas Freventliches fürgenommen
und ungern Blut vergossen, gekriegt oder über Blut Recht gesprochen; sogar
daß bei Etlichen das Sprichwort worden ist: was man anderswo henkt, das
streicht man zu Straßburg mit Unten aus." Im Jahre 1614 schreibt Erasmus
von Rotterdam an Jakob Wimphcling begeistert von dem „Adel ohne Partei-
ungen, der Volksherrschaft ohne Beunruhigung, der Monarchie ohne Allein¬
herrschaft" und apostrophirt den seligen Pluto: Iltiimm in lmiuLuraäi rour-
Mblicziurr, äivwo ?in,t>0, Mi oontigissot inviäörs! Irio niinirurn, die, lieuissst
iÜMi train oivitittmrr vors l'olioviu inLtituvrö! In dem ruhmvollen Jahre
des großen Strcißbnrgcr Freischießens 1576 besingt der schweizerische Dichter
Ulrich Wirrh die Stadt und
ihr groß Wysheit ihrer Regenten
in geistlich, weltlich Negünenten.
Fast ein halbes Jahrhundert später, 1620, greift Martin Opitz in die Saiten
und fingt von der „feinen Polizey, der weisen Recht und That, von großer
Höflichkeit der Männer und der Frauen":
kein Ort wird je gefunden weit und breit,
der ihnen gleichen arg an Mi und Freundlichkeit.
Und selbst die kühle Kritik des neunzehnten Jahrhunderts huldigt dem wunder¬
baren staatlichen Organismus. Gustav Schmoller sagt: „Das Meiste, was wir
als zum Wesen des modernen Staates gehörig betrachten, was der aufgeklärte
Despotismus in den größern Staaten des sechzehnten bis achtzehnten Jahr¬
hunderts durchgeführt hat, das sehen wir hier im fünfzehnten Jahrhundert zum
ersten male thpisch, vorbildlich vor uns und in einer bewundernswerter Weise
durchgeführt,"
Freilich kam auch für dieses merkwürdige, vielbewunderte Staateugebilde
die Zeit des Verfalls, und was früher lebenskräftig arbeitende Formen gewesen
waren, wurde zum verknöcherten Formelwesen. Vielleicht aber würde sich die
freie Stadt wieder erholt haben und noch heute wie andre alte freie Reichs-
städte unabhängig dastehen, wäre uicht in der Zeit der tiefsten Ohnmacht des
Reiches die Nähe der französischen Grenze verhängnisvoll geworden. Ans der
einen Seite Ohnmacht, auf der andern Seite Übermacht; zwischen diesen beiden
Steinen mußte die Freiheit Straßburgs zermalmt werden. Dabei ist es eine
besondre Tragik der Geschichte, daß es gerade eine zur Fratze verzerrte Demo¬
kratie, die große französische Revolution war, welche diese ideal-schöne demo¬
kratische Staatsverfassung erwürgen mußte.
An eine Wiederherstellung der alten Freiheiten ist selbstverständlich nicht
zu denken; dank den Gewaltthätigkeiten Frankreichs hat Straßburg mit seiner
Freiheit auch seinen alten Besitzstand verloren, und es müßten zu gewaltsame
Änderungen vorgenommen werden, um etwas auch nur annähernd ähnliches
wieder zu schaffen. Aber der Stadt Straßburg ist ja durch die neue Ordnung
der Dinge ein nicht minder ehrenvolles Loos zu teil geworden: sie ist die Landes¬
hauptstadt des einigen Neichslcmdes Elsaß-Lothringen. In llvo ÄMo vinoss!
In dieser Bezeichnung liegt eine schöne, stolze Zukunft, deren Glanz wir in den
Nebeln der Gegenwart nicht aus den Augen verlieren sollten. Es ist wie ein
ehernes Naturgesetz, daß unsre Stadt sich selbst wieder zurückgegeben wird. Zur
baldigen Bethätigung dieses Gesetzes können die Straßburger selbst helfen,
indem sie sich der stolzen Bürgertugenden ihrer freien Vorfahren erinnern und
alles das beiseite lassen, was sie von jenen trennt; namentlich das Gedächtnis
an die Zeit, deren Hereinbrechen die alten Straßburger vor zweihundert Jahren
mit so tiefem Schmerze ertragen mußten.
Kommen sie auch nicht wieder, die alten Ammeister und Städtemeister, die
Dreizehner, die Fünfzehner und die Ehrfurcht gebietenden „alten Herren," die
Einnndzwanziger, so kommt doch eine Selbstverwaltung wieder, muß wieder¬
kommen, und zwar bald wiederkommen, welche dem freien Sinne der Söhne
des alten Straßbnrg im Hinblick ans den Schutz des mächtigen deutschen Reiches
mit der Zeit Befriedigung gewähren wird. Möchte bei der kommenden Ent¬
scheidung der Blick auf die alte Straßburger Verfassung, welche Jahrhunderte
hindurch Frieden und Ruhe verbürgte, die Geister auf beiden Seiten lehren,
wo das Rechte zu suchen sei. Was auch die nächste Zukunft bringen wird,
möchte es Frieden dieser Stadt bedeuten!
l
e Beschäftigung mit der politischen Geschichte Deutschlands am
Ausgange des Mittelnlters ist nicht geeignet, eiuen erfreulichen
Eindruck zu hinterlassen. Alle Bestrebungen, die Einheit des
Reiches neu zu begründen und zu einem nationalen Staate zu
gelangen, scheitern an der Macht der Sonderinteressen, die mit
rücksichtsloser Offenheit geltend gemacht werden, nicht am wenigsten vonseiten
der Kaiser aus dem Hause Habsburg, denen alles an Festigung ihrer Haus¬
macht, gar nichts an der des ihrer Obhut unterstellten Reiches gelegen ist.
Wenn dennoch gerade die Zeit des Überganges vom Mittelalter zur
Reformation vor andern Perioden unsrer Geschichte immer wieder unser Inter¬
esse in Anspruch nimmt und zahlreiche Kräfte sich ihrer Erforschung widmen,
so muß dies einen besondern Grund haben, und zwar dürfte es der folgende sein:
dieselbe Zeit politischer Ohnmacht des Reiches ist auch die des Erstarkens des
deutschen Bürgertums, dessen Kräfte nach jahrhundertelanger Unthätigkeit all¬
mählich erwachen und gar bald Blüten und Früchte hervorbringe!?, die noch
heute unsre Bewunderung erregen. So kommt es, daß sich die kulturgeschichtliche
Betrachtung jener Periode in hohem Grade lohnend und anziehend gestaltet,
und wir uns immer wieder gern die Leistungen des deutschen Geistes in Wissen¬
schaft und Kunst, die damals zu Tage traten, vor Augen stellen.
Es kauu aber kein Zweifel sein, daß keine unter allen jenen Errungen¬
schaften größere und nachhaltigere Folgen gehabt hat, als die Erfindung der
Buchdruckerkunst. Darüber, daß wir dieselbe als eine That des deutschen
Geistes anzusehen haben, darüber besteht unter Kundigen heute kein Streit
mehr. Auch die Ausländer müssen uus diesen Ruhm ungeschmälert lassen und
Gutenberg die Krone des Erfinders zuerkennen. Aber wenn auch jedes Kind
den Namen dieses Mannes kennt und jeder Deutsche stolz auf ihn ist, viel mehr
als diese eine Thatsache, daß Gutenberg die Buchdruckerkunst erfunden hat, ist
wohl im großer» Publikum nicht bekannt. Schon wenn die Frage gestellt
wird, worin denn das Wesen seiner Entdeckung bestehe, dürften die Antworten
unsicher genug ausfallen oder vielleicht noch häufiger ganz ausbleiben. Wie
wenige aber mag es geben, die überhaupt nur die Namen von Gutenbergs
Zeitgenossen und Mitarbeitern kennen, geschweige den», daß sie eine bestimmte
Vorstellung von der Art und der Bedeutung ihrer Leistungen haben! Gleich¬
wohl gehört es zu den anziehendsten Beschäftigungen, die frühesten Anfänge
der Buchdruckerkunst und ihre ersten Erzeugnisse zu betrachten und die Wege
zu verfolgen, auf denen sich die neue Erfindung mit staunenswerter Schnellig¬
keit verbreitet hat. Und muß nicht die Ausdehnung und der Einfluß des Buch¬
gewerbes in der Gegenwart von selbst ans den Wunsch führen, näheres über
seinen Ursprung und die frühesten Formen seines Auftretens zu erfahren?
An Hilfsmitteln für diesen Zweck fehlt es in der That nicht; doch mag
mancher davor zurückschrecken, eines der dickleibigen Handbücher über die Ge¬
schichte der Vuchdrnckcrknnst zur Hand zu nehmen, und wird es daher vorziehen,
das Leben und Wirken eines hervorragenden Druckers und Verlegers aus der
Frühzeit kennen zu lernen, um sich auf diese Weise über die in Rede stehenden
Dinge zu belehren. Für diesen Fall können wir ihm mir raten, zu dem vor
kurzer Zeit veröffentlichten Buche Oskar Hases über die Koberger^) zu
greifen, da in diesem fast alle Fragen, welche sich über die Anfänge des Buch¬
drucks und Buchhandels erheben, berührt und in lichtvoller, anschaulicher Weise
beantwortet werden.
Die Familie der Kvbergcr gehört einem alten angesehenen Geschlechte Nürn¬
bergs an. Der erste Kvberger, von dem wir Kunde haben, taucht im Jahre 1349
auf; wir hören, daß er, obwohl seines Zeichens Bäcker, es bis zum Bürger¬
meister brachte, da er in den Rat der Aufstündigen gewählt wurde, welche gegen
die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts die Adelsregieruug der Nürnberger Ge¬
schlechter stürzten. Die Koberger waren also ein aufstrebendes Geschlecht, das sich
ähnlich wie in Augsburg die Fugger zu immer größerer Bedeutung aufschwang
und schließlich zu den hervorragendsten der Stadt zählte. Der Hauptträger
des Namens aber, dessen Ruhm den des ganzen Geschlechtes begründet hat, ist
Anthoni Koberger. Von Hause aus Goldschmied, begann er etwa seit dem Jahre
1470 sich der neu erfundnen Kunst des Buchdrucks zu widmen und rief bald
darauf einen für jene Zeit erstaunlich großartigen Buchhandel ins Leben. Er
galt als der „König der Buchhändler" und wurde gelegentlich einmal von
Kaiser Maximilian I. als „Unser und des Reiches lieber getreuer Anthoni
Koburger" bezeichnet. Aber nicht nur als Geschäftsmann verdiente er die all¬
gemeine Achtung, die er genoß, er verdiente sie auch als ein Mann von Treu und
Glauben um seiner geraden, ehrlichen Gesinnung willen, die er mit einer unge¬
wöhnlichen Findigkeit und Klugheit im Verfolgen seiner Ziele zu verbinden wußte.
Geboren wahrscheinlich in den Jahren zwischen 1440 und 1450, starb Anthoni
Koberger noch vollauf bei Kräften am 3. Oktober 1513. Er war zweimal ver¬
heiratet gewesen und erfreute sich mit seinen beiden Frauen eines reichen Kinder¬
segens, wie er in jenen Zeiten häufig war. Aber auch die Kehrseite dieser
Erscheinung mußte er in seiner Familie erfahren: die große Kindersterblichkeit,
die mit dem Kinderreichtum des Mittelalters Hand in Hand ging. Von seinen
fünfundzwanzig Kindern sind ihm zwölf jung gestorben und drei erlagen
in reiferem Alter der Pest. Als Koberger aus dem Leben schied, war keiner
seiner Söhne bereits soweit herangewachsen, um selbständig die Geschäfts¬
leitung übernehmen zu können. Deshalb ging dieselbe an seinen Vetter Hans
Koberger über, welcher lange Zeit für Anthoni in Frankreich eine höchst be¬
deutsame Thätigkeit als Buchhändler entwickelt hatte. Diesem gelang es, das
Geschäft in der Blüte zu erhalten, zu welcher es unter seinem Begründer
gekommen war. Eigentümer desselben scheint er jedoch nicht gewesen sein,
vielmehr verwaltete er es sür die minderjährigen Söhne Anthonis, unter denen
der älteste Sohn, Anthoni der Jüngere, den nächsten Anspruch gehabt haben
würde. Aber dieser Anthoni der Jüngere war ein Taugenichts und nahm ein
ruhmloses Ende. Wenn sich bis auf ihn die Familie der Koberger in auf¬
steigender Linie bewegt hatte, so beginnt mit ihm der Rückgang. Keiner seiner
Brüder, unter denen wenigstens Hans Koberger der Jüngere ein tüchtiger Mensch
gewesen zu sein scheint, vermochte diesem Rückgang Einhalt zu thun. Im Jahre
15 26 erschien das letzte Kobergersche Verlagswerk, und obwohl noch eine Reihe
von Jahren hindurch das Sortimcntsgeschäft weitergeführt wurde, so wandten
sich doch die jüngern Sprossen des Hauses ganz von der Beschäftigung mit dem
Buchgewerbe ab und dem Goldschmiedehandwerk zu, welches in ihrer Familie
vermutlich schon vor dem Buchhandel getrieben worden war. Ihr Name aber
wird in der Geschichte des deutschen Buchdrucks und Buchhandels für alle Zeiten
unvergessen bleiben um der reichgesegneten Thätigkeit willen, die einst Anthoni
Koberger und sein Vetter Hans entfaltet haben.
Von etwa 1470 an, wo Anthoni Koberger seine Druckerei in Nürnberg
aufthat, bis zum Schlüsse des Jahrhunderts sind gegen zweihundert zum Teil
bändereiche Werke aus seiner Presse hervorgegangen; es gelang ihm allmählich
alle seine Berufsgenossen zu überflügeln, sodaß er ums Jahr 1600 der bedeutendste
Buchdrucker seiner Zeit war. Nach eiuer ungefähren Schätzung des durch seine
Nachrichten über die Nürnberger Künstler bekannten Schrcibmeisters Neudörffer
druckte Koberger täglich mit vierundzwanzig Pressen und beschäftigte über
hundert Gesellen, also etwa dieselbe Zahl, welche im Jahre 1819 bei Breitkopf
und Härtel in Leipzig thätig war, als das Geschäft bereits das Fest seines
hundertjährigen Bestehens feierte. Noch heute können wir in Nürnberg einen
Eindruck von der Großartigkeit des Kvbergerschcn Betriebes erhalten, wenn wir
die zur Erleichterung desselben geschaffene Wasserleitung in Augenschein nehmen,
welche vom Stadtgraben bis zu dem Hause auf dem Ägidienplatz sich erstreckt
und seit 1881 wieder in den Besitz der Stadt übergegangen ist.
Die meisten aus jeuer Druckerei hervorgegangnen Werke haben sich erhalten
und gehören gegenwärtig um des „Geschmackes und der Gründlichkeit im Drucken"
willen, deren sich Koberger mit Recht in den Schlußschriften rühmen durfte,
zu den wertvollsten Stücken aller Sammlungen von Wiegendrucken.
Es lohnt sich daher wohl einmal, an der Hand von Hases Darlegungen
zu sehen, in welcher Weise die Herstellung dieser Bücher erfolgte, und welche
Mittel und Wege Koberger einschlug, um dieselben abzusetzen und buchhändlerisch
zu vertreiben.
Koberger ging bei allen seinen Unternehmungen mit der größten Sorgfalt
vor. Das lassen schon seine Bemühungen um ein möglichst gutes Papier er¬
kennen, dessen Beschaffung als die erste Bedingung zur Herstellung eines bessern
Druckes anzusehen ist, obwohl die Zeiten des Niedergangs des Buchgewerbes
und leider auch noch vielfach die Gegenwart in der unglaublichsten Weise die
Augen vor dieser Notwendigkeit verschlossen halten. Koberger verwandte nur
ein festes, weißes Papier, das bis jetzt dem Zahn der Zeit getrotzt hat und
bei gehöriger Aufbewahrung noch nach Jahrhunderten seine ursprüngliche
Schönheit bewahren wird. Auf Pergament gedruckte Exemplare aus Kobergers
Offizin finden sich nur wenige; das terre Pergament wurde damals nur noch
in einzelnen Fällen für Luxuszwecke verwandt, und mit Recht, da das billigere
Linnenpapier im Verein mit der billigern Vervielfältigung allein die wirkliche
Verbreitung der Bücher möglich machte. Außer in Nürnberg, das mit bessern
Papieren wohlversehen war, kaufte Koberger in Ravensburg, wo die Familie
Holbein zuerst für die Papierherstellung thätig gewesen war, namentlich aber in
Straßburg seinen Bedarf. Er mußte für denselben jährlich beträchtliche Summen
anwenden und manchen Ärger hinnehmen, wenn ihm die Händler schlechtes oder
gar unbrauchbares Papier zusandten. Von den von ihm benutzten Papiersorten
wird uns nur eine mit Namen genannt, Mediän, und nur eine Größe mit
einem Fachausdruck bezeichnet, das Arcusformat. Dieser Ausdruck Ureus war
bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts allgemein üblich für „Bogen Papier"
und bezeichnete ein Folioformat, das noch zu Kobergers Zeit das fast ausschlie߬
lich angewandte Format für Bücher war. Erst im Anfange des sechzehnten
Jahrhunderts wurden die handlicheren Formate, das Quart und Oktav, welche
bei uns die Regel bilden, eingeführt, ein Fortschritt, um welchen der berühmte
Buchdrucker Aldus in Venedig sich das größte Verdienst erworben hat.
Es war natürlich, daß Gutenberg und seine Zeitgenossen sich zunächst in
ihren Drucken eng an die handschriftlichen Vorlagen anschlössen und sich bestrebt
zeigten, den Gesamteindruck derselben möglichst getreu nachzubilden. So kommt
es, daß die alten Drucke durchweg ein viel individuelleres Gepräge tragen als
unsre heutigen Erzeugnisse, und mit Recht hat man hervorgehoben, daß gerade
auf diesem Umstand ein guter Teil des Zaubers jener Wiegendrucke beruht.
Da in den Handschriften des Mittelalters in der Regel ein eigentliches
Titelblatt fehlt und der Titel oft erst mühsam aus dein Anfange oder dem
Schlüsse des Werkes ermittelt werden muß, so entbehren auch die meisten ge-
druckten Bücher des fünfzehnten Jahrhunderts eines solchen, und erst allmählich
wird es Sitte, ein besondres Blatt zu diesem Zwecke zu bestimmen und das¬
selbe in künstlerischer Weise auszustatten. Die ersten Drucke zeigen ferner, auch
in diesem Punkte den handschriftlichen Folianten gleichend, die Einteilung in
zwei Spalten und eine Ausnutzung des Papiers, bei der ein häufigeres Ab¬
setzen des Textes sorglich vermieden wird, aber freilich auch die Übersichtlichkeit
leidet. Ans der Anlehnung an die Handschrift erklärt es sich auch, daß die
Fraktur diejenige Schriftgattung ist, welche uns zuerst in den Drucken des
fünfzehnten Jahrhunderts begegnet, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern
auch in den romanischen Ländern, da sich von Deutschland aus und durch
Deutsche die neue Erfindung über sie verbreitete. Die sogenannte Antiqua, die
römische Schrift, kam erst jpciter in Italien auf und drang von hier aus auch
in Deutschland ein. Koberger hat daher sast durchgängig mit Frakturschrift
gedruckt und erst seit 1492 in einzelnen Fällen die venetianische Antiqua an-
gewendet. Eifrig bemüht, die Fraktur im Sinne ihrer Eigenart weiter zu
bilde», erzielte er hierbei auch schöne Erfolge. Die Schrift seiner deutschen
Bibel vom Jahre 1483 ist so stilvoll durchgearbeitet, daß sie sich selbst gegen¬
über der berühmteren und kunstvolleren Theuerdaukthpc noch stattlich ausnimmt.
Auch in der schwierigen Verwendung verschiedner Typen bei einem Drucke wußte
Koberger höchst anerkennenswertes zu leisten. Zu seiner vierbändigen Bibel¬
ausgabe, die 1478 bis 1480 für ihn in Straßbnrg gedruckt wurde, sind sogar
viererlei Type» ans jeder Seite verwendet worden. Zur Schönheit seiner Drucke
trug aber auch wesentlich der Umstand bei, daß er sich nur klarer, frischge-
gosscncr Schrift bediente und die Verwendung abgenutzter Lettern vermied, so¬
wohl bei seinen eignen Arbeiten als bei den für seine Rechnung von ander»
Druckern ausgeführten.
Mit der gleichen Umsicht sorgte Koberger dafür, daß ein guter, korrekter
Text hergestellt wurde; denn der Ruf der Korrektheit war entscheidend für den
Absatz. Um diese zu erzielen, nahmen die Buchdrucker jener Zeit häufig ge¬
lehrte Männer in ihren Dienst, welche gleichzeitig das Geschäft des Heraus¬
gebers und des Korrektors versahen. Ihre Hilfe war umso nötiger, je größer
die Schwierigkeiten waren, gute handschriftliche Vorlagen zu erhalten. Koberger
war unablässig bemüht, nach dieser Richtung hin für seine Unternehmungen
Brauchbares zu erhalten. Um ein „Exemplar," so lautete damals der Ausdruck
für Handschrift, zu erlangen, ließ er zahlreiche deutsche Klöster durchsuchen und
zog selbst aus Frankreich und England Erkundigungen ein. Das Buch Daniel
z. B. und die Matkabüer erbat er von Lyon, Paris, London, Lübeck und Eß-
lingen. Er scheute keine Geldopfer und wußte selbst den Rat von Nürnberg
zu bewege», da, wo es Not that, mit einer Fürbitte für ihn einzutreten.
Übrigens war es kein Wunder, daß die Besitzer kostbarer Handschriften
sich häufig weigerten, ihre Schätze einem Drucker zur Vervielfältigung zu über-
geben. Der Gedanke, daß sie dadurch entwertet werden könnten, hielt sicher am
wenigsten davon ab; umso größer war die Besorgnis vor Beschädigung und die
Aussicht, sie vielleicht niemals wieder zurückzuerhalten. Denn was heute mit
Recht als sträflicher Leichtsinn bezeichnet wird, die Originale selbst in die
Druckerei zu geben, war damals die allgemeine Sitte, Ja man ging sogar
soweit, den Einband abzulösen und die einzelnen Blätter zur Erleichterung der
Arbeit an die Setzer zu verteilen. Hatten diese ihre Arbeit erledigt, so war
man in vielen Fällen nicht gewissenhaft genug, die Handschrift aufzubewahren;
schien sie doch durch den Druck für immer überflüssig geworden zu sein. Auf
diese Weise sind eine Menge wichtiger Handschriften, namentlich klassischer
Schriftsteller, verloren gegangen, sodaß die ersten Drucke ihre Stelle ersetzen
müssen. Am bekanntesten ist das Beispiel des Ammianus Marcellinus, dessen
Herausgabe Veatus Rhencmus besorgte, bei welcher Gelegenheit die von ihm
benutzte Handschrift verschwunden ist. Man fing daher bald an zu fordern,
daß die Drucker Abschriften herstellen lassen sollten; häufig aber wurde das
Versprechen dazu zwar gegeben, aber nicht gehalten; dem gewissenhaften Anthoni
Kvberger kann jedoch auch in dieser Hinsicht kein Vorwurf werden.
Waren die eben geschilderten Vorbereitungen alle getroffen, so kam das
Buch unter die Presse, d. h, es begann die eigentliche Thätigkeit des Druckers.
Auch hierbei leistete das Kobergerschc Geschäft vorzügliches. Seine Drucke lassen
in ihrer gleichmäßig kräftigen Färbung wenig zu wünschen übrig, was umsomehr
sagen will, als damals auf ungeglättetem, geschöpftem Papiere und mit sehr
einfachem Pressen gedruckt wurde.
Sollte jedoch die Erwerbung eines Buches besonders verlockend erscheinen,
so durfte man sich nicht mit der bloßen Korrektheit und dem schönen Druck
begnügen. Schon damals verlangte man, daß dasselbe auch durch künstlerische
Beigaben ausgestattet sei. ganz ebenso wie das bei den bessern Handschriften
allgemein Sitte war. War also ein Buch von dem Drucker hergestellt worden,
so kam die Arbeit der Nubrikatoreu und Jlluministen an die Reihe. Sie führten
die beim Druck vorläufig weggelassenen Initialen aus und schmückten die einzelnen
Exemplare oft mit äußerst kunstreich ausgeführten Miniaturen. Bei den dick¬
leibigen Bänden der Jukunabelnzeit verursachte diese uachtrügliche Ausschmückung
natürlicherweise einen großen Aufwand an Zeit und Kosten. Man wartete
daher gern mit der Vollendung eines Werkes auf besondre Bestellung und
führte dieselbe dann nach dem Geschmack und mit Rücksicht auf die vou dem
Auftraggeber gebotene Summe aus. So kommt es, daß die einzelnen Exemplare
eines Wiegendruckes oft die verschiedenartigste Ausführung zeigen, und daß die
Zahl der nicht rubrizirten und nicht illuminirten größer ist als diejenige der
wirklich als vollendet zu bezeichnenden.
Auch Kvberger beschäftigte eine große Auzahl solcher Maler und zwar
nicht nur gelegentlich, sondern in dauernder Stellung. Vermutlich befanden sich
darunter auch weibliche Kräfte; kennen wir doch seit dem Jahre 1397 aus den
Bürgerbüchern der Stadt Nürnberg eine Menge Namen von Frauen, die ihren
Unterhalt in der Ausübung jeuer Künste fanden.
Wichtiger noch als die Verbindung des Buchgewerbes mit deu Miuiatoreu
ist die schon sehr frühzeitig hervortretende mit den Holzschneidern geworden.
Durch sie wurde die Entwicklung des Holzschnittes in fruchtbringendster Weise
gefördert, und man darf behaupten, daß sich die alten Buchdrucker das größte
Verdienst um die Verbreitung und Erhaltung dieses vvlkstümlichstcu aller
Jllustrationsmittel erworben haben.
Kobergcr kann den Anspruch erheben, auch auf diesem Gebiete neben den
besten seiner Zeitgenossen mit Ehren genannt zu werden. Seine deutsche Bibel
vom Jahre 1483 ist ein herrliches Denkmal seines Geschmackes; sie ist die erste
Bibel in hochdeutscher Sprache, welche mit figurenreichen, selbständigen Bildern
ausgestattet ist, und fand deshalb vor allen vorlutherischen Ausgaben die weiteste
Verbreitung. Welcher Künstler die Zeichnungen geliefert hat, ist nicht sicher zu
ermitteln. Alle Anzeichen aber sprechen dafür, daß sie von Michael Wolgemut
herrühren. Schon die sonstigen Beziehungen Kobergers zu diesem Künstler
legen diesen Schluß nahe. War es doch Wolgemut, welcher im Auftrage Ko¬
bergers für das größte illustrirte Werk des fünfzehnten Jahrhunderts thätig
war, für die um ihrer vortrefflichen Holzschnitte willen hochgerühmte Schedelsche
Weltchronik, welche im Jahre 1493 zu Nürnberg in zwei Ausgaben erschien.
Gegen 2250 Holzschnitte, für die an 2000 Stöcke nötig waren, schmücken dieses
Werk, das den Höhepunkt in Wolgemuts Schaffen bezeichnet. Viele der Bilder
in dieser Chronik nehmen die ganze Folioseite ein und verraten eine wahrhaft
schöpferische Kraft ihres Urhebers. Besonders wertvoll sind für uns die Städte¬
ansichten von Nürnberg, Bnmberg, Wiuzbnrg, Köln, Straßburg, Basel, Erfurt,
Ulm, München und Wien, Venedig, Florenz und Rom, da sie der Wirklichkeit
entsprechen, während andre, zumal die Städte des Altertums, nur Schöpfungen
mittelalterlicher Phantasie siud. In ihnen haben wir trotz aller Unvoll-
kommenheit die ersten verheißungsvoller Anfänge einer selbständigen deutscheu
Landschaftsmnlcrei zu begrüßen. Und welcher Ausblick eröffnet sich uns in
kunsthistorischer Hinsicht, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Michael Wol¬
gemut der Lehrer Albrecht Dürers war und um bei Hase lesen, daß Kobergcr
zu Dürer, den er einst aus der Taufe gehoben hatte, die engsten Beziehungen
unterhielt! Mag auch Dürer, welcher nach der Rückkehr aus der Fremde in
seiner Vaterstadt eine eigne Druckerei begründete, im ganzen herzlich wenig
für seine Nürnberger Druckergenossen gezeichnet haben, so ist es doch außer
Frage, daß er durch das Vorbild von Kobergers Werken angeregt wurde, und
daß seine spätern Meisterleistungen im Holzschnitt, zu denen wir noch heute mit
staunender Bewunderung aufblicken, ohne die vorausgegangene Thätigkeit seines
im Dienste Kobergers schaffenden Lehrers nicht gedacht werden könnten.
Je reger die Pflege war, die in der Kobergerschen Werkstätte der Buch-
illustration durch den Holzschnitt zu Teil wurde, umsomehr muß es uns Wunder
nehmen, daß sich nirgends in den von ihr hergestellten Werken eine Buchver¬
zierung durch Ornamente vorfindet. Die ornamentale Buchausstattung hat sich
aber erst am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in Italien entwickelt, und als
sie in den ersten Jahrzehnten des sechzehnten in Deutschland ihre Blüte zu entfalten
begann, hatten die Kvberger ihre eigne Drnckerthätigkeit bereits eingestellt. Am
17. Juni 1504 verließ das letzte Werk, welches in Kobergers eigner Offizin zu
Nürnberg hergestellt worden war, die Presse; es war der Schlnßband einer Aus¬
gabe des L!vrpu8 .juris. Kobcrgcr zog es seit dieser Zeit vor, fremde Pressen seinem
Geschäfte dienstbar zu machen, und richtete fortan all seine Kräfte auf den buch¬
händlerischen Vertrieb seiner Verlagswerke. Nach halbhundertjähriger Übung
des Drückens war bereits die Zeit gekommen, wo die Scheidung des früher in
einer Person vereinigten Druckers und Verlegers immer mehr eine gebieterische
Notwendigkeit wurde. Aber auch in der Beschränkung ans den Verlag leistete
Koberger großes. Wie er als Drucker alle seine Genossen überflügelt hatte,
so wußte er auch jetzt den Buchhandel ans eine Höhe zu heben, wie sie vor
seiner Zeit niemals erreicht worden war. Koberger ist der erste Verleger
in großartigem Maßstabe, von dem die Geschichte des Buchhandels zu er¬
zählen weiß, obwohl nur sechs fremde Druckwerke aus den Jahren 1609
bis 1513 seinen Namen als Verleger neben dem des Druckers nennen. Seine
Nachfolger gaben sich dann überhaupt nur noch mit dem Verlagsgeschäfte
ab, und seit dieser Zeit ist die Scheidung von Druck und Verlag bekanntlich all¬
gemein üblich geworden. Die Firma hatte es außer mit mehreren Nürnberger
Buchdruckern namentlich mit auswärtigen Anstalten zu thun. In Deutschland
arbeiteten ueben Hagenau und Straßburg namentlich Basel sür die Koberger,
und außerhalb Deutschlands in Frankreich Paris und vor allem Lyon. So
wurde Koberger in der That zu dem literarischen Nührvater seiner Zeit, von
dein ein Zeitgenosse rühmen durfte, daß er „der wankenden Literatur seine starken
Schultern zur Stütze geliehen" habe.
Die Zeit der Kobergerschen Thätigkeit von Anthoni an gerechnet bis zum
Schluß des Verlagsgeschüftcs erstreckt sich über zwei volle Menschenalter; es
liegt daher auf der Hand, daß der in der Literatur zum Ausdruck kommende
Wandel in der Wissenschaft und Auffassung des Lebens sich auch in den Ko¬
bergerschen Druckerzeugnissen wiederspiegeln muß, zumal da das Geschäft sich
stets auf der Hohe der Zeit zu behaupten wußte. Es ist deshalb von Wert,
einen Augenblick bei den von den Kobergern erzeugten oder in Vertrieb ge¬
brachten Litcraturdenkmalen zu verweilen.
Da fällt uns denn vor allen Dingen ein Buch in die Angen, dem die
Kvberger von ihrer ersten Wirksamkeit an bis zu deren letztem Nachklänge die
eifrigste Pflege angedeihen ließen: die Bibel. Bis zum Jahre 1500 sind allem
fünfzehn verschiedne Bibelausgaben aus ihrem Hause hervorgegangen, während
aus der ganzen Zeit der Verlagsthätigkeit mehr als dreißig Folioausgabcu zu
verzeichnen sind, darunter mehrere vielbändige Bibelwerke.
Die wichtigste Ausgabe aber bleibt die bereits erwähnte deutsche Bibel vou
1483, nicht allein weil sie in der Volkssprache und durch ihre Bilder laut und
annehmlich zu jedermann redete, sondern weil in ihr wenigstens der schüchterne
Versuch gemacht wurde, die Autorität der alleingiltigen Vulgata als nicht über
alle Anfechtung erhaben beiseite zu schieben.
Neben der Verbreitung der Bibel ließ sich Kvberger besonders die Ver¬
vielfältigung der mittelalterlichen Scholastiker und der Kirchenväter angelegen
sein. Er folgte hierin ganz der in Deutschland herrschenden literarischen Richtung,
die sich nur langsam aus den Banden des Scholästizismus freimachte und
zunächst nur mit größter Vorsicht an die Beschäftigung mit den durch den
italienischen Humanismus zu neuem Leben erweckten antiken Klassikern herantrat,
aus Furcht, daß der Geist der alten Heiden zu mächtig werden und daß
das heidnische Wesen die christlichen Tugenden schädigen könnte. Als aber der
Humanismus in deutschen Landen immer mehr erstarkte, wurde auch das Ko-
bergcrsche Geschäft den neueren Anforderungen gerecht, ja selbst den literarischen
Erzeugnissen der Reformation gegenüber verhielt es sich nach anfänglicher Zurück¬
haltung auf die Dauer nicht abwehrend.
Finden wir in dem Anschließen an die literarischen Strömungen der Zeit
auch in jenen Zeiten dieselben Verhältnisse wie in unsern Tagen, so war doch
die Stellung des Verlegers zum Verfasser eiues Werkes eine wesentlich andre
als heute. Eine eigentliche Entschädigung für seine Arbeit hatte der Schrift¬
steller vom Verleger damals nicht zu erwarten; ja es galt sogar, wie wir dies
z. B. von Luther wissen, als Ehrensache, nichts sür dieselbe zu fordern. Gleichwohl
ließ mau sich gern ein Ehrengeschenk in Geld als „Hvnorarium" gefallen und
machte sich darüber ebensowenig Skrupel wie der Gläubiger, der trotz des Ver¬
botes der Kirche von seinem Schuldner Zinse» annahm. Daß derartige rechtlose
Verhältnisse ans die Dauer haltlos wurden, braucht kaum hervorgehoben zu
werden, aber ehe an die Sicherstellung der Autoren gedacht werden konnte,
mußte die der Verleger gegen die Gefährdung vonseiten ihrer Berufsgenossen
erfolgen, mußten sich feste Formen des Buchhandelns ausgebildet haben.
Der Keim fast aller im heutigen Verkehr bestehenden Gebräuche läßt sich
bereits aus dem Betriebe der Kvberger nachweisen. Da in den ersten Zeiten
des Buchdrucks bei ganz wenig Unternehmungen die finanziellen Vorbedingungen
in ausreichender Weise vorhanden waren, machte sich wenigstens bei größern
Werken die Unterstützung durch Freunde der Wissenschaft nötig. Es ließe sich
eine Fülle von Beispielen aufzählen, in denen nicht nur geistliche Orden, damals
noch wahrhaft Förderer der Wissenschaft, sondern auch einzelne reiche Kaufleute
und vornehme Kleriker ihre Mittel in den Dienst der guten Sache stellten.
Ihre Namen wurden dann zum Zeichen des Dankes in den Vorreden oder in
den Schlußschriftcu genannt und mit gebührendem Lobe bedacht. Da aber
derartige edle Regungen zu allen Zeiten nur als Ausnahmen auftreten, sahen
sich die Verleger in den meisten Fällen darauf angewiesen, mit ihren eignen
Kräften das Wagnis zu unternehmen, und Kvberger wußte Mittel und Wege
zu finden, auch ohne fremde Beihilfe Großes ins Werk zu setzen.
Er schloß sich dabei eng an die bestehenden Verhältnisse seiner Zeit an,
indem er die damals übliche Assoziation der Handelsgesellschaften auch in dem
Buchhandel einführte. Wie es bei diesen Brauch war, sich nur für bestimmte
Unternehmungen zusammenzuthun, so trat auch Koberger mit andern Buchdruckern
zunächst nur für kurze Zeit, ja sogar nur zur Herstellung eines einzigen Werkes
in Verbindung und erneuerte dieselbe je nach Bedürfnis von Fall zu Fall.
Mit großer Klugheit verstand er es, die Interessen seiner Rivalen mit seinen
eigne» zu verketten und einen gefährlichen Wettbewerb gelegentlich durch gütliche
Vereinbarung zu beseitigen. Beide Teile fanden bei dieser Art des Geschäftes,
das eine Art von Kommanditbeteiligung darstellt, ihre Rechnung. Die kleinern,
kapitalarmen Drucker sahen sich so in den Stand gesetzt, unausgesetzt ihre Presse
zu beschäftigen, und nahmen an dem großen Verkehr teil; Koberger aber wehrte
den gefährlichsten Feind aller buchhändlerischen Unternehmungen zu seiner Zeit
ab, den Nachdruck, der ihn sonst um die Früchte seiner Bemühungen ge¬
bracht hätte.
Denn von einem Schutze des geistigen Eigentums wußte jene Zeit noch
nichts, und erst allmählich gelang es den Druckern, ein Privilegium als Schlitz
gegen den Nachdruck zu erwerben, entweder Vonseiten ihrer städtischen Behörden
oder von dem Landesherrn, oder auch vom Kaiser, oder vom Papst, allerdings
zunächst nur für die kurze Frist weniger Jahre. Da galt es denn, sich selbst
zu wehren und durch Klugheit das zu erreichen, was auf dem Wege des Gesetzes
nicht erreicht werden konnte. Die Mittel zur Verhütung des Nachdrucks, welche
.Koberger anwandte, waren alle Wohl berechnet. Hase faßt sie in folgender Weise
zusammen: „Vereinbarungen wider Nachdruck mit angesehenen Druckerverlegeru,
Beschäftigung der unternehmungslustigen Drucker in den Hauptdruckvrtcu,
Kommauditauteilnahme an deren eignen Unternehmungen sowie Vereinbarung
weit hinansgeschobener Zahlfristen, Androhung der Zahluugsverweigerung bei
Schädigung durch Nachdruck; aufmerksames Erforschen aller geplanten Unter¬
nehmungen, Heimlichhalten der eiguen Pläne, Zurückhaltung der zum erstenmale
gedruckten Werke bis zur völligen Vollendung, billiges Losschlagen der durch
drohenden Nachdruck entwerteten eignen Ausgabe auf entlegenen Verkehrsgcbieten,
Auflauf der Nachdrucksausgaben, vor allen: die Beherrschung des gesamten
Literaturgebietes."
Minder gefährlich als der Nachdruck war dagegen in Kobergers Tagen die
von den geistlichen Behörden ausgehende Zensur, da sie sich damals noch nicht
auf die eigentliche gelehrte Literatur in lateinischer Sprache erstreckte, sondern
nur die geringe Anzahl der für das Volk bestimmten deutschen Bücher traf.
Hier war es vom Standpunkte des Geschäftsmannes das Klügste, sich zu fügen.
Durch die kirchlichen Verbote versuchte mau den ketzerischen Bestrebungen nach
Kräften entgegenzutreten, rechnete aber freilich zu denselben auch die Verbreitung
des Evangeliums in den Volkssprachen. Das erste bekannte Preßmandat nach
Erfindung der Buchdruckerkunst, welches der Erzbischof von Mainz im Jahre
1485 erließ, verbot daher die Bibel in deutscher Sprache, und Koberger hat
nicht gewagt, durch eiuen Neudruck seiner Bibel von 1483 diesem Befehle ent¬
gegenzuhandeln. Erst die Übergriffe der geistlichen Zensur in das Gebiet der
Wissenschaft riefen eine Auflehnung des öffentlichen Bewußtseins gegen diese Art
der Bevormundung ins Leben, welches in dem ewig denkwürdigen Streite
Neuchlins mit dem getauften Jude» Pfefferkorn durch die leidenschaftliche Teil¬
nahme der gesamten Gelehrtenwelt zum erstenmale seine gewaltige Macht offen¬
barte. Mit erneuter Stärke trat in den Tagen der Reformation diese freiheitliche
Bewegung hervor, und weder die weltlichen uoch die geistlichen Behörden sahen
sich imstande, ihrem Fortgang auf die Dauer mit Erfolg Einhalt zu gebieten.
Die Wechselwirkung, welche wir zwischen den drei großen, einander ab¬
lösenden Geistesbcwegungen der Scholastik, des Humanismus und der Reformation
einerseits und den Erzeugnissen der Buchdrucker anderseits bemerkten, tritt uns
noch einmal deutlich entgegen, wenn wir den Vertrieb der Bücher ins Auge
fassen. Die Werke der Scholastiker fanden ihre Abnehmer zunächst in den
Kreisen der Geistlichen. Wir dürfen uns daher nicht wundern, daß gerade an
den Kirchenthüren die Bücher feilgeboten wurden. Da aber der römische Klerus
zu alleu Zeiten ein internationaler gewesen ist, so trug auch der früheste Buch¬
handel ein internationales Gepräge. Die lateinisch geschriebnen Werke wurden
damals von Deutschland aus über alle Kulturländer verbreitet und bereitwillig
von den Geistlichen und Universitäten der ganzen Welt entgegengenommen.
Das Aufkommen des Humanismus erweiterte zwar den Kreis der durch
den Druck vervielfältigten Geistesprodukte in ausgiebigster Weise; gleichzeitig
aber wurde durch denselben das Absatzgebiet des deutschen Buchhandels nicht
unerheblich eingeschränkt. Denn obwohl die Humanisten ganz ebenso wie die
römische Geistlichkeit die Weltsprache des Lateinischen redeten, so machten sich
doch bald unter ihnen nationale Gegensätze bemerklich, von denen anch der Buch¬
handel nicht unberührt bleiben konnte. Italien aber, die Wiege der humanistischen
Bewegung, gewann eben dadurch eiuen großen Vorsprung vor Deutschland und
errang bald auch im Buchdruck und Buchhandel eine selbständige Bedeutung.
Für diesen Ausfall brachte freilich die Reformation dem deutscheu Buch¬
handel reichlichen Ersatz, da das ganze Volk von ihr ergriffen wurde und
begierig die große Menge der durch dieselbe hervorgerufenen Flugschriften und
Traktate verschlang. Da jedoch die Literatur der Reformationszeit im wesent-
lichen eine deutsche war und sich an das deutsche Volk wandte, so sah sich auch
der Buchhandel genötigt, bei seinem Vertriebe ausschließlich Deutschland ins
Auge zu fassen, und verlor dadurch seinen ursprünglichen internationalen Cha¬
rakter vollkommen.
Alle diese Wandlungen treten klar in dem Geschäfte der Kvberger zu Tage.
Das Absatzgebiet derselben umfaßte lange Jahre hindurch die gesamte gebildete
Welt des Abendlandes. In Deutschland kam namentlich der Süden in Betracht;
am lebhaftesten war der Verkehr in Franken, Schwaben, Baiern und am Ober¬
rhein; doch ist in den von Hase mitgeteilten Briefen auch vielfach von Geschäfts¬
freunden in Norddeutschland die Rede. Außerhalb des Reiches entwickelte Koberger
namentlich in der Schweiz eine rege Thätigkeit, ferner in Burgund, in Belgien
und in den heutigen Niederlanden, endlich in Oberitalien und in Südfrankreich.
Im Osten drangen seine Agenten bis nach Polen und Ungarn vor, ja selbst
mit England und Spanien wurden Verbindungen angeknüpft. Folgende haben
uuter den Außenplätzen des Kobergerschen Hauses besondre Bedeutung gehabt: im
Süden Mailand und Venedig, im Osten Ofen und Krakau, im Norden Lübeck
und Antwerpen, im Westen Paris und Lhvn. Alle diese Punkte waren jedoch
nicht etwa Grenzorte, sondern sind als „weitest hinausgeschobene Vorwerke" zu
bezeichnen, von denen aus die umliegenden Länder und Nachbarländer beherrscht
wurden.
Der Fortschritt der Unternehmungen Kvbergers gegenüber denen der Vor¬
gänger zeigt sich vor allem darin, daß er nicht bei dem üblichen Wanderverkehr
stehen blieb, bei welchem es galt, die Käufer aufzusuchen und ihnen die Waare
anzupreisen, souderu daß er durch Anlegung von Faktoreien in fremden Ländern
festen Fuß zu fassen versuchte. Welchen Vorteil ihm bei diesem Bestreben die
Bedeutung Nürnbergs für den deutschen und europäischen Handel gewährte, ist
leicht zu erraten. In einer Stadt, die Luther im Jahre 1528 „das Auge und
Ohr Deutschlands" nannte, war man stets über die dem Handel günstigen oder
ungünstigen Konjunkturell wohl unterrichtet, und so konnte Koberger von diesen:
Mittelpunkte aus auch die am weitesten entfernten Filialen seines Geschäftes
im Auge behalten.
Die bedeutendste der Kobergerschen Niederlassungen außerhalb Nürnbergs
befand sich in Lyon, welches als Vermittluugsplatz für den italienischen und
französischen Handel diente und sich schon in den ersten Zeiten des Buchdrucks
zu einem Druck- und Verlagsort ersten Ranges aufgeschwungen hatte. Neben
Lyon behauptete damals in Frankreich nur noch Paris eine ähnlich hervor¬
ragende Stellung; für Kobergers Handel hatte aber Lyon eine weit größere
Wichtigkeit wie Paris. Aus diesem Grnnde wählte Hans Kvberger, der Vetter
Anthonis, der das französische Geschäft leitete, nicht Paris, sondern Lyon zu
seinem Wohnsitz. Von dort aus unternahm er seine Geschäftsreisen, teils um
in Paris die beiden schönen Buchläden des Gehilfens Heidelberg zu inspiziren,
teils um in Oberitalien die Verlagswerke abzusetzen. In Italien ward Venedig,
das von vornherein die vornehmlichste Kolonie des deutschen Buchdrucks bildete,
auch der Hauptplatz für deu Buchhandel. Hase weist nun nach, daß nicht nur
Augsburg, was mau schon längst wußte, sondern anch Nürnberg ein wesent¬
liches Kontingent für den Venetianischen Büchermarkt stellte. Unter den übrigen
Zweigniederlassungen der Koberger sind solche in Ofen und Krakau, in Wien
und in Breslau mit Sicherheit aus den Geschäftsbriefen zu erweisen, während
die von einem frühern Bearbeiter des Lebens Anthoni Kobergers genannten
Plätze dnrch keinerlei urkundliche Beweise sich stützen lassen.
Von diesen festen Punkten aus zogen die Diener von Ort zu Ort und
hielten in den Herbergen ihre Waare feil. Noch ist uns eine ganze Reihe
gedruckter Bücherauzeigcn erhalten, aus denen wir ersehen, daß bereits in jenen
Zeiten den Buchhändlern die Kunst der Reklame wohl bekannt war. Den Schluß
derselben bildet regelmäßig die Aufforderung, in eine näher bezeichnete Herberge
zu kommen, wo man einen „wohlwollenden und sehr freigebigen Verkäufer" finden
werde. Bezeichnend nannte man dieses Hausirer von Ort zu Ort mit
einem dem Gebrauche des Webschifflcins entlehnten Ausdrucke das „Webern."
Man beschränkte sich dabei jedoch nicht auf die Städte, vielmehr hören wir,
daß Koberger auch auf dem Lande Bücher verkaufte.
Neben diesem Faktoreibetricb und dem Kleinhandel gewannen aber schon
früh die Messen ihre Wichtigkeit für den Buchhandel. In Deutschland galt
lange vor der Erfindung der Buchdruckerkunst die zu Frankfurt a. M. für die
weitaus bedeutendste. Obwohl nun Frankfurt erst verhältnismäßig spät in den
Kreis der den Buchdruck übenden Städte eingetreten ist, so haben doch die
Frankfurter die längste Zeit hindurch den Buchhandel an ihre Messer zu fesseln
verstanden. Koberger hat sich diesen Verhältnissen nicht zu entziehen vermocht
und hat selbst funfzehnmal die Frankfurter Messe besucht, während er sich sonst
durch seine Diener oder Geschäftsgenossen vertreten ließ. Der Besuch derselben
hatte für ihn namentlich dadurch Wert, daß er hier in persönlichen Verkehr
mit den Großhändlern treten konnte und auf die bequemste Weise die gegen¬
seitige Ausgleichung der Rechnungen erzielte. Die Frankfurter Messe diente
ihm überhaupt weniger als Verkaufsplatz, als vielmehr als Zahlungsplatz.
Erwägt man die großen Kosten und Gefahren, welchen damals der Buchhandel
unterlag, so muß man den von Koberger erzielten Geschäftsgewinn als einen ge¬
ringen bezeichnen. Bei seinen soliden Grundsätzen hielt er an einem Ladenpreise
für die Nichtbuchhändler fest, gewährte aber den Geschäftsgenossen einen Nachlaß
von zwanzig Prozent, den er für die ihm näher verbundenen Baseler Drucker-
Verleger derartig erweiterte, daß sie sich in den Stand gesetzt sahen, auch
ihrerseits den Händlern gegenüber seine Bedingungen einzuhalten. Häufig genng
wurden die Abschlüsse gegen Bcmrzahlungen gemacht, obwohl man, um der Ge¬
fahr, ausgeraubt zu werden, zu entgehen, Baarsendungen nach Kräften vermied.
Die Achtung vor der Größe des Kobergerschen Unternehmungsgeistes wächst
noch, wenn wir uns die Schwierigkeiten des Beförderungswesens klar machen.
Die Ausdehnung des Geschäfts brachte einen umfänglichen Fracht-, Boten- und
Briefverkehr mit sich. Da galt es denn, vertrauenswürdige Leute ausfindig zu
machen, denen es bei der Unsicherheit der Straßen auch an Mut und Uner-
schrockenheit nicht fehlen dürfte. Anthoni Koberger bewies auch in diesem Punkte
seine große Findigkeit und das Geschick, alle sich darbietenden Gelegenheiten er¬
folgreich auszunutzen. Seine Fuhrleute zeichneten sich durch Zuverlässigkeit aus
und sind durch seine Aufträge zu einem ehrenvollen Namen gelangt. Was aber
auch er nicht beseitigen konnte, war der große Zeitverlust bei der Beförderung
von einem Platze zum andern. Infolge der Notwendigkeit, verschiedne Güter
für einen Transport zu sammeln, blieben die mit Bücher gefüllte» Fässer - denn
um das Naßwerden zu vermeiden, wandte man meist diese Art der Verpackung
an — oft lange an den Knotenpunkten des Verkehrs liegen, und selbst, wenn
alles glatt ging und das für jede größere Frachtsendung notwendige Geleite
seine Pflicht in der Beschützung der Fuhrleute gethan hatte, brauchten sie doch
z. B. von Basel nach Nürnberg und wieder zurück gute fünf Wochen. Und
wie selten war es wegen der kriegerischen Zeitläufte und der Witterungs¬
verhältnisse möglich, diesen Termin einzuhalten!
Die Briefe wurden in der Regel durch berufsmäßige Boten bestellt, sodaß
ein regelmäßiger Briefverkehr anzunehmen ist. In besonders dringlichen Fällen
sandte Koberger eigne Boten ab, die dann wohl mehrere Geschäfte uns einem
Wege zu vereinigen hatten.
Es ist eine besonders glückliche Fügung, daß ein so stattlicher Bruchteil
der Kobergerschen Geschäftsbriefe auf uns gekommen ist; ohne dieselben wäre
es Hase nicht möglich gewesen, so, wie er es gethan hat, bis ins einzelne hinein
in die Bräuche der alten Zeit einzudringen und nach allen Seiten hin den
Buchdruck und Buchhandel des fünfzehnten Jahrhunderts und der folgenden
Jahrzehnte oft in ganz neue und helle Beleuchtung zu stellen. Wenn daher der
oder jener Leser dnrch unsre nur die Hauptpunkte berührende Schilderung
sich angeregt sehen sollte, diesen Fragen näherzutreten, so wird er in dem
von Hase seinem Werte beigegebnen Briefbuche der Koberger eine Fülle von
Aufklärungen finden und sich aufs lebhafteste vou dem Geiste des wackern
Mannes angezogen fühlen, dessen Leben und Wirken wir in diesen Zeilen zu
erzählen versucht haben.
eilen erscheinen Bücher, die der Teilnahme in den höhern Kreisen
der Gesellschaft so sicher sein können wie das vorliegende.*)
Der Verfasser, der seit zehn Jahren in hohem, aber rüstigem
Alter nach angestrengter, reicher Arbeit seine Muße in Potsdam
genießt, hat vierundzwanzig Jahre lang vier aufeinander folgende
Kultusminister beraten in Sachen der Gymnasien und andrer höherer Schulen
in Preußen; auch die übrigen deutschen Staaten und Elsaß-Lothringen haben
seine Erfahrungen vielfach benutzt. Nun kann zwar der Laie in der Pädagogik
einen Angenblick meinen, daß eine solche, wenn auch noch so hochstehende
Thätigkeit als vortragender Rat im Kultusministerium doch nur eine fach¬
männische Bedeutung habe. Aber bei einigem Nachdenken kann er doch erkennen,
daß die höhern Schulen bei uns in Preußen (und nicht allein in Preußen) eine
hervorragende öffentliche, politische Bedeutung haben, und daß wenigstens jede
neue Strömung in der Politik sofort bemüht ist, auch die Richtung der höhern
Schulen zu bestimmen. Schon der Selbsterhaltung wegen sucht sie zu ver¬
hindern, daß die künftigen Leiter der politischen Gesellschaft in Ideen heran¬
wachsen, die dein neuen Ideal der Gesellschaft nicht entsprechen. Man kann
das beklagen, aber es ist so und ist immer so gewesen; selbst in den Kloster-
schulen spiegelte sich der Geist der wechselnden Zeit.
Es begreift sich dabei wohl, daß sich der Unmut über einen Kultusminister,
wie z. B. von Raumer, zuweilen weniger gegen den Minister selbst richtete,
als vielmehr gegen seinen ersten technischen Berater; so war der Geheimrat
sticht als Vater der „Regulative" viel verhaßter als sein Chef. Er hatte
nichts gethan, als daß er auf Befehl seines Chefs das Volksschnl-, Prn'paranden-
und Seminarwescn in eine keineswegs neue, sondern wohlbekannte evangelisch-
christliche Form gebracht hatte. Der Inhalt der Regulative ließ sich recht gut
verteidigen, der Ausdruck aber war geschmacklos und schroff und beleidigte jede
freiere Gesinnung. Zwar hatte der Minister das Ganze auf sich zu nehmen,
aber das Volk setzte sich über diese konstitutionelle Theorie hinweg und haßte
instinktiv jenen vortragenden Rat, der es freilich durch die Art seiner spätern
Selbstverteidigung und den Abend seines Lebens schwer gemacht hat, ihm
Sympathie zu widmen. So ist es nicht zu verwundern, daß in ähnlicher Weise
anch der Ministerialrat I)r. Wiese eine Zeit lang mit zu leiden hatte, wenn
seine Vorgesetzten bald hier, bald dort das Mißfallen der Lehrer oder der po¬
litischen Parteien auf sich gezogen hatten. Und daß dies namentlich nnter dem
Regiment Raumers und Mtthlers nicht bloß auf dem Gebiete der Kirche, sondern
auch der höhern Schule der Fall gewesen ist, ist uns ja in frischem Andenken.
Einige plumpe Ausfälle der Art gegen Wiese werden in der vorliegenden Schrift zur
Veranschaulichung und Erheiterung mitgeteilt, Stellen, die an die bekannte spätere
Äußerung Windthorsts erinnern, daß er nicht sowohl die Person des betreffenden
Ministers, als vielmehr seinen „Generalstab" beseitigt sehen möchte. Indes hat sich
gegen Dr. Wiese nie eine so starke Antipathie geregt wie gegen sticht. Man hatte
mehr Achtung vor ihm, vor seiner Bildung und seiner Überzeugungstreue. Im
zweiten Bande (S. 28) erzählt Wiese von einem charakteristischen Gespräch mit
Minister Falk. Minister Falk bemerkt ihm: „Ich will Ihnen sagen, was man
Ihnen oft vorgeworfen hat, es ist, daß Sie alles »ach Ihrem Kopfe machen
wollten." Wieses Erwiederung war, das wundere ihn von seinen Gegnern
durchaus nicht, der Minister möge ihm aber nur einen einzigen Fall nennen,
wo sein Verfahren Sache der Willkür oder der Rechthaberei, und nicht vielmehr
, ein pflichtmäßiges gewesen sei. Wenn, was der Minister (kurz vorher) seinen
Idealismus genannt habe, nichts als der Blick auf ein hohes Ziel und Treue
gegen erkannte Wahrheit sei, so würde er, wenn er für diese nicht mit Ent¬
schiedenheit eintrete, sondern jeden nach seinem Belieben gewähren ließe oder
es allen recht zu machen suchte, den viel schwerern Vorwurf des charakter- und
gewissenlosen Handelns verdienen. Der Minister gestand, er vermöge allerdings
keinen solchen Fall anzuführen, er wolle auch uur sagen, daß es so scheinen
könne; dabei reichte er seinem Rat die Hand.
Dies Gefühl der Achtung verließ kaum jemand, der Wiese näher kannte.
Fast wunderbar ist die Fülle der guten Geschicke, durch die er allmählich zu
der bedeutenden Amtsstellung vorgebildet wurde, welche ihm zugedacht war. Ju
welchem Gebiet der Bildung und insbesondre der Bildungswissenschaft war er
nicht soweit eingedrungen, daß er orientirt war? Theologie, alte und neue Philo¬
logie, Literatur und Kunst, Anschanungen von der verschiedenartigsten Pädagogik
(denn was könnte verschiedner sein als die alten englischen vollsM» und die
belgischen Internate), alle diese Dinge standen ihm in umfassendster Weise zu
Gebote. Und die fast beispiellose Vielförmigkeit seiner eignen pädagogischen
Thätigkeit und Erfahrung zerstreute ihn nicht, sondern wurde zusammengefaßt
nicht sowohl durch philosophische Gliederung, als vielmehr noch wirksamer
durch eine treue Anhänglichkeit an die evangelische Wahrheit, die doch nie in
unfreie und beschränkte Orthodoxie geriet. Denn in der That zeigt die netteste
Schrift Wieses detttlich genug, was man schon aus den frühern Schriften und
aus der ganzen Entwicklung des Mannes schließen konnte, daß diejenigen ihn
nur oberflächlich kennen, die ihn als dogmatisch befangen bezeichnen. Aller¬
dings werden wir noch darauf einzugehen haben, warum wir, abgesehen von
allen Dogmen, seine Stellung zur Kirche nicht für allgemein giltig anzusehen
vermögen.
Der reiche Inhalt der Schrift Wicses ist zum Teil biographischer Natur;
diese Partien sind nirgends aufdringlich gehalten, aber wie sie uns durch ihre
schöne Darstellung und ihren zum Teil ergreifenden Inhalt fesseln, so sind sie
in mancher Beziehung auch eine nützliche Erläuterung zu dem, was dem Manne
als das Ideal seines amtlichen Wirkens vorschwebte.
Eben dieses amtliche Wirken als vortragender Rat ist es, was überall von
S. 152 des ersten Bandes an die Hauptsache unsrer Schrift bleibt. Raumers
Auffassung vom Schulwesen wird S. 164 hübsch nach Worten des Ministers
selbst dargestellt, in dieser Allgemeinheit gewiß unanfechtbar für jeden Sach¬
verständigen, es kommt aber darauf an, was man in die großen Umrisse hinein-
zeichnet. In dieser Beziehung hatte der Minister eben das Vertrauen zu Wiese,
daß sie auch in der Detailcinffassung des Bildnngsideals übereinstimmten. In
der That scheint der Minister bis zu seinem Tode allen Grund gehabt zu haben,
dies Vertrauen festzuhalten. Der neue Rat wurde in seinen Vorschlägen
gegenüber allerlei romantisch-aristokratischen Plänen, die in Bezug auf einige
Ritterakademien, auf die Fränkischen Stiftungen zu Halle u. s. w. von oben
begünstigt wurden, vom Minister gegen jene starken Strömungen gehalten, und
die eminente Personalkenntnis, die ihm die häufige Bereisung der Provinzen
eingebracht hatte, half über manche Schwierigkeit hinweg, die in der einmal
vorhandnen straffen preußischen Zentralschulverwaltung liegen kann. Welche
einzelne Maßregeln auf dem Gebiete der höhern Schulen diese erste, ruhigere
Zeit zeitigte, das wird im einzelnen die Leser dieser Zeitschrift kaum genügend
interessiren. Das Wichtigste scheint uns der Versuch zu sein, dnrch General-
Verfügung vom 12. Januar 1856 den Lehrplan und die Abiturientenprüfung
an den Gymnasien etwas zu vereinfachen. Im Jahre 1882 und 1883 wurden
diese Verfügungen dnrch wesentlich anders gerichtete ersetzt, freilich ist das
preußische Schulwesen so gut organisirt, daß ein offenbarer Bruch mit der Ver¬
gangenheit sorgfältig vermieden wird. Was S. 190 über den Charakter des
Ministers von Raumer und sein Streben mitgeteilt wird, ehrt diesen vielverkannten
Mann und seinen Rat zugleich, aber es zeigt auch, daß wir in einer andern
Zeit leben als in den fünfziger Jahren. Diese enge Verbindung von Staat
(Maatsschnlwesen) und Kirche, die sogar die Errichtung des evangelischen Ober¬
kirchenrath neben dem Kultusministerium für eine „beklagenswerte" Konzession
halten konnte, ist heute doch unmöglich. Man wundert sich umsomehr darüber,
als gerade damals sich eine besondre katholische Abteilung im Ministerium breit
machen durfte, die bald aus einer staatlichen Behörde eine ultramontane Advokatie
wurde. Mit Recht hebt Wiese es freudig hervor, daß von Raumer bei aller
entschiednen Kirchlichkeit doch alles Zurschautragen christlicher Gesinnung ver¬
achtete und bei Anstellungen vor allen Dingen ans die schulmäunische und
wissenschaftliche Befähigung sah. Natürlich konnte sein Verfahren doch zuweilen
als eine Begünstigung frommer Unwissenheit erscheinen, aber es ist notorisch,
daß es Leuten wie Hengstenberg noch viel zu liberal erschien. In dem Gebiete
der Kunst fehlte es dem Minister, wie auch Wiese andeutet, an Interesse und Ver¬
ständnis. Beteiligte Künstler, welche Herrn von Ladenberg, den frühern Minister,
mit Herrn von Raumer vergleichen konnten, wußten von dem Unterschiede viel
zu erzählen, aber bei alledem war doch Raumer ein viel höherstehender Cha¬
rakter.
Sein Nachfolger, Minister von Bethmann-Hollweg (I, S. 202), wird von
Wiese mit derselben objektiven Ruhe gezeichnet, keineswegs mit besondrer Sym¬
pathie. Die Zeit wurde schon mehr politisch erregt, die „neue Ära" fand infolge
der durchschimmernden Militärrevrgnnisation bald statt des anfänglichen Will¬
kommens eine starke Antipathie und wurde noch zur rechten Zeit durch eine
energische „Ära Bismarck" abgelöst. Bethmann-Hollweg hielt es nur drei¬
undeinhalb Jahre aus. Diese kurze Zeit ist aber doch durch mancherlei Wichtiges
im Gebiete des höhern Schulwesens bezeichnet, namentlich fällt die Regelung
des Realschulwesens (6. Oktober I.8S9) in Preußen in diese Zeit; diese Ver¬
ordnung ist berühmt dnrch ihre schöne Form und die umsichtige pädagogische
Betrachtungsweise. Zugleich ist sie ein Beweis, wie das Nealschulwescn durch
den Drang der Zeit über die ursprünglichen Schranken hinausgewachsen ist.
Wiese selbst ist bei aller Liebe zum Gymnasium, gegen seine frühere Auffassung
der Realschule, dafür eingetreten, daß den Realschulen auch die Universitätsstudien
und die entsprechenden Staatsämter offenstehen müßten, auch die Medizin
werde ihnen mit der Zeit nicht verschlossen bleiben können. Er ist eben ein
durchweg dem Bedürfnis der Gesellschaft entgegenkommender, gewissermaßen
moderner Geist. Es liegt uns fern, hier auf die schwierige Frage selbst ein¬
zugehen, zumal da das Stnatsschulwcsen jetzt nicht von Theorien, sondern von
den Parlamenten abhängt, die zwar nicht willkürlich entscheiden, aber doch un¬
berechenbar sind.
In diese liberale Periode fällt auch eine interessante Verhandlung, an der
sich der Kronprinz beteiligte (1860). Ein angesehener Gymnasialprofessor hatte
beantragt, daß die Gymnasien aufhören sollten, die humanistischen Studien als
Hauptsache zu betrachten; Mathematik und Physik sollten vielmehr jetzt die
zentrale Bedeutung in ihnen bekommen. Stundenlang wurde darüber lebhaft
verhandelt. Der Kronprinz erklärte schließlich, auch er könne sich nicht dafür
aussprechen, daß eine so radikale Änderung mit dem Gymnasiallehrplan vor¬
genommen werde. So half er, die absurde Sache zu beseitigen.
Ausführlich erörtert Wiese die Stellung Bethmann-Holllvegs zu Christentum
lind Kirche. Das Verhältnis zum Christentum war bei dem Chef sehr innig.
Wiese führt den Ausruf des Ministers an: „Juden als Lehrer in christlichen
Schulen! nimmermehr! sie würden garnicht anders können, als auch aus dem
Lehren ein Geschäft machen. Wenn sie sich uns wirklich in das Lehramt ein¬
drängen sollten (durch Agitation des Abgeordnetenhauses), so würde ich lieber
mein Ministerium aufgeben" (I, 228). Dagegen machte der Minister einen
Unterschied zwischen Christentum und Kirche, der Wiese nicht zusagte. Wiese
scheint den Grund der Differenz darin zu suchen, daß Bethmann-Hollweg die
Kirche als freie christliche Gemeinschaft, nicht als Institution auffaßte. Für
Vilmar, Stahl und ähnlich gestellte Theologen hatte die „Institution" aller¬
dings große Bedeutung, eben deswegen nähern sie sich den Katholiken, sür die an
der Kirche das in8tiwwrn alles ist. Für die Evangelischen ist die Kirche beides,
einmal eine oong'rog'g.dio 8g.ne>t,orvmr, aber auch eine Institution in Predigt und
Sakrament, freilich eine Institution lluuuwi M-is. Es ist interessant, zu sehen,
wie sich im Christentnme der lebendige Geist lange Zeit gegen das Überwuchern
der „Institution" wehrt, ganz im Sinne des Erlösers; fast noch merkwürdiger,
wie verhältnismäßig jung auch die jüdische vorbildlich gewordne Form der
„Kirche" ist; denn der ganze Priesterkodex wird wenigstens von den besten
Forschern als nachexilisch angesehen. Aber die ganze Sache scheint in unserm
Zusammenhange nicht viel Bedeutung zu haben. Einfach gesagt wollte der
Minister nach der Verfassung zwar den Religionsunterricht der Volksschule von
den Vertretern der Konfessionskirchen leiten oder doch mitleiden lassen; für die
höhern Schulen aber lag die verfassungsmäßige Vorschrift uicht vor. Die General-
superintendenten und Bischöfe hatten zwar in früherer Zeit Einwirkung ans die
Religionsstunden und die Religionslehrer erhalten, aber das war eine nicht un-
aufhebliche Bestimmung. Bethmann-Hollwcg wollte mehr die Persönlichkeit des
in der Konfession aufgewachsenen Lehrers walten lassen und war darin etwas
idealistisch. Eine gewisse Subjektivität der Lehrer war ihm weniger bedenklich,
als eine von außen kvntrolirte Orthodoxie ihm wünschenswert war. Wir
unsrerseits kämpfen gegen die Ansicht, daß die sichtbare Kirche etwas andres
sei als die von den Gläubigen den Bedürfnissen angepaßte Form des religiösen
Zusammenlebens, aber wir können uicht leugnen, daß, auch so gefaßt, die Ver¬
treter der Kirche eine Einwirkung auf jeden Religionsunterricht der Uncr-
wachseuen, auch in den höhern Schulen, haben sollten, im Interesse der Kirche
und der Schule zugleich. Gewiß soll der Staat anch ein Gewissen haben, wenn
die Katholiken das auch leugnen, aber von Konfession hat der moderne Staat
doch zu wenig Kenntnisse. Glücklicherweise wird es auch mehr und mehr an¬
erkannt, daß die kirchlichen Gemeinschaften dem weltlichen Leben gute Dienste
leisten und nicht an sich mit Mißtrauen zu betrachten sind. Bethmann-Hollweg
erklärte viel später brieflich, er habe seinerzeit als Minister beabsichtigte Einzcl-
bestimmungen über den Religionsunterricht „mit Bewußtsein" zurückgehalten.
Er war vermutlich durch Einwirkung Wieses zur Klarheit darüber gekommen,
wie leicht auf diesem schwierigen Gebiete etwas zu verfehlen sei.
Der Minister verabschiedete sich im März 1862 von seinen Räten mit der
Bemerkung, er habe „an des Gewissens willen" den König um seine Entlassung
bitten müssen. Sein Nachfolger, Dr. von Muster, war ein langjähriger Freund
Wieses (I, 239). „Ich kaun nur mit Wehmut an die zehn Jahre 'seines Mi¬
nisteriums . . . zurückdenken. Er war einer der lautersten und liebenswürdigsten
Menschen, die ich in meinem Leben kennen gelernt habe, von Hause aus im
Grunde eine umve Natur, heitern Gemüts, das sich auch leicht und gern in
poetischen Ergüssen aufthat, dabei ein Manu von klarem Verstände, geschäftlich
erscchren und gewandt. Die schweren Kämpfe, die seiner alsbald wartete» und
in denen das grobe Geschütz des aufgeklärten Liberalismus unausgesetzt seine
Positionen angriff, machte ihm el» ruhiges Einarbeiten in die neuen Amts¬
pflichten unmöglich. Er verlor allmählich seinen Gleichmut; ... er erschien oft
geistig und körperlich gedrückt, reizbar und abhängig von wechselnden Stim¬
mungen." Alles dies ist uns noch in frischer Erinnerung, Es ist sehr an¬
zuerkennen und ein Beweis sittlicher Gediegenheit, daß seine Reden in den
Kammern gegenüber diesen parlamentarisch oft sehr zugespitzte» Reden stets
sachlich und würdig blieben, nicht bloß, weil Muster kein bedeutender Redner
war, sondern auch, weil er ein andres Verfahren nicht billigte. Den heftigste»
Kampf mußte er ans dem Gebiete der konfessionellen Schule bestehen, eine»
Kampf, de» allerdings die verwickelte konstitutionelle moderne Ansicht der Dinge
gegen die historische Geltung der Bekenntnisse auf dem Staatsschulgebiete, nicht
die Laune einiger Radikalen herbeiführte, Und doch fand sich neben diesem un¬
erquicklichen Kampfe noch Gelegenheit zu heilsame» Verordnungen über deutscheu
Unterricht, Propädeutik, Verminderung des Schreibwerkes in de» Prvvinzial-
tollegien, Regelung des Schulwesens in den 1866 cmnektirte» Gebieten u. ni.
Hierbei war Wiese überall persönlich beteiligt, »ud ganz besonders interessant
ist der Bericht, wie er die han»ovcrisch-adelsstolze Klvsterschiilc zu Ilfeld zurecht¬
setzte (I, 277).
Über die Anfänge der jetzigen Reichsschnlkommissio» in den damaligen
Dclegirtenkouferenzeu deutscher Schulbeamte» erhalte» wir aus unsern: Buche,
soviel ich weiß, zum erstenmale frische, konkrete Mitteilungen. Das Jahr 1870
brachte dem Verfasser wieder eigentümliche Aufgaben. Ans Anregung des Reichs¬
kanzlers erhielt Wiese im Mai 1871 de» Auftrag, über die Neuordnung des
elsüssisch-lothringischen Schulwesens durch persönliche Bereisung des Landes sich
zu iiiformircn und seine Vorschläge zu machen. Das Wesentliche seiner Be¬
obachtungen ist im Buche erzählt und bildet einen hervorragend wertvollen
Bestandteil desselben. Wer ihn gelesen hat und die Fortsetzung im zweiten
Bande (S. 11), den muß Trauer darüber beschleichen, daß es dem ultramontane»
Drucke unter orthodvxistifcher Verwaltung nachher gelungen ist, vieles wieder zu
zerstören und den Schulrat Dr. Baumeister aus Amt und Land zu vertreiben.
Mittlerweile kam die Periode des sogenannte» Kulturkampfes. Muster
»nichte die ersten Maßregeln in treuer staatlicher Gesinnung zu seiner eignen
Sache, die Beschützung des altkatholischcn Neligionslehrers in Ermelcmd, auch
die Aufhebung der katholischen Abteilung im Ministerium, freilich mit etwas
andrer Motivierung, als sie nachher üblich wurde. Am 18. Januar 1872
zeigte er deu Räten an, daß der König ihn ans seinem Amt entlassen habe,
und seine Empfindungen für die Schule gehen aus den Worten hervor, die er
in jenen Tagen an Dr. Wiese richtete: „Thut man nun mit der Schule, wozu
die Hand zu bieten ich mich um des Gewissens willen geweigert habe, so werden
in zwanzig Jahren die Güter verwüstet sein, die Preußens Stärke waren lind
ihm auch zu seinen letzten Siegen verholfen haben." Die Beziehung dieser me¬
lancholischen Worte sind dunkel, auf das Schulaufsichtsgesetz gehen sie schwerlich,
Wohl aber auf den ganzen konfessionellen historischen Charakter unsrer evange¬
lischen Schulanstalten.
Vier Jahre lang blieb Wiese noch unter Dr. Falk im Amte. Er nennt
ihn den konsequentesten und durchgreifendsten Minister unter den vier Chefs,
die er gekannt habe. Zuerst wurde ihm durch den Jnbel, den der Liberalismus
ihm entgegenbrachte, sein Wirken erleichtert. An die Bräunsberger Angelegen¬
heit, die gänzlich verfahren war, knüpfte sich seine Verfügung, daß vom Religions¬
unterricht dispensirt werden könne (29. Februar 1872). „Verwunderung, daß
er nicht weiter gehe (und den Religionsunterricht überhaupt fakultativ mache),
hatte der Minister von vielen zu hören." Wiese selbst, der die genannte
Verfügung abgefaßt hatte, bemerkte Dr. Falk gegenüber, daß jene Dispeusatiou
weiter führen könne, und Falk gestand zu, daß die Aufhebung des Religions¬
unterrichts einmal in der Folgezeit daraus hervorgehen könne, er selber beab¬
sichtige dies keineswegs. Die folgenden Kultusminister haben dies noch weniger
beabsichtigt, und es würde ein völliger Zerfall des Volksbewußtseins voraus¬
gehen müssen, wenn eine solche Maßregel, insbesondre bei dem protestantischen
Volke, nicht bei einigen aufgeklärten judaifirenden Parlamentariern, Anklang
finden sollte.
Wir folgen Dr. Wiese nicht in die Einzelheiten, die Falk auf dem Gebiete
des Schulwesens durchführte, obgleich sie dem Fachmanne lehrreich sind. Auf
S. 30 des zweiten Bandes erwähnt Wiese zum erstenmal, daß er an das Auf¬
geben seines Amts gedacht habe, da er es, nicht mehr so vom Vertrauen seines
Chefs getragen, auch nicht mit der frühern Befriedigung verwaltete. Die neuen
Kollegen und Ministerialdirektoren zeigten mehr ein juristisches Gepräge, päda¬
gogische und ethische Gesichtspunkte waren bei der Beratung schwerer zur Geltung
zu bringen. „Es heißt wohl, der Jurist kann alles, aber für mein Gebiet
wollte mir das bisweilen nicht einleuchten." Hieran knüpft Wiese um eine
umfassende Darstellung der Entwicklung der höhern Schule, wie, möchte ich
sagen, nur Wiese so aus eignen Erfahrungen sie geben konnte (II, S. 33—62).
Es ist eine psychologisch wohl zu erklärende Schwäche, wenn die schrift¬
stellerischen Rückblicke der höhern Beamten, die durch einen Systemwechsel sich
veranlaßt fühlen abzutreten, in eine apologetische Tendenz geraten und in eine
gewisse Bitterkeit gegen ihre mächtigeren Gegner verfallen. Bei dem Buche
Wieses finden wir mir wenig der Art, und nur soviel, als es die Ueberzeugungs-
treue und männliche Selbständigkeit verlangt, die die Fracht eines langen
Lebens sein soll. Gerade am Ende seines amtlichen Lebens spricht Wiese mit
großer Verehrung von Dr. Falk, von der Geradheit und Festigkeit seines
Charakters, von der Humanität seiner Gesinnung und von der Tüchtigkeit
seines ganzen Wesens. „In der vollen Hingebung an die Aufgaben des
Amtes und in der energischen und ausdauernden Art des Arbeitens konnte er
allen seinen Räten ein Vorbild sein; keiner erreichte ihn darin." Aber Wiese
betont doch auch, daß Falk durch und durch Jurist blieb, nicht im vollen
Sinne Kultusminister war und nicht alle Faktoren des geistigen Lebens bedachte.
Es ist die alte Klage; sie hat ihre Pointe in der zu schwache» Berücksichtigung
des Religiösen, genauer des Kirchlichen. Wiese ist so billig, einen Teil der
Schuld dein Geiste der Zeit zuzuwälzen, die die Religion gern als Privatsache
fasse; aber einen großen Teil der Schuld rechnet er auch dein Chef an, so seine
Neigung zur Simultanschule, die Anstellung von Juden, Zulassung von Mit¬
gliedern des ,, Protestantenvereins" als Examinatoren bei wissenschaftlichen
Prüfnngskoiumissionen. „Der Minister Falk wollte das Beste der Schule mit
aufrichtigstem Eifer, aber seine Ansicht von ihrer Bestimmung stand fortwährend
ausschließlich unter der Herrschaft seines politischen Urteils und Strebens. So
hat er wider seinen Willen dazu gethan, daß eine vom christlichen Glauben und
christlicher Sitte abgewandte Strömung weiter in die höher« Schulen ein¬
gedrungen ist." Wenn ein Mann wie Wiese so spricht, so werden ihm That¬
sachen vorliegen. Wir können den Satz doch nicht zugeben; wir finden in unsrer
eignen Sphäre die Gymnasien nicht weniger christlich in Glauben und Sitte
zur Zeit Falls als früher, und auch nach Falls Abgang ist unter seinen
beiden Nachfolgern darin nichts andres eingeführt worden. Es hat nach 1870
wohl eine Zeit gegeben, wo mißvergnügte junge Doktoren in den Gasthöfen
der alten und neuen Schulprvvinzen ihre neue Freiheit in politisch-radikalen
und darwinistisch-irreligiösen Redensarten ergossen, aber so etwas verliert seinen
Reiz gar bald. Das Christliche ist doch in der Gesellschaft tiefer begründet,
als daß man für die Schulen von jedem freiern Luftzug fürchten müßte.
Allerdings dürfen nur das Christliche mit dem Kirchlichen nicht völlig gleich
setzen, wie es denn auch I)r. Wiese nicht thut.
Nachdem Wiese mit seinem Entschluß, sein Amt aufzugeben, ziemlich im
Reinen war, wurde er noch mehr in diesem Entschlüsse befestigt und über seine
Stellung zu Falk aufgeklärt durch den ersten Versuch Falls, einen Ersatz für
Wiese zu finden. Er fiel ans einen basischen Direktor (Oberschnlrat W), von
dessen unchristlicher Gesinnung (in Bezug auf Lessings Nathan) eine Stelle aus
einer Zeitschrift Zeugnis ablegen soll. Daß Falk diesen Mann dennoch nach
Berlin kommen ließ, von der Bekanntschaft mit ihm befriedigt war und erst
durch bedenkliche Aeußerungen andrer angesehener Männer von der Berufung
W.s abzusehen veranlaßt wurde, machte Wiese vollends gewiß, daß es Zeit sei,
zu gehe!,. Soviel wir den so charakterisirten Mann kennen, ist der Fall etwas
zu tragisch angesehen, aber man sieht, wie konsequent Wiese in seinem ganzen
Leben die gedeihliche Entwicklung der höhern Schulen mit der christlichen und
kirchlichen Richtung derselben verknüpft denkt.
le
er schließlich Cintra und die Herberge des Bartolomeo Okaz
erreicht hatte, hätte Camoens, als er in den Hof einritt und aus
dem offnen Bogengang im obern Geschoß von Barreto und seinem
Joao zu gleicher Zeit angerufen ward, selbst nicht sagen können.
Joao und Jayme Leiras standen neben ihm, als er vom Pferde
stieg. Ihr habt gewaltig ausgeholt, Herr, sagte der erstere, das Pferd ist in
Schweiß gebadet. Barreto kam rasch die Stufen der Treppe herab, als er sich
überzeugt hatte, daß der Ankömmling Camoens sei, den er seit längerer Zeit
nicht ohne Bangen erwartet hatte. Auch Okaz, der Wirt, trat mit brennendem
Fichtenast herzu, um den Hof zu erhellen. Barreto sah im Lichte der Fackel
das Gesicht des Freundes: Was ist Euch widerfahren. Luis, habt Ihr Meuchlcr
oder Gespenster gesehen?
.Keines von beiden, versetzte Camoens. Mein Geschäft war traurig genug,
und zum Überfluß hatte ich Tellez Alucita, des Königs Kaplan, eine Stunde
zum Begleiter. Wir dürfen morgen früh fünf Uhr die Leiche Joanas in den
Friedhof von Santa Enfemia betten.
Ich danke Euch! Wir sprechen vor dem Schlafengehen weiter davon, sagte
Barreto. Kommt herein, Luis, es sieht da drinnen kriegerisch uns, als ob der
Zug nach Marokko morgen beginnen sollte. Aber in dem Getümmel wird man
auf unser Leid weniger achten, als wenn es leer und still am Deck wäre.
Camoens atmete auf, es wäre ihm unheimlich gewesen zu dieser Stunde,
in dieser Stimmung mit dem Freunde allein zu sein; wußte er doch im Augenblick
nicht, ob er Manuel die ganze Unterredung mit Fray Tellez mitteilen sollte.
Er folgte dem Voranschreitenden durch die Thür und sah in der That den großen
Flur des Hauses von bunten Leben erfüllt. Okaz hatte Mühe, die mit ihm
eintretenden zu dem Tisch auf dem Herrensitz, welchen er für sie bewahrt hatte,
hindurchzusteueru, Camoens erkannte im Anblicken wohl den Raum, aber kaum
einen der Gäste wieder. Dort im hintern Winkel, bei der Fallthür, die zum
Keller führte, saßen allerdings einige der alten Schiffsgenossen des Wirts, aber
sie waren so dicht von allerhand abenteuernden, fremdem Seevolk umdrängt, daß
Bartolomeo ihnen kaum zu ihrem gewohnten Abendtmuk zu verhelfen vermochte.
Sonst wogte es wie ein Mohnfeld in dem weiten Schenkzimmer, wohl über
hundert rote Schiffermützen und unter ihnen weiurote Gesichter drängten sich
und neigten sich zu einander. Von einem der dicht besetzten Tische erhoben sich,
als Barreto und Camoens vorüberschritten, mehrere kräftige Männergestalten,
Senhor Manuel erkannte die Seeleute, welche ihn unmittelbar vor der ersten
Wiederbegegnung mit Camoens vom Kloster zum heiligen Kreuz bettelnd herab¬
begleitet hatten und einige Tage später im Gefolge des gcilieischen Propheten in.
Palaste eingedrungen waren. Heute hatten sie die alten Lumpen, in denen er
sie zuerst, und die Pilgerkutten, in denen er sie darnach erblickt hatte, von sich
geworfen, in neuen Schifferjacken und mit breiten grell-bunten Schärpen stellten
sie sich dar, rückten die Mützen und riefen den ritterlichen Herren einen fröhlichen
Gruß zu. Über Barretvs vergrämtes Gesicht zuckte doch ein Lächeln, und er
sagte wohlwollend: Nun, Ihr Schelme, ist Euch die Pilgerkutte zu heiß geworden,
habt Ihr Aussicht, wieder an Bord zu kommen?
Wir sind für Seiner Majestät Schiffe geworben — es wird Ernst, sagte
der älteste und längste der braunen Gesellen mit einem gewissen Stolze. Die
Pilgeret, Senhor, war ein lästiges und schlechtes Gewerbe — man zerriß sich
die letzten Schuhsohlen, und am Ende sah es aus, als ob man doch nur dem
Galgen zuliefe. Euer Wohl, Herr! wir sind eben dabei, Admiral Casalinhos
Handgeld zu vertrinken.
Laßt's Euch wohl bekommen und thut dann Eure Pflicht, erwiederte
Barreto. Wißt Ihr, wohin der Engelseher und der spanische Mönch gekommen
sind, die Euch in des Königs Saal führten?
Der Matrose verzog das Gesicht: Ich glaube wohl, daß sie glücklich dort
siud, von wo sie hergekommen. Sie haben eine kühle Heimreise gehabt, immer
bei Nacht, und soviel ich weiß, ans einem Klvsterkcller in den andern! Aber
Ihr seht, Senhor, Gott ist mächtig in dem Schwachen; obgleich der Prophet
gewarnt wurde, daß ihn: der König freies Quartier bei der heiligen Inquisition
zudenke, haben doch unsre Buß- und Schlachtlieder das ihrige gethan: der Kreuz-
zug geht bald unter Segel, und diese hier — er zeigte auf sein und seiner
Kameraden kurze Schwerter — bekommen hoffentlich gute Arbeit.
Barreto wandte sich ab und stieg ohne zu antworten nach dem Sitze und
Tische hinauf, wo Camoens sich schon niedergelassen hatte. Jetzt, im Lichte der
Lampen, die auf den Herrentischen brannten, nahm er erst wahr, wie bleich und
unruhig Camoens' Gesicht war. Er war indes zu sehr in seinen Gedanken be-
fangen, um eine Frage darnach zu thun. Ihr hört, Lins, wie es steht. Wir
werden morgen dreimal begraben: in der Frühe die kleine Joana, am Nach¬
mittage Dom Antonio, den teuern Helden, und vom Morgen bis zum Abend
unsre letzte Hoffnung, daß die unselige Unternehmung, die den König und Por¬
tugal verderben wird, noch abgewendet werden könne.
Laßt den König ziehen, Manuel! und wenn er selbst sieglos wiederkehrt,
den Maurenfürsten, den Würger, bringt er doch nicht wieder mit! erwiederte
Camoens leisen Tones, aber doch heftig.
Varreto schaute von dem Mahle, das er uoch kaum berührt hatte, auf:
Habt Ihr das aus der Unterredung mit dem Kaplan davongetragen? Ihr
vergeßt, was auf dem Spiele steht, und daß kein Portugiese, der ein Herz in
der Brust und ein Hirn hat, das ihm die Jesuiten nicht umnebelt haben, Dom
Sebastian zu diesem Schritte raten darf! Noch vom Schiffsbord müßte man
den König herabreißen, wenn man die Macht dazu hätte!'
Ich weiß nicht erst seit heute, daß Ihr so denkt! entgegnete Canoeus,
indem er den aufwallenden Unmut bezwang. Und Ihr müßt mir heute wie
immer verzeihen, wenn ich nicht völlig Eure Überzeugung teile!
Barreto aHute nicht, daß der Freund in diesem Augenblicke still bei sich
beschloß, ihm von der Begegnung und Unterredung mit Tellez Alucita nicht
mehr mitzuteilen, als was Barreto wissen mußte, von der Erregung des Zurück--
rittes aus Santa Eufemia aber nichts zu verraten. Wohl fuhr es Camoens
durch den Sinn, daß Barreto es nicht um ihn verdient habe, ihm irgend etwas
zu verschweigen, doch wozu sollte der erneute Zwist über des Königs Pläne
führen? Und was Camoens jetzt den heißen Wunsch hegen ließ, daß Dom
Sebastian fern sei» und auf lange Zeit fern verweilen möge, davon durfte
Barreto zu allerletzt erfahren. So zwang sich der Dichter, einen leichtern Ton
anzuschlagen, zwang sich, selbst der Küche der Frau Barbara Ehre anzuthun
und zwischcndrein zu vernehmen, wie Barreto über den nächsten Tag verfügt
habe. Der Fidalgo wußte bereits jetzt, daß er die Klage wider Mnlei Mu-
hamed erst nach der feierlichen Bestattung des greisen Pacheco erheben könne.
Er setzte voraus, daß Camoens alsbald nach dem Tranergepränge mit Joao
wieder nach Almvcegema zurückkehren werde. Und Camoens widersprach nicht.
So unmöglich es ihm dünkte, Cintra zu verlassen, ohne von Catarina gehört,
ohne sie gesehen zu haben, so war doch die Sehnsucht, mit sich allein zu sein,
so mächtig in ihm, daß er nur sagte: Wenn Ihr sicher seid, Manuel, daß mein
Verweilen Euch nicht nützen kann, so bleibt es bei der Abrede. Morgen Abend
reite ich —
Nicht bei Nacht, siel ihm Barreto ins Wort. Es war gewagt und thöricht,
daß ich Euch heute den Weg von Santa Eufemia her allein zurücklegen ließ,
Ihr bringt morgen die Nacht noch hier am Bord zu und brecht am Samstag
mit dem Frühlicht auf!
Durch Camoens' Seele ging der Gedanke, daß der Abend ihm vielleicht
die Möglichkeit biete, der Gräfin Pnlmeirim zu begegnen. Barreto fuhr in
seiner gütigen Weise eifrig fort: Ihr düvft mich schon um deswillen nicht zum
König begleiten, weil Ihr demnächst mit Eltern großen Werke vor ihn zu
treten habt! Er soll Eure Gabe nicht mit unmutigen Erinnerungen an die
Klage empfangen, die ich erheben muß!
Ihr sorgt zu viel um mich, zu wenig um Euch! entgegnete Camoens. Ihr
werdet mich verweichlichen, Manuel, sodaß ich keinem Sturme mehr zu wider¬
stehen vermag! Heute aber laßt uns dennoch alsbald zur Ruhe gehen, ich fühle,
daß der Tag schwer war, und das Getöse hier im Flur thut mir nicht wohl.
Und was sagt Ihr zu dem Schwarm, der hier tobt und in des Königs
Solde steht? fragte Barreto, indem sein Auge über die neben und unter ihnen
sitzenden hinglitt.
Nun, sie scheu kriegerisch und kräftig genng ans und werden den Mauren
zu schaffen machen, versetzte Camoens. Unsre Freunde vom Kreuzberg gefallen
mir so besser als in den Pilgerkutten.
Mir auch! erwiederte Barreto. Doch Hoffnung kann mir dies zusammen¬
gekehrte Schiffsvolk nicht erwecken. Man wirbt auf gut Glück zusammen, was
sich anbietet! Das Land ist zu menschenleer, um dem König eine Rüstung
geben zu können, wie er sie für das große Abenteuer bedarf.
Camoens folgte dem Blicke Varretos, entgegnete aber kein Wort. Die
kühnen Gesichter, die blitzenden Augen, die lauten kräftigen Stimmen der See¬
leute und Soldaten, welche heute die Halle bevölkerten, erfüllten seine Seele mit
besserer Zuversicht, als Barreto kund gab. Gleichwohl erschrak er über sich
selbst, wenn er bedachte, wie wenig er bis diesem Augenblick daran gedacht habe,
ob König Sebastian mit guter oder unzulänglicher Rüstung die Fahrt nach
Afrika antrete. Zerstreut und gesenkten Hauptes ging er hinter Okaz, der
voranleuchtete, und hinter Barreto drein auf dein Wege uach dem obern Geschoß
und versuchte umsonst seine Gedanken bei dem Nächsten, bei der toten Joana
und ihrem Begräbnis am andern Morgen, festzuhalten. Fort und fort irrten
sie zu Tellez Alucita zurück, oder sie zeigten ihm einen noch fernen Tag —
buntes, kriegerisches Getümmel im Hafen von Lissabon, eine Königsgaleere unter
wehenden Flaggen, die ins Meer hinausfuhr und von der Abschiedsgrüße an
die am Ufer zurückbleibenden gewinkt wurden. Unter den Zurückbleibenden sah er
sich selbst,, sah die Herzogin und Gräfin Catarina. Und so rief ihn, als sie anf
dem Bogengänge und vor den Schlafzimmern standen, den gleichen Räumen
wie bei der ersten Einkehr in diesem Hause, erst die Frage Barretos in die
Gegenwart zurück: Was habt Ihr vom Kaplan des Königs erfahren, das Euch
so sichtlich bewegt, Luis?
Das; der König uns Gräfin Catarina nicht zur Königin geben wird! ant¬
wortete er kurz.
Es mag Euch schmerzen, kann Euch indes nicht überrasche» nach allem,
was Ihr schon wußtet. Gute Nacht, Freund! Das beste Labsal in Trauer
wie in bangen Zweifeln ist eine Stunde festen Schlummers — ich wünsche ihn
Euch und mir.
Damit zog sich Barreto in sein kleines Gemach zurück, er wollte offenbar
Camoens den Anlaß nehmen, sich über das Schicksal der jungen Gräfin in
Klagen zu ergehen. Camoens atmete auf, daß er, ohne dem Freunde ein un¬
wahres Wort berichten zu müssen, die tiefe Erschütterung, in der er den Abend
verlebt hatte, in der eignen Seele verschließen konnte. Seine Hoffnung auf das
Heilmittel des Schlafes war gering, doch Barreto sollte es nicht gewahr werden,
wenn die Nacht eine schlummerlose blieb. Nach wenigen Minute» war es ihm,
als ob er die ruhigen Atemzüge Barretos höre — er lauschte noch einmal und
streckte sich still aus, um durch nichts den Schlummer des Nachbars zu stören.
Fast gemahnte es ihn wie an den Vorabend einer Schlacht, wenn er sein
Haupt auf den zusammengerollte» Mantel gelegt und mit Fassung die Mög¬
lichkeiten des kommenden Tages überdacht hatte. Und wie vor Zeiten, geschah
es wider sein Erwarten auch heute: die Erregungen des Tages, der dreifache
Ritt, hatten ihn tief ermüdet, und wenn Barreto jetzt noch wach gewesen wäre,
hätte er bald merken können, daß Camoens rasch entschlummert war.
Tief, aber uicht ruhig war sein Schlaf. Er zuckte im Tram» heftig zu¬
sammen, eben noch hatte er sich selbst erblickt unter dein riesigen Mangobaum,
am AbHange vor Dharwar, wo er sich mit Barreto und andern KriegSgcuvssen
in der Nacht vor dem Sturm der indischen Feste gelagert hatte. Das Haupt
ruhte auf einem Stein, die Mantcldecke darüber gebreitet, er fuhr plötzlich auf,
neben ihm und Barreto raschelte es, glitt kühl an seiner Hand hin, erwacht sah
er im Mondlicht die Cobra, welche zwischen den schlummernden Kriegern hindurch
geschlüpft war, pfeilschnell den Abhang hinabschießcn. Und wie er jetzt, der
Schlange nachstarrend, in die grüne Wildnis hineinblickte, die sich zum Thale
senkte, schwand mit einemmale das milde, silberne Licht, n»d die sanften Welle»
der Mangowaldung wandelten sich in ein brausendes Meer, über dem die dunkeln
Stnrmwolkeu dahin jagten. Der Träumende kämpfte in den Wogen, nach der
Küste schwimmend trug er die Handschrift seiner Lusiaden am Buse». Dau»
war es ihm, als donnere das empörte Meer die kriegerischen Oktaven des eignen
Gedichts, und dann stand er am Land und vernahm von andern Stimmen die
Verse, welche Ines de Castro und ihr Liebcsgcschick feierten und beklagten. Die
opfermutige Heldin kniete vor dem zürnenden König und ihren Henkern und bot
den Schwertern ihren Nacken. Mit einemmale wandelten sich die Züge des
Traumbildes deutlich in diejenigen Katarinas, statt König Alfonsos stand Dom
Sebastian vor der Schönen, und stieß ihr, die flehend die Hände gegen ihn erhob,
das eigne Schwert in den Busen, es war ihm, als sei er in eine Säule durch¬
sichtigen Krhstalls gebannt, ans der ohne eine Regung alles schauen müsse. Dann
mußte er die steinerne Fessel gesprengt haben, er lag frei in einem engen, halb
dunkeln Raume, von dein er nicht wußte, ob es eine Falle oder eine der schattigen
Lauben von Almveegema sei. Und jetzt schwebte eine Gestalt auf den still da-
liegenden zu, er schlug die Augen ans, blickte der Nahenden immer gespannter
entgegen, es waren die Züge Catarinas, er versuchte sich emporzurichten, sie
aber hatte sich schon zu ihm herabgebeugt, er fühlte ihren Kuß auf seiner Stirn,
ihr Mund war rot und heiß, der seine aber bleich und kalt, ein schmerzlicher
Zorn wallte in ihm ans, daß er der Heißersehnten so regungslos, so kalt be¬
gegne, es zuckte wild durch seinen ganzen Leib, als gälte es immer noch, eine
starre Rinde zu sprengen. Und indem er zuckte, hob er in Wahrheit das Haupt
vom Kissen, und das erste Morgengrau fiel von dem Bogengänge draußen ans die
Matten seines Schlafgemachs und auf sein Lager. Von den wirren Bildern
des Traumes schaute er das erste und das letzte: die Schlange, welche plötzlich
zwischen ihm und Barreto hinglitt, eine alte wirkliche Erinnerung, und Catarina
Palmcirim, die Lebende, Blühende, welche ihn umfaßte und küßte, jetzt im Wachen
am deutlichsten. Er entsann sich, daß er so Schmer und so lebhaft immer nur
vor entscheidenden Tagen seines Lebens geträumt habe. Wie er sich vom Lager
erhob und die Stunden des heutigen Tages im voraus überdachte, dünkte es
ihm nicht unmöglich, daß eben wieder einer dieser Tage aufgedämmert sei. Er
fließ die Thür nach dem Gange auf, und aus dem Hofe kam schon Joao, der
in der Nähe der Pferde geschlafen hatte, um die Herren zu wecken.
Und doch schienen ihn Traum und Vorahnung zu täuschen; der Tag brachte
kein Erlebnis, das Camoens so tief bewegte, als gestern die erschütternde Kunde
vom Morde Joanas, vom Hinscheiden des greise» Marschalls Antonio Pacheco,
und als am Abend der Ritt nach Santa Eufemia und vou dort nach Cintm.
Im Morgenrot betteten sie droben in dem Hochthal der Mutter aller Gnaden
Ivana, die Hirtin, in ihren schmucklosen Sarg, auf deu Schultern Peros und
seiner Kameraden ward derselbe deu Weg hinab und die Straße entlang getragen,
welche Camoens gestern zum großen Teile an der Seite von Tellez Alucita
zurückgelegt hatte. Barreto und Camoens folgten zu Pferde dem kleinen Trauer¬
zuge, dem in den ersten Morgenstunden beinahe niemand begegnete. Kurz vor
dem Kloster überließen sie die Rosse der Sorgfalt Joaos und durchschritten,
hinter dem Sarge, die schmale Pforte des Friedhofes, welche weit geöffnet stand.
Die Frtthsonne schien hell, und die dienenden Schwestern des Klosters, die auf
Befehl der Äbtissin dem Begräbnis Joanas beiwohnten, hatten ganze Körbe
voll Spätblüten gepflückt, um den Sarg des armen Kindes damit zu über¬
schütten. Der alte Nonnenpriester Galvez freilich schwang so mechanisch sein
Weihrauchfaß und murmelte so eintönig anteilslos seine Gebete, daß Barreto
und Camoens sich fast entrüstet von ihm abwandten und ihre Gebete still für
sich sprachen. Der ehrliche Schmerz des Waldhüters, die Teilnahme seiner
Genossen und die Thränen in den Augen ewiger Laienschwester» versöhnte die
Männer einigermaßen? im Hinweggehen versagte sich Barrcto aber doch nicht
zu murmeln: Wäre es nicht schöner gewesen, wenn wir die Ziegenhirtin dort
oben, dicht bei ihrer Hütte, begraben hätten, wo das hohe Gras über ihren
kleinen Hügel wüchse und nur der Bursch, der Pero, und in Jahren einer von
uns hinkäme, um der guten Kleinen zu gedenken? Camoens nickte dem Freunde
beistimmend zu, allein seine Gedanken waren schon nicht mehr bei Joana und
ihrem Grabe. Er hulde an einem Fenster des Klosterflügcls, der an den Friedhof
stieß, ein bleiches Gesicht mit dunkeln Augen bemerkt, und König Sebastians
Kaplnu wohl erkannt. Barretv hatte denselben zum Glück nicht gesehen und
deutete auf dem Zurückritt nach Cintra die düstere Schweigsamkeit des Freundes
lediglich auf die Trauer um den Tod der jungen Hirtin.
Auch der Nachmittag, an dem sich beide Freunde in Okaz' Herberge stattlich
rüsteten, um am Trauergepränge für den Marschall des Christusordens teil¬
nehmen zu können, brachte nichts von dem Unverhofften, Plötzlichen, dem Camoens
in träumerischer Befangenheit cntgcgcnharrte. Wohl war der Unterschied und
der Gegensatz zwischen Morgen und Nachmittag groß, statt des stillen, grünen
Hochthals und des einsam liegenden Klosters mit seinem Friedhofe die Um¬
gebungen des Schlosses und die Straßen Cintras, beide vom wildesten Ge¬
tümmel und drängenden Massen erfüllt, statt der dürftigen Bestattung der
Glanz und Pomp einer großen Trauerfeier. Doch Camoens hatte ja gestern
genug von dem Gepränge vernommen, mit welchem die Leiche des greisen
Marschalls von dem kleinen Schlosse herab und zu der Kapelle auf der Straße
uach Lissabon geleitet werden sollte, an der die Ritter des Christusordens ihr
gcschiednes Oberhaupt erwarten und dasselbe nach ihrer Begräbniskirche in der
Hauptstadt überführen würden. Er hatte im voraus gewußt und mit Barreto
besprochen, daß der König und sein Hofstaat dem Sarge Pachecos bis zu der
Übergabestelle folgen würden, hatte sich selbst vergewissert, wo sein Gastfreund
und wo er selbst in dem Zuge ihren Platz finden könnten. Und nun er in der
Masse der Leidtragenden untertauchte und seine Stelle in einer Gruppe von
Edelleuten fand, die gleich ihm erst kürzlich um Hofe vorgestellt und dennoch
alle viel jünger waren als er selbst, da fühlte er vollends, daß Herz und Sinn
nicht bei diesem feierlichen Prunk seien. (Fortsetzung folgt,)
Die Leipziger Messen sind in schnellem Rückgänge begriffen. Dus ist
zwar nichts neues, man weiß es schon seit Jahren, aber noch nie ist es so auf¬
fällig hervorgetreten wie bei der diesmaligen. Ostermesse. Wo früher in der ersten
Meßwoche, der sogenannten EngroSlvochc, ganze Straßen, Haus für Haus, alle
Stockwerke, alle Läden, alle Hausfluren von Mcßfremden in Anspruch genommen
waren, merkt mau heute kaum eine Veränderung des gewöhnlichen Geschäftstreibcns.
Zwei oder drei Tage ist etwas lebhafterer Verkehr in den Straßen, der Leipziger
ist dann genötigt, auf dein Straßenpflaster neben den Droschken herzulaufen, weil
die Herren Meßfremden das Privilegium für sich in Anspruch nehmen, ihre Ge¬
schäfte vor den Ladenthüren auf dem Bürgersteig zu erledigen, wo sie von früh
bis abends rauchend und schwndronirend herumstehen; aber nicht die Hälfte der
Läden mehr wird von Meßfremdcn begehrt, ans der Hainstraße, der Katharinen-
straße, dein Brühl, der Fleischergasse, wo früher in der Engrvswvche ein geradezu
lebensgefährliches Gewühl herrschte, ist jetzt kaum der dritte oder vierte Laden mehr
an Mcßfremde vermietet, in allen übrigen bleiben auch während der Messe die
gewöhnlichen Ladeninhabcr. Denselben Rückgang zeigen natürlich auch die Wvh-
nnngsvcrmietnngen. Früher mieteten vielfach kleine Handwerker große, geräumige
Wohnungen in der innern, alten Stadt und faßen dort das ganze Jahr über fast
mietfrei, weil allein die Meßvermietungen ihnen fast den Mietzins für das ganze
Jahr wieder einbrachten; fie hatten während der Messe kaum ein Stübchen für
sich übrig, sodaß der Volksmund wohl sagte: der richtige Leipziger wohnt während
der Messe in seinem Kleiderschranke und schläft in seiner Kommode. Daran ist
heute nicht mehr zu denken. Hunderte von früheren Meßwvhnnngen finden jetzt
keine Abnehmer mehr, und so find selbst die Mietpreise der Wohnungen in der
innern Stadt zum Teil zurückgegangen. Weit stiller aber noch als in der Engros-
wvche ist es in den drei Wochen geworden, die auf die Engroswoche folgen und
in denen der Kleinhandel in den Buden beginnt. Sie sind zu einem wahrhaft
tristen, langweiligen Jahrmarkt geworden, dem man gar keine größere Wohlthat
erweisen könnte, als wenn man ihm zwei Drittel seiner Dauer abschnitte, um den
dürftigen, jetzt durch drei Wochen sich hinschleppenden Verkehr in eine Woche
zusammenzudrängen.
Nur in einem Punkte sind die Leipziger Messen sich gleich geblieben, darin
nämlich, daß die unangenehme Zugabe derselben, die Schaubndenmesse mit dem
ganzen Greuel ihrer leiernden Carvussels, ihrer hauswurstigen Namschbudcnaus-
schreicr, ihrer duftenden Wurstel-, Kaffee- und Knchenbudeu, ihrer staubigen, von
nmhergewehtcn Papierfetzen umringten Pfefferkuchen- und Apfelsincnständc, sich
genan noch auf derselben Stelle befindet wie vor zweihundert Jahren und darüber,
nämlich „vor dem Petersthvr," nur mit dem Unterschiede, daß dieser Platz damals
eben draußen vor der Stadtmauer lag und vou den Leuten aufgesucht werden
mußte — „Um das Rhinozeros zu sehn, beschloß ich nuszngehn, ich ging vor's
Thor mit meinem halben Gulden," schrieb Gellert 1747 —, während er heute
in der Stadt liegt und es laufende von Menschen giebt, die auf ihrem Bernfs-
oder Geschäftswege täglich viermal mitten durch diese Nasen-, Ohren- und Augen¬
weide hindurch oder dicht dabei vorüber müssen, sie mögen wollen oder nicht, ganz
zu schweigen von den beklagenswerten „Adjazenten" des betreffenden „Trakts."
Das unangenehmste bei diesem ganzen Treiben ist wohl die Unsauberkeit, die auf den
Straße« und Plätzen entsteht. Es scheint zwar überhaupt zu den berechtigten Eigentüm¬
lichkeiten der Buchhändlcrstadt zu gehören, daß sie die billigste Makulatur erzeugt, und
daß infolgedessen das ganze Jahr über, selbst an den Sonntagen, trotz eifrigster Straßen-
reinignng, auf allen Straßen und Plätzen, ans den Promcnadcnwegen, auf den Rasen¬
plätzen, unter Büschen und Bänken die Papierfetzen umherliegen. Was man aber
während der Messe in diesem Punkte zu sehen bekommt, spottet jeder Beschreilmng.
Ans den Straßen und Wege» am Roß- und Königsplatze kaun man schon wenige
Stunden nach dem Kehren wieder förmlich in Papierfetzen (und neuerdings auch
Apfelsinenschalen) waten. Der größte Teil des Publikums sieht das garnicht, so
sind die Augen durch die jahrelange Gewohnheit dagegen abgestumpft. Die Messe
begünstigt diesen Unfug ganz entschieden. Aus der Messe aber schleppt er sich
dann das ganze Jahr über fort. Wenn die Leipziger Schaubudcnmesse, die ihres¬
gleichen nur noch in der berüchtigten Dresdner Vogelwiese und in jenen Ansamm¬
lungen hat, wie sie auf kleinstädtischen Jahrmärkten und Vogelschießen sich zu bilden
pflegen, heute auf einen ähnlichen Platz im Verhältnis zur Lage und Ausdehnung
der Stadt verwiesen werden sollte, wie vor zweihundert, ja selbst noch vor hundert
Jahren, so müßte sie hinausgelegt werden ans die Felder zwischen Leipzig und
Connewitz, da wo 1863 das Turnfest, oder auf die Rennwiese, da wo 1834 das
deutsche Buudesschießen abgehalten wurde. Dahin gehört sie heute — und hiervon
ist auch der Zirkus mit seinem Stalldnft nicht aufzunehmen, dein zuliebe viermal
im Jahre das Erdreich des KönigSplcches aufgewühlt und wieder zugewühlt wird —,
dort mag sie aufsuchen, wer Lust und Zeit hat. Aber aus der Stadt sollte doch
dieser klägliche und widerwärtige Rest einer längst vergangenen Zeit je eher, je
lieber beseitigt werden.
Wir hoffen das Beste von der erfreulichen Entwicklung, die das ganze Stadt¬
bild Leipzigs im Laufe des letzten Jahrzehnts auf der Bahn der Ordnung und
Schönheit geuoiumcn hat und noch immer nimmt. Große Summen sind auf¬
gewandt worden, um die lange vernachlässigten Straßenznge der Stadt in eine»
anständigen Zustand zu setzen, neue Prvmcnadenanlngen sind in Menge geschaffen,
neue Baumreihen angepflanzt worden, die öffentlichen Denkmäler der Stadt erfreuen
sich einer Pflege, die manche andre Stadt sich zum Muster nehmen könnte, zahlreiche
stattliche Neubauten sind entstanden und haben häßliche oder unscheinbare Häuser
ans alter Zeit verdrängt, und was das wichtigste ist, der Angustnsplatz — der
Stolz und die Freude Leipzigs — ist im Begriff, nach einer jahrzehntelangen Pe¬
riode des Werdens jetzt vielleicht auf Jahrhunderte hinaus seine abschließende Ge¬
stalt zu erhalten: das ehemals so kahle, nüchterne Postgebäude hat nachträglich ein
reicheres, vornehmeres Gewand bekommen, das städtische Museum hat einen gro߬
artigen Erweiterungsbau und gleichzeitig eine glänzende Umgestaltung seiner Fassade
erfahren, im August, spätestens im September wird vor dem Museum ein Pracht¬
voller Monumentalbrunnen zum erstenmale seine Wasser sprudeln lassen, und übers
Jahr am Sedantage wird vielleicht, wenn es gelingt, die in der Platzfrage noch
widerstreitenden Stimmen in letzter Stunde zu einigen, diesem Brunnen gegenüber,
vor dem Theater, das Siegesdenkmal Leipzigs sich erheben, nächst dem auf dem
Niederwalde Wohl das herrlichste Siegesdenkmnl ganz Deutschlands. Auf diesem
Augustnsplatze, dem Angustusplatze des Jahres 1837, zwölf Wochen lang im Jahre
Meßbnden mit der ganzen daran hängenden unappetitlichen Wirtschaft, wie man
sie eben jetzt wieder beobachten kann? Es ist undenkbar, ganz undenkbar.
Ein deutsches Lebensbild aus dem Zeitalter der französischen
Revolution. Unter diesem Titel hat Adolf Wohlwill eine Biographie Georg
Kerners veröffentlicht (Hamburg, Leop. Voß, 1886). Die eignen schriftstellerischen
Versuche des am 7. April 1812 in Hamburg, fern von der geliebten schwäbischen
Heimat, gestorbenen Arztes hätten sein Andenken bei der Nachwelt nicht bewahrt,
aber Justinus Karner, der Freund der Seherin von Prevorst und gastfreie Sänger
von Weinsberg, hat durch sein berühmtes Bilderbuch aus seiner Knabenzeit dafür
gesorgt, auch das Bild seines weniger berühmten älteren Bruders in lebhafter
Erinnerung zu erhalten. Auf Grundlage der Schilderung im Bilderbuche hat
jüngst Wilhelm Lang im ersten seiner Hefte „Von und aus Schwaben" (Stutt¬
gart, 1885) „aus Georg Keruers Sturm- und Wanderjahren" erzählt. Ihm wie
andern scheint es jedoch entgangen zu sein, daß Justinus Kerner nicht eben immer
als strenger Biograph, sondern als Dichter erzählt, der sich bei seiner Darstellung,
ähnlich wie Goethe in Dichtung und Wahrheit, vielfach von künstlerischen Rücksichten
leiten läßt. Wohlwill dagegen ist als vorsichtiger Kritiker an des Dichters Dar¬
stellung herangetreten und hat, gestützt ans zahlreiche Familienpapiere, Briefe und
archivalische Mitteilungen, eine historisch getreue Darstellung von Georg Kerners
Lebensgang gegeben. In einem umfangreichen Anhange teilt er Briefe und andres
Material mit, welches die Grundlage seiner Biographie bildet.
Georg Kerner, eine grundehrliche, rein idealistische Natur, erscheint als ein
typischer Vertreter der in Rousseaus Lehren aufgewachsenen, für Freiheit und
Weltbürgertum begeisterten deutschen Jugend der achtziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts. Gleich Schiller in der hohen Karlsschnle aufgewachsen, deren Wesen
er in einen: auch für deu Schiller-Biographen höchst wertvollen Fragmente zu
charakterisiren sucht, begeisterte sich der Knabe und Jüngling eben unter dein
despotischen Drucke für einen abstrakten Freiheitsbegriff, den er in der Folge, als
er in Straßburg seine medizinischen Studien fortsetzen sollte, in der französischen
Konstitution von 178!) verwirklicht glaubte. Gleich Forster und manchen andern
zog es auch deu jungen Kerncr (geb. 1770) nach Paris. Er schloß sich der Gironde
an und kämpfte an dem verhängnisvollen Augusttage für seineu konstitutionellen
König. Trotz aller Erfahrungen glaubte er uach dem Sturze Robespierres und
dann von neuem uach Bonapartes erstem Staatsstreiche an deu Sieg seiner Frei-
heitsideen. Er leistete der französischen Regierung manche Dienste, begleitete dann
Reinhard, deu spätern Freund Goethes, als Sekretär auf seinen verschiednen
Gesandtschaften in Nvrddeutschlnnd, Italien, der Schweiz. Es war ihm aber un¬
möglich, gleich Reinhard sich zum Franzosen umzubilden. Er wünschte den Franzosen
deu Sieg über die Deutschen, nicht etwa aus Freundschaft für die Franzosen, son¬
dern in der Hoffnung, daß eine im Gefolge dieser Siege in Deutschland ausbrechende
revolutionäre Bewegung sein Freiheitsideal verwirklichen werde. Nicht die Fran¬
zosen, nur die Deutschen hielt er dazu fähig, wären die Deutschen erst frei, so
würden sie die Lehrmeister ihrer Freiheit schon zurückweisen können. Es ist selbst¬
verständlich, daß Karner bei dieser Gesinnung nicht der Regierung des ersten Konsuls
sich anschließen mochte. Schon während der ägyptischen Expedition hatte er den
Enthusiasmus für Bonnparte nicht mehr geteilt. 1800 faßte er nach einer Unter¬
redung mit dem ersten Konsul sein Urteil in die Worte zusammen: „Großer, von
Europa und der Nachwelt besuugeuer Held! Auch du bist worden nichts und
wirst werden nichts, als ein Mensch, der nicht gethan hat, was er hätte thun
können, und nicht geworden ist, was er der ganzen Welt hätte werden können."
Ende 1801 verließ Kerner den französischen Dienst und begann, nachdem er in
Kopenhagen seine medizinischen Kenntnisse von neuem befestigt hatte, in Hamburg
eine ausgedehnte ärztliche Wirksamkeit zu entfalten. Nach der Schlacht von Jena
suchte er seine alten Beziehungen zu französische» Machthabern zu Gunsten der
Hansestädte zu verwerten. Strnlsund verdankte wahrscheinlich nnr seinem Ein¬
greifen die Abwendung der Gefahr einer allgemeinen Plünderung. In kleinem
Kreise und in seinen, ärztlichen Berufe wirkte Kerner bis in seine letzten Tage
mit aufopferndsten Eifer fort, allein im Innern fühlte er sich durch das Fehl-
schlagen seiner politischen Jdcnle gebrochen. Er erkannte seinen Irrtum, daß er
von Frankreich Heil für sein deutsches Vaterland gehofft hatte. Der Despotismus
der kleinen deutschen Fürsten, der ihn zum Anhänger der französischen Revolution
gemacht hatte, trieb gerade unter Napoleons Schuh seine üppigsten Blüten. Kerner
glaubte nicht an den Bestand dieser Herrschaft der Lüge; er feierte Schilt als den
neuen God von Berlichingen. Selbst noch eine Wendung zum Bessern zu erleben,
verzweifelte er. Ein Jahr nach seinem Tode trat sie ein.
Wir müssen Georg Keruers Leben ein tragisches nennen. Voll starker, edler
Absichten, reinsten Willens, politischen Eifers, der aber reifer Einsicht gänzlich ent¬
behrte, müssen wir ihn als ein Opfer der verrotteten Verhältnisse des alten Reiches
beklagen, die keinen nationalen Sinn aufkomme» ließen und gerade die Wohlmeinenden
in falsche Bahnen treiben mußten. Und so verdient er es wohl, daß zur Belehrung
und Mahnung sein Leben und Schicksal einem unter glücklicheren Zeichen auf-
strebenden Geschlechte in Erinnerung gebracht wird.
Eine anmutige und unterhaltende Liedersnmmlung, die es verdient, ein warmes,
empfehlendes Wort mit auf den Weg zu bekommen. Der Uebersehcr hat mit vielem
Takt und Geschick aus den zahlreichen spanischen Liedern, welche im Volke, zumeist
auch mit Musik- und Tanzbegleitung, gesungen werden, diejenigen herausgesucht,
welche für das Land charakteristisch siud. Es sind in weit überwiegender Anzahl
vierzeilige Strophen, die ein Ganzes für sich bilden! Empfindnngsfragmente oder,
noch häufiger, Epigramme, die sehr lebhaft an die „Schuaderhiipfel" unsrer Alpen-
bewohner erinnern, z. B.:
Wie der Matador den Stier
Mit dem Mantel lenkt beim Fechten,
Also lenkt die Fran den Mann
Mit dem Fächer in der Rechten.
Diese „Copia" ist aus der Abteilung der „Joeosas"; die andern Abteilungen
find die der „Amorosas," „Tristes," „Senteneiosas," „Religiosas," „Figums," und
man kann diese Liederchen nicht besser charakterisiren, als es der Ueberseher in
dem schönen Vorwort „Ans der Ferne" gethan hat:
Der Gestalten Reiz zwar fehlt,
Doch ein jedes ist beseelt
Von des Volkes Lust und Schmerzen...
Einige sind leicht wie Luft,
Süß wie Südens Blumenduft,
Schmetterlinge hell und bunt
Flattern sie von Mund zu Mund;
Andre treiben Scherz und Possen,
Gleichen kleinen Wurfgeschossen,
Die die Haut wohl manchmal ritzen,Aber mehr als treffen, blitzen;
Die, wie fernes Glockenläuten,
Sind gemacht für Sinn'ges Denken,
Flüchtend aus der lauten Menge,
Hauchend leise Grabgcsänge.
Doch ob heiter oder trübe,
Ueberall ein Herz volle Liebe,
Ueberall ein Geist voll Klarheit
Und ein Wort voll schlichter Wahrheit.
Die Uebersetzung dieser Gedichte, unter denen sich mich viele größere befinden, mich
eine, uns nicht gerade imponirende Hymne „an die Sonne," muß als vortreff¬
lich bezeichnet werden; dann es bedürfte eines wahlverwandten Geistes, um die
schwierige Form des schlagenden Witzes ebenso Pointirt in deutscher Sprache wieder¬
zugeben, und dies, muß man sagen, ist dem Autor meist gelungen. Auch seine
eiguen Dichtungen, die ganz im Geiste der fremden Poesie gehalten sind, schließen
sich den Uebersetzungen würdig an: sie bringen „der Gestalten Reiz," welcher den
Originalgedichten fehlt. Am Schlüsse sind noch einige Notenblätter angehängt, welche
die verbreitetsten Melodien enthalten, für den Liebhaber eine willkommene Beigabe.
Jeder halbwegs Literaturkundige wird die Beobachtung gemacht haben, daß
von sehr vielen Romane» und Novellen, welche seiner Fron oder seiner Tochter
von dem diensteifrigen Leihbibliothekar mit wärmster Empfehlung in die Hände
gespielt werden, in ernsten liternrischen Blättern selten oder garnicht die Rede ist.
