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]]> England am Vorabend eines Umschwunges.
S, 577.
ir feiern im Laufe dieser Woche den Tag, an welchem ein
Vierteljahrhundert verflossen ist, seit unser Kaiser Wilhelm als
König von Preußen den Thron bestieg. Wenn wir bei dieser
Gelegenheit eine Predigt zu halten hätten und darin der Ge¬
schichte gerecht werden wollten, so könnten wir, wie es scheint,
nicht leicht einen geeigneteren Text wählen als einige Stellen in dem Kapitel
des Buches Jesus Sirachs, dem Luther in seiner Übersetzung die Überschrift
gegeben hat: „Ruhm Weiser Obrigkeit. Item von Meidung der Hoffart."
Dieses Kapitel beginnt mit den Worten: „Das Werk lobt den Meister, und
einen weisen Fürsten seine Händel." Passender aber als dieser selbstverständliche,
wenn auch bei Biographien hochstehender Persönlichkeiten keineswegs immer ge¬
wissenhaft beachtete Ausspruch wird manchem in unserm Falle der bald nachher
folgende vorkommen: „Es stehet in Gottes Händen, daß es einem Regenten
gerate; derselbige giebt ihm einen löblichen Kanzler," und noch zutreffender für
die Gelegenheit wird dieser Satz, wenn wir ihn mit der weitern Regel aus dem
Maximenschatze des Sohnes Sirachs ergänzen: „Einem weisen Knechte muß der
Herr dienen, und ein vernünftiger Herr murret nicht darum."
Wie es dem König Wilhelm in seiner fünfundzwanzigjährigen Regenten-
thütigkeit geraten ist, weiß die Welt; das Werk lobt den Meister, künftige Ge¬
schlechter werden uns um das Glück beneiden, in den Tagen gelebt zu haben,
wo dies Werk als ein lauge ersehntes aus trüber Zeit sich glorreich erhob, und die
Geschichte wird den Fürsten, der den Grund dazu legte, den größten Gekrönten
anreihen, von denen sie zu berichten hat. Der erste Kaiser Neudentschlands ist
eine von den historischen Persönlichkeiten, welche, ohne glänzende und sofort in
die Augen fallende Eigenschaften, ohne blendende Talente zu besitze», trotzdem
berufen sind, eine hochbedeutsame Rolle zu spielen, und auf welche die Augen
ihres Volkes noch nach Jahrhunderten als auf politische Wohlthäter dankbar
zurückblicken. Er ist nicht wie Friedrich der Große, dessen Erfolge die seinen
verdunkeln, sein eigner Minister und Feldherr. Er besitzt nicht die Gaben seines
verewigten Bruders: dessen Geist und Witz, dessen hohe Bildung und dessen
feines Verständnis für das Schöne, dessen Liebe zu den Künsten. Die Nach¬
welt wird ihn nicht als Mücen zu rühmen haben. Aber er trat ans Staats¬
ruder mit andern Anlagen und Charakterzügen, und zwar gerade mit denen,
welche die Lage der deutschen Dinge von einem preußischen Könige damals vor
allen andern verlangte. Preußen war unter seinem Vorgänger in die Reihe
der Verfassungsstaaten eingetreten, und der Liberalismus strebte die dem Lande
verliehene Konstitution so zu deuten und zu erweitern, daß mit ihr das parla¬
mentarische System zur Geltung gebracht sein sollte, diejenige Regierungsform,
nach welcher der Schwerpunkt der staatlichen Macht in die Volksvertretung
verlegt ist und der Monarch gegenüber der wechselnden Mehrheit der von den
Parteien der Bevölkerung gewählten Abgeordneten nicht viel mehr Bedeutung
als die einer mit Gvldtinte geschriebn«» Null hat. Der oberste Träger der
Staatsgewalt sollte zum bloßen abstrakten Begriffe, zu einem stummen Ver¬
treter des monarchischen Prinzips gemacht werden. Er sollte nichts als ein
Sanktionirnngsapparat sein, aufgestellt zu dem Zwecke, die uach den Ansichten
und Absichten der Majorität des Abgeordnetenhauses geschaffnen Gesetze sür die
Praxis einzuweihen. Er sollte diese Gesetze nur durch Minister aus der Mitte
jener Majorität ausführen dürfen und gehalten sein, diese seine obersten Räte
zu verabschieden, wenn die Majorität direkt oder indirekt erklärte, dieselben
hätten ihr Vertrauen nicht mehr. Dieses aus Frankreich importirte Streben
nach Verflüchtigung der königlichen Gewalt hatte keinerlei Anknüpfung in
der preußischen Verfassung, keinerlei Wurzeln in der deutscheu Geschichte,
es beruhte auf einer Doktrin, die in der Luft stand, und es würde,
wenn es Erfolg gehabt hätte, die Aufgabe, vor welche Preußen durch die
Entwicklung deo deutschen Verhältnisse gestellt war, zur Unmöglichkeit gemacht
haben. Deutschland, mit seiner Zerrissenheit zwischen zwei großen, nacb Er¬
weiterung ihres Einflusses und Besitzes begehrenden Militärstaaten gelegen,
mußte um Preußen geeinigt werden, und es war Gefahr in, Verzüge. Schon
tauchte am Gesichtskreise das Schreckensbild eines Schicksals wie das der
Teilung Polens auf. Nur ein lebendiges, festes, in seiner Freiheit einzig
durch den Wortlaut der Verfassung beschränktes Königtum in Preußen
konnte die Einrichtung schaffen und zunächst vorbereiten, welche vor solchem
Schicksale bewahrte. Ein nach dem Muster des fremdländischen Parlamen¬
tarismus gelähmter und beengter preußischer Monarch hätte dieses Problem
niemals zu lösen vermocht, und wenn anderseits zu jenem Zwecke an eine Rück¬
kehr zum Absolutismus gedacht werden durste, so erwies diese sich bei genauer
Prüfung als durch die Umstände ausgeschlossen. Mit König Wilhelm bestieg
ein Mann den Thron, welcher gegenüber dieser kritischen Situation und den
aus ihr entsprungenen Bedürfnissen der rechte Mann war. Mit seinem klaren
Blick und seinem festen Willen betrat und verfolgte er den Mittelweg zwischen
den Extremen, den Weg der Möglichkeit zwischen den Unmöglichkeiten des Parla¬
mentarismus und des Absolutismus. Seine Jugenderinnerungen hätten ihm
den letztern empfehlen können, seine militärische Laufbahn wies ihn ebenfalls
dahin, aber sein streng gewissenhafter Sinn, sein königliches Pflichtgefühl und sein
Verstand ließen ihn, Neigungen dieser Art zurückdrängend, die Bahn des Ver-
fcissuugsrechtes einschlagen und auch da nicht verlassen, wo es möglich schien.
Gott gab ihm „einen löblichen Kanzler," der ihn durch sein Genie ergänzte,
ihm in trüber Zeit „Seelenarzt" war und ihm dunkle Wege erleuchtete, und
er erkannte dessen Wert an und hielt fest und getreu zu ihm, und zwar nicht
bloß, wie man vermuten könnte, weil er unentbehrlich war. Wäre es aber
wirklich nur diese Rücksicht gewesen, so würde es immer noch ein Zeugnis für
den klaren und weiten Blick des Monarchen und für seine Befähigung sein,
seine Neigungen dem Staatswohle unterzuordnen, das in einer hervorragenden
Intelligenz vertreten und gefördert wird — eine Befähigung, die umsomehr zu
verehren ist, als sie bei Fürsten nicht oft gefunden wird, als ferner der Kaiser
ein starkes und sehr berechtigtes Gefühl von seiner Würde hat, und als es zu
keiner Zeit an Versuchen gefehlt hat, den Kanzler bei ihm in übles Licht zu
stellen und namentlich bei dem Monarchen die Empfindung hervorzurufen, daß
der Diener eigentlich der Herr sei und es sein wolle.
Zu diesen Eigenschaften kommt eine andre, die höchste in Zeiten der Ent¬
scheidung, wie sie Preußen und Deutschland in den Jahren der Regierung
König Wilhelms erlebten. Der Kaiser ist in erster Reihe Soldat, er ist der
Typus des preußischen Offiziers mit allen rühmlichen Zügen dieses Standes,
allen militärischen Tugenden und allen nützlichen Instinkten desselben. Er ver¬
körpert die Tradition der Armee, und sein Geist ist es, der sie beseelt, er hat
begriffen, was ihr vor 1860 fehlte, und ihm vor allen gebührt das Verdienst,
sie der Aufgabe gewachsen gemacht zu haben, die sie sechs Jahre zu lösen hatte.
Er hat die Schlacht bei Köuiggrütz gewonnen, nicht als Strateg, wohl aber
als der Schöpfer der gewaltigen Waffe, mit welcher der Sieg erfochten wurde.
Das preußische Militärsystem wurde seitdem mit seinen Vorzügen Gemeingut
aller deutschen Lande und damit das Werkzeug zu festerem Zusammenschluß
derselben und zur Gewinnung sicherer Grenzen nach Westen hin. Der rechte
Politiker führt Krieg nur um des Friedens willen, um sich dauernden Frieden
zu verschaffen. Als das erreicht war, verwandelte sich der Kriegsmann mit
der Kaiserkrone in den friedfertigsten Monarchen, den die Welt je gesehen hat,
und die Nachbarn lernten allmählich an diese seine Denkart glauben und ihr
vertrauen.
Der Kaiser ist sich hinsichtlich seiner politischen Anschauungen und seiner
Stellung zu den Parteien im wesentlichen immer gleich geblieben, obwohl die
Meinung über ihn wechselte. In den Märztagen von 1848 nahm man an,
daß er die Zugeständnisse seines Bruders an die Demokratie mißbillige und zu
einer Reaktion hinneige. Als infolge der Maßlosigkeiten des Liberalismus wirk¬
lich eine Reaktion hereinbrach und ihrerseits vielfach das billige Maß außer
Acht ließ und das Recht bedrohte, welches die neuen Institutionen gebracht
hatten, verlautete, daß der Prinz von Preußen die Ausschreitungen dieser Politik
ungern sehe, und infolge dessen erfuhr die öffentliche Meinung über ihn einen
Umschwung: er, der bisher zu den Freunden des mit dem Erlaß der Verfassung
begrabnen, zu den Fürsprechern des Absolutismus gezählt worden war, galt
fortan als gemäßigt liberal, und als nach 1854 die Nebenbuhlerschaft zwischen
Preußen und Österreich schroffere Gestalt annahm, ersteres sich mehr auf seine
nationale Aufgabe besann, und auch in der deutschen Bevölkerung sich lebhafteres
und verständigeres Streben in dieser Richtung zu erkennen gab, erschien Prinz
Wilhelm weiten Kreisen als stilles Haupt der Partei, welche auf eine Wieder¬
geburt Deutschlands unter der Leitung der Hohenzollern hinarbeitete. Die
Hoffnungen, welche sich an seine Person knüpften, als er im Verlaufe der Krank¬
heit seines Bruders zu dessen Stellvertreter in der Regierung berufen wurde,
erfüllten sich, zunächst nach der Seite der innern Politik Preußens. Der Prinz-
Regent entließ das bisherige Ministerium und ersetzte es durch Männer von
gemäßigt liberalen Grundsätzen. Zu gleicher Zeit sprach er in dem Reskript
vom 8. November 1858 seine politischen Maximen und Ziele aus. Dieselben
faßten sich in die Worte zusammen: Kein Bruch mit der Vergangenheit, aber
Reform, wo sich noch Willkür und Unbilligkeit zeigen. Es soll gewissenhaft
gehalten werden, was versprochen ist, aber auch fest abgewehrt, was nicht ver¬
sprochen ist. Die Phrase, daß die Regierung stetig liberale Ideen entwickeln
müsse, weil sie sich sonst selbst Bahn brechen würden, ist ein Irrtum. Wenn
in allen ihren Handlungen Wahrhaftigkeit, Gesetzlichkeit und Konsequenz sprechen,
so ist sie stark, weil sie dann ein gutes Gewissen hat. Nachdem sich dann das
Programm sehr entschieden gegen das orthodoxe Pharisäertum gewendet, welches
in die Kirche eingedrungen war, deutete es die Armeereform an, die dem Regenten
am Herzen lag, und damit zugleich die Ziele, die mit ihr allein erreicht werden
konnten. Indes standen die letztern wohl noch nicht völlig klar und fest vor
den Augen des Verfassers dieses Manifestes, wie ja auch Bismarcks Ansicht
von der Verwirklichung der deutschen Einigkeit durch Preußen in ihrer Ent¬
wicklung noch eine Stufe einnahm, welche nicht die letzte war. Zwar sagte das
Programm des Regenten, es würde ein verhängnisvoller Irrtum sein, wenn
man eine wohlfeile militärische Einrichtung für genügend halten wollte, da sie
in der Stunde der Gefahr die in sie gesetzten Erwartungen täuschen würde;
Preußens Heer müsse stark sein und Achtung gebieten, um, wenn es nötig, ein
schweres Gewicht in die Wagschale werfen zu können; dann aber hieß es weiter,
in Deutschland müsse Preußen moralische Eroberungen machen durch weise Gesetz¬
gebung im Innern, durch Anerkennung aller ethischen Kräfte und durch Heran¬
ziehung von einigenden Elementen wie der Zollverein, die Welt müsse erfahren,
daß es stets bereit sei, das Recht zu schützen. Eine feste, folgerichtige und that¬
kräftige Politik werde, unterstützt von Klugheit, sicher Preußen die Achtung und
den Einfluß gewinnen, über die es mit seinen phhsischen Mitteln allein nicht
gebieten könne.
Jeder von diesen Sätzen enthielt Wahrheit an sich, aber die in der Be¬
völkerung herrschende Partei eignete sich davon nur das an, was zu ihrer
Theorie und ihren Zwecken Paßte, und noch fehlte dem Monarchen der „löbliche
Kanzler," der mit genialein Blicke den Weg fand, wie diese Wahrheiten zu ver¬
wirkliche« waren. Was in dem Reskript gegen die Heuchelei der kirchlichen
Reaktion und über die Stellung des Regenten zur deutschen Frage gesagt war,
fand den Beifall der öffentlichen Meinung in der Presse und im Abgeordneten¬
hause, die Stellen über die Reorganisation der Wehrkraft Preußens dagegen
begegneten geringem Verständnis und kurzsichtigen Mißtrauen. Der Stil, in
welchem der Regent sich nach dem Tode seines Bruders krönen ließ, vermehrte
durch seine Betonung des Prinzips der Legitimität die Unzufriedenheit der
Liberalen, denen die Idee der Volkssouveränitüt noch von 1848 her in den
Gliedern steckte. Die Verstärkung der Armee erschien ihnen nicht als das, was
sie war, als Vorbereitung des deutschen Eiuignngswerkes, das sich, wie die Dinge
standen, auf friedlichem Wege, mit bloß moralischen Mitteln nicht beginnen ließ,
sondern als eine gegen sie selbst gerichtete Maßregel. Das Ministerium der
„neuen Ära" vermochte weder mit dieser Opposition fertig zu werden, noch mit
der Losung der deutschen Frage Fortschritt zu machen. Es folgte die Konflikts¬
zeit, der Kampf zwischen dem Parlamentarismus und dem recht verstandnen, auf
dem Wortlaute der Verfassung fußender Konstitutionalismus, in welchem Bismarck
dem Könige als neuer oberster Rat zur Seite stand. In der Thronrede vom
14. Januar 1862 sagte der Monarch dem Landtage, die Entwicklung der
preußischen Institutionen müsse so vor sich gehen, daß sie der Stärke und Größe
des Landes diene, nicht aber die Rechte der Krone und die Sicherheit Preußens
gefährde, und in einem an das Ministerium: gerichteten Reskripte vom 19. März
erklärte er es für seine Pflicht und feste Absicht, die Verfassung und die Rechte
der Volksvertretung in ihrer vollen Ausdehnung zu achten, zu gleicher Zeit aber
auch die Rechte der Krone ungeschmälert zu verteidigen und zu wahren, weil
Preußen dieselben zur Ausführung seiner Aufgabe bedürfe, und weil ihre
Schwächung den Untergang des Vaterlandes einschließen würde. Als die
Majorität des Abgeordnetenhauses die Kosten der Heeresreorganisation für das
laufende Jahre abzulehnen beschlossen, das Herrenhaus aber diesen Beschluß ver¬
worfen hatte, erklärte Bismarck: „Die Negierung Seiner Majestät des Königs
befindet sich in der Notwendigkeit, den Staatshaushalt ohne die in der Ver¬
fassung vorausgesetzte Unterlage führen zu müssen. Sie ist sich der Verant¬
wortlichkeit in vollem Maße bewußt, die ihr aus diesen beklagenswerten Zustande
erwächst, sie ist aber ebenso der Pflichten eingedenk, welche ihr gegen das Land
obliegen, und findet darin die Ermächtigung, bis zur gesetzlichen Feststellung des
Etats die Ausgabe» zu bestreikn, welche zur Erhaltung der bestehenden Staats¬
einrichtungen und zur Förderung der Landeswohlfahrt notwendig sind, indem sie
die Zuversicht hegt, daß dieselben seiner Zeit die nachträgliche Genehmigung er¬
halten werden. Sie ist von der Überzeugung durchdrungen, daß eine gedeihliche
Entwicklung unsrer Verfassungsverhältnisse nur dann erfolgen kann, wenn jede
der gesetzlichen Gewalten ihre Befugnisse mit derjenigen Selbstbeschränkung
ausübt, welche durch die Achtung der gegenüberstehenden Rechte und durch das
verfassungsmäßige Erfordernis der freien Übereinstimmung der Krone und eines
jeden der beiden Häuser des Landtages geboten ist."
Die Mehrheit des Abgeordnetenhauses ließ sich davon nicht überzeugen,
sie erkannte nur das Recht der einen von den drei Gewalten, ihr Recht an, sie
glaubte damit dem Könige andre Minister aufzwinge» zu können, und versuchte
zu dem Zwecke die Regierung in ihrer Politik nach Möglichkeit zu hindern.
Aber der König hielt, so sehr der Konflikt mit seinen Folgen für die Stimmung
eines großen Teiles der Bevölkerung sein Herz traf, fest an seinem Rechte und
seinen Räten, den Verteidigern dieses Rechtes, und für die preußische Politik,
für den Sieg der deutschen Idee, für welche die Opposition in ihrer blinden
Rechthaberei nur Worte hatte, gegen welche sie sogar Beschlüsse faßte, war dies
ein Glück. Die Festigkeit des Königs und seines ersten Ministers in diesem
Streite haben Preußen und mit ihm Deutschland groß gemacht. Der von der
Opposition erstrebte Parlamentarismus Hütte, wenn es ihm gelungen wäre, die
Oberhand zu gewinnen, das Gegenteil herbeigeführt. Hätte König Wilhelm
1860 bis 1866 sich gezwungen gesehen, seinen Wille» dem der Majorität des
Abgeordnetenhauses unterzuordnen und mit Ministern aus der Mitte dieser
Majorität zu regieren, so wäre die Umbildung der Armee unterblieben; denn
diese liberale Mehrheit begriff die Notwendigkeit derselben für die Verwirklichung
der deutschen Einigung nicht. Eine zweite Folge des zur Geltung gelangten
Parlamentarismus wäre gewesen, daß der König durch seine Regierung die
polnischen Rebellen von 1863 im Sinne jener Majorität ermutigt und unter¬
stützt und sich dadurch Rußland entfremdet hätte, dessen Wohlwollen Preußen
für seine Pläne in Deutschland dringend bedürfte. Endlich würde man 1864
in der Schleswig-holsteinischen Angelegenheit sich, wie das Abgeordnetenhaus
wollte, in die Dienste des Bundestages begeben und eine Bundesexekution mit
preußischen Mitteln vollzogen haben; die gemeinsame Operation mit Osterreich
wäre unterlassen worden, und Preußen wäre ohne diese der Maßregelung durch
die übrigen Großmächte verfalle», die Herzogtümer würden dann unter dänischer
Fremdherrschaft geblieben und der deutsche Bund würde durch den Gehorsam
Preußens gegen ihn verewigt worden sein oder wenigstens noch heute bestehen,
und mit ihm die Zerrissenheit und Ohnmacht der deutschen Nation,
lie Hannoveraner, welche auch andre Gaue und Städte des
deutschen Vaterlandes kennen gelernt haben, stimmen darin über¬
ein, daß sich die Gesellschaft in keinem Teile desselben so ho¬
mogen, so wie ans einem Guß entwickelt habe, wie in dem Ge¬
biete des ehemaligen Königreiches Hannover, Nur hier setzte sie
sich aus ganz bestimmten Kreisen zusammen und bewegte sich nach streng vor-
geschriebnen, von ihren Mitgliedern innegehaltnen Gesetzen, welche dem Fremden
zwar häufig wunderbar, aber dem Hannoveraner, der unter ihrem Zwange auf¬
gewachsen war, so selbstverständlich erschienen, daß er fern von der Heimat
überall die Institution vermißte, welche er unter jenem Namen kannte. Da
aber die festen Schranken, welche die alte hannoversche Gesellschaft zusammen¬
hielten und gegen alle ihr nicht angehörenden Elemente absperrten, infolge des
Eindringens altpreußischcr Anschauungen mehr und mehr zusammenbrechen,
so scheint es um der Zeit, ihrer Organisation und ihres auch jetzt «och nicht
erloschenen Einflusses in Kurze zu gedenken, ihre Vorzüge hervorzuheben, aber
auch ihre Mängel nicht zu verschweigen.
Flüchtige Schriftsteller, aber auch ernste Historiker, haben immer und immer
wieder behauptet, daß der hannoversche Adel während der Zeit, in welcher die
Kurfürsten aus dem jüngern Zweige des welfischen Hauses als Englands
Könige von Windsor Castle ans die halbe Welt beherrschten, das Stammland
derselbe» allein regiert habe. Dieser Anschauung liegt etwas Wahres zu Grunde,
und doch ist sie nur bis zu einem gewissen Punkte richtig. Zwar hatte der
Adel sich in der Justiz, in der Verwaltung, in der Armee die höchsten Stellen,
zumal die Stellen der Minister, der Präsidenten des Oberappellationsgerichts,
der Landdrosten, die des kommandirenden Generals — des Feldmarschalls,
wie sein Titel lautete —, vorbehalte»; aber dicht hinter ihm standen in zweiter
Linie bei allen Behörden Bürgerliche. Wir treffen sie als Geheime Kanzlei-
Sekretäre (vortragende Räte in den verschiednen Ministerien), als Räte bei den
verschiednen Gerichts! als Verwaltungsbeamte, und auch in der Armee,
selbst unter den Generalen, befand sich zu allen Zeiten eine große Zahl bürgerlicher
Offiziere. Ein Bürgerlicher führte als Brigadier die beiden hannoverschen Re¬
gimenter nach Ostindien, und dem Obersten von Estorff machte es zu einer Zeit,
wo in den preußischen Infanterie- und Kavallerieregimentern nur Adliche zu finden
waren, keine Schwierigkeit, die Versetzung des Fähndrichs Scharnhorst von der
Artillerie in sein Dragonerregiment zu erlangen.
In Wahrheit regierten jene bürgerlichen Beamten das Land. Wie sich
aber der Adel gegen sie abschloß, so schlössen sie sich gegen die andern bürger¬
lichen Familien ab und suchten das Eindringen neuer Elemente in ihren Kreis
möglichst zu erschweren. So entstand ein bürgerliches Patriziat, zu dem
vor allem die sogenannten schöne» Familien gehörten, aus deren Mitte im
Laufe des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts einige vom Kaiser und den
beiden letzten Königen des welfischen Hauses in den Adelsstand erhoben wurden.
Sie bildeten den jungen Adel, der bis zum letzten Augenblicke vom alten Adel
nie als gleichberechtigt anerkannt worden ist. Seine Söhne saßen z. B. im
Oberappellationsgerichte bis 1848 mit den bürgerlichen Räten auf der gelehrten
Bank, teilten auch mit diesen das Geschick, nicht Generalmajorsrang, wie die
Räte der adlichen Bank, sondern nur Brigadiersrang zu besitzen. Seine Töchter
wurden nur in bestimmten Klöstern aufgenommen, und wenn in einem der
Calemberger Klöster die Wahl einer Äbtissin bevorstand und zufällig keine alt-
adliche Dame an demselben vorhanden war, so mußte man sich sein Haupt
aus einem der andern Klöster wählen, wie dies noch unter Ernst August im
Kloster Mariensee geschah.
Der junge Adel suchte diesen Unterschied mehr und mehr zu verwischen.
Mit Vorliebe näherte er sich durch Heirat dem alten Adel und entfernte sich
auf diese Weise von den Kreisen, aus welchen er hervorgegangen war. Aber
auch diese konnten den starren Bann nicht aufrecht erhalten, welchen sie um sich
zu ziehen suchten. Zu verschiednen Zeiten drangen eine Menge novi Kom,in«Z8
in ihre Reihen, das einemal veranlaßt durch die napoleonischen Kriege, nach
deren Beendigung eine Menge Hannoveraner, die als Unteroffiziere oder Ge¬
meine in den englischen Dienst getreten waren, als Offiziere die Heimat wieder¬
sahen, das andremal 1848 und in den folgenden Jahren, während deren eine
Menge städtischer und Patrimvnialbeamten in den Staatsdienst aufgenommen
wurden. Exzellenz Windthorst gehört zu dieser Kategorie.
Der Adel, die Beamten und die Offiziere bildeten vereint in jeder han¬
noverschen Stadt die sogenannte erste Gesellschaft. Eine Ausnahme von dieser
Regel bestand nur in der Haupt- und Residenzstadt Hannover. In ihr war
der Adel stark genug vertreten, um sich von den andern Ständen abschließen
zu können. Er betrachtete das Recht, die sogenannte Hofgesellschaft zu bilden,
als sein ausschließliches Privilegium, und die Etikette kam ihm darin entgegen.
Nach ihr waren zwar sämtliche Offiziere und die bürgerlichen Beamten bis zu
einer gewissen Rangklasse herab hoffähig; ihre Frauen aber nicht, sobald sie
bürgerlicher Herkunft waren. Sogar die Bürgerliche, welche einen Adlichen
heiratete, wurde durch die Ehe nicht courfühig.
Der Hannoveraner ist es nun gewohnt, ja es wird sogar von ihm ver¬
langt, das; er einem Kind angehöre. So hatte denn auch der hannoversche
Adel seinen Versammlungsort im sogenannten englischen Klub, der noch heutigen
Tages das Hauptquartier der welfischen Partei ist, während die bürgerlichen
Beamten und Offiziere sich im Museum zu treffen pflegten. Doch kamen hierbei
auch Ausnahmen vor, und verschiedne Bürgerliche gehörten dem ersten, mehrere
Adliche dem letzten der beiden Klubs an.
Bezeichnend für das philosophische Jahrhundert ist es übrigens, daß bereits
bei Beginn der französischen Revolution in Hannover der erste und, soweit er
aus dem Schoße der Gesellschaft selbst hervorgegangen ist, der einzige Versuch
gemacht wurde, den Adel und den Bürgerstand in einer Gesellschaft zu ver¬
schmelzen. Die Ideen der großen Revolution hatten in den besten Kreisen der
hannoverschen Gesellschaft tiefe Wurzeln geschlagen, und ihnen entsprang jener
Versuch. Aber es erfolgten Reibungen. Man erinnert sich noch des Duells,
zu welchem der Herr von Knigge, freisinniger Äußerungen wegen, fast gezwungen
wurde. Ernster und für die Betreffenden folgenschwerer war ein andrer
Vorfall. Bei der hannoverschen Fußgarde standen damals die Kapitäne von
Bülow und von Mecklenburg; namentlich der letztere hatte dnrch freisinnige
Äußerungen, welche er in jener gemischten Gesellschaft über die französischen
Umwälzungen gethan hatte, die Aufmerksamkeit des kommandirenden General-
Feldmarschalls von Freytag auf sich gezogen. Infolgedessen erschien eine
Generalordre an sämtliche Regimenter und Korps der brannschweig-lüne-
burgischcn Truppen, ausgefertigt vom königlich großbritanmschen und kur¬
fürstlich brauuschweig-lüueburgischcn Kriegsgerichte, in welcher aufs strengste
getadelt wurde, daß in den gesellschaftlichen Unterredungen und Gesprächen
über die bekannten französischen Grundsätze von der Regierung der Länder und
von den Verhältnissen der Unterthanen zuweilen Behauptungen fielen, auch von
dem einen und andern öffentlich geäußert würden, die mit der Dienstpflicht eines
Offiziers nach dem Inhalte des von ihm geleisteten Huldigungs- und Dienst¬
eides sich uicht vereinigen ließen u. s. w.
Damit und mit einigen Erklärungen, welche der Herr von Mecklenburg
dem Feldmarschall gab, schien die Sache ihr Bewenden zu haben. Später
rückten Bülow sowohl als Mecklenburg mit der hannoverschen Fußgarde nach
Flandern. Damals hausten die englischen Soldaten im französischen Grenz¬
gebiete entsetzlich, und wenn wir auch nicht zugeben können, daß das Dekret
des Konvents, welches jedem englischen oder hannoverschen Soldaten Pardon
zu geben verbot, berechtigt gewesen sei, so müssen wir doch zugestehen, daß die
Bestie, welche in jedem englischen Soldaten schlummert, damals vollständig ans
Licht des Tages trat. Kaum gelang es später der eisernen Hand des Herzogs
von Wellington, sie zu zähmen; der damalige Oberbefehlshaber des alliirten
Heeres, der noch sehr junge Herzog von Dort, war aber umso weniger dazu
geeignet, als es ihm an der nötigen Erfahrung und Energie fehlte, und er es
verschmähte, auf den Rat alter erprobter Krieger, wie des Feldmarschalls von
Frehtag, zu hören.
Im Zeltlager vor Valenciennes äußerte sich einer der beiden genannten
hannoverschen Gardeoffiziere tadelnd über das Betragen der englischen Soldateska.
Es ward dem Herzog hinterbracht, doch war ihnen wegen dieser Äußerung
nicht beizukommen. So griff man denn auf die unvorsichtigen Redensarten
während jener gemischten Soireen zu Hannover zurück, und der Herzog vou
Jork erteilte unterm 5. Juli 1793 beiden den Befehl, sich in das Land zurück
zu begeben und sich dort zum Dienst zu melden.
Infolge wiederholter Anregung ihrerseits wurden sie später vor ein Kriegs¬
gericht gestellt, welches unter dem Präsidium des Generalmajors von Wangen¬
heim am 2. Juni 1794 zu Bruges in den Niederlanden abgehalten wurde. Es
entband sie von der gegen sie angeordneten gerichtlichen Untersuchung, sprach
sie also frei. Georg III. bestätigte von Se. James aus unterm 1. August 1794
diese kriegsgerichtliche Entscheidung, befahl aber auch, beiden Kapitänen bei Er-
öffnung des Kriegsrechtsspruches mitzuteilen, daß Se. königliche Majestät geruht
habe, sie in Gnaden zu verabschieden und ihrer Dienste zu entlassen.
Sowohl der Hauptmann von Mecklenburg als der von Bülow versuchten
alles mögliche, diese Entscheidung rückgängig zu machen — vergebens, trotzdem
daß dem erster» die Unterstützung seines Landesherrn, des Herzogs von Mecklen¬
burg-Schwerin, zuteil wurde. Da griffen beide zur Feder und schrieben kleine
Broschüren, in denen sie die ihnen widerfahrene Behandlung der Öffentlichkeit
übergaben. Man liest sie noch jetzt mit Interesse; genützt haben sie ihren Ver¬
fassern nichts. Sie haben dafür büßen müssen, daß sie über die Kvmmandvführung
eines königlichen Prinzen ein strenges, aber gerechtes Urteil gefällt hatten. Ans
den Versuch, beide Stände zu Hannover in gemeinsamer Geselligkeit zu einen,
wirkte der ganze Vorfall höchst ungünstig. Der Versuch wurde zwar nicht gleich
aufgegeben, litt aber unter dem Verdachte, daß jakobinische Grundsätze durch ihn
verbreitet würden, und ging daran zu Grunde.
König Georg V., der nach verschiednen Seiten hin die altüberlieferten
starren Formen der Hofetikette zu lockern suchte, wiederholte den Versuch, wenn
auch in andrer Form, in jenen Gesellschaften, welche er, nachdem die Prinzessinnen
Töchter erwachsen waren, zwar nicht im Schlosse, doch aber im Palais des
Georgengartens zu geben pflegte. Zu ihnen wurden anch die Frauen und
Töchter bürgerlicher Beamten und Offiziere befohlen. Dem Adel, der stolz auf
seine alten, bis in die neueste Zeit nur selten durch eine Mesalliance getrübten
Stammbäume ist, waren diese Bälle ein Dorn im Auge. Er nannte sie die
Mamsellenbälle und moquirte sich gewaltig über den König, der sie ins Leben
gerufen hatte, wie es denn überhaupt Thatsache ist, daß neun Zehntel aller
Geschichten, welche über den verstorbnen Fürsten und die verwitwete Königin
in Umlauf gesetzt und in spätern Tagen von ganz andrer Seite ausgebeutet
wurden, dem Kreise und dem Klatsch der Hofgesellschaft entsprungen sind.
In allen andern hannoverschen Städten hatten sich Adel und bürgerliche
Beamte und Offiziere soweit genähert, daß sie gesellig miteinander verkehrten
und zusammen die erste Gesellschaft des Ortes bildeten; die männlichen Mitglieder
pflegten sich allabendlich im Klub zu treffen. Wurde ein Beamter oder Offizier
nach einer der Mittelstädte Celle, Hildesheim, Lüneburg u. s. w. oder auch einer
der kleinern Städte versetzt, so war der erste Schritt, welchen er that, nachdem
er seine dienstlichen Meldungen abgemacht hatte, der, daß er sich durch einen
Bekannten oder Vorgesetzten in den ersten Klub des Ortes einführen, dem
Präsidenten vorstellen und als Mitglied in Vorschlag bringen ließ. That er
dies nicht, so konnte er sicher sein, daß er sehr bald auf seine versäumte Pflicht
aufmerksam gemacht wurde. Aus selbst ist einst von einem hannoverschen
Offizier erzählt worden, daß eines Tages sein Regimentskommandeur ihm sein
großes Mißfallen ausgedrückt habe, weil ein junger, zu seiner Kompagnie ver¬
setzter Offizier nach vierwöchentlicher Dienstzeit noch nicht im Klub in Vorschlag
gebracht worden war. Der betreffende Herr, obgleich nicht sehr geneigt, un¬
gerechte Vorwürfe über sich ergehen zu lassen, war von der Gerechtigkeit des
ihm zuteil gewordnen Verweises so vollkommen überzeugt, daß er seinen
Kommandeur wegen des Versäumnisses um Entschuldigung bat und dann den
jungen Kameraden zu sich rief. Dieser meinte nun zwar gehört zu haben, daß
es auf dem Klub sehr langweilig sei, äußerte auch, daß er ungern dort eintreten
würde. Jede weitere Rede schnitt ihm aber sein Hauptmann mit den Worten
ab: „Klubmitglied müssen Sie sein, mag es Ihnen dort gefallen oder nicht. Ich
werde Sie noch heute in Vorschlag bringen."
War der Kandidat in Vorschlag gebracht, so ward sein Name nebst dem
Namen desjenigen, der ihn vorgeschlagen hatte, an das schwarze Bret geheftet,
und nach bestimmter Frist über ihn, auch wenn er Offizier war, zur Ballotage
geschritten. Denn nie hat man in Hannover die Prätension verstanden, die in
dem Verlangen liegt, daß über einen Offizier nicht ballotirt werden dürfe. Zwar
wußte man ganz genau, daß das gesamte Offizierkorps aus dem Kind austreten
müsse, falls eins seiner Mitglieder bei der Ballotage nicht aufgenommen
würde, sagte sich aber auf der andern Seite, daß kein Grund vorhanden sei,
dort wo man über die Aufnahme der höchstgestellten Beamten, eines Präsidenten,
eines Landdrosten entschied, einem Sekondeleutnant dies zu ersparen. Die
Gleichberechtigung zwischen Militär und Zivil erforderte dies. Diese Anschauung
lag allen Klubgesetzen zu Grunde. Einzelne gingen sogar soweit, genau zu be-
stimmen, daß die eine Hälfte der Beamten dem Militär, die andre dem Zivil¬
stande angehören und daß der Präsident jährlich aus beiden Ständen wechseln
solle. Weil man aber jene Gleichberechtigung stets im Ange hatte, weil wenigstens
in den größer» Städten nur gebildete, formgewandte Männer Mitglieder des
Klubs waren, so ist es in Hannover nur selten zu Reibungen zwischen Militär
und Zivil gekommen.
War die Vallotage, wie gewöhnlich, zu Gunsten des Kandidaten ausgefallen,
so meldete sich schon am andern Morgen bei ihm der Klubdiencr, brachte ihm
den Aufnahmeschein und empfing das Eintrittsgeld nebst einem „Douceur."
Dann kam aber die schreckliche Folge in Gestalt der „Visiten", denn jedes Mit¬
glied des Klubs hielt sich für berechtigt, eine solche zu verlangen, zumal wenn
der Betreffende verheiratet war. Doch kam die Sitte dem Leidenden zu Hilfe.
Er nahm einen Wagen, feste sich mit Frnn und Kind hinein, den Lohndiener
mit den nötigen Visitenkarten auf den Bock, und fuhr von Hans zu Hans und
überall vorbei, während der Lohndiener die Karten abgab. Angenommen wurde
man nicht. Aber ebenso streng forderte die Sitte, daß man am nächsten Sonn¬
tage zu Hanse war, um die Gegenbesuche persönlich in Empfang zu nehmen. Es
erschien dies als so selbstverständlich, daß ein jung verheirateter oder neu ein-
getrosfener Offizier schon deswegen an dem betreffenden Sonntage von der
Parade dispensirt wurde.
Je länger diese Sitte Zeit gehabt hatte, sich auszubilden und der Ge¬
sellschaft in Fleisch und Blut überzugehen, desto strenger hielt man auf ihre
Befolgung. Einst geschah es, daß ein neu ernannter Landdrost es wagte, den
jüngern, unverheirateten Beamten und Offizieren nur seine Karte zu schicken,
aber nicht persönlich bei ihnen vorzufahren. Die Folge davon war, daß die
betreffenden Offiziere ihre Karten in ein Couvert zusammenlegten und letzteres
durch einen Diener dem Herrn überbringen ließen. Als er aber später
Einladungen zu dem ersten Ball ergehen ließ, den er zu geben beabsichtigte,
bedauerten sämtliche Offiziere und von den jüngern Beamten alle die, welche
nicht direkte Untergebene des Landdrosten waren, nicht teilnehmen zu können.
Nun war der Ball aber ganz unmöglich, wenn diese Herren fern blieben.
Da biß denn der Herr Landdrost in den sauern Apfel, setzte sich in seinen
Wagen, fuhr persönlich bei den verletzten Herren vor, erhielt am nächsten Sonntag
die vorschriftsmäßigen Gegenbesuche und gab im Laufe der darauf folgenden
Woche seinen Ball.
Selbst in einer Mittelstadt, wie Osnabrück z. V., mußten auf diese Weise
eine Menge Besuche gemacht werden. Indessen war durchaus nicht gesagt, daß' der,
welcher den Besuch machte, auch gewillt sei, mit dem, welchem der Besuch gemacht
wurde, in nähern geselligen Verkehr zu treten. Denn den unglücklichen Gedanken,
daß mit einem Besuche auch das Verlangen nach einer Einladung verbunden sei,
diesen Ruin aller Geselligkeit kannte man gottlob in Hannover nicht.
Uebrigens repräsentirte nur in Celle, der hannoverschen Juristen- und
Vcnmteustadt x^r vxoollovLv, der dortige erste Klub — der adliche Klub, wie er
im Munde des Volkes hieß — zu gleicher Zeit die erste Gesellschaft der Stadt.
Ihm gehörten die Präsidenten und Räte der beiden dort befindlichen Gerichte
an, außerdem die höhern Verwaltungsbeamten, die Generalität, die Offiziere
der beiden in Celle garnisvnirenden Regimenter, wie die Offiziere außer Dienst
und die Mitglieder einiger dort wohnenden adlichen Familien, welche den Aufent¬
halt in Celle dem in Hannover vorzogen. Ihnen schlössen sich einige Ärzte an,
während der größte Teil derselben, die sämtlichen Rechtsanwälte, die Lehrer,
die reichen Bankiers und Kaufleute die zweite Gesellschaft bildeten, deren Mittel¬
punkt ebenfalls ein Klub war. Daß zwischen seinen Mitgliedern und denen des
ersten eine gewisse Rivalität stattfand, ist nicht zu leugnen. Doch wurde gerade
in Celle, und zwar aus dem Kreise der ersten Gesellschaft heraus, der
Versuch gemacht, die gar zu enge Fessel zu sprengen, welche Sitte und Her¬
kommen um beide Kreise gelegt hatte, ein Versuch, der sich auch nicht unerheb¬
licher Erfolge rühmen konnte, im großen und ganzen aber doch den gehegten
Erwartungen nicht entsprach.
In den andern größern hannoverschen Städten, in Hildesheim, Osnabrück,
Lüneburg ?c. hatten sich dagegen beide gesellschaftlichen Kreise von vornherein
so weit genähert, daß ihre männlichen Mitglieder demselben Klub angehörten
und daß sie mit ihren Familien die von ihm veranstalteten geselligen Ver¬
gnügungen besuchten; leugnen läßt sich aber nicht, daß der Gegensatz zwischen
erster und zweiter Gesellschaft in diesen Vereinigungen fortbestand, und daß eine
vollständige Verschmelzung beider niemals stattgefunden hat.
Auf den Klubs selbst begegnete man sich gegenseitig stets mit der größten
Urbanität, dafür sorgten schou die Formen, in denen der Hannoveraner Meister
ist und auf die englischer Einfluß mächtig gewirkt hat.
Während der französischen Okkupation hatte eine massenhafte Aus¬
wanderung hannoverscher Offiziere und Beamten nach England stattgefunden.
Infolge des Sturzes der Fremdherrschaft kehrten sie in die Heimat zurück.
Aus der englisch-deutschen Legion traten bei der nach den Freiheitskriegen
erfolgten neuen Formation der hannoverschen Armee fünf Kavallerieregimenter,
die Artillerie und das Jngenieurkorps geschlossen in dieselbe ein, während
aus ihrer Infanterie drei Garde-Grenadier- und ein Garde-Jägerbataillon
formirt wurden. Die Offizierkorps dieser Truppcnabtcilungen bestanden fast
ausschließlich aus ehemaligen Legionären. Peknniär waren sie ausgezeichnet
gestellt. Gemeinsam bestandne Gefahren und Abenteuer verbanden sie durch ein
festes kameradschaftliches Band. So war es ihnen denn ein leichtes, die Sitten
und Gebräuche, welche ihnen in der Ferne lieb geworden waren, in die Heimat
zu verpflanzen. Sie waren es, die mit den „Messen", d. h. mit den gemein¬
samen Speisetischcn der Offiziere eines Regiments, eine militärische Institution
der hannoverschen Armee überlieferten, die keiner mit Stillschweigen übergehen
kann, der althannoversche Zustände schildern will.
Ordentliches Mitglied der Messe eines Regiments war jeder Offizier,
welcher demselben angehörte. Da aber die gesamte Einrichtung vom Silberzeug
an bis zum Herd und Küchenschrank herab Eigentum des Offizierkorps war,
so mußte jeder in das Regiment versetzte und jeder neu ernannte Offizier das
Recht des Mitbesitzes an jenem Eigentum durch Zahlung einer erheblichen Ein¬
trittssumme erkaufen. Dem Offizierkorps eines Regiments nicht angehörende
Offiziere oder Militärbeamte konnte durch Beschluß des ersteren das Recht
erteilt werden, als außerordentliche Mitglieder an der gemeinsamen Mittagstafel
teilzunehmen.
Jedes Offizierkorps besaß gedruckte Meßgcsetze, von denen ein Exemplar
jedem ordentlichen und jedem außerordentlichen Mitglied« der Messe übergeben
wurde; bei Abänderung derselben hatten die Herren der letzgenannten Kategorie,
und mochte der Brigade- oder gar der Divisionskommandeur zu ihnen gehören,
ebenso wenig mit zu stimmen, als sie, selbst wenn sie an der Tafel teilnahmen,
verlangen konnten, bei irgendeiner allgemeinen Frage, z. B. der, zu welcher
Stunde gespeist werden solle, gehört zu werden.
Jeder unverheiratete Offizier des Regiments mußte an der täglichen Mittags¬
tafel erscheinen. Zur bestimmten Stunde trafen sich dort sämtliche unverhei¬
ratete Stabsoffiziere, Hauptleute, Leutnants und Ärzte, welche in hminoverschen
Diensten vollberechtigte Mitglieder des Offizierkorps waren. Regelmäßig einmal
im Monat, am sogenannten Gasttage, erschienen auch die verheirateten Offiziere
auf der Messe. An diesem Tage spielte die Musik, es wurden einige Schüsseln
mehr als gewöhnlich aufgetragen, und die Offiziere, welche im eignen Hause
keine Gesellschaften gaben, pflegten sich dort ihrer geselligen Pflichten zu entledigen.
Außerdem spielte die Musik gewöhnlich noch an einem zweiten Tage im Lause
des Monats auf der Messe, dann erschienen die verheirateten Offiziere erst nach
aufgehobener Tafel, und es wurden nur die gewöhnlichen drei Gänge aufge¬
tragen. Übrigens waren diese, wie auch die äußere Ausstattung der Tafel,
täglich derart, daß man einen Gast zur Messe einladen konnte; wie es denn
auch Gebrauch war, daß verheiratete Offiziere, welche Besuch bekamen, ohne daß
die Hausfrau auf den Empfang desselben vorbereitet war, diesen nach der Messe
führten.
Den Vorsitz bei Tisch führte ein Präsident, ein Vizepräsident unterstützte
ihn. Den Anordnungen des erster» mußte unweigerlich Folge geleistet werden.
Beide Ämter wechselten wöchentlich unter den berechtigten Offizieren; zur Über¬
nahme der Präsidentschaft war jeder Offizier nach zweijähriger, zur Vize¬
präsidentschaft nach einjähriger Dienstzeit berechtigt.
Die Stabsoffiziere, welche an der Tafel teilnahmen, wurden gewöhnlich
von den Lasten beider Ämter dispensirt. Gab aber das Offizierkorps eines
Regiments ein sogenanntes Korpsdincr, hatte es zu einem solchen eine hochge¬
stellte Persönlichkeit oder gar ein ganzes befreundetes Offizierkorps eingeladen,
so übernahm der Regimentskommandeur selbst den Vorsitz. Nie aber konnte
ein Brigadier ?e, denselben fordern. Sie waren außerordentliche Mitglieder.
Wir haben schon angedeutet, daß die Lasten des Präsidenten groß waren.
Schlug die Stunde, an welcher gespeist werden sollte, so ergriff er das Zeichen
seiner Würde, den elfenbeinernen Hammer, welcher neben seinem Couvert lag,
schlug damit auf den Tisch und rief: „Meine Herren, ich bitte Platz zu nehmen."
Dann reihten sich rechts und links die Kameraden ohne Unterschied des Ranges
ihm an, und kam einer nach jenem feierlichen Moment, so trat er, und wenn es gleich
der Regiments- oder Brigadekommandeur war, an den Präsidenten, der ruhig
sitzen blieb, heran, bat sein verspätetes Kommen zu entschuldigen und bediente
sich, nach erfolgter Aufforderung des Präsidenten, Platz zu nehmen, des nächsten
freien Stuhles, der gewöhnlich unten an der Tafel zu finden war. Darauf
legten der Präsident und der Vizepräsident die Suppe vor, ersterer zerlegte
den Braten, nachdem er feierlichst die Bratengcsuudheit ausgebracht hatte
(„Meine Herren, auf das Wohl der Damen!" und feierliche Verbeugung nach
alleu Seiten hin). Außerdem hatte er hundert Bitten zu gewähren oder ab¬
zulehnen, vor allem aber die Tischdisziplin aufrecht zu erhalten, auch unter
anderen dort einzugreifen, wo ein Gespräch eine zu hitzige oder zu schlüpfrige
Wendung zu nehme» drohte. Schließlich hob er die Tafel auf. Dann wurde
letztere geräumt, das Weiße Tischtuch abgenommen, das darunter liegende grüne
kam zum Vorschein, der Kaffee wurde servirt, die Zigarren wurden angezündet,
jeder konnte ohne Anfrage aufstehen, lesen, sich entfernen; die Macht des Prä¬
sidenten wurde nur noch in beschränktem Maße ausgeübt.
Ebenso groß wie die Last war aber auch der Respekt, mit dem ihm von
allen Seiten begegnet wurde. Jeder Fremde, welcher als Gast die Räume der
Messe betrat, wurde ihm zuerst vorgestellt; seineu Anordnungen wurde unbe¬
dingt Folge geleistet. Um aber seiner Macht Ausdruck und seinem Willen
Nachdruck geben zu können, war er mit einer gewissen Stmfgcwalt ausgerüstet.
Er konnte kleine Geldstrafen verhängen, gegen welche der Bestrafte nur, nachdem
die Woche, während welcher der Präsident sein Amt verwaltete, verflossen war,
eine Appellation an die Entscheidung der gesamten Tischgesellschaft richten konnte.
Aber wehe dem Appellanten! Neunundneunzig unter hundert wurden mit ihrer
Beschwerde abgewiesen und mußten dann die doppelte Strafe zahlen. Die
ältern Offiziere hielten streng darauf, daß die Autorität des Präsidenten nicht
erschüttert wurde.
So konnte es kommen, daß einem jungen Leutnant als Präsidenten der
Messe ein Stabsoffizier vorgestellt wurde; es konnte sich aber auch ereignen,
daß ein solcher seinen Bataillonskommandeur in gute Groschen Strafe nahm,
weil sein Bedienter nicht rechtzeitig zur Aufwartung erschienen war. Wir er-
innern uns genau, gehört zu haben, daß ein preußischer Offizier eines Tages
einem hannoverschen gegenüber diesen Vorgang für unmöglich erklärte. Auf
Verlangen richtete er eine darauf bezügliche Frage an den anwesenden .Kom¬
mandeur des Regiments, auf dessen Messe er sich als Gast befand. Lachend
erwiederte dieser, daß es nicht nur möglich sei, souderu daß er es sogar jedem
Offizier im höchsten Grade verargen würde, der ihm gegenüber eine Ausnahme
von der Regel machen wollte.
Ein eigentümliches Verfahren Gästen gegenüber hat den hannoverschen
Messen außerhalb des Laudes einen bösen Namen gemacht. Erschien ein Offizier
mit einem Gaste auf der Messe, so war das erste, den Gast dein Präsidenten,
darauf aber auch sämtlichen übrigen anwesenden Herren vorzustellen. Dann be¬
legte er für ihn den Ehrenplatz an der Seite des Präsidenten, der einzige Fall,
wo dies gestattet war. War dann die Suppe genossen, stand der Wein auf
dem Tisch, der, beiläufig gesagt, nur in geschliffenen Karaffen erscheinen durfte,
so konnte der Wirt sicher darauf rechnen, daß einer seiner Kameraden nach dem
andern einen der Diener mit den Worten sandte: „Herr Leutnant oder Herr
Hauptmann N. N. wünscht mit dem Herrn Oberst, Hauptmann ?c, und seinem Gast
ein Glas Wein zu trinken." Sobald diese Botschaft überbracht war, füllte der
Wirt das Glas seines Gastes wie sein eignes, dann wurden die Gläser er¬
hoben, man verbeugte sich gegen den Herrn, von dem die Aufforderung ergangen
war, wie dieser gegen sie, und beide Parteien leerten ihre Gläser. Bei dieser
Haupt- und Stciatsaktivn galt aber die alte Regel: MI vient ^on pill, i»ut
örinlc v1ig,t ^on nit. Es genügte, wenn nur einige Tropfen im Glase waren,
aber ausgetrunken mußte werden. Wer diese Regel nicht kannte oder nicht be¬
folgte, mußte die Folge» des zuviel genossenen Weines ertragen. Diesem Ge¬
schick verfielen fremde Herren sehr häufig und pflegten daun den Messen das
zur Last zu legen, was nur Folge ihrer mangelnden Kenntnis der hannover¬
schen Sitten war.
Das Anstoßen und Anklingen mit den Gläsern war verpönt. Wenn am
Geburtstage des Königs die Gesundheit Sr. Majestät ausgebracht war, erhob
sich jeder, sobald das Hipp, hipp, hipp, hurrah! erscholl, von seinem Sitze,
faßte sein Glas mit der rechten Hand, leerte es, sobald die letzten Töne des
Hock SÄVö dirs Kinx verhallt waren und setzte sich wieder. Ein Greuel ist uoch
heute jedem Althaunovercmer das wirre, wilde Gerenne, welches entsteht, wenn
alles sich herandrängt, um mit dem anzustoßen, welcher die betreffende Gesundheit
ausgebracht hat.
Doch genug davon. Es war eine Folge der eben geschilderten Verhält¬
nisse, daß die Offiziere eines Regiments sich gegen einander zwar nicht ans dem
Fuße vollkommner Gleichheit bewegten, daß aber die jüngern in den ältern nicht
den Vorgesetzten, sondern das Alter und die größere Erfahrung ehrten. Man
benahm sich als Gentleman und verkehrte außer Dienst als solcher miteinander.
Übrigens hatte das sonst sehr strenge hannoversche Militärstrafgesetzbuch dieser
Auffassung dadurch einen gesetzlichen Hintergrund gegeben, daß es einen scharfen
Unterschied zwischen Jnsubordiuntionsvergehen machte, die in und außer Dienst
erfolgt waren.
Wir fügen hier noch eine kleine Anekdote ein, die genau genommen nicht
hierher gehört, in der sich aber scharf und drastisch der Unterschied spiegelt,
welchen der hannoversche Offizier gewohnt war, zwischen seiner Stellung als
solcher und seiner Stellung als Gentleman zu machen. In den dreißiger Jahren
hatten die Stände des Königreichs den Kapitänen der Artillerie die Nationen
gestrichen, welche sie bis dahin für ihre Dienstpferde bezogen hatten. Die Re¬
gierung war schwach genug gewesen, darauf einzugehen. Entweder mußten also
die betreffenden Offiziere ihren Dienst zu Fuß thun oder ihre Pferde aus
eignen Mitteln erhalten. Bald nachher kam der Herzog von Cambridge, da¬
mals Vizekönig von Hannover, nach Stade, um die dortigen Truppen zu besich¬
tigen. Als er ans den Artillerieexerzierplatz kam, fand er dort die Batterie
des Hauptmanns Braun, den Kapitän zu Fuß vor derselben. „Aber Kapitän
Braun — redete der Herzog den Kapitän an, den er noch von den Zeiten der
Legion her persönlich kannte —, aber Kapitän Braun, zu Fuß?" — „Zu Befehl,
königliche Hoheit, Kapitän Braun hat kein Pferd, aber Gentleman Braun hält
sich Pferde." Infolge dieses Rencontres wurden den Kapitänen der Artillerie
die ihnen gestrichenen Rationen möglichst bald wieder bewilligt.
Die Formen, die wir oben geschildert haben, wurden von den Beamten,
wie überhaupt von den Herren des Zivilstandes nachgeahmt. Auch sie einem
sich, wenn sie unverheiratet waren, zu geschlossenen Mittagsgemeinschaften, an
denen die Sitten und Gebräuche der Messen, wenn auch nicht mit der Strenge,
welche diesen eigentümlich war, beobachtet wurden. An ihnen pflegten in den
Orten, die keine größere Garnison besaßen, in denen aber eine Schwadron ihr
Stabsquartier hatte oder sich ein kleines Jnfanteriekommcmdo befand, die
Offizieren dieser kleinen Abteilungen, wie die unverheirateten Offiziere a. D.
teilzunehmen.
In Harburg z. B. bestand jahrelang ein geschlossener Tisch auf dem Keller,
an dem die dortigen unverheirateten Beamten und Offiziere in und außer
Dienst, sowie einige andre junge Leute von Stand und Bildung speisten, zu
dem aber keiner zugelassen wurde, ehe er sich der vorgeschriebenen Ballotage
unterworfen hatte. Ihm gehörten als außerordentliche Mitglieder alle ver¬
heirateten, zur dortigen Gesellschaft zählenden Herren an, und die Aufnahme in
seine Listen galt für so notwendig, daß es in ganz Hannover und weit über
Hannover hinaus großartiges Aufsehen machte, als die Tischgenossenschaft
dem neu ernannten Bürgermeister der Stadt die Aufnahme verweigerte.
Es ist natürlich, daß alle Sitten und Gebräuche der Messen und der
gemeinsamen Tafeln der Zivilisten dem Hannoveraner so zur andern Natur
wurde», daß er sie unwillkürlich auch auf dem Klub anwandte, dem er an¬
gehörte. Zum Präsidenten desselben ward in der Regel einer der ältesten,
vornehmsten und im Range höchststehenden Mitglieder der Gesellschaft gewühlt.
Doch war es sehr selten, daß der vornehmste Herr diese Stellung bekleidete.
Auch hier repräsentirte der Präsident die Gesellschaft; ihm wurden fremde Gäste
zuerst vorgestellt, er führte bei gemeinsamen Mittagsinahlen den Vorsitz, er
brachte am Geburtstage des Königs die Gesundheit desselben aus und hatte
vor allem die Klubdisziplin aufrecht zu erhalten. Ihm zur Seite standen eine
Anzahl Beamte, die sich in die verschiednen Ämter teilten und auf vielen
Klubs zur Hälfte aus Zivilisten, zur andern Hälfte aus Offizieren bestanden.
Der Verkehr der Mitglieder der Klubs untereinander war frei und un¬
gezwungen; selten kamen Reibereien vor, und fast nie ist das ungetrübte Ver¬
hältnis zwischen Zivil und Militär gestört worden. Daran haben selbst die
verschiednen politischen Ansichten nichts geändert. Kamen einmal Differenzen
zum Vorschein, so war man sofort bereit, einzulenken und Frieden zu stiften.
Denn in keinem andern deutschen Lande war man toleranter in Bezug auf
Andersdenkende und geneigter, Ansichten zu dulden, welche den eignen entgegen¬
gesetzt waren, als in Hannover. Wohl befanden sich unter den Beamten und
Offizieren einzelne Männer, welche man Demokraten nannte; dies hinderte aber
den Verkehr mit ihnen nicht. Stüwe trank jeden Abend im Klub zu Osnabrück
seine halbe „Notspohn" und keinem der hannoverschen Aristokraten, Beamten
oder Offiziere, die mit ihm dort zusammentrafen, ist es denkbar erschienen, daß
er ausgeschlossen würde. Der Fall in Harburg, den wir oben erwähnten,
richtete sich gegen einen Mann, der 1848 mit nach Stuttgart gegangen war
und damit ein in den Augen eines großen Teiles der Hannoveraner unverzeih¬
liches Verbrechen begangen hatte. Und doch ist seine Nichtaufnahme von vielen,
selbst von streng konservativer Seite verurteilt worden. Sie hatte Weiterungen
zur Folge, in deren Verlauf sich die Gesellschaft auflöste, um sich dann, unter
Teilnahme des Bürgermeisters, neu zu organisiren. Offiziere waren es gewesen,
die seine Abweisung veranlaßt hatten; ein Offizier, der später seine Königstreuc
bei Langensalza mit seinem Blute besiegelte, war es, welcher die Reorganisation
der Tischgenossenschaft zustande brachte.
Einmal ging das Geschick, wegen politischer Gesinnung uicht aufgenommen
zu werden, dicht an einem Herrn vorüber, der später eine nicht unbedeutende
politische Rolle gespielt hat. Er hatte im Jahre 1848 den Mund etwas sehr
voll genommen und ließ sich einige Zeit nachher als Rechtsanwalt in einer
Stadt nieder, in welcher man seine Vergangenheit kannte. Ihm war es un¬
bedingt nötig, in den Klub und damit in die erste Gesellschaft aufgenommen zu
werden; er fürchtete aber, nicht ohne Grund, daß ihm seine Absicht mißlingen
würde. Zwar war er mit einem Stabsoffizier des Infanterieregiments verwandt,
doch erfreute sich dieser, welcher einst Jeromes Garde du Corps angehört hatte,
keines großen Einflusses. Es gelang ihm aber, einen andern Stabsoffizier des
Regiments zu gewinnen, einen der alten Krieger von der Albuera, Vittoria und
la Haye Sande, der eines Tages den jungen Rechtsanwalt zur Aufnahme in
den Klub vorschlug. Es folgte allgemeines Staunen, viel Murren und Un¬
zufriedenheit, dann aber erklärten die ältern Offiziere, Premicrleutuauts und
Hauptleute, daß der alte Herr nicht im Stich gelassen werden dürfe, und so
wurde ausgemacht, auf den Klub zu gehen und geschlossen für die Aufnahme
des fürchterlichen Demokraten zu stimmen. Zu gleicher Zeit ward dem be¬
treffenden Kavallerieregiment Mitteilung von diesem Gesinnungswechsel gemacht,
und das Offizierkorps desselben, welches Mann für Mann gegen die Aufnahme
gestimmt haben würde, blieb an dem betreffenden Tage fern, um es mit den
Kameraden von der Infanterie, mit denen es immer in der besten Harmonie
gelebt hatte, nicht zu verderben.
Häufig war es der Klub, von dem die gemeinsamen Vergnügungen der
Gesellschaft ausgingen, und haben wir bis jetzt nur von der stärkern Hälfte des
menschlichen Geschlechts gesprochen, so wenden wir uns hiermit schließlich der
schönern Hälfte zu, die wie überall, so auch im gesellschaftlichen Leben Han¬
novers die leitende Rolle hatte. Zwar konnte die Frau an den einmal fest¬
stehenden Formen nichts ändern; ihrem Einfluß sowohl als dem stark aus¬
geprägten ständischen Geiste des Hannoveraners ist es aber zuzuschreiben, daß
eine Verschmelzung der beiden oben geschilderten Kreise niemals gelungen ist.
Vielleicht hat kein Adel der Welt bis in die neueste Zeit herein so streng
ans reines Blut gesehen wie der hannoversche. Mesalliancen waren äußerst
selten, und heiratete ein Aolicher eine Bürgerliche oder umgekehrt, so gab es
Naserümpfen die Hülle und Fülle. Ebensowenig liebten es aber auch die
bürgerlichen Offiziere Und Beamten, wie ihre Schwestern und Töchter in die
Kreise der zweiten Gesellschaft hinabzusteigen, wenn auch in dieser viel mehr Reich¬
tum vorhanden war als in der ersten. Denn Geld allein schaffte in Hannover
keine soziale Stellung, und wir erinnern uns noch wohl, daß ein Offizier seinen
Abschied nehmen mußte, um sich mit der Tochter eines Schiefergrnbenbesitzers,
der seiue Karriere als Dachdecker begonnen hatte, ehelich verbinden zu können.
Sehr selten geschah es, daß eine Frau aus der zweiten Gesellschaft in der ersten
Einlaß fand, wie es auch nur ausnahmsweise geschah, daß Damen der letztern
in den Häusern der reichen Kaufleute, Weinhändler und Bankiers verkehrten.
Zwar machten auch jung verheiratete Paare wie neu zugezogue Familien
ihnen die hergebrachten Besuche, damit aber war der äußern Form Genüge ge¬
leistet. Ward man eingeladen, so bedauerte man in der Regel tief, wegen Krank¬
heit verhindert zu sein, machte den feierlichen Danksagungsbesuch, aber — lud die
betreffende Familie nicht wieder ein; man „gab ja keine großen Gesellschaften."
Nur selten traf man sich in Privatgesellschaften. In Celle schlechterdings
nicht. In andern Orten dort, wo der Herr des Hauses sich durch seine Stellung
für verpflichtet hielt, alles das einzuladen, was nur irgendeine Berechtigung
dazu hatte. Aber die Generale und Regimentskommandeure, die doch Repräsen-
tationskvsten bezogen, beschränkten gewöhnlich ihre Einladungen auf die wirklich
erste Gesellschaft.
Gab aber der Klub eine Gesellschaft, einen Ball oder dergleichen, so er¬
schienen dort die Damen beider Kreise und wurden vom Präsidenten mit der¬
selben ausgesuchten Höflichkeit und denselben Formen empfangen, begrüßten sich
auch gegenseitig und sorgten dafür, daß Fremde allseitig vorgestellt und bekannt
gemacht wurden. Später führte aber der Präsident die vornehmste Frau zu
Tische, und die Herren suchten sich ihre Tischgenossinnen unter den ihnen näher
bekannten Damen. Damit teilten sich aber beide Gesellschaften, um bis zum
nächsten Klubball wieder getrennt neben einander herzugehen.
?^ND>
MW
WMse es nicht manchem unsrer Leser auch schon so gegangen, daß
ihm der Zufall ein Gedicht, einen Aufsatz, ein Bändchen eines
Autors in die Hände spielte, die ihn so interessirten, daß er sich
entschloß, alles kennen zu lernen, was von diesem einen Schrift¬
steller gedruckt worden sei? Im Grunde macht man auf diese
Weise seine interessantesten literarischen Bekanntschaften. Es kann geschehen, daß
man sich im Verlaufe der weitern Lektüre enttäuscht fühlt, daß der Zufall uns
gerade das Beste zuerst geboten hatte, gerade das, was die Originalität und
Eigentümlichkeit des Autors am meisten bekundete und deshalb auch so anzog;
es kann aber auch das Gegenteil eintreten. In jedem Falle aber greift man
neugierig nach einem Buche, welches den Namen des Autors trägt, zu dem mau
unversehens ein persönliches Verhältnis gewonnen hat: man ärgert oder freut
sich über ihn, läßt sich überraschen oder hat es schon vorausgesehen — in keinem
Falle aber läßt man etwas ungelesen, was er geschrieben hat.
So ist es mir mit Heinrich Steinhaufen ergangen, und da er in der That
ein merkwürdiger Autor ist, so will ich auch meine Geschichte erzählen. Der
Zufall, wie gesagt, und nicht die zahlreichen Inserate des Verlegers seiner
„Jrmela" um die vorige Weihnachtszeit, erweckte mein Interesse für ihn. Da
kamen mir vor einiger Zeit zwei dünne, schon mehrere Jahre alte Broschüren
in die Hand: „Zufällige Herzenserleichterungen eines einsamen Kunst- und Lite¬
raturfreundes, herausgegeben von Heinrich Steinhausen." Solche Herzenserleich-
terungen, muß ich gestehen, haben ans mich stets eine eigne Anziehungskraft,
Was an der heutigen Kritik so sehr zu vermissen ist, scheint mir die starke und
originale Subjektivität des Kritikers. Es ist garnicht zu sagen, wie langweilig
und in Wahrheit doch auch recht unfruchtbar alle jene Kritiken sind, die sich
auf den hohen Thron der sogenannten Objektivität oder des historischen Stand¬
punktes oder der wissenschaftlichen Parteilosigkeit setzen. Ich meine natürlich
nicht jene Subjektivität, welche aus der guten Freundschaft mit dem betreffenden
Künstler oder Dichter entsteht, oder gar der Disziplin der Clique, die weithin
die Parole ausgiebt für eine neue Erscheinung, ihr Dasein verdankt. Nein, jene
Subjektivität meine ich, welche stark fühlenden, energischen Naturen eigen ist,
die mit ihrer ganzen Seele den Eindruck eines neuen Kunstwerkes als ein Er¬
lebnis in sich aufnehmen, die mächtig gegen die Außenwelt reagiren, denen die
Anschauung eines neuen Gemäldes, die Lektüre einer neuen Dichtung zur ab¬
scheulichen Qual oder zur höchsten Freude wird, und die den Mut und die
Begabung haben, sich auch demgemäß rückhaltlos zu äußern. Das sind die
wahren und berechtigt subjektiven Kritiker: sie tragen ein positives künstlerisches
oder literarisches oder wissenschaftliches Ideal im Herzen, und ihnen allein kann
der Ehrentitel der „produktiven Kritik" zugesprochen werden. Die Satire z. B.
hat nur in einer solchen Anlage ihre Quelle — und wie willkommen müßte
heutzutage ein Satiriker sein! wieviel Stoff zum Angriff häufen die Narren
und Spekulanten, die Streber und Ideologen in Kunst und Literatur für seine
Angriffe auf! Dennoch ist heute alles merkwürdig zahm, die Kameraderie be¬
herrscht alles, man bewundert sich gegenseitig, um sich nicht die — Honorare
zu schädigen.
Also schon der Titel „Herzenserleichterungen" gefiel mir, mehr noch aber
der Inhalt. Die erste Broschüre*) richtet sich gegen die ägyptischen Romane
des Herrn Professor Georg Ebers und weist an dem Beispiele der „Schwestern"
das Ungereimte dieser historischen Poesie nach, welche ausdrücklich auf urkund¬
lichen Forschungen aufgebaut zu sein vorgiebt und doch nur moderne Anschau¬
ungen und Empfindungen einer fernen Vergangenheit unterschiebt — „Memphis
in Leipzig"! Die Kritik, welche Steinhausen an dem Romane vom historisch-
realistischen, sittlichen und stilistischen Standpunkte übt, ist wahrhaft vernichtend.
Wie feinsinnig und treffend sind aber auch Steinhausens allgemeine Bemerkungen
über das Verhältnis von Poesie und Historie! „Es giebt für die Menschheit
so gut wie für die Einzelnen eine doppelte Vergangenheit: eine, die wirklich war,
und eine, wie sie in jener und dieser fortlebt. Wir verlegen das Bessere, was
uns fehlt, ebenso gern zurück in Zeiten, welche waren, als wir zukünftigen ver¬
trauen, daß sie unsern verhagelter, vertrockneten oder erfrornen Freudenblüten
oder Fruchtknospen noch einmal ihren Mai bringen werden und ihre Sonne —
wenn nicht hier, doch jenseits des Grabes. ... So sag' ich, ist's mit der Er¬
innerung der Menschheit auch. Wir stellen uns unsre Vorfahren nicht bloß
leiblich größer vor, als wir sind, ohne daß wir's beweisen können, daß sie's
wirklich waren; sondern die Zeiten, darinnen sie lebten, und ihre Helden stehen
auch sonst höher und herrlicher vor uns als die gegenwärtigen, und das Drama
der Weltgeschichte (sein Ende weiß der Herr allein) scheint uns, je früher die
Akte sich abspielten, desto großartiger. Mit Ehrfurcht erfüllen uns schou die
Worte: »Altertum« und »die Alten,« und wenn wir auch bei näherer Überlegung
einsehen müssen, daß vergangne Zeiten, auch solche, welche vom Nebel der Jahr¬
tausende umwoben werden, ihre Elendigkeiten und Jämmerlichkeiten gehabt haben
mögen so gut wie die unsrigen, und daß je und je die Helden der Geschichte,
zu welchen wir mit Bewunderung aufblicken, die Kette täglicher Verdrießlich¬
keiten und widriger, lächerlicher Zufälle hinter sich hergeschleppt haben, wie wir
alle — so achten wir doch hierauf nicht und lassen uns höchstens etliche Schwächen
und Muttermäler an ihnen gefallen, um ihre Vorzüge desto lebhafter zu em>
pfinden. Darum thun uns die Geschichtschreiber wahrlich keinen Gefallen,
welche uns beweisen, daß schon vor Jahrtausenden dasselbe Wirrsal der Parteien,
dieselben Kämpfe der berechnenden Klugheit mit List und Macht das Getriebe
des Lebens bewegt haben, kurz, welche uns die Vergangenheit ganz in demselben
Lichte zeigen, in welchem uns oft das Jetzt so häßlich erscheint, und am aller¬
wenigsten mögen wir uns von den Dichtern das Angesicht der noch jüngern
Menschheit so zeigen lassen. Denn, und hier komm' ich auf die Hauptsache,
vorab hat's alle Poesie doch mit dem Überzeitlichen und Ewigmenschlichen zu
thun, und bestimmte Zeiten, aus denen sie ihre Gestalten und Stoffe nimmt,
sind nur Hülle und Kleid für ihren unvergänglichen Inhalt. . . . Somit ist
unser so reichlich vermehrtes historisches Wissen (ja nicht zu verwechseln mit
historischem Sinn) noch uicht zugleich ein Gewinn für unsre Kunst und Poesie.
Es nützt den Malern nichts, ihre Figuren jedesmal genau in das Kostüm stecken
zu können, welches man zu ihren Zeiten wirklich getragen hat, oder wer fragt
darnach, wie Abrahams, oder Moses', oder Paulus' Röcke oder Schuhe ze. aus¬
gesehen haben mögen — und es nützt den Dichtern nichts, daß sie anzugeben
verstehen, wie die Leute vergangner Zeiten, von denen sie sagen und singen,
gewohnt, gegessen, getrunken, kurz alle diese notwendigen Dinge des Lebens ge¬
trieben haben, welche ja (leider!) einen so breiten Raum in unsern kurzen Tagen
einnehmen und freilich von so großer Wichtigkeit für uns sind, aber für die
dichtende Verwertung der Geschichte von so geringer."
Reicher noch an positiv wertvollen Gedanken und einen größern Kreis von
Erscheinungen des öffentlichen Lebens umfassend ist das zweite Heft der „Herzens¬
erleichterungen" (Leipzig, 1832). Hier richtet sich die Satire gegen die poli¬
tischen Wahlumtriebe, gegen die Poesie in Zeitschriften, gegen die Kunstaus-
Stellungen, gegen den ganzen Apparat der öffentlichen Kunstpflege; jeder
Verständige muß an den humorvollen „Erleichterungen" des einsamen Kunst¬
freundes seine wahre Freude haben. Was die Jonrnalpvesie anlangt, so kommt
er, nachdem er sie gründlich durchgenossen hat, zu folgendem Entschlüsse: „Alle
Welt wohnt jetzt in Tapetenstnben; soll ich meinen Gästen und mir ihrer nicht
auch gönnen? Schon sind sämtliche Wände unterklebt. Die Journale von
großem Format haben sich besonders bewährt. Schneide nie ein so brauchbares
Blatt auf!" Am meisten hat er gegen die moderne Art, die Kunst zu pflegen,
und gegen den Kultus, der mit ihr getrieben wird, auf dem Herzen. Er führt
uus in die Kunstauöstclluugeu und zeigt das gedankenlose Anschauen der Menge,
das hochmütige Absprechen und dünkelhafte Auftreten der Kunstreferenten, die
absolute Nutzlosigkeit solcher massenhaften Bildermärkte für die meisten Künstler.
„Was nützen sie dem Publikum? Gerade seine Übeln Gewohnheiten gegenüber
den Erzengnissen der Kunst und seine verkehrten Vorstellungen von ihr be¬
fördern sie. Wer verfügt über so viel Ausdauer und Genußfähigkeit, auch nur
einen Teil der vielen hundert in Gegenstand und Behandlung verschiedenartigsten
Kunstwerke in Muße zu betrachten und auf sich würdig wirken zu lassen, die
da dicht nebeneinander zu sehen sind! Also ist's der flüchtige Sinnenreiz, das
Bedürfnis nach Abwechslung und Beschäftigung der Unterhaltung, das reflek-
tirende Herüber- lind Hinüberverglcichen, im besten Falle eine Erregung des
Gemüts um nichts, ohne Weihe und Möglichkeit der Nachwirkung, was da
gesucht und geboten wird." Und die Folge dieser Ausstellungen? Es ist die,
daß die Kunst, um die Aufmerksamkeit der Menge ans sich zu lenken, zu der
Darstellung der trivialsten Vorgänge greift, welche dieser am nächsten liegen:
„ die Wirklichkeit aber, unsre geselligen Zustände naiv, mit reiner Hingabe und
ohne Einmischung eigner Reflexion aufzufassen, dazu sind moderne Maler ebenso
wenig und ebenso selten imstande wie — moderne Dichter." Überhaupt er¬
warte mau heutzutage vou der Kunst eiuen Ersatz sür die verloren ge¬
gangen Welt der Ideale und spreche ihr eine Kulturaufgabe zu, für die sie
garnicht befähigt sei. Das Umgekehrte sei wahr: wenn Ideale schon existiren,
so erzeugen sie selbst eine Blüte der Kunst. „Statt die Künste für sich
großziehen zu wollen, um dann als mit einem schaltenden und schmückenden
Kranze die Stirn der Nation damit zu zieren, wär's nicht besser, umgekehrt
das allen Menschen ursprünglich innewohnende Bedürfnis nach Kunst und ihre
Empfänglichkeit für sie in der Nation zu wecken und zu pflegen, und dafür zu
sorgen, daß auf dem Acker des Herzens die Drnchensaat ungebändigter Lüste
weniger in Samen schießt, und statt dessen das reinigende, leuchtende und wär¬
mende Feuer edler Begeisterung auf den leider so vielfach umgestürzten Altären
in deu Gemütern wieder anzublasen? Ist nur erst das Leben da für die Kunst,
dann wird's auch an der Kunst fürs Leben nicht fehlen." In der Antike und
im Mittelalter „wußte man nichts von Prachtbauten für die Kunst; mau kannte
den modernen Kultus der Kunst garnicht, der sie einerseits überschätzt, als
könnte von ihr (hätte man sie nur erst groß gezogen) eine erneuernde Wirkuug
auf das Leben ausgehen, und anderseits sie herabwürdigt zur Dienerin des
Luxus, zum Zeitvertreib für müßige und übersättigte Leute, zum Forschungs-
vbjekt gelehrter Geschmäckler; sondern von der Macht volkstümlicher und reli¬
giöser Ideen ward sie hervorgetrieben, in ihnen hafteten die Wurzeln ihrer
Kraft, und so erwuchs sie zu herrlichem Leben." Der „einsame Kunstfreund"
kommt zu dem Schluß: „Wie wenn man, statt Luxusbauten sür Bilder und
Skulpturen aufzuführen, umgekehrt auf Staatskosten die Maler und Bildhauer
für Gebäude arbeiten ließe, die in Dorf und Stadt überall vorhanden sind,
wenn auch nicht als Museen, sondern als Kirchen, Schulen, Rathäuser, Spielet
u. dergl., dann würden die Millionen, mit denen man jetzt die großen Städte,
besonders die Reich Hauptstadt zu wahren Paradiesvögeln mit immer neuen
Kunstschätzen schmückt, die Krähenkleider so vieler Städte und Dörfer im Lande
umher wenigstens mit einzelnen bunten Federn verzieren, die dann umso dank¬
barer und liebevoller betrachtet werden würden Wenn dabei auf jedes herzu¬
stellende Kunstwerk kaum so viele Groschen kämen, wie jetzt Kronen auf manche
für Museen und Galerien erworbne, so wäre das weder sür die Kunst und
die Künstler noch für die Volkstümlichkeit der Kunst voll Nachteil, sondern sür
diese sehr wünschenswert. Denn wie alle Künste nur in lebendigem Zusammen¬
wirken gedeihen, so lehrt Erfahrung und Geschichte, daß besonders die bildenden
entarten, wenn sie vereinzelt etwas bedeuten wollen. Leere Virtuosität, Lärmen
um nichts, Hinausgeraten über die Grenze ihres eigentlichen Gebietes sind ihr
Schicksal, Verfall ihr Ende. Keine staatliche Veranstaltung, keine äußere Unter-
stützung und Gunst der Welt wird es aufhalten."
Man wird zugeben, daß diese Bemerkungen sehr viel Wahres enthalten
und die Schwächen des heutigen Kunsttreibens scharf beleuchten; wir würden uns
ganz gewiß besser stehen, viel eher zu einer volkstümlichen Kunst gelangen, wenn
sie zur Teilnahme am Leben des Volkes und zum Dienste desselben in dieser
Weise herangezogen würde. Indes was mich an diesen Broschüren am meisten
für den Autor einnahm lind auch seiue übrigen Schriften zu lesen veranlaßte,
war die glückliche Form, in die er seine Herzenserleichterungcn eingekleidet hat.
Steinhausen bezeichnet sich nur als den Herausgeber derselben und giebt sie
als Briefe aus, die ein Einsender von einem ganz weltabgeschieden lebenden
Jugendfreunde empfangen haben will. Kilian unterschreibt sich dieser Freund.
Er lebt so abgeschlossen, daß die Briefe und Zeitungen ihm nnr einmal in der
Woche, übrigens zu seiner vollständigen Befriedigung so selten, von der Brot¬
austrägerin übermittelt werden; die nächste Station der Sekundärbahn in seiner
Provinz liegt stundenweit ab; auch der Personeupvstverlehr ist eingestellt, seitdem
die letzte Postkutsche mit einigen hohen Herrschaften umgeworfen hat. Man darf
vermuten, daß dieser Kilian, der mit seiner wohl auserlesenen Bibliothek leb-
haften Verkehr hat, Pastor in irgendeinem stillen, nicht unromantischen Neste
des deutschen Nordens sei. Steinhausen hat ihn mit so viel Biederkeit, klugem
Sinne, schelmischem Humor und aufrichtigem Christentum auszustatten gewußt,
daß diese „Herzeuserleichterungen" uns wie ein poetisches Werk anmuten, uns
menschlich ebenso sehr für den männlich schonen Charakter, wie für seine Glossen
interessiren. Dies vor allem machte mich auf die spätern Dichtungen Stein¬
hausens neugierig.
Leider muß ich gleich vorweg sagen, daß dieser Kilian die schönste Gestalt
ist, welche Steinhaufen ersonnen hat, wenn sie nicht vielmehr ein — diskretes
Selbstkouterfei ist. Seine eigentlichen Dichtungen bieten viel des interessanten,
teilweise auch wohl gelungenen. Geistreich und reich an Bildung, ein ganzer
Charakter, dessen Gedanken — was heutzutage selten ist — eine fcstgegründete,
in treuem Glauben wurzelnde Weltanschauung bekunden: das ist Steinhausen
immer und überall. Aber um als Dichter zu befriedigen, fehlt es ihm an Er¬
findungsgabe und sinnlicher Gestaltungskraft. Man kommt schwer zur An¬
schauung seiner Menschen, wenn nicht gar der Autor sich selbst durch die Maske
seiner Figur verrät.
Seltsam und bemerkenswert ist es jedenfalls, daß Steinhausen mit eben
jener Dichtungsart begonnen hat, die er selbst mit so vielen treffenden Gründen
hierauf bekämpfte, nämlich mit der ganz im archaistischen Stile gehaltenen
„Jrmela, eine Geschichte aus alter Zeit" (Leipzig, Böhme, 8. Auflage 1885).
Der Cisterzienser-Mönch Diether erzählt zwei jungen Freunden seine Lebens¬
geschichte. Wie er dies thut: der schlichte, bescheidne Ton, die immer durch¬
brechende fromme Gesinnung, die in zahlreichen Wendungen der alten Zeit
(vierzehntes Jahrhundert) angepaßte Sprache, die epische Ruhe und Stetigkeit,
das ist ganz anmutig und wohlthuend. Es ist alles gedämpft und ohne Effekt¬
hascherei, sodaß der Charakter des in seine Jugend zurückblickenden Greises
wohlgewahrt bleibt. Diether ist schon als Kind dem Kloster geweiht worden.
Sein Vater hatte den Bruder der eignen Gattin erstochen, in dem Augenblicke,
als er sie jenem entführte, und diese erfuhr es zwar spät, doch früh genug, um
sich in raschem Haß von dem geliebten Manne zu trennen, den Knaben der Kirche
zu weihen und selbst ins Kloster zu gehen. Der Vater, Graf Bruno, wurde
Einsiedler. Als Diether unter der wohlwollenden Leitung seines Abtes in
Maulbronn heranwuchs, entdeckte man bald sein Talent sür die Malerkunst,
und bevor er noch die Weihen empfangen hatte, schickte ihn der Abt nach dem
nahen Speier, wo er mit Genehmigung des Bischofs neuerworbene merkwürdige
Kirchengemälde italienischer Meister kopiren sollte. Aber Diether, des Weges
unkundig, geriet in die Irre, und damit begann seine Läuternngsgeschichte,
die mit dem freiwilligen und doch schmerzvollen Entschlüsse endete, der Welt
zu entsagen und Mönch zu werden. Zuerst traf er auf den Einsiedler Brun,
der ihm gute Lehren aus die Weiterreise gab. Dann gesellten sich zwei lustige
Gesellen: ein Sauger, Tanhäuser, und ein „Schüler der weißen Magie,"
Klingsohr, zu ihm, Sie brachten ihn in Gefahr, von den Stadtknechten, die
sie wegen kecker Streiche verfolgten, aufgegriffen zu werden, wovor ihn der vor¬
beireitende Graf Elzeburg bewahrte. Da Diether aber von Tanhäuser um seine
Kutte geprellt wurde, dafür aber die Jacke des fahrenden Gesellen erhalten hat,
wird er vom Grafen trotz aller Widerrede für einen Sänger angesehen und
auf dem Schlosse Elzeburg als Gefangner dazu gezwungen, die schöne Jrmcla,
des Burgherrn Nichte, im Gesänge zu unterrichten. Sehr zart und hübsch
wird nun das Zusammenleben der beiden geschildert, die sich natürlich ineinander
verlieben. Endlich gelingt es Diethern, zu entfliehen und ins Kloster zurück¬
zukehren, wo er zu allgemeiner Zufriedenheit Jrmcla als virZo inrnrÄLul-ita,
auf die Kirchenwand malt. Unglücklicherweise ist er später bei dem großen Ver-
lobnngsfefte des Mädchens mit einem mächtigen Ritter zugegen. Er gewinnt
den Preis im aufgerufenen Wettsingen, verrät sich aber als Mönch, kommt in
Händel, wird ins Gefängnis gebracht, woraus ihn sein Vater, der Einsiedler
Brun, nach vielen Bemühungen endlich rettet. Diether ist nun Ritter geworden
und will Jrmela heiraten. Aber seine Wünsche sind vergeblich; sie wird von
ihm ferngehalten, und nach allerlei Abenteuern erfährt er, daß er sie mit Un¬
recht der Treulosigkeit verdächtigt hat. Nachdem Jrmela aus Gram darüber,
zu verhaßter Ehe gezwungen zu werden, noch als Jungfran gestorben und auf
eignen Wunsch im Maulbronner Klostergarten beigesetzt worden ist, kehrt
Diether von seiner Irrfahrt durch die böse Welt für immer in die stille Kloster¬
zelle zurück.
Man sieht: durch besondre Originalität zeichnet sich diese Handlung nicht
aus. Die Erfahrungen, durch welche Diether von seiner Weltlust geheilt und
reuig in den Schoß des Ordens zurückgebracht werden soll, sind recht harmloser
Art; eines Mädchens wegen an der Welt verzweifeln, ist doch etwas zu senti¬
mental, nicht minder Jrmelas Tod. Aber viele Einzelheiten sind sehr hübsch,
besonders die humoristischen Gestalten der fahrenden Gesellen, welche immer einen
Reim zur Hand haben und die treibenden Geister der Handlung sind. „Jrmela"
mutet uns an wie eine für das christliche Haus berechnete Erzählung; namentlich
als Liebling der reifern Jugend dürfte sie ihre acht Auflagen in so kurzer Zeit
erlebt haben.
In den folgenden Produktionen hat Steinhausen den Stil der „Jrmela"
ganz verlassei?, und offenbar strebt er selbst immer mehr dahin, das zu erreichen,
was er als die eigentliche Aufgabe der Kunst und Poesie bezeichnet hat: „unsre
eigne Wirklichkeit naiv, mit reiner Hingabe, ohne Einmischung eigner Reflexion
aufzufassen." Gelungen ist ihm dies freilich noch nicht; aber interessant sind
seine Stationen ans dem Wege zu diesem Ziele.
In der Novelle „Gevatter Tod. Ein Weihnachtsabenteuer, auch nach
Neujahr zu lesen" sehen wir Steinhausens Übergang von der Romantik zum
Realismus. In dieser Geschichte hat er seine stärkste poetische Wirkung erreicht:
hier reißt er den Leser wirklich mit fort, erfüllt seine Phantasie mit den er¬
greifendsten Bildern, rührt, erschüttert und erschreckt in einem Maße, wie es ihm
sonst nicht wieder gelungen ist. Freilich, der Schluß will mir nicht recht ge¬
fallen; es ist derselbe Fehler des mutlos rationalistischen Auflösens phantastischer
Erscheinungen, der auch der Dichtung Baumbachs anhaftet. Steinhausens Er¬
findung ist ganz einfach. Michel-Vetter sucht zum dreizehnten Kinde, welches
ihm seine tapfere Doreh beschert hat, einen Paten und findet ihn nicht. Das
Dorf ist sehr klein, Patenschaft ist immer mit Kosten verbunden, und Michel-
Vetter, der sich durch die Erfüllung der überflüssigsten Dienste, als da sind die
eines Hochzeit- oder Leichenbitters, eines Meßuers und dergleichen sein Brot
verdient, muß auch allerlei unangenehme Dinge wegen seines überreichen Kinder¬
segens anhören. Den Beinamen „Vetter" zum Taufnamen hat er von den
Spöttern erhalten, die sich über sein Weib lustig machten, welches immer von
einem weit entfernten reichen Vetter fabelte und, obgleich ihr Leben lang nie
von ihm unterstützt, doch stolz auf die Verwandtschaft ist. Dies alles wird in
jean-paulisireuder Weise erzählt, und es werden die verschiednen Versuche Michels
geschildert, einen Paten zu finden. Dabei tritt der gutmütige Charakter und der
leichte Sinn des armen Teufels zutage, und schließlich begleiten wir ihn in der
stürmischen Christnacht ans dem Heimwege von seinen nutzlosen Versuchen, einem
Wege, der ihn um Mitternacht am Rabenstein vorbeiführt. Da fällt ihm das
Märchen vom Gevatter Tod ein, der einem gleich armen Manne in ähnlicher
Lage Gevatterdienste geleistet hat. Und richtig: kaum denkt Michel an ihn, so
kommt der Tod auch auf feueratmcnden Nosse einhergejagt und verspricht dem
Erschrockenen, am nächsten Tage bestimmt zur Stelle zu sein. Halb erfreut,
halb mit Grauen erfüllt, kehrt Michel nach Hause zurück. Während die Kinder
alle mit der Mutter schlummern, putzt er den Christbaum auf. Dabei kommt
es ihm wieder so vor, als wenn an sein Fenster geklopft würde und der Tod
ihn zu einer kleinen Zwiesprach einlüde. Ins Zimmer, zu den Kindern mag
ihn Michel nicht lassen, er läßt sich lieber in den Mantel des Sensenmannes
hüllen und von ihm auf den Kirchhof, in die Totenkammer entführen, wo sie
sich über Tod und Leben besprechen. Dann führt ihn der Tod in die bekannte
Höhle, welche die Lebenslämpchen der Menschen enthält, und der großmütige
Pate will durch die Ergänzung eines Lcimpchens durch das Al eines andern
dem Kinde Michels ein langes Leben sichern. Darob ist dieser so erschüttert,
daß er ihm flehentlichst zu Füßen fällt, mit der Bitte, sein Glück nicht dnrch
die Zerstörung eiues fremden zu gründen. Über dem ironischen Gelächter des
Todes erwacht Michel, findet sich eingeschlafen am Tische, neben sich sein Weib,
das ihm glückstrahlend den reichen Vetter zeigt, der endlich gekommen ist und
die Patenschaft des dreizehnten Kindes übernehmen will. Und wir müssen
schließlich erfahren, daß Michel am Nabensteine nicht bloß geträumt, sondern in
Wahrheit von einem vorbeijagenden Reiter das Versprechen erhalten hat, Pate
seines Kindes zu sein, daß dieser Reiter die Einbildung des einsam Dasitzenden
im Scherz bestärkt habe, indem er sich für den Tod ausgab, und daß es der
reiche Vetter selbst war, der nun die armen Leute von alle» Sorgen durch sein
vieles Geld befreien wird.
Von den zwei andern Novellen desselben Bandes: „Im Armenhause" und
„Mr. Bob Jenkins' Abenteuer" ist weniger Erfreuliches zu sagen. In der
erstern Geschichte versucht sich Steinhausen in der realistischen Darstellung eines
Bildes nach dem Leben: der Armut, des Lasters und des Elends. Aber er
vermag dafür ebensowenig zu interessiren, wie für den Prahlhans und schlechten
Kerl Bob Jenkins. Die Vorgänge sind gar zu unbedeutend, und die jean-
paulisch Sprunghafte Manier der letzten, umfangreichsten Geschichte ist auch nicht
uach meinem Geschmack. Wenn Jean Paul durch Einschachtelnngen, Zwischen¬
sätze, Zuthaten, Nachträge den Gang der Handlung unterbrach, so wußte er
doch durch eine unendliche Fülle von Gedanken und Betrachtungen den ärgerlich
gewordnen Leser zu entschädigen, neu zu fesseln und zu versöhnen. Nur solch
eine Fülle des Geistes, die sich in der Mitteilsamkeit nie genug thun kaun,
rechtfertigt oder vielmehr entschuldigt Jean Pauls Manier. Steinhausens
humoristischer Übermut kann auf solchen Hintergrund nicht hinweisen, und den
Schaden trägt er doch selbst.
Gelungener wiederum ist die im gleichen Tone gehaltene kleine Novelle
„Markus Zeisleins großer Tag" (Barmer, Klein). Hier bewegt sich Stein^
Hausen in den humoristischen Kontrasten äußerlicher Niedrigkeit, aber seelischen
Adels, materieller Armut und Ohnmacht, aber gemütlichen Reichtums und
Stärke im Dulden, Gegensätzen, in denen die Menschlein seines kleinen, armen
Städtchens schlecht und recht ihr Tröpfchen Leben genießen, ergeben in den
Willen Gottes. Man erinnert sich bei dem Schicksal Maler Zeisleins unwill¬
kürlich an „Pfisters Mühle." Wie dort der gute Vater Pfister durch eine
neumodische Zuckerrübcnfabrik, die ihm sein quellreines Mühlwasser verstänkert,
in seiner Existenz geschädigt wird, so verliert Zeislein durch einen ähnlichen
Fortschritt der Zeit seine Kundschaft. Die neuerfundneu Metallbuchstaben, die
jeder beliebige einsetzen kann, machen des guten Zeislein Kunst, nach altehr¬
würdiger Sitte Buchstaben mit den entsprechenden Emblemen der GeWerke zu
malen, beinahe überflüssig. Raabe hat seinen Gedanken jedoch künstlerischer
ausgestaltet als Steinhausen den seinigen. Zeislein gelingt es schließlich, sich
doch als Maler einer Turnerfahne für die Gymnasiasten auszuzeichnen und als
Galeriedirektor (eine echt Steinhausensche Ironie) unterzukommen. Die gemüt¬
vollste Figur der Novelle ist Zeisleins frommes Mütterchen, eine arme Waschfrau,
die aber im Gesangbuch so gut zu Hause ist, daß sie in allen Nöten und in allen
Freuden des Daseins die innigsten Sprüchlein zur Verfügung hat. Das muß
mau sagen: wenn Steinhausen Verse zitirt, so verrät er immer guten Geschmack.
Sein neuestes Werk sind die nunmehr auch schon in vierter Auflage vor¬
liegenden „Szenen aus dem Schattenspiele des Lebens": Der Korrektor (Leipzig,
Lehmann, 1885). Sie sind „Seiner Exzellenz dem General-Feldmarschall Herrn
Grafen von Moltke" gewidmet. Steinhausens Ironie richtet sich am liebsten
gegen die moderne Wissenschaftlichkeit, mit der allerdings zuweilen viel Scholastik
und Anmaßung verbunden ist. So hat er in seinen „Herzenserleichterungen"
einen Kunstforscher und Konservator alter Knnstdenkmüler ironisch gezeichnet
und namentlich Seitenhiebe gegen die Physiologie und Pshchvphysik eingeflochten.
Im „Korrektor" hat er nun diese seine Opposition gegen die Anmaßungen des
Materialismus zum Kern sein Werkes gemacht. Damit hat er zugleich mitten
ins „aktuellste" Leben gegriffen, in einen Gegensatz, der die ganze Gegenwart be¬
schäftigt und auch schon vielfach von andern Nomcmdichtern behandelt worden
ist. Aber während Steinhausens Stilverwandter Wilhelm Raabe, auch ein
Idealist, mit freiem Humor dem durch seine nicht abzuleugnenden Erfolge allzu
selbstbewußt dastehenden Manne der Naturwissenschaft (dem Dr. Asche in „Pfisters
Mühle" z. B.) gegenübersteht, den deutschen Idealismus selbst im theoretischen
Materialisten wiedererkennt, keineswegs an ihm verzweifelt und deu Leser dadurch
mit der Zuversicht in die Gesundheit des deutschen Geistes erfüllt, hat Stein¬
hausen dem gegenüber allen Humor verloren, und es ist ihm eine zornige Satire
auf die materialistischen Welträtsellöser » in. Max Nordan aus der Feder ge¬
kommen. Auch Wilhelm Jordan hat (in den „Sebalds") diesen Gegensatz von
alter Gläubigkeit und neuer Wissenschaftlichkeit ergriffen, dabei religionsstifterisch
eine wenig glückliche Verquickung religiöser Tradition mit darwinistischen Ideen
versucht, wobei ihm nur das Unglück begegnet ist, den Kern des religiösen Be¬
dürfnisses zu verfehlen, welches an den Fortschritten der die äußere Natur
beherrschenden Wissenschaft noch immer keine persönliche individuelle Befriedigung,
keine innere Läuterung findet keinen Trost für das in den Bedrängnissen
des Gewissens schwebende Gemüt. Steinhausen ist viel zu strenggläubig, um
wie Jordan zu Pallirer, und viel zu einsichtig als philosophischer Kopf, um
nicht die Schwächen seiner Gegenpartei zu erkennen. Die Ironie, mit welcher
er der „souveränen" Wissenschaft begegnet, ist demnach sehr berechtigt, insofern
als sie eben nur die modernen Scholastiker trifft, auf die sie gemünzt ist. Wie
wahr ists, wenn er sagt: „Der Glaube stört eure Forschung nicht, aber er kann
auch nicht von ihr entrechtet werden, noch bedarf er ihrer Unterstützung": das
haben sogar schon viele Akademiker gesagt. Und weiter: „Keine Untersuchung,
keine Erklärung der seienden Welt wird den Weg zur sein sollenden finden;
aber ist diese darum weniger gewiß, weil sie mit Schlüsseln nicht nachgewiesen
werden kann? Gewieher wird sie von den ewigen Bedürfnissen des Gemüts,
von den Forderungen des Gewissens, von der Unverrückbarkeit des sittlichen
Gebots, das als heiliges der Wille anerkennen muß, auch wenn er ihm wider¬
spricht. Wie wollt und könnt ihr die Giltigkeit dieser Ideen leugnen nur darum,
weil ihr zum Nachweis der Gesetzmäßigkeit in allem Geschehen ihrer nicht braucht?
Die Bedeutung eines Buchstabens ist nicht erkannt mit der Gesetzmäßigkeit der
Muskelbewegung in den Fingern, die ihn schreiben; der Sinn eines Wortes
uicht erschlossen mit der Erkenntnis der Sprachwerkzeuge und ihrer Thätigkeiten,
durch die es hervorgebracht wird. Aber dem verstehenden Geiste ist Sinn und
Bedeutung von Anfang an klar. So mögt ihr, wie ihr euch schmeichelt, endlich
dahin gelangen, aus einer Formel alles Geschehene der daseienden Welt abzu¬
leiten; damit seid ihr ihrem Verständnis noch keinen Schritt näher gekommen,
und kein rechtmäßiger Schluß eurer Wissenschaft, sondern ein Entschluß euers
Gewissens entscheidet darüber, ob ihr im Unglauben (der auch ein verzerrter
Glaube ist) allen Sinn der Welt leugnen und verzweifeln, oder ihr denjenigen
andichten wollt, den euch des Herzens Dünkel empfiehlt. Wir aber warten nicht,
um unsre Stellung zu nehmen, auf das Ergebnis eurer Forschung, sind auch
nicht in Sorge darum; uns hat die Welt eine» Sinn, das Schicksal und das
Menschenleben auch, einen unergründlichen, beseligenden. Ihn auszudrücken ist
alles geschaffen, und endlich wird er rein und unentstellt hervorleuchten: das
hoffen wir, und darum glauben wir an Gott." Mit dieser Auslassung vertritt
Steinhausen im Grunde nur den kantischen Standpunkt, und damit stimmt auch
Lotzes Philosophie, gewiß die mit den Resultaten der Naturwissenschaften ver¬
trauteste, überein.
Aber eben darum, weil der Autor in seinem „Schattenspiel" einen so
großen und wissenschaftlich unanfechtbaren Standpunkt einnimmt, machen sich
die poetischen Schwächen desselben umso fühlbarer. Es ziemt dem vornehmen
Denker, auch vornehm als Mensch zu sein. Indem aber Steinhausen in den
zwei Gestalten, welche die entgegengesetzten theoretischen Ideen vertreten, keine
realen Menschen, sondern sozusagen einen Engel und einen Teufel gegenüber¬
stellte, auf das Haupt des armen Korrektors Ludwig Zirbel alles erdenkliche
Licht, auf das des Doktors Gatten alle möglichen Schlechtigkeiten vereinigte,
verdarb er es mit dem Geiste der Poesie, welche immer hinter den Theoremen
die Menschlichkeit, hinter den Doktrinen die Charaktere sucht. Schließlich hat
sich Steinhausen noch den grimmigen Scherz gemacht, den Atheisten zu Kreuze
kriechen zu lassen, zum Gebet niederzudrücken. Damit ist er jedoch in das alte,
längst verlassene Geleise der Tendenzpoesie hineingeraten, worunter die zahl¬
reichen hübschen Szenen, die mitlaufen, notwendig leiden mußten.
Die Handlung ist auch diesmal ganz einfach. Korrektor Zirbel und der
Medizinac Doktor Gatten waren einst Jugendfreunde, bis entgegengesetzte An¬
schauungen sie auseinanderbrachtcn: Zirbel, Philologe und Philosoph, auch dich¬
terisch angelegt, verblieb in Armut, Gatten wußte sich durch seine materialistischen
Schriften und weltmännische Manieren reich zu machen, nachdem er ein Mädchen,
welches auch Zirbel geliebt, verführt und mit dem Kinde sitzen gelassen hatte.
Zirbel rettet beide, als die verzweifelte Mutter ins Wasser springt, holt sich
aber selbst dabei den Tod; Gatten, der in demselben Hanse wohnt, wird als
Arzt zu ihm geholt und wird beim Anblicke des Unglücklichen mürbe. Außer¬
dem hat Zirbel die Korrektur von Sältens neuestem Werke in der Hand und
versieht sie mit Randglossen, indes der gemeinsame Verleger beider Zirbels
Werk, eine Verteidigung des Idealismus und des Glaubens, dem Doktor Gatten
im Manuskript zur Beurteilung giebt. Aber erst nach Zirbels Tode wird es
publizirt. Steinhausen hat auch hier einige treffende Satiren auf unsre
literarischen Zustände eingewebt.
Damit wäre unsre Übersicht über die bisherigen Schriften Steinhaufens
beendet. Gewiß wird seine beschauliche Zurückgezogenheit noch manches zeitigen.
Am willkommensten aber wären uns neue ausgiebige „Herzcnserleichterungen"
seines grundgescheiteu und humorvoll gcmütsinnigen Einsiedlers Knieen.
us dem Nachlaß der Frau Johanna Kinkel geborene Mockel
veröffentlichte das Feuilleton der „Frankfurter Zeitung" vor
einigen Wochen einen Aussatz „Hausfrau und Künstlerin," der
wie ein Nachhall aus Märchcuzciten erklang und wirkte und von
Zuständen und Verhältnissen erzählte, welche in einem wunder¬
lichen und — alles wohl erwogen — glücklichen Gegensatze zur Gegenwart
standen. Die 1858 in London verstorbene erste Gattin des Dichters Gottfried
Kinkel war bekanntlich nicht nur eine geistvolle Schriftstellerin, deren mit dem
Gatten gemeinsam verfaßte Erzählungen und deren Roman „Hans Jbeles" weit
über die gewöhnliche Frauenbelletristik hinausragten, sondern auch und vor allem
eine vorzügliche Mnsikerin. Von ihren großem und kleinern Kompositionen ist die
„Vogellantatc" noch unvergessen, ihre Operette „Otto der Schütz" hat in den
vierziger Jahren große Teilnahme erregt, ihre Briefe an eine Freundin über
Klavierunterricht (18S2) sind ein bleibendes Zeugnis dafür, wie ernst die mannich-
fach geprüfte und bewährte Frau ihren Beruf als Musiklehrerin nahm. Nie¬
mand, der sich an das Leben und Wirken von Johanna Kinkel erinnert (noch
leben zahlreiche ihrer Schülerinnen), wird je zu dem Eindrucke kommen, daß es
sich hier um ein verfehltes oder unfertig gcblicbnes Streben gehandelt habe.
Vielmehr darf man sagen, daß es ihr in seltner Weise gelungen sei, das ihr
innewohnende Talent zur Geltung und tüchtigen Verwertung zu bringen. Gleich-
wohl erfuhr sie, wie der gedachte Aufsatz erzählt, in ihrer ersten Jugend die
stärksten Hindernisse bei der von ihr ersehnten Ausbildung für die Musik. Mutter
und Großmutter erachteten es für ersprießlicher, daß sie sich mit Saumnaht,
Überhcmdnccht und doppelter Naht beschäftige, als mit Zweinnddreißigstelpassagcn,
daß sie Mehlspeisen und Pastctendeckel herstellen lernte, anstatt zu phantasiren.
Johanna Kinkel fügt der Erzählung von allen diesen Dingen hinzu: „Es gelang
für eine Reihe von Jahren, die Kunst bei mir in den Hintergrund zu drängen,
Schicksale auf Schicksale wälzten sich zwischen jenen Jugendtraum und meine
Zukunft — und dennoch, der Faden riß nie ganz ab, der mich an die geliebte
Musik band. Es ist trotz tausend Hindernissen dahin gekommen, daß sie mein
legitimer Lebensberuf ward, und ich bin in London und habe den „Messias" in
Exeter-Hall gehört." Der ganze Aufsatz ist von Johanna Kinkel offenbar zu
Nutz und Frommen junger Talente und zur Besiegung der philiströsen An¬
schauungen geschrieben, mit denen sie in ihrer Jugend zu kämpfen hatte.
Wir sind geneigt, eine sehr andre Konsequenz aus der Erzählung Johanna
Kinkels zu ziehen. Wie Jahrhunderte fern scheinen die Tage zu liegen, in
denen man einem wahrhaften, ausgiebigen und ungewöhnlichen Talente den
Weg zur Musik als Lebensberuf versperrte, in denen man naiv des guten
Glaubens lebte, daß „eine glückliche Hausfrau die größte Künstlerin nicht be¬
neide," in denen es aller Anstrengungen eines starken Talentes und eines
starken Charakters bedürfte, um an ein Ziel zu gelangen, das nur für die Aus-
erwählten ein glückliches Ziel ist. Heutzutage ist wenig oder gar keine Gefahr
vorhanden, daß auch nur der Schein eines Talents verkümmere, und die that¬
sächliche Gefahr, Hunderte, ja tausende von ciusgesprvchnen Nichttalenten die
künstlerische Laufbahn betreten zu sehen, steigert sich mit jedem Tage, mit der
Gründung jeder neuen Musikschule, beinahe jedes Privatinstitutes. D. F. Strauß
hat einmal irgendwo gesagt, auf nichts verstehe sich die liebe Menschheit schlechter,
als an der rechten Stelle innezuhalten und den „Fortschritt" nicht über den
Punkt hinauszutreiben, von welchem an er kläglicher Rückschritt wird. In
keinem Gebiete trifft dies mehr zu, als in dem der gesellschaftlichen Sitte und
Meinung. Wenn es eine armselige Beschränktheit und ein dürftiges Vorurteil
war, Menschennaturen, und namentlich Frauen, die einen ausgesprochnen Beruf
zur Kunst und künstlerischen Pädagogik in sich trugen, gewaltsam beim Her¬
kömmlichen festzuhalten, so ist doch — dank der Widerstandskraft des echten
Talents — dabei unendlich viel weniger gesündigt worden als heutzutage, wo
leidige Not, falschgerichteter Ehrgeiz, platte Eitelkeit und der dunkle, die Massen
beherrschende Trieb nach bessern Lebensverhältnissen, genußvollerem Dasein
tausende und abertausende von modernen Töchtern zur Kunst und, der ganzen
Bewegung gemäß, vorzugsweise zur herrschenden, zur Modekunst der Musik
führen. In witzigen und witzigseinsollendeu Feuilletons, in den „Eingescmdts"
unsrer Zeitungen und in dem Kncipenjcirgon, welcher bei gewissen Gruppen mo-
derner Männer das Kennzeichen der Bildung ist, wird längst über die musi¬
kalische Überproduktion, die aus jeder dritten Tochter gebildeter Eltern eine
Pianistin oder Klavierlehrerin, aus jeder Großstadt ein Pianopolis macht, ge¬
spottet. Am schweren Ernst der Sachlage ändert der wohlfeile Hohn nichts.
Wenn der Vorsteher eines der Privatkonservatvrien in Berlin kalten Blutes
ausspricht: „Wir machen jährlich tausend Musiklehrer und Lehrerinnen fertig,"
so übertreibt er vielleicht um ein paar hundert in der Zahl, aber da in. jeder
kleinen Residenz, wo sich eine Hofkapelle befindet, in jeder Stadt über fünfzig¬
tausend Einwohner ein Konservatorium, Musikinstitnt oder wie immer es sich
benennen mag, begründet wird, da alle diese Anstalten um die Wette bemüht
sind, ihre Schüler- und Schülerinnenzahl rücksichtslos, wahllos und sinnlos
ins ungemessne zu steigern, so wird der Ausfall an den jährlichen Tausend der
Reichshauptstadt von der Provinz mehr als gedeckt. Kein Mensch scheint jemals
die Frage aufzuwerfen, was aus der ganzen Masse leidlich gedrillter, aber no¬
torisch völlig talentloser Musiker und Musikerinnen werden soll, die man all¬
jährlich auf den Markt wirft. Trotz des bis ins ungeheure gesteigerten Be¬
darfes von Musikunterricht, trotz eines Dilettantismus, der schon nicht mehr
ins Kraut schießt, sondern wie die Pilze nach dem Regen wuchert, trotz der unab¬
lässigen Auswanderung deutscher Musiklehrer und Musiklehrerinnen nach allen
zweiunddreißig Strichen der Windrose, übersteigt das Angebot die Nachfrage
schon längst und schon weit. Wer mit deu Verhältnissen einigermaßen vertraut
ist, weiß, daß die entsetzlichen Inserate, in denen Klavierunterricht zum Preise
von 75 und 50 Pfennigen für die Stunde angepriesen wird, keineswegs bloß von
armen Seminaristen, von Orchestermusikern, die ihre dürftige Einnahme verbessern
wollen, sondern zum guten Teil von „konservatoristisch gebildeten," mit guten
Prüfnugszeuguisse» ausgestatteten jungen Damen und jungen Männern aus¬
gehen, die sich um jeden Preis eine Existenz schaffen müssen. Er weiß, daß
die Zahl der Musiker, welche ohne Anstellung halb bettelnd und halb darbend
von Ort zu Ort ziehen, in beständigem Wachsen ist, weiß, daß Elend viel
schlimmerer Art den weiblichen Teil der überflüssig vorhandnen Berufskünstler
in mannichfacher Gestalt bedroht. Er weiß, daß die wilde und schrankenlose
Konkurrenz der Talentlosen auch die Talentvollen schädigt, sie zum Teil auf
falsche Bahnen treibt und in die Kunstverhältnisse der Gegenwart eine wüste
und häßliche Reklamewirtschaft hineinträgt. Und er muß sich fragen, wohin
die Dinge gedeihen sollen, wenn mir noch ein Jahrzehnt in der bisherigen Weise
und mit entsprechender Progression fortgeivirtschaftet wird.
In erster Linie trifft der Vorwurf, diese Zustände herbeigeführt zu haben,
die offiziellen musikalischen Bildungsstätten, die Konservatorien der Musik. So
lange nur wenige dieser Institute existirten, so lange der Geist, der die ersten
geschaffen, aus Kuratoren und Lehrern derselbe» ruhte, war es möglich, die
Frage, die bei Kunstschulen bestimmter, schärfer, unerbittlicher aufgeworfen werden
muß als in allen andern Fällen, die Talcntfrage, mit allem Nachdruck und ini
Bewußtsein einer großen, ja schweren Verantwortung zu stellen. Die sinnlose
Koukurrenzwirtschnft, die auch auf dem Gebiete des höhern und höchsten
Unterrichts sich geltend macht, hat diese Fragestellung längst beseitigt. Wohl
figurirt die Voraussetzung musikalischen Talents in den Statuten und Aus¬
nahmebedingungen aller Konservatorien, aber meist stellt sie sich als purer Schein
heraus. Wo die Klassen um jeden Preis gefüllt, im Jahresbericht und in
Zeitungen die Schülerzahlen gegen die Konkurrcnzanstalteu ausgespielt werden
sollen, wo die pekuniäre Existenz eines zahlreichen Lehrerpersonals zum guten
Teil von der Füllung, ja Überfüllung aller Fächer abhängig ist, wo man des
Glaubens lebt, daß zehn verdorbne und unselige Existenzen einen guten Dung
für eine elfte, glanzreiche abgeben, da hört die gewissenhafte Beantwortn»«, der
Vorfrage ebensowohl auf als die Überlegung, was aus den Hunderten werden
soll, die man alljährlich als fertig und durchgebildet entläßt. Talent ist zudem
ein sehr dehnbarer Begriff, und die, deren Finger jeder Klavierdressnr widerstreben,
pflegen sich ja bei den Musikschulen nicht zu melden. Für die empfindlichsten
Mängel des Ohrs, für die ersichtlichste Trägheit des Auffassungsvermögens,
für jede noch so schreiende Unzulänglichkeit aber, die das Ergreifen der Musik
als Lebensberuf geradezu untersagen müßte, tröstet man sich mit der eignen treff¬
lichen Methode, mit der Zuversicht, daß man zwar kein Genie, aber etwas
„ganz Tüchtiges" aus dem oder der machen werde. Etwas „Tüchtiges," daß
Gott erbarm! Wir rufen alle ehrlichen und tüchtigen Musiker auf, ihr Urteil
über dreiviertel dieser Tüchtigkeit abzugeben!
Wohl ist es wahr, daß die Konservatorien, sogut wie alle höhern Bildungs¬
stätten, vom wilden Andrang der Berufsbedürftigeu, der „Strebenden," über¬
flutet werden, daß sie (wenigstens die bessern unter ihnen) keine andern Reiz¬
mittel als die unvermeidlichen Inserate anwenden, um fortgesetzt Schüler und
namentlich Schülerinnen in Überzahl zu erhalten, daß in sehr zahlreichen Fällen
geradezu an die Nachgiebigkeit und das Mitleid der mit der Aufnahmeprüfung
betrauten appellirt wird, wahr auch, daß es gewisse Fälle giebt, in denen der
gewiegteste Beurteiler nicht weiß, ob er einem wirklichen Talent oder einem so¬
genannten „Blender" gegenübersteht. Allein angesichts des weit größern Elends
und Unheils, welches aus der Überfüllung der künstlerischen Berufsarten mit
Unbernfncn hervorgeht, als aus der (ja gleichfalls auf einen unerträglichen
Grad gestiegenen) Überfüllung andrer liberalen Berufszweige, sollten und
müßten die Konservatorien strenger, viel strenger verfahren. Es hat keine
Schwierigkeit, die Anforderung an die Befähigung zu steigern, wenn man nur
Ernst machen will. Universitäten und technische Hochschulen schützen sich (un¬
zulänglich genug) vor der schrankenlosen Überflutung durch die Forderung eines
vor der Aufnahme erlangten Maturitätszeugnisses und durch Verschärfung ihrer
eignen Prüfungsforderungen. Kunstakademien und Musikschulen könnten mit dem
Reifezeugnis von Vorbildimgsanstalten wenig anfangen und wurden immer
wieder auf ihre eigne Entscheidung verwiesen sein. Bei dieser Entscheidung aber
dürften und sollten die allgemeinen Verhältnisse allerdings in Betracht kommen.
Die Entstehung eines Künstlcrvroletariats, das durch ungenügende Befähigung
und mangelhafte Leistungen an Gewinnung und Behauptung einer ehrenhaften
Lebensstellung gehindert wird, dabei aber fortgesetzt den wirklich Berufenen und
sachgemäß Strebenden die wildeste und verhängnisvollste Konkurrenz macht,
schließt wahrlich eine genügende Mahnung an die Direktionen und Lehrer unsrer
großen Musikschulen ein, in Zukunft dreifach strenger bei der Entscheidung der
Talentfrage zu verfahren.
Allerdings kann diese Mahnung nur an die Leitung einiger Konservatorien
ergehen, die mit Widerwillen und einer instinktiven Ahnung der Gefahren den
Weg der Anfüllung um jeden Preis, der alljährlich wachsenden Schülerzahl,
des unwürdigen Wetteifers in Außendingen betreten haben und im ganzen so
gestellt sind, daß sie die Qualität ihrer Zöglinge um der Quantität willen nicht
zu ignoriren brauchen. Sie muß notwendig verhallen bei den zahllosen „künst¬
lerischen" Bildungsstätten, welche auf die unzulängliche Begabung und die
Talentlosigkeit geradezu gegründet und berechnet sind, deren einziger Zweck es
ist, den Organisatoren eine Existenz zu verbürgen und dafür die künftige Existenz
von Hunderten mißleiteter armer Menschenkinder in Frage zu stellen. Indessen
würde ein Einhalt und Anhalt gewonnen werden, wenn auch nur die bessern
.Konservatorien sich auf ihre Pflicht besinnen wollten. Es würde dann ein ähn¬
liches Verhältnis eintreten, wie es z. B. zwischen den staatlichen technischen Hoch¬
schulen und den sogenannten wilden Techniken existirt, die überall im deutschen
Reiche wuchern. Das beteiligte Privatpublikum ist auch hier zum Teil noch
beschränkt und armselig genug, der Halb- und Viertelsbildung den Vorzug vor
der ganzen zu gebe», weil die halbe zwar nicht um die Hälfte, aber doch etwas
billiger zu haben ist als die ganze. Wie aber das Terrain der wilden Schulen
dieser Art mit jedem Jahre mehr eingeschränkt wird, die Zahl derer wächst,
welche die zuverlässige Bürgschaft gründlicher Studien, einer wohlbestandnen
Prüfung bei ihren Engagements zu haben wünschen, so müßte es mich einem
Dutzend der bestehenden Konservatorien und Musikschulen, die sich guter Lehr¬
kräfte, einer gewissen künstlerischen Tradition und sonstiger Begünstigungen er¬
freuen, leicht werden, sich über die ganze Zahl der andern hoch zu erheben.
So wie sie die Talentfrage ernsthaft und mit dem Gefühle stärkster Verant¬
wortung stellten und beantworteten, so wie sie eine Reduktion (und zwar eine
sehr bedeutende) ihrer Schüler- und Schülerinnenzahl als einen wahrhaften
Gewinn erachteten, alle bei ihnen vorsprechenden von zweifelhafter Befähigung
und ausgesprochnen Mangel an Talent rücksichtslos abwiesen (und wenn die¬
selben zehnmal im Konkurrenzkonservatorinm der gleichen oder der nächsten Stadt
Aufnahme fänden!), so wie sie ihre Ehre darein setzten, daß von ihnen nur
wahrhaft leistungsfähige, eminent musikalische Musiker gebildet würden, so
müßten sie rasch genug eine Stellung nicht neben, sondern hoch über den angeb¬
lichen Konkurrenzanstaltcn erhalten, so könnte es nicht ausbleiben, daß wenig¬
stens an entscheidenden Stellen und in entscheidenden Fällen ihren Schülern und
Schülerinnen ein Vorzug und Vorrecht eingeräumt würde. Ja mehr als das.
Der Staat, der sich schließlich gedrungen sehen wird, gegen die Überflutung mit
einem Künstlerproletariat, in materieller und geistiger Beziehung, Dämme zu er¬
richten (es scheint uns dies nur noch eine Frage der Zeit zu sein), Hütte dann
den besten Anhalt, den stärksten Anlaß, seinen Schutz, sein Vertrauen, seine
Förderung denjenigen Konservatorien zuzuwenden, die noch jetzt, in der Zeit der
wilden Freiheit, Besinnung und ein Bewußtsein ihrer eigentlichen Aufgabe be¬
währt hätten.
Doch freilich — soweit wir um uns sehen, soweit wir mit den Verhält¬
nissen vertraut sind, nehmen wir nirgend eine Möglichkeit dazu wahr. Der
Wahnsinn der Konkurrenz, die Anbetung der statistischen Zahl beherrscht alles.
Wenn die Konservatorien gezwungen wären, ihren Berichten über die Schüler-
nnd Schülerinnenzahl „252 oder 364 im Jahre 1885" den Nachweis hinzu¬
zufügen, was aus deu 150 oder 210, die ein Lustrum oder besser ein Jahr¬
zehnt zuvor an der Anstalt „gebildet" wurden, mittlerweile geworden ist, ließe
sich eher Besserung, wenigstens eine Art Besinnung bei den zahllosen Unbe¬
fähigten hoffen, die nach einer Künstlerzukunft wie die Motte nach dem Lichte
taumeln.
Übrigens wissen wir recht wohl, daß das musikalische Proletariat nicht
bloß dadurch anwächst, daß eine große Anzahl von jungen Männern und
Mädchen der gebildeten und halbgebildeter Stände, die sich selbständig einen
Weg in der Welt suchen und eine Existenz begründen müssen, sich gleichsam
wahllos, ohne Gewähr eigner Befähigung, der Musik in die Arme werfen und
von ihr das Unmögliche hoffen, während sie es am Möglichen fehlen lassen.
Die ärmsten Zöglinge der Konservatorien sind sehr oft noch die befähigtsten und
tragen jenen Keim in sich, der bei allen vorausgesetzt werdeu sollte, welche sich
irgendeiner Kunst widmen. Eine bedenkliche Vermehrung der vorhandnen Übel-
stände geht gleichzeitig auch von dem wachsenden Reichtum in gewissen Be¬
völkerungsklassen aus. Jener Berliner Bankier, der seinen Sohn Maler werden
läßt, „obschon er es nicht nötig hat," hat in der heutigen Gesellschaft tausend
Absenker. Die Zahl der Schriftsteller, Musiker, bildenden Künstler, die auf
einen Lohn ihres Talents, auf eine Lebensstellung und Existenz durch ihr
Talent von vornherein nicht rechnen, ist beständig im Zunehmen begriffen. Auch
hier helfen die Konservatorien das Unheil fördern. Es schmeichelt ihnen, Schüler
und Schülerinnen (in diesem Falle aber hauptsächlich Schüler) aus reichen und
repräsentirenden Familien zu erhalten, die Erinnerungen an Mendelssohn und
Meyerbeer drängen sich unwillkürlich auf, der Besorgnis um die Zukunft dieser
Zöglinge darf man sich völlig entschlagen. Sie werden sich in keinem Falle zu
Organisten, Klavierlehrern und vielgeplagten Musikdirektoren kleiner Städte ent¬
falten, sondern als gespreizte Virtuosen und meist als Komponisten, die den
Stich ihrer Partituren und die „Jnszeuesetzung" ihrer Opern nötigenfalls aus
eigner Tasche bezahlen können, die Welt in Erstaunen setzen. Warum sollte
mau da Bedenken tragen, ihnen den Weg zur Kunst, die sie „nicht nötig haben,"
zu eröffnen? Warum sich nicht mit besondrer Beflissenheit dem Unterrichte
solcher widmen? Stellt sich hinterdrein die völlige Talentlosigkeit, der arm¬
seligste Nachahmungstrieb statt der reichen Erfindung und der seelischen Fülle
heraus, so bleibt noch der landesübliche Ausdruck des Bedauerns, daß der be¬
treffende Künstler leider ein zu reicher Mann sei, um ernste Anstrengungen zu
machen. Jedenfalls aber begnügen sich zahlreiche Musiker dieses Schlages
keineswegs mit den Ehren der Schaffenden, und wenn sie die gröbern Mühen
des Berufs den schlecht gestellten Kollegen überlassen, so nehmen sie doch mit
Vorliebe jene Stellungen an der Spitze musikalischer Vereine und kleiner
Konzertinstitnte ein, welche ehedem dem bescheidnen Ehrgeize wahrhaft tüchtiger
und ernster Musiker als eine Belohnung für die Anstrengungen des Erwerbes
winkten. Die Gewissenlosigkeit, mit der in diesen Fällen die Talentfrage ohne
weiteres bejaht worden ist, bleibt also nicht ohne weitwirkende Folgen, und das
Künstlerproletariat wird mittelbar durch eine Laxheit vermehrt, die unmittelbar
zu seiner Bekämpfung beizutragen scheint.
Unsre Betrachtung würde kein Ende finden, wenn wir uns in die Einzel¬
heiten verlieren wollten, hier der verhängnisvollen Leichtigkeit, mit der unter
den obwaltenden Umständen ein Bernfsweg betreten wird, auf dem selbst für die
Auserwählten schwere Enttäuschungen und harte Kämpfe harren, dort der Spe¬
kulation, welche die Gelegenheiten zur Steigerung dieser Mißverhältnisse unab¬
lässig zu mehren trachtet. Unter den mancherlei Kalamitäten, unter denen die
deutsche Musik und die deutschen Musiker der Gegenwart zu leiden haben, ist
die Überfüllung der Konservatorien mit unzureichenden, von vornherein zur Ver¬
kümmerung verurteilten Halbtalenten eine der schwersten, und es ist hohe Zeit,
daß sich warnende und protestirende Stimmen auch von andrer Seite erheben,
da die einzelne wirkungslos verhallen würde.
er schmale, steinige, schattenlose Pfad, der, von dem Flecken Cintra
heranfführend, längs der Bergwand hinlief, an deren Südende
sich das Kloster zum heiligen Kreuz erhob, ward halbwegs von
einer kleinen Schlucht anmutig unterbrochen. Plötzlich und fast
jus senkte sich die Straße, auf der zwei einander begegnende Maul¬
tiere sich eben ausweichen konnten, in eine schattige Tiefe. Die Felsen traten
einige hundert Schritte zurück, ein weißschäumender Sturzbach, der, vom ge¬
bahnten Pfade überbrückt, seinen Weg zu Thal suchte, brauste zwischen brauu-
und grünbemoosten Felsblöcken aus dem Hintergrunde der Senkung, und die
Doppelgruppe dicht stehender Korkeichen, mit altersgrauen, zerrissenen Stämmen
und üppigem Laubdach, ließ gerade soviel Nachmittagssonne und blauen Sommer¬
himmel in die Tiefe hereinleuchten, daß die kleine Schlucht nicht finster erschien.
Der einsame Reiter, der soeben von dem glutheißen Pfad in die Kühle
hinabtauchte und sein brennendes Gesicht vom feuchten Anhauch des Wassers
erfrischt fühlte, glitt nach kurzem Umblick aus dem Sattel und überließ es
seinem Maultier, sich die beste Stelle zur eignen Erquickung zu suchen. Er selbst
schritt ein paar niedrigen Felsblöcken am Rande des Baches zu, welche offenbar
schon vielen zuvor als Ruheplatz gedient hatten, ließ sich auf einem der Blöcke
nieder und sah einige Augenblicke mit zufriednem Lächeln zu, wie sein durstiges
Tier Kopf und Hals in das frische Wasser niederstreckte, sodaß die roten Troddeln
des Netzgeflechts, mit dem Hals und Leib bedeckt waren, auf dem Wasser
schwammen. Dann holte der Ruhende ans der Tasche seines Wamses einen
seltsam geformten Hornbecher, in welchem er mehreremale einen Strahl des
klaren Sprudels auffing, und erquickte sich an dem Trunke. Nachdem er ge¬
trunken, streckte er sich auf dem moosigen Steine der Länge nach aus, das Haupt,
von dem er den breiten Hut abnahm, auf den Arm legend, ganz wie einer,
der solches Lager von alters her gewohnt ist. Er schien behaglich dem Rauschen
des Wassers über und unter sich zu lausche». In dem dunkeln linken Ange
des Mannes — das rechte war mit einem schmalen, brannen Seidentuch ver¬
hüllt — war jedoch ein Ausdruck, ein träumerischer stiller Glanz, welcher verriet,
daß er in der wolkenlosen Bläue über sich mehr wahrnahm, als ein andrer
erblickt hätte.
Er würde noch länger aufgeschaut haben, wenn ihm die einsame Nast im
Schatten der Korkeichen weiter gegönnt worden wäre. Aber selbst ein Träumer,
wie er, mußte zuletzt Wohl die Laute vernehmen, die aus einiger Entfernung
von der Straße in die Schlucht herabdrängen. Scheltende und bittende
Stimmen, dazwischen der rasche Trab eines Pferdes oder Maultieres, das
.Wälschen einer Peitsche und dann wieder heftiger Wortwechsel wurden von jener
Seite hörbar, wo der Weg ans der Senkung gegen das Kloster zum heiligen
Kreuz anstieg. Der Austauschende konnte eine wiederholte heftige Abweisung
und darauf fremde, rauhe Stimmen, halb bittend, halb drohend, unterscheiden.
Unwillkürlich griff er an den Knauf feines Schwertes, einer guten spanischen
Klinge, die in unscheinbarer Lederscheide ruhte. Gleich darauf aber ließ er die
Rechte lässig wieder vom Griff gleiten und lächelte vor sich hin, da er jetzt
die Worte der scheltenden Stimme wohl unterschied:
Nicht einen Fajardo sollt ihr Hallunken haben, wenn ihr mir noch einmal
erzählt, daß ihr Hunger leidet! Habe ich nicht mit meinem Gott sei Dank
guten Augen gesehen, wie ihr alle Armensuppe der frommen Brüder von
Santa Cruz in eure Mäuler hinabschüttetet, sodaß für andre, bedürftigere
kaum eine Schüssel voll übrig blieb? Hat nicht jeder von euch so viel Mais¬
brot eingesteckt, als ihr nur in die Taschen eurer Jacken stopfen konntet? Und
schaut nicht dem Langen dort ans dem Gurt der Pluderhose ein Schinken¬
knochen hervor, den ihm der Bruder Küchenmeister jedenfalls nicht mitgegeben
hat? Wollt ihr also sagen, daß ihr Durst habt und als Vorgeschmack der
Hölle geschwefelten Wein von Carmvellos trinken müßt, und wollt ihr mir
eine Bedingung erfüllen, so soll mirs auf ein paar Kupfermünzen nicht an¬
kommen.
Euer Herrlichkeit hat zu befehlen! hörte der Lauscher antworten. Wir
sind arme, abgedankte Seeleute und es stünde uns schlecht an, einem vornehmen
und großmüchtigen Herrn zu widersprechen. Wir haben also Durst, und weil
es nach Eurer Herrlichkeit Befehl Wein von Carcavellos sein soll, in dem wir
ihn löschen, so werdet Ihr schon etwas Silber statt Kupfer an uns wenden
müssen. Euer Gnaden Bedingung aber —
Ist einfach und wird euch uicht beschweren, versetzte der Angebettelte,
dessen Stimme in dem Gesichte des stattlichen Mannes in der Schlucht einen
eigentümlichen Ausdruck von Spannung hervorrief. Der Lauschende hatte sich
jetzt seinem weidenden Maultiere und dem Pfade genähert, den die Sprechenden
Herabkommen mußten, und vernahm alles folgende noch besser als zuvor:
Hier habt ihr, was eure Kehle begehrt, dafür fordre ich von euch, daß
ihr mir das Wasser in der Schlucht allein laßt und euch an den Wein haltet.
Wo der Weg die große Straße erreicht, steht links bereits die erste Schenke.
Wir danken Euch für die Weisung, gnädiger Herr! hörte man den ersten
Sprecher wieder sagen. Die Rast am Wasser wolle» wir Euch nicht vergällen,
und wenn zufällig eine schone Ziegenhirtin dort weidet, so habt Ihr die gute
Stunde mit Eurer Freigebigkeit wohl verdient.
Der launige Fluch, mit welchem der Reiter antwortete, ging in dem Ge¬
lächter einer ganzen Anzahl von rauhen Stimmen unter, dann schollen takt¬
mäßige Tritte, der Lauschende sah fünf oder sechs Männer in zerlumpten
Wämsern, aber mit guten Waffe», die Senkung des Weges herab und an der
andern Seite der Schlucht wieder empvreilen. Sie hielten ihr Versprechen,
warfen aber neugierige Blicke in die schattige Wildnis herein. Sichtlich ent¬
täuscht entdeckten sie nnn den Mann in dunkler Kleidung, der jetzt seine Klinge
vor sich in das Moos gestemmt hatte und sich mit beiden Händen auf den
Korb derselben stützte. Der Einsame hätte ihre spöttischen Bemerkungen, daß
sich die vermutete schöne Hirtin in einem einäugigen, bärtigen Manne auflöse,
vernehmen können, wenn er nicht jetzt seine ganze Aufmerksamkeit dem von der
andern Seite herabkommenden Reiter zugewandt hätte. Schon in der nächsten
Minute wieherte der Rappe der unverhofften Gesellschaft des Maultieres ent¬
gegen, und fast zugleich entrang sich den Lippen des ersten Ankömmlings ein
lauter Ausruf: Manuel! Manuel Barreto!
Blitzschnell griff der Angerufene wieder nach den Zügeln, die er lässig
hatte herabhängen lassen, seine Augen wandten sich fragend zu dem Rufenden,
und über sein ganzes gebräuntes Gesicht ging ein lichter Schein frohen Er-
kennens: Bei den Wunden des Heilands — Ihr seid es, Senhor Luis?
Er trieb sein Pferd durch den schäumende» Bach, um den Pfad zu kürzen,
und sprang dann ohne weiteres aus dem Sattel, indem er den Rappen sich
selbst überließ. Senhor Luis war ihm mit stürmischer Freude entgegengeeilt,
hielt aber daun zögernd inne, bis er die Arme des andern weit geöffnet sah
und dieser mit herzgewinnender Stimme sagte: Was besinnt Ihr Euch, Freund?
Ich bin der Alte, selbst ein bischen älter geworden und hochbeglückt, Euch zu
begegnen! Unverhofft — aber zu guter Stunde! Euch hat die Sonne Afrikas
noch mehr gebräunt als die indische! Daß Ihr von Goa nach Sofala ge¬
gangen wäret, wußte ich aus den Briefen meines filzigen Vetters, des Gou¬
verneurs — von Eurer Heimkehr ahnte ich nichts! Ich wünsche Euch Glück,
daß Ihr den thörichten Vorsatz, Portugal nicht wiederzusehen, noch zu rechter
Zeit aufgegebn? habt, um ein Stück Abendsonnenschein daheim zu genießen!
Senhor Luiz löste sich aus der Umarmung des ältern Mannes, der ihn
fast um Kopflänge überragte, und ging mit ihm wieder dem Ruheplatz unter
den Korkeichen zu, den er eben verlassen hatte. Sein Gesicht abwendend, als
wollte er den wiedergefundnen Freund das bittre Lächeln nicht wahrnehmen lassen,
welches seine Lippen zusammmcnzog, erwiederte er: Euer Vetter, Herr Pedro
Barrcto, hätte mich beinahe dazu gebracht, mein kindisches Gelübde zu halten!
Es ist nicht sein Verdienst, daß es für mich nicht Nacht geworden ist an der
heißen, unwirtlichen Küste von Ostafrika!
Ich weiß, ich weiß, fiel Herr Manuel ein, indem er sich auf den bemoosten
Felsblöcken niederließ und den wiedecgefundncn Freund zu sich herabzog, um
besser in das edelgeschnittene, aber bräunlich blasse und sorgcngefnrchte Gesicht
des etwa fünfundvicrzigjährigen Maunes blicken zu können. Es ist Euer Pocten-
schicksal, Luis Camoens, daß Ihr Euch in Menschen und Dingen fortgesetzt
tänscht und die eigne adliche Empfindung in klägliche Seelen hineintrage. Mein
Vetter Pedro ist einer der armseligsten Wichte dieses allergläubigsteu König¬
reiches und der größte Narr von Portugal obendrein! Es mag ein gutes
Stück Arbeit gewesen sein, dem Hochmut des würdigen Herrn die tägliche Nah¬
rung zu reichen — aber Ihr hättet nach allem, was Ihr in Goa erlebt habt,
ein wenig bedenklicher in der Wahl Eurer Reisegesellschaft und, verzeiht mir,
ein weniger klüger sein sollen.
Luis Camoens schlug das dunkle Auge nieder und sagte, nachdem er einen
Augenblick gezögert hatte: Erführet Ihr noch nie, daß ein ärmliches Mißgeschick
uns ebensowohl verwehren kann, klug, als edel und großmütig zu handeln?
Ich sehnte mich aus Asien sort und meinte, es sei schon ein Gewinn, der Gewinn,
der Heimat ein paar hundert Meilen näher zu kommen. Das war denn frei¬
lich ein Irrtum, ich fand mich in Sofala ferner von dem Lande meiner Sehn-
sucht, als einst an der Küste von China! Doch ziemt es mir nicht, zu klagen,
da Ihr mich so freundlichen Empfangs würdigt. Laßt mich lieber wissen, wie
es Euch ergangen ist, seit wir zuletzt bei Jorge Pinto am Hafendamme vor
Goa Kanariensekt tranken und von Lissabon und den Bergen von Cintra träumten.
Es ist mir besser ergangen, als ich verdient habe, entgegnete der Edel¬
mann schlicht. Ihr wißt, daß ich Erbe der Güter meines Oheims Antao Ni-
beiro ward. Als ich aus Indien heimkehrte und in mein Recht trat, hatten
mir die Verwalter und die Behörden des Königs beinahe die Hälfte von allem
gelassen, was vorhanden gewesen war! Ihr werdet gestehen, daß Dame For¬
tuna mich noch hold angelächelt hat. Seitdem sitze ich zwischen Berg und
Meer, ans meinem Landgute Almocegcma, einem alten Maurenschlosse, sehe das
Brot, das ich esse, und den Wein, den ich trinke, wachsen, und lobe Gott vor
allem für den hellen, kühlen Quell im Hofe, den ein braver Hassen oder Omar,
welchem das Haus einst gehörte, in Stein gefaßt hat. Dort müßt Ihr bald sitzen.
Senhor Luis, es ist schattig wie hier und das Wasser so köstlich wie dieses.
Habt Ihr Euern Durst hier schon gestillt?
Gewiß, indem ich Eurer gedachte! antwortete Camoens höflich und wies
den Hornbecher vor, aus dem er vorhin getrunken hatte. Manuel Barreto er¬
griff ihn mit einer lebhaften Bewegung und rief erstaunt: Wahrhaftig der Becher
aus dem Horn des Ungetüms, das wir hinter Pantschim erlegten! Ihr habt
ihn gut bewahrt, mir wird der fröhliche Jagdtag und alles, was sich an ihm
begab, mit einemmale wieder lebendig!
So wißt Ihr auch, daß nicht wir beide das Nashorn erlegt haben, daß
es von Euerm Stoß allein zusammenbrach, und daß wir nicht hier beisammen¬
säßen, wenn der gute Stoß nicht zur rechten Zeit gekommen wäre! versetzte
Camoens. Der Becher, den Ihr in Goa fertigen ließet, ist nicht wieder von
meiner Seite gekommen, ich habe ihn oft gefüllt, immer aber dabei dankend
Eurer gedacht, Manuel, selbst wenn mir in böser Stunde das Leben zur Last war!
Aber das alles könnten wir daheim unter den alten Säulen meines Hofes
auch besprechen, sagte der Edelmann, welcher während dieser Unterredung im
Gesicht des Wiedergcfundnen mehr gelesen hatte, als Luis ahnte. Sagt mir,
woher und wohin des Weges, mein Freund, und wie bald ich hoffen darf, Euch
als willkommnen Gast an meiner Pforte zu begrüßen?
Manuel Barreto lächelte dabei dem neben ihm sitzenden so ermutigend, so
herzlich bittend zu, daß die ausweichende Antwort, welche Camoens eben hatte
geben wollen, aus dessen Lippen erstarb. Mit einer Bewegung, welche er nicht
mehr zu verbergen suchte, entgegnete der Dichter:
Mein Mißgeschick führte mich hier herauf, Senhor Manuel. Seit meiner
Heimkehr hat mein Leben nnr noch dem Werke gehört, das Ihr ja kennt! Das
große Gedicht suchte ich zu vollenden und in würdiger Weise meinem Volke
darzubieten. Ich ließ es mich Anstrengungen genug kosten, der Dichtung den
erhabnen Schutz zu sicher», ohne den bei uns nichts mehr gedeiht. Es ist nicht
leicht, zu unserm jungen König zu dringen, und mehr als einmal, wem, mir
ein Gönner den Weg zu ihm öffnen und ebnen wollte, lag ich krank in Lissabon
oder war sonst verhindert, mich am Hofe des Königs zu zeigen. In voriger
Woche empfing ich die Botschaft, daß mich der allergläübigste König sehen wolle,
wenn ich zuvor eine Woche oder etwas länger auf dem Lande zugebracht hätte.
Ihr wißt, daß in der Hauptstadt die Pest gewütet hat und noch umherschleicht.
Dom Sebastian ist von seinen Ratgebern genötigt worden, die gesunde Bergluft
von Cintra zu suchen, und niemand, welcher unmittelbar von Lissabon kommt,
wird zu ihm gelassen. Ich ermöglichte einen Aufenthalt in Pedro Braun und
ritt heute Morgen von dort zum Königsschlosfe hinauf.
Nun, und dann? fragte Manuel Barreto lebhaft, da Camoens mit einem
Ausdruck zornigen Unmuth plötzlich inne hielt.
Dann fand ich, daß der Wind im Schlosse rascher umspringt als der
Monsun im indischen Meere! versetzte Herr Luis. Ich drang nicht weiter als
bis zum Grafen von Porto Santo vor und mußte hören, daß der König gerade
heute an mein weltliches Gedicht nicht denken könne, da er sich für das Heil
seiner Hauptstadt geistlichen Übungen hingebe. Ich bat zuerst und stürmte als¬
dann, beides vergeblich. niedergeschlagen mußte ich aus dem Palaste wieder
abziehen, und dn ich es ganz unmöglich fand, jetzt unverrichteter Sache und in
der Glut dieser Sommertage nach Lissabon zurückzukehren, so dachte ich nach
Santa Cruz hincmfznreiten, und die weltberühmte Gastfreundschaft des Klosters
für einige Tage in Anspruch zu nehmen. Vielleicht ist unter den frommen
Vätern einer oder der andre, welcher, den Musen geneigt, mir den Eingang zu
König Sebastians Gemächern zu öffnen vermag. Auf alle Fälle will ich hin¬
auf — man sagt, saa da Miranda, der Dichter, habe dort oben Gastfreund¬
schaft genossen und Frieden gefunden!
Manuel Barretv hatte aufmerksam den Worten seines Kriegsgefährten
gelauscht, aber zuletzt, als er bemerkte, daß der Ausdruck von Camoens' Gesicht
immer finsterer ward und der Sprecher zu Boden blickte, sich scheinbar ein
wenig abgewandt. Auch als Herr Luis jetzt schwieg, hielt der Edelmann das
Ange auf die beiden Tiere gerichtet, die im Vordergrunde der Schlucht neben
einander grasten, und wars leicht hin: Ich fürchte, Ihr werdet die Brüder von
Santa Cruz weniger, gastfrei finden, als ehedem. Sie wissen sich kaum der
ungestümen Bittgänger zu erwehren, welche fast täglich an die Klosterpforteu
pochen. Seit die Schiffe der Pest wegen nicht mehr im großen Hafen von
Lissabon anlegen, sondern auf den kleinen Rheden längs der Küste, seit die
Gerüchte von großen Kriegszügen unsers jungen Königs immer neue Abenteurer
ins Land ziehen, wimmelt es da oben von unwillkommnem Wallfahrern; für
edle Gäste ist weder Raum noch guter Wille mehr vorhanden, Ihr habt ja
vorhin an den Strolchen, welche mit mir herabkamen, ein Pröbchen gehabt,
welches Volk dort oben haust. Als ich vor zwei Stunden das Kloster verließ,
in dem ich alljährlich eine Seelenmesse zu Ehren meines Oheims höre, lagen
sie reihenweis in und vor den Gängen. Mich dünkt, Ihr werdet wenig Behagen
und noch weniger Frieden in Santa Cruz finden, mein Freund, und da Ihr doch
schlössen seid, nicht nach Lissabon zurückzugehen, so ist Euch vielleicht genehm,
mich gleich nach Almocegema zu begleiten. Ich bin Hagestolz, keine Hausfrau
braucht Vorbereitungen zu treffen — mein braver Joao ist daran gewöhnt,
daß ich mit Gästen heimkehre, also besinnt Euch nicht lange, schlagt ein, Freund
Luis, und denkt, daß, je rascher Ihr kommt und je länger Ihr verweilt, die
Freude und Ehre für mich umso größer sein wird!
Dankbar sah Camoens den Edelmann an, welcher ihm so herzlich entgegen¬
kam. Aber nach kurzem Bedenken schüttelte er das Haupt und sagte: Eure
Einladung würde einen Granden von Spanien verpflichten, geschweige denn
einen armen Krieger und Poeten. Sobald ich meinen nächsten Zweck erreicht
habe, will ich keine Schwelle in Portugal eher und lieber überschreiten als die
Eure, und verweilen, so lange es Euch immer gefällt. Aber verzeiht mir, wenn
ich heute nein sage und mein Ziel im Auge behalte, so hart und mühselig der
Weg auch sein mag. Ich habe nur eins noch im Leben zu thun, mein Gedicht,
die einzige Frucht meines Daseins, ans Licht zu bringen! Ich habe Jahrzehnte
daran gesetzt, es zu vollenden — jetzt darf ich keine Mühe scheuen, um ihm
die Gunst meines Königs und meines Volkes zu erwerben. Ich muß Dom
Sebastian sehen und sprechen.
Müßt Ihr? fragte Manuel Barreto und vermochte bei aller Höflichkeit
einen gewissen Unmut nicht zu verbergen. Ihr sagt selbst, daß Ihr zunächst
geringe Aussicht habt, vor das Antlitz unsers jungen Herrn zu gelangen —
Und wäre die Aussicht noch geringer, Senhor Manuel, ich müßte ihr nach¬
gehen, unterbrach der Dichter die Einrede des ältern Freundes. Seine Wangen
überzogen sich mit einer fieberhaften Nöte, aus seiner Stimme und seiner
Haltung verlor sich für einen Augenblick die edle Gelassenheit, die ihn sonst
auszeichnete. Er holte tief Atem und kämpfte offenbar mit sich selbst, ob er
Barreto mehr mitteilen solle, als er schon gethan. Herr Manuel kam ihm
jedoch zuvor und hub nach einigem Zögern wieder an: So erlaubt, daß ich Euch
meine geringe Hilfe anbiete, Camoens, und gewährt mir dafür die Gunst Euers
Besuchs! Wenn Ihr bei Hofe nichts wollt als eine kurze Unterredung mit dem
König und die Übergabe Euers Gedichts, so reichen die spärlichen Verbindungen,
die ich dort noch habe, wohl dazu aus, Euch morgen oder einen Tag später
den Zutritt zu verschaffen. Ich begleite Euch nach Cintra hinab, wir nehmen
gemeinsam Herberge bei Bartolomeo Okaz, der als Steuermann auf der Ormus-
flvtte gedient hat, und ich versuche, Euch morgen die Viertelstunde zu erwirken,
auf die Ihr das Heil Eurer Seele gesetzt habt. Dann begleitet Ihr mich nach
meinem Gute, auf alle Fälle aber gestattet Ihr mir, daß ich von Stund an
Euer Gastfreund bin, denn dnrch unser erwünschtes Begegnen und dnrch den
Eigenwillen, mit dem ich Euch hindre, das Kloster aufzusuchen, habe ich ein
doppeltes Anrecht darauf.
Es stünde mir schlecht an, Eurer Freundschaft zu widersprechen, entgegnete
Camoens ernst. Nur ein Wort erlaubt mir. Ihr wißt nicht, könnt nicht
wissen, was mein Werk für mich bedeutet und durch welche Fügungen und
Verhängnisse die Vollendung der „Lusiaden" für mich der Zweck des Daseins
geworden ist. Indes glaubt mir ohne Beteuerung, daß das Heil meiner Seele
an der Erreichung dieses Zieles hängt, und da Ihr ritterlich und großherzig
und mein Freund seid, so habt Nachsicht damit, daß ich in dieser Sache nicht
scherzen kann!
El Freund, das ganze Leben ist gewaltig ernst, und doch muß man es zu
guter Stunde als eine» Scherz behandeln, rief der Edelmann. Ich fürchte,
Ihr seid krank und müßt mir umsomehr und umso länger nach Almocegema!
Wir werden wohl thun, wenn wir unsern nächsten Weg bald antreten, so schattig
und labend auch dieser Fleck Erde ist! Nehmt unsre Begegnung bei diesem
Quell als ein Zeichen, daß sich alles nach Euerm Wunsch fügen wird, und laßt
uns wohlgemut nach Cintra hinunterrciten. Die Sonue scheint auf den Weg
hinab nicht heißer, als sie Euch aufwärts auf dem Pfade zum heilige» Kreuz
geschienen hätte.
Ihr sprecht die Wahrheit! entgegnete Ccimoens lächelnd. Wenn Ihr denn
durchaus, wie vor Zeiten in Indien, mein Berater, Haushalter und Vormund
sein wollt, so darf ich nur mein Glück preisen, daß mich Euch begegnen ließ,
und bin zu Euern Diensten! (Fortsetzung folgt.)
Eine deutsche Ausstellung. Seit Jahrzehnten wogt unablässig der Kampf
zwischen den Ausstellungsfanatikern und den mehr oder weniger entschiednen Gegnern
des Ausstcllungswcscns, und man sollte daher glauben, daß alle Argumente für
und wider bereits erschöpft seien. Der Abgeordnete Baumbach hat uns indes eines
andern belehrt, indem er in der Reichstagssitzuug am 11. Dezember v. I. die Ne¬
gierung zu einer Kundgebung für die geplante deutsche Ausstellung in Berlin im
Jahre 1888 zu bestimmen versuchte. Die Wendung, daß eine solche Ausstellung
„das Band zwischen Norden und Süden enger knüpfen" werde, kann allerdings nicht
als neu bezeichnet werden, höchstens als beinahe wieder neu, da vorsichtige Leute
sich abgewöhnt haben, angesichts unsers kriegerischen Zeitalters die Verbrüderung
der Nationen und Stämme dnrch Industrie-Ausstellungen auszuspielen. Aber er
fand auch, daß diejenigen Industriellen, welche Zvllschutz für die nationale Arbeit
verlangen, verpflichtet seien, „eine Probe auf die erzielten Resultate zu machen,"
weil es sonst leicht scheinen könne, daß „sich die deutsche Industrie schämen müßte,
ein Gesamtbild ihrer Leistungen zu geben." Hätten die Herren Linksliberalen uns
nicht abgehärtet, so würden wir die Hände über den Kopf zusammenschlagen über
die Leichtfertigkeit, mit welcher da in den Tag hinein geredet wird. Als ob eine
Ausstellung jemals ein vollständiges und treues Gesamtbild der Leistungen der
ganzen Industrie gewähren könnte, und als ob die wahren Proben nicht tagtäglich
gemacht würden! In wessen Interesse ereifert sich der Herr überhaupt? Er selbst
steht, so viel wir wissen, der Industrie fern (denn die Fabrikation hohler Phrasen
wird noch nicht zur Industrie gerechnet), und der Industrie muß doch wohl das
entscheidende Urteil darüber zustehen, ob eine Ausstellung ihr Nutzen verheiße oder
nicht. Diesen Standpunkt würden anch Herr Baumbach und Genossen sicherlich ein¬
nehmen, wenn die gewerblichen Kreise in ihrer Mehrheit sich für das Unternehmen
ausgesprochen hätten; nun sie sich dagegen erklären, gilt natürlich ihre Stimme nichts!
Die einzig korrekte Haltung ist diejenige, welche die Negierung einnimmt, und es
war nach solchem Geflunker wahrhaft wohlthuend, aus dem Munde des Staats¬
sekretärs von Bötticher zu vernehmen, daß nicht beabsichtigt werde, für eine Aus¬
stellung, für welche sich weder Industrie noch Handel zu erwärmen vermöchten,
Reichsmittel aufzuwenden.
Das ist ja eben das Unglück, daß in der Regel beide Parteien außer Augen
lassen, um wen und um was es sich bei einer solchen Frage überhaupt handelt.
Wir haben nun wahrlich Erfahrungen genug gesammelt, um die abgestandnen
Redensarten von der großen Kulturaufgabe der Ausstellungen u. f. w. nach ihrem
wahren Werte beurteilen zu können. Geschäftssache ist das Ganze. Die Industrie
macht aber in den seltensten Fällen bei den Ausstellungen ein Geschäft, welches den
Aufwand rechtfertigte, das politische Nebengeschäft kann manchmal glücken, aber auch
völlig mißglücken (wie 1873 in Paris und 1882 in Trieft), zufrieden sind gewöhnlich
Gastwirte und Konsorten, aber die Rechnung des Gesamtnnternehmens schließt, wenn
es im großen Stile angefaßt ist, fast ausnahmslos mit einem Defizit ab. Glauben
der Gewerbcstand überhaupt und die. ans den Fremdcnzufluß speknlirenden Geschäfts¬
leute am Ausstellungsorte es darauf hin wagen zu können, »vollen sie die Kosten
auf alle Fälle garantiren — weshalb sollte man ihnen das Vergnügen oder die
Lehre nicht gönnen? Aber es ist merkwürdig, daß gerade die gern an allem not¬
wendigen sparenden Parteien am raschesten bei der Hand zu sein Pflegen, einige
Millionen für ein großes Volksfest zu bewilligen, als ob in solchem Falle das Geld
nicht von dem Steuerträger aufgebracht werden müßte. Will man denn noch immer
nicht begreifen, weshalb die Engländer, welche die erste allgemeine Ausstellung in
Szene gesetzt haben, sich mit der ersten Wiederholung begnügen ? seit dreiundzwanzig
Jahren den andern Nationen die kostspielige Unterhaltung neidlos überlassen? sogar
die Weltausstellungen an andern Orten nur sehr spärlich beschicken?
Aber in Berlin soll ja keine Welt-, sondern eine nationale Ausstellung ver¬
anstaltet werden! Dadurch wird das Unternehmen freilich weniger riskant, aber, da
eben die deutsche Industrie sich der Idee gegenüber so kühl verhält, desto über¬
flüssiger. Finden sich alle Völker zusammen, so ist immer darauf zu rechnen, daß
unserm Gcwerbfleiße neue Anregungen gegeben werden. Bei der Lage Berlins ließe
sich vielleicht eine reichlichere Beschickung vom Norden und Nordosten her erwarten,
so wie die Wiener Ausstellung von der Nähe des Orients Vorteil zog. Und für
die Aussteller bleiben die Kosten die gleichen, ob nur sein Land oder alle Länder
zur Beteiligung eingeladen sind.
Nun ist noch besonders zu beachten, daß die Ablehnungen zum größten Teile
von Industriezweigen kommen, welchen verhältnismäßig geringere Opfer würden
zugemutet werden. Die Großindustrie braucht meistens nicht eigne Ausstellungs¬
stücke anfertigen zu lassen, sondern wählt von ihren Fabrikaten Proben aus, welche
geeignet sind, dem Fachmann die günstigste Meinung beizubringen. Ihr Publikum
sind die Fachmänner, die aber niemals die erwünschte Besucherzahl stelle» werden
Das große Publikum wird erfahrimgsgemiiß angezogen durch die im Gange befind¬
lichen Maschinen, von deren Konstruktion, Neuerungen, Leistungsfähigkeit u. f. w.
es beim Verlassen des Raumes gewöhnlich ebensoviel weiß wie vor dein Eintritt,
und durch die Erzeugnisse der Kunstindustrie. Mag hier das Verständnis oft auch
nicht größer sein, so glauben doch die meisten etwas von der Sache zu verstehen,
urteilen oder schauen wenigstens mit Interesse. Und die Dinge, welche da zu schauen
sind, haften leicht im Gedächtnis. Der Verguüguugszügler erinnert sich ganz gut,
ob er ein Mobiliar, ein Service u. s. w. schon vor einem Jahre oder einigen Jahren in
einer andern Stadt gesehen hat. Mit der Kunstindustrie beschäftigen sich ferner
die Zeitnngsberichterstnttcr am ausführlichsten. Und wenn das Programm ja das
Vorführen von Arbeiten älteren Datums gestattete, würden die Referenten, die alle
Ausstellungen besucht haben und längst übersättigt find, es bitter rügen. Da also
muß alles neu, neu in Idee und Ausführung sein. Und das erfordert sehr viel
Geld. Es kauu wieder hereingebracht werden, aber man halte nur Umfrage bei
Firmen, die seit längerer Zeit bestehen, welche Erfahrungen sie in dem Punkte ge¬
sammelt haben.
Wenn sie trotzdem sich immer wieder ködern lassen, so ist das, wie gesagt,
ihre Sache. Als solche möge man es auch betrachten, und deshalb mögen die Aus-
stellnngsdilettnnten von rechts und links sich nicht hineinnüscheu. Daß das Aus-
stellungswesen sich bereits völlig überlebt habe, ist eine Uebertreibung; aber wenn
man fortfährt, es als Sport zu betreiben, wird es in der That bald zu Tode gehetzt
sein. Um es davor zu bewahren, konnte vielleicht eine Steuer (aber eine hohe!)
von denen erhoben werden, die der Geschäftswelt einreden wollen, sie müsse aus
Patriotismus, aus Liberalismus, zum Besten, der Zivilisation n, s, w. in den sauern
Apfel beißen, nicht minder von denen, die als General- oder Abteilungsdirektoren
oder als Mitglieder der beliebten „großen Kommission" eine Rolle zu spielen wünschen,
und der doppelte Betrag, wenn sie auf Orden speiüliren, Irren wir nicht, so würde
sich dadurch die Zahl der Enthusiasten, welche immer bereit sind, andre ins Feuer
zu schicken, erheblich vermindern.
Bayard Taylor. Ein Lebensbild aus Briefen zusammengestellt von Marie Hansen-
Taylor und Hornen E. Scuddcr, Uebersetzt und bearbeitet von Anna M, Koch. Mit
Porträt. Gotha, F. A. Perthes, 1885.
Diese Uebersetzung der Lebensgeschichte Bayard Taylors ins Deutsche hat ihre
volle innere Berechtigung in den mannichfaltigen und innigen Beziehungen, die der
amerikanische Schriftsteller und Staatsmann zu Deutschland hatte. Schon von
frühester Jugend auf schwärmte er für alles Deutsche; die erste seiner vielen Reisen
war zu uns gerichtet. Den Winter von 1844 auf 45 verbrachte der neuuzehn-
jährige Korrespondent des Newyorker ^tiburo in Frankfurt n. M., günz dem Studium
der deutschen Literatur ergeben. Auf einer Reise in Aegypten lernte er 1851 seinen
liebsten Freund Bufleb, einen Deutschen aus Thüringen, kennen, in dessen Hause er
mit seiner spätern Gattin bekannt wurde, einer Deutschen, der Tochter des Astro¬
nomen Hansen in Petersburg. Seine Vertrautheit mit der deutschen Sprache er¬
möglichte ihm die berühmte Uebersetzung von Goethes „Faust" ins Englische, die
seine Lnndslcnte der meisterhaften Uebertragung Dantes durch Longfellow an die
Seite setzen. Jahrzehntelang trug sich Taylor mit dem Plane und den Vorberei¬
tungen zu einer umfassenden Lebensbeschreibung Goethes und Schillers zugleich;
aber als er in seiner Stellung als Botschafter der Vereinigten Staaten am deutschen
Kaiserhofe endlich seinen Plan verwirklichen zu können hoffte, dn rief den über-
angestrengteu Mann ein früher Tod (19. Dezember 1878) ab, und all die Arbeit
blieb resultatlos.
Der Biograph bemerkt einmal mit Recht: „Bayard Taylors Energie und
Schaffenskraft überstieg das gewöhnliche Maß europäischer Begriffe um ein Be¬
deutendes"; die Geschichte seines arbeitsvollen Lebens und schließlich tragisch er¬
greifenden Schicksals bezeugt es. Es kauu als vorbildlich für das vieler Schrift¬
steller unsrer Zeit gelten, die deu Streit zwischen Kunst- und journalistischer Produktion
in sich auszumachen haben, und über dem Drange der materiellen Ansprüche des
Lebens nicht zur Befriedigung ihres eigentlichen höhern Berufs gelangen: vorbildlich
deswegen, weil Bayard Taylor ganz außerordentliche Erfolge und dementsprechend!!
Einnahmen als Journalist hatte, und bei alledem sich nach der Stille des Poeten¬
winkels vergebens sehnte, und als er sie endlich doch fand, so erschöpft und über¬
arbeitet war, daß er sterben mußte.
Bayard Taylor muß eine ganz ungewöhnlich begabte und liebenswürdige Er¬
scheinung gewesen sein. Er hatte u. a. ein seltenes Spracheutalent: er besucht
Schweden und lernt in Kürze schwedisch; er kommt nach Griechenland und beherrscht
bald das Neugriechische; in Petersburg, die Geschäfte der Botschaft versehend,
schreibt er: „Wenn ich fleißig studirte, so könnte ich die russische Sprache wohl
in drei Monaten fließend sprechen lernen"; Französisch und Italienisch kann er
selbstverständlich. Wo er hinkam, nahm er die Sitten des Landes um, in Madrid
trug er cmdalusische Tracht, im Orient Turban und Knftau. Als Rciseschriftsteller
hatte er denn auch seine ersten Erfolge, die ihm echt amerikanisch große Honorare
und Popularität eintrugen; sogar Dickens schrieb eine lobende Kritik über seine
Reisebeschreibungen, und der Romancier James bezeichnete den jungen Taylor bei
eiuer öffentlichen Gelegenheit als den besten Landschaftsmaler in der Literatur, den
er kenne. Von frühester Jugend ans hatte er die Sehnsucht, die alte Welt zu
sehen, das Verlangen, „Natur und Menschen vom allgemein menschlichen Stand¬
punkte kennen zu lernen," Und dieses Verlangen ist anch psychologisch motivirt
durch den Gegensah Taylors zu seiner Heimat, einer alten Qnäkcransiedlung: „In
Kennet herrschte die Richtung, alle Gefühle zurückzuhalten und zu unterdrücken, was
nur zu oft den Eindruck von Gleichgiltigkeit hervorbrachte und äußerlich an Un-
gastfreundlichkeit streifte, Bayard Taylor hatte stets darunter gelitten, und der Ent¬
schluß, in die Fremde zu gehen, wurde bestimmt durch deu Wunsch, aus dieser
Atmosphäre herauszukommen und eine freiere Luft zu atmen," Taylors Naturell
war eben ein ganz entgegengesetztes: er bedürfte, des Enthusiasmus, der Freund¬
schaft, er hatte ein großes Mitteilungsbedürfnis, und persönlich war er anch in der
That so liebenswürdig, daß ihm überall die Menschen hilfreich entgegenkamen und
er in seiner Unbefangenheit und Bescheidenheit sich oft über die rasch gewonnene
Freundschaft dieses oder jenes Mannes verwunderte. Die Anerkennung eines Dickens
stimmte ihn nur umso bescheidener: „Lob für etwas, was ich selbst nicht hoch schätze,
demütigt und erniedrigt mich nur; und ich bin hierher zurückgekehrt mit dem Ge¬
fühle, daß ich der letzte bin unter den Schriftstellern und noch alles zu lernen
habe" — dies war seine Antwort auf Dickens' Kritik in einem Briefe an seinen
Freund, Seine einnehmende Persönlichkeit mehr als seine Redegabe war es wohl
auch, welche ihm eine der ergiebigsten Einnahmequellen eröffnete, in seinen Waudcr-
vvrträgcn. Populär wie er als Reiseschilderer und Mitarbeiter des I'rivuns war,
der zu seiner Zeit „gleich uach der Bibel" bei der Nation kam, wanderte Taylor
ein Jahrzehnt lang durch die Vereinigten Staaten und hielt unter massenhaftem
Zulauf Vorlesungen über alles mögliche; einmal hatte er zu wählen zwischen: 'Ins
Anns.l ma.u und 'Ins ins cet Lobillor. Das Vortragswesen stand um diese Zeit
(1845—55) auf dem Höhepunkte; es war vielen Leuten die einzige Bildungsquelle.
Als es sich auch wie jede Mode abnützte, kehrte Taylor zum Nedattivnspulte zurück und
schrieb mit gewohntem Erfolg vielgelesene Romane. Alle diese Erfolge konnten ihn aber
über das Verfehlen seines eigentlichen Dichterberufes nicht täuschen, was ihn immer
mehr bedrückte, bis endlich die Berufung zum Gesandten nach Berlin die Aussicht
gab, ihn von aller Qual zu befreien. Er war aber kein ganzes Jahr auf seinem Posten,
Das Buch der Frau Taylor liest sich, wie diese Zeiten andeuten wollten, sehr
interessant; die Zusammenstellung der Briefe Taylors ist jedoch mehr eine Mnte-
rialiensammlung zu einer Lebensbeschreibung, aus ein literarisches Werk selbst in
unserm Sinne. Indes berührt der realistische Sinn, in dem das Buch verfaßt
ist, eiuen deutscheu Leser, der in solchen Biographien langweilige ästhetische
Analysen zu finden gewöhnt ist, besonders wohlthuend. Er erhält einen höchst
interessanten Einblick in das amerikanische Literatur- und Kulturleben.
as republikanische Frankreich oder, wie man auch sagen kann, der
Parlamentarismus in Frankreich macht seit den letzten dortigen
Wahlen eine Krisis durch, die man ohne Übertreibung zu den
gefährlichsten Perioden der neuesten Geschichte dieses unsers
Nachbarlandes zählen darf, und es ist ein eigentümliches Zu¬
sammentreffen, daß, während in Großbritannien das parlamentarische System
die bisher herrschenden Parteien in Not und vor ein bedenkliches Dilemma
gebracht hat, auch den Franzosen ans dieser Methode des Regierens schwere
Verlegenheiten erwachsen sind. Dort ist es die irische Partei, die dnrch ihr
Anwachsen das herkömmliche Schaukeln, bei dem bald die Konservativen, bald
die Liberalen höher schwebten, mit verdrießlicher Störung bedrohte und sie vor
die Wahl stellte, entweder Einwilligung zu Gesetzen zu versprechen, welche eine
Zerspaltung des Reiches zur Folge haben konnten, oder auf die Herrschaft ihrer
Partei wenigstens für die nächste Zeit zu verzichten. Hier, in der französischen
Republik, spielt die monarchische Partei, durch die letzten Wahlen beträchtlich
verstärkt, den beiden republikanischen Fraktionen, den Opportunisten und den
Radikalen, gegenüber eine ähnliche Rolle. Es sah in der That kurz vor
Weihnachten in Paris recht trübe am politischen Himmel aus. D.is Ministerium
Brisson war mit einer Niederlage in der Debatte über Tonking bedroht, und
die letztere endigte mit einer Abstimmung, welche ihm zwar eine Majorität ließ,
aber eine so geringfügige, daß man nach parlamentarischem Brauch mit ihr kaum
weiter regieren konnte. Während infolgedessen das opportunistische Kabinet an
seinen Rücktritt vom Staatsruder denken mußte, lief die Regicrnngsdauer des
Präsidenten Grevy ab, und Senat und Deputirtenkammer hatten, zum Kongreß
znsammentreiend, einen Nachfolger zu ernennen. War eine Wiederwahl Grevhs
mit großer Stimmenmehrheit zu erwarten, so hatte man doch zu fürchten, daß
die monarchische Rechte, die schon bei den Verhandlungen über Tonking sehr
wirksam die Zähne gewiesen hatte, die Gesetzmäßigkeit der Präsidentenwahl auf
Grund der Thatsache, daß die Versammlung unvollständig sei, weil in ihr,
gerade so wie bei der Tvnkingdebatte, nicht weniger als zweinndzwanzig Deputirte
fehlten, welche die Republikaner wegen klerikaler Umtriebe bei deren Wahl als
auf ungesetzlichen Wege zu einem Mandat gekommen beseitigt hatten, lebhaft
anfechten werde, und daß verschiedne republikanische Senatoren und Deputirte
die Verwicklung vermehren würden, indem sie nicht für Grcvy, sondern für
einen andern Kandidaten ihre Stimme abzugeben entschlossen waren.
Die letztere Besorgnis erledigte sich. Zwar versuchte die Rechte zu pro-
testiren, aber der Vorsitzende des Kongresses ließ sie nicht zu Worte kommen,
und die parlamentarische» Annalen der Republik hatten nur einen neuen großen
Skandal mit Schimpfreden und Balgereien aufzunehmen. Grcvy wurde mit
großer Majorität, wenn auch nicht so großer wie vor sieben Jahren, wieder
gewählt. Eine ernstliche Gegenlandidatnr war nicht vorhanden, und er selbst
empfahl sich den parlamentarisch gestimmten und geschulten Gemütern sowie den
Liberalen überhaupt nach vielen Seiten hin. Grcvys Leben war immer der
Freiheit geweiht gewesen, wie sie die „öffentliche Meinung" in Frankreich versteht.
Jules Ferry war längst abgethan, Brisson war in der Tonkingdebatte ein paar
Tage vorher so gut wie unterlegen lind hatte überdies auf die Präsidentschaft
offen und bestimmt verzichtet, eine Kandidatur Clcmeneeaus wäre nach dem
Ausfall der Oktoberwahlen mit dem Anfange des Endes der dritten französischen
Republik identisch gewesen, anch Freycinet hatte keinerlei Aussichten, wenigstens
für jetzt nicht. Ganz anders Grevy. Seit Gambettn, der „Dauphin der Republik,"
gestorben war, gab es niemand, der sich unter den Vertretern der republikanischen
Parteien so großer Beliebtheit erfreut hätte als er. Als Student schon that
er sich als freisinniger Politiker hervor, indem er in der Julirevolution zu den
Kämpfern gehörte, die sich der Kaserne Babylon bemächtigten. Als Advokat
zeichnete er sich durch Verteidigung von Leuten aus, die politischer Verbrechen
wegen angeklagt waren. Nach der Februarrevolution schickte ihn Ledru-Rollin
als Kommissär der Regierung ins Departement des Jura, die Heimat Grevys,
wo er sich so populär machte, daß er in die konstituirende Nationalversammlung
gewählt wurde. Hier hielt er sich unabhängig und blieb den Radikalen fern,
gehörte aber immer zu den Wortführern der republikanischen Sache. Er war
der Urheber eines Antrages, welcher der Bewerbung Louis Napoleons um die
Krone einen Riegel vorschieben sollte, aber in der Sitzung vom 7. Oktober
1848 mit großer Majorität abgelehnt wurde. Nach dem Staatsstreich vom
2. Dezember nahm Grevy den Kampf gegen den Prinz-Präsidenten unerschrocken
wieder auf, indem er mit andern Deputirten dagegen protestirte. Man verhaftete
ihn, gab ihm aber bald wieder die Freiheit. Nach der Schlacht bei Sedan
schloß er sich der republikanischen Erhebung an, wirkte aber auf die Einberufung
einer Nationalversammlung und den Abschluß eines Friedens hiu und zerfiel
infolgedessen mit Gambetta, der ihm wie Herrn Thiers mit seinem Widerstände
bis aufs Messer als „tollwütiger Narr" erschien. Die Nationalversammlung
von Bordeaux wählte ihn zu ihrem Vorsitzenden, in welcher Stellung er große
Energie und nicht weniger Mäßigung und Umsicht bekundete. Als Nachfolger
Mac Masons bestieg er endlich am 30, Januar 1879 den Stuhl des Präsidenten
der Republik, Als solcher hatte er die nach den Ansichten und Absichten der
Volksvertretung geschaffnen Gesetze zu verkündigen und deren Ausführung an¬
zuordnen und zu überwachen, es stand ihm das Begnadigungsrecht zu, er verfügte
innerhalb der Schranken der parlamentarischen Macht über die Armee, ernannte
die Beamten und Offiziere und konnte mit Zustimmung des Senats die Deputirten-
kcnnmer vor Ablauf ihres Maubads auflösen. Sein eignes Mandat war auf einen
Zeitraum von sieben Jahren beschränkt. Sein Vorgänger hielt es nicht so lange
aus; er war „nicht imstande, sich zu unterwerfen," und so geboten ihm „gesunder
Menschenverstand und Vaterlandsliebe," seine Gewalt an die Volksvertretung
zurückzugeben. Zu jener Zeit war die Aufgabe, „die Republik zu machen," den ver¬
einten Bemühungen Gambettas und Thiers', denen die numerische Schwäche und die
Thorheit der Legitimisten zu Gute kamen, gelungen, und Grevh wurde als ein
Mann, auf den sich die Republikaner verlassen zu können glaubten, zum Nach¬
folger des unbequemen und gefährlichen Marschalls gewählt. Er sollte herrschen,
aber nicht regieren, mehr Repräsentant eines Prinzips, mehr Ornament als
lebendige Persönlichkeit mit einem eignen Willen und einer eignen Meinung
sein, wie es der Parlamentarismus vorschreibt. Mau täuschte sich in Grcvy
nicht: er war Republikaner, Anhänger der Demokratie und des Parlamenta¬
rismus aus Überzeugung, er wollte nur Vertreter eiues Prinzips, nur eine
stumme Abstraktion, nur Ornament ans der Spitze der Staatspyramide sein,
und sein Temperament unterstützte feinen Willen. Er wurde ein Mustcr-
präsident für Demokraten, ein Staatsoberhaupt, wie es unsre Anwälte des
Parlamentarismus aus unsern Monarchen machen möchten. Er hatte einst
den Antrag gestellt, es sollte in der französischen Republik keine Präsidenten
geben, soudern nur eine Abgeordnetenkammer und eine Reihenfolge von dieser
allein beauftragter, abhängiger und absetzbarer Minister, und jetzt setzte ihn die
Ironie des Schicksals auf deu Stuhl, den er damit hatte umstoßen und in die
Rumpelkammer verbannen wollen. Aber er verfuhr auf diesem Sitze fast ganz
so, als ob derselbe wirklich beseitigt worden wäre. Er saß da mehr als heiteres
Bild wie als Persönlichkeit sieben volle Jahre, besorgte seine verfassungsmäßigen
Pflichten und Funktionen so ruhig als möglich, sodaß man den Apparat, der
er war, kaum gehen hörte, nahm Ministerien mehr an, als er sie wählte,
empfing mit Würde Botschafter und Gesandte, präsidirte mit phlegmatischer
Parteilosigkeit bei Beratungen des Kabinets, ging dazwischen auf die Jagd,
wenn er nicht Villard zu spielen hatte, und war fast immer bereit, jedes Schrift¬
stück zu unterzeichnen, das ihm vorgelegt wurde; höchstens machte er dabei zu¬
weilen eine Ausnahme mit solchen, welche die Todesstrafe über Verbrecher aus-
sprachen, die von einem unverständigen Geschwornengerichte seiner Gnade
empfohlen wurden. Was auch von strengen Kritikern oder bittern Feinden über
die siebenjährige Thätigkeit oder vielmehr Unthätigkeit des Präsidenten Grcvy
vorgebracht wurde, niemand konnte ihm vorwerfen, daß er bei irgendeiner Ge¬
legenheit auch mir den leisesten Versuch gemacht hätte, seinem Amte durch Her¬
vortreten mit seiner Meinung und seinem Wunsche und Willen, durch Beein¬
flussung der Minister oder der beiden Vertrctuugskörper oder durch lcisetretende
Beschränkung der Wirksamkeit derselben mehr Bedeutung zu verschaffen. Er
that dies so wenig, wie es eine Statue von Porzellan oder Alabaster gethan
haben wurde, die man statt seiner auf den Präsidcntenstnhl gesetzt hätte. Es
war in seiner Haltung etwas von der Tugend der Asketen und Säulenheiligen,
die alle andre Gedanken und Bestrebungen als die religiösen in sich ertötet
haben, nur war seine Religion der Parlamentarismus. Wenn die auswärtigen
wie die innern Angelegenheiten Frankreichs sich unter seinem Regimente — falls
man es so bezeichnen darf —- nicht immer besonders erfreulich verlaufen sind, so
trifft ihn keine Schuld. Wenn er seine Tugenden im Schatten und in der
Stille fromm parlamentarischer Gesinnungstüchtigkeit ausgeübt hat, wenn seine
Verdienste, soviel uns zur Kenntnis gelangt ist, nur negativer Art waren, so muß
man ihm doch nachrühmen, daß er damit über manche schwierige Aufgabe gut
hinweggekommen, daß er niemand dabei in den Weg getreten ist. und daß er
mit seinem Phlegma manches Feuer gelöscht oder doch gedämpft hat, welches
aus dem Aneinanderprallen der Parteien hervorsprang. Nicht wenige Ministerien
tauchten aus der parlamentarischen Flut vor ihm auf, um meist bald wieder
zu versinken, und nicht wenige große Lichter erloschen in Mißgeschick oder Tod,
während er in seiner heitern Beschaulichkeit mit mattem, kaltem Lichte weiter
leuchtete, ruhig und unbewegt von dem stürmischen Drängen und Haften, mit
dem andre nnter und neben ihm nach Ruhm und Macht jagten. Der Senat
ist unter ihm umgestaltet worden, die Methode, nach welcher die Deputirten
gewählt werden, hat einer andern, dem Listenskrntinium, Platz gemacht, es hat
Aktion und Reaktion gegeben, aber in dein Verhalten des Präsidenten hat keine
sichtbare Veränderung stattgefunden. Während seines ersten Septennats ist die
Politik, welche koloniale Ausdehnung im Auge hat, ins Werk gesetzt worden,
sie hat viel Geld und Blut gekostet und teils dementsprechende, teils wenig
befriedigende Ergebnisse zu verzeichnen gehabt, aber niemals hat mau Anzeichen
bemerkt, daß der Präsident sich anregend und fördernd oder nüßbilligend und
hemmend dabei eingemischt hätte. Ob er seinen theoretischen Widerspruch gegen
den Posten eines Präsidenten noch festhält oder nicht, jedenfalls ist es sicher,
daß er die Bedeutung seines Amtes in einer Art und Weise, die unter franzö-
fischen Politikern nicht gewöhnlich, ja fast unerhört ist, vermindert und seine
Befugnisse in beinahe unmerklicher Weise ausgeübt hat. Er war klug und loyal
im Sinne des Katechismus seiner Partei, peinlich gewissenhaft gegenüber dem
ihm erteilten Auftrage und sonnt in jeder Beziehung vertrauenswürdig, soweit
dies durch Unthätigkeit erreicht werden kann. Die republikanischen Parteien
Frankreichs konnten während seiner Amtsführung thun und lassen, was ihnen
beliebte, dieselbe war eine durchaus mustergiltige Parlamentsregierung.
Hierin vor allem lag Grevhs Empfehlung, als man zur Wahl des Prä¬
sidenten der Republik schritt. Daneben mochte seine Kandidatur bei ehrgeizige»
Politikern von Einfluß noch den Umstand für sich haben, daß er als hoch¬
betagter Herr (er ist im Jahre 1807 geboren) wahrscheinlich bald Platz für
andre machen wird. Diese Leute hatten jetzt wenig oder gar keine Hoffnung, ihm
den Rang abzulaufen, aber den Trost: IntLrim not ÄlieMel, in zwei oder drei Jahren
konnte es für sie besser stehen. Das zweite Septcnnat Grevhs wird vermutlich nicht
so glatt verlaufen wie sein erstes. Die Krisis, welche die Republik durchmacht,
ist noch keineswegs zu Ende, vielmehr erst in ihren Anfängen. Die politische
Lage in Paris ist verwickelt und voll Verlegenheiten und Gefahren für die
Parteien, die bisher herrschten. Man muß aus gewaltige Zusammenstöße und
auf noch mehr rasch aufeinander folgende Kabinetswechsel, als sie die letzten
Jahre in Frankreich sahen, gefaßt sein. Im Abgeordnetenhause scheint keine
sichere Majorität vorhanden zu sein, auf die ein Ministerium sich, sei es von
welcher Farbe es wolle, stützen könnte. Die letzte» Wahlen erzeugten drei,
wenn nicht vier Parteien, und die Abstimmung in der Toukingfrage zeigte, daß
ein Zusammengehen, eine vereinte Anstrengung von zweien derselben, der Rechten
und der Linken, jedes Kabinet, das der Präsident wühlen mag, zu Falle bringen
oder mindestens schwer gefährden, erschüttern, um seine nächste Zukunft besorgt
machen und in ohnmächtige Unsicherheit versetzen kann. Die Republikaner sind
unter sich selbst durch verschiedne tiefgehende Meinungsverschiedenheiten, wie es
scheint, unversöhnlich gespalten, und die Monarchisten zerfallen zwar ebenfalls in
mehrere Schattirnngen, sind aber einig in der Opposition gegen die Republik. Die
Benutzung ihrer Majorität zu einem Beschlusse, welcher eine große Anzahl von
Wahlresnltaten für ungiltig erklärte und mehr als 300 000 monarchisch gesinnte
Wähler behandelte, als ob sie nicht votirt Hütten, hat die trotzdem noch sehr
stark gebliebene Gruppe der Monarchisten mit tiefem Ingrimm erfüllt. Ihre
von der Liste gestrichenen Kollegen waren dadurch nicht bloß verhindert, bei
der Toukingfrage mit gegen das opportunistische Ministerium Sturm zu laufen,
sondern auch ihre Stimme im Kongresse gegen den Kandidaten der Opportu¬
nisten zur Präsidentschaft ins Gewicht fallen zu lassen. Ob diese Monarchisten
mit Recht ausgeschlossen wurden oder nicht, die Wirkung auf sie blieb dieselbe.
Sie, die Mandatare von vier Departements, durften nicht dabei sein und an-
stimmen, zunächst als es galt, im Sinne dieser Departements die Kredite für
Tonking dem Ministerium Brisson zu verweigern, dann als ihre Partei in
voller Stärke gegen die Wahl Grevys Votiren sollte. Wären sie bei der letztern
Gelegenheit zugegen gewesen, so würde, wie es heißt, die Rechte sogar einen
eignen Kandidaten für den Präsidenteustuhl aufzustellen gewagt haben, und
Grevy hätte eine erheblich schwächere Majorität auf sich vereinigt.
Die Uneinigkeit und die daraus hervorgehende Schwäche der Republikaner
kann in gewissem Maße befremden. Man hatte von der Einführung des Listen-
skrutiniums erwartet, es würde eine kompakte Mehrheit in die Kammer liefern,
bereit, die opportunistischen Führer oder wenigstens eine Regierung zu unter¬
stütze», die aus Republikanern von mehr oder minder gambettisiischer Färbung
zusammengesetzt wäre. Das Gegenteil trat ein: statt der geweissagteu Einigkeit
ergaben die Wahlen eine unverhoffte und gefährliche Zwietracht, der Oppor¬
tunismus, dieser große Gönner und Förderer kolonialer Unternehmungen und
kostspieliger öffentlicher Arbeiten, zeigte sich beträchtlich geschwächt, die Monarchisten
rückten, fast zweihundert Mann stark, in den Saal der Deputirtenkcunmer ein,
um direkt und indirekt als Mandatare von Hunderttausenden die Republik an¬
zugreifen und zu erschüttern, die Leute der äußersten Linken, die Radikalen aller
Schattirnngen vom Rosenrot bis zum Blutrot der Kommunisten, kehrten ebenfalls
numerisch und dnrch ihre Siege moralisch gestärkt zurück zum Sturme gegen
die herrschende gemäßigte Partei.
Unter gewöhnlichen Umständen würde Brisson trotz der Sanktion, die seiner
Politik Vonseiten des Senats erteilt wurde, sicherlich von seinem Posten sofort
zurückgetreten sein. Die parlamentarische Schlacht indes, die in der Tonking-
frcigc geliefert wurde, fand in einem außergewöhnlichen Momente statt, kurz
vor dem Tage, an welchem ein neuer Präsident der Republik zu wählen war.
Diesen Akt mußte der Minister noch abwarten. Jetzt, wo derselbe vorüber ist,
wird Brisson dem Präsidenten den Auftrag, der ihn ans Staatsruder stellte,
zurückgeben. Seine Parteifreunde und Amtsgenossen haben sich angelegentlich
bemüht, ihn zum Vleibeu zu bewegen, aber nach den neuesten Berichten steht
sein Entschluß, seinen unsicher gewordnen Posten zu verlassen, unerschütterlich
fest. Wahrscheinlich wird der Präsident Grevh, wenn ein Nachfolger zu suchen
ist, Freycinet ersuchen, sich ihm zu diesem Zwecke zur Verfügung zu stellen, der
aus der Tonkingdebatte allein mit einigem Erfolge hervorgegangen ist und Aus¬
sicht hat, auch künftigen Angriffen in der Angelegenheit, die nicht ausbleiben
werden, die Spitze bieten zu können. Wer aber auch der neue Premier sein
wird, er wird einen harten Stand haben und eine Aufgabe vor sich scheu, die
von nicht gewöhnlicher Schwierigkeit ist. Er wird fast jeden Tag das Schwert
am Haar über sich bürgen sehen, weil er keine zuverlässige Majorität um sich
hat, indem jederzeit die Radikalen mit den Monarchisten zur Opposition gegen
das Kabinet zusammentreten können. Selbst ein Mann wie Clemeneeau hat
den Mut verloren, als Leiter einer Regierung zu fungiren, die in der Volks-
Vertretung einer jetzt fast allmächtigen Gruppe von Politikern gegenübersteht,
welche nach eigner Überzeugung und im Sinne und Auftrage ihrer Wähler sich
verpflichtet fühlen, die Republik samt allem ihrem Zubehör aufs eifrigste zu
hasse» und zu bekämpfen. Der radikale Führer hat in der That den Gedanken,
das Nuder in die Hand zu nehmen, von sich gewiesen. Zwar hatte man es
ihm nicht förmlich angetragen, aber er war zu klug, um nicht vorauszusehen,
daß auch er sich als Minister nicht lauge würde halten können, da eine Koa¬
lition der radikale» und der monarchischen Abgeordneten zu diesem Zwecke ein
Ding der Unmöglichkeit ist. Keine republikanische Regierung wird auf Hilfe
Vonseiten der Reaktionäre hoffen dürfen, namentlich jetzt nicht, wo der Aus¬
schluß der zweiundzwanzig Monarchisten diese Partei aufs äußerste erzürnt hat.
Dieselbe hatte bei der Abstimmung vom 24. Dezember zum erstenmale Gelegen¬
heit, Rache zu nehmen, sie benutzte sie mit bestem Erfolge, und sie wird nur
zu begierig sein, in Zukunft sich weiter zu räche».' Nur zu gemeinsamer Oppo¬
sition, nicht zu gemeinsamer Negierung lassen sich Radikale und Monarchisten
vereinigen. Es wird also wahrscheinlich bei Frchcinet bleiben, wenn man einen
neuen Premier braucht. Derselbe hat in beiden Kammern eine große Anzahl
von Freunden und erfreut sich auch bei Grevh großen Vertrauens. Er ist un¬
streitig der klarste Kopf im gegenwärtigen Kabinette und hat sich auch als guter
Ressortminister erwiesen, womit freilich nicht gesagt werden kann, er würde als
Chef der Negierung den Stürmen gewachsen sein, welche bald nach Ablauf der
Neujahrsferien ausbrechen werden. Müßte dann auch er seinen Abschied nehmen,
so bliebe in der That Grevy keine andre Wahl übrig, als ihm Clemeneeau zum
Nachfolger zu geben, und dann würde die Krisis schnell zur Katastrophe führen.
Die dritte Republik wäre da»» in den Händen des Radikalismus, eine Mini¬
sterium Clemeneeau würde den baldigen Ausbruch einer Revolution bedeuten,
und nach Berichten aus Paris machen dort viele Leute kein Hehl daraus, daß
sie viel lieber die Monarchie wieder einziehen sähen.
Die zweite Präsidentschaft Grevys hebt also unter viel weniger günstigen
Sternen an als seine erste. Ende Januar 1879 war die Republik in sehr
vorteilhafter Lage, das vvrhergegangne Jahr hatte sich für sie zu einem Jahre
der Triumphe gestaltet, ans der Krise des 16. Mai siegreich hervorgegangen,
hatte sie ihren Erfolg nicht gemißbraucht, sondern ihn mit Vorsicht lind
Mäßigung benutzt. Die Geschäfte waren in die Hände liberaler und maßvoller
Minister gelegt worden. Die Finanzen gediehen, und nach außen hin hatte
Frankreich wieder eine geachtete Stellung erlangt. Die Politik des Kabinets
Dnfanre hatte ihre gute» Früchte getragen. Jede Einzclwahl vermehrte die
Zahl der Republikaner im Abgeordnetenhause, und im Senate wurde die
Majorität von rechts nach links gerückt. Wie aber steht es heute? Wir
wollen den Kontrast nicht übertreiben, aber niemand wird leugnen, daß der
Vergleich zwischen 1879 und 188V nicht zu Gunsten des letztern spricht. Im
Palais Bourbon giebt es keine Majorität für die Mittelpartei mehr, die
Extremen dringen vor und drohen durch ihre Allianz alle Ministerien nieder-
zuwerfen. Die Finanzen befinden sich in übler Verfassung, und man hat neue
Steuern zu erwarten. Endlich hat sich Frankreich in Ostasien in eine Ex¬
pedition verrannt, die es nur mit schweren Opfern fortsetzen und von der es
sich doch nicht ohne Schädigung seiner Ehre zurückziehen kann.
Wie wir diese Krisis, die Wahl des Präsidenten Grevh und den bevor¬
stehenden Ministerwechsel in unserm, dem deutschen Interesse anzusehen haben,
ergiebt sich aus folgenden Sätzen. Die Republik, die Parlamentsherrschaft in
Frankreich ist für uns der beste Zustand, denn sie erhält Frankreich schwach,
unsicher und nicht zum Bundesgenossen für andre Großmächte, namentlich für
Nußland, geeignet, mit dem es sonst manche Interessen gemein hat. Die
Monarchie in Frankreich, insbesondre die vrleanistische, ist sür uns eine Gefahr;
denn die Träger derselben werden das Bedürfnis empfinden, ihre schwache
Stellung dnrch kriegerische Erfolge zu verstärken, sie werden stets mehr Aussicht
auf ein Bündnis mit andern Mächten haben als die Republik, und der Krieg,
den ein zukünftiger französischer König oder Kaiser führen würde, um sich bei
den Franzosen beliebt zu macheu, könnte bei dem Revanchebedürfnisse aller Klassen
derselben nur ein deutscher sein. Grevy und die Oppvrtnnisten haben einen
solchen Krieg nicht nötig und als gemäßigte, friedliche Leute auch nicht im Sinne.
us der Unmasse studentischer Korporationen, welche gegenwärtig
auf den deutschen Hochschulen bestehen, heben sich die Korps und
Burschenschafter insofern heraus, als sie nicht bloß rein äußerlich
gesellige Zwecke verfolgen, sondern sich eine „Erziehung" ihrer
Mitglieder zur ersten Ausgabe machen.
Beiden gemeinsam ist das herkömmliche Waffenspiel, welches sie als eine
wesentliche Grundlage dieser „Erziehung," zur Heranbildung eines reizbaren
Ehrgefühls und Aneignung einer tadellosen Haltung in der Gefahr, mit Eifer
und obligatorisch betreiben, und durch welches ihre Jünger den bekannten Fn-
milienzug erhalten, an dem die Furchtsamen im Lande so großes Ärgernis
nehmen.
Beiden gemeinsam sind ferner die stärkern Ansprüche an den Einzelnen;
sie verlangen mehr oder minder seine Hingebung fiir eine Reihe von Semestern
und erzeugen unter dem Druck einer besonders bei den Korps ausgebildeten
Disziplin jene Intimität des Zusammenlebens, welche auf junge Gemüter eine
so unwiderstehliche Anziehung ausübt.
Hat man jemals in das Getriebe dieser Mikrokosmen einen Einblick gethan
und von der Lebhaftigkeit der hier spielenden Interessen eine Vorstellung be¬
kommen, so lernt man es begreifen, wie unaufhörlich, trotz warnender Mütter
und zeternder Philister, nicht bloß junge Leute von starkem Freundschafts-
bedürfnis, sondern vor allein die Ehrgeizigen, welche den Trieb nach Geltung
und Bethätigung haben, zu ihnen hinströmen. In der Vertretung der geliebten
Farben übt sich hier das jugendliche Selbstvertrauen, und in der Leitung seiner
„Couleur" kostet der Senior zum ersten male den unnennbaren und unverge߬
lichen Reiz eines Lebens voll Verantwortung. Hierin vor allem, in dem kräf¬
tigen Sichauslebe» unter Anforderungen und Friktionen, keineswegs aber in
dem Breittreten unverdauter politischer Phrasen, wie es neuerdings wieder Mode
geworden ist, liegt mich die eigentliche Vorbildung des Studenten zu einem
öffentlichen Charakter. Man muß es den Burschenschafter zum Lobe nachsagen,
daß sie ihre politischen Velleitäten schou seit langem gelassen und ihren Beruf
begriffen haben, und muß sie, ebenso wie die Korps und nicht minder auch die
ähnlich organisirten (an Zahl geringern) Landsmannschaften, als Vorschulen
unsers öffentlichen Lebeus im eminentester Sinne betrachten.
Bedenkt man dies und bedenkt man ferner, wie starke Wurzeln die er¬
wähnten Verbindungen im Lande haben, wie tief dies Jahrhunderte alte Wesen
im Volke steckt, wieviel Krisen es überdauert hat, wieviel Tausende junger, be¬
gabter und zu hervorragenden Stellungen prüdestiuirtcr Leute hier noch ma߬
gebende Eindrücke fürs Leben empfangen werden, wieviel hier genützt, wieviel
aber auch nnter Umständen verdorben werden kauu, so sollte mau glauben, daß
die allgemeine Teilnahme der Nation voll Eifer und Sympathie auf diesen
Punkt gerichtet sein müßte.
Das Gegenteil ist der Fall.
Während die Schriftgelehrten mit großer Emsigkeit diskutiren, wie man den
Köpfen unsrer akademischen Jngend immer schneller die erforderlichen Kenntnisse
eintrichtern könnte (der Deutsche lernt bekanntlich zu wenig), während der Kvl-
legienzwang als ultium ra,rin> zur Heranbildung von „Männern" in Aussicht
genommen wird, glaubt das liebe Publikum reichlich seine Schuldigkeit zu thun,
wenn es hie und da über die Karikaturen lacht, durch welche in den „Fliegenden
Blättern" der deutsche Student dem allgemeinen Wohlwollen empfohlen wird.
Die Unwissenheit, die im großen Ganzen über die sozialen Zustände unsrer Hoch¬
schulen herrscht, ist unglaublich, und obschon seit unsrer politischen Wiedererstcirknng
nachgerade in alle dunkeln Winkel unsers nationalen Lebens hineingeleuchtet und
jede Äußerung der deutschen Volksseele mit Sorgfalt beobachtet und annlysirt
worden ist, ficht man dem Treiben unsrer Studenten bald mit Achselzucken, bald
mit Lächeln, fast nie mit tieferen Anteil gegenüber. Die Angreifer möchten das
ganze Verbindungswesen mit Stumpf und Stiel ausrotten, ohne es zu kennen,
die Verteidiger, die es kennen sollten, begnügen sich, die Harmlosigkeit der Sache
zu erweisen, ohne ihren Kern auch nur zu berühren. Daß hier etwas Gesundes,
Volkstümliches und Notwendiges vorliege, dessen jeweiliger Stand ernsthaft zu
prüfen, dessen organische Fortentwicklung nach Kräften zu fördern, dessen Verknöche-
rung aufs äußerste zu beklagen sei, kommt anscheinend niemandem in den Sinn.
So wollen wir uns denn vor dem Versuche hüten, durch Anpreisung seiner
Vorzüge ein Interesse zu erwecken, welches uicht etwa schlummert, sondern fehlt.
Nicht das, was die Verbindungen unter normalen Verhältnissen leisten können,
sondern das, was sie leider aufgehört haben zu leisten, was sie durch achtloses
Gewährenlassen, durch Ausbildung ganz unhaltbarer Zustände verhindert werden
zu leisten, dies soll uns hier beschäftigen. Vielleicht daß der Schade, der ebenso
unaufhörlich wie unnütz hier angerichtet wird, die Aufmerksamkeit maßgebender
Kreise endlich auf sie lenkt.
Mau höre: Mit einziger Ausnahme von Kiel stehen sämtliche Korps und
sämtliche Burschenschafter, beide in zwei großen Heerlagern vereinigt, im so¬
genannten studentischen „Verruf." Es ist dies ein Verhältnis, welches die Si-
stirung jeglichen Verkehrs und die gegenseitige Aberkennung aller Rechte und
Pflichten ausdrückt, welche für anständige Studenten sonst bindend sind, el»
Verhältnis, welches man lediglich wahnsinnig nennen kann.
Es hat zur Folge, daß diejenigen, welche ganz dieselben Interessen haben,
sich gegenseitig als unversöhnbare Gegner betrachte» und behandeln, daß die¬
jenigen, welche naturgemäß daz» bestimmt sind, sich aneinander zu reiben und
zu bilden, durch eine chinesische Mauer von einander getrennt, jede Partei
für sich, ihren eignen Zopf tragen — es hat mit einem Worte zur Folge,
daß die Blüte unsrer akademischen Jugend, auf der einen Seite etwa 1500, auf
der andern Seite etwa 900 Studenten, in gegenseitigem Haß und gegeiiseitiger
Verachtung „erzogen" wird, um eine Unsumme von Verbitterung in unser
bürgerliches und öffentliches Leben hinaufzutragen.
Wie jenes Verhältnis im Laufe der Jahre zu Stande gekommen ist, kaun
nur aus unserm Nationalcharakter heraus begriffen werden. Das deutsche
„Herumreiten auf dem Prinzip," das Hinüberspielen der Gegnerschaft auf das
persönliche Gebiet, die in engen Verhältnissen grvßgezogne Neigung zum Kasten-
und Klasscnwesen, die gewissenhafte Vererbung unerfreulichen Klatsches von
Generation zu Generation spielen hier eine beklagenswerte Rolle. Von vorn¬
herein freilich »vollen wir nicht anstehen zu erklären, daß das Wesen der Korps,
welches in realistischer Weise auf Lebensgenuß und Ausbildung der Männlich¬
keit hinauslief, den Bedürfnissen unsrer Jugend besser entsprach und trotz allen
Wildheiten und Ausschreitungen, zu denen es gelegentlich führte, doch natürlicher
und angemessner war als das ihrer alten Gegnerin, der Burschenschaft, die in
einzig dastehender Zeit, von ernsten, ans den Freiheitskriegen heimkehrenden
Männer gegründet, den sittlichen Gehalt, den sie damals besaß, unmöglich auf
jüngere Geschlechter vererben konnte. Es haftete deshalb den Burschenschaftern
mit ihrer geschmacklosen Jdenlhuberei, mit ihrem gespreizten Tugeuddünlel, mit
ihrer paragraphisch geordneten Keuschheit, mit ihren „wissenschaftlichen Abenden,"
an denen noch weit mehr Bombast geredet als Durst gelitten wurde, von Hause
aus eine gewisse Lächerlichkeit an, und so gutes hier auch geweckt worden sein
mag, so tüchtiges ohne Zweifel von Begabteren auch gelegentlich geleistet worden
ist, diesen Fluch sind sie niemals vollständig los geworden. Während ihre mit
Verkehrtheiten und Übereilungen aller Art gewürzte Pflege patriotischer Wünsche
sie „unes oben hin" anscheinend dauernd mißliebig machte (wir erinnern hier
nur an die sinnlose Ermordung Kotzebues), gab vollends die hie und da er¬
folgte Opposition gegen das Mensurwesen den Korps ein Ngitatiousmittel in
die Hand, welches in ausgiebigster, ja in übertriebner Weise ausgebeutet wurde.
Null ist das alles aber gewesen. Mögen die Korps immerhin bei ihrer
strafferen, schon aus den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts datirenden Ge-
samtorgnnisation (Kösener Senioren-Convent, Kösener L. 0. oder „3. d" schlecht¬
weg), bei ihrer gegenseitigen Beaufsichtigung gleichmäßigere Traditionen vererben,
heute wird bei dem Gros der Burschenschafter nichts andres gewollt und nichts
andres erreicht als bei jenen. Und dennoch arbeiten beide Teile mit wahrer
Hingebung daran, ihre angeblichen Gegensätze zu verschärfen und zu verewigen
und in derselben Zeit, in welcher Deutschland deu Sozialismus in seinem Herzen
austrägt, liefern unsre Hochschulen ein schnödes Beispiel von deutscher Unduld¬
samkeit, von widernatürlicher Zwietracht. Wie viel Leichtsinn, wie viel Unwissen¬
heit, wie viel Voreingenommenheit dabei mitspielen, liegt auf der Hand, und
wenn es nicht so ungemein traurig wäre, würde es die Lachlust herausfordern,
wie Leute, die aus denselben Gesellschaftsschichten hervorgegangen sind, dieselben
Schulbänke gedrückt haben, dieselben Neigungen und Gewohnheiten zur Schau
tragen, wie diese in einer Lebenszeit, welche naturgemäß gar keine Tendenz haben
sollte, plötzlich aufhören sich zu kennen, um nach sechs Semestern „Erziehung"
die enragirtesteu Gegenfüßler zu sein.
Dem Außenstehenden möchte es nun vielleicht scheinen, als ob sich hier
nur jugendliche Beklemmungen äußerten, die vor dem Ernst des Lebens von
selber schwänden und der Bemühung reifer Männer deshalb auch nicht wert
seien. Dies wäre ein beklagenswerter Irrtum. Das Verhältnis zwischen Korps
nud Burschenschafter spielt tausendfach störend und irritirend in die Gesellschaft
hinüber, und präjudizirt in endgiltiger Weise die Stellung von Leuten zu
einander, die einander unaufhörlich, vor allem bei gemeinsamer Arbeit, berühren,
und, »nie die Sache liegt, voll Mißtrauen, geheimer Abneigung und bittrer
Vorurteile berühren.
Es geschehen hier Dinge, die geradezu unglaublich klingen, die wir mich
um des liebe» Friedens willen hier nicht wiederholen wollen, die aber die Be¬
schwerde der Burschenschafter gerechtfertigt erscheinen lassen, daß ihnen, wie auf
der Universität, so auch im spätern Leben ein „Ring" gegenüberstehe, der sie
um jeden Preis zu eklipsiren suche, als ob sie aufgehört hätten, Landeskinder
zu sein, „In welchem Korps waren Sie?" ist das erste, was ein Burschenschafter
von gewissen Vorgesetzten gefragt wird, worauf dann die Nase des Fragestellers
plötzlich aufwärts zu streben und ein mißbilligender Blick den Entlarvten z»
belehren pflegt, daß er an dieser Stelle auf eine unbefangne Würdigung nicht
zu rechnen hat. Erwägt man nun, daß von den etwa sechzig Burschenschafter,
welche existirt haben, beziehungsweise noch existiren, mindestens 1L000, von den
Korps mindestens 20 000 alte Herren vorhanden sind, daß unser gesamtes
bürgerliches und öffentliches Leben von beiden wiiumclt, daß jener trübe Konflikt
sonnt hineingetragen wird in jedes Gerichts-, in jedes Beamten-, in jedes Lehrer¬
kollegium, hineingetragen wird in jedes NeservevffizierkvrpS, hineingetragen wird
in jeden geselligen Kreis, in welchem Akademiker den Kern bilden, hineingetragen
wird bis in die Familien, so wird man den Zustand der Dinge nur aufs äußerste
beklagen und zugeben, daß alles daran gesetzt werden sollte, hierin Wandel zu
schaffe»,
ES sind die Hochschulen, woher daS Übel kommt; hier sollte mau es auch
angreife». Es sind »icht gesetzte Männer, es sind junge lind unreife Bursche,
die hier „erziehe»" und erzogen,werden, die es lieben, nach Art der Jugend in
Heftigkeit und Übermut zu übertreiben, aber darum nicht minder Eindrücke, die
ihnen in empfänglichster Lebenszeit, beim Eintritt in die Welt geboten werden,
mit Starrheit festhalten bis zum Grabe; hier ist es, wo durch energische Pflege
vou Vorurteilen und gegenseitige Absperrung die Unfähigkeit großgezogen wird,
fremde Existenzen nach ihrem richtigen Werte zu schätzen; hier ist es, wo die
Rekruten für unser öffentliches Leben ihre Lust am Stank und am Hader lernen;
hier ist es, wo die Söhne unsers Volkes, die in demselben Heere dienen, die
auf demselben Felde fallen, zusammenleben wie Hund und Katze.
Es kann dem gegenüber gar keine lohnendere Aufgabe geben, als die Un¬
befangenheit wiederherzustellen, mit der die deutsche Jugend auf unser» Hoch-
schulen einander begegnen sollte, die aber durch jenen, nun schon siebzig Jahre
währenden Zank immer mehr vergiftet wird. Es ist längst ein Zank um des
Kaisers Bart geworden, was thuts? Mit jedem Jahre wird es schlimmer.
Wo man sich hinwendet, strömt einem ein dicker Dunst von nngesamiueltem Haß
und Klatsch, Hochmut und Eigensinn entgegen, aber niemand will sich darüber
erbarmen. Wenn der hohe Rat der Nation versammelt ist, steht wohl gar ein
ehrwürdiger alter Herr ans und verkündet emphatisch: alles ist in musterhafter
Ordnung, dies ist die Luft, welche unsern Studenten gesund ist.
Nein, wir können es nicht zugebe», daß die Verketzerung noch immer der
volkstümliche und obligate Ausdruck sür irgendeine Gegnerschaft in deutschen
Lande» sei, daß man die Beziehungen, wie sie zwischen den Waffenverbindungeu
herrschen, hinnehmen müsse als etwas selbstverständliches und notwendiges. Mag
man über das, was die Studenten ein „flottes Paukverhältnis" nennen, denken
wie man will, das schadenfrohe Gelächter, die verbissene Wut, die Schimpfereien,
Prügeleien, ja Messerstechereien, die Verachtung und Verleumdung, welche die un¬
weigerliche Begleitschaft des Verrufsverhültnisses bilden, sind hundertmal schlimmer.
Überall aber, wo ungesunde Existenzbedingungen so lange und auf so breiter
Basis und gerade für den wertvollsten Bruchteil unsers nationalen Nachwuchses
mit Gewalt aufrecht erhalten werden, wird dem Volksleben eine Wunde ge¬
schlagen, welche eitert und ansteckt. Das sollte man nicht vergessen.
Was aber soll nun geschehen?
Zunächst jedenfalls das Notwendige. Der Verruf muß fallen, die Ge¬
sinnung, die ihm zu Grunde liegt, muß gebrochen werden. Man darf nicht zu¬
sehen, wie unsre Hochschulen zu Brutstätten eines verstockten Mandarinentums
herabgewürdigt werden. Es ist nicht die Uniform, welche dem akademischen
Geist und den akademischen Zwecken entspricht, es ist nicht die Intoleranz.
Mögen die jungen Leute ihre althergebrachten Namen und ihre besondern
Schnurrpfeifereien behalten, wenn sie nicht anders können, aber mögen sie endlich
lernen zusammengehen, statt sich nur zu verschreien und zu hassen So, wie
es zur Zeit steht, kann es und darf es nicht länger bleiben. Mit jedem Tage
wird das Übel schlimmer, und eine spontane Heilung ist schon deshalb vollkommen
ausgeschlossen, weil die Frage längst aus einer prinzipie en eine bloße Jutcressen-
und Machtfrage geworden ist. Die Gegner sind nicht gleich stark, das ist das
Schlimmste! Die Korps haben das numerische Übergewicht, sie leben der Über¬
zeugung, die Burschenschafter nicht nötig zu haben, sie erfreuen sich von altersher
der Guusi der Mächtigen, sie dominiren ans mehreren Hochschulen vollständig,
»ut das Dvminiren ist eine so süße Gewohnheit. Das Herabsehen ans den
„Vüchsier" ist nachgerade ein notwendiges Requisit für die Erziehung eines
Korpsfnchsen zur Selbstachtung geworden, der Aberglaube, daß mau vo» vorn¬
herein, ohne persönlich irgendetwas hervorragendes zu leisten, etwas besseres
sei als jeder Burschenschafter, ist ein so behaglicher und so lange genährter, daß
man ihm ohne heftigen Kampf nicht entsagen wird. Wir bezweifeln zwar
keineswegs, daß es auf feiten der Korps an Unbefangnen und Weiterblickenden,
welche der Lage der Dinge gerecht zu werden vermöchten, nicht fehlen wird.
Doch hat leider jede von dort ausgehende Kundgebung immer nur darauf
schließen lassen, daß der Gedanke, sich mit den Burschenschaftern zu vermischen
und sie zu sich heranzuziehen, für das Gros etwas verblüffendes und un¬
erhörtes bedeuten würde. Man ist noch nicht einmal soweit gekommen, die
Burschenschafter zu erwähnen; sie sind garnicht da."')
Auf der andern Seite wieder hat die Gründung des Eisenacher ^v, v. <ü.
neue Hindernisse sür die Anbahnung gedeihlicher Verhältnisse aufgetürmt. Es
ist dies die vor wenigen Jahren erfolgte allgemeine burschcuschaftliche (aber nicht
etwa „reform-burschenschaftliche") Vereinigung, eine Frucht bitterster Erfahrungen,
ein Ausdruck der Erkenntnis, daß von den Korps im Leben nichts zu hoffen
sei. Wir wollen uns nicht zum Mundstück aller Anklagen machen, welche an
dieser Stelle erhoben werden, wir bedauern vielmehr erklären zu müssen, daß
die Schätzung des Gegners bei manchen Burschenschafter womöglich noch be¬
fangner ist als umgekehrt. Doch ist die Beschwerde über die „perfide Politik
der Korps" so typisch und besonders der Vvrwmf, daß jeder Versuch einer
Annäherung mit geradezu unerhörten und unerträglichen Zumutungen beantwortet
worden, so allgemein, daß man die Gründung jenes Vereins verstehen lernt. Sie
war das einzige, was den vorhandnen vitalen Interessen entsprach, und obwohl,
wenn heutzutage keine Burschenschafter existirten, kein Mensch so sinnlos sei»
würde, welche zu gründen (da alles, was von den Schwärmern des Jahres 1817
um sehnlichsten erstrebt wurde, längst erreicht und überholt, und das, wogegen
sie am heftigsten vpponirten, längst verschwunden oder — Gemeingut ist), so
mußte doch der nachhaltig hier angesammelte Groll allein schon genüge», den
Lebensnerv sür die Fortexistenz einer ,, burschenschaftlichen Sache" zu bilden,
und die Verknöcherung des Verbindungswesens wurde endlich perfekt.
So wenden wir uns denn, da von den Beteiligten nichts zu erwarten ist,
wieder einmal an jene Stelle, wo die Interessen unsers Volkes doch schließlich
am gewissenhaftesten geprüft und am treuesten wahrgenommen werden. Man
wird sich in unsern Kultusministerien dem Notstände, der unleugbar vorliegt,
nicht verschließen können.
Viel, sehr viel ist schon verdorben; es sitzen aber Tausende junger Leute
noch auf deu Schulbänken, um über kurz oder lang in denselben unseligen
Konflikt hineingezogen zu werden, um bald mit verkrüppeltem, bald mit ttber-
reizten Selbstgefühl, hier voller Verbissenheit, dort voll maßlosen Dünkels, die
Ungerechtigkeit, die sie auf den Hochschulen lernten, im Leben zu bethätigen.
Wenn nach wie vor aus den Burschenschafter wie aus deu Korps eine Meuge
netter Leute hervorgehen, an denen man seine Freude haben kann, so ist das
lediglich ein Beweis für die unverwüstliche Anlage unsrer Jugend, und wir
dürfen nicht ermüden in unsrer Forderung, daß um jeden Preis Mittel ge¬
funden werden müssen, um für das große Ganze humanere und ersprießlichere
Existenzbedingungen zu schaffen. Der Verfasser erlaubt sich, zuvörderst Ehren¬
gerichte zwischen den Waffenvcrbindnugeu vorzuschlagen, als deren Obertribunal
in allen Fällen, wo keine Einigung erzielt wird, das Univcrsitätsgericht an-
zurufen wäre, um zu gleicher Zeit zu schlichten und die Bestrafung einzuleiten.
Der Zweck dieser Ehrengerichte würde sein:
Wenn, um ein typisches Beispiel anzuführen, ein Tübinger „Ncngcl"
jeden ihm begegnenden in der frechsten Weise vom Trottoir rennt und auf die
Frage: „Geben Sie Satisfaktion, mein Herr?" sich breitbeinig hinstellt und
den Fragenden anbrüllt: „Ja, aber ans Fäuscht!" — so kann man ja einen
ernsten Vorwurf gegen diesen Menschen garnicht erheben. Was thut er denn?
Genau dasselbe, was er sich fortwährend zwischen den Korps und Burschen¬
schafter abspielen sieht: sie „rempeln" sich, sie schimpfen sich, sie prügeln sich
und — sie verweigern sich Satisfaktion!
Wende man an dieser Stelle ja nicht ein, die Studenten hätten nicht das
Recht, sich als einen „Stand" zu fühlen. Staudesvorurtcile und Staudcs-
hochmnt hat man hier reichlich gedeihen und ins Kraut schießen lassen; es wäre
besser, mau bemühte sich ohne weitere Begriffsklaubcrcieu, lieber eine reinere
und vollkommnere Standesehre zu erwecken.
Sollte mau sich herbeilassen, obigen Vorschlag ins Auge zu fassen, so
bieten sich den Universitätsrichteru die mannichfachsten Gelegenheiten, aus ihrer
Reserve herauszutreten und die Studenten auf disziplinarischen Wege zu einer
Einigung zu zwingen. Aus der Fülle des Materials erlauben wir uns nur
eiuen charakteristischen Fall mitzuteilen.
Es war im Sommer 1881, als ein junger Burschenschafter aus Königs¬
berg in Bonn studirte. Er trug damals den rechten Arm in der Binde, da
ihm die Muskulatur desselben durch einen wenige Monate vorher in Leipzig
empfangenen Säbelhieb gelähmt war. Eines Abends hatte er das Unglück,
mit einem alten Herrn eines Bonner Korps in einen Wortwechsel zu geraten,
dessen Veranlassung durchaus hinfälliger Art war, der aber nichtsdestoweniger
von neuem zu einer schweren Forderung führte. Er ging, ohnehin ein Stümper,
auf krumme Säbel links los lind starb drei Tage daraus an einem Hieb in
die Lunge. Der andre, der bereits einmal das Unglück gehabt hatte, einen
Gegner zu töten, floh über die Grenze und ist mittlerweile in Amerika ver¬
storben. Es sielen somit zwei Existenzen nicht vor dem sogenannten Moloch
Duell, sondern dem wirklichen Moloch: „Verruf zwischen Korps und Burschen¬
schafter." Jener unglückliche Ausgang wäre auf jeden Fall vermieden worden,
wenn dieses chronisch gewordne Verhältnis nicht jeden Kontrahenten von vorn¬
herein in eine ganz falsche Position brächte, und so frivol und unnütz jedem
Unbefangnen jenes Dult erscheinen muß, so vollkommen entspricht es doch der
vorhandnen Stimmung und den herrschenden Gebräuchen. Hier leichtfertige
Provokation, dünkelhafte Geringschätzung, dort ein tiefes Mißtrauen, eine krank¬
hafte Reizbarkeit, in den meisten Fällen auch bei zwingenden Ursachen ein gänz¬
liches Absehen von Schlichtung oder eine Erledigung mit Mitteln, wie sich
ihrer der Bauer bedient, und ein andermal wieder ohne Anrufung eines für
beide Teile kompetenten Ehrengerichtes ein sinnloses Duell mit tötlichen Aus-
gange! Mau fragt sich wirklich: Haben die Universitätsgerichte noch immer
keine andre Aufgabe, als Pedelle lind Polizeidiener hinter den Studenten her
in Atem zu erhalten, und haben sie aufgehört, verantwortlich zu sein für das
Unheil, welches auf unsern Hochschulen angerichtet wird? Die Schlägermensur,
dieses so unentbehrliche kleine Übel zur Verhütung größerer, sucht nur nach
Kräften zu verhindern, und unaufhörlich müssen die schon genugsam in Kontri¬
bution gesetzten Eltern das abgepfändcte Paukzeug wieder einlösen; ans der
andern Seite wieder geschieht nichts, gcirnichts, um heilsame Beziehungen zwischen
unsern Studenten herzustellen, und der alte Schlendrian fordert unerhörte Opfer,
Opfer an kostbaren Leben, größere Opfer durch Nuiuirung gesunder Jngend,
indem man sie zwingt, sich falsch zu entwickeln. Wenn von Übelwollenden der
Vorwurf erhoben wird, daß der Ehrbegriff auf unsern Hochschulen sich in einer
heillose» Verwirrung befinde, angesichts obiger Thatsachen kann man ja gar¬
nicht widersprechen. Sollte es nicht wirklich die Aufgabe aller Beteiligten sein,
jenen Begriff wieder zu heben und zu veredeln?
Das trostlose Verhältnis zwischen Korps und Burschenschafter ist zur Zeit
der springende Punkt. Hier muß man den Hebel ansetzen. Will man aber
den Waffcnverbindungcn durchaus zu Leibe, will man durchaus von dem Über¬
handnehmen und dem „Unfug des Meusurwesens" sprechen, ohne seine sittliche
Berechtigung als Förderungsmittel der Mannhaftigkeit und Furchtlosigkeit, als
einen vortrefflichen Blitzableiter für die unvermeidlichen Händel, als ein un¬
schätzbares Gegengewicht gegen die Lttderlichkcit und die Sitten des (jun.re,lor
litem anzuerkennen, so schaffe man der akademischen Jngend einen andern Sport.
Die Mensur ist den deutschen Studenten das, was den englischen Studenten
das Rudern: sie ist volkstümlich im höchsten Maße, und wir fragen wieder:
Muß denn alles, was in Deutschland volkstümlich und historisch berechtigt ist,
verkümmert und in die Rumpelkammer geworfen werden zu Gunsten einer neuen
Schablone, statt es fortzucntwickeln? Werden in Oxford und Cambridge die
Wettruderer polizeilich verfolgt? Oder ist in England auf dem Wasser noch
niemand umgekommen? Vom Boxen garnicht zu reden, und vollends von der
Jagd. Geschieht auf der Jagd nicht alljährlich sehr viel mehr Unheil als auf
der Mensur? Weshalb verfolgt man nicht die Jagd? Ist es anderseits vielleicht
ein Zufall, wenn in unserm Geschichtsbüchern alle Augenblicke von der alten
germanischen Kampfesfreudigkeit erzählt wird? Und müssen unsre Bursche nnr
deshalb kostbare Tage auf den Festungen vertrödeln, weil sie mit gleichen In¬
stinkten geboren wurden wie ihre Voreltern?
Die „edelsten Kräfte der Nation" find von einem nun schon dahingegangnen
Parlamentarier gelegentlich im Hausirhandel entdeckt worden. Arme akademische
Jugend! Wie wenig magst du an dieser Stelle doch gelten? Wo findet sich
dein Anwalt?
n dem Bestehende!! Kritik zu üben ist eil! so echt menschlicher
Zug, daß die Richtung auf das Negative, die dadurch bei den
Durchschuittsgcbildcten großgezogen wird, wenigstens in der
Gegenwart kaum mehr als auffallend und im Grunde doch als
abnorm augesehen wird. Probleme hat eben jede Zeit gehabt,
mußte sie haben, sofern sich nicht irgend einmal in dieser unvollkommenen Welt
die Menschheit hat entschließen können, mit dem zufrieden zu sein, was sie besaß.
Und da im großen und ganzen Probleme immer Differenzen bedeuten zwischen
dem, was ist, und dem, was sein sollte, so ist jener kritische Zug ja am Ende
ein idealistischer, den man gutheißen kann.
„Was sein sollte," nicht im Interesse bestimmter Parteien und Anschauungs¬
weisen, sondern nach den Vorschriften vernünftigen Denkens, ist heutzutage
vielleicht ein wenig mehr als früher das Ziel der kritischen Lösungsversuche
moderner Probleme. Denn nicht nur die innere Freiheit, wichtige Punkte unsers
geistigen Ich durch konsequente Anwendung des Verstandes festzustellen, nicht
nur das Erfahrungsmaterial hat zugenommen, dessen wir uns bei dieser Ver-
standesarbeit bedienen können; viel größer, viel tiefer ist auch die Einsicht
geworden, daß bei der Regelung allgemeiner und öffentlicher Interessen vor
allen Dingen die historischen Bedingungen zu berücksichtigen sind. Wenn nur
trotz alledem moderne Probleme Aussicht hätten, gründlicher, d. h. vor allem
auf länger hinaus gelöst zu werden, als es den frühern, vergangnen beschicken
war! Wenn nur nicht gerade dieser historische Sinn in dem Bestreben, alles
den gegebenen Verhältnissen anzupassen, erst recht dazu angethan wäre, ephemere
Lösungen zu schaffen! Und endlich: anch das reinste, vernunftgemäßeste Denken
hat Voraussetzungen, seien sie auch nur ganz allgemeine, metaphysische. Es ist
deshalb in Wahrheit nicht rein, sondern nur weniger vielseitig bedingt und, in
der Gegenwart, vielleicht freier von Rücksicht auf allerlei hergebrachte Ver-
schnörkelnngc» und Verhüllungen der einfachen Vernünftigkeit.
Mit einer endgiltigen Lösung ist es also ein für allemal ein sehr heikles
Ding, und am Ende kommen alle derartige Versuche doch nnr zu dem Ergebnis
derjenigen spezifisch modernen Einrichtungen, die sich professionsmäßig mit der
Lösung politischer und sozialpolitischer Probleme befassen: zu dem Ergebnis
parlamentarischer Arbeit. Es wird am guten Ende ein Mväus vivemcli gefunden,
der für eine Reihe von Monaten und Jahren eben darum erträglich paßt, weil
er für leinen und keines vollkommen paßt. Denn nicht nur die historischen
Bedingungen in ihrem schnellen Wechsel machen diesen Notbehelf so unvermeidlich.
Die Gesellschaft selbst, für deren Interessen der Kampf der Meinungen ent¬
brennt, ist innerlich nicht homogen; zwei Generationen mindestens stehen sich
mit dem Anspruch gegenüber, die öffentlichen Fragen in ihrem Sinne gelöst zu
sehen. Die Bedingungen aber, unter denen jemand Mann geworden ist, sind
zugleich die Bedingungen seiner geistigen Existenz; nur das Genie mag hiervon
teilweise eine Ausnahme machen. Der mit den Anschauungen vergangner
Jahrzehnte genährte kann deshalb mit dem ganz von modernem Lebenssaft
getränkten in jeder einzelnen praktischen Frage einen Kompromiß schließen, eine
prinzipielle Lösung aber nimmermehr vereinbaren.
Der Besprechung von Hartmanns neuem Buch") Betrachtungen dieser
Art vorauszuschicken, hat seinen guten Sinn. Denn der Verfasser hat die ein-
zelnen Objekte seiner Auseinandersetzungen weder systematisch aus den verschieden
Gebieten des modernen Lebens zusammengetragen und etwa ihrer Wichtigkeit
entsprechend angeordnet, noch ist es ihm im einzelnen um jene prinzipielle
Lösung zu thun gewesen, die in Wahrheit doch nur eine Lösung unter gewissen
Prinzipien geworden wäre. Ihm deshalb Oberflächlichkeit vorwerfen, hieße aber
ganz und gar den einzig verständigen Zweck verkennen, den ein Buch so weit¬
reichenden Inhalts haben kann, sobald es äußerlich auf vielbändige Dickleibig¬
keit — vielen Leuten noch immer die (zonclltio 8M6 arm mein für wissenschaft¬
lichen Inhalt — verzichtet. In das Getümmel der Meinungen will es helle
Schlaglichter werfen, dem im allgemeinen nach Orientirung suchenden will
es feste Anhaltepunkte geben, dem Unklaren und Kurzsichtigen freie Perspektiven
eröffnen. Dabei muß es natürlich selbst den behandelten Gegenständen gegen¬
über nicht nur ganz bestimmte Standpunkte einnehmen, sondern zu diesen
Standpunkten auch zu bekehren suchen. Nun ist es mit Rücksicht hierauf
wirklich dankenswert, daß der Verfasser fast durchgängig seine eigenartige und
die Dinge in ganz subjektiver Beleuchtung lassende Metaphysik beiseite ge¬
setzt, sowie daß er den Grundtenor seiner Weltanschauung, den Pessimismus,
zur charakteristischen Beleuchtung moderner Verhältnisse beinahe nirgends benutzt
hat. Es läßt sich in Fragen, die ans der Praxis des sozialen Lebens herrühren
oder die doch zum Zwecke praktischer Umgestaltung konkreter nationaler Lebens¬
verhältnisse aufgeworfen werden, ohne Zweifel sehr viel mehr thun, wenn man
sie im Rahmen der augenblicklichen wirklichen Lebensumstände, als wenn man
sie, cibstrahirend und verallgemeinernd, sud spheno a,stvrui betrachtet. Uns
Deutschen fehlt es ohnehin nicht an Versuchen letzterer Art, die ohne Rücksicht
auf eine mögliche Verwirklichung des Geforderten allgemeine und spezielle Kultur¬
ordnungen auf Grund bestimmter metaphysischer Voraussetzungen konstruiren.
Eine noch so geistreich und vortrefflich geschriebene Theorie des großen Krieges
nutzt aber dem fechtenden Soldaten nichts, der lernen muß den Feind erkennen,
sich decken, das Terrain benutzen, um vorwärts zu kommen.
Dem Autor in seine einzelnen Betrachtungen hinein zu folgen, würde das
Maß einer kurzen Besprechung allzu sehr überschreiten. Nur einzelnes sei
deshalb von dem Inhalte des Buches hervorgehoben, soweit es besonders
interessant oder anfechtbar erscheint. So ist es, bei dem Gewicht, den'Hart¬
manns Name besitzt, gewiß von Interesse, ihn gleich im ersten Abschnitte des
Buches eine Lanze gegen den VegetaricmismuS brechen zu sehen. Nicht aus
metaphysischen Gründen, etwa weil wir im Tier eine uns verwandte Partial-
erscheinung des geistigen Prinzips verletzen, wie dergleichen von besonders
geistreichen Verfechtern der Pflanzenncchrnng wirklich herbeigezogen worden
ist, sondern aus gut physiologischen, die noch dazu den Vorzug leichter Ver¬
ständlichkeit haben. Soweit Pflanzennahrung leicht verdaulich ist, hat sie im
Vergleich mit dem Fleisch nur geringen Nährwert, und soweit sie, wie in den
Hülsenfrüchten, viel Nährwert besitzt, ist sie im Vergleich mit dem Fleisch schwer
verdaulich. Richtig ist dieser Satz, ganz ohne Zweifel. Belehren wird er aber
niemanden, denn der Vegctarianismus entspringt nicht ans physiologischen Er¬
wägungen, sondern aus hyperzivilisirter, mit Empfindsamkeit durchsetzter Diftelei
und läßt sich nur zur eignen Beruhigung und xro komm eine physiologische
Fahne vvrantragen. Darum ist es sehr am Platze, wenn Hartmann ferner dem
so oft gemißbrauchten Humanitätsprinzip die Leuchte vorhält und den Vege-
tarianern mindestens eine bedenkliche Willkür in der Anwendung dieses heikelsten
aller Prinzipe nachweist.
Im vierten Aufsatze: „Die Lebensfrage der Familie" tritt unser Autor
der modernen Ehelosigkeit mit einer Entschiedenheit entgegen, die bei einem
Manne, welcher mit so trübem Erfolge die Bilanz des Lebensgenusses (in
seinem Hauptwerk) zog, etwas eigentümlich berührt. Oder ist das Eingehen
einer Ehe am Ende garnicht die sehr entschiedn«.' Bejahung des Willens zum
Leben, als die es von naiven Leuten gewöhnlich angesehen wird? Auf jeden
Fall hat Hartmann darin Recht, daß die zunehmende Ehelosigkeit im letzten
Grunde nicht an dem Steigen aller Preise, an der Schwierigkeit einer auskömm¬
lichen Einnahme liegt, sondern in dem Zurückgehen der sittlichen Energie, in
der Zunahme eines auf unedle und äußerliche Dinge gerichteten Egoismus. An
diesem Fehler nehmen beide Geschlechter gleichmäßig teil, und wenn er beim
Manne naturgemäß mehr auffällt, so ist er, wenigstens in den eben erwähnten
Folgen, beim Weibe umso unnatürlicher und zeugt von einem sehr viel tiefern
Herabsinken vom normalen, dnrch die Natur gebotenen Standpunkte, als beim
Manne. Denn die Natur des Weibes erfüllt sich erst in der Ehe, oder doch
in dem, was bei Kulturvölkern im allgemeinen nur in der Ehe zur Geltung
kommt: in der Mutterschaft. Hartmann behandelt das angeschlagene Thema
sehr eingehend und klar, und seine Befürchtung, die schonungslose Aufdeckung
aller dahin gehörigen Momente würde manchem Leser peinlich sein, wird in
Wirklichkeit kaum anders als bei denen eintreffen, die sich selbst getroffen fühlen.
Nur daß er die einer modernen gebildeten Ehe entgegenstehenden Hindernisse
doch wirklich etwas zu gering anschlägt. Er mißbilligt es ausdrücklich, daß
(S. 69) „Mädchen vor dem Gedanken zurückschaudern, als Frau in ein Haus¬
wesen'eintreten zu sollen, wo ihnen zwar die grobe Arbeit durch eine Magd
abgenommen wird, aber das eigentliche Kochen, das Schneidern ihrer eignen
Kleidung und derjenigen für die Kinder, und, was am schwersten wiegt, die
tägliche und nächtliche Kinderpflege auf ihre eignen Schultern fallen würde."
Nun, offen gestanden, es braucht ja nicht immer ein „Schaudern" zu sein; ob
aber ein Mädchen, um das sich ein gebildeter Mann bewirbt, bei der Aussicht
auf alle die aufgezählten Pflichten nicht zweifeln muß, ob sie nebenher anch
ihrem Manne eine Gattin in geistiger und sittlicher Hinsicht sein kann, und ob
sie nicht Recht thut, wenn sie lieber auf solche Ehe verzichtet, als sie nur ciaoacl
oorxus auszufüllen, wäre doch sehr die Frage, Und gar so leicht wie Hart-
mann möchten doch wenige zu der Entscheidung kommen, daß der Ehemisere gegen¬
über jede Bildung, die dem Weibe vorzugsweise eine geistige Richtung giebt,
jede „Töchterschulenbildung" vom Übel sei. Mit jeder Beschränkung der geistig¬
sittlichen Wirkung des Weibes in der Ehe wird dieselbe herabgewürdigt, vor
allem zum bleibenden Schaden der Nachkommenschaft. Denn, irren wir uns
nicht: das Beste, Beglückendste, was wir haben, die Reinheit und Individualität
unsers Empfindens, die Grundlage mithin von dem, was später durch eigne
und fremde Arbeit Edles und Bedeutendes aus uns gemacht werden kann, haben
wir von unsern Müttern. Und so möchte am Ende jenes „Schaudern" einen
unbewußten Protest gegen allzu große Einengung in die Schranken kleinbürger¬
licher Lebeuseuge bedeuten.
Wir übergehen die folgenden Aufsätze, die sich zum größten Teil gegen
praktisch bedeutsame Mißstände unsers modernen nationalen Lebens wenden, um
uns zu einem der letzten, über „der Bücher Not," zu wenden. Ein innerer
Zusammenhang mit dem eben besprochnen weist uns ohnehin zu ihm. Das
alte Lied von dem mangelhaften Bücherkauf der gebildeten Deutschen wird wieder
von neuem gesungen. Mit vollem Recht; darüber kann im Ernst kaum ein
Zweifel sein. Nur daß der eben noch so lebhafte und beredte Vertreter eines
bescheidnen Daseins in eigner anspruchsloser Häuslichkeit doch mindestens die
große Klasse des verheirateten gebildeten Mittelstands von der Schuld einer
Unterlassungssünde auf diesem Gebiet freisprechen sollte! Welcher Mann, dessen
Familie eben nur durch bestündige geistige und körperliche Aufopferung der
Hausfrau existiren kann, würde recht daran thun, die verfügbaren Mittel durch
Bücherankauf noch mehr zu schmälern? Wie viele gebildete Männer, Beamte
namentlich, Philologen, Juristen, gehen jahraus jahrein an den Buchläden mit
sehnsüchtigem Blick auf die aufliegenden Neuigkeiten vorüber, weil ihnen ihr
Beutel außer dem spärlichen Aufwand für ein und das andre Journal, für
Schulbücher und unvermeidliche Geschenke durchaus keine Buchhändlerrechnnng
gestattet! Freilich giebt es daneben Tausende, die es für ganz selbstverständlich
halten, für ihren täglichen Bedarf an Zigarren und Bier Summen auszugeben,
deren zehnter Teil, auf Bücher verwendet, ihnen als unverantwortlicher und
ihrer Einnahme durchaus nicht entsprechender Luxus erscheinen würde. Bei
ihnen aber ist doch richtiger das allgemeine Darniederliegeu geistiger Interessen,
als die Unlust am Bücherkauf anzuklagen. Im übrigen ist, was Hartmann
sagt, leider sehr wahr: die unselige, so gänzlich nichtige und bestenfalls un¬
schädliche Sucht, Politik zu treiben, absorbirt im modernen Leben den größten
Teil der geistigen Bethätigung unsrer Gebildeten; dem Anstaudsbedürfnis aber,
Bücher zu besitzen, kommen die billigen Klassikeransgaben mit ihrer stereotypen
Auswahl der Autoren als eine Art wohlfeiler Massenfüttcrnng entgegen.
Falsch würde es sein, diesem Übelstande etwa, wie Hartmann meint, durch
Bekämpfung des Einflusses der Zeitungen und Journale entgegenzutreten, deren
Lektüre Zeit und Spannkraft über alles verständige Maß hinaus in Anspruch
nimmt. Denn bei der modernen Richtung auf „Aktualität," praktische Teil¬
nahme am Geschehenden, ist ein solcher Kampf von vornherein ganz aussichtslos.
Vielmehr wird eine wirksame Abhilfe einzig und allein von der allmähligen
Vermehrung des Nationalreichtums, von der Hebung des allgemeinen Wohl¬
standes zu erwarten sein. Je größer die Zahl der Leute ist, die über das un¬
mittelbare, selbst hoch gesteigerte Bedürfnis einnehmen, umso größer ist der
Bruchteil derselben, der zu den Luxusausgaben auch die sür Bücher rechnet.
Im übrigen wird sich das vielbeseufztc „eherne Lohngesetz" auch hier geltend
machen. Wenn der Staat einmal imstande sein wird, seinen Beamten ein
nennenswert höheres Gehalt zu geben, so wird er in Wirklichkeit sich dadurch
zu diesem Schritte gedrängt sehen, daß mit dem seitherigen eine Familie nicht
mehr standesgemäß zu unterhalten ist. Für eine Bibliothek bleibt dann doch
wieder nichts übrig. Beamte aber bilden, bei unsern deutschen Verhältnissen,
denn doch den größten Teil des „gebildeten Mittelstandes."
Nach einem halb scherzhaft gehaltenen Aufsätze über „die epidemische Ruhm-
sucht unsrer Zeit" schließt Hartmann mit einer Arbeit über den „Somnam¬
bulismus," die nach Ausdehnung und Inhalt die wichtigste des Buches bildet.
Ihm ist es vorläufig zweifelhaft, ob das „im tierischen Magnetismus wirksame
dynamische Agens mit einer der uns bekannten Naturkräfte identisch, oder
eine noch unerforschte neue Proteus-Gesto.le der einheitlichen Naturkräfte sei."
Und eben deshalb ist er sehr vorsichtig in seinen positiven Behauptungen über
die rätselhafte Erscheinung. Er vergleicht ihre einzelnen Momente, immer zu¬
gleich polemisch gegen die meisten der einschlägigen neuen Arbeiten, mit den
Merkmalen des Schlafes, mit der allgemeinen Sensitivitcit, mit der Hyper¬
ästhesie und der Beschleunigung des Vorstellungswechsels bei Fieberdelirien. Er
ist überzeugt, daß der „spontane Somnambulismus zunächst ebenso zweifellos
ein Symptom einer Erkrankung des Nervensystems sei, wie Epilepsie, Veits¬
tanz oder Irrsinn." Dies Resultat der angestellten Vergleichungen führt dann
weiter zu dem Ausspruch, daß der Somnambulismus psychologisch tiefer stehe
als das wache, bewußte geistige Leben. Für diese Worte können wir angesichts
des widerlichen und oft betrügerischen Mißbrauchs, den unsre so vorzüglich auf¬
geklärte Zeit bewundernd gutheißt, dem Philosophen ganz besonders dankbar
sein. Bei ihm wenigstens wird niemand grundsätzliche Antipathie zu Gunsten
einer einmal erfaßten Weltanschauung vermuten, wie wir sie allenfalls bei
Materialisten und Sensualisten voraussetzen dürfen. Zum Überfluß spricht er
den guten Grund zu seinem herben Urteil noch einmal klar und bündig aus:
der Somnambulismus enthülle, als ein rein pathologischer Zustand, keine ein¬
zige neue Funktion des menschlichen Geistes, sondern zeige bekannte Funktionen
in andrer Zusammenstellung.
Als würdiger und interessanter Schluß des Buches erscheint der Versuch,
wenigstens „das hellsehende Ahnen von räumlich oder zeitlich weit entfernten
Vorgängen" zu erklären. Er führt uns mitten in des Verfassers metaphysische
Anschauungen, die jedenfalls den Vorzug haben, im Prinzip mit denen des größten
nachhegelschen Philosophen, Hermann Lvtzcs, verwandt zu sein. Ein „konkreter
Monismus" würde unbedingt erheischen, daß in dem einen Seienden alles indi¬
viduell Seiende eine Rückwärtsverbindnng finde, daß also die Individualseele
„gleichsam ein zentraler Telephvnanschluß" die Zustände andrer individuell existi-
render Dinge vermittle.
Vermutlich wird über unser Buch der Zorn der Kritik von rechts und links
her ausgeschüttet werden. Denn wer sich in die Welt mit einem Werke von
scharf markirter Eigenart einführt, darf heute mehr denn je darauf rechnen, daß
überaus scharfsinnige Leute bei jeden: folgenden in alle Zukunft hinein den
Charakter des ersten wittern. Und Hartmann hat mit seiner „Philosophie
des Unbewußten" bei zu vielen angestoßen, als daß sich nicht übergenug
Scharfsinnige unter ihnen finde» sollten. Möge sich niemand die Lust ver¬
kümmern lassen, selbst zu lesen.
as folgende soll keine ästhetische Abhandlung allgemeinen Inhalts
werden, auch kein Versuch, die beiden Begriffe „Stil" und „Mode"
zu definiren. Jedes Schulkind weiß heutzutage, was „stilvoll,"
und noch besser, was „Mode" ist. Wir wollen nur in einem
Rückblicke ans das verflossene Jahr aufzuspüren versuchen, ob und
inwieweit sich die Mode zum Stil verdichtet oder beruhigt hat. „Beruhigt"
ist Wohl in der Zeit, in welcher wir leben, der richtigste Ausdruck. Die Unruhe,
der ewige Wechsel ist das Zeichen unsrer Zeit, das Beharren aber, welches
unsre Altvordern, d. h. noch die Männer, die mit Goethe alt geworden waren,
als ihr Ideal, dann mis ihren Vorzug preisen durften, auch für uns das Er¬
strebenswerte. Haben wir nur irgendeine Hoffnung, aus unsrer Unrnhe
herauszukommen? Wird unser Leben, d. h. die ästhetischen und kulturgeschicht¬
lichen Erscheinungsformen desselben, zum Beharren, zum Bleiben im Wechsel
gelangen, wenn auch nur für die kurze Spanne eines Menschenalters?
Um unsern Standpunkt, das Ergebnis unsrer Anschauungen und Beob¬
achtungen gleich von vornherein zu kennzeichnen, müssen wir diese Fragen mit
Nein! beantworten. Nirgends, wohin wir auch blicken mögen, sind Keime,
Ansätze zu bemerken, aus welchen ein originaler Saft emporquellend neue
Sprößlinge treiben könnte. Wie einst die Erinnhs dem Fuße des flüchtigen
Orestes folgte, so heftet sich an unsre Fersen der Fluch der Nachahmung. Nur
sieht die Sache im Lichte des neunzehnten Jahrhunderts viel weniger tragisch
aus. Wir find nicht die beklagenswerten Opfer eines dunkeln, unentrinnbaren
Verhängnisses, sondern unfreiwillige Komiker, die Affen sämtlicher Jahrhunderte,
und kein Areopag der Welt könnte uns von den zahllosen Sünden freisprechen,
welche wir im Laufe der letzten fünfzehn Jahre auf den Gebieten der Kunst,
des Kunstgewerbes und des guten Geschmacks begangen haben.
Dieser Vorwurf trifft freilich uns Deutsche nicht allein. Er ist ebenso
sehr bei Franzosen und Engländern angebracht, welche heutzutage allein eine
den Deutschen gleiche Weltstellung einnehmen und deshalb allein in allen um¬
fassenden Fragen mit uns verglichen werden können. Die Nordamerikaner
kommen trotz größerer materieller Mittel nicht in Betracht, weil ihre geschicht¬
liche Entwicklung uoch zu jung ist und weil sie die Zeit, welche ihnen der
Kampf um die Konsolidirung ihres Territorialbesitzes übrig gelassen hat, zur
Aneignung aller technischen Mittel und Fertigkeiten verwenden mußten. Auch
sie werde» sich über kurz oder lang ans dem Kampfplatze einfinden, auf welchem
man um die Palme in idealistischen Bestrebungen wetteifert, weil uns die welt¬
geschichtliche Erfahrung gelehrt hat, daß die technische Fertigkeit stets die Grund¬
bedingung für jede That des Geistes gewesen ist.
Wir Deutsche sind jedoch im Nachteil, obgleich wir uns in dem Messen
unsrer Kräfte, in der Abwägung unsrer Tugenden und Fehler auf Engländer
und Franzosen beschränken dürfen. Diese beiden Nationen blicken auf eine
Kulturentwicklung zurück, welche niemals so lauge und so gewaltsam zerrissen
worden ist wie die deutsche durch deu dreißigjährigen Krieg. In Frankreich
und England haben immer Monarchen den Zeitgeschmack bestimmt, welchen wir
heute im Lichte der Geschichte als „Stil" bezeichnen. In jenen beiden Ländern
hat der Kunstgeschmack eine gesetzmäßige Entwicklung gehabt, welche sich dort
an die Namen Franz I., Henri II., Henri III., Louis XIII., Louis XIV., Regcnce,
Louis XV. und Louis XVI., ?r«zmiör om.xiro, hier an die Namen Heinrich VIII.,
Tudor, Elisabeth, Königin Anna, an die drei George knüpft. Wir in Deutschland
kennen diese feinen Stil-, Geschmacks- oder Mvdeunterschiede nicht. Wir sprechen,
ganze Jahrhunderte umfassend, von Renaissance, Barock-, Rokoko- und Zopfstil,
von Hellenismus und Klassizismus. Etwas spezifisch nationales verbinden wir
aber mit diesen Begriffen nicht, und deshalb sind wir so sehr geneigt, fremde
Stileigentümlichkeiten, welche mit unserm Nationalcharakter nicht die geringsten
Berührungspunkte haben, ohne weiteres zu adoptiren und mit solcher Voll¬
kommenheit nachzuahmen, daß deutsche Erzeugnisse noch hente, wie es seit dem
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert üblich war, mit dem französischen Fabrik-
stempel in die Welt gehen.
Die Wurzel dieses vererbten Übels liegt in der deutschen Kleinstaaterei,
mit welcher erst in unsern Tagen so aufgeräumt worden ist, daß der gegenwärtige
Zustand als ein erträglicher und gedeihlicher gelten kann. Aber unser Geschlecht
kann die Früchte dieser Aufräumungsarbeit nicht mehr ernten, und deshalb
müssen wir uns in der immerhin tröstlichen Zuversicht bescheiden, mehr gewußt
zu haben, als alle unsre Vorfahren zusammengenommen, aber auch weniger
geleistet zu haben. Diejenigen, welche die alte Kaiserherrlichkeit zum erstenmale
wieder geschaut haben, sind auf künstlerischem Gebiet ein unproduktives Geschlecht.
Wir müssen uns mit dieser bittern Wahrheit vertraut machen. Ans der andern
Seite winkt uns der Trost, daß wir in allen technischen Fähigkeiten so außer¬
ordentlich weit vorgeschritten sind, daß wir unsern Erben glatte Wege geschaffen
haben. Mögen sie sehen, wie sie ans diesen Wegen weiterkommen! Mögen sie
sich aber auch hüten, unsre Aufräumuugsarbeiten weiter fortzusetzen, als zur
Erhaltung des großen Staatsganzen unbedingt nötig ist. Wie wir aus der
geschichtlichen Entwicklung Englands und Frankreichs gelernt haben, giebt die
Zentralisation der Reichsgewalt den Anstoß zu einer Erstarkung des National¬
gefühls, welches eine sichere Grundlage für die Konstitnirung eines mächtigen
Staatswesens bildet. Aber ans der andern Seite haben wir auch eingesehen,
wie gefährlich den Machthabern das übermäßige Wachsen einer Zentralstelle
wie Paris werden kann, und wie schwierig es ist, die irische Bevölkerung einem
Stamme mit so stark entwickeltem Nationalgefühl wie dem englischen zu cunal-
gmniren. Es war daher ein äußerst weiser Akt der deutschen Neichsregiernng,
den Braunschweigern nicht ihre Selbständigkeit zu nehmen, sondern sie vielmehr
unter einem starken Regiment vor allen Fährlichkeiten und Schwankungen
zu wahren.
Diese politischen, aber eigentlich nur kulturgeschichtlichen Betrachtungen stehen
mit unserm Thema in engem Zusammenhang. Während in Frankreich die
Provinzialmuseen und die Kunst- und kunstgewerblichen Schulen der Provinz
sür die Entwicklung des allgemeinen Geschmacks so gut wie gar keine Bedeutung
haben, dieser vielmehr ausschließlich von Paris diktirt wird, stehen die gleichen
Institute in Berlin, Dresden, München, Wien (wir rechnen Deutschösterrcich
hinzu), Stuttgart, Karlsruhe u. s. w. so ziemlich auf derselben Höhe des Ein¬
flusses. Das ist ein unbestreitbarer Vorzug der deutschen Kleinstaaterei. Ein
Vorzug aber der Zusammenfassung dieses vielgestaltigen Staatenweseus in dem
Reichsgedanken besteht darin, daß jener Einfluß sich keineswegs auf das engere
Gebiet jener genannten Städte beschränkt. Wir verdanken es einerseits der dnrch
Gründung des deutschen Reiches erfolgten Beseitigung der Zoll- und anderer
Schranken, welche früher zwischen den einzelnen Staaten bestanden hatten, anderseits
den Gewerbe- und Industrieausstellungen, daß fast überall ein gleiches Niveau
technischer Fähigkeit erreicht worden ist. Wir sehen in den Knnstgewerbcmagazinen
und in den Schaufenstern der Schreiner, Dekorateure, Vronzewaarcnhändler n. s. w.
in Köln, Hamburg, Hannover, Magdeburg, Leipzig, Darmstadt dieselben Gegen¬
stände in denselben Formen. Im deutschen Parlamente sind sieben oder acht
verschiedene politische Glaubensbekenntnisse vertreten; aber ganz Deutschland hat
nur einen Ouivrs-xoli-Stil.
Wenn nur aber dieser gemeinsame Stil ein vernünftiger wäre, oder wenn
man ihm die Nuhe ließe, sich in vernünftigen Bahnen zu entwickeln! Aber man
gönnt der Industrie diese Nuhe nicht. Ihr Stolz liegt in der Nachahmung.
Was haben wir damit erreicht, daß unsre Kunsttischler jetzt — es ist die
Mode dieses Jahres — triumphirend auf Möbel im Geschmack Ludwigs XIV.
und Ludwigs XV. hinweisen können, die viel sauberer und solider gearbeitet sind
als die echten alten? Den französischen Handwerkern sagen diese Stilformen
etwas, weil sie mit ihnen von Jugend auf vertraut, weil dieselben aus ihrer
nationalen Entwicklung erwachsen und beständig in Übung geblieben sind. Uns
Deutschen sind diese teils gravitätischen, teils leichtfertig koketten Formen nur
eine gleichgiltige Kuriosität. Eine gleiche Berechtigung seines Unternehmens
darf ein Münchener Maler in Anspruch nehmen, welcher gegenwärtig mit dem
Modell eines japanischen Zimmers herumreist, um reiche Kunstliebhaber zu
japanischen Zimmereinrichtungen zu verlocken. Giebt es einen thörichteren Ge¬
danken? Der Künstler mutet uns zu, daß wir die gemauerten Wände unsrer
Zimmer mit Schirmen aus leichtem Holze verkleiden sollen, welche mit bemaltem
Atlas überzogen sind. Er verlangt, daß wir uns nach japanischer Manier auf
niedrigen Truhen zusammenkauern nud um niedrige Tischchen herumhocken sollen.
Und doch hat er ebenso Recht wie die Tischler mit ihren Stühlen ü. in. Louis XIV,
deren hohe steife Lehnen wir garnicht brauche», weil wir keine Allongeperücken
und unsre Damen keine Fontangen tragen.
Diese Nnchahmungssucht, diese unheilvolle Neigung zum Fremden bringt
uns in die größte Verlegenheit, sobald es sich um die Lösung einer großen
Aufgabe handelt. Wenn in Frankreich ein monumentales Gebäude errichtet
werden soll, so ist der Architekt keinen Augenblick über die Wahl des Stils im
Zweifel. Sein Louvre, sein Palais von Fontainebleau, seine Nenaissauceschlösser
sind ihm mustergiltige Beispiele echt nationalen Gepräges. Wir Deutsche haben
über der Nachahmung des Fremden noch keine Zeit gehabt, uns einen eignen
Stil zu schaffen. Wir genießen aber dafür den Ruhm, daß die französische
Gothik nirgends so grandios, die italienische Renaissance nirgends so malerisch,
der italienische Barockstil nirgends so majestätisch und das Rokoko nirgends so
geistvoll und graziös ausgebildet worden sind wie in Deutschland. Wir haben
es erlebt, daß bei der Konkurrenz um das deutsche Neichstagsgebüude die Ver¬
fasser des mit dem zweiten Preise gekrönten Entwurfes den Stil der französischen
Renaissance für den passendsten gehalten hatten und daß ihrem Projekt ein
andres minder geniales vorgezogen wurde, weil dessen Verfasser wenigstens einen
originellen Gedanken gehabt und konsequent durchgeführt hatte.
Das bedeutendste künstlerische Ereignis des verflossnen Jahres war die'
Konkurrenz um das Ncichsgerichtsgebäude für Leipzig, Wir haben hier die¬
selbe Beobachtung gemacht wie auf allen übrigen Gebieten künstlerischer und
kunstgewerblicher Thätigkeit: eine glänzende technische (hier also zeichnerische)
Fertigkeit, ein großer Reichtum von Phantasie in allen Dctailbildnngen, eine
umfassende Kenntnis aller geschichtlich überlieferten Kunstformen, aber ein halt¬
loses Hin- und Herschwanken zwischen verschiednen Stilnrtcn und eine große
Unklarheit über die Bedürfnisse unsrer Zeit. Wir können uns den seltsamen
Spruch des Preisgerichts, welches sich bekanntlich für den nüchternsten und nrm-
lichsteu aller Entwürfe entschied, nur so erklären, daß die Juroren, um keinen
auffälligen Stil zu bevorzugen, dasjenige Projekt auswählten, in welchem die
Eigentümlichkeiten eines gewissen Stils oder auch nur eines bestimmt ausge¬
prägten Charakters am weitesten zurückgedrängt waren.
Die Hoffnung einer großen und ehrenwerten Zahl von Patrioten, daß sich
aus der deutschen Renaissance ein für unsre Ansprüche und Lebensbedingungen
brauchbarer Stil entwickeln werde, konnten wir, wie vor Jahresfrist an dieser
Stelle ausgeführt und begründet wurde, uicht teilen. Wie sehr wir mit unsrer
Behauptung, daß die deutsche Renaissance keine Zukunft habe, Recht gehabt
haben, das hat uns schon der Lauf eines kurzen Jahres gezeigt. Mit Riesen¬
schritten ist die Vorliebe für Barock und Rokoko gewachsen, und wir müssen
leider sagen, daß die deutsche Renaissance heute nur noch der Stil der Bier-
Häuser und Weinstuben ist, welche das durch die Butzenscheiben künstlich er¬
zeugte Halbdunkel und die traulichen Winkel besser vertragen können als die
der Arbeit und dem Schaffen gewidmeten Räume.
Auch der Eisenbau ist über der stetig wachsenden technischen Vervollkomm¬
nung noch uicht zur Ausbildung seiner ästhetischen Seite gekommen. Für das
künstlerisch gebildete Ange sind die kühn und gewaltig emporstrebenden Pfeiler,
Bogen und Rippen immer noch eine rohe Masse, welche mehr dnrch Rechen-
exempel, dnrch statische Berechnungen als durch die bildende Phantasie in Be¬
wegung gesetzt und aufgebaut wird.
Wir habe» bisher die beiden andern Zweige der bildenden Kunst, die Ma¬
lerei und die Plastik, uoch nicht berührt. Geht es dem einen oder dem andern
besser als dem Kunstgewerbe und der Architektur? Hat in der Malerei und in
der Bildhauerkunst bereits der Stil die Herrschaft über die Mode davongetragen,
oder herrschen hier ebenso zerfahrene und hoffnungslose Zustände? Wir glauben
den letztern Teil dieser Frage mit Nein beantworten zu dücfen. Die Versuche
falscher Koketterie mit altdeutschem Wesen haben doch erheblich nachgelassen, und
überall macht man die erfreuliche Wahrnehmung, daß ein engerer Anschluß an
die Natur gesucht wird. Man legt die durch Altertumsstudieu gefärbte Brille
mehr und mehr beiseite und sucht aus der Quelle zu schöpfen. Wenn diese
ersten Versuche auch noch sehr oft zu einem rohen und verletzenden Natura-
lismus führen, so mag daran erinnert werden, daß die Blüte der italienischen
Kunst aus gleich rohen Ansängen erwachsen ist. Eine Höhe der Kunstentwicklung,
wie sie das'sechzehnte Jahrhundert in Italien gesehen hat, wagen wir freilich
nicht zu hoffen. Aber der lebendige und unbefangne Naturalismus unsrer
Plastik, die wir augenblicklich am höchsten unter den bildenden Künsten stellen,
läßt uns doch mit tröstlichen Gefühl in die Zukunft blicken, zumal da sie sich
bereits hie und da zu Schöpfungen idealen Charakters aufgerafft hat, welche
spätern Geschlechtern eine günstigere Vorstellung von unserm Kunstvermögen
bieten werden, als es unsre Architektur und unser Kunstgewerbe imstande sind.
Man wird dann vielleicht von einem „Stil" in der Plastik während der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts reden und achselzuckend erzählen, was
in der Baukunst und in der Industrie „Mode" gewesen sei.
s ist ein großes Übel, daß namentlich seit dem Jahre 1848 so
viel schöne Zeit mit der zerstreuenden und aufregenden Zeitungs-
leserci vergeudet wird. Wie viele lesen noch etwas andres als
diese flüchtig vorüberrauschenden Blätter? Freilich ist das Übel
erklärlich. Nur zu oft ist seit genanntem Jahre jeder in seiner
ganzen Existenz durch die Entwicklung der Begebenheiten bedroht gewesen, und
es mußte ihm alles daran liegen, von deren Gange stetig unterrichtet zu sein.