Und es waren durchaus nicht Bücher, welche die Damen etwa nicht hätten lesen
dürfen, auch haben die Damen sich schließlich garnicht übel über die Lektüre ge¬
äußert. Warum also die Gleichgiltigkeit der Kritik? Darum, weil die Kritik einen
andern Standpunkt einnimmt als die lescdnrstige Menge, darum ferner, weil es
in der Literatur eine dem Handwerk in den bildenden Künsten ganz analoge, nur
leider minder wertvolle Produktion giebt. Wie die Schaufenster unsrer Kaufleute
mit allerlei Waaren angefüllt sind, die wirklich recht sauber gemacht sind und
schweres Geld kosten und auch solches ihrem Erzeuger eintragen, den ernsten Kunst-
freund aber, der in ihnen die nach alten Mustern hundert- und tausendmal wieder¬
holte Schablone wiedererkennt, sehr kühl lassen, so ist es auch mit jener Unzahl
von Werken in der Leihbibliothek. Mau sollte neue Bücher dieser Art nur auch
direkt dorthin senden, wohin sie gehören, und keinen Anspruch darauf erheben, von
der ernsten Kritik gewürdigt zu werden. Seltsam, daß wir diese Bemerkung gerade
bei deu Novellen eines Mannes machen müssen, den wir in hie und da gesehenen
kritischen Aufsätzen selbst als einen feinsinnigen Schriftsteller haben kennen lernen.
Aber als Dichter gehört er zu den Schnblonenarbcitern, nur daß wir ihm noch
das Kompliment machen müssen, daß er diese Schablone mit besondrer Fachkenntnis
behandelt. Matt sieht es seineu Novellen von weitem an, daß sie für die belle¬
tristische Beilage eines Damcnmodejournals geschrieben sind. Alle Ingredienzien
der höhern Töchterschule, das ganze schöngeistige Parfüm der lieben Frauen, die
sich neben dem Studium des neuesten Tailleschnittes noch Poetisch unterhalten wollen,
sind in diesen Novellen enthalten: ästhetisirende Reflexionen, Zitate aus allen mög¬
lichen und ziemlich weit entlegnen Dichtern, wobei noch etwas mit Gelehrsamkeit
kokettirt wird, ein weiblicher Trotzkopf und ein biederer Mann im Mittelpunkt
eiuer Handlung, die eine löbliche sittliche Tendenz verfolgt n. f. w. Das wird doch
ein so geschmackvoller Kritiker wie Ziemssen selbst nicht im Ernste für Poesie ge¬
halten wissen wollen?
is d
er preußische Staat diejenigen Landesteile des ehemaligen
Königreichs Polen erwarb, welche jetzt die Provinz Pose» bilden,
so geschah dies wahrlich nicht in der Erwartung, daß dieser Er¬
werb für ihn ein sonderlicher Zuwachs von Staatseinnahmen
oder an materiellen »ut geistigen Hilfsmitteln bedeute; vielmehr
erwarb man die polnischen Landesteile in der vollen, klaren Erkenntnis der
strategischen Notwendigkeit, die beiden östlichen Flügel des Staatsgebietes,
Preußen und Schlesien, durch jene Neuerwerbung räumlich zu verbinden.
Die preußische Staatsregierung war sich bei der Übernahme jenes Landes¬
teiles der bodenlosen wirtschaftlichen Verwahrlosung desselben und der ihr hieraus
erwachsenden Kulturabgaben Wohl bewußt; die amtlichen Berichte der mit der
Reorganisation des sogenannten Netzcbruches und des jetzt zur Provinz Posen
gehörigen Teils von Südpreußen beauftragten Beamten liefern hierfür den ur¬
kundlichen Beweis.
Die Regierung übernahm aber die ihr gestellte Aufgabe in der freudigen
Hoffnung, daß es ihrer Verwaltung durch Gerechtigkeit, Sachlichkeit und Pflicht¬
treue gelingen werde, uicht nur die neue Provinz den übrigen Staatsgebieten
materiell ebenbürtig zu machen, sondern auch die zuverlässige Zuneigung der
ihr durch Nationalität und Sprache fremden Unterthanen zu erwerben. Diese
Hoffnung schien sich mich bis zu den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts zu
erfüllen. Zahlreiche unternehmungslustige Landwirte, Gewerbetreibende und
Handwerker strömten aus den deutsche» Provinzen des Staates nach der
Provinz Posen. Das dnrch die innern Wirren der polnischen Zeit auch wirt¬
schaftlich schwer heimgesuchte Land binde sichtbar auf, und es gestaltete sich zwischen
den deutschen Einwanderern und den polnischen Einfassen ein durchaus freund¬
liches Verhältnis; die neuen Unterthanen erkannten die Segnungen der preußischen
Verwaltung dankbar und unverhohlen an. Eigentümlicherweise verschlechterte sich
aber dieser Zustand allmählich in demselben Verhältnisse, in dem sich das Land
und damit auch die polnische Gesellschaft durch die Thätigkeit der preußischen
Verwaltung und die Intelligenz der deutschen Einwandrer erholte und hob.
Es ging den adlichen polnischen Grundbesitzern ähnlich wie den Banstellcn-
besitzern großer, sich rapid entwickelnder Städte, die ihr vvrstädtischcs Land
brach und wüst liegen lassen, ohne Saat und ohne Ernte, eines Tages indes
durch Verkauf der wüsten Stelle» als reiche Leute erstehen, weil eine umsichtige
Verwaltung neue Straßen und Wege gebaut hat, und kluge, spekulative Nach¬
barn Fabriken und Häuser an ihren Grenzen errichtet haben.
Wie der unthätige Baustcllenbesitzer, so wurde auch der materiell erschöpfte
polnische Grundbesitz ohne eigne Anstrengung und Thätigkeit wohlhabend, ja
reich, weil die Arbeit der Staatsbehörden und seiner deutschen Nachbarn
den allgemeinen Bodenwert der Provinz hob. Mit dieser Verbesserung der
materiellen Verhältnisse des polnischen Adels erwachte in ihm aber auch die
schlummernde nationale Idee, seine wachsende Abneigung gegen die deutsche Ver¬
waltung und deutsches Wesen ging hiermit Hand in Hand, er fing an, sich
hermetisch abzuschließen gegen allen deutschen Verkehr; durch absolute Jsolirung
hoffte die polnische Gesellschaft die „nationale Idee" gegenüber dem zunehmenden
Einflüsse des Deutschtums zu retten.
In den Jahren 1846, 1848 und 1863 verdichteten sich die polnischen
Hoffnungen zu revolutionären Thaten, die für das Polentum zunächst nur den
einen Erfolg hatten, daß zahlreiche adliche Familien durch die enormen natio¬
nalen Opfer Haus und Hof verloren und in ihre Stelle neue deutsche Ein¬
wandrer einrückten. Die polnischen Erhebungen zogen thatsächlich eine Förderung
des Deutschtums nach sich. Gleichzeitig beginnt aber auch von der verfehlten
Erhebung des Jahres 1863 ab eine vollständige innere Wandlung der polnischen
Gesellschaft; um die wirtschaftlichen Wunden zu heilen, legte sich dieselbe ans
gesellschaftlichen Gebiete ein Maß der Beschränkung auf, welches von ihren bis¬
herigen Lebensgewohnheiten aufs schärfste abstach. Man zog sich aus den
europäischen Großstädten und den luxuriösen Bädern zurück, man wurde sparsam
und häuslich oorckni, imwram göuvris. Die polnischen Gutsbesitzer nahmen mit
Vorliebe Deutsche als Wirtschaftsbccimte und Pächter, und wetteiferten mit ihren
deutschen Nachbarn in der rationellen Bewirtschaftung ihres Besitzes, wobei
thuen zu statten kam, daß sie den genügsamen und im allgemeinen ausgezeich¬
neten polnischen Arbeiter billiger zu gewinnen und besser auszunutzen wußten,
als der ihnen innerlich fremd bleibende deutsche Gutsherr. Der Verkauf pol¬
nischer Güter wurde immer seltener, man klammerte sich an die Scholle an, um
das Vaterland nicht mvrgenweise zu verlieren. Die starke deutsche Einwanderung,
Welche bisher durch günstige Kaufgelegenheiten, namentlich von Waldgütern, an¬
gelockt worden war, wurde schwächer.
Angeregt durch deu gewerblichen Aufschwung der zweiten Hälfte der
sechziger Jahre richtete die politische Leitung des Polentums anch ihr Augen¬
merk ans die Entwicklung polnischer Industrie mit polnischen Handels, es ent¬
standen zahlreiche polnische Firmen, nicht nur in der Provinzialhanptstadt Posen,
sondern auch in den übrigen Städten der Provinz; die Leiter derselben waren
zum Teil Söhne verarmter Grundbesitzer. Je mehr sich Industrie und Handel
in polnischen Händen entwickelte, desto mehr lösten sich auch die Geschäftsver¬
bindungen des polnischen Publikums mit den deutschen Firmen. Es galt als
nationale Pflicht, den polnischen Landsmann geschäftlich zu unterstützen; in letzter
Zeit hat sich in Galizien sogar ein von den polnischen Zeitungen der Provinz
Posen lebhaft empfohlener sogenannter Staszhc-Verein gebildet, dessen aus¬
gesprochenes Ziel es ist, alle Lebensbedürfnisse nur bei Polen zu kaufen. Durch
diese Unterstützung bildete sich in der That in auffallend kurzer Zeit ein leistungs¬
fähiger polnischer Handelsstand aus. In gleichem Verhältnis erlitten die deutschen
Firmen Schaden, angesehene deutsche Kaufleute und Genierbetreibende, die ihre
polnischen Geschäftsverbindungen sich erhalten wollten, gingen in ihrer Rücksicht
soweit, auf die Ausübung ihres politischen Wahlrechts stillschweigend zu ver¬
zichten; die Listen der deutschen Wahlmänner pflegen deshalb noch jetzt vorzugs¬
weise die Namen von Beamten aufzuweisen.
Dank der Hebung des polnischen Bauern- und Kleinbürgerstandes auf
wirtschaftlichem Gebiete und Dank den verbesserten Schuleinrichtungen der
preußischen Verwaltung stieg aber auch die Intelligenz und Wohlhabenheit dieser
untern Klassen; es bildete sich aus ihnen, wieder unterstützt durch die gesamte
polnische Gesellschaft, ein Handwerkerstand aus, der die deutschen Handwerker,
die geschichtlich schon von polnischen Zeiten her den Arbeitsmarkt in den Städten
beherrschten, allmählich zurückdrängten; es siel hierbei die außerordentliche Hand-
geschicklichkeit ins Gewicht, die den Polen der niedern Stände eigen ist, und die sie
zu hervorragenden Leistungen auf dem Gebiete des Handwerks befähigen würde,
wenn sie im gleichen Maße sorgfältig, fleißig und zuverlüssiig wären. Mit der
steigenden Wohlhabenheit und Intelligenz wurden jene Klassen aber anch für
die polnische Idee allmählich gewonnen.
Endlich wandten sich die Mitglieder des verarmten Adels und des heraus-
gekommenen Bürger- und Bauernstandes, versehen mit den reichen Mitteln des
„Vereins zur Unterstützung der lernenden Jngend," anch den wissenschaftlichen
Berufszweigen zu; die zahlreiche Begründung höherer Unterrichtsanstalten durch
den Staat leistete diesem Streben Vorschub. So bildeten sich polnische Anwälte,
Ärzte und Techniker, welche ihre praktische Thätigkeit stets mit dem Monopol
der polnischen Kundschaft begannen.
Aus den polnischen Kaufleuten und Gewerbetreibenden einerseits, den
polnischen Anwälten, Ärzten und Technikern anderseits erwuchs ein polnischer
Mittelstand, der sich zwar die Freiheit gestattet, liberale Ideen gegenüber dein
Polnischen Adel und Klerus in der Presse und in öffentliche» Versammlungen
platonisch zu vertreten, aber überall da, wo es gilt, Front zu machen gegen
die preußische Staatsregierung und die deutsche Bevölkerung der Provinz, ein
festes und zuverlässiges Zentrum zwischen den beiden Flügeln der polnischen
Schlachtordnung, dem meist ultramvntnnen blau-Weißen Adel und dem den
Priestern der römisch-tntholischeu Kirche blind ergebner polnischen Bauernstande
bildet.
Diese so gegliederte politische Gesellschaft, die sich erst allmählich entwickelt hat
unter dem Schutze bürgerlicher Freiheit preußischer Gesetzgebung, ist noch fester zu¬
sammengeschweißt worden durch den vierzehnjährigen Kulturkampf, deu der polnische
Klerus von den ersten leisen Anfängen seines Entstehens an als polnisch-nationale
Angelegenheit behandelte, und so zu einem Compclle auch für diejenigen Lands-
leute benutzte, die entweder der katholischen Kirche nicht angehören oder doch
den ultramontanen Bestrebungen bisher entschieden feindlich gegenüberstanden.
Die polnische Gesellschaft und die katholische Kirche, sie sind innerhalb der
Provinz Posen eine solidarische Gemeinschaft geworden, eine Gemeinschaft von
einer Assimilativnskraft, die nicht nur die Reste des protestantischen polnischen
Adels, durch Erschwerung des Kvnnubiums mit den römisch-katholischen Mit¬
gliedern desselben, in den Schoß der katholischen Kirche zurückführt, sondern
auch fortgesetzt katholische Einwandrer deutschesten Ursprungs dem Polvnismus
als neue eifrige Rekruten zuführt. Die Durchsicht amtlicher Namenötabellen
ergiebt die traurige Gewißheit, daß in vielen Gegenden der Provinz die
Mehrzahl derer, die sich im besten Glauben für Bollblutpolen halten, Nach¬
kommen deutscher Einwandrer sind, wobei noch zahlreiche Polonisirungen, die
nicht nur durch Anhänguug einer polnischen Endsilbe oder polnische Schreibweise,
sondern durch vollständige Übersetzung des Namens bewirkt worden find, außer
Rechnung bleiben müssen. Als Ursachen und Folgen endlich der fortschreitenden
geistigen Belebung des Polentums entstanden eine Flut polnischer Zeitungen
und Zeitschriften, Volksbibliotheken, wissenschaftliche und wirtschaftliche, Gcsellig-
teits- und Vergnügungsvcreinc, deren Vereinstage als Volksfeste gefeiert werden,
umherziehende polnische Bühnengcsellschaften, eine national-polnische uniformirte
Kapelle und als letzte Erscheinung auf diesem Gebiete sogar eine Art polnischer
Studcntenverein, der den Geist der Solidarität unter deu nkademischeit Bürgern
der ehemals polnischen Landesteile Pflegen soll und kürzlich in Gnesen feierlich
tagte, um den Dom des heiligen Adalbert zu besichtigen. Alle diese Ver¬
einigungen sind rein polnisch und thatsächlich politisch; sie haben nur einen
stillen, unausgesprochen Zweck: Erhaltung der nationalen Erinnerungen und
Vorbereitung der Auferstehung der alten polnischen Herrlichkeit, die sich der
polnischen Phantasie immer verklärter zeigt, je mehr sie sich von ihrer trüben
geschichtlichen Wirklichkeit entfernt. Fortgesetzt unterstützt werden diese historischen
Phantasien in Wort und Bild durch die polnische Presse und die polnische
Kunst. Der Pole — und selbst der im bürgerlichen Leben nüchternste, klarste,
scharfsinnigste — führt deshalb eine Art politischen Traumlebens, welches ihn
verleitet, bei jedem Ereignis der, europäischen Politik ein polnisches Interesse
zu argwöhnen oder zu hoffen. In politischen Frage» denkt der Pole wie die
Frauen nur mit dem Herzen und ist nie zu überzeuge». Selbst die Leicheu-
fcierlichkeiteu des polnische» Adels tragen den Charakter einer nationalen Ver¬
sammlung, man feiert sie heute noch mit der weitläufigen, ernsten, vornehmen
Pracht, wie dies etwa vor zweihundert Jahren bei den deutschen Adelsgeschlechtern
Sitte war. Aus der ganzen Provinz, ja darüber hinaus, strömt der Adel zu¬
sammen in Begleitung eines zahlreichen Klerus; es ist absolute Pietätspflicht,
zu erscheinen. In der Parvchialtirche wird ein feierlicher, würdevoller Gottes¬
dienst abgehalten, dessen Mittelpunkt die Leichenrede irgendeines hervorragenden
u,et two berufnen KauzelrednerS bildet. Derselbe wird »in verabsäume», auf das
eingehendste das Thema z» behandeln: „Was hat der Verstorbne für das
polnische Baterland gethan? War er ein Patriot und würdig, seineu Nach¬
kommen und dem jüngern Geschlecht als Vorbild auf dem Felde der nationalen
Arbeit zu dienen?" Dasselbe Thema pflegt dann von irgendeinem angesehenen
Freunde des Verstorbueu noch ausführlicher am Grabe wiederholt zu werde».
Es werde» bei diesen Gelegenheiten Rede» gehalten »»d häufig auch durch
die Presse oder besondern Druck verbreitet, die nur zu lebhaft an die Rede
des Antonius bei der Leiche Cäsars emmeru und die jedes polnische Herz in
nationaler Erregung erzittern lassen.
Die ganze polnische Gesellschaft kennt sich untereinander, ist mit ihre» gegen¬
seitigen Angelegenheiten und persönlichen Verhältnissen genau vertraut, die
Mäuner sind vou der Schule her, die Frauen von den wenigen Klöstern, denen
der polnische Adel seine Tochter zur Erziehung mizuvertrauen pflegt, mit ein¬
ander befreundet. Trotz aller kleinen Eifersüchteleien und Feindschaften zwischen
den einzelnen Familien, und namentlich zwischen dem höhern alten Maguaten-
adel und der putltv N0v1v88o, bildet der polnische Adel doch eine in sich fest
geschlossene Korporativ», die ein stets bereites, williges Werkzeug in der Hand
ihrer Führer ist. In jedem Kreise Pflegen einige angesehene Edelleute, die ihre
Standesgenossen durch persönliche Thatkraft und Begabung überragen, die aus¬
gesprochene und allgemein anerkannte Führerrvlle zu spielen. Sie bernfei: die
öffentlichem Versammlungen, leiten dieselben, find die Hauptvertrauensmäuner
des Zentralwahlkomitees und treten in de» Kreisversammlungen als Redner
und Wortführer der polnischem Kreistagsmitglieder auf.
Das gesellschaftliche Verhältnis des polnischen Klerus innerhalb des pol¬
nischen Adels macht den Eindruck, als ob der niedere polnische Klerus, der fast
ausnahmslos aus dem Bauern- oder Kleiubürgerftandc hervorgeht, eine etwas
untergeordnete Behandlung erführe; trotzdem haben diese Bauern- und Handwerker-
söhne im geistlichen Kleide einen hervorragenden Einfluß in den meisten polnischen
Familien und Pflegen selbst von denjenigen Edelleuten, die sich als entschiedn«
Gegner des Pfaffentums bezeichnen, wegen ihres Einflusses auf die polnische
Arbeiterbevölkermig mit Vorsicht behandelt zu werden. Mancher polnische
Magnat hat es schon zu seinem Schaden erfahren müssen, wie gefährlich es ist,
mit dem Klerus in Konflikt zu geraten. Wie aber der Geistliche einerseits
Vertrauensmann des Adels ist, so fühlt er sich anderseits als der unumschränkte
Herr des Bauern, und je schärfer er diese Herrschaft ausübt, desto williger wird
ihm gefolgt. Die Kanzel dient dazu, um die privatesten und persönlichste»
Angelegenheiten des einzelnen Gemeindemitgliedes vor das Forum des geistlichen
Strafgerichts zu ziehen; trotzdem findet sich nie ein Kläger und deshalb mich
kein Richter für eine derartige Überschreitung der Kirchenzucht. Bemerkenswert
ist die große Anzahl deutscher Namen innerhalb des polnischen Klerus, dessen
Mitglieder sich selbst dann als Polen bezeichnen, wenn man ihrem mangelhaften
Polnisch noch den frischen deutschen Ursprung anhört.
In den Militär- und Zivildienst tritt der gebildete Pole nur ausnahms¬
weise ein; es fehlt ihm hiernach die legitime Beteiligung an den Staatsgeschäften,
die geeignet ist, den Ehrgeiz eines strebsamen und schaffenstüchtigen Mannes
zu befriedigen. Alles was bei den Polen Ehrgeiz, Geist und Thatkraft besitzt,
verwendet deshalb diese Gaben im Dienste der politischen Agitation durch Be¬
einflussung der Presse und Begründung und Leitung von Vereinen.
Die polnische Gesellschaft erfreut sich hierdurch auch einer Organisation,
die überall da, wo es gilt, die polnische Sache zu vertreten, mit bewunderns-
werter Schnelligkeit und Zuverlässigkeit arbeitet. Wenn der Führer die Lösung
ausgegeben hat, kau« er mit Sicherheit darauf rechnen, daß jedermann auf
seinem Posten ist, und hätte er sich selbst mit letzter Kraftanstrengung vom
Krankenbette aufraffen müssen. In das Wahllokal getragne kranke Wahlmänner
sind keine seltene Erscheinung.
Welche eignen Kräfte kann nun die deutsche Gesellschaft der Provinz Posen
diesem nach außen fest geschlossenen, von der nationalen Idee wie von einem
Messiasgedanken erfüllten, von Presse und Klerus wie von einem Generalstabe
geleiteten, durch einen „Rechtsschutzverein" in allen Veschwerdcsachen öffentlich¬
rechtlichen Charakters vertretenen und zu den höchsten materiellen Opfern allzeit
bereiten Polentum gegenüberstellen?
Wenn wir von der deutschen Gesellschaft sprechen, so kommen folgende
Kategorien in Betracht: die Offiziers- und Beamtenwelt, der deutsche Guts¬
besitzer und Pächter, der deutsche Kaufmann und Handwerker und der deutsche
Bauer.
Bei dem deutschen Offizier und Beamten ist zunächst ein Charakteristikum
gegenüber den gleichen Ständen in andern Provinzen, daß man Verhältnis-
mäßig selten ein Mitglied dieser Berufsklassen findet, welches aus der Provinz
Posen selbst stammt, und deshalb an der Provinz hängt, sich in derselben
heimatlich fühlt und für dieselbe trotz treuester und musterhaftester Pflicht¬
erfüllung ein wahres Herzensinteresse hat. Offiziere und Beamte, die nach der
Provinz Posen versetzt werden, betrachten diese Versetzung fast ausnahmslos als
eine Ungunst des Schicksals, selbst wenn sie aus dem reizloseste» kleinsten Orte
Pommerns oder Schlesiens kommen, und leben während ihres Aufenthalts in
der Provinz der steten Hoffnung, von der nächsten günstigen Welle wieder fort¬
gespült zu werden. Nur diejenigen, die am Ende oder dem Gipfel ihrer Lauf¬
bahn angelangt sind, suchen sich mit den vorhandnen Zuständen zu versöhne»
oder schweigen vorsichtig. Man findet in der deutschen Gesellschaft keine Po-
sener, vielmehr rühmt sich jeder, Pommer, Märker, Schlesier u. s. w. zu sein,
gesteht offen ein, daß seine Interessen und seine Wünsche außerhalb der Provinz
liegen, und bezieht seine geistige Nahrung nach wie vor aus einer heimatlichen
Zeitung. Die wenigen Offiziere und Beamten dagegen, die aus der Provinz
Posen selbst stammen, Pflegen diese unabänderliche Thatsache fast als eine un¬
liebsame zu betrachten. Es liegt deshalb über der deutschen Gesellschaft der
Provinz Posen, soweit sie sich aus amtlichen Kreisen zusammensetzt, ein Gefühl
der Unruhe und der Unbehaglichkeit, welches selbst auf den niederdrückend wirken
muß, der innerhalb der Provinz entschlossen ist, sein Rhodus zu finden und in
der schwierigen Aufgabe, die hier jedem Vertreter der Staatsregierung gestellt
ist, ein nodilo otliviunr erblickt. Unabhängige, gesellschaftlich frei dastehende
Elemente, die ans eignem Antriebe ohne geschäftliche Zwecke ihren Aufenthalt
in der Provinz gewählt haben und sozusagen den neutralen Vereinigungs-
punkt sür die Gesellschaft bilden, fehlen vollständig, und so gewinnt die deutsche
Geselligkeit eiuen offiziellen, fast schematischen Charakter, der freilich wenig ge¬
eignet ist, dieselbe einem lebenslustigen Berliner oder Rheinländer in einem
besonders anziehenden Lichte erscheinen zu lassen. Weil aber die Faktoren der
offiziellen Gesellschaft der Provinz Posen Land und Leuten meist zu fernstehen
und sich ihr Leben in dem engsten Berufs- und Gesellschaftskreise abzuspielen
pflegt, geht ihnen vielfach auch die volle Kenntnis der Gestalt des Bodens
ub, ans dem sie im Dienste des preußischen Staates manövriren sollen. Der
erste Eindruck pflegt in der Regel der des Erstaunens zu sein, daß Vorgänger,
Kameraden und Kollegen es nicht verstehen, mit den liebenswürdigen, feinge-
bildeten, ritterlichen, mit herzgewinnenden Umgangsformen ausgestatteten Polen
einen bessern Verkehrsstandpunkt zu finden. Es erscheint den Nenankommenden
kaum glaublich, daß diese verbindlichen Männer, die ihnen als Vertreter
des Polentums entgegentreten, wirklich unversöhnliche, nicht zu gelviuueude
Geguer des preußischen Staats und der deutschen Bevölkerung sein sollten,
daß es nicht möglich wäre, durch taktvolles Verfahren, verbunden mit ernster,
sachlicher, gerechter Strenge, den angeblichen Widerstand zu überwinden.
Diese Frühliugsstinunung pflegt aber nur kurze Zeit zu dauern; sehr bald
werden die Neulinge beeinflußt von der gegen das Polentum herrschenden all¬
gemeinen Mißstimmung und gereizt durch einzelne zu ihrer Kenntnis gelangende
polnische Ausschreitungen; das zuerst angedeutete harmlose Wohlwollen verliert
sich und weicht einer zwar nicht immer auf eigner Prüfung und voller Würdigung
der thatsächlichen Verhältnisse beruhenden, aber durch die gesamte politische
Haltung des Polentums wohl erklärliche» und fortgesetzt geförderten allgemeinen
Abneigung: mau verletzt den politischen Gegner auch in berechtigten Gefühlen,
man tadelt ihn oft zu laut und zu scharf, bekämpft ihn aber thatsächlich zu wenig.
Die schwierigen Verhältnisse eingehend zu studiren, Land und Leute kennen
zu lernen, die Person der Gegner und ihre Mittel zu wägen und zu eignem
Nutzen von ihnen zu lernen, in selbstloser Zusammenfassung aller der zu Gebote
stehenden amtlichen Machtmittel den Interessen des Staates und damit der
deutschen Sache zu dienen, die strengste Gerechtigkeit auf kommunalen Gebiete
walten zu lassen, die preußische Staatsverwaltung von der glänzendsten und
besten Seite zu repräsentiren und ihr dnrch positive Leistungen Achtung, An¬
erkennung und Einfluß selbst beim politischen Gegner zu erringen, statt Mißbe¬
hagen über kleine soziale Unannehmlichkeiten zu empfinden, doppelte Kraft-
anstrengungen zur Erfüllung der durch eine fremde Bevölkerung unendlich
erschwerten staatlichen Aufgaben zu machen, das erscheint als Gewissenspflicht
jedes Mannes, der kraft dienstlichen Auftrages nach den polnischen Landesteilen
geschickt wird. Alle diejenigen Diener des preußischen Staates, welche ihre Auf¬
gabe so aufgefaßt haben und noch so auffassen, können sich anch unzweifelhafter
politischer Erfolge rühmen.
Es wird zwar durch die musterhafteste Verwaltung eines preußischen Beamten
kein einziger Pole innerlich gewonnen, wohl aber das Feld der staatsfeindlichen
Agitation eingeschränkt und, worauf es vor allem ankommt, das Wohlbefinden
der deutsche» Bevölkerung erhöht und damit ihre Seßhaftigkeit und ihr Heimats¬
gefühl gefördert werde».
Was würde das englische Volk mit seiner großartigen Kolonialpolitik er¬
reicht haben, wenn seine Beamten in ferne» Weltteilen an einem Nativismus
litten, der ihnen das Leben nur in der heimischen Grafschaft lebenswert er¬
scheinen ließe? Mit den oben geschilderten Zustünden — der geringen, weder
durch provinzielle Abstammung noch durch besondre äußere Lebensaunehmlich-
keiten unterstützte» Kohärenz zwischen den: Veamtentnm und dem lokalen Ge¬
biete seiner Wirksamkeit — hängt auch der ewige Wechsel desselben zusammen.
Alle sechs Jahre verändert sich die Gesellschaft fast vollständig, und es kann
sich in der Behandlung der polnischen Angelegenheiten keine feste Tradition
bilden. Die einflußreichsten und konstantesten Beamten der Provinz sind un¬
zweifelhaft die Laudräte, in ihnen sieht die Bevölkerung die eigentlichen Reprä¬
sentanten der Stnatsverwaltnng, und die Erfolge derselben, die wirksame Aus-
führung der Gesetze, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes hängen wesent¬
lich davon ab, ob jene Beamten die rechten Männer an der rechten Stelle sind.
Die Aufgaben für den Landrat sind indes in der Provinz Posen so viel¬
seitig und infolge der Verschiedenartigkeit der Sprache und Nationalität so
schwierig, daß er dieselben nur erfüllen kann, wenn er seinen Kreis auch räumlich
zu beherrschen vermag und ihm die Zeit zu einer intensiven Verwaltung des¬
selben zur Verfügung steht. Die räumliche Größe der Kreise und der Umfang
der Geschäfte in allen Zweigen der Staatsverwaltung, die sich in seinen Händen
vereinigen, lassen den Landrat leider häufig zu wirklich produktiver Arbeit und
zur Lösung selbständiger Aufgaben nicht kommen.
Die Zeit, in der deutsche Landwirte massenhaft aus den alten Provinzen,
und namentlich aus Pommern, der Mark und Schlesien, nach der Provinz
Posen einströmten, scheint abgelaufen zu sein, einerseits weil so günstige Käufe,
wie sie bis in die sechziger Jahre in der Provinz Posen möglich waren und
thatsächlich abgeschlossen worden sind, sich jetzt nicht mehr abschließen lassen,
anderseits weil infolge des Rückganges des landwirtschaftlichen Gewerbes über¬
haupt geringe Neigung für den Kauf ländlichen Grundbesitzes vorhanden ist.
Ein erheblicher Teil des Großgrundbesitzes der Provinz Posen befindet sich in
forensischen Händen. Deutsche Fürsten und Magnaten, großstädtische Kapitalisten
und Fabrikanten haben bedeutende Besitzungen in der Provinz erworben. Der
gcrmanisircnde Einfluß, welchen diese Großgrundbesitzer üben, ist ein sehr Ver¬
schicdenartiger, der überwiegende Teil derselben verwertet seinen Grundbesitz
durch Verpachtung, und zwar an deutsche Pächter, und hält darauf, daß letztere
nur mit deutschem Aufsichtspersonal wirtschaften, andre dagegen stehen derartigen
Gesichtspunkten völlig fern, behandeln ihren Besitz lediglich als Geldanlage,
treiben Selbstwirtschaft und zeigen das deutliche Bestreben, es nicht mit dem
Ortsprobst und den hinter ihm stehenden polnischen Arbeitern zu verderben.
Versuche, deutsche Arbeiter heranzuziehen, deutsche Schul- und Kirchensystcme zu
begründen, und so die polnische Scholle nicht nur zu deutschem Besitze, sondern
auch zu deutschem Lande zu machen, kommen leider nur vereinzelt vor, verdienen
aber desto mehr die öffentliche Anerkennung; die großgrnndbesitzcndcn regierenden
deutschen Fürsten sind in dieser Richtung ausnahmslos mit gutem Beispiele
vorangegangen.
Die in der Provinz seßhaften deutschen Großgrundbesitzer setzen sich aus
den verschiedensten sozialen Sphären zusammen, von dem sächsischen Häusler,
der mit dem Erlös seiner Stelle in der Magdeburger Böhrde ein Rittergut in
der Provinz Posen erkauft hat, bis zu den Edelleuten der andern Provinzen,
die sich hier ansiedelten, weil sie ihren heimischen Besitz nicht halten konnten,
oder deren Erbteil nicht zureichte, um in der Heimat einen Großgrundbesitz zu
erstehen. Ein erbaugesessener deutscher Großgrundbesitz bildet die Ausnahme,
und ebenso zählt die Provinz verhältnismäßig wenig selbstwirtschaftende lcmd-
sässige Besitzer, die mit größer« Kapitalien hierher kamen und sie hier anlegten,
weil sie sich einen größern Gewinn davon versprachen als daheim. Ein großer
Teil der deutschen Großgrundbesitzer, und zwar meist der wirtschaftlich tüchtigste,
hat sich erst vom Wirtschaftsbeamten durch den Pächter hindurch zum selb¬
ständigen Besitzer aufgeschwungen.
Die Verschiedenheit der provinziellen Abstammung und der sozialen Bil¬
dungsstufe ist die eigentliche Ursache, daß sich in den meisten Kreisen der Provinz
noch kein deutscher Besitzcrstaud herangebildet hat, der sich als Stand und Kor¬
poration fühlt. Vielfach fehlt es auch noch an Männern, welche die geistige
Bildung und den sozialen Takt besitzen, um diese innerlich verschiedenartigen
Elemente wenigstens auf öffentlichem und kommunalen Gebiete zu sammeln und
so eine erwünschte Stütze für die preußische Verwaltung zu bilden. Ein Teil
der deutschen Großgrundbesitzer hat leider nicht viel mehr Anhänglichkeit an
die Provinz als die aus andern Provinzen dorthin versetzten deutschen Beamten;
ihr Ziel ist günstiger Verkauf in den ältern Tagen und Rückkehr nach der alten
Heimat. Viele derselben haben auch die Produktionsfähigkeit des erkauften
Bodens und die Wirkung der eignen Intelligenz auf denselben überschätzt; der
Ankauf zu großer Flächen mit zu kleinem Kapital und die fortgesetzte Sorge
für den nächsten Zinstermin konsumirt sie vollständig. Nicht besser steht es
mit einem Teile der Domüncnpächter, die getrieben durch das Lizitationsver-
fahren einen Pacht zu zahlen haben, dessen Erwirtschaftung ihnen mit dem zur
Verfügung stehenden Betriebskapital, besonders bei den gegenwärtig außer¬
gewöhnlich niedrigen Preisen der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, unmöglich ist;
eine chronische wirtschaftliche Krisis läßt sie deshalb kranken — bis zum Ende.
Der eigentliche Zweck der Domänen, wirtschaftliche Mustergüter zu sein, und
die Aufgabe der Domänenpächter, die Staatsverwaltung auf dem Gebiete des
öffentlichen Lebens zu stützen und als Träger und Förderer des Deutschtums
zu wirken, muß in solchen Fällen meist ziemlich ruhmlos verloren gehen.
Es fehlt in vielen Kreisen der Provinz Posen noch an einer deutschen
Gentry, die imstande und gewillt wäre, im patriotischen Interesse der deutschen
Verwaltung wirksam zur Seite zu stehen und so eine wichtige politische Rolle
zu spielen. In denjenigen Kreisen, in welchen sich eine solche Gentry mit so¬
zialem und politischem Standesgefühl bereits gebildet hat. sieht man auch die
sichtbaren Erfolge ihres Schwergewichts und ihrer Wirksamkeit. Die Polen
Pflegen mit dieser deutschen Gcntrh sehr wohl zu rechnen, und hier gestaltet sich
das Verhältnis des Deutschtums gegenüber den Polen sofort günstiger. Dort
jedoch, wo der deutsche Gruudbesitzcrstand in sich noch zerklüftet ist, daß der
deutsche Nachbar kaum den deutschen Nachbarn kennt, pflegt sich ein Pessimismus
auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete auszubilden, der zwar von den Or¬
ganen der Staatsregierung alles verlangt, aber nicht den Mut und das Inter¬
esse hat, auf kommunalen und öffentlichem Gebiete irgend etwas zu leisten.
Der deutsche Bauernstand stammt zum Teil noch aus der Einwanderung
vor der preußischen Besitzergreifung, zum Teil hat er sich aber erst zur soge¬
nannten Flottwellschen Zeit angesiedelt. Dieser bäuerliche Besitz hat sich durch
Auflauf vonseiten deutscher und polnischer Großgrundbesitzer — ein Verfahre»,
was von den letztern stellenweise systematisch geübt worden ist — in den letzte»
Jahrzehnten unzweifelhaft vermindert; ein fernerer Bruchteil, und vielleicht ein
größerer, als allgemein angenommen wird, ist auch auf dem Wege polnisch-
katholischer Heiraten dem Deutschtum entfremdet worden. Wenn sich trotzdem
die deutschen Bauern in ihrem jetzigen Stande, vielfach inmitten der polnischen
Bevölkerung, in ihrer nationalen Eigentümlichkeit erhalten haben und an Reli¬
gion und Sprache festhalten, so ist dies einerseits ein rühmliches Zeichen deut¬
scher Zähigkeit, anderseits aber auch ein unzweifelhaftes Verdienst der alten
preußischen Kirchen- und Schulverwaltung, die zwar langsam, aber doch stetig bis
zum Beginne der siebziger Jahre das Deutschtum in evangelischen Kirchensystemen
und rein deutschen konfessionell-evangelischen Schulen sammelte und isolirte.
Hätte mau mit der Simultanisirung der ländlichen Volksschule und der
Einzwängung evangelischer Kiuder in polnisch-katholische Majoritäten schon in
den dreißiger, statt den siebziger Jahren begonnen, so würde man heute in den
national-gemischten Kreisen vergeblich nach einem deutschen Vauerudorfe suchen.
Eine für andre Verhältnisse, und namentlich für große und mittelstüdtische
Schulzustände, gewiß richtige Theorie hat durch ihre falsche Anwendung auf die
kleinen Städte und das platte Land zur empfindlichen Benachteiligung des
Deutschtums geführt, ein geradezu verhängnisvoller Fehler des Systems Falk.
Der Handwerkerstand war in den polnischen Landesteilen fast ausschlie߬
lich deutsch, und zwar schon vor der preußischen Besitzergreifung; nur Schuh¬
macher und Schmiede pflegten Polen zu sein. Für eine Anzahl handwerks¬
mäßiger Mnnipulationen hat deshalb auch die polnische Sprache gar keine
selbständigen Bezeichnungen, sondern einfach die deutschen Ausdrücke polonisirt.
Aber auch auf dieser bisherigen Domäne des Deutschtums zeigt sich leider ein
Rückschritt. Aus dem polnischen Bauernstande und dem polnischen Kleinbürgertum
hat sich durch den Schutz und die Begünstigung der gesamten polnischen Ge¬
sellschaft ein polnischer Handwerkerstand ausgebildet, dessen Spitzen bis in die
Kreise der Großindustrie reichen und der selbst in der Provinzialhauptstadt, wo
die Konsumtivnsfähigkcit des deutschen Publikums groß genug wäre, einen
leistungsfähigen deutschen Handwerkerstand zu erhalten, den letztern entschieden
überholt hat; die politischen Handwerker sammeln sich überdies fast in allen
polnischen Städten in rein polnischen Handwerkervereinen, Gesangvereinen :e.,
und halten geschäftlich fest zusammen.
Der Handelsstand war in den polnischen Landesteilen von jeher in den
Händen der jüdischen Bevölkerung, und die deutschen Kaufleute pflegten in den
meisten Städten in der Minderheit zu sein. Seit etwa fünfzehn Jahren haben
sich indes die Polen, wie bereits erwähnt, auch auf merkantilem Gebiete mit
außerordentlichem Geschick festgesetzt.
Durch die neue Konkurrenz sind indes nicht nur die christlichen, sondern
teilweise auch die jüdischen Kaufleute geschädigt worden, da es zahlreiche anti¬
semitische deutsche Heißsporue giebt, die in auffallender Kurzsichtigkeit lieber mit
dem Polen als mit dem Juden Geschäfte machen; außerdem erbittert es auch,
daß die Juden in den kleinen Städten aus geschäftlichen Rücksichten vielfach
polnisch stimmen und in den Mittelstädten und der Provinzialhnuptstadt sich
den Luxus fortschrittlicher Opposition gegen die Negierung gestatten, die ohne¬
dies schon gegen den Polouismns genug zu kämpfen hat.
Mit welchem Eifer jedes von einem Polen begonnene Unternehmen pol-
»ischerseits unterstützt wird, zeigt sich auch darin, daß die polnische Presse die
Niederlassung polnischer Handwerker oder Kaufleute in irgendeiner Stadt der
Provinz in ihrem lokalen Teile mit einer besondern Empfehlung bekannt zu
machen Pflegt; in den deutscheu Zeitungen pflegt man derartige Aufmerksamkeiten
zu vermissen; freilich können letztere sich auch mit Recht beklagen, daß sie
ihrerseits vom deutschen Publikum nicht genügend unterstützt werden und des¬
halb auch mit den namhaften Provinzialblättern andrer Provinzen nicht kon-
kurriren können; sehr viele langjährige Einfassen der Provinz halten nicht einmal
eine provinzielle Zeitung.
Bekümmerte sich das deutsche Publikum und die deutsche Presse eingehender
um die eingewanderten Landsleute aus dem Handwerker- und Kaufmannsstande
und ihr Leben und Treiben, so dürfte sich auch kaum die betrübende Erscheinung
fortgesetzt wiederholen, daß Inhaber namhafter deutscher Firmen, welche beim
Beginne ihrer geschäftlichen Laufbahn nicht ein Wort polnisch verstanden, sich
im politischen und sozialen Leben als Vvllblutpolen geriren. Es erscheint zwar
sittlich entschieden bedenklich, die Politik auf den geschäftlichen Verkehr zu über¬
tragen, aber im Interesse der Selbsterhaltung wird das deutsche Publikum
Gegenmaßregeln ergreifen müssen.
Während wir so einen engen Zusammenschluß aller Stände der polnischen
Gesellschaft, die gleiche Marschrichtung uach demselben Ziele und die stete Bereit¬
willigkeit sehen, für dieses Ziel finanzielle Opfer zu bringen, erscheint die deutsche
Gesellschaft von einer bedenklichen Lauheit, meist nur den eigensten Interessen
lebend, ohne Fühlung untereinander, zu materiellen Opfern für politische Zwecke
schwer bereit, aber die Beseitigung aller Schwierigkeiten von der Staatsregierung
und ihren Organen fordernd. Daß bei dieser Ungleichheit der Positionen das
Polentum reißende Fortschritte macht, kann nicht überraschen, und es ist in der
That die höchste Zeit, daß Regierung und Bevölkerung den Fuß von neuem
einsetzen, das bereits erworbne Terrain zu halten und zu erweitern.
Der Polvnismns ist keine provinzielle Frage der Provinz Posen mehr,
vielmehr hat derselbe auf der Brücke des Kulturkampfes von Oberschlesien
längs der ganzen Ostgrenze der preußischen Monarchie bis nach Westpreußen
und Ostpreußen hin seine Fahne erhoben und ist durch seine ultramontanen und
fortschrittlichen Reserven zu einer drohenden Macht herangewachsen; es handelt
sich nicht mehr um die frühere oder spätere Assimilation einer Provinz, sondern
um die Sicherung unsers östlichen Staatsgebietes, aber die Provinz Posen ist
der Schlüssel der polnischen Stellung. Will deshalb die königliche Staats^
regierung gegen den Pvlonismus mit besonder« Maßregeln vorgehen, so muß
sie in der Provinz Posen anfangen. Statt aller mattherziger und unaufrichtigen
Verschleierungen durch die Parteien, welche den Willen bekunden, die preußische
Staatsregierung zu unterstützen, wäre es würdiger, offen zu bekennen, wie dies
Fürst Bismcirck gethan hat, daß es sich in der That um einen großen politischen
Kampf handelt, der auch von kirchlichen Gesichtspunkten leider nicht freizuhalten
ist, solange religiöse und kirchliche Interessen der politischen Agitation als
Vorspann dienen. Die polnische Gesellschaft führt gegen die preußische Staats¬
regierung seit dem Jahre 1830 auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens und
teilweise auch in rein wirtschaftlichen und kommunalen Fragen einen nnnblässigen,
durch unermüdliche finanzielle Opfer unterstützten Kampf; können deshalb die
Polen davon überrascht sein, wenn die preußische Staatsregierung endlich zu
dem Entschluß gedrängt wird, diesen unversöhnlichen Gegner politisch zu ent¬
waffnen? (Schluß folgt.)
as bedeutsamste Moment in der Geschichte der Deutschen ist das
Aufbringen fremder Bildung und der Kampf gegen dasselbe für
das Nationale, sagte Rudolf Dietsch im Jahre .1866 in seinem
Lehrbuche der Geschichte bei Gelegenheit einer Aufzählung der
Verdienste Karls des Großen um Wissenschaft und Kunst. Dieser
Ausspruch berührt einen der schärfsten Gegensätze in der Entwicklung des deutschen
Volkslebens und hat in unsrer, an gegensätzlichen Strömungen überreichen Zeit
ein besondres Interesse. Auf den ersten Blick freilich könnte es scheinen, als
wiederholte der gewissenhafte Geschichtschreiber nur die alte Klage von dem
deutschen Erbfehler, das Fremde dem Einheimischen vorzuziehen, allein wenn
man näher zusieht, bemerkt man eine wichtige Unterscheidung. Nicht die aus
freier Wahl hervorgegcmgne zeitweilige Hinneigung zu fremden Kulturen fordert
den Widerstand der Nationalität heraus, sondern das aufgedrängte Fremde.
So sind zu verschiednen Zeiten das Griechische, das Englische, das Italienische,
ja selbst das Arabische und das Spanische Gegenstände der Nachahmung und
des Studiums für die Deutschen geworden, aber zu der Besorgnis, daß durch
sie das nationale Leben zerstört werden könnte, haben sie nicht Anlaß gegeben,
man müßte denn eine vorübergehende Abwehr des Einflusses gewisser fremder
Literaturen hierher rechnen. Nur gegen das Lateinische und Französische wehrte
sich das Deutschtum immer von neuem aus dem innersten Kerne seines Wesens
heraus, offenbar weil beides sich aufdrängte. Man könnte weiter mit demselben
Rechte sagen, auch gegen das slawische, allein dies würde eine selbständige und
weitführende Untersuchung nötig machen; darum müßte es sür sich behandelt
werden und mag hier unerörtert bleiben. Es wird interessant genug sein, zu
beobachten, wie sich das deutsche Volk und seine wissenschaftlichen oder ans andre
Weise einflußreichen Vertreter gegen die Romanisirung zu schützen gesucht haben.
Man kann Wohl kein Volk nennen, auch die Engländer einbegriffen, welches
soviel Kolonisationsgeschick besäße oder besessen hätte wie die Römer. Jedes
Land, das sie mit den Waffen erobern oder durch eine schlaue Politik ihrem
Einflüsse osfenlegen konnten, machten sie in kurzer Zeit mit unerbittlicher
Zähigkeit römisch. Überall fühlten sie sich daheim, wohin nur immer ihre Straßen
führten, im rauhen Norden am Unterrhein, im heißen Süden bis zum Rande
der Sahara, im überkultivirten Kleinasien und Syrien, im unwirtlichen, bar¬
barischen Spanien. Mit einer Energie des Körpers und Geistes, die man in
dem Lande der Myrten, Orangen und Granaten kaum erwartet, legten sie unter
den widerspenstige» Völkern ihre Standlager an, und während die Soldaten Straßen
mit Gußmauerwerk und Wasserleitungen herstellten, schlugen die Kaufleute ihre
Waarenftände, die Handwerker ihre Werkstätten, die Prätvren und Quästoren ihre
Gerichts- und Steuerstellen, die Präzeptoren ihre Schulen auf, und wehe dem Ein-
gebornen, der sich nicht ohne weiteres in die neuen Gegenstände, die neuen Begriffe
und die römische Sprache einlebte! Wenige Jahrzehnte gingen darüber hin,
dann war das Land romanisirt wie Italien. Selbst als die Römer durch die
sich häufende» Reichtümer und Genüsse so verweichlicht waren, daß sie nicht
mehr im Heere dienen konnten, dauerte die zähe Lebensfähigkeit des alles über¬
wuchernden Römertnms fort. Die Despotie, welche mit dieser unerbittlichen
Kvlonisatioustaktik verbunden war, drückte furchtbar auf die gesamte damalige
Kulturwelt. Die römische Politik war der unverhüllte Egoismus einer Stadt
und der darin herrschenden wenigen Geschlechter. Die Provinzen sowie die ab¬
hängigen Staaten mußten den Willen der Machthaber vollziehen, sonst griffen
die Ruten und Beile ein. Und nicht genug, daß ein Provinziale oder Schutz-
Verwandter die Anschauungen Roms zu den seinigen machte, er hatte auch seine
Dienstbcflisfcnheit zu beweisen, indem er alles Nationale in seiner Heimat de-
nunzirte oder auf Leben und Tod bekämpfte. Verloren war, wer es wagte,
für die Selbständigkeit, die Eigenartigkeit und den Besitz seiner Volksgenossen
einzutreten, er mußte das Verbrechen, seineu Überzeugungen gemäß zu leben,
mit dem Tode durch Henkershand büßen, wenn er nicht in Gnaden nach Rom
geschleppt und zu einem elenden Sklavenleben unter der Aufsicht der Gerichte
verurteilt wurde, oder er mußte in der Wüste, in den Steppen Jnnerasiens,
in den rauhen Schluchten des Sehthenlandes Schutz suchen. So war es schon,
als Flaminius, die Scipionen und Anilins Parkins, der Sieger von Pydna,
Griechenland, Kleinasien und Syrien knechteten. Während des Verfalles der
Optimateuherrschaft hatte der Provinzielle wenigstens die Genugthuung, einer
der kämpfenden Parteien seine Dienste widmen zu könne», und unter den Kaisern
wurde doch der materielle Wohlstand der Provinzen etwas mehr berücksichtigt.
Aber überall saß der römische Bürger mit feinem Selbstbewußtsein und seinen
Ansprüchen mitten unter den armen, ihrer Nationalität beraubten Eingebornen.
Es ist wahr, die damalige Kulturwelt verdiente es meistenteils, so behandelt zu
werden. Die Griechen, die Orientalen waren tief in Sittenlosigkeit, Partei-
hnder und Feigheit hinabgesunken, weder die halbwilden Iberer und Lusitanicr
in Spanien, noch die ruhelosen, in viele kleinen Stämme aufgelösten Gallier
waren fähig, ein gesundes Staatsleben zu schaffen; auch fragt es sich, wie es
in der Welt aussahe, wenn die Karthager gesiegt hätten. Aber was konnten
die Römer in und mit der Kultur, die sie den unterjochten Völkern aufdrängten,
als Ersatz für die Verlorne Freiheit und Nationalität bieten? Ihr starres
Recht, das für die römischen Bürger Privilegien, für alle andern Ruten und
Beile hatte? Ihr geordnetes Heerwesen, das niemandem die Freiheit, immer
nur die Knechtschaft brachte? Ihre Gewerbe, die sie durch Sklavenhände zum
Fabrikbetriebe erhoben? Ihre starre und zugleich so hinterlistige Stadtpolitik?
Wer für das Römertnm schwärmt, mag darin etwas Eigenartiges und eine
besondre Kraftentwicklung finden, die sittliche Größe muß er hinzudichten.
Und in allein andern, was auch zur Kultur gehört, in Religion, Sitte, Wissen¬
schaft und Kunst, waren sie unselbständiger als die meisten der unterjochten
Völker. Ihre Religion war ein kaltes, äußerliches Zeremoniell, ans Brocken
andrer Kulte zusammengewürfelt, ihre alten einfachen Sitten verfielen bald und
in erschreckender Weise, ihre Wissenschaft, ihre Kunst war wenig mehr als eine
unbeholfene Nachahmung des Griechischen. Man hört oft, die Römer hätten
sich vom griechischen Geiste durchdringen lassen, und bekräftigt dies mit der
landläufige» Sentenz: Der Sieger lernt vom Besiegten. So unumstößlich ist
diese angebliche geschichtliche Thatsache nun doch nicht. Wohl eignet sich der
Sieger etwas von der höhern Kultur des Besiegten an, aber mir so viel, als
er braucht, um äußerlich damit zu prunken, er betrachtet die vollkommenere Like--
ratur, die schönen Kunstwerke als Beutestücke, mit denen er sich schmückt; zu
einer achtungsvollen Hingebung aber, zu einem ernsten Studium gelaugt er wohl
in den seltensten Fallen, denn als Sieger glaubt er den Besiegten übersehen zu
können.
Man hat auch gesagt, daß das Christentum in dem großen Nömerreiche
das passendste Wirluugsgcbiet gefunden habe, und hat die Vorsehung gepriesen,
welche der letzten großen Offenbarung seit Jahrhunderten eine weltgeschichtliche
Stätte bereitete. Aber was hindert uns dagegen einzuwenden, daß die schweren
Christenverfolgungen im einheitlichen römischen Weltreiche stattfanden? Oder,
wenn man uns belehrt, wie notwendig diese Verfolgungen zur Stärkung des
Glaubens gewesen seien: daß die Erstarrung des Christentums durch endlose
Wortstreitigkeiten und Begriffsspaltungen gerade aus dein Wesen der juristisch
zugespitzten römischen Denkart hervorging, jene Erstarrung, welche dem Muha-
medanismus den Acker bereitete, den Untergang des Christentums in Asien,
Afrika, Spanien nach sich zog und vielleicht das ganze Abendland dem Islam
preisgegeben Hütte, wenn nicht der germanische Karl Martel bei Tours und
Poitiers mit einer weltgeschichtlichen Ncttungsthat dazwischengetreten wäre?
Die Vorsehung würde auch ohne das Nömerreich Mittel gefunden haben, dem
Christentum« zum Siege zu verhelfe». Alles, was geschieht, geschieht aus der
innersten Notwendigkeit der Dinge und Verhältnisse, aber es möchte schwer zu
beweisen sein, daß alles Notwendige auch sittlich gut und heilsam sei. Das
Überwuchern des Nömertnms war eine Notwendigkeit, aber mehr ein not¬
wendiges Übel als eul notwendiges Gut.
Als die Germanen mit den Römern in nähere Berührung kamen, em¬
pfanden sie eine bestimmte Abneigung, die fast an Ekel grenzte. Ihre unver¬
fälschte Natur, der angeborne sittliche Instinkt eines begabten, sich aus sich
selbst entwickelnden Volkes prallte zurück vor der schleichenden Hinterlist, der
harten Selbstsucht, der weichlichen Sittenlosigkeit der Kulturmenschen. Barbarische
Grausamkeit, Hader, Eifersucht und Nachsucht waren ihnen zwar nicht fremd,
und gewiß giebt es nichts Verkehrteres als eine sittliche Verherrlichung der
alten Germanen. Wer sich vorstellt, wie die Westgoten in Griechenland, die
Wandalen in Afrika ganze Herden von Menschen, Männer, Weiber, Kinder,
wie das Vieh zusammengekoppelt vor sich hertrieben, wer sich erinnert, daß die
Sachsen noch zu Karls des Großen Zeit die Gefangnen ihren Göttern schlachteten,
der wird keinen allzu großen Unterschied machen zwischen dem damaligen Kultur-
zustande der Germanen und dem der Hunnen, mit denen sie oft genug in denselben
Reihen kämpften, und bei deren König Attila die deutschen Fürstensöhne eine
Zeit laug die Kriegskunst erlernten. Aber Thatsache ist es, daß diese wilden
und ungeschlachten Germanen vor der römischen Kultur, die sie seit Marius'
Zeit zu beobachte» Gelegenheit hatten, wie vor etwas Schlechtem zurückschreckten.
Auch die Besonnensten unter ihnen mochten fühlen, daß sich aus ihren rohen
nationalen Anfängen heraus etwas Besseres gestalten lassen müsse. Armin,
der tapfere Cheruskerfürst, war in Rom heimisch geworden, hatte dort das
Bürgertum und die Ritterwürde erworben, und doch haftete ihm vom römi¬
schen Wesen nur soviel an, daß er die politische Hinterlist, die er in der
Hauptstadt der Welt kennen gelernt, gegen die Römer selbst kehrte und die
nordgermanischen Stämme zu einem wohlvorbereiteten Aufstande gegen die fremde
Zwingherrschaft befähigte. Die Schlacht im Teutoburger Walde wird immer
eine der größten Thaten in der deutschen Geschichte bleiben, sie errettete das
Deutschtum vor dem sichern Untergange. Der Ostgotenkönig Theodorich der
Große, der „Dietrich von Bern" der Sage, wurde als achtjähriges Kind von
seinem Vater Theodemir als Geisel für den Frieden der Ostgvten mit den Ost¬
römern nach Konstantinopel gesandt und am dortigen Kaiserhofe mit aller
Sorgfalt erzogen. Aber geradezu wunderbar ist es, wie der junge Germane
sich dagegen sträubte, romanisirt zu werden. Die Wissenschaften und Fertigkeiten,
selbst die des Schreibens, verachtete er und übte seinen Leib im Gebrauche der
Waffen, im Schwimmen und Reiten. Als er durch die Besiegung und Er¬
mordung Odoakers König von Italien geworden war, verbot er seinen Goten
die Teilnahme am römischen Schulunterrichte, obgleich er um der Römer willen
die Schulen begünstigte und durch eine bessere Besoldung der Lehrer hob. Nicht als
ob er eine Berührung mit den Römern gefürchtet hätte, er bediente sich römischer
Ratgeber, behielt die Verfassung, die Verwaltung bei und ließ die Ämter den
Römern, nur leise ordnend und weise mäßigend griff er in das Nechtswesen,
das Steuerwesen, die öffentlichen Spiele ein, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und
Hebung des Wohlstandes zur Richtschnur nehmend, aber seine Goten suchte er
vor der Verweichlichung, Entartung und Entnationalisirnng zu bewahren, welche
die römische Kultur mit sich führte. Die Römer haßten ihn, weniger aus Ab¬
neigung gegen die aufgedrängte fremde Herrschaft, als vielmehr weil sie in ihrem
hohlen Dünkel die Weisheit seiner Regierung nicht erkennen wollten. Auch
die lcmgobardischen Könige, welche wenige Jahrzehnte nach dem Untergänge der
Ostgoten Italien beherrschten, verhielten sich abwehrend gegen die römische Kultur,
bis die Königin Theudelinde, eine Prinzessin aus bairischen Stamme, die Ver¬
schmelzung der Nationalitäten anbahnte. Dies geschah hauptsächlich dadurch,
daß sie der katholischen Kirche zum Siege über den Arianismus der Langobarden
verhalf und den Hof römisch umgestaltete.
Bei der ungeheuern Zähigkeit des römischen Wesens kann es nicht auf¬
fallen, daß eine ganze Reihe germanischer Stämme im Kampfe mit der seit
einem Jahrtausend geschulten Kriegsmacht und Diplomatie aufgerieben wurde,
ehe nur der Ervberungs- und Kvlonisativnsdrang derselben zum Stehen ge¬
bracht werden konnte. Tiefes geschichtliches Dunkel deckt die Namen der Stämme,
die an den Rhein- und Donaufestungen verbluteten; nur um die letzten, die
in den südlichen Halbinseln zu Grunde gingen, um die Alanen, Rugier, Snevcu,
Vandalen und Goten, woben Sage und Geschichte den Trauerflor. Ebenso¬
wenig ist es zu verwundern, daß viele Stämme, die sich in den Römergebieten
ansiedelten, der Romanisirung verfielen, die Burgunder, die Langobarden, die
Westgoten, die westlichen Franken. Dem Verfalle des Germanentums ging
gewöhnlich ein widerlicher Zwischenzustand voraus. Mit der Gewaltthätigkeit
und Empfänglichkeit der halbwilden Germanen mischte sich in Grauen erregender
Weise die Schwelgerei, die Heimtücke und die Herrschsucht der Römer. Die
Deutschen wurden räuberisch, mordlustig, erst die Könige, dann die Edeln, dann
das Volk. Die Greuel in dem westfränkischen Hause der Merovinger, in den
langobardischcn und westgotischen Herrscherfcunilicn erinnern an die blutigen
Intriguen des oströmischen Hofes in Konstantinopel. Erstaunlich ist nur, daß
noch immer eine kompakte germanische Volksmasse übrig blieb, die das Römer¬
inn bewältigen und ihre Nationalität bewahren konnte. Diese Volksmasse er¬
gänzte sich immer von neuem in Großgermanien, dem Heimatslande der Ger¬
manen, dem heutigen Deutschland.
Karl der Große beherrschte so ziemlich das ganze Ausbreitungsgebiet der
Germanen, soweit es sich damals noch erstreckte; sein Szepter umfaßte die
romanisirten und die nationalen Stämme, mit den romanisirten zugleich hatte
er die ganze Masse der Römer, unter denen sie lebten und sich veränderten,
seinem Reiche einverleibt. In ihm selbst spiegelte sich die Doppelstellung, die
er einnahm, getreulich wieder. Den Römern gegenüber ist er der fleißige
Schüler, immer lernend, im Sprechen, selbst mit ungelenker Hand im Schreiben
sich übend. Lateinisch spricht er fließend, auch das Griechische versteht er
wenigstens, ein gelehrter Römer, Petrus von Pisa, unterrichtet ihn in Rhe¬
torik, Metrik und Grammatik. In seinem Gclehrteukränzchen, der Akademie,
spielt er den König David, und die auf Atoms Rat an seinem Hofe gegründete
Schule wurde die Pflanzstätte gelehrter Geistlichen, die Musterschule, der viele
ähnliche Gründungen an den Bischofssitzen und in den Abteien nacheiferte».
Als König und Kaiser war Karl Römer und Germane zugleich, aber mehr
Germane als Römer, und Römer nnr im bessern Sinne, als Hausvater blieb
er, wie Gustav Freytag in seinen Bildern aus der deutschen Vergangenheit sagt,
der „deutsche Bauer," der stolz darauf war, daß er Kleider tragen konnte, zu
denen Frau und Töchter das Garn gesponnen und das Zeug gewebt hatten,
der an der Bewirtschaftung seiner Güter regen Anteil nahm und gern mit
Söhnen und Töchtern jagend im Walde umherstreifte, wenn er Erholung suchte.
Freilich sein patriarchalisches Familienleben war stellenweise etwas erzvätcrlich
angehaucht; mehr als eine Hagar hätte von seinem Hofe vertrieben werden
können, und seine Töchter erfreuten sich einer fast mythologischen Selbständig¬
keit. Merkwürdig war sein Verhältnis zur Kirche. Diese hatte, seit der Aria-
nismus unterlegen war, ein ganz römisches Gepräge. Nachdem den Römern
die Waffen entfallen waren, blieb ihnen nur das Kolvnisntionstalent, das sie
NUN freilich auf andre Weise verwenden mußten. Statt des Schwertes und des
Nutenbündels nahmen sie das Kreuz und das Evangelienbuch, im geistlichen
Gewände traten sie an die heidnischen Barbaren heran, die sich in den alten
Grenzen des Römerreiches niedergelassen hatten, und wenn diese sich beugten vor
der Majestät des christlichen Glaubens, dann beugten sie sich auch vor der
römischen Kultur, denn ihre neuen geistlichen Herren nötigten ihnen die römische
Sprache auf. Dann überschritten die geistlichen Eroberer die alten Grenzen,
und wenn sie auch die Völker nicht mehr wie früher ohne weiteres romanisiren
konnten, in der Kirche und in der Literatur setzte sich das Nömertum trotz der
Bibelübersetzung des Ulfilas fest. In Rom aber erhob sich auf den Trümmern
des gestürzten weltlichen Kaisertums ein geistliches. Der christliche Pontifex
Maximus, der Papst, beanspruchte die geistige Gewalt über die kultivirte Welt
Bei diesen kirchlichen Eroberungen fanden die Römer treue Gehilfen in den
Kelten und den Mischvölkern auf keltischem Grund und Boden. Die Iren,
Angelsachsen und Gallier sandten eifrige, Rom unbedingt ergebene Missionare
in die germanischen Länder, und von den Germanen erwartete Rom dieselbe
Dienstbeflissenheit. So erhielt auch das Heiligste, was wir von den Römern
bekamen, ein besonderes, römisches Gepräge.
Karl der Große war aufrichtig kirchlich gesinnt. Auch dies gehörte zu
seinem echt germanischen Wesen. Überdies fühlte er sich in einer gewissen
Abhängigkeit von Rom, denn sein Vater Pippin hatte sich auf einen Päpst¬
lichen Machtspruch gestützt, als er Childerich, den letzten Merovingcr, in
das Kloster schickte und sich zum Könige machte. Die karolingische Dynastie
leitete ihr Thronrecht von der kirchlichen Sanktion ab. Karl war auch jeder¬
zeit bereit, dem Papste alle möglichen Gefälligkeiten zu erweisen. Er half
ihm gegen die Langobarden, er sicherte seine Stellung in Rom, er unter¬
warf alle Kirchen und Klöster des fränkischen Reiches seiner geistlichen Auto¬
rität. Aber er war weit davon entfernt, sich selbst und seiue kaiserliche Macht
dem römischen Papste unterzuordnen. Indem er auf den Knieen liegend sich
von Leo HI. in der Peterskirche zu Rom die Kaiserkrone aufs Haupt setzen
ließ, wollte er nicht als ein Geschöpf der päpstlichen Gnade wieder auf¬
stehen, sondern als der wahre Herr des Abendlandes, an den der geistliche Ver¬
weser der heiligen Kaisermacht nur die verblichene Krone ausgeliefert hatte;
nur ans seinem eignen Haupte, das wußte er, konnte der Glanz der impera¬
torischen Herrlichkeit wieder aufleben. Demgemäß betrachtete er sich als den
Grundherrn Italiens, unter dessen Schutze auch das römische Gebiet und die
ganze Pippinsche Schenkung stand. Kraft seiner königlichen und kaiserlichen
Würde vergab er die höchsten Kirchenämter, selbst der Papst mußte sich seiner
Oberhoheit unterordnen, kraft seiner Würde erließ er kirchliche Edikte und gab
den Geistlichen Gesetze. So untersagte er den Bischöfen und Adler das Halten
von Jagdvögeln, Jagdhunden und Possenreißern, so mußte Paul Warnefried
aus den Abhandlungen, Predigten und Homilien der Kirchenväter ein Erbauungs¬
buch zusammenstellen, welches bei den Nachmittagsgottesdiensten benutzt werden
sollte. Die Synoden der fränkischen Kirche durften unter seinem Schutze sogar
den Lehrbegriff festsetze» und wahrten ans diese Weise bei aller Anerkennung
des päpstlichen Primates ihre volle Selbständigkeit.
Unwandelbar blieb Karl trotz seiner Schulgerechtem Bewunderung des
römischen Stils der echte Germane in seinem Denken und Fühlen. Soweit
er es bei dem Völkergemische seines großen Reiches vermochte, schützte er die
germanische Nationalität in Sprache, Recht und Sitte. Immer von neuem
empfiehlt er deutsche Predigt und deutschen Unterricht, läßt die deutscheu Volks¬
rechte aufschreiben, läßt Paul Warnefricds Homiliarium ins Deutsche übersetzen,
trägt sich mit dem Plane zu einer deutschen Grammatik, sammelt alte deutsche
Heldenlieder und besetzt die hohen Ämter, wenn es irgend angeht, mit Deutschen.
Wäre Karl der Große nicht so fest und sicher in seinem germanischen Volks¬
bewußtsein gewesen, es fragt sich, ob Ostfranken, unser heutiges Deutschland,
vor der Romanisirung hätte bewahrt werden können. Während seiner langen
Regierung erstarkte das Germanentum von dem Zentrum Mitteleuropas aus
bis an die Sprachscheidc jenseits des Rheines und der Donau so, daß die römische
Kultur nie wieder mit dauerndem Erfolge über ihre Grenzen hinüberfinden
konnte. Der Wurzelstock des karolingischen Herrscherhauses aber teilte sich im
Vertrage zu Verdun (843) nach den Nationalitäten. Drei Stämme wuchsen
empor, zwei romanische und ein germanischer, ein breiter Streifen am linken
Rheinufer, Lothringen genannt, sollte ein Übergangsgebiet zwischen germanischem
und romanischem Wesen bilden, wurde aber der Anlaß zu einem tausendjährigen
Kampfe, denn beide, das Ostreich und das Westreich, rangen um den Besitz
desselben. Hoffentlich hat, was der Vertrag zu Mersen (370) nicht vermochte,
der Friede zu Versailles (1871) den Streit für immer geschlichtet.
Trotz der Trennung Deutschlands von dem romanischen Westen und Süden
gaben die Römer ihre geistigen Eroberungszüge diesseit des Rheines nicht auf.
In der kirchlichen Liturgie, in den Klöstern und in der gesamten, ganz und
gar von den Geistlichen abhängigen Literatur herrschten sie nach wie vor, und
das ward ihnen leicht, denn die deutsche Kirche war unauflöslich an Rom ge¬
knüpft. Im sächsischen Königshause fanden sie einen wertvollen Bundesgenossen.
Es war nicht die Schuld Heinrichs I., daß seine Nachkommen, die Ottonen,
den Kampf der Nationalitäten, welchen die Karolinger mehr unbewußt als bewußt
geführt hatten, aufgaben und dem römischen Wesen freiwillig das Übergewicht
einräumten. Heinrich war ein grunddeutscher Mann. Mit Rom wollte er
nichts zu thun haben, und die halbromanisirte Geistlichkeit durfte ihm die Krone
nicht anrühren, er setzte sie sich selbst aufs Haupt. Da fing auch das Deutschtum
an, sich geistig zu regen. Der Baum der politischen Sage stand bald in voller
Blüte; Lieder aller Art, mit köstlichem Humor gewürzt, lebten im Volke. Sie
sind nicht auf uns gekommen, unter der Nömersucht der Ottonen sind sie ver¬
welkt, aber aus den uns überlieferten Sagen erkennt man, daß ein großer po¬
litischer Zug durch das ganze Volk ging. Man sang von Heinrichs Kampfe
mit König Konrad, seinem Vorgänger, von der goldnen Kette, mit der er
erwürgt werden sollte und deren Geheimnis ihm der Goldschmied verriet, von
seinem mit Hand und Mund schlagfertigen Heerführer Thietmar, von Konrad
Kurzbold, der die Äpfel und die Weiber nicht leiden konnte, und von vielem
andern, worin sich das planmäßige, echt deutsche Handeln des großen Königs
spiegelte.
Unter Otto dem Großen änderte sich dies. Die Empörungen seiner nächsten
Verwandten, seine Vermählung mit der Italienerin Adelheid, seine Kaiserkrönung,
die Vermählung seines Sohnes, des Erben seines Thrones, mit der griechischen
Kaiserstochter Theophcmia, alles trug den Stempel des Ausländischen, des
Römisch-Byzantinischen; nur die Ungarnschlacht auf dem Lechfelde war deutsch.
Die Frauen am Kaiserhofe schwärmten für lateinische und griechische Lite¬
ratur, übertrugen diese Vorliebe auf die Klöster und Schulen und verschütteten
die Anfänge der deutschen Literatur, die sich unter Heinrich und den Karolingern
zu regen angefangen hatte. Es gab keinen Rhabanus Maurus mehr, der die
deutsche Grammatik studirte, Roswitha besang den großen Otto in lateinischen
Versen und dichtete lateinische Dramen, der Se. Galler Mönch Ekkehard schrieb
das Walthariuslied trotz des urdeutschen Sagenstofses, den es behandelt, la¬
teinisch. Der zweite Otto drängte die nationale Wirkung seines glorreichen
Zuges nach Paris durch eiuen in jeder Beziehung unglücklichen Eroberungszug
nach Unteritalien in den Hintergrund. Im leeren Ringen mit der Heimtücke
der Sarazenen und Griechen vergeudete er viel deutsches Blut und sein eignes
Leben. In Rom, im Vorhofe der Peterskirche, liegt er begraben. Der dritte
Otto trieb es noch schlimmer. Bald spielte er den römischen Cäsaren auf dem
Kapitol, umgeben mit allem südlichen Prunke, umdrängt von Römern und
Sarazenen, bald deu ägyptischen Einsiedler, der in asketischen Übungen das
Heil seiner Seele suchte. Das war die Frucht der römisch-griechischen Erziehung,
die ihm Mutter und Großmutter hatten angedeihen lassen. Nach Deutschland
kam er nur, um das Grab Karls des Großen zu öffnen. Die Sage erzählt
mit einem vorwurfsvollen Seitenblicke auf den romanisirten deutscheu Kaiser,
er habe den großen Karl im Grabgewölbe auf marmornen Stuhle sitzend ge¬
funden, das Evangelienbuch und das Schwert auf dein Schoße, das Szepter
in der Hand, die Krone auf dem Haupte, und sei vor dem strafenden Blicke
des Toten auf den Stufen der Gruft zusammengesunken. Der kinderlose Heinrich
der Heilige, der letzte der sächsischen Kaiser, war Gönner und geistiger Vasall
der von Rom abhängigen Geistlichkeit, aber seine Kämpfe mit dem Vöhmen-
könige Boleslaw fielen doch mit den nationalen Interessen zusammen und sühuteu
einigermaßen die Irrfahrten seiner Vorgänger.
Wir dürfen an dieser Stelle nicht der Frage ausweichen, ob die römisch¬
griechische Bildung, welche die Frauen des sächsischen Königshauses mit so viel
Eifer fördern halfen, wirklich der unentbehrliche Unterbau unsrer nationalen
Geistesentwicklung war, wofür man sie so gern ausgiebt, oder wenigsteus das
Gradirwerk, durch welches die Seele des deutschen Geistes erst hindurchträufeln
mußte, ehe sie geklärt in den Sicdekcsscl unsers modern-christlichen Staates
hineinfließen durfte, oder ob sie nicht vielmehr ein Stillstand in der glücklich
begonnenen Gestaltung unsers Volkslebens war. Letzteres ist wahrscheinlicher
als das erstere. Die deutsche Literatur hatte in dem Zeitraume von Karl dem
Großen bis zu den Ottonen beträchtliche Fortschritte gemacht, Muspilli, Heliand,
Otfrieds Christ, das Ludwigslied sind schon mehr als bloße Anfänge; unter
den Ottonen verstummt die deutsche Zunge, wenn auch die deutsche Anschauungs¬
weise fortdauert, Walther von Aquitanien, Ruodlieb, die Gedichte aus der Tier¬
sage, alles ist lateinisch geschrieben. Dies ist zu bedauern, denn eine gewisse
Anschauung der Dinge läßt sich nicht dnrch eine tote Sprache, sondern voll¬
kommen nur dnrch die ihr gleichalterige, lebende Lautform der Gedanken aus¬
drücken. Und warum hätte sich die deutsche Nationalität nicht in der ihr
natürlichen Denk- und Ausdrucksform zu immer höhern Kulturstufen empor¬
arbeiten können? Wuchs nicht auch das Griechentum aus sich selbst heraus?
Allerdings erhielt es den Anstoß von Ägypten, Phönizien und Kleinasien her.
Aber nur den Anstoß, dann warf es die Windeln weg und ging den eignen
Weg. So hätte sich das Deutschtum auch auf eigne Füße stellen können,
nachdem es vom alten Rom aus und durch die ringsum wohnenden romanischen
Völker zur höher» Kultur angeregt worden war. Statt dessen wurde es immer
von neuem in die Wiege zurückgezwäugt.
Unter den fränkischen Kaisern trat im politischen Leben eine Reaktion gegen
die lateinischen Umtriebe ein, die deutsche Literatur verharrte in ihrer Erstarrung.
Aber schou unter Konrad II. beginnt sich die nationale Sagendichtung wieder
zu regen, seine Fehde mit dem Stiefsöhne Ernst von Schwaben gab hierzu die
Veranlassung. An sich war der Streit zwischen Vater und Sohn wenig er¬
baulich, aber die peinliche Lage, in welche die Mutter dadurch geriet, die
Freundschaft Werners von Khburg und der tragische Ausgang der Empörer
waren Momente, die dem sinnigen Ernste der Volksdichtung zusagten. Die
spätern Dichter, welche die Sage bearbeiteten, übertrugen den Gegenstand auf
Otto den Großen und Adelheid, gleichsam um auch dieser unfruchtbaren Zeit
zu Hilfe zu kommen. Heinrich III. war ein rechter Kaiser deutscher Nation, die
Päpste setzte er ein und ab wie seine Beamten, aber er starb zu früh, um tief¬
gehende Wirkungen seiner Kraft zu hinterlassen. Heinrich IV., der Vielbedrängte
und ewig Zähe, unterlag im Kampfe mit den Päpsten, obgleich er sich auf der
Oberfläche der Herrschaft erhielt. Die gewaltige Konsequenz eines Gregor VII.
erhob die Forderung, daß die geistliche Gewalt über der weltlichen, der Papst
über dem Kaiser stehen müsse, zu einem Grundgesetze der Kirche und riß die
deutsche Geistlichkeit durch das Cölibat unerbittlich vom nationalen Leben los;
sein hierarchisches Gebäude war, als er starb, mit eisernen Klammern an Rom
und nur an Rom gekettet. Aber gleichzeitig war auch der Kampf entbrannt
zwischen dem nationalen Königtum und dem fremdländischen Papsttum, zwischen
Staat und Kirche, zwischen Volkstum und Hierarchie, zwischen Deutsch und
Latein. Noch mehr, eine neue Macht, mit der fortan Papst und Kaiser
rechnen mussten, erstand in dem Bürgertum. Die deutschen Städte am Rhein
stellten ihre reichen Hilfsmittel dem bedrängten Kaiser bereitwillig zur Verfügung,
als wenn sie damit sagen wollten, daß die Nationalität in ihnen fortan den
energischsten Ausdruck finden würde. Die Gegensätze waren hervorgetreten, keine
Macht der Erde konnte sie wieder zurückdrängen, sie sind stehen geblieben bis
zum heutigen Tage, und der Bannfluch Gregors VII. traf weniger den Kaiser
als vielmehr die römische Bildung in Deutschland.
Unter den Hohenstaufen brach das deutsche Geistesleben als ein mächtiger
Strom der Wanderlust und Kampfesfreudigkeit aus der Tiefe des Volkes hervor.
Welche Fülle von Epen und lyrischen Ergüssen, der Spruchdichtung nicht zu
gedenken! Und merkwürdig, die Geistlichen gingen mit gutem Beispiel voran.
Wie war das möglich? Die Kreuzzüge lösten den römischen Baun wenigstens für
einige Zeit. Auf der Wanderschaft, unter den Abenteuern im Morgenlande kam
ihr deutsch-nationales Gepräge wieder zum Vorschein. Sie rafften die alten
Volkssagen auf, vom Herzog Ernst, vom König Rother, und verwebten damit
die Abenteuer des Morgenlandes, freilich in der naiven, wunderlichen Fassung,
welche diese in ihrer kindlichen Mönchsphantasie angenommen hatten. Wohl lief
auch manches Gelehrte mit unter, wie die Alexcmdersage oder auch die französische
Nolcmdsage, aber sie brachten alles, was ihren Kopf und ihr Herz erfüllte, in
deutsche Reimpaare und erweckten so die deutsche Literatur zu neuem Leben.
Kaum dreißig Jahre vergingen, dann nahmen ihnen die Ritter die Mühe, zu
dichten, ab, und das war gut, deun der erste Rausch der Kreuzfahrten dauerte
nicht lange; was geistlich war, mußte wieder unter das römische Joch schlüpfen.
Das Rittertum! Es war ein französisches Produkt, ans deutschen Boden verpflanzt.
Immer behielt es etwas Fremdländisches, in den zierlichen Kampfspielen sowohl
als in dem gekünstelter Minnedienste, und etwas Kosmopolitisches, denn der
Ritter hatte keine rechte Heimat. Auch die mittelalterliche Kunstdichtung entbehrt
der nationalen Kraft und Sicherheit. Die Stoffe selbst, die Artus- und die Gral¬
sage, waren ausländisch, die Verse waren gespickt mit französischen Brocken, der
Minnegesang holte sich seine Jeremiadcn über nicht erhörte Liebe, seine mono¬
tonen Winter- und Sommerbetrachtungen bei den Troubadours; aber das
Volksepos mit den echt germanischen Sagenstoffen, das Volkslied und die
Freidcmksche Spruchdichtung brachen mächtig durch. Eine deutsche Literatur war
geboren, wuchs lebenskräftig auf und konnte nicht wieder untergehen. Die
französische Courtoisie, mit der sie allerdings eingefaßt war, stand mit der
ritterlichen Zeit so sehr im Einklange, daß sie kaum noch als etwas Fremdes
erschien. Da schlich sich das Römertum in einer andern Form abermals in
Deutschland ein: als Lorxus Mis, als Rechtsnorm.
Die Hohenstaufen haben die Herzen der Deutschen gewonnen durch ihre
Ritterlichkeit und ihre Vorliebe für den Minnegesang, noch mehr, sie sind in
ihren Kämpfen mit den Päpsten für die nationale Sache eingetreten, deshalb
stellten sich die protestantische und die nationale Geschichtschreibung so gern auf
ihre Seite. Allein man sollte nie vergessen, daß sie mit den Päpsten um Italien
gekämpft und dem deutschen Volke mit der, wenn auch nur indirekten Einschleppung
des römischen Rechtes einen schlechten Dienst erwiesen haben. Nicht weil das
germanische Recht viel besser gewesen wäre als das römische, sondern weil jedes
fremde Recht den Eigentümlichkeiten des Landes und Volkes, auf welche es
übertragen wird, nicht Rechnung trägt, nicht Rechnung tragen kann. Und in
welcher Gestalt kamen die römischen Rechtsbcstimmnngen auf uns? In der
Auswahl, welche die despotische Willkür des Kaisers Justinian getroffen hatte,
in der Gestalt des s'oäsx ^ustinlNiöus mit seinen Pandekten, Institutionen,
Konstitutionen und Novellen. Barbarossa war es, der in Oberitalien während
seines Kampfes gegen die widerspenstigen Stadtrepnbliken sich zuerst des Rates
römischer Rechtsgelehrten aus Bologna bediente, um die Regalien (die Königs¬
und Kaiserrechte) festzustellen. Jeder Kaiser nach ihm, und wenn es nur die
.Kaiser gethan hätten, jeder weltliche und geistliche Machthaber, welchen Titel
er auch immer führte, machte in der Folge das römische Recht zu seinem Hof¬
rechte. Warum nicht? So erst wurde es ihnen möglich, sich mit einer Fülle
von Majestät zu umgeben, die das deutsche Volksrecht nicht kannte und nie
genährt hätte, so erst konnten die feinen Unterschiede zwischen Freien und
Dienstleuten, zwischen Hörigen und Leibeignen in dem Unterthauenbegriffe ver¬
schmolzen werden. Die starre römische Rechtsanschauung hatte anfangs große
Härten im Gefolge, die erst allmählich in der neuern Zeit durch die wieder¬
kehrende Sonne christlicher und volkstümlicher Innerlichkeit ausgeglichen wurden.
In der Zeit, von der wir reden, ging man noch weiter. Gegen alle, Hoch und
Niedrig, Arm und Reich, wurde im peinlichen Gerichte die Tortur verfügt,
der in Rom nur die Sklaven unterworfen gewesen waren. Nur nach und nach
hat sich das römische Recht in Deutschland festgesetzt, aber es hat sich fest¬
gesetzt, und durch Karls V. peinliche Gerichtsordnung hat es im Strafverfahren
das Bürgerrecht erhalten. Wir wissen, mit welchem Ingrimm das deutsche
Volk dem römischen Rechte gegenübertrat, wie es die römischen Doktoren, die,
nachdem sie in Bologna studirt hatten, sich ihres deutschen Namens schämten,
mit Stockprügeln verfolgte. Der Olearius in Goethes Götz von Berlichingen
läßt uns heute noch und immer vou neuem bedauern, daß es nichts geholfen
hat. Der Zorn des Volkes war vergeblich. Die römischen Doktoren nisteten
sich an allen großen und kleinen Höfen ein, und am Ende mußten sie auch an
den Stadtgerichten zugelassen werden. Die schrecklichsten Verwüstungen richtete
im deutschen Volksleben die Tortur an. Sie wurde ein beliebtes und gewöhn¬
liches Rechtsverfahren gegen Bürger und Bauern, und mit einer unedeln Hast
bedienten sich die geistlichen Gerichte desselben, um die Ketzer zu überführen.
Die alten Kapitularien der fränkischen Könige und Kaiser, sowie das durchaus
römische kanonische Recht boten hierzu die Handhabe. So übertrug sich die
schlechteste Seite der antiken Rechtsauffassung, die alle Menschenwürde mit
Füßen tretende Sklavenwirtschaft, ans die christlich-abendländischen Staaten als
etwas Allgemeingiltiges und Selbstverständliches. Man mag daraus ersehen, wie
gefährlich es überhaupt ist, frenide, abgestorbene Kulturen auf die heimischen
und gegenwärtigen Verhältnisse zu übertragen.
Auch nach einer andern Richtung hin zog das spätere Mittelalter aus
der römisch-griechischen Kultur einen sehr zweifelhaften Gewinn. Während der
Kreuzzüge entstand durch den Verkehr mit dem oströmischen Reiche und den
Arabern im Abendlande die Scholastik; von England, Frankreich und Italien
aus verbreitete sie sich auch über Deutschland. In der Vorliebe der Hohen-
staufen für Italien fand sie eine wesentliche Unterstützung. Trotz Minnegesang
und Rittertum verknöcherte das sonst so frische germanische Denken in den ge¬
lehrten Kreisen zu der lateinisch-byzantinischen Wortklauberei, und diese Mi߬
geburt der Philosophie wucherte fort bis zur Reformationszeit. Was ist der
Streit der Nominalisten und Realisten andres als ein verunglückter Versuch,
das subtile Begriffswescn der römisch-griechischen Philosophie auf das Christen-
tum zu übertragen? Plato und Aristoteles, mit arabischen Grübeleien verbrämt,
wurden, aber nicht zu ihrer Ehre, die Lehrmeister der latinisirten abendländischen
Buchgelehrten. Wie wohlthätig berühren dagegen die freimütiger, vom gesunden
Menschenverstande erzeugten Ausfülle Walthers von der Vogelweide und Freidanks
gegen die Mißbräuche in Kirche und Staat! Mau berufe sich nicht darauf,
daß die Nachwehen des Nömertums, römisches Recht und lateinische Scholastik,
auch in den übrigen abendländischen Kulturstaaten angetroffen wurden, daß sie
überhaupt ein Kennzeichen des Mittelalters und ein notwendiger Durchgangs¬
zustand zwischen der beschränkteren antiken und der universellen modernen
Bildung seien. Wenn Franzosen, Spanier und Italiener an diesen Übeln litten,
so konnten sie sich damit trösten, daß die römische Kultur bei ihnen eine not¬
wendige Folge ihrer Abstammung war, aber was zwang die Germanen dazu,
sich diese Last aufzubürden? Nichts andres als ihre Unselbständigkeit.
(Schluß folgt.)
er dänische Dichter Andersen erzählt in einem seiner Märchen
von einem Satansspiegcl, der vom Himmel herab in Trümmer
und Splitter geschlagen wird. Die Splitter stieben weit auf
Erden umher, und wem einer ins Auge geflogen, der ist ver¬
dammt, alle Dinge im schiefsten oder übelsten Lichte zu sehen.
Ein gutes Teil dieser im Weltraume zerstreuten Splitter muß neuerdings auf
Deutschland herabgefallen und in die Gehwerkzeuge der jungen naturalistischen
Poeten geraten sein. Mit dem Splitter im Auge verbindet sich außerdem die
angenehme Überzeugung, daß alle der pessimistisch-naturalistischen Schule nicht
angehörigen, welche doch zu sehen und darzustellen unternehmen, nicht nur Balken
im Auge, sondern auch Bretter vor dem Kopfe haben, also überhaupt garnicht
mitreden dürfen. In einzelnen Fällen mag hinter all den großen Worten eben
so wenig unerschütterliche Überzeugung als wahrhaftes Talent stehen, in den
meisten haben wir es ganz sicher mit dem Fanatismus zu thun, welcher seit
lange keine andre Wahrheit und nun auch keine andre Natur keimt als die
seine. Wenn Zola als sein Ideal »och kürzlich wieder verkündete: „Ein einziges
Werk, in welchem mau versucht, das ganze All darzustellen, die leblosen Dinge,
die Tiere und Menschen, eine unermeßliche Arche Noah. Aber nicht uach der
Vorschrift der philosophischen Lehrbücher, nicht nach der thörichten Rangordnung,
in welcher unser eitler Stolz sich gefällt — nein, nach dem freien Strome des
universellen Seins, eine Welt, in der wir selbst nur ein Bruchteil sind; wo
der Hund, welcher über den Weg läuft, und selbst der Stein auf der Straße
uus vervollständigt und erklärt; das große All mit einem Worte, ohne hoch
und niedrig, ohne schmutzig und rein, so wie es ist und besteht" (Zola, I,'azn?ro),
so wird er freilich telum überzeugen, der die Darstellung des Menschen, und
zwar des individuellen, aus der Masse hcrausgehobneu Menschen, als die Haupt¬
aufgabe der Dichtung ansieht. Doch wird ihm jeder zugestehen, daß der Ge¬
sichtspunkt wenigstens ein großer, der Versuch ein kühner ist, und man wird
sich am Ende damit trösten können, daß in der „unermeßlichen Arche Noah"
die edeln und schönen Erscheinungen (wenn auch ohne alle Bevorzugung) neben
den widrigen, kriechende», häßlichen und giftigen ihren Platz finden müssen.
Anders sieht es bei uusern deutscheu Naturalisten. Sie sehen einfach nichts,
wollen nichts sehen als jene Erscheinungen des Massen- oder des Einzellebens,
welche aus dem Schmutz aufgegriffen werden können, sie wollen „das Laster
zur Tugend machen," sie beweisen nicht, aber behaupten, daß es nur
„Heuchelei" sei, einen Zoll über die Gemeinheit hinauszuragen. Der Dichter,
wir wiederholen es, kann alles darstellen, alles, wofür er eine menschliche
Mitempfindung (und auf Mitempfindung zielt bekanntlich die vervehmte, als
Lüge oder Heuchelei bezeichnete ästhetische Darstellung auch ab) zu erwecken
vermag, nachschaffend zu beleben versuchen. Aber immer wird er sich gefallen
lassen müssen, darnach gefragt zu werden, ob er den Erscheinungen ihren be¬
rechtigten Platz im Zusammenhange der Dinge und Handlungen angewiesen, ob
er bis in den innersten Kern der Erscheinungen hinab- und hineingeblickt, ob
er den ursprünglich reinen Antrieb der Darstellung rein erhalten oder ihn mit
fremden, unreinen Antrieben gemischt hat. Und mit diesen in der Theorie der
Naturalisten nicht bestrittenen Forderungen vergleiche man nun die Leistungen
der Schule. Im vollen Widerstreite mit der menschlich und poetisch wahren
Wiedergabe und Schätzung der Lebenserscheinungen und Stimmungen steht die
grelle und freche Manier, zufällig cmfgegriffuc Scheußlichkeiten und Armselig¬
keiten als das Normale, das allein Wiederkehrende, das Typische der menschlichen
Gesellschaft darzustellen. Von ernsthafter Beobachtung und tieferem Natur-
studium ist dabei nirgends die Rede, der flachste Conlisscnreißer pointirt nicht
frecher, um Logik und Wahrheit unbekümmerter, als diese Vertreter der „Wirk¬
lichkeit," denen es lediglich um die Effekte der Verblüffung, um das Lob
der „Originalität" zu thun ist. Weil sie der Prüderie wie dem berechtigtsten
Schamgefühl, der Philisterei wie der echten Humanität, der oberflächlichste»
Uuterhaltungslust wie der wahrhafte» Bildung zugleich ins Gesicht schlagen,
kommen sie sich unsäglich tapfer und über jedes „Vorurteil" erhaben vor. Der
Forderung, in den Kern der Erscheinungen hineinzublicken, entziehen sie sich mit
der a priori gegebnen Versicherung, daß der Kern eben Fäulnis und Verwesung
sei. Und der reine Antrieb der Darstellung erscheint bei den meisten so seltsam
mit theatralischer Eitelkeit, mit politischer Tendenz, mit einer knabenhaften Nc-
nommirluft verknüpft, daß es in der That schwer ist, zu erkennen, ob ur¬
sprünglich ein solcher Antrieb vorhanden war oder nicht.
Am erträglichsten stellt sich der Naturalismus in einer kleinen Gruppe
von Schriftstellern dar, welche keine Programme desselben erlasse», ohne be¬
sondre Ankündigungen und selbstgefällige Betonung ihrer Bedeutung ein Stück
Leben i» ihrem Sinne auffassen und wiedergeben, da es zur Totalität, zu dein
großen Allwerk Zolas noch »icht an der Zeit sei. Sie erwerben damit wenigstens
den Anspruch, daß ihre Erfindungen und Gestalten ruhig als Gegcnwartsprodukte
beurteilt werden, sie fordern den Vergleich mit den Meisterschöpfungen der
Vergangenheit nicht heraus und zwingen zu keiner Verwahrung wider eine
Zukunft, in der die Ideale dieser Darsteller die einzigen Ideale sei» sollten.
Hermann Heiberg, Max Kretzer und einige andre Schriftsteller, deren
Versuche und Werke zum Teil schon in diesen Blättern besprochen worden sind,
haben wir bei der Charakteristik des streitenden Naturalismus zunächst beiseite
zu lassen, es wird später zu erörtern sein, wie das Prinzip auf ihre Schöpfungs-
kraft gewirkt und welche Richtung es ihrer Beobachtung gegeben hat. Auch
hat es den Anschein, als ob diese Naturalisten zwar nnter der Schule geduldet,
aber der engsten Tafelrunde nicht zugezählt würden. Um Aufnahme in dieser
zu finden, ist der vvraugcgangne Fehdebrief an die idealistische Lüge, die
„honette Schurkerei" offenbar unerläßlich. Die „Jugend," welche sich ans den
„Trümmern von Pompeji" breit niederzusetzen und poetisch auszuleben gedenkt,
sieht mit verzeihlicher Ungeduld die Zeit bis zum großen Umsturz sich verlängern
und kann im allgemeinen die Geduld nicht aufbringen, welche die obengenannten
Schriftsteller in größern Kompositionen und verhältnismüßig sorgfältiger De-
taillirung bewähren. Das eigentlich „geistig scharfzähnige Jungdeutschland," in
dem „jedwede Maulkörberei verpönt ist" (Vorwort zum „Faschiugsbrevier" von
Johannes Bohne und Hermann Conradi) bethätigt sich vor allem in Vorreden
und gewaltigen Ankündigungen, welche sich ausnehmen wie große tragische
Masken ans einem Pygmüenleibe. Das Meister- und Musterstück in dieser
Beziehung ist die Vorrede zu einem (im Vcrlagsmagazin von I. Schabelitz in
Zürich, einer Verlagsbuchhandlung, welche den widrigsten Unflätereien neben den
Auslassungen der Sozialdemokratie bereitwillig Unterkunft gewährt, gedruckten)
Büchlein, das sich zwar ehrlich Brutalitäten nennt, aber noch zutreffender
„Bestialitäten" heißen könnte. „Im Verhältnis zu dem, was ich in nächster
Zeit noch zu schaffen gedenke, besitzen die vorliegenden Skizzen nur eine sehr
untergeordnete Bedeutung," sagt der Verfasser Hermann Conradi. Dennoch
verkündet er zu gleicher Zeit emphatisch: „Diese ersten Skizzen sind Versuche,
Präludien zu Studien nud Werken, in denen ein realistisches Kunstkönnen — ich
wähle absichtlich diesen Ausdruck — sich mit Frage» und Symptomen des
modernen Lebens befassen wird. Unser zeitgenössisches Leben bedeutet allerdings
ein so buntes, sinnverwirrendes Durcheinander, daß sich einheitliche Kolossal¬
gemälde nicht schaffen lassen. Da heißt es denn die Hauptstrvmungen gruppen¬
weise zu konzentriren und drum und dran Typen und Charaktere, charakteristische
Szenen und Zeitgebildc zu schildern. Und das alles mit dem Mute und der
Kraft der Wahrheit. j Mut und Kraft der Wahrheit erscheint in sämtlichen
Ankündigungen dieser Art gesperrt gedruckt.^ Und um nehme man unsre Zeit! Und
nun stelle sich ein künstlerisch veranlagter (ver-!) Mensch in die Wirbel und Strudel
der moderne» Zeit, die offenkundiger Indizien nach eine Zeit der Zersetzung,
der Vorbereitung, des Überganges ist. Das den Markt (!) allenthalben be¬
herrschende soziale Moment wird sofort mit seinen Problemen und Konflikten
an ihn herantreten. Nun heißt es dasselbe mit allen Chikanen (!) zu studiren.
Und dann nach künstlerischen Gesetzen, ohne Voreingenommenheit, ohne Willkür,
mit künstlerischer Einseitigkeit, zum Ausdruck zu bringen. Diese Einheit, Ein¬
heitlichkeit ist das wichtigste künstlerische Gesetz. Sie ist so stark zu betonen,
Weil sie natürlich, naturgemäß, naturbedingt ist. Alles Natürliche hat aber die
relativ größte Lebensfähigkeit, besitzt immanente Dauerkräfte. Diese Einheitlichkeit
wird aber zumeist dnrch eine vergeistigte Kombination aller das betreffende
Motiv charakterisirenden Wesenselemente gewonnen. Zu letzterm wird in sehr
vielen Fällen auch das sexuelle Moment gehören. Dasselbe °aus Prüderie, aus
smiktionirter Anständigkeit nicht zu berücksichtigen, bedeutet also einfach ein Ver¬
gehen an natürlichen Knnstgesetzen."
Da muß man denu nun wieder mit Gretchen sagen: „Wenn mans so Hort,
mondes leidlich scheinen, steht aber doch immer schief darum." Was in der Theorie
„leidlich" scheint, wird in der Praxis unleidlich, denn es erweist sich, daß für
diese Schriftsteller das „sexuelle Moment" nicht eines der „das Motiv charak¬
terisirenden Wesenselemeute." sondern schlechthin das einzige, das Ein und Alles
ist. Und in welcher Art gewinnt das sexuelle Element in Herrn Conradis
„Brutalitäten" Gestalt! Es ist einfach ein unwürdiges Spiel, in einer Vorrede
ernsthafte Kunstfragen ernsthaft anfzuwerfe», um dann in Nachtstücken wie
Vieisti ^xuroäito, „In der Gewitternacht" und „Blut, eine Szene nach der
Natur" die ekelerregendsten Widerwärtigkeiten breit auszumalen. Was ist es
für eine Phantasie, die einen jämmerlichen Alltagsmenschen dadurch aufbauscht,
daß sie ihn in demselben Augenblick, wo er seiner Geliebten abschmeichelt, sich
mit ihm in sein Bett zu legen, sein „Ehrenwort" geben läßt, daß er sie nicht
berühren will, sehr natürlicherweise dies Ehrenwort bricht und wahrscheinlich
brechen würde, wenn auch kein Gewitter hinzukäme, und dann an der Seite der
Armen darüber meditirt, ob er gebrochnen Ehrenwortes halber einen Schuß
Pulver an sich wenden dürfe und müsse! Welch eine Phantasie ist es, die in
der letzten „Studie" des Buches den Helden zwischen eine Dirne, welche sich in
seinem Zimmer einnistet und daselbst entkleidet, und zwischen das Sterbebett einer
greisen, armen Mutter stellt und besagten Helden unter den denkbar widrigsten
Umständen, statt seiner Mutter den Todesschweiß abzutrocknen und den letzten
Kuß zu geben, sich in die Arme der Dirne stürzen läßt. Es ist einfach unmöglich,
die ganze Brutalität oder vielmehr Bestialität des Vorganges wiederzugeben;
durch das verlogne Pathos, welches hineingemischt wird, steigert sich die ehuische
Rohheit der Schilderung zum Unerträglichen.
Und hier ist es, wo wir sagen müssen, daß sich die Naturalisten einer be¬
wußten Heuchelei schuldig machen. Sie, die überall gegen die heuchlerische Tugend
der modernen Kultur Protestiren, die sich unablässig auf die „Wahrheit" be¬
rufen, heucheln, wenn sie Bilder und Skizzen, welche sich im Grund und Kern
nur an die Platte Gemeinheit wenden, durch eingestreute aphoristische Redens¬
arten, durch angebliche Ausblicke auf Natur und Gesellschaft zu idealisiren ver¬
suchen. Gewiß, es sind noch zehnmal schmutzigere, frechere und unserthalben
auch stupidere Bücher gedruckt worden als diese Skizzen, und vom Marquis
de sate und ähnlichen Geistern können die Herren in Berlin noch viel lernen.
Aber wenigstens sind die zahllosen literarischen Produkte der gleichen Phantasie-
richtung früher ohne die Prätension, Weltbilder zu sein, aufgetreten, wenigstens
haben sie sich von Haus aus an das entsprechende Liebhaberpublikum gewendet
und weder begehrt, daß die Kritik sich mit ihnen befassen solle, noch anzudeuten
gewagt, daß mit ihnen eine neue Periode der Literatur ansehe. Am aller¬
wenigsten aber haben sie mit halbphilosophischen Kraftphrasen geprunkt, wie wir
sie in den „Brutalitäten" finden. Zu», Exempel: Held Erich steigt auf der Straße
hinter Fräulein Lucie einher, zu der er sich mit dämonischer Gewalt „wie von
den Geißelruten der Aphrodite gepeitscht" hingezogen fühlt. Da entdeckt er,
daß die Dame einem andern Manne an die Brust sinkt. Wahnsinnige Ver¬
zweiflung packt ihn, „es ist ihm ganz egal, wohin er sich treiben läßt." Eine
Straßendirnc spricht ihn an. „Da hätten wir ja wieder so'u Exemplar — na,
tröste dich, Liebchen, sie — verstehst du — sie — sie ist schließlich ebenso gemein
wie du, und dit so gemein wie ich — und keiner ist besser als wir — na, dann
los — fahre zum Hades, scheinheilige Tugend! Wenn alles ans den Fugen ist,
was scheert's mich? Ich habe keine Lust, den Messias zu spielen." Nach diesem
Räuspern ;r I-i Moor geht der Held hin und thut, was er, was die ganze Reihe
dieser Helden nicht lassen kann. In der letzten Skizze, mitten in die Schilderung
von Elise, die im Hemde auf Arthurs Sofa liegt, und der sterbenden Mutter
im Zimmer daneben, schmettert der Trompetenstoß: „Plötzlich traten allerlei
Bilder, visiouenartig auftauchende Erinnerungen, an ihn heran. Er kann ihnen
nicht ausweichen, kann sie nicht von sich scheuchen, er ist ja nicht mehr Herr
über sich — er ist ja einem gewaltigeren Etwas, einer rätselhaften Macht über¬
antwortet. Das Jetzt und die jüngste und jüngere Vergangenheit sind wie tot,
wie ausgelöscht. Die letzte» Jahre seines eigentlichen seelischen Werdens und
Wachsens, seiner Entwicklung zum Jüngling-Mann hin: diese Zeit mit ihren
grandiosen Kontrasten, ihrer überschäumenden Glaubensinnigkeit, ihrem schranken¬
losen Idealismus, ihrem brutal-nervigen, die Eingeweide der Seele zerwühlenden
Skeptizismus, ihrem blassen, farblosen, ausgemergelten Jndifferentismus gegen
alles, was gestaltend, beeinflussend und bildend ans dem Makrvlosmns in
den individuellen Mikrokosmus hinüberströmt; diese Zeit mit ihrer stillen, ge¬
sättigten Blauvcilchenliebe, ihrem träumerischen hellgrünen Maieuglückszcmbcr,
aber auch mit ihren bacchanalischeu Posen und Allüren, ihrem orgiastischen Sinn-
lichteitstriebc, ihrer wahnwitzigen Verbissenheit in einen ästhetisch-bestialischer
Frauenfleisch-Kultus; diese Zeit mit ihren svnnüberstrahlten Gipfelhöhen und
lichtbaren Lcbensticsen, die ihm sonst in jeder Sekunde gegenwärtig war — als
hätte er nie ihr wahnsinnig schönes Glück gefühlt, nie ihre Titanen- und Pygmäen-
schmcrzen durchgekostet, so war sie seinem augenblickliche» Fühlen und Denken
entschlüpft." Und das alles, um eine Szene voller Schamlosigkeit und mit einem
raffinirten Gegensatz darzustellen, der in all seiner Scheußlichkeit einmal mög¬
lich sein mag, den aber niemand für typisch, niemand für irgend etwas andres
als für ausnehmend abscheulich halten wird. Wenn es nicht Heuchelei ist,
da, wo man einfach auf brutale Effekte ausgeht, von einem heiligen Wahrheits-
drange zu reden, nicht Heuchelei, da, wo man die Eingebungen der schmutzigsten
Phantasie in Szene setzt, von tiefern Studien zu fabeln und mit Makrokosmus
und Mikrokosmus um sich zu werfen, nicht Heuchelei, da wo es sich um fenille-
tonistische Fechterstellungen handelt, die Absicht vorzugehen, die Tiefen des modernen
Lebens zu ergründen und sich zu neuen Idealen durchzuringen, so hat Tartüffe
niemals geheuchelt. Wem es Ernst um alle diese Dinge ist, der holt anders aus,
der arbeitet, der konzentrirt seine Anschauung in etwas andern Gestalten als
diese Erichs, Ottos und Arthurs, der stellt die Welt dar, nun wie Zola oder
Dostojewski, Wenns sein soll, als eine Holle, aber nicht mit dieser armseligen
Eintönigkeit von renommistischen Bummlern und Dirnen.
Der Heuchelei, welche die Pose des großen Weltschmerzes macht, um ein
Paar Nacktheiten besser zur Anschauung bringen zu können, gesellt sich eine
Angewöhnung, die entweder auch nur Berechnung auf die Gedankenlosigkeit des
modernen Lesepublikums ist oder einen Mangel an Unterschcidnngsveriuögen
bekundet, welcher der naturalistischen Schule sehr verhängnisvoll werden muß.
Die Wortführer nehmen die Miene an, als ob zwei gruudverschicduc Dinge
ein- und dasselbe wären, als ob die Freiheit, ohne welche eine große und inner¬
lich machtvolle Kunst allerdings nicht gedacht werden kann, und die zügellose
Willkür von fenstereinwerfenden und wändebesudeludcu Gassenbuben garnicht
unterschieden werden könnten. Sie agiren, wie schon eingangs hervorgehoben
ward, mit den Sätzen, auf die auch wir uns berufen müssen. Sie verwechseln
geflissentlich die Anschauung, welche der Literatur und der Dichtung zumal die
Wirkungsfähigkeit der Reinheit, der innern Größe, der Schönheit und der see¬
lischen Tiefe zuspricht und erhalten wissen will, mit jener kvusistorialrätlich-
schulmcisterlichen Befangenheit, welche die poetische Wcltdarstelluug kläglicher¬
weise einschränken möchte lind vor den Kühnheiten Shakespeares und Goethes
erschrickt. Sie gehen von einem unbestreitbare Vordersatz aus und schieben
ihm plötzlich einen bedenklichen Nachsatz unter. Ans der Thatsache, daß mir
Philister und Tröpfe an der keuschen Nackthei techter Plastik oder an dem sinn¬
lichen Reiz einzelner unsterblichen Dichtungen Anstoß nehmen, folgern die Herren
im Handumdrehen, daß jeder, der sich mit Ekel von der gemeinen Lüsternheit
abwendet, jeder, der einen Unterschied zwischen Rafaels Galatea und zwischen
„Pikanten" Bildern macht, wie sie in gewissen Kneipen zwischen Mitternacht und
Morgen heimlich feilgeboten werden, ein Philister und Tropf sei. Diese Art
der Verwechslung spielt in den kritischen Versuche», den literarischen Satiren
der Schule eine Hauptrolle, und es muß denn doch Gimpel genug geben, auf die
sie Eindruck macht. Den» die unglaubliche Unsicherheit, mit welcher ein ge¬
wisser Teil der Kritik den Produktionen der Schule gegenübersteht, läßt sich
nur auf diese Weise erklären.
Namentlich wird diese Unsicherheit der naturalistischen Lyrik gegenüber an
den Tag gelegt. Die bloße Existenz einer solchen Lyrik steht im Wider¬
sprüche mit dem ganzen Prinzip, nach welchem überhaupt nnr die Prosa ein
Existenzrecht in der modernen Literatur hat, doch kann man sich mit dem Ge¬
danken trösten, daß diese Lyrik eine jener Kinderkrankheiten sei, denen ja auch der
tüchtigste Junge nicht völlig entgeht. Auch Henrik Ibsen, der einst eine Reihe
der schönsten norwegischen Gedichte geschrieben, blickt heute auf dieselben als auf
unreife Jngendrcguugen herab. Ob die deutschen Apostel der naturalistischen
Weltliteratur diese Selbstverleugnung besitzen werden, wagen wir nicht voraus¬
zusagen, einstweilen loben sie in ihren Versen sich selbst und einander zu
viel, um große Hoffnungen darauf zu erwecken. Genau genommen müßte sich
die naturalistische Lyrik, wenn sie wirklich nur „neue" Töne (was man denn so
neu zu nennen beliebt) anschlagen will, große Einschränkungen auferlegen. Doch
zeigen sich die meisten ihrer Vertreter nicht so grausam gegen die eigne Phan¬
tasie und die eignen Stimmungen. In dem Lyrischen Tagebuch von Karl
Bleibtreu (Berlin, Steinitz und Fischer), in der Sammlung Aus tiefster
Seele vou Wilhelm Arme (mit einem Gcleitswvrt von H. Conradi; Berlin,
Kankas) und in einigen andern Erzeugnissen finden sich genug Gedichte, und
nebenbei sogar schöne Gedichte, welche der verachteten Poesie der „Wonnebruuzler,
Feigcnblättler" recht nahe verwandt sind. Dies beweist nur, daß die ursprüng¬
liche Anlage der Dichter eine gute, ihre poetische Empfindung eine teilweise un-
verkünstelte, uicht überhitzte, übersteigerte war, daß neben der Trunkenheit pan-
theistischer Phrasen und revolutionärer Tiraden auch gesunde Leidenschaft,
Herzenswürme, ehrlicher Anteil an Glück und Leid in ihnen vorhanden und
wirksam sind. Wer leugnet das? Aber was beweist es für den Ton, in dem sich
die Herren da gefallen, wo sie sich ganz eigentümlich, ganz groß dünken? Ohne
geschmacklose Ausfälle wider die Dichter, die sich erkühnt haben, vor den Natu¬
ralisten zu singen (Ausfälle, welche nicht schlechter, aber wahrhaftig mich nicht
besser sind als die Pöbelhaftigkeiten, mit denen vor fünfundvierzig Jahren die
politischen Dichter gegen alle nichtpolitischen Lyriker zu Felde zogen), geht es
natürlich nicht ab. Das im Conradi-Bohueschen Faschingsbrevicr enthaltene
Gedicht „An den guten Mond" drückt die freundliche Grundgesinnung der mo¬
dernen Stürmer sehr drastisch aus:
Seh' ich nicht noch immer Pinsel
Stehn an Vabyloniens Fluß?
Geht nicht immer noch ihr Gewinsel
Nach romantischem Zauberkuß? Strahlt nicht immer noch dein „Frieden"
In ihr stilles Knmmcrleiu?Flöße den Welt- und Lebensmüden
Impotente Sehnsucht ein?
Daß sie all der Henker hole!
Daß die Dilettautenbrut
Doch ersticke ihr Gejohle,
Doch ersoff'ihrer Verse Flut!
Sollen deine Hcergcsellen,
Schwindsuchtblcich und kummcrtotl,
Bei der Zeiten Frühlingsschwellen
Winseln in verivaschncin Moll?
Freiheit ist der Zeilen Sehnen!
Kruft und Streitruf ihr Begehr!
Und statt Seufzern und statt Thränen
Heischen sie Zornmnt, Briinn' und Speer.Die romantischen Fnschingsknppen,
Reißt sie endlich euch vom Ohr!
All den Flitter, all die Lappen!
Seht zu eurem Ziel empor.
streift von euren sünd'gar Gliedern
Eurer Feigheit Flitterkram.
Und es glüh' in Reneliedern
Endlich eurer Sünden Sehnen,
Jedermann wird einräumen, daß dieser lyrische Ton dem Tenor der natura-
listischen Prvsavorredeu völlig entspricht, jedermann anch empfinden, daß er
weder Mannichfaltigkeit gestattet, noch besondern Genuß zu geben verspricht.
Auch die pantheistischen und pessimistischen Elemente in der untnralistischen Lyrik
wollen neu sein. Lieber Himmel, sie sind zum guten Teil nicht jünger als
die indische Religionsphilosophie und das Buch Hiob, und die Schuler Buddhas
wie die Freunde Hiobs hatten vor den Jüngstdeutschen zwischen Oberbaum und
Unterhalten allerhand voraus, was wir nicht besonders zu betonen brauchen.
Natürlich sprechen wir den Lyrikern der neuesten Schule keineswegs das Recht
ab, urewigen Stimmungen der Menschenseele, innern Erlebnissen, die sich fort
und fort erneue», nach ihrer Weise erneuter Ausdruck zu geben. Je sub-
jektiv-wahrer die Empfindung, je ergreifender der Ausdruck ist, umso besser!
Unleidlich allein dünkt uns das Gebahren, als ob diese jugendlichen und viel¬
fach unreifen Dichter die ersten wären, welche den Schmerz über die Täuschungen
des Lebens oder die ergebne Fügung in den unabänderlichen Lauf der Dinge
schon und weihevoll ausgesprochen hätten. Die „Neuheit" in diesen poetischen
Ergüssen erstreckt sich nicht über das einzelne anschauliche und eindringliche Bild,
die glückliche Wendung, den wohllautenden Vers hinaus, daneben länft aber
soviel gepreßte Reflexion, künstliche übertriebne Rednern, ja garstiges Gewäsch
mit unter, daß im Vergleich mit ihnen sich die Ansprüche auf Unsterblichkeit
ziemlich komisch ausnehmen.
Die Kühnheiten oder Nacktheiten ihrer Erotik bilden weiterhin ein Haupt-
ingrediens der naturalistischen Lyriker. Nach allem, was über die Novellistik
auseinandergesetzt ist, darf es uns nicht Wunder nehmen, daß sich auch hier
die Sinnlichkeit selten mit der Anmut, sondern meist mit brutaler Häßlichkeit
Paare. Groß Geschrei ist davon nicht zu machen, jeder besingt, was er er¬
lebt hat; schon die fahrenden Schüler bei Scheffel klagen:
Kleidung ist dünne, Spreituug ist roh,
Ach und die Minne? Im Heu und auf Stroh!
N»r ein Bedenken können wir nicht unterdrücken: ob die jüngsten Lyriker bei
ihren Schönen, welche sie dem Publikum unbefangen als Dirnen und womöglich
als Dirnen der untersten Gattung, zu malen lieben, sonderliche Ehre einlegen
werden. Meist wünschen mich diese Damen in einer günstigeren Beleuchtung zu
erscheinen, als ihnen hier zu Teil wird. Dem Publikum gegenüber sind die
freien Liebesschilderungen, wie sie Herr Arendt und einige seiner Genossen zum
Besten geben, ja ohnehin nichts als Bravaden. Üppigkeiten, die so reizlos sind,
verführen nicht.
Ein letztes Moment tritt in der naturalistischen Lyrik als charakteristisch
hervor: die Neigung zu den Lehren und Hoffnungen der Sozialdemokratie.
Sie erhebt sich manchmal zu einer Art von prophetischem Pathos in einzelnen
Dichtungen, wie das anonyme „Revolution" in dem mehrsach erwähnten
Faschings-Album:
In meine Nächte brach ein Heller Schein
Von einem letzten Hoffnungsstrahl herein:
Aus Graus und Nacht und Weltenuntergang,
Ans Unheil, Mord und Lasterüberschwang,
Aus eines Weltcnsturzcs Trümmerfall
Steigt leidgeboren auf den leeren Thron
Die neue Göttcrgencration!
Jetzt kann ich, blutig Bildnis, dich ertragen
Und schaue dir ins Antlitz ohne Zagen:
So dröhne deines Tags Posaunenhall!
So nahe denn! Wirst gleich dn mich nicht schonen:
Längst starb mein jugendthörichtes Verlangen;
Wenn meine Wünsche noch an etwas hangen,
So sinds der Wahrheit heil'ge Miirt'rerkronen.
Meist aber gefällt sich dieser Teil der naturalistischen Lyrik im giftigsten Hohne
gegen alles, was unsre Kultur und unser nationales Leben noch zusammenhält,
so Arno Holz, so Otto Ehrlich in „ Mene Tekel, Harmlose Reimereien
eines Modernen" (Zürich, Verlags-Magazin). Der letztere verkündet mit großem
Wohlbehagen, daß Franzosen und Slaven die „hündische Germanenseele" zertreten
nud ihre Tempel niederreiße» werden. Hier, dünkt uns, hört die literarische
Kritik auf, die Brandmarkung und die Abwehr solcher Gesinnung versetzt uns
auf das Gebiet des politischen Kampfes. Als eine Mahnung mehr, daß wir
nicht mehr in der elften, sondern in der zwölften Stunde vor dem Kampfe leben,
mag auch die sozialdemokratische Gruppe der naturalistischen Lyriker nicht un¬
beachtet bleiben. Der poetische Wert dieser Produkte ist lächerlich gering, aber
Bedeutung als Zeichen der Zeit läßt sich ihnen nicht absprechen; an der Nation
ist es, die frechen Prophezeiungen dieser „Dichter," die ihre Sprache verun¬
glimpfen, zu Schanden zu machen.
nur nicht alles trügt, ist Gladstone jetzt selbst überzeugt, daß er
mit seinen irischen Plänen im Unterhause ans keine Mehrheit
mehr zu hoffen hat. und denkt infolgedessen um Auflösung des
letzteren und Berufung an die Meinung und den Willen des
Volkes. Er hat, wie er jetzt einsehen muß, die Stärke des
Widerwillens der englischen Liberalen gegen jede Zerreißung der Union mit
Irland unterschätzt und zuviel auf die Anziehungskraft gegeben, die feine Pro¬
jekte für die Partei darin hatten, daß sie das Haus der Gemeinen von der
Anwesenheit der Homeruler befreien und den englischen Gutsbesitzern in Irland
eine gute Abfindung für ihr Grundeigentum verschaffen sollten. Die Erörterung
seines Gedankens in der Presse und im Parlamente muß ihm gezeigt haben
daß er sich eine viel schwierigere Aufgabe gestellt hat, als er aufangs meinte,
und wenn er nunmehr wissen muß. daß eine zweite Lesung seiner beiden Gesetz¬
entwürfe nur dann durchzusetzen sein würde, wenn er in letzter Stunde auf
Chamberlciins Forderung einginge und die irischen Parlamentsmitglieder in
ihrer jetzigen Zahl für immer in Se. Stephens belassen zu wollen erklärte, so
kann er dieser Erkenntnis nicht wohl Folge geben, da dies ein gar zu starker
Umschwung sein würde und er dabei schwerlich auf die Zustimmung Parnells
und seiner Anhänger zu rechnen hätte. Er hat seine Vorschläge in erster
Linie als Parteihaupt gemacht, und er bereitet sich jetzt auf die nahe Ableh¬
nung der zweiten Lesung derselbe» in der Ueberzeugung vor, daß, gesetzt selbst
den unwahrscheinlichen Fall, sie würden im Prinzip annähernd gut geheißen,
neue und kräftigere Augriffe in der Kommission sie vollständig umgestalten
würden, und daß die Session mit einem gänzlichen Zerfall der liberalen Partei
endigen würde. Es scheint ihm daher nur der Ausweg eiuer Befragung der
Wählerschaft des Landes übrig zu bleiben. Allerdings hätte diese Maßregel
ihr Bedenkliches: die liberale Partei ist erschüttert, ihr Zusammenhalt gelockert,
und „Abtrennung von Irland" wäre, wie geschickt man mich die Sache ver¬
hüllen möchte, gewiß keine glückverheißende Parole für eine Wahlkampagne.