Dann kam die Periode der rapiden Gesetzmacherei, wodurch mir zu viele be¬
stehende Verhältnisse aus den Angeln gehoben wurden, und mau mußte sich
durch das Lesen aller möglichen Kammerverhandlungen darüber „ans dem Lau¬
fenden" erhalten. Auch wollte man doch wissen, wie die vielfach zu uns herüber¬
wirkenden Krisen in den außerdeutschen Nachbarländern sich gestalteten. Kaum
aber glaubte man über den fernern Verlauf der Dinge im Vaterlande beruhigt
sein zu dürfen, als der Krimkrieg ausbrach, an den sich dann in den folgenden
dreißig Jahren die drei Kriege anschlössen, die Preußen und Deutschland führen
mußten — eine kriegerische Periode, in die auch das vierjährige Ringen zwischen
den Nord- und Südstnaten der amerikanischen Union fällt und die — da wir
dem Pygmäcnkampf zwischen zwei Duodez Balkanstaaten keine Wichtigkeit bei-
messen — durch den letzten russisch-türkischen Kampf einen vorläufigen Abschluß
erhalten hat. Bei dem allen war es ganz erklärlich, daß man jede andre Lek-
tiire der täglichen Zeitungsleserei nachsetzte. Überdies sind viele der Meinung,
man müsse, um ein klares, freies Urteil über die Dinge zu bekommen, Blätter
aller Hauptparteien lesen, was denn auch mit deutscher Zähigkeit und Gründ¬
lichkeit reichlich geschieht. Im Vorbeigehen bemerken wir, daß dies für einen
Privatmann eine sehr müßige Beschäftigung ist. Eignes, freies Urteil geht aus
Charakter und Bildung hervor; wer es besitzt, bedarf zu seiner Anwendung jener
vergleichenden Zeitungsleserei nicht; wem es mangelt, der wird es durch sie
nicht gewinnen und sich am besten dabei stehen, wenn er sein Urteil durch die
Tüchtigsten und Einsichtigsten seiner Richtung bestimmen läßt. Man wühle eine
gut redigirte Zeitung, die zugleich belehrende Aufsätze über alle Gebiete der
Kunst, der Wissenschaft ?c. bringt, und die deshalb, weil diese Artikel ein
dauerndes Interesse haben, nicht sofort den eins inlorioribus geopfert wird.
Doch dies beiläufig.
Daß sich infolge unsrer übertriebenen Zeitungsleserei die gebildetere Männer¬
welt der Teilnahme an der eigentlichen Literatur größtenteils entzogen hat, schlägt
bereits ersichtlich zum Nachteil beider, der Literatur und der Männer, ans.
Kein Schriftsteller ist ohne ein bestimmtes Verhältnis zu seinem Publikum
zu denken, und beide bilden einander gegenseitig. Wenige Autoren haben so
viel Charakter und Selbständigkeit, daß die Neigungen, Wünsche und Forderungen
des Publikums ohne Einfluß auf ihre Erzeugnisse, auf deren Stoff und Art,
Gehalt und Form bleiben sollten. Auch würden die Produkte solcher Männer
kaum Verleger und gewiß keine Verbreitung finden. Sieht man ab von den
rein wissenschaftlichen, praktischen und politischen Schriften, so bleibt für den
Überrest, für das, was man im unserm Sinne die Literatur nennt, bei uns
hauptsächlich nur ein weibliches Publikum und die heranwachsende Jngend übrig.
Das wird jeder intelligente Buchhändler bestätigen. Für ein solches Publikum
aber ist das Ernste, Hohe und Gediegene nicht, und es zwingt seine Schrift¬
steller nicht, diesem uachzuringen. Deshalb wird man auch finden, daß in diesem
Gebiete der Literatur Neues von eigentümlicher Größe, Tiefe und Schönheit
kaum noch auftaucht, und wenn es sich zeigt, ein ganz andres Schicksal hat,
als es Ende des vorigen und Anfangs dieses Jahrhunderts gehabt hätte; daß
dagegen pikante Geistreichigkcit, bald zerrissen und negirend, bald oberflächlich
und geschwätzig, oder geschniegelte Zierlichkeit mit stutzerhafter Selbstspicgelung,
oder auch ein Gewebe aus beidem die breite, gesuchteste und gelesenste Masse
der Literatur bildet. Denn wie die Nachfrage, so die Produktion. Dazu ist
es leider die Art des liebenswürdigen Geschlechts und der ihm so ähnlichen
Jugend, nicht bei dem einzelnen Vortrefflichen liebevoll stehen zu bleiben und
darin mit stets neuem Genuß sich zu vertiefen — dies setzt Reife, Selbst¬
thätigkeit und Sammlung voraus —, sondern, wie die Athener, immer nach
Neuem zu fragen, wodurch die Schriftsteller eines solchen Publikums sich gleich
von Anfang an auf das Vielschreiben angewiesen sehen, und Talente, die vielleicht
eine oder zwei Sachen von wirklichem Werte hervorbringen würden, wenn sie
alle ihre Kraft darauf verwendeten, zu immer neuem Prvduziren verleitet, lauter
Spreu in die Welt setzen, welche der Wind der Vergessenheit unerbittlich von
der Tenne der Literatur wegfegen wird, wenn erst die Jahre ihre kritischen
Wnrfschanfeln schwingen werden. So verderben sich denn Schriftsteller und
Publikum gegenseitig mehr und mehr, und die Literatur gerät immer tiefer
in Verfall.
Zu helfen ist da nicht anders, als durch ein andres, besseres und strengeres,
aber zugleich liebevoll teilnehmendes Publikum gebildeter Männer. Auch für
diese selbst würde ein ernstes Interesse an der Literatur von größtem Vorteil
sein. Wir sprechen nicht von der formellen Bildung in Ausdruck, Sprache und
Schrift. Diese ist durch Schule und Überlieferung so allgemein geworden/'') daß
ihr Mangel geradezu Mangel an Fähigkeit, an Erziehung oder an Rücksicht
beweist. Aber wie viele, selbst die besten, entbehren jener Sammlung, Gründ¬
lichkeit und Vertiefungsfähigkeit, welche sich bei dem anhaltenden, ernsten und
eindringenden Lesen bedeutender und gediegener Werke ausbildet! Wie viele
entbehren des freien geistigen Überblicks, des Verständnisses für die idealen
Interessen des Lebens, der ruhigen Billigkeit, welche man in dem steten Umgänge
mit deu größten, umfassendsten und klarsten Geistern gewinnt! Dem allen steht
vor allem die ausschließliche, hastige Leserci der Zeitungen entgegen, die nur der
sammlungslosen, fahrigen und dennoch unfreien Eiscnbcchnunruhe entspricht,
welche die jetzigen Menschen beherrscht.
Für die Literatur würde es schon von größtem Gewinn sein, wenn das
neue wahrhaft Gute und von Urteilsfähigen als gut Empfohlene mir erst wirklich
gekauft würde. Aber damit sieht es in deutschen Landen ganz unglaublich aus:
Leute, die sich Bibliotheken anschaffen können, thun es nicht, die es aber gern
thun möchten, können es nicht. Es giebt große Grundbesitzer, es giebt reiche
Kaufleute, Bankiers und Fabrikherren, Millionäre und Halbmillionäre, die auch
zur feinen und gebildeten Gesellschaft gehören wollen, und bei denen man nicht
einmal die unerläßlichsten Anfänge zu einer dürftigen Bibliothek findet. Kann
man auf höhere Kultur und geistige Interessen Anspruch machen und sich dabei
ein solches Armutszeugnis ausstellen? Wir müssen einen solchen Mangel ge¬
radezu unanständig nennen. Denn jeder Beweis von Rücksichtslosigkeit gegen
das, was nicht nur edel und würdig ist, sondern das ganze Vaterland ehrt und
ziert, ist eine Unanständigkeit. Währte man nur wenigstens den äußern Schein
der Schätzung der Literatur, dieser edelsten, geistigen Blüte der Nation!
Freilich wollen nun auch in solchen Häusern Frauen, Töchter und junge
Leute dies und jenes lesen, teils zur Unterhaltung, teils um doch auch darüber
mitsprechen zu können, und da müssen denn die leidigen Leihbibliotheken aus-
helfen. Damit wird aber die zweite Unschicklichkeit auf die erste gesetzt. Welch
ein Pfui! geht durch die Empfindung jedes wohlerzognen Mannes, wenn er die
bekannten abgegriffnen, hochnummerirten Bände in einem vornehmen und an¬
ständigen Hause erblickt! Finden wir sie auf den Arbeitstische» der Damen —
ein Glück, wenn dann keine Feuerzange in der Nähe ist, weil diese uns immer
in Versuchung führt, sie damit anzufassen und in die Gesindestube zu tragen.
Wenn Leute von Stande aus Leihbibliotheken lesen, so ist es dasselbe, als ob vor¬
nehme Familien ihr Mittagessen, weil sie aus Sparsamkeit keine eigne Küche
halten wollen, ans einer gemeinen Speisewirtschaft holen lassen.
Wie ganz anders ist dies in England! Dort gilt es für selbstverständlich,
daß jedes vornehme, jedes „fashionable" Haus seine Bibliothek habe, und jeder
Manu, der auf Erziehung Anspruch macht, würde sich schämen, wenn bei ihm
nicht die gediegensten und anerkanntesten Schriftsteller der Vergangenheit und die
ausgezeichnetsten Erscheinungen der jüngsten Literatur zu siudeu wären. Daß
dies selbst bei denen der Fall ist, deren vorwiegende Liebhaberei die Literatur
garnicht ist, beweist, daß die Achtung vor diesem edeln Kleinode des National¬
lebens in die allgemeine Sitte übergegangen, daß seine Hege und Pflege als
eine Ehrenpflicht anerkannt ist. Unter solchen Voraussetzungen ist dann eine
völlige Teilnahmlosigkeit an den schriftstellerischen Erzeugnissen nicht leicht denk¬
bar. Und wirklich wird in England von Männern von Stande viel und ernst¬
haft gelesen und die Zeitungspapiere verdrängen dort keineswegs die Literatur.
Die günstigen Folgen davon zeigen sich aber auch an der Literatur, an den
Männern und an der ganzen dortigen gebildeten Welt.
Wir wünschen keineswegs die Zeit zurück, in der sich der ganze Patrio¬
tismus der gebildeten Deutschen in die Literatur flüchtete, wir können ebenso
wenig loben, wenn man von unserm Vettervolke jenseits des Kanals Tendenzen
und Anschauungen, die für uns nicht passen und niemals passen können,
herüberholt, aber wir wünschen, daß auch deutsche Männer aus Patriotismus
es als eine Ehrenpflicht erkannten, an der Literatur ernsthaften Anteil zu
nehmen und sie thätig zu hegen und zu pflegeu. Nicht als Schriftsteller,
sondern als Liebhaber; nicht als Produzenten, wo nicht Begabung und Beruf
hervorstechen; sondern als Förderer, Sammler und Käufer. Es ist nicht zu
ermessen, welchen Einfluß die Literatur hat, um zu bestimmen, was bei einem
Volke als erstrebens- und erreichenswert, als recht und gut, als würdig und
edel gilt. So wirkt sie durch die Eltern, vornehmlich durch die Mütter, auf
die Kinder und unmittelbar auf das nachwachsende Geschlecht. Sie ist ein
stilles und gewaltiges Erziehungsmittel fiir die Nation. Kann ein solches aber
anders wirken, als gemäß seiner eignen Beschaffenheit? Darum sollte schon
aus Patriotismus jeder vornehme und bemittelte Mann nicht allein für sich
und die Seinigen einen sorgfältig gewählten Bücherschatz ansammeln, sondern
namentlich auch durch fortgesetzte Vermehrung desselben mit den gediegensten
und tüchtigsten neuern Erscheinungen, sowie durch strenge Ausschließung alles
Geringen und Schwachen, Gefährlichen und Verdrehten eine indirekte Zucht über
Schriftsteller und Verleger ausüben. Dies ist recht eine Sache, in der jeder
gleich bei sich selbst anfangen könnte und sollte, ohne sich erst mit seinem
Fleisch und Blute zu besprechen. Wie manches Zehnmarkstück wird für Ver¬
gnügen und Genüsse ausgegeben, die kaum eine Spur hinterlassen, und wie
viel edler und für dauernden Genuß könnte es verwendet werden, wenn
man es zu jenem Zwecke bestimmte! Begriffen und übten Männer von Stand
und Vermögen jene Ehrenpflicht, man würde bald die segensreichsten Früchte
davon sehen.
Denn es ist nicht wahr, daß der nationale Gehalt durch die hinter uns
liegende große Literaturperiode, durch die Zeit Lessings und Goethes, bereits
erschöpft sei. Es ist bekannt genug, daß die bedeutenden schaffenden Geister
jener Zeit ganze große Lebensgebiete ignorirten, denen sie durch den damaligen
Gang der Kultur entfremdet worden waren, und daß seitdem Fermente in das
Nationallcben gedrungen sind, die sich ihnen kaum erst ankündigten. Dies alles
will noch in der Literatur würdig herausgestaltet sein. Wenn Shakespeare es
sür den Zweck des Schauspiels erklärt, „der Natur gleichsam den Spiegel vor¬
zuhalten, der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bild und dein
Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen," so
gilt das im weitern Sinne von der ganzen Literatur, und die Schriftsteller
unsrer Nation haben noch viel zu thun, bevor sie dies dem gegenwärtigen Ge¬
schlechte nach den in ihm liegenden Bedingungen geleistet haben. Freilich kann
man Talente nicht machen, geschweige denn Genies. Aber es fehlt anch nicht an
begabten Geistern; sie leisten nnr nicht, was sie vermöchten und sollten, weil
das Rechte nicht von ihnen gefordert und, wenn sie es bringen, nicht aufge¬
nommen wird.
Wenn man so viel von der jetzigen Übersättigung an der Literatur sprechen
hört, so muß dies Gefühl in gewissen Kreisen Wohl vorhanden sein. Woher
kommt das? Wir glauben zunächst daher, daß die klassischen Produkte unsrer
letzten großen Literaturperiode nicht mehr aussprechen, was gegenwärtig in
unserm Volke lebt und webt und uach Gestaltung verlangt; sodann von der
Unzulänglichkeit und Mittelmäßigkeit der Erzeugnisse der jüngern Zeit. Mit
demi Vortrefflichen, Bedeutenden, womöglich Großen kann man sich lebenslang
beschäftigen, und daß dessen Anziehungskraft täglich zunimmt, wenn man sich
ihm einmal ergeben hat, erfahren wir noch in unserm vorgerückten Alter täglich
an uns selbst.
er Dichter erhob sich mit dem Edelmanne zugleich von dem be¬
moosten Felsblöcke. Barreto pfiff seinem Rappen, und Camoens
ging, um das Riemenzeug des Maultiers, das ihn heraus¬
getragen hatte, zu ordnen. Sie waren im Begriff aufzusitzen und
die schattige Schlucht zu verlassen, als Manuel Barreto über¬
rascht hinter sich deutete und halblaut sagte: Wahrhaftig, da kommt noch die
Zicgenhirtiu, die mir vorhin von den bettelnden Strolchen verheißen wurde!
Camoens wandte sich gleichfalls zurück und folgte dein Blicke des Freundes.
Es zeigte sich, daß hinter dem letzten Fall des Baches, wo die Felswand schroff
und scheinbar unzugänglich in die Höhe stieg, ein Pfad lief, den das braune
Moos und überhängendes Dorngestrüpp den Augen der beiden Männer ver¬
borgen hatten, und der steil und gefährlich genug erschien. Aber das junge
Mädchen, welches dort herabstieg, zeigte keine Ängstlichkeit. Rasch und gewandt
fand sie mit ihren nackten braunen Füßen die vorspringenden Stellen im Gestein,
hie und da griff ihre kleine Hand ohne Zagen in das dornige Gestrüpp, und
die letzte steile Senkung des Felsens glitt sie mit einer Sicherheit herab, welche
deutlich zeigte, daß sie deu Pfad nicht zum erstenmale zurücklegte. Da sie von
fern haftig winkte, so überließen Barreto und sein Gefährte Roß und Maultier
noch einmal sich selbst und gingen der Kommenden einige Schritte entgegen.
Im Schatten der Korkeichen neigte sich die Hirrin demütig vor den beiden Herren
und küßte Herrn Manuel, der ihr zunächst stand, den Saum des Gewandes.
Dann strich sie die dichten blauschwarzen Haare, die ihr ins Gesicht gefallen
waren, mit der Hand zurück und sagte, indem sie die dunkeln Augen ans die
beiden Mäuner richtete, im breitesten Dialekt des portugiesische» Landvolkes:
Verzeiht, edle Herren, daß ich euch anzusprechen wage! In meine Hütte dort
oben hat sich ein fremdes Mädchen geflüchtet und angstvoll verborgen, die von
unsrer Sprache nur wenige Worte weiß! Sie sagt kaum mehr, als: Verbergt
mich! sieht abgerissen aus, aber ist kostbar gekleidet und doch nicht wie unsre
Edeldamen, Sie ist, glaube ich, eine Heidin, wenn ich das Zeichen des heiligen
Kreuzes mache, thut sie es nicht nach. Aber sie schaut mich so traurig und
schmerzvoll an, wie eine Mutter Gottes uuter dem Kreuze, Und weil ich euch
unter am Quell rasten sah, so faßte ich mir ein Herz und kam herab.
Und nun meinst du, wir sollen mit hinauf? fragte der Ritter, während
Camoens voller Verwunderung schwieg. Du hast dich vielleicht von eiuer
Zigeunerin erschrecken lassen, Sanchita, oder wie du sonst heißt — am Duero
ziehen viele Banden des ägyptischen Volkes umher.
Ich heiße Jvcma, gnädiger Herr, und weide meine Ziegen für die hoch¬
würdigen Schwester» von Santa Enfemia, antwortete das Mädchen. Die
Zigeuner kenne ich Wohl — die Fremde gehört nicht zu ihnen. Ich weiß mir
keinen Rat! sie schmiegt sich angstvoll in meine Hütte und will nicht hervor.
Sie war beinahe verschmachtet, ich habe sie mit Milch und Brot gelabt, ich
hatte nichts andres.
Wohlan denn! rief Manuel Barretv. Wir wollen versuchen, wie weit wir
dir und deinen Ziegen nachklettern können. Mein Pferd und Euer Maultier
müssen wir inzwischen freilich der Obhut des Himmels befehlen — aber du hast
mich neugierig und mitleidig zugleich gemacht, Jvauci. Kommt, kommt Luis,
es wird unserm Abendessen in Cintrci und unserm Vorhaben für morgen nichts
schaden, wenn wir eine Stunde länger hier oben bleiben und wieder einmal
gemeinsam auf ein Abenteuer ausziehen.
Camoens folgte bereitwillig den Schritten des Freundes, der fester und
gewandter, als seine Jahre vermuten ließen, die nassen Felsstufen in der Nähe
des Wassersturzes betrat. Die Ziegenhirtin sprang leichtfüßig voran, indem sie
immer auf die Stellen des aufwärts führenden Pfades zeigte, wo sich fester
Fuß fassen ließ. Barreto, der es ihr nach Möglichkeit nachthat, kam, mit
einigen Rissen an Hand und Gewand, der Führerin rasch nach, Camoens
klimmte langsamer empor; ein paarmal mußte Manuel ihm helfend die Hand
reichen. Mit schweren Atemzügen erreichten beide Freunde die Höhe des Felsens,
als die kleine braune Hirtin längst oben stand und mit eifriger Geberdenspmchc
den Emporklimmenden zu verstehen gab, daß ihr seltsamer Gast noch vorhanden
sei und ihr so rätselvoll wie zuvor bunte.
Es war eine weite Fläche, ringsum wieder von höhern Felsen umschlossen,
welche sich vor den Augen der Ankömmlinge aufthat. Der Bach, der mit so
wildem Ungestüm in die Schlucht hinabstürzte, floß durch die Hochebene in
mannichfachen Windungen und hielt die Pflanzendecke, die hier den steinigen
Boden überspann, frisch und grün. Eine üppige Weide dehnte sich bis an die
Ränder des Plateaus aus und gestattete Jocmas Herde, sich weithin zu ver¬
breiten. An einem der großen bemoosten Felsblöcke, die auch hier zerstreut
umher lagen, lehnte sich die mit Maisstroh gedeckte Hütte, das Obdach der
jungen Hirtin. Ein paar wettergespaltene Korkeichen gaben dürftigen Schatten,
während die Nachmittagssonne heiß auf der grünen Fläche lag, und die aus der
kühlen, dunkeln Schlucht auftauchenden Männer schützten unwillkürlich die Augen
mit der Hand; Joana schlich ihnen auf den Zehen voran und mahnte sie, die
Fremde nicht plötzlich aus dem Schlummer zu schrecken.
Aber die Mahnung der Hirtin kam schon zu spät; aus der Thür der
Hütte tauchte ein bleiches Gesicht mit angstvollem Ausdruck auf — und Herr
Manuel sprang rasch an den Eingang hinan. Einen Augenblick später würde
das junge Mädchen, der er jetzt seine Hand auf die Schulter legte, entflohen
sein und sich sinnlos den Abhang zur nächsten Schlucht hinabgestürzt haben.
Jetzt sank sie vor Barreto nieder, ein Erbarmen flehender Blick aus großen,
sanft glänzenden braunen Augen, ein leise wimmernder Laut ergriff das Herz des
wacker» Ritters. Die Fremde mochte wie die Ziegenhirtin fünfzehn oder sechzehn
Jahre zählen, aber ihre Gestalt war größer und entwickelter als die des portu¬
giesischen Dvrskindes. Die Züge vom edelsten Schnitt, die Kleidung von kost¬
barem grimm Seidenstoff, ein Gürtel, der durch zwei prachtvolle Rubinen
zusammengehalten ward, verrieten Barreto, daß die unter seiner Hand zitternde
unmöglich eine Zigeunerin sein könne. Ungeduldig winkte der Fidalgo seinen
Freund heran und rief ihm entgegen: Sie scheint eine Maurin! Ihr wäret
unser Dolmetscher ans dem Seezug im roten Meere, sucht Euer Arabisch zu¬
sammen und schafft uns Licht über die Arme.
Camoens war mit einigen Schritten bei der Strohhütte, Joana blieb
ihm zur Seite und sagte leise: Erschreckt sie nicht, Herr, und seid nicht hart
gegen sie! Doch ohne auf die Kleine zu achten, bemühte sich der Dichter schon,
die ängstlich zusammengekauerte Fremde sanft emporzurichten, und sprach sie,
wie ihm Barreto geheißen, arabisch an. Das jugendliche Gesicht erhellte sich
bei seinen ersten Lauten, gespannt hörte sie seine Ansprache und erwiederte in
leisem Tone, aber mit rasch fließenden Worten, sodaß Camoens Mühe hatte,
ihrer Rede zu folgen. In seinen Zügen mischte sich der Ausdruck inniger Teil¬
nahme mit dem ernsten Zweifels, und mehr denn einmal vernahm er kopf¬
schüttelnd die Aussage der Sprechenden. Als sie einen Augenblick erschöpft
innehielt, wandte er sich zu dem Freunde und rief halb gereizt: Was sollen
wir glauben, Manuel, was soll ich dieser hier sagen? Sie will die Tochter
eines großen Emirs vom Rande der Wüste sein, nach räuberischen Überfall und
Mord der Ihren in das Frauengemach eines maurischen Prinzen entführt! Um
verhaßter Umarmung zu entgehen, sei sie vor drei Tagen entflohen und hoffe
nun Hilfe bei uns, den Fremden! Sie scheint nicht zu wissen, daß das Meer
zwischen hier und ihrer angeblichen Heimat rollt, und erzählt uns ein Märchen
nach der Weise der Frauen ihres Volkes. Soll ich sie mild oder hart auf¬
fordern, die Wahrheit zu sprechen?
Fragt sie zuerst, wie der Gebieter heißt, dessen Gunst sie flieht! versetzte
Barreto nachdrücklich und hörte, wie Camoens an die Maurin, die ihren schwarzen
Lockenkopf demütig gesenkt hatte, einige arabische Worte richtete. Sowie von
den Lippen der Fremden deutlich der Name Mulei Mohammed klang und der
Dichter fragend auf seinen Freund hinsah, brach der letztere los: Dachte ichs
doch! Die Arme lügt schwerlich — den erlauchten Mvhrenprinzen, den sie
nennt, haben wir als Gast in Portugal und, wie es scheint, sein Harem dazu.
Jetzt forscht weiter und sucht zu erfahren, was sich das unglückliche Geschöpf
bei seiner Flucht gedacht hat, wie sie hierher kommt und auf wessen Hilfe
sie hofft.
Camoens hatte sich schon wieder zu der schönen Maurin gewandt und
nahm alle arabischen Erinnerungen zusammen, um sich verständlich zu machen
und das Mädchen zu verstehen. Eine bewegte Wechselrede folgte, welcher Bar¬
reto und die kleine Ziegcnhirtin, trotz ihrer Unverständlichkeit, mit gespannter
Teilnahme lauschten. Camoens' Züge verrieten mit jedem Augenblick mehr, das;
ihm die Fremde die tiefste Teilnahme einflöße. Die Maurin selbst verharrte
in der ihrem Stamme eigentümlichen Ruhe, mit über der Brust gekreuzten
Armen hörte sie, was der Portugiese zu ihr sprach, in leisem Tone antwortete
und erzählte sie, und nur ihre Augen, bald von den dunkeln Wimpern halb
verschleiert, bald blitzartig aufleuchtend, offenbarten die Bewegungen ihres Innern.
Nach hundert Fragen und Antworten sagte Camoens endlich: Sie nennt sich
Esmah und ist wirklich in das Harem des Mulei Mohammed aufgenommen
worden und mit deu andern Frauen und Sklavinnen des Emirs in unser Land
gekommen. Sie scheint zuerst in Lissabon und neuerdings auch im Gebirge
gewesen zu sein —
In Pona Verba, das dem Infanten Dom Heurianes gehört, es ist alles
richtig, fiel Manuel Barreto ein, den grauen Knebelbart zausend.
Erklärt mir um Gotteswillen, Freund, wie der Mohrenprinz mit seinem
Harem in dies allergläubigste Königreich kommt! Er scheint hier Hof zu halten
lind Herr über Leben und Tod der Seinigen zu sein.
Gewiß, so verhält es sich! versetzte der Edelmann. Wir glauben mit ihm
den Angelhaken zu besitzen, der uus die Königreiche Fes und Marokko in die
Tasche zieht, und dulden darum, was wir sonst mit Feuer und Schwert aus¬
rotten möchten. Ein andermal davon, Freund Luis, jetzt berichtet, was Ihr
von der Armen erfahren habt.
Die Frauen waren streng bewacht, sie sahen nnr die schwarzen Verschnittnen
des Mulei, deu Esmah haßte und dessen Weib sie nicht werden wollte. Sie
hat darnach irgendwie in Erfahrung gebracht, daß sie hier in einem christlichen
Lande lebe und daß, wenn sie Christin werde, sie vor dem Emir und seinen
Wünschen geschützt sei. Sie ist entflohen in der verworrenen Hoffnung, daß
jeder Portugiese sie aufnehmen und schützen könne, und daß die Taufe um nächsten
Wasser bereit sei, Sie hat mit Mühe und während ihr die Verfolger schon
auf den Fersen waren, für die erste Nacht Aufnahme in einem Nonnenkloster
gefunden, aber die Schwestern haben sie mit guten Wünschen weitergeschickt, so¬
bald sie erfahren hatten, wer sie sei und was sie begehre. Dann ist die Ärmste
hungrig, mit blutenden Füßen zwei Tage über das Gebirge geirrt, hat niemand
gefunden, der ihre Sprache und ihre paar Worte Portugiesisch verstand, und
hat sich bor jedem nahenden Manne versteckt, als sei er ein Häscher Mulei Mo
hammeds! Erst unsrer kleinen Ziegenhirtin hier hat sie zu vertrauen gewagt, und.
jetzt bittet sie inständig um unsre, um Eure Hilfe, Barreto, da ich ihr gesagt,
daß ich ohne Euch wenig zu thun vermochte.
Mit wachsendem Ernst vernahm Herr Manuel die Worte des Freundes,
teilnehmend blickte er auf die junge Fremde; Joana, die von allem, was
Camoens sprach, nur das eine begriffen hatte, daß ihr seltsamer Gast in schwerer
Gefahr und hilfsbedürftig sei, erhob bittend ihre brannen Hände, der Edelmann
aber verharrte längere Zeit in überlegendem Schweigen, Endlich hub er an:
Da wird schwer zu helfen sein! Selbst wenn wir einen Priester finden,
der die Gefluchtete ohne lange Vorbereitungen tauft, wird sie eine Zeit lang
verborgen bleiben müssen, und ich weiß nicht, ob mein Gut der rechte Platz
dazu wäre. Doch gälte es den Versuch! Zunächst aber mußt du das Beste
thun, Jonna! Du mußt die Arme zwei oder drei Tage hier behalten, mußt
sie in deiner Hütte versteckt halten. Hier herauf gelangen die Späher des
Mohrcnprinzen schwerlich. Inzwischen aber läßt sich überlegen, was weiter
zu thun ist. Hast du Brot für dich und sie für einige Tage?
Kann, genug, edler Herr, versetzte die Hirtin schüchtern, Sancho Perez
der Klosterschaffner sendet mir jeden Samstag mit einem Knaben, was für die
Woche für mich reicht, es ist nicht für zwei zugemessen, doch teile ich mit der
armen Fremden gern, was ich habe.
Wir werden dir durch einen Burschen oder eine Alte, auf deren Ver¬
schwiegenheit ich mich verlassen kann, Brot und Datteln und etwas Wein herauf¬
schicken, erwiederte Manuel Barreto. Inzwischen ist es gut, wenn sich Esmcch
soviel als möglich unter deinem Strohdach hält, Joana! Mau wird sie nicht
bei dir suchen, aber auch dem schlimmen Zufall darf man keine Hand bieten.
Und jetzt, Freund Luis, laßt uus an unsern Weg und an unser Vorhaben in
Cintra denken. Die Sorge, ohne die der Mensch nicht leicht eine Straße ein¬
schlägt, haben wir uns ja aufgeladen! Sagt der schöne» Spröden, daß wir
ihr helfen Wollen, so gut wir es vermögen, und daß sie hier für den Augen¬
blick am sichersten sei. Selbst im äußersten Falle können sie Joana nichts an¬
haben, welche die Fremde nicht versteht und nicht zu wissen braucht, wer diese ist.
''
Canoeus wandte sich abermals zu der jungen Maurin und wiederholte
ihr in arabischer Sprache, was Barreto riet und anordnete. Esmcch gab durch
dankende Blicke und wiederholte Verneigungen gegen den Edelmann zu erkennen,
daß sie gehorchen und dem gütigen Helfer völlig vertrauen wolle, Joana
reichte sie dabei die Hand und beteuerte gegen Camoens, daß sie sich nicht
scheue, mit der hilfreichen jungen Ziegeuhirtin viele Tage allein zu sein. Ihre
innigen Dankesworte blieben ernst und kurz und bestärkte» den Dichter in der
Überzeugung, daß die Flüchtige aus edeln Stamme und, in der Weise ihres
Volkes, von edler Bildung sei. Er schied nur zögernd von der schönen Be¬
drängten und schaute, als Barreto schon wieder seitwärts vom Absturz des
Baches hiuabzuklimmen begann, wiederholt nach der Hütte zurück, wo die Maurin
jetzt mit der Linken den Nacken der kleinen Joana umschlungen hielt. Die
Sonne, die schon niederging, wob ihre letzten Strahlen wie einen Glorienschein
um die gleich dunkeln und doch so verschiednen Häupter beider Mädchen —
Camoens sah mit wundersamer Empfindung auf die Gestalten zurück, von denen
er vor kaum einer Stunde noch nichts geahnt hatte und die für ihn und Barreto
nun schon ein Stück Schicksal geworden waren.
Der Rückweg zu den Korkeichen, unter denen ihre Tiere grasten, war nicht
leichter als das Niedersteigen an einem steilen Wall. Manuel Barreto hatte
bereits festen Boden erreicht und ermutigte den Gefährten, ihm rascher zu
folgen. Lachend versuchte Camoens einige Sprünge und ward dabei inne, daß
seine jugendliche Gewandtheit noch uicht völlig geschwunden sei; die Heiterkeit,
mit welcher Herr Manuel ihm zuschaute und ihn unter den Eichen empfing,
zwang ihm selbst ein fröhliches Lachen ab.
Und jetzt in den Sattel, Freund! rief der Edelmann, nachdem er und
Camoens ein wenig Atem geschöpft hatten. Wir müssen trachten, vor Abend
nach Cintra hinabzukommen, die Herberge unsers alten Steuermannes ist, seit
der König in Cintra Hof hält, bei Sonnenuntergang oft genug überfüllt, und
wir würden uns in keinem andern Hause so wohl fühlen als gerade dort!
Barretos Pferd stand auf einen kurzen Pfiff schon neben seinem Herrn;
Camoens hingegen mußte sein weidendes Maultier, das die Zügel nachschleifte,
erst einfangen und herzuführen. Mit portugiesischer .Höflichkeit bot Herr
Manuel dem Genüssen sein Roß an und stieg nicht eher in den Bügel, als bis
Camoens dankend den Tausch abgelehnt und sich auf sein Maultier geschwungen
hatte. Und nun verließen sie die schattige Schlucht, mehr mit der Begebenheit
der letzten Stunde als mit ihrem unverhofften Wiedersehen beschäftigt. War
es doch, als sie draußen den Pfad erreichten, den jeder von ihnen allein
emporgekommen war, beiden Männer zu Mute, als wären sie schon wieder
jahrelang beisammen.
Die Freunde ritten nun, dicht aneinander gedrängt, auf dem schmalen Fels¬
wege, das Städtchen Cintra zu Füßen. Der Pfad, der abwechselnd steil anstieg
und sich wiederum rasch senkte, bog bald um einen Vorsprung des Gebirges und
führte dann an Schluchten entlang, die überall einen Nest alten Waldes bargen,
am Kloster San Joao vorüber, an dessen Pforte Camoens diesen Morgen
umsonst gepocht und von dem er sich aufwärts gegen Santa Cruz gewendet
hatte. Jetzt schien er so gefesselt von dem Blick in das Thal, das zur Hälfte
schon im Schatten, nur gegen West noch im Lichte der niedergehenden Sonne lag,
daß er das Kloster garnicht wahrnahm und daß Barrcto sein Schweigen endlich
brechen mußte. Er lenkte den Blick des Freundes von der goldschimmernden
Kuppel der Erlöserkirche und den langgestreckten Mauern des Königsschlosses,
welche auf den gegenüber liegenden Hügeln sichtbar waren, auf die dunkelblaue,
vielgezacktc Bergkette im Hintergründe, um die sich schwere purpurne Wolken
lagerten. Erinnert Ihr Euch, sagte er, des Spätnachmittags, da wir vom
Sturm von Dharwar heimkehrten und den Bergzug über Goa uus gegenüber
hatten? Die roten Wolken, die sich dort drängen, sehen aus wie alte Bekannte
aus Indien, und mir ist, als wären sie uns übers Meer nachgefolgt, um
uns unsre Gedanken von damals wieder zuzutragen. Wißt Ihr noch, wie wir
über die Rätsel des Weltlnnfs sprachen und Ihr Euch umsonst unstet, zu er¬
gründen, warum dasselbe Ding einmal Recht und das andremal Verbrechen
sei? Mich dünkt, wir können unser Gespräch von damals hier fortsetzen. Was
meint Ihr zu der Geschichte der Maurin, die wir dort oben verlassen haben?
Ist sie nicht ein ganzes Stück Weltlauf? Vor fünfzig Jahren, da unsre spanischen
Nachbarn bei weitem noch nicht so fromm waren, als wir heute sind, haben
sie den armen Tropf, den Inka Atcihualpa von Peru, der in seinem Leben
nichts von unsern Sitten und Gesetzen gewußt hatte, wegen Vielweiberei er¬
drosselt. Und heute bieten sie die Alguazils des allergläubigsten Portugal auf,
um dem marokkanischen Emir ein entflohenes Mädchen in sein Harem zurück¬
zuschaffen, den er im Palast des strengen Königs Sebastian hält.
Verzeiht, mein Freund, mich kümmert heute das Schicksal der Armen mehr
als aller Weltlauf! erwiederte Camoens. Ihr bezeugtet nicht allzugroße Lust,
sie durch die Taufe vor ihren Verfolgern sicherzustellen?
Nein, wahrlich nein! versetzte Herr Manuel kurz. Wie sich der König zu
Mulei Mohammed gestellt hat, ists noch die Frage, ob wir leicht einen willigen
Priester finden würden, der dem Zorn des Königs trotzt. Wenn aber auch — wer
sagt Euch, daß diese Rettung nicht das Verderben der jungen Esmah wird?
Meint Ihr im Ernst, daß das Taufwasser alle Gewohnheiten und Gebräuche
des Maurenkindes wegwaschen wird? Die Inquisition ist wachsam, beinahe
allwissend und wenn ihr die neue Christin von vornherein zur besondern Für¬
sorge empfohlen wird, so könnte es leicht geschehen, daß der Mohrenprinz seine
Rache durch deu Arm des heiligen Amtes erhielte.
Ihr sprecht bitter und fast finster! rief Camoens. Ihr seid, wie ich aus
allem merke, mit dem Regiment unsers jungen Königs wenig einverstanden und
vielleicht durch den Undank gekränkt, mit welchem den alten Kämpfer» für die
Krone begegnet wird,
Barreto machte eine leicht abwehrende Bewegung, Ich denke nicht daran,
Luis! Der wäre ein Narr, der forderte, daß ein nachlebendes Geschlecht sich an
Thaten und Leiden seiner Vorgänger erinnern sollte; auch hat mir Gott
gegönnt, daß ich ohne Not und in völliger Ruhe meinem letzten Tage entgegen
lebe! Was mich bekümmert, ist nicht mein Schicksal, sondern das meines Volkes!
Ich bin an Bord eines Schiffes, das rasende trunkne Steuerleute Mische«
Klippen und auf die Klippen lenken. Denkt Ihr anders darüber, so laßt uns
von andern Dingen sprechen, ich habe mich gewöhnt zu schweigen und meinte
es nur unsrer alten Freundschaft schuldig zu sein, Euch nichts zu verhehlen.
Der Dichter neigte sich nachdenklich auf den Hals seines Tieres und wich
dem prüfenden Blicke Barretos aus, Ihr sprecht in Rätseln für mich, Manuel —
Ihr müßt mir die Lösung selbst geben. Ich kehre aus Indien heim und habe
mich noch kaum zurecht gefunden, ich spüre nnr, daß eine andre Luft durch
Portugal weht als vor einem Vierteljahrhundert. Ich meine, daß König Se¬
bastian die ruhmreichen Vorfahren überstrahlen will, und hoffe, daß Gott ihm
sein Heldentum gönnen wird. Dabei aber merke ich und nie mehr als heute
an Euch, daß viele an der Kraft und der glücklichen Hand des Königs zweifeln,
und ich fürchte, Ihr gehört auch zu ihnen.
Ihr habt Recht, bei Gott, ich zweifle an allem, was ihn seine Leiter be¬
ginnen lassen, und mißtraue allem, was ihm seine Ratgeber ins Ohr flüstern.
Aus dem Portugal unsrer Jugend ist ein Land geworden, das reif ist zum
Falle! Mit nagender Sorge sehe ich, daß sie den König in einem ruhmrediger
Kreuzritter verwandeln, der auf nie erhörte Abenteuer sinnt. Die Pläne, die
der trotzige Knabe zu hegen vermeint, sind im Escurial geschmiedet — die Väter
der Gesellschaft Jesu verstehen sich auf jede Kunst und wissen auch Briefe zu
tragen, die ungeschrieben bleiben. Ihr werdet den König sehen, vielleicht hören,
dann sagt mir, ob ich ihm zu viel thue und ob meine Sorge eine eitle ist.
Senhor Manuel — Ihr, der Krieger von Ormus und Pantschim! — zweifelt
daran, daß die Portugiesen neue Siege zu den alten fügen werden?
Warum sollte die Zahl unsrer unfruchtbaren Siege nicht vermehrt werden?
fragte Barreto ruhig dagegen. Wir bedürfen ihrer nicht und huben jedes Um
glück zu fürchten! Portugal ist verarmt, wir können Herren des Meeres und
der Küsten, aber nicht Herren der Erde sein. Unser Volk ist tapfer, doch nicht
zahlreich, und die Eroberungen in Afrika und Indien haben das Land stark ent¬
völkert! Wir leben nicht auf einer seligen Insel, weit draußen in der Atlantis,
sondern haben den Koloß der spanischen Weltmacht drohend uns zu Häupten.
Ihr tragt ja jeden Tag unsrer Geschichte und jedes Schicksal unsers Volkes in
der Seele, wie ein Vater die Erlebnisse und Geschicke seines Kindes, meint Ihr,
daß wir von Madrid her je gutes zu erwarten haben? Setzt den Fall, daß
unser König mit dem größten Teile der wehrfähigen Mannschaft vor Fes liegt
oder sonst einer Stadt, die der Wüste näher ist als dem heimatlichen Meere,
daß hier ein Grenzstreit entsteht daß im Norden des Königreiches irgendein
thörichter Lärm oder Aufruhr, den man mit Gold hervorrufen kann, zum Aus¬
druck) kommt, zweifelt Ihr an der Einmischung Spaniens? Und zuletzt: unser
König ist unvermählt, der glorreiche Stamm Manuels des Großen steht auf
seinen zwei Augen! Wenn den König, den seine geistlichen Ratgeber so schlachten-
durstig machen, ein Kriegerschicksal träfe, so wurde es der Hof von Madrid an
glänzendem Trauergepränge nicht fehlen lassen, aber glaubt Ihr, Freund Luis,
daß König Philipp und die Seinen im geheimen Staatsrate auch trauern würden?
Der Edelmann hatte leidenschaftlich gesprochen, sein Ton war immer rauher
geworden, er überließ es dem Begleiter, seine letzten Gedanken zu erraten. Und
er lächelte bitter, als Camoens bei der nächsten Biegung des Pfades, den sie
hinabritten, unwillkürlich um sich blickte, ob niemand ihr Gespräch belauscht
habe. Habt Ihr auch schon gemerkt, daß es hier gilt, die Zunge im Zaum
zu halten, und daß es Gefahr bringen kann, wenn sie sich nicht schmiegt, wie
sie es ;etzt in Cvimbra lehren? Wer an den afrikanischen Plänen des Königs
zweifelt oder die Vermählung Dom Sebastians um des Landes Willen fordert,
ist ein gefährlicher Mensch, beleidigt nicht nur die geheiligte Majestät, sondern
vor allem die heilige Kirche. Von dem Kloster zu Belem und dem großen Ordcus-
hause der heiligen Väter der Gesellschaft Jesu zieht ein schlimmer Hauch über
das Königreich hin — Gott schütze Portugal! (Fortsetzung folgt.)
Wirkungen der Zollreform — der Zollreaktion, sage» die Freihändler,
welche von den betreffenden Gesetzen allerlei arge Folgen prophezeiten und sich
jetzt bemühen, den Nachweis zu führen, daß ihre Weissagungen eingetroffen seien.
Von andrer Seite wird behauptet, das Gegenteil sei der Fall, und wenn das im
wesentlichen auch von Ausländern bestätigt wird, und zwar von solchen, die ihr
Auftrag zu möglichst gründlicher und unparteiischer Prüfung der Angelegenheit
verpflichtet, und deren Regierungen fich zu nichts weniger als schutzzöllnerischeu
Grundsätzen bekennen, so muß uns es Wohl als gut bezeugt und bestätigt gelten.
Der Zweck jener Gesetze war, die Anwendung der Prinzipien des Freihandels auf
das deutsche Reich maßvoll und mit Berücksichtigung aller Beteiligte» einzig so¬
weit einzuschränken, als Industrie und Landwirtschaft gegenüber dem Wettbewerb
übermächtiger Nachbarländer Schutz bedurften, um bestehen und sich weiter entwickeln
zu können. Hat das heilsam gewirkt oder nicht? Herr Strachey, der englische
Geschäftsträger am Dresdner Hofe, hat seiner Regierung einen Bericht erstattet,
von dein niemand sagen kann, daß er zu einer Verneinung der Frage Material
liefere. Dieser mit ebensoviel Sachkenntnis als Gewissenhaftigkeit verfaßte Ueberblick
enthält ein sehr reiches Detail, mit dem er sowohl für den Staatsmann als für
die Geschäftswelt eine ungewöhnlich wertvolle Belehrung und Aufklärung bietet.
Der genannte britische Diplomat Prüft an der Hand seiner Studien nach einander
alle Zweige des deutschen Gewerbfleißes, zunächst die Eisen- und Stahlindustrie,
dann die Textilbranche, die Weberei in Baumwolle, Wolle, Leinen und Jute, ferner
Spitzen, Seide, Asbest, Chemikalien, Leder, Glas, Pianos und schließlich die Er¬
zeugnisse der Landwirtschaft, und jedes von seinen Kapiteln zeigt, daß eine fleißige
und sorgfältige Untersuchung ihn in deu Stand gesetzt hat, ein giltiges Urteil über
die Wirkungen der Tnrifveränderungcn auf jene Gebiete unsers wirtschaftlichen
Lebens und die Stellung desselben zu deu ausländischen Rivalen abzugeben. Und
was sind seine Ergebnisse? Die Fabrikation von Jutewaaren ist durch deu Tarif
von 1879 fast geradezu vor dem Absterbe» bewahrt worden, die von Wollen¬
stoffen und Strnmpfwaaren dankt ihm weniger, die von Seidenzeugen nichts.
Die Baumwollenspinner haben sich bereichert, und es ist der Grund zum Be¬
triebe neuer Zweige dieser Art gelegt worden. Ans dem Gebiete der me¬
tallurgischen Erzeugnisse sind die Hochöfen meist durch die Hilfe des Staates im
Brande geblieben, die Eisenwaaren haben gewonnen, während der Maschinenbau
mit eignen Kräften gediehen ist. „Nirgends in Deutschland sind Anzeichen eines
Beginnes jener freihändlerischen Reaktion zu gewahren, die, wie manche Leute meinen,
in andern schntzzöllnerischen Ländern sich zu regen anfängt. Im Gegenteil ist der
Glaube weit verbreitet, daß der Tarif von 1879 Deutschland vor einem großen
Ruin gerettet habe, und daß das Reich sich jetzt auf dein Wege zu industrieller
Größe und vielleicht zur Nachfolge in jener Hegemonie befinde, die Großbritannien
jetzt, wie man behauptet, noch in Händen hat."
Fragen wir, in welchem Umfange die deutschen Fabrikanten mit den englischen
rivalisiren und ans welchen Märkten sie der Hegemonie der letztern den Rang ab¬
zulaufen versuche», so antwortet jeder Industriezweig nach seinen besondern Er¬
fahrungen. Indem Stracheys Bericht von Krupps „Meeren flüssigen Stahls"
spricht, erörtert er die angebliche Verschlechterung des schottischen Gußeisens, die er
mit der Thatsache erklärt, daß der „unvergleichliche schwarze Baudeiseustein" fast
erschöpft ist und in den schottischen Hochöfen vielfach durch geringeres Rohmaterial
ersetzt wird. Dagegen siud uach Strachey die westfälische» Eisenfabrikanten denen
von Middlesborongh und Glasgow in der Bauart ihrer Oefen und in der Technik
überlegen, und er erzählt, daß Engländer, die vor vier Jahren den Nuterrhein
besucht haben, die „unbefireitbaren technischen Vorzüge der dortigen Eisenwerke, vor
den englische» anerkannt und dabei bemerkt hätte», mit den letzter» befinde man sich
noch in deu Fesseln des Empirismus." Von der Rivalität der Messerschmiedewaareu
Sheffields und der dentschen bemerkt Strachey, die letztem seien hierbei durch
niedrige Löhne und Frachten, aber auch durch Zolle begünstigt. Diesen Umständen
schreibt er auch die Auswanderung englischer Kapitalisten zu, die in Deutschland
Fabriken von Webwanrcu angelegt haben, welche früher in Aorkshire und andern eng¬
lischen Bezirken fabrizirt wurden. Aehnliches führt Strachey aus andern Gebieten der
Gelverbthätigkeit an, und die Moral seiner Allseinandersetzung ist: der britische
Fabrikant hat einige seiner frühern Vorzüge und Vorteile eingebüßt, seine Rivalen
in Deutschland arbeiten vielfach leichter und wohlfeiler als er, er ist weniger er¬
finderisch, beweglich und schmiegsam gegenüber deu Umständen und ihrem Wechsel
als der deutsche Nebenbuhler, der ihm auch an technischer und chemischer Kenntnis
überlegen ist, und dem schließlich Schutzzölle helfend und fördernd an die Seite
getreten sind.
Kunst und Religion.. Aus Wien wird uns geschrieben: Fast könnte man
an der vielbewährten Klugheit unsrer Frommen irre werden. Sie haben kaum die
Erfahrung gemacht, daß ihr Eifern gegen die in jeden: Sinne elenden Machwerke
des russischen Malers Wereschagin diesen zu einem großen „Erfolge" verholfen
haben, und schon schicken sie sich an, dem Maler der Bertha Rother den gleichen
Dienst zu erweisen. Daß ohne den in der klerikalen Presse, ans den Kanzeln und
vor den Kirchenthüren erhobnen Lärm die Bilder Wereschagins ohne Sang und
Klang an dem Wiener Publikum vorübergegangen wären, läßt sich mit aller Be¬
stimmtheit behaupten. Es wird zwei Jahre her sein, daß die Schildereien aus
dem letzten russisch-türkischen Kriege Aufsehen machten, und das war nicht aus-
schießlich das Werk der überaus thätigen Reklame. Die Sachen waren geeignet, heut¬
zutage „Sensation" zu machen, sie verbreiteten, wie treffend bemerkt wurde, Leichen-
geruch und blendeten durch außerordentliche Virtuosität. Als aber der Maler dann
eine neue Serie brachte, stand man seiner Eigenart schon kühler gegenüber. Die
Ansichten von indischen Bauten ließen wohl wieder das große technische Geschick be¬
wundern, mit welchem er die Fassaden aus weißem Marmor im roten Sonnenlichte
wiedergegeben hat, allein man kannte diese photographische Treue ja schon und ver¬
mißte nicht nur die poetische Auffassung, sondern auch eine wahrhaft malerische
Kraft: sein Himmel wölbt sich uicht, sein Wasser fließt und spiegelt nicht, und Luft¬
perspektive scheint ihm unbekannt zu sein. Man belächelte die winzigen Skizzen in
vier- bis sechsmal so breiten Gvldrnhmen und die Arbeiten ans der Zeichenschnle,
welche, wohl zu Nutzen und Frommen der Kunsthistoriker, vollzählig mit zur Aus¬
stellung gebracht worden waren. Und Wereschagin selbst mochte gefühlt haben, daß
diese zweite Borführung gegen die erste abfallen müsse; daher das panoramenmäßige
Arrangement mit elektrischer Beleuchtung, der ungeheure Apparat von riesigen in¬
dischen Teppichen u. dergl. in. Genug, die müßigen Leute stritten mehr darüber,
welche voir den vier Silben seines Namens den Ton habe, als über den Wert
seiner Malerei; und darüber, daß das Schlechteste in der ganzen Ausstellung die
Bilder zu Stoffen aus der Evangeliengeschichte seien, war alle Welt einig. Man
lachte oder man wandte sich voll Widerwillen ab von der „realistischen" Auferstehung
und von der polnischen Judenfamilie, welche für die heilige Familie ausgegeben
wird. Da fiel es Plötzlich einigen Frommen ein, daß es Religionsstörung sei, von
Brüdern Jesu zu sprechen, der Erzbischof erließ, dein Drängen nachgebend, eine
Wnrnnng an die Gläubigen, es wurde gegen die Bilder gepredigt, in Zeitungen
und Flugblättern agitirt, und die natürliche Folge war, daß die Gewarnten in das
Künstlerhaus eilten, um zu sehen, ob die Sache wirklich so schlimm sei. Zum
Schluß spritzte ein in seinem Glauben beunruhigter Vitriol auf das eine Bild, ein
andrer scheint vor demselben von religiösem Wahnsinne ergriffen worden zu sein,
und — Herr Wereschagin kommt sich, seiner Rechtfertigung zufolge, nun wie eine
höchst wichtige Persönlichkeit vor!
Da die Bilder, welche jetzt nach Pest wandern, möglicherweise auch andern
Städten nicht vorenthalten werden und daun zu einer, wenn auch weniger leiden¬
schaftliche», Aufwärmung der Kontroverse Anlaß geben können, wollen wir hier
bemerken, daß in Lehrers vor vier Jahren erschienenen Werke über die Marien-
Verehrung das gesamte Material über die Geschwister Jesu zu finden ist, die An-
sichten des Tertullian, des Origenes. der „Antidikomarianiteu" it. s, w. (S. 92 ff.).
Hätten die Frommen dort nachgelesen, so würden sie sich und uns „viel Lärm um
nichts" erspart haben.
Aber sie scheinen, wie gesagt, nichts lernen zu wollen, da sie auch die Aus¬
stellung der Gräfschen Bilder zu einem Ereignis aufbauschen. Der Berliner Unter¬
nehmer, dem wir diesen Genuß verdanken, soll die Absicht gehabt haben, das Modell
des Malers in Person an die Kasse zu setzen, soll aber daran durch die Polizei
verhindert worden sein. Es war mich nicht nötig, diesem Unternehmen dadurch
noch den letzten Stempel aufzudrücken. Die Bilder sind so mittelmäßiger Art, die
Einreihung des Porträts des Verfertigers „im Kostüm Tizians" und einer „im
Gefängnis gemalten" Skizze — ein Jüngling, der von einem „märchenhaften" Irrlicht
in den Sumpf gelockt wird — macht das Ganze zu eiuer so abgeschmackte» Posse, daß
man den vulgären Liberalismus diese Beschämung ungestört hätte auskosten lassen
sollen. Denn auch hier war natürlich lebhaft Partei ergriffen worden für die „Freiheit"
der Kunst und der Künstler, war der Kernpunkt des berüchtigten Prozesses gänzlich
ignorirt worden, und man hatte über das einzige Tröstliche in dem untröstlicher
Handel, die Erklärung der Berliner Künstlerschaft, spöttisch die Achseln gezuckt.
War man sich doch bewußt, wenigstens auf derselben Hohe sittlicher Weltanschauung
zu stehen wie Paul Lindau. Wenn an der Akademie eine Professur frei wäre,
hätte uns der Vorschlag, Herrn Graf zu berufen, nicht in Erstaunen versetzt. Und
nnn der kalte Guß dieser Ausstellung! Doch die Frommen verlassen die Frei¬
sinnigen nicht, sie zetern dermaßen über die Gott- und Schamlosigkeit der Gräfschen
Bilder, schreien so laut uach der Polizei, daß uicht uur Gevatter Schneider und Hand¬
schuhmacher sich tummeln, das sündhafte Schauspiel zu genießen, bevor es etwa ver¬
boten würde. Wenn noch Dankbarkeit unter den Menschen wäre, müßte dem
„Vaterland" eine, Tantieme von dem Ertrage der Ausstellung bewilligt werdeu.
Eine originelle Gesellschaft. Von achtundvierzig Staatsmännern, Ge¬
lehrten und Schriftstellern, namhaften, nnmeulosen und — „mittleren," einem Kreise,
so bunt, wie ihn nur jemals die Mitarbeitcrliste eiuer neuen Zeitschrift ausgewiesen
hat, ergeht die Einladung zum Eintritt in eine Gesellschaft, welche sich „Deutsche
Revue-Gesellschaft" nennt. Unterzeichnet sind vier gewesene und zwei aktive Minister,
ferner neben Gneist — Mnx Norden, neben Moleschott — Ossip Schubin, neben
Döllinger ein Redakteur der „Neuen freien Presse" u. s. f. Und diese Herren haben
eine „Revue-Gesellschaft" gegründet? Wollen sie, da auch zwei Generale z. D. mit
ihnen halten, das Interesse des deutscheu Volkes an militärischen Schauspielen be¬
leben oder etwa die deutscheu Zustände Revue pnssiren lassen? Keins von beiden;
derartige Mißverständnisse sind lediglich dnrch das Wegbleiben eines Bindczeichens
ermöglicht. Es sollte nämlich heißen .„Deutsche-Revue-Gesellschaft," da deren Zweck
die Erhöhung der Abonnentenzahl der Monatsschrift „Deutsche Revue" ist. Die
Pflichten der Mitglieder dieser originellen Gesellschaft bestehen im Abonnentensammeln,
die Rechte in dem Empfang eines Freiexemplars auf fünf bezahlte. So schön diese
Aufgabe aber ist. so soll sich die Gesellschaft mit derselben noch nicht begnügen.
Ein Fünftel des Reingewinnes der Zeitschrift soll von 188K der Gesellschaft zu¬
fließen, welche dadurch die Mittel zu gewinnen hofft, um „ l. hilfsbedürftigen und
verdienten Vertretern der Wissenschaft, Literatur und Kunst Unterstützungen in mög¬
lichst reichem Maße zu gewähre«; 2. wertvolle wissenschaftliche, liternrische und künst¬
lerische Arbeiten und Leistungen materiell zu unterstützen oder zu belohnen; 3. Bei¬
trüge zur Förderung neuer wichtiger Erfindungen und Forschungsreisen zu ge-
währen." Gewiß eine großartige Idee! Nehmen wir z. B. an, daß in einem Jahre
nach Abzug der Redaktions- und Mitnrbeiterhvnorare, der Druck- und Expeditions-
kostcn?c. 3000 Mark erübrigt würden, so könnte die Gesellschaft baare 600 Mark
zu Unterstützungen und — wie es an andrer Stelle heißt — „zu idealen Zwecken"
aufwenden. Von der Deckung eines etwaigen Defizits ist, wie ausdrücklich hervor¬
gehoben werden muß, die Gesellschaft nicht bedroht.
Wenn auch Dank der Fürsorge und weitsichtigen Politik der Reichsregiernng
die sozialpolitischen Fragen nunmehr zum Gemeingut der deutschen Nation geworden
sind, so hat doch die Bewegung selbst aus den Arbeitskreisen ihren auf die Staats¬
gewalten einwirkenden Einfluß genommen. Der lebenden Generation sind zum
großen Teile nur die Fluktuationen der letzten zwei Jahrzehnte in der Erinnerung,
seit Lassalle es verstanden hat, eine Arbeiteragitatiou in großem Stile zu organi-
siren, und seit das allgemeine Stimmrecht die latenten Kräfte genötigt hat, an der
Oberfläche zu erscheinen. Es ist deshalb gewiß von Interesse, den Anfängen dieser
großen Bewegung nachzugehen, nicht bloß um der geschichtlichen Wahrheit willen,
sondern auch um desto eingehender die gegenwärtige Lage beurteilen zu können.
Der Verfasser, welcher sich dieses Ziel gesetzt hat, hat deshalb ein sehr dankens¬
wertes Werk unternommen, welches umsomehr Anerkennung verdient, als es infolge
des vielfach zerstreuten und schwer Angänglichen Materials anch ein sehr mühevolles
Unternehmen war. Er hat alles zusammen getragen, was er aus den Schriften,
Broschüren und Berichten der einzelnen Perioden, zum Teil auch aus ungedruckten
Tagebüchern hat erlangen können; er hat gleichzeitig die bestimmenden und einflu߬
reichen Theorien kurz dargestellt und so die einzelnen Epochen nicht nur zu schildern,
sondern auch zu erklären gesucht. Trotzdem darf mau nicht erwarten, daß sich die
einzelnen Perioden wie die Ketten einer ununterbrochnem Reihe aneinander schließen.
Es sind immer nur dieselben Männer und ihre Schiller, welche an verschiednen
Orten und zu verschiednett Zeiten mit neuen Versuchen nnftreten, ihre zum Teil
unsinnigen, zum Teil naiven und zum Teil verbrecherischen Ziele zu verwirklichen.
Es hat auch in dieser ersten etwa mit dem Jahre 1850 abschließenden Epoche sich
das Verhältnis zwischen den politischen und sozialistische» Bestrebungen noch nicht
geklärt, bald bekämpfen sie sich gegenseitig, bald vereinigen sie sich wieder, bis der
Einfluß von Karl Marx das gegenwärtige System inaugurirte. Es fehlt ferner
in dieser Periode den Reformern und Umstürzlern an einer gemeinsamen Organi¬
sation; sie stehen nur in einer theoretischen und losen Verbindung zu einander,
sodaß, wenn einmal praktische Ziele unternommen werden, dieselben kläglich ver-
laufen. Es wird über aufs klarste bestätigt, daß von Anfang diese Bewegung in
eine immer abschüssigere Bahn geriet, und daß ihr Endziel doch nur die Anarchie
heilt kann. Eben deshalb ist dies Buch auch eine Mahnung für die Gegenwart,
da sich diese nur zu leicht über die Gefahr täuscht und, ihres augenblicklichen Be¬
sitzes sicher, um politische Phantome kämpft und so die Reihen derer schwächt, welche
gegen den gemeinsamen Feind Front machen sollten. Die preußische Regierung hat
schon bei Beginn der Bewegung einzelne schüchterne Versuche gemacht, derselben,
soweit ihre Forderungen berechtigt waren, entgegenzukommen; es waren dies damals
kleinpolitische Manöver, mit welchen nur die liberale Opposition zu unterdrücken
glaubte. Heute ist die „soziale Frage" Gegenstand der Reichspolitik geworden und
ist in der Hand eines genialen, energischen und zielbewußter Mannes; wir können
mit solchen Mitteln auch auf andre Erfolge rechnen.
Der Verfasser giebt zum Schlüsse noch einige allgemeine Betrachtungen, die
nach unsrer Meinung nicht immer seinen Untersuchungen entsprechen; zuweilen haben
wir auch für manche Theorien und Anschauungen eine größere Billigung gefunden,
als sie vom staatserhaltenden Gesichtspunkte aus gerechtfertigt ist.
Nachdem die Freunde der Afrikaforschung bereits im Dezembcrhefte des Jahr¬
ganges 1884 der I'roeöväinM den summarischen Bericht erhalten hatten, welchen
Thomson in der Nvvembersitzung der Königlichen Geographischen Gesellschaft in
London über seine in deren Auftrage zum Kilima-Ndjaro, Kenia und Victvrin-
Njansa unternommene Expedition erstattete, hat der kühne Reisende demselben eine
ausführliche Reisebeschreibung folgen lassen, welche dank der Fürsorge der Brock-
hcmsscheu Verlagsbuchhandlung bereits auch in deutscher Uebersetzung vorliegt.
Thomson, der bis zum Alter von sechsundzwanzig Jnhreu schon drei verschiedne
Expeditionen ins Innere von Afrika geführt hat und jedenfalls nicht zu der großen
Spezies der Lehrstuhl-Geographen gehört, hat diese Ausarbeitungen, wie er selber
gesteht, mit einer gewissen Selbstüberwindung gemacht. Umsomehr ist ihm die
geographische Wissenschaft dafür zum Danke verpflichtet, zumal da ja sein Werk,
ohne den Verdiensten Johnstons und unsers Landsmannes Dr. Fischer zu nahe zu
treten, als der bedeutendste Beitrag zur Geographie Ostafrikas aus den letzten
Jahren bezeichnet werden muß.
Jedermann, der sich mit der Geschichte der Erforschung des dunkeln Erdteils
einigermaßen vertraut gemacht hat, weiß, daß erst im Jahre 1842 ein ernsthafter
Versuch gemacht wurde, vou dem nördlich von Sansibar befindlichen Mombas aus
in das westlich davon gelegene Innere vorzustoßen. Zwei im Dienste der englischen
Missionsgesellschaft stehende Würtenberger, Dr. Krapf und sein Kollege Rebmann,
waren es, welche durch ihre kühnen und abenteuerlichen Reisen zwar nicht die er¬
wartete Seelenernte fanden, wohl aber durch ihre Nachrichten von den großen
Schneebergen der weitern Entdeckung einem bisher nicht genug gewürdigte« Anstoß
gaben. Im Anfang der sechziger Jahre besuchte dann der hmmoversche Baron
von der Decken in Gesellschaft eines jungen Geologen Thornton den Kilima-Ndjaro
und veröffentlichte zuerst eine Karte dieser Gegend von einiger wissenschaftlichen
Genauigkeit. Darauf bestieg der Missionar New den Kilima-Ndjaro und erreichte,
so viel man weiß, jüngst die Schneegrenze. Mit dem Naturforscher Hildebrandt
schloß 1877 die Reihe der Reisenden in jenen Regionen. Es schien nach den ge¬
machten Übeln Erfahrungen unmöglich, aus direkter Wahrnehmung die Gegenden
jenseits des Kilima-Ndjaro bis zu den großen Seen genauer kennen zu lernen.
Denn hinter jenen Bergen begann das Gebiet eines ebenso zahlreichen als kriege¬
rischen Volksstammes, der Massai, welche nicht allein durch ihre steten Rand- und
Mordzüge die Geißel des ganzen Landes um diese Lande herum geworden waren,
sondern auch bisher keiner von Europäern geführten Karawane den Eintritt oder
Durchzug durch ihr Gebiet gewährt hatten,
Dennoch mußten zwei Umstände immer wieder dazu mahnen, von Mombas
aus durch das Massai-Laud nach Westen vorzuoriugeu. Nachdem einmal die Eng¬
länder Burton und Speke von Sansibar aus den Tanganjika-See und darauf sich
nordwärts wendend die.hinter dem Kilima-Ndjaro und Kenia vermuteten großen
Seen, den Victoria? und Albert-Njansa, entdeckt und somit das große Rätsel der
Nilqnellen gelöst hatten, war es von selbst geboten, den nächsten Weg von der
Ostküste nach jenem großen Seebecken zu finden. Es war das umso wünschens¬
werter, als man dnrch die früheren bis zum Kilima-Ndjaro vorgedrnngnen Ex¬
peditionen die Gewißheit hatte, daß der Weg von Mombas bis dorthin, im Gegen¬
satz zu den von Sansibar und Bahnmvho ausgehenden sicher- und todbringenden
Karawanenstraßen, durch ein im ganzen wasserarmes, dürres Land führe, welches
den Reisende» gestattet, den Fuß jener Berge mit ungeschwächten Kräften zu
betreten.
Man darf nun zwar mit Recht, wenn man Thomsons Buch gelesen hat,
daran zweifeln, daß es ihm gelungen sei, „eine für europäische Reisende gangbare
Straße von einem der ostafrikanischen Häfen direkt durch Massai-Land zum Vietorin-
Njcmsa zu finden." Aber jedenfalls ist es das unbestreitbare Verdienst unsers
Reisenden, wenigstens für sich und seine Leute den Weg durch das Massai-Laud
praktikabel gemacht und uicht allein dnrch das Land hindurch, sonder» auch wieder
herausgekomme» zu sein.
Da Dr. Fischer, durch schwere Fieberanfälle und die verderblichen Folgen aus¬
schließlicher Fleischkost geschwächt, am Naiwascha-See, wellige Tagemarsche vor seinem
Ziele, dem Baringo-Sec, wieder umkehren mußte, so ist Thomson der erste
Europäer, der das Laud nördlich vom Naiwascha betreten hat, und bis auf weiteres
unsre einzige Quelle für diese bisherige tsri-g. invoKnita. Wir erfahren durch ihn,
daß das Massai-Land in zwei deutlich voneinander getrennte Teile zerfällt, in ein
südliches niederes Wüstenland und in el» nördliches Hochland. Von diesen ist
der wegen Negenmangcl außerordentlich dürre und unfruchtbare Südteil eine in¬
folge vulkanischer Thätigkeit unter das höhere Niveau der seitlich liegenden Tafel-
länder gesunkene Depressionsmuloe von 900 bis 1200 Meter Meereshöhe, über
die freilich durch denselben Vulkanismus mächtige Kegel und Krater, wie der Ki¬
lima-Ndjaro und Meru, emporgetrieben sind. Dagegen erhebt sich der nördliche
Teil, das eigentliche Hochland, zu einer Höhe von 1600 Metern, im Mittelpunkte
sogar zu 2750 Metern, doch so, daß es dnrch eine meridionale, fast drei Breiten¬
grade, also beinahe hundert Kilometer lange, nur von vereinzelten Gebirgsarchipcln
durchsetzte Bodensenke halbirt wird, welche auf ihrer Sohle eine Reihe entzückender
Seen, wie den Naiwascha und den Baringo, enthält. Von der östlichen Hälfte
dieses Hochlandes drang Thomson schließlich über die malerische Kette der von ihm
nach Lord Aberdare benannten Aberdareberge bis zum Fuße des Kenia vor, um
sich dünn wieder westlich bis zu dein seiner fabelhaften Größe entkleideten Baringo
zu wenden und von hier das nördliche Ufer des Victoria-Njansa in der Landschaft
Kavarindo zu erreichen.
Thomson hat sich uicht damit begnügt, uns einfach die topographische Geo¬
graphie jenes wunderbaren Stückes von Jnnerafrika zu liefern. Da er eine vor¬
zügliche naturwissenschaftliche Bildung besitzt, so hat er uus in seinem ebenso
klaren wie anziehenden Stil die geologischen und metercologischen Verhältnisse des
Massai-Landes, seine Flora und Fauna und mich die ihn so oft mit dem Tode
drohenden und doch wieder so sympathischen Massai selbst geschildert. Nicht am
wenigsten ist es aller schließlich seine mannhafte und zugleich so liebenswürdige
Persönlichkeit, welche uns von der ersten bis zur letzten Seite seines Werkes ge¬
fesselt hält. Die Karawane, mit welcher er am 15. März 1883 Mmnbas verließ,
war der wahre Auswurf des Sansibarer Spitzbubentnms. Sie bestand aus Land¬
streichern, Dieben, Mördern, fortgelanfenen Sklaven und dergleichen Gesindel. Sie
besaß nur ein Dritten der notwendige« Stärke. Es fehlte nicht nur an hin¬
reichenden Führern und Dolmetschern, sondern ebenso sehr an genügendem Vorrat
an der eigentlichen Tauschmünzc, an Eisendraht. Thomson selbst war niemals im
Zweifel, daß es einer langen Reihe glücklicher Zufälle bedürfe, wenn er hoffen
wollte, durch Massai-Land hindurch- und wieder herauszukommen. Aber er gehört
zu jenen starken Naturen, welche Mißerfolge und Schwierigkeiten wohl für einen
Augenblick hemmen, aber an dem schließlichen Erfolge nicht verzweifeln machen
können.
Vom Morgen bis zum Abend von den insolenten jungen Massai als eine
Ausstellung betrachtet, in der man jeden Gegenstand zu betasten das Recht hat,
wäre er ohne Zweifel bereit gewesen, wenn ein Krieger ihn auf die rechte Backe
geschlagen hätte, ihm in aller Unterwürfigkeit auch die linke darzubieten. Möchten
seine Füße bis zum Siedepunkte erhitzt sein, oder mochte er, wenige Kilometer
vom Aequator entfernt, vor Frost zitternd seine Stiefel am Feuer zu erwärmen
suchen, mochte er wochenlang faules Fleisch essen oder monatelang am Fieber
kranken, sein nnbezähmbarer Mut schützte ihn vor dem gänzlichen Unterliegen.
Als Leibon, d. h. als Medizinmann, mit seinem Brausepulver und mit seinen
künstlichen Zähnen wie ein zweiter Cagliostro hnntirend, wagte er es, während
Menschen und Gewehre ihn im Stiche ließen, bis zum Fuße des wolkendurch¬
bohrenden Keuia vorzudringen. ' Ein Mann, der so harmlos ist, seine Freude über
einen schottischen Nebel inmitten von Afrika vor seinen fröstelnden Leuten durch
einen schottischen Tanz zu feiern, konnte unmöglich grausam sein. Wir glauben es
ihm auf sein Wort, daß er in dem reichsten Jagdgebiete der Erde, mit Ausnahme
von Büffeln, Rhinocerossen und Elefanten niemals ein Stück Wild geschossen habe,
außer für die prosaischen Bedürfnisse des Kvchtvpfes. Aber ein solcher Führer
mußte auch läuternd und erziehend auf seine Leute wirken. Als Thomson Ende
Mai 1884, halbtot durch Dysenterie, an die Küste zurückkehrte, waren seiue
Träger moralisch und körperlich wie neugeboren. Er hatte sie von Sansibar mit¬
genommen als den Abschaum der dortigen Schurkenwelt. Sie kehrten zurück als
Männer, welche ihre körperlichen und moralischen Mängel abgeworfen hatten und
die besten Aussichten für die Zukunft boten.
Wir empfehlen dieses Büchelchen allen denen, welche den großen Krieg mit¬
gemacht haben. Referent, der in ähnlicher Stellung wie der Verfasser als Arzt
am Feldzuge Teil nahm, hat bei der Lektüre dieser Berichte sich wieder vollständig
in jene gewaltige Zeit zurückversetzt gesehen, und es sind ihm viele Erlebnisse, viele
Bilder aus jenen Tagen wieder aufgefrischt worden — der beste Beweis für die
treue und lebendige Schilderung des Buches.
le Londoner Presse jubelt. Durch Erlaß des Vizeköuigs von
Indien ist das nach kurzem Feldzuge eroberte Oberbirma dem
britischen Reiche einverleibt worden. Es ist ein stattliches Nen-
jahrsgeschenk, welches Salisbury dem letztern damit gemacht hat,
^ anderseits hat er damit seine eigne Stellung vor den Parteien
verbessert, da es immer eine gute Empfehlung für einen Minister war, als
Mehrer oeö Reiches zu erscheinen. Es ist mit der Maßregel ein Land von
etwa 11 500 Quadratmeilen, auf denen viertehalb Millionen Menschen wohnen,
den asiatischen Besitzungen der Königin Viktoria angegliedert worden, und zu
gleicher Zeit hat man sich eines gefährlichen Konkurrenten an der Westgrenze
Chinas, des französischen Einflusses, entledigt und sich in den Besitz der wich¬
tigen Wasserstraße nach dem Lande der himmlischen Mitte gesetzt, welche der
Jrawaddy darbietet. Doch hat die Sache auch ihre Schattenseite. England
hat alle Ursache, in gutem Einvernehmen mit dem neuen Nachbar zu bleiben,
und dieser scheint Einspruch gegen die Einverleibung erheben zu wollen. Die
chinesische Regierung behauptet, der König von Birma sei ihr tributpflichtiger
Schützling gewesen, nud die Engländer werden sich wegen der darauf sich grün¬
denden Ansprüche mit ihr verständigen müssen, wenn sie sich hier nicht eine Feind¬
schaft erweckt haben wollen, welche unter Umständen gefährlich für sie werden
könnte. Ohne eine Befriedigung der Chinesen wird man zunächst — erinnern wir
uns der Schwarzflaggen in Tonking — schwerlich die räuberischen Dakoits, d?e
das eroberte Birma jetzt unsicher machen, niederwerfen und dauernd niederhalten
können, sodann aber die Pforten zu den neuen Absatzgebieten in China den eng¬
lischen Kaufleuten und Fabrikanten sich nicht öffnen sehen. Der Umsicht der
britischen Diplomatie dürfen wir indes zutrauen, daß sie den rechten Weg finden
werde, auf dem sich dieses erste Hindernis einer gewinnbringenden Ausnutzung
der erlangten Vorteile beseitigen läßt, und es ist wahrscheinlich, daß man den nord¬
östlichen Teil der früher von dem Könige Thibau regierten Gebiete den Chinesen
abtreten wird.
Sehr viel weniger Ursache, erfreut und befriedigt zu sein, haben Regierung
und Publikum in England, wenn sie die Lage der Dinge in Ägypten ins Auge
fassen. Wieder wurde unsre Aufmerksamkeit auf jenen Teil des Nilthales ge¬
lenkt, der oberhalb des zweiten Kataraktes (bei Wadh Halfa) liegt. Die An¬
hänger des Mahdi waren nicht, wie man gehofft hatte, nach dessen Tode in
dem Maße uneins geworden, daß sie den Plan eines Vordringens nach Norden
aufgegeben hätten. Sie hielten vielmehr uuter dem Nachfolger ihres Propheten
zusammen und nahmen nicht nur Kassala ein, sondern begannen auch gegen
Nubien vorzudringen und sich zu einem Einfall in Obercigypteu zu rüsten. Der
Beginn des Winters, hier der einzigen passenden Jahreszeit für militärische
Unternehmungen, gab den Feldherren des Chalifen eine Gelegenheit, die von
ihnen nicht unbenutzt gelassen wurde, und zu Anfange des Dezember warfen sich
die Spitzen ihres Vortrabes ans die britischen Truppen, welche über Wady
Halfa uach Süden vorgeschoben waren. Indem sie quer durch die Bajudmvüste
zogen und dann am Nil stromabwärts bis nach Dongola gingen, nahmen sie
dieses zur Operationsbasis und drangen weiter nach Norden vor, bis die
Schaaren ihrer Vorhut auf die kleine Garnison von Koscheh stießen, die aus
englischen und ägyptischen Truppen gemischt war. Diese zum großen Teile aus
Schwarzen bestehende Streitmacht hielt die Sudanesen etwa drei Wochen laug
von weiteren Vormarsche zurück, wobei freilich zu berücksichtigen ist, daß sie,
abgesehen von ihrer bessern Bewaffnung, auch durch den Flußdampfer Lotus
und dessen Geschütze unterstützt wurde. Anderseits besaßen jedoch die Sudanesen
ebenfalls mehrere Kanonen, die sie geschickt in Schanzwerken aufzustellen und
wirksam zu dirigiren verstanden, sodaß sie nicht mehr, wie während Wolseleys
Feldzuge, als gänzlich roher, nur durch Todesverachtung gefährlicher Feind zu
betrachten waren. Dankten sie diesen Fortschritt wahrscheinlich den Artilleristen
und Ingenieuren, welche in Chartum zu den, Heere des Mahdi übergetreten waren,
so bekundeten auch ihre Führer hier mehr militärisches Talent als bei frühern Auf¬
stellungen und Gefechten. Mit richtigem Blicke versuchten sie, die Eisenbahnlinie
zu durchschneiden, welche die Gegenden im Rücken der Garnison von Koscheh mit
letzteren Punkte verknüpft, und die Besatzung desselben in Angst und Unruhe zu ver¬
setzen, indem sie Abteilungen ihres Heeres stromabwärts sendeten, als ob sie jene
umzingeln wollten. Dies geschah auf verschiednen Stellen, und die Lage der
Verteidiger von Koscheh gestaltete sich von Tage zu Tage kritischer. Jedoch
gelang es, Nachricht hiervon nach Wady Halfa gelangen zu lassen und dort
um Hilfe zu bitten, ehe es zu spät war. Die Engländer und ihre schwarzen
Hilfstruppen hielten sich wacker: sie schlugen direkte Stürme auf ihre Stellung
mit Erfolg zurück, antworteten ebenso erfolgreich durch Ausfälle aus derselben,
ließen sich durch die Bewegungen des Feindes, die sie umgehen und von Ägypten
abschneiden sollten, nicht irre machen, hielten gute Wacht und Ausschau und
brachten so zuletzt die arabischen Heersäulen zum Stillstande. Hierdurch wurde
Zeit gewonnen, ihnen Verstärkungen zuführen zu lassen. General Stephenson,
der sofort begriff, daß Gefahr im Verzüge sei, sandte mehrere Bataillone frischer
Truppen aus Ägypten nach Wady Half«, verstärkte seine Posten am Nil weiter
nach Norden hin, erbat sich in London Nachschub von mehreren Regimentern
und begab sich demnächst schleunig selbst nach dem Schauplatze des wieder er¬
öffnete«? Kampfes. Ehe er dort anlangte, schickte der General Butler von Wady
Halsn Sukkurs nach Koscheh, und der Marsch dieser Truppen, der durch die
Eisenbahn erleichtert und beschleunigt wurde, zwang die Sudanesen, allmählich
alle Dörfer zu räumen, die sie auf der Strecke zwischen dem zweiten Nilkatarakt
und Koscheh besetzt hatten. Sie zogen sich bis nach Gimis zurück, wo sie sich
zu einem Angriff auf letzter» Ort gesammelt hatten. General Graufell rückte
zur Unterstützung Butters, seines Untergebnen, heran, und kurz vor dem Weih¬
nachtsfeste war eine kleine Armee britischer Bataillone beisammen, um den
Arabern den Weitermarsch nach Norden streitig zu machen. Zwei oder drei
Tage später traf Stephenson bei diesen Truppen ein und übernahm den Ober¬
befehl über dieselben, um die Kühnheit der Feldherren des Chalifen zu züchtigen
und ihnen, wo möglich, einen Schlag beizubringen, der die Wucht ihrer
Invasion bräche. Er hatte unter seinem Kommando fünf englische und zwei
ägyptische Bataillone (Neger), ein paar schwache Schwadronen Reiterei und sechs
Geschütze. Diese Truppen wurden zu eiuer Division unter Granfell organisirt
und in zwei Brigaden geteilt, von denen die eine durch Butler, die andre durch
den General Hnyshe befehligt wurde. Dieses kleine Heer stand einem Feinde
gegenüber, der auf fünfzehntausend Mann geschätzt wurde, und der aussprengen
ließ, er erwarte jeden Tag weitern Zuzug ans Dongola. Die Ausdehnung,
welche der neue Vormarsch der Mahdisten erreichen konnte, hing nach aller
Wahrscheinlichkeit von dem Ausgange des Treffens ab, welches in der Gegend
von Koscheh und Gimis erfolgen mußte. Gelang es mit den Streitkrüften
unter dem Kommando Stephensvns und Granfells den Arabern unter Muhammed
El Cheir eine gründliche Niederlage beizubringen, so konnte man ans englischer
Seite hoffen, daß es mit allen weitern Absichten derselben auf Ägypten wenigstens
für diesen Winter zu Ende sein würde. Wurden sie dagegen zwar geschlagen,
aber nicht erdrückt, so konnten sie sich wieder sammeln und verstärken und dann
den Versuch machen, auf anderen, auf weniger direktem Wege ihren Zweck zu
erreichen.
Die Führer der Sudanesen befinden sich in der vorteilhaften Lage, sich
nach jeder nicht geradezu vernichtenden Niederlage rasch wieder erholen und
zweitens für ihren Marsch nach Ägypten verschiedne Richtungen und Routen
wählen zu können, von welchen zwar keine bequem, jede aber, wie man glaubt,
für Krieger der Wüste offen ist, Sie können die Ufer des Nils verlassen und
auf einer der Wüstenstraßen. die vorgeschobnen Truppen Englands und Ägyptens
umgehend, auf einem näher nach Kairo hin gelegnen Punkte der langen und
vielgewundnen Kommnuikativnsstraße, die der Strom für jene bildet, zustreben.
General Stephenson ist vor eine sehr schwierige Aufgabe gestellt, seit er sich
mit mäßigen Streitkräften so weit vorgewagt hat. Er sieht sich genötigt,
einen schmalen und langgestreckten Weg nach der Front festzuhalten und zu
verteidigen, der Kairo zum Ausgangspunkte hat und den zahlreichen Knien und
Krümmungen des Nils bis nach der Umgegend von Kvscheh folgt, das selbst
nur ein vorgeschobener Posten zur Deckung der Endstation der Eisenbahn zu
Akascheh ist.' An diese Linie ist der Nachfolger Wolselehs dnrch die An¬
forderungen der Lage gebunden. Um diese Verbindungslinie sicher zu stellen,
muß er, ohne die Besatzung des eigentlichen Ägyptens in gefährlichem Grade zu
schwächen, zunächst Assuan am ersten der Nilkatarakte, ein wichtiges Glied in
der Kette, mit einer beträchtlichen Streitmacht besetzt halten, sodann Korosko,
wo die Wüstenstraße von Abu Hamed auf den Nil trifft, mit genügenden
Kräften zu verteidigen imstande sein, ferner jedes Dorf, das einen, sich durch
das Gebiet zwischen dem Strome und dem Noten Meere nach Norden be¬
wegenden Feinde zugänglich ist, sorgfältig beobachten und endlich Wady Halfa
mit einer hinreichenden Garnison versehen halten. Durch diese Posten müssen
alle Zufuhren an Munition und andern Bedürfnissen für die jetzt in Kvscheh
stehende Armee passiren, desgleichen alle Nachschübe von Verstärkungen, welche
dieselbe erfordern könnte. Die Route des Nils, die jetzt, im Winter und bis
Anfang April, durchans praktikabel ist, läßt sich an mehreren Stellen von einem
aus dem Sudan heranziehenden Feinde in der Flanke angreifen.
Allerdings darf man Zweifel hegen, ob die arabischen Feldherren genug Unter¬
nehmungsgeist und militärische Fähigkeit besitzen, um die Horden von Halb¬
wilden, die sie führen, so zu organisiren und zu leiten, daß sie mit ihnen durch
die schwierigen Gebiete, die zu durchschreiten sind, ehe sie vor einem verwundbaren
Punkte der großen Wasserstraße anlangen können, ihr Ziel in genügender Stärke
erreichen. Aber unmöglich wäre ein solches Wagnis keineswegs. Wenn die
großen Stämme auf beiden Seiten des Stromes sich der sudanesischen Bewegung
anschlössen und sich miteinander sowie mit den Beduinen Ägyptens vereinigten
— was zwar in unserm Jahrhunderte noch nicht geschehen, aber bei der Kraft
der religiösen Begeisterung, welche das Derwischtum entwickelt, immerhin denkbar
ist —, so könnten sie einen kühnen Handstreich wagen und den Engländern arge
Not und Verlegenheit bereiten. Bisher hat noch nichts verlautet, wonach an¬
zunehmen wäre, daß diese großen Stammverbindnngen bei dem neuen Vorgehen
der Mahdisten beteiligt sind. Man war in gewissen militärischen Kreisen der
Meinung, daß der Angriff der Sudanesen ans Koscheh nnr ein Manöver sei,
welches den Zweck habe, Truppen von Oberägypten, von Assuan und Korosko
wegzuziehen und ein plötzliches Vorbrechen uns Gegenden westlich vom Roten
Meere zu verdecken. War das begründet, so hat Stephenson aller Wahrschein¬
lichkeit zufolge Vorkehrungen getroffen, diese Absicht zu vereiteln. Er brach
rasch entschlossen auf, um- den Feinden ans ihrem eignen Boden zu begegnen,
was trotzdem, daß die Spitzen des englischen Heeres sich jetzt fern vom Mittel¬
punkte seiner Kraft befinden, als die beste Methode angesichts solcher Gegner er¬
schien. Er nahm ferner darauf Bedacht, sich im Rücken sicher zu stellen, indem
er zu Assuan ein starkes Lager hinter sich ließ. Endlich schnitt er den ara¬
bischen Feldherren jede Hoffnung, daß die Armee in Ägypten durch den zweiten
Feldzug uach dem Sudan erheblich vermindert werden winde, durch die Rasch¬
heit ab, mit welcher alle Truppen, die nach dem Süden dirigirt worden waren,
unverzüglich durch drei englische Regimenter ans den Festungen des Mittel¬
meeres ersetzt wurden, sodaß, während eine Feldarmee südlich von Wady Halsn
zusammengezogen und die Verbindungslinie derselben an ihren nubischen Haupt-
stellen hinreichend bewacht war, Ägypten selbst eine so starke Besatzung wie je
vorher auszuweisen hatte.
Trotz alledem war die Lage der Engländer in Ägypten und Nubien bis
zu Ende des verflossenen Jahres keine völlig gesicherte, und wer zurückblicken
will, wird sofort bemerken, daß sie die Folge des mißlungenen Versuches ist,
uach Chartum vorzudringen. Ja die Ursachen der gegenwärtige» Verlegen¬
heiten lassen sich noch weiter zurückverfolgen, bis zu dem großen Mißgriffe,
der darin bestand, daß man dem General Hicks erlaubte oder befahl, den ver¬
hängnisvollen Marsch nach El Obeid zu unternehmen, welcher die vollständige
Vernichtung einer verhältnismäßig starken und wohlgerüsteten ägyptischen Armee
durch die wilden Krieger des Propheten herbeiführte. Diese Schlappe ist bis
jetzt noch nicht ausgeglichen, das dnrch sie hervorgerufene Kraftgefühl der Su¬
danesen bis jetzt noch nicht geschwächt worden, ja die Niederlage Bakers bei
Sncckin war geeignet, dieses Gefühl zu stärken. Weder die blutigen Kämpfe
an der Küste des Roten Meeres, welche mit englischen Siegen endigten und den
Hadendvwas Osman Digmas Massen von Leuten kosteten, aber völlig ohne
Frucht für die Sieger blieben, noch die glänzenden Gefechte der Armee Wolseleys
in der Bajudasteppe, ihre raschen Märsche durch die Wüste und ihr geschickt
ausgeführtes Vorrücken nilaufmärtö über die Riffe und Untiefen des Stromes
reichten hin, den Engländern im Sudan und in Ägypten das Ansehen wieder
zu verschaffe», das sie verloren hatten. Das Ende war trotz aller ihrer Siege
die Einnahme Chartnms, das sie hatten entsetzen wollen, dnrch den Mahdi, und el»
Rückzug nach Norden, der dadurch in den Augen der Mahdisten nicht weniger
für die Impotenz ihrer Gegner bewies, daß er mehr ein Rückzug vor der
Sommerhitze und der Uugcsundheit des Sudan als vor dessen Kriegsleuten war.
Man kann sich darüber streiten, ob es eine richtige Maßregel oder ein
Mißgriff war, Dongola zu rämen und es den Gegnern zu überlassen, jedenfalls
wurde der Rückzug auch aus dieser Stadt und Gegend von den Arabern als
Niederlage und Ohnmacht gedeutet, und diese kommen jetzt in dem Bewußtsein, im
ganzen den Sieg behalten zu haben, ihrerseits als Angreifer von Leuten, denen
sie überlegen zu sein glauben oder die ihnen wenigstens im Sudan nicht Stand
zu halten vermochten. Natürlich begreifen sie nicht, daß bei dem Rückzuge
Wolseleys auch Anforderungen englischer Parteipolitik im Spiele waren. Sie
hieben Hicks und sein gesamtes Heer zusammen, sie nahmen Chartum ein und
töteten Gordon, sie bemächtigten sich allmählich aller Orte des Sudan, welche
ägyptische Garnisonen hatten, sie folgten den retirirenden Soldaten der Königin
Viktoria nilabwärts bis weit über Dongola hinaus. Wären diese hier geblieben,
so würden die Araber sie ohne Zweifel von da zu vertreiben versucht haben,
und die Engländer würden genötigt gewesen sein, sie weiter von ihren Hilfs¬
quellen und Reserven als jetzt zu bekämpfen. Die zurückzulegende Strecke würde
für die Engländer kürzer, die Aufgabe einer Zerstreuung des angreifenden suda¬
nesischen Heeres weniger schwierig gewesen sein. Anderseits aber liegt Kvscheh
der Grenze Ägyptens, des Endzieles jenes Heeres, näher, und in demselben Maße
ist die Gefahr innerer Unruhen in diesem Lande größer. Hätte man sich vor
dem Abzüge von Dongola in ausreichender Weise mit den Stämmen der Kab-
babisch auf dem westlichen Ufer des Nils und mit denen der Bischarin im Osten
verständigt, so würde wahrscheinlich das Knie des Stromlaufes unterhalb Kvrti
die Grenze des Vordringens der Sudanesen bezeichnet haben. Es geschah aber
nichts derart, und es ging wahrscheinlich auch nicht an, und so sah der Marsch
von Dongola aus flußabwärts allerdings wie eine Flucht aus, zumal da ihm
eine eilige Auswanderung der Zivilbevölkerung voranging. Die Führer der
Araber konnten nicht wissen, daß der Rückzug wohlüberlegt und in keiner
Weise von der Furcht vor ihrer militärischen Macht und Überlegenheit ange¬
raten war. Die Frage, ob es nicht zweckdienlich wäre, Dongola wieder zu
besetzen und zwar dnrch nichtenglische Truppen, durch Ägypter oder Türken,
kann vorläufig unentschieden bleiben. Als Stephenson vor drei Wochen seinen
neuen Feldzug nach dem Sudan begann, war, wie gesagt, die nächste Aufgabe,
die Sudanesen, die sich bei Gimis konzentrirt hatten, zu schlage» und wo mög¬
lich so zu schwächen und zu zerstreuen, daß sie fernerhin nicht mehr daran denken
konnten, den Krieg nach Ägypten selbst auszudehnen und Verwirrung bis nach
der Südspitze des Deltas hin hervorzurufen. Nach den neuesten Nachrichten ist
diese Aufgabe uicht vollständig gelöst worden. Es hat bei Gimis ein Treffen
stattgefunden, aber der Ausgang desselben war wie bei den frühern im Nilthal
und im Küstenlande am Noten Meere, Die Sudanesen wurden geworfen und
ans ihren Stellungen Vertrieben, aber nicht für die Dauer unschädlich gemacht.
Sie ließen gegen sechshundert Tode auf dem Platze, aber ähnliches war früher
schon vorgekommen, ohne sie für lange Zeit abzuschrecken. Die Engländer be-
hcmpteten das Schlachtfeld, aber die Feinde werden wiederkommen, wo nicht
hier, so doch anderswo. Man erteilte ihnen wieder einmal eine Lektion, die
von ihnen nicht beachtet werden wird, und die Gefahr für Ägypten ist nur für
den Augenblick beschworen,
Jmmermehr zeigt sich, daß der Sudan das Touking Englands ist, und
es scheint, als ob das so bleiben sollte. Kurz, die neue Sudan-Campagne hat mit
einem jener unfruchtbaren Siege begonnen, die hier für die Engländer Regel ohne
Ausnahme sind. Es war kein Erfolg für die Dauer, blutig, aber nicht einmal
sehr glänzend, wenn man bedenkt, daß 5000 wohlbewaffnete Engländer und
etwa 2000 ägyptische Soldaten, die ebenfalls gute Gewehre hatten und europäisch
geübt waren, gegen 15000 Halbwilde, von denen kaum die Hälfte Schußwaffen
führte, im Felde standen. Die Mahdisten werden den britischen General vor¬
aussichtlich einige Wochen in Ruhe lassen. Zu weiterer Offensive, zu aggressiven
Vorgehen über Gimis hinaus find die Engländer nicht stark genug, und
Stephenson würde damit sicherlich noch weniger Glück haben als Wolseley, der
hier einen guten Teil seines bei Tel El Kebir wohlfeil erworbenen Feldherrn¬
rnfes verlor.
Daß die Lage der Engländer in Nubien wenig hoffen läßt, hat auch der
uach Ägypten gesandte Mut'star Pascha erkannt, und seine Behauptung, daß
nur mit Entsendung türkischer Truppen hier aus der Not geholfen werden könne,
hat viel für sich. Nach einem Berichte der vais? Revs ist er überzeugt, daß
der Sudan für Ägypten unbedingt notwendig sei, da es den Nil beherrsche»
müsse. Die Sudanesen, so fuhr er fort, haßten zwar die Türken, fürchteten
sie aber und würden ihnen eher gehorchen als den ungläubigen Engländern.
Solange diese im Lande blieben, würde der Kampf stets den Charakter eines
Religionskrieges haben, und so müsse Ägypten von den Türken vor der Gefahr
eines Einbruchs der Mahdisten befreit werden. In Übereinstimmung hiermit
berichten andre englische Blätter aus Konstantinopel, der Pascha habe dorthin
telegraphirt, daß es infolge des Vorstoßes der Sudanesen nicht möglich sein
werde, die englisch-türkische Konvention auszuführen, und daß er deshalb den
Engländern in Kairo erklärt habe, erst müsse die ägyptische Armee gründlich
reorganisirt werden, daß dies aber abgelehnt worden sei. Infolge dessen wird
die Mission Mnkhtars als verfehlt eingesehen, und man hat seine Heimreise
zu erwarten.
s ist ein Zeichen des politischen Niederganges eines Volkes, wenn
in ihm das Studium des Privatrechts überwuchert. Der Jnristen-
stand, der vermöge seines Vernfes vor allen andern dazu bestimmt
ist, für die leitenden Gedanken seines Volkes die nötige Formu-
lirung zu finden, verliert, indem er sich lediglich den Kontroversen
des Privatrechtes zuwendet, den Zusammenhang mit der Nation. Versinke diese
wiederum in Knechtschaft, wird das öffentliche Leben in ihr getötet, so fehlt es
den höher gebildeten Klassen an einem entsprechenden Felde der Thätigkeit, und
dann ist es die richterliche Magistratur und die juristische Professur, welche
auf dem Gebiete des Privatrechts die Geister in Anspruch nimmt, für welche
es sonst an Entfaltung gebricht. Jedenfalls ist es eine eigentümliche Erschei¬
nung, daß in Rom die Blüte der Ziviljnrisprndcnz mit dem Niedergange des
Staatslebens zusammenfällt, und daß in demselben Maße, in welchem das
Interesse des Volkes an seinen Geschicken und dem Schicksale des Staatsganzen
abnimmt, das Privatrecht sich einer regeren Pflege erfreut. Unter dem jammer¬
vollsten Regiments der römischen Cäsaren findet das Zivilrecht die höchste Ent¬
wicklung, der Stand der Ziviljuristen nimmt überHand und wird die Pflanzstätte
des gesamten Beamtentums; Proviuzialstatthaltcr, Generale und Premierminister
gehen aus der Schule des Privatrechts hervor, und gerade ein Monarch, dessen
Regierung und Leben die geringste Achtung und Liebe bei Mit- und Nachwelt
erhalten hat, vermag es, in dem (üorxus suris civilis ein Privatrechtsbuch zu
schaffen, welches bis auf den heutigen Tag bei alle» gebildeten Nationen, mit
Ausnahme der Engländer, die Grundlage der privaten Rechtswissenschaft und
Gesetzgebung geblieben ist. Bei den Engländern war schon frühzeitig und ins¬
besondre seit der Nassirg. (zliartg. Johanns ohne Land das gesamte Volk ein den
öffentlichen Interessen beteiligt; diese behalten in dem Leben der Nation bis
auf die Gegenwart die Oberhand, und während das öffentliche Recht Englands,
wenn auch vielfach mißverstanden und falsch angewendet, mustergiltig sür die
politische Entwicklung Europas geworden ist, befindet sich das englische Privat¬
recht bekanntlich in einem chaotischen und unentwirrbaren Zustande, sodaß es
für deu Außenstehenden wunderbar erscheint, wie ein Volk mit so lebendigem
Handelsverkehr sich so wenig in der Regelung seiner Privatrechtsverhältnisse
helfen kann. Wiewenig mich ein solches Extrem sich zur Nachahmung empfiehlt,
so wird man doch zugeben müssen, daß die Pflege des öffentlichen Rechtes das
Volk zu Wohlstand lind Zufriedenheit gebracht hat, und man darf deshalb
hoffen, daß es auch verstehen werde, sich aus der Krisis, in welche das Land
durch einseitige Parteiregiernng gebracht worden ist, wieder herauszuretteu.
Auch in Deutschland füllt die Rezeption des römischen Privatrechts mit
der Schwächung der Reichsgewalt und dem Niedergange des politischen Lebens
seit Maximilian dem Ersten zusammen. Die Mitwirkung des Volkes an den
öffentlichen Dingen in seinen ständischen Vertretern hört entweder ganz auf
oder sinkt zur Karikatur herab. Der ganze Eifer der höhern Stunde an dem
Staatsleben wendet sich deu privatrechtlichen Disziplinen zu, und Jahrhunderte
noch wird der Jurist an der Universität wie in der Praxis lediglich im Privat¬
recht erzogen und ausgebildet. Erst im vorigen Jahrhunderte wagte sich das
Staats- und Völkerrecht wieder an die Oberfläche, und es ist vorzugsweise dem
Verdienste des berühmten Staatsrechtslehrers und Publizisten Moser zuzu¬
schreiben, wenn in der Literatur und auf deu Universitäten das öffentliche Recht
gelehrt wird. Keineswegs hat sich dasselbe neben dem Privatrechte die gleiche
Geltung zu verschaffen gewußt, noch bis i» die jüngste Zeit wurde in dem
größten deutschen Bundesstaate, in Preußen, der juristische Kandidat im öffent¬
lichen Rechte überhaupt nicht geprüft. Erst seit den großen politischen Ereig¬
nissen des Jahres 1866 wurden von einzelnen Prüfungskommissionen beim ersten
juristischen Examen hie und da auch Fragen aus dem Staats- und internatio¬
nalen Rechte gestellt. Damit ist aber für deu Juristen das Interesse für das
öffentliche Recht erschöpft, und da der Durchschnittsjurist sich nur mit denjenigen
Dingen beschäftigt, die er für die Prüfung braucht, so kann man leicht ermesse»,
daß das Studium des jirs xnMcmin im weitesten Sinne sich auf ein er¬
schreckendes Minimum beschränkt. Ju der großen juristischen Staatsprüfung ist
von dem öffentlichen Rechte keine Rede mehr, die Examinatoren sind ausschlie߬
lich Privatjnristen, und die Prüfung, welche sich über die einzelnen Gebiete des
Privatrechts in einer oft zu speziellen Weise ergeht, berührt das Staats- und
Völkerrecht nicht wieder. Von dem Verwaltuugs- und Gewerberecht, von all
deu große» Fragen unsrer Zeit wird kein Wort gesprochen. Zum entschiednen
Nachteil hat mau das letzte Examen der Administrativ- und der Justizbeamten
getrennt, den ersteren geht dadurch die formale juristische Vorbildung verloren,
die letzteren werden vollständig zu Ziviljuristeu gestempelt, und bei beiden wird
Staats- und Völkerrecht lediglich dem Fleiße der Einzelnen und ihrer mehr
oder minder geringen Neigung überlassen, zu dem vielen, was sie schon wissen
sollen, noch mehr zu lerne».
Die Wirkung dieser Vernachlässigung bleibt für unser öffentliches Leben
nicht ans. Die Machtstellung des Reiches nach außen hat dem deutschen Handel
und Verkehr die weitesten Bahnen geöffnet, die leichtere Verbindung hat die
Nationen näher an einander gebracht, es findet ein internationaler Güteraus¬
tausch statt, welcher eine Reihe von Beziehungen und Konflikten zur Folge hat,
die sich auf dem Gebiete des öffentlichen und internationalen Rechtes abspielen.
Solchen Fragen gegenüber steht der unter dem jetzigen System gebildete Jurist
und Verwaltungsbeamte geradezu ratlos gegenüber. Es kommen die wunder¬
barsten Erscheinungen zutage; schon die Frage, ob und wie ein fremdes Urteil
im deutschen Reiche oder ein deutsches Urteil im Auslande zur Vollstreckung
gelangen könne, vermag immer nur nach eingeholter Auskunft bei der^Zentral¬
stelle gelöst zu werden, und auch dann findet der eingeholte Bescheid nicht
immer die richtige Anwendung. Nicht selten wollen die Gerichte Fragen des
internationalen Rechtes, die sie in ihrer Zuständigkeit zu entscheiden haben, ledig¬
lich der obersten Zentralbehörde überlassen, und erst diese muß ihnen sagen,
daß ein Eingriff der Verwaltung in die Rechtspflege nicht gestattet sei. Welche
Zuständigkeit den Vertretern des Reiches im Auslande zukommt, ob ein Konsul
in seinem Gebiete Gerichtsbarkeit habe oder nicht, ist für die Mehrzahl der
Juristen so gut wie eine tsrrg. invossnit-g,, und Fragen, die sich hierauf beziehen,
bedürfen zur Bescheidung bei den Zentralbehörden eine bedeutende Anzahl von
Arbeitskräften.
Aber auch das Privatrecht ist heutzutage mit so viele» Beziehungen zu
dem öffentlichen Rechte durchsetzt, daß eine genaue Kenntnis desselben nicht zu
entbehren ist. Für den Mann aus dem Volke ist es unmöglich, sich hier zurecht¬
zufinden; will er sich aber Rats erholen, so wird er bei den Nechtsbeistünden
oft vergeblich an die Thür klopfen. Höchstens daß sich in der Residenz oder
in den großen Verkehrszentren ein Spezicllist findet, der ihm Auskunft zu er¬
teilen vermag, aber, wie dies vielfach bei Spezialisten der Fall ist, der Ein¬
seitigkeit verfällt und sofort strauchelt, wenn er sich nur mit einem Fuße aus
seinem engen Kreise herausbewegt. Hat aber der Richter einmal einen Prozeß
zu entscheiden, dessen Grundgedanke ans dem öffentlichen Rechte beruht, dann
treten Entscheidungen hervor, welche nach vielen Richtungen Widerspruch er¬
rege». Es ist i» diesen Blättern schon vielfach Klage darüber geführt worden,
daß bei sogenannten og.u«o8 völübrg« den Gerichten der höhere Gesichtspunkt
verloren gegangen sei. Beleidigungen des Reichskanzlers und der höchsten Auto¬
ritäten im Staate werden oft mit so geringen Strafen geahndet, daß die letztern
gänzlich ihre Wirkung verfehlen und die Achtung vor der Obrigkeit, statt durch
das richterliche Urteil geschützt zu werden, vielmehr durch dasselbe eine Schwächung
erleidet. Motive politischer Gegnerschaft oder die Periode des Wahlkampfes
werden schon für hinreichend erklärt, um für schwere Ehrenkränkungen Mildc-
rungsgründe gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Ja es kommt vor, daß in dem
richterlichen Urteile die Staatsakte der Regierung selbst einer Kritik unterzöget!
werden, die sich mehr auf die Seite des Beleidigers stellt.
Es mag Sache der Parteiblätter sein, noch nicht rechtskräftig gewordene
Entscheidungen der Gerichte einer abfälligen oder zustimmenden Besprechung zu
unterziehen. Deshalb soll hier ans die sogenannten Diätenprvzesse des preußi¬
schen Fiskus nicht näher eingegangen werden. Aber man muß doch füglich ver-
wundert sein, daß ein Grundsatz der Reichsverfassung, die enge Beziehung
zwischen Diätenlosigkeit und allgemeinem Wahlrecht, bisher noch keinem Ver¬
ständnis bei den Gerichten begegnet ist. Daß hier die Diätenlosigkeit in jeder
Form gemeint sei» muß, wenn dem Kompromiß bei Zubilligung des allgemeinen
Wahlrechtes nicht jede Bedeutung abgesprochen werden soll, liegt auf der Hand,
Wie die englischen Gerichte der Hort der englischen Freiheit sind, so sollten doch
auch die deutschen Gerichte die Fundameutalsütze unsrer Verfassung wahren.
Es ist leicht, sich mit dein Grunde abzufinden, daß das Gesetz eine Lücke habe.
Für den Juristen, welcher von dem lebendigen Bewußtsein des öffentlichen
Rechtes getragen ist, giebt es keine Lücke. Abgesehen von dem Strafrecht, ist
die Anwendung der Rechts- und Gesetzesanalogie die vornehmste Seite des
richterlichen Berufes, und wenn je, so ist es in diesem Falle nötig, die
Thür einer offenbaren Verfassuugsverletzuug mit eisernen Stangen zu ver¬
schließen.
Dieser Mangel an Kenntnis des öffentlichen Rechtes zeigt sich aber auch
da, wo der Jurist außerhalb seines amtlichen Berufs in das öffentliche Leben
eingreift. Überall in Vereinen, in Versammlungen und im Parlament führt
der Jurist das große Wort, und wie oft begegnet man dann Anschauungen,
die lediglich dem Boden des Privatrechtes entsprossen sind! Wenn man die
parlamentarische Geschichte der letzten fünfundzwanzig Jahre studirt, so wird
man finden, daß den großen ftaatsmnnnischen Zielen des Reichskanzlers immer
mit kleinlichen zivilistischen Einreden widersprochen worden ist. Niemals war
diese Kampfesweise üblicher als zu der Zeit, in welcher der verstorbne Abgeordnete
Laster das Parlament beherrschte, da dessen hauptsächliches Talent in dem privat¬
rechtlichen juristischen Formalismus bestand, welcher auch die höchste politische
Aktion nur nach den Regel» von Klage und Einrede behandelt. Vo» diesem Ge¬
sichtspunkte ans wurde unsre große Jnstizrefvrm behandelt; von den wirtschaft¬
lichen Bedürfnissen des Volkes, welche dadurch befriedigt werden sollten, war
nicht die Rede. Um der Schönheit des juristischen Baues willen hat man
durch den Anwaltszwang, das schleppende Zustellnugs- und Gerichtsvollzieher-
Wesen den Prozeß verteuert, den Rechtsweg erschwert und eine Unsumme von
Zeitversäumnis auf die produzirende Bevölkerung gehäuft. Das schou seiner ganzen
innern Natur nach fluktuirende Gelverbewesen hat man im Jahre 1869 in
die juristische Schnürbrust eingezwängt, an der es zu Grunde gegangen wäre,
wenn man nicht, durch die Erfahrung klug gemacht, sich uoch in der zwölften
Stunde zu Änderungen verstanden hätte. Der Kulturkampf wäre nicht zu
jener Schärfe gediehen, wenn man nicht von Anfang an alles auf den rein
zivilistischen Gesichtspunkt eingerichtet hätte; statt dem Ermessen der Regierung
mit ihren höhern politische» Zielen Rechnung zu tragen, hat man nur dem
Arbitrium des Richters vollen Spielraum geschaffen, und der Hauptmangel
der Maigesetze liegt darin, daß ihre Verfasser bedeutende Ziviljuristen waren.
Auf dem sozialpolitischen Gebiete hat es jahrelanger Kämpfe bedurft, ehe Kaiser
und Reichskanzler imstande waren, die Macht des öffentlichen Rechts, wie sich
dasselbe in den Berufsgenossenschaften verkörpert, gegenüber den privatrechtlichen
Gesichtspunkt der Versicherung zum Siege zu verhelfen.
Alle diese Dinge haben dazu beigetragen, um den Juristen im öffentlichen
Leben zu diskreditiren, man hat bald auch das Recht selbst mit der Anwendung
desselben verwechselt, und ganze Volksschichten haben die Beseitigung der römischen
Rechtsgrundlage verlangt. So erzeugt Druck den Gegendruck. Schon längst
ist der Richter nicht mehr frei von den Einflüssen der öffentlichen Meinung;
seine Integrität ist unbestritten und anerkannt, gegen Kabinetsjustiz wußten die
eifersüchtigen Parlamente den Richter sicherzustellen; nur gegen die Einwirkung
der Presse und ihre Gefolgschaft ist er nicht geschützt.
Nicht ohne Grund führt die Gerechtigkeit Schwert und Wage als Symbol.
Der Richter soll die innern Feinde des Staates schonungslos vernichten, und
er soll das Gleichgewicht herstellen zwischen den Kräften, welche die Gesellschaft
bewegen. Um aber seine Aufgabe mit Erfolg erfüllen zu können, muß er sich
von den Banden privatrechtlicher Anschauung frei machen und muß von dem Geiste
des öffentlichen Rechts und der lebendigen Volksinteressen durchtränkt sein.
Um dieses Ziel vollständig zu erreichen, bedürfte es einer radikalen Um¬
gestaltung des juristischen Unterrichts auf den Universitäten. Hier aber ist das
Beharrungsvermögen so groß, und die Aufgaben der Gesetzgebung sind auf
andern Gebieten so viel dringlicher, daß wir die Lösung dieser Frage getrost
dem kommenden Geschlecht überlassen dürfen und uns nicht einmal mit einer
Skizzirung unsrer Vorschläge aufhalten wollen. In der praktischen Ausbildung
aber würde schon viel gewonnen werden, wenn die angehenden Staatsbeamten
ohne Unterschied, ob sie Juristen werden oder in die allgemeine Staatsverwaltung
übergehen wolle», eine Zeitlang bei den Kreis- und Bezirksausschüssen und in
der Verwaltung überhaupt arbeiteten. Es ist das Verdienst Bahrs, nachgewiesen
zu haben, wie wenig die gegenwärtige Zivilprozeßordnung geeignet ist, einen
tüchtigen Juristeustand heranzubilden. Die Mündlichkeit des Verfahrens verflacht
Geist und Charakter, und man muß es deshalb als sehr fraglich bezeichnen,
ob die angehenden Juristen in der That gegenüber dem Zeitaufwande noch etwas
Nennenswertes an den Land- und Oberlandesgerichten lernen und ob sie nicht
höchstens dazu dienen, müßig in den Audienzen Grillen zu fangen oder frucht¬
lose Schreibübungcn zu machen. Bei den Verwaltnngsgerichten aber wird im
wesentlichen nach Grundsätzen verhandelt, welche dem frühern preußischen Prozeß
entsprechen und sich, abgesehen von ihren sonstigen Vorzügen, ganz besonders zur
Ausbildung eines tüchtigen Beamtenstandes eignen. Zum allermindesten sollte
bei der letzten großen Staatsprüfung dem öffentlichen Rechte dieselbe Stellung
eingeräumt werden wie der» Privatrechte. Diese Prüfung hat speziell in
Preußen »och bei weitem nicht dasjenige erreicht, was man — bei aller Un-
Vollkommenheit — von Prüfungen erwarten darf. Aber auch hier läßt sich ein
Wandel nur durch eine radikale Abänderung erreichen, und eine solche steht
schwerlich für die nächste Zeit in Aussicht, Dagegen könnte die Prüfungs¬
kommission durch solche Mitglieder ergänzt werden, welche ihrem ganzen Berufe
nach innerhalb des öffentlichen Rechtes stehen und infolgedessen geeignet sind,
auch auf diesem Gebiete zu prüfen und nicht bloß einmal ab und zu eine Frage
zu stellen, deren Nichtbeautwortung weder auf die Geprüften noch auf die Prüfer
einen Eindruck macht.
Das jetzt lebende Geschlecht hat vieles sich verwirklichen sehen, was die
Väter in ihren Träumen ersehnt haben. Betrachtet man freilich das Erreichte
genauer, so ist es im großen und ganzen nnr das Verdienst weniger, welche
durch ihre geniale That die andern mit sich fortgerissen haben. Aber diese
Thätigkeit ist doch immer eine begrenzte, und nicht alles kaun der Kanzler allein
thun; er bedarf der Mitwirkung, und wir wollen hoffen, daß auch auf den¬
jenigen Gebieten, die der eigentlichen Aufgabe des großen Staatsmannes ferner
liegen, nicht bloß für die Gegenwart gelebt, sondern auch für die Zukunft ge¬
arbeitet werde.
»ter den europäischen Staaten, die mit Deutschland in wirtschaft¬
lichem Verkehr stehen, besteht mit Rußland eine besonders innige
wirtschaftliche Berührung. Es ist dies uicht allein aus dem ge¬
schichtlichen Entwicklungsgange der beiden Länder und aus ihrer
geographischen Lage erklärlich, sondern in viel höherm Grade noch
haben die gegenseitigen Produktions- und Konsumtionsbediugnngen die beiden
Länder auf einen gegenseitigen Austausch der Erzeugnisse ihres Gewerbfleißes
und ihrer Bvdenprodnkte hingewiesen.
Rußlands Hauptreichtum hat von jeher in seiner Urproduktion und seiner
Viehzucht bestanden, die Macht seines auswärtigen Handels beruht vorzugsweise
auf dem Export seiner Landesprodukte, und die Entwicklung eines großen Teiles
seiner Industrie findet ebenfalls ihre Hauptstütze in der landwirtschaftlichen
Produktion. Unter den europäischen Staaten ist Nußland dasjenige Land,
welches sich vor allen andern durch seine Massenproduktion auszeichnet. Die
Produktion und Ausfuhr von Cerealien, Vieh, Häuten, Tnlg u, s. w. wird sich
in keinem andern europäischen Staate in einem gleich hohen Maße finden lassen.
Aber die Sonderheit und Exklusivität, in welcher sich die gewaltige Urproduktion
des nordischen Reiches innerhalb seines übrigen Erwerbslebens lange Zeit be¬
funden hat, ist eine Hauptursache dafür geworden, daß trotz der großen Werte,
welche Rußland aus dem Absatz seiner überschüssigen Brotstoffe vom europäischen
Markte bezogen hat, die Handelsbilanz dennoch für das Land wiederholt gefahr¬
drohend geworden ist.
Man hat in Rußland je länger je mehr eingesehen, daß die Zeiten, wo
die heimatlichen Getreidefluren die Kornkammer» für einen großen Teil des
westlichen Europas waren, vorüber sind und daß nicht bloß die Vereinigten
Staaten von Nordamerika, sondern auch Ostindien, Australien und die süd¬
amerikanischen Staaten als gewichtige Rohproduzenten mit wachsender Konkurrenz
ihre Angebote auf den europäischen Markt gebracht haben. Man hat ferner
eingesehen, daß unter den gänzlich veränderten Marktverhältnissen die frühere
unabhängige Preisbestimmung der heimatlichen Produktion nicht mehr wieder
zu erlangen ist, und daß in demselben Maße, wie das Angebot dieser überseeischen
Konkurrenz entscheidender geworden ist, die Handelsbilanz Rußlands von dem
beschränkten und schwankenden Konsmntionsvermvgen des übrigen Europas und
von jenem eingreifenden überseeischen Angebot abhängig geworden ist.
Es hat in der vollen Würdigung dieser veränderte!? Verhältnisse gelegen,
daß die russische Bevölkerung, um sich eiuen Ersatz für die Verluste auf den
ausgetretenen einseitigen Wegen ihrer bisherigen Wirtschaftstätigkeit zu suchen,
ihre schöpferischen Kräfte einem Arbeitsgebiete zugewandt hat, auf welchem
Anfänge zwar schon seit langer Zeit bestanden hatten, aber eine aufsteigende
und zeitgemäße Entwicklung des Vorhandnen nur ungenügend erstrebt worden war.
Auf eine Belebung und Befruchtung der Gewerbe und der ersten schüchternen
Versuche einer Großindustrie waren schon viele der ältern russischen .Herrscher
bedacht gewesen. Wenn aber trotz aller staatlichen Musterbetriebe und aus¬
ländischen Lehrmeister die russische Bevölkerung wenig Talent und Neigung zum
Gewerbebetrieb gezeigt hat, so wird dies wenigstens in den ältern Jahrhunderten
der Hauptsache nach auf deu Maugel eines eigentlichen Bürgerstandes, bei dem
von jeher in allen Staaten die Stärke des Gewerbfleißes gelegen hat, zurück¬
zuführen sein. Die eminente Kraft eines Staatsgenies wie Peter der Große
übersah die Wichtigkeit einer Belebung der nationalen Gewerbsarbeit nicht.
Von der Regieruugsperiode dieses Kaisers hob eine neue Epoche der
nationalen Gewerbsarbeit an. Vornehmlich seit dem Jahre 1702 — schreibt
Schnitzler in seinem Buche I/Lmxirö clss (Bd. 4, S. 467) — verdoppelte
dieser energische Fürst seine Anstrengungen, um seinem Lande dieselben Elemente
des Reichtums und der Kraft zu sichern, welche die hervorragendsten Staaten
des Westens schon seit langer Zeit dnrch das System einer weitverzweigten
Industrie gewonnen hatten. Er gründete eine Reihe von Fabriken, welche auf
Kosten des Staates in Betrieb erhalten wurden und welche bestimmt waren,
ähnlichen von Privaten begründeten Etablissements als Vorbild zu dienen. Ans
seine Veranlassung wurden Segeltuchmanufakturen, Taufabrilcn, Salpeter- und
Schwefelsiedereien eingerichtet. Im Jahre 1714 entstand die Dudershofer
Papiermühle bei Se. Petersburg, 1717 ebendaselbst eine große Seideumanufaktur,
1720 der große Tuchhof und der Leinwaudhof in Moskau. Daneben wurden
teils von Staatswegen, teils aus privater Initiative Eisenhämmer, Sägemühlen,
Waffenfabriken, große Gerbereien errichtet (der Export von Leder und Häuten
ist stets ein großer Handelszweig in Nußland gewesen) Zuckerfabriken und Glas¬
hütten errichtet, die Goldschmiedekunst nahm zu Peters des Großen Zeiten einen
lebhaften Aufschwung, und auch die andern Gewerbe wurden mannichfach von
künstlerischen Strömungen erfaßt und befruchtet. Die Negierung ging much hier
mit gutem Beispiel voran, indem sie eine Gobelinfabrik einrichtete, eine Gold¬
leisten- und Spiegelfabrik begründete und die Tcxtilgewerbe mit verschiednen
Zuwendungen ermunterte. Unter den nachfolgenden Kaisern erlahmte die that¬
kräftige Anregung etwas; immerhin aber blieben auch unter der Regierung der
Kaiserin Elisabeth und ihrer Nachfolgerin Katharina II. (1767 bis 1796) Fort¬
schritte bemerkbar. Storchs „Nußland unter Alexander I." giebt die Zahl der
bei dem Tode Katharinas II. vorhandnen Fabriken auf 2170 mit mehr als
100 000 Arbeitern an, und mit Recht werden die besondern Fortschritte der
russischen Gewerbsarbeit zu Lebzeiten dieser Kaiserin nicht in letzter Linie auch
daraus erklärt, daß diese kluge Herrschern? durch Einführung mehrerer gewerb¬
lichen Reichsgesetze (das gewerbliche Zunftwesen vermochte nicht zur Selbständigkeit
zu gelangen) ans eine Stärkung des russischen Bürgerstandes mannichfach Bedacht
nahm. Lebhaftere und kräftigere Jmpulse empfingen Industrie und Gewerbe
sodann von neuem unter dem Szepter Alexanders I. Die bei seinem Regierungs¬
antritt bestehenden 2330 Fabriken mit 170 000 Arbeitern wurden bis zum Jahre
1825, seinem Todesjahre, auf 5720 mit einem Personal von 290 000 Arbeitern
vermehrt. Durch Errichtung einer großen Reichsleihbank und durch Vermehrung
der Handelsbanken sowie durch viele andre Maßregeln wurde der Kapitalumlauf
gefördert und damit sowohl der Konsumtion wie der Produktion ein breiterer
und sicherer Boden geschaffen. In den I^orvW incwslriölles von Peltschinski
wird die Steigerung der industriellen Produktion Rußlands in den Jahren
1822 bis 1832 wie folgt verzeichnet. Es stieg der Wert der Produkte:
Die Zahl der im Jahre 1834 bei de» bestehende» Dampfmaschinen thätige»
Pferdekräfte wird mit 2200 angegeben. Aber schon im Jahre 1853 ließ sich
die Zahl der Hochöfen und Öfen auf 5000, die der Kessel auf etwa 4500, die der
Dampfmaschinen auf 1900, die der Werkstühle auf 190 000 berechnen, und die
Zahl der Fabriken war bis zum Jahre 1852 auf 10 388 gestiegen. Die Zeit
nach dem Krimkriege war für Rußlands Manufakturwesen eine sehr frucht¬
bringende, und namentlich gingen die wohlthätigen Einwirkungen auf die ganze
wirtschaftliche Lage des Landes von dem großen Akte der Abschaffung der
Leibeigenschaft aus. Die spätere Entwicklung des Transport- und Kommu¬
nikationswesens durch die Ausbreitung des Eisenbahnnetzes, wodurch an Stelle
des früher allein vorherrschenden Meßhandels eine Ausnutzung der Konjunkturen
des binnenländischen Marktes gesichert und die Absatzfähigkeit aller Produkte
auf eine ungleich breitere Basis gestellt wurde, hat sich mit der Entwicklung
des russischen Kreditwesens dnrch eine über alle Neichszentre» des Verkehrs
verteilte Neuorganisation von Handels- Industrie- und Stadtbauten, die größten¬
teils ihre vom russischen Finanzministerium lebhaft geförderte Wirksamkeit nur
mit kleinen Kapitalien (10—50 000 Rubel) angefangen haben, heute aber
schon über Grundkapitalien von Millionen verfügen, verbunden, nur das Feld
der Industrie- und GeWerbearbeit zu vergrößern und fruchtbarer zu machen.
Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Lage der russischen Industrie läßt
es sich nicht leugnen, daß dem russischen Volke ein großes Gebiet produktiven
Schaffens eröffnet worden ist, ans welchem nun fortschreitende Erfolge gesichert
sind. Die russische Industrie hat aber im großen und ganzen noch ein be¬
grenztes Feld: das des innern Kvnsnms. Alle Fortschritte, die in der auf¬
steigende» Entwicklung erreicht morde» sind, reichen nicht über diese Grenzen
hinaus. Die Gründe hierfür sind verschiedner Art, liegen aber in den Ver¬
hältnissen des Landes selbst. Nur nach Osten haben die russischen Indu¬
striellen ihren Markt erweitert, und man darf erwarten, daß, je inniger die
zentralasiatischen Staaten^ mit dem Mvskowitertum verwachsen, desto leb¬
hafter sich auch ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu den Knlturgebern in
Europa entwickeln werden, denn Nußland ist hier über die Anfänge seiner Arbeit
kaum hinausgekommen. Der Westen aber hat sich gegenüber den Produkten
des russischen Gewerbfleißes bisher noch ziemlich ablehnend verhalten, und selbst
die Zahl der russischen Industrieartikel, welche der Originalität halber auf dem
europäischen Markte einen Absatz finden, ist nicht beträchtlich groß. Die über¬
seeischen Märkte kennen Nußland vielleicht mit Ausnahme eines Teiles Ostasiens
und der Levante als Konkurrenz noch wenig. Trotzdem bleibt die Aufgabe der
russischen Industrie auf ihrem vorbehaltuen Gebiete lohnend und aussichtsvoll.
In der Umwandlung der massenhaften russischen Rohprodukte in eigne Halb¬
oder Ganzfabrikate liegt ein Moment von der größten nationalwirtschaftlichen
Bedeutung. Denn gerade durch diese eigne Verarbeitung der Rohprodukte ist
nicht nnr ein Ersatz sür die verminderte Marktfähigkeit derselben im Auslande
gewonnen, sondern es ist damit auch der Gewinn erreicht, daß die Masse des
Volkes ihre Manufakturbedürfnisfe zu billigeren Preisen befriedigen kann als
früher, wo dieselben vom Auslande zu einem großen Teile aus den eignen aus¬
geführten Rohmaterialien gefertigt und bei den Einfuhrpreisen mit dem Zuschlag
der fremden Arbeit belegt wurden. Wo es sich um die Befriedigung von Volks¬
bedürfnissen bei einer Bevölkerung von 85 Millionen Seelen handelt, darf jene
Aufgabe nicht unterschätzt werden. Der Vorwurf, daß die russische Industrie
nur gewöhnliche und grobe Fabrikate liefere, muß deshalb auch auf ein be¬
scheidnes Maß beschränkt werden. Matthäi hat in seinem erschöpfenden Werke
„Die Industrie Rußlands" sehr richtig betont: Hinge es von der Neigung der
Fabrikanten ab, so würden es gewiß die meisten vorziehen, statt der groben
Tücher zu 1—1^ Rubel per Arschin lieber Tücher zu 4 und 5 Rubel zu
fabrizircn, denn ihr Verdienst würde ein entsprechend höherer sein, und es ist
immer angenehmer, eine feine als eine ordinäre Waare zu produziren. Während
diese Fabriken aber für ihre groben Tücher reichlich Absatz finden und bequem
^ Million Arschin davon verkaufen, würden sie von feinen Tüchern mit voller
Sicherheit nicht 100 000 Arschin absetzen können, sie müßten denn einen ver¬
hältnismäßig sehr niedrigen Preis stellen, und dann würde sich die Fabrikation
feiner Waare weit weniger lohnen als die grober. Man hatte auf der Pariser
Weltausstellung die russische Abteilung belächelt, weil man dort so viele grobe
Tücher, rohe Webstoffe, dicke Stiefel und ordinäre Schafpelze ausgestellt fand,
hat aber vergessen, daß es in Rußland 60 Millionen Menschen giebt, die sich
ausschließlich dieser groben, billigen, aber haltbaren Waaren bedienen, dagegen
komm 10 Millionen, die feine Waare verlangen. Die große Masse des russischen
Volkes sind Bauern. Volkreiche Städte wie in den andern großen Industrie¬
staaten fehlen in Nußland, und auch der gute Bürgerstand, bei welchem in den
andern Staate» die eigentliche Stärke der gewerblichen Konsumtion liegt, ist hier
ungleich spärlicher vertreten. Dazu muß man noch etwas andres berücksichtigen.
Trotz aller und zwar vielfach glücklich eingeschlagnen Versuche zur Einführung
des modernen Jnduftrieshstems hat sich in Rußland von dem Zustande der
isolirten Produktion die Eigengewinnung neben der Hausarbeit bis ins neunzehnte
Jahrhundert hinein noch in großen Resten erhalten. Jeder Bauernhof erzeugte
früher die Nahrungsmittel, die Bekleidungsstücke und auch die sonstigen Güter,
welche in der Hauswirtschaft gebraucht wurden, selbst. Von dieser Familien¬
wirtschaft haben sich nun bis auf den heutigen Tag noch vielfach Überreste
erhalten, und daß diese Art Gewerbfleißes — die sich namentlich auf eine eigne
Tuchwirterei- und Walkerei erstreckt, wie sie ja auch noch bei uns z, B. in
Ost- mit Westpreußen vielfach gäng und gäbe ist — das Absatzgebiet der
Großbetriebe fortwährend beschränkt, liegt auf der Hand.
Zur größten Entwicklung sind diejenigen Zweige der russischen Industrie
gelangt, welche direkt auf der Verarbeitung der Rohmaterialien beruhen, also
die ganze Textilindustrie der Faserstoffe, die Holzindustrie, die Leder- und Pelz-
waarcnfabrikation, die Gummiwaarcn- und Wachstuchfabrikatiou, die Wachs-
siederei und Wachslichtfabrikation, die Talgfabrikation, die Stearinfabrikativn, die
Seifen-, Leim-, Knochenmehl-, spatium-, Öl-, Pech- und Naphthafabrikatiou,
Sicher ist unter allen diesen Gewerben die Textilindustrie das hervorragendste
Arbeitsfeld. Während im Jahre 1866 die gesamte Produktion der Textilindustrie
den Wert von 92 Millionen erreichte, hatte sie im Jahre 1879 eine?? Wert
von 390 Millionen erlangt. Heute wird sie auf 409 Millionen anzuschlagen
sein. Charakteristisch aber für das Wesen des russischen Manufaltnrwesens
bleibt auch dieser sein blühendster Zweig. Trotz der augenscheinlichen Entwick¬
lung, welche namentlich die Leinenfabrikation genommen hat, hat nämlich der
Import von Flachsgespinnsten sowohl wie die Einfuhr von Leincuwaaren nicht
bloß nicht aufgehört, sondern ist sogar sehr ansehnlich geblieben. Die Unabhängig¬
keit vom Auslande ist also auch in diesem Falle als eine sehr relative aufzu¬
fassen. Die gegenwärtige russische Negierung hat sich der Pflege ihrer Lcmdes-
indnstrie in hohe»? Grade angenommen, und eine Reihe von Nepressivmaßregelu,
unter denen vor allen das einzigartige Schutzzollsystem genannt werden muß,
bekundet ihren ernsten Willen, das Land, nachdem es einmal von der frühern
Stufe des ausschließlichen Ackerbaustaatcs erhoben worden ist, nun in seiner
industriellen Wehrerziehung zu erhalten und es allmählich dem Auslande gleich¬
zustellen. Um der Landwirtschaft, um sämtlichen Zweigen der Urproduktion gegen
die vorschreitende überseeische Konkurrenz und die Einengung des europäischen
Marktes zu Hilfe zu kommen, müssen die natürlichen Verbraucher der Roh¬
produkte, die großem verarbeitenden Gewerbszweige, Fabriken lind Manufakturen,
beschützt und gefördert werden. Von diesem Grundsätze ausgehend, hat sich
die russische Staatskunst zu dem seit zwei Jahrzehnten mit starrer Konsequenz
durchgeführten Protcktionssystem entschlossen, welches, alle nationalen Gewerbe
unter seine Fittige versammelnd, dem Auslande gegenüber die Grundsätze einer
unerbittlichen Zollpolitik versieht.
Von allen Staaten ist, wie schon zu Anfang erwähnt, Deutschland bisher
am meiste» an alleu Handelsbeziehungen Rußlands interessirt gewesen. Von
der Gesamtsumme des auswärtige« russische,? Handels füllt der größte Teil
auf Deutschland. Das deutsche Reich ist als Bezugsquelle von Jmportwaaren
für Rußland das wichtigste Land, und wenn auch viele der aus Deutschland
nach Rußland eingeführten Waaren, wie z. B. Kolonialartikel, nicht deutschen Ur¬
sprunges sind, so bleibt es doch immer der deutsche Handelsstand, der diese
Waaren an Nußland liefert und aus deren Verkauf Nutzen zieht. Dasselbe
Verhältnis findet auch bei dem Export nach Deutschland statt.
Die auf eine nachdrückliche Bekämpfung jeder tiefern auswärtigen wirt¬
schaftlichen Berührung gerichtete Handelspolitik des nordischen Reiches hat nun
speziell dem deutschen Waarcnverkehre die größten Hindernisse in den Weg gelegt.
Am 1. Januar 1877 wurde» die russischen Zölle mit einem Schlage um 45 Prozent
erhöht, dadurch daß die Erhebung der Zollgebühren in Gold angeordnet wurde.
1881 kam noch ein Zuschlag von 10 Prozent auf alle Waaren hinzu, und im
Juli 1882 wurde ein veränderter Zolltarif eingeführt, bei welchem Eisen-,
Stahl- und Metallwaaren weiteren Erhöhungen unterlagen. Im Juli des ver¬
flossenen Jahres wurden abermalige Zollerhöhnugen vorgenommen, welche einzelne
Zweige unsrer Eisen- und Stahlindustrie geradezu lahmgelegt haben. Die
rheinisch-westfälische Eisenindustrie, welche ihre Produktion seit Jahrzehnten auf
den russischen Absatz eingerichtet hat, ist durch diese Zollmaszrcgeln besonders
hart betroffen worden, und namentlich schwer hat die Walzdrahtindustrie durch
den fast völligen Verlust ihres Absatzes nach Rußland gelitten. Aber auch unser
Osten ist in seiner Industrieproduktion durch die russischen Zollbarrikaden in
Mitleidenschaft gezogen worden. Es haben uns Preisverzeichnisse vorgelegen,
nach welchen die Zölle 40, 50, 70, 80, ja 100 Prozent des Wertes von land¬
wirtschaftlichen Geräten und andern Bauartikeln betragen. Die russische Einfuhr
von Eisen in Blättern und Tafeln hatte sich noch im Jahre 1883 ans 9 713 000
Rubel belaufen; im Jahre 1884 ist sie auf 5 974 000 Rubel zurückgegangen.
Die Einfuhr vou Eisen in Varrcu, Sorten und gewalztem Eisen hatte sich
im Jahre 1883 auf 6 336 000 Rubel Wert belaufen; im Jahre 1884 ist sie
auf 4 393 000 Rubel gesunken. Stahl-, Eisen- und Blechfabrikate hatte Nußland
im Jahre 1883 im Werte von 18 093 000 Rubel eingeführt; 1884 ist auch bei
diesen Artikeln eine Reduktion von 2 Millionen eingetreten. Am höchsten aber
hat sich der Rückgang bei Tender- Dampf- und Feuerspritzen gezeigt. Während
diese Apparate 1883 noch einen Absatz im Werte von 14 625 000 Rubel er¬
reichten, sind sie im Jahre 1884 nur im Werte von 11 Millionen über die
russische Grenze gegangen. Die Gesamtausfuhr des Jahres 1884 hat sich gegen
1883 um etwa 22 Millionen vermindert. Daß alle diese großen Rückgänge
sämtlich die Folge der Zollerhöhuug sind, bedars keines Beweises, auch wenn
man der russischen Industrie erhebliche Fortschritte zuzuerkennen geneigt ist.
In der Ausfuhr zeigen sich ähnliche Verhältnisse. Der Wert der russischen
Ausfuhr hatte sich im Jahre 1883 auf 552 531 000 Rubel belaufen. Im Jahre
1884 belief sich der Wert des russischen Exports auf 495 249 000 Rubel, was
eine Differenz von 57 282 000 Rubeln ergiebt. Die Abnahme der russischen
Ausfuhr ist am bemerkbarsten bei den Lebensmitteln geworden. Von der Ge¬
samtausfuhr hat diese 1884 60,5 Prozent betragen. Die Halbfabrikate und
Rohstoffe bildeten 35,8 Prozent, lebende Tiere 2,5 und Fabrikate — hieraus
sieht man die untergeordnete Bedeutung der Jndnstrieprodukte im russischen
Export — 1,2 Prozent. Sehr überwiegend ist unter diesen Artikeln das
Getreide geblieben, wenngleich sich anderseits der Rückgang beim Getreide wieder
am bemerkbarsten macht, indem von den 57 282 000 Rubeln Gesamtabnahme auf
Getreide allein 40 Millionen fallen. Aber auch bei andern Landesprodukten sind
die Rückgänge bemerkbar. Man vergleiche:
Von dem Gesamtwerte der russischen Ausfuhr empfingen:
Deutschland hat von dieser Summe also ein Drittel erhalten. Hieraus wird
ersichtlich werden, in welchem Grade unser Markt an der russischen Ausfuhr-
bewegung interessirt ist.
Aber ähnlich wie diese Ausfuhr hat auch die Einfuhr westeuropäischer
Waaren nach Rußland im letzten Jahre Rückgänge auszuweisen, die namentlich
bei Jndustrieerzeugnissen sehr erheblich geworden sind. Die einzigen Artikel,
welche unvermindert oder sogar in erhöhter Menge über die russische Grenze
gegangen sind, sind Nahrungsmittel überseeischer Provenienz. Im ganzen hat
sich die Einfuhr gegen 1883 um 22 318 000 Rubel vermindert. Es sind nämlich
im Jahre 1884 nur Waaren im Werte von 486 249 000 Rubel eingeführt
worden, während sich die Einfuhr im Jahre 1883 ans 608 567 000 Rubel
belief. Im einzelnen stellt sich die Änderung wie folgt:
Wie das Jahr 1884, so hat aber auch das letztverflvsfne Jahr wiederuni
beträchtliche Rückgänge aufzuweisen. Das europäische Rußland hat vom 1. Januar
bis zum 1. September für 318 902 000 Rubel exportirt und für 247 069 000
Rubel importirt. Im Vergleich zu dem gleichen Zeiträume des Vorjahres
ergiebt das für die Ausfuhr russischer Produkte eiuen abermaligen Ausfall von
35 Millionen und für den Import fremder Produkte gegen das Vorjahr einen
solchen von 86 Millionen Rubel. Die russische Getreideausfuhr hat unter der
Zolleinwirluug am meisten gelitten, und vor allem hat der Monat August eine
niederschlagende Wirkung ergeben. In diesem einen Monate ist nämlich die
russische Getreideausfuhr gegen den August des Vorjahres um 12 Millionen
zurückgegangen. Die russische Einfuhr hatte im verflossnen Jahre bis zum
1. September im Vergleiche zu derselben Zeit des Jahres 1834 eine abermalige
Verminderung von 43 Millionen erlitten. Die Einfuhr des Thees hat sich
nahezu um ein Drittel verringert, und die Einbuße der russischen Theeimpvrteurc
hat also vom 1. Januar bis zum 1. September nicht weniger als 22 Millionen
Brutto-Rudel betragen. Ein annährend gleiches Ergebnis hat sich bei den"
Weinen herausgestellt, indem davon wäherud der erwähnten Zeit 73 000 Flaschen
und 100 000 Pud (in Fässern) weniger als 1884 eingeführt worden sind, was
einem Ausfalle von 35/2 Millionen Rubeln gleichkommt. Der Ausfall an
Fischen ist mit einer Million anzusetzen, und die Lebensmittel in ihrer Gesamtheit
sind um etwa 27 Millionen zurückgeblieben. Rohstoffe und Halbfabrikate
haben womöglich noch beträchtlichere Ausfälle zu verzeichnen, indem z. B. bei
der Baumwolle ein Rückgang von 9 Millionen, bei Steinkohlen ein solcher
von 1 Million, bei ungcsponnener Seide ein solcher von Millionen, bei
Roheisen von 7 Millionen, bei allen Artikeln dieser Kategorie zusammen ein
Rückgang von 45 Millionen nachweisbar ist. Die Fabrikate hatten bis zum
1. September ihren Markt um 13 Millionen gekürzt gesehen, und endlich hatten
auch bei der chemischen Industrie namhafte Ausfälle stattgefunden. Wenn
man nun bei allen diesen großen Rückgängen unsern obigen Nachweis berück¬
sichtigt, daß Deutschland sowohl bei dem russischen Einfuhr- wie auch bei dem
Ausfuhrgeschäft mit einem Drittel der Gesamtwerte beteiligt ist, so wird jedem
unbefangnen Urteil die Tragweite klar werden, welche dieses reißend schnelle
Sinken unsrer Handelsbeziehungen zum nordischen Reiche gegenwärtig, wo bei
dem riesigen Wettbewerb aller internationalen Friedenskräftc die Erhaltung der
bisherigen Absatzgebiete für die Erzeugnisse unsrer Industrie und unsers Ge-
werbfleißes als die wichtigste Forderung erscheint, für die Wohlfahrt breiter
Handels- und Jndustrickreise haben muß.
Wen» man erwägt, welche großen Vorteile der deutsche Handel und die
deutsche Industrie aus der willfährigen Negierung Alexanders II. lange Jahre
hindurch gezogen haben,*) Vorteile, die so immens waren, daß man ruhig sagen
kaun, die heutige Blüte und Produktivität der dentschen Industrie beruhe zu
einem beträchtlichen Teile auf dem bisherigen Verbranchsvermvgen der russischen
Nation, wenn man ferner berücksichtigt, daß Rußland erst ans der Ausbildung des
deutscheu Zolltarifs die Veranlassung zur Umkehr von der frühern Verkehrs¬
politik genommen hat, so wird man nicht ungerecht sein dürfen und etwa die Gründe
der Stagnation in unserm russischen Verkehr der russische» Regierung ganz
allein in die Schuhe schieben wollen. Immerhin bleibt der russische Zolltarif,
ungleich radikaler in seinem System als der deutsche, das xun«wen sÄiens bei
allen Versuchen zur Herbeiführung ersprießlicherer Verkehrsformen für unsern
Warenaustausch mit Rußland. Die russische Negierung hat in ihrem Zoll-
tarif im wesentlichen dein Streben nach Selbstbehauptung und weiterer kräftiger
Fortentwicklung der nationalen Produktion Ausdruck geben wollen. Man wird
auf Grund unsrer obigen Nachweise gern zugeben können, daß unter den Ein¬
wirkungen dieser Gewaltkur die russische Industrie auch thatsächlich im Laufe
der letzten Jahrzehnte einen Aufschwung erreicht hat. Trotzdem wird man, und
namentlich bei einem Vergleiche der verminderten russischen Ausfuhr- und Einfuhr-
listeu, der Ansicht sein dürfen, daß sie die Fähigkeit solcher Schutzmaßregeln
etwas einseitig überschätzt hatte, indem sie bei der Durchführung des Fichteschen
Lehrsatzes vom geschlossenen Handelsstaate, des Grundsatzes, daß alles, was im
Lande produzirt werde, auch im Lande konsumirt werden müsse, ohne Rücksicht
auf die natürlichen Existenzbedingungen vieler Industriezweige mit beträchtlichen
Opfern eine künstliche Schöpfung ins Leben gerufen habe, die weniger durch
sich selbst als durch die Gesetzbestimmnugen zur Haltbarkeit gelangt ist. Um
derartige Schutzmaßregeln zu rechtfertigen, wie sie jetzt in Rußland bestehen,
darf nicht nur der Nachweis der ernstlichen Bedrohung eines erheblichen Teiles
der nationalen Produktion verlangt werden, sondern es muß auch mindestens
wahrscheinlich gemacht werden, daß der Gewinn auf dieser Seite den unver¬
meidlichen Nachteilen auf der andern Seite die Wage halte.
Jeder Schutzzollpolitik letztes Ziel ist die Handelsfreiheit, aber diese darf
nicht in rein idealistischer Weise antizipirt werden, sonder» sie soll zuvor in
ihren realen Bedingungen sichergestellt werden, und deshalb muß man vor
allen Dingen die nötige Reife für die Jndustriethätigkeit voraussetzen dürfen.
Mit bloßen Nepressivmaßregelu ist eine blühende Industrie auf die Dauer aus
dem Nichts nicht hervorzuzaubern. Von einem unsrer neuern Nationalökonomen
ist sehr treffend der Satz aufgestellt worden: Eine Nation ist nur dann industrie-
rcif, wenn sie einen Überschuß an Kapital und Bevölkerung erzeugt hat, der
im Ackerbau mit seinen gewohnten Kleingewerben keine hinlängliche Beschäftigung
mehr finde» kann und deshalb entweder zur Auswanderung oder aber zu einer
noch uuseligeru Bvdenzersplitternng drängt. Bei diesem Stadium angelangt,
gilt es, die überschießenden Kräfte mit weiser Staatskunst in die neuen Gewerbs-
lanäle, welche die Natur selbst für sie in Bereitschaft hält, überzuleiten. Man
kann billig fragen, ob in Rußland soviele überschüssige Kapital- und Menschen¬
kräfte vorhanden seien, daß es bereits darin die Mittel findet, ans einen Aus¬
tausch seiner Produkte mit dem Auslande dauernd zu verzichten. Die Frage,
ob Rußland jene Vorbedingungen für sein Schutzzollsystem geschaffen habe, wird
sich nach den obigen Darlegungen von selbst erledigen.
Die Frage der deutsch-russischen Zollausgleichuugeu ist augenblicklich durch
eine Agitation der rheinisch-westfälischen Handelskammern von neuem brennend
geworden. Diese haben auf einer Konferenz in Iserlohn eine Petition an den
Reichskanzler zu Gunsten von Zolltarifermäßignngen im Verkehr mit Nußland
beschlossen. Wir glauben deshalb, daß eine Darlegung der gegenwärtigen deutsch-
russische» Handelslage geeignet sei. die Meinung über die Wichtigkeit dieser An¬
sprüche zu klären. Die Petition liegt dem Fürsten vor, und man darf wohl
erwarten, daß von unsrer Neichsregicrung alles gethan werden wird, um der
deutschen Industrie das gewaltige russische Absatzgebiet zu erhalten.
ach uraltem Weisheitsspruch muß der Mensch warten können, bis
seine Zeit kommt, »ut ein Schriftsteller, wäre es auch der größte
und einflußreichste, mag wohl uoch öfter warten müssen als andre
Menschenkinder. Daß er sich schlecht aufs Warten verstand, ist
Johann Gottfried Herder, dem großen Bahnbrecher und kritischen
Vorkämpfer unsrer klassischen Dichtung, dem gewaltigsten und vielseitigsten An¬
reger, den unsre Literatur neben Lessing besessen hat, oft genug im Leben zum
Unheil ausgeschlagen und hat ihm trübe Stunden bereitet. Indessen scheint es,
als ob das irdische Wnrtemnüssen für den Unsterblichen auch mit dem Leben
nicht vorüber sei. Für Herders Geist und Namen hat es sich mehr als ein
Menschenalter hindurch notwendig gezeigt. Wie schienen seine Werke, wie schien
selbst seine gewaltige Persönlichkeit vergessen, wie dünn und blaß wandelte sein
Schatten durch unsre literarhistorischen Hand-, Not- und Hiifsbücher! Kaum
daß die Nachdichtung des „Cid" in Cvttas Miniaturausgaben einige neue Leser
und Leserinnen gewann, kaum daß ein paar unvergängliche Seiten Herderscher
Geschichtsphilosophie in den Schulmustersammlungcn fortlebten.
Nun ist ihm wie keinem zweiten uuter unsern Klassikern der philologisch-
historische Zug der Zeit zu Hilfe gekommen. Man konnte sich garnicht eingehend
und ernsthaft mit der Geschichte und den Produktionen der Sturm- und Drang¬
periode und der nachfolgenden Jahrzehnte beschäftigen, ohne überall ans Herders
geniale Kraft und tiefgreifende Wirkungen zurückgewiesen zu werden, man ging
so vielfältig in seinen Spuren, mußte so tausendfach an feine Lebensarbeit an¬
knüpfen und erinnern, daß man immer deutlicher erkannte, ihm sei schon bei
Lebzeiten und vollends ein paar Jahrzehnte nach seinem Tode gewaltiges
Unrecht geschehen. Diese Erkenntnis hat sich bereits in einer ganzen Reihe
von Veröffentlichungen, von Neudrucken, Answcihlen, „Lichtstrahlen" aus Herders
Schriften, vor allem aber in der großen Gesamtausgabe seiner „Werke" von
Bernhard Suphan und in der Errichtung eines biographischen Denkmals im
größten Stil und von den edelsten Verhältnissen geltend gemacht.
Keinem unsrer großen Männer des achtzehnten Jahrhunderts ist bisher
eine gleiche Biographie zuteil geworden, wie sie Herder in dem vor kurzem
vollendeten Buche Herder nach seinem Leben und seinen Werken dar¬
gestellt von N, Haym (Berlin, A. Gaertncrs Verlagsbuchhandlung. 1880—1885)
gefunden hat, einem der erfreulichsten Bücher, welche die Spezialsorschung und
Spezialarbeit unsrer Tage hervorgebracht hat, erfreulich besonders auch deshalb,
weil sich hier die mühevolle und jahrelange Arbeit, die energische und treue
Einzelforschung einem großen, umfassenden Stoffe, einem Lebensbilde zugewendet
hat, welches ohne Zwang und künstliche Aufbauschung ein gutes Stück der
gesamten Kultur- und Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts in sich schließt, Hayms „Herder" ist unter dem Gesichtspunkte
geplant, daß eine wissenschaftliche Arbeit dieser Art die Vollständigkeit des
Materials, die umfassendste Kenntnis von Büchern, Menschen und Zuständen
bedinge, der Verfasser hat offenbar keine Mühe gescheut, sich in den Besitz neuer,
seither unbenützter Belegstücke zu bringen und sich völlig unbekannte Quelleu
zu erschließen. Aber er ist keineswegs der Meinung gewesen, daß damit seine
Pflicht erfüllt sei, er hat sich nicht zu jener Gleichgiltigkeit gegen Vergeistigung
und Darstellung aufgeschwungen, die in gewissen Philologenkreisen als Kenn¬
zeichen wahrer Wissenschaftlichkeit gilt. Vielmehr ist das in zwei großen Bänden
vorliegende Buch in mehr als einem Betracht ein Muster vortrefflicher und
gleichmäßiger Durchführung, geistvoll eindringlichen und erschöpfenden Urteils,
lebendiger Heraufbeschwörung vergangner Tage, Erlebnisse und Bestrebungen.
Nicht leicht hätte sich jemand das Ziel weiter stecken und noch weniger leicht
dasselbe so sicher erreichen können wie der Biograph Herders. Im einzelnen
wird der Spürende Herderphilolog mehr als eine Berichtigung oder Ergänzung
beibringen können, im einzelnen der Kenner der in Frage stehenden Zeit und
ihrer Erscheinungen gegen eine oder die andre Bemerkung Einspruch erheben
können — im ganzen jedoch wird jeder rechte Freund unsrer großen Literatur
volle, unverkümmerte Freude an der Pietät, der sachlichen Tüchtigkeit, der feinen
Empfindung, der Einsicht und Ausdauer des Hamnschen Buches haben können.
Wie weit unser zerstreutes, nach allen Seiten hin- und hergezerrtes, sensations-
bedttrftiges Publikum fähig ist, ein so ernst gediegnes Werk um seiner ge¬
winnenden Darstellung willen aufzunehmen, wagen wir nicht zu entscheiden;
die Kirche der Anteilnehmenden ist zur Gemeinde zusammengeschmolzen, in dieser
Gemeinde aber wenigstens wird Herders Lebensbild so viele Leser finden, als sie
Humpler zählt.
Als Hahn im Oktober 1877 die Vorrede zu den ersten Büchern seiner
Arbeit schrieb, mag er gehofft haben, in viel kürzerer Frist zum Schlüsse zu
kommen. Man begreift recht wohl, daß er dennoch zum endlichen Abschlüsse
der in den größten Verhältnissen angelegten Biographie noch sieben Jahre
gebraucht hat. Nach der Seite mancher Erkenntnisse hin ist die langsamere
Bollendnng dein Buche förderlich und in Bezug auf die Hauptsache, den ein¬
heitlichen Ton, den freien Fluß der Darstellung wenigstens nicht schädlich ge¬
wesen. Haym hat mit einem lebendigen Bilde seines Helden in der Seele ge¬
arbeitet, der Anreiz, die mächtige, aber keineswegs leicht zu verstehende Natur
Herders aus der Wechselwirkung ihrer Anlagen und der Verhältnisse zu be¬
greifen, in ihren mannichfachen Wandlungen und Irrtümern ganz zu verstehen,
hat ihn auch bei der Schilderung jener letzten Periode des Hcrderschen Lebens
und Wirkens nicht verlassen, an welcher Charakterdarsteller und Kritiker scheu
vorüberzuhuschen pflegen. Hayms erste Bücher geben eine so gründliche und
erschöpfende Jugendgeschichte Herders, weisen den Wurm, der in Herders
Seele nagte, und den Widerspruch, der in seiner Entwicklung vorhanden war,
in so früher Zeit nach, daß alles Folgende nnr als Konsequenz dieser Voraus¬
setzungen erscheint. Das spätere Zerwürfnis Herders mit feinem größten Freunde,
mit Goethe, die verbitterte Jsolirung, in welche er im letzten Jahrzehnte seines
Lebens gesetzt war, wirken darum nicht minder erschütternd und tragisch, weil
wir sie, den leisen Winken des Biographen folgend, schon lange zuvor nahen
sehen. Wunderbar fein entwickelt Haym aus den ersten Autorenerlebnissen
Herders, die in die Tage feiner Rigacr Wirksamkeit fallen, die Unvermeidlichkeit
der spätern innern und äußern Kämpfe, erschöpfend weist er bereits in den An¬
fängen seiner Bildung und seinen ältesten Schriften den Keim der Anschauung
uach, durch welche der große Vorläufer der neuen deutschen Poesie in einen
Feind der Meisterschöpfungen eben dieser Poesie verwandelt wurde. „Wohl
lebte in ihm, heißt es Bd. 1, S. 160, das Bedürfnis nach echter, ursprüng¬
licher, freiwillig und unmittelbar der Brust entströmender Poesie, wie kaum in
einem zweiten seiner Zeitgenossen. Allein ein schöpferisches Genie war nötig,
um den Punkt zu treffen, wo seine Forderungen erfüllt, dies sein Bedürfnis
befriedigt werden konnte. Er selbst verlegte die Verwirklichung der Idee, die
ihm als Ahnung vorschwebte, an einen falschen Ort. Mit Recht sah er sich
nach einem Gedichte um. »das alle Saiten des menschlichen Herzens treffe»
müßte,« das »die größte Höhe des poetischen Genies in unsrer Stufe der Kultur
und die originalste Ausgabe der menschlichen Seele wäre.« Auf dem Boden
der Lyrik, wohin ihn seine Theorie des Liedes und sein Geschmack für Volks¬
lieder, und auf dem Boden des Dramas, wohin ihn seine Shakespearestudien
wiesen, hätte er es suchen sollen. Er suchte es auf dem Boden der didaktischen
Dichtung und in der unmittelbaren Nähe der Philosophie. Er verwechselte die
ticfinnerliche, seelische Wirkung und den seelischen Ursprung der Poesie mit dem
aus dem Seelenleben zu schöpfenden Stoffe der Dichtung. Er zweifelte nicht, daß
eine solche Dichtung ergreifender sein würde als Epopöe oder Drama, die
immer nnr eine oder wenige Saiten des Herzens anrühren können. Als ob
das Farbenspiel des Lichtes nicht vielmehr dadurch bedingt wäre, daß es, statt
nur sich selbst zu beleuchten, sich tausendfältig an den Gegenständen bricht."
Nach der feinsinnigen Erörterung dieses Herderscheu Grundirrtums schon in
den Anfangen seiner literarischen Laufbahn, ergiebt sich die letzte unglückliche
Wendung in Herders ästhetischer Anschauung, durch die er zum schroffen Gegner
Goethes und Schillers gestempelt ward, gleichsam von selbst. „Herder wandte
sich, nachdem ihm, dein Bewunderer des Götz und des Werther und des Egmont,
schon der Tasso nicht mehr recht zu Sinne gewesen, von bei, Dichtungen feind¬
selig ab, in denen Goethe sich wieder auf der Höhe seiner Kunst in spielender
Meisterschaft zeigte. Den Adel der schönen Form und die Gewalt des reinen
Kunstwerkes verkennend, wurde er zum einseitigen Anwalt der Moralität, führte
er gegen das Recht des Talents das Recht des Herzens und gegen die sich
eben in üppiger Pracht erschließende Blüte der Poesie Humanität und Christen¬
tum ins Feld. Wonach er Zeit seines Lebens verlangt, wozu er selbst hundert¬
fältige Keime ausgestreut hatte, das stand jetzt in reichen Ähren vor ihm — ein
prangendes Feld, wenn auch selbstverständlich mit ein wenig Unkraut unter¬
mischt, aber es sah anders aus, als er es sich gedacht hatte; die Frucht des
Baumes, den er selbst gepflanzt und gepflegt, war süß — aber sie war nicht
genau nach seinem Geschmack und darum nicht die rechte, ja gar verderblich
und verwerflich." (Bd. 2, S. 627.)
Wir führen die beiden Stellen hier an, um zu zeigen, wie vollkommen
Anfänge und Schlüsse der Haymschen Darstellung sich decken, wie lebendig der
Biograph immer seinem Helden nachgefühlt hat, und wie sicher er selbst die rätsel¬
haftesten Vorgänge in Herders späteren Leben ans Momente zurückführt, die
seinem Jugendleben angehören. Durch alle Schicksale Herders und durch die
ungeheure Vielseitigkeit seines Forschens, Denkens und Darstellens klingen ja
jene ersten und mächtigsten Anregungen, die er in Königsberg von Kant und
Hamami empfangen hatte, immer wieder hindurch. In Hayms Buche lebt das
volle Verständnis dafür, wie sich das Bleibende solcher Eindrücke mit der un¬
glaublichsten Wandlungsfähigkeit paart, und nur, wer dies Verständnis besitzt,
konnte berufen sein, die mächtige, zu gleicher Zeit zur freudigsten Genugthuung
und zur wehmutsvollen Theilnahme auffordernde Gestalt Herders zu bilden.
Was Haym sonst mitbringt von Belesenheit und kritischer Schärfe, von großer An¬
schauung der Menschen und Dinge, es steht doch in zweiter Linie gegenüber
der warmem Liebe und der psychologischen Sicherheit, mit welcher er das ganze
Wesen und Leben Herders erfaßt. Der Hallenser Philosoph und Literar¬
historiker gehört eben noch zu jeuer Gruppe unsrer wissenschaftlichen Schrift¬
steller, die etwas, die viel von der großen Nationalliteratur empfangen haben
und jetzt, wo sie der historischen Darstellung der geistig größten Zeit Deutsch¬
lands ihre Kraft widmen, im Zurückgeben den Wert des Empfangenen dankbar
bezeugen.
In der Natur der Sache liegt es, daß man bei dieser Arbeit keinem Teile
vor dem andern einen Vorzug geben kann, und daß die einfache Bestätigung,
jede Partie der ausgedehnten Biographie sei gleich gediegen, gleich lebendig,
gleich fesselnd, das höchste Lob einschließt. Herders Leben hat keine sogenannten
Glanzpartien, es zeigt ein merkwürdiges Auf und Ab und gewinnt unser Interesse
vor allem durch die Art, wie es genutzt wurde, welche Früchte, deu Verhält¬
nissen und der eigue» Natur trotzend, ihm entsprossen sind. Durch eine freud¬
lose und harte Kindheit hindurch, die von Herder in keiner ihrer Einzelheiten
je vergessen worden ist und über die es auch Hahn nicht gelungen ist viel
mehr und viel wesentlicheres beizubringen, als wir ans Herders Erinnerungen
wußten, ringt sich der Jüngling zur Universität Königsberg und zum Studium
der Theologie hindurch, beginnt die Laufbahn, auf der er einer der größten und
wirkungsreichsten Schriftsteller der Nation geworden ist, gleichzeitig mit dem
ersten Schul- und Prcdigtamte in Riga. Von dem Rigaer Jahre des Ver¬
fassers der „Fragmente" und der „Kritischen Wälder" hat der Biograph schon
ein Bild, welches ganz anders und viel voller wirkt als die seitherigen Dar¬
stellungen. Es folgen im ersten Bande die merkwürdigen Reisejahre und die
Jahre, in denen Herder als Hofprediger des Grafen Wilhelm von Schaumburg-
Lippe in dem kleinen Bückeburg saß. Mit der Berufung mich Weimar, die ihm.
notwendigerweise als eine Erlösung erschien, schließt die erste Hälfte von Herders
Leben, der erste Teil der große» Biographie. Den ganzen zweiten Teil nehmen
die Jahrzehnte in Weimar (von 1776 bis 1803) ein, und je weiter Haym hier
vorschreitet, umsomehr ist das meiste von dem, was er zu bieten hat, „neu."
Selbst die bekannten Thatsachen erscheinen hier vielfach zuerst auf ihre wahren
Motive zurückgeführt, in ihrem Zusammenhange erfaßt, in ihrer Bedeutung dar¬
gestellt, beinahe nichts bleibt dunkel und ungewürdigt. Der Biograph trägt
natürlich ein andres Bild des klassischen Weimar in der eignen Seele als das
mannichfach verzerrte und beinahe immer getrübte, welches in der Seele Herders
lebte, aber keinen Augenblick vergißt er, daß wir die Dinge mit Herders Augen
sehen, daß wir erfahren und begreifen müssen, wie Herder auf seinein Weima¬
rischen Tvpfberg duzn kam, Menschen und Begebnisse feindselig anzuschauen,
welche für uns vom goldensten Schein umwoben sind.
Wie billig, drängt Haym alle diese Momente nicht zurück, aber er legt
ihnen auch nicht die ausschließliche Wichtigkeit bei, welche sie in gewissen Charak¬
teristiken erlangt haben. So gepreßt, geklemmt, dnrch fremde und eigne Schuld
Herders Lebcnssituation oft erscheint, er hat sich reichen und starken Geistes
über sie geschwungen, er hat, den Ärger und Verdruß der Tage besiegend, seinen
Jahren unvergängliche Stempel ausgedrückt und der scheinbar fremd- und frucht¬
losesten Zeit Werke abgewonnen, die mit und trotz allen Mängeln bleibend sind.
Was er im Leben vermocht, muß ihm auch in der Erinnerung zu Gute kommen;
da er bei aller Weichheit, Reizbarkeit und Hypochondrie im einzelnen ein Helden-
haft tapfrer Mann im ganzen geblieben, würde es auch seinem Biographen
schlecht anstehen, wenn dieser nur der Schattenseiten in Herders Lebensverhält¬
nissen gedächte. Und namentlich wird Heiden dem höchsten und seltensten Glücke,
das Herder zuteil ward, dem Glücke in seiner Ehe gerecht, „Von der innigen
Gemeinschaft, in der er mit seiner Gattin lebte, haben die früheren Blätter
dieser Biographie geredet, müssen insbesondre diese letzten reden. Mit aller
Stärke der Liebe, deren nnr das Weib fähig ist, und mit all der leidenschaft¬
lichen Schwäche, die wieder nnr dem Weibe verziehen werden darf, umfaßte
und trug sie ihn, ganz wie er war, den Liebenswürdigen so gut wie den Un¬
leidlichen, während sie zugleich mit fast männlichem Geiste zu seinen Ideen sich
zu erheben, in seine Entwürfe und Interessen einzugehen verstand, Glenn hatte
Recht: wenn Kawline Herder nicht wäre, so wäre kein Johann Gottfried Herder,
Sie war Mitarbeiterin an seinen literarischen Arbeiten, seine erste Hörerin und
Leserin, sei» Korrektor, sein Sekretär, Sie nahm ihr Teil an seineu Ent¬
zückungen und Begeisterungen, doppelt ihr Teil an seinen Aufwallungen und
Verbitterungen, Ohne Vorbehalt waren seine Gesinnungen, im Lieben wie im
Hassen, die ihrigen, und nur von den äußerlichen Nöten, die sich herandrängten
behielt sie die drückendsten sich allein vor, Sie war mit ihm gealtert. Seit
der Geburt ihres Jüngsten hatte ihre Gesundheit empfindlich gelitten, und müh¬
samer von Jahr zu Jahr hielt sie sich nnter den wachsenden Anforderungen
ihres Hauswesens, unter häufigem Krankendienst, nnter dem Kampfe mit den
äußern Bedürfnissen des Lebens, den schweren Sorgen um die Erziehung der
Kinder aufrecht. Allein so gerade, indem sie »wie eine Schnecke ihr Haus trug«
und selbst krank, seine Krankheit verstand, mit selbst verwundeten Gemüte seinen
Unwillen in gesteigerter Empfindung zu dem ihren machte, war sie ihm die beste
Gefährtin: — nicht durch Sanftmut, sondern durch Mitleidenschaft seine Be-
sünftigerin, Trösterin, eine Freundin, mit der kein Freund hätte wetteifern
können!" (Bd, 2, S. 746,) Alles in allem, tragen wir aus dein umfassenden
Werke den ernsten Eindruck eines ernste» Lebens davon und fühlen uns gestimmt,
mit den? Verfasser den Spuren des Herderschen Wirkens auf den verschiednen
Gebieten nachzugehen und uns des Reichstums seiner geistigen Schöpfungen
und Anregungen neu zu versichern.
Meisterhaft sind zum größten Teil die Analysen, welche Haym von Herders
Arbeiten giebt. Bis in den letzten Jdeentern des Verfassers hinein weiß er zu
folgen, und wo er mit scharfer Kritik die Mängel der Jugendschriften und der
Herderschen Alterswerke darlegt, da entwickelt er umso liebevoller und licht¬
voller den selbständigen Gehalt, die Gedankenfülle, welche diesen Büchern und
Aufsätzen eigentümlich ist. Wer z, B, die Besprechung der Bückeburger „Auch
eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" im ersten Bande
oder der „Metakritik" und der „Knlligvne" im zweiten Bande aufmerksam folgt,
der wird empfinden, daß niemand freier vom l'uror d1oZraMou8, aber auch
niemand stärker vom Gefühl gerechter Wertschätzung durchdrungen sein kann
als der Verfasser dieser Biographie, Die Kenntnis Hnyms erstreckt sich natürlich
nicht bloß auf die Herderschcn Schriften, sondern auch auf die Aufnahme, die
sie gefunden, die Urteile der Zeitgenossen, welche sie hervorgerufen, die Nach¬
wirkungen, die sie erzeugt haben. Es gelingt ihm ebenso sicher, im Gewirr der
Meinungen, der enthusiastischen wie der verwerfende», ein billiges und fein ab¬
gewogenes Schlußurteil zu finden, als in den erzählenden Partien seiner großen
Arbeit die Wahrheit ans widersprechenden Berichten zu erörtern. So bildet
für alle diejenigen, die den Herderschen Ideen und der Art seines Geistes und
seiner Anregungsfähigkeit fremd geworden sind, aber zu ihm zurückzukehren wün¬
schen, Hayms Biographie eine vortreffliche Einführung in die große Snphansche
Ausgabe der Schriften,
Es wird lange dauern, bis wieder ein zweites gleich vortreffliches und
erschöpfendes Buch über eine der großen Gestalten unsrer klassischen Tage ver¬
öffentlicht werden wird. In welchem Sinne dasselbe gedacht ist lind aufgenommen
werden sollte, erhellt aus den Schlußworten Hahns, Nachdem er der trüben
Tage, in denen Herders Standbild in Weimar enthüllt wurde, und der Festrede
gedacht hat, mit der damals Adolf scholl diese Enthüllung begleitete, sagt er:
„Wenn wir heute uns des großen Verdienstes Herders erinnern, so nehmen
unsre Gedanken eine andre Richtung: sie verdichten sich zu dem Vorsätze, daß
wir über den Besitz unsrer errungnen Staats- und Nationaleinheit die Gesinnung
der Eintracht und mit ihr alle die Heiligtümer des innern Menschen uns nicht
wollen abhanden kommen lassen, für die er gelebt und geeifert, mit mutiger
Seele gekämpft, mit unmutiger Seele gelitten hat," Wir dürfen hinzufüget!,
daß uns jedes Buch von der Tüchtigkeit und dem edeln Ernste des Hnymschen
„Herder" die Zuversicht erhöht, daß diese Gesinnung nicht bloß ein Programm,
le alte Lagunenrepublik hat im Orient dauernde Spuren ihrer
Herrschaft hinterlasse», auch Genua, obgleich welliger zahlreich.
In dem italienische» Mittelalter, wie es sich durch diese Staats-
wesen aussprach, liegt ein guter Rest altrömischer Kraft und Re-
gierungskunst, Ihre Kolonisation ans den ionischen Inseln, ans
Cypern, Kandia und Rhodus ist noch heute das Fundament europäischer Ge-
sittung und Kultur geblieben. Das sonst jeder Assimilirung mit dem Westen
widerstrebende Byzantinertum sympathisirte hier mit dem Handelsgeiste der
Republiken, und wie wenig sonst Griechen und Italiener frenndnachbarlich ver¬
kehrten und verkehren, so hat sich doch auf den genannten Inseln sowie in
mehreren Küstenstädten Kleinasiens eine Amalgamiruug vollzogen, woraus jene
Spezies hervorgegangen ist, die man „Levantiner" nennt. In der Mehrzahl
italienischen Ursprungs und Namens, werden jetzt alle so bezeichnet, welche von
europäischen Eltern abstammen und in der Levante (Ägypten einbegriffen) geboren
sind. Es besteht eine gewisse Analogie mit den Kreolen in Westindien, nur
daß darunter nur in den Kolonien geborne Spanier verstanden werden, wogegen
Levantiner ebenso gut französischer, englischer, selbst deutscher Nationalität sein
können als italienischer. Sie sind zumeist, fast ausnahmslos, katholisch, aber
keinenfalls „Najahs," d. h. nicht Unterthanen der Pforte, und es wird auf die
Landsmannschaft durchaus nicht immer Rücksicht genommen. So hat z. B. Oster¬
reich eine Menge Schutzbefohlener, die nicht von dort abstammen und Staaten an¬
gehören, die mit der Pforte keine Kapitulationen hatten und daher früher
diplomatisch nicht vertreten waren. Österreich erfreut sich im Orient noch eines
gewissen traditionellen Ansehens, und es wäre gegenwärtig wohl angebracht,
dasselbe zu erhöhen und zu stärken. Griechenland zahlt ethnographisch nicht zu
Europa, daher die im Königreich gebornen. dem hellenischen Konsulat in den
türkischen Provinzen zuständigen Griechen auch nicht als Levantiner gelten.
Mit ihrem Vaterlande stehen die Levantiner nur in lockerm Zusammen¬
hange, und es werden ihnen mehr Rechte gewährt als Pflichten auferlegt. Sie ge¬
nießen dessen Protektion in allen bürgerlichen Rechtssachen, wo der Beklagte
Europäer ist, ausgenommen, wenn es sich um Streitfragen über den Grundbesitz
handelt. Früher konnte kein Europäer Grundbesitz erwerben, derselbe mußte auf
deu Namen der Frau eingetragen werden, welche das türkische Gesetz als Rajah
ansieht. Jetzt hat mau dies zugestanden uuter der Bedingung, daß das türkische
Gericht kompetent sei. Auch Hypotheken können bestellt werden, was dnrch Über¬
gabe der Schlüssel, als symbolischen Akt eventuellen Nerkcmss, geschieht. Bei
einem Zinsfuße von 10 bis 12 Prozent wäre das ein glänzendes Geschäft, aber
die Unsicherheit des Besitztitels, insbesondre die oft ganz unerwartet eintretenden
Ansprüche des sogenannten „Vaknf" (Kirchenvermögen) erheischen die größte Vor¬
sicht. Sonst gilt das englische llonss is nry ca,Mo im Orient im vollste»
Maße. Nur mit Intervention des Konsuls darf die Wohnung eines Europäers
von der türkischen Behörde betreten werden. Sie kaun zwar in Kriminalsachen
den Verbrecher festnehmen, hat ihn aber auf Reklamation des Konsuls auszu¬
liefern, welcher bis zu kleinen Freiheitsstrafen selbst erkennt, in schweren Fällen
den Schuldigen zur Aburteilung in sein Heimatland schickt. Letzterer zieht indes
in der Regel das türkische Gericht vor nud reklmnirt dagegen nicht; hat er doch
da bessere Aussicht, mit leichter Strafe wegzukommen, vor Abbüßung losge-
lassen zu werde» oder bei der jämmerlichen Beschaffenheit der Gefängnisse die
Flucht zu ergreife«. Sämtliche Berufskonsuln im Orient sind entweder selbst
rechtskundig oder haben einen Juristen zur Seite, dem englischen steht sogar das
Recht zu, aus seinen Landsleuten eine Jury einzuberufen. Die Levantiner sind
frei von den direkten Steuern, mit Ansncchme der auf den Grundbesitz, wofür
sie gleichmäßig an die Pforte zahlen, desgleichen aller indirekten Abgaben. Die
allgemeine Wehrpflicht ihrer Heimat ist obligatorisch, allein wer nicht dahin
zurückkehren will, kann sich derselben leicht entziehen. Schon längst ist man
bemüht, einem so abnormen Zustande ein Ende zu machen, nnr müßte dann
eine Totalreform der türkischen Verfassung und Gesetzgebung vorausgehen, was
bis jetzt an der Unübcrsteiglichkeit der religiösen Grundsätze und Hindernisse ge¬
scheitert ist. So lange der Koran für die Ungläubigen kein gleiches Recht aner¬
kennt, läßt sich von internationalen Institutionen mit Gegenseitigkeit nicht reden.
Es leben Millionen Griechen, Armenier, Juden als türkische Unterthanen, sie
sind aber von einer Reihe öffentlicher Ämter, wie z. B. vom Militär, der Justiz
und dem Unterrichtswesen, grundsätzlich ausgeschlossen, und wo sie, wie in den
Finanzen und im diplomatischen Dienste, vereinzelt zugelassen werden, fehlt ihnen
doch die staatsbürgerliche Geltung, sie unterliegen der Kopfsteuer, und der ge¬
meinste Muselmann betrachtet sie uicht als ebenbürtig. Die europäischen Be¬
amten, die neuerdings selbst höhere Ämter bekleiden, sind auf Zeit und Wider¬
ruf angestellt und könnten, wenn sie sonst wollten, nur durch Übertritt zum
Islam als Türken nationalisirt werden, wie dies bei Militärs ja öfter ge¬
schehen ist. In der ottomanischen Armee fehlt es nicht an Renegaten.
Die Levantiner in der angeführten Definition haben sich bisher gewisser¬
maßen als die Aristokratie des Orients betrachtet, obwohl es mit ihrem sozialen
Stammbaum nicht eben weit her ist. Die Eltern und Großeltern vieler reichen
Handelsherren in Smhrna und Alexandrien waren Lastträger und Schiffsleute, und
wenn sie hvchkliugende, selbst historische Namen, wie Giustiniani, Durcmdv u. s. w.
trage», so sind dies höchst willkürliche Anmaßungen, die sich daher schreiben,
daß sie ans Besitzungen geboren sind, wo einstmals jene venezianischen und Ge¬
nueser Familien herrschten. Das charakteristische Merkmal des Levantiners ist
seine Vaterlandslosigkeit; da, wo er geboren, betrachtet er sich als Fremder und
nimmt keinen Anteil an dem allgemeinen Geschick seiner Mitmenschen. Von dem
europäischen Staate, dem er ostensibel angehört, verlangt er nur den Schutz
seiner materiellen Interessen, will aber sonst mit ihm außer allem geistigen,
selbst politischen Zusammenhange bleiben und von bürgerlichen Pflichten gegen den¬
selben so wenig als möglich wissen. Der Levantiner ist der verkörperte Egoismus,
der noch dadurch verstärkt wird, daß bei dem Aufschlüsse fast aller andern Be¬
rufswege sein ganzes Streben und Trachten auf geschäftlichen Besitz und Ge¬
winn gerichtet ist und jeder Gemeinsamkeit für Erreichung höherer und edlerer
Zwecke eiuer staatsbürgerlichen Gesellschaft entbehrt.
Wenn man einen Levantiner fragt, was er für ein Landsmann sei, so hört
man oft die Antwort, er sei „Katholik/' In dieser konfessionellen Beschränkung
und Beschränktheit drückt sich der einseitige und engherzige Standpunkt der
ganzen Spezies sprechend aus, Sie ersetzt durch Bigotterie, was ihr an
Patriotismus abgeht, die Frauen natürlich obenan, aber auch die Männer sind
nichts weniger als frei davon. Der Einfluß der Priester in den Familien
dürfte nirgends mächtiger sein, ich kenne dies aus eigner Erfahrung, Als ich
mich vor neunundzwanzig Jahren in Smyrna verheiratete, war der Erzbischof
durch leine Mittel und Wege dahin zu bringen, anch nur durch passive Assistenz
seine Zustimmung zu einer gemischten Ehe zu geben. Es bestand damals noch
keine Ziviltrauung, und so blieb keine andre Wahl, als sich mit der Einsegnung
durch den protestantischen Geistlichen zu begnügen. Die Braut wurde extom-
munizirt, und es hat Jahre gekostet und große Anstrengungen der darob
höchst bekümmerten Verwandten, bis der Bann gelöst wurde. Jetzt kommt man
etwas leichter darüber weg, weil nach allgemeiner Einführung der Zivilehe der
Klerus fürchtet, es könne bei allzuweit getriebener Intoleranz der Segen der
Kirche ganz beiseite gesetzt werden.
Die römisch-katholische Kirche steht in der Levante unter dem politischen
Schutze Österreichs und Frankreichs. Besonders letzteres hat die Suprematie
so ziemlich in den Händen, von den meisten Kirchen wehen die blaurotweißen
Flaggen, wogegen das schwarzgelb oder das Weißrotgrün, in das es sich jetzt durch
Ungarns Zutritt verwandelt hat, sehr zurücktritt. Italien als politische Macht
gilt für die Kirche so gut wie nicht und gegenwärtig umso weniger, als der Vatikan
in der Fremde gegen den Anspruch des Quiriuals mit mehr Erfolg operirt
als im eignen Hause. Er hat kaum irgendwo eifrigere Bekenner und Partei¬
gänger als die levantiner Katholiken, und es ist eine bemerkenswerte, nicht hinläng¬
lich gewürdigte Tatsache, wie dasselbe Frankreich, welches bei sich so streng und
rücksichtslos gegen den Klerus auftritt, alle Orden aufgelöst und vom öffent¬
lichen Unterricht ausgeschlossen hat, dieselben im Orient systematisch unter¬
stützt und zur Propaganda, wenn auch uicht für die republikanische Staats¬
form, so doch für seine nationalen und politischen Zwecke und Absichten benutzt.
Bis zum Krimkrieg war Italienisch die herrschende Sprache längs der ganzen
nördlichen und östlichen Küste des Mittelmeeres, jetzt ist es dnrch Französisch
verdrängt. Es giebt nur wenige und zwar höchst mangelhaft bestellte italienische
Schulen, wogegen die ?rvrö8 ig'Q0Mirt,in8 und die Lozm'8 Ah Lion überall reich
dotirte und vollständig eingerichtete Anstalten begründet und so die Erziehung
der männlichen und weiblichen Jugend an sich gerissen haben. Die liberalen
oder gar radikalen Grundsätze der heutigen Machthaber werden da allerdings
uicht gelehrt, umsomehr aber von monarchisch-klerikale!? Gesinnungen durch¬
drungene Sympathien für Frankreich als die katholische Schntzmacht genährt und
die gesamte katholische Bevölkerung der Levante daran gewöhnt, von dort all ihr
Heil zu erwarten. Du- reichen Familien schicken ihre Kinder fast ohne Aus¬
nahme nach Lyon und Marseille in Privatinstitute und Pensionate, die unter
jesuitischen Einfluß stehen. Selbst die neuesten, folgenreichen Ereignisse haben
in dieser einseitige» und kurzsichtigen Anschauung keine Wendung hervorgebracht,
und das alte Borurteil, daß Paris der Mittelpunkt der Welt sei, wo alles
Große, Schöne und Vortreffliche sich vereinigt finde, hat sich nirgends mehr
erhalten als in der Levante, Der Arzt und der Advokat, soweit sich Levan-
tiner diesem Berufe widmen, glaubt einzig und allein in Paris seine Studien
vollenden zu können, erfüllt vou der dortigen Eitelkeit und Selbstüberhebung
ignorirt er absichtlich die Fortschritte andrer Länder, und zumal deutsche Wissen¬
schaft, welche doch jetzt einen guten Teil der Erde beherrscht, hat hier noch keine
Wohnstätte und Aufnahme finden können. Die Siege der deutschen Waffen
und der Name Bismarck imponiren freilich diesen unselbständigen Naturen,
aber man hat ihnen in der Schule gesagt, Preußen sei ein ketzerischer Staat
und Deutschlands Einheit unter der Hohenzollern Szepter bedrohe den katho¬
lischen Glauben, und dies genügt, um sie uns zu entfremden. Die Österreich
zugedachte Mission, deutsche Kultur nach Osten zu tragen, hat keine Früchte
getragen und liegt gegenwärtig auch kaum in seiner Politik. Ginge die deutsche
Grenze bis zur Adria, wäre Triest eine See- und Handelsstadt des deutscheu
Reiches, so konnte man sich Hoffnungen überlassen. Wie jetzt die Sachen liegen
und wenn Italien fortfährt, seine allernächsten, unmittelbarsten Interessen durch
abenteuerliche Koloiiisntionsprojckte auf das Spiel zu setzen, mag es Wohl
dahin kommen, daß das Mittelmeer doch noch ein großer französischer See wird.
Wenn die Levantiner früher an der Spitze der Geschäfte standen und die
wichtigsten Zweige des Handels in den Händen hatten, so ist es jetzt anders ge¬
worden. Da sie in ihrem ganzen Bildungsgange zurückblieben und immer ein¬
seitiger wurden, vermochten sie auch nicht in dem Kampfe mit der Konkurrenz,
die sich allerwärts kundgiebt, zu siegen. Sie erlitten ansehnliche Verluste,
und mit ihren Vermögensverhältnissen sieht es in der Mehrzahl schlecht aus,
Fallimente sind an der Tagesordnung, gar häufig als beliebtes Mittel, seiner
Schulden sich zu entledigen und von neuem schwindelhafte Geschäfte anzufangen.
Givße Reichtümer nach unsern Begriffen in regelmäßigem Handel zu erwerben,
ist der Orient überhaupt nicht der Ort, es giebt wohl viele Millionäre, aber nur
in Piastern (.1 Piaster gleich 20 Pfennigen). Dagegen kann man kaum anderswo
leichter mit weniger Fonds sich etabliren und auf Kredit arbeiten. Wo zehn bis
zwölf Prozent der gewöhnliche Zinsfuß sind, muß man dabei freilich einige
Gefahr übernehmen. Der Schmuggel ist eine Hauptquelle des Gewinnes der
Levantiner Kaufleute, die Aufregung über die Strenge, womit die neuen Zoll¬
pächter das Gesetz zur Geltung bringen wollen, eine allgemeine, und man glaubt
kaum, daß sie gegen das Interesse der von der Bestechung besser als von ihrem
Gehalt lebenden Beamten durchdringen werden. Noch mehr als an Einsicht,
Fleiß und Unternehmungsgeist fehlt es dem Levantiner an weiser Ökonomie,
Einteilung und Anlegung seines Vermögens. Es wird alles der Ostentation
und dem äußern Scheine aufgeopfert. Um der Eitelkeit zu genügen und
Effekt zu machen, giebt man mehr aus, als man einnimmt. Luxus der Toiletten
und prunkhafte Haushaltung sind im ganzen Orient der Fluch, woran schon manche
Familienexistenz zu Grunde gegangen ist, man überbietet sich in einem lächerlichen
Wetteifer und verschwendet in der Regel ohne Geschmack und Intelligenz. Von
Eigentümlichkeiten ist wenig mehr zu sehen, Mode und Manieren sind Import¬
artikel von der Seine, die Nachäffung von Paris noch unendlich karikirter
als bei uns.
Alle diese Übelstände und Gebrechen würden indes nicht ausreichen, um
den Levantiner von der bevorzugten Stellung, die er seit Jahrhunderten einge¬
nommen hat, zu vertreiben, wäre nicht inzwischen eine andre lebens- und thatkräf¬
tige Nationalität aufgetreten oder vielmehr wiedergeboren worden, die init reißender
Schnelligkeit und Gewalt sich geltend macht. Es sind dks die Griechen, welche jetzt
unbedingt im materiellen sowie im sozialen Leben das Übergewicht erlangt haben
und, wie immer die endliche politische Lösung der orientalischen Frage sich gestalten
möge, dabei den einflußreichsten Faktor stellen werden, zumal in Kleinasien. Der
Fortschritt, den ich in den verhältnismäßig kurzen Zwischenrüumen meiner
Levantiner Reisen bemerkte, ist in der That ein ebenso überraschender als außer¬
ordentlicher, und ich Halle es daher der Mühe wert, über die Zustände und
Aussichten des Hellenentums, sowohl wie es sich in eigner Selbständigkeit als
auch in noch bestehender Abhängigkeit von der türkischen Herrschaft darstellt,
eine ausführliche, aus langer und aufmerksamer Beobachtung hervorgegangn«
Skizze zu entwerfen.
Der Herd der nationalen Bewegung in der griechischen Welt ist gegenwärtig
Athen und das Parlament selbst, und ihre Bestrebungen sind wesentlich auch auf
Asien und die Inselgruppen des Archipels gerichtet, da in der europäischen
Türkei durch die neuen Staatenbildungen von Rumänien, Serbien und Bulgarien
Reiche entstanden sind, stark genug, um ihre eignen Wege zu gehen, und man
dort, sei es unter österreichischer, sei es unter russischer Ägide, mit dem Slawen¬
tum« zu rechnen hat. Dazu kommt, daß die Griechen in Asien und ans den
Inseln in jeder Beziehung reineren, ungemischteren Blutes sind als im Peloponnes
und Attika, wo viel albanesisches Element eingedrungen ist; freilich Herr Fall-
merayer würde sagen, zwischen einem Viereck und einem Kreise giebt es keine
Gleichung. Heißt es doch wörtlich in den Fragmenten: „Das Geschlecht der
.Hellenen ist ausgerottet. Eine zwiefache Erdschicht deckt die Gräber dieses alten
Volkes. Die unsterblichen Werke seines Geistes und einige Ruinen auf heimat¬
lichen Boden sind noch die einzigen Zeugen, daß es ein Volk der Hellenen ge¬
geben. Nicht ein Tropfen echten, ungemischten Hellenentums fließt in den Adern
der christlichen Bevölkerung des heutigen Griechenlandes. Ein Sturm hat über
die ganze Erdfläche zwischen der Donau und dem innerste» Winkel des Pelo-
ponnes ein neues, mit dem großen Volksstamm der Slawen verbrüdertes Ge¬
schlecht ausgegossen. Und eine zweite nicht weniger wichtige Revolution durch
Einwanderung der ?llbanescn hat die Szene der Verwnsiung vollendet. Das
Wort Grieche bezeichnet heute alle jene Völkerschaften, welche im Gegensatze mit
der Lehre Muhammeds und des römischen Papstes Gesetz und Glaube» vom
Patriarchcnthrvne in Vyzanz empfangen," Nun, diese Paradoxen des geist¬
reichen Fragmcntisten sind wohl längst antiqnirt, sie bedürfen keiner Widerlegung
mehr, und die politischen Tendenzen, die Griechen in den Pcmslawismus einzu¬
verleiben, haben mit der Wissenschaft und Forschung nichts gemein. Daß Ver¬
mischungen mit fremdartigen Stämmen stattgefunden haben, daß der Stammbaum
des antiken Hellenentums dadurch vielfach gekreuzt und getrübt worden ist, wird
niemand bestreiten, aber ebensowenig kann der eigentümliche Typus, welcher bereits
im Aussehen und in der physischen Gestaltung die griechische Nasse von der
slawischen trennt, einem unbefangnen Ange entgehen. Da haben die Bewohner
von Trastevere keinen bessern Grund, sich der Abstammung von den alten
Römern zu rühmen, als z, B, die Hydrioten, die auf Sparta zurückgreifen.
Die Völkerwanderung hat Italien noch gewaltiger überflutet und umgewälzt als
hier, wo das oströmische Reich bis in das vierzehnte Jahrhundert gewisse
Schranken behauptete. Gerade die Inseln, zumal die vom Kontinent abge¬
legnen Cykladen, gewährte» ein sicheres Asyl gegen die Barbaren, welche das
Meer fürchteten und die weite Schifffahrt nicht wagten. Und wenn aus dem¬
selben Grunde die Venezianer sich als italienische Autochthonen ansehen, möge»
sie nicht ganz Unrecht haben.
Es ist hier nicht der Ort für eine historisch-ethnographische Abhandlung.
Man darf, wie gesagt, uur ein offnes Auge haben, nur den Griechen mit dem
schlanken Wuchs, dem ovalen Gesicht, dem lebhaften Auge und der nie rastenden
Beweglichkeit des Geistes von dem kraftvollen, aber breiten, plumpen und geistig
trägen Albanesen sofort zu unterscheiden. Mit der weiblichen Schönheit ist es wohl
etwas bergab gegangen, jenes Ebenmaß der Züge und Formen, das wir in den
alten Skulpturen bewundern, ist selten geworden, nnr hie und da auf den
Inseln begegnet man dem klassischen Profil mit der geraden Nase und der
plastischen Heitere»brust, die sich mit der hohlen Hand bedecken läßt. Ich hatte
für meine jüngste Tochter eine Amme aus Paros, die nicht ohne Grund den
Namen Aphrodite führte; leider fehlt in der Regel der Gürtel der Anmut, ohne
welchen alle Schönheit langweilt und übersättigt. Die mythologische Nomen¬
klatur ist wieder ganz an der Tagesordnung, man begegnet den Namen der
Grazien und Musen bei Köchinnen, Stuben- und Kindermädchen, Wie oft hört
man einen Kellner und Packträger mit Themistokles und Alkibiades rufen! Ich
hatte bei meinem ersten Aufenthalte einen Diener in Dienst genommen, der
Aristides hieß, aber ich gestehe, daß von allen Tugenden des große»
Republikaners die Armut die einzige war, die er diesem Namensbruder hinter¬
lassen hatte. Sonst sind auch die Heiligennamen sehr verbreitet, die Diann,
Basil, Nikola und insbesondre Georg; das schlechteste Dorf hat eine diesem
Drachenritter gewidmete Kapelle. Leider ist die Nationaltracht mehr und mehr
im Verschwinden, und doch war sie unendlich malerisch und kleidsam. König
Otto und Königin Amalie sind dem Fez, der Fustanella und dem goldgestickten
Spencer lange tren geblieben, aber mit der neuen Dynastie ist alle Romantik
verschwunden. Vereinzelt begegnet man noch Europäern darin. Zwei Regimenter
Grcnzmiliz tragen sogar noch die alte Uniform. Am meisten hat sich der weib¬
liche Kopfputz mit den kurzen Locken und dem rings um die Stirn geschlungner
Zopf erhalten. Die Inselgriechen sind der Mode der Pumphosen treu geblieben,
die von der Hüfte bis unter das Knie fallend oft ein ganzes Baumwollenstück
von zehn Metern messen. Man kann sich des Lachens nicht enthalten, einen
solchen Matrosen, der den Befehl erhält, auf den höchsten Mastkorb zu steigen,
mit beiden Händen die Hosen zwischen den Beinen durchziehen und hinten in
einen kolossalen Knoten zusammenbinden zu sehen. So geht er hinauf wie eine
Katze; kommt er herunter, so knöpft er wieder auf, schüttelt sich und drapirt kokett
seinen Faltenwurf. Die Pumphosen sind übrigens auch bei den Türken ein be¬
liebtes Kleidungsstück, und ihre Einführung datirt von einer Begebenheit im Leben
des Propheten. Mohammed wurde in der Wüste von einem Orkan überrascht
und wußte nicht, wohin sich wenden. Er betete zu Allah um Rettung, und dieser
schickte zwei Windhosen, die ihn in die Höhe hoben und an einen sichern Platz
niedersetzten. Die illustrirte Zeitung „Über Land und Meer" brachte davon
neulich eine bildliche Darstellung, welche die Zensur in Konstantinopel so frivol
und gotteslästerlich faud, daß sie dem Blatte den Eingang verboten hat. Der
Wechsel der Mode hat seine politischen Gründe, man will mit allen Erinnerungen
aus der türkischen Herrschaft brechen und hängt sich auch an Äußerlichkeiten.
Doch giebt es noch immer Männer und Frauen, die der Nivellirung der
Pariser Kleiderkünstler nicht zum Opfer gefallen sind und an der Voreltern
Mode festhalten. Für die Stickereien in Seide und Gold mit Perlen und Edel¬
steinen kann man schon eine ganze Garderobe in Salon- und Ballkleidern an¬
schaffen, ohne damit auch nur entfernt den gleichen Effekt zu erreichen. Allein
was die Phantasie und Launen der Damen nicht befriedigt, das ist die UnVer¬
änderlichkeit, denn ein solcher Anzug dauert für das Leben und bleibt immer
derselbe, während unsre Zeit für jedes Jahr und jede Saison Neuigkeiten ver¬
langt. Gegen die weibliche Eitelkeit hat aber auch der Patriotismus schweren
Stand.
cite Männer lüfteten zugleich die breiten Hüte. Barretos Ge¬
sicht wandte sich frei und voll dem »eben ihm reitenden zu,
und Camoens erkannte in den Zügen des Freundes, welchen
Schmerz dies Gespräch in der Seele desselben erweckt hatte.
Umso peinlicher war es ihm, seine entgegengesetzte Meinung un¬
verhohlen kund geben zu müssen. Allein er fühlte, daß nichts Unausgesprochenes
zwischen ihm und dem großherzigen Manne bleiben dürfe, der ihm so arglos
und vertrauend sein Herz öffnete.
Ihr seid schon ein Jahrzehnt wieder in Portugal, Senhor Manuel, hub
er an, während sie nach einem kurzen Halt ihren Weg fortsetzten. Ihr steht
vielen Dingen näher als der arme Dichter, der in einem Winkel von Lissabon
Zuflucht gesucht hat! Aber Ihr sagt es selbst, daß mir dieses Land und
meines Volkes Schicksal mehr als mein eignes am Herzen liegen, und ich darf
Euch nicht verschweigen, daß ich bessere, ja daß ich die stolzesten Hoffnungen
hege! Wahr ists, daß ein neuer Geist den Hof, das Volk belebt, daß mich
mir vieles fremdartig schien, was ich bei der Heimkehr vorfand. Muß es
darum ein verderblicher Geist sein? Ist ein kleines heldenhaftes Volk nicht
am besten bewehrt, wenn es nicht nur in Christi Namen, sondern vom feurigsten
Glauben beseelt in den Kampf zieht? Schlägt Euch das Herz nicht auch
höher bei dem Gedanken, daß die Minarets von Marokko das Kreuz tragen
werden, und daß das glorreiche Banner Portugals über allen Häfen bis zur
großen Wüste wehen soll? Ihr wißt, daß ich mein Leben daran gesetzt habe
den Ruhm Portugals zu preisen! Ich wähnte, da ich in Indien an meinem
Gedicht schrieb, die Höhe für überschritten und unser bestes Heil der Ver¬
gangenheit angehörig. Da thut sich mit einemmale eine Zukunft auf, vor deren
Sonnenglanz alle Glorie alter Tage zum armseligen Kerzenlicht wird — soll
der Dichter der letzte sein, der glmibt und hofft? Selbst wenn ich im einzelnen
Zweifel hege, selbst wenn das neue Leben, das ich in Portugal finde, mir in
schlimmen Stunden das Herz preßt — ich leugne nicht, daß es so ist —, so
bleibt es meine heiligste Pflicht, mich dem Geiste, der mein Volk beseelt und
erhebt, tren und auf jede Gefahr anzuschließen!
Und was hättet Ihr mit diesem Geiste zu schaffen, Luis Camoens? fragte
Barreto, Was kümmert den freien Dichter die Glut, welche fanatische Mönche
und Inquisitoren, Glücksjäger und schmeichlerische Hofleute anfachen? Wie
könnt Ihr glauben, daß Unternehmungen, die von solchen ersonnen werden, die
Thaten der da Gama und Albucmerqnes überstrahlen sollen? Fragt unter den
Fidalgvs und den Bauern umher, ob sie sich nach der Eroberung maurischer
Königreiche sehnen und ob sie Glück und Heil von Dom Sebastians Frömmig¬
keit hoffen!
Camoens schien die letzten Worte seines Freundes völlig zu überhöre».
Er sah in das Thal hinab, aus dem, jetzt dicht unter ihnen, die flachen Dächer
und die weißen Häuser von Ciutra sichtbar wurden, über allen ein rosiger
Wiedersehen, der roten Wolken, die den Reitern zu Häupten zogen. Der An¬
blick ergriff den Dichter mächtig: Seht, seht, Manuel, wie schön dies Land ist!
Wie könnte ich mich von seinem Leben trennen? Was mein Volk will, muß
auch ich wollen; wehe dem Dichter, der seine Seele von den Seinen scheidet!
Der gewaltige Florentiner, den ich durch Euch kennen lernte, hat anders
gedacht, versetzte Barreto mit großem Ernst. Hütte Dante der Sünde und dem
Verrat seiner Landsleute schmeicheln oder nur zustimmen wollen, so würden die
Terzinen seiner Hölle nicht wie Posauuenklang dröhnen! Aber laßt uns ab¬
brechen für heute, Freund! Wenn Ihr vor dem Könige gestanden haben werdet,
sprechen wir weiter! Gleich dort um die Felsecke thut sich das Gehöft des Bar-
tolomeo Okaz auf, der sich freuen wird, Euch wiederzusehen.
Camoens antwortete nichts mehr, denn Barreto hatte eben mit einem
leichten Schlag auf den Bug des Maultieres auch dies in schärferen Trab ge¬
setzt, und beide Reiter flogen nun an den ersten weißen Häusern vorüber, die
am Bergabhang standen, und dann auf breiterer ebner Straße dahin. Die
Luft wehte ihnen zwischen Gehöften und Gärten wärmer und dumpfer entgegen,
und die mannichfachsten Lante des Lebens schlugen zugleich an ihr Ohr. Hinter
den dornigen Hecken hervor ertönten Stimmen und Helles Gelächter: in einem
Kreis junger Burschen, der sich mitten auf der Straße gesammelt hatte, erklang
eine Mandoline, und von der Thür einer Schenke her scholl den beiden Freunden
ein lustig lauter Zuruf und das Klirren zinnerner Becher entgegen. Die Zecher
waren jene dienstlosen Schiffsleute, welche auf dem Wege von Santa Cruz
herab Barreto angebettelt hatten und ihm jetzt mit geschwungnen Hüten zu
verstehen gaben, daß sie seinen Rat wörtlich befolgt hatten. Der Edelmann
nickte den wilden Gesellen freundlich zu und bog dann um die Felsecke, welche
er seinem Gefährten von oben herab gezeigt hatte. Zwischen zwei mächtigen
Weitschattenden Platanen that sich ein wohlgehaltncr Hof auf, deu von drei
Seiten Ställe für zahlreiche Pferde umgaben, während die vierte von dem lang¬
gezognen Hauptgebäude der Herberge gebildet ward. Das Thor dieses Haupt¬
hauses stand weit geöffnet, in das Halbdunkel, das im Hofe bereits herrschte,
leuchtete das große Herdfeuer der Küche am linken Ende des Hauses hinein
und würzige Rauchwolken quollen den Ankömmlingen verheißungsvoll entgegen.
In dem flnrcihnlicheu Hauptraume der Herberge konnten sie schon beim Eintritt
zahlreiche Gesellschaft wahrnehmen, Bartolomeo Okaz, der Wirt, war auf den
lauten Anruf Barrctos aus der Thür geeilt und half nach einem Winke des
Edelmannes zuerst Camoens und dann erst seinem älteren Gastfreunde ans den
Bügeln, Der ehemalige Seemann verneigte sich ehrerbietig vor Dom Manuel
und seinem Begleiter und sagte dann: Ihr kommt heute zur guten Stunde,
Herr, Es ist munter an Bord, und viel edle Gäste ehren mein Haus.
Hoffentlich hast du noch Raum für ein paar, die sich nicht minder edel
dünken, alter Knabe! versetzte Senhor Manuel heiter. Unsre Tiere dürfen wir
deinem Sancho wohl anvertrauen, aber zeige uns die Lagerstätten, die du für
uns übrig hast, und sorge dann für ein Mahl, das mich vor meinem Freunde
nicht beschämt! Erkennst d» deu Herrn nicht, Bartolomeo?
Doch, doch, Herr! antwortete Okaz. Wir haben nordwärts von Ormus
Seite an Seite gekämpft, und am Abend des Tages von El Aaran war Euer
Name auf allen portugiesischen Lippen, Herr Luis Camoens! Ihr seid später
heimgekehrt als wir alle — meine Augen sahen Euch seit manchem Jahre nicht,
aber Ihr seid nicht gealtert.
Senhor Luis kommt soeben heim und erfreut mich mit seinem Besuche, rief
Barreto. Zuvor aber wollen wir einen Tag oder etliche bei dir rasten, und
darum führe uns hinauf und thue dein Bestes für alte Kriegsgefährten,
Es thut mir wohl, daß du dich meiner erinnerst, Bartolomeo, sagte der
Dichter freundlich. Dein Gesicht habe ich nicht so gut behalten wie du das meinige,
aber jeder Krieger und Seemann, der mit mir in Indien war, steht meinem
Herzen nahe. Bist du glücklich daheim und hast du dich drein gefunden, dein
gutes Schiff mit einer Herberge zu vertauschen?
Nun, am Steuer hätte ich doch nicht länger stehen dürfen, rief Okaz und
streckte, indem er den beiden Freunden zu der steinernen Treppe voraufschritt,
welche vom Hofe ins obere Geschoß des Hauses führte, einen halb verstümmelten
rechten Arm aus dem Ärmel seines Schifferwamses hervor, das er noch immer
trug. Hier herauf, Senhor Manuel! Die beiden guten Kammern, die ich noch
frei habe, sind für Euch und Senhor Luis, Jose wird Euch Wasser und reine
Tücher bringen, und ich lasse unten im großen Raume sogleich den Tisch für
Euch rüsten.
Er zeigte und führte einen Gang entlang, der an der Außenseite seines
Hauses wie eine Galerie hinlief und hinter dessen offnen steinernen Bogen
ebensoviele Thüren zu den einzelnen Gemächern des obern Geschosses führten.
Gang »ut Zimmer hatten kühlende Steinplatten zum Fußboden, in den beiden
Gemächern, die Okaz seinen Gästen anwies, lagen kunstreich geflochtene Binsen¬
matten vor den niedrigen, aber guten Lagerstätten. Sonst war die Ausstattung
beider Gemächer nicht reich, je ein Gestell mit Waschgeräten, eine Rohrbank
und ein Vetschemel vor einem Heiligenbilde ließen viel leeren Raum. Dom
Manuel wies Camoens freundschaftlich das Hintere der beiden Zimmer an, da
es seine Pflicht sei, den Schlummer seines Gastes zu behüten. Vartolomeo Okaz
lachte zu dieser ritterlichen Artigkeit über das ganze zerwetterte Antlitz.
Ihr bleibt allezeit, der Ihr wäret, gnädiger Herr! rief er. Wer in der
Welt würde zweifeln, daß Ihr Euer Schwert für einen Freund wie Senhor
Luis zieht! Doch zum Glück ists bei mir am Bord nicht üblich, Strolche und
fahrende Gesellen aufzunehmen, und Eure Schlafnachbarn in nächster Nähe sind
edle Herren von der Gesandtschaft, welche der König von Spanien vor kurzem
wieder an unsre junge Majestät abgeordnet hat. Ihr werdet mehr davon
wissen als ich — was ich als Wirt erfahren, ist nur, daß die Herren be¬
scheiden begehren und vornehm zahlen! Ihr werdet zwei von ihnen unten finden!
Doch verzeiht mein Geschwätz, Herr! Jose soll in wenigen Augenblicken bei
Euch sein.
In der That erschien der verheißene krausköpfige Bursche, der sich Jose
nannte, einige Minuten später bei den Freunden und half ihnen diensteifrig sich
vom Staube des Tages befreien. Barreto und Camoens blieben während dessen
schweigsam, sie hatten auch, so lange sie auf den Diener harrten, nur wenige
Worte gewechselt, welche verrieten, daß ihre Gedanken noch fort und fort anf
der Höhe des Kreuzberges verweilten. Als sie sich anschickten, in die große
Halle des Hauses hinabzusteigen, flüsterte Camoens nur: Der Bursche, der uns
bedient, ist ein Algarbier, meint Ihr nicht, daß er schweigsam und Pfiffig genug
sei, um unsern Wünschen zu entsprechen? Barreto machte eine verneinende Be¬
wegung und setzte, ehe sie dann vom Hofe aus die Halle betraten, rasch hinzu:
Schlagt Euch für heute die Maurin und was mit ihr zusammenhängt, aus dem
Sinn und hütet Eure Zunge nach allen Seiten. Ihr seid, wie ich merke,
fremd geworden in Portugal, ich aber weiß, warum ich Euch warne!
Camoens konnte nichts mehr erwiedern, der ältere Freund stand schon in
dem weiten Raume, in welchem eben auf den Tischen einzelne Lichter angezündet
wurden, während man von der Schwelle aus über die Hofmauern herüber den
letzten Schein des Tages auf den westlichen Bergen wahrnehmen konnte. Der
Dichter versagte sich nicht, noch einmal nach den Höhen zu blicken, auf denen
er mit seiner Sorge weilte, dann folgte auch er Barreto an einen der Tische,
welche mitten in dem großen Flur auf einer besondern Erhöhung standen.
Bartolomeo Okaz erwartete seine neuesten Gäste bereits an diesem Tische, der
in kurzer Zeit mit bunten Tüchern, mit Schüsseln, Tellern und Bechern, mit
Wein und Brot ausgerüstet wurden war und zu dem ein sauber gekleideter
Knabe schon die gebratnen Seefische auf silberner Platte herantrug, Dom
Manuel nickte dem Eifriger freundlich zu und lud Camoens zum Sitzen ein,
Ihr müßt matt vor Hunger sein! Bartolomeo soll erfahren, daß wir nicht so
genügsam sind wie die spanischen Herren, die er gegen uns gerühmt hat, und
wir wollen seine Hausfrau besser als durch Fasten ehren. Was gedenkt uns
Frau Barbara auftragen zu lassen, Bartolomeo?
Diese Fische, Herr, eine Olla und die besten Kapaunen, die unser Hof zu
liefern vermag, versetzte Okaz, Und nun erlaubt, daß ich einen Augenblick nach
meinen andern Gästen sehe, wenn ich wiederkehre, werdet Ihr mir sagen können,
ob der Wein, den ich aufgesetzt habe, der rechte ist. Die Herren am dritten
Ehrentisch sind die Abgesandten seiner katholischen Majestät an unsern König!
Der Wirt ging die Stufen hinab, Barrcto und Camoens sahen, wie er die
Runde im großen Raume machte. Die dunkelgekleideten beiden Spanier an
einem der Nebentische, die eben ihr Mahl beendet hatten und mäßig den roten
Wein von Vaseon mit Wasser tranken, kümmerten sich um die neuen An¬
kömmlinge scheinbar nicht, Umsomehr Augen sahen diese aus dem untern Teile
der Halle auf sich gerichtet. In dem ungewissen Lichte, das in dein Raume
herrschte, unterschieden die Freunde erst nach und nach die einzelnen Gruppen,
und Barreto erklärte seinem Gefährten, daß die Mehrzahl der Anwesenden aus
Leuten bestehe, die dem Hofe nach Cintra gefolgt seien.
Dort sehe ich ein halb Dutzend Trabanten der Schloßwache, Fähndrich
Miraflores an der Spitze. Der da drüben im roten Kleide ist Meister Joao
Rlbeiro, des Königs Hausmeister, und mit ihm der Kammerdiener und Geheim¬
schreiber des Kardinal-Infanten Heinrich — beide in ihrer Art mächtige Herren,
Neben der Fallthür zum Keller sitzen Schiffer und Steuerleute, Bartolomeos
alte Kumpane, die sich allabendlich hier zusammenfinden. Die Fremden zunächst
der Thüre nach dem Hofe kenne ich nicht — sie sehen aber dem Bettelgesindel
aus Galicien und Leon, welches die frommen Väter von Espinosa ins Land
»ut an den Hof schicken, verwünscht ähnlich. Die Burschen erweisen auch dem
Mönch dort, der nur Wasser zu seinen gesottneu Fischen trinkt, verdächtige
Ehrerbietung! Das Beste bleibt, die Angen auf Frau Barbaras Olla zu
richten — eine so vortreffliche kann ich Euch selbst in Almoeegema nicht ver¬
heißen.
Camoens' Blicke waren denen Barretos gefolgt, der dies alles, ohne sein Mahl
zu unterbrechen, leicht hingeworfen hatte. So hungrig er sich beim Niedersetzen
gefühlt hatte, so wenig vermochte er jetzt das gute Beispiel nachzuahmen, das
ihm der ältere Freund gab. Die Gesichter und Gestalten, welche vor ihm auf>
tauchten, nahmen seine Aufmerksamkeit ganz in Anspruch, und die Erläuterungen
Barretvs erweckten offenbar in seiner Seele keine heitern Vorstellungen, Besorgt
musterte er vor allen die Fremden und den Varfüßermönch, nach denen auch
Barrcto schärfer als nach den übrigen Hingeseheu hatte, Camoens handhabte
jetzt eigentlich nur zum Schein die Gabel und hub endlich in gepreßtem Tone
an: Meint Ihr nicht, daß Leute, wie die dort, für ein Stück Geld zu jedem
Bubenstück, auch zur Aufgreifnng und Auslieferung eines schutzlosen Weibes
bereit wären?
Warum nicht? entgegnete Varreto, Aber ich sagte Euch schon, daß Ihr
Euch für heute nicht um die Maurin beunruhigen sollt. Sie wird sicher genug
bei der kleinen Joana sein, und wir dürfen im Augenblick nichts für sie thun.
Wir sind nen hier angekommen, und ich mag nicht zählen, wie viele Augen
unsre ersten Schritte überwachen. Morgen, wenn sie wissen oder zu wissen
glauben, was wir hier wollen, findet sich eher eine Stunde, in der wir un¬
beachtet sind. Jetzt aber krankt unsern braven Bartolomeo und sein Weib nicht
durch Verschmähung ihrer guten Gaben und bedenkt, daß Leute hier sitzen, die
es sogar zu Buch nehmen werden, wenn Ihr nicht eßt.
Wer Euch hörte, Manuel, der müßte wahrlich glauben, daß in ganz Por¬
tugal neben jedem Tische ein Späher und unter jedem Dache ein Verräter
weile, sagte Camoens lächelnd und versuchte zugleich der Aufforderung des
Freundes nachzukommen. Ihr müßt schlimme Erfahrungen gemacht haben, seit
wir uns nicht gesehen haben, und werdet meinen poetischen Träumen wenig
Beifall schenke».
Doch, doch, mein Freund, soweit Eure Träume der ruhmreichen Vergangen¬
heit zugewandt sind, antwortete der Edelmann immer in demselben ruhigen
Tone, der genau darauf berechnet schien, nicht bis zu dem Tische zu dringen,
an welchem die schweigsamen Spanier saßen. In meinem Hause fürchte ich
weder Späher noch Verräter, dort laßt uns vom Schicksale des Vaterlandes
reden. Heute und hier aber erzählt mir nur, wie es Euch auf der Heimfahrt
ergangen ist, und wie Ihr Euch in Lissabon wieder eingewöhnt habt.
Meine Abenteuer endeten mit dem Aufenthalte bei Eurem Vetter, sagte
Camoens. Die heißen Tage in Sofala waren die letzten, aus deuen ich Euch
berichten könnte, daß ich etwas andres gethan, als die Verse meines Gedichtes
zu feilen. Wollt Ihr von Gnu- und Gazcllenjagden hören? Die afrikanische
Sonne hatte mir Adern, Hirn und Herz so ausgetrocknet, daß ich aus einem
Poeten zu einem Jäger ward, der in der einzigen Zerstreuung, die jene elende
Küste bietet, das Elend seiner Lage zu vergessen trachtete. Die Rückfahrt aus
Afrika nach Portugal war so ungewöhnlich glücklich, daß ich beinahe eine Ver¬
heißung in ihr gesehen hätte. Wir schifften wie Vasco da Gama und seine
Helden ans dem Rücken stiller Fluten, von sauften Winden getrieben! Es ist
die lichteste Erinnerung, die ich heimbrachte, sie soll mein Gedicht schließen,
Freund Manuel. Von meiner Einrichtung in Lissabon wollt Ihr hören? Sie
ist meinem Geschick angemessen; wenn ich meine Handschrift ausnehme, könntet
Ihr meine gesamte Habe für ein oder zwei Goldstücke auf jedem Trödelmarkte
kaufen.
Das meinte ich natürlich nicht, Camoens! Ich wusste nur gern, ob Ihr in
Lissabon einsam oder gesellig lebt, ob Ihr dort Freunde aus früherer Zeit
oder aus Indien heimgckehrte gefunden habt, ob Ihr Eltern Tag einigen oder
allen Musen widmet, da Ihr selbst sagt, daß Euer großes Werk vollendet sei.
Bis zum Ende geführt, beendet, wenn Ihr so wollt, versetzte der Dichter,
der jetzt begriff, daß sein Freund ein Gespräch führen wollte, das von jeder¬
mann gehört werden konnte. Vollenden? Wer möchte sich rühmen, ein Vor¬
haben, das unendlich ist und seiner Natur uach die Kräfte eines Sterblichen
übersteigt, zur Vollendung geführt zu haben? Aber heiße Sehnsucht nach Voll¬
endung habe ich getragen, trage sie noch, und ganz vergebens — deß bin ich
sicher! — habe ich nicht gearbeitet. Viel vermag ich nicht mehr zu bessern —
in allem Menschenwerke giebt es einen Punkt, wo der Mensch sich bescheiden
muß, daß allein die Gottheit vollkommen sei. Was ich noch thue, ist für die
Augen der Welt beinahe wie nichts, selbst Ihr, Manuel, dem die Kunst nicht
fremd ist, würdet erstaunen, wie viele Tage vergehen, ehe es mir gelingt, einen
Zug meines Gedichtes deutlicher, einen Vers volltönender zu machen. Eben
darum fühle ich, daß es Zeit ist, abzuschließen. Die Lusiaden gehören schon
nicht mehr mir, sondern dem Könige und dem portugiesischem Volke.
Barreto nickte teilnehmend und zustimmend, er hatte wahrgenommen, daß
die Sorge um das Schicksal seines Gedichtes Camoens auch jetzt die blassen
Wangen rötete. Ihr habt Recht, mein Freund, sagte er kurz, und weil es so
ist, darf die Veröffentlichung nicht allzulange mehr verschoben werden. Ich
versprach Euch, Eure Sache bei dem Könige zu führen, und bin überzeugt, daß
ich nie in bessrer vor unserm jungen Herrn das Wort genommen habe. Eure
Handschrift wird uns hoffentlich nach meinem Hanse begleiten, denn mich ver¬
langt, alles zu vernehmen, was Ihr in den Jahren seit unsrer Trennung in
Goa gedichtet habt.
Er hatte absichtlich die Stimme lauter erhoben und seinen nächsten Zweck
damit erreicht. Die Spanier am dritten Tische, welche seit Camoens' Ausein¬
andersetzungen kein Wort mehr verloren hatten, lächelten einander geringschätzig
zu. Es dünkte ihnen offenbar nicht der Mühe wert, sich weiter um Senhor
Manuel und seinen einäugigen Begleiter zu kümmern. Einige Minuten später
erhoben sie sich mit höflichem, aber kurzem Gruße vou ihren Sitzen und ver¬
ließen die Halle. Und da eben jetzt Bartolomeo Okaz eigenhändig seinen ehe¬
maligen Kriegsgcfcihrten die Kapaunen am Spieße auftrug, erachtete Barreto den
Augenblick zu einem harmlosen Geplauder mit dem Alten für gekommen und fragte:
Nun Bartolomeo, was hört Ihr Neues in Cintra und vom Hofe, den Ihr
ja schon seit Monaten bei Euch habt? Der König — Gott schütze ihn! — ist
wohl auf, aber mehr weiß ich nicht, und erführe gern von dir so viel, daß sie
mir im Schlosse nicht auf tausend Schritte den Bauer von Almocegema an¬
merken.
Ihr scherzt, Herr! versetzte der Wirt, indem er Camoens ein Stück des
Geflügels vorlegte. Was wir hier erfahren, ist nicht viel mehr, als was
das ganze Land weiß. Doch sind wir seit ein paar Wochen alle fröhlich, weil
es heißt, daß der König seinen Sinn geändert habe und an Vermählung denke.
Herr, wenn das wahr würde, ich wäre imstande, mir zum Freudenfeuer mein
eignes Dach über dein Kopfe anzuzünden!
Du bleibst immer der hitzige, heißblutige Wilde! schalt der Ritter, lächelte
aber Bartolomeo wohlwollend zu. Wenn deine Kunde probehaltig befunden
würde, wäre sie freilich die beste, die je ein portugiesisches Herz erfreut hätte.
Laßt uns einen Becher darauf leeren, Dom Luis, daß Bartolomeo als Prophet
erkannt werde.
Man sagt, daß es diesmal dem Könige Ernst sei, fuhr Okaz flüsternd fort.
Die vom Schlosse wollen selbst schon wissen, daß die jüngste Gesandtschaft des
Königs von Spanien wegen dieser erlauchten Vermählung in Cintra weile.
Der heilige Jakob von Compostella helfe ihnen dann unverrichteter Sache
heim, fiel Barreto dem Erzähler ins Wort. Wenn die Spanier die Braut aus¬
suchen wollen, so ists um des Königs Glück und Portugals Hoffnungen ge¬
schehen. Das weißt du so gut, Bartolomeo, wie ich, und darum hoffe ich, des
Königs Nöte werden es besser als wir beide wissen. Vor der Hand ist die Haupt¬
sache, daß unser junger Herr einen Entschluß gefaßt hat. Was weißt du davon,
Mann — welches Wunder soll seinen Sinn gewandelt haben?
Ich kaun Euch wenig berichten, Senhor Manuel, entgegnete Okaz, der noch
immer am Tische seiner Gäste stehen blieb und nur dann und wann Jose einen
Wink gab. Mai, erzählt sich, daß der König, welcher früher den Damen und
aller Fröhlichkeit abhold war, jetzt heitere Gesellschaft liebe, und daß der Hof,
der doch wahrlich einem Kloster glich, seit ein paar Wochen ivie verwandelt sei.
Die Leute, die das Huhn im El wachsen hören — Miraflores da unten ist einer
von ihnen —, versichern, daß nur die schönen Augen der jungen Dona Catarina,
der Tochter des Grafen Palmeirim, diese Wandlung bewirkt hätten.
Schere dich zum Keller hinab mit deinen Neuigkeiten! rief der Edelmann,
der bis hierher behaglich gelauscht hatte. Bring einen frischen Schlauch auf
Deck, Alter, und die Thorheiten, welche dir das Hofgeschmeiß zuträgt, laß unten
im Raum. Will uus der Narr glauben machen, König Sebastian, der bisher
keine Frau angesehen hat, sei urplötzlich ein Amoroso geworden, welcher vor
jedem Strahl aus schonen Augen dahinschmilzt. Eile dich, eile dich, Bartolomeo,
deine Neuigkeiten wecken uns Durst!
Herr Manuel trieb den Wirt so eifrig an, daß dieser, wem, auch mit ge¬
kränkter Miene, durch die Fallthttr verschwand, die zwischen den erhöhten Sitzen
und der Küche des Hauses zum Keller hinabführte. Er hatte nicht bemerkt,
daß die plötzliche Veränderung in Barretos Gesicht und Stimme durch Camoens
veranlaßt war. Die Nennung des Grafen Palmcirim und seiner Tochter hatte
den Dichter offenbar in besondrer Weise erschüttert. Er blickte wie von einem
Zauberspruche gebannt dem hinwcgeilenden Okaz nach und wandte nur zögernd,
wie widerwillig, sein Gesicht dem Freunde zu,
Ihr bleibt doch immer, der Ihr wäret! sagte Manuel in dem freund¬
schaftlichen Tone eines leisen Vorwurfes, Euer Gesicht ist immer der Verräter
Eurer Seele, so war es in Goal vor dem Vizekönige, so ist es hier vor unserm
alten Steuermanne. Was kümmert Euch Graf Palmeirims Tochter, die erst
während der langen Jahre Eurer Anwesenheit geboren und herangewachsen ist?
Warum ergreift Euch der Name eines Mannes, den Ihr mir nie unter Euern
Freunden in der Heimat genannt habt?
Er ist freilich mein Freund nicht gewesen, denn ich habe ihn meines Er-
innerns niemals erblickt, entgegnete Camoens, indem er über den Tadel in
Barretvs Ansprache leicht hinwegging. Meinen Feind darf ich ihn ebenso wenig
nennen, ich fürchte, daß er kaum meinen Namen gehört hat. Wenn mich sein
Name dennoch so mächtig ergreift, daß ich mich vergaß, so erratet Ihr, daß
ich guten Grund dazu habe. Habt Ihr niemals von andern vernommen, was
mich aus Portugal hinwegtrieb? Daß ich selbst über das Leid meines Lebens
schwieg und mich nur der Muse vertraute, werdet Ihr nicht tadeln — es ziemt
sich, alles Unabwendbare schweigend zu tragen. Doch hatte ich gemeint, es
wäre Euch, der viel früher in die Heimat zurückgekehrt ist als ich, ein Laut
vom Leide meiner Jugend ins Ohr geklungen. Soviel ich von den Menschen
erfahren habe, pflegen sie ihren Haß länger zu hegen als ihre Neigung, und
so dachte ich, daß Euch einer oder der andre meiner alten Gegner erzählt
hätte, warum ich vor Zeiten vom Hofe König Joaos verbannt wurde!
Ich erfuhr, daß Ihr in jungen Jahren durch einen Liebeshandel Anstoß
gegeben hättet, sagte Barreto. Mehr wollte ich nicht hören, ich habe mirs
zum Grundsatze gemacht, von den Schicksalen und namentlich von den Irrtümern
meiner Freunde nur das zu erfahren, was sie selbst enthüllen.
Hättet Ihr den Namen meiner Geliebten gehört, sagte Camoens, sein
Gesicht dem Freunde ruhig zuwendend, so würdet Ihr zu gleicher Zeit gewußt
haben, daß Luis Camoens sich der süßesten und heiligsten Empfindung seines
Lebens keinen Augenblick zu schämen hatte, und weshalb es mich tief erschütterte,
als unser Wirt gleichgiltig jenen stolzen Namen aussprach, mit dem die Ge¬
liebte, hartem Zwange nachgebend, vor zwanzig Jahren den ihren vertauschte!
So habt Ihr Catcirüm de Atcihde, welche die Gemahlin des Grafen von
Palmcirim war, geliebt! versetzte Manuel Barreto und verbarg sein Erstaunen
nicht. Er wollte mehr sagen, aber in diesem Augenblicke trat der Wirt, der
den so eilig begehrten Wein vom Keller herausbrachte, wieder an den Tisch der
beiden Freunde und unterbrach die weitere Rede seines Gastes. Bartolomeo
Okaz mochte sogleich in den Zügen Senhor Manuels lesen, das? für jetzt an
eine Fortsetzung des Geplauders nicht zu denken sei. Und da sich eine Anzahl
seiner Gäste im untern Raume von den Tische» erhob, so ergriff er den Vor¬
wand, mit einem entschuldigenden Worte: Ihr verzeiht, Herr, ich muß den
Burschen da unten gute Nacht bieten! die ernst vor sich hinblickendeu Männer
wieder zu verlassen. (Fortsetzung folgt.)
Dieses Buch gehört zu den Schriften, welche die zweihundertste Wiederkehr
des Tages, um welchem das Edikt von Nantes erlassen wurde, hervorgerufen hat.
Es zerfällt in einen geschichtlichen Teil und in eine Urkundeusnmmlung. Die letztere
giebt die wichtigsten Urkunden der hugenottischen Geschichte, namentlich die Be¬
kenntnisschriften von 15K9 und das Edikt von Nantes samt allen seineu Anhängseln
unverkürzt in guter deutscher Uebersetzung wieder, die am Schluß beigefügte Denk¬
schrift des Ministers von Breteuil aus dem Jahre 1786 gewährt trotz ihrer
Rücksicht auf Ludwig XIV. einen Blick in den traurigen Zustand der protestantischen
Kirche, ja in einen Zustand vollständiger Nechtsverwirrung, in welchen ihre An¬
hänger seit 169ö geraten waren. Der Verfasser, dnrch die Herausgabe des Tage¬
buches des Hugenotten Jean Miganlt mit dieser Periode der französischen Kirchen¬
geschichte vertraut, gründet seine Hoffnung, daß das vorliegende Buch seinen Zweck
nicht völlig verfehlen werde, namentlich auf diese urkundlichen Beilagen; aber auch
der geschichtliche Teil führt, ohne auf selbständige Forschungen Anspruch zu erheben,
den Zusammenhang der Begebenheiten von den ersten lutherischen Regungen in
Frankreich an bis zum Jahre 1695 so übersichtlich und ansprechend vor, daß er
Lesern, welche sich nicht an größere, eingehendere Arbeiten heranwagen wollen, zur
schnellen Orientirung wohl empfohlen werden kann.
Der Verfasser der „Politischen Geschichte der Gegenwart" bietet hier eine für
die weitesten Kreise bestimmte Ausgabe seiner Lebensbeschreibung Moltkes. Sein
Buch, welchem die bekannten Quellen, die Briefe, Bücher und Neichstngsredeu
Moltkes, die Gencralstabswerke sowie die besten Einzelschriften über die letzten
Kriege zu Grunde liegen, faßt den äußern Lebensgang des Marschalls in an¬
sprechender Weise zusammen. Enthüllungen darüber, wie sich sein Einfluß in
den Jahren 1866 und 1870 geltend gemacht hat und worin sein Anteil an den
Erfolgen besteht, sind natürlich nicht darin zu erwarten. Wenn die Darstellung
an Wärme und hinreißender Begeisterung der Schrift desselben Verfassers über den
Reichskanzler nachsteht, so wird die Hauptschuld dem sprödern Material zuzuschreiben
sein. Das Buch ist sür den geringen Preis recht hübsch ausgestattet und verdient
eine freundliche Aufnahme.
Vor zwanzig Jahren machte Emil Kuh der österreichischen und vornehmlich
der Wiener Kunstpoesie den Mangel um autochthonen Charakter zum Vorwurf; in
der rhetorischen und abstrakt kosmopolitischen Lyrik jener Epoche vermißte er den
schönsten Reiz: das Lokalkolorit, den Erdgeruch der heimatlichen Scholle. Seitdem
haben sich die Zeiten sehr geändert; wie überall in der Literatur, ist man auch in,
Wien zur Pflege und Fortbildung des volkstümlichen Geistes zurückgekehrt, und
selbst Ferdinands Raimunds Dialektdichtungcn sind des geweihten Bodens des
Burgtheaters würdig gefunden worden. Auch die Gedichte Joseph Winters, eines
Wiener Studenten der Medizin, gehören dieser neuen Zeit an und dies ist das
Schönste an ihnen; am wärmsten und beredtesten ist dieser junge und begabte
Lyriker dann, wenn er die Heimat Wien, ihre Mädchen, ihren Wein, ihren Frohsinn
und ihre Lieder feiert. Hübsch sagt er in der Elegie „Abend im Prater":
. . . Wo in den dunkelnden Abend hinaus
Wiegend erklang ein Walzer von Strauß.
Sinnend lag ich im duftigen Gras,
Garnicht übel gefiel mir das.
Fühlte mich so fröhlich und frank —
Wahrlich, dem Schicksal wußt' ich's Dank,
Daß es um dieser Stätte erunt
Mir das Haus der Kindheit erbaut,
Breit mir die Bühne der Welt entfaltet,
Lebensfreudig den Sinn mir gestaltet;
Daß es im Wechsel von Welken und Sprieße»
Mich gelehrt des Tags zu genießen,
Mich des Schätzleins, der trauten Getreun
Und des klingenden Liedes zu freun.
In einem andern Gedichte („Himmel und Erde") gelingt es ihm, ein originelles
und treffendes Bild der Wienerin in heiterer Weise zu geben: auf den Flügeln
der Poesie führt er sie durch alle Herrlichkeiten des Himmels; die kleine Wienerin
greift keck nach alleil schönen Dingen, wird des Schauens nimmer satt und verlangt
sie gleich zu eigen ; doch als der ermattete Dichter sich nach geplünderten Himmel
erdwärts niedersenkt und süßeste Belohnung erwartet, steigt die Schöne gelassen in
die Wohnung, als wäre nichts geschehen. Sehr hübsch sind auch die zwei Gedichte,
welche mit wehmütigen Humor den Konflikt zwischen Poesie und Medizin im Dichter
darstellen. Ueberhaupt find ihm die heitern Töne, in denen die Jugend zu ihrem
Rechte kommt, besser gelungen, als die Lieder auf seine untreuen Geliebten mit ihrem
konventionellen Weltschmerz. Winter beherrscht die mannichfaltigsten Formen in
sicherer Weise; nur will uns seine Neigung zur Allegorie und sein zeitweiliges
Spielen mit mystischen Wendungen uicht gefallen; manche Gedichte sind deshalb
auch ganz unklar geworden. Gewiß ist der Autor ein künstlerischer Mensch, dies
bezeugt schon die Wahl seiner guten Vorbilder, die zuweilen dnrclMngen: Eichendorff,
Uhland, die Minnepoesie („es neigen höfisch sich die Blumen" ist Wohl allzu
archaistisch), aber seinen eignen Ton hat er noch nicht gefunden und es liegt ihm
zunächst ob, sich ganz zu dem auszubilden, was er selbst ist, und jede Abhängigkeit
von „berühmten Mustern" vergessen zu machen.
le Großmächte, deren Interesse zunächst verlangt, daß in den
Balkanländern endlich wieder Ruhe einkehre, haben sich in diesen
Tagen zu einer Maßregel entschlossen, die nicht verfehlen wird,
das Ende der dortigen Wirren und Gefahren zu beschleunigen.
Auf Anregung Rußlands haben sie nicht allein der bulgarischen
und der serbischen Negierung, sondern auch der griechischen eine Kollcktivuote
überreichen lassen, in welcher sie zur Abrüstung ernähren. Übersetzt man die
Mahnung oder Empfehlung aus der Diplomatensprache, so ist sie ein Befehl,
ein Gebot, ein Bast« endlich! ihr kleinen Störenfriede mit eurer Großmanns¬
sucht, und die Kleinen werden nicht umhin können, zu gehorchen, den Säbel in
die Scheide zu stecken und ihr Pulver fernerhin unverschvssen zu lassen. Zu
gleicher Zeit verlautet in diplomatischen Kreisen, daß der Sultan die Vorschläge
wegen Ernennung des Fürsten Alexander zum Generalgouvemeur von Ost-
rumelien angenommen habe, und daß das künftige Verhältnis der beiden Teile
des bulgarischen Landes folgendermaßen gestaltet werden solle: Fürst Alexander
wird, zunächst auf fünf Jahre, zugleich Generalgouverueur der türkischen Provinz
Ostrumclien, das Statut (die Verfassung) der Provinz wird in der Weise
abgeändert, daß die Volksvertretung derselben zwar von der Bulgariens
getrennt bleibt, beide aber gewisse Angelegenheiten durch eine gemeinsame Dele¬
gation beraten, daß die untern Offiziersgrade bis zum Hauptmann hinauf immer
nur für den einen Teil, die obern dagegen für beide Geltung haben, Generale
aber, die in Ostrumclien Garnisonen befehligen, in ihrem Range die Bestätigung
des Sultans bedürfen. Endlich soll Bulgarien der Pforte zur Regelung des
rückständigen Tributs im ganzen 300 000 türkische Pfund zahlen. Binnen kurzer
Zeit wird zur Beratung dieses Übereinkommens eine neue Konferenz der Ver-
treter der Großmächte zusammentreten. Nußland wird diese lockere und so
ziemlich in den Nahmen der Bestimmungen von 1878 passende Vereinigung
der beiden von Bulgaren bewohnten Gebiete nicht beanstanden, ihr aber auch nicht
förmlich zustimmen, sondern sie vorläufig ignoriren; denn der Kaiser Alexander
ist mit dem Fürsten von Bulgarien noch keineswegs ausgesöhnt. Er glaubte
schon seit Jahren, dem Battenberger kein Vertrauen schenken zu dürfen, er weiß,
daß dieser ein Schützling und Werkzeug der englischen Politik ist. welche den
Aufstand in Philippopcl anstiftete, und betrachtet ihn auch für die Zukunft als
unzuverlässig. Alle Versuche, sein Mißtraue» zu beschwichtigen, sind mißlungen.
Der Brief, welchen der Fürst durch General Kaulbars dem Zaren übersandt
haben und in welchem er eine Versöhnung versucht haben soll, ist Erfindung
und würde, wenn er existirte, so wenig seinen Zweck erfüllt haben, als der
Tagesbefehl, in welchem der Fürst die Verdienste der russischen Offiziere um
die Armee der Bulgaren anerkannte. Man kaun in Wien nicht gut unterrichtet
gewesen sein, als man hier meinte, der vstrumelische Aufstand sei von russischer
Seite veranlaßt, und als man auf Grund dieser Vermutung thatsächlich sagte:
Lässest du deinen Bulgaren los, so lasse ich meinen Serben gegen ihn marschiren.
Der Battenberger war nichts weniger als eine Schachfigur des Herrn von Gicrs,
und er ist, weil er eine solche in den Händen Salisburys ist, das Haupthindernis,
wenn die Lage der Dinge auf der Bcilkauhalbinsel uoch nicht befriedigend ge¬
ordnet ist und, wie es scheint, auch nicht sobald endgiltig geordnet werden kann.
Kommt eine Vereinigung zwischen der Pforte und den Bulgaren, wie sie oben
skizzirt wurde, wirklich zu stände, so wird sich Nußland stillschweigend vor¬
behalten, sobald die bulgarische Politik eine Wendung nimmt, die den russischen
Interessen zuwiderläuft, augenblicklich auf seinen Einspruch gegen jede Abänderung
des status Huo g-illo zurückkommen, und so wird das Damoklesschwert einer
russischen Intervention so lange über Bulgarien hängen bleiben, als dort mit
dem Wciterregiereu des Battenbergers die Möglichkeit eurer solchen Wendung
besteht, oder als dieser den Argwohn des Zaren nicht besser zu entkräften und
in Vertrauen zu verwandeln weiß, als bisher.
Die Kollcltivnote, welche den Regierungen Serbiens, Bulgariens und
Griechenlands die Demobilisirung ihrer Armeen empfiehlt, sollte ursprünglich
nur in Belgrad und Sofia überreicht werden und lag schon um die Mitte des
Dezembers v. I. in der Absicht des Kabinets, welches die Anregung zu diesem
Schritte gab. Später wurde die Maßregel auf den Vorschlag Österreich-Ungarns
und Deutschlands auch auf das Kabinet von Athen ausgedehnt. Von Bulgarien
ist zu erwarten, daß es sich dem Verlangen der Mächte ohne Verzug fügen
werde, um einen neuen Anspruch auf deren wohlwollende Berücksichigung zu
erwerben. (Neuern Nachrichten zufolge hat es mit der Abrüstung bereits in
großem Maßstabe begonnen.) In Serbien wird man ungern an die Sache
gehen, obwohl es mit der Abrüstung keine Gefahr hätte, da die Regierung des
Königs Milan in der Lage ist, sehr rasch die Rüstung wieder anzulegen. Sie
kann, dank den ihr zur Verfügung stehenden Eisenbahnen und dank den militä¬
rischen Einrichtungen des Landes, die sich bei der letzten Mobilisiruug des Heeres,
soweit es sich um diese allein handelte, bewährten, ihre Streitkräfte in wenig
Wochen wieder uns Kriegsfuß bringen. Anders verhält es sich mit Griechen¬
land. Hier giebt es Eisenbahnen nur in der Ausdehnung weniger Meilen, und
obwohl die Regierung fast unmittelbar nach Eintreffen der Nachricht von der
Revolution in Ostrumelien mit Rüstungen vorging, kann die Mobilisirung
der hellenischen Wehrkraft »och heute nicht als vollendet angesehen werden.
Weder das Kommissariat noch der Sanitätsdienst ist soweit auf die Beine ge¬
stellt, daß das eine wie das andre zu einem Feldzuge genügte, und die Zahl
der Kombattanten muß mindestens um zwanzig Prozent vermehrt werden, wenn
die gesamte Armee unter den Fahnen stehen soll. Die griechische Militär¬
organisation ist eine neue Schöpfung, die von einer französischen Mission ent¬
worfen wurde, hat sich also noch zu bewähren.
In Serbien hat man in der Person Mijatowitschs, des bisherigen Gesandten
in London, einen Bevollmächtigten für Verhandlungen über einen Frieden mit
den Bulgaren ernannt, die in Bukarest stattfinden sollen. Daneben aber macht
man oder machen gewisse Kreise, die sich in gewissen Zeitungen als Re¬
präsentanten der Volksstimmung darstellen lassen, ein sehr kriegerisches Gesicht
und erheben Forderungen, die weit über das hinausgehen, was auf Erfüllung
Aussicht hat. Nach Berichten aus Belgrad hätte die dortige Regierung über
die Bedingungen, unter denen sie mit Bulgarien Frieden schließen will, wiederholt
Beratungen gepflogen und bereits endgiltige Beschlüsse gefaßt, wie wenn das
nur von ihr und etwa noch von der Direktion der Wiener Länderbauk abhinge, mit
deren Geld und Einfluß die Serben bisher Krieg geführt haben. Diese Beschlüsse
oder diese Wünsche gehen, wenn sie wirklich, wie berichtet wird, existiren, sehr
weit, aber wohl nur nach dem diplomatischen Grundsatz: man muß mehr fordern,
als erfüllbar ist, um soviel zu erlangen, wie man braucht. Man schlage vor,
dann kann man sich abhandeln lassen. Jene Wünsche treten auf, als ob seit
dem Einmärsche der Serben in Bulgarien garnichts vorgefallen wäre. Man
verlangt im wesentlichen, was man bei der Kriegserklärung und kurz vor ihr
fordern zu dürfen glaubte: vollständige Zurückführung der bulgarischen Ver¬
hältnisse ans den Stand vor den Ereignissen in Philippopel, Aufhebung der
Union in jeder Gestalt, oder, wenn Europa eine solche gestatten wolle, Ent¬
schädigung des dadurch benachteiligten und herabgedrückten Serbiens. Die
serbischen Staatsmänner argumentiren, um diese Forderungen zu rechtfertigen,
wie folgt: Unser Staat tritt in die beabsichtigten Friedensverhandlungen mit
der Regierung des Fürsten Alexander mit dem Bewußtsein ein, daß unser Heer
in keinem einzigen Treffen geschlagen worden ist, und daß er nach wie vor
Aufrechterhaltung des Gleichgewichts auf der Balkanhalbinsel verlangen kann
und muß, da an einen dauernden Frieden nicht zu denken ist, wenn die Be¬
stimmungen des Berliner Vertrages nicht streng und nnsnahmslvs gewahrt
werden und Bulgarien nicht genötigt wird, Bürgschaft materieller Art
zu geben, daß es sie achten werde. Wird mit Zustimmung der Psorte und
Gutheißung der Großmächte ein vergrößertes Bulgarien geschaffen, so kann
Serbien dies unmöglich zulassen (wirklich nicht, das kleine Ländchen? wenn es
nun müßte?), wofern ihm nicht eine entsprechende Erweiterung seines Gebietes
gewährt wird. Sollte Europa in der That es sür zulässig halten, daß
Bulgarien und Ostrumelieu vereinigt werden, so müßte Serbien mit Widdin
und dem Kreise von Trn schadlos gehalten werden, und zwar wäre ans die
Abtretung des letztern noch mehr Gewicht als auf die des erstern zu legen, weil
Bulgarien sonst jeden Augenblick imstande sein würde, nach Macedonien hinüber
zu greifen, und es ganz undenkbar erscheint, daß ihm diese Möglichkeit nicht
abgeschnitten werden sollte. Antwortet man darauf, mit dieser Abtretung würde
die serbische Grenze ganz nahe nach Sofia hin verlegt werden, so erwiedern die
Serben und ihre Freunde: allerdings, aber nach einer Union Bulgariens mit
Ostrumelien würde Sofia nicht mehr die Hauptstadt sein können, vielmehr
würde der Mittelpunkt der vereinigten Bnlgarenländcr Philippopel werden müssen.
Von diesen Behauptungen ist einiges begründet, andres scheint uur so,
wieder andres hat nicht einmal den Schein der Wahrheit für sich. Die Serben
haben in dem kurzen Feldzuge keine eigentliche Niederlage erlitten, keine Ge¬
schütze und keine Fahnen verloren und ungefähr noch einmal so viel Gefangne
gemacht als ihre Gegner. Aber ihr Unternehmen endigte doch mit einem Rück¬
züge, auf dem ihnen die Bulgaren bis auf serbisches Gebiet folgten, und wenn
sie behaupten, daß, wenn Osterreich sich nicht dazwischengestellt hätte, General
Leschjcmin jetzt in Widdin wäre, so können ihnen die Bulgaren erwiedern: hätte
Österreich uns nicht durch Khevenhüllcr Halt geboten, so stünden wir wahr¬
scheinlich heute in Belgrad. Wenn Serbien für jede Union der Bulgaren,
auch für eine solche, welche dein Berliner Frieden in der Hauptsache entspricht,
E>?tschädigung mit Gebiet beansprucht und für den Fall einer Verweigerung
mit Erneuerung des Krieges droht, so sollte es wissen, daß es damit nicht bloß
den Bulgaren, sondern zugleich den Großmächten droht, und daß dies einer
kleinen Macht übel zu Gesichte steht und übel bekommen kann. Weigert es
sich, abzurüsten, rüstet es sogar, wie gemeldet wird, weiter, so wird es damit
niemand imponiren und nichts erreichen als eine noch stärkere Demütigung und
eine gänzliche Erschöpfung seiner ohnehin dürftigen Finanzen. Serbiens Mi߬
geschick ging aus zu großem Selbstvertrauen gegenüber den Feinden im Nachbar¬
lande und aus zu geringer Beachtung der Wünsche seiner Freunde hervor,
welche ans Friede»! gerichtet waren. Der rechte Weg ist jetzt, daß mau sich
diesen Wünschen ohne Vorbehalt und Hintergedanken fügt und nicht an Rache,
sondern an Heilung der Wunden denkt, die der ilnvorsichtig begonnene Krieg
dem Lande geschlagen hat. Vor allem muß der Hader der Parteien ver¬
stummen, der die Entwicklung des Volkes so oft gehemmt und zum Rückgange
gebracht hat. Man will den König für die Niederlage verantwortlich machen.
Gerechter wäre es, sich selbst anzuklagen, da Milan nur dem Drängen der
nationalen Selbstüberhebung nachgab, als er seine Kriegserklärung erließ.
Unter dem Jubel der nicht bloß sehr lauten, sondern auch starken Kriegspartei
unterschrieb er den Befehl zur Mobilisirung der Armee. Vorzüglich durch
Volkskundgebungen aller Art wurde er genötigt, durch den Dragomanpaß in
das Nachbarland einzurücken. Nicht so sehr die Kabinetspolitik des Königs
als das, was man als Nationalpolitik pries und empfahl, führte die serbischen
Truppen auf die Schlachtfelder von Slivnitza und Pirol. Was den Serben
jetzt not thut, ist nicht neue Rüstung zur Auswetzung der Scharten, welche der
Krieg ihrem Ehrenschilde beigebracht hat, sondern Abkühlung, hellerer Blick und
Selbsterkenntnis. Die ohnehin nicht starke Regierungsgewalt muß vor weiterer
Schwächung und Erschütterung bewahrt werden. Die Gefahren, welche Serbien
bedrohen, liegen viel weniger in einem Großbnlgarien, das mit der Zeit aus
der Union hervorgehen könnte, als in dem Mißbräuche der eignen, zu liberalen
Verfassung. Mehr Beschränkung, mehr Bescheidenheit, mehr politische Disziplin
werden Serbien im Innern heben und stärken und es zugleich mehr zur Er¬
füllung seiner Pflichten nach außen befähigen. Europa hat den Serben soeben
erst einen sehr deutlichen Beweis von Wohlwollen und hilfreicher Gesinnung
gegeben, und es wird diese Gesinnung sicher auch bei einem endgiltigen Friedens¬
schlüsse bethätigen, wenn Serbien seine Ansprüche mäßigt. Die Serben sollten
sich endlich klar darüber geworden sein, wie sehr sie und alle die kleinen Balkan¬
völker von der Gunst der Mächte abhängen, und daß sie, wenn diese unter sich
einig sind, nicht das mindeste gegen deren Willen vermögen. Sind die Mächte
entschlossen, alle Spekulationen aus die oder jene Meinnngs- und Interessen-
Verschiedenheit abzuschneiden, achten sie den europäischen Frieden als ihr höchstes
Interesse, wie dies jetzt der Fall ist, so ist jede positive Entscheidung einzig
und allein in ihren Händen; denn dann spricht nicht Rußland, Österreich oder
England in dem betreffenden Falle sein Gebot oder sein Urteil, sondern es ist
die Stimme Europas, die sich vernehmen läßt. Dies ist jetzt eingetreten.
Europa stand den Ereignissen in Bulgarien eine Zeit lang geteilt gegenüber,
jetzt ist dies vermittelt und ausgeglichen. Nicht mir ist man einmütig ent¬
schlossen, dem serbisch-bulgarischen Streite rasch und gründlich ein Ende zu
machen, sondern es ist auch über die Einzelheiten der Intervention zur Herbei¬
führung und Formulirung des Friedens ein befriedigendes Einvernehmen hergestellt.
Werden die Verhandlungen über die bulgarische Unionsfrage in demselben Geiste
anftichtigen Entgegenkommens geführt, so kann ein alle Teile zufriedenstellendes
Arrangement nicht ausbleiben. Was Griechenland angeht, so hat dessen Premier
Delyannis in seinem letzten Rundschreiben behauptet, die neuesten Ereignisse auf
der Balkanhalbinsel hätten „höchst wichtige Rassen- und Gleichgewichtsfragcn"
aufs Tapet gebracht und auch jenseits der Grenzen des Staates, in welchem
sie sich begeben, ernsten Einfluß geübt. Die hellenische Regierung würde den
Verdacht erwecken, daß sie nicht aufrichtig die Erhaltung des Friedens wünsche,
wenn sie den Mächten nicht „offen und ohne Rückhalt" die Lage an den
Grenzen, besonders im Norden, darstellte, welche „voll von Gefahren" sei. Der
Berliner Kongreß habe dieser Lage einige Aufmerksamkeit geschenkt, und da aller
Grund vorliege, zu vermuten, daß die Mächte sehr bald die Regelung der An¬
gelegenheiten in den Balkanländern in die Hand nehmen würden, so hoffe man
in Griechenland, daß „sie im Interesse eines dauerhaften Friedens sich nicht
darauf beschränken würden, eine offne Wunde zu schließen, sondern darauf
Bedacht nehmen würden, verborgne Wunden zu heilen, die sich gleichfalls zu
öffnen drohten." So würden die Schwierigkeiten erleichtert werden, welche die
griechische Regierung hindern könnten, an dem Werke der Pazifikation mitzuar¬
beiten, mit dem sich die Mächte beschäftigten. Das Züknlnr schließt mit den
Worten: „Die Möchte wissen, wie sehr die Frage wegen unsrer Nordgrenzen
die Lebensinteressen unsers Königreiches berührt, und wie eng sie mit den
politischen Interessen verknüpft ist, die neulich durch die Ereignisse in den
Vordergrund gerückt worden sind, deren Schauplatz die Balkanhalbinsel war.
Gerade die Dankbarkeit, mit welcher die bisher von den Großmächten kund¬
gegebne Fürsorge für Griechenland unsre Herzen erfüllt hat, verpflichtet uns,
ihnen die Lage in ihrem wahren Lichte darzustellen." Das sind schöne Redens¬
arten, hinter denen sich der unschöne Wunsch versteckt: wir möchten ein Stück
Land jenseits unsrer Nordgrenze haben, und die Gelegenheit scheint günstig.
Sprecht ihr uns dieses türkische Besitztum nicht zu, so nehmen wirs uns. Die
Griechen sind feine Köpfe, und so sollten sie wissen, daß man die europäischen
Kabinette mit so durchsichtigen Phrasen nicht täuscht. Sie sind ferner vor¬
wiegend Geschäftsleute, und so sollten sie bemerkt haben, daß eine derartige
Politik zum Bankerotte führen muß. Es ist Thorheit, Kredit auf eine zukünf¬
tige Erbschaft hin zu suchen, die vielleicht niemals ausgezahlt wird. In Mace-
donien stehen jetzt 150000 Mann Türken bereit, diese sogenannte Erbschaft
gegen die Habgier und Großmannssucht der Griechen zu verteidigen, und obwohl
Europa den letztern wiederholt viel Wohlwollen erwiesen hat, hat das Wohl¬
wollen, wie alle guten Dinge, seine ganz bestimmten Grenzen. Es sieht sehr
darnach aus, als ob Griechenland, wenn es auf seinem Verlangen bestünde,
nichts gewinnen, sondern Strafe zu zahlen haben würde. Wir leben in einer
unvollkommnen Welt, und die Politik ist bisweilen unmoralisch. Aber trotzdem
klingt es unverschämt, wenn jemand hier von Rechten auf Land redet, das
andrer Leute Eigentum ist. Ist der, der so spricht, der stärkere, so kann er sich
das, was er begehrt, kraft des Faustrechts nehmen, das vielen Rechten und
Ansprüchen in dieser besten aller möglichen Welten zu Grunde liegt. Wenn er
dagegen der schwächereist, so muß er verzichten und sich zufriedengeben können;
sonst giebts Schaden, und wer den hat, der hat für den Spott nicht zu sorgen.
Das sollten die Griechen sich selbst gesagt haben, aber wer hoch hinaus will,
sieht oft nicht, was unten, auf realem Boden, unmittelbar vor seinen Fußspitzen
steht und liegt. Es ist noch nicht lange her, daß Enropa den Griechen eine
stattliche Provinz aus dem Verbände des türkischen Reiches schnitt, und man
darf es nicht wohl anders als dreiste Habgier nennen, wenn sie jetzt schon, nach
Verlauf weniger Jahre, in die Höhe fahren und mehr fordern. Wir können
zugeben, daß die Versuchung, die in der bulgarischen Revolution lag, ziemlich
groß war, wir können auch die Beängstigung begreifen, welche infolge davon in
die Kreise fuhr, in denen die „Megalomanie" der Nachkommen des Themistokles
grassirt. Aber bis jetzt hat die bulgarische Union den Griechen noch keinerlei
Nachteil als den gebracht, den sie durch ihre Rüstungen ihrer Kasse selbst zu¬
gefügt haben. Ein Staat muß natürlich bereit sein, sein Gebiet zu verteidigen, aber
er sollte auch zu einer Entschädigung berechtigt sein, wenn ein Nachbar ihn stört
und zu Ausgaben nötigt. Das gilt aber hier nur von der Pforte, der be¬
drohten Macht. Die Griechen haben bisher ihre schönen Anlagen nicht dazu
benutzt, das Land, welches sie sich durch Tapferkeit, Beharrlichkeit, aber auch
und ganz vorzüglich durch unablässiges Betteln, wenn sich Gelegenheit fand,
erworben haben, vorteilhaft zu besäen. Wäre es nicht klüger von ihnen, ihr
kleines Land wirtschaftlich stark zu machen, Eisenbahnen zu bauen, Wälder zu
pflanzen und Sümpfe in fruchtbare Ländereien zu verwandeln, als der gro߬
griechischen Phantasie nachzulaufen, Geld für sie wegzuwerfen. Kanonen und
Hinterlader zu kaufen und darüber nicht aus dem halben Bankerotte heraus¬
zukommen und dem vollständigen entgegenzueilen? Die Mächte thun ihnen in
der That einen Gefallen, wenn sie ihnen Abrüstung gebieten und sie so auf den
Weg zu wirklichen Gedeihen hinschieben. Es geht das gegen ihren Willen, aber
dieser Wille ist Kinderwille, sie wissen nicht, was sie verspielen mit ihrer Gro߬
mannssucht. Dieselbe wird sie nicht bloß zuletzt zahlungsunfähig, sondern als
ewige Friedensstörer verhaßt und als ewige Bettler verächtlich machen. Ähnlich
verhält es sich mit den andern kleinen Balkanstaaten. Einst war Belgien ein
Land, wo die Großmächte ihre Streitigkeiten ausfochten. Wenn die Balkan¬
staaten so fortfahren wie bisher, so werden sie mit ihrer Habgier und ihrem
Ehrgeiz sich ein ähnliches Schicksal bereiten, mir mit dem Unterschiede, daß es
sich zuletzt sicher uicht so glücklich gestalten wird wie das Schicksal jenes Staates,
der einst dirs voolcxit- ot' Vuroxo genannt wurde. Die Großmächte, im Interesse
ihrer eignen Völker Vormünder dieser jungen Staaten, haben ein Recht darauf,
sie von Thorheiten abzuhalten, und so werden diese das Basta, das ihnen jetzt
zugerufen wird, beachten müssen.
or einigen Monaten gab Karl Vogt in einem Feuilleton der
„Neuen freien Presse" den deutschen Grammatikern den Rat, sie
sollten, anstatt sich mit kleinlichen Fragen abzugeben, wie der über
die allgemeine Einführung der lateinischen Schrift in die deutsche
Sprache, lieber zusehen, wie die deutsche Sprache zu bearbeiten
und umzugestalten sei, damit die Deutschen unter anderen Völkern und über¬
haupt in der Fremde nicht so leicht ihr Volkstum aufgaben — „entnativnalisirt"
würden, Karl Vogt ist nämlich der Meinung, daß die Ursache der verhältnis¬
mäßig leichten Entnationalistrung der Deutschen doch in ihrer Sprache liegen
müsse. Als Beweis hierfür führt er seine eigne Familie an, die es nur mit
der äußersten Anstrengung zuwege bringe, daß die Kinder nicht ganz aus
der Übung der deutschen Sprache kämen, obgleich zu Hause grundsätzlich nur
Deutsch gesprochen würde, Vogt meint, es könne diesem Mißstände begegnet
werden dnrch eine entsprechende Umgestaltung der deutschen Sprache, bekennt
aber, daß er über das Wie eiuer solchen Umgestaltung ganz im unklaren ge¬
blieben sei. Dieses Geständnis erscheint umso aufrichtiger, als mit dem Vor¬
schlage, den Vogt macht, die deutschen Grammatiker in der That in die größte
Verlegenheit kommen und kaum herausfinden könnten, auf welchem Wege und
mit welchen Mitteln an der deutschen Sprache Veränderungen vorzunehmen
wären, damit der ferneren Entnationalistrung der Deutschen, soweit sie sich an
der Sprache zeigt, vorgebeugt werde.
Ob solche Veräuderuttgen überhaupt möglich seien, ohne den innern Kern
der Sprache zu zerstören, wollen wir vorläufig ganz unerörtert lassen; wohl
aber verlohnt es sich zuzusehen, ob wirklich in den Sprachen etwas liege,
was zum Hilfsmittel der Entnationalistrung dienen könnte. Denn erst nach
Beantwortung dieser Frage können die richtigen praktischen Gegenmittel ge¬
funden werden.
Bekanntlich werden in Ländern, wo zwei oder mehrere Völker ganz nahe
bei einander wohnen, die Kinder zu den Nachbarn bloß deshalb geschickt, damit
sie dort deren Sprache erlernen. Die Erfahrung zeigt, daß solche Kinder sich
ebenso leicht und in ebenso kurzer Zeit die fremde Sprache aneignen, wie sie
die Muttersprache erlernt hätten, wenn sie zu Hause geblieben wären. Hierin
sind alle Völker einander gleich, was für ein Gepräge auch immer die so an¬
gelernten Sprachen haben mögen. In dieser Beziehung hat die deutsche Sprache
mit allen andern ein gemeinsames Loos, und man könnte gar keine Ursache
auffinden, warum das deutsche Kind in der Fremde die Sprache eines andern
Volkes leichter erlernen sollte, als das Kind des Nachbarvolkes die deutsche
Sprache. Die Umgebung des fremden Volke?, das engliche Anhören der fremden
Laute übt ans unser Ohr den größten Einfluß ans; darum begeben sich ja
selbst Erwachsene und Gelehrte in die Zentren andrer Völker, um unter ihnen
das fremde Idiom ans sich wirken zu lassen. Selbst gegen unsern Willen wirkt
die fremde Umgebung mächtig auf uns ein, lind vergebens ist das Streben,
sich in der Fremde der dort herrschenden Sprache erwehren zu wollen. Die
Macht der Mehrheit ist es, gegen welche die Einzelkraft auch im Hinblick auf
die Sprache unterliegen muß; und daher bleibt im allgemeinen in der Fremde
die Sprache der fremden Nation Siegerin über unsre Muttersprache.