Zwar glaubt Gladstone ohne Zweifel, daß die Mehrheit der Wähler für ihn
sei, und daß sein Ansehen, sein Eifer und seine Beredsamkeit ihn an der
Spitze einer Majorität für die Abtrennung Irlands nach Westminster zu¬
rückführen und zum unbeschränkten Herrn der Lage machen würden. Indes
könnte diese Hoffnung trügen, auch könnten gewisse Betrachtungen, welche den
Weg einer Auflösung des ungefügigen Unterhauses widerrate», den Premier¬
minister noch im letzten Augenblicke bestimmen, sich anders zu entschließen, vom
Amte zurückzutreten und denn abzuwarten, welchen Lauf die Dinge daraufhin
nähmen. Sollte sich eine Mehrheit des Unterhcinses gegen die zweite Lesung
der irischen Bill Gladstones ergeben, so würde der natürliche Verlnnf in einem
neuen englischen Parlamente, das eine Menge wichtiger Geschäfte vor sich sähe,
der sein, daß Lord Hartingtou, der Führer der erfolgreichen Bewegung unter
den Liberalen, von der Königin berufen würde, ein neues Kabinet zu bilde»,
und daß er diesem Rufe Folge leistete. Gleichwohl könnte er zögern, und zwar
aus guten Gründen. Es fragt sich sehr, ob die Anhänger Gladstones diesem
Ministerium, obwohl es einen liberalen Charakter Hütte, billige Unterstützung
gewähren oder sich lieber mit deu Homernlern zusammenthun würden, um es
zu hemmen und zu bekämpfen. Es würde wünschenswert sein, dem neuen Kabi¬
nette die Gaben zu gewinnen, deren Besitz Lord Roseberry in der auswärtigen
Politik an den Tag gelegt hat. Dasselbe gilt von der Vestätignng einiger
andern Mitglieder der jetzigen Regierung. Aber von allen ist zu bezweifeln,
daß sie zu haben sein würden. Die Konservativen würden dagegen nicht zau¬
dern, Hartington ihren Beistand zu leihen, dafür birgt die ganze Haltung ihres
Führers Salisbnrh während der jetzigen Krisis; aber die Aussichten Harting-
tvns ans ein erfolgreiches Regiment blieben trotzdem keine glänzenden. Eine
andre Möglichkeit, die sich vielleicht verwirklichen würde, wenn Hartington sich
endgiltig weigerte, die Erbschaft Gladstones anzutreten, ist ein konservatives
Ministerium, gestützt auf das Versprechen der unionistischen Liberalen, ihm
im großen und gauzeu zur Seite zu stehen. Aber auch eine solche Negie¬
rung würde unaufhörlich in Gefahr schweben, wenn die separatistischen
Liberalen, mit den Homernlern Hand in Hand gehend, sichs angelegen sein
ließen, in Westminster und in Irland Störung und Verwirrung hervor¬
zurufen. Überdies aber ist anzunehmen, daß Lord Salisbnrh, der hierbei als
Premier zu denken wäre, wenigstens für einige Zeit genug von der falschen
Stellung hat, in welche ihn die letzten Wählen versetzten, und aus welcher er
sich durch den bekannten Cvllingsschen Antrag gewiß weniger verdrängt als
erlöst sah. So bleibt nur noch eine dritte Möglichkeit übrig: die Idee eines
Koalitionsministeriums, gegen die man hie und da den ziemlich thörichten Ein¬
wand erhebt, England liebe keine Koalition, als ob nicht alles von ihrem Wesen
und den Umständen abhinge, unter denen sie zustande kommt. Immerhin aber
hat jene Behauptung einigen Sinn, wenn man daran denkt, daß die Parteien
bei solchen Kompromissen in gewissem Maße gegenseitig ihren Meinungen ent¬
sagen, und innerhalb eines bestimmten Kreises von Fragen die Gesetzgebung in
ihrem Gange unterbrochen wird. Vielleicht war es eine Ahnung von allen
diesen Schlvierigkeiten, wenn neulich der Vorschlag laut wurde: sollte Gladstones
Home-Unke-Bill verworfen oder zurückgezogen werden, so könnte das Unterhaus
sich einigen, dem Ministerium Gladstone in einem Votum sein Vertrauen aus-
zusprechen, dem selbst Hartington sich vielleicht anschließen würde. Eine solche
Auffassung der Lage und der Rat, irgendetwas für eine günstige Abstimmung
zu thun und dann die Bill zu suspendiren, stammen aus dem Kreise politischer
Chimären, in welchem man eine Maßregel, durch welche die irische» Abgeordneten
aus dem britischen Parlamente entferut werden, als keine Trennung Irlands
von England gelten läßt. Die große Anzahl und das entschlossene Auftreten
der dissentirenden Liberalen in der letzten Versammlung dieses Flügels der
Gladstouianer lassen die oben angeführten Schwierigkeiten als nicht unüber¬
windlich erscheinen. Gladstone selbst wird ans dieser Versammlung ersehen
haben, daß seine Projekte im jetzigen Unterhause verloren sind, und sich nun
zu einer leidenschaftlichen Berufung an das Volk rüsten. Er hat weder von
einer Suspension der beiden irischen Gesetzentwürfe noch vou einer Herbstsessivn
viel zu hoffen, die nur Ausweichen und Zeitverlust bedeuten würden, da der
Plan des Home-Rule doch nicht vor Volksversammlungen, sondern vor die
verfassungskundigen Abgeordneten des Volkes gehört, wenn es sich um ein end-
giltiges Urteil darüber handelt. Sollen die Wählerschaften aber darüber be¬
fragt werden, so muß man die Frage so einfach wie möglich fassen und nichts
von Details hineinmischen. Sie sollte dann etwa folgendermaßen laute»: Sollen
wir in Irland und anderwärts eine Selbstregierung einrichte», welche die Jr-
länder und andre i» den Stand setzt, ihre häuslichen Angelegenheiten unter
dem ungeschmälerten Ansehen und Einsliisse des NeichSparlameutes zu gestalten
und zu verwalten? Oder sollen wir in Dublin eine dem britischen Parlamente
gleichgestellte, mit ihm rivalisireude Gesetzgebung schaffen, die periodisch als
Gegnerin des Neichssenats auftritt und zu allen Zeiten auf Unterdrückung und Be¬
einträchtigung des Nordens der Insel, der Bewohner von Ulster, ausgehen wird?
Dies weist uns ans eine weitere Verlegenheit Gladstones hin. Es scheint
nicht mehr zweifelhaft zu sein, daß die Leute von Ulster sich gegen eine Herr¬
schaft Parnells und seiner Partei auflehnen würden. Damit soll nicht behauptet
werden, daß ein Physischer Zusammenstoß zwischen den Protestanten im Norden
und den Katholiken im Süden in naher Zukunft liegt. Die Befugnis zum
Widerstande gegen ein Parteiregiment der Parnelliten wird sich allerdings dem
Volke Ulsters nicht wohl abstreiten lassen, am wenigsten von Gladstone und den
englischen Liberalen und Radikalen. Die Opposition gegen Parnell, so sagen die
Wortführer derselbe», würde Rebellion gegen die Königin sein, weil die neue irische
Regierung durch eine von dieser sanktionirte Parlamentsciktc geschaffen wäre. Das
entscheidet indessen die Sache nicht. Ein Vertrag, welcher die Engländer und Hol¬
länder der Kapkolonie an Frankreich abträte, könnte von der Souveräniu unter¬
zeichnet und vom Parlamente gutgeheißen worden sein, ohne daß jene Kolonisten,
wenn sie sich weigerten, den neuen französischen Herren zu gehorchen, Empörer
gegen England und dessen Königin zu nennen sein würden. Wenn Parnell der
Vizekönig oder Staatssekretär der Königin werden, wenn das britische Parlament
die oberste Entscheidung über seine Maßregeln haben, wenn eine Berufung von
seinen Entscheidungen an die Svuverünin von England gesetzlich zulässig sein
sollte, so würde ein Vorgehen gegen seine Autorität allerdings einer indirekten
Auflehnung gegen die Königin gleichkommen. Das Wesentliche bei Gladstones
irischen Gesetzentwürfe ist die volle Unabhängigkeit seines Dubliner Parlaments
in allen Dingen, die nicht ausdrücklich als verboten aufgeführt sind, und dar¬
unter befinden sich die Rechte Ulsters nicht. Das Reichsparlament würde auf
nichts fußen können, wenn es sich als Vermittler oder Richter in einen Streit
zwischen Parnell und seinen Unterthanen in Andria, Armagh, Derry und Door
mischen wollte. Deshalb würde der Widerstand von ihrer Seite sich nicht gegen
die Königin Viktoria, sondern gegen die Machte richten, welche ihre Herrschaft
aus Irland verdrängt hätte. Wenn man aber sagt, daß jeder Ungehorsam gegen
eine gesetzlich bestehende Behörde moralisch unrecht ist, so gehört das mehr in
die Theologie als in die Politik, und keine englische Partei hat bisher nach
diesem Grundsätze gehandelt. Alle italienischen Herrscher vor dem Jahre 1859
waren gesetzlich auf ihre Throne gelangt, und trotzdem sympathisirte Gladstone
von ganzen: Herzen mit den Versuchen der italienischen Patrioten, sie zu stürzen,
und ein andres Mitglied des gegenwärtigen Ministeriums war der vertraute
Freund Mazzinis, der sein ganzes Leben darauf verwendete, Aufstände gegen
diese Könige und Herzoge zu organisiren. Die Regierung der Vereinigten
Staaten war gewiß so legitim als irgend eine andre auf Erden, und welcher
Engländer hätte jemals einen Tadel über Stvnewall Jackson und Robert Lee,
ja über Jefferson Davis ausgesprochen? Die englischen Radikalen, welche es
ganz in der Ordnung finden, daß irische Katholiken sich gegen die englische
Herrschaft auflehnen, halten es für etwas schreckliches, wenn die Protestanten
Ulsters von Widerstand gegen den Süden sprechen. Die Königin darf gelästert
werden, aber es ist fast ein Sakrilegium, nicht hochachtungsvoll von Herrn
Parnell zu reden. Die vier Millionen Katholiken, die in Irland leben, sollen
befugt sein, nicht nur sich selbst zu regieren, sondern auch die 1^ Millionen
Protestanten zu beherrschen, welche ans vielen guten Gründen ihr Regiment
verabscheuen und an dem englischen Mutterlande festhalten. Warum sollte
Gladstone in dem Hasse gegen die englische Krone, dein er bei den irischen
Namem begegnet, etwas Natürliches, ja etwas Heiliges und Shmpathie bean¬
spruchendes erblicken, vor der Opposition der Männer von Ulster aber das
Gegenteil von Achtung empfinden dürfen? Wenn die Weigerung derselben,
Parnell als Gebieter anzuerkennen, schließlich zu bewaffneter Widersetzlichkeit
würde, so wäre das eine Rebellion, die sich jedenfalls schwerer verurteilen ließe
als irgend eine, von der die Geschichte berichtet. Erstens hat die Mehrheit des
Reichsparlaments, obwohl es dem Gesetze nach die oberste Entscheidung hat,
kein moralisches Recht, die Untcrthanenpflicht so vieler Unterthanen der britischen
Krone auf andre Personen zu übertragen: es kann sie von ihren Verbindlich-
keiten lossprechen, sie aber nicht unter „fremde" Herrschaft stellen — wir sagen
„fremde," denn Gladstone hat uns erklärt, daß Irland und England gegen
einander Ausland sein sollen. Als eine Parlamentsakte die Regierung Indiens
der Ostindischen Gesellschaft entzog und der Königin übertrug, erklärten die eng'
lischen Soldaten der Gesellschaft, sie wären zum Dienste für die letztere arge-
worden, und ihre Verpflichtungen ließen sich nicht ohne weiteres für die Königin
umschreiben, und sie waren nahe daran, zu mentem, als die Regierung auf die
Bedingungen, die sie stellten, einging. Das Recht der Bevölkerung Ulsters (ge¬
nauer Ost-Ulsters) ist aber viel stärker. Sie halten es in jeder Beziehung mit
Großbritannien; denu sie sind durch Abstammung, Überlieferung und Glauben
teils Engländer, teils Schotten, sie sind es anch mit ihrer Genebenhcit, ihrem
Starrsinn, ihrem Gewerbfleiß und ihrem Gedeihen in Geschäftssachen, sie sind
mit hundert Banden der Verwandtschaft, der Verschwägerung, des geschäftlichen
Lebens und der Politik an das Vereinigte Königreich gefesselt und kennen
zwischen sich und diesem keine andre Grenze als die See. Selbst wenn sie an
Gladstones Traum von einem unter der Herrschaft von Bauern und Priestern
glücklicher als bisher lebenden Irland als an eine Wahrscheinlichkeit glauben
könnten, würden sie die Sache als Linsengericht für ihr Erstgeburtsrecht von
sich weisen. Sie sind mit dem Volke im Osten des Gevrgskanals durch und
durch verwachsen, ein Fleisch und Blut mit ihm. Sie haben mit mancherlei
Leistungen, als Krieger und als Beamte, zu seiner Größe beigetragen. Und
jetzt sollen sie von seiner Seite gerissen und von Fremden geknechtet werden,
weil diese, größtenteils aus den ärmsten, elendesten und für den Fortschritt un¬
tauglichsten Bauern der Welt bestehend, ungestüm darnach schreien. Man denkt
unwillkürlich dabei an Lear und seine Töchter. Cordelia wird verstoßen, und der
alte König erklärt sich für Goneril und Regan und teilt sein Reich unter sie aus.
In der That, die Weigerung des östlichen Ulster, sich zur Unterwerfung
unter den Willen Parnells zu bequemen, hat ein sehr ernstes Ansehen. Wir
glauben nicht, daß sofort nach einer Verwirklichung der irischen Absichten Glad¬
stones eine Schaar von Leuten aus Connaught und Münster gen Norden auf¬
brechen würde, um die sezessionistischcn Grafschaften Ulsters für das neue Irland
zu erobern. Mit einer militärischen Organisation des letztern wird es gute
Weile haben. Die Bauern des Südens haben deu uicht beneidenswerten Mut
gehabt, einzelne Gutsherren meuchlerisch niederzustoßen und einsam wohnende
Pächter zu boyeottircn; daß sie zu Soldaten langen, haben sie noch zu beweisen.
Sie haben Überfälle bei Mondschein ausgeführt, aber uoch niemals vor be¬
waffneter Gendarmerie standgehalten. Ulster zu bezwingen, ist mehr erforderlich
als die Courage, die mit einer Schrotflinte hinter einer Hecke hervorschießt. Par-
nell würde schwerlich so bald eine Streitkraft zusammenbringen, welche hinreichte,
um den sezessionistischen Grafschaften sein Joch aufzunötigen, bei ihnen seine
Richter einzusetzen und von ihnen Steuern einzutreiben. Deshalb hat kein Lieb¬
haber des Friedens, wenn man in Ulster daran denkt, sich zu bewaffnen, um
für alle Fälle gerüstet zu sein, viel Ursache, sich zu ängstigen, daß parnellitische
Bataillone versuchen werden, den Bohne zu überschreiten und dem trotzigen
Grimm der strammen Presbhtericmer des Nordens eine Schlacht anzubieten.
Parnell wird kaum geneigt sein, gleich zu Anfang seiner Herrschaft ein Art
Bürgerkrieg anzufachen, der Züge eines Glaubenskrieges zeigen würde. Er wird
schon aus letzterm Grunde Vorsicht für das bessere Teil der Tapferkeit halten.
Er wird sich durch die Erinnerung an die Schreckensszenen von 1789 warnen
lassen. Aber es find andre Gefahren von dein Widerstände des Nordens zu
fürchten. Die Jrlcinder von der Partei Parnells kennen das Schicksal, das
ihnen bevorstünde, wenn sie das Volk von Andria, Armagh und Door mit
den Waffen zwingen wollten, ihnen zu gehorchen. Belfast aber, sowie Lisburn
und ein großer Teil von Derrh besitzen eine starke Bevölkerung von katholischen
Tagelöhnern und Fabrikarbeitern irischen Stammes, welche die Ansichten und
Bestrebungen ihrer Glaubensgenossen und Stammverwandten im Süden meist
teilen. Diese Bevölkerung würde sich bei einem Widerstande des Nordens gegen
die Übcrantwortuug desselben an den Süden schwerlich zu Gunsten des letzter»
zu offnem Aufstande entschließen. Aber die Fabriken und Speicher des Nordens
würde» durch diese Volkselemente gefährdet sein, die oft genug gesehen haben, was
serische Sendlinge aus Amerika gegen englisches Eigentum versucht und mitunter
zustande gebracht habeli. Das Dynamik, welches das Ministerium Gladstone
neben der parlamentarischen Aktion der irischen Nationalisten eingeschüchtert und
auf falsche Wege, zu gefährlicher Nachgiebigkeit getrieben hat, ließe sich für
den neuen Verlmndcteu dieses Kabinets, gegen die protestantische Industrie
Ulsters, verwenden. Auch solche Bedrohung wird den Entschluß des Nordens,
sich der Parnellschen Negierung nicht zu fügen, schwerlich erschüttern. Aber sie
fügt dem Bilde des zukünftigen Irlands einen neuen Zug hinzu. Dieses Bild
ist nichts weniger als anmutig. Es widerholt das Schauspiel der Jahre kurz
vor und kurz uach 1798 und dieses Jahres selbst mit seine» Sektenkämpfen, seine»
Metzeleien und seinen Mordbrennercien, ein Schauspiel, welches durch Anwendung
von Dhnamitvatrvnen zur Vernichtung der Gegner noch verschönert wird.
Wenn es liberale Engländer giebt, welche dieser Katastrophe mit Gleichmut
entgegensehen, weil irische Zwietracht sie als Nichtirläuder nichts angeht, so ist
dies ein Irrtum, selbst wenn man sich Irland als vollständig von England ge¬
trennt vorstellt. Irland nämlich würde unter dem »euer Regimente sehr wahr¬
scheinlich das ärmste Land in Europa sei» oder bald werde». Kein Kapitalist
von gesundem Menschenverstande würde geneigt sein, der Dubliner Exekutive
auch nur das kleinste Darlehen zu gewähren oder in einer unter deren Einfluß
stehenden Industrie Geld anzulegen. Handel und Gewerbthätigkeit würden in¬
folgedessen dahinsiechen und rasch von Kräften komme», und diese kommerzielle
Schwindsucht Irlands würde wiederum zur Folge haben, daß Tausende und
Abertausende irischer Tagelöhner und Fabrikarbeiter nach England und Schott¬
land auswandern würden. Schon jetzt drückt der Jrlcinder, der mit geringer
Nahrung, schlechter Wohnung und dürftiger Kleidung zufrieden ist, in Liverpool,
in Glasgow, in London und ander» Städten östlich vom Georgskanal, ja selbst
in ländliche» Kreise» de» Lob» des englischen Arbeiters in solchen Zweigen
der Thätigkeit, die wenig Geschick verlangen, durch Aufbieten seiner Befähigung
zu niedrigem Preise empfindlich herab. Infolge der Ausdehnung des Wahl¬
rechts durch Gladstone werden jene englischen Arbeiter starken Einfluß auf die
Zusammensetzung des neuen Unterhauses übe», wenn Gladstone das jetzige auf¬
löst. Ob sie sich wohl klar gemacht haben, daß ein durch Bürgerkrieg und
Flucht des Kapitals heruntergekommenes Irland ein Irland sei» wird, das
Tausende vo» Konkurrente» auf den englischen Arbeitsmarkt wirft, die ihre
Löhne schmälern und ihnen den Brotkorb höher hängen? Man sollte meinen,
daß sie daS eher begriffen als viele andre Wahrheiten.
amoens empfand aufrichtigen Schmerz um den Tod des greisen
Helden, welcher ihm edle Teilnahme bewährt hatte; er hätte
gern alle seine Gedanken bei der Erinnerung an Pachecos Nuhmes-
thaten festgehalten, aber umsonst kämpfte er gegen die Geister
des verflossenen Abends. Wie er diesen Morgen nur halb bei
der schlichten Bestattung Joanas gewesen war, so fühlte er mich jetzt, daß er
ohne den rechten Anteil in dem endlosen glänzenden Zuge mitschritt. Vor ihm
und über ihm rauschten umflorte Banner, doch ihr Wallen und Wehen führte
seine Seele heute nicht in vergangne Tage zurück. Nicht was gewesen war,
nur was kommen sollte, was die nächste Stunde bringen würde, befing ihn.
Als er bei einer Wendung des Weges die Fidcilgos an sich vorüberschreiten sah,
Barreto und die Brüder Evora erkannte, als er wahrnahm, in welcher Trauer
sie nach dem großen goldnen Kruzifix blickten, das den Wagen überragte, auf
welchem der Sarg des Marschalls stand, da empfand er schmerzliche Scham,
daß er, er mochte wollen oder nicht, eben den Tag herbeisehne, vor welchen,
diese edeln und ernsten Männer heute mehr als je zuvor bangem. Die Zere¬
monie näherte sich rasch ihrem Ende, die Hunderte, welche dem Trauerzuge ge¬
folgt waren, drängten sich um die Kapelle, in welcher nur Dom Sebastian und
seine Umgebung und die vornehmsten der Christnsritter Raum fanden. Camoens
sah und vernahm nicht das mindeste von der feierlichen Übergabe, alles aber, was
in den dichtgedrängten Reihen gesprochen ward, zwischen denen er verschwand, und
was an sein Ohr drang, erfüllte ihn mit tiefem Widerwillen. Das flüsterte,
zischelte, raunte von gleichgiltigen Dingen, von der Sorge um einen guten
Abendtrunk für heute, vom Staube der Straße bis Lissabon, von den sieben¬
hundert fremden Seeleuten und Knechten, die in den letzten Tagen für den
Dienst des Königs geworben worden waren, von den kostbaren Pferden, mit
denen Dom Sebastian heute Morgen die Brüder Casalinho — den Jägermeister
wie den Admiral — beschenkt hatte. Nirgends ein Wort, ein Laut, die ver¬
raten hätten, daß diesen Leidtragenden der Tod des besten Helden von Portugal
sonderlich zu Herzen gegangen wäre. Je mehr der Dichter ihrer nichtigen
Gleichgiltigkeit inne ward, umso brennender verlangte es ihn, besser zu sein
als sie und wenigstens diese Stunde mit ganzer Seele der Erinnerung a»
Antonio Pachceo zu leben. Und eben in dieser Stunde gelang es ihm dennoch
nicht, die dunkle Unruhe und Spannung zu besiegen, welche ihn erfüllten und
seinen Blick von Zeit zu Zeit über das schimmernde Gepränge von Menschen,
Waffen, Bannern, Wappenschilder und Heroldstcibeu hinirren ließ.
Camoens atmete erst freier, als sich die geschlossenen Reihen lösten, die
Massen, welche die Kapelle umstanden hatten, rückwärts zu finden begannen und
der König mit seinem Gefolge zu Pferde stieg, um in seinen Palast zurück¬
zukehren, nachdem er den Trauerwagen mit der Gelcitsschaar der Christusritter
an sich hatte vorüberziehen lassen. In dem wirren Getümmel, welches un¬
mittelbar darauf entstand, strebte er sich mit Barreto rasch wieder zusammen¬
zufinden. Und indem er nach dem Freunde umherblickte und mit Grüßen nach
rechts und links den Menschenschwarm teilte, sah er Barreto noch in der
Nähe der Kapelle an den Stamm eines Ahornbaumes gelehnt, neben ihm einen
jugendlichen Reiter, welcher bei Barreto zurückgeblieben war, als der König und
sein Gefolge vorüberbrausten. Der herankommende Camoens erkannte den jungen
Herzog von Braganza, den Pagen des Königs, und hörte Senhor Manuel zu
demselben sagen: Habe Dank, Fernau, und sage deiner erlauchten Mütter, daß ich
in einer Stunde zu ihren Befehlen bin. Ich würde Cintra nicht verlassen haben,
ohne ihr aufzuwarten, doch da sie mir die Ehre erweist, mich rufen zu lassen, so
komme ich noch diesen Abend und darf nach deiner Botschaft erwarten, ihr
willkommen zu sein.
Der Page grüßte und trieb sein Pferd mit leichtem Schlage an, um den
König und feine Begleiter einzuholen. Camoens bemerkte, sowie sich Barreto
zu ihm wandte, daß sich in den Zügen des Freundes ein Schatten von Sorge
dem Schatten der Trauer beigesellt hatte. Manuel legte seinen Arm in den
von Camoens und sagte: Kommt mit mir zu Okaz zurück! Ich hatte darauf
gezählt, einen ruhigen, erinnerungsreichen Abend mit Euch zu verleben, doch
es scheint, daß uns erst in Almocegema so wohl werden soll. Die Herzogin
von Braganza verlangt mich zu sprechen — ich fürchte, sie hat mir ein schwer
bekümmertes Herz auszuschütten. Wer wäre nicht bekümmert in diesen Tagen?
Camoens war es, als ob Barreto vermeide, ihn anzusehen, er erwiederte
daher nur: Ihr werdet erfahren, daß die Herzogin meine Sorgen um Esmah
und Catalina Palmeirim teilt. Die Kunde von der Ermordung der kleinen
Hirtin wird auch in den Palast gedrungen sein; alle, welche an Esmcchs Be-
freiung Anteil genommen haben, mögen auf der Hut fein. Wir aber sollten
die schutzbedürftiger Frauen keine Stunde außer Augen lassen.
Wollt Ihr Euer Versprechen zurücknehmen, Luis, mit dem frühesten
Morgen nach meinem Gute heimzukehren? fragte Barreto in bekümmerten Tone.
Ich kaun mir vorstellen, daß sich Euer Herz dagegen empört; doch wenn mein
Rat Euch noch gilt, so geht gewiß nach Almocegema. Hier weht eine Luft,
die keinem gedeihlich ist, geschweige denn Euch, Luis.
Jetzt hatte Manuel doch dem jüngern Freunde sein Gesicht ganz zuge¬
wendet, Camoens konnte in demselben wieder einmal den Ausdruck warmer,
selbstloser Teilnahme und ehrlichen Baugens erblicken. Überwältigt vom Augen¬
blicke entgegnete er rasch: Wenn Ihr selbst, von der Herzogin zurückkehrend,
noch der Meinung sein werdet, daß wir hier überflüssig sind, so bleibt es bei
unsrer Abrede, ich halte schon morgen wieder unter König Diniz' Baum Siesta.
Er verschwieg, daß er noch immer insgeheim auf diesen Abend, ans ein
Begebnis, ein Schicksal harre. Doch sah er deutlich, daß auf Barretos Lippen
ein Wort lag, welches ungesprochen blieb, und erriet, daß der Freund vor eben
der Stunde bange, auf welche er hoffte. Am liebsten hätte Barreto dem Dichter
das Versprechen abgenommen, ihn ruhig in Okaz' Gehöft zu erwarten. Das
feine Gefühl des wackern Fidalgo verbot ihm, seinem Wunsche und seiner Be¬
sorgnis Ausdruck zu geben. Barreto empfand, daß er seit gestern Abend gegen
eine dunkle Macht in Camoens' Seele rang, die nicht er, noch irgendein Freund,
die nur der Dichter selbst besiegen konnte. Er scheute sich, den Widerspruch,
den Camoens noch in sich verschloß, voreilig herauszufordern. Langsam ging
er darum neben dem in sich gekehrten Freunde zur Herberge zurück; indem
beide von den Heldenthaten Dom Antonio Pacheeos auf den malaiischen Inseln
und in Malakka sprachen, verbargen sie vor einander, was jeden im Innersten
bewegte.
Nur zögernd und immer wieder nach dem Freunde zurücksehend, welcher
am Thore des Gehöftes stehen blieb, trat Manuel Barreto seinen Weg zum
Palast empor an. Camoens hatte leicht hingeworfen, daß er inzwischen einen
Gang in die grüne Umgebung des Fleckens thun wolle. Wiederum überwand
sich Senhor Manuel, eine Bitte, die ihm auf der Zunge lag, umgethan zu lassen.
Er trennte sich mit einem kurzen: Auf glückliches Wiedersehen also! Camoens
sah ihm bewegt nach und gedachte des Traumes der verwichenen Nacht. Wenn
heute noch etwas Entscheidendes geschehen sollte, so ward es Zeit: die Wolken
über den Königsgürten und den fernern Bergzügen begannen sich abendlich zu
färben, der West trug die erquicklichste Kühle vom Meere daher, das Getümmel
der Scharen, welche von dem großen Trauergepränge zurückkehrten, verlor sich
zwischen den Häusern oder auf den Wegen, die ins Land hinaus führten. An
Camoens, der still unter dem Thorbogen lehnte, gingen bereits einzelne Abend-
gästc der Herberge grüßend vorüber. Er durfte in jeder Minute erwarten, von
dem Steuermann-Wirt oder Barretos Hausmeister Joao angerufen zu werden.
Um dem zu entgehen, trat er zunächst vom Thore hinweg und ging dann
ziellos längs der Aloehecken und der Maulbeerpflanzungen hin, welche die kleinen
Gärten der Bürger einschlossen. Er hätte so gern dem Schicksal einen Schritt
cntgegengethan, hätte versucht, Catarina Palineirim zu sprechen, doch schien das
vollends unmöglich, seit er Barreto bei der Herzogin von Braganza wußte.
Auch wollte er sein Gelöbnis soweit halten, daß er den Palast selbst nicht
betrat. Unruhig sinnend, unablässig vorwärts eilend, erinnerte er sich auf einmal
jenes Teiles der Schloßgärten, nach denen er in der zweiten Nacht, welche er
seit seiner Heimkehr aus Indien in Cintra verbracht, sehnsüchtig träumerisch
hinübergeschaut hatte. Deutlich, mit allen Einzelheiten stand ein Bild von
ehemals vor seinem Auge; wenn zwanzig Jahre hier nichts verändert hatten,
so mußte es möglich sein, hinter der alten Kirche des heiligen Martin und ihren
Priestcrhüusern Eingang in jenen stillsten, einsamsten Teil der Gärten zu ge¬
winnen, ohne den Hof des Schlosses zu betreten, ja ohne zum Schloß empor¬
zusteigen. Auf der untersten Terrasse der Gurten, die sich unmittelbar über dem
Städtchen erhob und von der man nach der Thalschlucht von Collares hinaus¬
blickte, lag die schattige, verborgene Stelle, welche in seiner Erinnerung geheiligt
war. Wenn der lauschige grüne Platz und der Akaziengang, der zu ihm hin¬
führte, noch vorhanden waren — sie wenigstens wollte er heute Abend wieder¬
sehen, dagegen konnte auch Manuel nicht zürnen. Mit plötzlich erwachender
Ortskenntnis schlug er sich zwischen Mauern, Gärten und Hecken zu der ver¬
witterten Kirche hindurch, deren spitzer Turm über ein Gewirr von Hütten
emporragte. Er fand sich bald auf Wegen, auf denen ihm — ganz wie vor
Zeiten — nicht ein Mensch begegnete. Er entdeckte den Pfad und die aus-
gewaschnen steinernen Stufen, welche dicht hinter der Kirche bergauf führten, er
sah, ganz wie er sie gekannt, die altersgraue Mauer des Königsgartens und
die breiten, riesigen Laubkronen über der Mauer. Nur das Pförtchen, dessen
er sich zu entsinnen meinte, vermochte er nicht mehr zu entdecken. War es im
Laufe der Jahre vermauert worden oder nie vorhanden gewesen, hier war nirgends
ein Eingang zu gewinnen. Nur einige Minuten indes verharrte er unschlüssig,
dann schlug er sichern Fußes den schmalen Weg ein, welcher zwischen Mauer
und Felsabsturz vorhanden war, sah prüfend am Gestein und zu dem über die
Mauer gestreckten Geäst empor und hatte rasch, was er suchte. Ein paar
hervortretende Zacken, ein mächtiger, abwärts gebogner Ast waren erspäht, sein
Fuß betrat die Zacken, sein Arm faßte den Ast, er hob sich mit einem sichern
Schwung ans die Mauer, an die sein Schwert klirrend anschlug, einen Augenblick
später stand er hochatmend am Fuße des Baumes und im Garten des Palastes.
Es war ein Bostel, wie die königlichen Gärten deren wohl hundert auf¬
wiesen, in dessen Schatten der Eindringling jetzt stand. In üppiger Fülle ver¬
schlang sich hier dunkles und lichtgrünes Laub, dichtgedrängte Büsche schlössen
die Boskets von der davorliegenden Terrasse beinahe völlig ab, zwischen die
hochstämmigen Akazienreihen, welche die Rundungen mit einander verbanden,
fiel kaum noch ein letzter Schein des Abendlichts. Der Boden war hier nicht
mit glänzendem Kies überschüttet, Moose und Gräser hatten ungestört einen
weichen, dichten Teppich wirken können, auf dem die Schritte unhörbar wurden.
Alles, alles war hier wie vor zwei Jahrzehnten, nur dichteres Gezweig
hemmte den Ausblick, nur schwärzlicher schien die dunkle Rinde der Bäume ge¬
worden. Camoens vergaß in der That, während er den Akaziengang durch¬
wandelte, zwischen den Büschen hervor und über die Terrasse hiuwegblickte, die
unruhige Erwartung, die ihn hierher getrieben hatte. Mit dem ersten Schritte
zwischen die Magnoliensträ'nahe, die vor ihm standen und hinter ihm zusammen¬
schlugen, ward er ganz von der Erinnerung an längst vergangne Tage er¬
griffen. So heilten ihn die blütenschweren Zweige umrauscht und umhüllt,
wenn er in seliger Verborgenheit auf Catarina Atayde geharrt hatte; von jener
Terrasse, über deren bunte Steinfliesen heute wie damals der Abendsonnenstrahl
zitterte, hatte sie sich unbemerkt aus dem Gefolge der Königin-Witwe verloren
und war unter den Akazien erschienen, um ihm eine oder zwei Minuten des
Glückes zu schenken. Unhörbar, wie damals, glitt sein Fuß über den Rasen,
gleich linde, schmeichelnde Luft umhauchte ihn; dem Heute völlig entrückt, sah er
zu den alten Bäumen empor und grüßte sie als verschwiegne Freunde unverge߬
licher Zeit. Was er seit Wochen nicht mehr vermocht hatte, an jene Catarina
zu denken, deren verklärtes Bild vor der lockenden Schönheit, dem leuchtenden
Augenglanze ihrer Tochter verblaßt war, in dieser Einsamkeit vermochte er es,
und vermochte nichts andres. Glück und Leid jeder Stunde, welche er, vor seiner
Einschiffung nach Indien, hier verlebt hatte, wachten ans, mit stiller Andacht,
immer langsamer, ging er von Baum zu Baum und fühlte sich hier wunderbar
gebannt. Es ward dämmeriger zwischen dem dichten Grün, während draußen
die weite Thallaudschaft im Glutlicht des sonnigen Septemberabends schwamm.
Camoens weilte so in vergangnen Stunden, daß er das Verrinnen der gegen¬
wärtigen nicht spürte. In der Stimmung, die ihn hier überkam, erstarben die
leidenschaftliche Unruhe, die Sehnsucht und das Bangen des Tages, selbst der
geheime Wunsch, die lebende Catarina wiederzusehen. Die tiefe Stille des Ortes,
die Erinnerung, welche ihn belebte, gaben ihm mit einemmale jene ernste und
milde Fassung zurück, in welcher er bei der Heimkehr aus Indien an der vater¬
ländischen Küste gelandet war. Er empfand, daß, wenn er jetzt Barretv neben
sich hätte, er mit ihm zu einem neuen Einklang von Grund seiner Seele ge¬
langen könne.
Nicht lange währte der Zauber dieser Stunde, nicht lange die ungestörte
Einsamkeit, in der sich Camoens auf einmal wieder Herr seines Schicksals,
seiner Zukunft wähnte. Der Schall von Tritten auf den Steinplatten der
Terrasse weckte ihn und ließ ihn zugleich tiefer in den Grund des Boskets
zurücktreten, in welchem er verweilte. Seine nächste Regung war, hier jeder
Berührung mit Menschen auszuweichen. Nicht einmal darnach umschauen, wer
herankomme, wollte er, und doch erkannte er, eben im Zurückweichen, den
alten Miraflores, den Stallmeister der jungen Gräfin Palmeirim. Da er
wußte, daß der alte Junker einen thörichten Haß gegen ihn hegte, schien es
Camoens unwürdig und komisch zugleich, gerade vor ihm das Feld zu räumen.
Keine Minute später verließ Miraflores, nachdem er scharf umhergcspäht, auch
einen vergeblichen Blick in den halbdunkeln Akaziengang geworfen hatte, die
Terrasse wieder, ganz, als ob er sich nur überzeugt hätte, daß niemand hier
verweile. Mit dem Blute, das ihm zu Häupten schoß, wallte in Camoens
wieder auf, was er eben besiegt zu haben meinte. Wenn nicht alles trog, kam
jetzt der Schicksalsaugenblick, den ihm sein Traum verheißen, den er seit dem
Morgen unbewußt entgegengesehen hatte! Klopfenden Herzens, sein Auge zu
äußerster Anstrengung zwingend, sah er nach dem höher liegenden Teile der
Gärten empor, von dem sich einige schattige Wege hierher herabsenkten. Seine
Spannung war bald genug erhöht statt gelöst, denn aus einem der Wege
trat König Sebastian — unsichern Schrittes, wie es Camoens vorkam — und
lehnte sich in erwartender Haltung an das steinerne Geländer der Terrasse. Der
König kehrte der prächtigen Aussicht den Rücken, Camoens, der im Verborgnen
stand, war es, als müßten die weitblickenden blauen Augen des jungen Herrschers
ihn demnächst entdecken, so fest er sich auch an den dunkeln Stamm der Akazie
schmiegte und so dicht ihn die Büsche umfingen. Er wußte ohne Besinnen, daß
der König — hier im einsamsten Teile der Gärten — Catarina Palmeirim
begegnen wolle. Mit einer Spannung, als könne sein nächster Herzschlag ihn
töten, hielt Camoens die Wege und den einsam harrenden König zugleich im
Auge, Dom Sebastians Mienen erschienen verdüstert, leidvvll — wider Willen
regte sich in Camoens' Seele ein gewisses Mitleid für seinen jungen Fürsten —
doch zugleich schoß es heiß durch seine Seele, ein unerklärbares Gemisch von
Furcht, von zorniger Eifersucht, von Groll und wildem Trotz. So stand er
und wartete mit dem König zugleich, uur Minuten, welche ihm dennoch fast
endlos dünkten.
Und dort, dort herab kam langsam — ganz wie er es gewußt und ge¬
fürchtet — Catarina Palmeirim, im dunkeln Gewand, den schönen Kopf mit
der schwarzen Mantille halb verhüllt, und doch eine lichte Erscheinung, deren
Reiz den armen Lauscher wieder sinnberückend ergriff. König Sebastian trat
der Nahenden mit sichtlich freudiger Bewegung entgegen, sein Gruß suchte um¬
sonst der tiefen, ehrfurchtsvollen Verneigung des schönen Mädchens zu wehren,
seine Stimme zitterte, als er sie ansprach: Ihr seid gekommen, Herrin, ich
danke Euch im voraus tausendfach, dnß Ihr mir diese Stunde gönnt.
Ich habe Eurer Majestät Befehl gehorchen können, entgegnete zögernd
Catarina, weil meine mütterliche Freundin von Sorgen und Pflichten andrer
Art in Anspruch genommen war. Ob ich hätte gehorchen sollen, mögt Ihr
selber entscheiden, Herr!
Nennt Ihr einen Wunsch, eine Bitte Befehl, Donna Catarina? sagte der
König errötend und mit schmerzlichem Ton. Dann befiehlt Euch auch der
Pilger, dem Ihr einen Fagardo in seinen Muschelhut werft.
Wer das Recht hat, Gehorsam zu fordern, sollte vielleicht nicht bitten, Eure
Majestät, versetzte die junge Gräfin. Was frommt es Euch, Herr, daß ich
Euch gegen den Willen und Rat meiner treuen Pflegerin hier begegne?
So mögt Ihr auch fragen, was dem Eingekerkerten ein Lichtstrahl frommt!
rief Dom Sebastian lauter und ungestümer. Soll ich Euch tausendmal wieder¬
holen, was sie Euch und mir angethan haben, Catariua? Euch wiederum fügen,
daß ich uicht tragen kaun und will, was sie mir auferlege»! Die Bürde, welche
sie Entsagung und Königspflicht nennen, schneidet mir ins Fleisch, ins Mark
hinein, wolltet Ihr mich auch uicht vom kleinsten Teil für einen cirmeu Angen-
blick entlasten?
Ccimoens sah, daß Catariua vor den leidenschaftlich klagenden Worten,
vielleicht vor den flammenden Blicken des .Königs ihre Augen zu Boden senkte,
und vernahm nur mit Mühe ihre leisere Erwiederung: Ihr irrt Euch, erhabner
Herr! Die Bürde, an der Ihr wild rüttelt, wird schwerer. Ich vermag uicht
mehr, als mein armes Gebet bewirken kann; warum wollt Ihr mir fort und
fort das beschämende Gefühl meiner Ohnmacht erneuern? Wenn ich jemals
thörichte Hoffnungen gehegt habe, so habe ich doch Eure Majestät mit der Klage
um sie nicht gekränkt, die Entsagung, die Ihr, Herr, sür Eure Pflicht hieltet, mußte
mir dreifach sür die meine gelten. Wozu erneuert Ihr Euch die bittere Er¬
innerung an einen Wunsch, dem die Erfüllung versagt bleiben muß? Wäre
es nicht besser, Ihr gäbe mir Urlaub von Euerm königlichen Hofe und ließt
mich in der Stille von Santa Eufemici für Euer Heil flehen?
(Fortsetzung folgt.)
Deutscher Geschichtskalender für 1385. Sachlich geordnete Zusammenstellung der
politisch wichtigsten Vorgänge im deutschen Reiche. Leipzig, Fr. Will). Grnnow, 1386.
Unsre Zeit lebt so außerordentlich schnell, die Ereignisse drängen und schieben
sich mit einer solchen Hast, daß sie schon nach wenigen Monaten vor unserm Ge¬
dächtnisse verschwimmen und wir einer Unterstützung desselben bedürfen, um die
Einzelheiten, den ursächlichen Zusammenhang und die zeitliche Reihenfolge des
Erlebten uns wieder klar zu machen. Wer sich daher mit unserm öffentlichen
Leben beschäftigt, sei es als Parlamentarier, als Journalist oder in irgeud einer
sonstigen Stellung, ja wer auch nur mit Verständnis Zeitungen lesen und auf
diesem Wege der Entwicklung unsers öffentlichen Lebens folgen will, bedarf eines
Nachschlagewerkes, welches ihm die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit klar und
übersichtlich wieder vor Augen führt. Man hat solche Zusammenstellungen bisher
in verschiedner Weise versucht. Man gab sie in Form einer erzählenden Geschichte,
wobei nur zu leicht eine den Wert der Arbeit beeinträchtigende politische Partci-
färbung mit unterlief. Man gab ferner nur eine Zusammenstellung von Akten¬
stücken, welchen dann für den nicht vollkommen eingeweihten der verbindende Faden
fehlte. Man gab endlich eine kurze, gedrängte chronologische Zusammenstellung,
wobei dann Nichtznsammengehöriges nebeneinander stand, aber das im ursächlichen
Zusammenhange stehende wegen zeitlicher Verschiedenheit der einzelnen Vorkomm¬
nisse von einander getrennt war und der Leser nur die Mühe hatte, sich das
Zusammengehörige oft nicht ohne Anstrengung zusammensuchen, während Akten¬
stücke und Urkunden mit dieser Art Zusammenstellung meist unvereinbar waren
und dadurch wieder eine empfindliche Lücke entstand. Allen diesen erwähnten Uebel-
ständen sucht das vorliegende Werk auszuweichen, indem es einmal eine Verbin¬
dung von Aktenstücken und Erzählung der Ereignisse bietet und anderseits vor allem
den Stoff systematisch einteilt, in den einzelnen sich dadurch ergebenden Abschnitten
aber alsdann die zeitliche Folge beibehält. Es ist deshalb vor allem die Zeit¬
geschichte Deutschlands von der des übrigen Europa abgelöst, und sie ist es, die
der hier besprochene Geschichtskalender behandelt. Er bringt in getrennten Ab¬
schnitten die Verhandlungen des Reichstages und des preußischen Landtages unter
Mitteilung der hauptsächlichsten Vorlagen, Anträge und Beschlüsse, der wichtigsten
Reden vom Regierungstische und von den Bänken der Abgeordneten, teils in
vollständigem Text, teils in ausführlichen, sinngemäßer! Auszuge, indem gleichzeitig
Ueberschrift und Datum der einzelnen ans Grund der Vereinbarung erlassenen Ge¬
setze angegeben werden. Ferner bekommen wir eine Uebersicht über die Wahl¬
bewegung im Herbste 1385 und deren Ergebnisse nach Parteien und nach Pro¬
vinzen geordnet, über das Parteiwesen, die Programme der einzelnen Parteien
und die Darlegung derselben durch die Parteihäupter, zum Teil recht ausführlich
mitgeteilt, und über die kirchlichen Angelegenheiten, wobei der Abschnitt über die
katholische Kirchenpolitik von besonderm Interesse ist. Hieran reiht sich eine ein¬
gehende Darlegung der Kolonialpolitik, uach den einzelnen Kolonien und Nieder¬
lassungen geordnet, ein Abschnitt über die wirtschaftlichen Fragen, über Hof und
Militär und, nach den einzelnen Staaten geordnet, das Wichtigste aus den außer¬
preußischen Bundesstaaten, namentlich über die braunschweigische Erbfolgefrage.
Eine nicht zu unterschätzende Beigabe bildet ein Anhang, der die im Jahre 1885
gefeierten hauptsächlichsten Gedenktage und nationalen Feste, die Ergebnisse der
Volkszählung von: 1. Dezember 1885 und schließlich eine Anzahl gefallener Schlag¬
wörter und bemerkenswerter Aussprüche hervorragender Personen, welche zum Teil
schou als geflügelte Worte die Welt durchschwirren, bietet. Noch näher ans den
Inhalt des Buches einzugehen, verbietet der Raum dieser Blätter; man kann aber
getrost behaupten, daß niemand das Buch unbefriedigt aus der Hand legen wird,
da man beim Durchlesen manches findet, was uns damals, als es geschah, entging,
wovon wir den Zusammenhang erst jetzt aus der Zusammenstellung mit den dazu
gehörige» Thatsachen und Aktenstücken verstehen. Eine genane Inhaltsübersicht
an der Spitze des Werkes giebt beim Gebrauche die Möglichkeit, alsbald alles zu
finden, was mau zur Unterrichtung über eine bestimmte Frage braucht, wie auch
am Schlüsse des Buches ein ausführliches Register befindlich ist; doch mag darauf
aufmerksam gemacht werden, daß einzelne Hinweisungen von dem einen Abschnitt
zum andern, z. B. von den einschlagenden Neichstagsverhandluugcn auf die Ab¬
schnitte über die Kirchen- oder Kolonialpolitik, die wirtschaftlichen Fragen u. f. w.
und umgekehrt im Text der einzelnen Abschnitte die Brauchbarkeit des Buches noch
erhöhen würden. Aeußerst wohlthuend berührt die vollkommen objektive Haltung
des Buches, welche alleu Parteistandpnnkten gleiche Gerechtigkeit widerfahren läßt
und dadurch für alle Parteien annehmbar ist, gleichzeitig aber auch genügenden
Ueberblick über sämtliche Parteien ermöglicht. Daß die äußere Ausstattung eine
durchaus würdige ist, braucht wohl nicht besonders bemerkt zu werden. Möge
das neue Unternehmen die Anerkennung finden, die es in hohem Grade verdient.
el jeder staatlichen Maßregel in der Provinz Posen müssen zwei
Gesichtspunkte erwogen werden, die Stellung der katholischen Kirche
und der konzentrirte Einfluß der polnischen Agitation auf alle
öffentlichen und privaten Angelegenheiten und auf jedes einzelne
Individuum innerhalb der Provinz. Die katholische Kirche innerhalb
der Provinz Posen ist für die Polen gleichzeitig die sichtbare äußere Form der
Polnischen Gesellschaft, der Schutz aller polnischen Interessen, die Stütze aller
Polnischen Hoffnungen, solange nicht das polnische Reich wieder erstanden ist.
Daher auch die Betonung der Eigenschaft des Erzbischofs von Posen und
Gnesen als Primas von Polen und inwrrsx, daher die in das Volksbewußtsein
übergegangene Verwechselung und Jdentifizirung zwischen polnisch und katholisch
und deutsch und evangelisch, daher der für einen Polen unfaßbare Gedanke, daß der
Bischof von Gnesen und Posen kein Pole sein könne, während doch die katholische
Kirche sonst die Nationalität als etwas ganz nebensächliches gegenüber der
einigen großen allgemeinen Kirche betrachtet. Die evangelischen Polen sieht
man nur als verirrte Brüder an, die sich früher oder später in den Schoß der
heiligen Kirche zurückfinden werden, die katholischen Deutschen beobachtet man
auch vom kirchlichen Standpunkte aus mit leisem Mißtrauen und erkennt sie
kaum als „vollgiltige" Katholiken an.
Der zweite maßgebende Gesichtspunkt ist der, daß kein Pole sich dem Druck
der nationalen Agitation entziehen kann, solange er sich im Bereiche derselben
befindet. Hieraus folgt für die preußische Staatsverwaltung, daß sie innerhalb
der polnischen Landesteile keinen Beamten anstellen sollte, und zwar auf allen
Stufen der amtlichen Hierarchie, von dem auch nur die Möglichkeit vorliegt,
daß er dem Einfluß der pollüschen Kirche, wie wir sie hier nennen wollen,
direkt oder indirekt unterliegen könnte, und daß man ferner alle Diener des
preußischen Staates in der Zivilverwaltuug bis zum Unterbeamten herunter,
sowie die dem militärischen Dienstzwange unterliegenden Staatsangehörigen, die
innerhalb der polnischen Landesteile dem fortgesetzten Druck und den Versuchungen
der Agitation unterliegen, nach solchen Landesteilen verpflanzen muß, in denen
ein derartiger Einfluß, auch auf kirchlichem Gebiete, vollkommen ausgeschlossen ist.
Es tritt bei diesen Beamten gewöhnlich eine Art Absonderung und die
Pflege von gesellschaftlichen Verbindungen ein, die mindestens nicht im Interesse
des preußischen Beamtentums und der deutschen Gesellschaft liegen; eine gewisse
wohlwollende Behandlung, eine gewisse Rücksicht, die zwar nichts Verbotenes
enthält, aber immerhin besser unterbliebe, ist die weitere Folge; deutsche Elemente,
aus denen sich, wenn auch erst in zweiter Generation, auf religiöser Grundlage
politische Konvertiten machen lassen, ziehen die Polen mit aller ihnen zu Gebote
stehenden persönlichen Liebenswürdigkeit an sich heran. Es ist leider Thatsache,
daß eine große Anzahl polnischer Familien der niedern und mittlern Stände
mit urdeutschen Namen die unmittelbaren Nachkommen preußischer Unter-
becnntcn sind.
Daß keine Rekruten, die dem Einfluß der polnischen Kirche unterliegen
könnten, den pvsenschen Regimentern überwiesen werden sollten, ist bereits
wiederholt in der Presse angedeutet worden. Dadurch, daß man von diesem
früher bewährten Verfahren abgegangen ist, ist doppelter Schade entstanden.
Die polnischen Rekruten, die in pvsenschen Regimentern dienen, zum Teil in un¬
mittelbarer Nähe ihres Aushebungsortes, bleiben in fortgesetzter Verbindung mit
ihrer polnischen Familie, in ihrem Garnisouorte erfreuen sie sich nur polnischer
Bekanntschaften, auch weiblicher, und lernen infolgedessen unendlich viel weniger
Deutsch als früher, wo polnische Rekruten nur in ganz deutsche Provinzen ein¬
gestellt wurden. Für diese Thatsache liegt der unwiderlegbare Beweis darin,
daß die alten gedienten Leute des polnischen Bauern- und Arbeiterstandes noch
gegenwärtig besser Deutsch verstehe» und sprechen, als eben von der Truppe
entlassene Reserven. Diese schon vielfach beobachtete Erscheinung ist irrtümlich
auf den früher angeblich bessern dentschen Schulunterricht geschoben worden, hat
aber thatsächlich ihren Grund in der verschiednen frühern Garuisouirung der
Leute. Polnische Rekruten, die indes in deutschen Garnisonen eingestellt wurden,
knüpften dort häufig auch Verbindungen an, die sie nach ihrer Entlastung in
ihrem Garuisonorte oder dessen Umgebung als Handwerker oder Arbeiter fest¬
hielten und so dauernd dem Polentum entzogen.
Die gleichen Gründe, die für obige Änderungen im Verwaltungswege
sprechen, lassen es aber auch entschieden erwünscht erscheine», alle diejenigen
öffentlichen Anstalten, welche von polnischen Zöglingen besucht werden, nur in
rein deutschen Kreisen, wenn nicht gar außerhalb der Provinz zu begründen.
Bildungsanstalten mit polnischen Zöglingen, in deutschen Städten mit
polnischer Umgegend errichtet, wirken auf diese deutschen Städte entschieden
polvnisircnd, weil aus der polnischen Umgebung sich sofort nach Begründung
der Anstalt ein Zuzug polnischer Familien entwickelt, die nicht nur die polnischen
Zöglinge als Pensionäre aufnehmen, sondern anch in die intimsten gesellschaft¬
lichen Beziehungen mit denselben zu treten Pflegen. Gleichzeitig tritt gegenüber
den Zöglingen deutscher Nationalität eine vollständige illo in partss ein.
Und eine noch flagrantere Thatsache ist die, daß ein wegen polnischer Be¬
strebungen nach einer deutschen Anstalt außerhalb der Provinz Posen versetzter
Lehrer dieser entfernten deutschen Anstalt einen großen Anhang polnischer
Schüler zugeführt und sich damit an jener deutschen Anstalt inmitten einer
dentschen Stadt eine Art polnischer Zirkel gebildet hat.
Bei den eigentümlich schwierigen Verhältnissen der Provinz Posen muß
aber auch die Auswahl des Beamtentums aller Kategorien mit Bezug auf ihre
Politische Stellung, ihren sozialen Takt, ihre geistige Begabung und ihre Be¬
fähigung, durch positive Leistungen der preußischen Verwaltung Ansehen und
Einfluß zu erringen, mit höchster Sorgfalt erfolgen. Wenn wir zunächst von
richterlichen Beamten sprechen, so halten wir es für politisch bedenklich, solchen
Richtern leitende Stellungen innerhalb der Provinz Posen anzuvertrauen, die
sich nach ihrer offen ausgesprochenen und im öffentlichen Leben fortgesetzt be¬
thätigten politischen Überzeugung im schärfsten Gegensatze zur Politik der könig¬
lichen Staatsregierung befinden und sogar keinen Anstand nehmen, für polnisch-
nltramvntane Anträge in Sachen der Unterrichtssprache ihre Stimme abzugeben.
Man mag sonst über die fortschrittliche und sezessionistische Richtung denken wie
man will, in der Provinz Posen ist sie bei Trägern öffentlicher Ämter entschieden
zu verurteilen, weil sie durch ihre feindselige Haltung gegenüber der Staats¬
regierung geeignet ist, die Schwierigkeiten derselben noch zu vermehren und
hierdurch die Bestrebungen der polnischen Agitation mittelbar zu unterstützen.
Zu welcher bedenklichen Stellung diese politische Richtung einen königlichen Be¬
amten in der Provinz Posen führen kann, dafür liefern die offiziellen Äußerungen
der Partei bei den letzten Polendebatten im Reichs- und Landtage den Beweis.
Noch größere Sorgfalt wird selbstverständlich der Auswahl der höhern
Verwaltungsbeamten zuzuwenden sein. Man wähle dieselben, wenn möglich,
aus denjenigen Persönlichkeiten, welche bereits in der Provinz Posen Beziehungen
haben, welchen ausreichende Pcrsonalkenntnis zur Seite steht, sowie eine Kenntnis
der politischen, administrativen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Provinz,
die sie befähigt, sofort am rechten Punkte einzusetzen und nicht Experimente zu
machen aus Erfahrungen heraus, die unter ganz andern Verhältnissen und in
andern Provinzen gesammelt sind; deshalb möge man aber auch mit jeder Ver¬
pflanzung von Beamten innerhalb derselben dienstlichen Stellung recht vor¬
sichtig sein.
Besonders wichtig für die Aufgaben der Staatsregierung ist eine kräftige,
die persönliche Einwirkung auf die Bevölkerung ermöglichende Verwaltung der
Landräte. Man verringere deshalb den Umfang der Kreise derartig, daß der
Landrat wirklich Lokalbeamter ist; jede Kreisstadt wird überdies durch ihren
Bccimtenapparat und ihre bessern Vcrkehrsverbindnngen allmählich ein Krh-
stallisationspnnkt für die deutsche Ansiedlung.
Der Versuch, die Beamten der Provinz an dieselbe durch höhere Gehalts-
bczttge zu fesseln, mag besser unterbleiben. Zunächst könnten hierdurch auch
gleiche Ansprüche in andern Landesteilen hervorgerufen werden, die vielleicht dem
Lokalbeamten noch weniger persönliche Annehmlichkeiten bieten; wir erinnern
nur an einzelne Teile Ostpreußens und Oberschlesiens. Es erscheint aber auch
aus sittlichen Gründen ausgeschlossen, einen preußischen Beamten durch erhöhte
Gehaltsbezüge gegenüber den Beamten der gleichen Kategorie in andern Landes¬
teilen um sein Amt fesseln zu wollen. Glaubt man in der That, durch äußere
Mittel einen stabileren Beamtenstand für die Provinz zu gewinnen, so möchte
es uns würdiger erscheinen, die Beamten, die sich durch taktvolle und erfolg¬
reiche Verwaltung unter den schwierigen provinziellen Verhältnissen ausgezeichnet
haben, mit schnellerer Beförderung und den mancherlei sonst der höchsten Staats¬
gewalt zur Verfügung stehenden Auszeichnungen zu belohnen.
Der Hauptschwcrpunkt der Stärkung des Deutschtums in der Provinz liegt
indes auf dem Gebiete von Kirche und Schule. Wenn man jetzt noch in der
Provinz deutsche Bauerngemeinden auch in den polnischen Kreisen findet, so
verdankt man dies, wie gesagt, der guten altpreußischen Verwaltung in dem
Konsistorium der Provinz und den Ncgierungsschulabtcilnngen, die zwar langsam,
aber stetig für die Ansammlung der Mittel sorgten, um das Deutschtum in
evangelischen Pfarrsystemen und evangelischen Schulgemeinden zu sammeln.
Zu einer Pfarrgemeinde von dreihundert bis vierhundert Seelen gehören
oft zehn und mehr Ortschaften, aber die zerstreut wohnenden deutschen Bauern
dieser Gemeinden haben und behalten einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt für
ihre Nationalität und ihre» Glauben. Sie fühlen sich im Gegensatze zu dem
Polentum als Deutsche und bleiben ihrer Nationalität erhalten.
Ganz ebenso liegt es mit der deutsche evangelischen Schule. Wenngleich
die evangelischen Schulkinder oft Entfernungen von einer halben Meile und
weiter nach ihrem Schnlorte zurückzulegen hatten, so bot doch die evangelische
Konfessionsschule die Garantie, daß die deutschen Kinder in völliger Jsolirung
von dem Polentum heranwuchsen, daß damit in ihnen das Gefühl ihrer natio¬
nalen Sonderheit gepflegt wurde, daß sie eiuen geordneten konfessionellen Re¬
ligionsunterricht genossen, und wenn auch vielleicht zuweilen mit geringen
positiven Kenntnissen, wie sie die weiten Schulwege und die hiermit zusammen-
hängenden vielfachen Versäumnisse mit sich brachte», so doch als sichere Deutsche
die Schule verließen. Durch den in den Simultanschulen nebenbei und infolge
äußerer Schwierigkeiten meist recht unregelmäßig erteilten konfessionellen Reli¬
gionsunterricht wird teilte ausreichende Gewähr geboten, daß die deutschen
Kinder ihrer Nationalität und Konfession erhalten bleiben.
Leider ging man von jenen bewährten Verwaltungsgrundsätzen in falscher
allgemeiner Anwendung eines für Mittel- und Großstädte richtigen schnltechnischen
Prinzips im Beginn der siebziger Jahre auf Veranlassung des Ministeriums
Falk ab. Es wurden evangelische Schulzirkel gegen den Willen der Beteiligten
aufgelöst und mit polnisch-katholischen Schulen zu einer Ortsschule verbunden;
wenn hierdurch mchrklassige Schulen entstanden, erhielt der anzustellende evan¬
gelische Lehrer häufig die letzte Lehrerstelle, Diesen evangelischen Lehrern, meist
jungen, unverheirateten Leuten, wurde ihre amtliche und wirtschaftliche Situation
in überwiegend polnischen Gegenden sehr bald so unheimlich, daß der Inhaber
der Stelle stetig wechselte und monatelange Vakanzen eintraten; die Unterrichts¬
erfolge der evangelischen Schulstelle wurden hierdurch völlig illusorisch.
Hierzu kam, daß die staatlichen Kreisschnlinspcktoren nur die Aufsicht über
die katholischen, aber nicht über die evangelischen Schulen erhielten. Diese berufs¬
mäßig angestellte» staatlichen Beamten suchten, soweit sie überhaupt ihren
Aufgabe« genügten, die katholischen Schulen technisch möglichst zu heben; sie
regten die Teilung der überfüllten Schulzirkel an, wiesen auf die dringend not¬
wendigen Neubauten hiu, veranlaßten die Vermehrung der Unterrichtsmittel
und sorgten auch in materieller Beziehung für das ihnen untergebene Lehrer¬
personal. Die natürliche Folge hiervon war, daß sie ihr Interesse und die
Mittel der Staatsregierung vorzugsweise der Entwicklung der polnisch-katholischen
Schulen zuwandten, umsomehr, als man sich einer ganz unbegreiflichen Über¬
schätzung der politischen Erfolge der Schule hingab. Man glaubte treuherzig,
daß man in polnisch-katholischen Schulen, unter der Leitung polnisch-katholischer
Lehrer, aus polnischen Kindern Freunde und Anhänger der preußischen Regierung
erziehen könnte, daß es möglich sei, durch die Schulen die Jugend deutschem
Wesen und deutscher Sitte zu gewinnen, und als Universalmittel hierfür be¬
trachtete man den Unterricht in der deutschen Sprache. Man vergas; leider
vollkommen, daß der polnisch-katholische Lehrerstand, der leider ebenfalls zahl¬
reiche urdcntsche Namen ausweist, durch Religion, Familieuverbinduugeu, Zeitungs-
lektüre und durch den Einfluß des polnischen Grundherrn und des zwar formell,
aber nicht thatsächlich ausgeschlossenen Geistlichen im Banne des Pvlonismns
steht, und daß mau durch häufig widerwillig erteilten schematischen Sprach¬
unterricht kein Kindesherz gewinnen kann, auf welches sich in Kirche und Familie
fortdauernde entgegengesetzte Einflüsse geltend machen. Gegenüber dieser äußern
rein schultechuischen, gutgemeinten, aber übereifriger Förderung des katholischen
Schulwesens blieb die evangelische Schule im Rückstände. Die geistlichen Schul-
inspektorcn, die ihr Amt als Ehrenamt versehen, die ihre zum Teil weit ent¬
fernten Schulen meist nnr einmal im Jahre, bei der Osterprüfnng, besuchen,
wurden durch die herrschende Richtung nicht besonders ermutigt, energisch für
die weitere Entwicklung der evangelischen Schule einzutreten. Überdies entbehrt
crfahrungsmcißig fast jede nebenamtliche Verwaltung frischer und eingehender
Förderung. Will die königliche Staatsregierung deshalb ernstlich damit vor¬
gehen, dem Deutschtum in der Provinz ein festes Rückgrat zu geben, so mag
sie zunächst an die bewährten Traditionen vor dem Jahre 1870 anknüpfen.
Mai, möge kein Opfer scheuen, um evangelische Kirchen- und Schulsysteme zu
bilden, um so das zerstreute Deutschtum zu sammeln. Man gebe den evan¬
gelischen Kirchengemeinden reichlichere Staatsznschüsse, die ihnen eine angemessene
Dotirung der Pfarrstellen ermöglichen. Die jahrelange Vakanz evangelischer
Pfarreien in der Diaspora ist ein empfindlicher Schaden für das Deutschtum,
Das Leben eiues inmitten des Polentums amtirenden Pfarrers ist, uicht uur
entbehrungsreich, sondern durch die erschwerte Beschaffung aller Lebensbedürfnisse,
durch die Schwierigkeiten der Kindererziehung auch kostspielig.
Es stehen schöne, freundliche Pfarrhäuser und Kirchen, errichtet dnrch be¬
deutende Schulden der Gemeinde und die werkthätige Hilfe des Gustav-Advlf-
Ncreins, leer und verwaist, weil kein junger Pfarrer den Mut hat, dort sein
Heim anzuschlagen, und findet sich endlich ein wirklich tüchtiger Mann für eine
derartige abgelegne, entbehrungsvolle Stellung, so ist dies sicher nur eine
vorübergehende Erscheinung; noch ehe er sich recht einleben konnte mit der
Gemeinde, um Einfluß zu gewinne», zieht er fort nach einer andern Pfarre,
wo die Pfründe reicher und das Leben leichter ist. Der evangelisch-deutsche
Pfarrer vermag für das Deutschtum und den Evangelisinus i» seiner Pa-
rochie ganz dieselben Erfolge zu erreichen, welche zahlreiche, als Menschen und
Diener der .Kirche höchst achtungsmerte katholische Geistliche für die Entwicklung
der ihnen anvertrauten Parvchien erringen. Aber zu diesem Zwecke muß der
evangelische Geistliche gegenüber der katholischen Kirche, die stillschweigend, aber
beständig in den Kreisen der bäuerlichen und der Arbeiterbevölkerung Proselyten
macht, vor allem stabil, sorgenfrei und berufsfreudig in der Seelsorge sein. Hier
kann der Staat durch reichlichere Ausstattung mit materiellen Mitteln, und die
kirchliche Aufsichtsbehörde durch Gewinnung tüchtiger, einer idealen Auffassung
fähiger Kräfte eingreifen.
Wie unheilvoll für die deutsche Bevölkerung der Mangel an evangelisch¬
deutschen Schulen wult, und wie der Besuch polnisch-katholischer Schulen der
Pvlonisirnng Vorschub leistet, lehrt die Erfahrung. Es giebt in polnischen
Kreisen polnische Dörfer mit einem starken Bruchteil deutscher bäuerlicher Wirte,
welche aus Maugel an einer evangelischen Schule seit Jahrzehnten der nächsten
polnisch-katholischen Schule zugewiesen sind. Diese deutsch-evangelischen Leute
sprechen fertig polnisch, mangelhaft deutsch, und gehen einer nach dem andern
im Wege polnischer Heiraten zum Polentum über.
In den polnischen Kreisen längs der deutschen Provinzen nimmt die Zahl
der deutschen Wirte trotz der Nachbarschaft einer geschlossenen deutschen Bevölke¬
rung nicht zu, vermindert sich vielmehr stetig; ebenso kommt es kaum vor, daß
sich aus der deutschen Grenzprvvinz bäuerliche Wirte „im Polnischen" ansiedeln.
Die einfache Ursache dieser Erscheinungen liegt in dem Maugel einer evangelischen
Kirche und Schule, weil der deutsche Bauer sich weder hält noch hingeht, wo er
beides nicht findet; ohne gleichzeitige kräftigere Förderung der evangelischen Kirche
und Schule wäre deshalb auch jeder Kvlvnisirnngsversuch eine Danaidenarbeit.
Von der innern Kolonisirung lassen sich nur Erfolge erwarten, wenn sie
wirklich sachverständig geleitet wird. Hierzu gehört aber die genaueste Bekannt¬
schaft mit Land und Leuten, namentlich in den polnischen Gegenden der Provinz,
bis in die untersten Kreise, sowie eingehende Kenntnis der Verwaltnngsverhältnisfc
auf dem platten Lande. Die innere Kolonisirung läßt sich nach drei Richtungen
hin bewirken: 1. durch Erwerb großer polnischer Güter und Ausnutzung derselben
im Wege der Gesamtverpachtuug oder-Verwaltung; 2. durch Erwerb polnischer
Güter un> deren Parzelliruug in bäuerliche Wirtschaften; 3. durch Erhaltung
des gefährdeten deutschen Grundbesitzes, indem man demselben Staatsdarlehen
zu niedrigstem Prozentsatz giebt.
Was zunächst den Erlverb polnischer Güter und deren Gesamtverpachtung
betrifft, so verspricht diese Maßregel für die Germanisirung nur Erfolg, wenn
Männer als Pächter auftreten, die bemittelt genug sind, um die Auswahl ihrer
Arbeiter mit Sorgfalt treffen, möglichst nur deutsche Arbeiter hereinziehen und
sich auch den Anforderungen des öffentlichen Lebens in Kreis und Gemeinde
widmen zu können.
Will man solche Kräfte gewinnen, so wird man auf das Lizitativnsverfahrcn
verzichten oder Negieverwaltuug einführen müssen. Außerdem werden in geeigneten
Füllen, statt der großen Gutskomplexe von 2—6000 Morgen, kleinere Guts¬
schlüssel von etwa 1200—1500 Morgen zu bilden sein, für die sich leichter
zahlungsfähige Pächter zu finden Pflegen.
Will man dagegen die angekauften Besitzungen durch Bildung bäuerlicher
Wirtschaften verwerten, so wähle man nur deu besten Boden mit ertragreichen,
die Wirtschaftsführung erleichternden Wiesen, mit den günstigsten Verkehrsver¬
hältnissen, teile ihn in Loose ein von 30—50 Morgen und lasse das Kaufgeld zu
niedrigstem Prozentsatz und mit der Verpflichtung allmählicher Tilgung uuter
der Bedingung eintragen, daß sowohl beim Verkauf wie bei der Verpachtung
nicht nur der Rückstand sofort fällig wird, sondern auch eine entsprechende Quote
nachträglicher Zinsen gemäß der Differenz zwischen dem gewährten und dem
landesüblichen Zinsfuß zu erstatten bleibt; für Erfüllung der letztem Bedingung
ist eine Kantionshypvthek einzutragen. Der Staat kaun indes beim Wieder¬
verkauf auf die Zahlung des Restkaufgeldes verzichten, die Kautionshypothet
löschen und durch eine solche ersetze» lassen, welche den Zinsnachlässcn für den
neuen Besitzer entspricht.
Die Errichtung der Gebäude kann der Staat uuter keinen Umständen selbst
übernehme», da hierdurch ein bedeutender Kostenaufwand entstehen würde und
der bäuerliche Wirt sich seinen Hof weit billiger und seinen persönlichen Zwecken
entsprechender selbst aufbauen wird. Wohl aber könnte das Bauholz aus den
nächsten königlichen Forsten gegen einen ermäßigten Satz abgegeben werden.
Sache der landwirtschaftlichen Vereine in den deutschen Provinzen wird es sein,
bäuerliche Landwirte ausfindig zu machen, welche imstande und gewillt sind,
derartige Loose zu übernehmen. Übrigens dürfte auch die Bevölkerung des Netze¬
bruchs und des benachbarten Warthebruchs bei Landsberg, wo die tüchtige,
allgemein gesuchte, in der Provinz durch ihre Wanderarbeit bekannte Arbeiter¬
bevölkerung vielfach Ersparnisse zurücklegt, zur Kolonisirung sehr geeignete
Elemente abgeben.
Selbstverständlich würden derartige Kolonisirungen nnr in den Kreisen vor¬
zunehmen sein, in welchen nicht bereits die Mehrheit der Bevölkerung deutsch
ist. Der wirtschaftliche Erfolg derartiger Kolonisirungen wird wesentlich davon
abhängen, ob man die Feldmarken verständig separirt, auf den Ausbau der
nötigen Wege und die sofortige Entwässerung des Landes mittelst Drainagen
Bedacht nimmt, und namentlich geschlossene Ortschaften statt der unglückseligen
zerstreuten Haulclndcreien bildet, welche entschieden zur moralischen Entwertung
der bäuerlichen Wirte beitragen und die Regulirung von Kirch-, Schul-, Ge¬
meinde- und Wegeverhaltnissen unendlich erschweren. Die Haulüuder in den
Ostprovinzeu sind eben keine westfälischen Bauern mit ihrer urkernigen mora¬
lischen Zuverlässigkeit und wirtschaftlichen Tüchtigkeit.
Ankauf von Gütern in überwiegend deutschen Kreisen kann zwar in kon¬
kreten Fällen nützlich sein, hat aber keinen unmittelbaren politischen Zweck; die
Kapitalien können in Kreisen mit polnischer oder zweifelhafter Kreistagsmajorität
vorteilhafter angelegt werden.
Übrigens denke man sich den Erwerb polnischer Güter nicht zu leicht. Es
kommen verhältnismäßig nur wenig derartige Güter zum Zwangsverkauf, und
man kann sie hierbei wie bei dem freiwilligen Ankauf immer nur preismäßig
erwerben; andernfalls führt man dem Polentum pekuniäre Mittel zu, die von
demselben möglicherweise beim Auflauf deutscher Güter wieder angelegt werden.
Jedenfalls ist die Bildung deutscher Bauerngemeiuden ein unendlich wirksameres
Mittel zur Stärkung des Deutschtums als die Einrichtung deutscher Großgrund¬
besitzer oder -Pächter, bei welchen der Erfolg der Maßregel als politische stets
von der Persönlichkeit des Mannes abhängt. Ein wieviel größeres Gewicht
hat eine leistungsfähige deutsche Bauerngemeinde z. B. für Kirche und Schule,
als eine auf gleich großer Flüche ansässiger Besitzer oder Pächter! Der Ankauf
von Besitzungen wirtschaftlich schwacher deutscher Besitzer wird stets uur aus¬
nahmsweise erfolgen können, da bei einer Zwangsvollstreckung immerhin die
Wahrscheinlichkeit vorliegt, daß nicht eine Pole Besitzuachfolger ist. Will
man derartigen deutschen Besitzern helfen, soweit sie wirtschaftlich dessen würdig
sind, so würe es einfacher, ihnen billige Staawdarlehen zu gewähren. Mancher
tüchtige deutsche Landwirt, der sieben Prozent Bankzinsen zu zahlen hat, könnte
hierdurch gerettet werden.
Man hat auch daran gedacht, etwas für die geistige Förderung des
Deutschtums in der Provinz Posen zu thun, und zu diesem Zwecke in derselben
eine Universität zu errichten, ein Provinzialmuseum zu begründen, sowie das
deutsche Theater in Posen und einige Theater in den Mittelstädten der Provinz
mit Geld zu unterstützen. Zunächst wird man allen diesen Aufwendungen
gegenüber das Sprichwort anwenden können, daß „jedem das Hemd näher ist
als der Rock." So lange es noch an evangelischen Parochien mangelt, da wo
sie im Interesse des Deutschtums dringend notwendig sind, so lange ein Teil der
vorhandnen Pfarren fortdauernd unbesetzt ist, weil bei den vorhandnen Gehalts¬
festsetzungen sich kein Bewerber findet, so lange noch die evangelischen Schul-
gemeinden unter erdrückenden Schullasten leiden, sich teilweise mit lichtlosen,
ungenügenden, feuchten Schnlhäusern begnügen müssen und eine große Anzahl
evangelischer Kinder in polnisch-katholischen Schulen der sichern Polonisirnng
entgegengehen, so lange würden Aufwendungen für Hochschulen und Kunstinstitute
den Charakter von Luxusausgabe» tragen, während es an des Lebeus Nahrung
und Notdurft fehlt. Den Gedanken der Errichtung einer Universität für die
Provinz Posen, selbst wenn sie ihren Sitz in der sichern deutschen Stadt
Bromberg erhalten sollte, halten wir für einen politisch unglücklichen, wenn¬
gleich anch jener durch veränderte Verkehrsverhältnisse angeblich geschädigten
Stadt eine neue Lebensader zu gönnen wäre.
Ganz Deutschland leidet bereits an einer Überfülle studirter Leute, und
der Staat hat wenig Veranlassung, dem unglücklichen Drängen nach den
literarischen Berufszweigen weiter» Vorschub zu leisten. Durch Begründung
einer Universität für die Provinz Posen würde man gleichzeitig das Streben
der polnischen Bewegung materiell erleichtern, durch Heranbildung von Rechts-
auwülten, Ärzten und Technikern aus dem polnischen Kleinbürger- und Bauern¬
stande die Schacir ihrer geistigen Führer zu verstärken. Trotz des Besuches
deutscher Gymnasien und Hochschulen, trotz Erfüllung der Dienstpflicht in
der Armee und trotz des selbstgewcihlten Berufes in der Zivilverwciltnng
bleibt innerhalb, der Provinz Posen der Pole Pole, lebt als solcher
und ist wie durch ein Naturgesetz mit seiner Phantasie und seinem Herzen an
alles gekettet, was mit den nationalen Hoffnungen zusammenhängt. Nur Poli¬
tiker, die möglicherweise die Provinz Posen nie betreten haben oder trotz ihres
Aufenthalts in der Provinz die Zähigkeit und das Geschick der polnischen
Propaganda nicht zu übersehen vermögen, können sich der Täuschung hingeben,
daß die geistigen Ausstrahlungen eines Professorenkollegiums gegenüber dem
Polonismus etwas für die deutsche Sache wirken könnten. Nicht die Universität
wird gcrmanisireu, sondern die polnischen Studenten mit ihrem Familienanhang,
welcher sich nach der Universität hinziehen wird, dürften polonisiren. Für die
deutsche Bevölkerung dagegen halten wir die Begründung einer Universität in
der Provinz Posen für völlig überflüssig; von den meisten Punkten der Provinz
gelangt man schneller nach Breslau oder Berlin als nach Bromberg. Brom-
berg ist anch nicht Straßburg mit der Nähe der Rheinlandschaften und des
Schwarzwaldes. Deutsche, welche die Mittel haben, ihre Söhne studiren zu
lassen, werden selbst bei bescheidnen Ansprüchen das nahe Breslau und Berlin
vorziehen. Will man dagegen durch gewisse Luxusaufweudungeu dem preußischen
Beamten das Leben in der Provinz angenehmer gestalten, so wird man in
erster Reihe mit der Provinzialhauptstadt beginnen müssen, wo das Polentum
in den letzten Jahrzehnten die sichtbarsten Fortschritte anch auf geistigem Ge¬
biete gemacht hat. Das kleine, aber recht gute polnische Theater, das Museum
der Freunde der Wissenschaften, die zahlreichen polnischen Zeitungen und Zeit¬
schriften, die verhältnismäßig große Anzahl polnischer Buchhandlungen, die Be¬
gründung einer nationalen polnischen Musikkapelle liefern hierfür den äußern
Anhalt. Zunächst müßte man das vorhandne deutsche Theater mit einer guten
ständigen Truppe ausstatten, die es auch den Provinzialen lohnend erscheinen
ließe, des Theaters wegen nach Posen zu kommen. Man errichte ferner eine
Kunstsammlung und statte dieselbe mit guten Bildern und Ghpsabgüssen aus
dem Überflusse der Berliner Kunstinstitute aus. Eine recht brauchbare Bibliothek
besitzt Posen bereits in der Büchersammlung des Grafen Raczhnski. Vor allem
aber müßte an einem zu Fuß erreichbaren Orte der Umgebung der Stadt nach
Art andrer Großstädte ein großer öffentlicher Park angelegt werden, da die
dürftigen Glacis zur Zeit den einzigen Sommerschatten spenden!
Soll es aber in der Provinz Posen innerlich anders werden, so wird
zunächst das Deutschtum einmal recht ernstlich mit sich ins Gericht gehen
müssen, ob es im öffentlichen und kommunalen Leben anch seine Aufgabe erfüllt
hat und zu erfüllen bereit gewesen ist; ob es dem Polentum gegenüber stets
eine würdige, geschlossene Front gezeigt und in sich selbst die Zucht geübt hat,
die notwendig ist, um die Achtung selbst des politischen Gegners zu erringen;
ob die deutsche Bevölkerung, statt nur Schutz und unerfüllbare Leistungen von
der Regierung zu erwarten und eine überscharfe Kritik an ihren Maßregeln zu
üben, auch stets da die Organe der Staatsregierung gestützt hat, wo es der po¬
litische Anstand gebot. Glaubt das Deutschtum diese Fragen mit einem ehrlichen
Ja beantworten zu können, so bleibt demselben jedenfalls noch immer die eine
Aufgabe, sich in den einzelnen Gemeinden und Kreisen, ohne Unterschied des po¬
litischen Bekenntnisses und ohne spießbürgerlichen Kastengeist, fester aneinander zu
schließen. Möchten die Deutschen von den Polen lernen, wie mau Vereine praktisch
wirksam macht, wie man durch opferfreudigen Zusammenschluß den Schwachen
stützt und hält, die heimische Presse in ihrer Bedeutung fördert und durch zahl-
reiche, scheinbar nebensächliche Eiuzclbestrebuugeu dem einen Ziele, der „nationale»
Stärkung" zustrebt; der tägliche Geschäftsverkehr bietet hierzu fortgesetzte Ge¬
legenheit. Vor allem würde es durch ein derartiges selbstthätiges, mit der
Presse in Fühlung stehendes Vorgehen des Deutschtums gelingen, zu verhin¬
dern, daß fortgesetzt urdeutsche Handwerker und Geschäftsleute mit Rücksicht
auf ihre polnische Kundschaft ins polnische Lager übergehen und fanatischere,
rücksichtslosere Vorkämpfer des Polentums werden als die National-Polen
selbst, denen die geschichtliche Vergangenheit ihres Volkes entschuldigend zur
Seite steht und die selbst im politischen Kampfe die persönlich liebenswürdigen
Eigenschaften ihres Charakters nicht imnier ganz zu verleugnen pflegen.
Möchten endlich alle gebildeten Deutschen der Provinz statt der persön¬
lichen und finanziellen Zersplitterung in zahllose, meist dahinsiechende Vereine
einen großen Verein gründen: „zur Förderung vaterländischer Kultur." Man
erweist dem Deutschtum keinen Dienst, wenn man das für seine Nationalität
kämpfende Polentum schmäht; nur wer selber allezeit auf der Bresche steht,
wer es für schimpflich hält, seine politischen und kommunalen Pflichten bei
Wahlen und allen öffentlichen Angelegenheiten aus Bequemlichkeit zu versäumen,
der hat wirklich das Recht, in dem tiefgehenden Kampfe der beiden Nationali¬
täten mit gutem Gewissen mitzusprechen. Lächerlich, wenn nicht verächtlich ist
es, den Gegner fortgesetzt zu schmähen, weil er für seine Nationalität kämpft,
während man die eignen nationalen Pflichten aufs schwerste verletzt. Schließt
sich das Deutschtum allmählich so zusammen — und an hervorragenden gei¬
stigen Leitern einer derartigen Bewegung ist in der Provinz kein Mangel —,
dann werden auch die Opfer, welche die Staatsregierung im Interesse der
deutschen Sache zu bringen bereit ist, dauernde Frucht tragen können.
Eine pessimistische, innerlich unzufriedene, stets mit einem Auge nach der
angeblich glücklicheren Heimat schauende Bevölkerung kann durch kein Opfer
der Staatsregierung auf die Dauer gerettet werden. Die Provinz Posen ist
ein Land, so dankbar für ernste Arbeit, wie irgend eine andre Provinz des
Staates, Die deutsche Bevölkerung ist zum größten Teil freiwillig dahin ge¬
gangen, um dort ihren Herd zu bauen. Zahlreiche deutsche Familien haben
Existenz und Wohlstand hier gefunden, und es ist endlich Zeit, daß dies die
deutschen Einfassen dankbar anerkennen und in der Provinz Posen ihre dauernde
Heimat erblicken. Eine ernste Aufgabe der preußischen Beamten ist es, das
Bewußtsein für diese Aufgaben in der Bevölkerung wachzurufen und dnrch
eignes Beispiel ihr dauerndes Interesse für den Landesteil zu bekunden, in
den sie durch ihres Königs Vertrauen berufen sind.
. Für die Staatsregierung und die Bevölkerung gilt aber in der Provinz
Posen ganz besonders die alte politische Wahrheit, daß mau deu Gegner am wirk¬
samsten bekämpft, wenn man den Freund stärkt. Man erschöpfe deshalb seine
Kraft nicht länger in wirkungslosen Repressivmaßregeln, sondern gehe mit klar
ausgesprochenem Ziele schöpferisch vor! An geeigneten Vorschlägen aus der
Provinz heraus hat es in dieser Beziehung schon seither nicht gefehlt.
Der Kampf zwischen Polentum und Deutschtum ist für die Polen ein
wirtschaftlicher und politischer, da sie mit ihrer fortschreitenden wirtschaftlichen
Entwicklung auch fortgesetzt neue Anhänger für ihre Partei und damit auch
allmählich der polnischen Nationalität neue Bürger erwerben. Für das Deutsch¬
tum als solches ist der Kampf eigentlich nur ein wirtschaftlicher, da die Ger-
manisirung polnischer Staatsangehörigen innerhalb der polnische» Landesteile
ausgeschlossen ist. Es ist deshalb eine richtige Taktik der preußischen Staats¬
regierung, ihre Machtmittel vorzugsweise auf wirtschaftlichem Gebiete zu ver¬
stärken, ein Verfahren, gegen welches auch der sittenstrengste Politiker, wenn
er nur eine Spur von Stammesinteresse für seine deutschen Brüder in den
Ostmarken hat, einen sittlichen Einwand nicht erheben kann. Hoffen wir,
daß es der preußischen Staatsregierung gelingen werde, für die Lösung der
großen politischen Aufgabe Männer zu finden, die mit weitem Blick, mit Takt,
mit nachhaltiger, ruhiger Willenskraft, mit voller Kenntnis der wirtschaftlichen
und politischen Verhältnisse des Landes, mit aufrichtigem, allem persönlichen
Beifallsbedürfnis fernstehenden sachverständigen Eifer und mit geistiger und
körperlicher Frische ihr vielseitiges Amt zu führen imstande sind. Nur Müuuer,
die nicht bloß vom grünen Tisch verfügen, sondern auch befähigt sind, draußen
auf der Scholle zu prüfen und anzuordnen, die bereits den Beweis geliefert
haben, daß sie imstande sind, aufzubauen und zu schaffen, werden wirtschaftliche
und damit politische Erfolge erreichen.
Dem Polentum kann man nur zurufen: In, voulu! Sein patriotischer
Eifer war größer als seine staatsmännische Einsicht. Den endlosen systematischen
Angriffen der polnischen Agitation gegenüber konnte der Staat nicht länger Ge¬
wehr bei Fuß stehen — er ist zum Kampfe gedrängt worden. Weise Staatsmänner
— und vielleicht erwachen allmählich solche unter den Polen — pflegen sich
in solchen Fällen in „haltbare" Positionen zurückzuziehen oder abzurüsten.
Die Polen selbst werden schon in kürzester Zeit einsehen, daß ihnen mit
dem beabsichtigten Ankauf polnischer Güter zunächst ein enormer wirtschaftlicher
Vorteil gehste» ist, und es lediglich von ihnen selbst abhängen wird, ob hieraus
eine Schädigung ihrer berechtigten nationalen Interessen erwächst. Zunächst
wird die königliche Staatsregierung nur von denjenigen Besitzern kaufen und
kaufen können, welche sich in ihrem Besitz nicht mehr zu halten vermögen. Wenn
aber solche Besitzer vom Staate ausgekauft werden, so liegt dies im dringendsten
Interesse desjenigen Teiles der polnischen Gesellschaft, welcher noch wirtschaftlich
lebensfähig ist, denn selbst die opferfreudigste Hingebung jener festfundirten
Kreise des Polentums wird auf die Länge nicht imstande sein, die finanziell
gesunkenen Landsleute zu halten; letztere werden dagegen durch rechtzeitigen
Verkauf in vielen Fällen in die Lage gesetzt sein, sich unter bescheideneren und
wirtschaftlich gesünderen Verhältnissen eine neue Existenz zu gründen. Die Be¬
fürchtung der polnischen Kreise dagegen, daß auch wirtschaftlich gut situirte
polnische Grundbesitzer von der preußischen Staatsregierung durch hohe An¬
gebote zum Verkauf verleitet werden würden, ist völlig unbegründet, da die
Staatsregierung wohl zu klug sein dürfte, nnter der gegenwärtigen landwirt¬
schaftlichen Misere durch hohe Kaufpreise polnischen Grundbesitzern die Mittel
in die Hand zu geben, schlecht situirte deutsche Besitzer billig auszulaufen. Jede
nervöse Uberhastung in dieser Beziehung, welche die Vernachlässigung vou Jahr¬
zehnten unter dem Drucke der öffentlichen Meinung in ungestümem politischem
Ehrgeiz einholen wollte, würde zu einem vollständigen Mißerfolge der ganzen
Maßregel führen. Ehrliche Benutzung des einzelnen günstigen Falles auf Grund
genauer Ortskenntnisse und nicht programmmäßige büreaukratische Arbeit kann
allein Erfolge erzielen, welche sich sittlich, wirtschaftlich und politisch vor dem
Lande rechtfertigen lassen.
in fünfzehnten Jahrhundert riefen die abendländischen Gelehrten
gegen die erstarrte lateinische Kultur das unverfälschte Griechen¬
tum zu Hilfe. Es hieße aller feinern Bildung Hohn sprechen,
wenn man das Verdienst der ältern Humanisten, der italienischen
sowohl als der deutschen, herabsetzen wollte. Den armen, durch
die mumienhafte lateinische Kultur in sich zusammengepreßten Abendländern ging
die Philosophie erst bei dem Studium der griechischen Meisterwerke auf. Die
Deutschen waren in ihrer Verkümmerung ebensowenig wie die Franzosen, Spanier
und Italiener imstande, aus sich heraus zu hohen Idealen eines rein mensch¬
lichen Daseins zu gelangen. Aus Dogmcnstreit, Hierarchie und Lehnswesen,
aus bürgerlicher und bäurischer Knechtschaft, aus Armut und Rohheit mußten
sie durch die hohe Naivität eines naturwüchsigen, mit künstlerischem und philo¬
sophischem Genie ausgestatteten Volkes herausgerissen werden, wenn sie über¬
haupt wieder zu der Anschauung eines menschenwürdigen Daseins gelangen
wollten.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die ersten großen deutschen Humanisten,
Reuchlin, Agricola, Erasmus, den Anstoß zu der nationalen Vefreiuugsthat
gegeben haben, die man mit dem Namen der deutschen Reformation bezeichnet,
Sie war nicht eine Auflehnung gegen Religion, im Gegenteil eine Vertiefung
des religiösen Sinnes, so recht dem Grundzüge des deutscheu Wesens gemäß,
auch nicht eine Auflehnung gegen den Zwang der Kirche, denn alle Formen
der kirchliche» Gemeinschaft wurden sofort wiederhergestellt, sondern recht eigent¬
lich eine Auflehnung gegen die geistige Fremdherrschaft, und damit reiht
sie sich als dritter großer Sieg an die Schlachten im Teutoburger Walde
und bei Tours und Poitiers. Luther war sich wohl bewußt, daß die Huma¬
nisten ihm den Boden bereitet hatten, darum empfahl er auch den künftigen
Theologen, wie deu regierenden Ständen überhaupt, das Studium der Sprachen,
besonders des Griechischen und Hebräischen. Er hatte dabei in erster Linie
das Lesen der heiligen Schrift in den Ursprachen vor Augen, die humanistischen
Studien sollten in den Dienst der religiösen Forschung treten. Darum haupt¬
sächlich nannte er die Sprachen „das Schwert des Geistes." An das Volk
im großen und ganzen, an ein Aufnötigen fremder Kulturen, an eine Er-
tötung des nationalen Geistes dachte er nicht im entferntesten. Seine Bibel-
übersetzung ist dafür der sprechendste Beweis. Er wollte dnrch und durch
Deutscher sein: die Sprache des Volkes zu reden war sein Stolz, sein lebens¬
langes Studium, und die deutsche Predigt wurde der Mittelpunkt des Gottes¬
dienstes, welchen er einrichtete. In der That ist es der Aufschwung des Volks¬
tümlichen, was die Reformationszeit auszeichnet, die Sprache des Volkes ist
die herrschende. Geistliche, Dichter, Staatsmänner müssen bürgerlich reden,
sonst werden sie nicht verstanden. Selbst ein Mann wie Herzog Heinrich von
Braunschweig, der gelehrte, strenge Jurist, der fürstliche Selbstherrscher, redet
in seineu Dramen mit dem Volke in dessen Sprache.
Soweit hatte sich die Herbeiziehung der griechischen Hilfe vortrefflich be¬
währt. Hätten die Gelehrten die Schätze der antiken Kultur, die lateinischen
ebenso wie die griechischen, in ihre Verwahrung genommen und sie durch gute
Übersetzungen nach dem Muster der lutherischen Bibel mich weiteren Kreisen
zugänglich gemacht, wie segensreich hätte es auf die gesamte Volksbildung
wirken müssen! Melanchthon hatte ja schon angefangen, Äschines, Lucian,
Plutarch zu übersetzen.
Allein es war, als ob ein feindliches Verhängnis auf der nationalen Ent¬
wicklung der Deutschen läge, mit der lutherischen Lehre zugleich erstarrten die
humanistischen Studien schon um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts zu
dogmatischen Formen und Formeln. Die Gymnasien wurden ganz andre, als
die ersten Humanisten, als die Reformatoren sie sich gedacht haben mögen.
Sie wurde» Pflanzschulen des Lateinischen, Griechischen und Hebräischen, we¬
niger um des Inhaltes der Klassiker als um der sprachlichen Form willen,
und machten außerdem den Anspruch, allgemeine Bildungsanstalten zu sein.
Da sie das Latein im weitesten Umfange des Wissens und Könnens beibehielten
und Griechisch und Hebräisch mit nicht geringerer Gründlichkeit betrieben, so
drängten sich nun statt einer zwei (oder drei) fremde Kulturen dem Volke auf.
Was die humanistischen Rektoren Eobanns Hesse in Nürnberg, Michael Neander
zu Ilfeld am Harz, Hieronymus Wolf in Augsburg, Trotzendorf in Goldberg,
Sturm in Straßburg aus den armen deutschen Jungen machen wollten, ist
erschrecklich. Vom sechsten Jahre an Latein, vom neunten an Griechisch, und
Deutschsprechen ein Kriminalvergehen der Schulordnung! Und wozu? Damit
der Berg eine Maus gebäre! In den meisten Gymnasien gelangte man über
Cieero und Äsop nicht hinaus, die großen Klassiker wurden den Schülern kaum
dem Namen nach bekannt. Vor der Reformation hatte man in den Kloster-
schulen zwanzig- und dreißigjährige Schiller getroffen, die nicht über die An¬
fänge im Latein hinausgekommen waren, weil sie den Unterricht nicht regelmäßig
besuchten. Jetzt fing man in frühester Jugend an und bestrafte mit Schlägen
und Fasten die Kleinen, die in den Lauten ihrer Muttersprache stammelten,
um dem deutschen Volke zwei fremde Kulturen einzuimpfen, aber viel weiter
brachte man es auch nicht. Die deutsche Volksnatur sträubte sich gegen diese
Auspeitschuug des nationalen. An Bemühungen, jeden, der nur irgend ans
Bildung Anspruch machte, zu lateinisiren und zu gräzisiren, fehlte es nicht.
Die akademischen Gymnasien, denen von Rechtswegen allein die Pflege der alten
Sprache obgelegen hätte, waren nur ein kleiner Teil der auf den fremdsprach ¬
lichen Unterricht gegründeten Schulen, die Fürsten- oder Klosterschulen hatten
Latein und Griechisch, die Stadtschulen nur Latein. Kaum daß sich die niedere
Volksschule und die Mädchenschule davon frei erhalten konnte! Was die über¬
eifriger Rektoren in den untern Bildungsschichteu betrieben, die Ausrottung des
Lebendigen und Ungebornen zu Gunsten toter Kulturen, das übten ihre Meister,
die Universitätsprofessoren, im großen. Sie sprachen lateinisch, selbst griechisch,
sie schrieben einander — lateinische Briefe, sie dichteten — lateinische Verse, sie
übersetzten ihren ehrlichen deutschen Namen — ins Lateinische oder Griechische,
wie schon Celtes (Pickel), Agricola (Hausmann), Melanchthon (Schwarzen) es
gethan hatten. Deutsch — pfui! Deutsch war gemein, deutsche Dichtung ihnen
ein Greuel, der poetische Schuster Haus Sachs diente ihnen nur als Zielscheibe
des Spottes. Da versteinerte die deutsche Predigt zu dürrem Dogmenweseu,
da flutete der trübe Strom der Fremdwörter in die Rechts- und Kanzleisprache
herein, da verstummte die deutsche Poesie bis auf das einsam klagende Volks¬
lied. Ein Wunder, daß das deutsche Wesen überhaupt noch zusammenhielt!
Gegen Eude des sechzehnten Jahrhunderts schon sah man sich ernstlich
nach einem Retter in der Not um, natürlich wieder nach einer fremden Kultur,
die befreiend wirken sollte. Diesmal war es das Französische.
Erinnern wir uns, daß schon im Mittelalter die Ritter ihre Vorbilder
in Frankreich suchten, daß schon damals französische Sprache und französischer
feiner Anstand (eourtoi8i«z) als Merkmal der Bildung galt. Jetzt knüpften zu¬
nächst die kalvinistischen Höfe, Kurpfalz, Anhalt, einen innigern Verkehr mit
Frankreich an. In der Verwirrung des dreißigjährigen Krieges, als die wilde
fremdländische Soldateska mit dem Wohlstande zugleich alles geistige Leben der
deutschen Nation mit Füßen trat, als die Kirchen und Schulen leer standen,
suchten einige wenige Fürstenhäuser an dem französischen Wesen einen Halt und
einen Trost. Daß diese Zuflucht bei Frankreich sich in der That mit dem Inter¬
esse für das Nationale verflocht, sieht man deutlich an dem Palmcnorden oder
der Fruchtbringenden Gesellschaft. Das Haupt dieser auf die Reinigung und
Förderung der deutschen Sprache gerichteten Gesellschaft war in der ersten und
besten Zeit derselben, während des großen Krieges, Ludwig von Anhalt-Köthen.
Es ist freilich, einige sprachwissenschaftliche Werke abgerechnet, nicht viel dabei
herausgekommen, aber gleichzeitig ging aus den gelehrten humanistischen Kreisen
die deutsche Kunstdichtung hervor, als deren Vater Martin Opitz von Boberfeld
gilt, Opitz und seine Schule, die erste schlesische, wurden durch die Vorgänge
in der französischen Literatur zu der Ruck- und Einkehr in das Nationale hin¬
gelenkt, Pierre Ronsards Versuche, die humanistischen Studien für die Weiter¬
bildung der französischen Sprache zu verwenden, begeisterten Opitz zu gleichen
Bestrebungen im vaterländischen Interesse. In Paris schaute er das Erwachen
der französischen Dichtkunst in nächster Nähe an.
Nach dem dreißigjährigen Kriege stürzte sich das heruntergekommene Deutsch¬
land ganz in die Arme Frankreichs. Die französische Sprache wurde die Sprache
der Gebildeten, die französische Literatur blieb ein Jahrhundert lang fast die
einzige Geistesnahrung der Deutschen. In den vornehmen Familien wurde den
Kleinen das Dentschsprcchcn um des Französischen willen verboten, wie die alten
Rektoren es um des Lateinsprecheus willen untersagt hatten. Staunend stand das
Volk, welches einen Armin und Luther zu deu Seinen zählte, vor den klassischen
Dichtern Ludwigs XIV., die Fürsten wetteiferten, den großen König wenigstens
in Kleidung, Dienerschaft, Gärten und Palästen nachzuäffen. Selbst Preußens
Friedrich II., der die Heere Ludwigs XV. schlug, saß noch zu den Füßen
Voltaires und schrieb seine Werke in französischer Sprache. Welche Seltsam¬
keiten müßte man aufzählen, um diese Zeit nur einigermaßen genügend zu schil¬
dern! Kein Wunder, daß uns die Franzosen verachteten, uns allen Geist,
allen Geschmack absprachen, uns ein Volk von Narren und Dummköpfen schalten!
Freilich waren uns die Franzosen überlegen, freilich war ihre Literatur der
unsern weit voraus, denn der unselige Krieg hatte uns nicht bloß aufgehalten,
sondern zurückgeworfen, aber Bewundern, Sichhingeben ist nicht Wetteifer und
Weitcrstreben.
Schon zu Gottscheds Zeiten fing man an, sich der Abhängigkeit von den
Franzosen ernstlich zu schämen. Bodmer veröffentlichte die vernichtenden Urteile
der französischen Kritiker in deutscher Übersetzung, Gottsched selbst, so tief er in
die französischen Muster verstrickt war, machte Voltaire keinen Besuch, als dieser
durch Leipzig reiste. Der Kampf gegen die geistige Übermacht der Franzosen
entbrannte bald darauf in der heftigsten Weise. Klopstock schlug mit der Keule
Arnims auf die Wälschen ein, Wieland suchte es ihnen an Eleganz des Aus-
druckes gleich zu thun, Lessing rückte mit Sophokles und Shakespeare im Bunde
gegen Voltaire vor. Endlich, 1773, trat der junge Goethe in die Schranken
und stellte wie mit Zauberkraft die deutsche Dichtkunst auf eigne Füße. Es
war wirklich ein Kampf des nationalen gegen das Fremde, wenn auch nicht-
eingeborne Größen, die Griechen und die Engländer, als Hilfstruppen im Hinter¬
grunde standen. Klopstock, Boß, Lessing waren im Treibhause des Lampenlichtes
und der alten Klassiker aufgewachsen, aber sie waren kerndeutsche Naturen,
die aus ihren lateinischen und griechischen Studien keine Voreingenommen¬
heit dafür mitbrachten. Klopstock bürgerte den Hexameter in der deutschen
Dichtung ein und schmolz die deutsche Sprache im Hochofen der griechischen
Syntax um, aber dem handwerksmäßigen Gebrauche der griechischen und römischen
Mythologie kündigte er im nltgermanischeu Gewände der Bardeudichtung den
Krieg an, Voß lehrte den Homer deutsch reden und schug Theokrit mit der
deutscheu Idylle aus dem Felde, Lessing, obgleich er sich nie ganz aus den
Windeln seiner Gymuasialstndien losmachen konnte, war der Held, welcher das
anmaßende hohle Gelehrtentum der buchstabenglüubigc» Zeit zertrümmerte.
Wie bedeutend diese Vorkämpfer des nationalen Bewußtseins aber auch auf
ihre Zeit einwirkten, das französische Wesen rotteten sie noch keineswegs
ans. Von dem Hofe und dem Hofadel war es ausgegangen, an den Höfen
und in den adlichen Kreisen hatte es sich festgesetzt, hier galt es als die Legiti¬
mation aller höhern Bildung, und da man nur in Hof- und Adelskreisen mit
allen Einzelheiten der französischen Anschauungsweise vertraut sein konnte, so
wurde ganz unmerklich hinter dem Adel der schwarze Strich gezogen, jenseits
dessen man eine höhere Bildung nicht gelten lassen wollte. Die Gelehrten, die
höhern Staatsdiener, die Theologen, Mediziner, Literaten und Gymnasiallehrer
gehörten nur der subtropische» Zoue an, wenn sie sich nicht in den Adelskreisen
eine Art Schntzverwandtschaft zu erwerben wußten. Ein wesentliches Merkmal
dieser französischen Adelsbildung war der Witz, d. h. die trockne Verstandes¬
schärfe, der nichts heilig ist, was nicht einen augenblicklichen, sinnlich wahrnehm¬
baren Vorteil verspricht. Es war ein nackter Realismus, der sich in einer fri¬
vole» Bekrittelung der kirchlichen und staatlichen Verhältnisse gefiel und daneben
eine vornehme Verachtung aller Tugendidealc zur Schau trug. Da es in
Kirche, Staat und sozialem Leben außerordentlich viel Mittelalterliches, Ver¬
brauchtes und Hemmendes gab, so fehlte es dem vornehmen Spotte nicht an
Stoff; die adlichen Aufklärer dachten aber nicht daran, in diesen Dingen eine
Wandlung und Besserung zu schaffen, sondern sie fanden ihr Behagen nur darin,
sich für ihre Person über die alten Schranken hinwegzusetzen. Hinter ihren Vor¬
bildern, dem französischen Adel, blieben die Deutschen glücklicherweise weit
zurück. Jene spielten mit Eiden, verhandelten mit Giftmischerinnen, betrachteten
jede moralische Niederträchtigkeit als noble Passion, schafften durch die löttro«
als viuz^le ihre Gegner in die Bastille und kokettirten daneben mit dem ameri¬
kanischen Freiheitshelden Benjamin Fmnklin; diese beschränkten sich in der Haupt¬
sache doch darauf, in ihren Zirkeln über witzige Einfälle zu lachen.
Was Klopstocks sentimentale Tugendschwürmerei und Lessings gediegene
Kritik nicht erreicht hatten, das gelang der französischen Revolution, sie fegte
zugleich mit der Pariser Adclswirtschaft die frivole Pariser Bildung aus Europa
hinweg. In Deutschland Vollzügen die Originalgenies der Sturm- und Drang-
Periode den Sprung aus den französirten Salons auf die derbe heimische
Erde. Als der Vlutgeruch und der Pulverdampf der französischen Revolution
sich verzogen hatten, erkannte man deutlich die veränderte Richtung, welche die
Knltnrströmung in Europa eingeschlagen hatte. An die Stelle des sarkastischen
UtilismuS war die wissenschaftliche Forschung und der Idealismus des Nein-
menschlichen getreten. Die Männer der Wissenschaft und die Girondisten, Bailly
und Madame Roland, zeichneten das neue Strombett vor, die astronomischen
Globen und das griechische Kostüm waren die ersten Fahrzeuge auf der rasch
anschwellenden Flut. Heute noch lassen wir uns von diesen Wogen treiben,
aber wir sind schou weit unten in der Niederung und können den zurückgelegten
Weg beurteilen. Der wissenschaftliche Zug ist hauptsächlich den exakten For¬
schungen zu Gute gekommen und hat in dieser Beziehung seine Schuldigkeit
gethan. Geschichte, Geographie, Naturkunde haben sich zu Riesenbäumen mit
unendlichem Astwerk entwickelt und tragen Früchte, deren voller Wert Wohl erst
in späterer Zeit wird gewürdigt werden können. Freilich ist damit anch das
Vielwisser, die encyklopädische Bildung, das Konversationslexikon Mode geworden
und schadet besonders in der Jugenderziehung mehr als Degen, Reifrock und
Haarbeutel im vorigen Jahrhundert. Die Menschenrechte haben im Neuhuma¬
nismus ihren salonfähigen Ausdruck gefunden.
Der Neuhumanismus ist die Wiederbelebung der altklassischer Studien
ans den Universitäten und Gymnasien. Während des dreißigjährigen Krieges und
der darauf folgenden Pcrückcnperiode waren die philologischen Studien ziemlich
verfallen. Die lateinischen Stadtschulen führten ein erbärmliches Dasein in
Schlendrian und Langerweile, von den Gymnasien waren es nur noch die
alten Fürsten- und Klosterschulen, in denen in althergebrachter Weise, fast ohne
Zuthun der Lehrer, sich die begabteren Schüler durch die alten Klassiker hin¬
durchwürgten, Klopstock und Lessing hatten auf Fürstenschulcn ihre Vorbildung
erhalten. Aber schou als Lessing die Universität bezog, um die Mitte des
Jahrhunderts, regte sich ein neuer Geist in der Philologie, ein Geist, der mit
dem Kampfe gegen die französische Suprematie Fühlung hatte. Gegen die
Despotie der einen fremden Kultur rief man eine andre fremde Kultur zu Hilfe;
es war eben das alte Lied. Ernesti und Christ in Leipzig, Heyne in Göttingen
drangen darauf, die hohle Silbenstecherei durch das Eingehen auf den Inhalt
und den Geist der alten Schriftsteller zu beschränken. F. A. Wolf in Halle
regenerirte gegen Ende des Jahrhunderts das Gymnasium nach denselben
Grundsätzen, indem er besondres Gewicht auf das Griechische legte. Durch die
französische Revolution erhielt der Neuhumauismus den rechten Schwung, war
er doch auch gegen die frivole Nützlichkeitsphilosophie der französischen Adelst
bildung gerichtet. Zug um Zug ließ er sich von den revolutionären Prinzipien
treiben, ohne es einzugestehen. Die Revolution hatte die Menschenrechte auf
ihre Fahne geschrieben, die Humanisten priesen das glückselige Griechenland, in
dem Schönheit und Weisheit ein Leben im Stande der Natur verklärten, die
Revolution schob das Christentum beiseite, weil es durch die äußere Werk¬
heiligkeit und die Heuchelei der lasterhaften Hofleute entweiht worden war, die
Neuhumanisten setzten ihren Stolz darein, ächte alte Heiden zu sein, beglück¬
wünschten einander in ihren Briefe!?, daß sie nichts mit kirchlichen Dingen zu
thun hätten, und meinten, vor dem theologischen Studium müßte eigentlich
Polizeilich gewarnt werden.*) Die jetzigen Altphilologen hören es nicht gern,
wenn man sie daran erinnert, sie sind geheilt von der jugendlichen Schwärmerei
ihrer geistigen Altvordern, ja man konnte sagen, wenn es nicht paradox klänge:
je kirchlicher und konservativer die Zeitrichtung ist, desto mehr ist der gymnasiale
Bildungsgang bevorzugt. Diese Bekehrung hat das preußische Ministerium
Altenstein unter spezieller Bethätigung des Justizministers Muster und des
Geheimen Rates Johannes Schulze zustande gebracht, nicht zu vergessen
unter dem stillen Segen der Hegelschen Philosophie. Wenn man Varnhagen
von Ense glauben darf, so ging es im letzten Jahrzehnte der Regierung Friedrich
Wilhelms III. streng bttreaukratisch in Preußen zu. Damals nahm das Mi¬
nisterium Altenstein, ohne die ausgesprochene Absicht wohl, aber seiner ganzen
Richtung gemäß, den etwas kecken Neuhumanismns unter Schloß und Riegel.
Zuerst wurde die schon früher angebahnte staatliche Kontrole der Lehrpläne
muss strengste durchgeführt. Nicht die Lehrziele überhaupt, auch die Ziele der
einzelnen Klaffen erhielten eine ganz bestimmte, von der höchsten Schulbehörde
vorgeschriebene Gestalt, selbst die Methode und die Lehrbücher bedurften der
Bestätigung. Die staatliche Kontrole verkörperte sich in strengen Jahres- und
Reifeprüfungen, die von Mitgliedern der Aufsichtsbehörde geleitet wurden. Die
auf solche Weise verstaatlichter Gymnasien erhielten dafür die ausschließliche
Berechtigung, daß ihren in der Schlußprüfung für reif erklärten Schülern der
Zugang zum Universitätsstudium offenstehen sollte. 1834 war das große
Werk vollendet, und seitdem geht der Neuhumauismus in dem sichern Gleise
des verantwortlichen und mühsamen Beamtcnlebens. Der fremden Kultur ist
also eine bestimmte Stelle im Bereiche der Volksbildung angewiesen. Über
diese Stelle läßt sich freilich noch streiten.
Wie wir nun einmal sind nud wie sich die gesamte Kultur des Abend¬
landes im Laufe von Jahrtausenden gestaltet hat, ist ohne eine genauere Kenntnis
des antiken Lebens und der antiken Literatur uicht Wohl auszukommen. Aber
eine andre große Frage ist die, ob die gründliche Erlernung der alten Sprachen
nicht den Gelehrten von Beruf vorbehalten bleiben und der Universität oder
besondern akademischen Gymnasien zugewiesen werden sollte, damit die mehr prak¬
tischen Berufskreise, auch die künftigen Mediziner und die Juristen, schon im
Gymnasium ernstlicher zu den modernen Bildungsmitteln, wie sie sich z. B. in
den Realgymnasien finden, herangezogen werden könnten. Die wissenschaftliche
Pädagogik und die Anforderungen des Lebens sind die Faktoren, von welchen
die Lösung dieser brennenden Frage abhängt, bei der regen Teilnahme, welche
die Regierungen dem höhern Schulwesen entgegenbringen, ist zu erwarten, daß
die praktische Regelung sogleich eintreten wird, sobald nnr die Sache theoretisch
entschieden ist. Dabei werden freilich noch manche Vorurteile zu überwinden
sein. Das Gymnasium wirkt ungestört und unbestritten segensreich nnr als
Vorbildungsanstalt für den künftigen Fachgelehrten. Sobald es für die Praxis
vorbereiten soll, reicht es nicht mehr aus oder muß sich übermäßig mit mo¬
dernem Bildungsmaterial belasten. Man wird sich also wohl dazu verstehe»
müssen, von den alten Sprachen nur so viel in die Jugenderziehung aufzu¬
nehmen, als zum Verständnis wissenschaftlicher Untersuchungen unbedingt not¬
wendig ist, das übrige aber der Universität zu überlassen. In eine noch größere
Bedrängnis kommt das Gymnasium, wenn es eilte ganz allgemeine Bildungs¬
anstalt sein will. Den künftigen Fabrikanten, Kaufleuten und Landwirten kann
es nichts bieten als eine unfruchtbare Wifsensmafse, die erst wieder verlernt
werden muß, ehe der junge Mann sich seinem Berufe nähern kann. Alles De-
klamiren der Philologen gegen das Nützlichkeitsprinzip, alles Anpreisen der
Idealität und des formalen Bildungswertes, der den toten Sprachen innewohnen
soll, wird gegen die Gewalt der Thatsachen nichts ausrichten. Verharrt man
wie bisher ans dem einseitigen philologischen Standpunkte des Gymnasitims,
so werden allmählich die modernen Wissenschaften, deutsche Literatur, neuere
Sprachen, Naturkunde in vollem Umfange das Bollwerk der toten Sprachen
in den gymnasialen Lehrplänen selbst sprengen. Die Überbürdnngsfrage ist schon
der Anfang hierzu. Denn die Klagen über allzugroße geistige Anstrengung der
Jugend sind mit ihrer Spitze gegen das Gymnasium gekehrt. Zu allen Zeiten
treten sie hervor, in denen die humanistische Bildung in den Schulen mehr als
billig betont wurde, uicht lange nach der Reformation, um die Mitte dieses
Jahrhunderts und jetzt wieder. Auch sie sind ein Auflehnen des Volksgeistes
gegen die fremde Kultur.
Nicht nur auf die Schule, auch auf die Literatur hat der Neuhumanismus
einen großen Einfluß ausgeübt. Die Weimarer Klassicität ist von ihr durch¬
drungen. Wieland, Herder, Goethe, Schiller und ihre Freunde, wie Wilhelm
von Humboldt, wurden von der neuhumanistischen Verherrlichung der Griechen
stark beeinflußt. Bei Goethe und Schiller ist dies umso merkwürdiger, als
Goethe erst spät das Griechische erlernte und ernsten philologischen Studie»
überhaupt nicht hold war, Schiller aber, von kärglichen Anfängen auf der
Karlsschule abgesehen, dieser Sprache nie mächtig wurde. Es war also der In¬
halt der griechischen Klassiker, wie er in Übersetzungen vorlag, der Reiz der
griechischen Kunstwerke, vielleicht auch ein ideales Gesamtbild vom griechischen
Leben, was unsre großen Dichter anzog. Man ersieht daraus, daß Übersetzungen
uicht weniger stark wirken als Originale, sobald die rechte Empfänglichkeit vor¬
handen ist. Ein beachtenswerter Wink für Pädagogen! Man ersieht daraus
ferner, daß Kunst und Philosophie allein den hohem Inhalt des griechischen
Lebens ausmachen; die politische Geschichte ist häßlich entstellt durch Verräterei
und Bosheit selbst in den hervorragendsten Partien der Perserkriege, das soziale
Leben aber ist wie das aller alten Kulturvölker durch die Sklaverei gebrand-
markt und schon darum nichts weniger als mustergiltig. Die griechische Philo¬
sophie und Kunst hat unsrer klassischen Dichtung teilweise wenigstens eine ge¬
wisse Färbung gegeben. Goethe ging nach seiner Rückkehr ans Italien so sehr
in der Vergötterung der Griechen auf, daß er seinen nächsten Freunden unver-
ständlich wurde. Die griechische Walpurgisnacht, die er innerlich durchlebte,
hat er im zweiten Teile des Faust abgesetzt. Im Epimenides, dem griechisch-
allegorischen Festspiele nach dem großen Freiheitskriege, bekennt er naiv, daß er
während der Erhebung seines Volles gegen die Fremdherrschaft geschlafen habe:
Epimenives: Doch Scham' ich mich der Nnhcstnndcn,
Mit euch zu leiden war Gewinn.
Denn sür den. Schmerz, den ihr empfunden,
Seid ihr mich großer als ich bin.
Schiller erging sich zu derselben Zeit, als Goethe zu den Füßen des Homer und
des Sophokles saß, in schwungvollen Hhmnen zu Ehren der Götter Griechenlands
und der mythologischen Kulturentwicklung, und noch in einer viel spätern Zeit
lenkte er in die griechische Schicksalstragödie ein. Unsre großen Dichter haben
unter dem Einflüsse der Griechen ohne Zweifel viel Schönes geschaffen, das
Schönste dann, wann es ihnen gelang, die Griechen auf ihrem eignen Gebiete zu
besiegen, wie Goethe in der Iphigenie. Anderseits aber ist durch diese neuhuma-
nistische Überverherrlichnng des griechischen Lebens auch viel Kränkliches, Mattes
und Fremdes in die deutsche Literatur eingedrungen. Man denke an die ge¬
spreizten allegorischen Gedichte Herders, an die Romane Wielands, an die Braut
von Messina und an den zweiten Teil des Faust. Unsre Knaben und Mädchen
müssen Schillers Ring des Polykrates auswendig lernen, nachdem der Lehrer
mit Wahrer Andacht den Sinn erklärt hat, und welchen Sinn? Hat denn die
ganze Idee vom Neide der Götter für uns noch einen Sinn?
Der Neuhumanismus hat unleugbar große Verdienste gehabt. Schon daß
er das Hauptgewicht auf die griechische Literatur legte, nicht auf die römische,
und den Inhalt der Meisterwerke zu erschließen suchte, nicht an der Form kleben
blieb, ist ein Verdienst. Freilich hätte nach Vossens Vorgang ungleich mehr
Fleiß ans gute Übersetzungen verwandt werden können, ja der Wert der Über¬
setzungen für den Schulunterricht ist über dem handwerksmäßigen Betriebe der
Grammatik fast ganz übersehen worden. Auch darin besteht sein Verdienst, daß
er die Grenzen der sogenannten höhern Bildung erweiterte, indem er dem lite¬
rarisch geschulten Teile des Vürgcrstandcs Eingang in den geweihten Bezirk
erwarb. Ein großer Vorwurf aber ist den eigentlichen Stockphilologcn und
Gräkvmanen nicht zu ersparen, ein Vorwurf, welcher in der Regel die Zeloten
der fremden Kultur trifft, der einer Unduldsamkeit, die an Dünkel grenzt. Wo
das Latein und Griechisch aufhört, hört für sie die höhere Bildung auf. Einen
andern Bildungsweg giebt es nach ihrer Ansicht nicht. Jeder naturwüchsige,
durchaus nationale Mensch gehört zur Plebs. Die Altmeister der neuhuma-
uistischen Richtung waren in dieser Beziehung geradezu abscheulich. Man höre
nur Wilhelm von Humboldt: „In jeder Katastrophe des Lebens, ja im Mo¬
mente des Todes würden einige Verse des Homer, und wenn sie aus dem
Schiffskatalogus wären, (!) mir mehr das Gefühl des Überschwankens in die
Gottheit geben als irgend etwas andres von einem andern Volke." Oder
Hölderlin, wie er ini Hhperivu die Deutschen schildert: „Barbaren von Alters
her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer ge¬
worden, tief unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum
Glücke der heiligen Grazien."*)
Ihr anmaßenden Narren! Wodurch war denn die deutsche Nation so arm,
so geistig elend, so mchtsvermogend und roh geworden? Doch wohl nur
dadurch, daß sie immer und immer wieder in fremde Kulturen hincingequetscht
worden war. Daß wir noch Deutsche sind, ist das Verdienst der Kaufleute,
Handwerker und Bauern, nicht das der durch fremde Sprachen gebildeten mit
und ohne Adelstitel. Wäre es nach deren Neigung und Studium gegangen,
so hätte die deutsche Nation es nicht vermocht, ihre Eigentümlichkeiten zu be¬
wahren, sie wäre romanisirt oder französirt worden. Die untern Volksschichten
hüteten das Nationale in Sprache und Sitte, aber eben darum schritt die
Kultur so langsam vorwärts. Wäre es der deutschen Nation vergönnt gewesen,
mehr aus sich selbst herauszuwachsen, hätten sich die fremden Kulturen nicht
wie ein Alp auf sie gelegt, der gute Hölderlin würde nicht so bitter zu klagen
gehabt haben.
Man könnte sagen, der spezifisch nationale Standpunkt sei ein sehr be¬
schränkter; je weiter der Buch desto größer der Geist. Gewiß! Aber die Vor¬
aussetzung, daß das moderne Geistesleben nur auf dem Voden der antiken
Kultur recht gedeihen könne, ist ein noch viel beschränkterer Standpunkt. Die
Neuhumanisten meinten Kosmopoliten zu sein, waren aber in der That die ärgsten
Partikularisteu, die es geben kann.
Der Kampf gegen die griechisch-romanische Kultur ist der Hauptsache nach
beendet. Mit leichtem Flügelschlage wird der deutsche Aar den letzten fremden
Staub abschütteln. Schon seit den Freiheitskriegen ist das Nationale wesentlich
im Vorteile. 1848, 1866. 1870 sind Knotenpunkte des siegreichen Vordringens,
die Sänger der Freiheitskriege, die schwäbische Dichterschule, die Dichter der
Gegenwart sind die Mittelglieder. Es ist anzunehmen, daß der alte Streit nicht
wieder beginnen wird. Das Nationalitätsprinzip kommt mehr und mehr zur
Geltung, das Fremde wird ausgestoßen. Wo sich noch Sprachinseln in großen
Volksgebieteu vorfinde:?, da müssen sie sich dem Ganzen anschließen, oder sie
werden bezwungen; wo sich verschiedne Nationalitäten die Wage halten, da ent¬
brennt der Wettstreit.
Die meisten Völker Europas haben einen Kampf mit fremden Kulturen zu
bestehen gehabt, keins aber hat ihn so tief im innersten Geistesleben durchgeführt
wie das deutsche. Darum empfindet es nun auch doppelt das Hochgefühl des
nationalen Bewußtseins.
i
n Thatsache, daß seit fünfzehn Jahren deutsche, österreichisch-nngci-
rische und slawische Künstler bestrebt sind, den Gestalten der christ¬
lichen Legende oder der biblischen Überlieferung eine neue, der rea-
listisch-naturalistischen Kunstanschauung unsrer Tage entsprechende
Erscheinungsform zu geben, läßt sich eher zu Gunsten als zum
Nachteile unsrer als materialistisch verrufenen Zeit auslegen. Daß unsre
Kunst sich eine geraume Weile von den höchsten idealen Zielen abgewendet hatte,
war nicht ein Zeichen geistiger Verarmung und Verflachung, sondern nur eine von
den Folgen der Opposition gegen eine erschöpfte Kunstrichtung, welche die reli-
giöse Malerei gewissermaßen in Erbpacht genommen hatte und jede andre Auf¬
fassung als die ihrige mit tyrannischer Gewalt unterdrückte. Nachdem ihre
Vertreter einer nach dem andern ins Grab gesunken, ist dieses Gebiet wieder
frei geworden, und aller Orten regen sich die Geister, nicht um neuen Most in
alte Schläuche zu füllen, sondern um ebenso radikal mit der Tradition zu
brechen, wie es ihre Vorläufer auf dem Felde der historische» Forschung, die
Mitglieder der Tübinger Schule, Strauß und Renan gethan hatten.