Doch sind in dieser Beziehung besondre und zwar merkwürdige Erfahrungen
bekannt; es bleibt selbst dem deutschen und slawischen Bauernsöhne nicht verborgen,
daß beispielsweise der Italiener viel schwerer Deutsch und slawisch erlernt als
der Deutsche und der Slawe Italienisch. Diese Thatsache tritt auffällig hervor,
sobald deutsche und italienische Arbeiter irgendwo darauf angewiesen sind, mit
einander zu verkehren, ohne daß einer die Muttersprache des andern versteht
oder der Hilfe eines Dolmetschers genießt. Der italienische Arbeiter spricht die
deutschen Wörter so plump und schwerfällig aus, und sein Sprachgedächtnis ist
so langsam, daß ihm der deutsche Arbeiter unwillkürlich fortwährend zu Hilfe
kommt, nachdem er längst die nötigsten italienischen Wörter besser oder schlechter
inne hat. Hier ist der Punkt, bei dem die Forschung ihre Arbeit beginnen
muß, wenn sie dazu gelangen soll, die Ursachen der Entnativnalisirung durch
die Sprache aufzudecken.
Wir wollen uns hier nicht mit Untersuchungen aufhalten über die dnrch
Vererbung erlangte Fähigkeit, diese oder jene Sprache leichter zu erlernen als
eine andre, oder über Sprachcntalent überhaupt. Es wäre dies ja doch für
uns bedeutungslos. Dagegen wollen wir gleich vorausschicken, daß wir doch
annehmen müssen, der Italiener und der Deutsche, von denen wir oben ge¬
sprochen, haben jeder die Schwierigkeiten ihrer Muttersprache bereits in der
Kindheit überwunden. Jeder von beiden hat also eine gewisse Summe und eine
gewisse Art vou Schwierigkeiten inne; und zwar liegen dieselben einerseits in
der Aussprache, anderseiis in den grammatischen Eigenheiten der Sprache. Um
zunächst bei der Aussprache zu bleiben, bestehe» sür ihn gar keine Schwierig¬
keiten in der fremden Sprache dort, wo dieselbe gleiche Lunte oder Lantgrnppcn
wie seine eigne besitzt. Er braucht dann nicht für die fremde Sprache neue
Anstrengungen zu mache», da er die Schwierigkeiten, um die sichs handelt, in
seiner eignen Sprache schon in der Kindheit überwunden hat. Sobald jedoch
Laute anzueignen sind, welche in der Muttersprache nicht gebraucht werden, so
bedarf es mehr oder weniger Arbeit und Übung, um sie richtig auszusprechen.
Die Schwierigkeiten beginnen gleich bei den Vokalen. Jeder, der Englisch
gelernt hat, wird wissen, welche Anstrengungen es kostet, um nur das a so ein-
müden, wie es die verschiednen Verbindungen, die es eingeht, erfordern. Das¬
selbe ist aber auch mit den Konsonanten der Fall; gerade wenn man die Aus¬
sprache des Englischen in Betracht zieht, erkennt mau recht deutlich, daß es
keineswegs genügt, gewisse Kvnsonantenverbindnngcn in der Muttersprache zu
beherrschen, um auch sofort andre aus der fremden Sprache zu überwinden.
Nur das, was vollkommen dasselbe ist, wird sofort angeeignet; alle Abweichungen
und alle Schattirungen müsse» durch neue Anstrengung überwunden werden.
Auch die französischen nasale und die italienischen Zischlaute machen dem Deutschen
zu schaffen, eben weil sie für ihn als neue, bisher unbekannte Elemente erscheinen.
Dagegen kommt jedem Volke bei der Erlernung einer fremden Sprache oft
der Dialekt der Muttersprache zu Hilfe. Die Dialekte umfassen mannichfaltige
Variationen von Vokalen und Konsonanten, die durch die Schriftsprache nicht
bezeichnet, also durch die Schriftzeichen nicht gedeckt werden. Die Sprachorgane
sind aber darauf eingeübt, und diese Übung giebt das Gefühl, daß gewisse Laute
der fremden Sprache sofort oder wenigstens ohne Mühe beherrscht werden,
obgleich die Muttersprache in der Schrift jene Laute nicht bezeichnet.
In dieser Beziehung gereichen dem, der eine fremde Sprache lernt, sogar
die verdorbnen Wörter seines eignen Dialektes zum Vorteile, insofern die Be¬
herrschung derartiger dialektischer Zusammenziehungen, Abkürzungen und Hcirteu
uus befähigt, ähnliche Verbindungen und Gruppirungen der fremden Silben
leichter auszusprechen, als ohne vorhergehende EinÜbungen dieser Art.
Gerade die deutsche Sprache zeigt in der Schriftsprache sowohl wie in den
Dialekten in der Vereinigung und Zusammenziehung der Elementarlaute zu
Silben einen solchen Reichtum wie kaum eine andre. Vor allem zeichnen sich viele
Silben durch einen besoudevu Kraftaufwand aus; es vereinigen sich Vokale und
Konsonanten zu Silben, die behufs ihrer Hervorbringung durch die Sprachorgane
sehr viel mechanische Arbeit erfordern. So kommen z. B. gleich in dein Worte
Kraft Buchstaben vor, die von der Kehle bis zu den Zähnen und Lippen alle
Muudteile in Bewegung setzen. Es ist also einleuchtend, daß der Deutsche imstande
ist, derartige Verbindungen mich in den fremden Sprachen mit seinem Sprach¬
organe hervorzubringen und den seinigen sofort anzupassen.
Wenn man dagegen die Wortbildung in Betracht zieht, so ist die Aufgabe
für den Deutschen nicht so leicht. Die deutsche Sprache hat verhältnismäßig
wenig Suffixe, die noch lebendig in die Wortbildung eingreife»; umso reicher
ist sie i» der Art und Anzahl der Zusammensetzungen aus selbständigen Wörtern.
Dies verschafft der Sprache große Klarheit und Anschaulichkeit, macht aber die
Deutschen weniger geschickt für die Auffassung solcher fremde» Wörter, die aus
sogenannte» Stammwörtern und oft mehrfach verschmölze»?» Suffixen zu¬
sammengesetzt sind. Die letztem erscheinen in der Schrift so kurz und für das
Ohr so flüchtig, daß für Deutsche große Übung zu ihrer Auffassung und An¬
wendung erforderlich ist, weil sich fremde Elemente dieser Art mit deutschen
nicht oft decken. Zusammengesetzt aus selbständigen Wortelementen sind der
Mehrzahl nach im Deutschen auch die grammatischen Zeiten, denen gegenüber
verschmolzene Wortbildungen in andern Sprachen stehe». Auch hier liegt der¬
selbe Grund vor, ans dem es dem Deutschen große Mühe verursacht, sich an
die fremden Elemente zu gewöhnen. Der größten Anstrengungen bedarf es
z. B., damit der Deutsche die Feinheiten des slawischen Zeitwortes verstehe,
welches durch eigens hierzu ausgeprägte Formen fähig ist, die verschiednen
Grade der Thätigleits- und Znstandsdaner sehr genau auszudrücken.
Die Redeteile also und ihre gegenwärtige Ausbildung siud das zweite
Hauptelement, welches bei der Erlernung einer fremden Sprache in Betracht
kommt, und dessen Bewältigung desto schwerer vor sich geht, je weniger Elemente
die Sprache des Lernenden besitzt, um die fremde Sprache damit Teil für Teil
zu decken.
Faßt man das bisher gesagte über die Aussprache und die Redebestandteilc
in den Sprachen zusammen, so könnte man nur gerade bei dem Deutschen geneigt
sein, anzunehmen, daß er die fremden Sprachen seiner Nachbarvölker schwerer
erlerne, als jene die seinige, und daß also eher die Nachbarn durch die deutsche
Sprache eutnativualisirt werden müßten. Denn dort, wo sür den Deutschen
Schwierigkeiten vorhanden sind, bestehen für den Fremden oft Leichtigkeiten,
teils weil jene sowohl Lautelemente besitzen, die sich mit denen der deutschen
Sprache decken, teils weil die Zusammensetzungen der Wörter und grammati¬
kalischen Forme,? in manchen fremden Sprachen feiner sind, und die betreffenden
Völker daher leichter imstande sind, die mehr sichtbaren, gleichwertigen Zeichen
der deutschen Sprache zu erfassen und zu handhaben. Man sollte also meinen,
daß die Fremden beim Zusammentreffen mit den Deutschen sich geneigt zeigen
würden, die Sprache derselben anzunehmen, also mit den Deutschen deutsch zu
verkehren. Wie kommt statt dessen der Deutsche, obwohl er manche nichtdentsche
Sprache schwer erlernen muß, dazu, sich dem sür ihn schwereren anzupassen,
damit er es dem Fremden zuliebe handhabe?
Für dieses Problem, welches erst in solcher Zuspitzung seine ganze Schwierigkeit
zeigt, liegt die Lösung in einem Umstände, den wir vorausschicke!! müssen, dem
Umstände nämlich, daß es sich bei der Entnationalisirung durch die Sprache
garnicht um die in der Schrift niedergelegte Sprache, sondern lediglich um den
lebendigen Verkehr zwischen Mensch und Mensch handelt. Bei der Berührung
zweier Menschen, von denen jedem die Muttersprache des andern gänzlich un¬
bekannt ist, zeigt sich, daß die mechanische Arbeit den Ausschlag giebt, welche
bei der Aussprache des nächsten besten Wortes vom Sprechenden aufgewendet
werden muß. Für jeden von beiden läuft nämlich seine Muttersprache sozu¬
sagen auf „aufgefahrenen Bahnen", wie sich der Wiener Phhsiologe Brücke aus¬
drückt, und es wird sich der Deutsche z. B. bei der Hervorbringung seiner eignen
Sprachbestandteile nicht einmal bewußt, welche mechanische Arbeit er während
des Sprechens in der Muttersprache verrichtet. Dieselben „ ausgcfnhrenen
Bahnen" bestehen nicht minder für seinen Nnchbnr, mit dem er als Unbekannter
zusammentrifft.
Nun werden die Sprachen beider in ihren Lauten manches gemeinsam
haben; soweit dieses reicht, braucht keiner derselben seine „anSgefahrcnen
Bahnen" verlassen. Neu und schwer erscheint ihnen nnr diejenige Arbeit,
die sich ihnen beim nachsprechen des bisher ihnen unbekannten Sprachbestand¬
teiles bietet. Es fragt sich nnn hierbei, wer mehr Arbeit bei dieser Erzeugung
verrichten muß. Es ist leicht einzusehen, daß demjenigen die Arbeit schwerer
werden wird, dessen Sprachwerkzeuge für schwerere Aufgaben nicht eingeübt
waren, dessen Sprache also nur solche „nusgefahrenc Bahnen" besitzt, auf denen
gleichsam nur leichte Lasten geführt werden und ans denen das Geführt sofort
zum Stehen kommt, sobald halbwegs schwere Lasten darauf hinrollen sollten. Das
Organ des Jtalieners z. B. ist für leichte Lasten „ausgefahren worden," während
der Deutsche sich von klein ans zu schwereren Lasten geschickt machen mußte.
Je schmerer also die Arbeit ursprünglich war, je mehr Anstrengungen es dem
Kinde kostete, um die Sprachorgane für die Muttersprache einzuüben, desto
leichter erscheint denselben Organen die spätere Arbeit bei der Hervorbringung
fremder Sprachen, deren Bestandteile, mit denen der Muttersprache gemessen,
weniger Mühe verursachen. Die Leichtigkeit der Erlernung fremder Sprachen
steht demnach in umgekehrtem Verhältnisse zu jener der Muttersprache, es wird
die fremde Sprache durch die Sprachorgane desto leichter bewältigt werden, je
schwerere Arbeit denselben die Muttersprache ihrer Zeit aufbürdete.
Dieses umgekehrte Verhältnis drückt das Grundgesetz aus, welches bei der
Eutuationalisiruiig durch die Sprache in Kraft tritt. Wir betonen nochmals,
daß es bei dieser Entnativnalisirnng zunächst und in erster Linie auf den Grad
der Schwierigkeit in der Aussprache ankommt. Gerade die Deutsche» haben,
wie gesagt, einen großen Vorsprung besonders vor dein Italiener voraus, in¬
sofern die Beschaffenheit der deutschen Silben schon in der Schriftsprache und
noch mehr im Dialekte der Art ist, daß sie äußerst günstig ans die Befähigung
der Sprnchorgaue einwirkt. Diese Beschaffenheit ist aber zugleich die Ursache,
weshalb sich der fremde Mund für die deutsche Sprache so oft unfähig
zeigt. Während der Fremde die äußersten Anstrengungen machen muß, um
deutsche Silben auszusprechen, paßt der Deutsche gleichsam spielend seine Sprach¬
werkzeuge den Silben der fremden Sprachen an. Durch die Überwindung der
Silben gelaugt man aber zur Aussprache der Wörter, und hiermit beginnt die
Aneignung des lexikalischen Sprachschatzes einer fremden Sprache. Der Ita¬
liener bleibt wegen seiner Unbeholfenheit in der Aussprache auch in dem lexi¬
kalischen Teile der fremden Sprache zurück. Infolgedessen überholt ihn der
Nachbar im Verkehre. Beide arbeiten unbewußt; derjenige, welcher leichtere
Arbeit hat, hilft dem autem, der größere Anstrengungen machen müßte.
Schließlich kommt es dazu, das; der letztere gar keine Anstrengungen macht,
indem der Deutsche sich dessen Sprache aneignet, während der Italiener zurück¬
bleibt. Darin liegt die sogenannte „Passivität" der Italiener, wie es unlängst
ein Sprachgelchrter bezeichnet hat.
Verfügt man aber einmal über die gebräuchlichsten und notwendigsten
Wörter der fremden Sprache, so ist hiermit auch die Grundbedingung für das
gegenseitige Verständnis der beiden Verkehrenden gegeben. Denn die notwen¬
digsten Partikeln und Hilfszeitwörter schalten sich wegen des wiederholten Be¬
dürfnisses nach und nach von selbst ein. So wird in unserm Beispiele der
Deutsche ein Sklave des Jtalieners, der nun seinerseits gleichfalls unbewußt
diesem Sklaven mit dem notwendigen Sprachschatze und der entsprechenden
Begleitung durch Gestikulationen behilflich ist. Nachdem sich der Deutsche,
ohne es zu wisse», dem Italiener unterworfen hat, muß er sich auch in
den Satzbildnngen von ihm beeinflussen lassen, und hiermit reift der Deutsche
allmählich dazu heran, sich uach dem Satzbcme und folglich auch im Geiste
der italienischen Sprache auszudrücken, die Sprache also immer mehr zu
beherrschen. So gewinnt der Deutsche die italienische Sprache endlich lieb;
seine Sprachorgane gewöhnen sich infolge des häufigen Gebrauches an die
italienische Sprache — zufolge der Beschaffenheit dieser Sprache an leichtere
Arbeit — und schließlich kehrt derselbe Deutsche nach dem Gesetze der Trägheit
mir ungern zu Verrichtungen der schwereren Arbeit zurück, die auch für seinen
geübten Mund zur Hervorbringung der Muttersprache erforderlich ist, Ist
dieser Deutsche vollends ein Kind aus den ersten Schuljahren, so wirkt das
Trägheitsgesetz umso stärker, als die „ausgefallenen Bahnen" für die Mutter¬
sprache noch keineswegs in hohem Grade geglättet sind.
Das ist der Gang der Entnationalisirung durch die Sprache. Nach dieser
Aufklärung ist natürlich die Annahme durchaus zu verwerfen, als würde die
Entnationalisirung erst dann beginnen und gefährlich werden, wenn sich die
Wortfolge und die feinern Satzverbindungen des fremden Idioms in die Mutter¬
sprache einzuschleichen beginnen. Die letztern Einflüsse sind erst eine Folge der
Aneignung des lexikalischen Bestandteiles der fremden Sprache; denn ohne den
lexikalischen Teil würde ja das Verständnis der fremden Sprache nicht beginnen,
und man könnte auch uicht das richtige Gefühl der grammatischen und stili¬
stischen Eigenschaften der fremden Sprache erlangen. Der lexikalische Teil ist
allerdings nur das gröbere Material; allein im Verkehre und bei der Ent-
nativncilisirnng bildet dieser Stoff die Grundlage alles übrigen. Ungeeignet
aber wird das fremde lexikalische Material, wie gesagt, nach dem Gesetze der
Trägheit, die desto stärker wirkt, je größer die ursprüngliche Anstrengung für
die Bewältigung des lautlicher Stoffes der Muttersprache war.
Je kräftiger demnach eine Sprache ist, desto mehr bringt sie die Gefahr
mit sich, daß ihre eignen Sohne im Verkehre mit andern Völkern entuativ-
ualisirt werden. Dieses Gesetz gilt für das Verhältnis aller Sprachen zu¬
einander; was hier z. V. für das Verhältnis zwischen Deutschen und Italienern
ausgesprochen worden ist, darf für alle romanischen Sprachen als stichhaltig
angesehen werden; denn die letztem sind alle schwächer in unserm Sinne als
die deutsche, und daher hat auch der Franzose und der Spanier die oben er¬
wähnte „Passivität" in sich. Wesentlich in demselben Verhältnisse zu den ro¬
manischen Sprachen befindet sich auch der Slawe, da auch bei ihm trotz der
Weichheit vieler seiner Laute und Lautverbindungen doch im ganzen viel mehr
Arbeit im Kindesalter für die Muttersprache aufgewendet werden muß als
bei den Romanen.
Aus diesem allgemein giltigen Entnationalisirungsgcsetze dürften sich sogar
geschichtliche Thatsachen in lehrreicher Weise erklären lassen. Steht ein Volk
mit einem kulturreicheren Volke in geographischer Nachbarschaft, so nimmt es unter
sonst gleichen Umständen mit neuen Gegenständen auch die entsprechenden Namen
dafür von dem kultivirtereu Volle an. Bei einem solchen Sachvechalte be¬
einflussen fremde Wörter schon durch die Logik der Thatsachen das minder ent¬
wickelte Volk; und hierin liegt die größte Gefahr der Entnationalisierung, auch
wenn die Sprachen der zwei Nachbarvölker gleich stark in unserm Sinne oder
gleich passiv wären. Es behält in diesem Falle trotzdem die eine Sprache
die Herrschaft über die andre, weil hier mit den neuen Vorstellungen und Be¬
griffen die ihnen entsprechenden Ausdrücke gleichsam aufgezwungen werden. Die
romanischen Sprachen erringen aber die Oberherrschaft über die, deutsche, wie
uicht minder über die slawischen Sprachen, auch unter ver Voraussetzung gleicher
Kultur. Hier ist unser Trägheitsgesetz von größter Bedeutung und kann auch
viele Erscheinungen in der deutscheu Geschichte allein erklären. In Elsaß-
Lothringen und in Südtirol hat das deutsche Volk auch ohne Einwirkung von
andern Ursachen die romanischen Sprachen annehmen müssen, und man kann
mit Sicherheit annehmen, daß die Romanisirung der Deutschen anch künftighin
ihren Fortgang nehmen werde, wenn das genannte Trägheitsgesetz nicht durch
andre Ursachen paralhsirt wird. Das Gesetz mahnt also gewisse Völker zur
Amvendung von Schutzmaßregeln bloß deshalb, weil sich deren Sprache gegen
die fremde unter übrigens gleichen Umständen als zu schwach erweist. Ohne
eifrige Pflege der Sprache dnrch die Familie, die Schule und sonstige Ein¬
richtungen ist es nicht möglich, der Entnationalisiruug einen Damm zu setzen.
Mithin hat unser Trägheitsgesetz auch eine politische Bedeutuug, da es die
Nationen an ihren Sprachgrenzen zu einem besondern Verhalten nötigt, das
sonst überflüssig wäre.
Soviel ist aber wohl klar, daß diese Gegenwirkungen uicht in einer Be¬
arbeitung und Umgestaltung der Sprache bestehen können. Die deutsche Sprache
so umzugestalten, daß sie gegenüber den romanischen Sprachen leine Gefahren
der Entnationalisirnng in sich trage, hieße sie auf jenen Grad der Weichheit
bringen, den die rumänischen Sprachen erreicht haben. Das würde aber ihren
gegenwärtigen kräftigen Charkter gänzlich verändern, ja vernichten, und der Nation
ein Idiom geben, welches ihrem Charakter geradezu entgegengesetzt wäre. Und
schließlich wäre die Verwirklichung eines solchen Ansinnens ganz unmöglich, da
die Grammtiker bei aller Kühnheit und bei aller' Vergewaltigung der Sprache
nicht wüßten, wo eine solche Umformung anfangen und wo enden solle. Die
Sprache ist nicht in dem Sinne weiterzubilden, daß ihr Grundcharakter ver¬
dorben wird, sondern es muß im Gegenteil dem Volke möglichst Gelegenheit
geboten werden, Geist, Gefühl und Bewußtsein seiner Sprache nach allen Rich¬
tungen hin in sich lebendig zu erhalten,
er Leser wird sich erinnern, daß im Jahre 1833 eine von Wilh.
Vender in Bonn gehaltene Lutherrede großen Anstoß erregte. Der
Vorfall hat nicht allein zu literarischen Auseinandersetzungen Ver-
anlassung gegeben, sondern anch in den Verhandlungen der
rheinischen und westfälischen Synoden zu Beschlüssen geführt,
welche gegen eine im Sinne Benders ausgeübte Lehrfreiheit protestiren.
Neuerdings hat sich auch die preußische Generalsynode mit dem gleichen Gegen¬
stande befaßt. Gegenwärtig tritt nun Bender mit einem Buches an die
Öffentlichkeit, in welchem er zu seiner Rechtfertigung den wissenschaftlichen
Hintergrund, auf welchem sich seine Rede bewegte, mitteilt. Er hofft durch seine
Hypothese, mit deren Hilfe er alle ^wesentlichen Erscheinungen des religiösen
Phänomens erklären zu können glaubt, den Bann des theologischen Scholästi-
zismus zu durchbreche» und denkbare Gedanken in verstehbarcr Form darzu¬
bieten. Daß ihm letzteres gelungen ist, soll von vornherein anerkannt werden;
ob jedoch diese deutbaren Gedanken geeignet seien, den theologischen Scholästi-
zismus zu durchbrechen, mit andern Worten, an die Stelle der Kirchenlehre zu
treten, und ob in ihrer Darlegung eine Rechtfertigung der angefochtenen Lnther-
rede zu finden sei, scheint mir höchst zweifelhaft.
Bender geht von der Frage nach der richtigen Fragestellung aus und stellt
fest, da alle Religionen für sich den Anspruch der Wahrheit erheben, so sei
keiner Recht zu geben, vielmehr über der Religion stehend zu fragen, was der
Mensch überhaupt mit der Religion wolle, wie sie entstehe, was sie bezwecke,
was sie ihm leisten könne und was nicht.
Diese Fragestellung ist doch wohl bedenklich schief, da sie unter dem
Scheine der Objektivität die subjektive Voraussetzung einführt, die Religion, sei
nur eine menschliche Kulturform, entstanden oder erfunden, um gewissen Be¬
dürfnissen Genüge zu thun.
Von seiner Voraussetzung ausgehend, schreibt nnn der Verfasser eine
NeligionSpsychvlogie, wobei ihm die verschiednen Religionen das Untersuchungs¬
material darbieten und wobei das Christentum in dieselbe Reihe wie die
Buddha- oder Brahmareligivn tritt. Zugestanden wird, daß der christliche
Glaube den relativ höchsten Standpunkt einnehme und dem psychischen Be¬
dürfnisse am meisten entspreche.
Nach Vender ist die religiöse Praxis eine eigentümliche Bethätigung des
Selbsterhaltungstriebes. Der Wunsch, in dem Kampfe ums Dasein Hilfe zu er¬
halte», läßt das Gebet entstehen. Die „Wunschwesen," die Götter werden, jedoch
nicht allein zur Befriedigung egoistischer, ans materielle Gegenstände gerichteten
Begierden angerufen, sondern auch für die Erreichung ideeller Ziele, für die Ge¬
winnung der persönlichen Seligkeit. Auch hier tritt Gebet und Opfer auf, wo
der Mensch an der Grenze seiner Kraft angelangt ist. Die religiöse Praxis ist
die Selbsthingebung an Gott — nicht die selbstlose, sondern eine solche, welche
Gewinn sucht, in dem sie auf eigne Kraft oder Einsicht verzichtet. Der Kultus
ist das Shstem von Garantien und Vermittlungen übermenschlicher Hilfe, zugleich
auch der Kanon der Bedingungen, unter welchen die Glückseligkeit erlangt wird.
Die Verschiedenheit der Kultussysteme wird bedingt") durch die konkrete Vor¬
stellung von der Bestimmung, dein Lebenszweck, dem Lebensideal, welches dem
Einzelnen oder den Völkern oder ganzen Völkergrnppen vorschwebt. Handelt
es sich bei der Anbetung um die praktische Erlösung von den Schranken, melche
sich der Durchführung der menschlichen Lebensaufgaben in den Weg stellen, so
beim Glauben um die theoretische Erlösung vom Drucke des Weltrütsels oder
um eine solche Beurteilung der Welt, welche die Erreichbarkeit der menschlichen
Lebensinteressen als möglich, wahrscheinlich und gewiß erscheinen läßt. Hieraus
entspringt der Anspruch des Glaubens, zugleich Universalwissenschaft zu sein.
Die Metaphysik tritt als el» förmliches Konkurrenzunternehmen neben der
religiösen Weltanschauung ans, und es erhebt sich ein Streit, der an¬
scheinend mit der Vernichtung des einen oder andern Teiles enden muß. Hierbei
wird sich die Religion nur zu erhalten vermögen, wenn sie das dem Wissen ge¬
bührende Gebiet preisgiebt. Die Entwicklung der Religion fällt weder mit der
der Kultur noch mit der der Moral zusammen. Im Protestantismus hat sich
die völlige Emanzipation der Moral von der Religion namentlich seit dem Auf¬
treten Kants vollzogen, eine Thatsache, welche zu den bedeutendsten Errungen¬
schaften der Neuzeit gerechnet wird.
Die Vorstellung von der Offenbarung beruht in allen Religionen auf der
Unterscheidung eiuer obern Welt des Himmels und einer untern irdischen Welt.
Wenn nun aber diese Vorstellung für uns nur symbolische Bedeutung haben
kann, weil wir diese örtliche Sonderung von Himmel und Erde nicht mehr teilen,*)
so können wir in der Offenbarung nur eine zwar unentbehrliche religiöse Vor¬
stellungsform erkennen, der aber eine Wirklichkeit nicht mehr entspricht. In dem
Glauben an diese Wirklichkeit besteht nun freilich die Religion, und kann es
auch, wenn sie die Form als uneigentlich und bildlich preisgiebt. Nicht außerhalb
der Welt, in der wir leben, sondern in ihr muß die Offenbarung einer höhern
idealen Welt, nach der wir streben, gesucht werdeu. Vermögen wir die Gottheit
nicht in der wirklichen Welt zu finden, in der wir leben und die wir allein
kennen, so werden wir sie vergeblich in einem Himmel suchen, der doch nur die
Verdichtung unsrer Träume ist. Die unmittelbare Selbstbezeuguug der Gottheit
im Menschengeiste ist nur eine leere Redensart, es giebt eine solche weder im
Gefühl, noch im Gewissen, vielmehr sind alle Vorstellungen von göttlichen Dingen
historisch geworden.
Die Berechtigung eines Offenbarungsglaubeus ergiebt sich also unter
folgenden Einschränkungen. Das Dasein Gottes sowie einer überirdischen Ideal¬
welt ist ein psychologisches Postulat, nichts weiter. Die ganze Frage nach der
Offenbarung, in welcher das religiöse Bedürfnis seine Befriedigung sucht, wäre
somit fallen zu lassen. Mau müßte sich darauf beschränken, den religiösen
Glanben an eine Idealwelt, in welcher der Mensch für die Mängel der empirischen
Welt Ersatz sucht, auf sich selbst zu stelle». In dem notwendigen, unvermeid¬
lichen Impulse des Geistes, aus welchem er entspringt, hat er seine innere
psychische Wahrheit. Suchen wir nach objektiven Bürgschaften für die Er¬
reichung eines Ideals von vollkommenem lind seligem Leben, so sind wir auf
diese wirkliche Welt angewiesen, der es an Bürgschaften und Mitteln, welche
der um seine ideale Existenz ringende Mensch braucht, nicht ganz fehlt. Allerdings
als ein Eingreifen einer andern Welt werden wir die Offenbarung nicht verstehen
können, ebensowenig wie wir uns das Endziel als Vernichtung unsrer Welt
und als Ablösung derselben durch eine in verborgner Form etwa bereit gehaltene
vollkommene Welt vorstellen können. Vielmehr in der gesetzmüßigen Entwicklung
dieser unsrer Welt entgegen der idealen Bestimmung, die sie in sich selbst trägt,
in der Verwandlung und Verklärung der wirklichen Welt nach Maßgabe der
idealen Kräfte, die in fortschreitendem Prozesse den spröden Stoff vergeistige!!
und dem menschlichen Geiste dienstbar machen, werden wir die wirksame Kund¬
gebung eines alles umfassenden und einem höchsten Ziele cntgcgenführenden
Willens zu erblicken haben. Nicht außer der natürlichen Welt thront die göttliche
Kraft und Majestät, welche das Dasein hervorruft, trägt, beherrscht und nach
bestimmten Gesetzen einer Entwicklung entgegenführt, die wir hoffen und glauben,
sondern in der Welt wirkt und waltet sie. Giebt es aber in Natur und Ge¬
schichte Erscheinungen, Gesetze, Kräfte, Persönlichkeiten, welche dem Menschen
die Kenntnis seiner Lebensziele und die Mittel zu ihrer Verwirklichung dar¬
bieten, so werden diese von der Kirche mit Recht als Emanationen und Offen¬
barungen einer uns und die gesamte Welt beherrschenden Macht bezeichnet.
Selbst wenn man die modernen (materialistischen) Hypothesen über Entstehung
der Welt, die moderne Entwicklungslehre, die moderne Anthropologie zugesteht,
kann mau doch den fortschreitenden Entwicklungsprozeß als die stufenmäßige
Entfaltung einer höchsten idealen Macht auffassen. Der Durchbruch dieser
Macht durch den Kampf der Elemente und das Ringen mit ihnen, um sie unter
gesetzliche Ordnung zu beuge«, bedeutet die Allmacht Gottes und die Herstellung
eines Gottesreiches. Das Lebensideal, der Trost und die selige Hoffnung des
Menschengeschlechtes ist die weitere Wandlung, Umbildung und Fortentwicklung
der Welt zur idealeren Daseinsformen, die den Triumph der besten und tüchtigsten
Kräfte nicht ausschließen.
So hätten wir in der Benderschen Schrift in der That den Versuch
einer Rcligivnsbilduug auf materialistischer, pantheistisch gefärbter Grundlegung
vor uus. Wir sehen: es bleibt von dem, was sonst als Inhalt der Religion
angesehen wurde, wenig übrig. Wem, aber ein Materialist konsequenterer
Denkungsart als Bender anch den in der Welt enthaltnen zielbewußter Willen,
die mit der Materie verbundn? ordnende Kraft, sowie die geistige Materie als
unklare und unbewiesene Dinge wegschneidet, so bleibt nichts übrig als der
Kampf ums Dasein und die große Illusion, die sich die Menschheit gemacht
und Religion genannt hat.
Aber führen wir den Gedankengang des Verfassers zunächst erst zu
Ende.
Dieselbe zentrale Stellung, welche Muhammed und Buddha in den »ach
ihnen benannten Religionen einnehmen, nimmt Christus in der christlichen ein.
Der Glaube an Christus ist das Fundament der Lehre und das gemeinsame
Band der Gläubigen. Es wird sich nie nachweisen lassen, daß Jesus alles das
gethan habe oder gewesen sei, was die sogenannte orthodoxe Kirche aus ihm
gemacht hat; was von ihm sicher bekannt ist, genügt, um ihm als höchst be¬
deutendem Religionsstifter eine bleibende Verehrung zu widmen. Freilich, nicht
die alttestamentliche Richtung, welche die geschichtliche Kontinuität vertritt, hat
in der Kirche den Sieg davongetragen, sondern die polytheistisch geschulte heiden¬
christliche Richtung, die den besten Traditionen der alttestamentlichen Religion nicht
nur fremd, sondern direkt entgegen ist. Die Anwendung dieser Vorstellung auf
Jesus, wie sie schon in den paulinischen und johanneischen Schriften anklingt, hat
dem Glauben an Jesus seinen Charakter gegeben. Erst das protestantische Kirchen¬
system hat den Stifter der christlichen Religion aus den transcendenter Höhen,
in welchen ihn die Spekulation der griechischen Theologen gleichsam hatte ver¬
schwinden lassen, indem sie ihn vergötterte, wieder herabgeholt und auf den sichern
Boden der wirklichen Geschichte seines erlösenden Lebens gestellt. Die eigentümliche
Form des Christnskultus hat ihre Berechtigung. Die abstrakte Lehre über
Gott und die Menschen kann nicht dasjenige leisten, was eben das religiöse
Bedürfnis im Kultus sucht und finden muß, anschauliche Darstellung eines
Lebeusideals und reelle Garantien und Mittel der Erlösung. Zu beiden Stücken
ist eine Person als Gegenstand religiöser Verehrung nötig. Jesus stellt das
universelle sittliche Lebensideal dar und begründet die Hoffnung auf Ver¬
wirklichung desselben durch die Gläubigen. Wenn aber die Kirche ihn als den
Überwinder von Sünde und Übel feiert, indem sie an seinem eignen geschicht¬
lichen Leben gleichsam dramatisch in der Auferstehung und Himmelfahrt den
Prozeß der Verklärung und Vergötterung des menschlichen Lebens darstellt, so
wird auch dagegen nichts zu erinnern sein, wenn man es als sinnliche Dar¬
stellung übersinnlicher Vorgänge auffaßt. Allerdings von einer Anbetung
Christi könnte dabei so wenig die Rede sein, wie von einer eigentlichen Gott¬
heit Christi. In dieser Richtung würde ein künstlerisch schöner und erbaulich
wirksamer Ausbau des evangelischen Kultus möglich sein.
Dies ist das System Bender, das Christentum der Zukunft, der denkbare
Gedanke, welcher den kirchlichen Scholästizismus zu beseitigen berufen ist.
Ich will nicht auf eine Kritik einzelner Sätze und Behauptungen ein¬
gehen, obwohl es mich Überwindung kostet, zu schweigen, während der Verfasser
mit der größten Sicherheit unklar ausgedrückte, flüchtig gedachte und gänzlich
unbewiesene und unbeweisbare Dinge vorträgt. Es genügt zu konstatiren: Dies
ist die Religion Bender. Mit dieser „Religion" soll das positive Christentum
zusammengeschmolzen werden, indem man der Offenbarungsrcligiou die Bezeich¬
nung entnimmt und den Sinn der Vernunftreligion hineindeutet. Es beun¬
ruhigt Bender nicht, daß seine Methode eine durchaus unwahre ist und daß
seine Bezeichnung das direkte Gegenteil von dem bedeutet, was er ihr unter¬
legt. Denn darnach ist:
Gott: die ordnende, mit der Materie verbundne Kraft,
Die Allmacht: der mühsame Durchbruch dieser Kraft im Kampfe mit der
rohen Masse,
Offenbarung: der jeweilige Stand der sich selbst offenbarenden Vernunft,
Ordnung und Gesetzmäßigkeit,
Das Kommen des Reiches Gottes: die fortschreitende Beherrschung der Welt
durch die Vernunft, also Erfindungen, Verkehrsfortschritte u. s. w.,
Die zukünftige Seligkeit: die Weiterentwicklung der Gattung in darwinisti-
schem Sinne,
Das Fortleben nach dem Tode: die Unzerstörbarkeit der Materie.
Den Weibern und Kindern die Schale, dem vernunftbegabten Manne den
Kern. Aber wer soll denn diese Schalen predigen? Nun, doch wohl ein Nach¬
komme jenes Haruspex, der dem Volke Komödie vormacht und im Stillen
darüber lacht — eine edle Aufgabe. Ich wundere mich, wie Bender, der andre
Dinge so scharf erkennt, nicht gesehen hat, daß alle die erbaulichen, tröstenden
oder antreibenden Wirkungen der Kirchenlehre wirkungslos werden, sobald der
Glaube an sie erschüttert oder durch Reflexionen wie die obigen ersetzt wird.
Er hat in seinem Buche zweierlei gethan; erstens hat er das psychische Be¬
dürfnis der Religions- und Kirchenbildung nachgewiesen, sodann hat er gezeigt,
daß alle Versuche der Religionen, das Weltübel zu überwinden, auf Illusion
hinauslaufen, und daß es streng genommen weder Gott, noch Offenbarung, noch
Himmel, noch Seligkeit, noch Fortleben nach dem Tode giebt, sondern die trost-
und hoffnungslose Welt des Materialismus nebst etwas pantheistischer Zuthat.
Wir ziehen vor, mit unsern Vätern in der Hölle des Irrtums zu bleiben, als
in den Benderschen Himmel einzuziehen.
Sieht Bender nicht, daß er trotz der erborgten christlichen Federn mit
christlichem Glauben nichts zu thun hat und daß statt seolssig. g-mios, in dem
Motto des Buches iniinivisÄniÄ stehen müßte? Ich bin weit davon entfernt,
eine voraussetzungslose theoretische Erörterung von Gegenständen der Religion
verbieten zu wollen, ich halte den Paragraphen der letzten preußischen General-
shnode, wonach Professoren und Pastoren wegen gewisser Resultate ihrer
wissenschaftlichen Untersuchungen sollen belangt werden können, für fehr bedenk¬
lich — schon wegen der mancherlei Menschlichkeiten, die bei seiner Durchführung
unterlaufen könnten; aber man kann doch auch bei größter Toloranz nicht
zugeben, daß Philosopheme wie die Benderschen innerhalb der Kirche als Lehre
vorgetragen werden oder gar den Anspruch erheben, den gegenwärtigen Bestand
der „fortschreitenden Offenbarung" auszumachen.
Es hat etwas Tragisches, einen Mann zu sehen, der die Unentbehrlichkeit
der Religion mit dem ganzen Aufgebote seines Scharfsinnes nachweist und am
Ende spricht: Verhungert, meine Welt hat kein Brot für euch. Und solche
Aussichten werden als die erstrebenswerte Zukunft der protestantischen Kirche
hingestellt, und einem Luther wird an seinem Jubeltage imputirt, ein Vor¬
arbeiter an diesem Werke gewesen zu sein! Bender hat mit seinem Buche den
strikten Beweis geführt, daß jene Bonner Lutherrede nicht hätte gehalten
le auf andern Gebieten die Geister sich scheiden und die ver-
schiednen Grundgedanken sich zu Extremen ausbilden, bevor eine
höhere Einheit zum Bedürfnis wird, so scheint es auch noch ans
dem Gebiete der höheren Schulen weiter auseinander gehen zu
sollen, bevor man ein ausgleicüeudes, gemeinsames Ziel erstreben
kann. Dieser Gedanke drängt sich wenigstens auf, wenn man die Verhandlungen
liest, zu denen die zehnte Generalversammlung des liberalen Schulvereins von
Rheinland und Westfalen, im Oktober zu Bochum gehalten, den Anlaß geboten
hat. Sehr deutliche Erörterungen in populären Blättern hat sie nach sich
gezogen, und es scheint gewiß zu sein, daß die siegreiche Agitation, der die
Mehrzahl der in Bochum versammelten zufiel, auch in der Zeitungswelt und
in den bürgerlichen Klassen der Gesellschaft den Sieg davongetragen hat. Der
nächste Zielpunkt ist nun der Sieg in den Parlamenten und in den Re-
gierungsbürecius.
Die Sache ist diese. Unsre Gymnasien stellten lange Zeit die einzige höhere
Schule der. die zu den Universitäten und zu höhern Staatsämtern, ja zu der
höhern Gesellschaft den Zugang verschaffte. Sie waren auch damals nicht ohne
Beziehung zu dem modernen Leben und verfielen dabei sogar auf lächerliche
Übertreibungen, infofern hie und da Baukunst und Zeitungslesen zum Lehrplan
gehörten. Aber im allgemeinen blieb doch Latein, Griechisch, Geschichte, Religion
und Mathematik der Unterrichtsstoff. Damals war es ein Axiom: ohne
Griechisch kein Gymnasium, und weil die Gymnasien keine ebenbürtige Kon¬
kurrenz hatten, so lautete jenes Axiom, vollständig ausgedrückt: ohne Griechisch
keine höhere Bildung. So stand es in beiden Konfessionen; wenn von Unter¬
schieden in dieser Beziehung die Rede sein kann, so legten die evangelischen
Schulen etwas mehr Nachdruck auf das Griechische, die katholischen etwas mehr
auf das Lateinische, aber es richtete sich doch meist nach alter Überlieferung
und persönlicher Liebhaberei, ob man dies oder jenes betonte.
Inzwischen hatte man begonnen, an solche höhere Schulen zu denken, die
nicht für die Universitäten, sondern für das praktische Leben in seineu vielen
Aufgaben vorbereiteten. Sie hatten den Vorzug, sich frei entwickeln zu können,
und nahmen dafür die mannichfaltigsten Formen an. Bald lehnten sie sich an
das Gymnasium, bald an die Volksschulen an, bald traten sie selbständiger auf.
Man unterschied solche Schulen, die höhere Ziele verfolgten und zwei moderne
Sprachen mit dem Unterrichte in der Mathematik, Physik, Chemie, Naturgeschichte,
Zeichnen :c. verbanden und den Namen Realschule festhielten, und solche niederer
Art, ohne fremde Sprachen, mit geringern Zielen, aber tüchtiger Einführung
in technische Aufgaben, wie sie in der anfänglichen Einrichtung der Gewerbe¬
schulen ihren Typus hatten. Natürlich gab es auch Mischformen, namentlich
solche Realschulen, in denen auf Verlangen auch Lateinisch unterrichtet wurde,
um Schülern den Zugang zum Gymnasium zu erleichtern. Anderseits wurden
die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich und England nach und nach so be¬
deutend, daß nicht bloß die Gymnasien gezwungen waren, das Französische mit
in den Lehrplan aufzunehmen, sondern überhaupt die technischen Schulen,
die das Französische und Englische ausschlossen, nur als Fachschulen angesehen
wurden, die eine eigentliche Bildung nicht erstrebten.
In eine solche Vielförmigkeit brachte in Preußen im Oktober 1859 das
Ministerium eine amtliche Regelung. Nehmen wir gleich die moderne Be-
zeichnung vorweg, so gründete man Realgymnasien, Gymnasien ohne Griechisch,
mit wenig Latein, mit Französisch und Englisch, mit vielen Stunden Mathe¬
matik, Naturkunde und Physik und mit Zeichnen. Die Voraussetzung war, daß
eine Einheitsschule für höhere Bildung uicht mehr möglich sei, insofern das
Gymnasium nicht imstande sei, auch zugleich dem modernen Leben hinreichend
zu dienen. Um nicht die eine Absicht durch die andre zu verderben, müsse
man zwei ebenbürtige, gleichwertige, wenn auch nicht gleichartige Schulen für
allgemeine Bildung herstellen. Die ganze Verfügung, eine der gediegensten,
die wir haben, ging, wie man sieht, aus Wohlwollen für die Realschulen hervor.
Darum konnte sie auch nicht auf das Lateinische ganz verzichten. Denn dann
hätte sofort jedermann diese Schulen für Schulen untergeordneter Art gehalten,
und das wollte man ihnen nicht anthun. Vielmehr zeigte sich nach längerer
Zeit, daß man mit den wenigen lateinischen Stunden nicht aufkam. Die
Leistungen der Rcalabiturietnen, die ungefähr denen der Untertertianer des
Gymnasiums entsprachen, genügten den Freunden dieser Schulen so wenig, daß
man es ziemlich allgemein billigte, als diese Realgymnasien, die allmählich wie
die Gymnasien neun Jahreskurse erhalten hatten, das Lateinische um zehn Stunden
höher ansetzen mußten. Auch so ist in dem Ergebnis des Lateinischen noch ein
großer Unterschied, aber es ist doch erwiesen, daß ein guter Zögling eines Real¬
gymnasiums, der noch das Gymnasialexamen machen will, in anderthalb Jahren,
wenn er sich ausschließlich dem Lateinischen, Griechischen und der alten Ge¬
schichte widmet, mit seiner Aufgabe fertig werden kann Der Unterschied des
Ergebnisses im Lateinischen kann also nicht so groß sein.
Nun ist es interessant, zu sehen, wie die Schulbehörde von Schritt zu
Schritt gedrängt wird, diesen Realgymnasien mehr Bedeutung beizumessen. Nicht
als ob die Städte denselben ihre besondre Gunst hätten zuteil werden lassen.
Im Gegenteil, die obern Klassen der modernen Schulen waren sehr schwach
besucht, und manche Realgymnasien sind in Gymnasien verwandelt worden.
Nein, es lag dieser Entwicklungsgang in der Luft, wie man sagt, besser in der
politisch-sozialen Bedeutung derjenigen Klassen, die in unsrer konstitutionellen
Gegenwart die erste Stelle einnehmen. Der pieve-sur gvnLiÄ, dieser Allerwclts-
mcmn, hat nicht studirt und will nicht studiren; er ist aber ein Feind aller
Privilegien und verlangt, daß ihm alle Karrieren offen stehe», im Militär- wie im
Zivildienst. In der grundlegenden Verfügung von 1859 sieht er mit Unmut, daß
die Realgymnasien nur zu denjenigen Karrieren vorbereiten, die keine Universitäts-
studien erfordern, daß also die Gymnasien Privilegien haben, die man geradezu
als Monopole bezeichnen kann. Das ist „mittelalterlich," ist nicht zu ertragen,
sagt er. Der Rcalabiturient kann, so sieht er, im Militär alles werden, Kriegs¬
minister und kommcmdircuder General, aber er kann nicht Theologie, nicht das
Recht, nicht die Medizin, nicht das höhere Lehrfach ergreifen, wie es der ge¬
wöhnlichste Gymnasialabiturient kann. Wofür ist er denn von so überwiegender
politischer Bedeutung, wenn er den veralteten Anschauungen von dem Werte
des Griechischen nicht einen energischen Widerspruch entgegensetzen sollte? Seine
Energie, seine Agitation, in der die Ncallehrer natürlich die wissenschaftliche
Leitung übernahmen, ist denn auch schon mit nicht geringen Erfolgen belohnt
worden, der Realabiturient kann schon das Lehrfach in neuern Sprachen und
in der Naturwissenschaft und Mathematik auf der Universität betreiben (in
ersterm Gebiete bezeichnenderweise mit Beschränkung auf die Anstellung bei
Rcalanstalten). Darin hat also die Behörde schon der Richtung der Zeit nach¬
gegeben. Sie wollte auch noch weiter gehen und den Nealabitnrienten das
Studium der Medizin gestatten. Da legten die Professoren der Medizin und
auch die Gesellschaften der Ärzte in der Mehrzahl ihre Stimmen dagegen in
die Wagschale. Man thut am besten, die Gründe für und gegen zu übergehen,
sofern sie sich auf die verschiedne Vorbildung zu diesem Berufe beziehen; deun
diese Gründe kommen überhaupt nicht in Betracht. Es ist bei gleichbleibender
Energie des „allgemeinen Wählers," bei dem Einfluß vou Parlament und
Abgeordnetenhaus auf die Verwaltung nur eine Frage der Zeit, daß die
Medizin den Altgriechen eröffnet wird. Die Bochnmer Generalversammlung ist
voll der besten Hoffnungen nicht bloß in diesen, nächsten Punkte, sondern über¬
haupt für die Aufhebung aller Privilegien des Gymnasiums. Auf S. 13 des Be¬
richts trägt ein Gymnasialdirektvr vor: „Ich sage, einen Realschüler, den seine Lehrer
sür reif erklärt haben, einen solchen Schüler soll man ruhig klassische Philologie
studiren lassen (also ohne daß er Griechisch getrieben hat). Ebenso halte ich
es mir für gerecht, wenn man einen Realschüler anch zum Studium der
Theologie zuläßt, überhaupt ihm völlige Gleichberechtigung mit dem Gymnasial-
schüler zuteil werden läßt." Der Vortragende hatte natürlich auch das-
Mittel bei der Hand, wodurch eine bisher unzureichende Vorbildung für diese
Studien ausreichend gemacht werden soll. Der junge Mensch, der für seine
theologischen oder klassisch-philologischen Studien noch etwas nötig hat, was er
nicht kann, wie Griechisch, braucht sich nur dahinter zu setzen, um das nachzu¬
holen, entweder in den Ferien oder in der Studienzeit selbst. Das Griechische
spielt daun eine Rolle wie das Hebräische, das man mit einem Semester nach¬
holen zu können glaubt, oder wie das Sanskrit oder das Syrische. Auch wußte
der andre Vortragende, ein Realschuldireklor, einen historischen Beweis für die
Unerheblichkeit des Griechischen beizubringen. Er hatte nämlich bei Paulsen einen
Satz einer von Melanchthon herrührenden Schulordnung gefunden (von 1528),
wonach das Griechische darin nicht vorkommt und sogar das Neue Testament
in lateinischer Sprache gelesen werden soll, um nicht „die armen Kinder mit
solcher Mannichfaltigkeit zu beschweren, die nicht allein unfruchtbar, sondern
auch schädlich ist." Er stellt fest, daß das Griechische noch lange nach der
Reformation meist auf die zwei obern Klassen beschränkt war und nur auf die
Lesung und Erklärung des Neuen Testaments abzielte. Wenn er in so hübscher
Weise die Reformatoren für die Vereinfachung der heutigen Schulen verwerten
will, so kann er in der Richtung noch manches gute finden, denn Melanchthon
scheint das Französische und Englische und manches andre garnicht getrieben
zu haben, und Luther ist so weitherzig, daß er die städtischen Volksschulen nur
anweist, die Knaben täglich zwei Stunden, die Mägdlein wenigstens eine Stunde
zu unterrichten. Wie einfach würde sich nach den. Vorbilde der Reformatoren
in höhern und niedern Schulen der Unterricht gestalten, wie wenig Überbürdung
und Kurzsichtigkeit würde es geben, wie gering würde die Belastung des
städtischen Haushalts mit Schulaufgaben sein! Mau thut solchen Gründen
Unrecht, wenn man sie ernst nimmt. Der einzige, aber zureichende Grund liegt
im Geiste der Zeit. Man kann diesem Geiste sich widersetzen; es ist unter
Umständen Pflicht, es zu thun, aber es ist immerhin bedenklich, sich für
klüger zu halten als seine Zeit. Man kaun einzelne Träger einer Zeitrichtung
sagen wir als Fanatiker tief verachten, aber es ist damit nichts gewonnen. Es
ist gut, einer Zeitrichtung mit Kritik zu folgen, aber daß wir ihr folgen, liegt
nicht in unsrer bloßen Willkür, sie reißt uns mit sich fort. Glücklicherweise ist
dafür gesorgt, daß Wirkung und Gegenwirkung naturgesetzlich ans einander folgen.
Aber zunächst hilft kein Widerstreben.
So ist es auch unnütz, auf die statistischen Gründe einzugehen, mit denen
man beweisen will, aus den Prüfungen und Anstellungen der ehemaligen Real¬
schüler in neuern Sprachen, in Mathematik und Naturwissenschaft gehe hervor,
daß sie wenigstens ebensoviel, ja Besseres leisteten, als die frühern Gymna¬
siasten. Die Statistik übt oft auf oberflächliche Geister einen gewissen Zauber
aus. So geriet einst ein guter Patriot und Protestant in Entzücken, als er
in der Statistik fand, daß am Rhein die Protestanten mehr diensttaugliche
Mannschaften stellten als die Katholiken, und viermal soviel als die Indem
Den Grund dafür glaubte er natürlich direkt in der Konfession zu finden. Daß
die Sache sehr schwierig ist, wen» man aus statistischen Zahlen etwas ableiten
will, daß es einige Methoden giebt, um sich dabei vor Irrtümern zu schützen,
ist natürlich diesen Rechnern nicht unbekannt, aber man setzt sich der guten
Sache wegen über dergleichen hinweg, und es ist auch am besten. Denn das
ganze Thema ist unfruchtbar auf beiden Seiten, Was soll man denn zum z. B.
aus dem Faktum, das von gymnasialer Seite einst angeführt wurde, lernen,
daß von mehr als zwanzig englischen Marineoffizieren, die in Odessa gefangen
waren, nur ein einziger etwas Französisch verstand? Soll man aus dem Um¬
stände, daß alle diese Offiziere sehr tiichtig waren, den Unwert französischer
Bildung ableiten? Es wäre doch zu spaßhaft.
Also, wie gesagt, die Sache ist Angelegenheit des politisch-sozialen modernen
Interesses. Die sie betreiben, sind fast nie imstande, sich von dem verhältnis¬
mäßigen Bildungswerte der Objekte auch nur eine Idee zu bilden. Es ist über¬
haupt sehr zweifelhaft, ob die Wissenschaft schon so weit ist, diese Untersuchung
mit gutem Genüssen anzustellen. Unsre Psychologie ist in einem sehr kindlichen
Zustande, wenn man sich auf ihre pädagogische Anwendung einläßt. Allerdings
braucht das nicht so zu bleiben, aber vorläufig ist es so. Und über formale
Bildung, über allgemeine Bildung kann man heutzutage, wie auch in Bochum
zugegeben wurde, nichts erhebliches sagen. Es geht damit wie mit dem, was
man Talent nennt; daß es etwas der Art giebt, ist unzweifelhaft, aber niemand
kann uns genauer sagen, was es ist.
Ganz gleichgiltig ist es freilich nicht, ob wir die Resignation, die wir
in Bezug auf den Bildnngswcrt der Objekte üben, so oder so erklären. Sagen
wir, es gebe einen Unterschied zwischen der Bildung dnrch Menschliches, Huma¬
nistisches, wie Religion, Sprache, Geschichte, und durch Natürliches, wie Natur¬
lehre, Naturkunde und Mathematik, und es sei auch ein andres Bildungsresultat
zu erwarten von dem Betriebe des Griechischen und dem des Englischen, aber
wir könnten mit unsern Mitteln diese Unterschiede nicht hinlänglich aufklären,
so kommen wir wenigstens nicht in die Lage, den Wert eines Bildungsganges
nach seiner Zeitdauer abzuschätzen, wie es in Bochum von einem Redner so
ziemlich geschah (S. 11) in den Worten: „Also das ist zunächst sür mich die
Hauptsache, wenn ich an die Bcrechtigungsfrage herantrete: Welches ist das
allgemeinste Moment? und da sage ich, das ist die Zeit, folglich muß ich zu¬
nächst sagen, die gleiche Schulzeit an humanistischen Schulen erfordert auch
dieselbe Gleichberechtigung." Dieser Maßstab fand lebhaften Beifall. Der Redner
führte zwar neben dem Faktor der Zeit des Kursus noch die Methode und die
Lchrobjekte auf. Aber davon hat er es nicht für gut gefunden, seinen Zuhörern
etwas Verständiges mitzuteilen; der Bericht wenigstens sagt nur, daß in beiden
Arten von Schulen die „philologische" Methode herrsche; bei dem Lehrobjekte
vollends, wo man etwas ordentliches zu hören wünschte, wird man sehr in seinen Er¬
wartungen getäuscht. Der Redner beginnt damit, zu sagen, daß er, der Philologe,
der dreißig Jahre Griechisch getrieben, es noch nicht vermöge, das Griechische so
vom Blatte zu lesen, wie er bei einer unendlich geringern neusprachlichen Bildung
ein französisches Buch zu lesen vermöge. Darum giebt er zu, daß eine geistige
Übung an einer alten Sprache eine „strengere Übung" ist, als eine geistige
Übung an einer neuern Sprache, wenn dieselbe Lehrmethode befolgt wird. Aber,
sagt er, man muß eben die neuern Sprachen anders behandeln, dann erzielt man
an den neuern ganz dieselbe Kraft. (Allseitiger lebhafter Beifall.) Man ist nun sehr
gespannt, welche neue Methode dies leisten kann. Bisher wollte man den neuern
Sprachen auch mehr Bildung abgewinnen, Dr. Mager und Mätzner, in neuerer Zeit
Lücking und andre haben nicht ohne Erfolg die Grammatik, Stilistik, Synonymik
und Onomatik der französischen Sprache so fein ausgebildet, daß sie im Fran¬
zösischen dieselbe tüchtige logisch-grammatische Schulung zu erzielen hofften, wie
sie die antiken Sprachen schon lange bieten konnten. Aber was sagt der Redner
in Bochum, um die bildende Methode der modernen Sprachen zu zeichnen, die
er im Auge hat? Er verlangt das gerade Gegenteil. Der Lehrer soll „von
dem zwölf- oder vierzehnjährigen Schüler verlangen, daß er anfange in dieser
Sprache zu sprechen, daß ihm also die Elemente der Sprache jeden Augenblick
zu Gebote stehen. Dann ist er der völligen Überzeugung, daß man mit einer
solchen Methode dasselbe leisten kann, wie durch die Behandlung der alten
Sprachen." Dabei steht wieder im Bericht: Lebhafte Zustimmung. Die Zuhörer
hatten also mit dem Redner die Meinung, daß das Parliren, die Domestiken-
mcthode, in neuern Sprachen die richtige, schulmüßige sei, durch die sich der
Ausfall des Griechischen reichlich decken lasse. Man traut seinen Augen nicht,
wenn man so etwas liest.
Es lohnt sich nicht, die Summe der Verkehrtheiten zu ziehen, die sich in
diesem Vortrage finden. Aber die merkwürdige Betonung der gleichen Sitzzeit
ist ein Zeichen einer noch über die Bourgeoisie hinaus fortgeschrittenen Bildung.
Bisher verlangte man nnr in sozialdemokratischen Kreisen, wie im Züricher
„Sozialdemokrat," daß die bloße Arbeitszeit den Lohn bestimme. Wer vermöge
einer natürlichen Unfähigkeit des Geistes oder Körpers welliger leiste, sei schon
vom Schicksal genug geschlagen; ihm nun auch vonseiten der Menschen weniger
Lohn, weniger Berechtigungen zu geben, sei eine grobe Mißhandlung. Das
wird also künftig auch zum schulpvlitischeu Kredo gehören, wenn man mit der
Zeit fortschreiten will.
Wir haben gesehen, daß die nächste Absicht der Agitationen auf diesem
Gebiete ist, den Realgymnasien und den Gymnasien alten Herkommens dieselben
Rechte in Bezug auf die Universität und in Bezug ans alle andern Berech¬
tigungen zu geben. Denn diese Berechtigungen spielen jetzt eine unvergleichlich
wichtige Rolle. Einer der Herren sagte, jedenfalls mit Recht, wenn ein Engel
vom Himmel käme und eine Schule ohne Berechtigungen gründete, sie würde
keine Schüler finden. Das ist das härteste Wort, das man gegen das Staats¬
schulwesen sagen kann, und eine schwere Anklage der Nation, die man sonst
als eine vorzugsweise ideal gerichtete darstellt. Wir müssen es indes den
Agitatoren überlassen, was sie und ihre Hintcrmcinner vorziehen, Beibe¬
haltung aber Gleichmachung der Berechtigungen nach der Kursusdauer, oder
Aufhebung aller Berechtigungen. Denn dies System, das in England ja be¬
liebt ist, könnte vielleicht dem Bürgertume und dem Liberalismus zusagen.
Jeder Zweig des öffentlichen Dienstes setzt seine Examina fest, ohne zu fragen,
wo der Aspirant seine Vorbildung genossen habe und wie lange er dazu nötig
gehabt habe zu sitzen. Das ist wenigstens eine diskutable Einrichtung; vielleicht
wäre sie die beste, wenn sie sich noch in unsre Bildungspolitik einfügen ließe,
was sich in Parlamentskreisen ja leicht herausstellen müßte.
Bis jetzt war immer noch angenommen, nur das Griechische sei gleich-
giltig für die Bildung und die Karriere der höhern Jugend. Das Lateinische
wurde noch im allgemeinen unentbehrlich gefunden; aber es läßt sich denken,
daß derselbe politisch-soziale Gedankengang, der sich von der Pädagogik gänzlich
abgelöst hat, noch weiter drängt. Wir haben besonders seit den Annexionen
von 1866 mehrere lateinlose Schulen. Sie haben seit 1882 ein festes Regu¬
lativ. Sind sie sechsjährig, so heißen sie höhere Bürgerschulen, sind sie Sieben¬
jährig, so sind sie Realschulen, und wenn sie neunjährig sind, so sind sie Ober-
realschnlen. Diese lateinlosen Schulen sind nach vielen die eigentlichen Schulen
der Zukunft. In Bochum wurde der Umstand, daß sie bei uns mit Ausnahme
von großen Städten nicht recht gedeihen wollen, von den geringen Berech¬
tigungen abgeleitet, die sie bisher haben. Das ist gewiß richtig, besonders die
höhere Bürgerschule mit ihrer einzigen, noch dazu verkümmerten Militärberech¬
tigung spielt eine traurige Rolle. Warum man diesen lateinlosen Schulen noch
nicht die üblichen Berechtigungen zuerkannt hat, dafür ist der Grund nicht
sowohl im Kultusministerium zu suchen; man will diesen Schulen im Gegenteil
wohl und denkt in dieselben die Schüler abzuleiten, die doch keine neunjährige
Schule durchmachen können, weil es ihnen an Zeit oder an Kraft fehlt. Es
wird an dem Umstände liegen, daß in vielen öffentlichen Dicnstzweigen die
Vorsteher noch das „Vorurteil" haben, die Bildung durch das Lateinische sei
„kein leerer Wahn." Aber man wird solchen zurückgebliebnen „Büreaukraten"
schon ein Licht aufstecken. Es giebt ja auch Gründe, die die UnWichtigkeit des
Lateinischen ebensogut zeigen, wie man die gänzliche Entbehrlichkeit des Grie¬
chischen längst bewiesen hat. Aber wozu brauchte es der Gründe in einer
Sache, die so ganz im Sinne der Zeit liegt, die auf allen Gebieten freie Be¬
wegung, Abthun aller Privilegien, modernen Weltverkehr durch Parliren
fremder Sprachen hegt und erstrebt. Was kann die Pädagogik gegen solche
Tendenzen machen, selbst wenn die Pädagogen zeigen könnten, was sie nicht
können, das Lateinische sei auch noch dem modernen Menschen ein unersetz¬
liches Bildungselement. Also die Agitation wird das nähere schon besorgen.
Nämlich — und dies ist die politisch-soziale Höhe des Gedankenganges —:
die lateinlvse höhere Bürgerschule von sechs Jahreskursen ist nach diesen Re¬
formern die lauge gesuchte Einheitsschule der höhern Bildung, die alle durch-
machen müssen, welche höhere Bildung suchen. An diese schließen sich drei ab¬
schließende Jahreskurse in zwei Formen. In der einen Reihe ist Latein und
Griechisch die Hauptsache, in der andern Mathematik, Naturwissenschaft, moderne
Sprachen. Beide Reihen erhalten dieselben Berechtigungen, da die Schüler
dieser Oberklassen ja wissen werden, was sie studiren Wollen und was sie etwa
nachzuholen haben. Man kann also, wenn es möglich ist, in drei Jahren die
nötigen Kenntnisse im Lateinischen und Griechischen zu erziele» — von Fertigkeit
wird man ja nicht mehr sprechen dürfen —, die Wahl seines künftigen Berufes
bis zum sechzehnten Jahre verschieben, was ja recht gut und wünschenswert
wäre. So ist also für alle bestens gesorgt. Eine Idee von dem verstorbnen
wackern Direktor Ostendorf, mit den neuern Sprachen allen höhern Unterricht
anzufangen, ist so zu einem organischen Ban verarbeitet. Der Gedanke hat
seine Schwächen. An sich wäre es zweckmäßiger, wie eine jetzt berühmte Lehre
will, mit dem ältesten Elemente, dem Griechischen, und zwar dem ältesten
Griechisch, dem Homer, anzufangen und so bis ans das Englische herunter¬
zusteigen. Aber wir haben ja gesehen, wie wenig in diesen Dingen die Päda¬
gogik zu sagen hat, und es giebt ja auch einen berühmten Grundsatz, daß man
mit dem „Näherliegcnden" anfangen müsse. Und da ist es für ein Kind schon
selbstverständlich, daß uns das Französische näher liegt als das Lateinische.
Halten wir uns an diese Weisheit! Und ist sie nicht in Norwegen und Däne¬
mark schon zur Wirklichkeit geworden? Ist sie nicht in Frankreich in ähnlicher
Weise durchgedrungen? Zwar will der ehemalige Unterrichtsminister Duruy
die neue Einrichtung nicht billigen, aber kann es nicht vielleicht daran liegen,
daß er Partei ist? Die Sache muß gehen, weil sie eine große politische Idee
einschließt.
Und nun zum Schlüsse. Es ist immer bedenklich, die Zukunft zu malen,
man kann sich Wohl auf dieselbe einrichten, aber nicht gut sie ausführlich schildern.
Aber «ach dem Stande der politischen Agitation wird sich die Sache wohl so
gestalten, daß die Negierung
Hinter dieser Zukunft ahnen wir schon eine andre. Aber deren Darstellung
wollen wir der Zukunft überlassen.
s ist jetzt ungefähr zehn bis fünfzehn Jahre her, daß mehr und
mehr die Überzeugung sich Bahn gebrochen hat, daß unter den
Wissenszweigen, welche das Gymnasium lehrt, auch die Kunst
eine wenn auch bescheidne Stelle einzunehmen habe. Lange als
Bedürfnis empfunden, oft besprochen und angebahnt, hat der
Unterricht in antiker Kunst sich hente in vielen, wenn auch noch lange nicht in
allen höhern Lehranstalten ein Plätzchen erobert.
Wer vor zwanzig oder dreißig Jahren und noch früher ein deutsches
Gymnasium besuchte, der erfuhr dort, wenn es nicht etwa der Zufall fügte, kein
Wort von griechischer Kunst, sah niemals die Abbildung eines alten Kunstwerkes.
Ich entsinne mich noch sehr gut, daß ich zum ersten male eine Abbildung der
Parthenon-Bildwerke als Tertianer zu Gesicht bekam, weil gerade ein Lehrer
eine Vertretungsstunde geben mußte und die gute Idee hatte, diese zum Vor¬
zeigen des Müller-Österlcyschen Atlas zu benutzen; von da aber verschwand die
griechische Kunst wieder bis zur Universität, und weder sprach der Lehrer der
Geschichte, wenn er das perilleische Zeitalter zu behandeln hatte, von Phidias
und vom Parthenon, noch fiel es dem Philologen, welcher die Klassiker mit
uns traktirte, ein, uns jemals die Gestalten der Götter oder Heroen im Abbild
vorzuführen; ja selbst der sonst treffliche Lehrer, der mit uns den Laokoon las,
behandelte denselben lediglich aus dem logisch-stilistischen Gesichtspunkte, die
Gruppe aber, die den Ausgangspunkt der Schrift bildet, war ihm ebenso gleich-
giltig wie alle die andern belehrenden kunsthistorischen Fragen, die sich an die
Lessingsche Schrift von selbst anknüpfen lassen.
Das ist jetzt, wie gesagt, besser geworden; ich hoffe es wenigstens, denn
aus der Erfcchrnng kann ich, da ich schon lange außerhalb Deutschlands lebe,
es nicht beurteilen. Immerhin weiß ich, daß man in den Gymnasien darauf
bedacht ist, sich kleine Sammlungen guter Photographien nach antiken Vcm-
und Bildwerken anzulegen, daß die Wandtafeln von Launitz und Hölzl an¬
geschafft werden; und daß Menges sehr brauchbarer Vilderatlas zur Einführung
in die antike Kunst (2. Auflage, Leipzig, E. A. Seemann, 1886) schon nach
wenigen Jahren in neuer Auflage erschienen ist, darf sicher auch als Beleg dafür
gelten, daß er seinen Zweck, ein Hilfsbuch für die Schule zu sein, wirklich erfüllt
hat. Mögen diese Hilfsmittel in andern Schulen nun in dieser oder in jener
Weise benutzt werden (an Vorschlägen, in welcher Weise man die Kunst im
Gymnasialunterricht unterbringen soll, hat es ja nicht gefehlt), mag hier der
Geschichtslehrer sie in seinen Unterricht mit hineinziehen, dort der Lehrer der
klassischen Sprachen und wieder anderswo der des Deutschen — darauf kommt
es nicht an, wenn nur der Gymnasiast, der mit dem Reifezeugnis in der Tasche
zur Hochschule abgeht, wenigstens eine Ahnung von dem hat, was griechische
Kunst heißt, wenn er nur imstande ist, dorische» und ionischen Stil gründlich
zu unterscheiden und mitzusprechen, wenn vom Hermes des Praxiteles oder
der Nike des Paionios die Rede ist, und wenn er vor allen Dingen eine
Ahnung bekommen hat von der Schönheit und Herrlichkeit der griechischen
Kunst.
Um dies Ziel aber wirklich zu erreichen, dazu genügt eine bloße Besprechung,
eine mehr oder weniger kurze Behandlung der Hauptpunkte aus der Kunst¬
geschichte nicht ganz. Was unsern Gymnasiasten und Studenten in den meisten
Fällen abgeht und doch zum vollen Erfassen eines Kunstwerkes unerläßlich ist,
das ist das Vermögen, die Dinge richtig und mit Verständnis anzuschauen.
Über diesen Mangel an Anschauungsvermögen und über die Mittel, die dem
abhelfen können, handelt die treffliche Rede des Altmeisters der Archäologie,
Heinrich Brunn, auf welche hinzuweisen der Zweck dieser Zeiten ist.")
Jeder Lehrer der Archäologie, welcher archäologische Übungen hält, hat
wohl mehr als einmal die Beobachtung gemacht, von welcher Brunn ausgeht,
daß unsre jungen Leute den Formen eines Bildwerkes nicht entfernt dasselbe
Verständnis entgegenbringen wie dem Texte eines Autors. Für diesen sind
sie durch grammatischen und syntaktischen Unterricht hinlänglich vorbereitet und
geschult, für die Anschauung des Bildwerkes garnicht. Läßt man irgendein
Bildwerk, etwa ein einfaches Vasenbild mit mehreren Figuren, beschreiben, so
kann man es oft erleben, daß eine weibliche Figur als männlich bezeichnet
wird, daß deutlich gekennzeichnete Situationen total mißverstanden werden, daß
wichtige Umstände nicht in die Beschreibung aufgenommen werden, weil der
Beschreibende sie garnicht bemerkt hat oder für nebensächlich hält. Ich rede
dabei noch garnicht von stilistischen Merkmalen, zu deren Erkennung ja schon
ein geübteres Auge gehört. Dies wird natürlich mit der Zeit besser, aber doch
nur bei denen, die an solchen Übungen teilnehmen, und das ist doch immer
nur eine verhältnismäßig kleine Zahl. Die große Menge der Gebildeten aber,
welche sich nicht aus Beruf oder Neigung mit kunsthistorischen Studien be¬
schäftigen, nimmt den Kunstwerken gegenüber ihr ganzes Leben hindurch jenen
Standpunkt ein, wie die genannten Anfänger; und die oft so schiefen Kunst-
nrteile, die man aus dem Munde von Laien hört, ja die große Begeisterung,
welche das große Publikum häufig für Künstler empfindet, von denen der
Kunstverständige nichts wissen will, das Übersehen der ärgsten Vcrzeichnnngen
über blendendem Kolorit oder einer auseinanderfallenden Komposition über
geschickt angelegten Einzelheiten u, dergl. in. — alles das geht schließlich mehr
oder weniger darauf zurück, daß in der Ausbildung der Schule gerade die An-
schauung am wenigsten geübt zu werden Pflegt.
Brunn macht nun verschiedne beachtenswerte Vorschläge, wie diesem Mangel
im Unterrichte abzuhelfen sei. Er weist zunächst auf den mathematischen Unter¬
richt hin, dessen Aufgabe es ist, die Anschauung zu wecken und auszubilden,
indem er vornehmlich an Modellen und gewissen Hauptformen der Körper ihre
Entstehung, die Gesetze der Flächenbildung u. a. in. darlegt. Nach dieser
Richtung geschieht im allgemeinen zu wenig auf unsern Gymnasien (von den
Realschulen, auf denen es in dieser Hinsicht besser sein mag, kann ich hier nicht
reden). Ich habe Schüler gekannt, welche sich mühsam Stereometrie einpankten
und schließlich auch erlernten, aber niemals eine stereometrischc Zeichnung auf
der Tafel wirklich als Körper sahen; man hatte ihnen aber auch nie das
Modell eines solchen Körpers in Wirklichkeit gezeigt! In dieser Hinsicht könnte
eine in Zürich bestehende Privatunterrichtsanstalt (von F. Beust in Hottinger
bei Zürich) als Muster dienen. Schon von den untern Klassen an lernen hier
die Schüler selbst stereometrische Körper aus Pappe herstellen, anfangs einfache:
Würfel, Pyramiden, Kegel u. s. w., dann aber fortschreitend schwerere, bis zu
den komplizirtesten Polyedern und sonstigen Formen, die dann wieder in Teile
zerlegbar hergestellt werdeu, sodaß die Arbeit an einem solchen Körper niemals
ein mechanisches Kleistern, sondern zugleich ein klares Erkennen der Grund¬
formen ist. Alle diese Körper werden dann auch von dem Schüler wieder nach
Flächeninhalt und Volumen berechnet, sodaß die mathematische Schulung eng
mit der Anschauung verbunden ist. Ich glaube, daß dieser Unterricht gerade
jenen Ansprüchen, welche Brunn stellt, durchaus genügen würde, und möchte
Nachahmung desselben empfehlen; freilich hat man in Deutschland in der Regel
im Vorschulunterrichte nicht so viel Zeit übrig wie bei uns in der Schweiz,
und das Pappen von Körpern dürfte manchen Lehrern als eine verächtliche
Spielerei erscheinen, während es nichts weniger als eine solche ist.
Ein zweiter Mangel an unsern Gymnasien, auf welchen Brunn hinweist,
ist die ungenügende Ausbildung im Zeichnen. Hier geschieht in der That viel
zu wenig. Das Zeichnen ist freilich eine Kunst, zu deren erfolgreicher Aus¬
übung jemand Talent mitbringen muß, und die Mehrzahl der Menschen ent¬
behrt dieser Anlage; aber so viel konnte durch geeigneten Unterricht jedem,
selbst dem ungeschicktesten Menschen, beigebracht werden, daß er imstande wäre,
ein nicht zu schwieriges Objekt wiederzugeben, wohlverstanden nach der Natur,
nicht nach einer Vorzeichnung; denn das ist es ja gerade, was geübt werden
soll. „Der Gymuasialunterricht im Zeichnen, sagt Brunn, soll nicht eine Vor¬
schule für den künftigen Künstler sein, nicht einmal sür ein geschicktes Dilettanten¬
tum; er soll vielmehr auf die Ausbildung des Auges und damit auf das Ver¬
ständnis der Form hinwirken, und indem es sich dabei gerade wie bei der
Mathematik um Linien und Flächen und ihre Verbindung zu körperlichen
Formen handelt, so soll auch das Zeichne« auf seiner ersten Stufe diese plcmi-
mctrischen und stereometrischen Grundlagen ausdrücklich betonen: es soll einen
überwiegend konstruktiven Charakter tragen." Mit der Zeit kann ja auch hier
weiter fortgeschritten werden, so weit es bei jedem die Anlage erlaubt; aber ein
gewisses technisches Können müßte sich jeder Schüler ans dem Gymnasium zu
erwerben die Gelegenheit haben. Es lernen Tausende und aber Tausende, welche
nicht das geringste musikalische Talent, ja nicht einmal Gehör haben, Klavier
spielen und bereiten damit lediglich ihren Mitmenschen Mißvergnügen und sich
selbst keine Freude; daß die gleiche Zeit unendlich besser und nützlicher cmge-
wcmdr wäre, wenn man sie einem methodischen Zeichenunterrichte widmete,
daran scheint niemand zu denken. Um wieviel aber das Verständnis der
künstlerischen Formen wächst, wenn jemand selbst die Gesetze der Perspektive
kennt und anwenden kann, wenn er mit dem Stifte den Linien eines Kunst¬
werkes im allgemeinen zu folgen vermag, das bedarf wohl keiner besondern
Darlegung.
Freilich müßte der Zeichenunterricht auf den Gymnasien, wenn er wirklich
ersprießlich sein soll, so viel als möglich aus der Hand der Fachlehrer in die
der Gmynasiallehrcr übergehen. Die Zeichenlehrer vom Fach pflegen sich mit
Vorliebe denjenigen Schülern zu widmen, die Anlage für das Zeichnen haben
und die sie weiterbringen können, die übrigen aber zu > vernachlässigen; zudem
ist es eine bekannte Thatsache, daß es bei ihnen meist mit der Disziplin hapert,
worunter der Unterricht natürlich leiden muß.
Daß, worauf Brunn ebenfalls hinweist, auch der Lehrer des Deutschen
vielfach Gelegenheit hat, durch Übung im Beschreiben die Anschauung zu fördern,
liegt auf der Hand. Was man da auf deu untern Stufen „Anschauungs¬
unterricht" nennt, sollte, nur in entsprechend fortschreitender Weise, auch auf
höhern Stufen noch fortgesetzt werden. Beschreibende Aufsätze, wie die Be¬
schreibung eines Gemäldes, die Schilderung einer Landschaft u. dergl., sollten
häufiger aufgegeben werden, als es für gewöhnlich der Fall ist. Auch der
Lehrer der Naturwissenschaften ist in der Lage, in dieser Richtung die An¬
schauung zu fördern, wenn er auf scharfe und geuau beobachtende Beschreibung
der besprochenen Pflanzen, Tiere u. s. w. hält.
Wenn schließlich Brunn auf die archäologische Vorbildung des Lehrers zu
sprechen kommt, wodurch derselbe erst in den Stand gesetzt wird, von den sichern
Resultaten archäologischer Forschung das zu verwerten, was den Unterricht durch
das Mittel der Anschauung zu unterstützen, zu erleichtern, zu beleben vermag,
so befindet er sich da in der glücklichen Lage, daß dnrch seinen Einfluß die
Archäologie in Baiern ein obligatorischer Gegenstand des Examens für das
höhere Lehrfach geworden ist. Außer in Baiern ist das aber (meines Wissens)
noch nirgends der Fall. Man hat zwar jetzt fast an jeder Universität einen
archäologischen Lehrstuhl; aber die Gleichberechtigung mit den andern philo¬
logischen Disziplinen hat sich die Archäologie dadurch uoch lange nicht errungen.
Man prüft den klassischen Philologen im Staatsexamen in Altertümern und
Literatur, in Grammatik und Metrik, in Geschichte und Geographie, kurz, auf
allen Gebieten des antiken Lebens, nur ob er von der alten Kunst etwas weiß,
darnach fragt man ihn nur, wenn er es ausdrücklich wünscht. Und dafür, daß
die meisten Examinanden diesen Wunsch nicht zu erkennen geben, dafür ist hin¬
länglich gesorgt, da die Philologie ja uoch immer eins der beliebtesten Brot-
stndien ist und es unter den Philologiestudirenden immer eine sehr große Zahl
von solchen giebt, welche vom ersten Kolleg an nur auf das den Abschluß
bildende Examen denken und lediglich nur das hören, was ihnen dabei einmal
von Nutzen sein kann. Archäologische Vorlesungen werden dabei als nicht not¬
wendig betrachtet, ja man kann es erleben, daß Studenten sich geniren, archäo¬
logische Übungen zu besuchen, weil sie sich von vornherein einbilden, sie „ver¬
stünden das nicht" — ganz abgesehen von der Besorgnis, es könnte»? ihnen da
gar besondre Arbeitsleistungen zugemutet werdeu. Wie sollen sich nun, unter so
bewandten Umständen, die Gymnasiallehrer die notwendige archäologische Bildung
erwerben, um jenen Wünschen nach Berücksichtigung der alten Kunst im
Unterricht, nach richtiger und methodischer Anleitung zum Erkennen und Be¬
urteilen von Bildwerken, gerecht zu werden? Mögen auch viele das auf der
Universität versäumte später privatim nachholen, so meine ich doch, daß die¬
jenigen, welche für die Kunst eine Stelle in der Gymnasialbildung fordern, auch
die weitere Konsequenz daraus ziehen sollten, daß die Archäologie auch im philo¬
logischen Examen einen Platz haben muß.
Damit man nun aber nicht glaube, daß die Anregungen und Vorschläge,
welche Brunn zum Gegenstande seiner Rektoratsrede gemacht hat, bloß einer
kunsthistorischen Ausbildung der Gymnasiasten, welche gar mancher für entbehr¬
lich halten wird, zu Gute kämen, setze ich zum Schlüsse die Worte hierher, mit
welchen Brunn auf die auch auf weitere Gebiete menschlicher Thätigkeit sich
erstreckende Bedeutung einer Vorbildung, wie er sie erstrebt, aufmerksam macht.
„Diese Vorbildung, sagt er, wie sie hier gefordert wurde zu Nutz und Frommen
der Archäologie, in welcher Wissenschaft, ja in welcher Lebensstellung kann sie
überhaupt entbehrt werden? Zunächst alle naturwissenschaftlichen Disziplinen:
gehen sie nicht aus von der sichtbaren Gestalt des Steines, der Pflanze, des
Tieres? Und der angehende Mediziner, soll er sich nicht Rechenschaft geben
von der Gestalt eines Knochens, von dem Gefüge eines Muskelgebildes und
weiter von dem gesamten lebendigen Organismus? Nicht weniger ist aber auch
unser geistiges Wesen durch tausend Fäden mit der äußern Erscheinung, mit
seinen physischen Grundlagen verknüpft, sodaß, um nur eine Spitze wissenschaft¬
licher Entwicklung zu berühren, neben der Psychologie eine Psychophhsik Aner¬
kennung zu fordern begonnen hat. Also auch der Arzt am Krankenbett, der
Jurist als Richter, der Theologe als Seelsorger, alle müssen sie die Hilfe des
Auges in Anspruch nehmen und bedürfen daher der Übung im Sehen und
Beobachten. So wird die Schule, wenn sie der Pflege des Anschauungs-
vermögens eine erhöhte Sorgfalt widmet, nicht bloß mit der Wissenschaft,
sondern auch mit den verschiedensten Kreisen des Lebens nähere Fühlung ge¬
winnen."
Möchten diese Mahnungen des berühmten Gelehrten an der Stelle, an die
sie gerichtet sind, die Beachtung finden, welche sie verdienen.
es habe mir das Wort erbeten, um über das Branntweinmonopol
zu sprechen, ich brauche kaum hinzuzusetzen, daß das heißt: gegen.
Das Gesetz ist eine Regierungsvorlage, und dies genügt für einen
wahren Volksvertreter, es zu verwerfen. Allein ich habe nicht
nur diesen Grund, sondern noch so viele, daß die Aufzählung
aller mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, als ich der hohen Versammlung
zu rauben gewohnt bin. Daher werde ich mich auf die wichtigsten Argumente
beschränken. Kaum jemals ist uns ein Gesetzentwurf vorgelegt worden, welcher
so schlagend den Beweis führte, daß das ganze Sinnen und Trachten der Ne-
gicrung darauf gerichtet ist, die Volksfreiheit zu untergraben. Es ist ihre offen¬
kundige, ja ihre offen eiugesiaudue Absicht, durch das Monopol die Einnahmen
des Reiches mit den Ausgaben ins Gleichgewicht zu bringen, und was, wenn
das gelingen sollte, dann ans dem Parlamentarismus werden würde, das, meine
Herren, sagt sich jeder von Ihnen selbst. Somit nötigt uns der Selbsterhal¬
tungstrieb, jeden Vorschlag abzulehnen, welcher unsre Finanzen in Ordnung zu
bringen droht. Aber damit nicht genug! Auch solche Überschüsse erwartet man,
und würde man auch ohne Zweifel erzielen, daß in der verderblichen Sozial¬
reform energisch weitergegangen werden könnte. Gegen die Sozialreform sind
wir aber keineswegs nnr, weil sie mit unsrer Doktrin in Widerspruch steht;
nein, uns leitet ein höheres, ein ethisches Motiv. Diese sogenannte Reform
zielt bekanntlich darauf ab, jeder Arbeit einen entsprechenden Lohn zu sichern,
auch den untersten Schichten der Bevölkerung die Bedingungen eines menschen¬
würdigen Daseins zu gewähren, die jetzt mit ihrem Geschicke unzufriedum zu
befriedigen, falls sie überhaupt vernünftige Menschen sind. Dazu dürfen wir
nie und nimmer die Hand bieten. Denn was wäre die unausbleibliche Folge?
Die mit ihrem Loose zufriedner würden vertrauensvoll die Leitung der öffent¬
lichen Angelegenheiten denen überlassen, welchen sie jenen Zustand verdankten,
sie würden ihrem Gewerbe nachgehen oder ihren Kohl pflanzen, ohne darnach
zu fragen, was wir dazu sagen, sie würden uns sogar die Gelegenheit nehmen,
etwas zu sagen, weil sie keinen von uns wählen würden. Die verblendeten
Menschen sehen zwar gewöhnlich nicht ein, daß das größte Unglück, welches
ihnen begegnen kann, die Zufriedenheit ist. Wenn sie ihr Brot haben und es
in Sicherheit nud Ruhe verzehren können, so ist's ihnen einerlei, in welchen
Fristen gewählt und ob das Budget alljährlich oder für zwei Jahre beraten
wird. Und darauf spekulirt diese Regierung! Aber noch sind wir da, noch
wachen wir, um unserm armen, gemißhandelten Volke die heilsame Unzufrieden¬
heit zu erhalten.
Ziehen Sie weiter in Betracht, wie viele Bürger polnisch-jüdischer Natio¬
nalität sich mit voller Hingebung dem Berufe weihen, dem Volke den nötigen
Spiritus einzuflößen, und daß diesen das Handwerk gelegt oder doch erschwert
werden soll, so werden Sie nicht umhin können, diesen Gesetzentwurf als ein
schmähliches Attentat auf die besten, edelsten Kräfte der deutschen Nation zu
erkennen.
Indessen wollen wir von alledem absehen, damit nicht etwa von Übel¬
wollenden uns vorgeworfen werden könne, wir trieben Interessenpolitik. Ich
brauche nur ein Wort auszusprechen, um den Anschlag der Regierung in seiner
ganzen Schwärze zu enthüllen: auch die Schuapsfrciheit soll uns geraubt, das
Scheidewasser des armen Mannes soll verdrängt, der Fusel geächtet werden!
Dahin ist es in Deutschland gekommen! Meine Herren, ich muß es Beredteren
überlassen, zu schildern, mit glühenden Farben zu malen die tiefe Erniedrigung
Deutschlands. Ich bin kein Mann des Pathos und der Phrase, mir stehen
nur schlichte Worte patriotischer Bekümmernis zu Gebote. Und so sage ich
Ihnen einfach und kunstlos: Das Scheusal der Reaktion schleicht unhörbar
von allen Seiten an uns herau, fletscht klirrend die Zähne und stößt aus blut¬
triefenden Nachen gellendes Geheul hervor. Jede Freiheit zertrampelt und
verschlingt das Ungeheuer, um mit dem Polizeistaate, dem Militarismus und
der Frömmelei wüste Orgien zu feiern. Oder kann noch von Freiheit der
Presse gesprochen werden, wo der Staatsanwalt auf jede Beleidigung einer
Behörde fahndet? Von einem Versammlungsrechte, wo jedem Redner, der
ganz bescheiden zum Untergraben der Fundamente des Staates auffordert,
sofort das Wort entzogen wird? Von persönlicher Freiheit, wo unmündige
Greise ausgewiesen werden aus keinem andern Grunde, als weil sie, wie wir
aus den' Mitteilungen der Herren Möller, Windthorst und Jazdzewski ent¬
nehmen konnten, jüdisch-katholische Polen sind? Von einem Wahlrechte, wo man
russische Unterthanen verhindert, ihrer Hinneigung zu Deutschland durch Stimmen¬
abgabe für Herren Rickert Ausdruck zu geben? Tief gesunken ist das Ansehen
Deutschlands in der Welt und würde nicht mehr tiefer sinken können, wenn
nicht dann und wann eine große Staatsrede eines unsrer zukünftigen Reichs¬
kanzler, der Herren Richter, Vamberger, Rickert u. s. w., es wieder kreditfähig
machte. Sämtliche Cohns und Levys, sämtliche Frankfurters und Goldsteins
der ganzen europäischen Presse schlagen bereits die Hände über dem Kopfe zu¬
sammen und rufe» Wehe über unsre Barbarei. Mit Recht sprechen sie: „Haben
wir darum andre Leute ihr Blut verspritzen lassen für die Einheit Deutschlands?
Haben wir darum Bismarck an jedem Morgen zugeflüstert, wie er die Pläne
der Gegner zunichte machen könne? Haben wir darum seine Maßregeln, die
nicht mit unserm Rate in Einklang waren, dennoch gebilligt, sobald der Erfolg
ihm Recht gegeben hatte? Ein Palästina sollte das neue Reich werden, ein
Land nämlich, wo Milch und Honig und Geschäft fließt; statt dessen ist es eine
Zwingburg geworden im Stile jenes Mittelalters, welches wir aus den
wissenschaftlichen Werken von Spieß, Cramer und Adolf Streckfuß so gründ¬
lich kennen. Wir schütteln den Staub von unsern Füßen und rufen Wehe liber
Deutschland!"
So urteilt die Mitwelt, und was wird einst die Nachwelt sagen! Aber,
ich wiederhole es, noch sind wir da, und wir, z. B. die Herren Liebknecht,
Richter und ich, bedeuten etwas mehr als der Reichskanzler. Bildet er sich
etwas auf seine Thaten ein, so sind wir mit besserm Rechte stolz auf das, was
wir einmal thun werden. Ihm gehört die Vergangenheit, für welche bekanntlich
der Handelsmann nichts giebt, uns die Zukunft. Wie viel Monat ». clato der
Wechsel honorirt werden wird, das kann ich im Augenblicke noch nicht sagen,
und für alle Fälle halte ich mir die Prolongation frei. Jetzt aber scharen wir
uns um die Ideale unsrer Jugend und decken sie mit unsern Leibern! Mag
die Welt im Materialismus und Byzantinismus versinken, wir halten die
Standarte der Freiheit hoch und lassen uns nicht das letzte, höchste Gut noch
rauben — die Schnapsfreiheit!
Sie fragen, was wir denn an Stelle des Branntweinmonopols vorschlagen
würden. Aber wie oft soll denn wiederholt werden, daß wir nicht dazu da
sind, den lHerreu Ministern Ideen zu liefern. Unsre Sache ist es, nein zu
sagen, und das thun wir. Außerdem habe ich bereits auseinandergesetzt, daß
es uns garnicht einfallen kann, das Reich finanziell uunbhängig zu machen.
Also zerbrechen Sie sich nicht weiter den Kopf, meine Herren Staatssekretäre
und Bnudesbevollmächtigten, wir würden alles verwerfen, was Sie aussinnen
mögen. Und wenn Sie sich darüber ärgern: des Beifalls des Herrn DerouKde
sind wir gewiß!
Da ich eben das Wort habe, will ich mir noch erlauben, den Antrag auf
Bestrafung des Arbeitgebers, der einem Arbeiter wegen der Stimmenabgabe bei
einer Wahl kündigt, aufs wärmste zu begrüßen, aber auch gleich auf einige
Mängel desselben hinzuweisen. Wie er jetzt lautet, ist er zu weit und zu eng.
Darnach versiele z. B. auch ein fortschrittlicher und ein ultramontaner Fabrikant
der Strafe, wenn sie Arbeiter entließen, weil sie national gestimmt hätten, und
das werden Sie doch nicht wollen. Auf der andern Seite würde sich das Gesetz
leicht umgehen lassen. Wie wollen Sie dem Arbeitgeber beweisen, daß er gerade
deswegen kündigt, wenn er es nicht ausdrücklich sagt? Durchblicken lassen kann
er es trotzdem und so seineu Zweck doch und ungestraft erreichen. Deshalb
schlage ich vor, das Gesetz ganz kurz so zu fassen:
„Einziger Paragraph. Wer einem Arbeiter, welcher zu einer der oppo¬
sitionellen Parteien hält, vor, während oder nach einer Wahl kündigt, wird mit
Zuchthausstrafe uicht unter zehn Jahren bestraft."
Da giebt es keine Hinterthür, keine Ausrede, und zugleich ist ein viel ent-
schiednerer Schritt zur Lösung der sozialen Frage gethan, als dnrch die ganze
Sozialreform. Der radikale und der ultramontane Arbeiter ist fiir sein Leben
versorgt und doch dabei völlig unabhängig, ein freier Mann, braucht nicht seiner
Manneswürde dadurch etwas zu vergeben, daß er durch Fleiß und gute Sitten
um die Gunst seiner Vorgesetzten buhlt. Und auf die übrigen kommt es
natürlich nicht an.
in weite Halle war jetzt beinahe leer geworden. Auf der Er¬
höhung saßen nur noch die beiden Freunde, im untern Raume
die wunderlichen Zecher zunächst dem Eingange, welche einen
dichten Kreis um den Barfüßermönch geschlossen hatten, und
seitwärts einige wenige von Bartolomevs alten Schiffsgenossen.
Die Lichter waren zum größten Teile von dem geschäftigen Jose ausgelöscht,
nur auf den noch besetzten Tischen und auf dem, den die Spanier vorhin ver¬
lassen hatten, flackerten noch einige Kerzen. Durch das offne Thor schwoll die
Nachtluft mit frischerem Zuge herein und zerstreute die Dünste des Weines.
Camoens atmete tief auf und sah sich dann mit einem verwunderten Blicke in
dem großen, leeren Raume um, er las in Barretos Gesicht die Aufforderung,
sein Schweigen zu brechen, und hub endlich widerstrebend an:
Fühlt Ihr nicht auch, Manuel, daß wir so wenig Herren unsrer Erinnerungen
wie unsers Schicksals sind? Die hellsten Sterne in unsrer Brust steigen zu Zeiten
und an Orten wieder empor, wo wir ihrer kaum froh werden können. Ich habe
i» den Mondnächten zu Goa, als wir ans Palmengärten auf das endlose
Meer hinaussahen, die Lippen gegen Euch geschlossen und muß sie um nnter,
dem Dach dieser Schenke öffnen! Ihr sagtet ganz recht — Catarina Atahde
hieß sie, die mir das reinste Glück und das bitterste Leid vergangner Tage
gebracht hat, und Ihr wußtet, als Ihr den teuern Namen ausspracht, auch
schon, warum die heiße Liebe des armen Hofjnnkers zur Tochter eines großen
Hauses, eines der wenigen, die an den Schätzen Indiens fürstlich reich geworden
sind, zu der jugendlich schönen Ehrendamc, welche dem Könige, Dom Joao, selbst
wohl gefiel, nur ein kurzer Traum mit schlimmem Erwachen sein konnte! Mein
Herz und die heilige Kirche haben mich meist vor ketzerischen Gedanken behütet;
doch der Frage, warum unsre Verdammnis dadurch erhöht worden sei, daß der
Mensch die Abgründe nicht erkennt, die ihn vom Menschen scheiden, entschlug
ich mich nie! Ich weiß nicht, ob Naben und Sperber dem Schicksal grollen,
nicht Falken und Aare zu sein, aber wenigstens ward ihnen der Trieb nicht
in die Brust gelegt, sich mit Adlerweibchen zu paaren und sich in ewig unstill¬
barer Sehnsucht zu verzehren. Bei fünfundzwanzig Jahren fliegen unsre
Wallungen und Wünsche weit über die Mauer» hinweg, an denen man sich
das Hirn zerschmettern soll. Mit mir war es nicht anders, und da ich das
Flügelpferd ritt, dünkte mich jedes Hindernis vollends ein Spott, und ich wähnte
eigens deshalb im Königsschloß Aufnahme gefunden zu haben, um das Herz
der schönen Ccitarinn mit meinen Sonetten zu bestürmen. Das war Jugend-
wahn — Jugendcitelkeit, doch meine ich noch heute, Gott müsse die Kraft, die
er meinen stammelnden Worten und Reimen versagte, in meine Augen gelegt
haben, den» die Holdselige neigte sich mir zu und wußte mir, obschon von
tausend lauernden Blicken umspäht, dennoch zu zeigen, daß sie meiner Sehnsucht,
meiner stumm beredten Huldigung nicht zürne. Ihr wißt, wie ungestüm junge
Herzen schlagen, wenn sie nur durch Pflicht und Zwang getrennt sind, und Ihr
erläßt mir die Erzählung, wie wir selbst im Palast von Belem uns fanden,
als wären seine Prachtgäctcn freie Fluren. Mein Mund hat in beglückter
Stunde auf Catariuas Munde geruht, mein Herz an ihrem Herzen ge¬
schlagen — mehr nicht, mehr nicht, Senhor Manuel, und schon das war zuviel!
Wohl hat mich die Erinnerung an jene Stunden aufrecht erhalten, als ich in
der Verbannung zu Macao, in weltferner Öde und bittrer Armut mich fragte,
warum mir edles Blut, hochstrcbcnder Sinn und die Glut der Dichtung ver¬
liehen worden seien? Ach, in tausend Nächten, in deuen ich versucht war, Hand
an mich zu legen oder Gottes dunkeln Ratschluß zu lästern, trat Catarinas
Bild in all seiner Reinheit und Schöne vor mich und mahnte mich, daß ihre
Liebe mir mehr gegeben habe, als ich je verdient. Ich hielt mich an der
Erinnerung aufrecht, die mir kein schlimmes Geschick entreißen konnte, doch fragte
ich mich stets zugleich, ob es nicht besser gewesen wäre, daß Catarina mich niemals
erblickt hätte. Was uns für immer trennte, sah alltäglich genug aus: unsre
Neigung wurde verraten, oder wir verrieten sie selbst. Eine kurze Haft für
mich — nur vierundzwanzig Stunden, Manuel! — ein Befehl des erzürnten
Königs, der mich nach Santarem wies, eine zweimonatliche Einschließung Ccitarinas
in das adliche Kloster Senora de Nceessidades, ein königlicher Rat, mich dem
nächsten Sccznge gegen Marokko anzuschließen, wenn ich je wieder die Gunst
des Herrschers erlangen wolle, dann ein strenges Gebot, mich jedes Versuchs zu
enthalten, das edle Fräulein de Atayde zu sehen oder ihr eine Botschaft zu
senden — dies reichte hin, uns für immer zu trennen! Als ich aus dem
Hospital zurückkehrte, wo ich nach dem Seetreffen von Ceuta monatelang an
jener Wunde darnieder gelegen hatte, die mich ein Ange kostete, da war Catarina
auf ein einsames Landgut ihrer Familie in den Bergen von Beira geschickt.
Ich brauche Euch nicht zu sagen, daß mich keines Königs Befehl abhalten konnte,
nach ihr zu forschen und zu suchen. In heißer Sommerglut und in allerhand
Verkleidungen durchstreifte ich das Gebirge, zog wochenlang neben gaben¬
heischenden Bettelmönchen von Hof zu Hof, fand und verlor die Spur der
Einzigen und ahnte damals nicht, daß ich mehr als einmal an der rechten
Stelle vorübergegangen war. Erst Jahre nachher, in Indien, habe ich bedacht,
daß die Familie, vielleicht auch der König, mich überwachen ließen und daß ich
mich anf jenen traurigen Wanderungen wohl Leuten anvertrauen mußte, die im
Solde des Hauses Alceste standen. Enttäuscht, gebrochen, fieberkrank kam ich
während der Herbstrcgen nach Lissabon zurück, und hier erfuhr ich, daß Catarina
nach dem Willen der Ihrigen und des Königs mit dem Grafen von Palmeirim
verlobt sei. Da überwältigte mich neben meinem heißen Schmerze das Gefühl
meiner völligen Ohnmacht, ich sah klar, daß für mich alles vorüber sei und ich
der Geliebten wenigstens den Jammer ersparen müsse, mich fernerhin auf ihrem
Lebenswege zu sehen. So befahl ich sie alleil Heiligen und mich meinem Geschick
und schiffte mich nach Goa ein. In Indien drang jahrelang keine Kunde von
der unwandelbar Geliebten zu mir — die erste brachte mir ein junger Lands¬
mann, der frisch aus Europa kam, auf die öden Klippen von Macao — es
war die Kunde von Catarinas Tode! Gott weiß es, Senhor Manuel, wie
tief ich um das junge Leben getrauert habe, und daß ich mein eignes Dasein
gern hingegeben hätte, um das ihre zu erhalten. Da Gottes Ratschluß sie ab¬
berufen hatte und mich leben ließ, so konnte ich nichts thun, als ihr Thränen
weihen und mein armes Leben unter den Schutz der Verklärten stellen. Denn
obschon ich nach der Vorschrift unsrer heiligen Kirche für sie betete, wollte es
mir nie in den Sinn, daß ich die Makellose, Herrliche wo anders zu suchen
hätte als unter den Seligen des Paradieses, und wenn ich an mein eignes Ende
dachte, so erfüllte mich nur mit Wehmut, daß meine Sünden mich noch lange,
lange von der Wiedervereinigung mit ihrem reinen Geiste trennen mußten! Ich
habe die Nächte nicht gezählt, Manuel, die ich der Erinnerung an Catarina
Alceste gelebt habe, ich muß nur wünschen, daß ihrer mehr gewesen wären, denn
ich habe den Odem Gottes nie lebendiger um mich gefühlt, als wenn ich ohne
Bitterkeit, ohne Groll über mein und ihr Geschick die Stunden, die ich mit ihr
verbracht — die einzig seligen meines Daseins, Manuel! — still wieder durch¬
lebte. Leider, leider kamen auch Tage und Nachte, in denen ich das empörte
Herz nicht bezwang und mein Schicksal verfluchte: daß es mir versagt worden,
was ich Hunderttausenden gewährt sah, daß ich mit ungestillter Sehnsucht durch
ein verworrenes Leben gehen mußte, an dem meine Seele keinen Anteil nahm.
Ich fürchte, Ihr und andre edle Genossen, die ich in Indien gefunden, habt oft
genug unter meiner finstern Laune und meinem jäh aufwallenden Blute gelitten,
Ihr wußtet nicht, was ich in mir trug und wie schwer ein Mensch sich darein
schickt, sein Erdenglück als verloren zu erachten!
Ihr hattet Euer Talent und Euer Werk! sagte Manuel, der bis dahin
schweigend, aber teilnehmend Ccimoens' Erzählung gelauscht hatte.
Gewiß, ich hatte sie, und mit ihnen hatte mein Leben einen Zweck! rief
der Dichter. Ich wäre ohne sie im Abgrunde des Leides versunken oder der
schnöden Armut erlegen, die meine Amme war und, weil sie mich gewiegt hatte,
nie von meinem Pfade wich! Aber, Freund Manuel, eine Stunde Glück an
geliebten Herzen hätte alle Stunden aufgewogen, in denen mich die Lusiaden
über mein dunkles und dürftiges Geschick erheben! Mein Gedicht ist beendet,
und ich würde jetzt umsonst versuchen, die einzelnen Tage, an denen ich einen
frohen Schauer des Gelingens spürte, wieder wachzurufen. Doch von jenen
Tagen und Stunden, in denen ich Ccitarina geschaut, sie still verehrt habe,
meiner und ihrer Liebe gewiß geworden bin, steht jeder Augenblick vor meiner
Erinnerung und ich sehe die Geliebte vor mir, als hätte ich sie heute gesehen!
Selbst jetzt, selbst hier ist es, als ob das milde Licht ihrer Augen Trost in
meine Seele gösse! Dort im Dunkel schwebt ihre Gestalt, ich sehe sie von dem
weißen und purpurnen Gewände umwallt, das sie bei unsrer letzten Begegnung
im Garten des Schlosses von Cintra trug. Wenn ich morgen die geheiligte
Stelle wieder betrete, wird mir Catalinas süßes Gesicht in dem ihrer Tochter
wieder aufleben?
Stellt das dem Traumgott anheim, Luis! sagte Barreto. Mich dünkt,
wir sollten die Ruhe suchen, die wir verdient haben. Laßt auch die alten
Schmerzen, da Ihr sie nicht begraben könnt, wenigstens ruhen. In Almoeegema
müßt Ihr mir mehr sagen von dem, was Euer Herz erfüllt, obschon ich nun
alles weiß, was Ihr gelitten habt, mein armer Freund! Habt Ihr, während
wir sprachen, auf das Gesindel dort unten geachtet? Sie sind in Streit ge¬
raten und rühren ihre trunkner Zungen immer gewaltiger. Auch Bartolomeo
hat ihnen umsonst Frieden geboten, versteht Ihr, warum sie hadern?
Der Wirt kam hastigen Schrittes die Stufen zu der Erhöhung herauf
und trat an den Tisch der beiden Freunde, die sich erhoben hatten. Er zeigte
mit zorniger Geberde auf die Männer, welche beim Thor seiner Halle saßen
und halb wie Landstreicher, halb wie Wallfahrer aussahen. Im Verlauf der
letzten Stunde hatten sie mehr als einen Schlauch geleert und während des
Trinkens die Köpfe immer dichter zu einander geneigt, obschon sich keiner von
den übrigen Gästen um sie zu kümmern schien. Jetzt war ihr Geflüster in ein
lautes Gebrüll übergegangen, welches der Kapuziner mit erhobnen Händen und
zornigen Blicken umsonst zu dämpfen suchte. Okaz lenkte die Blicke seiner edeln
Gäste vor allem auf einen kleinen, hagern Galieier mit eigentümlich vorstehenden
Augen und schlichten schwarzen Haaren, die ihm in dichten Strähnen um die
Stirn hingen.
Dn habe ich ein schönes Gesindel an Bord genommen, sagte er zornig,
Spitzbuben, die des Königs Galgen zieren würden, und die irgendein Schelmen-
stück im Schlosse vorhaben! Sie streiten sich darum, wer den König am besten
belügen soll. Verstünde ich ihr Zigeunerwälsch besser, so würde ich mit meinem
alten Enterhaken dazwischen fahren und das Deck fegen. Hört Ihr, ihr Herren?
Und ich sage noch einmal, daß ich drei Teile von den zehn will! scholl
von unten die Stimme des blassen Galiciers, indem der Sprecher die begütigende
Hand des Mönches zornig von seiner Schulter schleuderte. Drei Zehnteile, oder
Ihr sollt erleben, daß die Engel in mir so stumm bleiben wie die Karpfen des
heiligen Autonius! Was — weil Ihr ein Paar Sandalen zerrissen, wollt Ihr
mit mir gleich teilen? Drei von Zehn oder ich thue vor König Sebastian das
Maul nicht auf, und Ihr könnt mit leerem Beutel heimgehen, auch Ihr, Frech
Gerundiv!
Habt Jhrs gehört, Senhores? Soll ein Unterthan des allerglänbigsten
Königs dergleichen unter seinem eignen Dache mit anhören? schrie Okaz. Die
Hallunken wollen im Stall übernachten, sie sagten, weil der Herr und Heiland
auch im Stroh gelegen habe, aber jetzt glaube ich, weil sie es nnr beqnem
haben wollen, ein paar Pferde oder Maulesel zu stehlen.
Jedenfalls wollen wir nach den unsern sehen, Bartolomeo! versetzte Barreto
und gab dein Wirt einen Wink, ihm schweigend zu folgen. Sie stiegen von
der Estrade herab, gingen an den Streitenden vorüber, die übrigens bei ihrem
Herannahen auf einen Augenblick verstummten. Aber sobald alle drei aus der
Thür auf den Hof getreten waren, scholl ihnen wüstes Gezänk, mit frechem
Gelächter untermischt, nach. Manuel ergriff Bartolomeo, welcher zurück wollte,
beim Arm und sagte ruhig: Du hast die Burschen einmal aufgenommen,
vielleicht ists zum Guten. Nimm einen oder den andern von ihnen auf die
Seite und suche herauszubringen, was sich für einen guten Zug Wein von
solchen Gesellen erfahren läßt. Jetzt zeige uns, wo mein Pferd und Herrn
Luis' Maultier Herbergen! Und sage mir eins: hast du einen Menschen im
Hause oder weißt du einen in Ciutra, der beim Tagesanbruch einen Weg für
mich thun und darnach schweigen kann, wie du selbst zu schweigen verstehst?
Gewiß, Herr, gewiß! Jayme Lciras, der Matrose auf unsrer Galeere war,
ist zuverlässig! Was soll er für Euch thun?
Einen Korb Brot und was du sonst im Hause hast, vor allem auch Früchte
und Wein auf die halbe Höhe des Kreuzbergs bringen. Im Hochthal der
Mutter aller Gnaden weidet Joana, die Ziegenhirtin, an sie übergiebt er mit
einem Gruß von mir und Luis Camoens die Lebensmittel, im übrigen sieht
er nichts und spricht noch weniger! Willst du das auf dich nehmen? Dürfen
wir darauf zählen, daß geschieht, was wir wünschen?
Es ist so gut wie geschehen, Herr! erwiederte Okaz. Beim Frühmahl
sollt Ihr wissen, daß Zahme Euern Willen gethan hat.
So kommt, Camoens, und laßt uns nach den Tieren sehen! schloß Barreto,
den Ställen zuschreitend. Wenn es jemand der Mühe wert findet, unser Thun
und Lassen hier zu belauschen, so muß er wissen, warum wir unsern Wirt mit
in den Hof genommen haben. Dann wollen wir unser Lager aufsuchen. Der
Tag war heiß, und wenn mich nicht alles trügt, wird auch der morgende nicht
kühler für uns werden!
Als Camoens am folgenden Morgen erwachte, sah er die Thür seines
Gemachs nach der Galerie geöffnet, draußen aber an der Steinbrüstung des
Ganges lehnte Barrcto und schaute in Bartvlomeos Gehöft hinab, aus dem
allerlei Laute des Lebens heraufdrangen. Mit einem Blicke nahm der Dichter
wahr, daß sein Freund, obschon er das gleiche dunkle Gewand trug, wie am
Tage zuvor, heute stattlicher geschmückt erschien. Von dem breitkrümpigen Hute
wallten krause schwarze Federn, vom Halse hing eine schwere goldne Kette und
eine Medaille mit dem Bilde der heiligen Jungfrau auf die Brust, das Schwert
steckte in einem kostbaren Gürtel und an den braunlederner Reitstiefeln glänzten
goldne Sporen. Camoens sprang rasch vom Lager empor, auf dem er nach
Soldatcngewohnheit halb bekleidet geruht hatte, und blickte mit verwundertem
Auge auf Barretv, der ihn lächelnd grüßte. Jsts so spät, Senhor Manuel?
fragte der Erwachte. Ihr seid schon zu einem Ausgange gerüstet?
Ich komme von ihm zurück! antwortete der Gefragte. Wißt Ihr nicht,
daß sich früh erheben muß, wer zu einer vertraulichen Unterredung mit unserm
jungen Herr» gelangen will? Vor und bei Sonnenaufgang gewährt König
Sebastian Audienzen, denn ist er bis zum Abend nicht sichtbar. Ich war im
Schloß und drang zu ihm durch, Eure Angelegenheit ist geordnet, Ihr sollt
heute am Abend feierlich empfangen werden, und der König wird die Gunst
gewähren, die Euch für Euer Werk unentbehrlich dünkt. Danke mir nicht und
laßt uns lieber darauf sinnen, wie wir Euch bei Hof aufführen. Ihr kommt den
Laffen ihren Prunk lassen, aber sie dürfen auch nichts über Euch zu lachen haben.
Ich werde es darauf ankommen lassen müssen, versetzte Camoens, und
ein Schatten des Unmuts zog über sein Gesicht. Alle Kostbarkeiten, die ich
mein nenne, seht Ihr in meiner Hand, den großen Smaragd in der Agraffe,
die mein Wams zusammenhält, hat mir der Maharadscha von Dharwar für
Dienste verehrt, die ich ihm mit dem Schwert geleistet. Er muß mein einziger
Schmuck bleiben! Neben Euch, mein Freund, werde ich freilich sehr unscheinbar
auftreten —
Seid kein Thor, Camoens! unterbrach ihn Barreto. Ich habe diese Kette
und andern Tand in Verwahrung bei Okaz, ich bedarf seiner nur hier, in den
seltenen Füllen, in denen ich einmal zu Hof komme — in Almocegema wären
die Dinge unnütz. Wie gern teilte ich sie mit Euch zur Hälfte, wüßte ich nicht,
daß Euer Stolz die Annahme solcher Gabe verschmäht, Wohl aber müßt Ihr
mir erlauben, daß ich Euch mit Hilfe einiger braven Bürger von Cintra aus¬
statte, ich stehe noch von Pcmtschim her in Eurer Schuld, Ihr dürft durchaus
nicht trotzen, erinnert Euch nur, ich habe damals aus Eurer Beute die reichsten
Gewänder und Seidenstoffe ohne ein Wort der Widerrede angenommen.
Wie vielemale begehrt Ihr denn in Eurer Großmut Eure Schulden zurück¬
zuzahlen, Senhor Manuel? rief Camoens. Doch Ihr habt mir heute schon
einen so großen Dienst geleistet, daß der kleinere daneben kaum in Anschlag
kommt — ich füge mich Euerm freundschaftlichen Willen. Jetzt aber sagt mir,
da Ihr doch schon ein Stück Tag hinter Euch habt, wißt Ihr auch bereits
etwas von droben?
Statt der Antwort trat Barreto vom Steingang in Camoens Schlafgemach
und flüsterte ihm nur ein kurzes: Alles steht gut! zu. Dann fügte er laut
hinzu: Wir haben einen langen Morgen vor uns, Freund Luis, erst um sechs
Uhr will der König Euch und mich sehen.
Wir thun vorher einen Ritt in die Berge? fragte Camoens, der den
Blick des Freundes nach den Holzwänden, welche die einzelnen Gemächer von
einander trennten, wohl verstanden hatte.
Ich denke nicht, Luis! gab Barreto jetzt laut zur Antwort. Wir müssen
uns heute in Cintra halten, und bevor Ihr den König sehen könnt, einigen
Herren, die um ihn sind, die schuldige Ehrerbietung erweisen. Unsre Freunde
in Santa Cruz können wir an jedem andern Tage besuchen, das alte Kloster
steht fest, und wir finden es immer wieder.
Camoens, der sich inzwischen angekleidet hatte, ließ das Gespräch fallen,
er begriff jetzt völlig die Meinung Barretos. Der Zufall schien auch die Vorsicht
desselben rechtfertigen zu wollen. Denn in dem Augenblicke, wo die beiden
Freunde aus der Thür auf den Gang traten, verließen ihre Nachbarn, die
Spanier von der Gesandtschaft, ihre Gemächer und schritten der großen Außen¬
treppe zu. Sie grüßten, als sie Varretos und Camoens' ansichtig wurden, mit
zurückhaltender Würde und trugen völlige Gleichgiltigkeit zur Schau, sodaß
Camoens mit halb ungläubiger Miene den ältern Freund hinter den verschwin¬
denden Spaniern dreinmurmeln hörte: Sie wissen alles und fangen alles auf,
und wenn Ihr im Traum gesprochen habt, Luis, so ists bei ihnen gebucht!
Laßt uns einen Morgentrunk thun und darnach das Freie suchen!
Eine halbe Stunde später verließen Camoens und Barreto den gastlichen
Hos Bartolomeos. Sie schlugen den Weg dnrch die Hauptstraße des Fleckens
nach dem Königspalaste ein, der, an die Bergwand gelehnt, in ernster Pracht
auf die Häuser und Gärten von Cintra herabschaute. Die Morgensonne blitzte in
den unabsehbaren Fensterreihen des Schlosses und umspielte Säulen und Simse.
Camoens richtete seine Blicke unverwandt nach dem mächtigen Bau und seinen
breiten, mit hochstämmigen Laubbäumen bepflanzten Terrassen, So lange war
es her, daß er auf ihnen verweilt hatte, ihm war die Jugend und der beste Teil
des Lebens darüber hingegangen, dort oben aber schien alles unverändert!
Manuel Barrctv sah kaum flüchtig nach dein Schloß und der funkelnden
Kuppel über dem Hauptportal hinauf; dafür betrachtete er sorgfältig die Ein¬
gangsthüren der Häuser längs der Straße und unterbrach nach einigen Minuten
das stumme Hinbrüten seines Begleiters, indem er an hub: Dort drüben wohnt
Arcinda, der Kaufherr, wie er sich nennt. Er muß Euch bis diesen Nachmittag
mit allem Nötigen, vor allem mit einem reichen Gürtel und Wehrgehäng für
Eure gute Klinge, auch mit einem Kragen von Brabnuter Spitzen versorgen.
Sowie wir ihn benachrichtigt haben, führe ich Euch durch das linke Seitenthor
des Palastes zu meinem alten Gönner, Portugals bestem Manne, den Portugal
leider nicht lange mehr sein nenneu wird.
Ihr meint den Marschall des Christusordens, den erlauchten Antonio
Pacheco, entgegnete Camoens ohne Zögern. Er hat noch die glorreichen Tage
Albuquerques gesehen und muß fast neunzig Jahre alt sein. Ich habe mich
längst gesehnt, seines Anblicks gewürdigt zu werden, und merke nun wohl, daß
ich immer tiefer in Eure Schuld geraten soll, Manuel!
Barreto kam zu keiner Erwiederung, denn die morgenstille Straße ward mit
einemmale in einer Weise belebt, welche die beiden Männer zwang, aufzumerken.
Sie mußten einem Reitertrupp ausweichen, der auf dem Wege von Pera Verba
daher kam und dicht vor Arandas stattlichem Hause in den Weg nach San
Pedro einlenkte. Ein lärmender, gaffeuder Haufe von Bettlern, braunen Buben
und einzelnen neugierig zuschauenden Bürgern umgab die Reiter, von denen
etwa zehn bis zwölf mit dunkeln Gesichtern, buntschimmernden Trachten und
mit krummen Schwertern sofort als Mauren zu erkennen waren. In der Mitte
der fremden Krieger ritten zwei Neger mit auffallend häßlichen, wulstigen Ge¬
sichtern in frauenhaft lange, weiße Gewänder gehüllt, an der Spitze des Trupps
aber ein portugiesischer Alguazil und zwei seiner bewaffneten Diener. Der
Staub, den die Vorläufer des Zuges und die dichtgedrängte» Rosse aufwirbelten,
verhüllte nur einen Augenblick lang die Gestalten, Dom Manuel tauschte mit
Camoens einen bedeutsamen Blick und die kurz hingeworfnen Worte: Die Leib¬
wache Emir Mulci Mohammeds, des Marokkaners! setzten ihn unliebsam ins
Klare. Der Dichter bemeisterte seine Bewegung so weit, daß nur die größere
Blässe seines Gesichts und ein unmutiges Zucken seiner Lippen dem neben¬
stehenden Freunde verrieten, was er beim Anblick der maurischen Reiter dachte.
Senhor Manuel, der sehr ernst nach dem Alguazil hingeblickt hatte, lächelte
still in sich hinein, als er den ganzen Trupp und einen guten Teil seines zer¬
lumpten Gefolges ohne Zögern die Straße nach San Pedro einschlagen sah.
Die Verfolger waren offenbar ohne alle Spur ihres flüchtigen Wildes, das
konnte wenigstens für den Augenblick zur Beruhigung dienen. Sobald sie sich
durch die lärmende Menge hindurchgedrängt und die freie Straße wieder ge-
Wonnen hatten, sagte Camoens mit jenem Ungestüm, das von Zeit zu Zeit aus
seiner Natur hervorbrach:
Es ist ini Grunde Unrecht, daß wir an andres denken als an die Rettung
des Mädchens. Ihr seht, Freund Manuel, daß Gefahr im Vorzuge ist, und
selbst das Schicksal meines Gedichtes will mir unwichtig erscheinen, wenn ich
an das Menschenleben denke, das sich unserm Schutze vertraut hat.
Ihr vergeht uur, Freund, daß es allein möglich ist, die Maurin zu retten,
wenn wir an andres wenigstens zu denken scheinen, entgegnete der Edelmann.
Ich verliere die Arme nicht einen Augenblick aus dem Sinne und habe bereits
hundert Pläne ersonnen und wieder verworfen, wie wir sie ungesehen nach
Almoeegema geleiten könnten. Der Himmel wird uns wohl noch erleuchten,
für jetzt ist Esmcch in guter Sicherheit bei der kleinen Joana; wir aber haben
umsomehr Grund, uns Dom Antonio Pacheco vorzustellen.
(Fortsetzung folgt.)
Es ist schon jetzt keine leichte Aufgabe mehr, sich in den zahlreichen zivil¬
rechtlichen Entscheidungen des Reichsgerichts, soweit sie im Drucke vorliegen, zurecht¬
zufinden. Insbesondre der Praktiker, dem es an Zeit fehlt, die gewünschten Urteile
aufzusuchen und dann ans ihnen den Kern herauszufinden, ebenso der Geschäftsmann,
der schnelle Orientirung sucht, stößt hierbei auf große Schwierigkeiten infolge der
chronologischen, systemlosen Aneinanderreihung der einzelnen, Urteile in den ver-
schiednen Sammlungen. Der Herausgeber des vorliegenden Buches, der vermöge
seiner Stellung als Mitglied des Reichsgerichts vor allen dazu berufen erscheint,
hat mit Rücksicht auf die erwähnten Uebelstände eine Art Pandekten des Zivil¬
rechts und Zivilprozesses geschaffen, indem er aus sämtlichen Urteilen der Zivil¬
senate und Entscheidungen des Reichsgerichts den irgend bemerkenswerten Inhalt
in kurzen, klaren Sätzen ausgezogen und in systematischer Ordnung nach den einzelnen
Materien zusammengestellt hat, sodaß sich nunmehr jede gesuchte Entscheidung leicht
auffinden läßt. Ju dem vorliegenden ersten Bande sind insgesamt 2195 Ent¬
scheidungen auszugsweise wiedergegeben worden. Das mit großer Sorgfalt gear¬
beitete Werk, von welchem jährlich ein Band erscheinen soll, bedarf nach dem Ge¬
sagten keiner besondern Empfehlung, seine Wichtigkeit und Brauchbarkeit liegt auf
der Hand.
Wohl kein Ausländer findet in Deutschland, wenn es auf Lebensbeschreibungen
deutscher Geistesheroen ankommt, seit den Arbeiten von Carlyle und Lewes mehr
Beachtung als der Engländer. Auch die vorliegende Schrift, welche mit genauer
Kenntnis der einschlagenden deutschen Literatur in erster Linie deu Philosophen
Leilmiz behandelt, wird freundliche Aufnahme finden. Auf Veranlassung des
Bonner Professors Schaarschmidt ist sie aus dem Englischen geschickt übertragen
worden, Schaarschmidt selbst hat die Uebersetzung durchgesehen, und auch Merz hat
sie einer Superrevision unterworfen. Während der erste Teil des Buches einen
trefflichen Ueberblick von Leibnizens Leben bringt, giebt der zweite eine knappe,
aber lichtvolle Darstellung der Leibnizischen Philosophie; der Ausgangspunkt sind
dem Verfasser hier Leibnizens mathematische Studien, Die schöne Unbefangenheit,
mit welcher der Verfasser deu Streit mit Newton schildert, sei besonders hervor¬
gehoben. Die ziemlich ausführlichen Erläuterungen der politischen Verhältnisse
Deutschlands, welche in der englischen Ausgabe am Platze sein mochten, hätten in
der Uebersetzung abgekürzt werden können.
Das Bestreben des Verfassers, die Kenntnis des deutschen Bürgerlebens durch
zweckmäßige Bearbeitung zeitgenössischer Quellen weitern Kreisen zu vermitteln,
verdient volle Anerkennung, zumal wenn die Auswahl des Stoffes und die Art
feiner Behandlung so glücklich getroffen werden, wie sie es hier in der That sind.
Das Schichtbuch des braunschweigischen Zvllschrcibers Herman Bodden entwirft ein
anschauliches Bild der verschiednen „Schichte," d. h. hier der aufrührerischen Vor¬
gänge in der Stadt Braunschweig. Vergleichsweise kurz sind die Aufstände von
1292, 1374, und 1445 behandelt; dagegen ist die sogenannte „Hollandes Schicht"
im Jahre 1488 u. ff., welche der Chronist als thätiger Zeitgenosse erlebte, sehr
ausführlich geschildert. Hänselmann liefert nicht eine einfache Uebersetzung dieses
Buches, sondern eine freie Bearbeitung, indem er mancherlei Zusätze dem Texte
einfügt, manche Stellen in ihm ausläßt oder berichtigt. Er, der als gründlicher
Kenner der Geschichte seiner Vaterstadt längst rühmlichst bekannt ist, ist in den
Geist und die Ausdrucksweise jeuer Zeit so eingedrungen, daß das Werk dennoch
vollkommen ein einheitliches Gepräge bewahrt hat, ohne daß der große Vorzug,
welcher derartigen gleichzeitigen Berichten gegenüber modernen Städtegeschichten
durch ihre frische Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit eigen ist, im geringsten be¬
einträchtigt würde. Wer in das städtische Leben und Treiben, vor allem in die
demokratischen Bewegungen des ausgehenden Mittelalters, einen klaren Blick thun,
will, dem können wir das vorliegende Büchlein, welchem wir bald eine Fortsetzung
wünschen, nur warm empfehlen.
Man würde diesem Buche zuviel Ehre anthun, wenn man es auch nur als
ein Produkt der naturalistischen Schule bezeichnete. Denn wie auch der Wert
der Prinzipien derselben sein mag, so sind es doch wenigstens Prinzipien,
eine gewisse, wenn auch sehr untergeordnete, künstlerische Absicht, die als solche
schon einen höhern Standpunkt den Dingen gegenüber einnimmt, als es der des
Autors dieses höchst frivolen Buches ist. Der Naturalist, der sich über den Geschmack
der guten Gesellschaft hinwegsetzt und den Schmutz in die Hände nimmt, den
jedermann sonst liegen läßt, hat doch diesem Schmutze gegenüber ein gewisses ideales
Verhältnis dadurch, daß er sich auf deu Standpunkt des Pathologen stellt und die
Krankheit, so widerwärtig sie, ist, mit seiner sogenannten Wissenschaftlichkeit erkennen
und darstellen will; seine Objektivität hebt ihn, für seine Person wenigstens, über
den Verdacht der Gemeinheit hinaus. „Darcdjnn" aber gehört einfach in die
pornographische Literatur. Nichts als die Lüsternheit und die Rohheit werden roh
und lüstern geschildert. Dabei ist die Heuchelei des Erzählenden am widerwärtigsten,
der sich deu Anschein des Sittenmalers giebt, und doch auf nichts andres als die
Lüsternheit knabenhafter Leser spekulirt. Man vergleiche die nun auch deutsch aus¬
gegebene Novelle Leo Tolstois „Die Kosaken" mit diesem Machwerk und wird
finden, wie ein edles Talent die Sinnlichkeit, bei allem Realismus der Darstellung,
keusch zu schildern weiß, während in „Daredjcm" nur ein blasirter Roue für seines¬
gleichen das Wort führt.
Diese Wiener Konzertberichte aus der Feder eines der bedeutendsten, vielleicht
des bedeutendsten Musikschriftstellers unsrer Tage verdienen es in vollem Maße,
daß sie durch ihre Vereinigung zu einem Buche über die flüchtige Wirkuug, die sie
bei ihrem ersten Erscheinen in der Wiener Tagespresse geübt haben, hinausgehoben
werden; sie verdienen es, von jedem wahren Musikfreunde im Zusammenhange
gelesen zu werden, und, was das Beste ist, sie werden das noch nach Jahrzehnten
verdienen. Nicht nnr daß Hanslick in diesen Kritiken eine Fülle feiner und treffender
Bemerkungen über ältere Meister und ihre Werke niedergelegt hat, nicht nur daß
er sich geistvoll über eine Anzahl großer, witzig, oft sarkastisch über eine Anzahl
kleiner Virtuosen unsrer Zeit ausspricht; was uns das Buch besouders wert macht,
ist der nahezu vollständige kritische Ueberblick, den es über die hervorragenderen
musikalischen Produktionen der letzten fünfzehn Jahre gewährt. Sein Standpunkt
und sein Maßstab ist dabei in jeder Beziehung der unsrige. Mag er die hohe,
echte Künstlerschaft von Meistern wie Volkmann und Brahms ins rechte Licht stellen,
mag er schonungslos die hohle Schcingröße zerstören, zu der durch deu Beifall
einer vou Partei- und Cliquenreklame irregeleitete» urteilsloscu Masse Erscheinungen
wie Wagner und Liszt — Liszt als Komponist — aufgebauscht worden sind, mag
er alle die schreibseligen un imnorum gentium wie Hiller, Bruch, Raff, Rubin-
stein u. a. in ihrem wahren Werte zeigen, es ist nicht eine Zeile in seinen Ur¬
teilen, die wir nicht von Herzen und mit vollster Ueberzeugung unterschrieben.
Hanslick ist ein völlig unabhängiger, über alles Cliquenwesen erhabner, allen tunst-
fremden Einflüssen unzugänglicher Kritiker. Wie froh könnten wir in Leipzig sein,
wenn wir unter dem ewig wechselnden Rezensententroß unsrer Tagespresse auch uur
einen halben oder viertel Hanslick hätten! Dann wäre uns wohl auch eine so
nichtsnutzige Komödie wie die Gründung eines Lisztvereins (!) und die Ankündigung
von fünf (!) Lisztkonzerten, die wir in den letzten Tagen in Leipzig erlebt haben,
erspart geblieben; dann würde das musikalische Geschreibsel unsrer Tagespresse sich
nicht fort und fort in so beleidigenden Widerspruch zu deu Urteilen befinden,
die in den wahrhaft musikalisch gebildeten Kreisen von Mund zu Munde gehen.
Ein besondrer Vorzug der Hanslickschen Kritiken ist ihre meisterhafte stilistische
Fassung. Hanslick versteht es wie wenige über Musik zu schreiben, ein musikalisches
Werk zu charakterisiren und die Wirkuug desselben zu schildern, der Ausdruck steht
ihm in wunderbarer Weise zu Gebote; nicht ein Wort erinnert an den gemeinen
Phrasenvvrrat, den unsre gewerbsmäßigen Dutzendrezenseuteu mit der Zeit auf¬
gesammelt haben, und er schreibt überdies — und zwar, wie man ihm wohl
anmerkt, mit vollem künstlerischen Bewußtsein — ein vortreffliches Deutsch, dessen
Genuß höchstens dnrch gelegentliche Austriacismen (wie den Gebrauch von „neuer¬
dings" im Sinne von „abermals," „von neuem," „aufs neue" u. ahnt.), die uns
Norddeutschen nun einmal gegen den Strich gehen, ein wenig beeinträchtigt wird.
le englischen Worte tloirio Knie wurden und werden in so vielfach
verschiedenen Bedeutungen gebraucht, daß es wünschenswert er¬
scheint, genau und in einiger Ausführlichkeit unterrichtet zu werden,
was die Urheber dieser politischen Theorie eigentlich damit im
Ange hatten, und welcher Art die Ansprüche und Ziele der Gruppe
von Abgeordneten sind, welche dieselbe jetzt im britischen Ncichspcirlamente ver¬
treten. Ähnliche Bestrebungen der Jrlciuder kamen schon bald nach dem Beginne
des jetzigen Jahrhunderts vor, 1791 bildete sich infolge der französischen Revo¬
lution der Bund der vereinigten Jrländer, der mit dem Pariser Konvent in
geheimes Einvernehmen trat und die Lostrennuug Irlands, das damals noch
ein eignes Parlament besaß, von England und Schottland, sowie die Errichtung
einer irischen Republik vorbereitete, öffentlich aber zunächst nur gewisse billige
Forderungen an die Regierung richtete, von denen einige nach und nach erfüllt
wurden. Man erteilte z. B. den Katholiken das Recht, sich mit Protestanten
zu verheiraten, sich um niedere Ämter zu bewerben und bei den Wahlen zum
Dubliner Parlamente anzustimmen, man hob den Zwang für sie, die prote¬
stantischen Kirchen zu besuchen, auf, man hob serner die berüchtigten Strafgesetze
aus und beseitigte die hauptsächlichsten Hindernisse, dnrch welche die Entwicklung
der Gewerbe und des Handels des Landes zu Gunsten Großbritanniens gesetz¬
lich gehemmt war. Andre Forderungen des Bundes blieben unbeachtet, und
als derselbe darauf eine drohende Haltung annahm, griff die Negierung zu
Gewaltmaßregeln: sie suspendirte die Hnbeaseorpnsakte und verhängte über den
Bund, der gegen 100000 Mitglieder zählte und sich militärisch organisirt hatte,
Entwaffnung und Auflösung. Als den Iren unter Hoche französische Truppen
zu Hilfe kamen, die aber bald wieder eingeschifft werden mußten, wurde auf der
Insel das Standrecht verkündigt, und als der Bund trotzdem wieder zusammen¬
trat und im Mai 1793 die Fahne des Aufstandes erhob, schlug ein starkes
englisches Heer die Bewegung blutig nieder. Gegen 30000 Menschen verloren
dabei das Leben, viele davon am Galgen. Irland büßte sein eignes Parlament
ein, indem am 1. Januar 1801 die sogenannte Finaluniou zwischen ihm und
Großbritannien in Kraft trat, nach welcher Irland künftig von 22 Peers im
Londoner Oberhause und von 100 Abgeordnete» im Unterhause vertreten wurde
und verpflichtet war, zwei Fünfzehnte! zu den Lasten des Gesamtstaates beizu¬
tragen.
Die von Pitt verheißene vollständige Emanzipation der irischen Katholiken
scheiterte zunächst an der Abneigung Georgs des Dritten, und daraufhin bildete
sich ein Bund der Katholiken, der bald zum Mittelpunkte der Opposition auf
der Insel wurde. Als die Regierung denselben 1825 auflöste, trat er nach
kurzer Zeit von neuem zusammen und erreichte unter O'Connells Führung schnell
so bedeutenden Einfluß, daß die Regierung sich bewogen fand, die Emanzipation
der Katholiken vor das Parlament zu bringen. Dieselbe wurde 1829 Gesetz.
O'Connell begann, nachdem er Mitglied des Unterhauses geworden, zunächst
für Abschaffung des Zehnten zu wirken, welchen die Katholiken Irlands den
dortigen protestantischen Kirchen zu entrichten hatten; als er aber damit keinen
genügenden Erfolg hatte, proklamirte er als Ziel seiner Agitation den Widerruf
der Union zwischen Irland und Großbritannien, wodurch er eine gewaltige Be¬
wegung im irischen Volke hervorrief. Um Ausschreitungen zu verhüten, setzte
das Ministerium Grey im Parlamente die Irisll Loorvicm IM, ein Gesetz durch,
welches den Lordstatthalter in Dublin ermächtigte, Volksversammlungen zu unter-
sagen und das Standrecht zu verkündigen. Um demselben Nachdruck zu geben,
schickte man 36000 Mann Soldaten und 0000 bewaffnete Polizeidiener nach
Irland. Das Ministerium Melbourne nahm die Zwcmgsbill Greys zurück und
verfuhr überhaupt in versöhnlichster Weise gegen die Iren. Man verbesserte
die Verwaltung, führte unparteiische Gerechtigkeitspflege ein und beförderte Katho¬
liken zu wichtigen Ämtern. Auch ein befriedigendes Zehntengesctz kam 1838
endlich zu stände, und so löste O'Connell die Gesellschaft, mit welcher er die
Abschaffung der Union betrieben, auf. Als die Tories unter Peel 1841 aber¬
mals ans Ruder gelangten, ließ der Agitator jenen Bund wieder aufleben, und
da dessen Bestrebungen jetzt auch von der katholischen Geistlichkeit lebhaft unter¬
stützt wurden, machte die Bewegung gegen England reißende Fortschritte und
wurde im Jahre 1843 so allgemein und so gefährlich, daß die Regierung deu
Jrländern das Trage» von Waffen verbot und das im Lande stehende Militär
beträchtlich verstärkte. O'Connell wußte zwar den Frieden aufrecht zu erhalten,
protestirte aber gegen das Verfahren der Negierung und erklärte, als eine große
Versammlung seines Vereins aufgelöst wurde, der letztere werde so lauge fort¬
bestehen, bis Irland ein eignes Parlament erreicht habe. Sehr viel zur Er-
Haltung und Verbreitung der Unzufriedenheit hatte in diesen Jahren der im
Lande herrschende greuelvolle Notstand beigetragen. Unter dem Ministerium
Rüssel geschah viel zur Linderung desselben: es wurden Gelder zum Ankauf
von Lebensmitteln und Saatkorn, zur Urbarmachung von wüstlicgcnden Län¬
dereien und zum Van von Eisenbahnen nach der Insel gesandt. Aber die Ir-
länder waren mit Almosen nicht zufriedenzustellen, sie wollten jetzt auch Aus¬
gleichung der unnatürlichen, auf die Konfiskation der Vergangenheit begründeten
Besitzverhältnisse, nach welchen der irische Landmann nur Pächter, nicht Be¬
sitzer seines Bodens war. Die Agitation für die Aufhebung der Union hörte
mit O'Connells Tode 1847 auf, aber bei den Wahlen dieses Jahres äußerte
sich die Leidenschaft der Parteien in so gewalttätiger Weise, daß über eine An¬
zahl von Grafschaften das Ausnahmegesetz verhängt werden mußte. Die Pariser
Februarrevolution steigerte die Aufregung. Die O'Cvnncllsche Partei, die ans
gesetzlichem Wege und nnr mit moralischen Mitteln wirken wollte, trat zurück
vor der Partei Jungirlands, welche mit Hilfe der Republikaner in Paris die
Insel gewaltsam von England loszureißen gedachte; die Führer derselben, Smith
O'Brien, Meagher, Duffy und Mitchell, begannen eine Nationalgarde zu orga-
nisiren und beriefen einen Nationalkonvent nach Dublin. Der letztere wurde
auf Grund eines Gesetzes zum Schutze der Krone verboten. Meagher und
Smith O'Brien wurden wegen Aufwiegelung des Volkes vor Gericht gestellt,
aber die Geschwornen konnten zu keinem Wahrsprüche gelangen, wogegen Mitchell,
der in der Presse ungescheut den Aufstand gepredigt hatte, zur Deportation ver¬
urteilt wurde. Die Bewegung gegen England wuchs inzwischen, die von O'Con¬
nells Sohne geführte Partei der Nepcalers verschmolz sich mit der des jungen
Irland zur irischen Liga, allenthalben entstanden revolutionäre Klubs, deren
Mitglieder sich im Gebrauche der Waffen übten, und so mußte die Negierung
mit strengern Maßregeln einschreiten. Im Juli 1848 stellte sie die Hauptstadt
und drei Grafschaften unter das Kriegsgesetz, suspendirte die Habeascorpusaktc,
ordnete die Verhaftung Smith O'Briens an und unterdrückte die zum Auf¬
stande setzenden Blätter. Die Klubs kosten sich jetzt meist ans, und die Führer
flüchteten. Smith O'Brien, der „König von Münster," sammelte bewaffnete
Schaaren, die aber in einem Treffen bei Bolulcigh zersprengt wurden. Der
„König" und Meagher gerieten dabei in Gefangenschaft und wurden zunächst
gerichtlich zum Galgen verurteilt und dann zur Deportation begnadigt. Der
Aufstand war damit zu Ende. Indes kehrte der Notstand mit dem Winter
wieder, und mit ihm die Verwilderung des Volkes, die sich in allerlei Gewalt¬
thaten äußerte. Dazu kam eine Anschürnng des konfessionellen Haders, um der
sich mich hohe Geistliche wie der Erzbischof Culten und der Bischof Mac Hale
beteiligten, und die Wirksamkeit des Bundes der Feiner, der seineu Hauptsitz in
Nordamerika hatte, wohin die irische Bevölkerung in Masse ausgewandert war.
Die Feiner wollten die irische Republik, die im Jahre 1865 durch einen allgc-
meinen, durch Zuzüge aus Amerika unterstützten Aufstand erkämpft werden
sollte, Ihre Pläne wurden aber verraten und von der Regierung ermittelt,
auch waren die Feiner unter sich nicht einig, und so vermochten sie nichts als
Komplotte zu schmieden und die Welt durch Attentate und Dhnamitexplvsionen
zu schrecken, die bis auf die neueste Zeit fortgesetzt wurden, aber nur geeignet
waren, dem Bunde die Sympathien zu entziehen, die ihm zugewandt worden
waren.
Mehr Erfolg hatte der auf gesetzlichem Wege sich bewegende Teil der iri¬
schen Opposition, die Partei llornv Ruth, deren erste Führer Butt und O'Snl-
livcm waren. Dieselbe entstand im Herbste des Jahres 1870 und nannte sich
anfangs Miö Homo (Government ^Woemticm, Sie wurde unmittelbar nach den
Versuchen des Ministeriums Gladstone, die Jrländer durch Zugeständnisse und
Reformen zu beschwichtigen, gegründet. Eine irische Reformbill hatte den Zensus
in den Stüdteu wesentlich herabgesetzt und dadurch die Wählerschaft beträchtlich
vermehrt. Ein Gesetz zur Entstaatlichung der irischen Kirche hatte der schreienden
Ungerechtigkeit, durch welche England dem weit überwiegend katholischen Volte
Irlands eine reich dotirte protestantische Staatskirche aufgedrungen hatte, nach
langem Widerstreben des Oberhauses ein Ende gemacht. Mit der einen Hand hatte
Gladstone den Irländern eine Bill zur Verbesserung der Verhältnisse der Pächter
gegeben, mit der andern freilich ein Gesetz zur Erhaltung der Ruhe. Im Früh¬
ling 1873 hielt die Assoziation Bulls zu Dublin bei Gelegenheit des O'Connell-
Jnbiläums eine große Versammlung ab, in welcher sie den Namen Iloine !!»!.>
I^iZnv annahm. Ihr politisches Credo und Programm war damals gemäßigt,
wie folgende Auszüge aus den bei dieser Gelegenheit gefaßten Resolutionen zeigen:
„Es wird hiermit als wesentlicher Grundsatz der Genossenschaft erklärt,
daß die Ziele, und zwar die einzigen Ziele, welche dieselbe im Auge hat, nach¬
stehende sind: 1. für unser Land das Recht und die Befugnis zu erlangen,
unsre eignen Angelegenheiten durch ein in Irland versammeltes, ans Ihrer
Majestät der Svuveräuin oder ihren Nachfolgern, und den Lords und den
Gemeinen von Irland bestehendes Parlament zu verwalten; 2. dem Parlamente
uuter einer föderalen Einrichtung das Recht zu verschaffen, in Betreff der
innern Angelegenheiten Irlands Gesetze zu geben und Regeln zu erlassen, des¬
gleichen die irischen Hilfsquellen und Einnahmen zu beaufsichtigen, wobei die
Verpflichtung fortbestehen soll, unsern gerechten Anteil zu den Ausgaben des
Gesamtstaates (Jux0rin,I uxponäiwrs) beizutragen; 3. einem gesamtstaatlichen
Parlamente die Macht zu überlassen, alle Fragen zu verhandeln und zu ent¬
scheiden, welche sich auf die Krone und die Regierung des Gesnmtstaatcs, ans
die koloniale Gesetzgebung und andre Dependenzen der Krone, ans die Verhältnisse
des vereinigten Reiches mit fremden Staaten und auf alle Dinge beziehen,
welche zu der Stabilität des Reiches im großen und ganzen gehören; 4. eine
solche Ordnung der Beziehungen der beiden Länder zu einander ohne irgend-
welchen Eingriff in die Prärogativen der Krone und ohne irgendwelche Störung
der Grundgedanken der Verfassung zu erreichen."
Es war die Aufgabe des jetzt verstorbenen Butt und später die seines
nächsten Nachfolgers in der Führcrrolle, Shaw, dieses Programm im britischen
Unterhause zu verkünden und zu verteidigen. Die Gefolgschaft Pcirnells, des
jetzigen Führers, erinnert an das Vorgehen jener frühern Homeruler nicht mit
dankbarer Gesinnung. Viele von dem irischen Unterhausmitgliedern, die jetzt
zum erstenmale ins Parlament gewählt worden sind, nehmen keinen Anstand,
sie als zu vorsichtig und zu sehr als durch Tory- oder wenigstens durch Gc-
samtstaatsprinzipieu gefesselt zu bezeichnen, um imstande zu sein, dem irischen
Volke eine seinen Erwartungen entsprechende Lösung der Frage zu bieten. Der
Gedanke des Horns Rü1<z hat durch die Partei Pcirnells eine durchgreifendere
oder schroffere, gröbere Deutung erhalten als in der Zeit, wo Butt, Sullivau
und Shaw ihn vertraten. Parnell fand, daß eine bloß separatistische Politik, so
lange die Landfrage als eine nebensächliche angesehen und behandelt würde, unter
den Iren daheim nur auf eine beschränkte Zahl von Anhängern zu rechnen hätte,
wenn auch die amerikanischen Freunde derselben sowohl an Zahl als an Frei¬
gebigkeit stark ins Gewicht sielen. Die irische Partei übersieht dies jetzt nicht
mehr. Sir Thomas Grädten Esmoude, ein junger Baronet, Landbesitzer und
Unterhansabgeordneter, hat es mit Beihilfe von acht oder zehn Kollegen, die
seine Ansichten gelegentlich mit etwas mehr Emphase und Ausführlichkeit vor¬
trugen, übernommen, offenherzig auszusprechen, was gegenwärtig im wesentlichen
die Meinungen und Endziele seiner Partei sind. Es sind in einigen Punkten
ungefähr dieselben, mit welchen der Bund der Hvmcrnler ins Leben trat, aber
sie unterscheiden sich, wie er bemerkt, insofern von allen frühern Jnterpretatioueu
des Begriffs Homo R,u1o, daß die Landfrage, die Frage, wie das Verhältnis
der Pächter zu den Grundherren aufgefaßt und umgestaltet werden soll, eine
Wichtigkeit angenommen hat, die nur der Bedeutung der Natioualitätsfrage den
Vorrang einräumen läßt. O'Connell, so äußerte sich ein irisches Parlaments¬
mitglied, konnte es mit allen seinen Anstrengungen zu nichts rechtem bringen,
weil in seinem Programme die Emanzipation nicht von einer Maßregel begleitet
war, welche die Pächter Irlands in Eigentümer des von ihnen bestellten Bodens
verwandelte. Die „Platform" der Jrlünder hat jetzt vier „Planken," ihr Pro¬
gramm besteht aus vier Artikeln oder Paragraphen, welche die Überschriften
Parlament, Grund und Boden, Handel und Gewerbe, endlich Polizei tragen.
Über die Schwierigkeiten des zuletzt genannten Punktes kommen die irischen
Unterhausmitglicder sehr schnell hinweg, indem sie meinen, die Hälfte der jetzigen
Polizeimacht würde unter dem von ihnen erstrebten neuen Regime genügen, um
den Bedürfnissen Irlands zu entsprechen; hätte das Land einmal die Befugnis,
sich selbst zu regiere», so würde die Notwendigkeit einer gesamtstaatlichen Macht
zur Erhaltung der Ordnung sofort geringer werden und bald ganz schwinden.
Keine agrarische Reform, so behaupten sie ferner, kann Nutzen bringen, wenn
sie die Pächter nicht in den Stand setzt, auf leichte und bequeme Weise Grund¬
besitzer zu werden, und wenn ihre Eigenschaft als Besitzer ihnen nicht durch ein
heimisches Parlament gesichert und gewahrt wird. Die gegenwärtigen Pacht-
summcn müssen die Leute zu Grunde richten, sie wurden durch Gerichtshöfe
festgesetzt, welche mit deu Landeigentümern shmpalhisirtcn, und selbst wenn sie
zur Zeit ihrer Feststellung nach Billigkeit berechnet gewesen wären, so haben
seitdem schlechte Ernten und wohlfeile Einfuhr die Farmer so gedrückt, daß die
Zahlung von Pacht nicht nur aus moralischen Gründen unbillig, sondern
geradezu thatsächlich unmöglich geworden ist. Ein Mitglied des Unterhauses,
und zwar ein Protestant und ein Großpächter, berichtete, daß er drei Jahre von
seinem Kapital gezehrt habe, und daß die allgemeine Lage der kleinen Pächter
eine sehr bedenkliche sei. Vor der durch Gladstone geschaffnen Institution der
Gerichte zur Ordnung der Landverhältnisse waren die Pachter erhöht worden,
um der Verschuldung der Gutsherren zu begegnen, und die gesetzlichen Herab-
mindcrnngcn waren zwar im Vergleich mit dem, was bis zu thuen gezahlt
worden war, beträchtlich, aber trotzdem unzureichend.
Alle diese Ansichten wurden neuerdings in einer Versammlung der jungern
irischen Untcrhausmitgliedcr vorgetragen und verhandelt. Interessant sind die
Meinungen, die man hier in Betreff der Fabrikthätigkeit und des Handels zu
hören bekam. Sie waren garnicht freihändlerisch. Die erste Obliegenheit eines
Parlaments, das zu Dublin in College Green tagte, würde, so bemerkte ein
Redner, darin bestehen, daß es Gewerbszweige forderte, welche jetzt angesichts
der billigen Waarencinfuhr von England her nicht gedeihen könnten. Mehrere
Mitglieder der Versammlung erklärten, sie wären zwar für den Freihandel wären,
aber nicht imstande, in diesem Verfahren eine wirtschaftliche Ketzerei zu erblicken,
da es wohl für eine gewisse Zeit das irische Volk nötigen würde, für seine Be¬
dürfnisse mehr zu zahlen als den bloßen Marktpreis, zuletzt aber mit allge¬
meinem Wohlbefinden endigen müßte. Es gebe viele Unternehmungen im Lande,
denen ans diesem Wege, durch Schutzzölle gegen England, geholfen werden
könne, und wenn daneben das Grundeigentum in die Hände eiues Volkes ge¬
bracht würde, welches in Amerika gezeigt habe, daß es fleißig arbeiten und
dabei wenig verthun könne, so würde sich, wie die neuen Vertreter Irlands
meinten, ihre jetzt weithin arme und darbende Insel allmählich in ein gelobtes
Land verwandeln. Die Frage, wo das zu solchen Reformen erforderliche Ka¬
pital zu finden sei, wo man das Geld hernehmen solle, die Landbesitzer für die
Aufgebung ihrer Pachtrechte zu entschädigen, entstehende Industriezweige zu
unterstiitzen, die Landwirtschaft wissenschaftlich und blühend zu machen und andre
Unternehmungen wünschenswerter Art zu fördern, scheint den neuen irischen
Parlamentariern ohne erhebliche Schwierigkeiten lösbar zu sein. Die Steuern
des Landes werden zur Deckung der betreffenden Bedürfnisse ausreichen, sagen
sie. Die jetzt weitverbreitete Armut muß bei den reichen natürlichen Hilfs¬
quellen des Landes einem allgemeinen Überflüsse weichen, und der wird hin¬
reichende Steuerlast enthalten. Das Kapital, sagte ein Redner mit akademischer
Präzision, ist aufgehäufte Ersparnis, und wenn die Pächter erst wieder in den
Besitz ihrer Väter eingesetzt sein und wissen werden, daß das, was sie vererben,
in ihren Händen bleibt, wird es im Lande nicht an Geld fehlen. Bis dahin
wird das neue irische Parlament Kredit genng haben, um durch eine Anleihe
das für den Anfang erforderliche Kapital mit Leichtigkeit zu beschaffen.
Die Frage, wie sich die gegenwärtige Regierung zu den Irländern stellen
wird, ist in der Thronrede beantwortet, mit welcher die Königin am 21. Januar
das Parlament eröffnete. Dieselbe beklagt die Agitation, welche das Ziel ver¬
folge, die irische Bevölkerung gegen die legislative Union Irlands mit England
aufzureizen, sie spricht ihren festen Entschluß aus, jeder Abänderung des Unious-
gesetzcs fern zu bleiben, und ist überzeugt, daß sie dabei vom Parlamente und vom
Volke unterstützt werden wird. Sie bedauert ferner den organisirten Widerstand,
mit dem man sich in Irland den gesetzlichen Verpflichtungen (zur Entrichtung
der Pachtgelder) entziehen wolle, und den systematischen Terrorismus, der zu
diesem Zwecke ausgeübt werde. Sie spricht endlich das Vertrauen aus, das
Parlament werde, wenn, wie man zu fürchten Ursache habe, die Gesetze zur Be¬
seitigung dieser Übelstände nicht genügen sollten, die Regierung mir den dann
notwendigen Vollmachten ausstatten. Die letztere werde Gesetzentwürfe zur Her¬
stellung der administrativen Autonomie für die Grafschaften Englands und Schott-
lands vorlegen, und sie bereite ähnliches für Irland vor.
Also Ablehnung jedes Gedankens der Homerule-Politik und Verschiebung
der für Großbritannien entworfenen Pläne zu Reformen in der Verwaltung,
soweit es Irland angeht. Das Parlament wird gefragt werden, ob es die Akte
zur Verhütung von Verbrechen in Irland wieder in Geltung treten lassen will.
Wenn wieder Gesetzlichkeit herrscht, wo jetzt nur das ungeschriebene Gesetz ge¬
heimer Gesellschaften gelten soll, wenn die Exekutive mit Waffen zur Verhütung
und zu rascher Unterdrückung von Unfug und schleichender Empörung versehen
ist, sollen den Irländern auch die neuen Freiheiten zu Teil werden, die den
Engländern und Schotten jetzt geboten werden sollen. Die Homeruler und die
Liberalen werden jetzt Farbe bekennen müssen. Salisburh und seine Amts-
genossen gestehen kein besondres Parlament für Irland, wie es auch gestaltet
sei, zu, weil sie überzeugt sind, ein solches werde ein Werkzeug zur Zerspaltung
des Reiches sein. Sollte die Negierung durch ein Bündnis der Liberalen mit
den Parnelliten mit Vertreibung vom Staatsruder bedroht werden, so würde
sie — wie wir aus guter Quelle vernehmen — das Unterhaus auflösen und
an die Wählerschaften appelliren. Parnell wird diesem Entschlüsse gegenüber
sich einzurichten haben. Er hat sich auf das Prinzip des Hcmrv unio verpflichtet,
aber man wird sehen, ob seine Forderungen bei einem beträchtlichem Teile der
liberalen Opposition Anklang und Beistand finden. Bis jetzt hat die Mehrheit
der liberalen Partei es nicht gerade eilig gehabt, sich für eine Politik zu er¬
klären, welche unter allen Umständen die Unteilbarkeit des vereinigten König¬
reiches gefährden muß.
rofessor Steinthal hat in den letzten Jahren sich mit Vorliebe
ethischen und religionsphilosophischen Fragen zugewandt, offenbar
um seiner eignen Persönlichkeit willen. Eine solche Motivirung
seiner wissenschaftlichen Arbeit, das Geständnis, daß mit dem zu¬
nehmenden Alter sich gewisse Probleme ethisch-religiöser Natur
mehr als sonst aufdrängen und zum Abschluß kommen möchten, hat immer etwas
Bewegliches und Anziehendes, Sein neues großes Werk um, die Allgemeine
Ethik (Berlin, Georg Reimer) regelrecht zu besprechen, würde über deu Rahmen
der Grenzboten hinausgehen. Aber in dem genannten Werke befindet sich ein
Exkurs, der eine Zeitschrift näher angeht; es ist der Exkurs über den Sozia¬
lismus. Auf diesen aufmerksam zu machen, wird uns gestattet sein, zumal da
wir von vornherein unterrichtet werden (S. 265), daß Steinthal nicht einen
sonst breitgetretnen Pfad geht und einer Parteifahne folgt, sondern in eignen
Wegen wandelt, „In wie weit ich mit irgendeinem der Sozialisten und Kom¬
munisten übereinstimme, weiß ich nicht; ausdrücklich aber muß ich den Leser
bitten, alles, was er anderweitig über sozialistische Lehren gehört haben mag,
einstweilen zu vergessen und mit meinen Gedanken nichts zu vermischen, was
diese weit von sich abweisen."
Wir bemerken bald, daß Steinthal, ebenso wie sein verstorbner Freund
F. A. Lange in Marburg und manche andre kundige Männer, einer bevor¬
stehenden sozialen Umwälzung mit ziemlicher Sicherheit entgegensieht. Denn
S. 19 beschreibt er deu Antrieb, der ihn mit auf die ethische Forschung ge¬
bracht hat, und sagt, daß „wir alle eine große, radikale Umwälzung der Eigen¬
tums- und Lohnverhältnisse mit Gewißheit voraussehen," Er sieht darin eine
Umgestaltung unsers gesamten ethischen Lebens so tiefgreifender Art, daß die
Weltgeschichte ihr kaum eine gleich bedeutsame an die Seite zu stellen habe; ins¬
besondre kommt nach seiner Meinung die Aufhebung der Sklaverei und Leib¬
eigenschaft diesem sozialistischen Unternehmen weder an Bedeutsamkeit uoch an
Schwierigkeit gleich.
Das spannt unsre Erwartung von dem Exkurs ziemlich hoch. Indes thun
wir gut, keine aufregenden Darstellungen bei ihm zu erwarten; er ist Philosoph,
und in einer allgemeinen Ethik hat er das Recht und die formale Pflicht, den
Gegenstand nur so weit zu verfolgen, daß die Grundzüge klar werden. Wir
dürfen es daher nicht tadeln, wenn er zuweilen einen Gedanken da abbricht,
wo er für den Kenner erst recht anfängt, interessant zu werden. In diese Grund-
züge des Sozialismus wollen wir denn auch zunächst eindringen und den eigen¬
tümlichen Sozialismus, wie ihn Steinthal ethisch konstruirt und heranwünscht,
zu verstehen suchen.
Die Hauptsache des Sozialismus ist ihm, daß „der Marktpreis getilgt und
lediglich der Wert hervorgekehrt werde." Das ist noch dunkel. In dem Markt¬
preise, der aus drei Momenten, dein Stoff an sich, dessen Herbeischaffung und
der Menschen-Arbeitskraft, bestehen soll, sieht Steinthal eine Würdelosigteit der
Betrachtung. „Der Mensch wird entwürdigt, wenn seine Arbeitskraft mechanisch
wie eine Sache im Preise abgeschätzt und bezahlt wird; darüber wird der über
allen Preis erhabne Wert des sittlichen Menschen vergessen." Denn Steinthal
sagt: der Wert wird niemals bezahlt; wie er aus der Idee stammt, nur idealen
Sinn hat, so kann er nur ideal „verdankt" werden. Der Preis ist lediglich
das Erzeugnis einer Verlegenheit infolge des Eigentumsrechtes. Der Menfch
erniedrigt sich dazu, seine Kraft als bloß mechanische Kraft nach dem Preise
abschätzen zu lassen, weil er eines Dinges bedürftig ist, das sich im Besitze eines
andern befindet und das er nur durch Tausch erlangen kann. Diese Erniedrigung
der Menschenwürde wird aufhören, wenn nach Aufhebung des bisherigen Eigen¬
tumsrechtes dem Menschen alles, dessen er bedarf, gesichert sein wird. Dann
wird die menschliche Arbeit ethisch gewürdigt wie vollzogen sein, als Aufopferung
der Einzelkraft für die Gesamtheit.
Der sogenannte Kollektivstaat mit seiner Abschätzung der Arbeitszeit und
Bezahlung durch Magazinanweisungen würde nach Steinthal nicht besser sein
als die jetzige Einrichtung. Es würde immer der Preis in Betracht kommen,
und dieser soll nach seiner Ansicht völlig schwinden. „Jeder Bürger erhält von
der Gesellschaft an Nahrung, Kleidung, Wohnung genau so viel, als er braucht,
nicht mehr und nicht weniger, und zwar garnicht als Preis und Lohn für
seine Arbeit, sondern lediglich zur Erhaltung seines Lebens im Dienste der Ge¬
sellschaft. Ob er durch seine Geschicklichkeit bessere Werke und obendrein noch
mehr liefert als alle andern: er erhält darum nicht mehr als diese, der eine wie
der andre wird kurzweg erhalten." Er begnügt sich für seine höhere Arbeitsleistung
mit der Anerkennung, die ihm zu Teil wird, mit einem idealen Lohne also.
Bleiben wir hier einen Augenblick stehen. Fragen wir, ob wir so etwas
in uns erlebt haben, wie es hier von dem Herabwürdigen des Menschen durch
den Preis seiner Leistung gelehrt wird. Nehmen wir einen Beamten an, der
schon jetzt im Dienste der Gesellschaft arbeitet. Der eine erhält 1000 Mark,
ein andrer 3000, 5000, 16 000 Mark Gehalt. Sehen sich diese Männer als
Herabgewürdigte an? Glauben sie, daß der Staat mit dieser Gehaltszahlung
sie uach ihrem persönlichen Werte abschätze? Es ist vielmehr so, daß sie schon
jetzt glauben, der Staat und die Gesellschaft können sie garnicht bezahlen. Stein¬
thal sagt, der Arbeiter solle schon heute bedenken, daß er unbezahlbar sei, und
solle nicht denken, er sei nnr dem Preise nach nicht genug bezahlt. Aber so
denkt schon jetzt jeder Beamte mit Fug und Recht, obwohl er das jetzige Lohn-
Verhältnis billigt. Die Sache ist so, wie uns scheint, daß die von christlichen
Sozialsten energisch bekämpfte Ansicht, die Arbeit sei nur Waare, in der That
niemals eine vollständige Definition der Arbeit gewesen ist. Die Arbeit ist auch
Waare, aber sie ist mehr als Waare. Ergiebt sich die Notwendigkeit, die Arbeit,
die nach der einen Seite wirklich eine Waare ist, gegen andre nach einer Wert¬
skala abzuschätzen (und bei dieser Abschätzung wird die ideale Natur der Be¬
dürfnisse freilich an einer gewissen Unsicherheit nicht vorbeikommen), so bleibt
die andre Seite der Arbeit völlig unangetastet. Kurz, das Motiv, welches zur
Abschaffung des Preises und weiterhin des Eigentums drängen soll, lebt viel¬
leicht in dem Gefühle des einen oder andern, aber als allgemeines Erlebnis
läßt es sich nicht bezeichnen; somit wird es nicht eine allgemeine Grundlage
eines so schwierigen Neubaues der Gesellschaft abgeben können.
Sollte nicht vielmehr die Herabwürdigung des Menschen bei der beabsich¬
tigten Einrichtung größer sein? Nach Steinthal giebt die Gesellschaft jedem das,
was er braucht, nicht mehr und nicht weniger. Ob er etwas leistet und wie
viel und wie gutes, ist dabei nicht entscheidend. Er soll leben, um für die
Gesellschaft gleichsam als Beamter derselben wirken zu können. Tausende von
Gesellschaftsgliedern sind thätig, bei den Einzelnen die Arbeiten, die sie natür¬
lich nach Lust, Kraft und Neigung in Fülle der Gesellschaft darbieten werden,
abzuholen und ihnen dafür die Subsistcnzmittel, die sie und die Ihrigen brauchen,
zu bringe». Wer stellt aber fest, was ich brauche? Denken wir uns, ich wollte
für meine Tochter zu ihrer musikalischen Ausbildung einen Flügel von der
Gesellschaft haben, oder ich wollte zu meiner Ausbildung eine Reise nach Rom
machen, oder mir zu meiner ästhetischen Bildung Rafaels Disputa ausbitten:
wer soll darüber entscheiden, ob ich das brauche? Wo soll ich in der soziali¬
stischen Ordnung der Gesellschaft nur den Mut hernehmen, dergleichen zu ver¬
langen? Professor Steinthal sagt, die absolute Gleichheit sei eine Thorheit,
von der sich der Sozialist freihalten müsse. „Der Schmied und der Schneider,
der Ackerbauer und der Gelehrte müssen verschieden behandelt, verschieden er¬
nährt, gekleidet, eingehaust werden." Ganz gut, aber es bleibt immer die dring¬
liche Frage übrig, wer soll das bestimmen, wie ich nach meiner Natur verschieden
behandelt werden soll, wie gekleidet und wie untergebracht? Soll das die
Gesellschaft thun? kann sie es? Ist es nicht eine traurige Unfreiheit und Herab¬
würdigung, wenn mir so alles vorgeschrieben werden darf? Vielleicht hätte
Steinthal hierauf manches Treffliche zu erwiedern, wenn er ins einzelne hätte
eingehen dürfen. Vorläufig aber kommt uns seine ideale Einrichtung als eine
Kombination vor von Unlerstütznngs-Wohnfitzgesetz und Arbeitshaus, mit Ab¬
teilungen für junge und alte Arbeiter, nach Berufsarten in einige hundert
Stuben gesteckt und mit ähnlichen Apparaten ausgestattet, nicht sehr verschieden
von den Phalansterien Fouriers, Dieser Phantast glaubte, die 2000 Menschen
der Arbeitskolonic würden jeder nach seinem Ingenium so eifrig für das Wohl
aller arbeiten, daß sie sich kaum 4'/z bis 3^ Stunden Schlaf gönnen würden.
Es kam ganz anders. Vielleicht kam der ideale Schwärmer nur zu früh, aber
auch jetzt sehen wir keine Möglichkeit ab, wie die Gesellschaft es fertig bringen
soll, uns das Maß dessen, was wir brauchen, vorzuschreiben, ohne uns weit
mehr herabzuwürdigen, als es jetzt geschieht, wo eine Staatsbehörde oder ein
Arbeitgeber unsre Arbeitsleistung, soweit sie abschätzbarc Güter schafft, taxirt
und vergütet, und uns zu bestimmen überläßt, was wir brauchen und in welchem
Maße wir das, was wir brauchen, uns beschaffen können.
Auch Steinthal verkennt nicht, daß seinem idealen Sozialismus einige Be¬
denken gegenüberstehen. Er läßt sich entgegnen, daß bei der Aufhebung des
Preises, des Eigentums, des Handels der Einzelnen z. B. die Gerechtigkeit, der
egoistische Trieb wenig Entwicklung finde; auch das Wohlwollen finde wenig
materielle Anwendbarkeit, wenn die Gesellschaft alles thue. Auch sei es sonder¬
bar, wenn der Mechanismus des Verkehrs, der z. V. in der jetzigen Versorgung
der großen Städte so vieles ohne allen Geist thue, durch eine ungeheure be¬
wußte Arbeit der Gesellschaft ersetzt werden solle. Auch läßt er die Zweifel
durchblicken, die man in die Weisheit, Gerechtigkeit und Opferfreudigkeit des
vorschwebenden idealen Sozialismus setzen kann. Ebenso giebt er zu, daß in
dem neuen Reiche jeder Mißgriff der spendenden Vorsehung viel schwerere Folgen
nach sich ziehen müsse als in der gegenwärtigen Einzelwirtschaft. Aber alle
diese Bedenken wiegen für ihn nicht schwer. Daß in dem idealen Sozialismus
das Schlechte der menschlichen Natur nicht aufhören wird, versteht sich bei ihm
von selbst, aber viele Gelegenheit zur Teufelei werde verschwunden sein. „Die
Bürger der Zukunft werden sittlicher leben als wir, wiewohl sie nicht besser
sein werden als wir; wie wir nicht besser sind als unsre Ahnen und doch in
höherer Sittlichkeit leben." Er ist nicht besorgt, daß der Gelehrte künftig we¬
niger der Wahrheitsforschung dienen werde, der erfinderische Kopf aufhören
werde zu experimentiren und zu grübeln, auch die Mittel dazu würden ihm,
meint Steinthal, nicht versagt werden. Auch Kaufleute und Künstler werden
ihre Verwertung im idealen Sozialismus, wie es scheint, sicher finden, wenn
auch in etwas andrer Weise.
Schon in dem Bisherigen zeigt sich, daß uns Steinthal mit Grund ge¬
warnt hat, ihn nicht mit den gewöhnlichen Sozialisten zu verwechseln. Wenn
er in gewisser Beziehung radikalere Ideen verfolgt, so ist in andrer Beziehung
sein Projekt für viel harmloser zu erachten. Dies letztere geht besonders aus
den sonderbaren Grundsätzen hervor, die er bei der Einführung des idealen
Sozialismus beachtet wissen will. Hier zeigt sich aufs deutlichste, daß der Ver¬
fasser von Bebel und Konsorten nicht anerkannt, sondern nur als Kuriosität
angesehen werden kann.
Er sagt zunächst, kein sittlicher Bestand in der gegenwärtigen wirtschaft¬
lichen Welt dürfe absichtlich vernichtet werden, das Unsittliche aber dürfe man
nur gewähren lassen, weil es sich ja selbst zerstöre. So werde mau mit Ruhe,
Stille und Allmählichkeit, aber unaufhaltsam und ohne Rückschläge, zum Sozici-
lismns kommen. Der Sozialismus werde überhaupt nicht gemacht, er werde
von der Gesellschaft geboren und, wenn sie sich weise verhalte, ohne besondre
Geburtsschmerzen. Nicht bloß die Einstimmigkeit der Bürger, sondern mehr
noch: die Übereinstimmung der sämtlichen Kulturvölker müsse dem Eintritte des
idealen Sozialismus vorausgehen, ja auch eine vollständige Statistik der Be-
dürfuisgüter müsse erst ermöglicht werden. Ein zweiter Grundsatz ist, daß nicht
der Staat, sondern die Gesellschaft den Sozialismus der Zukunft leiten müsse.
Staatssozialismus sei ein Widerspruch in sich, die völlige Verkehrung des so¬
zialistischen Gedankens. Der sozialistische Staat ist Steinthal ebensosehr Un¬
natur, wie Aufhebung aller Humanität. Er will also von einem Mostschen
oder Bebelschm Staate nichts wissen. Der Grund dafür liegt in seiner Auf¬
fassung des Rechtsstaates, worüber wir noch zu reden haben werden. Ein
dritter Grundsatz warnt vor Selbsttäuschung. Wenn auch der beabsichtigte
Umschwung der größte sei, den die Weltgeschichte bisher gesehen habe, so müsse
mau doch an das Gute der Gegenwart anknüpfen, den Baum unsers Lebens
nicht umhauen. Jede sittliche That stärke schon jetzt das Gute und entziehe
dem Bösen Saft und Kraft. Insbesondre sei es eine Illusion, wenn man meine,
man werde künftig weniger zu arbeiten brauchen. „Es wird gewiß einen
Normalarbeitstag geben, aber berechnet für opferwillige Arbeiter." Ob der ge¬
wünschte ideale Sozialismus die Menschen glücklicher machen werde, kümmert
Steinthal nicht, aber er glaubt es nicht. Der Sozialismus werde jedoch
„kommen, wenn und weil der Mensch aus sittlichem Triebe durch sittliche That
ihn herbeiführen werde."
Sein Schlußwort erhebt sich zu schöner Wärme. Er sagt: „Für heute
ist die Losung: Innerlich frei sein, Nichtigkeiten verachten und die Not bekämpfen,
so sehr man kann; wo aber die Kraft versagt, sie ertragen. Auch im soziali¬
stischen Leben wird es Not und Schmerz geben, wovor keine menschliche Sorge,
keine Weisheit und Güte schützen kann. Die Kraft zum Ertragen dürfen wir
nicht erschlaffen lassen, jede Verweichlichung ist der Selbstverleugnung feind,
und ohne Selbstverleugnung kein Sozialismus. Je eindringlicher die Predigt
der Selbstverleugnung erschallen wird, je kräftiger, je opferfreudiger dieselbe sich
bethätigen wird, umso eher wird ein erwünschtes Ziel erreicht werden, ohne
irgendwelche Störung der sittlichen Ordnung." Auch hier ist wieder ein An¬
klang zu finden an F. A. Langes letzte Kapitel in der „Geschichte des Mate¬
rialismus." Lange hielt es nicht für möglich, den sozialdemokratischen Ansturm
zu vermeiden, ohne eine große sittliche Idee und Opfer. Ganz ähnlich soll sich
nach Steinthal der ideale Sozialismus einführen, der ja auch ganz gegen das
Rezept der roten Partei sich ohne die Erschütterungen des ganzen Lebens ver¬
wirklichen soll.
Wir haben damit den Exkurs über den Sozialismus zur Darstellung
gebracht. Nur einige Folgerungen müssen wir noch nachtragen, die der Ver¬
fasser aus seiner sozialistischen Versorgung durch die Gesellschaft zieht. Wo
er von der Ehe spricht, bemerkt er, daß ihr Wesen umso reiner zur Erscheinung
komme, je weniger die Thätigkeit des Mannes sür das Bedürfnis der Familie
zu sorgen habe, also am reinsten in der sozialistischen Einrichtung. Denn dann
habe die Frau dem Manne sür nichts weiter zu danken als für ihn selbst, und
umgekehrt. Für den Unterhalt sorgt ja die Gesellschaft. Auch der Umstand,
daß die Unverheirateten nur um ihres Unterhaltes willen die Ehe wünschen, fällt
dann weg; denn es muß ja sozialistisch auch für sie gesorgt werden. In Bezug
auf die Ansicht von der reinsten Erscheinung der Ehe möchte man wiederum
Steinthals Meinung an die eigne innere Erfahrung als Maßstab legen. Ist
es wirklich so, daß ein junges Paar, das nicht durch seine Arbeit, aber unter
Voraussetzung seiner freien Arbeit, von irgendeinem andern gerade so viel ge¬
schenkt erhält, als es braucht, ohne seine Lage verbessern zu können, das Glück
der Ehe am reinsten genießt? Ich kann dazu nicht ja sagen, obgleich ich sehr
wünsche, daß durch Erbe, Renteuversicherung und, um mit Schäffle zu sprechen,
durch „Widmungskapitalien" die äußere Lage der Familie noch gegen die Zu¬
fälle des Arbeitsverdienstes geschützt werde. Aber anch abgesehen von diesem
Umstände komme ich nicht über den ersten Fehler der Steinthalschen Konstruktion
hinaus, über die Abhängigkeit von der austeilenden Willkür der Gesellschaft, die
sich bei der Bestimmung desjenigen, was die Familie braucht, noch schwereren
Aufgaben gegenüber findet, als gegenüber dem Bedarf des Einzelne». In so
vielem bleiben wir von der Gesellschaft abhängig, stets und überall, aber es ist
ein erdrückender Gedanke, in allen täglichen Subsistenzfragen nicht etwa von
der mystisch gedachten Gesellschaft, sondern von einer Organisation bestimmter
Gesellschaftsglieder, konkreter Mitbürger schlechterdings abhängig zu sein. Selbst
in dem von Schäffle gezeichneten Kollektivwirtschaftssystem kann mehr Freiheit
in der Befriedigung meines Bedarfs walten, mehr Selbstverantwortlichkeit, mehr
Energie des Handelns geweckt werden als in diesem idealen Sozialismus
Steinthals. Und wegen dieses Grundfehlers wird dieser Sozialismus in den
mittlern bürgerlichen Klassen, in den Klassen, die schon den Wert freier Lebens¬
führung schätzen gelernt haben, wenig Zustimmung finden.
Es war von vornherein unsre Absicht, nur den vielerwähnteu Exkurs
AU besprechen. Aber auch die scharfe Zurückweisung des Staatssozialismus ver¬
dient doch noch eine kleine Erörterung. Steinthal gehört, wie wir gesehen
haben, nicht zu den Individualisten, wie sie gewöhnlich mit dem Begriffe des
Mcmchestertnms zusammengedacht werden, aber dem Manchestertnme gehört er
dennoch an, insofern dieses dem Staate nur die Handhabung des Rechtes zumißt
und die Gesellschaft ihre sonstigen Geschäfte besorgen läßt. Das ist auch Stein¬
thals Ansicht, und sie tritt hie und da sogar leidenschaftlich hervor. Es ist
ganz deutlich, daß es Gemütssache bei diesem hervorragenden Denker ist, den
von ihm und Lazarus so viel besprochnen Begriff des objektiven Geistes auch
dadurch zu verherrlichen, daß er ihm in der Regelung der Gesellschaft wunder¬
bare Leistungen zu gute schreibt. Dazu kommt noch, daß der vou ihm viel
verehrte und zu hellerem Verständnis gebrachte Wilhelm von Humboldt in seinen
Jugendaufsätzen die Wirksamkeit des Staates in außerordentlich enge Grenzen
einschließt. Alles dies mag aus den etwas erregten Äußerungen Steinthals
gegen die soziale Thätigkeit des Staates heraussprechen. S. 235 sagt er:
„Der Staat hat sich um gar keine Interessen irgendeiner Person oder eines
Vereins weiter zu kümmern, als daß er ihr Recht schützt und sie hindert, andre
Rechte zu verletzen. Er ist ganz unfähig, mehr als dies zu leisten, und wird
immer fehlgreifen und durch Mißgriffe die Sache schädigen, wenn er sich in die
Interessen selbst mischt, statt ihre Förderung den Einzelnen und den Vereinen
zu überlassei,." So denkt die fortschrittliche Partei im ganzen auch. Ich würde
sagen, sie geht nicht einmal so weit, aber ein großer Unterschied ist nicht vor¬
handen. Denn bei Steinthal finden sich so gut wie bei Eugen Richter auch
anders klingende Maximen. So sagt er z. B. S. 239, daß „der Staat, über¬
haupt der umfassendere Verein, keine Pflicht übernehmen, keine Arbeit ausführen
soll, welche von dem engern Vereine oder von dem Einzelnen recht wohl zweck¬
mäßig und erfolgreich ausgeführt werden kann." So denken auch ganz andre
Männer, wie Hermann Schulze (in seinem Preußischen Staatsrecht, Einleitung,
S. 137). Aber nur eine einseitige manchesterliche Richtung, wie sie sich bei
den Staatsrechtslehrern wohl nicht mehr findet, kann mit Steinthal (S. 237)
behaupten, daß „der Staat, der für uns singt und unsre Geschäfte vollzieht,
unser Feind ist und sich selbst, der Pflege des Rechtes, untreu wird." Oder
(S. 233): „Der Staat soll nicht herrschen, denn man herrscht nur über Feinde.
In den Gesetzen des herrschenden Staates kann der Bürger uicht sein Recht
sehen, und kann er sich da uicht widersetzen, so wird er sich kriechend oder
murrend unterwerfen." Der Staat steht Steinthal nur darum als ein be¬
sondrer da, weil er alle Vereine und alle Einzelnen in ihren Rechten sichern
soll; er steht aber an Wert nicht über ihnen. „Der Staat soll als für sich
bestehende Macht gänzlich aufgehoben werden und die freie Gesellschaft der
Bürger an seine Stelle treten." Dabei leugnet Steinthal nicht die Unentbehr-
lichkeit des Staates. Wie gesagt, wir halten alle diese Versuche, den Staat
herabzudrücken, für persönliches Kolorit, nicht für Steinthals eigenste sozial¬
politische Überzeugung. Insbesondre ist mit dem Gegensatze von Recht und
Interesse nichts anzufangen. Wenn die jüdische Nechtsgesellschaft den Geld¬
besitzern das Zinsennehmen den Landsleuten gegenüber verbot, die mittelalterliche
das Zinseunehmen überhaupt, so wurde beidemale das Interesse einer großen
Gruppe von Menschen und Vereinen verletzt. Ist es nur ein Gewinn, wenn
ich dafür sage, die Nechtsgesellschaft habe dabei garnicht auf das Interesse ge¬
sehen, sondern nur das Recht von Einzelnen oder Gruppen gegen das Recht
andrer geschützt? Das positive Recht, mit dem es der Staat ja eben zu thun
hat, ist fast überall nur eine Abwägung der verschiednen Interesse», und gerade
das modernste Recht, das den Einzelnen gegen die Verwaltung selbst schützt,
kann ohne den Begriff des Interesses nicht gedacht werden. Es ist außerdem
auffallend, wie ganz andre Fähigkeiten der Gesellschaft mit ihren viele» Vereinen
und dem Staate, dem Ncchtsvereiue, von Steinthal zugeschrieben werden. Dieser,
dessen Wirken schon aus lauger Zeit bekannt ist und der in der That ja durch
seine allmächtigen Eingriffe öfters geschadet hat, wird möglichst herabgewürdigt,
die Gesellschaft aber, deren Wesen völlig mystisch ist — wir sagen es trotz
Schlözer, Mohl und Herbart —, soll dagegen alles Schöne leisten. Man kann
einem so komplizirten, tiefsinnigen Wesen ja alles Gute zutrauen, und gewiß,
wir dürfen uns die Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat
nicht wieder entreißen lassen. Aber Steinthal und die Manchesterleute werden
uns nie überzeugen, daß der Staat sich vor der Gesellschaft zurückziehe» müsse.
Es finde» sich im Gegenteile jetzt mehr und mehr Stellen, wo die Gesellschaft
nicht imstande ist, die Dinge selbst richtig zu ordnen. Die Post, die Eisen¬
bahnen, das Heerwesen, die Fabritanfsicht, das Schulwesen sind bei uns glück¬
licherweise nicht mehr Vereinssache. Zu diesen Dingen kommen, mit Zustimmung
der politischen Vertretungen, noch mehrere, in denen der Staat Interessen schützt
und verletzt, indem er die Gesetzgebung besorgt und die Verwaltung ganz oder
mit Hilfe der Vereine regelt. Der Staat erkennt selbst mich Grenzen seiner
Macht an, gewiß, er ist nicht omnipotent, wohl aber nach einem Ausdrucke
eines neuern Staatsmannes „omni-kompetent." Den Aberglauben an die
alleinige Einsicht der Jnteresseuverbände hat er längst aufgegeben, aber er ist
bereit, anzuerkennen, daß er manche gesetzgeberische Aufgaben nur durch Hilfe
der Verbände lösen kaun. So ist das .Krankenkassen- und Unfallversicheruugs-
gesetz nur durch die Betriebsgenosfeuschafteu möglich geworden, also durch ein
Zusammenwirken von Staat (Reich) und Gesellschaft. Aber auch, wenn der
Staat so die Gesellschaft zu Hilfe ruft, ist es immer die politische Vertretung
der Nation, die darum befragt wird und in maßgebender Weise bei der Gesetz¬
gebung mitwirkt. Die sich so ergebenden Interessen werden zu Ncchtsbestim-
mungcu in gemeinsamer Arbeit umgestaltet. Und der Gegensatz zwischen Inter¬
essen »ut Recht ist an sich nur eine Fiktion.
Wir haben diese letzten Sätze nur hinzugefügt, weil die Ansicht von Staat
und Gesellschaft, die Steinthal vertritt, einen Teil seines idealen Sozialismus
allein begreiflich macht. Wir halten diese Ansicht nicht für richtig, und ebenso
ist uns das Eigentum etwas ganz andres, als es bei Steinthal erscheint. Wir
gehen aber darauf umso weniger ein, als Steinthal selbst seiner Ansicht vom
Privateigentum nicht vollständig gewiß ist (S. 259). Daß eine Ablehnung der
optimistischen Auffassung der Gesellschaft und ihrer spendenden Gerechtigkeit,
eine Ablehnung der Auffassung vom Staate, wie sie Steinthal vertritt, nicht
eine Kritik des ganzen Buches sein kann, brauche ich wohl nicht erst zu sagen,
wenigstens dem nicht, der Steinthal zu lesen versteht. Im Gegenteile nimmt
die „Allgemeine Ethik" ohne Zweifel auch unter den Schriften Steinthals einen
hervorragenden Platz el», und um mich gleich deutlich von einer bekannten
Gattung von Kritikern zu unterscheiden, gestehe ich, daß gerade der religiöse
Hintergrund des Ganzen mich am wohlthuendsten berührt hat. Doch das sollte
uns hier fern bleiben.
in 27. Januar d. I. sind es hundert Jahre, daß Zieten, der treue
Genosse Friedrichs des Großen, aus dem Leben schied. Die be¬
vorstehende Wiederkehr dieses Tages hat den Grafen Zieten-
Schwerin veranlaßt, den Archivar Georg Winter in Marburg
mit der Abfassung einer Lebensgeschichte Zictens zu beauftragen;
kein geringerer als Leopold von Ranke hatte ihn dazu empfohlen.") Eine auf
wissenschaftlicher Grundlage beruhende Biographie Zietens gab es bisher noch
nicht. Weder er noch irgend einer der andern Feldherren Friedrichs hat bis
jetzt eine den heutigen Ansprüchen genügende Darstellung gefunden, wie sie den
Helden der Befreiungskriege in so reichem Maße zuteil geworden sind. Nur
Menzel war es, der deu große» König und seine Gefährten dem Volke wieder
auferstehen ließ; wie sie jetzt vor unserm Geiste erscheinen, so hat sie zuerst
seine Hand festgehalten.
Zieten stammt aus einem unbemittelte» altmärkischen Adelsgeschlechte, das
schon im vierzehnten Jahrhunderte zu Wustrau am Ruppiner See angesessen
war. Dort ward Hans Joachim von Zieten 169» den 14, Mai geboren. Sein
Vater hatte sich ganz ausschließlich der Landwirtschaft gewidmet und lebte in
so kärglichen Verhältnissen, daß er seinem Sohne nur vorübergehend einen Hof¬
meister zur Erziehung halten konnte. Der Sohn war ein geweckter, munterer,
aber schwächlicher Kunde; er selbst hat sich in spätern Jahren noch daran er¬
innert, wie zuweilen die Ankunft von Beurlaubten das stille, gleichförmige Leben
im heimatlichen Dorfe unterbrochen habe nud wie hierdurch frühzeitig in ihm
eine große Vorliebe für den Soldatenstand erwachsen sei. Mit dem sechzehnten
Lebensjahre trat er in das Schwcndhsche Regiment als Freikorporal ein. Die so
heiß ersehnte Laufbahn brachte ihm aber zunächst nur die bittersten Enttäu¬
schungen. Schon seine kleine Statur verhieß unter einem Fürsten wie Friedrich
Wilhelm I. kein glänzendes Avancement. Mehrfach wurde er in der Beförde¬
rung Übergängen, und er erbat und erhielt schließlich als Fähnrich seine „Di-
mission," Über ein volles Jahr widmete er sich nun vollständig der Ordnung
seiner zerrütteten Vermögensverhältnisse, verlor aber darüber keineswegs seine
Vorliebe für den Soldatenstand, In Berlin gelang es ihm, die Aufmerksamkeit
des Königs auf sich zu lenken, der ihm schließlich eine Lentnnntsstelle (mit einem
vordatirten Offizierspatent) bei den Willdenow-Dragonern verlieh. In diesem
Regiment machte er sich durch sein mit einem gewissen Selbstbewußtsein ge¬
paartes anspruchsloses Auftreten bei seinen Kameraden beliebt. Mehrfache
Proben seiner damals noch dicht um Verwegenheit streifenden Kühnheit, ein
Marsch über die vom Eisgange bereits wankende Weichselbrücke bei Naugarder
und ein Übergang über das durch Thauwetter bereits mürbe gewordene Eis
des Frischer Haffs, wurden in weiten Kreisen besprochen und bewundert. Wenig
günstig gestaltete sich sein Fortkommen im Regiment, Infolge fortwährender
Mißhelligkeiten forderte er seinen Rittmeister zum Duell heraus und erhielt für
dieses Vergehen ein Jahr Festungshaft, Nach seiner Rückkehr führte der Ritt¬
meister ein Duell herbei, in welchem Zieten dem Gegner, nachdem ihm die Klinge
gesprungen war, das Degengefäß ins Gesicht schleuderte. Infolge dessen ward
Zieten zur Kassation verurteilt, doch war der Kassation der Befehl beigefügt,
daß er sich nach seiner Ankunft in Berlin persönlich beim Könige melden solle.
Es traf sich günstig, daß eben in diesem Jahre, 1730, Friedrich Wilhelm I. in
Potsdam eine Leibhusarenkomvagnie errichtete; in diese ward Zieten, der nun
bereits Einuudddreißigjährige, eingereiht, nachdem er sich in Wusterhausen ge¬
meldet und vom König in Gegenwart seines neuen Negimentschefs sehr ernsthafte
Mahnungen erhalten hatte. Die neue Truppe war zunächst fast ausschließlich
für den persönliche« Dienst des Königs bestimmt, zur Besorgung wichtiger De¬
peschen und dergleichen, auch zum Einfangen von Deserteuren. Hier unter den
Augen des Königs, welcher den Diensteifer und die militärische Geschicklichkeit
Zietens beobachten konnte, brachte er es binnen einem halben Jahre zum Ritt¬
meister und Kompagniechef. Als solcher errang er 1733 am Rhein unter Prinz
Eugen die ersten militärischen Ehren. Unter seiner Führung zeichneten sich von
allen Truppen die preußischen Husaren durch verwegene und erfolgreiche Ne-
kognoszirungsritte aus und gewannen in hohem Grade die Zufriedenheit des
österreichischen Husarenkommandeurs Baranyai, unter welchem sich die preußische
Abteilung militärische Erfahrung und Übung erwerben sollte. Weniger glücklich
war er in der Erfüllung einer „geheimen" Instruktion, die ihn anwies, in allen
Dörfern und Städten selbst oder durch Unteroffiziere nach „langen Kerls" von
sechs Fuß oder darüber aufzustellen, solche anzuwerben oder zu „kapern." Alle
Bemühungen Zietens in dieser Angelegenheit schlugen zum großen Mißfallen
des Königs fehl, die aufgefundenen entgingen ihrem Schicksal durch eilige Flucht,
und ein „langer Kerl," den er glücklich erwischt hatte, erwies sich schließlich bei
genauer Messung als einen Zoll zu klein. Nach der Rückkehr aus dem Feld-
zuge ward Zieten zum Major befördert; über Unannehmlichkeiten mit seinem
neuen Negimcntschef, welche zu einem mit großer Heftigkeit ausgefochtenen Duell
führte», tröstete ihn die Heirat mit Leopoldine Judith von Jnrgaß.
Mit der Thronbesteigung Friedrichs des Zweiten sollte auch für Zieten die
Periode des Ruhmes anbrechen, gerade im ersten schlesischen Kriege konnten
sich militärische Talente am besten erproben, denn der König selbst mußte sich
erst kriegerische Erfahrungen erwerben. Obwohl Zieten in seiner bescheidnen
Stellung noch nicht in hervorragender Weise ans die Entscheidung des Krieges
einwirken konnte, so zeichnete er sich doch in kleinern Unternehmungen — durch
einen kühnen Neitcrangriff bei Rothschloß und durch einen kecken Vorstoß bis
in die unmittelbarste Nähe Wiens — so aus und gewann die königliche Zu¬
friedenheit in solchem Maße, daß er, der als Major ausgerückt war, als Oberst
und Chef eines Husarenregiments, das nunmehr seinen Namen führte, heim¬
kehrte. In den folgenden Friedeusjcchren war er namentlich bei der bisher ver¬
nachlässigten Ausbildung der Kavallerie thätig und befriedigte nur wegen der
etwas lässigen Mannszucht die Anforderungen des Königs nicht ganz. Hatte
sich Zieten am Rhein und im ersten schlesischen Kriege schon bewährt, so ver¬
dankt er seiue Popularität doch in erster Linie seinen Waffenthaten im zweiten
schlesischen Kriege in den Tage» von Moldauthein und Katholisch-Hennersdorf,
und namentlich seinem vielgepriesenen Ritt mitten durch die österreichische Armee
nach Jägerndorf. Sein Verdienst hierbei wird nicht geringer, mich wenn die
historische Kritik das Ereignis aller romantischen Ausschmückung entkleidet. Es
galt, dem Markgrafen Karl von Vcchreuth um jeden Preis den Befehl zur Ver¬
einigung mit dem Könige zu überbringen; alle Versuche hierzu waren schon ge¬
scheitert. Da war es Zieten, der seine sechshundert Husaren — anfangs viel¬
leicht dadurch begünstigt, daß die Uniform seines Regimentes große Ähnlichkeit
mit der eines österreichischen hatte — in kühnem, zwölf Meilen langem Ritte
mitten durch die feindliche, 14000 Man» starke Armee zum Markgrafen Karl
führte. Auf seinen schlichten, einfachen Bericht über diesen Ritt schrieb Friedrich:
„ich währe Sehr mit seiner Klugen conduite So wohl, als so viel ertzeigter
Vravour zufrieden." Sehr wahrscheinlich ist es, daß er seinen Beinamen „Zielen
aus dem Busch" einem Reiterstück aus diesem Feldzuge, einem überraschenden
Angriff vor Budweis, verdankt. Seit diesen Tagen bleibt sein Name so eng
mit der Geschichte Friedrichs verflochten, daß die Geschichte des großen Königs
auch zugleich die Geschichte Zietens enthält. Die Friedenszeiten bringen wieder
die alten Klagen; so brav sich Zietens Regiment im Felde gehalten hatte, so
wenig war der König mit seiner Führung in der Garnison zufrieden; Zietens
Husaren seien jetzt „von eben so viel Nutzen, wie das fünfte Rad am Wagen,"
schreibt der König einmal. Zietens schwankende Gesundheit und andre Verhält¬
nisse trugen nicht zur Besserung dieser Übelstände bei. Wahrheit und Unwahr¬
heit waren gerade in der Erzählung, wie der wackere Neiterführcr in Friedrichs
Ungnade geriet, bisher in wunderbarer Weise gemischt. Winter legt die Ver¬
hältnisse aufs klarste auseinander. Der König hat sich allerdings, wenn auch
nur kurze Zeit, von den Prahlereien des ungarischen Husarenführcrs Nagysander
umstricken lassen. Intriguen des Generals von Winterfeldt dabei anzunehmen,
scheint beinahe vollständig ausgeschlossen zu sein. Hierzu kam, daß im März
1756 plötzlich Zietens Gemahlin starb, und da erscheint die Erzählung nicht
unglaublich, daß er zu dieser Zeit um seinen Abschied eingekommen sei; er habe
erst nachgegeben, als Friedrich selbst an seinen Patriotismus appellirt und ihm
gesagt habe, daß das Vaterland seiner bedürfe. Durch seine Ernennung zum
Generalleutnant unterm 12. August 1756, wenige Tage vor dem Aufbruche zum
Kriege, ward die Aussöhnung bestätigt. Zielen gehörte zu den wenigen Ein¬
geweihten, welche darum wußten, worauf die Rüstungen eigentlich zielten und
welches der Zweck des geheimnisvollen Aufbruches war. Gleich bei dem ersten
größern Wassergange im siebenjährigen Kriege, bei der Einschließung der säch¬
sischen Armee bei Pirna, muß es als ein unbestreitbares, bisher noch nicht
völlig gewürdigtes Verdienst Zietens hervorgehoben werden, daß seine Wachsam¬
keit einen Durchbruch der Sachsen verhinderte. Seinen Anteil an dem furcht¬
baren Ringen der sieben Jahre können wir hier nicht im einzelnen verfolgen,
sondern müssen auf Winters eingehende Darstellung verweisen. An dem un¬
glücklichen Tage von Kolin hat von allen preußischen Generalen nur der eine
Zielen die ihm vom König gestellte Aufgabe ganz erfüllt und hat sogar im
Augenblicke der höchsten Gefahr nochmals versucht, die Schlacht wieder herzu-
stellen; österreichische wie preußische Berichte zollen ihm einstimmig uneinge¬
schränktes Lob. Den Siegestag von Leuthen hat er mit einer glänzenden
Kavallerieattacke eröffnet; beim Hochkirchner Überfall war er es, der sich zuerst
den Österreichern entgegenwarf und schließlich den Rückzug vor dem übermäch¬
tigen Gegner deckte. Wenn auch er, wie bei Domstädtl, den Wechsel des Kriegs-
glückes erfahren mußte, so hat doch Friedrich seinem tapfern General ans
diesem Mißgeschick nie den leisesten Vorwurf gemacht, Zietens Teilnahme an
der Schlacht bei Torgau, die Besetzung der Süptitzer Höhen ist Gegenstand der
eingehendsten Untersuchung geworden, Winters Ausführungen wenden sich nament¬
lich, allerdings nach unsrer Meinung nicht ganz überzeugend, gegen Bernhardt.
Mit dem Frieden von Hubertusburg schloß auch Zietens kriegerische Thätig¬
keit ab.
Versuchen wir es nun, auf Grund von Winters Arbeit in knappen Um¬
rissen ein Bild Zietens zu entwerfen.
Zieten war keine imponirende Erscheinung, klein von Statur, nicht kräftig,
aber gelenk gebant, noch im Alter überraschend durch die Armut und Eleganz,
mit der er zu tanzen verstand. In dem klugen, scharfgeschnittnen Gesicht blitzten
ein Paar lebhafte, große Augen. Seine Körperkonstitution war niemals von
besondrer Festigkeit gewesen, seine schwankende Gesundheit war ein Gegenstand
der steten Sorge seiner Gattin; seine schwächliche Gestalt konnte nur durch den
eisernen Willen seines starken Geistes fähig gemacht werden, die endlosen Strapazen
des Krieges zu ertragen. Der kränkelnden Natur zum Trotz widmete er sich
dem militärischen Dienste ohne jene Schonung seiner eignen Person, mit dem
gemeinen Soldaten teilte er die Anstrengungen des Lagerlebens, schlief ans dem
Fußboden seines Zeltes; nur die unablässigen Mahnungen seiner Gattin konnten
ihn bewegen, sich eines Bettes zu bedienen. Bis in das höchste Greisenalter
hinein war er ein kühner Reiter, der seine Gewandtheit und Geschicklichkeit ebenso
im wilden Rciterstnrme wie im friedlichen Kampfspiele und im Carvussel zu
Berlin genugsam erprobte. Noch als sechsnndsiebzigjähriger Greis wollte
er bei den Manövern durchaus selbst das Kommando über die gesamte Ka¬
vallerie führen. Eine Zeit lang vermochte ihn der König an seiner Seite zurück¬
zuhalten; als aber seine Husaren zur Attacke bliesen, brauste auch in ihm das
alte Neiterherz auf, im Galopp jagte er zu den Vordersten hinan und ritt die
Attacke mit, zur höchsten Befriedigung des Königs und zu allgemeiner Bewun-
derung. Winter sagt mit Recht, daß Zieten an Genialität der strategischen
.Konzeption und an Organisationstalent hinter andern Gefährten des Königs,
wie Schwerin und Winterfeldt, und namentlich hinter Friedrich selbst zurückstehe;
dafür bleibt ihm der unbestrittene Ruhm, der bravste und schneidigste Rciter-
führer des großen Königs gewesen zu sein; an schneller Erfassung des Augen¬
blickes, an Kühnheit des Entschließenö und des Handelns kann ihm wohl keiner
von allen den Helden des siebenjährigen Krieges den Rang streitig machen.
Gerade diese Eigenschaften, von denen er so viele glänzende und packende Be¬
weise gab, haben so befruchtend auf die Phantasie des Volkes eingewirkt. Hatte
der alte Reitergcneral einstmals im Felde durch seine Tüchtigkeit, im Augen¬
blicke sich in eine vollkommen veränderte und neue Situation zu finden, geglänzt,
so bewies er sie auch im Greisenalter noch auf dem Manöverfelde. Der um-
übertroffene Meisten in der Führung des kleinen Krieges, in welchem er — im
Kampfe „um Heu und Lorbcren," wie Friedrich es einmal nennt — seine Kraft
nud Geschicklichkeit unzählige male erwiesen hat, gewohnt, mit einem Blicke
Schwächen und Vorteile des Terrains und des Gefechtes zu übersehen, setzte er
im Angenblicke der Gefahr als echter Reitersmann das Wagen über das Wägen,
war unermüdlich im Wachen, Erkunden und Spähen, stürzte blitzesschnell, in
stürmischem Anprall auf den Feind und war weder durch Erfolge übermütig
zu machen, noch durch Mißgeschick einzuschüchtern. Mit geringer Mannschaft
hielt er dem Stoße des übermächtigen Gegners Stand und wußte ihn über die
eigne Absicht zu täuschen und hinzuhalten.
Der Zielen immer erster, wen» Preußen avancirt,
Hingegen immer letzter, wenn Preußen retirirt,
so rühmt ihn das Lied, Der Rede nicht unmächtig, ritt auch er, wie der König
selbst, am Vorabende großer Kämpfe im Lager umher, um die Truppen an¬
zureden und zu ermutigen; durch leutselige Unterhaltung verstand er gerade den
gemeinen Mann für die große Sache zu begeistern, wie in den Tagen des
Unglücks das Verlorne Vertrauen auf den Sieg wieder zu erwecken. Aus den
zahlreichen Berichten an den König, niedergeschrieben mit seiner festen, ener¬
gischen Handschrift, tritt uns die feine Beobachtungsgabe, die scharfe Urteilskraft,
das Geschick und die Aufmerksamkeit entgegen, mit welcher er jeder Bewegung
des Feindes folgt. Er beschränkt sich keineswegs auf die bloße äußerliche Be¬
richterstattung, er teilt anch seine Ansicht über den Endzweck und die Bedeutung
der gegnerischen Operationen mit; einem aufmerksamen Beobachter wird an
diesen Schreiben die schlichte, anspruchslose, gedrängte Fassung ebenso wenig ent¬
gehen wie die — in Anbetracht der Zeit und insbesondre des Gegenstandes —
hervorragende Reinheit der Sprache. Zum selbständigen Führer eines größern
gemischten Truppenverbmides war er weniger geeignet; als solcher läßt er etwas
die sonstige rasche Entschlossenheit und das energische Bestreben, zum Schlagen
zu kommen, vermissen. In dieser Beziehung hat, wie uns scheint, selbst Winters
warme Verteidigung sein Verhalten bei Torgau uicht vollständig rechtfertigen
können.
Eine der trübsten Erfahrungen seines Lebens war, wie er mehrfach ge¬
äußert hat, daß ihn 1778 Friedrich wegen seines Alters uicht wieder mit ins
Feld nahm. Da saß er aber doch zu Hause über Karten und Plänen und
verfolgte deu Gang des Krieges mit gespannter Aufmerksamkeit. Aber unge¬
achtet aller Begeisterung für den Krieg jubelte er auf, als endlich „ein glvrieuser
Friede" zu nahen schien.
Bei seinem leicht aufbrausenden Temperament und bei seiner übertriebnen
Empfindlichkeit erregte ihn in stürmischen Jünglingsjahre», ja weit bis ins reife
Mannesalter hinein jede vermeintliche Zurücksetzung und Kränkung aufs äußerste;
wie oft glaubt er sich im Avancement Übergängen und bricht dann in die
bittersten Klagen über die eins ihm lastende königliche Ungnade aus! Des eignen
Wertes sich lvohl bewußt, war ihm aber doch die Anerkennung und unbefangne
Würdigung fremden Verdienstes jeder Zeit ein wahres Herzensbedürfnis. Hatte
er selbständig irgendeinen Erfolg errungen, so pflegte er einen großen Teil des
Verdienstes seinen Offizieren zuzuschreiben; nicht leicht verabsäumte er, eine
bisher unbeachtet gebliebne verdienstliche That eines andern zu der ihr ge¬
bührenden Anerkennung zu verhelfen. Zwischen ihm und seinen Truppen, in
erster Linie natürlich seinem Regimente, bestand nicht bloß ein dienstliches Ver¬
hältnis, sondern es hatte sich namentlich in den jahrelangen Kämpfen ein mehr
oder minder persönliches ausgebildet. Seine Beliebtheit bei den Soldaten ver¬
dankte er ebenso sehr seinen soldatischen wie seinen rein menschlichen Tugenden.
Er fand nicht nur militärischen Gehorsam, sondern allgemeine Verehrung; der
Gemeine setzte auf ihn unbedingtes Vertrauen. Allen voran den Degen in der
Faust hatten sie ihn so oft auf deu Feind einstürmen sehen und waren nicht
minder Zeugen der liebevollen Fürsorge gewesen, womit er sür das Wohl¬
befinden seiner Truppen Sorge trug, für Verwundete und Kranke gute Laza-
rete einrichtete und sich insbesondre der Invaliden und Hinterlassenen der Ge-
fallnen annahm. Eben weil er in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war,
besaß er für solche Bedrängnisse anch bei andern ein großes Verständnis. Offi¬
zieren, welche aus irgendeinem Grunde zum Dienste bei den Husaren nicht recht
geeignet, aber sonst tüchtige Männer waren, wußte er passende Verwendung bei
andern Truppenteilen zu verschaffen; unermüdlich sucht er für seine Offiziere
um Beförderung oder um Zuschuß nach. Der letzte Brief, deu er wenige Tage
vor seinem Tode an den König richtete, enthielt eine Bitte für einen seiner
Offiziere. Der Rittmeister, welchem er seine Kassation zu verdanken hatte, stellte
sich als Hilfeflehender bei ihm ein; er war während des ersten schlesischen
Krieges entlassen worden und befand sich in völlig hilfloser Lage. Zieten unter¬
drückte jede Regung des Triumphes und gewährte die erbetene Unterstützung.
In der Handhabung der Disziplin unnachsichtlich, wenn er im Felde stand, ließ
er in Friedenszeiten die Zügel locker. Friedrich der Große hat wegen dieser
allzu großen Nachsicht mehrfach vollständig gerechtfertigten Tadel über ihn aus¬
sprechen müssen, weder unter den Offizieren noch unter der Mannschaft fand
sich die gewünschte Ordnung; es werden zwar keine größern Vergehen gerügt,
aber an der nötigen Sorgfalt in der Überwachung ließ es der Regimentschef
doch fehlen. Eigentümlich ist ihm in dieser harten, rauhen Zeit ein Zug auf¬
richtiger Herzensgüte und sorglicher Teilnahme. Als er im Winter von 1756
auf 1757 in sächsischen Quartieren lag, suchte er die Not der armen Gebirgs¬
bewohner nach Möglichkeit zu lindern. Er macht den König darauf aufmerksam,
daß er bisher Bedenken getragen habe, die Wege nach dem ihm gewordnen Be¬
setzte zu verhauen, weil dadurch deu armen Erzgebirgeru, bei denen sowieso
schon Mangel an Lebensmitteln herrsche, der letzte Weg, sich Getreide zu ver-
schaffen, benommen werden würde. Ja er wirkt sogar die Erlaubnis aus, daß
er aus den preußischen Magazinen gegen einen billigen Preis den Bewohnern
Getreide ablasse», an ärmere Familien auch umsonst verteilen könne. Als er
nach dem Friedensschlüsse einmal durch Sachsen reifte, wurden ihm hierfür in
Zwickau von den Einwohnern mannichfache Beweise herzlicher Dankbarkeit dar¬
gebracht.
Tiefe und echte Religiosität, welche er sich auch inmitten der freigeistigen
Zeitrichtung bewahrte, war ein Grundzug seines Charakters. „Niemals, sagt
Winter, hat ihn dieses unbedingte Vertrauen auf den Beistand eines allmächtigen
Gottes verlassen; diese Gottesfurcht erklärt am besten seine eigne Mischung von
schlichter Bescheidenheit und kühnem Selbstvertrauen, von ruhiger Besonnenheit
und raschem Handeln." Seine Korrespondenz mit seinem Gutsverwalter, ein
schönes Denkmal seiner vorsorgenden Thätigkeit, zeigt diesen Grundzug des
Zietenschen Wesens im hellsten Lichte. Einmal drückt er dem Verwalter, als
dieser krank war, sein Bedauern aus. „Indessen freut es mich, fährt er fort,
daß du nach deinem Briefe dein Vertrauen auf Gott setzest. Bleib nur fest
dabei, der ist der beste Helfer und wird dir gewiß helfen, wenn es nach seiner
weisen Absicht Zeit sein wird."
Nach Winterfeldts Tode war Zieten unzweifelhaft einer von denen, welche
dem Herzen des großen Königs um nächsten standen. Fast in täglichen Berichten,
dann und wann auch in persönlichen Verhandlungen, tauschten Friedrich und
sein General namentlich in den spätern Jahren des Krieges ihre Meinungen
über die Absichten des Feindes und die zu ergreifenden Maßregeln aus. Ihr
Briefwechsel ist ein Denkmal eines vertraulichen, fast herzlichen Verhältnisses; so
dankt der König einmal für die Gratulation zum Neujahr und wünscht ihm
„alles selbstwählcnde Vergnügen und Wohlergehen." Bekannt, anch glaub¬
würdig überliefert ist die Szene, wie der König, als Zieten an dem Lagerfeuer,
um welches Friedrich und seine Generale gelagert waren, eingeschlummert war,
einem Offizier, welcher hinzutrat, um dem Könige eine Meldung zu machen,
zurief: „Stille, weck' Er mir den Zieten nicht, er ist müde!" Dein Konsens,
welchen der fünfundsechzigjährige General zu seiner zweiten Heirat erbat, fügte
Friedrich hinzu, daß er selber auf die Hochzeit kommen wolle, „um auf solcher
zu tanzen." Zu der Taufe von Zieteus Sohn reiste der König eigens von
Potsdam nach Berlin und auf seine Veranlassung erschien das ganze königliche
Haus; der Täufling erhielt vom König das Diplom als Komet bei seines
Vaters Husarenregiment, Mit freigebiger Hand lohnte der König Zieten seine
erprobte Anhänglichkeit und seinen treuen Dienst; das einemal teilt er ihm eine
jährliche Pension von 1200 Thalern zu „als eine Marke seines besondern
Wohlwollens," ein andermal ernennt er Zietens Sohn zum Elekteu des Halber¬
städter Domkapitels mit der Aussicht auf eine sehr erhebliche Pfründe. Als
Zieten auf seinem Gute bauliche Veränderungen vornehmen will, gewährt
Friedrich nicht nur den erbetenen Urlaub, sondern schenkt ihm auch eine er¬
hebliche Masse von Baumaterialien; zu den Vermessungen seines Besitztumes
schickt er ihm Feldjäger, und als er hört, daß auf Zietens Gute die Viehseuche
ausgebrochen ist, macht er ihm ein Geschenk von 19 000 Thalern,
In friedlicher Stille, aber doch in angestrengter Thätigkeit für seine
Truppen wie für seine im Kriege völlig in den Hintergrund gedrängten Güter
hat Zieten nach dem Hubertusburger Frieden noch dreiundzwanzig Jahre ver¬
lebt, von seinem königlichen Herrn hoch geehrt, beim Volke beliebt, wie wenige
Feldherren vor und nach ihm.
Auch eine starke, aufrichtige Neigung zu gemütvollem Familienleben gehörte
zu seinen Charakterzügen, Er vermißte dies schmerzlich nach dem Tode seiner
ersten Frau und war umso glücklicher, als er es in einer neuen Ehe vollauf
wieder fand. Auch feine zweite Frau, eine Schwägerin der Zietendivgraphin,
Frau von Blumenthal, brachte seinen Bestrebungen volles Verständnis entgegen,
„Wen der Herr lieb hat, dem giebt er so ein Weib, wie du mir bist," äußerte
er einmal zu ihr.
Im Kreise seiner Gattin, seiner Kinder und Verwandten verlebte er jährlich
mehrere Monate auf Wustrau, Hier liebte er es wie in seinem Hause zu Berlin,
einen angenehmen, geselligen Kreis um sich zu versammeln und freigebige Gast¬
freundschaft zu üben. Obwohl er selbst aus Gesundheitsrücksichten außerordentlich
mäßig lebte, entfaltete er doch, wenn er Gäste bei sich hatte, einen anständigen
Luxus. Da zeigte er sich als Wirt in geselliger Unterhaltung und harmloser
Munterkeit von seiner liebenswürdigsten Seite und bewahrte sich bis in sein
höheres Lebensalter eine bewundernswerte Frische und Elastizität des Geistes,
Er verstand es vortrefflich, die jüngern Mitglieder der Gesellschaft zu Spiel und
Tanz zu ermuntern, während er selbst mit ältern Offizieren angeregte und lebendige
Unterhaltung pflegte. In Karlsbad schloß er während einer Kur mit seinem
großen Gegner Laudon aufrichtige Freundschaft. Arm in Arm sah man sie
beide lustwandeln, in eifrige Gespräche über vergangne Tage vertieft.
Mit Freude und Geschick lag er besonders seit dem siebenjährigen Kriege
den landwirtschaftlichen Arbeiten ob, überall sah er selbst nach dem Rechten
und kümmerte sich auch um die Einzelheiten der Gutsverwaltung. Eifrig nahm
er sich der Interessen seiner Wnstrauer Bauern und Hintersassen an, deren
innige Verehrung und herzliches Zutrauen er dafür genoß. Mit der gleichen
Sorgfalt und Umsicht, welche seine militärischen Berichte an Friedrich kenn¬
zeichnet, korrespondirte er in spätern Jahren mit dem Verwalter seines Gutes,
denn auch abwesend von Wustrau verlor er doch nie die Oberleitung des Ganzen
aus dem Auge. Bis ins höchste Alter sah man ihn heiter und guter Dinge
sich auf seinem Besitztume zu schaffen machen. Wie vorzüglich er zu wirt¬
schaften verstand, erhellt daraus, daß sich bei seinem Tode der Wert seines
Gutes bis auf das Sechsfache des ursprünglichen Ertrages gesteigert hatte.
Mit unermeßlichen Jubel war Zieten, als er am 27. März 1763 an der
Spitze seines Husarenregimentes in Berlin einzog, vom Volke empfangen worden;
war er doch einer von den wenigen großen Führern, welche ans dem Ringen
der sieben Jahre glücklich wieder heimkehrten. Er war seitdem im preußischen
Heere nud Volke eine allbeliebte Persönlichkeit, Zahlreiche Porträts in Kupfer¬
stich und Holzschnitt wurden verbreitet; Bilder, wie der König den losen Spöttern
Schweige» auferlegt, welche sich über deu bei Tafel eingeschlafenen Greis lustig
machen wollen, oder Chvdowieciis Stich, welcher Zieten im Lehnstuhl vor Friedrich
dem Großen sitzend darstellt, fanden großen Absatz. schwanke und Anekdoten
von der unglaublichen Schnelligkeit, von der Kühnheit und Verschlagenheit des
alten Reiterführers wußte sich das Volk nicht genug zu erzählen. Ja es scheint,
als wenn die spätere Volkstradition die wahlverwandten Gestalten Zietens und
Blüchers hie und da mit einander verwechselt habe, so in den Erzählungen,
welche von einer grundsätzlichen Abneigung Zietens gegen die Arbeit mit der
Feder zu berichten wissen. In Gedichten und Liedern wurden seine Helden¬
thaten gefeiert und verherrlicht:
Joachim Haus von Zieten,
Husaren general,
Dem Feind die Stirne, bieten
Thät er wohl hundertmal,
heißt es in einem der bekanntesten. Gleim verfaßte eine Kantate „Der König
und Zielen," welche in Wcchselgesüngen und vierstimmigen? Chor den Ruhm des
Königs und seines Generals verkündet.
Diese allgemeine Beliebtheit wird auch seinen Lebensabend sicher verschönert
haben. Bis zu seinem letzten Lebenstage erfreute er sich des vollen Genusses
seiner geistige» Kräfte, wenn auch der Körper allmählich deutliche Spuren zu¬
nehmender Schwäche zeigte, wenn das Alter die schlanke, aufrechte Gestalt ge¬
beugt hatte und die Stimme schwächer und zum Kommando weniger tauglich
wurde; ein lebhaftes Interesse für seine Umgebung bewahrte er sich immer. Der
Gedanke an deu Tod kam ihm selten, und auch dann ohne Furcht. Ruhig
machte er sich auf deu Abschied gefaßt; „ich bin bereit, ich bin fertig, wenn
Gott will," äußerte er zu seinem Seelsorger, Still und friedlich, ohne langes
Leiden und Kämpfen, entschlief er am 27. Januar 1786 z» Berlin.
„Ich habe meinen wachsmumeu Zieten; er hat Kraft und Kühnheit; er ist
zufrieden, wenn er uur mit dem Feinde zum Schlagen kommen kann. Vor allem
aber hat er eine ganz singuläre Eigenschaft:... wenn er das Terrain gesehen,
macht er ausgezeichnete Dispositionen, und zwar mit einer Schnelligkeit, Ge¬
nauigkeit und Nichtigkeit, welche in Erstaunen setzt. Er braucht nur einen Augen¬
blick, um zu sehen und sich zu entscheiden," Mit diesen Worten hat Friedrich
der Große seinem Vorleser de Caet die Eigenart und Bedeutung Zietens charak-
terisirt.
Dies ist in den Hauptzügen das Bild Zietens, wie es uns aus dem ersten
Bande von Winters Darstellung entgegentritt. Da nach dem Wunsche des
Grafen Zieten das Buch sür das große Publikum bestimmt sein und demgemäß
von allem gelehrten Ballast freigehalten werden sollte, machte sich eine Zwei¬
teilung des Werkes notwendig; alle kritischen Erörterungen und die zahlreichen
urkundlichen Beilagen wurden in einem zweiten Bande vereinigt, sie bilden ein
in sich abgeschlossenes Ganze, „eine Darstellung der Untersuchung," und führen
uns bis ins Innerste der historischen Forschung und Kritik ein. Buch für Buch
wird dem Leser das Quellen Material, welches für das gerade zu behandelnde
Ereignis in Betracht kommt, vorgelegt, kritisch untersucht und die gegebene Dar¬
stellung gerechtfertigt. Es galt dabei eine Arbeit von nicht geringem Umfange
zu erledigen. Einerseits war es die Aufgabe des Verfassers, an Stelle der
poetischen Tradition, welche sich um Zielens Persönlichkeit gebildet und deren
Hauptvertreterin Frau von Blumenthal ist, die einfache Wahrheit zu setze»;
anderseits mußte namentlich das ganze Qucllenmaterial für die Kriegsgeschichte
des fridericianischen Zeitalters geprüft werden, um das Eingreifen Zietens in
den einzelnen Momenten richtig würdigen zu können.
Für die interessanteste und wichtigste Epoche von Zietens Leben, die Zeit
Friedrichs des Großen, hat man preußischerseits drei verschiedne „Traditionen"
zu scheiden, die „fridericianische," deren Hauptvertreter Friedrichs eigne Denk¬
würdigkeiten sind, und deren Glaubwürdigkeit die historische Forschung immer ein¬
dringlicher hervorzuheben hat, die „Prinz Heiurichsche Tradition," vor allem
niedergelegt in dem „Gandyschen Journal," und die „anhaltinische Tradition,"
welche es unternahm, den Ruhm der an diesen Kämpfen beteiligten anhalti-
nischen Fürsten und Prinzen in ein möglichst Helles Licht zu stellen. Alle die
der zweiten und dritten Gruppe angehörigen Memoirenwerke nehmen nicht
bloß gegen Friedrich, sondern namentlich auch gegen seineu Liebling Winterfeldt
eine äußerst gehässige Stellung ein. Zieten stand in keinem freundlichen, oft
in einem entschieden feindlichen Verhältnisse zu Winterfeldt; es darf daher nicht
verwundern, daß diese Memoiren alles Unrecht auf Winterfeldts Seite sahen
und sich uicht scheuten, ein ganzes Jntrignenspiel Winterfeldts gegen Zieten zu
erdichten. Nach Winterfeldts Tode, als Zieten der Vertraute Friedrichs wurde,
äußern sie sich mit unverkennbarer Gehässigkeit gegen Zieten. Soweit die
„preußische Tradition." Fernere Quellen waren die militärische Korrespondenz
Friedrichs des Großen, deren Veröffentlichung, wie Winter mitteilt, bevorsteht,
wenigstens soweit sie sich auf den siebenjährigen Krieg bezieht, die Briefe Zietens
an den König und den Prinzen Heinrich. Von gegnerischer Seite kam eigentlich
nur die „österreichische Tradition" in Betracht.
Winter hat uns, wie wir schon eingangs hervorgehoben, zum erstenmale
eine aus exakten, methodisch richtig aufgebauten Forschungen beruhende Lebens¬
geschichte eines Mannes aus der Heldenschaar Friedrichs gegeben, ein Beispiel,
welches hoffentlich bald Nachahmung findet. Die Darstellung ist so anschaulich
und macht durch ihre Wärme und Begeisterung einen so wohlthuenden Eindruck,
daß das Werk sicher auch in weitern Kreisen beifällige Aufnahme finden wird.
Eine knappere Fassung würde vielleicht hie und da der Frische der Darstellung
zu gute gekommen sein. Aber dem Verfasser ist es, was wir besonders hervor¬
heben möchten, im großen und ganzen geglückt, eine Gefahr zu vermeiden, welche
bei einem derartigen Thema zu nahe liegt: daß die Bedeutung des Helden
gegenüber der Schilderung der allgemeinen Zeitlagc zu sehr zurücktritt. Mit
großem Geschick ist das Bild des Helden in den Nahmen der gleichzeitigen Ge¬
schichte eingefügt. Für die Geschichte des siebenjährigen Krieges erhalten wir
daneben die wertvollsten Aufklärungen; die Beziehungen Friedrichs zu einem
seiner bedeutendsten Generale, die Parteien in? preußischen Heere und die von
ihnen bis zum heutigen Tage sich fortpflanzenden Traditionen treten hier zum
erstenmale in eine wirklich historische Beleuchtung.
s ist schon jetzt kein Zweifel, daß auch die Literaturgeschichte
dereinst mit der Gründung des neuen deutschen Reiches einen
eignen Abschnitt beginnen wird. Wie auch das Urteil der künftigen
Geschlechter über die einzelnen Erscheinungen unsrer Zeit lauten
wird, ob die heutigen Tagesgrößen bis auf deu Namen ver¬
schwinden werden, mancher Name dagegen, der gegenwärtig minder häufig genannt
wird, in umso hellerm Glänze strahlen wird: wie auch immer oas Bild unsrer
zeitgenössischen Literatur von dem Standpunkte eines um ein halbes oder ganzes
Jahrhundert spätern wird aussehe» mögen — es wird der Charakterzug darin
nicht fehlen dürfen, daß unser Geschlecht sich der Größe seines Erwerbes auf
Politischen Gebiete lebhaft bewußt war, und daß dieses nationale Hochgefühl
die Quelle so mancher dichterischen Arbeit wurde; das ist nun einmal die
Signatur der Zeit, um diese Empfindung dreht sich unser aller Gedanke. Es
giebt keinen Lyriker vou Bedeutung, der ihr nicht Ausdruck verliehen hätte, und
wenn auch das Drama darniederliegt — Gott weiß, wer mehr Schuld daran
hat, die Theater oder die Dichter —, so ist doch in der Romanliteratur manches
gute Kunstwerk erschienen, und näher oder entfernter wird immer das größte
Erlebnis des Volkes in ihm berührt: seine politische Wiedergeburt. Ein Oskar
von Redwitz schreibt einen sentimentalen Gvuveruantenromcm, in dem der letzte
Krieg breiten Raum einnimmt; ein Geist vom Range Wilhelm Randes, der wie
kaum ein andrer von den Lebenden das Herz der Zeit schlagen hört, ergreift
mit überlegnem Humor die Kinderkrankheiten des neue» Reiches, etwa die,
Konflikte zwischen Reichsidee und Partikulnrismus, in die der „olle Potsdamer"
Wilhelm Schvnow in der nnuektirteu Provinz gerät, „Es danert immer etwas
länger als zehn Jahre, ehe der Nachklang eines weltgeschichtlichen Faktums aus-
zittert," sagt Fräulein Julie Kiebitz in „Villa Schönvw," und sie hat sehr Recht.
Denn dieses neue weltgeschichtliche Faktum hat nus unter anderm mich der
eignen Vergangenheit gegenüber auf einen neuen Standpunkt gestellt, und bis
diese Revision der Urteile in Sachen der Geschichte fertig ist, bedarf es wahrlich
mehr als eines kurzen Jahrzehnts. Das ist ja das Wesen, die Schwäche, aber
auch der ewige Reiz der historischen Wissenschaft, daß hier eine rein faktische
Erfahrung nicht ausreicht, daß aber auch das Urteil über die Menschen und
Bestrebungen der Vergangenheit immer subjektiv von dem Geiste der Epoche
gefärbt ist, in der es gefällt wird. Welche Umwandlung macht jetzt das Urteil
über die französische Revolution des Jahres 1789 im allgemeinen Bewußtsein
Europas durch! So geht es uns aber auch mit unsrer eignen Geschichte. Es
bedarf nicht bloß mehr als eines Jahrzehnts, sondern zuweilen auch mehr als
eines Jahrhunderts, um ein Urteil über historisch bedeutende Erscheinungen mit
einiger Aussicht auf bleibenden Wert zu füllen.
Zwei vor kurzem neu erschienene historische Romane, etwas umfänglicher
Art, haben uns zu dieser Betrachtung angeregt. Es sind die Romane: Am
Ausgang des Reiches von Wilhelm Imsen (2 Bde., Leipzig, Elischer, 1885)
und der ausdrücklich als historischer Roman bezeichnete Fritz Kauuacher voll
Arthur Ho brecht (2 Bde., Berlin, Hertz, 1885). Beide behandeln vaterländische
Stoffe: Imsen führt uns in das letzte Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts,
an den Hof des Kurfürsten Karl Theodor von Pfalzbaiern; Hobrecht geht noch
weiter znriick in das letzte Drittel des siebzehnten Jahrhunderts, in die erste
Regierungszeit des großen Kurfürsten von Brandenburg-Preußen.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die historischen Romane in der letzten
Zeit merklich in der Gunst des Publikums zurückgegangen sind. Zwar werfen
die Felix Dahn, Ernst Eckstein n. s. w. noch immer zu jeder Büchermesse einen
neuen Roman aus der Völkerwanderung oder ans der römischen Kaiserzeit auf
den Markt; aber es sind das nur noch die Nachzügler einer absterbenden Mode.
Und eigentlich sind es gerade diese Archäologen, welche den historischen Roman
in Verruf gebracht haben. Prinzipiell zwar sind auch wir der Meinung, daß
ein wahrhaft schöpferisches Talent im Romane seine eigne Gegenwart zu zeichnen
vorziehen wird; denn dies ist der wahre Beruf dieser Kunstform, und alle die
unsterblichen Werke, die ihr angehören, vom Don Quixote an bis zu den
Wahlverwandtschaften, alle Genies unsrer Zeit, ein Dickens, eine Elliot, ein
Gottfried Keller, ein Iwan Turgenjew, sie treten für diesen Standpunkt ein.
Im wahren Sinne schöpferisch kann der historische Roman nur selten sein.
Die Vergangenheit, welche der Dichter aufsucht, ist kein unmittelbares Bild,
sondern schon ein zurechtgemachtes, ein von vielen, vielen Mitarbeitern ge¬
schaffenes; der Dichter sieht, wenn er nicht gleich dem Historiker Archive
durchstöbert, um die Vergangenheit zu konstruiren, immer durch fremde Augen
und wiederholt nur das, was ihn die Wissenschaft gelehrt hat. Der wahrhaft
schöpferische Geist aber kann sich diesen Zwang nicht auferlegen, er will Original
sein, und darum hält er sich an seine Gegenwart oder gar an ein erdichtetes
Phautasieland, und indem er mit Augen nicht des Alltagsmenschen um sich
schaut, schafft er selbst Geschichte, da er daS Leben der Nation bereichert. Indes
seine künstlerische Berechtigung hat der historische Roman immer, eben unter
der Voraussetzung, daß die Geschichte nicht mit den Augen des nüchternen, nur
Wissenschaft vermittelnden Kulturhistorikers, sondern mit denen des fühlenden
Dichters angesehen werde. Denn wie alles in der Welt, ist auch die Geschichte
Gegenstand dichterischer Anschauung; wie alles, was auf diese einwirkt, die
Färbung eines bewegten Gemütes annimmt, so erhält auch jede Epoche der
Geschichte eine verschiedne Färbung, Stimmung, und es ist nicht gleichgültig,
ob wir ins „heitere" Griechenland oder ins „strenge" Rom, in das „finstere"
Mittelalter oder in die „helle" Renaissance, an den frivolen Hof von Versailles
oder an den patriarchalisch schlichten der Brandenburger geführt werden. In
dieser einzig poetische» Weise haben nur wenig Dichter die Geschichte verwendet;
nur etwa bei Kommt Ferdinand Meyer und Haus Hoffmann wird mit freier
künstlerischer Wahl die Historie als stimmungsvoller und wahlverwandter
Hintergrund für ein novellistisches Motiv gewählt; bei jenen Schriftstellern
über, die sich speziell des kulturhistorischen Romans bemächtigt haben, ist es
beim rein stofflichen Interesse am Kostüm der Vergangenheit geblieben, und
darum haben sie eine wvhlberechtigte Opposition erfahren. Darum hat man
mich mit Recht den Ruf nach vaterländischen Stoffen erhoben, denn wenn diese
sonst keine andre poetische Wirkung gewinnen, so ist es doch wenigstens die,
daß sie uns, weil sie von unsern eignen Voreltern handeln, menschlich tiefer
interessiren als die ägyptischen oder römischen Kostümbilder. Wenn also einmal
historische Romane geschrieben werden sollen, so bleibe man wenigstens im
eignen Lande.
Dies ist nun das gemeinsame und ausgezeichnete Merkmal der beiden histo¬
rischen Romane von Imsen und Hobrecht, so wenig Gemeinsames sie auch im
übrigen haben: sie führen uns in die eigne deutsche Vergangenheit zurück, jeder
in eine, wie es nun einmal der Charakter unsrer Geschichte ist, trübselige Epoche
des national-politischen Lebens. Hobrecht zeigt uns in einer Zeit, wo das ganze
deutsche Leben verwildert und erdrückt war dnrch einen dreißig Jahre lang
dauernden Krieg, die mühselige Arbeit des großen Kurfürsten, seine zerstückelten
Ländereien zu einem einheitlichen Staate zu organisiren, aus Besitztümern, in
denen überall verschiedenes Recht und verschiedne Ordnung herrschte, ein lebens¬
fähiges Ganze zu bilden. Imsen zeigt uus einen deutschen Hof in seiner schmach¬
vollen Abhängigkeit von dem Muster, das Versailles länger als ein ganzes
Jahrhundert für Europa abgab, und offenbart uns dessen ganze Unsittlichkeit bei
allem äußern Glänze, bei allem Geist und Kunstsinn, und deckt die innere Faul¬
heit des gauzen sozialen Baues auf, den das g-molem re«iirro aufgerichtet hatte. Aber
die Tendenz beider Dichter ist es, der Freude an dem endlichen Besitze natio¬
naler Einheit und nationalen Selbstgefühls Ausdruck zu geben; die Stimmung
beider Erzähler ist gehoben und erfüllt von dem Glücke der Gegenwart: die
trübe Vergangenheit dient nur dem einen Gedanken, Relief für die Gegenwart
zu bilden, den dunkeln Hintergrund für das nahe Licht und dessen richtige Wert¬
schätzung abzugeben. Es soll gezeigt werden, dort, in „Fritz Kcmnacher," mit
wie unsäglichen Schwierigkeiten der Gründer Preußens zu kämpfen hatte, hier,
im „Ausgange des Reiches," auf wievielen Umwegen der Deutsche zum natio¬
nalen Selbstbewußtsein gekommen ist. Mag sein, daß man dies „Tendenz"
nennen und in doktrinärer Ästhetik die Nase darüber rümpfen wird, aber wir
erkennen diese Tendenz deswegen als poetisch vollkommen berechtigt an,
weil sie einer allgemeinen und lebendigen Empfindung des Volkes Ausdruck
verleiht.
Zeusen eröffnet seinen Roman mit einer „historischen Landschaft" von
wahrhaft tragischer Größe. Die Grenzfestung Philippsburg ist der Träger
dieses erschütternden Gemäldes. Philippsburg ist im „Bruchrhein" gelegen,
als, wenn sich die Menschen in unbegreiflicher Verblendung den sumpfigsten und
unfrnchtbcirste» Winkel zwischen weithin gesegneten Gefilden zur Ansiedlung aus¬
gesucht hätten. Und so jämmerlich das Aussehen des Städtchens von jeher
war, ist es gleichwohl ewig der Zankapfel der streitenden Mächte gewesen, die
es nacheinander zerstörten und wieder neu befestigten. Besonders die Franzosen
bemühten sich, dieser Grenzfestung bei jedem ihrer zahlreichen Einfälle habhaft
zu werden, bis ihnen Friedrichs des Großen Sieg bei Roßbach für lange Zeit,
bis zu den Revolutionskriegen, die Lust nach dem rechten Rheinufer vertrieb.
Nach dem siebenjährigen Kriege kam Philippsburg in den Besitz des Fürst¬
bischofs von Speier. Aber auch er geriet in Zank seinetwegen, denn der Kaiser
in Wien erklärte es für eine Neichsfestung und besetzte es mit einem eignen
.Kommandanten, der dem Bischof viel Ärger verursachte und ihm den Gedanken,
eingab, die streitbringenden Festungswerke zu schleifen. Und nun wollen wir den
Dichter selbst reden lassen. „So schaute denn der Fürstbischof von seinem
Schlosse zu Bruchsal über den »Lußhard«-Wald im Bruchrhein nach dein etwa
zwei Meilen entfernten Philippsbnrg hinüber und bethätigte seine landesväterliche
Fürsorge für dasselbe uur dann und wann durch dorthin erlassene nützliche
Verfügungen, indem er z. B. strengstens den Viehhandel mit Juden verbot, auch
anordnete, daß jeder dortige Unterthan jährlich zwölf Sperlingsköpfe an die
Nentkcimmcr auszuliefern habe. Das geschah allerdings mit emsiger Pflichttreue,
doch trotzdem verringerte sich die Anzahl der in Bruchsal eingehenden Spatzen¬
köpfe von Jahr zu Jahr. Dieser Ausfall entstammte indes keineswegs einer
langsamen Ausrottung der bischöflich zum Untergange verurteilten Vogelgattung,
uoch einer etwa nnter ihr ausgebrochnen Pest oder Unfruchtbarkeit, sondern
leitete sich lediglich daher ab, daß der lieferuugspflichtigeu Hände und Unter¬
thanen von Jahr zu Jahr immer weniger wurden. Die nicht geköpften Sper¬
linge fanden stets noch ausreichende Nährmittel, um ihren Hunger zu stillen
und sich zu vermehren, aber die Bewohner und Bewohnerinnen Philippsbnrgs
besaßen zu ihrem eignen Leidwesen keine Spatzenmcigeu die sich täglich mit
dem Auspicken einer Hand voll Körner oder einem Kerf- und Würmergericht
begnügen konnten. Da ihre Speisekarte ihnen jedoch in der Festung zumeist
keine andre Wahl freistellte, machten sie es truppweise wie die Schwalben, Staare
und Störche um sie herum, nur daß sie uicht den Herbst allein dazu benutzten,
sondern zu allen Jahreszeiten, auch im Frühling, Sommer und Winter, von
dannen zogen, hierhin und dorthin, wo die Hoffnung langsameren Verhnngerus
ihnen winkte, ostwärts und westwärts, über den Rhein und über das Meer in
die sagenhafte, viel und dunkel beredete »neue Welt« hinüber. Sie wanderten
in die Fremde, das hieß nach dem alten deutsche» Worte »ins Elend,« denn
vor dem dreißigjährigen Kriege galten dem deutschen Volte diese beiden Be¬
zeichnungen als gleichartig; ins Elend ziehen hieß in die Fremde davongehen.
Seitdem hat sich freilich in dieser Anschauung mancherlei geändert, doch die
landesväterliche Fürsorge zu Bruchsal hielt noch an der alten Auslegung fest
und fühlte sich deshalb berufen, im Jahre 1785 ein ernstliches Mandat nach
Philippsburg zu erlassen, in welchem vor der Ruchlosigkeit der Auswanderung
streng verwarnt und angeordnet wird, achtsamst auf die Verführer zu fahnden.
Denn die Ruchlosigkeit war dadurch zweifellos noch um ein Beträchtliches er¬
höht, daß die Leute nicht allein für sich selbst »ins Elend wanderten,« vielmehr
jedes von ihnen obendrein wider göttliches und menschliches Recht ein Stück
nicht ihm, sondern dem speierischen Fürstbischof leibeigen angehöriges Fleisch
und Blut mit sich in die Fremde mitnahm. Wenn aber Herr Damian August
Graf von Limburg-Sthrum dergestalt in seinem Schlosse wartete, so nahm all¬
mählich im Stillen und unbeachtet die Neichsfestuug Philippsburg diese Ange¬
legenheit in ihre eigue Hand. Als ein mächtiger und wahrhafter Beschützer
deutscher Lande hochaufgerichtet stand der hohe Geist und die Prcußenmacht
Friedrichs des Großen da, und seit bald vier Jahrzehnten genoß das Reich
Unter ihrem »Schutze« eines wirklichen, vorher unbekannt gewesenen Friedens.
Das Auge blickte nicht mehr in unablässiger Angst nach Westen über den Rhein,
ob auflodernde Feuerfunken den Anmarsch eines Nachfolgers des großen Tu-
renne, Melach oder Duras' verkündigten; das deutsche Volk lag in einem schweren
dumpfen Schlafe, doch es schlief insofern ruhig, als das Nlbdrückeu seiner
Träume sich zur Zeit nicht mehr in die Gestalt französischer »Protektion«
kleidete. Das machten sich die Festungswerke PhilippsburgS zu Nutzen und
zerfielen. Die vielbestürmten Mauern zerbröckelten, und hohes Gras und Ge¬
traut wuchs in den ausgetrockneten Gräben. ... So lag im Jahre 1790
Philippslnirg als ein naturgemäßes Ergebnis, Produkt oder Facit seiner Ver¬
gangenheit da. Es war zwar insoweit von seinem zweihundertjährigen Branche
abgewichen, als es gegenwärtig dem Auge keine rauchende Brandstätte und dem
Ohr kein Jammergeschrei darbot, aber es hatte getreulich an der alten Ge¬
wohnheit festgehalten, auf dem versumpftesten, trostlosesten Erdeufleckc des
deutschen Reiches den verfallensten Häuserhaufen weltvergessener, armseligster
Bevölkerung zu bilden."
Auf diesem düstern Hintergrunde entfaltet Imsen sein Zeit- und Charakter¬
gemälde vom „Ausgange des Reiches." Er hat den Moment gewählt, wo die
Revolution in Frankreich schon ausgebrochen ist, aber noch bevor der Schrecken
die Oberhemd gewonnen hat. In Schwärmen flüchtet sich der Pariser Adel
über den Rhein und überschwemmt alle deutschen Höfe. Kurfürst Karl Theodor
von Pfalzbaiern empfängt die Emigranten mit königlicher Gastfreundschaft.
Auf seinem mit dem üppigsten Luxus ausgestatteten Lustschlosse Schwetzingen,
das Versailles nicht bloß nachahmt, sondern womöglich zu übertreffen strebt,
giebt er große Feste zu Ehren der Franzosen. Er treibt einen förmlichen Kultus
mit ihnen! Sind sie ihm doch die Vertreter jener Bildung, die ihm, wie fast
allen seinen europäischen Standesgenossen, als das wertvollste Lebensideal er¬
scheint. Das Wesen dieser einseitig ästhetischen Bildung darzustellen, ihre Glanz-
und ihre Schattenseiten, ihren sprühenden Esprit und aristokratischen Hochmut,
die Konsequenzen derselben für das soziale und politische Leben des Volkes,
wofür ihr jedes Verständnis absolut fehlt, ist die künstlerische Tendenz des
Romans. Hinter diese Charakteristik tritt das landläufige RonmnInteresse zurück,
und diese meisterlich gelungene Darstellung macht das Werk Wilhelm Zeusens
zu einem über die gewöhnliche Romanwaare weit hinausragenden.
In scharf umrissenen Gestalten hat Imsen die einzelnen Elemente verkörpert,
welche für den Geist jeuer Epoche des sich auflösende» heiligen römischen Reiches
deutscher Nation bezeichnend sind. In dem Kurfürsten Karl Theodor den kleinen
roi solvit. Er ist ein Mann von ungewöhnlicher geistiger Begabung; dnrch
seinen Esprit entzückt er alle, die persönlich mit ihm Verkehren zu dürfen das
Glück haben: selbst die hochmütigen Emigranten, die auch noch beim Gnaden¬
brote des deutschen Gastfreundes den gallischem Dünkel nicht verwinden können.
Aber alles Wissen, alle ästhetische Bildung dient dem Kurfürsten nnr dazu, sich
dem feinsten, raffinirtesten Lebensgenusse hingeben zu können. So bezaubernd
liebenswürdig und zuweilen wahrhaft königlich gütig er ist, ein so maßloser
Egoist ist er doch. Von den Pflichten der Regierung befreit er sich so rasch
als er nur kann; ihnen gegenüber ist er von einer unglaublichen Trägheit.
Persönlich hat er ein mitleidiges Herz für das Elend der Unterthanen, wenn es
ihm gerade zufällig zu Gesichte kommt, oder wenn ihn eine Vorstellung des¬
selben augenblicklich heftig affizirt. In seiner Genußsucht aber findet er weder
Zeit, noch moralische Kraft genug, selbst die Dinge zu prüfen, und überlaßt die
ganze Regierung einem Ex-Jesuiten. Nur Geld soll stets in seiner Kasse sein!
Von einem deutschen Nationalgefühl ist keine Spur in ihm. Die ganze Welt
ist nur für ihn da, und er hat absolut alle feinere sittliche Empfindung ver¬
loren. Die Charakteristik dieses Kurfürsten ist jedenfalls das Beste in dem
Romane, denn es ist Zeusen gelungen, selbst eine gewisse Naivität in diesem
Egoisten zu veranschaulichen und es begreiflich zu machen, wie solch ein Fürst
zum Verräter am Vaterlande werden und mit dem Feinde den famosen Rhein¬
bund bilden konnte.
Am gewissenlosesten geht der Kurfürst natürlich mit den Frauen um. Jedem
andern Sterblichen nimmt er das Verbrechen der Mädchenverführung bitter übel;
ihm selbst aber ist es gleich dem Zeus erlaubt, jedes Weib zu schänden, denn
nach seiner Meinung ehrt und erhebt er sie durch seine Gnade. So hatte er
es einmal mit einer Hofdame, Mademoiselle Verouique, gemacht, und um sie zu
versorgen, hatte er den diabolischen Gedanken, einen jungen strebsamen Pfarrer
mit dem Mädchen zu verbinden, wobei er offenbar garnicht ahnte, wie furchtbar
er dem unbescholtenen Ehrenmanne damit mitspielte. Denn gar bald gingen dem
in seine schöne junge Frau verliebten Pastor Bibcrmann die Augen ans, als
sie nach kaum zweimonatlicher Ehe von einem kräftigen Mädchen entbunden
wurde; nun erst merkte er, weshalb der Kurfürst ihn mit ganz unverhofften
Gnadenbeweisen überschüttete, und er war zum Unglück seiner jungen Frau uicht
der Manu darnach, den Schimpf zu ertragen. Er lief aus dem Hause, Vcro-
nique wurde wahnsinnig, worauf der Kurfürst sie versorgen ließ, das neugeborne
Mädchen wurde unter dem Namen Verena Schwanfeld nach Philippsburg zu
eiuer armen Frau in die Pflege gegeben. In diesem betrognen Pastor zeichnet
Imsen jene Schicht des deutschen Volkes, welche mit Jubel die französische
Revolution zu begrüßen Ursache hatte, da sie, wie die Millionen jenseits des
Rheins, unter demselben Drucke zu leiden hatte. Dem Pastor gegenüber steht
ein alter braver deutscher Neichsfreihcrr, souveräner Herr auf einem Gebiete
von keiner halben Quadratmeile. Auch er ist unzufrieden mit dem deutschen
Regiment, haßt bitterlich den Franzosenkultus; aber er bleibt national treu
und stellt das Vaterland über jede andre Rücksicht.
Verena Schwanfeld lernen wir als kaum den Kinderschuhen entwachsenes
Mädchen in Gesellschaft des Arnulf Weudemar, eines gleichfalls elternlosen
Burschen, in den Ruinen Philippsburgs kennen, und am Schicksale dieser beiden
Geschöpfe spinnt sich der Roman ab. Wendcmar ist gleichfalls ein Bastard,
und zwar ein Sohn des Fürstbischofs von Speier, eines in verbitterter Ein¬
samkeit dahinlebenden alten Geizhalses, dem die Skepsis des Jahrhunderts jeden
innern Halt genommen hat. Beim Ausbruche der Unruhen geht Wcndemar
nach Paris, und es gelingt ihm, sich vom Straßenkehrer zum höhern Offizier
in der republikanischen Armee emporzuschwingen. Inzwischen kommt Verena
nach manchem Abenteuer an den Schwetzinger Hof des Kurfürsten. Pamela
Genlis, auch ein natürliches Kind, eine Tochter des Herzogs von Orleans, hat
mit der lebensüberdrüssigen Verena, welche sie zufällig trifft, Mitleid; sie nimmt
sie zu sich als Kammerjungfer, bald jedoch, da sich die eidlichen Eigenschaften
des von der Straße aufgelesenen Mädchens unbewußt und rasch entwickeln,
avcmeirt Verena zur Freundin und Vertrauten Pcimelas. Auch dieses wunder¬
lich romantische Schicksal der beiden Mittelfiguren der Erzählung, Verenas und
Wendemars, paßt Wohl in den ganzen Geist jener Epoche, welche die Blütezeit
aller Abenteurer war und thatsächlich reich ist an ähnlichen wunderbar aus der
Tiefe in die Höhe und wieder zurück in die Dunkelheit führenden Lebensläufen.
Als Freund der sinnigen Pamela wird der edle Koadjutor Dalberg eingeführt,
ein liebevoll ausgeführtes historisches Porträt, aber im Zusammenhange der
Handlung ohne rechten Zweck; denn die Handlung wird einzig dnrch die ero¬
tischen Gelüsten des Kurfürsten getrieben. Pamela ist gegen ihren Willen mit
dem langweiligen irischen Revolutionär Lord Fitzgerald ans politischen Rück¬
sichten verlobt worden. Um sie in ihrem Unglück zu trösten, weiß Karl Theodor
die Vermählung beider ans den bloßen kirchlichen Trnuungsalt zu beschränken.
Lord Fitzgcrald ist einzig von der Leidenschaft besessen, Irland zu befreien, und
verkauft die ihm angetraute Pamela dem Kurfürsten für die Geldunterstützung
zu seinem politischen Zwecke. Des letztern Versuch jedoch, Pamela zu gewinnen,
mißglückt trotz aller Künste, sie entflieht, um aus ganz abstrakter Pflichttreue
ihren Gatten im Gefängnis des Londoner Tower zu trösten. Es gelingt ihr,
den Kalten zu erwärmen — da jagt sie sein Geständnis von ihrem Verkaufe
wieder weg. Indes setzt der Kurfürst, trotz aller mahnenden politischen Gefahren,
seine Art zu leben fort. Es gelüstet ihn nach der keuschen Psyche Verena, und
nur durch (übrigens recht romcuitische) Zufälle wird das Ungeheuerliche ver¬
hindert und beim Rendezvous der Kurfürst als Vater der von ihm selbst be¬
drohten Unschuld entlarvt. Darauf flüchtet Verena heim, nach dein wieder
einmal belagerten und bombardirten Philippsburg, wo sie mit dem Jugendfreunde
Wendemar zusammentrifft, den sie überredet, lieber als gemeiner Soldat im
Dienste des Vaterlandes, als in den Reihen der Feinde als General zu kämpfen.
Mit der flüchtigen Andeutung der Freiheitskämpfe und des letzten Krieges gegen
Frankreich vom Jahre 1870 schließt das Werk.
Das bedeutendste an ihm ist, wie gesagt, die vornehme Auffassung der Epoche.
Imsen ergreift nicht im geringsten Partei für die Revolutionäre; aber er führt uns
in die Motive jener furchtbaren Umwälzung ein, indem er die Verderbnis der
regierenden Klassen darstellt. In dem schönen Kapitel, welches das Hoffest in
Schwetzingen mit prächtigen Farben schildert, bringt er eine Heldin der Revolution
auf die Szene und vergißt nicht, das theatralische Pathos in ihr ironisch zu betonen.
So schwebt er mit merkwürdiger künstlerischer Objektivität über den Dingen.
Und doch scheint uns ein wichtiges Moment in seinein historischen Gemälde zu
fehlen. Zeusen schildert Wohl die alte Zeit in ihren Unterdrückern und in den
Unterdrückten, aber jenen Teil des deutschen Volkes, der den Geist der Freiheits¬
kriege und mit ihnen die ganze Zukunft, auch die Gegenwart vorbereitete, der
in der Epoche unsrer Erzählung in Kunst und Wissenschaft eine Revolution
durchführte, die nicht minder welthistorisch bedeutsam wurde, hat der Dichter
kaum mit einem Zuge gestreift. Gewiß nicht absichtslos; aber wir halten diese
Absicht für einen poetischen Mangel in dem sonst so erfreulichen Werke.
Mit der Kunst Jenscns, klar und schön die Handlung zu komponiren und
zu leiten, die Charaktere mit sparsamen Mitteln plastisch zu gestalten, das histo¬
rische Wissen in dichterische Anschauung umzuwandeln — mit dieser Kunst kann
sich der Romvn Arthur Hobrechts nicht vergleichen. Wir sind keineswegs blind
für die vielen höchst achtbaren und schätzenswerten Eigenschaften dieses Autors.
Die Epoche des letzten Drittels des siebzehnten Jahrhunderts und ganz be¬
sonders die Kulturgeschichte der Ostseeprovinzen und noch spezieller die Stadt>
geschichte Königsbergs beherrscht Hobrecht mit dem profundester Wissen. Von
Haus aus, wie es scheint, Jurist, giebt er mit besondern, Behagen seine genaue
Einsicht in die verwickelten Rechtsverhältnisse jener Zeit zum Besten. Ein po¬
litischer Rechtsstreit der tiefgreifendsten Art bildet auch deu Inhalt des Romans,
und man kann sagen, er wäre der Kunst des bedeutendsten Dichters würdig.
Es handelt sich um den Kampf, den der brandenburgische Kurfürst um
die Anerkennung seiner Souveränität in Ostpreußen zu führen hatte. Denn
der Besitz der früheren Ordenslande war ihm zwar uicht bestritten, aber zugleich
hatte auch der König von Polen das Recht der obersten Gerichtsbarkeit, und
die Autorität des Kurfürsten war dadurch aufs empfindlichste beschränkt. Der
Wunsch des Brandenburgers, sich derselben völlig zu entledigen, kann uns
von dein Standpunkte der politischen Geschichte aus nur als von den edelsten
staatsmännischen Motiven eingegeben erscheinen, und wir stehen jedenfalls auf
seiner Seite. Die preußischen Adlichen aber sahen sich durch dieses Streben
des Brandenburgers in ihrer unumschränkten Freiheit und in ihren ererbten
Rechten bedroht. Ihnen war es gerade willkommen, im Polenkönig, der eifer¬
süchtig die wachsende Macht seines Nachbars beobachtete, eine letzte und legale
Instanz gegen die vielen und strengen Anforderungen Friedrich Wilhelms zu
haben. Der dreißigjährige Krieg hatte alles deutsche Land ausgesogen, das Volk
verwildert, alle staatliche Ordnung zerstört, und das Schicksal wollte es, daß
gerade in einer so bösen Zeit ein politisches Genie den notwendigen Gedanken
faßte, in dem zerstückelten Deutschland eine kompakte Macht aus den eignen zer¬
stückelten Landen zu schaffen. In einer Zeit, wo sich das Soldatenhandwerk
am verhaßtesten gemacht hatte, schuf der Brandenburger des erste stehende Heer,
das in einem fort an den Steuersäckel eines verarmten Volkes die größten An¬
forderungen stellte. Immerhin aber war dem Volke, den handeltreibenden
Städtern die teure und strenge Ordnung des Kurfürsten lieber als die Anarchie
der adlichen Herren nach polnischem Muster, und diese bürgerlichen Elemente
waren es, welche vorzüglich zum Erfolge des Brandenburgers beitrugen. Natürlich
ging es nicht ohne furchtbare und wohl auch rücksichtslose Kämpfe ab: es gab
einen Konflikt zwischen einer (im höhern Sinne most auch berechtigten) Macht
und dem Rechte, auf welches sich die echt ostpreußisch hartnäckigen Adlichen steifem.
An dem Obersten Grafen Kalkstein, der glänzendsten Erscheinung jener altpreußi¬
schen souveränen Ritterschaft, wollte der Kurfürst ein Exempel statuiren. Sein
Prozeß wurde mit allen erlaubten und unerlaubten Mittel» des politischen
Machthabers gegen den unbotmäßigen Vasallen geführt. Der energische An¬
geklagte wehrte sich mit allen Mitteln der Rechtsordnung, bis ihn das Schicksal
selbst verwirrte und in eine nicht mehr mit dem Rechte zu vereinigende Position
gegen den Kurfürsten brachte. Die kurfürstlichen Beamten verfuhren auch uicht
glimpflich gegen den Obersten, bis er schließlich als ein Opfer der Staatsrnisvn
hingerichtet wurde. Dies ist der Hauptinhalt des breit angelegten Romans,
zu dem der ganze erste Band (etwa 400 Seiten Grvßoktav) die Expositon
bietet. Der Titelheld Fritz Kanuacher steht damit in ziemlich äußerm Zusammen¬
hange, er ist mehr Zuschauer, wenn er auch häufig, aber unwesentlich in die
Handlung eingreift. Ein junger Leutnant des Kurfürsten, diesem mit aller Be¬
geisterung der Jugend für ihren Helden ergeben, von Herkunft gleichfalls ein
Ostprcuße, dient er dazu, den Mittelpunkt für die beiden großen Gruppen
des Romans abzugeben: die des Brandenburgers und die der Ostpreußen. Mit
Fritz Kauuacher führt uns die Handlung über die kleine Provinz hinaus auf die
ganze europäische Bühne, die durch die Türkenkriege im Südosten und die nieder-
ländischen Kämpfe im Nordwesten bewegt war. Mit Fritz Kannachcr kehrt man von
diesen Ausflügen wieder nach Ostpreußen zurück, wo er endlich in den Besitz des
gesuchten väterlichen Erbgutes kommt. Leider ist dieser Held des Romans zwar
eine brave Seele, aber eine poetische Mittelmäßigkeit, und dies ist der Krebs¬
schaden des Werkes. Hobrecht hat sonst eine Reihe ausgezeichneter Charaktere
geschaffen, vor allem in dem wahrhaft ritterlichen Oberst Kalkstein, in seinem
verräterischen Bruder Christian, in dem Advokaten Crusius und dessen be¬
freundeten Gegner im Staatsprozeß, dem Kronanwalt Doktor Lau, und vielen
andern Gestalten aus dem Bürgertum und der Umgebung des Kurfürsten; auch
der Kurfürst selbst ist sehr ansprechend gezeichnet. Bei alledem leidet aber der
Roman sehr an der breiten, sich oft wiederholenden Darstellung. Wie oft wird
der Grundgedanke desselben, der tragische Konflikt zwischen Staatsraison und
Privatrecht, dialektisch in den Reden der Juristen dargelegt! Und wie es
archäologische oder religionsgeschichtliche (George Taylors) Romane giebt, so
kann man „Fritz Kannacher" als eine große dialogisirte, rechtshistorische Ab-
Handlung bezeichnen. Es ist Hobrecht nicht so wie Imsen gelungen, die Kultur¬
geschichte poetisch zu beherrschen. Am wärmsten berührt der Lvkalpatriotismus
des Autors für seine ostpreußische Heimat. Den schweren Konflikt aber aus¬
zugleichen, die Gegensätze zwischen Macht und Recht in einer höhern Stimmung
zu versöhnen, wie es die poetische Pflicht schließlich bei diesem Stoffe gewesen
wäre, hat Hobrecht nicht vermocht. Seine engern Landsleute werden nichts¬
destoweniger mit Freude dieses bis in Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens ge¬
treue Kulturgemälde Ostpreußens genießen können.
le alte bewährte Taktik, hundertmal widerlegte Behauptungen zum
Hundertersteumale wie unangefochtene und unanfechtbare That-
snchen zu verkünden, hat in einer der letzten Sitzungen des deutschen
Reichstages der Abgeordnete Bamberger mit Beziehung auf das
Verhältnis des Fürsten Bismarck zu den Deutschen in Österreich
zur Anwendung gebracht. Der Reichskanzler trage eine Hauptschuld an unsrer
gegenwärtigen Bedrängnis, weil er sich abfällig über die politische Haltung der
Verfassungspartei ausgesprochen und einen Witz über deren „verehrten Führer,"
deu Abgeordneten Herbst, gemacht habe — so sagte der Oppositionsredner bei
Gelegenheit der Ausweisungen aus Preußen.
Die Geschichte wird dadurch allerdings nicht gefälscht werden, weil der
Historiker nicht nach dem Räsonnement in Kammern und Zeitungen, sondern
nach deu Dokumenten urteilt. Aber für die Deutschöstcrreicher liegt eine Gefahr
in dergleichen falschen Darstellungen. Denn diese Darstellungen werden von den
liberalen Organen mit Begierde aufgegriffen und mit durchschossenen Lettern
wiedergegeben. Bamberger hat es gesagt — wer wagt uoch zu zweifeln? Und es
ist ja nicht nur unsre Schwäche, die Schuld des Ungemachs andern aufzubürden.
Allein es siud unsre schlechtesten Freunde, die der ohnehin so starken Neigung
zur Beschönigung unsrer Schwächen und Fehler noch Nahrung geben; nur
Selbsterkenntnis und ernstes Wollen können uns wieder emporbringen. Deshalb
will ich mich die Mühe nicht verdrießen lassen, noch einmal zu berichten, was
eigentlich noch jedermann in Erinnerung sein könnte.
Herr Bamberger verwechselt Ursache und Wirkung. Weil die liberale
Partei in den verflossenen fünfundzwanzig Jahren einerseits durch künstliche
Wahlordnungen eine Minvritätsherrschaft begründete und gleichzeitig durch Ge¬
setze und Einrichtungen das Slawentum systematisch kräftigte; weil ihre Mata¬
dore, durch den unglücklichen Krieg und Herrn von Beust auf die Miuisterstühle
gehoben, sich — wie Schmerling es vorausgesagt hatte — regierungsunfähig
erwiesen und nach dem kläglichsten Gezänk die Flinten selbst ins Korn warfen;
weil dieselben Männer, und voran der „verehrte Führer," alles aufboten, dem
zweiten Ministerium aus ihrer Partei das Regieren unmöglich zu machen; weil
sie sich uach dem Berliner Kongresse in einer Rechthaberei gefielen, die den
Kaiser und die Armee verletzen mußte, und bei der sie nur beharren konnten,
in der sichern Aussicht, überstimmt zu werden, da sie, an das Ruder ge¬
laugt, sofort hätten sich selbst desavouiren müssen; weil der „verehrte Führer"
die Bildung eines neuen dentschliberalen Kabinets, welches natürlich den stirtus
quo in Bosnien acceptiren wollte, hintertrieb; weil er und seine Gefolgschaft
das erste Ministerium Taaffe, welches uoch zahlreiche befreundete Elemente in
sich schloß, anstatt es zu sich herüberzuziehen, durch leidenschaftliche Anfeindung
förmlich auf die andre Seite drängte — darum erklärte der Reichskanzler
mit Recht, mit einer Partei, die so wenig die Zeit verstehe und zu benutzen
wisse, könne ein Staatsmann nicht rechnen. Und die verkehrte Politik, welche
in erster Linie allerdings bloß Herbst verschuldet hat, hat die Deutschösterrcicher
heruntergebracht, uicht der leider nur zu treffende Witz von den Herbstzeitlosen.
In der Bevölkerung hat sich diese Erkenntnis auch vielfach Bahn ge¬
brochen, und je mehr Ernst von Pierer die Leitung der frühern Verfasfungs-
partei zufällt, je mehr ist darauf zu rechnen, daß diese eine besonnenere, klarere,
zielbewußte Politik verfolgen werde. Aber diese Politik wird den Beifall des
Herrn Vambcrger schwerlich erwerben, der dem Reichskanzler die energische
Wahrung des Deutschtums im deutschen Reiche als schweren Vorwurf anrechnet.
Es ist offenbar, daß Herr Bamberger und seine Freunde sich über die
Vorgänge in Österreich nur aus Zeitungen unterrichten, welche alles nach fort¬
schrittlichen Geschmacke zurichten. Und das haben nicht allein wir zu bedauern
Ursache. Die Politiker im deutscheu Reiche könnten aus unseru Kämpfen und
Leiden viel lernen, sie könnten durch unsern Schaden klug werden. Die deutsche
Regierung will nicht, wie jene Herren es wünschen, das Reich zu einer Bildungs¬
anstalt für zurückgebliebne oder verwahrloste Nationalitäten werden lassen;
Österreich ist das leider geworden, und die dankbaren Schüler prügeln dafür
ihre Lehrer. Deutschland verspürt keine Lust, das jüdische Element durch fort¬
währenden Zufluß aus Nußland und Polen anschwellen zu sehen; Österreich
könnte sich uicht helfen, wenn es auch seine Grenzen hermetisch abschlösse.
Dafür gewinnt aber auch schwerlich in irgendeinem andern Lande der Antisemi¬
tismus eine so rasche Verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung — das
Wort Antisemitismus der Kürze halber gebraucht für die Überzeugung, daß
dem Überwuchern des Judentums Halt geboten werden müsse.
Und um das Judentum handelt es sich eigentlich in der ganzen Frage,
das werden die grimmigsten Redner wohl unter sich uicht leugnen. Herr Nickert
trat sür seine jüdischen Wähler ein, Herr Bcnnberger für seine Landsleute und
Glaubensgenossen, Denn er ist doch wohl derselbe Herr Bamberger, der 1859 in
einer Flugschrift: „Juchhe, nach Italien!" diejenigen verhöhnte, die es für ein
deutsches Interesse hielten, das Übergewicht des Bonapartismus brechen zu
helfen? schwärmte er damals für die Nationalität zu Gunsten Italiens,
wird er sie doch jetzt nicht verleugnen auf Kosten Deutschlands und aus Sen¬
timentalität für die edeln Polen. Aber er kennt leider seine Landsleute in
Galizie» zu wenig. Hat mau doch den Mut gehabt, bei dieser Frage an die
französische Einwanderung uuter dem Großen Kurfürsten zu erinnern! Müssen
wir Österreicher die Preußen daran erinnern, daß Brandenburg, ein armes,
durch die laugen Kriege verwüstetes Land, in den Hugenotten gebildete, gewcrbs-
fleißige, meistens wohlhabende Mitbürger gewann, welche sich schnell ratio-
nalisirten und den Schutz reichlich vergüteten? Sie waren kein handeltreibender
Stamm, der vielleicht die Sprache des Landes, in welchem er lebt, annimmt,
aber sich (Ausnahmen abgerechnet) stets als Angehöriger seines über den ganzen
Erdboden zerstreuten und zur Herrschaft über denselben berufenen Volkes fühlt!
Das ist der Unterschied. Alle Achtung vor den Eigenschaften, welche dem jü¬
dischen Volke eine solche Macht verleihen. Aber man wird es den Deutschen
wohl nicht verargen können, daß sie so wenig von Juden wie von Tschechen,
Polen und Slowenen beherrscht sein, daß sie ihre Art so weit rein erhalten
wollen, als das heutzutage überhaupt möglich ist.
Und noch eins könnten die Herren bei uns lernen, Sie stellen sich an,
als ob vou Maßregeln wie den preußischen Ausweisungen der Haß herrühre,
mit welchem der Deutsche fast vou allen seinen Nachbarn beehrt wird. Als ob
der Haß etwas neues wäre! Hierzulande ist der Deutsche dort gehaßt, wo er
gebildeter, fleißiger, sparsamer ist als der Einheimische, Es ist nicht angenehm,
aber wir haben nur eine Wahl: entweder als eine wehrlose, zum Dienen, Last¬
tragen und — Düngen des Bodens geschaffene Nation verachtet oder als kräf¬
tige gehaßt zu werden. Wir sind einmal weder Italiener noch Franzosen noch
Polen,
Fürst Bismarck ist gewiß uicht unfehlbar. Er hat ja auch einmal geglaubt,
vou Herrn Bamberger guten Rat empfangen zu können. Manchmal beschleicht
einen aber doch die Befürchtung, er habe sich auch geirrt, als er sprach: „Setzen
wir Deutschland in den Sattel, reiten wird es schon können!"
amoens verstand die letzten Worte des Freundes nicht ganz, er
bemühte sich indes, die halb unruhige, halb zornige Besorgnis
zu beschwichtigen, die sich seiner bemächtigt hatte. Er folgte
Barreto in das Hans des Kaufmanns, wo ein kurzer Austausch
von Worten genügte. Arcmda versprach, bis zum Spätnachmittag
alles herbeizuschaffen, was Senhor Manuel für seinen Freund verlangte. Und
um schritten beide schweigsam den allmählich ansteigenden Pfad empor, Ca-
moens erwachte aus seinem Nachsinnen immer nur dann, wenn sein Begleiter
einen Gruß mit Begegnenden wechselte, die vom Schlosse herabkamen. Erst als
sie die untere Gartenterrnsse erreicht hatten und nun nicht die große Freitreppe
des Palastes, sondern eine weit nach rechts gelegne Seitentreppe betraten, rich¬
tete er eine Frage an Barreto, worauf dieser antwortete:
Dom Antonio bewohnt das kleine Schloß, das ehedem dem Oheim König
Johanns gehörte. Der Alte liebt die Stille, und wenn ihn nicht seine Pflicht
zuweilen in den Palast führt, vermeidet er denselben beinahe so sorglich wie ich.
Nach einigen Minuten Steigens gelangten beide zu dem mit mächtigen Ka¬
stanien bewachsenen Bergvorsprunge, auf dem sich, von den Riesenbcinmeu fast
versteckt, das viertürmige kleine Schloß erhob. Die Trabanten, welche den Ein¬
gang und die Vorhalle hüteten, schienen Senhor Manuel zu kennen, sie grüßten
unterwürfig und richteten keine Frage an die Eingetretenen, als dieselben durch
den hochgewölbten Gang zur Linken den Weg nach der Wohnung des greisen
Ordensmarschalls einschlugen. Ein hohes, weites Zimmer, dessen Thüren nach
dem Gange weit geöffnet waren und in dem sich ein einziger Diener mit dem
Abständen von Waffenstücken zu schaffen machte, welche zum Schmucke der
Wand dienten, bildete das Vorgcmach. Der Diener, eine kleine Gestalt mit
braunem, gerunzelten Gesichte, trat auf der Stelle den Ankommenden ent¬
gegen — Camoens sah, daß er gewohnt war, den Zugang zu seinem Herrn
sorglich zu hüten. Manuel Barreto begrüßte ihn wie einen alten Bekannten,
indem er ihn sogleich ansprach: Guten Morgen, Gines! Hat Dom Antonio die
Messe schon gehört und fühlt er sich heute kräftig genug, die zu empfangen,
die ihm gern ihre Verehrung bezeigten? Ich bitte um die Erlaubnis, ihm einen
Freund, Senhor Luis Camoens, zuzuführen, einen tapfern Ritter, der in Indien
gefochten hat und vor kurzem uach Lissabon heimgekehrt ist.
Gines blickte wohlgefällig auf Camoens und vor allem auf das Tuch,
welches die Augenhöhle des Dichters verhüllte. Der Marschall hat heute die
erste Frühmesse gehört, und ich denke, daß er sich freuen wird, Euch, Senhor
Manuel, und Euern Freund bei sich zu sehen.
Er verschwand in das Nebenzimmer, öffnete schon einige Augenblicke später
wieder die Thür und lud die Freunde zum Eintritt bei dem greise» Pacheeo ein.
Barreto ergriff Camoens, der ehrfurchtsvoll zögerte, bei der Hand und trat
mit ihm, während sich beide verneigten, dem hohen Lehnstuhl gegenüber, von
dem sich Dom Antonio, eine gewaltige, trotz seiner neunuudachtzig Jahre wenig
gebeugte Gestalt, erhob, sobald er seiner Besucher ansichtig ward. Aus dein
faltenreichen, aber braunen und kräftigen, von einem Weißen Vollbart umrahmten
Gesichte des alten Helden richteten sich ein paar schwarze Augen ans Camoens.
Antonio Pacheeo trug die dunkle Ordenstracht, die goldne Kette des Christus-
ordens über dem Gewände, an seinem Gürtel hing neben dem Rosenkranze
eine kurze, kostbare Waffe orientalischen Ursprunges.
Ihr seid willkommen! sagte der Alte. Doch Ihr erlaubt, daß ich meinen
Sitz wieder einnehme. Die Last meiner Jahre ist für die Füße allmählich zu
schwer geworden.
Während sich der Marschall auf seinem Sitz wieder zurecht rückte, nahm
Barreto das Wort: Dom Antonio — ich habe den König unsern Herrn ge¬
beten, Senhor Luis Camoens gnädig zu empfangen. Mein Freund hat an
meiner Seite bei El Aaran und Dharwar gefochten, hat Portugal zu Land
und zur See mit Ehre» gedient. Doch uicht um das Lob seiner Tapferkeit
zu vermehren, will ich ihn vor den König stellen, sondern weil er Portugals
Ruhm durch sein Wort heben und mehren wird. Er hat ein großes Helden¬
gedicht, das Werk eines ganzen Lebens, zum Preis der Thaten vollendet, an
denen auch Ihr, Dom Antonio, in Eurer Jugend wie in Euern Mannestagen
reichen Anteil genommen habt. In der unsterblichen Fahrt des Vasco da Gama
zur Küste Indiens faßt er all unsern alten und neuen Ruhm zusammen. So
viel ich von dem Werke kenne, so weit darf ich es rühmen, und Portugal wird
nicht ferner nach einem Virgil seufzen, wenn es Camoens recht erkennt!
Camoens hatte das Haupt gesenkt; ein reines Glückgefühl zu dieser Stunde
und vor diesem Manne ein Lob zu empfangen, das ganz aus Barretvs Herzen
kam, ließ ihn verstummen. Erst als er die Blicke des alten Helden teilnehmend
auf sich ruhen sah, sagte er schlicht:
Ich kam hierher, um Euch zu verehren, erlauchter Herr, und wähnte nicht,
daß von meinem Werke die Rede sein solle. Ich darf nur sagen, daß ich hoffe,
es sei der Thaten und der Helden nicht völlig unwert, deren Gedächtnis es
der Nachwelt überliefern soll. Ihr seid der letzte, Dom Antonio, der das
Große gelebt hat, was ich nur nachträumen durfte, von Euch werde ich ver¬
nehmen können, wo ein Hauch des echten Geistes mein Gedicht belebt.
Der alte Pacheco nickte kaum merklich, aber sein Gesicht erschien in diesem
Augenblicke jünger, frischer. Ich stehe, wie Ihr seht, zu jeder Stunde auf der
Schwelle der Ewigkeit, ich darf kaum hoffen, noch das Hervortreten Euers
Werkes zu erleben. Fügt es der Himmel, daß mir noch einige Monate gegönnt
sind, so will ich mich von Herzen daran erfreuen, daß ein Nachklang großer,
guter Zeiten durch Euch auf die Lebenden und die Künftigen kommen soll. Der
Nachklang käme zu rechter Stunde und thäte uns wahrlich not. Ich habe
mich seit vielen Jahren darein gefunden, daß es bei mir Abend geworden ist,
aber ich hätte gern mein Land und mein Volk im Schimmer des vollen Tages
hinter nur gelassen. Nun muß ich fürchten, daß es Nacht werden wird, eine
Nacht, hinter der kein Tag kommt. Gott kann alles fügen, doch so weit meine
alten Augen sehen, hat er nie ein Volk wieder erhoben, das sich einmal selbst
fallen ließ. Mahnt sie auf, Senhor Luis, mahnt alle, den König an der Spitze,
ihrer wahren Pflichten nicht zu vergessen und Portugals Heil zu bedenken.
Die dunkeln Augen des alten Kriegers blickten zu Boden und waren von
schweren Stirnfalten überschattet, im Klang seiner Stimme kämpfte der verhaltene
Groll mit der gewohnten ruhigen Würde. Barretv sah bedeutsam auf Ccimoeus,
der Dichter mußte des gestrige» Zwiespalts mit dem Freunde beim Herabreiten
von der Höhe von Santa Cruz gedenken. Doch verneigte er sich jetzt nur vor
Pacheco und entgegnete bescheiden: Wollet bedenken, Dom Antonio, daß ich als
Dichter dem König nichts zu sagen vermöchte, was er nicht tausendmal besser
von Euch vernähme!
Ihr versteht mich falsch! rief der Greis nachdrücklich. So lauge
Antonio Pacheco noch lebt und atmet, wird kein Schritt geschehen, der den
König und das Land ins Verderben stürzen müßte. Man wird sich mehr als
einmal besinnen, wo Portugals wahre Stärke liegt, mau wird wissen, daß unsre
schlimmsten Feinde im Escorial sitzen, man wird von dem großen Heereszuge
nach Afrika, in den uns die Spanier hineintreiben möchten, wohl träumen, ihn
aber nicht ausführen. Doch Ihr seht, daß ich mich jeden Tag bereit halten
muß, vor Gottes Thron zu treten. Und ich fürchte, daß nach mir keines
Einzelnen Stimme den König vor seinen schlimmen Ratgebern und seinen eignen
Träumen warnen wird. Die Stimme ganz Portugals vermag es allein, und
seid Ihr unser Dichter, Luis Camoens, so erhebt diese Stimme!
Herr, antwortete Camoens, ich danke es nur der Freundschaft Senhor
Manuels, daß der König mich vor sich lassen will, ich werde es ihm zu danken
haben, wenn ich der Majestät mein armes Werk zueignen darf. Wie könnte
ich hoffen, daß meine Stimme so mächtig an das Ohr unsers Herrn schlüge,
als Ihr fordert?
Erhebt sie aus der Tiefe Eurer Liebe zu unserm Lande und befehle den
Erfolg Gott! sagte der alte Held feierlich. Ihr vermögt vielleicht mehr, als
Ihr hofft, denn in unsers jungen Königs Brust lebt trotz allem ein Gefühl
dafür, was ein wahrer König seinem Volke schuldig sei. Nicht Eure Stimme
soll Dom Sebastian ans Euerm Gedichte vernehmen, sondern die Stimmen
Vasco da Genuas und Albuqueraucs.
Vergeßt die Eure nicht, Dom Antonio! mahnte Barreto ehrfurchtsvoll.
Mein Freund weiß Euch Dank, daß Ihr seine Zuversicht gehoben habt. Laßt
Euch Camoens befohlen sein und kommt uns mit einem Worte zu Hilfe, wenn
der König wider Erwarten zögern sollte, zu nehmen, was unser Dichter ihm bietet.
Der Marschall wandte sein Gesicht Senhor Manuel zu, in seinein Blicke
lag eine feste Verheißung. Aber er blieb stumm und schien zu erwarten, daß
seine Besucher sich verabschieden würden. Seine Blicke irrten zerstreut nach
dem Fenster, seine Hand blätterte schon wieder in dem großen Folianten, den
Reisen Marco Polos, in denen er gelesen hatte. Aber nach einiger Zeit, als
er Barreto noch warten sah, fragte er: Bringt Ihr noch etwas von draußen
in meine Einsamkeit? Giebt es etwas, wobei Ihr meinen Beistand begehrt?
Vielleicht, Dom Antonio! entgegnete der Edelmann. Kennt Ihr einen
Priester, der ein christliches Werk thun — eine junge Heidin taufen kann, ohne
dafür Gefahr zu laufen, weil er in Euerm Schutz ist?
Das Haupt des Greises war im Augenblicke zuvor so tief auf den Tisch,
zu dessen Seite er saß, gesenkt gewesen, daß Camoens gefürchtet hatte, er werde
vor ihren Blicken einschlummern. Jetzt blitzte ein Strahl in seinem Auge auf,
er erhob sich mit allen Zeichen, daß er wach und rüstig sei, und entgegnete
ruhig: Bevor ich Euch darauf antworte, Barreto, müßte ich wissen, warum
die Taufe, von der Ihr sprecht, nicht von jedem christlichen Priester vollzogen
werden kann. Wer kunst Gefahr, wenn er dem Himmel eine Seele zuführt?
Kurz und gedrängt berichtete Senhor Manuel, was ihm und Camoens
gestern auf dem Berge vou Santa Cruz begegnet sei, wie sie die flüchtige Maurin
vorläufig geborgen und sich leider noch auf dem Wege zum Schlosse herauf
überzeugt hätten, daß die Verfolgung des Mädchens schon begonnen habe. Der
Marschall preßte den zahnlosen Mund fester zusammen, Camoens hatte den
Eindruck, daß der Greis Laute des Zornes und Schmerzes während der Er¬
zählung Varretos unterdrücken wolle. Als Barreto geendet hatte, sah Dom
Antonio von den Freunden hinweg und durch das einzige große Fenster des
Gemachs auf die Laubwand hinaus, die sich wie ein mächtiger grüner Schirm
erhob. Er sann offenbar über andres nach, als über die Antwort, die er Manuel
Barreto zu geben hatte.
Ihr bringt mir schwer zum Bewußtsein, daß die Wolken sich tiefer und
tiefer auf unser Land senken, hub er endlich an. Der König weiß natürlich
nicht, was in seinen: Namen geschieht, aber das ändert wenig am Unheil dieser
Tage. Was gedächtet Ihr zu thun, wenn jenes Mädchen, das Ihr Esmah
nennt, die heilige Taufe empfangen hätte?
Ich würde ihr eine Zufluchtsstätte in meinem Hause eröffnen. Sie kann
unter die Obhut meiner alten Base Donna Uraeca treten, die ein warmes Herz für
das Unglück hat, versetzte der Gutsherr von Almoccgema. Doch nur die Christen
könnte ich mit einiger Aussicht auf Erfolg gegen Auslieferungsforderuugen
verteidigen.
Ich werde Euch übermorgen in der Frühe deu Priester senden, dessen Ihr
bedürft, schloß der Marschall die Unterredung. Haltet Euch selbst oder einen
sichern Führer am Aufgang zu dem Hochthal bereit, in dem sich die Arme ver¬
birgt, und verständigt Euch bis dahin mit ihr. Jetzt lebt wohl, Manuel, und
auch Ihr, Luis Camoens. Fügt es der Himmel, daß wir uns nicht wiedersehen,
so danke ich Euch diese Stunde, die mir bürgt, daß auch in dieser Zeit noch
einige portugiesische Herzen so schlagen, wie alle schlagen müßten. Gott nehme
Euch in seinen heiligen Schutz und behüte Eure Wege!
Bnrreto und Camoens schieden mit Ehrfurcht von dem alten Krieger. Sie
nahmen beim ersten Schritt nach der Thür wahr, daß Gines schon in dem
Gemache selbst bereit stand, ihnen dieselbe zu öffnen. Indem sie, von ihm geleitet,
das Vorzimmer betraten, sagte der Diener: Ihr verzeiht, daß ich hereinkam,
während mein Herr noch zu Euch sprach. Aber Meister Pedro, der Arzt, hat
befohlen, daß Dom Antonio niemand länger als eine halbe Stunde bei sich sehen
soll, und ich vermag so wenig für meinen Gebieter zu thun, daß ich von dem
wenigen nichts verabsäumen will.
Du thust recht, Gines! Wenn dn zufällig gehört hast, was zwischen Dom
Antonio und uns gesprochen ward, so weißt dn auch, daß kein Laut davon über
die Mauern dieses Gemaches hinausklingen darf.
Ich höre mir, was mir mein Herr befiehlt und was ihn angeht, versetzte
Gines, und seine Augen schauten fast wehmütig ans den Falten des verwetterten
Gesichtes hervor. Ruft Gott den teuern Mann hinweg, den er uns noch lange
gönnen wolle, so ist mir mein Platz im Kloster der Schweiger zu Atalaia schon
bereit. Euer Diener, Senhor Manuel, und der Eure, Herr — Gott behüte
Eure Wege.
Camoens lächelte leicht, als Gines sie genau in der Weise seines Gebieters
verabschiedete; Barreto war zu düster gestimmt, um darauf zu achten. Beide
Freunde verließen das kleine Schloß, stiegen die Treppe zur untern Terrasse
hinab und betraten alsbald wieder den Weg nach dem Flecken Cintra. Im
Hinabsteigen kehrte der ältere Freund seine schmerzlich bewegten Züge dem
Dichter zu und sagte leise, aber nachdrücklich:
Ihr habt gehört, Luis, was der verehrungswürdigste Mann Portugals
von der Zukunft fürchtet, die diesem Lande droht. Ihr wißt jetzt mindestens,
daß ich mit meiner Sorge nicht allein stehe. Der greise Held ist gewohnt, stumm
zu dulden; so fällt ein Wort von ihm schwerer ins Gewicht, als die endlosen
Klagen von uns andern. Denkt an den Alten, Camoens, wenn Euch dort
drüben — er deutete auf den hinter ihnen liegenden großen Palast — andre
Klänge ans Ohr dringen oder sich gar in Eure Seele schmeicheln wollen.
Ich danke Euch für die Stunde bei Antonio Pcicheeo! entgegnete der
Dichter mit herzlichem Ton. Sie hat mich nur in dem Entschlüsse bestärkt,
Eurer Führung zu vertrauen, so lange Ihr mir diese Führung gönnen wollt.
Da Ihr die Sorge um unsre Schutzbefohlene so rasch von meiner Brust gewälzt
habt, so werde ich leichtern Mutes vor den König treten und erwarten, was
der Himmel und das Geschick meiner schwachen Kraft gönnen wollen.
Hütet Euch wenigstens vor dein König, die christlichen Heiligen und die
heidnischen Götter zugleich anzurufen! schloß Dom Manuel in besserer Laune
als zuvor, während beide Freunde dem gastlichen Hause, das Bartolomeo Okaz
sein Schiff hieß, mit raschen Schritten wieder zueilten.
Der Abend desselben Tages sah in den beiden großen Sälen des Königs-
schlosses von Cintra, die im untern Geschoß lagen und sich nach der breiten
Westterrasse öffneten, eine glänzende Versammlung. Ein frischer Hauch vom
Meere herüber, der die prachtvollen indischen Teppiche, welche als Thürschmuck
dienten, leise bewegte und die Kerzen der goldnen Wandleuchter unruhig
flackern ließ, strömte durch die offnen Thüren herein. Die Lichter waren
sämtlich angezündet, obschon über den Laubkronen der Terrasse der Himmel
noch hell genug erglänzte, und die Sonne wie ein mächtiger Feuerball zwischen
den Netzen purpurner Wolken hing. Die meisten der in den Sälen ver¬
sammelten drängten sich an den Thüren zur Terrasse zusammen, um das
prächtige Schauspiel des Sonnenunterganges zu genießen, blickten aber dabei
häufig »ach der großen, geschlossenen Pforte des zweiten Saales zurück, durch
welche der König eintreten mußte, wenn er, wie heute Abend, im größern Hvf-
kreise erschien. Mitten im lebhaften Austausch ihrer Begrüßungen und Gespräche
behielten Herren und Damen die Stelle wohl im Auge, welche sie beim Nahen
des Königs einzunehmen dachten. So kam es, daß Barreto und Camoens, die
still und mit mehreren andern zugleich in den vorder» Saal eintraten, nur
von wenigen der schon Anniesenden wahrgenommen wurden. Der Haushof-
meister des Palastes, der alle Ankommenden empfing, ward durch ein paar
Worte Seichor Manuels unterrichtet, wer der unbekannte Begleiter des Edel¬
mannes sei, und führte Camoens seitwärts zu einer kleinen Gruppe von Männern,
die, gleich ihm, zum erstenmale vor dem jungen König erscheinen sollten, Barreto
schritt indes tiefer in den Saal, um einige der Hofleute zu begrüßen, von denen
einer und der andre dann auch freundlich zu dem Dichter trat, Schon wenige
Minuten später klirrte» draußen vor dem zweiten Saale die Partisanen der
Palastwände, der Ruf des wachthabenden Hauptmanns verkündete, daß der König
komme. Ein Rauschen ging durch beide Säle — die Thüren nach der Terrasse
hin und die Nischen der geöffnete» Fenster wurden cingeublicklich leer, eine
Doppelreihe von Damen und Herren säumte den Weg, den der König von der
Eintrittsthür bis zu deir Sesseln nehmen mußte, die unter einem sammtnen
Baldachin fiir ihn und diejenigen nnfgestellt waren, welche er in seine unmittelbare
Nähe ziehen würde, Barreto war sofort neben seinen Freund getreten, sodaß
der König beide zugleich wahrnehmen konnte. Wenige Minuten später erschien
Dom Sebastian auf der Schwelle des Hanptsaales — Camoens ward seines
jungen Herrschers zum erstenmale ansichtig.
Die mittelgroße Gestalt des Königs fiel durch ungewöhnliche Kraft des
Auftretens und jeder Bewegung auf. Das Haupt war von dichtgelocktem blonden
Haar bedeckt, aus dem schmalen weißen Gesicht leuchteten blaue Augen hervor,
die dem Gesicht gleichwohl keinen milden Ausdruck verliehen, denn eine
schwärmerische, weltvergessene Glut brannte in ihnen. Der König sah gleichsam
über sich hinaus, sein Blick verweilte auf den Dingen vor ihm immer nur kurz
und flüchtig. In seinem Gefolge erschienen einige Hofherren, sein Beichtvater
in der Ordenstracht der Gesellschaft Jesu und zwei andre Geistliche, welche
eine ganze Gruppe von Priestern begrüßten, die in der Nähe des ersten Fensters
versammelt stand. König Sebastian, welcher höchstens fünfundzwanzig Jahre
zählte, hatte mit Ausnahme seines vierzehnjährige» Pagen, des jüngsten Sohnes
des Herzogs von Bmganza, und seines Kaplaus nur ältere Männer um sich;
Barreto nannte flüsternd die Namen einiger. Ehe er jedoch damit zu Ende
kam, stand der junge Fürst vor der Gruppe, der sich Camoens und Barreto
angeschlossen hatten, lind sagte laut und über den ganzen Saat hinweg ver¬
nehmlich: Willkommen an meinem Hofe, Manuel Barreto! Du nahst dich
selten, aber bringst, wenn du kommst, Gutes! Du hast mir verheißen, mir einen
Dichter zuzuführen, welcher, nachdem er fein Blut für Portugals Ehre und
Herrschaft vergossen, sein ganzes Leben für den ewigen Ruhm unsers Landes
eingesetzt hat?
Barreto legte seine Hand leicht ans die Schulter des Freundes: Hier, er¬
habner Herr, ist Luis Camoens, der es seit Jahren als Belohnung seines Lebens
und seiner Lieder ersehnt hat, Eurer Majestät sein großes Gedicht zu Füßen
legen zu dürfen!
Camoens ließ sich auf ein Knie nieder und sah zu dem König empor, dessen
Auge fester und länger nuf ihn geheftet blieb, als es Dom Sebastians Gewohnheit
war. Der Dichter bot dem Könige in beiden Händen den Band mit der Hand¬
schrift seines Gedichts. Graf Vimioso, der Großkämmerer, der neben dem König
stand, war schon im Begriff, auf den erste» Wink desselben das Buch in Empfang
zu nehmen. Sebastian verhinderte indes die Überreichung, indem er Camoens
aufzustehen befahl, und sagte:
Ich heiße auch dich an meinem Hofe willkommen, Luis Camoens, und
verleihe dir das Recht, jederzeit an demselben zu erscheinen! Dein Gedicht nehme
ich mit Dank entgegen, aber ich will den ersten Laut davon aus deinem eignen
Munde hören, und zwar noch diesen Abend. Ich hoffe, daß dein Weit dein
Rufe entspricht, der ihm vorangeht, und daß deine Muse die des Glaubens ist!
Camoens gab ohne Zögern zur Antwort: Meine Muse ist die Vergangenheit
Portugals, Herr! Eure Majestät weiß, daß in ihr kein Blatt ist, ans dem
nicht Thaten zur Erhöhung des Kreuzes verzeichnet stehen. Mir Hütte es so
wenig geziemt, etwas hinzuzufügen, als hinwegzunehmen, ich wollte und durfte
nur der Herold der Wahrheit fein, die Ruhm genug ist.
Du sprichst, wie es dir als Dichter wohl ziemt! schloß der König die
Unterredung. Wenn ich dein Gedicht kenne, will ich auch voll deiner Teilnahme
an den kriegerischen Zügen in Indien erfahren. Du kommst eben zur rechten
Zeit heim, das Fetter neu anzufachen, das ehedem in jeder portugiesische!? Brust
geglüht hat und wieder glühen soll.
Dom Sebastian schritt, begleitet von denen, die mit ihm in den Saal ein¬
getreten waren, jetzt durch die Reihe der Kavaliere und Damen, und richtete an
eine Anzahl derselben kurze Worte. Seine Unterredung mit Camoens, die laute
Betonung seiner Gunst und des Wunsches, noch heute einen Teil des Gedichtes
zu vernehmen, hatte die Blicke der ganzen Versammlung ans den seither un¬
bekannten neben Senhor Manuel Barreto gelenkt. Der Dichter sah sich von
vielen begrüßt, an deren Thüren er in den letzten Monaten und Wochen ver¬
geblich gepocht hatte, er hörte, wie in den Gesprächen, die den Saal dnrch-
schwirrten, überall sein Name genannt ward. Sein Herz schlug höher und
mit dem Ausdrucke stummen Dankes wandte er sich zu Barreto, welcher ihm
in dem Gedränge der Begrüßenden und Beglückwünschenden treulich zur Seite
blieb. Ein Lächeln gutmütigen Spottes über die plötzliche Teilnahme nu dem
Dichter und seinem noch unbekannten Werke, das aus Barretvs Zügen sichtbar
ward, nahm Camoens in dem Glückgefühl dieser Stunde umsoweniger wahr, als
der ältere Freund ihn trotz dieses Lächelns mit großer Sorgfalt durch die
Gesellschaft hindurch leitete. (Fortsetzung folgt.)
Reform der Universitäten in Frankreich. Am 28. Dezember vorigen
Jahres hat der französische Unterrichtsminister ein Dekret des Präsidenten der
Republik veröffentlicht, durch welches ein seit zwei Jahren viel erwähntes Univcrsitäts-
projekt ins Leben tritt. Die Franzosen haben keine Universitäten im Sinne
Englands, wo sie als alte Korporationen sehr selbständig geschlossen wirken und
dem Staate nur eine geringe Einwirkung verstatten. Auch die viel geringere
Selbständigkeit und Geschlossenheit der deutschen Universitäten ist den Franzosen
fremd. Unter Universität wurde seit Napoleon I. (1808) der „lehrende Staat"
verstanden, wie er durch Elementarschule, Sekundärschule (Gymnasien, Colleges) und
Fakultäten (ensvignowent snnvrigur), also in drei Stufen, die Bildung erstrebt und
durch Examen sicher stellt. Diese Stufen waren, straff geordnet, der Staat griff
überall durch, die Fakultäten waren nicht räumlich zusammen und hatten auch keine
innere Verbindung. Die Bibliotheken waren zahlreich, aber meist dürftig, zum Teil
den Studenten nicht zugänglich. Nun haben seit zwei Jahren Kommissionen unter¬
sucht, ob man nicht auch in Frankreich deutsche Universitätseinrichtungen, die ja
eigentlich einst von dem Pariser Vorbilde herübergenommen worden find, soweit
es sich mit den gegenwärtigen Begriffen des französischen Bürgers verträgt, nach¬
ahmen solle. Der französische Unterrichtsminister hat sehr maßvoll entschieden, daß
die Gesetzgebung durch die Kammern lieber noch nicht mit der Reformangelegen¬
heit zu befassen sei. Vielmehr sei die Reform nur soweit vorläufig ins Leben zu
rufen, als die gesetzlichen Befugnisse der Verwaltung es schon jetzt möglich machten.
Eigentliche Universitäten als Korporationen entstehen also gegenwärtig in Frankreich
noch nicht, schon weil das Wort Universität einen ganz andern Sinn bereits aus¬
drückt; aber auch aus andern Gründen will der Minister diesen Schritt nicht thun,
er scheut sich, dein Staate etwas in seiner Einwirknng auf deu höhern Unterricht
zu entziehen. Manche Wünsche will er aber doch befriedigen. So sollen die
Fakultäten in den Mittelpunkten gewisse Dinge pädagogischer, finanzieller, ver¬
waltungsrechtlicher und disziplinarischer Natur gemeinsam beraten, ungefähr wie
unsre Uinversitätsscnate. Auch soll jede Fakultät einen Rat (oonssil) aus den
stabilen Elementen der Lehrerschaft und eine Versammlung (ussvwblöö) aller Pro¬
fessoren bekommen, die unter einem Dekan ziemlich viele Dinge erledigen foll, die
sonst uur den Organen der Universität in politischem Sinne (dem rsotsur n. s. w.)
übertragen waren. Der Staat behält natürlich überall eine geordnete Mitwirkung;
auch die Korporntionsrechte (Besitz und Erwerb u. s. w.), die den Fakultäten be¬
willigt sind, die Konzentration der Bibliotheken, bessere Verwendung der Fonds,
Abschaffung der fast privaten Vertretung der ältern Professoren, Pensionsordnung
und manches andre werden heilsam auf die Entwicklung der Fakultäten wirken. Es
läßt sich erwarten, daß, wenn das Experiment gelingt, unter irgendeinem Namen
der akademische Unterricht in Frankreich noch mehr Einheitlichkeit gewinnen wird,
ohne die Verbindung mit den Mittelschule» zu verlieren. Von theologischen
Fakultäten ist in der Verfügung nicht die Rede, da diese Gebiete durch kirchliche
Seminare versorgt werden. Wir sind in Deutschland der alten Praxis treu ge¬
blieben, «ach der die Theologie die erste und vornehmste Fakultät war. Die
Seminarien können daneben uoch wichtige praktische Zwecke verfolgen.
i?MHcum es auch im allgemeinen wünschenswert ist, daß über große
gesetzgeberische Reformen, lange bevor sie den zuständigen Körper¬
schaften als Gesetzentwürfe unterbreitet werden, durch Meinungs¬
austausch in öffentlicher Besprechung die Ansichten sich klären und
die vorhandenen Gegensätze womöglich sich mildern, so ist es
doch beklagenswert, wenn die erste Unterlage solch eines Meinungsaustausches
ein Gerücht bildet, welches jedweder Vermutung, Übertreibung und Verdäch¬
tigung »veiten Spielraum bietet. Dies zeigte sich auch wieder beim Brannt-
weinmonopvl, welches der staunenden Welt durch eins der oberflächlichste!,
Gerüchte angekündigt wurde und infolgedessen unsrer Opposition bei ihrem be¬
kannten System: „Ich kenne die Absichten der Regierung nicht, aber ich mi߬
billige sie," zahlreiche Angriffspunkte bot. Man konnte sich dabei umso freier
bewegen, als man ja nicht einmal wußte, ob das Monopol sich bereits des
Brennens bemächtigen oder erst bei der Rektifikation und Destillation des
Spiritus oder gar erst beim Handel einsetzen würde. So suchte man denn schon
von vornherein gegen das Monopol eine Stimmung zu erzeugen, welche dem
EntWurfe selbst die denkbar schlechteste Aufnahme versprach. Dabei handelte es
sich vielleicht weniger um das Monopol selbst, als vielmehr um den schon
damals nicht wegzuleugnenden finanziellen Erfolg desselben, welcher zur Be¬
festigung und Befreiung der finanz- und steuerpolitischeu Verhältnisse des Reiches
wie der Einzelstaaten und damit zu einer Kräftigung der Reichsgewalt mächtig
beitragen mußte, eine Folge, welche unsrer Opposition natürlich verhaßter als
die Ursache, d, h. das Monopol, selbst sein würde. Das Zentrum z. B,, dessen
ganze konfessionelle und politische Richtung auf Monopolisirung hindrängt, weil
es selbst die verkörperte Parteimonopolisirung ist, hätte gar keinen andern denk¬
baren Grund, gegen das Branntweinmonopol zu stimmen, da es seinen Gro߬
grundbesitzern einen bedeutenden Nutzen lind seinen Geistlichen im Kampfe gegen
die Trunksucht eine große moralische Unterstützung gewähren würde.
Als nun der Entwurf selbst kam, rief er im ersten Augenblicke eine gewisse
Verblüffung hervor, da sich, wenigstens vom norddeutschen Standpunkte, der
stereotype Vorwurf der Opposition, die Vorlage entbehre zwingender Gründe, sei
ohne Kenntnisse der einschlägige» Verhältnisse entworfen und nachlässig ausge¬
arbeitet, diesmal nicht vorbringen ließ und unsers Wissens nicht einmal von
Eugen Richter erhoben worden ist, trotz der äußerlichen Ähnlichkeit, welche der
Entwurf bei oberflächlicher Betrachtung mit dem Tabaksmonopolentwnrfe zeigt.
Betrachten wir den Branntweinmvnopolentwurf zunächst vom norddeutschen
Standpunkte, für den lediglich die Brennerei mehliger Stoffe, das heißt bei der
heutigen Lage der Spiritnsindnstrie fast nur die der Kartoffel, in Betracht kommt,
so muß zugestanden werden, daß der Entwurf von musterhafter Klarheit ist,
ans genauer Kenntnis und Schätzung der maßgebenden Verhältnisse und auf
einer im großen und ganzen unanfechtbaren Berechnung der Produktion, der
Konsumtion und des zu erzielenden Neingewinns beruht und den schlagenden
Beweis von der Ergiebigkeit des Monopols liefert. Die Zahlen, welche man
trotzdem dagegen ins Feld zu führen bemüht war, beruhten teils auf Über¬
treibung und einseitiger Schätzung, wie bei der Russischen und parteiverwandten
Zeitungen, ans willkürlichen Annahmen, oder, wie bei der Frankfurter Zeitung,
auf künstlicher Gruppirung, durch welche man zu dem erwünschten Ergebnisse
zu gelangen hoffte. Es ist mit Zahlen überhaupt schwer zu operiren, too es
sich, wenn auch auf Grund amtlicher Statistik, für die Zukunft um eine Wahrschein¬
lichkeitsrechnung handelt, der, wenn sie much die zuverlässigste Schätzung und
die vorsichtigste Berechnung für sich hat, doch die materielle Beweiskraft mangelt.
Der Mvnopolentwurf schlägt einen leicht gangbaren und den höchsten finan¬
ziellen Erfolg versprechenden Weg ein, die Brennerei, welche mit der Landwirt¬
schaft für Norddeutschland, also besonders dem Kartoffclbau und der Viehzucht,
aufs innigste verschmolzen ist, der privaten Thätigkeit zu überlassen. Die Hand
des Staates legt sich erst auf das Rohprodukt, den Spiritus, den es aber auch
nun nicht eher losläßt, als bis er die für den Konsum notwendigen Wandlungen
durchgemacht hat. Der Weg, der gegenwärtig zwischen dem Maischbottig und
dem Schnapsglase liegt, ist keiner der saubersten. Zuerst tritt uns der speku-
lirende Großhandel entgegen, welcher den Spiritusmarkt vollständig beherrscht
und, da er sich auf wenige Firmen konzentrirt, die Preise so weit herunterdrücke,
daß nur uoch die wirkliche Grvßbreunerei, und auch dann nur, wenn sie in un-
unterbrochnem Betriebe bleiben kann, einen bescheidnen Nutzen abwirft. Dieser
Druck lastet natürlich schwer und atemberaubend auf der Landwirtschaft, die
ihre Haupterzeugnisse infolgedessen nur für den geringsten Gewinn, der oft kaum
noch Bodeuzins und Kultnrauslage deckt, zu verwerten vermag. Ans den spekn-
lirenden Großhandel, der sich eben überall in den Weltverkehr drängt und sich
mit beide» Ellenbogen nach allen Seiten hin Protzig Raum schafft, folgt die
Destillation, welche sich in dem Kampfe ums Dasein dadurch schadlos zu halten
sucht, daß sie für die gemeine Schnapöbereitung, d, h, die Verdünnung des
Spiritus, scharfe und berauschende Stoffe dem schlechtgereinigtcn fuselhaltigen
Spiritus zusetzt. Denn Spekulation und gewissenlose Fabrikation sind nirgends
mehr zu Hause als in der Branntweinindustrie, in der selbst die edlern Sorten,
der angeblich aus Wein gebrannte Cognac, der aus Reis gewonnene Areal und
der aus Zuckerrohr hergestellte Rum und die Kirsch- und Zwetschgenwasser Süd-
deutschlands, allen möglichen Verfälschungen ausgesetzt sind. Besonders aber als
gewöhnlichem Trinkbranntwein, der fälschlich auch Kornschnaps genannt wird,
obwohl derselbe mit Getreidespiritns kaum jemals auch nur in die entfernteste
Berührung gekommen ist, begegnen wir heute in den Branntweinspelnnken, in
denen jeder Wirt den Fusel aus dem billigsten und schlechtesten Spiritus selbst
mischt und dadurch bei dem Kleinausschnnk eiuen fünf- bis sechsfacher Gewinn
einheimst. Das giebt ein Fabrikat, welches die Bezeichnung „Gift" oder „Petro¬
leum" mit gutem Rechte führt, weil es ebenso zur physische» wie zur mora¬
lische« Zerstörung der untern Volksschichten beitrüge.
Unter dem Monopol i» der von der preußischen Regierung geplanten und
von den übrigen dentschen Regierungen gebilligten Form übernimmt diese ganze
Prozedur, von der Rvhprodnktion an bis zum Kleinverkauf, der Staat. Es
wird also zuerst die Spekulation und der Großhandel aufhören. Der Staat
lauft sämtlichen im dentschen Reiche erzeugten und den ans dem Auslande etwa
eingeführten Rohspiritns auf, »ach den von ihm selbst auf Grund einschlägiger
Berechnungen festgesetzten Preisen, welche der Entwurf zwischen 30 bis 40 Mark
sür 100 Liter reinen Alkohols festsetzt. Diese Preisfestsetzung wird nach Abzug
der Branntweinsteuer etwas höher als die bisherigen Preise ausfallen, und
zwar mit Recht, da durch das Monopol die Preisbildung von der nieder¬
drückenden Konkurrenz, unter welcher das Brennercigewerbe zur Zeit gegenüber
der Privatspeknlativn seufzt, befreit werden und auch die Konkurrenz des aus¬
ländischen Rohspiritns ans ein unvermeidliches Minimum beschränkt werden wird.
Hierbei wollen wir jedoch gleich bemerken, daß die gleiche Preisfestsetzung für
Nord- und Süddeutschland nicht möglich ist, da der süddeutsche Landwirt, be¬
sonders in Baden, Hessen und Elsaß-Lothringen, viel teurer anbaut als der
norddeutsche, weil in Süddeutschland die durch Boden und Klima bedingte
höhere Kultur eine insgesamt erhöhte Lebensführung, also durchschnittlich auch
höhere Löhne zur Folge hat. Für Süddeutschland müßte also, sollte sich dessen
Landwirtschaft gegen diejenige Norddeutschlands nicht im Nachteile befinden, auch
für den aus mehligen Stoffen, denen sich hier vielfach der Mais zugesellt, ge¬
brannten Spiritus ein höherer Preis als für den norddeutsche» festgesetzt werden.
Aus dem eben angeführten erhellt zugleich, wie falsch es ist, in jener Preis¬
festsetzung eine Unterstützung des Großgrundbesitzes zu erblicken, während sie
in Wahrheit der Landwirtschaft, die sich unter den gegenwärtigen Verhältnissen
in einer trostlosen Lage befindet, wieder Luft schafft. Wäre das unter dem
Monopol nicht der Fall, so würden wir mit aller Entschiedenheit gegen das¬
selbe sein müssen. Gerade dieser Punkt, die hohe wirtschaftliche Bedeutung des
Monopols für die Landwirtschaft, ist es ja, welcher anch dem Tabaksmonopole
in dem tabakbaueuden Süden des deutscheu Reiches in der ländlichen Bevöl¬
kerung die allgemeinste Zustimmung sicherte und welcher auch jetzt dem Brannt¬
weinmonopol wieder zuerst die ländliche Bevölkerung gewinnt, wie denn über¬
haupt die süddeutsche Bevölkerung den praktischen wirtschaftlichen Fragen ein
freieres und offeneres Verständnis entgegenbringt als der Norden, wo viel mehr
das Schlagwort der Partei und das politische Vorurteil herrscht. Und die
Landwirtschaft im Süden wie im Norden des deutschen Reiches bedarf einer
helfenden Hand in hohem Grade. Diesem Umstände ist es anch wohl neben
den finanzpolitischen Vorteilen, welche das Monopol verspricht, in erster Reihe
zuzuschreiben, daß die süddeutschen Regierungen und alle diejenigen Körper¬
schaften in Süddeutschland, in welchen die Landwirtschafts-, Weinbau- und Ge-
werbeinterefsenten die Oberhand haben, für das Monopol Stellung genommen,
und fast nur die Händler, die Destillateure und die Handelskammern, in denen ja
das immer manchesterliche kaufmännische Element den Ausschlag giebt, sich da¬
gegen entschieden haben, wobei indessen die sehr erheblichen Minderheiten für
das Monopol wohl zu beachten sind. Besonders verdient der elsaß-lothringische
Landesausschnß Erwähnung, in welchem eine ganze Anzahl einflußreicher el-
sässischer Mitglieder, entgegen der schroffen Ablehnung des klerikalen Mitgliedes
Winterer und eines Protestlers, sich durchaus für das Branntweinmonopol aus¬
gesprochen haben, vorausgesetzt, daß die reichsländischen Klein- und Eigenbreuuer
geschont werden.
Diese Klein- und Eigenbrcnner sind nämlich eine süddeutsche Spezialität,
welche in einzelnen Gegenden Baierns, im würtembergischen Schwarzwalde, in
Hessen und besonders in Baden und Elsaß-Lothringen zahlreich vertreten ist.
In letzterem Lande giebt man die Zahl der Eigenbrenner nahezu auf 30000
an, noch höher in Baden, wobei allerdings jeder Wurstkessel, in welchem des
Jahres einmal Steinobst oder Treffer gebrannt werden, mitgezählt worden ist.
Die Eigenbrennerci wird fast von allen Bauern betrieben, von denen ein sehr
großer Teil nicht in geschlossenen Gemeinden, sondern zerstreut und vereinzelt
in den Thälern, Bergen nud Hochplateaus des Schwarzwaldes, der Vogesen,
des Hardtgebirges und der bairischen Gebirgszüge wohnt. Man brennt da
den eignen Obstertrag an Kirschen, Zwetschgen und Treffern (ausgepreßten Wein-
trauben, Stengeln ?e.) und ist dabei, besonders soweit es dem eignen Bedarfe
gilt, der die Hauptrolle spielt, wenig wählerisch in der Auswahl des Materials.
Reifes und unreifes, gepflücktes und Fallobst, gutes und angefaultes kommt
einträchtig in den meist sehr primitiven Kessel, der in der übrigen Zeit des
Jahres zum Koche» von Viehfutter, zum Auskochen der Wäsche, zur Bereitung
von Wurst und zu allen möglichen Hausarbeiten benutzt wird, um hier in der
Zeit, welche die Bestellung des Ackers und der Rebgclände frei läßt, aus die ein¬
fachste Weise gebrannt zu werden. Daß dabei die gebrannten „Wässerte" nicht
immer von der besten Art sind, liegt ans der Hand; da sie aber dann wenigstens
nur zur Stärkung des eignen Magens nud zur Kräftigung der Nerven der
brennenden Bauern selber zu dienen haben, so hat das nicht viel zu sagen. Ent¬
gegen diesem Gebrauche, welcher eine sehr rohe und minderwertige Waare er¬
zeugt, wird von andern mit äußerster Sorgfalt verfahren, nur gutes und aus¬
gereiftes Obst verwandt und, was man von jenen leider durchaus nicht sagen
kann, zur Gewinnung der gebrannten Wasser kein Kartoffclspiritns verwandt,
dessen Preis ja kaum den vierten bis fünften Teil von denen der Obstwasser
beträgt. Aus diesen Angaben erhellt, daß wir es hier unter derselben Be¬
zeichnung doch mit sehr verschiedenartigem Alkohol zu thun haben.
Hierin wie in der ganzen äußern Gestaltung dieses durch die Zahl seiner
Vertreter sehr bedeutenden Betriebes liegt für das Branntweinmonopol eine
Schwierigkeit, die man in Norddeutschland garnicht kennt und die man in Süd¬
deutschland, nach den Äußerungen einiger Handelskammern und mehrerer Preß-
vrgane, sogar für unüberwindlich hält. Der Monvpoleutwurf bestimmt, daß
für diese kleinen Brennereien, welche in einem Tage nicht mehr als sechs Hekto¬
liter Bottigraum bemaischcn u. s. w., die Miudestmcngc des zu ziehenden reinen
Alkohols im voraus von der Steuerbehörde bindend festgesetzt und daß für den
ans nichtmehligen Stoffen gezognen Alkohol ein angemessener Preis auf der
Grundlage des jeweiligen Tarifsatzes sür Kartoffelbranntwein bestimmt werde.
Die Vorherbestimmung des reinen Alkoholgehaltes des zu brennenden Materials,
auf welcher die Festsetzung der zu ziehenden Menge beruhen müßte, ist sehr
bedeutenden Schwierigkeiten unterworfen. Jetzt ist die Brennerei nichtmehliger
Stoffe in den meisten Staaten der Branntweinmaterialsteuer unterworfen, das
heißt nicht das gezogene Produkt, sondern das zum Brennen verwandte
Material wird besteuert. Vou vornherein ist nun der Einwand zurückzuweisen,
als sei nur die jetzige Art der Besteuerung für die Brenner ohne Beschwerlich¬
keiten und Scherereien, als liefere sie den vollen Steuerbetrag und als schrumpfe
nicht auch unter ihr die Klein- und Eigenbrennerei desto mehr zusammen, je mehr
die Steuerschraube angezogen und demgemäß die Kontrole verschärft wird.
Wir sind im Gegenteil auf Grund intimer Kenntnis der Klein- und Eigen-
brennerci und des Urteils vieler Sachverständigen überzeugt, daß auch jetzt nur
ein Teil des wirklich gewonnenen Alkohols versteuert wird und, besonders in
den entlegnen Gehöften, die Hinterziehung, die man mit Vorliebe nur gegen
das Monopol ausspielt, schon jetzt in Blüte steht. Denn eine Kontrole, die
auf Grund der Bestimmungen über die „Rechte und Pflichten des Stcuerbeamten
bei Ausübung des Dienstes" in dem Branntweinsteuergesetze vom 8. Juli 1868,
welche im wesentlichen auch für die andern Einzelstaaten zutreffen, so streng
geübt würde, das; sie jede Steuerhinterziehung zu verhüten vermöchte, würde
die Eigenbrennerci in Süddeutschland ganz ebenso dem Untergange preisgeben,
wie demselben die Kleinbrennerei Preußens, besonders der Rheinlande, verfallen
ist. Ja schon jetzt ist die Kleinbrennerei im Süden in einem entschiednen Rück¬
gänge begriffen.
Ebenso wie nun jetzt der gewonnene Alkohol aus nicht mehligen Stoffen nur
annäherungsweise, nach einem zugrunde liegenden Prozentsätze, besteuert wird, so
wird er nach dem Mvuopolentwurfc auch nur annäherungsweise monopolisirt.
Wie die Steuer, so wird hier auch das Monopol nicht das volle Brennerei¬
produkt umfassen, hie und da wird einmal etwas weniger, meist aber mehr ge¬
brannt werden, als das Monopol in die Hand bekommt. Es ist ja sehr schwierig,
das zu gewinnende Alkoholquantum ans Grund vorheriger Schätzung des zu
verwendenden Materials, die natürlich für jedes Jahr und für jede Gemarkung
gesondert erfolgen müßte, auch nur annähernd richtig zu bestimmen. Es kommt
unendlich viel auf die Sorte des betreffenden Obstes, auf die Gunst der Witte¬
rung und das völlige Ausreifen des Obstes, auf die sorgfältige Auswahl und
die Scheidung des reifen und des unreifen Obstes, auf die allgemeine Güte
desselben, die ja in den verschiednen Gemarkungen und selbst innerhalb derselben
Gemarkung verschieden ist, und schließlich auf die Beschaffenheit der Breunapparate
und die Sorgfalt beim Brennen selbst an. Der Irrtum besteht nur darin, daß
man dies alles bloß gegen das Monopol i» die Wagschale wirft, während,
wie schon gesagt, jeder einzelne Umstand dieselbe Geltung auch gegen die Brannt-
wcinmaterialsteucr hat, nur daß dort ein höherer Betrag als hier in Frage
kommt. Die Hauptsache ist die, daß die Mvuopolvvrlage ans dem jetzigen Zu¬
stande das System der verhältnismäßigen Abschätzung »ach einem bestimmten
Prozentsätze übernimmt, also sich dabei nnr an Bestehendes anlehnt. Das ist
eher ein Vorzug als ein Nachteil der Vorlage, die im Grunde von dem Klein¬
brenner garnichts andres verlangt als das jetzige Gesetz, uur andre Folgerungen
aus den gesetzlichen Bestimmungen zieht. Während der Staat jetzt von dem
Branntweinmaterial, das nnter seine genaueste Kontrole gestellt ist, einen be¬
stimmten Steuersatz erhebt, kauft er nach der Monopolvorlage dem Brenner ein
ebenfalls staatlich bestimmtes Quantum Alkohol (und zwar bestimmt nach einem
sehr humanen kleinsten Maße) zu einem gleichfalls staatlich festgesetzten Preise ab.
Diese Preise werden sich allerdings kaum nach der jetzigen Vorlage auf Grund
der übrigen Spirituspreise festsetzen lassen, da es dazu an jeder maßgebenden
Beziehung zwischen dem Alkohol aus mehligen und dem aus nichtmehligen Stoffen
fehlt. Doch wird sich leicht eine Änderung treffe» lasse», welche die Preise des
Edelalkvhvls selbständig regelt. Die Kontrole, das soll nicht geleugnet werden,
wird, da es sich um ein bei weitem wertvolleres Objekt handelt, strenger als
jetzt gehandhnbt werden müsse»; dieser Fall aber würde auch bei einer Abände¬
rung oder bei einer Erhöhung der bestehenden Steuer, und da wahrscheinlich in
noch höher»: Grade, einzutreten haben.
Man gebe sich doch überhaupt über die Lage der Klein- und Eigenbrenucrei
keiner Täuschung hin. Wie auf dem industriellen und gewerblichen Gebiete
der Kleinbetrieb von dem Großbetriebe zurückgedrängt und da, wo es sich um
vervolltommiiete Maschinen handelt, geradezu erdrückt wird, so muß auch, ganz
abgesehen von Steuer und Monopol, die Kleiubreiinerei der Großbrcnnerei, gege»
deren vollendete Apparate und daher vorzüglichere Produktion sie nicht mehr
auszukommen vermag, immer mehr weichen und ist auch schon thatsächlich seit
Jahre» in einem starken Rückgange begriffen, nicht nur, wie die Motive anführen,
in Preußen, sondern auch in Süddeiitschland, Es ist allerdings bequem, dies
einfach dem Staate in die Schuhe zu schieben und auf den „Racker" zu schimpfen,
während thatsächlich der Kleinbetrieb nur mit den Riesenschritte» der Gro߬
industrie und deren vollendeter Technik nicht mehr gleichen Schritt zu halte»
vermag. Auch ohne Monopol wird eine Zeit kommen, und sie ist nicht einmal
»>ehr fern, wo die süddeutsche Brennerei der Kirsch- und Zwetschgenwasser dem
rationellen Betriebe großer Brennereien zufällt, welche, was ja hier viel leichter
möglich ist als bei den minderwertigen Kartoffeln, die Obstvorräte ihrer Gegend
aufkaufen und viel besser ausnutzen werden, als das gegenwärtig der Fall ist.
Für die süddeutschen Bauern wird das entschieden ein Gewinn sei». Das
Monopol wird diesen Prozeß, i» dessen Beginn wir bereits stehen, eher noch
aufhalten als beschleunigen, während ih» el»e Ste»ererhöhung notwendig be¬
schleunigen müßte.
Das Monopol, welches dem Kleinbrenner bekanntlich zu eignem Bedarfe
ein bestimmtes Quantum überläßt, bringt also nicht nur Norddeutschland, sondern
auch Süddeutschland einen hohen materiellen Gewinn, wobei wir den bedeutenden
Mehrbetrag, den dieses nach der Kopfzahl mehr erhält, als das Kvnsnmver-
hältnis ihm zugestehen würde, noch garnicht einmal in Erwägung ziehen, und es
wäre selbst dann, wenn die Eigenbrenner, welche zu der Gesamtbevölkerung doch
nur einen kleinen Prozentsatz stellen, dabei etwas schlechter wegkommen sollten
als bisher, mit Freuden zu begrüßen. Jede Erhöhung der Staatseinnahmen er¬
fordert eben Opfer, von denen doch die am wenigsten ausgeschlossen sein dürfe»,
welche an dem Nutze» einen wesentlichen Anteil haben.
Die Notwendigkeit erhöhter Neichseinnahmen ist allgemein anerkannt; zur
Erzielung derselben muß irgendwo der Hebel angesetzt werden. Überall aber,
wo es geschieht, schreit man, es werde eine „blühende Industrie" vernichtet
werden. Daß es sich dabei nur nicht um eine taube Blüte handelt; denn
bisher sprach man immer nur von der schwer darniederliegender Spiritnsiudustrie.
Wenn irgend ein Objekt, so ist der Branntwein geeignet, eine hohe Abgabe zu
tragen. Denn er bleibt trotzdem noch billig genug, um auch dem armen Manne
in vernünftigem und nützlichem Quantum zugänglich zu sein; wer sich aber ein
unvernünftiges und schädliches Quantum davon zuführen will, der soll dafür,
daß er nicht nur sich, sondern seiner Familie, dem städtischen und staatlichen
Gemeinwesen einen großen und empfindlichen Schaden zufügt, ein Äquivalent
erlegen. Die Vorliebe der Opposition und besonders des Zentrums für den
Schnaps ist daher vollständig unverständlich, ist nichts als ein Patronat der
Branntweinpest, Auch die Befürchtungen wegen der durch das Monopol ge¬
knickten Existenzen sind weit übertrieben. Daß zahlreiche Branntweinschänken,
Spelunken, die in den verkommensten Gassen liegen und die Bruthöhlen aller
Laster und Verbrechen sind, verschwinden werden, wäre als ein Segen für Staat
und Gesellschaft zu preisen; umsomehr, als ihre Gcschäftspraxis meistenteils
auf der gewissenlosesten Ausbeutung des Leichtsinns, der Schwäche und der
Leidenschaften der Armut und des Proletariats beruhte. Die Destillateure,
Spiritnshändler :c. aber werden entschädigt werden. Das schlage man ja nicht
gering an. Denn wer entschädigt denn die Tausende, welche oft durch eine
einzige neue Erfindung oder Verbesserung auf dem Gebiete des Maschinenwesens
in ihrem Gewerbebetriebe aufs empfindlichste, oft unheilbar, geschädigt werden?
Auch die Berechnung des Neingewinns der in Frage kommenden Interessenten
ist so schwierig nicht; denn da liefern ja, wenigstens überall, wo eine Einkvmmen-
uud Gewerbesteuer besteht, die Steuerliste und die eigne Einschätzung eine vor¬
treffliche Handhabe,
Man sucht jetzt in der Presse, und leider nicht nur in der monopolfcind-
lichen, die Ansicht zu verbreiten, die Aussichten des Monopols seien im Rück¬
gänge, die Ablehnung desselben sei gewiß. Es wäre nicht das erstemal, daß
im neuen deutschen Reiche eine große, fundamentale, finanziell errettende und
sittlich reinigende wirtschaftliche Reform durch die Feinde jeder gesunden und
starken Entwicklung des deutschen Reiches und jeder Befestigung normaler, der
Agitation deu Boden entziehender Zustände niedergeschrieen würde. Aber auch
hier würde das deutsche Volk hinter dem Manne stehen, der es zur Einheit
und Macht geführt hat, und der ihm jetzt auch wirtschaftliche Gesundung bringen
möchte, und nicht hinter den Demagogen!
is ich vor kurzem das umfangreiche Werk „Geschichte der deutscheu
Historiographie" von Franz Tavcr von Wegele in den beiden
letzten Büchern durchlas, hatte ich den lebhaften Eindruck, daß
die Geschichtschreibung im allgemeinen noch sehr weit vou einer
systematischen Wissenschaft entfernt sei, daß sowohl über Form
und Methode als über Zweck und Aufgabe die Ansichten weit auseinander
gingen. Es ist allerdings sehr schwer, einen so gewaltigen Stoff wie die
Menschen- und Völkergeschichte, der mehr als irgendein andres Gebiet des
schaffenden Geistes sich in ewigem Fluß bewegt, in den festen Rahmen eines
wissenschaftlichen Systems zu fassen. Die Geschichte gleicht einem mächtigen
Strome, der nach ewigen Naturgesetzen dahinrauscht, dem äußern Scheine nach
immer derselbe und doch in jedem Momente ein andrer. Sie geht vor allem
den lebendigen Kräften nach, durch deren Wirken die Erfolge errungen werden,
und als einheitliche Wissenschaft sucht sie in dem Spiele der Kräfte und der
bunten Fülle der Erfolge einen feste» Zusammenhang, gegeben dnrch die Einheit
der Ursache und des Zweckes.
Der germanische Sprachgcist faßt die Geschichte als die Summe und den
Inbegriff alles dessen, was im Laufe der Zeiten wichtiges geschehen ist. Den
Griechen war die Geschichte das Resultat des Erforschten und Erfahrenen; ihnen
folgten die Römer und die neuern Völker romanischer Zunge; sie bezeichnen
die Geschichte als llistori». Dort erscheint somit die Geschichte als eine Zu¬
sammenstellung von Thatsachen als Objcltenwclt, hier tritt das Subjekt in den
Vordergrund: Geschichte ist nach dieser Bezeichnung der Inhalt dessen, was der
Forscher und Erzähler erfahren hat. Der Begriff einer objektiven und subjektiven
Auffassung, ein dualistisches Prinzip, steht demnach schon an der Eingangspforte
zum Tempel der Klio, wie zwei symbolische Figuren vor einem verschlossenen
Heiligtum, gleich notwendigen Tragsänleu des Gebäudes. Schon in den Namen
ist angedeutet, daß die Geschichte zu einem architektonischen und harmonischen
Werke ein Zusammentragen und Jneiuauderfügcu vou Bausteinen bedürfe. Jenes
Geschäft legt den Hauptwerk auf den Stoff, das Material, die Objekte; dieses
auf die Form, die subjektive Gestaltung. Bei jenem kommt es mehr auf das
siebte» und die kritische Prüfung an, bei diesem mehr ans das Schönheits¬
gefühl und die schöpferische Intuition; dort sind Wissenschaft und Verstand, hier
Kunstsinn und Phantasie die wichtigsten Werkleiter. Es ist daher ganz zutreffend,
wenn man die Geschichtschreibung als eine Vereinigung von Wissenschaft und
Kunst bezeichnet hat, und wenn Wilhelm von Humboldt in der trefflichen Ab¬
handlung: „Über die Aufgabe der Geschichtschreibung" das Verfahren des
Historikers in Vergleich stellt mit dein des wahren Künstlers. Sind denn nicht
in Herodot, dem Vater der Geschichtschreibung, beide Richtungen schon gegeben
oder durch den Volksinstinkt angedeutet? Was er auf weiten Reisen erforscht
und aufgekündet hatte, soll er jn nach einer alten Sage teilweise ans einer
Festversammlung als ein Produkt seiner Kunstleistung einem zahlreichen Hörer-
kreise vorgetragen haben. „Wie die Philosophie, sagt Humboldt ferner, nach
dem ersten Grunde der Dinge, die Kunst nach dem Ideale der Schönheit, so
strebt die Geschichte nach dein Bilde des Menschenschicksals in treuer Wahrheit,
lebendiger Fülle und reiner Klarheit, von einem dergestalt auf den Gegenstand
gerichteten Gemüte empfunden, daß sich die Ansichten, Gefühle und Ansprüche
der Persönlichkeit darin verlieren und auflösen. Diese Stimmung hervorzu¬
bringen und zu nähren, ist der letzte Zweck des Geschichtschreibers, den er aber
nur dann erreicht, wenn er seinen nächsten, die einfache Darstellung des Ge¬
schehenen, mit gewissenhafter Treue verfolgt."
Der Ausspruch Winckelmanns: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen
der griechischen Meisterstücke ist eine edle Einfalt und eine stille Größe sowohl
in der Stellung als im Ausdrucke" ist nicht nur für die plastische Kunst zutreffend,
er gilt für alle geistigen Produktionen der Hellenen. Denn alle tragen das
Gepräge künstlerischer Anschauungen und innerer Vertiefung an sich. Die Ge¬
bilde des denkenden Geistes erhalten durch die darstellende Hand eine so edle
Gestalt, daß über alle der Hauch vollendeter Kunst ausgegossen ist, daß die
Gebiete der Gedanken und der Phantasie oft noch ungeschieden ineinander
greifen. Sind nicht in den philosophischen Werken Platos die Elemente und
Formen der Poesie enthalten?
Ähnlich verhält es sich mit der griechischen Geschichtschreibung. Herodot
entrollt seinen hellenischen Zeitgenossen eilte Welt voll wunderbarer Begeben¬
heiten, über die sie Erstaunen und Wohlgefallen empfinden, wie die Kinder bei
einem Märchen. Hier sind Mythe und Sage mit geschichtlicher Erzählung ver¬
bunden und das Ganze als ein Werk der Musen in die göttliche Weltordnung
eingefügt. Bei Herodot ist die Weltgeschichte das „Weltgericht," dessen Sprüche
auf sittlich-religiöser Wahrheit beruhen. Nicht mit Unrecht hat man ihn einen
„theologischen Historiker" genannt. Die von ihm erzählten Begebenheiten sind
das Gefäß göttlicher Offenbarungen. Alle Erscheinungen in der Menschenwelt
haben bei ihm ihre Urquelle in den dunkeln Schicksalsmächten.
Das Herodotische Geschichtswerk in seiner Einfachheit und Naivität gleicht
einem Buche für die heranreifende Jugend, der es zugleich Belehrung und
Unterhaltung bietet. Einen schürfen Gegensatz dazu bildet die Geschichte des
peloponnesischen Krieges von Thukydides mit seiner gedrungenen, sinnschweren
Sprache, seiner Gedankenfülle und seinem mühsam ringenden Stile, Thukydides
schildert ein Zeitalter und ein Menschengeschlecht, wo zwei große hellenische
Staaten um die Vorherrschaft kämpfen, mit menschlichen Mitteln und mensch¬
lichen Leidenschaften, Das gewaltige Drama, das sich vor den Augen des
Lesers entrollt, vollzieht sich nach einem natürlichen Pragmatismus und Kau¬
salitätsgesetze ohne die Mitwirkung höherer Mächte, Der vieljährige Vnrger-
nnd Nationalkrieg ist ein geschichtliches Gemälde voll tragischen Pathos, in
welchem alles anmutige Bei- und Nebenwerk verschwindet, in welchem jedem
Volke und Staate seine Rolle knapp und straff vorgezeichnet ist. Das historische
Motiv liegt nach ihm in der moralischen Beschaffenheit der Menschennatur; die
Begebenheiten und Katastrophen haben ihren Urgrund in der Tiefe der Menschen-
brust, in dem Labyrinthe der Affekte und Leidenschaften, in den politischen
Zwecken der Staatslenker und Parteien. Wie sehr auch Form und Sprache
noch die ungeübte Hand eines Meisters verraten, dem es schwer fällt, die ge¬
nialen Gedanken und innern Anschauungen stilistisch zu gestalten, so ist dennoch
das Thnkydideischc Geschichtswerk ein Kunstwerk ersten Ranges. Die tief¬
durchdachten, staatsmännischen Reden, die Beschreibungen der Situationen, die
Charakteristik der Handelnden sind das Gefüge einer künstlerischen Schöpfung,
die durch ihr ernstes Pathos wie eine erschütternde Tragödie wirkt. Unter
den Eindrücken der gewaltigen Schicksalsschläge, von denen die hellenische Welt
und vor allem seine Vaterstadt Athen betroffen ward, wird in dem Autor wie
in dem Leser eine Resignation erzeugt, die in der Seele eine moralische Rei¬
nigung, die tragische „Katharsis" hervorruft. Thukydides galt zu allen Zeiten
als das Vorbild eines echten Geschichtschreibers, weil er die Geschichte seiner
Zeit mit Wahrhcitssinn und objektiver Unparteilichkeit dargestellt, dnrch die
Darstellung Wohlgefallen und ästhetisches Gefühl erweckt und zugleich unbewußt
einen didaktischen Zweck verfolgt hat. Der Ausspruch Lessings, daß nur derjenige
den Namen eines wahren Historikers verdiene, der die Geschichte seiner Zeit
beschreibe, ging ohne Zweifel aus der Bewunderung des Thukydides hervor.
Wie bei allen großen Gcistesprodnktcn, den alttestamentlichen Schriften,
den Dichtungen eines Homer und Shakespeare, weiß man auch von dem Ver¬
fasser des Thukydideischen Geschichtswerkes so gut wie nichts von seinem Leben
und seiner Persönlichkeit. Solche geniale Schöpfungen wirken wie Natur-
erzeugnisse, die man bewundert und genießt, deren Schöpfer und deren Werden
sich aber unsrer Erkenntnis entzieht.
Wenn sich bei Thukydides wie bei Äschylvs der künstlerische Genius mehr
in dem tiefernsten, tragischen Inhalt als in der Form und Darstellung kund-
giebt, so liegt bei seinem Fortsetzer Xenophon der Hauptwert in der leichten,
lieblichen Sprache und in der Anmut der Erzählung. Wie Euripides der be¬
wunderte Lieblingsdichter seiner Zeit war, so galt Xenophon, der Schüler des
Sokrates, den nachgebornen als der echte künstlerische Historiker als, die „attische
Biene," aus dessen Munde die Musen Worte süß wie Honig ausströmen lassen.
Auf die „Anabasis" bezogen ist dieses Lob durchaus zutreffend: nie ist eine
denkwürdige geschichtliche Begebenheit, bei welcher Darsteller nud Mithandelnder
in einer Person vereinigt waren, mit mehr Leben und Anmut beschrieben worden
als der Rückzug der „Zehntausend." Dagegen verdient die „Kyropädic," die,
Wahrheit und Dichtung enthaltend, auf dem schwankenden Boden eines Tendenz¬
romanes sich bewegt, kaum den Namen einer Geschichte, und die „Hellenika"
tragen das Gepräge subjektiver Parteilichkeit an sich. Die Sympathien, welche
Tenophon in der Kyrvpädie für die monarchische Staatsform Persiens, in den
„Hellenischen Geschichten" für das oligarchische Staatswesen Spartas kundgiebt,
haben ihm in alter und neuer Zeit den Vorwurf eines entarteten Sohnes seiner
attischen Heimat und eines ungerechten Gegners der athenischen Demokratie zu¬
gezogen. Was man aber von jeher an der Tenophvntischen Geschichtschreibung
bewunderte, war außer der Anmut und Lieblichkeit der Sprache und des Stils,
außer der graziösen Natürlichkeit, Einfalt und künstlerischen Vollendung der
Form und Einkleidung insbesondre die Geschicklichkeit in Charakterschilderungen,
das Zusammenfassen zerstreuter Beobachtungen zu einem Gesamtbilde. Von
dieser Seite betrachtet, ist die Xenvphvntische Geschichtschreibung mehr ein Werk
der Kunst als der wissenschaftlichen Forschung. Ist Thukhdides ausgezeichnet
durch sein Hinstreben zum Erhabne», so ist das innerste Wesen des Zceno-
phontifchen Geistes eine durchgängige Harmonie, jenes richtige Maß, das sich
sowohl in der äußern Lebensweise als in der Anwendung der Geistes- und
Willenskraft kundgiebt und leibliche und geistige Gesundheit bewirkt. Aber diese
Eigenschaften führen nicht zu der Höhe, wo der Genius weilt. Wie anmutig
und graziös auch immer dem flüchtigen Beschauer ein solches Kunstwerk er¬
scheinen mag, dem tiefer denkenden wird eine gewisse Nüchternheit nicht ent¬
gehen. Über der Persönlichkeit des Einzelnen erhebt es sich nicht zu der idealen
Auffassung.
In allen spekulativen und künstlerischen Geistesthätigkeiten waren die Römer
die Schüler der Griechen; nur in den Dingen, die sich auf Staat und öffent¬
liches Leben beziehen, suchten sie ihre eignen Wege. Zu diesen mehr praktischen
als idealen Schöpfungen darf auch die Geschichtschreibung gerechnet werden,
indem sie die Thäte» und Schicksale der rasch hinfließenden Gegenwart dem
Gedächtnis der kommenden Geschlechter zu erhalten sucht. So entstand die
niedrigste Gattung der Historiographie, die der Annalen. Und mit dieser Gattung
beginnt auch bekanntlich die römische Geschichtschreibung. Sobald aber die ge¬
schichtlichen Aufzeichnungen an das Gebiet der Kunst streiften, mußten die
Römer zu griechischen Händen oder Vorbildern greifen. Die Seipionen er¬
kannten dies frühzeitig, und auf ihre Anregung und uuter ihrem Einflüsse unter¬
nahm es der in Rom als Geisel lebende peloponnesische Heitere Polhbius, die
Geschichte seiner Zeit mit einleitenden Rückblicken auf die jüngste Vergangenheit
aufzuzeichnen. Diese Aufzcichimngen bilden die „pragmatische Weltgeschichte"
der bedeutsamen Periode der punischen und der hellenisch-makedonischer Kriege,
ein Werk, wie das ganze Altertum kein zweites auszuweisen hat. Leider ist
dasselbe nur fragmentarisch auf die Nachwelt gekommen. Wie bei allen Exu¬
lanten, die von einem große» Schauplatze aus und unter den mächtigen Ein¬
drücken einer emporstrebende,, fremden Nation die öffentlichen Zustände der da-
hinflutenden Heimat beobachten, geht dnrch die Geschichtsbücher des Poly-
bius ein Zug wehmütiger Resignation. Mit fatalistischer Weltanschauung er¬
kennt er in Rom die überwältigende Macht, welche alle übrigen Staate« in
ihren Schoß aufzunehmen berufen ist. Jedes Ankämpfen gegen dieses Faktum
fuhrt mir zu Unheil und Verderben. Mit prophetischem Instinkt blickt er in
die Zukunft, da alle bekannten Volker und Erdteile nur Glieder des Weltreiches
bilden würden, das die starken und klugen Sohne des Mars und des Romulus
aufzurichten sich anschickten. Willige Unterwerfung uuter dieses unvermeidliche
Schicksal, unter diesen göttlichen Ratschluß gilt ihm als die höchste Staats-
weisheit. Jeder Widerstand wird schließlich niedergeschlagen und unbarmherzig
zermalmt.
Bei solcher Grundanschauung muß das künstlerische Gepräge zurücktreten
hinter der Erforschung und Erkenntnis der staatsbewegcnden, weltbeherrschenden
Kräfte. Jedes künstlerische Schaffen erzeugt ein Gefühl der Befriedigung und
des Wohlgefallens, auch wo es wie bei Thukhdides mit tragischen Pathos
einherschreitet. Wie sollte aber eine Weltbetrachtung, die nur Ruine» und eine
allgewaltige Schicksalsmacht in der Ferne blicken läßt, Wohlgefallen erzengen?
Das römische Reich durch die ihm innewohnende Kraft und Verstandesklugheit
in seinem ungehemmten Siegeslauf darzustellen und den Zweck und die Ber-
nüuftigkeit seiner Herrschaft nachzuweisen, ist die Aufgabe und das Ziel der
Geschichtschreibung des Polhbius. Für menschliche Größe, für charaktervolle
Persönlichkeiten, für ideale Kräfte und Impulse fehlt ihm der sittliche Maßstab.
Doch ist Polhbius kein Pessimist nach dem Grundsätze: Alles, was besteht, ist
wert, daß es zu Grunde geht. Er sieht ans den Ruinen neues Leben erblühen;
auf dem Boden seines Pandorngefäßes leuchtet noch das Licht der Hoffnung.
Die Weltherrschaft Roms erscheint ihm als eine Naturnotwendigkeit; die Mittel
und Ursachen, die dazu führen, die Aktionen und Reaktionen, die bei dem Prozesse
sich vollziehen, bilden den Inhalt seiner pragmatischen Geschichte, über welcher
die Tyche waltet. Mit dieser Resignation und Ergebung in die dunkle Schick¬
salsmacht, in das providentielle Verhängnis mag er sich getröstet haben, wenn
sein Herz blutete über den Untergang des achciischen Bundesstaates, des letzten
grünen Zweiges an dem einst so stolzen Lebensbaume des edeln Hellas.
Bei Polhbius kommen alle Hilfsmittel in Anwendung, welche die neuere
Historiographie als die notwendigen Requisite der Geschichtswissenschaft fordert:
Erforschung und Feststellung der Thatsachen mit Hilfe der Länderkunde und
der kritische» Prüfung; eine synchronistische Zusammenfassung aller Begeben¬
heiten an den verschiednen Orten mit stetem Hinblick auf die Hähern Zwecke
der allwaltenden Schicksalsmacht, Beschreibungen und politische Reflexionen.
Deal bei Polybius ist die Geschichte die Vorschule zur Staatsvernunft und
Staatsweisheit. Von kunstvoller Harmonie in der Anordnung von Plastik und
Architektonik ist kaum eine Spur vorhanden. Der kolossale Aufbau seines Werkes
erinnert an die Riesenwerke der alexandrinischen Kunst. Die künstlerische Ge¬
staltungskraft hat die Grenzen der natürlichen Schönheit durchbrochen lind ist
in nebelhafte Fernen ausgeschweift. Nur in der subjektiven Auffassung des
historischen Zweckes ist ein künstlerischer Zug enthalten. Die kritische, oft scharfe
Polemik gegen frühere Historiker kaun als ein Kennzeichen aufgefaßt werden,
daß die Selbstapvlogie auf dem Gefühle der Unsicherheit beruht, daß in Stunden
der Überlegung und des Nachdenkens ihn der Zweifel beschlichen haben mochte,
ob seine Auffassung und Anschauung auch aus allgemeine Zustimmung
rechnen dürfe.
Mit der Zeit lernten die Römer auch in der Geschichtschreibung ihre eigne
Sprache gebrauchen. Aber die Griechen blieben Vorbilder und Muster, wem,
auch in weniger ausgeprägter Form als in der Poesie und in andern geistigen
Gebieten. So hat Sallustius den Thukydides vor Augen gehabt, so strebt Livius
in seiner römischen Geschichte den universalhistorischen Charakter des Polybius
an. Nur Tacitus bewahrt einen originalen Standpunkt; doch läßt sich auch
sein Geschichtswerk mit dem des Polybius insofern in einen gewissen Zusammen¬
hang setzen, als beide mit stoischer Resignation in dem Gange der Geschichte
eine Naturnotwendigkeit erkennen, die bei jenem zur Weltherrschaft, bei diesem
zum Weltuntergange führen muß. Gemeinsam ist allen dreien eine subjektive
Färbung der Darstellung und damit ein künstlerisches Schaffen nach innerer
Intuition und Gemütsregnng. Sallustius schildert in seinem „Catilina" und
„Jugurtha" in knappen, gedrungnem Stile und archaisirender Sprache die soziale»
Zustände Roms in der ganzen sittlichen Verderbnis, welche das letzte Jahr¬
hundert der Republik nach dem Untergänge der Gracchen durchzogen hat. Mit
dem Blicke eines Staatsmannes, mit der subjektiven Parteinahme für Cäsar
und die Demokratie, und mit dem scharfen Urteile eines Menschenkenners und
Seelenspähers entrollt er ein historisches Zeitbild, das durch die Meisterschaft
der Darstellung Interesse und ästhetisches Wohlgefallen einflößt, durch die Laby¬
rinthe der Leidenschaften und Triebe in Schrecken setzt. Seine moralisirenden
Reflexionen vermögen nicht den Eindruck zu verwischen, daß er nicht nur ein
Beobachter, sondern auch ein Teilnehmer, ein Mitfühlender und Mithandeluder
in den verschlungenen Lebensgüngcn, in der geheimen Triebfeder erregter
Menschcnnciturcn gewesen sei. In seinen geschichtlichen Gemälden weht nicht der
erhabene, wohlthätige und belebende Odem einer idealen Kunst, welche auch
Über Grab und Verhängnis noch die Seele reinigt und erhebt; vielmehr stellt
sie eine Welt dar voll Laster und Häßlichkeiten, in welcher dämonische Naturen
im Thun und Wagen die Grenzen der Menschheit, die Schranken der Gesell¬
schaft kühn überschreiten. Die darstellende Kunst des Sallust gleicht der modernen
Romantik, die ohne Scheu und Rücksicht alles, was die Natur im Leben her-
vorbingt oder zuläßt, auf ihren Tafeln zeigt, das Häßliche wie das Schöne,
das Erhabne wie das Niedrige,
Die Zeitgemälde des Sallnstius sind geniale Schöpfungen eines Welt- und
menschenknndigeu Mannes, der mit instinktiver Spürkraft in die Tiefen und
Regungen der Menschenseele eindringt und anch den Irrgängen des Herzens
nicht fernsteht. Einen ganz verschiednen Eindruck macht die römische Geschichte
des Livius. Aus der Provinzstadt Patavium nach der Weltmetropole Rom
übergesiedelt, vielleicht in die Nähe des Augusteischen Kniserhofes gezogen, hat
er die Größe und Herrlichkeit, die ihn umgab, mit kindlich harmlosen Gemüte
in sich aufgenommen und auf sich einwirken lassen. Wie die Pariser an den
künstlerischen Erzeugnissen der Provinzialen leicht herausfühlen, daß sie nicht
den Duft und die Eleganz der hauptstädtischen Atmosphäre, nicht den seinen
Geschmack der ästhetischen Gesellschaft atmen, so scheint auch die „Patavinität,"
die das vornehme Rom an dem Historiker rügte, auf eine» solchen Mangel
aristokratischer Urbanität hinzudeuten. Über der Liviamschen Geschichte liegt ein
Hauch naiver Einfalt und Ursprünglichkeit, der noch nicht „von des Gedankens
Blässe angekränkelt," noch nicht durch die Reflexion und die Macht der
Nachahmung verwischt ist, Auch Livius ist ein Künstler; aber man merkt an
seinen Produktionen das Studium, die Überlegung, die mühsame Ausführung.
Das große Geschichtswerk läßt uns einen Autor erkennen, der mit hin¬
gebender Liebe bei dem Heldenmut und Heldensinn der Ahnen verweilt, durch
dessen Seele eine vaterländische Begeisterung zieht, welche mit gläubigem Herzen
den Legenden und Überlieferungen aus der Vergangenheit lauscht und sie treu¬
herzig nacherzählt: aber von den nvtmendigen Eigenschaften eines Historikers,
Kritik, Staats- und Menschenkenntnis, pragmatisches Urteil, wird man wenig
gewahr, und die rhetorische Ausmalung einzelner Szenen und Situationen ist
oft frostige Nachahmung fremder Lehren und Beispiele. Livius besitzt Sinn für
Poesie und Sage, Gewandtheit im Charakterzeichnen nud ein wohlwollendes,
freundliches, liebenswürdiges Gemüt, er hat ein offnes Herz für Menschengröße
und Meuschenschicksal, er zeigt für alles Sittliche in menschlichen Beweggründen
und Handlungen eine Sympathie, welche den wohlthuendsten Eindruck macht,
dagegen ist ihm der staatsmännische Gesichtspunkt eines Thulhdioes und Poly-
bius ganz fremd; ein Mann der Schule und des Studiums, nicht des Lebens,
hat er für das Staats- und Verfassungswesen, für die Entwicklung und Ge¬
staltung sozialer Verhältnisse und Standesvorrechte wenig Sinn und Interesse und
nur oberflächliche und unklare Kenntnisse davon. Aber obwohl sein Werk weder
gelehrt und quellenmäßig, noch aus einem Guß gearbeitet ist, besitzt es doch
Harmonie und Schönheiten jeder Art. Die Zeitgenossen mochten Gefallen finden
an der rhetorischen Volksgeschichte, die in epischer Fülle und behaglicher Breite
die Großthaten der Vorfahren, das Wachstum und die Größe der Republik
bis zu ihrem Abschluß vor die Seele führte; aber daß von dem großen Werke
im Laufe der Zeit sich nur ein kleiner Teil auf die Nachwelt erhalten hat, kann
als Beweis gelten, daß es nicht auf der Höhe historischer Kunst stand, daß das
Interesse der nachgebornen Geschlechter für die oft mit poetischem Flitter und
dichterischen Redewendungen ausgeschmückte Volksgeschichte des Livius sich ver¬
minderte, je mehr die republikanische Gesinnung und Tugend selbst dahinschwand.
Nur wo das Pathos der eignen Begeisterung die schaffende Hand leitet, entsteht
ein echtes Kunstwerk in Wort und Bild; nnr was unmittelbar vom Herzen
kommt, geht auch unmittelbar zu Herzen.
Wie Polhbius das Wachstum des römischen Reiches zu einer Weltmacht
darstellt, so Tacitus die Entartung und den Verfall. Dadurch ist auch der
Charakter ihrer historischen Werke und ihrer subjektiven Haltung zu denselben
bestimmt. Wenn bei Polhbius über dem trüben Gemälde des Unterganges der
hellenische» Partikularwelt der Glanz eiuer aufstrebenden Univerjalmacht in das
Dunkel niederstrahlt, so sieht der Römer in der hinsinkenden Schöpfung früherer
Geschlechter nur ein weites Leichenfeld ohne Auferstehung.
Taeitus bezeichnet seine Geschichte des Prinzipals in der ältern Periode
als „Annalen," im Gegensatz zu den „Historien" oder der Zeitgeschichte. Aber
unter seiner Hand erhält der Begriff „Annalen" eine andre Bedeutung. Das
Taciteische Geschichtswerk ist nicht wie die ältern Aufzeichnungen nnter diesem
Namen eine farblose, objektive Zusammenstellung der Weltbegebenheiten nach der
Zeitfolge; in seinen „Annalen" weht ein scharfer Hauch subjektiver Auffassung, eine
tiefe Beteiligung der eignen Gcmütsaffekte bei dem Niederschreiben, ein Pshcho-
logischcs Eindringen in die innere Menschenbrust. Es giebt kaum einen andern
Geschichtschreiber, bei welchem die Schilderung von Menschen und Sachen, von
Vorgängen und Situationen so sehr das eigne Mitfühlen und Mitempfinden
des Autors verriete, als bei dem strengen Richter und Benrteiler einer Zeit, die
so weit von den republikanischen Tugenden und Sitte» der Altvordern abge¬
wichen war. Wenn dem Schöpfer eines Kunstwerkes ein Ideal vorschwebt, das
sich in dem Werke selbst wiederjpiegelt oder ahnen läßt, so ist Taeitus ein
Künstler ersten Ranges, weniger in der Form und Ausfiihruug als im Ausdruck
und in der Seelenstimmung, deren Wirkungen der Leser oder Beschauer heraus¬
fühlt. Wie der tragische Dichter die Vorgänge im Innern seiner Helden in
Monologen erkennen läßt, so bedient sich der römische Historiker feines Griffels
zu eiuer pshchologischen Anatomie. Taeitus beschreibt den Todeskampf des alten
Römcrgcistcs im Ringen mit dem immer weiter um sich greifenden Verderben;
er betrachtet seine Zeit mit tragischen Ernste lind elegischer Trauer und zeichnet
die bodenlose Entartung mit dem bittern Unwillen, den eine edle patriotische
Natur bei dem tiefen Verfall einer Nation empfindet. Seinem Geiste schwebt
das Ideal eines Staates vor, von dem in den Tagen der Väter einige Spuren
vorhanden waren, das aber nie und am wenigsten in der Zeit des Kaisertums
verwirklicht werden wird. Mit stoischer Resignation blickt er auf den Kampf
des Lebens, in die dunkle Menschenwelt und die Jrrgänge der Leidenschaften,
ohne die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, ohne den Glauben an eine rettende
Gottheit. Er steht im Zweifel, ob in den menschlichen Dingen eine unabänder¬
liche Notwendigkeit oder der Zufall walte, ob die Epitureer Recht hätten, wenn
sie lehrten, das Thun und die Schicksale der Menschen seien den Göttern ganz
gleichgiltig, oder die Stoiker mit ihrem Glauben an ein Fatum. Wenn es eine
Vorausbestimmung für die Menschen gebe, so sei dieselbe nicht als Schicksal
durch die ewigen Götter zu fassen, sondern als Kausalitätsgesetz, als eine Ver¬
kettung natürlicher Ursachen. Seine Darstellung und Ausdrucksweise ist trotz
der körnigen, gedankenreichen Kürze, der veralteten, oft poetisch gestalteten Sprache
und des abgerissenen, mitunter bis zur Dunkelheit verstümmelten Satzbaues
nicht ohne künstlerische Sorgfalt und Überlegung, nicht ohne rednerischen Vor¬
trage Bei aller Unparteilichkeit und Wahrhaftigkeit giebt er doch in der Wahl
und Färbung der Ausdrücke den Anteil heikles Gemütes kund, und wie seine
Anlage und Schilderung dramatisch lebendig ist, so ist sei» Ton vorherrschend
elegisch. Dieser Grundton seiner Werke ist wieder ein Ausfluß seiner Gemüts-
stimmung, der leidenschaftslosen Ergebung. Während er das große Trauerspiel
seines Jahrhunderts vorführt, übernimmt er selber die Rolle des alten Chors,
der mit ernsten Worten der Mahnung, Warnung und Belehrung die Hand-
lungen und Schicksale der tragischen Helden begleitet.
Zwei Jahrhunderte lang hat man Taeitus als den größten Historiker der
Römer verehrt und auf deu strengen, freiheitliebenden Mann mit ehrfurchts¬
voller Bewunderung geschaut. Erst nnserm hhperkritischen Zeitalter war es
vorbehalten, wie bei Thuihdides so noch mehr bei Taeitus seine Unparteilichkeit
und Wahrhaftigkeit in Zweifel zu ziehen.
Mit den Häuptern der antiken Historiographie, die wir in den obigen Um¬
rissen skizzirt haben, sind die Elemente angedeutet, welche jeder echten Ge¬
schichtschreibung innewohnen müssen, wenn sie dem Gebiete der Kunstthätigkeit
beigezählt werden soll: Erforschung und Berichtigung der Thatsachen und Be¬
gebenheiten, Durchdringung und Verarbeitung des crrungnen Materials durch
geistige Aneignung und die schöpferische Wiedergabe dieses errungenen und ver¬
arbeiteten Materials in künstlerischer Darstellung. In der Vereinigung dieser
drei Grundbestandteile des objektiv-subjektiven Inhaltes in einer kunstgerechten
Form besteht die vollendete Geschichtschreibung. Im dritten Bande von Treitschkes
„Deutscher Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" wird der Gedankengang
der mehrerwähnten Abhandlung Wilhelms von Humboldt in folgenden Sätzen
ausgesprochen, die eine ähnliche Auffassung andeuten: „Den geheimnisvollen
Dualismus, der in dem sittlichen Leben unsers stcmbgebornen und gottver¬
wandten Geschlechtes unverkennbar waltet, suchte Humboldt dadurch zu erklären,
daß er eine hinter den Erscheinungen der Geschichte stehende Ideenwelt annahm,
Geschichte war mithin Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der
Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Historiker fiel die zweifache Aufgabe zu, das
Geschehene thatsächlich zu ergründen und das Erforschte dergestalt zu verbinden,
daß die Notwendigkeit der Ereignisse erwiesen und die Ratschlüsse der göttlichen
Weltregierung erkannt würden. Es war eine großartige Ansicht, die zugleich
mit Zartheit das persönliche Leben, mit Freiheit die allgemeinen Mächte der
Geschichte zu verstehen suchte; sie sicherte der Geschichtschreibung großen Stiles
ihre gebührende Stelle auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst." Je-
mehr nun der Urheber von seinem Stoffe stärker oder leichter berührt wird,
sei es infolge seiner individuellen Geistes- und Gemütsstimmung, sei es infolge
seiner Stellung zu den Menschen und Dingen, die er behandelt, umso schärfer
und sichtbarer tritt die innere Teilnahme, treten die Affekte der Seele zu Tage,
destomehr offenbart sich das Pathos, von dem der Darsteller erfüllt ist, auch
in seinem Werke. Die wahre Geschichtschreibung wird immer durchfühlen lassen,
daß der Verfasser etwas von seinem eignen Herzblute einfließen läßt. Nur der
Annalist oder Negcstensammler, nur der Chronist, sofern er bloß vergangne
Dinge wiederholt, nicht in seine eigne Zeit herabsteigt, darf ganz objektiv ver¬
fahren, jeder andre Historiker dagegen, der das Gebiet der Kunst beschreitet, bei
dem der Stoff den Weg durch das Herz, durch den inwendigen Menschen macht,
wird mehr oder minder den subjektiven Anteil verraten, den er an dem geschicht¬
lichen Hergange nimmt. Und da es nun einmal im Menschenleben so einge¬
richtet ist, daß der Historiker mehr Trübes als Heiteres zu erzählen, mehr von
Unfällen als von Glück zu berichten hat, so zieht dnrch die »leisten Geschichts¬
bücher ein ernster, oft pessimistischer Grundton.
Selbst das ästhetische Wohlgefallen, das der Leser bei der kunstvollen Dar¬
stellung, bei der Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Erzählung empfinden mag,
wird das Gefühl des Ernstes, der Wehmut der traurigen Eindrücke über die
Fülle und Macht des Bösen und Unheilvollen in der Menschenwelt nicht zu
überwinden imstande sein. Die Klio ist eine strenge Muse; sie übt zugleich
das Amt des Anklägers und des Richters und schöpft ihr Urteil aus den
Sprüchen, welche die himmlischen Mächte am Firmamente niedergeschrieben
haben. In diesem Sinne behält der Spruch des Dichters: „Die Weltgeschichte
ist das Weltgericht" seine Wahrheit. Über der Wandelbarkeit menschlicher Urteile
waltet die ewige, unwandelbare Idee.
Deu erhabnen Maßstab, den uns die antike Geschichte an die Hand giebt,
dürfen wir nicht an die Produktionen des Mittelalters legen. Diese entbehren
aller der Eigenschaften, die wir als die Grundlage jeder echten, künst¬
lerisch und pragmatisch gefaßten Geschichtschreibung bezeichnet haben: der kri¬
tischen Objektivität in der Erforschung der Thatsachen, der subjektiven Ver¬
arbeitung des Stoffes in der Seele, der kunstvollen Darstellung der durch beide
Thätigkeiten gewonnenen Ergebnisse, Auch abgesehen von der mangelhaften
Geistesbildung fehlten der mittelalterlichen Menschheit alle Faktoren zu einer
Ivissenschaftlich-künstlerischen Geschichtschreibung, War etwa die Zelle des Mönchs,
ans welcher die meisten geschichtlichen Aufzeichnungen hervorgingen, eine geeignete
Stätte, die Gänge und Wechselfälle des öffentlichen Lebens zu beobachten?
War der kleinbürgerliche Gesichtskreis der Städte, von denen die Chroniken
vorzugsweise ausgingen, ein geschickter Denker der Weltbegebenheiten? War
der Dualismus von Kirche und Staat, der das ganze Mittelalter durchzieht,
eine richtige Weltanschauung für höhere Menschengeschichte? Wohl hielt man,
gestützt auf die Dnnielscheu Visionen von den vier Weltmonarchien, an der Idee
einer ununterbrochnem Fortdauer des römischen Reiches fest; aber diesem ideellen
Gebilde haftete die Vorstellung von einem GvtteSstaate, von einer Theokratie
an. Nach dieser Vorstellung vollzog sich der Verlauf des geschichtlichen Lebens
nicht nach einem natürlichen Pragmatismus vou Ursache und Wirkung, nach
einem Kansalitätsgesetze, dessen tiefen innern Zusammenhang zu ergründen die
Hauptaufgabe des Historikers sein müsse; er war das Werk eines göttlichen
Ratschlusses, eines theokratischer Absolutismus mit teleologischen Tendenzen,
In dieser Auffassung erscheint die christliche Universalgeschichte von Augustinus
und Orosins bis Bossuet, Die Idee von der Umgestaltung des römischen
Weltreiches in ein christliches Gvttesreich kann immerhin eine große genannt
werden, aber wie sie von vornherein auf einer Fiktion, auf eiuer falschen Vor¬
stellung beruhte, so raubte sie auch der Geschichtschreibung und der Geschichte
selbst ihre wertvollste Eigenschaft, die der Wahrhaftigkeit, Wohl geht mich
schon bei Herodot ein theologischer Zug durch die Geschichte, wohl werden
schon bei Polybius die Geschicke der Völker von der Tyche, dem unwiderstehlichen
Schicksale, uach einem bestimmte» Ziele gelenkt; aber die Handlungen der
Menschen und die geschichtlichen Ereignisse, welche sie darstellen, sind die Wir¬
kungen und Ergebnisse freier Willensthätigkeit. Nach der christlich-theokratischer
Anschauung ist das geschichtliche Leben nur ein von Gott und den Heiligen
in Szene gesetztes und geleitetes Drama. So kam es, daß, wie die gesamte
Kunst und Wissenschaft, so auch die Historiographie im Mittelalter gänzlich
unter dem Einflusse der Kirche und der christlichen Vorstellungen stand. Die
Geschichtsbücher und Chroniken waren wie die gottesdienstlichen Verrichtungen
und Symbole nur das Gehäuse für das göttliche Mysterium.
Bei solcher Ausfassung konnte die Geschichtschreibung keinen eignen Wert
haben; sie war berufen, wie die gesamte Kunst und Wissenschaft nur im Vorhofe
der romanischen und gothischen Kirche ihre Dienste zu leisten. Die Kriege der
Völker und Nationen gingen meistens von kirchliche» Motiven aus; die mensch¬
lichen Geschicke wurde» nur im Spiegel religiöser Vorstellungen und Dogmen
betrachtet; die innern Institutionen und .Kulturzweige bezogen sich auf christlich
religiöse Lehren, auf biblische Urkunden, auf die Zeugnisse der Evangelien, Man
teilte die ganze Universalgeschichte in zwei Teile, in die Zeit vor und in die
Zeit nach Christus, und die mosaische Schöpfungsgeschichte bildete die Grundlage
der Welt- und Völkergeschichte; die Ansichten der Heide» wurden als Irrtümer
und Täuschungen betrachtet, ihre Tugenden galten als glänzende Laster. In
dem Mittelalter, sagt Droysen in seinem „Grundriß der Historik," wird man
keine neuen Triebe wissenschaftlicher Geschichtschreibung entdecken wolle», wen»
man nicht den theologisch-konstruktiven, der hie und da durchiliugt, dafür will
gelten lassen. Wohl aber hat der und jener Historiker der Karolinger-, der
Ottonenzeit sich seine stilistische» Muster bei den Alten gesucht und seine Helden
mit ihren rhetorischen Floskeln geschmückt. Nur in Italien, wo die antike
Kultur am längsten dauerte und am ersten wieder erwachte, erhielt sich noch
eine Spur selbständiger Geschichtsauffassung. Machiavelli steht an der Stelle,
sagt Gervinus in den „Grundzügen der Historik," wo sich das Ringen nach
Aufklärung, nach Freiheit und Menschenrechten, nach Abschüttelung von Geistes-
zwang, Leibeigenschaft und Despotismus gewaltsame Bahn brach, und auch
diese neue Richtung fährt noch heute nach drei bis vier Jahrhunderte» fort,
den Fade» der Begebenheiten zu bilden.
Die Renaissance hat in der Geschichtschreibung keine neue Epoche begründet.
Wie auf dem gesamten liternrischcu Gebiete, so ist man anch in der Behandlung
der Historie auf die Alten, vorzugsweise auf die Römer, zurückgegangen. Von
ihnen entlehnte man die Form und die Sprache: nach Livius schrieb der Franzose
Thuanns (de Thon) seine Zeitgeschichte, Sleidanus seine Reformationsgeschichte;
mich Taeitus verfaßte Hugo Grotiw? die Geschichte des Abfalls der Nieder¬
lande von der spanische» Herrschaft in Annalen und Historie». Durch das
ganze sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert haftete der Historiographie dieser
Charakter an, blieben die römischen Autoren die Vorbilder. So wertvoll diese
Produktionen für die Erkenntnis der geschichtliche» Begebenheiten sein mögen,
den drei Funktionen der echten Historiographie: der kritischen Forschung, der
subjektiven Aneignung und der künstlerischen Darstellung, leiste» sie nur wenig
Genüge. Erst dem achtzehnten Jahrhundert war es vorbehalten, eine neue
Epoche der Geschichtschreibung zu begründen. Nachdem Bolingbroke und Voltaire
die Fesseln der Tradition und der teleologischen Tendenz gesprengt hatten,
stellte Gibbon ein Muster universeller Geschichte auf, worin ein philosophischer
Geist waltet und ein weiter Horizont alles Sein und Werde» in der Menschen-
welt umspannt. Unter Gibbons Meisterhand erhielt die Geschichte eine Gestalt,
die der ganzen folgenden Generation zum Vorbilde dienen kann. In seiner
Geschichte des römischen Cäsarenreiches in dem Zeitraume seines Sinkens und
Falles ist gelehrte Forschung mit subjektiver Verarbeitung und künstlerischer
Formgestaltung vereinigt und ein architektonisches Schatzhaus errichtet, worin
alle edeln Güter der Menschheit, alle Errungenschaften des geistigen Schaffens
wie der Werke der Hand aufgestellt sind. Der Gibbvnsche Geschichtstempel ruht
auf festen Fundamenten und ist von außen wie im Innern harmonisch entworfen
und ausgeführt. Mau mag gegen das Werk einwenden, daß die Subjektivität
des Verfassers allzu sehr in deu Vordergrund tritt, daß seine Weltanschauung
in der Atmosphäre der französischen Encyklopädisten und der Ausilärungsphilo-
svphic wurzelt, daß der Geist, der über deu Wassern schwebt, der Erde zu nahe
gerückt, der Verstandesrichtung der Zeit zu sehr angepaßt ist; man mag in ein¬
zelnen Dingen die kritische Genauigkeit vermissen; dennoch steht fest, daß kein andres
Geschichtsbuch vor und nach Gibbon einen so durchschlagenden Erfolg gehabt,
der Historiographie einen so fruchtbaren Boden bereitet, eine so sichere Um¬
grenzung und Stoffverteilung zugewiesen hat. Gibbons umfangreiches Werk,
das eine Weltgeschichte des ersten christliche» Jahrtausends und darüber um¬
faßt, ist in zahllosen Ausgaben und in dem verschiedensten Format über die
ganze gebildete Welt verbreitet. Wie Shakespeare für das Drama eine neue
Ära begründet hat, so Gibbon für die moderne Historik. In seiner Geschichte
findet neben den politischen und kriegerischen Stnatsaktiouen auch die sittliche
Welt, wie sie sich in den öffentlichen Institutionen, in Religion und Kirche,
im Gerichtswesen und in den Regiernngsorgaueu ausgeprägt hat, ihre ent¬
wickelnde Darstellung. Dabei ist das Werk frei von der pessimistischen Welt-
anschauung eines Tacitus, über das Ganze ist ein Hauch heiterer Anmut aus¬
gegossen, der bisweilen einen Zug von Ironie gegen die traditionellen
Auffassungen an sich trägt. Es ist das Produkt einer Zeit, die bestrebt war,
aus dem überkommenen Vorräte neue Lebenskeime zu schaffen, das Erbteil der
Väter durch Reformen wertvoller zu machen und mit neuer Ausstattung zu be¬
reichern. Gibbon gehörte zu dem titanischen Geschlechte, das im Vollgefühle seiner
Kraft kühn die .Himmelsleiter hinanstieg, um die Welt der Ideen näher zuschauen.
Gibbon hat in der systematischen Behandlung des historischen Stoffes ein
Vorbild geschaffen, wie man die wachsende Fülle des geschichtlichen Materials
bewältigen, durchdringen und gestalten müsse, um ein wohlgefälliges, das innere
Geistes- und Gemütsleben anregendes Kunstwerk zu schaffen. Und so sehr
haben die Zeitgenossen und die nächste Generation diese Vorzüge anerkannt,
daß Niebuhr bei der Abfassung seiner römischen Geschichte die Absicht aus-
sprach, ein Werk zu schaffen, das der römischen Kaiscrgeschichte des britischen
Historikers als Vorläufer dienen sollte, und daß Schlosser in der Geschichte
der bilderstürmenden Kaiser nur solche Seite» behandelte, die Gibbon garnicht
oder nur flüchtig berührt hatte.
Man hat mit Recht die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts das
Philosophische Zeitalter genannt und Voltaire als das befruchtende Haupt
desselben, von dem die anregenden Ideen ausgingen. Aber diese Art von
Philosophie war weniger eine spekulative als eine reformirende Arbeit. Sie
suchte ihre Aufgabe weniger in der Synthesis als in der Analysis. Ihre
Stärke lag weniger in dem Aufbau neuer Lehrsysteme auf neuen Prinzipien
als in dem Niederreißen schadhafter und morscher Stützmauern und Pfeiler,
jedoch mit der Tendenz, das gesunde und solide Material, das aus der zer¬
setzenden und aufräumenden Arbeit übrigblieb, zu neuen Werken auf einfacherer
Basis zu verwerten. In diesem Geiste ist auch Gibbons Geschichtswerk ge¬
boren. Er fügte die Elemente, welche die kritische Forschung ihm als solides
Material erscheinen ließ und denen sein eigner Geist das subjektive Gepräge
gegeben, mit knnstgeübter Hand zu einem harmonischen und symmetrischen
Ganzen zusammen. (Schluß folgt.)
nsre Zeit ist reich wie an Bedürfnis so an Vorschlügen zu Re¬
formen. Überall tauchen Wünsche Einzelner und ganzer Stände
auf, die eine Verbesserung ihrer Lage anstreben und der Regierung
die Wege und Mittel angeben wollen, wie sie am besten Abhilfe
Ä zu bringen imstande sei. Um nur die berechtigten Forderungen
allmählich zu erfüllen, hat die Staatsregierung alle Hände voll zu thun, und
vor den größern sozialen Fragen müssen naturgemäß die kleinern einstweilen in
den Hintergrund treten, bis auch für sie die Zeit der Reife gekommen sein wird.
Um sie aber dazu zu bringen, bedarf es wieder und wieder der Anregung von-
seiten der beteiligten Kreise, und es würde falsch sein, die Hände in den Schoß
zu legen und warten zu wollen, bis einem von selber die reife Frucht zufällt,
die doch nur der Lohn der auf ihre Erzielung verwendeten Arbeit sein kann.
„Gut Ding will Weile haben," aber keine in müßiger Beschaulichkeit verbrachte,
sondern die Weile einer in stetem Vorwärtsstreben auf das fest im Ange be¬
halten? Ziel bestehenden Arbeit. Von diesem Gesichtspunkte aus will auch der
folgende Versuch betrachtet sein, der die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf eine
Klasse vou Staatsdienern lenken möchte, der es, soweit hinauf in der Geschichte wir
sie auch verfolgen können und so wichtig ihre Thätigkeit für die gesamte Bildung
ist, doch bis heute noch nicht gelungen ist, eine einheitliche Organisation als
Stand im Sinne andrer Beamtenkategorien zu erlangen.
Ja, „gut Ding will Weile haben." Der Spruch eignet sich ganz besonders
für die Entwicklung unsers Bibliothekswesens. Langsam und unmerklich ist
dieselbe von statten gegangen trotz der nicht geringen Literatur, die das zurück¬
gebliebene Kind lebensfähig machen sollte. Männer wie Ebert, Mvlbech und
andre mehr haben über die notwendigen Eigenschaften und Kenntnisse des
Bibliothekars geschrieben und Anforderungen gestellt, welche der gewöhnliche
Sterbliche kaum erfüllen kann. Aber es ging ihren ^Bemühungen wie der
Bibliothekswissenschaft selbst, sie drangen nicht weit über den engen Kreis der
Fachgenossen hinaus, und ihr Hauptergebnis war wohl, daß die Bibliotheks-
beamteu zum Ersatz für die Verkennung, die sie von außen erfuhren, und für
die im Verhältnis zu den dort gestellten hohen Anforderungen wunderbar
geringe materielle Entschädigung ihrer wie eines Spiegelbildes sich erfreute»
und sich erbauten an dem Gedanken, mas sie doch für tüchtige Leute sein
müßten.
Vor allen waren die Universitätsbibliotheken rechte Stiefkinder, die hinter
den frisch aufblühenden und reichlich ausgestatteten Schwesteranstalten der hohen
Schulen mannichfache Zurücksetzung erfuhren. Das Beamteupersonal mit Aus¬
nahme der Subaltcrubecimteu bestand aus Dozenten, die ihre Mußestunden
gegen geringe Entschädigung den Arbeiten auf der Bibliothek widmeten. Nicht
wenig fiel es auf, als Anfang der vierziger Jahre zuerst in Leipzig der Versuch
gemacht wurde, einen nicht dem Professvrenstnnde angehörenden Mann, der die
Bibliothekslanfbcchn durchgemacht hatte, zum Leiter der Universitätsbibliothek
zu ernennen, und es dauerte geraume Zeit, bis auch an einzelnen andern
Bibliotheken dieser Schritt Nachahmung fand. Heute ist glücklicherweise die
Selbständigkeit des bibliothekarischen Berufes wohl allgemein anerkannt. Wir
verdanken dies nicht zum geringsten Teile dem Verdienste Anton Klettes und
seiner überzeugenden Schrift, welche diese Frage behandelt. Nachdem nun auch
von Hartwig und Schulz in dem Zentralblatt für Bibliothekswesen ein Organ
geschaffen worden ist, in welchem die Interessen des Standes in jeder wünschens¬
werten Weise vertreten werden, können die Bestrebungen zu weiterer Ausbildung
des Bibliothekswesens auf gute Erfolge hoffen.
Die bibliothekarische Thätigkeit ist keine rein gelehrte, der Gelehrte als
solcher ist also nicht x«?/ «5«^»)^ imstande, eine Bibliothek ersprießlich zu ver¬
walten; anderseits ist sie so vielseitig und ausgedehnt, daß sie sich nicht zum
Nebenamte eignet. Daß mit der Gelehrsamkeit an und für sich schon der
Praktische Verstand gleichen Schritt halte, wird niemand behaupten wollen. Und
doch ist dieser für de» Vibliotheksbeamten ganz unentbehrlich, denn nirgends
rächt sich unpraktisches Arbeiten bitterer als in seinem Fache. Betrachten wir
den Bibliothekar als Beamten, so wird auch die Auffassung seines Berufes,
wie sie sich in früherer Zeit gebildet hatte, als noch der Gelehrte sein Vertreter
war, eine Abänderung erleiden.
Ebert hat zuerst in seinem grundlegenden Werte „ Die Bildung des
Bibliothekars" das Evangelium der Entsagung gepredigt, und alle spätern
Schriften folgen ihm hierin wie einem kanonischen Buche. Der Bibliothekar
hat sich darnach die größte Entsagung aufzulegen, er bereitet den Gelehrten die
Wege, auf welchen sie leicht und bequem den dornenlosen Pfad zum Beifall
der Mit- und Nachwelt dahiuwnudelu, ohne daß er selbst eine andre Belohnung
in Anspruch nehmen darf als das Bewußtsein der gethanen Pflicht. ^liis
1n86roi<znäo een8rmror soll der Wahlspruch des Bibliothekars sei». Ganz so
tragisch ist seine Stellung nnn wohl nicht anzusehen. Die unter ihm stehende
Bibliothek möglichst nutzbar zu mache», die wissenschaftlichen Sammlungen durch
angestrengte Thätigkeit ans der Höhe der Zeit zu halten, ist sicherlich die Pflicht
des Bibtivthelsbeamten. Was versagt er sich denn, wenn er sich dieser Auf¬
gabe mit ganzer Kraft unterzieht? Oder sollen wir uns den Bibliothekar als
einen Menschen denken, der dem Gelehrten die Schätze seiner Anstalt, eine
Thräne stiller Wehmut im Auge, zugänglich macht, und wenn dann mit seiner
mittelbaren Hilfe ein vortreffliches Werk entstanden ist, in rührender Ergebung
ins Unvermeidliche den bösen Gedanken von sich abwehren muß- Das Hüttest
du nun selbst schaffen können, wenn dn nicht den schmerzlichen.Verzicht ans eigne
Produktion gethan hättest? Man braucht sich nur die Folgerungen aus einer der¬
artigen Anschanung klar zu macheu, um das schiefe derselbe« einzusehen. Mit dem
selben Rechte konnten wir die gleichen Betrachtungen über jede» andern Beamte»
einstellen. Der Verwaltungsbeamte arbeitet, wenn er nicht eine hohe Stelle
bekleidet, sei» ganzes Leben in der Verborgenheit. Ihm sind unter Umständen
die eingreifendsten Besserungen zu verdanken, die der ganze» Nation zum Segen
gereichen, ohne daß das Publikum erfährt, wer eigentlich der Urheber derselben
ist. Soll sich dieser Verwaltung5veamte nun auch mit dem Kummer herum¬
schlagen, daß er verkannt werde, und daß das, was er allein zu stände gebracht
hat, uur auf Rechnung der Behörde gesetzt werde, der er als einzelnes Glied
angehört? Es steht ja jedem Beamten frei, wenn er seine Berufsgeschäfte erledigt
hat und Lust und Trieb dazu fühlt, mit seinem geistigen Pfunde zu wuchern
und die Welt um einen bedeutenden Schriftsteller zu bereichern. Dasselbe
Recht, nicht mehr und uicht minder, hat auch der Bibliothekar, wobei es doch
keinen Unterschied macht, daß ihm gerade das Handwerkszeug auuertraut ist,
dessen der Gelehrte bedarf. Leistet er in seinem Fache tüchtiges, so wird er
schon, wie es in jeder Berufsart geschieht, hervorgezogen und an deu Platz
gestellt werde», der seiner Befähigung entspricht; im übrigen dient er dem
Staate mit seiner Arbeit und erhält dafür von diesem seinen Lohn. Freilich
muß dieser Lohn dann auch derartig sein, daß er als ein Äquivalent für die
Arbeit gelten tan». In einem der Billigkeit entsprechenden Verhältnisse stehen
sie bei den Bibliotheksbeamte» bis jetzt noch nicht. Der Grund liegt haupt¬
sächlich in der isolirten Stellung, in welcher sich die einzelnen Bibliotheken de-
finden, und welche bisher ein gleichmäßiges Aufrücken der Beamten ebenso un¬
möglich machte, wie sie ein gemeinsames Vorgehen zur Anbahnung einer Reform
erschwerte. Auf die Unzuträglichkeiten, die das bestehende System der Besetzung
der Viblivthekstellcu mit sich führte, ist zwar schou längst in Fachkreisen hin¬
gewiesen »morden, aber erst in neuester Zeit sind auf Änderungen hinzielende
Praktische Vorschläge gemacht worden.
Im ersten Jahrgange des Zentralblattes für Bibliothekswesen (S. 286)
knüpft ein kurzer Artikel, unterzeichnet „Ein Bibliothekar," an eine Betrachtung
der Magdeburgischen Zeitung vom 6. Juni 1884 an und gelangt zu dem Satze,
es sei notwendig, daß „ für sämtliche Vibliotheksbcamte des Staates ein Au-
ciennitätsverhältniS, wie für alle übrigen Staatsdiener, hergestellt werde." Der
Verfasser fährt dann fort: „Dem Wunsche des Korrespondenten der Magde¬
burgischen Zeitung, daß die Staatsregierung der Frage näher trete, ob die Ver¬
hältnisse der Bibliotheksbeamten nicht dadurch eine wesentliche Besserung erfahren
könnten, daß die Beamten sämtlicher Bibliotheken des Staates unter sich
rangirten (Schön gesagt! D. Red.), dem Assistenten der königlichen Bibliothek
also mich die Stellen bei den Universitätsbibliotheken offen stünde», und die
Beamten der Universitäten auch an die königliche Bibliothek versetzt werden
könnten, möchten auch wir deshalb und' nicht allein aus dem angeführten Grunde,
sondern um noch ganz andrer, mit dem gegenwärtigen Systeme verbundner Un¬
zuträglichsten willen zustimmen."
In ähnlicher Weise spricht sich im zweiten Jahrgange des Zentralblattes
(S. 84) der Vorstand einer preußischen Universitätsbibliothek aus. „Da in
den meisten Fällen, sagt er, die Beamten nur an dem Institute aufrücken, an
dein sie sich befinde», kann ein sehr tüchtiger Beamter, der besseres leistet als
die über ihm stehenden Kollegen, die zufällig kaum älter sind als er, lange
Jahre auf der untersten Gehaltsstufe verbleiben. Diesem Übelstande ist nicht
anders abzuhelfen als dadurch, daß die vierunddreißig Kustoden, welche es jetzt
an den neun Universitätsbibliotheken und der Akademie zu Münster giebt, mit
den dreizehn Beamten der königlichen Bibliothek in Berlin ohne Rücksicht auf
die Eiuzclinstitute in ein Aneienuitätsverhältnis gestellt werden und dem ent¬
sprechend durch die ganze Monarchie ihren Dienstjahren nach aufrücken. Es
versteht sich von selbst, daß hierbei die Ortszulagen für Berlin besonders in
Rechnung zu bringen sind, und daß nicht die Meinung vertreten werden soll,
dnß das Aneieunitütspriuzip ohne Rücksicht uns Brauchbarkeit oder Unbrauch-
barkeit im Dienste durchgeführt werde. Es soll nur den Unzuträglichkeiten be¬
gegnet werden, welche daraus erwachsen, daß nur dann ein Aufrücken in höhere
Gehaltsstufen möglich ist, wenn an der Bibliothek, an der der Betreffende an¬
gestellt ist, dazu Mittel vorhanden sind."
Ich glaube nicht, daß gegen die Berechtigung der ausgesprochnen Forde¬
rungen von den Fachgenossen Widerspruch erhoben werden kann. Wenn aber
damit die Ansichten und Wünsche des ganzen Standes bezeichnet sind, so muß
es dessen festes Bestreben sein, die Verwirklichung derselben herbeizuführen und
die Staatsregierung in diesem Sinne anzuregen, da sie einer derartigen Regelung
der Verhältnisse im Prinzip sicherlich nichts entgegenzusetzen hat. Im Interesse
der Sache ist es darum zu bedauern, daß die Verfasser der beiden Artikel ihren
Namen nicht genannt haben, da gerade ein offenes Vorgehen von Bibliotheks¬
vorständen vorzüglich geeignet sein würde, den angebahnten Reformen die Be¬
achtung der Staatsregierung zu verschaffen. Hat sie doch das gleiche auch den
Lehrern der höhern Unterrichtsanstalten bewilligt, die künftig nicht mehr wie
bisher auf die eigne Anstalt beschränkt sein, sondern durch die ganze Provinz
eine Reihe bilden werden. Der Vergleich mit ihnen liegt überhaupt nahe und
ist deshalb auch des öftern angestellt worden, so namentlich jüngst in der oben
angeführten Abhandlung des anordnen Vibliotheksvorstandes, der die beider¬
seitigen Gehaltssätze einer Betrachtung unterzieht. Ich stimme völlig mit ihm
überein, weim er wünscht, daß die Bibliotheksbcamten ihnen zunächst gleich¬
gestellt würden, und lege das Wort „zunächst" dahin aus, daß auch er eine
Gleichstellung mit demjenigen Stande, dessen Gehaltsverhältnisse die Lehrer zu
erreichen streben, mit den Juristen, als allmählich auch für die Bibliotheksbeamten
erringbar ansieht.
Die Besvldungsverhältnisse dieses Standes nach seiner Neuorganisation
werden künftighin immer die Richtschnur abgeben, uach welcher die andrer staat¬
licher Berufsarten zu beurteilen und zu regeln sein werden. Der Gehaltssatz
dieser Veamteukategorie steigt von 2400 bis zu 6000 Mark. Ich sehe dabei
natürlich von allen höhern Stellen ab und beschränke mich auf die Richter erster
Instanz, die, wenn sie nicht in höhere Stellungen aufrücken oder sich als dienst¬
untauglich erweisen, allmählich die höchste Gehaltsstufe von 6000 Mark erreichen;
und zwar wird ein Aufrücken in die höhere Gchaltsllasse in der Regel aller
drei Jahre erfolgen. Daß ein so günstiger Normalgehalt nicht mit einemmale
für andre vorher weit geringer besoldete Berufsarten, also auch nicht für den
Stand der Biblivtheksbeamten, eingeführt werden wird, ist mir klar. Es liegt
mir daher auch nichts ferner, als ein derartiges uugeeiguetes Verlangen aus¬
sprechen zu wollen. Wohl aber ist unser Stand berechtigt und verpflichtet, alles
zu thun, was in seinen Kräften steht, um sich mit der Zeit eine Stellung zu
verschaffen, die derjenigen, welche die Jnstizbeamten innehaben, gleich oder doch
nahe kommt. Die Bedingungen, die dazu erforderlich sind und deren Mangel
gern als Grund für die Berechtigung einer bessern Stellung der Richter an¬
geführt wird, sind gerade bei unserm Stande leicht zu erfüllen. Der Jurist hat
nach beendigtem Studium zwei Prüfungen zu bestehen, ehe er einen Anspruch
auf Anstellung erhält, die erste vor Eintritt in seine Laufbahn, die zweite nach
Beendigung einer vierjährigen praktischen Vorbereitungszeit. Nachdem nun seit
neuerer Zeit erfreulicherweise der bibliothekarische Beruf immer mehr als ein
selbständiger Beruf aufgefaßt worden ist, bedarf es nur noch eines Schrittes,
um demselben auch äußerlich diesen Stempel aufzudrücken, nämlich einer zur
Anstellung in demselben berechtigenden Prüfung. Es ist darüber schon mancherlei
hin und her geschrieben worden, von den einen für, von den andern gegen eine
solche Einrichtung. Die Gegner führen gern die Befürchtung ins Feld, daß
dann das erste Erfordernis des Bibliothekars, die wahre wissenschaftliche Bildung,
»Üblicherweise über deu mehr handwerksmäßigen Kenntnissen vernachlässigt werden
könnte,") Die andern warnen vor zu einseitiger wissenschaftlicher Fachbildung,
die mit deu Amtspflichten des Bibliothekars leicht in Widerspruch geraten könne.
Beide Auffassungen begegnen sich doch in dem einen gemeinsamen Verlangen,
daß der Bibliotheksbeamte wissenschaftlich vorgebildet und in seinem Berufsfache
tüchtig geschult sein müsse. Diesem gewiß berechtigten Verlangen kann meines
Trachtens am besten dadurch entsprochen werden, daß, wie es bisher schon meistens
gehalten wurde, als Bedingung für deu Eintritt in die Biblivthekslaufbahn die
Promotion in irgendeiner Fakultät vorausgesetzt wird. Der Promotion, welche
gewissermaßen die wissenschaftliche Befähigung des Kandidaten zu erweisen hätte
und welche dem ersten juristischen Examen gleich geachtet werden könnte, müßte
nach einer drei- bis vierjährigen Bibliotheküthätigkeit eine praktische Prüfung
folgen, der ein wissenschaftliches Gepräge durchaus nicht zu fehlen brauchte.
Erst dann dürfte der Biblivthekspraktikant die Anwartschaft auf feste Anstellung
bekomme». Diese Bestimmung ließe sich auch jetzt schou durchführen, ohne daß
ein Institut besteht, auf welchem Unterricht in bibliothekarischen Dingen erteilt
wird. Daß die Einrichtung eines solchen noch förderlicher auf die Ausbildung
tüchtiger Beamten Wirten würde, liegt auf der Hand. Nur sollte ein solcher
Unterricht erst uach beendigtem Universitätsstudium und als Ergänzung des
praktischen Bibliotheksdieustes erteilt werden, mit welchem zusammen er erst
nutzbringend für den Schüler werden kann. Die Bibliothekswissenschaft von
vornherein zum Universitätsstudium zu machen, erscheint mir unzweckmäßig.
Es würde nur eine größere Einseitigkeit der Beamten dadurch herbeigeführt
werden, ohne daß eine Garantie für deren praktische Befähigung gewonnen wäre.
Eine gründliche wissenschaftliche Bildung ist dem Bibliothekar unter allen Um¬
ständen nötig und kann nur durch ein Universitätsstudium gewonnen werden, das
nicht durch Heranziehung zu vieler verschiedenartiger Disziplinen beeinträchtigt wird.
Dagegen läßt sich die Ansbildung des Bibliothekars als praktischen Verwaltungs-
beamten nur in der Bibliothek und deren Dienste erreichen, und alles theoretische
Vorstudium wird wenig zur Erlangung jener Eigenschaften beitragen, Zu
diesem hat auch der nach erfolgter Promotion zugelassene Praktikant noch hin¬
länglich Zeit und Gelegenheit, Mit Hilfe der ihm zu Gebote stehenden ein¬
schlägigen Literatur kauu er sich, wie das bisher ja auch jeder mußte, die
notwendigen Kenntnisse verschaffen. In keiner andern Lage ist auch der angehende
Richter, der neben seiner amtlichen Beschäftigung in allen juristischen Disziplinen
durch Pnvatflciß die Lücken in seiner wissenschaftlichen Ausbildung für das Staats¬
examen ausfüllen muß. Besser und leichter für den zukünftigen Bibliothekar
wäre es allerdings, wenn einem der ältern Beamten die Verpflichtung obläge,
die sich zur Prüfung vorbereitenden Kandidaten in den verschiednen Gegenständen
der Bibliothekswissenschaft und -technik theoretisch zu Schulen und ihnen Auf¬
gaben zur Bearbeitung zu stellen. Aus diesen mehr privaten Anfängen könnte
dann allmählich ein solches Institut erwachsen, auf welchem Unterricht in
bibliothekarischen Dingen ox xrot'ö-ZM erteilt wird, wie es Herr Oberbibliothekar
Dr. Hartwig im Zentralblatt für Bibliothekswesen (II 244) vorschlägt. Es
wären dann dafür nicht nur bereits die nötigen Erfahrungen gesammelt, was
und wie an dem Institute zu lehren ist, sondern zugleich auch eine Anzahl von
Lehrkräften vorhanden, die nicht unvermittelt in eine ihnen ganz neue Lehr¬
thätigkeit einzutreten hätten.
le Grenzboten haben bald mich dem Tode Levin Schückings einen
eingehenden, die besondre Entwicklung und literarische Stellung
dieses Schriftstellers würdigenden Aufsatz veröffentlicht (1883,
Ur. 43), in welchem mehrfach auch auf die „Lebenserinnerungen"
hingewiesen war, mit deren Veröffentlichung Schücking in seinen
letzten Lebensjahren begonnen hatte. Diese Selbstbiographie ihl nnn soeben
unter dem Titel Levin Schückings Lebenserinnerungen (Vreslan, Schott¬
länder) auch als selbständiges Werk erschienen.
Es ist ein buntes und in mehr als einer Beziehung lehrreiches Leben,
welches der ehemalige Feuillctonredcckteur der „Kölnischen Zeitung" in nicht
allzubreiter Weise, aber auch nicht ohne Behagen an einigen besonders eigen¬
artigen Episoden erzählt. Die einzelnen Kapitel, überschrieben „Die Knabenzeit,"
„Jugendleben," „Am Bodensee." „Am Mondsee," „Am Rhein," „In Augsburg,"
„KarlGntzkow," „Ostende," „Köln." „Paris," „Chr, von Stramberg" und „Rom."
sind nicht alle von gleicher Frische und Sorgfalt der Ausführung, aber alle
enthalten lebendige Bilder eines wechselvollen Daseins und Zeugnisse eines
Sinnes, der sich auch unter erschwerenden und ernüchternden Umstünden die
innere Poesie und die arbeitsfrohe Teilnahme an den Dingen gewahrt hat.
Levin Schücking gehörte durchaus zu den Naturen, welche dem Berufsschrift-
stellertume Ehre und nur Ehre gemacht haben, obschon ihm peinliche Ein¬
wirkungen der Notwendigkeit, schreiben und immer wieder schreiben zu müssen,
keineswegs erspart geblieben sind.
Schon die Bühne, auf der Schückings Lebensschauspiel begann, war eine
durch und durch eigentümliche. Seine Eltern stammten aus Münster, die
Familie war eine alte und angesehene des münsterschen Hochstifts, sein Vater
aber saß nach der Teilung des alten Fürstbistnms in Schloß Clemenswerth
als hannöverscher Amtsrichter im verlorensten und unzugänglichsten Winkel des
ehemaligen deutschen Reiches, Schloß Clemenswerth, die Schöpfung einer
Fürstenlaune des achtzehnten Jahrhunderts, liegt auf dem Hümling, in einem
letzten Ausläufer deutschen Waldes gegen die Haiden und Moore des Grenzlandes
an der Ems. Schücking schildert das Schloß im mächtigen Waldpark, welches
die Stätte seiner Jugend gewesen, als „ein Oorxs als lo^is von acht gleich
großen Seiten, denen vier kleine Flügel wie die Balken eines Kreuzes angefügt
waren. Und als ob es an dieser einen bizarren Idee nicht genug gewesen wäre,
so wurde durch den Bau noch eine andre verwirklicht, Um das eigentliche
Schloßgebäude nämlich wurden acht Pavillons gestellt: so sollte das Ganze noch
ein Kegelspiel darstellen, mit dem Schloß als König in der Mitte! Ich muß
gestehen, ich habe diese letztere sinnreiche architektonische Idee nie herausfinden
können, die Pavillons standen nämlich ganz einfach rund im Kreise umher. Ein
geräumiger Platz schied sie vom Schlosse; zwischen je zwei und zwei von ihnen
begann eine breite Lindenallee, welche durch den Park führte. Jeder der Pavillons
führte seinen besondern Namen, der an eines von den Hochstiftern erinnerte,
deren Infuln und Fürsteukrvnen sich auf dem Haupte des mächtigen Herzogs
aus Ober- und Niederbcnern (Clemens August) vereinigt fanden. Der erste
hieß Münster, der zweite Osnabrück, der dritte Hildesheim, der vierte Paderborn,
der fünfte Köln, der sechste Mergcntheim, wegen des Hoch- und Deutschmeistertums,
der siebente Corvey, der achte bildete die Schloßkapelle mit einem Kapuziner-
kloster dahinter." Einflußreicher noch als diese wunderbare Umgebung mit ihrem
beneidenswerten Sommer- und ihrem fast unheimlichen Winterleben waren die
originellen westfälischen Menschengestalten, zwischen denen sich Schückings Jugend-
leben bewegte. Vor allem die Eltern, der Vater eine leidenschaftlich bewegte Natur,
voll Geist, Witz und vielseitiger Bildung, der leider bis ans Ende nicht lernte,
sich als praktischer Mann in die reale Welt und ihre Notwendigkeiten zu schicken,
die Mutter innerlich reich, wahrhaft poetisch begabt, eine Freundin der großen
Dichterin Annette Droste-Hülshoff, dann der Hauslehrer Claasen, ein milder
Geistlicher, „im Stillen ein Stück vom savohardischen Vikar," die Edelleute, die
auf ihren weltfernen Höfen im Emsthal saßen, der Großvater in Münster, zu
dem der Knabe von Zeit zu Zeit geschickt wurde, alles waren absonderliche, die
Phantasie und Sinnesrichtung Schückings aus dem Alltäglichen heranstreibende
Naturen.
Die Studienzeit Schückings in München, Bonn und Göttingen war im
Vergleich zu deu Eindrücken der Knabenjahre und seiner Ghmnasiastentnge in
Münster und Osnabrück beinahe arm zu nennen. Dem Rcchtsstndinm ohne
innern Zug obliegend, hörte er nur die notwendigsten Kollegien, trieb aber
nebenbei „mit größerm Eifer geschichtliche und kulturgeschichtliche Studien der
Literatur des Mittelalters, der Prooem^aler, der südlichen Nationen und folgte
dem lebhaft erwachenden Triebe eignen Schaffens." Eine Familienkatastrophe,
die durch die Enthebung des Vaters von seinem Amte und die Auswanderung
desselben nach Amerika eintrat, führte dazu, daß der junge Jurist und Dichter
in dem Augenblicke, wo er die Staatsprüfungen ablegen mußte, ohne alle Mittel,
die langen, unbesoldeten Vvrbercitungsjahre zum Staatsdienste zu überstehen,
hilflos und ganz auf sich selbst angewiesen dastand. Da schien es Schücking
denn richtig, ohne langes Besinnen sich zu den Hilfsquellen zu wenden, welche
sich ihm in seinen Allotrien öffneten, die erworbne Kenntnis der neuern Sprachen
und die Feder mußten ihn über die nächsten Jahre hinweghelfen, es kamen die
schweren Zeiten, die keinem jüngern Schriftsteller, wenigstens keinem, der die
Literatur nud sich selbst achtet, völlig erspart bleiben, es dauerte lange, bis er
eine „kleine, zerbrechliche Selbständigkeit gewann."
Die Freundschaft Annelees von Droste, welche von seiner Mutter auf ihn
selbst übergegangen war, vermittelte dem strebenden Jüngling die Aufnahme bei
ihrem Schwager, dem berühmten Germanisten Freiherrn Josef von Laßberg auf
Schloß Mersburg am Bodensee. Schücking hatte hier die reiche Bibliothek und
den unschätzbaren Handschriftenbesitz des Freiherrn, des Meister Sepp von
Eppishusen, zu katalvgisiren. Dabei gab es „eine Welt von neuen Eindrücken
zu verarbeiten — eine ganz fremde und eigenartige Welt; Naturszenerien
großartigster Schönheit, beim volltönenden Klänge großer Namen erstehende
Gestalten der Vergangenheit; bei jedem Anlaß sich ergebende bedeutungsvolle
Beziehungen zu verehrten Männern der Gegenwart. Da war das schwäbische
Meer, in dessen Flut sich die Türme des alten Kosemitz spiegelten, wie das
Gelände des blühenden Thnrgaus, wie die Alpenkette der „sieben Kurfürsten"
und des Säntis; da unten links stiegen die blauenden Höhen des Vorarlbergs
und Rhätiens auf, rosig im Abendrot verdämmernd, verlockend an die Zauber
Italiens mahnend; da unten rechts glänzte die Mairan und barg sich dem
Auge die Reichenau mit der Grabstätte eines deutscheu Kaisers; Sankt Gallen,
Hohenems, Lindau, Arbon, das Hans der gewaltigen Montfort, die Bürgen der
Werdenfels, die zahlreichen Sitze berühmter Minnesänger, das alles lag in dem
kulturhistorischen Rayon der alten Mersburg, stand voran in den Interessen
ihres Besitzers."
Gern würde Schücking hier träumend und dichtend länger verweilt haben,
wenn er nicht Ostern 1842 eine Berufung als Erzieher zweier jungen Prinzen
Wrede erhalten hätte, die ihn auf die Güter des genannten fürstlichen Hauses
in Baiern und im Salzkammergut (um Mvndsee) führte. Bei der Annahme
dieser Stellung hatte sich die Aussicht eröffnet, daß der fahrende Dichter eine
dauernde Versorgung finden würde, aber schon nach Ablauf eines Jahres stellte
sich heraus, daß Schücking (aus Gründen, die nur angedeutet sind) nicht länger
im Wredcschen Hause verweilen konnte, ohne mit sich selbst in Zwiespalt zu
geraten. Er hatte während dieses Jahres die wichtige Verbindung mit der
unter Koths Leitung (damals in Augsburg) erscheinenden „Allgemeinen Zeitung"
angeknüpft, Kolb lud den talentvollen und ernststrebenden jungen Schriftsteller
ein, sich an der Redaktion der Zeitung, namentlich ihrer wissenschaftlich-literarischen
Beilage, zu beteiligen. Levin Schücking durfte dies Anerbieten umsomehr als
ein Glück erachten, als er im Begriffe stand, um die Hand einer liebenswürdigen
jungen Dame, Fräulein Luise von Gall zu werben. Und „eS war eine schwere
Aufgabe, von der Literatur leben, um die Zeit von 1840. Bücher hat man
ja nie gekauft in Deutschland — es gehörten damals gar Jahre dazu, bis von
Immermanns Münchhausen vierhundert Exemplare abgesetzt waren —, aber
damals kaufte man auch keine Journale und keine Zeitungen; Heine rühmt in
seinen Briefen aus Berlin (1822) dem Gubitzschen »Gesellschafter ° nach, er habe
es als das beste und gehaltreichste Blatt Deutschlands zu einem Absätze von
fünfzehnhundert Exemplare» gebracht; 1840 war das Cottasche Morgenblatt
jedenfalls das vornehmste und bestredigirte; aber selbst unter der Leitung
Hermann Hauffs, des geistreichen und gelehrten Bruders von Wilhelm Hanfs,
hat es dies Journal ich glaube nur zu zweitausend Abonnenten gebracht! Die
Hvnorore waren demgemäß äußerst schwach. Unter diesen Umständen dürfte
man nicht bettelstolz und arbeitsscheu, nicht wählig und eigensinnig sein und sich
darauf versteifen, bloß seinem »innern Genius« gehorchen und nur das schreiben
und schaffen zu wollen, wozu man Drang und Stachel in sich fühlte." Die
mehrjährige Mitwirkung bei der Redaktion der „Allgemeinen Zeitung" und die
langjährige bei der der „Kölnischen Zeitung" (Schücking siedelte 1845 mit
seiner jungen Gattin auf Anregung Josef DuMonts, des Eigentümers der
„Kölnischen Zeitung," nach der Rheinmetropole über), gab dem Schriftsteller
bis zu einem gewissen Punkte die Freiheit, seinen innern Eingebungen zu
folgen.
Bei dieser Wendung der „Lebenserinnerungen" läßt sich freilich eine Be¬
merkung nicht unterdrücken. Es ist richtig, daß sich alle Heroen unsrer großen
Literaturepoche, Lessing und Schiller allen voran, dem Dienste der Notwendigkeit
bequemt und vieles geschrieben haben, bei dem sie zunächst nur den Erwerb im
Auge hatten. Aber den modernen Schriftstellern steht die Berufung darauf
aus doppeltem Grunde übel an. Einmal weil jene Männer vergangner Zeit
die Kraft besaßen, bei dieser Unterordnung unter die Not des Lebens die Grenze
des Bedürfnisses, und eines sehr bescheidnen Bedürfnisses, nicht zu überschreiten,
dann und hauptsächlich weil sie es verstanden, ihr unabhängiges und eigenstes
Schaffen völlig frei von den Einwirkungen der Brvtschriftstellerei zu erhalten,
viel freier als die Modernen, welche in verhängnisvoller Weise zwischen den
klaren Anforderungen der Kunst und den mannichfaltig unklaren des Buch¬
handels, der Presse und des Publikums stehe» und stecke» bleiben. Levin
Schücking ist trotz des Glückes, welches seine änßere literarische Entwicklung
begleitet hat, in diesem Hauptpunkte nicht besser gefahren; ein talentvoller, mit
Hellem Blick für das Leben begabter, von eigentümlichen Lebenseindrncken be¬
günstigter Schriftsteller, wie er war, hat er es doch zu keinem bleibende» Werke
wie Immermann mit den „Epigonen" und „Münchhausen" oder Wilibald Alexis
mit den „Hosen des Herrn von Bredow" und „Isegrim" gebracht, obschon seine
Romane „Der Bauernfürst," „Luther in Rom" und „Die Heiligen und die
Ritter" den Ansatz und Anlauf dazu aufweise». Immerhin war nichts in seinein
liternrischcn Leben und Streben, dessen eine vornehme Natur (und das blieb er
unter allen Umständen) sich zu schämen gehabt hätte. Die „Lebenserinnerungen"
zeichnen sich daher auch in ihren spätern Kapiteln durch einen reinen Blick für
die Zustände und Verhältnisse, durch ungetrübte Freude am Guten des Lebens,
durch fortgesetzten Anteil eines ernsten und tüchtigen Geistes an idealen Interessen
aus. In den Kapiteln, welche der Charakteristik hervorragender Menschen
gelten, mit denen Schücking in näherm Verkehr gestanden hat, verdienen die beiden
über „Karl Gutzkow" (mit Briefen Gutzkvws an Schücking) und über „Christian
von Stramberg," den „Rheinischen Antiquarius," besondre Hervorhebung.
Schücking hat der problematischen Erscheinung Gutzkow Zeit seines Lebens
pietätvolle Teilnahme bewahrt und tritt für ihn ein, soweit dies nur immer
möglich ist. Aber auch er muß zu dem Urteil gelangen, das sich aus allen
Kämpfen und Kontroversen mehr und mehr feststellen wird: „Gutzkow wurde
nicht von der Menge getragen, und während ihn dies ohne Rückhalt und Reserve
ließ, zog er selbst in seine kritischen Fehden hinaus, ohne das »of trixlvx virvÄ
xövws, ohne die Rüstung, die jeder Kämpfer haben muß. Er hatte die verletzliche
Epidermis eines jungen Mädchens. Jeder Nadelstich schmerzte ihn. Und dann
kam noch etwas hinzu, um ihn zu dem innerlich unglücklichsten Menschen von
allen zu mache», mit denen ich je näher bekannt geworden bin. Er war glücks¬
unfähig. Es lag nicht in seinem Charakter, zufrieden zu sein. Hütte das Leben ihn
auf eine Höhe gestellt wie Papst Leo X., er würde sich geärgert haben über
die Anmaßung seiner Kardinäle, über die Grobheit Michelangelos und über den
Lebenswandel Rafaels. Er ging völlig auf in den literarischen Interessen, in
der Literatur, dahinter trat nach und nach auch seine politische Teilnahme völlig
zurück. In der Weise, wie er sich mit dieser Misere herumschlug, lug ein Zug
von Kleinlichkeit, während sein Hauptjammer doch der war, daß durch unsre
Literatur nicht mehr ein großer Zug gehe." Im Gegensatz zu diesem allzu-
moderncn Schriftsteller (der einer gewissen Generation der Allcrmodernsten
gegenüber freilich schon antiquirt erscheint) tritt uns aus Schückings Charakteristik
el» so wunderliches Original wie der „Rheinische Antiquarius" entgegen. Der
Verfasser der „Lebenserinnerungen" spricht sich mit gutem Recht das Verdienst
zu, auf das ebengenannte wertvolle Memoiren- und Sammelwerk die öffentliche
Aufmerksamkeit zuerst und mit Erfolg gelenkt zu haben. Bei der Charakteristik
des alten Herrn „in seinen gelben Nanking-Svmmerbeinkleideru, mit den Schuhen
und weiße» Strümpfe» nicht viel eleganter als etwa ein pensionirter Magister
aussehend — aber redend, sich ausdrückend so gewühlt wie ein Marquis vom
Hofe Ludwigs XIV." entschlüpft dem sonst milden Schücking eine bittere Anklage,
indem er äußert: „Er ist eines der zahlreichen Beispiele von der empörenden
Gleichgiltigkeit und Vernachlässigung, welche das offizielle Deutschland für das
literarische Verdienst und die fruchtreichste Geistesarbeit hat, wenn diese nicht
in der akademischen Bahn wirkt, wenn ein bevorzugter Geist sich nicht in der
langen Queue nachschiebt, die in den geschlossenen Schranken der Zunft sich zu
den Ehren, Vorteilen und Auszeichnungen drängt." Wer möchte leugne», daß
etwas, daß viel von diesem Tadel noch heute volle Berechtigung hat!
Die Schlußkapitel der unvollendet gebliebner Schückingschen Selbstbiographie
geben unter andern interessante Skizzen aus dem Paris Ludwig Philipps und
dein Rom der ersten Jahre Pius des Neunten. Der Verfasser ging 1847 nach
der ewigen Stadt, um seiner „Kölnischen Zeitung" ans dem Mittelpunkte der
Ereignisse Bericht zu erstatten. Er hatte das Glück, in Rom mit einer ganzen
Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten bekannt zu werden und ein unvergeßliches
Stück Leben auf klassischem Boden zu leben. Mit Schücking zugleich waren
Wilibald Alexis. Friedrich Bodenstedt und Gustav zu Putlitz in Rom; indem
man die letztern Namen nennt, tritt man aus der Reihe der vielen, die vor
dem Verfasser der „Lebenserinnerungen" geschieden sind, wieder in die Reihe
der Lebenden herüber.
Es ist Schücking leider nicht vergönnt gewesen, sein Buch zu Ende zu
führen und über die Jahrzehnte seit dem Sturme von 1348 (deren er nur
hie und da vorgreifend gedacht) in der gleich fesselnden und gleich ansprnchs
losen Weise zu berichten, wie über die Zeit bis zur achtundvierziger Revolution.
Für diejenigen, welche aus dem vorliegenden Buche heraus persönlichen Anteil
an dein Schriftsteller gewinnen sollten, genügt es zu wissen, daß die zweite
Hälfte seines Lebens thätig und im ganzen glücklich verflossen ist, bis ihn im
H
is wir kürzlich an dieser Stelle bei einer Betrachtung des gegen¬
wärtigen Zustandes der deutschen Kunst zu dem unerfreulichen
Ergebnis gelangten, daß sich bei dem schnellen Wechsel der Mode
noch immer kein eigentümlicher Stil ausbilden will, bemerkten
wir zum Schluß, daß nur „der lebendige und unbefangne
Naturalismus unsrer Plastik, die wir augenblicklich am höchsten unter den
bildenden .Künsten stellen," uns mit einer gewissen Hoffnung auf die Zukunft
erfülle. Es ist aber der Fluch unsrer greisenhafter, von Pessimismus und
Hhperkritik durch und durch zerrütteten, zugleich bau- und zerstörungswütigen
Zeit, daß auf das zarteste Hvffuuugsgrün alsbald ein giftiger Mehlthau geworfen
wird. Wenn man nicht wüßte, daß unser Volk schon stärkere Schicksalsschläge
überwunden hat, ohne in seiner unverwüstlichen Lebenskraft tötlich getroffen zu
werden, möchte man an seiner Zukunft verzweifeln angesichts dieser unheimlichen,
auf allen Gebieten mit gleicher Zähigkeit auftretenden ManlwnrfSnrbeit. Auch
auf dem Gebiete der Kunst, mit welchem wir uus hier uur beschäftigen wollen.
Ein Dresdner Archäologe, welcher seine Wissenschaft von dem Vorwurfe
befreien will, daß sie nur trockne Pflanzen in ihr großes Herbarium sammle
und für das praktische Lebe», also für die ausübenden Künstler im besondern
und die Fortentwicklung der modernen Kunst im allgemeinen, nichts thue, hat
die Künstler, zunächst diejenigen seiner engern Umgebung, zur Lösung eines
Problems aufgefordert, das auf rein wissenschaftlichem Wege hcransdestillirt
worden ist. In einer auf Grund eines Vortrages herausgegebnen Broschüre
unter dem Titel „Sollen wir unsre Statuen, bemalen?" hat er alles zusammen¬
getragen, was von alten Schriftstellern über die Pvlhchromie der antiken
Skulptur beiläufig erwähnt worden ist, und hat überdies alles sorgsam verwertet,
was uns die Ausgrabungen zu dem Kapitel der Bemalung der Schöpfungen
griechisch-römischer Architektur und Skulptur an thatsächlichem Material bei-
gesteuert haben. Wie lückenhaft und wenig beweiskräftig um auch die Stellen
der alten Schriftsteller und die Funde der Neuzeit fein mögen — heute zweifelt
kein Mensch mehr daran, daß die Griechen ihre Tempel, ihre Tempelsknlpturen,
ihre Freistntncn und ihre Hermen, kurz, alles um der Kunst körperlich gebildete
bemalt haben. Indem die alten Griechen, die im Grnnde genommen, d, h, nicht
ihrer Abstammung, sondern ihren Neigungen nach, ein mehr orientalisches als
occidentales Volk waren, ihre Kunst aus dem Orient empfingen, übernahmen
sie auch die Farbeulust und deu Farbensinn der orientalischen Völker. Ob nun
die Assyrer oder die Ägypter oder irgendein andres vermittelndes Volk die
Lehrmeister der Griechen gewesen sind — den letztern war es keine fremde
Offenbarung, die aus Holz geschnitzten Götterbilder, die Nachfolger der hölzernen
Mnnnensnrkophagc, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Farben anzumalen,
Sie kannten nichts andres und thaten mir »nie die andern, als sie auch Marmor
und andres Gestein, Mörtel, Stuck in s, w,, bei der Verwendung in Architektur
und Plastik bemalten. Den ältesten Kunstvölkcrn, den Assyrern und Ägyptern,
war es mir darum zu thun, den Schein des Lebens in ihren plastischen Nach¬
bildungen so lange als möglich zu erhalten, und dieses Ziel erreichten sie am
leichtesten durch die Bemcilnug. Das nnter derselben vorhandne Material war
ihnen äußerst gleichgiltig, weil die Kunst damals nicht wie heute an und für
sich, als „Selbstzweck," wie die Philosophen sagen, vorhanden, sondern nnr das
Bedürfnis des Lebens und des Todes war, Sie hatte, wenn man von dem
Kultus absieht, nur die Aufgabe, den Ruhm der Lebenden in möglichst reali¬
stischer Erscheinung zu preisen und die Thaten der Verstorbnen und das
Schicksal, welches sie im Jenseits erwartet, in epischen Darstellungen zu schildern.
Die assyrische Bildnerei, welche als unvergängliches Material den Alabaster
hatte, war von vornherein so malerisch angelegt, daß sie sich fast ausschließlich
aus das Relief, das plastische Symbol der Malerei, beschränkte. Man möchte
sogar annehmen, daß die in den assyrischen und babylonischen Königspalästen
aufgefundnen Reliefs eigentlich nur Surrogate für Malereien waren, weil man
damals keinen andern Malgrund kannte als deu Stuck und die Alabasterplatte.
Bei unsrer heutigen Kenntnis des durch die Ausgrabungen gelieferten empirischen
Materials ist es daher nicht weiter auffallend, daß die Griechen ihre plastischen
Erzeugnisse, nebenbei bemerkt die Anfänge des der menschlichen Natur inne¬
wohnenden Nachahmungstriebes, so gefärbt haben, daß sie das Modell möglichst
getreu Wiedergabe». Es war ihnen dabei gleich, ob das Material Holz, Gips
oder Marmor war. Die Erkenntnis von dem verschiednen Werte der für
bildnerische Zwecke geeigneten Materialien gehört erst einer viel spätern Zeit
an, in Griechenland wenigstens. In Ägypten hat man schon früher empfunden,
daß die Bearbeitung gewisser Steinarten, des Granits, des Porphyrs, des
Syenits, so schwierig ist, daß mau das Ergebnis der Arbeit allein wirken
lassen wollte. Die Steinmetzen waren so stolz ans ihr Werk, auf ihre Kunst
des Polirens, daß sic auf die Mitwirkung des Malers verzichteten. Wir wissen
wohl, daß die Verteidiger der Polychromie in der modernen Plastik uns bei
dieser historischen Reminiszenz den Einwurf machen werden: „Das ist ein neuer
Beweis für unsre Theorie! Die Ägypter suchten also nach farbigen Gesteins-
arten, weil sic das Weiße nicht leiden konnten!" Dieser Einwand würde sich
schon durch die Thatsache widerlegen lassen, daß die Ägypter weder im Lande,
noch in der Nähe Marmvrbrüche hatten, die ihnen Weißen Marmor lieferten.
Dagegen hatten sie — bei ihrem ungeheuern Verbrauch von Menschenkräften —
leine großen Schwierigkeiten, sich schwarzen, roten, gelben, gesprenkelten Marmor,
Granit u. s. w. nach Bedarf zu beschaffen, und sie haben uns anch eine reiche
Fülle von Figuren aus solchem Material hinterlassen. Keine dieser Figuren
war jedoch, soweit meine Kenntnis reicht, ursprünglich naturalistisch bemalt, ein
Beweis also, daß die Ägypter das Material als solches oder doch die darauf
verwendete Arbeit schätzten. Wenn hie und da Augensterne, Gewandteile,
Schmucksachen, Attribute u. dergl. in. dennoch farbig behandelt wurden, so läßt
sich annehmen, daß sich dieser Gebrauch in dem Maße verlor, als die Technik
der Steinmetzen und Bildhauer sich vervollkommnete und ihr Stil sich auf
naturalistischer Grundlage immer weiter ausbildete. Wir wollen mit diesem
Hinweis auf die Ägypter nur in Erinnerung bringen, daß selbst dasjenige Volk
des Altertums, welches kein Bauwerk unbemalt ließ, in der Plastik keineswegs
ein unbedingter Anhänger der Polychromie war.
Die Griechen scheinen allerdings auch ihre technisch vollendetsten Marmor¬
statuen, wie uns u. a. der Hermes des Praxiteles lehrt, durch die Farbe noch zu
größerer Wirkung gesteigert zu haben. Die römischen Bildhauer, welche so viele
Schöpfungen des griechischen Meißels kopirt haben, scheinen jedoch bereits andrer
Meinung gewesen zu sein. Es ist doch seltsam, daß sich an den zahllosen Marmor-
Werken ans römischer Zeit, welche die Museen von Rom und Florenz füllen, keine
irgendwie erheblichen Farbenspuren erhalten haben. Sollte die Zeit hier wirklich
alles bis auf den letzten Rest vernichtet haben, oder ist nicht vielmehr anzu¬
nehmen, daß die große Mehrzahl dieser Statuen und Büsten von vornherein
weiß oder nur leicht getönt gewesen sei? Wie soll man sich z. B. die etwaige
Bemalung des Apollo von Belvedere denken, von welchem wir doch wissen, daß
er auf ein griechisches Brvnzeoriginal zurückgeht? Hatte ihm der römische
Kopist etwa einen bronzefarbnen Anstrich verliehen oder hatte er ihn natura¬
listisch bemalt? Ju letzteren Falle würde die Statue den Wert der Kopie ver¬
loren und in ersterm Falle würde der Kopist eine Geschmacklosigkeit be¬
gangen haben, welche wir selbst einem Römer der spätern Kaiserzeit nicht zu¬
trauen möchten.
Diese Bemerkungen sollen nur darthun, daß die Frage der antiken Poly-
chromie noch weit von ihrer Lösung entfernt ist. Aber wenn wir uns auch
über das Verfahren der Griechen und Römer völlig klar wären, so folgt daraus
immer noch nicht, daß wir dieses Verfahren nachzuahmen hätten. Mögen die
Bildhauer der italienischen Renaissance einen Irrtum begangen haben oder nicht,
als sie ihre Marmorstatuen, -biisten und -reliefs unbemalt ließen und damit das
Ideal der Antike erreicht zu haben glaubten — die moderne Bildhauerkunst
hat seit jener Zeit einen Weg eingeschlagen, der trotz mancher Seitensprünge
immer auf das eine Ziel führt, den höchsten Schein des Lebens hervorzurufen!
Die Sitte, Bildwerke zu färben, ist dabei niemals aufgegeben worden, soweit es
sich um Holz, Stuck, Sandstein, Thon und ähnliches Material von untergeord¬
netem Werte handelte. Nur den Marmor ließ man farblos. Die grelle Weiße
desselben empfand man zwar unangenehm; aber man begnügte sich damit, ihn
durch Einreibung mit einer Wachslösnng oder mit ähnlichen Substanzen leicht
gelblich zu tönen. Indem man darauf verzichtete, die Malerei zur Hilfsleistung
herbeizuziehen, entwickelte sich eine Marmortechuik, die hente in Frankreich, Italien
und Deutschland weit über die Fähigkeiten der antiken Bildhauer hinausgewachsen
ist. Und diese Errungenschaft sollten wir aufgeben, nnr weil die Griechen, der
orientalischen Überlieferung tren bleibend, ihre Statuen über und über mit Farbe
bedeckt haben?
Eine Ausstellung farbiger und getönter Bildwerke, welche ans die Anregung
jenes schon erwähnten Archäologen in den letzten Monaten des verflossenen
Jahres in der Berliner Nationalgalerie stattgefunden hat, hat uns keineswegs
dazu ermutigt. Die eine Hälfte dieser Ausstellung, die historische, in welcher
Proben von bemalten plastischen Knnsterzeugnissen aller Epochen und aller
Kulturvölker, einschließlich der ostasicitischeu, vertreten waren, hat keinem Künstler,
keinem kunstwissenschaftlich gebildeten Fachmanne, auch keinem Laien, der überhaupt
Museen besucht, etwas neues geboten. Dazu war ihr Umfang viel zu beschränkt.
Wer nicht bereits gründliche Vorkenntnisse mitgebracht hatte, der betrachtete die
etwa zweihundert Nummern als bunte Kuriositüteu, wie sie in jedem leidlich gut
allsgestatteten Museum vorhanden sind. Ein historischer Entwicklungsgang war
nicht zu verfolgen, vielleicht weil überhaupt keiner vorhanden ist, da die Poly-
chromie der plastischen Werke in alleil Ländern, die dabei in Frage kommen,
von bestimmten Gewohnheiten und Überlieferungen, von klimatischen lind
ethischen Rücksichten abhängt. Alle diese Länder dürfen ihre Kunst nach diesen
Gesetzen entwickeln. Nur der deutschen wollen archäologische Fanatiker dasselbe
Recht bestreikn. Mit Mühe und Not, unter den härtesten Kämpfen ist es »nseru
Bildhauern gelungen, sich unter der Ägide von Rauch und Rietschel eine eigne
Ausdrucksweise zu schaffen, und sobald sich dieser nationale Zug einigermaßen
gekräftigt hat, wird das ganze Rüstzeug antiquarischer Wissenschaft aufgeboten,
um diese nationale Regung zu unterdrücken, weil wir nun einmal dazu bestimmt
sind, in der Plastik die Sklaven der Griechen zu bleiben und unsre Ausdrucks-
weise dem Resultate einer jeden neuen Ausgrabung anzupassen!
Die zweite Hälfte jener Ausstellung hat uns gelehrt, welche Frucht die
Agitation des Dresdner Archäologen getragen hat. In der gemütvollen Be¬
leuchtung von Künstlerateliers nehmen sich die Versuche, Gipsabgüsse antiker
Statuen mit Wachsfarben zu bemalen, äußerst lehrreich und interessant aus.
Mau kann sich kein besseres Objekt denken, um Studenten der Archäologie die
ersten Begriffe von der antiken Polychromie beizubringen. Welchen Wert haben
aber solche Experimente für die praktische Kunst? Wer in seinen Wohnräumen
Gipsabgüsse zum Studium aufstellt, der laßt sich die Schärfe der Form nicht durch
einen mehr oder minder dicken Farbenauftrag verkümmern. Ein wirklicher Kunst¬
kenner läßt nicht einmal die Nähte der Gußform entfernen. Wer Gipsabgüsse zur
Dekoration oder zum rein ästhetischen Kunstgenusse verwerten will, der kauft sich
solche, die gelb oder rötlich getönt sind, damit das farbige „Ensemble" seines
Zimmers nicht gestört wird. Bemalte Gipsabgüsse, wie sie einige Künstler ge¬
liefert haben, sind weiter nichts als Unterrichtsmittel im höhern Sinne. Eine
praktische Bedeutung haben sie nicht, weil nur bemalte Marmvrbildwerke uns
über die Frage schlüssig machen können, ob wir „unsre Statuen bemalen" sollen
oder nicht.
Es muß nun konstatirt werden — und daraus ist der unbefriedigende Aus-
gang der Berliner Ausstellung zum Teil zu erklären —, daß nur zwei Künstler
farbige und leicht getönte Marmorarbeiten — Reliefs und Büsten — ausge¬
stellt hatten. Es siud junge Bildhauer, die gern und eifrig jedem von höherer
Stelle ausgehenden Aufruf nachkommen, und deshalb wollen wir ihre Arbeiten
keiner nähern Kritik unterziehen. Wir dürfen aber nicht verschweigen, daß die
durch den Dresdner Archäologen angeregten Versuche, Marmorreliefs und
Marmorbüsten zu bemalen, so überaus klüglich ausgefallen sind, daß der große
Strom einer gesunden Kunstentwicklung die kleinen Blasen und Strudel, die
aus der Tiefe antiquarischen Wissens emporsteigen, mit Leichtigkeit beseitigen
wird. Bildhauer von gefestigter und gereifter Kunstanschauung haben sich denn
auch begnügt, um Gipsabgüssen unschuldige Experimente zu machen, während sie
sich bei Marmorwerken klüglich ans eine leichte, ins Gelbliche spielende Tönung
beschränkt haben. Die von andern Künstlern ausgestellten Arbeiten in glasirter
und unglasirter Terracotta können bei der Besprechung dieser Frage nicht in
Betracht kommen, da der zu plastische!? Zwecken verwendete Thon stets gefärbt
oder getönt worden ist, die Ausstellung nach dieser Richtung also nichts
neues bot.
Wenn sich schon ans einer Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung der
Bildhauerkunst sehr starke Bedenken gegen eine Rückkehr zu der antiken Pvlh-
chromie von Marmorwerken ergeben, so werden dieselben noch vermehrt, sobald
mau die rein technische Seite ins Auge saßt. Professor Springer hat schon
vor zwei Jahren an diesen Punkt gedacht und den Grundsatz aufgestellt, daß
die „Bemalung nicht nachträglich zu dem fertigen plastischen Werke" hinzutreten
dürfe, sondern daß „ans sie schon bei der Anlage des letztern Bedacht genommen"
werden müsse. Mit einer einzigen Ausnahme haben alle Künstler, welche sich
an der Berliner Ausstellung beteiligten, diese Forderung außer Acht gelassen,
und das ist ein andrer Grund, weshalb das Ergebnis jenes Attsstellungsver-
suches von so geringer praktischer Bedeutung ist. Ein geschätzter Leipziger Bild¬
hauer, welcher über seine Kunst ernsthaft nachgedacht und eingehende archäo¬
logische Studien getrieben hat, Professor zur Straßen, hat die von Springer
angedeutete» Gedanken ans Grund langer Erfahrungen und Beobachtungen noch
weiter ausgeführt, leider nicht in einer Zeitschrift oder in einem öffentlichen
Vortrage, sondern in einem an mich gerichteten Briefe, zu welchem ihn die
Berliner Ausstellung veranlaßt hat. In Anbetracht der Wichtigkeit der Frage
und der schlagenden Beweiskraft seiner Bemerkungen wird er mir jedoch gestatten,
einige Stellen ans diesem Briefe mitzuteilen. Nachdem er vorausgeschickt, daß
er keineswegs ein unbedingter Gegner der farbigen Skulptur sei und ihr gern
die Berechtigung einräume, wo sie am Platze sei, vornehmlich bei Terraeotta,
Holz, Sandstein, stellt auch er den Grundsatz auf, daß die Modcllirnng eines
jeden plastische» Werkes nicht allein Berücksichtigung des Materials, sondern
auch der Farbe perla»ge, »»d letzteres hätten bereits die Künstler des klassischen
Altertums erreicht. Er führt dann mehrere Beispiele an, „Die Darstellung
der Farbe dnrch Form ist fast in allen Werken der antiken Kunst nachzuweisen,
gleichviel, ob der Marmor noch in jungfräulicher Frische strahlt oder von Jahr¬
hunderte alter Palma überzogen ist. Wer würde z, B, aus der Behandlung der
Haare nicht sofort herauserkennen, daß beim Apollo von Velvcdcrc goldblondes,
beim farnesischen Herkules dunkelbraunes und beim Mare Aurel oder Lucius
Verus glä»ze»d schwarzes Haar gedacht war?" Das sind sämtlich Arbeiten aus
römischer Zeit, an denen man keine Spuren von Bemalung entdeckt hat und
die sicherlich auch nicht naturalistisch bemalt waren, wofür ihre technische Be¬
handlung spricht. Professor zur Straßen fährt dann fort: „Ein guter Bild¬
hauer darf die in Farbe verschiednen Haare nicht uns eine und dieselbe Weise
behandeln, und um das Ganze charakteristisch zu machen, muß er auf die Farbe
Rücksicht nehmen. Wie schön hat z. B Rietschel das weiße Haar Rauchs charak-
terisirt, und es ist sicher, daß er es mit vollen, Bewußtsein gethan hat. Wie
aber die scharf hervortretenden Farben des Haares die Form zu ihrer Dar¬
stellung gefunden haben, so ist es auch mit den weniger mnrtirten Farben der
Fall. Sind die Wangen rot, so müssen dieselben gewölbter modellirt werden
als blasse. Desgleichen müssen die Lippen je nach ihrer Farbe mehr oder
weniger gewölbt modellirt werden; auch müssen die Ränder derselben wegen der
scharfen Abgrenzung des Noten vom Weißen oder Fleischfarbenen durch besondre,
von der Natur abweichende Formen behandelt werden. Ebenso der Übergang
vom Fleisch zu den Haaren, und zwar dadurch, daß das Haar etwas zurück¬
gedrängt, das Fleisch erhöht und dann weich mit den Haaransätzen verbunden
wird. Der Scheitel muß je nach der Farbe der begrenzenden Haare um ein
Bedeutendes erhöht werden (ö bis 8 Millimeter). Würde man solche Köpfe
bemalen, so würden dieselben außer Verhältnis kommen. Bei Köpfen mit sehr
durchsichtige,? Haaren (von kleinen Kindern und Greisen) müssen die Schädel
verstärkt werden, welche dann wiederum bei einer Bemalung wasscrköpfig er¬
scheinen würden, oder sie müßten den», wie Professor Springer sehr richtig sagt,
extra für die Bemalung modellirt sein. Man würde aber nnr durch eine direkte
Abformung der Natur das für Vemaluug richtige finden. Dann braucht man
aber keine Bildhauer, sondern nur tüchtige Former."
Diese in jedem Punkte beachtenswerte Auseinandersetzung bestätigt nicht
bloß die Ergebnisse theoretisch-historischer Betrachtung, sondern sie deutet auch
bereits das Ziel an, zu welchem unsre Bildhauerkunst gelangen würde, wenn
sie sich plötzlich zur Polychromie bekehrte. Wir wollen dabei garnicht an das
schon oft heraufbeschworene Gespenst des Wachsfigurenkabinett denken, obwohl
uns die Berliner Ausstellung triftige Gründe dazu gegeben hätte. Wir wollen
nur das mühsam auf dem Wege eines unablässigen Fortschrittes Errungene
gegen eine Reaktion verteidigen, welche einem noch sehr anfechtbaren Dogma
zuliebe alles vernichten will, was durch eine lange Reihe der besten künstlerischen
Kräfte auf den Voraussetzungen unsers Klimas, unsrer materiellen Hilfsmittel,
unsrer ästhetischen Gewöhnung aufgebaut worden ist. Die Bildhauertechnil
unsrer Tage weiß auch ohne Hilfe der Naturfarben malerische Wirkungen zu
erzielen, die oft genug bereits über die Grenzen der Plastik hinausgehen. Sollen
wir diesen über das ungefügige Material errnngneu Triumph ohne weiteres
preisgeben? Sollen wir zu primitiven künstlerischen Darstelluugsformeu zurück¬
kehren, zu deren Verständnis uns die nationale Tradition der Griechen fehlt?
Wir würden den Lebensfaden unsrer Bildhauerkunst sür lauge Zeit unterbinden
und im günstigsten Falle ein zweifelhaftes Gut gewinnen. In Wirklichkeit haben
wir jedoch keine Ursache, uns mit solchen Grillen zu plagen. Die Entwicklung
der Kunst ist noch niemals durch Theorien vorwärts gebracht oder aufgehalten
worden. So wird auch die Frage, ob wir „unsre Statuen bemalen" sollen, vor¬
aussichtlich nicht lange die Kreise unsrer Künstler stören.
ährend der König langsam seinen Umgang durch beide Säle
hielt, Vnrretv und Camoens in dem dichten Kreise standen,
der sich jetzt von neuem um sie bildete, hatten sich kleine
Gruppen der Anwesenden nach den Fenstern zurückgezogen und
beobachteten von dort aus das bunte Getümmel. Zu einem
ältern Manne in geistlichem Gewände, welcher in der Nische des letzten Fensters
lehnte und kein Auge von Senhor Manuel und seinem Freunde verwandte,
trat mit leisen, selbst auf dem Marmorboden des Saales kaum erklingenden
Schritten Pater Tcllez Alucita, der Kaplan des Königs — ein junger, höchstens
vierundzwanzigjähriger Priester, in dessen hagern, blassem Antlitz Nachtwachen
und unablässige Nudachtsübuugeu schon tiefe Furchen gezogen hatten. Er neigte
sich nicht tief, aber sichtlich mit Demut vor dem ältern Geistlichen, der ihm
mit flüchtigem Wink bedeutete, sich nicht beim Gruße aufzuhalten und näher,
ganz nahe zu ihm heranzutreten. Über der Adlernase des alten Priesters, des
Priors von Nelem, funkelten ein paar schwarze Augen, die noch einmal auf
Camoens gerichtet und denn Pater Tellez rasch zugewandt wurden-
Wer hat dem König Luis Camoens zu solcher Aufnahme empfohlen?
Manuel Varreto hätte das nicht vermocht —
Dom Antonio Pacheeo, der Komthur! versetzte der junge Kaplan. Er
war diesen Nachmittag eine Viertelstunde bei dem König, man hörte ihn ein¬
dringlich sprechen.
Was wißt Ihr von Camoens, Bruder Tellez? Ist die Gunst, welche unser
Herr dem Dichter zuwendet, ein ungefährliches Spiel, kann er die Auszeichnung
verdienen, die man ihm so freigebig voraufgewährt hat?
Laßt uns das hoffen, Herr! antwortete der junge Priester. Zu Goa hat
sich Camoens nicht an die Unsern gehalten, und wenn er auch nicht in dem
Verdachte ketzerischer Meinungen stand, so war er doch nach Dichterart lau
gegen die heilige Kirche und mehr bekümmert um sein Gedicht als um sein
Seelenheil. Ihr seht selbst, in wie bedenklichen Händen er hier ist.
Ich sehe es, aber das ist die Frage nicht! sagte der Prior von Belem in
dem leisen und doch scharf und bestimmt klingenden Tone, den er zuerst an¬
geschlagen hatte. Auch ein weltliches Gedicht kann geistliches Werkzeug werden,
wenn ihm der rechte Geist an oder auch von der rechten Stelle eingehaucht
ist! Sucht zu erkunden, ob der Dichter vielleicht unsrer bedarf, und kümmert
Euch ein wenig um sein gegenwärtiges Leben! Über das Vergangne will ich
in Erfahrung bringen, was uns nützen kann. Und seid ganz Ohr, wenn er
alsdann zu lesen anhebt, falls der König seines Vorsatzes in einer Stunde noch
eingedenk ist.
Ich habe ein Gelübde gethan, beim Lesen weltlicher Bücher und beim
Klänge weltlicher Musik meinen Rosenkranz zu beten.
Ich dispensire Euch für heute davon, Bruder Tellez, antwortete der Prior.
Ihr sollt hören, was Luis Ccimvens uns bringen wird. Ich weiß doch, daß
Ihr seinerzeit in Coimbra im Virgil und Theokrit gut Bescheid wußtet, sucht
Eure alten Künste hervor.
Trotz der kleinen Schmeichelei, die in den letzten Worten lag, sprach der
Prior von Belem kalt und kurz, mit schlecht verhohlener Geringschätzung der
Gelübde des jungen Priesters, zu Tellez Alucita. Dieser neigte nnr das Haupt,
zum Zeichen, daß er gehorchen wolle, und verstand den Wink aus den funkelnden
schwarzen Augen, daß die Unterredung zu Ende sei, recht wohl. Aber er ent¬
fernte sich nicht, sodaß der Prior endlich hinwarf: Habt Ihr mir noch etwas
zu sagen, Bruder Tellez?
Gewiß, hochwürdigster Herr! entgegnete der Kaplan, und jetzt blitzte in
seinen Augen ein Strahl auf, den der Prior mit Überraschung sah. Ich wagte
schon vor Wochen aus die Gefahr hinzudeuten, in welcher der König steht. Er
betet noch alle Morgen, daß Gott ihn keusch erhalten und ihm Siege im Kampfe
für den Glauben scheuten wolle. Aber ich fürchte, er betet nur noch mit den
Lippen, nicht mit dem Herzen. König Sebastian sieht Donna Catarina
Palmeirim jeden Tag, und in seinen Angen flammt die Sünde. Wer ein Weib
ansieht, ihrer zu begehren, hat schon die Ehe gebrochen, spricht der Herr!
Donna Catarina ist nicht vermählt! sagte der Prior von Belem trocken.
Was wollt Ihr mit Euern Worten kurz sagen?
Daß Gefahr im Verzüge ist, daß die Tochter des Grafen von Palmeirim
vom Hofe hinweg muß, da es doch noch Monate anstehen kann, bis der König
den Feldzug gegen Marokko antritt. Daß Ihr und des Königs Beichtvater
nicht länger zögern dürft, unserm jungen Herrn ins Gewissen zu reden.
Ihr seid unerfahrner, als sich in Euerm Amt geziemt. Sobald der König
Pater Rafael, seinem Beichtvater, sträfliche Gedanken vertraut, wird es dieser
an Mahnungen nicht fehlen lassen und mit der Gnade des Höchsten den jungen
König vor einem Fehltritte bewahren. Wenn uns jetzt gelänge, die junge Dame,
von der Ihr sprecht, vom Hofe zu entfernen, so würden wir vielleicht eben
damit den König in ihre Arme treiben. Wißt Ihr nicht, daß man die Könige
dieser Welt zum schlimmen anstachelt, wenn man ihnen etwas unerreichbar
macht, worauf sie ihren Wunsch oder Willen gerichtet haben? Dom Sebastian
muß sich selbst finden, Eure und unsre Kraft kann ihn nicht behüten — womit
ich nicht gesagt haben will, daß Ihr nicht auch ferner die Augen offen halten sollt.
Bruder Tellez Alucita kämpfte mit sich, ob er schweigend hinweggehen
oder noch mehr sagen solle. Der Prior von Belem hatte sich abgekehrt und
sah aus dem Fenster über die Terrasse hinweg, bis der Kaplan unmittelbar
neben ihm trat und ihm zuflüsterte:
Ihr müßt mir verzeihen, Herr — ich kann Eure Ruhe nicht teilen. Bedenkt,
welch ein Beispiel König Sebastian der Welt bis heute giebt — ein König,
ein Krieger, der kindliche Reinheit bewahrt und die Sünde irdischer Liebe als
die schwerste aller Sunden erkennt! Er entsagt der Ehe, die sein Volk von ihm
hofft und stürmisch begehrt, nur um der himmlischen Krone sicher zu sein! Und
nun gefährdet ihn die Versuchung, die schwerste, mit welcher der Mensch Tag
und Nacht streitet, und Ihr wollt ihm jede Unterstützung in solchem Kampfe
versagen?
Thut, was Eure Pflicht ist, nicht mehr noch minder! antwortete der Prior
mit strafender Schärfe im Tone. Ihr stellt zu wenig Gott anheim. Wenn er
es geschehen lassen will, daß der König strauchelt, so wird er ihn auch wieder
aufrichten. Im Gefühl seiner Makellosigkeit könnte sich der junge König vielleicht
überheben und die Leitung mißachten, die ihm gewährt ist — im Bewußtsein
einer Sünde würde er demütig und dankbar sein. Ich sage nicht, daß es so
kommen müsse, teile Eure Besorgnisse für den König nicht und will Euch nur
zu Gemüte führen, daß einem Priester ein wenig Vertrauen auf die Vorsehung
Wohl ansteht!
Der Ausdruck der Bestürzung auf dem Gesichte des jungen Kaplcms
unterschied sich seltsam von dem Ausdrucke heiterer Ruhe in den Zügen des
Priors. Tellez Alucita beugte sich auf die lässig gefalteten Hände des hohen
Geistlichen herab, küßte dieselben und stammelte:
Herr, wenn Ihr denn keinen Wert darauf legt, daß der König keusch und
makellos bleibt, so gedenkt, daß Ihr ein Portugiese seid wie ich, wie wir alle!
Laßt Dom Sebastian eine christliche und fürstliche Ehe schließen und helft seinem
ruhmwürdigen Stamme die Krone dieses Landes für fernere Zeiten sichern.
Bedenkt die Zukunft, Herr!
Ich sehe mit Erstaunen, Bruder Tellez, wie sehr Ihr von weltlicher Sorge
bewegt werdet. Der König ist unser wie Euer Herr, will er sich vermählen,
wer kann ihn hindern? Aber uns Söhnen der Kirche ziemt es nicht, ihn zur Ehe
zu drängen, wie Ihr wohl wißt. Eure Furcht um die Zukunft des Landes
teile ich nicht. König Sebastian ist ein treuer Sohn der Kirche. Wenn es
jedoch Gott gefiele, ihn ohne Nachkommen abzurufen, fiele sein weltliches Erbe
an Spanien, und ich hoffe, daß Ihr König Philipp für so gläubig und so
getreu haltet wie unsern jungeu Herrn! Jetzt geht in die Nähe des Königs
zurück und achtet ans Luis Ccnnoens!
Tellez Alucita gehorchte augenblicklich und ohne noch ein Wort zu ver¬
lieren, er wendete sich aus der Fensternische gegen die Mitte des Saales hin,
wo Barrcto und Cumoeus noch immer von Begrüßenden und Glückwünscheuden
umdrängt waren. Niemand in dem glänzenden Kreise hatte auf die verdüsterte
Miene des jungen Kaplans Acht, nur der Prior von Belem blickte ihm nach,
jetzt wieder mit dem ruhigen Ernst, den er im allgemeinen zur Schan trug.
Auch Bruder Tellez fand die Selbstbeherrschung des Priesters rasch wieder; er
zuckte nur unmerklich, als sich die Flügelthüren des Hauptsanles am untern
Ende öffneten und gleichzeitig am obern Ende der König aus dem Nebensaal,
in dem er verweilt hatte, rasch »nieder eintrat. Die Aufmerksamkeit der Ver¬
sammlung teilte sich augenblicklich zwischen den am untern Saalende erscheinenden
Daiueu und zwischen König Sebastian, welcher mit ungestümer Bewegung den
Eingetretenen entgegeneilen wollte, aber offenbar infolge einiger Worte, die ihm
Graf Vimivsv zuflüsterte, seineu Schritt mäßigte und zuletzt in der Mitte des
Saales stehen blieb. Da man ehrerbietig vor ihm und der kleinen Gruppe seiner
Begleiter zurückwich, so entstand auf der Stelle ein leerer Halbkreis, der sich
erweiterte, um auch den Damen, die von den Gemächern der Königin-Witwe
her kamen, Raum zu geben. Es waren zwei ältere Frauen in dunkler Kleidung
und zwei jüngere in leuchtend prächtigen Gewändern, welche zugleich in den
Halbkreis traten und den König ehrfurchtsvoll begrüßte». Aber wie Dom
Sebastians funkelndes Auge nur eine derselben wahrnahm, so richteten sich auch
die Blicke aller nur auf die schlanke Mädchengestalt i» einem Obergewand aus
Silberstoff, das über ein Unterkleid von purpurnem Sammet herabfiel. Die
dunkeln Haarwellen des schönen Mädchens waren von einem Diadem gehalten,
aus dessen goldnen Blättern große Rubinen als Blüten hemusleuchtcten. Aber
niemand in diesem Kreise, am wenigsten Dom Sebastian, sah auf Gewand und
Juwelen der schönen Catarina Palmcirim. Die edle Schönheit ihrer Züge war
von jugendlichem Liebreiz überhaucht, der einen Wiederschein in dem Gesichte des
jungen Königs zu erwecken schien. Dom Sebastians düster ernster Ausdruck
verlor sich schon, als er des Mädchens ansichtig ward, und wandelte sich jetzt
in einen Ausdruck von Heiterkeit, welcher keinem der Anwesenden entging. In
dem Zusammendrängen der glänzenden Versammlung, dem bewundernden, viel¬
bedeutsamen Stimmcngeschwirr, das sich erhob, war sogar ein halb erstickter
Aufschrei nicht gehört worden, der mitten im Gedränge erklang, und da alle
Blicke nach dem König und der ihm gegenüberstehenden Dame gekehrt waren,
hatte niemand auf das Gesicht und das weitgeöffnete Auge des Luis Camoens
Acht, der mitten im Gewühl der Hofherren verschwand und dessen Hand sich
krampfhaft um den Arm Manuel Bnrretos klammerte. Der Dichter hatte in
dem Augenblicke, wo die Damen und unter ihnen Cawrina Palmcirim eintraten,
mit einem der alten indischen Befehlshaber, denen ihn Barreto vorgestellt hatte,
wenige Worte gewechselt und war erst durch das Rauschen und Flüstern der
Umstehenden veranlaßt worden, sich nach dem Könige hinzuwenden. Sein Blick
fiel zugleich auf daß froh erhellte Gesicht des jungen Fürsten und auf die
schönen Züge des Mädchens — dem Aufschrei, den er mit plötzlichem Besinnen,
wo er sei, zurückzudrängen suchte, folgte ein langes, atemloses Hinstarren nach
der holden Erscheinung, Ohne es zu wissen, hatte sich Camoens in die vordere
Reihe des dichten Halbkreises gedrängt und Barrcto mit sich gezogen. Der
letztere war zum Glück der Einzige, der in dieser Minute auf den Dichter
Acht hatte, er allein verstand mich, was in der Seele desselben vorging, hatte
das Gefühl, daß Camoens sein übervolles Herz erleichtern müsse, und flüsterte
ihm zu: Sie gleicht ihrer Mutter wundersam, ist es nicht so, Freund?
Gleicht? — Sie ist es selbst so wahr Gott lebt! entgegnete der Dichter
in leisem Tone, durch den seine glückselige Erregung hindurchzitterte. Sein
Auge hing dabei fort und fort an den Zügen der jungen Gräfin, mit welcher
jetzt der König sprach, und haftete auf der Bewegung ihrer Lippen, als ob er
an diesen den Klang ihrer Stimme erraten könne. Barreto unterdrückte ein
heiteres Lächeln über die Verzückung des Freundes nicht; da diese aber nicht
enden wollte und Senhor Manuel mit einemmale bemerkte, das; Tellcz Alucita,
der Kaplan des Königs, in Camoens' Nähe stand und sehr aufmerksam den Blicken
des Dichters folgte, so mahnte er ihn durch ein paar rasche Worte, sich zu
besinnen: Hütet Euch wohl, Luis! Wenn es Euch glücklich macht, in der Tochter
die Mutter wieder zu erkennen, so berge dies Glück vor fremden Angen. Tretet
mit mir zurück und gönnt dem Schwärme nicht deu Anblick Eurer Thränen!
Ihr habt Recht, Freund! sagte Camoens, wie ans einem Traume auf-
fahrend und das thränenfeuchte Auge mit der Hand deckend. Führt mich, wohin
Euch gut dünkt! Die holde Erscheinung wird ja nicht in einem Augenblicke
wieder verschwinden.
Während er so leise und doch für diesen Kreis immer noch zu laut zu
Barrcto sprach, leitete ihn dieser aus dem dichten Gedränge an eines der offen
stehenden Fenster, deren tiefe Nischen jetzt völlig leer waren. Camoens blickte
noch einmal zurück, er konnte von hier aus nur den König wahrnehmen, Haupt
und Gestalt der schönen Cawrina Pnlmeirim war durch die Gruppe verdeckt,
in der er eben selbst gestanden hatte. Hoch aufatmend beugte er sich hinaus —
unter den Bäumen der großen Terrasse herrschte jetzt völliges Dunkel, ein
würziger Hauch strömte von den blühenden Orangen dicht vor den Fenstern
zu ihm heran. (FortschunI folgt.)
In der soeben erschienenen
vierten Auflage des trefflichen Reisebuches über Mittelitalien von Gsell-Fels") ist
an auffälliger Stelle die „Warnung" zu lesen, daß das reisende Publikum unter
keinen Umständen irgendwelche Wertsachen (besonders Schmuck, Geld u, s, w.) in den
aufzugebenden Gepäckstücken lasse, da das Reisegepäck, welches aufgegeben wird, ans
den italienischen Eisenbahnen den frechsten Plünderungen ausgesetzt sei.
Es ist vielleicht für manchen von Interesse, das Material kennen zu lernen,
auf welches sich diese öffentliche Anklage stützt, und welches die Veranlassung zu
obiger Warnung gegeben hat. Außer allgemeinen Klagen in italienischen Zeitungen
sind es vier Fälle von frecher Plünderung des Reisegepäcks, dnrch welche deutsche
Reisende schwer geschädigt wurden, die aber mur zum Teil in die Oeffentlichkeit
gedrungen sind,
Durch die meisten deutschen Zeitungen ist Wohl die Nachricht von dem Dieb-
stähle gegangen, welcher um dem Reisegepäck des Generaladjutanten des Königs von
Württemberg, Freiherr» von Spitzenberg, bei dessen Durchreise durch Genua be¬
gangen worden ist. Derselbe hatte im Frühjahr vorigen Jahres im Auftrage des
Königs Geschenke im Werte vou über 3000 Mark ans Italien nach Deutschland
zu bringe«. Die Sachen (Schmuck u. dergl.) befanden sich in wohlverschlossenen
großen Koffern, welche in Genua auf dem Bahnhofe gelassen Wurden, während
Freiherr von Spitzenberg mit seinem Gefolge im Hotel übernachtete. Da die
Koffer am folgenden Tage direkt nach Stuttgart aufgegeben wurden, so können die
Wertgegenstände, die man beim Oeffnen der Koffer in Stuttgart sämtlich vermißte,
mir auf dem Bahnhöfe in Genua gestohlen worden sein. Dabei zeigten jedoch die
Schlösser keinerlei Verletzung. Ebenso kann in einem andern Falle der Diebstahl
nur während des Verweilens der Koffer auf dem Bahnhofe in der Nacht erfolgt
sein. Und dabei wurde von dem Polizeiagenten, den das italienische Ministerium
des Junern auf die energischen, Reklamationen des Bestohlenen hin nach diesem
Bahnhöfe geschickt hatte, konstatirt, daß in der Nacht des Diebstahls der dienst¬
habende Wachmann vom Stationschef (!) aus dem Stationsgebäude weggeschickt worden
war. Trotzdem blieben alle Reklamationen, sowie ein langer Prozeß erfolglos.
In zwei andern Fällen scheint der Diebstahl während der Fahrt ausgeführt
worden zu sein. So wurden einem Ehepaare aus Hamburg, das von Mailand
nach dem Lago Maggiore reiste, wahrscheinlich während der Fahrt von Mai¬
land nach Aroua dnrch Oeffnen der Koffer zwei Armbänder und eine Geldbörse
gestohlen. Ein schweizerisches Blatt, welches diese Thatsache nach dem Berichte, im
„Schwäbischen Merkur" (vom 21. Juni 1885) veröffentlichte, bemerkt dazu, daß
auch Schweizer Damen bei der Fahrt ans derselben Strecke Mailand-Aroma wert¬
voller Gegenstände, die sich in ihren wohlverschlossenen Koffern, befanden, in, rätsel¬
hafter Weise geraubt worden seien. Der vierte Fall endlich hat den Herausgeber
der Gsell-Felsschen Neisebücher, Herrn Vcrlagsbuchhändler Meyer, betroffen. Der¬
selbe hatte sein Gepäck in Neapel nach Luzern auf die Bahn gegeben; als er es
vier Tage später in Luzern in Empfang nahm, waren die darin verpackter Schmuck-
etnis sämtlich ihres Inhalts beraubt. Da die Schlösser des Koffers in bestem
Stande waren, kann der Raub nur von sehr geübter Hand, mit Hilfe sehr voll¬
kommener Instrumente und in aller Sicherheit und Muße, wahrscheinlich wahrend
der Fahrt, verübt worden sein.
Daß diese Plünderungen nicht vereinzelt dastehen, beweist ein längerer Artikel
eines italienischen, in Genua erscheinenden Blattes («Üomnu-re.lo vom 2V./21. Mai
1885), welcher ohne Umschweife ans die überaus häufigen und schamlosen Plünde¬
rungen der Gepäckstücke während der Fahrt und auf den Bahnhöfen — der Ver¬
fasser behauptet, daß acht, zehn und mehr Prozent der transportirten Kokil beraubt
würden — hinweist und dringend Abhilfe verlangt. Der Artikel trägt die Ueber-
schrift: „Die Eisenbahndiebstähle auf den italienischen Eisenbahnen."
Da angesichts solcher Thatsachen kein Zweifel übrig bleibt, so kann man die
Warnung des genannten Reisebuches nnr billigen und für möglichste Verbreitung
derselben Sorge tragen.
statt zu ernennen, S, 365 ist gedruckt, die Konzession sei zurückgegangen, wil
es zurückgezogen heißen muß. Ein andrer Fehler ist diesmal wenigstens nicht
wiederholt; denn S. 235 der Geschichte des Kulturkampfes, Z. 4 von unten war
geirrt gedruckt, dafür ist jetzt wenigstens richtig gerirt hergestellt (S. 352). Aber
S. 426 ist aus einem Brief Bismarcks um Bülow ein Fehler stehen geblieben, der auch
in G. R. Wagners Buch: „Bismarck nach dem Kriege" S. 220 schon erscheint:
„Und Roon war auch kein leicht zu lebender Charakter." Diesen Fehler konnte
der Reichskanzler nicht einmal in der erregtesten Rede gemacht haben, vielweniger
in einem Briefe. Es ist falsch gelesen wordeu und soll jedenfalls heißen: kein leicht
zu lenkender Charakter.
Unschädlicher sind die lächerlichen Fehler, wie wenn es z. B. in L. Hahns
schönem Buche: Zwanzig Jahre, 1862 bis 1832, S. 84 statt Reaktion Redaktion
heißt. Aber unangenehm ist es doch, wenn S. 73 desselben Buches aus dem Ein¬
heitsstaat ein Einzelstaat wird, wenn S. 92 und 93 in dem berühmten Wort über
die Frankensteinsche Klausel zweimal Fiuanznot statt Finanzhoheit gedruckt ist, oder
wenn S. 36 dnrch Ausfall der Worte „zu verwerfen" der ganze Satz Z. 14 v. u.
seineu Sinn verliert.
Ich glaube, dieses Material genügt, um den allgemeinen Eindruck zu begründen,
von dein wir ausgcaugen siud. Wir müsse« besonders in so wertvollen Büchern
mehr für den Leser thun in Korrektheit des Druckes, und wenn wir auch mehr
Arbeitskräfte heranziehen müßten für Korrektur; wir müssen uns dies auferlege»
und dürfen uns hierin von deu Fremden nicht länger beschämen lassen.
Die Tübinger Studentenver¬
bindung Köuigsgesellschaft (Roigel) hat sich bei uns darüber beschwert, daß die Dar¬
stellung eines in unserm Aufsatze „Korps und Burschenschafter" (Heft 2, S. 56)
erwähnten Vorkommnisses als ein Angriff auf sie aufgefaßt werden müsse. Wir
können im Einverständnis mit dem Verfasser jenes Aufsatzes nur erklären, daß ein
solcher Augriff keineswegs beabsichtigt gewesen ist, und daß insbesondre der Aus¬
druck „typisches Beispiel" uicht den Sinn haben, sollte, der dort erwähnte Fall sei
für die betreffende Verbindung typisch, sondern nnr für den schlimmen Einfluß,
den der Verruf zwischen Korps und Burschenschafter auf die Studenten aller
Hochschule» ausübt. Wir dürfen wohl annehmen, daß die Tübinger Verbindung
— deren Name übrigens zu unserm lebhaften Bedauern mit einem falschen Di¬
phthonge, en statt ol, gedruckt war — sich bei dieser Erklärung beruhigen werde.
Unter dieser Ueberschrift brachten die Grenzboten im 41. Hefte
des vorigen Jahrganges einen Aufsatz, der in musikalischen Kreisen, wie die zahl¬
reichen einzeln bezogenen Nummern jenes Heftes beweisen, ein gewisses Aufsehen
erregte, wenn ihn auch die musikalische Presse natürlich totzuschweigen versucht hat.
Der Aufsatz erschien auf Wunsch des Verfassers anonym. Der Verfasser ist aber
wenige Wochen nach der Veröffentlichung seines Aufsatzes gestorben, und die Familie
ermächtigt uns nicht nur, sondern bittet uns, nachträglich seinen Namen zu nennen.
Wir kommen dieser Bitte gern nach. Der Zinssatz war geschrieben von dem am
25. Dezember 1885 hochbetagt — im 75. Lebensjahre — verstorbenen Musik¬
direktor Heinrich Trieft in Stettin.
le parlamentarischen Verhandlungen, welche zur Zeit in den großen
Kulturländern Deutschland, Frankreich und England stattfinden,
sind bei einer von Parteistandpunkte ungetrübten Prüfung ge¬
eignet, gewisse Glaubensbekenntnisse der doktrinären und prinzi-
pientreuer Politiker aufs tiefste zu erschüttern. Schon die alten
Römer erklärten jede Begriffsabgrenzung auf dem Gebiete des Zivilrechts für
gefährlich — mruri« äotinitio in oro oivili xvricmlvW —, weil das Leben sich
nicht von der grauen Theorie beeinflussen lasse, vielmehr selbst alle der natür¬
lichen Entwicklung entgegengestellten Damme durchbreche. Dieser Satz der alten
römischen Juristen hat aber nicht mindere Bedeutung aus dem Gebiete des
öffentlichen Rechtes, und insbesondre in unsrer schnelllebenden Zeit, in welcher
mit den tiefgreifenden Veränderungen in Handel, Gewerbe und Landwirtschaft
die Vesitzvcrhältuisse viel häufiger als in frühern Jahrhunderten eine Ver¬
schiebung erleiden. Mit der Verschiebung des Besitzes ist notwendigerweise
auch ein Wechsel in der politischen Macht oder doch in dem Streite um diese
Macht verbunden.
Großbritannien hat stets auf dem Kontinente als das Musterland der
konstitutionellen Herrschaft gegolten, und zwar umsomehr, je weniger die öffent¬
lichen Einrichtungen Englands aus eigner Anschauung bekannt waren. Man
sah nur auf das Parlament, und dieses Schauspiel, wie die Münster der Krone
den gewählten Vertretern des Landes Rede stehen mußten, diese Nedeturniere,
wo'nicht Geburt und Rang, sondern allein das Talent den Ausschlag gab —
alles das wirkte auf den, der von ferne Zuschauer war, begeisternd und be¬
rauschend. Man wußte noch nicht, daß das Parlament nur die Spitze des
englischen Selfgovernment darstellte, daß das letztere in einer Übernahme staat¬
licher Pflichten durch die besitzenden Klassen bestand, daß lediglich die im Grunde
genommen doch nur wenigen Tausend an Bildung und Besitz privilegirter
Personen sich in der Ausübung der politischen Pflichten und Rechte teilten, und
daß endlich innerhalb derselben nur zwei mehr historisch entstandene als innerlich
tief begründete Gegensätze einander bekämpften.
Von allen diesen Grundsätzen war man ans dem Kontinente bis in die
neueste Zeit nicht unterrichtet. Die Kenntnis englischer Verfassungsnormen wurde
durch Montesquieu, der sie zum Teil nur halb und diese Hülste falsch verstanden
hatte, seinen Landsleuten und deren Nachbarn übermittelt. Als Quintessenz
englischer Freiheit faßte man die Entscheidung durch die Mehrheit der Gewählten
auf, und so bietet uns die erste französische Revolution in ihren verschiedensten
Verfassungen ebenso viele Versuche dar, diese Herrschaft einer uur nach den
vier Rechenspezies geschaffenen Mehrheit zu gestalten. Ohne Rücksicht auf die
Entwicklung, welche eine Jahrhunderte alte Gesellschaft genommen hatte, ohne
Rücksicht auf die sozialen Unterschiede, wie sie durch Besitz, Beruf und Bildung
mit Naturnotwendigkeit eintreten müssen, wird das allgemeine Wahlrecht und
die Entscheidung durch die numerische Mehrheit zum Schiboleth gemacht. Es
erscheint nur folgerichtig, wenn das Wahlprinzip, welches für die obersten Ver¬
treter des Volkes im Parlamente gilt, auf alle andern Zweige des öffentlichen
Dienstes angewendet wird, wenn man nicht bloß die Vertreter der Bezirke und
Kreise nach den gleichen Grundsätzen wählt, sondern nach diesen auch Justiz,
Verwaltung und Unterricht besetzt. Gewählt wird von der Mehrheit der Be¬
wohner der Schulmeister wie der Steuereinnehmer, der Präfekt wie der Staats¬
anwalt und die Richter sämtlicher Instanzen.
Theoretisch läßt sich das alles mit den schönsten und unwiderleglichsten
Gründen rechtfertigen; damit diese Einrichtungen aber auch die Bedürfnisse des
Lebens befriedigten, dazu wären Menschen notwendig, wie sie vor dem Sünden¬
fall waren. Nachdem aber einmal die Kenntnis des Guten und Bösen auf
die Welt gekommen ist, entscheidet in vielen Fällen nur die Selbstsucht oder
die Verblendung, zumal wenn bei der Entscheidung die Kopfzahl den Ausschlag
giebt. Die Franzosen haben auch mit dieser doktrinären Prinzipienreiterei ein
klägliches Fiasko gemacht; das abstrakt philosophische Regiment konnte sich selbst
mit Hilfe der Guillotine nicht behaupten; als es zusammenbrach, trat die Herr¬
schaft des Säbels ein.
Trotz dieses so außerordentlichen Mißerfolges in der praktischen Durchführung
hat man in Frankreich immer wieder das parlamentarische Regime wenigstens
aus dem allgemeinen Schiffbruch zu retten gesucht. Man ist nicht wieder darauf
zurückgekommen, das allgemeine Wahlprinzip auf alle staatlichen Funktionen
anzuwenden. Aber für die Teilnahme an den höchsten Geschäften des Landes
hält man es aufrecht, und weil man Jahrhunderte lang in England die Herr-
schaft der Whigs und Tories abwechseln sah und seit einigen Menschenaltern
dort die Minister aus einer der beiden Parteien, je nachdem diese oder jene die
Mehrheit hatte, genommen wurden, so wurde vom Liberalisinus der Satz auf¬
gestellt, daß die Minister der Krone oder des Staatsoberhauptes jedesmal aus
der Mehrheit hervorgehen müßten. Einmal aufgestellt, begann dieser Grundsatz
anch in seinen Details näher ausgebildet zu werden; man schied in den parla¬
mentarischen Abstimmungen solche, welche als Vertrauensfrage gelten, und solche,
welche gleich giltiger Natur sind, und zwang bei einer Niederlage bezüglich der
erstern das Ministerium zum Rücktritt und das Staatsoberhaupt zu einer Neu¬
wahl seiner Räte aus dem Schoße der neuen Kammermehrheit. Entscheidend
aber sah man nur die Mehrheit in der Wahlkammer an.
In Deutschland fanden zu der maßgebenden Zeit die Begriffe von Ver¬
fassung und Parlamentarismus durch Frankreich Eingang. Die französischen
Revolutionskriege und die napoleonische Weltherrschaft haben nicht wenig für
diese Propaganda gewirkt. Kaum war in den Freiheitskriegen das Joch der
Fremdherrschaft abgeschüttelt, so bezog das junge Deutschland die Rezepte für
die Verwirklichung seiner dunkeln, verschwommenen Freiheitsideale aus der
Metropole an der Seine. Die erst kürzlich gegeißelte Neigung des Deutschen
zur Auslcinderei trug nicht wenig zu dieser Vergötterung des französischen
Liberalismus in Deutschland bei. Als im Jahre 1848 die große Bewegung bei
uns eintrat, galt in den maßgebenden Kreisen nur das französische Lied als
Leitmotiv. Zwar gelang es noch dem Widerstande der Regierungen, nicht alle
Konsequenzen des doktrinären französischen Liberalismus in die Verfasfungs-
urkunden aufzunehmen. Aber der Hauptgrundsätze desselben konnten sie sich
nicht erwehren, und diese sind immerhin genügend, um von ihrem Anhange zum
Ausbau in dem erwähnten Sinne benutzt zu werden. Das Verlangen nach
Herrschaft der jedesmaligen Parlamentsmehrheit gehört zu dem Programm der
Fortschrittspartei, der Demokraten und Sozialdemokraten, von denen sich die
letztern freilich mit diesem Satze nicht mehr begnügen.
Der Probirstein des öffentlichen Rechtes ist die Zeit der Krisis. So lange
schablonenmäßig nach einer bestimmten Reihe von Jahren Whigs und Tories
abwechselten und eine dritte Partei nicht im Spiele war, ging alles ruhig vor
sich. Beide Parteien hatten, wie ihnen zugestanden werden muß, gleichmäßig
das Interesse des Staates und ihrer Partei im Auge; sie traten, wenn sie genug
regiert hatten, gern von der Negierung wieder ab, um „Ihrer Majestät aller-
getreueste Opposition" zu werden; wußten sie doch, daß nach einem bestimmten
Zeitraume sie wieder Hammer werden würden. Die Parteien standen einander
auch nicht schroff gegenüber; es war eigentlich nur eine kleine anständige Ge¬
sellschaft, wvhlbegütert und wohlgebildet, die in abwechselndem Turnus die
öffentlichen Geschäfte vielfach um Ehre führte. Es kam hierzu die insulare Lage
des Reiches, welches seit Jahrhunderten nicht mehr um seine Unabhängigkeit zu
kämpfen hatte und in den zahlreich erworbenen Kolonien eine ergiebige Quelle
für die Vermehrung seines einheimischen Reichtums besaß.
Auf dem Festlande war es anders. Hier gab es leine geschichtlichen Par¬
teien, sondern es suchten sich solche erst auf Grund irgend eiues doktrinären
Programms zu bilden. In Deutschland besonders führte die eigentümliche
Neigung zum Individualisiren zu Zersplitterungen, es standen sich nicht blos;
Konservative und Liberale gegenüber, sondern innerhalb dieser Hauptrichtungen gab
es wieder so viele Unterabteilungen, die sich mit der höchsten Erbitterung be¬
fehdeten, daß es für eine Regierung schwer geworden wäre, lediglich einer Partei
allein das Staatsruder anzuvertrauen. Noch schwerer und zum Verhängnis
für das Land wäre es geworden, wenn die Negierung im Parlamente ihren
Schwerpunkt gefunden hätte und die Minister ans der Mehrheit derselben ge¬
nommen worden wären. Bezüglich der ersten Alternative wird es genügen, die
preußische Kvnsliktszeit vor 1866 in Erinnerung zu bringen, als die Mehrheit
des Abgeordnetenhauses Jahre lang ein Ministerium bekämpfte lind ihm selbst
die Mittel zur Regierung verweigerte. Die zweite Alternative, die Mehrheits-
regicrung durch das Parlament, ist jetzt im Begriffe, in allen Ländern Fiasko
zu machen, vor allen Dingen in England selbst, dem Urlande parlamentarischer
Verfassung.
Es gab auch schon in frühern Jahren einige unabhängige philosophische
Köpfe, welche das Wettcrmännchenspicl zwischen Whigs und Tories nicht als
den erstrebenswertesten politischen Zustand betrachteten. Sie sahen, daß beide
Parteien die Krone nur zum Deckmantel eigner Herrschaft benutzten und ihr
eignes Regiment als das des Volkes ausgaben. Es lösten sich schon zur Zeit
der Chartistenbewegnng einzelne radikale Elemente von den Whigs ab, und im
Laufe der Regierung der Königin Viktoria haben diese demokratischen Absplitte-
rungen bereits eine solche Bedeutung gewonnen, daß sie ihren Anteil an der
Regierung fordern können. Die Leitung des Parlaments war in die Hände
ehrgeiziger Streber geraten, die ihre eigne Herrschaft als alleiniges Prinzip an¬
erkannten. Um sich zu erhalten und deu Gegner zu besiegen, mußten sie sich
Verbündete um jeden Preis suchen. Die Radikalen, weil sie allein noch zu
schwach waren, und Herr Gludstone, weil er durchaus wieder Minister werden
wollte, kamen sich ans halbem Wege entgegen. Wie das aber immer bei dem
Herabgleiten auf der schiefen Ebne geschieht, so befindet sich anch der leitende
Whigführer bereits in den Händen der Radikalen. Aber auch in dieser Ver¬
bindung wären sie nicht stark genug, die Herrschaft zu führe», Liberale auf der
einen und Konservative auf der andern Seite halten einander das Gegengewicht,
ein Parteiregiment würde bei jeder Abstimmung gefährdet werden können. Unter
diesen kritischen Umständen fand sich eine dritte Partei auf dem parlamenta¬
rischen Ringplatze ein. Die Vergewaltigungen Englands haben ihre Früchte
getragen, ox o8Abu« ultor ist die Parnellitische Partei entstanden, welche bei
dem Gleichgewichte der alten Parteien die ausschlaggebende ist. Für die par¬
lamentarische Herrschaft wäre dies an sich nicht von Bedeutung, allein diese
dritte Partei unterscheidet sich sehr wesentlich von den andern. Wahrend jene
beiden auf demselben Rechtsboden stehen, den Staat und dessen Verfassung an¬
erkennen und in seinen Grundlagen aufrecht zu erhalten streben, haßt die Par-
nellitische Partei das englische Reich nud hat das größte Interesse daran, es
zu zerstören, um auf seinen Trümmern ihr domin rrrlo, ein unabhängiges Ir¬
land, begründen zu können. Zur Aufrechterhaltung des parlamentarischen Re¬
gimes ist es nötig, die Gunst Parnells zu erwerben und dessen Stimme gegen
Zugeständnisse zum Nachteil der Staatseinheit zu erkaufen. Herr Gladstone
schreckt auch vor dieser Folgerung nicht zurück, und im Grnnde genommen muß
man es als richtig anerkennen, daß ein Staat den Untergang verdient, wenn die
Mehrzahl der Volksvertreter denselben will! Die Konservativen Englands waren
noch so sehr in dieser von ihren Vätern überlieferten Doktrin befangen, daß sie
nicht den Mut hatten, das Volk über die Bedeutung des Zusammengehens der
Paruellitischen Partei mit den Liberalen aufzuklären. Hätten sie gleich in der
Thronrede betont, daß ein Pallirer mit einer Partei, welche den bestehenden
Staat verneine, unmöglich sei, so würde eine Evolution der alten Parteien
erfolgt sein, welche der Erhaltung des Staates zu Gute gekommen wäre.
Hier sehen wir also, wie in dem Lande, welches dem Parlamentarismus
das Leben gab, der Staat von den Folgen desselben bedroht ist. Dasselbe
Schauspiel aber haben wir auch in Frankreich, dem Lande, welches die englische
Freiheit noch zu überbiete«? glaubte.
In Frankreich sind es trotz der vielfachen Schattirungen drei Haupt-
parteien, von denen die eine die Republik, die andre die Monarchie will und
die dritte — die Radikalen — den bestehenden Staat überhaupt nicht mag,
sondern auf dem Grunde einer neuen Gesellschaftsordnung ihre sozialtommn-
nistischen Ideale zu verwirklichen strebt. Jeden Augenblick können sich die
heterogensten Parteien verbinden, lediglich um den legalen Zuständen des Landes
entgegenzuwirken und das vvrhcmdne System zu vernichten. Wir haben auch
bereits erlebt, daß solche ungeheuerliche Verbindungen eingegangen worden sind,
und jeden Augenblick muß man darauf gefaßt sein, daß das Ministerium von
einer Mehrheit Irov gestürzt wird, die niemals imstande wäre, selbst eine
Regierung zu bilden. Die Weisheit des parlamentarischen Regimes ist damit
um ihr Ende gelangt; zwar will man die Stimmen der Royalisten nicht zählen,
weil diese als Feinde der Republik nicht in Betracht kommen, aber das ist doch
nur ein schwacher Notbehelf, der der Willkür Thür und Thor öffnet. Mit
demselben Rechte könnte man die Stimmen der Kommunisten weglassen, weil
diese weder Republik noch Staat überhaupt, sondern Anarchie wollen.
Ein ähnliches Schauspiel bietet nnn der deutsche Reichstag. Innerhalb
der großen Gruppen von konservativ und liberal ist die Buntheit der Schad-
tirungen noch mannichfaltiger als in jedem andern Lande. So sehr nun auch
diese Gruppen, ihre Sektionen und Fraktionen von einander abweichen, so
stehen sie doch auf dem Boden des neugeschaffenen Reiches, und selbst die Fort¬
schrittspartei, welche der Entstehung dieses Reiches alle möglichen Schwierigkeiten
entgegensetzte und seit dem Beginn in verbohrter und verblendeter Theorie den
Schöpfern desselben einen unnatürlichen und verbissenen Widerstand bereitet, er¬
kennt die Existenz des Reiches an. Dagegen hat sich eine numerisch starke
dritte Partei aufzuthun vermocht, welche lediglich Sondcriuteressen verfolgt und
für die Erreichung derselben kein Mittel scheut. Es wäre sehr gut denkbar,
wenn in kirchlichen Angelegenheiten die Mitglieder des Parlaments ihre be¬
stimmten Ziele verfolgten, ohne daß dadurch die staatlichen Interessen, soweit
sie mit den Kircheufragen nicht zusammenhängen, berührt würden. Allein von
Anfang an geriet das Zentrum unter welfisch-jesuitische Führerschaft, welche bald
jeden patriotischen Gesichtspunkt zu beseitigen verstand. Das Zentrum bildet
eine Art weltlichen Jesuitenordens, in welchem der Einzelne sich unbedingt der
Führerschaft zu unterwerfen hat, und diese richtet ihre Politik ausschließlich uach
jesuitischen und welsischen Anweisungen. Daher kommt es auch, daß, während
sich die deutsche Regierung mit der Kurie in dem verhältnismäßig besten Ein¬
vernehmen befindet, das Zentrum seinen Kampf fortsetzt, denn bekanntlich ist der
schwarze (Jesuiten-) Papst noch mächtiger als der nominelle Inhaber des päpstlichen
Stuhles. Zu dieser die Interessen des Reiches befehdenden Partei sammelt sich
die nicht unbedeutende Zahl derjenigen Abgeordneten, welche überhaupt nur
widerwillig Deutsche sind und jede Gelegenheit abwarten, um von dem Reiche
abzufallen: Dänen, Welsen, Elsässer, Polen. Zusammen giebt dies eine so statt¬
liche Zahl, daß das Zentrum und sein Anhang in jeder Frage maßgebend ist,
und zur mächtigen Mehrheit anschwillt, wenn der Bismarckhaß Richters und
seiner Gefolgschaft keine Scheu trägt, Schleppenträger der reichsfeindlichen Gruppen
zu werden.
Wie denken sich nun die Anhänger des parlamentarischen Regimes die
Möglichkeit, mit einer solchen Mehrheit ein Staatswesen zu leiten? Sie ist
noch schwieriger als in Frankreich oder England, weil einerseits dnrch das
Bundesverhältnis die Dinge viel verwickelter sind und anderseits unsre geo¬
graphische Lage eine Stärkung der Wehrkraft des Reiches unumgänglich not¬
wendig macht.
Die Polendebatte im Reichstage war eine Angelegenheit von eminentester
politischer Bedeutung. Alle Gegner des Reichskanzlers fanden sich einmütig
zusammen, und wenn je, so hat in dieser Frage die kaiserliche Regierung, um
bei den technischen Ausdrücken des parlamentarischen Jargons zu bleiben, eine
„gewaltige Niederlage erlitten." Dieses nämliche Ministerium Bismarck hat aber
in derselben Frage wenige Tage darauf in der preußischen Kammer einen ebenso
glänzenden Sieg errungen. Folgerichtig müßte Fürst Bismarck im Reiche seinen
Abschied nehmen, dagegen in Preußen an der Spitze der Geschäfte bleiben. Der
Reichskanzler müßte aus der heterogenen Mehrheit genommen werden, wonach
dem Kaiser mir die Wahl zwischen Richter, Windthorst oder Jadszewski bliebe.
Dann hätten wir — wenn sich ein solcher Reichskanzler anch nnr einige Tage
hielte — einen offnen Krieg zwischen dem Reiche und Preußen, ja der deutsche
Kaiser müßte den König von Preußen im Wege der Bundesexekution zwingen,
von den Ausweisungen Abstand zu nehmen. Das wäre das folgerichtige parla¬
mentarische Rezept, welches unzweifelhaft zur Auflösung der opfervoll errungenen
deutschen Einheit führen müßte. Denn mit der Auflösung der einen oder andern
Körperschaft ist nicht viel gewonnen. Ehe die Mehrzahl der Wähler von den
Parteibcmden befreit wird, bedarf es sehr tiefeingreifender Ereignisse.
Wir sehen auch hier das nackte Fiasko des Parlamentssystems. Dasselbe
ist, Gott sei Dank, in Deutschland niemals zur Verwirklichung gelangt. Mit
einer heroischen Festigkeit, die in ihrer vollen Bedeutung erst von den spätern
Geschlechtern gewürdigt werden wird, hat König Wilhelm, von seinem Minister
unterstützt, der Herrschaft der Parlamcntsmehrheit auch in den schwersten Zeiten
zu widerstehen gewußt; er hat zeitweise selbst den Verlust der Popularität zu
ertragen verstanden, ohne an der Treue seines eine Reihe von Jahren irrege¬
leiteten Volkes — soweit dasselbe in dem Parlamente seine Vertretung fand —
zu verzweifeln. König Wilhelm und Herr von Bismarck haben sich nach innen
und außen wehren müssen, da die innern Schwierigkeiten den auswärtigen
Gegnern Preußens mächtige Handhaben gewährten, dein aufstrebenden Staats¬
wesen entgegenzutreten. Wenn erst die englischen oder französischen Parteien
solche Erfahrungen gemacht haben werden, wohin die alleinseligmachende Lehre
der Parlamentsherrschaft führen kann, dann werden sie praktisch genug sein,
sich von dieser Irrlehre loszusagen.
Gegenüber dem Parlamentsshstem hat die preußische und deutsche Regierung
stets die Praxis des Konstitutionalismus verfochten. Darnach bilden die Parla¬
mente nur den Beirat der Krone, ohne welchen diese keine Gesetze machen kann,
das Staatsruder selber aber bleibt fest in den Händen des Königs und Kaisers.
Damit ist jedenfalls soviel gewonnen, daß dem Staate die verderblichen Schwan¬
kungen erspart bleiben, welche ihn bei dem Wechsel von Parlamentsministern
von einem Extrem in das andre treiben. Dagegen ist freilich der Weg von
Reformen nicht gesichert; hierzu bedarf die Krone der Zustimmung des Parla¬
ments, und bei einer Mehrheit, wie sie zur Zeit im Reichstage besteht, lassen
sich auch die notwendigsten Gesetze oft garnicht, oft nur nach Jahren und unter
Aufreibung der kostbarsten Kräfte durchsetzen.
Auch ein solcher Zustand ist unheilvoll. Wir leben in einer Zeit tiefgehender
sozialer Bewegungen, hervorgerufen durch die veränderten Erwerbsverhültnisfe
und das Erstarken des vierten Standes zu einem selbständigen Faktor in der
Gesellschaft, die soziale Frage hat eine Unrnhe in das Staatsleben gebracht,
welche weder durch die Gleichgiltigkeit mit der Hoffnung auf einen Selbstcmsglcich
der Kräfte, noch durch die Zuversicht auf die rohe Gewalt der Bajonette be¬
seitigt werden kann. Hier gilt es, durch positive Maßregeln wirkliche Übelstände
zu beseitigen und eine Versöhnung zwischen dem Kapitalismus und der Arbeit
herbeizuführen. Mit Mühe und Not ist es den verbündeten Regierungen, ange¬
feuert durch die rastlose Energie des Kaisers und seines Kanzlers, gelungen, die ersten
Schritte auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung zu machen, ihre Fortführung
ist aber durch das Verhalten der Neichstagsmehrheit in Frage gestellt, die dabei
freilich, wenn auch unbeabsichtigt, den Parlamentarismus selbst aufs Spiel setzt.
Heute denkt selbst der verbissenste Reaktionär nicht daran, einer Rückkehr
zum absoluten Staate das Wort zu reden. Wie sehr die Regierung selbst auf
die Teilnahme des Volkes an den öffentlichen Geschäften Wert legt, beweisen
die verschiedensten Maßregeln, wie die Ausdehnung der Selbstverwaltung, die
Schaffung eines Volkswirtschaftsrates, die Beteiligung der Arbeiter bei der
Kranken- und Unfallversicherung, die Zuziehung der Interessenten bei wirtschaft¬
lichen Enqueten u, dergl. in. Haben wir aber aus dem Fiasko des parlamen¬
tarische» Regimes gesehen, daß der Parlamentarismus in seiner heutigen Ge¬
staltung noch keineswegs das letzte Ziel politischer Wohlfahrt darstellt, und daß
selbst im Konstitutionalismus die berechtigtsten Wünsche des Volkes nicht zur
Befriedigung kommen können, so müssen wir uns sagen, daß wir noch bei
weitem nicht zu dem Abschlüsse in unsrer elementarsten politischen Entwicklung
gelangt sind, die den Staat ermöglicht, auch nur der dringendsten Sorgen,
welche an ihn herantreten, Herr zu werden.
Wir würden politische Quacksalberei treiben, wenn wir mit neuen theore¬
tischen Rezepten zur Beseitigung des Übels kommen wollten. Für uns genügt
es zur Zeit, auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die unserm Staatsleben
drohen, Sache jedes Einzelnen ist eS, dahin zu wirken, daß diese Gefahren ab¬
gewendet werden, und hierfür bietet sich für jeden im politischen Leben über¬
reiche Gelegenheit,
le französische Revolution fuhr wie ein Blitzstrahl durch die.
Geister und erschütterte die ganze bisherige Weltanschauung,
Zunächst forschte man nach den Ursachen dieser überwältigenden
Erscheinung, wobei man notwendig zu der Frage aufstieg, wie
das Staats- und Gesellschaftsleben entstanden sei und sich ent¬
wickelt habe und welche Prinzipien und Endzwecke ihm inuewohnteu. Diese
Fragen beschäftigten zunächst die deutschen Denker und Schriftsteller, Lag doch
Deutschland dem Schauplätze der Revolution so nahe, das; die Bastillenschläge
auch auf der rechten Rheinseite sich fühlbar machten und nachzitterten, und war
doch die geistige Atmosphäre jener Tage so erregt und bewegt, daß man alle
Phänomene in der Natur wie in der Menschenwelt zu erkennen und zu begreisen
sich anstrengte. Diese Zeitrichtung hatte auch auf die Historiographie ihren
Einfluß, Spittler schrieb eine europäische Sittengeschichte vom Untergange des
römischen Reiches bis auf seine Zeit, in welcher die Entwicklung des ständischen
und repräsentativen Stacitswcscns den Mittelpunkt bildet; mir das römische
Reich deutscher Nation wollte er als eine vouluÄo ckiviuitus orclimrw nicht in
den Kreis seiner Betrachtung ziehen.
Der Ausgang des achtzehnten und der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
war die produktive Zeit, da alle Gebiete des geistigen Schaffens emsig angebaut
wurden, um zu neuen Forschnngsresnltaten zu gelangen. Man suchte die Gesetze
des Naturlebens z» ergründen; Herder strengte seinen Scharfsinn an, um in
der Geschichte der Menschheit ein höheres Prinzip zu entdecken; die romantische
Schule wendete ihre Blicke von der unerfreulichen Gegenwart ab nach den
Gebilden des Mittelalters; anfangs schien es, als sollte die Philosophie den
Sieg im Reiche der Wissenschaft davon tragen. Die Ergebnisse der wunderbaren
Geistesarbeit Kants gaben allem Wissen und Forschen Wege und Richtung.
Man strebte in der Naturforschung wie in der Geschichte über das Gegebene
und Empirische Hinalls zu dem Metaphhsischen und spekulativen. Auch die
Historiker lagen unter dem Banne der Philosophie, Man forschte weniger nach
dem, was geschehen war, wollte begreife», wie es geschehen sei, ja wie es habe
geschehen müssen, und wie das Zukünftige sich gestalten werde. Die Philosophie
der Geschichte ging mit der Naturphilosophie Hand in Hand, Die Wissenschaft
war auf dem Wege, sich ins Transeendentcile zu versteigen. Es soll nicht geleugnet
werden, daß durch diese Richtung nach dem Höhern und Übersinnlichen viel
Schönes und Erhabnes zutage gefördert ward; denn die Idealität veredelt alles
Irdische, in welches sie einströmt. Aber es war Gefahr vorhanden, daß man den
Boden unter den Füßen verlor. Man mußte wieder hinabsteigen auf die feste
Erde und den Realitäten des Lebens mehr Rechnung tragen. Die Geschicht¬
schreibung mußte wieder zu den drei Fuudameutalsätzeu zurückkehre», die wir
früher als die Vorbedingung jeder echten Historiographie bezeichnet haben:
kritische Erforschung des Materials, innere Aneignung und Verarbeitung der
Thatsachen und Zustünde und künstlerische Darstellung aus warmer Herzcnsfülle,
Zu diesen Grundbedingungen hat Johannes Müller den Weg gezeigt und
die ersten erfolgreichen Schritte gethan. Er vereinigte in sich die Eigenschaften
der drei Nationen, denen er durch Geburt oder Bildung angehörte. Mit der
rüstigen Arbeitskraft des Schweizers verband er den idealen Sinn des Deutschen
und das exakte Kunstgeftthl der Frauzosen, Nachdem er in der „Geschichte
der Schweizerischen Eidgenossenschaft" ein Beispiel aufgestellt hatte, wie man
aus dein überlieferte» Qucllenmaterial, ans Urkunden und Traditionen eine
Landesgeschichte aufbaue», ein Volk, das durch Abstammung, Sprache, Religion
und Lebensgewohnheiten auseinander geht, zu einem Nationalganzen gestalten
und ans einer Menge partikularer Bestandteile »»d getrennter Gemeinheiten
einen Staat schaffen könne, trug er zugleich der Richtung der Zeit Rechnung,
indem er in den „Vierundzwanzig Büchern Allgemeiner Geschichten, besonders
der Europäischen Menschheit" einen höhern Ton anschlug, auf einen weiter«
Horizont hinwies. Die Geschichtschreibung würde sich in einem Trümmerfelde
von Monographien, in einer ungeordneten und unzusammenhängenden Musse
von Memoiren und 'Biographien, von Städte- und Ländergeschichten irre-
lichterirend umhertreiben, wen» nicht die losen Elemente durch ein festes Gefüge
zusammengeschmiedet, die wandelbaren Einzelglieder durch den beharrenden Geist
der Menschheit verbunden würden, um die Wahrheit des Spruches zu be¬
weisen: Und ob alles im ewigen Wechsel kreist, es beharret im Wechsel ein
ewiger Geist.
Auf den Schultern von Johannes Müller stehen Niebuhr und Ranke, und
selbst Fr. Chr. Schlosser konnte sich seinem Einfluß nicht entziehen, so sehr
auch der strenge historische Moralist bei jeder Gelegenheit scharfe Hiebe gegen
den „deutschen Thukydides" führte. Mit diesen Namen haben wir die Häupter
und Fahnenträger der modernen Historiographie bezeichnet, welche, wenn auch
nicht jeder einzeln, so doch in ihrer Gesamtheit, die Kriterien und Beispiele für jede
solide Geschichtschreibung aufstellten. Für die Behandlung der Geschichte des
Altertums hat Niebuhr, Gibbons Spuren folgend, die richtige Methode ge¬
schaffen, an Rankes „Geschichte der Päpste" und „Deutsche Geschichte im
Zeitalter der Reformation" reicht kaum ein andres Geschichtswerk heran, sei es,
wie bei dem ersten, an romantisch-tiinstlerischer Auffassung und Darstellung, sei
es, wie bei demi letztern, an solider Verarbeitung eiues spröden Stoffes zu einem
Gemälde mit dramatischer Lebensfrische, und Schlossers „Geschichte des achtzehnten
Jahrhunderts" war vier Jahrzehnte lang die praktische Morallehre für das
deutsche Volk aus freiiniitigem Munde und mannhafter Seele. Man hat
Schlosser und Ranke in einen Gegensatz zu stellen gesucht durch die Bezeichnung
subjektiver und objektiver Geschichtschreibung. Aber dieser Gegensatz ist, wie
wir schon früher angedeutet haben, mehr der Ausfluß verschiedenartiger Per¬
sönlichkeiten, die Wirkung eines lebhafter» oder ruhigern Temperaments, als
einer bewußten absichtlichen Methode und Betrachtungsweise.
Der Historiker steht nicht wie der Naturforscher einem fremde» Organismus
gegenüber; er ist selbst ein Teil der Menschenwelt, die er darzustellen unter¬
nimmt, die Gegenwart ist nur eine fortlebende, sich neugestaltende und ent¬
wickelnde Vergangenheit: was den Vätern widerfahren ist, was die Vorzeit
geschaffen hat, geht auch die Söhne und die Nachwelt an. „Jeder Punkt in
der Gegenwart, sagt Droysen, ist el» gewordner. Was er war und wie er
wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm. Aber mir
ideell, erloschene Züge, latente Scheine; unbewußt sind sie da, als wären
sie nicht da. Der forschende Blick, der Blick der Forschung vermag sie
zu erwecken, wieder aufleben, in das leere Dunkel der Vergangenheiten zurück-
leuchtcn zu lassen. Nicht die Vergangenheiten werden hell, sondern was von
ihnen noch uuvergangen ist. Diese erweckten Scheine sind ideell die Ver¬
gangenheit, sind das geistige Gegenbild der Vergangenheit." Je nach seiner
Natur- oder Weltanschauung wird um der Geschichtschreiber mit mehr oder
weniger Wärme und persönlicher Teilnahme in die Werkstätte eintreten, wo die
Menschenschicksale erzählt und erklärt werden. Und so kommen wir wieder ans
den frühern Ausspruch zurück, daß die Geschichtschreibung zugleich Kunst und
Wissenschaft sei. Der echte Historiker muß wie ein schöpferischer Künstler die
Außendinge in seine Seele eindringen lassen und sie verklärt und veredelt
zurückstrahlen. Ein Geschichtswerk muß das wirkliche Leben treu und wahrhaft
darstellen, dasselbe aber zugleich mit Künstlerhand und mit liebevoller Vertiefung
in die reiche Menschenwelt schöpferisch neu gestalten. Wenn Ranke einmal seine
Methode mit den kurzen Worten bezeichnet, er wolle „bloß zeigen, wie es
eigentlich gewesen," so hat er sich selbst nicht überall an die beschränkte Auf¬
fassung gehalten. Ranke bezeichnete einst in einer Festrede den Unterschied
zwischen der deutschen und der fremden Geschichtschreibung dahin, daß die fremde
mehr den Moment ins Auge fasse, nährend die deutsche nach Universalität strebe.
Damit ist der Charakter und die Richtung der Historiographie unsrer Zeit
richtig angedeutet. Das Ausland beschäftigt sich mehr mit der eignen Lcmdes-
uud Volksgeschichte und einzelnen Epochen und Momenten derselben; die deutsche
Geschichtschreibung strebt nach einem höhern Ziel und weitern Horizont: sie faßt
die Menschheit als ein Ganzes und betrachtet die einzelnen Nationen stets als
Glieder des Universums. Die „Weltgeschichte" ist eine deutsche Schöpfung, mag
man sie als Philosophie der Geschichte fassen und in deu Erscheinungen die
Gesetze und Prinzipien erforschen, mag man in der Darstellung des geschicht¬
lichen Gesamtlebens das pragmatische Zusammenwirken der Einzelglieder und
die Kausalität zu begreifen suchen. Diese Richtung der Historiographie auf das
Allgemeine entspricht sowohl der germanischen Natur als der philosophischen
Bildung und wird durch die geographische Lage Deutschlands begünstigt.
Zu Anfang unsers Jahrhunderts hatte die Philosophie den ersten Rang
unter den Wissenschaften, und wenn sie sich auch nicht auf dieser Höhe zu er¬
halten vermochte, als insbesondre die Naturwissenschaft sich selbständig machte
und andre Forschnngswege einschlug, so ist doch ein Zug nach Ergründung der
letzten Dinge, nach einer metaphysischen Systematik der Natur- wie der Geistes¬
wissenschafte!, inhärent geblieben. Namentlich ist in der Geschichtschreibung die
Idee der Menschheit stets als strahlender Anfangs- und Ausgangspunkt alles
Forschens festgehalten wurden, daher anch alles Humane in ihr Bereich gezogen,
ja die Humanität selbst als das höchste Ziel und Gut alles menschlichen
Strebens aufgestellt worden. Nach dieser Auffassung gehörte alles in den Raum
der Geschichte, was der menschliche Geist in Kultur und Religion wie im
Staats- und Verkehrsleben hervorbrachte. Mit dem erhöhte» Gesichtspunkte war
somit auch eine Erweiterung der Grenzmarken verbunden. Die Geschichte trat
mehr und mehr in den Geisteswissenschaften an die Stelle, welche die Philosophie
Jahrzehnte lang eingenommen hatte, aber nicht länger gegenüber dein an¬
strömenden Realismus zu behaupten vermochte.
Nicht bloß der Gang der Bildung, auch der deutsche Charakter drängte in der
Geschichtschreibung zur Universalität. Daß ein kosmopolitischer Zug der deutschen
Natur imiewvhnt, kaun nicht geleugnet werden, man mag denselben loben oder
tadeln. Schon in der gewaltigen Zeit der Völkerkämpfe und Völkerbewegungen,
die man als Völkerwanderung bezeichnet, wurde der weltbürgerliche Haug in der
deutschen Natur entwickelt und genährt. Die Heidenzeit der Völkerwanderung
gestaltete sich zu dem geheimnisvollen, sagenreichen Grundstock, wo in unerforschter
Höhe die Lebensströme der germanischen Völkergeschichte ihren dunkeln Ursprung
nahmen, wo wie in einem mächtigen Alpengebirge einzelne souneubeleuchtete Häupter
glänzend emporragen und in ihren goldnen Spitzen den Ruhm und die Herr¬
lichkeit ganzer Volksstämme oder Gebirgszüge konzentriren. Der Zeitraum der
Völkerwanderung ist in der deutschen Geschichte das Alpengebirge, wo sich die
romanische und germanische Welt verbindet und scheidet, vermischt und abstößt,
und wo es oft schwer zu entscheiden ist, welchem Stamme die einzelnen glanz¬
umstrahlten Höhen angehören.
Es ist die letzte gemeinsame Heimat aller germanischen Völkerschaften, ehe
sie nach den verschiedensten Richtungen auseinander gingen und in den neuen
Wohnsitzen der alten Zusammengehörigkeit vergaßen, Ju den Heroengestalten
der Volksdichtung erhielt sich die letzte Erinnerung der ehemaligen Verwandt¬
schaft und nationalen Einheit. Die großartige Zeit der Bewegung und Um¬
gestaltung, die erst mit Karl dem Großen, dem Begründer des römischen
Kaisertums im Abendlande, ihren Abschluß fand, ist die Ruhmcshalle des
germanischen Volksstammes. Wir sehen in Gallien und Spanien, in der
Lombardei und Britannien deutsche Völkerschaften einziehen und nach siegreichem
Kampfe die fernen Landstriche in Besitz nehmen; und wenn auch die Aus¬
gewanderten mit jener der deutschen Nation eignen Sorglosigkeit und Bieg¬
samkeit die heimische Sprache und die vaterländischen Sitten und Erinnerungen
allmählich aufgaben und dem Fremden zum Opfer brachten, wie noch heutzutage
die deutschen Ansiedler in Nordamerika, so waren dennoch die Eroberer des
römischen Weltreiches unser eignes Fleisch und Blut, die erst im Laufe der
Jahrhunderte des gemeinsamen Ursprunges und der väterlichen Heimat gänzlich
vergaßen. Und wie die zurückgebliebnen Verwandten gewöhnlich das Bild der
Geschiednen treuer bewahren und die Erinnerung an die Fernen, auch wenn
diese in Gleichgültigkeit sich abwenden, in liebendem Herzen tragen, so konnten
auch die Bewohner der alten deutscheu Erde nie ganz vergessen, daß am Po
und am Ebro, am Rhone und an der Themse sich dereinst Bruderstämme
niedergelassen; sie machten oft Versuche, das zerrissene Band wieder von neuem
zu knüpfen, sie streckten häufig mit weitherzigem Weltbürgersinn die Bruderhand
zum neuen Völkerbünde aus, aber sie wurden kalt und feindselig zurückgestoßen,
sie mußten die bittere Erfahrung machen, daß die Nachkommen der Aus¬
gewanderte!, jede Spur von Pietät und Anhänglichkeit, jede Erinnerung der
einstigen Verwandtschaft verloren hatten, daß sie ihre Abkunft verleugneten; und
dennoch trägt die deutsche Nation, gleich liebevollen Eltern, die mich von un¬
dankbaren Kindern nie ihr Herz ganz abkehren, die kosmopolitische Neigung tief
im Busen, eine jener vielgeschmähten Regungen, die durch keine Vernunft-
gründe, durch kein Räsonnement sich bciuuen lassen, eben weil sie angeboren
sind; der Weltbürgersinn und die Menschenliebe ohne Rücksicht auf Abstammung
und Religivnsverschiedenheit ist dem Deutschen ebenso naturgemäß, wie dem
mütterlichen Herzen die Mutterliebe. Und der Zug der Natur ist mächtiger
als alle Theorie.
In den Jahrhunderten der Völkerscheidung und Vötkermischung ist also
die germanische Menschenrasse der Grundstock der europäischen Nationen ge¬
worden, das Senfkorn, ans dem der Lebensbaum aller romanisch-germanischen
Nationen emporwuchs. Und als ob die verwandten Stämme, wenn auch
räumlich geschieden, noch mit der ursprünglichen Heimat in Verbindung gehalten,
die Erinnerung an den gemeinschaftlichen Ursprung noch genährt und gepflegt
werden sollte, wurde die Weltgeschichte von der deutschen Nation geschaffen. In
das Herz der europäische» Menschheit gestellt und von der Neigung durch¬
drungen, das Fremde oft höher zu achten als das Heimische, gegen andre
Nationen, wie schon Klopstock rügte, allzugerecht zu sein, war das deutsche Volk
vor allem berufen, den Herd aufzurichten, an welchem die andern Völker ihre
Fackeln anzünden, und der den Gottesfunken der Menschheit hüten und nähren
sollte. Das konnte am sichersten und nachhaltigsten geschehen, wenn an der
Hand der Weltgeschichte die Einheit und Gleichartigkeit des Menschengeschlechts
und derselbe höchste Zweck des Daseins nachgewiesen ward. Daß man diesen
Beruf des deutschen Volkes, der Träger der „Weltgeschichte" auf geistigem
Gebiete zu sein, mit der Zeit erkannt hat, beweist die produktive Thätigkeit
unsrer Zeit auf diesem Gebiete. Wie verschiedenartig immer die Früchte dieser
Thätigkeit, wie ungleich die Zwecke und Absichten der Schreibenden sein mögen,
das ideale Ziel einer Geschichte der Menschheit schwebt allen vor der Seele.
Der Verfasser dieser Zeilen hat in seinem „Lebens- und Bildungsgang" seine
Ansicht über die Stellung und Bedeutung der „Weltgeschichte" in der deutscheu
Historiographie des nähern ausgesprochen. Diese Auffassung kommt mehr und
mehr zur Geltung. Nur die Geschichte kaun die Basis echter Volks- und Menschen-
bildung sein; diese Aufgabe kann sie aber nur in der universell'M Gestalt einer
allgemeinen Weltgeschichte erfüllen. Mag auch immerhin die Weltgeschichte das
große Feld sei», auf dem sich bald der seichte Dilettantismus und die selbstgefällige
Oberflächlichkeit breit macheu, bald die politische und religiöse Tendenz- und
Parteischriftstcllerei ihre flatternde Fahne aufhängt, in den» Garten- und Acker¬
land des menschlichen Daseins wachsen anch stattliche Bäume und Pflanzen
empor, reifen auch edle und gesunde Früchte, Die Weltgeschichte hat die erhabne
Aufgabe, die Entwicklung und die Fortschritte der Menschheit zur Freiheit und
zur Herrschaft des Geistes darzulegen und der Idee der Humanität Raum n»d
Geltung zu verschaffen. Dieses Ziel darf der Universalhistvriker nie aus dem
Auge verlieren, er muß fest und standhaft wie ein pflichtgetreuer Pilot um
Steuer stehen, den Blick unverwandt nach den Sternen gerichtet. Und diesem
Berufe ist die Weltgeschichte mit redlichem Bemühen nachgekommen. Wie sehr
auch der Geist finstrer Zeiten und Menschen sich abgemüht hat, der Welt¬
geschichte sein dunkles, unheimliches Siegel aufzudrücken, sie erhebt noch immer
stolz ihre Strahlenkrone über den Dunstkreis niederer Erdgewalten; sie bildet
noch immer das Weltgericht, vor dessen Urteil die Ungerechten, die Frevler um
den ewigen Gütern der Menschheit, im Stillen erbeben; sie ist noch immer der
hohe Tempel, dessen goldne.Kuppel und harmonischer Bau in erhabner Würde
und Majestät ruhig fortbestehen, unbekümmert um die Stürme, die deu Eingang
umbransen, und um das eitle Bemühen, falsche Götter in das Heiligtum einzu¬
führen. Und daß sie diesen Charakter der Unbeflecktheit treu bewahre, ist die
hohe Aufgabe der Geschichtschreiber, die sich als treue Hüter mit blanker
Waffe vor sie stellen und ihre Ehre schützen und verteidigen.
Einen grellen Gegensatz zu dieser Auffassung vou der Universalität und
Idealität der Weltgeschichte bilden zwei Richtungen, welche man als die materia¬
listisch-statistische und als die technisch-archivalische bezeichnen kann, Ihr gemein¬
schaftlicher Zweck ist die Ansammlung von Detail, von historischem Material,
und von Fvrschungs- und Bevbachtuugsrcsultaten aus allen Teilen der Natur¬
erscheinungen und des Staatslebens,
Wie man-einen gekrümmten Stab dadurch wieder in die gerade Richtung
zu bringen sucht, daß man ihn nach der andern Seite biegt, so geschieht es auch
oft im geistigen Leben: eine Ansicht oder ein Prinzip, das sich mit allzugroßer
Sicherheit als richtig und wahr anpreist, fordert den Widerspruch heraus und
reizt zur Aufstellung des Gegensatzes, dem man gleichfalls den Charakter der
Wahrheit zu verleihen sucht. Die Naturphilosophie hatte ihr spekulatives System
in die Luft gebaut; da ging die Naturwissenschaft auf die nackte Empirie und
Beobachtung zurück und setzte der metaphysische» Welt ihr Ignoramus entgegen.
Die äußerste Konsequenz dieser Methode war die Darwinsche Deseendenzthevrie.
Es lag nahe, daß man dieses Verfahren auch auf die Geisteswissenschnften
übertrug und in erster Linie die Geschichtswissenschaft auf einem solider» Grnnde,
ans einem realeren Boden aufzubauen suchte. Das geschah am nachdrücklichsten
und folgerichtigsten dnrch Darwins Landsmann, dem fleißigen und kenntnis¬
reichen Thomas Buckle, in seiner „Geschichte der Zivilisation." Dein Buche
erging es wie dein Gellerlscheu Hut. Der Inhalt war nicht neu, aber die Form
war geändert, und der prophetische Ton, womit sich die Aussprüche als eine
neue dogmatische Wahrheit ankündigten, setzte die halbgebildete Welt in Be¬
wunderung. Oder war es eine so untrügliche und tiefe Weisheit, wenn Buckle
den Satz, „in menschlichen Dingen sei etwas Geheimnisvolles und Providcntiellcs,
welches sie unsrer Forschung undurchdringlich mache und uns ihren künftigen
Verlauf für immer verbergen werde," dnrch den Beweis zu widerlegen vermeinte,
daß „die Handlungen der Menschen und folglich auch der Gesellschaft nicht die
Wirkung eines freien Willens, sondern bestimmte» Gesetzen unterworfen seien,"
und seine Argumentation mit dem phthischen Spruche schloß: „Wir verwerfen
also sowohl das metaphysische Dogma von der Willensfreiheit als das theologische
von der Vorherbestimmung"? Ist denn nicht seit Augustinus dieses unlösbare
Problem von Luther, Erasmus und Calvin aufs eingehendste erörtert worden?
„Ohne Naturwissenschaften keine Geschichte," so lautet das Axiom, das Buckle
in der Einleitung an die Spitze seiner Deduktionen stellt und dnrch folgende
Zusätze erweitert: Da alles, was früher vorgegangen, entweder ein innerer oder
ein äußerer Vorgang sein muß, so ist es klar, die ganze Mannichfaltigkeit der
Ergebnisse, mit andern Worten, alle Veränderungen, von denen die Geschichte
voll ist, alle Wechselfälle, die das Menschengeschlecht betroffen, sein Fortschritt
und sein Verfall, sein Glück und sein Elend müssen die Frucht einer doppelten
Wirksamkeit sein, der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf unsern Geist und
der Einwirkung unsers Geistes auf die äußern Erscheinungen. Wenn wir die
unaufhörliche Berührung des Menschen mit der Außenwelt bedenken, so wird
es uns zur Gewißheit, daß eine innige Verbindung zwischen den Handlungen
der Menschen und den Gesetzen der Natur stattfinden muß; und wenn man
daher die Naturwissenschaft bis jetzt noch ohne Einfluß auf die Geschichte
gelassen hat, so ist der Grund davon, daß entweder die Historiker den Zu¬
sammenhang nicht bemerkt haben, oder wenn sie ihn bemerkt haben, daß es ihnen
an der nötigen Kenntnis gefehlt hat, um seinen Einfluß nachzuweisen. Denn da
die Geschichte mit den Handlungen der Menschen zu thun hat, ihre Handlungen
aber nnr das Erzeugnis eines Zusammentreffens innerer und äußerer Er¬
scheinungen sind, so wird es nötig, die verhältnismäßige Wichtigkeit dieser Er¬
scheinungen zu prüfen, zu untersuchen, wie weit ihre Gesetze bekannt sind, und
die Hilfsmittel für weitere Entdeckungen aufzufinden, welche diesen zwei großen
Klassen, den Naturforschern und den Erforschern des Geistes, zu Gebote stehen.
Von Hevodot an bis auf die Gegenwart ist es noch keinem Historiker ein¬
gefallen, den Einfluß der Natur und der Landesbeschaffenhcit auf deu Ent-
wickluugs- und Bildungsgang zu verkennen oder zu leugnen. Und auch der
Gedanke ist nicht neu, daß die vitalen Erscheinungen der Geschichte unter Ge¬
sichtspunkte gestellt werden, die denjenigen analog sind, von denen die exakten
Wissenschaften ausgehen. Daß das Klima, der landschaftliche Charakter, die
Tier- und Pflanzenwelt ans die äußere und innere Ausgestaltung der mensch¬
lichen Natur mächtig eingewirkt haben, daß die religiösen Vorstellungen, daß
die Staatsformen, daß gesellschaftliches Zusammenleben, daß Beschäftigung und
Lebensweise, daß Wuchs und Hautfarbe, Nahrung und Kleidung von der äußern
Natur abhängen, ist nie bestritten worden. Folgt aber daraus, daß der Mensch
aus einem Schlammgeschöpfe sich entwickle, oder daß die soziale und moralische
Welt von einer absoluten Macht wie im Traume oder in unbewußten Zustande
erschaffen worden sei? Der Kampf ums Dasein ist ohne Zweifel die wirksamste
Kraft zum Emporkommen, zur Ausbildung der eingebornen Lebenskeime; wird
aber die historische Wissenschaft jemals imstande sein, den Entwicklungsgang in
ihren Periode» und Abstufungen nachzuweisen? Wie viel statistisches Material
man anhäufe» mag, um eine gewisse Gesetzmäßigkeit in allen menschliche!? Hand¬
lungen und Geschicken nachzuweisen, für die Geschichte und ihre Zwecke ist diese
Zusammenstellung von Wiederholungen und Analogie» ohne allen Wert. Denn
die Geschichtschrcilumg ist keine Geschäftsbilanz, keine Aufstellung von Soll n»d
Habe». Mag es sich dnrch sorgfältige Beobachtungen und tabellarische Ver-
gleichung gewisser Begebenheiten und Thatsachen beweisen lassen, daß alles sich
im Leben wiederhole, daß in allen Handlungen und Vorkommnissen eine gewisse
Gesetzmäßigkeit walte, aus dem automatischen Thun der Menschen läßt sich kein
geschichtlich verwertbarer Stoff schöpfen. Nur die individuellen, aus Selbst-
bewußtsein fließenden Lebensäußerungen bilden den Inhalt und das kunstvolle
Gewebe der Geschichte; weder die übereinstimmenden Zufälligkeiten, noch die
Wirkungen eines blinden Fatalismus liefern Bausteine für das historische Urteil,
sondern nur die sittlichen Mächte. Der tiefsinnige Ausspruch Humboldts: „Die
Weltgeschichte ist nicht ohne eine Weltregierung verständlich," ein Ausspruch,
den Hegel seinen „Vorlesungen über Philosophie der Geschichte" als Motto
vorangestellt hat, stellt der Geschichtschreibung ein ganz andres Ziel als die
exverimentirende Methode, welche die Individualitäten der Handlungen und Er¬
scheinungen in der moralischen wie in - der phhsischeu Welt gleich Atomen zu¬
sammenstellt und klassifizirt, um aus den Ergebnissen gcmeingiltige Gesetze ab¬
zuleiten. „Die Zahl der schaffenden Kräfte in der Geschichte," sagt Humboldt
an einer andern Stelle der genannte» Schrift, „wird durch die »»mittelbar in
den Begebenheiten anftreteiiden nicht erschöpft." Wenn der Geschichtschreiber
auch alle einzeln und in ihrer Verbindung durchforscht hat, die Gestalt und
die Umwcmdluttgc» des Erdbodens, die Veränderungen des Klimas, die Geistes-
fähigkeit und Sinnesart der Nationen, die noch eigentümlichere Einzelner, die
Einflüsse der Kunst und Wissenschaft, die tief eingreifenden und weitverbreiteten
der bürgerlichen Einrichtungen, so bleibt ein noch mächtiger wirkendes, nicht in
unmittelbarer Sichtbarkeit auftretendes, aber jenen Kräften selbst den Anstoß
und die Richtung verleihendes Prinzip übrig, nämlich Ideen, die, ihrer Natur
nach, außer dem Kreise der Endlichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in allen
ihren Teilen durchwalten und beherrschen. Treffend hat Drossen in seinen
„Grundzügen der Historik" die ans der Naturforschung auf die Geschicht¬
schreibung übertragne Methode Buckles widerlegt: „In der Geschichte kommt
es nicht bloß auf den Stoff an, an dem sie arbeitet. Neben dem Stoffe ist
die Form; und in diesen Formen hat die Geschichte ein rastlos sich weiter be¬
wegendes Leben. Denn diese Formen sind die sittlichen Gemeinsamkeiten, in
denen wir leiblich und geistig werden, was Nur sind, kraft deren wir uns über
die klägliche Ode und Dürftigkeit unsers atomistischen Jchseins erheben, gebend
und empfangend umso reicher werden, je mehr Nur uns binden und verpflichten.
Dies sind Bereiche, innerhalb deren Gesetze von gar andrer Art und Energie,
als die neue Wissenschaft sie sucht, ihre Stelle haben und ihre Macht üben.
Diese sittlichen Mächte, wie man sie schön genannt hat, sind in vorzüglichem
Maße zugleich Faktoren und Produkte des geschichtlichen Lebens; und rastlos
werdend bestimmen sie mit ihrem Gcwordcnsein diejenigen, die die Träger ihrer
Verwirklichungen sind, erheben sie über sich selbst. In der Gemeinschaft der
Familie, des Staates, des Volkes n. s. w. hat der Einzelne über die enge
Schranke seines ephemeren Ich hinaus sich erhoben, um, wem« ich so sagen
darf, aus dem Ich der Familie, des Volkes, des Staates zu deuten und zu
handeln. Und in dieser Erhebung und ungestörten Beteiligung an dem Wirten
der sittlichen Mächte je nach ihrer Art und Pflicht, nicht in der unbeschränkten
und ungebundnen Independenz des Individuums liegt das wahre Wesen der
Freiheit. Sie ist nichts ohne die sittlichen Mächte, sie ist ohne sie unsittlich,
eine bloße Lokomobile."
Wenn die materialistisch-statistische Methode Buckles den höhern Zweck
verfolgt, aus der Masse der einzelnen Beobachtungen zu einem allgemeinen
Gesetze zu gelangen, so hat das Verfahren, das wir als das technisch-archivnlische
bezeichnet haben, nur den Zweck, die Kenntnis der geschichtlichen Vorgänge zu
bereichern und zu berichtigen, traditionelle Irrtümer zu beseitigen, die t'Mo
ovnvenus, wie man die gewöhnliche Geschichtserzählung bezeichnet hat, von ihren
Auswüchsen und Ansätzen zu reinigen — eine verdienstvolle, löbliche Arbeit, wie wir
gern zugeben. Dennoch können wir nicht umhin, auch in dieser Methode nur die
Kärrner- und Handlangerdienste beim Bauen der Könige zu erkennen. Weder die
Geschichtswissenschaft noch die Geschichtschreibung wird wesentlich gehoben und ge¬
fördert, wenn Urkunden, Briefschaften, diplomatische Aktenstücke in Masse den
Archiven entnommen und in umfangreichen Sammelwerken den Bibliotheken über-
liefert werden. Wer wollte leugnen, daß die gewissenhafte und sorgfältige Durch¬
forschung aufbewahrter und verborgen gehaltener Schriftstücke manche neue
Thatsache zu Tage gefördert, manche falsche Ansicht berichtigt, manche unrichtige
Überlieferung ins rechte Licht gesetzt hat? Aber diese Vorteile werden auf¬
gewogen durch die massenhafte Stoffhäufung, durch die Menge imwichtiger, für
den Gang und die Resultate der Geschichte bedeutungsloser Aufzeichnungen,
durch geringfügiges Detailwcrk. Es ist ein löbliches und verdienstvolles Be¬
streben, wenn historische Lokal- und Provinzialvereine die geschichtlichen Materialien
eines landschaftlich abgegrenzten Stammcsgebietes sammeln und ordnen, aber
es darf nicht an die Stelle der höhern Aufgabe treten. Haben wir es trotz
alles Forschungseifers und Sammelfleißes bis jetzt zu einer deutschen Geschichte
gebracht, welche den Nationalwerken der Engländer und Franzosen ebenbürtig
zur Seite stehen könnte? Einzelne Perioden sind trefflich und mustergiltig
bearbeitet, manche Seite der innern Geschichte ist wissenschaftlich und künstlerisch
mit Eleganz und Genialität behandelt worden, aber eine allgemeine deutsche
Geschichte, welche gediegnes Wissen mit klarer, gemeinverständlicher Haltung und
edler Form und Sprache verbände, wird man vergebens suchen. Und je
mehr die Menge des Stoffes, die partitularistischeu Einzelarbeiten sich häufen,
desto schwerer wird sich ein künstlerisch-wissenschaftlicher Genius entschließen, aus
der unübersehbaren Masse ein harmonisches Gesamtbild zu schaffen. Der Überfluß
des Materials wirkt ebenso abschreckend wie der Mangel. Nicht was ohne
dauernden Erfolg im Strome der Zeiten zerronnen ist oder auf den geschicht¬
lichen Verlauf der Dinge keinen wesentlichen Einfluß geübt hat, verdient der
Nachwelt erhalten zu werden, sondern was gestaltend und reformirend auf den
geschichtlichen Lebensgang eingewirkt hat, nicht die Pläne und Absichten,
die hie und da einmal auftauchten, aber nicht ins Leben traten, können zur
Aufhellung verwickelter Zeitfragen und Zeitereignisse besondre Dienste leisten,
sondern die Lösung und klare Darlegung der verschlungnen Fäden und Motive,
welche die Handlungen und Begebenheiten herbeiführten. Wie interessant und
bedeutungsvoll für die Biographie und Memoirenliteratur alles sein mag, was
der Einzelne in verschiednen Momenten in seiner Seele getragen, erwogen und
durchdacht hat, für die echte Geschichte hat nur die Wirklichkeit, das Vollbrachte
Wert, auch nur dann, wenn aus dem Detail der Umstände und des Neben¬
sächlichem der für die Menschheit oder für eine Nation bedeutsame Kern aus¬
geschält wird. Diese Ansicht liegt auch den Worten Fr. Rückerts zu Grunde,
des Dichters, dem es wie keinem andern gelang, trockne didaktische Stoffe in
glatte Verse zu kleiden, wenn er sagt:
Wie die Welt läuft immer weiter,
Wird stets die Geschichte breiter,
Und uns wird je mehr, je länger
Nötig ein Zusmmneudränger.
Nicht der aus dem Schutt der Zeiten
Wühle mehr Erbärmlichkeiten,
Sondern der den Plunder flehte
Und zum Bau die Steine schichte.
Nicht das Eiuzlc unterdrückend,
Noch damit willkürlich schmückend,
Sondern in des Eiuzlen Hülle
Legend allgemeine Fülle.Der gelesen alles habe
Und besitze Dichtergabe,
Klar zu schildern mir das Wesen,
Der ich nicht ein Wort gelesen.
In ähnlichem Sinne sprach sich unlängst ein namhafter Historiker unsrer
Zeit (H. Baumgarten in der Vorrede zur „Geschichte Karls V.") ans, wenn
er sagte: „Wir sind, wie mir scheint, allmählich mit unsrer historischen Gelehr¬
samkeit dahin gelangt, daß wir in der Hauptsache nnr für unsre Fachgenossen,
und zwar für eine mit jedem Jahre sich mindernde Zahl derselben, arbeiten.
Denn die Detailforschung ist so angeschwollen, daß das Gebiet, welches der
einzelne Historiker wirklich zu beherrschen vermag, immer enger wird. Nun
dürfte es doch aber unbestreitbar sein, daß die Geschichte nicht eigentlich die
Aufgabe hat, die Historiker zu belehren, daß eine Forschung, welche nicht
schließlich zu dem Ergebnisse führt, die nationale oder die allgemeine Bildung
zu fördern, daß namentlich die geschichtliche Forschung, welche ans dieses Ziel
verzichtet, sich in falschen Bahnen bewegt. Auch der penibelste Spezialist wird
nicht in Abrede stellen können, daß Quellenpublilatiouen nicht um ihrer selbst
willen erfolgen, monographische Untersuchungen uicht darin ihren höchsten Zweck
haben sollten, irgend ein Detail aufzuklären, sondern durch diese Aufklärung den
Zusammenhang der historischen Entwicklung zu erhellen. Wenn die umfassenden
Publikationen, die scharfsinnigsten Forschungen Dezennien hindurch so gut wie
unbenutzt daliegen, wenn sie schließlich durch ihre Massenhaftigkeit sogar sür
den Historiker unerreichbar werden, der sich nicht in die Enge einiger Dezennien
einsperren mag, so ist das für das wirkliche historische Wissen wenig förderlich.
Sie ins Grenzenlose zu vermehren, ohne den Versuch, die historische Summe
aus diesen kostbaren Materialien zu ziehen, ist ein Unterfangen, das mit dein
wahren Sinne wissenschaftlicher Forschung im Widerspruche steht."