Die Wege, auf denen die Malerei zu einer realistischen Behandlung reli¬
giöser Motive gelaugt ist, sind verschiedenartige, zum Teil gänzlich neue, zum
Teil aber auch solche, welche nur Jahrhunderte lang verschüttet gewesen waren.
Die Wahrnehmung, daß die Sitten, die Lebensweise, die Trachten und das
Hausgerät der heutigen Araber, der Bewohner von Nordafrika, Syrien, Palä¬
stina und Kleinasien sich aus uralten Zeiten in fast unverfälschter Ursprüng-
lichkeit bis ans die Gegenwart erhalte» haben, ist fast zu gleicher Zeit von zwei
Franzosen, von Eugen Delacroix und Horace Vernet, gemacht worden. Beide haben
aber uicht die äußersten Konsequenzen aus ihrer Wahrnehmung gezogen. Dela-
croix war z» sehr Idealist, zu sehr Dichter der Farbe und der Stimmung, zu
sehr Dramatiker, um seiue Zeit an der peinlichen Nachbildung ethnographischer
Details, archäologischen Kleinkrams zu verlieren. Vernet war eine viel zu ober¬
flächliche Natur, um sich lange mit der Lösung eines Problems abzuquälen,
auch wenn er es im Anfange mit größter Leidenschaft erfaßt hatte. Aber das
Beispiel dieser beiden berühmten Männer war doch so mächtig, daß ein großer
Teil der französischen Schule die konventionelle Behandlung religiöser Stoffe in
der Art von Ingres und Hippolyte Flandrin aufgab und die Farbenpracht
des gegenwärtige» Orients in die biblischen Darstellungen hineinspielen ließ. Die
Franzosen eigneten sich dabei vorzugsweise das romantische Element des Orients
um und umgaben namentlich den Mittelpunkt jeuer Darstellungen, die Gestalt
Jesu Christi, mit jenem Scheine dichterischer Verklärung, welche ihr Ernest Rena»
übrig gelassen, nachdem er sie der göttlichen Herkunft beraubt hatte.
Ein beträchtlicher Schritt weiter auf diesem Wege historischer Rückbildung
wurde hoben» durch deutsche Künstler gethan. Wir wollen dabei auf eine Arbeit
von Menzel, der im Jahre 1851 den zwölfjährigen Jesus im Tempel unter
den Schriftgelehrten in historisch-realistischer Auffassung, zum allgemeinen Ent¬
setzen der meisten seiner Zeitgenossen, darstellte, nicht näher eingehe», weil diese
Arbeit vereinzelt geblieben ist und, soweit sich erkennen läßt, auch keinen Ein¬
fluß auf andre geübt hat. Von größerer Bedeutung ist erst das Vorgehen des
Düsseldorfers Eduard von Gebhardt geworden, welcher seit der Mitte der sech¬
ziger Jahre das damals noch große und folgenschwere Wagnis unternahm, an
dem abstrakten Idealismus der corueliauischeu Schule Kritik zu üben. Er knüpfte
da an, wo die nationale Entwicklung der germanischen Kunst einen Bruch erlitte»
hatte, an die Kunst des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, und stellte die
Figuren der heiligen Geschichte, die Hauptpersonen wie das zuschauende, den Chorus
bildende Volk so dar, wie es die Schüler der van Eyck, Dürer und Holbein gethan
hatten. Diese neue Auffassung wirkte zunächst überraschend, und da sie zugleich mit
einer nicht geringen koloristischen Leistungsfähigkeit verbunden war, auch bis zu
einem gewissen Grade überzeugend. Auf die Dauer war diese Auffassung jedoch nicht
haltbar, da ihr die Keime der weitern Entwicklung fehlten. Was bei den alten
Meistern der Ausfluß gläubiger Naivität, der Wiederschein des sie umgebenden
unmittelbaren Lebens war, das mußte sich bei dem modernen Maler als das
Erzeugnis der Reflexion, das Ergebnis von Galeriestudicn darstellen. Jene
alten Künstler hatten die biblischen Szenen so wiedergegeben, daß sie die Lo¬
kalitäten, Landschaft wie Jnnemünme, die Trachten, die Geräte, die Waffen mit
der Gewissenhaftigkeit des seine Schwingen zu erstem Fluge regenden Realismus
den Mustern ihrer Zeit, dem, was sie täglich vor Augen hatten, getreulich nach¬
bildeten. Nur der Heiland und die ihm zunächst stehenden Personen, insbesondre
die Madonna und die Apostel, erschienen in einem antikisirenden Jdealkostüm,
welches durch spätchristliche, namentlich byzantinische Arbeiten, wie Elfenbein¬
reliefs, Miniaturen u. dergl. in., dem Abendlande überliefert worden war. Dazu
gesellten sich dann orientalische Züge, und schon im fünfzehnten Jahrhundert
haben die in nordischen Städten ansässigen Juden mit ihrer ausländischen Tracht
den Künstlern als Modelle gedient. Es ist bekannt, daß die holländischen
Maler des siebzehnten Jahrhunderts die Juden ihrer Zeit, die damals, namentlich
in Amsterdam, zu Reichtum und Ansehen gekommen waren, ohne weiteres den
Personen der heiligen Geschichte substituirten. Daneben wirkte in noch verstärktem
Maße der Orient, dessen köstliche Produkte an Stoffen, Teppichen und Schmuck¬
sachen holländische Schiffe in großen Massen auf den Amsterdamer Markt
brachten. Es kam nicht selten vor. daß sich wohlhabende Leute mit solchen
Stoffen nach orientalischer Art bekleideten und sich auch wohl in diesen phan¬
tastischen Kostümen malen ließen. Von Rembrandt giebt es zahlreiche Bild¬
nisse und Radirungen dieser Art, welche irrtümlich als Juden, Jüdinnen und
„Judenbränte" bezeichnet werden. Die Künstler fühlten also schon um jene
Zeit instinktiv heraus, was in unserm Jahrhundert erst das Ergebnis lungern
Studiums gewesen ist, daß nämlich bei dem konservativen Charakter der Orien¬
talen Tracht und Sitte durch Jahrhunderte bewahrt worden sind, und daß
sich die orientalische Tracht der neuern Zeit nicht viel von derjenigen unter¬
scheidet, die zu Christi Zeiten üblich gewesen. Damit sind wir auf die von
Rembrandt zuerst in größerm Umfange betriebene Handhabung des biblischen
Apparats gekommen, welche zu unsrer Zeit, wie wir später sehen werden, mit
dem ganzen Aufwande ethnologischer und historischer Gelehrsamkeit ausgebildet
worden ist.
Wir haben aber noch eine andre Seite an der Auffassung religiöser Motive
durch die Maler des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts zu betrachten.
Indem Eduard von Gebhardt von ihnen den äußern Habitus seiner Gestalten
entlehnte, zwängte er seine moderne Anschauungsweise in einen gekünstelter
altertümlichen Stil zurück, der schließlich in archäologische Spielerei ausartete.
Mit gleichem Recht hätte er sich Paul Veronese zum Muster nehmen können,
der die vornehmen Venezianer seiner Zeit zur Hochzeit von Cana und zum Gast¬
mahl bei Levi und Simon einlud. Indessen zog er aus dem Anschlusse an die
alten Meister einen positiven Gewinn, welcher durch ihn zum Gemeingut der
reformirten religiösen Malerei der Gegenwart geworden ist. Während die
Italiener ihrem Naturell gemäß die Gestalten der christlichen Legende um liebsten
von ihrer heitern und anmutigen Seite auffaßten und demnach gern die Ma¬
donna und die heilige Familie in einer lieblichen Landschaft darstellten, wurden
die nordischen Maler durch die tiefere Innerlichkeit ihres Gefühls auf eine
ernstere Auffassung der biblischen Erzählung hingewiesen. Das Leiden Christi
und insbesondre die Kreuzigung wurde der bevorzugte Gegenstand ihrer künst¬
lerischen Darstellung. Die Malerei wurde ihnen Glaubenssache. Alle Figuren
wurden zu Trägern seelischer Stimmungen, die sich in ihren Angesichtern aus¬
prägten. Das Leiden des Herrn spiegelte sich in seiner Gemeinde wieder, als
deren Mitglieder alle gläubigen Christen aus der Umgebung des Malers heran¬
gezogen wurden. Durch diese Art der Behandlung kam in die religiösen Ge¬
mälde der Niederländer ein Zug von Wahrheit und unmittelbarem Leben hinein,
der so ergreifend wirkt, daß man über die Unzulänglichkeit der äußern Mittel,
über die Naivität der Darstellung hinwegsieht. Nur diesen einen Zug hätte
Eduard von Gebhardt von den Niederländern annehmen und im übrigen nach
voller Unabhängigkeit von ihren beschränkten Typen, ihrer unbeholfenen Aus-
drucksweise streben sollen. Anfangs schien es, als wäre seine Absicht wirklich
auf dieses Ziel gerichtet gewesen. Sein „Abendmahl" in der Berliner National¬
galerie zeigt eine völlige Freiheit und Selbständigkeit, von welcher man eine
gesunde Weiterentwicklung der religiösen Malerei im Einklang mit den ver¬
änderten Glaubenssätzen und Neligivusanschciuungcn der Gegenwart erwarten
durfte. Es ist nicht recht verständlich, weshalb Eduard von Gebhardt diese
Erwartung nicht erfüllt hat, sondern in seine frühere Abhängigkeit, in seine
archaisirenden Launen zurückgefallen ist. Immerhin ist eines der Samenkörner,
die er gestreut hat, aufgegangen: Natur, Wahrheit und Charakter sind an die
Stelle der Konvention und der gehaltloser Jdealisirung getreten.
Mit dem Worte „Wahrheit" fiel aber auch sogleich der Zankapfel unter
diejenigen, welche dem neuen Banner zu folgen entschlossen waren. Was ist
Wahrheit? so fragte ein jeder mit Pilatus, und jeder suchte die Wahrheit
auf eigne Hand. In erster Linie kommen hier zwei Versuche in Betracht
welche auf der Münchner Ausstellung von 1879 an die Öffentlichkeit traten und
die entgegengesetzten Pole der neuen Richtung bezeichneten. Max Liebermann,
ein unter dem Einfluß Munkcicsys und der französischen Naturalisten gebildeter,
aus Berlin gebürtiger Miller, glaubte das Charakteristische nach der Seite des
Häßlichen ausbeuten zu müssen und führte unter dem Titel „Der zwölfjährige
Jcsusknabe im Tempel" einen verschmitzten, rothaarigen Judenjungen unsrer
Tage vor, welcher durch vorwitzige Fragen und altkluge Antworten einige im
Kleiderhandel ergraute Greise aufs Glatteis führt. Diese naturalistische Grimasse
fand so geringen Beifall, daß ihr Urheber keine Fortsetzung folgen ließ. Wir
waren damals für diesen Grad von Cynismus noch nicht reif und sind es zum
Glück auch bis heute uicht geworden. Allgemeine Anerkennung wurde dagegen
der Behandlung desselben Gegenstandes durch den Münchner Ernst Zimmer¬
mann zu Teil, welcher die neu gefundene, geschichtliche Wahrheit mit den Schön-
heitsbegrisfen der Zeit zu vereinigen suchte. Er ging von der Ansicht aus,
daß zunächst das ästhetische Bedürfnis befriedigt werden müßte, nachdem das
Dogma von der idealen Göttlichkeit Christi in der Überzeugung der Gebildeten
einen derben Stoß erlitten. Damit kam er ungefähr auf den Standpunkt von
Strauß, der in dem Kultus der Poesie, der Musik und anderer Künste einen
Eisatz für die obsolet gewordenen Andachtsübungen empfahl. Doch besaß er
in der Kraft der Darstellung, die dem schwächlichen Strauß bekanntlich fehlte,
und in dem Glanz und der Tiefe seines Kolorits Mittel, vorwärts zu kommen.
Sein Jcsusknabe im Tempel enthielt bereits den Quell aller Poesie, die Be¬
geisterung und die Absicht, die Wahrheit zu sagen, ohne zu verletzen oder gar
an die Karikatur zu streifen. Das Schönheitsgefühl der Gebildeten, welche
sich mit den Ergebnissen der unerbittlichen historischen Forschung vertraut
gemacht haben, kann durch solche Schildereien nicht mehr verletzt werden,
umsoweniger, als Zimmermann all seinen Grundsätzen festgehalten hat. Die
Berliner Jubiläumsausstelluug, welche uns das neueste Material zu unsern Be-
obachtungen bietet, enthält ein Bild von seiner Hand, das nur eine weitere Ent¬
wicklung seines vorher erwähnten Gemäldes darstellt. Drei galiläische Fischer
sind nach Beendigung ihres Tagewerks zu Christo, der sich am Ufer nieder¬
gelassen hat, herangetreten, um die Heilswahrheit aus seinem Munde zu ver¬
nehmen. Das Bild hat vier Hauptfiguren, welche so weit sichtbar sind, daß nur
die Kniee und der obere Teil der Unterschenkel erscheinen. Es ist also ein Kon¬
versationsstück nach dem Vorbilde der Venezianer; und an sie erinnert auch der
warme Gesamtton, der noch durch die Abendstimmung besonders bedingt wird.
Wir sehen heute an diesem Beispiele, wie schnell sich Streben nach Wahrheit
und realistische Formengebung zu einer Art von Idealismus im Sinne der
Gegenwart geläutert hat. Weniger glücklich in der Farbe, auch härter in der
Formenbehandlung ist ein ebenfalls auf der Jubiläumsausstellung befindliches
Gemälde von C. A. Geiger in München: Christus und Judas Ischarioth,
eine poetische Phantasie. In der Abenddämmerung ist der Verräter dein Heilande
begegnet, wie es scheint, der ruhelos umhergetriebene Geist dem Verklärten.
Judas sucht mit inbrünstiger Geberde die Verzeihung des Verratenen zu erflehen
Aber Christus wehrt dem Verworfenen mit strenger, abweisender Bewegung der
Hände. Wenn dieses Gemälde auch keinen andern Vorzug besäße als den einer be¬
deutsamen und energievvllen Charakteristik, so mußte man doch dem Schöpfer des¬
selben das Zeugnis einer gewissen Erfindungskraft aufstellen. Daß es den mo¬
dernen Vertretern der religiösen Malerei so außerordentlich schwer geworden
ist, neben den klassischen Meistern Raum zu gewinnen, liegt zum Teil auch an
der Beschränkung des Darstellungskreises. Schon frühzeitig hatte sich eine be¬
stimmte Szenenreihe ausgebildet, an welcher Jahrhunderte lang unverbrüchlich
festgehalten wurde, ohne daß es ein Künstler gewagt hätte, die Reihe zu er¬
weitern oder ein neues Glied in die Kette einzuschalten. Erst seitdem der mo¬
derne Realismus seine Unabhängigkeit von der Überlieferung proklamirt hat,
sind auch die Schranken gefallen, welche das religiöse Stoffgebiet bisher einge¬
engt hatten. Die evangelische Geschichte bietet trotz ihrer Bearbeitung durch
tausend und abertausend Künstler immer noch Motive genug, welche den Vorzug
der Neuheit besitzen. So hat z. B. Hermann Prell, ein Schüler von Gnssow,
den Moment dargestellt, wo an Judas Ischarioth die Versucher herantreten,
die ihn zum Verrat an seinen Herrn und Meister verleiten wollen. Die
Sonne ist bereits zur Hälfte hinter einem Hügel hinabgetaucht, von dessen Ab¬
Hange drei Personell in naturgroße herabschreiten. Sie sind so stark in den
Vordergrund getreten, daß die untere Seite des Bildrahmens ihre Beine unter¬
halb der Kniee durchschneidet. Judas greift gesenkten Hauptes mit der Linken
nachdenklich in den Bart, während die Rechte den Strick umklammert, der ihm
als Leibgurt dient. Noch hat der Kampf, der in seinem Innern tobt, sein
besseres Selbst nicht überwunden, noch leiht er den Verführern nur ein halbes
Ohr. Der eine von ihnen, ein weißbärtiger, kahlköpfiger Jude mit scharfge¬
schnittenen, geierartigen Zügen, berührt mit den ausgestreckten Fingern der
Rechten den Ärmel seines Gewandes, als wüßte er, daß es nnr noch eines
kleinen Anstoßes bedürfe, um den Schwankenden seinen Wünschen gefügig zu
machen. Der andre, in reicher orientalischer Tracht, bietet ihm in der ausge¬
streckten flachen Rechten die glänzenden Silberlinge. Daumen und Zeigefinger
der unten Hand stecken in der Geldtasche, um nötigenfalls das Angebot zu ver¬
größern. Mit richtigem Takt hat der Künstler jeden Stich ins Komische oder
Karikirte vermieden. Die Abenddämmerung, welche sich über die Landschaft
breitet, verleiht der Szene jene ernste, düstere Stimmung, die für den schwarzen
Handel bezeichnend ist. Dabei sind die Köpfe mit großer Energie charakte-
risirt, aber innerhalb einer durch und durch realistische» Ausfassung, die sich hier
bis zur Größe des historischen Stils erhebt.
In der Fähigkeit, neue Motive für biblische Gemälde zu finden, hat es bis
jetzt der Russe Wassili Wereschagin am weitesten gebracht, dessen ambulante
Bildergalerie sich gegenwärtig in Berlin befindet. Uns interessirt hier nur die
eine Hälfte derselben, seine Studien an den heiligen Stätten in Palästina und
Syrien und die darauf begründeten Kompositionen. Die andre Hälfte besteht,
was wir beiläufig bemerken wollen, ans Variationen von früher behandelten
Themen. Es sind Ansichten von merkwürdigen Baudenkmälern in Delhi und
Agra, Jnnenperspektiven von Moscheen und Palästen, Himalayalandschciften,
durchweg mit großer Virtuosität, aber auch ohne Empfindung und ohne Seele
gemalt. Ein verständiger Photograph und ein geschickter Kolorist würden am
Ende ein Gleiches zu stände bringen. Die große That, mit welcher Wereschagin
in seiner zweiten Wanderausstellung paradirt, ist ein Cyklus von Gemälden aus
der evangelischen Geschichte. Wenngleich Wcreschagins ganzes Auftreten, das
Massenaufgebot seiner Werke und die sonderbare Juszenirung derselben, kein
günstiges Vorurteil für ihn erwecken, so ist mir doch aus Gespräche» mit ihn,
klar geworden, daß er kein Charlatan, sondern der Fanatiker seiner Überzeugung
ist. In Glaubenssachen, oder richtiger gesagt in Sachen der historischen Kritik
und der reinen Vernunft besitzt der nnter den Einflüssen der französischen Schule
und des Pariser Lebens gebildete Künstler die Naivität eines Stvckrussen. Er
hält nicht nur an dem Dogma fest, daß die unter der Bezeichnung „ Neues
Testament" vereinigtet, Schriften in jedem Worte, nicht etwa symbolisch, sondern
buchstäblich genommen, unbedingte Glaubwürdigkeit verdienen, sondern er mißt
dieselbe Zuverlässigkeit auch der aus diesen Schriften erwachsenen Tradition
bei. Es ist bekannt, daß sich im Laufe der Jahrhunderte unter den Gläubigen
und Ungläubigen im heiligen Lande eine vollständige Topographie der Bibel
ausgebildet hat, welche natürlich vor der historischen und archäologischen Kritik
nicht besteht, nichtsdestoweniger aber als unanfechtbar gilt. Wereschagin gehört
zu den Gläubigen, welche mit unerschütterlichem Mute auf die Worte der
Fremdenführer schwören. Er hat alle Stätten, mit welchen die Sage eine ge¬
schichtliche Beziehung verknüpft hat, aufgesucht und ihre Physiognomie in Öl-
skizzen festgehalten. Was Delacroix und Horace Vernet von den Trachten,
Geräten und Gewohnheiten behaupteten, wendete der kapriziöse Russe auf die
Landschaft und die Architektur an. Ohne sich um die wissenschaftliche Be¬
gründung willkürlicher oder unsicherer Ortstaufett zu kümmern, folgerte er aus
dieser unbewiesenen Prämisse, daß sich die Lokalitäten des heiligen Landes im
Laufe von zwei Jahrtausenden so wenig verändert haben, daß heute daselbst
aufgenommene Naturpvrträts als Hintergründe für die Szenen aus dem Leben
Christi einen gewissermaßen urkundlichen Wert beanspruchen dürfen. In einigen
Punkten wird man Wereschagin Recht geben können, z. B. wenn er Christi
Predigt auf dem See Genezareth oder seine Weissagung am Ufer desselben
(Wehe dir, Chorazin! wehe dir, Vethsaida!) darstellt. Diese Lokalität ist historisch
gesichert. Was soll mau aber dazu sage», daß er auch die Stelle des Jordan,
wo Christus getauft worden ist, den Brunnen, an welchem er mit der Sama¬
riterin gesprochen, den Berg der Versuchung durch den Teufel und das Haus
zu Nazareth, in welchem der Zimmermann Joseph mit seiner Frau Maria und
seiner zahlreichen Familie gewohnt, mit photographischer Treue porträtirt hat?
Bis zu welchem Grade Wereschagins Glanbensseligkeit geht, mag eine Stelle
über das Grabmal Abrahams zeigen, welche wir wörtlich den von ihm ver¬
faßten Kataloge entnehmen. „Dieses Grabmal, sagt er, befindet sich in Hebron,
einer der ältesten Städte. Hier wurde Abraham von den drei Wanderern be¬
sucht, die ihm die Geburt eines Sohnes wie den Untergang Sodvms und
Gomorrhas verkündeten. Außer Sarah, welche hier starb, sind Abraham, Jsaak
und dessen Frau Rebekka hier bestattet. Hierher wurde auch aus Ägypten die
einbalsamirte Leiche Jakobs gebracht. (Höchstwahrscheinlich ist die Mumie noch
vorhanden.) Diese Stätte, welche unzweifelhaft die echten Gräber enthält, ist
seit undenkbaren Zeiten Gegenstand frommer Verehrung der Juden und Muham-
medaner." Ein solcher Vertraucnsmut geht noch über deu „Bater der Ge¬
schichte" Herodot hinaus, welcher sich von ägyptischem Priestern und Tempel-
dienern die abenteuerlichsten Märchen aufbinden ließ. Auch Wereschagins
Äutvritciten gehören solchen Kreisen von Vertrnueusmäunern an. So sagt er
z. B. in Bezug auf die Höhle, in welcher Abraham bestattet sein soll: „Der
Rabbiner Benjamin, der im zwölften Jahrhundert lebte, behauptet, dort die
Gräber der Patriarchen gesehen zu haben."
Es war nur die letzte Konsequenz einer derartigen Geschichtsauschauung,
daß Wereschagin auf den Gedanken kam, die „heilige Familie" in jenem Hause
zu Nazareth so vorzuführen, wie sie sich nach den „historischen Quellen" zur
Zeit ihrer höchsten Kopfzahl präsentirte. Dadurch, daß man in Wien und Pest
an einer so rationalistischen und ordinären Auffassung von Personen, die einem
großen Bruchteile der Erdbevölkerung zu Gegenständen der Verehrung geworden
sind, Ärgernis genommen hat, ist dieses an und für sich sehr unbedeutende
Genrebild zu eiuer unverdienten Berühmtheit gelangt. Wir blicken in deu Hof
eines orientalischen Hauses, in welchem ein alter Zimmermann mit seinem Ge¬
hilfen arbeitet. Ein paar Jungen wälzen sich auf dem Erdboden umher. Im
Hintergrunde stillt die Hausfrau ein Kind, und im Vordergrunde links sitzt vor
einer Mauer ein junger Maun mit langen roten Haaren und in weißem Ge¬
wände, welcher in einer Schriftrolle liest. Wenn übereifrige Geistliche nicht die
Unvorsichtigkeit begangen hätten, durch leidenschaftliche Augriffe die Entrüstung
der großen Masse wachzurufen, würde die seltsame Laune des Künstlers nur
der Gegenstand einer rein ästhetische» Diskussion geblieben sein. In Berlin,
dessen Bevölkerung freilich eine fast ausschließlich protestantische oder in religiösen
Sachen indifferente ist, wurde diese Grenze auch nicht überschritten, und nichts
war überflüssiger als der Versuch eines protestantische,! Geistlichen, Wereschagins
Annahme, daß Joseph und Maria nach der Geburt Christi noch andre Familien-
freuden erlebt, durch eine Broschüre zu bekräftige». Ein gläubiger Christ, der
Bildung und Vorurteilslosigkeit besitzt, wird durch die Erhärtung dieser That¬
sache in seinem Glauben weder erschüttert, noch in seinen Gefühlen verletzt
Werden. Religionen sind niemals durch Maler begründet worden und werden
nach den bisherigen Erfahrungen auch nicht durch Maler umgestürzt werden.
Bei der Beurteilung von künstlerischen Schöpfungen, welche an religiösen Dogmen
oder an hergebrachten Religionsanschauungen rütteln wolle,?, wird stets auch
die Frage in Betracht kommen müssen, ob der rein künstlerische Wert dem
Aufwande der Kritik oder der zersetzenden Tendenz entspricht, und wenn wir
diese Frage vor den biblischen Gemälden Wereschagins aufwerfen, kommen wir
zu dem Ergebnis, daß die malerische und im allgemeinen künstlerische Be¬
schaffenheit derselben mir in Bezug auf die Wiedergabe der landschaftlichen
Szenerie Achtung verdient. Die Figuren erheben sich nicht viel über den Wert
von Staffage, und es ist anzunehmen, daß diese Abschweifung des russischen
Malers nach einem Gebiet, auf welchem seine eigentliche Begabung nicht heimisch
ist, nur eine kurze Episode in seinem Schaffen bilden wird. Auf den Ent¬
wicklungsgang der religiösen Malerei wird sie wahrscheinlich keinen Einfluß ge¬
winnen. Diese hat bereits einen andern Weg eingeschlagen, auf welchem uns
unsre Leser in einem zweiten Artikel begleiten mögen.
I n heißen Sommertagen, wo die meisten Provinztheater geschlossen
sind und selbst die großen Hofbühnen den üblichen Hitzeferien
Me einiger Ungeduld entgegensehen, versammeln außergewöhn¬
liche theatralische Aufführungen an einer Reihe von Abenden
ein zahlreiches, zum guten Teil von außen herbeigeströmtes Pu¬
blikum in dem anspruchslosen Theater der alten Stadt Erfurt. Im Sonnen¬
schein liegen die viclwinkligen Straßen und Plätze, die zahlreichen Kirchen vom
Dom Le-AtÄS Kg-rias virgüllZ bis zur Reglerkirche, welche hochragende Zeugen
dafür sind, um wieviel bedeutender, volkreicher, lebensvoller die Stadt einst
gewesen ist als heute (wo sie doch schon seit einem halben Jahrhundert wieder
einen bemerkenswerten Aufschwung genommen hat,) und die vielen altertümlichen
Häuser entsprechen der Stimmung, in welcher man nach dein Theater wandelt.
Nichts geringeres soll es zu schauen und zu hören geben als ein Lutherdrama,
dargestellt von Bürgern der Lutherstadt, in der sich die Erinnerung an den
Reformator, welcher hier das Studentenwams mit der Angustinerkutte vertauschte,
immer frisch und wirksam erhalten hat, unterstützt vou den Kirchenchören der
Erfurter evangelischen Hauptkirchen, ein geistlich-weltliches Schauspiel eigen¬
tümlicher Art. Freilich wird keiner, der zugereist ist, den Wunsch unterdrücken,
daß die Stadt selbst etwas mehr von der als „Festspiel" im großen Sinn und
Stil gedachten Aufführung verraten möchte, mehr als die großen, gelben An¬
schlagezettel, die an runden Säulen und Straßenecken prangen. Über die Haupt-
straße des Anger und in allen Nebenstraßen wogt das Treiben des Alltags,
die zum Luthcrspicl gekommenen Gäste sind auf den ersten Blick ans der Menge
der Geschäftigen so wenig heraus zu erkennen, als die echten Erker und Simse
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts aus den zahlreichen hübschen und
vortrefflichen Nachbildungen, die uns überall entgegenschauen. Das Erfurter
Theater liegt etwas versteckt, wenigstens nicht im Mittelpunkte der Stadt, und
so gelangen die Zuzügler beinahe bis an den Garten hinan, in dem sich das
Gebäude erhebt, ehe sie mit deu hellen Scharen derer zusammentreffen, die gleich
ihnen selbst das eigenartige Spiel zu schauen begehren, welches an einer Reihe
von Tagen zwischen sechs und acht Uhr des Abends in Szene gesetzt wird. Hier
merkt man nun augenblicklich, daß es keine Vorstellung der neuesten Operette oder
des jüngsten Mvserschen schwankes ist, welche Anziehungskraft übt; mau merkt
es an Haltung und Art des Publikums, das sich vor dem schlichten Hanse und
in den Gängen desselben auf und ab bewegt, merkt es an der Abwesenheit jener
Sommertheaterhabitues, welche ständige Lvgeninhaber sind, daß es sich hier
um etwas Ungewöhnlicheres und Ernsteres handelt. Nicht eine besondre
Spannung, eine hochgradige Aufregung, aber eine lebendige Teilnahme, eine
gewisse Sammlung sprechen ans den Mienen der Versammelten; wir mögen uns
vorstellen, daß in besserer Bühnenzeit als der gegenwärtigen die Aufführung
eines neuen Dramas, dem ein gewisser literarischer Ruf vorangegangen war, ein
ähnliches Publikum in ähnlicher Stimmung vereint hat. Unter den Schcui-
und Hörlustigen, die „mit hohen Augenbraunen" vor dem Gerüst des Erfurter
Lutherspiels sitzen, befindet sich offenbar ein guter Teil jenes tüchtigen und
empfänglichen Publikums, das aus unsern stehenden Theatern einfach verdrängt
ist und bei einem „Spiel" so außergewöhnlicher Art seine Rechnung besser zu
finden erwartet als an den landesüblichen Theaterabenden, wären sie auch als
„Klassikervorstellungeu mit ermäßigten Preisen" angezeigt.
Das Erfurter Lutherspiel ist nur einer von zahlreichen Versuchen, welche
in jüngster Zeit und offenbar unter der Nachwirkung der in aller Welt bekannt
gewordnen und von aller Welt besuchten Obermmnerganer Spiele gemacht
worden sind, das Volks- und Bürgerschauspiel vergangner Jahrhunderte neu
zu beleben. Die Dichtung von Hans Herrig, welche ihm zu Grunde liegt, ist
ursprünglich nicht für die Aufführung im Erfurter Theater, sondern für eine
Vorführung in Worms (irren wir nicht, in der Kirche) bei Gelegenheit der
Säkularfeier von Luthers Geburt im Jahre 1883 geschrieben. Um die gleiche
Zeit entstand das Luthcrspiel von Otto Devrient, zu dessen Aufführung eine
besondre Gesellschaft in ' der Universitätsstadt Jena zusammentrat, das im
Frühjahr und Sommer 1884 mehrfach wiederholt ward und, wie die Zeitungen
berichten, im nächsten Jahre abermals eine Reihe von Aufführungen erleben soll.
Die Festspiele, welche in Hameln und in Rotenburg an der Tauber veranstaltet
wurden, scheinen nach allem, was wir darüber vernommen, mehr unter deu
Begriff der historischen Festzuge zu fallen; immerhin sind sie, soweit sie als
Schauspiele gelten und wirken wollen, in bürgerlichen Kreisen geplant und ins
Werk gesetzt worden. Auch diese Anläufe können als Zeichen der Zeit gelten.
Daß sich mitten in der wachsenden Gleichgültigkeit gegen ernstere dramatische
Vorführungen, in dem peinlichen Verfall, bei dem das Schauspiel mehr und mehr
in das Sensationsdrama und den Schwank aufgeht und die poetische Gestaltung
des Lebens völlig zu ersterben scheint, in Dilettanteukreiscu ein Trieb regt,
Poetische Werke zur Aufführung zu bringen, welche das stehende Theater von
vornherein verschmäht, darf sicher nicht als gleichgiltig und zufällig angesehen
werden. Wie bei so vielen Erscheinungen unsrer Zeit muß freilich die erste
Frage lauten: Sind diese außerhalb des Bühnenrahmcns, mit besondern Mitteln
und Kräften, bei besondern Anlässen ins Werk gesetzten Aufführungen Symptome
der Krankheit oder der Gesundung, sind sie Schmarotzerpflanzen oder neue Triebe
am Baume der Kunst? Nicht schnellfertig und leichtfertig darf hier Bejahung
und Verneinung folgen — die glücklichen und die bedenklichen Momente dieser
neuen Bürgcrschauspielc müssen wohl gegen einander abgewogen werden. Daß
die unruhige Vergnügungs- und Zerstreuungssucht, die Eitelkeit und Prunklust,
die in so großen Lebenskreisen herrschend sind, die Sehnsucht, eine „Rolle zu
spielen," im weitesten Sinne ihren bedenklichen Anteil an deu neuen Bürgerschau¬
spielen haben, darüber täuscht sich Wohl uur, wer gern getäuscht sein will. Doch
schließt diese Thatsache die erfreuliche Gewißheit uicht aus, daß dem Zustande¬
kommen und Gelingen der in Rede stehenden Aufführungen auch bessere Motive
zu Grunde liegen, und daß sich bessere Aussichten an sie knüpfen, als man von ge¬
wissen Seiten zugestehen will. Denn es liegt in der Natur der Dinge, daß in
allen Fällen die Aufführungen durch eine bürgerliche Genossenschaft sich an einen
ernsten Stoff, eine über das Gewöhnliche hinausgehende Absicht anlehnen müssen.
Der einfache Wunsch, sich von der platten und mit allem Recht in Verruf
gekommenen Liebhabcrbnhncnwirtschaft zu unterscheiden, die Notwendigkeit, diese
neue Art der Schauspiele gegenüber den stehenden Bühnen zu rechtfertigen und
auf alle Fälle etwas darzubieten, was die Bühnen nicht geben wollen oder
können, zwingen Veranstalter und Teilnehmer der wiederauflebenden Bürgerspiele,
sich mit poetisch-ernsten Werken zu verbünden, die wenigstens dem Vorsatz nach
ungewöhnliche Vorbereitungen erfordern und auf ungewöhnliche Wirkungen zielen.
Daß der ernsteste Vorsatz hier noch keineswegs das Gelingen verbürgt,
daß auch der poetische Dilettantismus wähnen und versuchen kann, etwas zu
schaffei,, was uach einer bestimmten Richtung hin über die Kräfte und Möglich-
leiten selbst des bestgclcitetcn Theaters hinausgeht, ohne daß es darum auch
nur halb das wert ist, was ein tüchtiges Schauspiel gewöhnlicher Gattung gelten
soll und muß, bedarf keiner ausdrücklichen Versicherung. Auch liegt die Gefahr
nahe, daß Dichtungen von untergeordneter Bedeutung lediglich durch die un¬
gewöhnliche Weise, mit der sie in Szene gesetzt sind, vorübergehend zur Über¬
schätzung gelangen. Das alles aber schließt nicht aus, daß sich, eine gewisse
Begünstigung der Umstände und die Mitwirkung wirklicher, ausgiebiger Talente
vorausgesetzt, ans Aufführungen wie den in Erfurt und Jena veranstalteten, gute
Resultate ergeben können und der Sinn für das poetisch Wahre und Große in
ähnlicher Weise gestärkt werden kann, wie durch die großen Oratorienanf-
sührungen (deren künstlerisches Gelingen gleichfalls von der Mitwirkung der
„Dilettanten" abhängt) der Sinn für gute und ernste Musik unzweifelhaft ge¬
fördert worden ist. Die Notwendigkeit so außergewöhnlicher Aufführungen wird
sich nur unter besondern Umständen ergeben, und vor einer Überflutung mit
Bürgerschauspielen sind wir ja wohl geschützt. Ohne Anknüpfung an einen
durchaus populären Stoff, an eine Gestalt, die in der Volksphantasie lebt, ohne
Verbindung mit einem noch waltenden und wirksamen historischen Lokalinteresse
würden Vorstellungen wie die Lutherspiele schwerlich zu Stande kommen oder
Teilnahme finden.
Gehen wir von der Besonderheit der beiden Lutherspiele aus, die wir jüngst
in Erfurt und vor zwei Jahren in Jena vorführen sahen, so bieten hauptsächlich
solche dramatische Dichtungen, in denen ein starkes episches Element vorhanden
ist und die zu ihrer theatralischen Verkörperung eine ungewöhnliche Menge
von Darstellern bedürfen, die Möglichkeit des Gelingens und eine dankbare
Aufgabe für eine große Vereinigung von Darstellern ans bürgerlichen Kreisen.
In dieser Beziehung erneuern sich die Voraussetzungen der deutscheu Schul-
und Vürgerkomödien des sechzehnten Jahrhunderts, welche bekanntlich starke
epische Elemente enthielten und sich in Bezug auf die Zahl der mitwirkenden
Personen keinen Zwang auferlegten. Damit ist aber wiederum ausgesprochen,
daß es für die Entstehung und glückliche Durchführung so ungewöhnlicher Schau¬
spiele besondrer Anlässe bedarf, Anlässe, welche diesen Schauspielen von vorn¬
herein den Charakter des subjektiv Willkürlichen, der Spekulation und der Teil¬
nahme daran den Charakter der bloßen Neugier nehmen. Wie man auch über
das Gelingen des Worms-Erfurter Spiels im einzelnen denken möge, im ganzen
läßt sich nicht in Abrede stellen, daß ihre Aufführung auf dem Boden der Luther¬
städte Worms und Erfurt als natürliches Wachstum erscheint. Auch Dar¬
stellungen in Wittenberg, Eisleben oder Eisenach, in Augsburg oder Koburg
würden unter gleich günstigen Voraussetzungen erfolgen. Die Verpflanzung
einer solchen Aufführung hingegen in den Saal der Philharmonie zu Berlin
würde ein Experiment sein, dem sich ein eigentliches Gelingen schwerlich prophe¬
zeien ließe. Und auf alle Fälle, wenn es selbst in Erfurt und Jena trotz voller
Häuser nicht gelungen scheint, die Aufführungen auch mir vorübergehend i» den
Mittelpunkt des Interesses zu rücken, wie verloren und zufällig würden sie sich
in der Reichshauptstadt ausnehmen!
Doch vor allen Betrachtungen sind wir den Bericht über die Eindrücke des
Erfurter Lutherspiels selbst schuldig. Die Bühne, auf welcher Herrigs Dichtung
in Szene geht, erinnert in gewisser Weise an das, was uns über die altenglische
Bühne berichtet wird. Ein Podium von großer Breite und geringer Tiefe ist
mit dem Zuschauerraum durch eine herabführende Treppe verbunden. Als
einzige Dekoration oder vielmehr als Hintergrund zu den Bildern des Spiels
selbst dient ein mächtiger dunkler Vorhang, der sich in solchen Szenen, welche
in geschlossenem Raum vorgehe», zu einer geschickt angeordneten Nische faltet.
Ehrensold und Rnthsherr, deren Unterredung uns eingangs über die Besonder¬
heit des Spiels ins Klare setzen, bilden eine Art idealer Zuschauerschaft, nehmen
auf Sitzen am Fuße der obenerwähnten Treppe Platz und treten von Zeit zu
Zeit wieder auf das Podium, »in durch ihr Gespräch die Pausen zwischen den
einzelnen Teilen des Gedichts zu füllen und, ganz in der Weise des alten Pro-
logus, zu berichten, was nicht dargestellt werden kaun und soll. Denn das
„kirchliche Festspiel," wie Hans Herrig seine Dichtung bezeichnet, verzichtet nicht
nur auf den dramatischen Aufbau, die dramatische Spannung und Steigerung
im engern Sinne, sondern auch auf eine große Anzahl von Momenten aus
Luthers Leben, welche sehr wohl dargestellt werden könnten, aber das Spiel in
eine dramatische Biographie verwandeln würden. Herrig greift ganz folgerichtig
alle diejenigen Momente von Luthers Wesen und Entwicklung heraus, welche
vorzugsweise im protestantischen Volksbewußtsein leben, er fuhrt die grimmen
innern Kämpfe des jungen Mönches, den Anschlag der Thesen, die Verbrennung
der Bannbulle, den Reichstag zu Worms, die Bibelübersetzung auf der Wart¬
burg, das unerschrockene Auftreten des Reformators gegen Bilderstürmer und
aufrührerische Bauern, das Hausleben Luthers an der Seite seiner Käthe, im
Kreise seiner Kinder, seiner Freunde vor; das sind in der That die Hauptzüge,
mit denen Luthers Gestalt im Gedächtnis von Tausenden steht, und das Be¬
streben Herrigs ging dahin, diese Hauptzüge in schlichter Treue, mit Kraft und
Innigkeit zu erfassen, sie durch eine liebevolle Ausführung ganz lebendig und
wirksam zu machen. Ans diesem Wege ist freilich kein Drama, kein Schauspiel
im engern Sinne entstanden, immerhin aber eine Dichtung, deren einzelne Bilder
doch wie dramatische Szenen wirken und die vor allein dadurch ausgezeichnet ist,
daß sie sich nicht auf die Wirksamkeit der gangbare» Phrase verläßt, sondern
in die Seele ihres Helden hinabzusteigen sucht und die innern Kämpfe, die
Überzeugungen Luthers oft in glücklichster, kernig bildlicher Weise zum Ausdruck
bringt. In diesem Betracht sind die minder bewegten Szenen des Spiels: die
Unterredungen Luthers mit Stanpitz im Augustinerkloster, die Szenen auf
der Wartburg vielleicht die ergreifendsten und wirksamsten. Natürlich verläuft
bei dieser seiner Eigentümlichkeit das Herrigsche Spiel rasch genug, die Erfurter
Aufführung nahm mit den die Darstellung begleitenden »der vielmehr unter¬
brechenden zehn Chorälen genau zwei Stunden in Anspruch.
Die Darstellung verdiente unter den einmal angenommenen Voraussetzungen
volles Lob, sie war durchaus würdig und ernst gehalten, eine ersichtliche Wechsel¬
wirkung fand zwischen der Stimmung der Darstellenden und der Stimmung des
Publikums statt. Charakteristisch ist und bleibt es freilich, daß diese neuen
Bürgerschauspiele sowohl in Jena als in Erfurt uur unter der entscheidenden
Mitwirkung eines Berufsschauspielers stattfinden konnten; in Erfurt spielte der
frühere Schauspieldirektor in Straßburg Alexander Heßler, in Jena Dr. Otto
Devrient, der Verfasser des Jenenser Lutherspiels, die Titelrolle, und das Be¬
denken, daß sich an diese Aufführungen eine neue Art von Virtuosentum auhüugeu
und anhaften möge, ist daher nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen.
Doch erachten wir aus den schon oben angedeuteten Gründen die Gefahr für
nicht allzugroß, die betreffenden Schauspiele können eben nur in der festen Ver¬
bindung mit lokalem Geiste gedeihen, und ein fahrender Komödiant, der auf der
Basis einer „guten Maske" als Wallenstein, Karl XII. oder Napoleon sich die
bürgerlichen Mitspieler in irgendeiner beliebigen Stadt suchen wollte, dürste
unerfreuliche Erfahrungen machen. Sonach ist also die Mitwirkung von Berufs¬
schauspielern in gewissen Hauptrollen kaum anders anzusehen, als die Übernahme
von Solopartien bei großen Oratorienaufführuugcu durch künstlerisch geschulte
Säuger. Sie sprengen den gezognen Nahmen des Unternehmens nicht, sie fügen
sich in denselben ein.
Von überwiegender Wichtigkeit aber erscheint die Frage, ob die Jnszenirung
ohne Dekorationen, die bloße Andeutung von Massenwirkungen, mit einem
Wort, das Wiederaufleben einer nur symbolischen Darstellung großer Momente
der Handlung in der That glücklich ist und nicht allzusehr ein archaistisches
Gepräge trägt. Es ist immer mißlich, hinter die Kunstmittel und hinter die
Gewöhnungen der eignen Zeit, soweit dieselben nicht gerade unkünstlerisch, zweck-
gefährdeud und verwerflich siud, zurückzugehen. Auch läßt sich — das erwies
die Erfurter Lutherspieldarstelluug klar genug — eine rein symbolische Vor¬
führung nicht durchsetzen. Das Bürgerspiel des sechzehnten Jahrhunderts hat
sicher mit viel geringern äußern Hilfsmitteln gewirtschaftet, aber die Berufs¬
schauspieler der gleichen Zeit, die „englischen Komödianten," werden eben auch
keinen größern besessen haben. Bei diesem neuesten Spiel ist in Kostümen, kleinen
Requisiten aller Art schon viel zu viel von dem modernen Ausstattnugsrealismus
Gebrauch gemacht, um das plötzliche Innehalten an einem bestimmten Punkte
nicht wie einen unbehaglichen Ruck und einen innern Widerspruch dazu zu
empfinden. Die Szene, in der Luther die Verbrennung der Bannbulle beschließt
und bespricht, ist viel zu bewegt, um nicht das Verlangen nach dem wirklichen
Vorgang der Handlung zu wecken. Die Andeutung des Wormser Reichstages
durch einige wenige Gestalten wirkt nahezu komisch, jedenfalls dürftig und
drückend, das lebendige Auftreten einer großen Schaar von bilderstürmerischen
Bürgern und wildgewordnen Bauern ist schon ein Eingehen auf die Massen-
darstellnng und Massenbewegung, der einesteils Hcrrigs Festspiel und andernteils
die Erfurter Darstellung desselben so ängstlich ausweichen. Hier ist ein
Schwanken im künstlerischen Prinzip unverkennbar und hier der einzige Punkt,
in welchem wir dem Lutherspiel von Jena einen gewissen Vorzug zusprechen
möchten. Beim Vergleich des poetischen Gehalts der beiden in Erfurt und
Jena benutzten Dichtungen steht die Herrigschc sehr viel höher als die Devrientschc,
die lyrische Unmittelbarkeit, die subjektive Wahrheit der erstgenannten Dichtung
wird ihres Eindrucks nicht verfehlen und, wie schon gesagt, in einzelnen, besonders
gehobnen Teilen des Festspiels die tiefste, über den bloßen theatralischen Effekt
hinausreichende Wirkung hinterlassen. Sie ist frei von jenem rein schau¬
spielerischen Pathos, welches in gewissen Szenen des Jenenser Lntherspicls bei
Lektüre und Darstellung fast verletzend hervortrat.
Anders hingegen steht es um die Darstellung. Daß das Bürgerschauspiel
in Jena auf die einmal geltenden und gewohnten Hilfsmittel der theatralischen
Vorführung, auf Dekoration, auf die den Bühnenrahmen füllende Massenmit¬
wirkung nicht verzichtet, sichert ihm den Charakter oder vielmehr den Schein
der Naivität und Unmittelbarkeit, verhilft den großen Szenen desselben (namentlich
der Neichstagsszene) zu einem mächtigen Gesamteindruck, rückt das Ganze nicht
in das Licht des künstlerische» Experiments. Es mag sein, daß die Anlage
der Herrigschen Dichtung aus der Bezeichnung und der ursprünglichen Bestimmung
als „kirchliches" Festspiel hervorgegangen war; das würde aber nur beweisen,
wie schwierig es ist, eine Form zu schaffen oder neu zu beleben, welche dem
künstlerischen und geistigen Bewußtsein der Gegenwart einmal fremd geworden
ist. Wir sind der Meinung, daß ein Bürgerschanspiel, welches die Vorzüge
beider Lutherspiele, des Worms-Erfurtischeu und des Jenensischen, vereinigte, das
Rechte sein müßte. Als allgemeines Ergebnis aber dünkt uns unzweifelhaft,
daß, je stärker, unbedingter Dichtungen und Darstellungen dieser besondern Art
vom Geiste des heutigen „realen" Theaters abweichen müssen, umso rätlicher
die deutbar geringste Abweichung von der Darstelluugspraxis und den äußern
Hilfsmitteln des Theaters (sinnloser Prunk und Ansstattungsblödsinn verbieten
sich ja von selbst!) sein dürfte. Über das mögliche Wachstum der Keime, welche
uus in den Luthcrspieleu begegnen, wird sich erst urteilen lassen, wenn einige
mehr derselben vorhanden sind, wenn sich herausgestellt haben wird, ob wirklich
ein allgemeineres Bedürfnis oder die bloße Gunst zufälliger lokaler Umstände
sie gezeitigt hat. Einstweilen ist es Lob genug, daß sie zu ernstem Nachdenken
und ernster Besprechung überhaupt Anlaß geben, jedenfalls ist es mehr, als
sich von der Masse der theatralischen Tageserscheinungen sagen läßt.
> MiW^N »»»
Z.-k^WZL^S-K'
Mleder einmal sieht es aus, als ob das Damoklesschwert, welches
über den Häuptern der Prinzen schwebt, die von den monarchischen
Parteien Frankreichs als Erben der Republik betrachtet werden,
sich demnächst senken würde. Ohne Bild gesprochen, schon seit
einigen Wochen dringt die „öffentliche Meinung," d. h. die Presse
der opportunistischen und der roten Republikaner, wieder lebhaft auf die Ver¬
bannung dieser Mitglieder der früher herrschenden Dynastien. Die betreffenden
Persönlichkeiten sind zunächst die Herren vom Hause Orleans: der Graf von
Paris, der Herzog von Orleans, der Prinz Ferdinand von Orleans, der Herzog
von Chartres und seine beiden Söhne, der Herzog von Nemours, der Herzog,
von Alenyon und sein Sohn, der Prinz von Joinville und die Herzöge von
Penthievre und von Aumale, dann Prinz Napoleon Bonaparte nebst seinen
beiden Söhnen, den Prinzen Victor und Louis Napoleon, sowie Prinz Roland
Bonaparte. Die Gefahr einer Ausweisung richtet sich diesmal in erster Reihe
gegen die Fürstlichkeiten aus dem Hause Orleans, welche in der That einigen
Anlaß gegeben haben, daß der Argwohn der Republikaner wieder erwachte.
In den Salons des Hotels Galliera, der Wohnung des Grafen von Paris,
fand am 15. Mai eine große royalistische Kundgebung statt, indem die Prin¬
zessin Amelie, die älteste Tochter eines Enkels Ludwig Philipps, vor ihrer
Abreise nach Lissabon, wo sie seitdem mit dem Herzoge von Braganza, dem
Thronfolger des Königs von Portugal, vermählt worden ist, die „Huldigungen"
der aristokratischen Kreise von Paris entgegennahm, die ihren Vater als recht¬
mäßigen König der Franzosen ansehen. Der Empfang der vielen Hunderte,
die bei dieser Gelegenheit erschienen, entsprach ganz der Etikette, die in der
Zeit der Restauration herrschte, und es schien, als ob der Hof Karls des
Zehnten wieder ausgelebt wäre. Der orleanistische ?ig»ro feierte „die Tochter
Frankreichs, die den heimatlichen Boden verläßt, um dereinst über ein Nachbar¬
volk zu herrschen," und meinte, jetzt sei das Morgenrot der Auferstehung für
das französische Königtum emporgestiegen. Das war eine starke Unvorsichtig¬
keit, ein vorschneller Jnbel und eine Herausforderung der Republikaner, die
in ihren Blättern ohne Verzug den Handschuh aufnahmen und die Regierung
mit allem Ernste aufforderten, Maßregeln gegen die Prinzen zu ergreifen.
Besonders energisch gingen die Radikalen vom Volt-uro und der I.-uiwrno vor,
aber auch die opportunistische Presse verlangte ein kräftiges Handeln. Beide
Parteien hatten indes dabei Nebenzwecke egoistischer Natur vor Augen, die sie
einander vorwarfen. Die Radikalen wollten sich den Ruhm nicht entgehen
lasse», immer die ersten zu sein, wenn es gälte, die Republik vor Gegnern zu
verteidigen, und über die Opportunisten berichtete die I^ut-Sme; — wie es scheint,
uicht ganz ohne Grund —, lange Zeit habe die Negierung nichts von einer
Verschwörung der Orlecmisten sehen wollen, nach der Hofspielerei vom 15. Mai
jedoch und nach der Sprache, welche die monarchisch-klerikalen Organe seitdem
führten, sei nicht mehr daran zu zweifeln, daß der Graf von Paris in der
Rolle eines Thronprätendenten auftrete. Infolge dessen hätten die Opportu¬
nisten sich entschlossen, die Regierung in der Kammer über die Sache zu inter-
Pclliren. Sie verfolgten damit zwei Absichten: Hebung ihres gesunkenen An¬
sehens und einen Schlag gegen Freycinet, der sich wiederholt der Ausweisung
der Prinzen widersetzt habe, und der dies auch jetzt thun und darüber fallen
werde. Damit befänden sie sich indes im Irrtum, denn der Premierminister
wolle die Jnterpellation nicht abwarten, sondern ihr zuvorkommen, im Minister¬
rate ein Dekret, welches sofortige Ausweisung wenigstens einiger Prinzen ver¬
füge, vorlegen und daraufhin ein Vertrauensvotum von der Kammer erwarten.
Bis jetzt spielte das Stück mehr auf dem Gebiete der Presse, die viel auf
den Anschein giebt und zu übertreiben und aufzubauschen liebt. Zunächst machten
die monarchistischen Blätter aus dem 15. Mai wohl mehr, als er sein sollte.
Wie sie oft päpstlicher als der Papst sind, so waren sie jetzt wohl royalistischer
als ihr König w sxs. Sie benutzten ein Familienereignis, zu dem der Graf
von Paris freilich das ganze diplomatische Korps eingeladen hatte, dazu, nM
se oM zu verkünden, daß jener nur auf eine passende Gelegenheit warte, der
Republik ein Ende zu machen, und stellten den Empfang im Hotel Galliera
als eine Heerschau desselben über seine Getreuen dar. Jedes Wort der Ehr¬
erbietigkeit und Anhänglichkeit gegenüber dem Prinzen glaubten sie mit einer
Bedrohung und Schmähung der Republik begleiten zu dürfen. Eine mon¬
archische Regierung, die sich bei ähnlichen Angriffen von einer republikanischen
Partei uicht rührte, würde leicht für zu schwach dazu gehalten werden, und
so darf man sich eben nicht wundern, wenn das Verlangen lant wurde, die
orleauistischen Prinzen, für welche jene Presse das Wort führte, zu verbannen
und dadurch unschädlich zu machen, daß man ihr sehr bedeutendes Vermögen,
welches nach der Behauptung des Ministers des Innern Allain-TargL bei den
letzten Wahlen nicht ohne Einfluß gewesen wäre, mit Beschlag belegte. Die
republikanische Presse war, wie gesagt, in dieser Richtung thätig, »ut man
konnte mit Bestimmtheit annehmen, die gleichgesinnten Parteigruppen in der
Kammer würden desgleichen thun. Freycinet aber, so durfte man sich weiter
sagen, ist sicher noch nicht so weit, um an ein Ausweisungsdekret zu denken,
und noch weniger würde Grevy leicht ja dazu sagen, wenn man rücksichtslos
gegen die Prinzen verfahren wollte. Es ist sogar noch zweifelhaft ob die Re¬
gierung sich zu unverzüglicher Ausweisung des Grafen von Paris entschließen
wird. Sie wird vielmehr wahrscheinlich nur bei der Volksvertretung denn-
tragen, sie für künftige Fälle zu einer ähnlichen Maßregelung zu bevollmäch¬
tigen, die aber einen allgemeinern Charakter tragen und alle Prinzen einschließen
würde. Die Art und Weise, wie die Demonstration vom 15. Mai in Szene
gesetzt und dann von der monarchischen Presse dargestellt wurde, bleibt, was
man auch sage, eine Unklugheit, die sich rächen wird. Die Regierung aber wird
dem Bestreben der Heißsporne nach Möglichkeit die Spitze umzubiegen und zu¬
nächst Zeit zu gewinnen suchen, indem sie die Kammern mit praktischen Fragen
beschäftigt. Die Freunde der Orleans, die großen Finanzmänner, werden das
ihrige thun, den Ministern diese Ableitung der Republikaner von der heikeln
Angelegenheit zu erleichtern, und so werden Gewaltschritte vermutlich wie früher
vertagt werden. Schon nach den letzten Deputirtenwahlen waren die Oppor¬
tunisten, die ihre Verluste nicht ihrer Politik in Tonking, sondern dem großen
Portemonnaie des Hauses Orleans zuschrieben, sehr geneigt, die unbequeme»
Prinzen über die Grenze zu schicken, aber Grevy versagte seine Einwillign»«,
dazu, vielleicht weil er doktrinären Abscheu vor Ausnahmemaßregelu empfand,
vielleicht weil er mit den Prinzen nicht zugleich das monarchische Prinzip aus¬
weisen zu können glaubte, vielleicht auch, weil er die ini Grunde weder durch
Intelligenz uoch durch Energie sich auszeichnenden, also persönlich unbedeutenden
Kronprätendenten weniger fürchtete als gewisse Präsidentschaftsprätendeuten. und
weil er jene im Stillen als eine Art Gegengewicht gegen diese letztem erhalten
zu sehen wünschte. Als später der Monarchist Lanjuüims bei der Wahlprüfung
in der Kammer sich den unüberlegten Zwischenruf entschlüpfen ließ: „Wenn
wir Frankreich von der Republik befreit haben," gab er damit Anlaß zu neuen
Verbannungsabsichten, die auch in Gestalt von Anträgen vor die Abgeordneten
traten, die Frehcinet aber dadurch beseitigte, daß er die Erklärung abgab,
er betrachte die Allsweisung der Prätendenten als ein Recht der Regierung
und sei im Falle einer Gefahr Mann genug dazu, dieses Recht rücksichtslos
zur Anwendung zu bringen. Jetzt provozirteu die Monarchisten die Republi¬
kaner von neuem, aber wenn die Entrüstung der letztern über das Hotel Galliera
und dessen dreiste Freunde anfangs sehr groß war, so hat sich der erste Sturm
der republikanischen Presse in diesem Augenblicke schon gelegt, und die meisten
Blätter raten zu kaltblütigen und maßvollen Verfahren. Nur der Zorn der
radikalen Blätter wütet uoch weiter, und Nochcforts InwmÄAvAit, greift auch
deu Präsidenten der Republik in seiner gewohnten Sprache an. „Man muß
gestehen — sagt der rote Marquis — daß dieser alte Schwachkopf Grcvy ganz
besonders viel Unglück hat, wenn er einmal sein gewöhnliches Schweigen unter¬
bricht, welches bei ihm im allgemeinen von Armut an Gedanken herrührt. Er
fördert dann nur dummes Zeug zu Tage. Wie sollte man von ihm erwarten,
er werde die Prinzen zum Lande Hinansjagen, deren Thronbesteigung er so¬
eben gefeiert hat?" Dergleichen wüstes Gerede wird jetzt kaum noch wirken,
wenigstens nicht ans die Regierung und die Kammer. Eher wird man Jules
Simon glauben, der mit seinem Erscheinen bei der Cour im Hotel Galliern
soviel Aufsehen erregte und der die Sache jetzt zu entschuldigen versucht. Er
berichtet: „Es waren dort gewiß mehr Bonapartisten als Orlcanisteu. Übrigen?
habe ich zwar bisweilen mit dem Grafen von Paris, nie dagegen mit dem
Herzoge von Anmale über Politik gesprochen. Aber ich glaube nicht, daß die
Orleauistcn auch nur entfernt Aussicht habe«, zur Macht zu gelangen. Sollte
eine Revolution die gegenwärtige Regierung stürzen, so werden jene nach meiner
Ansicht keinen Vorteil davon haben. Als ich diese Meinung einmal gegen den
Grafen von Paris aussprach, fragte er mich, warum die Bonapartisten bessere
Aussichten haben sollten als er, und ich antwortete: Weil sie weniger gutmütig
sind." Gleichviel, was daran ist, die Flut der Entrüstung des republikanischen
Frankreichs über den großen Sonnabend des monarchischen ist im Rückgänge
begriffen, und der Ausweisungsgedanke ist erheblich verblaßt. Freycinet und
Grevy werden allen ihren Einfluß aufbieten, um hinsichtlich der Ausführung
der Maßregel freie Hand zu behalten und möglichst maßvoll verfahren zu
können. Eine sofortige Ausweisung wird nicht stattfinden. Freycinet meint
im Einvernehmen mit seinen Amtsgenossen, die Bahn der Gesetzgebung sei hier
dem Vorgehen mit einem Dekrete vorzuziehen, welches letztere sich ans das Recht
der Negierung, die Staatspolizei zu üben, stützen könnte. Man wird also in
der Kammer einen Gesetzentwurf einbringen, der wahrscheinlich im wesentlichen
eine Wiederholung der Bestimmungen des Nivetschen Amendements zu dem
Duchescheu Antrage sein wird, welcher im März d. I. verworfen wurde.
Duche wollte obligatorische und unverzügliche Ausweisung, Nivet dagegen er¬
kannte die Befugnis der Regierung, die Staatspolizei zu üben, ausdrücklich an
und stellte es ihrem Ermessen anheim, die Mitglieder der ehemaligen fran¬
zösischen Herrscherfamilien auszuweisen, wenn deren Anwesenheit die öffentliche
Ruhe gefährden sollte. Eine Strafbestimmung vervollständigte diese Anordnung.
Dieselbe lautete dahin, die Ausgewiesene» könnten, wenn sie ohne Erlaubnis
der Regierung nach Frankreich zurückkehren sollten, von dem Zuchtpolizeigerichtc
zu Gefängnisstrafen verurteilt werden. Einen ähnlichen Gesetzentwurf wird die
Regierung jetzt der Kammer zur Genehmigung vorlegen und wahrscheinlich
dessen Dringlichkeit betonen, um die parlamentarische Behandlung abzukürzen
und rascher das Votum des Senats verlangen zu können. —
Diese Erwartungen sind nach den neuesten Nachrichten aus Paris in allen
wesentlichen Punkten eingetroffen, nur ist die Regierung etwas energischer auf¬
getreten, als anfangs angenommen wurde. Der Ministerrat hat in Betreff der
Prinzen einen Gesetzentwurf festgestellt, der aus zwei Artikeln besteht. Der
erste ermächtigt den Minister des Innern, den Mitgliedern der Familien, welche
früher in Frankreich geherrscht haben, den Aufenthalt auf dem Gebiete des
letztern zu untersagen; der zweite bestimmt die Strafen, auf welche das Zncht-
Pvlizeigericht zu erkennen hat, wenn das Verbot des Verweilens in Frankreich
von den Betreffenden übertreten worden ist. Die höchste Strafe der Art beträgt
fünf Jahre Gefängnis. Der Gesetzentwurf ist am 27. Mai in der Deputirten-
kammer eingebracht und die Dringlichkeit desselben beantragt worden. Nachdem
der Justizminister Demole die Paragraphen desselben verlesen, gab er einige
Erläuterungen dazu, in welchen er daran erinnerte, daß die Republik die gegen
die Prinzen gerichteten Gesetze abgeschafft habe und deshalb wohl zu der Er¬
wartung berechtigt gewesen sei, die Prinzen würden die Institutionen des Staates
achten. Diese Erwartung sei indessen getäuscht worden, denn die Prinzen hätten
jede Gelegenheit benutzt, um die Republik zu erschüttern. Daher halte die Re¬
gierung den Zeitpunkt für gekommen, diesem Zustande der Dinge ein Ende zu
machen- Nachdem die Mehrheit der Kammer hierauf die vom Minister beantragte
Dringlichkeit für die Beratung der Vorlage angenommen hatte und der Gesetz¬
entwurf an die Bureaus verwiesen worden war, stellte der Abgeordnete Vasly den
Antrag, die Güter der Familien, welche früher im Lande geherrscht, der franzö¬
sischen Nation zurückzuerstatten und damit eine Altersversorgnngskasse zu dvtiren,
ein Antrag, in Betreff dessen die Kammer ebenfalls die Dringlichkeit beschloß.
Das alles richtet sich formell zwar gegen alle, thatsächlich aber besonders
gegen die orlecmistischen Prinzen. Der Empfang im Hotel Galliera erinnerte
das französische Volk daran, daß es noch immer in seiner Mitte eine königliche
Familie hat, obwohl dieselbe nicht mehr regiert, und so hätte das Familienfest
auch dann einen politischen Zug gehabt, wenn der Graf von Paris nicht die
Diplomaten dazu eingeladen nud die monarchistische Presse bei Besprechung des¬
selben nicht den Mund zu voll genommen hätte. Dazu kommt, daß die Aus¬
sichten des Hauses Orleans auf den französischen Thron allerdings gegenwärtig
nichts weniger als glänzend, aber im allgemeinen nicht so schlecht sind, wie
Jules Simon behauptet. Er hat sich im voraus selbst widerlegt, wenn er, der
Republikaner, an jenem Empfangsabende im Hotel des Grafen von Paris er¬
schien, und warum thaten so viele Imperialisten desgleichen? Der Enkel Ludwig
Philipps mag noch so unbedeutend sein und sich noch so still verhalten, die
Welt kann doch nicht vergesse», daß er jetzt der einzige Vertreter des Rechts
der Bourbonen, der Legitimität ist. Das französische Königtum hat ferner in
ihm einen Repräsentanten, der nicht wie der frühere „Roy" in offen erklärtem
Gegensatze gegen die modernen Ideen in Staat und Kirche denkt und empfindet.
Der Graf von Paris würde, falls er einmal den Thron bestiege, keine Be¬
fürchtungen wegen einer feudalen Reaktion hervorrufen. Er hat gelernt und
vergessen, und er gilt für liberal gesinnt. Er würde sich nicht schlechter zu
einem konstitutionellen Herrscher eignen als die Könige von Italien und Belgien
und als der Prinz von Wales. Ferner spricht für ihn der Umstand, daß er
in Frankreich unter allen Vertretern des monarchistischen Gedankens der einzige
annehmbare ist, denn die Bonapartisten haben nur solche Kandidaten auf ihrer
Liste, die durch ihren Charakter ungefähr das Gegenteil von Achtung einflößen.
Es kann deshalb nicht sehr auffallen, daß sich am 15. Mai auch Bonapartisten
im Salon der Gräfin von Paris einfanden, und daß selbst laue und spekulative
Republikaner sich dahin verirrten. Das Cäsarentum hat unter den Franzosen
viel an Kredit eingebüßt, wenn es sich um Vertrauen in seine Verfassungstreue
handelt; man erinnert sich an den 18. Brumaire und an den 2. Dezember.
Das Gespenst der Kommune spukt noch immer und ängstigt die Kapitalisten¬
welt und ihre großen Finanziers orientalischen und andern Geblütes, welche
die Republik im Verein mit Advokaten und Professoren direkt und indirekt re¬
gieren und fruttifizireu. Das kann einmal unerträglich für die Herren werden,
und wenn dann ein General ihnen den radikalen Drachen totgeschlagen hat und
(wie Cavaignac) nicht selbst Lust fühlt, mit dem Szepter zu Hantiren, wenn
man dann in Frankreich eine geborne Fürstlichkeit braucht, damit die Gesellschaft
gerettet bleibe, so wird Frankreich in Gestalt des Grafen von Paris für dieses
Bedürfnis einen respektabeln Herrn mittlern Alters auf Lager haben, der dnrch
seine Frau, seine Töchter, seine Brüder und Schwestern mit fast allen regie¬
renden Fürstenhäusern Europas verwandt ist.
Ohne sich auf den akademischen Streit über die beste Regierungsform ein¬
zulassen, darf mau es als ein Mißgeschick für Frankreich bezeichnen, daß seine
Revolutionen den Franzosen von heute dem Leben und den Überlieferungen
der Vergangenheit seines Landes entfremdet haben. Deutschland, Österreich,
England, Italien und Spanien erfreuen sich parlamentarischer Einrichtungen
und persönlicher Freiheiten unter dein Schutze fürstlicher Familien, die mit ihren
alten, ruhmvollen Erinnerungen verknüpft und doch mit dem modernen Fort¬
schritte versöhnt sind. Ans dem Banner des deutschen Reiches, auf dem des
Königreiches Italien, die beide Verfassungsstaaten sind, befinden sich die Embleme
ihrer Dynastien, dort der Adler der Hohenzollern, hier das Kreuz von Savoyen.
Ehe dagegen die Franzosen ihre jetzige politische Stellung gewinnen konnten,
mußten sie die verschiednen Formen der Monarchie verwerfen, welche durch
die Bourbonen, das Haus Orleans und die Bonapartes reprcisentirt waren.
Ihre Rechte haben die Trümmer von drei Dynastien zur Grundlage, und man
kann nicht sagen, daß hierbei die Schuld allein das Volk treffe. Karl der Zehnte
wurde vertrieben, weil er sich zum unbeschränkten Herrscher machen wollte,
Ludwig Philipp, weil er mäßigen Reformen widerstrebte. Napoleon der Erste
und der Dritte verloren den Thron in Kriegen, die sie ohne Not heraufbe-
schworen hatten. Niemals hat ein französischer Herrscher streng verfassungs¬
mäßig regiert, und wenn bei der Art der Franzosen anch ein solches Regiment,
ein solches Kompromiß vielleicht mißlungen wäre, die Schuld also muh das
Volk träfe, so ist das Ergebnis doch ein Unheil für Frankreich. Die Republik
ist nicht bloß eine auf ungewissen Wahlen ruhende Schöpfung, sondern ein
Widerspruch gegen die alten Überlieferungen des Landes, an denen ein großer
Teil des Volkes festhält. Da Königtum und Kirche so lange im Bunde mit
einander wirkten, sieht die Partei, die jetzt obenauf ist, die Religion als anti¬
republikanisch an und führt Krieg mit den Priestern, auch wo sie dem Staate
nicht zu schaden suchen. Die Republik macht sich damit zahlreiche Feinde, unter
denen die vom weiblichen Geschlechte nicht die ungefährlichsten sind, weil sie
nicht wählen und nicht in der Kammer reden und stimmen dürfen. Und während
die Republikaner die Kirche verfolgen, werden sie selbst von einem wilden So¬
zialismus in ihrer Herrschaft bedroht, diesem unterirdischen Feuer, das in De-
eazcville bereits seine Natur zeigte und das, wenn es einmal in stärkerer Flamme
zu Tage bricht, gewiß vor opportunistischen Ministern nicht mehr Respekt haben
wird als diese vor Prinzen und Bischöfen. Diese letztere Gefahr wird wie in
andern Ländern so auch in Frankreich alle Parteien einander nähern, denen
an einer festen Ordnung gelegen sein muß.
Patriotische Franzosen, die von der Wiedererlangung Elsaß-Lothringens
träumen, könnten sich zu dem Orleanismus hingezogen fühlen, weil er Aus¬
sichten auf ein Bündnis mit auswärtigen Mächten eröffnen würde, wenn er
gekrönt wäre. Nach der Natur der Dinge bietet eine französische Republik
einer fremden Monarchie nicht die Sicherheit, die ein monarchisch regiertes
Frankreich gewähren würde. Welcher Souverän könnte geneigt sein, sich mit
Ministern über ein Bündnis zu verabreden, die morgen von einer Kammcr-
mehrheit gestürzt werden können? Selbst ein französischer Präsident lebt als
solcher nur bis zur nächsten Wahl, allergünstigstenfalls sieben Jahre. Der
deutsche Kanzler erkannte dies: er sah voraus, daß eine Republik die Mehrheit
der Franzosen in innern Angelegenheiten befriedige», ihre auswärtige Politik
aber zur Vereinzelung und Ohnmacht verurteilen würde. Die fünfzehn Jahre
seit 1871 haben ihm Recht gegeben: Frankreich ist nicht wieder zu seiner frühern
gebietenden Stellung in Europa gelangt. Es nimmt seinen Platz neben den
übrigen Mächten ein, übt aber kein Übergewicht mehr und hat nicht einmal
so viel Einfluß, um eine Gruppe um sich zu bilden. Es hat mit seiner grie¬
chischen Politik sein Ansehen nicht wiederhergestellt, es ist in Ägypten und
Tonking matt gesetzt worden. Chauvinistische Gemüter mit Erinnerungen an
den „großen Monarchen," an Napoleons Eroberungen und sein „Parterre von
Königen," an des kleinern Neffen Einfluß und Schiedsrichtcrschaft mag das
wurmen, aber wir sehen nicht ein, daß die Schwäche der auswärtigen Politik
Frankreichs im Interesse Europas oder auch nur im rechtverstcmdnen Interesse
Frankreichs zu beklagen sei. Der Ehrgeiz und die Anmaßung Ludwigs des
Vierzehnten und der beiden Kaiser aus dem Hause Bonaparte brachten unsern
Nachbarn schließlich nichts als Unheil und überschwemmten die übrige Welt
mit, Blut und Staatsschulden. Eine Republik, die Frieden zu halten genötigt
ist, versöhnt mit sich die Steuerzahler in Frankreich und außerhalb. Von dieser
Seite des Bildes wird also der Graf von Paris nicht zur Erhebung auf den
Thron empfohlen.
eher König Sebastians Züge ging ein Wetterleuchten grollenden
Unmuts. Er hatte ans die ergebungsvolle Miene Catarinas, von
der sich Camoens in seinein grünen Versteck tief ergriffen fühlte,
nicht geachtet, und sagte jetzt mit vorwurfsvollem, beinahe rauhem
Ton: Euch scheint leicht zu fallen, Herrin, was mir noch immer
unmöglich dünkt. Ich leide Qualen um Euch, und Ihr, Ihr habt Lust, mir
das Almosen Euers Anblicks zu versagen.
Aus Catarinas Augen glänzte ein Schein, der den König die seinen nieder¬
schlagen ließ. Halb war es ein Aufblitzen schmerzlicher Entrüstung, halb ein
Strahl alles verzeihender Milde und Liebe. Das Mädchen trat einige Schritte
von dem jungen Fürsten zurück und erwiederte zitternd: Herr, es ist der Ver¬
lassenen teuerstes Gut, zu wissen, daß ihr König um ihretwillen Schmerzen leidet!
Doch dieser einzige Schatz läßt sich nicht mehren, noch mindern! Eure Majestät
muß glauben, daß ich ihn heilig bewahren werde, so lange ich lebe.
Camoens vernahm jede Silbe ihrer Worte, sah die hervorbrechenden
Thränen, und mußte sich gewaltsam zusammennehmen, um seinen innern Anteil
nicht durch eine ungestüme Bewegung zu verraten. Der König rang sichtlich
nach einer Antwort, er faßte, ohne daß sie ihm im Augenblicke zu widerstehen
vermochte, beide Hände Catarinas und küßte sie wiederholt, um ihr Abbitte
zu leisten.
Donna Catarina, sagte er mit flehendem Ton, vergeht mir und versprecht
mir nur eines, daß Ihr meinen Hof nicht verlassen, mir nicht die Hoffnung
nehmen wollt, Euch von Zeit zu Zeit zu sehen und ein Wort von Euch zu
hören. Ihr wißt nicht, daß es wieder schaurig öde um mich ist, wie um einen
Lebendigbegrabenen, der nur das Echo seiner eignen Worte hört!
Herr, ich darf Euch nicht versprechen, Euch hier wieder zu begegnen! ver¬
setzte Katarina, ihre Hände der Umklammerung des erregten Königs entwindend.
Es ist ein Unrecht gegen Eure Majestät, vielleicht ein Frevel gegen das Land,
daß ich heute Euerm Rufe gefolgt bin! Dann nahm sie, trotz der Thränen in
ihren Angen, wahr, daß der König sich nicht länger beherrsche, und floh mit
einer flehenden, abwehrenden Geberde nach dem Laubthvr zurück, aus dem sie
vorhin hervorgetreten war und unter dessen Zweigen sie laut nach Miraflores
rief, Dom Sebastian hatte sich, noch ehe sie enteilte, mit überwallender Leiden¬
schaft auf die Kniee vor ihr geworfen, hinter der Fliehenden drein klangen die
Rufe: Catarina! Geliebte! und als der König inne ward, daß er sie nicht
zurückzurufen vermochte, schlug er in wildschmerzlicher Bewegung beide Hände
vor sein Gesicht und sprang dann empor, heftig am Geländer der Terrasse
rüttelnd. Über den Leib des Lauschers ging ein Schauer; Camoens fühlte,
daß der König, wenn er jetzt des Unberufenen ansichtig würde, das Schwert
ziehen und ihn niederstoßen müßte; er wußte auch, so sehr er seinem jungen
Herrscher grollte, daß er die eigne Waffe gegen denselben nicht erheben werde.
Und doch war es nicht das, was ihn jetzt beklommener atmen ließ und ihm schwer
auf dein Herzen lag. Der junge König hatte sich rasch wieder gefaßt, in der
Haltung, die ihm sonst eigentümlich war, schritt er noch einmal die Steinplatten
der Terrasse auf und ab und trat dann den Rückweg zum obern Teil der Gärten
und zu seinem Palaste an, Camoens verharrte noch einige Minuten nach dein
Weggange des Königs lautlos, regungslos, als fürchte er, daß das Rascheln
der zurückschlagenden Zweige den Verschwindenden zurückrufen könne. Erst als
er völlig gewiß war, daß er in der grünen Stille wiederum so allein sei wie
vor dem Erscheinen des Königs und der Gräfin Palmeirim, verließ er seinen Zu¬
fluchtsort und schritt durch den Atazicngang, der jetzt nächtig dunkel vor ihm
lag, jener Stelle der Mauer wieder zu, über die er sich vorher geschwungen hatte.
Sein Traum von Catariua Ntahde samt dem Frieden, den er aus holder Er¬
innerung gesogen, waren dahin! Jetzt war alles spannende, drängende, sorgen¬
volle Gegenwart — jeder Laut, deu Catariua Palmeirim und der König getauscht
hatten, lebte in seinem Gedächtnis, jede Miene der beiden in seiner Seele.
Fras Tellcz hatte Recht, tausendmal Recht; wenn der König blieb, so ver¬
mochte das schöne Mädchen seinem Schmerze und seinen Bitten nicht lange mehr
zu widerstehen. Camoens sah zwischen den Kronen der Akazien nach dem
Nachthimmel empor, an dem einzelne Sterne aufblitzten. Über die Terrasse kam
ans dem tiefer liegenden Thale ein letzter warmer Abendhauch, Camoens bot
ihm seine Stirn, ohne wohlthätig berührt zu werden. Hinter dieser Stirn
brauste und klopfte es fiebrisch, das Wort: Er muß hinweg! trat nicht wie
gestern auf seine Lippen, aber er vernahm nur das eine, vernahm es tausend¬
stimmig. Was auch Barreto und das eigne Gewissen sagen mochten, jetzt war
es entschieden, daß er alles, was sein war, Kraft, Leben und Ehre einsetze»
mußte, Catarina gegen die drängende Leidenschaft des Königs beizustehen!
Wild und unklar wogten Bilder dessen, was geschehen solle und könne, in
Camoens' Seele; gewiß war, daß er dem Könige so rasch als möglich sein
Gedicht zu Füßen legen und in dem Gedicht zu ihm sprechen müsse, wie ihm
jetzt, nur wie ihm jetzt ums Herz war. Die letzte Stunde hatte ihn gestählt,
wenn es sein mußte, sogar zum Kampfe mit Barreto.
Wie er laugsam und noch mehr als einmal nach dem Bostel zurücklauschend,
ans dem er herkam, sich der Mauer und den an ihr stehenden Bäumen näherte,
ergriff ihn noch einmal die Stimmung, welche ihn bei seinen Eintritt hier er¬
faßt hatte. Das Bild der verklärten Catarina trat neben das der lebendigen,
ihm war es, als befehle ihm zu dieser Stunde Catarina Atayde ihr Kind und
rufe ihn auf, um ihretwillen alles sonst in der Welt zu vergessen und zu opfern!
Er beugte sein Haupt wie vor einer sichtbaren Gestalt, vor einem wirklich ge¬
hörten unwiderstehlichen Gebot, und mit festerem Entschluß, aber auch mit
schwereren Herzen, als er gekommen war, verließ er die Königsgärten ans dem
gleichen Wege.
Drei Tage nach der feierlichen Bestattung Dom Antonio Pacheeos, des
Ordensmarschalls, saß am Spätnachmittage Camoens im Hofe von Almocegema
in der Nähe des prachtvollen Brunnens, der nächst der Platane des Königs
Diniz als die größte Merkwürdigkeit des alten Maureuschlosses galt. Die zier¬
lichen spitzbogigen Arkaden, die im Viereck den Hof umschlossen, von schlanken
Säulen getragen, von üppigem Grün umrankt, öffneten sich überall nach dem
großen Brnnnenbecken, aus dem eine silbern glänzende Wassersäule emporstieg;
ans den Mäulern vou zwölf Delphinen rauschten starke Wasserstrahlen scheinbar
auf das Marmorpslaster des Hofes herab und verschwanden im Boden, um
den Brunnen wieder neu zu speisen, alles atmete Kühle und friedliche Ab¬
geschlossenheit. Camoens, der sich mit seiner Handschrift und allerhand Schreib¬
gerät in der Halle westlich vom Brunnen niedergelassen hatte, aus der er mit
wenigen Schritten zu seinen eignen Gemächern gelangen konnte, hätte hier in
Farben und Düften schwelgen können. Jenseits der rauschenden, sprühenden Wasser
erhob sich eine Gruppe von schlanken, dichtverwachsenen Büschen, an der zu
allen Jahreszeiten Blüten prangten. Doch obschon er seit einer Stunde nach
den Strahlen und den scharlachroten Kelchen der Granatbüsche hinblickte, welche
dort aus dem Grün leuchteten, so war seine Seele doch weit von dem Brunnen
und den Büschen; ein harter, innerer Kampf, quälende Unschlüssigkeit malte
sich in den Zügen des Mannes, seit er vorhin die eifrig und dennoch umsonst
gehandhabte Feder hatte sinken lassen.
So entschlossen, so fest war er gewesen an jenem Abend, als er schweigsam
und in sich gekehrt aus den Köuigsgärten von Cintra nach Okaz' Herberge
zurückgekommen war und Manuel Barretv unruhig und sorgenvoll seiner hcirreud
gefunden hatte. Schweigsam und in sich gekehrt war er in den Stunden ge¬
blieben, die er mit seinem Gastfreunde noch verbracht, er hatte gespannt dem
Berichte gelauscht, den ihm Manuel von den Klagen der Herzogin über des
Königs Wankelmut, von ihrer Besorgnis um Esmah gegeben. Seinerseits aber
hatte er eine Frage Varretos erwartet, was ihm widerfahren sei, und die Frage
war nicht gethan worden, obschon Barreto das bleiche Aussehen, die stumme
Verschlossenheit seines Genossen wahrlich nicht entgangen sein konnte. Ohne
dem Freunde sein Herz zu öffnen, hatte er am Morgen nach jenem Abend
sich zur Rückkehr nach Almocegemci im Geleite Joaos angeschickt. Erst in dem
Augenblicke seines Wcgrittes, als er Barreto vom Pferde herab die Hand reichte,
trieb es ihn zu sagen: Findet guten Empfang beim König Manuel und gute
Statt für Euer Wort! Wißt auch, daß ich deu König und Gräfin Catarina
gestern erblickt und gehört habe. Ich sah sie — zu Euch sei's gesagt — auf
meinem Abendgange, im untern Schloßgnrten, gesprochen habe ich natürlich nicht
zu ihnen und meine Gegenwart haben sie nicht bemerkt. Die erlauchte Her¬
zogin irrt sich, wenn sie wähnt, der König habe auf Liebe und Liebesglück
verzichtet und befehle ihre Pflegetochter dem Himmel. Ich weiß, daß es anders
und schlimmer ist. Für meinen Teil kann ich nur einen Wunsch noch hegen,
daß Dom Sebastian nicht lange mehr Gelegenheit habe, ein schutzloses Herz zu
bedrängen! Glaubt mir, daß es keinen andern Weg giebt, die schöne Catarina
vor dem Schlimmsten zu bewahren, als daß der König dahin zieht, wohin ihn
der Geist treibt. Fiir heute wünsche ich Euch einen guten Tag, Manuel, und
werde Eurer Ankunst in Almoeegema still harren.
Grüßt mir mein Haus und findet Frieden unter seinem Dache! entgegnete
der Fidalgo mit großem Ernste. Wenn Ihr über des Königs Begegnung mit
Catarina Palmeirim nachsinnt, so vergeßt nicht, daß Donna Catarina vielleicht
als ein glückliches Schicksal erscheint, was Ihr das Schlimmste heißt. Täuscht
Euch nicht selbst, Luis! Und nun Gott befohlen, ich komme, sobald meine
Pflicht hier erfüllt ist.
Die kurze Unterredung hatte auf dem ganzen Ritte bis Almoeegema in
Camoens' Seele nachgeklungen. Aber sein Wille war durch dieselbe nicht
erschüttert worden, mit düsterm Ernst, aber ohne Schwanken hatte er alle
poetischen Huldigungen, welche zur Zueignung der Lusiaden an König Sebastian
begonnen worden waren, vernichtet und in der Stille, die ihn umfing, eine
Reihe neuer Oktaven niedergeschrieben. Sie flössen ihm nicht frei, nicht
strömend wie sonst in die Feder; doch er ließ nicht ab, an ihnen zu
schmieden und zu feilen. Die Morgen auf dem grünen Walle unter der großen
Platane, die Nachmittage angesichts des kühlen Brunnens galten der Arbeit,
Während deren er sich unablässig das Bild Catarincis heraufbeschwor, wie sie
den König bittend abzuwehren gesucht hatte und vor ihm entflohen war. Er
hatte bei jeder Strophe, die er vollendete, empfunden, daß sie seinem Gast-
frennde das Herz schwer machen werde, und ihm selbst war es wahrlich nicht
leicht gewesen. Doch er hatte sich wieder nud wieder zugerufen, daß es eine
eherne'Pflicht zu erfüllen gelte, und bei sich beschlossen, daß er alsbald nach
Varretos Heimkunft das gastliche Hans verlassen und nach Lissabon gehen
wolle, wo er den beschleunigten Druck seiner großen Schöpfung zu überwachen
gedachte.
Und nun saß er doch wieder unschlüssig, von heißen Zweifeln bedrängt,
unter den maurischen Hallen, an dem kühlsten, erquicklichsten Platze. Heute
in aller Frühe war ihm ein kurzer Brief Barretos zu König Diniz' Baum
gebracht worden, welcher um Entschuldigung für Marmels längeres Ausbleiben
bat und zugleich verhieß, daß der Schreiber vor Ablauf des Tages in seinem
Halse eintreffen werde. Während der Dichter den kurzen Zeile» nachsann und
c>"s den flüchtigen Buchstaben des Briefes zu erraten trachtete, ob Barreto
seinen Zweck beim Könige erreicht habe oder nicht, war sein Auge plötzlich
M'f ein Schauspiel gelenkt worden, welches aus der öden Strcmdflcichc vor
sich ging. die sich zwischen Almoecgema und dem User des Meeres hinzog.
Die Mittagssonne brannte heiß ans den weitgedehnten sandigen und steinigen
Dünen, die große Flut rollte eintönig wie sonst gegen die Sandhügel und die
Schilfgestrüppe, welche man vom Walle des alten Manrenschlosses ans übersah.
Da mit einemmale ward die Einsamkeit der endlosen Fläche belebt, auf dem
Wege, der von dem alten Strandtnrm Calhao de Corvo hierher führte, zeigten
sich Reiter, auf der Flut schaukelte eine Anzahl von Flachbooten mit bewaff¬
neter Mannschaft, welche von jenem Turm daher gekommen sein mußten und
hier zu lande» strebten. Nur einige Minuten hatte Camoens gewähnt, daß
eine Gefahr im Anzuge sein könne, bald genug hatte er in dem Reiter, der
mit wenigen kriegerisch gerüsteten Begleitern am Strande ans- und abjagte und
gegen das Meer hin den Booten mit heftig befehlenden Geberden winkte, nie¬
mand geringeres erkannt als seinen jungen Herrscher. Gefesselt von dem
wunderlichen Vorgänge hatte er im Zuschauen Sinn und Zusammenhang des¬
selben begriffen. Die von ungeschickten Ruderern gelenkten Boote erreichten nur
teilweise die trockne Düne, die größere Zahl von ihnen blieben zwischen den
schilfbewachsenen Lachen der Anßendüue stecken. Als jedoch die in den Fahr¬
igen stehenden Bewaffneten zögerten, ans der Stelle heransznspringen und
d"us Wasser und Schilf die Straudhügcl zu gewinnen, galoppirte Dom Se¬
bastian in leidenschaftlicher Erregung am Ufer hin und wieder und schien ent¬
schlossen, sein Pferd und sich selbst in die Flut zu werfen. Seine wiederholten
Befehle zwangen endlich die jungen Mannschaften, ihr Zögern aufzugeben; etwa
eine Viertelstunde, nachdem Camoens das erste kriegerische Getümmel vernommen
hatte, lagen die Boote verlassen, von wenigen Männern bewacht, am Strande.
Landeinwärts aber, von dichter Staubwolke umhüllt, bewegten sich im gewalt¬
samen Lauf die vier oder fünfhundert Gerüsteter, welche der König über die
heiße, ode Dttneusläche mehr mit sich fortriß, als daß er sie führte. Bis zu
dem grünen Wall, von welchem Camoens, sich weit vorbeugend, das merkwür¬
dige Schauspiel mit ansah, schallten die wilden Zornrufe, die leidenschaftlich
gegebnen Befehle des jungen Fürsten, Herr Luis konnte deutlich wahrnehmen,
daß der König sich selbst so wenig schonte als die Leute, die er über die
unwegsame Ebne, durch den heißesten Sonnenbrand dem Kirchturm von Sarra-
zola zuleucheu ließ. Das letzte, was Camoens unterschied, war, daß das
überangestrengte Noß Sebastians unter seinem Reiter zusammenbrach, der König
sich, ohne einen Augenblick zu zögern, zu Fuß an die Spitze seiner Schaar
setzte, während ein paar Reitknechte bei dem gestürzten Tiere zurückblieben.
Camoens wußte jetzt, daß er eine jener Übungen geschaut habe, von denen
ihm schon Bartolomeo Okaz und darnach Joao, Barretos Hausmeister, soviel
erzählt hatten. Der junge Herrscher hatte einige hundert Bürgerssöhne seiner
Hauptstadt zu einer Schnur vereinigt, mit der er die härtesten Anstrengungen
und Entbehrungen teilte, um sie und sich für die Landung und den Feldzug in
Marokko vorzubereiten.
Ob er wollen mochte oder nicht, Camoens hatte die erschreckende Dürftig¬
keit der Mittel, der Rüstung selbst, in diesem Schauspiel erkennen, hatte über
das Geschaute nachdenken und sich an so vieles erinnern müssen, was er früher
von seinem Gastfreunde vernommen hatte. Über den Tag der Abfahrt des
Königs von Lissabon zum erstenmale hinausdeutend, hatte anch er plötzlich jene
dunkle Besorgnis, jenes Bangen verspürt, von denen er den Freund befangen
sah, so oft der Pläne Dom Sebastians gedacht wurde. Umsonst hatte Camoens
sich auch jetzt wieder zugerufen: Der König muß hinweg! und das Bild Cata-
rinas heraufbeschworen. Mit unwiderstehlicher Gewalt war hente das Bewußt¬
sein über ihn gekommen, daß der König nicht allein gehe; scheu und mit ver¬
düsterten Sinn hatte er sich wieder zu seiner Handschrift zurückgewendet und
mit den Versen gerungen, die er begonnen hatte. Was er sich fest vorgesetzt
hatte, dünkte ihm mit einemmale wieder unmöglich, ein Frevel, die Heralls¬
forderung eines ungeheuern Schicksals — und das gleichmäßige Plätschern des
Brunnens vor ihm weckte den kriegerisch stolzen Klang in seinen Worten nicht
wieder, mit dem er den König emporznrufen und hinwegznschenchen gedacht hatte!
(Fortsetzung folgt.)
Dem Reichstage ist in den
letzten Tagen ein Gesetzentwurf zugegangen, welcher bezweckt, die als mangelhaft
befundenen Bestimmungen der ^ 174—176 des Gerichtsverfassungsgesetzes über
den Ausschluß der Oeffentlichkeit bei Gerichtsverhandlungen einer Revision zu unter¬
ziehen und durch einige weitere Bestimmungen zu ergänzen. Nach dem jetzigen
Rechtszustande kann der Vorsitzende auch nach erfolgten Ausschluß der Oeffentlich¬
keit einzelne« Personen den Zutritt zu den Verhandlungen gestatten; keine der bei
der Verhandlung zugegen gewesenen Personen, mit Ausnahme der dabei mitwirken¬
den Beamten, ist zur Geheimhaltung verpflichtet; nud endlich muß das gesamte
Urteil einschließlich des Thatbestandes und der Urteilsgründe in öffentlicher Sitzung
verkündigt werden. Wird durch dies letztere allein schon der wichtigste Inhalt
der Verhandlungen der Oeffentlichkeit preisgegeben, so ist es auch uur natürlich,
daß die bei der Verhandlung beteiligten Personen, wie Zeugen, Sachverständige,
Parteien, die notwendige Begleitung jugendlicher oder gebrechlicher Personen, von
der interessanten Verhandlung an Dritte Mitteilung machen; werden aber durch
den Vorsitzenden noch andre Personen zugelassen, was meistens mit den Vertretern
der Presse der Fall zu sein pflegt, so ergeht es diesen nicht anders, die Vertreter
der Presse müssen sogar geradezu die Verpflichtung zur Mitteilung des Inhalts der
Berhnudluugeu in ihren Blättern fühlen; aus welchem Grunde wäre ihnen denn
sonst gerade die Erlaubnis zur Beiwohnung bei den Verhandlungen zu Teil
geworden! Daß solche Zulassungen unbeteiligter Personen zu den nichtöffentlichen
Verhandlungen vielfach in mehr als reichem Maße geschehen sind und daß die vou
diesen Personen gemachten Mitteilungen die Ausschließung der Öffentlichkeit ganz
illusorisch macheu, weiß jeder, der sich einigermaßen um diese Angelegenheiten
gekümmert hat. Infolge aller dieser Umstände war es nun zweckmäßig, eine
Revision der einschlagenden Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes zu ver¬
suchen, und man wird dein vorgelegten Gesetzentwurf im allgemeinen nur vollständig
zustimmen können.
Vor allen Dingen kann nach dem Entwurf der Vorsitzende niemandem mehr
gestatten, bei einer geheimen Verhandlung zugegen zu sein, der dabei nicht in irgend
einer Weise als Partei, Zeuge, Sachverständiger, notwendiger Begleiter einer jugend¬
lichen oder gebrechlichen Person, als Sicherhcitsbeamter u. dergl. beteiligt ist.
Selbstverständlich wird aber durch deu Ausschluß der Oeffentlichkeit das aus der
Dienstaufsicht fließende Recht, Gerichtsverhandlungen beizuwohnen, nicht berührt.
sämtlichen zugelassenen Personen kann durch den Vorsitzende» die Geheimhaltung
des Inhaltes bestimmter Teile der Verhandlung besonders zur Pflicht gemacht
werden, sofern von dem Bekanntwerden desselben eine Gefährdung der Staats¬
sicherheit zu befürchten ist. Endlich aber soll nicht mehr das gesamte Urteil,
sondern nur die Urteilsfvrmel öffentlich verkündet werden. Diese Umbildung
der 174 —176 des Gerichtsverfassungsgesetzes allein würde aber nicht
genügen, um den eben erwähnten Uebelständen abzuhelfen, es würde immer ein
«"vollständiges Gesetz vorliege«. Deshalb hat der Entwurf noch in die Materie
des Strafgesetzbuches und des Prcßgesetzcs eingegriffen. Eine Geldstrafe bis zu
eintausend Mark oder eine Haft- über Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten
wird zunächst den Personen angedroht, welche den Verhandlungen beiwohnten
und die ihnen auferlegte Pflicht der Geheimhaltung durch unbefugte Mittei¬
lung verletzten. Als eine „unbefugte" Mitteilung wird es natürlich nicht gelten,
wenn eine der Personen, welche der Verhandlung beiwohnten, später über deren
Inhalt als Zeuge vernommen wird. Da man nun die Verpflichtung zur Ge¬
heimhaltung der menschlichen Natur gemäß nicht zu weit ausdehnen darf, so
ist sie, wie bereits angegeben, nur ans den Inhalt solcher Teile der Verhandlungen
beschränkt, dessen Bekanntmachung eine Gefährdung der Staatssicherheit, z, B. in
Laudesverratsprozcsseu, befürchten läßt. Es giebt aber anch eine Meuge Verhand¬
lungen, deren Inhalt zwar nicht staatsgefährlich, aber oft so anstößig ist, wie z. B.
bei Verhandlung von Sittlichkcitsverbrcchen, daß dessen Veröffentlichung mindestens
ebenso nachteilig für die gute Sitte oder die Beteiligten ist, als wenn die ganze
Verhandlung öffentlich stattgefunden hätte. Aus diesem Grnnde hat der Entwurf
ferner uuter der gleichen Strafe wie für den Bruch der auferlegten Geheimhaltung
das Verbot aufgenommen, über Gerichtsverhandlungen, welche unter Ausschluß der
Öffentlichkeit stattgefunden haben, Berichte durch die Presse zu veröffentlichen.
Die wissenschaftliche Bearbeitung einer solchen Verhandlung soll damit nicht aus¬
geschlossen sein, da eine solche von einem Berichte über die Verhandlung wesentlich
verschieden ist. Verboten find nnr die in den Tagesblättern übliche», häufig nur
im Interesse der Befriedigung der Neugier erfolgenden und deshalb meist pikant
abgefaßten Darstellungen der Verhandlungen, welche wissenschaftlich meist ohne
jeden Wert sind.
Wie der Entwurf, welcher übrigens einem in Elsaß-Lothringen bereits giltigen
Gesetze (vom 18. Juli 1828) entspricht, sich möglichst genau den schon giltigen Ge¬
setzen anzupassen sticht, erhellt daraus, daß er die angedrohten Strafen den Be¬
stimmungen des Preßgesctzes über vorzeitige Bekanntmachung der Anklageschrift oder
sonstiger amtlichen Schriftstücke eines Strafprozesses anpaßt.
Muß man sich nach dem Dargestellten mit dem, was der Entwurf giebt, nnr
einverstanden erklären, so ist doch der Wunsch nicht zu unterdrücken, daß der Ent¬
wurf um noch eine Bestimmung vermehrt werde. Nicht nur die Mitteilung des
Inhalts anstößiger Prozeßverhandlnugen überhaupt bringt Schaden; einen sehr be¬
deutenden Nachteil für die Rechtsprechung enthält es anch, wenn, noch ehe das
Urteil gefällt ist, die Zeitungen in möglichst ausführliche» Artikeln den Inhalt
der bisherigen Verhandlungen wiedergeben. Unwillkürlich nimmt bei jeder be¬
deutenden Gerichtsverhandlung die öffentliche Meinung für oder gegen den An¬
geklagten Partei; je nach dieser Parteinahme werden die Mitteilungen über die
Verhandlungen gefärbt oder mit Anmerkungen versehen. Daß solche parteilich,
wenn auch unabsichtlich gefärbte Artikel durchaus geeignet sind, ans das Urteil
von Geschworne» oder Schöffen einen Einfluß auszuüben, wird niemand be¬
zweifeln, aber auch für die gelehrten Richter hat es etwas bedenkliches, mindestens
jedoch, anch bei der größten Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung, etwas
unbequemes, wenn der Stoff, über welchen sie erst noch zu urteilen haben, bereits
in allen Blättern und in Folge davon auf alleu Bierbäukeu erörtert und ihnen
dabei vorgehalten wird, wie sie nach dem Urteil der öffentlichen Meinung ihr Urteil
abzugeben haben. Es würde deshalb entweder ein weiterer Artikel unserm Entwürfe
beizufügen sein, welcher alle Mitteilungen noch nicht abgeurteilter Verhandlungen
in Anschluß an I 17 des Neichspreßgesetzes untersagt; noch besser wäre der
betreffende Artikel des Entwurfes derart zu fassen, daß er die neuen Verbote über
Veröffentlichungen des Inhalts von Strasverhandlnngen mit den bereits in § 1.7
des Preßgesetzes ausgesprochenen in einen einzigen Paragraphen zusammenschmilzt.
Dieser Artikel (III) würde darnach irrten: „Der 8 17 des Gesetzes über die Presse
vom 7. Mai 1874 (Reichsgesetzblatt S, 65) erhält folgende Fassung: Ueber Ge¬
richtsverhandlungen, welche unter Ausschluß der Oeffentlichkeit stattgefunden haben,
dürfen Berichte durch die Presse überhaupt nicht veröffentlicht werden. Die An¬
klageschrift, andre amtliche Schriftstücke oder Berichte über die Verhandlungen eines
nicht mit Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelten Strafprozesses dürfen durch die
Presse nicht eher veröffentlicht werden, als bis das Verfahren sein Ende erreicht
hat." Daß darnach auch die Ueberschrift des Gesetzes eine entsprechende Aenderung
erleiden müßte, ist selbstverständlich.
Vor kurzem sind zwei neue Liederhefte
von Johannes Brahins erschienen, op. 96 und 97, mit deren Ausstattung der Ver¬
leger, N, Simrock in Berlin, augenscheinlich etwas besondres hat bieten, vielleicht
sogar in unsrer Mnsikalienansstattnng einen großen Fortschritt hat inauguriren
»vollen. Sowohl das Titelblatt wie der Umschlag zeigen in beiden Heften bild¬
liche Darstellungen, die durch Steindruck uach Federzeichnungen hergestellt sind. Diese
Bilder aber sind das Seltsamste, was man sich denken kann. Auf dem einen Um¬
schlage erblickt man in der obern Hälfte einen dicken Baumstamm und am Fuße
desselben einen Schlafenden, zu dem links an eiuer Wand (?) ein altes, dürres,
lnngnasiges Weib herabrutscht. Die untere Hälfte des Blattes ist durch nichts als
einen großen schwarzen Klex ausgefüllt. Ans dem andern Umschlage soll Wohl ein
mit Bäumen bewachsener Felsenabhang dargestellt sein; wenigstens stehen die Bäume
übereinander. Unten im Grunde aber liegt am Wasser eine nackte weibliche Gestalt,
der rings um den Kopf, auch über das Gesicht, das Haar wüst herabhängt, und
mit der sich ein schwarzes Ungetüm, soviel man erkennen kann, mit Bucksbeinen
versehen (also ein Satyr?), zu schaffen macht. Von ähnlicher Beschaffenheit sind
die Titelblätter. Auf dem eiuen sieht man das Meer, darin einen Zug von
Delphinen, auf deren vordersten ein nackter Kerl reitet, der den linken Arm empor-
reckt wie ein Negimentstambonr seinen Stab und sich nach den Delphinen kom-
mandirend umblickt. Im Hintergrunde ein Felsen mit einer Burg, In der
Mitte des Blattes ist eine Tafel für den Titel ausgespart, bei der man nicht recht
dahinterkommt, ob sie als aufgerollter Papierbogen oder als Marmorplatte zu
denken ist; darüber ragt eine dunkle Masse empor, einem großen Vogelkopfe oder
dem Kopfe eines borstigen Rüsseltieres (Wildschwein?) ähnlich. Auf dem andern
Titelblatte ist eine Eis- oder Schneefläche dargestellt, in der Ferne wieder ein
Felsen. Im Vordergrunde schreitet breitbeinig ein Ritter, der ein Frauenzimmer
aufgehuckt hat; hinter ihm wird ein Pferdekopf sichtbar. Rechts im Hintergründe
stehen in einer Pfütze drei andre Ritter, die mit Schild und gezognen Schwert
dem Fraucnträger aufzulauern scheinen. Alle diese Darstellungen siud, wie schon
ans unsrer Beschreibung hervorgeht, in der rohesten und flüchtigsten We-ise skizzirt,
sodaß mau meist nur mit Mühe und nach längeren Raten erkennt, was dargestellt
sein soll, in einigen Stücken gänzlich unklar darüber bleibt. Verquickt sind die
Bilder mit ebenso roh gezeichneten Randornamenten, die wohl romanisch oder irisch
sein sollen, und mit scheußlich verzerrten Bnchstabenfvrmen.
Wir haben wiederholt in größern Kreisen, wo die Lieder gesungen wurden,
die seltsam ausgestatteten Hefte von Hand zu Hand gehen sehe», und stets haben
sie das größte Befremden erregt. Man fragte: Soll das etwa genial sein? Oder
soll es ein schlechter Witz sein? Hat der Zeichner dieser Blätter den Verleger
zum Besten gehabt? Oder will der Verleger das Publikum zu». Besten haben?
Schließlich kam man jedoch immer zu der Meinung, daß diese Darstellungen wohl
von einem jungen Künstler herrühren möchten, der an Größenwahn leide und dabei
ein recht impotenter Geselle sei, der sich vielleicht in Böcklin vergafft habe
und nun Böcklin uoch zu übertrumpfen suche, daß aber der Verleger diese Blätter
offenbar für etwas Hochgeninles geholten und dem Publikum damit einen großartigen
Fortschritt in der Musikalieuausstattung zu bieten geglaubt habe. Für die letztere
Ansicht, daß der Verleger der Düpirte sei und der Häßlichkeit dieser Umschläge
gänzlich urteils- und ahnungslos gegenüberstehe, spricht deutlich die Rückseite der¬
selben, ans der verschiedene Simrvcksche Verlngsartikel mit einer typographischen Ge¬
schmacklosigkeit vorgeführt sind, die man 1L8(> und nachdem soviel von Hebung des
Buchgewerbes deklamirt worden ist, kaum uoch für möglich halten sollte. Jedes
Straßenplakat wird heutzutage anständiger gesetzt, als diese aus Dutzenden von
Setzertästeu zusammengelesenen, mit einer Menge Von hinzeigeudeu Händen sDM")
geschmückten Anpreisungen. Wer imstande ist, ans ein und demselben Bogen auf
der Vorderseite jene vermeintlich genialen Klexereieu, ans der Rückseite diese garstigen
Straßenplakate drücke» zu lassen, beweist schon dadurch, daß er von typographischen
Geschmack keine Ahnung hat, also selber der Angeführte sein muß.
Einer thut uus aufrichtig leid bei der Sache: Johannes Brahms. Welche
reifen und süßen Früchte haben sich hier in die widrigsten, abgeschmacktesten Hüllen
stecken lassen müssen! Fernerstehende erheben gegen Brahms den Vorwurf, daß
seine Musik unnatürlich, gequält, grüblerisch sei. Nun ja, mit seiner Sprache ninß
man sich erst vertraut machen. Ist dies aber einmal geschehen, dann erschließt sich
jedes neue Werk vou ihm verhältnismäßig leicht. In den vorliegende» beiden
Liederheften sind wieder herzig einfache Sachen; vier sein „Wiegenlied" kennt oder
das „Vergebliche Ständchen" oder den „Jäger," wird finden, daß Lieder wie „Dort
in den Weiden," „Komm bald" und „Trennung" im op. 97 ganz auf demselben
Wege liegen wie jene : auf dem Wege von der Kunst zur Natur. Mit auserlesen
vornehmen künstlerischen Ansdrucksmitteln wird hier doch schließlich die denkbar
einfachste Wirkung erreicht, wenn nnr Säuger und Spieler alles beherrschen und
mit voller Freiheit wiedergebe». An einem Liede wie die „Nachtigall" befremdet
wohl anfangs der Versuch, an die elementaren Klänge des Vogelgesanges zu erinnern;
aber bald befreundet man sich anch damit; „halte dein Ohr dran, dünn hörest
du was!" Die Perle in beiden Heften ist wohl „Wir wandelten" in vo. 96. Die
ganze Seligkeit eines schweigsam dahingehender, kein Geständnis wägenden Paares
kann nicht köstlicher geschildert werden, als wie es hier in dem süßmelodischen zwei¬
stimmigen Kanon in Dos geschehen ist. Und wie entzückend keimten die „goldnen
Glöckchen" dazwischen, mit denen der Liebende die uunusgesprochucu Gedanken in
seinem Haupte vergleicht! „So wundersüß, so wuuderlicblich ist in der Welt
kein andrer Hall!"
Hoffentlich entschließt sich der Verleger, bei einer neuen Anflöge der Lieder
die garstige» Umschlage und Titelblätter zu beseitigen. Er ist sehr schlecht dabei
beraten gewesen. Möge er, wenn er den ernstlichen Willen hat, u»fre Musikalieu-
ansstattnng zu reformiren, ein andermal bessere Ratgeber suchen und finden.
Di
e Angelegenheit des Denk¬
mals für Hütten und Sickingen ans der Ebernburg an der Nahe ist seit unsrer
ersten Mitteilung rüstig fortgeschritten, Das Komitee, das in Kreuznach sich ge¬
bildet und überall im Reiche Teilnahme gefunden hatte, behandelte mit besondrer
Vorsicht die Frage, ob der Entwurf des Denkmals, der von dem verstorbnen Bild¬
hauer Karl Cauer vorhanden war, definitiv anzunehmen oder eine Konkurrenz aus'
zuschreiben sei. Es wurde eine Art Mittelweg eingeschlagen. Treffliche Meister
wie Bendemann, Albert Wolf und Otto in Rom wurden gebeten um ihr Arten
und ihre Kritik, Und da alle deu vorhandnen Entwurf sehr anerkannten und in
dem, was sie anders wünschten, so gleichartig sich aussprachen, so wurde bald
beschlossen, Herr Albert Wolf möge selbst in Verbindung mit deu Söhnen des
Künstlers Cauer das Modell dahin vollenden, daß die Figur Hutteus ihre lebhafte
Aktion etwas mäßige. Das ist denn geschehen, und die Generalversammlung war
nunmehr einig, deu Freunden des nationalen Unternehmens dieses schöne Modell
endgiltig vorzuschlagen, ebenso wurde über deu herrlich gelegnen Platz, die Wahl
des Sockels, die Ausführung in Bronze n. a. eine Einigung erzielt und so el»
großer Schritt vorwärts gethan.
In die weitere Sorge um Beschaffung der Mittel zu dem Denkmal griff nun
wirksam ein neues Komitee ein, das sich dem Krenznacher an die Seite stellte.
In Berlin selbst, in unsern parlamentarischen Körperschaften, traten Mitglieder des
Komitees, Abgeordnete unsrer heimischen Kreise, Geheimrat Dr. Gneist, 1>r. von
Cuny, Landrat Knebel und ihre Freunde, Männer ans allen Parteien, zu einem
neuen Komitee zusammen, das sich, gestützt auf die Reichshauptstadt, zum Ziele
gesetzt hat, die Mittel zusammenzubringen, die neunzig- bis hunderttausend Mark,
die das Denkmal erfordern wird. Die Vorbereitungen sind getroffen, um eine
kräftige Aktion auch durch die Presse zu beginnen. Unser ehrwürdiger Kaiser,
durch eine Art Zufall von der Absicht des Vereins in Kenntnis gesetzt, hat sich
Bericht erstatten lassen und zur Belebung der Idee ein namhaftes Geschenk dem
Vorsitzenden Herrn Landrat Agrikola zugehen lassen. Eine Sammlung für die Ange¬
legenheit hat bisher uur in Kreuznach und dessen nächster Umgebung stattgefunden,
und der Betrag (5000 Mark) zeigt wenigstens, daß wir die Hoffnungen auf Ge¬
lingen des Ganzen, wie sie das Komitee hegt, gerechtfertigt finden. Ueber die
weitern Schritte ist die Verabredung getroffen, daß das Kreuzuacher Komitee haupt¬
sächlich in der Rheinprovinz und in Süddeutschland für die Sache wirken will,
während das Berliner große Komitee in weiter» Kreisen den, Unternehmen die
Shmpathie zuwenden soll. Der Entwurf selbst wird inzwischen in den illustrirten
Blättern mehrfach abgebildet zu scheu sein.
Diese Schrift giebt eine genaue Darstellung von Sickingens Fehde gegen Trier
und »amentlich zum erstenmale eine befriedigende Schilderung der den Sickingcnschen
Streitigkeiten zu Grunde liegenden Rechtsverhältnisse. Bremer knüpft an ein Gut¬
achten des Metzer Rechtsgelehrten Claudius Cautiuueula (Chcmsouet) an, welches
wahrscheinlich aus den Jahren 1524 bis 152L stammt und augenscheinlich im
Interesse des jüngsten von Sickingens Söhnen niedergeschrieben ist. Nach Franz von
Sickingens Tod? teilten die Gegner seine Besitzungen, Sickingens Kinder hatten
„weder Heller noch Pfennig," denn auch die beiden ältern Söhne wurden von den
drei fürstlichen Gegnern wegen Teilnahme um der Fehde als „des heiligen Reiches
Friedbrecher" angesehen. Cautiuneula Prüft nun die Rechtsansprüche der Kinder
Sickingens, welche von der Entscheidung der Vorfrage, ob Sickingen rechtsgültig in
die Reichsacht gekommen war, abhängig waren. Er kommt — in seinem übrigens
nicht vollendeten Gutachten, welches Bremer im Anhang veröffentlicht — zu dem
Ergebnis, daß Sickingen in die Reichsacht vom Nürnberger Reichsregimcnt erklärt
war, ohne daß er vorgeladen oder gehört worden war, er war nicht durch irgend¬
einen richterlichen Spruch wegen eines Verbrechens verurteilt worden und namentlich
nicht wegen eines solchen, welches zum Nachteil der Kinder die Vermögenseinziehung
begründete. Sickingens Charakterbild, wie es bei Ulmann vorliegt, wird durch
Bremers Schrift in wesentlichen Stücken zum Bessern gewendet.
Wir glauben nicht, daß man mit der Auswahl der hier übersetzten Stücke den
Geschmack des deutschen Publikums getroffen haben wird. Es sind Sittenbilder
aus dein russischen Leben der letzten drei Generationen, in denen sich allerdings
die große Begabung des berühmten Romandichters keinen Augenblick verleugnet;
die Bilder siud von merkwürdiger Anschaulichkeit und überzeugender Lebenswahrheit.
Aber die Sitten sind denn doch zu russisch roh, als daß sie uns mich nur durch die
satirische Beleuchtung erträglich gemacht werden könnten. In der ersten Erzählung
„Zwei Husaren" werden in Vater und Sohn, in ihren Charakteren und Hand¬
lungen die Typen zweier Generationen gegenübergestellt. Der Vater, ein Zeit¬
genosse Puschkins, also der zwanziger Jahre, ist ein gefürchteter Raufbold, ein Mann
von Übersprudeluder Lebenskraft, von urwüchsiger Grazie und Schönheit, ein
glänzender Tänzer des Salons, grenzenlos leichtsinnig, aber ebenso großmütig, hat
etwas von einem Bhronschen Helden, erobert die Frauen im Sturm, die ihn wie
die Mücken die Flamme umflattern, indem sie gern sich in die Gefahr stürzen!;
natürlich fällt er in einem seiner zahlreichen Duelle. Der Sohn, ein Zeitgenosse
der vierziger Jahre, ist weit weniger Launenhaft, weit weniger leichtsinnig, ist be¬
rechnend, aber auch nngroßmütig, will im Kartenspiel Geld gewinnen, hat in jungen
Jahren schon Karriere gemacht, ist aber auch weit weniger hinreißend und versteht
es nicht mehr, die Weiber zu erobern. Des Dichters Sympathie gilt der ältern
Generation, weil sie unverfälscht russisch war und keinen Verkehr mit dem Westen
hatte. Die „Erzählung des Markörs" giebt ein Sittenbild ans dem modernen
Petersburger Leben, zeigt, wie ein junger Landedelmann, im großstädtischen Klub-
lebcn verführt, zum Spieler wird und sein Vermögen durchdringt. Auch hier ist
die Form virtuos, der Inhalt unsympathisch. Die „Kriegsbilder" endlich geben
Schilderungen der Zustände Sebastvpols zur Zeit seiner Beschießung durch die
Franzosen 1854, Schilderungen Von erschütternder Kraft, von einer merkwürdigen
Lebendigkeit, und hier bricht endlich auch die Poesie Tolstois durch, die sich im
Elend der Menschheit als eine mitleidsvolle und gottesfttrchtige Muse offenbart.
Aber zur Erheiterung dienen diese Kriegsbilder gerade auch uicht.
nßla
nd gehört zu denjenigen Staaten, welche wie Osterreich und
Italien von der Last älterer Verpflichtungen erdrückt werden.
Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts, d. h. von dem Zeitpunkte
an, wo überhaupt eine geordnete Verwaltung im staatlichen
Finanzwesen auftritt, befindet es sich auf der abschüssigen Bahn
des chronischen Defizits und ist, um den Anforderungen der Amortisation und
Verzinsung seines Schuldbestandes zu genügen, häufig genötigt gewesen, die
Hilfe des Auslandes in Anspruch zu nehmen. Da eine Kontrole über die
Verwendung der Staatsgelder durch eine Volksvertretung niemals bestand, der
erste amtliche Fincmzansweis über den Staatshaushalt aber erst im Jahre
1862 erschien, so schwebt über der älteren Finanzgeschichte ein gewisses mystisches
Dunkel. Einzelne Epochen in der wirtschaftlichen Entwicklung lassen sich in¬
dessen immerhin herausheben. Die bedeutsamsten Ereignisse, welche dieselben
abgrenzen, sind die Reform von 1839, welche die Silberwähruug periodisch
wiederherstellte, der Krimkrieg, die Aufhebung der Leibeigenschaft mit den sich
daran schließenden wirtschaftlichen Umgestaltungen und der letzte russisch-türkische
Feldzug. Der Krimkrieg wird allgemein als die eigentliche Ursache der finanziellen
Zerrüttung angesehen. Er forderte ungeheure Geldopfer und führte zur mili¬
tärischen Niederlage. Dennoch war die Rückwirkung desselben durchaus ver¬
schieden von den Nachwehen, welche die Kriege von 1859, 1866 und 1870/71
für die unterliegenden Staaten zur Folge hatten. Der Krimkrieg führte zu
keinem Gebietsverlust, das Kriegstheater beschränkte sich auf einen geringen
Raum, eine fremde Okkupation oder Verheerung einzelner Provinzen fand nicht
statt, auch hatte der Abschluß des Friedens keine Kontributionen und Steuer-
erhöhungen im Gefolge. Der mittelbare wirtschaftliche Nachteil bestand also
eigentlich nur in einer von den innern Landesteilen kaum empfundenen Handels¬
sperre, der Entziehung von Arbeitskräften und — der Vermehrung des Papier¬
geldes. Insofern aber der Krimkrieg die Haltlosigkeit vieler veralteten Zustände
dargelegt und die Notwendigkeit unifassender Reformen bewiesen hatte, wurde
er zum Wendepunkte in der Finanzleitung des Reiches. Verhängnisvoll fiir
die nun beginnende Epoche finanztechnischcr Versuche war aber das von Kaiser
Alexander II. unternommene bürgerliche Reformwerk. Das bekannte Diktum:
1^ RriWis hö reousillo wurde von dem friedliebenden Zaren zwar ernst ge¬
nommen, aber die innern Umwälzungen und der Mangel eines geschulten, zu¬
verlässigen Beamtentums wirkten störend ein auf die Finanzoperationen der Re¬
gierung. Erst Anfang der siebziger Jahre trat eine relative Besserung im Staats¬
haushalt ein. Der Ausschwung des wirtschaftlichen und Verkehrslebens, den
der Eisenbahnbau veranlaßt hatte, hätte zur Sanirung der Finanzlage führen
können, wenn nicht 1877 der russisch-türkische Krieg die Schuldenlast des Landes
wieder außerordentlich vermehrt und die Regierung unter der Einwirkung einer
akuten Geldklemme auf die Bahn der Auskunftsmittel gedrängt hätte, welche
ihrerseits dem Staatsschatz neue drückende Verpflichtungen aufbürdeten. Aus
Anlaß dieser letzten militärischen Aktion hat Rußland, und zwar teils zum
Zwecke der Mobilmachung, teils als Folge der Kriegskosten, in den Jahren
1876 bis 1881 nachstehende Anleihen kontmhirt:
Die großen Lasten, welche die Kriegführung der Staatskasse aufwälzte,
und die Vermehrung des Papiergeldes hatten naturgemäß eine starke Depression
der Valuta zur Folge. Nachdem der Papierrubcl (nach den Notirungen der
Berliner Börse) im Jahre 1876 zeitweise noch einen Wert von 83 Prozent
der metallischen Währung gehabt hatte, sank er infolge des Krieges im März
1878 bis auf 68,75 und hat sich auch in den letzten Friedensjahren nicht
über den Dnrchschnittskurs von 62—64 Prozent zu erheben vermocht. In den
letzten Jahren ist indessen unter der Mitwirkung ausländischen Kapitals eine
Art von Stillstand in der rückläufigen Bewegung des Wechselkurses erzielt
worden, und neuerdings erfreut sich Rußland eines ungewöhnlichen Kredits,
der den Kurs seiner Staatspapiere in die Höhe getrieben und selbst den Ge¬
danken an eine Zinsrednktion derselben wachgerufen hat. Trotz dieser günstigen
Konstellation hält aber die Entwertung des Papierrubels an. Diese Erscheinung
bietet den Anhaltspunkt für die nachstehende Untersuchung, in welcher zunächst
die Gründe der Valntcudepression, sodann deren Einwirkung auf den Kredit
und Handel Rußlands und schließlich die Mittel zur Erreichung des Parikurses
erörtert werden sollen.