Die Geschichte ist der breite Untergrund für alle Geisteswissenschaften; umso
notwendiger ist es, für die Historiographie selbst feste Grenzlinien zu ziehen
und bestimmte Gesichtspunkte einzuhalten, damit sie nicht unter der Masse des
Details ziellos nach verschiednen Seiten auseinanderfahre. Ja das Verfahren,
das durch Sammlung und kritische Sichtung zur klaren Erkenntnis der Wahrheit
aufzustreben sich bemüht, ist berechtigt und löblich und fördert Einsicht und
Wissen. Aber Forschen und Sammeln sind nur Wege und Hilfsmittel, sind
nur Stufen zum Höhern. Und dieses Höhere kann nur die „Weltgeschichte"
heilt, der künstlerische Ausdruck und Jubegriff des Mnnnichfaltigen, das der Ver¬
sasser sorgfältig und gewissenhaft erforscht, das er in seine Seele aufgenommen
hat und durch den eignen Genius verklärt darstellt. „Wenn die Universal- und
Kulturgeschichte ihre Aufgabe richtig begreift — äußerte sich vor einiger Zeit ein
Historiker in einer der gecichtetsteu deutschen Zeitschriften —, so ist ihr gewiß eine
glorreiche Zukunft beschicken, Sie verwertet ein ungeheures Material; es giebt
kaum eine Wissenschaft, die sie nicht wenigstens vorübergehend zur Unterstützung
herbeiziehen müßte. Von erhöhtem Staudpunkte aus läßt sie Völker und Kul¬
turen an sich vorüberziehen und urteilt im Großen. Das ist gewiß Königs¬
arbeit. Gerade sie ist berufen, der neuen Philosophie, welche aus dem wissen¬
schaftlichen Tumulte unsrer Zeit hervorgehen wird, die wichtigsten Erkenntnisse
zuzuführen. Denn sie steht höher als die meisten andern Wissenschaften. Von
ihrem Standpunkte aus, von denk sie alles, was menschlich ist, zu überschauen
vermag, kaun sie erkennen, was dem, der nur über einen beschränkten Raum
hinsieht, zu erkennen immer versagt bleiben muß: sie kann in dem Wellcnspiele
der Geschichte nicht nur das Gesetz der Bewegung, sondern auch die Richtung
derselben erkennen, sie sieht das Meer, dem jener wogende Strom zuflutet.
In dem Gange der Weltgeschichte hört sie den Schritt Gottes."
Zur Ergänzung dieser Worte, durch welche der Standpunkt und die Auf¬
gabe des Universalhistorikers so trefflich bezeichnet werden, möge es dem Ver¬
fasser gestattet fein, aus der Vorrede zur zweitem Auflage seiner „Allgemeinst
Weltgeschichte" einige Sätze zu wiederholen und dabei zugleich ans die in seinem
„Leben und Bildungsgang" ausgesprochnen Bemerkungen zu verweisen. „Der
gegenwärtige Zeitpunkt ist freilich kein günstiger Moment, den Weg zur Hoch¬
burg der universalhistorischen Wissenschaft anzutreten. Wo ans der einen Seite
das System der Arbeitsteilung so weit ausgebildet wird, das Arbeitsgebiet des
einzelnen Forschers sich so sehr verengt, daß nur das Detailwisseu wertvoll er¬
scheint, der Autor eiues Buches nur zu den eingeweihten Fachgenossen sich
wendet, wo auf der andern Seite die große Menge der Gebildeten gleich
naschenden Feinschmeckern nur nach den anlockenden Früchten greift, wie sie in
periodischen Unterhaltungsschriften, in populären Vorträgen, in typographischen
Prachtwerken, in historischen Romanen dargeboten werden: eine solche Zeit hat
wenig Empfänglichkeit für ernste, voluminöse Werke, welche über das Besondre
hinaus nach Zweck und Zusammenhang der Einzelglieder forschen, in der Fülle
der Erscheinungen die treibenden Kräfte und Motive zu ergründen suchen, in
der Weltgeschichte ein Wachstum zum Guten und Bessern in der Kettenvcr-
gliedcrung der Generationen darzuthun bezwecken. Aber mein Vertrauen ist auf
die Zukunft gerichtet. Die menschliche Natur ist nicht geschaffen, auf die Dauer
sich von den Fluten einer vergänglichen Zeitströmung forttreiben zu lassen.
Die Jahre ^werden wiederkehren, wo sich der Sinn und das Interesse für
strengere umfassende Geistesarbeit und allgemeinere Belehrung mit neuer Kraft
regen und geltend machen wird; dann wird auch für die Universalgeschichte,
für historisches und philosophisches Gesamtwissen eine günstigere Zeit anbrechen.
Das historische Wissensgebiet ist nicht wie andre Wissenschaften ausschließlich
den Fachgelehrten zugewiesen; es ist das weite Feld, an dem die ganze gebildete
Welt teilnimmt, aus dem die gesamte denkende und urteilende Menschheit Er¬
kenntnis und Belehrung schöpft über das öffentliche Leben, über die Entwicklung
und Gestaltung der weltbeherrschcnden Ideen und Anliegen, aus dem sie er-
fährt, wie die frühern Geschlechter gekämpft und gerungen, gestrebt und geirrt
haben auf den Wegen des Fortschrittes zur Freiheit, zur irdischen Wohlfahrt,
zu einem menschenwürdigen Dasein, zu einer moralischen Weltordnung. Die
Geschichte ist der geistige Gemeinbesitz aller für die Güter und Errungenschaften
der Zivilisation empfänglichen Seelen. Von ihr gilt im vollsten Maße das
Mink llummri » Älisnunr. Darauf baut die Universalgeschichte ihren Tempel,
der in alle Zukunft fortbestehen wird."
cire die Vernichtung und Ausrottung der Hellenen so vollständig
gewesen, wie man angenommen hat, so hätte die Sprache un¬
möglich anderthalb tausend Jahre lang ihre Lebenskraft bewahrt
und in der kurzen Zeit der Unabhängigkeit sich nahezu wieder
zu ihrer alten Reinheit durchgearbeitet. Die Ausdehnung, welche
sie in jüngster Zeit über die sämtlichen Provinzen der europäischen und zumal
der asiatischen Türkei gewonnen hat, ist außerordentlich. Nicht allein daß die reine
Aussprache, die grammatikalische Nichtigkeit, die Säuberung von vielen Fremd¬
wörtern, wie sie von der Akademie in Athen ausgehen, von den bessern Ständen
allgemein adoptirt und im Schulunterichte eingeführt werden, es wird auch
von den Südslawen in den Distrikten, wo sie untermischt mit Griechen leben,
wie in Thessalien, Epirus und Mazedonien, das griechische Idiom erlernt und
ihm als Kultursprache der Vorrang vor der einheimischen eingeräumt. Gerade
die Albanesen, in welche unsre Philologen in ihrer theoretischen Rechthaberei
denn wie wenige derselben haben an Ort und Stelle Land und Leute
studirt! — die Hellenen aufgehen lassen, sind vollkommen assimilirt. Zahlreich
im Lande verbreitet — Salamis und Eleusis vor den Thoren der Hauptstadt
sind ganz von ihnen bevölkert — und nnter der türkischen Herrschaft, soweit
sie zum Islam übergetreten sind, ein wildes Prätoricmertum (die Janitscharen
rekrutirten sich vorzugsweise von ihnen), haben sie sich jetzt durchweg den neuen
Verhältnissen anbequemt. Was nicht zum Christentume zurücktreten wollte,
ist über die Grenze gezogen. Dafür sind neue Ansiedler herübergekommen, und
nunmehr bilden die Albanesen eine ebenso seßhaft ruhige als fleißige, mit Acker¬
bau und Viehzucht beschäftigte Volksklasse. Die eigne Sprache, allerdings ein
Dialekt der slawischen, stirbt unter ihnen nach und nach aus. eine Schriftsprache
ist sie ohnedies nicht gewesen.
Die griechische Sprache kann nicht wie die lateinische eine tote genannt
werden. So vollkommen man die letztere verstehen mag, man wird dadurch von
der Erlernung der italienischen oder einer andern romanischen Sprache nicht
entbunden. Wer aber das Altgriechische versteht, wird sich im neugriechischen,
wie es die Gebildeten sprechen und wie es sich immer mehr reinigt und der
Klassizität nähert, bald zurechtfinden. Es macht nur geringe Schwierigkeit,
ein Buch, eine Zeitung zu lesen, da sich in den Werken des modernen Schrift¬
stellers fast alle Ausdrücke und Wendungen der antiken Sprache wiederfinden,
mit denen man uns ja in den Ghmnasien weidlich gequält hat. Wie wenige
sind freilich in der Lage, davon praktischen Gebrauch zu mache»! Oft genug
habe ich als Knabe diese griechische Servitut verwünscht, und welche Freude hat
es mir jetzt als altem Manne bereitet, auf dem Schauplatze selbst Homer und
Herodot im Original lesen zu können! Einige Not hat es allerdings mit dem
Sprechen, da, abgesehen von der außerordentlichen Zungenfertigkeit und Schnellig¬
keit, Accent und Aussprache unserm Ohre fremd klingen. Daß Herr Erasmus,
der, wie ich glaube, Professor in Holland war, besser wissen sollte, wie das
Griechische auszusprechen sei, als die Eingebornen, zumal da es bis zum Unter¬
gänge des oströmischen Reiches die Hofsprache war und sich in Schrift und Rede
auch nach der türkischen Eroberung erhielt, will mir nicht einleuchten, und ich
besitze leider nicht den nötigen Respekt vor dem gelehrten Dünkel, um blindlings
in vert)» maFistri zu schwören. Dieser theoretische Kram des Katheders wird
durch den offnen uneingenommenen Blick an Ort und Stelle nicht selten lügen¬
gestraft.
Seit das zeitgenössische Griechenland eine selbständige Politik einschlagen
kann und darf und mit unleugbaren Erfolg das Ziel einer geistigen Einheit
sämtlicher Griechenstämme anstrebt, hat das frühere Parteiwesen, wie es dnrch
die drei großen Schntzmcichte geschaffen wurde, ganz aufgehört. An Eiuheits-
gcfühl und patriotischer Opferbereitschaft steht kein andves Volk voran. Oppo¬
sition giebt eS nur noch zwischen Personen, nicht mehr zwischen Grundsätzen
und Tendenzen. Die Entthronnng König Ottos war der letzte Akt englischer
Intrigue und Brutalität, und man möchte sie gern ungeschehen machen, da man
bei dem Tausche schlecht genug gefahren ist. Aber der bairische Prinz konnte kein
Blut sehen und ließ sich geduldig wegführen. Hätte er seine Frau zur Seite
gehabt, so wäre es wohl anders gekommen. Man brauchte nur den paar Söld¬
lingen englischen Goldes die Köpfe vor die Füße zu legen, und die ungeheure
Mehrheit des Volkes würde Beifall gerufen haben. Die Königin Amalie war
eine ebenso geistvolle als energische Dame. Sie liebte es, Fremde zu sehen,
fragte dabei wenig nach Rang und Stand und hörte gern, was man über ihre
Schöpfungen dachte. Noch heute genießt man dieselben mit Dank und Freude,
die schönste ist wohl der Schloßgarten, dessen wunderbare Frische bei reicher
Vegetation inmitten der sterilen, wasserarmen Ebene Attilas doppelt wohl¬
thut. Er ist zwar nicht groß, aber von einem Deutschen, Herrn Schmidt — der
brave Maun lebt noch heute und wandert täglich im Schatten der Bäume, die
er gepflanzt hat —, mit seinem Geschmack angelegt und einzig in seiner Art
durch die Aussichten, welche er auf die Mropolis. den Jupitertempel lind die
User des Ilissos gewährt. Freilich strömt auch die halbe Wasserleitung in sein
Revier und macht es möglich, selbst der Jnlisonue einen grünen Nasen ab¬
zutrotzen und mit feuchter Wärme exotische Produkte im Freien z» erhalten
und zu üppigem Wachstum zu bringe». Besonders gediehen sind die Anpflan-
zungen der Palmen, welche zu Hunderten von Tunis gebracht wurden. Ein
glücklicher Zufall ließ bei der Anlage einen antiken Mosaikboden von großem
Umfang und herrlicher Arbeit entdecken. Man baute darüber eine Galerie mit
Bädern und Bassins und bekleidete sie mit einem Wald von Kamelien und
Passiousblumen. Der Ort atmet eine schwelgerische Stille wie ein orientalisches
Märchen. Die Königin war eine große Freundin der Landwirtschaft und hatte in
der Umgegend mehrere Musteranstalten begründet, wo Bier gebraut, Brauntwein
gebrannt, Öl gepreßt, Butter und Käse bereitet und eine Milch gemolken wurde,
die beneidenswert war für alle, welche die Wasserbrühe, die man unter diesem
Namen verkauft, genießen müssen. Der Verwalter und seine Familie waren
Deutsche, und die Griechen unter ihrer Leitung zeigten sich ganz anstellig. Mit
ihnen ist überhaupt in jedem Geschäftszweig etwas anzufangen, sie sind
ebenso wiß- und lernbegierig als rasch von Begriffen und scharfsinnig. Wäre
ihre Moral wie ihre Intelligenz, sie stünden unübertroffen da. Ich halte es
für durchaus ungerechtfertigt, den Griechen den Sinn für Industrie und Ackerbau
abzusprechen, sie haben sich nur deshalb vorzugsweise dem Handel und der
Schifffahrt zugewendet, weil ihnen für jene Beschäftigungsweifen die speziellen
Kenntnisse und die nötigen Kapitalien fehlten. Jetzt, wo sich Hunderte von
strebsamen jungeu Leuten in den polytechnischen und wirtschaftlichen Anstalten
des In- und Auslandes bilden und wo die Bodenbestellung rationeller, mit bessern
Gerätschaften — man begegnet im Innern noch dem antiken Pflug aus Hesiods
Zeiten — und mit Aufgebot zureichender Mittel vorgenommen wird, werden
die Fortschritte bald sichtbar sein, zumal da Griechenland nicht wie Italien große
Latifundien kennt, solider» einen in kleine Parzellen verteilten Grundbesitz hat,
mit dessen Anbau eine Familie leicht sertig wird.
Als ich vor sechsundzwanzig Jahren das erste mal nach Griechenland kam,
besuchten wir auch Pyrgos — so hieß der eine Meierhof — und waren gerade im
Begriff, die Kuhstalle zu besichtigen, als wir von der Königin überrascht wurden.
Der bairische Konsul stellte uns ohne weitere Zeremonie vor. Ihre Majestät
war äußerst liebenswürdig, erkundigte sich über dies und jenes, führte uns
selbst herum und empfahl uns, ihr ganzes Territorium recht geuau in Augen¬
schein zu nehmen. Das Gefolge bestand aus wenigen Personen, darunter
einer Hofdame, Fräulein Mianlis, von blendender Schönheit, wie ich in Griechen¬
land kaum eine zweite gesehen. Ich musz gestehen, daß unser ganzer landwirt¬
schaftlicher Eifer davon unterbrochen wurde und wir der königlichen Einladung
nur mit großer Zerstreuung folgten. Ich streife diese alte Erinnerung, weil
sie mir Gelegenheit giebt, die heutige Dynastie und Hofhaltung mit ihrer Vor¬
gängerin zu vergleichen, und ich nnr eine Stimme des Bedauerns darüber höre.
Die Unfruchtbarkeit der Königin Amalie war ein fataler Umstand, zumal da Prinz
Adalbert, der Bruder des Königs, als nächster Agnat zur Erbfolge bestimmt,
für einen eifrigen Katholiken galt. So vereinigte sich manches, um den
Handstreich zu einer Art von Staatsaktion zu erheben. Die besten Wurzeln
des neuen Königshauses sind die vier oder fünf Prinzen, welche die russische
Großfürstin ihrem Gemahl geboren hat, ohne diese möchte es mit der Zukunft
unsicher stehen, denn das Herrscherpaar, zumal der König, hat zwar keinerlei
Unrecht begangen, aber ebensowenig etwas gethan, um sich die Sympathien
des Landes zu erwerben und die Krone einigermaßen mit Würde und Glanz
zu tragen. Man ist über alle Maßen sparsam und läßt es dabei oft an dein
äußern Auslande fehlen. Nirgends mehr als im Orient wird aber auf Reprä¬
sentation und eine gewisse verschwenderische Pracht, besonders bei festlichen An¬
lässen, Wert gelegt und darnach oft die Person beurteilt und geschätzt. Da
giebt es denn viele Sticheleien, und man erinnert sich wieder, wie flott es unter
Otto und Amalie zugegangen, die beide ihr Privatvermögen zugesetzt haben.
Die Griechen hatten sich bei dem letzten russisch-türkischen Kriege gewaltig
verrechnet. Sie dachten als schlaue Handelsleute, es würde ihnen gelingen wie
Italien, das trotz Niederlagen dnrch die Siege seiner Alliirten die schönsten
Provinzen erhielt und seine Unabhängigkeit und Einheit fertig brachte. Aber
Viktor Emanuel hat sich doch tapfer und mutig geschlagen und seine Armee
furchtlos, wenn schon unglücklich, aus die Schlachtfelder geführt. König Georg
dagegen blieb vorsichtig daheim, und als mau endlich mvbilisirte und eine mili¬
tärische Promenade an die Grenze unternahm, war es zu spät. Für diese
negative Leistung hat Griechenland mit Thessalien und Epirus noch mehr be¬
kommen, als es verdiente, und es gehört ein hoher Grad von Selbstverblendung
dazu, wenn man jetzt dem deutschen Reichskanzler schmollt, daß er den Griechen
auf dem Berliner Kongreß nicht anch Mazedonien zugeteilt hat. Wir Deutschen
siud deshalb dermalen nicht absonderlich beliebt, und besonders bei Hofe verbirgt
man seine Abneigung nur wenig. Trotzdem hätte mau für die militärische
Reorganisation deutsche Justruktoren gerne gewünscht, allein eine Anfrage in
Berlin wurde kühl und ausweichend beantwortet, und so warf man sich Frankreich
in die Arme. Es sind bereits seit Anfang vorigen Jahres mehrere Generale
und Stabsoffiziere zur Stelle, um die griechische Streitmacht zu gallisiren, be¬
ziehentlich zu einem Schutz- und Trutzbündnisse mit der Republik heranzubilden.
Das Land hallt von leidenschaftlichem Kriegsgeschrei wieder. Indes vom Wort
zur That ist noch ein weiter Weg. Das ernste und zumal geordnete, disziplinirtc
Waffenhandwerk liegt nicht im Blut der modernen Griechen, die andern Balkan¬
völker sind ihnen darin weit überlegen, der König ist wie gesagt nichts weniger
als von kriegerischen Feuer beseelt und durchaus nicht geneigt, sich irgendwie
zu exponiren. Zur See, wo man am meisten etwas leisten könnte, ist man
noch weit zurück. Man hat eine langgedehnte Küste zu verteidigen, und für
die Bemannung würden die Inseln das vortrefflichste Material liefern. Hydra
und Pharo sind glänzende Illustrationen, an deren Anfang und Ende die
Namen Themistokles und Miaulis stehen. Man hat in der Bucht von Salamis
für die Kriegsflotte ein Arsenal eingerichtet, und die großen Erinnerungen, welche
sich an diesen Schauplatz knüpfen, sollten geeignet sein, mächtig auf die Nach¬
kommen zu wirken. Allein mit der Opferbereitschaft, zumal der materiellen, sieht
es noch sehr windig ans, und mau dürfte sich weniger im Kampfe mit den
Waffen als im Kampfe mit den Finanzen verbluten. Ein Militärbudget von
dreißig Millionen mit einer Anleihe von sechzig Millionen im Hintergründe zur
Durchführung der sogenannten militärischen Reorganisation sind für ein Land
von kaum zwei Millionen Seelen ein Übermaß. Ein Glück für den Staat, daß er im
Auslande so viele reiche und liberale Bürger zählt, welche ihm die Last abnehmen,
für wissenschaftliche und Kunstaustalteu, für Schulen und Krankenhäuser Sorge zu
tragen. Auf dem prächtigen Platze, welchen das Meisterwerk des Herrn Hansen,
die Akademie, schmückt, soll als Pendant zur Universität eine Bibliothek gebaut
werden, wofür von einer einzigen Person eine Million zugesichert ist. Von einer
Privatzeichnung für ein Panzerschiff habe ich noch nichts gehört. Der Grieche
liebt das Geld mehr als das Leben.
Es wird in Athen dermalen viel Soldatchen gespielt, und es bläst und
trommelt von früh bis abend. Die Garnison soll sich auf 7000 Mann
belaufen, die meisten öffentlichen Bauten, die man sieht, sind für Kasernen be¬
stimmt. Jeden Vormittag um elf Uhr zieht die Wachtparcide in vollständiger
Ausrüstung mit Tornister und Kochgeschirr auf, und die einzige Musikbande,
welche die Armee hat, spielt eine halbe Stunde unter den Fenstern des könig¬
lichen Schlosses. Der Kapellmeister ist ein Böhme, und wenn man weiß, welch
harte Arbeit es ist, ein griechisches Ohr an Harmonie und Melodie zu ge¬
wöhnen, so darf man zufrieden sein mit dem, was er aus diesem unmusikalischen
Material zustande gebracht hat.
Zweimal in der Woche wird gegen Abend auf dem Konstitutionsplatze
konzertirt, es versammelt sich da die elegante Welt, und über die breite
Stadionstraße bis zum Eintrachtsplatze bewegt sich eine Art von Korso, denn
das herrliche Klima dieses Landes erlaubt auch im Winter, sich an den
Sonnenstrahlen im Freien zu erwärmen, Athen hat an Reichtum und Luxus
außerordentlich zugenommen. Man begegnet vielen Equipagen und zumal
schönen Pferden meist arabischer Rasse, Die Griechen sind kühne Reiter,
auch die Amazonen können sich sehen lassen. Man liebt mit Leidenschaft den
Sport, und die Nennen sind ein Nationalfest. Wären nur die Straßen weniger
hart und besser gepflegt, denn jetzt geht es über Stock und Stein, und mit
unsern Mietgänlen müßte man fürchten, Hals und Beine zu breche». Zu
Alexanders Zeiten war Mazedonien die Neuville des Altertums, die Kavallerie
seiner Phalanx der Schrecken aller Feinde, Auch in Thessalien, dem Vaterlande
der Centauren, ließen sich vorzügliche Pferde züchten und eine reiche Quelle
des allgemeinen Wohlstandes eröffnen. Aber es geschieht nichts, es ist kein
Gestüt, kein genügendes Weideland vorhanden, Griechenland ganz und zum
großen Teile die Türkei kaufen ihren Militärbedarf von Ungarn und der
Ukraine; nur die eigentlichen Bcrgpferde sind einheimisch, aber untauglich für
den Felddienst,
Die Neustadt (Neapolis) nimmt den größern Bezirk der Stadt Hadrians
ein und dehnt sich nordöstlich nach dem Kephissos ans. Die alte theseifche Stadt
lag südlich um die Akropolis herum lind hinaus gegen die Häfen, Obgleich
hier turmhoher Schutt aufgeschichtet liegt, so lassen sich doch auf dem Fels¬
plateau des Museumberges, der Agora und bei dem erst neuerdings frei¬
gelegten Dipylvn (Doppelthor) die Fundamente alter Häuser erkennen. Man
möchte sagen: Häuschen im vollsten Sinne des Diminutivums, noch weit
kleiner als in Pompeji, Alles Große, Edle und Schöne der griechischen
Architektur konzentrirte sich auf die öffentlichen Gebäude; die Privatwohnungen
waren armselig und ohne Bedeutung. Die Alten verbrachten den größten Teil
des Tages unter freiem Himmel, hier hielten sie ihre Volksversammlungen, ihre
Gerichte, ihre Theater, ihre Spiele, ihre philosophische,: Dialoge. Die Nach¬
kommen haben die Sitte in mancher Weise beibehalten. Ans den Straßen vor
den zahllosen Kaffeehäusern bewegt sich das öffentliche Leben. Der Handwerker
sitzt mit seiner Arbeit vor der Thür, der Geldwechsler hat seine ambulante
Bude auf dem Pflaster, die Thüre» stehen angelweit auf, und überall wird unter
lebhaften Gesten und in überlauter Stimme politisire. Politische Kcmnegießerci
ist nun einmal das Lebenselement der Athener geblieben, und ein zweiter
Aristophanes würde reichen Lustspielstoff finden. Besonders die Advokaten,
deren es Legion giebt, sind die heutigen Sykophanten, und überall begegnet
man Gruppen, in denen sie das Wort führen; die Debatten der Deputirten-
kammer werden auf der Straße fortgesetzt.
Ich habe mehreren Sitzungen beigewohnt, in welchen der damalige Minister¬
präsident Herr Trikupis sein Programm entwickelte. Den ersten Tag sprach er
vier volle Stunden ohne Unterbrechung, und der Schluß am zweiten Tage dauerte
noch nahezu drei. Noch mehr brauchte zu seiner Erwiederung der Führer der
Opposition, Herr Delyauuis. Das Parlament eines Grvßstaates pflegt dieselbe
Aufgabe in weniger Zeit zu lösen. Die Ncdefertigkeit und die Lust daran liegt im
Volkscharciktcr, und hat man eiumnl die Tribüne betreten, so giebt man sich ihr
mit breitem Behage» hin, der Ruf nach Schluß wird nie vernommen, man hat
eine wunderbare Geduld, alles anzuhören, wie viel davon auch nicht zur Sache
gehören mag. Ein vor einiger Zeit gestellter Antrag, vom Platze zu sprechen,
wurde mit großer Mehrheit abgelehnt, jeder will die Rednerbühne besteigen.
So begreift sich, wie die Sitzungsperioden oft ein halbes Jahr dauern, wozu
bei sachlicher Kürze ein Vierteljahr genügen würde. Die Abgeordneten wollen
ihren Gehalt, 1800 Franks, verdienen.
Zu wünschen wäre, daß die nächste Stiftung eines griechischen Nabvbs
den Neubau eines würdigen Parlamentshauscs beträfe. Das jetzige ist ein
mangelhaftes Flickwerk, mit engen Zugängen, schmalen und steilen Treppen,
finstern Korridoren, allzu dürftig und schmucklos inmitten der Marmvrpracht
und des Stulptureureichtums der benachbarten Gebäude. Der Saal selbst im
üblichen Halbrund erhält von den Seitenfenstcrn, welchen verschiedne Galerien
vorgebaut sind, ein höchst spärliches Licht und läßt in der Akustik viel zu wünschen
übrig. Mau verlangt keinen Luxus, aber eine etwas anständigere Ausstattung
und besonders eine sorgfältige Reinigung wäre denn doch an Platze. Es geht
manchmal wild und stürmisch zu, oben wie unter, und das souveräne Volk hat
die Gewohnheit der deutschen Studenten, mißliebige Redner auszutrommeln. Da
wirbelt ein Staub auf, daß man glaubt, auf der Avlusslraße zu sein, an deren
Ende noch hente der Turm der Winde steht, welche in dieser Stadt ihre klassische
Heimat haben. Staub ist infolgedessen eine der schlimmsten Plagen, man hat
zwar drei, vier Meter breite Marmvrtrottoirs, aber nicht eine einzige Straße
ist gepflastert, alle sind, und zwar mangelhaft, makadamisirt und zuweilen bei
der Wassernot nur schlecht gesprengt.
Im Sitzungssaale geht es mehr als ungenirt zu, man tritt mit dem Hute
ein, behält ihn nach Belieben auf, und obgleich nach dem Reglement verboten,
dampft doch die unvermeidliche Zigarette ans allen Winkeln hervor. Ein Zentrum,
eine Rechte und eine Linke nach unsern Begriffen giebt es nicht, man sitzt bunt
durcheinander und liebt es, den Platz zu wechseln. Da es mit dem Raume knapp
bestellt ist, so geht alles sehr eng zusammen, und zwischen dem PräPdenteubüreau
und der Ministerbank kann man nur mit Mühe passiren. Die Stenographen sind
wie die Heringe gepreßt und hocken zwischen den Beinen der Sekretäre, die kaum
ihren Stuhl umdrehen können. Die Dienerschaft trägt leine Livree, Huissiers
fehlen ganz, die Tribünen sind elende Holzgerüste, und die Journalisten müssen
sich mit einer schmalen Bank behelfen. Das eintönige, grcui in grau gemalte
Bild unterbrechen angenehm die malerischen Nationaltrachten der Deputirten aus
dem Peloponnes, die sich noch nicht zur europäischen Mode bequemt haben, des¬
gleichen zwei bis drei türkische Cyarakterköpfe, die in Thessalien gewählt sind.
Den Talar und die hohe Kappe der „Papas" sucht man vergebens, die Ver¬
fassung schließt die gesamte Geistlichkeit ans. Bekanntlich besteht mir eine
Kammer mit 242 Mitgliedern, was auf etwas mehr als 8000 Einwohner einen
Abgeordneten beträgt. Das aktive Wahlrecht ist allgemein, für das passive wird
ein kleiner Steuersatz verlangt. Bei der politischen Aufregung, worin sich die
Gemüter stets befinden, gestalten sich Neuwahlen zu einer stürmischen, oft
blutigen Aktion, da in Ermangelung eines festen Systems und Programms
die Persönlichkeiten die Hauptrolle spielen. Wie einst die Klephten ihren Häupt-
lingen, gehorchen ganze Landschaften und Bezirke einem Führer, der sich geltend
zu machen verstanden hat und dessen Einfluß sie bei der Wahl sowohl als bei
der Abstimmung in der Kammer folgen. Daher auch die Parteien des griechischen
Parlaments nach den Namen dieser Führer genannt werden. Durch alle geht
ein starker demokratischer Zug, die Verfassung hat Adelsprädikate und Titel
abgeschafft, es herrscht das Prinzip der unbedingten Gleichheit vor, Selbstgefühl
beseelt auch den Bettler, servile Unterwürfigkeit, Liebedienerei nach oben, Ver¬
legenheit in Ausdruck, Haltung und Geberde, wie sie bei uns so häufig vor¬
kommen, sind im ganzen Orient und besonders in Griechenland unbekannt.
Diese Ursache war uicht die geringste, warum die Baiern, trotz ihrer ganz
tüchtigen Verwaltungsmethvde, mit ihrem steifen Büreaukratismus und Kastengeist
sich nicht beliebt zu machen verstanden. Will man eine Gunst erlangen, so muß
man natürlich, wie überall, ante Worte geben und sich fügen; im übrigen aber
stellt sich der einfachste Bürgersmann mit dem Minister und General auf gleichen
Fuß und läßt sich weder durch Titel noch durch Amt und Orden imponiren.
In dieser Hinsicht ist der Byzantinismus aus seiner Heimat fort und in andre
Kulturländer nach Westen übergegangen.
Was in Griechenland allenfalls Geltung findet, das ist die Aristokratie
des Geistes, und man muß gestehen, daß dieselbe durch das ganze Volk in
reichlicher Menge verteilt ist. Die Grundsätze von Moral und Recht mögen
sehr loser Natur sein, allein, wie ich schon oben bemerkte, Intelligenz und rasche
Fassungsgabe haben sich vom Altertum auf die Gegenwart vererbt. Man
lernt mit wahrer Leidenschaft, und einer sucht den andern zu übertreffen. Das
Unterrichtswesen hat einen außerordentlichen Aufschwung genommen, die ärmste
Familie schickt ihre Kinder in die Schule, und Fleiß und Anlagen der Kinder
sind vortrefflich. An der Universität studiren gegen 3000 junge Leute, darunter
allerdings auch viele aus den türkischen Gebieten, und die Lehrstühle sind von
ausgezeichneten Professoren besetzt, die sich zum großen Teil in Deutschland
ausgebildet haben. Das wüste Korpsleben mit seinen Trinkgelagen und reno-
mistischen Duelle» ist gänzlich unbekannt. Außerdem giebt es 18 Gymnasien,
145 höhere Bürger- und über 1100 Volksschulen, Unter allen Zweigen der
Verwaltung ist der des öffentlichen Unterrichts der weitaus bcstbestellte. Auch
für die sonst im Orient so vernachlässigte weibliche Erziehung wird gesorgt, und
sich mit athenischen Damen zu unterhalten, ist ebenso lehrreich als interessant;
man begegnet vielseitigen, gründlichen Kenntnissen, und dabei ist die weibliche
Anmut nicht verloren gegangen. Nicht zuletzt ist hervorzuheben, daß der gesamte
Unterricht in der Elementarschule bis zu den Vorlesungen an der Hochschule
unentgeltlich erteilt wird. Freilich widmet sich infolgedessen ein über den
Bedarf großer Teil der Jugend deu höhern Berufsarten, namentlich der
Jurisprudenz und Medizin, und daher kommt die überschüssige Zahl von Ad¬
vokaten und Ärzten, welche in Ermangelung von Praxis die Politik zu ihrem
Handwerk machen.
ur selten treten Gerichtsverhandlungen, wie sie sich unter der
Herrschaft der Mündlichkeit abspielen, in ihren Einzelheiten an
die Öffentlichkeit. Als vor einigen Monaten ein berüchtigter
Strafprozeß, der in Berlin verhandelt wurde, durch die Blätter
lief, waren die Grenzboten in der Lage, auf die wenig passenden
Formen hinzuweisen, in welchen der Vorsitzende von seinem Rechte der münd¬
lichen Urteilsverkündigung Gebrauch gemacht hatte. Jetzt sind wieder die Ver¬
handlungen über einen vielbesprochenen Zivilprozeß an die Öffentlichkeit gelangt.
Und leider finden wir uns auch hier veranlaßt, unsre Bedenken gegen die Art
des Auftretens des Präsidenten in dieser Sache offen auszusprechen.
Es handelt sich um einen der vom preußischen Fiskus gegen verschiedne
Reichstagsabgeordnete angestrengten Prozeß wegen Rückzahlung bezogener Frak¬
tionsdiäten, einen Anspruch, der auf die Vorschriften in Teil I, Titel 16, §§ 172,
173, 205, 20V des preußische» Landrechts gestützt wird. Der vorliegende, wider
den Abgeordneten Kranker geführte Prozeß wurde, nachdem in erster Instanz
die Klage zurückgewiesen war, in zweiter Instanz vor dem vierten Senate des
Oberlandesgerichts zu Breslau verhandelt. Darüber wird nun folgendes be¬
richtet:
Der Vertreter des Fiskus, Justizrat Knupisch, begründete eingehend du in der
Bernfungsschrift angeführten Gesichtspunkte und beantragte Aufhetzung der Land-
gerichtsentschcidung, welche die Klage auf Heranszahlnng von 1810 Mark Diäten
abgewiesen heilte. Der Verklagte habe von 1 «3 t bis 1885 in Summa über vier¬
hundert Tage als Abgeordneter der sozialdemokratischen Partei in Berlin genent,
und nach den Beschlüssen des Gothaer Sozialisteukmigresses über die Diäteusätze
— letztere wurden damals auf 6 Mark festgesetzt, variirten aber später —, sowie
nach Mitteilungen sozialdemokrntischer Blätter sei der obige Satz mit Sicherheit
als der mindeste Betrag der von Krcicker empfangenen Diäten anzunehmen. Präsident:
Diese Mitteilungen können als Beweis nicht gelten, anch können Sie sich, Herr
Justizrat, nicht im allgemeinen auf den Gothaer Sozialistenkongreß beziehen, Sie
müssen vielmehr bestimmte Protokolle vorlegen. J,-R, Kcmpisch: Diese besitzt das
Ministerium des Innern, und ich würde sie eventuell herbeischaffen; im übrigen
beziehe ich mich betreffs des Datensatzes auf das Zeugnis der Abgeordneten Bebel,
Liebknecht und andrer. Der Regierung ist es selbstverständlich weniger um die
Summe der Diäten als vielmehr darum zu thu«, die. Prinzipienfrage zum Aus¬
trage zu bringen. Herr Krcicker hat selbst den Empfang von 1500 Mark zuge¬
standen, über deu streitigen Rest würde eventuell Beweisaufnahme erfolgen müssen.
Redner geht nun «aber auf die Entwicklungsgeschichte des Z 82 der Reichsver-
fassung ein und entwickelt seine Ansicht dahin, daß sich die bekannte Erklärung des
Fürsten Bismarck nicht als authentische Interpretation zu Gunsten der gegnerischen
Seite verwerten lasse, daß der Fürst damit vielmehr auf die durch Nichtfestsetznng
von Strafen für Diätenanuahme bestehende Lücke im Gesetz habe hinweisen »vollen.
Präs.: Sie haben uus hier politische Geschichten vorgetragen, aber wir haben hier
nicht über Politische, sondern mir über privatrechtliche Verhältnisse zu urteilen.
Wenn Sie uns hier ein Rechtsgeschäft konstruiren wollen, so müssen Sie uns doch
auch die Kontrahenten nachweisen. Ist denn überhaupt hier eine „Zahlung" erfolgt?
Letztere ist doch immer nnr die Lösung einer vorhergegangenen Verbindlichkeit.
Hat denn nnn ein Vertrag stattgefunden und ist Krcicker eine Verpflichtung einge¬
gangen? Und wo steckt der unerlaubte „uicht ehrbare" Zweck? Der Zweck war doch
wohl nur der, Krcicker in den Stand zu setzen, in Berlin zu leben. Wo liegt da
das „Privatgeschäft"? J.-R. Kcmpisch: Hiernach scheinen Sie, Herr Präsident, die
Vorlegung eines Vertrages zu verlangen. Präs.: Allerdings. J.-R. Kcmpisch: Nun,
ich behaupte, daß Krcicker das Mandat nur unter der Bedingung, daß er Diäten
bekomme, angenommen hat. Präs.: Mit wem ist er denn diese Verpflichtung ein¬
gegangen? J.-R. Kcmpisch: Nun, mit den Pnrteileitern und dem betreffenden Komitee.
Präs.: Geben Sie uns doch Namen und treffende Beweismittel, mit allgemeinen
Behauptungen können wir in solcher Sache nichts machen. J.-R Kanpisch: So
beantrage ich die Vernehmung von Bebel, Liebknecht ?c.
Hieran schließt sich in dem Berichte die Ausführung des Vertreters des
Verklagten, welche für unsre Betrachtung kein weiteres Interesse hat. Schließlich
erkannte das Gericht ans mehrere Beweiserhebungen.
Da dieser Bericht von sehr achtnngswcrten Blättern gebracht worden ist,
so dürfen wir ihn für wat>rheitsgetreu halten. Jedenfalls ist die Verhandlung
so, wie sie hier steht, in die Öffentlichkeit gelangt, und wir dürfen daher an diese
Darstellung unser Urteil knüpfen. Sollte dieselbe in irgendwelchen Punkten
unrichtig sein, so ändert sich insoweit unser Urteil von selbst.
Die Art und Weise, wie ein Vorsitzender in die mündliche Verhandlung
einzugreifen berufen ist, regelt der Z 130 der Zivilprozeßordnung dahin, daß er
durch Fragen auf die Aufklärung der Sache und die Vollständigkeit der Ver¬
handlung hinzuwirken, auch auf die Bedenken aufmerksam zu machen habe,
welche in Ansehung der von Amtswegen zu berücksichtigenden Punkte obwalten.
Dieses richterliche Fragerecht ist vielleicht das wertvollste Element der mündlichen
Verhandlung. Vorausgesetzt wird dabei selbstverständlich, daß es mit der er¬
forderlichen Diskretion geübt werde. Daß das Fragerecht nur innerhalb der
Verhandlungsmaxime geübt werden darf, sprechen schon die Motive der Zivil¬
prozeßordnung aus; wenn diese Grenze überschritten wird, so kann darin schon
ein arger Mißbrauch liegen. Noch mehr aber verletzt der Vorsitzende die ge¬
botene Diskretion, wen» er das Fragerecht benutzt, um dabei seine Ansichten über
die zu entscheidenden Fragen unumwunden auszusprechen, und damit die Ent¬
scheidung gewissermaßen vorwegzunehmen. Es ist dies zunächst eine Ver¬
letzung der Parteien in ihren Rechten. Diese dürfen fordern, daß das ge¬
samte Kolleg über die in Betracht kommenden Fragen, und zwar erst nach
vollständiger Anhörung der Parteien, entscheide. Welche Hoffnung können sie
noch hegen, daß bei dieser Entscheidung der Vorsitzende die ihm obliegende
unbefangene Stellung einnehmen werde, wenn er sich schon von vornherein ülier
diese Fragen bestimmt ausgesprochen hat? Denken wir uns in die Lage eines
Urwalds, dem gegenüber in dieser Weise der Vorsitzende auftritt, so würden
wir in der That versuchen, sofort denselben wegen Befangenheit als Richter
abzulehnen. Denn die alte Regel, daß ein Richter über Fragen, über die er
richterlich zu erkennen hat, sich nicht vorweg aussprechen soll, besteht auch heute
noch und ist durch das dem Vorsitzenden eingeräumte Fragerecht uicht geändert.
Schon die Worte des Gesetzes weisen darauf hin, indem sie nnr von „Bedenken"
reden, auf welche der Vorsitzende unter Umständen aufmerksam zu machen habe.
Sodann liegt aber auch in einem solchen Vorgehen des Vorsitzenden eine Mi߬
achtung des eignen Kollegs. Was soll man von Richtern denken, die sich eine
solche Vorwegnähme ihres Urteils durch den Präsidenten gefallen lassen oder
gar gefallen lassen müssen?
Diese Regeln der Diskretion hat im vorliegenden Falle der Vorsitzende
durchaus mißachtet. Schon die erste Äußerung, worin er über das, was als
Beweis gelten könne, abspricht, überschreitet seine Befugnisse. Er hätte höchstens,
wenn er die Partei veranlassen wollte, ihre Beweise zu ergänzen, auf den Zweifel
hinweisen dürfen, ob das Vorgebrachte den Beweis erschöpfe. Noch viel weniger
angemessen aber ist die Art und Weise, wie der Vorsitzende bei seiner zweiten
Äußerung ins Zeug geht. Er cmalhsirt gewissermaßen von vornherein, wie das
Urteil ausfallen werde, und zwar in durchaus einseitiger Weise. Eine solche
Stellung hat das Gesetz durch § 130 der Zivilprozeßordnung dem Vorsitzenden
nimmermehr einräumen wollen.
Es liegt uns fern, uns über die Hauptfrage der erwähnten Prozesse hier
auszusprechen. Wir überlassen sie der richterlichen Entscheidung.") Aber wir
nehmen doch keinen Anstand, jenes vorgrcifliche Urteil des Vorsitzenden auch
materiell hier zu besprechen, teils weil dasselbe ganz unberufen ausgesprochen,
teils weil es offenbar haltlos ist. Wissen wir anch nicht genau, was der Anwalt
des Klägers vorgetragen und was deshalb der Vorsitzende unter den „Poli¬
tischen Geschichten" verstanden hat, die er als nicht zur Sache gehörig zurück¬
weist, so ist doch soviel klar, daß der vorliegende Prozeß ohne Verständnis der
politischen Bedeutung des in Art, 32 der Reichsverfassung enthaltenen Verbots
für Rcichstagsmitgliedcr, Besoldung oder Entschädigung zu beziehen, nicht ent¬
schieden werden kann. Und der Ausspruch des Vorsitzende«: „Wir haben hier
nicht über politische, sondern über privatrechtliche Verhältnisse zu urteilen," ist,
so wie er dasteht, jedenfalls höchst auffüllig. Sehen wir nun aber weiter, mit
welchem überwiegenden Verständnis unser Redner die Sache vom rein privat-
rechtlichen Standpunkte beurteilt! Er sieht in der Entgegennahme von Diäten
kein „Rechtsgeschäft." Denn wo sind die „Kontrahenten"? Er kann in deren
Hingabe anch leine Zahlung erkennen. Denn Zahlung ist doch nur „Lösung
einer vorher gegangenen Verbindlichkeit." Wir gestehen, daß diese Jurisprudenz
uns einen wahrhaft schmerzlichen Eindruck gemacht hat. Der Redner scheint
kein andres Rechtsgeschäft zu kennen als ein solches, wo zwei Kontrahenten
einander gegenübertreten und eine Art Stipulation abschließen: LxonÄösno
milli älM? ZxoirÄöo! Und weil das römische Wort »olatio in den Lehr¬
büchern mit „Zahlung" übersetzt wird, so ist ihm jeder Begriff von Zahlung,
die nicht eine „Lösung" ist, unbekannt. Denken wir uns nun folgenden Fall, An
einer Straßenecke steht ein Dienstmann. Ein Vorübergehender drückt ihm ein
Zwanzigmarkstück in die Hand und sagt ihm: „Dafür werfen Sie hente Abend
dem L, die Fenster ein," Der Dienstmann nimmt das Geld lächelnd und
spricht kein Wort. Aber abends geht er hin und läßt die Fenster des T.
klirren. Hat er nun ein „Rechtsgeschäft" abgeschlossen? Hat er eine „Zahlung"
empfangen? Unsre Autorität wird sagen: Nein! Ich sehe von dem allen
nichts! Und doch wird ein verständiger Mensch, wenn er nicht gerade das
Unglück hat, Jurist zu sein, nicht daran zweifeln. Nach dieser Entwicklung von
Jurisprudenz ist es auch uicht zu verwundern, daß unser Redner weiter die
Frage stellt: Wo steckt denn der „nicht ehrbare" Zweck? Der Zweck war doch
nur der, daß Kranker in Berlin leben könne. Wir wollen uns (aus dem schon oben
angedeuteten Grunde) über die Frage des unehrbaren Zweckes hier nicht weiter
aussprechen. Daß sie aber nicht damit abgethan ist, daß man sagt: „Es
ist doch nicht nnehrbar, in Berlin zu leben," liegt aus der Hand. Un¬
willkürlich wird man bei dieser Betrachtungsweise an die neulich in diesen
Blättern geführte Klage erinnert, daß die Ausbildung unsrer Richter auf
dem Gebiete des öffentlichen Rechtes außerordentlich viel zu wünschen übrig
lasse. Bei der materiellen Schwäche dieser Auslassungen fällt übrigens der
formelle Mangel eines Berufes zu solchen umso schwerer in die Wagschale.
Und dies alles in einer Sache, welche die Augen von ganz Deutschland auf
sich zieht!
Soviel bekannt ist, ist der nämliche Vorsitzende auch als juristischer Schrift¬
steller und dabei als eifriger Lobpreiser des neuen Prozesses aufgetreten.
Wenn es seine Absicht gewesen sein sollte, durch seine hier besprochene Sach¬
leitung die Berechtigung jener Lobpreisungen zu illustriren, so müssen wir dies
als wenig gelungen bezeichnen. Im Gegenteil, es hat sich hier gezeigt, wie sehr
nach einer bisher wohl kaum beachteten Seite hin ein Mißbrauch der Formen
des neuen Verfahrens geübt werden kann.
le vorigen Wochen brachten zwei überraschende Ereignisse: die
Weigerung der griechischen und der serbischen Negierung, der Auf¬
forderung der Großmächte zur Abrüstung nachzukommen, und
die Abstimmung im englischen Unterhause, welche das Ministerium
Salisbury bewog, die Königin zur Erlaubnis um Rücktritt vom
Staatsruder zu bitten. Beide stehen insofern im Zusammenhang, als das erste
nur durch das zweite eine Bedeutung erlangte, welche Bedenken erwecken kann.
Die Großmächte hatten in dem Bedürfnis noch Erhaltung des Weltfriedens
in Sofia, Belgrad und Athen den Rat erteilen lassen, das Heer wieder auf den
Friedensfuß zu bringen, damit Serbien und Bulgarien ihre Meinungsverschieden¬
heiten in Ruhe ausgleichen und Fürst Alexander und der Sultan zu einer
endgiltigen Verständigung über Ostrnmelien kommen könnten. Die betreffende
Kollektivnote begegnete bei der serbischen und griechischen Regierung einer Ab¬
lehnung, während die bulgarische in bedingter Weise zustimmend antwortete.
Seitdem verging eine Woche, und das Ende des Winters rückte näher, des¬
gleichen der Ablauf des Waffenstillstandes zwischen Serbien und Bulgarien.
Wenn Staaten, die Krieg geführt haben, noch unter Waffen stehen, ist Zögern
und Aufschub gefährlich, und es erwächst für die, welche ein Interesse daran
haben, als Vormünder dieser Staaten den Wiederausbruch der Feindseligkeiten
zu verhüten, die Pflicht, zunächst zur Niederlegung der Waffen zu raten, dann,
wenn das nicht befolgt wird, es zu befehlen und, falls der Befehl unbeachtet
bleibt, Gehorsam zu erzwingen. Ein kleiner Krieg auf der Balkanhalbinsel
kaun leicht zu einem Weltkriege werden. Keine einzige Nation in Europa,
weder eine große noch eine kleine, erfreut sich dermalen so gedeihlicher Zustände,
wie sie bisweilen zu gewagten Unternehmungen führen. Die Finanzen aller
Staaten Europas leiden mehr oder minder an der Krankheit, welche sich im
Mißverhältnis der Ausgaben zu den Einnahmen äußert. Handel und Gewerbe,
die vor kurzem Symptom wiederauflebender Regsamkeit und Ergiebigkeit zeigten,
werden durch die Ungewißheit gehemmt, welche hinsichtlich der nächsten Zukunft
herrscht, überall hat das unerwartete Sinken der Preise die wirtschaftlichen
Verhältnisse verwirrt. Wenn der Krieg unter allen Umständen von schweren
Nachteilen begleitet ist, den Gang des Handels aufhält und den Produzenten
und Konsumenten Opfer auferlegt, so gilt dies gegenwärtig ganz besonders.
Und siehe da, gerade jetzt gaben Serbien und Griechenland, vorzüglich das
letztere, rein nus Großmannssucht ungescheut und rücksichtslos die Neigung kund,
die Ruhe Europas zu stören und allgemeine Gefahr heraufzubeschwören. Den
Griechen kann es nicht unbekannt sein, daß sie ein sehr gewagtes Spiel spielen,
wenn sie bei dem Versuche beharren, sich mit Gewalt Zugeständnisse zu ver¬
schaffen, welche von allen Großmächten, vielleicht mit Ausnahme Frankreichs,
als unmöglich zu erfüllende Ansprüche angesehen werden. Sie rechneten mit
vermeintlichen Meinungsverschiedenheiten der Kabinette und mit der Wahrschein¬
lichkeit des Wiedereintrittes Gladstones ins Amt. Sie unterließen es, daran
zu denken, daß die drei Kaisermächte in dem Bestreben, den Frieden zu wahren,
einig sind, und daß ihr Verfahren ihnen alle Sympathien entziehen muß, auf
die sie etwa zählen durften, auch die, welche Gladstone unter dem Ausdrucke
lZritisb töizllllA verstanden haben mag.
Niemand wird daher überrascht sein, daß, Frankreich ausgenommen, alle
Mächte übereingekommen sind, gemeinsam auf Griechenland einen stärkern und
wirksamern Druck auszuüben. Dasselbe ist jetzt der Hauptsünder gegen die
Wohlfahrt Europas. Serbien, welches mit den Griechen vereint gegen die
Pforte vorgehen zu wollen schien, war im Kriege mit deren bulgarischen Vasallen
unterlegen und konnte jetzt praktisch nicht viel mehr als großsprecherische Depeschen
in die Welt schicken. Es machte kriegerischen Lärm, sandte den Zeitungen Be¬
richte von gewaltigen Rüstungen u. dergl. Aber selbst König Milans Beamte
hielten es für nützlich, in Abrede zu stellen, daß man „sich in aller Eile waffne,"
und für dringend notwendig, zu erklären, daß man sein Äußerstes thue, „die
Friedensverhandlungen zu beschleunigen." Wäre dem nicht so, dächte man in
Belgrad nicht im Grunde viel ruhiger, als man sich stellte, um wenigstens etwas
zu erdrohen, so würde der österreichische Nachbar allein schon mehr als ge¬
nügende Mittel besitzen, um den Räten des Königs das wünschenswerte Maß
gesunden Menschenverstandes einzuflößen, nährend Österreich-Ungarn, im Ein¬
klange mit Deutschland und Nußland handelnd, kaum nötig haben würde, Ge¬
waltschritte ins Auge zu fassen. Griechenland nimmt eine etwas andre Stellung
ein. Es hat wie Serbien Aulehen aufgenommen, Kriegsvorräte gekauft, Kriegs¬
schiffe ausgerüstet und eine Armee zusammengezogen, aber noch keinen Mann
über die Grenze gehen lassen. Alle seine Handlungen waren bis zur Stunde
bloße Drohungen und haben bis jetzt nur zwei Resultate gehabt: große Aus¬
gaben für die Türkei, die den Griechen nichts zu Leide gethan hat, und in
Europa die Befürchtung, daß ein Funke griechischen Feuers, das an sich ziemlich
harmlos wäre, in sein Pulvermagazin fliegen könnte. Es ist hohe Zeit, diese
Sorge zu beseitigen und der Pforte die Last der Erhaltung des ungeheuern
Heeres abzunehmen, das sie in Macedonien sammeln mußte. Man hat das
bisherige englische Kabinet mit Unrecht im Verdacht gehabt, die Haltung Griechen¬
lands zu begünstigen. „Alle diese Ansprüche, sagte Lord Salisbury, besonders
die griechischen, auf Kosten der Türkei wegen einer Veränderung entschädigt zu
werden, die sie nicht veranlaßte und nicht gerade willkommen hieß, sind ein
Versuch, dem Völkerrechte einen Zusatz zu geben, wie er mir so außerordentlich
noch nicht vorgekommen ist. . . . Soweit als der Einfluß Englands reicht, so¬
lange er unsern Händen anvertraut ist, wird er benutzt werden, um jeden frevel¬
haften Friedensbruch im Osten zu Zwecken und auf Vorwünde hin, welche das
Gewissen der Menschheit nicht rechtfertigen kann, zu verhüten." Das war
deutlich und kräftig gesprochen, und den Worten folgte die That, der Befehl
an die englischen Kriegsschiffe im Mittelmeere, einen Angriff der Pforte durch
die griechische Flotte, der an der Küste Kretas drohte, zu verhindern. Durch
welche weitern Maßregeln die Negierung in Athen dahin gebracht werden kann,
Ruhe zu halten, brauchen wir nicht zu untersuchen. Es könnten unter Um¬
ständen Ereignisse sich wiederholen, wie die des Jahres 1854. Die Mächte
besitzen hinreichende Mittel, um zu bewirken, daß ihrer Stimme Gehör gegeben
wird, und um ihre Macht fühlbar zu machen. Es liegt nicht in ihrem Inter¬
esse, der Pforte zu überlassen, daß Ruhe und Sicherheit wiederhergestellt werden,
sonst würde diese bald mit der Armee der Hellenen aufräumen und in wenigen
Wochen ihre Tabors in Athen einziehen sehen. An der griechischen Nordgrenze,
zwischen dem Golfe von Area und dem Olymp stehen gegen 60 000 Mann
türkischer Truppen, an der Westgrenze Bulgariens etwa 30000, in Albanien
etwa 70000 Mann, wozu noch eine bei Salonik konzentrirte Reserve und zwei
bei Adrianopel zusammengezogne Korps kommen, sodaß die Pforte gegen die
Griechen mindestens 180000 Manu marschieren lassen könnte. Diese Truppen
haben in tzassan Pascha einen tüchtigen Führer und sind großenteils wohl¬
geübt und gut bewaffnet. Das griechische Heer soll gegenwärtig etwa 50000
Manu zählen und auf 75000 gebracht werden können, nach ander» Berichten
auf 83 000. Die Mobilisirung ging glatter von statten, als man erwartet
hatte, doch nicht ohne alle Widersetzlichkeit; denn bei dem größten Teile der
Bevölkerung, besonders ans dem Lande, herrscht nicht die geringste Begeisterung
für den Krieg und entschiedne Abneigung gegen den Soldatenstcmo. Der
„Volkswille," welcher angeblich den König zum Kampfe drängt, wohnt nur in
Athen und einigen andern Städten und hieße richtiger Wille der Demagogen,
die nichts zu verlieren haben und sich auf billige Weise den Ruf von Patrioten
erwerben möchten. Die Verpflegung der Truppen ist mangelhaft, und so blieben
Tausende der zu den Waffen einberufenen fast eine Woche lang ohne Nahrung,
ohne Mäntel und ohne Obdach. Von genügender Einübung der Leute ist kaum
bei der Hälfte derselben die Rede. An Offizieren herrscht größter Mangel, dem
man dadurch abzuhelfen versuchte, daß man zahlreiche Invaliden heranzog. Ein
auch nur einigermaßen tüchtiger Oberfeldherr ist nicht vorhanden, und dem ge¬
samten Offizierkorps wird in allen seinen Graden von kompetenten Bericht¬
erstattern jede höhere Begabung und jede Schneidigkeit abgesprochen. Die Flotte
ist besser als die Armee, aber sehr klein: sie zählt eine Panzerkorvette, zwei
hölzerne, ein gepanzertes und zwölf andre Kanonenboote, endlich dreiundzwanzig
Torpedoboote — eine Seemacht, mit welcher der türkischen gegenüber nicht viel
anzufangen ist. Zu dieser militärischen und maritimen Schwäche kommt aber
noch die klägliche finanzielle Lage der Griechen, um ihr hochstrcbendes und
trotziges Auftreten komisch erscheinen zu lassen. Die Nachrichten hierüber, welche
die letzte Woche brachte, lauteten sehr traurig. Abgesehen davon, daß nnter
dem Drucke der bisherigen Staatsschuld von 600 Millionen Franken das
kleine Land schon mehr zu leiden hatte, als es naturgemäß tragen konnte, ge¬
sellte sich dazu uoch das Steigen des Agios, welches für Griechenland zu allen
Zeiten große Bedeutung hatte. Zur Bestreitung der Kosten, welche die jetzigen
Rüstungen erforderten, wurden rasch nacheinander drei Anleihen aufgenommen,
eine erste, die sogenannte freiwillige, von 23, eine zweite, vou mehreren grie¬
chischen Banken gewährt, von 30 und vor kurzem eine letzte von 100 Millionen
Franken. Die letztere ist bis jetzt noch nicht eingezahlt und wird vermutlich
auch nicht realisirt werden, wenigstens hat die Regierung nur geringe Aussicht
darauf, und einige Minister bezweifeln sogar die Möglichkeit einer Erlangung
dieses Geldes. Die wirtschaftliche Lage Griechenlands ist infolge dessen sehr
unerfreulich. Das Agio hat die Höhe vou 22 Prozent erreicht und drückt
nicht nur auf den Geschäftsmann, sondern auch auf die breiten Schichten des
Volkes. Verdruß und Unzufriedenheit sind daher fast allgemein, besonders in
den Kreisen der Beamten, denen von ihrem Gehalte ein Drittel wegen der
Mobilisirung und der schlechten Lage der Finanzen des Landes abgezogen wird,
während ihnen beinahe ein zweites Drittel durch Agioverlnst entgeht. In dieser
Hinsicht sind die Verhältnisse gegenwärtig nicht viel besser als in der Türkei,
und sie drohen noch schlechter zu werden. Kurz, es ist der Frosch der Fabel,
der sich mit aller Gewalt aufgeblasen hat und nächstens platzen wird, wenn
er nicht aufhört, seiner Haut zu große Dehnbarkeit zuzumuten.
Die Griechen sagen, sie könnten nicht abrüsten, ohne sich lächerlich zu
machen, aber sie sind es schon längst und können darin kaum noch steigen. Übrigens
vermögen wir nichts lächerliches in einer Umkehr von Thorheiten zu erblicken,
die von den Großmächten gefordert wird. Rascher Gehorsam würde vielmehr
Lob verdienen. Man würde Selbsterkenntnis zeigen. Man würde keinen Nach-
teil davon haben, wenn man sich verhindert sähe, ein ungerechtes Ziel zu er¬
strebe», den Frieden Europas zu gefährden und statt seines Zweckes schließlich
nichts zu erreichen als Niederlagen, Bankerott und Beschämung.
Wenn die leitenden griechischen Politiker sich dagegen verblendeten, so fußten
sie dabei auf zwei Voraussetzungen: sie glaubten, Europa werde nicht gestatten,
daß die Pforte Griechenland mit Krieg überziehe, und sie hofften auf einen
Umschwung in England, der Gladstone wieder ans Unter bringen werde.
Das letztere ist jetzt eingetreten: das .Kabinet Salisbury ist dem vereinigten
Ansturme der Liberalen und Homeruler erlegen. Der Anlaß zu seinem
Sturze war, nach dein ersten Blicke zu urteilen, ein geringfügiger. Die
jetzige Ministerkrisis in London ist nicht direkt durch die irische Frage, son¬
dern durch agrarische Wünsche herbeigeführt worden. Schon am 25. hatte
das Unterhaus sich lange mit dem Notstände der englischen Landwirtschaft be¬
schäftigt, aber das Amendement des Abgeordneten Barclay, den Ackerbauern
derartige Erleichterungen in den Pachlbedingnngcn zu gewähren, daß sie gegen¬
über der ungünstigen Lage der Dinge auszuhalten vermöchten, war mit 23 Stimmen
verworfen worden, und zwar hatten dabei mehrere Mitglieder der liberalen Partei
mit der Regierung gestimmt, welche gegen Barclays Antrag war. Ein ähnliches
Amendement des Abgeordneten Collings dagegen, welches wie ein leichtes Mi߬
trauensvotum gefaßt war, wurde am 26. mit einer Mehrheit von 79 Stimmen
vom Unterhause angenommen. In demselben wurde das letztere gebeten, sein
Bedauern auszusprechen, daß die Thronrede leine Maßregeln angekündigt habe
zur Erleichterung der Not der ackerbauenden Klassen „und vorzüglich um es
den ländlichen Tagelöhnern und andern in den Agrikulturdistrikten leichter zu
machen, sich auf billige Bedingungen in Betreff von Pachtgeld und Sicherheit
des zeitweiligen Besitzes ein kleines Gut oder eine Parzelle Land zu erwerben."
Die Worte klangen ziemlich unschuldig, enthielten aber einen Tadel der Regie¬
rung, der mit ihnen viel mehr beabsichtigt war als irgendwelcher Vorteil für
den kleinen Mann auf dem Lande. Mit andern Worten: das Amendement war
ein Parteikniff aus der Rüstkammer des Parlamentarismus. Die Abstimmung
war nichts weniger als ein Zufall. Gladstone, Meister in derartigen Manövern,
hatte sie herbeigeführt, um seinem Gegner Salisbury für die Zukunft das Spiel
zu verderben. Dieser hatte die Absicht, die irische Frage zum Probirstein für
die Festigkeit seiner Stellung als Premier zu machen. Unterlag er hier, so
konnte er bei der Bedeutung, welche die Einheit des britisch-irischen Gesamt¬
staates oder Reiches noch immer bei der Mehrheit der Engländer und Schotten
seit, entweder das Parlament auflösen und sofort für seine Partei aussichts-
dvlle Neuwahlen anordnen, oder mit dem Glänze des Mannes zurücktreten, der
jenen Einheitsgedanken verteidigt hatte und darüber als Märtyrer gefallen war,
was eine gute Empfehlung für spätere Wahlen gewesen wäre. Das mußte ab¬
gewendet, mindestens möglichst verdunkelt werden. Die Konservativen durften
in der öffentlichen Meinung nicht als Kämpfer für die von der Koalition Glad¬
stones mit den Homerulern bedrohte Reichseinheit unterliegen. Das Collingssche
Amendement war ein gutes Mittel, dies zu verhüten, es konnte dem Kabinette
einen tötlichen Hieb versetzen nicht wegen seiner Absichten gegen die schleichende
Rebellion der Jrländer in der Landfrage und gegen deren sezessionistischen Plan
mit einem Dubliner Parlamente, sondern wegen seiner Vernachlässigung der
Interessen einer zahlreichen Klasse der Bevölkerung, welche die jüngste Gesetz¬
gebung zu Wählern erhoben hatte. Die Negierung hatte ähnliche Absichten
ohne Zweifel geahnt. Man hatte aus van^ dem Organ der Partei
Gladstones, wo Salisburys griechische Politik heftig getadelt wurde, gesehen,
wo der Führer der Liberalen hinauswollte. Man hatte infolgedessen daran
gedacht, die irische Frage, in der man mit Ehren und guten Aussichten auf eine
baldige Auferstehung fallen konnte, so rasch als möglich aufs Tapet zu bringen,
und so hatte man sofort im Unterhause Maßregeln zur Unterdrückung der irischen
Nationalliga angekündigt. Die Negierung ließ, als der Collingssche Antrag
gestellt wurde, die Erklärung abgeben, daß es sich damit nicht um die agrarische,
sondern indirekt um die irische Frage handle. Aber diese Wendung blieb ohne
Erfolg, die feste Fügung der feindlichen Parteiorganisation widerstand der patrio¬
tischen Ansprache, die Anhänger Gladstones waren mehr Liberale als Freunde
der Reichseinheit, wie sich beiläufig unsre Liberalen, soweit sie zur Fortschritts¬
partei gehören, in der polnischen Frage 1863 und jetzt wieder zeigten und vermut¬
lich als konsequente Leute auch in Zukunft zeigen werden. Nur ein kleines
Häuflein der Liberalen, darunter Hartington und Goschen, besaß soviel National¬
gefühl, daß es dem Triebe des Parteigeistes Schweigen auferlegen konnte, und
so unterlagen die Träger einer vernünftigen Politik, die im Innern Gutes
wenigstens gewollt, nach außen hin Gutes geleistet hatte.
Die Folgen dieses Ereignisses sind in diesem Augenblicke noch nicht gemein
zu berechnen. Wahrscheinlich wird Gladstone in der nächsten Zukunft, gewitzigt
durch die lange Reihe von Mißerfolgen, die seine Amtsführung in auswärtigen An¬
gelegenheiten erlebte, sich größerer Vorsicht als früher befleißigen, wo dieser Poli¬
tiker mit der gottseliger Pastormiene ein Friedensstörer aus Grundsatz war. Er
wußte, daß die Türkei den Weltfrieden bedeutet, und deshalb versuchte er sie nach
Kräften mit allen Mitteln zu schwächen. Je schwächer sie ist, desto leichter können
sich auf ihrem Gebiete Stürme bilden und entwickeln, welche ihre Nachbarn ge¬
fährden und deren gute Beziehungen stören. Gladstone sähe es gern, wenn die
Völker des europäischen Festlandes einander um die Erbschaft der Pforte be¬
kriegten, damit die Engländer keine Furcht zu haben brauchten, daß Rußland
weitere Fortschritte auf seinem Wege zur Eroberung Britisch-Indiens machte.
Er haßt die Türken, weil sie nicht Christen und weil sie Beherrscher christlicher
Völker sind. Er haßt Österreich-Ungarn und er haßt das deutsche Reich und
möchte beiden einen Krieg mit Rußland aufladen, der nach seiner Meinung wie
alle großen Kriege der Kontinentalmächte mittelbar und unmittelbar ein Krieg
für englische Interessen sein würde. Er that, was er konnte, um Zwiespalt
zwischen den Kaisermächten zu säen, fand aber einen Stärkern, der seiner Hetz¬
arbeit dadurch die Spitze zu bieten vermochte, daß er mehr Vertrauen zu er¬
wecken verstand und in der That auch mehr verdiente. Gladstones Nachfolger,
Salisbury, hat sich im großen und ganzen, d. h. von der ostrumelischen Epi¬
sode abgesehen, ehrlich Mühe gegeben, den Bemühungen der Kaisermächte um
Erhaltung des Friedens Beistand zu leisten, und dieselben waren dahin gelangt,
daß sie mit England vereinigt den kleinen Staaten der Balkanhalbinsel Ruhe
gebieten konnten. Da schien jetzt plötzlich ein Glied aus der Kette sich lösen
zu wollen. Eben durfte man mit Sicherheit Beilegung der dortigen Streitig¬
keiten erwarten, als über Nacht wieder Ungewißheit eintrat, weil in England
wieder der Mann Aussicht auf die oberste Leitung gewann, dem Österreich ein
Dorn im Auge war, der das Wort: „Hinaus mit den Türken!" und die Pa¬
role: „Der Balkan den Balkanvölkern. Die Hände weg, ihr andern!" zum
Grundsätze seiner Politik machen wollte, Gladstone, der Brandstifter im südöst¬
lichen Europa. Allerdings hat er erst vor kurzem den Griechen geraten, sich
nicht unvorsichtig zum Widerspruch gegen den Willen der vereinigten Mächte
hinreißen zu lassen. Aber die Griechen nehmen an, daß es keine vereinigten Mächte
im bisherigen Sinne mehr giebt, wenn Gladstone wieder die auswärtige Po¬
litik Großbritanniens bestimmt, und sie erinnern sich, daß er sich nicht vor Än¬
derungen in seinem Verfahren scheut. Mit Eifer, mit förmlicher Wut vertei¬
digte er einst die Staatskirche jahrelang, und siehe da, plötzlich warf er mit
seinem Antrage auf Entstaatlichung der irischen Kirche das Ministerium Dis-
raeli über den Hansen, um (er hatte damals sein Vermögen durch Spekulation
verloren und konnte es durch Spekulation als Minister wieder einbringen) für
sich Geschäfte machen zu können. Es ist nicht undenkbar, daß er, wenn er
das Heft wieder in der Hand hat, sehr bald die Ansprüche der Griechen er¬
mutigt und unterstützt.
Indes läßt unser Herrgott die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Erstens scheint dafür gesorgt, daß Gladstone seiner Herrlichkeit nicht lange sich er¬
freuen wird. Er hängt durchaus von dem guten Willen Parnells ab. Er muß
eine Vorlage einbringen, welche den irischen Homerulern gefällt, ihnen ein be¬
sondres Parlament und eine besondre Polizei für Irland gewährt, und zwar ein
Parlament mit sehr weitgehender Befugnis. Hier aber setzt ihm die Meinung
der Mehrheit seiner eignen Partei Grenzen, die enger gesteckt sind, als sie die
Iren zu sehen verlangen, und entspricht er den Erwartungen der letztem nicht,
so haben sie dnrch die Zahl ihrer Vertreter die Macht, ihn wieder vom Ruder
zu verdrängen, und sie werden nicht zögern, diese Macht zu benutzen. Zwei¬
tens ist die Frage, ob die auf das dringende Bedürfnis der Festlandsmächte
»ach Bewahrung des Friedens begründete Einigkeit derselben nicht stark genug
ist, dem etwaigen bösen Willen des neuen Kabinets Gladstone Trotz zu bieten,
»ut wir haben guten Grund, dies, soweit es die drei Kaiscrmcichte angeht,
zu bejahen. Gladstone wird vielleicht versuchen, einen Keil in deren Eintracht
zu treiben, es wird ihm aber nicht gelingen, da keine dieser Mächte Ver¬
trauen zu ihm haben könnte, selbst wenn er bei der Eigentümlichkeit des parla¬
mentarischen Systems in England fester im Dattel süße, als er sitzen wird.
Das; Rvscbevry sich dem Ministerium, angeschlossen hat, gilt als gutes Zeichen
für die auswärtige Politik. Chamberlain bedeutet die Lösung der agrarischen
Frage durch das Wort: „Drei Acker und eine Kuh für den englischen Tage¬
löhner." An einen Eintritt Pcirnells in das neue Ministerium war nicht wohl
zu denken. Man Hütte ihm zwar seine Vergangenheit vergeben können, wenn
er, mit Möglichen zufrieden, auf eine Verständigung eingegangen wäre. Aber
darauf wird er sich niemals einlassen, und ein Ministerium,, welches seine For¬
derungen zu bewilligen auch nur Miene machte, trüge seinen Sturz in der
Tasche. Nur sehr wenige englische Liberale sind für volle Befriedigung der
irischen Wünsche, und selbst Leute wie Chamberlain Verhalten sich zweideutig
zu ihnen und lassen bei jeder ihnen zustimmenden Äußerung Hinterthüren offen.
Auch sie wollen keine Zerstückelung des britischen Reiches, sie wollen sie nicht
einmal durch weitgehende Zugeständnisse angebahnt und zur Wahrscheinlichkeit
erhoben sehen. Aber auch die Jrlündcr wollen von einem Bündnisse Parnells
mit Gladstone nichts hören, sie schöpfen schon Verdacht, wenn einer ihrer Führer
von der englischen Presse gelobt wird, und Parnell als Neichsminister neben
Gladstone würde augenblicklich allen Einfluß auf sie verlieren. So schrieb schon
vor drei Jahren John Mortes, el» genauer Kenner der irischen Verhältnisse.
Seitdem aber hat Parnell seine Macht mehr als verdoppelt. Statt von eng¬
lischen Ministerien abzuhängen, macht und stürzt er sie, und er wird sich hüten,
für das zweifelhafte Vergnügen, Mitglied des Kabinets in London zu sein,
seinen Einfluß bei seinen Landsleuten aufs Spiel zu setzen. Auch würde seine
Weigerung, ein Amtsgenvsse Glndstvnes zu werden, von seinem Standpunkte
ans betrachtet nicht unlogisch sein. Er könnte sagen: Was ich verlange, ist das
Recht des irischen Volkes, seine Regierer selbst zu wählen, und wenn jemand
von Engländern dazu ernannt wird, so ist das ein Widerspruch gegen meine
Forderung. Selbst wenn der Ernannte in Irland populär wäre, würde der
Ursprung seiner Macht seine Stellung verderben. Endlich giebt es in Irland
geheime Gesellschaften und Agenten, die England und die Engländer glühend
und unversöhnlich hassen, und würde Parnell durch Ernennung vonseiten des
Vizeköuigs der Königin Viktoria Herrscher über Irland, lo liefe er sicher kaum
weniger Gefahr, vom Dolche der Meuchelmörder getroffen zu werden, als Lord
Cavendish und Bvurte, die vor zwei Jahren unter ihm fielen.
Nur eins könnte eine zeitweilige Verbindung zu gemeinsamer amtlicher
Wirksamkeit Parnells mit dem Kabinet Gladstone herbeiführe,,: die Lciudfrage,
deren Lösung jetzt die wirklich dringende Aufgabe auf irischen Boden ist. Das
Streben »ach einem besondern irischen Parlamente kann warten, die agrarische
Frage dagegen eilt. Die Parnelliten wissen, daß es sich bei dieser für einen
großen Teil der Landbevölkerung um Leben und Sterben handelt. Es stehen
Tausende von Austreibungen bevor, die meisten, weil die betreffenden Pächter
mit ihrem Pachtgelde im Rückstände sind. In einigen Fälle» wollen und können
dieselben nicht ohne sehr große Abstriche zahlen, in andern sind sie völlig ohne
Mittel und ganz unfähig, die Ansprüche der Gutsherren zu befriedigen, und
doch weigern sie sich, ungleich den englischen Pächtern in ähnlicher Lage, ihr
Pachtgütche» zu räumen. Die Gutsherren bekomme» weder ihr Geld noch ihr
Land und befinden sich, gedrängt von HhPothetenglänbiger», die ihre Zinse»
fordern, in ärgster Verlegenheit. Aus dieser Lage der Dinge, die von Woche
zu Woche schlimmer wird und sich in einigen Monaten zu einem ganz und gar
»»erträglichen Notstände ausbilden muß, erklärt sichs, wenn das sogenannte
„Boyevtting" wie eine Epidemie um sich gegriffen hat. Diese Seuche hat sich
auch über das Gebiet von Handel und Gewerbe verbreitet, und die Lokalvcreine
haben sich der Aufsicht und der Einwirkung des Zentralratcs der Liga entzogen,
welcher kein Interesse daran hat, daß aller Unternehmungsgeist und Gewerbcfleiß
Irlands durch kleine Dorftyraimcn erstickt wird, das gesamte Land verfällt auf
diese Weise rasch in einen Zustand von Anarchie, die alle Welt mit dem N»in
bedroht, und so darf man hoffe», daß die Fährer des Volkes bereitwillig jedem
großgedachten Plane ihren Beistand leihen würden, der bestimmt wäre, dem
Landkriege durch Auflauf der irischen Gutsherren ein Ende zu machen. Dazu
bedürfte man aber englischen Kredits, und um den zu erlangen, müßte man
vorher die öffentliche Meinung in England versöhnen und gewinnen. Das Ver¬
langen nach Hvmerule könnte ein paar Jahre vertagt und kaltgestellt werden,
wenn Gladstone mit einem freigebig gedachten Plane hervorträte und — Glück
damit hätte, dessen Zweck die Expropriation der irischen Gutsherren und die
Schaffung eines Standes kleiner Landbesitzer auf deren Grund und Boden wäre.
Bevor jedoch felbst das liberalste Kabinet eine derartige Maßregel dem Parla¬
mente mit Aussicht auf deren Genehmigung vorlege» könnte, müßte etwas zur
Herstellung vou Gesetz und Recht in Irland geschehe». Denn ehe das Land¬
volk nicht dahin gebracht wird, daß es die Ausdehnung seiner pekuniären Ver-
Pflichtnngc» begreift, wird es an keinem Plane, der es zu Freisassen machen
soll, irgendwelches Interesse empfinden, weil die Leute ja ohne Parlaments-
bcschlnß faktisch bereits frei sind, d. h. keine» Pacht zu zahle» habe», indem
man ihn ans Furcht nicht einzutreiben wagt und sie ans demselben Grunde
nicht von ihrer Pachtung vertreibt. Die Aufgabe des neuen Ministeriums
scheint demnach in Betreff Irlands folgende zu sein: Zunächst hat es hier dem
Gesetze Achtung und Gehorsam zu verschaffen, das Verbrechen zu entmutigen,
dem Boyevtting der Mondscheinleute ein Ende zu machen, und zwar nachdrücklich
und gründlich, mit den kräftigsten Mitteln. Dann müßte eine Landbill folgen'
welche die Pächter praktisch in Freisassen mit der Verpflichtung, einen festen
und mäßig bemessenen Erbpacht zu zahle», verwandelte. Hieran würde sich die
Gewährung vo» Grafschaftsrätc» mit Vollmachten schließen, welche durch Par-
lamentsbcschlnß festgestellt wären — Natsversammlnngen, in welchen das irische
Volk dem Reiche, dem Gesmntstaatc zeigen konnte, daß es zur Homcrule, zur
eignen Verwaltung seiner besondern Interessen, das Zeug hat. Das wäre die
natürliche, die allein zulässige Reihenfolge. Beginnt man mit dem andern Ende
dieses Programms, giebt man den Iren eine Lokalregierung, ehe die Ordnung
wiederhergestellt und die Landfrage erledigt ist, so wird man Irland »in ein
Jahrhundert zurückbringen und dasselbe zu einer Bente innerer Kämpfe der
unheilvollsten Art werden sehen.
amoens blieb einige Minuten stumm, dann sprach er mehr zu
sich als zu dem Freunde: Wenn dies kein Traum ist, so
waren es die zwanzig Jahre, welche ich fern von der Heimat ver¬
brachte! Dort stehen die Bäume, unter denen ich Catarina Atahde
so oft begegnete, hier betäubt der gleiche Dust mein Hirn,
den ich an ihrer Seite geatmet, dadrinnen steht sie selbst, schon wie einst,
und ich frage mich, ob in Wahrheit Jahre und Meere, Schlachten und Leiden
zwischen gestern und heute liegen?
Manuel schwieg, obschon er die leidenschaftlichen Worte des Freundes
nicht ohne Besorgnis hernahm. Der Dichter aber stand einige Augenblicke
in Sinnen verloren, dann setzte er leise hinzu: Und es ist auch nur ein böser
Traum, daß mehr als zwei Jahrzehnte verflossen sind, ich fühle Mut und
Jugend, ich sehe mein Leben, das so eng und kurz geworden schien, sich
wieder in blaue Fernen ausdehnen! O mein Freund, welche Wunder können
sich in einer Stunde Raum zusammendrängen!
Ich gönne Euch wahrlich diese gesegnete Stunde! entgegnete Barreto, seine
Hand auf die Schulter des Verzückten legend. Doch vergeht nicht ganz, daß
es die Tochter ist, die Ihr eben geschaut habt, nicht Eure Unvergeßliche selbst!
Und sucht Euch zu fassen, denn wenn ich nicht völlig irre, kommt dort Graf
Vimioso, um Euch zum König zu rufen. Ihr habt es selbst gewünscht, daß
man Euer Werk in diesem Kreise zuerst hören möchte, jetzt zwingt die Hörer durch
Eure Haltung, daß sie auch fühlen und erkennen, was Ihr ihnen gebt!
Camoens verstand so viel von der Mahnung des Freundes, daß er sich
umkehrte und dem näher kommenden Hofherrn ruhig entgegensah. Einen ver¬
wunderten Blick, welchen der Graf auf Camoens' leere Hände warf, deutete
Barreto richtig, er nahm von einem nebenstehenden Sessel die Handschrift der
Lusiaden ans, die der Freund in seiner Erregung achtlos dorthin geworfen hatte.
Der Dichter errötete ein wenig und nahm sein Gedicht ans Manuels Hand
wieder entgegen, Gras Vimioso trat mit einer Verbeugung heran und sagte:
Senhor Luis Camoens, der König, unser Herr, will Euch die Ehre erweisen,
einen Teil Euers Werkes anzuhören. Man wird Euch einen Sitz dem des
.Königs gegenüber bereitstellen, Ihr werdet Euch niederlasse», sobald Euch der
König das Zeichen dazu giebt. Wenn Ihr den Gesang, oder wie Ihr es sonst
nennt, beendet habt, so erhebt Ihr Euch, neigt Euch vor dem König und er¬
wartet, ob es Seiner Majestät gefallen wird, weiteres von Euch zu vernehmen.
Der kühl höfliche, geschäftsmäßige Ton Vimiosos rief Camoens ganz in
die Wirklichkeit znriick. Er erwiederte würdevoll: Ich danke Euch, Herr Graf!
Doch weiß ich, was ich der Ehrfurcht vor dem König und was ich mir selbst
schuldig bin! und wandte sich dann zu Barreto: Ihr werdet mir nahe bleiben,
Senhor Manuel? Ich lese dem König zuerst die Abenteuer der Lusitanenflvttc
in Mozambique, die Ihr in andrer Fassung von nur schon zu Goa ver¬
nommen habt.
Ich werde sie mit Freuden wieder hören, versetzte Barreto und kehrte, dein
Grafen Vimioso folgend, mit Camoens zugleich in den glänzenden Kreis zurück,
den sie vor kurzem verlassen hatten. Dom Sebastian saß jetzt unter dem
Baldachin, ihn, zur Rechten hatte sich eine Gruppe von Damen niedergelassen,
unter denen Camoens sofort Catarina Palmeirim herausfand. Zur Linken des
Königs schlössen sich dichtgedrängt die anwesenden Edelleute zusammen — aller
Blicke ruhten wieder auf Camoens, als dieser neben einen dem Sitze des Königs
gegenübergestellten Sessel trat und der Anrede des jungen Herrschers wartete.
Der König ward durch die plötzlich eintretende Stille aufmerksam gemacht, er
brach fein Gespräch mit dein Prior von Belem ab und wandte sich zu dem
harrenden Dichter: Laß dich nieder, Camoens, und erfreue uns und alle die
Unsrigen, die von deu ruhmreichen Thaten ihrer Ahnen zu hören verlangen,
mit einem Teile deines großen Werkes, von dem ich hoffe, daß seine Vollendung
einst unsrer Regierung zum ewigen Ruhme gereichen soll!
Camoens segnete in diesem Augenblick in Gedanken den greisen Antonio
Pachecv, welcher dein König eine so hohe Meinung von dein Werte seines Gedichtes
eingeflößt hatte. Stolze Genugthuung über die Ehren dieser Stunde erfüllte
sei» Herz, er gehorchte ruhig der Weisung des Königs, schlug seine Handschrift
auseinander und sagte: Erhabner Herr, möge mein Werk reich erfüllen, was
Eure Gnade sich von demselben verheißt! Ich beginne ohne Zagen, es sind
die edelsten Töchter und Söhne Portugals, zu denen meine Muse spricht.
Barreto hatte wahrgenommen, daß Camoens' letzter Ausblick von seiner
Handschrift der schönen Catarina Palmeirim galt, die in der ersten Reihe der
Damen saß und erwartungsvoll ihr Haupt dem Dichter zuwandte. Einen
Augenblick später begann Camoens zu lesen, die Flotte des Vasco da Gama
glitt ans den prächtig wogenden Oktaven seines Gesanges den Inseln an Afrikas
Ostküste entgegen. Nur wenige Minuten senkte sich Camoens' Ange ans die
Blätter, die er in seiner Hand hielt, dann erhob er sein Haupt und sprach in
freiem Erguß, Die Bilder und Verse seines Gedichtes lebten in seiner Seele
um auf, und die sichtliche Spannung, die beifälligen Blicke, mit welchen die
glänzende Versammlung seinem Vortrag lauschte, beschwingten seinen Ton und
liehen seinen Zügen einen Ausdruck feierlicher und stolzer Ruhe, In seiner
Seele wogten jetzt die großen Erinnerungen, die sein Gedicht erfüllten, und die
eignen Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit traumhaft ineinander; mit
dem Strande von Melinde, an welchem Gamas Heldenschar gastliche Aufnahme
findet, tauchten dem Dichter die Monde empor, wo er selbst um diesen: Strande
gelagert, sehnsüchtig über das Meer geblickt und einen Tag wie diesen herbei¬
gesehnt hatte. So oft er jetzt in dem Kreise um sich sah und sein Blick auf
das leise vorgeneigte Haupt der jungen Gräfin Catarina fiel, beseligte ihn die
Gewißheit, daß die Stunde ihm mehr bringe, als er im Traume jemals ge¬
fordert und gehofft habe. Immer deutlicher fühlte er, daß er die Teilnahme
der Hörer gewinne; selbst König Sebastians unruhige, in die Ferne blickende
Augen, hefteten sich, von den Bildern gefesselt, welche Camoens' Dichtung
heraufbeschwor, fester auf den Dichter, Daß der Prior von Belem gleichgültig
hinter dem Sessel des Königs stand und mit kalter, gelangweilter Miene auf
die Lauschenden sah, nahm vielleicht nur Manuel Barreto wahr. Seine Freund¬
schaft für den Dichter unterschied selbst in den entzückten Gesichtern der Ver¬
sammelten scharf den wirklichen Anteil, den sie nahmen, und die höfische Gewohnheit,
zu bewundern, was der König bewunderte. Doch waren so viele Mienen freudig
erhellt, die stolzen, schönen Züge der jüngern Edelleute so lebendig bewegt, in
den Augen älterer Frauen blitzte mehr als einmal, wenn auf Camoens' Lippen
verschollene Namen wieder auflebten, ein Strahl liebender Erinnerung auf, die
jüngern letzte» sich so unbefangen an dem Wohllaute der Verse, daß Barreto
es doch nicht bereuen konnte, dem Dichter die Pforte dieses Saales er¬
schlossen zu haben. Mit Rührung erinnerte auch er sich, in wie andern Um¬
gebungen er vor Jahren in Macao und Goa die ersten Gesäuge der Lusiaden
vernommen hatte, und erquickte sich an der Vollkommenheit, die Camoens in¬
zwischen seinem Werke gegeben. Als der Vortragende schloß, ging unwillkürlich
ein Flüstern des Beifalls durch den glänzende» Kreis, und dann erst wandten
sich die Blicke zu König Sebastian, welcher sich von seinem Sitze erhoben hatte
und mit einer jugendliche» Aufwallung, die selteu geung bei ihm war, Camoens
zu sich heranwinkte: Komm zu mir, Luis Camoens! Du bist in Wahrheit der
Dichter meines Landes und Volkes, so laß mich für Portugal danke»! Unsre
Thaten, vergangne und — gefällt es Gott — künftige, werden in deinem Werke
leben! Ich heiße dich noch einmal im Vaterlande und an meinem Hofe willkommen!
Bei diesen Worten schloß der König den Dichter in seine Arme, diesmal
ward das Gemurmel im Kreise der Versammelten beinahe zu einem Getöse,
lauter, beifälliger Zuruf erscholl von allen Seiten, und der Prior von Belem
bemerkte mit Mißfallen, daß selbst Tellez Alucita, der kein Wort der Vorlesung
verloren hatte, unter den Beifallrnfeuden war. Die freudige Erregung machte
erst dann einem neuen erwartenden Schweigen Platz, als Dom Sebastian, an
Catarina Palmeirim herantretend, zu der jungen Edeldame sagte: Ich darf
Senhor Luis nicht befehlen, uns noch einen Teil seines Werkes hören zu lassen.
Aber eine Bitte, die von schönen Lippen kommt, widersteht kein ritterlicher
Dichter, wollt Ihr Euch nicht um uns alle das Verdienst erwerben, die Bitte
auszusprechen?
Die schöne Gräfin erglühte, ans ihren dunkeln Angen fiel ein Blick auf
den König, von dem selbst der scharf dreinschauende Kaplan nicht erriet, ob er
einen Dank für die hohe Auszeichnung oder einen stummen Vorwurf bedeute.
Doch faßte sie sich sogleich, wandte ihr Gesicht halb zu Camoens und rief: Da
Eure Majestät ihren Wunsch geäußert hat, bedarf es für Senhor Luis Camoens
meiner schwachen Bitte nicht. Soll ich sie jedoch thun, so bitte ich ihn, uns
einen Gesang seines Werkes vorzutragen, an dem wir Frauen noch besondern
Anteil nehmen können!
Also die lieblichste und anmutreichste Episode deines Gedichtes, Senhor
Lttis, setzte der König hinzu, während sich Camoens vor dem schönen Mädchen
ehrfurchtsvoll verneigte. Catarina lächelte ihm dankend zu und sagte leiser als
vorher: Nicht als ob wir Frauen mindern Anteil am Ruhme unsrer Väter
nähmen! Aber Eure Dichtung enthält gewiß anch Seiten, uns denen Stürme
und Kämpfe schweigen!
Gewiß, Herrin, entgegnete Camoens. Ihr wißt freilich noch nicht, und ich
wünschte, Ihr erführe es nie anders als aus der Dichtung, daß die brennendsten
Wunden nicht in Schlachten geschlagen werden!
Während Camoens sich mit hoher Genugthuung anschickte, der Aufforderung
Dom Sebastians und Catarinas zu folgen, entschlüpften Manuel Barretv die
Worte: Sie brauen alle an dem Tränke, der ihn taumeln machen wird! Da
der halblaute Ausruf für seinen nächsten Nachbar völlig unverständlich blieb
und vou den übrigen keiner auf ihn achtete, so gewann der wackere Evelmann
Zeit, sich wieder zu fassen und sei» Mißbehagen unter der ruhig teilnehmenden
Miene zu verbergen, die hier von den meisten zur Schan getragen ward.
Camoens hatte inzwischen seinen Sitz dem Könige und der junge» Gräfin Catarina
gegenüber wieder eingenommen und begann, nachdem Dom Sebastian das Zeichen
zum allgemeinen Schweigen gegeben, einen der Gesänge seines großen Gedichtes
zu lesen, in welchen er die Schicksale jener holden Ines de Castro feierte und
beklagte, die zum Opfer ihrer Leidenschaft für den Prinzen Pedro ward. Eine
eigentümliche Bewegung ging durch die Versammlung, sobald der Name Ines von
Camoens' Lippen fiel, alles lauschte mit sichtlicher Spannung, und es war gut
für den Dichter, daß er, vom Gegenstände hingerissen, weder die Blicke wahr¬
nahm, die von Einzelnen in dein großen Kreise getauscht wurden, noch die Ver¬
änderung in den Zügen König Sebastians, Der junge Herrscher hatte eben »och
huldvoll dem Dichter zugelächelt, jetzt erhielt sein Gesicht die trübsinnige Starrheit
zurück, die ihm sonst eigen war, die Augen blickten wieder weit über Camoens
und den dichtgedrängten Kreis hinweg, gleichsam durch die Wände des Saales
hindurch. Tellez Alucita, der Kaplan, faltete vor den andern ungesehen die
Hände; erkannte er doch den Ausdruck, den er auf dem Gesichte des Königs
am liebsten sah und in letzter Zeit, vor allem am heutigen Abend, allzuoft
vermißt hatte, Camoens sprach sich immer tiefer in die Empfindung hinein, die
seinen Gesang erfüllte, die feiner fühlenden Hörer konnten leicht ermessen, daß
eine eigne schmerzliche Erinnerung die Strophen dnrchhnnchte, welche von den
Lippen des Dichters klangen. Den sichtlichsten Anteil an dem Vortrage nahm
offenbar Catnrina Palmeirim, Das schöne Mädchen saß regungslos, die großen
schwarzen Augensterne erglänzten in feuchtem Schimmer, Camoens vergaß darüber,
daß er sich zunächst an den König zu wenden habe. Die Hofgesellschaft nahm
seine Bewegung wahr, hatte aber auch längst bemerkt, daß der König nicht mehr
wie vorhin cuifmerkscun und ergriffen sei, und verharrte daher, als Camoens
wiederum endete, in Schweigen, Doch hielt das Schweigen nicht lange an. Denn
der König, ans seinem Hinbrüten erwachend und sich sammelnd, gab das Zeichen
zum lauten, rauschenden Beifall und rief dem Dichter zu: Ich danke dir, Camoens,
danke dir auch hierfür, obschon einer meiner Ahnen in der traurigen Geschichte
der schönen Ines eine wenig rühmliche Rolle spielt und die Rache, die Dom
Pedro nach seiner Thronbesteigung genommen, eines Königs kaum würdig war.
Sage selbst, ob dein Gesang nicht anders lauten und jubelnd ausklingen würde,
wenn Pedro der Infant schon Pedro der König gewesen wäre?
Dom Sebastians Ansprache war von allen gehört worden, und auch die
Autwort des Dichters: Gewiß ist es, wie mein königlicher Herr sagt, aber es
frommt dem Dichter so wenig wie den Menschen überhaupt, die Ratschlüsse
Gottes umzudeuten! klang vernehmlich genug, obwohl sie mit zitternder «stimme
gegeben ward. In dem Augenblicke, wo der König zu ihm sprach, hatte sich
Camoens erinnert, wils am Abend zuvor Bartolomeo Okaz, sein und Barretvs
Wirt, über die Bewunderung des Königs für die Tochter des Grafen Palmeirim
gesprochen hatte; er hatte die dunkle Glut wohl bemerkt, welche durch die Worte
des Königs und die Blicke vieler Umstehenden auf dem Gesichte der jungen Gräfin
hervorgerufen wurde. Seine Antwort verriet nichts von dem Weh, das sich
mit einemmale in das Glücksgefühl dieser Stunde mischte, eher hätte seine Haltung
auffallen können. Catarina Palmeirim hatte sich dem Dichter einen Schritt
genähert, sie durfte erwarten, daß er zu ihr treten und auch ihren Dank ent¬
gegennehmen würde. Aber Camoens blieb an die Stelle gebannt, an der er
von Dom Sebastian angeredet worden war, obschon sich der König inzwischen
hinweggewandt und ein Gespräch mit dem Grafen Bimiosv und dem Prior von
Belem begonnen hatte.
Da entschloß sich das schöne Mädchen, welches den Schatten ans feinern
Gesichte wohl wahrnahm, sich ganz zu ihm zu wenden und ihm mehr als ein
zeremonielles Wort zu gönnen: Ich spreche für alle meine Schwestern, wenn
ich Euch danke, daß Ihr das Gedächtnis der edelsten und unglücklichsten Frau
unsers Landes in Euerm Gedichte rein und verklärt fortleben laßt. Ich höre
von der verwitweten Herzogin von Braganza, daß ich Euch nicht so fremd bin,
Senhor Luis, als ich glauben mußte, Ihr habt meine Mutter gekannt?
(^-orlschung folgt.)
Zur Misere unsrer Literatur. Vou einem Seminarlehrer erhalten wir
folgende Zuschrift^ Hochgeehrter Herr! Der Verfasser des Artikels in Ur. 2 der
Grenzboten! „Zur Misere unsrer Literatur" sagt mit Recht, daß viele Deutsche,
obgleich sie die nötigen Mittel haben und auch Anspruch auf Bildung mache»,
„uicht einmal die unerläßlichsten Anfänge zu einer dürftigen Bibliothek" besitzen,
und sich nicht schämen, um den doch fühlbaren Hunger nach literarischer Kost
einigermaßen notdürftig zu stillen, Leihbibliotheken z>l benutzen u. s. w. Das ist
gewiß wahr und auch deu meisten Leser» der Greuzlwten nicht ganz unbekannt.
Aber die Hauptsache ist doch wohl, Mittel und Wege zu finden und dann zu
zeigen, durch die es besser werden kouuie uiid der „Misere unsrer Literatur."
Für ein solches würde ich es in erster Linie halte», wenn dem Leser eine Anzahl
solcher Bücher genannt würde, die eben niemals in dem Hanse eines wohlhabenden
Mannes aus dem Mittelstande fehlen dürfte» und so gewissermaßen den Grundstock
seiner Hnusbiblivthek bilden müßten. Das ist wichtig. Sagen Sie nicht darauf!
Das ist unnötig; eS weiß dies jeder gebildete Mann von selber. Ich meine: Nein!
Ja ich gehe noch weiter und behaupte! Eine solche Auswahl vou etwa zwanzig
oder dreißig Werken kann nicht einmal ein Fachmann allein feststellen; sie würde
dann jedenfalls einseitig sein. Es müßten hierzu entschieden mehrere Literatur¬
verständige Vorschläge machen und sich dann über eine gewisse Zahl als Werke
ersten Ranges einige», daun solche zweiten Ranges bezeichnen u. s. w. Das hätte
Wert, das würde die Leserwelt mit Freude» begrüße».
Ob e!»e derartige Auswahl auf verschiedne andre Schwierigkeiten stoßen würde,
ist eine andre Sache und soll hier weiter nicht berücksichtigt werde». Aber eine
solche Auswahl ist entschieden nötig z»r Vervollständignag der i» jenem Aufsatze
beleuchteten Sache; denn sonst dürfte der Herr Verfasser jenes Artikels einem Arzte
ähnlich erscheinen, der die Wunde» eines Kranken untersucht und in ihrer Bös¬
artigkeit richtig erkennt — anch dafür sorgt, daß dies »och andre erkennen -—, aber
kein Mittel zur Heilung bezeichnet. Der Arzt verschreibt aber regelmäßig nach
Beratung mit sich selbst ein Rezept; das ihre doch auch der Herr Verfasser, be¬
ziehentlich die Redaktion der Grenzboten. Also! Das Rezept! Nicht nnr in der
Theorie bleiben! Praxis üben!
Verzeihen Sie, daß ich mir die Freiheit genommen, Ihnen dies zu schreiben.
Sollte ich hiermit einer wichtigen Sache dienen können, so wäre mir das sehr
angenehm :e.
Den hier ausgesprochenen Wunsch zu erfüllen, sind unsers Wissens wiederholt
beachtenswerte Versuche gemacht worden. Wir denken zunächst an den „Wegweiser
durch die deutsche Literatur" vou Schwab und Klüpfel, der mehrere Auflagen mit
Nachträge» erlebt hat. Für Volksbibliotheken hat vor einer Reihe von Jahren der
Leipziger Zweigverein des denischen BolksbilduugSvereius einen vortrefflichen Katalog
zusammengestellt, der auch für die Einrichtung eiuer Privatbibliothek für ein deutsches
Bürgerhaus recht gut hätte maßgebend sein können. Ob er je gedruckt worden ist,
wissen wir nicht. Ein „Musterkatalog" für VolkSbivliolheken, den wir gedruckt gesehen
habe» und der von einer Leipziger Svrtimentsbnchhandlung zusamwengestellt war,
war ein andrer als der, den wir meinen; es war ein trauriges Machwerk, das in
seinen? Urteil oder richtiger seiner Urteilslosigkeit ans der Stufe unsrer meisten
Weihnachtskatalvge stand. Nur einer unter den Weihnachtskatalogen macht eine
rühmliche Ausnahme, der Seemcmnsche. Er enthält in jedem Jahrgange einen
kritischen Bericht über die bessere populärwissenschaftliche und belletristische Literatur
deS letztverflossenen Jahres. Das, was unserm Seminarlehrer vorschwebt, bieten
freilich anch diese Jahresberichte nicht. Sie empfehle» einerseits zu viel Spezial>
schriften, anderseits zu viel Mittelgut. Wollte man nach drei Jahren auf die Bücher
eines solchen Jahresberichtes zurückkommen, so würde man kaum uoch die Hälfte,
nach zehn Jahren kaum noch das Zehntel davon empfehlen können. Dieses beim
Durchsieben übrigbleibende Zehntel möchte unser Seminarlehrer lieber gleich im
ersten Jahre genannt haben und mit den übrigen ganz verschont bleiben? Ist es
nicht so? Nun, wir wollens versuchen. Nächste Weihnachten wollen wir in den
Grenzboten eine kleine Liste von etwa zwanzig bis dreißig im Laufe des letzte»
Jahres erschienenen Büchern aufstellen, die sich jede Familienbibliothek getrost soll
anschaffen können. Für ältere Werke müssen wir, wie gesagt, auf Schwab und
Klüpfel verweisen.
Der Verfasser, ein älterer Schulmann, war von 1865 bis 1882 Rektor in
Ottweiler bei Saarbrücken und hat sich auch bereits als Volksschriftsteller mannichfach
bethätigt. Die obigen zwei Erzählungen gehören zu dem Besten, was nus seit
langem auf diesem Gebiete vorgekommen ist. Sie find bereits in einer großen
Auflage verkauft worden, weshalb die neue Ausgabe als Stereotypausgabe herge¬
stellt worden ist. Besonders die erste Erzählung, welche in der Gegend des Saar-
Kohlenbetriebes spielt, stützt sich augenscheinlich auf genane Einblicke in das Wesen
dieses Betriebes und verwertet dieselben in trefflich durchgeführten Charakteristiken.
Nicht minder ansprechend ist aber die kürzere zweite Erzählung, und wir können
nur wünschen, der Verfasser möge ans dem uicht immer mit so viel Geschick be¬
bauten Gebiete der Vvlkserzähluug weiter thätig sein.
An des Verfassers Stelle würden wir für diese kleine Schrift einen andern
Titel gewählt haben. Das Buch hat lange unberührt auf unserm Tische gelegen,
weil wir meinten, es sei eins der zahllosen Machwerke von Naturheilkünstlern,
welche dnrch Schimpfen auf die Medizin der Gegenwart und ans die regulären
Aerzte ihre Klientel zu vermehren suchen. Dein ist jedoch nicht so. Das Schriftchen
enthält in lebendigen, kräftigen Zügen eine kurze Darstellung der Entwicklung der
Heilkunde und ihrer jetzigen Stellung. Der Verfasser hütet sich wohl vor über¬
mäßigen Lobeserhebungen, betont aber energisch das Positive der gewonnenen Er¬
rungenschaften. Es ist kein Zweifel, daß, wenn ein Gebildeter diese Darstellung
liest, sie die Zuversicht zur Medizin, auch zur Therapie, wesentlich bei ihm erhöhen
wird. Wir fürchten nur, das Büchelchen wird nicht viel gelesen werden.
>i le Währungsfrage, ipezicll die Frage, ob wir in Deutschland die
beabsichtigte und im wesentlichen beendigte Goldwährungsreform
zu Ende führen oder zur allgemeinen Doppelwährung hinsteuern
sollen, setzt noch immer manche Feder und manche Zunge in Be
wegnng. Diese Frage wird keinem als leicht erscheinen, der be¬
merkt hat, daß äußerst gelehrte und erfahrene Männer, wie Ad. Wagner, A, Schäffle,
W. Lexis, ans die Seite der Doppelwährung übergetreten sind, und daß viele
ebenso tüchtige Männer ans allen politischen Parteien sich eifrig der Gold¬
währung zuneigen. Es könnte für eine erfreuliche Sache gelten, daß fortwährend
so viele Broschüren erscheinen, die das Problem vor dem Publikum erörtern.
Aber dieser Gewinn ist doch fraglich. Denn wenn man so von allen Seiten in
die Leute hineinruft, so entsteht zwar ein verstärkter Schall, aber die Verständ¬
lichkeit des Rufes nimmt dadurch nicht immer zu, und sie setzt in diesem Falle
so viel Kritik und Wissen voraus, daß doch vou einer wachsenden Verständigung
nicht mit Zuversicht gesprochen werden kann. So viel wir sehen, ist es nnter
diesen Umständen das beste, vorläufig keinen gewaltsamen Schritt zu thun, um
neue Bahnen zu wandeln, sondern bei dem, was wir haben, zu bleiben. Wir
können diese realpolitische Betrachtung der Münzpolitik freilich nur dann mit
gutem Gewissen verfolgen, wenn wir uns auch über die beiden andern Arten,
wie man diese schwierige Materie behandelt hat, etwas orientiren, wir meinen
die kritisch-retrospektive und die doktrinäre Art der Betrachtung. Aber die eigent¬
liche Aufgabe wird doch in einer Zeitschrift, die nicht Fachzeitschrift ist, sein, zu
fragen: Was kann und soll geschehen? läßt sich in der Währungsfrage eine Stelle
entdecken, wo wir Reformen nötig haben, die nicht bloß ausführbar siud, sondern
auch unzweifelhaft dem Vaterlande bleibenden Nutzen schaffen? Darüber ver-
ständlich und ohne Partcileidenschaft zu sprechen, dürfte nicht überflüssig sein
trotz aller vorhandnen Broschüren.
Die Stellung der Parteien in diesem Streite ist eigentümlich. Die Streit¬
sache ist ja nicht eigentlich politisch, und in der That finden sich in allen po¬
litischen Parteien verschiedne Währungsstandpunkte vertreten. Aber das ist nicht
zu verkennen, daß in der Währuugssache die Liberalen und die gute Hälfte der
Freikonservativen konservativ sind, insofern sie die Goldwährung nicht aufgeben,
von der allgemeinen Doppelwährung also nichts wissen wollen. Bei der deutsch-
konservativen Richtung, die früher wie ihr Organ, die Kreuzzeitung, von der
Goldwährung gutes erwartete, ist seit mehreren Jahren eine Änderung einge¬
treten. Und das ist nicht zu verwundern. Denn wir haben alle seit 1873 bei
der Durchführung der Münzreform vieles erlebt, was kaum jemand vermutet
hatte, und das Erlebte war so bedeutend, daß eine Abschwenlimg von der Gold¬
währung durchaus nicht auffallend sein kann. Wir hatten uns getäuscht über
die Menge unsrer alten Silbermünzen. Als Bamberger richtig sagte, die Haupt¬
sache sei: „Wohin mit dem Silber?" wollte man diese Verlegenheit nicht so hoch
anschlagen. Und doch sieht man seit 1879 diese Verlegenheit überall el», be¬
sonders bei der deutscheu Reichsbank. Sodann glaubte kaum jemand den Worten
Angspnrgs, der eine großartige Entwertung des Silbers vorausverkündigte und
vorsichtige, kaufmännische Behandlung des Umtausches empfahl, um diese Ent¬
wertung in möglichst enge Grenzen einzuschließen. Andre fügen hinzu, daß mau
sich auch getäuscht habe über die große Menge des Goldes, die in der Welt
vorhanden und bereit sei, das Silber zu ersetzen. Auch darin liegt eine Wahrheit.
Während die Produktion des Silbers »och immer wächst (sie ist von 280 Mil¬
lionen Mark im Jahre 1873 auf 350 Millionen Mark im Jahre 1884 ge¬
stiegen), ist die Goldprvdnktion von 1873 bis 1884 von 478 Millionen Mark
auf 400 Millionen herabgegangen. Das erinnert an eine andre Enttäuschung.
Um das Jahr 18K9 nämlich war der Wunsch uach Goldwährung in der Regel
mit dem Wunsche einer allgemein anerkannten goldnen Weltmünze verbunden,
die man bald nach dem Grammgewichte, bald im Anschluß an das Pfund Sterling,
bald als 25-Franksstück, bald im Anschluß an das 20-Dvllarstück unter teil¬
weise eigens erfundenen Namen (wie Pnse) feierte. Mau glaubte, daß sich selbst
bei allgemeiner Goldwährung das Gold wohl in genügender Menge finden würde.
Das ist auch vorbei. Mau will nicht gerade leugnen, daß noch das eine oder
andre Volk genug Material für eine einzuführende Goldwährung ans dem Markte
finden werde, aber nicht alle Kulturvölker des Westens.
Wenn man solche Dinge erlebt hat, wird man irre an der Weisheit aller
Münzpvkitiler und bekennt, daß die ganze Frage die größte Vorsicht erfordert.
Eine Frage, die bloße Zweckmäßigkeit und genau genommen zukünftige Zweck¬
mäßigkeit im Auge hat, ist absolut kein Gegenstand sicherer Berechnung und kein
Gegenstand theoretischer Doktrin. Versucht hat man es Wohl, die Doppelwährung
doktrinär zu begründen, Wvlowski lind Cernuschi sind Beispiele dafür. Über
Cernuschis Versuch, der das Motto verwirklichen sollte: svionvö >l'u!>>>,'>i.
iss intöröts «znsuits, ist auch die befreundete Seite still hinweggegangen. Die
Sache ist eben nicht so einfach.
Die Enttäuschungen sind aber damit noch lange nicht aufgezählt. Selbst
ein großer Völkervertrag, der 1865 zur Befestigung der Doppelwährung ge¬
schlossen wurde, die „Lateinische Müuzunion" zwischen Frankreich, Belgien, Italien,
der Schweiz (und Griechenland), hat sich nicht bewährt. Dieser Bund hat Jahre
lang das Verhältnis von 15^ : 1 zwischen Gold und Silber aufrecht gehalten.
Aber als 1869 kam, war man schon, der Majorität der Stimmen nach, in
Frankreich für die Preisgebung der Doppelwährung und die Einführung der
reinen Goldwährung. Der Krieg von 1870 zwang Frankreich vorerst, bei der
Doppelwährung zu bleiben. Derselbe Krieg zwang Deutschland, in seinem Münz-
shstcin eine Einheit herzustellen, die schon lange als Bedürfnis empfunden worden
war. Diese Einheit suchte man von vornherein nicht in der bisherigen Silber-
Währung zu verwirklichen, sonder» in der Goldwährung, für die man in der
erkämpften Kriegsbuße das Material zu gewinnen hoffte.
Man mag sagen, was man will, die Idee war ganz richtig. Wir müssen
dem Bundesrate und dem Reichstage dankbar sein, daß sie die Zeichen der Zeit
so erkannten und den Vorsprung, den uns der Krieg brachte, so benutzten.
Mögen auch Fehler in der Durchführung der kolossalen Aufgabe gemacht worden
sein, wir sind jetzt trotz aller Hemmnisse doch besser gestellt als die Glieder der
lateinischen Müuzunion.
Über eben diese Union und ihre Schicksale haben wir jetzt eine größere
Schrift von L. Bamberger (Berlin, Simion). Wie sehr auch Bamberger die
Rede in der Gewalt hat, auch er überwindet nicht völlig die Schwierigkeiten
seines Themas, man sieht, daß die Sache selbst diese Schwierigkeiten in sich
trägt. Er beweist wohl, daß das Verhältnis zwischen Gold- und Silberwert
für alle Zeit festzustellen, wenigstens bei freier Privatprägnng, sogar über die
vereinten Kräfte so vieler Staaten hinausgeht. Er beweist, daß nicht erst poli¬
tische Differenzen eine solche Münzuniou stören können, sondern schon wirtschaft¬
liche Verlegenheiten, wie denn die in Italien notwendig gewordene Papier¬
währung in der That in die vereinbarten Artikel dauernde Verwirrung gebracht
but. Als man vor Jahren bemerkte, daß der Weltmarkt sich von deu festge¬
setzten 15 >/„ nicht bestimmen ließ, als man Deutschland sich seines Silbers ent¬
ledigen und das Silber auch dadurch noch tiefer sinken sah, da stellte man die
Silberprägung ein und faßte die Möglichkeit einer Auflösung der lateinischen
Münznnivu ins Auge. Wie viele Enttäuschung hatte man auch auf dieser Seite
erlebt! Wie verwirrt waren die Ansichten über die Maßregeln, die man bei der
etwaigen Auflösung und Liquidation zu treffen habe, was z. B. zur Ausgleichung
der Fünffrankenstiicke zwischen den einzelnen Landesprägeanstalten ?c. zu thu»
sei! Es fand sich eine Liquidationsformel, der sich zuletzt auch Belgien ange¬
schlossen hat. Aus allem geht hervor, daß die Union das Vertrauen zur Doppel¬
währung, das heißt zu ihrer Durchführbarkeit in den gegenwärtigen Grenzen,
verloren hat.
Aber für die wissenschaftliche Doktrin ist durch solche Beweisführung nicht
viel gewonnen. Die ist nicht leicht zu überzeugen. Das Geld für eine bloße
Waare zu halten, auf deren Preisfixirung der Staat keinen Einfluß üben dürfe
und schließlich nicht könne, dazu bequemt sich die Doktrin nicht leicht. Und in
der That läßt sich mit W. Lexis gegen diesen allgemeinen Satz viel einwenden
und behaupten, daß ein gehörig erweiterter Doppelwährnngsbund, ein univer¬
saler Bimetallismus, wenn er zustande käme, wohl die Kraft hätte, für abseh¬
bare Zeit das Wertverhältnis von Gold zu Silber festzuhalten, falls nicht
radikale Umwälzungen in den Produktionsverhältnissen der beiden Metalle ein¬
treten. Auch der für Goldwährung agitirende Professor Soetbeer erkennt diese
Möglichkeit an (Neuwirth, Der Kampf um die Währung, S. 70). Die wirt¬
schaftlichen Gesetze haben zwar Macht, aber keine Allmacht. Wir sind sehr oft
in der Lage, durch soziale Gesetze, auch durch Strafen, gewisse natürliche und
psychologische Gesetze abzuändern; anch das Gesetz von Angebot und Nachfrage
wird von allerlei andern Gesetzen, z. B. im Hausirhandel, durchkreuzt.
Aber wenn anch doktrinär diese Möglichkeit nicht zu bezweifeln ist, real¬
politisch ist nichts damit zu machen. Denn die Anstrengungen der energischen
und talentvollen Männer, einen solchen Weltdoppelwährungsbund zustande zu
bringen, sind ganz vergeblich gewesen. Nicht einmal die ersten Prinzipien eines
solchen Unternehmens sind klar. Alle bedauern die Silbcrentwertung, aber keiner
weiß Rat. Und seit England deutlich erklärt hat, es werde seine Goldwährung
nicht aufgebe», obwohl auch in England bimetallistische Neigungen sich stark
regen, ist für den Staatsmann das ganze Projekt ins Bodenlose gefallen. Eng¬
lands Handelsstellung ist so außerordentlich bedeutsam, daß ohne England kein
Bimetallismusbund einen hinreichenden Druck auf die Edelmctnllpreise ausüben
kann. Darum ist es ganz unpraktisch, wenn bis vor kurzem Cernnschi, Arendt
und andre auch ohne England die allgemeine Doppelwährung für ausführbar
und wirksam genug hielten. Ob sie noch heute so denken, nachdem der lateinische
Münzbund sich gewissermaßen für bankerott erklärt hat, wissen wir freilich nicht.
Auch ein andrer Punkt ist mit Unrecht in Bambergers Schrift über die
lateinische Münzuuion als gegen jede Münzunion sprechend aufgefaßt worden.
Die genannte Union hatte sich ja nicht auf die Währungsfrage beschränkt,
sondern auch die Gold- und Courantsilbermünzen gleich gemacht und ihnen
Freizügigkeit gewährt. Die Mehrzahl der jetzt erst zu Tage getretenen Schwierig¬
keiten in der Union sind denn anch aus dem Einwandern der fremden Münzen
entsprungen. Sie können also nicht vollgiltig beweisen gegen eine allgemeine
Doppelwährung, die sich von der Gleichmachung der verschiednen Landesmünzen
frei hält, sondern sich, wie Soetbeer will, streng auf die Währungsfrage be¬
schränkt.
Wenn nnn mich Bambergers Kritik des so großartig gedachten lateinischen
Mnnzbnndes nicht alles trifft, was für einen universellen Doppelwährnngslumd
gesagt werde» kann, so ist, wie gesagt, doch für jeden praktischen Mann dieser
Bund ohne England ganz unannehmbar. Und wie jede pessimistische Stimmung
dem praktischen Kopfe fern bleiben soll, so ist auch ans der pessimistischen Ver¬
bitterung der Doppelwährnugsführer, die sie besonders seit einigen Jahren an
den Tag legen, etwas zu lernen. Dahin gehört anch die Hoffnung, die Ver¬
einigten Staaten möchten die bekannte Blcmdbill, welche gebietet, monatlich
wenigstens zwei Millionen Dollars in Silber zu prägen, und welche dadurch
den tiefsten Absturz des Silberwertcs verhindert hat, demnächst aufheben. Das
Elend der Silbercutwertnng soll so extrem werden, daß die erschreckte Kultur-
welt in dem allgemeine» Doppelwährungssystem den letzten Rettungsanker finden
müsse. Über die Methode läßt sich manches sagen. Beiläufig scheint man in
Amerika die Dollars, die das dortige Publikum weniger liebt als das Papier¬
geld, noch weiterhin prägen zu wollen.
Wir werden für die Praxis darein festhalten, daß, wenn die wiederholten,
von Amerika und Frankreich ans angeregten Kongresse zur Herstellung einer
Weltdoppelwährung, obwohl alle großen Mächte der Anregung wohlwollend
entgegenkamen, so ganz ergebnislos verlaufen sind, unüberwindliche Schwierig¬
keiten vorliegen. Der preußische Finanzminister, Herr von Scholz, hat dafür
auch den Grund entdeckt. Er sieht ihn eben in der Vorliebe des Weltmarktes
für das Gold, die sich nicht durch Gesetze unterdrücken läßt. Herr von Scholz
sagt ganz richtig, es sei mit Ausnahme von England, Portugal und Skandi¬
navien allen Nationen gestattet, wenn nicht besondre Vertrüge im Wege stehen,
auch jetzt noch die internationalen Forderungen in Silber zu bezahlen. Warum
thun sie es nicht? „Ans Furcht vor den sehr unangenehmen Folgen im allge¬
meinen Kredit, in der allgemeinen Wertschätzung ihrer Obligos auf dem Welt¬
markte. . . . Der natürliche Zwang der allgemeinen Überzeugung ist stärker als
ein Vertrag." Gewiß, wenn Frankreich oder die deutsche Neichsbank versuchen
wollten, ihre Wechsel in Silber zu zahlen, so würde ein Sinken der Kurse die
unfehlbare Strafe dafür sein. Ob diese Lage der Sache schön ist, ob die Macht
des Börsen- und Großkapitals, die Abhängigkeit des Staates von demselben
nicht auch eine beklagenswerte Seite an sich hat, ist jetzt nicht zu erörtern. Aber
die Thatsache ist vorhanden, und es ist thöricht, sie zu verkennen. Der Herr Mi¬
nister hat sich das Verdienst erworben, die Stellung der Regierung, man kaun
wohl sagen auch die der im Reiche einflußreichsten Männer, klardarzulegen und
die Meinung zu entkräfte», als hätte die Doppelwährung die besten Aussichten.
Die großen Industriellen vertreten meist bei uns dieselben Ansichten wie
der Minister. Sie sind mit der Weltmacht des englischen Handels- und Bank-
Wesens wohl bekannt und denken genauer darüber nach, woher die jedesmaligen
Schwierigkeiten ihrer wirtschaftlichen Lage entspringen, und wie sie sich aus der
Verlegenheit herausziehe» sollen.
Die landwirtschaftlichen Kreise dagegen klagen bei uns vielfach die Münz¬
politik der deutschen Regierung an, obgleich der Reichstag damals fast einstimmig
der Goldwährung zustimmte. Auch die letzte klare Äußerung des preußischen
Finanzministers ist in den Organen der sogenannten Agrarier mit Bitterkeit
aufgenommen worden. Fast alle Nöte der Landwirtschaft, die in der That nicht
zu leugnen sind, sollen nach einigen Agrariern von der Goldwährung, genauer
von der Silberentwertnng herrühren. Wenn das wahr wäre, so würde man
in den Negiernngskreisen nichts eiligeres zu thun haben als die Goldwährung
zu beseitigen. Denn die landwirtschaftliche Bevölkerung ist so zahlreich, ihr Ge¬
deihen ist dem Ganzen so unentbehrlich, daß sie jedenfalls auf die größte Für¬
sorge rechnen kann. Aber die Meinung wird eben nicht geteilt, daß die Gold¬
währung, die an die Stelle der Silberwährnng getreten ist — denn Doppelwährung
haben wir ja nie gehabt —, die Ursache oder nur eine vermeidbarc wichtige
Ursache der landwirtschaftlichen Verlegenheiten sei.
Wenn man sagt, die niedrigen Getreidepreise, an denen die Landwirtschaft
trotz der Getreidezölle leidet, kämen daher, daß infolge der Entwertung des
Silbers zu wenig Geld da sei und dadurch das Geld gegen Waaren seltener,
daher wertvoller und gesuchter geworden sei, die Waaren dagegen ebendeshalb
billiger, so ist das zwar eine alte Theorie, die sogenannte Quautitätstheorie,
aber diese Theorie wird jetzt stark angezweifelt. Und jedenfalls gehört sie nicht
hierher, weil die behauptete Thatsache nicht vorhanden ist. Der Geldvorrat ist
weder in Deutschland noch in den Nachbarreichen geringer geworden, sondern
im Gegenteile gewachsen, und zwar bedeutend. Nach der Angabe eines Gegners
unsrer Goldwährung liefen in Deutschland im Jahre 1870 nnr 1600 bis
1750 Millionen Mark um, jetzt zwischen 3200 bis 3700 Millionen. Nach
der Quantitätstheorie müßte also der Waarcnpreis ans das Doppelte gestiegen
sein. Was den gesamten Gvldvorrat betrifft, dessen Schätzung nach den Gold¬
beständen in den sämtlichen großen Banken und Schatzämtern immer nnr an¬
näherungsweise geschehen kann, so betrug er nach Soetbecr in seineu „Mate¬
rialien" von 1876 bis 1884, also in neun aufeinanderfolgenden Jahren, in
Millionen Mark: 3500, 3450, 3650, 3700, 4000. 4060. 4250, 4830, 4850.
Das ist also ein Wachstum von 100 auf 138. Also auch hier ist die an¬
gebliche Thatsache nicht vorhanden.
Auch ist die Quantität des Geldes in den Ländern so ungleich verteilt,
daß die verschiedensten Preise in den verschiednen Ländern herrschen müßten,
es müßte in dem lateinischen Münzbuude alles dreimal so derer sein, weil dort
dreimal so viel Geld auf den Kopf kommt als bei uns, in Rußland nur ein
Drittel mal so derer; aber bekanntlich ist die Sache anders.
Kurz, mit der leidigen Niedrigkeit der Preise mag es stehen, wie es will,
die Goldwährung kommt nicht als Ursache in Betracht.
Das geht auch aus der nähern Betrachtung der Preise und ihrem Schwarte»
hervor. Denn wenn es sich zeigt, daß selbst in den Getrcidepreisen ganz ver--
schiedne Bewegungen vorkommen, und erst recht in den verschiednen andern
Waarenpreisen, so muß es jedenfalls mehrere Ursachen der Preisschwankungen
geben, und es kann die Silberentwertung nicht die betrübende Kalamität allein
verursacht haben. Über die Geschichte der Preise im großen giebt uns Soetbeer
in seinen „Materialien" höchst dankenswerte Notizen aus London und Hamburg.
Wir benutze» sie hier, nehmen aber nicht als Ausgangspunkt 1850, sondern
1870, um die damalige» Preise »ach Prozenten mit den heutigen zu vergleichen.
Wir sehen uns zuerst nach den Produkten des Ackerbaues um. Von 1870
bis 1884 gingen die Preise:
In London machten die Engrospreise in derselben Zeit bei Weizen die Bewegung
von 521/2 zu 32. bei Kartoffeln von 80 zu 70.
Bei Produkte» der Viehzucht finden wir in Deutschland etwas andre Ver¬
änderungen. Es geht
aber Talg, Schmalz, Kalbfelle, Leder, Thran wird billiger. In England gehen
auch bei Fleisch die Preise herunter. Bei Südfrüchten ist der Durchschnitt
118 z» 137, l,el Kolonialwaaren 118 zu 120, aber mit großen Unterschieden;
Bergwerks- und Hüttenprvdukte sind fast alle im Preise heruntergegangen,
durchschnittlich von 99 auf 83. Ebenso alle Textilstoffe, wie Baumwolle (214
auf 96), Wolle (95 auf 70) ze., durchschnittlich 13V auf 97, also sehr beträcht¬
lich. Wer diese Preisschwankungen betrachtet, wird es absurd finden, sie aus
einer einzige» Ursache abzuleiten, insbesondre nicht von der Silberentwertung,
welche ja nicht überall die Preise affiziren könnte. Über die zusammenwirkenden
Ursachen dieser Erscheinung zu sprechen, ist hier nicht der Ort, wir möchten
aber auf die Schrift von Dr. Hans Kiefer, „Preisrückgang und Geldwährung"
(Köln, DuMout-Schauberg, 1885), hinweisen, die diese Frage in ansprechender
Weise erörtert hat.
Wir müsse» mir noch die besondre agrarische Klage berühren, die sich auf
den Getreideimport bezieht. Dieser Import sollte durch die Schutzzölle erschwert
werden. Schon bei der ersten Staffel der Getreideschutzzölle befürchtete der
Reichskanzler, der Zoll werde uicht imstande sein, eine merkliche Wirkung zu
üben, er werde wohl nur die mehr spekulative Hereinziehung des ausländischen
Getreides erschweren (L. Hahn, Fürst Bismarck, 3. Bd., S. 667). Das hat sich
als richtig erwiesen, und eine zweite Erhöhung der Zölle wurde mit Majorität
beschlossen. Die Getreideproduktion ist aber in neuerer Zeit besonders durch
Ostindien uoch so gestiegen, daß die Lage des Landwirth immer noch sehr wenig
erfreulich ist. Wie begreiflich, daß sich der Landwirt auch in Bezug auf die
Währungsfrage umsieht, ob sie nicht auch für ihn nachteilig geordnet und
wenigstens eine von den Ursachen seiner Bedrängnis sei! Man machte es ihm
wahrscheinlich, daß seine Bermutuug das Nichtige treffe, indem man ihm die
Nachbarreichc vor Augen stellte, die bei (schlechter) Papiervaluta ihm als Ge-
treideimportcurc so viele Sorgen machen, zunächst Österreich-Ungarn und Ru߬
land. Die allgemeine Regel, die sich dabei scheinbar ergab, sollte sein: „Die
Goldrechnung Deutschlands, Englands, Frankreichs ze. begünstigt die Einfuhr
landwirtschaftlicher Produkte von den Ländern der Silberwährnng (und Papier¬
währung) und schädigt die Ausfuhr der Manufakturen nach denselben." Auch
hierüber spricht Kiefer mehrfach, sowohl in einer frühern Schrift (Währungs¬
und Wirtschaftspolitik, S. 61 ff.) als in der schon genannten S. 72. An Bei¬
spielen zeigt er, daß die Goldwährung nicht der Sitz des Übels ist. „Der
russische Bauer kann 100 Kilogramm Weizen für 8 Rubel nach Odessa liefern.
Zu diesem Preise kann der deutsche Händler dort kaufen, weil er für die 8 Rudel
(jetzt nicht 24, sondern uur) 16 Mark aufzubringen hat und in Deutschland
einen Preis erzielt, der ihm noch einen kleinen Nutzen läßt. Wie wäre es nun,
wenn der deutsche Käufer nicht 16, sondern 34 Mark aufbringen müßte? Wenn
die deutsche Mark im Werte so tief sänke, daß ihrer 3 für den russischen Rubel
bezahlt werden müßten, so wäre die Folge davon bei uns im Inlands eine
Steigerung der Preise um die Hälfte, von 2 Mark auf 3 Mark, Der Weizen,
den der deutsche Bauer jetzt zu 18 Mark für 100 Kilogramm verkauft, den
könnte er später, um uicht schlechter zu fahren, nur zu 27 Mark abgeben. Aus
eben demselben Grunde würde der deutsche Hänoler bei so veränderten Geld¬
verhältnissen mit demselben Nutzen für sich statt der 16 alten Mark jetzt 24
neue in Odessa für den russischen Weizen zahlen und ihn mit Nutzen nach
Deutschland einführen können." Also der Import fremden Getreides geht bei
schlechterer Valuta ungehemmt weiter. Denn daß bei uns bei schlechterer Valuta
die Löhne z. B. der landwirtschaftlichen Arbeiter nicht steigen würden, meint
doch wohl niemand. Wenigstens wird es niemand wünschen, der für die soziale
Lage der Lohnarbeiter ein Herz hat. Der Herr Minister von Scholz hat wieder
Recht, daß, „wenn wir mit Indien dieselbe Währung hätten, bei der Vervoll¬
kommnung der Straßen und Eisenbahnen der indische Weizen nach wie vor mit
unserm Weizen konkurriren könnte." Es wäre daher mit einer Verschlechterung
unsers Geldes, sei es durch Vermehrung des Silbers oder Papiergeldes, den
Landwirten garnicht oder doch nur so lange gedient, bis die Löhne und die
sonstigen Preise entsprechend in die Höhe gegangen wären.
Es ist zu bedauern, daß naheliegende Wünsche und Ansprüche der Ge-
treideprvdnzenteu die Vorstellung geweckt haben, als wäre nicht die Wcltkon-
kurrenz, sondern die Währung Schuld an einem so betrübenden Druck auf die
eine Hälfte unsrer Mitbürger. Vielleicht ist aber dieser natürliche Gedanken¬
gang noch zu bessern Zielen zu lenken. Es sei wenigstens erlaubt, darüber
schließlich einige Andeutungen zu machen.
Einmal ist es keine Abweichung von dem richtigen Gange der Müuzpolitik,
wenn in wirklichen Notständen, falls es an lohnender Arbeit vorübergehend
fehlt, der Staat durch „ Darlehuskassenscheine" nach früherer Praxis in die
Dinge eingreift.
Sodann ist es zwar unsinnig, gegen das Kapital im allgemeinen zu eifern;
aber das Kapital ist in Börsen ?e. jetzt so organisirt, daß es die nicht organi-
sirten Kreise der Produzenten. namentlich die der zerstreut wohnenden Landwirte
und Grundbesitzer, regelmäßig in den Preisen unterbietet. Es ist eine betrübende
Erscheinung, daß die Preise nicht wirtlich durch Angebot und Nachfrage regulirt
werden, sondern durch die Meinung des jedesmal mächtigste» Kapitalbuudes,
der in seinen Herabsetzungen des Preises dem Konsumenten scheinbar eine Wohl¬
that erweist, während er dem Proouzcnten und den von ihm abhängigen den
Ruin bereitet. Wenn die Produzenten dagegen sich nicht zusammenschließen und
ihre direkte Verbindung mit den wirklichen Konsumenten kräftigen, so wie es
manche Großindustrielle schon thun, auch die Znckerprvdnzenten erstreben, so ist
der Kapitalmacht nicht zu begegnen, und der Einzelne ist widerstandslos dem
Markte verfallen.
Ferner ist der Steuerreform das regste Interesse fortdauernd zuzuwenden.
Lohnende Arbeit, ungeschüdigt von Steuerdruck, macht die wachsende Bevölke¬
rung kaufkräftig, und das inländische Kousumtionsgebiet ist so sehr die Haupt¬
sache, besonders bei der Landwirtschaft, daß das Wechselverhältnis der heimischen
Industrie und Landwirtschaft immer die wichtigste Sorge für uus bleibt. Die
Erleichterung, die dabei möglich wird, geht weit über die untersten Steuerklassen
hinaus und kommt den mittlern Bürgcrschichten vielleicht am meisten zu gute.
Die mehr oder weniger unausgereiften Steuerprojekte zu besprechen, die jetzt
der Erörterung anheimgegeben sind, ist hier nicht am Orte. Aber das ist wohl
zu hoffen, das; den jetzt schon vorhandnen Staatsindustrien, insbesondre der
Post, der Telegraphie und der Eisenbahn, höhere Erträge zum Besten des
Ganzen abgewonnen werden. Sie leisten schon jetzt viel, aber das Vorurteil,
daß diese Institute eigentlich nur ihre Kosten decken müßten, ist doch noch zu sehr
verbreitet. Es ist völlig unrichtig, daß diese Verkehrsanstalten ihre Wohlthaten
allen Staatsangehörigen gleichmäßig zuwenden. Sie müssen eine Rente ab¬
werfen, die zur Ausgleichung unnötiger Belastung der untern Schichten, auch
zur Aufhebung der Salzsteuer verwendet werden kann. Hierüber hat Professor
E. Witte in mehreren Broschüren vieles Beherzigenswerte gesagt. Es ist nicht
nötig, daß die Erleichterung der Gemeinden hinsichtlich der Schullasteu, die Er¬
höhung von niedrigen Veamtengehalten und ähnlicher dringender Bedürfnisse
auf Anleihen und neue Steuerquelleu vertröstet werden. Man könnte recht
wohl die bestehenden, oben genannten Einnahmequellen ergiebiger machen. Und
um zu unserm Thema zurückzukehren: man sollte die Währungsfrage aus dem
Spiele lassen, bis Anzeichen bei unsern Konkurrenten uus reiten, das Defini-
tionen bei uns schneller an die Stelle des Provisoriums zu setzen, als es jetzt
geboten erscheint. Unsre Reichsbank bietet für diese Beobachtung eine gute
Warte, und an guten Beobachtern fehlt es uns nicht.
evor wir mit dem zweiten Teile unsrer Schilderung beginnen, sei
es uns gestattet, einen Irrtum, ans den wir von freundlicher
Hand hingewiesen worden sind, zu berichtigen; umsomehr, als
es sich dabei um einen Mann handelt, dessen Name weit über
die Grenzen seines engern Vaterlandes, ja weit über Deutschlands
und Europas Grenzen hinaus in der ganzen zivilisirten Welt bekannt geworden
ist. Wir haben von Exzellenz Windthorst behauptet, daß er infolge der Auf¬
hebung der patrimonialen und der städtischen Gerichtsbarkeit in den Staatsdienst
gekommen sei. Es ist dies nicht der Fall, der wahre Hergang war vielmehr
folgender. Bei der — übrigens seitdem wieder ausgehöhlten — Vereinigung
der beiden Bistümer Hildesheim und Osnabrück wurde für jede der beiden
getrennt gewesenen Diözesen ein besondres katholisches Konsistorium errichtet.
In Osnabrück wurde mit dem Vorsitze desselben ein Advokat katholischen
Glaubens beauftragt, welcher den Titel Konsistorialrat führte, aber neben seiner
dienstlichen Stellung auch als Advokat praktiziren durfte. Als nun im Jahre
1841 oder 1842 der damalige Vorsitzende dieses Konsistoriums, auf Präsentation
der dazu berufenen ständische» Korporationen des Lauddrvsteibezirkes Osnabrück,
zum Rat beim Obcrappcllativusgericht zu Celle ernannt wurde, kam Windthorst,
welcher damals als Advokat in Osnabrück lebte, an seine Stelle. Wenige Jahre
später wählten auch ihn die Osuabrücker Stände zum Obcrappellationsrat und
er gelangte also durch das ständische Präsentativnsrecht in den Staatsdienst,
dem auf diesem Wege manche tüchtige und ausgezeichnete Kraft zugeführt
worden ist.
Das ständische Prüsentationsrecht ist infolge der Annexion erloschen und
damit eine Umwälzung vollzogen, vor welcher die hannoversche Regierung stets
zurückgeschreckt war; größer aber ist die Veränderung gewesen, welche die ge¬
selligen Verhältnisse, deren Schilderung wir zum Gegenstande unsers ersten
Artikels machten, seitdem erlitten haben. Infolge der Annexion wurden eine
Menge hannoversche Offiziere und Beamte in altprcußische Provinzen versetzt,
während andre im Königreich Sachsen ein neues Heim suchten und fanden. Ihr
Abgang traf die hannoversche Gesellschaft schwer, und wenn wir auch wissen,
daß man aus politischen Gründen jene Versetzung für notwendig hielt, so hat
doch diese Maßregel in sozialer Beziehung nnr schädlich gewirkt. Wir sind stets
der Ansicht gewesen und haben sie heute noch, daß man besser gethan hätte,
möglichst viele Hannoveraner im Lande zu lassen. Hätte man sich dann ent¬
schließen können, ihren Ratschlägen Gehör zu geben, so würde manche Reibung
vermieden worden sein.
An Stelle derer, welche ihre Heimat verlassen mußten, traten preußische
Beamte und Offiziere. Ihnen kam die erste Gesellschaft zwar nur an wenigen,
speziell ostfriesischen Orten, freundlich entgegen, indes nahm man sie in den
meisten Städten, wenn auch kühl, so doch mit jener Höflichkeit auf, welche der
Hannoveraner Fremden gegenüber niemals verleugnet hat. Man ging hie und
da sogar soweit, alt eingewurzelte Gewohnheiten aufzuopfern und die Offizierkorps
der neu eingerückten Regimenter und Bataillone in «orxore in den Klub auf¬
zunehmen. Natürlich hatte man erwartet, daß dieses Entgegenkommen sofort
erwiedert werden würde, man hatte in erster Linie auf die vorschriftsmäßigen
„Visiten" gerechnet. Aber, gewiß nicht aus bösem Willen, sondern aus mangelnder
Kenntnis des hannoverschen Wesens und einem gewissen Ungeschick, welches das
Sichhineinfinden in fremde Verhältnisse erschwerte, wurde in den ersten Jahren
nach der Annexion dieser Brauch nicht in der Weise befolgt, wie man dies zu
verlangen sich berechtigt glaubte. Unter anderm wurde in einer Stadt, in dem
man dem Offizierkorps des eben eingerückten Bataillons auf die angegebene
Weise entgegengekommen war, der Gesellschaft dadurch gedankt, daß man einige
jüngere Offiziere in einen Wagen steigen ließ, um Besuche zu machen, während
der Bataillonskommandeur zu Hause blieb. Die Kunde von dieser Thatsache
ging wie ein Lauffeuer durch das hannoversche Land.
Dagegen hörte man damals in Hannover zuerst den Ausdruck „Spitzen
der Behörden," mit dem ein Begriff aufgestellt wurde, welcher den ältern
Hannoveranern geradezu unverständlich war lind auch heute noch einer Er¬
läuterung bedürftig erscheint. Wer ist denu „Spitze"? Sicherlich haben der
Oberpräsident, der kommandirende General, die Präsidenten der verschiednen
Regierungen wie der höhern Gerichte Anspruch auf diesen Namen, aber die in
größern Städten unter dem kommandirenden General stehenden Generale und
Stabsoffiziere, die Räte bei den genannten Behörden nicht, während in mittlern
und kleinern Städten schon der Bürgermeister, der Pvstdirektvr, der Oberförster
„Spitzen" sind und als solche auch betrachtet werden. Nun wird man sich aus
unserm ersten Artikel erinnern, daß in Celle die letztgenannten Beamten über¬
haupt nicht zur ersten Gesellschaft gehörten; in ihr spielten die Räte der ver¬
schiednen dortigen Gerichte die hervorragendste Rolle. Von ihnen hatte aber
der Präsident des Oberappellationsgerichts Generalsrang, die Vizepräsidenten
den Rang eines Generalleutnants, jeder Rat Gcneralmajorsrang. Letztere
wunderten sich nun im höchsten Maße, als ihnen die Ehre des Besuches nicht
zu Teil wurde, während Männer mit Hauptmanns- und niederm Rang ihn als
„Spitzen der Behörden" erhielten.
Dieser Fehler rächte sich in Celle. Den ersten altpreußischen Beamten,
welcher sich um Aufnahme in deu „adlichen Klub" bewarb, wies mau zurück,
er erhielt in der Ballotage überwiegend schwarze Kugeln. Infolge dessen traten
selbstverständlich alle hannoverschen Beamten, welche in preußische Dienste ge¬
treten waren, aus dem genannten Klub aus und überließen ihn damit der
welfischen Partei, deren Hauptquartier er seitdem geworden ist.
Es kamen andre Verletzungen der den Hannoveranern heiligen Formen
hinzu. Wir erinnern uns noch genau, daß an der Festtafel, um welche sich
zur ersten Feier vou Kaisers Geburtstag in hannoverschen Landen die Ge¬
sellschaft einer größern Stadt versammelt hatte, ein hannoverscher Minister a. D.,
der damalige Präsident des dortigen Klubs, den Vorsitz führte. Er selbst hatte
die Gesundheit des Kaisers ausgebracht, die Speisen wurden aber schlecht servirt
und infolge dessen der Mittagstisch über Gebühr in die Länge gezogen. Dies
gefiel aber den Altpreußen nicht, und lange bevor der letzte Gang aufgetragen
war und der Präsident die Tafel aufgehoben hatte, wurden die Zigarren an¬
gezündet, ein Greuel in den Augen jedes Hannoveraners,
Vor allem war es aber uun das Auftreten der Frauen mehrerer hochgestellten
Preußen, welches in hohem Grade Anstoß erregte. Wir haben in unserm ersten
Artikel erwähnt, daß die Damen der guten hannoverschen Gesellschaft fast aus¬
nahmslos den bessern Ständen angehörten. In Preußen ist dies nicht der Fall,
man war dort längst gewohnt, wenn nur das nötige Geld vorhanden war, über
mangelnde Herkunft und Erziehung hinwegzusehen. So kam denn gleich nach
der Annexion eine Schaar von Frauen ins Land, welche, ohne feinere gesellige
Formen zu besitzen, Sitte und Anstand in mnnnichfacher Weise verletzten und
doch mit Prätensionen auftraten, denen mau in keiner Weise entgegenkommen
wollte. Wer in jener Zeit in der Stadt Hannover gelebt hat, wird die Wahrheit
unsrer Bemerkung bestätigen, und auch darin mit uns übereinstimmen, daß die
geringe Sorgfalt, mit welcher man gerade in dieser Beziehung in Berlin zu
Werke gegangen war, ein großer Fehler war. Dagegen führten diese Frnnen
großen Luxus ein und die Gesellschaft wurde zugleich durch sie mit einem Formen¬
wesen beglückt, welches deu Hannoverauern bis dahin ganz fremd gewesen war.
Wir haben nicht ohne Grund in unserm ersten Artikel zu wiederholten
unten darauf hingewiesen, daß sich die hannoversche Gesellschaft zwar nach außen
hin, namentlich der sogenannten zweiten Gesellschaft gegenüber, fast wie mit einer
chinesischen Mauer umgeben hatte, daß aber alle diejenigen, welche ihr, sei es
durch Geburt, sei es durch Stellung, angehörten, fast ans demi Fuße vollkommener
Gleichheit miteinander verkehrten. Den Damen insbesondre wurde mir da der
Nang ihres Mannes zugestanden, wo die Etikette, zumal bei Hofe, dies erforderlich
machte; im übrigen wurde ihnen zwar stets mit der größten Höflichkeit und
Aufmerksamkeit begegnet, aber kein Mensch dachte daran, den Rang ihres Mannes
auf sie zu übertragen. Dem gegenüber denke man sich nun eine preußische
Gesellschaft, in welcher die Plätze bei Tische nach Nang und Würden belegt
sind und die Speisen zuerst den Damen, und zwar nach der Rangliste ihrer
Männer, und dann erst den letztern in absteigender Ordnung servirt werden. Die
Diener müssen doch wahrlich das ganze Staatslexikon im Kopfe und die ganze
Nang- und Quartierliste auswendig gelernt haben — so spöttelte man damals
in der hannoverschen Gesellschaft, und ahnte nicht, welches Kopfzerbrechen Wirt
und Wirtin daran gewandt hatten, jedem und jeder den richtigen Platz zu geben.
Ja, der liebe Platz! Wie mancher und wie manche hat sich tödliche Feindschaft
um seinetwillen zugezogen!
Die im Lande zurückgebliebnen Frauen hannoverscher Beamten und Offiziere
trösteten sich zwar rasch über dergleichen kleine Reibereien; schlimmer erging es
aber denen, die, ihre» Gatten folgend, in ferne altpreußische Provinzen verschlagen
worden waren. Wir erinnern uns uoch sehr wohl daran und haben oft über
das Geschick gelacht, welches damals eine junge hannoversche Dame ereilte.
Sie war zu irgendeinem Kaffee eingeladen und von der Wirtin in der rechten
Ecke des Sofas placirt worden. Dort blieb sie auch ruhig sitzen, als die Frau
Appellationsgerichtspräsidentin erschien und sie wutschnaubenden Blickes von
unten bis oben maß. Ihr Verbrechen ward ihr erst einige Tage später durch
eine neue Bekannte klar gemacht, verziehen worden ist es ihr nie.
Aus allen diesen Gründen bildete sich, ganz abgesehen von den politischen
Gegensätzen, eine gewisse Kluft zwischen den Resten der alten hannöverschen Ge¬
sellschaft und den neu hinzugekommenen Mitbürgern. Die zweite Gesellschaft
suchte daraus Nutzen zu ziehen und kam den preußischen Beamten und Offizieren
mit weit geöffneten Armen entgegen. Diese begingen den großen Fehler, der
Verlockung nicht zu widerstehen und sich gleichzeitig mißbilligend über hamiovcrsches
Cliquenwesen zu ciußeru. Natürlich wurde hannoverscherseits mit tadelnden Be¬
merkungen geantwortet, und wir erinnern uns noch sehr wohl des Naserümpfens
innerhalb der alten vornehmen Celler Gesellschaft, als ein preußischer Brigade-
kvmmandenr, nach dazu ein Graf, sein Quartier in dem Hause eines damals
noch reichen Bankiers nahm, in welchem zu verkehren jedem hannoverschen
Leutnant gewehrt worden wäre, und des Jubels und der anerkennenden Ver¬
gleiche, welche im dortigen zweiten Klub erschallten, als sich ein preußischer
Regimentskommandeur herbeiließ, in seinen Räumen und vor seinen Mitgliedern
Vorträge über die militärischen Einrichtungen Preußens zu halten.
Natürlich wurden die leitenden Herren der zweiten Gesellschaft für ihr
Entgegenkommen belohnt. Titel, vor allem der Kommerzienratstilel, und De¬
korationen ergossen sich förmlich über sie. Hie und da ward auch eine Tochter
aus diesen Kreisen geheiratet und damit die gute hannoversche Gesellschaft aufs
neue vor den Kopf gestoßen.
Im Laufe der Jahre hat in dieser Beziehung allerdings eine gewisse Rück¬
bildung stattgefunden, und je mehr sich die Kluft zwischen den Alt- und Nen-
prenßen überbrückt hat, desto vorsichtiger sind die erster» in der Wahl ihres
Umganges geworden.
Übrigens stellten die Trümmer der alten hannoverschen Gesellschaft allen
jenen sozialen Veränderungen nicht immer den Widerstand entgegen, welchen
man von der Zähigkeit und Hartnäckigkeit der Niedersachsen hätte erwarten sollen.
Nur die liebgewvrdnen äußern Formen rettete man ans dem Schiffbruche, der
Geist, welcher sie einst belebte, ging nicht ohne eigne Schuld verloren. Die
Klubs büßten ihre maßgebende Stellung ein, seitdem es vorgekommen war, daß
Präsidenten derselben am Geburtstage des .Kaisers plötzlich verreisen mußten
und den Vorsitz ein der. Festtafel untern Beamten überließen, ein Vorgehen,
welches umsoweniger in der Ordnung war, als sie doch die sämtlichen Mitglieder
des Klubs, also auch die Altpreuszen, vertraten. Infolge dessen ergeht jetzt die
Aufforderung zur Teilnahme am genieinsamen Mittagstisch von den „Spitzen
der Behörden." Der im Range höchststehende Herr prcisidirt, neben ihn reihen
sich seine Herren Mitvernnstalter, ohne sich weiter um die Bedienung und die
Unterhaltung der andern Gäste zu bekümmern.
Der Zwang, welcher zur hannoverschen Zeit jeden jungen Mann, den
Geburt oder Stellung dazu berechtigte, veranlaßte, sich in den Kind aufnehmen
zu lassen, ist verloren gegangen. Aus Mangel an jungen Herren haben es
deswegen die meisten Klubs aufgegeben, sich um die gemeinsamen Vergnügungen
der Gesellschaft, soweit von einer solchen überhaupt uoch die Rede sein kann, zu
bekümmern, und überlassen auch dies einigen Herren, denen es spezielles Ver¬
gnügen macht, sich in dieser Beziehung an die Spitze zu stellen.
Übrigens haben sich die betreffenden Verhältnisse in den hannoverschen
Städten sehr verschieden gestaltet, in allen aber sind unter dem Einflüsse der
neu eingewanderten Altpreußen mannichfache Kreise entstanden, je nachdem das
gemeinsame dienstliche Verhältnis der Männer sie zusammengeführt hat. Die
Offiziere treffen sich in ihren Kasinos; „Wir von der Regierung" vereinigen
sich, und auch die Justizbeamten folgen ihrem Beispiele, obgleich unter ihnen
noch die meisten Althannvveraner vorhanden sind.
Aus diese Weise sind altbewährte Institutionen vernichtet worden, und noch
hat sich nichts sestes an ihrer Stelle gebildet. Aber wenn auch die althannoversche
Gesellschaft fast verschwunden ist, so haben sich doch die einzelnen Familien, aus
denen sie zusammengesetzt war, mehr und mehr den eingewanderten Preußen
genähert. Gott Amor übernahm die Führung. Bald nach der Annexion begann
er sein Spiel und führte Tochter des Adels nud der Beamten, die noch kurz
vorher mit gelbweißen Schleifen in den Haaren und vor der Brust paradirt
hatten, in die Arme preußischer Offiziere lind Beamter. Damit begann die
Versöhnung zwischen Elementen, die bis dahin einander schroff gegenüber ge¬
standen hatten.
Wir haben uns in der Schilderung der hannoverschen gesellschaftlichen
Verhältnisse vor und nach der Annexion jeder politischen Anspielung enthalten.
Und doch ist es zweifellos, daß der Gegensatz, welcher in Hannover zwischen
der ersten und der zweiten Gesellschaft bestand, während der innern politischen
Kämpfe, welche der Annexion folgten, eine mächtige Rolle gespielt hat.
Mit der Auflösung der ersten Gesellschaft ging Hand in Hand die Zer¬
splitterung der alten konservative» hannoverschen Partei, während die Mitglieder
der zweiten sich überall an die Spitze der Nativnalliberalen stellten, um mit ihr
den Teil der erstem zu bekämpfen, welcher sich von alten Überlieferungen nicht
losmachen konnte.
Doch das sind Dinge, die außerhalb des Nahmens dieser Schilderung liegen.
Fänden diese Zeilen den Beifall der Leser, so wäre es möglich, daß wir auch
auf diese politischen Gegensätze später einmal ausführlicher zurückkämen.
cis ist es denn eigentlich mit dein Realismus? Kein Schlagwort
ist heutzutage mehr verbreitet, als das Wörtchen „realistisch/'
Will man einen Roman, eine Schilderung besonders loben, so
nennt man sie „realistisch"; dem bedeutendsten Maler der Gegen¬
wart, dem letzthin so glänzend gefeierten Adolf Menzel, sprach
man Realismus zu; Richard Wagner mit seiner virtuosen Tonmalerei soll der
Realist in der Musik, Gottfried Keller der Realist in der Poesie sein. Man
spricht von einem Realismus in der Wissenschaft, von einem Realismus in der
Politik. Ein gelehrter Literarhistoriker hat unsre Zeit als die Epoche des
Realismus schlechthin bezeichnet. Wo man hinsieht, trifft man überall auf
dieses Schlagwort, und vor einiger Zeit hat sogar eine neue Wochenschrift, die
einem unabweisbaren Bedürfnisse abhelfen wollte und an die Gunst eines
geehrten Publikums nppellirte, gleich auf dem Titelblatte den Realismus als
Panier aufgepflanzt. Was ist es mit diesem proteusartigen Fremdworte, das
überall willkommen ist, und womit sich schließlich alle jene zieren, die sonst
keinen andern Schmuck aufzuweisen haben? Ein Wort, das so allgemein beliebt
ist, kann nicht ein leerer Schall sein; etwas allgemein als wertvoll anerkanntes
muß doch damit gemeint sein.
Wen» man sich nur etwas historisch zu besinnen vermag, so gewahrt mau,
daß jede Epoche ein solches Lieblingswort hatte, das ursprünglich seinen höchst
idealen Sinn besaß, seinen ersten Prägern zu großem Ruhm gereichte, im Verlaufe
der Zeit aber zur abgegriffenem Münze wurde, um einem neuen Schlngwort
Platz zu machen, welches dieselben Stadien des Blühens und Verbindens durch¬
machte. So ein Schicksal hatte im vorigen Jahrhundert das Wort „Aufklärung."
Von Thomasius, der für die Abschaffung der Folter kämpfte, und Voltaire, der
sich in den Dienst der englischen Philosophen stellte, bis auf Lessing und Kant
hatte dies Wort und auch sein Inhalt eine große Geltung in Europa: Poesie
und Philosophie, auch die Theologie, die Politik und die Jurisprudenz, sie
dienten alle der Aufklärung, bis die Romantiker dem sich überlebenden „Auf-
kläricht" eines Philisters wie Nicolai ein Ende machten und den allgemeinen
Geschmack in eine andre Richtung lenkten. Auch der Gemeingeist ganzer Epochen
pflegt ebenso einseitig wie die Begabung eines einzelnen Menschen zu sein; da
ist die gesamte geistige Thätigkeit der ganzen Kulturwelt in eine bestimmte
Richtung gelenkt, der auch die entferntesten Zweige der Forschung, die scheinbar
einsamsten Denker dienen. Und ebenso ist es mit dem Geiste der Epoche, in
der wir leben und der in dem Worte „Realismus" sein Kennzeiche» gefunden hat.
Das Merkmal dieser unsrer Epoche ist der weit ausgeschlossene und immer noch
begierig sich öffnende Sinn für die Wirklichkeit, für die uns umgebende Welt
der Natur und der Geschichte. Die großartige Entwicklung und der mächtige
Erfolg der empirischen Wissenschaften haben diesen Sinn erzeugt, genährt und
geschult. Wer eine neue Entdeckung macht oder, wie der Schnlausdruck lautet,
wer „unsre Erfahrung bereichert," der ist der rechte Mann der Zeit, dem wird
der Kranz gereicht. Groß ist der Astronom, der einen Stern zehnter Größe ent¬
deckt, groß ist der Mediziner, der einen neuen Bacillus auffindet, groß ist der
Germanist, der so glücklich war, in einem weltabgelegnen Kloster noch eine alt¬
deutsche Handschrift zu finden, groß ist der Manu des „dunkeln Weltteils" —
denn sie alle haben „unsre Erfahrung bereichert." Wir kommen uns ganz neu
auf dieser alten Mutter Erde vor, und die erregte Phantasie, der so viele bisher
unbekannte Thatsachen in der Natur nachgewiesen wurden, begnügt sich nicht
an dem erworbenen Besitz, sondern drängt immer fort nach neuem Erwerb.
Wenn irgendein Gefühl in uns vorherrschend ist, so ist eS kein religiöses, kein
ästhetisches, sondern bloß das einfache Wirklichkeitsgefühl, und darum bezeichnet
man unsre Zeit mit Recht als die Zeit des Realismus.
Nun aber kann es beim bloßen Wissen der Thatsachen nicht sein Bewenden
haben; wir würden unsre menschliche Natur verleugnen, wenn wir kein Bedürfnis
hätten, Ordnung in diese so unendlich reicher gewordne Welt zu bringen. Und
die Gelehrten aller Wissenschaften haben damit auch alle Hunde voll zu thun.
Zwar gab es einmal eine Ansicht, welche diesen Beruf, Einheit in die Welt des
Wissens zu bringen, vorzüglich der Philosophie zuerkannte; aber diese Ansicht
gilt für veraltet, seitdem auch die Philosophie „exakt" geworden ist, seitdem auch
sie sich auf die Beobachtung und Sammlung von Phänomenen, hier natürlich
Pshchischer Art, verlegt hat. Den Beruf, den Gebildeten eine Weltanschauung
AU verschaffen, haben (vorläufig wenigstens) die heutigen „wissenschaftlichen"
Philosophen von sich abgelehnt; das wäre ja wieder die verpönte Hegelei. So
herrscht denn in der That der Skeptizismus überall oder, wenn man lieber
will — der Realismus: mehr eine Methode als eine Lehre, mehr eine Form
als ein Gehalt.
Auch in der Poesie erschallt der Ruf nach Realismus, und auch hier hat
er dieselbe Bedeutung wie überall: es ist ein Ruf nach Wirklichkeit, nach Wahrheit.
Neu ist dieser Ruf im Gebiete der schönen Literatur keineswegs, er wiederholt
sich in jeder Epoche. Kann auch der moderne Gelehrte einer einheitlichen Welt-
anschauung in seinem Berufe, der einen Teil der großen wissenschaftlichen Arbeit
der Zeit ausmacht, zur Not entbehren, der Dichter kann es nicht. Der Dichter
Muß ein ganzer Mensch sein, in sich die ganze Menschlichkeit als lebensvolle
Einheit verkörpern. Allerdings auf shllogistischeu Sätzen braucht er nicht seine
Weltanschauung zu begründen; er fühlt ja die Welt mehr, als er sie denkt, er
entscheidet nicht durch ein abstraktes Urteil, sondern durch die unmittelbare
Empfindung von Liebe und Haß über den Wert, den die Dinge für ihn haben;
nur von den obersten leitenden Ideen seiner Epoche hängt die Färbung und
Stimmung seines ganzen Gefühlslebens ab. Aber eben auf die allgemeine
Wahrheit dieses Gefühlslebens kommt es an, eine Wahrheit, die mit jeder
produktive» Zeit wechselt und ihre überzeugende Kraft nur innerhalb bestimmter
Voraussetzungen besitzt. Auch Jean Jacques Rousseau erhob den Ruf nach
Natur in der Zeit der Herrschaft des Rokoko und des Klassizismus. Aber wer
wird heutzutage in seineu Romanen ein wahres Abbild der Welt finden? Seine
Zeitgenossen jedoch jubelten über die neu entdeckte Wirklichkeit, welche ihnen
der uaturschwärmendc Genfer entfaltete. So ist es jetzt mit dem Realismus
auch. Wir empfinden die Wirklichkeit mehr, schärfer, reicher, als man sie früher
empfunden hat. Die Wissenschaften haben uns gründlich über Natur und Ge¬
schichte unterrichtet. Wenn uns ein Dichter daher fesseln soll, muß er dieselbe
entwickelte Empfindung für die Wirklichkeit haben wie wir selbst, sonst lang¬
weilt er uns mit seinen unwahren Gemälden. Um dieses unser Wirklichkcits-
gesühl zu befriedigen, bedarf es durchaus noch nicht des Apparates der
französischen Naturalisten; Realismus und Naturalismus sind noch lange nicht
identisch. Der Naturalist ist vom Materialismus und Pessimismus nicht zu
trennen; in dem Übel der Welt glaubt er den rechten Gehalt derselben, im
Auswurf der Gesellschaft ihr Wesen zu finden; der Begründer des Naturalismus
hat nicht zufällig zu Claude Bernard, dem experimentirenden Physiologen, als
Vorbild für den experimentirenden Romanschreiber aufgeblickt. Die Forderung
des Realismus hebt nicht ein einziges jener ewigen Gesetze der Poesie und des
guten Geschmackes auf, die der malerische Naturalist fortwährend verletzt; der
ästhetische Realismus steht einem sittlichen Idealismus nicht im geringsten im
Wege; man denke an Jeremias Gotthelf, an Fritz Reuter. Nur die eine
Forderung stellt er auf: wahr sein, aus dem Herzen der Zeit schaffen, ihr
Wirklichkeitsgefühl befriedigen, das ein andres ist als das vergangner Zeiten,
eine Forderung, die mit der nach echter Poesie schlechthin zusammenfällt.
Wenn der Leser nach dieser etwas lang geratene!, Einleitung nnn von mir
einen Hymnus auf einen jener Autoren erwartet, die sich in neuester Zeit mit
vielem Lärm als die wahren Realisten geberden, etwa ans den Autor des
„Apotheker Heinrich" oder seine Freunde, so bedaure ich sehr, ihm dieses recht
zweifelhafte Vergnügen nicht bereiten zu können, denn ich glaube nicht, daß aus
der obigen Reflexion gefolgert werde» könne, daß ich mich für die Poesie des
Küchenzettels oder der Toilcttensorgen einer kleinstädtische» Apvthckerin begeistern
müsse. Ein andres als realistisches Meisterwerk angepriesene Buch*) gab mir
den Anlaß, über den Begriff des Realismus selbst nachzudenken, und vielleicht
ist es doch nicht fruchtlos, daß ich etwas laut nachdachte.
„Die Literaturgeschichte wird seinen ungefälligen Namen nicht vergessen,
und wenn er auch nur vor diesem einen Buche gestanden hat": mit dieser
glänzenden Zensur versah ein Wohlbestalter Professor der Literaturgeschichte
um einer berühmten Universität das Buch „Im Bruch." Kann man es mir
verargen, daß ich mich beeilte, es zu kaufen und mit der Gier eines Men¬
schen, der lange der rechten poetischen Kost entbehrt hat, zu lesen? Konnte
ein neues Talent verheißungsvoller in die Literatur eingeführt werden? Muß
nicht der offizielle Vertreter der Wissenschaft am besten wissen, was auch zu¬
künftig die Literaturgeschichte vou dem Werke des Autors mit dem wirklich „un¬
gefälligen Namen" denken wird? Freilich soll es vorgekommen sein und zuweilen
noch jetzt vorkommen, daß einer ein sehr hübsches Kollegienheft aus einer Bibliothek
von Kritiken über Schiller oder Goethe zusammenstellen konnte, selbst aber eines
treffenden Urteils über literarische Erscheinungen, bei denen ihm keine Schlegel
oder Gervinus die Kritik vorgedacht hatte, so ziemlich entbehrte. Es soll ein
Unterschied zwischen dem Historiker und dem Kritiker bestehen, und nicht immer
sollen beide Begabungen in einer Person sich vereinigt finden. Aber daran
dachte ich erst, nachdem ich, auf die Autorität vertrauend, das Buch getauft und
gelesen hatte, wonach es mir als eines der trautesten und peinlichsten dichterischen
Erzeugnisse erschien, die mir seit langer Zeit zu Gesichte gekommen sind. Da
der Autor einen polnischen Namen trägt und ich gleich hinzufüge, daß mir sein
Werk in tiefster Seele undeutsch, vielmehr recht slawisch, turgenjewisch empfunden
erscheint, ohne jedoch durch des Meisters geniale Form zu befriedigen, so ver¬
dächtige man mich deswegen nicht des Chauvinismus, denn ich erkenne ebenso
bereitwillig die vortreffliche deutsche Prosa der Dichtung an. Übrigens haben
auch andre Kritiker, freilich von geringerer Autorität als der eines Universitäts¬
professors, sich für diesen Autor als einen „deutschen Naturalisten" begeistert,
sodaß es wohl gerechtfertigt erscheint, wenn ich dieses Wert hier einer unbe¬
fangenen Betrachtung zu unterziehen versuche.
In einer kleinen Landstadt lebten zwei Brüder, Michael und Gabriel Engel;
so verschieden sie auch in ihren Charakteren waren, lebten sie doch als gutge-
artete Menschen brüderlich liebevoll miteinander. Sie waren Söhne eines Gelb¬
gießers, doch nur Michael betrieb das väterliche Handmerk weiter, Gabriel ent¬
schied sich früh für die Schlosserei. In diesem Berufe hatte er das Unglück,
dnrch einen glühenden Eisenkern, der ihm bei der Arbeit ins Gesicht flog, sein
rechtes Ange zu verlieren, el» Unglück, durch das der ohnedies von Jugend auf
in sich gekehrte Gabriel sich noch mehr zur Einsamkeit und zur Trennung von
den lauten Freuden seiner Alters- und Berufsgenossen gestimmt fühlte. Michael
Zedvch wurde ein Mensch, der es, ohne deswegen Beruf und Pflicht zu ver¬
nachlässigen, wie andre junge Männer trieb: er besuchte das Wirthans, liebte
Spiel und Tanz u. dergl. in. Bei einem Turnfeste, an einem schönen Sommer-
tage, lernten beide Brüder zugleich ein schönes Mädchen kenne»; sie hieß Cres-
eentia. Michael, der weltmännischere, verkehrte heilt vertrauter mit ihr als
Gabriel, dem sie nicht minder wohlgefiel, der aber ganz unkundig des gesellige»
Verkehrs sich auf das bescheidene Beobachten verlegte. Als am Abend der Tanz
anging, war Michael so aufmerksam, das schöne Mädchen zu dem stillsitzenden
Bruder zu schicken, um auch ihn zum Tanze aufzufordern. Da aber Gabriel
nicht tanzen konnte, so mußte Crescenz ihre wohlgemeinten Vemühnngen, seine
Tanzmeisterin zu sein, bald aufgeben. Gabriel dankte ihr im Herzen mit einer
glühenden Verliebtheit, ohne seine Gefühle laut werden zu lassen. „Es trug
sich einige Wochen nach jenem Gartenfeste zu, daß Michael und sein Bruder
des Abends durch die Felder gingen. Der Schnitt hatte bereits begonnen, doch
war noch lange nicht alles Getreide gehauen, die Flur sah noch voll und
freundlich aus. Desto ernsthafter war Michael. Er, der sonst des Redens
kein Ende fand und überreich an kecken Einfällen war, spazierte heute mit einer
gewissen Feierlichkeit dahin und ließ seinem wortkargen Begleiter ganz allein
den Vortrag. Doch war er mehrmals stehen geblieben, als ob er etwas sagen
wollte, womit er aber niemals zu stände gekommen war. Er hatte nur jedes¬
mal mit dem Knopfe des Spazierstockes an seine Zähne getippt und alsdann
den Weg fortgesetzt. Endlich faßte er sich doch ein Herz und erklärte, daß eine
große Veränderung nahe bevorstehe. »Die wäre?« fragte Gabriel. »Ich werde
die Gießerei übernehmen,« sagte Michael. »Hast du mit dem Vater schon ge¬
sprochen?« — »Noch nicht, aber demnächst. Er wird wohl nichts dagegen
haben. Und dann — dann werde ich heiraten.« Zum erstenmale dachte Gabriel
an eine Vermählung des Bruders. Bei ihm hatte es sich bis jetzt von selbst
verstanden, daß die Dinge so fortgehen würden, wie sie bisher gegangen waren.
Zugleich fiel ihm auch ein, wer die Braut sein möge, und er erschrak ein wenig.
»Und wen willst du denn heiraten?« fragte er. »Kannst du dir das nicht vor¬
stellen?« entgegnete Michael. »Ja und nein!« war die Antwort. »Warum nein?«
»Weil ich es doch nicht sicher weiß.« »Nun und an wen denkst du?« »Ich kenne
niemand als Crescenz,« sagte Gabriel etwas zögernd. »Hast dn vielleicht etwas
einzuwenden?« fragte der Bruder. »Ich?« rief jener. »Nein, nein, heirate du
nur und viel Glück dazu.«" Trotz dieser loyalen Auseinandersetzung erhält sich
nach der Verehelichung Michaels mit Crescenz das Gerücht, daß es zwischen
den Brüdern wegen des Mädchens zu Streit gekommen sei. Wie dieses Gerücht
entstehen konnte, weiß der Erzähler selbst nicht: es ist eben ein Gerücht. Solche
unmotivirte Ereignisse spielen auch später noch eine große Rolle.
Nach kurzem Zusammenleben fühlt sich Crescenz, über deren Empfindung
wir bisher nichts erfahren haben, in ihrer Ehe unglücklich. Warum? Etwa
weil Michael nach den ersten Honigmonden wieder angefangen hat, die Abende
im Wirtshaus zuzubringen? Da sich Crescenz selbst darüber nicht äußert und
auch der Dichter es uicht erklärt, bleibt man darüber im Unklaren. Aber es
wird dafür nunmehr offenbar, daß sie den einängigen Gabriel liebt. Was sie
liebenswertes an ihm findet, wird wieder nicht gesagt: die Liebe ist nun einmal
da und verrät sich zunächst darin, daß die junge Frau, während ihr Mann
im Wirtshaus sitzt, an den Leseabeudeu der Schwiegereltern fleißigen Anteil
nimmt, denn auch Schwager Gabriel ist dabei. Dieser hat seit jener Aus¬
einandersetzung mit dem Bruder für Crescentia keine andre als brüderliche Em¬
pfindung gehabt. „Mit seinem Schicksal völlig ausgesöhnt, war er ernst, doch
nicht traurig, ja er hatte das beseligende Gefühl, als hätte er an Liebeskraft
gewonnen, was er an Liebesglück eingebüßt, doch war er frei von aller Leiden¬
schaft." Dieser unschuldige Verkehr in Gegenwart der Eltern wird — man
weiß wieder nicht warum? — im Wirtshause dem Michael verdächtigt; er nimmt
dann an einigen Abenden teil, überzeugt sich von der lügenhaften Verleumdung
der Gattin und des Bruders und setzt beruhigt seine frühere Lebensweise fort;
auch, sagt er, verdroß es ihn, so aufpassen zu müssen. Einmal hat Gabriel
in die nächste Kreisstadt zu fahren und Crescenz bittet ihn, sie mitzunehmen.
So peinlich es ihm wird, kann er ihr die Bitte nicht abschlagen. Die Fahrt
in der brennenden Sonnenhitze ermüdet sehr, und mitten im Wege bittet Cres¬
cenz den Schwager, eine kleine Nutze zu halten unter einem schattigen Buchen¬
baume, der ihr gerade auf einer schönen Wiese ins Auge fällt. Das Gespräch,
weiches sich zwischen den beiden unter dem Baume lagernden entspinnt, erinnert
lebhaft an die Situation des Joseph und der Potiphar. Der gewissenhafte
Gabriel sucht dem ziemlich unverblümten Geständnisse ihrer Liebe auszuweichen.
Crescentia weint, wirft sich ins Gras, verbirgt ihr Gesicht und will nicht weiter¬
fahren. Gabriel steht ratlos vor der ihm neuen Erscheinung eines verliebten
Weibes da, bis ein herannahendes Fuhrwerk ihn auf die Gefahr ihrer Lage
aufmerksam macht und auch Cresccnz zur Vernunft bringt. Ein Metzger aus
ihrer Stadt war es, der vorbei fuhr, die Verlegenheit Gabriels merkte, auch
daß Crescenz aufstehend sich die Kleider znrechtschob, und der sich darüber allerlei
Gedanken machte. Inzwischen fahren die beiden jungen Leute ihrem Ziele zu.
Ein plötzliches Ungewitter zwingt sie bei Gabriels Geschäftsfreunde, der zu¬
gleich mit Cresccnz verwandt ist, zu übernachten. Sie verbirgt nur mühsam
ihre Leidenschaft für deu einäugigen Gabriel, indes er sich hinter seine kühle
Schwägerschaft verschanzt. Cresccnz bestellt ihn vor dem Schlafengehen auf ihr
Zimmer. Mit bangem Herzen schleicht er zum Rendezvous und trifft Cres¬
cenz angekleidet am Bette sitzend, in Thränen aufgelöst. Sie will nicht mit
ihm zurückkehren, sie bleibt einige Tage bei ihrer Verwandten. Zu Hause an¬
gekommen, wird Gabriel von den Eltern und dem Bruder unwirsch empfangen:
des Metzgers Saat ist aufgegangen. Der Entschluß Cresceutias verdächtigt
die beiden noch mehr. Tags darauf kommt Bruder Michael in die Schlosfcr-
wcrkstatt, um direkt von Gabriel Auskunft über das Verhältnis zu seinem
Weibe zu erhalten: ob es wahr sei, was die Leute im Wirtshaus und selbst
auf dem Grünmarkte sagen, daß Crescentia zu ihm halte? Nachdem er ihm
das Geträtsch der alten Weiber erzählt hat, sagt Gabriel: „Das ist schlimm,
sehr schlimm! aber noch lange nicht das schlimmste! — Michael war hart
vor ihm stehen geblieben, als wartete er, was nun folgen werde. Sein Atem
ging kurz und heiß, der ganze Körper strömte eine fühlbare Wärme aus. »Das
schlimmste wäre, wenn dn diesem Gerede Glauben schenktest,« sagte Gabriel.
»Und wenn ich nun nicht anders konnte!« erwiederte jener. Hier stieß Gabriel
an die Wahrheit (sie!) und sagte: »Wenn du nicht verzeihen könntest!« — »Selbst
wenn es wahr wäre?« schrie Michael und faßte den Bruder am Arme. »Selbst
wenn etwas wahres daran wäre!« erklärte dieser ruhig. »Ist das dein Ernst?«
brauste Michael auf. »Es ist mein Ernst!« — »Dein letztes Wort?« — »Mein
letztes!« — »Gabriel! flüsterte der andre mit einer vor unterdrücktem Zorn
bebenden Stimme: Gabriel! Wir haben uns lange genug gut vertragen, so
wirst du es mir nicht übel nehmen, wenn ich dir sage, daß du ein grmwschlechter,
ehrvergessener Patron bist.« — »Es sieht schlimm um dich, antwortete Gabriel,
wenn dn mir das sagen kannst. Versteh mich recht: Wenn etwas wahres daran
ist, was mir die Leute schlecht gemacht haben!« — »Und das wiederholst d»
mir, Ehrcnschänder?« rief jener. »Sag es noch einmal!« sprach Gabriel am
ganzen Leibe zitternd. »Ehrenschänder!«" — Der Leser erwartet uun wohl, daß
Gabriel seinen Bruder aufklären und die schmählichen Anschuldigungen zurück¬
weisen werde. Das geschieht aber nicht. Gabriel ist ein ganz besondrer Heiliger:
er dreht sich einfach um, sagt kein Wort, schnürt sein Bündel und zieht in
die Fremde, nachdem er in aller Eile seine Werkstatt verkauft hat.
In einem zwanzig Meilen entfernten Städtchen siedelt er sich an, und min
erst offenbart sich sein wahres Wesen. Er versteht es zunächst nicht, sich eine
Existenz zu schaffei,, Kunden zu erwerben, weil er, wie der Autor erklärt, nicht
zu scheinen versteht. Er geht auch jetzt nicht abends in die Wirtshäuser, sondern
bleibt einsam zu Hause. So sehr sein Kapital zusammenschmilzt, kann er sich
doch nicht entschließen, sich von seinem alten Roß zu trennen, obgleich er es zu
nichts weder braucht noch verwenden kann. Seine Muße ist ihm aber will¬
kommen: er benutzt sie zur Vollendung einer höchst wertvollen Erfindung eines
gegen jeden Einbruch sichern Schlosses. Als die Not am höchsten ist, verkauft
er das Schloß, zugleich mit dessen Idee um den hundertsten Teil der Summe,
den. der schlaue Käufer dabei gewinnt. Zugleich führt ihm der Zufall den ersten
größern Arbeitsanstrcig zu, auch fällt ihm kein unbeträchtlicher Betrag als Erbe
von der Mutter zu. Im Gelde schwimmend, unterstützt er reichlich ein kindisches
altes Ehepaar, sorgt für sein unnützes Roß, nimmt einen Gesellen auf, weiß
aber so wenig mit dem Gelde zu wirtschaften, versteht es auch so wenig, sich
neue Aufträge zu verschaffen, daß er auch jetzt bald in die größte Not gerät.
„Das macht, weil ich ein Sonntagskind bin und das grüne Gras so gern habe,"
sagt er sich. Er kann sich nicht entschließen, diejenigen, welche er bisher unter¬
stützt hat, ohne Hilfe zu lassen, auch jetzt nicht, wo es ihm selbst schlecht geht.
In dieser höchsten Not kommt der Bruder Michael in sein Städtchen und besucht
auch ihn. Welch ein Unterschied zwischen den beiden Brüdern! Michael ist
unterdes ein Herr geworden, der auf seinen Reichtum stolz ist. Im Hotel sitzt
er an der Hvnorativrentafel, kaum darf er sich zusammen mit dem armen
Schlvssermeistcr zeigen. Gabriel fühlt schmerzlich seine unbrüderliche Kälte, und
der Dichter erklärt dabei sein Schicksal: „Hätte er größere Einsicht und Bildung
besessen, so würde er gesagt haben, er sehe es nun an einem naheliegenden
Beispiele zu allererst, wie die Menschlichkeit in den meisten Menschen viel früher
als diese selbst absterbe, und wie er für seine Person zu dem geringen Häuflein
derjenigen gehöre, welchen sie während des ganzen Lebens »nvcrloren bleibt, zu
dem Häuflein derjenigen, welche von der Welt, vorausgesetzt, daß dieselbe guter
Laune ist, große Kinder genannt werden und die echten Sonntagskinder sind,
mit ihrem Sonntage jedoch kein Glück machen, da der Werktag allein schafft,
was förderlich ist."
Aber die wichtigste Erfahrung muß Gabriel erst noch machen. Da er die
ganze Zeit über nicht mit seiner Familie verkehrt hat, so erfährt er erst jetzt,
nach zehn Jahren etwa, daß Crescenz sich von Michael hat scheiden lassen, in
einem fremden Städtchen, wo niemand sie verachten konnte, sich ganz allein
niedergelassen hat, und daß Michael inzwischen wieder geheiratet hat, Kinder be-
kommen hat und glücklich geworden ist. Gabriel ist über diese Mitteilung, die
seine ganze Aufopferung lächerlich macht, so konfus, daß er sich bis zur „Ma^
jestütsbeleidiguug" hinreißen läßt, wie der am Wirtstische anwesende Staats¬
anwalt seine Reden erklärt, und in der That wird ihm der Prozeß gemacht,
und Gabriel muß einige Monate im Gefängnis sitzen. Hier lernt er durchs
Gitter ein leichtfertiges hübsches Mädchen, Nosinchcn genannt, kennen, in das
er sich leidenschaftlich verliebt. Frei geworden, weist er jede Geldunterstützung,
die ihm der Bruder hinterlassen hat, zurück, und wandert zu Crescentia. Und
sonderbar: diese empfängt ihn mit Jubel! Sie hat darauf gerechnet, daß er
einmal kommeu werde, aber selbst sich melden mochte sie nicht, ja sie hatte der
Mutter einen Schwur abgenommen, ihre Trennung von Michael dem andern
Bruder nicht eher mitzuteilen, als bis Gabriel selbst nach ihr fragen würde.
Und Gabriel fragte uicht! Nun sollte man meinen, es stünde der Verbindung
beider nichts im Wege und das „Sonntagskind" könnte glücklich sein. Aber den
Dichter will ja die These durchführen, daß die rechte Menschlichkeit, der wahr¬
haft sittliche Mann ans dieser Welt nicht leben könne: darum muß die unmög¬
liche Liebe zu Nvsinchen auch jetzt einer Erwiederung der Liebe Crescentias bei
Gabriel im Wege stehen und nach kurzem Beisammensein sie trennen. Und da
nun der Dichter nichts mehr mit seinem that- und kraftlosen .Helden einzufangen
weiß, so muß ihn die galoppirende Schwindsucht dahinraffen.
Ich habe nicht ohne Absicht die Handlung ziemlich ausführlich wieder¬
gegeben, denn diese Wiedergabe enthält schon die Kritik derselben. Es ist eine
Kette von Unwahrscheinlichkeiten, und unfaßbar ist es, wie man hier von
Realismus hat reden können. Zunächst: welch ein Widerspruch im Helden selbst!
Schlosser und beschaulich wie ein Dichter! als ob nicht die schwere körperliche
Arbeit seines Berufes allein jedes beschauliche Temperament ausschlösse! Wenn
dieser Gabriel überhaupt tragisch wäre, so müßte er es durch den Zwiespalt
zwischen seinem äußern und seinem innern Menschen werden, was jedoch dem
Dichter nicht entfernt eingefallen ist. Sodann hat der Dichter die Kontem¬
plation Gabriels so ausschließlich zu seinem Charakter gemacht, daß er ihn jeder
Energie, zu begehren, jeder Kraft, zu handeln beraubt hat, nicht einmal in der
höchsten Notwehr der beleidigten Mcmneswttrde läßt er ihn etwas thun, und
in der größten Not des gemeinen Lebens giebt er ihm nicht einmal das Streben,
durch Arbeit seinem Hunger zu wehren, daß man sagen muß: so ein Mensch
ist ganz undenkbar. Wenn er möglich ist, so ist er keineswegs eines jener
„Sonntagskinder," das die Menschlichkeit in sich am längsten bewahrt, sondern
ein pathologisches Objekt. Vor allem ist er kein sittlich wertvolles Individuum:
denn die wahre Sittlichkeit besteht nicht in der absoluten Passivität des Nci-
sonnirens, sie fordert auch die Kraft zu handeln, sie duldet nicht bloß, sondern
verlangt sogar einen kräftigen Egoismus, wie selbst die traditionelle Morallehre
von Pflichten des Menschen gegen sich selbst spricht. Der Pessimismus, der
aus diesem Buche des Verfassers mit dem „ungefälligen Namen" spricht, ist
keine ernst zu nehmende Weltanschauung, sondern krankhafte Hypochondrie. Und
wie unwahrscheinlich ist Creseenz mit ihrer Liebe zu Gabriel! Man denke an
die Novelle „Zwischen Himmel und Erde" von Otto Ludwig: auch da zwei
Brüder, die dasselbe Weib lieben. Aber mit welchen Vorzügen hatte Ludwig
jenen Bruder ausgestattet, der dem verheirateten gefährlich wird! Hier ist es
schlechthin unbegreiflich, warum CreSeenz den einäugigen, einsilbigen, ungelenken
Gabriel dem gewiß uicht gefühlsrohen, aber lebensfreudigen Michael vorzieht.
Es ist aber immer schlimm, wenn der Dichter kein andres Motiv als eben die
Blindheit der Liebe anzuführen weiß. Auch die seltsame Buße, die sich
Crescenz — vielleicht wegen der versuchten Verführung Gabriels? — auferlegt,
will nicht recht zu ihrer ursprünglichen Leidenschaft stimmen, mit der sie den
Schwager begehrt. Daß man das Buch trotz seines überidealistischen Grund¬
gedankens als ein „naturalistisches" Produkt hat anpreisen können, dürfte vor¬
züglich auf diese, wenn anch noch so hübsch verschleierte, doch rein pathologische
Behandlung der Liebesleidenschaft zurückzuführen sein. Ob das für den Autor
ein Kompliment war, lassen wir dahingestellt.
Wir wollen aber uicht von ihm scheiden, ohne die Hoffnung auszusprechen,
zu der uns seine glückliche Darstellungsgabe anregt, daß er aus gesundem
Grundgedanken erfreulichere Leistungen als „Im Bruch" bieten werde, um die
Prophezeiung seines akademischen Kritikers doch noch wahr zu machen.
ehr als einmal ist das große Inselreich im fernsten Osten für
Europa entdeckt worden. Entdeckt, darf man sagen, obwohl dessen
Existenz nie wieder in Vergessenheit geraten war, seitdem Marco
Polo, der Venezianer, zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts
dnrch seine Nachrichten von der Insel Zipangu, wo es Dächer
und Wnndvertäfelungcn von gediegenem Golde geben sollte, die Phantasie seiner
Landsleute entzündet hatte. Selbst hatte er das Wunderland nicht berührt;
er erzählte nur wieder, was ihm in China mitgeteilt worden war, und Zipangu
ist auch in venezianischer Schreibart der chinesische Name des Landes: ^ixang-.
Dieses Zipangu suchte uoch beinahe zweihundert Jahre später der Geruche
Columbus, als er Westindien entdeckte; und nach abermals fünfzig Jahren
(154L) gelangten portugiesische Seefahrer wirklich ans Ziel. Aber der Ent¬
deckung und der Anknüpfung von Handelsverbindungen durch die Portugiesen,
dann durch die Holländer, folgte wieder eine lange, bis in die Mitte unsers
Jahrhunderts reichende Periode fast gänzlicher Abgeschlossenheit des Landes.
Um den Kontrast zwischen der Zeit vor dreißig Jahren und heute recht
augenfällig zu machen, muß man sich erinnern, daß im Kataloge der ersten
Industrieausstellung, zu welcher alle Völker des Erdballs eingeladen worden
waren, Japan nur wie ein Anhängsel Chinas erschien, und zwar alles in allem
mit vier Artikeln: Kupfer, vegetarischem Wachs, Laclfiruiß und einem Faser¬
stoff, über den ich in den Berichten über jene Ausstellung von 1851 nichts
finde — vielleicht war es Chinagras oder Jute, die ja eben damals bekannt
geworden waren. Noch erhöht wird der geradezu komische Eindruck, welchen diese
Repräsentation eiues so gewerbfleißigen Landes machen muß, wenn wir hören,
daß die Holländer für gut gefunden hatten, von den Exporterzeugnissen Japans
nichts weiter zu zeigen als Seife. Und doch waren sie die einzigen, welche
damals Faktoreien auf Dezima bei Ncmgcisaki haben durften, freilich unter so
erschwerenden Bedingungen, daß jene Faktoreien wohl Gefängnisse genannt
werden konnten.
Der Zufall wollte aber, daß eben in dem Jahre der Ausstellung und
ebenfalls in London ein Werk publizirt wurde, Nsmoirs ok til<z ZZmxirs cet ^axM,
welches über die Gründe der Absperrung der Japaner gegen Fremde und vor
allem gegen europäische Nationen dokumentarische Auskunft erteilte. Den ersten
Portugiesen, welche das Land betraten, wurde von der Bevölkerung nichts in
den Weg gelegt, und auch der Mikado schlitzte die Fremdlinge gegen die Bonzen.
Diese erhoben nämlich gegen die Zulassung christlicher Missionäre, welche den
Schiffern und Kaufleuten gefolgt waren, Einsprache im Namen der Religion.
Doch da sie die Frage des Mikado, auf wie vielerlei Art das höchste Wesen in
seinem Reiche verehrt werde, dahin beantwortet hatten: auf fünfunddreißig
Arten, entschied er, daß dann auch die sechsunddreißigste leinen Schaden thun
werde. Das Christentum verbreitete sich nun rasch, nach vierzig Jahren soll
es bereits 200 000 Bekenner gezählt haben, und der Verkehr mit Europa ge¬
staltete sich so lebhaft, daß die Ausfuhr, besonders an Gold, im Jahresdurchschnitt
auf mehr als hundert Millionen holländischer Gulden geschätzt wurde. Aber
die Propaganda muß sich nicht ausschließlich der friedlichen Mittel der Lehre
und des Beispiels bedient und die Kaufleute müssen die gewahrte Freiheit mi߬
braucht haben. Dies beweisen die vier Fragen, welche im Jahre 1587 von
Amtswegen dem portugiesischen Provinzial vorgelegt wurden: weshalb den
Japanern der christliche Glaube aufgezwungen werden solle, weshalb die Jesuiten
zur Zerstörung der buddhistischen Tempel aufsetzten, weshalb sie die Bonzen
lästerten und verfolgten, endlich weshalb die Christen Eingeborne raubten und
als Sklave» verkauften. Diese Anklagen zu entkräften, gelang dein Provinzial
nicht, und nun erfolgte das Dekret, welches im Interesse der Ruhe und Ordnung
die Bekenner des christlichen Glaubens des Landes verwies. Sonach haben
die Portugiesen in Japan nicht zurückgestanden gegen die Spanier in Amerika,
was fanatischen Glaubenseifer, Grausamkeit und Habsucht betrifft; nur stießen
sie auf ein widerstandsfähigeres Volk, eilt fester gefügtes Staatswesen und eine
energischere Negierung. Und es liegt sogar ein Zug von Humor in dem Falle.
Die Portugiesen scheinen nämlich, um sich der Konkurrenz der holländischen
Kaufleute zu entledigen, in Japan die Vorstellung verbreitet zu haben, die
Holländer als Protestanten seien gar keine Christen. Dies wird, nach der er¬
wähnten Äußerung des Mikado zu urteilen, den Machthabern vorläufig ziemlich
gleichgiltig gewesen sein; als jedoch die Austreibung der Christen beschlossen
war, begründete es eine Ausnahme für die Holländer, die denn auch dritte-
halb Jahrhunderte hindurch die einzig geduldeten Fremden im Lande blieben,
allerdings stets mit dein äußersten Mißtrauen beobachtet. Wiederholte Versuche
der Engländer, festen Fuß zu fassen, blieben erfolglos.
Genug, als zu Anfang der fünfziger Jahre unsers Jahrhunderts die Nord-
amerikaner die Öffnung einiger Häfen erzwungen und andre große Staaten rasch
ihrem Beispiele folgten, waren wir über die Geographie, die Verfassung, die
Erzeugnisse des Landes kaum besser unterrichtet als die Jesuiten-Missionäre im
sechzehnten Jahrhundert. Und trotzdem hatte der Kunststil der Japaner schon
dreimal auf die Geschmacksrichtung in Europa mächtig eingewirkt, im sechzehnten,
im siebzehnten und im achtzehnten Jahrhundert, Dies geschah jedesmal durch das
Porzellan. Im sechzehnten waren es die Italiener, welche sich bemühte», Ge¬
fäße aus derselben Masse herzustellen, die ihnen zuerst auf dem Landwege über
Indien durch die Araber, dann auf dem Seewege durch die Portugiese» bekannt
geworden war, und die so große Vorzüge vor allen andern Thonarten besitzt;
die chinesische und japanische Dekorationsweise nahmen sie als Zubehör mit in
den Kauf, Wie es jetzt scheint, ist damals wirklich in Venedig und Florenz
das Geheimnis der Porzcllanbereitung ergründet wordeu, vielleicht auch an
andern Orten Italiens; doch verhinderten ungünstige Unistände verschiedner Art
die industrielle Ausbeutung der Entdeckung, sie geriet wieder in Vergessenheit;
aber mit ihr nicht gänzlich der asiatische Stil, dem wir wenigstens in der fran¬
zösischen Faience, einer Tochter der italienischen Majolica, noch hie und da
begegne». nachhaltiger beeinflußte derselbe die Kunstindustrie, als im sieb¬
zehnten Jahrhundert dis Faiencefabrikation zu Delft emporblühte und allgemeine
Nachahmung fand. Die Holländer nannten wohl ihr Steingut Porzellan, rich¬
teten jedoch ihr Absehen weniger ans den harten und transparenten Scherben,
als vielmehr ans eine porzellnnähnliche Glasur; zugleich entlehnten sie den Ost¬
asiaten Gesäßformen und Dekor. Und zwar ist es — wie bei deren Handels¬
verbindungen erklärlich — Japan, an welches uns die schönsten Deister Er¬
zeugnisse gemahnen, auch wenn die Onginalmvtive in das Niederländische übersetzt,
die Gefäßformen dem Zwecke angepaßt, die landschaftlichen Szenerien und die
Menschenthpen von Nippon durch holländische Küstenbilocr mit Windmühlen
und Mijnheers ersetzt sind.
Und nun brach im achtzehnten Jahrhundert die allgemeine Porzellansucht
herein, wie man sagen könnte, nun kam die Mode der chinesischen und japa¬
nischen Tapeten, der Pagoden und Figin'chen, der chinesischen Tempelchen und
Brücken n. s. w., um entwickelte sich, unverkennbar unter dein Einflüsse dieser
Mode, der Stil des Rokoko, der als eine Verschmelzung der letzten Traditionen
der Renaissance mit der asiatischen unsymmetrischen Arabeske angesehen werden
kann. Das wird uns recht deutlich, wen» wir bei dem Durchwandern eines
der vielen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erbauten oder doch
im Innern dekorirten Schlösser plötzlich ein Porzellanzimmer oder ein chinesisch-
japanisches Kabinet betreten: da ist es, als ob wohl eine neue Melodie an¬
höbe, der Charakter des Mnsikstückes aber derselbe bliebe.
Die Unduldsamkeit, welche wenigstens in unsrer Zeit jede Stilperiode gegen
die zunächst vorhergegangenen walten läßt, hat lange genug alles, was das
vorige Jahrhundert geschaffen hatte, mit Acht und Bann belegt. Demgemäß
wollten wir am Rokvkostil anch das nicht gelten lassen, worin er einen un¬
widerstehlichen Reiz ausübt, und der Ausdruck Chinoiserie wurde mit verächt¬
licher Betonung auf alles angewandt, was ostasiatische Herkunft verriet.
Das ist, wie wir wissen, hente ganz anders geworden. Man bewundert
die japanischen Erzeugnisse, man sammelt sie und ahmt sie nach, und die Fran¬
zosen haben schon ein neues Wort für die neue Richtung erfunden: j-rxonisms.
>;se diese neue Richtung um wirklich, wie manche meinen, nichts andres als
eine Laune? Doch kaum. Und wenn sie in der That vorübergehen sollte wie
eine Tagesmode, so würde sie auch diesmal dauernde Spuren hinterlassen; denn
darüber können wir uns nicht täuschen, der jaxoni-zniö hat bereits einen Um--
schwung in unsern ästhetischen Ansichten zuwege gebracht,
Fragen wir uns zuvörderst, weshalb gegenwärtig die japanischen Arbeiten
ein so großes und allgemeines Interesse erregen, da sie ihrem Wesen nach nicht
etwas völlig neues sür uns sind, und auch das Porzellan an sich uicht mehr
etwas wunderbares ist, so dürfen wir als einen Grund wohl die Gewöhnung
unsrer Generation bezeichnen, auf technische Prozeduren zu achten, bei den
Dingen, die uns durch Schönheit fesseln, darnach zu forschen, wie sie gemacht
worden sind. Und die japanischen Kunstarbeiten gaben -und geben uns noch in
dieser Beziehung gar viele Rätsel auf. Dann aber ist im Laufe der letzten
Jahrzehnte unsre Kenntnis der japanischen Industrien und des japanischen
Stils viel umfassender und gründlicher geworden und hat manches Borurteil
hinweggeräumt. Nußer ihrem Porzellan kannte man früher vornehmlich noch
Lack und Papiertapeten, und dabei wurde zwischen chinesisch und japanisch
kaum ein Unterschied gemacht, was niemand zu verargen war. Denn nachdem
wir gelernt haben, daß beide Völker sich in allen Dingen sehr wesentlich
unterscheiden, merken wir bei noch genauerer Bekanntschaft, daß es mitunter doch
sehr schwer sällt, gewisse ostasiatische Erzeugnisse, z. B. alte Porzellane, dem
einen oder dem andern Volke zuzuschreiben. Den japanischen Lack hatten alle
europäischen Völker nachgemacht; gänzlich ohne Aussicht auf Erfolg, da sie von
der irrigen Meinung ausgingen, die noch vor etwa fünfzehn Jahren in einer
französischen technologischen Encyklopädie ausgesprochen wurde, daß durch die
Mischung verschiedner Harze und Farbstoffe bei dem richtigen Wärmegrade der
japanische Lack überall hergestellt werden könne. Jetzt wissen wir das besser.
Zuerst müßte» wir die Baumarten (Uhus) bei uns akklimatisiren, deren seist,
aufs umständlichste und sorgfältigste geläutert, teils den berusteinfarbigen, an
der Luft bald braun und schwarz werdenden, teils den farblosen, aber Farbestoffe
aufnehmenden Firniß liefern. Dann müßten wir Arbeiter haben, welche mit
der unerschöpflichen Geduld und der peinlichen Genauigkeit das oftmalige Auf¬
tragen, das langsame Trocknen, das Schleifen des Lackes, das Bemalen mit
Goldlack, das Auflegen und Ciseliren der Reliefs u. s. w. besorgten. Und nach
Erfüllung dieser Vorbedingungen würde bei unsern Arbeitslöhnen die lackirte
Waare vermutlich zehnmal so teuer kommen als die eingeführte japanische. Wie
weit man es bei uns in der Nachahmung bringen kann, haben die Holländer
gezeigt, und doch werden ihre lackirten Möbel und Teller von keinem Menschen,
der echte Arbeit gesehen hat, für japanisch gehalten werden.
Von aller vstastatischcn Malerei hegten wir eine sehr geringe Meinung.
Jene wunderlichen Völker kannten ja, wie wir ganz genau wußten, noch uicht
einmal die Perspektive, sie wandten mit Vorliebe „schreiende" Farben an, und
auf ihren gemalten Tapeten, orncunentirteu Geweben, Stickereien, Porzellan-
und Bronzevasen ?c. stellten sie Lebendes und Lebloses völlig flach, ohne Spur
von Modellirung dar — in diese Sätze läßt sich so ziemlich das allgemein ver-
breitete absprechende Urteil einer Zeit zusammenfassen, welche aus Klassizismus
und Naturalismus ein so merkwürdiges Schönheitsgesetzbnch fabrizirt hatte.
Gegenwärtig aber schämen wir uns beinahe unsrer damaligen Vorstellung, denn
gerade was das Verhältnis der Japaner zur Malerei betrifft, haben sich inner¬
halb zweier Jahrzehnte die Ansichten gänzlich geändert. Die Japaner beherrschen
Linear- und Lnftperspektive so gut wie wir — wenn sie wollen; Zeichenfehler
auf wohlfeilster Marktwaare, Fächern u. dergl. beweisen nichts gegen diesen Satz,
denn sie kommen ja in den entsprechenden Regionen auch bei uns vor. Was
man damals schreiende Farben nannte, nennen wir jetzt kräftige, ungebrochene;
unser Auge ist für deren harmonische Zusammenstellung wieder empfänglich ge¬
worden, und nur uoch Sonderlinge hängen dem Dogma an, daß ein feiner
Geschmack sich durch Farblosigkeit dolnmentirc. Und ebenso haben wir längst
als einen Vorzug erkannt, daß die orientalischen Völker in der gesamten Flächen¬
dekoration darauf verzichten, durch Licht, Schatten und Reflex den Schein des
Körperhaften zu erzeugen; hat doch gerade diese Erkenntnis wesentlich dazu bei¬
getragen, in Europa das Stilgefühl wieder zu wecken.
Und hier kommen wir auf einen Punkt, bei welchem wir des neuen, und
wie ich glaube, völlig berechtigten Einflusses des saxonisuie, inne werden. Wir
sind, oder besser gesagt, wir waren gewohnt, mit den Ausdrücken stilistisch und
naturalistisch so zu operiren, als ob dieselben absolute Gegensätze bezeichneten.
Der Naturalist in der dekorativen Kunst, sagten wir, entlehnt der Natur die
Formen, wie er sie dort vorfindet, und übt an den Zufälligkeiten in der Bildung
der Blumen, der Blätter, der Tiere :c. mir insoweit eine Korrektur ans, als
ihm diese durch den malerischen Effekt geboten erscheint. Der Stilist hingegen
führt die der Natur entnommenen Formen uns ihr Ideal zurück, welches in
der Natur selbst niemals erreicht wird. Der Unterschied fällt am meisten in
die Augen bei der Symmetrie, welche dein Stilisten Gesetz, der Natur aber unbe¬
kannt ist, da sie niemals die zwei Hälften eines Dinges so bildet, daß sie ein¬
ander decken. Die Ornamentik der alten Welt, die orientalischen oder in Europa
nach orientalischen Vorbildern gearbeiteten Gewebe und Stickereien u. s, w. bieten
die klassischen Beispiele der Stilisirung in ihren absolut regelmäßig gehaltenen
Akanthus-, Palmen-, Ephen- und Weinblüttern, Rosen, Granatäpfeln ?e. Aber
wenn wir ganz aufrichtig sei» wollen, müssen wir eingestehe», daß die Theorie,
wie das den Theorien schon zu ergehen pflegt, nicht selten lebendigen Schö¬
pfungen gegenüber in eine Verlegenheit geraten ist, aus welchen sie sich nur
durch Kompromisse befreien konnte. Und solche Verlegenheit erwächst in ver¬
stärktem Maße vor der japanischen Flächendekoration/ Ist die stilistisch? In
strengem Sinne häusig nicht. Die Formen sind, die nachher zu besprechenden
Ausnahmen abgerechnet, nicht förmlich stilisirt, nicht auf ihre Urform zurück-
geführt; vielmehr liebt es der Japaner, gerade jenen Abweichungen vom
Schema nachzugehen, welche ihre Gebilde zu malerischen Erscheinungen machen.
Ihm ist nicht nur die Symmetrie kein absolutes künstlerisches Bedürfnis, sondern
ebensowenig jene Verteilung der Massen, welche in Ermangelung der Symmetrie
uns durch ein gewisses Gleichgewicht entschädigt. Und wie er solcherart in der
Anordnung des Ornaments so oft nud scheinbar absichtlich gegen das verstößt,
was wir Gesehmäßigkeit nennen, so bildet er die Blume, das Blatt, die Ranke,
das Insekt, den Vogel?e, nicht so, wie sie sein sollten, sondern wie sie wirklich
sind. Der japanische Maler bekundet dabei eine Schärfe der Beobachtung, eine
so feine Empfindung für alle charakteristischen Einzelheiten, wie sie wohl nur
bei einem Volke gefunden werden kann, welches mit den noch ungeschwächten
Sinnen des Naturvolkes die entwickeltste Fähigkeit, seine Eindrücke wiederzugeben,
vereinigt. Mit den Augen des Jägers belauscht er die Waldbewohner in jedem
Moment ihres häuslichen und ihres öffentlichen Lebens, wenn ich so sagen darf,
und mit sicherer Künstlerhand hält er jede Bewegung, jede Wendung fest. Für
die europäische Kunst z, B. existirt für die Darstellung des Fliegens, wie für
das Laufen eines Vierfüßlers n, s. w, gewöhnlich nur sozusagen die mittlere
Diagonale, derjenige Moment, in welchem durch den Übergang aus einer Be¬
wegung der Flügel oder der Füße in eine andre ein Augenblick des Beharrens
eintritt, welcher sich als Erinnerungsbild bei uus festsetzt: der Japaner fixirt
die verschiedenste» Stadien der Bewegung wie der Photograph in einem Augeu-
blicköbilde. Mit ebenso bewundernswerter Virtuosität geht er auf die Eigenart
jeder Pflanze ein.
Mithin ist er ein Naturalist? Auch diese Frage kauu nicht einfach bejaht
werden, da er nicht darauf ausgeht, die Pflanzen und Tiere, mit denen er die
Flächen verziert, aus der Ebene heraustreten, den Schein der Körperlichkeit
annehmen zu lassen. Ob er sie ans Porzellan oder Lack malt, sie in Email
ausführt, mit Silbcrdrähten in Metall einlegt oder auf Seide stickt nie
übertreibt er die Charakteristik bis zu einem Grade der Naturtreue, welcher
auf Täuschung abzielte.
Diese seine freiere Behandlung des Ornaments ist es nun, was allgemein
Anklang findet, und wollten wir dieselbe für unzulässig erklären, weil sie aller¬
dings über die von unsrer Theorie gezogenen Schranken hinausgreift, so würde
sich von allen Seiten Widerspruch erheben. Das Publikum würde protestiren,
welches jede Abwechslung willkommen heißt, und nicht minder die Industrie,
welche sich keine Gelegenheit entgehen lassen will und kann, dem Verlangen
nach Abwechslung zu genügen. Und wir dürfen auch mit gutem Gewissen
einige Konzessionen machen, da es sich nur um den Buchstabe«, nicht um den
Geist unsers ästhetischen Gesetzbuches handelt. Und dieses Gesetzbuch selbst ist
ja nicht von allem Anfang an dagewesen, sondern ein Produkt vou Jahr¬
tausenden des Schaffens und Schauens, vou Wandlungen, die durch die Be-
rtthrungen verschiedner Nassen und verschiedner Kulturstufe>i allgemach in dem
Stilgefühl wie in sittlichen Anschauungen, Rechtsgrundsätzen ?e. hervorgerufen
worden sind. So hat sich das Abendland von den frühesten Zeiten her durch
die westasiatischen und auch dann wiederholt durch die ostasiatischen Völker
direkt und indirekt beeinflussen lassen. Es hat Typen der östliche» Flora und
Fanna in einer Stilisirung übernommen, welche wesentlich durch die Techniken
des Webers und Knüpfens bedingt war; aber schon mit derjenigen Michen-
dckorativn, welche sich nicht in so festen Grenzen bewegt, mit der arabischen
Stuckormanentik, mit der Malerei ans Thon u. s. w., zog eine viel freiere Be¬
wegung ein. Und wenn wir nichts dagegen haben, daß durch den Falten¬
wurf eines Gewandes die in den Stoff gewirkten siilisirten Löwen, Adler,
Palmen und Granatäpfel gefährlich verkürzt und zerschnitten werden, wenn wir
dem Majvlieamaler gestatten, Schüsseln und Teller mit allen möglichen Göttern,
Heroen und Schönen zu bevölkern, und zwar ohne Rücksicht auf die Gliederung
des Gefäßes, dann brauchen wir auch an dem farbenprächtigen Vogel Fung-
hoang, an dem freien Schwunge der Ranken und Zweige in der japanischen
Ornamentik keinen Anstoß zu nehmen. Und sollte ja das Gesetz der Gerad¬
linigkeit und Symmetrie hie nud da noch ans andern Gebieten der bildenden
Künste umgangen werden, so würde das angesichts der Uniformität der modernen
Städte kaum zu beklagen sein, immer vorausgesetzt, daß auch darin Maß ge¬
halten werde.
Unbekannt ist übrigens dem Japaner so wenig die Symmetrie wie die Sti¬
lisirung in unserm Sinne. An Porzellan- nud Metallgefäßen kann man die
erstere recht oft beobachtet sehen, die Verteilung des Ornaments auf Bauch,
Rand, Hals :e, eines hohlen Körpers entspricht nicht selten völlig unserm Stil¬
gefühl; und in ihren Vorlagen für Weberei oder für das Patroniren ans
Papievtapeten nötigt sie sogar die Rücksicht auf die Technik zu stilistischer Be¬
handlung der Naturformen. Die Kreuzung der Fäden des Gewebes zieht dem
zeichnenden Künstler Schranken, und die Patrouemnalerei zwingt ihn, auf un¬
unterbrochen fortlaufende Linien und aus ununterbrochene große Flächen zu
verzichten. Unter gleichen oder ähnlichen Verhältnissen sind ja ohne Zweifel
von jeher die stilistischen Pflanzen und Tiere entstanden. Nicht angestrebt wurde
eine strenge Regelmäßigkeit der Figuren, sondern diese wurde durch deu Stoff,
auf oder in welchem das Muster auszuführen war, durch die Mittel der Aus¬
führung und durch den Grad der Kunstfertigkeit bedingt.
Wie es zugeht, daß in den japanischen Malereien die Motive sich un-
zühligemcile wiederholen und doch keine solche Wiederholung den Eindruck der
Kopie macht, darüber sind wir erst in neuester Zeit aufgeklärt worden. Als
man zuerst auf diesen Umstand aufmerksam wurde, hieß es: der Japaner ist eine
Künstlernatur, es widerstrebt ihm. sklavisch nachzumachen wie der Chinese. Das
>se offenbar richtig, erklärt aber noch nicht, weshalb dennoch die Ausschmückung
der japanischen Jndustrieerzeugnisse sich in einem garnicht großen Kreise von
Motiven bewegt. Die Aufklärung hierüber verdanken wir jenem kleinen, uns
durch die Vermittlung Englands zugekommenen Buche, welches wohl als
Grammatik der japanischen Ornamentik bezeichnet werden könnte. Dasselbe ent¬
hält eine Zeichenschrift für den ungelehrten Maler auf Porzellan, Lack ?c. —
Hieroglyphen, wie sie dem Shawlweber in Indien die Farben der einzuziehenden
Fäden vorschreiben; nur wieder mit dem Unterschiede, daß der Jndier mecha¬
nisch nach der Vorschrift arbeitet, während der Individualität des japanischen
Arbeiters ein Spielraum gelassen wird. Das erwähnte Buch weist nämlich
34 Figuren auf, die durch verschiedne Kombinationen von fünf senkrechten
Strichen mit wagerechten gebildet sind, und deren jede ein bestimmtes orna¬
mentales Motiv bedeutet. Erhält z. B. der Arbeiter das Zeichen VI, so weiß
er, daß er ein Schreibepult mit allem Zubehör an Pinselbehälter, Farbcn-
schüssel ze. malen soll; W bedeutet einen Kahn, W eine Brücke, M eine Ge-
birgslandschnst, Wj einen Schwarm Vogel, link blühendes Schilf, M Schilf mit
Libellen, M Schmetterlinge, MI zwei Papierblätter mit Pflanzenbildern, W einen
Vogel über bewaldeten Hügeln, !V die hinter Bergen aufgehende Souue, »I» einen
Fächer mit einer Epheuranke, W die Paulowninblüte. Und so hat jede dort¬
zulande beliebte Baum- oder Blumengattung, jedes Gerät, Gebäude u. f. w. ein
bestimmtes Zeichen, und der Maler führt den betreffenden Gegenstand weder
nach der Natur noch nach einer Vorlage aus, sondern konventionell, aber seine
Phantasie, sein Schönheitsgefühl, sein besondres Talent, sein Naturstudium,
sein Geschick, seine Routine verleihen dem Gemälde etwas Individuelles, es er¬
giebt sich innerhalb des, wie gesagt, ziemlich eng begrenzten Vorstellungskreises
jener unendliche Reichtum der Erscheinungen, welcher die Erzeugnisse des merk¬
würdigen Volkes so anziehend macht. Wenn wir uns dabei erinnern, daß, wie
Vivllet-le-Duc in seinem viotionimirv ein nrobillor mit Recht hervorhebt, die
Einführung gestcmzter Details für das Ornament, welche dem erfinderischen
Geiste des Arbeiters einen so großen Spielraum in der Zusammensetzung der
Teile ließen, die Mannichfaltigkeit der Verzierungen in der mittelalterlichen
Goldschmiedekunst erklärt, so erscheint es wohl der Erwüguug wert, ob und wie
die Methode der Japaner heutzutage für unsre Kunstindustrie nutzbar zu machen
wäre. Sicherlich paßt sie nicht für jede Nation. Aber dort, wo ein Reichtum
an Talenten vorhanden ist, die vielleicht nie selbständig etwas erfinden werden,
die man daher auf den Schulen zwecklos mit Kompvsitionsaufgabeu plagt, die
jedoch beweglich genug find, um das in der unumgänglich notwendigen Schule
strengen Kopirens erlernte frei umzubilden, dort wäre sie vielleicht recht am
Platze.
Der Unterschied in der Begabung ist so handgreiflich, daß ich mir nicht
erlauben würde, ihn ausdrücklich zu erwähnen, wenn man ihn nicht gerade
in der Gegenwart übersähe und sich abmühte, Dinge zu lehren, die sich nicht
lernen lassen. Nicht jeder kann Meister werden im Sinne des Goethischen
Spruches. Wir haben ja auch ans schriftstellerischen Gebiete gewandte Stilisten,
die nur fremde Gedanken aussprechen, wen» auch möglicherweise in viel besserer
Form, als in der sie dieselben vorgefunden haben. Und so wird jahrelanges
Über im Komponiren den nicht zum schöpferischen Künstler machen, dem die Er¬
findungsgabe versagt worden ist, wogegen es ihm möglicherweise Unzufrieden¬
heit einflößen wird mit derjenigen Stellung, für welche er den natürlichen
Beruf besitzt.
Wie wir einem Holzschnittwerke diesen Einblick in die Art der künstlerischen
Produktion der Japaner verdanken, so haben wir durch diesen Zweig ihrer Li¬
teratur überhaupt erst eine richtige Vorstellung von ihrer Bedeutung als Kunst¬
volk gewonnen. Kunstgewerbliche Erzeugnisse ersten Ranges gelangen ja selten
bis zu uns, das Beste befindet sich in festen Händen im Lande selbst, und dort
scheint gegenwärtig das Sammeln alter Arbeiten ebenso eifrig wie bei uns als
Liebhaberei und Spekulation betrieben zu werden. Davon abgesehen, hat in
vielen Fällen der ausführende Künstler mit der Sprödigkeit des Materials,
den natürlichen Bedingungen der Technik oder den Launen und Zufälligkeiten
bei chemischen und physikalischen Prozessen zu kämpfen, kann er so oft garnicht
mit Sicherheit berechnen, wie Form und Färbung aus dem Schmelzofen zum
Vorschein kommen werden. Die Holzschneidekunst aber, noch in der uralten
Verbindung mit dem Buchdruck von Schrift- und Bilderplattcn, hat in tausend¬
jähriger Übung eine Höhe der Vollendung erreicht, zu welcher wir bei all
unsern technischen und mechanischen Fortschritten bewundernd emporblicken. Mit
so feiner Empfindung, in so inniger Anschmiegung folgt der japanische Form¬
schneider noch der Handschrift des Zeichners, daß nicht selten Zweifel aufge¬
taucht sind, ob wir wirklich Schnitte und nicht vielleicht Ätzungen vor uns
hätten, oder ob die Farben wirklich durch den Druck oder nicht etwa durch
Hand- oder Schablvuenmalerei aufgetragen seien, ob nicht z, B. bei dem Her¬
stellen farbiger Gründe, die sich allmählich verlaufen und von kleinen weißen
Flecken durchsetzt zu sein pflegen, ein Schwamm zu Hilfe genommen werde.
Diese Zweifel zu beseitigen, hatte man im verflossenen Jahre Gelegenheit.
Bekanntlich wurde im vorigen Jahre eine größere Anzahl von japanischen
Arbeitern in der Welt herumgeführt, das sogenannte japanische Dorf, welches
zuerst in London, dann in Berlin, endlich in München gezeigt wurde. Dmi
mit gewerblichen Verrichtungen einigermaßen vertrauten bot sich da allerdings
nicht viel neues, während sich beobachten ließ, wie gering heutzutage im größern
Publikum eben jene Vertrautheit ist: gewisse Prozeduren, welche an jedem Orte
Europas genau ebenso vvrsichgehcn, z. B. das Formen eines Thongefäßes auf
der Drehscheibe, erregte sichtlich das größte Staunen der Zuschauer. Früher
lernte dergleichen jedes Kind kennen, aber je mehr „Weltstädte" wir erhalten,
desto schwieriger wird der natürliche Anschauungsunterricht, und dafür leisten
alle technologischen Museen n, dergl. keinen Ersatz. Lehrreich war es vornehm¬
lich, zu beobachten, mit welcher unermüdlichen Genauigkeit die Arbeiter zu Werke
gehen, so die Zimmerleute und Tischler beim Zurichten des Holzes, auch wenn
es sich nur um das Anpassen einer Leiste, um Nut und Feder u> dergl, han¬
delt (was wir bereits bewundern konnten, als im Frühling 1873 die kleine japa¬
nische Ansiedlung im Wiener Prater eingerichtet wurde); so die Seidensticker, die,
vor dem großen mit Stoff bespannten Rahmen kauernd, ohne Vorlage, nnr nach
flüchtigen Umrißandeutnngen, den Faden mittels einer winzigen Nadel Hinunter¬
und heraufführen, stets überlegend, da sie das Detail ja erst während der
Arbeit komponiren; so die Formschneider und Bilddrucker. Während der eine
höchst sauber eine Holzplatte schnitt, druckte sein Nachbar eines jener Farbenbilder,
die zu Fächern, Schirmen, Laternen n. dergl. verarbeitet werden. Mit einem
Pinsel trug dieser die Farbe auf die in seinem Schoße ruhende Platte auf,
breitete das Papierblatt darüber und bearbeitete dies auf der Rückseite mit
einem Ballen: mithin genau dieselbe Manipulation, welche vor Einführung
der Druckpresse bei Herstellung der sogenannten Neibcrdruckc gebräuchlich war.
Jener Arbeiter lieferte uur ordinäre Waare, wie denn begreiflicherweise in dem
„japanischen Dorfe" nicht eben die größten Künstler vereinigt waren. Aber es
leuchtet ein, daß bei diesem Verfahren, wo nicht die Farbenwalze alle erhabenen
Partien gleichmäßig mit Farbe bedeckt, dem Drucker die Möglichkeit gegeben
ist, durch stärkeren oder schwächeren, feuchteren oder trockeneren Farbenauftrag,
durch teilweises Wegwischen u. s. w. das Kolorit sich verlaufen zu lassen, all¬
mähliche Abtönungen und Übergänge zu bewirken. Aber es wird gleicherweise
klar, welchen Zeitaufwand alle die japanischen Arbeiten erfordern, und daß deren
Wohlfeilheit ungeachtet der Geschicklichkeit und des ausdauernden Fleißes der
Künstler und Handwerker nnr durch deren Bedürfnislosigkeit erreichbar ist.
(Schluß folgt.)
er bisherige Erfolg des neuen englischen Ministeriums beruht
augenscheinlich damnf, daß sein Programm keinen bestimmten
Plan in Betreff der irische» Frage enthält oder auch nur an¬
deutet. Keiner der Liberalen und Radikalen, welche das Kabinet
Gladstone bilden, tritt irgendwie gebunden an die Forderung nach
einem Irland ins Amt, das von einem eignen Parlamente regiert wird. Man
will in Bezug auf die Ansprüche der Homeruler eine Unterstützung und Prüfung
anstellen, das ist alles, was vorsichtigerweise bis jetzt versprochen wurde. Ist
es möglich, dem Verlangen der Parnclliten Gehör zu geben, ohne die Supre¬
matie des Neichsparlaments über eine Lokalgesetzgebnng zu beeinträchtigen, der
wir die Besorgung rein irischer Angelegenheiten anvertrauen könnten? Das ist
die Frage, welche Gladstone und seine Amtsgenossen prüfen wollen. Können
sie sich dabei über ein bestimmtes Verfahren einigen, so wird es ihre nächste
Pflicht sein, es dem Unterhause zur Genehmigung vorzulegen. Gladstones Haupt-
nussicht auf Gelingen würde darin liegen, daß er eine Idee, vielleicht schon
einen grundzüglich feststehenden Plan, zur Beruhigung Irlands durch geschickte
Beseitigung des Gruudherrentums hätte- Bei der Lösung dieser Aufgabe wäre
er unzweifelhaft vorteilhafter gestellt als sein Vorgänger Salisbury. Er ist
der Führer fast der Hälfte des Unterhauses, während jener nicht viel mehr als
ein Drittel hinter sich sah. Er gebietet in finanziellen Angelegenheiten über ein
Ansehen und Vertraue», welches über seiue eigne Partei hinausreicht. Es würde
ihm leicht fallen, sich den Beifall des Landes zu gewinnen, wenn er mit einem
Plane hervorträte, der die Expropriation der irischen Gutsherren gegen eine
Entschädigung, aber ohne offenbaren Verlust für den englischen Staatssäckel, be¬
zweckte. Wenn es ihm gelänge, die irischen Bauern praktisch zu Freisassen zu
machen, wenn er sie von allen Zahlungen für ihr Land, ausgenommen die an
eine nationale Behörde in Dublin zu entrichtenden befreite, wenn in Zukunft weder
Protestantische Gutsherren noch englische Beamte ein Recht hätten, sich mit ihnen
zu befassen, so würde, wie es scheint, der irische Sumpf bis zu seiner tiefsten
Stelle ausgetrocknet sein.
Wie viele Millionen Pfund die Sache kosten würde, ist ungewiß. Auf
jeden Fall hat man in der Summe, die vom Reichssückel für irische Sonder-
zwecke gezahlt wird, ein jährliches Einkommen, mit welchem die Zinsen sür das
erforderliche Kapital zu bestreiten wäre». Diese Summe beträgt nahezu vier
Millionen Pfund. Zöge man sie zurück, so hätte die neue oberste Verwaltungs¬
behörde Irlands die Kosten für die Gerichte, die Polizei, das Unterrichtswesen
und die öffentlichen Ämter und Arbeiten zu tragen. Um diesen Ausgaben be¬
gegnen zu können, müßte dieselbe die Stelle der Gutsherren einnehmen und in
deren Rechte zum Empfange von Pachtgeldern eintrete», welche die Herren nach
Belieben herabsetzen könnten. Es würde eine Art poetischer Gerechtigkeit darin
liegen, wenn man auf solchem Wege die Homeruler zu den alleinigen Guts¬
herren in Irland machte, die vielleicht bald einer neuen Bewegung für Ver¬
minderung der Pachtzinsen ins Gesicht zu sehen haben würden.
Aber warum diese Umwandlung, diese große finanzielle Operation, diese
Revolution der Verwaltung? Die Antwort lautet einfach: Der Parteigeist, die
Nebenbuhlerschaft der Parteien in England, hat dem Führer der Homeruler die
Macht verschafft, zu fordern, daß Irland sich selbst regiere, und dies kann ihm
nicht ohne die Furcht zugestanden werden, daß es unausbleiblich zur Beraubung
der irischen Gutsherren führen werde. Schnelldenker lösen die Hauptfrage mit
dein Rate: So gebt den Irländern eine kanadische Verfassung. Hier tritt aber
zunächst die Schwierigkeit in den Weg, daß Kanada nicht die Unabhängigkeit
Vom Parlament oder von England besitzt, welche alle irischen Nationalisten be¬
anspruchen. Einer von den Führern der letztern sagte: „Irland sollte inner¬
halb seiner Küsten sein alleiniger Herr sein." Das ist es aber niemals ge¬
wesen, auch nicht in der Zeit von 1782 bis 1800. Die Beschlüsse des damaligen
irischen Parlaments erlangten nicht eher gesetzliche Giltigkeit, als bis sie die
königliche Zustimmung gefunden hatten, und mußten zweimal besiegelt sein, mit
dem großen Siegel von England und mit dem von Irland. Weder Kanada
noch Victoria, noch eine andre englische Kolonie ist alleinige Herrin innerhalb
ihrer Küsten und Grenzen. Kein Lvkalstatut derselben gilt, wenn es einer Par-
lcimcntsakte widerspricht. Alle Kolonialgerichtshöfe urteilen nach Reichsgcsetzen,
von allen kann an das Privh Council, das oberste Reichsgericht, appellirt werden.
Jedes Kolonialgesetz muß, bevor es in Kraft treten kann, zunächst vom Gouver¬
neur, den die Königin ernannt hat, dann von der Königin selbst durch Vermittlung
des Kolvnialministers gutgeheißen worden sein. Die irischen Nationalisten oder
Homcrnler haben sicher nicht die mindeste Neigung, diese streng untergeordnete
Stellung der überseeischen Besitzungen Großbritanniens für Irland anzunehmen.
Praktisch freilich erfreuen sich Kanada, Victoria und andre Kolonien eines be¬
trächtlichen Maßes von Unabhängigkeit, und die englischen Münster beschränken
ihre Einmischung so weit als irgend möglich, aber der Grund hiervon liegt auf
der Hand: es giebt in den Kolonien keine Fragen, welche die Ehre Englands
angehen, es giebt dort keine agrarischen Schwierigkeiten, keine Garnison von
Gutsherren, leine alten Wunden und Schmerzen von früherer Unterdrückung her.
In Kanada zwar gab es einst Stamm- und Glaubensstreitigkeiten zwischen
französischen Katholiken und englischen Protestanten, aber ehe England der Do¬
minion praktisch Autonomie gewährte, gab es den Bewohnern Niederkanadas
die Selbstregierung. Derselbe Grundsatz würde England nötigen, dem nord¬
östlichen Teile von Ulster, wo, wie dort in Niederkanada, die Protestanten und
Engländer überwiegen, dem übrigen Irland gegenüber eigne Rechte zu verleihen.
Gladstone ist ein Sanguiniker, und so werden ihm die beruhigenden An¬
sprachen, welche die Führer der Nativnalliga, Scxtvn und Dnvitts, in diesen
Tagen an das irische Volk richteten, Vertrauen eingeflößt haben. Er wird
meinen, die Mäßigung, welche die Parnelliten ihren Landsleuten predigten,
werde von ihnen selbst im Parlamente beobachtet werden. Thatsächlich aber
hat der Rat, den sie erteilten, eine andre Bedeutung. Sie baten die Jrlcinder,
von Gewaltthätigkeiten abzustehen, damit sie selbst einen weitern Vorwand
hätten, unbeugsam zu sein, damit sie sagen könnten, das irische Volk verhält
sich nur deshalb ruhig, weil es erwartet, seine gerechten Forderungen werden
zugestanden werden. Nehmt ihr ihm diesen Glauben, so werden wir, seine
Führer, es nicht mehr bändigen können. Die Sache ist in England nicht selten
schon vorgekommen und bei liberalen Regierungen immer von bestem Erfolge
gewesen. Die Parnelliten erinnern sich dessen, und so werden sie Gladstone
vermutlich mit weitergehenderen Forderungen zusetzen, als sie an seinen Vorgänger
gerichtet hätten, und kein Tüpfelchen von ihrem Anspruch ans volle Selbst¬
regierung für Irland aufgeben. So befindet sich das Gladstonesche Kabinet in
einer verzweifelten Lage, die derjenigen des Mannes ähnelt, der ans der Flucht
vor einem Löwen an den Rand eines Stromes gelangte, in welchem ihn ein
Krokodil erwartete. Blickt es vor sich, so begegnen seine Augen einer irischen
Partei, welche bereits gezeigt hat, daß sie die Macht besitzt, Ministerien zu schaffen
und zu stürzen, und bei welcher Führer und Gefolgschaft gleich stark verpflichtet
sind, kein Zugeständnis als befriedigend anzunehmen als die legislative Unab¬
hängigkeit ihres Landes. Blickt es hinter sich, so gewahrt es eine englische
Partei, die in ihrer Ansicht geteilt ist und dnrch das Band der Anhänglichkeit
an einen Führer, dem die Mehrheit der Mitglieder bis jetzt noch nicht geneigt
ist, so weit wie die Jrländer wolle», zu folgen, nur locker zusammengehalten
wird. Neben und hinter diesen beiden Parteien aber steht in Angst und Unrnhe
die britische Nation, die öffentliche Meinung in England und Schottland. Sie
ist sich der großen Wichtigkeit der Frage, um die es sich hier handelt, vollständig
bewußt, und sie hat ohne Zweifel den aufrichtigen Wunsch, daß jeder vernünftige
Versuch gemacht werde, die Jrländer zufrieden zu stellen, ist aber anderseits
auch fest überzeugt, daß das legislative Band, welches die beiden Nationen
östlich und westlich vom Georgskanal verknüpft, nicht zerschnitten werden darf,
und entschlossen, selbst eine wesentliche Lockerung desselben nicht zu dulden.
Niemand kann in Zweifel ziehen, daß die Ansichten und Empfindungen, die
hier der liberalen Partei und dem englischen Publikum überhaupt zugeschrieben
werden, auch im Schoße des Gladstvneschcn Kabinets vertreten sind. Es ist
ans der Basis einer Untersuchung und Prüfung der irischen Frage gebildet
worden, und es hat nicht viel zu sagen, ob dieser Prozeß auf den Umkreis
des Ministerrates beschränkt bleiben oder ob auch das Parlament sich daran
beteiligen soll, und es hat sehr wenig Wahrscheinlichkeit für sich, daß unter den
zwölf oder vierzehn Staatsmännern, welche sich mit der Untersuchung zunächst
beschäftigen sollen, Einmütigkeit in einem Plane zu erzielen sein werde, der
Parnell und allen seinen Anhängern annehmbar wäre. Viel wahrscheinlicher
ist es, daß ihre Erörterungen mit hoffnungslosen Zwiespalt hinsichtlich der
Hauptfrage oder, was fast ebenso verhängnisvoll für die Fortexistenz des
Ministeriums sein würde, mit fast einstimmigem Beschluß, deren Lösung zu ver¬
schiebe,,, endigen werden. Diejenigen Mitglieder des Kabinets, welche be¬
haupten, daß die Lösung der Lcmdfrage den Vorrang vor allem andern haben
müsse, werden eine starke Stellung haben, und wenn Gladstone zu der Ansicht
gelangt, daß die Frage des Home Unke jener vorgehen sollte, so kaun er bei
jenen auf unüberwindlichen Widerstand stoßen.
Es ist sehr denkbar, daß wir in drei oder vier Wochen den englischen Pre¬
mierminister in ärgster Klemme sehen werden, zwischen einer fest geschlossenen
irischen Partei, welche Dringlichkeit für die Verhandlungen über das Verlangen
nach einem besondern irischen Parlament fordert, und einer starken, mich im
Kabinet zahlreich vertretenen Gruppe von Politikern, welche darauf besteht,
daß nicht eher ein Schritt in der Richtung nach irischer Selbstregierung gethan
werde, als bis die Landfrage auf billige Bedingungen hin Erledigung gefunden
habe. Von diesen beiden feindlichen Lagern wird das der Parnclliten vermutlich
das weniger zur Nachgiebigkeit geneigte sein. Es wäre ein sehr begreiflicher
Verdacht, wenn man dort meinte, der seit kurzem bemerkbare Eifer, mit welchem
die Liberalen ans beschleunigte Lösung der Landfrage dringen, deute nicht sowohl
auf ihre Bereitwilligkeit, hinterher das Home Rule zu gewähren, als eins ihren
Wunsch, sich zum Widerstande dagegen zu stärken. Gegenwärtig kann man sagen,
die Nationalliga halte die irischen Gutsherren gewissermaßen als Geisel fest;
jedenfalls befinde sich dieselbe ungefähr in der Lage einer belagerten Garnison,
und eine Parlamentsakte zum Ankauf ihrer Gutsländereien würde hier der
militärischen Operation entsprechen, die man als Entsatz bezeichnet. Dieser Opera¬
tion werden die Belagerer, die Parnclliten im Parlamente, begreiflicherweise un¬
beugsam Widerstand leisten, und in dem Zusammenstoße, der daraufhin erfolgen
muß, wird das Gladstvnesche Kabinet sehr wahrscheinlich zertrümmert werden.
Setzen wir aber auch den Fall, daß es dem Premierminister, nachdem er
der Forderung der Homeruler nach Priorität der Sclbstregierungsfrage nach¬
gegeben, gelinge, seine Amtsgenossen sämtlich oder wenigstens eine zur Erhaltung
seines Kabinets hinreichende Anzahl derselben zu seiner Meinung zu bekehren,
so bleibt noch die Schwierigkeit im Parlamente zu überwinden. Der Kampf in
Dvwningstreet mare, nachdem er hier mit einem Siege Gladstones geendigt, in
Se. Stephens wieder aufzunehmen, und auf die schwierige Aufgabe, ein Kabinet
zu überzeuge», würde die noch schwierigere folgen, eine ganze Partei, die liberale,
die bis jetzt in Bezug auf Irland keineswegs mit ihm zu gehen gewillt ist, für
die Ansicht des Ministeriums zu gewinnen.
Nehmen wir endlich an, daß der Erfolg Gladstone selbst in diesem Punkte
treu bleibe, und daß er imstande sei, einen Plan zur Selbstregierung für Irland,
der Parnell und seine Gefolgschaft befriedige, im Unterhause durchzubringen, so
kann über das Schicksal dieser Maßregel, wenn sie nun dem Oberhause vor¬
gelegt wird, nicht der leiseste Zweifel obwalten. Selbst wenn der betreffende
Gesetzentwurf hier mit der fast einmütiger Gutheißung der einen von den beiden
großen englischen Parteien empfohlen anlangte, würden die Peers in Anbetracht
der eigentümlichen Natur desselben berechtigt sein, mit ihrer Zustimmung zurück¬
zuhalten. Die Bill, welche den Jrlcindern ein eignes Parlament gewährte, sie
zu „alleinigen Herren im Umkreis ihrer Küsten" proklamirte, würde aber
gewiß nicht unter so günstigen Umständen im britischen Herrenhause eingebracht
werden können. Die liberale Partei im Hause der Gemeinen würde sich durch
den Gesetzentwurf gespalten sehen, selbst Radikale würden gegen ihn stimmen,
und er würde im Unterhaus? — das läßt sich mit ziemlicher Sicherheit prophe¬
zeien — nur durch die Stimmen der 86 Parnelliten die Mehrheit erlangen, eine
starke Minorität der eignen Leute Gladstones würde mit der konservativen
Opposition poliren. In diesem Falle aber würde die Verwerfung, welche den
Homerule-Plan Gladstones unter allen Umständen im Oberhause erwartete, von
geradezu überwältigender Bedeutung sein: die Lords würden mit einer an Ein¬
mütigkeit grenzenden Stimmenzahl jede Homcrule-Bill der beschriebnen Art kläg¬
lich zu Falle bringen. _
amveiis' Auge richtete sich fest und hell auf das schöne Gesicht,
das zu ihm emporblickte. Gewiß, Herrin, versetzte er bewegt, ich
habe die Verehrungswürdige gekannt. Ihr gleicht der Unver¬
gessener in jedem Zug und jedem Klang Eurer Stimme so, daß
mir seit einer Stunde zu Sinne ist, als wäre mir Catarina
Alceste auferstanden.
Man hat mir oft gesagt, daß mir die Mutter, die ich früh verloren, ihr
Gesicht vererbt habe; wollte Gott, daß anch ihre Tugenden die meinen würden!
Ihr werdet sicher öfter an den Hof des Königs kommen, Ihr müßt mir viel
von der Teuern erzählen, wenn Ihr mich erst länger und besser kennt.
Was braucht es der Zeit, und was könnte ich je Besseres von Euch wissen,
Gräfin Catariua, als daß Ihr die wahrhaftigen Züge Einer Mutter tragt wie
ihren teuern Namen! entgegnete Camoens. Ihr ahnt nicht, was Ihr von mir
fordert, edles Fräulein, wenn Ihr von vergangnen Tagen zu hören begehrt.
Seid indes gewiß, daß Eure Mutter unter den Heiligen des Himmels ist und
jetzt auf Euch und mich herabblickt und sich unsrer Begegnung freut!
Es war ein Klang in den Worten des Mannes, der Catarina Palmeirim
ergriff »ut dem sie gern weiter gelauscht hätte. Doch empfand sie, daß hier
weder Ort »och Stunde sei, um mit Camoens länger zu sprechen; das Antlitz
des Königs drückte Befremden über ihr Gespräch mit dem Dichter aus, die
alte Herzogin von Vraganza gab ihr ans den Reihen der Damen ein Zeichen,
das von ihr nicht unbeachtet bleiben durfte. Sie sann einen Augenblick nach
und sagte: Ich kaun hier nicht länger verweilen. Bittet Eltern Freund, Senhor
Manuel Barreto, Euch der Herzogin vorzustellen, welche Eure Dichtung höchlich
bewundert hat, und wartet der großen Dame morgen oder in den nächsten Tagen
auf. Bei ihr dürft Ihr mir von meiner Mutter erzählen, soviel Euch und mich
verlangt.
Sie hatte diesmal so leise gesprochen, daß selbst Tellez Alucita, welcher
in nächster Nähe stand, mit der Absicht, sich kein Wort des Mädchens verloren
gehen zu lassen, nichts als den Namen der Herzogin hörte. Als Camoens sich
dankend und zustimmend verneigte, nahm Catarina bereits ihren Sitz neben der
alten Dame, deren Obhut sie anvertraut war, wieder ein und schien eilig von
ihrer Unterredung mit dein Dichter zu berichten, wenigstens wandten sich ihre
Blicke fortgesetzt nach diesem zurück, bis plötzlich der König aufs neue zu den
Damen trat und die Herzogin einer laugen Unterredung würdigte, welche
ihm Gelegenheit genug gab, seine Augen an der anmutigen Befangenheit der
schönen Catarina zu weiden.
Camoens war im Begriff, sich aus dem glänzenden Gedränge um den König
herauszuwinden, um wieder an Barretos Seite zu kommen, als ihn der Kaplan
des Königs ansprach: Erlaubt, Senhor Luis, daß ich Euch meinen Glückwunsch
zu Euern seltenen Gaben und Eltern großen Werke ausspreche. Ich hoffe, Ihr
wißt es selbst, daß Eure Lusiaden ein Geschenk Gottes siud, ein Geschenk, mit
dem Euch auch die höchste Verantwortung auf die Seele gelegt ward. Tragt
Sorge, daß jeder Laut und Hauch in Eurer Dichtung nur Edles in den Herzen
Eurer Hörer erwecke.
Und zweifelt Ihr daran, ehrwürdiger Bruder? entgegnete Camoens ruhig.
Giebt es Edleres und Erhebenderes als die ruhmreichen Thaten erlauchter Vor¬
fahren, welche nnter Gottes Schutz das, was unmöglich schien, verwirklicht und
dies kleine Land zu einem Weltreich umgewandelt haben?
Ich sage nichts gegen den Hauptinhalt Euers Werkes, soviel ich davon zu
erkennen vermag, flüsterte der junge Priester und legte vertraulich seine Hand
in Camoens' Arm, um ihn zu einer stilleren Ecke des Saales zu geleiten. Ihr
hört, wie es um uns her von Eurer Schöpfung wiederhallt, alle Sinne sind
von dem heldenhaften Schwung ergriffen, der Eure Dichtung hebt. Aber Ihr
seht und hört auch, wie der König aus Eurer Schilderung irdischer Leiden¬
schaft keineswegs klar die Mahnung vernahm, daß ein Gesalbter des Herrn die
irdische Liebe vor allen Sünden fliehen müsse.
Eine Flut widerstreitender Gefühle durchschwelltc bei dieser Ansprache die
Seele des Dichters. Der Kaplan lenkte seinen Blick wieder ans Dom Sebastian,
welcher so dicht vor Catarina Palmeirim stand, daß ihr Atem sein Gesicht um¬
wehen mußte und, während er mit der Herzogin von Vraganza sprach, fort¬
gesetzt seine Augen in die Catarinas senkte. Zu jeder andern Zeit würde
Camoens aufwallend die mönchische Strenge des jungen Priesters zurückgewiesen
haben, jetzt beschlich ihn der Wunsch, daß König Sebastian die Anschauung seines
Kaplcms wenigstens das einemal noch teilen möge. Mühsam brachte er den
Gemeinplatz hervor: Ihr wißt, Ehrwürdiger, daß die Dichtung nicht zu allen
Stunden und auf alle Herzen gleich wirken kann! und nie war ihm Barretvs
freundschaftlicher Beistand willkommener gewesen als in diesem Augenblicke.
Senhor Manuel hatte sofort bemerkt, daß Camoens von dem Kaplan beiseite
geführt wurde, und war einfach der Abneigung gefolgt, welche er gegen die
geistlichen Umgebungen seines Königs hegte, indem er rasch an das ungleiche
Paar hincmschritt.
Kommt mit mir, Freund Luis! sagte er schon von weitem. Hier im Saale
sind noch manche edle Herren, die Euch gern ihre Teilnahme an Euerm Werke
aussprächen, Ihr habt erreicht, daß aller Herzen höher schlagen und alle Er¬
innerungen an unsre alte Ruhmesstraße nach Indien lebendig wurden.
Senhor Luis vergißt hoffentlich nicht, in seinem Gedichte daran zu mahnen,
daß wir ein wenig zu hastig nach Osten gedrungen sind und daß weite Länder der
Heiden, die dem Kreuz gewonnen werden müssen, noch dicht vor den Seepforten
Portugals liegen! versetzte Fray Tellez mit scharfem Tone, zog sich aber mit
einem leichten Gruß an Camoens zurück, ehe Manuel Barretv die erzürnte
Antwort zu geben vermochte, welche sein Gesicht verhieß. So klang es, wenig¬
stens lauter als in diesem Palast üblich war, hinter dem Kaplan drein: Diese
Gesellen möchten jedermann in ihre Pläne verstricken, der Beste ist ihnen nicht
zu gut. der Schlechteste nicht schlecht genug — hütet Euch vor ihnen, Luis,
von heute ab seid Ihr ein Stein in ihrem Spiel. Der König wird sich bald
entfernen, und wir kehren dann an unsern Bord zurück, wie Okaz sagt. Jetzt
laßt Euch noch die Brüder Evvra zuführen, alte Inder gleich uns; sie waren
mit uns auf der Ormusflotte und erinnern sich Euer wohl. Euern Zweck hier
habt Ihr ganz erreicht, Euer Name ist auf aller Lippen, Euerm Werke sieht
jeder, der zu lesen vermag, erwartend entgegen, und so hoffe ich denn, wir ver¬
ziehen nicht zu lange in Cintra und brechen in den nächsten Tagen nach Almo-
cegema auf.
Sobald wir Esmah geborgen haben, entgegnete Camoens, den die Stimme
Barretos aus dem wirren Traume der letzten Stunde gleichsam erweckte.
Ihr habt Recht, das ist unsre andre Sorge, beinahe größer als die um
Euer Gedicht, welche uns Dom Antonio, der Marschall, so freundlich lösen half,
nickte Barreto. Lauscht einen Allgenblick auf die Stimmen umher, Ihr hört,
welchen gewaltigen Eindruck Eure Gefänge hinterlassen haben. Sie sprechen
noch immer davon und sind freudig erregt; das ist mehr, als am Hofe, und
zumal an diesem Hofe, billigerweise erwartet werden konnte.
Camoens drückte in überwallenden Dankgeftthle dem Freunde die Hand
und gedachte eben Barreto von seinem Gespräche mit Catarina Palmeirim zu
berichten, als ein seltsames, in diesen Räumen ganz unerklärliches Geräusch aus
dein Nebensaale ihn und Barreto und hundert andre in der Gesellschaft auf¬
schauen ließ. Ein Bußlied, in kläglichem, heulendem Tone von rauhen und
rohen Kehlen angestimmt, erscholl in unmittelbarer Nähe. Die Klänge schlössen
jeden Gedanken aus, daß der König sie zur Unterhaltung seiner Gäste ange¬
ordnet habe. Kaum eine Minute später überschritt eine seltsame Prozession die
Schwelle des großen Hauptsaales, stieß rücksichtslos die Hellebardiere der könig¬
lichen Leibwache zurück, die den Wallern den Eintritt wehren wollten, und teilte
den schimmernden Kreis bis zum Sitze des Königs. Dom Sebastian war mit
einer Miene des Unwillens aufgesprungen, aber vor seinem blitzenden Auge erhob
sich die Hand des Priors von Belem und mahnte ihn, dein eintönigen Gesänge
zu lauschen. Derselbe ging mit einemmcile aus dem Büßlied in ein altes Kreuz-
und Streitlied wider die Mauren aus den Tagen des Cid über und erweckte
rasch genug den Anteil des Königs. Die Singenden standen zu dichter Gruppe
geschlossen, Camoens und Barrctv erkannten an ihrer Spitze sofort den Barfüßer
aus Okaz' Herberge, den zanklustigen Galicier vom Abend zuvor und seine Ge¬
sellen, ja sie nahmen schließlich in der Gefolgschaft der Wackern ein paar der
Seeleute wahr, welche Barreto auf dem Kreuzberge angebettelt hatten. Die
kecken, verwetterten und weinfrohen Gesichter schauten wunderlich aus den frisch
übergestülpten Kapuzen hervor, einer der Burschen lachte Barreto breit an und
sagte: Alles nach Gelegenheit, Herr, in so frommem Palaste gilt ander Lied
als auf der Landstraße, und gegen die Mohren fechten wollen wir ja doch!
Er erhielt und erwartete keine Antwort lind drängte sich hinter seinen Gesellen
dichter an den König heran. Den Grafen Vimiosv, welcher schützend vor Dom
Sebastian trat, schob der Prior von Belem eigenhändig so zur Seite, wie er
ihn vom Altar himvcggeschoben haben würde, die plumpen Gestalten in groben,
schmutzigen Kutten standen zwischen den Edelleuten in seidenen, goldgestickten
Gewändern und vertrieben die Damen vo» ihren Sitzen. Nur die Priester in
der Hofgesellschaft schienen ihnen Ehrfurcht einzuflößen, ihnen allein gelang es
auch, einen kleinen Raum, vor dem Könige freizuhalten. So wie der rauhe,
schlachtendurstige Gesang endete, streckte der Galieicr, der sich von dem scheinbar
abwehrenden Barfüßer gewaltsam losriß, seinen hagern braunen Arm aus der
Kutte hervor und ließ ihn schwer auf die Schulter Dom Sebastians nieder¬
fallen. Der König stand wie gebannt und schaute fragend den Prior von Belem
an, der schmutzige Bursche aber, der hier als Prophet galt, schrie mit krei¬
schenden Tone, in schlechtem Portugiesisch, jedoch bis in die letzte Ecke ver¬
nehmbar: Ich höre die Stimmen der Engel, allergläubigster König, sie treiben
uus her zu dir — niemand kann ihnen widerstehen! Der Schaum stand ihm
dabei vor dem Munde, die grünlichen Augen rollten, das häßliche Gesicht
des Galiciers richtete sich zur Decke des Saales empor. Die Engel befehlen
mir, deiner Hoheit den Sieg zu künden, wenn du nicht durch längeres Zögern
die Huld der allerheiligsten Jungfrau und aller Heiligen verscherzest, die jetzt
mit dir ist. Dieser Fuß soll die Möhren von Marokko zertreten, dieser Leib
soll mit dem Schwerte des Triumphes gegürtet werden, dies gesalbte Haupt
soll alle Kronen Afrikas bis zur Wüste empfangen! Zeuch aus, König, zaudere
und zage nicht! Wisse, daß die Engel um dein Banner rauschen. Überhöre
ihre Stimme im Munde der Arme» nicht, denen sie die Pforten deines Palastes
aufgethan haben.
Während diese wilden Worte dem König ins Ohr geschmettert wurden,
blickten seine Augen weiter als je zuvor in die Ferne, man sah deutlich, daß
sich andre Bilder in ihnen spiegelten als die teppichgeschmückten Wände des
Saales und die bunten Gruppen, welche starr gebannt saßen und standen. Erst
als der galieische Prophet rin seinem Munde dem Gesichte des Fürsten zu nahe
kam, machte Sebastian unwillkürlich eine Geberde des Ekels, wandte sich aber
dann zum Prior von Belem und sprach langsam und vernehmlich:
Sorge dafür, Dom Joao, daß diese Heiligen reich beschenkt werden, und
laß ihnen in ihrer Sprache wissen, daß Sebastian von Portugal keine Mahnung
des Himmels verachtet, wer auch ihr Träger sei! Ihr Herren, die ihr mit
Raten und Ruhten nie enden zu können meint, euch gilt dies Zeichen mehr als
euerm Könige!
Indem er so sprach und den Grafen Vimioso und andre Männer seiner Um¬
gebung mit den Augen suchte, fiel sein Blick auch auf Comoens, der, sprachlos
und befangen wie alle Anwesenden, den Vorgang mit angesehen hatte. Auch an
dich ergeht die Mahnung, Dichter! rief der König. Laß dein Gedicht von dem
Geiste durchhanchen, dessen Wehen du ebeu verspürt hast. Portugals und unser
aller Zukunft liegt in Afrika!
Camoens schwieg ehrfurchtsvoll; eine Antwort blieb ihm umsomehr erspart,
als die Wallfahrer, welche Tcllcz Alucita und einer seiner geistlichen Brüder
aus dem Saale führten, das Bußlied, mit dem sie eingetreten waren, wiederum
anstimmten. In der schwülen Befangenheit, welche in dem ganzen Kreise
herrschte, schien jeder sich zu scheuen, den andern anzusehen, und doch verlor
der Dichter eine Gestalt, ein Gesicht nicht aus dem Auge. Catarina Palmeirim
war ruhig auf ihrem Sitze neben der Herzogin von Braganza geblieben, die
alte Dame hatte mit einer gebieterischen Handbewegung ein paar der Pilger
aus ihrer nächsten Nähe verscheucht. So saß das Mädchen jetzt allein neben
ihr, totenblaß, mit weitgeöffneten Augen, einen Ausdruck halb tiefen Mitleids,
halb zorniger Verachtung in den schönen Zügen, ihre Hände hatte Catarina
ein paar mal erhoben, um die Ohren vor all dem Widrigen, Verhaßten zu
schließen, und doch sanken dieselben jedesmal kraftlos in den Schoß zurück, und
kein Laut der rauhen Lieder, keine Silbe von den erregten Worten des Königs
entging ihr. Durch Camoens' Seele aber schwoll es wie ein Hauch plötzlicher
Hoffnung, als er deutlich erkannte, daß die Empfindungen der jungen Gräfin
denen Dom Sebastians widerstritten. Neben der Entrüstung über das un¬
würdige Gaukelspiel, das mit dem Glauben und der kriegerischen Leidenschaft
des jungen Königs getrieben wurde, lebte ein dunkles Gefühl in ihm, als ob
er dennoch den ganzen Vorgang zum Glücke dieses Tages zählen dürfe! Er
atmete mit allen andern wie befreit auf, als Dom Sebastian, gleich nachdem
der galicische Prophet und sein Pilgergefolge den Saal verlassen hatten, sich
mit stummem Gruß und nnr von dem Prior von Belem begleitet zurückzog,
aber er stimmte in den Zornlaut nicht ein, der aus dem Munde Barretos kam
und an mehr als einer Stelle des Saales in dem brausenden Stimmengewirr,
das sich sofort nach dem Weggange des Königs erhob, Wiederhall fand, Ca¬
moens sprach kein Wort, er starrte den Damen nach, die sich erhoben hatten,
er sah mit banger Empfindung Catarina Palmeirim scheiden, ohne noch einen
Gruß, einen Blick mit ihr tauschen zu können; erst der kräftige Druck der Hand
Barretos auf seine Schulter brachte ihn zum Bewußtsein des Augenblickes zurück.
Er hörte den Freund sagen: Kommt, laßt uns gehen, wir sind jetzt völlig über¬
flüssig, und die Brüder Evora sprechen wir besser morgen in ihrem Hanse als
heute Abend und hier! Der traurige Aufzug schlug unsre Freude hart nieder,
und doch ward ich durch ihn gewiß, daß es immer noch, selbst in der Umgebung
des Königs, eine Zahl von echten Portugiesen giebt,
Camoens war es lieb, die Prachtsäle hinter sich lassen zu können, die jetzt
für ihn lichtlos waren. Er sah wie dnrch einen Nebel die durcheinander wir¬
renden Gestalten, von denen die meisten den Thüren beider Säle zustrebten,
Rechts und links Grüße tauschend, von einem und dem andern der Edelleute,
die ihre Wohnung im Palaste hatten und sich jetzt in den weiten Gängen des¬
selben verloren, im Hinweggehen noch freundlich angesprochen, gelangte Camoens
an der Seite Barretos bis zu jenem Thore, das auf den Haupthof mündete,
aus dem man nach Cintra hinabstieg. Noch unter dem Thorbogen ward in
den lodernden Zorn Barretos Öl gegossen. Finstern Blickes hatte der Edel¬
mann den Hauptmmiu der Trabanten angesprochen, der hier befehligte:
Welcher Cherub hat Euch beiseite gedrängt, Senhor, als die barfüßigen Waller
in des Königs Säle einbrachen? Der Hauptmann zuckte die Achseln: Es hat
sich keiner der Himmlischen zu bemühen brauchen. Dom Joao, der Prior von
Belem, hat mir drei neue Leute unter meine Abteilung gebracht, welche die
Engel so gut pfeifen hören als der Prophet aus Coruna, Die braven Neu¬
linge hatten gerade zufällig ihre Posten verlassen, als der Zug heranrückte.
Ich darf natürlich nicht bezweifeln, daß dies eben Fügung des Himmels ge¬
wesen! Manuel Barreto drückte dem Hauptmann, der selbst noch vor Entrüstung
zitterte, abbittend die Hand, dann aber, indem er Cnmvens seinen Arm reichte,
um ihn auf den rechten Weg zu leiten, brach der ganze mühsam verhaltene
Ingrimm des Edelmanns los: Ihr seht, wie es steht, Luis, und rin welchem
Winde wir zum Teufel fahren. So wie der König Miene macht, seinen schlimmen
Beratern zu entschlüpfen, finden sie ein Mittel, ihn in den öden Gedankenkreis
zurückznzwingen, in den sie ihn erst selbst gebannt haben! Und wie armselig ist
ihr ganzes Rüstzeug! In jeder schlechten Schenke wissen sie, wer diese Galicier
hierher gebracht hat und wozu sie verschrieben worden sind! Und uns, die wir es
ebensowohl wissen, uns schließt eine falsche Ehrfurcht deu Mund, und wir schauen
blöde dazu drein. Selbst der Eindruck Euers großen Gedichtes soll dazu dienen,
den König in seinem Taumel zu erhalten! Sie werden schon eine Handhabe
dazu finden. Ich aber wollte, wir säßen in Almoeegema, und das Meer rollte
zwischen dort und hier!
Der Dichter konnte den Wunsch des Freundes nicht teilen, er wußte wohl,
was ihn so plötzlich an Cintra bannte, und hätte doch um nichts in der Welt
seine Empfindung dem Grollenden vertrauen mögen. Die Nacht war still
und warm, der Vollmond, der über der großen Bergkette im Westen des
Palastes stand, überglänzte die Straße zwischen den Gartenmauern, auf
welcher die beide» Männer thalwärts schritten. Die ostwärts liegenden Ter¬
rassen und Gärten des Königsschlosses hoben sich wie dunkle Wände gegen
das silberhelle Licht ab, Camoens aber starrte von Zeit zu Zeit schweigend
in das Dunkel hinein, die Gänge unter den Niesenaknzien, deren berauschender
Dust herüberwehte, erschlossen sich vor seinem innern Auge, obschon er sie seit
einen? Vierteljahrhundert nicht betreten hatte, er sah sie erhellt und belebt,
traumhaft flössen die Züge Catarinas, der längst geschiedenen wie der lebenden,
ineinander, eine schlanke Mädchengestalt erschien ihm zwischen dem dunkeln Gezweig.
Das stumme Hinschreiten neben Barretv, das ihm eben noch wohlthätig ge¬
wesen war, erschien ihm jetzt unheimlich. Er versuchte sich äußerlich zu fassen
und brach, an Barretos Worte anknüpfend, das Schweigen: Was nun auch
kommen möge, Manuel, mit dem heutigen Abend hat für mich und mein Werk
ein neues Leben begonnen. Seid darum nicht spröde in Euerm Stolze und
laßt Euch meines Herzens wärmsten Dank gefallen!
Ich nehme ihn so gern, als Ihr ihn gebt, sagte Barretv. Wollte Gott,
der Abend hätte ungetrübt für uns enden können. Da es nicht so ist, wollen
wir uns zu fassen suchen, wie es alten Kriegern ziemt. Je rascher Ihr jetzt die
Lusiaden hinanssendet, um so besser wird es sein — sie können noch bei manchem
die Besinnung wecken!
Ihr kommt immer wieder auf das eine, auf Eure Sorge über den afri¬
kanischen Plan des Königs zurück, entgegnete Campe'us leise, gleichsam befangen.
Haltet Ihr denn jeden guten Ausgang für unmöglich?
Auf einen siegreichen hoffe ich kaum — auf einen guten gewiß nicht, ant
wortete Barreto und legte wie beschwichtigend seine Hand aus die Schulter seines
Begleiters. Aber lassen wir diese Sorge ruhen, bis wir ihr bei mir daheim
ins Antlitz sehen können. Ihr hört heute in Euerm Herzen Lerchengeschmetler,
und mein Rabengekrächz will schlecht dazu stimmen. Laßt uns lieber an das
Nächste, an morgen denken. In der Frühe schickt Dom Antonio seinen Priester,
und am Nachmittag müssen wir hinauf, um dem armen Heidenkinde zu sagen,
was wir für sie zu thun vermögen.
Camoens machte ein Zeichen der Zustimmung, dann sagte er nach längerer
Überlegung: Werden wir die einzigen Taufzeugen für Esmah sein, Manuel?
Wißt Ihr noch andre Pate»? fragte der Edelmann zurück. Der Comthur
und sein getreuer Knappe sind zu alt, um dort hinaufzusteigen, wo Juanitas
Ziegen Weiden. (Fortsetzung folgt.)
In den letzten Tagen stand in einer kleinen
süddeutschen, übrigens gut nationalen Zeitung folgender Aufruf zu lesen: „Als
Ausdruck des allgemeinen Bedürfnisses, den Frieden zu bewahren und das Ver¬
trauen auf denselben zu stärken, geht wie bekannt seit einiger Zeit eine Bewegung
fast durch sämtliche Kulturstaaten, welche darauf abzielt, freie Vereinigungen zu
gründen, die durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung dazu beitragen sollen,
daß die unter verschiednen Staaten entstehenden Streitigkeiten wenn irgend möglich
durch internationale schiedsrichterliche Entscheidung beigelegt werden. Zugleich soll
auch das gute Einvernehmen zwischen den verschiednen Völkern gefördert und der
Gelegenheit zu MißHelligkeiten vorgebeugt werden. Bereits haben sich zu diesem
Zwecke in Amerika, England, Frankreich, Holland, Italien und Rußland Friedens¬
vereine gebildet, und auch in Deutschland, welches man gewohnt ist beim Erstreben
hoher idealer Ziele andern Nationen vorangehen zu sehen, sind in letzter Zeit in
einzelnen Städten Gesellschaften ähnlicher Art gegründet worden. Das Vertrauen
in die für uns alle unantastbare Machtstellung des deutsche» Reiches und in die
seit Jahren ans Erhaltung des Friedens gerichtete» Bestrebungen der Neichsrcgiernng
mögen die Erklärung dafür geben, daß in Deutschland die auf Erhaltung des
Friedens gerichtete Bewegung bis jetzt keinen lebhaften Wiederhall gefunden hat.