Die Jahre 1824 — 28 waren die einzigen, in denen eine Verminderung
der Staatsschuld von etwa 10 Mill. Rubel eintrat; von 1829 an, wo der
Bestand auf 373,6 Mill. Silberrubel angegeben wurde, wuchs die Schuldenlast
in raschem Fortschritte und hatte nach zehn Jahren bereits die Höhe von 530,8 Mill.
Silberrubeln erreicht. Mit dem Jahre 1839 begann eine neue Epoche im
russischen Finanzwesen, indem der Silberrubel wieder als einzige Münzeinheit
anerkannt und das Agio auf Papier verboten wurde. Bis dahin hatte die
Regierung, um die Nachfrage nach Papiergeld zu unterstützen, den Assignaten,
welche im Betrage von ungefähr 170 Mill. den Tcmschverkchr vermittelten, bei
Zahlungen an die Kronkassen besondre Vorzüge vor der klingenden Münze zu¬
gestanden. Nach dem inzwischen dnrch den Grafen Kankrin aufgestellten neuen
Geldsysteme wurde aber der Silberrubel zum einzigen gesetzlichen Zahlungsmittel
erhoben, den Assignaten dagegen die Rolle eines reinen Geldsurrvgats zugewiesen.
Um um dein Bedürfnis nach papiernen Wertzeichen in umfassenderer
Weise entsprechen zu können, errichtete man gleichzeitig die sogenannte „Depo¬
sitenkasse," welche gegen Münze und Barren Depvsitenbillets ausgab, die jeder¬
zeit wieder gegen klingende Münze ausgetauscht werden konnten. Es waren
dies reine Bankschcine, da jedes Billet, Rubel für Rubel, fuudirt war. Dadurch
hörte das Agio thatsächlich auf, und dieser Zustand würde sich erhalten haben,
wenn sich die Regierung, gedrängt durch ein augenblickliches Geldbedürfnis, nicht
bereits nach drei Jahren zur Ausgabe eines nnfuudirteu Papiergeldes veranlaßt
gesehen hätte. Es sind dies die „Kreditbillets," welche seitdem eine so große
und verderbliche Rolle im russischen Finanzwesen gespielt haben. Der Keim
zu einer abnormen Entwicklung lag von vornherein in der Doppelnatur des
neuen Papiergeldes. Während die eigentliche Banknote ein unverzinstes Papier
ohne Zwangskurs, die Assignate ein unverzinstes einlösbares Papier mit Zwangs¬
kurs darstellt, erscheint das Kreditbillet gleich anfangs als Gemisch beider Arten.
Von jener hat es die Fnndirung auf den Kredit von Privatinstituten — denn
das siud doch dem Wesen nach die Neichslrcditbanken —, von dieser die gesetz¬
liche Geltung. Durch die gleichzeitige Eigenschaft der Einlösbarkeit und des
Zwangskurses mußte daher das neue Geldsurrogat ans der ursprünglich beab¬
sichtigten Form eines „uneigentlichen" Papiergeldes notwendigerweise mit dem
Tage in die Kategorie des „eigentlichen" Papiergeldes übertreten, wo das
Papiergeldbcdürfnis des Verkehrs überschritten war und die Einlösbarkeit auf¬
hörte. Dieser Zeitpunkt trat erst vierzehn Jahre später (1856) ein. Die Thätig¬
keit des Finanzministeriums wurde für die nächste Zeit fast ausschließlich durch
die Umgestaltung des Papicrgeldsystems in Anspruch genommen, da man die
alten Assignaten allmählich ganz aus dem Verkehre drängen und durch Kredit¬
billets ersetzen wollte. Bei dem Maugel eines genügenden Baarfonds für ein
„einlösbares" Papiergeld, das sofort im Betrage von 170 Mill. ausgegeben
werden mußte, und bei dem gleichzeitigen Maugel aller Erfahrung darüber,
welcher Metallwert wohl zur Aufrechterhaltung der Einlösbarkeit ausreichen
dürfte, war es offenbar unmöglich, diese Operation in kurzer Zeit auszuführen.
Der völlige Umtausch der Assignaten, welche, im Nominalwerte von 695 Mill.
Rubeln, nach dem für sie festgesetzten Kurse etwa 170 Mill. Rubel Silber betrugen,
hat denn auch sieben Jahre in Anspruch genommen: vom 1. Juli 1841 an, wo
der kaiserliche Erlaß die Einführung des neuen Papiergeldes anordnete, bis zum
1. Januar 1848 als letztem Termin. Zu dieser Zeit entsprachen die „Reichs-
kreditbillcte" genau den anfangs an sie gestellten Anforderungen: sie lauteten
auf Silberrubel, waren einlösbar und besaßen einen so vollständigen Zwangs¬
kurs zum Nominalwerte, daß nicht nur jedes Agio und Disagio verboten,
sondern auch — da jede Zahlungsverpflichtung im Inlande nur auf Silber-
rubel lautete, aber daneben doch mit Krcditbilleten berichtigt werden dürfte —
eine Unterscheidung der letztern von der Münze in xiAxi völlig ausgeschlossen war.
Das neue Papiergeld war mit dem gesamten Staatseigentum garantirt
und seine Einlösbarkeit durch einen Baarfonds im Betrage eines Sechstens
der emittirten Summe sichergestellt. Dieses Deckuugsverhältnis war empirisch
als ausreichend befunden worden. Der Umtausch gegen Münze konnte bei der
Umwechslungskasse in Se. Petersburg ohne Beschränkung der Summe, in
Moskau bei der dortigen Filiale bis zum Betrage vou 3000 Rubeln und in
allen Kreisrenteicn bis zur Höhe von 100 Rubeln für jeden, der es verlangte,
vollzogen werden.
Ein verhängnisvoller Fehler lag indessen in der Zwitterhaftigkeit des
Papiergeldes selbst und in dem innern Widerspruch zwischen den parallel lau¬
fenden Bestimmungen des Zwangskurses und der Einlösbarkeit. Indem die
Kreditbillete nämlich als Münze angenommen werden mußten, mithin als gesetz¬
liches Zahlmittel fungirten, wurden sie, da jede auf Geld lautende Verbind¬
lichkeit mit ihrer Hilfe gelöst werden konnte, Objekt der Verträge, erschienen
also zugleich als Wertträger und als Wertmaß. Anderseits lauteten sie
aber — und dies entspricht dem Charakter der Einlösbarkeit — ans einen
bestimmten Betrag Münze. In dieser Verweisung auf einen außerhalb liegenden
Wert lehnten sie iMplie-no jeden eignen selbständigen Wert wie auch die Funktion
als Wertmaß von sich ab. So lange nun die Eiulösbarkeit aufrecht erhalten
wurde, mußte das derselben widersprechende staatliche Gebot des Zwangskurses
bedeutungslos bleiben; das Papiergeld konnte daher nicht als Wertmaß fun-
giren, das heißt nicht als wirkliches Geld erscheinen. Mit dem Augenblicke
aber, wo die Einlösbarkeit aufhörte und der Zwangsknrs in seine Rechte
trat, sank auch der Wert, und die Eigenschaft als Wertträger verlor sich von
selbst. Die Sicherheit der Einlösung war min überhaupt von vornherein
gefährdet. Die Sechstel-Deckung, welche in den vierziger Jahren allenfalls
genügt haben mochte, konnte immer nur für gewöhnliche Zeitläufte ausreichen
und mußte sich jedesmal im entscheidenden Augenblicke als ungenügend erweisen.
Auch war vorauszusehen, daß bei der ersten Gelegenheit, wo ein plötzliches
Bedürfnis nach Geld eintreten würde, die Regierung der Versuchung zur weitern
Fabrikation dieses fiktiven Geldes nicht widerstehen werde. Schon in den Jahren
1849 und 1853 fand auf Grund kaiserlicher Erlasse eine jeweilige Vermehrung
der Kreditbillete um 20 bez. 40 Mill. statt. Der somit auf etwa 240 Will.
Rubel Silber gestiegene Betrag erhielt sich in dieser Höhe bis zum Jahre 1855
und entsprach damals dem Bedürfnis wie dem vorhandnen Umwechslungs-
fonds noch in ziemlich gesunder Weise.
Gleichzeitig aber war in dem Jahrzehnt von 1838 bis 1848 die eigentliche
Staatsschuld um mehr als 190 Millionen gewachsen, und dieses Wachstum nahm
in den letzten vier Friedensjahren noch größere Ausdehnung an. Dem Namen nach
lautete der Schuldbetrag zu Ende 1852 auf 888 Millionen Silberrubel; doch
fehlte dabei noch das Kapital, welches bei den Kreditbanken aufgenommen war
und etwa 15 Millionen betrug, sodaß die Gesamtsumme — Terininschuld, un¬
kündbare, verzinsliche und unverzinsliche — nicht weniger als 903 Millionen
ausmachte.
Mit solchen Finanzverhältnissen trat Rußland an den Krimkrieg heran.
Während seiner Vorbereitung und Einleitung stieg in dem einzigen Finanzjahre
1853 bis 1854 die Gesmntschnld um weitere 130 Millionen. Am 1. Januar
1854 ward die Summe der umlaufenden Kreditbillets ans 333 Millionen
angegeben, und wenige Wochen darauf erfolgte das Ausfuhrverbot für russische
Goldmünzen. Diese veraltete und von der Staatsökonomie längst als unzweck¬
mäßig verworfene Maßregel vermochte natürlich das Übel nicht zu heben, sondern
trug mir dazu bei, die Beurteilung der eigentlichen Sachlage zu trüben. Derartige
negative Auskunftsmittel (wie Ausfuhr- und Agioverbote), die auf keiner ver¬
nünftigen Grundlage ruhen, Pflegen gewöhnlich das Metall mir aus dem
Verkehr in geheime Berstecke zu treiben oder führen zur heimlichen Übertretung
der Gesetze, welche sich der Kontrole entzieht und also niemals zu einem klaren
Begriff von dem wirklichen Stand des metallischen Nivellements gelangen läßt.
Mit dem Beginne des Jahres 1855 hörte nun die Möglichkeit auf, die um¬
laufende Masse der aufnotirten Wertzeichen auch nur ungefähr zu überblicken,
denn der Ukas vom 10. Januar ermächtigte den Finanzminister, „alle außer¬
ordentlichen Kriegskosten" durch zeitweilige Emissionen von Kreditbillcts zu
decken. Vou diesem Augenblicke an fand also die Papierausgabe grundsätzlich
ihre alleinige Begrenzung in dein befriedigten Bedürfnisse des Staates; die einzige
Verpflichtung, welche dieser übernahm, war das Versprechen, das jetzt ausgegebene
Papier „drei Jahre nach Abschluß des Friedens, und womöglich noch früher"
allmählich wieder einziehen zu wollen.
Der Abschluß einer Anleihe war erst möglich, als die Aussichten auf Frieden
an Wahrscheinlichkeit gewonnen hatten. Bis dahin hatte man sich ausschließlich
mit der Vermehrung der Billets geholfen, deren Gesamtsumme am 1. Januar 1856
etwa 509 Mill. betrug. Bisher hatte der Kurs keine nennenswerten Schwan¬
kungen erlitten; in manchen Landesteilen war sogar Papier gesucht, allein
wenigstens der gesetzlich bestimmte sechste Teil mußte in klingender Münze de-
ponirt sein, wenn bei dem immer mehr ersichtlichen Verschwinden der Münze zu
allen Kriegsnöten nicht noch die Entwertung des Papiergeldes hinzutreten sollte.
Nachdem auf den ausländischen Märkten die lockendsten Versuche fruchtlos ge¬
blieben waren, gelang es der Regierung endlich, mit dem Hause Stieglitz eine
Anleihe von 50 Millionen abzuschließen. Allein anch das mit dieser Finanz¬
operation teuer erkaufte Geld floß uur zum geringen Teil in den Um-
wcchslungsfonds und wurde von den dringenderen laufende» Ansprüchen auf¬
gesogen.
In dem Maße wie die Flut der papiernen Wertzeichen stieg und der
Metallslock des Landes abnahm, näherte sich der Zeitpunkt, wo die Einlösbarkeit
der Billets illusorisch und die Haltung des Parikurses unmöglich sein mußte.
An der Berliner Börse werden die Rubelkurse erst seit 1875 amtlich verzeichnet.
(Für den Wechselkurs vor dieser Zeit muß die Londoner Notiz zu Rate gezogen
werden. Dieselbe drückt den Wert des Rudels in Pence aus. Vor dem Krim¬
kriege war der Kurs 38 bis 39; 1854 fiel er auf 33,5, erhob sich 1855 auf
36,5, stand 1856 zeitweise wieder auf 39, schwankte in den nächsten Jahren
bis 1864 zwischen 38 und 34 und erreichte seinen tiefsten Stand während der
beiden Kriegsjahre 1866 und 1870 mit 26 und 28,50. Auch nachher, bis
1875, hielt sich der Kurs auf dem niedrigen Stande zwischen 31 und 34 Pence.)
Das Mißverhältnis zwischen dem Papier- und Metallvorrat wurde noch
gesteigert durch die infolge des Krieges eingetretene Entwertung des Grund¬
besitzes. Die Kreditschnld des Staates ist nämlich auf die bei den Banken ver¬
pfändeten Immobilien gegründet, und zwar vorzugsweise auf den Privatgrnnd-
besitz. Davon bildet wiederum den größten Teil das adliche Grundeigentum,
dessen Gesamtwert man unmittelbar vor dem Kriege auf etwas über 1300 Mil¬
lionen Silberrubel schätzte und das etwa zur Hälfte bei den Reichskreditanstalten
verpfändet war. Einschließlich der übrigen Pfandobjekte im Werte von ungefähr
50 Millionen hatte diese hypothekarische Sicherheit bisher eine materielle
Fundirnng der Kreditbillets mit etwa 700 Millionen ergeben. Nachdem nnn
der Krieg mehr als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung und mehr als zehn
Prozent der lebenskräftigsten Altersklassen zu deu Waffen gerufen hatte, nachdem
der Grundbesitz verödet, der Bestand der Leibeigenen dezimirt und die Boden¬
kultur verwahrlost war, konnte von einem entsprechenden Werte der Fundirnng
nicht mehr die Rede sein. Unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte freilich die
Rückkehr des Friedens den Wert dieses Substrats wieder heben können,
allein die gleichzeitig begonnenen Reformen und namentlich die bevorstehende
Baucrncmanzipntion brachten — wenigstens für die nächsten Jahre — die ent¬
gegengesetzte Wirkung hervor. Die gesamte Pfcmdmassc, obgleich mit 700 Mil¬
lionen eingetragen, hatte doch in der Geschäftswelt jetzt nur den positiven Wert
von höchstens 350 Millionen. Die Banken verfuhren natürlich nnter dein
Eindruck dieser Entwertung, forderten große Hypothekenobjekte für vergleichsweise
geringe Darlehen und hemmten so auch ihrerseits deu Wicderanfschwuug der
Agrarproduktion. Als um mit Beginn des Jahres 1858 die Umlaufsmasse
der Kreditbillets in der Höhe von 735 297 000 Silberrubeln schließlich ihren
damaligen Gipfelpunkt erreicht hatte, die Gesamtschuld des Landes auf 1520
Millionen gestiegen war und die Negierung endlich energische Maßregeln zur
Beseitigung des finanziellen Notstandes, namentlich zur Verringerung der Papier¬
geldmasse ergriff, hatte die Entwertung der letzter» sich bereits deutlich heraus¬
gestellt und das Mißtrauen gegen das Reichspapiergeld sich so tief eingefressen,
daß ans Silber 20 bis 25 Prozent und selbst auf Kupfer 2 bis 4 Prozent
Aufgeld gezahlt wurde. Nur das erschöpfte und bankerottgewöhnte Österreich
hat ähnliche Schwankungen der Valuta aufzuweisen. In Rußland war die
dadurch veranlaßte Unsicherheit, ganz abgesehen von der unmittelbaren Wert-
cinbnßc, die sich auf etwa 130 Millionen berechnen ließ, noch umso empfind¬
licher, als sie in die Zeit der Reformen und eines teilweise ungesunden Unter¬
nehmungsgeistes fiel, also in eine Zeit, die mehr als je des baaren Geldes
bedürfte, und nnn die Landesmünze in Masse dem Auslande zuströmen sah.
Von diesem Augenblicke an wurde die Metallnot zum Krebsschaden, welcher
lauge jedem Versuche einer Konsolidirung der Geldverhültnisse im Wege stand.
Das Verschwinden des russischen Metallgeldes hat man ans verschiedne
Ursachen zurückzuführen versucht, vorzugsweise auf die Rückwirkung einer un¬
günstigen Handelsbilanz, auf die Zinszahlung des Staates an auswärtige
Rentenbesitzer und teilweise sogar auf den Neiseaufwand reicher Russen.
Was zunächst die Handelsbilanz anlangt, so hat die Ausfuhr, unes ihrem
für deu internationalen Verkehr maßgebenden Metallgeldprcis berechnet, in deu
zehn Jahren seit dem Ende des Krimkrieges wenig zugenommen, nämlich durch¬
schnittlich vier Prozent. Allein sie hat doch überhaupt zugenommen; die
Handelsbilanz stellte sich also für Rußland günstig. Es müßte demnach selbst
nach Ansicht derer, welche eine stete Deckung der Bilanz durch Münze an¬
nehmen, in diesem Zeitraume ein erheblicher Betrag an Edelmetall dem Lande
zugeführt worden sein. Allein der Wechselkurs ist keineswegs dem Einflüsse
der Handelsbilanz ausschließlich unterworfen, sondern hängt vielmehr gleichzeitig
von einer Reihe andrer Ursachen, wie z. B. von Anleihen, internationalen
Zahlungen und derartigen nichtmerkantilen Operationen wesentlich ab. Außerdem
hält die Entwertung des Papiergeldes keineswegs gleichen Schritt mit dessen
Abnahme an Kaufkraft, sondern eilt der letztern meistens voraus. Daher konnten
russische Produkte nicht so rasch in ihrem in Papierrubelu bezahlten Preise
steigen, als die Billete im Kurs entwertet wurden. Diese Artikel erschienen
vielmehr, in Münze berechnet, als im Preise gesunken, ein Umstand, der bei
manchen vom Auslande bezognen Waaren als Exportprämie wirken mußte.
Wenn aber auch das Ergebnis der Handelsbilanz nicht allein bestimmend
war für den Ab- und Zufluß des Goldes, so bleibt es anderseits doch un¬
bestreitbar, daß die Entwertung der Valuta in derselben teilweise ihren Grund
hatte. Noch sicherer ist, daß das einzig zuverlässige Mittel, den Kurs des Papier¬
rubels wieder zu heben, auf diesem Gebiete internationalen Güteraustausches
liegt und ein regelmäßiger Überschuß des Exports über den Import Rußland
den Metallvvrrat wieder zuführen kann, dessen es zur Einziehung des in, Über¬
maß ausgegebnen Papiergeldes bedarf.
Nicht minder haltlos erscheint die zweite Erklärung, welche den finanziellen
Notstand auf die jährlichen auswärtigen Rentenzahlungen zurückzuführen ver¬
sucht. Diese Zahlungen haben thatsächlich den russischen Staatshaushalt nicht
erschüttert. Denn die zahlreichen Anleihen, welche in den letzten zwei Jahrzehnten
abgeschlossen wurden, boten stets die Mittel zur Zinszahlung an auswärtige
Gläubiger. Die konsolidirte Schuld ist zwar gewachsen. Dies bewirkt aber
an sich nicht ein Sinken des Papierknrses. In Frankreich z. B. hat sich der¬
selbe auch bei den größten Ansprüchen an den öffentlichen Kredit erhalten.
Übrigens läßt es sich in der russischen Finanzgcschichte nachweise», daß der
Rubelkurs gerade dann am stärksten sank, wenn die Mittel zur Zinszahlung
in genügender Weise vorhanden waren. In den sechs Jahren z. B. von 1856
bis 1862 betrug die Rente der auswärtigen Staatsschuld, nach dem Durchschnitts¬
kurse vom 1. Januar 1859 berechnet, nebst einem Prozent zur Tilgung der
Terminschuld jährlich 14 943 182 Rubel, was für die betreffenden sechs Jahre
eine Gesamtausgabe von etwa 90 Mill. ergeben würde. In dem gleichen Zeit¬
raume aber bezog die Staatskasse auf dem Wege auswärtiger Anleihen die
Summe von 15 Mill. Pf. Sterl. oder ungefähr 100 Mill. Rubel. Es stellt
sich sonach, wenn wir die Rente dieser Anleihen und deren jährliche Tilgnugs-
quote zusammen auf 10 Mill. Rubel Silber anschlagen, eine vollständige Bilanz
zwischen den vom Auslande geliehenen Beträgen und den dorthin abgeführten
Rentenzahlungen heraus. Erweitern wir aber diese Berechnung nur um einige
Monate nach beiden Seiten hin, so würden noch die Anleihen vom 26. November
1836 und voni 14. April 1862, welche der Staatskasse etwa 121 Mill. zu¬
führten, unter die Rubrik der Metalleiufnhr fallen, und sich also nach Abzug
der Zinsen für jene vier Monate ein Mehrbetrag der Einfuhr um mindestens
115 MM, ergeben. Anders verhält es sich mit den Zahlungsverbindlichkeiten
russischer Aktien- und Jndustriegcsellschaften, mit den Zinszahlungen für Ge-
meindeanleihm u. s. w. Hier läßt uns aber die Statistik des Edelmetallvcrkehrs
im Stich, die in Nußland in Folge der gelegentlichen Ausfuhr- und Einfuhr¬
verbote noch ganz besonders unzureichend erscheinen muß. Es ist allerdings
nicht unwahrscheinlich, daß während der politischen Krisen der letzten dreißig
Jahre mancher ältere russische Papierbesitz des Auslandes realisirt worden ist.
zumal da das Sinken russischer Fonds nicht zum Festhalten ermunterte. Dagegen
steht anderseits zweifellos fest, daß die gerade in diese Zeit fallende Entwicklung
des Eisenbahnwesens ungeheure Kapitalien des Auslandes anzog. Jedenfalls
ist nicht anzunehmen, daß die Abrechnung der internationalen Zahlungsbilanz
für Nußland so ungünstig gewesen sei, daß sich hieraus ein Ausströmen des
Edelmetalls ableiten ließe.
Dasselbe gilt auch, wenigstens in der Form und mit dem Gewicht, wie
sie bei verschiednen Publizisten aufgetreten ist, von der Behauptung, daß durch
den Neiseaufwand reicher Nüssen alljährlich eine beträchtliche Summe der Laudes-
münze ihren Weg ins Ausland finde. stach einer wohl ums Zehnfache zu hoch
gegriffnen Schätzung sollen, wie u. a. Göschen in seiner I'Iiooi'is ok tho toi'oiAU
lZxoliÄUM angiebt, in jedem Jahre 200 000 Russen sich im Auslande befinden,
und da jeder durchschnittlich 1000 Rubel ausgebe, ein jährlicher Abfluß von
200 Mill. Rubel stattfinde». Angenommen, diese Zahlen seien richtig, so kann
doch nicht behauptet werden, daß die Russen erst seit dem Krimkriege, d. h. seit
dem Beginn des Kursrückganges, auf Reisen gingen, und zugegeben selbst, daß
die Zahl der Reisenden sich nach der Aufhebung des Paßzwanges und mit der
Entwicklung des Eisenbahnverkehrs beträchtlich vermehrt habe, so kommen doch
gerade diese Verkehrserleichterungen den unbemittelten Volksklassen zu Gute.
Es hätte also auch schon in früherer Zeit ein viel geringerer Betrag als der
oben angegebne hingereicht, um in wenig Jahren den gesamten russischen Baar-
fonds aufzusaugen, wenn ein derartiges Ausschleppen der Landesmünze über¬
haupt möglich wäre. Denn abgesehen von jenen ganz willkürlich gegriffnen
Zahlenverhältnissen, ist der dieser Aufstellung zu Grunde liegende Gedanke ein
durchaus falscher. Was die Russen im Auslande verzehren, ist nicht das Geld,
sondern das Kapital des Landes. Der Wechsel, den der Reisende auf Se. Peters¬
burg zieht, kann seine Deckung ebensowohl durch andre Werte als durch russische
Münze finden, und beeinflußt die gesamte Handelsbilanz nicht mehr als die
riesigen Champagnerankäufe, die alljährlich von dort aus in Frankreich erfolgen.
Was es aber mit der Handelsbilanz ans fich hat, haben wir bereits oben er¬
örtert. Sie ist gleichsam der Barometer des wirtschaftlichen Lebens, und der
günstige Wechselkurs ist nur eine von den Folgen, nicht aber Bedingung oder gar
Ursache einer guten Finanzlage. Der letztere findet seinen richtigsten Ausdruck
nur in dem Grade der einheimischen Produktion und der Verkehrsbeziehungen
zum Auslande. Auch ist die Handelsbilanz doch immer nur ein Teil „der stets
schwankenden Nermögensbilanz verschiedner Länder"; und wenn eine anhaltende
Zahlungsverpflichtung eines Staates gegen das gesamte Ausland besteht, so
handelt es sich zunächst darum, welche im Inlande erzeugten oder erworbnen
Werte jener Staat zuerst veräußern und abgeben will. In dieser Hinsicht
besteht zwischen Fonds, Geldsorten, Waaren und umlaufender Münze eine leicht
ersichtliche Stufenfolge, sowohl betreffs ihrer Bedeutung als Wertgegenstand
für die Nation, wie auch betreffs der diesen Werten innewohnenden Neigung,
auszuwandern oder im Lande zu verbleiben. Das umlaufende Metallgeld aber
ist nach dieser Abstufung das bedeutungs- und wertvollste Vermögensvbjekt
eines Landes. Ehe ein Staat also sich seiner Zirkulationsmittel entkleidet, wird
er zur Ausgleichung der Handelsbilanz weit eher zu einer Waaren- und Kapital-
veräußeruug schreiten und schließlich nur im äußersten Falle seine Geldsorten
angreifen. Freilich wird eine solche erzwungene Veräußerung ein Sinken des
Preises der Landesprodukte zur Folge haben; es könnte demnach scheinen,
als sei die Bezahlung mit Münze, ungeachtet ihrer Gebundenheit an das In¬
land, dennoch vorteilhafter wegen ihres unveränderlichen Wertverhältnisses zum
Auslande. Allein ein Abfluß des Metallgeldes würde ebenfalls ein Steigen
des Geldwertes und mithin eine Preiserniedriguug aller andern Vermögens-
objekte zur Folge haben. Jedes Streben also, mit Münze im Auslande Zahlung
zu leisten, um die Veräußerung anderweitiger Werte unter dem Preise zu ver¬
meiden, würde sich immer erfolglos erweisen, da gerade durch dieses Streben
der Preis aller übrigen Werte entsprechend sinken muß. Ein solcher Grad der
Verarmung aber, der bei gänzlichem Mangel sonstiger veräußerlichen Vermögens-
objekte den Staat zwänge, sich seines Mctallvorrats zu entledigen, ist bei der
Entwicklung des heutigen Kreditlebeus nicht denkbar. Vielmehr lehrt die Finanz-
gcschichte aller europäischen Staaten, daß für gewöhnlich die Handelsbilanz
durch Waaren- und Kapitalsübertragungen ausgeglichen wird, daß Geldsorten nur
bei plötzlich auftretenden Forderungen (Kontributionen, Getreideaukäufeu infolge
von Mißernten ^c.) angegriffen werden, während ein Abfluß umlaufenden baaren
Geldes in den allerseltensten Fällen und selbst dann nur vorübergehend eintritt.
In letzterer Hinsicht ist die Abwicklung der französischen Kontributionszahluug in
deu Jahren 1871^73 ein neuer charakteristischer Beweis, daß die Landesmünze
stets nach der Heimat zurückstrcbt und selbst nach massenhafter Auswanderung
binnen kurzem durch Waaren und auswärtige Rentenfordernngen eingetauscht wird.
Die drei verschiedenartigen Erklärungen, welche man für das Verschwinden
der russischen Münze zu finden geglaubt hat, entbehren also teils jedes sachlichen
Halts, teils beruhen sie auf einer mangelhaften Unterscheidung zwischen den
Begriffen Geld und Kapital. Die erwähnten Vorgänge können wohl zeitweilige
Schwankungen der Valuta hervorrufen, vermögen aber nicht eine so nachhaltige
Wirkung auszuüben.
Die Entwertung des russischen Papiers findet ihre genügende Erklärung
in der Krankhaftigkeit des dortigen Geldsystems. Sie ist auch nicht die Folge
der Auswanderung des Metallgeldes, sondern die Ursache desselben. In dieser
Hinsicht besteht ein bemerkenswerter, im Publikum oft nicht hinreichend be¬
achteter Unterschied zwischen Papiergeld und Banknote. Die Vermehrung des
Notenumlaufs ist die Wirkung der Preissteigerung und der dadurch vergrößerten
Nachfrage nach Umlaufsmittcln; die Vermehrung des Staatspapiergeldes aber
ist die Ursache dieses Vorganges. Die Notenausgabe führt daher auch das
Metallgeld zum größten Teile in die Baarbcstände der Banken und nur, soweit
es als Deckung nicht gebraucht wird, ins Ausland; das uncinlösbarc Papier¬
geld aber drängt die Münze direkt über die Grenze. Obwohl nun die Kredit¬
billets in ihrer leidigen Zwitterhaftigkeit auch den Charakter der Banknoten fest¬
hielten, traten doch mit der zunehmenden Erhöhung der Umlaufsziffer mehr und
mehr die Nachteile des „eigentlichen" Papiergeldes hervor. Aus dieser Doppel¬
natur, nicht aus der Vermehrung an sich, entsprang der finanzielle Notstand.
Denn in Frankreich hat im Jahre 1871 das Mißverhältnis zwischen Noten-
»utans und Metallvorrat ganz ähnliche Ausdehnungen angenommen, ohne den
Wert der Note zu beeinträchtigen.
Daß die Grenzlinie des Papicrgeldbednrfnisses im Laufe der Zeit übel>
schritten war, ist zweifellos, diese Linie aber genau festzustellen und einen
Maximalsatz für die Emission anzugeben, mochte in Nußland schwieriger sein als
in andern Ländern. Bei der ungeheuern Ausdehnung des Reiches und der
dnrch die migenügenden Verkehrsmittel bewirkten Langsamkeit der Umsätze konnte
die Summe der Umlaufszcichen eine ziemlich hohe Ziffer erreichen, ehe ein ge¬
sundes Maß überschritten war. Man hat früher angenommen, daß Rußland
unter normalen Verhältnissen etwa 300 Millionen Kreditbilletc ausgeben
könnte. Heutzutage bei den verbesserten Verkehrsverhältnissen des Reiches
könnte diese Ziffer bei sonst gesunder Finanzlage wesentlich höher sein. In
Frankreich z. B. zirkulirteu im Jahre 1859 — während der russische Finanz¬
ausweis den Papiergeldumlauf mit 644 Millionen angab — in gemünzten
Gelde und Banknoten 4600 Millionen Franks 1150 Millionen Rubel Silber,
d. h. bei einer Bevölkerung von 36 Millionen Einwohnern etwa 32 Rubel
auf den Kopf. Nach diesem Verhältnis hätte damals Rußland für seine 66
Millionen Einwohner etwa 2080 Millionen Rubel, also das Dreifache des
wirklichen Betrages, im Umlauf haben können, wenn die Entwicklung der
Verkehrsmittel und der Kultur überhaupt in beiden Ländern die gleiche wäre.
Es ist aber, selbst wenn man dem bestehenden Unterschiede und vor allem der
geringern Produktion Rußlands Rechnung trägt, noch keineswegs erwiesen, daß
das damals bestehende Verhältnis des umlaufenden Papiergeldes zur Bevölkerung
von etwa 10 Rubel für den Kopf die Entwertung der Valuta herbeigeführt
habe; ja es ist bekannt und gleichzeitig bezeichnend für die damaligen Kredit-
Verhältnisse Rußlands, daß im Jahre 1856, bald nach dem Friedensschlüsse, in
den Provinzen Papier gegen Silber, selbst mit einem Agio von einem Prozent,
gesucht war. Mag nun damals die Menge der Umlaufszeichen mit der Ziffer
von 300 Millionen oder selbst von 5—600 Millionen dem Verlchrsbedürfnis
entsprochen haben, so ist doch anderseits soviel gewiß, daß das zwischen Papier
und dem Mctallvorrat des Landes zu erhaltende Verhältnis längst überschritten
war und daß von dem Augenblick an, wo die Einlösbarkeit unmöglich wurde,
die Entwertung des Papiergeldes unvermeidlich eintreten mußte. Diese aber
ihrerseits hatte das Verschwinden der Münze zur Folge. Denn dnrch den
Zwangskurs der entwerteten Kreditbillcts koar es natürlich unmöglich, die Münze
ihrem bessern Werte nach zu verwenden, indem sie eben nur zum Nominalwert
des gesunkenen Papiers ausgegeben werden durfte. Dadurch wurde dieselbe
zunächst aus dem Umlauf verdrängt und vom Publikum, in Erwartung
günstigerer Konjunkturen in Geldsorten angesammelt, später aber, als diese
Konjunkturen uicht eintraten, in größern Beträgen gegen ausländische Fonds
umgetauscht. Es vollzog sich also im Verlauf der Jahre laugsam und allmählich
ein Prozeß, der auf dem uralten Erfahrungssätze wurzelt, daß das verfügbare
Kapital sich wohl zeitweise und namentlich in kleinen Bruchteilen der geschäft¬
lichen Aktion entziehen kann, aber doch schließlich bei ungestörtem internationalen
Verkehr immer wieder auf den Markt zurückstrebt, und zwar dorthin, wo es
seine günstigste Verwertung findet. So war denn in Rußland der Zwcmgsknrs
in Verbindung mit der Uneinlösbarkeit die eigentliche Veranlassung des Ver-
schwindens der Münze, und die Regierung hätte vor allem diese beiden Ursachen
oder wenigstens deren Zusammentreffen beseitigen müssen, wenn sie die Münze
wieder als thatsächlich kursirendes. Geld einbürgern wollte.
Ans die nachteiligen Folgen der Papiergeldwirtschaft überhaupt brauche ich
hier nicht einzugehen. Die Erscheinungen, welche in Rußland dabei zu Tage
traten, waren im großen und ganzen dieselben, welche die Finanzgcschichte
Österreichs, Italiens und Nordamerikas in den gleichen Lagen aufweist: Steigen
der Waarenpreise und des Arbeitslohnes, Stocken des Kredits und zeitweilige
Abnahme der Produktiv». Die nachteiligen Wirkungen aber gewannen hier noch
an Stärke, weil sie in die Zeit sozialer Reformen, d. h. in eine Übergangs¬
periode sielen, die fast auf allen Gebieten vorübergehende Verstimmung und
Stockung hervorrief.
So war namentlich nach der Bauernemanzipation der Mangel an um¬
laufenden Geld, den das Verschwinden der Münze und die Entwertung des
Papiergeldes zur Folge hatten, außerordentlich fühlbar. Durch die Freilassung
der Leibeignen waren mit einem Tage an drei Millionen selbständiger Wirt¬
schaften hergestellt. Jede dieser Haushaltungen brauchte durchschnittlich doch
mindestens fünfzig Rubel a» ständigen baaren Betriebskapital. Ebenso be-
durfte von nun an jeder Gutsbesitzer, dem bisher die nötige Feldarbeit ohne
Geldentschn'diguug geleistet worden war, einer Vermehrung seines Betriebsfonds
zur Auszahlung des Arbeitslohnes. Da nun ohne Geld kein Kapital flüssig ge¬
macht werden und mich keine Arbeitskraft in Thätigkeit gesetzt werden kann, so
mußte der Geldmangel eine Verkümmerung der wirtschaftlichen Entwicklung zur
Folge haben.
Der auf „Obrok" entlassene Arbeiter wurde sich naturgemäß der ver¬
mehrten Nachfrage nach seiner Thätigkeit bewußt und stellte höhere Bedingungen,
die Leibherren ihrerseits steigerten ihre Anforderungen, um die Übergangsperiode,
welche ihnen noch zur freien Verfügung über das Menschenkapital gelassen war,
nach Möglichkeit auszunutzen und gewissermaßen die bevorstehenden Vermögcns-
verluste zu eskomptiren. Es wuchsen also die Kosten der Produktion, und die
Verteuerung des Lebens des Konsumenten kam dem Produzenten nicht einmal
wesentlich zu Gute. Unter solchen Verhältnissen verminderte sich natürlich der
kaum begonnene Aufschwung des Außenhandels. Die durch den Steuerzuschlag
von fünf Prozent zu den Ein- und Ausfuhrwaaren gehemmte Spekulations¬
thätigkeit stürzte sich mit erneuter Heftigkeit auf allerlei Aktienunternehmungen,
von denen doch wiederum der größere Teil einen wirklichen Gewinn erst für
die Zeit in Aussicht stellen konnte, wo die mit den bisherigen Reformen an¬
gebahnten Lebensordnungen wirklich eingetreten sein würden. Der Bahnbau
bot der Unternehmungslust den weitesten Spielraum. Dennoch blieben viele
Linien lange Zeit unrentabel, weil es an dem notwendigen Ausbau der Ver¬
kehrswege fehlte. Rußland hat diejenige Stufe des Verkehrswesens, welche bei
uns durch den Chausseebau gekennzeichnet wird, übersprungen. Die Eisenbahnen
sind dort bis heute noch lediglich Verbindungslinien volkreicher Städte, aber
nicht imstande, den Verkehr des durchschnittenen Terrains in ausgiebiger Weise
an sich zu ziehen. (Schluß fvlgr.)
meer dem obigen Titel hat der Verein für Sozialpolitik begonnen,
eine Anzahl Gutachten und Berichte herauszugeben, welche das
soziale Leiden der Wohnungsnot in unsern Großstädten und die
Mittel zur Abhilfe dagegen darstellen und erörtern,^ Wir finden
in dem vorliegenden ersten Bande anschauliche Schilderungen der
Verhältnisse von Hamburg, Frankfurt a. M. und Straßburg. In einem aus-
führlichcrn Aufsatze werden ferner die Zustände in England, namentlich in
London, uns vorgeführt. Mehrere gutachtliche und statistisches Material gebende
Aufsätze schließen sich an. Eingeleitet ist das Buch durch einen Aufsatz des
Oberbürgermeisters Dr. Miqncl in Frankfurt, worin dieser Vorschläge für die
Abhilfe macht. Er verlangt ein Ncichsgesctz, welches einerseits die rechtlichen
Verhältnisse des Mietsvertrages anders regete, anderseits dein Wohnen in un¬
gesunden Wohnungen direkt entgegentrete. Die Vorschläge Miquels schließen
sich am nächsten einer Erörterung des Dr. Flesch über die Frankfurter Verhältnisse
an. Letzterer gründet die „Wohnungsnot," deren Vorhandensein er bejaht, teils
auf die ungesunde Beschaffenheit vieler Wohnungen, teils auf die zu geringe
Zahl und den zu hohen Preis der für die geringern Stände vorhandnen
Wohnungen. Ans Grund der Eindrücke, die wir aus diesen Darstellungen ge¬
wonnen und die ja auch durch manche aus andern Städten vorliegende Er¬
fahrungen sich ergänzen, wollen wir innerhalb des in diesen Blättern gebotenen
Raumes die Frage der Wohuuugsnot zu bespreche!! suchen.
Diese Frage gehört erst dem letzten Menschenalter an. Seit dem Jahre
1861 hat sich die Bevölkerung unsrer Großstädte fast durchweg verdoppelt,
mitunter mehr als verdoppelt. Die Nächstliegende Frage dürste nun die sein:
Sind denu im Verlauf der letzten Zeiten die für die geringern Stände zu Gebote
stehenden Wohnungen an sich schlechter geworden? Das ist sicherlich nicht der
Fall. Zur Aufnahme der sich vermehrenden Bevölkerung sind in den Großstädten
zahlreiche Neubauten entstanden. Ganze Stadtviertel sind aus der Erde gewachsen.
Die neuen Häuser haben freilich fast durchweg nur bessere Wohnungen gebracht
und sind daher in erster Linie nur den bessern Ständen zu Gute gekommen.
Dadurch siud aber die bessern Wohnungen in den ältern Stadtteilen frei geworden,
und in diese haben sich die geringern Stände hineingeschoben. Wer auf einen
längern Zeitraum zurückblickt, kann ganz deutlich erkennen, daß die Wohnungen,
welche früher von den besten Ständen eingenommen wurden, jetzt nur noch von
mittlern Ständen bewohnt werden; und so geht es fort bis unten hin. Denken
wir uns (natürlich ganz willkürlich) die Bewohner einer Stadt nach ihren sich
abstufenden Wohnungsvcrhältnissen in sechs Gruppen geteilt, die wir mit g.,
I), o, ä, v, l' bezeichnen wollen, so würde in unsern modern erweiterten Städten
die Sache sich etwa so stellen. Die Gruppen s,, o, v haben die Wohnungen in
den neuen Stadtteilen bezogen. Die Gruppe ä wohnt jetzt in den Wohnungen
der alten Stadtteile, welche früher die Gruppen s, und b inne hatten; die Gruppe o
in den frühern Wohnungen der Gruppen o und ä. Nur Gruppe 1 ist noch in
den alten schlechten Wohnungen sitzen geblieben, die früher von den Gruppen v
und 1 zusammen benutzt wurden. Unter diesen schlechtesten Wohnungen mögen
ja manche durch Baufälligkeit der Häuser :e. noch schlechter geworden sein. Es
sind aber auch manche der allerschlechtesten aus früherer Zeit seitdem von der
Erde verschwunden; ganz abgesehen davon, daß in manchen Städten durch Anlegung
von Bahnhöfen, neuen Straßen ?c. stark unter dieser Art von Wohnungen auf¬
geräumt ist. Im allgemeinen sind also unsre Wohnungen, auch die von geringern
Ständen inne gehabten, nicht schlechter, sondern besser geworden. Und wenn
uns bei Beschreibung der trostlosen Zustände vieler alten Häuser in unsern
Städten leicht ein Grauen erfaßt, so liegt der Grund vor allem darin, daß
wir überhaupt empfindlicher auf diesem Gebiete geworden sind und daß wir
unwillkürlich diese Zustände vergleichen mit dem übertriebenen Luxus, mit welchem
heutzutage die Häuser der Reichen vielfach eingerichtet find. Einen relativen
Trost für die schlechte Beschaffenheit vieler Häuser in unsern ältern Stadt¬
vierteln können wir anch darin finden, daß in den weit reichern Ländern
England und Frankreich die Zustände nicht besser sind. Die uns vorliegenden
Schilderungen aus London geben ein recht trauriges Bild, und die Beschreibung
der alten Häuser in Straßbnrg (die doch noch aus französischer Zeit herrühren)
lautet wahrhaft grauenhaft.
Sind nun auch für die ärmern Klassen viele bessere Wohnungen frei ge¬
worden, so kommen diese ihnen freilich doch nicht vollständig zu Gute. Der
Mietzins für solche Wohnungen ist nirgends geringer geworden. Und da
das Einkommen der ärmern Klassen nicht entsprechend gestiegen ist, so müssen
sie sich, um diese bessern Wohnungen zu benutzen, vielfach mit umso engern
Räumen behelfen. Dazu kommt, daß im Verhältnis zu dem enormen Zudrang
die Neubauten doch keinen genügenden Wohnraum für die zuziehenden geringer«
Leute geöffnet haben. Die nächste Folge davon ist, daß wegen des übermäßigen
Begehrs nach geringern Wohnungen diese überaus teuer werden. Und dies
hat dann die weitere Folge, daß diese Art Wohnungen meist überfüllt sind.
Wohnungen, die früher von einer Familie bewohnt wurden, werden jetzt für
mehrere Familien geteilt. Eine Arbeiterfamilie, die früher zwei oder drei
Zimmer inne hatte, muß sich jetzt mit einem oder zwei Zimmern begnügen. Und
endlich führt die Not vielfach das fiir Wohlbehagen, Sittlichkeit und Gesundheit
so verderbliche Verhältnis herbei, daß die Mieter einer Wohnung die von ihnen
selbst benutzten Räume, vielleicht das einzige Zimmer, das sie inne haben, noch
mit Fremden, die sie bei sich aufnehmen oder denen sie wenigstens für die
Nacht eine Schlafstelle vermieten, teilen. Neben dem allen kann es vorkommen,
daß bessere Wohnungen uoch immer leer stehen, was aber den armen Leuten
nichts hilft, da sie solche nicht bezahlen können.
In diesem Sinne läßt sich also in der That von einer in den Großstädten
herrschenden Wohnungsnot reden. Es ist unleugbar, daß dort in den ärmlichsten
Wohnungen eine große Summe Elends aufgespeichert liegt.
Fragen wir nun, woraus diese Zustände hervorgegangen sind, so ist die
Antwort sehr einfach. Sie sind die Folge der Freizügigkeit in Verbindung mit
dem beschränkten Maße von Wohlhabenheit, welches unserm Volke eigen ist.
Daß im allgemeinen das Maß der Wohlhabenheit eines Volkes auch in den
Wohnungsverhältnissen seinen Ausdruck findet, liegt in der Natur der Sache.
Wären wir noch einmal so reich, so könnten wir auch bessere Wohnungen haben.
Die Verhältnisse würden aber in den Großstädten doch nicht so schlimm ge¬
worden sein, wenn nicht die Freizügigkeit hinzugekommen wäre. Wir sind weit
entfernt, diese etwa bekämpfen zu wollen. Wir halten sie im Prinzip für not¬
wendig und auch für wohlthätig. Aber der aus ihr hervorgegangen« Zudrang
nach den großen Städten, der einerseits das Platte Land entvölkert, anderseits
den in der Stadt wohnenden das Leben immer schwerer macht, ist die schlimme
Kehrseite der Sache.
Prüfen wir nun, ob und welche Mittel denkbar seien, um den Leiden der
Wohnungsnot abzuhelfen. Wir werden bei dieser Prüfung vorzugsweise die
von I)r. Miauet gemachten Vorschläge ins Auge fassen.
Es wird zunächst vorgeschlagen, das Recht des Mietvertrages teilweise um¬
zugestalten. Höchst tadelnd spricht sich Miquel (und auch Dr. Flesch) darüber
aus, daß die Gerichte neuerdings dem Vermieter gestatten, wegen rückständigen
Mietzinses beim Abzug des Mieters selbst die unentbehrlichsten Mobilien des
letzter», welche der gerichtlichen Pfändung entzogen sind, zurückzuhalten. Dadurch
werde der arme Mann ganz nackt auf die Straße gesetzt, und in der Regel sei
die Armenverwaltung genötigt, jene Mobilien beim Vermieter für ihn aus¬
zulösen. Wir teilen vollkommen die Mißbilligung dieser gerichtlichen Praxis.
Es verhält sich mit dieser Lehre folgendermaßen. In einem Erkenntnis von
1871 hatte das Oberappellativnsgericht zu Berlin ausgesprochen, daß diejenigen
Mobilien, welche gesetzlich der Pfändung entzogen seien, wegen des hierin sich
aussprechenden öffentlichen Interesses auch nicht dein Nttckbehaltungsrecht des
Vermieters unterworfen werden könnten. Die höhere Weisheit des Reichs¬
gerichts — freilich nur eines Strafsenats desselben — hat aber diesen Grundsatz
mißbilligt, und daraus erklärt sich wohl jene neuere Gerichtspraxis.") Ein
Gesetz, welches in dieser Beziehung Abhilfe brächte, wäre gewiß wünschens¬
wert. Außerdem könnte man vielleicht eine Anordnung dahin treffen, daß durch
Mietverträge der Arbeiter nicht über eine gewisse Zeit hinaus gebunden werden
kann. Viel würde damit freilich nicht erreicht werden.
Andre Abänderungen in dem Rechte des Mietvertrages zu treffen, halten
wir für bedenklich. Es mag ja sein, daß öfters Vermieter ihre Verpflichtungen
gegen die Mieter gröblich hintansetzen. Aber die Sache ist schwer kontrolirbar.
Und welche über das bestehende Recht hinausgehenden Mittel der Abhilfe lassen
sich dafür denken? Namentlich können wir dem von Miquel angeregten Ge¬
danken, die Ausbedingung eines übermäßige» Mietzinses uach Analogie des
Geldwuchers zu behandeln, nicht beistimmen. Das Wuchergesetz von 1880 war
bei der große» Unbestimmtheit des von ihm aufgestellten WucherbcgriffeS von
vornherein nicht unbedenklich; und über seinen Wert ist wohl das letzte Wort
noch nicht gesprochen worden. Aber bei diesem Gesetze bilden doch noch Kapital
und Zins in ihrer mathematischen Bestimmtheit feste Anhaltspunkte der Ver-
gleichung von Leistung und Gegenleistung. Wer aber vermöchte den Wert
einer Wohnung mit allen ihren Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten der¬
gestalt sicher abzuschätzen, daß er einen dafür bedungenen Mietzins als „Wucher"
bezeichnen könnte? Wir halten das ohne die Gefahr höchster Willkür für un¬
möglich.
Noch weit tiefer greifend ist der von Miqncl angeregte Gedanke, daß man
direkt durch die Gesetzgebung dem Wohnen in ungesunden Wohnungen entgegen¬
treten könne. Seine in dieser Richtung gemachten Vorschlüge knüpfen sich an
diejenigen Einrichtungen und Maßnahmen, welche auf diesem Gebiete bereits in
praktischer Übung sind.
In den meisten größer,? Städten bestehen Bauordnungen, welche für die
Herstellung von Neubauten Vorschriften auch vom gesundheitspolizeilichen Stand-
Punkte geben. Bestehenden Haufen gegenüber hat dagegen die Polizei bisher
nur in gewissen äußersten Notfällen zu Eingriffen sich für berechtigt gehalten.
Sie ordnet also z. V. an, daß Hänser, die unmittelbar den Einsturz drohen,
von deu Bewohnern verlassen werde» müssen und niedergerissen werden. Sie
befiehlt die Beseitigung verpestender Einrichtungen, zumal bei drohenden Seuchen.
Nun wird die Frage angeregt, ob man nicht noch weiter gehen und überhaupt
die Verwendung gesundheitsschädlicher Gebäude zu Wohnungszwccken polizeilich
verbieten solle? Miquel hält ein solches Vcrbictnugsshstem, wenn durch ein
wohlgeordnetes Verfahre» seine richtige Anwendung gesichert werde, für durch¬
führbar, und zwar ohne Etttschädigung der Eigentümer. Aus scheint die Sache
doch sehr bedenklich. Was kann nicht alles für gesundheitsschädlich gelten!
Und wie vielfach wechseln die Ansichten darüber! Vielleicht hat die Einrichtung
eines Hauses, als es gebant wurde, niemand für gesundheitsschädlich gehalten.
Soll nun jetzt das Haus dem Eigentümer gleichsam unter deu Händen weg¬
genommen werden, weil eine „Snnitätskonnnissivn" die Gesnndheitsschädlichkeit
ausspricht? Wir habe» die Überzeiiguug, daß dieses ganze Verfahren, wen»
es wirklich angeordnet werden sollte, entweder tot bleiben oder den Vorwurf
der größten Willkür und Ungerechtigkeit sich zuziehen würde. Eher ließe sich
schon hören, was Miguel weiter vorschlägt, daß den Gemeinden ein Enteig-
nungsrecht zur Wegrnnmung ungesund gebauter Wohnhäuser zustehen solle.
Es fragt sich nur, ob die Gemeinde die Mittel hätte, um solche Euteigunngen
zu bezahlen. Am leichtesten würde el» solches Enteign»ngsrecht noch zu üben
sein, wenn in engen, ungesunden Straßen, so oft ein Haus wegen Baufälligkeit?c.
niedergerissen würde, die Gemeinde ein Stück des freigelegte» Baugrundes er¬
würbe, um so nach und nach Licht und Luft für die Straße zu gewinnen.
Eine andre schon jetzt vielfach geübte Vorsorge der Gesundheitspolizei be¬
steht darin, daß für Herbergen und Logirhänser Vorschriften gegeben sind,
welche das Maß bestimmen, innerhalb dessen die Räume, namentlich die Schlaf¬
räume, belegt werde» dürfen. Solche Vorschriften lassen sich vollkommen recht¬
fertigen und sind anch, da solche Hänser der ständigen polizeilichen Aufsicht
unterliegen, wohl zu handhaben. Nun glaubt Miguel, man könne noch weiter
gehen und ähnliche Vorschriften auch für alle Privatwohnungen geben, der¬
gestalt, daß jedem Insassen ein geringstes Maß von Luftraum gewährt werden
müsse, und wo hiergegen gefehlt werde, der Eigentümer oder der Vermieter
strafbar sei. Die Frage, wo die dadurch aus ihren bisherigen Wohnungen Ver¬
triebnen Personen unterkommen sollen, beantwortet Miguel dahin: sie müßten
andre vorhandne Wohnungen suchen oder es müßte durch Neubauten geholfen
werden. Zu diesen Neubauten soll sich dann die Privntbanthätigkeit genügend
angeregt fühlen. Eventuell follen die Gemeinden für das Bedürfnis eintreten.
Die Mieter würden dadurch nicht steigen. Eveutnell würden aber für die
höhern Mietpreise die arbeitenden Klassen in dem gestiegnen Tagelohne Ersatz
finden. „Eine dauernde Steigerung der Lebenshaltung, wenn sie allgemein ist,
muß schließlich auf den Tagelohn zurückwirken."
Wir halten — Dr. Miguel mag es uns nicht übelnehmen — diesen Ge¬
danken für undurchführbar. Der Eigentümer oder Vermieter eines Hanfes soll
also, bei Meidung eigner Bestrafung, dafür einstehen, daß in keinem Zimmer
mehr Menschen schlafen, als ein bestimmter Normalluftranm gestattet. Aber
wie kaun er darüber wachen? Er kann ja vielleicht jeden Mieter fragen, wie
viel Familienglieder er habe. Aber wie, wenn er belogen wird? Wie, wenn
der Mieter noch andre aufnimmt? Kann der Hausherr, der vielleicht zehn
Mietpartien in seinem Hause hat und dieses nicht einmal selbst bewohnt, stets
kvntrvliren, was für Menschen darin ein- und ausgehen? wie sie sich in die
Schlafräume teilen? Soll er eine Familie, für welche bisher der Luftraum
ausreichte, sofort aus dem Hause weisen, wenn die Frau niederkommt, vielleicht
sogar mit Zwillingen? Und wie soll die Polizei kontroliren, ob der Hausherr
seine Pflicht thut? solle» Polizeibeamte um Mitternacht bald hier bald da
in die Privatwohnungen eindringen, um zu sehen, ob sie nicht überfüllt sind?
Oder erwartet man, daß Denunzianten dieses Geschäft übernehmen, und daß
bald hier bald da eine Anzeige auftauche, es hätten in dem und dem Zimmer
zu viele Menschen geschlafen? Welches Maß von Gehässigkeiten würde sich
an solche polizeiliche Kontrole knüpfen! Wir halten aber anch den weitern
Gedanken, daß es keine Schwierigkeiten machen werde, die überschüssigen Be¬
wohner anderweit unterzubringen, für nicht richtig. Ware es so leicht, daß die
Bauthätigkeit neue Wohnungen zu den nämlichen Preisen, wie den bisher von
den Armen bezahlte,?, liefere, so wäre nicht abzusehen, warum das uicht schon
jetzt geschehen sei. Zu ihrem Vergnügen hockt die Armut gewiß nicht in ihren
elende» Wvhmmgen zusammen. Böte man ihr bessere Wohnungen zu dem
nämlichen Preise, so würde sie auch ohne polizeiliche Ausweisung gern dorthin
ziehen. Voraussichtlich würden aber die polizeilich Verwichenen die neuen
Wohnungen, wenn sie überhaupt solche fänden, mit höhern Preisen bezahlen
müssen. Und es fragt sich vor allem, ob sie das könnten? Die Annahme,
daß durch eine solche, vom Gesetz aufgenötigte höhere Lebenshaltung auch der
Arbeitslohn entsprechend steige, halten wir für irrig. Wäre dieser Satz richtig,
dann könnte man ja anch noch auf andern Gebieten eine höhere Lebenshaltung
anordnen. Man könnte z. V. vorschreiben, daß jede Familie mindestens dreimal
in der Woche Fleisch esse. Hätte eine solche Anordnung die entsprechende
Steigerung des Arbeitslohnes zur sichern Folge, so wäre damit die soziale
Frage in einfachster Weise gelöst.
Nur in einem beschränkten Umfange ließe es sich wohl rechtfertigen und
auch durchführen, die gcsundhcitsgemäße Beschaffenheit der Wohnung einer poli¬
zeilichen Kontrole zu unterwerfen, nämlich den neu Zuziehenden gegenüber. Von
diesen könnte man verlangen, daß sie die in Z 1 des Gesetzes vom 1. November
1K67 vorgeschriebene Bedingung ihrer Niederlassung, „daß sie nämlich eine eigne
Wohnung oder ein Unterkommen sich verschafft haben," durch Nachweis des Besitzes
einer, bestimmten gesundheitspolizeilichen Vorschriften entsprechenden Wohnung
oder eines derartigen Unterkommens erfüllen. Zu diesem Zwecke müßte freilich
von ihnen gefordert werdeu, daß sie ihren Zuzug polizeilich anmeldeten, und
ihre Wohnungen müßten anch innerhalb der ersten zwei Jahre ihres Aufenthalts
Polizeilich kontrolirt werden. Der Mangel einer gesundheitlich zureichenden
Wohnung müßte die unnachsichtliche Zurückvcrweisuug derselben in ihren frühern
Wohnort zur Folge haben. Heute kann jeder, der in eine Stadt zieht, wenn
er sich dort in der elendesten Spelunke eine Schlafstelle von drei Kubikmeter
Luftraum gemiethet hat,' wie Maemahon auf seinem Präsidentenstuhle sagen:
^s'zö suis ot ^>'/ rohe-o! Und wenn er dieses Verhältnis, Gott weiß mit welche»
Mitteln, zwei Jahre lang durchgeführt hat, so gehört er nnn der Stadt an,
hat dort seinen Unterstützungswohnsitz gewonnen und hilft cindanernd die Räume
fülle», aus deren Überfüllung unsre Wohnungsnot hervorgeht. Allerdings
würde die gedachte Maßregel nicht völlig durchgreifend wirke». Sie könnte nicht
hindern, daß solche Zuziehende, welche ausreichende Mittel haben, andre, die
längst in der Stadt heimisch sind, durch höhere Mictgebvte aus ihren Wohnungen
hinaus- und in die Verhältnisse der Wohnungsnot hineintrieben. Aber es würde
doch jene Maßregel den schlimmsten Elementen, aus deren Zuströmen die heutige
Wohnungsnot hervorgeht, einen Riegel vorschieben.
Voraussichtlich wird man freilich zu einer derartigen Maßregel sich schwer
entschließen. Dann aber wissen wir in der That keine Rechtsvorschrift, durch
die man ohne überwiegende andre Nachteile der Wohnungsnot begegnen
könnte.
Wir sehen hiernach in der That, um der Wohnungsnot abzuhelfen, nur
ein Mittel, das sehr einfach auszusprechen, aber sehr schwer gethan ist. Man
muß für die Armut bessere Wohnungen schaffen, und zwar solche, die sie auch
bezahlen kann. Dazu gehört aber Geld, Geld und abermals Geld. Und die
Frage ist vor allem: Woher dieses Geld nehmen?
Daß das Reich oder der Staat die Aufgabe übernehmen sollten, Wohnungen
für einen Teil der Bevölkerung zu banen, daran wird Wohl niemand denken.
Es könnte also, wenn man öffentlich-rechtliche Organe in Anspruch nehmen will,
nur etwa die Gemeinde in Frage kommen. Wir stellen zunächst die Frage:
Hat denn die Gemeinde eine Pflicht, für zureichende Wohnungen der in ihr
Lebenden zu sorgen? Wir können eine solche Pflicht, sei es mich nur eine
moralische oder soziale, im allgemeinen nicht anerkennen. Wäre die Gemeinde
noch das, was sie früher war, ein rechtlicher Verband, der ein bestimmt ab¬
gegrenztes Vereich von Personen umfaßte, dann ließe sich vielleicht sagen, die
Gemeinde sei verpflichtet, für diese ihr angehörenden Personen, gleichsam ihre
große Familie, dergestalt zu sorgen, daß jeder, eine seinen Verhältnissen ent¬
sprechende Wohnung finde. Heute ist aber die Gemeinde nur noch der geo¬
graphische Begriff eines Ortes, an den« beliebige Mensche» zusammen wohnen.
Die, welche ihr zugehören, fliegen ein und aus. Wenn heute eine Stadt
100 000 Einwohner hat, so hat sie vielleicht übers Jahr 10 000 mehr, die ans
allen Richtungen der Windrose ihr zugeströmt sind. Welche Verpflichtung
hätten nun wohl jene Hunderttausend, die bisher den Bestand der Gemeinde
ausmachten, für die beliebig zuströmenden Zehntausend Wohnungen zu schaffen?
Allerdings kommen durch den Mangel zureichender Wohnungen nicht allein die
zuströmenden Zehntausend in Verlegenheit, sondern auch die bisherigen Bewohner
leiden darunter, weil in ihre Wohnungen jene Zehntausend sich mit hineindrängen.
Das ist eine nicht abzuwehrende Folge der Freizügigkeit. Aber auch hieraus
können wir keine Verpflichtung der Gemeinde folgern, für alle ihre Angehörigen
und solche, die es werden wollen, begneme Wohnungen bereit zu stellen.
Überdies würde die Herstellung und Verwaltung von Wohnhäusern in
großem Maßstabe den städtischen Organen eine Last auflegen, der sie schwerlich
gewachsen wären. Wir wollen in dieser Beziehung nur auf eine Schwierigkeit
aufmerksam machen. Voraussichtlich würde die Wohlthat der Gewährung solcher
Wohnungen doch uicht allen Bedürftigen gleichzeitig zu Teil werden können. Es
müßte also unter ihnen zunächst eine Auswahl getroffen werden. Wo nun die
Gewährung einer solchen Wohlthat Privntsache ist, kann sich niemand über eine
getroffene Auswahl beklage». Anders bei einer öffentlichen Verwaltung. Hier
würde jeder Ausgeschlossene sagen: „Warum ist mein Nachbar bevorzugt? Be¬
zahle ich nicht gerade so gut wie er meine Steuern?" Man würde also die
Zufriedenheit der einen nur mit der noch größern Unzufriedenheit der andern
erlauschen; und die städtische Verwaltung würde schwerlich Dank von der Sache
haben. Mit dieser allgemeinen Betrachtung soll übrigens nicht gesagt sein, daß
nicht unter besondern Umständen anch die Stadtbehörden für die Beschaffung
von Arbeiterwohnungen, namentlich unterstützend, thätig sein sollten.
Ein andrer Gedanke ist der, die Arbeitgeber zu verpflichten, für zureichende
Wohnung ihrer Arbeiter zu sorgen. Es ist ja in der That wunderschön, wenn
Fabrikherren, deren Geschäft in Blüte steht, oder vielleicht ganze reiche Fabrik¬
städte (wie die Stadt Mülhausen im Elsaß) darauf bedacht sind, für ihre Arbeiter
gesunde und behagliche Wohnungen zu schaffen. Aber kann dies nach Lage
unsrer Geschäftswelt überall geschehen? Eine Rechtspflicht dieser Art auflegen,
würde für unzä'suche bestehende Fabrikgeschäftc gleichbedeutend mit ihrer Ver¬
nichtung sein. Erst neu zu gründenden Geschäften würde eine solche Ver¬
pflichtung allerdings ohne positive Rechtsverletzung auferlegt werden können.
Wenn aber ohnehin schon die Unternehmungslust sür neue Geschäfte heutzutage
sehr gesunken ist, so würde eine solche Auflage vollends die Folge haben, daß
Unternehmungen kaum noch zustande kämen. Ob sich dabei die Arbeiter bester
als jetzt stünden, ist doch sehr die Frage.
Bleibt hiernach die Beschaffung von Wohnungen für die geringern Klassen
nur auf die Thätigkeit von Privaten gestellt, so läßt sich diese doch wieder aus
einem doppelten Gesichtspunkte geübt denken, aus dem der Spekulation und dem
der Wohlthätigkeit. Was die Speknlationsthätigkcit betrifft, so stellt sich hierbei
vou selbst die Frage: Warum hat denn bisher die Spekulation dieses menschliche
Bedürfnis nicht zu befriedigen unternommen? Die Antwort ist einfach die:
weil sie dabei ihren Vorteil nicht gefunden hat. Stehen anch geringe Wohnungen
in verhältnismäßig hohem Preise, so ist doch die Vermietung von Häusern an
eine große Anzahl geringer Leute ein so mühseliges, oft ärgerliches und auch
gefährliches Geschäft, daß niemand besondre Neigung dazu verspürt. In
Hamburg wurde im Jahre 1873, um dem Bedürfnis sogenannter kleiner
Wohnungen abzuhelfen, ein besondres Gesetz erlassen, welches den Bau von
solchen möglichst erleichterte; und zugleich wurden zehn in verschiednen Gegenden
gelegne Plätze für den Ankauf zur Bebauung mit solchen Wohnungen zur Ver¬
fügung gestellt. Aber der Erfolg entsprach nicht den Erwartungen. Nur zwei
Plätze wurden angekauft und darauf 230 Wohmmgen errichtet.
Es ist auch nicht immer ganz leicht, mit solchen Wohnungen das Nichtige
zu treffen. Entsprechen sie nicht ganz den Bedürfnissen der Arbeiter, so bleiben
diese lieber in ihren alten, schlechten Quartieren wohnen. Aus Frankfurt wird
uns bezeugt, daß trotz des Mangels an kleinen Wohnungen die von gemein¬
nützigen Gesellschaften dargebotenen kleinen Wohnungen großenteils leer stehen;
wofür als Grund weniger der Maugel an gewissen Bequemlichkeiten (z. B. der
Kanalisation oder Wasserleitung), als die weit entfernte Lage der Häuser und — der
zu hohe Preis bezeichnet wird. In Hamburg hatte im Jahre 1878 eine
„gemeinnützige Baugesellschaft" unternommen, kleine Wohnhäuser für Arbeiter
herzustellen. ES sind auch solche Häuser (194 bis zum Jahre 1884) gebaut
wurden. Aber dieselben sind zu teuer gewesen, und sie werden deshalb nicht,
ihrer Bestimmung gemäß, von Arbeitern, sondern von kleinen Beamten, Komp-
toiristen und ähnlichen Leuten, die zu den unbemittelten Bevölkernngsklnssen kaum
gerechnet werden können, bewohnt. Also auch hier hat der Erfolg dem vor¬
gesteckten Ziele nicht entsprochen.
Darf hiernach, wie es scheint, die Wohnungsnot unsrer Großstädte eine
Lösung nur von Unternehmungen hoffen, bei welchen die Absicht wohlzuthun
das leitende Motiv giebt, so fragt es sich, wie solche Unternehmungen ihre
Aufgabe am besten erfüllen würden. Selbstverständlich kann eS sich nicht darum
Handel», Wohnungen zu schaffen, die man den geringen Leuten gcschenkweise über¬
ließe. Damit würde diesen selbst keine Wohlthat erwiesen sein. Wohl aber
handelt es sich darum, Wohnungen, die zwar ohne allen Luxus, aber doch mit
dem notwendigsten Lebensbedarf ausgestattet sind, den armen Leuten zu Preisen
zu überlassen, die diese nach ihren Mitteln noch bezahlen können. Wird bei
Häusern dieser Art nicht ans Gewinn spekulirt, dann lassen sie sich auch uns
ganz andre Weise verwalten. Man kann die rechten Leute aussuchen, denen
man die Wohnungen gewährt. Mau kau» eine strenge Hausordnung aufstellen,
und an deren Einhaltung die Belassung der Wohnung knüpfen. So können
solche Wohnhäuser recht eigentlich zu Stätten guter Sitte und Ordnung
werden.
Musterbilder für das, was in dieser Beziehung geschehen kann, geben uns
die in London für diesen Zweck geschaffenen großen Wohuqnartiere (mulot
cKvallmg'K). Allerdings sind diese Hänser durchweg große Mietskasernen. Einzel¬
häuser für Arbeiterfamilien hat man nicht beschaffen können. Aber in jenen
Häusern ist jede Wohnung, mag sie nun ans einem, zwei, drei oder vier Räumen
bestehen, völlig abgeschlossen für sich. Jede ist mit den notwendigsten Lebens-
einrichtungen versehen. Die gemeinschaftlichen Treppen liegen meist an der
Außenseite der Hänser, wodurch Mißbräuche in deren Benutzung erschwert
werden. Für jede Häusergruppe besteht eine feste Hausordnung. Über deren
Einhaltung wird von einem Aufseher gewacht. So haben sich diese Stiftungen
im allgemeinen vortrefflich bewährt.
An der Spitze derselben stehen die 1'e!),d0Z^-LuiIcI!ug8, Häuser, die mit
dem von dem Amerikaner Peabvdy dazu gegebnen Kapital von zehn Millionen
Mark gegründet sind. Es sind in verschiednen Stadtteilen Londons siebzehn
Häuserkomplexe errichtet worden, in welchen 4551 Familien mit einer Kopfzahl
von Personen Wohnung gefunden haben. Der Zudrang zu diesen
Wohnungen ist sehr groß. Außerdem besteht noch eine Anzahl von Bau¬
gesellschaften (UuilctinA-Lomximio«), die, wem? sie auch auf Verzinsung ihres
Kapitals nicht gänzlich verzichten, doch von vornherein nnr einen sehr mäßigen
Zins ins Auge gefaßt haben und im wesentlichen humanitäre Zwecke verfolgen.
Auch diese haben ähnliche Unternehmungen ins Leben gerufen. Einige dieser
Unternehmungen verzinsen sich sogar ganz gut.
Auch bei uus herrscht ja in vielen unsrer Großstädte Wohlhabenheit genug,
daß sich solche Einrichtungen schaffen ließen. Es gehört mir dazu eine gewisse
Thatkraft und Opferwilligkeit. Ob aber z. B. in Frankfurt a. M., wohl der
relativ reichsten Stadt Deutschlands, ein Pcnbodh sich finden wird? — wir
lassen die Frage dahingestellt.
Wir können nicht umhin, hier noch eine weitere Frage zu erörtern. Würde
denn durch Schöpfungen der gedachten Art die Wohnungsnot, d. h. die Über-
füllung der schlechten Wohnungen, wirklich beseitigt werden? Es hängt die
Beantwortung dieser Frage mit der ander«? Frage zusammen, ob man den An¬
drang nach den Großstädten, wie er seit einer Reihe von Jahren bestanden
hat. jetzt als erschöpft oder wenigstens in Kürze sich erschöpfend ansehen könne
oder nicht? Zur Zeit bildet ohne Zweifel die Wohnnngsnot eine Art Korrektiv
gegen diesen ungesunden Zudrang. Wird nun nicht jeder Versuch der Beseitigung
dieser Wvhuuugsuvt durch den umso stärker werdenden Zudrang wieder paralysirt
werden? Werden nicht die neugeschaffnem Wohnungen wie eine Art Einladung
wirken, der Stadt umso eifriger zuzuziehen? — ähnlich, wie die verbesserten
Armeneinrichtnngen vieler Städte dahin gewirkt haben, daß man sich dorthin
drängt, nur um den Unterstützungswohnsitz und demnächst die bessere Armen-
vcrsorgnng zu erwerben? Wenn heute 10 000 Menschen in neuen, für sie ge¬
schaffnen bessern Wohnungen untergebracht werden, und sofort 10 000 Menschen
von außen wieder in die alten, schlechten Wohnungen sich hineindrängen, so ist
natürlich die „Wohuuugsuot" uicht beseitigt, sondern es hat sich nur ein neues
Stück Bevölkerung in sie hineingeschoben. Und wäre darin wohl ein Glück zu
finden? Auch diese Frage» dürften zu erwägen sein, wenn man daran denkt,
in großem Maßstabe Einrichtungen zu treffen, um der Wohnungsnot abzuhelfen.
Wenn nur in dieser Ausführung, die wir hiermit schließen, mehrfach unsre
Bedenken gegen die von Dr. Miguel gemachten Vorschläge ausgesprochen haben,
so müssen wir doch, gerade wegen der Bedeutung Miguels, noch hervorheben,
daß er selbst seine Vorschläge nur „mit aller Reserve" und unter ausdrücklicher
Anerkennung, daß sich manches dagegen einwenden lasse, gemacht hat. Seine
Ausführungen nehmen hiernach mehr die Bedeutung einer beabsichtigten An¬
regung, als einer Entscheidung der besprochnen Fragen an. Es ist ja ohne
Zweifel subjektiv weit befriedigender, wenn man dahin gelangt, Mittel befür¬
worten zu können, durch welche der leidenden Menschheit geholfen werden
soll. Und die Schriften unsrer Sozialpvlitiler wimmeln von Vorschlägen dieser
Art. Auch wir hegen von ganzem Herzen den Wunsch, daß Mittel gesunden
werden mögen, um die sozialen Gegensätze möglichst auszugleichen. Das Man-
chestertum findet in uns keine Anhänger. Aber wir halten es doch nicht für
ganz ungefährlich, Gedanken in die Welt zu setzen, die vielleicht begierig auf-
gegriffen werden, aber doch unausführbar sind, und die deshalb die soziale Er¬
regung nur vermehren. Wir leiden schon an einer ganzen Anzahl solcher Ge¬
danken. Normalarbeitstog, völlige Sonntagsruhe, Beseitigung von Franen-
und Kinderarbeit, Schaffung gewerblicher Schiedsgerichte zur Entscheidung über
die Höhe der Löhne, das alles sind Dinge dieser Art. Der Reichskanzler ist
schon mehrfach in der Lage gewesen, als praktischer Staatsmann dem Andrängen
nach solchen unausführbaren Dingen sein unerbittliches Avr possunrus ent¬
gegensetzen zu müssen. Es ist nicht zu wünschen, daß die Zahl solcher Dinge
sich noch vermehre. Und deshalb halten wir es für nicht minder verdienstlich,
angeregten Gedanken dieser Art eine nüchterne Kritik gegenüberzustellen, wenn
auch dieselbe zu dem unerfreulichen Ergebnisse führt, daß anf dem fraglichen
Gebiete schwerlich zu helfen sei. Aus diesem Gesichtspunkte ist der vorstehende
Aufsatz geschrieben worden.
^M,.^.^ahrlich ein bewundernswürdiges Geschlecht, jene Männer, welche
noch vom Ende des vorigen und vom Anfang dieses Jahrhunderts
her in unsre Zeit hereinragen! Da kommt ein Greis, der sich
noch der Begeisterung erinnert, welche der .Kampf der Spanier
gegen Napoleon in Deutschland entzündete, der als ein Sechziger
noch in die diplomatische Laufbahn eingetreten ist, und als Achtziger mit voller
Frische und Lebendigkeit die Eindrücke und Beobachtungen zu Papier bringt,
welche er anderthalb Jahrzentc früher bei Gelegenheit einer vertraulichen
Sendung in fremden Ländern gesammelt hat. In mancher Beziehung lassen sich
Theodor von Bernhardis Reiseerinnerungen aus Spanien (Berlin,
W. Hertz) mit dem Buche vergleichen, welches Gustav Körner vor etwa zwanzig
Jahren über dasselbe Land herausgab. Der als Teilnehmer an dem Frank¬
furter Pulses von 1833 nach Nordamerika verschlagene deutsche Student hatte
als Gesandter der Union in Madrid offenbar viel freie Zeit gehabt und sie
vorzugsweise dazu benutzt, die spanischen Galerien zu studiren. Auch Bernhardt
ist Kunstfreund, aber weder kann dies seine starke Seite genannt werden (seinen
Urteilen über Malerei und Plastik haftet vielfach die Einseitigkeit der alten
Schule an, während über Bauwerke viel Interessantes beigebracht wird), noch
hat er mit solcher Muße wie Körner einer Liebhaberei nachgehen können.
Desto aufmerksamer nimmt er von allem Notiz, was auf die politischen, die
Wirtschaftlichen, die sittlichen und religiösen Zustände Spaniens ein Licht wirft,
und wenn in diesen Richtungen sein Buch eine unvergleichlich reichere Ausbeute
gewährt, so begegnen sich doch Monarchist und Republikaner in der Unbefangen¬
heit der Betrachtung.
Bernhardts Aufenthalt im Lande fällt in die Zeit nach der Vertreibung
Jsabellens, der Regentschaft Prius, der Wahl des Prinzen Leopold von Hohen-
zollern und des großen Krieges, der, wegen jener Wahl vom Zaun gebrochen,
die Einigung Deutschlands herbeiführte. Je näher augenscheinlich die Thätigkeit
des deutschen Diplomaten mit den Weltcreiguisscn in Zusammenhang gestanden
hat, desto vorsichtiger weicht seine Erzählung der unmittelbaren Berührung der¬
selben aus; nur die Eindrücke, welche er in dem amtlichen oder zufällige!?
Verkehr mit politischen Personen von dem Charakter der Spanier, den Nach¬
wirkungen der Vergangenheit, der Stimmung der Nationalitäten und der Parteien
empfangen hat, werden wiedergegeben. Im großen und ganzen gestaltet sich
daraus ein recht unerfreuliches Bild, und mehr als ein Staat und mehr als
eine Partei könnten aus dieser Darstellung der unseligen Folgen einer jahrhunderte¬
langen verkehrten Wirtschaft in Staat und Kirche heilsame Lehren ziehen. Es
ist nicht notwendig, an die verhängnisvollen Fehler der Ausrottung der Mauren,
der Zerstörung des Gewerbefleißes und Wohlstandes im Süden, der Inqui¬
sition u. s. w. zu erinnern. Aber mancher Vorgang erscheint in neuem Lichte,
wenn uns vergegenwärtigt wird, daß der Gegensatz zwischen Kastilien und
Arrcigonien noch heute, wie in allen Bürgerkriegen, schwer in die Wagschale
fällt. Dieser Gegensatz drängte sich unserm Reisenden überall auf, in Tarragona,
Valencia. Barcelona n. s. in. Als im Herbst des Jahres 1869 ein karlistischer
Aufstand und eine republikanische Bewegung ausbrachen — beide vom Auslande
her geschürt und unterstützt —. fand der erstere nur in Arrcigonien, die letztere
nur in kastilischen Provinzen, namentlich Andalusien und Granada, offnen Anhang,
obwohl es auch dort Republikaner, anch hier Karlisten gab. „Immer war es
so gewesen, wenn Kastilien in einer Frage, die zum Bürgerkriege führen konnte,
die eine Partei ergriff, erhob sich Arrcigonien für die andre." So erklärte sich
zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts Kastilien für den Enkel Ludwigs XIV.,
und Arragonien nahm die Partei des Habsburgischen Erben. „Arragonien hat
andre Traditionen als Kastilien, andre Erinnerungen, einen andern Ursprung.
Das Reich ist nicht von Don Pclayo gegründet und nicht von Cnevadonga ans
wie Kastilien. Sobrarbe im Grenzgebirge in den Pyrenäen ist der Ausgangs¬
punkt." Vollends scharf prägt sich die Verschiedenheit in Katalonien aus, welches
überhaupt nicht spanischen Ursprungs, sondern den Franken und Arabern
abgewonnen ist, nach der Ablösung vom Reiche der Karolinger lange Zeit als
Grafschaft Barcelona selbständig war, und in der Verbindung mit Arragonien
nicht nur selbständig, sondern vielfach maßgebend blieb. Daher wurde dort die
Verbindung mit Kastilien, in welcher die Selbständigkeit verloren ging, als
Unterdrückung empfunden. Provenc/neu nach Abstammung und Sprache, fühlen
sich die Katalane» den Franzosen mehr verwandt als den Kastilianern. Ein
angesehener Einwohner Bareelonas erklärte dem Verfasser, Madrid existire sur
Kastilien nicht, alle Interessen in Beziehung auf Lebe», Mode, Literatur und
Kunst gingen nach Paris, und mau würde nichts gegen eine Vereinigung mit
Frankreich einwenden. Mag in diesem Falle die Partcileideuschaft übertrieben
haben, so müsse» doch Stimmungen dieser Art die Schwierigkeiten in einen:
Lande vervielfältigen, ans dessen Beherrschung sast so viele Familien legitimen
Anspruch erheben wie in Frankreich, dessen Bewohner aber nicht wie die Franzosen
bei aller Stammesverschiedenheit durch das System der Bourbonen und die große
Revolution zu einer Nation verschmolzen worden sind.
Dagegen sind die religiösen Zustände in Spanien nach Bcrnhcirdis Schil¬
derung denen in Frankreich sehr gleichartig. Die Macht der Kirche ist durch
die Aufhebung der Klöster gebrochen, aber die verhängnisvollen Früchte der
langen Priesierhcrrschaft bestehen sort: Aberglaube, apathisches Sichvcrlasscn auf
die Jungfrau Maria und die lieben Heiligen, der felsenfeste Glaube, daß durch
Beichte und Absolution jede Sünde, jedes Verbrechen des guten .Katholiken ge¬
sühnt werde. Und dem gegenüber sieht, wie in alle» jenen Länder», in welchen
die Reformation unterdrückt worden ist, die völlige Gleichgiltigkeit der „Aufge¬
klärten" und das Bemühe» der Fortgeschrittener, alle und jede Religion zu
untergraben, das Volk für den Zukunftsstaat ohne Religion und ohne Negierung
zu erziehen. Wie charakteristisch ist die von dem Verfasser mehrmals hervor¬
gehobene Thatsache, daß nach der Vertreibung Jsabellens die Liberalen meinten,
es gebe in dem verwahrlosten Lande nichts Dringenderes zu thun, als über die
mit wenigen Ausnahmen verlassenen Klöster herzufallen und sie einzureißcn.
Dadurch hoffte» sie die Rückkehr der allgemein, nicht bloß ihnen, verhaßten
Mönche für immer unmöglich zu macheu!
Das verwahrloste Land — unzählig sind die Thatsachen, welche als Be¬
weise für diesen harten Ausdruck angeführt werden können. Überall Entwaldung,
infolgedessen Versiegen der Wasscrznlciufc, Verfall der römische» und maurischen
Wasserleitungen, Unfruchtbarkeit des Bodeus. Den Schaden wieder gut zu machen,
wäre freilich eine äußerst schwierige Aufgabe, aber die Sorglosigkeit, die wich¬
tigern Angelegenheiten des Tages: Revolutionen und Konstitutionen und das
ewige enlum äinoros (es fehlt an Geld) lassen es nicht einmal zu einem Ver¬
suche kommen, den Wohlstand wieder zu heben. In ganz Spanien giebt es
nicht eine einzige Forstschule! Die Erzgruben Carthagenas, um deren Besitz
einst Rom und Karthago rangen, sind noch heute vou Bedeutung, aber wie
werden sie betrieben! „Die Eigentümer der Gruben und die der Hochöfen sind
thatsächlich identisch, im Geschäftsbetrieb aber werden sie gleichsam als ver-
schiedene Persönlichkeiten aufgefaßt. Die Eigentümer der Öfen vermieten diese
an Unternehmer, den Unternehmern verlaufen sie als Eigentümer der Gruben
das rohe Erz, um ihnen schließlich wieder das gewonnene Metall abzukaufen."
Die Bergwerke liefern Blei und Zink. Ersteres enthält gewöhnlich eine ver¬
hältnismäßig geringe Menge Silber. Aber dies schmilzt man nicht ans, son¬
dern verpflichtet kontraktlich die Käufer, meistens Marseiller, für das bei dem
Scheidungsprozesse vorgefundene Silber die entsprechenden Summen nachzuzählen.
Wie wir sehen, hört nicht überall bei Geldsachen die Gemütlichkeit auf! Und
sogleich folgt ein Seitenstück. Das Zinkerz wird nur geröstet und so, also Zink
und Schlacke, nach Antwerpen Verfrachter, und dadurch selbstverständlich der
Transport ganz unnötigerweise und zum Schaden der Urprvduzcnten verteuert.
Das klingt doch alles, als ob nicht von der Gegenwart, sondern etwa vom
frühen Mittelalter, und dann von andern Ländern als von Spanien die Rede
wäre. DaS Salzthal von Cardona, über eine Viertelmeile lang und durchschnitt¬
lich einhundertundfünfzig bis zweihundert Schritte breit, besteht ganz aus Stein¬
salz, das nur an den Abhängen von dünnen Nasen bedeckt ist. „Es handelt
sich hier um einen Reichtum nicht von Millionen, sondern von Milliarden, der
offen unter Gottes freiem Himmel daliegt, in kaum nennenswertem Maße be¬
sitzt. Wieliczka ist daneben kaum des Erwähnens wert." Ein Bach, der nnr
bei Regen Wasser führt, wäscht das reinste Salz ans, sodaß es nur aufge¬
sammelt zu werden brauchte, aber niemand sammelt es, Gewitterregen schwemmen
es in den Fluß Cardvner, wo dann alle Fische krcpiren, wie ein Beamter stolz
berichtete. Eine englische Gesellschaft hat dem Besitzer einen Jahrespncht von
40 000 Duros für das Wegräumen des Salzes geboten, doch ein Herzog
von Medina-Sidonia überläßt meter Fremden daS Geschüft, noch macht er es
selbst. Dafür giebt eS dort ein „Salzmnseum," in welchem eine lebensgroße
Büste der zweiten Jsabella und ähnliche Herrlichkeiten mehr aus Steinsalz ge¬
zeigt werden.
Wie es um das spanische Heerwesen steht, ist ans der Geschichte der Revo¬
lutionen dieses Jahrhunderts so ziemlich bekannt. Nur die bezeichnende Thatsache
mag hier Platz finde», daß eine Parade der Garnison von Barcelona anstatt
um 0 Uhr abends, wie angesagt war, erst um 7^/.. Uhr begann, daher im
Dunkeln abgehalten wurde, und daß die Bevölkerung sich zu dem Schauspiele
eingefunden hatte in der sichern Erwartung, die Truppen würden einen neuen
König von Spanien proklamiren. Auch das wird von Bernhardt bestätigt, daß
die Marine, wenn auch ans kümmerlichen Resten bestehend, immerhin noch das
weitaus beste ist, was Spanien heute besitzt. „Es herrscht hier Ordnung,
Methode, Disziplin, das Streben, die wenigen vorhandnen Mittel auf das beste
zu verwerten."
Von den politischen Parteien mißt der Verfasser nnr den Karlisten und
den Republikanern Bedeutung bei, die wieder jede nicht mächtig genug seien,
die widerstrebenden Elemente endgiltig zu überwältigen; Jsabellinos, Alphvnsistos,
Moderaros, Liberales, Prvgrcssisten, Radikale mit ihren endlosen Zettelungen
und Intrigue» erscheinen ihm nur als Kotericn, die große Menge des Volles
als völlig apathisch, willen- und hoffnungslos, sodaß die letzte Entscheidung
stets bei der Armee steht. So ließ man sich deu König Amadeo gleichgiltig
gefallen, die bonrbvnisch gesinnten Damen frondirten, das Publikum erwiederte
seinen Gruß nicht, mit Prim, dem er die Erwählung verdankte, hatte er seine
einzige Stütze verloren, und der Ausgang seiner Negierung war schon damals
mit Sicherheit vorauszusehen.
Sehr interessant sind einige Beispiele moderner Lcgeudenbildung: die Be¬
wohner der Mancha wissen nichts von Cervantes; Don Quixote aber gilt ihnen
als historische Person, und man zeigt die Örtlichkeiten seiner Abenteuer, die
Windmühle, mit welcher er gekämpft, die Posada, in welcher er übernachtet
hat n. s. w. Ebenso wird in Sevilla ein Barbierladen als der Figaros be¬
zeichnet, für dessen Enkel sich vor einiger Zeit ein Inhaber des Ladens aus¬
gegeben haben soll. Aber die wirklich historische Gestalt des Brolador von
Sevilla, des Don Juan Tenorio, den Mozart unsterblich gemacht hat, ist gänzlich
verschollen.
Da es nicht unsre Absicht ist, den Inhalt des so lesenswerten Buches
auszupressen, wollen wir nnr noch auf einige Partien aufmerksam machen, wie
sie bei abermaligem Durchblättern auffallen. So findet man gleich S. 17 ff.
eine Beschreibung des beinahe possenhaften Auszuges, durch welchen der Regent
Serrcino die neue Ordnung der Dinge populär zu machen versuchte. Eine
ausgehöhlte Kirche war zum Pantheon bestimmt worden, und dorthin brachte
man in ärmlichem Pomp die Särge aller berühmten Spanier, in deren Reihe
aber nicht nur Don Pelaho und der Cid fehlten, welche Asturien und Burgos
nicht hergegeben haben würden, und Cervantes, dessen Grabstätte man nicht kennt,
sondern auch Don Juan de Austria, Cortez, Lope de Vega, Murillo, Velasquez,
Jovellanvs u. a. Ein Jahr später fand Bernhardi die Särge der gefeierten
großen Männer nnbestattct in einer verschlossenen Zelle der Kirche, und dabei
ist es mit dem Pantheon geblieben. Das Schauspiel war die Hauptsache ge¬
wesen und hatte nicht einmal die beabsichtigte Wirkung gethan.
Daß Stiergefechte wiederholt besprochen werden, versteht sich von selbst;
sind sie doch das Einzige, woran der Spanier von heute uoch lebendigen Anteil
nimmt, während ihn das Theater mit Ausnahme der italienischen Oper völlig
gleichgiltig läßt. Zur Eröffnung der Saison wird ehren- oder schandehalber ein
Stück von Calderon aufgeführt, dann giebt man Waare der Pariser Boulevard¬
theater und neuere einheimische Erzeugnisse, die auf der Höhe Ifflands oder
Clanrens stehen. Die hohe Schule der Tänzerinnen ist noch immer Sevilla,
doch besteht ihre Kunst, wie auch außerhalb des Landes seit den Tagen der
Pepita de Oliva zur Genüge bekannt ist, vornehmlich in ihrer Schönheit.
Bei dem Kapitel der bildenden Kunst können die französischen Plünde¬
rungen nicht unerwähnt bleiben, die offiziellen für die öffentlichen Sammlungen
und die private» der Generale Soult ?c. Der Verfasser findet auch die Er¬
klärung der berühmten Waffenstrccknng General Dupouts vor Castanos lind
Retina, bei Wahlen 1808 im dritten Artikel der Kapitulation, welcher besagt,
daß das Korps, welches ohne Waffen nach Frankreich zurückzukehren hatte, die
Bagage ununtersucht mitführen dürfe: er meint, Dupont habe das Korps ge¬
opfert, um die Beute der Plünderung von Cordova zu retten.
Die Bedeutung Gibraltars für die Engländer schlägt der Verfasser nicht
mehr ganz so hoch an, wie gewöhnlich geschieht. Auf der Landseite sei die
Festung allerdings gänzlich gesichert, zweifelhaft jedoch, ob sie einem Angriffe
von der See her nachhaltig widerstehen könne. Und hier tritt er mit Ent¬
schiedenheit für den viclgetadelten und verspotteten französischen Jngenienr-
Osfizier d'Ar^on ein, welcher vor hundert Jahren die Festung von schwimmenden
Batterien ans beschoß — ein Kälbchen gegen Calpe aufführte, wie Lichtenberg
sagt. Die furchtbare Katastrophe sei nur ein Beweis dafür, daß auch die
scharfsinnigsten Erfindungen der Ergänzung und Berichtigung durch die Er¬
fahrung bedürfen. Für die damalige Zeit habe d'Arc^on das äußerste an
Vorausberechnung geleistet, und mit den heutigen Mitteln, gepanzerten Batterien
mit gezognen Geschützen, könne der Erfolg leicht ein andrer sein.
In Malaga erfährt der Verfasser, daß es einen Wein dieses Namens so
ant wie garnicht giebt, weil die dortigen Tranben getrocknet und als Rosinen
verkauft werden; das unter jenem Namen verbreitete Getränk ist fast aus¬
nahmslos ein künstliches Gebräu.
Sehr merkwürdig ist, was über das „Wassergericht" mitgeteilt wird,
welches an jedem Donnerstage unter der ?usrts. as los g-xostolos der Kathe¬
drale zu Valencia seine Sitzung hält und alle im Laufe der Woche über die
Benutzung der Gewässer entstandenen Händel schlichtet. Es stammt noch aus
maurischer Zeit, angeblich aus dem Jahre 920. Drei Richter werden von den
Landleuten auf dem rechten, drei ans dein linken Ufer des Guadalaviar aus
ihrer Mitte gewählt; wie der siebente hinzukommt und welche Funktionen er
bekleidet, konnte Bernhardt leider nicht ermitteln, nur, daß er kein Obmann ist.
Die Richter vom rechten Ufer entscheiden die Streitfälle vom linken, und ebenso
umgekehrt. Alles wird öffentlich und mündlich abgemacht, Kläger und Be¬
klagter müssen in Person, ohne Rechtsbeistand erscheinen, kein Protokoll, keine
Ausfertigung, kein Tisch oder Schreibzeug. Als einmal ein Beteiligter sich auf
ein vorausgegangnes königliches Urteil berief, wurde er zu einer Geldstrafe
verurteilt, als er noch einmal darauf zurückkam, die Strafe verdoppelt und ihm
Schweigen auferlegt. Bernhardt erklärt, nie ein so ehrwürdiges Tribunal ge¬
sehen zu haben.
Und nun — welches Gegenbild! In eben der Provinz Valencia mit
650 000 Einwohnern waren im Lauf eines Monats 445 schwere Verbrechen
verübt worden (0,63 Prozent!), darunter 20 vollführte und 108 versuchte Morde
(0,19 Prozent) und 5 Selbstmorde. Noch viel ärger geht es in Malaga zu,
wo unter 96 000 Einwohnern in einem Jahre 1086 Mordthaten begangen
worden waren, 1,14 Prozent- oder auf den Monat 0,95 Prozent. Bernhardt
wurde in Valencia ans dem Theater bis an die Thür seines Gasthofes begleitet,
weil es sehr gewagt sei, allein, abends im Dunkeln, zumal durch die weniger
belebten Straßen zu wandern. Eine Ergänzung erhalten solche Angaben durch
die Schilderung einer Kleinkinderbewahranstalt in Valencia S, 302 ff. einerseits
und durch das Abenteuer mit Bettlerinnen in Burgos S.418 anderseits.
Wir schließen mit einer historisch-politischen Betrachtung des Verfassers.
Er steht in der Gruft der Kathedrale von Granada vor dem Sarge des In-
fanten Don Miguel, des Enkels Ferdinands des Katholischen und Jsabellens, durch
deren Tod die Infantin Donna Juana Erbin von Kastilien und Arrcigvn wurde
und diese Reiche an das Hans Habsburg kamen. Der König von Spanien
war nnn zugleich Herrscher in Deutschland, den Niederlanden, Neapel und
Sicilien. Unter einem einheimischen Könige wäre Spanien gewiß nicht so tief
in alle Welthändel verwickelt worden, hätte sich schwerlich die Vernichtung der
Reformation zur Aufgabe gemacht, hätte sich nicht in diesem immerwährenden
Kreuzzuge verblutet. Und wie anders würden sich die Geschicke Dentschlands
und der Reformation gestaltet haben, wenn im sechzehnten und siebzehnten
Jahrhundert den Kaisem nicht die spanischen Armeen zur Verfügung gestanden
hätten! So „macht zuweilen das Verschwinden eines Menschen ans der Reihe
der Lebenden, ohne daß er selbst eine ausgezeichnete Persönlichkeit zu sein brauchte,
einen gewaltigen Unterschied, bloß weil er an einer bestimmten Stelle stand
und gerade da fehlt."
uf dem Gebiete der bisher sehr vernachlässigten Geschichte der
Baukunst im deutschen Osten liegt eine wichtige, bahnbrechende
Veröffentlichung vor, eine gründliche Untersuchung über Alter
und Art der mittelalterlichen Baudenkmäler der ehrwürdigen
Stadt Thorn.") Der Verfasser derselben ist der Ncgierungs-
banmcister C. Steinbrecht, der mit den Wiederherstellungsarbeiten am Hochschlvß
der Marienburg von der königl. preußischen Staatsregierung beauftragt ist
und der zu der vorliegenden Arbeit durch die von der Berliner Technischen
Hochschule ans Grund der Bvissonnet-Stiftung gestellte Preisaufgabe über die
Bauten des deutschen Ritterordens in Ost- und Westpreußen angeregt wurde.
Bisher war es herzlich wenig, was wir über die preußischen Ordensbauten
wußten, und es muß das umsomehr Wunder nehmen, als jeder, der, wie
beispielsweise der Berichterstatter, fremd uach Westpreußen kommt, aufs mäch¬
tigste von den gewaltigen, stolzen Baute» ergriffen wird. Zwar hatte sich in
den Jahren nach den Freiheitskriegen aus Anlaß und im Zusammenhange mit
der Wiederherstellung des Mittelschlvsses der Marienburg ein lebhafteres lite¬
rarisches Interesse für diese Bauten kundgegeben, zwar hatte der unvergeßliche
Ouast auch hier in hervorragender Weise gewirkt, zwar hat vor wenig Jahren
Topper einige vortreffliche Untersuchungen veröffentlicht, aber um eine um¬
fassende, streng historischer wie bautechnischcr Methode entsprechende Bearbeitung
der ganzen Geschichte der Ordensbaulnnst war bisher noch niemand gegangen.
In dem vorliegenden, aufs beste und reichste ausgestatteten Werke scheint uns
nun endlich das lange vermißte geboten werden zu sollen. Der erste Band be¬
schäftigt sich ausschließlich mit Thorn. Der Grund ist der, daß hier die Er¬
gebnisse bantechnischer und urkundlicher Forschung sich so vollständig decken,
wie selten; es traf sich glücklich, daß gerade damals, als Steinbrecht seine
Aufnahmen in Thorn machte, die Neuordnung des städtischen, sehr wertvollen
Archivs durch Dr. Kestner erfolgte und beide nun Hand in Hand arbeiten
konnten. Es ist hierdurch eine ausnehmend sichere Grundlage gewonnen worden,
und da uach Steinbrcchts Versicherung die an den Ordensbauten vorkommenden
Bauformen sich in dieser oder jeuer Weise sämtlich auch in Thorn finden, so
mußte mit Recht diese Stadt als Ausgangspunkt genommen werden.
Die Ergebnisse find nur ganz überraschend. Bekanntlich war Thorn die
erste Niederlassung der Ordensritter im deutschen Osten (1231); von hier ans
drangen sie in heftigen Kämpfen bald weiter in das Land und machten sich
allmählich u. a. das ganze Gebiet, das wir heute als die Provinzen Ost- und
Westpreußen bezeichnen, zu eigen. Sie hoben dasselbe dnrch eine beispiellose
Uneigennützigkeit und Hingebung, durch die Ansiedelung zahlreicher deutscher
Bürger und Bauern, durch Gründung von Städten und Dörfern, durch An¬
legung von Wasserbauten aller Art in kurzer Zeit auf eine ungeahnte Kultur¬
stufe und erreichten unter Winrich von Kniprode in der Mitte des vierzehnten
Jahrhunderts den Höhepunkt ihrer Macht. Man meinte nun bisher ^- nament¬
lich wurde diese Ansicht von Quast aufs entschiedenste verfochten —, daß die herr¬
lichen, stolzen Bauten, auf welche wir uoch heute voll Bewunderung blicken,
unmöglich in den Zeiten der ernsten, schweren Kämpfe, sondern erst zur Zeit
der höchste» Blüte und des höchsten Glanzes entstanden sein könnten. Dies
kann nach Töppens und Stciubrechts Forschungen nicht länger aufrecht erhalten
werden. Thorn empfing Stadtrecht im Jahre 1231 und unmittelbar darauf
wurde die Stadtbcfestiguug aufgeführt, die sonach, abgesehen davon, daß sie AU
den schönsten von allen gehört, die älteste im baltischen Tieflande ist, ferner
das Schloß, die später mehrfach umgebaute Johanniskirche und das gleichfalls
später sehr veränderte Rathaus.
Die Stadtmauern machen einen ernsten, trotzigen Eindruck, sind aber doch
wohlgefällig und von trefflicher Gliederung, zugleich von vorzüglicher technischer
Ausführung; vieles an ihnen erinnert noch an die syrischen Befestigungen, welche
zum Teil als Vorbilder dienten. 1420 wurden sie mit großem Kostenaufwande
umgebaut, noch heute ist die damals vollzogene Erhöhung der Mauer um
1^/2 Meter deutlich erkennbar.
Vom Schloß ist nur wenig noch erhalten; es wurde im Jahre 1464 von
deu erbitterten Bürgern gründlich zerstört. Was wir noch besitzen, ist folgendes:
das Stauwehr und der Wachtturm (erhalte 1240), einige Reste des Kapitclsaales
(etwa von 1260), und der nur wenig spätere „Dansker," der zum Glück im
wesentlichen erhalten ist und der, mag man die Sache vom militärischen oder
von sonst einem Standpunkte betrachten, doch wohl nichts andres als ein. übrigens
mit Spülwasser und andern Vorkehrungen für die Gesundheit ausgestatteter
Abort gewesen ist. Die Ausführung aller dieser Bauten ist eine vorzügliche
und zugleich hinsichtlich der Entwicklung der Vackstcintechnik sehr lehrreiche. Im
Gegensatz zur spätern Zeit, wo jene Kunst darauf ausgeht, mit den Formsteinen
eine möglichst reiche äußere Wirkung zu erzielen, treten hier Formsteine und
glcisirtc Steine nicht als äußerer Zierrat auf, sondern nur zur Erfüllung eines
praktischen Zweckes, eine Erscheinung, die sich aus dem noch anfänglichen Fest--
halten an der Werksteintechnik erklärt, wahrend im übrigen auch hier sich zahl¬
reiche Erinnerungen an deu Orient finden. An dem Kapitelsaal bemerken wir
dann schon die Anwendung von reichen einzelnen Steinformen, und am Dansker
endlich bereits die flotte Behandlung großer Massen.
Der älteste Bau der Pfarrkirche Se. Johannis erfolgte gleichzeitig mit dem
Schloß um 1255; er wurde mit seiner Dreiteilung (Chorraum für die Geist¬
lichen, Schiff für die Gemeinde, Turm für die Glocken) und mit seinem Verzicht
auf unnützen Luxus das Vorbild für die ganze Gattung im Ordenslande. Etwa
1380 erfolgte eine Veränderung durch Seitenausbauten an den Neben schiffen;
ein fernerer Umbau fand im erstell Jahrzehnt des fünfzehnten Jahrhunderts
statt, ein nochmaliger 1463, wo man im niedrigen Hauptschiff „die Pfeiler auf-
trieb mit den Gewölbe»." Technisch ist der älteste Bau von größtem Interesse;
im Innern des Chors ist besonders die buntfarbige Behandlung bemerkenswert,
die leider jetzt durch Weiße Tünche verborgen gehalten wird.
Das letzte unter den ältesten Thorner Gebäuden ist das Rathaus. Es
giebt kaum ein zweites seiner Art, das ihm an Umfang und imposanter Er-
scheinung gleich käme. Von dem ersten Bau kurz nach 1259 ist jedoch nur
wenig übrig geblieben, das bedeutendste darunter ist der meisterhaft aufgeführte
Turm, Über den Um- oder Neubau, der im Jahre 1393 erfolgte, sind wir
zum Glück durch eine von Steinbrecht wörtlich mitgeteilte Urkunde ausführlich
unterrichtet, und auch hier decken sich wieder in erfreulichster Weise die bau-
technischeu Untersuchungen mit der schriftlichen Überlieferung, 1603—1604 ward
das Rathaus durch den kunstsinnigen Bürgermeister Strvbcmd mit Giebeln u. a,
geschmückt, hundert Jahr später aber bei der schwedischen Belagerung auf das
schlimmste verwüstet. Wie das Äußere, so ist auch die innere Raumverteilung,
wie überhaupt die gesamte Anlage der höchsten Bewunderung wert. Hier ver¬
einigte sich in der That das gesamte städtische Leben; in den Kellern befanden
sich Lagerräume der Grvßkanflente, im Erdgeschoß die Verkaufshallen sämtlicher
Handwerker mit Ausnahme der Fleischer, dazu des Platzmeisters Stube, die
Gerichtsstube und die Ratsstnbe und in den obern Stockwerken die übrigen
Amtszimmer, sowie die großen Festräume, in denen auch die Familienfeste der
wohlhabenden Bürger gefeiert wurden.
Einer andern Entwicklungsstufe der Ordensbaukunst gehört die Jakobs-
kirche an, welche in der Baugeschichte des ganzen Ordenslandes von äußerster
Wichtigkeit ist und den Höhepunkt vertritt, welchen der Backsteinbau dort er¬
reichte. Laut Inschrift wurde der Chor 1309 begonnen und bald beendet;
uach einer kurzen Unterbrechung wurden sodann die übrigen Teile der Kirche
aufgeführt. Der Bau des Chors ist von der größten technischen Vollendung,
Abgesehen von mancherlei interessanten Kunststücken, wie z. B. auf der Nord¬
seite dem Abfangen eines Strebepfeilers durch einen Strebebogen zu Gunsten
der Sakristei, oder der im Innern sinnreich hervorgebrachten Täuschung, als
sei der geradlinige Chornbschluß ein pvlygvuer, erregt das frühzeitige Vor-
kommen des Sterngewölbes unser besondres Interesse. Quast kannte als ältestes
Sterngewölbe nur das in der I.iuly eiiapol zu Lichfeld (1296—1321) und
für Deutschland das in der Briefkapelle von Lübeck (1310), und stützte hierauf
in seiner berühmten Abhandlung über das Alter der Marienburg (Neue Preu¬
ßische Provinzialblätter, Bd, XI) ein gutes Teil seiner gesamten Beweisführung.
Das sinkt nun in sich zusammen, und es wird zugleich wahrscheinlich Deutsch¬
land der Ruhm der Erfindung des Sterngewölbes gesichert. Schon im Mittel-
jvch des Chors der etwa 1255 erbauten Thvrner Johanniskirche findet man,
wie Steinbrecht ausführt, ein Sterngewölbe; ferner enthalten der Chor der
Schloßkapelle zu Lvchstedt (um 1275) und die Burg zu Nester (um 1300) in
der Kapelle und im Kapitelsaal .reiche Sterngewölbe, Auch für den Kapitelsaal
der Marienburg von 1309 lassen sie sich nachweisen, „Man darf — sagt Stein¬
brecht mit Recht — der selbstbewußt schaffenden Ordensbaukunst eine solche
schöpferische Kraft schou zutrauen." Interessant wäre es, zu wissen, ob sich bei
den vorgenannten Gewölben eine fortschreitende Entwicklung beobachten läßt.
Besonders wirkungsvoll ist an der Jakobskirche die prächtig durchgeführte Farben-
Wirkung, sowie der auf das reichste ausgestattete Ostgiebel, einer der schönsten
seiner Art, Eine buntfarbige Abbildung ist auf einer Doppeltafel dem vor¬
liegenden Werke beigegeben.
Der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts gehört die Marienkirche an, die
schönste unter den drei Franziskanerkirchen des Ordenslandes, von denen die
Kulmer die älteste, die Danziger die jüngste ist. Die Thvrner ist eine drei-
schiffige, schlanke Hallenkirche mit einschiffigen, flnchgcschlosseuein Chor und mit
kühnen Wölbungen. Der mit wahrhaftem Raffinement ausgestattete Wcstgicbcl
ist der Stolz der Thorner; aber technisch wie künstlerisch steht die Kirche weit
hinter den ältern Vautcn der Stadt zurück. Von hervorragender Schönheit
ist das spätgvthische Chorgestühl, Hier in der Marienkirche finden sich übrigens
auch wie in der Jakobskirche die herrlichsten Renaissance-Holzschnitzereien, deren
Veröffentlichung dringend zu wünschen ist.
Was endlich die mittelalterlichen Privathäuser betrifft, so schwinden ihrer
jetzt viele dahin, und ihre Zahl wird immer geringer. Wenn sich diese Ent¬
wicklung einmal nicht aufhalten läßt, so sollte mau wenigstens darauf halten,
daß kein älterer Bau niedergerissen würde, der nicht zuvor genau gezeichnet und
photographirt worden wäre. Gerade in Thorn, wo der Privatbau im all¬
gemeinen dem hanseatischen Vorbilde folgt, zeigt sich eine Frische der Erfindung
und eine Mannichfaltigkeit, die höchst beachtenswert erscheint.
Dies dürften im wesentlichen die Ergebnisse der Steinbrechtschen Unter¬
suchung sein. Dieselben haben ans die weitgehendste Beachtung Anspruch, und
man kann nur wünschen, daß der Verfasser recht bald die in Aussicht gestellte
Fortsetzung seiner trefflichen Arbeit bringen möge. Wir sind zugleich der
Meinung, daß sein Werk endgiltig mit der Meinung in Deutschland aufräumen
werde, als biete der deutsche Osten keine hervorragenden Bau- und Kunstdenk-
mäler, und daß es ferner mehr noch, als bisher, die allgemeine Aufmerksamkeit
auf die schönste und erhabenste Schöpfung der ostdeutschen Baukunst, die Marien-
burg, die eben jetzt vou Steinbrecht in ihrem alten Glänze wiederhergestellt
eschichtliche Erinnerungen spielen in der Politik zwar nicht die
Hauptrolle, haben aber immerhin von Zeit zu Zeit mehr Einfluß,
als mancher glaubt. Als Thiers Ranke fragte, gegen wen die
Deutschen nach Napoleons Gefangennahme bei sedem noch Krieg
führten, erhielt er von dem deutsche,? Geschichtschreiber die Aut¬
wort: Gegen Ludwig den Vierzehnten. In Frankreich regt die Ausweisung
der Prinzen die Gemüter auf, weil sich an die Herkunft der Familien Bourbon
und Bonaparte das Andenke:? an allerlei Großthaten der Vergangenheit knüpft.
Jenseits des Kanals bemühen sich Gladstone und die irischen Homeruler das
Werk zu erschüttern und zu zerbröckeln, das Strongbow vor Jahrhunderten auf¬
richtete. Die Ansprüche Griechenlands, welche bis vor kurzem die Levante mit
Krieg bedrohten, hatten keinen andern Grund für sich anzuführen als Erinne¬
rungen an mittelalterliche Verhältnisse. Ganz in dasselbe Kapitel gehört es,
wenn der Bürgermeister von Moskau seinen Zaren in öffentlicher Ansprache
die Zeit ins Gedächtnis zurückrufen zu dürfen glaubt, wo auf der Kuppel der
Sophienkirche, die jetzt die Hauptmoschee von Konstantinopel ist, das Kreuz
glänzte.
Allerdings ist das würdige Stadthaupt einer im Rufe stark chauvinistischer
Gesinnung stehenden Metropole kein Verantwortlicher Staatsbeamter, und so
kann er sagen, was er will, ohne diplomatische Vorstellungen dadurch zu ver¬
anlassen. Trotzdem sah die Sache auf den ersten Blick sonderbar aus. Der
Zar und der Sultan befinden sich miteinander im Frieden, sie verkehren durch
Gesandtschaften in aller Freundschaft, sie haben noch ganz kürzlich sich über die
beste Methode verständigt, das Überschäumen des bulgarischen Einheitsdranges
zu verhüten, sie tauschen Komplimente und Geschenke aus. Nichtsdestoweniger
Hort der Kaiser Alexander ohne Widerspruch und Tadel aus dem Munde eines
hochstehenden Mannes einen frommen Wunsch an, dessen Ausführung die Ab-
sendung eines russischen Heeres in die Lande des Sultans und die Einnahme
von dessen Hauptstadt einschließt. Dieser Wunsch wurde nicht geradezu aus¬
gesprochen, schien aber deutlich durch die Erinnerung hindurch. In der Kirche
der heiligen Sophia fand am 29. Mai 1453 das letzte große Blutbad statt,
als die Türken Konstantinopel erstürmten. Der Kaiser war in der Bresche ge¬
fallen, die Soldaten desselben waren geflohen oder niedergehauen worden, eine
Masse Unbewaffneter, darunter Frauen und Kinder, hatten in den Mauern des
Gotteshauses eine Zuflucht gesucht und wurden hier von den Siegern ab¬
geschlachtet. Eine Legende der orientalischen Kirche berichtet, daß beim Ein¬
dringen der türkischen Krieger gerade zwei Priester in blauen Gewändern am
Altare Messe gelesen hätten nud bei Beginn des Gemetzels wunderbar entrückt
und in den massiven Wänden geborgen worden wären. Von Zeit zu Zeit
käme» sie heraus, um schweigend durch Geberden den geheiligten Ritus zu wieder¬
holen, und eines Tages würden sie wieder erscheinen, um zu sehen, wie der
Halbmond von der Kirche entfernt und durch das Shmbvl des Christentums
ersetzt werde» würde. Im Osten erhalten sich solche Erinnerungen lange, und
die Russen sind ein Volk des Ostens. Wenn ein Präsident der französischen
Republik, der mit uns freundschaftliche Beziehungen unterhielte, in einer öffent¬
lichen Ansprache an sich eine Stelle gestatten wollte, welche eine Anspielung
auf den Einmarsch des französischen Heeres in Berlin einschlösse, so würden
wir darin sicher ein Zeichen erblicken dürfen, daß nächstens ein Krieg ausbrechen
Würde. In Betreff der Türkei wird manches gesagt und gethan, was in Bezug
auf andre Staaten nicht ohne Gefahr gesagt und gethan werden könnte, und
so darf man nicht viel darauf geben, wenn der Zar dem Bürgermeister nicht
widersprach, sondern sich begnügte, auf seine Anspielung zu schweigen, als ob
er ihren letzten Sinn nicht herausgefühlt hätte. Trotzdem hat die Moskaner
Kundgebung einige Bedeutung. Wir hören in ihr eine Partei sich äußern, die
neben dem Kaiser eine Meinung und Wünsche hat, mit denen sie bei seinem
Vorgänger auf dem Throne schon einmal durchdrang. Diese Partei glaubt
mit seiner Politik auf der Balkanhalbinsel unzufrieden sein zu müssen. Die
russische Politik sah die Versuche, ein Großbulgarien zu schaffe», mit ungünstigen
Blicken an, sie behandelte einen beim dortigen Volke beliebten Fürsten mit Mi߬
trauen und Schroffheit, sie verfuhr in verschiednen Beziehungen türkischer als die
Türken selbst. Sie widersprach damit scheinbar allen mvskowitischen Überliefe¬
rungen und machte sich Gegner nnter den christlichen Nationen des Südostens,
und sie hatte überdies das Mißgeschick, ihre Pläne vereitelt zu sehen. Der Mut,
der militärische Erfolg und die diplomatische Gewandtheit des Fürsten Alexander
haben dem Kaiser Alexander einen nicht gering zu schätzenden Nebenbuhler bei
seinem Anspruch auf die Liebe und Anhänglichkeit der durch seinen Vater mit
Rußlands Waffen befreiten Bulgaren an die Seite gestellt. Der Zar hat mit dem
Bestreben, diese nicht einiger und selbststüudiger werden zu lassen, bewirkt, daß sie
ihre Blicke lieber nach London, nach Wien, ja nach Konstantinopel richten als nach
Petersburg. Er ist nicht mehr der vornehmste Wortführer und Vorfechter der
Völkerschaften zwischen der Adria und dem Schwarzen Meere, nicht mehr der
gefeierte Sachwalter des Christentums in diesen Gegenden. Nicht unwahrscheinlich
ist es infolge seiner Politik, daß er die Rumänen, die Serben und die Bulgaren
gegen sich vereinigen würde, wenn er jetzt den Weg betrete,? wollte, den 1877
sein Vater einschlug. Auch die Griechen haben ihm nichts zu danken »ut von
einem Bündnis mit ihm mehr zu fürchten als zu hoffen. Daß seine Politik
die Interessen Rußlands wahrzunehmen strebte, ohne das gute Einvernehmen
mit den nachbarlichen Großmächten zu opfern und den Weltfrieden zu gefährden,
vermag jene chauvinistische Partei nicht zu begreifen, sie sieht nur, daß Rußland
nicht vorwärts, eher rückwärts gekommen ist, und sie hat, obwohl der Zar
autokratisch herrscht, Anspruch uns Rücksichten. So erklären wir uns die Rede in
Sebastopol und die Erlaubnis zu telegraphischer Weiterverbreitung der Ansprache
des Moskaner Stadthauptes: sie sollten Winke für die russischen Panslawisien und
für die Welt sein, daß noch nicht aller Tage Abend gekommen, daß aufgeschoben
nicht aufgehoben sei, daß der alte Streit zwischen dem orthodoxen Christentum
und dem Muselman» einmal wieder ausbrechen und ein neuer Kreuzzug zur
Eroberung der Kaiserstadt am Goldner Horn stattfinde» werde. Die russische
Flotte des Schwarzen Meeres, die 1854 nicht gerade ruhmvoll unterging — sie
wurde versenkt, um die Einfahrt in den Hafen von Sebnswpell zu versperren —,
soll wieder ins Leben gerufen werden, und wenn Rumänien und Bulgarien im
Vereine mit einer andern Macht den Landweg nach Stambul verlegten, so
könnte eil? erfolgreicher Angriff zur See als erster Schritt zu der Operation
notwendig erscheinen, welche der Bürgermeister von Moskau andeutete. Die
Lage Rußlands ist jedoch gegenwärtig sehr verschieden von der in den Jahren
1854 nud 1876. Im erstgenannten Jahre hatte man sich in Petersburg der
freundschaftlichen Neutralität Preußens und dadurch zugleich der Passivität
Österreichs versichert, 1.876 hatte man sich im voraus die bedingte Zustimmung
Deutschlands und Österreichs verschafft. Frankreich konnte sich uicht regen,
England allein war nicht sehr gefährlich und überdies geteilter Meinung, mit
Disraeli voll Argwohn auf die Russen, mit Gladstone voll frommer Entrüstung
über die Greuelthaten des „unaussprechlichen Türken" gegen den christlichen
Bulgarcubruder. Es ist ferner noch ein andrer Unterschied zwischen damals
und jetzt. Bis 1878 war der Zar stets imstande, sein Vorgehen gegen Kon-
stnntinopel mit dem Ansprüche auf Verteidigung und Befreiung zu maSkiren,
den die oder jene unterdrückte christliche Völkerschaft im Reiche der Pforte erhob.
Diese Gelegenheit zur Verdeckung von Erobcrungsgedanken ist jetzt weggefallen.
Die Serben, die Rumänen, die Bulgaren bedürfen seiner Gönnerschaft und Hilfe
uicht mehr. Wenn Rußland einmal wieder gegen die Türkei zu Felde zieht,
so wird es, soweit es sich um den europäischen Teil des Kriegsschauplatzes
handelt, den Angriff sofort mit einer Belagerung Konstantinopels eröffnen
müssen. Die Schwierigkeit eines solchen Beginnes des Krieges ist keine bloß
militärische, obschon die Nuß anch von diesem Standpunkte betrachtet nicht so
leicht zu knacken sein wird, als russische Artillerieoffiziere meinen. Mau würde
damit in der westlichen Welt eine Aufregung hervorrufen, wie man sie viele
Jahrzehnte nicht erlebt hätte. Es würde einen gewaltigen Kampf kosten, wenn
die Frage endgiltig entschieden werden sollte, ob auf der Hagia Sophia statt
des Halbmondes das Krenz strahlen soll, welches der Moskaner Bürgermeister
ihr wünscht. Österreich-Ungarn kann, soweit sich jetzt sehen und rechnen läßt,
nicht gelassen zuschauen, wie die alte Hauptstadt Ostroms, wie das Zarigrad der
Slawenwclt in deu Besitz des Kaisers von Rußland übergeht, und Österreich-
Ungarn ist der Verbündete Deutschlands. Auch ist es nicht wahrscheinlich, daß
England zulassen würde, daß der Schlüssel zum Mittelmeere und die Stadt, wo
das geistliche Oberhaupt seiner kriegstüchtigsten asiatischen Unterthanen thront, in
russische Hände geriete. Ebensowenig ist eine Abfindung oder Entschädigung für
Österreich-Ungarn durch russischen Verzicht ans die Westhälfte der Balkanhalbinsel,
für England dnrch russische Zusagen von Enthaltsamkeit in Betreff Afghanistans
und Persiens leicht denkbar, da solche Zusagen nach der Natur der Dinge kaum
auf die Dauer zu halten sein und über kurz oder lang gebrochen werden würden.
So aber würde der neue russische Kreuzzug aller Wahrscheinlichkeit zufolge gleich
anfangs dem Einsprüche zweier Großmächte des Festlandes begegnen, hinter
denen England mit seiner Kriegsflotte und seinem Gelde stünde. Die Russen
mögen in noch so weiten Kreisen sich nach dem Besitze von Konstantinopel
sehnen, ihre Regierung wird sich, so lange sie irgend kann, gegen den Feldzug
sträuben, der dazu erforderlich mare. Sie wird sich hüten, wie die Amerikaner
sich ausdrücken, „schlafende Schlangen zu wecken." Die Vision des Moskaner
Stadtvaters wird deshalb wohl noch geraume Zeit ein so schattenhaftes Traum¬
gebilde bleiben, wie die Wiedererscheinung der blauen Priester in der Mauevzelle
der Hagin Sophia.