Gleichwohl darf Deutschland nicht länger zögern, seine Sympathie mit einer großen
zivilisatorischer Idee kundzugeben. Es darf die vou den edelsten Männern andrer
Nationen zu friedlichem Einvernehmen dargebotene Hand nicht zurückweisen, handelt
es sich doch zur Zeit nicht mehr um utopische Ideen von Schwärmern, sondern
um Ziele, die praktisch, erreichbar, maßvoll, dem bescheidnen Wirken jedes Ein¬
zelnen angemessen erscheinen." An diese schönen Sätze knüpft sich dann die Mit¬
teilung, daß sich in der betreffende» Stadt ein Friedensverein gegründet habe, und
es wird zum Beitritt und zur Zahlung vou einer (!) Mark Jahresbeitrag aufgefordert.
Unterschrieben ist der Aufruf im großen und ganze» von deutschen patriotischen
Männern; einzelne deutsch-freisinnige Agitatoren laufen mit zwischen durch.
Als ich den Aufruf las, fiel mir sofort die jttugste Poleudebatte im Reichs¬
tage ein, Deutsche Schwärmerei hier wie dort! Der Pole sucht alle Mittel
und Wege, nicht immer zulässige, um das Deutschtum zu verdrängen. Deutsche
Männer, verhetzt durch einzelne Agitatoren und verbissen in Parteileidenschaft, reden
zum Frieden und bieten dem Feinde des Deutschtums die Hand, Aehnlich ist es
mit den Friedl'iisfreunden, Sie vergessen zunächst ganz, daß Wehrhnftigkeit, Stolz
und Ehrgefühl ein Volk zu einem Kriege drängen können, und daß es nichts ver¬
derblicheres im Völkerleben giebt, als ein Unterdrücken dieser Eigenschaften, Der
Krieg mag für die Völker ein Ael'el sein; in den Fällen, in denen er heutzutage
geführt wird, ist er fast ausnahmslos auch die Aeußerung hoher Tugenden, des
Ehr- und Nationalgefühls, der Tapferkeit und — was nicht vergessen werden mag —
des Gerechtigkeitsgefühls, Ein Volk, dem diese Tugenden fehlen, das in der Friedens¬
liebe zu weit geht, wird bald aufhören, ein Volk zu sein, eine Nation zu bilden.
Und nun gar wir Deutsche, die wir vou lauter feindseligen Nationen umdrängt
sind! Kaum haben wir in den Jahren 1870/71 gezeigt, daß wir imstande sind,
feindliche Angriffe abzuwehren, daß wir auch das Schwert zu führen vermögen,
da kommt deutsche Schwärmerei und sagt uns, wir sollen die uns dargebotene
Hand zu friedlichem Einvernehmen nicht zurückweisen, Ist denn eine solche Hand
überhaupt ernsthaft dargeboten worden? Ist es denn vergessen worden, daß vor
einigen Jahren auf einem sogenannten Friedenskongresse die französischen Mitglieder
erklärten, sie bemühten sich auch für den Weltfrieden, aber vorher müsse Elsaß-
Lothringen wieder vom deutscheu Reiche losgerissen und mit Frankreich vereinigt
werden! Als ob dies, da der gesunde und tapfere Sinn unsers Volkes und glück¬
licherweise nicht die Ansicht der Herren Friedensfreunde maßgebend ist, ohne Krieg
abginge! Doch genug. Der Zweck dieser Zeilen war nicht, die Friedensfreunde im
einzelnen zu widerlegen. Es sollte nnr darauf hingewiesen werden, daß im deutschen
Reiche die Gefühlsduselei, die schon so manches Unheil über Deutschland gebracht
hat, nach kurzer praktischer Thätigkeit des Volkes wieder auflebt, daß der Deutsche
Wieder anfängt, alle möglichen Ideen und sogenannten Ideale zu verfolgen, und
daß er auf dem Wege ist, darüber das höchste aller unsrer Ideale, das einige
deutsche Reich
Die Ausgabe, welche Karl Lachmann 1838
bis 1339 von Lessings sämtlichen Schriften veranstaltete, war nicht nur in An¬
betracht des herausgegebenen Schriftstellers selbst wichtig, sondern zugleich als erstes
maßgebendes Beispiel philologischer Textbehandlnng eines neuern deutschen Autors
von weittragender Bedeutung, Schon 1.853 stellte sich die Notwendigkeit einer
zweiten Auflage heraus, welche W. von Maltznhn in wenig zufriedenstellender Weise
besorgte. Allein auch diese, 1857 abgeschlossene Ausgabe ist gleich der Lnchmcnmschen
Arbeit selbst schon seit langem selbst in antiquarischen Katalogen selten geworden.
Die Hempelsche Ausgabe kann nnr in einzelnen Teilen befriedigen, die von H, Göring
im Cottaschen Verlage herausgegebene ist ungenügend in jeder Hinsicht, Unter
diesen Verhältnissen war der Plan der Gvschenschen Vcrlagshnudlung, eine neue
Auflage der Lachmannschen Arbeit herausgeben zu lassen, freudig zu begrüßen,
und wenn die folgenden Bände dieser „nen durchgesehenen und vermehrten Auf¬
lage" dem vorliegenden ersten Baude (XXIX u. 411 S,) gleiche«, so darf Franz
Mnncker als Herausgeber Lessings ein würdiger Fortsetzer der Lachmannschen
Arbeit genannt werden. Was Lachmann angestrebt hat, aber nur teilweise durch¬
führen konnte, hat uns Mnncker für Lessings Gedichte, Fabeln und die zwei Jugend-
lnstspiele, den jungen Gelehrten und die Juden, in vollendeter Weise geleistet: eine
nach allen Seiten hin erschöpfende kritische Textausgnbe, Landmanns Arbeit wurde
Wort für Wort nachgeprüft, übersehene Drucke und Handschriften zu Rate gezogen,
einiges ungedruckte oder außer Acht gelassene zum erstenmale in Lessings Werke
mit aufgenommen, Muuckers Fleiß und philologische Akribie wird zwar nur der
Literarhistoriker nach Gebühr anzuerkennen wissen, die vorzüglich ausgestattete
Ausgabe jedoch wird allen Gebildete» willkommen sein, die den ganzen, unentstellten
Lessing kennen lernen wollen.
Drei venezianische Novellen von Adolf Stern, Leipzig, Elischee, 1886.
Dies ist der oft hervorgehobene Charakter der modernen Poesie: sie sieht den
Menschen nicht wie die Kunst früherer Epochen abstrakt, allgemein, unabhängig
von allen äußern Bedingungen, sondern aufs lebhafteste bestimmt von Klima und
Landschaft, Beruf und Gesellschaft, Politik und Geschichte. Wie die bildende Kunst
die Suche nach dem idealen nackten Körper aufgegeben hat, so die Poesie die Suche
nach dem sogenannten Neill-Menschlichen, Denn sie weiß jetzt, daß es so wenig
existirt, als je in der Natur ein Krystall genau so erscheint, wie die Krystallographie
es lehrt, sondern immer vermengt und dnrclnvnchsen von andern Elementen und
krystallinischen Formen, Das vielgesuchte Nein-Menschliche ist eine Abstraktion, die
noch viel geringere objektive Giltigkeit hat als die ideale Krystallform; denn jeder
historische Zustand verleiht ihm eine andre Färbung, und wir kennen so viel Menschen¬
formen, als es verschiedne Kulturepochen giebt; wir kennen nnr von Natur und
Geschichte bestimmte Menschen, aber keine Ideale. Dies ist der Standpunkt der
modernen Poesie, auf welchem sie zu dem früher schon beherrschten Reiche der
Natur sich ein zweites, dus der Geschichte, erobert hat, um mit desto reicherem
Reize ihre Phantasicgestalteu zu schmücken. Vor zwei Jahren erschien ein (leider
zu wenig gewürdigtes) Bändchen von Novellen, welches mit wahrhafter Poesie,
feiner Bildung und heiterer Grazie rein menschliche Motive behandelte; aber zu¬
gleich hatte der Dichter deu glücklichen Griff gethan, diese Motive in eine mit
ihnen höchst harmonirende historische Atmosphäre zu stellen. Es waren dies die
unter den, Titel „Im Lande der Phäaken" erschienenen Novellen von Hans Hoff¬
mann. An dieses Buch erinnert der neue Novellenband Adolf Sterns, nur daß
hier (besonders in den ersten zwei Stückein „Dürer in Venedig" und „Die Schuld-
genossen") das spezifisch historische Element stärker betont ist als in den phäakischeu
Geschichten. Denn auch hier führen uns die drei Novellen in verschiedne Epoche»
Venedigs — eines Fleckes Erde, mit dem nur die ewige Stadt an Macht der
historischen Stimmung sich vergleichen kann —, und auch hier ist mit großem Fein¬
gefühle und echt künstlerischem Sinne für Harmonie jede Handlung innerlich mit
dem historischen Kolorit verknüpft. Im „Dürer in Venedig" wird ein heiteres
Abenteuer des großen deutschen Malers in der Dogenstadt erzählt, wo gerade
damals die Malerkunst in hoher Blüte stand; das zurückhaltende, männlich klare
Wesen des Deutschen ist glücklich mit italienischer Leidenschaftlichkeit kontrastirt; die
ganze Lebensfreude und Zuversicht der nnfstrebenden Renaissance giebt die Grund-
stimmung dazu ab. Diesem sonnigen Bilde folgt in den „Schuldgenossen" ein
düsteres, aber tief ergreifendes Nachtstück; die grausame Herrschaft der aristokratischen
Republik, welche im „Dürer" nur von fern angedeutet wird, ist hier dus tra¬
gische Motiv selbst. Ein Jahrhundert nach Dürer, 1630, wütet in Venedig die
Pest. Im Angesichts des Todes erinnert sich einer der Henkersknechte, Daniello,
des Rates der Zehn an ein furchtbares Abenteuer in seinem schrecklichen Berufe.
Sie waren einmal mit dem jungen Adelichen Cornaro ins Meer hinausgefahren,
ihn dort in den Wafsertod zu stürzen; da, im letzten Augenblicke, umklammert der
Unglückliche die Kniee der Henker, seine Unschuld beteuernd, uns Leben, flehend —
vergebens! Dies drückt nun Daniellos Gewissen derart, daß er an Cvrnaros Kinde
gut thun will, was er am Vater verbrochen hat; darin ist er von demselben Drange
getrieben wie jener schreckliche Senator, der bei der furchtbaren Exekutiv» damals
zugegen war und kein Erbarmen bewiesen hatte; dies verbindet schließlich die so ver-
schiednen „Schuldgenossen." Es gelingt ihnen, das Töchterchen Cornaros aus der
verpesteten Stadt zu retten; die Schuldgenvssen treten beide in ein Kloster. Die
dritte Novelle „Der neue Merlin" ist den Lesern dieser Blätter bekannt, sie ist sti¬
listisch die vollendetste; mit Meisterschaft wird das alte Märchen vom unbesiegbaren
Zauberer Merlin, den die Liebe besiegt, indem sie ihn ohnmächtig an einen Fleck
festbannt, episodisch vorgetragen; die Stimmung des Venedig unsrer Tage ist hier
ganz vortrefflich wiedergegeben. Die Handlung selbst ließe sich bekritteln, doch
würde uns dies hier zu weit führen. Stern ist ein Erzähler, dem im ganzen
mehr Bildung als Naturell eigen scheint; aber man hat immer das Gefühl, mit
einem vornehmen Erzähler von wahrhaft künstlerischen Intentionen zu verkehren,
Was man nur von wenigen modernen Novellisten sagen kann.
in 30. September dieses Jahres läuft nach dem Gesetze vom
24. Mai 1884 der Termin al>, bis zu welchen, die Giltigkeit des
Gesetzes vom 21. Oktober 1878 gegen die gemeingefährlichen Be¬
strebungen der Sozialdemokratie verlängert war. Die preußische
Regierung hat abermals beim Bundesrate den Antrag eingebracht,
diese Dauer bis zum 30. September 1891 zu verlängern, und der Bundesrat
ist ihm in der letzten Zeit beigetreten. Der Antrag des Bundesrates ist
bereits dem Reichstage zugegangen, und dieser wird demnächst Stellung dazu zu
nehmen haben. In der Begründung des Gesetzentwurfes ist gesagt, daß es
Nieder den Gegnern des Gesetzes gelungen sei, in der überwiegenden Mehrheit
der Nation den Glauben an die ersprießliche Wirkung des Gesetzes zu erschüttern,
noch daß sich behaupten lasse, diese Wirkung mache sich bereits in dein Maße
fühlbar, um definitiv uns das Gesetz verzichten zu können. Die erhebliche Ver¬
mehrung der Reichstagsabgeordneten, welche der sozialdemokratischen Fraktion
angehören, sowie die Ermordung des Polizeirath Rumpfs erscheinen der Be¬
gründung als Momente, welche für den Fortbestand des Gesetzes sprechen. Man
wird — heißt es weiter — nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß, was
die sozialdemokratische Bewegung an Breite gewonnen, sie an Intensität und
revolutionärer Energie wenigstens zum Teil eingebüßt habe. Die sozialdemokra-
tischen Wühler verlangen von ihren Vertretern heute eine ernsthafte Beteiligung
an den Aufgaben der legislativen Gewalten, namentlich derjenigen, die zur ge¬
setzgeberischen Losung der sozialpolitischen Probleme führen. Man muß an der
Hoffnung festhalten, daß vor dem Ernste dieser Aufgaben die revolutionären
Tendenzen auch bei der Parteileitung in den Hintergrund treten, oder, wenn
dies nicht geschieht, dnß die ihren Führern blindlings folgenden Massen zu der
Einsicht gelangen, daß auf demi Wege einer gewaltsamen Änderung der bestehenden
Staats- und Gesellschaftseinrichtungen kein Heil zu erwarten ist. Dieser Zeit¬
punkt erscheint aber den verbündeten Regierungen noch nicht gekommen, und
sie wollen daher eine Verantwortung dafür uicht übernehmen, jetzt durch Ver¬
zicht auf die Fortdauer des Gesetzes deu Agitationen der Umsturzpartei wieder
die Wege frei zu machen.
Es ist nötig, gegeuüber den in den Oppvsitiousblättcrn bereits wieder in
allen Tonarten vorgetragenen Klagen über Unterdrückung der freien Meinungs¬
äußerung und Verdächtigungen der Tendenz des Gesetzentwurfes darauf hinzu¬
weisen, daß das ganze Sozialistengesetz überhaupt nur gegen diejenigen gemein¬
gefährlichen Bestrebungen gerichtet ist, welche den Umsturz der bestehenden
Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken. Keine Handlung, keine Äußerung,
kein Bestreben wird durch dasselbe getroffen, wenn sie anf dem Boden der be¬
stehenden Staats- und Gesellschaftsordnung eine Änderung der bestehenden
Einrichtungen bezwecken, und daß gerade die Regierung es ist, welche anf
demi Boden der bestehenden Staatsordnung fußender berechtigten Ansprüchen
der Arbeiter das vollste Verständnis entgegenbringt, hat sie durch die ihrer
Initiative zu verdankenden sozialreformalorischeu Vorschläge deutlich gezeigt.
Wer also nicht die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung mit Gewalt,
d. h. durch Mord, Brand und ähnliche Mittel, umstürzen will, der kann auch
unter dem Sozialistengesetze reden, schreiben, thun, was er will, ohne unter seine
Strafbestimmungen zu fallen.
Was bringt nun die Opposition gegen die Verlängerung der Giltigkeit
eines Gesetzes vor, dessen dauernder Bestand angesichts der oben hervorgehobenen
Grundtendenz sich eigentlich von selbst verstehen sollte? Seit Jahr und Tag
hat sich, wie sie sagt, nicht nur in dem europäischen Proletariat überhaupt,
sondern insbesondre auch in dem deutscheu Arbeiterstande eine mächügc Regung
geltend gemacht, die ganze Kraft zunächst auf die Gewerkschaftsbewegung und
die Fabrikgesetzgebung zu richten. Diese Regung würde nach ihrer Behauptung
durch die Aufhebung des Sozialistengesetzes einen gewaltigen und voraussichtlich
unwiderstehlichen Aufschwung gewinnen. Bleibe aber die Ausnahmemaßregel
bestehen, dann sei die Umsturzpartei wieder oben auf; deun die politische und
soziale Freiheit wollten die Arbeiter alle, und solange ihnen dieselbe versagt sei,
blieben dieselben revolutionär. Solange es eine Weltgeschichte gebe, sei noch
niemals der Fall vorgekommen, daß eine unter ein Ausnahmegesetz gestellte
Klasse der Bevölkerung, sei es welche es wolle, gegen den das Ausnahmegesetz
verhängenden Staat anders als revolutionär gesinnt gewesen wäre. Nach der
Behauptung der Opposition soll die Fortdauer der Geltung des Sozia¬
listengesetzes für die Regierung nur dazu nötig sein, um ihre Politik der
Lebensmittelsteuern und Monopole weiter treiben zu können, denn um diese
mit Erfolg durchzuführen, bedürfe sie der politischen Knebelung der breiten
Massen des Volkes. „Fort mit dem Ausnahmegesetz, Rückkehr zum gemeinen
Recht!"
Wenn um, wie der Fortschritt sagt, seit Jahr und Tag nnter der Herr¬
schaft des Svzialistengesetzes in Deutschland die Arbeiterbevölkerung ihre ganze
Kraft ans die Gewerkschaftsbewegung und Fabrikgesetzgebung gerichtet hat, so ist
sie an diesem erlaubten Unternehmen durch das Sozialistengcsetz eben nicht ge¬
hindert worden, und es ist nicht abzusehen, wie die Aufhebung dieses, wie wir
hören, für solche Bestrebungen ganz irrelevanten Gesetzes den vorausgesagte»
„unwiderstehlichen Aufschwung" herbeiführen sollte und wie bei seinem Fortbe¬
stande die bisher zurückgedrängte Umsturzpartei „wieder oben auf" kommen sollte;
warum nicht vielmehr im Gegenteil ans der Thatsache, daß die Bewegung diese
Richtung eingeschlagen hat, mit Recht gefolgert werden dürfe, daß das Bestehen
des Sozialistengesetzes die Bewegung vom verbrecherischen Wege ab und, soweit
möglich, auf den erlaubten gelenkt habe. Ebenso steht es aber mit der Behaup¬
tung, eine unter ein Ausnahmegesetz gestellte Bevölkerungsklasse sei stets revo-
lutiouür gesinnt. Nicht eine Bcvölkerungsklasse, die Arbeiterklasse, ist dnrch das
Svzinlistcngesctz unter Ausnahmebestimmungen gestellt, sondern nur derjenige
Teil derselben, welcher den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschafts¬
ordnung bezweckt, d. h. diejenigen Individuen, mögen sie der Arbeiterklasse oder
einer sonstigen Gesellschaftsklasse angehören, welche dnrch Mord und Brand eine
Änderung der bestehenden Zustünde herbeiführen wollen.
Alle solche Einwendungen sind also faule Fische gerade wie der „politische
Knebel," welcher der Regierung angeblich dazu dienen soll, ihre Politik der
Lebensmittelftencrn und Monopole durchzuführen. Wo steckt denn der politische
Knebel? Können die Herren nicht schreiben und reden, was sie wollen, solange sie
nicht geradezu zum frischen, fröhlichen Mord auffordern? Besteht nicht das
freie Vereinigungsrccht, solange es nicht zu Umsturzbestrebungcn mißbraucht
wird? Sind nicht auch unter dem Svzialisteugcsctzc die Versammlungen zum
Zwecke einer abgeschriebenen Wahl zum Reichstage oder zur Landesvertretung
von der polizeilichen Genehmigung selbst bei verhängtem kleinem Belagerungs¬
zustände befreit? Können die Mitglieder des Reichstages und der Lcmdcs-
vertretungen nicht ungestraft die Gegner in jeder ihnen zusagenden Weise be¬
leidigen und verleumden?
Aber sehen wir uns weiter die Schlagworte vom Ausnahmegesetz und
von der Rückkehr zum gemeinen Recht an. Ein Gesetz ist ein Erzeugnis des
nationalen NeckMbewnßtseinS eines Volkes. Es wird hervorgerufen dnrch das
Bedürfnis desselben, eine bestimmte Frage allgemein giltig zu regeln und durch
die gemeinsame Überzeugung von der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der
hierzu vorgeschlagenen Mittel. Treten im Leben eines Volkes Ausnahme-
zustande ein, so ergiebt sich das Bedürfnis, diese Zustände durch Bestimmungen
zu regeln, welche diesen ungewöhnlichen Zuständen angemessen sind. So wird
also z. B., wenn in einem Gemeinwesen eine Anzahl von Personen zu der An¬
sicht gelangt, es sei ihren Interessen am zweckdienlichsten, ihren Nebenmenschen
den Hals abzuschneiden, die gemeinsame Überzeugung der letztern nach den bis¬
herigen Erfahrungen über die menschliche Natur alsbald dahin gehen, sich dies
nicht gefallen zu lassen, und sie werden demgemäß, solange sie noch die Macht
dazu haben, wenn sie nicht schon ein Gesetz gegen das Halsabschneiden besitzen,
alsbald ein solches sür diesen Ansncihmefall schaffen, um mittels dieses Aus¬
nahmegesetzes die andern an der Ausführung ihres Vorhabens zu verhindern.
Dauern diese Zustände fort, so dauert auch das Bedürfnis nach dem Fort¬
bestande dieser besondern Maßregeln fort, und solange die abnormen Zustände
nicht aufhören, hört eben auch das Bedürfnis nach den zu ihrer Unterdrückung
notwendigen Maßregeln nicht auf. Das Svzialistengesetz ist gemeines Recht
gegen alle diejenigen Personen, welche sich der fraglichen Umstnrzbestrebungen
schuldig machen, wie der Z 211 des Strafgesetzbuches gemeines Recht gegen alle
Mörder ist. Was der Fortschritt mit der Rückkehr zum gemeinen Recht im
vorliegenden Falle begehrt, ist die Unterstellung der sozialistischen Umstnrz-
bestrebungcn unter die übrigen reichsstrafgesctzlichen Bestimmungen, und daß
diese gegen die genannten Bestrebungen sich unzulänglich erwiesen haben, geht
aus der ersten Einbringung und Annahme des Sozialistengesetzes hervor. Daß
diese Bestimmungen auch jetzt noch nicht für genügend anzusehen sind, das legen
die Motive zu dem eingebrachten Verläugerungsantrage dar.
Welche dringenden Gründe für Aufhebung des Svzialistengesetzes vorliegen,
beweisen die neuesten Vorgänge in zwei Ländern, welche sich der ungestörten
Entfaltung anarchistischer Agitation erfreue»: die Ermordung des Minendirektors
Wntrin in Deeazeville und die Plünderung der westlichen Stadtteile von London.
In beide» Fällen steht außer allem Zweifel, daß die Verbrechen einen sozialisiisch-
auarchistischeu Charakter tragen. In einer Anarchistenversammlnng vom 7. Februar
im ?Ir<Mr«z <w vllÄiv^u ä'LÄu zu Paris unter dem Vorsitze des Deputirten
Basly sprach sich Louise Michel unter lebhaftem Beifall der Teilnehmer mit
großer Anerkennung über die „Gerichtsvollzieher" der „Hinrichtung" des Mineu¬
direktors Watrin aus, und auf Antrag des Redakteurs Guesde wurde einstimmig
beschlossen, daß die Watrinsche Angelegenheit eine That der Gerechtigkeit sei,
welche alle rechtschaffenen Leute billigten. Den Plünderungen in London ging
unmittelbar voran ein Meeting der beschäftigungslosen Arbeiter auf Trafalgar
Sauare, welches von den sozialistischen Agitatoren Hyndman und Burns geleitet
und von einer großen Zahl von Sozialisten mit einer roten Fahne besucht wurde.
In den von den Agitatoren gehaltenen Reden wurde empfohlen, Parlamentsmit¬
glieder aufzuknüpfen und eine soziale Revolution hervorzurufen. Burns forderte
die Arbeiter auf, der sozialen Verbindung zu folgen, welche ihnen das Zeichen
zum Angriff und zur Plünderung des Westend gebe, eine Aufforderung, die
dann auch mwcrweilt und ausgiebig befolgt wurde.
Daß die sozialistische Partei eine Nevvlutivnspartei ist, welche sich nur in
zwei Richtungen, die ungeschminkten Anarchisten und die sogenannten Gemäßigten,
teilt, im übrigen aber mit allen Mitteln auf die gewaltsame Änderung der
bestehenden Zustande, sei es auf dem Wege des „Umsturzes," sei es auf dem
der „Untergrabung," hinarbeitet, hat sie selbst schon so oft geäußert, daß e->
einer erneuten Erinnerung an diese Thatsache nicht bedürfen sollte. Zur Auf¬
frischung des Gedächtnisses wollen wir nur auf zwei Stellen in den offiziellen
Organen der Partei hinweisen, auf einen Artikel des „Sozialdemokraten" vom
20. Februar 1880, des Organs der Gemäßigten, und auf einen solchen in der
„Freiheit" vom 14. Angust 1880. dem Organ der Anarchisten. In dem ersten
heißt es: „Die sozialdemokratische Partei hat es stets betont, daß sie eine
revolutionäre Partei sei, in dem Sinne, daß sie die Unmöglichkeit erkennt, die
soziale Frage auf dem Boden der bestehenden Gesellschaft zu lösen, und daß sie
daher nur durch eine gesellschaftliche Umwälzung zum Ziel gelangen könne.. .
Heute wissen wir, daß uur durch einen gewaltsamen Umsturz der sozialistische
Volksstaat erreicht werden kann und daß es unsre Pflicht ist, diese Erkenntnis
in immer weitern Kreisen der Bevölkerung zu verbreiten." In dem zweiten ist
zu lesen: „Es giebt nur ein Ziel, es giebt uur einen Weg, welchen wir einzu¬
schlagen haben, das ist der gewaltsame Umsturz der heutigen Gesellschaft."
Wem angesichts solcher unverhüllten Bekenntnisse und dementsprechend«!»
Thaten die Erkenntnis über die Ziele der Partei nicht zu erwecken ist, den
werden wohl nur eigne Erfahrungen belehren können; von denjenigen aber, die
sich der Gefahr bewußt sind, welche eine ungehinderte Verbreitung solcher Ideen
für Staat und Gesellschaft zur Folge hat, zu verlangen, sie sollen die Waffe
der Notwehr gegen ihren Todfeind aus der Hemd legen — das kann nur einem
Verbrecher oder einem deutschen Ideologen einfallen.
le im allgemeinen segensreiche Ablösuugsgesetzgebung, welche der
Hauptsache nach um die Mitte unsers Jahrhunderts zu stände
gekommen ist, hat in Preußen und den meisten andern deutschen
Staaten anch Rechtsverhältnisse beseitigt, welche noch für die
Gegenwart Berechtigung und Wichtigkeit haben, so die Erbpacht
und das Erbzinsverhältuis. Nicht eine Aufhebung, sondern eine Reform
dieser Verhältnisse wäre geboten gewesen. Diese Erkenntnis ist leider zu spät
gekommen. In den letzten Jahren hat man sich vielfach mit der Erneuerung
der aufgehobenen Rechtsverhältnisse beschäftigt, und der preußische Münster für
Landwirtschaft hat, einer Anregung der Zentralmvorkommission und des Landes-
vkononnckollcgiums folgend, dem letzter» im November vorigen Jahres eine
Denkschrift über Rentengütcr zugehen lassen, welche die Frage behandelt, ob
und inwieweit eine Wiederherstellung erbpachtähnlicher Verhältnisse möglich
sei und Erfolge verspreche. Liegt auch keineswegs ein ausgearbeiteter Gesetz¬
entwurf vor, so ist doch das Gerippe der neu zu schaffende» Einrichtung deutlich
erkennbar. Von Wichtigkeit und mit Freuden zu begrüßen ist, daß die Regierung
nicht daran denkt, unbewegliche, verwickelte Rechtsformen, wie es die alten
Erbpachtvcrhnltniffe vielfach waren, wieder ins Leben zu rufen, sondern nur
eine Erweiterung der Vertragsfreiheit zu schaffen, welche durch die Aufhebung der
Erbpacht, insbesondre durch das Verbot unablösbarer Renten in unzweckmäßiger
Weise beschränkt worden war. Wesentlich ist für das neue Nentengut nur die
Zahlung einer festen Jahresgeldrente, welche auch nach festen Abgaben in
Körnern berechnet werden kann, bei eigentümlichem Erwerb einer Besitzung.
Das Institut kennzeichnet sich ferner dadurch, daß es den Beteiligten gestattet
sein soll, innerhalb der vom Gesetz gezogenen Schranken durch freie Vereinbarung
dem jeweiligen Besitzer gewisse Einschränkungen in der Verfügung über das Gut
aufzuerlegen, und daß durch den Vertrag die Unablösbarleit sowohl der
Geldrente, als auch der dein reutenpslichtigeu Eigentümer auferlegten Ver¬
fügungsbeschränkungen festgesetzt werden kann. Das Nentengut soll, wie wir
gleich sehen werden, verschiedenen volkswirtschaftlichen und sozialen, vielleicht auch
politischen Zwecken dienen, und wird, wie das in einem großen Staate nicht
anders sein kann, unter erheblich von einander abweichenden wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnissen errichtet werden; daher muß notwendig die Gestaltung
desselben im einzelnen Falle den besondern Verhältnissen und Zwecken angepaßt
werden können.
Die Verhandlungen des Landesökonvmiekollegiums beschäftigten sich sowohl
mit dem Inhalte, welcher dem Institut der Ncnteugütcr bei seiner Einführung
zu geben sein würde, um eS lebensfähig und den gegenwärtigen Nechts-
nnschauungen entsprechend zu gestalten, wie mit der Frage nach dem Nutzen,
welchen man sich aus dem so gestalteten Rechtsverhältnisse für die Staats- und
Volkswirtschaft in Preußen versprechen könne. Sie wurden mit Ausnahme
weniger Fälle in hervorragend sachlicher und sachverständiger Weise geführt, und
wenn sie anch demjenigen, welcher die Entwicklung dieser Frage im letzte»
Jahrzehnt verfolgt hat, wenig neues bieten konnten, so ergaben sie doch die
bemerkenswerte Thatsache, daß die Stimmung der sachverständigen Kreise heute
weit mehr als früher mit großer Entschiedenheit dem Nentengut, beziehentlich
einer reformirren Erbpacht geneigt ist. Daß sich das Kollegium in der Be¬
antwortung der ihm gestellten Fragen vorsichtig verhielt und sich nicht für einen
durch das Gesetz zu erringenden glänzenden Erfolg verbürgte, kann niemand
Wunder nehmen, da es nicht nnr auf den Erlaß, sondern auch auf die Aus¬
führung eines Gesetzes ankommt, und das Prophezeien überhaupt ein mißliches
Ding ist. Es genügt, daß das Kollegium sich „entschieden für einen Versuch"
erklärt hat.
Die Einrichtung des Rentengutes soll die innere Kolonisation, d. h, die
Urbarmachung wüster oder ungenügend ausgenutzter Landstriche, und die Ger-
manisirung der noch wenig kultivirten Greuzbezirke fördern, den Stand der
bäuerlichen Grundbesitzer, eine der Grundlagen des preußischen Staates, stärken
und erhalten und endlich die Ansiedlung und den Eigentumserwcrb landwirt¬
schaftlicher Arbeiter erleichtern. Mit dem Reutengute würde ein unentbehrliches
Mittelglied zwischen dem Erwerb durch Kapitalzahlnng und der Zeitpacht ge¬
schaffen werden. Der Erwerber eines Nentengutcs erhält freies Eigentum an
diesem Gute nicht gegen Zahlung eines dem Werte des Grund und Bodens
entsprechenden Kapitals, sondern gegen eine jährlich zu zahlende entsprechende
Rente, welche, wenn nichts andres ausgemacht ist, beiderseitig unkündbar ist,
während nach den gegenwärtigen Gesetzen die Kündbarkeit nur für dreißig Jahre
ausgeschlossen werden darf. Er braucht daher Kapital nur zur Beschaffung von
Inventar und Wohnung. Den Preis für das Gut zahlt er durch die jährliche
Rente mit Hilfe dessen, was er vom Gute erntet, der Anfang wird ihm also
sehr erleichtert.
Beim Erwerb durch Kauf findet regelmäßig eine bedeutende Anzahlung
statt, und dem Käufer bleibt die stete Sorge und Gefahr einer ungelegnen,
vielleicht noch mit einer Steigerung des Zinsfußes, welche den Kapitalmcrt seines
Gutes und damit die Beleihuugsfähigkeit verringert und die Beschaffung neuer
Darlehen erschwert, zusammentreffenden Kündigung der zur Deckung des Restes
des Kaufschillings aufgenommenen Hhpothekenschnlden. Der Kreis derer, welche
ein Banerngul, oder kleinere Besitzungen — größere Güter beschäftigen uns
hier nicht — eigentümlich erwerben können, wächst also durch Einführung der
Rentcngüter erheblich. Von besondrer Wichtigkeit ist der Erwerb gegen Rente
bei der Besiedlung noch nicht urbarer Moor- nud Haideflächen. Darüber sagte
Herr von Hammerstein in der Sitzung des Landcsötonomiekollegiums etwa
folgendes: „Der Kolonist besitzt regelmäßig nur wenig Kapital, genügend um
dürftige Wohnung und dürftiges Inventar zu beschaffen. Sein Kapital ist
hauptsächlich seine Arbeitskraft. Muß er ein Kapital zu wechselndem Zinsfuß
und mit Gefahr der Kündigung leihen, so ist seine Existenz von vornherein
unterbunden. Man wird mich keine Käufer finden können, da diese wegen
mangelnder Sicherheit kein Leihkapital beschaffen können. Der Kolonist ist dagegen
wohl imstande, eine nach dem Ertrage bemessene jährliche Rente abzugeben.
Will man also Kolonisation, so darf man sie nicht dadurch hindern, daß mau
deu Erwerb des Arbeitsfeldes von Kapitalzahlung abhängig macht." Ans dem
Gebiete der Kolonisation hat sich daher auch in frühern Zeiten vor allem die
Erbpacht bewährt. Befördert aber so das Rechtverhältnis des Rcntengutes
die Entstehung neuer Grundeigentümer, so tragt eS anderseits auch zur Er¬
haltung leistungsfähiger Höfe bei, zunächst schon dadurch, daß der Erwerber
wegen der auf längere Zeit oder für immer unkündbaren Rente sichern Boden
unter den Füßen hat. Da ferner die Veräußerung von Teilen des Nentengutes
oder die Zerteilung desselben von der Zustimmung des Rentenberechtigten ver¬
tragsmäßig abhängig gemacht und endlich in den Landesteilen, in welchen ein
dem Gesetze für die Provinz Hannover vom 2. Juni 1874 entsprechendes
„Höferccht" besteht oder eingeführt werden wird, die Eintragung des Renten-
gutes in die Höferolle") unter Ausschluß der Löschuugsbefuguis durch Vertrag
ausbedungen werden kann, so sind für die Erhaltung der als Nentengüter neu
geschaffenen Bauerhöfe weitere Garantien gegeben.
Gegen die Wiedereinführung ohne Zustimmung beider Kontrahenten für
längere Jahre oder für immer uuablösbarer Renten sind wirklich stichhaltige
Gründe nicht vorzubringen. Die immer wiederkehrenden Phrasen, daß die „ewig
unabänderliche (?) Gebundenheit ein dem Erbpächter oder Nentenbauern uner¬
träglicher Zustand werden müsse," daß „sein Nealkredit geschädigt werde," sind
unverständige theoretische Erfindungen solcher, welche ihre Weisheit aus lange
veralteten Lehrbücher» saugen. Im Gegenteil ist das Verbot einseitig uuablös¬
barer Renten eine gänzlich unbegründete und schädliche Begrenzung der Ver-
tragsfreiheit. Den mecklenburgischen Domanialerbpächtern wurde 1875 die Ab¬
lösung des Kanons mit dem fünfundzwanzigfachen Betrage desselben gestattet,
aber bis 1882 ist von dieser Befugnis nicht ein einzigesmal Gebrauch ge¬
macht worden, ob später, weiß ich nicht. Auch in den alten ostfriesischen Vcen-
kolonien ist bis jetzt nirgend abgelöst worden, obgleich hier schon der zwanzig¬
fache Betrag der Rente genügte; dagegen haben in den dortigen Moor- und
Einzelkotvnien Ablösungen stattgefunden, deren traurige Folge in vielen Füllen
Zersplitterung der Güter und vor allem Bedrängnis der Bauern durch künd¬
bare Hhpvthetcnschnlden gewesen ist. Daß in dem übrigen Dentschland vielfach
Renten abgelöst wurden, wo uur der achtzehnfache Jahresbeitrag verlangt wurde,
während der Zinsfuß für Hhpvtheken etwa vier Prozent betrug, ist wohl natür¬
lich, und doch ist die Ablösung trotz der Unterstützung der Landesrentenbanken
viel langsamer vor sich gegangen, als man erwartet hatte, auch in Süddeutsch-
land, z, B, in Baiern. Der unkündbare Kanon ist für den Landwirt, der aus
seinem Boden nur eine Rente zieht und keine Kapitalien aus ihm stampfen kaun,
Wen» sein Hypothekeiigläubiger ihm, vielleicht gar nach einigen Mißernten oder
bei gestiegenen Zinsfuße, kündigt, eine Wohlthat. Öffentliche Interessen werden
durch die Begründung unablösbarcr Renten durchaus nicht gefährdet; liegt einem
Rentenbancrn im einzelnen Falle viel an der Ablösung, so wird er sie dnrch
freie Übereinkunft mit dem Rentenberechtigten stets erlangen können. Gegen die
öffentlich-rechtliche Einschränkung, daß durch Vertrag ein höherer Ablösungs-
betrag als der fünfnndzwanzigfache Betrag der Rente niemals festgestellt werden
darf, erhebt die preußische Denkschrift mit Recht den EinWurf, „daß sie zu sehr
und ohne Not das Ermessen der Beteiligte«: beenge." Denn diese Bestimmung
könnte, wenn der Rentenberechtigte gegen Zahlung dieses Betrages die Ablösung
einer einseitig unkündbaren Rente nicht gestatten wollte, dem Verpflichteten die
Ablösung, welche er, was vorkommen konnte, gern teurer bezahlte, unmöglich
machen.
Die vertragsmüßig auszuschließende Veräußerung eines Teiles des Renten-
gutes oder Zerteilung desselben ohne Zustimmung des Rentenberechtigten ist
unentbehrlich. In dieser Bestimmung liegt, wie die Denkschrift sagt, vornehmlich
„die politische Bedeutung des Rechtsinstitnts, welche vielleicht auch über seine
Lebensfähigkeit entscheidet." Hervorgehoben sei, daß man nur an eine vertrags¬
mäßige Abmachung denkt, welche von den Beteiligten jederzeit vertragsmäßig zu
ändern ist, und nicht alle Rentengüter durch öffentlich-rechtliche Vorschrift un¬
teilbar macheu will, wenn auch das Hauptmotiv dieser Beschränkung geineiu-
wirtschaftlicheu Rücksichten entspringt. Zunächst liegt die letztere allerdings im
Interesse des Reuteulierechtigteu, welchem es nicht gleichgiltig sein kann, ob er
mit einem sichern Schuldner oder mit mehrere» vielleicht weniger leistungs¬
fähige» zu thun hat. Ferner würde aber ohne diese Beschränkung „der aus¬
gesprochene und durchaus berechtigte Zweck, welcher bei dem Institute der Neuten-
güter verfolgt wird: die Stärkung des Bauerustnudes, die dauernde Erhaltung
eines leistungsfähigen mittleren Grundbesitzes, die Beförderung der innern
Kolonisation, kaum erreicht werden." Denn, wenn sie auch geeignet sein mögen,
die Errichtung leistungsfähiger Stellen zu erleichtern, so geben sie doch leine
Sicherheit für ihre dauernde Erhaltung. Daß anderseits die Gebundenheit
des Grundbesitzes auch wirtschaftliche Nachteile hat, ist unbestreitbar, wenn man
auch heute mehr als in frühern Jcchreu die Schattenseiten der unbeschränkten
Teilbarkeit erkciuut hat. Es ist jedoch zu bedenken, daß ein sehr großer Teil
unsers Grundbesitzes gegenwärtig dnrch Hhpothekarvcrschulduug thatsächlich schon
ebenso gebunden ist, daß ferner nach gütlicher Übereinkunft mit dem Renten¬
berechtigten wirtschaftlich notwendige und vorteilhafte Teilungen stets vorge¬
nommen werden können. Da diese freie Übereinkunft zuweilen -— unsers Er-
achtens freilich nur in seltenen Fällen — unerreichbar sein kann, so hat die
Regierung in der Denkschrift für Sicherungen gesorgt. „Ist die Veräußerung
oder die Zerteilung im wirtschaftliche» J»teresse notwendig, so kann die versagte
Zustimmung durch die Auseinandersctzungsbehörde^) richterlich ergänzt werden.
Dabei soll der Vorteil des Nentenpflichtigcn allein nicht ausschlaggebend sein.
Wird die Zustimmung richterlich ergänzt, so kann der Rentenberechtigte, wenn
im Vertrage nicht etwas andres bestimmt ist, die Ablösung der ganzen Rente
zum fünfnndzwanzigfachcn Betrage verlangen." Dieses letztere Recht des Renten¬
berechtigten, dessen Rente durch die Teilung vielleicht garnicht gefährdet wird,
erscheint nicht ganz begründet. Man könnte hier der Entscheidung der Aus-
einandersetznngsbchörde wohl weiteren Spielraum gewähren, ohne das Ver¬
mögensrecht des Rentenberechtigten zu schädigen.
Entschieden zurückzuweisen ist der auch im Landesökonomiekvllegium wieder
erhobene Einwand, daß, wenn man die Teilbarkeit der Nentengüter beschränke,
man folgerichtig im öffentlichen Interesse diese Beschränkung allen Gütern oder
wenigstens Bauergütern auferlegen müsse, und daß eine solche Maßregel zu un¬
haltbaren Zuständen führen würde. Man vergißt aber dabei, daß die Be¬
schränkung der Teilbarkeit nicht nur im privaten Interesse des Rentenberechtigten
unentbehrlich ist, sondern auch nur durch Vertrag, nicht durch öffentlich-recht¬
lichen Zwang festgesetzt wird, man vergißt, daß die Nentengüter ausgesprochener-
maßen zu dem Zwecke gegründet werden sollen, den Stand mittlerer Grund¬
besitzer zu stärken und zu erhalten.
Der Parzellirungsgefcchr steht sür den Bestand der Nentengüter noch eine
andre gleich große Gefahr gegenüber: die Auflösung ihrer selbständigen Bewirt¬
schaftung und das Aufgehen derselben in größern Besitzungen. Die Denkschrift
bemerkt: Da diese Gefahr nicht das Privatinteresse des Rentenberechtigten,
sondern nur das öffentliche Interesse bedrohe, da ferner die zur Abwehr etwa
geeigneten Maßregeln ohne erhebliche wirtschaftliche Nachteile schwer zu treffen
seien, da endlich vertragsmäßige Beschränkungen, welche die selbständige Bewirt¬
schaftung eines Reutengutes oder die Einverleibung in den Verband andrer
Güter ausschließen, dnrch die gegenwärtige Gesetzgebung nicht ausgeschlossen
seien, so habe die Negierung vorgezogen, darüber keine Vorschriften zu geben.
Es erscheint fraglich, ob diese Zurückhaltung der großen Gefahr gegenüber an¬
gebracht ist. Empfehlenswert wäre, daß in der zu erwartenden Gesetzesvorlage
eine dagegen gerichtete Normativbestimmung, ähnlich der die Teilbarkeit beschränken¬
den, für die Ncntengüterkvntrakte eingeschaltet würde. Namentlich wäre auch hier in
streitigen Fällen auf die Auseinandersetzungsbehörde zu verweisen. Wenigstens
muß dafür gesorgt werdeu, daß Unklarheit über die Berechtigung, derartige
Bestimmungen in die Rentengütertontralte aufzunehmen, beseitigt wird.
Man wird mit der Annahme nicht fehlgehen, daß Regierung und Volks¬
vertretung über die eben behandelten Bestimmungen, über den Inhalt des neuen
Nechtsverhültnisses bald ins Reine kommen werden, wenn es gelingt darzuthun,
daß das neue oder vielmehr reformirte Institut in Preußen notwendig sei und
sich einbürgern werde. Will man sich darüber klar werden, so muß man die
verschiednen Arten der Rentengüter, oder richtiger gesagt, die verschiednen Zwecke
auseinanderhalten, denen das Renteugut dienen soll.
Einen Zweck, welcher durch Herstellung von Rentengütern neben der
Stärkung des Bauernstandes und der innern Kolonisation erreicht werden kaun,
läßt die Denkschrift merkwürdigerweise außer Acht: nämlich die Vermehrung und
Hebung der seßhaften Arbeiterbevölkerung. Vermutlich ist das geschehen, weil
einmal der Staat praktisch hierfür kaum viel thun kann und wird, sodann weil
die Erreichung dieses Zweckes am wenigsten sicher, am meisten bestritten ist.
Da diese Seite der Frage jedoch im Landesölonomiekolleginm wie an andern
Stellen lebhast erörtert ist, so darf sie nicht übergangen werden. Der
Hauptcinwcmd, welcher gegen die Ansiedlung von Arbeitern dnrch Überlassung
von Renteugütern gemacht wird, ist der, daß sie dadurch an die Scholle ge¬
bunden würden, ihre Freiheit verlören und zu jedem Lohne arbeiten müßten,
welchen ihnen der benachbarte Gutsbesitzer biete. „Eine neue Art von Leib¬
eigenschaft," lautet das Schlagwort. Im Landesökonomiekvllegium wurde vom
Professor Miaskowski ans die hausindustrietreibenden schlesischen Weber hin¬
gewiesen, für die der Hausbesitz ein Fluch geworden sei, da er sie an Scholle
und Beruf binde. Der Hinweis ist wenig zutreffend. Dort herrscht ein Massen¬
elend, verursacht durch die Konkurrenz der Großindustrie. Hier kann es sich
nicht um Massenansiedlung, sondern nur um Ansiedlung eines verhältnismäßig
kleinen Teiles landwirtschaftlicher Arbeiter handeln, und gerade in der Land¬
wirtschaft ist das Bedürfnis von Menschenhänden noch am seeligsten. Der steigenden
Maschinenverwendung steht steigende Stärke des Betriebes gegenüber. Entscheidend
in der Frage ist jedoch, daß gerade die Klasse der grundbesitzenden landwirt¬
schaftlichen Arbeiter für diejenige gilt, welche sich moralisch und durch bessere
materielle Lage auszeichnet, und daß die Arbeiter selbst nach der Erlangung
solchen Besitzes streben. Welch ein Widerspruch, immer nach wirtschaftlicher
Freiheit zu verlangen, den Arbeiter aber zu „bevormunden," indem man ihm den
Erwerb eignen Grundbesitzes dnrch Abschaffung der Erbpacht oder Opposition
gegen Neutengüter erschwert. Man verführt dadurch zahlreiche Leute, in die
großen Städte oder ins Ausland auszuwandern, was ihnen bei ihrer Uner-
fahrenheit erst recht zum Fluche wird.
Der andre Einwand, über dessen Stichhaltigkeit nur die Erfahrung ent¬
scheiden kann, ist, daß in Deutschland kein Grundbesitzer kleine Rentengüter für
Arbeiter abtrennen würde, der Staat hier aber nichts thun könne. Letzteres ist
im allgemeinen richtig, ersteres aber mehr als zweifelhaft. In den dichter be>
polterten westlichen und mittlern preußischen Provinzen können sich die Arbeit¬
geber durch guten Lohn, durch den Bau gesunder Wohnungen u. s. w. in der
Regel genügende Arbeitskräfte sichern, aus vielen Teilen des Ostens dagegen
ertönen stete Klagen über Arbeitermangel, Bezeichnenderweise haben daher nach
gerade Großgrundbesitzer aus dem Osten im Landesökonomickollegium auf die
Nützlichkeit kleinerer Rentcngüter für Arbeiter hingewiesen, ja sogar behauptet,
daß die Grundbesitzer an vielen Orten zur Anlage solcher Güter geradezu ge¬
zwungen seien. Der Großgrundbesitzer gehe nicht nur, wie stets gesagt werde,
darauf aus, sein Gut cibzurundeu, sondern müsse vernunftgemäßer Weise auch
dafür sorgen, daß es nicht durch Vertreibung arbeitsfähiger Leute entwertet
werde. Auch die Erfahrung spricht dafür. So sind in Schleswig-Holstein, so¬
lange die Erbpacht noch bestand, bis in die neuere Zeit noch zahlreiche Arbeiter
als Erbpächter angesiedelt worden, und in Mecklenburg geschieht das uoch heu¬
tigen Tages. Wie viel mehr muß aber dieses Verfahren heute in den östlichen
Provinzen notwendig erscheinen, welche durch die Auswanderung besonders stark
leiden! Übrigens wird sich für Nentengüter dieser Art ein Vorkaufsrecht kaum
entbehren lassen, da es dem Rentenberechtigten nicht gleichgiltig sein kann, wem
der von ihm angesiedelte Arbeiter seinen Besitz überträgt. Den Vorbehalt dieses
Rechtes schließt die gegenwärtige Gesetzgebung nicht aus.
Die Erreichung eines andern Zweckes, welchen man mit der Nentengüter-
vorlage verbindet, die Kolonisation der Moore, wüster Landstrecken u. dergl., liegt
hauptsächlich in der Hand der Staatsregierung. Nach allen Erfahrungen kann
bei gutem Willen über den Wert der Nentengüter für die Erreichung dieses
Zweckes kaum ein Zweifel herrschen. Die Moore Ostfrieslands und Oldenburgs
sind, soweit sie bekannt sind, mit Hilfe der Erbpacht oder erbpachtähnlicher Ver¬
hältnisse kultivirt. Gegenüber der Summe der hier gemachten Erfahrungen
kann der Bericht, welcher über das Mißglücken der in früherer Zeit im Re¬
gierungsbezirke Königsberg mit Hilfe der Erbpacht versuchten Kolonisationen an
die Zentralmovrkommission erstattet worden ist, kaum ins Gewicht fallen. Die
Schuld lag da an andern Dingen, namentlich an kommunalen Verwicklungen,
die der Bericht selbst anführt, die aber mit Erbpacht oder Rentengütern an sich
nichts zu thun haben. Käufer, welche für ein wüstes Stück Land, das erst
nach und nach Rente abwirft, im voraus zahlen, finden sich nicht. Mit der
Zeitpacht sind niemals sichere, unabhängige Existenzen zu schaffen, sie ist der
hier wie nirgend sonst erforderlichen Mcliorativnsarbeit hinderlich. Da bleibt
nur das Nentengnt, welches Gründung und Erhaltung solcher Wirtschaften er¬
leichtert und fördert.
Der größte Teil der Moorflächen befindet sich in den Händen der Re¬
gierung, z. B. in Ostfriesland 35000 von 40000 Hektaren. Über die Nütz¬
lichkeit der Besiedlung dieser Flächen im Interesse des Fiskus und der Volks¬
wirtschaft kann kein Zweifel sein. Arbeitskraft ist zur Zeit im Überschuß
vorhanden. Hier bietet sich ein weites Feld zur allmählichen Bebauung durch
Nentengüter. Ob die Negierung das Unternehmen mit Hilfe von Konsortien,
nach Art der frühern Obererbpächter, oder unmittelbar in Augriff nimmt, muß
davon abhängig bleiben, ob sich genügende Privatthätigkeit einstellt. Private
Korporationen, welche schon im Besitze von Mvorlündereien sind, kommen
erst in zweiter Linie in Frage, sie wären durch die Thätigkeit der Regierung
anzuregen.
Noch mehr Gewicht wird man auf das Vorgehen des Staates legen müssen,
wenn man sich die Frage vorlegt, ob Aussicht vorhanden sei, daß der mit der
Rentcngüterdenkschrift verbundene Hauptzweck, Vermehrung und Erhaltung des
Standes mittlerer Grundbesitzer, erreicht werde. Denn einzelne Personen, Stif¬
tungen, Korporationen n. s. w., welche ausgedehnten Grundbesitz haben, werden
mit wenigen Ausnahmen zur Erreichung solcher sozialpolitischer und politischer
Zwecke die Hand nur bieten, wenn sie dabei zugleich ihr wirtschaftliches Interesse
am besten wahren, was freilich in vielen Füllen zutreffen mag. Eine Ver¬
mehrung der bäuerlichen Stellen ist nicht in allen preußischen Provinzen not¬
wendig, wohl aber in den östlichen Provinzen. Auch hier ist die Grundbesitz¬
verteilung noch nicht überall besorgniserregend, aber die bis jetzt noch etwas
unvollkommene Statistik der Güterverteilung ergiebt doch mit voller Sicherheit
eine bedeutende, in einzelnen Distrikten gefährliche Abnahme der mittleren Be¬
sitzungen zu Gunsten der kleinen und großen Güter. Die Gefahren, welche aus
dieser Bewegung entstehen, und welche unsre ganze Kultur bedrohen, in diesen
Blättern nochmals darzustellen, ist wohl überflüssig. Ihr entgegenzuwirken,
nötigenfalls mit erheblichen Opfern, ist Pflicht jedes kräftigen Staatswesens.
Dem preußischen Staate wird die Erfüllung dieser Pflicht durch seinen bedeu¬
tenden Domänenbesitz erleichtert, und zwar befinden sich diese Domänen gerade
in den hauptsächlich gefährdeten Bezirken: Neuvorpommern, Oberschlesien und
Posen. Wenn man anch nicht daran denken darf, alle diese wertvollen Güter
zu zerschlagen, so ist doch die Möglichkeit dazu in manchen Fällen vorhanden.
Zu den Domänen gehört etwa ein Viertel der gesamten Waldungen des König¬
reiches, welche nach der Versicherung des Oberforstmeisters Danckelmann sehr
vielen gute» Boden enthalten, der rationeller landwirtschaftlich bebaut würde.
Damit steht der Regierung wiederum ein weites Terrain für die Anlage von
Rentengütern zur Verfügung. Aber das allein wird in vielen Gegenden nicht
genügen. Die Regierung muß Fonds zu ihrer Verfügung haben, mit denen
sie gelegentlich geeignete Güter erwirbt, welche zur Subhastation oder zum
Verkauf kommen.
Noch ein andrer, bisher unsers Wissens völlig unbeachtet gebliebener Weg
steht der Negierung offen, auf welchem sie in hervorragender Weise zur Erhal¬
tung der Selbständigkeit des mittlern Grundbesitzes in allen Provinzen beitragen
kann. In Holland ereignet sich oft der Fall, daß Bauern, um in den Besitz
von Kapital zu kommen, ohne sich der Gefahr kündbarer Hypotheken auszusetzen,
Erbpächter auf ihrem eignen Gute werden, indem sie von irgend jemand Kapital
gegen das Verspreche» einer unkündbaren jährliche» Rente aufnehmen. Ob sich
diese Sitte von selbst in Dentschland einbürgern würde, ist fraglich. Alljährlich
jedoch geht eine große Anzahl von mittleren Grundbesitzern zu Grunde, sie
verlieren ihren Hos, ohne daß dieser annähernd seinem vollen Rentenwerte nach
mit Hypotheken belastet wäre, wenn der gewissenlose Wucherer die Schlinge
zuzieht. Dem wäre vorzubeugen, wenn man solchen Vorgängen ein wachsames
Auge zuwendete und dem Verschütteten die Möglichkeit gewährte, sei» Gut in
ein Rentengnt zu verwandeln, mit dem Kapital, das der aufzuerlegenden Rente
entspricht, seine schulde» zu bezahlen und dem Güterjobber das Spiel zu ver¬
derben. Ebenso konnte nen antretenden Besitzer», welche infolge der Erbteilung
hohe Abfindungssummen zu zahlen hätten, die gefährliche Übergangszeit erleichtert
werden. Auf diese Weise würde mau den Bestand manches Bauerngutes in
gefährlichen Krise» und vermöge der erhaltenden Eigenschaften des Rentengutes
auch für spätere Zeiten bewahren. Der Nutzen für Volkswirtschaft und Gesell¬
schaft würde unberechenbar sein.
Besonders zeitgemäß ist die Erörterung der Nentengüterfrage in Bezug auf
die politischen Zwecke, welche die Regierung in Posen und Westpreußen verfolgt,
nämlich die Germanisirung, über die schon in einem frühern Artikel der Grenz¬
boten gesprochen worden ist/') Fürst Bismarck hat im Landtage angedeutet, daß
zu diesem Zwecke Güter zerschlagen und an Deutsche verpachtet werden sollen,
um nach fünfundzwanzig oder fünfzig Jahren in das Eigentum der Pächter
überzugehen. Auf längere Zeit hinaus könne man doch nicht rechnen, die
Erbpacht, (welche der Fürst sonst stets verteidigt und rühmt), habe man zu dem
Zwecke nicht einmal nötig. Die dem Landtage soeben zugegangene Vorlage,
welche die Bewilligung eines Fonds von hundert Millionen Mark zum Ankauf
von Gütern und zur Ansiedlung deutscher Bauern und Arbeiter verlangt, sagt,
daß die Grundstücke zu Eigentum und in Zeitpacht überlassen werden sollen.
Da das Institut des Rentengutes noch nicht geschaffen ist, kaun unter Über¬
lassung zu Eigentum uur Erwerb durch Kauf verstanden sein, welcher allerdings
durch mancherlei Bedingungen erleichtert werden kann. Daß man mit der
Maßregel der Ansiedlung Deutscher in jenen polnische» Gegenden sofort beginnen
kaun, ohne auf das Zustandekommen eines Nentengütergesetzes zu warten, ist
gewiß richtig. Ebenso gewiß ist aber, daß mit Hilfe der Rentengüter besseres
zu erreichen wäre. Die Anwendung der Zeitpacht scheint am wenigsten geeignet.
Ein solider Bauernstand kann nicht aus Zcitpächtern bestehen, auch wenn er der
wohlwollendsten Negierung als Eigentümerin gegenübersteht. Besonders klar
ist das in Mecklenburg erwiesen, wo man mit ausgezeichnetem Erfolge die
Domanialzeitpachtbauern in Erbpächter verwandelt hat. Auf den Zeitpacht¬
bauern lastete das Gefühl rechtlich nicht gesicherten Besitzes und der Abhängigkeit,
mangelnder Realkredit und eine weitgehende administrative Kontrole, Dabei hatte
die Regierung die Unannehmlichkeit sehr schwankender Erträge, große Kosten
für die zu unterhaltenden Gebäude und für die Verwaltung überhaupt. Eine
Regierung übernimmt, während sie die Mühen der Verpachtung einer Anzahl
großer Domänen leichter ertragen kann, mit der Verpachtung einer großen
Anzahl mittlerer Hofe eine enorme Last. Leute mit mehr Kapital, als zur
ersten Einrichtung nötig ist, wird die Regierung zur Ansiedlung in Posen
ebensowenig finden wie zur Besiedlung der Moore. An Kauf gegen erhebliche
Anzahlung, jn nur gegen Abzahlung in regelmäßigen Terminen wird kaum zu
denken sein, umsoweniger als die Bodenverhältnisse in Posen und Westpreußen
in den meisten Fällen großer Meliorationen bedürfen werden, wenn mittelgroße
Höfe ihre Besitzer ernä'dren sollen. Am zweckmäßigsten würde daher folgendes
Verfahren erscheinen: Die Regierung verleihe den Kolonisten Eigentum an ihrem
Grundbesitze gegen Zahlung eiuer gemäß der bestehenden Gesetzgebung auf dreißig
Jahre hinaus uuablösbaren Rente mit der kontraktlichen Bestimmung, daß
die Güter nach Einführung der Neuteugüler in solche umgewandelt werden sollen.
Sollte mau hierbei auf Schwierigkeiten stoßen wegen Festsetzung der zur
Sicherung der Rente nötigen Teilbarkeitsbeschränkungen oder wegen Bestimmung
der künftigen Verwandlung in Neuteugüler, so muß man sich mit der Zeitpacht
fürs erste behelfen oder noch besser die Vorlage eines Rentengütergesetzes nach
Möglichkeit beschleunigen. Die Vorarbeiten sind ja größtenteils beendigt. Gerade
in Westpreußen und Posen ist ferner nicht nur eine Germanisirung, sondern auch
eine Vermehrung der mittler» Güter notwendig. Nur das Ncntengut mit seinen
Teilbarkeitsbeschränkungen u. s. w. sichert also auch die Erhaltung neugeschaffener
mittlerer Güter gegenüber der aus ihre Vernichtung gerichteten Tendenz der
Zeit. Man mache die Rente auch einseitig unnblösbar und unkündbar. Obwohl
die Neigung zur Ablösung erwiesenermaßen sehr gering ist, könnte doch ein
zeitweilig niedriger Zinsfuß dazu veranlassen und Hhpvthekennvt herbeiführen.
Gebäude wären ihrer Vergänglichkeit wegen nur gegen eine Amortisationsrente
zu überlassen.
Zieht man die Folgerung aus allen obigen Ausführungen, so wird man
sich der Annahme nicht verschließen können, daß die Herstellung des Nechtsver-
hciltuisses der Rcntengnter eine Notwendigkeit für Deutschland sei. Selbst
Skeptiker werden mindestens zugestehen müssen, daß die Einführung keinerlei
Gefahren mit sich bringe, dagegen die Möglichkeit großen Nutzens vorhanden
sei. Kolonisten werden sich zur Zeit in Deutschland genug finden, welche es
vorziehen, im Vaterlande ihr kleines Kapital anzulegen, als auszuwandern, ins¬
besondre jüngere Söhne aus Bauerhöfen, die ans den ältesten Sohn über¬
gehen. Günstige Bedingungen, vielleicht Gewährung einiger Freijahre bei un-
ergiebigen Boden u. dergl., werden den Zuzug verstärken.
Der Staat würde hauptsächlich auch bei der praktischen Einführung der
Rentengüter beteiligt sein. Die Schwierigkeiten, welche ihr entgegenstehen, sind
nicht zu verkennen, wenn mal nnr an die Parzellirung großer Güter, die Her¬
stellung neuer Gebäude, neuer Wege, Schulen u. s, w, denkt. Es wird mancher
Fehler gemacht werden, mancher Verlust im einzelnen Falle eintreten, die be¬
sprochene Maßregel wird im großen erst, nachdem Erfahrungen gemacht sind,
vollendet werden. Aber nur ängstliche Gemüter können dumm von Versuchen
abraten. Daß der Staat Verluste an Kapital zu beklagen haben werde, läßt
sich ebenso wenig beweisen wie das Gegenteil, daß ihm pekuniärer Borten davou
erwachsen inerte. Wer rechnet ihm aber die Rentabilität einer neuen, Millionen
verschlingenden Eisenbahnlinie, eines Kanalbnnes auf Heller und Pfennig vor?
Obwohl es sich dabei nur um wirtschaftliche Interessen handelt, ist der Staat
doch bereit, Opfer zu bringen. Hier aber handelt es sich um weit Höheres,
um sozialpolitische und nationale Ziele. Eine kräftige, selbstbewußte Staats-
regierung muß daher den Versuch wagen. Wird sie mit gutem Beispiele voran¬
gehen und dadurch zugleich eine Gewähr für den Bestand des Rechtsverhältnisses
bieten, so werden Private, Korporationen, Stiftungen n. dergl., erkennen, daß
auch für sie die Errichtung von Rentengütern in vielen Fällen von Vorteil,
eine bequeme und „ideal sichere" Ausnutzung ihres Grundbesitzes ist.
er allmächtige Zug der Zeit drängt auch die dramatischen Dichter,
die sich unzweifelhafter Erfolge auf der Vühue rühmen dürfen,
zum Roman. Wenn wir de» jüngsten Literaturweiseu glauben
dürfen, die alle literarischen Erscheinungen und Wandlungen auf
eine Erwerbs- und Geldfrage zurückführen, so hätten wir anzu¬
nehmen, daß trotz der Tantieme die Nomanproduktion sich ausgiebiger belohne
als die dramatische Poesie. Da es indessen unter allen Umstünden eine freche Belei¬
digung eines wahrhaften Talents ist, seine Vorsätze und Leistungen lediglich auf
das Honorarmotiv zurückzuführen, so werden wir uns nach einem bessern Grunde
dasür umsehen müssen, daß der Dichter des „Meineidbauern" und des Schau¬
spiels „Der ledige Hof" neuerdings die Form der Erzählung und des Romans
bevorzugt. Wir glauben nicht fehlzugehen, wenn wir das ästhetische Glaubens¬
bekenntnis Anzengrubers als die Kraft ansehen, die ihn unwiderstehlich zum
Roman leibt. Anzengruber ist Naturalist, er gehört zu den Bekennern des
neuesten Evangeliums von der unmittelbaren unverfälschten, unverkünstelten
Wiedergabe der Natur, er teilt deu tiefen Widerwillen gegen alles Konventionelle
und, fügen nur hinzu, gegen alles für konventionell erklärte in der Kunst, er
strebt zum Kern der Erscheinungen zu dringen, zunächst unbekümmert, ob sich
Freude und Genuß an deu Erscheinungen gewinnen läßt, er teilt die Losung,
das; die Poesie die ganze Wahrheit, die Wahrheit um jeden Preis darstellen
solle, gleichviel was darüber aus ihr selbst werde. Nun ist gewiß, daß der
Roman dieser Auffassung der Dichtung besser entgegenkommt als das Drama.
Eine Drama ohne künstlerische Absicht, ohne Aufbau, ohne Steigerung, ohne
Konzentration, ohne Weglassung des Zufällige!,. Unwesentlichen und bloß Äußer¬
lichen kaun nicht gedacht werden. Ein Drama fordert von vornherein eine so straffe
Zusammennahme der Fäden, eine Beschränkung der Motive und eine Folgerichtig¬
keit der innern und äußern Entwicklung, wie sie nach der Meinung der Natura¬
listen vom reinsten Wasser aller ..wahren" Menschen- und Lebensdarstellung
widerstreben. Allerdings räumen die Herren ein, daß anch bei einigen drama¬
tischen Dichtern in einzelnen Charakteren und einzelnen Zügen das zu finden
sei, was sie echte Natur nennen, und nicht alle mögen den Beruf des Schrift¬
stellers, der ein Dichter ist. mit dem des modernen Romanschreibers, des Analy¬
tikers vertauschen, der, jede Vergleichung mit den Dichtern früherer Zeiten ab¬
lehnend, ein Physiolog, ein Zootom, ein Chemiker, wenn es sein muß alles, nnr
kein Künstler heißen will. Wir werden demnächst bessere Gelegenheit haben,
diese neuästhetischeu oder vielmehr antiästhetischen Prinzipien an ihren deutschen
Resultaten genauer zu besprechen oder zu prüfen, aber das hier angedeutete
reicht hin, um die Bevorzugung des Romans vor allen poetischen Formen bei
jedem Naturalisten zu erklären. Ob die Zolaschüler reinen Blutes Auzengruber
sür einen reinen und vollen Naturalisten gelten lassen, bleibt allerdings fraglich,
da er weder ausschließlich noch mit Vorliebe aus deu großstädtischen Kloaken
schöpft, die den kastalischen Quell der unbedingt modernen bilden. Indes braucht
uns das nicht zu kümmern, so weit die Geschichte der dentschen Literatur dereinst
Notiz nehmen wird von den Bestrebungen des Naturalismus, so weit wird sie
sicher Auzengruber als eines der frischesten, eigentümlichsten und unbefangensten
Talente unter den Naturalisten ehren.
Das jüngste Werk des österreichischen Dichters, der Roman Der Stern¬
steinhof (Leipzig. Breitkopf ^ Härtel), wird zwar nicht durch eine Schutzvvrrede
eröffnet, aber es folgt ihm ein Nachwort, welches den Leser mit aller wünschens¬
werten Deutlichkeit über die Absichte« des Verfassers unterrichtet. Da heißt es:
„Der Leser hat eine Frage frei. Warum erzählt man solche Geschichten, die nnr auf¬
weisen »wie es im Leben zugeht«? Allerdings giebt das ein unfruchtbares Wissen,
da es nichts an den Vorgängen ändern lehrt und was es lehrt doch nie, selbst von
den Wissenden nicht, mit dem Handeln in Einklang zu bringen versucht wird; so
bleibt es denn voraussichtlich noch lange mit allem menschlichen Treiben und
Trachten beim Alten, und eine neue Geschichte kann mir darthun, daß das, was
vorging, noch vorgeht. Übrigens ist es nicht neu, von den Gefahren der Schön¬
heit für den, der sie besitzt, wie für andre zu erzählen, es ist nicht neu zu er¬
zählen, wie in manches Menschen Leben die Treue gegen das eigne Selbst mit
dem Verrate um ander» verknüpft zu sein scheint, und solche alte Geschichten
von erprobter Wirkung in ein neues Gewand zu stecken, ist nur ein künstlicher
Behelf, und ein andrer ist es, das letztere aus Loden zuzuschneiden; es geschieht
dies nicht in dein einfältigen Glauben, daß dadurch Bauern als Leser zu ge¬
winnen wären, noch in der spekulative» Absicht, einer mehr und mehr in die
Mode kommenden Richtung zu huldigen, sondern lediglich aus dem Grnnde, weil
der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger
in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften, riick-
haltslvs sich äußernd oder in nur linkischer Verstellung, verständlicher bleibe»
und der Ausweis, wie Charaktere unter dem Einfluß der Geschicke werden oder
verderben, klarer zu erbringen ist an einem Mechanismus, der gleichsam am Tage
liegt, als an einem, den ein doppeltes Gehäuse umschließt und Verschnvrkeluugen
und ein krauses Zifferblatt umgeben, wie denn auch in den ältesten, einfachsten,
wirksamsten Geschichten die Helden und Fürsten Herdenzüchter und Großgrund¬
besitzer waren und Sauhirten ihre Hausminister und Kanzler."
Wer nach diesem langatmigen Satze noch etwas Atem hat, wird zunächst
gegen die Behauptung Widerspruch erheben, daß die Dorfgeschichte eine mehr
und mehr „in die Mode" kommende Richtung sei; uns scheint vielmehr, daß sie
demnächst gründlich „aus der Mode" verdrängt werden wird, ohne darum an
ihrer innern Berechtigung und Bedeutung zu verlieren. Doch das ist unwesent¬
lich, der Kern des Nachworts liegt in der Erläuterung, daß der Grundgedanke
des Romans „Der Sternsteinhvf" der sei, daß die Treue gegen das eigne
Selbst oft Verrat gegen andre scheine. Wenn man den Accent nicht scharf ans
das letzte Wort legt, so steht der Satz Anzengrubers in geradem Gegensatze zu
Shakespeares herrlichem:
Sei dir selber treu,
Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage,
Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.
Die Landschaft, in welcher sich die Geschicke der Menschen abspielen, für die
der Dichter unsre Teilnahme zu gewinnen sucht, ist die ober- oder uiederöster-
reichische; allein, wie billig, tritt die Schilderung der Landescigentümlichkeit ganz
in den Hintergrund. Umso deutlicher steht der Stcrnsteinhof mit seinen Schiefer¬
dächern und blitzenden Fenstern, seinen weitläuftigen Wirtschaftsgebäuden und
den Wiesen lind Ackern, die weit und breit zu ihm gehören, vor den Augen des
Lesers. Um deu Hof und seinen Besitz handelt es sich. Dem reichen Bauern¬
hause gegenüber wächst in armer und verwahrloster Hütte ein schlankes Dirnchen,
die Zinshofer-Helen', empor. Sie steht barfuß und ein Schmalzbrot kauend
dem Stcrusteiuhof, der auf dem Hügel liegt wie ein Schloß, gegenüber. „Alle
Märchen, von denen sie gehört oder gelesen hatte, vermischten sich in ihrem
Kinderkopfe. Da war einmal eine blutjunge, bettelarme Dirne, wohl war sie
bildsauber, aber das merkte ihr niemand an, denn sie hatte nur schlechte Kleider,
und mit denen lag sie nachts in der Herdasche, der war es aufgegeben, auf
einer glühenden Pflugschar über ein Wasser zu schreiten, einen gläsernen Berg
hinauzukletteru und in dem Schlosse dort oben einem bösen, alten Weibe, das
den Schlüsselbund nicht ausfolgen wollte, den Kopf zwischen Deckel und Rand
einer eisernen Truhe abzukneipen, dann aber war das Schloß entzaubert, ge¬
hörte mit allein Hab und Gut innen und allem Grund und Boden außen der
armen Dirne, die nun bis an das Ende ihrer Tage herrlich und in Freuden
lebte. Wahrhaftig, die kleine Zmshofer-Helene war ein weltkluges, entschlossenes
Kind. Sie schätzte ganz richtig, daß viel Anstrengung, Mühsal und Pein auf
dein Wege nach solch einem verzauberten Schlosse liegen müsse, auf die Hilfe¬
leistung gütiger Feen machte sie sich keine Rechnung, schöne Prinzen schienen
ihr kein dringliches Erfordernis und alte Weiber mochten sich vorsehen." Mit
dem Bewußtsein ihrer seltenen Schönheit wächst in Helene die Begier nach dem
großen Gehöft, nach dem Bauernadel, welcher nur mit sicherm Neichtume ge-
wonnen wird. Die Verehrung und Anhänglichkeit ihres Nachbars, des Bild¬
schnitzers Nepomuk Kleebinder (Muckerl) läßt sich die Dirne mit dem Behagen
gefallen, mit dem man die Treue eines Hundes entgegennimmt; ihr Dank gegen
ihn erstreckt sich nicht über den Augenblick hinaus, in welchem er ihr eine Gut¬
that erweist, eine Erwiederung seiner unartikulirteu Leidenschaft heuchelt sie im
Grunde genommen nie. Aber sie bleibt sich selbst und ihrer eigentlichen Sehn¬
sucht, vom Sterufteiuhvf auf die Niedrigkeit der Armut und der Alltäglichkeit
herabzuschauen, nicht völlig treu. Ihre Aussichten im Leben sind so dunkel,
daß sie die offenkundige Bewerbung des Bildschnitzers, der ziemlich viel Geld
verdient und ihr aus ihren Lumpen heraus in die landesübliche Kleiderpracht
hilft, nicht ganz zurückweisen kann. Wenigstens so lange nicht, bis es ihr ge¬
lingt, die Angen des Toni, des Bauernsvhnes vom Sternsteinhofe, auf sich zu
ziehen. Sie „handelt" mit ihm in einer Weise an, daß der Bauernjunker so¬
gleich spürt, er müsse entweder ernste Absichten fassen, oder sich das Gelüst nach
der Schönheit der Dirne vergehen lassen. Mit schärfster Einsicht, aber in stolzem
Bewußtsein ihrer zwingenden Schönheit schlendert Helene dem nachschleichenden
Toni ins Gesicht: „Was willst mit all dein'in Nachlaufen und Aufdringlich¬
keiten bezwecken, als daß ich den Burschen, der's ehrlich mit mir meint, fahren
lassen sollt' dir z' Lieb, der's nit in Ehren meint, nit in Ehren meinen kann
noch darf?" Dabei aber rechnet sie richtig, daß die Eitelkeit und das leiden¬
schaftliche Verlangen des Burschen stärker sein werden als seine Furcht vor dem
Vater und dem Urteile der Welt. Indem sie ihn abstößt, zieht sie ihn an sich,
verlangt ein schriftliches Eheversprechen und fesselt ihn so an sich, daß er keinen
andern Gedanken mehr hat, als sie zu erringen und zu besitzen, Schlangentlng
weiß sie dabei auch zunächst das Verhältnis zu Muckerl aufrecht und den armen
Bildschnitzer in den engen Schranken zu halten, welche sie ihm von vornherein
gezogen hat. Nur in drei Dinge» irrt sich die Kluge, Zielsichere, in der Un-
beugsamkeit des alten Sternsteüihvfbauern, in den guten Augen der Um¬
gebung des Bildschnitzers und in ihrer Widerstandsfähigkeit gegen Tonis Leiden¬
schaft. Die Mutter des Bildschnitzers und eine verwandte häßliche Dirne,
Joscpha, welche den Mnckerl mit der ganzen Wärme und Ausschließlichkeit
solcher Mädchen liebt, kommen dahinter, wohin Helmes eigentliche Absichten
gehen, und so gerät sie in eine Lage, aus der sie nur die Ehe mit Toni in
glücklicher Weise befreien könnte. Der alte Bauer, dem der Sohn den Ge¬
horsam aufgesagt und angekündigt hat, daß er nie eine andre als die Zinshofer-
dirne nehmen werde, handelt entschlossen und in seiner Weise klug: er läßt den
widerhaarigen Sohn zu den Soldaten aufheben und thut keinen Schritt zu
seiner Befreiung, er weist Helene und ihre Mutter, als diese mit dem Einge¬
ständnisse vor ihn treten, daß sie sich dem Toni ganz vertraut, unbedingt ab.
Er zeigt sich dabei nach seiner Weise teilnehmend und großmütig und ist bereit,
für Helene» und für das Kind, das sie erwartet, zu sorgen; das erbitterte
Mädchen wirst ihm freilich sein Geld vor die Füße, aber die Mutter, ein Weib,
„recht auserlesen zum Kuppler- und Zigeunerwesen," nimmt es hinterdrein doch.
Der Erbe des Sternsteinhofs zürnt in seiner selbstsüchtigen Verwöhnung mit
der Dirne, um deretwillen er nun den Schießprügel Schultern muß, und weicht
ihr aus, ohne sie gerade verlassen zu wollen. Sie aber wähnt sich verlassen
und führt in wilder Aufwallung ihres zertretenen Stolzes einen vollen Bruch
herbei. Mit all ihrer Klugheit hat sie nichts geerntet als Schande und eine
traurige Zukunft. In dieser Lage tritt der Kleebindermuckl wieder an sie heran
und zeigt ihr, daß er die alte Liebe zu ihr nicht überwunden noch vergessen hat.
Helene belügt ihn nicht, gesteht wenigstens sofort und mit dem ganzen ihr eignen
Trotze ein, daß sie ein Kind des Buben vom Stcrnsteinhof erwartet. Da ihr
Muckerl dennoch Hand und Herd bietet und für sie und — das andre recht¬
schaffen zu sorge» verspricht, fragt sie nun, ob es sein Ernst sei, schlägt ein und
sagt kurz und fest: „Es gilt." „Da aber überwältigte sie die Rührung über
die Gutmütigkeit des Burschen, sie drückte seine Rechte an ihr Herz, dann an
die Lippen. »Muckerl, rief sie, du bist doch mein wahrhafter Helfer in der
Not. Daß du mich so lieb hast und von der Schand arrete'se, das vergeß ich
dir in alle Ewigkeit nit.« Sie meinte es in diesem Augenblicke gewiß aufrichtig,
aber ach, die kurzlebigen Menschen denken nicht, wie viel an den Ewigkeiten,
mit denen sie um sich werfen, oft eine kleine Spanne Zeit ändert." Die Hochzeit
wird bei bewandten Umständen ziemlich eilig veranstaltet, der brave Mnckerl
nimmt auch noch das Gerede der Leute auf seine verwachsenen Schultern und
kann von Glück sagen, daß zur Zeit der brave Pfarrer Leopold Reitler im Dorfe
gebietet und nicht sein Kaplan Martin Sederl, der im Umgange mit der sün¬
digen Welt fürs „Dreiiiteufeln" ist. Der Kleebmder Mucker! hat seinen Willen,
aber sein Glück ist kurz, zuerst stirbt ihm die Mutter hinweg, die sich über die
.Heirat nicht zufrieden geben kaun, dann säugt er an zu empfinden, daß das
jngeiidschöiie stattliche Weib für ihn in jedem Sinne nicht paßt, so umsichtig
sie sich auch seines Hauses annimmt und jede Pflicht erfüllt. Er fühlt sich
bald herzensmüde, und in ihrer Seele sieht es nicht besser aus. „Sie war nun
allerdings unbestrittene Herrin im Hanse, aber in welchem? Wer war sie?
's Zwischenbühler Herrgvttlmachers Weib! Wenn sie abends mit dem kleinen
Hans ans dein Arme unter die Thüre trat und hinaufsah zu dem Sternstciu-
hofe, der mit vom Sonnenuntergange erglühenden Fenstern vor ihr lag, wie sie
als Kind oft ihn gesehen, dann hätte sie gern Steine von der Straße raffen
und all die blinkenden Scheiben zu Scheiben werfen mögen; aber wie weit, wie
weit lag der prangende Hof, für sie wohl gar wie aus der Welt! Einmal streckte
das Kind nach dem Gefunkel auf der Höhe die Ärmchen ans, sie sah es über¬
rascht an. Weißt dn much, wo d' hing'hörst? Wo wir allzwei sollten sitzen,
wenn auf Wort und Schrift untern Menschen ein Verlaß wär'? Der Fratz
meint ihn nah, wie zu'n Greifen! Ob das was vorbedeut't? Mein Jesus, den
Gedanken nit los zu werden, was das für ein Unsinn ist." Sie wird ihn
denn auch nicht los, obschon sie dem Stcrnsteinhof-Toni, als er much drei
Jahren aus dem Dienste heimkommt und sie und ihr Kind auf der Straße keck
anspricht, verständlich den Weg zeigt, obschon der Toni, um in den Besitz des
Hofes zu kommen, die reiche Bauerntochter, die ihm früher zugedacht war, in
überraschend schneller Weise heimführt und den Alten ins Auszughäuscheu drängt.
Der junge Bauer findet in seiner Ehe noch weniger Glück als die Ziushofer-
Helene in der ihrigein seine Frau, Sau, gebiert ihm el» Töchterchen, ein dürftig
kränkliches Würmchen, und siecht selbst dahin; schon bei der Taufe seines Kindes
versagt sich der Toni nicht, nach der kräftigen Gestalt des jungen Weibes
des Herrgottmachcrs begehrlich hinzublicken und demnächst in der .Hütte der
alten Zinshoferin vorzusprechen, seinen Jammer lind sein Elend zu beklagen
und sich „auszureden darüber, wie anders alles hätte werden können."
Und nun folgt naturnotwendig die verhängnisvolle Unterredung zwischen dein
jungen Bauern und Helene in der Hütte der alten Zinshoferin, in welcher das
junge Weib dem Stcrnsteinhofbauern zwar noch bitter genug vorhält, was er ihr
angethan und daß er sich ihr jetzt nicht mehr nahen dürfe, ohne ihre Ehre aufs
neue und schlimmer als je zuvor zu gefährden, in der aber auch das ver¬
hängnisvolle Wort fällt, daß das Kind, welches jetzt auf „eines andern Duldung"
angewiesen ist, vielleicht noch einen Vater bekommen könne. Toni poltert heraus,
was ihm das Herz preßt: „Wie lang kanns denn mit meiner Bäuerin währen?
Vielleicht nimmt s' unser Herrgott bald zu ihm, wär ja auchs beste für sie,
denn heil und nutz wird s' doch nimmer." Da hat wohl die junge Frau noch
die Kraft, dem frevelnden Träumer zu sagen, daß sie keine Ursache habe, ihrem
braven Manne den Tod zu wünschen, aber unerschütterlich erklärt ihr Toni:
„Er lebt auch nicht ewig!" und die rohe Zuversicht des jungen Egoisten klingt
in Helmes Seele nach. Am Tage nach dieser Unterredung kommt der Agent
einer Lebensversicherungsgesellschaft ins Dorf und überredet mit jüdischer Zähigkeit
und Zudringlichkeit den nichts ahnende» Bildschnitzer Muckerl sich in seine Ge¬
sellschaft einzukaufen und zu diesem Endzweck ärztlich untersuchen zu lassen.
Das Resultat der Untersuchung ist, daß der verkrümmte, schwächliche, über¬
arbeitete Mann nicht aufgenommen wird und von Stund an die Furcht vor
seinem baldigen Ende mit sich herumträgt. Von Stund an aber gewinnt auch der
Traum, nun doch noch Sternsteinhvfbäuerin zu werden, immer mehr Macht über
das Weib des Bildschnitzers, sie sträubt sich nicht mehr gegen den gelegentlichen
Verkehr mit dem Toni, in Blicken und abgebrochenen Redensarten verraten die
beiden, was ihre Seelen erfüllt. Die totkranke Bäuerin Sau vom Sternsteinhvf
ist die erste, die errät, was vorgeht, sie reißt unbarmherzig die Binde auch von
Muckerls Augen, Helene wehrt sich in dem Bewußtsein, eine äußere Pflicht nicht
verletzt zu haben, kräftig genug, aber ihr Gewissen sagt ihr, daß sie in der
That auf den Tod ihres Mannes und den der jungen Sternfteinhofbänerin
wartet. In dieser Selbsterkenntnis gönnt sie dem kranken Muckerl den täglichen
Verkehr mit der Seybert, pflegt ihn so gut sie vermag und heuchelt bei seinem
Tode keinen Schmerz, sagt vielmehr, als sie am Abend nach des Bildschnitzers
Begräbnis in die Behausung ihrer Mutter zurückkehrt: „No, wär ich halt doch
wieder da, afin Stroh — auch, uit viel besser dran wie a Bettlerin, und hales
mich getroffen, daß ich noch a Reih' von Jahr'n mit dem armen Teufel Hausen
mußt', stand' ich sitzt gar als alt's Bettelweib." Das Bewußtsein ihrer Jngend
und Schönheit und der feste Blick auf ihr Ziel, das ihr nun immer näher rückt,
hält sie aufrecht, als sich die öffentliche Meinung gegen sie wendet. Toni, der
junge Bauer, nimmt sie samt ihrem Kinde zur Pflege der kranken Bäuerin auf
den Sternsteinhof, und so brutal dies vonseiten des Bauern erscheint, sie selbst
läßt sich nichts dabei zu Schulden kommen und verhält sich gegen die kranke
und sterbende Sau so, daß sie sich weder in der Beichte noch in ihrem künftigen
Leben einen Vorwarf zu machen braucht. Sie hält den sinnlich begehrlichen
Toni scharf im Zaume, und so glückt ihr um alles, wie sie es wünscht: sie
wird nach dem Tode der Sau und dem üblichen Trauerjahre Sternsteinhofbänerin,
sie bietet dem alten Sternsteinhvfbaner, der zunächst ihr Widersacher bleibt,
energisch Trotz, da er die dargebotene Hand zur Versöhnung verschmäht. In
ihr lebt jetzt die ganze Stärke eines Menschen, der sich auf seinem natürlichen
Grund und Boden fühlt. Schon bei ihrer Trauung mit Toni tritt das zu
Tage. „Daß Helene schön war, das wußte man, so schön aber wie an dem Tage
ihrer zweiten Trauung hatte sie noch keiner gesehen. Kein Schatten der Ver¬
gangenheit, keine Wolke, einem bangen Ausblick in die Zukunft entsteigend, trübte
dieses gliicksfrohe heitere Gesicht, und der einzig lesbare Gedanke in demselben
»Erreicht« zuckte mich nicht durch die Muskeln als miterdrückter Jubelschrei,
sondern barg sich hinter einer stillfreudigen, selbstbegnügten Miene/' Der feindliche
Alte muß erfahren, daß ihm diese Gegnerin mehr als gewachsen ist, er wird
durch sie tief gedemütigt und muß sich mehr und mehr eingestehen, daß in Helene
die rechte Bäuerin auf dem großen Hofe sitzt, besser als der eigne Sohn geeignet,
den Besitz zusammenzuhalten, zur Herrschaft geboren, Sie ist jetzt allem ge¬
wachsen, auch der Katastrophe, welche unes kurzer Zeit über sie hereinbricht.
Toni, ihr zweiter Manu, ist noch Reservist, wird zum Regimente einberufen und
fällt in den Gefechten mit den aufständischen Boechesen, Rasch entschlossen legt
die Sterusteinhvfbäuerin dem Alten die Sorge um den Enkel aufs Gewissen,
„Den Buben weis und lehr du, laß ihm's nit entgelten, was d' etwa noch von
früher her gegen mich hast," Es erfolgt eine völlige Versöhnung Helmes mit
dem alten Stcrnsteinhvfbaueru, und so lebt sie fortan Jahr um Jahr, wie es
ihr ziemt, sie denkt nicht wieder an Verheiratung, „Ihr Unabhängigkeitssinn,
der schließlich dem Anwesen und dessen Erben zu Gute kam, ihr allerdings nicht
von Eitelkeit freies Bemühen, den eignen Jungen und die Stieftochter recht¬
schaffen zu erziehen, um als achtbare Mutter wohlgearteter Kinder vor den
Augen der Welt dazustehen, ihre Bereitwilligkeit, Bedürftigen beizubringen, da
ihr der Anblick der Not, die sie aus eigner Erfahrung kannte, peinlich war und
sie sich gern von selbem loskaufte, ihre Freigebigkeit für gemeinnützige Zwecke,
Straßen- und Brückenanlagen, Schulbänken und dergleichen — aber auch nur
für solche, nie für fragwürdige, das alles waren ebenso viel Steine, die sie
bei den Leuten im Brette hatte, sie galt für ein Keruweib in allen Stücken.
Über dieses Keruweib vergaß man die Zinshofer-Dirn und des Herrgottlmachers
Weib, man fragte nicht darnach, was die Sternstcinhoferin gewesen, noch was
sie würde, man nahm sie, wie sie war."
Es ist leicht zu sehen, daß auch Anzengrubers inniger Anschluß an die
Bescheidenheit der Natur, seine darstellende Wiedergabe der gut belauschten
Wirklichkeit nicht frei von dem Pessimismus ist. der sich nun einmal mit
dem modernen Naturalismus paart. Immerhin aber hält sich Anzengruber
innerhalb jeuer Schranken, in denen die poetische Wirkung noch möglich ist,
er aualhsirt uicht aus der bloßen Freude am Schlechte», Niedrigen und Ge¬
meinen, sondern weil ihm das Rätsel des Lebens schwer auf der Seele liegt.
Seine innerste Empfindung gegenüber dem Dargestellten drückt vielleicht der
Pfarrer im letzten Gespräche mit dem übereifriger Kaplan aus. Es ist klar,
daß die Charakteristik der Heldin keine Glorifikation derselben fein soll, lind der
Dichter überläßt es dem Leser, wie er sich mit der Sternsteinhvfbä'ueriu Helene
abfinden will. Es ist ein dunkles, ja wenn man will ein furchtbares Stück
Leben, das im Stcrusteiuhvf vorgeführt wird, aber menschlichen Anteil können
und mögen wir ihm dennoch nicht versagen. Auch stellt sich der Verfasser nicht
mit Prinzipieller Feindseligkeit gegen das Schöne und Erhebende, die Schilde¬
rung des Seelenzustandes des jungen Kaplaus nach der Beichte Helmes
(Bd. 2, S. 24 ff.) gehört im Gegenteil zum Schönsten, was uns in der natu-
ralistischen Erzählungskunst. und nicht nur in dieser, begegnet ist. Bei alledem
bleibt doch auch für Anzengruber wie für die ganze Schule verhängnisvoll, daß
ihr die Wahrheit des Lebens meist erst da beginnt, wo sie die Niedrigkeit und
die Eitelkeit der menschlichen Natur darstellen. Die Beobachtungen sind im ein¬
zelnen meist richtig, die Schlüsse, welche der Dichter ans ihnen zieht, würden
richtig sein, wenn ihnen nicht andre Beobachtungen gegenüberstünden. Doch be¬
zieht sich das mehr ans die Reflexionen, welche Auzengruber an seine Darstel¬
lung anknüpft, als auf die Darstellung im „Sterusteinhvf" selbst. Die Geschichte,
die er erzählt, und die Charakteristik der Hauptgestalten sind überzeugend, er
hätte es dabei bewenden lassen können. Dies umsomehr, als regelmäßig der
Vortrag und der Stil Anzengrnbers, welche im vollen freien Fluße der Er¬
zählung zwar nicht tadellos, aber fesselnd und lebendig sind, stark hcrabsüllen
und geschmacklos werden, wenn er Allgemeinheiten an seine Darstellung anknüpfen
will. Wenn er Bemerkungen zum besten giebt, die über den Rahmen der Er¬
zählung hinausgreifen, gelangt er zu Stilblüten wie die nachstehende- „Toni
hatte mittlerweile, was die Weiberleut anlangt, zugelernt — der Soldatenstand
soll ja auch in der Beziehung eine gute Schule sein —, und wußte einen Unter¬
schied zu macheu zwischen den einen, die, schalkischen Krämern gleich, welche
Schlenderwaare feilbieten, ebenso gerne betrügen, als sie das Betrvgenwerden
leicht verwinden, und den andern, die, nicht lecker nach Unerlaubtem, sich-jeden
unlauter» Handel von vornherein verbieten und die schlagfertigsten unter ihnen
wohl auch dem zudringlichen Krämer als Abstandsgeld eine Münze verabfolgen,
die, unter Brüdern fünf Gulden wert, selbst vor Gericht nur Kursschwankungen
unterliegt und seit die Welt steht, noch nie mit falscher Präge vorgekommen ist,
trotzdem aber an öffentlichen .Kassen nicht an Zahlnngsstatt angenommen wird,
wogegen sich allerdings vorab die Steuereinnehmer höchlich verwahren würden.
Ob dem Sternsteinhofer Toni je unter der Hand einer oder der andern ehren¬
haften Schönen jene einseitige Schamröte aufgestiegen ist, welche nicht das Re¬
sultat eines physiologischen Prozesses, sondern das einer fremden Kmftänßernng
ist, davon hat er nichts verlauten lassen, wie denn solchen Vorkommnissen gegenüber
selbst die geschwätzigsten Männer sich strenger Diskretion zu befleißigen pflegen,"
Auch mit der Einschleppung gewisser unschönen und nachlässigen Dialektworte wie
„das Kind betreuen" (für treu behüten), „serbeln" (für kränkeln) u, s, w., die
nicht bloß im Munde der Bauern, sondern in der Erzählung Anzengrnbers selbst
vorkommen, kann man sich so wenig einverstanden erklären, als mit den oben
angedeuteten Geschmacklosigkeiten, Jedoch sind das alles Mängel, die uicht
schwer ins Gewicht fallen gegenüber den wirklichen Vorzügen dieses natura¬
listischen Romans, Es kommt eben darauf an, welchen Maßstab man an die
Schöpfungen legt. Als Lessing in „Minna von Barnhelm" und Goethe in
„Hermann nud Dorothea" unmittelbar aus dem Leben schöpften, fiel ihr hellerer
Blick auf glücklichere Vorgänge und Gestalten, und im Vergleich mit jener
Lebenswahrheit, die uns die klassischen Realisten vor Augen stellten, bleibt die
im „Sterufteinhof" gebotene unerquicklich genug. Vergleichen wir jedoch Erfindung
und Charakteristik der Auzeugruberschm Erzählung mit den Kraftprodukten des
jüngsten papiernen Sturmes und Dranges, so wird der österreichische Dichter
f
usre genauere Bekanntschaft mit japanischen Holzschnittwerkeu datirt
von den Expeditionen her, welche zum Abschluß von Handels¬
verträgen unternommen wurden (vou Preußen 1859—1861, von
Österreich 1868—1871 u. f. w.). Wir erhielten damals außer der
vielbändige» Euchtlopädie eine Anzahl von Skizzen-- und Muster¬
bücher», deren Darstellungen zum Teil durch Naturwahrheit überraschte», zum
Teil aber auch den Eindruck arger Karikaturen machten. Allerdings ist bei
ihren Zeichnern die Neigung zum Kariliren ziemlich häufig, doch auch diese
Sachen sehen wir jetzt mit andern Augen an. Viele solcher Bilder geben nur
die phantastischen Thpcu oder Szenen ihrer Pantomimen, auf andern Blättern
erkennen wir ihre Gymnastiker und Jongleure wieder; und dn müssen wir be¬
kennen, daß wohl ein sozusagen michelangelesker Zug zum Übertreiben vorkommt,
in der Hauptsache aber wieder das treueste Naturstudium zu bewundern ist, und
nicht minder die Sicherheit der Zeichnung mit ihren freilich ganz vorzügliche»
Pinseln, welche bald mit der feinsten Feder wetteifern, bald flott und breit
arbeiten. Vielfach ist auch das, was uus anfangs befremdete, nur die scharfe
Ausprägung des Rcisfentypus. I» alledem, auch in der Fäesimilewiedcrgabe
der Zeichnungen im Holzschnitt und i» der diskreten Farbengebung, haben aber
die japanischen Künstler, soweit wir nach den importirten Erzeugnisse» zu ur¬
teilen vermögen, im Verlaufe der letzten Jahrzehnte noch erstaunliche Fortschritte
gemacht. Um dieselben nachzuweisen, müßte mau allerdings die Bücher selbst
zur Anschauung bringen und in manchem Seite für Seite aufzeigen können.
Indessen befinden sich solche gegenwärtig in so vielen Händen oder sind doch
so leicht zugänglich, daß ich mir Wohl erlauben darf, einzelne Bilder zu erwähnen,
in welchen mit einer scheinbar flüchtigen, skizzenhaften Zeichnung eine kaum zu
übertreffende Wirkuug erreicht worden ist.
Nehmen mir beispielsweise das dreibändige Werk mit Darstellungen von
Vögeln. Da sehen wir, wie drei Wildgänse in das Schilf einfallen, alle in
derselben charakteristischen Flugbewegung, aber mit verschiednen Tempo des
Flügelschlages, sodaß jeder Vogel eine etwas andre Ansicht darbietet als die
übrigen. Nur drei Farbentöne sind benutzt, Schwarz, Grau und ein gelbliches
Rot, welche zum Teil ohne Kontur aufgetragen sind — ein Umstand, den wir
uns nachher in Erinnerung rufen wollen —, und bei so geringem Aufwande
sieht man garnicht ab, was ein Mehr von Farben oder ein weiteres Eingehen
in das Detail noch an der malerischen Wirkung bessern könnte. Ans einem
andern Blatte findet ein blutiges Gefecht zwischen zwei Sperlingen statt, zwei
weitere schießen auf sie zu, offenbar um sich an dem Kampfe zu beteiligen,
noch andre begleiten die Handlung wenigstens mit ihrem Geschrei; mir zwei
besonders wohlbeleibte wenden derselben gleichgiltig den Rücken zu. DaS lebt
alles, man meint die Tierchen fliegen zu sehen und schreien zu hören. Auch da
genügen die erwähnten drei Farbentöne, mit welchen überhaupt in diesen Bänden
das Auskommen gefunden wird. Gedruckt sind die Farben; wir können die
Eindrücke der Hvlzfvrm fühle», und hie und da zeigt sich, daß das Blatt bei
dem Ausdrücken einer Farbe nicht ganz genau aufgepaßt worden ist, sodaß die
betreffenden Partien ein wenig verschoben erscheinen. Manchmal ist auch, wo
ein kräftigeres Schwarz für notwendig befunden wurde, mit dem Pinsel nach¬
gearbeitet worden; das lehren die Farbenränder und der etwas fleckige Auftrag.
Gehen wir zu einem Buche mit Landschaften über. Da kommt dem Schwarz
und dem Weiß des Papiers lediglich ein schwaches Blau zu Hilfe, und dennoch
sind die Svmmcrbildcr mit Wald, Wiese und stillem Wasser wie die Schnee¬
landschaften tren, sprechend, stimmungsvoll. Ein wahres Meisterstück ist die
Meeresbrandung mit dem bekannten höchsten Berge des Landes, den: Fnsiyama,
im Hintergrunde. Es ist kaum denkbar, daß die gewaltige Strömung, das
Emporschwellcn und Überschlagen der Wellen, das Aufspritzen und Zerstieben
des Schaumes, ja selbst das Lichtspicl auf der Flut mit größerer Wahrheit
gemalt werden konnte. Und hier ist ans alle Farbcnzuthat verzichtet, nur für
deu Schiicegipfel, die höchstem Lichter auf den Wellen und die gleichsam schauen--
gebornen Vögel, welche die Brandung umflattern, ist das Weiß des Papiers
ausgespart, alles übrige leisten Schwarz und Grau. Ebenso bescheidet sich der
Blumenmaler. Mit ein wenig Gelb oder Blau oder Rot kommt die Individualität
der Pflanze vollständig zum Ausdruck, und bei einem Strauche, dessen grüne
Blätter rot geädert und gerändert sind und der rote Vlütenrispcn trägt, ist eine
wahre Pracht des Kolorits ermöglicht mit nur drei Farbenplatten. Und eben
bei den Pflanzen begegnen wir häufiger dem Ausdrucke» einer Farbe ohne
schwarze Umrißzcichmmg, wodurch das Zarte, Gefiederte, Flockige von Blüten
vortrefflich zur Erscheinung gebracht ist.
Es liegt so nahe, mit dieser bescheiden auftretenden und dennoch so
wirkungsvollen Malerei diejenige zu vergleichen, welche trotz eines maßlosen
Farbenanfwandes noch künstlicher Beleuchtung bedarf, um sich zur Geltung
zu bringen!
Auch jene Art des Kvlvrirens mit einigen wenigen Tönen unter Verzicht¬
leistung ans Mvdellirung hat sich schon in aller Stille bei uns eingebürgert. In
England bemächtigte sich zuerst Walter Crane dieser Methode, ihm folgte die
Mnnicristin Kate Greenaway, die eine Zeit lang den Büchermarkt mit ihren
Puppenhaften, in ungeheuern Hüten beinahe verschwindenden Gestalten über¬
schwemmte, und jetzt sehen wir alle Zeichner für Kindcrschriften, von Fröschl
und Thumcmn angefangen bis zu den Namenlosen, denselben Spuren folgen,
namentlich auch dem Detail eine liebevolle Behandlung widmen, die von ihrem
jugendlichen Publikum dankbarst anerkannt wird. Denn gerade dadurch wird
jedes Blatt im neuen Bilderbuche zu einer viel reicheren und dauernderer Quelle
der Beschäftigung. Und von welcher Wichtigkeit auch für die Entivicklnng des
Schönheitsgefühls die ersten Bücher der Kleinen sein können, dus sieht in der
Gegenwart jedermann ein. So dürfen, wenn wir mit Befriedigung darauf
zurückblicken, wie sich in den letzten dreißig Jahren der Kunstsinn entwickelt und
ausgebreitet hat, die Verdienste dessen nicht übersehen werden, der uns zuerst
wirklich künstlerische Jugendschriften gegeben hat, Ludwig Richters, aber auch
den japanischen Malern schulden wir, glaube ich, Dank für die neue Anregung.
Noch will ich die Bücher nicht unerwähnt lassen, ans welchen deutlich wird,
auf welche Weise eben jene Maler die Natur studiren: in den Studicnlöpfen,
in den konstruirten Darstellungen lebender und lebloser Wesen von den ver¬
schiedensten Seiten einschließlich der schwierigsten Verkürzungen bei Auf- und
Untersichten. Da erscheinen ein kleines Mädchen mit einem jungen Hunde ans
dem Arme, ein bockender Alter mit einer .Kröte, ein Steinblock mit plastischen
Verzierungen u. a. in. von vier Seiten, dann von oben, dann liegend wieder von
verschiednen Seiten aufgenommen. Kennen wir ein auch nur annähernd so
gründliches Studium?
Mit den Leistungen der Japaner im Porzellan und andern Arten von
gebranntem Thon brauche ich mich nicht näher zu befassen, da eben diese am
längsten und allgemeinsten bekannt, in Werken über Keramik vielfach behandelt
worden sind, und Ausstellungen wiederholt Gelegenheit geboten haben, dieses
Spezialgebiet unter verschiednen Gesichtspunkte» zu betrachten.
Nicht ganz so steht es um die Bronzen, welche in frühern Zeiten durchaus
nicht die gebührende Beobachtung gefunden haben, zunächst wohl, weil man im
Abendlande mit diesem Stoff vertrauter war, vielleicht auch, weil die Gegenstände
den Gewohnheiten und dem Geschmacke der Europäer zu fern lagen. Auch die
Gegenwart hat Zeit gebraucht, bis sie die Vuddhastatueu, die mit plastischem
Ornament oft überladnen Tcmpclvasen, die Tierfiguren unbefangen, objektiv an¬
zuschauen vermochte. Aber sie hat es gelernt. Und diesen Ruhm dürfen wir
wohl für uns in Anspruch nehmen, die wir uus sonst in Dingen der Kunst
meistens der Vergangenheit gegenüber so klein fühlen, den Ruhm, daß wir
an die Schöpfungen jedes Zeitalters und jedes Volkes gleich vorurteilsfrei
hinantretcn und uns bemühen, sie aus den geistigen und materiellen Bedingungen
ihres Entstehens heraus zu begreifen. Wir sprechen keinem Stil und keiner
Richtung die Existenzberechtigung ab, weil sie etwa uns persönlich nicht zu¬
sagen oder mit den Schöuheitsbegriffcn unsrer Zeit und unsrer Nasse in
Widerspruch stehen; sondern wir vergegenwärtigen uns, so weit dies möglich ist,
die Denk- und Empfindungsweise, den Glauben und die Sitte, den Volkscharakter
und das Maß von Fähigkeit, welche Einfluß auf den Künstler geübt haben.
Daß diese historische oder, wenn mau will, historisch-ethnographische Be¬
trachtungsart am häufigsten auf Gegnerschaft gerade bei Künstlern stößt, mag
sich daraus erklären, daß bei dem Ausübenden die Kunst Glaubenssache ist und
der zum Patron erwählte Heilige keine andern neben sich duldet; für ihre
eignen Werke machen sie nichtsdestoweniger Anspruch auf objektive Beurteilung,
falls sie nicht Fanatiker sind, die unbedingte Unterwerfung unter ihr Dogma
fordern. In ganz eigner Stellung aber befinden sich diejenigen, welchen die
Aufgabe zugefallen ist, die Industrie wissenschaftlich oder künstlerisch zu fördern.
Sie müssen neben dem kunstgeschichtlichen Standpunkte stets den praktischen be¬
haupten, dürfen über dem archäologischen oder antiquarischen oder ästhetischen
Interesse nicht vergessen, sich die Frage vorzulegen, ob und was aus den
Arbeiten vergangner Zeiten oder fremder Nationen für die Gegenwart und das
eigne Volk zu lernen, was zu benutzen sei. Diese verschiednen Standpunkte
vertragen sich indessen ganz gut miteinander, wie durch die Thätigkeit der kunst¬
gewerblichen Bildungsanstalten dargethan wird.
Und die japanischen Bronzen, so absonderlich sie uns mitunter erscheinen
mögen, haben gerade für uns ein ganz „aktuelles Interesse." Sie erregten,
als sie zuerst in größerer Zahl herüberkamen, und erregen noch fortwährend
unsre Aufmerksamkeit durch technische Eigenschaften, durch den meisterhaften
Guß, die mustergiltige Ziseliruug, die große Mannichfaltigkeit der Farben, den
Reichtum und die präzise Ausführung der Silbereinlagen oder Tauschirungen.
So wundervolles im Einlegen von Silberdrähten in andres Metall die West¬
asiaten und deren Schüler, die Byzantiner, die Waffen- und Harnischschmiede
in Spanien, Italien, Deutschland auch geleistet haben, in technischer Beziehung
reicht nichts davon an die wie mit einer Rabeufeder hingezeichneten japanischen
Tauschuungen heran. Eine andre Kunst, die nämlich, die Oberfläche der Bronze
und des Messings durch chemische Mittel zu färben, haben wir ihnen nach und
nach einigermaße» abgelernt, und von dein Erscheinen der japanischen Basen in
den zahlreichsten Abstufungen vom tiefsten Braun Ins zum Gelb und Grün auf
der Wiener Weltausstellung schreibt sich eine lange Reihe von mehr oder
weniger erfolgreichen Versuchen in der Patmirung der Metalle her. Nur was
die oft so krausen ruudgeformten Ornamente an Vasen, Details oder Fignren-
grnppen anbelangt, sehen wir noch nicht klar. Daß sie selbständig und aus
verlorenem Form gegossen sind, unterliegt wohl keinem Zweifel, dann und wann
sind sie mit Haken versehe», um an Hülsen oder Ösen am Körper eines Gefäßes
gehängt zu werden, und das scheint die ältere Methode zu sein. An neueren
Objekten pflegen die Blumengewinde, Tiere u, dergl, in. unlösbar befestigt zu
sein; nach der einen Angabe hätte das Anzusetzende einen schwalbenschwanz-
förmigcu Fortsatz, welcher in den Gcfäßtvrper hineingetrieben würde, nach einer
andern wäre das Verbindungsmittel ein leichtflüssiges Lot, dessen Überschuß mit
größter Sorgfalt beseitigt würde; vielleicht bestehen beide Arten des Verfahrens
neben einander. Wie dem aber mich sein möge, die Überlegenheit der Japaner
in der Überwindung technischer Schwierigkeiten wird ganz besonders anschaulich
durch Vergleichung von Originalen mit Nachahmungen. die aus den berühm¬
testen französischen Fabriken hervorgegangen sind.
Vollends unbestritten nehmen in der Emailtechuik die Japaner den ersten
Platz ein, Sie sind der nltorieutalischeu Art der Emaillirung, dem Zellenschmelz,
treugeblieben; wenigstens erinnere ich wich nicht, von ihrer Hand jemals etwas
gesehen zu haben, was an die wahrscheinlich von der Glasmalerei beeinflußte
limusiner Art oder an die persische, dann nach Europa verpflanzte bunte Malerei
auf weißem Schmelzgrnndc erinnerte. Aber zu welcher Virtuosität haben sie
es in jeuer Technik gebracht, wie haben sie das Gebiet derselben erweitert!
Vor etwa sechzehn Jahren sahen wir zum erstenmale dieses Dekorationsmittel
ans Porzellan angewandt. Diese Neuigkeit erregte allgemeines Staunen, manche
Praktiker witterten eine Täuschung dabei, einer opferte sogar eins der damals
noch so seltenen Stücke, ließ eine Porzellanschale zersägen, um zu ermitteln,
ob etwa zwischen Porzellan und Email ein dritter Stoff zur Befestigung
der Metallstege eingeschoben sei. Allein er entdeckte nichts dergleichen, und
mußte sich mit der Vermutung zufrieden geben, daß das auf die unglasirte
Oberflüche des Porzellans aufgeschmolzene Email zugleich das Metall mit fest¬
halte. Damals gaben wir uns viele Mühe, die Seltenheit direkt von dem Orte
her zu erlangen, wo Europäer sie entdeckt hatten, von Osaka, und auch noch
1873 kamen nur wenige Exemplare auf die Ausstellung, sodaß man glauben
konnte, sie würden Rarität bleiben. Aber bald folgten sie in Menge und in
allerlei Varietäten. Die ersten, offenbar Erzeugnisse einer und derselben Fabrik,
waren trüb in der Farbe, wie damals die japanischen Emaille noch häufig:
stnmpffleischrote Päonien auf einem unreingrünen Grunde, Aber gerade die
Farbengebung hat sich in der dortigen Emailtechnik im Laufe von zehn Jahren
wahrhaft glänzend entwickelt. Schon die nächsten Arbeiten wiesen eine viel
reichere Palette und eine harmonischere Zusammenstellung der Farben auf, eines
leuchtenden Blau in verschiednen Nuancen, eines klaren Grün, kräftigen Rot¬
braun u. s, w,; dünn kamen Porzellangcfäße, die teils glasirt, teils mit IZmail
eloisormv dekorirt waren. Und ans der vorjährigen Ausstellung in Nürnberg
konnte man von der Pracht der emaillirter Platten und Vasen förmlich ge¬
blendet werden. Nicht jede von den neuen Errungenschaften ist nach meinem
Empfinden unbedingt als Gewinn anzusehen, es schleichen sich auch sogennuute
süße, schwächliche Farben ein, welche die asiatischen Chemiker möglicherweise den
Europäern zuliebe hergestellt haben. Aber im großen und ganzen ist nicht zu
leugnen, daß, während wir uus angestrengt haben, die Neuerungen, welche die
Franzosen 1878 in Paris in der Emailmalerei auf Thon darlegten, uns an¬
zueignen, die Japaner unablässig auf ihrem Wege vorwärtsgegangen sind;
und man darf erwarten, daß vermöge ihrer Anregungen die Ausstellung von
1885 sich als ebenso wichtig und folgenreich für unsre Kunstindustrie erweise»
werde wie die von 1873.
Was an den in Nürnberg ausgestellten Arbeiten dieses Genres am meisten
auffiel und interessirte, veranlaßt mich, noch einmal auf deu Zellenschmelz auf
Porzellan zurückzukommen. An Gegenständen dieser Art bemerkt man nämlich
vielfach Zellen, welche mit mehr als einer Farbe gefüllt sind, sodaß die ver-
schiednen Emaile, nicht durch Metnllstege von einander getrennt, an den Grenzen
ein wenig ineinanderfließen, sich vermischen, ganz ebenso wie an dem sogenannten
rheinischen oder Kölnischen Email, Grubenschmclzarbcitcu aus dem frühen Mittel-
alter. Ferner brachten die früher erwähnten Pvrzellanschalen eine Neuerung
auch darin, daß die Metallfäden, welche die emaillirter Partien von den einfach
glasirten zu scheiden haben, sich zum Teil in die Glasur hinein fortsetzen. Den
Sachen kann besondre Schönheit nicht nachgerühmt werden, sie sind nur inter¬
essante Zeugnisse für das rastlose Experimentiren des arbeitsamen und erfinde¬
rischen Volkes. An beide Dinge nun gemahnen uns die neuesten Leistungen.
Die Oberfläche eines Gefäßes oder einer Platte ist gänzlich mit lÄriAl oloisonriv
bedeckt, aber die Cloisons verschwinden stellenweise, sodaß zwei Farbenfelder ein¬
ander unmittelbar berühren. Diese Berührung ist jedoch nicht die nämliche
wie die obenerwähnte, die beiden Farben fließen nicht ineinander, oder doch
kaum merklich. Wie war es nun möglich, das Zusammenfließen zu verhindern,
da doch beide Emaile gleichzeitig in Fluß geraten, um sich durch Umschmelzen
mit der Metallnnterlage zu verbinden? Das erklärt sich, wenn wir entdecken,
daß entweder die Metallstcge ursprünglich vorhanden, aber dünn genug gewesen
sind, in der Hitze der Muffel zu verbrennen, oder daß sie an den betreffenden
Stellen eine geringere Höhe haben als an den übrigen. In dem einen wie in
dem andern Falle erfüllen sie ihre Funktion als Scheidewand, werden aber,
wenn der ganze Emailüberzug bis auf die sozusagen normale Höhe der Stege
abgeschliffen ist, nicht sichtbar. Auch scheinen verschiedne Leginmgen zur An-
Wendung zu kommen, da die sichtbaren Drähte keineswegs immer goldgelb er¬
scheinen.
Man könnte geneigt sein, dergleichen eine müßige Spielerei zu nennen,
wenn es nicht wieder mit so seinem Sinne benutzt würde. Dies wird man
vor allein bei den verschiednen Wintcrlandschaften gewahr, z, B. bei den Vasen,
von deren grauen Grunde — dein Winterhimmel, der schon reichlich Schnee
gespendet hat und noch mehr verheißt — sich das Weiß des beschneiten Bodens,
der belasteten Baumzweige, der fallenden Flocken und des Gefieders der reiher-
nrtigen Vögel glänzend, aber nnr teilweise in scharfen Umrissen abhebt. Wo
eben die feinen Drähte zwischen den beiden Tönen fehlen, hat der Umriß das
Weiche und einigermaßen Unbestimmte, mit welchem in der Natur ein flockiger
Körper sich auf andersfarbigem Hintergrunde abzeichnet. Bei glatten oder doch
massiven Gegenständen stört es uns nicht, wenn der Maler sie durch eine (in
der Natur selbstverständlich nicht vorhandne) Umrißlinie, hier also den Mctall-
drccht, abgrenzt; während die fallende Schneeflocke, das weiche Gefieder u. s. w.
durch die Umrahmung ihren Charakter einbüßen würden. Und ich erinnere
hier abermals daran, daß auch bei den japanischen Farbendruckbildern die Umri߬
linie nur dort angewandt wird, wo sie für die Wirkung von Nutzen ist.
Weniger auffallend, aber doch höchst beachtenswert sind andre Neuheiten
ans demselben Gebiete, neue Farben, wie erwähnt, und neue Kombinationen,
bei denen wir uns mitunter fragen: Weshalb sind wir nicht selbst darauf ver¬
fallen, die mancherlei vpakbnntcn Massen, welche die Glasfabrikation seit Jahr¬
hunderten und zum Teil schon viel länger verarbeitet, auch in Gestalt von
Emailpulver zu versuchen? Da sehen wir Vasen, an denen Felder von ver¬
schiednen Marmorarten, Porphyr, Granit, goldgesprenkeltem Aventurin u. a. in.
als Grund für kleine Gemälde voll entzückender Naturwahrheit dienen, während
sich um den Rand ein gleichsam ans lauter Juwelen zusammengefügtes Band
schlingt. Können wir denn das nicht auch machen? fragt mancher bei der Be¬
trachtung solcher Dinge. Darauf muß geantwortet werden: Dasselbe gewißlich
nicht. Und zwar stützt sich die Verneinung nicht einzig auf den alten Erfcch-
rnngssatz, daß, wenn zwei dasselbe, thun, es doch nicht dasselbe ist. Wir können
es nicht, weil uns gewisse Naturanlagen nud die tausendjährige Kunst- und
Haudwerkstraditivn mangeln, und wenn wir diese besäßen, könnten wir es trotz¬
dem nicht, weil unsre Lebensbedingungen so gänzlich anders sind. Die euro¬
päische Fabrikindustrie kann die nationalen Industrien andrer Länder vernichten,
und das thut sie fortwährend, weil ihre Erzeugnisse wohlfeiler sind, wie z. B.
englische, Schweizer u. a. Fabrikate die indischen Baumwollen- und Seidengewebe
im Lande selbst verdrängen. Aber wollten wir Stoffe und Teppiche, Lack- und
Emailarbeiten u. s. w. von derselben künstlerischen und technischen Vollendung
herstellen wie die Araber, Juder, Chinesen und Japaner, so würden die Dinge
nicht zu bezahlen sein. Denn unsre Arbeiter können uicht nnter freiem Himmel
bei einer Schüssel voll Reis den ganzen Tag, und Tag für Tag, ohne Feier¬
tagsruhe, bedächtig, aber unablässig beim Werke sein, und würden auch selten
das Maß von Geduld aufbringen, um ein Holzkästchen sechs-, zehn-, achtzehnmcil
mit Lack zu überziehen, zu poliren, zu bemalen u, s, w. Ob die Javaner, wenn
sie in der bisherigen Weise fortfahren, sich zu curopäisiren, nicht auch einen
Umschwung in den Produktionsverhältnissen heraufbeschwören, ob die Sendlinge,
welche jetzt unsre Schulen besuchen, nicht auch andre Ansprüche an das Leben
heimbringen und verbreiten werden, muß die Zukunft lehren.
Daß der Einfluß ein gegenseitiger ist, läßt sich schon jetzt wenigstens in
Beziehung auf den Stil konstatiren. Da hat ein Maler in Hiogo, Mitzugoro,
im Auftrage eines deutschen Buchhändlers Tuschzeichnungen geliefert, welche als
Vorlagen für Holz- und Faiencemnlerei u. dergl, dienen sollen und ohne Zweifel
von kuustbeflissenen Damen fleißig werden benutzt werden. Und da begegnen wir
schon ganz unjapanischen Zügen. Die dortigen Karikaturenbücher enthalten auch
Tierzeichnungen, die zu ihrer Märchenwelt und ihren Pantomimen in Beziehung
zu stehen scheinen, doch haben wir nirgends die Küserpvesie gefunden, die vor
einigen Jahrzehnten in Deutschland grassirte, oder gar den leibhaften Reineke
Fuchs als Beichtiger mit dem Rosenkranz, wie bei Mitzugoro, der freilich dem
Reineke ein Huflattichblatt als Kutte umgehängt hat. Dieser Künstler, der
übrigens ein geringeres Talent verrät als die Zeichner der bekannten japanischen
Bücher, hat sich immer uoch mit mehr Geschick dem dentschen Geschmacke an¬
bequemt, als in der Regel unsre Zeichner „japcmisiren." Gleichzeitig mit den
Zeichnungen Mitzugorvs kam uns der Prospekt eines Werkes zu: „Studien und
Kompositionen" von einem in Paris lebenden Schweizer, Jean Stauffacher, der
den löblichen Zweck verfolgt, zur ornamentalen Ausnutzung der heimischen Flora
anzuregen. Daß ihn selbst die Japaner angeregt haben, lehrt der erste Blick
auf die Proben, und ich wäre der letzte, ihm das zum Vorwurf zu machen.
Aber richtig macht er jenen nach, was entweder nicht nachahmenswert oder doch
nebensächlich ist. Er würfelt Abschnitzel von allerlei Verzierungen durch einander
in der Manier, die man einst „Quodlibet" nannte, und die sür Städte¬
ansichten u. dergl. von amerikanischen illustrirten Zeitschriften und nach diesen
auch von deutscheu angenommen worden ist; er läßt konseanent Blütenzweige
oder Ranken über die Umrahmungen hinausgreifen (wie Wohl in Barockkirchen
ein geschnitzter Engel die Beine über den Rand des Bildes Hunger läßt), weil
die Japaner sich dergleichen Freiheiten dann und wann erlauben; dabei mvdellirt
er aber die Pflanzen ganz naturalistisch und zwar in der peinlichsten Aus¬
führung. Er hat also das, was wir wirklich von der japanischen Kunst annehmen
können und sollten, garnicht gesehen. Und das möchte ich schließlich in drei
Punkten präzisiren: erstens ihre Art, die Naturformen auf das allergründlichste
zu studiren, um das Charakteristische an denselben zu erfassen, zweitens die
Wiedergabe des Charakteristischen mit der äußersten Treue ohne die Absicht,
Illusion hervorzurufen, drittens das weise Maß in den Darstellungsmitteln.
Das sind freilich Dinge, welche man sich nicht von heute auf morgen aneignen
kann, aber sie zu erreichen, ist wohl ernster Anstrengung und des Zeitaufwandes
wert. Und dabei können wir bleiben, was wir sind, können auch in der Kunst
reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist, und brauchen keine verzweifelten
Anläufe zu machen, japanisch zu sprechen, was uns doch niemals gelingen würde.
on den drei Fragen, welche in den letzten fünf Monaten von
der Vatkanhalbiusel her den Frieden Europas bedrohten, gehen
jetzt zwei einer raschen Lösung entgegen: die Pforte hat sich mit den
Bulgaren über eine Art Union verständigt, Rußland, das anfangs
fürchtete, das betreffende Übereinkommen könnte einst zu seinem
Nachteil angerufen werden, ist jetzt befriedigt, indem es erlangt, daß dieser nun
der Genehmigung der Großmächte unterliegende Vertrag der Defensivallianz
zwischen der Türkei und Bulgarien nicht gedenkt und dem Sultan nicht die
Befugnis erteilt, dem Fürsten des letztern Staates aus eigner Machtvollkommen¬
heit nach fünf Jahren das Amt eines Generalgouverneurs von Ostrumelien
weiter zu lassen; endlich steht jetzt fest, daß die Serben nicht mehr daran denken,
gegen die bulgarischen Nachbarn von neuem das Schwert zu ziehen. Es bleibt
somit nur Griechenland noch übrig. Es kann nicht mehr auf sein Ofscnsiv-
bündnis mit den Serben rechnen, es sieht den Fürsten Alexander mit dem Sultan
ausgesöhnt, die festländischen Kabinette runzeln die Stirn über seine kriegerischen
Pläne, sogar das Gladstvnesche will ihm nicht beistehen, Kriegsschiffe der ver¬
schiedensten Flaggen bedrohen seine Flotte, falls sie an der Küste Kretas Unfug
zu stiften versuchen sollte, mit einem kleinen Navarino. Nicht einmal die
öffentliche Meinung steht seineu Velleitciten zur Seite. Zwar hat der Berliner
Professor Kiepert, wie die „Akropolis" meldet, in einer Zuschrift ausgesprochen,
daß er „hofft und von ganzer Seele wünscht, die Befreiung eines weiteren
Teiles altklassischer Bodens zu erleben, auf welcher trotz aller Völlcrmischungen
und trotz jahrhundertelanger barbarischer Unterdrückung das Hellenentum die
dauernde Kulturmacht geblieben ist." Desgleichen hat Kollege Virchow, wie in
demselben Blatte zu lesen, den Griechen geschrieben: „Wer wie ich den Hellenen
Bhzanz wünscht, kann nicht umhin, ihnen anch Mazedonien zu wünschen." Ähn-
lieben Wohlwollens erfreuen sich die Griechen gewiß auch bei andern deutschen
Professoren sowie bei englischen und französischen Gelehrten, Aber im großen
und ganzen ist der Philhellenismus längst aus der Mode gekommen wie die
Begeisterung für das Polentum und seine staatliche Auferstehung, und wenn
man in Athen jetzt zu drohen und zu trotzen fortfährt, so wird es sicher kaum
einem von hundert Zuschauern heroisch vorkommen, wahrscheinlich aber allen
übrigen sehr thöricht, wo nicht lächerlich.
Die Griechen sind sonst kluge Leute, und so sollten sie begriffen haben,
daß ihr Staat mit seinen kaum zwei Millionen Einwohnern gegen die Mächte,
die entschlossen sind, sie am Losschlagen zu hindern, nichts vermag; auch darf
man vermuten, daß sie schon die türkische Grenze überschritten hätten, wenn sie
überhaupt loszuschlagen entschlossen wären. Die Regierung handelte unter dem
Banne der großgriechischcn Idee, sie hat Geister gerufen, die sie nun uicht gut
los werdeu kann, sodaß ihr die Mächte davonhclfen müssen. Jene Idee, die
Hoffnung und das Bestreben, alle auf der Balkanhalbinsel und an den Küsten
Kleinasiens lebenden Glieder , des hellenischen Volksstammes wie bisher sprachlich
und durch Religion und Sitte, allmählich anch staatlich zu vereinigen, hat eine
gewisse Berechtigung, ihrer Verwirklichung stehen aber vielleicht für immer,
namentlich aber gegenwärtig mehr Hindernisse im Wege, als sie Kräfte zur
Verfügung hat. Die griechische Rasse ist seit geraumer Zeit durch ein gemein¬
sames Kulturleben, das auch Nachbarn fremden Stammes in seinen Kreis ge¬
zogen hat, verbunden, sie wohnt aber zu zerstreut, um leicht eiuen hellenischen
Staat von erheblich größerer Ausdehnung als das jetzige Hellas zu bilden,
selbst wenn die Umstände sonst einmal günstiger dafür würden als heutzutage.
Scheu wir von den Inseln, den kleinasiatischen und den am europäische» Rande
des Schwarzen Meeres gelegenen Küstenstrichen sowie von Konstantinopel mit
seinen 500 000 Griechen ub und beschränken wir uns auf Mazedonien, das
Herr Virchow den von Athen aus regierten Griechen zugesteckt, so begegnen
wir hier bei weitem mehr andern als griechischen Stämmen. Von Salonik
aus erstreckt sich nordwärts über Kailasas, Doriaua und Pedritsch nach dem
Fuße des Peringebirges, wo Mclenik liegt, eine langgedehnte Kette bulgarischer
Niederlassungen. Zahlreiche Bulgaren wohnen ferner östlich von dieser Linie
aus der vor den Rhodopebergen liegenden Ebne bis nach Demirhissar (bulgarisch
Walvwischte) und serez, ferner nach Tuzlukjöi und im Osten des Flusses
Karassu ans den von der Rhodope gegen das Ägcische Meer vorgeschobnen
Gestadelandschaften mit den großen Orten Kjörmnrdschina und Malri bis nach
Fern, wo das Gebirge sich nach der See hin verlauft. Westlich von Salonik
zieht sich die bulgarische Sprachgrenze, etwa dem Laufe des Bistritzaflusses
folgend, der die natürliche Scheidung zwischen Thessalien und Mazedonien bildet,
bis zur mazedonischen Stadt Kozan, wo sie jenen Fluß überschreitet, um auf
dessen Südufer die Stadt Serwio einzuschließen, die in den Vorbergen des
Olymp liegt, und geht dann weiter, am albanesischen Sprachgebiet entlang, bis
sie sich nordwärts in serbischen Strichen verliert. Allerdings bewohnen die
Bulgaren diese Gegenden nicht allein, sondern zusammen mit Zinzaren oder
Machen, Türken, Griechen und Juden, aber die Bulgaren überwiegen hier der¬
maßen, daß ihre Sprache in der Regel auch von den Zinzaren erlernt wird.
Die letztern bilden nach jenen das stärkste Element der Bevölkerung; ihr Hauptsitz
ist die große Ebne auf der linken Seite des untern Strumaslusses (des Strhmon
der Alten), wo sie über hundert Dörfer einnehmen. Griechen giebt es in starker
Anzahl fast nur an den Punkten Mazedoniens, wo im Altertum hellenische
Kolonien waren, wie Amphion, Eion, Neapolis, Potidäa, Abdera und haupt¬
sächlich an der Straße von Salonik nach dem Berge Athos. Die noch jetzt
rein griechische Halbinsel Chalkidike heißt heutigentages wie im frühen Mittel¬
alter Mndenochvria, Bergwerksdörfer. In der Ebene von serez begegnet man
neben Hunderten von Zinzaren- und Bulgnreudörfen kaum zwanzig griechischen.
Türkische Dörfer trifft man auf den Ebnen von serez und Drama (Philippi)
bei Tuzlukjöi, Xanthi, Jenidsche und Kjörmürdschina. Neben denselben aber
wohnen zahlreiche muhammedanische Bulgaren, und auf dem Rhodopegcbirge
haust der vollständig sich zum Islam bckeuuende slawische Pomakenstamm. Die
Bulgaren Mazedoniens sind wie ihre Stammgenossen in Ostrumelien meist
Feldarbeiter und Gärtner, und wenn sie sich in den Städten dem Handwerke
zuwendeten, verloren sie gewöhnlich bald ihre Nationalität, d. h. sie lernten
Griechisch sprechen und schlössen sich der griechischen Zunft in den betreffenden
Orten an. Daneben machte früher die griechische Kirche dnrch ihren Gottes¬
dienst und ihre- Schulen unter den Bulgaren Mazedoniens, die ohne alle
nationalen Vilduugsmittel waren, für das Hellenentum erfolgreich Propaganda.
Das ist aber seit etwa zwei Jahrzehnten und namentlich seit der Emanzipation
der bulgarischen Kirche von der Herrschaft des griechischen Patriarchats im
Fmmr von Konsiantinopel wesentlich anders geworden. Die Bulgaren besitzen
jetzt Bischöfe und Popen ihrer Nationalität und vielfach auch Schulmeister, die
nicht direkt oder indirekt für die großgricchische Idee wirken. Die letztere findet
hier jetzt weit weniger Anknüpfungspunkte als früher.
Die Befreiung der Bulgaren von der Herrschaft der griechischen Geist¬
lichkeit, die im Patriarchen von Konsiantinopel ihre Spitze hat, war nicht die
erste, aber die folgenreichste Maßregel zur Eindämmung der grvßgriechischcn
Idee auf der Valkanhalbinsel. Sie wurde Ursache, daß sich der Propaganda
des Hellenentums, für welche der stärkste Slawenstamm der europäischen Türkei
bisher nur Material gewesen war, allmählich eine Nationalität gegenüberstellte,
welche die griechische Sprache und Kultur abwies, weil sie eignen geistigen
Besitz gewonnen hatte oder zu gewinnen im Begriffe war. Dieser Damm war
von der russischen Diplomatie aufgeführt worden. Demselben folgte 1878 in
der Schöpfung Bulgariens nud Ostrumelicns ein zweiter und in der spätern
Bereinigung beider ein dritter. War bis dahin die Vorbereitung einer staat¬
lichen Erweiterung des Königreiches Hellas durch kirchliche Einflüsse, durch die
Schule und ähnliches gehemmt, so schwand alle Hoffnung auf Ausdehnung des
Hcllenentuius als Staat, als es jetzt die Bulgare» ebensalls zu einem Staate
geeinigt sah, der auch Ostrumclieu stark beeinflußte und auf die mazedonischen
Bulgaren hinüberwirkte. Die großgriechischc Idee hatte unter der türkischen
Herrschaft im Süden der Balkanhalbinsel ihren Sieg durch Ausdehnung der
neuhclleuischcu Kultur im Stillen anbahnen können, sie hatte dem griechischen
Elemente das slawische vielfach assimilirt, man konnte in Athen hoffen, bei der
Aufteilung der Türkei die Früchte dieser Arbeit zu ernten. Jetzt schob sich in
den staatlich organisirten Bulgaren eine Schränke vor diese Hoffnung, Slawen,
nicht Hellenen sollten, wie es schien, fortan die Erben des laugsam hinsterbenden
Türkentnms sein. Wenigstens ist das so lange zu erwarten, als die Stellung
der bei der Sache beteiligten Großmächte zu der grvßgriechischen Idee dieselbe
bleibt, die sie mit einigen Schwankungen bisher war. Rußland hat kein In¬
teresse an dem Erstarken des griechischen Königreiches zu einem Staate, der
seine Grenzen bis tief nach Mazedonien ausdehnt. Der gemeinsame Glaube
bildete einst ein starkes Verbindungsglied zwischen den beiden Völkern, aber im
Ernste interessirte man sich in Petersburg für die Orthodoxen griechischer Zunge
nur insofern, als sie wie die nordischen Glaubensgenossen geborne Gegner des
Halbmondes in seiner staatlichen Bedeutung waren. Die Liebe und Sorge der
Russen für die Griechen war immer, namentlich aber seit Gründung eines
Königreichs Hellas, von ähnlicher Beschaffenheit wie die Liebe und Sorge der
Franzosen für die Polen. Jetzt und seit geraumer Zeit schou erscheinen die
Griechen von dem große» Vormund emanzipirte und mit ihrem Panhellenismus
als Nebenbuhler. Sie sollten mit kämpfen, nach dein Siege aber nicht die
Beute teilen, geschweige denn sich, wie Phantasten hofften, davon in Konstan-
tinopel den Löwenanteil nehmen dürfen. Auch England wollte der groß-
griechischen Idee niemals wohl. Sie gefährdete die bequeme Türkei, und ihre
Träger waren als kluge und unternehmende Kaufleute und tüchtige Schiffer im
Mittelmeer, im Archipelagus und im Pontus Konkurrenten, die man in ihren:
Wachstum und Gedeihen nicht fördern dürfte. Eher that Frankreich das eine
und das andre, was die Griechen zu Danke verpflichten konnte. Österreich
endlich sah sich früher auf möglichste Erhaltung der Pfortenherrschaft hin¬
gewiesen und denkt für die Zukunft doch wohl an die Notwendigkeit eines Vor¬
marsches aus Bosnien durch Mazedonien an das Ägeische Meer. Es kann
also nicht darauf eingehen, griechische Erwerbungen im südlichen Teile seines
Weges und in seiner rechten Flanke zu begünstigen. Was die deutsche Politik
betrifft, so will sie, seit erreicht ist, was wir unbedingt brauchten. den Frieden,
und so wird man sie nie ans Seiten eines Bestrebens finden, welches denselben
bedroht. Die großgriechischc Idee hat somit keine oder nur laue oder zweifel-
hafte Freunde unter den Großmächten, und allein vermag sie nichts, Sie ist
geographisch und politisch eine Unmöglichkeit, Höchstens kann es einmal unter
Umständen, die günstiger sind als die gegenwärtigen, zu eiuer mäßigen Ver¬
größerung des Königreiches um ein paar Quadratmeilen Landes im Norden,
um .Kreta und einige Sporaden im Süden, niemals aber, soweit menschliche
Berechnung reicht, zu einem Staate kommen, der die gesamte Diaspora der
einzelnen hellenischen Gemeinden Europas und Kleinasiens oder auch nur die
am dichtesten aneinander gereihten Gruppen derselben in sich begriffe.
Sehen wir zu, was für Erfolge die großgricchische Idee in den letzten
Jahrzehnten gegenüber der Türkei und den Großmächten aufzuweisen hatte, als
die Träger dieser Idee an die Gewalt cippellirten. Schon vor dem Krimkriege
regten sich Vergrößerungsgelüste in Zeitungen und Schriften, die an sich nicht
unbegreiflich waren, da der Londoner Vertrag dem neuen Königreiche zu enge
Grenzen gezogen hatte, die aber sofort ins Maßlose gingen, indem dabei Kon-
stantinopel fortwährend als Mittelpunkt der hellenischen Nationalität bezeichnet
wurde. Während des Krimkrieges verpflanzten sich diese Gelüste vom Papier
in Volksversammlungen und selbst in den Rat des Königs. Russische Agenten
regten zum Kampfe mit den Türken auf. In den nördlichen Nachbarbezirken
wurden Aufstände versucht, in Athen kam es zu stürmischen Auftritten. Halb
gezwungen schickte sich der König an, den Forderungen der Parteiführer, die
Gelegenheit zur Wiederaufrichtung des Reiches von Byzanz zu benutzen, nach¬
zugeben und dnrch einen Krieg mit der Pforte in dieser Richtung sein Glück zu
versuche«. Es wurde nach Kräften gerüstet. Aber die Sache nahm schleunig
ein Ende. Jene Aufstände wurden rasch niedergeschlagen, und die hellenische
Armee blieb zu Hause. Die Westmächte litten die Heldenthaten nicht, die sie
sich ohne Zweifel zu verrichten vorgenommen hatte. Ein englisch-französisches
Geschwader traf im Piräus ein, einige Tage nachher, am 26. Mai 1854, wurden
einige französische Regimenter ausgeschifft, und in wenigen Stunden war die
Ruhe wiederhergestellt, sodaß von weiterer Gefahr für das türkische Thessalien
und Epirus uicht mehr die Rede sein konnte. Nun folgten sechs ruhige Jahre,
die der Wohlfahrt des Landes zu Gute kamen, aber die großgricchischen Vellei-
täten nicht vergessen ließen. Man hatte etwas von der Unterstützung der West¬
mächte dnrch Absendung eines italienischen Hilfskorps während des Krimkrieges
lernen zu müssen geglaubt, aber den Satz vergessen: Wenn zwei dasselbe
thun, so ist es nicht dasselbe, und so erbot sich die Regierung in Athen, als
Frankreich 1860 in seiner Rolle als Vormund und Beschützer der Katholiken
im Orient die Expedition für die Maroniten im Libanon unternahm, ein Kon¬
tingent zu diesem Kreuzzuge zu stellen, während zu gleicher Zeit der Oberst
Karatasso Freiwillige zur Befreiung Mazedoniens vom Türkenjoche aufrief.
Das Anerbieten wurde abgelehnt, und der Aufruf des tapfern Obersten ver¬
hallte ohne Folgen. Im Oktober 1862 wurde König Otto Vertrieben, großen-
teils deshalb, weil sein Charakter nicht zur großgriechischeu Idee Paßte, Sei»
Nachfolger Georg war dazu auch nicht recht geeignet, hatte aber zunächst das
Glück, daß bald nach seinem Regierungsantritte England das Protektorat über
die Republik der ionischen Jnseln aufgab und deren Vereinigung mit dem König¬
reiche Hellas gestattete. Diese Morgcngnbe empfahl den neuen Regenten un^
svmehr, als man sie als Beginn einer Reihe weiterer Vergrößerungen betrachtete.
Da diese aber ausblieben, sank das Ansehen des Königs bei den Parteien, welche
das Land beunruhigten, bald, und ein Regiment der Volksvertretung mit häufigen
Miuisterwcchscln führte eine Verwirrung herbei, die an Anarchie grenzte. Von
Verbesserung des tiefgesunkenen Kredits, von Ordnung der Verwaltung konnte
unter solche« Umständen nicht die Rede sein. Auch lagen derartige Maßregel»
den Parteien viel weniger am Herzen als die großgriechische Idee. Ein Rund¬
schreiben, in welchem die Schntzmächte zur Regelung der Finanzen aufforderten,
blieb fruchtlos, obwohl darin deren Einschreiben angedroht war. Die Griechen
glaubten besseres zu thun zu haben. In Kreta war im August 1866 el» Auf¬
stand gegen die Pforte ausgebrochen, und eine Delegirtcnversammlung der Griechen
dieser Insel hatte Georg zum König ausgerufen. Ohne Verzug trat in Athen
ein Komitee zusammen, forderte zu Geldbeiträge» für die Insurgenten ans und.
sandte ih»e» Freischaaren zum Kampfe zu. Die Regierung zog an der Grenze
von Thessalien und Epirus Truppe» zusammen und verlangte bei den Mächte»
Verwendung bei dem Sultan für die Ansprüche der Rebellen. Dieses Verlangen
blieb erfolglos, vielmehr nahmen die Mächte eine wohlwollende Stellung zur
Pforte ein, verhinderten dieselbe nicht, den Aufstand der Kreter zu bekämpfen
und fanden die Beschwerde», die der Divan über die Unterstützung der letztern
durch Griechenland erhob, gerechtfertigt. Als in Athen das Spiel fortgesetzt
wurde und die dortige Regierung nichts dagegen that, ging dem Sultan die
Geduld aus. Er berief zunächst seinen Gesandte» am griechische» Hofe ub,
schloß seine Häfen für die griechische» Schiffe, wies die griechische» Unterthanen
ans der Türkei ans, sandte eine Flotte in die griechischen Gewässer und stellte
am 6. Dezember in Athen ein Ultimatum, während gleichzeitig ein türkisches
Heer an der Grenze von Thessalien zusammengezogen wurde, das Omar Pascha
führen sollte. Der Ausbruch des Krieges unterblieb indes, indem auf Preußens
Vorschlag in Paris eine Konferenz zusammentrat, welche die Forderung der
Türken guthieß und den Griechen weitere Unterstützung der .Kreter untersagte.
Zwar weigerte man sich in Athen, diesem Verbote zu gehorchen, aber jetzt fehlte
es zu einem Kriege an dem, was nach Montecuculi dreimal dazu nötig ist.
Der Staatssäckel war leer, und als man eine Anleihe aufschrieb, die hundert
Millionen hineinführen sollte, zeichnete die großgriechische Idee, welche den
ganzen Lärm angerichtet und betrieben hatte, nicht mehr als etwa den tausendsten
Teil, worauf die Sache natürlich im Sande verlief. Viel Geschrei und wenig
Wolle! Besser fuhren die Griechen, als sie sich, nachdem sie 1878 bei der
Verteilung der Beute leer ausgegangen waren, 1879 auss Bitten legten. Ein
stattliches Stück Thessaliens ward ihnen zu Teil. Doch ist das und das Weitere
den Lesern in frischer Erinnerung.
aß die „gewaltigen Reden" des deutschen Kanzlers einen besonders
großen Eindruck in Österreich hinterlassen würden, mußte jeder¬
mann sofort beim Lesen empfinden. Den Polen, wo sie auch
leben mögen, kann es nicht verdacht werden, wenn sie wenig davon
erbaut sind, daß ihnen ein solcher Spiegel vorgehalten wird, und
am wenigsten geneigt die Wahrheit zu höre» sind natürlicherweise die Galizianer,
die in ihrer Provinz fast unumschränkt herrschen und auf die innere Politik
Cisleithaniens einen so starken Einfluß erworben haben. Auf die Schimpfreden,
in welchen sich ein Teil der polnischen Presse Luft macht, irgendwie einzugehen,
ist nicht der Mühe wert, und sachlich um nichts hoher steht, was im Ncichs-
rate vorgebracht wurde. Vielleicht glaubte die polnische Fraktion einen Trumpf
auszuspielen, indem sie einem Abgeordneten mit deutschklingenden Namen die
Aufgabe übertrug, dem Fürsten Bismarck zu antworten, und von der deutschen
Linken wurde denn auch dem Herrn Otto Hausner sein Renegatentum vorge¬
worfen. In dieser Beziehung scheint ihm nun Unrecht geschehen zu sein, da er
jüdischer Herkunft sein soll. Das macht freilich die Figur dieses Wortführers
der Sarmaten nur noch grotesker. Doch auch hiervon abgesehen, werden es
diese sich in Zukunft wohl reiflicher überlegen, bevor sie ihn ins Vordertreffen
stelle». Eigentlich hatte er den Antrag auf Schaffung eines Wahlgerichtshvfes
zu bekämpfen. Daß eine solche Behörde eine dringende Notwendigkeit geworden
ist, kann unmöglich geleugnet werden, denn in dem Kampfe der Parteien ist
nicht nur das Rechts-, sondern selbst das Schicklichkeitsgefühl völlig unterge¬
gangen. Was der Partei Nutzen bringt, wird gebilligt, Vergewaltigung, Be¬
stechung und was es sonst sei; durch Richterspruch werden Vorgänge bei den
Wahlen als gesetzwidrig bezeichnet — thut nichts, die unrechtmäßigen Wahlen
sind anerkannt, die Gewählten behalten ihre Sitze, denn die Mehrheit will ihre
Stimmen nicht entbehren. Diese Dinge sind ganz offenkundig, sind hundertmal
besprochen worden; uno was wenden die Hausncr und Konsorten gegen den
Vorschlag ein, die Entscheidung über streitige Wahlen in die Hände uuab-
häugiger und unparteiischer Richter zu legen? Zu allgemeiner Belustigung ver¬
gleicht Herr Hausner die in eigner Sache urteilende Mehrheit eines Parlaments
mit dem Schwurgericht! Der freiwillige Pole jammert über den Rückgang der
Freiheit in Europa, und dabei scheint dem doch so belesenen Manne das Sprich¬
wort von den Gracchen, die Verschwörung wittern, garnicht in Erinnerung ge¬
kommen zu sein. Die parlamentarische Freiheit wird überall bedrängt, natürlich
dnrch die Gewalthaber, und doch sieht, wer Augen hat, wodurch das Ansehen
des Parlamentarismus wirklich untergraben wird. In England stürzt man um
einer Lappalie willen die Negierung in dem Momente einer höchst gefährlichen
Verwicklung in der europäischen Politik — und das soll der Welt Bewunderung
vor der Majoritätswirtschaft einflößen? In Deutschland diktirt eine Koalition
der geschwornen Feinde des protestantischen Kaisertums, der natürlichen Feinde
des Deutschtums, der Anarchisten und der guten Revolutionäre die Beschlüsse
des Reichstags und bemüht sich, teils sehend, teils verblendet, die Fundamente
dieses so lang ersehnten, mit so viel Blut erkauften Reiches zu unterwühlen —
und man sollte wünschen, daß sich ein Mann wie Bismarck vor dieser Koalition
beuge, beugen müsse? In Ungarn erklärt die Opposition den Zustand der Rechts¬
pflege für heillos, verzichtet aber auf deren Besprechung (vertagt sie nicht), weil
der Justizminister leidend ist: entweder ist also das Gerede von den traurigen
Zuständen grundlos, oder die Volksvertreter verletzen ihre Pflicht aus Höflich¬
keit, als ob sie über ihre persönliche» Angelegenheiten zu verhandeln und zu
verfügen hätten. Und nun diese polnisch-tschechische Mehrheit im österreichischen
Abgeordnetenhaus^ Mit einer fast beispiellosen Offenheit (um einen parlamen¬
tarischen Ausdruck zu wählen) bekennt sie sich dazu, kraft der Mehrheit alles
ersticken und „begraben" zu wollen, was dem Reiche das Bindemittel der Staats¬
sprache gewährleisten, was der Bcdräugung des Deutschtums wehren soll, was
die Vergewaltigten, die Urtheilen, die Deutschen in der Diaspora u. s. w., in der
Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu schützen geeignet wäre. Und in
demselben Atem Freiheit und Volksrechte das dritte Wort! Mit wem rede ich
denn? könnte man mit dem Grafen Appicini fragen. Irgendwer, vielleicht auch
Herr Hausuer, behauptet kecklich, das sogenannte Flottwellsche System habe die
polnischen Aufstände von 1846/48 hervorgerufen. Dell Herren scheint alles Er¬
innerungsvermögen abhanden gekommen zu sein. Eben in diesen Februartagen
hat sich das vierte Jahrzehnt seit jener „Erhebung" vollendet, welche der
Schlacht« in Galizien so übel bekam. War es vielleicht das Flottwellsche
Shstem, welches den geknechteten Bauern die Waffen zu dem grausamsten Nache-
Iricge in die Hand drückte? War der Masure Szela, gegen dessen erbitterte
Schaaren endlich die österreichische Regierung selbst den aufrührerischen Adel in
Schutz nehmen mußte, etwa ein Germauisator? Die Herren, welche von Ver¬
kümmerung der Volksrechte reden, wissen ganz gut, daß in dem Augenblicke,
wo die Macht dieses deutschen Staates Österreich die Hand voll ihnen abzöge,
das „Volk," dessen Rechte sie mit allen Mitteln illusorisch machen, dem sie
Nationalität, Sprache, Religion rauben wollen, sich seiner „Herren" entledigen
würde. Und wenn heute der Pole bei den Deutschen so verhaßt ist, wie er
einst beliebt war, so trügt er und niemand sonst die Schuld.
Bei dein Deutschösterreichcr ist die Neigung zur Sentimentalität in der
Politik ganz besonders stark entwickelt. Er hat für die polnischen Freiheits¬
helden geschwärmt bis ans Mieroslawski, Tyssvwski, ja selbst bis auf Langiewicz
und seine Adjutantin Pustowojtvff hinab, und es immer noch entschuldigt, wenn
im Exil die berühmte Ritterlichkeit der verschiednen Diktatoren, Generale u. s. w.
so aussah, wie sie Heine geschildert hat. Aber endlich, spät, doch hoffentlich
noch nicht zu spät, sind den Deutsche» die Auge» aufgegangen — wenigstens
einem großen Teile derselben. Sie wollen so frei sein, deutsch zu sein. Dafür
werden sie nicht nur von den Slaven verketzert. Während die deutsche Partei
rückhaltlos dem Auftreten des deutschen Kanzlers gegen den gemeinsamen Feind
Beifall spendete, drehten und wandten sich die Auchdentschen in mitleiderregender
Weise. Innerlich freuten sie sich wohl von Herzen, insgeheim gaben sie sich
der Hoffnung hin, daß die Kriegserklärung gegen das preußische Polentum das
Ministerium Tcmffe hinwegfegen werde. Doch laut billigen durften sie unmöglich
eine Politik, welche von den großen Fortschrittspolitikern in Berlin verurteilt
wird, und überdies befinden sich unter den Polen bekanntlich so viele Juden,
denen das Geschäft zu stören die größte Inhumanität ist! So besprachen
sie denn
Mit unterdrückter Freude, so zu sagen
Mit einem heitern, einem nassen Aug',
Mit Lcichcnjubel und mit Hochzeitklage,
In gleichen Schalen wagend Leid und Lust
die staatsmännische Grausamkeit, welche dazu gut sein sollte, zu beweisen, daß
das deutsche Bündnis eine Änderung unsrer innern Politik zur Notwendigkeit
mache. Wenn es dazu nicht gut ist, wozu ist es dann überhaupt da? fragen
vor allem diejenigen, welche eigentlich die Ereignisse von 1866 und 1871 noch
immer nicht anerkannt haben.
Manchmal könnte man vergessen, daß solche gefährliche Menschen noch
unter uns weilen, allein sie melden sich von Zeit zu Zeit. So wollte der
Zufall, daß kurz vor der Polendebatte an ein und demselben Tage zwei Kund¬
gebungen erschienen, welche den tiefen Zwiespalt unter den Deutschösterreichern
viel deutlicher offenbarten, als der Zwist zwischen dem deutschen und dem deutsch-
österreichischen Klub des Abgeordnetenhauses wegen der Bismarckschen Reden.
In Graz hatte ein jüngerer Abgeordneter eine Rede gehalten, welche nationale
Gesinnung als erste und letzte Forderung aufstellt und welche nicht bloß
freundschaftliche und kündbare Verbindung Österreichs mit dem deutschen Reiche
als Lebensbedingung für den erstem Staat bezeichnet. Und gleichzeitig mit dem
Großer Blatte, welches die Rede enthielt, kam uns in einem Wiener Blatte eine
Besprechung von Treitschkes neuem Bande zu, in welcher von nationaler Ge¬
sinnung keine Spur, aber desto mehr grimmiger Preußenhaß zu finden war.
Treitschke zu verteidigen, ist nicht unsre Sache, doch ist es nützlich zu hören,
was sein erbitterter Rezensent (ein X, welches niemand für ein U nehmen wird)
an ihm auszusetzen hat. Gleich der Anfang charakterisirt den Mann. „All¬
gemeine Heiterkeit brach los, als der (!) geistvolle Abgeordnete des deutschen
Reichstages, L. Bcimberger, im Hinweis auf den in der Ausweisungsdebatte
hervvrgctveteuen Chauvinismus ausrief: Das ist der Säbel des Herrn von
Treitschke!" Was wird Herr Richter dazu gesagt haben, daß sein Freund Bam-
berger „der" geistvolle ze. genannt wird, als ob es nicht noch andre geistvolle ze.
gäbe? Was Herr Träger, auf dessen alten Kornbranntwein einmal in demselben
Organ ein wahrer Hymnus angestimmt wurde? Doch das beiläufig. Welche
Bewandtnis es mit dem Säbel des Herrn von Treitschke habe, war uns zuerst
dunkel geblieben; hier werden wir daran erinnert, daß Herr Bamberger ein
„geistvolles" Zitat angebracht hat. Und nun steht ein treffliches Quartett vor
unsern Blicken: der unlängst uuter die Unsterblichen aufgenommene Halevh
(eigentlich Hirsch Leps), der Verfasser des Textes — Jakob Offenbach, der
Komponist der Operette — Herr L. Vamberger, der diese beiden verwandten
Größen geistvoll zitirt, und Herr X, der ihn darob bewundert. Als der Gassen¬
hauer: „Das ist der Säbel, den einst mein Vater trug!" zum erstenmale in
Wien erklang, sagte mein Nachbar im Theater (Heinrich Laube) zu mir: „Wohin
geraten wir? Bisher hat noch jedes Volk das Schwert des Fürsten oder
Anführers für etwas ehrwürdiges gehalten. Muß denn alles, was einer Nation
teuer sein soll, dem gemeinen Hohne preisgegeben werden?" Der arme Laube
war hinter seiner Zeit zurückgeblieben; in Preußen beklagte sich ja neulich ein
Redner ausdrücklich, daß jetzt so viel von Nationalität gesprochen werde, was
allerdings den Internationalen verschiedner Färbung recht störend sein mag.
So erbost sich Herr .L darüber, daß bei Treitschke das Einheitsgefühl
das mächtigste sei, damit müsse „die Darstellung der deutschen Geschichte lang¬
weilig, einseitig, unbefriedigend bleiben" (unterhaltender mag allerdings die Dar¬
stellung in der „Großherzogin von Gerolstein" für ihn sein); er erbost sich
über die Ignorirung des Herrn von Zedlitz, des Dichters der „Nächtlichen Heer¬
schau" und der „Totenlränze," dessen kulinarisch-diplomatische Episteln aus der
Zeit des Staatsstreiches vom 2. Dezember, ungefähr 1859 im Stuttgarter Morgen¬
blatte abgedruckt, einen so erbaulichen Einblick in dieses Dichtergemüt gewährten;
er erbost sich über die Ansicht Treitschkes, daß die Deutschen, welche in den zwan¬
ziger und dreißiger Jahren so fleißig bei den Franzosen in die Schule gingen,
in Wahrheit nur wenig von ihnen zu lernen gehabt hätten. Daß die deutsche
Jugend sich kaum noch um einen Mann wie Gneisenau kümmere, findet er
ganz begreiflich, „weil Gneisenau nichts mehr that, was ihre Aufmerksamkeit
erwecken könnte." Ist das nicht herrlich? Dabei begegnet ihm das kleine
Malheur, Gutzkow und Laube als Märtyrer der Einheits- und Freiheitsidee
zu bezeichnen, während es doch die Lehre von der Emanzipation des Fleisches
war. die sie ins Gefängnis brachte.
„Dieser Nao-Teutonismus wäre aber nicht vollwichtig, wenn er nicht auch
sein antisemitisches Kennzeichen hätte" — und diese Sorte von Kosmopolitismus
würde alles eher verzeihen, als eine wahrheitsgetreue Schilderung des zer¬
störenden Einflusses des „geistvollen" Judentums. Hier wird Herr X pathetisch,
wehmütig, sarkastisch, er versteht die Welt nicht mehr. „Der Wortführer der
Berliner Jugend" darf es wagen, an Börne die „geschmacklose Vermischung
deutscher Sentimentalität mit jüdischer Witzelei, das haltlose Schwanken zwischen
Vaterlandsliebe und Kosmopolitismus" zu rügen, dem „kräftigen Hasse des
Rheinländers (wer lacht dn?) Heine gegen Preußen" seine Verehrung zu ver-
^Mu, „jene geistvollen Jüdinnen Berlins, welche jener Zeit die höchste und feinste,
aber auch freieste (el el!) Bildung darstellten, in deren Kreise die urgermanischen
Sagen lebendig, die deutschen Märchen zum erstenmale (!) erzählt wurden, die
deutschen Volkslieder kursirten, die den letzten Ort boten, wo ein wahrer (!) Goethe-
Kultus herrschte" — also jene natürlich geistvollen Jüdinnen, ohne die augen¬
scheinlich das Deutschtum elend zu Grunde gegangen wäre, zu ignoriren, und
dafür bei Wolfgang Menzel trotz seines bornirten Hasses gegen Goethe das
kräftige Vaterlandsgefühl anzuerkennen. Und Menzel war doch „der Urfeind
Preußens." Merkwürdig, was man alles lernt. Der Preußisch-Schlesier, den
literarische Beziehungen nach Süddeutschland führten, der Parteigenosse Paul
Pfizers, der unermüdliche Publizist vor und nach dem letzten deutschen Kriege
soll der Dritte im Bunde mit Heine und Herrn X sein! Letzterer kennt ihn doch
wohl nur aus Börnes Schmähschrift — und welchen nationalgesinnten Deutschen
ihrer Zeit hätten Börne und Heine nicht geschmäht!
Ob es der deutschen Jngend zu Herzen gehen wird, daß sie den X u. Komp.
so viel Kummer bereitet? Sie ehrt die großen Männer ihrer Nation, sie hat
mehr Sinn für das eigne Volkstum als für den heimatlosen „Geist," sie schützt
Charakter und Bürgertugend hoher als die „freieste Bildung," mit der es ver¬
träglich war, daß deren berühmteste Repräsentantin die heimlichen Liebschaften
der Frau ihres leiblichen Bruders „freundlich beschützte" (vergl. Holtcis Selbst¬
biographie Bd. 4). Diese Jugend ist sogar so verblendet, für die Heerführer
der Deutschen höhere Begeisterung zu hegen als für Napoleon und Kosciuszko
und Klapka, oder Bismarck mehr zu bewundern als Gambetta. „Geh deiner
Wege, alter Hans, stirb, wenn du willst, da edle Mannhaftigkeit vom Angesicht
der Erde verschwunden ist."
es meine, daß wir der neuern Christin mit dem Sakrament den
Schutz edler Frauen sichern könnten, versetze Camoens nach einigem
Zögern.
Und die erste dieser edeln Frauen heißt Catarina Palmeirim,
nicht so? rief Barreto. Eure Einbildungskraft ist so lebendig wie
je, sie strahlt verschwenderisch ihr eignes Licht über die gesamte Welt aus.
Wähnt Ihr im Ernste, daß diese junge Gräfin freier sei als ihre Mutter, und
eine Pflicht auf sich nehmen werde, die ihren Ruf, ihre Stellung bei Hofe, ihre
Zukunft bedrohen könnte? Ihr vergeht, daß wir Esmah gegen den Willen des
Königs und gegen die Erwägungen der hohen Staatskunst unter den Schutz
des Kreuzes flüchten wolle».
Ich weiß nur, daß auch Catarina Atayde, ihre Mutter, zu einer edeln
That, bei welcher Gott und Menschen zugleich gedient ward, den Mut besessen
hätte, erwiederte Camoens.
Barreto konnte in diesem Augenblicke seine Züge nicht unterscheiden, aber
aus dem Klänge der Worte entnahm er, daß der Reizbare gekränkt sei, und
gutmütig brach er das verstimmende Gespräch mit dem Ausrufe ab: Man muß
an einem Tage nicht alles erleben wollen. Morgen bedenken wir Euern Vor¬
schlag noch einmal, und Ihr werdet selbst erkennen, was ihm entgegensteht!
Camoens antwortete nichts mehr. Er empfand die nachgiebige Güte des
Freundes, aber er vermochte nicht dankbar dafür zu sein, in der Erregung
seines Gefühls schien es ihm, daß Barretos Seele in Klugheit gleichsam erstarrt
sei und keiner andern Stimme mehr Gehör gebe. Wie eine plötzliche Erleuch¬
tung war ihm der Gedanke aufgegangen, das Abenteuer mit Esmah der jungen
Gräfin und, wenn es sein mußte, auch der Herzogin zu vertrauen, und er hatte
an der hilfreichen Bereitwilligkeit Catarinas so wenig gezweifelt, als an der
Milde der Gottesmutter, In raschem Traume hatte er an den Einfall, die
Tochter des Grafen Palmeirim zur Tanfzengin Esmahs zu erwählen, unbe¬
stimmt wogende Bilder geknüpft, aus denen allen Katarina Palmeirim hervor¬
blickte. Barretos kühler Zweifel schnitt ihm so jäh durch seine Hoffnung, als
vorher die patriotischen Sorgen des Freundes durch die Stimmung, welche der
Abend im Palaste in ihm erweckt hatte. Ihm war es, als sei Manuel Barreto
in diesen letzten Stunden um ein Jahrzehnt älter und er um viel mehr Jahre
jünger geworden — seine Seele lechzte nach Mitteilung, und doch schloß er die
Lippen wie ein Jüngling, der seine heiße Empfindung väterlichem Tadel nicht
Preisgeben will, Barreto fühlte es, daß Camoens jetzt lieber allein sei, doch
standen sie bereits vor Okaz' Herberge, und die Anordnungen, welche gestern
Abend getroffen worden waren, ließen sich nicht ändern. Auch verriet Camoens
nichts von seinem Wunsche, bei der Abendmahlzeit blieb er schweigsam, doch
nicht stumm, und erbat sich von dem Freunde Mitteilungen über mehr als einen
der Männer, denen er heute am Hofe begegnet war. Barreto gab bereitwillig
Auskunft, schützte aber bald ungewöhnliche Müdigkeit vor und zog sich in die
Kammer zurück, die ihm Bartolomeo Okaz neben Camoens eingeräumt hatte.
Die heiterer werdende Miene des Dichters zeigte, wie willkommen ihm die Ein¬
samkeit war, Barreto bezwang den Unmut, der sich seiner bemächtigen wollte,
und bot dem Freunde so herzlich gute Nacht wie am gestrigen Abend.
Camoens hörte dnrch die' dünne Holzwand, wie sich Barreto aufs Lager
warf, er wollte es ihm nachthun und setzte sich dann doch auf den hölzernen
Schemel, der vor seinem eignen Bette stand. Er hatte das Licht ausgelöscht
und hielt die Atemzüge an, als wenn Barreto an diesen erraten könne, daß sein
Nachbar wache. Die Bilder des Abends zogen abermals an ihm vorüber, und
je länger er dem Erlebten nachsann, umso stärker empfand er die selige Unruhe,
mit der er von Catarina Palmeirim geschieden war. Das erregte Blut wogte
heftig gegen seine Schläfen und pochte ein heißes Glttckverlangen wach, das seit
undenklichen Tagen geschlummert hatte. Was sich auch in seinen Weg werfen
mochte — er mußte ein neues Leben beginnen, an diesem Abend war es ent¬
schieden worden! Eine Stimme, die er nur uoch im Traume, aus unnahbaren
Fernen vernommen hatte, war hente wieder an sein Ohr geklungen, er vernahm
sie fort und fort, und als er sich nach stundenlangen stummen Hinbrüten in
die Decke seines Lagers begrub, tönte sie in ihm noch nach. Die Empfindung,
daß jede ungenützte Stunde ein Raub an seinem neuen Leben sei, beschlich ihn.
Der rasche Herzschlag ungewohnter Hoffnung erweckte den Dichter nach
kurzem unruhigen Schlafe noch vor der Sonne. Als er wenige Minuten später
auf die Galerie hinaustrat und dnrch den offnen Bogen über den Hof hinweg¬
sah, waren die Spitzen der Berge in das erste Frührot getaucht, der erblassende
Mond stand noch am dämmergrauen Himmel, tiefere Stille als in der Nacht
herrschte weit umher. Als er vor Vcirretos Thür trat, hörte er drinnen die
Atemzüge des fest schlummernden. Und so an allen Thüren, an denen er mit
unhörbaren Schritten vorüberging, so im Hofe, den er über die große Treppe
erreichte und in dem ein einziger halbwacher Pferdeknecht seine Tränkeimer um
Brunnen füllte und dem Kavalier, der zu so früher Stunde das Gehöft ver¬
ließ, wie einer Traumerscheinnng nachstarrte.
Der Dichter schlug ohne Besinnen denselben Hauptweg durch den Flecken
zum königlichen Schloß ein, den er gestern mit Barreto mehr als einmal ge¬
gangen war. Er wollte in der Kirche des Palastes eine Frühmesse hören und
dann durch die Gärten herabsteigen, welche er und sein Begleiter in der Nacht
zur Seite gelassen hatten. Eine Hoffnung, die er sich nicht eingestand, regte
sich neben dem einfachen Vorsätze. Wäre es ihm nur um die Andacht zu thun
gewesen, so brauchte er die steile Treppe nicht hinaufzusteigen, rechts von ihm
klangen die Glocken der Kirche San Miguel, und links die des Jesuitenkollegiums
und riefen zur Messe. Ihn aber zog es dem roten Lichte entgegen, das über
den Bergen schimmerte. Vor zwanzig Jahren, ehe er sich nach Goa eingeschifft
hatte, war es Hvfbranch gewesen, daß die Damen der Königin den ersten
Morgengottesdienst besuchten; wenn der Brauch noch bestand, konnte er der
Herzogin und ihrer Pflegebefohlenen bei der Pforte begegnen, die von der
Schloßkirche zu den Gartenterrnssen führte. Und geschah dies, so wollte er,
unbekümmert um Barretvs Bedenken, nur jener Eingebung folgen, die ihm riet,
für Esmnh Teilnahme und Hilfe bei Catarina Pnlmeirim zu suchen. Der kühle,
stille Morgen hauchte ihm eine geheime Zuversicht in die Seele, daß er richtiger
fühle als sein alter Kampfgenosse, daß sein leidenschaftliches Ungestüm besser
sei als Barretos mißtrauische Weisheit! Er empfand im voraus, welches Glück
für ihn darin liegen würde, wenn er die übervorsichtigen Bedenken des Freundes
siegreich wiederlegen könnte. Je tiefer er dem Manne verpflichtet war. der ihm
die Pforte neuer Lebenshoffmmg erschlossen hatte, umsomehr drängte es ihn,
auch seinerseits dem Vereinsamten eine Herzensfreude zu bereiten und die Wolken
zu zerstreuen, die sich um sein Haupt lagerten.
Mit diesen Gedanken blieb Camoens auf seinem Pfade bergaufwärts allein.
Im Flecken hatte wenigstens hie und da, aus einer Thür oder über eine Hof-
mauer hinweg, ein Menschen gesteht nach ihm geschaut, aber die große Straße
zum Palast, bis an das Thor hinauf, war zu dieser Stunde völlig leer, ja
selbst als Camoens die Höhe erstiegen hatte und das Thor durchschritt, waren
die Wachen, die übermüdet in das rosige Morgenlicht starrten, die einzige»
lebenden Wesen. Erstaunt sahen sie einen vom Thale emporkommenden dnrch
das Thor treten; aber da Camoens über den Hof hinweg der Kirche zuging,
hemmten sie ihn nicht.
Die Messe hatte schon begonnen und Camoens konnte sich nur mit lang¬
samen Schritten dem Altar nähern. Die Kirche schien so leer zu sein wie
draußen der Schloßhof, einige Gestalten in den Betstühlen zunächst dem Altar-
Platze vermachte er im Zwielicht des Raumes zu erkennen, Während er einige
Minuten in stiller Andacht an einer der Säulen lehnte, fielen von draußen die
ersten Sonnenstrahlen durch die östlichen Bogenfenster und ließen einen Teil des
Altarplatzes, sowie Gesichter und Gestalten unterscheiden. Das Licht durchzuckte
Camoens wie eine freudige Verheißung; nahm er doch mit den: ersten Aufblick
nnter den dunkelgekleideten Frauen, welche auf den purpurnen Samtkissen
links vom Altar knieten, die Herzogin von Braganza und Catariua Palmeirim
wahr. Und jetzt, wo kein Prunkgewand die schlanke Gestalt umhüllte, sondern
das einfache Morgenkleid ihre Glieder umfloß, wo die reinen Züge still und
ernst und doch so jugendlich schön ans dem schwarzen Schleier heraustraten,
jetzt ergriff ihn die Ähnlichkeit derselben mit denen der Mutter noch tiefer als
gestern und überwältigte ihn fast. Um seine fromme Stimmung war es ge¬
schehen, so gern er auch seine Gebete mit denen des jungen Mädchens vereint
hätte! Nur die Gewohnheit war eben mächtig genng, ihn im rechten Augenblicke
niederknieen zu lassen, sein Blick glitt über Altar, Priester und Monstranz
hinweg und weilte einzig auf der Gruppe der andächtigen Frauen. Er hielt
selbst dem zürnenden Blick Stand, den ihm die Herzogin zusandte, ward doch
die unmutige Bewegung der alte» Dame zum Anlaß, daß Katarina Palmeirim
emporsah und die Anwesenheit des Dichters bemerkte. Eine leichte Erregung
malte sich in ihrem Gesichte, Camoens merkte, daß dieselbe seiner Anwesenheit
galt, und verwandte leinen Blick mehr von dem jungen Mädchen und ihrer
erlauchten Beschützerin.
Ehe die Messe völlig zu Ende ging, näherte er sich jener Thür der Kirche,
welche — dies wußte er ans alten, unvergeßlichen Tagen — zu den Gärten
hinausführte. Aus diesen Gärten stieg eine besondre Freitreppe zum linken
Flügel des Palastes empor, den die Königin-Witwe, Dom Sebastians Gro߬
mutter, bewohnte. Camoens setzte voraus, daß die Frauen vom Garten aus die
Kirche betreten Hütten und auf demselben Wege in ihre Gemächer zurückkehren
würden. Unter dem Dache der Bäume auf- und abgehend, mußte er ihnen hier
begegnen, und war jetzt entschlossen für Esmcch zu sprechen, wenn er auch nur
einen Laut der Ermutigung vernähme. Daß ihm eine Unterredung mit Katarina,
bei der sich ihre Seele erschließen mußte, vielmehr am Herzen lag als das
Schicksal der Maurin, gestand er sich nicht ein. In wunderlich erhobner und
zugleich zaghafter Stimmung blickte er in die thaufunkelnden Gärten hinaus und
sah von Zeit zu Zeit nach der Pforte zurück, aus der das Heil dieses Morgens
kommen mußte. Wenn die Herzogin und die junge Gräfin wider all sein
Hoffen nicht diesen Pfad nach ihren Gemächern zurückgingen, so wollte er dies
als ein Zeichen betrachten, daß Barreto im Recht, er selbst im Unrechte sei. Und
so versuchte er, mit jeder verfließenden Minute unruhiger, sich zur Ruhe zu
zwingen, indem er sich an den Stamm der großen Platane lehnte, welche der
Kirchenpforte gegenüberlag. In ihrem Schatten hielt er sich in dem Augenblicke
verborgen, in welchem sich die Thür in der rundbogigen Nische wieder öffnete
und die beiden Frauen auf den Stufen zur Garteuterrasse erschienen. Die
Herzogin warf einen verwunderten Blick uns den sonnenüberglänzten leeren Raum,
Catarina aber hatte sofort den Harrenden wahrgenommen und gab der Herzogin
einen Wink. Diese gebot offenbar dem jungen Mädchen keinen Schritt gegen
den Platanengang hin zu thun. Die alte Dame aber ging ohne Zögern dem
Dichter entgegen und sagte mit ruhiger Bestimmtheit: Was begehrt Ihr von
uns, Senhor Luis? Ein Mann wie Ihr treibt nicht müßiges Spiel, wie es
den leichtfertige!! jungen Narren dieses Hofes zuweilen beliebt, und stört die stille
Andacht von Frauen nicht ohne ernsten Anlaß, Ihr habt uns etwas zu sagen?
In der That, erlauchte Frau, versetzte Camoens, den bei dieser unerwartet
scharfen Ansprache ein Zweifel beschlich, ob er den rechten Augenblick gewählt
habe. Ich fühle mich nicht so rein, wie Ihr in Eurer Güte voraussetzt, und
doch nicht so schuldig, wie ich Euch nach diesem Geständnis erscheinen mag.
Ich bin so lange durch fremde Lande gepilgert, ohne daß ein Heller Strahl
heimatlicher Schönheit meinen Weg erhellt hat, daß mich dieses Licht nur all¬
zumächtig anlockt. Eure holde Pflegebefohlene weckt mir zudem die seligsten und
die schmerzlichsten Stunden, die ich durchlebt, aus dem Grabe —
Ich weiß, ich weiß davon, Senhor! fiel ihm die Herzogin ins Wort. Ihr
thätet besser, ruhen zu lassen, was nach Gottes Willen vorüber ist. Und wenn
es Euch durchaus drängt, meinem Kinde Eure Dichtergabe zu beweisen, so solltet
Ihr für Eure Sonette eine bessere Zeit als die Stunde nach der Morgen¬
andacht suchen. Komm hierher, Catarina, es ist Senhor Luis Camoens,
der des Glaubens lebt, daß er dir gestern Abend seine Huldigung nicht deutlich
genug dargebracht habe und dies jetzt mit einem Sonett — oder ists eine Canzone,
Herr Luis? — nachholen will.
Ihr irrt Euch, erlauchte Frau, entgegnete Camoens, dessen Wangen beim
Spott der alten Dame von flüchtiger Glut überhaucht wurden. Ich habe nie
zu den Poeten gezählt, denen rasch ans die Lippe springt, was ihnen die Muse
geschenkt hat. Ich würde Zeit und Ort schicklicher zu wählen verstehen, wenn
ich Donna Catarina mit meinen Liedern zu erfreuen glaubte. Aber mich dünkt,
daß es für die Bitte um ein Werk des Erbarmens keinen bessern Augenblick geben
könne, als den, in welchem ich Euch nahe!
Ihr habt Recht, Senhor! sagte Catarina eifrig, ehe die Herzogin ihrer
Pflegebefohlenen das Wort abzuschneiden vermochte. Was ist Eure Bitte, wem
und womit könnte ich helfen? Für welchen Unglücklichen sucht Ihr Beistand
und erweist mir die Ehre, dabei auch an mich zu denken?
(Fortsetzung folgt.)
MW?^i, ? >
Meit länger als drei Jahrzehnten geht durch die polnische Presse
und durch die rhetorischen Leistungen unsrer polnischen Parlamen¬
tarier eine Behauptung und, damit verbunden, eine Klage, die,
so gründlich und schlagend sie wiederholt schon widerlegt worden
ist, immer von neuem wieder laut wird und auch bei der
letzten großen Polendcbattc im Reichstage nicht ausblieb. Die Wortführer
der Polen in der Provinz Posen sagen direkt oder geben zu verstehe», daß die
letztern dem preußischen Staate gegenüber besondre Rechte besäßen, die sich auf
internationale Abmachungen und auf Ansprachen der Krone gründeten, und die
trotzdem nie geachtet wordeu seien. Nach der Wiener Schlußakte vom 9. und
15. Juni 1815, uach dem Vesitznahmcpatent und der Proklamation vom 15. Mai
desselben Jahres bestehe zwischen dein „Großherzogtume" Posen und der Krone
Preußen eine bloße Personalunion, und außerdem seien den Angehörigen des
erster» bestimmte Verheißungen erteilt worden, welche die Erhaltung ihres Volks-
tums und ihrer Sprache, ihrer Religion und Kirche betrafen, ihnen Zutritt zu
den Staatsämtern, einen polnischen Statthalter u. dergl. in. verbürgten, aber
allesamt unerfüllt geblieben seien. Betrachten wir diese Behauptungen beim
Lichte der Wahrheit, so ist auf sie zunächst zu erwiedern, daß der König von
Preußen das Stück des ehemaligen polnischen Reiches, das ihm 1815 zuge¬
sprochen wurde, in ehrlichem Streite erworben hatte, bei dem ihm das Recht
des Siegers über Empörer und das des Eroberers gleichmäßig zur Seite stand.
Nie waren die Polen geringer geachtet als damals, und nie besaßen sie weniger
Rechte vor Europa, nie standen ihnen dessen Staatsmänner weniger sympathisch
gegenüber. „Sie deklamiren Dramen über ihr Unglück, sagte der russische Mi¬
nister Pozzo ti Borgo, und doch ist ihr Loos kein andres, als was alle Völker,
die sich so betrugen, getroffen hat/' „Ich begreife nicht, schrieb Lord Castlerecigh,
weshalb Preußen nicht auf Kosten eines Feindes entschädigt werden sollte, der
nach den Grundsätzen des Völkerrechts die Gesamtheit seiner politischen Rechte
eingebüßt hat." „Die polnische Angelegenheit, erklärte Talleyrand, ist lediglich
eine Frage der Teilung und Abgrenzung, welche die dabei interessirten Staaten
unter sich abzumachen haben." In der hierdurch bezeichneten Stimmung ging
der Wiener Kongreß an seine Arbeit, bei der es sich hauptsächlich und in
Betreff der Polen einzig und allein darum handelte, die Modalitäten zu be¬
stimmen, welche dem Weltfrieden möglichst lange Dauer verbürgten. Das Er¬
gebnis dieser Arbeit liegt hinsichtlich des frühern Polens in mehreren Artikeln
der Kongrcßhanptaktc vom 9. Juni 1815 vor uns. Es heißt da in Artikel 1:
„Die polnischen Unterthanen Rußlands, Österreichs und Preußens werden eine
Vertretung und nationale, nach der Weise der politischen Existenz geordnete
Einrichtungen erhalten, wie sie jede der Regierungen, zu denen sie gehören,
ihnen zu gewähren für nützlich und passend erachten wird." Niemand wird
mit Fug leugnen können, daß diese ganz unter das Belieben jeder einzelnen
der drei Regierungen gestellten Versprechen vonseiten der preußischen bereits
durch Einrichtung der Provinziallandtage von 1823 erfüllt worden ist. In
Artikel 2 wird das Posener Land bezeichnet als „der Teil des Herzogtums
Warschau, welchen Se. Majestät der König von Preußen in voller Souveränität
und mit vollem Eigentumsrechte für sich und seine Nachfolger unter dem Titel
Grvßherzogtum Posen besitzen wird." Der 23. Artikel lautet: „Nachdem Se.
Majestät der König von Preußen infolge des letzten Krieges wieder in den
Besitz mehrerer Provinzen und Gebiete getreten ist, die dnrch den Frieden von
Tilsit abgetreten worden waren, wird durch den gegenwärtigen Artikel anerkannt
und erklärt, daß Se. Majestät, dessen Erben und Nachfolger von neue», wie
früher (as nouveau ovinus lin p-u^viurt) in voller Souveränität und mit
vollem Eigentumsrechte die folgenden Lande besitzen werden, nämlich: den im
zweiten Artikel bezeichneten Teil seiner ehemaligen polnischen Provinzen, die
Stadt Danzig und ihr Gebiet, wie es durch den Tilsiter Vertrag bestimmt
worden ist, den Kottbnser Kreis n. s. w." Dann beginnt der vierundzwanzigste
Artikel mit den Worten: „Se. Majestät der König von Preußen wird mit seiner
Monarchie in Deutschland diesseits des Rheins vereinigen" — folgen die be¬
treffenden neuen Gebietsteile. Polnische Logik schließt hier: wenn der König in
den alten Provinzen nur „wieder in Besitz tritt," während er die neuen Er¬
werbungen „mit seiner Monarchie vereinigt," so folgt daraus doch die reine
Personalunion. Schade nur, daß bei jenem Artikel auf das xosssäeront as
Qouvsg.u das fatale eoinniv M x»!ivMt folgt, d. h. wie vor dein Tilsiter
Frieden von 1807, vor dem sicher keine Seele von einer Personalunion geträumt
hat, und daß der Schluß des dreiundzwanzigsten Artikels ganz ausdrücklich
erklärt, daß der König die bezeichneten polnischen Gebiete „mit allen andern
Rechten und Ansprüchen besitzt, welche Se, preußische Majestät vor dem Frieden
von Tilsit besessen und ausgeübt und auf welche er niemals durch andre Ver¬
träge, Akte oder Übereinkünfte verzichtet hat." Wenn Friedrich Wilhelm der
Dritte sich in der Folge den Titel eines ..Großherzogs von Posen" beilegte,
so war dies eine Liebhaberei, die mit dem Begriff einer Personalunion nicht
das mindeste gemein hatte. Die Schlußakte giebt ihm jenen Titel nirgends,
Währelid sie ihn im fünfundzwanzigsten Artikel doch als „Großherzog von
Niederrhein" bezeichnet.
Noch vor Schluß des Kongresses nahm der König Besitz von seinem Lande,
indem er am 15. Mai 1815 ein Patent erließ, das mit Weglcissnng der Ein¬
gangs- und Schlußworte folgendermaßen lautete: „Vermöge der mit deu am
Kongreß zu Wien teilnehmenden Mächten geschlossenen Übereinkunft sind mehrere
Unserer früheren polnischen Besitzungen zu Unseren Staaten zurückgekehrt. Diese
Besitzungen bestehen in dem zum Hcrzogtume Warschau gekommenen Teile
der preußischen Erwerbungen vom Jahre 1722, der Stadt Thorn mit einem
für dieselbe neu bestimmten Gebiet, in dem jetzigen Departement Posen, mit
Allsnahme eines Teils des Powitzschcn und des Peysernschen Kreises, lind in
dem bis an den Fluß Prosuci belegnen Teile des Kalischer Departements mit
Ausschluß der Stadt und des Kreises dieses Namens. Von diesen Landschaften
kehrt der Kulmer und der Michelaller Kreis in deu Grenzen von 1772. ferner
die Stadt Thorn nebst ihrem ueubestimmten Gebiete zu Unserer Provinz West¬
preußen zurück, zu welcher auch, wegen des Strombaues, das linke Weichselufer,
jedoch bloß nut den unmittelbar an den Strom grenzenden oder in dessen
Niederungen befindlichen Ortschaften, gelegt wird. Dagegen vereinigen Wir die
übrigen Landschaften, welchen Wir von Westpreußen den jetzigen Crvneschcn
und den Kaninschen Kreis als ehemalige Teile des Netzedistrikts hinzufügen,
zu einer Provinz, und werden dieselben unter dem Namen des Großherzogtums
Posen besitzen, nehmen auch den Titel eines Groszherzogs von Posen in
Unsern Königlichen Titel und das Wappen der Provinz in das Wappen
Unseres Königreichs auf. Indem Wir Unserm Generalleutnant von Thuner
den Befehl gegeben haben, den an Uns zurückgefallenen Teil Unserer früheren
Polnischen Provinzen mit Unsern Truppen zu besetzen, haben wir ihm zugleich
aufgetragen, denselben in Gemeinschaft mit Unserm zum Oberpräsidenten des
Großherzogtnms ernannten Wirklichen Geheimrat von Zerboni ti Sposetti
förmlich in Besitz zu nehmen. Da die Zeitumstände nicht gestatten, daß Wir
die Erbhnldigung persönlich empfange», so haben Wir den zu Unserm Statt¬
halter im Großherzogtum Posen ernannten Herrn Fürsten Anton Radziwill
Liebden ausersehen und ihn bevollmächtigt, in Unserm Namen die deshalb
nötigen Verfügungen zu treffen."
Daß der König zum Behufe der Organisation des neuen Gebietes einen
besondern Statthalter ernennt, hat sein Seitenstück darin, daß auch die alte
Provinz Pommern einen Statthalter besitzt; daß er diesen seinen Vertreter
sowie den Oberpräsidenten aus den Angehörigen der neuen Erwerbung wählt,
erscheint als unverfängliche Rücksicht auf deren Gesamtheit, Wichtig ist, daß
er diese Erwerbung wiederholt als Provinz bezeichnet, was trotz des Titels
„Großherzogtum" für den eigentlichen Charakter derselben als Staatsglicd umso-
mehr den Ausschlag giebt, als er das Wappen der Provinz in das Wappen
seines Königreiches „aufnimmt," nicht aber es demselben „anfügt," und als er
Teile von Posen mit Westpreußen verbindet und westpreußische Landstriche mit
Posen zusammenlegt — ein Verfahren, welches sich bald nachher wiederholte,
indem 1818 Grechvw und Schenneiscl zur Provinz Brandenburg geschlagen wurden,
und welches nicht daran denken läßt, daß der König sich das Verhältnis Posens
zu seiner übrigen Monarchie auch nur annähernd als das einer Personalunion
vorgestellt habe.
Zu gleicher Zeit mit dem Besitzergreifungspatent erging folgende Prokla¬
mation an die Bevölkerung der neuen Provinz: „Einwohner des Großherzog-
tnins Posen! Indem Ich durch Mein Besitznahmepatent vom heutigen Tage
denjenigen Teil der ursprünglich zu Preußen gehörigen, an Meine Staaten
zurückgefallenen Distrikte des bisherigen Herzogtums Warschau in ihre alten
Verhältnisse zurückgeführt habe, bin Ich bedacht gewesen, auch Euere Verhält¬
nisse festzusetzen. Auch Ihr habt ein Vaterland und mit ihm einen Beweis
Meiner Achtung für Eure Anhänglichkeit an dasselbe erhalten. ^Das klänge
doppelsinnig, wenn es nicht sogleich weiter hieße:> Ihr werdet meiner Mon¬
archie einverleibt, ohne Euere Nationalität verleugnen zu dürfen. Ihr werdet
an der Konstitution teilnehmen, welche Ich meinen Unterthanen zu gewähren
beabsichtige, und Ihr werdet, wie die übrigen Provinzen Meines Reiches, eine
provinzielle Verfassung erhalten. Eure Religion soll aufrecht erhalten und zu
einer staudcSmüßigen Dotirung ihrer Diener gewirkt werden. Euere persönlichen
Rechte und Euer Eigentum kehren wieder unter deu Schutz der Gesetze zurück,
zu deren Beratung Ihr künftig zugezogen werden sollt. Euere Sprache soll
neben der deutschen in allen öffentlichen Verhandlungen gebraucht werden, und
jedem unter Euch soll nach Maßgabe seiner Fähigkeiten der Zutritt zu den
öffentlichen Ämtern des Großherzogtums, sowie zu allen Ämtern, Ehren und
Würden Meines Reiches offen stehen. Mein unter Euch geborner Statthalter
wird unter Euch residiren. Er wird Mich mit Eilen Wünschen und Bedürf¬
nissen und Euch mit den Absichten Meiner Regierung bekannt machen. Euer
Mitbürger, mein Oberpräsident, wird das Grvßherzogtum nach den von Mir
erhaltenen Anweisungen organisiren und bis zur vollendeten Organisation in
allen Zweigen verwalten. Er wird bei dieser Gelegenheit von den unter
Euch gebildeten Geschäftsmännern deu Gebrauch mache», zu dem sie ihre Kenntnis
und Euer Vertrauen eignen. Nach vollendeter Organisation werden die allge¬
mein vorgeschriebenen Nessortverhältnisse eintreten. Es ist Mein ernstlicher Wille,
daß das Vergangene einer völligen Vergessenheit übergeben werde. Meine aus¬
schließliche Fürsorge gehört der Zukunft. In ihr hoffe Ich die Mittel zu finden,
das über seine Kräfte angestrengte, tief erschöpfte Land noch einmal aus den
Weg zu seinem Wohlstande zu führen. Wichtige Erfahrungen haben Euch gereift.
Ich hoffe auf Eure Anerkennung rechnen zu dürfen."
Die hier erteilten Zusagen sind mit alleiniger Ausnahme derjenigen, welche
eine Konstitution verheißt, von Friedrich Wilhelm dem Dritten gewissenhaft erfüllt
worden, und jene wurde von dessen Nachfolger eingelöst, sodnß die Bewohner
der Provinz Posen sich jetzt in keiner Weise beklagen können, das ihnen in der
Proklamation verliehene Recht sei unbeachtet geblieben. Die Annahme des Königs
dagegen, daß „wichtige Erfahrungen sie gereift" hätten, erwies sich als unrichtig,
und die von ihm gehoffte Anerkennung seiner guten Absichten blieb aus.
Kehren wir zum Jahre 1815 zurück, so wurde vom General von Thuner
und vom Oberpräsidenten von Zerboni am 8. Juni eine besondre Urkunde über
die Besitznahme des „an Preußen zurückgefallenen Teiles des Herzogtums
Warschau" aufgenommen, in der es hieß: „Wir erklären diese Landschaften und
Distrikte für einen Teil der preußischen Monarchie und ihre Bewohner sür Unter¬
thanen Sr. Majestät des Königs von Preußen."
Am 3. August fand darauf die Erbhnldiguug statt, welche der Statthalter,
Fürst Nadziwill, mit einer Ansprache einleitete, in der er seine Landsleute dazu
beglückwünschte, daß sie „nun einem Staatskörper einverleibt würden, dessen
Ruhm und Macht auf einer weise beschränkten Freiheit, auf einer unparteiischen
Gerechtigkeit und einer alles umfassenden Fürsorge der Negierung beruhe." und
die mit den Worten schloß: „Die Vorzeit endlich hat Euch ein eigentümliches
Gepräge aufgedrückt. Diese Eigentümlichkeiten bestehen in Eurer Sprache, in
Euern Gewohnheiten und Euern Sitten. Diese Euch teuern Züge sollt Ihr
behalten; denn Ihr ererbtet sie von Euern Vätern. Die neue Familie, die
Euch unter sich aufnimmt, läßt sie Euch unangetastet. Umsomehr muß die
herzliche Innigkeit, mit der Ihr zu dem neuen Beherrscher übergeht, fort¬
während wachsen, weil Ihr Glieder seines Staates werden könnt, ohne die
Merkmale Euers Stammes aufzugeben. Ihr kennt die Heiligkeit des Eides,
kennt die Unverletzlichkeit der Pflichten, die Ihr dnrch ihn übernehme. Zu
diesem Eide fordere ich Euch jetzt auf. Gelobet unverbrüchliche Treue dem
besten der Könige mit aufrichtigem Herzen, verhaltet Euch darnach und glaubt
mit Zuversicht, daß des Königs väterliche Fürsorge niemals von Euch weichen
wird."
Darauf haben sie geschworen, Beamte, Geistliche, Rittergutsbesitzer, ohne
Protest und ohne irgendwelchen Vorbehalt, irgendwelche Einschränkung, genau
nach der Formel des Huldigungseides von 1796, dem Jahre der zweiten
Teilung, und dabei versprochen, dem Könige und dessen Erben und Nachfolgern
„zu aller Zeit getreu, gehorsam, gewärtig und unterthünig zu sein, Höchstdero
Ehre lind Bestes nach äußerstem Vermögen fördern, Schaden und Nachteil ab¬
wenden, die Meinigen sowie meine Untergebnen dazu anhalten und weder gegen
Se. Königliche Majestät, Dero Königliches Haus, Land, Armee und sonstiges
Allerhöchstes Interesse etwas Nachteiliges vornehmen, noch mit Sr. Königlichen
Majestät Feinden das geringste Verständnis haben, auch nicht dulden zu »vollen,
daß gegen diese Verpflichtung von einem andern gehandelt werde, und auf diese
Weise mich so zu verhalten, wie es treuen Vasallen und Unterthanen gegen
ihre rechtmüßige Landesherrlichkeit überall gebührt. So wahr mir Gott helfe
durch seinen Sohn Jesum Christum, die übergebencdeite, von der Erbsünde un¬
befleckte Jungfrau und Mutter Gottes Maria und alle liebe Heilige."
Nun geschah es, daß der Oberpräsident von Zerbvni diesen Eid als nicht
genug bindend ansah, und daß er infolgedessen sich hinsetzte und einen Revers
für die polnischen Beamten niederschrieb, den sie »ach Ableistung ihres Schwurs
unterzeichnen sollten, und der folgendermaßen lautete:
„Ich Endesunterzeichneter bekenne hierdurch feierlich und öffentlich, daß ich
ungezwungen in die Dienste Sr. Majestät des Königs von Preußen, meines
Allergnädigsten Herrn, getreten bin und den mir vorgelegten Diensteid freiwillig
und ohne Reservation geschworen habe. Ich erkenne Se. Majestät den König
von Preußen als den einzigen rechtmäßigen Souverän dieses Landes und den
Anteil von Polen, welcher durch den Kongreß von Wien dem königlich preußischen
Hause wieder zugefallen ist, als mein Vaterland, das ich gegen jede Macht und
gegen jedermann, wer es auch sei, uuter alle» Umständen und Verhältnissen
mit meinem Blute zu verteidigen verpflichtet und bereit bin. Ich gelobe Sr.
Königlichen Majestät von Preußen und Höchstdero Hause die unverbrüchlichste
Treue, die gewissenhafteste Erfüllung der von mir übernommenen Dienstpflichten
und einen unbedingten Gehorsam. Für die Erfüllung dieser Gelübde verpfände
ich meine Ehre und will für einen ehrlosen Mann und für einen Verräter an
meinem Vaterlande und meiner eignen Nation gelten, wenn ich dieses mein
Versprechen breche."
Dieser Revers ist von einigen Beamten wirklich vollzogen worden. Er
war wohlgemeint, aber überflüssig und in seiner Fassung ungeschickt, und Zerbvui
besaß nicht die Befugnis, mit ihm vvrzngehe». Die Polen aber legten ihm
hohes Gewicht bei, machten in ihrer Darstellung der damaligen Vorgänge aus
dem Revers nach dem Huldignngscide den wirklichen Eid, sprachen ihre Freude
aus, daß in ihm „endlich einmal klar und bestimmt erklärt sei, was eigentlich
der Bewohner des Grvßhcrzogtums Posen als sein Vaterland zu betrachten
habe," und wiesen der betreffenden Oberpräsidialverordnung in ihrem „Cyklus
der Staats- und völkerrechtlichen Urkunden, welche das Verhältnis des Gro߬
herzogtums Posen zur preußischen Krone feststellen," einen hervorragenden
Platz an. Sie wissen natürlich, verschweigen aber, daß die taktlose Eigenmäch¬
tigkeit Zerbonis diesem einen schweren Verdruß zuzog und höhern Ortes ohne
Verzug ungeschehen gemacht wurde. Die Sache wurde nämlich an den Statt¬
halter Fürsten Radziwill lind an den Minister Hardenberg berichtet, diese ver¬
langten von dem obersten Justizbeamten der Provinz, dem Obcrapvellatious-
genchtsvräsidenten von Schönermark, ein Gutachten über das Reskript mit dem
unglücklichen Revers, und dasselbe, von 20. Juni 1316 datirt, erklärte: „Die
zweite Periode läßt den Unterschreibenden den Anteil von Polen, welcher dem
Königlich preußischen Hanse zurückgefallen ist, als sein Vaterland anerkennen.
Der Begriff des Vaterlandes bezieht sich aber nicht auf einzelne Provinzen,
sondern auf den ganzen Staat, dem man angehört. Das Vaterland des Ein¬
wohners des Grvßherzogtnms ist also jetzt das ganze preußische Land, und
wenn Vaterlandsliebe und Vaterlandstreue in seinem Herzen wurzeln soll, muß
man ihn nicht aus dem großen Vnterlande ein kleines auszeichnen." Das Ende
dieser Episode war, daß Fürst Radziwill durch statthalterliches Reskript vom
8. September dem Zerbouischcn Revers das Lebenslicht ausblies.
Gleichfalls im Jahre 1816 erschienen eine Kcibinetsorde (vom 20. Juni)
und ein königliches Patent (vom 9. November), welche in der Provinz Posen
die Gesetzgebung der nltpreußischen Landesteile einführten. Am 5. Juni 1823
folgte die Verordnung wegen Errichtung von Proviuzialsländen für die einzelnen
Glieder der preußischen Monarchie. Neufchatel, welches wirklich uur durch
Personalunion mit dieser verbunden war, wurde dabei ausgenommen, Posen
nicht, und das vom 3. August 1824 datirte ausführende Gesetz für letztere
Provinz sowie die dasselbe ergänzende Verordnung von 15. Dezember 1830
stimmen vollkommen mit den Gesetzen und Verordnungen überein, welche für die
übrigen Provinzen in dieser Sache erlassen wurden. Das Gleiche wäre — ab¬
gesehen allein von der Gemeindeordnung des Jahres 1850, welche die Pfuelsche
Demarkationslinie voraussetzt, die indes niemals praktische Geltung gewann —
von allen spätern organischen Gesetzen Preußens zu sagen. Es genügt aber
für unsern Zweck, wenn wir aus den ältern Kabinetsordres und Lcmdtags-
abschieden Friedrich Wilhelms des Vierten, die in unsern Zusammenhang gehören,
den Landtagsabschied vom 6. August 1841 herausgreife», worin der Monarch
ganz den Standpunkt seines Vaters einnimmt, wenn er sagt:
„In Übereinstimmung mit dem Inhalte der Wiener Traktate hat das Bc-
sitzucchmepatcnt und der Zuruf Unsers in Gott ruhenden Herrn Vaters Majestät
von 15. Mai 1815 die Einwohner der Provinz Posen der Monarchie einver¬
leibt und damit dem Charakter einer vollständigen, untrennbaren und alle Ver¬
hältnisse durchdringenden Vereinigung ausgesprochen. Das Grvßherzogtnm
Posen ist eine Provinz in demselben Sinne, in derselben unbedingten Gemein¬
schaft wie alle übrigen Provinzen, die Unserm Szepter unterworfen sind. Mit
dieser Stellung der Provinz Posen ist die Stellung der verschiednen Nationali¬
täten, die sie in sich schließt, ist der Gang ihrer fernern Entwicklung unver¬
rückbar vorgezeichnet. Der polnischen Nativualitcit ist durch die Wiener Trat-
täte und durch den Zuruf vom 15. Mai 1815 Berücksichtigung und Schutz
verheißen. Die rühmliche Liebe jedes edeln Volkes zu seiner Sprache, seiner
Sitte, seinen geschichtlichen Erinnerungen auch in Polen zu achten und zu
schützen, war der Vorsatz der Vollzieher des Wiener Traktates, und anch unter
Unsrer Regierung soll ihr Würdigung und Schutz zuteil werden. Unsre aus¬
drücklichen Verheißungen wie die Anordnungen, welche ihnen gefolgt sind, haben
dafür Zeugnis gegeben. Aber wie jede Gabe an die Bedingung geknüpft ist,
daß sie nicht mißbraucht werde, so können anch Wir Unsre Verheißung und
Unsre Absichten von dieser Bedingung nicht lösen. In der nntrcnnbcireu Ve»
bindnng mit Unsrer Monarchie hat das Nationalgefühl der polnischen Unter¬
thanen Unsrer Provinz Posen die Richtung seiner fernern Entwicklung, die feste
Schranke seiner Manifestation zu erkennen. Die Verschiedenheit der Abstam¬
mung, der Gegensatz der Namen Polen und Deutsche findet seinen Vereinigungs-
punkt in dem Namen des Staates, dem sie gemeinsam für immer angehören,
in dem Namen Preußen."
Und wie sich das absolute Königtum in Preußen gegenüber den Polen im
Posenschen nichts vergeben hat, so auch das verfassungsmäßige. Der erste Ar¬
tikel der preußischen Konstitution sagt: „Alle Landesteile der Monarchie in
ihrem gegenwärtigen Umfange bilden das preußische Staatsgebiet." Die pol¬
nischen Abgeordneten wollten anfangs ihre Mandate niederlegen, um nicht
schwören zu müssen. Indes erschien ihnen dies bei reiflicher Überlegung bedenk¬
lich, und man hatte die Frende, sie im November 1850 ans dem „Berliner
Landtage" wieder zu begrüßen. Sie wollten jetzt den Eid mit Vorbehalten leisten,
um „ans dem durch die Verfassung gebotenen Wege die Rechte des Landes wahr¬
nehmen" zu können. Natürlich wurde deu Herren vom Präsidenten des Ab¬
geordnetenhauses darauf erwiedert, wenn sie den Eid leisteten, so leisteten sie
ihn bedingungslos und uneingeschränkt. So schwuren sie denn in dieser Weise,
und dies geschah später auch von allen andern Landbvtcn polnischer Zunge.
Als der norddeutsche Bund gegründet wurde, protestirte der Abgeordnete Kantak
gegen ein Zustandekommen desselben mit Einschluß Posens, in Wahrheit aber,
wie der Bundeskanzler ihm nachwies, gegen die verfassungsmäßige Einheit der
preußischen Monarchie. „Diese Einheit anzuerkennen, bemerkte damals der Graf
Bismarck, und doch dagegen zu Protestiren, daß der Staat, zu dem man ge¬
hört, berechtigt sei, seine staatlichen Zwecke auch im Vereine mit den Nachbar¬
staaten zu erstreben, mit denen er glaubt, sie besser erreichen zu können, das
kann in der That niemand, der nur einige Logik sich bewahrt hat, einfallen."
Irgendwelche Folge hatte dieser Einspruch der polnischen Junker und ihres An¬
hanges selbstverständlich ebensowenig wie 1871 der Antrag polnischer Abge¬
ordneten, die Provinz Posen von der Aufnahme der übrigen preußischen Lande
in das deutsche Reich auszuschließen. „Ich bestreite Ihnen, sagte Fürst Bismarck
bei dieser Gelegenheit, das Recht, sich auf eiuen Vertrag für Sonderstellung
einzelner Provinzen im preußischen Staate zu berufen. Sie haben es stets
vermieden, diese Verträge ihrem vollen Wortlaute nach anzuführen. ... Es
wäre die Existenz des Großherzvgtnms Posens und Westpreußens im preußi¬
schen Staate, wie sie seit einem halben Jahrhunderte ist, nicht möglich gewesen,
wenn etwas derartiges, wie Sie stets anführen, in den Verträgen festgesetzt
wäre." Und in derselben Sitzung des Reichstages (1. April) rief der Kanzler
der Schaar polnischer Abgeordneten, die sich um Dr. Nicgolcwski gruppirte, zu:
„Die etwa zwanzig Abgeordneten, die sich hier als Volk geberden, und zwar
als polnisches Volk, sind in Wirklichkeit kein Volk, auch vertreten sie kein Volk
und haben keins hinter sich. Sie, meine Herren, haben nichts hinter sich als
Ihre Irrtümer und Ihre Täuschungen, und zu denen gehört unter andern,
daß Sie vom polnischen Volke hierher gewählt seien, um die polnische Natio¬
nalität zu vertreten. Sie sind gewählt, um die Interessen der katholischen
Kirche zu vertreten, und wenn sie das thun, sobald diese Interessen in Frage
kommen, werden Sie Ihre Schuldigkeit gegen Ihre Wähler erfüllen. Die pol¬
nische Nationalität zu vertreten, dazu hat Ihnen kein Mensch ein Mandat ge¬
geben und das Volk im Großhcrzogtnm Posen und in Westpreußen am aller¬
wenigsten. Es teilt nicht die Fiktionen, die Sie verteidigen: daß die polnische
Herrschaft gut gewesen wäre. Bei aller Unparteilichkeit und bei aller Neigung,
gerecht zu sein, kann ich Ihnen versichern, sie war herzlich schlecht, und darum
wird sie nie wiederkommen."
Also: die Krone Preußen besitzt den Teil des ehemaligen Polcnreichcs,
welcher der Monarchie der Hohenzollern in den Provinzen Posen und West-
preußen einverleibt ist, vollkommen rechtmäßig. Diese Provinzen sind nicht
bloße Anhängsel, sondern Glieder des preußischen Staatskörpers. Die Ein¬
sprüche dagegen, die ans Verträgen und Proklamationen hergeleitet werden, sind
null und nichtig, grundlos und unlogisch, und die Abgeordneten, die sie erheben,
haben drzu von ihren Wählern keinen Auftrag.
nsre gegenwärtige Neformgcsctzgebung bewegt sich ans den ver-
schiednen von ihr betretenen Gebieten mit einer gewissen Zag¬
haftigkeit, welche von den Gegnern ihrer Zeit keineswegs an den
Tag gelegt wurde. Es ist dies freilich insofern sehr erklärlich, als
es im Wesen konservativer Bestrebungen und so auch der von dieser
Seite entfalteten gesetzgeberischen Thätigkeit liegt, nicht anders als mit Vorsicht
und selbst mit einiger Ängstlichkeit an Gebiete, die noch nicht recht übersehbar
sind und auf denen sich nicht ohne weiteres erkennen läßt, welche tiefergreifender
Wirkungen die beschlossenen Maßregeln haben können, heranzutreten, während
dagegen eine gewisse leichtherzige Gleichgiltigkeit hinsichtlich dessen, was mög¬
licherweise mit dem besten Willen von der Welt angerichtet wird, zum Wesen
des Liberalismus gehört. Kurzum, die Reformgcsetzgebniig hat sich bis heute
sorgfältig gehütet, über den genau umschriebenen Kreis dessen, was zunächst erreicht
oder angestrebt werden sollte, hinauszugehen. So ist denn u. a. Wohl im all¬
gemeinen gesagt, daß auch die Errichtung wirtschafts-genossenschaftlicher Verbände
innerhalb der Innungen oder Gewerbsgenossen zu den Aufgaben der Innung
gehöre, aber diese Errichtung selbst ist weder näher präzisirt, noch sind hierfür
weitere Hilfsmittel an die Hand gegeben. Hier wirkte außer dem obigen allge¬
meine» Grunde noch ein besondrer mit: es ist dem Liberalismus (wie in ver-
schiednen ähnlichen Fällen) gelungen, in den weitesten Kreisen die Meinung zu
verbreiten, für das Genossenschaftswesen sei ans absehbare Zeit die einzig mög¬
liche und dabei als praktisch bewährte Form geschaffen, und alles, was auf
diesem Gebiete neu anzubahnen sei, müsse sich dieser Form entsprechend gestalten.
Und doch ist diese Meinung vollständig irrig, und eine zeitgemäße, ans die
Innungen basirte Neugestaltung des Genossenschaftswesens wird von ganz
andern Grundgedanken als denen des jetzigen GeuosseuschaftSgesetzes auszugehen
haben, einfach weil das letztere wirkliche „Genossen" weder im Auge hat noch
eine Ausbildung von wirklichen „Genossen" fördert.
Das Wort „Genosse" ist eines der ursprünglichsten und volkstümlichsten,
über die unsre Sprache verfügt. Es bedeutet Leute, die einunddemselben
Interessenkreise angehören und durch diese gemeinsame Angehörigkeit ans treues
und festes Zusammenstehe» angewiesen sind. Die Mitglieder eines Wald- und
Weidenutznugsrechts, die Mitglieder eines Deichverbandes, die Teilnehmer eines
Meiereibctriebes, die Angehörigen irgendeiner Form gemeinsamer produktiver
Thätigkeit — das sind Genossen. Auch die Mitglieder einer Innung können
und sollten nach unsrer Überzeugung Genossen sein. Ganz und gar unzulässig
aber sollte die Anwendung dieses Wortes auf Leute sein, deren ganze „Gcnvssen-
schaftlichkeit" darin besteht, daß sie alle einem Vereine angehören, der irgend¬
einen, wenn auch vielleicht für jedes Mitglied noch so wesentlichen, kein Mitglied
als solches aber den andern Mitgliedern nähcrrückenden Einzelzweck verfolgt.
Dies gilt ganz besonders von den sogenannten Vvlksbanken, von denen man
wirklich sagen kann, daß auch nicht eines der Kennzeichen, an denen eine wirkliche
Genossenschaft zu erkennen sein sollte, auf sie zutrifft. Weder haben die Mit¬
glieder ein andres als ein rein abstraktes gemeinsames Interesse, noch ist auch
nur diese abstrakte Gemeinsamkeit für die Mitglieder eine gleichartige (wie un¬
versöhnlich und bei jeder Gelegenheit schroff zu Tage tretend ist nicht der
Gegensatz zwischen den dividendeluftigen Stninmanteilsinhabern und den nach
billigem Zins rufenden Krcditbcdürftige»!), noch nimmt die Masse der Mitglieder
um den Geschäften selbst ein ernstliches Interesse oder hat auch nur ein ge¬
nügendes Urteil über dieselben. Niemand, der jemals die Generalversamm¬
lungen unsrer bedeutenderen Volksbanken, diese zu einem reinen Dekorationsstücke
herabgesunkene Farce, zu besuchen und zu studiren Gelegenheit hatte, wird den
letzten Satz bestreiten. In Wahrheit sind ja die Vorstände, Direktoren ze,
der größern Bollsbanken längst allmächtig geworden, und die angeblichen
„Genossen" bilden nnr noch den ans einer Art von Pietät festgehaltenen
Unterbau, auf dem sich das Gebäude eines weitverzweigten Großbank¬
betriebes erhebt. Eine Grundlage aber, auf der der Begriff des „Genoffen"
sich so verflüchtigen konnte, daß er nur noch ein Scheindasein sührt, kann
nicht die richtige sein. Es war somit ein Irrtum, von der Nichtigkeit und
Sachgcmäßheit des jetzigen Genossenschaftsgesetzes auszugehen, als man den
ersten schüchternen Schritt that, die Genossenschaftsidec in unsre Innungen
zu verpflanzen. Man hätte vielmehr von vornherein zugestehen sollen, für
diese Verpflanzung müsse eine ganz neue rechtliche Grundlage geschaffen
werden, das künftige Geuvssenschaftsgesetz müsse, mit einem Worte gesagt,
nicht Leute künstlich zu Genossen stempeln, die es garnicht sind, sondern wirk¬
lichen Genossen ein an ihre Verhältnisse sich naturgemäß anschließendes Ge-
nossenrccht verleihen. Soll die Innung zur Genossenschaft werden oder soll sie
aus ihrem Schoße genossenschaftliche Bildungen entwickeln, so ist das heutige
Genossenschnftsgesetz ganz unbrauchbar, schon weil es viel zu umständlich ist
und überdies (wie weiterhin gezeigt werden soll) zu hohe Anforderungen stellt.
Es muß davon ausgegangen werden als von einer im Rechtsbewußtsein des
Volkes vorhandenen Sache, daß die Jnnungsmitglicder von Haus aus natürliche
Genossen sind, und daß, wenn einem von ihnen zu begründenden genossenschaft¬
lichen Betriebe die hierzu erforderlichen Rechtsformen gegeben werden sollen,
man sich hierbei um die natürlichen Formen und Gliederungen des Innungs-
wesens zu halten hat. Woran sowohl Innungen wie jetzige sogenannte Ge¬
nossenschaften (letztere jedoch ungleich mehr) leiden, das ist die Teilnahmlosigkeit
der Mitglieder; nur hat diese sehr verschiedne Ursachen: bei den sogenannten
Genossenschaften wurzelt sie darin, daß die Masse der Mitglieder von Art und
Umfang der Geschäfte weder Kenntnis noch Verständnis hat, bei den Innungen
darin, daß das gegenwärtige Wirksamkeitsgebiet derselben zu klein, einseitig
und geringfügig, und darum das Interesse der nicht gerade für die Jnnungs-
idee als solche begeisterten Mitglieder an der Jnnungssache zu schwach ist.
Wenn demnach das Innungswesen wirklich neu belebt werden soll, so müssen
die Innungen eine wirkliche Aufgabe bekommen, über deren Wichtigkeit kein
Mitglied der Innung einen Augenblick im Zweifel sein kann. Ein genossen¬
schaftlicher Betrieb, der sich durchaus auf die „Genossen" (die Mitglieder) be¬
schränkt, würde ohne Zweifel in diesem Sinne wirken; und die Übertragung
dieses neuen Thntigkeitsgebietes ans die Innung würde also nicht nur wirkliche
Genossenschaften begründen und damit einer künftigen vollen Wirksamkeit der
genossenschaftlichen Idee die Wege ebnen, sondern auch den Junungsgedanken
selbst erst lebendig und wirksam machen. Wir kommen also zu dem Ergebnis,
daß die erste Voraussetzung für zeitgemäße Entfaltung eines mit dem Innungs-
wesen verschmolzenen Genossenschaftswesens darin besteht, den Junungsgenossen-
schaften eine den Jnnungseinrichtungcn angepaßte Rechtsgrundlage zu geben,
und sich hierbei keineswegs an die leitenden Gesichtspunkte des heutigen Ge¬
nossenschaftsgesetzes (die ja in einem wesentlichen Punkte, der Zulassung von
jedermann, für unsre Zwecke gänzlich unbrauchbar sind) zu binden.
Auch noch in einem andern, kann: minder wesentlichen Punkte sind die
Grundsätze des heutigen Genvssenschaftsgesetzes nicht allein keineswegs als un¬
erschütterliche Axiome zu betrachten, sondern sogar eher schädlich, mindestens
über das erforderliche Maß hinausgehend. Wir meinen die solidarische Haft¬
barkeit. Gewiß, diese solidarisch von allen Mitgliedern übernommene Verbind¬
lichkeit giebt der Sache ein Gepräge von Solidität und Gemeinnützigkeit, welches
auf gar keinem andern Wege zu erreichen ist; aber trotzdem ist sie 1. gefährlich,
2. der Entwicklung nachteilig, 3. unnötig. Es ist leicht, diesen dreifachen Tadel
zu begründen. Daß es für die Mitglieder eine gefährliche Sache sei, mit
ihrem ganzen Vermögen für die Verbindlichkeiten eines gemeinsamen Betriebes
zu haften, ist natürlich nichts neues; es ist dieses Bedenken von Anfang an
geltend gemacht worden, und man wird uns siegreich entgegenhalten, daß trotz¬
dem dieses Prinzip seinen Weg gemacht und Hunderttausende zahlungsfähiger
Leute nicht am Beitritte verhindert, ja dieselben erst recht zum Beitritte geneigt
gemacht habe. Aber die Sache sieht doch etwas anders ans, wenn man sie
im Lichte der wahrhaft beängstigenden Menge von Vvlksbankzusaminenbrücheil
betrachtet, die in letzter Zeit stattgefunden haben. Mag es noch so wahr sein,
daß unzählige wohlhabende und selbst reiche Leute in allen Teilen Deutschlands
Volksbankmitglieder geworden und bis heute geblieben sind, und mag auch das
noch so sehr zutreffen, daß die Solidarhnft nicht mehr so zu verstehen ist, als
ob jeder solidarisch Haftbare ohne weiteres für jeden beliebigen Anspruch an¬
gefaßt werden könnte (ist doch durch besondres Gesetz die Art und Weise, wie
die Haftbarkeit praktisch gemacht und wie insbesondre bei Konkursen verfahren
werden soll, nämlich unter gewissenhafter Verteilung der Schuld unter sämtliche
Haftbare, längst geregelt), so bleibt es doch eine harte und gefährliche Sache,
daß ein Mann- gleichsam seine ganze bürgerliche Existenz der „ Genossenschaft"
zum Pfande setzt; sobald die Gefahr ernsthaft wird, kann dieses volle Ein¬
treten für die gemeinsame Sache den Leuten wirklich nicht mehr zugemutet
werden. Wer jemals Gelegenheit gehabt hat, die Zustände in der Nähe zu
beobachten, welche da herrschen, wo eine Volksbank in Konkurs geraten ist
(und diese Gelegenheit haben in letzter Zeit viele, viele Leute in Deutschland
gehabt!), der weiß, wie grausig dieselben sind. Es ist nicht anders, als ob in
einem solchen Orte oder einer solchen Gegend die Pest ausgebrochen wäre.
Alle Geschäftsthätigkeit stockt, alles Interesse an bürgerlicher Arbeit ist er¬
tötet; weiß doch niemand, was der furchtbare Eintreibnngsrundgang, der sich
in aller Ordnung und Gesetzlichkeit so lange vollzieht, bis alles bezahlt ist oder
bis keiner der Haftbaren mehr einen Pfennig besitzt, ihm übriglassen wird.
Die gesetzlichen Vorschriften hierüber sind ja durchans sachgemäß, aber der
Fehler liegt in der unbeschränkten solidarischen Haftbarkeit selbst, und da die
Verteilnngsvorschristcn streng im Sinne derselben gehalten sind, so kommt eben
statt eines billigen und kulanten ein hartes und grausames Verfahren heraus.
Aber die Svlidarhaft ist nicht nur für diesen möglichst schlimmen, jedoch am Ende
nicht gerade wahrscheinlichen Fall gefährlich, sondern sie hat auch für den
ganzen Betrieb eine sehr bedenkliche Seite. Bei allen Geschäften kommt es doch
wesentlich auch darauf an, daß sie sich innerhalb eines bestimmten, dem Zwecke
und dem vorhandenen Maße von Leistungsfähigkeit angepaßten Nahmens halten;
die heutigen Genossenschaften werden aber durch die Svlidarhaft mit einer Art
von Gewaltsamkeit über diesen Nahmen hinausgetrieben. Es ist ja wahr, daß die
Svlidarhaft ihnen einen kolossalen, in gewissen: Sinne fast grenzenlosen Kredit
verschafft; aber ist dies ein Segen? ja ist es auch nur wünschenswert? Zu
ihrem Betriebe bedarf die Genossenschaft doch keines nahezu unbegrenzten, sondern
nur eben des für den Geschäftsumfang erforderlichen Kredits, und schon für
manche Volksbank ist es geradezu zum Fluche geworden, daß sie mehr Kredit
hatte, als nötig war. Denn wenn ihr über das erforderliche Maß hinaus Gelder
angeboten wurden, so hatten Direktoren und VerwaltnngSräte (die ja alle vom
Reingewinn ihre Tantiemen bezogen) selten den moralischen Mut, solche Be¬
träge zurückzuweisen oder das Angebot derselben zu weiter nichts als zum Herab¬
drücken des von der Bank gezählten Zinses zu benutzen, sondern gewöhnlich
wurde genommen, was zu erhalten war, und wenn sich dann hinterher die Frage
erhob: „Wohin mit dem Gelde?" — nun, da gab es Verwendungen, und zwar
anscheinend sichere und jedenfalls sehr lukrative Verwendungen die schwere Menge,
zu denen die reichlichen Baarmittel der Bank dienen konnten. Unzählige Zu-
sammenbruche sind auf nichts andres als ans diesen strotzenden Überfluß der
betreffenden Volksbank an verfügbaren. Kapital zurückzuführen, und dieser Über¬
fluß wiederum hat keine andre Quelle als die unbeschränkte Svlidarhaft.
Endlich aber ist die Svlidarhaft auch keineswegs erforderlich. Es kommt doch,
wie sehen oben gesagt, nicht auf Beschaffung beliebiger, sondern nur auf Be¬
schaffung der für den voraussichtlichen reellen Geschäftsumfang erforderlichen
Mittel an; hierfür aber genügt ein kleiner angesammelter Fonds und etwa die
Persönliche Haftbarkeit weniger Personen, ja unter Umständen eines einzige» als
solid und geschäftskundig bekannten Mannes. Allerdings ist selbst diese bescheidne
Sicherheit nicht ganz leicht zu beschaffen, und außerdem ist es erforderlich, ein
lebendiges persönliches Interesse der Mitglieder an dem ganzen Betriebe zu er-
zeugen und wach zu erhalten. Darum ist längst die beschränkte Haftbarkeit als
ein Mittel, den genossenschaftlichen Betrieb zu ermöglichen und dabei doch die
schweren Mißstände des gegenwärtigen Systems zu vermeiden, anerkannt worden.
Jedes Mitglied verpflichtet sich bis zu einer gewissen Höhe und stellt für diesen
Betrag eine Sicherheit, über deren ungeschmälerten Bestand zu wachen eine
Hauptaufgabe der Geuvsseuschaftsvorstände ist. Der Kredit der Genossenschaft
wird dann genau bis zur Gescimthöhc dieser Sicherheiten, einschließlich des von der
Genossenschaft angesammelten Fonds und des besondern Vertrnnens, welches
die Leitung derselben sich erworben hat, reichen; und das wird auch für alle
soliden, aus einem reellen Diskontbedürfnisse der Mitglieder fließenden Ansprüche
genügen.
Wir bedürfen also zweier durchgreifenden gesetzlichen Reformen: einer An¬
passung der herkömmlichen oder durch unser Juuuugsgesetz geregelten Formen
des Innungswesens an diejenigen eigenartigen Bedürfnisse, welche ans einer
Einfügung des Geuosscuschaftsweseus in die regelmäßigen Aufgaben der Innung
entstehen, und einer Ermöglichung des Überganges zur Teilhaft statt der Über¬
nahme solidarischer Gesamthaft. Diese beiden Punkte bilden die Voraussetzung
dafür, wenn das genossenschaftliche Prinzip in großem Umfange auf die Innung
angewendet und der letzter» hierdurch die einzige ernsthafte Möglichkeit dar¬
geboten werden soll, die Konkurrenzfähigkeit und damit den gesicherten Be¬
stand des Handwerkes zu retten oder wiederherzustellen. Aber damit ist nicht
gesagt, daß bis zur Verkündung dieser (nicht ganz leichten und darum nicht
aus dem Ärmel zu schüttelnden) gesetzgeberischen Reformen die Arbeit, aus
den Innungen neue, dem wirklichen Wesen der „Genossenschaft" entsprechen¬
dere Gestalten hervorwachsen zu lassen, unterbrochen werden müsse. Viel¬
mehr scheint es uns, daß diese Reformen umso eifriger betrieben werden würden,
je mehr der Druck des Bedürfnisses schon bestehender und eigentlich auf die
künftigen Gesetze gegründeter Vereinigungen der abstrakten Überzeugung von
ihrer Notwendigkeit zu Hilfe käme, und selbst für die den neuen Gesetzen zu
gebende Form und die in sie aufzunehmenden Vorschriften könnte eine Anzahl
schon in Thätigkeit befindlicher Jnnnngsgenosseuschaften schätzbare praktische
Winke geben.
Es befällt uns, wie wir offen gestehen, eine gewisse Mutlosigkeit, indem wir
vorstehendes schreiben und uns doch gleichzeitig sagen müssen, daß so verzweifelt
wenig Aussicht auf Erfüllung dieser unsrer Hoffnung ist. Denn an und für
sich liegt der Gedanke, den großen Krethi- und Plethigenosseuschaften einmal
eine Genossenschaft der Fachgenossen in kleinerm Kreise entgegenzusetzen, so
nahe, und die Vorteile einer solchen sind so handgreiflich, daß, was die
Handwerker sich in dieser laugen Zeit nicht selbst gesagt haben, auch unser be¬
scheidnes Wort ihnen nicht sagen wird. Ist es nicht handgreiflich, daß eine
derartige Form der Genossenschaft die Verwaltungskosten außerordentlich ver-
ringern und Geschäftsverluste so gut wie gänzlich in Wegfall bringen würde?
Ist es nicht weiterhin handgreiflich, daß, sobald man weiß, daß der Geschäfts¬
betrieb sich ans eine bestimmte Anzahl von einander bekannten Gewerbsgenossen
beschränkt, auch die Formen desselben dein Einzelbedürfnis in ungemeinem Gabe
angepaßt werden könne», und damit eine der bittersten Beschwerden zumal der
kleinen Handwerker gegen die heutigen Volksbanken, „man schließe sie wohl
nicht geradezu aus, aber mau nehme keine Rücksicht auf sie und dulde sie
gewissermaßen nur, während große, umfangreiche, für die Masse der Mitglieder
aber ganz undurchsichtige Beziehungen für die ganze Geschäftsgebahrnng und
die eingeführten Usaneen maßgebend seien," beseitigt würde? Und darf nicht
endlich auch das als handgreiflich bezeichnet werden, daß gerade die Vielseitigkeit
der Geschäftsbeziehnngcn und Geschäftsfvrmen, welche den heutigen Vvlksbanken
durch die bunte Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaften nufgezwungen wird, dazu
geführt hat, die Direktoren allmächtig und den Verwaltuugsrat, die General¬
versammlung ?e, zur bloßen Dekoration zu machen, während bei einem Bank
betriebe unter wirklichen „Genossen," für den die sämtlichen Bedingungen und
Formen sich leicht im voraus feststellen lassen, auch bei einer zur Anstellung
besoldeter Beamten nötigenden Ausdehnung des Betriebes dies doch immer nur
die Beamten und nicht, wie hente nur zu vielfach, die unumschränkten Herren
des ganzen Bankgeschäftes sein würden? Bei letzteren Punkte kommt noch ein
Nebenvorteil in Betracht. Mögen die Direktoren und sonstigen Angestellten
einer Volksbank noch so ehrenwerte und wohlmeinende Leute sein: sie sind meist
Kaufleute, und als solche haben sie gewisse Anschauungen und Gewöhnungen,
welche an und sür sich ganz berechtigt sein mögen, welche aber für ein Kredit¬
institut kleiner Handwerker mindestens nicht unerläßlich siud und sich sehr
vielfach von Haus aus in eine Art Widerspruch mit den geschäftlichen Gesichts¬
punkten setzen, welche die Handwerker, von ihrem Standpunkte wiederum mit
Recht, für sich beobachtet wissen möchten. Natürlich wird der ganze Liberalismus
aus der Haut fahren wollen, wenn jemand bezweifelt, daß „kaufmännische" An¬
schauungen und Gewöhnungen irgendwo unangebracht sein könnten, denn nach
liberaler Ansicht ist ja der Handel das Lebensblut aller gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse, und das kaufmännisch geleitete Kondor ist nach
ihr der ideale Zielpunkt, nach dem in allen dem Menschengeschlechte dien¬
lichen Einrichtungen zu streben ist; aber wir sind verstockt genug, andrer Meinung
zu sein, und die ausschließliche Geltung kaufmännischen Wesens bei Hand-
werksaugelegenheiteu — auch wo dieselben die Kreditbcfriedigung und ähnliches
betreffen — nicht nur nicht sür notwendig, sondern nicht einmal für wünschens¬
wert zu halten. Aus den angeführten Gründen könnte und müßte es also,
wie uns scheint, den Handwerkern längst eingefallen sein, daß sie von dem Ge-
"vssenschaftsgesetzc auch in andrer als in der durch die liberale Schablone vor¬
geschriebenen Weise Gebrauch machen könnten. Es ist wahr, daß hierbei immer
zwei Schwierigkeiten im Wege stehen: einmal das gottlob immer noch vvrhandne
hartnäckige Festhalten der Handwerker an dem Gedanken, daß gemeinsame Ver¬
anstaltungen für sie innerhalb der Innung oder doch durch Vermittelung der¬
selben stattfinden müßten, während die Innung gegenwärtig zwar berechtigt ist,
auch diese Angelegenheit in ihr Bereich zu ziehen, ihr aber die bestimmten
Rechtsbcfngnisfe und Organe hierfür mangeln, und zweitens die zur Zeit in
Deutschland bestehende Unerläßlichkeit der obligatorischen Haftbarkeit; aber bei
gutem Willen sollten sich diese Schwierigkeiten doch in vielen einzelnen Fällen
überwinden lassen. In vielen Gewerben giebt es doch eine Menge von
Personen, welche hinlänglich gut situirt sind, um über die ersten Schwierig¬
keiten der Gründung eines Geschäftes (welches sich ja doch immer in beschei¬
denem Umsange halten soll) hinweghelfen zu können, und welche auch hinlänglich
weiten und freien Blick und genügende Erfahrungen und Geschäftskcnntnisse
haben könnten, um die Nichtigkeit unsrer obigen Darlegung zu begreifen und
sowohl die Sammlung einer Anzahl Genossen wie mich die einstweilige Leitung
mit Erfolg in ihre Hand zu nehmen. Sowie eine Anzahl von Gewerbsgenosse»,
groß genug, um einen Vorstand und eine Kvntrolbchörde aus ihrer Mitte
bilden und daS Material für einen kleinen Geschäftsbetrieb darbieten zu können,
und wenigstens zu einem Teile zahlnngsfähig genng, um einigen gemeinsamen
Kredit zu reprüsentireu, sich zusammenthäte, so würde die Gründung einer Ge¬
nossenschaft keine weitem Schwierigkeiten haben und nur sehr wenig Kosten ver¬
ursachen. Allerdings müßten diese Leute sich zur Übernahme solidarischer Haft¬
barkeit verstehen, deun bei ihrer Innung würden sie einstweilen keine andre als
eine moralische Unterstützung finden können; aber mit welchem Nachdrucke würde
eine Anzahl solcher, wenn auch kleiner Vereinigungen dafür einzutreten imstande
sein, daß nunmehr die Gesetzgebung so gut den neuen Juuungsgenvssenschafteu
wie früher den sogenannten Vvlksbankcn ?e. zu Hilfe komme, und welche
Stütze würden nicht im Reichstage zu stellende Anträge an diesen Ver¬
einigungen finden!
Warum bilden sich solche Vereinigungen nicht, trotz aller auf sie hin¬
drängenden Zeitumstände und aller schwer empfundenen Schattenseiten des jetzigen
Zustandes? Und warum steht man auf konservativer Seite, obwohl man das
hier obwaltende Bedürfnis Wohl empfindet (wie dies seinerzeit der Mirbachschc
Antrag auf fakultative Einführung der Teilhaft bewies), dieser ganzen Sache
sowohl nach ihrer gesetzgeberischen wie nach ihrer geschäftlichen Seite so gleichgiltig
gegenüber? Die Autwort lautet: Wegen der ungeheuern Bedeutung und des
ungeheuern Einflusses, den die Voltöbaulcu gewonnen haben. Nur ist zu be¬
merken, daß, wenn die Handwerker sich hiermit ausreden, sich hiergegen nicht
viel sagen läßt, wenn aber die Konservativen als Partei dies thun, so bedeutet
das gerade soviel, als daß sie, der Vvlksbankcn wegen, ihre Sache verloren
geben. Mau gebe sich über folgende, unsrer Überzeugung nach unwiderlcg-
lieben Sätze und über den schweren, ja verhängnisvollen Kern, der in ihnen
steckt, keinen Täuschungen hin: so lange die Vvlksbankcn auf die bessern Teile
des Handwerkerstandes ihren bisherigen Einfluß ausüben, so lange bleibt die
ganze Handwcrlcrbcwcgung ein Gefecht mit stumpfen Waffen, bei dem niemals
recht Ernst gemacht wird, und bei dem an das Schlnßrcsultat, die Handwerker
als wirklich geschlossene nud ihr Staudesinteresse mit Bewußtsein und Energie
in den Vordergrund stellende Masse ausrücken zu sehen, nicht zu denken ist; die
Handwerker aber den Volksbanken abwendig zu machen, ist nur möglich, wenn
eine andre, ihnen die nötige Kreditgewährung sichernde Veranstaltung getroffen
wird; und eine solche Veranstaltung in einer die Handwerker wirklich alsbald heran¬
ziehende,? Weise zu treffen, ist mir möglich, wenn mau sich auf die Innungen
stützt, und wenn zugleich an die bisherigen Formen angeknüpft, denselben gegen¬
über jedoch eine jedermann einleuchtende Besserung erzielt wird. Diesen drei
Sätzen ist aber, um sie in ihr volles Licht zu rücken, noch der vierte hinzuzu¬
fügen, daß die Volksbankcn in ihrer heutigen Gestalt einen der festesten Ringe
in der Kette bilden, welche das Kapital um die Kleinproduktion geworfen hat
und mit welcher es dieselbe allmählich erwürgen wird, und daß, so lange diese
Anstalten ungeschwächt ihre heutige Thätigkeit entfalten, der Prozeß der Zer¬
störung und Aufsaugung des handwerklichen Kleinbetriebes trotz aller Innungen
und Handwerkertage seinen Gang gehen wird. Ich weiß nicht, ob man spöttisch
von Kassandra-Rufen sprechen und über meine Worte, gleichgiltig hinweggehen
wird; aber meiner festen Überzeugung nach liegt in diesen vier Sätzen der
Schlüssel zu unsrer Handwerkerfrage und zu deren möglicher Lösung oder zum
weitern Fortgange der bisherigen Entwicklung, vixi et slüvavi liuiuurnr uionm!
Findet sich niemand, der die Sache, der wenigstens irgendeinen Anfang zu
derselben einmal in die Hand nehmen will? Dann laßt euch mit eurer Hand-
werkerbcwcgung begraben. Jetzt noch ist eine große Menge von Handwerkern
mobil und zu einem energischen Feldzuge gegen daS ganze bisherige System zu
bekommen; und selbst der Gesichtspunkt, daß die einseitige, wesentlich dem Gro߬
betriebe dienliche Gestaltung unsers — staatlichen wie privaten — Kreditwesens
einen wesentlichen oder selbst den entscheidendsten Teil des gegnerischen Prinzips
ausmache, ist vielen geläufig oder liegt ihnen doch nicht fern. Hier muß an¬
gesetzt werden. Zunächst muß ein größeres Bankunternehmen ins Leben treten,
welches den sich bildenden Jnnungsgeuvsseuschaften seinen Beistand leistet und
als Mittelpunkt derselben dient; auch dieser Gedanke ist nicht neu, sondern
wurde im Jahre 1882 in Berlin lebhaft erörtert, und die Begründung eines
derartige» Unternehmens scheiterte damals nur daran, daß die dafür sich
interessirenden Leute selbst kein verfügbares Geld hatten. Um rasch voran
kleben zu können, wird heute uicht daran vorbeizukommen sein, daß diese Zentral¬
bank vorher begründet und genügend dotirt werde. Dann vorwärts mit der
Gründung von Jnnnngsgenvssenschaften; kann man den Leuten Geld zeigen, so
wirds jetzt noch gehen — über ein paar Jahre wahrscheinlich nicht mehr, weil
die Leute bis dahin in vergeblichem Abzappeln Vertrauen und Mut verloren
haben werden. Dann, wenn eine Anzahl Junnngsgcnossenschaften im Betriebe
ist, an die „Klinke der Gesetzgebung," um eine durchgreifende Entfaltung der
Sache zu ermöglichen!
eder, der es unternimmt, über die Stellung des Deutschtums in
den nordamerikanischen Freistaaten ein Urteil abzugeben, darf
zwei Dinge vor allem nie aus den Augen lassen: einmal daß
jeder Einzelne, welcher drüben Grundeigentum erwerbe» will,
amerikanischer Bürger werden muß, daß also jeder Landwirt, der
selbständig wirtschaften, und jeder Städter, der sich zu einem eignen lloiuo auf¬
schwingen will — mag es ihm nun schwer ankommen oder nichr —, den ver¬
hängnisvollen Schritt der Bewerbung um jenes Bürgerrecht thun muß; zweitens,
daß jeder Deutsche, den sein Ehrgeiz in das öffentliche Leben hinaustreibt,
und wenn er auch nur seinen eignen Landsleuten in weitern Kreisen zu nützen
wünscht, vor allem lernen muß, die amerikanischen Verhältnisse zu beherrsche»,
und daß es, vielleicht mit Ausschluß einiger Plätze im Westen, ganz undenkbar
für ihn ist, auch nur den bescheidensten Einfluß zu gewinnen, wenn die Ameri¬
kaner, die überall den Ton angeben und die leitenden Stellen innehaben, ihn
nicht als einen der ihrigen betrachten.
Somit kann sich nur derjenige erlaube», seinem Deutschtum auch äußerlich
politisch treu zu bleiben, welcher, von Hause aus mit reichliche» Mitteln ver¬
sehen, weder die Landwirtschaft noch überhaupt den Erwerb von Grundbesitz zu
seinem Gedeihen nötig hat, und ferner derjenige, der mit gründlichen Keniit-
nifsen und vollkommener Bildung ausgestattet, nicht erst der schweren Schulung
des amerikanischen Lebens bedarf. Der erste Fall wird nicht häufig sein; die
allermeisten Deutschen bringen bestenfalls ein kleines Anlagekapital mit, und das
Ansinnen, auf Prosperität zu verzichten, um ihrem frühern Staatsverbande treu
zu bleiben, würde gerade diejenigen außerordentlich befremden, welche um ma¬
terieller Rücksichten willen ihr Vaterland verlassen haben; der zweite Fall aber
wird womöglich noch seltener sein, denn abgesehen allein von den Jahren 1848
bis 1851 gehörten und gehören noch heute mindestens 99 Prozent der deutschen
Auswandrer den weniger gebildeten Volksklassen an; es sind Bauern, Hand-
werter und Arbeiter, welche viel zu schwerfällig sind, um uicht so ziemlich alles
von ihrer heimischen Art einzubüßen, während sie sich dem großen Umdcnkungs-
prozeß unterziehen, sich dem amerikanischen Leben und besonders den: politischen
und kommunalen Leben anpassen. Es sind nicht immer die besten, im Gegen¬
teil vielfach gerade die minderwertigen und stupideren Elemente, welche ihr
Volkstum länger festhalten, namentlich die ganz Unfähigen, welche das Eng¬
lische nie erlernen.
Die praktische Folge, die sich unweigerlich aus dem Hineinziehen des Deut¬
schen in die amerikanische Interessensphäre ergiebt, ist eine Teilnahme an den
Geschicke» der neuen Heimat, die, wem? auch im Anfang noch so lästig, schlie߬
lich wohl immer spontan wird, und nun kommt zu den erwähnten Schwierig¬
keiten noch eine weitere. Dies ist die außerordentliche nationale Eitelkeit und
Reizbarkeit der Herren des Landes, die in dieser Beziehung den Spaniern und
Franzosen gleichstehen, die Engländer noch übertreffen. Abgesehen davon, daß
der trennende Ozean nur einem Bruchteil Begüterter ermöglicht, den Kontinent
zu sehen, sind es doch allein die wenigen Hochgebildeten, die etwas beschämt
»ut in sich gekehrt nach Hause kommen; das Gros mit seinem unhistorischen,
unphilosophischen Sinn, der über nichts nachdenkt als über das geliebte nemo^
MÄliing-, rennt stumpfsinnig und verständnislos an den reizvollsten Stätten
unsrer alten Kultur vorüber; der zurückbleibende Rest aber ist vollends geneigt,
uns ernsthaft zu fragen, ob wir in Deutschland Eisenbahnen und Telegraphen
hätten (ein> .pou Ks-of tslöAraxkis in Aorinmr/? von't 8-^ tuae!), und
hält irgend einen sdox Iceexer vom Lande für ein viel höher organisirtes Wesen
als einen festländischen Minister. Nirgends in der Welt trifft man eine so hoch
entwickelte Fähigkeit, über dasjenige abzuurteilen, was man nicht versteht
(voromon wird es drüben genannt), und dies alles im Verein mit dem
beklagenswerten Götzendienst des Mutterlandes, welches fast ein Jahrhundert
lang vor dem „jungen Niesen" urteilslos auf den Knieen lag, haben einen der¬
artig beschränkten Dünkel erzogen und das Selbstgefühl des Amerikaners in
einer Weise hinaufgeschraubt, daß er nahezu unfähig geworden ist, der Eigenart
einer andern Nationalität gerecht zu werden. So haben denn vor allem das
Mißtrauen und die unverhohlene Verachtung, mit der die Klasse, welche das
Heft in den Händen hielt, von Anbeginn auf die Deutschen herabsah, dem Auf-
sauguugsprozeß außerordentlichen Vorschub geleistet. Nur wenige fühlten, be¬
sonders in früherer Zeit, den Halt in sich, standhaft den blooä^ vrckolurmn. zu
spielen. Ganz schweigen wollen wir von den Kindern, den ullis Dntolüös, den
ewigen Opfern von Hänselei und Spott auf der Straße und in den Schulen.
Neuerdings ist nun mit der steigenden Wohlhabende.it des deutschen Ele¬
mentes und besonders mit dem konstatirten Rückgange der anglo-amerikanischen
Rasse in Bezug auf die Fortpflanzung, das Mißtrauen gegen unsre Stammes¬
brüder in politischer Beziehung noch gewachsen. Die amerikanischen Volkswirte
werden vielfach von schweren Träumen geängstigt, welche das Übergewicht und
die einstige Herrschaft des deutschen Elementes in den I nil> >! KtAtvs zum
— leider nur allzu schemenhaften — Inhalt haben, die Presse betet nur zu gerne
solche Einflüsterungen nach, und eines steht fest: daß man unsern Landsleuten
keinen schlechtem Dienst erweisen könnte, als wenn man vom Mutterlande aus
eine Vertretung heimischer Interessen von ihnen verlangte, als ob diese Inter¬
essen auf beiden Seiten einnnddieselben und vereinbar seien.
Und doch — wir bitten noch um einen Augenblick Geduld —, mag sich
jeder Einsichtige noch so klar sein, daß wirtschaftlich und politisch unsre deutschen
Brüder jenseits des Ozeans für uns verloren sind, daß jeder uns verloren ist,
der ihnen folgt, wir dürfen uns hierbei nicht beruhigen; wir dürfen das dorthin
versprengte deutsche Element nicht gleichgiltig sich selbst überlassen; wir dürfen
nicht aufhören, es in seiner Entwicklung mit dem lebhaftesten Interesse zu ver¬
folgen, denn die Augen aller Nationen sind auf dieses Element gerichtet; man
mißt den Deutschen nach der Art, wie er sich in einer so ausgesetzten Stellung
behauptet, und trotz jedes Verzichtes sind wir im höchsten Maße dabei beteiligt,
wie sich in nationaler Beziehung, in Beziehung ans das Fortleben der Rasse
die Zukunft der Deutschen jenseits des Ozeans gestaltet. Wird dieses Deutsch-
tum zertreten, eingestampft, aufgesogen, verdaut, so ist dies für uns ein Schlag
ins Gesicht, das Deutschtum ist nichts wert, sagt die Welt, man sieht es in
Amerika! und die nationale Bewegung in nnserm eignen Herzen erleidet eine
schwere Niederlage. Gelingt es dagegen, den Nasfenstolz in unsern deutschen
Brüdern jenseits des Ozeans zu kräftigen, gelingt es, dort ein Deutschtum
zu erhalten, wie emanzipirt es auch immer sei — so bedeutet dies eine
Stärkung des nationalen Gedankens, die einem untergeordneten Praktiker
vielleicht wertlos, dem idealeren Politiker jedoch vvnungemesfener Bedeutung
fein muß.
Und nun, nachdem wir die Hauptschwierigkeiten gewürdigt und die Haupt-
gesichtspunkte hervorgehoben haben, die wir bei dem Folgenden gleichsam als
Unterton hie und da mitschwingen zu lassen bitten, wollen wir uns zu unserm
Thema wenden, zu den Deutschen von Ncwhork.
Wer in Hoboken von einen» Hamburger Packet- oder Bremer Llohddampfer
auf amerikanischen Boden tritt, fühlt sich aufs eigentümlichste berührt, weil
überall heimische Laute an sein Ohr schlagen. Das Städtchen Hoboken, welches,
am rechten Hudsonufer Newhork gegenüber gelegen, die Docks für jene Schiffe
birgt, mag zur Zeit etwa 30 000 Einwohner zählen, wovon nach oberflächlicher
Schätzung zwei Drittel Deutsche sind. Die Schiffsoffiziere bringen uns dort
in einen vollkommen deutschen Gasthof, sie führen uns dann in eine Kneipe,
wo deutsches Bier mit deutschem Gelde bezahlt wird, und landen wir an einem
Winternachmittage, so ist die „deutsche Oper" unvermeidlich, ein etwas feuchter
Knnsttcmpel, der sich freilich nicht über „Köck und Juste" und ähnliche „Musik-
trauen" erhebt. Ist unsre Ungeduld nicht länger zu zähmen, so fahren wir
mit der Fähre über den Hudson hinüber „nach Amerika."
In Newhork selber nun scheint es nicht viel anders. In jedem Wagen
der Pferde- oder Hochbahn, in jedem Restaurant und vollends ans der Straße
kann man Deutsch reden hören in allen Mundarten; mau kann dreist jeden Schutz¬
mann und jeden Vorübergehenden auf Deutsch anreden, der zweite Mann versteht
es; vollends in „Äleindentschland" muß man ebensosehr darauf gefaßt sein, auf
Englisch eine Fchlfrage zu thun, und dieser etwa zwischen der zwölften und der
Canal-Street einerseits und der dritten nud der Avenue ^. anderseits auf der
Ostseite gelegene Stadtteil birgt ein Ragout von Dialekten, wie es an keinem
heimischen Platze in solcher Vielfältigkeit und Durchmischung anzutreffen ist.
Der Eindruck steigert sich, wenn man große Verguttgungslvlale besticht, wo
hauptsächlich Deutsche Verkehren, wenn man die Unmasse deutscher Namen an
den Lndeuschilderu, wenn man die endlosen Lagerbier-Salvvns, wenn man die
Menge deutscher Zeitungen sieht, wenn man vollends erfährt, daß in Newhork
und den umliegenden Schwesterstädten Vrvvklhn, Hoboken, Jerseh-City schlecht-
gerechuet ganze 40V 000 Landsleute leben! Man ist dann geneigt, Newhork
wirklich nach dein Vorgänge gewisser Deutschamerikaner für die „zweitgrößte
deutsche Stadt" zu halten, bis man jene Zeitungen liest und anfängt, sich
mit diesen 400 000 auszusprechen, bis man langsam, aber sicher dahinterkommt,
welche Stellung unsre Brüder in der amerikanischen Welt einnehmen und mit
welchen Augen sie angesehen werden.
Ja, die Zeiten, wo man nur einen Vollbart zu tragen brauchte, um vom
Gasscnpöbel verhöhnt zu werde», wo man am Neujahrstage auf der Straße
nur Deutsch zu reden brauchte, um Beschimpfungen, zu gewärtigen jn sein Leben
zu wagen, diese Zeiten klingen noch immer nach und sind erst entschwunden mit
den Tagen von Sedum, Metz und Paris. Als im Sommer 1871 bei Begehung
des Friedensfestes zum erstenmale eine endlose Menge mit Musik und schwarz-
weißroten Fahnen zur Stadt hinauszog, merkten die verblüfften Newhvrker,
welch ein gewaltiger Klumpen fremden Volkstums hier mitten unter ihnen stecke;
es war die erste achtunggebietende deutsche Demonstration, und sie that eine
tiefgehende Wirkung. Der Illnoäy Dutoliirum machte seit jener Zeit dem zwar
immer noch geringschätzigen, aber doch schon mehr gemütlichen Wvvr (lvriimn
Platz, und eine humanere Auffassung unsrer Landsleute begann als natürliche
Nachwirkung des ruhmreichen Krieges Platz zu greife», wenn unsre Siege auch
nur deshalb von uns gewonnen worden waren, weil ein amerikanischer Major
im deutschen Hauptquartiere hospitirt hatte!
Hätten die Deutschen jene Strömung zu benutzen gewußt, hätten sie die
Überzeugung gehabt, daß ihre Nationalität ihnen ein Einignngsband zur Er¬
langung politischer Macht abgebe, wie es ein bester geschulter Volksstamm nie
unbeachtet gelassen hätte — eine Überzeugung, die vorläufig noch vollkommen
fehlt und von keiner Seite angebahnt wird —, so würde das Deutschtum wahr¬
scheinlich heute das Zünglein an der Wage im Newyorker Kominunalleben bilden.
Dieses Leben wird jedoch nach wie vor von einem Bataillon korrumpirter irischer
Politiker für ihre habgierigen Taschen ausgebeutet; die Stellung, welche unsre
Landsleute als solche einnehmen, ist von äußerster Bedeutungslosigkeit, und es
ist an deu 400 000 Deutschen lediglich das erstaunlich, wie sie ihre Kräfte
politisch verzetteln und sich von einem brutalen und verhaßten, nicht einmal
amerikanischen Pöbel »ach wie vor vergewaltigen lassen! Wo immer man bei
einer Wahl in den Straßen eine Fahne sieht mit der Inschrift: Hauptquartier
der deutschen Republikaner der dritten Ward, oder der deutschen Demokraten
der vierten Ward, da ist der Antrieb zu dieser Einigung nicht aus dem Gefühle
nationaler Zusammengehörigkeit gekommen, sondern die leitenden Republikaner
und Demokraten erinnerten sich plötzlich — immer nur vor der Wahl —, daß
es so etwas wie Deutsche in den Vereinigten Staaten gebe, und diese Deutschen
einigten sich auf Befehl des Amerikaners zu amerikanischen Partcizweckcn, um
nach der Ausnutzung dieses Manöuvcrs wieder die angefeindeten, aber nichts¬
destoweniger gleichgültigen iinnÜNAnts zu werden, denen man bei jeder Gelegen¬
heit ins Gesicht sagt, daß sie besser von diesem gesegneten Boden ferngeblieben
wären, und die das auch ruhig einstecken.
Dieser politisch ohnmächtigen Stellung entspricht die Stellung im bürger¬
lichen Leben. Zwar giebt es Dcutschfreuudc, doch sind sie vollkommen vereinzelt.
Die wohlwollende Anerkennung unsers Nationalcharakters durch den trefflichen
White (den frühern Gesandten in Berlin und Mitbegründer der bekannten Uni¬
versität von Utica) wird mehr belächelt als verstanden, und es giebt ohnehin
kein Land in der Welt, wo der reichste, gebildetste und rechtschnffeustc Teil des
Volkes so wenig Einfluß auf die Politik übt oder auch nur beansprucht, wie
die Vereinigten Staaten. Äußere sich daher der Widerwille gegen den deutschen
Einwanderer und deutschen Abkömmling auch nicht mehr so offen und roh wie
früher: in den breiten und maßgebenden Schichten der amerikanischen Bevölke¬
rung ist er vorhanden nach wie vor, und der Deutsche, als Deutscher, ist im
besten Falle geduldet. Es ist das natürlich eine Erkenntnis, gegen die man sich
als Neuling lange sträubt. Man möchte sich so gerne einreden: der Amerikaner
fürchtet die deutsche Nichtigkeit, die deutsche Konkurrenz. Doch kommt man
leider bald dahinter, daß diese Konkurrenz nur deshalb so gefürchtet ist, weil der
Deutsche den Amerikaner unterbietet, und schließlich überzeugt man sich,
daß jener Widerwille nicht einmal unverdient, ja daß die Verachtung eines
Stammes durchaus berechtigt ist, welcher auch nicht eine Spur nationalen
Selbstgefühls zur Schau trägt. Der Icmtee, der in dieser Beziehung selber
eine so große Empfindlichkeit besitzt, versteht es nicht, wie jemand eine Ehre
darein setzen könne, seine Nationalität wegzuwerfen, zu verleugnen und zu be-
speien, und wie man deu patzigen Jrländer gewähren läßt, der unter aller Angen
seine nationale Propaganda treiben darf, weil das zähe Stammesgesühl dieser
sonst so mißliebigen Nasse Respekt verschafft, ebenso trat man den Deutschen
mit Füßen und tritt ihn noch, der regelmäßig schon zu schreien anfängt,
was für ein ausgezeichneter Amerikaner er sei, während ihm der Michel noch
ans allen Nähten platzt.
Die Beschwerden über diese Stumpfheit sind so alt wie die Geschichte des
Deutsch-Amerikanertums. Sie sind häufig genng von weiterblickenden Lands¬
leuten wiederholt worden, aber ebenso regelmäßig wieder verklungen.
Als im Jahre 1863 der niederträchtige Versuch gemacht wurde, die durch
das Ungeschick der nördlichen Führer verschuldete Niederlage bei Chancellorsville
und Fredericksbnrg den „feigen" deutschen Truppen in die Schuhe zu schieben,
schrieb Friedrich Kapp um 11. Mai in sein Tagebuch folgende Worte: „Dieses
Ereignis ist vortrefflich geeignet, den Deutschen ihre Stellung in Amerika klar
zu macheu. Sie mögen thun, was sie wollen, sie werden immer nur als brauch¬
bare Arbeiter geduldet, nie und selbst dann nicht als Gleiche anerkannt sein,
wenn sie sich auch durch ihre Thaten und ihre Hingebung an die Interessen
des Landes eine wohlberechtigte Anerkennung gesichert zu haben glauben." In
der Versammlung, welche der endlich einmal aufschäumende Unwille unsrer
Landsleute dann im «üooxsr Instituts zusammenrief, ergriff derselbe Friedrich
Kapp das Wort und mahnte mit eindringlichem Pathos: „Wer politisches Recht
haben will, der muß Macht haben, und wer diese Macht ausüben will, der muß
organisirt sein! . . . Organisiren wir uns!"
Diese Organisation war Wohl in demselben Angenblicke schon vergessen, als
sie verlangt wurde; es ist nie ein Versuch gemacht worden, sie ins Lebei, zu rufen;
man nahm die amerikanischen Fußtritte geduldig hin, verleugnete sein Deutsch¬
tum nur umso stärker, und Kapp selber bemühte sich in einer Reihe nach jener
Zeit entstandener Schriften, den Nachweis zu führen, daß der Gedanke des Zu¬
sammengehens von Deutschen eine Utopie, daß ihr Aufgehen in die amerikanische
Nationalität ein notwendiger Naturprozcß und es vornehmlich die Aufgabe des
Deutschtums sei, durch Klavierklimpern, Quartettsingen und Bierbrauen („gemüt¬
liche Ausgestaltung des Lebens" ist der Euphemismus dafür) anregend und be¬
fruchtend auf die angloamerikanische Nasse zu wirken.
Wir wollen gerade diesem Manne keinen Vorwurf machen, der vielleicht
weniger gelitten, aber sicher auf seiue Weise so redlich und uneigennützig wie
nnr irgend ein andrer sich angestrengt hat, um die Stellung seiner Blutsbrüder
im Lande zu heben, dessen viel zu wenig gekannte Schriften im übrigen eine
wahre Fundgrube der allermerkwürdigsten Dinge bilden, so merkwürdiger und
im Munde eines Liberalen so befremdlicher Dinge (wir kommen noch darauf
zurück), daß sie sogar vou seinen eignen Parteigenossen gelegentlich als „bur¬
schikos," d. h. als nicht ganz zuverlässig, verschrieen wurden.
Wir wollen ferner nicht vergessen, daß eigentlich alle Deutschen, welche vor
1866 in die Ilniwii Le^tes einwanderten, für den Kampf um das nationale
Dasein so mangelhaft ausgerüstet waren wie nur möglich; daß sie aus einem
durchaus noch schwachen, eben erst zu selbständigem politischen Leben erwachenden
Lande kamen, daß die Allermeisten verdrossen und mißmutig, ungeduldig und
erbittert der Heimat den Rucken gelehrt hatten, daß sie an großen Erinnerungen
leinen Halt hatten, dagegen ein äußerst selbstbewußtes Volkstum vorfanden, daß
die Zeiten in Amerika damals noch gut, der Verdienst reichlich, die Wirtschaft
aus dem Vollen noch im Gange war, und daß der Geldgewinn besonders bei
Leuten von geringer Bildung vollends dem Faß den Boden ciusschlagen mußte.
Trotzdem zeugt die Art, wie die allermeisten ihr Deutschtum achtlos und unbe¬
denklich fahren ließen, von soviel Charakterschwäche, der Deutsch-Amerikaner,
besonders der ältere, verleugnet anch heute noch die Beziehungen zu seiner Ab¬
kunft und die Pflichten, die sie ihm auferlegt, mit solcher Lust, seine Gleich¬
gültigkeit ist so verblüffend, er antwortet dem Amerikaner sein: I aan't, oll-ro lor
dorma-n^ — I elon't «arg lor politivs so fließend und so ohne Scham, daß uns
die peinlichsten Eindrücke nicht erspart bleiben und man schweren Herzen? immer
wieder zu dem einen Gedanken zurückkehrt: Was alles haben wir daheim noch
zu leisten, damit andre Menschen unser Vaterland verlasse»!
Unter den vielen, mit dem der Schreiber dieser Zeilen jenseits des
Ozeans Meinungen ausgetauscht hat, steht ihm besonders ein Veteran uns
dem Sczessionslricge in lebhafter Erinnerung, ein Mnun von vielseitiger
Bildung, reifster Lebenserfahrung, fähig, jede Regung eines menschlichen
Herzens mitzufühlen, wohl bewandert in heimischer und fremder Geschichte.