Dazu kommen uoch andre beruhigende Betrachtungen. In den letzten
Jahren hat Rußland sehr erhebliche Vorteile aus seiner freundschaftlichen Stellung
zu seinen nächsten großen Nachbarn im Westen gezogen. Wir erinnern nnr
an sein Wiedererstarken ans dem Schwarzen Meere, an die Erweiterung und
Befestigung seiner Herrschaft in Mittelasien, um das Zurückweichen Englands
im nordwestlichen Afghanistan, dein Glacis von Herat, endlich vor allem an
die Schläge, die in der letzten Zeit auf die Hoffnungen und Bestrebungen der
Polen fielen. In der öffentlichen Diskussion haben die Polenreden des deutschen
Reichskanzlers nach ihrer Bedeutung für Nußland nicht hinreichende Würdigung
erfahren, und allerdings wurden sie zunächst im Interesse des preußischen Staates
und des deutscheu Kulturlebens gehalten; aber ihre ersten praktischen Erfolge
mußten Rußland zu Gute kommen. Sie wurden keineswegs bloß nach Posen
hingcsprochen, sondern auch uach Warschau, Krakau und Lemberg, uach Petersburg
und nach Wien. Sie vernichteten jeden ernsten Gedanken einer Möglichkeit, daß
Deutschland je irgendwelche Versuche zur Verwirklichung polnischer Nestaurativus-
plänc begünstigen werde. Sie verbreiteten Klarheit auch über Österreichs eigent¬
liche Stellung zu dieser für Nußland hochwichtige» Angelegenheit. Der Schreck,
der den galizischen Polen in die Glieder fuhr, bezeugte deutlich, daß man den
Kanzler in diesen Kreisen verstanden hatte, und ihr Geflüster, daß Österreich
mit der Zustimmung zu jenen Äußerungen sich für den Fall des unvermeidlichen
Znsammeustvßcs mit dem russischen Nachbar seines besten Armes berauben würde,
konnte an der Thatsache nichts mehr ändern. Eins der Hauptbiudemittel zwischen
den drei europäischen Kaisermächten, vielleicht das wichtigste, ist die polnische
Frage, die für Nußland größere Gefahr in sich birgt als für seine beiden Nach¬
barn. Die Panslawistcn wollen die Richtigkeit solcher Betrachtungen nicht an¬
erkennen. Sie erblicken in einem Zusammengehen der russischen Politik mit
Deutschland und Österreich-Ungarn keine» Gewinn, nur Gefahren und Verluste.
Aber der Zar hat, obwohl er sich in Fragen der innern Politik »lehr zu ihnen
hinneigte, als im Interesse der deutschen Nationalität »ut wohl selbst im recht-
vcrstandencn Interesse des russischen Staates selbst zu wünschen war, von An¬
fang seiner Regierung an bewiesen, daß er ihre Anschauungen in Sachen der
auswärtigen Politik nicht teilt. Er ist ein rechtlicher Mann mit Sinn für
andrer rechtliche Denkart, und er besitzt gesunden Menschenverstand und in
seinem Minister Giers einen maßvoll denkenden, dem Frieden zugewendeten
Ratgeber, Er setzte Vertrauen in den Fürsten Bismarck und fand sich damit
nicht getäuscht. Er weiß, daß die Panslawistcn Elemente einschließen, die in
doppelter Beziehung nicht seine Freunde sind. Diese Elemente drängen zu
Unternehmungen, die einmal möglich werden können, vor der Hand aber un¬
ausführbar und gefährlich sein würden, und diese Elemente sind der bestehenden
Ordnung im allgemeinen, nicht bloß in Mitteleuropa und im Sttdosten, sondern
auch in Rußland selbst feindlich, sie hoffen und erstreben Umwälzung und Um¬
sturz der monarchischen Gewalt, gleichviel ob sie es offen erküren oder nicht.
Wenden wir die Blicke nach Westen, wo die russischen Chauvinisten einen
Bundesgenossen gegen uns suchen und nach ihrer Art finden, so erscheint uns
der Himmel auch hier zwar nicht unbewölkt, aber ohne Anzeichen, welche ans
nahe Gefahr schließen lassen. Es mag Wahres darunter sein, wenn ein Mos¬
kaner Blatt sich aus Paris schreiben läßt, daß die Franzosen zur Zeit einen
Krieg mit Deutschland zmar nicht gerade ersehnen, aber auch nicht mehr fürchten,
"ut daß sie sich nnter Umständen für einen solchen leichter entflammen lassen
würden als 1870, Eine Hauptursache dieser Erscheinung liege nicht auf dem
Gebiete der Politik, sondern in der Krisis, uuter welcher Frankreich gegenwärtig
in industriellen, kommerziellen und landwirtschaftlichen Kreisen zu leiden habe.
Vielfach herrschte» Stockung und Unzufriedenheit, die den Wunsch erregten, es
möge im Innern oder nach außen hin sich etwas ereigne», wodurch die Stockung
beseitigt würde, „Die Mehrheit der Franzosen — so berichtet der Korre¬
spondent des russischen Blattes, der mit dieser Mehrheit freilich kaum Rück¬
sprache genommen haben wird — ist überzeugt, daß das nicht so weiter gehen
könne. Desgleichen trägt die politische Lage des Landes nicht wenig zu dieser
verdrießlichen Stimmung bei. Daß die Republik und selbst der Parlamen¬
tarismus in der letzten Zeit Bankerott gemacht haben, gesteht sich im Stillen
sogar jeder hinreichend intelligente Republikaner zu. Despotismus der herr¬
schenden Partei, Spionage und ewige Häkelei haben anderseits den Konservativen
in der Provinz das Leben zur Marter gemacht. Alle sehnen sich nach einer
Änderung, überzeugt, daß es dadurch nicht schlechter werden könne. Infolge
der eigeutttmlichen Beweglichkeit, Sensibilität und Nervosität der Franzosen
werden bei solcher Stimmung die einen den Krieg oder einen monarchischen
Staatsstreich freudig begrüßen, die andern ihn gelassen hinnehmen, alle aber
etwas wie Erleichterung empfinden."
Wir glauben, daß der Verfasser dieses Berichts übertreibt, weil die
Wahrheit in dieser Vergrößerung besser zu seinen Wünschen paßt. Aber etwas
Wahres liegt seiner Darstellung ohne Zweifel zu Grnnde. Die russischen Pan¬
slawistcn denken an ein gemeinschaftliches Vorgehen mit den revanchedürstenden
Franzosen gegen Deutschland. Sie dachten schon 1879 daran und begegneten
einer Ablehnung. Mau bedürfte damals in Paris des Friedens, man sah, daß
Frankreich nicht genügend gerüstet war, um mit Aussicht auf Erfolg einen
.Krieg mit dem deutscheu Reiche zu wagen. Ist das noch heute so? Die große
Mehrzahl der Franzosen, das arbeitende Volk, der Bauer, der Fabrikant, der
Kaufmann, wird unbedenklich als jedem .Kriege abgeneigt bezeichnet werden
dürfen. Aber dieser Teil der Nation bestimmt selbst in der Republik die
Politik derselben nicht. ES giebt auch hier eine Kabinetspolitik, und gerade
hier ist das, was man „öffentliche Meinung" nennt, das Interesse, die Ansichten
und die Bestrebungen der Parteien in der Presse, in Vereinen und Versamm¬
lungen von großem Einflüsse. „Patrioten" mit dem Hauptivuusche, von sich
reden zu machen und eine Rolle zu spielen, strebsame Parlamentarier, Generale,
die sich etwas zutrauen, arbeiten offen oder insgeheim und indirekt auf einen
neuen Krieg mit Deutschland hin. Das seit 1870 herangewachsene neue Geschlecht,
welches nicht durch Erfahrung darüber belehrt worden ist, was ein unglücklicher
Krieg zu bedeuten hat, ist in der Vorstellung erzogen worden, daß ein aber¬
maliger Kampf mit den Deutschen Ehrensache der Nation und daß ein Sieg
der französischen Waffen diesmal mit unzweifelhafter Sicherheit zu erwarte»
sei. Endlich scheint auch ein Teil der Geschäftswelt dem ihr unaufhörlich vor¬
getragnen Wahne zu huldigen, es könne dem Darniederlicgen der französischen
Industrie nur abgeholfen werden, wenn mit eiuer Niederwerfung der Deutschen
auf politischem Gebiete mich deren Kraft zum Wettbewerb auf gewerblichen ge¬
brochen würde. Daß alle Prätendenten, wenn sie auf den Thron gelangten,
einen Krieg mit uns, der ihnen Elsaß-Lothringen verhieße, mit dem sie ihre
Gegner als Mvrgengabe versöhnen könnten, als notwendig für ihre Erhaltung
in der Herrschaft betrachten würden, ist so selbstverständlich, daß es kaum hervor¬
gehoben zu werdeu verdient; namentlich gilt es von den vrleauistischeu Prinzen.
An dem Willen zu einem neuen Wassergange mit uns fehlt es also bei den¬
jenigen Teilen der französischen Nation, welche den Ausschlag zu geben Pflegen,
gewiß nicht. Wie aber steht es mit dem Können? Ist mau genügend gerüstet
dazu? An eifriger Bemühung, die militärischen Mittel Frankreichs denen
Deutschlands gewachsen zu machen, hat es nicht gefehlt. Jeder der vielen Kriegs¬
minister, die einander von 1871 an im Amte folgten, hat in dieser Richtung
gethan, was er konnte, und keine Deputirtenkammer hat irgendwie gezaudert, die
dazu erforderlichen ungeheuern Geldmittel zu bewilligen. Mag man sich in
mancher Maßregel vergriffen, mag mau sich in mancher Erwartung getäuscht
haben, so ist doch im ganzen unzweifelhaft Großes erreicht worden. Das jetzige
französische Heer ist nicht bloß nach der Zahl seiner Regimenter und Batterien
eine gewaltige Waffe. Man hat den Preußen viel abgelernt, mau hat alles
benutzt, was die Technik unsrer Zeit zur Ausrüstung von Armeen darbietet.
Nicht bloß die Bewaffnung der Infanterie, die Pferde und Geschütze, das Militär-
transpvrtwesen lassen wenig zu wünschen übrig, sondern auch die Kriegstelegraphie,
die Taubenpost, das Ballvnwcscn befinden sich fast durchgehends ans der Höhe
der Zeit. Der Osten des Landes und Paris starren von furchtbaren Festungs¬
werken. Nur eins haben die Franzosen uns nicht nachthun können: sie besitzen
kein preußisches Offizierkorps, das sich eben nicht machen läßt, sondern gewachsen
sein muß. Sie wissen dies aber nicht, und da sie nach der Art ihrer Nation
überhaupt Neigung haben, sich zu überschätzen, so halten sie sich jetzt gewiß für
hinreichend gerüstet, uus bei passender Gelegenheit den Krieg zu erklären, um
Rache für Sedan zu nehmen und Metz und Straßburg wieder zu erobern. Aber
eins fehlt noch in der Rechnung, und dieser Mangel verbürgt uns für jetzt und
vermutlich für lange Zeit noch den Frieden: die passende Gelegenheit und
das trotz alles Selbstgefühls immer noch als notwendig angesehene Bündnis
mit einer dritten Großmacht. Dieses ist wenigstens solange nicht zu haben, als
Frankreich eine Republik, ein im ärgsten Sinne parlamentarisch regierter Staat,
ein politischer Proteus bleibt, mit dem sich nicht rechnen läßt. Weder ein
Bündnis mit England ist jetzt möglich, noch ein solches mit Italien. Dort trennt
Ägypten und die Kolonialpolitik, hier die Erinnerung an Tunis und die Mittel¬
meerpolitik überhaupt. In Nußland wären die Panslawistcn sofort zu haben, die¬
selben sind aber vor der Hand nicht die Negierung, und ein Zar müßte sein eigenstes
Interesse verkennen, wenn er sich mit Republikanern verbände, die binnen kurzem
von den Gesinnungsvettern der Nihilisten beerbt werden können. Dafür aber,
dnß die Prätendenten nicht obenauf kommen und Frankreich bündnisfähig machen,
sorgen eben jetzt einträchtig alle republikanischen Parteien. Was uns in Frankreich
allein ernste Bedenken einflößen konnte, daß der Friede mit uns bald gebrochen
werden könnte, die Monarchie, wird aus Frankreich ausgewiesen oder für die erste
Lebensregung mit Ausweisung bedroht. Uns kann das selbstverständlich nur an¬
genehm sein — sehr angenehm.
v soll denn abermals das Volk eines seiner heiligen Rechte be¬
raubt werden! Ein dürftiger Rest unsrer Errungenschaften war
noch dem Späherblick der nimmersatten Reaktion entgangen, die
Pantschfreiheit, stillvergnügt tranken wir all die wunderbaren Ge¬
bräue, welche vom Bier nichts als den Namen an sich haben,
und litten still, was drauf folgte. Aber nicht einmal das Menschenrecht, sich
den Magen zu verderben, sich langsam zu vergiften, erkennt der moderne Po-
lizeistaat um, nicht einmal das Kopfweh des armen Mannes flößt ihm Respekt
ein, die gute alte Sitte verachtet er, und jeder Fortschritt ist ihm ein Greuel.
Vier soll nur aus Hopfen und Malz gebraut werden? Nun, ich gebe zu, daß
Franziskaner- und Spatenbräu gut schmecken, den Durst löschen und wieder
reizen, nahrhaft sind und den Schlaf befördern. Das ist den Herren die Haupt¬
sache, ruhig schlafen soll das Volk und mit frischem Durst wieder aufwachen,
ohne zu wissen, wieviel es am Abend getrunken hat. Ein solches Volk läßt sich
leicht regieren. Wir aber wollen ein solches Volk nicht. Das Volk, welches
wir meinen, soll am, Morgen durch den dicken Kopf an all seine Leiden und
Lasten, an seine Steuern und seine Unfreiheit gemahnt werden, das ist die Stim¬
mung, in welcher es energisch für Recht und Freiheit räsvnnirt und die ganze
Schlechtigkeit aller^ Regierungen erkennt. Was ist Trinke» ohne Rausch und
was Rausch ohne Übelbefinden hinterher? Das wußten unsre Altvordern wohl,
darum thaten sie Muskate in ihr Bier, und später griffen aufgeklärte Bier¬
brauer zu Schweinspvsten und andern wohlfeilen und kräftigen Mitteln, die
den Kopf mit Dünsten anfüllten, im Trinker das beruhigende Bewußtsein, zu
viel getrunken zu haben, wachhielten und sich wieder nur durch abermaliges
Trinken verscheuchen ließen. Das war in der guten alten Zeit, von der Sie
gern reden, meine Herren, für deren wahre Vorzüge Sie jedoch kein Verständnis
haben, keins haben wollen. Die moderne Wissenschaft ist nun viel weiter fort¬
geschritten; wie sie Wein ohne Traubensaft, Butter ohne Milch, Milch ohne
Kuh, Mehl ohne Getreide, Honig ohne Bienen, Kaffee ohne Kaffeebohnen ?e. ?e.
fabrizireu gelehrt hat, so bedarf sie auch längst nicht mehr des Hopfens und
Malzes, um Biere zu bereiten, die noch schädlicher sind als die alten verfälschten,
dafür aber den Durst nicht stillen. Dieses Kunstbier mögen Sie wieder nicht,
weil Sie Feinde eines jeden Fortschrittes und ohne Sinn für Kunst sind.
Wahrscheinlich werden Sie uns einwerfen, wir träten für unser eignes
Lieblingsgetmuk ein — an derartige Verdächtigungen sind wir ja gewöhnt! Aber
ich erkläre hier laut und feierlich, daß für mich keinerlei Eigennutz bei der
Frage im Spiel ist. Mir fällt es nicht ein, die chemischen Dekokte zu trinken,
ich habe das nicht nötig. Ich spreche allein im Interesse des armen, gedrückten
Volkes, wie das schon Herr Dirichlet gethan hat; ich lobe mir mein Glas Larose
und Sekt, und wenn ich auch kein Ostpreuße bin, weiß ich doch auch schwedischen
Punsch zu schätzen. Meinetwegen mögen sich andre mit Münchener und Pilsener
Bier vollschwemmen. Aber der arme Mann, meine Herren, der hätte ja gar
keinen Vertreter hier, wenn nicht wir Freisinnigen wären. Und das muß kon-
statirt werden, daß sämtliche andern Parteien kein Herz für das Volk haben,
dem armen Manne weder sein Kartoffelkraut in der Pfeife, noch sein Scheide¬
wasser im Schnapsglase, noch seine Trichine im amerikanischen Schinken, noch
endlich seinen Quassia-Absud im Bierseidel gönnen. Und konstatirt werden
muß, daß abermals nnr wir dafür kämpfen, dem Volke den Segen der hehren,
göttlichen Kunst zuteil werden zu lassen. Ihre Prachtbauten, Statuen und
Gemälde sind nichts für die armen Leute, davon verstehen sie nichts, zu ihnen
muß die Kunst in populärem Gewände kommen, als Kunstbutter, Kunstwcin,
Äunstbier. Kunstwolle u. s. w. Für diese geistigen Bedürfnisse des Volkes, für
diese Gaben, welche ein Band weben zwischen den Dürftigen und der Welt
der Ideale, werden Sie uns jederzeit ans dem Platze finden — uns allein!
Endlich wird ja das Volk doch begreifen, wo seine wahren Freunde sitzen. Und
wenn nicht: auch den Undank werden wir klaglos über uns ergehen lassen wie
den Zorn des Reichskanzlers und den Groll der „Norddeutschen." Wir werden
nicht wanken, nicht ermüden in dem Kampfe um die heiligste» Güter der Mensch¬
heit, und wenn alle verzagen oder untreu werden, so treten wir kühn vor den
Fürstenthron und sprechen: „Sire, geben Sie Pantschfreiheit!"
!
l us dem schmerzlichen Halbtraum, in dem er bald zu dem Brunnen
hinaus und bald auf die Blätter herab sah, welche halbbeschrieben
vor ihm lagen, weckte ihn der Schall von Tritten und Stimmen
in dem sonst stillen Hause, er erriet alsbald, daß Vnrreto von
Cmtrci heimgekehrt sein müsse. Sonst war er freudig auf¬
gesprungen und dem Gastfreunde entgegen geeilt, wenn derselbe nur von einem
Ritt oder Gang zu den Gutsnachbarn zurückgekommen war, und heute ver¬
sagten ihm Seele und Glieder gleichmüßig den Dienst, er Hütte wünschen
können, daß Barrcto erst bei Nacht angelangt wäre. Noch diesen Morgen im
Trotz seiner Entschlüsse würde er das klare Ange Manuels nicht gescheut haben,
jetzt, wo er die schwerem Gedanken und Zweifel, die ihm das Kriegsspiel vorhin
erweckt hatte, umsonst zu besiegen versuchte, zögerte er, dem Freunde gegenüber
zu treten. Er lauschte den Tritten in dem entfernteren Gange, er hörte dann Joao
in dem naheliegenden Gemach Barretos sprechen und vernahm, wie der Hausherr
ungeduldig sagte: Doch wo hast du ihn zuletzt gesehen, Joao, er kann unmöglich
im Hause sein, er hätte mein Kommen gehört. So aufgemahnt, erhob sich
Camoens nun doch von seinem Sitze, that mühsam einige Schritte unter den
Arkaden hin und rief halblaut: Seid Ihr es wirklich, Manuel? War Varreto
schon der Schwelle nahe gewesen oder hatte er bei dem ersten Laute seines
Gastes sein Gemach durcheilt, er trat fast augenblicklich heraus und begrüßte
Camoens voll herzlicher Freude. Mit dem ersten Blick vergewisserte er sich,
daß der Dichter die Handschrift der Lusiaden neben seinem Sitz liegen hatte,
und fragte alsbald lächelnd: Weilt die Muse bei Euch, Luis. daß Ihr selbst
meinen rauhen Tritt überhören mögt? Ich bin glücklich, Euch hier in gutem
Frieden zu finden und selbst wieder nach meinem Brunnen zu schauen. Es
waren harte Tage, die über uns gekommen sind, ich hoffe, sie sind vorüber.
Nach allem, was ich in Cintra erlebt, dachte ich mit Freuden hierher, wo ich
Euch wußte, ein ungewohntes Gefühl nach so manchem Jahre, das ich völlig
einsam verbracht habe. Wahrhaftig, ich ritt darauf los wie einer, der zu seinem
jungen Weibe eilt, und ich denke, ich war fröhlicher als mancher Ehemann,
trotz allem!
Trotz allem, Manuel? fragte Ccunoens, den die herzliche Weise, mir der
ihn Barreto begrüßte, aus dem dumpfen, willenlosen Hinbrüten erweckt hatte.
Habt Ihr wirklich in allen diesen Tagen nicht zu König Sebastian durchdringen
können?
Zu ihm wohl, Freund Luis, uicht bei ihm! versetzte der Hausherr mit
trübem Lächeln. Ich stand dreimal vor dem König; mit nur haben die Brüder
Evora, selbst Graf Vimioso, der Großkämmerer, ihn beschworen, Gerechtigkeit zu
üben und die mutmaßlichsten — was sage ich mutmaßlichen! — die gewissen
Mörder Jocmas ergreifen zu lassen. Im Eifer der ersten Untersuchung verriet
Dom Sebastian, daß auch gegen Esmah Catarina bereits zwei Mordversuche
unternommen worden sind. Ich wußte es bereits von der Herzogin von
Braganza, welche die junge Maurin treulich hütet und sie doch lieber heute als
morgen aus dem Palaste hinwegsenden möchte. Der König schwur, daß er Esmah
zu schützen, Jocma zu rächen wissen werde, und dann hielt er inne und — beschied
mich auf den folgenden Tag, weil er den Fall doch erst mit seinen Räten be¬
sprechen müsse. Seine Räte sind der Prior von Belem und Frech Rafael, der
nach Dom Joaos Augenwinken des Königs Gewissen lenkt. Da wußte ich
bereits, wie er sich fassen würde, und betrat am zweiten Tage des Königs
Empfangssaal schon ohne große Hoffnungen. Dom Sebastian war dann
düster, zerstreut, schweifte mit seinen Augen in die Ferne lind sagte mir
kurz, daß sich alle meine Angaben in Bezug auf Jvauas Tod bestätigt
hätten. Und dann setzte er gesenkten Blickes hinzu, daß er seinen erlauchten
Bundesgenossen, den Prinzen Mulei Muhamed, aufgefordert habe, seine Diener,
welche eines Mordes dringend verdächtig seien, in Haft nehme» zu lasse». Es
sei ihm »»möglich, Gewaltschritte gegen einen Fürsten zu unternehmen, der sich
seinem Schutze vertraut habe, im Augenblicke ein länderloser Flüchtling und
darum umsomehr der peinlichsten Rücksicht seines Gcistfreundcs würdig sei.
Übrigens beruhe ein großer Teil seiner eignen Hoffnungen für entscheidende
Siege in Afrika auf dem Bündnisse mit dem Marokkaner, und gegenüber den
großen Sorgen für sein Reich könne die Sorge um Sühne für den Mord der
kleinen Ziegenhirten doch kaum in Betracht kommen. Ihr könnt denken, was
ich Seiner Majestät erwiederte, und ich muß es meinen Freunden und selbst dem
Grafen Vimioso, der nicht mein Freund ist, nachrühmen, daß sie mir wacker bei¬
gestanden haben. Diese« Morgen ließ mich der König abermals rufen und
teilte mir mit, daß ihm Mnlei Muhamed einen Brief in arabischer Sprache
geschriebn» und ihm mitgeteilt habe, daß die drei bezichtigten Diener von ihm
schon zwei Tage vor Empfang der königlichen Botschaft in geheimer Sendung
nach Afrika hinübergeschickt worden seien. Vimivso schwur, daß er einem von den
Schurken, und zwar dem, welchen er für den eigentlichen Henker halte und in
welchem auch Absalon, der Mohr der Herzogin von Braganza, denjenigen erkenne,
welcher ihm Gift für Esmah übergeben habe, noch Tags zuvor in Pera Verba
begegnet sei. Der König war höchlich verlegen und ward, wie immer, wenn er
verlegen ist, barsch und rauh. Er brach mit der Bemerkung, daß kriegerische
Übungen seine Gegenwart erforderten, die Audienz kurz ab. Ich schied von
ihm mit tausend stummen Flüchen wider den Feldzug in Afrika; ein lautes
Wort, daß ich ein Bündnis für unheilvoll halten müsse, welches den König
hindre, Gerechtigkeit zu üben, habe ich mir nicht versagt.
Die kriegerischen Übungen habe ich vom Wall Elters Schlosses gesehen,
sagte Camoens. Wenigstens das war kein Vorwand! Die Schlachtrufe und
das Waffengerassel schreckten mich vou meiner Arbeit empor, und ich mußte
schauen, was nicht darnach angethan war, eines alten Kriegers Herz zu erheben.
Eure Arbeit, Luis? fragte Varreto ablenkend. Seid Ihr dahin gediehen,
das Werk für druckreif zu erklären, und habt Ihr die langegesuchte Widmung
an deu König gefunden?
Ihr werdet keine Freude an dem erleben, was ich gefunden habe, versetzte
der Dichter zögernd. Versucht habe ich, dein König zu sagen, was mich jetzt
das Unvermeidliche dünkt. Auch die Stille hier hat mich nicht anders denken
gelehrt, als ich Euch in Cintra sagte.
Er verstummte plötzlich und deutete auf die Blätter, die auf der Hand¬
schrift seines Gedichts obenauf lagen. Barretv, dessen Gesicht wachsende Unruhe
verriet, griff gleichfalls nur zögernd darnach und ließ seine Augen über die
Verse hingleiten. Er las einmal und wieder, und seine Lippen sprachen ein¬
tönig die Worte nach, welche er vor sich sah:
Immer langsamer, immer tonloser hatte Barreto das Blatt herabgelcsen,
während Camoens gedankenvoll und mit sichtlichem Unbehagen nach dem Plät¬
schernden Brunnen hinaussah. Der Fidalgo schien ein Wort des Freundes
zu erwarten, und erst als dieser hartnäckig schwieg, sagte er leise: spottet Ihr
meiner oder Eurer oder des Königs, Luis? Ihr wolltet im Ernst diese Verse,
die mich ein Hohn dünken, dem König vor Augen bringen?
Ich weiß es nicht, ob ich es thun werde, entgegnete Camoens. Gestern
und noch diesen Morgen war ich fest entschlossen, dem König dies und nichts
andres zuzurufen. Ob ich an seinen Sieg glaube oder nicht — ich wünsche
ihm den strahlendsten Sieg! ich hoffe, daß derselbe den portugiesischen Fahnen
in Marokko so wenig fehlen wird als in Indien — Ihr wißt, warum ich
Dom Sebastian Hinwegwünsche.
Damit Catarina Pcilmeirim den König nicht mehr sieht und dafür Euch
scheu kann? fragte Barreto mit einer Schärfe und Bitterkeit zurück, wie sie
Camoens gegenüber noch nie laut geworden war. In der gleichen Minute bereute
er auch schon diesen Ton und faßte liebevoll Camoens' Schultern, um das ab¬
gewendete Gesicht des Freundes zu sich znrückzulenken. Nicht doch, nicht doch,
Luis, Ihr ahnt es ja nicht, was Euch treibt — Ihr vermeint sogar in Euerm
Sinne ein Opfer zu bringen.
Und das wollte, das will ich auch! rief Camoens ihn unterbrechend. Er
schien im aufwallenden Zorne die Kraft und das Selbstgefühl wiederzugewinnen,
die er vorhin, mit sich allein, plötzlich schwinden gefühlt hatte. Ich bringe das
höchste Opfer, das ein Mann um seiner Liebe willen bringen kann, ich stehe in Ge¬
fahr, wegen dieser Verse Eure und manches trefflichen Mannes Freundschaft zu
verlieren, ich werde vielleicht eine schwere Last von Neue auf mein Gewissen laden
wenn unsre Fahnen nicht siegreich sind. Doch um Catarinas willen würde ich
mein Leben opfern und nehme nichts aus, was zu diesem armen Leben gehört.
Vor allem bleibt gerecht, Freund, und vergeßt nicht, daß eine Freundschaft
wie die unsre auch härtere Proben bestehen muß als den Irrtum des einen oder des
andern von uns. Und dann sagt mir, warum Euch doch wieder ein Zweifel gekom¬
men ist, Dom Sebastian zum Kreuzzug aufzurufen. Ich sehe, daß Ihr zögert —
Vielleicht war es eine plötzliche Mahnung an Euch! sagte Cnmoeus wider¬
strebend. Ich ward heute Mittag des Königs und seiner Leibschaar ansichtig,
und es überkam mich, daß, wo wir in Indien nur zu zwei- oder dreihundert
beisammen waren, wir anders dreinschauten als des Königs heutige Waffen¬
gefährten. Vielleicht sah ich mit Euren Augen, Manuel! Und ich sollte es
nicht — ich dürfte uicht bedenken, als was ich in den Königsgärten mir ge¬
schworen! Eben sagte ich, daß es nichts giebt, was ich für Catariuas Glück
und Ehre nicht zu opfern vermöchte.
Eure Ehre, Euers Gewissens Ruhe werdet Ihr doch ausnehmen, Luis!
entgegnete Manuel, und jetzt war ein unwiderstehlich herzlicher Klang in seiner
Stimme. Ihr würdet nicht zögern, nicht zweifeln, wenn nicht etwas im Kern
Euers Herzens gegen Euern Entschluß und Euer Opfer spräche. Ich will offen
sein, Freund: ich bin überzeugt, daß es kein Mittel mehr giebt, die Pläne des
Königs aufzuhalten und das Unheil abzuwenden, welches sein Glaubens- und
Nuhmcstraum über Portugal heraufbeschwört! Ob Ihr mit diesen Versen den
König bestärkt, ob Ihr ihn feierlich abnähme, es wird kommen, was kommen muß!
Ihr aber dürft keinen Teil daran haben und, wenn Ihr nicht selbst überzeugt
seid, daß des Königs Zug unserm Lande zum Heile dient, sich an die Thaten an¬
reiht, denen Ihr Euer bestes Leben geweiht und die Ihr besungen habt, auch nicht
das Sandkorn in die schwankende Wagschale werfen! (Fortsetzung folgt,)
Nachtrag zu dem Aufsatz über die Wohnungsnot. Nach jüngsten
Zeitungsberichten hat in Frankfurt unter Leitung von Dr, Flesch und Dr. Miqnel
bereits eine Versammlung stattgefunden, welche die Wohnungsfrage besprochen hat.
Für die Schaffung von Arbeiterwohnungen hat weniger die Geldfrage als die Platz-
und Einrichinngsfrage Schwierigkeiten gemacht. Man ist aber dort auf ein neues
Mittel verfallen, der Wohnungsnot abzuhelfen. Es sollen Genossenschastshäuser
gegründet werden, dergestalt, daß je eine größere Zahl (etwa zehn) Besitzer von
kleinen Vermögen (etwa von tausend Mark) sich zusammenthun und mit Beihilfe
eines größern Kapitalisten ein gemeinsames Haus erbauen, das für sie alle kleine
Wohnungen bietet. Es wäre gewiß erfreulich, wenn die Sache glückte. Es fragt
sich nur, ob die Teilnehmer den alten Satz werden überwinden können: vommumo
oft imitier rixlU'um,
Der Abt. Ein Sang aus Preußens Ritterzeit von M, Tyrol. Leipzig, Meißner, 1885.
Es ist uicht leicht, demi Autor dieses sehr bemerkenswerten lyrisch-epischen
Gedichts gerecht zu werden, denn mit manchen Vorzügen vereinigt er viele Fehler.
Er besitzt die Gabe der glücklichen Erfindung, einen Stoff, den ihm cmdeutnngs-
weise die Sage seiner ostpreußischen Heimat geliefert hat, hat er sehr schön aus¬
gesponnen, abgerundet und bedeutungsvoll vertieft. Er versteht sich auch auf die
Kunst der Komposition; die sehr verwickelte Fabel hat er klar zu erzählen gewußt,
hat auch den künstlerischen Trieb gehabt, zwischen Charakter und Handlung die
vollste Harmonie herzustellen, sodaß sich ein bedeutendes, tragisch ergreifendes Schicksal
in den Ereignissen abspielt. Er hatte Geist genug, dein rohen Stoffe eine große
und schöne Idee einzuweben, sodaß sich die Geschichte in die rechte poetische Höhe
erhebt. Allein in der Form seiner Darstellung hat sich der Dichter total vergriffen,
sodaß die unglückliche Wahl des Versmaßes, der ganz unpassende Nachdruck, welcher
auf die rhetorischen und reflektirenden Partien gelegt wird, wo doch eine echt episch
vorschreitende Darstellung der Charakterentwicklung des Helden vom Stoffe selbst
geboten wurde, daß die ganze uuauschauliche und Sprunghafte Erzählnngsweise die
Vorzüge der Dichtung verdunkelt und uicht zur Geltung kommen läßt.
Die Dichtung führt uns in das vierzehnte Jahrhundert, in die erbitterten
Kämpfe des deutschen Ritterordens mit den Polen. Der Held der Geschichte ist ein
Klvsterzögling, der spätere Abt Johann von Marienburg. Schon seine Geburt ist
unter tragischen Umständen vor sich gegangen; sein Vater, eine Art von polnische»!
Regulus, ist vor seiner Geburt auf dem Schaffot des Kvmthurs gestorben, und seine
Mutter hat ihn in der Gefangenschaft zur Welt gebracht. Im Kloster streng as¬
ketisch erzogen, seiner polnischen Herkunft unbewußt, wird der Jüngling Johann
in gefährlicher Mission vom Abt zu den Polen geschickt. Von glühendem Durst
nach Freiheit und ritterlichem Leben, muß er gleichwohl der Welt entsagen, nach¬
dem er das Geheimnis seiner Abkunft und die ihm vom Schicksal aufgebundene
Pflicht der Nache seiner Eltern am Ritterorden kennen gelernt hat. Zähneknirschend
nimmt er, ins Kloster zurückgekehrt, das Mönchskleid, um, im Herzen des Feindes,
bei passender Gelegenheit für die Polen verräterisch thätig sein zu können. Allein
Jahrzehnte vergehen ohne Krieg, Johann ist Abt seines Klosters geworden; die dem
allgemeinen Wohl geweihte Thätigkeit des Mönchs, obgleich anfänglich nur kalt und
mechanisch geübt, wirkt unbewußt wohlthuend auf Johann selbst zurück. Er lernt das
Land und die Menschen lieben, für die er unausgesetzt sich bemüht: auch das Gute übt
seinen Zwang aus! Er gewinnt ein wirkliches Vaterlandsgeftthl. Und als endlich
nach langer Zeit die Polen die deutschen Ritter mit Krieg überziehen und den
Abt Johann an seine versprochene Hilfe mahnen, da gerät dieser in den tragischen
Konflikt zwischen der Liebe zu der selbsterworbnen Heimat und zu der Pflicht, das
Rache-Versprechen zu halten — ein Konflikt, in dem er bei seinem Charakter
untergeht.
Dies, flüchtig skizzirt, die Handlung. Des Dichters Grundirrtum ist, daß
er sie nicht mit der nötige» epischen Breite und Ruhe dargestellt, daß er über¬
haupt wenig Sinn für Handlungen und Vorgänge hat, sondern, anstatt die Dinge
vor des Lesers Augen entstehen zu lassen, nur das Resultat der Ereignisse rhe-
torisch-reflektirt darstellt. Die vierfüßigen galoppirenden Jamben, die obendrein
paarweise gereimt sind und daher gern Antithesen bilden, lassen vollends kein
episches Behagen aufkommen. Auch die Sprache ist hart, oft genug geradezu
fehlerhaft; eine edle Prosa wäre weit mehr am Platze gewesen. Alles dies sei
jedoch uicht gesagt, um den Autor vom ferneren Schaffen abzuschrecken, sondern
vielmehr sein Talent auf die rechte Bahn zu lenken.
urch die beglaubigte Mitteilung, daß die römische Kurie die
ständige Anzeigepflicht gewährt und die preußischen Bischöfe dem¬
gemäß angewiesen hat, die Pfarrer für die frei werdenden Stellen
der Regierung zu benennen, darf man die neueste Phase der
Kirchenpolitik als abgeschlossen betrachten.
Eben weil ein solcher Ruhepunkt eingetreten ist, wird eine Äußerung in
diesen Blättern nicht ungerechtfertigt sein. Solange die Materie in den Händen
der Parteien und Diplomaten war und nicht bloß jeder Tag, sondern auch fast
jede Stunde ein andres Antlitz zeigte, bestand für eine Wochenschrift, welche sich
über die Ereignisse stellen will, kein Anlaß, den Chor der Preßstimmen dnrch
eine ephemere Äußerung zu vermehren. Wohl aber hat sie die Pflicht, nachdem
jetzt die Akten — wenigstens für eine Zeit lang — geschloffen sind, von einem
allgemeiner!: Standpunkte das wichtige Ergebnis der letzten preußischen Kirchen-
Politik zu betrachten.
Allzusehr freilich wird es nicht möglich sein, in die Tiefe der Dinge hinab¬
zusteigen; denn es handelt sich auf diesem Gebiete um Streitfragen, welche die
Menschheit so lange bewegt haben, als es eine weltliche Macht und ein Priestertum
gab. Ja selbst wenn man ans diesem großen Zeitraume die im Vergleich zu
ihm kleine Episode der deutschen Geschichte herausgreift, so haben sich die
Schwerter — das geistliche und weltliche —, denen nach dem Sachsenspiegel die
Beschirmung der Christenheit anvertraut ist, oft genug gekreuzt, bis sie wieder
friedlich nebeneinander wirkten, um nach kurzer Zeit aufs neue einander zu be¬
kämpfen. Wer sich diese Erscheinungen gegenwärtig hält, der darf sich über die
neueste Entwicklung, welche der sogenannte Kulturkampf genommen hat, nicht
wundern. Beide Teile haben nach langer Vefehdung das Bedürfnis des Friedens
gefühlt. Das neue deutsche Reich, diese herrlichste Schöpfung unsrer Tage, sah
sich durch den Kampf mit der katholischen Kirche seinen wesentlichsten Aufgaben
entfremdet. Eine mächtige Partei übernahm angeblich den Schutz der bedrohten
Rechte der Kirche und geriet dabei unvermerkt unter die Leitung eines notorischen
Welfcncigitators, d. h. des bedeutendsten innern Gegners, den das Reich hat.
Unter seiner Führung ist keine Vorlage sachlich, sondern lediglich nach den Be¬
dürfnissen einer jesuitisch-welfischen Politik geprüft worden. Diese Partei fand
die Unterstützung bei allen Fraktionen, welche ihr Ziel in der Bekämpfung der
Reichspolitik finden. Gerade solche, welche weder im Staat noch in der Kirche
irgendeine Autorität anerkennen, gerade solche, welche programmmäßig die
positive Religion bekämpfen oder sogar sich offen zum Atheismus bekennen,
waren in der Gegnerschaft gegen das Reich und dessen Regierung die getreuen
Bundesgenossen der katholischen Partei. Diesen Anstrengungen gegenüber hatte
das neue Reich, wenn man will, Tag für Tag um seine Existenz zu ringen,
um mir dasjenige durchzusetzen, was unbedingt zu seiner notdürftigen Unter¬
haltung nötig war. An große Reformpläne war nicht zu denken; nur einem
so bedeutenden Manne wie dem Fürsten Bismarck konnte es gelingen, in dieser
Zeit der Kämpfe den Frieden nach außen zu erhalten, die soziale Frage in
Angriff zu nehmen und die neuen Ideen einer gesunden Handels-, Zoll- und
Steuerpolitik in die Massen zu werfen. Wo einmal der eine oder der andre
Plan zur Ausführung kam, geschah dies nur unter großen Opfern, immer war
es der kirchliche Unfriede, der zum Deckmantel für alle Angriffe benutzt wurde.
Aber wenn auf der einen Seite der Staat für sich aus dem Kampfe keinen
Segen sprießen sah, so mußte jeder ernste und nicht vom Augenblick befangne
Mann sich sagen, daß auch die katholische Kirche in Deutschland ans abschüssigem
Wege war. Sie, deren ganze Grundlage in der Anerkenntnis der Autorität
besteht, mußte die staatliche Autorität fortwährend bekämpfen und oft mit Bundes¬
genossen und Mitteln, die eben nur bei einem erbitterten Kampfe ihre Erklärung
finden. Eine so hartnäckige Bekämpfung der Autorität hat aber Gefahren für den
Bekämpfenden, wenn das Volk so durchaus monarchisch und königstreu ist wie das
preußische. Den gebildeten Elementen ging die kirchliche Kampfesweise schon vom
Beginne des Kulturkampfes an viel zu weit, das Umsichgreifen des Jesuitismus
und der Demagogie im niedern Klerus flößte ihnen Besorgnis und Absehen ein.
Es war zu befürchten, daß sich dieser gute Kern gänzlich von dem kirchlichen Leben
losen und daß die Lauheit des Glaubens, durch welche sich die höhern prote¬
stantischen Kreise in so wenig vorteilhafter Weise auszeichnen, auch die bessere
katholische Bevölkerung ergreifen werde. Die niedere aber mußte in ihren sittlichen
Begriffen schwankend werden, wenn sie das ihnen so hochstehende Königtum, in
welchem sich in ihren Augen der Staat verkörpert, von der zweiten Autorität
mit anerkannten Feinden der Gesellschaft oft in maßloser Weise angegriffen sah.
Im Osten aber verwilderte das kirchliche Leben gänzlich durch den Mangel
ein Seelsorgern. Die langjährige Verwaisung der bischöflichen Sitze und der mit
derselben verbundene Mangel an der ordentlichen Disziplin und Gerichtsbarkeit
zog allmählich Unbotmcißigkeit und Zuchtlosigkeit im niedern Klerus groß.
Während der Fels Petri im katholischen Sinne nur durch seinen autoritativen
und autokratischen Charakter seine Stärke, Kraft und Macht in allen Zeiten zu
bewahren verstand, begannen demokratische und demagogische Anschauungen einzu-
reißen, und Anarchie drohte den stolzen, einheitlichen Bau der katholischem Kirche
zu gefährden. Die Klagen, welche über dieses Gebcchren der niedern Geistlich¬
keit bis an den päpstlichen Stuhl drangen, konnten auf einen Mann von so
weitem Blick, wie Papst Leo es ist, nicht ohne Eindruck bleiben, und sie mußten
ihn bei seiner eingebornen Friedensliebe umso geneigter machen, sich mit der
Preußischen Regierung zu verständigen.
Waren so beide Teile „des langen Haders müde," so wäre es thöricht
gewesen, wenn man, um eine Verständigung zu finden, zunächst die unveräußer¬
lichen Rechte des Staates oder der Kirche hätte feststellen wollen. In dieser
Hinsicht giebt es zwischen den beiden Gewalten keine Versöhnung. Prinzipiell
steht heute die katholische Kirche noch ganz auf den Grundsätzen, wie sie in der
Bulle Hu-zur Llmot-Am von Bonifacius VIII. verkündet worden find; nach ihr
steht heute noch die Kirche über dem Staate, weil das geistliche Schwert
höher als das weltliche ist; nach ihr ist heute noch der Papst der oberste
Richter in der Christenheit, und seinem Winke sind die Fürsten und alle weltliche
Obrigkeit Unterthan. Wem diese Grundsätze nicht gefallen, der muß einen
Kreuzzug gegen die katholische Kirche zustande bringen und das Papsttum
vernichten oder, wie ihrer Zeit die französischen Könige, in die Gefangenschaft
setzen. Solche Machtmittel stehen aber dem modernen konstitutionellen oder
parlamentarischen Staate nicht zu Gebote. Namentlich darf man bei der
Universalität der katholischen Kirche nicht glauben, daß eine Demütigung derselben
durch die Gesetzgebung eines einzelnen, auch noch so mächtigen Staates zu er¬
reichen sei.
Es kann sich also nur darum handeln, daß man die etwaigen Übergriffe
der Kirche in das staatliche Gebiet abwehrt, daß man die Macht, die in dem
Staate neben der staatlichen Gewalt besteht, nicht so mächtig werden läßt, daß
ihr die letztere auch in weltlichen Dingen dienstbar wird. Hier ist schon ein
Boden, auf welchem sich durch Verhandeln, durch Geben und Nehmen, Leistung
und Gegenleistung eine Einigung erreichen läßt. Hier liegt aber ein sehr breites
Feld vor uns, ehe man sagen kann, daß die Grenze von der einen oder andern
Seite überschritten sei, freilich ein ebenso großer Spielraum für Doktrinäre,
die sich diese Grenzen nach eigner Willkür setzen.
Die Kirchengesetze des Ministers Falk werden sicherlich nicht für sich das
Privilegium in Anspruch nehmen können, in dem jahrhundertelangen Grenzstreitc
der staatlichen und kirchlichen Gewalt die richtige Entscheidung getroffen zu
haben. Wer dergleichen behauptet, der muß den Krieg für den befriedigendsten
Zustand erklären. Denn jene Gesetze sind in der Zeit des Kampfes entstanden.
Der deutsche protestantische Geist war durch die Verkündigung des Unfehlbar¬
keitsdogmas in eine tiefe Erregung geraten, die Bundesgenossenschaft des Papstes
mit den Urhebern des deutsch-französischen Krieges hatte in weiten Schichten
eine zornige Bewegung gegen Rom hervorgerufen, die durch feindselige Äuße¬
rungen Papst Pius' IX. gegen das neuerstandne Reich und durch offene Begün¬
stigung der innern Feinde desselben genährt und verstärkt wurde, In manchen
phantastischen Köpfen mochte sich vielleicht auch die Vorstellung regen, als ob
nach der in so wunderbarer Weise in Erfüllung gegaugnen politischen Einheit
dem seit Jahrhunderten durch die Koufcssionsspaltung zerrissenen Vaterlande auch
die kirchliche Einigkeit zurückgewonnen werden könnte. In dieser lutherischen
Kampfcsstimmung sind die Maigesetze entstanden. Es soll hier nicht untersucht
werden, ob dieselben dahin hätten führen können, daß die katholische Kirche in
Deutschland sich den Forderungen des Staates unterwarf. Ich glaube es nicht,
denn 1loin0 us rsouls xW, und vom Staudpunkte der katholischen Universalität
würde eher die größte Gewissensnot der Gemeinden und einzelner Seelen als eine
Nachgiebigkeit geduldet worden sein. Jedenfalls aber mußte der Staat, wenn er
einen solchen Sieg hätte erreichen wollen, mit allen ihm zu Gebote stehenden
Mitteln kämpfen, alle seine Kräfte zusammen nehmen und auf das eine Ziel
richten. Statt dessen führte der deutsche Fraktionsgeist und die Zersplitterung
der Parteien zu einer Schwächung des Staates; die Kirche führte den Kampf
nach einem Willen und mit ganzer Macht, der Staat mußte bald bei dieser,
bald bei jener Partei um die Mittel für seine notwendige Existenz betteln und
sich auf diesem Bettelwege bald mit dieser, bald mit jener Doktrin abfinden.
Wenn also auch der Luther vorhanden gewesen wäre, so fehlte doch den Parteien
die hohe Opferfreudigkeit und der große Blick, wie er uns im Zeitalter der
Reformation zu Tage tritt.
Aber wir stehen keineswegs auf dem Standpunkte, daß wir einen solchen
Sieg für erwünscht bezeichnen könnten. In unsrer heutigen Zeit darf es keine
Vergewaltigung auf dem Gebiete religiöser Anschauung mehr geben. Je mehr
wir die Überzeugung haben, daß innerhalb des Bereiches staatlicher Macht die
gegenwärtige Gesellschaftsordnung dem Einzelnen zu seinem und des Ganzen
Schaden eine viel zu große Freiheit gewähre, umsomehr meinen wir, daß inner¬
halb des GeWissensgebietes diese Freiheit nicht groß genug sein kann. Wenn
aber nach den Falkschen Kirchengesetzen die Vornahme gottesdienstlicher Hand¬
lungen durch einen kirchlich geweihten Priester mit Gefängnisstrafe bedroht wird,
so erscheint uns dies in der That als eine Vergewaltigung, deren sich der Staat
nicht mehr schuldig machen sollte. Es war dies ein Mißgriff, der nur dazu
diente, die Verfolgten mit der Märtyrerkrone zu schmücken und das Ansehen
des Staates in den weitesten Kreisen zu erschüttern. Der einzige Weg kann
hier nur der sein, einem Geistlichen, welcher sich den Geboten des Staates nicht
sügt, die staatliche Anerkennung und den Bezug seiner Einkünfte zu verweigern.
Die andern Grundzüge der Falkschen Gesetzgebung lassen sich vom theo¬
retischen Standpunkte weit eher vertreten; sie betreffen namentlich die Erziehung,
Vorbildung und Disziplin des Klerus, Um wirksam zu sein, sind diese Gesetze
mindestens dreißig Jahre zu spät gekommen. Als man die Verfassung beriet,
Hütte man sich klar werden sollen, in welcher Weise die katholische Kirche von
der ihr gewährten Freiheit Gebrauch machen würde. Auch hätte man nicht
vergessen sollen, wie in dem letzten Menschenalter die Kirche ihre Glieder sest
und unzertrennlich an sich gekettet hat. Erziehung und Vorbildung stellen in
dieser Kette nur einen Ring dar. MM mag die Jugend auch noch so sehr
mit staatlichen Grundsätzen tränken; nach Absolviruug der theoretischen Vor¬
studien wird man den jungen Kandidaten doch dem Priesterseminar überlassen
müssen. Dann ist er noch so bildungsfähig und biegsam, daß der kirch¬
liche Einfluß ihn doch völlig ergreift. Deshalb ist alles, was der Staat
vorher thut, um später diesen kirchlichen Einfluß auszuschließen, vergeblich.
Die weltliche Erziehung der jungen Leute kaun nur dazu führen, daß sie ihrem
Vorsatz, Priester werden zu Wollen, wieder untren werden — und dann treten
an ihre Stelle andre —, nie aber dazu, daß, obwohl sie Priester werden wollen,
sie mehr dem Staate als der Kirche dienen. Denn die ganze kirchliche Or¬
ganisation des Katholizismus beruht darauf, daß der einmal als Priester ge¬
weihte alles nur vou seinen kirchlichen Obern zu erwarten hat. Der Kirche
gehört er mit Leib und Seele an, in ihr fühlt er sich als mächtiges Glied,
und jede Stärkung ihrer Macht strahlt auch auf ihn zurück. Von demselben
Gesichtspunkte ist auch die Disziplin zu beurteilen. Es ist staatsrechtlich ein
gewiß nnanfechtbnrcr Grundsatz, daß der Staatsbürger von keiner fremden
Macht zur Rechenschaft gezogen werden darf. Aber die Kirche hat bereits um
diese Exemtion von der weltlichen Gewalt mit den römischen Imperatoren
und den fränkischen Königen gekämpft und sich trotz allen Widerstreites in einer
unabhängigen Lage zu erbeuten gewußt. Und so stark ist ihre Gewalt über
ihre Priester, daß keiner gegen die Strafe des Obern den weltlichen Arm an¬
zurufen wagt. Abgesehen von Küstern hat eine Berufung an den kirchlichen
Gerichtshof Vonseiten eines katholischen Priesters unsers Wissens niemals statt¬
gefunden.
Diese Macht der katholischen Kirche hat die Fallsche Gesetzgebung verkannt
und für zu gering angeschlagen. In dieser Hinsicht wird sich die Kirche aus ihrer
Stellung nimmer verdrängen lassen, oder sie wird das aufhöre» zu sein, was sie
ist. Der konstitutionelle Staat kaun seinerseits nur gewisse Normativbestimmnngen
durchsetzen, die eine völlige Loslösung der Kirchendiener von der staatlichen
Gemeinschaft, in welcher sie leben, verhindern. Diese Gefahr ist bei uns umso
großer, als der Deutsche überhaupt zur Ausländerei hinneigt, und sicherlich
Würde unser Klerus nationaler sein, wenn nicht der Papst seinen Sitz im
Auslande hätte. Der Staat wird also darauf zu sehen haben, daß die Lehrer
Deutsche sind, daß der Lehrplan in den kirchlichen Anstalten im allgemeinen
dem der staatlichen Anstalten entspricht, und was die Disziplin betrifft, daß die
Behandlung in den kirchlichen Demeritenhäusern nicht von der staatlichen Straf¬
form zu sehr abweicht. In dieser Beziehung hat die Novelle vom 21. Mai
dieses Jahres das Interesse des Staates gewahrt.
Die katholische Kirche hat also in Bezug auf Lehre und Zucht in Preußen
die volle Freiheit wiedererlangt. Diejenigen, welche der Regierung in allen
sonstigen Frage» ihre Unterstützung gewähren, fragten, als sie sich gerade ans
diesem Punkte von ihr trennen zu müssen glaubten, worin denn die Gegen¬
leistung der Kurie bestünde, und deuteten dabei ans die Anzeigepflicht der Bischöfe
bei Ernennung der Pfarrer und auf das Einspruchsrecht des Staates hin. Eine
solche Einrichtung war zwar nach den Falkschen Gesetzen begründet, bisher aber
von der Kurie nicht anerkannt, obwohl sie in andern Ländern den Regierungen
eine solche Konzession gewährt hat. Den geschickten Verhandlungen des Fürsten
Bismarck und dein klugen Entgegenkommen des einsichtigen Papstes ist es ge¬
lungen, auch diesen schwierigen Punkt zu bestimmen. Die letzte Note des
Kardinals Jaeobini gewährt diese Anzeigepflicht ohne alle Einschränkung; die
intransigente „Germania" sucht zwar diese Note nach Möglichkeit abzuschwächen,
obgleich man an dem Worte eines Papstes, wie an dem eines Kaisers, weder
„drehn noch deuteln" soll. Bei einem friedliebenden Papste werden sich gar
keine Schwierigkeiten ergeben, bei einem kampflustigen aber sind alle gesetzlichen
Garantien überflüssig. Staat und Kirche haben genug Mittel, um trotz der
genauesten Gesetze sich das Leben schwer zu machen. Alles, was man vereinbart
hat, ist nur ein znocws vivemäi; mißtraut der eine Teil dem andern oder ist er
illoyal, dann sind auch die Reibungen unausbleiblich, da prinzipiell die katholische
Kirche mit dem modernen Staate niemals sich in ihren innern Normen und
Überzeugungen begegnen kann. Die Anzeigepflicht wird übrigens unter- und
überschätzt. Sie wird unterschätzt, wenn man ihr jede Bedeutung abspricht.
Wenn die katholischen Priester sich überzeugen werden, daß sie nur durch die
Genehmigung des Staates in eine bessere Pfarrei gelangen können, dann werden
sie auch ihr Verhalten — wenigstens öffentlich — so einrichten, daß sie nicht
einem Widerspruch der Regierung begegnen. Die Anzeigepflicht wird aber auch
überschätzt; bei den Bischöfen ist das Widerspruchsrccht des Staates in der
Bulle vo Saints Miilmi'ulu und ihren gleichartigen Verordnungen begründet, und
trotz desselben kann der Staat nicht überall zu friedfertigen Bischöfen gelangen.
Die päpstliche Gewährung der Anzeigepflicht ist von der Zusage einer vollen
Revision der kirchenpolitischen Gesetze abhängig gemacht. Diese Zusage ist nach
der Erklärung des Fürsten Bismarck im Herrenhause erteilt worden. Es kann nicht
die Aufgabe dieser Zeilen sein, die Grundzüge einer solchen Revision zu zeichnen.
Das Gcspimist ist ein zu dichtes lind zu verworrenes, als das; es möglich wäre,
hier die Fäden auscinanderzuknüpfen. Wenn, wie zu hoffen steht, die guten
Beziehungen zwischen dem Vatikan und dem Berliner Kabinet fortdauern, so
wird auch dieses Ziel zur beiderseitigen Genugthuung erreicht werden können.
Der gegenwärtig erreichte friedliche Zustand ist ausschließlich das Werk
des Papstes und der Regierung. Es muß besonders hervorgehoben werdeu,
und die preußischen Katholiken werden sich mich dessen allmählich bewußt werden,
daß die Zentrumspartei als solche mit diesem Friedenswerk nichts zu thun hat.
Im Gegenteil, es ist ohne Zentrum zustande gekommen, dessen maßlose und von
ganz andern Interessen geleitete Führerschaft dieser Aussöhnung widerstrebt
lind ihr soweit entgegengewirkt hat, als die kirchliche Obedienz es zuließ. Auch
eine endgiltige Revision der Maigesetze wird nur zustande kommen, wenn auf
dem gleichen Wege des Einvernehmens zwischen Kurie und Preußen fortgefahren
wird. Ob dieser Weg zu einer Umgestaltung der politischen Verhältnisse im
Reiche lind in Preußen führen wird, kann noch bezweifelt werden. Es wird erst
einer gewissen Zeit bedürfen, ehe die katholische Bevölkerung von dem Einfluß
der demagogischen Hetzkapläne befreit wird und ehe die neuen Bischöfe selbst
den ihnen gebührenden Einfluß auf ihren Klerus wiedererlangen.
Man hat vielfach behauptet, daß Preußen den Frieden mit Rom bedürfe,
um im Falle eines Krieges freie Hand zu haben. Das ist jedenfalls unrichtig;
denn bei Beginn des Kulturkampfes war der Friede viel mehr bedroht, als er
es jetzt ist. Der Grund für den Frieden liegt in der politischen Weisheit des
Fürsten Bismarck und des Papstes Leo. Preußen-Deutschland ist die einzige
auf festen Grundlagen ruhende konservative Macht der Welt. Mit einem all¬
seitig anerkannten, tief im Volke wurzelnden, sich seiner Verantwortlicher Auf¬
gabe bewußten Königtum vermag dieses Reich allein den Gefahren zu begegnen,
die aus den sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte
erwachsen sind. Für die Beseitigung dieser Gefahren bedarf der Staat das
Zusammenwirken aller erhaltenden Kräfte und deshalb auch des Friedens mit
seinen katholischen Unterthanen. Das Papsttum aber findet allein in dieser
konservativen Kontinentalmacht seine moralische Unterstützung. Nußland scheidet
wegen seiner Konfession ganz aus, Österreich-Ungarn wird nur uoch gekünstelt
das Leben erhalten. In Frankreich und Italien ist die revolutionäre Be¬
wegung so groß, daß ihre Strömung auf die katholische Kirche überflutet, und
für England bieten die irischen Sorgen genug Stoff, um sich lediglich mit ihnen
zu beschäftigen, auch streben seine Kolonien zur Unabhängigkeit. Das Papsttum
wäre also isolirt, wenn es sich nicht auf das moralische Gewicht Deutschlands
stützen könnte, dessen sechzehn Millionen Katholiken in dem römischen Bischof
ihr von Gott gcsetzcs Oberhaupt sehen. Das Papsttum und der deutsche Ka¬
tholizismus haben also das lebendigste Interesse an der Kräftigung und Er¬
haltung des Reiches.
Alle freilich sehen dies nicht ein, und so ist auch die Schaar derer nicht
unbedeutend, welche den kirchlichen Frieden mit scheelen Augen betrachten.
Zunächst sind dies die katholischen Jntransigenten und ihr Wclfenfnhrer
Windthorst. Ihre Opposition ist natürlich, da ihre Herrschaft bedroht ist;
wegen ihrer egoistischen Motive bedürfen Leute dieses Schlages keine weitere
Vcachtnng. Ihnen gleich stehen alle, die an der Zerstörung des Reiches arbeiten:
Polen, Sozialdemokrcitcn und leider auch der Fortschritt, letzercr, weil er fürchtet,
mit dem Einflüsse von Windthorst auch die Reihen seiner Wählerschaft zu
verlieren.
Unzufrieden sind aber auch die protestantischen Kreise und zwar sowohl
die Nationalliberalen als die Hochkirchler. Beide Parteien bedürfen einer ein¬
gehenderen Würdigung.
Bei den Nationalliberalen herrscht immer noch ein gewisser Doktrinarismus;
sie können sich trotz der gemachten Erfahrungen noch uicht von dem Gedanken
frei machen, daß sich die katholische Kirche auf dem Wege der Gesetzgebung
zu einem ewigen Stillschweigen verurteilen ließe. Aber sie sind in ihrem
Widerspruche nicht völlig einig; es macht den Eindruck, als ob sie den Frieden
wünschten, aber doch ihrerseits die Herbeiführung desselben nur zuließen, um
mit dem gebildeten Teile ihrer Wählerschaft nicht in Zwiespalt zu kommen.
Deshalb ist ihre Opposition auch nicht zu fürchten; sie werden an den Segnungen
des Friedens kräftig mitwirken und in den spätern Stadien auch ihre Doktrin
der praktischen Einsicht gern zum Opfer bringen.
Anders sind die Hochkirchler und alle diejenigen, welchen der protestantische
Glaube am Herzen liegt; sie erblicken in den Konzessionen des Staates eine
Kräftigung der katholischen Propaganda und sehen sich ängstlich nach Mitteln
um, wodurch denselben zum Heile des reinen Evangeliums ein Damm gesetzt
werden könnte.
Zunächst widerspricht es der Erfahrung, daß der Kampf mit dem Staate
dem Umsichgreifen des Katholizismus geschadet habe; was der letztre auch innerlich
verloren haben mag, äußerlich ist derselbe durch den Kulturkampf gewachsen.
Dagegen ist es unzweifelhaft richtig, daß die katholische Propaganda mehr und
mehr den Prvtestnutismus verdrängt. Überall sehen wir den katholischen Glauben
festen Fuß fasse»; er hat sich nicht nur uuter den heidnischen Völkern Asiens
und Afrikas ganze Territorien erobert, er hat nicht nur in England und in den
Vereinigten Staaten an Umfang zugenommen, der jetzt schon Millionen von
Angehörigen zählt, er gewinnt auch in dem protestantischen Teile Deutsch¬
lands mehr und mehr Stätten. Diese Thatsache ist so ernst, daß alle, welche
die protestantische Freiheit im Herzen tragen, mit Recht ihr Augenmerk darauf
richten müssen. Allein man muß sich nur über die Ursache dieser Erscheinung
klar werden, welche offenbar darin liegt, daß der Protestantismus nicht mehr
die volle Kraft besitzt, sich seinen Einfluß ans das Volk zu sichern. Die
gebildeten Klassen sind indifferent, die untern fühlen keinen Zusammenhang ihres
Lebens mit dem Evangelium. Glaubt man diesen bedauerlichen Erscheinungen
dadurch abzuhelfen, daß man die evangelische Kirche vom Staate ganz löst und
ihr dieselbe Freiheit und straffe Organisation giebt, wie sie die katholische Kirche
besitzt, so übersieht man, daß man damit dem Wesen des Protestantismus zu
Leibe geht und ihn zu einem Krhvtokatholizismus umwandelt. Im Wesen der
protestantischen Kirche liegt die freie Forschung auf dem Boden des Evangeliums;
stellt man hier starre Sätze auf oder begründet man eine Herrschaft des Priester-
tums, so nimmt man der evangelischen Konfession den Boden, auf dem sie
allein gedeihen kann. Der Protestantismus muß seine innere Kraft wiederge¬
winnen; er muß den Gebildeten das Bekenntnis nicht zu erschweren suchen und
sich mehr mit den niedern Klassen der Bevölkerung in ihrem sozialen Leben ab¬
geben. Letzteres ist im letzten Jahrzehnt nur von der Orthodoxie versucht
worden, aber in einer Weise, die sie noch mehr von den Klassen trennt, welche
vermöge ihrer Bildung zur Führerschaft berufen sind.
Es ist zuzugeben, daß die Gefahr für den Protestantismus eine große ist;
aber diese Gefahr liegt sicher uicht in dem Frieden mit Rom. Der Protestan¬
tismus kann allein mit geistigen Waffen siegen, für diese muß Haus, Schule
und Kirche in gleicher Weise sorgen, indem der Wert der lutherischen Refor¬
mation als treuer Schatz behütet wird.
Deshalb geht die Mahnung an alle protestantischen Kreise, nicht fort¬
während das zu suchen, was uns trennt, sondern das, was uns verbindet.
er Minister, dessen Name mit einem der freundlichsten Aussichts¬
punkte Deutschlands, mit der Brühlschen Terrasse in Dresden,
wie es scheint für alle Zeit, verknüpft bleiben wird, dem aber
im übrigen seit mehr als einem Jahrhundert recht viel Unfreund¬
liches nachgesagt worden ist und sicherlich nachgesagt werden
mußte, ist bis heute merkwürdigerweise noch nicht der Gegenstand einer er¬
schöpfenden biographischen Studie gewesen. Warum? Sind die Quellen, welche
über ihn berichten könnten, so völlig verschüttet? Heute, wo der ernsten Forschung
nirgends die Siegel der Geheimarchive dauernd widerstehen, ist es undenkbar,
daß ein Historiker, der einige Jahre an die Lebensgeschichte des mächtigen
Ministers zu wenden gewillt ist, an die Pforten der betreffenden Archive ver¬
gebens klopfen würde. Vielleicht giebt die große und preisliche Unbefangen¬
heit, mit welcher die Korrespondenz Friedrichs des Großen dem Moder der
Archive entrückt worden ist, den Anstoß, auch über den ihm am hartnäckigsten
im Wege gewesenen Staatsmann jener Geschichtsperiode ein schärferes Licht
als das bisher seinem Bilde zuteil gewordene zu verbreiten.
Der Sieger von Roßbach hat bekanntlich selbst nicht verschmäht, ihm in
einer Ode den Spiegel vorzuhalten. In seiner nennten Ode, die als xiöoo
0ouiixxö<z <!u l'on. 1760 Verbreitung sunt, redet er ihn mit den Worten an:
üsÄww inallionrorix A« Iisnto kortnnv,
D'un lini trox inclolnnt se»i,vM:i,in a.Il«o1u,
Lurvlmrxo >l« er^v-u>x, dont 1s soin t'imxortuQv,
LriUiI, «miedo Ass Aranclvuvs 1'ombarrW »ni>hrten:80>n <it) ton Opn1vn<!0
.lo voll! 1o Diovi <1os ouvris,
<1los es. mnAnilivonno
Ixz roxm» t'nit <1o to» aues.
Wie diese Ode in ihren weitern Strophen sich das Ansehen giebt, den „von
Arbeiten überlcidnen, schlaflosen Beherrscher eines lässigen Königs" sich selbst
wiedergeben zu wollen, indem sie ihm die idyllischen Freuden des Landlebens
als die einzigen nicht trügerischen Lebensfreuden darstellt, so hat der anonyme
Verfasser der „Vertraulicher Briefe" über Brühl, welche in demselben Jahre
1760, angeblich als von einem Postsekretcir geöffnet und abgeschrieben, großes
Aufsehen machten, die Maske wohlwollender Schonung vorgenommen. Die
Briefe sind W^si nur für einen vertrauten Freund bestimmt. Vehse bezeichnet
bekanntlich als ihren Verfasser I. H. G. vou Justi, welcher als preußischer Berg-
hauptmann in Küstrin starb. Der einzige Grundsatz Brühls war nach dieser
Quelle, das Glück seiner Familie und seiner Hausgenossen zu begründen. Jeder
Bediente Brühls erhielt später ein fettes Ämtchen, das war Maxime. Sie
dienten daher lieber bei Brust als beim König. Das ganze Sachsen war ein
Brühlsches Landgut. Den Anstoß zu der lucullischen Üppigkeit seiner Tafeln
gab das sächsisch-polnische Hofzeremoniell, nach welchem höchstens Kardinäle zur
königlichen Tafel gezogen wurden, während die Bewirtung von Gesandten und
fremden Ministern zu den Obliegenheiten Brühls gehörte. Die herkömmliche
Anzahl Gänge war dreißig, in Ausnahmefällen stieg sie auf fünfzig, ja ans
achtzig. Der anonyme Verfasser schildert ihn als einen Mann von bezaubernder
Liebenswürdigkeit und wohlthuendster Höflichkeit; er sei etwas unter Mittel¬
größe und habe ein ehrliches, aufrichtiges Gesicht. Freilich wird hinzugefügt,
gegen ganz Indiae bediene er sich der vertraulichen Phrase: Wir alle sind ja
Komödianten, es kommt nur darauf an, daß jeder seine Rolle gut spielt. Über
Brühls Konfession heißt es in jenem Büchlein: Der Jesuit Guarini, Beichtvater
der Königin, unterstützte Brühl bei dem Sturze des viel edlern Sulkowski, wo¬
gegen Brühl katholisch wurde.
Es ist mir vor geraumer Zeit eine Anzahl teils von Brühl geschriebener,
teils an Brühl gerichteter Briefe zugestellt worden; sie sind gegenwärtig zwar
nicht mehr in meinen Händen, ich kann aus ihnen aber weiter unten einige
Bruchstücke mitteilen. Und zwar veranlaßt mich dazu die Absicht, durch diese
zumeist eiues Kommentars bedürftigen Fragmente den meinem Gesichtskreise
entrückten Besitzer jener Briefe an sein früher gegen mich ausgesprochenes Vor¬
haben zu mahnen, das Ganze nicht der Öffentlichkeit vorzuenthalten, nachdem
er inzwischen jedenfalls Zeit gefunden haben wird, die von ihm gesammelten
kvmmentirenden Notizen zu vervollständigen. Mau würde Unrecht thun, wenn
man die zwischen Brühl und den Seinigen gewechselten Briefe mit dem Ma߬
stabe messen wollte, den etwa die vor jetzt zehn Jahren veröffentlichten Bismarck-
Briefe dazu an die Hand geben könnten. Wenn Brühl dem größten Feldherrn
seiner Zeit das Lebe u auch sauer genug zu machen verstanden hat, so ist seine
staatsmümlische Kunst doch, wie nicht erst festgestellt zu werden braucht, eine
durchaus dürftige gewesen und hat nur eben ausgereicht, um immer von neuem
in das Kriegsfeucr zu blasen, wenn die Koalition gegen das aufstrebende Preußen
sich lockern zu wollen schien. Auch aus den wenigen Briefsteller, die hier zur
Mitteilung gelangen, weht den Leser etwas von geistiger Ode an, gemildert durch
einen gutmütigen Zug, wie derselbe, als von Herzen kommend oder äußerlich
dem Manne zur andern Natur geworden, sich mit seinem oben gegebnen Schatten¬
riß recht wohl verträgt. Die Briefe sind zumeist in schlechtem Französisch ge¬
schrieben, zuweilen untermischt mit deutschen Wörtern oder auch mit ganzen
deutschen Sätzen; die meisten Briefe sind an Brühls Tochter Amelie gerichtet,
sie stammen der Mehrzahl nach ans den Jahren 1759 und 1760, also aus
der Zeit des siebenjährigen Krieges, von dessen Übeln Seiten auch hie und da bei¬
läufig die Rede ist, wennschon Brühl höchstens in seinen Finanzen als freigiebig
dotirter Landbesitzer von den Drangsalen der Kriegszeit berührt wurde; reichte
der Kanonendonner doch nicht bis Warschau, wo Brühl seinem königlichen
Herrn vom Beginn bis zum Ende des Krieges getreulich Gesellschaft leistete.
Brühls Tochter vermittelte in Wien die Geschäfte mit der Kaiserin, und die von
Brühl an seine Tochter gerichteten Briefe waren häufig für die Augen der
Kaiserin berechnet. Wiederholt erwähnt er für solchen Zweck sein „ehrliches
Christentum," ohne mit deutlichen Worten zu sagen, welcher Konfession er eigent¬
lich angehöre; er möchte, scheint es, mit der Versicherung, er sei un Ironnoto
KvNinuz (nonuet et'luunms schreibt er), darüber wegschlüpfen.
Wenn die wenigen hier mitgeteilten Auszüge ihrer Mehrzahl uach nur
deshalb eine Beachtung beanspruchen können, weil bisher die Brühlschen Kor-
respoudenzen nur aZlzu spärlich ans Licht getreten sind, so charakterisirt ihre
Jnhnltsarmut doch auch zugleich den Mann, der sich mit der ganzen Welt ver¬
schworen hatte, um das kleine Preußen zu ducken, und, nun das Haus in Flammen
steht und die Kriegsfurie ganz Deutschland zu verwüsten droht, seine — Zahn¬
schmerzen und Obstruktionen zum Gegenstand ausführlichen Lmnentirens macht.
An Amelir. 8. April 1759. Empfehlungsbrief B.s für einen Prinzen, der
nach Wien reist. S. A. R. sei zerstreut gewesen und habe sich in W(arschnn) sehr
gelangweilt.
1K. April. „Ich schicke dir einen Bruder, er bleibt nur kurz, muß nach Paris."
l>. Juni. Ratschläge für Amelies Reise nach Italien. — „Der König sagt mir,
qu'it kaut adsolumsut on Italio un oüioior gui Äouuo 1o tuis, un drWvdivro."*)
30. Juni. I-o inariago <lo Ur. Äo ^Vnrmb ost UoliU'ö; it tora I» xlus dotis
L^tiro <1U-TNÄ it Soria voeu. — Er (B.) habe den Umzug aufs Land verschoben, da
der Prozeß ihres (Amelies) Mannes jetzt verhandelt werden soll. — vbarto« (Ame¬
lies Bruder) in'a snvo>ö son xortnüt; bvau s»r^vn. Die französische Flotte soll
bei Stade gelandet sein. Vos outuuts so xortout biou; la. xotito xrouÄ kort bion
lo Jene avoo l'o-rü Äo 8oll/.
4. Juli. Wegen Amelies schwankender Gesundheit sei ihre baldige Reise nach
Italien ratsam, auch ihr Mann sei damit einverstanden. Daß die Kaiserin ihr so
gefallen habe, stimme ja ganz mit seinen Erwartungen. Empfehlungen an Madame
de Questenberg, an Kaunitz,c. — „Tastet" schickt er zurück; sie solle ihm nichts
schenken, nur Liebe und Vertrauen; er verdiene beides, habe nichts vor ihr Ver¬
borgnes. Der Wagen, welcher von Straßburg zurückkam (mit dem der Bruder im
April nach Paris reiste?), sei zerbrochen; die Sitzkissen so hart, als seien sie mit
Pfirsichkernen gestopft; unerträgliche Stöße: „s'ji no rs8tsrait Meoro auvlauvs äcmts,
Jo8 xorÄrs-is surswsut clans xou av ^jo»r8. Was würde der Abbe sagen!" Dank
für Bitterwässer. Seine (B.s) Obstruktionen jetzt raisoimdls. Der arme Salmon
sichre. „Obschon derselbe I'vllnomi So vvtrv xörs ist, bitte ich doch Gott, daß es
ihm besser gehen möge. Mochte sein Herz sich ihm (Gott) zuwenden." — Ame¬
lies Bruder möge lo ton alö «on amour mvderireu; er werde sonst allenthalben
Feuersbrünste anrichten. „Vous s-rvoi!, daß man mir dergleichen auch nachsagte." —
B. hat Sorge wegen Amelies Gatten. Er soll nicht trinken. Glückwünsche zum 10.
„1.3. voobuit in'ouvoit zwei Gasekleider"; er habe doch keine bestellt, schickt aber
der Tochter eine Probe, „gelb, abaminablo! und 139 Dukaten." „La L. hat endlich
ihren Marschall, axros initio imxortiuoueos. Bin nur froh, daß sie unser Haus
nicht besucht, on nous apoph I» ««Mo Äo rosto." — B. fürchtet, es gebe bald
eine Schlacht, so tromdlo (für die Russen), it xarg.it guo lo roi Äo ?russo vont
Ah U0UVLS.U los s,tea.quor eouuuo a, ^oruÄvrk.
14. Juli. Nach Venedig. Das Töchterchen Marianne habe ihren Vater zu
seinem Geburtstage lateinisch haranguirt.
27. Juli. „Soeben bringt ein Major die Nachricht, Svltikvw habe die Preußen
bei Züllichau geschlagen." (Schlacht bei Z. 23. Juli.)
17t>0, 5, Januar, Amelie soll wegen ihrer steinbeschwerten den Mut nicht
verlieren, man Mine dabei hundert Jahre alt werdeu, Beschreibung seines Sohnes
Charles, er sei tüchtig, solide und clistiuAno.
'
12, Januar. ,Jo nngis M8 on I^utlrsrisn, mais on olor^ Kntboliq.no ooimuo lo
^al».t,in Solnut as Lr^eovio vt oueoro moins. (Dies oneoro moins ist eine echt
Brtthlsche Finesse,)
16, Januar. Der Staroste sei do^u n wauAor. — yuancl nux Z?rolo8ont8 ^jo
no xrolouS8 riou ano S'agir oomiuo lo ton ?a.lutin So (ii-coovio ot, oommo obna.no
oaüioli<iuo rsäsouMo ot oiMou ssrküli obli^v So kairo. ^so no 8>)ais c/ni w'» kÄt
l'bounonr So mo lui xMsor Sims 1'osxrit So 8. U. l'Imxoi'ntriLv xonr An vilior
/öls So liolig'ion. ^lo no 8UI8 «in'un bon orvtiou ot Iwimöt S'hommo.
(Ohne Datum,) „Ich überlasse es dir, ob du meinen Brief der Kaiserin vor¬
lesen willst,"
(Desgl.) 'In «oris Mo,jo no guis x»g un xiUor xrotosti,me. -— „Der beige¬
legte Brief ist zum Vorlesen für die Kaiserin."
(Desgl,) Amelie solle „die Nnlioros in lottros o8wu8iblo8 und soll besser
trenne»."
(Desgl.) I/Rmooi'our (?) a.ni vont tont Ä, In 1?rü8sionno no vouSrn ^jnwnis Sonnor
^nSioueo an'» In wMiöro Sa tlo^ So l'russo Pn xn8so sull8 uno olinmbrv on routs
to8 NiniÄros sont ii88omblö8; nlor« oolui ani lui vont unrlor, 8'api)roelio.
30. April 17L9. ^lo lo urio, iua> olioro ^nouo, So mo mottio lo piu8 pro-
tonSowont Nix xisäs So 8. U. l'Iwpörntiioo.
3, Mai sendet B, seiner Tochter einen Bleistiftzettel des Königs in Betreff
der Allianz mit der Kaiserin; Amelie soll den Zettel hernach verbrennen.
'
15. Juni. Ihn bringe ein englischer Brief in Verlegenheit, uaxnnt xas 1a
lnoilitv xour 1o8 la,r>Ano8 otra.uAoro8,
Ich sagte, Brühl habe sich im sichern Warschau die über ganz Deutschland
hereingebrochene Kriegsuot augenscheinlich nicht sonderlich zu Herzen genommen.
Zwar schreibt er einmal (21. Febr. 1760): „Sachsen wird Wüste! Die Österreicher
lassen es geschehen! Ich wollte, daß ich nicht auf der Welt wäre, solches Un¬
glück mit anzusehen und anzuhören!" Aber freilich, die Berichte, die ihm aus
seinen zahlreichen sächsischen Besitzungen zugingen — Forsta, Pforten, Grun-
stcidt, Kutzleben, Obertopfstädt :c. —, mochten ihm zu Zeiten die Haare unter
seiner Perücke zu Berge treiben. Zu seinem Troste stammte er jedoch, wenigstens
auf dem Papier, von einem Grafen von Brühl ab, welcher Woiwode von Posen
gewesen war, und so hatte er mit Erfolg Ansprüche auf polnische Güter und
Kronämter geltend gemacht, durfte also, auch wenn Sachsen zur Wüste wurde,
wegen seiner und der Seinen Zukunft nicht verzweifeln. Friedrich der Große
sagt: „Brühl wär der Mann dieses Jahrhunderts, der die meisten Kleider,
Uhren, Spitzen, Stiefel, Schuhe und Pantoffeln hatte. Cäsar würde ihn zu
jenen schön parfümirten und frisirten Köpfen gezählt haben, die er nicht
fürchtete." Ich zweifle, daß Brühl für die Lektüre der Schriften Julius
Cäsars Geschmack gehabt haben wird. Dagegen mag ihm der Wortreichtum
Ciceros gefallen haben; in den vorstehend erwähnten Briefen zitirt er den großen
römischen Redekünstler zweimal.
Noch einige Lebensregeln Brühls, die er seiner Tochter beiläufig empfiehlt:
v'oft qu'vo ein äaus 1s äos, n'alt»Mo x»s, <iulmü on 1'iZnoro.
Il kaut Ah 1a kormotö, it kaut travaillor, mais 11 kaut oaodor 1'al^rour, om-
xlo^or lo ?KöFiuo vt av 1a UoÄvstio ot so tairo äos L.mis on Gumtitö, si on xout.
II no kaut Haws-is so kairv Aos ouusiuis av Kalt6 <1o ooour.
Seiner Tochter rät er zu mehreren malen, sie möge an ihren Gemahl
„wärmere" Briefe schreiben. Seine (Brühls) Briefe an sie scheinen diese
Richtung geflissentlich einzuhalten. ^.imMv ^.wMv, tu os un vray minlLt.rü —
ton uouvöl uruuut (der Abbe) und ähnliche, weniger väterliche als huldigende Rede¬
wendungen lassen das Bestreben, immer Angenehmes zu sagen, deutlich erkennen.
Ans den nämlichen Ton sind die Briefe gestimmt, welche Brühl an seine
Frau richtet. Non xlus olisr Lcour, ist die Überschrift eines Briefes, in welchem
er seiner Frau über die Erziehung eines seiner Söhne Ratschläge zu geben
versucht, um dann zu dem Schlüsse zu kommen: „,Jo vous uiuro Zur ruou Dieu
ulus Huo vio und bin der alte treue Heinrich — mache alles, wie du willst."
Da er aber trotz seines Bemühens, von allen Menschen geliebt zu werden,
häufig mit „Verdächtigungen" zu kämpfen hat, welche seine Uneigennützigst,
seine Bravheit, seine Wahrheitsliebe in Zweifel ziehen, so findet er sich gedrungen,
auch in diesen intimen Briefen wieder und wieder zu beteuern, er sei ein grnud-
gutcs Geschöpf. Eine dieser Selbstrettungsphrasen lautet: uisttrai invs
otra-veux ^rls (!-in< 1v osrousil su Iwuuot et'lioruiue ot urvu oaruvtorv alö «In-
«zorlto no L«z clourontlra Huiriuls.
Man wird in einer Zeitperiode, welche die Wagschale der Völkerschicksale
von den Launen der Pompadour hat abhängen sehen, auch die Briefe einer
ehrbaren Frau und Mutter — und dafür gilt die Gattin Brühls — nicht mit
allzu strengen Augen ansehen dürfen. Aus einem ihrer Briefe sei hier eine
Stelle mitgeteilt, welche die Gräfin Brühl als humoristische Beobachterin der
Personen zeigt, mit denen sie verkehren mußte.
Es handelt sich um die Trauung einer ihrer „Freundinnen." Nachdem
die Feier und das Gastmahl, welches ihr folgte, vorüber ist, geht die Brief-
schreiberin zur Schilderung des weitern Verhaltens der Braut über:
I-orsouo tout lo luouclo otait rotiro vllo «'ost (loÄiaoillo ot vllo aussi a voulu
kairv un xvu av griinaoo, uns H'al »ssurö quo vola u'allait diou guÄ ävs viorM«
vt xuoollss. olons »von« rostv ouooro uno 1>ouno Kours a Hasvr ot xuis vllo s'oft
oouolio ot xui« Naäamv n.ni in'a torno ?ar In, main oommv un oukaut, vllo avuit
Sss MNS ot un Hnpou, SV I»i 1'avait si kort krapvö 0.U0 Ho oraillguai uno soouo,
mais Ho 1'al xorsuaäoo av a.uittor l'un ot I'autro ot vo^paut c^no H'ötais av trox Ho
IU0 8U1L sauvoo. . . .
l
e breite Heerstraße, welche sich dein Ansturme der neuen, ans
Natur und Geschichte gegründeten Richtung geöffnet hat, ist wie
jeder neue Weg staubig, holprig und dornenvoll. Die Bahn¬
brecher — wir nennen nur die Namen Mnnkaesy und Abbe —
sind große Talente. Aber sie könnten noch viel größer sein, ohne
daß es ihm gelingen würde, die klassisch gewordnen Andachtsbilder von Rasfael,
Correggio, Tizian, den Carracci, Guido Reni, Dolce und Murillo aus dem
ästhetischen Katechismus der Gebildeten zu verdrängen. Es ist weder die Ab¬
sicht dieser Artikel, religiöse Gefühle, konfessionelle Überzeugungen, mögen sie so
beschränkt sein, wie sie wollen, zu bekämpfen oder gar zu verletzen, noch für den
Naturalismus in der Malerei Propaganda zu machen. Der besonnene Kritiker
wird nur dann eine dominirende Stellung behaupten können, wenn er sich un¬
abhängig von den Parteien erhält und keinem Parteiprogramm seine Freiheit
opfert. Das undankbarste schriftstellerische Amt muß zugleich das freieste sein.
Es muß uns deshalb gestattet sein, das Recht historischer Kritik ungehindert zu
üben und zu erklären, daß der künstlerische Wert der religiösen Schöpfungen
jener oben genannten Meister ebensowenig der christlichen Religion förderlich ist,
als ihr der mehr oder weniger krasse Naturalismus der modernen Malerei an
ihrem Ausehen schadet.
Die historische Entwicklung der religiösen Malerei beruht eben darin, daß
aus dein Andachtsbilde das Geschichtsbild geworden ist. An die Stelle der
idealen Auffassung ist die geschichtliche getreten, und wenn letztere vorzugsweise
von Protestanten kultivirt und mit energischen Händen zu weiterer Entwicklung
gebracht wird, so hat nicht der Ketzcrgeist diesen Umschwung hervorgerufen,
sondern die Lässigkeit der katholische» Kirche, welche, trotz ihrer Kunstfreundlichkeit,
sich damit begnügt, Altarbilder, Madonnen- und Hciligenstatncn, Kalvarienberge,
Glasfenster u. s. w. nach alter Schablone fabriziren zu lassen. Es ist allgemein
bekannt, daß die religiöse Kunst in Süddeutschland nnter diesem fabrikmäßigen
Betriebe vollständig zu Grunde gegangen oder zum ordinären Handwerk hernb-
gesunken ist.
Der protestantische Norden hat sich deshalb ein sehr großes Verdienst er¬
worben, indem er der religiösen Malerei einen neuen Impuls gab. Es ist
auch eine Art von Reformationswerk, auf einem engern Gebiete nicht minder
bedeutsam, als das gewaltige, welches vor dreihnndertundsiebzig Jahren die
europäische Gesellschaft erschütterte und in zwei Heerlager schied. Auch diese
neue Richtung der religiösen Malerei hat einen vorwiegend kritischen Zug, der
auf der einen Seite mit tiefer Glaubensinnigkeit, auf der andern Seite mit dem
Streben nach historischer Wahrheit gepaart ist. Wir haben gesehen, daß Eduard
von Gebhardt mit seinem „Abendmahl" den neuen Weg eröffnet hat, ohne jedoch
mehr als einige Schritte darauf zu machen. Ihm wird stets das Verdienst
des Pfadfinders bleiben. Eine Schule moderner religiöser Malerei hat aber
nicht er, sondern der Ungar Michael Munkaesy gebildet, welcher mit seiner
großen Komposition „Christus vor Pilatus" das erste Beispiel echt historischer
Behandlung biblischer Stoffe gegeben hat. Ohne sich in archäologische Kleinig¬
keitskrämereien zu verlieren, hat er mit Benutzung aller Äußerlichkeiten, welche
die geschichtliche Forschung als sicher oder wahrscheinlich festgestellt hat, die
Gefangennahme eines politisch-religiösen Agitators und seine Vorführung vor
den weltlichen Richter so geschildert, wie sich die von den Evangelien über¬
lieferten Vorgänge wirklich ereignet haben können. Der unerschrockene Schwärmer
und Prediger von Nazareth unterscheidet sich von dem Volte, aus welchem er
erwachsen ist, äußerlich nur insoweit, als geistige Überlegenheit, heilige Be¬
geisterung und unerschütterliche Überzeugungstreue die Züge eines Menschen
adeln können. Der Mann der geistigen Arbeit, der von innerm Feuer erleuchtete
Träger einer hohen Idee tritt der selbstsüchtigen Beschränktheit und Indolenz
der Hohenpriester und Ältesten gegenüber. Kein äußerer Nimbus umgiebt die
Gestalt, kein Zug von Idealisirung erhebt sie über ihresgleichen; mir allein
das geistige Element soll wirken, der Mut des Märtyrers, welcher einem wütenden
Volkshaufen Trotz bietet und für dasjenige, was ihm als Wahrheit gilt, zu
sterben bereit ist.
Diese geistigen Eigenschaften würden aber trotz ihrer überzeugenden Kraft nicht
allein den tiefen Eindruck erreicht haben, welchen Munkacsys Schöpfung überall
gemacht hat. Die Malerei kann niemals allein durch Verkörperung von Ge¬
danken wirken, sondern sie muß es zugleich durch die Mittel der sinnlichen Dar¬
stellung thun. So hat denn auch die malerische Darstellung sehr erheblich dazu
beigetragen, für Munkaesys historische Auffassungsweise Freunde, Schüler und
Nachahmer zu gewinnen. Hatte Munlnesy in der evangelischen Geschichte die
Wahrheit zu ergründen gesucht, so strebte er noch mehr darnach in der Charak¬
teristik und Kostümirnng seiner Figuren, in der Gestaltung des Schauplatzes
der Szene. Seine ganze künstlerische Tendenz ist eine naturalistische im guten
Sinne des Wortes, d. h. er sucht jedes belebte und unbelebte Naturgebilde so
wiederzugeben, wie es ihm in der Wirklichkeit vor Augen tritt. Von solchen
Naturstudien abstrahirt er dann die Figuren, welche er für seiue geschichtlichen
Kompositionen braucht. Aus diesem Verfahren erklärt sich die erstaunliche
Lebendigkeit, die unanfechtbare Wahrheit von Gestalten, die nach tausendjährigem
Schlafe plötzlich zu neuem Dasein erweckt zu sein scheinen. Zu dieser Wahrheit
des Lebens tritt dann der archäologische Apparat hinzu, ein großer Aufwand
von prächtigen oder doch malerischen Trachten, von Waffen und Rüstungen,
von Architektur und Gerätschaften, der den Anlaß zur Entfaltung jener kolo¬
ristischen Reize und Kunstgriffe giebt, welche die moderne Malerei charakterisiren.
Auch das ist bedeutungsvoll, daß diese neue Richtung der religiösen Malerei
sofort im Besitze von Darstellungsmitteln auftritt, wie sie die frühern Kunst¬
epochen nicht gekannt haben.
Nach dem großen Erfolge, welchen Muukacshs Bild auf seiner Wander¬
schaft fand, ist es erklärlich, daß die Nachahmer manche Äußerlichkeiten über¬
trieben, ohne für den geistigen Kernpunkt das richtige Verständnis zu besitzen.
Die Berliner Jubiläumsausstelluug bietet zwei solcher Beispiele: die Auf-
erweckung einer Toten von Albert Keller in München und Christus und die
Ehebrecherin von A. Wolff in München. Ersterer ist weniger abhängig von
Munkacsy als letzterer. Die Verwandtschaft besteht nur in der reichen Ver¬
wendung des archäologischen Apparats und in der Charakteristik der Haupt¬
person, welche ebenfalls vom Standpunkte historischer Kritik aufgefaßt ist. Die
malerische Darstellung Kellers ist eine andre als die Munkaesys, aber an und
für sich ebenfalls vortrefflich und durch Kraft und Reichtum fesselnd. Obwohl
der Künstler keine bestimmte Angabe gemacht hat, wird man an die Auferweckung
der Tochter des Jairus denken dürfen. Der Maler ist von der Voraussetzung
ausgegangen, daß die Bestattuugswcise der alten Hebräer der altäghptischen
ähnlich gewesen sei, wofür ja auch einige Andeutungen in den biblischen Schriften
sprechen. In einer offnen Halle, die sich in einem Garten befindet, ist die
Tote auf einen Sarkophag gebettet worden. Ihren schlanken, zarten Körper
hat man wie eine äghptische Mumie in schmale Linnenstreifen gewickelt. Der
große Arzt und Wunderthäter ist, von den Mitgliedern der trauernden Fa¬
milie und von fnckeltrageuden Sklaven begleitet, in die Halle getreten und
hat das belebende Wort gesprochen. Das Mädchen hat sich bereits mit halbem
Leibe aufgerichtet und blickt mit erstaunten Augen ins Leere, während die Ver¬
wandten allmählich die Zeugstreifcu von ihrem Leibe wieder abwickeln. In den
Mienen der Umstehenden, welche das Wunder noch nicht zu fassen vermögen,
prägt sich starres Entsetzen in mannichfaltiger Weise aus. Mau muß vor einer
solchen Darstellung den Begriff des religiösen Gemäldes oder gar des Andachts¬
bildes völlig aufgeben. Es ist ein historisches Genrebild, welches nnr zufällig
mit der Person Jesu von Nazareth verknüpft ist, im allgemeinen aber mit den
archäologischen Resurrektivnen eines Alma-Tadema auf gleicher Stufe steht,
wobei freilich die eine Einschränkung zu machen ist, daß Keller das Antlitz des
Nazareners durch das Vorgefühl kommenden Leidens, schwerer Enttäuschungen
durchgeistigt hat. Nur in diesem einen Zuge lebt die alte germanische Tradition
nach. Wir scheu niemals den unerschrockenen Prediger, sondern stets das Opfer
der Passion, das Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Keiner von den mo¬
dernen Naturalisten hat es bisher versucht, uus nach dem Vorgange Michel¬
angelos den Helden, den Triumphcttor über Tod und Hölle zu zeigen. Auf
E. von Gebhardts „Himmelfahrt" in der Berliner Nationalgalcrie steigt nicht
der Sieger, sondern der an Leib und Seele Gebrochene zur himmlischen Glorie
empor. So erscheint er selbst in der glänzenden Versammlung, welche A, Wolff
in der Vorhalle des Tempels um ihn und die Ehebrecherin vereinigt hat. Ans
diesem Bilde, dessen Autor der reichen Palette Munkaesys eine etwas schwächere
Wiederholung abgewonnen hat, tritt der Aufwand von Kostümen, von farbig
schillernden Stoffen bereits so sehr in den Vordergrund, daß man durch eiuen
orientalischen Teppichbazar in Tunis oder Marokko zu schreiten glaubt.
Hat sich die Muukaesysche Richtung hier zu einem Streben nach koloristisch-
dekorativer Wirkung verflacht, so fand sie auf der andern Seite dnrch einen
direkten Schüler Muukaeshs, den aus Sachsen gebürtigen Fritz von Abbe, eine
wesentliche Vertiefung und zugleich eine weitere Ausbildung, die dem reinen
Histvriengemäldc wieder die Rückkehr zum Andachtsbilde, freilich in vollständig
rationalistischen Sinne, möglich macht. Eduard vou Gebhardt läßt die Vor¬
gänge der biblischen Geschichte durch und vor Personen in der Tracht des fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhunderts sich abspielen. Der Leichnam Christi
wird betrauert, vou den Frauen gewaschen, gesalbt und bekleidet in einer alt¬
deutschen Bürgerstube, in welche sich außer den traditionellen Zeugen noch teil¬
nehmende Nachbarn gedrängt haben, die in ehrfurchtsvoller Entfernung der er¬
greifenden Zeremonie zusehen. Abbe hat noch einen starken Schritt weiter
gethan, um uns die Gestalten der heiligen Geschichte noch näher zu bringen.
Er versetzt den Stifter der christlichen Religion unmittelbar in die Gegenwart
und giebt ihm dabei ein Gepräge, welches man kaum anders als sozialistisch
bezeichnen kann. Biblische oder Gebetsworte bieten ihm die Motive. „Lasset
die Kindlein zu mir kommen!" verkörperter so, daß er den Heiland als müden,
bestaubten Wanderer von der Landstraße in eine Dorfschule eintreten und auf
einem mit Stroh beflvchtenen Holzstuhlc Platz nehmen läßt. Er trägt das
traditionelle Gewand, die schmntzigblauc hemdartige Tunika, verrät aber im
übrigen durch nichts seine Mission oder seine überlegne Stellung. Die Kinder,
die sich ihm teils zutraulich, teils furchtsam nahen, tragen die Kleidung unsrer
Zeit ebenso wie die Lehrer und die Eltern, welche bescheiden an der Thür stehen,
um Lehramt und moralische Fürsorge einem Höhern zu überlassen. Wer diese
seltsame Komposition mit künstlerisch gebildetem Auge betrachtete, der wurde durch
den heiligen Ernst und die vollendete Wirklichkeit der Darstellung entwaffnet.
Man war versucht, zu glauben, daß der Fundamentalsatz des Descartes:
Log'lo, srg'o «um! durch einen Maler eine neue Erklärung und Begründung
erfahren hatte. Wer vermag es, in unsrer zu allerhand Ketzereien geneigten,
jedem dogmatischen Zwange abholden Zeit einem selbständigen Denken die Existenz-
Berechtigung abzusprechen? Hätte uns Fritz von Abbe seine Absicht zuvor
theoretisch entwickelt, so würden wir ihm wahrscheinlich ins Gesicht gelacht haben.
Aber vor seiner praktische» Demonstration muß der Spott schweigen. Wenn
er auch anfangs mit ängstlicher Sorgfalt auf Muukacshs Bahnen schritt, so
steht er doch heute bereits so selbständig da, daß die Erinnerung an die
Schulzeit nur noch den Wert eines biographischen Moments besitzt. Er hat
mit offnen Augen und klugem Kopf alles aufgenommen, was die französischen
Naturalisten der Kunst als sichern Besitz erobert haben. Er hat, um nur eines
hervorzuheben, ein Geheimnis enthüllt, welches Munlaesy, vielleicht infolge seiner
Herkunft ans der Schwarzmalerei, bisher verborgen geblieben ist: er kann einen
Innenraum so darstellen, daß das Auge des Architekten wirklich einen Raum
und nicht perspektivisch unwahr aneinander geschvbne Wandflächen findet, und
er kann einen solchen Runen durch Figuren beleben, welche nicht an den Wänden,
an den Geräten, an dem Hintergrunde wie Silhouetten kleben, sondern milde«
im Raume von Licht, Luft, Dunst umflossen als leibhaftige Wesen stehen und
sich zu bewegen scheinen. Wer das zustande bringen kann, ist ein ganzer
Maler. Und wir können noch mehr sagen, ein Maler, der kein Nachahmer ist,
sondern ein Maler, dem wir die Bedeutung eines Bahnbrechers zuerkennen
müssen. Wie mau auch über die französischen Naturalisten, über Abbe und seine
Nachahmer, über Skarbina, Firle u. s. w. in spätern Zeiten urteilen mag — so
viel steht fest, daß ihnen das Verdienst gebührt, unsre Malerei aus ihrer trüben
Kclleratmosphärc an das helle Licht des Tages in jeglicher Nüance empor¬
geführt, unsern Malern die Augen für das Licht geöffnet zu haben. Daß
vielen der Operirten die Augen über der ungewohnten Lichtfülle schmerzen, ist
natürlich. Jede Revolution verlangt ihre Opfer, und zwar ebensowohl aus den
Reihen derer, welche sie machen, als aus der Mitte der Angegriffenen. Die
Naturalisten werden noch viele verfehlte Bilder malen, bis es ihnen gelingen
wird, sich zu völliger Klarheit, zu einem Stile durchzuarbeiten. So lassen sich
auch gegen ein zweites religiöses Bild Fritz von Abtes: „Komm, Herr Jesu, sei
unser Gast!" mancherlei Einwendungen erheben. Die Voraussetzung ist eine
ähnliche wie bei dem vorher erwähnten Gemälde. Christus ist beständig inmitten
seiner Gemeinde oder nach den Worten des Evangeliums: „Wo zween oder drei
versammelt sind in meinem Namen, va bin ich mitten unter ihnen." In der
niedern Stube eines Bauern oder ländlichen Arbeiters will sich die Familie
eben zum Mittagsmahle niedersetzen. Der Hausvater hat das Tischgebet ge¬
sprochen, und die symbolische Einladung hat sich verwirklicht. Mit demütiger
Geberde heißt das Familienhaupt den leibhaftig erschienenen Heiland willkommen,
und die übrigen blicken mit staunender Audacht zu ihm empor. Die malerische
Behandlung ist trotz einiger Neigung zur Stizzenhaftigkeit auch hier wieder von
großem Reiz. Wie das von außen durch die trüben, kleinen Fensterscheiben ein¬
dringende Sonnenlicht mit der schweren Atmosphäre, dem Halbdunkel der Stube
kämpft und das ärmliche Hausgerät und die Figuren umspielt, das ist mit seltener
Meisterschaft dargestellt. Das Anfechtbare liegt in der Wahl der Typen, Wenn
es auch verständlich ist, daß Abbe sich gerade die niedrigste Hütte und eine arme
Familie ausgesucht hat, um einen der Fundamentalsätze der christlichen Lehre
recht eindringlich zur Anschauung zu bringen, so ist doch nicht einzusehen,
weshalb der Künstler gerade die häßlichsten Exemplare des Menschengeschlechtes
am darstellungswürdigsten gefunden hat. Es ist noch keine ausgemachte Sache,
daß Armut und Häßlichkeit immer identisch sind. Das ist ein Schluß, deu die
Naturalisten nur ihrem Programm zuliebe gezogen haben, welches das Häßliche
vor dem Anmutigen und Schönen bevorzugt wissen will, damit seine Bekenner
nicht in Trivialität, in die idealistische Schablone zurückversinken. Wir wollen
wünschen, daß der einseitige Kultus des Häßlichen nur ein Durchgaugsstadinm
der naturalistischen Bewegung kennzeichne und daß man später die Wahrheit
auch auf der Seite des Schönen suchen werde. Kraus und Vareler werden
ihre Genrebilder aus dem deutschen Bauernleben auch über deu Naturalismus
hinaus in die Zukunft retten, obwohl sie nach modernen Begriffen von Jdeali--
sirungssucht und Schönfärberei nicht ganz freizusprechen sind.
Abtes Streben ist, wie erwähnt, darauf gerichtet, den Herrn, der in Knechts¬
gestalt auf Erden wandelte, auch deu „Knechten" in der gegenwärtigen Auffassung
des Wortes, den Mühseligen und Beladnen, den „Enterbten" beizugesellen. Wir
sind weit entfernt, den Künstler sozialistischer Tendenzen zu zeihen. Er muß
uns dann aber auch gestatten, seine rationalistische Deutung der evangelischen
Lehre bis zur äußersten Konsequenz zu treiben. Christus tritt also in die Hütte
des Armen, d. h. der göttliche Mittler, der die Jahrtausende durchwandelt und
überall weilt, wo zwei in seinem Namen versammelt sind. Die Worte des
Evangeliums siud aber vieldeutig. Die Gläubigen können ebensowohl im Palast
wie in der Hütte wohnen, zumal da nach der modernen Lebensanschauung Reichtum
keine Schande ist. Mit demselben Rechte, mit welchem Abbe den Heiland in
die Hütte des Proletariers zum Mittagsmahle ladet, kann ein andrer Maler
die verehrungswürdige Gestalt an die Hochzeitstafel eines Reichen oder zum
Kindtanfsschmaus eines wohlsituirteu Pfahlbürgers bitten, der die Mittel hat,
um sichs was kosten zu lassen, nebenbei aber ein fleißiger Kirchenbesucher und
ehrlicher Christ ist. Wir würden uns einer Blasphemie schuldig machen, wenn
wir diesen Gedanken weiter ausspinnen, wenn wir schildern wollten, wie etwa
Christus in der Darstellung eines vollständig skrupelfreieu Malers der Uhdeschen
Richtung bei dem opulenten Hochzeitsmahle eines Großkaufmanns von befrackten
Hotelkellnern mit Champagner, Eis und Konfekt bedient werden könnte. Die
alten Niederländer und die Venezianer haben ein solches Wagnis in ihrer
himmlischen Naivität oft genug verübt und den Herrn und Heiland der Welt
in ihrer Unbefangenheit an allen guten Dingen teilnehmen lassen, welche der
grundgütige Himmel ihnen selbst bescheert hatte. Der immer schroffer werdende
Zwiespalt zwischen den beiden christlichen Bekenntnissen hat uns jedoch diese
Naivität.des Standpunktes geraubt. Man ist auf beiden Seiten so mißtrauisch
geworden, daß man Naivität nicht mehr von Satire und Bosheit unterscheiden
kaun. Ein Fortschritt auf dem von Abbe eingeschlagnen Wege kann daher sehr
bedenkliche Folgen haben, und es ist deshalb den jungen Naturalisten anzuraten,
eine so abschüssige Bahn zu vermeiden.
Abbe selbst hat sich mit einem dritten Bilde auch wieder auf das historische
Gebiet zurückgezogen. Es ist eine Darstellung des Abendmahls, aber nur im
Kreise der Jünger. Was wäre bei einer Modernisirung aus diesem Gegenstande
geworden? Christus hätte dann die Rolle eines Geistliche» unsrer Tage über¬
nehmen müssen, welcher jedem an den Abendmahlstisch herantretenden Brot
und Wein austeilt. Und das würde im allgemeinen die Stellung Christi sein,
wenn sich diese familiäre Auslegung der evangelischen Heilslehre in der Kunst
einbürgern wollte. Wie der Seelsorger der Gemeinde, so würde auch Christus selbst
zu jedem Mahle nach einer heiligen Handlung hinzugezogen werden dürfen, und
das würde unreifen, aber verwegnen Künstlern einen Tummelplatz eröffnen, der
ihnen bei Zeiten verschlossen werden muß, damit kein Ärgernis entsteht und die
Kunst nicht unter dem Zelotismns leidet. Wenn Abbe nicht in seiue frühern
Eigentümlichkeiten zurückfällt, darf man sagen, daß er mit seinem „Abendmahl"
das Durchgangsstadium überwunden hat. Es war ein kühnes Unterfangen, nach
Ednard von Gebhardt mit einem zweiten naturalistische!! Abendmahl in so kurzer
Zeit hervorzutreten. Vielleicht ist es ein Zeichen unsrer rapiden Geschichts- und
Kunstentwicklung, daß ein solches Wagnis geglückt ist. Der einzige Künstler,
der ein typisches, für beide Konfessionen gleich verehrungswürdiges Abendmahl
geschaffen hat, ist, wie jedermann weiß, Leonardo da Vinci. Erst nach beinahe
vier Jahrhunderten ist es E. von Gebhardt gelungen, eine zweite Darstellung
des Abendmahls protestantischen Kreisen annehmbar zu macheu. Seine Auf¬
fassung ist jedoch im Vergleich zu der Uhdeschen noch eine gemäßigte. Er hat
die traditionelle Anordnung wenigstens insofern beibehalten, als Christus in der
Mitte, an der Langseite des Tisches, sein Antlitz dem Beschauer zukehrend, sitzt.
Abbe ist auch in der Komposition ein Revolutionär. Der Heiland und seine
Jünger sind um einen ovalen Tisch versammelt. Damit Christus von dem aus
den Fenstern einfallenden Lichte voll beschienen werden kann, sitzt er mit dem
Rücken gegen den Beschauer, aber zwei Dritteile des Angesichtes demselben zu¬
wendend. Er hat eben das verhängnisvolle Wort: „Einer unter euch wird
mich verraten!" gesprochen, und die Wirkung desselben spiegelt sich auf den
Mienen der Jünger ab. Abbe hat auf diesem Bilde seine reichen Darstellungs-
mittel in so vollem Maße entfaltet, daß die kleine Gemeinde unter dem Vorsitze
des göttlichen Dulders einen tiefen Eindruck macht, welcher durch die naturalistische
Gestalteubildnng nicht beeinträchtigt werden kann. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß eine neue Entwicklung der religiösen Malerei von hier anheben wird, obwohl
es nicht an hervorragenden Künstlern fehlt, die, auf einem andern, zum Teil
völlig entgegengesetzten Standpunkte fußend, rüstig weiter arbeiten.
Die Berliner Jnbiläumsausstellung bietet uns zur Beurteilung dieser Be¬
strebungen ein mannichfaltiges Material. Pfannschmidt, wohl der letzte der
noch thätigen Corneliusschüler, hat zwei Lünettenkompositionen: „Die Grablegung
Christi" und „Die Frauen am Grabe Christi" ausgestellt, welche als Zeichnungen
hohe Achtung verdienen, aber durch die unglückliche Bnntfärbung das Verdienst
der Zeichnung wieder völlig aufheben. Georg Papperitz und Ludwig Thiersch
in München haben jeder eine Kreuztragung Christi gemalt und zwar in dem
Moment, wo der Heiland unter der Last des Kreuzes zusammenbricht und die
Frauen wehklagend seine Not zu lindern suchen. Es sind sehr ernsthafte, aber
ziemlich lahme Nachahmungen venezianischer und andrer italienischer Muster.
Des Polen Siemiradzti „Christus bei Maria und Martha" dient nur zum
Vorwande für ein trauliches Zwiegespräch im Garten, durch dessen Laubdach
die Sonne ihre goldnen Ringe herabsendet und auf Gesichtern und Gewändern
tanzen läßt. Das ist koloristisch sehr schön veranschaulicht, aber im Grnnde
uur ein Gaukelspiel, das keine ernste Beachtung verdient. Defreggers lebens¬
große Madonna mit dem Kinde, welche, in weißem Gewände und schwarzem
Kopfschlcier, zwischen Cherubim in den Wolken schwebt, ist weder durch ihre
Persönlichkeit, noch durch ihre malerische Behandlung anziehend genug, um ein
größeres Interesse hervorzurufen, als es durch den bekannten Namen ihres Ur¬
hebers bedingt ist. Der gekreuzigte Heiland von Gabriel Max, zu dessen Füßen
ein halbes Dutzend gerungener Hände, die Symbole der crlösungsbedürftigcn
Menschheit, sichtbar siud, ist ein so bizarres Experiment des spiritualistischen
Malers, daß man sich auf eine ernsthafte Diskussion nicht einlassen kann, zumal
da die abgeschnittenen Hände unter keinen Umständen ästhetisch zu rechtfertigen sind.
Nur ein Gemälde des aus Wien gebintigeu Alexander Götz: „Christus und die
Frauen," ein Gespräch des Heilands mit drei Jungfrauen am Brunnen, giebt
die Hoffnung, daß sich neben der naturalistischen Auffassung biblischer Motive
auch bereits die idealistisch-siilisirende nen zu entwickeln beginnt. Die vier Ge¬
stalten sind groß gedacht, frei behandelt und bei engem Anschluß an die Nainr
doch zu vornehmer Schönheit geadelt. Man wird a» Anselm Feuerbach erinnert.
Nur ist das Kolorit wärmer, goldiger, fast in der Weise der Venezianer, auf
welche auch die ganze Formenbildung hinweist. Dieses Bild zeigt auf den Weg,
auf welchem auch der Naturalismus zum Stil gelangen kann.
er die musikalische;? Sünden, die in unsrer Zeit begangen werden,
erschöpfend behandeln wollte, der dürfte sich nicht auf den Raum
eines Aufsatzes beschränken: er hätte Stoff zu einem ganzen Buche.
Da müßte zuerst von dem in vielen sogenannten musikalischen
Großstädten geradezu kläglichen Zustande der musikalischen Kritik
gesprochen werden, die nachgerade eine Anstalt sür gegenseitige Beweihräucherung
zu werden droht, von dem erschreckenden Cliquenunwcseu, das in diesen Kreisen
herrscht, von dem traurigen Klatsch, mit dem die Musikblcittcr ihre Spalten
füllen. Weiter müßte die Rede sein von den Übelständen des heutigen Vir-
tuvscntums, von seinen widerlichen Sclbstanprcisuugen, von dem geringen Kunst-
werte halsbrecherischer Technik einerseits und roher Kraft der Fäuste ander¬
seits, von der Allmacht der jüdischen Agenten, von dem Überwuchern der faden
Operette mit ihren seichten oder frechen Tiugcltangclmelodien. Sodann kämen
etwa die entsetzlichen Früchte der Arrangirwnt an die Reihe, die sich bereits
zu unglaublichen Leistungen versteigt; Kinderlieder von Karl Reinecke, arrangirt
für vierstimmigen Männerchor von Pfeiffer, oder ein Kavalleriemarsch für
sechzehn Schlagzithern — das ist doch, um an den Wänden hinauszulaufen! In
dasselbe Kapitel gehörte» die wahnsinnigen Potpourris, Quodlibets, Schlachten-
gemälde und was derlei Kram mehr ist, nieist Fabrikate von ruhmsüchtigen
Militärmusikmeistern, die allesamt (ich meine die Fabrikate) nicht mehr wert
sind als eingestampft zu werden, Strafantrag gegen die Urheber auf Grund
eines Gesetzes gegen Verfälschung geistiger Nahrung vorbehalten. Ferner könnte
nicht übergangen werden die sträfliche Vergötterung Wagners, die übrigens seit
seinem Tode doch merklich nachgelassen hat, und vor allem Liszts, dieses un¬
glückseligen Komponisten, auf den sich nach dem Tode von Berlioz, Cornelius
und Wagner die Verehrung der ganzen musikalischen Fortschrittspartei —
sie selber nennen sich Neurvmantiker — zusammengehäuft hat und dessen
Schöpfungen doch zum größten Teile den nüchternen Hörer, der seinem gefunden
Trommelfelle mehr vertraut als der Lärmtrvmpete des Lisztvereins, mit auf¬
richtigem Mitleid erfüllen müssen. Es müßte auf das furchtbare Umsichgreifen
der Klavierseuche und das ungesunde Anwachsen der Znchtanstalten für Pianisten
und Pianistinnen von neuem hingewiesen, es müßte das zahllose Mustklehrcr-
Proletariat ordentlich ins Licht gerückt, der grüßliche Schund der alljährlich er¬
scheinenden Salonmusik gehörig gebrandmarkt werden. Die beklagenswerte Ver¬
nachlässigung des gemischten Gesanges gegenüber dem Mcinncrgesang, der sich
über Gebühr breit macht, müßte Erwähnung finden. Schaden könnte es auch
lieber», zu Klärchens, zu Suleikas Gesängen machen eine stattliche Anzahl aus, dazu
die Mädchenlieder von Heyse (Schumann und Imsen), der Cyklus „Thränen"
von Chamisso (Imsen und teilweise N. Franz), die Entsagnngslieder von
F. v. Holstein, die zarten Mörikeschcn Lieder (Schumann, ox. 64, Ur, 1 und 2,
N. Franz, ox. 28, Ur, 2, Brahms, ox>. 59, 5), In den drei ersten Schubert-
Albums (Verlag von Peters) zähle ich zwanzig Mädcheulieder, im Mendels¬
sohn-Album zehn, in dem ersten Schumann-Album neun. Ich nenne nnr noch
ein paar meiner Lieblinge von Brahms: ox, 3, Ur, 1 und 4, ox. 6, Ur. 7,
op. 48. Ur. 3 und 4, ox. 57, Ur. 1, ox. 86, Ur, 1, ox, 97, Ur, 4, Doch wozu
die Aufzählung fortsetzen, die sich namentlich aus N, Franz (ox. 1, nix. 4, ox. 6,
ox. 19, ox. 11, ox. 13, ox. 17, ox. 23, ox. 28, ox. 39, ox. 35, ox. 36) leicht
vermehren ließe? Die Sängerinnen lesen ja meinen Aufsatz doch nicht oder
kümmern sich jedenfalls nicht um die von mir ausgesprochenen Ansichten.
Aber zu offenbaren Mißständen darum zu schweigen, weil man daran verzweifelt,
sie bessern zu können — dazu kaun ich mich nicht entschließen. Jedenfalls ist
es des Rufes von Leipzig als einer der musikalisch am weitesten fortgeschrittenen
Städte Deutschlands nicht unwürdig, wenn ein dem musikalischen Parteigetriebe
zwar fernstehender, aber auch musiklicbender Mensch den Berufsmusikern einige
Beobachtungen vorträgt, die sich ihm immer und immer aufgedrängt haben.
Allzu weitgehende Hoffnungen, der hohen Kunst und ihren treuen Verehrern
damit einen wirklichen Dienst zu erweisen, hege ich, wie gesagt, nicht.
in englischen Unterhause ist in der verflossenen Woche endlich die
Entscheidung über die Homerule-Bill erfolgt, und zwar so, wie
wir schon vor geraumer Zeit mit ziemlicher Bestimmtheit er¬
wartet und vorausgesagt haben. Gladstones unglücklicher Gesetz¬
entwurf ist von den Vertretern des britischen Volkes mit an¬
sehnlicher Stimmenmehrheit verworfen und so die größte Gefahr, mit welcher
die Einheit des Reiches der Königin Viktoria jemals bedroht war, bis auf
weiteres abgewendet worden. In später Stunde der Nacht vom 7. zum 8. Juni
schritt die Versammlung zur Abstimmung über die zweite Lesung der viel¬
besprochenen Bill, nud es ergab sich, daß von den fast vollzählig anwesenden
nicht, wenn dem „musikalischen" Publikum wieder einmal eingeschärft würde,
was man von einem gebildeten Hörer der Musik erwartet und was Leutritz
(Tonische Studien) so hübsch in einem Verschen zusammenfaßt:
Wer ein Konzert besuchen will,
Sei pünktlich da und sitze still,
Tret' auch den Takt uicht voll Gefühl
Und lass' unnützes Fncherspiel,
Und steh' nicht auf und lauf' nicht fort,
Bevor verklang der Schlußakkord.
Wer dazu sich nicht kann verstehn,
Der mag zur Wachparade gehn.
(Schade, daß nicht auch ein Wörtchen vom Schwatzen in Konzerten und vom
unzeitigen Programmumwenden mit darin steht!) Gegenüber dem hohlen Gerede
von unsrer hochmusikalischen Zeit müßte endlich auf die Massenfabrikation der
Marterwerkzeuge Orchestrion, Melvdion, Aceordivn, Ariston und wie diese ver¬
edelten (?) Leierkasten alle heißen, aufmerksam gemacht werden. Kurz, alles
das und noch viel mehr müßte den Inhalt eines Buches über die musikalischen
Sünden unsrer Zeit bilden. Ich will mich jedoch für heute auf einige Bemerkungen
über Liederkomposition und Liedervortrag beschränken.
Sowie die deutsche Metrik uicht bestehen kann, ohne fortwährend Fühlung
mit der Musik zu behalten, so darf umgekehrt auch die musikalische Gestaltung
eines Liedes von seiner Wortform — von seiner Sprechmelodic, will ich einmal
sagen — sich nicht zu weit entfernen, will sie nicht gewaltsam und unschön er¬
scheinen. Der Komponist oder Tondichter, wie man heute nach Campes Vor¬
schlag gern sagt, soll durch den größern Reichtum an Ausdrucksmittcln, der ihm
zu Gebote sieht, das Tvnbild eines Gedichtes saftiger, farbenreicher gestalten,
dann fördert er in der rechten Weise das Verständnis der Dichtung. Wenn die
gewichtigen Silben durch die Zeitdauer, Stärke oder Höhe des Tones hervor¬
gehoben werde», der gesamte Stimmungsgehalt eines Liedes in mehr oder minder
selbständigen Jnstrumeutalmotiven weitergeführt wird — man denke an den
Schluß der Begleitung vou Schumanns „Frauenliebe und -Leben" —, so dringen
wir oft zu einem viel tiefern Verstehen vor, zu jenem vollen nachempfinden
oder sogar Nachdichter, welches die letzte Höhe des Verständnisses bezeichnet.
Hierzu ist aber vor allen Dingen erforderlich, daß der Komponist mit der
nötigen Hochachtung an das Dichterwort herantritt, und daran fehlt es leider
recht oft. Wer ein Lied komponirt, tritt in den Dienst des Dichterwortes, und
ich bestreite dem Komponisten unbedingt das Recht, ein Gedicht zum Zwecke
der Komposition umzugestalten. Ein Gedicht ist ein fertiges, unantastbares
Kunstwerk, und mir der Dichter selbst ist befugt, irgendwelche Änderungen daran
vorzunehmen. Zu welchen Zugeständnissen an die Musiker sich übrigens
manchmal die Dichter selbst herbeilassen, dafür erlebte ich letzten Winter ein
hübsches Beispiel. Zu einer Dichtung „Thermopylä," komponirt für Soli und
Männerchor mit vier häutiger Klavierbegleitung von Richard Müller, hatte der
Dichter (Theodor Souchay) „auf Wunsch des Komponisten zu dessen musikalischer
Intention" dem Epilog (wörtlich aus dem Programm des Leipziger Universitäts-
gesangvercins Arion vom 29. Januar 1886) folgende Fassung gegeben:
Und so sank sie dahin in das grüne Gras,
Die tapfere Schaar des Leonidas.
Wie ihrs?), so leucht' es auf unserem Schild,
Von wehenden Banner im deutschen Gefild:
Gott schütze dich tior tiefer Not,
Mein Vaterland! Treu dir zum Tod!
Indessen von dichterischen Sünden will ich jetzt nicht reden. Den unerläßlichen
Beweis dafür, daß der Liederkomponist seinen Beruf richtig versteht, liefert
derselbe zuerst dadurch, daß er sich nie und nimmer unterfange, den Dichter
meistern zu wollen.
Die willkürlichsten Abweichungen vom Wortlaute der Gedichte hat sich wohl
Mendelssohn erlaubt. Bekannt ist seine Mißhandlung des Heineschen Textes:
Ich wollt', meine Schmerzen ergossen
Sich all in ein einziges Wort.
Das gNb' ich den lustigen Winden,
Die trügen es lustig fort.
Schon Oskar Blumenthal in der Deutschen Dichterhallc (1873, S. 34) hat ihm
diese Versündigung an dem Dichter vorgerückt und die Musikkritiker auf der¬
artige musikalische Verwäsfcrungcu aufmerksam gemacht — ohne jeden Erfolg,
wie mich dünkt. Aus Mendelssohn ließen sich die Beispiele häufen: man ver¬
gleiche seine „Herbstklage" von Lenau (Holder Lenz, du bist dahin) und die
rücksichtslose Änderung des tieftraurigen Schlusses (welkes Laub und welkes
Hoffen) in einen vergnügten (neues Laub wie neues Hoffen), ferner das „Nacht¬
lied" von Eichendorff (Vergangen ist der lichte Tag), von dem er zwei Strophen
ans der Mitte gestrichen und außerdem ein Wort geändert hat u. s. w.
Aber Mendelssohn ist nicht der einzige; es giebt vielmehr wenige Ton¬
setzer, die diese» Fehler ganz vermeiden. Das schöne Gebet von Geibel: „Herr,
den ich tief im Herzen trage" ist in der vielgcsungeneu Komposition von Hiller
in unverantwortlicher Weise verballhornt.
Selbst wenn der Grund erkennbar ist, wie in der „Mainacht" von
Brahms (Wann der silberne Mond durch die Gesträuche blinkt), wo der Komponist
von vier Strophen die zweite ausläßt, muß das Verfahren verurteilt werden.
Und sollte sogar ein Kunstwerk ersten Ranges so entstehen, so stört das Be¬
wußtsein des Unrechts, das dem Dichter widerfährt, dem denkenden Hörer den
Genuß, und das Mittel bleibt unter allen Umständen verwerflich. Wie viele
mögen, als sie die „Rhapsodie" von Brahms zum erstenmale hörten, gleich gewußt
haben, daß die Überschrift sozusagen als Entschuldigung des Komponisten auf¬
zufassen ist, daß er uns da ein aus dem Zusammenhange gerissenes Stück von
Goethes „Harzreise im Winter" vorführt? Und wem mag der weggelassene
Anfang dieses großartigen Gedichtes so gegenwärtig gewesen sein, daß er die
Stimmung des Vorspieles begreifen konnte und die Trostlosigkeit, in der dann
der Text einsetzt:'
Aber abseits, wer ists?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Wer gewohnt ist, ein Lied nicht zu studiren, ohne daß er die Fassung
des Textes beim Dichter vergleicht, der weiß, wie außerordentlich verbreitet diese
offenbare Unsitte unter den Musikern ist. In welcher Weise aber viele von
ihnen ihr Verhältnis zum Dichter auffassen, das zeigt der zwar schon oft
gerügte, indes immer wieder dann und wann auftauchende Mißbrauch, den
Dichter gar nicht mehr zu nennen. Jeder gebildete Musiker sollte doch hent-
zutage wissen, daß Wort und Weise in einem Liede gleichberechtigte Bestand¬
teile sind nud daß ein echtes Kunstwerk ihre volle gegenseitige Durchdringung
erheischt.
Weit häufiger aber noch, als der Fehler der ehrfurchtslosen Verzerrung der
Texte, ist der zweite, den ich rügen will: verkehrte Wahl der Kompositionsform.
Soll eine kunstgerechte Licdweise das Tonbild, welches die verständige und
ausdrucksvolle Deklamation eines Gedichtes giebt, zu ihrer Grundlage haben,
so darf die Kompositionsform und die durch sie geforderte Vortragsart auch
nicht im Widerspruche stehen mit dem Gedankcnbilde, das der Text schon ohne
Töne in unsrer Seele erzeugt.
Demnach kann ein Gedicht nur dann als Chorlied komponirt werden, wenn
es eine Stimmung wiedergiebt, die viele gemeinsam haben können, wie etwa das
Mendelssohnsche „Wer hat dich, du schöner Wald" (Vers 3: Was wir still
gelobt im Wald, wollens draußen ehrlich halten). Aber ist es nicht komisch,
von einer ganzen Schaar von Männern singen zu hören:
Das ist der Tag des Herrn!
Ich bin allein auf weiter Flur.?
Und muß es nicht geradezu als schlechter Witz gelten, wenn bei dem letzten
großen Hamburger Sängerfeste ein paar tausend Scmgesbrüder das Quartett
von Kvschat vortrugen:
Verlassen, verlossen,
Verlassen bin i,
Wie der Stoan auf der Straßen,
Ka Diandle mag mi, Drum geh i zum Kirchlan,
Zum Kirchlan hinaus,
Dort tria i mi nieder
Und woan mi halt aus.Im Wald steht a Hiigerl,
Viel Bleamerl blühn drauf,
Drunt schloft mei arms Diandle,
Ka Lieb weckts mehr auf. Dorthin is mei Wallfahrt,
Dorthin is mei Sinn,
Dort mirk i halt tendu,
Wia verlossen i bin.
Dieses Lied kann nur für eine Stimme komponirt werden, sein Inhalt läßt
etwas andres einfach nicht zu. Koschat selbst hat seine Komposition desselben
freilich auch für zwei Singstimmen arrangirt. Ich habe schon einmal den Genuß
gehabt, es in Gesellschaft von einer Sopranistin und einem Bariton vortragen
zu hören. Und es lachte nicht einmal jemand!
Aber lacht man denn, wenn ein Häuflein ehrbarer junger Damen und
Herren sich zusammenthun zu dem Zwecke, das Meudelssvhnsche „Entflieh
mit mir und sei mein Weib ?c." zu singen? Man muß noch froh sein, daß
die jungen Damen sich in der Regel um den Text garnicht kümmern; wer weiß,
welche entsittlichende Wirkung das vielverbreitete Lied schon geübt, wie viel
Unheil es schon angerichtet hätte!
Gedichte, die einer Stimmung Ausdruck geben, welche nur einem Einzelnen
angehört und vernünftigerweise angehören kann, können das Gebiet des ein¬
stimmigen Liedes nicht verlassen, ohne in ihrer künstlerischen Gesamtwirkung
geschädigt zu werden; so wenig man sie für vier oder mehr Stimmen setzen
darf, ebenso wenig, ja fast noch weniger eignen sie sich zu Duetten, weil die
Zweiheit der vortragenden Künstler vielfach noch weit störender ist als die
Vielheit derselben, besonders dann, wenn sie ein Pärchen bilden und es sich um
Liebeslieder handelt.
Ich kenne Duette von G. Hasse für Sopran und Bariton, also für Mann
und Frau geschrieben (musikalisch sind sie garnicht übel), deren Texte Wehmut
und Klage einer Verlassenen ausdrücken; z. B. ist darunter das böhmische
Volksliedchen „Sternchen mit dem trüben Schein," das mich Vrahms (ox. 48,
Ur. 4), natürlich für eine Stimme, komponirt hat. So hat selbst Adolf Zeusen
das Osterwaldsche Gedicht „Nun steh' ich auf der höchsten Höh" (Sehnsucht
des einsamen Liebenden) für zwei Stimmen gesetzt, und es läßt sich leicht nach¬
weisen, daß uur einer ganz geringen Anzahl von Tousetzern die unbestreitbare
Wahrheit aufgegangen ist, wie ganz anders Duette wirken, die als solche vom
Dichter schon empfunden sind. Welch breiten Raum nehmen im ältern und
neuern Volksliede die Gesprächslieder ein! Erst einige der neuern Komponisten
kehren zu dieser überaus wirksamen Kunstform zurück. Schumann hat, wie in
der neuern Gestaltung des Kunstliedes überhaupt, den Weg gezeigt (ox. 34, Ur. 2
und 3, Texte von Burns, ox. 101, Ur. 3, Text von Rückert), Brahms ist ihm
mit Glück nachgefolgt (ox. 28, vier Duette für Alt und Bariton, ferner in der
mächtigen Ballade Edward). Von andern Komponisten nenne ich, was mir noch
eben an Gesprächsliedern zur Hand ist: A. Reißmann, ox. 4, vier Duette für
Sopran und Bariton; Albert Dietrich, ox. 28, vier Duette für Sopran und
Bariton; Georg Henschel, ox. 28, drei Duette für Sopran und Bariton; Paul
Umlaufe, ox. 27, Ur. 1 und 4.
Selbstverständlich müssen nicht alle Duette Gesprächslieder sein; ich will
nur an einige andre, nach Wort und Weise prächtige Duette erinnern: Schumann,
So wahr die Sonne scheinet; Reinecke, Kein Sorg' um den Weg; Reinecke, Ein
Bruder und eine Schwester; Brcihms, Wir Schwestern zwei, wir schönen. Man
vergleiche damit die sämtlichen Mcndelssohnschen Duette, bekanntlich die meist
gesungncn. Nur eins von ihnen, Suleika und Haken, hat einen Wortlaut, der
die Form des Duetts verlangte, die wenigsten sind derart, daß die zweistimmige
Fassung erklärlich ist: aus reiner Laune hat er ihnen diese Gestalt gegeben.
Was ich verlange, ist, daß der Komponist, ehe er den ersten Notenkopf
schreibt, sich in den gesamten Gedanken- und Gefühlsinhalt des Liedes versenke,
die Lage, aus der heraus die Dichterwvrte flössen, sich vor die Seele führe und
mit sorgfältiger Rücksicht hierauf ihre musikalische Gestaltung unternehme. Mir
scheint, es ist das der bekannte Satz: die Technik ist abhängig von dem zu ver¬
arbeitenden Material, nur übertragen auf ein Kunstgebiet, das von solchen Stil¬
gesetzen seither nicht viel hat wissen wollen.
Aber nicht bloß der Komponist hat dem Inhalte des darzustellenden Liedes
genaue Beachtung zu schenken, sondern ebenso auch die vortragenden Sänger
und Sängerinnen. Wie hcivfig dies unterlassen wird, zeigen uns die Konzert¬
programme; namentlich die Sängerinnen, und unter ihnen vorzugsweise wieder
die Altistinnen sind es, die in dieser Beziehung oft sonderbare Zumutungen an
die Konzertbesucher stellen.
Wird wohl je ein Sänger den allbekannten Schumannschen Liederkreis
„Frauenliebe und -Leben" zum Vortrag wählen? Oder sollte es je einem
Tenoristen in den Sinn kommen, Klärchens Lied aus Egmont zu singen: „O
hätt' ich ein Wämslein und Hosen und Hut!" oder auch nur die Schubertschen
Miguvnlieder? Wer in dieser Weise die Natur auf den Kopf stellen wollte,
würde doch mit Recht ausgelacht werden. Aber ist es denn etwas andres, wenn
eine Sängerin Beethovens Liederkreis „An die ferne Geliebte" vorträgt? Nach
einem Konzertbericht aus Würzburg (Musikal. Zentralblatt 1884, Ur. 22) hat
ein Fräulein von Berg die Unerschrockenheit besessen, dies zu thun, aber ähn¬
liches kann man auch in Leipzig und überall in jedem Konzerte erleben!
Natürlich giebt es eine Menge Lieder, die, obschon sie männlichen Empfindungen
Ausdruck geben, im Munde der Frau immerhin deutbar oder erträglich sind.
Aber die eigentlichen Werbelicder, die die Schönheit der Geliebten preisen, ihre
liebe, kleine Hand, ihr goldnes oder rabenschwarzes Lockenhaar, ihr rotes
Mündlein, „die Grübchen in den Wangen, das Grübchen in dem Kinn," das
Beben ihrer weißen Brust, dann die Geständnislieder (Schumann ox. 48. Ur. 1),
die vergeblichen und erfolgreichen Ständchen, die Aufforderungen, sich entführen
zu lassen, ferner jene Siegeslieder der Liebe: Sie ist deine, sie ist dein! — all
das sollte doch ein zartfühlendes Weib garnicht über die Lippen bringen! Nun
werden manche einwenden: die Sängerin tritt garnicht in ihrer Eigenschaft als
Weib auf, ihre Stimme ist einfach das Instrument zur Darstellung des be¬
treffenden Liedes. Ja, aber kann und will man denn das Geschlecht und das
natürliche Verhältnis der Geschlechter im Konzertsaale so ganz vergessen? und
ist etwa die Tracht der Sängerinnen darauf berechnet, ihre holde Weiblichkeit
und die äußern Vorzüge ihres Geschlechts zu verstecken? und all die Opern¬
gucker, die im Augenblicke des Auftretens der Künstlerin sich auf das Podium
richten, beweisen die etwa, daß man nur für die Töne der Stimme Ohren, nicht
auch Augen für etwas andres hat? Nein, eine große Menge Lieder werden
im Munde der Frau einfach zu Taktlosigkeiten, die das denkende Publikum ab¬
lehnen sollte! Da sang im Leipziger Gewandhause (im dritten Konzert des
Winters 1884/85) ein Fräulein Walter das venctinnische Gvndcllied von Mendels¬
sohn: „Wenn durch die Piazetta die Abendluft weht ze." Es ist das eines von
den Entführungsliedern, der Liebhaber fordert seine Ninetta auf, mit ihm das
Boot zu besteigen u> s, f. Wie kann das nur eine junge Dame singen? Aber
Fräulein Walter half sich in äußerst geistreicher Weise über das Bedenke» hinweg,
das ihr also doch wohl auch gekommen sein mußte: 'sie sang im letzten Vers:
Laß durch die Lagunen, Geliebter, uns flieh»! Nun ist denn doch der Unsinn
voll: eine Dame singt eine Dame, Ninetta mit Namen, an, nennt sie ihren
Geliebten und fleht sie an, sich entführen zu lassen. Kann man das ernsthaft
anhören? Sollte nicht die Kritik mit Keulenschlägen gegen derartigen Blödsinn
losgehen? Aber wer auf die Gedankenlosigkeit und Denkfaulheit der Menschen
rechnet, der verrechnet sich selten oder nie!
Ich habe mir schon manchmal Mühe gegeben, Sängerinnen auf das Un¬
weibliche und Unzarte aufmerksam zu machen, das in dem Vortrage solcher
unverkennbaren Männerlieder durch eine Frau liegt. Sonderbar: Dilettantinnen
gaben mir meist recht, Künstlerinnen von Fach nie. Oft verstanden sie mich
nicht gleich, der Gedanke war ihnen zu neu, als daß sie ihn gleich hätten fassen
können. Dann aber sagten sie: Das würde eine ganz ungerechtfertigte Be¬
schränkung unsers Repertoires sein. Das ist nun ganz und gar nicht der Fall.
Denn erstens giebt es eine zahllose Menge von Liedern, die männlichen und
weiblichen Vortrag gleichermaßen zulassen. Dahin gehören alle erzählenden
Lieder, Romanzen, Balladen, und zweitens giebt es eine Fülle so prächtiger
Mädcheulieder, die mau selten oder niemals hört, daß die verehrten Sängerinnen
genug und übergenug zu thu» hätten, wenn sie diese alle kennen lernen wollten!
Überhaupt ist der Kreis der herkömmlichen Kvnzertlieder so eng, daß mau es,
wen» man die gehäuften Schätze der neuern Liedlitcratnr nur ein klein wenig
kennt, garnicht begreifen kann. Da ist zuerst die große Gruppe der Kiuder- und
Wiegenlieder, die den Sängerinnen vorbehalten bleiben müssen. Dann die Lieder
der Sehnsucht nach dem ferne» oder treulosen Geliebten (wie N. Franz, ox. 35,
Ur. 1), die Klagelieder der Verlassenen, die Jnbellieder der Glücklichen (R. Franz,
ox. 4, Heft 2, Ur. 7: Er ist gekommen in Sturm und Regen) — es ließen sich
leicht Hunderte von schönen Mädchenliedern zusammenstellen. Schon die mnnnich-
fachen Kompositionen zu Goethes Gretchen am Spinnrade, zu seineu Mignon-
Mitgliedern des Hauses 311 für und 341 gegen den Vorschlag des Premier¬
ministers gestimmt hatten, der letztere also mit 30 Stimmen in der Minderheit
geblieben war. Vorher hatte Goschen die Bill noch einmal in vernichtender
Rede kritisirt, Parnell sie zu verteidigen versucht und Gladstone zu demselben
Zwecke eine anderthalbstüudigc Rede vom Stapel gelassen. Goschen legte zum
Schluß seiner Ansprache mit Worten, welche der Gelegenheit würdig entsprachen,
den Versammelten ihre Pflicht ans Herz. „Wenn das Haus, sagte er, der Bill
beistimmte, so würde es die Verfassung unsers Landes verstümmeln, zu deren
Wächtern wir aufgestellt sind. Wir sind verpflichtet, unsern glorreichen Besitz
ungeschmälert und unbeschädigt denen, die nach uns kommen, zu übergeben. Ich
beschwöre das Haus bei den Überlieferungen, deren Erben wir sind, bei allen
gegenwärtigen Obliegenheiten, bei unsern Hoffnungen auf eine mächtige und
wohlthätige Zukunft des Reiches, bei unsrer Pflicht gegenüber der Königin,
welche diese Lande regiert, Sorge zu tragen, daß unsre Nachkommen bezeugen
können, wir haben das in uns gesetzte Vertrauen nicht getäuscht." Als das
Ergebnis der Abstimmung verkündigt wurde, folgte eine Szene unbeschreiblicher
Aufregung und Leidenschaftlichkeit. Die Tories sprangen triumphirend auf,
warfen Hüte und Taschentücher empor und schrieen, um heiser zu werden.
Chamberlain und die Radikalen begnügten sich mit zufriednem Lächeln. Die
Anhänger des Ministeriums waren stumm, wie vom Donner gerührt; denn sie
hatten noch wenige Augenblicke vorher sich für die Sieger gehalten. Die
Parnclliten vermochten ihre Enttäuschung und ihren Verdruß nicht zu verbergen.
Sie heulten, als Chamberlain aus dem Abstimmungssaale zurückkehrte, zeigten
mit den Fingern auf ihn und nannten ihn einen Verräter. Gladstone ertrug
seine Niederlage mit geziemender Würde. Als der Jubel der Sieger und das
zornige Toben der Besiegten sich etwas gelegt hatten, stellte er den Antrag,
das Haus wolle sich bis Donnerstag vertagen, worauf der Homernler Hcaly
zvrnglühend sich erhob und ihm zurief, er möge „sich der Worte erinnern, die
Friedrich Douglas gesprochen." Ein andrer Jrlünder, O'Connor, der sich eben¬
falls in großer Aufregung befand, erklärte sich erfreut über die Abstimmung,
„weil sie der Diktatur von Ränkesucht und Unfähigkeit ein Ende mache." Man
konnte einen Augenblick glauben, dies sei auf Gladstone gemünzt. Als aber der
Sprecher des Hauses die Ordnung einigermaßen wiederhergestellt und die Ver¬
sammlung den Antrag des Ministers auf Vertagung angenommen hatte, brachte
O'Connor ein dreimaliges Hoch auf den „großen alten Mann" ans, in welches
außer der irischen Brigade auch ein erheblicher Teil der Liberalen und Radi¬
kalen einstimmte. In den Vorsälen begann, als die Abgeordneten sich entfernten,
ein Anhänger des Premiers die Volkshymne zu singen, und das Publikum, das
dort der Entscheidung geharrt hatte, fiel ein und begrüßte Gladstone abermals
mit Hochrufen. Die Bitterkeit seiner Niederlage wurde ihm dadurch einigermaßen
versüßt, aber mit dreißig Stimmen geschlagen zu sein, blieb bitter genug, und
daß von der ganzen Londoner Presse nur Daily Mo8, Gladstones Leiborgan,
diesen Ausgang bedauerte, war eben kein Trost für die Zukunft. Die IXmss
rühmt die große Mehrheit, die gegen die irische Gesetzvorlage stimmte, als eine
über alle Erwartung entscheidende und hofft von den bevorstehenden Neu¬
wahlen, das Land werde einen ähnlichen Wahrspruch abgeben. Der toryistische
LiMÄ-M behauptet, Gladstone habe seinen Ruf als Staatsmann zu Grnnde
gerichtet und die Unterstützung seiner Partei eingebüßt — was zu viel gesagt ist,
da dies nur von einem Teile der Liberalen gilt. Wenn er an die Wähler
appellire, werde er erfahren, daß ihm anch das Vertrauen des Landes verloren
gegangen sei — was eine Wahrscheinlichkeit, aber immerhin keine solche ist, deren
Inhalt sich zuversichtlich prophezeien läßt. Der vint/ ^ölogr-ixll endlich bemerkt:
„Dieser höchst entscheidende und höchst willkommene Ausgang des großen Streites
drückt in emphatischer Weise die tiefgehende Unzufriedenheit des Hauses der
Gemeinen mit den thörichten Projekten und den unbestimmten Erklärungen Glad-
stones und seiner Amtsgenossen aus, und wir sind überzeugt, daß die Stimme
der Abgeordneten im großen und ganzen getreu die Meinung des Landes über
die jetzt gefallene Bill wiedergiebt."
Der „große alte Mann" scheint diese Ansicht von der Hoffnungslosigkeit
seines irischen Planes nicht zu teilen, weil er sonst uach dessen Scheitern im
Unterhause von seinem Amte zurückgetreten sein würde. Er will aber bleiben
und es mit ihm bei der Wühlerschaft versuchen, an die er zunächst wieder eins
seiner Manifeste erlassen wird. Mittlerweile beschloß ein von ihm einberufener
Ministerrat, von der Amtsniederlegung Abstand zu nehmen, weil ein solcher
Schritt nur zur Verlängerung der akut gewordenen Krisis dienen könnte, und
nach Auflösung des Unterhauses zu Neuwahlen zu schreiten. Die Königin hat
diesem Kabinetsbeschluß ihre Zustimmung erteilt, und so ist der Auflösung für
die letzte Woche dieses Monats entgegenzusehen. Die neuen Wahlen würden
in der ersten Hälfte des Juli stattfinden.
Die Abstimmung des Unterhauses über die zweite Lesung der Homcrule-
Bill wird in den Annalen des britischen Parlaments einen hervorragenden Platz
einnehmen. Sie fand zufällig gerade am Jahrestage des letzten Sturzes der
Regierung Gladstones statt. Damals wurde das liberale Ministerium und
252 gegen 246 Stimmen geschlagen, jetzt waren seine Gegner also weit stärker
an Zahl. Es beteiligten sich an der Abstimmung von den 670 Mitgliedern
des Hauses der Gemeinen nicht weniger als 657, und ziehen wir in Betracht,
daß die irischen Stimmen sowie die der Kabinetsmitglieder von der Minderheit
von 311 abgerechnet werden müssen, wenn man eine richtige Vorstellung von
der Zahl der Abgeordneten gewinnen will, welche Gladstone unparteiisch unter¬
stützten, so schmelzen die Anhänger der Bill auf nicht viel mehr als 200 Köpfe
zusammen, denen 341 Widersacher der Maßregel gegenüberstehen. Eine weitere
Betrachtung der Abstimmungsliste zeigt, daß die siegreiche Mehrheit aus 249
Konservative», 91 Liberale» und 3 Unabhängige» zusammengesetzt war, und
daß sich unter den Liberalen, welche gegen den Führer ihrer Partei stimmten,
folgende Mitglieder früherer liberaler Ministerien befanden: Lord Hartington,
John Bright, Goschen, Chamberlain, Courtney, Hencage, Trevelya», Brand
und Came. Das sind sehr merkwürdige Thatsachen, welche von der Konigin,
dem Kabinet und den Führern der Opposition ohne Zweifel gewürdigt worden
sind. Indes konnte man im Hinblick auf die konstitutionelle Praxis nicht be¬
haupten, daß es Gladstone dadurch verboten worden sei, die Königin um die
Erlaubnis zur Auflösung des Parlaments und zur Anordnung von Neuwahlen
zu bitten.
Inzwischen können wir einen Rückblick auf den wichtigen Kampf thun, zu
dessen Ausgang sich jeder patriotisch gesinnte Engländer aufrichtig Glück wünschen
wird. Für uns war es vom ersten Augenblicke der Einbringung der irischen
Bill, wo nicht sicher, doch sehr wahrscheinlich, daß sie nicht Annahme finden
würde, obwohl Gladstone all sein Geschick auf sie verwendet hatte und zu er¬
warten war, daß er mit allen Manövern für ihre Durchdringung sorge» werde.
Sie trug von Anfang an die Merkmale eines Machwerkes an sich, das mehr
unter dem Einflüsse sentimentaler als unter dem Antriebe staatsmännischcr
Gedanken ausgeklügelt war und ein zu weitgehendes Prinzip verwirklichen wollte.
Sie war zu überladen mit Einzelheiten und zu gefährlich, um Gesetz werden zu
können. Später begriff Gladstone dies selbst und suchte nun die mächtige Gegner¬
schaft, welche er sich geschaffen hatte, durch Rückzüge und andre Stratcgeme zu
entwaffnen, bei denen seine Voreingenommenheit mit seinem parlamentarischen
Instinkt um den Vorrang stritt. Alle seine Anstrengungen waren aber ver¬
geblich, und er wird sich nunmehr klar darüber sein, daß es eine eitle Erwar¬
tung war, wenn er meinte, das britische Parlament werde auch mir das bloße
Prinzip eines Gesetzentwurfes, wie dieser, im Verlaufe einer einzigen Session
annehmen. Er wird jetzt einsehen und von dieser Einsicht Nutzen ziehen,
daß eine englische Negierung nicht von den Engländern verlangen darf, sich
um den Preis der Einheit des Reiches und irgend einer Schwächung und
Minderung der Suprematie des Neichsparlamcntes den sozialen Frieden, die
Dankbarkeit der irischen Nationalisten und ein ungestörtes englisches Parteileben
zu erkaufen. Die Vertreter der Nation begriffen diese Unmöglichkeit eher und
verwarfen den Vorschlag mit dem gesunden Menschenverstande und dem echten
Patriotismus, welcher die Mehrheit derselben früher in der Regel beseelte,
in den letzten Jahren aber sich nicht selten vermissen ließ. Es wird jetzt,
sobald alle Gefahr vorübergegangen ist, eine Zeit folgen, wo die Denkenden
im Volke sich das irische Problem mit verhältnismäßiger Ruhe und Kühle über¬
legen und sich aus dem Wüste von thörichten Vorschlägen und unklugen Neue¬
rungen, ans denen das Gladstoncsche Projekt zum großen Teile besteht, die
dazwischen liegenden richtigen und ausführbaren Gedanken Herausnehmen können.
Niemand wird daran zweifeln, daß es ganz richtig wäre, wenn ein Minister
wünschte, daß Frieden und Freundschaft zwischen den Jrländern und der übrigen
Bevölkerung des Reiches herrschen, und wenn das Parlament alles, was den
Jrländern ohne Gefahr zugestanden werden kann, gern und bald zugestehen
wolle. Es ist also die Aufgabe der Zukunft, sich aus den Trümmern des un¬
vorsichtig zusammengebauten Reformgebäudes Gladstones das Material zu einem
einfachern und haltbarer» Gesetzbaue zur Versöhnung Irlands zu suchen. Der
Premierminister hätte die Grundsteine zu eiuer solchen Gesetzgebung selbst legen
können, wenn er das Prinzip seiner Maßregel sorgfältig erwogen und abge¬
grenzt und es nicht mit einer Masse gefährlicher und aussichtsloser Einzelheiten
ausgestattet hätte. Zwar entschloß er sich zuletzt, einen guten Teil davon über
Bord zu werfen, aber die Punkte, an denen er mit mehr oder weniger Zähig¬
keit festhielt, reichten hin, dem Ganzen das Schicksal zu bereiten, welchem es jetzt
verfallen ist. Hätte er dem Unterhause eine Resolution dargeboten, welche, ohne
weniger Wohlwollen gegen die Jrländer auszudrücken, die seine Verbündeten
waren, mehr den Empfindungen der Engländer und Schotten Rechnung getragen
hätte, so würde dieselbe wahrscheinlich angenommen worden sein. Die Mehrheit
der Unterhausmitglieder würde vermutlich nicht nein gesagt haben, wenn der
Premier beantragt hätte, den Jrländern eine gesetzgebende Körperschaft zu ge¬
währen, die sich einzig und allein mit rein irischen Angelegenheiten zu beschäf¬
tigen hätte, unter unveränderter und bleibender Oberaufsicht und Beeinflussung
des Neichsparlaments tagte und beschlösse und in keiner Weise die Einheit
und die Interessen des Gesamtstaates zu bedrohen oder die Sicherheit der
Minderheit der Bevölkerung Irlands zu schädigen vermöchte. Ein solcher
Antrag hätte auf fast einmütige Billigung und Annahme rechnen können und
würde vielleicht zur Grundlage einer höchst wertvollen Versöhnungsmaßrcgel
geworden sein, die dem Staate volle Sicherheit geboten hätte. Gladstone da¬
gegen häufte, von einer Idee verführt, was bei ihm häufig der Fall ist, un¬
überlegte Details auf ein unvorsichtig angenommenes Prinzip und hielt mit verblen¬
deter Hartnäckigkeit an dieser seiner Schöpfung fest, und die Folge war, daß,
als er zuletzt sich abmühte, sein irisches Parlament so zu gestalten, daß es wie
bloß örtlich und wie unabhängig aussehen konnte, seine eignen Worte und Klau¬
seln ihm widersprachen. Eine weitere Folge war, daß seine Partei, die Libe¬
ralen, in Verwirrung geriet, in der sie ihm mißtraute und in großer Anzahl
gegen die ganze Maßregel zu stimmen beschloß, gleichviel, ob sie zurückgezogen
und umgestaltet werden sollte oder nicht. Was soll nun zur Lösung der
Frage geschehen? Chamberlein hat auf den Weg hingewiesen, wie Kanada
das Problem eines Parlaments dieser Kolonie löst, welches über einer Anzahl
von örtlichen gesetzgebenden Versammlungen als Kontrole steht. Aber die Haupt¬
frage ist nicht mehr, ob Irland eine Art Home Unke haben soll, sondern die
Kontroverse dreht sich darum, welcher Art bieses Home Rule sein soll. Mit
dem Programm Salisburys: ein paar Jahrzehnte ZwcmgSgcsetze in Irland und
kräftige Beförderung der Auswanderung des keltisch-katholischen Elements auf
Kosten des Staates, wird es kaum gehen. Auch hieße das die Feinde Englands
in Nordamerika verdoppeln, die jetzt schon zahlreich und stark genug sind.
Es sieht gegenwärtig aus, als wollte das englische Parteileben sich um¬
gestalten, jedenfalls zeigen die alten Gebilde desselben Risse und Spalten,
welche sich kaum wieder schließen lassen werden, und vielleicht hat der Streit
um Irland schon das Wort emporgehoben, um das die sich trennenden Elemente
sich neu gruppiren werden, wo nicht für die Dauer, doch für die nächste Zeit.
Allerdings gehen solche Auflösungen und Neubildungen in England langsam
vor sich. Die beiden Hauptparteien halten mehr oder minder zäh ihre alten
Namen fest. Wenn Lord Churchill sich oft als Tory bezeichnet, fo folgt er
dem Beispiele Veacousfields, der seinen guten Grund dazu hatte; denn er hatte
als Mr. Disraeli in Romanen und öffentlichen Reden den Konservatismus,
wie Peel seine Milderung des alten Tory-Kredos getauft hatte, nicht selten ver¬
spottet. Er ging deshalb auf die alte Bezeichnung zurück, die überdies, da sie
eigentlich nichts mehr sagte, elastischer war und jede unverhoffte Entwicklung
decken konnte. Als z. B. 1867 eine Reformbill, die viel weiter als die von
den Liberalen vorgeschlagne ging, nicht wohl von einer konservativen Negierung
kommen konnte, stützte sich Disraeli aus die paradoxe Behauptung, die Tories
wären bisher stets die nationale und auf das Wohl des Volkes bedachte Partei
gewesen und sollten auch fernerhin so aufgefaßt werden. Indes hatte dies bisher
nur teilweise Erfolg. Es giebt in England keine „toryistischen" Vereine, und kein
Wahlkandidat nennt sich einen „Tory," wogegen man zahlreichen „konservativen"
Klubs und „konstitutionellen" Vereinigungen begegnet, welche alle dieselben
Politiker einschließen, die Salisbury gelegentlich als Tories anredet. Stets aber
wechseln die drei Bezeichnungen, als ob die Partei, die sie gebraucht, nicht recht
wüßte, welche sie wählen sollte. Ihre Gegner waren bisher besser daran: der
große liberale Regenschirm vereinigte bis vor kurzem eine Gruppe sehr ver-
schiedner Geister unter sich: alte Whigs, denen Lord Nandolph Churchill ein
Revolutionär war, stramme Fortschrittsfreunde altmodischen Charakters, Volks-
wirtschaftlcr mit streng freihändlerischen Grundsätzen nach jeder Beziehung hin,
Fürsprecher für Landverteilung, Verteidiger des Home Rule und einen Schweif
von Radikalen, denen das Recht der großen Gnmdeigcntümcr, das Oberhaus
und die Staatskirche als ebensoviele Greuel erscheinen. Heutzutage aber ver¬
einigt das Wort „liberal" so wenig mehr, daß man es garnicht mehr anwenden
sollte. Es kann jetzt einen Homeruler, einen Mann, der mit Gladstone blind¬
lings dnrch Dick und Dünn geht, einen Parnelliten, einen gemäßigten Separatisten
bezeichnen, anderseits aber auch einen Whig, einen liberalen Unionistcn, einen
Radikalen von Chamberlains Farbe und einen, dem Brights Ansichten besser
zusagen. Diese Zersetzung hat einzig und allem die irische Bill hervorgerufen.
Sie hat wie das Wort von oben gewirkt, das die am Babelturme bauenden
Völker verwirrte und auseinander trieb. Sie ist ein zweischneidiges Werkzeug
gewesen, das die liberale Partei zerschnitten hat, ehe diese bunt zusammen ge¬
würfelte Organisation imstande war, es zur Verstümmelung des Vereinigten
Königreiches zu benutzen.
Von diesem Zerfalle der Liberalen gedenken jetzt die Freihändler Nutzen
zu ziehen. Lord Brmnwell und der Carl of Wemyß stehen an der Spitze einer
Bewegung, welche einen großen Verein gründen will, der alle „Anhänger der
individuellen Freiheit in ihrem Gegensatze zur Staatshilse" umfassen soll. Nach
ihrem Programm beabsichtigt die neue Liga „allmählich die Dienste des Staates
auf die Verteidigung von Land, Person und Eigentum zu beschränken." Wir
glauben, daß die Herren ihre Zeit nicht recht begriffen haben und kein gutes
Geschäft macheu werden. Die Erfahrungen, welche England in den letzten
Jahren mit dem Evangelium Cobdens gemacht hat, sind nicht dazu angethan,
ein Beharren bei demselben oder gar eine Erweiterung und Verschärfung der
Ausführung seiner Grundgedanken zu empfehlen. Es mag etwas Heroisches
haben, wenn Leute trotz dieser Erfahrungen den Individualismus noch als allein¬
seligmachend predigen, aber wie schön er sich auch in der Theorie ausnimmt,
die Praxis hat erwiesen, daß er auch in England nicht die rechte nationale
Politik ist, und die Engländer sind ein praktisches Volk. Sie haben gesehen,
und ihre Presse sagt es ihnen jetzt offen heraus, daß die Industrie der fest¬
ländischen Nachbarn, der Deutschen und der Franzosen, mit ihrer Staatshilfe
die britische zu überflügeln begonnen hat, daß die letztere nur dnrch das Wenige,
was der Staat dnrch Verbesserung des Unterrichts und auf andern Wegen für
sie gethan, in den Stand gesetzt worden ist, sich jenem Wettbewerbe gegenüber
zu behaupten, und daß ein Unternehmen wie das beabsichtigte, das den In¬
dividualismus auf die Spitze treiben und den Staat nur noch als Schutzmann
gegen inländische Diebe und Mörder und gegen fremde Eroberer fvrtexistiren
lassen will, gerade jetzt mindestens sehr unzeitgemäß ist.
Sehr zeitgemäß dagegen und, wie wir glauben, auch aussichtsvoll wäre
eine Organisation, zunächst für die kommenden Parlamentswahlen, welche alle
Freunde der Reichseinheit gegen alle Feinde derselben vereinigte, etwas wie in
den ersten Jahren nach 1866 das Zusammengehen aller Nationalgesinnten
Deutschlands in der Unterstützung der Gedanken und Pläne Bismarcks, soweit
sie den Ausbau der Einheit bezweckten — eine Unterstützung, bei der sowohl
Liberale als Konservative ihren Parteiwünschen Schweigen auferlegten. An¬
gesichts des großen Kampfes über die Lvstrennung Irlands sinken die Unter¬
schiede zwischen Whigs und Tories, Konservativen, Liberalen und Radikalen zu
geringer Bedeutung herab. Es wird die Zeit kommen, wo der Streit zwischen
denen, die rasch, und denen, die mit Bedacht reformiren wollen, sich allmählich
wieder entwickeln wird. Konservatismus und Radikalismus sind dauernde Ele-
mente im politischen Leben, even sie unvergänglichen Tendenzen in der Menschen¬
natur entsprechen. Es giebt aber Momente in der Geschichte der Nationen,
wo Neuwahlen die Bedeutung eines französischen Plebiszits haben. Die eng¬
lischen Wähler haben sich bei den bevorstehenden Parlamentswahlen als zur
Entscheidung der Frage berufen anzusehen: Soll das Reich zerteilt werden?
die durch jedes Votum für einen Unionisten verneint, durch jeden für einen
Separatisten abgegebenen Stimmzettel bejaht wird. Bei dieser Auffassung des
Abstimmungsaktes ist es wichtig, daß auch in solchen Wählerschaften, wo ein
unionistischer Kandidat keinerlei Aussicht hat, gewählt zu werden, jeder Freund
der Reichseinheit an der Urne erscheint, um für einen solchen zu stimmen. Nur
so wird klar werden, wie viele Engländer, Schotten und Jrländer die Union
erhalten, wie viele sie getrennt sehen wollen. Über diese große Entscheidungs¬
stunde hinaus würde eine Partei, die nur die Union auf ihr Banner schriebe,
nicht Bestand haben, denn die Frage, welche jetzt zu beantworten ist, wird von
der Tagesordnung verschwinden, während gewisse Reformbedürfnisse fortleben
werden. Indes hat die Haltung Hartingtons, Chamberlains und andrer libe¬
ralen Führer in dieser Sache und die Unterstützung, die ihnen vonseiten der
Konservativen zuteil wurde, bewiesen, daß in der jetzigen Opposition die Ele¬
mente zu einer neuen Partei vorhanden sind, die sich nach der Krisis bilden
könnte. Die eigentliche Opposition, die zwischen den Bezeichnungen Tories, Kon¬
servative und Konstitutionelle schwankt, besteht in Wahrheit aus gemäßigt Libe¬
ralen, welche die öffentlichen Angelegenheiten vom nationalen Standpunkte aus
beurteilt und behandelt wissen wollen. Sie ist in ihrer Mehrzahl mit dem ver¬
nünftigen Liberalismus vom heutigen Tage näher verwandt als mit dem alten
Tvryismus. Als „Unionisten" im bevorstehenden Wahlkampfc, als „National-
liberale" in der Zeit nach dessen Entscheidung könnten sie Tausende mit sich
vereinigen, welche sich weigern würden, sich „Tories" oder „Konservative" zu
nennen, während sie durch Annahme eines neuen Parteinamcns gewinnen würden.
Denn in England haben solche Namen wie überall nud vielleicht mehr als
anderwärts ihre Kraft und Wirkung, und mancher, der sich rühmt, sein Leben
lang für keinen Tory gestimmt zu haben, wird geneigt sein, bei der nächsten
Parlamentswahl für einen Konservativen, der sich ihm als Unionist, als Ver¬
teidiger der Reichseinheit vorstellt, seinen Zettel in die Urne zu werfen. Auch
giebt es nichts, was in Zukunft die bleibende Verschmelzung aller patriotischen
Gegner des irischen Repeal zu einer neuen nativnallibernlen Partei verhindern
könnte.
h
r tragt Eure Seele in die meine! rief Camoens und versuchte
sich von Barreto loszumachen. Euer Blut wallt, Euer Herz
schlüge ruhiger als das meine, ich kaun nicht wagen und prüfen
wie Ihr. Eine dunkle Gewalt treibt mich vorwärts, eine andre
hemmt mich! Klar weiß ich nur eins: daß ich es nicht ertrage,
Catarina, die holde schutzlose, diesem König in die Arme sinken zu sehen, der
nicht Herz und Mut genug hat, sie zu sich auf seineu Thron zu heben, diesem
König —
Diesem König, den Ihr gleichwohl als einen andern Alexander preisen
wollt, welcher Afrika zu seinen Füßen sehen wird! fiel Barreto mit ernster
Miene und Stimme ein. Merkt Ihr wirklich nicht, Luis, daß die dunkle Gewalt,
die Euch treibt, Euer Begehren nach Ccitarinas Jugend und Schönheit ist und
jene andre, die Euch innehalten heißt, Euer Gewissen, das Ihr umsonst zu über¬
täuben sucht?
Heise nur Gott, ich begehre Catarina nicht! rief Camoens. Ich habe den
Traum überwunden, der mich bei ihrem ersten Anblick heiß, mit unwiderstehlicher
Macht überkam, ich vergesse nicht mehr, daß sie das Kind meiner Jugend-
geliebten ist. ich aber mit jedem Schritte den Lebenspfad abwärts steige. Doch
umso wilder empört sich mein Blut bei den: Gedanken, sie verderben zu scheu,
umso heiliger dünkt mich die Verpflichtung, für sie und über sie zu wachen.
Und wer bürgt Euch, daß Ihr über sie wacht, wenn Ihr Dom Sebastian
von ihr entfernen helft? fragte Senhor Manuel. Giebt es keinen andern Weg
für Euch, als den, auf dem Ihr alles einsetzt, was Euch bis dahin heilig war!
Euer Lebe» galt der Ehre und Herrlichkeit unsers Landes, unsern wahren Helden
und unserm echten Ruhm, Ihr dürft den König nicht über Vasco de Genua
und Albuquerque hinaussehen, am wenigsten wenn Ihr nicht selbst überzeugt
seid, daß sein Kriegseifer dem Lande zum Heil gereichen wird. Und das seid
Ihr nicht, Luis, verzeiht meine rauhe Offenheit, doch im tiefen Herzen ahnt Ihr
Schlimmes, wie ich, und darum noch einmal: überwindet diese Versuchung!
Ich wäre vielleicht überzeugt und glaubte an den gewissen Triumph
des Königs, wenn ich in den letzten Monden nicht gelernt hätte, mit Euerm
Auge zu sehen, mit Euerm Ohre zu hören! entgegnete der Dichter. Alles, was
Ihr sagt, gleicht Euch und nicht mir, ich gebe Euch Recht, und in demselben
Augenblick schreit eine Stimme in meiner Brust dagegen auf! Dringt hente
nicht weiter in mich, ich will noch einmal mit mir zu Rate gehen, ich will Gott
bitten, daß er mir einen Ausweg zeige, auf dem ich unterlassen kann, was Ihr
mir zum Verbrechen macht, und doch nicht die Hände in den Schoß legen muß,
wo es sich um Catarina handelt.
Mich dünkt, Ihr könnt nur einen Weg gehen, Freund! sagte Barreto.
Schreibt Catarina Palmcirim, was Euch bewegt, beruft Euch auf das Andenken
ihrer Mutter und warnt sie mit so ergreifenden Worten, als das Gefühl Euch
eingiebt, tretet ihr offen gegenüber, thut, was ihr vermögt, und befehle den Er¬
folg Gott.'
Laßt dies Gespräch für heute ruhen, Manuel! rief Canoeus. Ich liebe
Euch so und danke Euch so viel, daß ich um Euretwillen thun würde, was ich
um meiner selbst willen nicht thue! Gönnt mir Fassung und Einkehr bei
mir selbst! Ich fühle Eure Treue und verstehe es wohl, daß Ihr mich wider
mich selbst schützen wollt. Aber ich will Euch nicht abermals etwas geloben, was
ich vielleicht nicht zu halten vermöchte.
Barreto nickte ernst zu den letzten Worten. Die Freunde waren während
ihres Wortwechsels unter den offnen Arkaden auf- und abgegangen — jetzt ließ
sich der Hausherr auf einen Sessel nieder, welcher uuter dem ausgezackten
Bogen der Halle, dem Brunnen gegenüber, stand und deuiete auf den Sitz
gegenüber, den Canoe'us vorhin innegehabt hatte.
So laßt uns Abendrast halten! Joao mag Eure Handschrift und Eure
Bücher in Euer Zimmer tragen und dafür sorgen, daß wir einen Trunk Wein
zur Erquickung erhalten. Der Abend verspricht wunderbar schön und mild zu
werden, und wir gehen einer Reihe von köstlichen Tagen entgegen. Ich habe,
als ich heute über die Haide von Evora und durch meine Weinberge am Ponedo
ritt, hundert Anzeichen davon wahrgenommen. Stellt Eure ruhelose Wanderung
ein, Luis, wenn die Seele Frieden haben soll, müßt Ihr mich dem Leibe
Rast gönnen.
So zögernd, als ob er noch immer ein inneres Widerstreben zu überwinden
habe, nahm Canoe'us seinen Sitz ein und schob sein Schreibgerät zusammen.
Die Blätter, die obenauf lagen und die Barreto vorhin gelesen hatte, wog
er einen Augenblick in der Hand, aber er zerriß sie nicht, sondern schob sie
sorgfältig in den Band mit der Handschrift der Lusiaden. Joao erschien auf
Barretos ersten Ruf, und ehe eine Viertelstunde verging, war der Tisch zwischen
ihnen mit Wein und köstlichem Wasser, mit Brot und Früchten besetzt. Barreto
schenkte sich und Camoens aus den Steinkrügen ein und lächelte dem Freunde
ermutigend zu, als dieser sich noch einmal abwandte und sich die friedliche
Rast des Augenblicks versagen zu wollen schien.
Kommt, kommt, Luis, sagte er, der Tag war heiß bis auf die letzte Stunde,
der Abend soll und will uns entschädigen. Die Sonne schickt uns noch einen
Gruß, wie ich ihn liebe, man wird des Lichtes und der Kühlung zugleich froh —
laßt also die Abende, nach denen wir seither umsonst verlangt haben, gleich
heute beginnen.
In der That bot jetzt der viereckige Hof von Almvcegcma einen entzückenden
Anblick. Das Stück Abendhimmel über demselben glich einem farbigen Baldachin
mit purpurnen und lichtgoldncn Streifen, im Hofe selbst und unter deu Arkaden
herrschte ein Halbdunkel, in welchem nur noch die schäumenden Wasserstrahlen
des Brunnens Heller erglänzten. Aus dem Schlosse und deu Gärten jenseits
drang kein Laut, seit die Schritte Joavs und der Diener verhallt waren. Bar¬
reto überließ Camoens noch einige Minuten seinen Gedanken und begann dann
wieder: Ich hoffte, als Ihr hierher kamt, Luis, daß Ihr an diesem Platze Wurzel
schlagen solltet, wie ich es gethan habe. Ich weiß nicht, ob der Emir, der den
Hof und den Brunnen dort für sich errichten ließ, mit seinem Geiste in der
Wassersäule geblieben ist, aber ich habe um tausend Abenden das Wehen dieses
Geistes verspürt. Der Friede dieser Stelle dünkt mich wünschenswerter als
alles sonst in der Welt.
Ihr wollt mich weise machen, wie Ihr seid, Manuel! anwortete Camoens,
sich zu einem heitern Tone zwingend. Ich fürchte, dem Heiden, der Euer Schloß
erbanen und Euern Brunnen fassen ließ, hat Eure heitere Lebensweisheit nicht
genügt, sicher saß er unter diesen Bogen nicht allein.
Nun in das Alleinsein bin ich eben auch hineingewachsen und habe es nicht
gewählt, versetzte der Fidalgv gutmütig. Als ich von Indien zurückkam, be¬
dachte ich mich noch manchen Monat, ob ich nicht eine junge Hausfrau dort
drüben in die Frauengemächer einführen sollte, in deren Arabesken die Koran¬
sprüche noch gemalt stehen. Als ich jedoch über dem Nachsinnen mein Haar
täglich grauer werden sah, fand ich mich lachend mit meinem Glückstranme ab
und bin nicht schlimmer dabei gefahren. Glaubt Ihr nicht, daß dem Schiffer,
der am Abend nach Wetter und wilden Stürmen überschaut, was er am Ufer
geborgen hat, wohler sein kann als dem, der am Morgen mit vollen Segeln
in die hohe See steuert?
Nein, Manuel, nein! rief Camoens. Ich fühle anders als Ihr! Wer ge¬
scheitert ist, mag mit den letzten Planken, die ihm bleiben, lieber ein neues
Boot als eine Hütte zur Rast zimmern! Es ziemt dem Menschen nicht, sich
einem widrigen Geschick zu beugen.
Wer fügt, daß er sich beugt, wenn er gegeneinander abwägt, was er noch
einzusetzen und bestenfalls noch zu gewinnen hat? fiel der Hausherr dem er¬
regten Gast ins Wort. Ihr seid jünger als ich — seid ein Dichter, einer der
Glücklichen, die im Gemüte länger jung bleiben als andre! Dennoch ist auch
sür Euch die Zeit gekommen, wo Ihr den Streit mit dem Geschick wenigstens
nicht mehr suchen dürft. Hofft Ihr denn auch, das Werk Euers Lebens noch
einmal zu thun und der Welt eine zweite Lusiade zu geben?
Ihr spottet meiner, Manuel, entgegnete Camoens, und selbst in der Däm¬
merung sah Barreto den Gegenübersitzenden erröten und hastig seine Züge mit
der Hand an der Stirn beschatten.
Wahrlich, ich Spotte nicht! Ich rufe nur wach, was in Eurer eignen Seele
lebt, Luis! Ihr müßt empfinden, daß für uns beide die Zeit gekommen ist,
wo wir handeln und leiden dürfen, wie es fällt, aber das Leben nicht neu
beginnen können! Doch wir wollten dies Gespräch nicht fortsetzen, weiß der
Himmel, wie wir wieder hineingeraten sind! Habt Ihr nicht etwas zu erzählen?
einen Hirtenschwauk, ein Abenteuer, an denen Ihr sonst reich wäret? Ich denke
noch an den Abend vor El Aaran, wo wir vor der Flotte der persischen See¬
räuber lagen, mit der wir andern Tages handgemein werden mußten, und Ihr
die ganze Mannschaft unsrer Galeere mit der Geschichte von Gines den: Diebe
wachhieltet, der dem Bischof den Ring vom Finger und dem Richter die Hosen
vom Leibe stahl.
Ihr habt es nur zu sehr erfahren, daß ich arm auch an Scherzen geworden
bin, erwiederte Camoens. Seit Eurer Abreise aus Judien und vollends seit meiner
eignen Heimkehr war mir nie mehr zu Mute, wie vor Zeiten im Feldlager,
das fröhliche Lachen floh, wie es scheint, auf Nimmerwiederkehr.
Glaubt, daß es wiederkehrt, sobald Ihr Eure Seele erlöst und den Zwie¬
spalt Eurer Wünsche geschlichtet habt! versetzte Barreto. Er sprach es halblaut
und rückte dann seinen Sessel dicht an Camoens' Sitz heran, um die Hand des
alten Freundes zu fassen. Beide Männer wußten jetzt, daß es vergeblich sein
würde, diesen Abend nach einem harmlosen Geplauder zu trachten. Jedes Wort,
das aus andern Quellen sprang, mündete doch wieder in die Stimmung ein,
welche ihre Seelen durchwogte — es war besser, sich schweigend nahe zu bleiben.
Die Dämmerung ging zwischen den Mauern des Hofes rasch in völliges Nacht¬
dunkel über, immer frischer wehte es vom Brunnen her, dessen Rauschen die
tiefe Stille unterbrach. Aus dem Gebüsche hinter dem Brunnen flogen große
Leuchtkäfer auf und glühten zwischen den Schlingpflanzen, welche in den Zacken-
bvgen der Arkaden emporrankten. In Camoens' Seele wachte die Erinnerung
auf, wie oft er in wüster Ferne von einem Hafen geträumt hatte, dem ähnlich,
welcher ihn hier schützend umfing. Er erwiederte den Handdruck Barretvs und
bot dann wieder, ohne einen Laut, sein Gesicht der Kühlung und den leise
sprühenden Tropfen, die bis zu ihrem Sitze drangen. Als sich der Hausherr
nach länger als einer Stunde erhob, um sein Gemach aufzusuchen, standen die
Weinbecher der Freunde beinahe noch unberührt. Doch leerte Camoens den
seinen mit einem herzlich klingenden Worte auf das Wohl Barretos, dieser gab
ihm das Wort zurück, und wider ihre sonstige Gewohnheit schieden Wirt und
Gast mit einer Umarmung,
Hinter dem Fenster von Barretvs Schlafgemach erlosch bald, nachdem der
Gutsherr die Thüre desselben hinter sich zugezogen, das Licht, Anders war es bei
Camoens. Er hatte die bronzene Lampe mit drei Flammen, welche mitten auf dem
Tische seines geräumigen Zimmers stand, gleich bei seinem Eintritt weiter zurück¬
geschoben, mich die Handschrift seines Gedichts rückte er hinweg und schlug den
großen Prachtband von Dantes Göttlicher Komödie auf, welchen er aus Bar¬
retos kleinem Bücherschätze mit auf sein Zimmer genommen hatte. Er spürte
einen dunkeln Trieb zu lesen und traf im Blättern den furchtbaren achtzehnten
Gesang der Hölle, der die Strafe der Schmeichler im Höllenpfuhl schildert. Dabei
ließ er die Thür, welche nach demi Bogengang und dem Hof führte, offen, und
mehr als einmal erklang sein Tritt zwischen der Schwelle seines Gemachs und
dein Brunnen, Immer aufs neue kehrte er zu den strafenden Terzinen des
Florentiners zurück, und immer wieder sprach er vor sich hin: Die Drohung
gilt mir nicht, trifft mich nicht. Ich schmeichle dein König nicht um Ehre oder
Lohn, ich bestärke ihn nur in seinem festgefaßten Vorsatz, die Straße zu ziehen,
die seine und unsre Väter gezogen sind. Ich mahne ihn nicht ab, weil sein
Bleiben Unheil und unsagbares Leid für die Eine bringt, die ich bewahren und
schirmen muß. Ich begehre nichts für mich, ich will Manuel und mir selbst
schwören, Catarina nach der Abreise des Königs nicht zu sehen. Nicht doch,
nicht doch! was hätte es für Sinn, wenn der König in Afrika weilte und sie
inzwischen sehnsüchtig unbewußt der Rückkehr des Siegers harrte? Gesteh dirs
ein, Camoens, daß du heimlich noch hoffst! Und wäre es denn Sünde, daß ich
noch einmal einen tiefen, labenden Zug vom goldensten Lebenswein thun mochte,
ehe die große Nacht kommt? Er ging hinaus und kehrte ius Gemach zurück,
die Nacht draußen war mild und klar, so oft er unter den Arkaden nach dem
gestirnten Himmel aufsah, innen aber dünkte sie ihm jederzeit wieder schwül,
wolkenschwer und sternenlos. Jedes Wort, das Barreto zu ihm gesprochen, jede
düstere Miene, die er ihm gezeigt hatte, lebten dem einsam mit sich ringenden
neu auf, der rastlose Gedanke an Catarina und ihr künftiges Schicksal stritt
wider Barretos Mahnungen und wider die eignen Zweifel.
Selbst als er sich endlich ans sein Lager geworfen hatte, blieb er lange
wach und sah das erste Grau der Dämmerung durch Fenster und Thürspalte
hereinscheinen. Dann war es ihm, als hörte er Tritte auf den bunten Steinen
vor seiner Thür, leichte, zagende und schwere, seltsam gedämpfte Tritte dicht
nebeneinander. Wie er auffuhr, war alles still und er selbst endlich so
matt, daß er sich jetzt nicht erhob. Und darnach träumte er sicher, denn mit
einemmale sah er die Halle draußen vom Frühlicht rosig erhellt und ein be¬
kanntes Gesicht, Jayme Leiras aus Okaz' Herberge in Cintra, schaute verstohlen
in sein Gemach herein und zu ihm herüber.
Auch Barretv hatte noch lange des Freundes und seiner unseligen Hul¬
digung an König Sebastian gedacht, zu welcher den Verblendeten die geheime
Leidenschaft trieb. Doch war der Gutsherr dann nach seiner kräftigen Ge¬
wohnheit tief entschlummert lind lag traumlos auf dem breiten Polsterbctte mit
seinen farbigen Decken. Auch bei ihm stahl sich der Morgenstrahl, der in die
Arkaden drang, durchs Fenster, er ward es ebensowenig inne, wie daß die
Thür seines Gemaches leise und zögernd geöffnet wurde. Ruhig atmend,
den Kopf auf die kräftige Hand gestützt, das männliche Gesicht vom ersten
Frnhlicht beschienen, lag Manuel Barreto und merkte es uicht, daß ein Schatten
zwischen ihn und die .Halle glitt, eine verschleierte Gestalt sich dem Fußende
seines Lagers näherte.°mit gefalteten Händen einige Augenblicke stehen blieb und
dann mit wundersamer Leichtigkeit, die herabhängenden Decken unhörbar zurecht-
lcgeud, sich zu seinen Füßen auf das Polster dieses Lagers hinstreckte. Den
Schleier hatte die Erscheinung beim Eintritte emporgeschlagcn, im blaßbräun-
lichen Gesicht glänzten die großen braunen Augen, aus deuen stille Ergebung,
ängstliche Sorge und ein Fieber der Spannung zugleich sprachen. Es war
Esmah Catarina, welche in dunkler Hülle, den schönen Kopf in scheuer Er¬
wartung gehoben, jetzt zu Füßen des schlummernden Hausherrn lag und, aufs
neue die Hände faltend, allen Segen des Himmels ans das Haupt des Mannes
herabzurufen schien, der hier vor ihr ruhte.
War es die Zeit vou Manuels Erwachen, hatte Esmah. als sie sich halb
emporzurichten suchte, doch mit ihrem Frauengewande gerauscht — Barreto
schlug plötzlich und mit einemmale voll und klar die Augen auf. Er fuhr
empor und ließ sein Haupt wieder auf das Kissen sinken, als müsse es eine
Traumgestalt sein, welche er vor sich sah. einen Augenblick später wußte er,
daß die Gegenwart der jungen Maurin unbegreifliche, aber holde, warmatmeudc
Wirklichkeit sei. Über sein kräftiges Gesicht'hin erglühend, zog der stattliche
Mann unter seinen Decken die Füße unmerklich höher, an die sich Esmahs
schlanker Leib angeschmiegt hatte. Sie erhob, sowie sie seines Erwachens gewiß
war, die Hände bittend gegen ihn, und ihre Lippen bewegten sich, ohne daß
ein Laut hervorkam. Er aber rief: Esmah — Esmah Catarina! Um Gott
und der heiligen Jungfrau, wie bist du hierhcrgelaugt, wer hat dich hierher¬
geführt?
Sie kreuzte in ihrer alten Weise die Arme über der Brust und sagte in dem
gebrochenen Portugiesisch, welches sie inzwischen erlernt hatte: Jayme Leiras,
Herr, hat mich hierher geleitet. Die Herzogin kann mich im Palast nicht länger
schützen, gestern wurden ich und Gräfin Catarina vor einem Stummen des
Emirs, der sich in den Palast eingeschlichen, nur eben noch gerettet. Die Her¬
zogin übergiebt mich deinem Schutze, Herr! Ich aber komme zu dir, wie Ruth
zu Boas kam, du wirst thun, was dir gefällt!
Von einem nie gekannten, halb hangenden, halb glückseligen Schauer er¬
griffen, sah Senhor Manuel die zarte, jugendliche Gestalt zu seinen Füßen, sah
ihr Gesicht, ihre strahlenden Augen mit rührender Bitte auf die seinen gerichtet,
er suchte nur zu verhindern, daß Esmah seine Füße umklammerte. Ihr Ausruf
wie Ruth zu Bons! und der Strahl ihrer Augen wirkten auf ihn wie Lenz-
Hauch und berauschender Wein, er faßte Esmahs zu ihm emporgestrecktc Hände
und sagte: Mein Schutz ist dir gewiß, Esmah! Du sagst, daß du zu mir
kommst wie Ruth zu Boas, ich verstehe es nicht, Kind, was du damit meinst.
Willst du meine Tochter, willst dn mein Weib sein? — du selbst mußt in dieser
ersten Stunde entscheiden, und wie du entscheidest, wird es gehalten werden im
Angesicht Gottes und der allerheiligsten Jungfrau.
Dabei ging doch ein Zittern dnrch den Leib des Fragers, seine Augen,
in denen ein Hoffnuugsglauz war, hingen an den Lippen des Mädchens. Esmah
neigte das Haupt noch einmal auf ihre heimische Art, dann flüsterte sie: Dir
allein vertraue ich, Herr, dir aber ganz! Deine Tochter würde ich sein, wenn
du es befiehlst, dein Weib, wenn du es willst!
schamvoll und vom süßesten Liebreiz umflossen, saß sie in ergebener
Haltung vor ihm — ihre erste Bewegung war gewesen, ihr Gesicht wieder vor
den Augen des entzückten Mannes zu verhüllen, zu dem sie dies gesprochen.
Dann besann sie sich, daß der, welchem sie sich zum Kinde oder zum Weibe
gegeben, selbst unter ihrem Volke ein Recht habe, sie unverhüllt zu schauen.
Und so schlug sie nur die Augen nieder und heftete sie auf den Teppich zu
Füßen des Lagers. Manuel Barretv aber, der in diesem Augenblicke draußen
Schritte vernahm, zog unbekümmert um alles den Kopf Esmahs an seine
mächtige Brust und rief ihr ins Ohr: So sollst du sein, was mir das beste
Recht giebt, dich zu schützen — mein Weib, Esmah! und alle meine Jahre
mögen ein Dank sür diese gesegnete Stunde werden! (Fortsetzung folgt.)
An Herrn Dr. G. Wustmnnn in Leipzig.
Hochgeehrtester Herr! Nach den eben aus dem Goethe-Archiv erschienenen Briefen
des Leipziger Studenten an seine Schwester und seineu Jmmthnn Behrisch müssen
die Blätter über Goethes Leben in Leipzig völlig ungeschrieben werden, da manche
Berichte, die wir in seiner eignen Lebensbeschreibung lesen, sich als irrig ergeben,
vieles bisher Unbekannte, und darunter manches sehr Bedeutende, in die Erzählung
seines wunderbaren Jugendtreibens aufgenommen werden muß. Ueber das Ver¬
hältnis zu Anmelden erhalten wir ganz neue, äußerst anziehende, eigentümliche Züge
bietende Aufschlüsse, der olle Behrisch tritt in ein ganz neues Licht. Wir lernen
diesen als Goethes moralischen Mentor rennen, der ihn vor jeder sinnlichen Aus¬
schweifung warnte, und wenn auch die in den Briefen geschilderten und als un¬
schuldig betrachteten Liebkosungen mit jungen Mädchen, bei welchen freilich dichte¬
rische Uebertreibung mit im Spiele war, nach unsern Begriffe» etwas gar weit
gehen und Goethe sich in flotter Renommisterei sogar zur Verführung eines Mädchens
fähig erklärt, so geben doch eben die Briefe an Behrisch den Beweis, daß der
junge Dichter bis zum Mai 1768 nicht, wie man bisher anzunehmen berechtigt
zu sein glaubte, einem lüderlicher Leben verfallen war und dadurch seiue Nerven
zerrüttet hatte. Was dafür angeführt werden konnte, habe ich in meinem Leben
Goethes S. 85 als nichtsbeweisend bezeichnet.
Die neue Belehrung erinnert mich an ein Stammbuchblatt Goethes, dessen
Veröffentlichung mir der mittlerweile gestorbene Wilhelm Herbst vor sechs Jahren
anheimgestellt hat. In dem Album eiues weiland sinnt. avei. Brack, im Besitze
eines Landpfnrrers bei Wetzlar, hat sich Goethe mit folgendem Spruche eiugetragein
Die Lust ist mächtiger als wie die Furcht der Strafe.
Diese Erinnerung des Gewissens schrieb zur Erinnerung seiner
Frankfurt am 29. Februar (?) 1769.
Herbst erhielt bloß eine Abschrift des Spruches, sodaß es ihm zweifelhaft
blieb, ob der junge Goethe oder der Vater (Goethe I^or unterschrieb sich dieser
wohl erst, als sein Sohn berühmt geworden War, in Briefen an gemeinsame Freunde)
der Verfasser gewesen. A. 8. erklärte er wahrscheinlich richtig »nun «un. Daß
das Datum irrig ist, da 1769 kein Schaltjahr war, übersah er. Ich vermute,
daß statt „Februar" auf dem Blatte .,Xbr." (d. i. Dezember) steht, wie dieselbe
Verlesung dem verdienstvollen Guhrauer bei einem Briefe Goethes an Knebel aus
dem Jahre 1774 begegnet ist. Daß die Worte einen Alexandriner bilden nud
demnach ans einem Dichter sind, entging Herbst nicht, aber er dachte an einen
fremden Dichter, wie der junge Goethe ja zu Stammbuchblättern Sprüche von
Wielnnd und Gleim verwandte, uicht an Goethe selbst. Den Vers spricht Söller
in den „Mitschuldigen" II, 3 mit Bezug auf Sophie, die er im schlimmsten Ver¬
dachte hat, uur steht dort „alle" statt „wie die," woraus noch nicht folgt, daß dies
die ursprüngliche Fassung war. Gegen Behrisch führt Goethe einmal launig einen
Vers seiner „Amme" als Ausspruch eines großen Dichters an. Daß die Lust
dnrch die Furcht vor der drohenden Strafe oft von ihrer Befriedigung abgehalten
werde, war ein dem jungen Goethe naheliegender Gedanke. In einem Briefe an
Behrisch (vom 7. November 1767) schreibt er in toller Renvmmistcrcn „Konnte
ichs aber nur ungestraft thun und stünden im Brüste uicht manche Nägel und
Stricke parut, wenn man so was erführe, so würde ich die -MUro des Teufels
übernehmen." Auch den mahnenden Spruch unsers Stammbuches wird man nicht
als Beweis für Goethes Liederlichkeit betrachten dürfe», er denkt nur an die trau¬
rigen Folgen ausschweifenden, in ungestümer Rücksichtslosigkeit die Kräfte verschwen¬
dende» Jngendgenusses, dessen sich freilich Goethe nach seiner eignen Darstellung
der Ursachen seines schweren Blutsturzes schuldig fühlte.
Da die Persönlichkeit so mancher andern Leipziger Bekannten Goethes ins
Licht gestellt worde» ist, so werden Sie, hochgeehrter Herr, sich wohl gern des
Stück. mock. Brack annehmen und über seine Studienzeit und seine Herkunft Aus¬
füllst geben. Die Erläuterung der Briefe verdankt Ihnen so manches, das zum
Verständnisse der Briefe wesentlich beigetragen, wie es auch die Nachweisungen von
Zcirncke, Grotefend und Frau Mentzel gethan haben. Leider läßt die Heraus¬
gabe der Briefe sonst viel zu wünschen übrig; am schlimmsten steht es mit dem
Text derselben. Hätte Geiger die Handschriften ohne alle Verbesserung buchstäblich
abdrucken lassen und dein Leser es überlassen, sich selbst in dem Chaos zurecht¬
zufinden, so würde dies kaum zu billigen, doch folgerecht sein; da er aber einmal
Verbesserungen im Texte oder in den Note» gab, so mußten auch alle offenbaren
Schreibfehler verbessert oder angezeigt werden. Aber Geigers Text leidet an
manchen argen Fehlern, die wohl zum Teil dem Setzer oder dem Korrektor zur
Last fallen, jedenfalls, wenn sie in der Handschrift sich finden sollten, verbessert
werden mußten. Bon allen ist nur einer nachträglich (S. 402) angezeigt. Wir
führen das Stärkste an. Statt 0r>,',-> begegnet uns einmal der leidige Oryns (S. 39),
ans xvut, t,o fg,ii'o toi ist rout Ag fairo loix geworden (S. 24). Auf einer
Seite (46) stehen totlsmont statt sottsmout. couvous statt onoon« und all lui
7.»v statt als lui <^no. l)oll.o nullo (S. 04) ist doch wohl nur Druckfehler statt
cote.o vino. Auch um einer falschen Verbesserung fehlt es nicht. Statt vslvmboo
(S. 65) wird ostawxöo vermutet, obgleich vstomiivi-, nach älterer Form ostombvr,
ein bekannter technischer Ausdruck ist. Von der sonstigen Behandlung der Briefe
will ich hier uicht sprechen; an eine Verwertung derselben nach genauer Kenntnis
von Goethes Leben ist gar uicht zu denken, obgleich diese bei Vermeidung alles
leeren Geredes auf demselben Raume hätte gegeben werden können.
Köln, am 26. Mai 1386.
Es war mir eigentlich nicht recht wahrscheinlich, geehrtester
Herr Professor, daß der «wat. mock. Brack sich in der Leipziger Nniversitätsmatrikel
vorfinden würde, da ja nirgends gesagt ist, daß er gerade in Leipzig mit Goethe
bekannt geworden sei. Er steht aber wirklich drin. Am 10. Juni 1705, also etwa
vier Monate vor Goethe, wurde inskribirt: Johann Paul Brack aus Einsdvrf im
Eisenachschen. Da der Name ungewöhnlich ist, auch in den Jahren 1765—176!)
in der Matrikel nicht wiederkehrt, so ist dieser Brock Wohl ohne Zweifel der Gesuchte.
Ich benutze diese Gelegenheit, um einen kleinen Nachtrag zu den Notizen zu
geben, die ich zur Erklärung der neuen Leipziger Briefe habe beisteuern dürfen.
In dem Briefe an Vehrisch vom 3. November 1767 richtet Goethe Grüße von dem
„itzigen" Tertius an der Nikolaischule, Hübschmann, aus. Schon aus der Angabe
Forbigcrs in seiner Geschichte der Nikolnischnle, daß Hübschmann viel aus dem Eng¬
lischen und Französischen übersetzt habe, kann man entnehmen, wie Goethe zu dieser
Bekanntschaft kam; mit bloßen klassischen Philologen würde er schwerlich verkehrt
haben. Dies wird bestätigt durch das lateinische Anhnlteschreibeu vom 30. September
1707, in welchem sich Hübschmauu um die Stelle an der Nikolaischnlc bewirbt; darin
heißt es, der Rat habe gewünscht, Juno ol'üoio tslvin suovoäorv claoontow, <mi linxuas
qnivs viüAO wocloi'un« cliounii, <Zu.IIioi>>w, ^.NKlioam, IWIioam, «uklioivntor väootns, darum
llovtrinam ouiu Uttorarum, <iuao Irumiunormu noinino vvninnt, seiontia ooujunxoro xossit,
und Hübschmanu versichert, daß er huic inuuori «c^vinionclo non xrorsus imxar sei.
Hoffentlich kommen diese Zeilen uicht dem Herrn 1'. Baumgartner 8. -1. zu Gesicht,
der auf den ganzen Gvethekleinkrnm mit so vernichtender Verachtung herabblickt,
daß ich mich schon ein paarmal ernstlich gefragt habe, ob er nicht am Ende Recht
habe. Einstweilen will ich noch auf Seiten der Ketzer bleiben und die Matrikel
treulich weiter wälzen, so oft es gewünscht wird.
Leipzig, den 2. Juni 1886.
Eine Arbeit des Gymnasialdirektors Dr. Hermann
Henkel über „das Goethische Gleichnis" verdiente es wohl, aus deu Programmen
des Gymnasiums zu Seehausen i. A, die wie fast alle Programme wenig Be¬
achtung finden, in das vorliegende selbständige Buch (Halle, Verlag der Buch¬
handlung des Waisenhauses, 1886) zusammengefaßt zu werden. Gegenüber der
unermeßlich anschwellenden Gvetheliteratur erscheint es fast ungereimt, noch von
Mangel an Untersuchungen zu reden, und doch ist in der That für eine wissen¬
schaftliche Betrachtung von Goethes Sprache noch äußerst wenig geschehen. Bur¬
dachs trefflicher Vortrag über „die Sprache des jungen Goethe" (in den Ver¬
handlungen der siebcnunddreißigsten Philologenversammlnng) ist nur geeignet, die
Erwartung aus Burdachs angekündigtes größeres Werk zu erwecken; und auch
Minor und Sauer haben in ihren „Studien zur Goethephilologie" (Wien, 188»)
nur fragmentarische Beiträge zu liefern beabsichtigt. Lehmanns größere Arbeit
„Goethes Sprache und ihr Geist" aber ist bereits 18S2 erschienen und bei allen
rühmlichen Vorzügen des Werkes doch keineswegs mehr genügend. Wertvolle, lehr¬
reiche Bemerkungen über Goethes Sprache finden wir in den« Kommentar von
Löpers Ausgabe zerstreut, doch können diese Anmerkungen ihrer Natur nach eben
nur auf einzelnes aufmerksam machen. Henkel nun versucht es, eine Seite von
Goethes Stil und Sprache im Zusammenhange darstellend zu charakterisiren. Es
ist als ein großer Vorzug von Henkels Arbeit anzuerkennen, daß er von vornherein
darnach strebt, den Charakter von Goethes Gleichnissen durch die Parallele mit den
Gleichnissen andrer Dichter deutlich zu machen. Allerdings hätte er sich dabei nicht
nur auf Homer und Shakespeare beschränken sollen, denn neben diesen beiden und
vielleicht mehr als sie, wenigstens mehr als Shakespeare, hat die Bibel mit ihrem
unerschöpflichen Reichtume an Bildern und Gleichnissen auf Goethe gewirkt. Goethe
war ja, es ist dies oft genug hervorgehoben worden, bibelknndig wie kaum ein
andrer deutscher Dichter. Auch der Einfluß der an Gleichnissen reichen orientalischen
Poesie seit (1810) wäre zu erwähnen gewesen, und bei dein, tiefgreifenden Einflüsse,
den Spinoza auf Goethes ganze Bildung gehabt — aus ihm, spottete Herder, lerne
er sein Latein —, dürfen wir uns erinnern, daß Spinoza nicht nur Gleichnisse gern
brauchte, sonder» auch ganz besondre Fähigkeit in ihrer Anwendung zeigt. Außer¬
halb Henkels Absicht lag es, das Goethische Gleichnis noch mit den Gleichnissen
der Goethe unmittelbar vorhergehenden Dichter (Klopstock, Haller, Geßner, Lessing,
Wieland) und der ihm gleichzeitigen oder folgenden Dichter (Schiller, Herder, Grill-
parzer, Pleiten) zu vergleichen. Hier ließe sich Henkels Arbeit noch in recht er¬
wünschter Weise erweitern und ergänzen. Allein auch innerhalb des von ihm gezognen
engern^ Rahmens ist sie als eine wirklich fördernde zu rühmen.
Henkel geht davon aus, Goethes eigue „Ausicht vom Wesen des Gleichnisses"
aus einzelnen Ansprüchen festzustellen, um dann den uach Form und Inhalt
wesentlich verschiednen Charakter der Homerischen und Shakespearischen Gleichnisse
zu erörtern. Ich würde dabei in dankbarer Erinnerung an Lessings Laokoon
hervorgehoben haben, wie Homer auch die Vergleichung wieder in Handlung um
setzt, während bei Goethe das Gleichnis meist Betrachtung ruhig verharrender
Dinge bleibt. Homer führt ein oder zwei Begleichungen episodisch erschöpfend
durch; Shakespeare wird in seinem Gleichnis von einem Ausdrucke ergriffen, geht
von diesem aus und springt dann rasch ans einen andern über; rastlos steht er
der ruhige» epischen Betrachtung Homers gegenüber. Bei Goethe „erscheint das
Gleichnis nicht bloß in veranschaulichender Kraft, sondern in tieferen Sinne als
Vermittler der sittlichen und natürlichen, der geistigen und Erscheinungswelt. Dieser
symbolische Charakter tritt besonders in den bildlichen Sähen hervor, in welchen
der Dichter den Gewinn einer reichen Lebenserfahrung, künstlerischer und wissen¬
schaftlicher Erkenntnis auszuprägen liebt." Heinrich Boß behauptete, Goethe ge¬
brauche nie ein andres Gleichnis als das von Dingen hergenommene, die er gerade
vor sich sehe, und auch Henkel hebt die „erstaunliche Gegenständlichkeit und realistische
Treue" in der Ausführung der Bilder hervor, „die Gleichnisse bieten sich ihm un¬
gesucht dar und beruhen auf lebendiger Anschauung." Von großem Interesse ist
nun Henkels Nachweis, daß ein Gleichnis in Wilhelm Meisters Lehrjahren, welches
„gegen die innere Wahrheit nud Kongruenz" verstößt,") eben auch nicht von Goethe
selbst herrührt, sondern aus Herders Shakespeare-Hymnus entlehnt ist.
Im zweiten Teile seiner Untersuchung stellt Henkel „nach den Gegenständen,
die zur Vergleichung herbeigerufen werden," geordnet den Grundstock und Haupt-
stamm der Goethischen Gleichnisse, welcher seine Herrschaft über alle Gebiete des
Weltwesens zeigt, znsanimen. In richtiger Erkenntnis beschränkt sich der Verfasser
dabei nicht ans Goethes Werke im engern Sinne, sondern zieht auch die Briefe,
welche die Ausgabe der Gvethegesellschaft ja den Werken zugesellen wird, in den Kreis
seiner Betrachtung. Es sind besonders die Briefe an Frau von Stein, welche eine
Fülle charakteristischer Gleichnisse liefern. Henkels Auswahl, die natürlich kein „voll¬
ständiges Repertorium bringen," aber doch vollständig charakterisiren mochte, scheint
mit großem Geschick getroffen zu sein. Eine mehr systematische Anordnung nach
den Gegenständen der Vergleichung wäre wohl wünschenswert, allein vielleicht kaum
durchführbar gewesen. Dagegen scheint mir der Verfasser nach einer Seite seine
Aufgabe noch nicht völlig gelöst zu haben. Nachdem er ein reiches Material vou
Gleichnissen zusammengestellt hat, möchten wir dasselbe much mehr verwertet sehen.
Henkel hat im allgemeinen darauf hingedeutet, daß im Alter neben der dichterischen
Phantasie die Weisheit sich immer mehr gellend macht. Ich meine, die Gleichnisse
müßten nun anch chronologisch betrachtet, nach den Perioden des Goethischen
Schriftstellerlebens, aus denen sie stammen, geordnet werden. Wir würden dann
einen wichtigen Beitrag zur Charakteristik des Stils der verschiednen Perioden er¬
halten. Vielleicht erschließt sich Henkel, dessen verdienstliche Arbeit teilweise doch
mehr als vorbereitende Studie, denn als abgeschlossene Untersuchung erscheint, seine
Arbeit nach dieser Richtung hin fortzusetzen, wobei sich ihm vielleicht anch Gelegen¬
heit geben würde, noch manche Lücken (z. B. die Vergleichung des Goethischen
Gleichnisses mit dem andrer deutschen Dichter) auszufüllen.
l
adstone hat sich beeilt, seine Fahne für den herannahenden Wahl-
fcldzug zu entfalten. Sein Manifest an die Wählerschaft von
Midlothian liegt dem englischen Volke seit einer Woche vor. Es
ist kurz, bewegt sich meist in Allgemeinheiten, redet aber eine
entschlossene Sprache, Der Minister nennt die Frage, welche ihn
nochmals vor seine Wähler führt, „die größte und zugleich die einfachste, die in
dem letzten halben Jahrhundert dem Volke zur Beurteilung vorgelegen hat," und
bittet sie pathetisch, ihm „ihre Gunst zuzuwenden in einem Alter, wo die Natur
laut nach Ruhe verlangt." Dann erinnert er daran, daß er bei den letzten
Wahlen seinen Wählern und der Nation die Wichtigkeit des irischen Problems
ans Herz gelegt habe; deshalb habe er auch mit größter Aufmerksamkeit die
Politik verfolgt, zu welcher sich Salisbnrhs Kabinet bekannt habe. Dieses
Kabinet sei zwar schwach, aber hinsichtlich der Behandlung jener Frage vor¬
teilhaft gestellt gewesen, da die Liberalen jeden weise» Lösungsversuch unter¬
stützt haben würden. Im Januar aber habe die konservative Regierung den
Weg einer Zwangspolitik eingeschlagen, und jetzt sei „die Stunde für ihn da¬
gewesen." Er habe ein Ministerium auf der Basis eiuer „Antizwangspvlitik"
gebildet, in welchem niemand von denen, die eine Stelle darin angenommen
hätten, über die Absichten des Leiters im Unklaven gelassen worden wäre. Das
ist aber nicht richtig dargestellt. Das Ministerium Salisbury fiel bei dem
Cvlliugsschen Antrage, der sich nicht um die Union, sondern um die Parole
der Grundbesitzverteiler „Drei Acker und eine Kuh" drehte, und das Gladstonesche
Kabinet wurde auf der Basis „Prüfung und Untersuchung" der irischen Frage
gebildet. Endlich ist der Austritt Chamberlains und Trevelycms doch ein ziemlich
schlagender Beweis dafür, daß von den Kollegen Gladstones anfangs niemand
erfahren hat, mit welchen Plänen er sich in Betreff Irlands trug. Nach diesen
Präliminarien verschreibet der Verfasser der Ansprache zur Feststellung dessen,
worüber die Nation nächstens sich äußern soll. „Wollt ihr — so fragt er —
Irland durch Zwang regieren oder es seine Angelegenheiten selbst verwalten
lassen?" Einen dritten Weg kennt er nicht oder will er nicht kennen, obwohl
in den letzten Wochen verschiedene Vorschläge zur Lösung der Aufgabe gemacht
worden sind, die eine Berücksichtigung, wenigstens eine Prüfung verdienen. Er
nimmt z. B. keine Notiz davon, daß Lord Hartingtvu glaubt, es werde mit
strenger Gerechtigkeitspflege, neben der eine Reform der Gesetzgebung herginge,
zu helfen sein; er behandelt den Gedanken Chamberlains als nicht vorhanden,
jedem Teile des Reiches eine besondre Negierung zu geben, und er betrachtet
den weitern Plan als keiner Kritik würdig, künftig den irischen Abgeordneten
des Neichsparlcunents die speziell irischen Fragen, den schottischen die schottischen,
denen aus Wales die walisischen und denen aus England die, welche vorwiegend
England angehen, zur Erörterung und Beschlußfassung zuzuweisen. Gladstone
will auf nichts der Art hören. Er erklärt, Salisburh verlange „Repressiv-
gesctze, deren Befolgung zwanzig Jahre lang erzwungen werden solle," und
meint, die einzige Antwort, welche das Parlament auf eine endlose Reihe von
Ungesetzlichkeiten, Wühlereien und Verschwörungen vernünftigerweise erteilen
könne, besiehe in seinem Vorschlage, sich den Wühlern und Verschwörern zu er¬
geben und ihnen ihren Willen zu thun. Nach dem Manifeste sind er und seine
Anhänger in der irischen Frage die einzigwahren Unionisten. Die „Tones und
die Sezessionisten" verdienen eine solche Bezeichnung nicht. Die bestehende Union
ist nach seiner Meinung „nur eine papierne, gewaltsam zustande gebracht,
gegründet auf Betrug und niemals von dem Volke Irlands gutgeheißen." Die
neue wahrhafte Union ist durch Zerstörung der alten zu schaffen. „Das mit
Stimmrecht begabte Irland fordert durch seine gesetzlichen Vertreter Trennung
der gesetzgebenden Gewalten und hat bei seiner Forderung die größte Mäßigung
bewiesen, es ist zufrieden damit, Prärogativen loszuwerden, es heißt sogar
Stipulationen zum Schutze der Minderheit willkommen." Der Widerwille der
Bewohner von Ulster gegen seinen Plan ist nichts als „religiöse Bigotterie."
Schließlich zählt er die Segnungen ans, die aus der Annahme seiner Vorschläge
fließen würden, woran er die Andeutung knüpft, daß die Homeruler Mittel und
Wege finden würden, die Reichsgesetzgebung zum Stillstande zu bringen, wenn
die Wähler sich weigern sollten, in seine Kapitulation vor Parnell und seinen
Anhängern zu willigen. Die ganze Ansprache ist ein erstaunliches Opus, welches
man nicht durchlesen kann, ohne sich höchlich über die Art und Weise zu ver¬
wundern, mit welcher sich der Minister über alle bisherigen Enttäuschungen
verblendet und alle von Vorsicht und Mäßigung eingegebnen Einwendungen
und Ratschläge von der Hand weist. Er ist nach diesen: Manifest felsenfest
überzeugt, daß er allein Recht habe, er ist unbeugsam und damit eine schwere
Gefahr. Mehr als all sein bisheriges Reden und Thun muß dasselbe allen
denkenden Liberalen in England zeigen, daß es sich bei den kommenden Wahlen
darum handeln wird, ob Gladstone zum Rucktritte vom Staatsruder genötigt
werden oder das britische Reich eines seiner Glieder verlieren soll. Es giebt,
wie Gladstone selbst erklärt, keinen Mittelweg zwischen dieser Alternative. Er¬
langt er an den Stimmurnen eine Mehrheit für sich, so wird er sie halsstarrig
und rücksichtslos benutzen und den Führern der irischen Separatisten alles zu¬
gestehen, was er ihnen versprochen hat, Ulster wie das übrige Irland und
alles, was nach seinem Plane von der bisherigen Union verbleiben soll, aber
bei dem Charakter der Homernlcr sicher nur kurze Zeit Bestand haben würde.
Wie kommt min Gladstone zu so starrem Festhalten an seinem Plane, zu
so verhängnisvoller Nachgiebigkeit? Sein Manifest läßt schließen, daß er einem
Irrtume verfallen ist, der in Überschätzung der irischen Bewegnngspartei besteht.
Dasselbe beruht wesentlich auf der Annahme, daß man es mit einem Volke zu
thun habe, welches vou der Idee der irischen Nationalität so durch und durch
erfüllt und entzündet sei, daß keinerlei Maß materieller Zugeständnisse und
keinerlei Verwaltung, denke man sie sich auch uoch so entschlossen und kraftvoll,
es bewegen könnte, seinen Anspruch auf Unabhängigkeit aufzugeben. Die ge¬
schichtlichen Thatsachen bestätigen diese Ansicht nicht oder wenigstens nicht hin¬
reichend. Die nationale Sache hat während der letzten Jahrzehnte in Irland
immer eine gewisse Anzahl von Anhängern gezählt, welche ihr Haß gegen Eng¬
land und die Engländer zur Auflehnung und geheimer Verschwörung bewog,
aber die Äußerungen dieser Bewegung waren nur krankhafte Stöße und Krämpfe,.
und die Beteiligung an ihr war verhältnismäßig gering. Von Emmetts ver¬
unglücktem Versuche an bis zu O'Connells Forderung nach Ncpeal im Jahre
1833 war die Idee der Trennung von England nicht viel mehr als ein Flacker¬
feuer, das bis 1841 völlig erlosch. Während dieser ganzen Zeit erlangte die
öffentliche Meinung in Irland religiöse Gleichberechtigung, munizipale Reformen
und Verbesserung des Looses der Pächter und sah von der größern Frage der
Nationalität gänzlich ab. Als O'Connell die Nepealbewegung in Szene setzte,
nannte er seine Genossenschaft den „Loyalen Nationalvcrein für prompte Ge¬
rechtigkeit gegen Irland," und 1841 war er so wenig ein Gegner Englands,
daß er zum Kandidaten für Dublin einen englischen Whig vorschlug. Die ersten
wirklichen Nationalisten nach Emmett waren die Mitglieder des „Jungen Ir¬
lands," aber ihr Einfluß auf das Volk war ein beschränkter. Als John Mitchell,
weil er Hochverrat gepredigt hatte, fortgebracht wurde, freute sich die Bevölkerung
Dublins über eine Revue der Notröcke Ihrer Majestät im Phönixpark. Später
organisirten James Stephens und andre ans Amerika zurückgekehrte Irländer
die serische Bewegung, die aber bald zusammenfiel, weil sie nur wenig Halt in
der Masse des Volkes gefunden hatte. Seitdem hat es mancherlei Anzeichen
eines gleichsam unterirdisch geführten Krieges gegen England gegeben. Alles
war jedoch mehr Mache als Natur, mehr Krankheit als gesunder Trieb und
Mut. Seit Robert Emmett 1803 in den Straßen Dublins die Fahne des
Aufstandes erhob, hat kein einziger Ire sein Leben „für Irland" gewagt. Es
gehörte nicht allzuviel Heldenmut dazu, verstohlen ein Faß Pulver an die
Mauer eines Gefängnisses zu stellen oder ein Päckchen Dynamik in ein eng¬
lisches öffentliches Gebäude zu werfen. Wenn leidenschaftliche Vaterlandsliebe
Tausende von Magyaren, Polen, Italienern und Griechen aufs Schlachtfeld oder
in die Hände des Henkers trieb, so giebt es in der neuesten Geschichte der
Smaragdiiisel Sankt Patricks hierzu kein Seitenstück.
Was war nun das Geheimnis des erstaunlichen Erfolges, dessen sich
Parnell in der That zu rühmen hatte? Es bestand einfach darin, daß er
begriff, daß die Mehrzahl des irischen Volkes sich nicht leidenschaftlich für die
Nationalität begeisterte, und daß er an die Stelle des O'Cvnnellschen Appells
an das Gefühl und des Mitchellschen Rufes zu den Waffen etwas Greifbareres
und Solideres setzen mußte, wobei es überdies nicht viel zu wagen gab. Hier
kam ihm Michael Davitt zu Hilfe, welcher die Landliga erfand. Die beiden
Herren sagten zu dew Bauern: „Folgt uns, und wir werden euern Pacht¬
schilling ermäßigen und vielleicht ganz beseitigen." Den Pächtern leuchtete das
ein, sie nahmen die Agitatoren beim Worte, und jetzt nennt Parnell die Menge,
die ihm auf seine Versprechungen von wegen des Brotkorbes folgte, eine nationale
Armee, entschlossen, für Irland gesetzgeberische Unabhängigkeit zu erkämpfen.
Er hat nnn in der That eine große Menge Rekruten geworben, aber das Hand¬
geld, das er bot, war auch sehr ansehnlich. Es ist natürlich nicht unbegreiflich,
daß die Bauern Irlands dem Agitator auch nach weitern Zielen folgen, da
er ihnen so viel in Allssicht gestellt hat; doch scheint eine Bevölkerung, welche
nur durch Verheißungen pekuniärer Natur bewogen werden kann, national zu
fühlen und zu streben, nicht gerade jenen mächtigen Anspruch auf Unabhängigkeit
zu haben, der in andern Fällen vorliegt. Hätten die englischen Gebieter Irlands
schon vor Jahren die Pachtermäßigungen gewährt, welche die Parlamentsakte
von 1881 darbietet, und damit die stetige und kräftige Handhabung eines ver¬
besserten Kriminalrechts verbunden, so würde das Verlangen nach einer unab¬
hängigen Gesetzgebung sich schwerlich so weit über das katholische Irland ver¬
breitet haben. Die Masse des Volkes hegte niemals nnloyale Gefühle gegen
England als Staat. Die Soldaten waren bis in die neueste Zeit herein gern
gesehen, selbst in der ärgsten Periode der agrarischen Verbrechen vergriff man
sich in Tipperary und Westmeath niemals an der Gendarmerie, und allen Ver¬
tretern der Königin, vom Richter bis hinauf zum Vizekönig, wurde mit Achtung
begegnet. Wirklich verhaßte Persönlichkeiten waren nur gestrenge Gutsherren
und deren Agenten. Die nationale Idee war damals uuter dem Landvolke
eingeschlafen. Ihr Erwachen unter O'Connell war nicht spontan. Er hatte
den Katholiken die Freiheit verschafft, die Agitation war für ihn Bedürfnis,
das Landvolk folgte ihm in seinen alten Tagen ganz so, wie es jetzt Pcirnell
folgt, oder wie ein Teil der englischen Demokratie von Gladstone sich das
Dubliner Parlament aufreden läßt, welches man, wenn Salisbury es vor¬
geschlagen hätte, zornig zurückgewiesen haben würde. Es darf also nicht Wunder
nehmen, wenn wir jetzt sehen, wie die katholischen Iren Mann für Mann dem
Führer Heeresfolge leisten, der einen solchen Schlag gegen ihre Pcichtver-
pslichtungen geführt hat, und dessen fernerer Erfolg deren gänzliche Abschaffung
verheißt, und sein agrarischer und sozialistischer Feldzug darf nicht als auf
nationalem Gefühl und Sehnsucht nach Unabhängigkeit beruhend aufgefaßt
werden, wenigstens nicht, soweit es sich um die Landbevölkerung, die große
Mehrzahl der Iren, handelt. England hat es hier mit einer Vereinigung von
Bauern zu thun, welche wenig oder gar keinen Pacht zahlen und überhaupt
nichts opfern wollen, wie sie denn selbst bei ihrer Unterstützung der Landliga
den größern Teil der Veitragspslicht ihren transatlantischen Verwandten, den
amerikanischen Iren, überließen. Das Nationalgefühl der cisatlautischeu Iren
ist schwächlich geworden, weil das englische Regiment in den letzten Jahrzehnten
nicht grausam und selbstsüchtig wie früher, sondern trotz mancher Mißgriffe
wohlwollend verfuhr. Die verhältnismäßig wenigen eifrigen irischen Patrioten,
welche die Sassencigh wirklich haßten, konnten dem Volke ihr Gefühl und
Streben nicht einreden, wenn es sah, wie das Parlament in London Gesetze
mit der besten Absicht für Irlands Wohl schuf, und wie die englischen Beamten
gegen die Iren gerecht und billig zu sein versuchten. So erkennt man denn
bei näherer Betrachtung, daß die nationalistische Bewegung zum großen Teile
Knustprodukt einer Partei und das Werk ausländischer Wühler ist. Was
wirklich echt und eingeboren daran ist, ist der Wunsch der Pächter, ihre Farm
pachtfrei zu sehen. Indem Parnell diesen Wunsch als Hebel benutzte, gewann
er die Möglichkeit, als „Führer einer Nation, die nach Freiheit ringt," auf¬
zutreten. Gladstone gründet also seine Zugeständnisse auf ein Gefühl, welches
im Gemüte des irische,, Volkes erst den zweiten Nang einnimmt. Er schlägt
vor, einem Volke nationale Rechte zu verleihen, das niemals starke und dauernde
Hingebung an die rationelle Idee gezeigt, ihr niemals viel Zeit und Geld ge¬
opfert und niemals ernstlich mit den Waffe» für sie gekämpft hat.
Noch ein zweiter Irrtum ist zu widerlegen. Das nationale Gefühl tritt
in Irland uicht bloß hinter die materiellen Interessen der ländlichen Bevölkerung,
der Pächter zurück, sondern auch hinter die religiösen Empfindungen derselben,
nimmt also in der Bewegung erst die dritte Stelle ein. Die Bauern Irlands
glauben, die Begriffe Katholik und Isländer deckten sich ungefähr (ähnliches
findet sich, wie man weiß, unter der polnischen Vevvlkernng Preußens), und
ihre protestantischen Nachbarn wären, wenn nicht der Herkunft, so doch ihrem
Denken und Empfinden nach Engländer. Darin liegt auch etwas Wahres.
Protestantische Anhänger Parnells giebt es so wenige, daß sie kaum mitzählen.
Es ist reiner Zufall, daß er selbst Protestant ist und fünf oder sechs protestan¬
tische Gehilfen bei seiner Agitation hat. Es scheint, als ob die Iren einen
Führer brauchten, der wohlhabend und also in Geldsachen einigermaßen !un-
abhängig war, sodaß sie nicht nötig hatten, ihn bei seiner Agitation aus ihrem
Beutel zu unterstützen. Als ihnen dann ein protestantischer Kandidat wie das
jetzige Parlamentsmitglied für Cork anbot, sie ohne Entschädigung für seine Mühe
und Auslage zu führen, nahmen sie dankbarlichst seine Dienste als die eines
Mannes von Talent und Charakter an, welcher der keltischen Sache mit der kalt¬
blütigen Klugheit, der Festigkeit und der Ausdauer zum Siege zu verhelfen ver¬
sprach, die ihm nach seiner englischen Abkunft eigen waren. Die gemeine Mann¬
schaft, die hinter ihm hermarschirt, die Massen, die auf seine Befehle hören,
betrachten die Protestanten Irlands, wie die Unruhen in Sligo zeigte», noch
hente mit Widerwillen und Haß, wogegen anderseits die irischen Protestanten,
die in Ulster dicht bei einander, im Süden und Westen unter den Katholiken
zerstreut wohnen, den ParuclliSmus und alle seine Werke wie den Satan und
sein Reich verabscheuen. Insofern haben die Katholiken Recht, wenn nach ihrer
Ansicht Konfession und Nationalitnt sich decken. Für das englische Volk aber
handelt es sich um die Frage, ob man recht thut, in einem Lande, wo Zwie¬
tracht und Hader konfessioneller Art noch fortleben, einer katholischen Mehrheit
zu einer Stellung zu verhelfen, in der sie die protestantische Minderheit unter¬
drücken und bedrängen kann. Gladstone spricht von „Bürgschaften" gegen die
Verwirklichung dieser Möglichkeit, aber sein Plan enthält keine solche Bürg¬
schaften, anf die Verlaß wäre. Gesetzt selbst den unmöglichen Fall, daß die
erste „Ordnung" seiner „gesetzgebenden Körperschaft," das Oberhaus seines
Dubliner Parlaments, ganz aus Protestanten bestünde, so würden erst die beiden
Ordnungen in gemeinsamem Tagen das Parlament konstituiren, und die Mehr¬
heit würde auf feiten der zweiten Ordnung sein, Folglich würde nach dein
parlamentarischen System die Exekutive, die Regierung Irlands vou den Katho¬
liken aufgestellt, gehalten und beeinflußt sein.
Gladstones Plan würde Irland ungefähr in eine Lage versetzen wie die,
welche er nach dem letzten russisch-türkischen Kriege für Bosnien im Auge hatte
als er dessen Unabhängigkeit verlangte. Die Bevölkerung zerfiel hier in Mu-
hammedaner und Christen, Orthodoxe und Katholiken, die alle einander bitter
haßten. Wäre es nach Gladstone und seiner Partei gegangen, so hätte man
der christlichen Mehrheit die Macht in die Hände gespielt, die Muhammedaner,
ihre bisherigen Herren, nun ihrerseits zu knechten und zu berauben. Beaconsficld
dagegen sagte auf dem Berliner Kongresse — allerdings nicht bloß aus Gründen
der Humanität: „Nein, keine Unabhängigkeit, sondern österreichische Oberherrschaft,
Österreichs Berufung zur Erhaltung des Friedens zwischen den streitenden Par¬
teien." Kein Teil dieser Lösung der Frage wurde damals von Gladstone so
leidenschaftlich bestritten als dieser. Man erinnert sich der Schimpfrede in
Midlvthian, die der jetzige Premier, als er Minister geworden our, zurücknehmen
mußte. Die Zeit hat erwiesen, daß er unrichtig gedacht hat: sein unabhängiges
Bosnien wäre ein blutiges Schlachtfeld der Religionsparteien geworden, Bosnien
unter österreichischer Herrschaft erfreut sich friedlichen Gedeihens. In ähnlicher
Weise kann England in Irland den Frieden wahren. Stellt man dagegen die
dortige protestantische Minderheit unter die Katholiken, welche Neulinge in der
Regierungskunst, voll von altem Groll und stets geneigt sein würden, ihrem
Glauben den Vorrang vor dem Wohle des Landes einzuräumen, so fügt man
letzterm mehr Schaden zu, als alle Feinde desselben ihm jemals angethan haben,
so entzündet man in ihm einen ewigen Krieg, der sein Mark verzehrt.
in Anfange des Kulturkampfes fiel es einigen Schriftstellern
mit Recht auf, daß man strebte, die evangelische und die katho¬
lische Kirche unter dieselben staatlichen Gesetze zu stellen. Sie
protestirten dagegen und fanden dies Verfahren oberflächlich.
Daß die beiden Kirchen den Namen „Kirche" führen und daß
sie privilegirte christliche Kirchen sind, hebt doch nicht alle andern sonstigen
Unterschiede auf, die sich an den beiden finden. Über die dogmatischen Unter¬
schiede der Kirchen mag der Staat kein Urteil haben, aber daß der Staat ge¬
schichtlich ganz anders zu der einen Kirche steht als zu der andern, daß er
seine Interessen von der einen ganz anders beurteilt sieht als vou der andern,
ist doch wohl so wichtig, daß er die beiden unmöglich gleichmäßig behandeln
kann. Daher sagt Professor 5z. Schulze ganz richtig: „Das Kirchenstaatsrecht,
d. h. das rechtliche Verhältnis der Kirche zum Staate, kaun und darf nur
durch ein Staatsgesetz festgestellt werden. Ein solches Gesetz darf aber nicht
der abstrakten Gleichheit zuliebe die Verhältnisse der evangelischen und der
katholischen Kirche mich gleichen Grundsätzen regeln wollen. Hier involvirt
jede scheinbare Parität die größte Imparität. Der moderne Staat erkennt die
Parität aller seiner Unterthanen ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses
an, aber er darf die beiden großen Kirchengemeinschaften, die in ihm bestehen,
nicht nach derselben Schablone behandeln. Beide Kirchen verlangen ihr be¬
sondres Staatsgesetz, wie sie ihr eigenartiges Lebensprinzip haben."
Nachdem nun der augenblickliche politische Zustand der großen Weltver-
hältnisse unsern Reichskanzler veranlaßt hat, der kulturpolitischen Fehde gegen
die ultramontane Richtung die Spitze abzubrechen, und der ravÄus vivouäi,
dieser große Unbekannte, von allen Seiten angekündigt wird, ist es nicht un¬
erwartet gekommen, daß sich evangelische Parlamentarier auch um größere
staatliche Freiheit der evangelischen Kirche bemühen und besondre staatliche
Maßregeln für ihre Kirche herbeiführen mochten, die dein kirchlichen Interesse
günstig sind.
Das ist in mehrfacher Hinsicht ganz billig. Die Kirche ist auch im evan¬
gelischen Sinne eine besondre Gemeinschaft mit eigenartigem Prinzip, und es ist
eine Schwärmerei, die man einem so bedeutenden Manne wie Richard Rothe
wohl zu Gute halten, aber nicht billigen kann, wenn jemand glaubt, die Kirche
solle sich in den Staat auflösen; es sei dies keine Auflösung, sondern eine
wünschenswerte Erweiterung ihres Einflusses auf die ethisirte Welt. Es ist
anch wohl kaum ein praktischer Mann zu finden, der über das Wesen der Kirche
noch jetzt so idealistisch dächte. Der Philosoph August Comte und einige andre
absolute Feinde der historischen Kirchen wollen zwar ihre weltliche atheistische
Gesellschaft mit religiös-sozialen Festen und Zeremonien so reich ausstatten, daß
man die Kirchen mit ihren erhebenden Feiern nicht vermißte, aber es ist eben
Schwärmerei. Nicht bloß das religiöse Gefühl ist ein dem Menschen für immer
anhaftendes ewiges Merkmal, auch eine Gemeinschaft, die zur Pflege und Be¬
thätigung dieses Gefühls besonders bestimmt ist, ist dem Menschen unentbehrlich.
Wäre es heutzutage noch möglich, eine der bestehenden Kirchen mit Gewalt zu
unterdrücken, so würde sich aus der unergründlichen Tiefe der Volksseele sofort
eine andre neue Kirche bilden, und das abgelenkte oder sich selbst überlassene Be¬
dürfnis könnte zu Kirchenbildungcn gelangen, wie z. B. der Mormonen. Kein
moderner Bildungsstolz ist, wenn eine neue Kirche not thut, imstande zu ver¬
hindern, daß aus irgendeiner verborgnen Ecke ein absurder Aberglaube auftaucht,
der die neue Gemeinde der religiousbedürftigcn Menschen um sich sammelt.
Es ist freilich eine sehr elementare Forderung, wenn man bloß verlangt,
daß die kirchlichen Gemeinschaften ihr selbständiges Dasein fortführen sollen.
Nur weil der moderne atomisirende Bildungsschwindel noch immer phantasirt,
die Religion dürfe uur noch Privatsache sein, muß man zuweilen so elementare
Dinge vorbringen.
Die Kirchen selbst sind nicht so zurückhaltend, sie fordern mehr, nicht bloß
die katholische, sondern auch die evangelische. Mögen sich diese beiden auch im
übrigen uicht verständigen können, sie haben darin die gleiche Befriedigung, daß
man heutzutage anerkennt, der Staat sei auf ihre Mitwirkung bei der Volks¬
erziehung angewiesen, und diese Mitwirkung gehe am besten von statten, wenn
der Staat sich direkter Eingriffe in die Kirchen enthalte und sich nur gegen
etwaige staatsfeindliche Bestrebungen in den Kirchen schütze. Und hierin, in
dem Bedürfnis eines Schutzes, in der sogenannten „Kirchenhoheit" liegt eben
der Punkt, wo die Kirchen dem Staate gegenüber eine verschiedne Stellung
haben. Es sind nicht dieselben Schutzwehren angebracht gegen einen Wiesenbach,
der in mehreren dünnen Fäden durch eine Ebene fließt, wie gegen den Gebirgs-
bcich, der durch unkvntrvlirbare Einflüsse von oben zum reißenden Strome wird.
Und auf dies fo ungleiche Schutzbedürfnis des Staates wirken außerdem noch
tiefgehende geschichtliche Erlebnisse mächtig ein, wie sie das menschlich-politische
Dasein vor jeder bloßen Naturkraft voraus hat. Wie sollte also es möglich
sein, diese Unterschiede zu übersehen? Aber die Sache ist dadurch auch wieder
verwickelter geworden. Denn wie unergründlich seltsam verknüpft sich der Anfang
einer Bewegung, wie sie das Christentum darstellt, mit dem, was sie sonst auf
ihrem Entwicklungsgange antrifft, und wiederum der Anfang der deutschen Re¬
formation mit dem, was sie in Deutschland an politischen und sozialen Kräften
vorgefunden hat! Wie verschieden müssen durch die lebendigen Entwicklungen
in den Jahrhunderten sowohl die Aktionsbedürfnisse der Kirchen wie die Schutz¬
bedürfnisse des Staates der Kirche gegenüber sich gestalten! Die evangelische Kirche
der lutherisch-deutschen Reform wollte das allgemeine Priestertum der Gläubigen
verwirklichen, sie nahm sich vor, die Einflüsse fremder Macht aus der Kirche zu ent¬
fernen Und was geschah trotzdem? Die Fürsten regierten, soweit sie evangelisch
waren, aus Not und Pflicht zugleich die weltlichen und die geistlichen Dinge. Zum
Teil übten sie diese geistliche Negierung wenigstens durch besondre Organe, zum Teil
hielten sie auch dies nicht für nötig. Wir finden es nicht schwer, diese Entwicklung
der evangelischen Kirchenverfassung zu begreifen, aber damals fand man es auch
nicht schwer, dieselbe zu verteidigen und als angemessen zu bezeichnen. Ebenso
seltsam waren die übrigen Kontraste auf diesem Gebiete; man hatte tief darunter
leiden müssen, daß die alte Kirche die alleinige Wahrheit zu haben glaubte, daß
ihre Organe über alles Handeln der Menschen absolut zu gebieten hatten. Man
wollte dagegen das Wort der „Schrift" wieder ehren, das „alle Freiheit lehret."
Aber was geschah? Die lutherischen Theologen entwickelten eine zweite Ausgabe
unfehlbarer Lehre in dicken Quartanten, und ein Mütterchen, das seine Nach¬
barin in der Krankheit ans Gottes Wort trösten wollte, mußte erst die Er¬
laubnis von ihrem lutherischen Pastor einholen. Es ist, als ob durch solche
Ironie der Geschichte uns zu unsrer Beschämung vorgehalten werden sollte, wie
langsam wir uns, trotz aller großen geniale» Gedanken einzelner, als Gesamtheit
vorwärts bewegen. Gewiß ist es gut, wenn wir uns dieses „Kulturgcsetz" fleißig
in Erinnerung bringen. Auch sonst fehlt es in der evangelischen Kirche nicht
an seltsamen Kontrasten, die geschichtlich eben nicht in Abrede zu stellen sind,
Wir kennen hinlänglich die große Bedeutung der heiligen Schrift für die Ge¬
meinden und die Theologen der Reformation, aber es ist eine bemerkenswerte
und erfreuliche Fügung, daß auf lutherischem Boden wenigstens diese Schrift
nicht als kirchliches Recht so ohne weiteres eingesetzt worden ist, während dies
auf katholischem Boden wohl geschehen ist, obgleich die heilige Schrift hier neben
der Tradition lange nicht die große Rolle spielt wie auf lutherischem Gebiete.
Luther will als Gesetz das gelten lassen, was „darinnen die Oberkeit und weise
Leute nach dem Rechten und Vernunft schließen und ordnen," denn Christus setze
in der Bergpredigt „nichts als ein Jurist oder Regent in äußerlichen Sachen,
sondern allein als ein Prediger unterrichtet er die Gewissen," sodaß mit ihm
in sachlicher Übereinstimmung, wenn auch in frivoler Form, Friedrich der Große
(1751) gebot, „daß in Zukunft bei solchen Fällen nach meiner Ordre und Vor¬
schrift schlechterdings verfahren, keineswegs aber dabei Moses und die Propheten
zu Rate gezogen werden sollen, als welche hier im Lande nichts zu thun haben."
Doch es ist nicht thunlich, hier speziell auf die Geschichte der evangelischen
Kirchenverfassung in den einzelnen deutschen Territorien einzugehen. Wir müssen
uns an die Hauptsachen und an die neuern Verhältnisse halten, wie sie besonders
in Preußen vorliegen und wie sie auch Herr von Hammerstein und die Kreuz¬
zeitungspartei in dem bekannten Antrage voraussetzen.
Die neuern Bewegungen ans dem Gebiete evangelischer Kirchenverfassung
gehen bekanntlich auf die Kirchenordnung für die evangelischen Gemeinden der
Provinz Westfalen und der Rheinprovinz vom ö. März 183ö als auf ein Vorbild
zurück, sind also mit eine Frucht der reformirten Gemeindeverfassung, die sich in
dem Gebiete von Jülich-Cleve-Berg erhalten hatte. Man kann diese modernen
Bestrebungen als einen Versuch bezeichnen, die Repräsentation der Kirche von
unten herauf mit dem königlichen Regiment von oben her, durch die königlichen
Konsistorien, zu verschmelzen. In der Art dieser Zusammenwirkung des syno¬
dalen und konsistorialen Elementes liegt die weitere Schwierigkeit, aber die ganze
Methode scheint jetzt festzustehen, und selbst die hochkirchlichen Parteien scheinen
sich mit der Beteiligung der Gemeindeglieder an der kirchlichen Organisation zu¬
frieden gegeben zu haben. Es war lehrreich, wie man 1850 diese Beteiligung
als demokratisch herabdrücken wollte. Man dachte sich den Gemeindekirchenrat
ohne Rechte, und die Gemeinden durften sich diese Scheinvertretung nicht einmal
frei wählen, sondern mußten sie einer „bindenden Vorschlagsliste" entnehmen.
Aber die Zeit der Reaktion ging vorüber, und als E. Herrmann als Präsident
des Oberkirchenrates mit Männern wie Dr. Falk und Geheimrat von Sydow zu¬
sammenzuwirken berufen waren, da entstand in den Jahren 1873 und 1874 eine
kirchliche Ordnung, die (am 3. Juni 1876) auch eine ftaatsgesetzliche Bestätigung
fand, soweit sie deren bedürfte. Diese neue Ordnung hat schon zu fungiren
begonnen, und sie muß bei allen weitern Wünschen die Grundlage abgeben.
Man kann nicht leugnen, daß durch diese Ordnung die evangelische Kirche
ein selbständiger Organismus geworden ist. Allerdings wird sie von dem Landes¬
herrn in Preußen regiert, aber nur weil er Landesherr ist, nicht als Landes¬
herr. Das Kirchenregiment ist ein Annex, aber kein Bestandteil seiner Landes¬
hoheit. Die Hauptsache und die treibende Kraft bleibt stets der kirchliche Or¬
ganismus in seinen Synoden, die auf den Stufen vom Kreise zur Provinz und
zum ganzen Lande (Generalsynoden) mit den Vertretern des Regiments zusammen
zugleich gesetzgeberisch und verwaltend thätig sind und durch Räte und Aus¬
schüsse auch noch zwischen den Zeiten der Sessionen eine ständige Einwirkung
üben. Das ist viel, aber wir erinnern uns leicht, daß diese Ordnung nur dürf¬
tige Ausdehnung erhalten hat. Sie beherrscht nur die alten Provinzen Preußens,
nicht einmal ganz Preußen, und für die andern evangelischen Landeskirchen in
Deutschland oder für die sonstigen Evangelischen hat diese Gesetzgebung keine
Bedeutung, wiewohl ihr ein Blick auf die zukünftige Verbindung dieser andern
evangelischen Teile einverleibt ist.
Sodann ist natürlich auch der preußische Staat mit Hoheitsrechten der
evangelischen Kirche gegenüber ausgestattet worden, und am meisten gegen diese
dem Staate zugewiesenen Schutzgesetze und die dem konsistorialen Elemente ver¬
bliebene kirchliche Regierungsgewalt richten sich Wünsche wie die Hammerstein-
schen. Das ist, wie gesagt, vollkommen loyal. Es ist vollkommen möglich, daß
man in der Abgrenzung der staatlichen und konsistorial-kirchlichen Rechte gegen¬
über der kirchlichen Selbstverwaltung Mißgriffe macht, die ihre Berichtigung im
Laufe der Zeit durch die Wechselwirkung der entgegengesetzten Parteien finden
müssen. Aber das ist richtig, daß hierbei allgemeine Phrasen ohne großen Wert
sind. Sagt man bloß, man wünsche größere Freiheit und Selbständigkeit der
evangelischen Kirche und mehr Geld vom Staate zum Besten der evangelischen
Kirche, so ist das letztere sehr fremdartig und hat mit der katholischen sieg¬
reichen Kirchenpolitik nichts zu thun. Denn die Katholiken wollten ihre StantS-
gelder nur nicht verlieren, aber eine Erhöhung verlangten sie nicht, und die
erstgenannten Forderungen sind eben ganz inhaltslos, sodaß sie erst verständlich
werden durch die Andeutungen, man wolle die Vorbildung der evangelischen
Geistlichen durch die kirchliche Mitwirkung bei der Anstellung der Professoren
der Theologie sichern, anch durch Einrichtung von geistlichen Seminarien für
diesen Zweck wirken. Hat man solche bestimmte Pläne in einzelnen Desiderieu
vor sich, so läßt sich darüber sprechen. Vielleicht bildet sich eine evangelische
Zentrumspartei heraus, als Vertretung der Interessen der evangelischen Kirche
Preußens. Wir brauchen uns dabei noch weniger als die Katholiken durch den
Gedanken beengen zu lassen, daß eigentlich nur die Kleriker und ihre Versamm¬
lungen das kirchliche Interesse mit Einsicht vertreten können, denn bei uns ist
die Hierarchie nicht mit besondern Privilegien gegenüber den Laien ausgestattet.
Mit Recht hat man dagegen vermutet, daß eine solche evangelische Zentrums¬
partei nicht die Geschlossenheit zeigen werde, wie sie die Herde des I)r. Windt-
horst fast stets gezeigt hat. Uns wird von Jugend auf in religiösen Dingen
eingeschärft, daß, wenn die Wahl nur bleibt zwischen „Einheit und Freiheit,"
wir mit dem alten Tholuck für die Freiheit uns entscheiden, ganz anders als
die non-xlaoot-Bischöfe, die, nachdem der heilige Geist sich für das Most ent¬
schieden hatte, in die tragische Notwendigkeit gerieten, die weniger eoulanten
alten Gesinnungsgenossen zu verfolgen. Es wird daher mit der evangelischen
Zentrumspartei immer eine schwächliche Sache sein. Schon jetzt liegt ein Zeichen
dafür vor. Eine kirchliche Konferenz in der Grafschaft Mark, also auf dem
Boden von Rheinland-Westfalen, hatte ans Anlaß des Antrages von Hammer¬
stein eine Resolution mit einem Dankesvotum an die Abgeordneten Stöcker,
von Hammerstein und Eyncrn gesandt. In einem dankenden Antwortschreiben
lehnte jedoch Herr von Eynern ein Eintreten für den Antrag von Hammerstein
mit folgenden Worten ab: „Ich kann die Befreiung der evangelischen Kirche aus
der staatlichen Gebundenheit, die gewissermaßen verlangte Herstellung einer evan¬
gelischen preußischen Freikirche nicht befürworten. Die Syuodalordnung, für
welche wir nächst dein Landesherrn unsern Dank dem Herrn Minister Falk
schulden, giebt meines Erachtens der evangelischen Kirche ein hohes Maß von
Befreiung von der staatlichen Oberleitung. Die Bestrebungen für eine weitere
Befreiung widerstreiten der Entstehungsgeschichte und der geschichtlichen Entwick¬
lung der Kirche. Hinter diesen Bestrebungen verbirgt sich ohnedem derjenige Geist
der Unduldsamkeit, der die historisch gewordenen und zum Heil der Kirche be¬
stehenden Richtungen innerhalb der evangelischen Kirche unter dogmatischen
Zwang bringen will. Die auf diese Wege hinzielenden Anträge, welche der
Volksvertretung zugegangen sind, bedeuten zugleich den Versuch, in die Rechte
und Pflichten der Krone, des landesherrlichen Kirchenregiments, in unberechtigter
Weise einzugreifen. Der Antrag des Abgeordneten von Hammerstein verfolgt
deshalb in seinem ersten Teile Ziele, die ich nicht billige, und deshalb wird die
Voraussetzung der kirchlichen Konferenz, daß dieser Antrag die kräftigste Unter¬
stützung aller evangelischen Volksvertreter finden werde, meinerseits nicht zu¬
treffen." Dagegen sprach der Abgeordnete Freiherr von Hammerstein in seinem
Antwortschreiben seine vollständige Übereinstimmung mit den Anschauungen der
Konferenz und zugleich sein Bedauern aus, daß die Konferenz sich in ihrer Er¬
wartung, der konservative Antrag werde die kräftigste Unterstützung aller evan¬
gelischen Volksvertreter finden, schon jetzt schwer getäuscht sehe. Das Schreiben
des Herrn von Eynern beweise leider, daß der Eifer dieser Herren für die evan¬
gelische Kirche sich auf große Worte beschränke, zu Thaten aber nicht bereit sei.
Zum Schluß heißt es: „Der Widerstand, welcher meinem Antrage von national-
liberaler und freikonservativcr Seite entgegengesetzt wird, wird bei der Lauheit
einzelner Konservativen vielleicht dahin führen, daß seine Beratung in dieser
Session nicht mehr stattfindet. Die »Nationalzeitung,« welche diese Aussicht
mit dem Ausdrucke lebhafter Freude begleitet, erblickt darin den Beweis, »das;
die Urheber meines Antrages nichts hinter sich haben.« Die Aufgabe aller
derer, denen es im Laude heiliger Ernst ist um das Wohl und Wehe unsrer
evangelischen Kirche, wird es sein, den Gegenbeweis laut und vernehmlich zu
führen, wie Sie und andre Freunde in Rheinland und Westfalen es schon jetzt
gethan haben."
Ein ähnliches Zerwürfnis unter den evangelischen Christen hat sich auf
einer sächsischen Versammlung der kirchlichen „Mittelpartei" herausgestellt über
die Frage, ob der Staat bei der Anstellung der theologischen Professoren an
die Kirche gebunden sein solle. Für einen Katholiken ist das selbstverständlich;
er schätzt die Wissenschaft überhaupt nicht so hoch in Glaubenssachen, er weiß,
daß alle Forschung, theologische wie weltliche, mit der Kirchenlehre im Einklang
bleiben muß. Darin, daß der theologische Professor zu keinem andern wissen¬
schaftlichen Ergebnisse kommen darf als zu dem, was die Kirche festgestellt oder
für wenigstens wahrscheinlich erklärt hat, sieht er keine Beschränkung. So weit
geht der lutherische Orthodoxe nicht; er will die Wissenschaft nicht beengen,
aber er verlangt von dem, der die Lehrer der Kirchengemeinde heranbilden will,
daß er selbst den Glauben der Kirche unzweifelhaft bekenne, am wenigsten aber
ihn durch wissenschaftliche Zweifel zerstöre. Dem gegenüber steht eine Menge
von evangelischen Christen so, daß sie diesen Grundsatz nicht von der ganzen
orthodoxe» Lehre gelten läßt, sondern nur verlangt, daß der Professor in ge¬
wissen Grundthatsachen die evangelische Überzeugung festhalte, im übrigen aber
vollkommen der gewissenhaften Forschung huldige. Schwer ist die Sache immer¬
hin, aber so lauge die Freizügigkeit der theologischen Studenten in Wirklichkeit
besteht und der künftige Kircheumaun nicht gezwungen ist, einen ihm verhaßten
Ungläubigen zu hören, ist die Sache zu ertragen. Dabei hat sie den Vorteil,
daß bei dieser Praxis ein großes Prinzip gewahrt wird. Wie nämlich anch
die Offenbarung des göttlichen Glaubens beschaffen sein mag, sie wird immer
so aufgefaßt werden müssen, daß das übrige profane Wissen, das sich unserm
Geiste aufdrängt, neben dem Glauben ohne Widerspruch mit diesem fortbesteht
und giltig ist. Denn es darf nicht zwei sich widersprechende Wahrheiten geben.
Dieses Prinzip liegt doch in unsrer Lehrfreiheit und in der Anstellung der
Theologen durch den Staat auf deu Vorschlag der Fakultät hin. Wir wollen
nicht einmal den Verdacht erregen, daß sich der Theologe infolge der kirchlichen
Anstellung von dem Boden der allgemeinen Wissenschaft etwa entferne. Wenn
man gesagt hat, daß dadurch den wechselnden Ministern ein allzugroßer Einfluß
auf die kirchlich-dogmatische Entwicklung gegeben werde, so ist das ja richtig.
Unter Herrn von Muster wurde einigen Privatdozenten der Theologie ge¬
schrieben, daß sie nie vom Minister angestellt werden würden. Einer von ihnen
starb darüber, der andre wurde vom Minister Falk ohne Bedenken angestellt.