Dieser Mann war ein begeisterter Offizier, der mit voller Überzeugung für jene
Kämpfe eintrat, in welchen über 400000 Menschen allein ans nördlicher Seite
gefallen waren, für eine politische Machtfrage (denn der Krieg wurde geführt,
um die Union zu retten, »ut die Sklavenemanzipationsfrage wurde erst gegen
Ende des Krieges brennend), und er sprach von seinen Feldzugserinnernngen
mit solchem Feuer und mit so wenig Sentimentalität, daß man in ihm wenn
auch nicht einen skrupelloser, so doch einen derben und praktischen Soldaten
vermutete. Sobald aber das Gespräch auf unsern Krieg von 1866 kam, ein
Umschlag, der überraschend war! Dieser Krieg, der in sieben Tagen mit den
allergeringsten Opfern eine jammervolle, verwirrende Geschichte beendigte, ein
großes Volk der langersehnten Einigung näher brachte und Millionen von
Existenzen endlich eine gesündere und kräftigere Entwicklung ermöglichte, dieser
Krieg: ein Bruderkrieg, eine Schmach, unnütz, verderblich, garnicht darüber zu
sprechen! Derselbe Mann dann wieder (selbstverständlich von deutscher Abkunft
und schon im Mannesalter ausgewandert) wohl vertraut mit jeder Schattirung
des amerikanischen Charakters, unermüdlich, die Eigenheiten und Vorzüge seiner
neuen Landsleute herzuzählen, ihnen so ähnlich in allem und, ohne es zu wissen,
gewappnet mit einem so strammen amerikanische» Nationalgefühl, oaß es bei
jedem andern eine Freude gewesen wäre, es zu sehen, und dann, sobald die
Rede auf Deutschland kam: ein Kosmopolit, ein Verächter des Nationalitäts¬
prinzips; Vaterland: Unsinn; Gefühl der Zugehörigkeit zur Familie: nichts als
Gewöhnung; Nasse: Humbug! Man traute seinen Ohren nicht! Und wenn dann
die ganze Stufenleiter der Dialektik hinauf und herunter abgewandelt war, wurde
zuletzt der große Trumpf ausgespielt: es würden ihn keine zehn Pferde dazu
bringen, wieder in den deutschen „Unterthanenvcrein" einzutreten, und dabei
merkte der gute Maun nicht, daß er etwas viel schlimmeres geworden war: der
Unterthan einer fremden Nationalität,
Die deutsche Presse, welcher die Aufgabe zufiele, Wandel zu schaffen, versagt
hier. Wir sprechen dabei nicht von der Presse des Westens, die wir nicht genau genug
kennen, aber die Newyorker Presse zu lesen ist für einen Freund und Bekenner
des Deutschtums eine fortgesetzte Pein. Wir haben das angesehenste und am
besten redigirte Newyorker deutsche Blatt bereits im Frühjahr 1885 in diesen
Heften charalterisirt, und trotz der endlosen Reihe von Erwiederungen, die jener
kleine Aussatz hervorrief, halten wir unsre Vorwürfe in allem wesentlichen
aufrecht. Wir können hier unmöglich auf die plumpen Schimpfereien eingehen,
welche die gegnerische Polemik gezeitigt hat, und wollen nur Scherzes halber
unsern Lesern mitteilen, daß wir mit Entrüstung unter anderen auch „eine
Neptilie" genannt wurden, was in der Wortbildung wenigstens die „Unabhängigkeit"
des verehrlichen Blattes der unsrigen weit überlegen erscheinen läßt. Wir haben
aber gegen das Blatt den Vorwurf der Abhängigkeit garnicht einmal erhoben.
Wir sind nach wie vor der Überzeugung, daß es aus lautern und persönlichem
Egoismus die Interessen des großen Judcnscckels vertritt und die Interessen
des Deutschtums verleugnet, denn sein Besitzer und Leiter ist mehrfacher Millionär.
Daß er diese Millionen verdient hat durch ein deutsches, auf dem Boden des
Deutschtums entstandenes und gediehenes, von Deutschen gelesenes und bezahltes
Blatt, hindert nichts. Das Amcrikanertum ist die stets bereitstehende Ofenbank,
auf die sich Michel fauchend zurückzieht, sobald irgendeine nationale Anforderung
an ihn herantritt; sollte diese Zuflucht dem vornehmsten deutschen Organ in
Newyork verschlossen sein, weil es Pflichten hat? Man irrt sich: die Ofenbank
ist die nationale Pflicht des Deutschamerikaners. Von dort ans läßt sich die
Sache des Deutschtums ja so tapfer verhöhnen, lassen sich seine Interessen mit
solcher Schläfrigkeit vertreten, lassen sich die Rohheiten des Amerikaners so
lakaienhaft hinnehmen, lassen sich die Anforderungen an die Deutschen so niedrig
stellen und so wacker vergessen. Von dort her wurde uns ja auch zugeschrieen,
die Newyorker Staatszeitung sei ein „von Amerikanern für Amerikaner" ge¬
schriebenes Blatt, wir sollten das doch endlich wissen. Gesetzt, die Jrländer
hätten eine eigne Sprache, und das stimmführende irische Organ von Newyork
antwortete auf die Ermahnung, sich doch etwas besser über die Heimat zu
unterrichten, mit dein eben zitirten amerikanischen Refrain, Paddy würde dieses
Blatt „boycotten" und vom Boden vertilgen in N0 ein«. Dein Deutschen aber
erscheint dergleichen nur natürlich, und trotz allem, was geschehen ist, sind ihm
die Anschwärznngen des „Soldatenkaisers" Wilhelm und des „General Bismarck"
eine Wonne. Wie oft mag schon der Icmkee verächtlich gelächelt haben, wenn die
Staatszeitung ihren Leser» weiß macht, Bismarck sei ein „Feind" des amerikanischen
Volkes, weil ihm die Berliner und Hamburger vor den Newhvrkern, weil ihm die
45 Millionen „Deutschländer," die seiner Fürsorge anvertraut sind, vor den
10 Millionen Dentschamerikaueru kommen, die aus ihn Pfeifen, weil er mit einem
Worte deutsche Politik treibt. Das darf ein Deutscher doch nicht. Ein Deutscher
hat die Verpflichtung, französische oder römische oder amerikanische oder irgend¬
eine andre fremde Politik zu treiben, besonders aber, wenn er deutscher Reichs¬
kanzler ist.
Mau darf sich nach diesen (und frühern) Proben der Polemik gegen
„deutschländischc" Verhältnisse und Staatsmänner nicht wundern, wenn die
Verstocktheit selbst bei gebildeten Newhorker Landsleuten maßlos ist. Von den
Schlvierigkeiten, die ein Volk mit einer tausendjährigen unglücklichen Geschichte
ans seinem Rücken, überall mit gegebnen, überlieferten Verhältnissen vor sich,
eingekeilt in drangvoller Enge zwischen übelwollenden Nachbarn, mit den kom-
plizirtesten Aufgaben im Innern, auf seinem Wege findet, von diesen Schwierig¬
keiten weiß niemand und will niemand etwas wissen. Eine Schätzung derselben
würde Gerechtigkeit bedeuten, und Schimpfen ist doch Pflicht! Als der Schreiber
dieses Aufsatzes im Januar 1884 den amerikanischen Boden betrat, war es
mit das erste, was ein Freund ihm, mit großer Erbitterung, entgegenhielt:
„Was, was hat denn Deutschland geleistet? Sage mir doch bloß irgend etwas
Hervorragendes, Nennenswertes, was ihr in letzter Zeit drüben zu Wege ge¬
bracht habt!" Und als ich ihm erwiederte, daß wir u. a. die Staatsbahucn zu
Wege gebracht hätte», welche unsre wichtigste,! Verkehrseinrichtungen wieder zu
dem gemacht hätten, was sie sein sollten: gemeinnützig — während in Nord¬
amerika in dieser Hinsicht eine Bereicherung Einzelner, ein Interessenkampf, eine
Ausbeutung, eine Spekulation, eine Einschüchterung, Beeinflussung und Korrup¬
tion bis in die fernsten Kanäle gesellschaftlichen und wirtschaftlichem Lebens
hinein zum Himmel schreit, da hatte dieser Mann von den Staatsbahucn, von
ihrem Wesen und Werte leine Ahnung! Er hatte noch »veniger Ahnung von
unsrer kaiserliche» Botschaft und unsrer sozialen Gesetzgebung, die sich auf dieser
Botschaft aufbaut, aber seit fünf Jahre» hatte die Newhorker Staatszeitung
auf seinem Frühstückstisch gelegen, und es war das einzige Blatt, welches er
las! Verhöhnung monarchischer Institutionen, Verleumdung unsrer Armee, die
stets nnr als eine vollkommen unproduktive Einrichtung dargestellt und, wo sie
etwas geleistet hat, immer zum „Volksheer" gemacht wird (es soll etwa be¬
deuten, daß die untüchtigen Offiziere von dem herrlichen Volke mit fortgerissen
worden seien), Anpreisung der alleinseligmachenden Demokratie und Liebäugeln
mit unsrer unfruchtbare» Opposition, das sind die Grundlagen, von welchen
aus man dort uusern Zuständen nähertritt. Alles andre paßt nicht in den
Kram. Man findet sich mit oder ohne Zitiruug deutscher Blätter damit ab,
und Entfremdung vom Deutschtum um jeden Preis, das ist das Ziel des ver¬
dorbenen Instinkts, welcher sich, so lange Nur in Amerika weilten, in der deutschen
Newyorker Staatszeitung äußerte, und welchen sie immerhin ihre „nationale
Gesinnung" nennen mag, wenn es ihr beliebt.
Das erwähnte Blatt bietet übrigens noch insofern eine interessante Er¬
scheinung dar, als es uns die Presse veranschaulicht, wie sie vielleicht auch in
Deutschland ohne Bismarck geworden wäre. Man kann eigentlich nicht sagen „ohne
Bismarck," denn die Persönlichkeit dieses Mannes ist so mächtig, daß sie auf
viele wirkt, welche lieber zur Lüge greifen als diese Wirkung zugestehen würden,
und der Einfluß dieses „Generals" ist in hundert Wendungen und in hundert
Anschauungen mich in der Newyorker Staatszeitung zu erkennen; vorherrschend
und maßgebend ist jedoch nach wie vor der alte 48 er Grundton, Wir
wollen die 48 er nicht unterschätzen; sie führten dem Deutsch - Amcrilanertnm
jenen so unentbehrlichen geistigen Gehalt zu, ohne den es noch widerstands-
nnfähiger geworden wäre, als es ohnehin schon ist, Sie allein haben auch die
in Betracht kommende deutsch-amerikanische Presse gegründet und emporgebracht,
und mag man über diese Presse denken, wie man will, sie könnte jedenfalls noch
mangelhafter, noch verrannter und noch nndentscher sein; dies ist immerhin ein
Lob, mit welchem wir nicht zurückhalten wollen. Der Fehler ist nur, daß die
48 er Ideen in Amerika einen Boden fanden, auf welchem sie ins Kraut schießen
und aufhören mußten, Früchte zu zeitigen. Verbissenheit und Verblendung sind
das einzige, was hier noch gedeiht, und wer hören will, was alles auch nach
1870/71. an Haß gegen das Mutterland geleistet wird, der gehe in die New-
yorker Weinstnben und höre die Alten vom Hecker und vom badischen Feldzuge
erzählen, der belausche, wie sie dasitzen mit Weißen Haaren und roten Gesichtern,
schmälert und scheltend, Essig trinkend (denn der Wein in Newyork ist nicht
vom besten), Essig sprechend und, wenn sie nur konnten, auch alles zu Essig
machend. Sie haben ihre Zeit gehabt, die gute» 48 er, aber sie sind mich
mehr als überlebt! Es giebt neuen und bessern Sauerteig im Lande genug.
(Schluß fohzl,)
- ^-^i'-^lie erste Probe seiner Schaffenskraft gab das deutsche Reich
nach seiner Neugestaltung durch die Schöpfung einer Flotte, Da
eine kräftige Unterlage in dem, was Preußen geschaffen und
gepflegt hatte, bereits vorhanden war, so stieß die Schöpfung auf
keine Schwierigkeiten ; die Unterlage bedürfte nur der Erweiterung
und des Ausbaues, beides kam in energische, des Kriegsgeschäfts wohl kündige
Hand, und nach kaum einen? Jahrzehnt war die Zahl der Schiffe wie der
Männer, aus denen ihre Besatzung bestand, zu einem Umfange und einer
Rüstigkeit herangewachsen, daß der Weltverkehr davon Notiz zu nehmen hatte.
Eine andre Probe seiner Kraft bethätigte aber das deutsche Reich in einem
nicht unerheblichen Beitrage zur Erhaltung des Friedens, und wer ein Interesse
empfand für den kriegerischen Beruf der Flotte, der konnte das beklagen.
Seekriege sollten aber dem neuen deutschen Reiche fürs erste noch nicht beschieden
sein, und wer dies für ein Unglück hält, wird sich doch damit abzufinden haben.
Daß es an unsern Seeküsten und in den großen Stapelplätzen des überseeischen
Handels am wenigsten als ein Maugel empfunden wird, versteht sich von selbst.
Ein Beweis, wenn es eines solchen bedürfte, ist der mächtige Aufschwung, den
Handel und Schifffahrt, namentlich aber der Schiffsbau seit dem Erstehen des
deutschen Reiches genommen haben; wir haben von Werften sprechen hören, deren
ziemlich zahlreiche Hellinge im Laufe ein- und desselben Jahres zwei- bis dreimal
mit Schiffsbestellungcn in Anspruch genommen waren.
Seit Einführung der sogenannten neuen Wirtschaftspolitik lieben es die
Freihändler und ihre Fahnenträger, von der Verödung der Handelshafen zu
sprechen. Vom Gebiete des Schiffsbaues kann dies nicht gelten, und wer heute,
im tiefen Winter, als unbefangener Beobachter eisfreie Hafenstädte besucht, kann
auch jetzt nicht einmal über Mangel an Leben und Thätigkeit klagen.
Aber erst in Verbindung mit der Kolonialpolitik sind im deutschen Reiche
die weitesten Kreise in ihrem Interesse und in ihrer gespannterer Aufmerksamkeit
hingelenkt worden auf jenen äußern, ferngclegeneu Meeresbetrieb, auf dem die
ihnen noch unbekannte Schifffnhrt ihr Wesen treibt. Die riesige Entfaltung
der Verkehrsmittel bringt es jedem nahe, und jedermann fängt an, einen Hauch
zu verspüren von dem, was wir den „maritimen Genius" nennen möchten.
Haben wir auch unsre Betrachtung mit der Kriegsflotte angefangen, so ist
es doch der Fricdensgenius, der uns jetzt vorzugsweise beschäftigt, und ein Teil
seiner Thätigkeit, die der Kriegs- wie der Handelsflotte gemeinsam ist.
Auf jedem Gebiete spielen Äußerlichkeiten eine gewisse Rolle, und es ist
nicht immer richtig, sie — weil es eben Äußerlichkeiten sind — mit Nichtachtung
zu behandeln, ihnen diejenige Aufmerksamkeit zu versagen, die sie wohl verdienen.
So hat auch das Leben und Treiben, welches mit dem Bau, der Vollendung
und der Bestimmung der Schiffe verbunden ist, gewisse Äußerlichkeiten, die nicht
allein mit Wohlwollen, sondern bei den hauptseefahrenden Nationen sogar mit
einer gewissen Poesie behandelt werden.
Man spreche dem deutschen Volke den Reichtum an irdischen Gütern, man
spreche ihm — und es geschieht nicht selten, selbst von hervorragender Stelle —
den nationalen Sinn, den Geist des Zusammenhaltens ab, die dichterische
Denkungsart, einen romantischen, der Phantasie folgenden Hang wird man ihm
sicher nicht absprechen können. Fast auf allen Gebieten tritt er zu Tage; ja
es läßt sich sogar behaupten, daß er ans Gebieten, die lediglich praktischer Natur
sind und ihn wohl entbehren könnten, zuweilen hindernd in den Weg tritt.
Dagegen giebt es Gebiete, wo er recht eigentlich hingehört, und es scheint
seltsam, daß man ihn auf solchen Gebieten doch manchmal zu vermissen hat.
So lange es seefahrende Nationen giebt, so lange war es Sitte und Gebrauch,
teils aus praktischen, teils aus sentimentalen Gründen, den Schiffen Namen zu
geben. Das Feierliche, Stille, die gewissermaßen geisterhafte Bewegung, die
dem am weiten Seehorizont erscheinenden Schiffe anhaftet, macht es zum lebenden
Wesen. Auch die rohesten Völker haben sich dieser Poesie zugänglich gezeigt
und haben vorzugsweise ihren Schiffen die Namen von Personen beigelegt.
Daß man auch Länder-, Städte-, Flußnamcn wählte, war erst einer neueren
Zeit vorbehalten. Früher hatten für solche Zwecke Männernamen für das
Große und Starke, Frauen- und Mädchennamen für das Zierliche und Leichte
in der Hauptsache den Vorrang. In monarchischen Staaten nahmen selbst¬
verständlich die Namen des Herrscherhauses eine» Hauptplatz ein, und wo die
Landeskirche eine lange Liste von Heiligennamen bot, da pflegte man diese Ver¬
treter des frommen Glaubens mit Vorliebe in den auf Kampf und Zerstörung
ausgehende» Flotten und in den Namen ihrer Schiffe wiederzufinden. Im
Punkte der Fürstennamen suchte man anch die Größe und Macht des Fahr¬
zeuges in Einklang zu bringen mit der Erhabenheit des Nameusträgers. Zur
Zeit Heinrichs VIII. war es der drsa.t Hg.rr^, zur Zeit Ludwigs XIV. der
Loleil Royiü, zu der des zweiten Georg die (jusvir Llmrlotts, die auch in den
Seeschlachten ihrer Zeit den ersten Rang und die Hauptbedeutung in Anspruch
nahmen. Wo immer das monarchische Regiment sich am kräftigsten ausdrückte,
da standen die Namen der Fürsten, und nächst ihnen die Namen berühmter
Helden in See- und Landschlachten, sodann auch die Namen der Plätze, wo
diese geliefert wurden, im Vordergründe ; dagegen glänzten die Heiligen- und die
Apostelnamen überall da, wo die Kirche Roms, des östlichen wie des westlichen,
und ihre Vertreter mit den dynastischen Namen den gleichen Rang beanspruchten.
Eine ergiebige Quelle der Namengebung war überall die Mythologie, und
sie hat sich als solche bis auf die neuesten Zeiten erhalten. Nur das deutsche
Reich macht darin eine Ausnahme; die Namen der heidnischen Götter und
Göttinnen erscheinen bei den Schiffstaufen nicht mehr, und man hat nie etwas
davon verlauten hören, was diese doch sicher poesievollen Namen denn eigentlich
so in Mißkredit gebracht hat. „Hertha" und „Mars" sind in der Flotte, so
viel uns bekannt, ihre einzigen Vertreter, aber die Benennung dieser beiden
Schiffe stammt ans weit zurückliegender Zeit.
Auch die jeweilige Zeitgeschichte hat nicht ermangelt, auf die Benennung
der Schiffe einen gewisse» Einfluß zu üben. In Frankreich verschwanden mit
der Revolution alsbald die monarchischen und alle an die Monarchie erinnernden
Namen, die Republik verschmähte Personennamen überhaupt, weil sie an den
verdächtigen Servilismus des monarchischen Wesens erinnerten? an die Stelle
des DauMn RoM trat der L-rnKeulott,», I^u wurde zum Irioolor, (Zourovnv
zum irg., Lorivvram zum Konve-r-M ?suplv, ^.ug'uftg zum .liioobin. Ruch
die neue Republik jenseits des Ozeans verfolgte solche Grundsätze, und dort
war es, wo in der Benennung der Schiffe die Vorliebe für die Geographie in
ausgedehnter Weise zur Geltung kam. Auch in England hatten schon vorher
die LütAmng., Ridvrma und OMfornia eine Rolle gespielt, ganz wie in Frankreich
die vrotagno, Gironäv, ^.uvörgno und UorirmiMv. Aber in Amerika erhob man
die Benennung der Schiffe mit geographischen Namen zum System. Die Linien¬
schiffe erhielten die Namen von Staaten, wie Ollio, Va-mont,, Mrtll-Lg,ro1in!Z.
und andre, die Fregatten dagegen wurden mit Flußnamen getauft, sodaß es
sich ereignete, daß eine stolze Fregatte von sechzig Kanonen, ein Musterschiff
seiner Zeit, den — soll man sagen bescheidnen oder nnbescheidnen — Namen
„Branntwein" erhielt, denn Nnnnivn im- ist ein Fluß, der durch die ruhmreichen
Feldzüge George Washingtons eine geschichtliche Bedeutung erlangt hat.
Dasselbe Verfahren hat neuerdings auch im deutschen Reiche Anklang ge¬
sunden, in der Flotte wie in der Kauffcchrtei, denn in beiden finden wir den
hauptsächlichsten Schiffen geographische Namen beigelegt. Die Namen berühmter
Feldherren kommen erst in zweiter Linie zur Anwendung, denn in der Flotte
z. B. findet man „Moltke" und „Gneisenau" erst unter den Namen der Korvetten.
Wenigstens waren die betreffenden Schiffe Korvetten, als sie getauft wurden.
Wie es scheint, hat man die Bezeichnung für zu gering erachtet, und wenn wir
recht unterrichtet sind, nennt man sie jetzt Fregatten, ein Verfahren, über dessen
Zweckmäßigkeit man in Zweifel sein kann, weil es eine Aufbanschnng des Begriffes
ohne solide Grundlage ist. Für die Zukunft wird ein Schiff, welches den Namen
einer Korvette trägt und sich zu der Leistung einer Fregatte aufschwingt, bessere
Dienste thun, als ein Schiff mit größerem Namen, dem aber nur die kleinere
Leistung zuzumuten ist. Jedem Kenner der Seekriegsgeschichte ist es bekannt,
welchen Ruhm sich Iiüieck Leg-dös und «üooLtiwtiov. erworben haben, weil sie
nur „Fregatten" hießen, für die damalige Zeit aber mit Recht von den Eng¬
ländern Ilus-ok-I)g.ttIo-8lui)8 in äiLKM8v genannt wurden.
Aber nicht allein die Flotte, sondern auch die großen Nhedereien der
Hansestädte benutzen in der Benennung ihrer Schiffe mit Vorliebe geographische
Name». „Germania," „Saxonia," „Silesia," „Nngia" und wie sie alle heißen,
scheinen dazu bestimmt, die politische Geographie des deutschen Reiches dem
Auslande näher zu bringen, und man fragt sich unwillkürlich, warum nicht
durch ein Verfahren in umgekehrtem Sinne einmal eine wohlthuende Abwechslung
hineingebracht werden könne. Wie die Zeitungen berichten, sollen die neuen
Postdampfcr des Norddeutschen Lloyd abermals deutsche Ländername» erhalten.
Patriotisch ist das gewiß, mir fragt mau sich, ob denn der nationale Sinn
beeinträchtigt werde, wenn er der Poesie und Phantasie etwas mehr Spielraum
gönnt. Daß man die Gefahr einer Verwechslung heraufbeschwören sollte, wenn
man die neuen Postdampfer, ganz wie die Panzerschiffe, „Preußen," „Sachsen"
und „Baiern" nennt, darin liegt gerade keine Gefahr; wenigstens drängt sich
einem zur Vermeidung einer solchen unwillkürlich das etwas triviale Mittel
auf, die Flvttcnbenenuuug S. M. S. (Sr. Majestät Schiff) etwa durch des
Norddeutschen Lloyd Schiff N. N. oder S. W. (Sr. Wohlgeboren Schiff, d. i.
Herrn H. H. Meyers) zu ersetzen. Aber giebt es denn zur Bethätigung des
nationellen Sinnes und unbeschadet desselben nicht noch untre Namen? Wird
nicht dem nationalen Sinne ebenso Geniige gethan, wenn mau den Schiffen
statt der Name» der Abgangsländer in diesem Falle die der Bcstimmuugslüudcr
oder Inseln beilegt? „Singapore," „Hivgo," „Osaeen" und „Hakvdadi" thun,
wenn sie sich als Schiffsraaen in Deutschland einbürgern, dem nationalen Sinne
nicht den geringsten Schaden und geben der Bestimmung der Schiffe nützlichen
Ausdruck. Für den nationalen Charakter eines Schiffes bürgt die Flagge, die
es trägt, möge man doch in den: Namen, deu mau ihm beilegt, auch seiner
Bestimmung gerecht werden. Wenn man das verschmäht, so giebt es doch hundert
Wege, um in den Namen der Schiffe ihre Bedeutung und ihre, sei es idealen,
sei es wirklichen Eigenschaften nuszudriickeu.
Übersicht mau das ganze Namensregister der Schifffahrt des deutschen
Reiches, so kann mau sich des Gefühles einer gewissen Einseitigkeit kaum er¬
wehren. Wir reden hier vor allem von deu großen Schiffen, denen des Staates
sowohl wie denen der großen Nhedereien. Daß in der Flotte die „Blücher,"
„Gneisenau" und „Moltke" sich am deutlichsten hervorthun, ist gewiß erfreulich;
daß die Namen des Monarchen und der ihm am nächsten stehenden Mitglieder
des Fürstenhauses sich in erster Linie bemerklich machen, ist selbstverständlich,
obwohl es nicht jedermann einleuchtet, daß man in den den Korvetten beigelegten
weiblichen Vornamen, wie „Luise," „Carola," „Sophie," „Marie," „Olga,"
„Alexandrine," ohne die beigefügten Worte: Königin, Großherzogin, Prinzessin
die Namen bestimmter deutscher Königinnen und Fürstinnen zu erkennen habe.
Wenn in Großbritannien ein Dreidecker den Namen „Victoria" erhält, so weiß
jedermann, dnß damit der Name der Königin gemeint ist; nicht ganz so nahe
liegt es, auf Königinnen zu raten, wenn von zwei Korvetten die eine den doch
ziemlich allgemein gewordnen Namen „Luise" hat und die andre „Olga" heißt,
und mau darf uicht übersehen, daß die Allgcmeinbedcntnug desto mehr hervor¬
tritt, je mehr solcher Namen in gleicher Bedeutung und Anwendung nebeneinander
stehen.
Daß in den großen Rhedereien der Hansestädte beim Taufen der Schiffe
die Staaten des deutschen Reiches, die Provinzen, die Inseln, die hauptsächliche»
Ströme, die Städte, die Namen berühmter Dichter und Philosophen mit Vorliebe
Anwendung fanden, ist gewiß zu billigen. Man soll nur nicht behaupten Wollen,
daß damit der Vorrat erschöpft sei, und daß man, am Ende angelangt, wieder
von vorn anfangen müsse. Das geschieht aber unzweifelhaft, wenn die neu-
erbauten Postdmnpfcr wieder mit „Preußen," „Sachsen," „Baiern" ansaugen,
obwohl „Borussia," „Saxonia," „Bavaria" in denselben Nhcdcreieu schon ver¬
treten sind oder vertreten waren, und obwohl dasselbe Namensregister systematisch
auch in der kaiserlichen Flotte zur Anwendung kommt. Warum macht man nicht
auf dem Gebiete der alten deutschen Göttersage einen Versuch?
Der Gegenstand scheint zu einer so eingehenden Erörterung vielleicht nicht
angethan, aber man wolle berücksichtigen, daß es sich im deutschen Reiche bei
solchen Dingen fast immer um Neuerungen handelt. Pvstdampfcr hat es
zwar auch früher schon gegeben, aber sie befanden sich meistens im Besitze und
in der Fürsorge des Staates, und zu dieser Fürsorge gehörte auch die Namen¬
gebung. So ist es nicht in dem jetzt vorliegenden Falle, wo eine Privatrhederei
eine ganze Reihe stattlicher Dampfschiffe mit Neichsunterstützuug und teilweise
für Neichszwccke in entfernte Gegenden schickt. Vielleicht geschieht es nicht ohne
Absicht, daß die vvrgeschlagueu Namen „Preußen," „Baiern" und „Sachsen"
durch die Zeitungen bekannt gemacht werden. Vielleicht fühlt man ein leises
Sehnen nach dem „Pnlsschlcig" der öffentlichen Meinung in dieser Sache, sofern
es in solchen Dingen überhaupt eine öffentliche Meinung giebt.
Der Hauptzweck eines jeden Namens ist die Unterscheidung; der Zweck ist
derselbe bei toten wie bei lebenden Wesen, nur daß die letztem vermöge ihres
Lebens oder dem Leben ähnlichen Zustandes dem Namen größere Bedeutung
geben, und daß die Phantasie dieser Bedeutung gerecht werden muß. Länder,
Provinzen, Städte, Dörfer, Plätze, Straßen, Häuser haben Namen erhalten,
so lange über das Treiben der Welt eine Chronik besteht. Aber indem man
solchen Dingen Namen beilegte, hat man sich nicht an dem bloßen Zweck der
Unterscheidung genügen lassen, sondern es hat bei solchen Namen vielfach auch
ein Beisatz von Phantasie, Allegorie, Pietät und Personenkultus eine Rolle
gespielt. Nur wo eine mehr materialistische Richtung Platz griff, hat man sich
solcher Elemente zu entledigen gesucht und an die Stelle der Namen sich mit
Beilegung einfacher Buchstaben oder Zahlen oder der Verbindung beider be-
holfen. So ist man in Ancula mit Straßennamen, und so ist man auch an
verschiednen Orten mit Schiffs- und Fahrzeugsuamen verfahren. Buchstaben
und Zahlen genügten dem nüchternen Elemente des einfachen Merkmals und
dem Zwecke der Unterscheidung.
Ähnlich verhält es sich, wenn mau das Namcnsrcgister von Schiffen auf
ein national-geographisches System stellt. Das Gedankenspiel wird außer Kraft
gesetzt; man fängt im vorliegenden Falle mit „Preußen" an, und wenn das Glück
dem Schiffsbau hold ist und Schiffe genug gebaut werden, so ist man sicher,
auf einer klar vorgezeichneten Namensstaffcl bis zu „Reuß" und „Lippe" zu
kommen. Aber das System ist einfach und erfordert nicht viel Kopfzerbrechens;
man hat es mit geläufigen Namen zu thun, und wenn nur dafür gesorgt ist,
daß die Individuen im Alleinbesitz ihrer Namen sind, so ist dem Zwecke der
Unterscheidung genügt. Leider ist dies bei den größern Pvstdampfern, die jetzt
im Ban sind und ihrer Namen warten, nicht der Fall, sie treffen im Namen
mit ihren Flottenschwcstern zusammen, es wird also mit ihrer Taufe auch nicht
einmal der Nützlichkeitszweck der Unterscheidung erreicht.
Dem Vernehmen nach sollen die kleinern Dampfer die drei Städtenamen
„Lübeck," „Stettin" und „Danzig" erhalten. Was bei den großem Schiffen
nicht der Fall war, kommt hier zur Geltung, dem Zwecke der Unterscheidung
wird genügt; wo aber, fragt man sich, bleibt der allegorische, bildliche Zu¬
sammenhang zwischen dem Charakter, der Bestimmung und dem Name» der
Schiffe? Denn eine solche herzustellen, ist doch sicherlich anch ein wünschens¬
wertes Erfordernis des Namens. Wollte man behaupten, Rentabilität werde
durch eine phantastische Bezeichnung nicht erhöht, so ließe sich dagegen nichts
einwenden. Aber es geschieht doch much nicht das Gegenteil. Wenn ein
pommerscher Kahnschiffer seinen Torfkahn „Iduna" nennt, so leidet doch dabei
die Einträglichkeit seines Geschäftes gewiß nicht den mindesten Schaden; höchstens
schädigt er die Poesie damit. Aber eine über dem Trivialen so erhabene Göttin
kann das schon ertragen.
Nennt eine englische Nhederei einen ihrer Dampfer Xais»r-i-Hoa. so ist
unter hundert Menschen kaum einer, der die Bedeutung des Namens kennt; man
weiß nur: es ist eins der stattliche» Schiffe im Verkehr mit dem hindostanischen
Reiche, das Fabelhafte des Namens giebt ihm die Weihe, hat aber in zweiter
Linie den Nutzen, einen unbekannten Namen des indischen Reiches dem eng¬
lischen Volke vertraut zu machen. M Processe volunt ot, ävIoot-M kann man auch
von solchen Namengebungen sagen. Einen ähnlichen Standpunkt möchten wir
auch bei der Taufe der neuen deutschen Postdampfer eingenommen sehen.
Stettin und Danzig find gewiß bedeutende Handelsstädte, aber ihre Be¬
ziehungen zum ostasiatischen, zum Südsee- zum australischen und afrikanischen
Verkehr sind — das werden die dortigen Handelsherren nicht in Abrede
stellen — vorläufig noch verschwindend klein; Namen wie „Gardafui," „Bcigci-
moho," „Viln," „Malacca," „Si-klang" oder „Huon" sind sicher geeigneter;
mit ihnen wurde man dein Zweck der Unterscheidung, in bescheidenem Grade auch
dem Bedürfnis der Phantasie gerecht werden, und dem Publikum würde durch
Erweiterung seiner geographischen Kenntnis ein Dienst erwiesen. Vor allem
aber wären solche Namen kein so trauriges Armutszeugnis für den maritimen
ize-um« nvoionvlirknnuz des deutschen Reiches.
nscunmenfasscnde Darstellungen der Geschichte der römischen Kaiser¬
zeit sind, wenn man von frühern ungenügenden Versuchen ab¬
sieht, uus Deutschen erst in den letzten Jahren geschenkt worden.
Leopold von Rankes geistvolle und in großartigen Zügen ent¬
worfene Darstellung darf in ihrer Art als das vorzüglichste
Werk der einschlagenden Forschung bezeichnet werden. Hervorragend ist eines
die umfassende Bearbeitung der Geschichte der Kaiserzeit von Hermann Schiller,
namentlich durch die erschöpfende wissenschaftliche Verwendung des gesamten lite¬
rarischen wie inschriftlichen Materials, ein Umstand, der dein genannten Werke
deshalb einen besondern Vorzug verleiht, weil durch den steten Hinweis auf die
Quellen und deren Wert überall der historische Thatbestand geprüft werden
kann. Der Vollendung des Werkes dürfen wir hoffentlich binnen Jahresfrist
entgegensehen. Dann ließe sich noch — d. h. mehr der Vollständigkeit halber —
Hertzbergs römische Kaisergeschichte in der Onckcnschcn Sammlung (Berlin, Grote)
anführe»; doch weist der eigenartige Charakter des mehr für ein größeres Pu-
blikum bestimmten Werkes, als dessen Vorzug ein geschicktes Referat über den
gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft bezeichnet werden kann, demselben
notwendigerweise eine Ausnahmestellung an.
Der Grund dafür, daß auf dem genannten Gebiete keine besondre litera¬
rische Überproduktion zu verzeichnen ist, dürfte in zweierlei Ursachen zu suchen sein.
Th. Mommsen bemerkt im Vorworte zum fünften Baude seiner „Römischen Ge¬
schichte," daß „das monarchische Regiment in seiner Eigenart und die Fluktuationen
der Monarchie, sowie die durch die Persönlichkeit der einzelnen Herrscher bedingten
allgemeinen Negierungsverhältuissc oftmals zum Gegenstande der Darstellung ge¬
macht worden seien," sodaß hier eine summarische Behandlung wohl zweckmäßig,
nicht aber notwendig erscheinen könnte. Gerade das Gegenteil gilt von den
spätern Epochen; für sie fehlt es im großen wie im kleinen vielfach an Einzel-
und Vorarbeiten, wie sie für eine erschöpfende, alles umfassende Darstellung die
notwendige Grundlage bilden.
Unbestritten ist ein großer Anteil an der Erforschung der römischen Kaiser¬
zeit der ausländischen Wissenschaft einznrcinmen. Die einzelnen, zum Teil noch
in das siebzehnte Jahrhundert zurückreichenden Arbeiten auf diesem Gebiete nam¬
haft zu machen, entspricht nicht dem Zwecke dieser Zeilen. Am bekanntesten
und deshalb hier allein zu nennen ist gegenwärtig wohl Duruys IIi8dar<z as8
Romain8,^) durch deren Übersetzung augenblicklich die deutsche Literatur be¬
reichert wird,^) Aber die Ansprüche, mit denen die deutsche Übersetzung vor
das Publikum tritt, die freundlichen Geleitsbriefe, die man ihr mit auf den Weg
gegeben hat, wie nicht minder der Umstand, daß das Werk dem „sogenannten
antiquarischen und namentlich auch dem archäologischen Elemente einen sehr aus¬
gedehnten Raum gewährt," müsse» bei dem Standpunkte, den die deutsche
Wissenschaft gegenüber der ausländischen einzunehmen berechtigt ist, die Kritik
notwendigerweise herausfordern.
Der seiner Zeit von der Verlagsbuchhandlung herausgegebene Prospekt
klärte das Publikum darüber auf, daß „eine im großen Stile geschriebene aus¬
führliche Geschichte der römischen Kaiserzeit in Deutschland noch fehle," was
natürlich das Erscheinen einer deutschen Ausgabe des französischen Werkes recht¬
fertigen mußte. Wir wollen nun nicht darüber rechten, ob eine derartige Em¬
pfehlung im Hinblick darauf, daß Hertzberg vor einigen Jahren selbständig eine
ähnliche Darstellung (ebenfalls mit zahlreichen Illustrationen) verfaßt hat, für
den Herausgeber schmeichelhaft sei oder nicht; nur wollen nicht darnach fragen,
was man unter einer „im großen Stile" geschriebenen Geschichte der Kaiser¬
zeit zu verstehen habe und ob nicht gar die deutsche Literatur eine solche schon
besitze, wir wollen an diesem Orte auch nicht den Gang der geschichtlichen Ent¬
wicklung und die Frage ucich der Kritik und Vollständigkeit des benutzten Quellen¬
materials prüfen. Wir wollen das Werk nur nach einer Seite hin untersuchen,
die ihm einen eigentümlichen Charakter verleihen soll. Wir meinen das „archäo¬
logische Element," den erstaunlichen Reichtum an Illustrationen „jeder Art" (sie!),
die in „ausgiebigster Weise zur Illustrirung des reichen historischen und kultur¬
geschichtlichen Stoffes vereint" find.
Bei der seit dem letzten Jahrzehnt bis zur wahren Manie gesteigerten
Jllustrationswut unsrer Verleger und bei dem hierdurch wiederum bei einem
großen Teile des laufenden Publikums hervorgerufenen Verlangen nach illu-
strirten Büchern war es zu erwarten, daß auch die Geschichte der römischen
Kaiserzeit dieser Manie ihren Tribut würde bringen müssen. Es ist auch da¬
gegen so lange nichts einzuwenden, als die geschichtliche Darstellung selbst den
Maßstab für die Auswahl der Abbildungen an die Hand giebt, so lange die
letzteren interessante Erzeugnisse der Kunstthätigkeit darstellen oder so lange sie
Denkmäler mit geschichtlichem Hintergründe oder geschichtliche Ereignisse selbst
vergegenwärtigen. Gerade die römische Kaiserzeit spricht durch ihre großartige
Trümmerwelt an den Stätten klassischer Kultur wie durch die unabsehbare Menge
von Denkmälern in den verschiednen Museen so deutlich zu uns, daß eine um¬
fassende Darstellung sie ebenso wie die Zeugnisse alter Schriftsteller und die
Inschriften berücksichtigen muß. Bildliche Darstellungen dieser Denkmäler werden
deshalb, wenn die Auswahl mit richtiger, durch archäologisches, überhaupt kunst-
geschichtliches Wissen gereifter Kritik, mit Geschmack und mit Sinn für das
Wichtige und das Nebensächliche geschieht, immerhin eine angenehme Ergänzung
des Textes bilden.
Im allgemeinen kann man nicht leugnen, daß unsre Verleger in der Pracht-
werkslitcratur der letzten zehn Jahre eine Fülle vorzüglicher Holzschnitte geliefert
haben; teilweise ist ganz außerordentliches geleistet wordeu. Umsomehr ist es
nun zu verwundern, wenn man bei der gegenwärtigen Vollendung des deutschen
Holzschnittes dein Publikum Produkte französischer Technik aufzutischen unter¬
nimmt, die selbst den billigsten Anforderungen eines nur nach Abbildungen
hungrigen Lesers Hohn sprechen. Dieser Vorwurf irifft aber, vou gewissen Aus¬
nahmen abgesehen, besonders Duruys Kaisergeschichte. Die Nusuahmeu bilden
die Illustrationen, die, Klcinpauls „Rom" entnommen, zwar anch Erzeugnisse
französischer Technik, aber doch nach guten photographischen Aufnahmen ange¬
fertigt sind. Die übrige Masse aber ist nach Zeichnungen geschnitten, denen
man entweder l>, priori Unvermögen in der Auffassung plastischer Formen zu¬
sprechen muß, oder die in der Reproduktion durch deu Holzschnitt einen sehr
zweifelhaften Charakter angenommen haben. Besonders sind es die Porträt¬
köpfe (Büsten und geschnittene Steine) und Porträtstatnen, die eine unglaubliche
Rohheit der Technik zeigen. Die Übertragung von Porträts in den Holzschnitt
ist keine handwerksmäßige Sache, sondern es bedarf dazu der Hand eines ge¬
schickten Künstlers, der in feinem Gefühle für das Charakteristische und Indi¬
viduelle Portrütähulichkeit erzielt, ohne dabei die durch künstlerische Gesetze
gezogenen Schranken außer Acht zu lassen. Eine feine Linienführung in Längen-
und Kreuzlagcu, Sinn für wirksame Kontraste, feine Abtönung und geschickter
Übergang vom Licht zum Schatten sind es, welche dann den Holzschnitt zum
Kunstwerke machen können. Ob Porträtstatnen und Büsten ans Marmor nach
dem genannten Verfahren herzustellen seien und ob nicht eine Reproduktion
durch bloße Umrißlinien zweckmäßiger gewesen wäre, ist eine Frage, auf deren
Entscheidung Nur hier verzichten wollen. Die Abbildungen bei Duruy sind
weder nach dein einen noch nach dein andern Verfahren hergestellt, sondern nach
jeuer leichtfertigen Manier, die mit einigen am unpassenden Orte angebrachten
Linien und Strichen ein übriges gethan zu haben meint, für die eine richtige
Wirkung von Licht und Schatten unbekannt ist, die meist das Gegenteil von
dem künstlerisch Wirksamen giebt und so Gestalten zustande bringt, denen der
Mißmut über ihre Verunglimpfung förmlich im Gesichte zu lesen ist.
Noch gewichtiger aber als die eben ausgesprochenen Bedenken sind die,
welche sich an die Auswahl der Abbildungen knüpfen, besonders insofern, als
diese doch die Berechtigung ihres Vorhandenseins durch Andeutungen im Texte
beweisen müssen. Wir wiesen oben in Kürze darauf hin, welche Grundsätze für die
Auswahl von Illustrationen wie überhaupt für die Berechtigung derselben maßgebend
sein müssen. Es kommen gewiß oft, sehr oft Ausnahmen von dieser Regel vor.
In keinem Falle aber ist — es sei denn in Jugendschriften — unsers Wissens
so Unerhörtes, so Unglaubliches geleistet worden wie bei Duruh, Wir lassen
zum Belege hierfür und — wie wir hoffen — zur Warnung für die Fortsetzung
des Werkes einige Beispiele folgen.
Bei der Erzählung vou Claudius' Tode heißt es (I, S, 64^'.) im Anschlusse
an die satirische Apvkvlokhntvsis (Verkürbisuug) des Seneca: „Claudius lag im
Sterben, aber seine Seele konnte noch immer den Ausweg aus diesem verunstalteten
Körper nicht finden. Da holte Merkur, der immer an dieser drolligen Persönlichkeit
sein Vergnügen gehabt hatte, eine der Parzen aus ihrem Gemach und sprach u. s, w."
Mau fragt, was denu hierau zu illustriren sei? Der Vorgang natürlich nicht;
aber wenn man Mouumeuteukeuutnis besitzt, und wenn man durchaus „illustriren"
will, so läßt man die Götter und Göttinnen Revue passtren, und da fällt denn
das Auge auf die Parzen. Man bildet also die Parzen ab. Aber welchen
Typus? Nur immer klassisch! Man erinnert sich, daß die drei herrlichen Ge-
wandstatuen ans dem östlichen Parthenongiebel auch als Moiren, mithin als
Parzen, aufgefaßt worden sind. Man läßt sie also anrücken, aber nicht ihrer
drei, auch nicht nur die eine, die Claudius den Lebensfaden abschnitt, sondern
zu zweien, und bezeichnet sie recht ansprechend als eil! „verstümmeltes Fragment
vom Parthenon." Armer Phidias! Deine Göttinnen nach fünfhundert Jahren
Vvllstreckerinnen eines Todesurteils! — Weiter, ein andres Beispiel. Die kleinen
alkalischen Weihgeschenke auf der Akropolis von Athen sind jetzt, wo die perga-
menischen Funde im Mittelpunkte des allgemeinen Interesses stehen, auch wettern
Kreisen bekannt. Kein Wunder, denn die schöne Brunusche Entdeckung, welche
die fraglichen Weihgeschenke in erhaltenen Statuen in Venedig, Neapel und an
andern Orten nachwies, war epochemachend genug, um selbst dem Historiker
nicht unbekannt zu bleiben. Schreibt man aber eine römische Kaisergeschichte
und hat man — so vermuten wir — jene Statuen in einer Auswahl von Ab-
bildnngen auf Lager, MIN dann kann man sie ja ins Gefecht führen. Freilich
müssen sie zu diesem Zwecke ihre Nationalität verleugnen. Es sind eben Mieth-
truppen. Da erscheint denn der jüngere gallische Krieger in Venedig als „be¬
siegter Athlet," der alte gallische Krieger ebenda als „überwuuduer Gladiator,"
und zwar im Hinblick auf die Erwähnung von Neros Gladiatorenspielen. Selbst¬
verständlich figurirt dann auch der sterbende Gallier im kapitolinischen Museum
als „sterbender Athlet." — Ein drittes Beispiel. Dem Historiker ist der Guatem¬
ale eines der römischen Kaiser (Trajan oder Hadrian), die Erlassung rückstän¬
diger Steuern, nicht unbekannt. Der Akt ist anf'einer der auf dem lmmra
I?.vag.nun befindlichen sogenannten Nednerschranken dargestellt: auf Befehl des
auf der Rednerbühne sitzenden Kaisers legt ein Beamter die Fackel an einen
von Soldaten zusammengetragenen Hansen von Akten. Allein bei Dnruy werden
wir über die Deutung des Monuments eines bessern belehrt. Kein Guatemale
ist dargestellt, sondern vielmehr die „Abstimmung der Italiener," welche „ihre
Stimmtäfelchen deu Beamten geben, die die Aufgabe haben, zu Rom die Ergeb¬
nisse der in den Städten der Halbinsel vollzogenen Zählung zusammenzustellen."
Bei der Wahl scheint jedoch ein Formfehler untergelaufen zu sein; sie wird
wahrscheinlich für uugiltig erklärt, da die Stimm-„Täfelchen," welche, beiläufig
gesagt, ein Drittel Mannshöhe erreichen und so schwer sind, daß einige Sol¬
daten sie auf deu Schultern tragen, verbrannt werden. — Auf S. 536 ist
von einer Gesandtschaft der Stadt Haliwruassos an Tiberius die Rede. Dabei
erinnert man sich natürlich unwillkürlich an das berühmte „Weltwunder," an
das etwa im Jahre 340 vor Christi vollendete Mausoleum. Dieses freilich
wird nicht abgebildet, aber dafür — pars pro toto — eine Platte seines schönen
Frieses: zwei mit Amazonen kämpfende griechische Krieger. O heilige Logik! —
Bd. 2, S. 51 ist u. a. von Bädern die Rede. „Die Bäder, die Schenken, die
Bordelle waren insgesamt geöffnet und mit Gästen gefüllt. Das allgemeine
Unglück (nämlich in den Wirren nach Neros Tode) erschien wie eine Art neuer
Würze." Die Abbildungen hierzu zeigen in durchaus geurchafter Auffassung
zwei Vasengemälde des rotsignrigen, dem vierten Jahrhundert v. Chr. an-
gehörigen Vascnstils: nämlich „Szene aus einem Frauenbade" (an einem Becken
steht rechts und links eine Frau, auf dem Becken Eros) und „Szene aus einem
Männerbade" (vier Athleten, die sich vom Staube der Palästra reinigen). Die
eine weibliche Figur ist nur mit dem ärmellosen Chiton bekleidet, die andre,
ebenso wie die vier Jünglinge — unerhört! — sind nackt. Was könnte also
die „neue Würze des Vergnügens," die Ausschweifungen in den römischen Bädern
besser versinnlichen als die beiden, übrigens nach der schlechtesten existirenden
Vasenpublikation angefertigten griechischen (!) Vasenbilder! — In dieselbe Kate¬
gorie wie diese beiden Bilder gehört auch die Statue eines Hirten mit seinen
Ziegen — bei Besprechung der Virgilschen Bnevlica. Da möchte man freilich mit
Duruy in die Worte Virgils ausbrechen: I'vllx ciuixotMrLruineogiwijogrgvMLW!
Nach alledem sollte es uns nicht wundern, wenn die Wissenschaft eines Tages
durch die überraschende Neuigkeit beglückt würde, daß der archaische sogenannte
Hermes Kriophoros (Widderträger) einen römischen Flcischergesellen, die Eirene
des Kephisodot eine Amme mit einem Jmpcratvrensäugling vorstelle oder daß zur
Veranschaulichung des römischen Zirkusrenneus sehr gut der Partheuonfrics zu
brauchen sei. Vielleicht würde sich für die Georgica Virgils der den Augias¬
stall reinigende Herakles der olympischen Metope entweder schlechthin als „rö¬
mischer Bauer" oder als mythologischer Vorgänger des alten Cato verwenden
lassen.
Die beigebrachten Beispiele kritiklosen Znsammenstellens ließen sich ver¬
mehren, wenn das Gesagte nicht schon den Charakter des Werkes hinreichend
kennzeichnete. Es ließe sich z, B, noch ein ernstes Wort sagen gegen den Unfug,
Figuren aus der griechischen Mythologie, die in dem römischen Kult weder
Analogien noch Parallelen haben, in den Text einzuschmuggeln, wenn man
dabei uicht fürchten müßte, wiederholt aus dein Ton ernster Kritik in den der
Satire zu verfallen.
Wie in der Auffassung der kunstgeschichtlichen Stellung und in der Er¬
klärung der einzelnen Monumente, so herrscht aber endlich auch in techno-
logischen Fragen, in der Terminologie, in der Museographie die größte Unklar¬
heit. Statt von der alten Pinakothek hören wir von einem Münchener Museum;
die bekannte Germanin, die sogenannte Thusuclda, soll im „Museum von Florenz"
aufgestellt sein. Die Loggia de' Lcmzi gehört freilich zu den weniger bekannten
Florentinischen Bauten! Behauptungen wie die, daß eine Lyoner Merkursstatue
aus „dunkelgrüner" Bronze bestehe, daß ein Altar in Mainz die „Darstellung
aller seiner Frontflächen in derselben Ebene" zeige, daß eine gallische Gottheit
in „buddhistischer Haltung" dargestellt sei, daß der schöne bronzene sogenannte
Seueeakopf in Neapel (Porträt eines alexandrinischen Dichters?) eine Büste
„von zweifelhafter Echtheit" sei, fallen nach allem Gesagten nach gerade nicht
besonders auf.
Die Bedenken, die wir an das gekennzeichnete Jllnstrationsverfahre» ge¬
knüpft habe», wiegen schwerer, als man ans den ersten Blick vielleicht
meint. Es handelt sich einmal um eine fahrlässige Täuschung des Publikums.
Es ist außerordentlich bedauerlich, daß mau den Mangel einer „im großen
Stile geschriebenen" römischen Kaiscrgeschichte durch die Übersetzung eines fremd¬
ländischen Werkes beseitigen will, das wenigstens nach der Seite hin, nach der
es originell sein will, oftmals an ein Bilderbuch für den Nnschanungsunterricht
erinnert. Wie ein so feiner Kenner der römischen Kaisergeschichte wie H. Schiller
das Werk namentlich wegen seiner gelungenen Auswahl der Münzen, Statuen ?e,,
und noch dazu Schulbiblivthckeu empfehlen konnte, ist uns ein Rätsel. Wir find
überzeugt, daß auch in den maßgebenden Kreisen der französischen gelehrten Welt
— obgleich Herr Duruy früher Unterrichtsminister war — ähnliche Wider-
sprüche werden laut geworden sein, und man wird sich dort nicht wenig wundern,
daß ig. 8u.v!into ^IlomÄAno dem Jniport dieser ausländischen Waare keine Hinder¬
nisse bereitet hat.
Wen» nur des öftern angedeutet haben, daß die Hauptschuld dem fran¬
zösischen Original beizumessen ist, so kann damit der deutsche Herausgeber uicht
als entschuldigt gelte». Wir können uns hier nicht auf Auseinandersetzungen
einlassen, ob und inwieweit ein Übersetzer selbständig verbessernd Hand anlegen
dürfe; es wird immer mehr oder weniger von dein Namen und der Stellung
des Autors abhängen, ob man sich ihm kritiklos in die Arme wirft oder nicht.
Aber Dinge, wie wir sie oben berührt haben, sollten doch wenigstens einem
deutschen Gelehrten nicht begegnen, denn er verleugnet damit im eignen Vater-
lande die deutsche Wissenschaft und ihre Vertreter, wenn er ihre durch jahre¬
lange, ernste Arbeit erzielten wissenschaftlichen Ergebnisse geflissentlich ignoriri,
wen» er da, wo Licht verbreitet ist, uus französische Dämmerung vorsetzt. Wir
sagen: geflissentlich ignorirt. Denn die Entschuldigung, daß ein Historiker
nicht zugleich Archäolog sein könne, lassen wir nicht gelten, da es sich im vor¬
liegenden Falle nur um die Kenntnis der elementarsten Dinge handelt, wie sie
durch jeden Abriß der Kunstgeschichte oder Bilderatlas erworben werden kann.
Verzichtet man aber auf diese, nun dann: N-rmuri tabula.!
n der Pvlcndebatte ist wieder einmal Mephistopheles zu Ehren
gekommen: wenn die Not an Begriffen am höchsten war, dann
stellte zu rechter Zeit ein Wort sich ein. Ich müßte befürchten,
zur Sache gerufen zu werden, wenn ich alle neuen Erwerbungen
unsers parlamentarischen Sprachschatzes hier aufzählen wollte,
und begnüge mich daher, zwei herauszuheben, welche unstreitig die bedeutendsten
sind und auch genau in meine heutige Rede hineinpassen: „Ist das landcs-
väterlich? Nein, unsittlich!" und: „Assimiliren."
Ja, meine Herren, unsittlich ist das Vorgehen der preußischen Regierung
gegen Posen immer gewesen, wenigstens bis in die vierziger Jahre. Die Negierung
bewies keine Achtung vor den berechtigten polnischen Eigentümlichkeiten, schonte
keine. Sie führte eine geordnete Verwaltung und Rechtspflege ein, bunte
Straßen, kultivirte und meliorirte. Und Sie verlangen, daß sich eine Nation
nicht wehren soll, wenn solcherart die Bedingungen ihrer Existenz langsam ver¬
nichtet werde» ? Oder ist es etwa nicht wahr, daß man jetzt an vielen Orten
gute deutsche Gasthäuser findet anstatt der gemütlich-romantisch-nationalen
schmutzigen Juden schenken? Und dieses verabscheuungswürdige System der
Germanisativn will mau jetzt mit verstärkter Kraft wieder aufnehmen. Ist das
landesvüterlich? Nein, unsittlich!
Wenn einer, um den Schmerz wegen des Verlornen Vaterlandes zu betäuben,
sich nach Paris flüchtet, und wenn während dessen seine Angelegenheiten in
Unordnung geraten, so wäre es die Pflicht einer christlichen Negierung, ihm
die Mittel zu gewähren, daß er seine Schulden in Paris und zu Hause bezahlen
und in Zukunft ohne Sorgen leben kann. Sie aber wollen ihn auslaufen! Ist
das landesväterlich? Nein, unsittlich!
Die Schlösser, in welchen seit Jahrhunderten die Mazurka erklang und der
Champagner aus dem Schuh der Dame getrunken wurde, von denen so oft aus¬
gezogen wurde zum Reichstage, zur Konföderation, zur Insurrektion, die sollen
künftig von plumpen Deutschen bewohnt werden, vielleicht von Bürgerlichen,
ja — ich schaudere! — von Protestanten. O, meine Herren, das ist tief unsittlich.
Vergessen Sie doch nicht, daß Polen schon einmal in der höchsten Gefahr schwebte,
Protestantisch zu werden, und daß es nur dem energischen Wirken einer frommen
Königin und der Jesuiten gelang, das Land vor diesem Unglück zu bewahren,
als gerade durch den westfälischen Frieden das Prinzip der Glaubensfreiheit
leider zur Anerkennung gekommen war. Vergessen Sie nicht, daß vor hundert
Jahren keine akatholische Kirche in Polen existirte. kein Dissident im Lande
geduldet werden sollte — natürlich mit Ausnahme der Glaubensgenossen der
schönen Esther König Kasimirs. Wollen Sie denn, daß Luise Marie Gonzaga
sich im Grabe umdreht, und am Ende mit ihr zugleich die schöne Esther? Wissen
Sie dem? nicht, wieviel eben die Bevorzugung des Judentums und die Aus¬
rottung des Protestantismus dazu beigetragen haben, Polen auf jene Höhe zu
heben, auf welcher es vor der ersten Teilung stand? Und nur jene Höhe streben
die heutigen Polen wieder an, sie sind so bescheiden, nicht einmal die alte
Lehenshoheit über Preußen wieder zu fordern, wenigstens vorläufig nicht; und
diesen Bestrebungen den Weg zu verlegen, ist unsittlich, meine Herren, höchst
unsittlich.
Glauben Sie ja nicht, daß es uns an Patriotismus, an Nationalgefühl
gebreche. Sollten die Polen es sich beikommen lassen, Berlin zu belagern, so
werden wir wie ein Mann auf die Wälle eilen — ich meine: wir würden, wenn
noch Wälle vorhanden wären, ans dieselben eilen und nötigenfalls zur Ver¬
teidigung dieser Stadt unsre letzten Reden halten. Aber wo ist denn die polnische
Armee? Sie wollen Dämme aufführen, weil der Strom einmal über die Ufer
treten könnte: warten sie doch, bis er übergetreten ist! Wollen sie dem un-
schuldigen Knabe», der mit einem Stein in der Hand vor einer Spiegelscheibe
steht, den Stein wegnehmen? das ist Gewaltthätigkeit, das ist Raub, das ist
Eingriff in das Eigentum und die persönliche Freiheit, Er will vielleicht
Mineralogie studiren, und Sie verhindern ihn daran, ein großer Gelehrter zu
werden, eine Zierde der Menschheit. Sie sagen freilich, der böse Bube habe
uns schon mehr als einmal die Fenster eingeworfen. Gut. ich leugne das nicht,
und wenn er den Stein abermals schleudern und die Scheibe wirklich zertrümmern
sollte, so werde auch ich für seine Bestrafung stimmen. Allein Sie können nicht
wissen, ob er nicht auf dem Wege der Besserung ist, und Sie ihn durch das
Mißtrauen in seine guten Absichten wieder irre machen.
Also germcmisiren wir nicht, am wenigsten zwangsweise, sondern cissimiliren
wir. Man hat gesagt, bei diesem Ausdrucke könne sich ein jeder denken, was
ihm gefalle. Ganz recht, aber ist es deun nicht die höchste staatsmännische
Weisheit, solche Ausdrücke zu wählen, mit denen sich alle Parteien zufrieden
geben können? Ich z. B. denke mir die Sache so, wie sie sich in der Geschichte
von einem Breslauer Judenknaben, die Ihnen Wohl bekannt sein wird, darstellt.
Der jubelte in einem Grade, daß er sogar seinen Angehörigen unangenehm
wurde, und um ihn zu heilen, schickte man ihn auf längere Zeit in ein Dorf
im Riesengebirge. Und was war der Erfolg? Nach einem halben Jahre jubelte
das ganze Dorf. Die höhere Kultur hatte gesiegt, der Knabe hatte die einfachen
Gebirgsbewohner sich assimilirt. Ebenso assiunlircn die polnischen Geistlichen,
Lehrer, Ärzte, Zeitungsschreiber sich die deutsche Bevölkerung in Posen, West¬
preußen und Oberschlesien, und das ist die einfachste Lösung der polnischen Frage
in diesen Provinzen.
Ich eile zum Schlüsse, indem ich mich vollständig der Ansicht des verehrten
Abgeordneten Windthorst anschließe: Vulvaut, <.;0N8ulLs, no <mi<l <I<ze>rini«zue,i
«gPiat r03xuvlie.ii. Das heißt auf Deutsch:
Bewahrt das Feuer und das Licht,
Damit der polnischen Republik kein Schade geschieht —
oder auf Französisch:
^tviAnnn» >!>, Imam'v ot 1'iUImncm» lag t'sux.
Die Konsuln, meine Herren, sind wir. Und wir werden unsre Schuldigkeit
thun. So lange die Kollegen Windthorst, Hänel und ich auf dem Wachtposten
stehen, darf ruhig gesungen werden: „Noch ist Polen (von 1772) nicht ver¬
loren!"
atarina stand Camoens gegenüber, und der Blick des bewegten
Mannes verweilte mit Entzücken ans dem schönen Gesicht, das
mit dem Ausdrucke mitleidiger Teilnahme und eines kleinen
Trotzes, welcher der Herzogin galt, noch lebendiger und reizvoller
erschien, als er es gestern gesehen. Er vergaß, daß er nicht zu
der jungen Gräfin allein sprach, und rief: An Euch allein habe ich gedacht,
Herrin, an Euch allein konnte ich denken. Fände ich bei Euch uicht die Milde
und das Erbarmen, die ich für eine Unglückliche erflehe, so wüßte ich nicht, wo
in der Welt ich sie suchen sollte!
Und uun, angefeuert durch den Blick, den ihm Catarina schenkte, hub
Camoens an, seine Geschichte zu erzählen und schilderte die Lage des schönen
Maureukindes, das sich bei der Hirtin auf dem Kreuzberge verborgen hielt, in
immer ergreifenderen Worten. Er verhehlte im heißesten Eifer zu helfen die
Gefahr nicht, welche mit jeder Hilfeleistung an Esmah verbunden sei. Er sah
Wohl, daß durch die Züge des Mädchens ein Schatten der Befremdung flog,
als er mit Barretos Worten von den politischen Plänen König Sebastians sprach,
aber da er mir Catarinen im Auge behielt, so blieb ihm der Eindruck des
zürnenden Unmuts erspart, mit welchem die Herzogin seiner Erzählung folgte.
Hätte er das Gesicht der stattlichen Dame, die finster zusammengezogenen Bremen,
die dicht geschlossenen Lippen gesehen, so würde ihm der Mut zu der Bitte gefehlt
haben, mit der er seinen erregten Bericht schloß: Und nun Ihr alles wißt,
Herrin, nun ermeßt Ihr auch, wie not der jungen Maurin nicht nur eine
christliche Taufzeugiu, sondern eine Freundin und Beschützerin thut! Wollt Ihr
der Stimme Euers Herzens Gehör geben, wollt Ihr die fremde Blüte aufrichten
und mit dem Thau Euers Mitleids erquicken, Donna Catnriua?
Ihr thut dem Könige schweres Unrecht, wenn Ihr ihm zutraut, daß er der
urnar Esmcch, die sich zum wahren Glauben wenden will, seinen Schutz versagen
werde, rief Catarina, ehe die Herzogin zu Worte zu kommen vermochte. In mir
sollt Ihr Euch nicht irren, Senhor Luis, ich bin bereit, mit allem, was ich vermag,
der Unglücklichen beizustehen. Hättet Ihr und Senhor Manuel gleich besseres
Vertrauen zum Könige gehabt, so würdet Ihr meiner nicht bedürfen! Doch laßt
mich wissen, wann und wo die Maurin die heilige Taufe erhalte» wird
Catarina, was willst du zusagen? siel jetzt die Herzogin ein. Seit wann
verfügst du über dich, ohne den Rat deiner mütterlichen Freundin einzuholen?
Wann hat mich meine andre Mutter je gehindert, eine Christenpflicht zu
üben? rief Catarina, Du würdest mich selbst antreiben, wenn ich zu zögern
vermöchte — und vor Senhor Luis, der auf den Grund der Herzen scheint,
brauchen wir keine Masken! Ich will die Patin Esmahs sein, und du, meine
Mutter, wirst mir sagen, was außerdem in meinem Vermögen steht!
Sie hatte sich der Herzogin leidenschaftlich genähert und lehnte ihr Gesicht
an die Wange der stattlichen Frau, welche sich umsonst mühte, eine kalte und
strenge Miene zu zeige» und endlich mit Rührung auf das schöne Mädchen
lind mit einer Art zürnender Teilnahme nach Camoens schauend sagte:
Ihr gefährdet mir Glück und Frieden meines Kindes und ruft sie vor der
Zeit zu Wagnissen auf, Senhor! Wenn Ihr übrigens fortfährt, Geschick und
Heil andrer, die Euch zufällig in den Weg kommen, so auf Eure Schultern zu
laden, so werdet Ihr daneben an Euerm eignen Glücke nicht schwer zu tragen
haben, Senhor!
Ich wollte ihr und mir wünschen, daß die junge Esmcch einen mächtigern
und glücklichern Helfer gefunden hätte, als mich und selbst als meinen Freund
Manuel Barreto, daß sie zum Beispiel Eure Kniee Schutzflehend umfaßt hätte,
hohe Frau! antwortete der Dichter, dessen Stimmung sich in dem Maße hob,
als er die junge Gräfin seinen Wünschen und Bitten sich zuneigen sah. Ihr
werdet zugeben, fuhr er fort, daß keiner, dem die Verfolgte vor Augen kam, sich
des Mitleids und der Teilnahme entschlagen konnte, zu denen ich mich bekenne!
Auch Ihr werdet Gräfin Catarina nicht hindern, der Regung ihres Herzens zu
folge» und sich des armen Mädchens anzunehmen, das durch meinen Mund
ihre Milde ansieht!
Sie hat einen beredten Sprecher gefunden, Senhor Luis! entgegnete die
Herzogin, Ich zweifle nicht, daß die junge Heidin, die Ihr in den Schoß
der Kirche flüchten wollt, wunderbar schön ist, sonst würden Eure Worte spar¬
samer sein,
Camoens antwortete nur mit einer stumm abwehrende» Geberde, die von
der alten Dame und dem schönen Mädchen gleich gut verstanden wurde, und
die Herzogin lächelte vor sich hin, sie las besser in Camoens' Zügen, als er
ahnte, sie wußte, daß er um Catarinas Willen ihren Spott so ernst abwies.
Sie erachtete es für gut, einen weitern Wortaustausch zwischen der Pflege¬
befohlenen und dem Dichter zu verhüten und schloß:
Wenn Ihr darauf besteht, Senhor Luis, und Catarina auf die Thorheit
nicht verzichten will, bei der Taufe dieser Heidin als Pate zu dienen, so laßt
uns im Laufe dieses Tages wissen, wo die Handlung vollzogen werden soll und
wer der Priester ist, den Euch Dom Antonio senden will. Catarina hat sich
seit einiger Zeit, im Geleite ihres alten Ehrenkavaliers, in der Falkenjagd geübt,
es wird also nicht zu sehr auffallen, wenn sie einen Morgenritt in die Berge
unternimmt. Inzwischen wollen wir überlegen, was für Euern heidnischen
Schützling weiter geschehen kann, wir werden dem edeln Manuel Barreto und
Euch noch heute mitteilen, was in unsern Kräften steht! Für jetzt lebt Wohl
und seid nicht zu stolz auf Euern gelungner Überfall, ich füge mich Eurer
thörichten Bitte nnr, um mein Kind uicht allzusehr zu kränken, sie wird bei
dieser Gelegenheit zum erstenmale erfahren, was es in der Welt auf sich hat,
den Wallungen des Mitleids zu folgen.
Ihr wißt das freilich, Herzogin, denn ich lese in Eltern Gesicht, daß Ihr
es tausendmal gethan habt und immer wieder thun werdet! rief Camoens. Ich
aber flehe zu allen Heiligen und bin gewiß, daß die helfende Hand gesegnet
sein wird, welche Gräfin Catarina mir bietet.
Er küßte ehrfurchtsvoll die Hand der alten Dame und die Catarinas, die
ihm mit einiger Verwirrung dargeboten ward. Er tauschte noch einen Blick
mit dem schönen Mädchen, die von dem unerwarteten Erlebnis dieses Morgens
tief bewegt erschien, in ihren Augen las er die feste Zusicherung, daß keine Vor¬
stellung, welche ihr die Herzogin vielleicht noch machen könne, sie an der Er¬
füllung ihres Versprechens hindern werde. Dann schlugen beide Frauen den
Rückweg in die Wohnung der Herzogin ein. Voll freudiger Empfindung sah
ihnen der Dichter ucich, die Stunden schienen seit dem gestrigen Abend, ja seit
dem Mittag, an dein er auf der Höhe des Kreuzberges Barreto begegnet war,
nur Glück nud ungewohntes Gelingen in ihrem Schoße zu bergen.
Sobald er Catarinas Gestalt nicht mehr erblickte, trat er aus dem Pla¬
tanengange heraus und wandte sich zu einer freien Stelle, an der er Palast
und Gärten neben und unter sich sah. Noch hing der Thau in tausend Tropfen
funkelnd an den Büschen und Blumen der Terrassen, noch spielte ein letzter
Morgenhauch in den Laubkronen der riesigen alten Bäume, aber schon war es
voller Tag, und das leuchtende Blau des Frühhimmels weissagte einen schwülen
Mittag. Dem einsamen Manne aber war mvrgenfrisch zu Mute, er empfand
es kaum, daß die Sonnenstrahlen ihm schon brennender aufs Haupt sielen, sein
Blick glitt wie trunken über das unveränderte Bild der Prachtgärten, und er
knüpfte im wachen Traume wiederum vergangne Tage mit den gegenwärtigen
zusammen. Er hatte vergessen, wie vergrämt und müde er noch zwei Tage
zuvor aus deu Vorzimmern des prangenden Schlosses dort nach Cintra hinab-
gegangen und uach dem Kloster zum heiligen Kreuz aufgebrochen war. Die
Warnungen Barrctvs hielt er durch die letzte halbe Stunde für siegreich wider¬
legt, und wie ein Mann, der nach langer, schwanker Fahrt wieder festen Boden
unter seinen Füßen fühlt, schritt er durch die Kvnigsgärten uach Okaz' Herberge
hinunter, um dem Freunde zu berichten, was ihm der Morgen schou gebracht habe.
Über dem Hochthal der Mutter aller Gnaden ward es Morgen, die höchste«
Bergspitzen glänzten von Frührvt Hinflössen, während die Weiden und Wälder
an ihrem Fuß noch in das dämmernde, lichtlose Grau getaucht erschienen, mit
dem die kurze Sommernacht scheidet. Durch den Korkeichen- und Ulmcnwald,
welcher die Schlucht gegen la Pera hin erfüllte, stiegen um diese Stunde
Camoens und Barrcto empor, von Jayme Leircis, dem ehemaligen Matrosen,
geführt nud von dem braunen algarbischen Burschen ans Okaz' Herberge begleitet,
welcher el» mächtiges Pack auf seineu Schultern trug. Je näher sie dem
Aufgange zu der Trift kamen, ans der die Strvhhlltte Joanas der Zicgcnhirtin
stand, umso schnellere Schritte machte Camoens und ließ sich durch die Spott-
Worte nicht halten, mit denen der ältere Freund seine Eile zu mäßigen suchte.
Beide Mäuner waren wie zur Jagd gerüstet und hatten in der That unter
dem Vorwande einer Fuchsjagd Okaz' Herberge vor Thau und Tag verlassen
und einen nähern, aber beschwerlichem Weg zu dem Hochthal eingeschlagen als
jenen Pfad, welcher sich von der Straße »ach dem Kloster zum heiligen Krenz
abzweigte. Jayme Leiras, der Führer, war am gestrigen Tage durch den
gleichen Wald zweimal zu der Zufluchtsstätte des fremden Mädchens hinauf¬
gestiegen und jedesmal mit guter Botschaft uach Ciutra zurückgekehrt. Er hatte
noch vorhin, als Camoens den felsigen Abhang, der die Waldschlucht und die
Fläche des Hochthals schied, hastiger aufwärts zu klimmen begann, ruhig den
Bericht wiederholt, den er gestern am Spätabend abgestattet hatte: Ihr braucht
nicht zu eilen, Senhor. Den ehrwürdigen Pater Henriques habe ich noch vor
Sonnenuntergang zu der jungen Heidin geleitet, und da er ihre Sprache versteht,
hieß sie den weißhaarigen Alten tausendmal willkommener, als mich mit meinen
paar Worten. Seid unbesorgt um die Kleine, er wird sie nicht allzu scharf
ins Gebet genommen haben!
Camoens aber beachtete die freundliche Mahnung nicht, sondern wandte
sich zu Barreto, welcher die rüstige Kraft einsetzend auch jetzt neben ihm blieb
und sagte: Ich bin unruhig, Manuel, in diesen beiden Tagen hat uns das
Glück so anhaltend gelächelt, daß ich in der letzten Stunde seinen Unbestand
fürchte.
Gott verhüte diesen Unbestand, um Esmcchs und Euertwillen, versetzte
Barreto, und Camoens sah trotz des Dämmerlichts und seiner Hast recht wohl,
wie ernst die Züge des Freundes wurden. Ihr habt wider unsre ursprüngliche
Absicht mehr Menschen ins Geheimnis gezogen, als gut ist, und würdet Euch
schwer beruhigen können, wenn wir noch im Hafen selbst scheiterten. Ich hoffe
jedoch, daß wir guten Mutes von Joana und ihren Ziegen scheiden wenden.
Sie standen jetzt, einen Augenblick Atem schöpfend, am Südrande der
Thalmulde, ein deren Nordende sich die Eichen und das Strohdach der Hirtin
erhoben; der Dichter spähte nach diesem Ziele hinüber, von dem sie noch durch
eine Viertelstunde Weges getrennt waren, »ud antwortete dann erst auf deu
leisen Vorwurf, der in Barretos Worten lag: Ihr habt Recht, Manuel, meine
Sorge ist thöricht. Wenn Ihr der Umgebung Dom Antonios, des Marschalls,
und seines Pater Henriques sicher seid, so bin ich noch viel gewisser, daß die
Herzogin von Braganza und die Gräfin Catarina unser und ihr eignes hilf¬
reiches Vorhaben mit keinem Laut gefährdeten!
Es sei so, Gott gebe es! entgegnete der Edelmann. Ich kann nur wünschen,
daß alles glücklich vorüber und unser Häuflein auf dem Wege nach Almoeegema
sei. Mit Bartolomevs Hilfe habe ich alle Einrichtungen so getroffen, daß
unser Aufbruch morgen in der Frühe erfolgen kann.
Und Ihr glaubt noch immer, daß das maurische Mädchen bei Eurer Base
Uraeea in besserer Obhut sein wird als bei Donna Catarina, die sich ihrer
annehmen will?
In besserer Obhut wage ich aus schuldiger Ehrfurcht vor der edeln jungen
Düne nicht zu sagen, erwiederte Barretv. In größerer Sicherheit unbedingt
und — Euer Wort in Ehren, Luis — ich glaube, daß die Herzogin die neue
Christin niemals ohne Sorge an der Seite ihrer Pflegebefohlenen erblicken
würde. Niemals wenigstens, so lange der Mohrenprinz in Portugal verweilt.
So müssen wir den Damen von Zeit zu Zeit Nachricht vom Ergehen
Esmcchs geben, sagte Camoens, den der Gedanke, Cintra morgen verlassen zu
müssen, mit tiefem Unbehagen erfüllte. So viel ich weiß, liegt Eure Besitzung
nicht zu weit von Cintra, um einem oder dem andern von uns einen Tageöritt
hierher zu gestatte».
Einen Tag hierher und den nächsten zurück, antwortete Barretv mit einem
leichten Lächeln. Meine Pferde stehen immer zu Eurer Verfügung, auch Okaz
wird sich, stets freuen, wenn Ihr eine Nacht zu ihm an Bord steigt. Und dort
kommt Jvana uns entgegen, ihr Gesicht glänzt Heller als der Morgen, also
steht alles wohl, und wir dürfen uns des Tages freuen.
Die Ziegenhirtin, welche beinahe den ganzen schmalen Pfad durch das
Hochthal zurückgelegt hatte, um sich vom Herannahen der Freunde zu über¬
zeugen, bekundete in der That schon von fern ihr Entzücken. Sie riß das rote
Kopftuch herab, mit welchem sie ihre langen schwarzen Haare umhüllt hatte,
und schwang es den Männern entgegen, zugleich vernahmen sie ihren jauchzenden
Ruf, welcher besser als alles andre den guten Stand der Dinge bezeugte.
Camoens hatte Barretos Hand gedrückt und stürmte jetzt voraus, um der erste
zu sein, der aus dem Munde des Mädchens genaueres erführe. Joana nickte
ihm freundlich zu, antwortete ans seine ungestüme Frage, ob schon eine Dame
mit ihren Dienern von Cintra herauf zu der Strvhhtttte gelangt sei. Nein,
Herr, nnr der gute Pater ist seit gestern Abend bei uns, und betet mit Esmcih;
blickte dabei aber nach Barreto, als wolle sie ihren weitern Bericht durchaus
bis dahin verschieben, wo Senhor Manuel sie hören konnte. Zum Glück war
der wackere Fidalgo so rasch zur Stelle, daß Camoens die absichtliche Zögerung
des Mädchens kaum bemerken konnte. (Fortsetzung folgt.)
Roggen zoll. Die freisinnigen Redner des Reichstages haben mit ihren Trug¬
schlüssen in Fragen des Karnzolles ein so leichtfertiges Spiel getrieben, daß ein Wasser¬
strahl der Wahrheit auf ihre Zahlennngaben wohl angebracht ist. „Wir sind 3 Mark
über dem Weltmarkt — rief Herr Dr. Barth ins Land hinaus —, hebt den Zoll auf,
damit wir auf das Niveau des Auslandes kommen." Die Wirkung der Zvllaufhebung
scheint er aber nicht überlegt zu haben; die würde notwendig sein, daß das Ans¬
tand auf unsern Preis stiege. Wo bliebe da unser Vorteil? „Die Preisdifferenz
von Roggen zwischen Amsterdam und Berlin, früher uur 8 Mark, ist nunmehr
— rief Herr Brömel — auf 34 Mark gestiegen, das ist eine Folge unsers Zolles!"
Den Beweis aber, daß Berlin um die Differenz gestiegen und nicht vielmehr
Amsterdam, wegen unsers Zolles, gefallen sei, ist er schuldig geblieben. Daß in
dem Augenblicke, wo unsre Zollschranke plötzlich aufgehoben würde, die Preise des
Roggens in Amsterdam, in Rußland, also ans dem Weltmarkte, bedeutend, und Wohl
mehr als unser Zoll beträgt, steigen würden, unterliegt für Erfahrene keinem
Zweifel, denn Deutschland ist ein so starker Verbraucher von Roggen, daß unsre
Maßregeln entscheidend auf das Ausland einwirken. Nur infolge unsers Zolles,
nochmals sei es gesagt, sind draußen die Preise gefallen, und so wie der Zoll fällt,
steigt natürlich in Amsterdam der Roggen bis über den Stand von Berlin. Dies
ist praktischen Leuten ganz klar. Alle Folgerungen, welche die Freisinnigen an ihre
Zahlen knüpfen, vom teuern Brot des armen Mannes u. f. w., laufen daher auf
Täuschung hinaus. Nur den einen Beweis liefern sie mit ihren Anführungen,
daß des Reichskanzlers früher von ihnen so bitter verhöhnte Behauptung, das
Ausland zahle deu Zoll, sich bewahrheitet hat. Es giebt eine Preisgrenze nach
unten, über welche hinaus die Erzeugungskosten nicht mehr gedeckt werden; diese
scheint bei manchem Produkt des Ackerbaues erreicht zu sein, die natürliche Folge,
Abnahme der Zufuhr und ein Steigen des Preises, wird nicht ausbleiben.
Teureres Brot hat der Kornzvll nicht gebracht, wenn aber dadurch der Landmann
wieder zum Anbau ermutigt wird, ist der Zoll das Mittel, uns das Brot billig
zu erhalten.
le groben Ausschreitungen, welche Anfang Februar dieses Jahres
in London stcittgefnnden haben, waren mehr noch sür England
als für den Kontinent und besonders für Deutschland überraschend.
Namentlich in Deutschland hat man in den letzten sieben Jahren
einerseits den Bedürfnissen der arbeitenden Klasse die größte Sorg¬
falt vonseiten des Staates zugewendet, anderseits auch das Wesen der Sozial-
demokratie zu ergründen verstanden. Die Führer der letzter« fühlen sich be¬
droht, wenn die Unzufriedenheit in den Kreisen der Arbeiter vermindert wird,
und bieten alles auf, um die wohlwollenden Absichten der Regierung zu ver¬
unglimpfen und durch eine neue Saat von Haß den Kampf zu schüren. In
Deutschland gingen die sozialpolitischen Vorlagen zum Wohle der Arbeiter mit
den Maßregeln des Sozialistcngcsetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen
der Volksverführer Hand in Hand. Anders in England. Hier lebte man eigentlich
in dem Wahne, daß sozialistische Unruhen geradezu für die nächste absehbare
Zeit zur Unmöglichkeit gehörten. Es soll hier nicht näher untersucht werden,
worauf sich dieser Wahn gründete. Es mag nur erwähnt werden, daß die
manchesterliche Lehre von dem Selbstnusgleich der Kräfte ans politischem und
ökonomischem Gebiete eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Die Überraschung
über die Arbeiterunruhcn des letzte« Monats ist daher erklärlich, und noch mehr
der Eifer, mit welchem die Frage erörtert wird, ob diese sozialistischen Er¬
scheinungen nur vorübergehend und zufällig waren, oder ob sie Anzeichen
tiefer liegender Krankheiten sind. Noch ist die Aufregung zu groß, als daß
von einer ernsten Untersuchung die Rede sein konnte. Dagegen sind gerade in
der letzten Zeit verschiedne Berichte veröffentlicht worden, welche die wirtschaft¬
liche Lage zum Gegenstände haben, so besonders der Bericht der Kommission,
welche zur Untersuchung der Handelsstocknng eingesetzt war, und des sogenannten
Mansionhouse-Komitees, welches im März 1835 zur Untersuchung der an¬
dauernden Not in London zusammentrat. Dazu kommen noch Berichte der ver-
schiednen Handelskammern. Dieses gesamte Material läßt uns eine Übersicht
über die gegenwärtige Lage der arbeitenden Klassen in England gewinnen.
Dasselbe ist nicht bloß zur Beurteilung der englischen Zustände lehrreich, sondern
dürfte auch geeignet sein, die Aufmerksamkeit unsrer eignen Landsleute ans sich
zu ziehen. Was aus dieser Darstellung zu folgern sein wird, bedarf keiner
Erörterung.
Die bis jetzt vorliegenden Ergebnisse der Untersuchungen, welchen die wirt¬
schaftliche Lage der Arbeiter in Großbritannien und Irland und insbesondre
der Arbeiterbevölkerung Londons seit ungefähr Jahresfrist von verschiednen
Seiten unterzogen worden ist, schließen hinsichtlich des Zeitraumes, auf den sie
sich erstrecken, zum großen Teile schon mit dein Jahre 1883 oder 1884 ab.
Sie reichen in keinem Falle und nach keiner Richtung hin über den Schluß
des Jahres 1885 hinaus. So natürlich nud selbstverständlich dies an und für
sich erscheinen muß, so bieten doch die gegenwärtig obwaltenden Verhältnisse
besondre Veranlassung, diesen Umstand ausdrücklich und gleich in erster Reihe
hervorzuheben, und zwar aus folgenden Gründen.
Es kann füglich nicht mehr bezweifelt werden, daß die in dem öffentlichen
Leben Englands neuerdings hervorgetretenen, demselben bisher lange Zeit hin¬
durch fremd gewesenen revolutionären Erscheinungen ihrer wahren Entstehung
nach nicht auf die Lage der Arbeiter, sondern wesentlich nur darauf zurückzu¬
führen sind, daß die Leiter der Sozialdemokratie die von ihnen verfolgten Um-
ftnrzbestrcbungen äußerlich mit den aus der Arbeitcrlage hervorgegangenen Agi¬
tationen in Verbindung zu bringen und hierdurch Erfolge zu erzielen gewußt
haben, welche — fo kurz ihre Dauer auch gewesen ist — doch gewissermaßen
als eine Probcleistnng der sozialistischen Kräfte eine überraschende Wirkung geübt
haben. Ebenso wenig aber kann in Abrede gestellt werden, daß die in Wirk¬
lichkeit aus der Arbeiterfrage hervorgegangne Bewegung seit dem Beginne des
Jahres 1886 eine erhebliche Verstärkung und Verschärfung erfahren hat, und
mit Bezug hierauf ist zu konstatiren, daß für die Erforschung der Ursachen
dieser Erscheinung durch die vorliegenden, in ihrer weitesten Ausdehnung bis
gegen den Schluß des Jahres 1885 reichenden Ergebnisse der über die Lage
der Arbeiter angestellten Untersuchungen Anhaltepunkte von entscheidender Be¬
deutung nicht geboten werden.
Bis zu Anfang dieses Jahres hat die Lage der Arbeiter für befriedigend
gegolten. Von der Freihandelspartei ist sogar ziemlich einstimmig die Meinung
verteidigt worden, daß die zur Zeit bestehende Handelsstockung für den Volks-
Wohlstand im ganzen kein Nachteil sei. Die Zeit der großen Verdienste sei
vorüber, dafür trete aber eine gerechtere Verteilung des Gewinnes ein. Ins¬
besondre wurde hierbei ausgeführt, daß die Lage der arbeitenden Klassen über¬
haupt besser geworden sei als je zuvor.
Wenn diese Meinung much, was die angebliche Quelle der Besserung betrifft,
auf leicht zu entdeckenden Trugschlüssen beruht, so läßt sich doch anderseits
nicht verkennen, daß die Lage der Arbeiter Ende 1885 im Vergleiche mit frühern
Zeiten in der That erheblich besser gewesen ist.
Zunächst ist der Bedarf an Arbeitern im Vergleich mit frühern Jahren,
wenn die einzelnen Erwerbszweige auch in dieser Beziehung verschiedne Resultate
zeigen, im allgemeinen eher gestiegen als gefallen. In dem am 11. vor. Mes.
erschienenen Jahresberichte der Handelskammer von London sind folgende Ta¬
bellen, betreffend die in den verschiednen Industriezweigen beschäftigten Arbeiter,
veröffentlicht worden. Es wurden verwendet:
Die Zahl der Kohlenarbeiter in den Jahren 1883 und 1884 im Vergleich
zu der im Jahre 1871 wird durch die folgende Tabelle nachgewiesen.
Auch der Bericht der königlichen Kommission zur Untersuchung der gegen¬
wärtigen Handelslage legt hinsichtlich der ermittelten Verwendung von Arbeitern
im ganzen kein ungünstiges Zeugnis ab. Wie bekannt, waren die Handels¬
kammern und die bedeutendsten Lominoi'vint ^ssoomtions aufgefordert worden,
sich über diese Frage zu äußern. Von den nchtundoierzig Handelskammern,
deren Antworten in dem ersten Berichte der Kommission aufgeführt sind, haben
vierundzwanzig bekundet, daß innerhalb ihres Bezirkes die Arbeiterverwendnng
im allgemeinen den Durchschnitt der letzten zwanzig Jahre überstiegen habe oder
demselben wenigstens gleich geblieben sei; sechzehn haben sich über die Frage
garnicht ausgesprochen, und nur von der noch verbleibenden geringen Zahl ist
bekundet worden, daß die Zahl der Arbeiter in einzelnen Industriezweigen ihres
Bezirkes sich vermindert habe. Zu diesen letztgedachten Zweigen gehören na¬
mentlich die Kohlenindustrie in Barnsley, die Leineuiudustrie in Belfast, die
Wollenindnstric in Dewsbury, die Znckerindnstric und der Schiffbau und die
Schifffahrt in Greenock, die Tagelöhuerarbeit (ttuskillöä 1g,tour) in Liverpool,
die Kohlen- und Wollenindustrie in Ossett, die Salzwerke in Portsmouth. Die
AnWorten der ^oilliruzroiÄl ^ssooiatious zeigen ein ähnliches Ergebnis.
Die Arbeitslöhne können, wenn sie auch gegen das Jahr 1877 durch¬
weg zurückgegangen sind, für die Zeit bis Ende des Jahres 1885 nicht als
niedrig bezeichnet werden. Jedenfalls steht fest, daß sie sich gegen die fünfziger
und sechziger Jahre wesentlich gehoben haben.
Gewöhnliche Arbeiter (vommou labourcu-s) wurden im Jahre 1857 mit
Is bis 17 Schillingen, im Jahre .1884 mit 20 bis 22 Schillingen wöchentlich
bezahlt. Der Lohn für Landarbeiter ist von 8 bis 10 Schillinge im Jahre 1857
auf 13 bis 15 und sogar auf 18 Schillinge wöchentlich im Jahre 1884 ge¬
stiegen. Dienstboten, die in den fünfziger Jahren 9 bis 10 Pfd. Se. jährlich
erhielten, bekamen 1884 14 bis 16 Pfd. Se. Die Hener der Seeleute hat sich
in dem bezeichneten Zeiträume von 30 ans 80 Schillinge monatlich gehoben.
Als bezeichnend für die LohuverlMnisse sind im folgenden einige Tabellen*)
aufgeführt, welche wie die vorstehenden Lvhnangcibcn dem im Jahre 1885 er¬
schienenen Buche des Professor Leone Levi: ^VaM8 ana «ZMiiiiM ok leis on-kein-;
olaLMs entnommen sind. Darnach betrugen in Manchester die Wochcnlöhne für:
Auch von den 48 Handelskammern, deren Äußerungen dem Berichte der
königlichen Kommission zur Untersuchung der gegenwärtigen Handelsstocknng bei¬
gefügt sind, haben 28 bekundet, daß die Nrbeiterlöhne in ihren Bezirken über
dem Durchschnitte der letzten zwanzig Jahre stehen; 12 haben sich über die Frage
garnicht ausgesprochen, und nur wenige haben sich dahin geäußert, daß die Löhne
in einzelnen Industriezweigen unter den Durchschnitt der letzten beiden Jahr¬
zehnte heruntergegangen seien. Zu diesen Zweigen gehören: in Belfast die Leinen¬
industrie, in Cleckheatvn die Maschinen-, Leder-, Kohlen-, Chemikalien- und Bau¬
industrie, in Birstall die Wollenindustrie, in Dundee die Flachs-, Hanf- und
Maschinenindustrie, in Dudley die Kohleuindnstrie, in Greenvck der Schiffbau.
In Birmingham endlich sind die Löhne für Tagelöhnerarbeit (unÄMvä llibour)
heruntergegangen.
Von besondern: Interesse ist die Antwort der Handelskammer in Manchester,
welche außer den bereits oben angeführten noch weitere, gleichfalls von Lord
zusammengestellte Tabellen über die Arbeiterlöhne in den verschiednen Industrie¬
zweigen enthält.
Sehr bemerkenswert ist anch die in dem Separatberichte des genannten
Direktors der Handelskammer von Manchester festgestellte Thatsache, daß seit
dem Jahre 1883 nur in einzelnen Industriezweigen eine Lohnverminderuug ein¬
getreten ist, welche sich vielleicht auf ö Prozent belaufen mag.
Von den industriellen Vereinigungen haben die I^me-u Ngrobtirits, die Uortb
ol IZnAl-wÄ Iron Ng.mtlÄvwrvi-8 und die AiropMi'v Ir0imiu.8t.ni-L ^88»vin.t.ion
ein Sinken der Löhne unter den Durchschnitt der letzten zwanzig Jahre nach¬
gewiesen, nach den Berichten der übrigen Vereinigungen ist der Stand der Löhne
über diesem Durchschnitt.
Der Kaufwert des Geldes hat sich in den letzten Jahren entschieden
erhöht. Nach dem bereits erwähnten Buche von Professor Leone Levi kosteten:
Es kosteten ferner
Allerdings sind die Preise der Mieter gestiegen, und ebenso verhält es sich mit
einer Anzahl von Lebensmitteln. Es wurden bezahlt für:
Im allgemeinen ist es aber nicht zu verkennen, daß dem Arbeiter wenigstens
die Gelegenheit geboten ist, billiger zu leben als früher. Wenn auch die obigen
Zahlen nur bis zum Jahre 1883 reichen, so trifft das Bild, welches dieselben
geben, doch für die Zeit bis Ende 1885 insoweit vollständig zu, als die Preise
der Lebensmittel seit 1883 durchweg nur noch weiter heruntergegangen sind.
Daß die Lebensweise der Arbeiter sich gegen frühere Jahre im allge¬
meinen nicht verschlechtert haben kann, dafür spricht folgende Tabelle, betreffend
den Konsum von Lebensmitteln im Vereinigten Königreiche. Auf den Kopf der
Bevölkerung wurden verzehrt:
Auch abgesehen von dem Werte, welchen man den vorstehenden Zahlen beimessen
will, fehlt es nicht an sonstigen Anzeichen, aus welchen — und zwar insbe¬
sondre, wenn man noch die zweifellos auch bei dem Arbeiterstande eingetretene
Erhöhung der Ansprüche an das Leben mit in Rechnung zieht — mit einer
gewissen Sicherheit gefolgert werden kann, daß die finanzielle Lage des Arbeiter-
standes sich im allgemeinen verbessert haben muß.
Im Anschluß hieran mögen hier die weiter zurückgehenden, von den dort
aufgeführten etwas abweichenden Tabellen Platz finden, welche in dein Rapport
der königlichen Kommission on vöprvWioii ok I'ni.av veröffentlicht worden sind.
Aus öffentlichen Mitteln wurden unterstützt:
Auch die Kriminalstatistik erscheint insoweit hier von Bedeutung, als eine
Vermehrung der Verbrechen vielfach auf Verschlechterung der Erwerbsverhält¬
nisse zurückgeführt werden kaun. Sie hat im ganzen in den letzten Jahren
bessere Ergebnisse auszuweisen gehabt als in frühern Zeiten, wie nachstehende,
aus dein Berichte der Londoner Handelskammer entnommene Tabelle zeigt. Es
wurde» strafrechtlich verurteilt Personen:
Während nun bis gegen Ende des Jahres 1885 — abgesehen von den
Schilderungen über das fortdauernde Elend im Saftend und von vereinzelten
Meldungen über Einschränkung der Arbeiterbeschäftigung — die Berichte über
die Lage des Arbeiterstandes durchweg günstig lauteten, werden seit etwa zwei
Monaten von allen Seiten Klagen erhoben.
Anfang Januar wurde aus Brighton und Canterbury berichtet, daß eine
große Masse von Arbeitern beschäftigungslos sei. Fast gleichzeitig wurde aus
Manchester gemeldet, daß die Vereinigung der Eisenindustrieellen (er>z Iroir ^rg-av
^880LiMon) die Löhne ihrer Arbeiter um Prozent herabgesetzt habe, und
ferner wurde berichtet, daß die Schiffbauer im Wear- und Tynedistrikt eine
Lvhnvermindcrnng von 10 bis 12^ Prozent beabsichtigten. Aus Liverpool
kam die Nachricht, das; eine große Anzahl englischer Seeleute stellenlos sei,
und daß Ausschreitungen derselben gegen die ausländischen Matrosen, welche in
Liverpool Stellen suchte», befürchtet würden. Am lautesten aber erschallten die
Klagen aus der Hauptstadt selbst.
Das im März 1885 zur Untersuchung des andauernden Notstandes in
London eingesetzte Mansivnhouse-Komitee hat in seinem im Dezember 1885 an
den Lord-Mahor erstatteten Berichte bekundet, daß die Lage im Eastend zwar
nicht so akut sei wie im Jahre 1879, aber sich gleichwohl verschlimmert habe,
weil immer weitere Kreise der Verarmung anheimfielen. Die Handelskammer
von London sagte in ihrer jetzt erst (in ihrem Jahresberichte) veröffentlichten
Antwort ans die Anfrage der königlichen Kommission mi Depression ot' "Iraäö,
daß die Tagelöhner (um«1M«zii lkborcrers) der Hauptstadt sich zur Zeit in weit
schlechterer Lage befänden als während der letzten zwanzig Jahre, und daß ihre
Verhältnisse ein besondres Studium der Kommission verdienten. In einer
Reihe von Zuschriften an die Londoner Zeitungen wurden die Verhältnisse
der Arbeiter als höchst traurig geschildert, die rmmiiplo^ca bildeten eine ständige
Rubrik in der Tagespresse und auf uuzcihligcu Meetings wurde die Lage des
Arbeiterstandes erörtert.
Es ist schwer, zur Zeit ein sicheres Urteil darüber zu gewinnen, ob in
der That, wie es nach den Reden in den Arbeiterversammlungen den Anschein
gewinnen muß, mit einemmale eine Wendung in der wirtschaftlichen Lage der
Arbeiter eingetreten ist, welche eine allgemeine Notlage derselben zur Folge gehabt
hat. Die Arbeiter bejahen die Frage. Sie berufen sich auf deu allgemeinen
Rückgang des Handels und der Industrie im Vereinigten Königreiche und stellen
ihre angebliche Notlage als dessen selbstverständliche Folge hin. Sie führen
aus, daß der Arbeitgeber weniger verdiene, und halten damit den Beweis, daß
es dein Arbeiter um allem fehle, für erbracht. Auf der andern Seite fehlt es
nicht an Stimmen, welche die Notlage der Arbeiter verneinen und die Klagen
derselben als durchweg unbegründet bezeichnen. Die Wahrheit dürfte in der
Mitte liege».
Nach den Berichten des IZolirck ol hat sich im Vereinigten König¬
reiche im Jahre 1885 gegen das Vorjahr der Wert der Einfuhr um 15940235,
der Wert der Ausfuhr um 19 993835, der Wert der Wiederausfuhr um
6038813 Pfd. Sterl. vermindert. Im Monat Januar d. I., verglichen mit
dem gleichen Monat vorigen Indras, ist der Rückgang des Wertes der Ein-
und Ausfuhr ein noch weit auffälligerer. Für diese einmonatliche Periode zeigt
der Wert der Einfuhr einen Ausfall von 6 804627, der Wert der Ausfuhr
einen solchen von 896 744 Pfd. Sterl. Es kann keinem Zweifel unterliegen,
daß eine solche Abnahme des Handelsverkehrs eine Rückwirkung auf die Lage
der arbeitenden Klassen in gewissem Maße bereits geübt hat, und daß eine
weitere Rückwirkung bei längerer Dauer der Handclsstvcknng nicht ausbleiben
wird. Aber es ist zu weit gegangen, wenn man in obigen Zahlen ohne weiteres
einen Gradmesser für die gcgeinvärtige Lage der Arbeiter erkennen will. Es
ist dies schon um deswillen unrichtig, weil die wirkliche Beschäftigung der Ar¬
beiter in weit geringerem Maße aus den umgesetzten Werten als aus den ganz
anders gestalteten Ansätzen der Wacircnmenge zu ersehen ist. Überdies kommt
in Betracht, daß bei einer Depression des Handels und der Industrie die Lage
der Arbeiterklassen nie früher und immer nur insoweit in Mitleidenschaft ge¬
raten kann, als durch die Handelsstockung thatsächlich die Einstellung oder Ein¬
schränkung von Betrieben oder die Herabsetzung von Löhnen herbeigeführt wird.
Thatsächlich sind solche Folgen bisher nur in einzelnen Zweigen des Handels
und der Industrie, nämlich in der Eisen- und der Znckerindnstrie, dem Schiff¬
ball und dem Schiffsverkehr, eingetreten. Von einer allgemeinen Notlage des
Arbeiterstandes kann daher für jetzt noch keine Rede sein. Zuzugeben ist da¬
gegen, daß die Verhältnisse der Arbeiter sich an einzelnen Orten, wo die ge¬
dachten Industriezweige ihren Hauptsitz haben, verschlechtert, und daß sie be¬
sonders in der Hauptstadt infolge des Zusammentreffens jener allgemeinen
Gründe mit besondern lokalen Umständen sich besonders ungünstig gestaltet haben.
Es ist bekannt, daß Armut und Elend im Eastcud von London chronisch
sind. Wie bereits erwähnt, hat das Mansionhonse-Komitee berichtet, daß die
Armut dort im Jahre.1885 zwar nicht so akut wie 1879 gewesen sei, daß sie
aber an Ausbreitung gegen frühere Jahre zugenommen habe. Als Ursachen
der traurigen Zustände werden angegeben: 1. der Mangel, die Unregelmäßigkeit
und die geringe Bezahlung für die Arbeit. Insbesondre wird angeführt, daß
7000 bis 8000 Dockarbeiter ohne Beschäftigung seien; 2. der Rückgang einzelner
Handelszweige und die Verlegung einzelner Etablissements in andre Stadt¬
gegenden; 3. die unrichtige Verwendung und Verteilung der Unterstützungen;
4. die hohen Mieter; 3. die Zunahme der Einwanderung nach London; 6. der
Charakter eines großen Teiles der Arbeiter, insbesondre ihre Trägheit und ihr
Mangel an Sparsamkeit.
Die Gründe dafür, daß die Zustände seit Ende 1885 sich in London noch
weiter verschlechtert haben, dürften in folgendem zu finden sein. Es darf ange¬
nommen werden, daß die in der letzten Zeit erfolgten, oben erwähnten Betriebs-
einschräntnngcn und Lvhnrcduktionen sich im Eastend nicht nur unmittelbar,
sondern auch dadurch fühlbar gemacht haben, daß sie eine große Anzahl von
beschäftigungslosen Personen in die Hauptstadt getrieben haben. Bezüglich der
Seeleute wird dies durch eine kürzlich von Sir Thomas Brassch in einem
Meeting in London gehaltene Rede bestätigt. Als ein Beleg hierfür mag auch
die steigende Eifersucht der hiesigen Arbeiter gegen den Zuzug fremder und
namentlich ausländischer Arbeitskräfte gelten. Der Hauptgrund ist aber der ganz
ausnahmsweise kalte Winter und der lang anhaltende Frost, welcher die Ein¬
stellung der Bauten und vieler andrer Unternehmungen herbeigeführt hat. Wenn
auf den Meetings allein von 30000 beschäftigungslosen Bauhandwerkern die
Rede war, so mag das übertrieben sein, jedenfalls ist ihre Zahl aber sehr be¬
trächtlich.
Nicht ohne Bedeutung für die herrschenden Zustünde mag anch ein von
vielen Seiten bezeugter Charakterzug der englischen Arbeiterbevölkerung sein,
nämlich der, das; ein sogenannter «löllsä lavourer oft durch die äußerste Not
nicht zur Verrichtung von Tagclöhnernrbeit, und daß ein Tagelöhner nur schwer
zur Ergreifung einer andern als derjenigen Arbeit zu bewegen ist, an welche er
sich gewöhnt bat. Hierdurch dürste die Thatsache ihre Erklärung finden, daß
in den im Bau begriffenen Tilbnry Docks, wie von zuverlässiger Seite mitgeteilt
wird, ständiger Arbeitermangel herrscht. Freilich wurde in einem Arbeiter-
Meeting behauptet, viele hätten sich um die schwere Arbeit in den Tilbnry
Docks beworben, zur Leistung derselben hätten aber ihre durch die Not erschöpften
Kräfte nicht mehr ausgereicht.
Zur Abhilfe der Not ist von dem Lord-Mayor eine Sammlung von Geld¬
spenden eingeleitet, deren bisheriger Erfolg verschieden beurteilt wird.
Von den Vorschlägen zur Abhilfe, welche übrigens gemacht wurden, sind
am bemerkenswertesten folgende: 1. Unternehmung von öffentlichen Bauten;
2. Beförderung der Auswanderung; 3. Beseitigung der im Auslande gewährten
Bounties, um den darniederliegenden Handel wieder zu beleben und so indirekt
auch den Arbeitern Hilfe zu bringen.
Lord Salislmry hat der Arbciterdeputation, welche ihm den letztgedachten
Vorschlag unterbreitete, ähnlich geantwortet wie seiner Zeit der Deputation von
Zuckerinteressenten, indem er darauf hingewiesen hat, daß die Beseitigung der
ausländischen Ausfuhrprämien nur durch Repressalien zu erreichen, und daß
hierzu ein Wechsel in dem wirtschaftlichen System des Landes nötig sein würde.
Daß das neue Kabinet dem Vorschlage unter dieser Bedingung seine Unter¬
stützung gewähren werde, läßt sich im Hinblick auf die Stellung, welche dasselbe
früher dem Vorschlage gegenüber bethätigt hat, mit Berechtigung nicht erwarten.
Bemerkenswert ist das offene Bekenntnis des Mansionhonse-Komitees, daß
der untersten Klasse des Eastend — dem sogenannten Residuum — in ihrer
jetzt lebenden Generation überhaupt nicht zu helfen sei. Wirtschaftlich ist diese
nach vielen Tausenden zählende Masse somit nur noch eine Last, ob sie eine
Politische Bedeutung hat, darüber soll hier kein Urteil gefällt werden. Immerhin
mag aber die Thatsache konstatirt werden, daß dieses sogenannte Residuum,
dessen Zahl vou Jahr zu Jahr wächst, diejenige Klasse der Bevölkerung ist,
welche von den Sozinldemokraten mit Erfolg beeinflußt wird, und welche London
eine Woche in Panik gehalten hat.
er Dichter des „Tollen Tantes" hat schon vor dreißig Jahren in
Louis de Lomenie einen vortrefflichen Biographen gefunden. Wie
sehr sich dieser aber auch bemühte, ganz unparteiisch zu sein, so
geriet ihm doch das Bild seines Helden ein wenig zu ideal. Dies
haben mich französische Kritiker längst erkannt und ausgesprochen
so Tanne in der Lobrede, die er vor einigen Jahren dem hingegaugnen Lomenie
in der Akademie hielt: das Werk über Beaumarchais, sagte er da, würde als
eine abschließende Leistung gelten können, wenn nicht darin gewisse, weniger
sympathische Züge desselben zu sehr im Dunkel geblieben wären. Umso schärfer
treten gerade diese Züge in einer vor kurzem erschienenen deutschen Beaumarchais-
Biographie hervor,") deren Verfasser Anton Bettelheim in Wien ist. Der
Mann, den Goethe im Clnvigo zu einem Urbild kräftiger Ritterlichkeit, zu einem
kühnen Verteidiger gekränkter Frauen- und Familienehre gemacht hat, erscheint
hier vor allem als ein gewissenloser Spekulant und Geldmacher, ein politischer
Agent von zweifelhaftem Charakter, ein Lebemann von weitem Gewissen und
sehr anrüchigen Sitten. Dabei haben nicht etwa Voreingenommenheit oder
Sucht nach Originalität die Feder des neuen Biographen bestimmt. Seit dem
Abschluß von Lomenies Werk ist viel neues Material für die Lebensgeschichte
von Beaumarchais bekannt geworden, und diesem konnte sich Bettelhcim nicht
verschließen. Wen» er nur zusammenfaßte, was Nrueth über die Wiener Abenteuer
des „Herrn von Roman" aus dem Staatsarchiv veröffentlicht und Edouard Fournier
in seiner Beaumarchaisausgabe aus Akten der Lornmtiv ji'M^ÜLv mitgeteilt
hat, so mußte sich ihm schon die Notwendigkeit einer Korrektur der Lomenicschen
Zeichnung ergeben. Er hat sich aber die Mühe nicht verdrießen lassen, in den
Archiven von Paris, London, Wien, Alecila und Karlsruhe alles, was er an
Schriftstücken von und über Beaumarchais erreichen konnte, ob es nun bereits
gedruckt war oder nicht, durchzusehen, und da fand er zuletzt, wenn er es auch
nicht geradezu sagt, daß von dem Beaumarchais, wie ihn Lomenie gezeichnet
hat, sehr wenig übrig blieb. Glänzende, ja gute Eigenschaften muß er ihm
freilich immer noch zugestehen, aber er konnte sich nicht verhehlen, daß der
Dichter des „Figaro" von einem Helden nichts, von einem Glücksritter alles,
von einem Schelm nicht wenig besaß.
Bcttelheim gehört, wenn wir nicht irren, jener Gruppe von Wiener Jour¬
nalisten ein, die es sich zur Aufgabe gestellt haben, die Korruption der Ge¬
genwart zu bekämpfen; ihr Organ ist die von Fricdjuug redigirte „Deutsche
Wochenschrift." Mußte es da nicht einen eignen Reiz für ihn haben, einmal
an einer Größe der Vergangenheit, die in die Korruption ihres Zeitalters
so tief verstrickt war, das Richteramt zu üben? Denn das große Talent
des Dichters entschuldigt ihn in seinen Augen nicht, kann ihm den Mangel
an starker Gesinnung nicht ersetze!,, er bekennt sich nicht zu jener Lehre
Schellings, die sür das Genie eine eigne Moral aufstellt. Aber er giebt
auch nicht zu, daß in der versinkendem Welt des aneiizn rvAinro dem Talent,
das in den niederen Regionen der Gesellschaft anfsproßte, keine andre Wahl
freigestanden habe als die Weltflucht Rousseaus oder daS Laster Figaros.
„So beengt und bedrängt mich das Dasein des Kleinbürgers in jenen Tagen
war, meint er, Beaumarchais hätte sich aus dem Glasverschlag der Uhrmacher¬
werkstatt dank seiner künstlerischen Begabung befreien, dank seinem Geist, Witz
und Talent zum verehrten und reichen Liebling der Nation emporarbeiten
können; ihn lockten aber andre Lebenswege: die Pfade des Glücksritters." Und
so stimmt Bettelheim selbst dem furchtbarsten Verdammungsurteil, das jemals
über Beaumarchais gesprochen worden ist, bei, jenem Worte Besenvals: Beau¬
marchais und Madame Dübarry würden vielleicht die beiden Persönlichkeiten
sein, die in den Augen der Nachwelt ihr Jahrhundert am besten kennzeichneten.
Sollen wir nun das alles aufzählen, was Beaumarchais in so üblem
Lichte erscheinen läßt? Wie kurz wir nus auch fassen möchten, es würde den
Raum, der uns hier vergönnt ist, weit überschreiten. Denn es handelt sich
immer um sehr verwickelte Angelegenheiten. Wir können aber nnr ganz flüchtig
ans einige Momente dieser merkwürdigen Lebensbahn verweisen, die Lomenie
entweder ganz Übergängen oder nur angedeutet hat, die aber nach der Dar¬
stellung Bcttelheims sich als höchst bedeutsam für die Charakteristik des Dichters
herausstellen.
Gleich die Geschichte seiner ersten Heirat zeigt, wie er vou Haus aus mit
recht zweifelhaften Rechtsbegriffen ausgestattet in die Welt eintrat. Er war
fünfundzwanzig Jahre alt, als er die kurz vorher verwitwete Madame Frananet,
deren Galan er schon bei Lebzeiten ihres Mannes gewesen war, heimführen
wollte. Herr Franquet hatte zwei Hofämter bekleidet, eines davon trat er kurz
vor seinein Tode an Beaumarchais ab, das andre, einträglichere — es war
die Stelle eines Kontrvlenrs bei der Hofkriegskasse — ebenfalls zu erlangen,
war dem jungen Streber unmöglich, es fiel den Erben des Verstorbenen
zu. Mit dieser Stelle waren aber heimliche Nebeneinkünfte verbunden, was
bei einer fo korrupten Heeresverwaltung, wie die französische von 1756 war,
leicht zu erklären ist. Herr Franquet hatte diese jedoch während der letzten
Jahre seiner Amtsthätigkeit nicht ausgezahlt erhalten, Beaumarchais trieb
NUN die Witwe an, die Rückstände zu verlangen, er ging ihr dabei mit Rat und
That an die Hand, schrieb — unter dem Namen eines Abbe Arpajon de S, Foix,
der sich als „Gewissensrat" der Frau Franquet bezeichnete — Drohbriefe an
die schwierigen Kassenbeamten und wußte ihnen zuletzt solche Furcht vor einer
Entdeckung ihres unerlaubten Gebahrens mit Staatsgeldern einzujagen, daß er
das Geforderte wirklich erhielt. Lomeuie hat diesen Figarostreich nicht einmal
angedeutet, obwohl er davon hätte wissen können, denn die betreffenden Akten¬
stücke sind schon 1789 von den damaligen Gegnern Beaumarchais' im Prozeß
Kornmann publizirt worden. Bettelheim hat übrigens die Originale, die sich
im Britith Museum befinden, eingesehen und legt sie uns auch im Anhang
seines Buches vor.
Die in Deutschland bekannteste Episode ans dem bewegten Leben Beaumarchais'
ist unstreitig die von Madrid: wird man doch in jeder großer» Stadt alljährlich
durch die Clavigovvrstellungen daran erinnert. Beaumarchais — so meint man
und so stellt es auch Lvmcnie dar — ging 1764 nach Spanien, um seine
Schwester an einem treulosen Liebhaber zu rächen. Aber dies war nur Neben-
sache. Er trat vielmehr die Reise, wie Vettelheim sagt, „als Gründer großen
Stiles" an. Zunächst wollte er von der Madrider Regierung das Monopol
des Negerhandels in die spanischen Kolonien für eine französische Gesellschaft
erlangen; in dem „Verwaltungsrat" dieser Gesellschaft wäre er gewiß die ma߬
gebendste Persönlichkeit geworden. Indes war das Monopol ans geradem Wege
nicht zu bekommen. Beaumarchais war deshalb nicht verlegen; er machte nun
der spanischen Negierung den Vorschlag, das eben erst erworbene Louisiana,
mit dem sie vhndics nichts anzufangen wußte, einer Gesellschaft abzutreten, die
er ins Leben zu rufen sich gleichfalls erbot. Welcher Nutzen aus diesem Erwerb
zu ziehen wäre, führte er in einem Schriftstück aus, das uns erhalten ist: die
Gesellschaft würde Louisiana leicht zum Stapelplatz des Schleichhandels, der
von Europa in die spanischen Kolonien hinüberging, machen können, außerdem
würde sie die „Venesizien" des Vizekönigs von Mexiko an sich ziehen können;
diese flössen nämlich aus der Unterschlagung eines Teiles von dem Solde
und den Liefcrungsgeldcru für die an der Grenze von Texas stationirten
Truppen; daß aber alle Lieferungen und Zahlungen für diese Truppen in
Zukunft viel besser über Louisiana gehen würden, wollte Beaumarchais deu
spanischen Ministern schon begreiflich machen, ja dies als Bedingung in den
abzuschließenden Vertrag aufnehmen lassen. Gegenleistungen müsse man natürlich
versprechen: die Befestigung des Laudes, die Hebung der Kultur u. dergl.; zu
erfüllen aber brauche man sie nicht, es könnten fünfzehn Jahre hingehen, bis
man in Madrid nur darauf kommen würde, daß die Gesellschaft in Louisiana
nur ihren Sonderinteressen nachgehe. Dies alles steht zu lesen in den In-
struotiovs ssvrvtvL «ur 1v rmuistör«! Ä'MxaMv rolativemevt ü, I'-Mire Se
In, (xmvöLsion as 1s. liMÜsiAvv, die Beaumarchais seinen Auftraggebern in
Paris durch einen Privateouricr zugehen ließ und die sich jetzt im Archiv der
lüomocliL trg,n«M8L befinden.
Aber die saubern Pläne, die übrigens an dem Widerstande des „indischen
Rates" scheiterten, erschöpften die Thätigkeit Beaumarchais' auf spanischem Boden
noch nicht. Ans einer Denkschrift, die er an den Minister Choiseul richtete,
erfahren wir, wie sehr er sichs auch angelegen sein ließ, eine politisch einflu߬
reiche Stellung zu erlangen: er wollte der geheime Vermittler zwischen den beiden
bourbonischen Höfen werden. Aber wie eigentümlich sind die Mittel, die er
dazu in Bewegung setzt! Bcttelheim bemerkt mit Recht, daß ihre naive Scham¬
losigkeit selbst im Zeitalter der Pompadour überraschen müsse. Er führt in
jener Denkschrift, die — ebenfalls im Archiv der (üvmuäiv befindlich — bruch¬
stückweise schon im Jahre IK76 von E. Fournier in seiner Ausgabe von
Beaumarchais' Werken veröffentlicht worden ist, aus, daß dem französischen Hofe
sehr viel daran gelegen sein müsse, den König von Spanien durch eine Mittel-
Person dauernd zu beherrsche,:: eine solche hat er aber bereits ausgefunden, es
ist seine eigne Geliebte, die Marquise de la Croix, die, wie er von dem könig¬
lichen Leibkammerdiener Piny erfahren habe, dem verwitweten Karl III. wohl
gefalle, die Dame sei aber anch eine patriotisch gesinnte Französin, welche die
zugedachte Rolle gewiß gern übernehmen werde. „Man muß gestehen, ruft
Bettelheim aus, der Plan überbietet Figaros keckste Anschläge: Spanien unter
Karl III., Karl III. unter seinem Leibkammcrdieuer Pius, beide unter der Marquise
de la Croix, und die Marquise in der Gewalt von Beaumarchais, man sieht,
er hat seinen Gil Blas gut gelesen."
Unmittelbar nach Beendigung des Prozesses Goczmcmn (1774), der
Beaumarchais die größten moralischen Triumphe seines Lebens brachte, begab
er sich als geheimer Agent Ludwigs XV. uach London, um die Veröffentlichung
eines Pamphletes gegen die Dubarrh, betitelt: N6moiro8 soorvtos ä'une Wo
xudUciuL, zu verhindern. Der Volksheld, der soeben in bewunderungswürdigen
Denkschriften die Mißbräuche des französischen Staatswesens bloßgelegt, ver¬
spottet und gegeißelt hatte, fand diesen Auftrag ehrenvoll genug, er hatte sich
selbst darum beworben, nicht nur um der vom Parlamente über ihn verhängten
Strafe zu entgehen, sondern um sich durch Hofgunst wieder materiell zu
rehabilitircu. Denn der moralische Erfolg allein galt ihm nichts, er wollte
mit dein Ruhme des Volksmannes, wie sein neuester Biograph sich ausdrückt,
nicht auch dessen Martyrium auf sich nehme». Obwohl er nun aber in London
alles aufs beste zu ordnen wußte, kam er zunächst doch um seinen Lohn, denn
Ludwig XV. starb. „Ein andrer, schreibt Beaumarchais an einen Freund, würde
sich wegen solcher Schicksalstücke aufhängen." Freilich seine unverwüstliche
Schnellkraft verwand bald auch diesen Schlag, er heckte wieder neue Pläne aus.
Er wußte dem neuen Minister Sardines, der ihm wohlgewogen war, einzureden,
daß man in London auch eine ganze Reihe von Libellen in Prosa und in Versen
MM Marie Antoinette vorbereite, daß Sardines' ganze Zukunft davon abhänge,
ob er den Druck derselben hintertreiben könne; er erbiete sich aber, auch diesmal
die nötigen Schritte zu thun. Snrtincs ist mit allem einverstanden, giebt ihm
Geld und Vollmachten, und Beaumarchais geht wieder nach London, von da,
ohne einen Auftrag dazu zu haben, über Amsterdam, Köln und Frankfurt nach
Wien, um sich als beglaubigter Vertrauensmann des Königs bei Maria Theresia
einzudrängen und die Gunst der Kaiserin durch seine angeblichen Bemühungen
um ihre Tochter zu gewinnen. Einen ganzen Roman ersann er sich zu diesem.
Zwecke: er sei dem betrügerischen Drucker Nngclueci, der ihm nicht alle Exemplare
einer Schmähschrift gegen die junge Königin abgeliefert habe, nach Nürnberg
gefolgt, in der Nähe dieser Stadt habe er ihn eingeholt, ihn gezwungen, sein
Felleisen zu offnen und die untcrschlagnen Exemplare der Schandschrift auszu¬
liefern, den Elende» selbst habe er laufen lassen. Unmittelbar nach diesem
glücklichen Abenteuer sei er von Banditen überfallen und verwundet worden,
doch habe er sich ihrer erwehrt und sei nun nach Wien geeilt, um die Kaiserin
von dem allen in Kenntnis zu setzen und sie zu bitten, jenen gefährlichen
Angclueei verfolgen zu lassen; man müsse ihn ein- für allemal unschädlich machen.
Daß dies alles plumpe Erfindungen waren, hat schon Fürst Kaunitz erkannt,
und darum endigte Beaumarchais' Wiener Reise mit einem kläglichen Fiasko.
Der Staatskanzler meinte sogar, Beaumarchais habe jene Schmähschrift, die er der
Kaiserin vorlegte — ihr Titel war ^.v>8 ü. >->. dra-nous «zspiZMols —, selbst verfaßt;
Arneth, der die Aktenstücke über diese Episode zuerst veröffentlichte — in der
1868 erschienenen Schrift ,.Beaumarchais und Svnnenfels" — schloß sich dieser
Meinung an, Bettelheim dagegen kann sie nicht teilen: der Stil des ^.vis sei
von dem der AüinoirvL gegen Goczmann gar zu sehr verschieden. Aber wie
sich das auch immer Verhalten mag: in welchem Lichte erscheint uns hier abermals
der Dichter des „Figaro," der heldenhafte Bruder in Goethes „Clavigo"! Der
Staatskanzler sandte ihm acht Grenadiere auf sein Zimmer und verhängte einen
sehr unangenehmen Hausarrest über ihn, der 31 Tage dauerte. Auf Verwendung
des Versailler Hofes, die Beaumarchais' Gönner Sardines ausgewirkt hatte,
wurde er dann freigelassen, ja Kaunitz ließ ihm 1000 Dukaten als Gnadengeschenk
oder Schmerzensgeld anweisen, die Beaumarchais zwar zuerst hochtrabend
zurückwies, schließlich aber doch einsteckte. Kaunitz aber traf das Nichtige, wenn
er an den österreichischen Botschafter, den Grafen Merey in Paris schrieb: „Der
lockern Moral Sardines' gesellt sich in diesem Falle noch sein höchst persönliches
Interesse, ein Subjekt wie Beaumarchais, den er selbst dem Könige als Ver¬
trauensmann empfohlen hat, nicht nnr zu entschuldigen, sondern zu verteidigen."
Beaumarchais selbst nannte er einen ärolo, der im Grunde genommen die Galeere
verdient habe und von Glück sagen könne, daß er mit der Heimsuchung von ein
paar Grenadieren davon gekommen sei. Wir können dem Staatskanzler auch
hierin nicht so Unrecht geben.
In Versailles war Beaumarchais aber darum nicht in Ungnade gefallen,
der König nahm die Erzählung seiner Abenteuer zwar nicht gläubig, aber doch
humoristisch auf, er erhielt auch die Reisekosten, die sich nach Beaumarchais'
Rechnung auf 72 000 Franks beliefen, ausgezahlt, und bald darauf ging er
in einer vertraulichen Sendung nach London. Diesmal hatte er mit dem be¬
rüchtigten Chevalier d'Eon zu verhandeln, daneben diente er seiner Regierung
als politischer Agent und bediente sie besser und schneller als die nktrcditirten
Gesandten. Außerdem trat er nun in zahlreichen Briefen und Denkschriften
als Sachwalter der Amerikaner ans und suchte die französische Regierung zu
bewegen, diese mit Geld und Waffen zu unterstützen. Diese Unterstützungen
sollten natürlich dnrch seine Hände gehen. Wirklich erreichte er seine Absicht.
Am 10. Juni 1776 erhielt er vom Minister Vergennes die erste Million aus¬
gezahlt, der im August eine zweite folgte, damit er mit den geheimen Sendungen
beginnen könne. Sogleich eröffnete er mit diesen Kapitalien ein großes Rhedcr-
geschäft unter der Firma Nodrigue Hvrtalez u. Komp. Daß es ihm dabei
weniger darum zu thun war, die gute Sache Amerikas zu fördern, als viel¬
mehr sich selbst wieder zum vermögenden Manne zu machen, dürfen wir nach
dem, was wir sonst von ihm wissen, getrost annehmen. Nach den Reden seiner
Neider Hütte er auch wirklich nur durch die schamlose Ausbeutung der Amerikaner
sowohl als ihrer Gönner den kolossalen Reichtum erworben, dessen er sich in
den folgenden Jahren erfreute. Nach Bettclheims Darstellung allerdings hätte er
zunächst nur Verluste gehabt, und 70 000 Franks, die ihm ein gewonnener Prozeß
einbrachte, sollen ihn eben damals aus arger Verlegenheit gerissen haben. Indes
widerspricht sich Bettelhcun, wenn er dann behauptet, Beaumarchais habe zu der¬
selben Zeit die großartige und kostspielige Kehler Voltaircausgabe vorzüglich
deshalb unternommen, um seine so günstig veränderten Vermögensverhältnisse
dnrch einen redlichen Geschüftsgewinn erklären zu können. So war er also
doch damals schon — 1779 — in guten, ja glänzenden Umständen? Wie
war denn dies gekommen? Durch jene 70 000 Franks doch nicht. Allerdings
hatte er im Jahre 1778 von der Regierung 400 000 Livres erhalten. Doch
diese konnten ihn kaum für einen großen Verlust entschädigen, den er soeben
erlitten hatte: in der Schlacht von La Grenade war ihm das Kriegsschiff
I-^s üsr Köcki'iAUö, das er auf seine Kosten ausgerüstet hatte, zusammengeschossen
worden, mehrere beladene Kauffahrteischiffe aber, die der UucinKno hätte ge¬
leiten sollen, fielen in die Hunde der Engländer. Eine ausgiebigere Entschädigung
rund 1^ Millionen — erhielt er von der Regierung erst im Jahre 1785.
Um die Mitte der achtziger Jahre finden wir Beaumarchais als Aktionär
einer Pariser Wasserversorgungsgesellschaft, die 1777 gegründet worden war.
Die Aktien, welche man zu 1200 Franks in Umlauf gesetzt hatte, standen damals
bereits ans 3600. Gegen diese Gesellschaft und ihr ungemessenes Haussespiel
trat nun Mirabeau, als Wortführer des konservativen Bankhauses Claviere, in
einer Flugschrift nuf, Beaumarchais nahm die Verteidigung auf sich und
führte sie nicht ungeschickt. Aber um wandte sich Mirabeau in einer zweiten
Schrift gegen ihn: in sehr ungeschminkten Warten warf er ihm darin Habsucht,
Charakterlosigkeit, gemeines Jntriguenspiel vor und rief ihm zuletzt die Worte
zu: „Trachten Sie fortan nur noch, vergessen zu werden!" Beaumarchais
antwortete mit keiner Silbe auf diese furchtbare Zornrede, und vier Jahre
später, als Mirabeau eine Persönlichkeit geworden war, dessen Fürwort unter
Umstanden Millionen eintragen konnte, nahm er keinen Anstand, ihm in einer
Geschäftsangelegenheit auf halbem Wege entgegen zu kommen. Kein rechter
Mann, bemerkt Bcttclheim dazu, hätte ohne vollwichtige Genugthuung nach
dem Geschehenen mit Mirabeau verkehren können. Aber wie weit war Beau¬
marchais von solchen Gesinnungen entfernt!
Wir brechen hier ub. Wie sich uns nun das Leben dieses merkwürdigen
Mannes darstellt, können wir ihm keine Sympathien mehr entgegenbringen, nur
noch ein psychologisches Interesse, Und wenn ihn Bettclheim dennoch einen
großen Wohlthäter der Menschheit nennt, weil er ein echter Humorist war, so
müssen wir dagegen einwenden, daß sein Humor schon der heutigen Generation
gegenüber die rechte sorgenlöscndc Kraft nicht mehr besitzt; wer ohne historische
Voraussetzungen an die Lektüre seines „Barbiers," ja seines „Figaro" geht, wird
sich hie nud da belustigen, bisweilen aber auch langweilen, jedenfalls den un¬
geheuerm Erfolg nicht begreifen, den sich ihr Autor einst damit errang. Dem
schönen Schlußwort Bettelhcims müssen wir aber freilich zustimmen: Beaumarchais'
Name wird doch bei uns Deutschen so lange leben als die deutsche Literatur,
hat doch Mozart „sein Unsterbliches längst in die reine Welt des Wohllautes
emporgehoben," Goethe das Wunder vollbracht, seinen Namen bei uns „zum
Sinnbild männlich kräftiger Ritterlichkeit zu erhöhen."
n einer Charakteristik Fritz Reuters machte Julian Schmidt 1871
gelegentlich die Bemerkung: ,,»De Reis' nach Welligen« ist der
Anlage nach eine Burleske der derbste» Art. Wir haben durchaus
keinen Grund, uns über dieses Genre geringschätzig auszusprechen.
In keiner Gattung der Poesie ist unsre moderne deutsche Literatur
so arm als in der echten Komik, unsre Dichter sind alle viel zu studirt, sie
haben zu sehr das Ganze der Welt und den Bruch dieses Ganzen im Kopf,
um bei den Kontrasten des Einzelnen mit Behagen zu verweilen. Und doch
liegt gerade diese Gattung so recht in unsrer Art." Seither ist allerdings auch
in der hochdeutschen Literatur der Humor etwas häufiger aufgetreten; zu
der allgemeinen pessimistischen Verdrossenheit, die über uns lagert, ist er ein
notwendig erscheinender Gegensatz; und anderseits hat sich seither mich eine neue
literarische Schule gerade auf die Darstellung der eng beschränkten Einzelnen
verlegt, die Schule des Realismus, nur leider ohne dieses Einzelne im Kontrast
mit dem Allgemeinen humoristisch anzuschauen, sondern mit dem langweilig
nüchternen Ernst des Photographen der Alltäglichkeit, des mikroskopisch unter¬
suchenden Pedanten. Die Kritik hat daher umsomehr die Pflicht, die seltenen
gelungner Versuche in der echt komischen Dichtungsart nach jenem gesunden
Prinzip Julian Schmidts zu ermuntern und zu unterstützen. Freilich muß sie
diese Versuche meist in den abseits liegenden Werkstätten der Dialektpvesic des
deutschen Südens und Nordens aufsuche», wo sie kräftiger auftrete» als in der
hochdeutschen Literatursprache. In der letztern giebt es Werke, welche für
humoristisch gelten wollen, z. B. die jeanpaulisirenden Schriften Heinrich Stein¬
hausens. Was ist das aber für ein Humor, bei dem man kaum die Lippe»
verzieht, kaum schmunzelt? Das ist ein akademischer Literaturhumor. Die
Dialeltdichtcr scheue» vor der kräftigeren Art nicht zuredet und unterhalten
jedenfalls mit ihrer keck naive», rückhaltlosen Erfindung und Darstellung mehr
als die säuerlichen Nachahmer eines Klassikers.
Einen solchen Humoristen von rechtem Schlag lernten wir in den: Platt¬
deutschen Johann Segebarth") kennen. In der innig bescheidnen Borrede
zu seiner Erzählung sagt er n. a.: „De indem Dcuns ward mine Geschichte all
so wie so nich ansprekcu, wil sei taumeist ut Lächerlichkeiten um am wenigsten
ut Leiwlichkeiten tausam sett is"; und hierauf bezeichnet er jene Menschen, welche
ihm die liebsten sind: „dat sünd de »vitalen Hüser« un zwvrst some, de »ich all
tan vel libre heww'u. Ja, wenn de ok in ehre infciltige, lustige Gemäutlichkeit
manch dummes Stück anrichten u» utführc», so weit ick doch, sei dauhn dat
nich ut bösen Harten, sei beabsichtigten recht was Gaudes lau dauhn. dornen
heww ick Vergewnng för alle ehre Streich, sei sünd mi an de Seel wossen...
Mine fröhliche Sippschaft nimmt allens up de lichte Schulter, jackelt und jökelt
den un her, will bald hüb, bald hott, un wil sei in de Schaul taurügg dieweil
sind, kamen sei — von jemand upgerntscht — licht in Gährung, weiten awer
sülwst ni, wat sei will'n." Mit diesen Worten charnktensirt Segebarth seine
humoristische Eigenart. Er ist ein Humorist ohne sentimentale „Leiwlichkeiten"
und ohne weitere satirische Tendenz; ein Dichter, der eine behagliche Frende an
seinen harmlosen Narren hat, der mit ihnen lacht über die heitern Situationen,
in die sie durch ihre Narrheit geraten, der sich selbst nicht genug thun kann
an den Expektorationen ihrer eignen eingebildeten Weisheit, deren anfmcrksamster
und dankbarster Zuhörer er selbst ist, besonders wenn sie sich in dem köstlichen,
das Hochdeutsch radebrechenden „Missingsch" ergehen; kurz ein Erzähler, der
seine glücklich beobachteten Gestalten herzlich liebt, ohne sie entfernt verschönern
zu wollen oder sich für ihre Fehler blind zu stellen: ein realistischer Humorist.
Nur ist zu bedauern, daß er die Kunst der Komposition noch nicht beherrscht
und, wiewohl er in einzelnen Szenen Zeugnis dafür ablegt, daß er auch edlern
und tiefern Humor als den der burlesken Situation kennt, doch mit Vorliebe
die letztere häuft. Er kennt genau seine Charaktere; aber da er sie nicht nach
und nach sich entfalten läßt, sondern sie gleich anfänglich fertig einführt, so beraubt
er sich selbst eines der wertvollsten Reize dichterischer Darstellung; die Narretei
als solche ermüdet schließlich auch den lachlustigsten Leser, und durch die überhäufte
Fülle des Details geht die Plastik der Figur verloren. Es fehlt seiner Er¬
zählung an rechter Einheit der Handlung, sie zerflattert in Episoden. Es fehlt
den meisten Szenen an innerer Vezichuug zum humoristischen Grundgedanken
der Dichtung, weshalb mau mir schwer zur Übersicht des Ganzen gelangen kann.
Letzthin warf ein geistreicher Mann die Frage auf, wie es denu komme,
daß unsre in allem übrigen so historisch denkende Zeit gerade für ihre nächste
Vergangenheit, für die Jahre vor 1848 kein Gedächtnis bewahrt habe? Die
Frage ist sehr interessant, und um sie zu beantworten, müßte man sich tief in
politische Verhältnisse einlassen, was nicht Sache dieses Aufsatzes sein kann.
Eine bemerkenswerte Thatsache jedoch ist, daß in der poetischen Literatur der
Gegenwart die Epoche vor 1848 immer mehr in komischer Beleuchtung geschildert
wird. Die Belletristen lieben es, den Gegensatz der alten patriarchalischen Ge¬
mütlichkeit zu den ans Frankreich eingeführten Umsturzidecn darzustellen, die
dem Volke auf dem Lande und in den kleinen Städten nur äußerlich angeflogen
waren, ohne einem innern, in den realen Verhältnissen des Volkes begründeten
Verständnisse zu begegnen. Hermann Prcsber schilderte in einer seiner rheinischen
Novellen eine Revolution in Wolkenkuknksheim, die der Landesfürst durch ein
paar billige Phrasen wieder vollkommen beruhigte; Fritz Leming in seiner platt¬
deutsch geschriebenen Geschichte „Dree Wiehnachten" ergriff auch dieses Motiv
und schilderte sehr humoristisch die berauschende Wirkung der Revolution auf
die Schneider- und Schnsterseelen eines abgelegnen stillen Dorfes, und auch
Segcbarths „Ut de Demvkratentid" führt uns in die Zeit, wo der Ruf nach
„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" viele Köpfe verdrehte.
Er erzählt von einem Aufruhr in Stettin, wo Weiber und Männer mit
Knitteln und Steinen bewaffnet unter dem Rufe „Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit" sich an die Plünderung der Kähne machten, welche mit Lebens¬
mitteln angefüllt am Ufer lagen: es sollten die Reichen mit de» Armen teilen.
Er selbst, der- Erzähler, wäre damals beinahe ums Leben gekommen. Denn,
als Schiffsjunge auf den geplünderten Schiffen beschäftigt, wollte er durch
Losschneiden der Landnngsstricke und Wegrudern der Boote die Waaren vor
dem Pöbel retten, das bekam ihm aber übel. Mau warf Steine auf ihn, er
fiel ius Wasser, und nur sein glückliches Schwimmen rettete ihn vor dem Tode.
Inzwischen waren aber Soldaten ausgerückt, „de ehr de blanken, spitzen Bajonnette
vörhullen um vbglik die Wiwer fahrigem, »ob sei up Vatter un Mutter scheiden
un steken wull'n,« dat duty ehr rieth, Bnntrock bleu> sin'n König un Eid tru ...
um drew dese feige Gesellschaft as ne Hände Schap weg. So lang se Wehr¬
losen gegenöwer Stahr, hatten s' Kurag' habt, awer de Kettelt up de spitzen,
dreikantigen Bajonnette, de wull'n s' sick doch nich ntsettcn." So schlimm nun
war es in des Erzählers Heimat, in Wieck, zugleich dem Schauplatz der Helden¬
thaten seines Demokratenvereins, lange nicht. „Ein Gemisch von gandmödige
Roheit un Bildung swarwelte dor ein dvrch'n anueru, letzteres bröchtcu de
Seefohru, de doch in vele Lämmer kam, so bi brockenwis' mit tan Huf. Zeitungen
kennten wi dunnmals dor nich, wat man nigh erführe, broche de Fährmann
so stückwis' um tüchtig utsmückt und von de regste Stadt »Borth« her. Man
kaun sick woll denken, dat mitunner schöne Lauschers lau Platz kein'n."
In jeuer unruhigen Zeit kam nun ein Krämer, eine Jude Uron, ins Dorf
und siedelte sich an. Um feinem Geschäfte aufzuhelfen, verfiel er uns den
Gedanken, einen Demvkratenverein zu gründen, dessen Zusammenkünfte, bei einem
halben Groschen Eintrittsgebnhr, in seinem Hause stattfanden; natürlich bezog
mein auch Getränke und Tabak in diesen Versammlungen von ihm. „Sine
Demokraten hat'n alltausam. dat hei eine furchtbvre Gelehrsamkeit in sine
Beredsamkeit lau entwickeln Müßt, um hei allein in de ganze Welt um» de
richtige In- un Ansicht habt. Sei meint'n, de leiwe Gott habt'n Mißgriff
tabu, as hei ut ein ein Vcrköper matt habt. De Frugcnslnd haben, hei kürr
allens dod un dal unnern Disch Snack'n; denn wat sei so von buten fsie hatten
nämlich keinen Zutritt zum Verein j lau dorvon burt hatten, flascht as wenn't
ut'n Spundlock kein. »As komm de Tappen ut de Birtunn trente würd,« hat
Jochen Mullsch, »n weck haben, »as wenn't ut 'ne Fijaul (Violine) kein,« wil
he hei hören Sington habt." Selbstverständlich ermangelt dieser neue Verein auch
nicht der Statuten, der „Direktor" trägt sie in seinen allabendlichen Vortrügen
vor. „»Artikel 1 in sine Statuten, hat hei, bestünn dorin, dat wi von un an
all justement ut vel wir'n, wurmt hervor gnug un !vat siue geehrte, hochlöbliche
Tauhürerschaft« — (»Ja«, haben s', wenn sei nach Huf gnügen, »geihrte, hoch-
löbliche Tanhürerschaft, titulirt hei l!us ordentlich; is vor desen och nich Mod'
West«) — »ok Südost inseihn kiin'n, dat de Riten de Ariueu so vel afgcuien
uulßtcn, tut sei akkurat ut stilv wurden, d. h. ut vel hatten, an Geld um
Gaut« — wurmit, as ick glöw, awer de Riten woll nich ganz iuverstahn Sinn
müggtcu; im, vel rik Lüd wiren ok, Gott sei Dank, nich in't Dorp, de müßt
man bi de Lamp as ne Knöpnadel senken. — »Artikel 2, sud hei, gew Erlaubnis,
dat alles, was lvsbännig hcrümmcr ley oder swemmt, sik ein feder gripeu, in-
fangen un npsammcln lüuu, de Lust habt, wurut lau hinten loir, dat sick jeder,
war man jichens müggt, so vel von de virbeinige Jnwohnerschaft, de sick im
Holt herümmer drew, Hirsch, Hasen, Reh', Föss' n, s. w.« — ok »twcibeinigc«
rey hei noch sinnender, as hei gelvohr würd, dat hei de vergetcn hatt, »ick mein
Bügel« — gripen turn, as hei verkehren müggt, un wat sick nich gripen ick,
kürr sick jeder scheiden.«,,, »Artikel 3, libre de Direktor, besät: Wenn ein den
armern den Puckel vull prügelte, so kämm dor nu goruicks mihr nah, denn dat
wir ganz in de Ordnung, as Brander müßten sei Fred holl'u — wurut lau
finde», dat mau ok deu Herr» Oberförster mitsamt sine Forstgehülfen eins
afpuckeln turn, wenn s' kein Fred' düll'n >d, h. die Wilddiebe störenj. Ein awer,
ehren Herrn Direktor, müßten sei mit so wat in Raub laden, — Gericht un
so 'nen Kram brüte'n sei um ok nich mihr tan uden, ebensowenig den Schulter
um Schaugdarm un dat still ok gor so laug nich mihr düren, dann gnug't ok
ahn König, Dat Stürenbetalen müßt um ok vörbi Sinn, denn dorvvn lcwteu
blöd de grvten Herrn,«"
Die versuchte Durchführung dieser alle soziale Ordnung auf den Kopf
stellenden neuen Grundsätze dnrch eine Anzahl gutmütiger, aber auch feiger Ge¬
sellen und die drolligen Situationen, welche sich bei den entstehenden Konflikten
im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit allen Obrigkeiten des
Dorfes ergeben, bildet nnn den Inhalt der folgenden Erzählung, Der Direktor
oder Präsident des Vereins tritt von jetzt an ganz von der Szene ab, und diese
wird beherrscht von dem erfinderischen alten Nichtsthuer „Unkel Jakob," der trotz
seiner sechzig Jahre noch immer ans Heiraten denkt, trotz seiner halbblinden
Augen noch immer als guter Schütze gelten will und mit seiner ans einem
abenteuerlichen Wanderleben erworbenen Bildung im kostbarsten „Missingsch"
großartige Reden hält; „Varder Michel," ein nicht minder alter Kanz, aber
besonnener und gutherziger, muß ihn immer vor dem schlimmsten Thun zurück¬
halten; ein feiges Schncidcrlciu mit einem Ziegenbart und geläufigem Maulwerk
ergänzt das Kleeblatt, Dieses bringt mit seiner revolutionären Gesinnung das
ganze Dorf in Unordnung, bis sich schließlich die resoluter Frauen desselben
der öffentlichen Zustände annehmen und ihre Männer, die über der Politik alle
Arbeit vernachlässigen, durch kluge Streiche zur Räson bringen. Dem Demo-
kratenvcrein, zu dein sie keinen Zutritt haben, machen sie eine gräuliche Katzen¬
musik, die ihm ein lächerliches Ende bereitet.
Schwänke im Auszug wiederzugeben ist immer eine mißliche Sache, und
ganze Szenen hier probeweise einzuschalten würde auch zu weit führen. Der
Freund des plattdeutschen gesunden Humors möge sich durch diese Stizzirnng
des Geistes von „Ut de Demotratentid" angeregt fühlen, die Helden mit den
schwarz-rot-goldnen 5lokarden selbst aufzusuchen. Es müßte ein arger Kopfhänger
sein, wenn sie ihm nicht ein und das andre mal ein herzhaftes Gelächter ab¬
nötigten.
Einen diesem Naturburschen Segcbarty ganz entgegengesetzten Charakter,
den der bewußten Kunst sowohl in der Behandlung des Dialekts als in der
Form der Komposition, besitzen die Schriften eines andern plattdeutschen Dichters,
Heinrich Burmesters, mit dessen vortrefflicher „Harten Lewa" die Leser der
Grenzboten schon im vorigen Jahrgange bekannt gemacht wurden. Auch Bur-
mester verschmäht, als echter Plattdeutscher, nicht die Erzählung der Schnurre,
die Darstellung der burlesken Situation, auch er weiß die ergiebige Quelle des
Humors, welche im „ Messingsch" fließt, mit Vorteil zu benutzen. Aber im
ganzen ist sein Humor uur die Lichtseite eines tiefen, ja strengen Ernstes; er
bleibt nicht beim harmlosen Spaß, bei der sich selbst genügenden Konnt stehen,
sondern spitzt sich gern zur Satire zu; er will nicht bloß lächerlich machen,
sondern auch strafe», züchtigen. Burmesters in schwerem Lebensgange erworbene
Anschauung von den Menschen neigt gern zum Pessimismus hin. Er betont
sogar mit Nachdruck die angeborne Schlechtigkeit einzelner Menschen, an denen
keine Erziehung etwas besser machen kann, und die sich ihrer Bosheit prahlerisch
bewußt sind. Zwischen seinem Humor und seinem Ernste ist's bei Bnrmcster
zu keiner rechten Ausgleichung gekommen, was einer der Nachteile seines neuesten
Buches ist.") Seine Erzählungen sind daher eigentliche Dorfgeschichten im Sinne
der süddeutschen Literatur, und der „Hans Höltig" ist auch eine solche nach der
Seite ihrer Schwächen, nämlich dem immer wiederkehrenden Motive von dem hart¬
köpfigen Bcmcrnvater, der die Heirat seiner Tochter mit dem Grvßknecht seines
Hofes nicht zugeben will, obgleich dieser Großknecht die schönsten Tugenden in
sich vereinigt, und von dem Unglück, welches dieses altbäuerischc Stcmdes-
vvrurteil immerfort anrichtet. Auch in Fritz Lenings „Dree Wichuachteu" kommt
dieses Motiv vor. Vurmester hat es in seiner Erzählung mit andern, an Auer-
bachs „Sträflinge" und ihre Tendenz erinnernden Motiven verbunden, die ihm
Gelegenheit zu einigen satirischen Bildern gaben. Wie er in „Harten Lema"
die Leiden des Dorfschnlmcisters (und zwar hier mit der gesteigerten und
poetisch wirksameren Bitterkeit der eignen Erfahrung) darstellte, so scitirisirt er
in seiner neuesten Erzählung die Schwächen der ländlichen Justiz und des
Armenwesens und schildert die Leiden eines Mannes, der schuldlos unter schwerer
Anklage gestanden hat und, obgleich freigesprochen, die Vorurteile seines Heimats-
dvrfes gegen sich hat.
Meisterhaft sind die ersten Kapitel der Erzählung: ländliche Idyllen. Der
Bauer Kraal in Nählstörv sitzt mit seiner Familie um einem Winterabende zu
Hause, raucht gemütlich sein Pfeifchen und will auf allseitige Anforderung
wieder mal eine seiner Geschichten erzählen: „Dor wer mal vör laugen Jahren,"
da tritt der Schneider Wittfant zur Thür herein, mit der für den Sohn Lurwig
fertigen Jacke und Hofe, „»Guten Abend«, sed' de Snicder ub Hvchdütsch. denn
he har dat mit de Bildung, un wenn he ok sunst »ich alltauvel in de Meil lau
träumen har, so glöv he doch von fit, dat he hiermit bie hier Bucrn, as he's
neun, sik jummcr en mitten Fant nent. He har freuhcr laug' Jnhrn ub Reisen
guh'n, wer nah't Niet riuwcst, har de Ungarn, Slowakei? un Kroaten besucht,
un har ok de Afsicht hatt, bet noch Jerusalem vörtaudringen. »Aberst warum
thäte ich dieses nicht? Weil ich es nicht könnte«, sed he, »indem daß der Terte
eine lebensgefährliche Kreatur ist und an der Vielweiberei festsäße. — As he
hier un also guu' Abend seggt har, lent he sik erst en Swewelstickcn geben, um
de Asch in hier Piep, de he mitbröcht har, noch mal wcrrc autnusteteu, »Brennte
sie? Nawer«, sed' he tan Kraal, »sie brennte nicht mehr.« Nur wiiß Buer Kuaak
Bescheid, wat he lau daun' sur. »O Anna«, sed' he lau sieu Dvchter, »lang'
Meister Wittfant mal den Tabakskasten her.« Anna, de bie't Strümpstobben
wer un grad ein farrig har, det', as ehr selten würd und sed': »Hier Meister.«
»Meister«, sed' Buer Kuaak. »stobbeu's en Frischer an.« As Meister Wittfcmt
so vel den »Meister« tan hörn kreig, würd he heil hellhörig utseihn', stobb sik
recht wvllgcfällig hier Piep, lent sik von Lurwig en tlveiten Swewelstickeu geben
und sed' denn: »So, nun könnten wir mal sehen«, woran he dat Anpassen mein.
As de beiden Sähns denn middewiel eher riegelt Kledaschen anpaßt harten un
sik Allens gehörig utwies', sed' Meister Wittfant: »Mit dein Paß is mich das
ümmcrst gegangen, da hätte ich nie nich was mit gehabt.«" Meister Wittfant
ergeht sich dann in Lob über sein eigen Werk, denn er liebt es, das Sprichwort
umzukehren. „»Nawer, seihn's«, sed' he, denn dat passer ein heil oft, dat he
liegweg ut hier Null still' un mit dat gesünnst Plattdütsch lau Ruhm kenn,
»Nawer, seihn's«, sed' he also, »dat is mit ne Büx grad so as mit jedve anne
Seit.« As he dat seggt har, dünn Uerfehr he sik awer sik hüthen, full in hier
Null werre rin un har't werre mit de Bildung, he sed' also noch mal: »Das
ist mit die Hos' grad so as mit jede untere Sache, hat sie es mit ihrem rich¬
tige,, Actie, dann hat sie es auch mit ihrem Awcck, wie die Franzosen sagen.
Hat sie es nun mit ihrem Awcck, dann ist sie in der Richtigkeit bewärte vnd
in der Bewandtnis richtig.«" Hier hat man ein köstliches Beispiel von Schneider
Wittfants Missingsch-Reden, das eine Weile noch so fortgeht, und nun wollen
wir kurz die Handlung skizziren.
Auf dem Hofe des Bauers Kuaak ist Hans Höltig Grvßknecht, ein äußerst
geschickter und treuer Mann. Des Bauers ledige Tochter Anna, ein schönes,
rehäugigcs Mädchen, liebt ihn, und sie versprechen sich im stillen einander. Da
wird dem Bauer durch ein ubelberüchtigtes Individuum, den „Haidlather" Wölkcr,
eine sehr passende Partie für seine Tochter angetragen, und als sie den Freier
und dann noch andre Freier rundweg ablehnt, kommt ihr Verhältnis zu Höltig
an den Tag, Kraal macht kurzen Prozeß, zahlt seinem Grvßtnccht Knall und
Fall den Jahreslohn ans und schickt ihn weg. Darob allgemeine Trauer im
Hofe. Höltig findet beim Förster Anstellung, aber seine Existenz ist ruinirt.
Es soll aber noch ärger werden. In der Sylvesternacht wird der Bauer Kraal
auf offener Landstraße erschlagen; der eben vorbei wandernde Sohn des Schneiders
Wittfant, ein junger Musiker, kommt gerade noch dazu, den Mörder zu ver¬
jagen, vermag ihn aber in der Dunkelheit der Nacht nicht zu erkennen. Die
gerichtliche Untersuchung findet im Wagen, ans dem Kraal vom Markte heim¬
fuhr, das blutige Beil des Mörders, welches als Eigentum Höltigs erkannt
wird. So wird der Verdacht auf ihn gelenkt: er habe aus Rache Kraal er¬
schlagen. Die Rechtfertigung Höltigs ist erfolglos, der deu Prozeß leitende
Amtsrichter, ein Streber, der hierbei seine das Avancement befördernde vausv
vlMbro gefunden zu haben glaubt, ist gegen Höltig eingenommen. Mit Mühe
gelingt es dem rührigen Advokaten, den unschuldigen Mann bei einer zweiten
Gerichtsverhandlung zu retten. Aber die Geschwornen haben nur mit Stimmen¬
gleichheit .Höltig freigesprochen, und die Leute halten sich seither fern von ihm.
Er findet auch beim Förster keine Arbeit. Da läßt er sich ins Armenhaus auf¬
nehmen. Aber da ist das Leben eine Holle. Trotz der reichen Stiftung wird
im Unterhalt der Armen abscheulich geknausert. Gegen das Gesetz werden auch
Wahnsinnige dort untergebracht. Höltig, der gut mit der Feder umgehen ge¬
lernt hat, setzt einen anklagenden Bericht an die Behörden über die desolaten
Zustüude im Armenhause auf. Aber die Folge ist, daß ihm das Leben darin
uun erst recht unerträglich gemacht wird, sodaß er sich entschließen muß, ganz
von der Heimat, an der er mit bäuerlicher Zähigkeit hangt, auszuwandern.
Zum Glück findet er ein Unterkommen bei einem Eisenbahnbau in Mecklenburg, wo
er bald zum Aufseher ausrückt. Auch hier muß er sich mit den städtischen Be¬
hörden von Krähwinkel herumschlagen, die trotz der gesetzlich ausgesprochenen
Freizügigkeit von jedem Gaste ihres Ortes einen Tribut in verschiednen Trink-
geldfvrmen eintreiben, den Höltig natürlich verweigert, was zu drolligen Kon¬
flikten führt. Indes er in der Fremde sein Glück macht, ist es seiner geliebten
Anna daheim sehr schlimm ergangen. Sie war zur Heirat mit einem ungeliebte,:
Vetter gezwungen worden. Ihr Mann, ein Trunkenbold und roher Geselle,
hatte ihr Leben verbittert, bis sie sein früher Tod von ihm befreite; auch das
Kind ans der Ehe ist bald gestorben. Der Urheber all des Unheils, der Haid-
köther Wölker, wird ans seiner Wilddieberei endlich ertappt und angeschossen.
Auf dem Totenbette gesteht er dem Pastor, daß er den Bauer Kraal ermordet
habe, am Berauben des Opfers hat ihn die Dazwischenkunft des jungen Witt-
faut gehindert. Nun ist natürlich das ganze Dorf voll Mitleid für den un¬
schuldigen Höltig, von dessen Schicksalen man nichts mehr erfahren hat. Und
wieder ist der junge Musikus der gute Geist der Handlung. Auf seiner Wander¬
schaft trifft er Höltig, erzählt ihm von der Entdeckung des wahren Mörders
und der Wandlung der öffentlichen Meinung, und Hans Höltig hat nichts andres
zu thun, als auf der Stelle seinen Abschied vom Bauunternehmer zu nehmen
und spornstreichs in die Arme seiner treuen Anna zu eilen, mit der er sich
endlich post, tot cliMriurirm rorunr verbinden kann.
Man sieht, die Erfindung dieser neuen Erzählung Burmesters ist nicht
eben originell. Der Reiz liegt aber in der saubern Zeichnung der Gestalten,
in dem Wechsel von Ernst und Humor und vor allem in der Sprache, die mit
ihrem Reichtum an Sprichwörtern und originellen Wendungen durchaus volks¬
tümlich erscheint. Hier weniger als je folgt Burmester Fritz Reuters Spuren,
aber seine Individualität bricht umsomehr in ihrer Eigenart durch.
in längerer Aufenthalt in der Hauptstadt des Krvulandes Böhmen
wird für jeden, der sich mit Geschichte und Politik der Gegen¬
wart oder Vergangenheit beschäftigt, überaus lehrreich sein. Denn
hier sieht er geschichtliche Mächte, die den Gang der Ereignisse
in unserm Jahrhundert zum großen Teile recht eigentlich be¬
stimmten, aber anderwärts bereits zu wirken aufgehört haben, noch immer in
Thätigkeit. Wer das dumpfe Grollen der sozialistischen Bewegung recht in der
Nähe hören wollte, müßte nach Paris oder Lyon gehen; hier aber sieht er die
nationalen Ideen in das tägliche Leben einer tüchtigen und arbeitsamen Be¬
völkerung, die fürwahr Sorgen genug hat, aufs elementarste und verhängnis¬
vollste eingreifen. Kein größerer Gegensatz ist da zu denken als der zwischen
Prag und Wien! Die Hauptstadt des Reiches wird von der tiefgreifenden
Bewegung, welche Prag nun schon seit Jahren durchzittert, fast garnicht berührt:
die Arbeiterschaft und die Kleinbürger kümmern sich garnicht um sie, ihnen
liegen ganz andre Dinge im Kopfe. Die Stadt- und Gemeindeangelegenheiten,
die Lohn- und Dienstverhältnisse, die Gewerbcfragen, dies beschäftigt sie voll¬
auf, und wer wollte sie darum tadeln? Höchstens daß sie an den Bestrebungen
der >,A»tikorruptivnspnrtei" — denn eine solche giebt es im Reichstage und
im Gcmeindcrate — oder auch an denen der Antisemiten lebhafteren Anteil
nehmen. Die Einführung des allgemeinen Stimmrechtes, das ja kein Ver¬
nünftiger in Österreich für die nächste Zukunft wird ernstlich befürworten Wollen,
würde denn auch von Wien lind Umgebung gewiß Kandidaten in unsre Ver-
tretungskörper bringen,, die von nationalen Gesichtspunkten weit entfernt wären.
Doch dies nur beiläufig und unter ausdrücklicher Verwahrung, als wollten wir
den breiten BevölkernngSschichten Wiens damit einen Vorwurf machen; es kann
ja nicht anders sein. Aber anders stehen die Dinge in Prag. Freilich der
Deutsche, der mit der Befürchtung hierher kommt, auf Schritt und Tritt Be¬
schimpfungen oder doch wenigstens Unannehmlichkeiten ausgesetzt zu sein, wird
angenehm enttäuscht werden. Und wenn er in Barnhagens Tagebüchern unter
dem Jahre 1857 liest, die Stadt habe damals ein vorwiegend tschechisches
Gepräge gehabt — auf den Straßen habe man mehr Tschechisch als Deutsch
gehört -—, so wird er — sofern er sich, wie Ncnankommcnde gewöhnlich pflegen,
nur auf dem Graben, in der Obst- lind Ferdinaudstraße aufhält — gegen den
Zustand vor dreißig Jahren eher einen Fortschritt als einen Rückgang des
Deutschtums wahrzunehmen glauben. Denn in diesen Straßen hört man in
der That viel mehr Deutsch als Tschechisch; nicht nur daß es die Offiziere hier
ausschließlich sprechen, man mische sich einmal nnter die Spaziergänger, die da
zwischen zwei und sechs Uhr die Straßen füllen, und man wird erstaunen, wie
selten einem ein slawisches Wort an das Ohr klingt: erst wenn wir uns dein
Nativnalthcnter näher», werden wir stärker daran gemahnt, daß wir uns in
der Hauptstadt des österreichischen Slawentums befinden. Die Abschriften an
den Läden sind aber fast durchwegs zweisprachig, die Droschkenkutscher laden
den Vorübergehenden meist mit dem in Wien üblichen „Fiaker gefällig," nur
selten mit dem slawischen „Droschka" zur Nenutzung ihrer Wagen ein. Und
tritt man in eine der Restaurationen oder Cafehäuser ersten Ranges, so wird
man — Petzold und Cafe Slawia ausgenommen — von den Kellnern deutsch
angesprochen, hört auch ringsum fast nur Deutsch; bei Nürnberger, Dreher und
Geißler — den beliebtesten Bierqnellen — giebt es nicht einmal tschechische
Speisekarten. In den vornehmen Hotels kann man wohl häufig Französisch
und Englisch, Tschechisch aber nur ausnahmsweise hören. Bleibt man also
nur ein paar Tage, so findet man alles in bester Ordnung und nennt Prag
eine Stadt, in der sichs für den Deutschen ebenso gut leben lasse als in Wien
oder Graz oder Dresden.
Läßt man sich jedoch für längere Zeit nieder, schließt man sich an irgend¬
einen Abendzirkel an, wird man in Gesellschaft eingeführt, so fühlt mau bald,
daß man in einer andern Welt ist. Tschechen wird man da niemals begegnen,
diese haben ihre eignen Kreise, für die Deutschen existiren sie gesellschaftlich
nicht, und umgekehrt. Es ist keine Berührung als höchstens die geschäftliche,
und auch die wird von beiden Teilen möglichst vermieden. Kein Kommerzium,
kein Konnubium. Niemals vereinigt ein gemeinschaftliches Vergnügen die beiden
Lager, kaum die Andacht in den Kirchen. Allerdings gilt dies nur von den
bürgerlichen Kreisen, die Aristokratie ist zwar hier sehr exklusiv, aber sie kümmert
sich uicht um Nationalität und politische Meinung, nur um Geburt und Her-
kunst; ob man aus dem Lande Böhmen sei, wird da vor allem gefragt. Ganz
im Gegenteile heißt es in der bürgerlichen Welt, in den Salons der Gro߬
industriellen, der Juristen, Professoren und Ärzte — weniger allerdings in
denen der deutschen Beamtenschaft — nationale Farbe bekennen: eine kühle, ja
nur eine gemäßigte Ansicht zu äußern, ist hier gewagt, sie würde das erstemal
vielleicht scherzhaft aufgenommen werden, ein zweitesmnl verstimmen; zuletzt
den, der sie immer wieder ausspräche, unmöglich machen. Bei den Tschechen
ist das nun ganz ebenso, ja die Deutschen haben es erst von ihnen gelernt,
denn bis vor kurzem galten die Prager — bei den Nordböhmen wenigstens —
als ziemlich lan in nationalen Dingen.
Als erfreulich können wir diesen Zustand nicht bezeichnen. Denn wohin
soll es führe», wenn Bürger desselben Staates, ja derselbe» Stadt einander so
feindlich gegenüberstehen? Besser ist es unter den Kleinbürgern, die ihrer über¬
wiegenden Majorität nach Tschechen sind, aber zum Teil aus Erwcrbsrücksichteu,
zum Teil aus angeborner Gutmütigkeit mit beiden Nationalitäten auszukommen
suchen. Freilich haben auch hier die Zeitungsschreiber bereits viel verdorben,
namentlich unter der jüngern Generation! die ältern nehmen an dem neuen
Wesen gleichsam nur aus der Ferne Anteil, halten an gemäßigten Ansichten fest
und loben kopfschüttelnd bisweilen die gute alte Zeit. Der eigentliche Chauvi¬
nismus ist vorzüglich unter dein Anhang des jnngtschcchischen Evangeliums zu
Hause, der sich meist aus Studenten, jüngern Ärzten, Technikern und dergleichen
rekrutirt. Ein tschechischer Handwerker erklärte uns einmal den Unterschied
zwischen den beiden großen Parteien seiner Nation dahin, daß der Alttscheche
einen Cylinderhut tragen und Deutsch sprechen dürfe; beides sei den Jungtschechen
untersagt. Diese Charakteristik ist freilich nicht ganz erschöpfend, bei den letzter»
gesellen sich zu der extremen nationalen Richtung allerlei unverdaute radikale
Lehren. Daß fast die ganze studirende Jugend zu diesem Lager schwört, ist
eines der bedenklichsten Zeichen der Zeit, aber ähnliche Erscheinungen zeigen sich
ja auch unter den andern Nationen. Wenn Holtzendorff einmal ausruft: Welch
andres Ideal könnte heute den Jüngling erfüllen, wenn nicht der Staat? —
wir in Österreich finden leider nur zu oft, daß er diesen als etwas Gleichgültiges
hinnimmt und ihm keine Begeisterung entgegenbringt. Aber daß wir nur nicht
zu düster malen! In Gegenden, die von nationalem Hader unberührt geblieben
sind, wachse« noch Geschlechter heran, denen der Name Österreich ebenso heilig
ist wie unsern Vätern, die das nationale Banner nicht höher hängen wollen
als die schwarzgelbe Fahne des Reiches. Und vieles darf von dem Fortschritte
wissenschaftlicher Bildung erwartet werden, der nun auch bei den nichtdeutschen
Nationalitäten größere Kreise ergreift und in diesen wenigstens dem Chauvi¬
nismus Boon entzieht. So ist — um ein naheliegendes Beispiel anzuführen —
durch die emsige Pflege der geschichtlichen Studien unter den Tschechen bereits
mit so manchem nationalen Märchen aufgeräumt worden, und erst vor kurzem
hat Professur Gegeubauer im „Athenäum" — dem Organ der tschechischen Uni¬
versität — auf die Notwendigkeit einer Nachprüfung der Königiuhofer Hand¬
schrift hingewiesen, nachdem sich bereits die literarische Abteilung der Hure-Je^irr
^Wenig. fast einstimmig zur deutschen Ansicht bekannt hatte, daß diese Handschrift
eine Fälschung sei; vor dreißig Jahren war es einem tschechischen Gelehrten,
dem verstorbenen Sembera, noch sehr übel angerechnet worden, daß er es wagte,
eine solche Ansicht zu äußern.
Aber kehren wir -zur deutschen Gesellschaft Prags zurück, der diese Zeilen
ja vorzüglich gewidmet sein sollen. Es giebt da wieder drei oder vier Kreise:
der eine umfaßt die Großindustriellen, der andre die Universität, ein dritter die
höhere Beamtenschaft, dem sich auch viele Offiziere zugesellen. Die ersten beiden
finden sich im Kasino vereinigt, das heißt, sie sind Mitglieder, zahlen ihren
Jahresbeitrag und lesen vielleicht ihre Zeitungen dort, an den Uuterhaltuugs-
abenden nehmen sie aber nicht teil, da gehört das Terrain den wohlhabendern
jüdischen Familien, die so wieder ihren eignen Zirkel bilden. Die Beamtenschaft
hat ihren Mittelpunkt auf der Kleiuseite in der „Austria," wo am flottesten
getanzt und am gemütlichsten geplaudert wird, wo mau sehr viele hübsche
Mädchen und sehr viele „fesche" Leutnants trifft. Wie in allen kleinern und
mittlern Städten — oder um uns vorsichtiger auszudrücken, wie in allen
Städten, die nicht Großstadt sind — wird dem Fremden in allen diesen .Kreisen
etwas spröde begegnet, er wird in die Privatzirkel nicht so bald Zutritt erlangen,
wenn er nicht mit gewichtigen Empfehlungen herkommt. Auf den Elitebälleu
findet man viel großstädtische Eleganz, und in ihren Komitees macht sich zumeist
eine ebenfalls ganz großstädtisch angehauchte blasirte und arrogante Jugend
breit, der das Geld der Väter jenen Amplomb des Auftretens giebt, unter dem
sie die innere Leere verstecken. An gesellschaftlichen Ressourcen bietet das deutsche
Prag nicht wenig; an musikalischen Sinn soll das Publikum, so versichern uus
Sachverständige, sogar den Wienern überlegen sein: es soll sich nicht so leicht
etwas weismachen lassen. Wnllnvfer ist der Liebling der Opernbesucher, er ist
nicht nur als Tenorist bedeutend, sondern auch ein guter Liederkomponist. Das
Theater ist gut, und in strengem Regiment und weisem Haushalt mit den Geld¬
mitteln kann die jetzige Direktion wohl als Muster dienen. Sie huldigt uicht
dem Irrtum, dem wohl Laube zuerst weitere Geltung verschafft hat, als müßten
Schauspielerleistungen, wenn sie sich nur über das gewöhnlichste Mittelmaß er¬
heben, höher bezahlt werden als wichtige Ämter im Staate. Im Wiener Burg¬
theater giebt es heute noch Schauspieler — die jetzige Direktion ist ja unschuldig
daran —, die Hungers sterben müßten, wenn man sie entließe; sie beziehen aber
3000 Gulden Gehalt, andre, die mit 900 Gulden genug bezahlt würden, haben
4000. Mit einem solchen Unfug gründlich aufzuräumen ist der Direktor des
Prager Landcstheater der richtige Mann: er hat mehrere junge Damen von
recht hübschem Talent, die erste Partien singen oder sprechen, mit 12—1500
Gulden engagirt, und Kenner des Terrains versichern, die Tugend dieser Damm
leide nicht unter dem niedern Gehalt, sie entsagten eben dem unsinnigen Toiletten-
Prunk. Unter den Schauspielern ist unstreitig der bedeutendste Lvweufeld, der
zur Zeit der Mitterwurzerschen Direktion am Wiener Karltheater engagirt war
und sich damals mit seinem Chef nicht gut vertrug. Dies ist leicht begreiflich,
denn er hat einen Funken von dessen Genie. Dabei leidet er nicht an den
Absonderlichkeiten, die jenen in der Schauspielerwelt so berüchtigt gemacht haben,
er sucht auch in seine Rollen nichts hinein zu geheimnissen, er weiß, was er will,
und führt einen Charakter konsequent bis zu Ende. Fräulein Bognar, die einst
als tragische Liebhaberin des Burgthcaters Triumphe feierte, ist noch eine statt¬
liche Elisabeth und beherrscht im Konversationsstück den Ton der großen Welt,
aber ihre Glanzzeit ist doch vorbei. Pcttera, ein tüchtiger Regisseur nud sehr
brauchbarer Schauspieler, der vor etwa fünfzehn Jahren am Burgtheater sogar
den Faust spielen durfte, sich dann im Wiener Stadttheater in einen beschei¬
deneren Nollenkreis zu finden wußte, glänzt hier namentlich durch seine Tochter,
die wirklich sehr schön ist; ihr Talent freilich reicht für größere Aufgaben nicht
aus. Ein treffliches Komikerpaar sind Schlcfinger und Thaller, ersterer bis¬
weilen an den unvergeßliche» Madras erinnernd, dieser mit dem glücklichen
Naturell Girardis begabt. Das Repertoire ist sehr reichhaltig und macht dem
modernen Ungeschmack nur die notwendigsten Konzessionen. Daß man zuweilen
auch Stücke zu sehen bekommt wie Theodor Löwes „Kvnigstraum," der trotz
seines tiefen, wahrhaft poetischen Gehaltes doch von vornherein einen Kassen¬
erfolg als unwahrscheinlich erscheinen lassen mußte, ist sehr erfreulich. Und so
macht Prag seinem Rufe als alte deutsche Thcaterstadt auch heute nicht Un-
ehre. Hoffen wir nur, daß die deutsche Bühne bald ein Heim erhalte, das sich
neben dem ihrer tschechischen Schwester sehen lassen kann; sie ist noch immer
in dem 1781 durch Anregung des kunstsinnigen Grafen Nostiz von einer Anzahl
böhmischer Adelsgeschlechter erbauten, längst unzureichenden Gebäude auf der
Altstadt untergebracht.
Ans dem literarischen und wissenschaftlichen Gebiete herrscht in Prag Leben
genug — dafür sorgt schon die Universität, die in zahlreichen Fächern ausge¬
zeichnete Kräfte besitzt. Hier wollen wir nur des „Vereines für die Geschichte
der Deutschen in Böhmen" gedenken, der, vor vierundzwanzig Jahren gegründet,
nun bereits über 1600 Mitglieder aus allen gebildeten Kreisen der böhmischen
Bevölkerung zählt. Von den Publikationen des Vereins darf man nebst den
periodisch erscheinenden „Mitteilungen" die „Bibliothek der mittelhochdeutschen
Literaten in Böhmen" und die „Deutschen Chroniken aus Böhmen" als besonders
schätzbar bezeichnen. Das von dem Grafen Sternberg, dem Freunde Goethes,
gegründete „Museum" dagegen ist völlig in den Besitz der Tschechen übergegangen.
Deutsche Dichter wie Alfred Meißner und Moritz Hartmann beherbergt
das alte Prag nicht mehr. Und gerade die schönen Gedichte, in denen die
leiden das heimische Land besungen haben, sind unsrer Generation nicht mehr
recht verständlich. Wer möchte dem tschechischen Volke heute mit dein Sänger
der „Böhmischen Elegien" zurufen:
An Deutschlands Halse wein' dich aus,
An seinem schmerzvcrwandten Herren;
Geöffnet steht sein weites Huus
Für alle großen, heil'gen Schmerzen,
Und wenn Hartmann das „stille Prag" mit einem Bilde auf Sarkophagen
vergleicht, es ein „slawisches Jerusalem" nennt, so trifft das heute auch nicht
mehr zu. Prag ist eine lebhafte Stadt, und trotz der vielen Denkmale aus
läugstvergangnen Jahrhunderten, trotz des Hradschins und des Judcnfricdhvfes
fühlt mau sich hier ganz in einem modernen Gemeinwesen, das fröhlich auf¬
blühe und sich dnrch rasch entstandene Vorstädte immer mehr ins Freie hinaus
verbreitet.
Die bildenden Künste haben in dem „Nndolfinum" am rechten Mvldau-
auai eine prächtige Stätte gefunden. Hier vereinigen sich noch Deutsche und
Tschechen, die Aufschriften sind in beiden Landessprachen gehalten. Abgesehen
vou einer Galerie einheimischer Künstler der letzten zwei Jahrhunderte — einer
Sammlung von großem historischen Interesse, die ihres Beschrcibers noch
harrt — birgt das Nudvlfinnm eine nicht unbeträchtliche Zahl älterer Meister,
namentlich der niederländischen Schule. Am meisten Anziehungskraft übt aber
eben jetzt Dürers Roscnkrnnzfest auf den Besucher; es gehört dem Stifte Strahow
auf der Kleiuseitc und ist um die Mitte unsers Jahrhunderts nicht ungeschickt
restaurirt worden. Den Werken der jetzt lebenden Prager Bildhauer und Maler
beider Nationen bringt das Publikum ein lebhaftes Interesse entgegen, weniger
den kunstgewerblichen Erzeugnissen; doch ist zu hoffen, daß die eben eröffnete,
in großartigem Stile eingerichtete Staatsknustgewerbcschule hier über kurz oder
lang eine Wendung zum Bessern herbeiführen werde.
Die Umgebungen von Prag haben für den, der vou Wien hierher kommt,
keinerlei Reiz. Ringsum ist eine öde Hochfläche, und mau muß stundenlang
gehen, bis man ans Waldungen stößt. Den Fremden, der sich da hinauswagt,
ergreift bald ein Gefühl trostloser Vereinsamung; die Dörfer, dnrch die er
kommt, sind unfreundlich und schmutzig — nirgends hört er ein deutsches Wort,
dafür begegnet er manchem feindseligen Blick. Um wie viel schöner ist es, in der
Stadt den Laurenzibcrg, das Belvedere oder den Hradschin zu ersteigen. Da
thun sich Städtebilder vor unserm Augen auf, wie es wenige in Europa giebt.
Alexander von Humboldt zählt Prag der Lage mich zu den vier schönsten
Städten Europas; mir Neapel, Konstantinopel und Lissabon setzt er darüber.
ächsteus wird General Roberts, der Oberbefehlshaber des anglv-
indischen Heeres der Königin Vietona, der jetzt eine militärische
Studienreise durch die neue englische Eroberung Virma macht,
sein Gesicht nach Westen kehren, um eine Tour mit ähnlichen
Zwecken durch die Lande zwischen dem Indus und Kandahar zu
unternehmen, wo England, wie schon die Wahl seines besten indischen Feld¬
herrn zu dieser Untersuchung zeigt, noch immer seine schweren Sorgen hat. Die
nordafghcmischc Grcuzfragc scheint im wesentlichen vorläufiger Lösung nahe,
aber die nordindische ist bis jetzt ein Problem und eine Verlegenheit geblieben,
und Roberts ist der Mann, der hier am besten geeignet sein dürfte, Rat
zu erteilen. Er kennt bereits große Strecken der Grenzgegenden, um die sichs
handelt, da er ein Heer durch den Kuramvaß nach Kabul und ein zweites zu¬
nächst von hier nach Kandahar und von dieser Stadt durch den Volanvaß
nach Indien zurückgeführt hat, und mau darf annehmen, daß er mit den Er¬
fahrungen, die er während dieser Feldzüge gesammelt haben wird, einen scharfen
Blick für die Erfordernisse verbindet, welche zu beachten sind, wenn England
sich für die Zukunft im Norden seines asiatischen Hanptbesitzes endlich einmal
sicher fühlen soll. Nach seinem Charakter und seiner bisherigen Wirksamkeit
erwartet man, daß er die Sache rein geschäftsmäßig behandeln und versuchen
wird, entweder nach neuen Plänen die Gefahr, die hier droht, zu beseitigen
oder die Ausführung der alten möglichst zu beschleunigen. Von Lord Dufferin
aber hofft man, daß er, überzeugt, Rußland habe die Verwirklichung seiner Ab¬
sichten nur vertagt, Vorschläge weitgehender Art kräftig unterstützen werde. Dünkel,
Unklarheit, Unentschlossenheit, Empfindsamkeit und Parteigeist haben bisher in
dieser Frage viel gesündigt und manches geopfert. Man hat jetzt eine Pause
zum Atemholen, sich zu besinnen und, Versäumtes nachholend, sich bis an die
Zähne zu waffnen für den Entscheidnngstamvf, der doch nicht ausbleiben, ja
wahrscheinlich nicht sehr lange auf sich warten lassen wird. Nußland hat seine
Grenze durchweg bis an die afghanische vorgeschoben, es hat Stellungen ein¬
genommen, von welchen aus es sein Gebiet einerseits auf dem linken Ufer des
Oxus stromaufwärts und auf der andern Seite nach Chorassan hinein aus¬
dehnen kaun, es steht uur noch wenige Tagemarsche von Herat, und es besitzt
jetzt eine Eisenbahn, welche den Kaspisee und seine Uferlandschnften, die kau¬
kasischen und die südrussischen Provinzen, mit dem Wasserplatze Askabad ver¬
bindet und vor Ablauf des nächsten Jahres bis nach Maro nud Sarachs
Weitergeführt sein wird. Das sind Gewinne hochwichtigster Art, von denen
man mit Fug und Recht behaupten kann, daß mit ihnen die Möglichkeit ge¬
geben sei, einen erfolgreichen Angriff auf Indien zu wagen, wenn euglischerseits
nicht rechtzeitig zweckentsprechende Vorkehrungen zu einer Abwehr im größten
Stile getroffen werden, und zwar so schleunig, als irgend möglich. Ist Chvrassan
erst vollständig unter russischen Einfluß gebracht und das afghanische Turkestan
trotz der Grenzsteine, die jetzt in dessen Steppen eingegraben werden, um den
Sieg Komarvffs bei Penschdeh zu markiren, mehr oder minder aufgesaugt — was
der russische Polhp, nach frühern Leistungen in Zentralasien zu urteilen, ver¬
hältnismäßig bald zu stände bringen wird —, so wird jene Möglichkeit zur
Wahrscheinlichkeit werden, immer vorausgesetzt, daß England weiter versäumt,
der kommenden Flut hinreichend starke Dämme entgegcnzubaueu.
Die wesentlichen Stellungen zur Abwehr eines Einbruches russischer Heere
in Indien befinden sich in den Landschaften zwischen Quella und dein Flusse
Helmand, und so besteht die Aufgabe der indischen Regierung in möglichst bester
Benutzung der Vorteile, welche die Natur diesen Gegenden zu Vertcidignugs-
zwecken gegeben hat. Einiges ist bereits zur Erfüllung dieser Aufgabe geschehen:
man hat die Hohen zu beiden Seiten des Bvlanpafses, von denen ans der
Marsch durch denselben leicht zu hemmen ist, besetzt, mau beabsichtigt ferner, eine
Eisenbahn von Quella nach Pischiu zu bauen, und man hat verschiedne Straßen
von dort ostwärts nach dem Indus vermessen und untersucht. Desgleichen geht
man mit andern Maßregeln um und hat bereits mit deren Ausführung den
Anfang gemacht, z. V. mit dem Bau einer großen Brücke über den Strom bei
Sakknr. Die Hauptsache aber, an die man zu denken hätte, ist bis jetzt unter¬
lassen worden, wohl deshalb, um den Russen keinen Anlaß zu Klagen zu geben.
Die Arbeit der Vorbereitung für die Zukunft darf, wenn man vom rein mili¬
tärischen Standpunkte aus urteilt, nicht im Osten der Gebirgskette Halt machen,
welche auf die Ebene vou Kandahar hinabsieht. Quella, das Thal von Pischin
und die gesunde Gegend von Kelat erfüllen weder in militärischer, noch in po¬
litischer, noch auch in kommerzieller Beziehung hinreichend das, was die Eng¬
länder als Herren Indiens hier bedürfen, und zwar einfach deshalb nicht, well
sie die große Straße von Herat dnrch Kandahar nach Kabul weder decken noch
beherrschen, ja nicht einmal die Route, welche von Kandahar nach dem Jndus-
thale unterhalb Attock führt. Es giebt in Wirklichkeit nur einen Punkt, welcher
hier alles, was notwendig ist, erfüllt. Zwischen den Bergen und der Wiiste
gelegen, ist die Stadt Kandahar der Durchgangspunkt, welchen jede vom Hel¬
mand heranziehende Armee Passiren muß, gleichviel, ob ihr Vormarsch das
Deradschet, Sind oder Kabul zum Ziele hat. So hat die Natur ganz bestimmt
die Linien vorgeschrieben, von denen ans der Weg nach Indien um besten ge¬
sperrt und verteidigt werden kann. Hierhin haben schon seit geraumer Zeit alle
scharfblickende» englischen Militärs ihre Augen gerichtet, sobald von der Sicherung
der Grenze gegen einen russischen Angriff die Rede war; denn die Vorteile,
welche eine derartige Stellung dem Verteidiger des Judusthales bietet, liegen
so deutlich auf der Hand, daß sie selbst einem Laienauge nicht entgehen können.
Unter so bewandten Umstanden ist die indische Regierung jetzt dringend darauf
hingewiesen, Schritte zu thun, durch welche sie in den Stand gesetzt wird, Kau-
dcchar ohne Verzug zu besetzen und zu halten, sobald dies erforderlich wird.
Diese Position ist in militärischer Hinsicht vom allerhöchsten Werte, sie beherrscht
politisch das ganze südliche Afghanistan oder kaun wenigstens so gestaltet und
verstärkt werden, daß sie es beherrscht; sie ist endlich kommerziell ein Durch--
gaugspuukt, durch welchen ein starker Handels- und Vcrkehrsstrom fließt, der
sich bei kluger Behandlung in kurzer Zeit beträchtlich an Masse und Wert ver¬
größern würde. Als vorbereitende Maßregel wäre zunächst erforderlich, daß
Kandahar durch Dampfwagcnvcrkehr mit Quella verbunden würde. Dazu be¬
dürfte es nur der Verlängerung der jetzt im Bau begriffenen Eisenbahn bis
nach jener in der neuen wie in der alten Geschichte Afghanistans vielumstrittenen
Stadt. Warum soll die Lokomotive in Schebo oder am Fuße der Berge von
Kvdschak Amm Halt machen? Hier nud dort würden die Züge gleichsam in
der Luft stehen; denn die von ihr beförderten Streitkräfte oder Warensendungen
würden von diesen Endpunkten ans noch eine lange Strecke ohne Dampfroß
zurückzulegen haben und damit unter Umständen in verhängnisvoller Weise Zeit
verlieren. Mit ander» Worten: eine Eisenbahn von Quella in der Richtung
nach Kandahar hin gebaut, aber nicht bis zu dieser Stadt selbst ausgeführt,
würde eine Halbheit und ein geringer Gewinn für den Handel sein, bei einem
Kriege mit den Russen nicht genügen und als politisches Werkzeug gleichfalls
zu wünschen übrig lassen. Es ist daher notwendig, daß diese Schienenstraße
bis hinab in das Thal des Argand Ab und vor die Thore Kant-'chars (der
Ton liegt auf der zweiten, nicht, wie in Meyers Lexikon, auf der ersten
Silbe des Namens) weiter vorgeschoben wird. „Es bedarf keines Beweises,
so schreibt ein Sachkenner, wenn ich behaupte, daß eine Bahn von Quella nach
Kandahar als ein Unternehmen der Ingenieurkunst mich ans ihrer letzten Strecke
ausführbar ist. In der That, sobald der beständige Weg auf der Hochfläche
fertig wäre, würden sich der Fortsetzung nur noch in den Gebirgen von
Pischin erhebliche Schwierigkeiten in den Weg stellen. Ich gedenke die kom¬
merziellen Vorteile des neuen Weges durchaus nicht höher anzuschlagen, als
sie in Wirklichkeit sind, aber es ist doch eine unbestreitbare Thatsache, daß
gegenwärtig der Handel Indiens mit seinen nördlichen Grenznachbarn durch den
Wechsel der Jahreszeiten und die Natur des Transportes eine wesentliche Be¬
schränkung erleidet. Der Wert der Waaren, welche von den Landstrichen, deren
Sammelmarkt Kandahar ist, nach Schiknrpore, dem großen Depot für den
zentralasiatischen Handel, versandt wurden, stieg und sank im Verlaufe der
Periode von 1875 bis 188."> nicht weniger als neunmal. Die hauptsächliche
Ursache dieser Erscheinung war immer Störung und Wiederherstellung der Ruhe
in den Grenzländern des Jndusgcbietes, teilweise aber auch die Fortführung
des Eiseubahnnetzes Indiens bis nach der Stadt sibi. Eine Eisenbahnver¬
bindung würde die Transportmittel dieser Gegenden, die jetzt nur in Büffeln
und Kameelen bestehen, mindestens verzehnfachen. Ferner beschränkt gegenwärtig
das glühendheiße Wetter, das den Sommer hindurch in den Thälern und
Ebnen herrscht, die Reisen der Karawanen auf die wenigen Monate der kühleren
Jahreszeit; sobald dagegen eine Eisenbahn geschaffen wäre, würden selbstver¬
ständlich die verschiednen Erzeugnisse Südafghanistans, die sich für die Ausfuhr
nach Indien eignen, das ganze Jahr hindurch nach dem Indus verschickt werden
können, schon wenn die Bahn nur bis Pischin ginge, noch mehr aber, wenn
sie sich bis nach Kandahar erstreckte. Diese Waarenmenge stellt bereits jetzt
einen beträchtlichen Wert dar, Eisenbahnen steigern aber die natürliche Fülle
der Hilfsquellen eines Landes und eröffnen neben den alten neue. Der Einfluß
eines in allen Zeiten des Jahres rasch und leicht zu erreichenden Marktes
würde sich sehr bald ausdehnen, und anregen und befruchten, was jetzt tot und
unfruchtbar ist; in den Ländern, nach denen sich seine Strahlen erstreckten,
würde sich die Nachfrage mehren und der Bevölkerung regelmäßige lind besser
als bisher lohnende Beschäftigung verschaffen, sodaß die Leute bald den Unter¬
schied zwischen einer gesicherten und einer ungewissen Existenz gewahr werden
und für den Segen Dank empfinden würden. Schon der Bau der Bahn würde
das zeigen. Der Afghane hat so gut wie andre Menschenkinder Sinn für
sichern Lohn und Gewinn, und während der letzten Wirren konnte man be¬
merken, daß dieselben Arbeiter vom Stamme der Ghilzai, die bei der Anlegung
der Straße im Knramthale verwendet worden waren, sich in Menge zu den
Arbeiten einstellten, welche die englische Regierung zur Anlegung einer Bahn
zwischen Quelen und Chaman angeordnet hatte. Endlich wird auch uicht außer
Acht zu lassen sein, daß eine Schienenstraße auch günstigen Einfluß auf die
Einfuhr nach Südafghanistan ausüben und erheblich mehr englische Fabrikate
als jetzt auf die Bazare von Kandahar bringen würde, wo gegenwärtig vor¬
züglich Erzeugnisse der russischen Fabrikthätigkeit neben denen der einheimischen
Gewerbetreibenden figuriren."
Doch betreffen diese Betrachtungen nicht die Hauptsache. Wir haben bei
diesem Punkte nicht so sehr deshalb verweilt, um zu zeigen, daß bei Anlegung einer
Eisenbahn vom Indus nach der Hauptstadt des südlichen Afghanistans der
Waarenaustausch zwischen letzterm und Indien bequemer und umfangreicher
werden muß, sondern um die Thatsache mehr ins Licht zu rücken, daß, wie der
Handel der Flagge folgt, auch die Zivilisation und das Interesse, sich mit ihr
aus guten Fuß zu stellen und dabei zu bleiben, dem Zuge guter Straßen folgen.
Mit andern Worten: eine Eisenbahn wird sich als das stärkste Band zwischen
England und der afghanischen Regierung erweisen. Sie wird britischen Einfluß
Von Quella nach Kandahar tragen und in dem Maße damit fortfahren, in
welchem sie den Afghanen Nutzen bringt, in welchem sie gedeihliche Arbeit an¬
regt und erhält; denn die betreffende Bevölkerung verschmäht weder die Arbeit
noch den Handelsverkehr, es fehlte ihr bisher nur an genügender Anregung
dazu und an der Sicherheit der Verwertung ihrer Ergebnisse, Eine Eisenbahn
wäre das beste Geschenk, dus man britischerseits dem afghanischen Volke machen
könnte, und wenn es anfangs nicht genügend gewürdigt werden sollte — was
wahrscheinlich ist —, so würde Erfahrung es bald würdigen lehren. Das afgha¬
nische Volk aber bedeutet mehr als der unzuverlässige Emir,
Das ist die politische Seite des Gegenstandes. Natürlich liegt es jetzt noch
näher, die militärische ins Auge zu fassen und an das beste Mittel zur Abwehr
eiuer Invasion Indiens zu denken, welche selbst sehr optimistischen Engländern
seit den letzten Ereignissen am Kaschk und Herirnd als Möglichkeit erscheint und
bei der nächsten Gelegenheit wahrscheinlich werden kann. Die Russen haben in
der letzten Zeit rascher und immer rascher Fortschritte auf afghanischen Boden
gemacht, sie sind nach den neuesten Nachrichten in Peuschdeh eingerückt, das
nun eine Stadt des weißen Zaren ist, und wie sie von Merw aus hierher
griffen, so werden sie über kurz oder lang weiter nach Süden greifen und sich
Herat wieder um eine oder einige Etappen nähern. Inzwischen annektiren sie,
wo nicht afghanisches Gebiet, das hier ja fast einzig militärischen Wert hat,
doch afghanische Unterthanen, wandernde Hirtenstamme der Steppe, Schon hat
sich ein solcher, der Stamm der am Kaschk nomadisirenden Sarhk-Tnrkvmenen,
vom Gebiete des Emirs auf russischen Boden begeben, und andre werden ihm
folgen und wieder andre, bis man genug haben wird, um auf ihre Zahl und
Verwandtschaft hiu weitere Laudansprüche erheben zu können. Dann wird in
Herat der Apfel reif zum Pflücken werden und Hannibal allen Ernstes vor
den Thoren stehen, zunächst vor dem Thore Südafghauistcms, dann vor dein
Thore zum Jndnslande, Dieses aber tan» mit sicherer Aussicht auf Erfolg mir
verteidigt werden, wenn England in der Lage ist, den einzigen Ort zu besetzen,
welcher die Zugänge zu den Grenzen Indiens beherrscht, und um diesen Ort
rasch und wirksam besetzen zu können, muß England sich im voraus die Mittel
dazu schaffen. Eines der wichtigsten Mittel dazu ist die Bollendung der Eisen¬
bahn von Quella über Pischin uach Kandahcir, über das auch der Weg nach
Kabul und Pischaner führt.
Was sonst noch erforderlich ist, können wir in diesem Augenblicke nicht
erörtern. Die ganze Frage ist so weitschichtig, so verwickelt und so technischer
Art, daß wir sie nur bruchstückweise behandeln können. Später mehr davon,
für die nächste Zeit wolle man das hier Gesagte im Gedächtnis behalten. An
Gelegenheiten, auf die Angelegenheit zurückzukommen, wird es nicht mangeln.
N'nitox loontuL L8t>! Der scharfe Richter hat gesprochen — be¬
darf es da noch des Zeugnisses seines Gehilfen Bamberger, das;
alles weitere Reden überflüssig ist? Schmeichelei liegt mir fern,
selbst dem größten Manne des Jahrhunderts gegenüber, aber
nicht zurückdrängen kann ich das Bekenntnis, daß seit John Cada,
dem Freiheitshelden, niemand so weise gesprochen hat. „Mein Mund soll das
Parlament von England sein!" sagte der wackere Maurer, und: „Wir sind
erst recht in Ordnung, wenn wir außer aller Ordnung sind," und: „Euer An¬
führer ist brav und gelobt euch Abstellung der Mißbräuche. Sieben Sechser¬
brote sollen künftig in England für einen Groschen verkauft werden, die drei-
reifige Kanne soll zehn Reifen halten, und ich will es für ein Hauptvcrbrechen
erklären, Dünnbier zu trinken," und: „Kein Lord, kein Edelmann soll übrig bleiben,"
nud: „Hängt ihn! Köpfe ihn! Totgeschlagen, in die Themse geworfen!" Ich
will mit diesen Citaten nicht etwa andeuten, daß neulich mit John Catch Kalbe
gepflügt worden sei: große Geister begegnen einander. Und noch viel weniger
will ich auf das Schicksal des edeln Vvltsfreundes anspielen, den die tapfern
Männer vou Kant („schlechtes Bauernvolk" nannte er sie später) schmählich
im Stiche ließen, als er eben dabei war, ihnen ihre „alten Freiheiten" zurück¬
zuerobern. Das war im finstern Mittelalter, wir aber sind fortgeschrittene,
fortgeschrittenste Bürger, Staatsbürger, Weltbürger, halten treu zu unserm
Ende, dem Manne der Gerechtigkeit, der viel gebildeter ist als der erste. Der
wollte nichts von Gesetzen überhaupt wissen, nichts von Lesen und Schreiben —
dieser schreibt sogar sehr viel und immer dasselbe, und was die Gesetze anbelangt,
so fragt er einfach: „Wer hat sie ausgearbeitet und eingebracht? Die Regierung?
Dann fort mit ihnen, köpfe sie, hängt sie, werft sie in die Spree — unbesehen.
Mein Mund soll das Parlament von Deutschland sein!"
Ich gebe zu, daß John Cade sich noch drastischer ausgedrückt haben würde,
wenn unter Heinrich VI. das Branntweinmonopol eingeführt worden wäre, doch
hätte er gewiß genau dieselben Gründe gefunden.
Das Monopol ist also tot, mausetot, und so werden wir es doch endlich
dahin bringen, daß das stehende Heer abgeschafft werden muß, und die Beamten,
und die Marine, weil sie nicht mehr bezahlt werden können, und dann werden
wir den Staat in eine große Aktiengesellschaft verwandeln, und der ärmste
Bürger soll lahme Hände bekommen vom Couponnbschneiden. Nur eine kleine
verstockte Rotte muß noch bekehrt werden, höchstens vierzig Millionen Deutsche,
welche um dem Wahne hängen, der Reichskanzler habe sich einige Verdienste um
sie erworben, und sei ebenso gescheit wie Herr Dirichlet oder Herr Löwe. Aber
die aufzuklären ist eben unsre Sache, und nur zu diesem Zwecke ergreife ich
heute das Wort.
Vou der Ministerbank ist die Behauptung, das Monopol solle lediglich zu
Gunsten 3000 großer Brennereien eingeführt werden, mit Emphase für eine
Unwahrheit erklärt worden. Als ob wir das nicht selbst gewußt hätten! Wenn
nur Wahres gesprochen werden sollte, woher sollten die pikanten Enthüllungen,
die sensationellen Reden, die „Bewegung auf der Linken," die „Heiterkeit," die
„Hört, hört" kommen? Glauben Sie, unser ^ ich sage mit Bedacht: unser
Publikum auf den Galerien würde uns treu bleiben, wenn wir die Vorlagen
sachlich, geschäftsmäßig, ohne Übertreibung, ohne Pathos, ohne Invektiven ab¬
machten?
Aber es liegt ja klar am Tage, wo das alles hinaus will. Zuerst rückte
man den edelsten Kräften der Nation oder doch einer Nation, welche sich dem
Hausirhandel widmet, zu Leibe. Dann wurden die Zigarrenhändler bedroht.
Der Zigarrenrciscnde! Giebt es eine herzerfrischendere, herzerquickendere Er¬
scheinung? Wem schlägt nicht das Herz vor Freude, wenn der hereintritt, zur
einen Thür hinaus kvmplimentirt, durch die andre wiederkommt, und endlich
mit seiner unwiderstehlichen Beredsamkeit doch eine Bestellung erringt? Jede
Zigarre, der durch alles Drücken und Beschneiden keine Luft beizubringen ist,
jede kostende, jeder brenzliche Dust ruft uns seine Stimme, zaubert uns sein
Bildnis vor. Doch was liegt einem Bismarck an dem bißchen Poesie, das
unsereinem uoch das Leben verschönt! Ans Wahrheit möchten sie uns verpflichten.
Das ist wieder so ein Projekt im Interesse der sogenannten ernsthaften und an¬
ständigen Blätter, die von Menschen ohne Phantasie, ohne Spekulationsgeist,
ohne Liberalismus, ohne Humanität geschrieben werden, und im Interesse der
Abgeordneten, welche in dem sogenannten nationalen Geiste befangen sind.
Dieses neue Attentat ans die Freiheit, diesen neuen Anlauf zu einem Monopol
denunzire ich hiermit feierlich, da es noch Zeit ist, das Verbrechen im Keime
zu ersticken. Und ich schmeichle mir, daß die „Freisinnige Zeitung" meine
Wachsamkeit loben ivird.
ausend Dank, edle Herren, sagte die Kleine, mis Barreto jetzt dicht
neben ihr stand und dem fröhlich dreinblickenden Mädchen freund¬
lich die Hand auf den Kopf legte. Unsre arme Flüchtige ist
glückselig, daß ihr Pater Heuriques in ihrer eignen Zunge zuredet
und sie die Gebete lehrt.
Und Ihr habt Euch die zwei Tage daher Wohl vertragen? fragte Barreto
heitern Tones. Ihr seid gut ausgekommen mit dem Wenigen, was wir Euch
durch Jcchme Leiras heraufsendcn konnten?
Die Hirtin lachte hell auf: Nicht die Hälfte von allem haben wir an¬
rühren können, Senhor! Esmah braucht nicht viel mehr als eine wilde Tcinbe
und bringt keinen Tropfen Euers guten Weines über ihre Lippen. Ich habe
hoch gelebt, wie sonst nur am Festtage der heiligen Euscmia, und hätte ich
nicht beständig die Furcht der armen schönen Fremden vor ihren Verfolger«
geteilt, so müßte ich ja kugelrund geworden sein.
So plaudernd setzten sie den Weg über die grüne Fläche fort, welche sich
jetzt zu erhellen begann. Das Morgenlicht floß von den Bergen herab, blitzende
Strahlen fielen wie erste Pfeile der Sonne über die riesigen Steinblöcke des
Hochthals. Jayme Leiras deutete auf eine rote Wolke, die breit über die letzte
Spitze am Thalrandc lagerte und sich verdunkelte, statt sich zu vergolden. Er
verkündete gleichmütig, daß dort ein Mittagsgewitter herausziehe. Barreto ent-
gegnete, daß bis Mittag noch viele Stunden verstreichen müßten, und mahnte
nur den jungen Burschen, ihnen rascher zu folgen. Indem sie Jvanas Hütte
näher kamen, sahen sie, daß an dem Bache, welcher von dort in die kleine
Waldschlncht herabranschte, aus der die Ziegenhirtin vor einigen Tagen Barreto
und Camoens zu Hilfe gerufen hatte, ein greiser Manu in priesterlicher Tracht
neben Esmah iiuf einem Felsstücke saß und ihr anhaltend zusprach. Die Maurin
lauschte ihm mit einem Ausdrucke kindlichen Vertrauens, der sich bis in ihre
Haltung hinein kundgab. Sie wandte das Gesicht zu dem höher sitzenden
empor und legte zwar nach ihrer Gewohnheit ihre Arme an die Brust, hielt
aber zugleich nach seiner Weisung andächtig ihre kleinen Hände gefaltet. Camoens
war der erste, der im Heranschveiten den Wiedersehen« glückseliger Sicherheit
und neuer Lebenshoffnung auf den schönen Zügen erblickte, die er beim ersten
Begegnen mit Esmah von Furcht entstellt gesehen hatte. Er hemmte unwill¬
kürlich seine Schritte und faßte Barretvs Arm:
Das Morgenlicht ist auf ihrem süßen Gesichte und in ihrer Seele! flüsterte
er dem Gefährten zu. Sie schlägt die große» braunen Augen zu dem Priester
auf, als ob er ihr Gottes Hauch unmittelbar spenden könne. Barreto war
nicht minder bewegt als sein poetischer Freund, aber getreu seiner Natur ent-
gegnete er ernst: Möge ihr diese Stunde in jedem Betracht zum Heile ausschlagen!
Camoens fühlte eine leise Regung von Unwillen über die endlosen
Bedenken, die selbst in dieser Stunde die Welt nicht leuchten und schimmern
sehen wollten. Indes blieb nicht Zeit zu einem Zwiste. Esmah, die zwar un¬
verwandt zu Pater Henriqnes aufsah, aber das feine Ohr ihres Stammes
besaß, hörte die Tritte der Herannahenden, und Pater Henriqnes nahm zu¬
gleich die Männer jenseits des Baches wahr. Er neigte sich zu Esmah und sagte
ihr noch wenige Worte, um Barreto und Camoens, welche inzwischen die Steine
überschritten hatten, die hier eine rohe Brücke über das Wasser bildeten, laut
willkommen zu heißen. Indem er mit ihnen zusammentraf, nahm er Barreto,
der mit einem Dank beginnen wollte, das Wort von den Lippen.
Dom Antonio, der Marschall, hat mich hoch geehrt, indem er mir Eure
Bitte wegen jenes Mädchens vortrug, Senhor Manuel, begann er mit einer
Stimme, deren milder Wohllaut den rasch erregbaren Dichter augenblicklich für
ihn gewann. Ich gab Euch Recht, daß in diesem besondern Falle keine Zeit
zu verlieren sei, obschon ich sonst kein Freund von hastigen Bekehrungen bin.
Ich ging darum schon gestern am Spätnachmittage hier herauf, Eure Schutz¬
befohlene zu sehen und ihre» Seelenzustand zu erforschen. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß sie sich im Drange ihrer Umstände zu unsrer Kirche wendet, aber
es kann ja keine Sünde sein, sich in höchster Not des Lebens in Gottes Schoß
zu flüchten. Ihre Seele ist empfänglich für die heilige Lehre, und ich glaube
es verantworten zu können, daß ich ihr diesen Morgen die Taufe erteile und
ihr auch den Namen Esmah lasse, wie sie gebeten hat.
Und Ihr, Pater Henriqnes, Ihr habt die Nacht in Gebeten verwandt?
fragte Barreto, dem es nicht entging, daß der greise Priester bleich und er¬
schöpft aussah.
Nicht ganz, Herr Manuel! gab er ruhig zur Antwort. Die Hirtin und
ihre Gefährtin wollten mir den Schutz der Hütte dort angedeihen lassen und
sich auf dem Moose unter freiem Himmel betten. Ich gedachte jedoch der Zeit,
da ich dem Missionshause zu Malakka Vorstand und gewohnt war, mein Nacht¬
lager unter Räumen zu nehmen. Meine alte Decke aus Indien hat mir noch
einmal gut gedient, und ich habe zwei Stunden oder drei recht erquicklich ge¬
schlafen. Allein ich wollte nicht von mir sprechen, ihr Herren! Mich bekümmert
das weitere Schicksal dieses armen fremden Kindes -— Dom Antonio sagt mir,
daß Ihr auf Euer» Gütern eine Zufluchtsstätte für sie eröffnen wollt, Senhor
Manuel, glaubt Ihr, daß Esmcch dort in voller Sicherheit sei?
So sicher als irgendwo in Portugal, versetzte der Ritter, während Camoens
sich abwandte. Er mochte nicht vernehmen, was Barreto dem Pater des weitern
darlegte — seine Hoffnungen für Esmahs Zukunft richteten sich nicht auf
Almveegenm und die greise Base Manuels. Und dennoch trug er Bedenken,
sich mit einer Mahnung an Catarina Palmeirim in die Unterredung zu mischen.
Zu unbestimmt war doch, was ihm die junge Gräfin und die Herzogin von
Vraganza am gestrigen Morgen verheißen hatten. Sehnsüchtig und unruhig
blickte er, noch ehe er Esmcch begrüßte, über jenen Teil des Hochthals hinweg,
zu welchem von Cintra herauf ein dritter Weg führte; er wußte durch einen
Brief der Herzogin, daß Catarinn mit ihrem kleine» Gefolge diese» Weg empor¬
kommen würde. So scharf er ansspühte, noch nahm er im Westen nichts wahr
als den halb überwachsenen Pfad, das Felsthvr am Waldrande, n»d nicht weit
davon das verwitterte Steinbild der allerheiligsten Jungfrau, von welchem diese
Einsamkeit den Namen führte. So folgte er Barreto lind dem greisen Priester
zu Esmah und flüsterte nur der kleinen Hirtin zu:
Du hast helle und scharfe Angen, Mädchen — schau dort hinüber, und
sobald du die Dame erblickst, welche wir erwarten — sie ist samt ihren Be¬
gleitern zu Roß! —, so gieb mir ein Zeichen, damit ich sie selbst hierher ge¬
leiten kann.
Inzwischen war Barreto zu Esmah hingetreten, sie neigte sich vor ihm und
machte in einiger Verwirrung eine Bewegung, als ob sie den Schleier herab¬
ziehen wolle, den sie seit ihrer Flucht nicht mehr trug. Pater Heuriques gab,
da Camoens noch immer traumverloren in die Ferne starrte, den Dolmetscher
ab, und verhieß seinem Tanflinde in Senhor Manuels Namen Aufnahme und
Schutz in dessen Hause. Mit befangener Scheu, aber doch aufatmend, versuchte
Esmah ihren Dank in wenigen portugiesischen Worten, welche sie von Jocma
erlernt hatte, dem hilfreichen Edelmanne knndzuthnn. Herr Manuel bemerkte
dabei erst, daß sein Freund hinter ihm stets ihm zur Seite blieb, er rief
Camoens laut an und sagte scherzend: Kommt, kommt, Luis, Ihr kümmert Euch
nur um die schöne Patin, die Ihr gewonnen, und vergeßt, daß der holde
Täufling das gleiche Recht auf Eure Teilnahme hat. Camoens wandte sich
sogleich an das maurische Mädchen, dessen Angen von Barreto zu ihm glitten.
Esmah weiß, daß ich nicht minder um sie gesorgt habe als mein ritterlicher
Freund und nur minder mächtig bin. Dafür habe ich versucht, dir eine
Freundin zu gewinnen, welche dein Geschick behüten kann wie ein Engel Gottes.
Ich hoffe, daß sie in kurzem vor dir stehen und dein Herz gewinnen soll. Ihr
gieb dich hin, ihr schenke dein ganzes Vertrauen und fühle das Glück, an ihrer
Seite zu leben.
Esmah sah mit erstaunten Augen Camoens an und fragte leise: Lebt die
Frau, von der du sprichst, im Hause meines Beschützers?
Ihm aber ward die verneinende Antwort für den Augenblick erspart, denn
eben schwang Joana, die vorhin einen der mächtigen verstreuten Felsblöcke er¬
klettert hatte, wieder ihr rotes Tuch über dem Haupte und rief weithin schallend:
Sie kommen! sie kommen! Nächst Camoens, der augenblicklich mit schnelleren
Schritten den Weg einschlug, auf welchen Joana hindeutete, richteten auch Barreto,
der Priester und Esmah ihre Blicke den Kommenden entgegen.
Das scharfe Auge der Maurin unterschied schon jetzt die Züge der jungen
Dame, welche voranritt. Ein Glanz der Befriedigung und Hoffnung leuchtete
in Esmahs braunen Augensternen auf, je deutlicher sie den Ausdruck der Güte
in dem jugendlich schönen Gesichte der Gräfin Palmeirim erkannte. Donna
Catariua saß auf einem der schlanken lichtgrauen Jngdpferdc, welche von den
kanarischen Inseln kamen, ihre Begleiter, der alte Stallmeister Miraflores und
ein ebenso alter Falkcnwärter, der noch im Dienste des Hauses Atayde gestanden
hatte, ritte» dunkle Pferde von andalnsischer Zucht. Die junge Dame sowohl
als ihre Begleiter waren gleich Barreto und Camoens scheinbar zur Jagd ge¬
rüstet. Im dunkeln Reitkleid, den Hut mit wallender Strauße»feder geschmückt,
die Ha»d mit den Zügeln auf dem Halse ihres Pferdes ruhend, ritt Catarina
heran. Camoens atmete befriedigt auf, als er sah, daß die junge Gräfin allein
kam, er hatte gefürchtet, daß die Herzogin ihre Pflegebefohlene geleiten würde;
jetzt überkam ihn das Gefühl, als ob plötzlich eine Schranke zwischen ihm und
dem jungen Mädchen falle. Sie hielt ihr Pferd an, ehe es Camoens gelang,
demselben in die Zügel zu greifen, aber sie gestattete lächelnd, daß er ihr aus
dem Sattel half, und setzte ihren Fuß in die Hand, ohne daß ihr Stallmeister,
der gleichfalls ans dem Sattel glitt, es hindern konnte. Senhor Miraflores
runzelte ingrimmig die Stirn, allein weder seine junge Herrin noch Camoens
achteten auf seineu Verdruß. Camoens neigte sich noch einmal vor der lieb¬
lichen Erscheinung und sagte: Ihr habt Euch des Schlafes beraubt, Herrin, um
unserm Schützling das zeitliche und ewige Heil zu sichern, Ihr seht, daß Euch
der Himmel dafür mit dem goldensten Morgen belohnt. Ihr findet uns bereit,
und Pater Heuriques sagt, daß auch die junge Mamun wohl vorbereitet zu dem
rettenden Schritt sei, den sie mit Eurer Hilfe thun soll.
Ich wünsche ihr von Herzen beizustehen, entgegnete die junge Gräfin. Führt
mich zu ihr und lehrt mich sie kennen. Sagt Ihr, daß ich wie eine Schwester
gegen sie handeln will. Ihr Gesicht ist fein und edel — aber hat niemand
daran gedacht, daß sie mit der Taufe auch Tracht und Sitte unsers Landes
annehmen sollte?
Gewiß, Herrin — Barreto, der an alles denkt, hat auch dies vorgesehen.
Wenn Ihr mir die Ehre gönnen wollt, Euch zu Pater Heuriqnes und Esmcch
zu geleiten, so könnt Ihr selbst der Maurin Anweisung geben, was sie thun soll.
Ich werde ihr helfen! sagte Catarina mit einem flüchtigen Blicke nach
Joauas Hütte. Eben trat Barreto herzu und begrüßte die junge Gräfin ehr¬
erbietig, aber mit einem Anfluge väterlicher Vertraulichkeit. Er verstand augen¬
blicklich einen fragenden Blick Catciriuas, welche selbst unter so ungewöhnlichen
Umständen nicht vergaß, daß Senhor Manuel ein besseres Recht habe sie zu
führen als Camoens. Als Barreto jedoch lächelnd beiseite trat und dem Paare
Raum gab, legte Catarina ihre Hand in die des Dichters und überließ den
beiden Begleitern, welche mit ihr gekommen waren, die Sorge für die Pferde.
Esmah, welche während diesen Minnten fast bewegungslos geharrt, jedoch un¬
ablässig prüfend nach der jungen Gräfin herübergesehcu hatte, senkte beim Heran¬
nahen Catarinas das Haupt und schien im Begriffe, sich der edeln Portugiesin
zu Füßen zu werfen. Aber Catarina öffnete der Fremden herzlich die Arme
und rief, nachdem sie einen Kuß auf die Stirn Esmahs gehaucht, Camoens zu:
Sagt ihr, Senhor Luis, daß ich sie lieb gewinnen, ihr eine Schwester sein
werde, und daß sie ohne Furcht um ihre Vergangenheit denken soll. Wir werden
alles, was ihr droht, mit dem Wasser der heiligen Taufe auslöschen!
Camoens blickte Barreto mit stolzer Genugthuung, beinahe herausfordernd
an, Senhor Manuel nickte nur beifällig zu den Worten der Gräfin. Pater
Henriques aber nahm das Wort und sagte:
Da wir beisammen sind und Ihr, Fräulein, entschlossen seid, eine hohe und
heilige Pflicht auf Euch zu nehmen, so laßt uns auch nicht zögern. Dn mußt
dich umkleiden, Esmah, wandte er sich an die Maurin, Jvana wird dir gern
beistehen, und wir können, da es dein ernster und freier Wille ist, dich zu uns
zu wenden, alsdann die Taufe vollziehen.
Du kennst Esmahs Herz, mein Vater, versetzte das Mädchen in ihrer
heimatlichen Sprache. Du weißt es, daß ich mich hoffnungsreich zum helfenden
Heiland und seiner allerseligsten Mutter wende, und daß minds verlangt mehr
von der göttlichen Lehre zu hören, als ich zur Stunde weiß.
Pater Henriques machte bekräftigend das Zeichen des Segens, Joana,
welche dienstwillig nähergekommen war, wollte schüchtern zurücktreten, als sie
die junge Edeldame ihren Arm um den Leib der Maurin legen und dieselbe
geleiten sah. Esmah aber streckte die Hand nach ihrer kleinen Freundin aus
und ließ dieselbe nicht. Gräfin Catarina sah einen Augenblick verwundert ans
die Ziegenhirtin, dann besann sie sich auf alles, was ihr Camoens von den
jüngsten Schicksalen der Flüchtigen berichtet hatte, und gönnte der Kleinen, die
zur Linken Esmahs ging, ein freundlich ermunterndes Wort. Der junge Bursche,
welcher mit Barreto und Camoens gekommen war, hatte schon längst sein Pack
vor der Hütte niedergelegt und sich dann zu Jayme Leiras zurückgezogci?. Die
Begleiter der Gräfin, Stallmeister und Falkner, hatten die Pferde unter der
vordersten der ^erweiterten Eichen angebunden, das unnütze Jagdgerät in der
Nähe des Baumes zusammengestellt und näherten sich jetzt gleichfalls der Männer¬
gruppe, welche den seltsam verschiednen drei Frauengestalten bis zu Jocmas
Hütte nachblickte. Der greise Stallmeister zeigte durch den steifen Gruß, den
er Senhor Manuel und dem Priester gönnte, so unverhohlen sein Mißvergnügen
über die Lage, in der er sich sand, daß Barreto sich gedrängt fühlte, ihm ein
begütigendes Wort zu gönnen. Er winkte ihn zu sich und lobte ihn, daß er
Donna Catarina so trefflich und sicher ans dem selten benutzten Jagdpfade
durch die Pinienschlucht hier herausgeführt habe, Miraflores jedoch zeigte sich
für die gute Meinung des Ritters unempfänglich.
Ich that meine Pflicht, nicht mehr noch minder, erlauchter Herr Manuel,
entgegnete er. Jetzt aber wollte ich, daß die Frau Herzogin mir eine andre
Pflicht auferlegt hätte. Ich verstehe nicht, was hier vorgeht, und merke nur,
daß meine junge Gebieterin nicht hier sein sollte. Was die Tochter des Grafen
Palmeirim thut, muß die ganze Welt wissen können, Euer Thun aber scheut
das Licht!
scheut das Licht! rief Barreto, Siehst du denn uicht, Alter, daß die
Gvttcssonne schöner als je hier aufgeht, und wagst du angesichts des ehr¬
würdigen Pater Henriqnes zu bezweifeln, daß wir ein christliches Werk vor¬
haben?
Ihr wißt, was ich meine, Senhor! antwortete mit unverändert grämlicher
Miene der Stallmeister, Gottes Sonne geht über vielem auf, was sich besser
in Dunkel hüllte, und mancher Priester hat seine Hand zu Werken geboten, die
christlich genng waren, aber schweres Leid im Schoße bargen. Meine junge
Herrin soll nicht bloß rein vor Gott und allen Engeln, sondern auch stolz vor
der Welt dastehen, und es ziemt sich für die Gräfin Catarina Palmeirim nicht,
daß sie in Gesellschaft einer heidnischen Fremden und einer Ziegenhirtin ge¬
sehen wird.
Barreto spürte eine Anwandlung heftig zu werden, bezwang sich jedoch
und warf nur leicht hin: Warte eine Stunde, alter Murrkopf, und du wirst
jeder Besorgnis um deine Herrin enthoben sein, Camoens jedoch, welcher mit
wachsender Entrüstung die rauhen Worte des Stallmeisters vernommen hatte,
widerstand seiner Aufwallung nicht und rief, indem er den Alten mit funkelnden
Augen maß:
Die erste Pflicht eines getreuen Dieners ist, seine Herrin nicht leichtfertig
zu tadeln, Ihr könnt es getrost Donna Catarina anheimstellen, wem sie ihre
Nähe gönnen will. Euch ziemt es, Eures Dienstes zu warten und bei allem
übrigen zu schweigen.
Das grämlich starre Gesicht des alten Miraflores belebte sich im Zorn,
aus seinen grauen Augen blitzte ein Strahl des Hasses gegen Camoens, und
unbekümmert um Barreto und den Priester erwiederte er in noch rauheren Tone
als zuvor:
Es sieht Euch ganz ähnlich, daß Ihr nach den Folgen Eurer Handlungen
wenig fragt, Senhor Luis. Ihr habt vor Zeiten schweres Leid über das alte
Haus Atayde gebracht. Dank Euch ist Donna Catarinas edle Mutter im Leben
nicht wieder froh geworden, jetzt steht Ihr bereit, auch das Gluck der Tochter
aufs Spiel zu setzen, ohne Euch würde die junge Gräfin nicht hier oben sein,
und wollte Gott, ich hätte sie erst von hier wieder heimgeleitet, und Ihr dürstet
ihren Weg nie mehr kreuzen!
In demselben Augenblicke faßte Camoens erbleichend an den Griff seines
Schwertes, die Hand des Alten fuhr nach seiner Waffe, und Barreto trat mit
zürnender Miene und strafend erhobnen Arm zwischen die Streitenden. Der
Stallmeister wandte sich mit einer Geberde nach seinem Genossen, dem Falkenier,
welcher denselben aufzufordern schien, die bittere Ansprache zu bekräftigen. Zum
Glück fand keiner von beiden Gelegenheit, noch ein unbesonnenes Wort zu
sprechen. Der greise Priester, welcher deu Wortwechsel nur von ferne vernommen
hatte, empfand doch, daß jeder Zwist rasch erstickt werden müsse, und zog Ca¬
moens an seiner Hand gegen die Hütte Joanas hin, aus der in der rechten
Minute die Frauen wieder hervorgetreten waren. Die Maurin erschien in ein
schlichtes weißes Gewand von landesüblichem Schnitte gehüllt, von ihrer frühern
Tracht hatte sie nur den Gürtel mit den Rubinen behalten, an ihrer Brust trug
sie ein goldnes, mit Perlen umsttnmtes Kreuz, das ihr Gräfin Catariua um¬
gehängt hatte. Die fremdartige Schönheit Esmahs trat mich in der neuen
Kleidung hervor, Camoens verglich sie im Stillen mit der Schönheit Catarinas
und mußte sich widerstrebend eingestehen, daß die Mnnrin der edeln Tochter
seines Volkes nicht zu weichen habe. Auch die kleine Hirtin hatte sich nach
ihrem Vermögen festtäglich geschmückt, sie lachte selig verschämt über die Ehre,
zur Seite so prächtiger Damen zu schreiten, und über deu glücklichen Ausgang
sorgenvoller Tage. Pater Henriqncs blickte befriedigt auf die ernsten und
dennoch erwartungsvollen Mienen Esmahs, sie schien in der Stimmung, welche
er für diese Stunde wünschen mußte. Er selbst wollte sich eben mit einem
stummen Gebete zur Spendung des Sakraments vorbereiten, als er Barretos
Stimme dicht an seinem Ohr vernahm.
Verzeiht, daß ich Euch noch einmal aufhalte, mein Vater, sagte der Fidalgo.
Ich werde es Luis Camoens und der Gräfin allein überlassen, der neuen Christin
als Taufzeugeu zu dienen, und mich neben den beiden störrischen Alten halten,
damit wir von ihnen keine Störung zu befahren haben. Und nun thut mit
Gott, was Gott segnen wolle! (Fortsetzung folgt.)
Ein Notschrei aus der Frauenwelt, (Offner Brief an deu Redakteur
der Grenzboten) Sehr geehrter Herr! „Gebt uns bessere Mütter, und wir werden
bessere Menschen haben," heißt es. Gebt uns bessere Redakteure, und wir werden
bessere Mütter haben, Knute man hinzusetzen. Kürzlich las ich in einer Zeit¬
schrift, welche sich selber ein Familieublcitt ersten Nana.es nennt, ein trauriges
Machwerk — eine Hofgeschichte im Gasseujargon, Verhältnisse, wie sie an keinem
europäischen Hofe bestehen können; Hofdamen, die mit den Ellenbogen um sich stoßen,
ihren Lieblingsplatz auf Sessellehnen wählen und in Anwesenheit des Hofes der
Gewohnheit fröhnen, die Beine weit in den Saal zu strecken; Kavaliere, welche an
Maugel an gutem Ton alles mir deutbare übertreffen, sich gegenseitig mit dem
Kosenamen „Dicker" anreden und einander die geistreichsten Spöttereien, wie: „Nu,
haben Sie Hoheit schon die Gummischuhe angezogen?" ungeahndet öffentlich ins
Gesicht schlendern dürfen; Prinzen, die bei Hoffestlichkeiten die Aermel in die Höh«
ziehen und mit dem genialen Ausrufe: „Na, denn vorwärts an die Pferde!" zur
Wahl der Tänzerin schreiten; die Krone des Ganzen aber eine Prinzessin mit den
Manieren einer gemeinen Gnssendirue, Ich bin kein jugendlicher Backfisch, dein
das Hofleben in verklärtem Nimbus erscheint; daß aber gewisse Formen in jenen
Kreisen gewahrt werdeu müssen, weiß wohl jedes Kind,
Vergebens suchte ich in dieser Erzählung nach etwas, was die Redaktion jenes
Blattes, trotz dieser verfehlten Schilderungen, zur Aufnahme bewogen haben könnte;
ich fand nichts als Rohheit und Plattheit, auch nicht einen Funken von Geist oder
Gemüt, Selbst dos tragische Schicksal der Heldin, das darin gipfelt, daß sie auf
ihrem ersten Hofbälle keine Tänzer findet, konnte mich nicht rühren. Jedermann
weiß, daß es für Vorstellungen bei Hofe genaue Toilettenvorschriften giebt; wie
in aller Welk konnte dieses Mädchen in ihrem ländlichen, vielgewaschenen, luft¬
ballonähnlich gesteifter Kleide und einem Kranze, von dem der geniale Prinz sagt:
„Mein Fräulein, ich fürchte, die Kühe fressen ihn an" den Eintritt finden?
Nun, dachte ich, gegen solche Unwahrheiten wird sich die Lesewelt kräftig
wehren, und die arme Zeitung, die sich dazu hatte verleiten lassen, that mir schon
von Herzen leid. Als mir jedoch nach einiger Zeit dasselbe Blatt wieder in die
Hände kam, wurde ich eines bessern belehrt. Der niir so widerwärtige Roman
hatte angeblich eine Anerkennung gefunden, wie sie seit langer Zeit kein, Produkt
deutscher Belletristik aufzuweisen hatte. Man brachte das Bild der Verfasserin
nebst einer schmeichelhaften Biographie derselben, worin sie eines der wenigen bevor¬
zugten Menschenkinder, denen sich die höchsten irdischen Kreise erschließen, genannt
wurde.
In meinen Bekanntenkreisen, in denen man diese seltsame Hofgeschichte an¬
fangs weidlich belacht hatte, fing man an, aufmerksam zu werden. „Die Redak¬
teure jenes Blattes sind Männer von gutem Rufe, sagte man, wenn sie den Roman
nicht für gediegen hielten, so würden sie ihn uns nicht bringen; wir haben wohl
nicht eingehend genug gelesen." Man las die Erzählung nochmals durch, und siehe
da! unter dem Einflüsse des vermeintlichen Urteils der betreffenden Herren fand
man sie lange nicht mehr so fade und unwahr als vorhin. „Ja, wer weiß denu
auch, wie es bei Hofe zugeht!"
Ich selber wurde verwirrt; sollte in Wahrheit dieses grausame Machwerk dem
Geschmacke der Redakteure jener Zeitschrift entsprechen? Ein befreundeter Schrift¬
steller, an den ich mich mit meinen Zweifeln wandte, lächelte ob meiner vierzig¬
jährigen Kindlichkeit. „Wo denken Sie hin? Ein Redakteur hat keinen Geschmack,
darf keinen haben; an Stelle desselben tritt bei ihm das Geschäftsinteresse."
Ich frage nun Sie, hochgeehrter Herr, als den Leiter einer Zeitschrift, die
stets die Wahrheit hochgehalten hat, ist dieser Ausspruch wahr? Und wenn er
wahr ist, welch eine Perspektive, eröffnet er uns?
„Das Publikum hat das Recht, sich zu wehren," entschuldigte mein Freund
seine Gcschäftsgcnossen. Wer ist das Publikum der Familicnblätter? Die Frauen¬
welt, sagt man mir. Nun, trotz aller sich breit machenden Emanzipationsgelüste
ist die deutsche Frau im allgemeinen doch immer uoch geneigt, auf Treue und
Glauben das anzunehmen, was ihr die besten Männer ihrer Nation, zu denen sie
die Leiter deutscher Fnmilieublätter ersten Ranges rechnen zu dürfen glaubt, vor¬
setzen. Die Lieblinge unsrer Frauenwelt hießen bis jetzt Stifter, Storm, Raabe,
Namen, die für den guten Geschmack derselben Zeugnis ablegen; daneben verehrte
man einige Schriftstellerinnen, die, was immer man auch an ihnen aussetzen könnte,
den neuen Günstling, den man uns aufdrängen will, an Geist, Gemüt und weib¬
lichem Takte himmelhoch überragen. Sollte aber uns Frauen wirklich für den
Augenblick der Geschmack um Guten, Wahren, Schönen abhanden gekommen sein,
wein läge es ob, gegen unsre Geschmacksverrohung anzukämpfen, wenn nicht den
Leitern unsrer Familienblätter?
Durch unsre Zeit geht der Zug, alles Ideale in deu Staub zu ziehen; viel¬
leicht ist er es, der verwandte Auklcinge in der beregten Hofgeschichte findet. Es
ist ein erhebendes Gefühl für das Mädchen ans dem Volke, eine Prinzessin in
zügelloser Weise im Offizierkasino Cognac aus Wassergläsern trinken zu sehen; man
kommt sich dabei selber so manierlich, so gut erzogen vor. Darf aber eine Re¬
daktion aus Geschäftsinteresse ans derartige Gefühle spekuliren? Wohin sollen wir
kommen, wenn ideale Interessen sich in den Schutz des Geldbeutels stellen und
nur noch Nihilisten und Sozialdemokraten den Mut der Ueberzeugungstreue und
ihrer Konsequenzen beweisen?
Die zweite Auflage dieses hervorragendem Werkes ist bis zur 30. Lieferung
gediehen, sodnß wir in der Lage sind, deu Wert der Neubearbeitung abschätzen zu
können. Das Lob, welches von allen Seiten dem Unternehmen zu Teil gewordcu
ist, wird sich nach Erscheinen der zweiten Auflage noch steigern dürfen. Eine Ency¬
klopädie der medizinischen Wissenschaften kaun uicht als Stereotypausgabe erscheinen.
Die Fortschritte ans allen Gebieten der theoretischen wie der praktischen Fächer ver¬
langen schon ucich wenige« Jahren eine Durchsicht, Sichtung, Neuaufnahme. Es ist
daher ein gewagtes Unternehmen, welches Herausgeber und Verleger in die Hand
genommen haben, ein Unternehmen, welches möglicherweise die höchsten Ansprüche
an die Opferwilligkeit des Verlegers stellt. Möge durch zahlreiche Abonnements
auf das Werk der Verleger ermutigt und zur weitern Fortführung angeregt werden.
Die Real-Encyklopädie ist ein Werk, welches dein Gelehrten wie. dem Praktiker
von Wert heilt wird. Für den Gelehrten ist sie geradezu unentbehrlich. Es findet
sich darin ein solcher Schah von Einzelanfzeichnungen, Literaturaugaben u, s. w,,
daß, wer sich nach einer bestimmten Richtung hin orientiren will, nirgends schneller
auf die richtigsten und neuesten Publikationen hingewiesen wird. Die einzelnen
Artikel sind zum größten Teile von Fachmännern geschrieben, deren Namen die
sicherste Bürgschaft geben, daß etwas Gutes geboten wird. Aber auch die praktische
Seite ist nicht in den Hintergrund gedrängt. Der praktische Arzt, welcher in der
Medizin sich „auf dem Laufenden" erhalten will, muß heutzutage mehrere Zentral¬
blätter halten, muß sich von Zeit zu Zeit Lehrbücher und Monographien anschaffen.
Es würde gewiß keine schlechte Spekulation sein, wenn er durch Anschaffung der
Real-Eneyklopädie sich in die Lage setzte, mit einem Griffe das zu finden, was ihm
gerade wünschenswert erscheint, umsomehr, da ihm dann der Stoff in fertiger Form
geboten wird, in Abhandlungen, aus denen das Unrichtige sich bereits ausgeschieden,
das Erprobte hervorgehoben findet.
Seit Anfang 1885 erscheint diese Zeitschrift in monatlichen Heften. Berühmte
Kriminalfälle des In- und Auslandes haben von jeher die Aufmerksamkeit weitester
Kreise auf sich gezogen. Frühere Sammlungen waren jedoch allmählich eingegangen,
nud die Besprechung der interessanten Fälle war lediglich vom juristischen Stand¬
punkte nur in ausschließlichen Fachzeitschriften behandelt worden. Der Zweck der
vorliegenden Zeitschrift greift wieder zu der Pitnvaltendenz zurück, indem sie sich
nit alle reifen und denkenden Männer wendet, denen sie weder eine» Unterhaltungs-
stoff noch Zeitvertreib, sondern ein Spiegelbild der Zeit, wie sie sich in den flagran¬
testen Abweichungen von dem Pfade der Gesetze darbietet, zu geben beabsichtigt.
Dieser Zweck ist, nach den bisherigen Veröffentlichungen zu urteilen, wohl gelungen.
Schon die Zahl der namhaft gemachten Mitarbeiter beweist, daß es den Männern,
die sich an dem Werke beteiligen, um ihre Aufgabe Ernst ist. Es sind durchweg
ehrenhafte und vielfach auch wissenschaftlich bekannte Namen, die uns hier entgegen¬
treten, meistens solche Personen, die vermöge ihrer amtlichen Stellung an Ver¬
folgung, Aburteilung und Prüfung der Strafthaten teilnehmen. Selbstverständlich
ist, daß die Zeitschrift uicht auf deu Familientisch gehört, Wohl aber ist sie alleu
denen zu empfehlen, welche den gesellschaftlichen Zuständen Interesse und Aufmerk¬
samkeit entgegenbringet!. Bekanntlich ist mit der Phrase, daß das Verbrechen die
Schuld der Gesellschaft sei, sehr viel Unfug getrieben worden. Nichtsdestoweniger
ist der Zusammenhang von Verbrechen mit den sozialen Zuständen vorhanden, und
eben deshalb ist eine Kenntnis der erstem nicht allein Sache der Kriminalisten,
sondern aller, die sich bemühen, unsre Zustände zu erkennen nud, soweit es in ihrem
Kreise in ihrer Macht steht, sie zu bessern.
üblich ist das in den letzten sechs Monaten vielbesprochene Stück
des südöstlichen Europas, welches gewöhnlich als die Valkan-
halbinsel bezeichnet wird, förmlich und thatsächlich wieder in den
Zustand der Nuhe zurückgekehrt, nachdem es der Diplomatie der
Großmächte schwere Mühe und Not gemacht und deu Börsen
manche ängstliche Stunde gebracht hatte. Der in vorletzter Woche unterzeichnete
Friede von Bukarest ist so kurz und bündig ausgefallen, daß er in dieser Be¬
ziehung in der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts einzig dasteht; denn er
besteht im wesentlichen aus einem einzigen Paragraphen, und dieser zählt im
Original nur vierundzwauzig Worte, die einfach erklären, daß zwischen dem
Königreiche Serbien und dem Fürstentume Bulgarien der Friede wiederhergestellt
sei. Selbst die Phrase, daß die beiden kriegführenden Parteien wieder in freund¬
schaftliche Beziehungen zu einander getreten seien, blieb daraus weg, Sie war
von der Pforte, die als suzercine Macht an der Seite des bulgarischen Bevoll¬
mächtigten mitwirkte, vorgeschlagen und von dem Fürsten Alexander bereitwillig
angenommen worden, König Milan aber hatte sich geweigert, sie in das Dokument
setzen zu lassen, das infolge dessen nichts als die formelle Anerkennung der
Thatsache ist, daß zwei kleine Kampfhähne ihre Stahlsporen abgeschnallt haben.
Wir dürfen daraus mit Fug schließen, daß der Hof und das Kabinet von
Belgrad, obwohl sie, dem Andringen der Großmächte notgedrungen nachgebend,
in den Frieden willigen, noch immer von den feindseligen Gesinnungen beseelt
sind, die sie zum Einbruche in das Gebiet des verwandten Nachbars bewogen,
und daß sie sich noch nicht von dem Verdrusse erholt haben, der ihnen eine
Reihe von Niederlagen verursachte, welche ihnen falsche Auffassung des Gegners
und militärische Mißgriffe zuzogen. Fürst Alexander hat — das müssen ihm
auch seine Feinde zugestehen — seine Sache gut gemacht und, wie mau zu sagen
pflegt, den Vogel abgeschossen: er hat sich nicht bloß tapfer, sondern auch klug
gezeigt. Sofort nach Unterzeichnung des Friedens schickte er sein Kriegsvolk
uach Hause und bewies damit, daß er politischen Verstand und ein richtiges
Urteil über seine Lage besitzt, was nicht verfehlen kann, ihm das Wohlwollen
derer für die Zukunft zu sichern, an deren guter Meinung ihm vor allem ge¬
legen sein muß. Auch die öffentliche Meinung Europas, die hier so lauge unter
dem Einflüsse störender Befürchtungen und Bedenken litt, wird nicht umhin
können, sich fortan zu erinnern, daß er, nachdem er sich als unerschrockener
Verteidiger seines Landes erwiesen, auch deu moralischen Mut an den Tag
gelegt hat, deu Bulgaren so schleunig als möglich die Früchte des errungenen
Friedens zu sichern. Diese uuverweilte Anerkennung der Obliegenheit eines
Staatsmannes steigert seinen Kredit und wird ihm von allen gutgeschrieben
werdeu, welche mittelbar oder unmittelbar bei der Angelegenheit beteiligt waren.
König Milan aber wird, mag er nun seine Gefühle allmählich freundschaftlicher
werden sehen oder nicht, bald finden, daß sowohl sein eignes Interesse als anch
das wahre Wohl Serbiens ihm gebietet, dem Beispiele seines bisherigen Gegners
zu folgen. Die Hilfsquellen seines Ländchens und Völkchens haben viel her¬
geben müssen. Tausende sind von ihrer Feldarbeit, ihren cumciischcn Beschäf¬
tigungen und ihren Sliwowitz-Brennereien abberufen worden, um monatelang
der Fahne und der Trommel zu folgen und nicht zu Sieg und Beute. Viele
Hunderte davon sind gefallen. Man hat Schulden gemacht, deren Verzinsung
und Tilgung das nichts weniger als wohlhabende Volk mit drückenden Steuern
belastet haben. Alles das geschah ohne eigentlich zwingenden Grund, lediglich
aus Ehrgeiz und aus Mangel an Geduld und Umsicht. Wir stellen nicht in
Abrede, daß der Vorwurf, der hierin liegt, weniger den König als die dema¬
gogischen Parteien trifft, die ihn zum Augriffe drängten. Wir erkennen ferner
an, daß die Versuchung, der er unterlag, nicht klein war, und daß er in ge¬
wissem Maße nur that, was die Bulgaren in Ostrnmelien und der Fürst gethan
hatte, der sich deren Empörung gegen die Satzungen des Berliner Friedens zu
nütze zu machen beeilte. Immerhin aber würde Serbien das bessere Teil er¬
wählt haben, wenn es der Besonnenheit Gehör gegeben, seinen großen Freunden
Vertrauen geschenkt, sein Pulver trocken gehalten lind nicht eher zu deu Waffen
gegriffen hätte, als bis Ehre und unbestreitbares Interesse ihm geboten hätten,
über alle Bedenken hinwegsehend, zur Selbsthilfe zu schreiten und an die ultinnr
rMo rög'nnr zu appelliren. Dieselbe hat nichts bewiesen als die Ohnmacht
Serbiens, und jetzt ist für dasselbe der klügste Weg, diese Ohnmacht still¬
schweigend anzuerkennen und so schleunig, als irgend thunlich ist, sich die frennd-
nachbcirliche Denkart anzuschaffen, die es in Bukarest nicht aussprechen konnte.
Das wird allerdings nicht leicht sein, und wir fürchten, das unausbleibliche
Ergebnis des Krieges von 1877 und 1878 ist bleibender Neid und dauernde
Nebenbuhlerschaft der beim Ausgange desselben ins Leben gerufenen oder ver¬
größerten Kleinstaaten gewesen, und die Ereignisse des letzten Krieges am Balkan
haben diesen Neid und diese Nebenbuhlerschaft nur verstärken können, indem sie
zu einer Vereinigung der bisher getrennten Bulgare» führten. Enthusiastische
Gemüter sahe» noch vor kurzen aus den von der Türkei abgetrennten europäischen
Gebieten sich in naher Zukunft eine Föderation der Staaten Südosteuropas
entwickeln, die mächtig genug war, sich der Vorstöße der beiden benachbarten
Großmächte zu erwehren, welche nach Ausbreitung ihrer Herrschaft über die
Lande zwischen der untern Donau und dem Adriatischen Meere streben. Man
dachte, es werde hier etwas ähnliches wie die Schweiz entstehen, ein friedfertiger
neutraler Bund von Mittel- und Kleinstaaten, der als eine Urd Puffer zwischen
jenen Nachbarn dienen, und dessen Fortexistenz von ihnen selbst im Interesse
des Friedens möglichst begünstigt werden würde. Der Gedanke ging von der
Voraussetzung aus, daß der Serbe, der Bulgare, der Numäuier, der Grieche
und der Albanese, dieser bei derartigen Berechnungen oft übersehene Faktor, nur
ebensoviele Zahlen von gleicher Art und gleichem Werte seien und leicht dahin
zu bringen sein würden, einen gemeinsamen Mittelpunkt hinzunehmen und sich
wie die verschiednen Nationalitäten der eidgenössischen Kantone zu einer gemein¬
samen Politik zusammenzuschließen. Es war etwas, was man mit Recht wünschte,
aber mit Unrecht hoffte; denn leider herrscht zwischen den hier verglichenen
Völkern, denen der Balkanländer und denen des westlichen Gebietes der Alpen,
nach Herkunft, Geschichte und Charakter äußerst wenig Ähnlichkeit, und die
geographische Stellung derselben ist gleichfalls sehe verschieden. So gehört denn
der Plan einer Balkanföderativn in die Welt der politischen Träume, nach
Wvlkenknkuksheim. Wenigstens gewahren wir im gegenwärtigen Augenblicke
nicht nur keinerlei Anzeichen einer künftigen Annäherung zum Zusammengehen,
sondern das stritte Gegenteil, Symptome der Mißgunst, der Furcht vor einander,
der Rivalität und neuen Anciuauderprallcus der disparaten Elemente. Rumänien
zwar hielt sich während der jüngsten Streitigkeiten von jeder Beteiligung an
dem Hader fern und gewann damit in der öffentlichen Achtung; indes ist sicher,
daß es auch unter den Rumcineu Parteien mit Hoffnungen giebt, welche durchaus
nicht im Einklange mit denen ihrer Nachbarn stehen. Die Serben gehen deutlich
mit der Sprache heraus und erklären laut, daß ihnen ihre Stellung durchaus
nicht behagt und genügt, und daß sie mit ihrem Anteil an der Lcinderbcute,
welche der Pforte abgenommen wurde, nichts weniger als befriedigt sind.
Außerdem hegen sie den ehrgeizigen Wunsch, am Balkan die leitende Rolle zu
spielen, und blicken mit Verdruß auf die Vorteile, welche das Glück den Bulgaren
zugewiesen hat. Die Schöpfung eines Großbulgaricns, bekanntermaßen von der
britischen Politik als Schachzug gegen die rassische angeregt und gefördert,
erfüllte die Serben mit Befürchtungen und Mißgunst. Es sollte das „serbische
Erbe" in Macedonien bedrohen, auf das es auch die Montenegriner im Stillen
abgesehen haben, svdciß sich die Bulgaren auch von diesen keines großen Wohl¬
wollens zu versehen haben. Der Bulgar wieder, der unter der abwechselnden
Gönnerschaft Rußlands und Englands in den letzten acht Jahren so rasche
Fortschritte gemacht hat, brennt vor Begierde, seine Herrschaft über das Rhodope-
gcbirgc nach Macedonien auszudehnen, wo Tausende von seiner Nasse wohnen
und, von Popen, Schullehrern und Sendboten der nationalen Propaganda
bearbeitet, diese Ausdehnung ersehnen. Hier aber stößt sein Streben nach mehr
Besitz und Bedeutung auch auf Widerstand Vonseiten eines andern Strebertnms,
auf die griechische Ländergier und Großmannssucht, die zunächst nach den
fruchtbaren Ebnen im Norden Thessaliens die Hände ausstreckt und weiterhin
von dem Tage träumt, wo Hellas seine weiße Fahne mit dem blauen Kreuze
auf der Agia Sofia und dem Sultanspcilaste am Goldner Horn flattern sehen
wird. Abseits von allen diesen Mitgliedern der Familie Gernegroß steht der
stämmige Albanefe, der sich zu allen Zeiten, von den Tagen Held Skanderbegs
an bis zu denen Ali Paschas von Janina, und von da an bis auf die neuesten
Kämpfe einerseits mit dem Vladikci der Czernagorze», anderseits mit den Heeren
des Sultans Abdul Aziz als schwer zu kränkende Nuß erwiesen hat, und mit
dem darum sehr ernstlich zu rechnen sein wird, sobald man den Versuch macht,
ihn und sein Land einem der benachbarten Kleinfürsten zuzuleiten. Überblicken
wir diese Verhältnisse, diese Gelüste, Bestrebungen und Hindernisse, und denken
wir dabei an einen noch wichtigern Umstand, an Österreich in Bosnien und der
Herzegowina, an dessen Interessen und Rechte südlich von Mitroivitza und
daran, daß es einmal und vielleicht in nicht sehr später Zeit eine Lebensfrage
für diesen Staat sein wird, den Weitermarsch bis an die Gestade des Ägeischen
Meeres anzutreten und damit durch alle grvßscrbischen, großbulgarischcn und
großgriechischen Traumgebilde hindurch zu gehen wie die Erde dnrch die Nebel-
schweife der Kometen, so erscheint der vielbesprochne Donau- oder Balkcm-
staatcnbund als ein reiner Widerspruch, und wir müssen, statt eine Einigung
für erreichbar zu halten, die Zwietracht als chronische Krankheit dieser Lande
betrachten und annehmen, daß eine dauernde Heilung undenkbar ist, wenn nicht
ein Wunder geschieht.
So aber wird diese Gegend Europas wahrscheinlich immer, wenigstens für
absehbare Zeit, die Gefahr von Störungen in sich bergen, die, weil zwei Gro߬
mächte hier divergirende Interessen erblicken und bald mehr, bald minder offen
verfolgen, auf den Frieden ganz Europas rückwirken. Nichts beleuchtet diese
Thatsache mit hellerem Lichte, als das Verhalten des griechischen Kabinets im
letztverflossenen halben Jahre. Diese Politiker von der traurigen Gestalt hatten
nicht den geringsten plausibeln Grund zu den, Ansprüche, sich in den Streit
zu mischen, der so verhängnisvoll ans den Verstand König Milans und seiner
Minister wirkte. Erst vor wenigen Jahren wies ihnen der Rat der europäischen
Großmächte — man wußte kaum recht, warum und wofür — ein stattliches
Stück türkischen Gebietes zu, und wenn sie sich der Schenkung würdig zeigten,
wenn sie geduldig warteten, bis sich eine gute Gelegenheit faud, wenn sie in
der Zwischenzeit darauf bedacht waren, die Hilfsquellen der neuen Provinzen
zu eröffnen, hier und in den alten eine gute Verwaltung einzuführen, Zivili¬
sation zu verbreite-, und Recht und Gesetz geltend zu macheu, so würden sie
mit der Zeit mehr erlangt haben. Sie schlugen aber eine andre Bahn ein,
den Weg rücksichtslosen, um den Weltfrieden unbekümmerten Ehrgeizes und Land¬
hungers. Sie erhoben sophistische Ansprüche, sammelten mit schweren Kosten
eine starke Armee und schickten sie an die Nordgrenze. Hätte die Pforte nicht
an den bedrohten Stellen ein noch zahlreicheres und tüchtigeres Heer zusammen¬
gezogen, so wäre ohne Zweifel neben dem Kriege an der serbisch-bulgarischen
Grenze ein zweiter im südlichen Mneedonien ausgebrochen. Nur die Übermacht
der Türken ließ die Neuhellenen davon absehen: sie waren keine Marathon¬
kämpfer, sondern hielten es vorläufig mit der Maxime, daß Vorsicht der bessere
Teil der Tapferkeit ist. Indes blieb man auf der Lauer und drohte weiter.
Die panhcllenistischen Demagogen drängten von unten, und oben dachte man
im Hinblick ans die allgemeine Gährung und Verwirrung im Balkanlande wohl
an Micawbers Trost: inzwischen wird sich schon was begeben, womit sich was
machen läßt. Als dann die Großmächte einschritten, erst mehr in der Form
höflichen Rates, dann mit einer Mahnung, der nur die Form fehlte, um ein
Befehl zu sein, zuletzt mit der Entsendung von Kriegsschiffen, neigte sich das
absurde Spiel der Griechen dem Ende zu, ja es war eigentlich damit zu Ende,
soweit Ernst darin lag. Das Kabinet von Athen wußte nunmehr, daß Europa
entschlossen war, einen griechisch-türkischen Krieg nicht zu dulden. Aber es
hatte Geister gerufen, die es jetzt nicht leicht loswerden konnte, und denen es
noch eine Weile ihren Willen thun oder wenigstens zu thun scheinen mußte.
Den Demokraten zu Gefallen, die hier die Minister machen und wegschicken,
wenn sie nicht Pariren, hatte man den Winter hindurch die Rüstungen zu Land
und zur See nach Kräften fortgesetzt. Nur ihnen gehorsam, beantwortete man
die Aufforderung, die einberufenen Mannschaften nach Hause zu entlassen, mit
einer Weigerung. Auch die in der Sudahnese eintreffenden Geschwader bewogen
das Kabinet des Königs Georg nicht, sich zu fügen. Nur Phantasten in Deutsch¬
land und England können das heroisch finden. Wir erblicken darin nichts als
eitle Hoffnung. Windbeutelei nud Furcht vor deu Demagogen, welche die
öffentliche Meinung in Athen beherrschen. Es war die reine Thorheit, daß
Herr Delyannis in der Stunde, wo in Bukarest der Friede zwischen den beiden
Staaten unterzeichnet wurde, es für pnsseud hielt, nochmals zwanzigtausend
Mann unter die Fahnen zu rufen. Was soll's damit? Sie werden gegen den
Willen Europas keinen Schuß zu thu» wagen. Dem griechischen Premierminister
ist von Berlin her deutlich gesagt worden, daß er und seine Landsleute Gefahr
laufen, sich die Sympathien Europas zu verscherzen, und ähnliches ist ihm von
andrer Seite mit gleicher Bestimmtheit bemerkt worden. Selbst Leute, die sonst
stark in philhcllenischen Sympathien arbeiten und vergnügt den größten Brand
im Südosten aufgehe» sahen, wenn er Verwirklichung ihrer Träume verspräche,
haben Herrn Delhannis ans Herz gelegt, daß er klug thun würde, sich so schleimig
als irgend möglich den Forderungen der Mächte zu beugen. Er hat den guten
Rat Gladstones bisher nicht befolgt, Wohl weil er ihn vor den Demagogen
nicht zu befolgen können glaubte. Ist dies der Fall, so werden ihm die Gro߬
mächte ermöglichen müssen, sich ihrem Willen zu fügen. Das aber wird die
Würde Griechenlands nicht erhöhen und den Schein seiner Selbständigkeit nicht
Heller leuchten lasse«. Mau wird sich unterwerfen, aber man hätte es eher
thun sollen. Zögern gegenüber einer vernünftigen Forderung endigt in der Negel
mit Demütigung, und kein Volk, besonders kein kleines, darf sich herausnehmen,
ein Ärgernis für alle andern zu sein und zu bleiben. Griechenland hat dies
im gröbsten Stile gewagt, und wir glauben, daß ihm das nicht so bald ver¬
gessen und vergeben werden wird.
meer allen menschlichen Schwächen fordert wohl kaum eine andre
so sehr unsern Witz und Spott heraus, wie die Neigung aufzu¬
schneiden und zu renommiren. An und für sich unschädlich, eignet
sie sich vortrefflich zu humoristischer Behandlung. Die Dichter
aller Zeiten und Völker haben sich diese Erfahrung zu Nutze
gemacht, vor allen aber haben die Deutschen von jeher mit großem Behagen
die Lügenpvesie gehandhabt. Die Schwanklitcrawr des fünfzehnten und des
sechzehnten Jahrhunderts enthält hierfür eine überreiche Fülle der ergötzlichsten
Belege.
Unter allen Lügengcschichten ist aber keine bekannter und volkstümlicher
geworden als die Zusammenstellung der „wunderbaren Reisen und Abenteuer"
des Freiherrn von Münchhausen. Von dem ehemaligen Hessen-kassclscheu
Bibliothekar Rudolph Erich Nnspe ursprünglich englisch bearbeitet, hat sich das
Büchlein in Bürgers Übertragung rasch in Deutschland eingeführt und ist nach
Form und Inhalt aufs mannichfciltigste umgestaltet und erweitert worden.
Längst ist dem Bewußtsein des Volkes die Erinnerung entschwunden, daß es
einst eine» leibhaftigen Freiherrn von Münchhausen zu Bvdenwerder gegeben
hat, und daß der Hauptstamm der unter seinein Namen bekannten Geschichten
von diesem Manne selbst in heiterm Kreise mit großem Erzählertalente zum
Besten gegeben wurde. Das Individuum Münchhausen ist zu einem Begriff
verflüchtigt worden, und zwar zu einem Gattungsbegriff für alle Flunkerei und
allen auf Aufschneidereien beruhenden Schwindel. Immermann konnte deshalb
keinen glücklichern Griff thun, als indem er dem durch und durch verlognen
Helden seines Romanes den Namen des alten Lügenfreiherrn gab.
Man wird nicht leugnen können, daß der Münchhausen den allgemeinen
Beifall, den er gefunden, auch wirklich verdient. Von so unverwüstlicher Dauer
sind eben nur echt humoristische Sachen; einmal mit Geschick vorgetragen, sind
sie nicht wieder tot zu machen; jede neue Generation empfängt sie von der
vorhergehenden mit demselben Behagen, mit dem diese sie aufgenommen hat.
Gleichwohl ivird der Münchhausen an Genialität weit übertroffen von
einer andern deutschen Lügendichtung, die nicht so bekannt ist, wie sie es in
der That verdiente. Wir meinen den „Schelmuffsky" oder, wie der Titel
vollständiger lautet: Schelmuffskys warhafftige curiose und gefährliche
Reisebeschreibung zu Wasser und Lande. Gedruckt zu Schelmrode, im
Jahre 1696.
Welcher Gattung von Romanen der „Schelmuffsky" angehört, läßt schon
der Titel des Buches erkennen. Es ist die der Neiseromane, welche im siebzehnten
Jahrhundert bei dem nntcrhaltnngöbedürftigen Publikum in höchster Gunst stand.
Die Vorteile desselben sowohl für die Verfasser wie für die Leser sind leicht
ersichtlich. Der Reiscroman bot das bequemste Mittel, den durch die Entdeckungen
des sechzehnten Jahrhunderts erwachten Sinn der Leute für geographische
Neuigkeiten zu befriedigen und sie mit fremden Sitten und Gewohnheiten bekannt
zu machen. Er kam also in erster Linie dem Interesse am Stoff entgegen,
welches bei der überwiegenden Mehrzahl der Leser immer das hauptsächlichste
bleiben wird. Gleichzeitig aber bot er Gelegenheit genug, sich satirisch über
die Zustände der Heimat zu verbreiten und nebenher allerhand Novellen ein¬
fließen zu lassen. Im Neiseroman konnte man also zugleich belehren und
unterhalten und brauchte nicht zu befürchten, um einer satirischen Schilderung
heimischer Mißstände willen gleich als Pasquillant verdächtigt zu werden, was
bei einer offeneren Sprache mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten war.
Auf Belehrung freilich kam es dem Verfasser des „Schelmuffskh" nicht im
mindesten an; wenn auch er zu der in seiner Zeit am meisten beliebten Form
der Erzählung griff, so geschah dies sicher zunächst in der Absicht, den Beifall
umso gewisser aus seiue Seite zu bringen, und dann ans dem Bedürfnis, einen
Nahmen zu haben, innerhalb dessen die einzelnen Späße und Abenteuer in einem
festen Zusammenhange erscheinen konnten. Dieses Unternehmen ist vollauf
geglückt und mit cntschiedner Genialität durchgeführt, einer Genialität, die der
Verfasser auch in allen Einzelheiten verrät, so toll und unsinnig sich auch seine
Lügengeschichte auf den ersten Blick aufnehmen mag.
Das Ganze ist nur „eine Hand voll Lügen," aber nie hat es einen witzigern
Kopf gegeben, der mit größerm Geschick zu lügen verstanden hätte wie der Autor
des „Schelmuffsky." Der Held, dessen seltsamer Name Schelmuffsky noch nicht
erklärt ist, erzählt selbst seine Geschichte, als deren Thema die immer wieder¬
kehrende Behauptung gelten kann, daß er ein braver Kerl sei, von dem man
etwas besonders Tüchtiges und Großes zu erwarten habe. Seine Selbstgefällig¬
keit ist in der That nicht zu überbieten; Münchhausens Renommisterei nimmt sich
schwächlich dagegen aus. An Schelmuffskys Persönlichkeit ist einfach alles
wunderbar und eigentümlich. Das zeigt sich schon bei seiner Geburt, die unter
ganz außergewöhnlichen Umständen erfolgt. Eine Ratte spielt dabei die wichtigste
Rolle, und Schelmuffsky versäumt keine Gelegenheit, diese Geschichte von der
Ratte aufzutischen, mit der er jedesmal die unglaublichsten Erfolge, namentlich
bei den« schönen Geschlechte, erzielt.
Wenn andre Kinder mühsam und allmählich sprechen lernen, so hat das
Schelmuffsky nicht nötig. Er zeigt selbst seiner über der Erscheinung der Ratte
in Ohnmacht gefallenen Mutter seine Ankunft an, indem er an ihr hinauf
krabbelt und sie unter dem lauten Rufe: „Eine Ratte! eine Ratte!" mit einem
Strohhalm in der Nase kitzelt. Ein gelehrter Präzeptor, Herr Gerge, welcher
im Hause der Mutter lebt, glaubt, der Böse habe bei der Sache seine Hand im
Spiel gehabt, und nimmt deshalb mit dem Neugebornen eine Beschwörung in
aller Form vor. Aber dieser läßt sich dergleichen nicht bieten; er belehrt den
Herrn Präzeptor in wvhlgesetzter Rede, wie thöricht solches Beginnen sei, und
versetzt ihn dadurch in die größte Angst und Beschämung.
Einem so viel verheißenden Anfange entsprechen durchaus die weitern
Großthaten des Helden. Da er in der Schule nichts gelernt hat, als Kauf¬
mannslehrling einen Schelmenstreich nach dem andern verübt und daheim der
Mutter das Leben nach Kräften sauer macht, entschließt sich dieje gern, ihm seinen
Willen zu lassen und ihn auf Reisen zu schicken, in der Hoffnung, daß es ihm
gelingen werde, auf diese Weise „ein berühmter Kerl" zu werden.
Die Beschreibung dieser „sehr gefährlichen Reise und der ritterlichen Thaten
zu Wasser und zu Lande" bildet um den eigentlichen Kern des Buches. Der
Humor desselben beruht darauf, daß Schelmuffsky vorgiebt, er habe fast die
ganze Welt gesehen, während er in Wahrheit nicht über die Nachbardörfer seiner
Vaterstadt hinauskommt, und darauf, daß er seine Aufschneidereien und Lügen
den angeblich erfundnen Erzählungen weit gereifter Männer als Wahrheit ent¬
gegensetzt. Natürlich bringt er lauter Ungereimtheiten vor und verwickelt sich
in die größten Widersprüche mit den Thatsachen. Bei ihm fahren Frachtwagen
von London nach Hamburg, während er zu Fuße nach Venedig wandert, das
auf einem großen, hohen Stein gelegen und mit eiiiem vortrefflichen Wall um-
gebe» ist. Padua ist seiner Erzählung zufolge nur eine halbe Stunde von
Rom entfernt, und Rom selbst liegt vom Tiberflusse umströmt mitten zwischen
Rohr und Schilf Trotzdem findet man hier vortreffliche Heringe, die in
Hamburg und Schweden gänzlich fehlen, da man dort nur Forellen zu essen
bekommt.
Noch größer aber ist der Widerspruch zwischen den Ansprüchen, mit denen
Schelmuffsky auftritt, und dem zudringlichen Benehmen, das seiner Natur ent¬
spricht. Überall spielt er den großen Herrn, den Kavalier; immer weiß er sich
Ansehen zu verschaffen, und selbst die höchstgestellten Personen, Fürsten und
Potentaten, werden dnrch seine Bekanntschaft bezaubert. Kein Gegner, den er
»icht niederwirft, kein Frauenzimmer, das ihm nicht seine Huld gewährt. Bei
seiner impertinenten Großsprecherei übersieht Signor Schelmuffsky leider voll¬
ständig, daß die Erlebnisse, von denen er berichtet, ihn von einer ganz andern
Seite erscheinen lassen. So sehr er sich rühmt, ein feiner Mann zu sein, so roh
und tölpelhaft benimmt er sich. Seine dumme, rüpelhafte Natur kommt jeden
Augenblick zum Vorschein; die Gastfreundschaft, die ihm aller Orten zuteil wird,
vergilt er durch die größten Unslütereien. Dennoch glauben ihm alle Leute und
bestärken ihn dadurch in seinem rcnvmmistischen Gclmhren. Nur der kleine Vetter
Däfftle spielt den Zweifler und behauptet zum größten Verdruß des Bramarbas,
daß er überhaupt nicht weiter als eine halbe Meile über seine Heimat hinaus¬
gekommen sei und sich nur in den nächsten Bierdörfern herumgetrieben habe.