Solche Fülle kommen vor. Aber wer ist so naiv, zu meinen, bei kirchlichen
Personen käme ein ähnlicher Wechsel der Ansicht nicht vor? Sollten wir nötig
haben, an Namen zu erinnern? Auch in der römischen Kirche sind ja die
Jesuiten von drei Unfehlbarer einmal genehmigt, dann aufgehoben und endlich
wieder eingesetzt worden. Wir gestehen übrigens, das; wir gern der evangelischen
Kirche Gelegenheit gäben, an jeder theologischen Fakultät zu den staatlichen
Professoren der Theologie auch zwei rein kirchliche hinzuzufügen. Da die Kirche
auf alle Fälle die Kandidaten für den Kirchendienst amtlich prüft, so hat sie
doch eine ganz bedeutende Einwirkung auf die Studenten schon jetzt. Nicht
bloß die Mittclpartei, die, wie gesagt, neulich in der sächsischen Versammlung
durch Professor Beyschlag zu Worte gekommen ist, hält die Freiheit der Wissen¬
schaft für ein Recht, das der Staat auch in der Theologie zu schützen habe;
große, sehr große Kreise werden mit ihm gleicher Meinung sein. Eine Kirche,
„deren Professoren nach kirchlich approbirten Heften lesen und von einem Priester
entlassen werden können," würde bei evangelischen Christen keinen Kredit ge¬
nießen. Eine Agitation für solche Abhängigkeit der Universitätsprofessoren von
der Kirche wird nicht für eine nützliche Freiheit der Kirche gehalten werde»,
sondern nur für eine Verstärkung einer unevangelischen Hierarchie. Auch sind
wir überzeugt, daß selbst Herr von Hammerstein und seiue Verehrer die Anstellung
der Theologieprofessorcn nicht dem Staatsminister ganz entziehen wollen, sondern
nur einen Beirat der Synode verlangen, wie er faktisch ja oft genug eingeholt
wird. Kurz, man darf den Antragstellern keine katholisirende Tendenzen unter¬
schieben, wenn nicht ganz andre Erklärungen von ihnen über ihre speziellen
Absichten erfolgen, die diese Tendenzen ausdrücklich bekunden.
Wir sind im ganzen mit der durch die Gesetze von 1876 erlangten Kirchen-
ordnung zufrieden, insbesondre mit der Bemerkung: „Der Bekenutnisstaud und die
Union in den genannten Provinzen und deu dazu gehörenden Gemeinden werden
durch dieses Verfnssungsgesetz nicht berührt." Das Maß der dem Könige in
seinem staatliche!? Beruf und so dem Staate selbst zukommenden Rechte ist dem
Herrn von Hammerstein zu groß. Unter andern Verhältnisse» dächten wir viel¬
leicht anch so, wenn nämlich eine Synvdalorganisativn und eine Konsistorial-
richtung bei uns bestünde, die an einer freien, presbyterialen und liberalen Ent¬
wicklung der evangelischen Kirche Freude hätte. In solchen Fällen würden nur
einige Schutzwehren des Staates für unnötig bezeichnen, namentlich die enge
Begrenzung der kirchlichen Steuern, die man den Kirchengemeinden zu allge¬
meinen kirchlichen Zwecke» auflegen darf. Auch ist der Wunsch der General-
synode in? Prinzip zu billigen, daß man bei der Besetzung kirchlicher Ämter dem
Staat nicht mehr zugestehen möge, als ein Einspruchsrecht gegen die kirchen-
regimentlichen Vorschläge. Für die Gegenwart aber und die nächste Zukunft
möchten wir den Befugnissen, die der Staat nach dem gütige» Reglement ans
dem evangelischen Kirchengebiete hat, nichts entziehen. Denn seit vielen Jahren
sind alle, oder fast alle wichtige kirchenregimentlichcn Stellen mit Männern
besetzt, die, wie man sich ausdrückt, der entschiednen Partei der kirchlichen Rechten
angehören, mag sie nun sich „konfessionell" oder „Positive Union" nennen. Das
ist mit rechten Dingen zugegangen und lag im Geiste der Zeit. Wir sind
nicht der Absicht, diese Männer anzuklagen; sie werden immer ein unentbehrlicher
Bestandteil der evangelischen Kirche bleiben. Aber so lange sie allein herrschen
und jede freiere Regung verdächtigt wird, so lange man dem presbyterialen und
Laienelement mit Mißtrauen gegenübersteht und nur das Pastorale Element
stärkt, so lange man eine Anzahl von Protesten, die man bei Fanatikern leicht
erzielen kann, für genügend hält, um eine Wahl des Gemeiudekircheurates zu
kassiren und den gewählten Mann als Ketzer zurückzuweisen, so lauge ist der
Zeitpunkt nicht gekommen, die Rechte des Staates gegenüber der evangelischen
Kirchenvrganisation zu vermindern. Es ist aber zu erwarten, daß es einmal
im Gange der ruhigen Entwicklung, ans der Kirche selbst heraus, nicht durch
weltliche Einwirkung, etwas weitherziger hergehe bei der Besetzung der obern
Ämter. Dann wird ein wachsendes Vertrauen zu den Personen, die mit einander
auf verschiedner dogmatischer Basis die Kirche bauen, ein wachsendes Vertrauen
zu der weltlichen Wissenschaft, die die religiöse Bildung nie zerstört, wohl aber
reinigt, ein besseres Verständnis des Wortes ermöglichen, „daß dem Volke die
Religion erhalten werde." Dann wird der Staat einige Schutzwehren gegen
die evangelische Kirche, die ja den Staat wieder zu Ehren gebracht hat, von
selbst aufgeben. Für jetzt wäre es nicht angebracht.
Der Antrag Hammerstein ist durch den Schluß des Landtages beseitigt
worden, was begreiflichen Unwillen in jenen Kreisen hervorgerufen hat, aus denen
der Antrag hervorgegangen ist. Wenn man jedoch billig urteilt, kaun man es
dem Abgeordnetenhaus nicht verdenken, daß es nach einer langen und höchst
anstrengenden Sitzungsperiode keine Lust hatte, auf eine hoffnungslose und im
nnglinstlgsten Augenblicke vorgebrachte Sache Zeit zu verwenden.
Und in der That, der von Hammerstein gewählte Augenblick war geeignet, anch
eine Sache von größerer Dringlichkeit und weniger bestreitbarem Rechtsansprüche
zu diskreditiren. Der Staat hat mit der Kurie Frieden geschlossen, die vielen
Schwierigkeiten der Verhandlungen, die peinlichen Empfindungen aller Betei¬
ligten, die mehr oder weniger laut ausgesprochene Befürchtung, daß der geschlossene
Friede kein Friede sei — alles dies ist noch in frischer Erinnerung. Da hält
ein Teil der konservativen Partei den Zeitpunkt für gekommen, die Ansprüche
der evangelischen Kirche ans größere staatliche Selbständigkeit geltend zu machen.
Das ist doch nicht anders, als wenn eine Mutter dem ungestümen Drängen des
einen Sohnes um des lieben Friedens willen endlich mißmutig nachgegeben hat,
und NUN auch der andre kleinere ankömmt und ruft: „Ich auch! ich auch!" Die
Antwort der Mutter sich auszudenken, ist nicht schwer.
Man könnte nun fragen, wie von jener Seite eine solche Sachlage übersehen
werden konnte, wenn man nicht wüßte, daß in jenen Kreisen das Prinzip, das
heißt eine Denkweise die Herrschaft hat, welche von theoretischen Gesichtspunkten
ausgehend die Dinge als Begriffe anzusehen liebt, eine Anschauungsweise, die
man zu einer runden und abgeschlossenen Weltanschauung für unerläßlich hält.
Aber weder Staat noch Kirche sind theoretische Dinge. Auf dem Papier aller¬
dings, in der Wirklichkeit jedoch sind es wirkliche Vereinigungen und Vertre¬
tungen, wirkliche Personen, die, mögen sie auch noch so sehr bemüht sein, ihre
Beziehungen objektiv zu regeln, doch zugleich alledem nterworfen sind, was
menschlich ist. Wenn also der Antrag auf irgendeinen Erfolg mit Bestimmtheit
rechnen konnte, so war es der der ärgerlichen Ablehnung.
Wie aber der Augenblick für den Antrag so ungünstig wie möglich war,
so giebt auch sein Inhalt zu ernsten Bedenken Anlaß. Es wird verlangt eine
größere Freiheit der evangelischen Kirche, die Rückgabe des seiner Zeit zur
Deckung der französischen Kriegskontributionen eingezogenen Kirchenvermögens
und das Recht, bei Besetzung der theologischen Lehrstühle mitwirken zu dürfen.
Ursprünglich war auch der Anspruch erhoben worden, daß der Kirche die Be¬
aufsichtigung des Religionsunterrichtes in den Schulen übertragen werde. Wie
ist man zu solchen Ansprüchen gelangt? Es ist eine nicht zutreffende und
auch nur die Oberfläche berührende Autwort, zu sagen: Das sind die Herrscher¬
geküste der evangelischen Geistlichen, von denen jeder selbst ein kleiner Papst
sein möchte; vielmehr möchte es sich empfehlen, den Antrag Hammerstein als
ein beachtenswertes Symptom anzusehen und sich klar zu machen, was ihm zu
Grunde liegt.
Mag auch die Zahl derer nicht groß sein, welche dem vorliegenden Antrage
zustimmen, welche den Zeitpunkt oder die Form für geeignet halten; seiner
Tendenz stimmt man in allen jenen Kreisen, in welchen ein lebhaftes kirchliches
Interesse vorhanden ist, unzweifelhaft zu. Besonders herrscht unter den evan¬
gelischen Geistlichen ein tiefer Unmut über die Lage, in welcher sich die evan¬
gelische Kirche dem Staate gegenüber befindet. Und dies ist ganz gleichmäßig
der Fall bei Geistlichen der verschiedensten kirchlichen Richtungen. Wir wollen,
wenn wir auf die Geschichte der letzten fünfzehn Jahre zurückschauen, nicht be¬
streikn, daß hierzu Grund vorhanden sei. Es ist in diesen Jahren viel ge¬
schehen, wodurch jene in ihren Gefühlen verletzt, in ihren Interessen geschädigt
und in ihrem Amte in Lagen versetzt wurden, die schwer zu ertragen waren.
Dies alles ist zwar nicht beabsichtigt gewesen, aber thatsächlich eingetreten, wie
denn die Dinge meist am grünen Tische oder im Gesetz- und Verordnungsblatt
ein andres Aussehen haben, als bei der praktischen Durchführung.
In den Städten ist die unvorbereitete Einführung des Zivilstandsgesetzes
Von großem Nachteil gewesen und hat zu kirchlichen Schäden geführt, die, wenn
man auf die damaligen Warnungen gehört hätte, zu vermeiden gewesen wären.
Jetzt ist es die mühsame Aufgabe der Geistlichen, langsam wieder aufzubauen,
was damals über Nacht eingerissen wurde. Auch die pekuniäre Seite ist von
Gewicht. Zwar hat man die damaligen Stelleninhaber entschädigt, zieht aber
die Entschädigung bei einem Personenwechsel zurück, ein Verfahren, dessen Be¬
rechtigung schwer einzusehen ist und das deu geistlichen Stand um ungeheure
Summen schädigt. Die Folge ist, daß die Diakonatstelleu der Städte, welche
eine wesentliche Einnahme in den Stvlgebühren hatten, heruntergegangen sind
und jetzt kaum mit Anfängern besetzt werden können, während gerade hier be¬
währte Kräfte nötig wären.
Auf dem Lande beklagt man sich über die Untergrabung der persönlichen
Autorität des Geistlichen durch Gewährung von Sclbstverwaltungsrechten an
solche, die hierfür weder reif waren, noch jemals reif sein werden. Man ver¬
kannte den Charakter der ländlichen Bevölkerung, den man am besten mit dem
trotziger Kinder vergleichen kann. Solchen Leuten wurde die Wahl zu den ver-
schiednen Kirchen- und Gemeindeämtern freigegeben — natürlich wählte man
gerade da, wo der Einfluß des Geistlichen am nötigsten gewesen wäre, die un¬
geeignetsten Personen.
Daß der evangelischen Kirche, der Schwierigkeit wegen, welche die katho¬
lische Kirche verursachte, die Schnlinspektion entzogen wurde, empfindet man bis
zum heutigen Tage als einen Akt unverdienter Kränkung. Man macht täg¬
lich die Erfahrung, daß im eigentlichen kirchlichen Amte selten Schivierigkeiten
vorkommen, daß aber die Lokalschulinspcktion immer wieder zu Verdruß und
Streitigkeiten sührt, die das kirchliche Amt schädigen. Man verliert so die Lust
und möchte das Schulamt niederlegen, aber das Konsistorium zwingt den Geist¬
lichen, dem Staate grg.ti8 ot, krustrii weiter zu dienen. Die Superintendenten
müssen den besten Teil ihrer Kraft der Kreisschnlinspektion widmen, erhalten
dafür nicht einmal diejenigen Wegegelder, welche jeder andre Staatsbeamte be¬
anspruchen darf, und werden mit statistischen Erhebungen — Arbeiten für Snb-
alternbcnmte, die sie selbst machen müssen, weil sie nicht in der Lage sind, sich
einen Bürcaubeamten zu halten — matt und mürbe gemacht.
Die Maigcsetzc, der Kanzclparagraph, das Vorlnlduugsgesetz wurden der
lieben Parität wegen auf die evangelische Kirche ausgedehnt, die weder die
Kanzel gemißbraucht hatte, noch die allgemeine und nationale Bildung der Geist¬
lichen vernachlässigte. Die rennenden römischen Bischöfe wurden mit aller Zu¬
vorkommenheit behandelt, während der evangelische Geueralsuperintendcnt die
Stellung eines Rates untergeordneter Klasse einnimmt. Die Loyalität, die
Selbstverleugnung und Geduld der evangelischen Geistlichkeit hat für sie die
Folge gehabt, daß mau sie für Faktoren ansah, mit denen zu rechnen nicht
nötig sei.
Der Staat hat — vornehmlich in der Ära Falk der evangelischen
Kirche auch große Dienste erwiesen durch Gewährung der Kirchengemeinde- und
Shnodalordnung und Aufbesserung des Miuimaleinkommens der Geistlichen.
Was aber das erstere betrifft, so haben sich die Erwartungen, welche sich an
die neue Organisation knüpften, bis jetzt nur wenig erfüllt. Die Synoden tagen
jahraus jahrein; was sie an Kosten und Arbeit verursachen, ist nicht unerheb¬
lich, was dabei herauskommt, ist sehr unerheblich. Die Vorsitzenden der Ge-
meindekirchcnräte haben sich mit den kirchlichen Kollegien herumzudisvutiren, man
faßt Beschlüsse, aber die Arbeit hat nach wie vor der Pastor fast allein. Die
in der Gemeindeordnung vorgesehene Selbstverwaltung innerhalb der Kirche ist
nur in geringem Maße zur Ausführung gekommen, da die Konsistorien, von
oben in ihrer Kompetenz beschränkt, ihren Einfluß nach unten zu erweitern
streben und ein ans das Kleinste ausgedehntes Regiment führen. Da, wo
Pfarreien fiskalischen Patronates vorhanden sind, kommt die königliche Negierung
noch hinzu, welche unter dem Titel der Patronatsaufsicht über die kirchlichen
Mittel verfügt, als wären es Staatsfonds.
Durch die Entwicklung der Gegenwart ist die Kirche vor neue große Auf¬
gaben gestellt worden, welche die Zusammenfassung aller Kräfte fordern; diese
ist jedoch nicht möglich, da es nach der rechtlichen Auffassung des Staates
keine Kirche, sondern nur eine Anzahl einzelner Kirchengemeinden giebt. Eine
über sechs Prozent des Einkommens hinausgehende Besteuerung der Gemeinde-
glieder unterliegt der Beschlußfassung des Abgeordnetenhauses, ist also selbst in
dringenden Fällen so leicht nicht zu erreichen. Man ist also auf die Kollekte
und die freiwillige Vereinsthätigkeit angewiesen. Beide Mittel erweisen sich als
unzureichend. Die Kollekten haben sich so gehäuft, daß eine Vermehrung der¬
selben nicht angeht, und die Vereinsthätigkeit hat eine Vielgeschäftigkeit ins Leben
gerufen, die mehr zu leisten scheint, als sie wirklich leistet. Die alten großen
Kirchenvermögen sind noch vorhanden, aber sie werden zu Dotationen für ver¬
diente Generale verwendet, während dringend nötige kirchliche Bedürfnisse, wie
die Vermehrung der Kirchen in Berlin, die Anstellung neuer Hilfskräfte fiir die
Konsistorien durch Ablehnung der Mittel im Abgeordnetenhaus unerfüllt bleiben.
Das eben gezeichnete Bild ist nicht frei von Einseitigkeiten; aber so, wie
wir sie gezeichnet haben, stellt sich die Lage einem großen Teile der Geistlichen und
Laien innerhalb der evangelischen Kirche dar. Wir begreifen es, wenn der Wunsch
laut wird: Los vom Staate, der uns nicht hilft, wo wir ihn brauchen, und uns
die Hände bindet, wo wir uns felbst helfen könnten. Unter Berücksichtigung der eben
gezeichneten Verhältnisse verstehen wir die Zielpunkte des Hammersteinschcn An¬
trages, welcher für die evangelische Kirche freie Bewegung und finanzielle Selbstän¬
digkeit fordert, zwei Wünsche, die nicht als ungerechtfertigt angesehen werden können.
Doch begegnet es auch den gerechtfertigtsten Wünschen, daß sie nicht durch¬
führbar sind. Wie denkt man sich die größere Freiheit der evangelischen Kirche?
Als eine Erweiterung der Kompetenz, als eine Beseitigung lästiger Formalitüten,
darüber ließe sich reden. Es handelt sich aber um eine wirkliche Lösung des
bestehenden Verhältnisses von Kirche und Staat. Dies wird zwar in dem frag¬
lichen Antrage nicht ausdrücklich ausgesprochen, derselbe besitzt ja auch jetzt eine
mehrfach abgeschwächte Form, aber die eigentliche Meinung der Antragsteller ist
auf eine wirkliche Trennung von Kirche und Staat gerichtet.
Daß die katholische Kirche ohne staatliche Hilfe bestehen kann, daß es in
Amerika Kirchenbildungen giebt, die durchaus selbständig sind, wird als Grund
für die Möglichkeit der Sache angeführt, während durch beides eigentlich das
Gegenteil bewiesen wird. Ob das Experiment Erfolg haben werde, die Frage
beunruhigt die Unternehmer nicht, da sie von der Nichtigkeit des Prinzips über¬
zeugt sind und ein Zerfall der Landeskirche als ein Übel — wenigstens von
einem Teile der Partei — nicht gefürchtet wird. Schrieb man doch neulich
aus Bielefeld: „Habt ihr Mut? Wir müssen und werden die freie Kirche haben,
n»d wenn das nicht — die Freikirche," d. h. den amerikanischen Zustand.
Da wir eine solche Perspektive nicht erfreulich finden, so werfen wir ernstlich
die Frage auf: Was wird aus der evangelischen Kirche, wenn sie den Halt,
den sie bisher genossen und ohne den sie von den Tagen ihrer Entstehung an
überhaupt nicht gelebt hat, sollte entbehren müssen? Irgendwo müssen doch
die Knochen sitzen, entweder inwendig, wie beim Wirbeltier, oder auswendig,
wie bei der Schildkröte, inwendig, wie beim hart gewordnen Lehrgerüste der
katholischen Kirche, oder auswendig, wie bei der äußern, staatlich gegebenen Form
der evangelischen Kirche. Das die Lehre wie die Verfassung festlegende Dogma,
dessen Formulirung in „unfehlbarer" Hand liegt, giebt der katholischen Kirche
ihre Festigkeit, Gliederung und sichere Abgrenzung und macht diese Kirche so
stark, daß sie nicht allein ohne eine Staatsgewalt leben, sondern auch den
Kampf gegen dieselbe führen kann. Damit muß sie freilich alle jene Schäden,
jene Knechtung der Geister, jene Trübung des christlichen Glaubens mit in den
Kauf nehmen, welche einst unsern Vätern den Aufenthalt in jenem stolzen Ban
unmöglich machten. Wenn wir das Recht des Einzelnen, seine eigne Ver¬
antwortung zu tragen, seiner eignen Überzeugung und dem eignen Gewissen zu
folgen, bewahren wollen, müssen wir auf die Stereotypirung der Lehre und
damit auf das innere Knochengerüst verzichten. Unsre Stärke ist zugleich unsre
Schwäche. Die heilige Schrift ist das unverrückbare Fundament, aber die
Forschung in der Schrift, die Zusammenfassung der Lehre zu Lehrsätzen muß
frei sein. Wird jedoch die Kirchenlehre, und wenn es auch die der Reformatoren
ist, in einer Weise fixirt, daß sie objektive Norm wird, so mag dies immerhin
der Kirche zur Stärkung gereichen, zu einer sichern Abgrenzung nach außen und
zu einer engern Zusammenfassung nach innen, aber die kirchliche Entwicklung
hätte die verhängnisvolle Wendung gemacht, die von den evangelischen Grund¬
sätzen hinweg die Richtung der römischen einschlägt.
Wenn nun der Antrag Hammcrsteins für die Kirche das Recht in Anspruch
nimmt, bei Besetzung der Lehrstühle an den Universitäten mitzuwirken, wozu
noch ursprünglich der Anspruch kam, auch den Religionsunterricht für die Kirche
zu rcklamircn, so verstehe» wir ganz gut, was damit gemeint ist, eine Ma߬
nahme, wodurch der innere Halt der Kirche in der Weise gestärkt werden soll,
als der äußere Halt preisgegeben wird. Wir wollen hierbei nicht erwägen,
wie diese Mitwirkung der Kirche bei Besetzung der Professur denkbar sei und
was dabei herauskommen werde, wir wollen nur konstatiren, daß die Richtung
dieser Bestrebungen über die Grenze des evangelischen Prinzips hinausführt.
„Die größere Freiheit der evangelische» Kirche" — wenn doch die Herren
Pastoren, welche mit großer Freudigkeit dieser Forderung zustimmen, davon
eine Ahnung hätte:,, wie sich die größere Freiheit der römischen Kirche im Innern
derselben ausnimmt. Es ist eine Knechtschaft, zu der man von Jugend auf
erzogen sein muß, um sie ertragen zu können. Der Verfasser dieser Zeilen hat
manches Jahr mit katholischen Geistlichen in vertraulichem Verkehr gestanden
und hat manche ihrer Klagen gehört. Und die haben doch nur einen Papst
und einen Bischof, bei uns würde jedoch ein Kirchenlicht das andre, eine Kirchen¬
partei die andre mit immer schwärzerer Farbe übertrumpfen, bis das Ende
nicht die freie Kirche, sondern die Freikirche sein würde.
Nehmen wir an, daß die vorgebrachten Wünsche gerechtfertigter und er¬
reichbarer wären, als sie es sind, so könnten wir es doch nicht willkommen
heißen, daß sie von jener Seite, d, h, von einem Teile einer politischen Partei,
vorgebracht werden. Die Angelegenheit wird damit ins Fraktivnsgetricbe hinein¬
gezogen und nach politischen Gesichtspunkten verteidigt und angegriffen. Daß
Windthorst für den Antrag eintrat, das war schon das schlimmste, was ihm
begegnen konnte. Wenn er um mit Hilfe des Zentrums durchgegangen wäre,
was wäre der Erfolg gewesen? Man hätte „Zeugnis abgelegt," was für die
Herren des prinzipiellen Standpunktes immerhin eine Befriedigung gewährt hätte,
aber die Sache selbst wäre auch nicht um die Breite eines Haares gefördert
worden.
Ebensowenig können wir uns einverstanden erklären mit der Eile, mit welcher
die Gegenpartei, die Hallesche Professorenpartei ir!in8 Mittelpartci, zu der Frage
„Stellung genommen" hat. Diese Fechtcrstellnngeu, diese Köcher voll Thesen
sind doch eine etwas verbrauchte Sache, Es ist nachgerade nötig, daß man
den vielen Erklärungen der vielen Versammlungen eine Gewichtsberechnung bei¬
fügt. Wir wollen dies in Bezug auf die gegen den Antrag Hammerstein ge¬
richtete Erklärung des Herrn Professor I), Beyschlag thun.
Man hatte zu dem am 26, und 27. Mai in Halle stattfindenden Vereins-
tage eingeladen unter Betonung des friedlichen Charakters, welcher gerade heute
dem kirchlichen Leben not thue. Es sei nötig, den alten Zwist zu begraben
und alle positiven Parteien z» gemeinsamer Thätigkeit zusammenzufassen. Die
Versammlung war — offenbar infolge dieses Programms — besser besucht
als sonst. Da tritt Herr Professor Beyschlag, ehe noch die Hammcrsteinschen
Anträge auf die Tagesordnung gesetzt sind, mit Gcgcnthesen hervor. Es nimmt
uns billig Wunder, daß er die Initiative in dieser Angelegenheit, da er als
vom Staate ohne Mitwirkung der Kirche angestellter Professor doch Partei
war, nicht jemand anders überließ. War denn Gefahr im Verzug? Die schönen
Versicherungen der Friedfertigkeit haben keine lange Dauer gehabt. Es gefiel
dem Herrn Professor, die alte Kriegstrvmpcte zu blase», Reden zu halten und
Thesen zu formuliren. Eine Debatte wurde in geschickter Weise unterdrückt, die
Thesen zur Abstimmung gebracht und natürlich angenommen. Es stimmten
dreißig bis fünfzig dafür, zwei dagegen, während die anwesenden Hunderte sich
der Abstimmung enthielten. Man kann dies entweder so auslegen, daß nur
dreißig bis fünfzig Mitglieder der Partei anwesend waren, während die andern
als Gäste teilnahmen, oder man muß annehmen, daß die Menge der Anwesenden,
welche auf Grund eiuer den Frieden betonenden Einladung gekommen war, von
dem Streite Beyschlag-Hammerstein nichts wissen wollte. In beiden Füllen
reduzirt sich die Hallische Erklärung auf ein recht bescheidnes Gewicht.
Beides, der Antrag Hammerstein und die Abwehr aus Halle, sind charakte¬
ristische Zeichen von Bestrebungen innerhalb der evangelischen Kirche, die schwerlich
den Nutzen haben werden, den man sich von ihnen verspricht. Die Kirche hat keinen
Vorteil von kirchenpolitischen Feldzügen; was sie braucht, ist treue stille Arbeit
„vor Ort," das will sagen eines jeden in seinem Berufe und an seiner Stelle.
Die gemeinsamen kirchlichen Interessen zu vertreten, dazu ist doch die kirchliche
Vertretung da.
eit Schnaases monumentalen! Werk, dessen letzter Band in zweiter
Auflage 1879 erschien, ist eine zusammenfassende Darstellung der
mittelalterlichen Kunstgeschichte nicht versucht worden. Man
empfand allgemein, daß die Arbeit Schnaases in gewissem Sinne
einen abschließenden Charakter trage und ein weiterer Ausbau
der mittelalterlichen Kunftfvrschuug zunächst nur auf den einzelnen Sondcr-
gebieten möglich und notwendig sei. Die Einzelforschung setzte daher ein, wo
das Material, das Schnaase vorgelegen hatte, Lücken zeigte, und der lebhafte
Aufschwung der kunstwissenschaftlicher Studien gab sich auch auf dem mittel¬
alterlichen Forschungsgebiete bald in einer stattlichen Anzahl monographischer
Arbeiten kund. Auch die neu in Angriff genommene Jnventarisirnng der ältern
Kunstdenkmäler schaffte und schafft heute noch eine Menge neuen Materials
namentlich für Deutschlands Kunstgeschichte im Mittelalter herbei. Diesem
Stoffzuwachs gegenüber sah sich die Wissenschaft zu einer Arbeitsteilung ver¬
anlaßt. Von der Erwägung ausgehend, daß die Entwicklung der einzelnen
Künste wesentlich von der Natur ihrer technischen Mittel abhängig sei, und
daher das Dogma von einem gleichzeitigen und gleichmäßigen Fortschreiten der
Architektur, Skulptur und Malerei nnr eine sehr bedingte Geltung habe, suchte
man zunächst die Spezialuntersnchnngen zu Bildern der Entwicklung einzelner
Kunstzweige zusammenzuwirken, Wvltmcmns „Geschichte der Malerei" und
Dehios „Geschichte der abendländischen Kirchenbaukunst" sind in den mittelalter¬
lichen Partien gegen Schnaases Werk gehalten der deutliche Beweis für die
rastlos vorwärtsschreitende Thätigkeit der Forschung, Nur die Geschichte der
mittelalterlichen Skulptur hat ihren Meister noch nicht gefunden.
Aber auch auf andre Weise bemächtigte man sich des immer frisch zu¬
strömenden Stoffes: Oeles zweite Auflage des „Handbuches der kirchlichen
Kunstarchäologie" (1883—85) gab für das deutsche Mittelalter eine halb
lexikalische, halb systematische Zusammenstellung der bisherigen Forschungs¬
ergebnisse, ohne dieselben in kulturhistorischen Zusammenhange zu verarbeiten.
Gleichwohl bleibt dieses Werk für den mittelalterlichen Kunsthistoriker nach wie
vor eine unschätzbare Vorarbeit.
Nicht so reich ist die Ausbeute auf den Gebieten der ausländischen Knnst-
literatur, da die Arbeitsteilung dort noch schärfer durchgeführt ist und die
Mehrzahl der mittelalterlichen Forscher ausschließlich auf kirchlich-archäologischen
Boden steht, sodaß eine geschichtliche Darstellung der mittelalterlichen Kunst
von dort kaum erwartet werden kann.
Ist eine solche nach dem heutigen Stande der Forschung notwendig? Das
ist die unwillkürliche Frage, welcher eine neue Kunstgeschichte des Mittelalters
begegnet. Ist der seit Schnaases Tod angewachsene Stoff bereits so vollständig,
daß seine Verarbeitung die Ergebnisse jener ältern Arbeit veraltet erscheinen
lassen konnte? Erheischt er eine neue Anordnung und Gruppirung der historischen
Darstellung?
Um zunächst über die erste Frage sich klar zu werden, sei darauf hin¬
gewiesen, daß auf verschiednen Gebieten mittelalterlicher Kunstforschuiig noch
lange Zeit höchst wichtige Einzelarbeiten zu unternehmen sind, ehe man an
einen vorläufigen Abschluß denken kann. Ich nenne nur die mittelalterliche
Miniaturmalerei, wo neue Forschungen fortwährend neue Überraschungen zu
Tage fördern. Oder die Skulptur, für deren Entwicklungsgeschichte im Mittel¬
alter das Material noch so gut wie uugesichtet ist. Anderseits läßt sich nicht
verkennen, daß, wenn einmal diese Lücken ausgefüllt sein werden, die Gliederung
der mittelalterlichen Kunstgeschichte allerdings stark verändert werden dürfte.
Vorläufig fordert der Stoff aber noch keine Umarbeitung. Der Grund, welcher
Fr. v. Reder*) zu einer solchen bestimmt hat, ist die Unklarheit, welche er in
den Arbeiten seiner Vorgänger zu finden glaubt. Er sagt in der Einleitung:
„Dem Verfasser kam es darauf an, den Entwicklungsgang des Ganzen klarer
zu fassen, als er ihn in der vorliegenden Literatur vorfand." Eine Beurteilung
des Uebersehen Buches wird daher notwendig von der Anordnung des Stoffes
ausgehen müssen. „Erscheint die gegebene Gliederung nicht entsprechend und
nicht von Vorteil, so möge man auch das Übrige verurteilen," sagt der Ver¬
fasser selbst in der Einleitung, die in kurzen Zügen den der Einteilung und
Gruppirung des Stoffes zu Grunde liegenden Gedankengang skizzirt.
Was zunächst die Begrenzung des Gebietes anlangt, zieht Ueber die cilt-
chrisiliche Zeit, die er in der Einleitung als eine Verfallspcrivde der römischen
Kunst charakterisirt, in seine Darstellung herein. Auf der andern Seite rückt
er die Grenze des Mittelalters für einzelne Gebiete, insbesondre das der
niederländischen Malerei, bis in das fünfzehnte Jahrhundert hinaus. Es läßt
sich darüber streiten, ob alle von diesen Zeitgrenzen eingeschlossenen Kunstleistungen
soviel innerliche Gleichartigkeit besitzen, daß sie die gemeinsame Behandlung
unter dem Titel „mittelalterliche Kunst" rechtfertigen. Zugegeben, daß in den
altchristlichen Werken, welche die formale Tradition des Altertums dem Mittel¬
alter erhielten, auch inhaltlich — namentlich in den darstellenden Künsten —
die Keime mittelalterlicher Kunstentwicklung liegen: konsequenterweise müßte
man sie trotzdem von einer Schilderung des eigentlichen Mittelalters trennen
oder ihnen doch nur in der Einleitung ihren Platz anweisen; auch bildet die
altchristliche Kunst ein Forschungöscld, welches in neuerer Zeit, vorwiegend von
Theologen angebaut, als christliche Archäologie an Umfang und Selbständig¬
keit derart zugenommen hat, daß eine irgendwie erschöpfende Verwertung der
hier gewonnenen Resultate ein Buch im Buche bilden würde.
Eine für die Entwicklung der mittelalterlichen Baukunst wichtige Frage auf
diesem Gebiete ist die nach der Entstehung der christliche,? Basilikenanlage. Reder
vertritt in der Diskussion eine selbständige Ansicht, die er bereits 1869 in den
„Mitteilungen der österreichischen Zentralkvmmissivn zur Erhaltung der Bau-
denkinale" begründet hat. Nach ihm ist die Privatbasilika des römischen Pa¬
lastes das Urbild des christlichen Kultraumes, eine Anschauung, die der ältern
Mcßmers in vielen Punkte» verwandt ist, auch von neuern Forschern vielfach
geteilt wird und die sicherlich hohe Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch
nehmen darf, nur mit der Einschränkung, daß an eine sklavische Abhängigkeit
natürlich nicht gedacht werden kann, vielmehr eine Entlehnung und selbständige
Zusammenstellung verschiedner antiken Elemente für die Zwecke des christlichen
Kultus anzunehmen ist. Über den Grad der Selbständigkeit altchristlicher Kunst
wird sich aber erst dann abschließend urteilen lassen, wenn die Monumente des
christlichen Orients und Nordafrikas genügend durchforscht sind, da hier die alt¬
römische Tradition keinen so bannender Einfluß besaß wie in Italien.
Gewissermaßen das Bindeglied zwischen der altchristlichen und der mittel¬
alterlichen Kunst bildet nach älterer Anschauung die byzantinische, und es hat
Interesse, zu erfahren, welche Stellung der neueste Knnstgeschichtschreiber der
den Fachgenossen zur Genüge bekannten „byzantinischen Frage" gegenüber ein¬
nimmt. , Hatte man früher die ganze frühmittelalterliche Kunst des Occidents
kritiklos von Bhzanz abhängig gemacht, so ist seit Schnaase eine ebenso starke
Reaktion gegen diese Strömung eingetreten, als deren schroffster Vertreter wohl
A. Springer gelten darf, welcher in der französischen Zeitschrift 1/^.re 1880, vor¬
wiegend gestützt auf Kondatoffs Studien über byzantinische Miniaturmalerei,
die völlige Unabhängigkeit der abendländischen Kunst von Byzanz verteidigt.
Reder nimmt einen vermittelnden Standpunkt ein: „Byzantinische Kultur drang
im allgemeinen nicht weit über die Hofkreise hinaus und erlangte anch da nur
eine beschränkte Würdigung. Auch leitete sie sich mehr von sekundären Quellen,
wie von Ravenna oder Unteritalien, vermittelst dünner und anderweitig infizirter
Rinnsale in die westeuropäischen Kanäle." Das Eindringen byzantinischer Kunst
am sächsischen Hofe in der ottonischen Periode will der Verfasser nicht ganz
leugnen: „Freilich hatten sich diese Einflüsse nur sehr verblaßt und unverstanden
geltend gemacht und mußten sich unter dem Reifen der nationalen Selbständig¬
keit und bei dem allmählich erwachenden Bewußtsein eigner Ausdrucksformen
ans äußerliche und stückweise Aneignung beschränken." (S. 366 f.) Diesen Vor¬
gang soll man sich nicht etwa so denken, daß einzelne Schulen und Richtungen
byzantinische Art annahmen, sondern in derselben Schule byzantinisirt man in
einzelnen Darstellungen, in andern nicht. So zeigen nach Ueber die Dedikations¬
blätter und Evangelistenbilder der Bilderhandschriften engern Anschluß an byzan¬
tinische Vorbilder als die historischen Darstellungen. Dieser innerlich unwahr¬
scheinliche Vorgang, der durch keine Erscheinung der ottonischen Miniaturmalerei
schlagend bewiesen wird, dürfte kaum der Wirklichkeit entsprechen, vielmehr lassen
sich die geringen äußerlichen Analogien zwischen ottonischer und oströmischer
Kunst natürlicher aus dem Umstände erklären, daß in vielen Fällen beide aus
derselben Quelle, der altchristlichen Tradition, schöpften und überdies die höfische
Sitte in beiden Reichen ähnlichen Einfluß übte. Jedenfalls prägt der deutschen
Skulptur und Malerei des zehnten Jahrhunderts nicht dieser byzantinisircnde
Zug, sondern die retrospektive, an die karolingische Periode noch stark anklingende
Kunstrichtung ihren Charakter auf. Wenigstens ergiebt sich diese Auffassung aus
der Untersuchung der Denkmäler, deren Resultate A. Springer in dem auch von
Reder zitirten Aufsatze über die deutsche Kunst im zehnten Jahrhnnoert (West¬
deutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, 1884) zusammengestellt hat. Und
in der That ist der Bruch mit der bisherigen Kuiistcinffassnng zu Beginn des
elften Jahrhunderts ein so tiefgehender, daß ihm gegenüber die ottonische Periode
nnr als Ausläufer und Schlußglied der karolingischen Entwicklung erscheint.
Mit Recht weist dagegen Ueber die Bedeutung der islamitischen Kunst für
die Schicksale der abendländischen in ihre Schranken zurück. Die Vermittlung
ornamentaler Motive durch Textilmnster ist die einzige Leistung dieses eigen¬
artigen -Kunststiles, welche über lokale Grenzen hinaus wirkte.
So hatte sich also die abendländische Kunst im wesentlichen unberührt von
orientalischen Einflüssen bis in das elfte Jahrhundert auf vorwiegend altchrist¬
lichen Grundlagen entwickelt. Einen Umschwung dieser Entwicklung bringt erst
die auffallend düstere und phantastische Geistesrichtung hervor, welche im elften
Jahrhundert durch die kultivirte Welt geht. Das Auftreten der Katharer, die
verschiednen Refvriuvcrsuchc auf dem Gebiete klösterlicher Sitte, der Kampf
zwischen Kaiser und Papst, der um die Mitte des Jahrhunderts seinen Wende¬
punkt erreichte, daS alles sind nur einzelne Erscheinungsformen der gewaltig
gährenden Unruhe, welche sich der Gemüter bemächtigt hatte. Auch die künstlerische
Phantasie spiegelt dieselbe wieder: die Kruzifix- und Passionsdarstellnngen werden
häufiger, die ikvnischen Kapitälstnlpturen ergehen sich in rätselhaften Kcnnpf-
darstcllnngeu zwischen Tier und Mensch, hie und da tauchen Erinnerungen an
die altgermanischen Mythen und Sagen auf. Solche Monstrositäten waren es,
die früher den Beobachter veranlaßten, von dem finstern und formlosen Mittel-
alter zu sprechen.
Auf dem Gebiete der Architektur regt sich, nachdem das Jahr 1000 glücklich
vorübergegangen war, ohne das Weltende zu bringen, hie und da frisches
Lebe», wenn auch in strengen Formen; insbesondre tritt Deutschland an die
Spitze der Entwicklung und spielt eine Rolle, die es erst um die Mitte des
zwölften Jahrhunderts an Frankreich abtritt, nachdem der romanische Stil sich
in den dekorativ malerischen Bauten der Rheinlands ausgelebt hatte. Schon
erfolgen neue gothische Impulse aus dem nordöstlichen Frankreich (um 1140)
und zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ist die Hegemonie dieses Staates
fast auf allen Knlturgcbieten gesichert. Nur Italien bewahrt sich einige, allerdings
mehr negative Selbständigkeit, indem es nur einzelne gothische Elemente auf¬
nimmt, ohne sich doch den damit verbundnen Konsequenzen zu unterziehen.
Weniger schnell als auf dem Gebiete der Architektur folgt Deutschland den
französischen Anregungen in der Plastik, zumal in Mitteldeutschland, wo wir in
den Wechselburger und Freiberger Skulpturen ein letztes Aufleben der romanischen
Tradition wahrnehmen, während die Rheinlande bereits früh in das nachbarliche
gothische Lager übergehen. In Italien erhebt sich in der ersten Hälfte des
dreizehnten Jahrhunderts die Schule der Pisani, deren süditalischer Ursprung
Ueber nicht erwiesen zu sein scheint (S. 665) und die er als eine isolirte Er¬
scheinung betrachtet, welche durchaus nicht geeignet sei, den Beginn einer
Renaissancekunst zu inciuguriren, zumal da schon Giovanni Pisano wieder in
gothische Bahnen einlenkt. Dem gegenüber muß auf die Vorstufen dieser anti-
kisirenden Richtung in Unteritalien unter Friedrich dem Zweiten und auf die
Nachfolge in Orvieto, Pisa, Bologna und Pistoja hingewiesen, sowie der in¬
dividuelle Charakter der Kunst Giovannis hervorgehoben werden, der bei aller
äußern Anlehnung an die Gothik Renaissancegcpräge trägt.
Mehr noch als in der Skulptur zeigen sich in der Malerei chronologische
Widersprüche, wenn man eine feste Zeitgrenze für das Mittelalter sucht. Die
Vorbereitung für die neue Zeit kreuzt und mischt sich mit dem Absterben der
mittelalterlichen Ideale. Die niederländische Malerschule des fünfzehnten Jahr¬
hunderts wird ungerecht lind einseitig beurteilt, wenn man sie, wie Reder es
thut, als die „höchste Erscheinung der mittelalterlichen Malerei in den nördlichen
Ländern" auffaßt. Wichtige technische und geistige Errungenschaften, die sich
an den Namen der Brüder van Eyck knüpfen, brechen einer neuen Entwicklung
die Bahn, wenn auch inhaltlich die mittelalterliche Tradition noch lange fort¬
lebt. Mau giebt ein wichtiges Merkmal der neu auflebenden Kunstentwicklung
preis, wenn man das rücksichtslose Naturstudium der Eycks als einen Aus¬
läufer mittelalterlicher Bestrebungen auffaßt, zu denen es nun einmal in dia¬
metralem Gegensatz steht. Auch die Schöpfung des selbständigen Tafelbildes
mit landschaftlich vertieften Hintergründen muß man als Neuerung betrachten,
deren eine absterbende Kunstrichtung nicht fähig ist.
Wenn man daher der Auffassung Uebers, daß die giotteske Kunst sich
noch völlig in mittelalterlichen Bahnen bewege, bedingt beistimmen kann, so
darf man doch den Unterschied zwischen dieser und der niederländischen, die sich
weit eher mit der Masaccios vergleichen ließe, nicht übersehen.
Gleichwohl ist es sehr verlockend, die mittelalterlichen Elemente in den
Kunstdarstellungen auch über die Grenzen des eigentlichen Mittelalters hinaus
zu verfolgen, um zu erkennen, wie der Umschwung der Anschauungen und Kunst¬
sitte kein plötzlicher und auf allen Gebieten gleichzeitig auftretender ist. Der
Reiz dieser Betrachtung der Grenzgebiete darf uns aber nicht verführen, die
historischen Grenzen selbst zu verschieben, weil dadurch die Schilderung der Kunst¬
entwicklung ini Mittelalter an Geschlossenheit verliert und gegen den Schluß
widerspruchsvolle und verwirrende Farben annimmt.
Abgesehen von diesen Einwänden muß hervorgehoben werden, daß inner¬
halb der nach unsrer Ansicht zu weit gesteckten Grenzen die Darstellung Uebers
der logischen Folgerichtigkeit nicht entbehrt. Ob die letztere indes den frühern
Leistungen der mittelalterlichen Kunstgeschichtschreibung so völlig abgebe, wie
der Verfasser (S. XXXIII) annimmt, dürfte im Hinblick anf Schnaases „Ge¬
schichte der bildenden Künste" noch zu entscheiden sein. Auch konnte dem Be¬
dürfnis einer zusammenfassenden Schilderung, welche die Monumente nach den
durch die neueste Spezialforschung gebotenen Grundsätzen gruppirt, aus dem
schon oben angedeuteten Grunde nicht völlig entsprochen werden, weil die Einzel-
studien noch in voller Entwicklung begriffen sind, sodaß sich ein Überblick über
ihre Ergebnisse klar und abschließend noch nicht geben laßt. Daß ein solcher
seiner Zeit der Malerei und Skulptur und namentlich auch der von Ueber fast
gänzlich unberücksichtigt gelassenen Kleinkunst einen breiten: Platz anweisen wird,
ist, nach der Richtung der neuern Forschung zu urteilen, sehr wahrscheinlich.
Bisher war man gewöhnt, die Denkmale der mittelalterlichen Malerei und
Skulptur wesentlich vom ikonographischen Standpunkte aus zu betrachten, weil
ihre geringe Zahl uoch nicht irgendwie vollständiges historisches Material bot.
Die Spezialforschung macht aber von Tag zu Tag neue Monumente der ge¬
schichtlichen Forschung zugänglich, sodaß wir hoffen dürfen, in absehbarer Zeit
auch auf diesem Gebiete der Kunstgeschichte die Lücken soweit auszufüllen, daß
eine abschließende historische Darstellung sich ermöglichen läßt. Dann ist die
Zeit für eine neue „Kunstgeschichte des Mittelalters" gekommen. Bis dahin
behält Uebers Buch seinen Wert als eine einstweilige Darstellung, welche die
Ergebnisse älterer Forschung weiter» Kreisen in übersichtlicher und geschmackvoller
Form zugänglich macht. Weite Verbreitung sichert dem Werke ohnehin der
billige Preis und die in jeder Hinsicht vorzügliche Ausstattung, sür welche der
Verlagsbuchhandlung von T. O. Weigel besondrer Dank gebührt.
DWWW
KMM^is vor einiger Zeit gewisse Zeitungen im unverfälschtesten Stile
der Reklame die Nachricht brachten, daß eine echte und wirkliche
japanische Opercttentruppe in Berlin „gastiren" werde, wie der
schöne Fachausdruck lautet, mögen alle diejenigen, welche nicht zu
der in der Kunst am wenigsten geschmackvollen Fakultät der reruiri
novÄrrmi 8tuclio8i zählen, nichts weniger als augenehm überrascht gewesen sein.
Der schwarze Gipfelpunkt unsrer rapiden Kulturentwicklung, unsre zukunfts-
Pschüttcusen Brüder in Kamerun, stand ängstlichen Gemütern bei diesem mongo¬
lischen Präludium vielleicht schou deutlich vor der Phantasie. Wer weiß, ob
nicht der oder jener bereits von einem Gong-Walzer träumte, oder unter dem
alpartigcn Eindruck eiuer Pinakothek von Ivkohama-Meisterwerken stöhnte oder
seine bessere Hälfte mit einem Jeddo-Cul behaftet sah, beiläufig gesagt, eine bei
dem herrschenden Extrem gar nicht so unwahrscheinliche NcaktionSkatastrvphe.
Kaltblütigere Naturen mochten sich zwar überlegen, daß die Kunde jeder be¬
stimmteren Physiognomie entbehre, daß zu den vielen Vorzügen des strebsamen
Fünfinsellandes auch das Fehlen der Leierkästen und somit der Operetten ge¬
höre, und daß, wenn selbst der „Bettelstndent" sich soweit vorgewagt haben sollte,
die neue Direktion des Wallnertheaters doch Austand nehmen würde, ihn in so
asiatischer Gestalt den Preis der Polin singen zu lassen. Denn die Polen,
reizbar wie sie sind, könnten sich an ihr rächen wie an Bismarck durch Nicht-
besuch der schlesischen Bäder, und wie sie lieber an der schrecklichsten Krankheit
sterben, als daß sie nach Neinerz oder Landeck gingen, so würden sie selbst bei
den schrecklichsten Qualen der Langenweile keinen Fuß mehr ins Walluertheater
setzen. Also die Sache war unwahrscheinlich, aber nicht geheuer schien sie doch.
Man fürchtet die Reklame, selbst wenn sie nichts bringt.
Nun, Enttäuschung ist unter Umständen eine sehr angenehme Überraschung,
und in diesem Sinne hat die bewußte japanische Opcrettcngesellschaft schließlich
wirklich angenehm überrascht. Sie entpuppte sich als eine durchaus nicht rckla-
menartige oder -bedürftige, Harm- und anspruchslose, ganz solide englische Opern-
gesellschaft, über deren Herkunft und Zusammensetzung zwar ein gewisses Dunkel
schwebt, die aber das Licht, in das sie plötzlich am kritischen Strande der Spree
getreten ist, garnicht zu scheuen braucht. Die Leutchen haben hier ein unge¬
wöhnliches Interesse erregt. Offenbares Wohlwollen ist ihnen von höchster
Stelle entgegengebracht worden, die Zeitungen haben sie durchweg ernst ge¬
nommen, man hört viel Lob, wenig Tadel, das trotz der Hitze ausverkaufte
Haus fehlt nicht, Dinge, die in ihrer Vereinigung — im Sommer wenigstens —
ans etwas Ungewöhnliches schließen lassen. Sieht man näher zu, so findet man
die Erklärung doch nicht bloß in dem „Japan," wie der skeptische „Vollblnt-
berliner" (eine bedenkliche Zusammensetzung) nörgelnd bemerkt, sondern auch in
andern Momenten, deren Erörterung die Erscheinung dieser englischen Opern-
gesellschaft vielleicht über die Grenzen ihres Standquartieres hinaus dem deut¬
scheu Publikum interessant machen wird.
Mit dem „Japan" hatte es nämlich in gemisser Beziehung seine Richtig¬
keit, und wenn es auch keine wirklichen Japaner sind, wie sie sich im vorigen
Jahre draußen in der „Hygieine" so „ungeheuer echt" vorstellten, so sind es
wenigstens sehr gut nachgemachte, die da im Walluertheater den „Mikado" tra-
giren. Der ,,Mikado" ist nun zwar auch M orckiröl^ ^too s,na Orig'link ^gM-
uosL Oxorn, aber schon die Titelblattübersetzer haben daraus eine ganz unge¬
fährliche deutsche „Vurlcsk-Oper" gemacht. BnrlesbOpcr, da haben wir die Rubrik.
Ein Blick ins Personenverzeichnis: „Kvllektivministcrportefenilletoiüst"! An! sagt
Schulze zu Müller, und Meyer zu Cohn. Aber mit Befriedigung fühlen sie
sich orientirt. Eine neue Operette, eine englische Operette. Beweis, daß nun
auch die dritte der führenden Kulturnationen in den erhabene» Wettkampf der
Zeit eintrittt, in den Kampf um die Operette des Tages.
Es ist fraglich, ob W. S. Gilbert, der englische Humorist, mit der Ver-
kcilmierung zufrieden sein wird, die der deutsche Übersetzer, ein Herr C. Carlotta,
schon im Inhaltsverzeichnisse seines Stückes „zart" angedeutet hat und im weiter»
Verlaufe immer energischer und grausamer durchführt. Es ist fraglich, ob er
ihm nicht die stolze Ausnahmestellung „Burlcsl-Oper" geschenkt hätte für eine
ruhige Übersetzung seines köstlich steifleinenen, hvlzschuittmäßigcn Kasperletheatcr-
titcls: ^.u öutii'ol^ Uov s,na Orig'irw.1 ^-ixlmö8<z OpviÄ in too ^et« Liititlöä
tho Nilciiäc». Aber es ist auch fraglich, ob Schulze und Müller, und Meder
und Cohn gleich gewußt hätten, wornu sie sich halten sollten bei diesem kurios
individuellen Operettentitel.
Knrios und individuell, das sind allerdings Begriffe, die mit der modernen
Operette nichts zu thun haben. Trivial und sensationell, das sind ihre Stich-
wörter. Und ist es nun nicht eine Erscheinung, fast noch kurioser und indivi¬
dueller als sie selbst, eine ganze kuriose und individuelle Operette? Es ist nur
gut, daß mau sie englisch giebt und so die wenigsten Opcretteukenuer, welche der
Kvllektivmiuistcrpvrtefeuillctouist und ein riesiges Litfaßsänlengcmälde eindeutigsten
Charakters angezogen hat, etwas davon verstehen. Bei ihrem Hasse gegen die
obengenannten Eigenschaften würden sie vielleicht den armen Mikado auspfeisen.
Dem kalauernden Übersetzer ist es zu danken, daß er sie etwas versöhnt hat.
So bleibt es den Freunden kuriosen Humors und individuellen Unsinns un¬
benommen, auch einmal auf der komischen Bühne ihre Rechnung zu finden.
Fast will es scheinen, als ob ihre Zahl nicht so gering wäre, wenn man
das volle Hcuis betrachtet lind die vielen Gesichter, die garnicht auf ein
Operettenparket zugeschnitten sind. Und auch das liebe Volk scheint ja seine
Rechnung zu finden, denn es lacht herzhaft über die grotesken Sprünge und
verzweifelten Grimassen der putzigen gelben Kerle in ihren prächtigen Schlaf¬
röcken. Es wird in dieser Beziehung des Guten etwas zu viel gethan, und eine
allzu gewissenhafte Gehcimratszeitung hat etwas Brandygcrnch darin gewittert.
Nun, meinetwegen. Es ist die Frage, was hier unangenehmer ist, Brandy oder
muffiges Patchvuli. Im Theater des Aristophanes wird es nicht immer nach
Bisam gerochen haben, sondern stellenweise sehr nach den Lieblingsgewllrzen des
Kerameikosphilisters, nach Lauch und Zwiebeln. Die komische Bühne, das ist
ja der einzige Ort, wo die Kunst hohen Stils in Berührung tritt mit der ganzen
Skala des Gemeinen. Sie spielt darauf drastisch und unbefangen, wie der ge¬
wöhnliche Spaßmacher, aber es ist ihre überlegne Meisterschaft, welche die schrillen,
unerquicklichen Töne in eine eigentümliche Beziehung bringt, sodaß daraus eine
Art Harmonie entsteht vou grotesker Erhabenheit, die selbst den gemeinsten Zu¬
hörer seltsam ergreift und ihn zwingt, inmitten seines naiven Behagens und
seiner stupiden Lustigkeit sich recht tief innerlich zu schämen.
Unsre Operette ist allerdings nicht so gemein, sondern sie ist viel gemeiner.
Sie überkleidet die Gemeinheit mit einem täuschenden Firniß von Chik und
Koketterie; mit der diabolischen Kunst des PaSquillanten geht sie um alles herum,
was ihren gesetzgebenden Körper, das Publikum der oiÄxnIö, verletzen könnte;
ja sie ist Pasquill, nicht Satire, denn ihre Spitze gilt nicht dem offen Anzu¬
greifenden, dem bequemen, schillernden Laster, sondern der Macht, der man nur
versteckt beikommen kann, der schwere», undankbaren Moral. Darum affektirt
die Operette jetzt so gern die Formen des höhern Lustspiels, welches mit seinen
vielfachen poetischen Details viel mehr wagen kann als die von der Musik ein¬
geschränkte, auf grobe Züge angewiesene Operette. Aber in den Maschen einer
verzwickten Handlung geht dann der letzte Nest von anständigem Bewußtsein
unter, den die lärmende, nervös synkopirte, auf ohreumarteruden Vorhalten
und festgehaltenen Durchgangsnoten hingeilende Musik und — die „Phantasie¬
kostüme" der Damen übrig gelassen haben. Die Operette ist offenbar der beste
Boden für die alte Komödie, die ja zur Zeit ihrer Blüte schon einen guten Teil
ihrer Wirkungen aus der Musik zog. Unser modernes Charakterlustspiel hat ganz
andre Aufgaben zu lösen. Aber der unglückliche Stern, der über der Wieder¬
erweckung der dramatischen Musik überhaupt schwebte, hat auch sie verfolgt.
Wie man die ernste Oper einfach zur musikalischen Übersetzung des rezitirendcn
Dramas machte, so wurde aus der komischen nichts weiter als eine musikalische
Verballhornung des Jntriguenlustspiels. Man kann diese Entwicklung in
Deutschland ganz besonders verfolgen, von den ersten Hamburger Vuffonerien
bis auf Lvrtzing. Wer wollte leugnen, daß mit Offenbach ein neuer Geist in
die komische Oper fährt! Ein guter — das dürfte man schwer beweisen können,
aber trotzdem ein richtiger. Hier wird die komische Oper wieder das, wozu sie
ihre Entstehung bestimmt: rücksichtslose Lebensparvdie, drastische Satire. Schade,
daß diese Wiedergeburt, herausgefordert von einer durch und durch verlumpten
Zeit, die Spuren ihrer Umgebung, die Gebrechen ihrer Erzeuger so deutlich um
sich trägt. Wir meinen hiermit die immer wieder überwuchernde spitzbübische
Freude am Schmutz, vor allem die als priapische Konzession fast jedem Stücke
beigegebene Casanovasche Nomanszene ohne eigentliche Zote, aber voll gespanntester
Lüsternheit. Man denke an den zweiten Akt der „Schönen Helena." Aber man
vergesse darüber nicht Stellen von so grauenerregender sittlicher Gewalt wie das
Lied der Schauspielerin im „Pariser Leben," welches mitten im tollsten Jubel einer
olmirM-o 8vxg,roö den liWÄöirmiQ schildert, wenn die morgentlichen Gassenkehrer
den hcimturkelnden Nouvs zuschreien: „Seht, da gehn die Lumpen nach Haus!"
Wie dämonisch wahr markirt da die Musik die Accente grinsenden Hohnes!
Aber diese Operettenmusik ist überhaupt noch fern von ihrem heutigen Stand¬
punkte blöder, physiognomieloser Gemeingefälligkeit. Sie ist noch komisch, das
heißt charakteristisch, wenn auch in andrer Weise als die naiv burleske, die ko¬
mischen Grundtypen einfach bezeichnende oder übertreibende Art der großen
Meister der oxsrii, dullÄ von Galnppi und Piccini bis auf Mozart, Rossini
und Lortzing. Sie ist vornehmlich parodisch, und ihre Ausdrucksfähigkeit in
ihrem eigentlichen Element, in der Parodie der Musik selbst (der großen Oper
in der „Schönen Helena" und im „Orpheus"), geht mitunter bis an die äußerste
Grenze des Möglichen. Sie ist gemein für vornehme musikalische Geister, aber
für solche ist sie auch nicht geschrieben. Sie ist wiederum nie gemein, um bloß
dem Pöbel zu gefallen, wie manche unsrer heutigen Operettenmelodien. Sie ist
gemein, weil die Gemeinheit sie singt, aber dann auch reizlos wie die pure Ge¬
meinheit stets. Sie fesselt nur durch ihre tolle Wahrheit. Das hat sich letzthin
sehr deutlich gezeigt, als man in Berlin den Versuch einer Wiederbelebung mit
ihr machte. Er mißlang. Das an die Klänge des Rumor- und Kvakswcilzers und
des „Ach, ich hab' sie ja nur auf die Schulter geküßt" gewohnte Ohr des
musikalischen Mob zeigte sich stumpf für die einst so bejubelte Komik der aller¬
dings noch ohne Quartenvvrhalt, Chromatik und Walzertakt wirkenden Me¬
lodien seines früher vergötterten Meisters. Wahrhaftig, dieser heutige Mißerfolg
ist sehr geeignet, sie nicht bloß in klareren, sondern vielleicht auch in etwas
besseren Lichte zu zeigen als ihr einstiger Triumphzug durch die ganze Welt.
Man mißverstehe mich nicht. Nichts liegt mir ferner als eine Philippika
gegen die gottlose Operette und ihre sündigen Melodien. Auch nicht einmal
eine künstlerische Kritik. Für eine solche sind beide viel zu unschuldig. Ich
möchte nur gern zeigen, was die Operette sein könnte und was sie wirklich ist.
Thatsächlich ist sie meist nichts als ein ernst sein sollender und darum umso
dümmer wirkender musikalisch-dramatischer Spaß, bei dem sich sowohl der dra¬
matisch als der musikalisch etwas feiner organisirte Hörer gleichmäßig ärgern.
Der erste über das plumpe, krampfhaft Gelenkigkeit afsektircnde, allen künstlerischen
und sittlichen Begriffen arrogant hohnsprechende Stück, der letztere über die im
wohlfeilsten Tanzrhythmns und den billigsten melodischen Ködern trostlos ver¬
simpelte Musik. Man macht uns Deutschen so oft das Kompliment eines
musikalischen Volkes, nicht zuletzt wir uns selbst. Wir werden es nicht mehr
lange sein, wenn diese nichtswürdige Bühncntanzinusik noch lange ihre demusi-
kalisircnde Wirkung ausübt. Dieses fortwährende Halala und Vallera der
Walzer- und Polkamelodic muß endlich jedes feinere musikalische Empfinden
zerstören. Wie kann das Ohr noch ans die freie Weise des Pathos und der
Anmut lauschen, wenn es auf den regelmäßigen Kupp-Klapp des Tanzrhythmus
förmlich eingedrillt ist! Das Ohr, das an dieser „leichten" Musik seinen
musikalischen Wochenbedarf bestritten hat, bleibt dann natürlich im Konzertsaal
stumpf und teilnahmslos bei den schönsten und packendsten Wirkungen dieser
Kunst. Dann sagt man: „Ich verstehe (!) das nicht," und man sagt es angesichts
der immer noch anschwellenden Mnsikflnt mit einem gewissen Stolze. Aber in
die Operette geht man, die „versteht" man, geradeso wie der Schusterbube und
die Dirne.
Wahrlich, den Strauß in allen Ehren und seine clektrisircndcn Tanzweiscn,
die mit ihrer süßen Geistcsnarkose den Körper zu Lust und beschwingter Be¬
wegung förmlich zwingen. Aber der Musik, zu deren Triumphe» auch sie
zählen, hat er einen schlechten Dienst erwiesen dadurch, d^ß er sie ans die Bühne
verpflanzte und ihnen da zu ausschließlicher Herrschaft verhalf. Da kamen sie
in Schaaren, die Dntzcndtnlente lind Dilettanten, die früher ihr Licht in kleinen
Kreisen leuchten lassen mußten, da kamen sie mit ihren am Klavier zusammen¬
gestoppelten Polka- und Walzerkctten, piepsende Klippschüler mit darunter, und
machten Operetten daraus und waren nun „dramatische Komponisten," Es
scheint ihm nachgerade schwül zu werden, er wird schon überschrieen, der gute
Strauß, Denn ist dein Triviale» irgendwo nur das Thor geöffnet, so über¬
schwemmt es bald alles, und nur das Trivialste schwimmt oben auf. Es scheint
ihm schwül zu werden, und mit seinem neuesten Werke möchte er sie gern bannen,
die Geister, die er rief. Wünschen wir, daß er sie bald los werde! Die Über¬
sättigung, die stete Helferin des Edeln gegen das Gemeine, wird ihm bald
tüchtig seknndiren.
Da hat uns die englische Oper plötzlich mitten in die nachgerade abgc-
klagte Operetteumiscre hineingeführt. Doch nicht so zufällig. Ich möchte zwar,
an die obige Einteilung anknüpfend, nicht gerade behaupten, daß im Gegensatz
zu ihr die englische Oper im Wallnerthcater die Operette wäre, „wie sie sein
könnte," Dazu ist der Text Gilberts doch zu wenig zwingend, im einzelnen
zu flüchtig, im ganzen zu improvisatorisch, dazu ist vor allem Arthur Sullivans
Musik zu landläufig und — was hier noch schlimmer ist — zu sehr Selbst¬
zweck, um als mustergiltig und epochemachend hingestellt werden zu können.
Aber sie ist ein willkommener Anlaß, auf jenen Gegensatz hinzudeuten, denn sie
verfolgt in Text und Musik diejenigen Absichten, welche nach den obigen Aus¬
führungen die moderne Operette nicht verfolgt. Allerdings in so kindlich-un¬
schuldiger Weise, daß eben nur der Gegensatz sie auffällig macht. Die Musik
parodirt auch, aber in jener harmlosen, flotten Weise wie das Bnrschenlied,
sie ist fidel, aber nicht komisch. Alles ist so glatt, so geschmackvoll, so gut
gearbeitet. Man merkt, daß dieser Operettcnkompvnist Symphonien und Quar¬
tette geschrieben hat. Eingestreute lyrische Snchelchen zeigen den feinsinnigen
Komponisten, ein vanxella-Madrigal mit Nitornellen, so schmucklos, kunstvoll
und hübsch, daß man im historischen Konzert einem Orlando und Schütz zu
lausche» glaubt, zeigt zugleich den feinsinnigste» Keuler, A»f den Gilbertschen
Text nimmt sich das nun allerdings ans, wie Pfirsichzweige auf eine stachliche
Kiefer gepfropft. Aber was diese Musik doch in dem obigen Sinne bedeutsam
macht, das ist ihre Gesundheit und, Reinheit, ihre diskrete Jnstrumentation und
— primum öl snmnrv.ni se non 8ceti8 llmclanclnin — das gänzliche Fehlen
jener beiden teuflischen Tanzrhythmen, auf denen, wenn das so weiter geht,
nächstens unsre ganze Musik zur Hölle fährt, der Polka und des Walzers.
Sie macht außer dem Allegro- und Prestosatz (^) der ältern komischen Oper
sehr stark Gebrauch von dem hier vortrefflich verwendbaren und der mannich-
fachsten Wandlungen fähigen Takt. Daß man auch ohne den bekannten
nach jedem zweiten Takt abschnappenden Zwei- und Dreiviertel^Rhythmus Wir¬
kungen erzielen kann, beweisen die Franzosen, die als spärliche Gäste mitunter
unser „nationales" Operettenrepertoire durchbrechen. Aber bezeichnenderweise
sind es gerade solche, die zu dem Tanzschlendrian unsrer Operette noch im nächsten
Verhältnisse stehen, der geistlos-pfiffige Liebling des vorigen Jahrzents Lecocq
und der neuere, begabtere, aber anscheinend auch nicht so glückliche Audran.
Im Gegensatz zu ihrer farblosen Melodik könnte uns der Engländer noch fördern
durch den Erweis, welche reichen und nach allen Richtungen ausgiebigen Schätze
für die komische Oper noch im einfachen populären Liede liegen. Allerdings
muß man die komische Kraft der englischen Sprache im Gesang in Betracht
ziehen und die Frische der Empfindung, welche sich die Engländer noch für diese
naturwüchsige Kunst bewahrt haben. Wer einmal in seinen Studeutenjcchren
englische Kommilitonen ihre schnatternden, plärrenden, sprudelnden, wispernden
sonM mit der unglaublichen Zungenfertigkeit zum Klavier hat singen hören,
der wird sich gewiß der komischsten Wirkung erinnern, die je Musik auf ihn
ausgeübt hat. Es wäre originell, wenn auch auf dies verdorrende Feld einmal
eine erfrischende Brise vom stammverwandten Inselreiche herüberwehte, von dem
den Deutschen künstlerisches Heil schon manches mal gekommen.
Und nun schließlich der Gilbertsche Text, von dem wir ausgegangen sind.
Toll genug ist er für eine Komödie. Da ist irgend ein Reich von seltsamen
Vögeln und noch seltsameren Einrichtungen und Gesetzen, ein Chor, der sich über
sich selbst moquirt, eine Liebhaberin, frisch aus der Pension, mit dem süßen
Namen „Anm-Anm," ein „Nanki-Puh" von Liebhaberpriuz, der, als fahrender
Sänger verkleidet, sich darüber wundert, daß ihm ein Reichswürdenträger, mit
dein er „zufällig" zusammentrifft, unbekannterweise die ausführliche Exposition
des Stückes erzählt. Da ist eine Handlung, so monströs, daß mau garnicht
ernsthaft auf sie Acht giebt, sondern nur auf die buntscheckigen, queren Situationen,
die sich an ihr ausrotte». Ein Gesetz ist erlasse» worden von einem höchst mora¬
lischen Mikado, welches jede Galanterie mit dem Tode bestraft. Für England
sicherlich das passendste satirische Sujet. Unzählige Opfer sind dem schreckliche»
Gesetze schon gefallen. Endlich revoltirt das Volk. Um ihm zu genügen und
doch das Gesetz nicht umzustoßen, wird das neueste Opfer, ein Schneiderlein,
begnadigt und zugleich zum Oberhofhcnker (I,ore1 Hig-it ZZxsoutiouör), der höchsten
Würde im Reiche, befördert. Jetzt kann niemand mehr nach dem bewußten Ge¬
setze gerichtet werden, der Oberhofhenker müßte sich denn zuerst selbst köpfen.
Wie nun das Schneiderlein, das den Traditionen seines Standes gemäß absolut
kein Talent zum Henker hat, seinen Pflichten genügt, wie es nach einem Jahre
vergeblichen Ringens, endlich jemand umzubringen, durch einen Eilbefehl des
Mikado aufgefordert wird, binnen einer Stunde eine Exekution zu vollziehen,
wie der einzige Verbrecher, den der Gute zur Stelle schaffen kann, er selbst ist,
und wie er nun wirklich in die kaum berechnete Lage kommt, sich selbst köpfen
zu müssen — alles das, seine Seelenpein, noch verbittert durch einen infolge
steter Störungen zurückgehaltenen Monolog, seine Befreiung nebst ihren für
das Liebespaar glücklichen Nebenumständen ist teils barer Unsinn, teils zu ver¬
zwickt, um es hier ausführlich zu erzählen. Es genügt der Hinweis, daß der
gravitätisch nickende, komisch salbungsvolle Mikado, der ewige Gesetzmacher, der
immer nur den Buchstaben im Sinne hat, das Gesetz mag im übrigen sein
was es will, daß dieser grausam-anständige, grandios brutale „Brutus von
Japan" John Bull selbst ist, um angedeutet zu haben, wie das oben gestellte
Erfordernis des Sinns im Unsinn nicht bloß im einzelnen gewahrt ist, wo er
übrigens dem Hörer alsbald klar wird, sondern auch in dem anscheinend bloß
grotesk sinnlosen Ganzen. Vieles würde unmittelbarer bei uns wirken, wenn
die darstellende Kunst der englischen Gäste uns nicht zum Teil ungewohnt,
zum Teil ungenügend erschiene. Da ist ein Komiker mit zu billigen Ka-
sperlemauieren, der in einer verstellten Liebesszene plötzlich ein tragisches Gesicht
als das ihm offenbar eigentümliche aufweist, und eine „komische Alte," die ein
wunderlicher Stern gerade in diese Komödie geführt hat und die ganz unbe¬
fangen darin Tragödie spielt. Man denke sich' unsre Links und Wellhofs,
vor allen unsre unübertreffliche Elise Schmidt in diesen Rollen, Komiker, die
jetzt all ihren Geist aufbieten müssen, um aus dem ihnen zu Gebote stehenden
dürftigen Maskenkehricht Stoff für ihr groteskes und humoristisches Talent
zusammenzuscharren! An Kräften fehlt es gerade in Deutschland nicht für
solche Aufgaben, auch nicht an Stoffen und, wie sich zeigt, auch nicht am Pu¬
blikum. Auch braucht das letztere durchaus kein „ Operettenpubliknm" zu sein.
Denn unser Stück z. B. ist trotz alledem für ein gebildetes englisches Publikum
geschrieben, d. h. so, daß es jedes junge Mädchen nicht bloß hören, sondern
auch lesen kann. Die Begabung des Deutschen für dies Feld der dramatischen
Produktion ist bekannt. Woran liegt es also, daß sich bei uns nichts Ähnliches
bilden will?
om Lächerlichen zum Gefährlichen ist nicht weiter als vom Er¬
habnen zum Lächerlichen, das lehrt die Geschichte aller Revolu¬
tionen und bestätigen die jüngsten Ereignisse in verschiednen Teilen
des Reiches. Zum Glück, müssen wir sagen, haben diesmal die
Kindereien, um welche es sich in der Regel znerst bei Straßen¬
demonstrationen handelt, rasch eine Färbung angenommen, welche an entschei-»OMM
derber Stelle keinen Zweifel darüber bestehen ließ, daß die bei uns eingerissene
Nachgiebigkeit gegen Tumultuanten (wenn sie nnr nicht Deutsche sind) leicht
Gefahren ernstester Natur heraufbeschwören kann. Und so darf man denn
Wohl hoffen, daß in Zukunft überall den alten und jungen Buben, welche es
angemessen finden, ihre „nationalen" Empfindungen durch steinigen ihnen
mißliebiger Personen, Fenstereinschlagen n. dergl. in. zum Ausdruck zu bringen,
sowie denjenigen, welche dem Pöbel das Losungswort geben, sofort werde der
gebührende Ernst gezeigt werden. Wenn die letzten Straßenskandale diese Folge
haben, so wird die Geschichte von ihnen Notiz nehmen müssen, aber jedermann
mußte sich sagen, daß sie in ganz andrer Bedeutung hätten zu historischen Er¬
eignissen werden können.
Kindisch ist ja zum großen Teil das ganze Treiben der Tschechen seit
Jahren, und wie man mit solchen großen Kindern fertig wird, das hat General
Koller als Statthalter von Böhmen gezeigt. In den letzten Jahren aber ist
es zum System geworden, den brutalen Äußerungen des „Volkswillens" in
achtungsvoller Unthätigkeit zuzuschauen, hat sich sogar uicht selten die Neigung
verraten, die Schuld denen aufzubürden, welche durch ihre Existenz den Unwillen
der Hussiteuenkel prvvozircn, den Deutschen natürlich. Daß die Affen der
Tschechen, die Windischen in Krain und Steiermark, von dem Ehrgeiz ergriffen
wurden, in ähnlicher Weise gegen die deutschen Unterdrücker zu demonstriren,
ist natürlich. Anfangs lachte man über das Treiben der Slovenen, an deren
Spitze ein Herr Costa, kurz zuvor noch Mitglied des Gelehrtenausschusses des
Germanischen Museums, und ein Tierarzt mit dem echtslawischen Namen
Bleiweis stand; aber das Gewährenlnssen zuerst, dann das Hätscheln der künstlich
hervorgerufenen Bewegung unter dein blutarmen, unwissenden, abergläubischen
windischen Volksstamme habt es glücklich dahin gebracht,^ daß Österreich nun
auch eine slovenischc Frage hat. Von der Existenz dieses Volksstammes erhielt
die Welt eigentlich erst Kenntnis durch des Grafen Anton Auersperg (Anastasius
Griin) Übersetzung kraiuischer Volkslieder. Jetzt stellen Deutsche diesem Dichter
in Laibach eine Gedenktafel auf, und das slovenischc Volk protestirt dagegen,
als gegen eine Verletzung seiner Nationalität, will die Feier verhindern, insultirt
die Festtciluehmcr und besudelt das Denkmal! Der Janhagel weiß selbst¬
verständlich vom Grafen Auersperg so viel wie vom kategorischen Imperativ,
es macht jeden Skandal gern mit und würde sich ebenso bereitwillig gegen den
großen Dichter der Slovenen, Preschern, aufhetzen lassen. Die Gymnasiasten,
welche die Führerschaft übernommen hatten, dürfen sich mit Befriedigung sagen,
daß sie heute bereits auf beiden Hemisphären als die dümmsten Jungen der
Gegenwart belacht werden, und daß so bald niemand den Mut haben wird, sich
als „Laibacher" zu erkennen zu geben. Aber der Gemeinderat der Stadt, welcher
die Frechheit hat, die Übernahme des Denkmals förmlich abzulehnen und die
Unmündigen an Jahren oder Verstand indirekt zum Krawallmachcu aufzufordern!
Und diese ganze Gesellschaft wird mit Sammethandschuhen angefaßt, die Kom¬
munalvertretung, welche einen solchen Mißbrauch von ihrem Amte macht, fungirt,
soviel bekannt, unangefochten weiter, der Minister hat noch keine Zeit gefunden,
eine Jnterpellation über diese Angelegenheit zu beantworten.
Auch das Publikum scheint diese skandalösen Vorgänge über den parallelen
in Budapest vergessen zu haben. Dort nahm die Geschichte ebenso albern
ihren Anfang. Ein General der dortigen Garnison, Jansky, erlaubt sich das
Grab seines bei der Verteidigung Ofens gegen die Magyaren am 21. Mai 1849
gefallenen Kameraden Hentzi an dessen Todestage zu bekränzen. Darin findet
die studirende Jugend eine Beschimpfung des Magyarorszag, sie rottet sich zu¬
sammen und verlangt drohend den „Abzug" des Generals Jansky. Der Landes-
kommandirende General Edelsheim sucht den aufgeregten Jünglingen begreiflich
zu machen, daß eine „ritterliche" Nation auch den tapfern Feind ehre, aber
so weit geht die Ritterlichkeit der magyarischen Studenten nicht. Daß Hentzi
im Dienste desselben Kaisers sein Blut verspritzt hat, welcher heute König von
Ungarn ist, und daß so wenig dieser König als die Offiziere, welche vor vierzig
Jahren in Ungarn auf kaiserlicher Seite gekämpft haben, in den Denkmälern
und der sonstigen Verherrlichung der Honveds und ihrer Führer eine Be¬
leidigung erblicken, das wagte ohnehin niemand auszusprechen. Im Gegenteil,
die gesamte politische Welt macht Chorus mit der lärmenden Jugend, Jansky
erhält Urlaub, die Polizei, welche den Spektakel nicht dulden wollte, wird ge¬
schmäht, und angeklagt, ein höherer Beamter, welcher den Studenten mit ernsten
Maßregeln droht, wird desavouirt, und der Ministerpräsident nennt den Akt
kameradschaftlicher Pietät eine Taktlosigkeit, findet aber kein Wort des Tadels
für die Lärmmacher. Natürlich wird weiter randcilirt fürs Vaterland, die
Studenten finden dort so gut begeisterte Mitschreier wie in Laibach, und keinem
Menschen fällt es ein, dnrch einige Feuerspritzen den Mut der Helden abzu¬
kühlen. Abermals im Gegenteil. Der „Pester Lloyd," das Organ der Börse und
des Ministers Tisza, putscht noch gegen die Armee, weil der Erzherzog Albrecht
es gewagt hat, in einem Toast von der Armee des Kaisers anstatt von der
österreichisch-ungarischen zu sprechen. Entsetzlich! Graf Belcredi findet im öster¬
reichischen Herrenhause Gelegenheit, das Heer gegen Verunglimpfung in Schutz
zu nehmen. Noch entsetzlicher! Was in Ungarn geschieht, darf von niemand kriti-
sirt werden. Und hier zeigt sich auch der österreichische Liberalismus wieder im
schönsten Lichte. Graf Belcredi, der verhaßte Sistirungsminister, darf nicht etwas
richtiges gethan haben, von ihm brauchen sich die Ungarn nichts gefallen zu lassen,
er trägt die Schuld, wenn der Konflikt einen Übeln Ausgang nehmen sollte.
Allein irgendjemcmd muß sich doch befugt geglaubt haben, die Thaten
und Reden in Ungarn zu kritisiren. Was hinter den Coulissen vorgegangen
sein mag, wird wohl unbekannt bleiben, aber die Wirkungen wurden sichtbar.
Minister Tisza kam nach Wien, und gleich darauf fühlte der Redakteur des
„Pester Lloyd" das dringende Bedürfnis, seine Verwunderung darüber aus-
zusprechen, daß seine Worte so verstanden worden seien, wie sie einzig zu ver¬
stehen waren, und seine unbegrenzte Bewunderung für den Erzherzog Albrecht.
Doch damit kam er schön an. Gestern noch ein Volksfreund, eine Säule der
ungarischen Freiheit, wurde er nach jenem ?atsr xsecÄvi zum „Abzug" auf¬
gefordert. Dieses Wort ist.dumm genug, um bei solchem Anlaß populär zu
werden. Abend für Abend durchziehen Horden die Straßen der Hauptstadt
und brüllen „Abzug!" Jansky, Tisza, Falk, der tote Hentzi, die gemein¬
same Armee, die Deutsche,: sollen „abziehen," die Pester Studenten und die
Hörer der verschiednen „Rechtsakademien" in Raab u. s. w. haben so verfügt.
Indessen fanden es die jungen Herren plötzlich geraten, selbst abzuziehen. Ein
Handbillet des Kaisers an den Erzherzog Albrecht sprach deutlich aus, daß an
dem Institut der gemeinsamen Armee wenigstens nicht gerüttelt werden solle,
und nnn zerfielen die Pester Vorgänge, dank einem Taschcnspielerkunststück, in
zwei ganz gesonderte Teile. Erster Teil: Janskis Taktlosigkeit, legitime Ent¬
rüstung der Nation, höchst angemessene Kundgebungen der Blüte dieser Nation
ans der Gasse und im Parlament, Rohheit und Gewaltthätigkeit der bewaffneten
Macht; zweiter Teil: gänzlich unerwartete und nicht vorauszusehende Beteiligung
unberechtigter Elemente, Exzesse, kluges und energisches Einschreiten der Polizei
und des Militärs unter wohlwollendem Zuschauen und beifälligem Lächeln der
Nation. Wer will wagen zu behaupten, daß der süße Pöbel nur uachmeutre
und in seiner Weise weiter ausführe, was Studenten und Abgeordnete ihm
vorgemacht haben? Ob derselbe Unfug von der Hoffnung des Vaterlandes
oder von Schneidergesellen getrieben wird, ist ein gewaltiger Unterschied; die
Studenten zu stören, war eine Brutalität, das Zusammenfangen von siebenhundert
Bummlern ist eine That, welche allgemeine Bewunderung verdient und findet.
So weit wäre die Sache glücklich beigelegt und es fragt sich nur noch,
was aus General Jansky wird, ob Minister Tisza es durchsetzt, daß der „taktlose"
General nicht mehr durch seine Anwesenheit die ritterlichen Gefühle der Herren
Magyaren und Juden, welche sich studirenshalber in Budapest aufhalte», verletzen
darf. Den Studenten, den Abgeordneten und andern Leuten wäre inzwischen
das Studium einer objektiven Darstellung irgendeiner Revolution zu empfehlen.
Sie würden daraus erfahren, daß mit ähnlichen Dummheiten, welchen nicht mit
ruhiger Energie entgegengetreten wurde, die schwersten Verwicklungen begonnen
haben, und daß nicht bloß 1886 und in Budapest, sondern stets und überall
die Theoretiker und Akademiker der Revolution, die Umstürzler in Glacehand¬
schuhen, sehr rasch von breitschulterigen, starkfcmfügen, entschlossncn Gestalten
beiseite geschoben werden; daß daher heutzutage die erstern nicht mehr das
Recht haben, nachher die Unschuldigen zu spielen und die Verantwortlichkeit
für die Folgen ihres Beginnens von sich abzuwälzen.
f
ucis schmiegte sich willig in die Arme des beglückten Mannes,
ihr Gesicht schaute zu dem seinen empor, und sie bot ihm ihre
Lippen. Selbstvergessen küßte er sie, doch schon im nächsten
Augenblick faßte er sich, und da die Schritte unter den Arkaden
wieder in die Nähe seiner Thür kamen, fragte er mit starker
Stimme: Bist du es, Jahme Leiras? Und als die Stimme des ehemaligen
Matrosen von draußen erklang: Zu Euerm Befehl, Senhor! so rief Barrcto
aufs neue: Öffne die Thür und nimm Donna Esmah Catarina noch einige
Minuten in deine Obhut, Jahme. Er ließ das erglühende Mädchen dabei aus
seinen Armen und hüllte sich bis an die Schultern in die Decke, die vorhin
herabgeglitten war. Esmah saß wieder zu seinen Füßen und erhob sich, als
die Thür aufging und mit der vollen Morgenhelle Jahme Leiras' ehrliches See-
mannsgesicht in das große Gemach hereiuschautc. Aus ihren und seinen Augen
las der Wackere, was hier vorgegangen sei, er unterdrückte jedoch den jauchzenden
Ton, der aus seiner Brust emporstieg, und lauschte nur den Weisungen des Haus¬
herrn, welcher mit jugendlicher Lebendigkeit und Hellem Klang in der Stimme
sagte: Du hast Esmah zu nur geleitet, Jahme, und mein Dank dafür soll dir
nicht ausstehen. Damit er voll werde, nimm dich ihrer jetzt noch einige Augen¬
blicke an, zeige ihr meinen Hof und meinen Brunnen im Tageslichte. Ich bin
in kurzem bei euch, ich werde dir selbst die Thür zu deinen Gemächern er¬
schließen, Esmah.
Jahme Leiras begriff, daß Manuel Barreto sich vom Lager zu erheben
wünschte. Er beeilte sich, Esmah, die schon der Schwelle zuging, nachzufolgen,
und geleitete die erstaunt um sich blickende in den Hof hinaus, über dem jetzt
das erste Frührvt sichtbar ward. Die Maurin prüfte Mauern, Zinnen, Säulen
und Bogen, das Marmorbecken und die Dclphintvpfe des Brunnens — alles
gemahnte sie wunderbar an die Heimat, welche so fern und nun so unwider¬
ruflich hinter ihr lag. Ehe sie noch dazu gelangte, eine Frage an Jayme zu
richten, stand Manuel Barretv vor ihnen. Er mußte sich in stürmischer Eile
angekleidet und dennoch Zeit gesunden haben, sein schlichtes Alltagsgewand mit
einem festtäglichen von braunem brabantischen Sammet zu vertauschen. Er
rief schon unter den Arkaden Esmah entgegen: Ein rosiger Morgen, mich dünkt,
der rosigste, den ich je erlebt habe! Jcihme Leiras, es soll dir wahrlich zu
Gute kommen, daß du die Herrin von Almocegema zuerst an ihren Brunnen ge¬
leitet hast. Schöpfe mit der Hand ans dem Strudel, Esmah, und trinke von
dem Wasser, damit du heimisch hier wirst! Du aber, Jayme, spring nach dem
Vorderhause, rufe Joao herzu, sage ihm kurz, wen du von Cintra hierher¬
gebracht hast, und bedeute ihm, die flinksten und anstelligsten Dirnen, die im
Hofe sind, zum Dienste der Herrin hierherzuscnden. Was ihr von Gepäck mit¬
gebracht habt, mag Joao dort hinüber schaffen lassen. Er wies dabei auf die
östlich vom Brunnen gelegenen Fenster und Thüren; Jayme Leiras nickte zum
Zeichen seines Gehorsams und entfernte sich augenblicklich nach dem Saale neben
Senhor Manuels Zimmer, der als Durchgang vou dem Irrenhause und Hofe
nach dem Vordergebäude betrachtet wurde und ihm wie das ganze Haus Al-
mveegema wohlbekannt war. Sowie er verschwand, ergriff Varreto die Hand
des Mädchens und leitete Esmah über den Hof hinweg unter jenen Teil der
Arkaden, der vor den verschlossenen Zimmern lag. Auf seinem Gesicht war ein
innerer Kampf wahrnehmbar, während er eine verschlossene Thür öffnete und
sie und die Bogenfenster aufstieß, welche sich rechts und links von der Thür
befanden. Ein großes Gemach mit Nebenräumen im Hintergründe, an denen
nur die schließenden Teppiche fehlten, that sich vor den Augen Esmcchs auf, mit
dem ersten Blick nahm sie wahr, daß diese halbleeren Zimmer vou größerer
Pracht waren, als der Raum, welchen sie diesen Morgen betreten hatte. Sie
wollte die Schwelle überschreiten, als Barreto sie noch einmal zurückhielt und
mit plötzlichem Ernste sagte: Esmah — ich habe dich als Herrin dieses Hauses
begrüßt, und das sollst du sein, wie du über diese Schwelle schreitest, so —
oder so! Aber ich habe vielleicht Unrecht gethan, als ich vorhin so hastig nach
der kostbaren Gabe griff, die du mir ins Haus trugst! Du bist gegen mich ein
Kind, Esmah, ich muß dich fragen — so schwer es mir fällt —, ob du morgen
und an allen folgenden Tagen wieder thun und sagen würdest, was du vorhin
gethan und gesagt hast? Noch einmal, Kind — mein Schutz, so weit er reicht,
ist dir gewiß — und —
Esmah ließ ihn nicht aussprechen. Sie hatte mit ihren großen braunen
Angen um sich gesehen, ob der Hof und der Bogengang noch so einsam sei
wie zuvor, jetzt lehnte sie ihr Haupt an Barretos Schulter und umschlang mit
ihren Armen den Nacken des Mannes. Esmah weiß, was sie thut, Herr!
flüsterte sie. Als mir gestern die Herzogin sagte, daß ich hinweg müsse, Schlitz
bei dir zu suchen, dachte ich, daß du kein Weib hättest, Herr, und daß du
Esmcih vielleicht nicht verschmähen würdest. Schon als Grüsin Catarina vor
kurzem mit mir die Geschichte der Nuth las, wußte ich, wem ich vertrauen müßte,
wie die Moabitiu dem Boas!
Es war ein frohes Erbeben, mit welchem Barreto die schöne jugendliche
Gestalt aufs neue in seine Arme schloß. Er hob sie über die Schwelle und
flüsterte ihr zu: Das sind fortan deine Gemächer, Esmcch.
Und die deinen, Herr! versetzte sie erglühend. Er folgte ihr gleichwohl
nicht, sondern rief der in das Gemach hineineilenden nach: Nicht früher, Esmcch,
als bis wir vor dem Altar gestanden haben, und das soll geschehen, sobald du
selbst es willst!
Esmcch neigte mit einem reizenden ergebner Lächeln ihren Kopf, sie besann
sich offenbar einmal wieder, daß sie hier nicht in ihrer Wüstenheimat und daß
sie eine Christin sei. Barreto aber hörte jetzt herankommende eilige Schritte,
aus der Thür des Saales traten nacheinander Jayme und Jocio, die alte
Schcisfnerin und zwei, drei junge Dorfmädchen. Jayme schleppte sich mit dem
wvhlverschnürten Ballen, der Esmahs Kleider und kleine Habseligkeiten enthielt,
der Hausmeister hatte offenbar keine Zeit und Geduld, dem Wackern dabei zu
helfen, er stürmte auf seinen Herrn los: Ist es wahr, Senhor, was der alte
Seewolf berichtet? Und er prallte zurück, als er Esmcch auf der Schwelle der
zum erstenmale geöffneten Frauengemücher ansichtig ward. Der Gutsherr
deutete auf das schöne Mädchen und rief laut: Jayme, fabelt nicht, Joao, hier
steht die Herrin von Almvcegema, der ihr Treue geloben und halten werdet!
Heran, ihr Mädchen, dient Esmcch gut, helft ihr die Gemächer wohnlich zu machen
und sich selbst nach der durchwachten Nacht umzukleiden und zu erquicken!
Bleib hier zurück, Jocio, du, Schaffnerin, trage mit den Mädchen dort das
Gepäck in Esmahs Zimmer. Halte dich zu mir, Joao, sie ist nicht daran ge¬
wöhnt, daß ein Manu ihr Gemach betritt! Sorge, daß ein gutes Frühmahl
unter König Diniz' Platane aufgetragen wird, ich will inzwischen Luis Camoens
wecken, der vor allem wissen muß, welches Wunder sich hier begeben hat!
Der Hausherr drängte die alte Schaffnerin und die dienenden Mädchen,
sich rasch zu Esmcch hineinzubegeben und Thür und Fenster der Frauengemücher
wiederum zu schließen. In den übervollen Becher seines wundergleicher Glückes
fiel in dem Augenblicke, wo er Camoens' Namen nannte, ein bitterer Tropfen
— er hatte im Entzücken der letzten Stunde den Freund vergessen — und
jetzt durchschauerte ihn die Gewißheit, daß derselbe seinen Jubel nicht teilen
könne und werde. Er winkte, ehe sich die Thür hinter Esmcch schloß, der
Lieblicher noch einmal zu, denn ging er mit eilenden Schritten, an denen
gleichwohl das Gewicht einer plötzlichen schweren Sorge hing, über den
Brunnenhof hinweg, um entschlossen an Camoens' Thür zu pochen. Er hatte
nicht mehr nötig, den Gast erst aufzustören; als er die Augen erhob, nahm er
wahr, daß Camoens wach und angekleidet unter dem Bogen seiner Thür stand
und ihm mit gespannter und erstaunter Miene entgegensah. Manuel konnte
nicht erraten, wie viel der Freund von den Vorgängen dieses Morgens bereits
gesehen und verstanden habe, mit versagenden Atem rief er ihm zu: Unser
Schützling ist hier, Esmah, die Maurin! Luis Camoens' Auge richtete sich
fest, allzufest, wie es Manuel bedünken wollte, auf seine Züge und Lippen, und
mit einiger Verwirrung fügte der Gutsherr hinzu: Mnlei Muhamed hat, scheint
es, einen Anfall auf Esmah machen lassen, sie ist glücklich bewahrt geblieben.
Die Herzogin von Braganza aber hat den Mut verloren, hat sie hierher ent¬
sendet, wo sie das Mädchen für besser geborgen hält. Sie hat Recht — ich
werde — wir werden sie gegen alle Mohrenprinzen von Afrika zu schützen wissen!
Gewiß, Manuel, wir schützen Esmah hier, entgegnete Camoens mit einem
seltsamen Ausdruck und Ton, welche Barretos Behagen nicht erhöhten. Aber
wer schützt drüben in Cintra und später in Lissabon Gräfin Catarina? Fühlt
Ihr auch jetzt uicht, Manuel, daß der Emir aus Portugal hinweg muß, was
es auch kosten möge?
Ich fürchte ihn nicht! rief der Fidalgo, der zu sehr vou seinem eignen
Geschick bewegt war, um dem Gedankengange des Freundes völlig folgen zu
können. Dach und Mauern von Almoeegema sollen sich wider die Heiden fester
erweisen, als einst für sie! Und da mir Esmah das Recht giebt, Tag lind
Nacht an ihrer Seite zu sein — doch Ihr wißt ja uicht, was geschehen ist!
Ihr habt nichts Schöneres, Holderes in all Euern Gedichten ersonnen! Esmah
hat auf ihrer einsamen Flucht ihr künftiges Leben bedacht und — will mein
Weib werden, Luis! Faßt Jhrs ganz, Freund — fühlt Jhrs, daß mir zu
Mute ist wie einem, der Jahre lang unter einem Baume gelegen, welcher ihm
immer nur Schatten und wiederum Schatten gespendet! Und eines Morgens
erwacht er und über ihm schimmert der Baum in Blüten, die Düfte umwehen
ihn und die Blüten fallen auf ihn herab, dem Träumer ins Gesicht! Wißt
Ihr, welch ein Leben uns hier aufgehen wird?
Uns? fragte Camoens, und abermals war ein seltsamer Glanz in dem Auge
des Dichters, den sich Manuel Barreto nicht zu deuten wußte. Mir, wolltet
Ihr sagen! Erfahre Ihr es jetzt selbst, wie wenig wir Herren unsers Schicksals
sind? Noch gestern Abend spracht Ihr, daß wir beide das Leben nicht neu
beginnen könnten, und heute hebt Ihr ein Leben, von dem Ihr Euch nichts
träumen ließt, mit frischem Mute an. Wer weiß, vielleicht trägt auch mir der
dürre Baum, der mir uicht einmal Schatten gegeben, Land und alle Blüten-
Pracht zugleich!
Barreto stand erschrocken, nicht vor den Worten, aber vor dem gepreßten
Klänge derselben, der nur zu sehr verriet, daß die Ruhe, die der Dichter äußer¬
lich zeigte, in seiner Seele nicht vorhanden war. Herzlich faßte Manuel beide
Hände des Freundes und sagte: Bei allen Heiligen, ich würde Euch gönnen,
Euch vor taufenden und wahrlich fast lieber als mir, daß die Blüten auf Euer
Haupt herabgesunken wären! Doch vergeßt nicht, Luis, daß sie mir wunschlos
und sturmlos, wie ein rechtes Gottesgeschenk geworden sind, daß ich, wenn
Esmah uicht selbst begehrte, mein Weib zu fein, sie wie eine Tochter halten und
ehren würde! Wenn Ihr es vermögt, tragt mir keinen Schatten in den hellsten
Tag meines Lebens, und vor allem geht hinüber, Esmah zu begrüßen, wenn
sie aus ihren Gemächern wieder hervortritt.
Was wußte sie von ihr -— von Catarina Palmeirim zu berichten? fragte
Camoens dem Gastfreunde folgend und brachte ihm zum Bewußtsein, daß er
im seligen Taumel der vergangnen Stunde darnach nicht gefragt habe. Doch
hielt Barreto den forschenden Blick des Freundes tapfer aus und sagte: Esmah
mag Euch selbst erzählen, was sie von der Gräfin weiß. Katarina ist im Schutze
der Herzogin und des Königs und hat meine künftige Herrin zu ihrem Schritt
ermutigt.
Im Schutze des Königs! sagte Camoens leise vor sich hin — Barreto
hörte es gleichwohl und zürnte sich einen Augenblick ernstlich, daß ihn das Glück
so unbedachtsam mache. Doch eben kam Jocio und lachte über sein ganzes
Gesicht und sprach Camoens an: Was sagt Ihr, Senhor, daß dies alte Haus
nun doch noch eine junge Herrin erhält? Das Frühmahl unter König Diniz'
Baum ist gerüstet und alles bereit. Herr, wenn nur das Glück nicht wie der
Goldvogel ist, der auffliegt, sobald man ihn laut anruft!
Ich denke nicht, Joao; was gut begonnen ward, muß guten Bestand haben,
erwiederte der Gutsherr, während sein Blick mit geheimer Sorge immer wieder
auf den Zügen seines Gastfreundes ruhte. Laßt uns nicht zögern, Luis, wir
können Esmah einen Gruß von außen in ihre Gemächer rufen und ihr sagen,
daß wir sie unter der Platane erwarten.
Camoens, welcher fühlte, daß er unfreundschaftlich an Barreto handle,
zwang sich zu einem Lächeln: Hoffentlich läßt uns die Schöne noch fo viel
Zeit, daß Ihr berichten konnt, wie Ihr aus dem zufriedner Einsiedler von
Almoecgema plötzlich zum Bräutigam geworden seid.
Die Geschichte ist kurz, flüsterte Barreto vertraulich, und auf seinein Ge¬
sichte lag ein so Heller Schein der Glückseligkeit, daß Camoens ihm unwillkürlich
teilnehmender lauschte. Alles, was ich Euch zu sagen vermöchte, könnt Ihr im
Buche Ruth der heiligen Schrift lesen. Sie kam bei Nacht, lagerte sich zu
seinen Füßen und verhieß dem erstaunt Erwachenden sein Weib zu sein-
Wie ichs verdient habe, weiß ich nicht; daß ichs ihr lohnen will, wenn Gott
mir hilft, brauche ich Euch nicht zu beteuern! Ich hoffe so lange zu leben,
um sie schützen und leiten zu können, bis sie ganz in unsre Welt hineinwächst-
Wollt Ihr etwas für mich thun, so redet in ihrer Sprache mit ihr und sucht
zu erfahren, womit ich ihr kindliches Vertrauen erworben habe.
Beide Freunde standen jetzt vor der Thür, hinter der sie die Stimmen
Esmahs und ihrer neuen Dienerinnen hörten und unterschieden. Barrcto pochte
bescheiden an und rief: Senhor Luis Camoens, dein Pate, ist mit mir hier,
Esmcch, er möchte dir seinen Morgengruß entbieten. Sobald du fertig bist,
laß dich von Teresita, die den Weg kennt, zum Garten und zu dem Baume ge¬
leiten, wo wir deiner warten wollen. Du mußt hungrig sein, Kind, nach dem
weiten nächtigen Wege — das Frühmahl steht für dich und uns bereit.
Ich werde deinem Gebote folgen, Herr! klang es von innen. Soll ich
wirklich mit dir und deinem Freunde am Tische sitzen?
Gewiß, Esmah, du wirst es oft müssen, wenn du eine portugiesische Edel-
frau werden willst, lachte der Fidalgo, und Ccimoens sah, wie ein Ausdruck
glücklichen Übermutes sein Gesicht verjüngte. Auch darfst du nicht Herr zu mir
sagen, du wirst dich gewöhnen müssen, meinen Namen Manuel zu brauchen,
Esmah Catarina!
Esmah öffnete zum Zeichen ihres Gehorsams ein Fenster ihres Gemachs,
sie hatte ihr dunkles Neisegewcmd mit einem weißen, rotgesäumten vertauscht.
Ihr schönes Haar war von einem goldnen Netze gefesselt, Stirn und Augen
hatte sie nach alter Gewohnheit gesenkt, aber erhob sie frei, sobald Camoens'
Anruf ihr Ohr traf.
Ich grüße dich dreifach, Esmah! sagte der Dichter auf Arabisch. Als
meine Schutzbefohlene, als Braut meines glücklichen Freundes, als Freundin
der edeln jungen Dame, welche dir zu deinem Namen den ihren gegeben hat.
Ich hoffe, du kannst mir Gutes von Gräfin Catarina erzählen, mir sagen, daß
sie gesund und glücklich sei, wie sie es verdient.
Ich kann dir nicht ganz sage», was dein Herz wünscht, Herr! erwiederte
das Mädchen schlicht. Gräfin Catarina, die der Allmächtige segnen wolle zu
jeder Stunde, ist nicht krank — aber sie ist immer ruhelos und oft traurig —
sie kaun nicht glücklich sein. Sie weint nicht, aber sie starrt viele Stunden
schweigsam vor sich hin und verbringt mehr Tage im Gebet, als Glückliche thun.
Manuel Barreto sah die Schatten aus Camoens' Stirn, die er so gut
kannte, er erriet, wovon gesprochen werde, und suchte die Unterredung rascher
zu endigen. Kommt, kommt, wir haben drüben auf dem Walle Zeit, dies und
noch viel mehr zu besprechen. Esmah bedarf sicher noch einer Viertelstunde für
sich und wird uns alsbald nachfolgen. So aufgemahnt, vermochte Camoens
nicht mehr zu zögern und begleitete Barreto durch das vordere Haus und den
Garten nach dem begrünten Wall über der Düne. Die Freunde betraten den-
selben, als eben die ersten Sonnenstrahlen über dem Meere zu erglänzen be¬
gannen. Die Nacht war windstill gewesen, die unabsehbare Flut netzte, leicht
bewegt, den Strand, und der Schaum auf den Kämmen der Wogen zerstiebte
heute rascher, flüchtiger als sonst. Hinter ihnen im Osten lagen noch rot an¬
geglühte Wolken auf den Bergzügen, der weite lichtblaue Horizont über der
See verhieß einen hellen Herbsttag, wie ihn der Gutsherr gestern Abend
prophezeit hatte. Manuel Barreto schaute mit Angen über den Wall, die Düne,
die Flut hinweg, als. ob er dieses Ausblickes zum erstenmale froh werde, Ca¬
moens fühlte nach, was ihn in diesem Augenblicke bewegen mußte. So
dumpf und verworren ihm selbst zu Mute war, widerstand er der warmen
Regung nicht, die ihn antrieb, Manuel in die Arme zu schließen nud ihm
zu sagen: Nehmt diesen Morgen als eine gewisse Verheißung! Das neue
Leben und das Gluck, die Euch aufgehen, werden so beständig sein, als irgend
ein irdisches ist.
Barreto nickte ihm dankend zu und sah wieder mit glänzenden Augen über
den schimmernden Flutspiegel hin. Seltsam ists, entgegnete er, ich darf so wenig
sagen, daß ich dies Glück ersehnt, als daß ich es verdient habe. Und doch ist
mir jetzt, als hätte es kommen müssen, als fülle der Wundervogel mit den
goldnen Schwingen das Nest mir ans, das ich ihm längst bereitet.
In Camoens' Brust fanden die träumerischen Worte des älteren Freundes
einen Wiederhall, den Barreto nicht wecken wollte, noch ahnte. Camoens rief
es nicht laut, aber in ihm klang es unablässig: Und ich — ich habe dies Glück
ersehnt mit jeder Kraft meiner Seele, jedem Tropfen meines Bluts — warum
sollte es mir nicht zu Teil werden? Deutlicher als die Morgenglocken, welche
jetzt aus den Thälern von Ponedo und Collares in die Stille hier hereintönten,
vernahm Camoens diese innere Stimme, sie schwieg anch nicht, als Esmah in
lieblicher Verschämtheit unter der Platane erschien und mit glücklich erstaunten
Gesicht um sich und in die schimmernde, bewegte Ferne hinaussah. Als dann
König Diniz' Baum sein Laubdach über sie wölbte, der Glockenklang und das
gleichmäßige Rauschen des Meeres zu den Bänken herdrang, ans denen sich
Barreto neben Esmah und Camoens beiden gegenüber niederließen, stillte sich
seine innere wilde Erregung auf Minuten, er vermochte es, dem Verlobten Paar
ruhigen Anteil zu zeigen. Er selbst riet Barreto die Trauung nicht um einen
Tag zu verzögern, da er doch an eine laute, rauschende Hochzeit nicht denken, und
Esmah als Gemcihliu eines angesehenen portugiesischen Edelmannes in größerer
Sicherheit sein werde. Senhor Manuel sah fragend auf Esmah, diese aber
flüsterte ihm zu, daß sein Wunsch und Wille auch der ihre sei. So sagte denn
der Gutsherr mit beglücktem Blick auf Esmah, mit dankbarem auf Camoens:
Ihr habt Recht, und alles fügt sich glücklich. Pater Henriques, welcher Esmah
die Taufe erteilt hat. ist uach dem Tode Dom Antonios, des Marschalls, ans
seine Pfarre in Collares zurückgekehrt, er wird nicht zögern, uns zu trauen.
Wir brauchen keine Zeugen — Ihr werdet der einzige sein, Luis, und da es
sonst keiner Vorbereitungen bedarf, so reite ich gleich jetzt zu dem guten Priester
hinüber, und ehe die Sonne dort ins Meer niedergeht, können wir verbunden sein.
Er legte — zum erstenmale in Camoens' Gegenwart und auch jetzt nur
auf einen flüchtigen Augenblick — den Arm um Esmcchs schlanken Leib. Camoens
brachte noch einen Scherz über die Lippen: Ihr seht, Manuel, bei Euch trifft
das spanische Sprichwort zu: Wem Gott den Weg bahnen will, dein schiebt er
selbst die Kiesel beiseite. Wie in Voraussicht des heutigen Tages seid Ihr
bei Esmcihs Taufe verhindert worden, ihr Pate zu sein — jetzt wurde es
Euch Aufschub verursachen, wenn Ihr den Dispens des Bischofs bedürftet.
Schon die leicht hingeworfenen Worte waren ihm schwer geworden, das
helle, fröhliche Lachen seines alten Gefährten berührte ihn fast schmerzlich. Er
beherrschte seine Mienen und seine Lippen, wie kaum jemals zuvor, kein Mißlaut
sollte den Glücklichen diese Stunde stören. Doch fühlte er wohl, daß er nicht
lange solchen Zwang wider sich selbst zu üben vermöge. Als der Tag höher
stieg und Barreto sich anschickte, Esmah in ihre Zimmer znrückzngelcitcn und
selbst den Ritt zum Pfarrer von Collares anzutreten, atmete Camoens aus der
Tiefe seiner Brust auf, nie war ihm das Alleinsein nötiger gewesen als jetzt.
Er hatte, während des Frühmahls und mitten zwischen den Zukunftsplänen der
Verlobten, immer aufs neue nach Catarina Palmeirims Leben geforscht und
mehr vernommen, als die erzählende Esmah wußte und als er an Barreto
verriet. Er hatte, so oft er von den Brüdern hinwegblickte, das Gesicht Catarinas,
das Gesicht mit dem süßen, schwermütigen Ausdruck, bittend vor sich gesehen.
So schien es ihm wie eine Erlösung, daß er jetzt mit sich selbst und dem Sturme
in seinem Innern unter der Platane zurückblieb. Ritterlich küßte er Esmcihs
Hand und stammelte einen Glückwunsch, bei dem sie dankbar und doch befremdet
zu ihm aufsah, so stürmisch umarmte er den weggehenden Freund, daß es diesem
zu andrer Stunde wohl aufgefallen wäre. Unverwandt blickte er den beiden
durch den Garten und bis an den Eingang des Hauses nach, dann aber wandte
er sich schnell von den verschwindenden, aneinandergclehnten Gestalten ab und sagte
vor sich hin: Sie thun Recht, sie greifen nach dem Glücke, das ihnen wie eine
reife Frucht vom Baume fällt. Das Wüstenkind, die neue Nuth hat für sich — der
Himmel weiß es — das gute Teil erwählt. Barreto folgt seinein klaren Gestirn,
was zögere ich, dem meinigen zu folgen? Was habe ich seit Monden gethan, um
Catarina auch nur wissen zu lassen, daß ich in der Welt sei? Ich muß zuvor
frei werden, muß von hier hinweg! Was es auch koste, wie es auch ende, ich
will neben ihr stehen, sie soll mich nicht vermissen, wenn die Stunde kommt,
da sie meiner bedarf, wie Esmah hente Manuels!
Camoens sah noch einmal ans das Meer hinaus, doch andre Bilder standen
vor seinem Auge, als die leise an die Dünen anschlagende Flut und die bunten
Fischersegel beim Turme von Calhao de Corao. Jede Sehnsucht, jeden heißen
Wunsch des unbeglückten Mannes hatte das Erlebnis dieses Morgens in ihm
emporgestürmt. Er wollte selbst die nächste Stunde nicht mehr verlieren, ging
um den Secirtisch unter dem Palmenbaum zurück, riß ein Blatt aus der Schreib-
tafel, die er mit sich trug, und schrieb mit fliegendem Griffel die Zeilen an den
Herrn dieses Hauses, welche dieser in Camoens' seitherigen Gemach vorfinden
sollte, wenn er von Collcires zurückkäme, zu einer Stunde, in welcher der Dichter
Almocegema längst verlassen haben wollte.
Habt tausend Dank, Manuel Barreto, für alles, was Ihr mir wäret und
sein wolltet. Mich treibt es hinweg, nach Lissabon, nach Cintra, zurück an den
Hof, in die Nähe der Einen, die meiner sicher mehr bedarf, als Ihr in Euerm
jungen Glücke. Catcirina will ich opfern, was ich vermag, und nichts ausnehmen,
selbst Eure Freundschaft nicht, Manuel. Der König und sein heidnischer Bundes¬
genosse müssen hinweg, und das Wenige, was ich dazu beizutragen vermag, will
ich keinen Tag mehr unterlassen. Der Ausgang wird ein Gottesgericht sein,
dein ich mich willig und nicht ohne gläubige Hoffnung unterwerfe! Könnt Ihr
mir das Gefühl erhalten, das Euch seither für mich beseelte, so wird es mir
eine Erquickung in den schwülen Tagen sein, denen ich entgegengehe. Elters
Glückes in Esmahs Armen bin ich gewiß, und verlasse Euch voll froher Zu¬
versicht, wenn auch nicht ohne den Schmerz der Trennung!
(Fortsetzung folgt.)
Sagt mir, wie kommt es? ich wollte, dem lärmenden Leben entflohen,
Einzig nur singen das Glück, welches die Liebe gewährt;
Wollte nur Weib und Kind im jubelnden Liede umfangen,
Doch der bescheidene Kreis wuchs ins Unendliche mir.
Seht! ihr versucht es umsonst, vom Ganzen das Kleine zu lösen,
Und es erscheint nichts klein, wird's in der Tiefe gefaßt.
Was die Geliebte mir spendet, dadurch erst wird mir'S bedeutsam,
Daß es mir jeden Besitz zeigt in verändertem Licht,
Und mit des Knaben Geschick muß sinnend zugleich ich erwägen,
Was er der Welt einst wird, was von der Welt er empfängt,
Also erklärt es sich leicht! mich still in die Teuern versenkend,
Fühl' ich mich jedem verknüpft, fühl' ich mich Eins mit dem All.
Mit diesen Distichen giebt Stephan Milow das Programm der nun folgenden
sechzig Elegieen an. Ausgehend vom Genusse des väterlichen und ehelichen Glückes
und der schönen, im. Frühlingsschmucke prangenden Natur verbreitet sich der grüb¬
lerisch beschauliche Dichter in anmutiger Entwicklung der Szene nach und nach über
das ganze Leben, über die höchsten Fragen der Religion und der Kultur, giebt,
ohne ein nüchtern prosaisches System schaffen zu wollen, die Umrisse seiner im
Genuß und Leiden erworbenen Weltanschauung. Es wäre schwer, dieselbe mit
irgend einem Schlagworte den populären Rubriken einzuordnen. Er preist den
Naturgcnusz als Glück und höchste Andacht. Er kennt den Weltschmerz, und
er ist ihm ein sittlich läuterndes Gefühl, aber er geht nicht in ihm auf. Eurem
bestimmten Glauben schließt er sich keineswegs an, aber er stellt den bedeutsamen,
Grundsatz bezüglich der Erziehung seines Sohnes auf:
Unsers Amts ist nur, vor Wahn ihn immer zu schützen,
Daß er mit eigenem Blick suche den waltenden Gott;
Sucht er in Kämpfen ihn, auch, nur der, den selbst er gefunden,
Wird ihm ein Tröster und wird einzig der rechte ihm sein.
So ist Milow selbst von tiefer Religiosität. Er erkennt den Wert der Selbstsucht
für die menschliche Kultur an, aber er schaudert vor ihren Exzessen. Mit der
ganzen Glut eines begeisterten Herzens lebt er dem Ideale nach, das Reich der
Liebe, der entsagenden Selbstsucht auf Erden zu verwirklichen. Und dieser ethische
Enthusiasmus ist höchst bezeichnend für Milow, er ist sein Rückgrat. Schön und
sittlich, häßlich und lasterhaft fällt ihm in Eins zusammen, und er lebt nicht be¬
ruhigt, wenn er nicht erkannt hat, daß selbst in der Verlornen Schwärmerei eines
liebenden Menschenpaares ein sittliches Element verborgen sei. Und mit dem
Evangelisten verzichtet er auf die Klugheit der Weltmenschen, die um jeden kleinen
Vorteil feilschen und betrügen, List gegen List ausspielen.
Fleht es uns an, was andre bewegt in der kleinlichen Seele?
Hüten wir selbst nur getreu, was uns als Menschen erhebt.
Geben wir Jegliches preis, doch nimmer die heilige Flamme,
Die uns ein freundlicher Gott segnend entfacht in der Brust.
Lächelnd, wie arg wir bestohlen, so schaun wir empor zu den Sternen,
Während sich andre um uns emsig versorgen ihr Hans.
Stephan Milow ist ohne Zweifel ein starkes lyrisches Talent, aber er gehört in
die Reihe der Neflexionspoeten, und zwar im ganz eigentlichen Sinne. Poetische
Kraft und dichterischer Schwung verleiht ihm nur sein hoher ethischer Idealismus;
aber die Darstellung des Zuständlichen, die Plastische Kraft der Veranschaulichung,
Sinnlichkeit ist seinen metrisch tadellosen Versen versagt. Er analysirt die Em¬
pfindung, er beobachtet sie wie sich selbst, aber er verkörpert sie uicht. Ju der
Reihe der im echt Schillerschen Sinne sentimentalen Poeten nimmt er jedoch einen
bedeutenden Rang ein wegen der jedem geringsten Schein von Affektation fernen
Wahrheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Tiefe seines Seelenlebens. Er ist eine
volle künstlerische Individualität deswegen, weil er für seinen Gehalt die ihm an¬
gemessenste Form gefunden hat.
Seit Scheffels „Ekkehard" und den „Sieben Legenden" Gottfried Kellers
wimmelt es in unsrer Literatur von Mönchen. C. F. Meyer schrieb seinen „Hei¬
ligen," Hans Hoffmann seinen „Hexenprediger," Heinrich Steinhausens „Jrmela"
brachte deu Mönch Diethelm, auch der Jonas Briecins der Margarethe von Bülow
gehört in diese Reihe, und uoch vieles andre. Dem zeitgenössischen Beobachter
der Literatur dürfte es sehr schwer fallen, diese auffallende Neigung unsrer Dichter
für die Darstellung der Mönchsgestalt auf tieferliegende Motive der gesamten Zeit-
strömung, die gewiß vorhanden sind, zurückzuführen; demjenigen, der selbst im
Strome steht, ist es nicht leicht möglich, seine Richtung zu überschauen. Aber merk¬
würdig bleibt diese Vorliebe der modernen Romantik für die Darstellung der Kon¬
flikte zwischen Sensualismus und Spiritualismus jedenfalls. Bezeichnend ist auch,
das sich selten ein humoristischer Zug in diese Bilder vom Mönchsleben einmischt,
wie er doch meist in den gewiß auch in diese Betrachtung hineingehörigcn be¬
rühmten Gemälden Eduard Grützners hervortritt. Unsre Zeit, die vor wenigen
Jahrzehnten noch gern sich mit „Rettungen" der schwärzest angeschriebenen histo¬
rischen Epochen und Figuren abgegeben, hat auch dem durch den Nationalismus
der frühern Zeit arg verschrieenen Mönchswesen Gerechtigkeit widerfahren lassen
wollen, auch ihm gegenüber den alles begreifenden und alles entschuldigenden histo¬
rischen Standpunkt gewonnen. Den in der Literatur mangelnden Grütznerschen
Mönchscharakter hat nun Wilhelm Imsen in seiner neuesten Novelle „Die Heiligen
von Amoltern" mit behaglichem Humor glücklich eingeführt. Sein Kapuziuerpater
nommait dürfte in der That den berühmten Münchner Pfaffenmaler zur Illu-
stration herausfordern. Jeusen knüpfte an das Bild des berühmtesten Kapuziners
unsrer Literatur an, indem er, wie Schiller, viele Züge vom Pater Abraham
a Sancta Clara entlehnte. Pater nommait ist ein Bettelmönch des Breisgans, ein
Alemanne von riesiger Körpergestalt und entsprechender Kraft und nicht minder
ebenbürtigem Durste. Wenn er spricht, nud vollends wenn er vom Weine befeuert
mit seinem tiefen Baß sich ereifert, dann dröhnen die Wände von der Gewalt
dieses Organs. Seine Sprachweise und vollends seine Predigten 'sind eine wahr¬
haft kongeniale Nachahmung des berühmten Autors von „Judas der Erzschelm"
und von „Merk's Wien": die gleiche Gewalt über die Sprache, die gleiche Lust
um Anhäufen reimender Synonyma, die gleiche, durch den äußern Klang der Worte
allein bewirkte Gedankenverbindung, die gleiche Kraft in der Ausmalung des
höllischen Fegefeuers, die gleiche Komödiauterei auf der Kanzel, aber anch mit auf¬
richtiger Herzensgüte und scharfem Verstände gepaart. Ein Bettelmönch, der seiner¬
seits seine Sache wirklich ans gar nichts gestellt hat, macht Pater Romuald für das
kommunistische Lebensideal der Urchristen Propaganda. Sein eigenster Charakterzug
ist eine drollige Verachtung des weiblichen Geschlechts, er kann dem liebe» Gott
den folgenreichen Schnitt in Vater Adams Rippe nun und nimmer verzeihen.
Leider hat Imsen diese mit so glücklichem Humor angelegte Figur uicht ebenso
humoristisch durchgeführt; es ist der ernste Protestant im humoristischen Dichter sehr
zur Unzeit durchgebrochen und hat, uach unsrer Meinung, die Novelle, die aller¬
dings noch an andern Fehlern leidet, schließlich verdorben. Viel zu ernst ist für
den angeschlagnen lustigen Ton die Handlung, und das giebt eine uukünstlerische
Disharmonie. Der Pater nommait, der anfänglich sich sogar zu einem begeisterten
Lobe des tapfern Luther versteigt, entpuppt sich als ein arger, boruirter Fanatiker
für seinen alleinseligmachenden Glauben, worauf der heiter gestimmte Leser durch¬
aus uicht gefaßt ist; freilich wird dem Kapuziner ordentlich heimgeleuchtet, aber
diese Vergeltung ist doch ganz äußerlich, auf rohe Leser berechnet. Im übrigen
ist die Handlung recht abenteuerlich. Um die siebziger Jahre des vorigen Jahr¬
hunderts wanderten viele Deutsche, darunter auch Bewohner des OertchenS Amoltern
auf dem Kaiserstuhl im Breisgau, nach Spanien aus, wohin sie als bewährte Ko¬
lonisten zur Urbarmachung verwüsteter Landstriche Andalusiens von der spanischen
Regierung berufen worden waren. Es wurde ihnen völlige Glaubensfreiheit zu¬
gesichert, jedoch in Kürze gewann die Inquisition wieder Macht genug, die zum Teil
protestantischen Einwandrer zu vertreiben, was die eifersüchtigen Eingebornen recht
gern sahen. Der deutsche Pater nommait spielte dabei die Rolle des Judas seiner
Landsleute. An diese Handlung knüpft sich eine Liebesgeschichte, die uns nicht
weiter interessiren kann. Es ist sehr zu bedauern, daß es der Novelle an der
rechten Einheit des Motivs fehlt. Trotz schöner Einzelheiten legt mau sie schließlich
doch unbefriedigt aus der Hand.
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Jur Beachtung.
Mit dem nächsten Hdeste beginnt diese Keilschrift das s. (Quartal ihres 45. Jahrganges,
welches durch alle Buchhandlungen und Postansialten des ^n- und Auslandes zu beziehen ist.
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Leipzig, im Juni Mo. Die Verlagshandlung.