Man könnte meinen, daß hier der Unsinn zu weit getrieben sei, und daß
auf die Dauer solche Aufschneidereien ermüden müßten. Wie sich jeder selbst
überzeugen kann, ist dies nicht der Fall. Es kommt bei derartigen Geschichten
ganz auf die Darstellung an, und diese ist in unserm Romane überaus gelungen.
Der Stil der Erzählung ist so flott und knapp, so frisch und köstlich naiv, daß
der Leser vom Anfange bis zum Schlüsse mit gleichem Behagen dem Verfasser
folgt. Der einmal angeschlagene Ton wird in dem ganzen Buche glücklich fest¬
gehalten, und die immer sich wiederholenden Wendungen, wie z. B. die Be-
teuernngsformel: „Der Tebel hohl mer," die wir uns mit englischem Accent
gesprochen denken müssen, tragen nicht wenig zur Steigerung des Humors bei.
Es ist daher kaum zu viel gesagt, wenn F. Zarncke, von dessen Forschungen
über den Schelmuffsky gleich die Rede sein wird, sein Urteil über das Werk
dahin zusammenfaßt: „Der Schelmuffsky ist in der Gestalt, in der wir ihn zu
lesen Pflegen, eine der klassischen Schöpfungen der humoristischen Poesie, eine
jener Typen, die, wenn auch einer bestimmten Zeit entstammend, doch dnrch die
geniale Abrundung, die bei ihnen dem Dichter gelungen, ein unvergängliches
Eigentum der Phantasie aller Zeiten geworden sind. Er stellt sich ebenbürtig
neben den Don Quixote und neben Falstaff."
Über die Tendenz des Romanes hat man sich bisher nicht zu einigen ver¬
mocht. Die gewöhnliche Ansicht ist die, daß der Schelmuffsky eine Satire gegen
die zu seiner Zeit modischen Neiseromane enthalte, deren verwegenste Form er
verhöhne. Zarncke meint, daß eine solche Absicht des Verfassers allerdings
nicht zu leugnen sei, daß er dieselbe aber nur nebenher und in zweiter Linie
verfolge. „Der eigentliche Reiz der Gestalt, sagt er, liegt doch anderswo. Sie
geißelt jenes Bestreben des über seine Grenze Hinansstrebenden Bürgerstandes,
die Manieren der vornehmen Welt anzunehmen, die »artigen« und gezierten
Sitten des Adels, seine galanten Liebesabenteuer und sonstigen Aventüren,
wie die französischen Muster sie eingeführt hatten, nachzuahmen, ein Be¬
streben, das gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts fast epidemisch zu werden
begann."
Wenn einmal in dem Romane eine bestimmte ethische Tendenz gefunden
werden soll, so möchten auch wir uns diesen Ausführungen Zaruckes anschließen.
Aber es fragt sich doch sehr, ob wir berechtigt sind, dem Verfasser überhaupt
eine solche unterzuschieben.
Wir sind gegenwärtig nur zu geneigt, ans derartigen humoristische» Werken
mehr herauszulesen, als ihren Verfassern bei der Niederschrift je beigekommen
ist. Die ganze Schwankliteratur des sechzehnten Jahrhunderts ist dadurch in
ein falsches Licht gestellt worden. Bekanntlich enthält dieselbe eine große Anzahl
von Späßen, welche an die Unsittlichkeit des Klerus anknüpfen. Es scheint
uns aber ganz verkehrt, wenn man, wie das vielfach geschehen ist, aus dem
Umstände, daß gerade diese Sorte von Geschichten so häufig wiederkehrt, auf
eine reformatorische Tendenz bei Männern wie Bebel oder Pauli schließen will.
Man Übersicht dabei viel zu sehr das Behagen, das die Erzähler solcher Streiche
an der Sache selbst haben, und vergißt, daß die Gelegenheit, derartige Witze
anzubringen, bei keinem Stande günstiger war als bei dem geistlichen, da der
Widerspruch zwischen den Forderungen des Cölibates und den Verlockungen
des Lebens dieselben nur drastischer machen mußte.
Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Schelmuffsky. Es ist, so viel
wir sehen, garnicht zu verkennen, daß der Schreiber desselben mit dem größten
Wohlgefallen das Lügcnsystem seines Helden ausspinnt, daß er aufschneidet, weil
ihm das Aufschneiden selbst Spaß macht, gerade so wie der Jäger, der den
Leuten von seinen Heldenthaten, wie man zu sagen pflegt, „die Hucke voll lügt,"
selbst das größte Vergnügen an seinen Flunkereien hat. Man kann daher
immerhin die von Zarncke hervorgehobene Tendenz des Schelmuffsky als eine
nebenbei auftretende gelten lassen, die Hauptsache aber ist und bleibt bei dem
Buche doch die Freude des Verfassers an der Renommisterei selbst und an dem
burschikosen Wesen, welches er seinen Helden zur Schau tragen läßt.
Diese Wahrnehmung wird nur bestätigt, wenn wir die Persönlichkeit des
Autors unsrer Erzählung ins Auge fasse» und uns vergegenwärtigen, daß er
ein Student war und das tolle Leben und Treiben der Studenten seiner Zeit
bei seineu poetischen Arbeiten vorzugsweise vor Augen hatte.
Bis vor kurzer Zeit wußte man so viel wie nichts von ihm. Man ver¬
mutete zwar, daß er ein und dieselbe Person sei mit dem Dichter einer Reihe
von Lustspielen, welche in Anlehnung an die Charakterkomödien Molieres mit
derbem Humor gewisse gesellschaftliche Mißstände und Ausschreitungen geißeln,
man konnte in dem Wellerscheu Pseudonymcnlexikon die richtige Auflösung des
Pseudonyms Hilarius, welches auf dem Titel zweier dieser Stücke erscheint,
auffinden, und sah sogar in den „Annalen" desselben Forschers die persön¬
lichen Verhältnisse des Mannes angedeutet, aber trotzdem blieb die Gestalt des
Schöpfers des „Schelmuffsky" eine dunkle Persönlichkeit, mit der sich keine be¬
stimmte Vorstellung verbinden ließ. Da wurde Professor Friedrich Zarncke in
Leipzig von befreundeter Seite auf einige Aktenstücke des Leipziger Stadtarchives
aufmerksam gemacht, welche erwünschten Ausschluß gewährten und im Verein
mit einer Anzahl authentischer Dokumente in dem Leipziger Universitäts- und im
Dresdner Hauptstaatsarchive auf einmal ein Helles Licht über unsern Dichter
»ut seine Werke verbreiteten.
Nach Zarnckcs in den Abhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft
der Wissenschaften veröffentlichten Untersuchungen (Bd. XXI, S. 457 ff.) steht es
nun ganz sicher fest, daß Christian Reuter der Verfasser des „Schelmuffsky" ist.
Christian Reuter war am 9. Oktober 1665 in Kütten bei Halle geboren.
Seit 1688 studirte er in Leipzig Theologie und später auch Jurisprudenz. Die
damals in dieser Stadt herrschende starre Orthodoxie und ihre Kämpfe gegen
Andersgläubige scheint ihn wenig angezogen zu haben. Wie später Lessing und
Goethe, so meinte auch Reuter seine Ausbildung fürs Leben weniger in den
Vorlesungen der Professoren zu erlangen, als vielmehr dadurch, daß er sich
recht eigentlich in das Leben selbst stürzte und alle Freuden und Leiden des
Studententums gründlich auskostete. Es ist daher kein Wunder, daß man ihm
und seinen Genossen nicht viel Gutes nachsagte; ihre Hauptforce, hieß es, be¬
stehe im Trinken und Spielen; es seien verwilderte Gesellen, vor deren Streichen
niemand sicher sei. So urteilen wenigstens die Gegner Reuters, und wenn sie
auch manches übertrieben und nach Philisterart zu hart geurteilt haben mögen,
so viel steht wohl fest, daß Reuter nicht zu den „akademischen Musterjünglingen"
gehörte.
Dennoch dürfen wir ihm das Interesse für Höheres nicht absprechen. Auch
ihn packte die Leidenschaft für das Theater, welches in jenen Tagen in Leipzig
die aufgeweckteren Geister vorzugsweise beschäftigte. Im Mai des Jahres 1693
war dort das von dem Dresdner Kapellmeister Strungk in Gemeinschaft mit
einem Dr. Glaser erbaute Opernhaus am Brühl eingeweiht worden, in dem regel¬
mäßig zur Zeit der Messe Aufführungen stattfanden. Obwohl nnn bereits
herumziehende Truppen die Hauptschauspieler für die dramatischen Produktionen
stellten, so fühlte man doch noch geraume Zeit hindurch das Bedürfnis, da,
wo sich die Gelegenheit bot, ihre Reihen durch mitwirkende Studenten zu ver-
stärken, denen auf diese Weise die Möglichkeit sich eröffnete, einige Wochen trug
aufs angenehmste für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Wir werden, auch
ohne hierfür einen bestimmten Beleg beibringen zu können, schwerlich fehlgehen,
wenn wir annehmen, daß Reuter um das Jahr 1695 sich gleichfalls unter den
spielenden Studenten befunden habe.
Die deutsche Komödie und das deutsche Singspiel lieferte um die Mitte
der neunziger Jahre in Leipzig die meisten Stücke für das Repertoire der da¬
maligen Bühne. Als Muster für die erstere Gattung wurden die Stücke des
Zittauer Schuldirektors Christian Weise und diejenigen Molieres angesehen, der
zu jener Zeit immer mehr Anhänger in Deutschland fand. Ihr Beispiel regte
Reuter so sehr an, daß er, sobald er sich zu eignem Schaffen gedrängt fühlte,
ganz in ihre Fußtapfen trat. Namentlich zeigte er sich darin als ein Schüler
des großen Franzosen, daß er wirkliche, dem Lebe» entlehnte menschliche
Schwächen zum Gegenstande seiner Lustspiele wählte. Damit aber sah er sich
vor eine Klippe gestellt, an der vielleicht sein reiches Talent gescheitert ist. Es
gelang ihm nicht, das Persönliche zu vermeiden, oder wenigstens urteilten seine
Zeitgenossen so und sahen daher in seinen Stücken nur Pasquille, um deret-
willen er Strafe verdiene.
Reuter wohnte in Leipzig eine Zeit lang in dem Hause der Witwe eines
gewissen Eustachius Müller, welche, im Besitze eines beträchtlichen Vermögens,
mit ihren vier Kindern ein ziemliches wüstes Leben führte, sodaß die Familie
schließlich alles verlor und ein schmähliches Ende nahm. Was er in dieser
Familie mit erlebt und angesehen hatte, das benutzte er als Stoff für seine
verschiednen satirischen Komödien. Er wurde deshalb von der Witwe Müller
verklagt und als Pasquillant wiederholt relegirt, bis im April 1696 seine
gänzliche Ausschließung aus den Reihen der akademischen Bürger erfolgte. Seine
Existenz wurde jedoch durch diese Strafe wenig beeinträchtigt, da es ihm gelang,
in Dresden unter dem höchsten Adel einflußreiche Gönner zu finden. Er trat
in den Dienst des Kammerherrn Rudolf Gottlob vou Schfferditz und konnte
in dieser Stellung über seine ehemaligen Gegner in Leipzig triumphiren. Seit
dieser Zeit aber verschwindet er ganz unsern Blicken; wir wissen weder, wie es ihm
im „bürgerlichen Philistertum" ergangen, noch wann und wo er gestorben ist.
Auch in seinen Komödien, welche wir freilich nicht mit unsern, an strengere
Sitten gewöhnten Augen ansehen dürfe», erweist sich Reuter als ein witziger
Kopf und als ein außergewöhnliches Talent für Charakterzeichnung. Ihm zuerst
ist es in Deutschland gelungen, eine aus dem täglichen Leben gegriffene
Charakterkomödic im Geiste Molieres zu schaffen, ohne dabei, wie seine Vor¬
gänger, schulmeisterliche Tendenzen in den Vordergrund zu stellen. Daß er
auf diesem Gebiete nichts von bleibender Bedeutung hervorgebracht hat, liegt
nicht sowohl an seiner Begabung, sondern an den erbärmlichen Verhältnissen
seiner Zeit, über die sich auch das größte Genie nicht hätte hinwegsetzen können.
Sein Hauptwerk bleibt der „ Schelmuffsky." Es ist jedoch von großem
Interesse zu hören, daß die geniale Figur des Helden bereits vor der Ab¬
fassung des Romans in der ersten von Reuters Komödien, in der Ehrlichen
Frau zu Plissiue (1695), erscheint (Plissine, die Stadt an der Pleiße,
Leipzig). Dort führt der Sohn der ehrlichen Frau Schlampampe, welche keine
andre ist als die verwitwete Frau Müller, diesen Namen. Auch der Schel¬
muffsky der Komödie lehrt angeblich von weiten Reisen zurück und affektirt wie
der des Romans, daß er seine Muttersprache verlernt habe. In der Erzählung
seiner Erlebnisse, namentlich aber in seinen Gesprächen bei Tische, finden wir
bereits alle Grundzüge der spätern Erzählung vorgebildet. Zum Teil ist die
Übereinstimmurg mit den entsprechenden Stellen in der ersten Bearbeitung des
„Schelmuffsky" sogar eine wörtliche.
Diese ältere Fassung ist gleichfalls von Zarucke in einem Exemplare der
Gothaer Bibliothek zuerst entdeckt worden. In gewisser Hinsicht steht sie der
bisher allein bekannten spätern an Wert nicht nach, da sie diskreter nach
Inhalt und Umfang und einfacher im Stil und Satzbau ist. Der eigentliche
Typus wird aber erst in der zweiten Redaktion vollendet, sodaß diese immer
diejenige bleiben wird, nach der man bei der Lektüre zu greifen hat.
Sie ist es auch, von der Brentano in seiner Abhandlung über die
Philister treffend bemerkt: „Es giebt mir keine schärfere Probe der Philistern
als das Nichtverstehen, Nichtbewundern der unbegreiflich reichen und voll-
kommenen Erfindung und äußerst kunstreichen Ausführung in Herrn von Schel-
muffskys Reise zu Wasser und zu Lande. Wer dieses Buch liest, ohne auf
eine Art hingerissen zu werden, ist ein Philister und kommt sicher selbst darin
vor."*)
an kann der jetzigen literarischen Bewegung im tiefsten Grunde
ihre Berechtigung nicht absprechen. Sie ist nicht plötzlich ge¬
kommen; wer die Literatur aufmerksam verfolgt, hat sie kommen
und anwachsen sehen. Es hat sich im Lustspiel, im Roman wie
in der Novelle, ja sogar in der naiv thuenden Dorfgeschichte eine
Tradition von Figuren, Motiven und Empfindungen entwickelt, die nachgerade zur
Schablone geworden ist, und dagegen lehnt man sich nun auf. Diese Opposition gegen
das Schabloncnwesen kann nur mit Freuden begrüßt werden, denn sie ist wahrhaft
dichterisch berechtigt. Während das Leben der Menschen, schöpferisch und an
Gestaltungen neuer Formen und Verhältnisse reich wie die Natur selbst, eine
neue Zeit herausgeführt hat, sind die Dichter stehen geblieben, und der Zwiespalt
zwischen der idealen Phantasiewelt der Literatur und der Welt des wirklichen
Lebens, welches uns täglich umgiebt »ud unsre Gemütsart bestimmt, ist immer
größer geworden. Die Bedingungen unsers ganzen Empfindens, unsre Freuden
und Leiden, unsre Liebhabereien und Ideale sind andre: die Schablone hat davon
keine Notiz genommen. Darum der Ruf der junge» Generation: Fort mit der
Schablone! Wahrheit, Realismus!
Es handelt sich nicht um eine neue, eine vollendetere, höhere Form, Damals
als man der Produktion des jungen Deutschlands satt geworden war, in der
Opposition, welche Auerbach, Geibel, Hebbel, später Gustav Freytag und Paul
Hesse führten, damals handelte es sich vornehmlich darum, der künstlerischen
Form, der ehrlichen objektiven Darstellung und Gestaltung zu ihrem Rechte zu ver¬
helfen, welches in dem Übermut des sich selbst bespiegelnden poetischen Individuums,
in der politische» Tendenzpocsie, in der Reise- und Badenvvellistik, in den See-
schlangen neuubändiger Romane von Gutzkow unterzugehen drohte. Aber seither
hat gerade die Form eine außerordentliche Pflege erlebt, das künstlerische Ge¬
wissen ist wieder genügend gestärkt, Beherrschung der Form ist selbstverständliche
Voraussetzung jeder dichterischen Produktion geworden. Und einzig und allein
um einen neuen, wahren Inhalt, den das auf so vielfach veränderte Bedingungen
neu gestellte Leben uns förmlich aufdrängt, handelt es sich im jetzigen Zeitpunkte,
Darum also: Wahrheit, zunächst nichts als Wahrheit!
Von diesem Standpunkte aus, im bewußten Gegensatz gegen die Tradition,
hat Gustav Schwarz kopf seine novellistischen Studien: Die Bilanz der
Ehe^) geschrieben. Diese literarische Tendenz verrät sich in den Novellen klar
durch einen hie und da eingeflochtenen ironischen Seitenhieb auf die Überlieferung,
wie z. B. in der Stelle: „Die Annahme, daß ihre innige Liebe ihnen jede Ent¬
behrung leicht erscheinen lassen oder garnicht fühlbar machen würde, diese von
den Dichtern aufrecht erhaltene Tradition, die von einer Generation von Lie¬
benden auf die andern übergeht und die auch sie gläubig nachempfunden hatten,
scheint in ihrem Falle doch irrig gewesen zu sein" (I, 262). Aber als rechter
Deutscher hat Schwarzkopf seinen Standpunkt auch vorher theoretisch klar
gemacht, und zwar geschah dies in der (auch deu Lesern der Grenzboten) be¬
kannten Broschüre: „Der Roman, bei dem man sich langweilt," Jedenfalls war
sein Auftreten vornehmer und originaler als das der verworrenen Berliner Stürmer
und Dränger nach berühmten Mustern; ein klügsten aber war es, daß Schwarzkopf
die eigne Produktion der kritischen Auseinandersetzung aus dem Fuße folgen ließ,
denn nirgends gilt die That mehr und das Näsonniren weniger als auf dem
Gebiete der Kunst. Zudem ist jeder Schaffende einseitig und hat die aus¬
gesprochenste Neigung, seine persönliche Eigenart zum Wesen der Kunst selbst
zu machen; alle Dichter haben mit ihren theoretischen Erörterungen nicht halb
so viel sagen können, als mit ihren schöpferischen Dichtungen, und auch die
Studien Schwarzkvpfs sind bedeutender und beredter, als seine kritische Dar¬
legung.
Schon der Titel ist für sein Werk bezeichnend. Er kündigt an, daß sich
eine Reihe von Studien mit der Ehe beschäftigen werde. Für die Tradition
bietet das Eheleben als solches keinerlei poetische Ausbeute. Wenn „sie sich
haben," dann sällt der Vorhang; die Fabel der Schablone dreht sich mir um
diesen gegenseitigen Erwerb von Männlein und Weiblein; dramatisches Interesse
glaubt sie einzig in der Liebesleidenschaft finden zu können. Da kommt ein
neuer Mensch, sieht die Welt unbefangen an und findet, daß nach dem
Trauungsakte der Kirche das Merkwürdigste im Leben seiner lieben Mitmenschen
erst beginne; dieses bisher poetisch so unfruchtbare Eheleben wird ihm eine Quelle
dichterischer Motive, und durchaus nicht etwa nach Art der neuesten Franzosen
als Schule des Ehebruches; kaum ein einziger Fall dieser Art erscheint in seinen
Studien. Er findet aber noch mehr mit seinein nnvoreingenvmmenen Blicke.
Die Dichter versichern uns fortwährend: die Liebe kommt, man weiß nicht wie?
und die Liebe geht, man weiß nicht wie? und die Liebe beherrscht alles! Der
neue Beobachter kennt auch die ewige Sehnsucht des Menschenherzens, er zweifelt
auch nicht, daß zuweilen wohl einmal anch die reine, selbstlose, thörichte und
doch so süße Leidenschaft in die Seelen einziehe; aber er kann nicht finden, daß
die Liebe die einzige, ja auch nur die vorherrschende Leidenschaft der Menschen
wäre. Er findet eine ganze Reihe höchst verschiedner Triebfedern, er findet sie
eben dort, bei derselben Eheschließung, wo die Schablone keine ander» Motive
sucht und darstellt als die Liebe! Er findet, daß Eitelkeit, Ruhmsucht, Habgier,
nüchternes Bequemlichkeitsbedürfnis, die prosaischsten Erwägnnge», ja das nackte
Geschäftsinteresse die Mehrzahl der ehelichen Verbindungen in seiner ihm sicht¬
baren Gesellschaft veranlaßt. Die Welt ist ihm auf ganz andern Grundlagen
aufgebaut, als es ihm die Schablvnenpoeten weiß machen wollen, und er hat
den Drang, dies auch zu bekennen, die Bilder der Genußsucht und des Egoismus,
welche ihm Erfahrung und Beobachtung geliefert haben, festzuhalten. So entsteht
denn eine „Bilanz der Ehe": eine Bilanz in der That, weil in dieser Welt der
fatale rwrvu8 n rum keine geringe Rolle bei der Ehe spielt.
Dabei ist Schwarzkopf weit davon entfernt, sich mit der Welt, die er
schildert, für eins zu halten, oder etwa durch einen paradoxen Stil, ein auf
den Kopf gestelltes Sittengesetz, einen abstrusen Geschmack, eine sozialistische
Lehre oder sonst dergleichen die Aufmerksamkeit der literarischen Kreise aus sich
lenken zu wollen. Er selbst ist für sein Teil ein alter Idealist geblieben, und
im Lichte dieses sittlich gesunden Wesens stellt er seine Bilder hin. Ja es ist
sogar etwas Herdes in ihm, das vor keinem noch so strengen Urteil zurücksehend.
Aber er schildert nicht roh die Rohheit, nicht gemein die Gemeinheit, er trifft
den rechten Ton für alle Handlungen. Das Wort: Ane im se swäio setzt er
als Motto über seine Studien; er ist in der That kein Prediger geworden, aber
das Mitgefühl des Dichters konnte er zum Glück nicht verbergen, man spürt
die schwer verhehlte Teilnahme und Bewegung immer dnrch. Nicht um zu ver¬
urteilen, auch eigentlich nicht um lächerlich zu machen, so sehr er den sarkastischen
Ton liebt, setzt er die Feder an, sondern nur um den wahren Sachverhalt an¬
zugeben. Auch seine Form ist so schlicht wie nur möglich. Seine Darstellungs¬
weise geht nicht auf Spannung ans, seine Fabeln sind höchst einfach, seine Art
zu erzählen ist nicht dramatisch, sie bewegt sich in fortlaufender Charakteristik,
hascht nicht nach Witzen oder geistreichelnden Wendungen, sondern wählt den
möglichst einfachen Ausdruck. Und doch weiß er zu fesseln, so anregend fest¬
zuhalten, daß man immer wieder diese Studien lesen kann, ohne das Interesse
erlahmt zu fühlen. Dies bewirkt ihre höchst merkwürdige Sachlichkeit. Immer
zwar führt der Erzähler das Wort, und selten tritt eine Figur selbstsprechend
dazwischen, und gleichwohl denkt man nicht an den Autor, sondern immer nur
an die Dinge. Das macht die überaus reiche Fülle von Beobachtungen, die
Sättigung mit der Wirklichkeit in diesen Studien. Ob wir in die Theaterwelt
oder in die hohe Gesellschaft, in die kleine Beamtenfamilie oder in das Leben
des epikureischen Junggesellen, in das Treiben des Börsianers oder des lite¬
rarischen Strebers eingeführt werden: überall ist der Autor zu Hause. Er
kennt die Modesprache, die technischen Ausdrücke jedes Berufes, die Liebhabereien
aller Stände, und überrascht überall durch die treue Wahrheit seines Gemäldes.
Er findet Charaktere, Type», Verhältnisse, die wir alle kennen, zu denen wir
am Ende selbst gehören, und man wundert sich schließlich nur darüber, daß
nicht schon früher ein Schriftsteller diese auf offner Straße liegenden Nvvellen-
schcitze aufgehoben und verwertet hat.
Vornehmlich ist es der Boden der Großstadt, speziell Wiens, von dem sich
Schwarzkopf seine Gestatte» holt; man kann seine Studien geradezu als Wiener
Sittenbilder bezeichnen. Wie meisterlich ist gleich die zweite Skizze des erste»
Bandes: „Verrechnet." Es ist die berühmte Maifahrt im Prater. In einem
glänzenden Wagen mit zwei steifen Lakaien sitzt ein schönes Weib, in auffallend
reicher Toilette, »eben einem Steinalten, in sich zusammengesunkenen Manne.
Sind dies Vater und Tochter? Nein, es sind Ehegatten. Wie kamen die aber
zusammen? Vor zwanzig Jahren war sie die Tochter eines armen Büreau-
dieners, der im Hause des jetzt neben ihr sitzenden Millionärs angestellt
war. „Der damals 63 jährige Mann, der jede Lust ausgekostet hatte, fühlte
beim Anblick dieses blühenden, jugendfrischem Geschöpfes ein letztes Aufflackern
vou Sinnlichkeit; seine zuerst flüchtige Caprice wurde durch den Widerstand des
Mädchens zur Leidenschaft, denn dieses scheinbar so unerfahrene, nach Reichtum
lechzende Mädchen wies alle Geschenke zurück und widerstand allen Versuchungen,
den glänzendsten Anerbietungen, widerstand den klugen Ratschlägen einer zärtlich
besorgten Mutter, widerstand der Ängstlichkeit des Vaters, welcher für seine
Stellung fürchtete. Sie wollte die legitime Herrin eines glänzenden Hauses
sein, sie wollte dies ganze große Vermögen einst ihr eigen nennen, sie wollte
geheiratet werden, und — sie setzte es durch— Als sie sich zur Trauung an¬
kleidete, als zum erstenmale schwerer, schimmernder Atlas ihre Gestalt umhüllte,
da fühlte sie eine Regung von Dankbarkeit .... »ja, sie will ihm eine brave
Gattin sein«,,,, man legt ein funkelndes Geschmeide um ihren Hals ____»ja,
sie will seinen Lebensabend verschönern«____Und das schöne Gesicht dem Spiegel
zugewendet, verfällt sie in tiefes Sinnen____»er ist alt und so kränklich und
gebrechlich, er kann in den nächsten Tagen sterben«____ jetzt flicht man den
blühenden Myrtenkranz in ihre Locken —»in den nächsten Tagen ,,, nein, das
will sie nicht, sie wünscht es nicht, es wäre ihr sogar unbequem, er muß ihr
Zeit lassen, sich zu bilden, er muß sie in seine Gesellschaft einführen, ihre
Stellung befestigen,,,, v, sie wird auf ihn sehen, sie wird ihn pflegen, dafür
sorgen, daß die schwache Flamme nicht so bald erlischt ,, ,. in vier bis fünf
Jahren«,,., jetzt befestigt man die kostbaren Spitzenschleier ....»soviel giebt
sie ihm höchstens ,.. dann ja, gewiß.,, aber diese Zeit ihm zu opfern, ihn glücklich
zu machen, ist sie ehrlich entschlossen, sie ist dann noch immer jung, vierund¬
zwanzig Jahre, und ein ganzes, glänzendes Leben liegt dann noch vor ihr ,,,
Dann wird sie genießen in vollen Zügen, lieben aus vollem Herzen, alle, alle
Wonnen kosten«.,,; ein leichtes Beben erschüttert ihren schlanken Körper, ein
wollüstiger Schauer durchzuckt sie, und sie schließt die Augen,,,, Ihre Braut¬
toilette ist beendet...." Und sie hat Wort gehalten, „Nach Jahresfrist plau¬
derte sie geläufig französisch und spielte die populären Operettenmelodien; sie
gab lächelnd eine kurze Kritik des neuesten Romans, hatte dunkle Begriffe von
Spätrenaisfancc und Barockstil, von niederländischer und moderner Schule, und
wenn man von Schopenhauer sprach, rümpfte sie das zierliche Näschen, zum
Beweis, daß ihr die ungalanter Äußerungen dieses Philosophen wohlbekannt
sind." Sie ist auch ihrem Gatten treu geblieben, hat jeder Verführung wider¬
standen, denn sie liebte das Geheimnis nicht; sie hat, als er schwer krank dar¬
niederlag, Nächte lang an seinem Bette gewacht, ihn sorgsamst gepflegt — aber,
er hat ihr nicht den Gefallen gethan zu sterben. Nun ist sie schon zwanzig
Jahre an ihn gekettet, und wie aus Schadenfreude bleibt er am Leben. Sie
wird alt, ihre Schönheit beginnt schon zu schwinden, sie hat nichts mehr zu
hoffen. Und der Erzähler schließt: „Sie ist gekauft worden, auch sie wird
wieder kaufen müssen. Mit demselben Vermögen, für dessen Besitz sie widerliche
Umarmung erduldet, mit demselben Vermöge» wird auch sie wieder Liebe —
nein, die Geberde der Liebe bezahlen. Der Preis ihres Lächelns war eine neue
Toilette, eine Equipage, ihre Küsse taxirte sie mit Diamanten, dafür wird auch
sie die kostspieligen Passionen eines jungen Gatten befriedigen, seine Spiel¬
schulden bezahlen, um ein Almosen seiner Liebkosungen zu erhalten. Wie sie
den Tod ihres Gatten ersehnte, so ungeduldig wird auch auf ihr Ableben ge¬
wartet werden, und mit Dirnen, die mit ihrem Gelde bezahlt werden, wird der
junge Gatte sich lustig machen, über »das zähe Leben der verliebten Alten.«
Sie weiß, daß es so kommen wird, und doch wird sie, wenn sie erst frei ist,
sich dieses Loos selbst bereiten. Sie will ihr Programm durchführen bis ans
Ende; die letzte Nummer lautete »Liebesglück,« sie wird sich eben mit einem
Surrogat begnügen."
Ein andres Bild, eine Ehe „Aus Dankbarkeit." Eine kleine, mit Töchtern
und Söhnen gesegnete Beamtenfran hat einem jungen Mediziner, der sich kümmer¬
lich vom Stundengeben ernährte, Kost und Wohnung gewährt für seinen Unter¬
richt ihrer Kinder. Für den armen Teufel war dieses Unterkommen ein großer
Gewinnst: uun konnte er doch ohne knurrenden Magen seine Studien verfolgen.
Er unterrichtet auch die älteste, ungefähr in seinem Alter stehende Tochter der
Wohlthäterin, und zwischen den beiden jungen Leuten entspinnt sich ein Liebes¬
verhältnis. Die Mutter hat nichts dagegen; sie berechnet, daß ihrer mitgift¬
losen Tochter der einstige Doktor der Medizin eine sehr gute Versorgung bieten
werde, und die jungen Leute leben unter ihrer Obhut als Verlobte. Aber der
„Doktor" ist so schnell nicht erreicht, Stunden geben muß der Arme auch jetzt
noch, der Unterricht im Hause selbst raubt ihm auch die beste Arbeitszeit, und
immer lebt er mit der Braut tugendhaft zusammen und nimmt teil an dem karg
und kümmerlich bemessenen Mittagstisch, an der schulmeisterlichen Bevormundung
der Wohlthäterin. Endlich hat er das Diplom erlangt — aber kann er davon
leben? muß er nicht noch zwei Jahre Spitalpraxis durchmachen? Selbst als
graduirter Doktor giebt er Lektionen. Endlich winkt ihm das Glück, er erhält
eine bescheidne Anstellung als Stadtarzt in der Provinz, in einem stillen Neste.
Jetzt endlich kann er heiraten. Aber Sophie ist unterdes älter geworden, jede
Liebesglut zwischen den beiden an einander geketteten Leuten ist längst erloschen,
nur aus Dankbarkeit, mir um sein Wort zu halten, heiratet der junge Arzt das
Mädchen. Und die ganze, im Laufe der Zeit ihm in der tiefsten Seele verhaßt
gewordene Lebensführung nimmt er in seinen neuen Hausstand mit. Anstatt
frei aufzuatmen, hat er sich die Fesseln noch enger geschlungen. Sophie hat
nie einen andern Hausstand gesehen als den ihrer Mutter, und der eigne ist
eine genaue Kopie desselben. Hermann ist zu ehrlich, zu gewissenhaft, sie zu
verlassen, sie hassen sich gegenseitig abgrundtief und können doch nicht von ein¬
ander los: sie, weil sie nicht das Schicksal der geschiednen Frau auf sich nehmen
will, er, weil er zu feig ist, seinem innersten Wollen zu gehorchen. Und so geht
es Jahre fort, bis ihm ein Zufall Geld in die Hände bringt. Damit eilt er,
ohne den Mut zu haben, von Sophien Abschied zu nehmen, sogleich nach Wien;
endlich kann er an dem Genuß teilnehmen, der ihm in seiner jammervollen
Studentenzeit verboten war. Mit zügelloser Leidenschaft stürzt er sich in das
Meer bacchantischer Freuden, aber nicht etwa um auszutoben und dann wieder
heimzukehren — o wie haßt er sein Heim! Er schwelgt so lange, als er kann,
den Nest des Geldes schickt er seiner Frau mit einem Briefe, der ihr mitteilt,
daß er freiwillig aus den Reihen der Lebenden scheide, , , , Ein düsteres Bild,
ja, aber wer Wien kennt, muß seine Wahrheit zugestehen.
So wird ein Bild nach dem andern aufgerollt. Die Heirat eines ver¬
mögenslosen Advokaten mit einer reichen Fabrikantenstochter: er braucht ihr
Geld, sie seinen Namen, von ehelicher Liebe ist dabei von vornherein nicht die
Rede. Er ist el» fleißiger und bald sehr gesuchter Rechtsanwalt, sie spielt die
Modedame und verschwendet ihr Vermögen so lange, bis sie ihn ruinirt: eine
„Geldheirat."
Wieder ein andres Bild: „Eine glänzende Partie" — die ehrgeizige Schau¬
spielerin, der es gelingt, einen Grafen zu erheiraten. Ihm schmeichelt das Auf¬
sehen, welches seine Verbindung macht; den Beifall, welchen das Publikum der
Schauspielerin klatscht, möchte er am liebsten selbst einheimsen. Aber kaum sind
sie getraut, so will sie die Gräfin spielen, wird langweilig und verliert die
Gunst ihres Gatten, der sich eben in jener widerlichen Komödiantenatmosphärc
Wohl fühlt, der entronnen zu sein sie froh ist; natürlich wird der Graf untreu
und holt sich in der Rollen- und Nuhmeserbin seiner jetzigen Frau die Maitresse,
die ihn amüsirt; die „Thcatergräfin" aber zieht sich, von allen verlassen, auf
das einsame Landgut zurück, um als Betschwester zu enden, u. s. w.
In allen Geschichten des ersten Bandes der „Passiva" herrscht dieser
düstere Ton vor, hier kommt es zu keiner Ausgleichung, anfänglicher Glanz
endet mit moralischem Elend. Der zweite Band der „Dubiosa" bringt eine
Reihe von Charakteren, die sich mit ihrem Schicksal in Harmonie befinden,
wenn sie auch ein Weile mit ihm gehadert haben. Köstlich ist die Satire:
„Die Heirat eines Genies." Heiland Meier, ein Dichterling, der das Glück
hatte, .von dem tonangebenden Kritiker in einer souveränen Laune für ein
hoffnungsreiches Talent erklärt zu werden, hat das weitere Glück, die reizende
Tochter des Kleider-Großhändlers Weinmann in Literatur und Kunstgeschichte
zu unterrichten und dabei ihre Liebe zu gewinnen. Nach einigem Widerstreben
giebt der Vater seine Einwilligung zur Heirat, denn man hatte ihm nahe
gebracht, daß sich heutzutage auch mit der Literatur Geld verdienen lasse.
Heiland Meier übernimmt also die Pflicht, ein berühmter Dichter zu werden.
Aber er hält das Versprechen nicht, seine Gedichte werden nicht gelesen, seine
Romane werden unbarmherzig verurteilt, sein Lustspiel fällt durch. Der kauf¬
männische Schwiegervater ist wütend über diesen Betrug, einen solchen nutz-
losen Schwiegersohn kann er nicht brauchen, und der arme Dichter muß sich
entschließen, in das prosaische Geschäft einzutreten. „Heiland Meier hatte
sich auffallend rasch und mit großem Geschick in seine neue Thätigkeit ein-
gefunden. Der unvermittelte kühne Übergang zu einer andern Branche hatte
seiner Gesundheit nicht geschadet, seinen Appetit nicht beeinflußt, das schöne
Gleichgewicht seiner Seele nicht zu erschüttern vermocht. Er besaß Verstand
genug, eine für die Gelegenheit passende Physiognomie anzunehmen, Ge-
schicklichkeit genug, verschiedne ziemlich glaubwürdige Motivirungen für seine
Resignation zu finden. Nur in deu ersten Monaten trug er gewissen Personen
gegenüber die Miene des unglücklichen Opfers zur Schau. Er schämte sich
ein wenig vor seinen einstigen Kollegen, und wenn er einen von ihnen traf,
nahm er die Pose des Mannes an, der von dem grausamen Schicksal, von der
unerbittlichen Notwendigkeit gezwungen wurde, seinen schönsten Träumen zu
entsagen, sein ihm von Gott gegebenes Genie verkümmern zu lassen. »Ich
mußte es thun — es handelte sich um mein Weib — mein Kind — du be¬
greifst — was ich gelitten — laß mich schweigen — —.« Ein schmerzlicher
Blick nach oben, ein Händedruck, und er verabschiedete sich. Nach kurzer Zeit
schon wurde ihm die Pose lästig und erschien ihm überflüssig. Wenn er einer
Begegnung absolut nicht ausweichen konnte, zog er es vor, seinen Schmerz für
sich zu behalten und dem Freunde seine guten Zigarren anzubieten, ein Ver¬
fahren, bei welchem beide Teile ihre Rechnung fanden."
Wir können Schwarzkopfs Buch nicht noch weiter plündern; das Bisherige
mag zur ErWrnng und Bestätigung der Charakteristik genügen, die wir von
seinein originellen Wesen zu geben versucht haben. Der Wert seiner Studien
liegt nicht bloß in ihrem ästhetischen Realismus, sondern auch in dem rücksichts¬
losen Mut, mit dem sie scheinbar so ganz nebenbei die satirische Geißel über
viele Zustände des Wiener Lebens schwingen. Sie werden in dieser Richtung
gewiß befreiend wirken auf manches Gemüt, welches die gleichen Übel empfunden
hat, ohne sich Rechenschaft über ihren Grund geben zu können.
u den schwierigsten Fragen unsrer Zeit gehört, in Deutschland we¬
nigstens, die kircheupvlitische. Andre Völker, denen das „Unglück"
konfessioneller Spaltung erspart ist, mögen ihre staatliche Würde
in ihrer Weise wahren oder wiederherstellen müssen, sie mögen
dabei vom parlamentarischen Kampfe bald unterstützt, bald, wie
das so geht, gehemmt werden, es bleibt doch immer jedem Bürger klar, daß
nur staatliche Beweggründe mit den kirchlichen im Kampfe liegen. Bei uns
stellt sich sofort zugleich eine Konfessionspolemik ein. Die katholische Minder¬
heit fühlt sich einer protestantischen Mehrheit gegenüber, und nicht bloß dem
Staate. Die Bitterkeit wird dadurch großer; man jammert über Vergewaltigung
nicht nur vom Staate, sondern auch von dem protestantischen Staate ans.
Daran ist nichts zu ändern. Den einzigen Fall, welcher diese Verbitterung
beseitigen würde, wagen nur wenige Menschen ins Auge zu fassen, den Fall der
wiederhergestellten Einheit der Konfession. Wenn nur katholische oder nur
evangelische Christen unser Land bewohnten, so wäre der Kampf vorbei, oder
er wäre kaum noch wahrzunehmen. Gewalt kann dies Resultat nicht zu stände
bringen, weder staatliche noch kirchliche. Der echte Katholik glaubt freilich, daß
die Evangelischen einmal wieder nach Rom zurückkehren werden. Aber es ist
ein schweres Stück, so viele Millionen protestantischer Christen umzustimmen.
Der Syllabus läßt darum auch uicht zu, daß die „Kirche" uur geistliche Mittel
gegen Andersgläubige anwenden dürfe. Wenn durch Gottes Gnade einmal
wieder die erforderliche politische Macht für den Katholizismus gewonnen ist,
dann tritt auch diese politische Macht in den Dienst der Ketzerbekehrung. Viel¬
leicht daß dann Deutschland nach den bekannten letzten Kämpfen auf märkischen
Sande wieder ganz römisch fühlt. Aber wir können diese Zukunft nicht sicher
in Rechnung ziehen. Vorläufig wird in Deutschland die Mischung der Kon¬
fessionen nur noch bunter, wie natürlich. Es fragt sich daher, ob es nicht zeit¬
weilige Auskunftsmittel giebt, die eine erträgliche Stimmung zwischen den ver-
schiednen Elementen des kirchlich-staatlichen Lebens ermöglichen, ohne der Zukunft
vorzugreifen. Der preußische Staat bejaht dies.
Bis zum Überdruß ist es wiederholt worden, weshalb sich unser Staat im
Jahre 1872 entschloß, der sogenannten Freiheit der römischen Kirche entgegen¬
zutreten. Die Konfessionen werden sich darüber nie verständigen, und der Staat
nie mit der römischen Kirche. Das wissen auch beide Parteien. Indes im
einzelnen kaun man schon jetzt sehen, daß sich die Dinge immer glimpflicher
machen werden. Denn es ist selbstverständlich, daß der Kampf schließlich die
Sehnsucht nach Frieden hervorruft. Bei uns scheidet sich die Periode der sieb¬
ziger Jahre reinlich von der der achtziger Jahre. Die erste baut die unter
dem freundlichen Namen der „Maigesetze" bekannte Eindämmung der römischen
Freiheiten, die achtziger Periode reißt sie nicht ganz ab, setzt aber Schleußen
hinein, um den Andrang der Flut etwas zu vermindern; denn das Wasser hat
auch seine Gesetze.
Es ist nun eine Verdunklung der kirchenpolitischen Frage, wenn man die
nächste, eben gezeichnete friedliche Wendung für ein Preisgeben der großen An¬
gelegenheit der religiösen Zukunft, für ein Preisgeben der staatlichen Selb¬
ständigkeit erklärt. Nur von einem kleinlichen Gesichtspunkte aus könnte man
jedes Nachgeben in einzelnen Maßregeln für ein Unheil halten, wenn man
nämlich überhaupt den kirchlichen Vereinen, speziell der römischen Kirche, keinerlei
Selbständigkeit beimessen wollte und jede Einräumung an sie einen Verrat am
Staate nennte. Das widerspricht aber doch den heutigen Ansichten völlig.
Streit ist nur über die Abgrenzung der beiderseitigen Rechte und über die Art,
wie diese Abgrenzung zu Stande kommen soll. Wir haben in der Verfassung
das Recht des Staates, diese Grenze zu bestimmen, wieder unzweifelhaft zurück¬
erobert und einige zweideutige Paragraphen deswegen ausgemerzt. Aber daß
es ein eigentümliches Gebiet der christlichen Kirchen giebt, in das der Staat
nicht einzugreifen hat, ist außer Frage. Es ist also nur die Aufgabe, zu er¬
mitteln, ob die siebziger Jahre ihre eindämmende Tendenz nicht übertriebe«?
haben (denn unsre Regierungen und unsre Parlamente sind ja nicht im Besitze
der Unfehlbarkeit), und ob die achtziger Jahre in ihrer entgegengesetzten Tendenz
ein wichtiges Stück religiös-staatlicher Zukunft geopfert haben, indem sie jene
Bestimmungen abänderten.
Diese Überlegungen können wir nur vom Staudpunkte des Staates, speziell
des modernen Großstaates anstellen, von der römischen Theorie ans haben sie
leinen Sinn. Nun hat sich der Staat im Laufe des Kampfes überzeugt, daß
er gewisse Seiten des kirchlichen Lebens mit Unrecht für unwesentlich gehalten
habe. Ihm war der Unterschied zwischen Religion und Kirche noch nicht ganz
deutlich geworden, und es wird immer einem Staatsmanne, der nicht längere
Zeit im katholischen Volke gelebt hat, unmöglich sein, diese beiden Elemente
genau zu sondern. Fiir einen Protestanten, der immer die religiöse Individualität
im Auge hat, klingt es ungereimt, wenn ein römischer Laie sich bedrängt fühlt
dadurch, daß sein Geistlicher ein Examen in Philosophie und Geschichte ablegen,
daß er der staatlichen Behörde angezeigt werden soll, daß sein Bischof nicht
mehr nach Belieben seine Geistlichen umherwerfen, absetzen und strafen soll.
Aber das römische Gefühl reicht wirklich dahin; ihm ist die Freiheit des kirch¬
lichen Institutes und seine Herrschaft ein göttliches Gnadengeschenk, von dem
seine Seligkeit abhängt. Es hilft nichts, wir müssen uns hineindenken, um die
Gefühlsregungen zu verstehen, die wir überall wahrnehmen. Andern können
wir an dieser römischen Auffassung doch nichts wesentliches. Wenn wir so
deutlich erkennen, daß die Seele der Römischen an diesen Freiheiten hängt, daß
eine nicht zu stillende Klage, eine steigende Erbitterung die Folge unsrer Ma߬
regeln ist, so ist es nicht unnatürlich, daß der Staatsmann sich fragt, ob der
Staat wirklich jene drückende Maßregel nicht aufgeben dürfe, ohne seine jetzige
und künftige Aufgabe zu gefährden. Zumal wenn er etwas von der Natur
eines Großstaates in sich fühlt, wird er sich leicht zu Konzessionen entschließe».
Und so konnte man voraussagen, daß Preußen einige von den antirömischcn
Positionen aufgeben werde, als sich ein so schwerer Gewissensdruck in den Ge¬
meinden kundgab. Wir wären ganz sicher lange vor 1880 dazu gekommen,
wenn nicht im polnischen Gebiete das katholische zugleich als das deutschfeindliche
Element uns Schwierigkeit gemacht hätte. Wer den Dingen gefolgt ist, wird
wissen, daß die polnische Frage von Anfang an auf die kirchenpvlitischc Frage,
besonders auf dem Gebiete der Schulaufsicht und der Heranbildung des Klerus,
ganz entschieden gewirkt hat. Wäre es möglich, die polnischen Adlichen und
die polnischen Geistlichen für deutsche Kultur und den preußischen Staat
freundlich zu stimmen, was wir für die nächsten fünfzig Jahre für völlig un¬
möglich halten, so wäre eigentlich der kirchenpolitische Streit in Preußen be¬
seitigt. Es ist jedenfalls richtig, daß die achtziger Jahre es für möglich gehalten
haben, trotz der polnischen Schwierigkeiten mehreres zu mildern. So wurde es
(1880) abgestellt, daß man Geistliche durch gerichtliches Urteil aus ihrem Amte
entlassen konnte, der Bischof blieb Bischof, nur durfte er an dein bisherigen Orte
sein Amt nicht mehr ausüben. Es wurde den Bistumsverwesern der Eid er¬
lassen. Gesetzlich angestellte Geistliche konnten in notleidenden Pfarreien Amts¬
handlungen ausüben, wenn sie nur nicht die Absicht bekundeten, dort ein
förmliches Amt zu übernehmen. Die Gehaltszahlung an Geistliche wurde unter
leichtern Bedingungen wieder aufgenommen, dagegen die staatliche Verwaltung
kirchlichen Vermögens wurde an die Ermächtigung des Staatsministeriums als
an eine erschwerende Bedingung geknüpft. Die krankenpflegenden römischen Ge¬
nossenschaften wurden freier? gestellt und ihr Wirkungskreis erweitert. Zwei
Jahre nachher (um 31. Mai 1882) ging die Milderung der kirchenpolitischen
Gesetze noch weiter. Die Begnadigung der Bischöfe wurde in Aussicht genommen
und deren Rückkehr wirklich vollzogen in mehreren Fällen. Es zeigte sich, daß
bei einem solchen Falle, der Rückkehr eines Bischofs, der Staat noch lange
nicht aus den Fugen ging. Die Staatsprüfung der Geistlichen, die nnr von
evangelischen und altkathvlischen Kandidaten gemacht worden war, wurde in
etwas sonderbarer Weise durch ein Fleißzeugnis der Professoren ersetzt, ein
Zeugnis, das man Jahre vorher für die übrigen Studien ausdrücklich hatte
fallen lassen. In Bezug auf Vorbildung dürfte der Minister auch von den
andern Erfordernissen des Z 4 dispensiren, selbst von den wichtigsten, offenbar
um die entstnndnen Lücken in der römische» Seelsorge auszufüllen. In Voraussicht
dieser Lücken hatte man früher den katholischen Gemeinden und Patronen ge¬
stattet, im Notfalle sich selbst Geistliche zu erwählen. Das war zwar eine
uralte Einrichtung, aber sie war dem spätern kanonischen Rechte so zuwider,
daß die besten protestantischen Kirchenrechtslehrer es tadelten, solche „StaatS-
pfarrer" in Aussicht genommen zu haben. Sie mußten im Jahre 1882 auf¬
gegeben werden.
Ein Jahr später wurde wieder ein Stück der alten Position aufgegeben,
ein wichtiges. Die Bischöfe brauchten diejenigen Geistlichen nicht mehr dein
Staate zu benennen, die unbedingt abberufen werden können, oder nur eine vor¬
übergehende Hilfeleistung oder Stellvertretung übernehmen. Dadurch wurde es,
in Verbindung mit liberalen Dispensationen und Straffreierklärungen möglich,
fast überall die katholische Seelsorge wieder herzustellen. Selbst ältere Dechanten,
die man irgendwo gern anstellen wollte, begabte man mit der Eigenschaft von
„Hilfsgeistlichen," um dem Gesetz formell genugzuthun. Der prinzipielle Wider¬
spruch gegen die Anzeigepflicht überhaupt war ja gerettet. Eine andre Zer-
bröckelung traf den kirchlichen Gerichtshof. Er wurde in drei Fällen für nicht
mehr zuständig erklärt. Die Straffreiheit geistlicher Handlungen wurde aus¬
gedehnt. So war denn eine große Freude über diese dritte Milderung der so¬
genannten Maigesetze in den katholischen Kreisen.
Nach drei Jahren des Wartens sind um jetzt die Vorschläge zu einer
vierten Reihe von Milderungsgesetzen dem Herrenhause übergeben und werden
in einer Kommission beraten. Was ist der Inhalt derselben? Die wissenschaft¬
liche Staatsprüfung der Kandidaten der Theologie, welche zuletzt auf ein Flei߬
zeugnis reduzirt war, soll ganz aufgegeben werden. Damit wird also verwirklicht,
was Karl Hase schon 1878 in seiner Broschüre „Des Kulturkampfs Ende" ge¬
raten hatte. „Wer ein deutsches Gymnasium mit Ehren absolvirt hat, der
hat an humanistischer Bildung zur Not genug für einen katholischen Pfarrer."
Das ist ganz in Übereinstimmung mit der Äußerung eines deutschen römischen
Bischofs, „er brauche nicht gelehrte Priester, sondern uur eine jährliche Zufuhr
von ehrbaren und gehorsamen Verrichtern von liturgischen Vorschriften."
Sodann will diese vierte Vorlage noch weiter die Heranbildung solcher
guten, gläubigen Verrichter liturgischer Handlungen erleichtern. Das Verbot
der sogenannten „Knabenseminare" ist von einigen Seiten, wie erzählt wird,
mißverstanden worden, indem man auch kirchliche Gymnasialalumnate darunter
rechnete. Dieses Mißverständnis soll ausdrücklich zurückgewiesen werden. Als
Gymnasialalumnate kirchlicher Art, die nicht verboten sind, werden in der Be¬
gründung der neuen Vorschläge genannt: das Collegium Mcirianum zu Pelplin,
das früher zu den verbotenen gerechnet wurde (Wiese I, 277), das katholische
Knabenpcnsioncit zu Opiaten bei Köln (das „Erzbischvflichc Aloysicmnm"), die
Knabenkonvikte zu Hildesheim, Osnabrück, Meppen, Hadamar, Montabaur und
mehrere andre. Diese Anstalten nehmen zwar nur katholische Zöglinge auf,
aber sie fordern nicht, daß sie künftig Theologie studiren, auch sind Rückzahlungen
der Pensiousgelder ?e. untersagt. Es sind Erziehungsanstalten für weniger
bemittelte, sie sind an eine staatliche Unterrichtsanstalt angelehnt und werden
von dem Direktor dieser Anstalt einigermaßen kontrolirt. Sie sollen also durch
Gesetz für erlaubt erklärt und nur unter die allgemeine Staatsaufsicht gestellt
werden. Diese Aussicht wird noch genauer zu definiren sein, zumal da auch
Studeutenkvnvikte und Predigerscmüiare, welche^die Universitäten ersetzen dürfen,
in dieselbe allgemeine Staatsaufsicht treten sollen, auch die Lehrer an denselben
nicht der Anzeigepflicht unterliegen werden. Zu der sanitätspvlizeilichen Auf¬
sicht muß doch noch einiges andre hinzukommen. Ohne Zweifel ist darüber noch
eine amtliche Erklärung zu erwarten.
Sodcinn ist der Z 1 in dem Gesetze vom 12. Mai 1873: „Die kirchliche
Disziplinargewalt über Kirchendiener darf nur von deutschen kirchlichen Behörden
ausgeübt werden" aufzuheben vorgeschlagen. Unjuristisches Verständnis hat nämlich
geglaubt, damit sei dem Papste und auswärtigen Kardinälen die Disziplinar¬
gewalt selbst abgesprochen. Gott bewahre! sie dürfen sie nur nicht ausüben, oder
vielmehr sie dürfen sie ausüben, nur sind sie für ein kontradiktorisches Verfahren,
z. B. vor dem kirchlichen Gerichtshofe oder dem Kammergericht, nicht erreichbar.
Sodann wird ein Bcrufnngsschntz für „Kirchendiener" vom Staate uicht für unter¬
geordnete Leute, wie Küster, in Aussicht genommen. Auch bei deu andern Heim¬
suchungen der Geistlichen durch ihre Obern will man sich künftig nur in die
Fälle mischen, wo es sich um vermögensrechtliche Nachteile handelt. Man will
also die Abhängigkeit der untern Geistlichen doch nicht zu einer unbedingten
werden lassen. Sodann wird der kirchliche Gerichtshof definitiv aufgehoben. Er
hatte auch, wie man weiß, zuletzt fast nichts mehr von dem zu erledigen, was
ihm anfänglich zugedacht war. In der That mußte man ihm viel mehr Gebiete
zuweisen, oder ihn aufheben. Ein Teil seiner Befugnisse soll ans die Staats¬
verwaltung übergehen, nämlich die ihm zugedachte Aufsicht über die disziplinarische
Gewalt der Kirche. Wo es sich aber um Einschreiten des Staates gegen Geist¬
liche handelt, da will man allerdings ein Gericht beauftragen, aber nicht ein
spezielles Gericht, sondern das Kammergericht als das höchste Landcsgericht in
Strafsachen. Aber auch dieses soll nur ans Antrag des Oberpräsidenten in
Thätigkeit treten. Die Berufung an den Staat (gegen adusulz) wird allerseits
beschränkt. Sie tritt nur bei geistlichen Entscheidungen ein, die sich ans
solche Absetzungen beziehen, mit denen der Verlust oder eine Minderung des
Amtseinkommens verbunden ist, und der Staat erlaubt sich dabei leine Korrektur
des geistlichen Urteils, sondern beschränkt sich ans das bürgerliche Rechtsgebiet.
Eine Berufung an den Staat im öffentlichen Interesse findet nicht mehr statt.
Das ist das Wesentliche. Den Urhebern der alten Maigesetze muß sonderbar
zu Mute sein, wenn sie die viermaliger Subtraktionen an ihrem Werke im Geiste
erwägen. Es werden unter ihnen solche sein, die noch jetzt meinen, man Hütte
die Paragraphen nur unbedingt anwenden sollen, die Kirche würde sich gefügt
haben. Aber man darf das doch bezweifeln. Im Zentrum der Verwaltung
fühlt man am besten den Widerstand, den der römische „Staat im Staate" leistet,
und hat wohl ein Gefühl davon, ob dieser Widerstand ab- oder zunimmt. Es
wird einer spätern Zeit möglich sein, hinzugetretcne persönliche Einflüsse, die
gewiß auch nicht immer unberechtigt waren, auf die hohen Kreise der Verwaltung
mit in Rechnung zu stellen, aber auch davou abgesehen, ist es nicht unnatürlich,
daß man bald nicht mehr so sanguinisch über die Wirkung der sämtlichen Mai¬
paragraphen dachte und sich fragte: Welche Opfer kann man um der Beschwichtigung
der Millionen einfältiger Katholiken willen bringen, ohne Schaden zu stiften?
Wir möchten nicht einmal zugeben, daß es besser gewesen wäre, die staatskirch-
liebe Gesetzgebung nicht zu unternehmen, wenn man so bald diese Abstriche machen
wollte. Allerdings wissen wir seit Jahren, daß gewisse Schärfen und Übergriffe
besser unterblieben wären. Aber wie groß war noch 1869 die Gleichgiltigkeit
in staatlich-kirchlichen Dingen bei den Protestanten! Das ist heilsamer Weise
anders geworden durch Rede und Gegenrede. Es wird trotz der angenblicklich
vorhandnen Kulturkampf-Müdigkeit bei denjenigen Protestanten davon ein erheb¬
licher Rest bleiben, die nicht ganz und gar den idealen Interessen abgesagt haben.
Zu dem Bleibenden im kirchenpolitischen Kampfe können wir in der That
das Einzelne in den siebziger Maigesetzen nicht rechnen. In dem bisher auf¬
gegebenen sehen wir keinen Schaden für den Staat. Wir sind auch damit zu¬
frieden, daß bei der Zurücknahme der erwähnten Paragraphen einseitig, nämlich
staatsseitig, verfahren worden ist. Die Anwesenheit eines preußischen Diplomaten
im Vatikan wird gewiß ihr Gutes haben, die nächste Zeit wird es wohl zeigen.
Aber Konkordate werden wir wohl wie bisher sorgfältig vermeiden. Es ist nicht
einmal ein giltiger Gesichtspunkt, nur der Kurie willen irgendeinen Schritt
zurückzuthuu. Was geschehen ist, ist immer nur und mit Recht durch die
Rücksicht ans die römischen Christen in Preußen motivirt. Es ist ein veraltetes
Prinzip, eine Einrichtung, eine gesetzliche Ordnung darum herzustellen, weil diese
Einrichtung, diese Ordnung einem abstrakten Ideal entspricht. Nur wenn sich
die Menschen, für die sie bestimmt ist, dabei wohl fühlen, kann die Ordnung
dem Realpolitiker zusagen. Denn zunächst verlangt der Mensch der Gegenwart
sein Recht, der der Zukunft mag dann ändern, was ihm nicht mehr paßt.
Wir wagen darum auch nicht zu sagen, daß die bisher noch geschonten
Paragraphen das Minimum dessen seien, was der Staat an kirchenpolitischen
Rechten nötig habe, um der Kurie zu widerstehen. Von einem festen Kanon
solcher Rechte kann ja nicht die Rede sein. Von einer sogenannten „organischen
Revision" der Maigesetze ist viel die Rede gewesen, aber ein fester Begriff ist
mit dieser Redensart nicht verbunden. Schon in der Naturwissenschaft ist die
Grenze des Organischen fließend. Erst recht in der Anwendung des Wortes
„organisch" auf menschliche Dinge, wie Staats- und Rechtsverhältnisse. Also
damit ist nichts gesagt. Den Ultramontanen ist es soviel wie Beseitigung der
sämtlichen Bestimmungen, die man zur Sicherung des Staates gegen die Herr¬
schaft der Kirche jemals gegeben hat. Der natürlichste Sinn des Wortes geht
dahin, daß es besser sei, die wünschenswerten Milderungen der kirchenpolitischen
Gesetze auf einmal in einer dem Laien verständlichen Form, in einer kodifizirtcn
Übersicht vorzunehmen, als stückweise in Absätzen aller zwei oder drei Jahre und
in Paragraphen, die durch ihre Rückweise auf alte Gesetze nicht mehr lesbar
und gemeinverständlich sind. Es wäre allerdings das beste, wenn man es so
haben könnte. Aber wir fürchten, daß es doch bei der jetzigen Weise der Ge-
setzesfvrtbildung bleiben muß, wenn wir anch dem Verständnis durch jeweilige
Kodifikationen des Giltigen recht gern zu Hilfe kommen möchten. Es ist zu
wichtig, daß mau in dem empirisch empfundenen Bedürfnis nach Fortbildung
eines Rechtssatzes sich dafür eine Kontrole verschafft, daß mau nicht einem Be¬
griffe zuliebe ins Blaue ändert. Nur auf diese Weise kann die Verwaltung
auch beobachten, ob eine gemachte Konzession diejenige Ungefährlichkeit für deu
Staat hat, die man von ihr erwartete, oder nicht. Im ganzen kommt ans diese
Methode doch wenig an.
Die nächsten Fragen werden sich auf die völlige Aufhebung der bischöf¬
lichen Anzeigepflicht beziehen und auf die Schulinspektion durch römische Geist¬
liche. Die völlige Aufhebung jener Benenuuugspflicht wird wohl leine Gefahr
mit sich bringen; es wird aber gut sein, sie nur gegen Repressivbcstimmuugen
uach Art des Artikels 130^ im Strafrecht zu bewilligen. Gegen die politische
Einmischung der römischen Geistlichen müssen unsre scharfsinnigen Gesetzgeber
die Gesellschaft mehr schlitzen, als sie es bis jetzt gethan haben. In Sachen der
Schule hat Windthorst schon den zweiten Kulturkampf angesagt, und diese
Fortsetzung des Kampfes ist schwerlich zu umgehen. Bisher hat unsre parla¬
mentarische Arbeit auf dem Schulgebiete die Staatsinteressen lebhaft unterstützt,
nachdem einmal die Schulaufsicht gegen die extremen Konservativen und die
Römischen als durchaus staatlich anerkannt worden ist. Die eigentlichen Schwie¬
rigkeiten bleiben noch zu erledigen, und wieder geben dazu die polnischen Um¬
triebe deu Anlaß, denen nur durch strammere staatliche Einwirkung auf die
Volksschulen und Zurückdrängung der katholische» Geistlichen und Patronatsherren
begegnet werden kann. Es wäre betrübend, wenn bei steigender Erbitterung der
katholischen Polemik auf dem Schulgcbiete der Staat gedrängt wurde, wie in
Frankreich, den römischen Religionsunterricht den Schulen zu untersagen. Besser
jedenfalls, wenn er deu Religionsunterricht wenigstens bis zum vierzehnten
Lebensjahre der Schule ließe, ihn durch weltliche Lehrer, die keiner Sendung
der Kirche bedürften, erteilte, und die Gewissensfreiheit dadurch wahrte, daß kein
Vater genötigt würde, seinen Sohn diesem Unterrichte zu übergeben. Einer
Verfassungsänderung bedürfte es dazu allerdings auch. Ans demselben Gebiete
würde eine Änderung der Schulvorstände erforderlich sein. Eine Teilung der
Arbeit, wie sie immer notwendiger wird, würde sich dadurch vollziehen lassen,
daß den gewöhnlichen Schulvvrständen der Volksschulen nur die allgemeine per¬
sönliche und moralische Aufsicht obläge. In diesem Schnlvorstande müßte die
Ortsgemeinde, die Schulgemeinde und die kirchliche Gemeinde vertreten sein.
Dieser Vorstand hätte sich aber jeder technischen Herrschaft (methodisch-päda¬
gogischer Art) zu enthalten. Diese technische Aufsicht muß überall von dem be¬
treffenden Hauptlehrer, und zwar unter Leitung des technisch gebildeten Schnl-
inspektors, ausgeübt werden. Zu diesem Amte der Schulinspektivn dürfte ein
Geistlicher nicht als solcher geeignet sein, auch kein höherer Schulmann als
solcher, sondern mir ein solcher, der durch Übung und Praxis lind durch be¬
sondre Prüfung sich wenigstens ebensogut ausgewiesen hat wie ein erfahrener
Seminarlehrer. Vorausgesetzt wird dabei, daß die einklassigen Schulen sobald
als möglich verschwinden, auch mit Hilfe des Simultauschulwesens, während wir
sonst entschieden das Siumltanschulwcseu bekämpfen. Einklassige Schulen können
eben gegenwärtig, einzelne ausgezeichnete Fälle ausgenommen, das Erforderliche
schlechterdings nicht leisten. Doch wir dürfen uns auf das Einzelne hier nicht
einlassen, freuen uus aber auf diese schulpolitischen Kämpfe, die für die Zukunft
so wichtige Entscheidungen bringen werden. Wir hoffen, unsre Abgeordnete!?
werden in diesem Gebiete, sowie in Bezug auf religiöse Orden und auf Jesuiten
fest bleiben und auch in Bezug ans den kirchlichen Vcrmögenserwerb eine Be¬
stimmung finden, die wie in den Vereinigten Staaten dem Besitze zur tote»?
Hand eine Grenze setzt.
Das sind einige Einzelheiten, die sich schon jetzt der Gesetzgebung auf¬
drängen und einmal erledigt werden müssen, als einzelne Probleme des kultur¬
politischen Kampfes. Auch hier wird mir der Wechsel und die jedesmalige
Anpassung an das empfundene Bedürfnis des staatlichen Lebens als das
Charakteristische erscheinen. Es wird nur von den Umständen, wenn wir die
zusammenwirkenden jedesmaligen Faktoren so nennen, abhängen, ob in diesem
fortgehenden Prozesse die Parole „Freie Kirche im freien Staate" das leitende
Prinzip wird, was wir nach so langem Bestände von großen „Volkskirchen"
bei uns, nach so erbitterten Religionskämpfen und nach so großen Verdiensten
des Staates um die religiösen Gemeinschaften für nicht wahrscheinlich halten,
oder ob eine andre Formel beliebt wird. Das Bleibende liegt in alledem noch
nicht. Das Bleibende kann nur in den letzten Idealen liegen, die unserm Denken
vorschweben. Und hier drängt sich allerdings das lächerlich gewordne Virchowsche
Wort, das Wort „Kulturkampf" von selbst auf. Lächerlich ist es geworden,
weil es zu großartig ist für diese kleinen Dinge. Das sieht der Mensch bald,
daß von der Anzeige der Geistlichen, von der Aufsicht über geistliche Kvrrektions-
und Büßerhänser, von Begnadigung von Bischöfen, von unbefugten Messelesen
und ähnlichen Dingen die Kultur der Menschheit nicht abhängt. Aber aller¬
dings hängt unsre Parteinahme für die großen und kleinen Dinge wesentlich
von der Idee ab, die wir uns von der zukünftigen Kultur machen. Und für
diese Idee zu kämpfen, ist in vollem Maße des Meuschen wert. Merkwürdig
ist auch die enge Verbindung, die der Kulturkampf, in solchem Sinne gedacht,
mit dem „Glauben" eingeht. Es ist in der That eine „Glaubenssache," wenn
auch nicht im konfessionellen Sinne, ob wir uns die eine oder die andre Form
der künftigen Kultur zum Ideal nehmen. Darüber müssen wir schließlich noch
einige Vcmerknngen machen.
Einer absterbenden Zeit gehört die Ansicht an, daß unser Staat einen
bloßen Rechtszweck habe. Die Bedürfnisse des Lebens und die Philosophie
zwangen ihn zu der Erweiterung seiner Aufgabe auf alle menschlich-sittlichen
Angelegenheiten, die sich gesellschaftlich besorgen lassen, und nicht besser von
kleinern Kreisen gesellschaftlichen Wirkens besorgt werden. In allen diesen Ge¬
biete!,, im wirtschaftlichen, im rechtlichen (nach innen und außen) und im
Bildungsgebicte, hat der Staat seine regeluden und pflegenden Thätigkeiten ein¬
zusetzen, und der jedesmalige Gesamtzustand, den wir eben Kultur nennen, wird
von ihm beständig auf das Ideal bezogen, das den Organen der Staatsgewalt
vorschwebt. Und wir alle, auch die von ferne zuschauenden, machen uns Ideale
der Kultur, wenn anders wir so weit gekommen find, dem Allgemeinen unsre
Teilnahme zu widmen, und unsre Teilnahme am Staate hängt wesentlich davon
ab, ob wir ihn von denselben Idealen der Kultur erfüllt sehen, wie wir sie
hegen. Da giebt es allerdings so etwas wie Kulturkampf.
Nicht als ob wir Menschen, einzeln oder in Staatsformen thätig, die Zu¬
kunft der Kultur mit mächtiger Hand regeln könnten. Da wirken so viele Fak¬
toren mit, daß uns aller Stolz vergeht. Aber wir sind doch auch ein Faktor,
und die großen Staaten erst recht. In zahlreichen Fällen können wir durch
Pflege des Besten, durch Abwehr von Schädlichkeiten unsre nationale Kultur,
ja mittelbar eine fremde, bestimmen. Ist das möglich, so erwachsen uus sofort
Pflichten der Kulturarbeit und des Kulturkampfes.
Wenn wir nun auf die Virchowsche Anwendung des Wortes zurückkommen,
so handelt es sich speziell um sittlich-religiöse Ideale der Kultur, die sich in der
Gegenwart hart bekämpfen. In unserm so sehr verwickelten Leben stehen wir
alle ohne Unterschied auf zahllosen Errungenschaften der Vergangenheit, die wir
dankbar würdigen, froh, daß wir in das Wichtigste so hineinwachsen und desto
mehr Kräfte frei bekommen für das, was noch unsre besondre Aufmerksamkeit
verdient. So ist es insbesondre in unsern ethischen Ideen, die wie Gemeingut
erscheinen, obwohl in ihnen die Arbeit der ältesten und besten Völker und der
größten Menschen enthalten ist. Niemand hat irgendeine Neigung, diesen Be¬
stand sittlicher Überzeugungen aufzulösen oder abzuändern; nein, wir freuen
uns, wenn diese Überzeugungen immer mehr als zweifellose, feste Gesinnungen
die Menschen durchdringen.
Nun ist es bekannt, daß noch nie ein Volk gefunden worden ist, das seine
moralischen Ideen nicht an eine höhere Welt, an die Gottheit geknüpft hätte.
Die Gottheit schien es zu sein, die die sittlichen Handlungen und viele, ja alle
wesentlichen Lebensäußerungen der ihr dienenden Gläubigen befahl, und sie
wären schwerlich eine so feste Lebensgewohnheit geworden, wenn nicht dieser
religiöse Hintergrund das Schwerste leicht gemacht hätte. Die christliche Bildung
ist von diesem Zusammenhange des Sittlichen mit der Religion ganz ebenso
ausgegangen wie andre Religionen, und die christlichen Kirchen Pflegen diesen
Zusammenhang und knüpfen die jüngste Generation der Gläubigen an die Tage
der Vorwelt und ihre göttlichen Offenbarungen um. Sie stiften so eine Wirk¬
lichkeit, in welcher der Heranwachsende „Bürgschaft für die Richtigkeit seines
Strebens, Belehrung und Trost für sein Irren findet." Das alles ist schon
und entspricht ganz dem Bedürfnis des Menschen, der ohne Pietät nicht
sein kann.
Wenn wir aber den Gang etwas bedenken, den der allgemeine und heil¬
same Glaube an diesen Zusammenhang im Laufe der christlichen Jahrhunderte
genommen hat, so kommen uns doch auch Bedürfnisse der Kultur zum Bewußt¬
sein, die für die Ideale der Kultur uns Fingerzeige geben können. Die von
der Kirche aus regulirte Lebeuspraxis umfaßte eine Zeit lang alles Handeln und
Denken, und gewiß naturgemäß, denn die Gebiete des menschlichen Lebens waren
noch nicht gesondert. Das wurde anders, als die Gebiete des Denkens und
Handelns sich mehr und mehr sonderten und ihre besondern Aufgaben erkannten,
selbständige Theorien zu Grunde legten. Die Astronomie wurde von dem alten
Testamente losgelöst, die Geschichte und Geographie, die Physik, die Geologie,
die Staatskunst und alle Wissenschaften traten für sich ans. Die Offenbarungs¬
grundlage wurde wie gewöhnliche Literatur behandelt und kritisch zersetzt. Ge¬
wisse Eigenschaften derselben traten immer wertvoller hervor, andre wurden
beseitigt. Immer mehr schränkte sich die sittlich-religiöse Sphäre der Kirche ein.
Und damit auch die Bestimmung des menschlichen Handelns dnrch die
Kirche. Staat und Gesellschaft übernahmen diese Seite mese und mehr, selbst
der Ehebund wurde staatlich geregelt. Die Gottesdienste wurden seltener, sie
wurden mehr auf Sonn- und Festtage beschränkt und wurden nicht mehr dnrch
Strafen und allgemeine Meinung obligatorisch gemacht. Es wurde voraus¬
gesetzt, daß, wer sich an der kirchlichen Übung beteilige, damit ein Bedürfnis
seines Gemütes befriedige. Das eigentlich Christliche sollte in das häusliche
und persönliche Leben fallen. Die Summe dessen, was sich in den fortgeschrit¬
tensten Kreisen festsetzte, war, daß das Christliche mehr als ein Innerliches auf¬
gefaßt wurde, nicht als ein Handeln nach vorgeschriebenen Geboten, das mit
Opfer», Gebeten, Büßungen. Wallfahrten u. dergl. Leistungen ausgestattet
werden müßte.
Diese Auffassung mußte zerstörend auf die Wertschätzung des Institutes der
Kirche zurückwirken. Sie gab sich als eine Gemeinschaft, die von Gott gestiftet
und mit göttlicher Verfassung ausgerüstet, das ganze menschliche Leben regeln
sollte. Sich von ihr zu lösen, war ein von der Strafgewalt erreichbares
Verbrechen der Abtrünnigkeit. Dafür lehrte sie nicht nur den Weg des Heils,
sondern sie öffnete und schloß den Himmel. Das mußte einer Bildung sonderbar
und absurd vorkommen, die das Göttliche nnr mit dein Sittlichen verband,
alles andre Wissen von Gott ablehnte und den religiös-sittlichen Menschen nur
nach seiner guten Gesinnung, seinem Wohlwollen gegen deu Mitmenschen, nach
dem Bewußtsein, von Gott geliebt zu sein, abmaß. Es mußte abstoßend wirken
ans eine Bildung, die keine andre Deutung des Willens Gottes gelten ließ
als durch das Gewissen, und die gänzlich darauf verzichtete, die irdische Zu¬
kunft des Menschengeschlechts und die jenseitige Welt ins einzelne auszumalen.
Wenn man früher den Grundsatz befolgt hatte, die profane Weltbetrachtung
so zu gestalten, daß sie mit der religiösen in Übereinstimmung war, wurde jetzt
umgekehrt gefordert, die religiöse Weltbetrachtung so zu formuliren, daß die
profane Welt ihr selbstständiges Recht dabei behauptete. Die Wissenschaft voll¬
kommen frei; der Staat eine souveräne Macht für alle sozial-rechtlichen In¬
teressen; die .Kirchen pädagogische Institutionen, die mit den Ordnungen des
Staates nicht in Widerspruch geraten dürfen, aber auf ihrem Gebiete sonst völlig
frei: das siud Ergebnisse der heutigen Kultur, die dem Kulturideal der Zukunft
als NichtPunkte zur Seite stehen. Diese Kultur ist hauptsächlich eine aus re-
formatorischen Prinzipien abgeleitete Ausgestaltung der Bildung. Das soll
nicht heißen, daß die evangelischen Kirchen überall die Konsequenzen aus jenen
ihren Prinzipien schon ganz gezogen Hütten, auch nicht, daß in den katholischen
Staaten überall die ehemals herrschende Weltanschauung außerhalb der kirch¬
lichen Sphäre noch die Praxis des Staatslebens bestimme. Die Wirklichkeit
gleicht sich in den verschiednen Völkern mehr aus, man fühlt überall, daß es
nicht mehr möglich ist, mit den alten Anschauungen eine freie Entwicklung des
Lebens zu vereinigen, aber auch in den bessern Kreisen ist mancher unüber¬
wundene Rest von Unfreiheit vorhanden.
Aber es bleibt dabei, daß, wenn man das viel mißbrauchte Wort „Kultur¬
kampf" ernst nimmt, sich die Gedanken über die kleinen Dinge des gegenwärtigen
kirchenpolitischen Geplänkels zu einer Höhe erheben müssen, wo die bezeichneten
Knltnridealc selbst in Frage kommen.
Die Zukunft ist so dunkel, daß man nicht in Abrede stellen darf, die alte
kirchlich-scholastische frciheitsfeindlichc Gestaltung des öffentlichen Lebens könne
noch einmal siegen, wie es die Kurie hofft. Große Massen zu leiten ist eine
Kunst, die auf ihrer Seite durch lange Übung besser bekannt ist als bei uns. Es
giebt viele, die diese Störung der Freiheit dann erwarten, wenn die sozialdemo-
kratische Revolution einst durch ihre eigne Thorheit gescheitert ist und sich die
Herzen der Menschen, nachdem alles verwüstet ist, was ihre Freude war, wieder
»ach der „Mutter" Kirche sehnen.
Von andern ist dagegen in Aussicht genommen, eine neumodische Religion
werde an Stelle der christlichen die künftige Kultur zu noch schönerem Ziele
führen. Wir können anch das nur für möglich halten, wenn eine Revolution
die Bande zerreißt, die uns mit der Vergangenheit verbinden. Nichts spricht
dafür, daß sonst jemals die christliche Religion aufhören könnte, die Herzen der
Menschen zu erfreuen und frei zu machen von Sünde und Egoismus.
Es ist also „Glaubenssache" in diesem so dunkeln Gebiete, wenn wir uns
zu der Hoffnung entschließen, daß die christliche Kultur in Verbindung mit dem
besten, was das Menschengeschlecht empfunden und gedacht hat, in freier Ent¬
wicklung uns auch ferner geleiten wird. Mögen die Völker und Gruppen in
dieser „Schule" der christlichen Kultur in verschiednen Klassen sitzen, mögen
recht zurückgebliebene Gruppen noch einer sehr groben Gcistesnnhrnng bedürfen;
es geht doch stets vorwärts in derselben Richtung, in langsamer Annäherung
an dieselben Kulturziele. Wenn wir dies im Auge behalten, so werden wir in
der Behandlung der augenblicklichen kirchenpolitischen Fragen nie die Billigkeit
verletzen, aber desto energischer die Ziele des ganzen Kampfes beherzigen, Be¬
seitigung des Druckes der Kirche, freie Ehrfurcht vor allem, !pas die christliche
Kultur uus gebracht hat, Liebe zur Nation und zu allen ihren Gliedern.
eine letzte Rede ist kaum trocken — das seien meine Reden nie,
sagen Sie, Herr Windthorst? Sehr verbunden! Aber bei der
Notorictät unsrer gegenseitigen Wertschätzung bedarf es zwischen
uns keiner Komplimente. Überhaupt bemerke ich mit Bedauern,
daß in unsern Verhandlungen mitunter ein Hofton einreißt, welcher
der Würde eines Parlamentes nicht entspricht. Unsre Aufgabe ist es, uus und
ganz besonders den Herren Ministern und sonstigen Negicrungsvertretern Un¬
Höflichkeiten zu sagen zum Heile des Vaterlandes. Das vergessen Sie nicht,
meine Herren, dazu sind wir gewählt. Herr Richter ruft mir zu, ich sei gar¬
nicht gewählt. Da hat er sich aber einmal geirrt, es ist unglaublich und doch
wahr. Ich habe mich nämlich gewählt, einstimmig war die Wahl, und ich
bezweifle, daß noch jemand von den Herren sich dessen rühmen kann. Und gerade
gegen Herrn Richter muß ich den Vorwurf erheben, daß er seine allbekannte
Vorliebe für Politesse neuestens etwas zu weit treibt. Er hat dem Feldmarschall
Moltke gesagt, wir, die Opposition, hörten ihm stets mit Aufmerksamkeit zu.
Eine solche Auszeichnung hat dieser Mann in seinem langen Leben noch nie
erfahren. Bedenken Sie doch, ein Richter würdigt einen Moltke seiner Aufmerk¬
samkeit, verpflichtet sich, das immer zu thun: könnte man sich da noch wundern,
wenn der letztere eine zu hohe Meinung von sich bekäme? Hoffentlich besitzt
er Selbsterkenntnis genug, um sich zu sagen, daß das eben nur eine höfliche
Wendung war, eine konventionelle Lüge, wie ein berühmter Schriftsteller gesagt
hat, dessen Name mir im Augenblicke nicht einfällt.
Also, um nicht abermals zu einer Höflichkeit zu provvzircn, sage ich:
meine letzte Rede ist noch feucht vom Drucke, und schon wieder muß ich meine
Stimme gegen den Versuch einer Freiheitsbeschränkung erheben. Ich meine
natürlich deu Fall'des Abgeordneten von Schalschn. Welche Sophismen werden
da zu Markte gebracht! Man sagt, von einem Zeugniszwange sei vorläufig
noch keine Rede, der Abgeordnete sei einfach gefragt worden, woher er seine
Wissenschaft habe. Aber darin liegt ja eben die ungeheure Dreistigkeit. Wenn
ich hier sage, der Reichskanzler denkt nur darauf, die großen Grundbesitzer auf
Kosten des armen Manuel, namentlich desjenigen armen Mannes, welcher sein
trocknes Brot im Schweiße seines Angesichts aus der Börse verdient, zu be¬
reichern, und ein Untersuchungsrichter wollte sich unterfangen, mich zu fragen,
woher ich das wisse, so würde ich entschiede» jede Auskunft verweigern, Oder
sollte ich etwa meinen höchst glanbcnswerten Gewährsmann, den bekannten
Korrespondenten Wippchen, der Rache des Fürsten Bismarck preisgeben? Nun
wird weiter räsounirt: Wenn Herr von Schalscha nicht zur Verfolgung der
Verbrecher, zur Unterdrückung des Verbrechens die Hand bieten wollte, wozu
hatte er es denn zur Sprache gebracht? El, meine Herren, das geht niemand
etwas an. Und die Frage könnte garnicht aufgeworfen werden, wenn man sich
die Stellung eines Volksvertreters gegenwärtig hielte. Der Volksvertreter ist
ein Beichtvater. Dieser verrät das auch nicht, was ihm anvertraut worden
ist, er hält aber den Verbrecher an, den angerichteten Schaden wieder gut zu
machen, und das wird Herr von Schalscha ohne Zweifel ebenfalls gethan
haben — vorher giebt es keine Absolution. Die Mitteilung erfolgte auch nur
hier im vertrautesten Kreise, zur Warnung der Regierung; daß sie dann weiter¬
verbreitet, daß die Angelegenheit an die große Glocke gehängt wurde, ist das
seine Schuld? Und wenn es seine Schuld wäre, so werden wir doch niemals
zugeben, daß jemand angehalten werden könne, das zu vertreten, was er hier
gesagt hat.
Darüber habe ich mich schon neulich ausgesprochen, ebenso habe ich wiederholt
unsre Bereitwilligkeit erklärt, das Vaterland zu verteidigen, falls es wirklich
bedroht werden sollte, wozu bekanntlich gar keine Aussicht ist; und endlich nehme
ich nicht zum erstenmale Anlaß darauf hinzuweisen, wie schädlich es ist, wenn
eine Materie von sogenannten Fachmännern behandelt wird. Sprechen Kollege
Hänel oder Richter oder Banmbach oder ich z. B. über die Frage der Militär-
pensivnirung, so ist die Sache völlig klar. Beamter ist Beamter, ob im Zivil¬
oder im Kriegsdienst. Wenn ein Nechnungsrat bis ins sechzigste oder siebzigste
Jahr lange Kolonnen addiren kann, kann auch ein alter Hauptmann Kolonnen
führen bis an sein Lebensende. Jetzt tritt der Abgeordnete Graf Moltke auf,
ein Fachmann von einigem Ruf, wie ich uicht bestreiten will; aber eben deswegen
ist er befangen, besitzt nicht die frisch-fröhlich-freie Objektivität, welche uns ge¬
stattet, alles über einen Kamm zu scheren, und sofort wird die Angelegenheit
verwickelt. Wir sollen das Offizierkorps nicht alt werden lassen, weil sonst das
Heer selbst veralte — aber ist er nicht selbst alt? Aha, da haben wir ihn
gefangen! Er hat vielleicht an Friedrich Wilhelm III. gedacht, der die Offiziere
aus Friedrichs des Großen Zeit zu sehr respektirte, an die Schlacht bei Jena;
aber wie viel ist damals an Pensionen erspart worden! Der Fehler war nur,
daß nicht am 9. Oktober 1806 alle zu alten Offiziere durch junge ersetzt wurden.
Was für eine Bedeutung der immer wiederholte Satz hat, daß auch im Frieden
die Armee schlagfertig erhalten werden müsse, das kann ich Ihnen an einen:
klassischen Beispiel zeigen. Im Jahre 1415 variirte ein hoher Herr den Spruch
folgendermaßen:
Es ist gar recht, uns auf den Feind zu rüsten;
Denn Friede selbst muß nicht ein Königreich
So schläfrig machen — wenn auch uicht die Rede
Von Kriege wär' und ausgemachten Streit —,
Daß Landwehr, Musterung und Rüstung nicht
Verstärkt, gehalten und betrieben würde,
Als wäre die Erwartung eines Krieges,
Wer war der Redner? Der Dauphin von Frankreich, und der wurde kurz
darauf bei Aziueourt aufs Haupt geschlagen. Folglich ist das Rüster und
Mustern im Frieden nicht nur unnütz, sondern höchst gefährlich; hätte Frankreich
sich die Mühen und Kosten erspart, so würde es England besiegt haben. Das
muß jedem einleuchten, der nicht zu den parteiischen Fachmännern gehört.
Hüten wir uns daher vor deren verderblichen Ratschlägen, hüten wir uns im
allgemeinen vor der langweiligen Sachkenntnis, welche nur dazu da ist, unsrer
Genialität Fesseln einzulegen. Schaffen wir das stehende Heer ab, so brauchen
wir uns wegen der Pensionirung der Offiziere nicht den Kopf zu zerbrechen.
"
Schließlich noch zwei Worte über den „Fall Treitschke. Die nationalen
Parteien haben sich natürlich das wohlfeile Vergnügen nicht entgehen lassen,
dem Abgeordneten Knörcke, weil er die wegwerfende Aeußerung, welche Professor
von Treitschke in einem Kollegium möglicherweise, vermutlich, wahrscheinlich über
die Volksschullehrer gethan zu haben verdächtigt werden könnte, dem Minister
denunzirte, vorzuwerfen, daß der Freisinn wohl alle Freiheit für sich begehre,
sie aber keinem andern gewähren wolle. Die Sache ist aber doch ganz klar.
Wir sagen stets: Einen Ort muß es geben, wo man ungescheut die Wahr¬
heit sagen darf, auch wenn sie nicht wahr ist. Damit ist ausgedrückt, daß es
nicht zwei solcher Oerter geben dürfe, oder gar noch mehr. Wir gehen völlig
konsequent vor. Als Abgeordneter dürfte Herr von Treitschke jedermann ver¬
unglimpfen, verdächtigen, falsch anschuldigen — ausgenommen natürlich die
Freisinnigen —, als Professor muß er unsrer Zensur unterworfen werden, und
wenn wir in einem Rechtsstaate lebten, müßte er für die Aeußerung, welche er
vielleicht gethan hat, sofort seiner Stelle enthoben werden. Auch ist die Frage
aufgeworfen worden, woher denn die Volksschullehrer erfahren haben, was
Professor von Treitschke einer Schiffcrnachricht zufolge den Studenten vielleicht
erzählt haben dürfte? Darüber kann ich Sie aufklären, da ich über den Fall
noch genauer unterrichtet bin als Herr Knörcke, Herr von Treitschke hat nämlich
sämtliche Volksschullehrer ausdrücklich zu jener Vorlesung eingeladen, ihnen die
Beleidigung direkt ins Gesicht geworfen, und wenn sie jetzt, wie Herr Knörcke
berichtet, sehr aufgeregt sind, so ist nur der Zweck des Professors erreicht worden.
Und einen solchen Jugendlehrer soll man im Amte behalten? Unter den Uni-
versitätsprofessore» herrscht überhaupt ein freiheitsfeindlicher Geist, darum muß
endlich ein Exempel statuirt werden. Der Konvent hat das unvergängliche
Beispiel gegeben, wie man mit den Feinden der Freiheit verfahren muß. Ich
hoffe, daß der Herr Minister sich die Sache überlegen wird, aber nicht zu lauge.
ater Hmriques konnte nur eine zustimmende Bewegung machen,
Camoens hätte aufjauchzen mögen, daß er während der Taufe
allein neben Katarina stehen sollte — ihm dünkte alles Gewinn,
wodurch er ihr näher kam. Bcirreto ersparte dem beglückten
Freunde selbst jede höfliche Einrede, indem er sich rasch zu den
Begleitern der Gräfin Palmeirim zurückbegab und den Stallmeister leise aber
nachdrücklich ansprach:
Ihr werdet hier neben mir bleiben und du, Miraflores, wirst keinen Schritt
thun, kein Wort sprechen, bis der Priester dort seines Amtes gewaltet hat.
Könntest du dich nicht bezähmen, so würdest dn dich dreifach zu verantworten
haben, vor mir, vor der erlauchten Herzogin und deiner jungen Gebieterin!
Mit alledem weiß ich nicht, ob ich es vor Gott verantworten kann, wenn
ich Euch jetzt gehorche! raunte der Stallmeister. Aber die Haltung, die er an¬
nahm, und in der er fast wie ein Holzbild starr hinter dem Edelmanns stehen
blieb, bürgte Barreto dafür, daß er leine Störung der feierlichen Handlung
versuchen würde. Pater Henriqucs hatte, während Barreto zu dem Alten
sprach, die Frauen und Camoens zu den Steinen am Wildbache zurückgeführt,
wo er in der Frühe belehrend und betend neben Esmah gesessen hatte. Mit
kurzen Worten hatte er Catarina noch erklärt, warum Barreto nicht Taufpate
Esmcchö sein könne. Die junge Gräfin sandte einen zürnenden Blick nach ihren
Begleitern, einen dankbaren nach dem sorglichen Barreto, und wandte sich dann
zu Camoens, dem sie mit leiser Stimme sagte: Ich bin glücklich, daß es kein
Fremder, sondern der Freund meiner Mutter ist, welcher heute und hier neben
mir steht, und ich danke Euch, daß Ihr mich zu diesem Schritte ermutigt habt!
Camoens empfand bei diesen Worte» des schönen Mädchens die stolzeste Freude,
und doch durchzuckte ihn zugleich ein Schmerzgefühl, für das er keine Deutung
wußte. Er hatte nicht Zeit, seiner wundersamen Empfindung nachzusinnen,
denn die Stimme des Priesters, welcher die Taufzengen beim Namen ausrief
und mit einem kurzen Gebete die heilige Handlung einleitete, weckte ihn zu
voller Teilnahme am Augenblicke, Esmah war auf Pater Henriques' Geheiß
neben dem Steine, der eine goldne Schale trug, niedergekniet, Gräfin Catarina
und Camoens legten je ihre Rechte auf die Schultern der Maurin, während
Joana sich bereit hielt, die Schale voll Taufwasser aus dem klaren Bache zu
schöpfe». Esmah blickte vertrauend zu dem Pater und den beiden neben ihm
stehenden empor — mit ihnen zugleich sah sie in den strahlenden Morgen
hinein, welcher die Fläche des Hochthales, die Felswände und den Bergzug im
Hintergrunde vergoldete. Die ganze svnncnüberglänzte Thalbreite schimmerte
mit dem Stück lichten Himmels über ihr um die Wette, die farbigen Morgen¬
wolken schienen in die Waldschlncht hinabzusinken, welche im Westen die grüne
Einsamkeit begrenzte. Nur die dunklere Wolke über der Spitze von Santa
Eufemia stand unverändert und scheinbar unbeweglich am Rande des Horizonts,
Die erste Stunde des blauen sonnigen Sommertages war noch so still, daß
das Rauschen des Wildbaches weithin hörbar sein mußte und der laute Schrei
eines Eichelhähers aus dem tiefer liegenden Walde bis hierhcrauf drang.
Die wenigen herzlich mahnenden Worte, die Pater Henriques an die Taufzeugen
richtete und für Esmah in arabischer Sprache wiederholte, waren auch der
Mäunergruppe, die ferner stand, wohl vernehmlich. Manuel Barreto sah mit
Rührung auf das junge Geschöpf, das sich in dieser Stunde so entschlossen
von seiner Vergangenheit trennte. Sein Blick streifte dann die beiden Tauf¬
zeugen, Catarina Palmeirim, welche mit frommer Sammlung und einem Aus¬
drucke kindlicher Güte neben der Knieenden stand, und den Freund, der trotz
seiner ritterlichen Haltung mit leuchtendem Ange nur nach der junge» Gräfin
blickte und mehr ihren leise» Atemzügen als den Worten des Priesters zu
lauschen schien. Eben schöpfte Joana, dem Winke Pater Henriques' gehorchend,
das Taufwasser aus der Flut in die goldne Schale, eben sprach der Pater
die weithin schallenden Worte: Und so nehme ich dich, wie dn freien Willens
begehrst, in die Gemeinschaft der einen christlichen Kirche und taufe dich Esmah
Luisn Catarina! als Barreto bemerkte, daß die hinter ihm stehenden Männer
sich unruhig verhielten und Miraflores, der Stallmeister, leise, aber heftig auf
Jayme Leims und den alten Falkner einsprach.
Seid still! sagte Senhor Manuel ernst und gebietend. Und kniet mit mir
nieder, wenn Pater Henriques den Segen über die Getaufte spricht.
Ich habe keine Zeit, muß unsere Pferde bereit machen, versetzte Donna
Catarinas Stallmeister rauh und heftig. Dort drüben aus dem Walde naht
irgendwer, und da meine Gebieterin hier nicht gesehen werden soll, so laßt
uns so bald als möglich auf dem andern Wege hinab.
Bcirreto hatte sich dem stummen Winke des Priesters folgend auf die
Kniee niedergelassen. Pater Henriques wiederholte i» beiden Sprache» den
Segen und schloß mit dem Gebete des Herrn, Hinter Bcirreto aber war nur der
Bursche aus Okaz' Herberge niedergekniet, Miraflores hatte ein paar heftige
Schritte gegen die Eiche hin gethan, an welcher die Pferde ruhig grasten,
Jayme Leiras und der Falkner, dessen Augen so scharf waren wie die seiner
Vögel, hielten ihn an beiden Armen zurück: Ihr bemüht Euch umsonst, die
dort herankommenden sind zu Roß und holen uns alsbald ein!
So wollte ich, daß das Wetter den Senhor Luis und die neugetauftc
Heidin erschlüge! brach der Alte los und schüttelte die haltenden Hände von
sich ab. Habt Ihr gehört, Herr? rief er Barreto an, dort brausen Reiter herauf,
die schwerlich Gutes bringen. Hätte sich Euer Pater mit der vermaledeiten
Taufe gesputet, so könnte meine Gebieterin längst zu Pferd sitzen und brauchte
sich nicht hier und mit Senhor Luis dem Reimschmied finden zu lasten!
Miraflores mäßigte sich so wenig mehr, daß jeder Laut seiner Zornrede
bis zu Catariua Palmeirim hindrang, welche eben mit zärtlicher Bewegung die
Neugetaufte, in deren dunkeln Haar die Tropfen des Wassers wie Perlen zitterten,
umarmt hatte. Jetzt ließ die junge Gräfin Esmcch ans ihren Armen und
winkte mit verändertem Gesicht den zürnenden Alten zu sich heran. Zum ersten
male in seinem Leben gehorchte der Stallmeister seiner Gebieterin nicht, er hatte
wahrgenommen, daß uun auch Barreto unruhig ward und, nachdem er sich des
von Westen nahenden Reitertrupps vergewissert hatte, zu der Gruppe hin stürmte,
welche um Pater Henriques vereint stand und jetzt aus dem Gottesfrieden der
letzten Viertelstunde jäh geweckt ward.
Es naht sich eine bcrittne Schaar — wir wissen nicht, in welcher Absicht
sie hier heraufkommen! Wären es die Diener Mulei Mohammeds, so dürfen
sie Esmah nicht hier finden — Joana, du kennst den Pfad, der längs des
Wasserfalls zu der Schlucht hinabführt. Leite Esmah dort hinunter, verberge
Euch, so gut ihr könnt — wir andern wollen die Kommenden aufzuhalten
suche».
Gewiß, Herr, und sogleich! rief die Ziegenhirtin, die mit gesundem Sinne
die Gefahr begriff und die Gedanken Barretvs erriet. Sie faßte blitzschnell die
neue Christin bei der Hemd: Komm mit nur, es wird dir nicht zu schwer fallen!
und verschwand hinter ihrer Hütte und dem Felsblock, an dem die Hütte lehnte,
während der Edelmann mit fliegenden Worten den Zurückbleibenden darlegte,
wie man sich den unwillkommenen Fremden gegenüber verhalten müsse. Die
herankommenden Reiter scheuchten Joanas Ziegenherde gegen die Hütte und
den Abhang hinter der Hütte zurück, eine wirre Unruhe herrschte, und der alte
Miraflores versagte sich nicht, seiner Herrin die grollendste Miene zu zeigen, die
er aufzubringen vermochte. Bei der Glorie des Hauses Palmeirim, Donna
Catariua — Ihr hättet Euch und mir diese Stunde ersparen müssen! Wenn
die braune Heidin ins Paradies kommen soll, so hätte eine minder edle Hand
als die Eure hingereicht, ihr die Pforte zu öffnen!
Unterdes hatten Zahme Lciras und der Falkner unausgesetzt den näher
kommenden Reitertrupp im Auge behalten. Der erstere rief Barreto bereits zu,
daß es Landsleute und keine Mauren seien, welche im Trabe das Thal durch-
maßen. Der Falkner aber stand auf einem der Felsblöcke, streckte den Kopf
immer weiter vor und riß die Augen auf, als ob er etwas ganz besondres
wahrnehme. Noch einmal blickte er den Heranreitenden scharf entgegen, dann
rief er mit einem Ton, in dem sich Entzücken und plötzlicher Schreck wundersam
paarten: Der König — der König!
Eine Minute später erkannten alle hier versammelten, daß es Dom Sebastian
war, der auf einem Rappen dem hinter ihm dreinkommenden Gefolge voran¬
jagte, und der fein Ziel offenbar an Jocmas Hütte zu finden gedachte.
Dom Sebastians Augen schweifte», als er unter dem Schatten einer der
zerwetterten Eichen plötzlich sei» Pferd zurückriß und dann das dampfende Tier
im Schritt heran lenkte, nicht wie sonst über das Ziel hinaus. Sie hefteten
sich fest lind prüfend auf die Gruppe seiner Unterthanen. Sein von der Jagd
und dem scharfen Ritt frisch gerötetes Gesicht zeigte einen eigentümlichen Aus¬
druck: das Entzücken über den Anblick der jungen Gräfin Palmeirim war noch
nicht völlig von dem Mißbehagen verscheucht, mit dem er Camoens und Barreto
in der Gesellschaft Catarinas bemerkt hatte. Ganz unerklärlich war dem Könige
die Anwesenheit eines dienenden Priesters vom Christusvrden — in seiner Seele
zuckte ein Argwohn ans, den er nur mühsam hinter einem Scherz verbarg:
Meinen Morgengruß, Donna Catarina! Wie oft habe ich vergeblich gestrebt,
Euch, schöne Gräfin, auf einem Jagdzuge zu begegnen — heute finde ich Euch
unverhofft mit diesen Edelleuten und dem Hochwürdigen hier. Ich will hoffen,
Pater, daß du nicht für die Gräfin und einen von ihnen deines Amtes ge¬
waltet hast?
Aus dem Tone des erregten Fürsten klang es wie eine verhaltene Drohung.
Catarina richtete unerschrocken und mit so Heller Fröhlichkeit im Gesichte ihre
Augen auf den König, daß er die seinen unwillkürlich niederschlug. Erhabner
Herr, sagte sie mit anmutiger Verneigung, Ihr wißt wohl, daß die Gräfin
Palmeirim nicht zum Traualtar treten wird, ohne ihres Königs Zustimmung
eingeholt zu haben. Ew. Majestät werden sich nicht erinnern, daß ich um Er¬
laubnis zu meiner Vermählung gebeten habe.
Die stolze Fassung des jungen Mädchens befreite auch die Männer, wenigstens
die drei, welche mit Catarina unmittelbar vor dem Könige standen, von der
Betroffenheit, welche namentlich Cano'e'us nicht völlig verleugnet hatte. Barreto
hatte nur eines Augenblickes bedurft, um sich zu entscheiden, daß der König die
Wahrheit erfahren müsse, und stand schon im Begriffe, dem Herrscher unauf¬
gefordert die Vorgänge dieses Morgens zu erläutern, als Dom Sebastian, dessen
Jagdgefolge inzwischen herangekommen war, aus dem Sattel sprang und, indem
er die Sorge für sein Pferd einem der Reitknechte überließ, sich ritterlich vor
der jungen Dame verneigte und den Männern ein huldvoller Gruß gönnte.
Dabei fragte er: Sind das dort eure Jagdpferde, ihr Herren, und habt ihr
hier nur eine kurze Rast gehalten? Wollt ihr euch unsrer Jagd anschließen,
oder ist euch die Sonne schon zu hoch gestiegen, um uns zu folgen?
Er hatte blitzschnell die Zahl der Pferde und die der anwesenden Männer
verglichen, Stallmeister Miraflores und der alte Falkner waren seinem Blicke
nicht entgangen, Barreto erriet, daß der König sich nur zu vergewissern wünsche,
ob er beim Heimritt die junge Gräfin und ihre Begleiter allein zur Seite
haben würde; Camoens aber, welcher in den Zügen Katarinas las, wie peinlich
ihr die Spannung dieser Minuten war, sprach entschlossen, fast ungestüm Dom
Sebastian an: Dem Auge Ew. Majestät kann es nicht entgehen, daß uns ein
andrer Zweck hier zusammengeführt hat als die Jagd. Pater Henriques hat
soeben eine junge Heidin in den Schoß der heiligen Kirche aufgenommen, die
Gräfin und ich haben ihr als Taufzeugen gedient, und da Gott es fügt,
daß Ihr, allergnädigster Herr, uns heute naht, so erflehen wir den Schutz und
die Gnade Ew. Majestät für die neue Christin!
Die Herzen aller, die in diesem Augenblicke vor dem König standen, schlugen
unruhiger, und selbst Pater Henriqnes senkte einen Augenblick die Augen, als
er den König erbleichen sah. Sie fühlten, daß ein Sturm im Anzüge sei. Dom
Sebastian sagte mit scharfer Betonung: Ich hoffe, daß es deine oder Senhor
Manuels Sklavin war, die Ihr hier in der Einsamkeit taufen ließet?
Nein, erhabner Herr, um keine Sklavin — um eine edle Flüchtige handelt
es sich, deren Sehnsucht uach dem Heil Pater Henriques gestillt hat! Wenn
Eure Majestät mir Gehör gönnen will, so berichte ich getreu, wie wunderbar
sich alles dies begeben hat!
Ich brauche es uicht zu hören, Luis Camoens, ich errate es! entgegnete
der König und heftete die blauen Augen mit eigentümlich kaltem Ausdruck
auf den Dichter und feinen Freund. Ihr habt der entflohenen Sklavin des
Prinzen Mulei Mohammed, meines erlauchten Bundesgenossen, Zuflucht ge¬
währt und habt sie laufen lassen, um sie ihrem Gebieter entziehen zu können!
Ihr habt übel gethan, wenn ihr mein königliches Gebot, dem Maurenfürsten
zur Wiedererlangung des Mädchens behilflich zu sein, nicht gekannt, und schlimmer,
wenn ihr demselben getrotzt habt! Pater Henriques wird wissen, ob er vor
seinen geistlichen Obern diese heimliche Taufe verantworten kann, an der Ihr,
Gräfin Catarina, nie hättet Teil nehmen sollen.
Mein hat mich gelehrt, der König sei allezeit der Schutzherr unsers Glaubens
und der Schirmherr aller Bedrängten, fiel das erglühende Mädchen dem Zür¬
nenden ins Wort. Von meinem König wußte ich, daß er jede» seiner glor¬
reichen Name» mit tausendfachem Rechte trägt. Von Eurer Majestät brauchte
ich nicht zu fürchten, daß sie mir um der Erfüllung einer heiligen Pflicht
willen zürnen würde — auf Eurer Majestät großes Herz durfte ich vertrauen
und einer unglücklichen Mitschwester ohne ärmliches Zagen die Hand reichen.
Ihr seid größer, mein König und Herr, als Eure Räte. Ihr solltet jetzt auch
diese Edelleute, die nur in Euerm Sinu gehandelt haben, nicht mit den Worten
Eurer Räte bedrohen.
Dom Sebastian folgte mit ebenso sichtliche»; Erstaunen wie die drei Männer,
neben denen Katarina Palmeirim stand, den leidenschaftlichen Worten der jungen
Gräfin. Während Barreto und der Priester nur empfanden, wie edel und
mutig die junge Gräfin zwischen den Zorn des Königs und sie trat, leuchtete
in Ccunvens' Gesicht ein Ausdruck triumphirenden Stolzes, innerer Beseligung
auf. Der Dichter vergaß, daß er noch immer nur drei Schritte von seine»!
Herrscher stand, dessen Stirn unmutig gerunzelt und dessen Lippen zornbleich
waren, und suchte durch einen glühenden Blick zu danken. Der König aber
fühlte, daß dies ein entscheidender Augenblick sei, daß er dem Bilde, welches
Katarina in ihrer Seele trug, entsprechen müsse oder für immer in den Augen
des Mädchens des Glorienscheins beraubt sein werde, den er trug. Und obschon
ihm das Beginnen Barretos und seiner Genossen mit jeder Minute vermessener
und strafwürdiger erschien, so durfte doch dieser Morgen ihm nicht verloren
gehen, er bezwang seinen Groll und lächelte wenigstens der mutigen Sprecherin zu:
Es ist nicht ganz so, wie Ihr wähnt, Donna Catarinci, ein König hat oft
die Pflicht, nicht seines Herzens Wallung, sondern die Weisheit seiner Diener
zu Rate zu ziehen. Gleichwohl will ich Euer Vertrauen nicht täuschen und
das, was die Herren in guter Absicht und in Unkenntnis der Verhältnisse
gethan haben, mit dem Schilde meines königlichen Willens decken. Eure Schutz¬
befohlene soll frei bleiben, und um ihrer holden Patin willen werde ich es
auf mich nehmen, ihren seitherigen Herrn zu begütigen. Und nnn, Pater
Henriques, führt mir das Mädchen vor, um deretwillen Wunder geschehen;
denn ein Wunder muß ichs nennen, daß Ihr und Manuel Barreto und unser
Dichter, der Euch erst seit zwei Tagen kennt, und nun selbst der König sich
im gleichen Gefühl für die Fremde begegnen! Wo habt Ihr Euern Täufling?
Wir wollten das Mädchen Eurer Majestät nicht vor Augen bringen, als
bis wir unsre Kühnheit eingestanden und der Armen, die noch wenig von unsrer
Sprache versteht, einen gnädigen Blick gesichert hatten, versetzte Barreto. Ich
werde eilen, Esmah herbeizuholen. (Fortsetzung folgt.)
Es ist eine traurige Erscheinung in
unserm Parteileben, daß alle Fragen, mögen sie Namen haben, welche sie wollen,
dazu benutzt werden, die Parteileidenschaften aufzustacheln, im Parteiinteresse ver¬
wertet zu werden. Die letzten Reichstagsverhandlnngeu haben das wieder recht
gezeigt. Da standen eine Reihe von teils rein technisch-juristischen, teils rechts-
philosophischeu Frage» zur Beratung, und was wurde unter den Händen der Reichs-
tagsmehrheit daraus? Alles wurde benutzt, um Mißtrauen gegen die Regierung
und, was das erbärmlichste ist, gegen unsre Gerichte und ihre Unparteilichkeit zu
säen. Die Wiedereinführung der Berufung, die Entschädigung unschuldig ver¬
urteilter, der Antrag Windthorst über die Interpretation des Artikels 30 der Reichs¬
verfassung und der Zeugniszwang gegen Reichstagsabgeorduete — das sind ja alles
Fragen, die mit der Politik garnichts zu thun haben, die lediglich von juristischen
und, vielleicht auch wie die der Entschädigung unschuldig verurteilter von all¬
gemein menschlichen Gesichtspunkten ans zu entscheiden sind und entschieden werden
sollten. Was hat es mit Konservatismus oder Klerikalismus oder Liberalismus
oder wie sonst die „ismus" heißen, zu thun, ob deu Angeklagten zwei oder nnr
eine Instanz gegeben werden? Was giebt den Demokraten das Recht, die Frage
der Entschädigung unschuldig verurteilter gewissermaßen in Erbpacht zu nehmen
und sich gegen jeden, der mit Rücksicht auf eine gedeihliche Strafrechtspflege auf
die Schwierigkeiten der Lösung hinweist, zu geberden, als ob er ein Reaktionär
von der schwärzesten Farbe sei? Arbeiten nicht alle Parteien, arbeitet nicht die
Negierung in gleicher Weise, wenn auch mehr und mit Recht die praktischen Seiten
betonend, eifrig mit, um unsre Rechtszustände fortwährend zu vervollkommnen, um
unsern Staat, der jetzt schon als Rechtsstaat allen rudern Staaten zuvorgekommen
ist, immer mehr zu einem solchen zu gestalten, in dem nur das Gesetz und nicht
der Wille der Negierung, aber auch nicht der Wille einzelner Parteien (das letztere
ist noch gefährlicher) maßgebend ist? Doch das beiläufig. Es sollte hier vor allem
betont werden, wie bei der Beratung der erwähnten Fragen im Reichstage die
Regierung und unsre Gerichte behandelt worden sind. Nicht sachliche Gründe
wurden vorgetragen, sondern in erster Linie wurde die Sache von vielen Seiten
so dargestellt, als ob die Negierung und die Gerichte im Strafverfahren Hand in
Hand gingen, um die armen Angeklagten möglichst (man verzeihe deu Ausdruck)
hineinzureiten. Hat sich doch ein Sozinldemvkrat erlaubt, im Reichstage von einer
„angefressenen" Rechtspflege zu reden, und hat doch ein andrer die Behauptung
aufgestellt, die Fälle seien nicht selten, in welchen Leute im Gefängnisse gehalten
würden, um ein Geständnis von ihnen zu erpressen! Und auch andre Abgeordnete,
denen man doch mehr Einsicht zutrauen sollte, haben mehr oder weniger vorsichtig
ein ganz ähnliches Mißtrauen zur Schan getragen und ausgesprochen. Der ganze
Antrag Windthorst über die Zeugnispflicht der Reichstagsabgeordneten entspringt
einem solchen Mißtrauen. Er glaubt, die Gerichte würden sich beeinflussen lassen,
den Abgeordnete» das von diesen auf Grund des Artikels 30 neuerdings bean¬
spruchte Recht der Zeugnisverweigerung abzusprechen, und will deshalb vorbeugen.
Hätte der Abgeordnete Windthorst den Artikel 30 wirklich für so klar gehalten,
wie er behauptet, und hätte er nicht Mißtrauen in die Unparteilichkeit der Gerichte
säen wollen, dünn wäre sein Antrag vollständig überflüssig gewesen.
Schlimmer aber noch als im Reichstage geht es in der Presse zu, die ja
vielfach von Neichstagsmitgliedern geleitet wird oder doch unter deren Einflüsse
steht. Dort scheut mau sich schon nicht, diejenigen gerichtlichen Erkenntnisse, welche
nicht gefallen, ganz offen als parteiliche zu bezeichnen, dort fällt man die ab-
sprechcndste», gehässigsten Urteile auf Grund lügenhafter oder entstellter Zeitungs¬
berichte, die oft von Personen verfaßt sind, welche, ihrer ganzen Bildung nach,
garnicht imstande sind, einer Gerichtsverhandlung zu folgen, geschweige denn die
ergangenen Entscheidungen ans ihren Wert oder Unwert hin zu prüfen. Hat jemand
unsre höchsten Beamten geschmäht, sie verleumdet, ihnen Ehrenrühriges nachgesagt,
und wird er dann auf Grund der für alle bestehenden Gesetze zu Strafe mit Recht
verurteilt, dann ist es nicht etwa der Verurteilte, den man tadelt und den man
als einen Ehrabschneider der öffentlichen Verachtung preisgiebt, nein, das Erkenntnis
Wird mit einem gewissen Achselzucken den Lesern mitgeteilt und dabei angedeutet
oder auch offen ausgesprochen, daß man von unsern Gerichten nichts andres er¬
warten könne, als daß sie dem hohen Beamten zuliebe den Ehrenmann-Ver¬
leumder verurteilten. Und so ist es in hundert andern Fällen, Selbst dem höchsten
deutschen Gerichte, dem Reichsgerichte, giebt mau nicht die Achtung, die es bean¬
spruchen kann. In jedem andern Lande werden die Urteile der höchsten Gerichte
von allen Parteien respektirt, obwohl diese Gerichte nicht immer mit denjenigen
Garantien für eine unabhängige Rechtsprechung umgeben sind wie unser Reichs¬
gericht, Bei uus aber, im deutschen Reiche, erlaubt sich jeder Zeitungsschreiber
von oft sehr dunkler Vergangenheit die Entscheidungen der Gerichte vom höchstem
bis zum untersten nicht zu prüfen, nein ungeprüft und unverstanden zu kritisiren.
Und das seiner Meinung nach mit Recht, Denn der heutige Zeitungsschreiber hat
sich das alte Wort: „Wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch Verstand" für
sich dahin zurechtgelegt: „Wen Gott Zeitungsberichte schreiben läßt, dem giebt er
auch Verstand, alles zu verstehen oder doch das Recht und die Pflicht, alles zu
tadeln und — zu beschimpfen,"
Es ist die höchste Zeit, daß dem entgegengetreten wird. DaS Vertrauen in,
die Unabhängigkeit und Freiheit der Rechtsprechung ist eines der wichtigsten Güter
im Volksleben, Nichts bringt so sehr auf und erregt die Gemüter so sehr, als
offenbar ungerechte Gerichtsentscheidungen. Das wissen auch die, welche ein Interesse
daran haben, die neue Ordnung der Dinge in Deutschland umzustoßen, welche ein
fest gefügtes geordnetes Staatswesen nicht wollen, ganz gut. Darum sieht mau
Sozialdemokratin!, Dentschfreisinnigc, Welsen und Jesuiten Hund in Hand gehen,
wenn es gilt, unsre Rechtspflege zu verdächtigen. Denn allen ist ein geordnetes
starkes deutsches Reich ein Dorn im Ange. Das Volk muß unzufrieden sein, der
Staat darf seinen Angehörigen nicht mehr den verlangten Schutz geben, dann kann
im Trüben gefischt und für die Partei etwas gewonnen werden. Herr or. Windthorst
beschwert sich so oft, daß bei Protestanten und Liberalen keine Achtung vor den
kirchlichen Autoritäten der Katholiken, den Bischöfe» :e. bestehe, daß man Hand¬
lungen solcher Autoritäten frei und tadelnd kritisirc. Wer hat uns denn das
Beispiel vom Kampfe gegen die Antoritcit gegeben? Doch das Zentrum, das zuerst
voranging, die staatlichen Organe und vor allem auch die Gerichte — ur. der
Kulturkampfszeit — herunterzuziehen, und daß dadurch die Autoritätlosigteit in
das Volk eiugeftthrt und weit verbreitet hat. Das rächt sich jetzt auch an der
katholischen Kirche, deren Rechte damals angeblich verteidigt wurden. Bischöfe und
hochgestellte Geistliche werden nicht mehr respektirt, wenn sie mit dein großen Haufen
nicht übereinstimmen, und man kaun dem Zentrum wohl zurnfein „Achtet erst
eure Bischöfe und Dekane selbst und hört auf sie, ehe ihr von den Nichtkatholiken
verlangt, daß man eure kirchlichen Autoritäten respektire," Das gehört eigentlich
nicht zur Sache. Allein die Abschweifung lag nahe, und die Nutzanwendung ergiebt
sich aus dem lehtgesagten ebenso wie aus dem früheren Immer lautet sie: Alle
Parteien, die den Staat nicht zerstören, sondern erhalten »vollen, haben das größte
Interesse an der Aufrechthaltung jeglicher Autorität, möge sie Namen haben, welche
sie wolle. Die Gerichte aber vor allem müssen respektirt werden, denu ist das
Vertrauen in ihre Unabhängigkeit gestört, dann ist das ganze Staatswesen unter-
graben. Volksvertretung und Presse sollten sich deshalb gemeinsam jeder Aeußerung
enthalten, die so gedeutet werden könnte, als hielte man unsre Gerichte nicht über
alles Parteiwesen erhaben
hat schon vielen Anlaß zum Meinungsaustausch
gegeben, sie war auch die Ursache verschiedner in der vorigen Sitzungsperiode des
NeichtageS bei diesem eingereichten, vom Reichstage, wenn ich nicht irre, dem
Reichskanzler teils zur Erwägung, teils zur Kenntnisnahme mitgeteilten Petitionen.
Wie sehr aber die Ansichten in dieser Angelegenheit noch auseinander gehen, geht
am besten aus den widersprechenden Verlangen hervor, welche zur Beseitigung der
Uebel des Prostitutivnswesens gestellt werden. Da wird einerseits möglichst strenges
Vorgehen gegen die gewerbliche Unzucht, anderseits möglichste Nachsicht und Wieder¬
einführung der polizeilich zu überwachenden Bordelle verlangt, wieder andre wollen
keins dieser Extreme, aber Verbannung der Prostituirten in gewisse abgelegne
Häuser. Um zwischen diesen verschiednen Ansichten den richtigen Weg zu finden,
muß man vor allem einen grundsätzlichen Standpunkt feststellen, von welchem ans
man sicher vorgehen truü. Wird man dabei anch zugestehen müssen, daß die
Prostitution ebensowenig thatsächlich aus der Welt geschafft werden kann wie Trunk
und Spiel, so wird mau doch nnniöglich so weit gehen können, die Existenz der
Prostitution als eine Notwendigkeit zu betrachten, wie dies vielfach behauptet wird,
wobei uns stets der Verdacht aufsteigt, daß die, welche also reden, für ihre eignen
Neigungen eine Beschönigung suchen wollen. Bestreitet man diese Notwendigkeit,
dann erweist sich die Wiedereinführung der Bordelle grundsätzlich als unmöglich,
ebenso wie die. öffentliche Duldung der Spielbanken ausgeschlossen ist. Gegen die
Zulassung der Bordelle spricht aber noch ein Umstand, der sehr schwer ins Gewicht
fällt und doch gewöhnlich anßer Acht gelassen wird, daß nämlich der Bordellhalter
nicht etwa bloß ein Privilegium besitzt, gefallene Dirnen aufzunehmen (dagegen
wäre vielleicht nicht so viel einzuwenden), sondern daß er, um sein Geschäft aufrecht
zu erhalten, gezwungen ist, um den schrecklichen Kunstausdruck zu gebrauchen, für
„frische Waare" zu sorgen, also geradezu gesetzlich zum Betriebe der Kuppelei und
Verführung privilegirt ist. Es geht daher unsre Gesetzgebung von einem ganz
richtigen Gesichtspunkte aus, wenn sie die gewerbsmäßige Unzucht bestraft, diejenigen
Frauenspersonen aber, welche sich derselben nnchgewiesenermaßen ergeben haben, zur
Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anstandes
unter sittenpolizeiliche Vorschriften stellt. Der 5 3«1 Satz 6 des Neichsstrafgesetz-
bnches bedroht nun zwar uur eine Weibsperson, welche gewerbsmäßige Unzucht
treibt, mit Strafe, es ist aber nach Z 48 des Strafgesetzbuches durchaus zulässig,
denjenigen Mann, welcher eine Frauensperson zur Hingabe durch Angebot oder Jn-
anssichtstellen vou Geld und Geschenken verleitet, als Anstifter mit der Dirne
gemeinsam zu bestrafen; es ist dies, so viel bekannt, noch nicht geschehen, würde
aber jeden Augenblick geschehen können/') Soll also in dieser Richtung Wandel
eintreten, so bedarf es keiner Aenderung, sondern mir entsprechender Anwendung
der bestehenden Gesetzgebung, namentlich muß die Rechtsprechung den Fall gewerbs¬
mäßiger Unzucht stets annehmen, wenn sich eine Frauensperson überhaupt gegen
Honorirung hingegeben hat, mag dies auch nur einmal geschehen sein, da sie es
dann zum Erwerbe, also gewerbsmäßig betrieb, während jetzt meist mindestens
zwei solcher Fälle verlangt werden; anch die Frage, was als Honorirung angesehen
werden soll, kann nicht streng genug genommen werden, jedes, auch jedes nach¬
träglich gegebene Geschenk sollte darunter gerechnet werden, dann würde sich ein natür¬
lich erwünschtes strengeres Vorgehen auch gegen das männliche Geschlecht von selbst
mit ergeben. Es steht auch nichts im Wege, eine Weibsperson oder einen Manu,
welche auf unzüchtigen Wege Krankheiten übertragen haben, wegen Körperverletzung
zur Bestrafung zu bringen, also bedarf es anch insoweit keiner Verschärfung unsrer
Gesetzgebung.
Muß mau nun auch zugeben, daß es ohne Anreizung durch das männliche
Geschlecht keine prostituirten Dirnen geben würde, so muß doch anderseits darauf
hingewiesen werden, daß die so besonders abstoßende gewerbsmäßige Unzucht immer
nur von einer Frauensperson betrieben werden und also die zur Beaufsichtigung
dieses Lasters nötige Thätigkeit der Polizeibehörden sich nur gegen Frauenspersonen
richten kaun, und daß die mit der Sittenkontrole verbundene allerdings tiefe Ent¬
würdigung des weiblichen Geschlechts weniger ans Rechnung dieser nötigen Kontrole
als der Entwürdigung kommt, welche diese Frauenspersonen sich selbst durch Ergreifung
des gedachten lasterhaften Berufes bereitet haben. Es wird freilich behauptet, daß
nach dem K 361 Satz 6 des Strafgesetzbuches eine Frauensperson der Bestrafung
für die Ausübung gewerblicher Unzucht dadurch entgehen könne, daß sie nnter
polizeiliche Kontrole gestellt werde. Diese Ansicht beruht aber auf einer Unkenntnis
der einschlagenden Bestimmungen. Die Polizeibehörden sind garnicht berechtigt,
jede beliebige Frauensperson mit ihrem oder gegen ihren Wunsch ohne weiteres
unter Sittenkontrole zu stellen, vielmehr wird dazu uach einer Verfügung des
Ministers des Innern vom. 7. Juni 1850""'°) unbedingt vorausgesetzt, daß die be¬
treffenden Personen wegen gewerbsmäßiger Unzucht bereits bestraft oder als diesem
Laster fröhnend bekannt und geschlechtskrank befunden worden sein müssen. Es
ist nicht anzunehmen, daß irgendeine Polizeibehörde sich über diese Vorschrift des
Ministers hinwegsetzen sollte; wäre es aber doch der Fall, so würde es nur eines
Aurufens der höhern Instanz bedürfen, um Abhilfe zu schaffen. Wird der Z 361
Satz 6 des Strafgesetzbuches mit dieser Einschränkung angewandt, und wird gleich¬
zeitig sorgfältige Straßenpolizei gegenüber den herumstreifenden Dirnen gehand-
habt, dann ist allen Ansprüchen genügt, welche man billigerweise an die Gesetz¬
gebung und die Verwaltung stellen kann. Abgestellt, wie bemerkt, wird das Laster
nicht; es erhält aber auf diesem Wege nicht die gesetzliche Sanktion und kann in
den Schranken gehalten werden, welche die Gesundheit und die öffentliche Ordnung
und Sitte erheische».
Nun wird freilich noch ein Bedenken gegenüber dem jetzigen Zustande geltend
gemacht, welches scheinbar viel für sich hat, aber doch auch nicht zutrifft. Mau
glaubt, der jetzige Zustand gestatte den Prostituirten überall umherzustreifen und
aller Orten zu wohnen, und dadurch der öffentlichen Sitte und Ordnung, zu deren
Schuhe die jetzigen Anordnungen getroffen seien, erst recht ins Gesicht zu schlage«,
namentlich auch die Jugend von der Gegenwart der Prostitution in Kenntnis zu
setzen; alles dies sei zur Zeit der Bordelle nicht der Fall gewesen, und wenn man
nicht gerade Bordelle wieder einführen wolle, dann solle man wenigstens Bestim¬
mungen erlassen, welche den Dirnen mir das Wohnen in abgelegnen Straßen und
Häusern gestatten. Das Herumstreifen der Dirnen war aber zu der Zeit, als es noch
Bordelle gab, ebenso stark wie jetzt; wer vor dem 1. Januar 1857, mit welchem
Tage die Bordelle geschlossen wurden, in Berlin studirt hat, wird dies wenigstens
für Berlin bestätigen können; es gab anch damals nicht nur zünftige Priesterinnen
der Venus, sondern sehr zahlreiche der Venus vulgivaga; in dieser Beziehung ist
nichts verschlimmert worden, Sache der Polizei ist es nur, die Straßen frei zu
halten und namentlich gegen die sogenannten „Louis" einzuschreiten — soweit dies
eben möglich ist. Das ist aber jetzt nicht vollständig möglich und war es früher
auch nicht; ein Gebot, daß anßer in öffentlichen Häusern Unzucht nicht getrieben
werden solle, ist einfach undurchführbar; dagegen hatten die Bordelle einen merk¬
würdigen Reiz für alle jungen Leute, galten sie doch (wie z. B. in Hamburg) für
eine Merkwürdigkeit, welche jeder Reisende gesehen haben mußte. Das Wohnen
in abgelegenen Straßen kann schon jetzt die Polizei den Dirnen aufgeben und
thut es regelmäßig, indem die für Berlin erlassenen Kontrolvvrschriften wohl in
allen größern Städten, wenigstens Preußens, durchgeführt sind, in welchen aus¬
drücklich das Verbot des Wohnens in gewissen Straßen mit inbegriffen ist. Es
kommt also auch in dieser Richtung nur auf eine energische Handhabung solcher
Vorschriften durch die Ortspolizei an. Unrichtig ist es, daß der Hauswirt einer
Dirne, der von deren Beruf weiß, als strafbar angesehen werde; er wird nur
daun als Kuppler angesehen, wenn er dem Berufe der Unzucht Vorschub leistet,
z. B. durch Zuführung von „Herren." Bestimmte Häuser festsetzen, in welchen
allein die Prostituirten sollten wohnen dürfen, geht nicht an, wenn man nicht die
ganze alte Bordcllwirtschaft wiedersahen will, oder wenn nicht die Gemeinden selbst
Häuser mit Zellen für jede Dirne herstelle» wollten, was auch seiue Bedenken
haben und leicht ausarten möchte. So kann es nur der Diskretion den Lvkal-
polizeibehörden überlassen bleiben, welche Straßen sie zum Wohnen der Prostituirten
für zulässig erachten wollen; jede Stadt hat ja ein Viertel zweifelhaften Rufes, in
dieses werden sich dann allmählich die Vennspriesterinnen von selbst zurückziehen.
Will niemand solche Damen im Hause dulden, so ist das ein Beweis, daß die
Bolksstimme sich noch nicht für das Bedürfnis der Prostitution ausgesprochen
hat, und die Prostituirten sowie deren Freunde mögen sich nach dieser Stimme
richten.
Aus alledem geht hervor, daß die Gesetzgebung und die dazu erlassenen Aus-
fnhrnngsbestimmungen den richtigen Weg eingeschlagen haben, und daß es uur
Sache der Praxis ist, diese Bestimmungen richtig anzuwenden. Wird irgendwo
eine falsche Anwendung bekannt, so suche man nur Abhilfe bei der vorgesetzten
Behörde. Schließlich mag aber noch darauf hingewiesen werden, daß die Polizei¬
behörden allein nicht imstande sind, die Prostitution ganz oder mir in ihren
krassesten Auswüchse» aus der Welt zu schaffen, dazu haben andre Elemente mitzu-
wirken; es muß die Anschauung zur Geltung gebracht werden, daß Unzucht ehe»
etwas unzüchtiges ist, und daß es uicht zum guten Tone gehört, derselben zu
fröhnen und sich öffentlich als ihren Diener zu bekennen. Auch auf die Literatur
muß eingewirkt werden, daß sie ein derartiges Treiben nicht in verlockenden Lichte
schildere. Geschieht derartiges, dann wird die Prostitution von selbst nicht ver¬
schwinden, niber sich in das Dunkel zurückziehen, wohin sie gehört.
Was hat Hamburgs Rhederei dem un¬
genannten Verfasser des in diesen Blattern veröffentlichten Aufsatzes „Schiffsraaen"
gethan, daß sie für ihn garnicht vorhanden ist? Weshalb macht er der deutschen
Rhederei einen Vorwurf, den er doch höchstens der Rhederei des Norddeutschen
Lloyd zu Bremen machen kann? Ist er der Meinung, daß der norddeutsche Lloyd
der Inbegriff der deutscheu Handelsflotte sei? Dann möchten wir uns erlauben, ihn
daran zu erinnern, daß der norddeutsche Lloyd allerdings nahezu die einzige
Bremer Dampfschiffsrhederei ist, aber doch nur über 3V transatlantische Dampf¬
schiffe und über 9 Küstendampfer verfügt, Hamburgs Rhederei aber unter seinen
600 Schiffen nicht weniger als 170 Seedampfschiffe mit einem Tonnengehalt von
über ^ Million auszuweisen hat. Und diese 170 Dampfschiffe entsprechen mit
ihren 170 Namen nahezu vollständig den Anforderungen, die der Verfasser jenes
Aufsatzes stellt und nicht erfüllt findet bei den 30 Namen des Bremer Lloyd!
Das Hauptunternehmen Hamburgs ist die Hnmbnrg-Amerikanische Packctfahrt-
Aktien-Gesellschaft. Sie hat 23 Dampfer ans dem Ozean in Fahrt, und diese Dampfer
tragen Namen, die allerdings zum Teil deutschen Ländernamen, ähnlich klingen, aber
doch nur deutscher Geschichte entnommen sind, oder ans welcher Landkarte der
Gegenwart finden sich die Namen: „Allemannia," „Teutonia," „Vandalia," „Albiugin,"
„Rhaetia," „Rugia"? Woher aber die Namen genommen sind, dn stammen much
die, andern her, die „Frisici," „Silesia," „Borussia," „Hungnria," „Mvravia," und
wie die andern Dampfer dieser Gesellschaft heißen.
Das zweitgrößte Unternehmen Hamburgs ist die Hamburg-südamerikanische
Gesellschaft. Sie hat 18 große transatlantische Dampfer in regelmäßiger Fahrt
nach der Ostküste Südamerikas, und fast alle diese Dampfer tragen südamerikanische.
Namen, ich nenne, nur: „Desterro," „Petropolis," „Rosario," „Rio," „Corrientes,"
„Paranagna," „Ceara," „Pernambuco," „Santos," „Argentina" n. s. w.
' Nach der Westküste Südamerikas fährt die Deutsche Dampfschifffahrts-Gesell-
schaft Kosmos mit 14 Dampfern. Die Dampfer fahren um der Westküste hinauf
bis Guatemala, sie machen die größten Reisen, die überhaupt deutsche Dampfer aus¬
führen. Seine Namen hat der Kosmos dem alten Aegypten entlehnt: „Memphis,"
„Snhharah," „Ramses," „Theben," „Menes." „Uarda," „Ibis," „Kambyses."
„Totmes," „Setos," „Neko" u. s. w. werden durch ihn verherrlicht.
Einen Bruchteil des Hamburg-Chinesischen und -Jnpanesischeu Verkehrs ver-
mitteln die 10 Dampfschiffe der „Deutschen Dampfschiffs-Nhedcrei." Ihre Namen
sind dem Sternenzelt entnommen. So viel Schiffe, wie kleine Planeten am Himmel
sind, stellten die Gründer als ihr Ziel hin, und so wurden die Dampfer getauft:
„Atalanta," „Bellona," „Olympia," „Kassnndra," „Hcsperin," „Massalici," „Poly-
hymnia" u. f. w.
Die Privatkraft Rob. M. Slomans unterhält regelmäßige Fahrt nach Australien.
Die großen australischen Dampfer sind gedurft uach Häfen des Mittelmeeres, >veil
sie dus Ziel der ersten erfolgreichen Dampferfahrt Herrn Slomans waren; sie
heißen: „Sorrento," „Marsala," „Catcinia."
Nach Afrika fährt die, Woermann-Linie jetzt mit sieben für afrikanische Fahrt
eingerichteten Dampfern. Wie die Linie genannt wurde much dem großen Pionier
des deutsch-afrikanischen Handels, so die einzelnen Dampfer nach den Namen seiner
Familienglieder. „Carl Woermanu" heißt der Pionierdampfer, „Mine Woermann,"
„Professor Woermann" u. s, w. die folgenden, „Gertrud Wocrmann," zu Ehren
der jungen Frau des Hamburgischen Reichstagsabgeordneten, der jüngste Dampfer
dieser Linie.
Mit Canada hat die „Hansa-Rhederei" eine regelmäßige Fahrt eingerichtet,
ihre Schiffsraaen hat sie Hamburgischen Straßennamen entnommen: „Kehrwieder,"
„ GraSbrvok," „Baumwnll."
In transatlantischer, aber nicht regelmäßiger Fahrt sind thätig! Edward Carrs
Dampfer; fünf davon trogen die Namen der fünf Weltteile, andre Namen wie:
„Polynesia," „Polaria," „Jndia,"
In nicht bestimmter, allgemeiner Fahrt ist die Danipfschifffahrts-Gesellschaft
„Anglia" thätig; Gevatter für ihre Dampfer scheinen die Prinzen des Hohenzollern-
hauses zu sein. Die größten Dampfer der Gesellschaft, weit größer als die, die
der Bremer Lloyd sich für die subventionirten Linien bauen läßt, heißen „Prinz
Georg," „Prinz Alexander," die andern: „Prinz Wilhelm," „Heinrich," „Leopold,"
„Albrecht," „Friedrich Karl."
Wollte ich meine Berichtigung auf Hamburgs sonstige Nhedereien ausdehnen,
ich könnte diese Mitteilung erheblich verlängern. Doch genug, deun ich wollte
mich beschränken auf diejenigen Dampfer, die dem Gros des Norddeutschen Lloyd
ebenbürtig sind. Shakespeares Frauengestalten schmücken den Bug der Schiffe, die
täglich in Hamburg-Londoner Fahrt die Nordsee durchkreuzen, „Freia" heißt das
wunderbare Boot, das mit unübertroffener Schnelligkeit Hamburg mit Helgoland
verbindet, andre nennen sich „Wodan," „Fidelio," „Picciola."
Gegenüber den Anfeindungen, welche das energische Vorgehen der preußischen
Regierung gegen die Ausbreitung des Polentums in uusern deutscheu Ostprovinzeu
erfährt, mag es gestattet sein, die Leser dieses Blattes auf das vorliegende Buch
aufmerksam zu machen, welches, obwohl schon im Jahre 1880 erschienen, gerade
in der Gegenwart eine besondre Bedeutung gewinnen muß. Der Verfasser hat,
abgesehen von eigner Anschauung, das Glück gehabt, aus archivalischen Quellen
schöpfen zu können; die Mitteilung derselben in den Anlagen — unter denen sich
z. B. auch der vom Reichskanzler im Preußischen Abgeordnetenhause so vielfach
angezogene Flottwellsche Bericht befindet — nimmt die Hälfte des Buches ein und
ermöglicht es, das von dem Verfasser gegebene Bild überall auf die Nichtigkeit
seiner Zeichnung und Färbung zu kontroliren. Für die Beurteilung des preußischen
Vorgehens ist es von Bedeutung, aus deu Aeußerungen der offiziellen polnischen
Führer, ihrer Presse und ihrer gesamten Propaganda die Ziele kennen zu lernen,
welche das Polentum verfolgt. Für die Naivität, mit welcher preußische Abge-
ordnete wie die Herren Hänel und Virchow der Maßlosigkeit polnisch-revolutionärer
Herrschsucht durch schöne Redensarten entgegenzutreten suchen, wird es lehrreich sein,
zu erfahren, wie entgegenkommend sich die Polen gegen das Deutschtum verhalten
würden, wenn sie nur die nötige Macht hätten. Es mag der Hinweis genügen,
daß sich im Jahre 1843 lediglich eine ans Polen bestehende Kommission zu
nationaler Reorganisation des Großherzvgtums Posen gebildet hatte, indem die¬
selbe den neben 700 000 Polen in der Provinz Posen wohnenden 500 000 Deutschen
weder Wahl- noch Stimmrecht in Bezug ans ihre zukünftige politische Stellung
zugestand. Das war keineswegs ein revolutionäres Komitee, sondern eine Kom¬
mission, die sogar unter dein Vorsitz des Oberpräsidenten von Beurmann stattfand.
Dem nu Zahl fast gleichen Teile der deutschen Bevölkerung in der Provinz trug
man insofern Rechnung, als man edelmütig genug war, deu Oberbürgermeister
der Stadt Posen und einen Lnndgerichtsrat als „Gäste" Anzuziehen. Im März
1348 verlangte die nach Berlin unter Anführung des Erzbischofs Przylnski ab¬
gesandte Deputation nicht weniger als: ausschließlich polnische Geschäftssprache,
national-polnisches Militär aus Eingebornen, als obersten Zivilbeamten einen Polen;
Beamte, welche nicht Polnisch verstünde», sollten versetzt oder pensionirt werden,
und dergleichen mehr.
Man sieht: den Polen gegenüber befinden wir uns in der Notwehr; hier
heißt es einfach: Ambos oder Hammer sein. Nun glauben wir, daß in der That
das deutsche Volk die Pflicht habe, nicht an der Ostgrenze das Deutschtum zu ver¬
lieren, welches an der Westgrenze mit schweren Opfern an Gut und Blut wieder
erkämpft ist. Denn schon kaun man mit Eichendorff unter entsprechender Aenderung
sagen:
Dort hart an Weichselstrome,
Da liea,t Verlornes Gut,
Da gilt es deutsches Blut
Vom Höllenjvch zu lösen.
Es ist ein ganz hübscher Einfall, die literarischen Persönlichkeiten und Be¬
ziehungen einer begrenzten Landschaft in historischer Folge vorzuführen, und selbst
wenn dies, wie hier, in dem leichteren Tone guter populärer Vortrüge geschieht,
werden immer eine Menge interessanter Erinnerungen, vergessener Thatsachen und
verschollener Namen neu belebt. Das literarische und künstlerische Leben in dem
gewerbthätigen Elberfeld war jederzeit mir ein bescheidnes, doch beweist die Reihe
von Bestrebungen und Leistungen, deren Noeber zu gedenken hat, daß die in dieser
Beziehung mindest begünstigte deutsche Stadt doch immer noch eine ganz andre
literarische und künstlerische Geschichte hinter sich hat als eine gleich große und
gleich industrielle französische Provinzialstadt. Daß die Musen auch in der zweiten
Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts nicht aus dem Wupperthale verschwunden
sind, belegt unter andern, die eigne poetische Thätigkeit Nvebers, deren er be¬
scheidnerweise uicht gedenkt, an die wir aber doch die Leser der kleinen Schrift
unserseits erinnern wollen.
me der Lebensfragen für das britische Reich, die zweitwichtigste
nächst der indischen, soll nunmehr wirklich auf eine Weise zu
lösen versucht werden, die viele englische Politiker für ver¬
hängnisvoll ansehen, und die man deshalb selbst einem Staats¬
manne wie dein, der jetzt wieder die Angelegenheiten jenes Reiches
an erster Stelle leitet, bisher kaum zutrauen zu dürfen meinte. Gladstone hat
sich über die irische Frage endgiltig schlüssig gemacht, und sein Plan zur Lösung
derselben beruht auf der Basis des Home Rule. Der og-it^ T^lLM-siM brachte
die Grundzüge desselben, und nach dieser Mitteilung werden Gladstones Vor¬
schläge ein besondres irisches Parlament einschließen, das ohne Zweifel wie
früher in Dublin tagen wird. Die jetzt über Irland verteilten Kvnstabler sollen
als Reichspolizei fortbestehen, neben ihnen aber würde eine lokale Polizei er¬
richtet werden, die mir den Ortsbehörden untergeben wäre. Die Zölle und die
Verbrauchssteuern würden im ganzen Reiche dieselben sein, die EinHebung der
aus diesen Quellen fließenden Einkünfte aber für Irland irischen Beamten an¬
vertraut werden. Das irische Parlament soll mit diesen Beschränkungen und
einigen andern, die mit der Laudankaufsakte, welche das Londoner Parlament
beschließen soll, zusammenhängen, vollen Spielraum in der Verwaltung der ört¬
lichen Angelegenheiten erhalten. Endlich soll Irland das Recht verbleiben, das
Unterhaus mit Vertretern zu beschicken, um an den Verhandlungen über die
das ganze Reich angehenden Fragen teilzunehmen.
Gladstone ist überzeugt, daß der Ausführung dieser Absichten keine unüber¬
windlichen Schwierigkeiten im Wege stehen. Er erwartet nicht, daß, falls seine
Maßregeln im Unterhause durchgehen sollten, das Oberhaus sie sofort gutheißen
Werde. Er glaubt, wenn er in jenem Falle nicht an die Wählerschaft appellirt, bis
die Peers sich gegen seinen Gesetzentwurf erklärt haben, der Verzug insofern ihm
nützen werde, als er ihm weiter Zeit verschaffen werde, die öffentliche Meinung
über die Sache zu unterrichten, Angesichts der Möglichkeit, daß das Unterhaus
im Laufe der nächsten drei Monate aufgelöst werden müßte, rechnet das Ministerium
und mit ihm die irische Partei sich heraus, daß das Ergebnis einer Neuwahl
mit der Parole.- Home Rule oder nicht kein ungünstiges sein würde. Die
Parnelliten hoffen in Irland einige Stimmen mehr als das letzte mal zu ge¬
winnen, und Gladstones Freunde glauben, daß er nach Beseitigung aller Gegner
des Home Rule aus den Reihen der Liberalen aus England und Schottland
fünfzig bis achtzig Unterhausmitglieder mehr hinter sich haben werde. So aber
würde mit Hinzurechnung der Jrländer im nächsten Parlamente eine Mehrheit
von wenigstens 150 Stimmen verpflichtet sein, Home Rule zu gewähren.
Parnell würde natürlich das ganze Gewicht der Stimmen, welche das in England
und Schottland zur Wahl berechtigte sehr zahlreiche irische Element in die
Wagschale werfen kann, für die liberale Partei zur Geltung bringen; denn er
hätte in Gladstone den einzigen Staatsmann zu erblicken, der hinreichendes An¬
sehen beim britischen Volke und hinreichende Macht über dasselbe besäße, es zu
der nötigen Einwilligung in die Forderungen Irlands zu bewegen.
Ob Gladstone und seine Freunde mit diesen Berechnungen richtig sehen,
wird sich bald zeigen. Er will den Jrländern fast alles geben, was sie bean¬
spruchen, aber doch nur ein beschränktes und untergeordnetes Parlament, er will
in Irland eine Reichspolizei erhalten, und er will die Einheit des Zoll- und
Steuerwesens sür beide Teile gewahrt wissen, wenigstens in der Hauptsache. Er
könnte so den Engländern gegenüber behaupten, sein Plan laufe nur auf eine
provinzielle Selbständigkeit Irlands hinaus, nicht aber auf eine Auflösung der
Union rin Großbritannien. Es giebt unzweifelhaft viele liberale Engländer,
die auf den ersten Blick in den Grundzügen dieses Planes eine willkommene
Vermittlung der Neichseinheit mit den berechtigten Wünschen der irischen Nachbarn
begrüßt haben. Aber wird er ihnen verschaffen, was sie vor allem ersehnen,
dauernde Ruhe vor weiterer Agitation? Schwerlich. Die irische Bewegung beruht
nicht bloß auf dem Verlangen nach einer lokalen Gesetzgebung und Regierung.
Rassenhaß, Groll über altes Unrecht, Mitleid mit ausgetriebenen Pächtern,
Verdruß über Mißgriffe und Mißbrünche der verschiedensten Art haben eine
tiefgehende Unzufriedenheit erzeugt und erhalten, die sich auch dann nicht be¬
schwichtigen ließe, wenn sie nicht immer von neuem durch die in Amerika lebenden
Volksgenossen, die bittersten und unversöhnlichsten Feinde Englands, angefacht
würde. Parnell wird die Gabe eines beschränkte» irischen Parlaments annehmen,
aber gewiß, wenn nicht mit lautem, so doch mit stillem Vorbehalt. Er wird
sie lediglich als Abschlagszahlung betrachten und über kurz oder lang zur Basis
einer neuen Agitation machen, er darf bei Gefahr, in Irland unmöglich zu
werden, nicht auf die Dauer stillstehen. Wenn Jrländer im Neichsparlameut
Sitz und Stimme habe» sollen, und dieses das Recht haben soll, Beschlüsse
des Svnderparlaments zu bestätigen oder zu verwerfen, so wird jeder Versuch
eines englischen Ministers, ein Veto gegen ein irisches Gesetz durchzusetzen,
Einsprüche und Anträge auf Tadelsvoten hervorrufen. Beide englische Parteien
buhlten in den letzten zwölf Monaten um die Gunst der irischen Nationalisten
so rücksichtslos, daß sie bereit waren, ihnen Reichsinteressen zu opfern, und ist
Wohl zu hoffen, daß diese Politik sich ändern wird, wenn die Parnelliten im
Unterhause aufstehen, um das Ansehen ihres eignen Parlaments zu verteidigen?
Wir sehen von mancherlei andern Einwürfen, die Gladstones Plan zuläßt,
für jetzt ab, um Raum für ein Bedenken zu behalten, das bisher wenig Be¬
achtung gefunden hat, obwohl es sich dein Kenner irischer Zustände sofort auf¬
drängen muß. Es ist die religiöse Frage, die Gefahr, in welche die protestantische
Minorität in Irland gerät, wenn ein Dubliner Parlament für das Land Ge¬
setze zu machen beginnt. In England denkt man daran kaum, weil hier in¬
tolerante Gesetzgebung seit geraumer Zeit zu den Unmöglichkeiten gehörte.
Anders bei den Nichtkatholiken, die in Irland wohnen. Erst in diesen Tagen faßte
eine Versammlung von Vertretern der Presbhterianer in Belfast Beschlüsse, in
denen sie sich in den stärksten Ausdrücken gegen den Gedanken eines irischen
Parlaments erklärte, weil ein solches die Willkür einer Klasse der Bevölkerung
in Religions- und Erziehungssachen gegenüber den übrigen zur Herrschaft bringen
würde. Sie erklärte ferner, „nicht glauben zu können, daß sich irgendwelche
Bürgschaften moralischer oder materieller Art erdenken ließen, mit denen man
die Rechte der über Irland zerstreuten Minoritäten gegen Zwangsmaßregeln
vonseiten einer mit legislativen und exekutiven Befugnissen ausgestatteten Ma¬
jorität zu schützen imstande sein würde." Wer Irland einigermaßen beobachtet
hat, wird diese Ansicht teilen. Die dortige katholische Kirche unterscheidet sich
in ihrem Verhalten wesentlich von der Gemeinschaft ihrer Glaubensgenossen in
England. Verschiedne Ursachen, geschichtliche und andre, darunter der Druck,
der bis vor wenigen Jahrzehnten auf den Anhängern Roms lastete, und das
ungestüme Temperament der Iren, sowie ihr phantasievolles Wesen haben bewirkt,
daß die katholische Geistlichkeit hier vorwiegend als eeolssis. allions, als un¬
duldsame, eroberungssüchtige, seelenfischende Körperschaft auftritt. Es ist immer
ihre Politik und nach ihrer Auffassung ihre geheiligte Pflicht und Schuldigkeit
gewesen, die Interessen ihrer Glaubensgemeinschaft möglichst zu fördern und
deren Herrschaft über die Bevölkerung auszubreiten, so weit ihre Mittel und
Kräfte reichten, und es läßt sich nicht annehmen, daß sie, fortan unterstützt
dnrch die weit überwiegende Mehrheit eines nationalen Parlaments, versäumen
würden, die Vorteile dieser neuen Situation aufs äußerste in jener Richtung
auszunutzen. Hiervon überzeugt, haben englische Befürworter einer Politik der
Abtrennung Irlands von Großbritannien den Ausweg vorgeschlagen, den Jr-
ländern nicht bloß ein Parlament, sondern zwei zu geben und Ulster autonom
zu machen. Die Presbyterianerversammlung von Belfast aber zeigt, daß ein
selbständiges, mit einer eignen gesetzgebenden Versammlung ausgestattetes Ulster
neben deu drei südlichen Provinzen nicht über die Schwierigkeiten der Sache
hinweghelfen würde. Der irische Protestantismus ist zwar hauptsächlich in
Ulster vertreten, wo viele Schotten und Engländer eingewandert sind, er be¬
schränkt sich aber keineswegs auf diese nördliche Provinz, sondern es giebt über
ganz Irland zerstreut, namentlich in den größern Orten, protestantische Ge¬
meinden in Menge, unter denen manche recht ansehnliche Minderheiten der Be¬
völkerung bilden, und die allesamt von einem Plane mit dem Gedanken des
Home Rule Schutz für ihre religiösen Rechte und Interessen verlangen. Gegen¬
wärtig ist ihnen für die letztern in dem bestehenden Systeme der nationalen
Erziehung hinreichende Sicherheit gewährt; aber alle Welt weiß, daß die ka¬
tholische Kirche in Irland nichts weniger als eine warme Freundin dieses
Systems ist, sondern vielmehr selten eine Gelegenheit vorbeigehen läßt, es zu tadeln
und zu beklagen, und daß es, wenn die Bischöfe nnr die Macht besäße», es zu
beseitigen, sehr bald hinweggefegt sein würde. In der That, diese Betrachtung
muß sich Gladstone, dem Verfasser der Schrift VMvMiLM und dem Urheber
des vergeblichen Versuches, die katholische Hierarchie Irlands mit dem neuen
Erziehungssystcme von 1873 zu versöhnen, so unabweisbar aufdrängen, daß mit
Bestimmtheit zu Vermuten ist, sein Plan für das Home Rule werde unter
seinen noch nicht bekannten Paragraphen mich einen solchen enthalten, der die
Gewissensfreiheit in Sachen des Unterrichts in einem sich selbst regierenden Ir¬
land sicherstellt. Dies ist jedenfalls einer der Punkte, wo Gladstone auf Bürg¬
schaften bestehen und Parnell genötigt sein wird, in solche zu nulligen. Es
fragt sich nur, was die Unterschrift des letztern unter einem derartigen Ab¬
kommen wert sein würde. Was würde sie bedeuten, selbst wenn Parnell volle
und unwiderrufliche Befugnis hätte, für die Sache den Kredit der irischen
Bischöfe und an letzter Stelle sogar des heiligen Stuhles zu verpfänden? Das
ist schwer zu beantworten, und die Antwort wird dnrch die Thatsache nicht er¬
leichtert, daß der Bürge für die Toleranz der irischen Katholiken gegenüber
ihren protestantischen Landsleuten, daß Parnell selbst ein Protestant ist und
nach dem Zugeständnisse des Home Rule sofort zu der Stellung eines Mit¬
gliedes der Minderheit heruntersinken würde, die des Schutzes bedarf.
Kaum läßt sich der Ausweg anraten, man möge die Frage der nationalen
Erziehung in Irland zu einem 5soli in«z tanssers für das zu schaffende irische
Parlament machen. Es wäre geradezu ein Hohn ans die gesetzgeberische Freiheit
und Unabhängigkeit, wenn man es in einer so wichtigen Einzelheit fesseln, be¬
schränken und lahm legen wollte, und man hätte mit ziemlicher Sicherheit zu
erwarten, daß, wenn Gladstone eine solche Einschränkung nnter die Klauseln
des Vertrages mit den irischen Nationalisten aufzunehmen vorschlagen sollte,
Parnell selbst beim besten Willen außer stunde sein würde, darauf einzugehen.
Das Recht, Einfluß auf Einrichtung und Verwaltung des für das irische Volk
bestimmten Schulwesens zu üben, ist sicherlich, wenn auch nicht eingestandner¬
maßen, eines der Ziele, welche die katholische Gefolgschaft Parnclls mit dem
von ihr erstrebten Home Rule zu erreichen hofft. Kann dieses Recht also einer
gesetzgebenden Vertretung Irlands nicht vorenthalten werden, so ist schwer zu
sagen, wie das Rcichsparlnment es ermöglichen soll, dessen Ausübung so zu
regeln, daß die Rechte der protestantischen Minderheit vor Verletzung geschützt
sind. Es wird vielleicht Leute geben, die Mittel zu diesem Zwecke finden, aber
dann gewiß ebenso viele, welche sie unwirksam zu machen verstehen.
Im übrigen wird Parnell sich durch die Umstände gezwungen sehen, für
jetzt jeden Plan anzunehmen, der dem irischen Volke eine nationale gesetzgebende
Versammlung in Dublin gewährt. Er ist — wohl zu bemerken, für jetzt
genötigt, den Jrländern daheim und den verhältnismäßig bescheidenen unter
den amerikanischen Volksgenossen, die ihn bisher unterstützten, etwas für ihr
Geld zu zeigen, etwas, was wie ein Erfolg wenigstens aussieht. Blickt er dem
geschenkte!, Gaul in das Maul und schlägt er ihn aus, so führt er, wie oben
bemerkt, die Niederlage und den Rücktritt des einzigen Staatsmannes herbei,
welcher Aussicht hat, die Mehrheit des englischen und schottischen Volkes zu
überreden, daß das Home Rule ungefährlich und annehmbar sei, und so vertagt
er die Erfüllungen der irischen Hoffnungen mindestens auf lange Zeit. Außerdem
weiß er sehr wohl, daß die Lage Irlands gegenwärtig beinahe eine verzweifelte
ist. Die Not ist so groß,, daß man nicht übertreibt, wenn man behauptet, fast
die Hälfte der Bevölkerung in den westlichen Landesteilen stehe dicht vor dem
Hungertode. Jeder Monat bringt sie dem Untergange näher, das Landvolk
geht zu Grunde, die Gutsherren nicht minder und die Besitzer von städtischen
Geschäften ebenfalls. Endlich aber giebt es noch eine Betrachtung, die für
Parnell und seine Partei ins Gewicht fällt. Er weiß, daß Gladstone in gutem
Glauben allerhaud Einschränkungen und Bürgschaften ersinnen kann, um das
Home Unke unschädlich zu gestalten, ihm gleichsam die Zähne abzustumpfen, daß
diese Operation aber im besten Falle nur zeitweilig helfen wird, indem nach
wenigen Jahren, vielleicht nach wenigen Monaten, das irische Volk und Par¬
lament die Fesseln zerreißen wird, die ihm der englische Gesetzgeber mit jenen
Restriktionen angelegt hat. Seine Verpflichtungen, Regeln und Schranken
werden ganz ebensowenig Beachtung finden als die gerichtlich festgestellten
Pachtbcstimmungen des Jahres 1881, welche den irischen Pächter für alle
Zeiten zufrieden machen sollten und diesen Zweck kein halbes Jahr zu erfüllen
vermochten.
Wenn nun aber der Premier und der Führer der irischen Nationalisten
sich über einen neuen Vertrag von Kilmcnnham verständigt haben, der schlimmer
als die alte Übereinkunft erscheint, wird jener dann alle seine Amtsgenossen um
sich behalten? Und wenn der Plan dem Parlamente vorgelegt wird, werden
die Liberalen im Unterhaus«! ihrem Leiter und Worthalter blindlings folgen
wie die Herde dem Hirten? Man scheint dies für wahrscheinlich zu halten, nach
Berichten jedoch, die uns vorliegen, wäre die Möglichkeit, daß eine nicht un¬
erhebliche Anzahl der Partei sich dessen weigerte, von Gladstone bereits ins
Auge gefaßt und in seine Rechnung aufgenommen. Der Bund des letztern mit
Parnell kann durch ein Zusammengehen »monistisch gesinnter Unterhausmitglieder
von der liberalen Partei mit den Konservativen eine Niederlage erleiden. I»
diesem Falle wird Gladstone nicht vom Ruder zurücktreten, sondern sich von
den Vertretern des Volkes an dieses selbst wenden und in Neuwahlen dessen
Willen sprechen lassen. Was wird der Erfolg sein? Die Parnellitcn rühmen
sich, daß das Votum Irlands bei den letzten Wahlen den Konservativen vierzig
Sitze und Stimmen verschafft habe. Sagten sie, etwa dreißig, so würde das der
Wahrheit näher kommen. Diese dreißig würden, auf die liberale Seite über¬
tragen, bei einer Abstimmung für Gladstones Plan die Bedeutung von sechzig
haben, da die Freunde desselben um dreißig verstärkt, die Gegner um ebensoviel
geschwächt wären. In England und Schottland hat Gladstone, soweit es sich
um die großen und kleinen Städte handelt, viel von seinem frühern Ansehen
und Einflüsse verloren, dagegen ist in den Counties, d. h. in den ländlichen
Wahlbezirken, wo der Bauer sich wenig um Neichsinteressen kümmert und fast
uur an die Parole: „Drei Acker Land und eine Kuh" denkt, sein Name uoch
immer gefeiert und Wohl geeignet, ein für seine Absicht günstiges Votum in
die Stimmurne zu sammeln. Was können die Konservativen, die einzig voll¬
kommen sichern Gegner des Home Rule, dagegen ins Feld führen? Ohne die
jetzt wegfallenden irischen Stimmen würden sie alles in allem etwa 220 Mit¬
glieder in das Unterhaus bringen können, und das wäre eine Minderheit, die
nichts zu hoffen hätte.
Die einzige Hoffnung also, den Homerule-Plan Gladstones zu vereiteln,
liegt in der Möglichkeit, daß die öffentliche Meinung in England und Schott¬
land durch einen liberalen, aber der Zerspaltung des Reiches abgeneigten Staats¬
mann oder mehrere über die Gefährlichkeit dieses Planes aufgeklärt und zu
kräftigem Widerstande gegen denselben entflammt wird. Es ist ein kritischer
Augenblick in der Geschichte Großbritanniens, von dem wir hier sprechen. Die
Gefahr hat sich rasch, fast plötzlich entwickelt, und es giebt vielleicht keinen unter
den Wortführern der Liberalen, der gewillt ist, ihr die Stirn zu bieten. An
Aussichten auf Erfolg würde es ihm nicht fehlen. Nach unsern Quellen zu
schließen, glimmt namentlich unter den Liberalen in den Städten und Bvronghs
Englands ein tiefer Groll gegen den Separationsgedanken Gladstones, der sich
leicht zu Hellem Feuer entfachen ließe, wenn ein Redner von der Bedeutung
Brights oder Chamberlains sich der Aufgabe unterzöge. Und was könnte erst
die Beredsamkeit Gladstones leisten, wenn er, wie bei frühern Gelegenheiten,
als politischer Wanderprediger das Land durchzöge, um für die Uuionsidee zu
begeistern und Stimmen zu werben. Englands böser Stern aber will, daß er
auf der andern Seite das Heil sucht, und so werden die Dinge vermutlich
ihren Weg weiter abwärts gehen.
MUMM
WZ!wei Probleme beschäftigen unablässig eine Anzahl strebsamer
Geister, leider mit ziemlich gleichem Mißerfolge: die Schaffung
! eines lenkbarem Luftschiffes und die Lösung der sozialen Frage.
Wie ist es zu machen, daß nicht einzelne zum Ärgernis vieler
I andern überreich werden und daß statt dessen alle in Wohlstand
und in Freuden leben können? Das ist das Rätsel, welches die moderne Sphinx,
die Sozialdemokratie, uns zu losen aufgiebt, mit der Androhung, daß, wenn
es ungelöst bleibe, sie uns, d. h. die ganze bürgerliche Gesellschaft, in den Ab¬
grund stürzen werde. Natürlich find zahlreiche Gelehrte' zur Hand, welche
glauben, es müsse ihnen die Lösung gelingen. Wiederum liegen uns zwei Schriften
vor, welche darauf abzielen. Sie heißen: Fortschritt und Sozialismus
von Dr. S. Unger (Berlin, Puttkammer und Mühlbrecht, 1886) und: Die
Gesetze der sozialen Entwicklung von Theodor Hertzka (Leipzig, Duncker
und Humblot, 1886).
Die erste Schrift enthält keine wesentlich neuen Gedanken. Sie giebt zu¬
nächst einen längern geschichtlichen Überblick über die sozialen Bestrebungen seit
den ältesten Zeiten. Während aber alle diese älteren „Beglückungstheorien
nichts als dichterische Träume" waren, hat „das Auftreten von Karl Marx
und F. Lassalle den planlos herumirrenden Bestrebungen ein festes Objekt ge¬
geben." Durch sie hat der Traum früherer Forscher eine Lösung gefunden,
und diese Lösung heißt: „Kollektiveigentnm an sämtlichen Produktionsmitteln."
Einer Verherrlichung dieses Gedankens ist dann das weitere Buch gewidmet,
wobei die schweren Bedenken, welche Schaffte jüngst demselben entgegengesetzt
hat, eifrig bekämpft werden. Ein näheres Eingehen hierauf dürfte sich jedoch
kaum lohnen, da sich darin nur Bekanntes wiederholt.
Genauer betrachten müssen wir die zweite umfangreiche Schrift eines Wiener
Publizisten. Er bringt in der That positive Vorschläge, durch welche die soziale
Frage, statt im Wege der Revolution, im Wege der Evolution gelöst werden
soll. Geschichtlich geht der Verfasser von folgender Betrachtung aus. Ursprünglich
habe die Menschheit uur Einzelarbeit gekannt, und was jeder erarbeitet habe,
das habe er für sich selbst erworben. Dann sei das System der organisirten
Arbeit gekommen, welches notwendig zu einer Ausbeutung des einen Teiles der
Menschen durch einen andern geführt habe. Dieses ungerechte System bestehe
anch noch heute. Der bisherige Lohnvertrag unterscheide sich nur in der Form,
aber nicht dem Wesen nach von der antiken Sklaverei und der mittelalterlichen
Hörigkeit. Jetzt stünden wir aber an der Schwelle eines neuen Systems, der
organisirten freien Arbeit, bei welcher jene Ausbeutung aufhören müsse. Zur
Grundlage seiner Betrachtung nimmt der Verfasser die für ihn feststehende
Thatsache, daß es zufolge des bestehenden Systems der Ausbeutung dem größten
Teile der Menschen überaus elend gehe. Zwar sei der Kampf entfesselt, jeder¬
mann dürfe nach dem Höchsten ringen; er müsse aber auch darauf gefaßt sein, in
den tiefsten Abgrund des Elends zurückgestoßen zu werden. Es wird geredet von
der großen Masse, die „bei aufreibender Arbeit im tiefsten Elend verharrt",
von dem „ grellen Kontraste des Massenelends mit dem grenzenlos an¬
schwellenden Reichtum weniger," von der „durch Haß und Neid vergifteten
Empfindung hoffnungsloser Not, gegenüber der gelten Üppigkeit des Über¬
muts." Wer verschuldet nun dieses Elend? Bei der hierüber angestellten
Untersuchung wird zunächst das Kapital von der Schuld freigesprochen. Der
Kapitalzins habe seine Berechtigung, er könne auch niemals den Arbeitsertrag
aufsaugen. Schuldig an der Ausbeutung sei in erster Linie der Unternehmer-
gewinn, der oft das Doppelte des Gesamtlohnes der Arbeit übersteige; sodann
aber auch die Grundrente, der dein Besitzer des Bodemnonopvls für die Be¬
nutzung der Naturkräfte zu entrichtende Tribut. Der Grundrente falle der
dauernde und letzte Vorteil jedes Kulturfortschrittes zu. Beide» Bezügeu gegen¬
über verharre der Arbeitslohn stets mir auf der Höhe des Existenzminimums,
welches jedoch weniger von den Marttverhältnisscn, als von der herrschenden
Meinung über das zum Leben notwendige abhänge. Staat und Gesellschaft
konnten deshalb allgemeine Lohnerhöhung erzwingen, ohne in die Freiheit des
Arbeitsvertrages einzugreifen, lediglich dnrch den Wechsel in den allgemeinen An-
schauungen über das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Daß
eine willkürliche Erhöhung des Arbeitslohnes dnrch die Konkurrenz unmöglich ge¬
macht werde, sei ein Aberglaube, der zerstört werden müsse. Sei man erst hiervon
zurückgekommen, so werde der Druck der öffentlichen Meinung und das Selbst¬
gefühl der Arbeiter den Lohn rasch und ausgiebig steigern. Aber die Hoffnung
hierauf genügt doch dem Verfasser nicht. Es bedarf seiner Ansicht nach einer
„Emanzipation der Arbeit" vom Unternehmergewinn und von der Bodenrenke.
Das Mittel, um den Unternehmergewinn zu beseitigen, findet der Verfasser in
Produktions-Genossenschaften der Arbeiter. Solche mit Nutzen zu betreiben,
seien allerdings zur Zeit die Arbeiter uicht befähigt. Aber sie müßten dazu,
wenn auch mit großen Opfern, von Staatswegen erzogen werden. Sei dies
erst gelungen, dann werde sich die freie Arbeit der ausgebeuteten gegenüber
weit überlegen zeigen. Was aber die Bodenrenke betrifft, deren Fortbestand
auch bei Beseitigung des Unternehmergewinns „das auf Erden herrschende Elend
nur noch hoffuuugs- und ausnahmsloser gestalten würde," so soll deren Be¬
seitigung „im Wege friedlicher Entwicklung" durch eine Art Enteignung der
Eigentümer mittels einer ihnen zu zahlenden Rente oder auch in der Art vor
sich gehen, daß das Grundeigentum nach einer Reihe von Jahren sich selbst
amortisire, d. h, unentgeltlich der Gesellschaft verfalle. Da dieser Gedanke einer
Gesamtbodcncnteignung jüngst noch von dem Amerikaner Henry George ver¬
treten worden ist, so kommt unser Verfasser auf diesen zu sprechen, wobei er
dann findet, daß die von demselben vorgeschlagne Lösung des sozialen Problems
gemeinschaftlicher Bodenbenutzung allerdings sehr verkehrt sei. Er selbst hat
aber die richtige Lösung gefunden. „Die Bvdeubewirtschaftung wird Assoziationen
überlassen, die sich nach eignem Belieben und Bedürfnis bilden, ihre Thätigkeit
auf größere oder kleinere Kulturobjekte ausdehnen, und denen der ungeschmälerte
Bodenertrag gehört. Jedermann hat das Recht, niemand die Pflicht, solcher
Assoziation beizutreten, und ebenso steht es jedermann frei, sich unter den ver-
schiednen Bodcnassvziationen eine beliebige auszuwählen.... Durch die absolute
Freiheit der Produktion in Verbindung mit dem Assoziationsprinzip ergiebt sich
die vollkommene Harmonie der wirtschaftlichen Interessen."
Nach dieser Darlegung der anzuwendenden Mittel schildert der Verfasser
uns dann im zweiten Teile seines Buches den von ihm in der Idee aufgebauten
„sozialen Staat," die beste aller Welten. Fast alle bisherigen Leiden werden
darin geschwunden sein. Der unverkürzte Ertrag der Arbeit, der jedem Ar¬
beitenden zufließt, wird die Befriedigung eines sehr hohen Ausmaßes von Be¬
dürfnissen ermöglichen. Die Produktion wird viel reichlicher fließen. Die
Kapitalbildung wird trotz des gesteigerten Konsums der Massen Fortschritte
machen, da mit dein Konsum auch die Produktion wächst. Überproduktion ist
nicht mehr zu fürchten. Der Daseinokampf wird weniger auf den Erwerb als
auf die Geltendmachung geistiger Vorzüge gerichtet sein. Die großen Vermögen
werden rasch verschwinden. Aber die höhern Fähigkeiten werden wegen Ver¬
allgemeinerung der Bildung leichter und sicherer den entsprechenden höhern Lohn
finden. Der soziale Staat wird die größte Steuerlast besitzen. Seine Steuern
werden nicht als Druck empfunden werden. Die meisten unfruchtbaren Aus¬
gaben des modernen Staates werden wegfallen. Polizei und Justiz werden
kaum noch nötig sein. Neunundneunzig Prozent aller Verbrechen werden auf¬
hören. Wo Arbeit die einzige, zugleich nie versiegende Quelle des Reichtums
ist, wo Not und Elend unbekannte Dinge sind, kann es keine gegen das Eigentum
gerichteten Verbrechen geben. Zufolge seiner hohen Bildung wird der soziale
Staat eine Elite-Armee besitzen, welche im brutalen Daseinskampfe des Krieges
den Heeren der ausbeuterischen Staaten unendlich überlegen sein wird. Die
wirtschaftliche Gerechtigkeit wird auch die steigende Moralität zur Folge haben.
Tugend wird in der sozialen Gesellschaft nichts andres sein als vernünftiger
Eigennutz. Menschenliebe in ihrer vollendetsten Form wird bei uns einkehren.
Auch das Weib wird eine andre Stellung haben. Jeder Unterschied der
moralischen und rechtlichen Auffassung der Handlungsweise beider Geschlechter
muß aufhören. Bei der Eheschließung wird geschlechtliche Auswahl, frei von
allen konventionellen und materiellen Nebenrücksichten, das allein bestimmende
Moment sein.
Wir lassen diesen letzten Teil unsers Buches auf sich beruhen. Man wird
sich erinnern, daß schon Thomas Morus im Jahre 1516 eine ähnliche Be¬
schreibung von der Insel Utopia geliefert hat. Was aber deu ganzen Aufbau
des Verfassers betrifft, so müsse« wir denselben schon in seiner ersten Grund¬
lage bestreiten. Zwar ist es richtig, daß es bei uns — sowie es überall und
immer gewesen ist — eine Anzahl Menschen giebt, die mehr oder minder mit
wirklicher Not zu kämpfeu habe». Daß aber die große Masse unsers Volkes
in tiefstem Elende lebe, ist eine durchaus unwahre Übertreibung. Der größte
Teil unsers Volkes führt zwar kein glänzendes, aber doch ein ganz erträgliches
Dasein. Dies gilt namentlich von der Masse unsrer Arbeiter, solange nicht
den einen oder andern ein besondres Unglück trifft, das ihn in Not bringt.
Während wir dieses schreiben, zieht gerade ein Karncvalszug von Tausenden,
größtenteils aus Arbeiter» bestehend, an unserm Fenster vorüber. Sieht das
aus wie Massenelend? Unrichtig ist es auch, wenn der Verfasser der Masse
der „Elenden" einzelne, welche in größter Üppigkeit leben, gegenüberstellt.
Zwischen den auf die geringste Existenz beschränkten und deu übermüßig reichen
zieht sich ein breiter Gürtel mittlerer Existenzen hin, welche, ohne reich zu sein,
sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen. So bildet die bürgerliche Gesellschaft
in Beziehung auf Wohlstand eine Pyramide, in welcher die unterste Schicht der
auf den geringsten Lebensbedarf angewiesenen allerdings die breiteste ist, die
aber von da an bis zu den wahrhaft reichen sich allmählich zuspitzt.
Das Maß dessen, was jeder als Lebensbedarf bezieht, bestimmt sich in
erster Linie nach der Summe der Güter, die wir erzeugen. Diese werden ver¬
teilt nach Maßgabe des Verdienstes eines Jeden. Unter diesem Verdienste ist
znnüchst Geldverdienst gedacht. Man kann ja zugeben, daß dieser Geldverdienst
nicht immer dem moralischen Verdienste entspricht. Aber wir haben keinen
andern Maßstab für die Schätzung des Verdienstes eines Jeden als den Wert,
der seinen Leistungen von der gemeinen Meinung wirtschaftlich beigelegt
wird. Und das ist das Geld, welches dafür bezahlt wird. Es entspricht der
Natur der Sache, daß die große Masse derjenigen, welche für die Arbeit der
menschlichen Gesellschaft nichts andres als die gewöhnliche Menschenkraft und
den gewöhnlichen Menschenverstand mitbringen können, auf den relativ geringsten
Anteil an den zu verteilenden Gütern angewiesen ist. Das Maß dieser Ver¬
teilung wird stets davon abhängen, daß bei ihr noch die große Masse der
Arbeiter nutzbringend beschäftigt werden kann. Hat einmal längere Zeit ein
solches Maß gegolten, so gestaltet sich dasselbe leicht in dem Bewußtsein der
Menschen als das des notwendigsten Lebensbedarfs (8t,g.raa,ra ok like). Und
darauf gründet sich die Annahme, unsre Arbeiter seien in ihrem Lohne auf das
„Existenzminimum" angewiesen. Daß dem aber nicht wirklich so ist, darüber
kann uns sowohl die Geschichte als die Geographie belehren. In der Geschichte
brauchen wir nicht etwa um Jahrtausende oder Jahrhunderte zurückzugehen. Es
ist ganz unzweifelhaft, daß noch vor fünfzig Jahren unsre Arbeiter von weit
weniger als ihrem gegenwärtigen „Existenzminimum" leben mußten. Sie sind
heute besser gestellt in Wohnung, Kleidung, Nahrung, Genußmitteln und Ver¬
gnügungen. Auch die Geographie kann uns über die Täuschung unsers ver¬
meintlichen Existenzminimums aufklären. In Amerika haben die chinesischen
Arbeiter den amerikanischen ovulo« demonstrirt, daß mau auch mit weit
weniger, als diese beanspruchen, leben kann; und das hat die amerikanischen
Arbeiter so empört, daß sie, wo sie können, die Chinesen totschlagen. Aber wir
brauchen auch hier garnicht so weit zu gehen. Wer hat nicht schon in Deutsch¬
land bei größern Erdarbeiten Italiener arbeiten sehen? Auch sie leben an¬
spruchsloser als der deutsche Arbeiter, und nehmen deshalb von ihrem geringern
Lohne noch ein schönes Stück Geld mit in ihre Heimat. Käme einmal — was
Gott verhüten möge — ein großes nationales Unglück über Deutschland, so
würden auch unsre Arbeiter sich bequemen müssen, noch mit weniger als jetzt
zu leben; und dann würden unsre Ansichten über das Maß der Lebensnotdurft
schnell Herabgehen. Einstweilen aber wollen wir uns freuen, daß unser LwnÄarä
ok Ut'<z sich noch auf einer leidlichen Höhe befindet; und wir sollten doch wahrlich
nicht an dem, was die Vorsehung uus gewährt hat, durch Phrasen vor dem
„tiefsten Elende" u. s. w. uns versündigen.
Nun kommt aber der eigentliche Quell aller Schmerzen. Es giebt nämlich
Menschen, die sehr reich werden und deshalb im Überflusse leben. Wüßten wir
hiergegen ein Mittel, ließe sich namentlich verhindern, daß jemand durch völlig un¬
produktive Spekulationen reich wird, so würden wir mit Freuden auf ein Mittel
dieser Art eingehen. Leider wissen wir keines, das ohne Preisgebung der
wichtigsten Interessen der sozialen Ordnung angewendet werden könnte. Den
Unternehmergewinn durchweg als eine „Ausbeutung" der Arbeiter zu brand¬
marken, dazu können wir uns nicht verstehen. Der Unternehmergewinn ist der
Lohn dafür, daß jemand ein für die Menschheit nützliches Unternehmen in die
Welt gesetzt hat. Das ist Sache der Tüchtigkeit, der Klugheit und Sorgsamkeit,
mag auch oft das Glück dabei eine Rolle spielen. Die Berechtigung jenes Ge¬
winnes liegt darin, daß jedem Unternehmen auch die Gefahr des Mißlingens
gegenübersteht, welche der Unternehmer tragen muß. Dafür kann er im Falle
des Gelingens anch den Gewinn des Unternehmens als Lohn beanspruchen.
Ohne diesen Lohn würde niemand mehr ein Unternehmen wagen. Dann aber
würde das ganze wirtschaftliche Leben stillstehe»; und anch die Arbeiter würden
keine Arbeit und keinen Verdienst mehr haben. Der Unternehmergewinn ist
deshalb ein unentbehrlicher Faktor unsers Wirtschaftslebens. Wenn der Ver¬
fasser diesen Gewinn zu übermäßig findet, so hat er wohl nur Geschäfte vor
Augen, die ausnehmend gut gehe». Aber giebt es uicht auch Geschäfte mit
mäßigem Gewinne? Und nicht auch solche, die sich nur eben über Wasser
halten? Hat man niemals von Geschäften gehört, in welchen bei jahrelangem
Ringen der Unternehmer sein ganzes Vermögen zugesetzt hat? Wenn man nun
bei Geschäften dieser Art von einer Ausbeutung des Unternehmers durch die
Arbeiter reden wollte? Das wäre gerade so berechtigt, wie im umgekehrten
Falle von einer Ausbeutung der Arbeiter durch den Unternehmer zu reden.
Es ist auch eine ganz unrichtige Berechnung, wenn der Verfasser glaubt,
durch die Verteilung dessen, was die Reichen zu viel beziehen, ließe sich eine
allgemeine Wohlhabenheit herstellen. Diese Verteilung würde sehr wenig auf¬
tragen, aus dem einfachen Grunde, weil der Reichen zu wenig und der Besitz¬
losen zu viel sind. Ebenso unrichtig ist die Berechnung des Verfassers, daß
die Kraft unsrer Maschinen, welche mehrere hundert Millionen Menschenkräfte
betrage und welche daher ebenso viele hundert Millionen für uns arbeitender
Sklaven darstelle, eigentlich dahin führen müsse, daß die lebendigen Menschen
nur ganz wenig noch zu arbeiten brauchten. Er vergißt dabei, daß die Maschine
zwar Menschenkraft, aber keinen Menschenverstand hat, und daß dieser letztere
stets durch die Arbeit lebendiger Menschen ergänzt werden muß.
Nun will der Verfasser den Arbeitern dadurch helfe», daß er sie selbst zu
Unternehmern macht, indem sie sich zu Produktivgenossenschaften vereinigen und
so zugleich den Unternehmergewinn ziehen sollen. Recht schön. Wenn es nur
anginge! Man hat es ja schon öfter versucht, und es ist nicht gegangen; aus
sehr natürlichen Gründen. An diesen Gründen kann auch die staatliche Erziehung,
welche der Verfasser den Arbeitern angedeihen lassen will, nichts ändern. Selbst
wenn sich unter den Arbeitern Persönlichkeiten fanden, die zur Leitung eines
Unternehmens fähig wären und die auch das für eine solche Leitung unent¬
behrliche allseitige Vertrauen genössen, so liegen doch noch andre kaum überwind-
liche Schwierigkeiten vor. Bei einer Geldgenossenschaft (Aktiengesellschaft) ist
mit dem eingezahlten Aktienkapital der Anteil eines jeden Teilhabers am Gewinne
endgiltig festgestellt. Wie anders aber, wenn der Einschuß der Beteiligten in
fortwährend zu leistender Arbeit bestehen soll, die der unsichersten Wertschätzung
unterliegt? Die Arbeiter müßten nicht Menschen sein, wenn daraus nicht die
unsäglichsten Streitigkeiten erwüchsen. Vereinzelt kann eine solche Produktiv¬
genossenschaft vielleicht glücken. Als allgemeine Einrichtung halten wir sie für
unmöglich.
Noch weniger befriedigend sind die Vorschläge, mit denen die Arbeiter der
„Ausbeutung" durch die Bodenrenke entzogen werden sollen. Zunächst scheint
der Verfasser doch zu verkennen, daß der Wert unsers Grundbesitzes nicht aus
bloßer Okkupation der freien Natur hervorgegangen ist. Auch in dem Grund¬
besitze steckt eine Summe von Arbeit, nicht allein wenn derselbe mit künstlichen
Anlagen (Bauten u, s. w.) besetzt ist, sondern auch schon dann, wenn er aus
roher Wildnis in angebautes Ackerland umgewandelt ist. Mit welchem Rechte
glaubt der Verfasser dieses Stück „angesammelter Arbeit" dem Eigentümer weg¬
nehmen zu können? Und welche Lösung hat er für die dann eintretende „freie"
Benutzung? Associationen sollen sich in die Benutzung teilen. Aber wie? Nach
welchen Grundsätzen? Wer bestimmt den Anteil eines Jeden und welches Recht
erwirbt der Einzelne an seinem Anteil? Muß er, wenn übers Jahr sich neue
Genossen melden, diesen ein Stück davon wieder abgeben? Und glaubt man,
daß dann noch jemand irgendeine Verwendung ans ein Grundstück machen
würde? Doch wir verlieren kein Wort weiter über diesen abenteuerlichen Gedanken.
Ein Buch wie das vorliegende würde man vor fünfzig Jahren als völlig
harmlos haben betrachten können. Heute halten wir es nicht dafür, wir halten
solche Bücher für durchaus gefährlich. Werden sie auch nicht von den bethörten
Massen unsrer Sozialdemokratie gelesen, so lesen sie doch die sozialistischen Führer
und Agitatoren. Diese lesen sich heraus, was sie in ihrem sozialistischen Wahne
bestärkt und was in ihren Kram paßt. Sie berufen sich darauf bei ihren
Genossen und fühlen sich gehoben, daß auch die „Wissenschaft" die Berechtigung
ihrer Sache anerkenne. Kritik behalten sie nur genng, um sich zu sagen, daß die
Ziele, die solche Bücher so schön ausmalen, sich doch nicht auf dem Wege
„friedlicher Evolution" erreichen lassen. Was folgt daraus? Solche Bücher
predigen, sie mögen wollen oder nicht, die Revolution.
Wir sind der Ansicht, daß wir nur vor folgender Alternative stehen. Ent¬
weder wird die gegenwärtige Art der Produktion ruhig fortgesetzt, was nicht
ausschließt, daß wir unablässig bemüht sind, wirklichen Notständen in unsern
geringern Klassen nach Kräften abzuhelfen. Oder wir verfallen in das Chaos
einer Revolution, aus welcher dann nach allen blutigen Greueln und nach un¬
sägliche» Einbußen am Volkswohlstände — doch wieder die nämliche Pro¬
duktionsweise hervorgehen würde. Ein Drittes giebt es nicht.
as die weiter in Newyork erscheinenden deutschen Zeitungen anlangt,
so segeln die bekannter« von ihnen, wie die „Nachrichten ans
Deutschland und der Schweiz" und das „Belletristische Journal,"
welches besonders znrZeit des Sezessionskrieges blühte, vollständig
im Fahrwasser der „Newyorkcr Staatszeitung," deren Besitzer, wie
schon erwähnt, die Mittel in der Hand hat, jede Opposition gegen seine Strömung
niederzuhalten — zu „boyeotten," wie man drüben sagt — und diese Mittel
gelegentlich auch mit Nutzen angewandt hat. Ferner ist eine „Handclszcitung"
zu erwähnen; die Sozialdemokraten haben ein paar Organe, die maßlos und
widerwärtig in ihrer Sprache, unpraktisch und unbelehrbar in ihren Zielen und
Mitteln, in der Mostschcn, von Blut und Schmutz triefenden „Freiheit" gipfeln;
endlich sind noch einige landsmanuschaftliche Blätter da, deren geistiges Element
lediglich der kleine Klatsch ist, und die, wo irgendeine Spur von Gesinnung zu
Tage tritt, sich würdig der „Staatsbase" anreihen, und so giebt es eigentlich
nur ein Blatt, welches nicht shstematisch die Heimat als ein Hnndeloch darstellt,
aus dem mau „verzweifelnd an Gott und Menschen," „unter den Trümmern
seiner Existenz" hervorkriechend, und wie all der unaufhörlich wiedergekaute
Bombast lautet, nach dem „Lande der Freiheit" auswandert. Dieses leider
kleine und untergeordnete Blatt erscheint in einer Morgen- und in einer Abend¬
ausgabe, welche „Ncwyorker Zeitung" und „Ncwyorker Herold" heißen (nicht
zu verwechseln mit dein ^vo VorK Uvialä), hat das redliche und erfreuliche
Bemühen, die Lust an der Heimat zu erwecken und zu erhalten, und hat Ver¬
ständnis für das, was bei uns vorgeht, wenn auch diesem Verständnis nicht
immer mit dem gleichen Geschick und der gleichen Zurückhaltung Ausdruck gegeben
wird. Die Aufgabe, aus den Deutschen in Amerika selber etwas zu machen, die
Deutschen dort zusammenzuhalten und anzustacheln, ist diesem Blatte jedoch
ebenso vollständig fremd wie allen andern. Der Zug von Gewissenhaftigkeit,
welcher dem deutschen Charakter zu Grunde liegt, wird somit niemals dazu
gelangen können, sich in der amerikanischen Politik zu bethätigen, und der
Amerikaner, welcher ganz genau weiß, daß hinter deutschen Reformern niemand,
aber auch gar niemand steht, wird für alle solche Bestrebungen nach wie vor
.nur die eine Antwort haben, daß der dumme lorvignör das Maul zu halten
habe, wie es Karl Schurz passirt ist. Das Deutschtum als solches könnte eine
Macht sein, welche bei hundert Gelegenheiten zu bieten hat und darum anch
fordern dürfte; es zieht aber vor, gleichgültig und uuorgauisirt sich Fußtritte
versetzen zu lassen, in einer Stellung, die lächerlich ist gegenüber seiner Leistungs¬
fähigkeit und seinen Verdiensten um das Land, beschämend ist für uns hier in
der Heimat und eine Quelle unaufhörlichen Verdrusses für jeden Freund unsrer
Nationalität. Man braucht nur auf die deutscheu Schulen in Amerika zu sehen,
auf die allgemeine Teilnahmlosigkeit gegenüber den empörenden Maßregelungen,
Chit'alten, Hetzereien der Amerikaner in Gebieten, die einst vollkommen deutsch
waren, umso ziemlich allen Mut zu verlieren. Zwar besteht ein deutscher Schul¬
verein in Newyork, der manches gute geleistet hat, und auch ein kleines deutsches
Lehrerseminar in Milwaukee, aber der Kampf um die Mittel ist ein chronischer,
die Zwistigkeiten an der leitenden Stelle sind unerschöpflich, und obwohl
jedermann weiß, daß nur da die deutsche Schule eine gesicherte Heimstätte ge¬
funden hat, wo man im politischen oder kommunalen Leben ans dem Boden
gegenseitiger Konzessionen stand, so lassen sich die Deutschen doch überall die Macht,
die sie thatsächlich in Händen haben, immer wieder entschlüpfen, und nationale
Selbstachtung ist ein Ding, wovon sie entweder gar keine oder eine vollkommen
verwilderte Vorstellung besitzen. Die einen nennen sich kurzweg auch in nationaler
Beziehung Amerikaner, obwohl sie in Deutschland von deutschen Eltern geboren
wurden, die andern brüsten sich mit ihrer Weitherzigkeit und erklären es für ein
Zeichen politischer Reise, wenn jemand durch Austausch seiner Nationalität gegen
eine fremde sich „erst seine politische Freiheit erringe."
Solche Leute vergessen vor allem eins: daß nämlich einem edeln und
kräftigen Volke die Zerstörung seiner nationalen Existenz noch immer gleich¬
bedeutend gewesen ist mit dem Verluste seiner politischen Freiheit; sie ver¬
gesse«, daß das Weltbürgertum am häufigsten der bodenlosen Selbstsucht eines
Menschen entspringt, dem es zu unbequem ist, seiner Nationalität ein Opfer zu
bringen, dem es nicht paßt, an dem Ausbau seines nationalen Gemeinwesens
tren und geduldig mitzuarbeiten, welches — wie es seine Propheten von jeher
gethan — lieber in amüsanten Hauptstädten ein verantwortungsloses Leben führt
und die Kämpfe seiner heimischen Brüder höhnisch belächelt, als selbst seine Haut
zu Markte zu tragen. Wenn Deutschland heute im Vollgenusse seiner Unab-
hängigkeit und im Besitze einer unerhörten, zum Heile der Welt gebrauchten
Macht der Ausgestaltung seines nationalen Lebens obzuliegen vermag, so ver¬
dankt es dies nicht seinen „aufgeklärten" „kosmopolitischen" Auswanderern, es
verdankt dies allein denen, die in Not und Drangsal ausharrend kämpften und
siegten, und wenn es irgendwo in der Welt einen Ort giebt, wo der Deutsche
politische Freiheit suchen sollte und finden kann, so ist es Deutschland.
Es haben dies alles Deutschamerikaner auch sehr wohl gewußt, die wie
Friedrich Kapp wieder heimkehrten, weil sie einen vornehmen nationalen Instinkt
hatten, und weil nationaler Stolz ihrem Herzen nicht fremd war. Wir ver¬
danken gerade der Feder dieses Mannes, wir verdanken seiner unbestechlichen
Wahrheitsliebe kostbare Zeugnisse. Wir verdanken ihm das Wort, daß in keinem
Lande, welches er gesehen, „weniger politisches Leben und mehr politischer Lärm"
herrsche als in Nordamerika. „Man wird es doch keine Politik nennen wollen,
daß die traäinZ xoMoians stereotyp das Vaterland in Gefahr erklären und
sich im voraus über die Stellen, d. h. die Beute, einigen, daß die Bürger etwa
zweimal im Jahre zu den vorgeschlagnen Kandidaten ja oder nein sagen können,
und daß bei dieser Gelegenheit der süße Pöbel, der gewöhnlich Schauspieler und
Zuschauer in einer Person ist, sich vmsvnst betrinken und umsonst Skandal
machen darf." Wir verdanken ihm ferner den Hinweis, wie in den großen
Städten der Union das betrübende Schauspiel zu beobachten sei, daß „die
Freiheit durch die Verfälschung im radikalen Sinne zerstört wird und daß das, was
man dort Demokratie nennt, in der That die rechtloseste Tyrannei des Mohs
ist." Schärfer kann der Triumph des abstrakten demokratischen Prinzips, dieser
fortwährende Götzendienst vor dem „freien, edeln, nie irrenden und in seiner Ge¬
samtheit immer weisen Volke" in der That nicht charalterisirt werden, und es
ist schon der Mühe wert, seinem „angestammten Herrscherhause" abzuschwören,
um sich der Tyrannei eines fremden Mohs zu unterwerfen. Am besten, man
ist gleich selber Mob; denn erst kann man die höchsten Wonnen „politischer
Freiheit" in jenem Lande genießen; und es ist für alle Deutschen, die nicht den
erwünschten Mangel an Bildung mitbringen, wenigstens ein Glück, daß es drüben
so wenig politisches Leben giebt und sie reichlich Zeit haben, auf vie übliche
Stufe der öffentlichen Moral und Pflichtauffassung gegenüber dem Gemeinwesen
herabzusinken. Manche lernen es wohl nie und finden ihre politische Freiheit
in jener vollständigen Gleichgiltigkeit gegen alles, was Politik heißt, wie sie den
dollarjagenden Deutschamerikaner am häufigsten auszeichnet. Andre wieder machen
sich besser, und man möchte daran ersticken, wenn man sich von Amerikanern
vorwerfen lassen muß, daß von allen beutegierigen „Politikern" die Deutschen
der Ostseite von Newyork die schamlosesten und schmutzigsten seien. Alle wollen
sie mitthun, und alle wollen sie etwas dafür haben, und obwohl sie nur in den
allerseltensten Fällen einen Aldermanposteu ergattern, um unter dein Hohn ihrer
irischen Kollegen anflehten zu können, so hallen sie es doch für wert, ihre
private Ehre und die Ehre ihres Stammes jederzeit um diesen Preis in den
Staub zu ziehe«. Dies ist das politische Leben, zu welchem der Deutsche drüben
„erst erwacht"! Das war früher anders, und es ist traurig, daß man das
sagen muß. Bei der großen Bewegung gegen die Sklaverei, die den Sezessionskrieg
begleitete, waren die Deutsche» wenn nicht das treibende, so doch ein ungemein
rühriges Element, und es kam gerade durch sie ein idealer Zug ins Land, der
auf seine grundsatzlose, ewig schachernde und jedem Kampf mit einem Kom¬
promiß aus dem Wege gehende Politik Hütte von nachhaltigem Einfluß sein
können. Dieser deutsche Zug in: Leben jenes Landes ist verwischt, und mit
Stolz rühmt sich die Hauptvertreterin der deutschen Presse, daß sie „von
Amerikanern für Amerikaner" geschrieben, daß sie amerikanisch dnrch und
durch sei!
Wahrhaftig, erinnerte uns nicht „Puck" in glücklichen Stunden daran,
daß es so etwas wie deutsches Talent und deutschen Geist auch im öffentlichen
Leben Newhorks gebe, man müßte sich wirklich der Ansicht der Amerikaner zuneigen,
daß die Deutschen eine bessere Behandlung nicht wert und daß sie gerade gut
genug seien, um benutzt zu werden, „Puck" ist das einzige Blatt, das man mit
Genugthuung und Freude zur .Hand nehmen kann. Es erscheint deutsch und
englisch in vielen tausend Exemplaren, steht künstlerisch weit über unsern heimischen
politischen Witzblättern (Keppler und von Schenk heißen seine Koryphäen) und
teilt mit unnachsichtigem Spott an die falschen Götzen des Tages seine Hiebe
aus, voll Achtung gegen die Heimat und voll Verständnis fiir das Land, auf
dessen politisches Leben er bereits die nachhaltigsten Wirkungen erzielt hat.
„Puck" ist die einzige deutsche Macht in Newyork, außer den Bierbrauern.
Wir können bei einer Besprechung der Ncwyorker Deutschen unmöglich einen
Faktor übergehen, der überall, wo Lebensinteressen unsrer Nationalität auf dem
Spiele stehen, leider vou nnsschlaggebeuder Bedeutung sein wird; wir meinen
die deutsche Frau.
Es klingt nicht angenehm, und wir sind auch gewärtig, von zarten Minne¬
sängern und galanten Literaten in Acht und Bann gethan zu werden, wenn
wir es aussprechen, es muß aber ausgesprochen werden: Hat der deutsche Mann
noch immer wenig, was er an nationaler Widerstandskraft einem fremden
Vvlkstnme entgegensetzen könnte, die deutsche Frau hat nichts. Wir haben die
Engländerin, wir haben die Amerikanerin, wir haben die Polin; die Deutsche
ist nur ein weiblicher Begriff, kein nationaler in unserm Sinne. Findet sich,
zur Frende seis gesagt, in den Unit^ä Ktatss noch immer eine Anzahl von
Stammesgenossen, aus der dritten Generation, die nicht nur das Deutsche
sprechen, sondern auch ihr Deutschtum bekennen, so wird mau die allergrößte
Mühe haben, ein in Newhvrk von deutschen Eltern gebornes, also ans
der zweiten Generation stammendes Mädchen aufzutreiben, welches, wenn auch
deutsch neben dem Englischen sprechend, nicht sofort energisch betonte, keine
Deutsche zu sein. Viel mag zu diesem Umstände die aller Welt bekannte, sozial
so außerordentlich bevorzugte Stellung der amerikanischen Frun beitragen; der
Amerikaner, besonders aus deu besser situirter Erwerbsständen, ist für seine
Theure lediglich ein Mittelding zwischen Portemonnaie lind Lausbursche, und
die Art, wie er Gemüse einkaufen geht und Kinder wiegt, erinnert an jene wildeu
Völkerschaften, wo der Gatte sich ins Bett legt und Wochenvisiten empfängt,
wenn die Familie einen Zuwachs erhalten hat. Es liegt auf der Hand, daß
auch die Deutsche dieses Verhältnis bald durchschaut und daß sie infolge einer
immerhin verzeihlichen Interessenpolitik es vorzieht, Amerikanerin zu werden statt
Deutsche zu bleiben, und es ist möglich, daß noch ein weiterer Umstand diesen
Prozeß beschleunigt, das ist die Eitelkeit, jene wunderbare Eigenschaft, welche
die Frauen so reizend macht und gegen welche wir ebenfalls nur mit halbem Ernst
Protestiren können. Der Ausdruck Änwlr vonurn ist nämlich in Newhork von
keineswegs angenehmen Klang. Der Deutsche versteht es nicht gleich dem
Amerikaner, seiner steigenden Wohlhabenheit auch seine Lebensformen anzupassen,
und die etwas in die Breite gcgangnen Hausfrauen reichgewordner Deutschen
aus den niedern Ständen werden mit Vorliebe bespöttelt, zumal deutsche ta.6i<Z8
von jeher, und selbst im Jahre 1848, in ganz verschwindender Anzahl zuwanderten
und nicht selten als auffällige Ausnahmen geradezu falsch klassifizirt wurden.
So erzählte uns eine liebenswürdige Schwäbin, die sich durch ihr anmutiges
Profil auszeichnete, lachenden Mundes, daß man ihr in Kaufläden garnicht selten
mit der verbindlich sein sollenden Frage entgegentrete: Von 'rv 1i'r«znoki l-rei^.
g,rü't ^on ? und ?on ann't, loolc lito g, Oerumn sagen die Amerikanerinnen sogar
deutschen Männern als ein Kompliment. Sie scheinen daran gewöhnt, dies
Kompliment wohl aufgenommen zu sehen, und gerade das ist das Bezeichnende.
Man kann sich angesichts dessen nicht wundern, wenn vollends die deutsche Frau
mit fliegenden Fahnen ins andre Lager übergeht, und doch, wie viel besser wäre
es anders, und wie aussichtslos ist der Kampf einer Nation für ihre Existenz,
wenn die Frauen ihm ohne Verständnis ausweichen und fernbleiben.
Die Ausnahmen, welche man an dieser Stelle gegen uns ins Feld führen
könnte, sind uns lieb und wert, aber sie sind uns vor allem auch bekannt, und
wir bitten uns damit zu verschonen; wir sprechen hiervon dem Gros, welches
den Ausschlag giebt und allein in Betracht kommen kann. Wir machen unsern
Frauen nicht einmal einen Vorwurf, wir konstatiren lediglich eine Thatsache.
Die Leidensgeschichte unsers so oft zertretenen Vaterlandes ist uns viel zu tief
ins Herz gebrannt, als daß wir nicht ganz genau wissen sollten, wie oft im
Laufe der letzten Jahrhunderte durch die Schuld ihrer unpolitischen, dickköpfigen,
engherzigen Männer unsre Frauen fremde Einquartierung erdulden mußten, bis
Deutschland zu jenem öffentlichen Hause herabsank, wo sich die lüderlicher Heere
aller Nationen Rendezvous gaben. Dergleichen hat seine Folgen, nud
es gehört wenig Phantasie dazu, um sich auszumalen, wie Taeitus in unserm
Zeitalter die „Germania" geschrieben haben würde. Ihm, dem stolzen Barbaren¬
verächter, der mit widerwilligen Herzen, zwischen den Zähnen hervor, seine
Lobsprüche spendete, welche Wonne wäre es ihm gewesen, den deutschen Frauen
Überfluß an Sinnlichkeit und Mangel an nationalem Stolze nachsagen zu können.
Er wußte aber nur zu berichten, wie sie sich kämpfend auf die Wagenburg stellte»,
wenn alles um sie her gefallen war, wie sie sich, gefangen, zu den Füßen der
Sieger warfen mit der rührenden Bitte, sie der Vesta zu weihen. Und dann
lese mau, wie Holtet zu Anfang dieses Jahrhunderts nach Paris kam und wie
die Veteranen ihm versicherten: überall haben uns die Weiber freundlich em¬
pfangen, aber so leicht wie bei euch haben sie es uns nirgends gemacht. Ein
andrer hätte geglaubt, in die Erde sinken zu müssen; doch er ging hin und
schrieb es schmunzelnd in seine „Vierzig Jahre"; dergleichen beleidigte einen
Deutschen nicht. So wurde auch während des Krieges 1870—1371 verhältnis¬
mäßig nur wenig Anstoß daran genommen, wenn sentimentale Weiber mit
Leckerbissen beladen sich an die Gefangnenwagen, und vor allem zu den
„reizenden" Tnrkos, drängten, während unsre braven Jungen, die diese Bande
besiegt hatten und sie nur eskvrtirten, hungrig daneben standen. Daß ein
schwarzer Schnurrbart zu einem braunen Gesicht am besten stehe, mag etwa für
die Hälfte unsrer Frauen der Gesichtspunkt sein, aus welchem sie eine fremde
Nationalität beurteilen, nud wir allein find Schuld. Es hat jedes Volk die
Frauen, die es verdient, und wir verdienen — in nationaler Beziehung —
jedenfalls die unsrigen.
Wie doch alles im Leben schon da gewesen ist! Während wir uns, dieses nieder¬
schreibend, vergegenwärtigen, welchen Eindruck es auf deu einen und den andern
Stimmführer des gegnerischen Lagers wohl machen und mit welchen Keulen unsre
Meinung wohl erschlagen werden konnte, erinnern wir uns der Zeit, als wir
noch gar keine Meinung hatten und mehr instinktiv als bewußt immer wieder
gegen eine» erbitterten Jugendfreund die Notwendigkeit unsers Militarismus
verteidigten. „Ach — sagte der reifere Widerpart uns damals — so ein bißchen
Fremdherrschaft wäre noch garnicht einmal so übel; da kämen vielleicht endlich
einmal wieder aus dem Westen liberale Ideen ins Laud!" Es will uns be¬
dingen, als ob dieser wahrhaft freisinnige Ausspruch auch heute noch die Auf¬
fassung weiter Kreise in Bezug auf die Integrität unsers Landes und iinMoits
die Ehre unsrer Frauen schlagend bethätigte. Wir brauchen im übrigen wohl
kaum zu versichern, daß jener liberale Politiker jüdischer Abkunft war, und dies
leitet uus über zu dem letzten Kapitel, das wir zu verhandeln habe», zu dem
Kapitel vom „deutschen Juden" in Newyork.
Wir sprechen gern vom Juden.
Wir erinnern uns noch deutlich der Zeit um die Mitte und gegen Ende
der siebziger Jahre, als man bei solchen Gelegenheiten kaum über die Anfangs¬
buchstaben hinauskam, worauf empörte Blicke in der Umgebung uns anfunkelten
und wahrhaft Humaue Männer uns belehrten, daß wir ein in mittelalterlichen
Rohheiten befangner Wüterich seien, und daß es sogenannte Juden seit der Eman¬
zipation überhaupt nicht mehr gebe.
Unsre Gewohnheiten sind inzwischen etwas freier geworden; man darf bereits
wieder von Juden sprechen, ohne Kopf und Kragen zu riskiren, und die Leute,
die uns bei solche» Gelegenheiten gerne einschüchtern möchten, sind in der Wert¬
schätzung unsers Volkes und erfreulicherweise auch in ihrem Einflüsse gesunken.
Also zur Sache.
Was die Juden in Newyork anlangt, so sind sie zunächst überaus zahlreich.
Statistische Erhebungen liber ihre Herkunft und andres mehr werden von den
Einwanderungsbehörden leider nicht angestellt, doch erinnern wir uns, in dem
Ncwyorker Adreßbuch vierzehn enggedruckte Seiten mit Levis und Levys und
etwa neun Seiten allein mit Cohns und Cohens gefunden zu haben, und sehr
wahrscheinlich stammt weitaus der größte Bruchteil davon aus Deutschland, ein
ebenfalls noch bedeutender ans Österreich-Ungarn, ein mäßiger aus Polen und
ein verschwindend kleiner aus andern Ländern, Nur diejenigen, welche im Laufe
des letzten Jahrzehnts von unsern Nachbarn direkt auf den Schub gebracht
wurden, und diejenigen, welche den allgemein üblichen Weg, sich in unsrer
Heimat erst genügend zu bereichern, um drüben mit Vorteil auftreten zu können,
nicht eingeschlagen haben, bevölkern das Ghetto von Newhork, Es ist dies ein
widerwärtiges, unsauberes, von Kindern schwärmendes Viertel der untern Stadt,
wo nicht etwa böswillige, konfessionelle Unduldsamkeit, sondern „freie, wirt¬
schaftliche Selbstbestimmung" die Juden zusammengepfercht hat. In seinen
Schlupfwinkeln und Spelunken wird jene humoristische Auffassung des Gesetzes
fortgebildet, welches der Jude als sein wertvollstes Alllagekapital mit ins Land
bringt, vou hier ans erobert er die Welt und tritt, wie es bei solchen Erobevungs-
zügen natürlich ist (denn nach Herrn Bamberger wird man heute nicht mehr
Millionär, „ohne das Zuchthaus mit dem Ärmel zu streifen"), vor die Schranken
der Court. Natürlich giebt es auch eine Unmasse von Juden in altem Besitz
und solche, die bereits die Gummiräder mitbringen; aber anch den Unbemittelten
geht es fast ausnahmslos früher oder später vorzüglich, da besonders die Un¬
sitten des Landes in Handel und Wandel ihren innersten Strebungen von jeher
so recht entgegenkamen. Das „stop machen," das Sand in die Augen streuen,
das Bestecher und Veteilen war alles schon vor ihnen üblich, wenn es anch erst
durch sie zur höchsten Blüte gelangt ist, und wie bei uns erobern sie sich den
Wohlstand nicht durch ihre höhere Intelligenz, sondern vor allem durch ihren
vollständige,! Mangel an Skrupeln, nicht durch Gediegenheit und Reellitüt,
sondern durch die fieberhafte Hast, mit welcher Chance» ausgespürt und zurecht
gemacht werden, nicht durch ihre Freude an der Arbeit, sondern durch ihre
Juteressirtheit, ihren Prvfithunger, ihre grausame Ausbeutung des Wehrlosen.
Haben sie sich aber erst aus dein Gröbsten herausgeschnchert, so beteiligen sie
sich auch drüben je nach Kräften und Mitteln, aber ohne Ausnahme an der
großen Aufgabe, welche das Judentum im Herzen trägt: das Feste zu lockern,
das Widerstandsfähige zu unterhöhlen, das Flüssiggemachte und vor allem das
Geld sich anzueignen und endlich die Macht der mobilen Mittel derartig ins
Ungemessene zu steigern, daß alles, alles in der Welt ihrer Einwirkung zugänglich,
ihrer Übermacht Unterthan, ihrer Spekulation hingegeben werde. Das Merk¬
würdigste an diesen Bestrebungen ist, daß ohne eine bestimmt ausgeprägte
Organisation (wie bei den Jesuiten) dennoch vollständig instinktiv jedes Mitglied
der jüdischen Nasse den, andern in die Hände arbeitet. Gerade das macht die
Juden so gefährlich, daß keine aller Welt bekannte Zentralstelle den Verdacht
und das Mißtrauen auf sie lenkt, und wo sie eine politisch noch unreife Nation
vor sich haben, wie die Deutschen zu Anfang der siebziger Jahre (wir wachsen
erst jetzt in die praktische Politik langsam hinein), da raffen sie unter den
Augen und mit der Zustimmung des betreffenden Volkes, in welchem sie sich
eingenistet haben, nicht mir endlose Milliarden des Nationalvermögens an sich,
sondern schaffen zu gleicher Zeit auch Einrichtungen, die ihnen auf Jahrzehnte
hinaus die Ausrandung ihrer Domäne sicher stellen.
Ihr bekanntestes und verderblichstes Hilfsmittel ist hierbei die Reklame,
von naiven Leuten auch „öffentliche Meinung" genannt; sie und ihre Helfer
„puffen" sich gegenseitig, wie der Amerikaner sagt. Der letzte großartig angelegte
„Puff" war die Resolution des amerikanischen Repräsentantenhauses zu Gunsten
Lasters. Der Beantrager hieß Ochiltree, was eine Übersetzung des klangvollen
„Eichelbaum" bedeutet. Jene Resolution war insofern nicht erfolglos, als sie
zu einer Quelle tiefgehender und emsig genährter Verstimmung gegen Deutsch¬
land wurde, dessen Politik zur Zeit dem Judentum hinderlich und verhaßt ist;
doch mißglückte der Versuch, dem „jüdischen Staatsmann" ein Piedestcil auf-
zubauen, aufs kläglichste, weil Fürst Bismarck, wie man weiß, sich nicht dumm
kommen und die Sache ins Wasser fallen ließ.
Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß die amerikanischen Repräsentanten
hier lediglich düpirt waren. Es konnte ihrer Unwissenheit und ihrer Interesse¬
losigkeit gegenüber festländischen und besonders deutschen Parteiverhältnissen
nichts ferner liegen als eine derartige Einmischung, und so tappten sie denn
in jene Resolution hinein, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, was sie
betraf und was sie bezweckte, und lieferten einen Beweis mehr für die traurige
Thatsache, daß die Juden jenseits des Ozeans noch immer vollkommen im
Trüben fischen. Zwar wird ihr unheilvoller Einfluß vom soliden Grundstock
der Newyvrker Geschäftsleute hie und da bereits bitter empfunden und wäre
schon längst so empfunden worden, wenn die ganz unvergleichliche Prosperität
des Landes ihn nicht so lange verschleiert Hütte, welche bis in unsre Tage hinein
nur immer zu entwickeln und zu entwickeln hatte, und bei welcher die Wirtschaft
aus dem Vollen erst kürzlich abgerissen ist; doch richtet sich dieses Mißtrauen
bezeichnenderweise lediglich gegen unsre eignen Landsleute und äußert sich ge¬
legentlich in dem kurzen, aber sinnreiche» Epigramm: (Z-srins»« fre svinälvr-s,
da der „aufgeklärte" (nrvst «zM^uwnoä) Amerikaner die Juden für Deutsche zu
halten scheint, welche zufällig mosaischen Bekenntnisses sind. So erinnern wir uns
unter anderm anch einer Vorstellung in Tory Pastors Volksthenter in Newhork,
wo wir endlich wieder einmal einen Juden auf der Bühne sahen, was bei uns ja
garnicht mehr vorkommt. Es war dies ein Mr. Budweiser, der fortwährend
Ä vör/ irnpoi'einel dusin<ZL8 zu verhandeln hatte und im übrigen ein so abgefeimter
Hallunke war, wie man deren im Leben antrifft. Als er auftrat, ging ein
befriedigtes Lächeln durch die Reihen der Zuschauer, und sie zischelten: ?b<^
(Zu'nur! Man sagte nicht: ^ils ^v! und es ist schlimm, daß der Amerikaner
hier noch nicht zu unterscheiden gelernt hat.
Aber etwas andres ist noch viel schlimmer. Von allen nämlich, welche aus
Deutschland kommend ihr Deutschtum wegwerfen „wie einen alten Rock," thut
dies der Jude am promptesten und gründlichsten. Er ist Vollblutamerikaner im
Lause eines halben Jahres, und wenn er auch wegen der geschäftlichen Vorteile,
die ihm daraus fließen, das Deutsche nicht verlernt, so spricht er doch, sobald
es nur irgend geht, innerhalb seiner Familie englisch und springt jedem Ameri¬
kaner mit der Beteuerung förmlich ins Gesicht, daß er ein tllorouglr ^insrleM
sei. Ein großer Teil der Verachtung, mit welcher der Durchschnittsamerikaner
noch immer auf das Deutschtum herabsieht, entspringt dein Verhalten der Juden,
welches der Uankee nicht durchschaut, und wenn man wissen will, was Deutschland
an seinen Juden hat, so gehe mau nach Newyork; dort wird man es sehen,
daß die Nationalität jedem Juden nichts weiter ist als eine Sache der Sprach¬
erlernung. Man könnte hiernach meinen, daß er sich infolge seines nasalen
Aceentes besonders gut zum Franzosen eigne; er wird aber auch Spanier und
Ungar in kürzester Frist, und wenn er hört, daß unter den Kaffern „etwas zu
machen" sei, so geht er nach dem Kaffernlandc, läßt sich anstreichen und wird
„Vollblut-Kaffer," Sofort wirft er sich auf die Politik, und da ihm in hohem
Maße die Fähigkeit innewohnt, sich und andre an wohltönenden Phrasen zu be¬
rauschen, so sind sich alle Gimpel im Lande bald darüber klar, daß er ein ganz
außerordentlicher Vaterlnndsfreuud sei. Er wird der Stimmführer der „wahr¬
haft freisinnigen" Kaffernbewegung und hält sich bald im Landtage die Kaffern-
Fortschrittspartei, der er die Agitativnskoften bestreitet und die ihm dafür seine
Geschäfte besorgt. Ist dies erreicht, so sitzt er harmlos daheim, schneidet Coupons,
leiht Gelder an kleine Agenten, welche damit im Lande Wucher treiben, schreibt
hin und wieder einen nationalökonomischen Artikel, in welchem er das Publikum
freudlich über seiue wahren Interessen aufklärt, beschützt die Künste und die
Modelle.
Es würde hier zu weit von unserm Thema abführen, all die volkswirt¬
schaftlichen Nachteile aufzuzählen, die unserm, Lande bereits aus dem Judeutume
geflossen sind. Wir wollen hier nur den größten Schaden in nationaler Be¬
ziehung andeuten, daß nämlich unserm eignen Nachwüchse mehr und mehr die
Stellen weggekapert werden, von denen aus man aufsteigt, daß die Bildung,
die unsre jungen Bursche sich aneignen können, in immer weitern Kreisen eine
bloß einstudirte wird, nicht gesalzen und schmackhaft gemacht durch jene Lebens-
kunst und jene Lebensart, welche allein auf der Grundlage eines genügenden
Besitzes mit verfeinerten Genüssen, mit reicher Anregung gedeihen können, daß
mit einem Worte der Deutsche in seinem eignen Lande zum gebildeten Prole¬
tarier herabzusinken beginnt, währen ihm eine geistige Aristokratie ans polnischen
Juden und deren Abkömmlingen emporblüht. Aber das wollen wir an dieser
Stelle deutlich und vernehmlich hervorheben, daß für jeden, der sehen will, die
Haltung der sogenannten „deutschen" Juden in Newyork geradezu den Ausschlag
geben muß. Die Annahme, diese Nasse dächte im Ernste daran, schlecht und
recht in uns aufzugehen, ist ein Wahn, Die Strebsamern eignen sich unser
Volkstum an, um uns desto sicherer zu beherrschen und zu benutzen, dem Neste
aber ist unsre Heimat lediglich ein Felo, welches nach Nomadenart im Vorüber¬
ziehen abgegrast wird. Die Etappen sind Königsberg-Posen-Breslau (auch sie
„marschiren getrennt"), dann Leipzig-Berlin-Hamburg, endlich Köln und Frankfurt,
Von da gehts uach Paris, nach Amsterdam, nach London und — uach Newyork,
Es ist leider uoch immer keine Aussicht, daß der Reichtum, der aus unserm Fleisch
und aus unsern Knochen ausgesogen und dann wcitergeschleppt worden ist,
auf dem Wege über den Pacific und über China wieder zu uns käme, und so
wollen denn auch wir uns endlich zu jenem Schlachtrufe aufschwingen, welcher
bei ungebildeteren, aber mit einem stärkeren, lebhafteren und weniger mißleiteten
Instinkt begabten Nationen schon seit langem zu hören ist: Die Heimat für die
Heimischen! Deutschland für die Deutschen! Es ist dies nicht dasselbe, als wenn
man bei unsern Nachbarn ruft: Rußland für die Russen! Denn der Deutsche ist
dort nicht bloß ein intelligenter, sondern vor allem ein produktiver Ansiedler,
der — von unserm Staudpunkte aus gesprochen — leider im Lande bleibt und
seinen Reichtum im Lande läßt. Es ist dies nicht dasselbe, als wenn man in
den Bereinigten Staaten ruft: Amerika für die Amerikaner! Denn dort hängt
der Deutsche mit nur zu selbstloser Hingebung an seinem neuen „Vaterlande,"
und sei» Fleiß und seine Fruchtbarkeit haben den atlantischen Küstenplätzen ein
Hinterland geschaffen und bevölkert, wie die Erde seinesgleichen sucht; der
amerikanische Boden ist mit deutschen! Blute und deutschem Schweiße gedüngt,
die Wühlerei gegen die Deutschen ist dort eine undankbare Verrücktheit, be¬
ruhend auf Unwissenheit und Dünkel, während die Güfte, die wir im Lande
haben, uns immer nur ausgebeutet und ausgebeutet haben und uns, wenn sie
nur könnten wie in Rnmcinien, zu Abhängigkeit, zu Not und Niedrigkeit herab¬
wirtschaften möchten. Was haben die Juden, außer einer kosmopolitischen
Literatur und einer kapitalistischen Presse, für unser Boll geschaffen? Wie ver¬
wenden sie den Reichtum, den sie auf unserm Grund und Boden verdient haben?
Der Börsenmakler Cohn „machte" in einem einzigen Jahre einen Nettogewinn
von 17 Millionen Mark; es giebt eine ganze Menge, die nicht viel weniger
„machen," und angesichts dessen hat Berlin noch nicht einmal eine öffentliche
Lesehalle, die des Erwähnens wert wäre. Wer hat Newyork gesehen und kennt
nicht die ^sein-I^idrM/? Es ist ein mächtiges Hans mit weiten, hohen Hallen
und Lesesälen, warm im Winter, ein kühler Zufluchtsort im Sommer, wenn
die Glut sich in den Granit der Insel Manhattan eiugebrütct hat. Jedermann
aus dem Volke kaun sich dort ohne Entgelt und ohne Umstände sein Buch oder
seine Zeitschrift erbitten, und wenn das Betreffende ausnahmsweise nicht vor-
Handen ist, braucht er seinen Wunsch nur zu äußern, um ihn lüuuen kurzem
erfüllt zu sehen. Es liest sich herrlich dort; und wenn mau sich der tnbak-
gcschwcingerten Konditoreien und Cafes erinnert, die in Berlin die Stelle der
^Stör I^idr-rr/ vertreten, wenn man sich erinnert, wie bei uns noch immer so
gut wie nichts geschehen ist, um dem gemeinen Manne unsre bessere Literatur
zugänglich zu machen und ihn an edlere literarische Bedürfnisse zu gewöhnen,
so fühlt man sich aufs äußerste beschämt, zumal da jeues Haus in Newyork
keineswegs das einzige seiner Art ist. Sein Gründer aber, Jakob Astvr, war
ein Deutscher von Geburt, der Sohn eines lüderlicher Metzgers in der Pfalz,
kam gegen Ende des vorigen Jnhrhnndertc! nach Newyork, und wurde aus
einem kleinen, aber erfolgreichen Pelzhändler der erste Grnndeigentumsspekulaut
der Insel Manhattan, auf welcher Newyork bekanntlich ruht. Der Reichtum
seiner Nachkommen ist nahezu unschätzbar; sie besitzen ganze gewaltige Stadt¬
teile wie die Westminsters in London. Selbstverständlich sind sie Stvckamerikaner,
und in dem Hanse, welches von unserm Landsmanne gegründet und eingerichtet
ist, muß der Deutsche froh sein, wenn ihm der Amerikaner den Wirt macht
und mit mehr oder minder Herablassung ein Buch herausgiebt. Mag dem aber
sein, wie ihm wolle, Jakob Astor wusste, was er dem Lande schuldig sei, dem
er die Prosperität verdankt. Er hatte innerhalb des Newyorker Gemeinwesens
seinen Reichtum erworben und wendete ganze Millionen daran, um in einer
monumentalen und höchst volkstümlichen Stiftung seine Dankbarkeit auszudrücken,
von seiner anderweitigen öffentlichen und Privatwohlthätigkeit garnicht zu reden.
Und nun blicke man auf unsre Heimat! Mnu erinnere sich des riesenhaften
Anwachsens unsrer Hauptstadt nach drei glücklichen Kriegen, nach einer kraft¬
vollen Politik, die uns die Einheit brachte und Berlin zum Mittelpunkte dieser
Einheit schuf, dem alles zuströmt. Es sind durch den steigenden Wert von
Grund und Boden schlecht gerechnet 3000 Millionen Mark geschaffen worden,
und diese Millionen sind ganz unzweifelhaft zum großen Teile in die Taschen
von Boden- und Häuserspekulanteu geflossen, die jetzt ans schönen Palästen im
Westend nach der Börse fahren. Aber was hat das deutsche Volk? Wer baut
uns eine ^.Stör I^lo'M^? Wir können lauge warte»!
Und was nun, nach allein, was gesagt ist, wird die Zukunft unsrer eignen
Stammesgenossen in Newyork sein? Sie wird abhängen ohne Frage von den
Aufgaben, welche man dem Deutschtum stellt. Denjenigen. für welche diese
Aufgabe darin besteht, sich als Völkerdünger verbrauchen zu lassen, schwebt eine
sehr große Zukunft vor; uns erscheint sie außerordentlich gering, weil wir die
Pflichten des Deutschtums anders auffassen. Die elegische Prophezeiung Kapps,
daß das deutsche Element in Amerika auf keinen Fall seine nationale Existenz
länger fristen könne, wenn nicht jährlich mindestens 200000 Deutsche hinzu-
wandern, besteht — vorläufig — leider uoch immer zu Recht. Sie ward
hervorgerufen durch die augenfällige Gesinnnngsschwäche, den Mangel an Im-
tiative und Selbstachtung, die unergründliche Trägheit unsrer Landsleute in
nationaler Beziehung, und gerade diese Eigenschaften haben sich keineswegs ab¬
geschwächt, werden im Gegenteil durch die einschlägige Presse gepflegt und ge¬
hätschelt. Ganz vereinzelte Ansätze, sich als Deutsche zu fühlen, zeigen sich
wohl hie und da. Mit großen Stolz wird betont, daß das deutsche Element
dem „neuen" Vaterlande einen Divisionsgeneral, einen Minister des Innern
und einen Senator geschenkt habe; alles zusammen aber ist wieder nur der
eine Karl Schurz; und dann ist noch ein Senator in Wisconsin und einer
in Missouri, und diese drei Namen stehen groß und breit in den Büchern
(bei Tenner z. B.) als ein leuchtendes Beispiel, wie herrlich weit es die zehn
Millionen Deutschen gebracht habe», und welche glänzende Rolle sie in der
Geschichte der Vereinigten Staaten spielen.
Die äußern Belege nationalen Zusammengehens, auf die wir in Newyork
selber gestoßen, sind geradezu verschwindend. Die schon im Jahre 1734 ge¬
gründete „Deutsche Gesellschaft" besteht auch heute noch nicht auf der Basis
nationalen Selbstgefühls, sondern nationaler Notwehr, eine Zuflucht für die
armen „Grünen," das deutsche Vieh (ello äutcli c^ello), wie der Amerikaner
unsre Einwanderer gelegentlich zu nennen beliebt, als die obligaten ausgeplün¬
derten, mißhandelten und gcschundnen Opfer seiner höhern Intelligenz. Die Ein-
wnndernngsbehörden, die heute das Schlimmste verhüten, sind erst vor wenigen
Jahrzehnten widerwillig und allmählich geschaffen wurden, als der Schmutz und
die Verruchtheit des Treibens an den Landungsplätzen zum Himmel schrieen,
und werden gewiß an den betreffenden Stellen als Beschränkungen der bekannten
»wirtschaftlichen Freiheit" bitter empfunden. Die deutsche Gesellschaft hat um
die Entstehung derselben ihre Verdienste; übrigens zählt sie eine große Menge
bon Amerikanern in ihren Reihen, während ihr viele, sehr viele wohlhabende
Deutsche nicht angehören. Das „deutsche Hospital" ferner, welches unlängst
durch die mildthätige Schenkung der Fran Anna Ottendvrfer eine nicht hoch
genug zu schätzende Erweiterung erfahren hat und zur Zeit etwa über 160 Betten
verfügen mag, kämpft andauernd mit den allerpeinlichsten pekuniären Schwierig¬
keiten und hat angesichts einer deutschen Bevölkerung von 400000 Seelen noch
kein Budget. Es war früher übel angesehen wegen mangelhafter Leistungen und
Erfolge und innerhalb des deutschen Elements außerordentlich unbeliebt, und
hat sich erst neuerdings bedeutend gehoben, seit der Einfluß der früher herrschenden
Clique deutscher Ärzte mehr zurückgetreten ist, die, ein wahres Kompendium
aufgeblasener Unfähigkeit, von einem marktschreierischen Juden geführt und von
den Newhorkern die Loe.ioly ol muta-it .icwür^lion genannt wird.
Im Newhorkcr „Licderkranz" endlich, dem mancher Gast von „hüben" gewiß
schon angenehme, gesellige Stunden verdankt hat, wird zwar deutsch gesungen,
aber viel lieber noch englisch gesprochen. Erfreulich ist hier die sich neuerdings
manifestirende Abneigung gegen Juden, wenn sie sich auch lediglich gesellschaft-
lich äußert; doch diirfte sie zu nichts weiter führen als zu einer Reihe persön¬
licher Verstimmungen, da für ein politisches Aufraffen und Zusanunenfasfen des
Deutschtums an irgendeinem Punkte infolge jahrhundertelanger Gleichgiltigkeit
so gut wie nichts vorgebildet und das Wenige vernachlässigt ist. Während man
die sozialen Eigenschaften der Semiten mißbilligt, steht man im Gegenteil politisch
vollkommen unter dem Einflusse der Grundsätze, welche das Judentum in der
Welt zu verbreiten für zuträglich gehalten hat, und jedes deutsche Komitee,
welches sich bilden könnte, würde zur Zeit von gewissen unvermeidlichen Be-
kennern jeuer Grundsätze angesteckt und lahmgelegt werden. Und trotzdem
— mag es immerhin paradox klingen! — in den Tiefen unsers nahezu unzer¬
störbar scheinenden Volkstums schlummert auch drüben die deutsche Gesinnung.
Sie hat sich des öfter» werkthätig in reichen Spenden geäußert, während des
letzten Krieges, während der großen Überschwemmungen am Rhein; das ist
immerhin viel. Wir wollen auch derer nicht vergessen, die in stiller und ge¬
wissenhafter Arbeit deutscher Wissenschaft und deutscher Thätigkeit Achtung und
Anerkennung erwerben, wir wollen derer nicht vergessen, die auf verlorenen
Posten, aus welche die Gewaltsamkeit amerikanischen Lebens sie verschlagen hat,
an die Scholle gebunden und ohne Möglichkeit der Rückkehr, der Heimat dennoch
ihre Sehnsucht und ihr Herz bewahrt haben; wir wollen endlich dankbar die Hand
reichen den wenigen, die sich rüstig im Kampfe um politische Geltung, im Kampfe
gegen amerikairisches Vorurteil gerührt haben. Wir verdanken diesem Kampfe jene
prächtige Antwort eines braven Landsmannes ans die hämischen Angrisse seiner
amerikanischen „Brüder:" „Was ist für ein Unterschied zwischen mir und euch,
als daß ich in Kleidern in dieses Land gekommen bin, ihr aber nackt?" schlagender
kann man es nicht ausdrücken, daß jeder sozusagen bereits „fertiggestellte" deutsche
Einwanderer ein Kapital darstellt, welches Amerika geschenkt wird; wovon aber
das Gros der Amerikaner keine Ahnung hat, keine haben will und nie eine
haben wird, da die deutsche Presse ihre Schuldigkeit nicht thut. Es hat uns
jenes Wort erinnert an den deutschen Richter in Ungarn, in dessen Umgebung
die Magyaren scherzhaft die Frage aufwarfen, weshalb die Hunde in Ungarn
nur auf deutsche Kommandos hörten: „Nun, sagte einer, weil das Deutsche
bloß für die Hunde gut ist!" — „Nein, sagte der Stuhlrichter, weil das Ma¬
gyarische selbst für die Hunde zu schlecht ist!" Und die Ungarn riefen „Eljen!"
weil sie es achten, wenn jemand seine Nationalität mutig bekennt. Immer in
der höchsten Not, nnter allerderbstem und schneidendsten Anreiz, kommt auch
bei uns Deutschen unser Nationalstolz zum Durchbruch; er ist noch da; aber
immer wieder schläft er ein, er ist noch keine alltägliche, unermüdliche Funktion
geworden wie Herzschlag und Atmnng; wir salzen noch nicht unsre Suppe damit,
wir tragen ihn uoch nicht in der Tasche; das Einträgliche des Nationalbewußt¬
seins vor allem ist uns noch nicht aufgegangen. Gesetzt, die Deutschen von
Newyork hätten einen nationalen Tick wie die Amerikaner, diese Stadt müßte
z. B. ein Feld für deutsche Ärzte sein wie keine zweite. Es ist aber notorisch,
daß nur etwa vier oder fünf von den hundert (studirten) deutschen Ärzten Newhvrks
eine irgendwie nennenswerte amerikanische Praxis haben, während die Deutschen
schaarenweise zu den amerikanischen Kurpfuschern laufen und eine Ehre darin
setzen, einen amerikanischen Hausarzt zu haben. Und nun sage man dem einen
oder dem andern von jenen hundert deutschen Ärzten: „Versuchen Sie doch, die
deutsche Agitation zu beleben, damit das deutsche Publikum mehr zusummcnhält!"
Er wird ein ungläubiges Gesicht machen, weil er eine solche Rechnung über¬
haupt nicht versteht, oder grob werden, weil sein Instinkt ihm sagt, daß hier
eine nationale Anforderung an ihn herantrete, und weil dies das Unbequemste
ist, was ihm begegnen kann. Der Deutsche ist eben immer noch wie der Whist¬
spieler, welcher sich freut, wenn er für» a tont, bezahlt bekommt; er verliert
Trick und Rubber, aber er bekommt sofort seine drei Points für savs a, tout, er
steckt die drei Points ein »ut zahlt zwanzig am Ende des Spieles. Aber das .Kurz¬
sichtige, das Enge, das Kleinliche der Praktik thun seinem innersten Herzen so
Wohl; seine Unfähigkeit, irgend etwas Persönliches, naheliegendes dem Fernern,
dem Allgemeinen zu opfern, ist immer noch so groß; der Beruf steht ihm immer
noch so sehr viel näher als die Sorge ums Ganze; mag das Deutschtum zu
Grunde gehen, wenn nur der Dollar „gemacht" werden kann, jetzt, augen¬
blicklich! '
So ist denn die ultima rMo immer wieder nnr das eine: daß wir selber
in der Heimat mehr werden müssen, als wir sind; daß wir mit größerm Eifer,
mit erneuter Energie an unsre nationalen Aufgaben Herangehen, und wie trostlos
auch immer da draußen alles sei, von uns ans ein neuer Trieb in das ver¬
dorrte Stammesbewußtsein unsrer Versprengten gelange. Wir stehen nicht allzu¬
fern vor der Jubelfeier eines teuern Mannes, der zum erstenmale den Gedanken
eines einigen Deutschlands zu denken gewagt hat; warten wir ab, was unsre
Brüder da drüben uns für den Hütten-Tag zu sagen haben; warten wir ab, ob
wohl eine Stimme mit uns an jenem Tage ausrufen wird: Mi xickiin, nu liouo!
an erschrickt ordentlich liber das Selbstbewußtsein, mit dem der
krampfhafte Scharfsinn eines der feinsten, kenntnisreichsten und
beredtesten deutschen Literarhistoriker seine Einbildung in Sachen
Goethes dem offnen Thatbestände gegenüber der Welt als un-
zweifelhafte Ergebnisse gewissenhafter Forschung vorspiegelt.
Natürlich fehlt es nicht an gläubigen Anhängern und Schülern, welche ohne
Prüfung diese geistreichen Blüten bewundern, jn sich ans dem morschen Boden
ansiedeln und im Geiste des Meisters, wenn auch mit weniger Begabung, fort-
phautasireu- Was kümmert es sie, dnß dadurch das Bild des Menschen nud
Dichters verzerrt, das Verständnis seiner Werke, statt an Klarheit und Einsicht
zu gewinnen, in trübe Wolken gehüllt wird? Das ehrliche deutsche Gewissen,
ja die Ehre deutscher Wissenschaft fordert ein umso rücksichtsloseres Entgegen¬
treten, je begabter der Mann ist, der die sogenannte Vorsicht als eine mit der
Feigheit verwandte Gelchrtcnnntugcnd verhöhnt und sich von dem Luftschiffe
seiner Einfälle lustig tragen läßt, wohin es diesen gefällt.
Goethe schreibt am t, Mürz 1788 aus Rom, er habe das erste Manuskript
seines „Faust" vor sich, das „in den Hanptszenen gleich so ohne Konzept hin¬
geschrieben" worden sei. Trotzdem und obgleich kein Grund zu der Annahme
gegeben ist, die Äußerung habe ursprünglich anders gelautet, behauptet Scherer,
die ältesten Szenen desselben, die für jeden Unparteiischen die Spuren frischester
Schaffenskraft an sich tragen, seien «ach einem ein paar Jahre ältern prosaischen
EntWurfe ungeschrieben. Sieht man genau zu, so gründet sich diese Annahme
einzig darauf, daß im „Fragment" sich einige reimlose Verse finden, deren gereimte
Fassung dem jungen Dichter nicht habe gelingen wollen. Ohne Goethes eignen
Einspruch zu berücksichtigen, baut Scherer neuerdings (Goethe-Jahrbuch VI,
245—261, „Fausts erster Monolog") aus dieser Grundlage fort, und so hat er
es vermocht, den aus warmer, lebendiger Anschauung des jugendlichen Dichters
geflossenem ersten Monolog, diese gewaltige Darstellung des Dranges nach un¬
mittelbarer Erkenntnis des Wesens von Gott und Welt, die Schelling vor
achtzig Jahren als ewig frischen Quell der Begeisterung gepriesen hat, der allein
zugereicht habe, die Wissenschaft zu verjüngen und den Hauch neuen Lebens z»
verbreiten, dieses dramatische Meisterstück für eine leidige Flickarbeit auszugeben,
für eine Verbindung garnicht zusammengehörender Stücke, deren ursprüngliche
Intention der Dichter vergessen oder aufgegeben habe. Und derjenige, dem
man eine solche unwürdige Manipulation zur Last legt, ist Goethe, der von
frischester, ihn fast fieberhaft ergreifender, bei Nacht und Tag sprudelnder
Schaffenskraft getriebene junge Goethe!
Es gelte, hören wir, die ausdrücklichen Nachrichten über die Entstehung der
einzelnen Szenen (das Hauptzeugnis beachtet Scherer uickit) durch eigne Beob¬
achtungen zu ergänzen, gestützt auf „strenge Interpretation, welche vielleicht
den Zusammenhang gestört finden wird" (ein Verdacht, zu dem vor der Hand
kein Grund gegeben ist, der aber zum Aufsuchen von Angehörigen und zum
Mißverstehen verleitet), auf „sorgfältige Erwägung der Voraussetzungen und
Konsequenzen," auf „Observationen über Stilverschiedenheiteu." Auf „strenge
Interpretation" legen auch wir großen Wert, aber wir verlangen auch, daß sie
wirklich streng sei, den Wortlaut und den Zusammenhang zur Grundlage
nehme, jeder Einseitigkeit und jedem Vorurteil entsage, alle im Kreise der
Dichtung liegende Entschcidnngsgriinde berücksichtige. Scherers Juterprctativus-
tüuste zeigen das Gegenteil von Strenge, und das, was er für solche hält,
besteht nur darin, daß er sein eignes Wort unbeachtet läßt: „Die stürmische
Kraft der produktiven Phantasie blickt über unwesentliche Einzelheiten leicht
hinweg," Gefährlich sind die „Observationen über Stilverschiedenheiteu," die
oft Zufälliges für wesentlich halten und den raschen Wechsel der Stimmung und
des dadurch bewirkten Tones übersehen, dabei in dem Drange, wirkliche Verschieden¬
heiten aufzuhäufen, sich zu abenteuerlichen Behauptungen verleiten lassen. Wer
muß z. B. nicht staunen, wenn Scherer S. 253 die nüchternsten aller Sätze,
die rclativischeu, zu den „poetischen Mitteln" zählt (S. 253), da sie mit den
Beiwörtern verwandt seien, von denen doch auch nur ein Teil wirklich als
Poetisch gelten kann, nicht weil es Beiwörter, sondern weil es poetische Bei¬
wörter sind. Scherer meint zwingend gezeigt und gegen alle möglichen Be¬
denken gesichert zu haben, der Monolog sei aus ganz verschiednen, ursprünglich ge¬
trennten Partien zusammengeschweißt (S. 245—24-9). Schon in der „Rundschau"
(XXXlII, 322) glaubt er den Beweis erbracht zu haben, daß Vers 33—74
(75 f. scheidet er aus) uicht zum Vorhergehenden passe; eine dritte Partie
sollen 77—144, eine vierte 115—164 bilden. Zu solcher wunderlichen Zer¬
splitterung hätte Scherer unmöglich gelangen können, wenn er, statt auf über¬
raschende Entdeckungen auszugehen, sich in den Geist des Dichters versetzt, sich
um den Sinn und den dramatischen Fortschritt gekümmert hätte.
Betrachten wir zunächst die Stellung des Monologs zur überlieferten Sage.
Der „Faust" des jungen, auf Geistesfreiheit leidenschaftlich gerichteten Dichters
konnte ebensowenig ein treues Abbild des abscheulichen Zauberers sein, wie sein
fast gleichzeitiger „Ewiger Jude" die späte Sage von Ahasverus wiedergeben sollte.
Änderte er auch nicht die äußere Stellung Fausts, den das Puppenspiel noch
mehr als das Volksbuch zum Universitätsprofessor macht, so mußte doch dessen
Sinnen und Strebe» ganz andrer Art sein, Goethes Quellen waren das
Puppenspiel und Pfitzers Bearbeitung des Widmanschen Faustbuches; denn wenn
Goethe letztere im Februar 1801 von der Weiniarischcn Bibliothek endlich, so
folgt daraus ebensowenig, daß er sie schon in Frankfurt gekannt habe, als das
Gegenteil; dieses ergiebt sich aber aus Vergleichung von Goethes erstem Teil
und den verschiednen Fassungen des Faustbuchcs. In Bezug auf den Ort, wo
Faust den Teufel beschwört, weichen Puppenspiel und Volksbuch von einander
ab. Im letztern ist es Fausts Zimmer, im andern, mit Ausnahme späterer
Fassungen, der Wald zur Mitternacht. Das Volksbuch läßt der Beschwörung
des Teufels unmittelbar den Entschluß vorangehen, sich mit der Magie zu be¬
schäftigen, und Faust behnrrt auf diesem auch trotz der zur Rechten erschallenden
Mahnung seines Schutzgeistes, bei der Theologie zu verbleiben; ihn verlockt
die Stimme zur Linken, das Versprechen des Abgesandten der Hölle, ihn will¬
kommen glücklich zu machen, wenn er sich der Ncgromantie widme. Zu seiner
höchsten Frende wird ihm gleich darauf ein großes Zauberbuch gebracht, nach
welchem er lange vergebens getrachtet hat. Bei Psitzcr hat Faust „das stuelinnr
tllvoloAlvmn beiseite gelegt" und sich der Arzneikunde zugewandt, dabei aber
„den Himmelslciuf zu erforschen sich befleißigt," ist auch „ein guter Prognvsti-
kant" geworden. Als er das Erbgut seines Vetters durchgebracht hat, trachtet
er, wie er „der Teufel und bösen Geister Kundschaft und durch solcher Hülfe zeitliche
Freude und tägliches Wölkchen möchte überkommen und erlangen." Darum
sucht er sich in Besitz von „allerhand tcnfflischcn Büchern" zu setzen, „forscht
emsig in dem Aaro-Mro, von den aseendentcn nud descendeuteu Gichtern, und
andern mehr," findet endlich, daß „die Geister eine sonderliche Jnlliuntion und
Zuneigung zu ihm haben solle»." Bestärkt wird er darin, als er in seinem
Zimmer anbrennt nacheinander einen seltsamen Schatten an der Wand vorüber
fahren, eines dabei nachts oft viel Lichter hin und wieder bis an sein Bett
„gleichsam fliegen" sieht, ja die Geister leise miteinander sprechen hört. Von einem
Krystallseher lernt er dessen Kunst, er verschafft sich „die bekräftigten Beschwö¬
rungen des Satans" und faßt endlich den Entschluß, den Teufel zu beschwöre»,
was er sodann in einem Walde um Mitternacht beim Vollmond ins Werk setzt.
Goethe läßt seinen Faust, als er an der Erlangung aller wahre» Erkenntnis
auf dem Wege der Forschung verzweifelt, nicht den Teufel, sondern die Geister
beschwören, durch die er volle Einsicht in das Wesen und Wirken der Natur zu
erlangen hofft. Er benutzt dazu el» Zauberbuch, die Mitternachtsstunde und
den Vollmond; ja auch die Vorstellung, daß die Geister in der freien Natur dem
Menschen nahe sind und der Vollmond sie weckt, verwandte er geschickt, wenn
er auch die Beschwörung im Zimmer geschehen ließ, schon um die in einem
Wurfe zugleich damit entstandne Waguerszcne genau anzuschließen. Wie glücklich
Goethe alle diese Züge verbunden hat, um eine in sich zusammenhängende, ergrei¬
fende Darstellung zu liefern, ist bewnndernswert.
In welchem Augenblicke wird uns Faust vorgeführt? Wenn es heißt, er
sei unruhig iiuf seinem Sessel um Pulte, so dürfte diese szenarische Bemerkung
freilich, da der Dichter solche meist wegließ, ein späterer Zusatz sein, wenn sie
anch der Sache durchaus entspricht. Im Puppenspiel studirt er in einem großen
Buche, oder ein solches liegt vor ihm aufgeschlagen, oder er schlägt es eben auf;
das Buch ist ein magisches. Ruch hier haben wir uns das Pult mit magischen
Büchern belegt zu denken, da er allen andern Wissenschaften entsagt hat; das
Buch, das er später nimmt und aufschlägt, liegt dort. Die „Unruhe" ist der
Drang, endlich einmal die Geisterbeschwörung mit Erfolg zu wagen. Der
Ausdruck der Verzweiflung über die Unmöglichkeit, das Wesen von Gott und
Welt zu erkennen, dient nur als Einleitung und Begründung des Entschlusses,
es auf dem Wege der Magie zu versuchen. Freilich ist hierin die Darstellung
dramatisch nicht besonders geschickt, da Faust keine eigentliche Veranlassung hat,
sich selbst seine Verzweiflung an allem Wissen und die dadurch bestimmte Er¬
greifung der Magie zu erzählen; höchstens kann man sagen, er beruhige sich selbst
über den gefaßte» Entschluß, indem er ausführe, wie die Verzweiflung ihn dazu
getrieben. Goethe folgte hier dem Puppenspiele, hob aber unendlich den Ausdruck
brennendsten Schmerzes, obgleich er sich der einfachsten volkstümlichen Be¬
zeichnungen bediente, was ihm als Mangel an dichterischer Kraft vorzurücken
eben nicht von richtiger Beurteilung zeugt. Eigentümlich ist, daß er den Faust
den Kreis des ganzen damalige» Wissens, alle vier Fakultäten, gleich Albertus
dem Große» umfassen läßt. Das Volksbuch und die Puppenspiele nenne» mir
die Theologie, wenn auch ersteres daneben seiner Beschäftigung mit der Nrznei-
tunde und der Astrologie gedenkt; selbst das späte Augsburger Puppenspiel führt
derschiedne Wissenschaften nur zur Ausführung des Satzes an, daß die Neigungen
des Menschen sehr verschiede» seien. Marlowes Faustus, welcher der Philosophie
(dem Aristoteles), der Medizin (dem Galen), dem vorxn8 irn'is (der Jurisprudenz)
und der Bibel (der Theologie) den Abschied giebt, um sich an die Metaphysik
der Zauberei zu hallen, war Goethe zur Zeit unbekannt. Scherer denkt sich,
die vier Fakultäten seien schon in einer Goethe bekannten Fassung des Puppen-
spicles vorgekommen, oder dieser sei zufällig und unbewußt zu Marlvwc zurück¬
gekehrt (?), ja er meint gar, diese Reduktion der in einem späten Puppenspiele
beispielsweise genannten Wissenschaften, Philosophie, Medizin, Mathematik,
Astrologie, Musik und Jurisprudenz, habe sehr nahe gelegen. Warum nicht
einfach anerkennen, daß Goethe selbständig den Faust alles menschliche Wissen,
also alle Fakultäten, „durchaus studiren," den Kreis aller Erkenntnisse er¬
schöpfen läßt? Und daß er die Wissenschaften, die auf Welt und Gott gerichtet
sind, Philosophie und Theologie, mit einem „ach!" und „leider" einleitet, gehört
ihm doch wohl eigentümlich an. Das Ergebnis all seines auf gewisse Er¬
langung sicherer Kenntnis gestellten Forschens, das als eine leidige Thatsache
vor ihm steht („ich armer Thor!"), ist, daß es eine solche Kenntnis garnicht
giebt. Freilich führt er die auf hohe Weisheit deutenden Titel Magister und
Doktor, und er lehrt schon seit zehn Jahren, aber er muß sich selbst gestehe»,
daß für den Menschen kein Wissen möglich sei. Mit besondrer Ironie wird der
Gegensatz dnrch ein doppeltes „und" angeschlossen. Statt eines „und lehre
schon zehn Jahre" schiebt sich das Geständnis unter, daß er seinen Schülern
etwas vorgeschwindelt, ihnen Faxen vorgemacht habe, da er sich gestehen muß,
daß er selbst nichts wisse. Das doppelte „um" (Vers 1, 5) ist nicht streng
zeitlich, es spricht das endliche Ergebnis aus. Wie tief diese Gewißheit sein
nach reinster Erkenntnis so lange schmachtendes Herz schmerzt, gewinnt einen
scharfen Ausdruck in dem knappen: „Das will mir schier das Herz verbrennen,"
das an das gangbare „Brennen des Eingeweides" erinnert. Scherer hat an dem
prosaischen „schier" Anstoß genommen, aber dies deutet entschieden darauf, daß
er doch noch einen gewissen Trost habe, der sich sofort anschließt. Er ist klüger
als so viele, welche dies nicht einsehen, immer in ihrem alten dünkelhaften
Glauben vorwärts gehen, dabei mit einzelnen Skrupeln und Zweifeln sich plagen,
sich vor Holle und Teufel fürchten. Dennoch ist ihm mit dieser traurigen Er¬
kenntnis alle Lebenslust geschwunden, er glaubt nicht mehr, wie früher und wie
es die andern thun, die er so weit übersieht, daß er mit seinem Wissen auf
andre wirken, durch seine Lehre ans ihre sittliche Bildung einen günstigen
Einfluß üben könne. So hat er dasjenige verloren, was seinem Leben Wert
und Bedeutung gegeben hat, und da ihm auch das abgeht, was dem Leben andrer
Reiz leiht, Reichtum, Ansehen und Glanz (daß er nach diesen sich sehne, liegt
durchaus nicht im Ausdrucke), so ist ihm das Leben ganz unerträglich, es ist
ihm hündisch: „Es möchte kein Hund so länger leben!" An diesen vollen Aus¬
druck seiner Verzweiflung schließt sich unmittelbar das an, was dadurch be¬
gründet werden soll: „Drum hub' ich mich der Magie ergeben."
Hier treibt nun Scherer seinen ersten Pfahl ein, um die Zerschlagung des
Monologes einzuleiten. Daß Faust sich der Magie ergeben habe, „könne nichts
wesentlich andres heißen," als er habe sich zur Magie entschlossen. Diese selt¬
same Behauptung (S. 248), die jeder „strengen Interpretation" spottet, soll durch
Stellen der Puppenspiele belegt werden, in denen es heißt: „ich habe beschlossen"
oder „fest beschlossen," worauf „mich in der Nigromcmtie zu informiren" oder
etwas ähnliches folgt. Aber „ich habe mich ergeben" kaun nie und nimmer¬
mehr so viel heißen wie „ich habe beschlossen, mich zu ergeben," es kann mir
auf das wirkliche Abgeben mit einer Sache gehen. Doch hören wir Scherer.
„Der Entschluß ist gefaßt, ohne daß er bisher nennenswerte Folgen hatte. Er
ist noch in der Ausführung begriffen." Letzteres wird man unbedenklich zu¬
geben, aber ist es uicht ein verzweifelter Sprung, wenn er fortfährt: „Unwill¬
kürlich wird man daher annehmen, daß er soeben erst gefaßt ist." Scherer muß
selbst den Mangel an Logik bemerkt haben, da er nach einer „Begünstigung dieser
Annahme" sich umsieht, die er in dein oben erwähnten, keineswegs zeitlichen
„nun" und dem „völlig aus gegenwärtiger Not gethanen Aufschrei," kein Hund
möchte so länger leben, finden zu können glaubt. Aber wenn auch Fausts Ver¬
zweiflung am Leben noch fortbesteht, da es ihm mit der Magie noch nicht ge¬
lungen ist, muß er deshalb den Schritt, sich der Magie zu ergeben, erst jetzt
gewagt haben? Wollte dies der Dichter, wie konnte er so unmündig sein,
nicht gerade mit dem Entschlüsse, sich der Magie zu widmen, das Stück zu er¬
öffnen? Und steht nicht das Perfekt: „ich habe mich der Magie ergeben" dem
bis dahin überall gebrauchten Präsens so bestimmt entgegen, daß man not¬
wendig an eine vergangene Handlung denkt? Aber die Mißdeutung ist Scherer
eben willkommen, weil er daran etwas weiteres knüpft, was den Monolog
sprengen soll. „Faust hat sich der Magie ergeben, aber sie offenbar noch nicht
gehandhabt," heißt es S. 246. „Die Vorteile, die er von ihr erwartet, liegen
in der Zukunft; er freut sich noch keines Besitzes. Sonst hätte ja der ganze
Monolog bis dahin keinen Sinn, worin doch gewiß nicht der Beglückte redet,
dessen Wissensdrang durch Magie gestillt ist, der alles das genießt, was Magie
gewähren kann. Darnach ist man sehr erstaunt, wenn er später nur ein Buch
aufzuschlagen braucht, um sich sofort von Geistern umgeben zu fühlen. Warum
hat er das nicht längst gethan, wenn er konnte? Warum blieb er nur eine
Minute länger in dem qualvollen Zustande des Nichtwissens?" Warum alle
diese Worte? Wir wundern uns nur, wie Scherer übersehen konnte, was
zwischen dem Erwerbe magischer Bücher und einer erfolgreichen Beschwörung der
Geister in der Mitte liegt, obgleich gerade unser Monolog darauf bestimmt genug
hinweist. Daß ein Zauberbuch allein zur wirksamen Beschwörung nicht hin¬
reiche, hätte er sich doch sagen sollen. Schon bei Pfitzer konnte er sich be¬
lehren. Was that sein Faust, um sich mit den bösen Geistern in Verbindung
zu setzen? Er raffte, heißt es, „allerhand teuffelische Bücher, abergläubische Lim-
raotörvs, Gottvergessene Beschwörungen u. s. f." zusammen, schrieb sie zum öftern
ab und übte sich darin vorsätzlich; erst als er „in seiner vorhabenden tenfflischen
Kunst so viel erlernet und gestudiret, so viel ihm nemlich zu seinen Sachen, und
das jenige zu überkommen dienstlich sehn würde, was er lange zuvor begehret
hatte," suchte er sich im Walde einen zur Beschwörung des Teufels geeigneten
Platz. Ja er hat vorher noch „seine Lomvlöxion und Natur erkundigt und
vernommen, ob ihm auch dieselbe in seinem Vorhaben widerig seyn und fehl¬
schlagen oder aber geneigt und beförderlich seyn würde." Da haben wir ja den
Zustand, in welchem wir uns den Faust, nachdem er sich der Magie ergeben,
denken müssen. Der Besitz eines Zauberbuches thut es nicht allein. Faust hat
sich von der Theologie zur Magie gewandt, wie im Puppenspiele, er hat sich
magische Bücher verschafft, sie studirt, ihre Sigillen, ihre Beschwörungen und
alle Lehren zu wirksamer Ausführung gemerkt, aber noch nicht den Mut gehabt,
eine Beschwörung zu wagen, wozu erst der rechte Geist über ihn kommen muß.
Das geheimnisvolle Buch des Nvstradamus (66) hat er sich nicht vergebens
verschafft, die sigilla desselben oft beschaut, aber die Seelenkraft (71) ist ihm
dabei nicht aufgegangen, das trockene Sinnen (73) hat ihm nichts geholfen,
sein Sinn ist zu, sein Herz tot geblieben (91): erst in dieser Nacht, als er
mit dem Buche des Nostradamus in die freie Natur eilen will, erfaßt ihn
dieser echt magische Geist, und so fühlt er sich zur Beschwörung getrieben. Wie
hätte Scherer dies alles übersehen können, wenn er der Spur des Dichters gefolgt
wäre! Noch deutlicher spricht das folgende. Faust wagt nicht den Makrokosmus
zu beschwören, weil er sich dessen nicht mächtig fühlt (101 ff.). Erst dem Erdgeist
sühlt er sich wirklich nahe, dieser begeistert seine Seele, er giebt ihm alle seine
Sinne, sein ganzes Herz hin, und sein mächtiger Drang, sein Scelenflchcn zieht
ihn heran, daß er sich ihm enthüllen muß. Vortrefflich ist es vom Dichter
erfunden, daß Faust die Beschwörung des Geistes des Makrokosmus nicht wagt.
Dies hat Scherer so wenig gefühlt, daß er sich als möglich denkt (S. 258),
Faust sei nach dem ersten EntWurfe in der Beschwörung des Erdgeistes unter¬
brochen worden und darauf der Vorhang gefallen. Also schon beim ersten
EntWurfe habe Goethe an eine Teilung in Akte gedacht, und gar an eine so
widersinnige! Gerade das ist der Zweck des Monologs, daß Faust sich endlich
zur magischen Beschwörung getrieben fühlt, die ihm gelingt, aber ohne damit
seinen Zweck zu erreichen. Dafür fehlt Scherer jedes Verständnis, oder vielmehr
sein kritisches Nachspähen verblendet ihn völlig gegen die dichterische Auffassung.
Nur dadurch war es möglich, daß er die Verse (73—76):
Umsonst dost trocknes Sinnen hier
Die heil'gar Zeichen dir erklärt.
Ihr schwebt, ihr Geister, neben nur,
Antwortet mir, wenn ihr mich hört!
nicht verstand und zu der unbegreiflichen Behauptung kam, hier habe mit 75 eine
Zusammcnschweißung ursprünglich nicht für einander berechneter Stücke statt¬
gefunden. Als Faust eben vom gewaltigen Drange sich ergriffen fühlt, in der
freien Natur die Stimme der Geister zu vernehmen, erfüllt ihn der magische
Geist, statt des bisherigen trocknen Sinnens ahnt er die Nähe der Geister, und
so drängt es ihn, gleich an Ort und Stelle die Veschwörnng zu versuchen.
Er will sagen, dort würde ihn die Nähe der Geister beleben; in dem Augenblicke
aber fühlt er sie wirklich um sich. Die Rede ist nach „erklärt" eigentlich unter¬
brochen, was ein Gedankenstrich andeuten sollte.
Wir haben hiermit den Nerv von Scherers Mißverständnis und seiner
darauf gegründeten Vivisektion erkannt. Er verbindet aber damit eine andre,
ebenso haltlose Ausdeutung. Faust schildere auch seine Unbefriedigung als
Professor, weil er, der nichts wissende, trotzdem lehren soll (S. 245 f.), jn
das Motiv Faust als Lehrer, das in den ersten 32 Versen dreimal anklinge
(8 f., 19 f., 27 f.), stehe vollkomne» gleichberechtigt ueben dem unbefriedigten
Erkenntnistricbe (S. 249), was doch eine der stärksten Übertreibungen wäre,
wenn auch das erstere der Wahrheit entspräche. Sehen wir die angeführten
Stellen näher ein, so spricht die erste davon, daß Faust zehn Jahre lang die Schüler
zum Besten gehabt habe; in der zweiten heißt es, er bilde sich nicht mehr ein,
wie so viele andre, als Lehrer wirken zu können. Nur die dritte Stelle könnte
bei strenger Interpretation darauf zu deuten scheinen, daß er, nachdem ihm durch
die Magie „manch Geheimnis kund geworden," seine Lehrthätigkeit noch fort¬
setzen werde, da als Zweck oder Folge dieser Erleuchtung angegeben wird, „daß
ich nicht mehr mit sauerm Schweiß zu sagen brauche, was ich nicht weiß."
Aber Faust spricht hier nicht vom Lehren, sondern vom Sagen, und daß er
„nichts mehr zu sagen brauche" bezieht sich auf die Qual, die er sich selbst
früher mit der Beantwortung der Fragen über Gott und Welt gemacht habe,
für die er keine klare, ans voller Überzeugung fließende Antwort gewußt, sondern
nur, wie es vier Verse später heißt, „in Worten gekramt," für diese statt einer
Anschauung, eines lebendigen Begriffes „ein Wort sich eingestellt" habe. Der
Schwerpunkt des Monologs beruht für jeden, der Verständnis für die Dichtung
mitbringt und es sich nicht durch kritische Velleitäten trüben läßt, auf der
Aussicht, endlich durch die Macht der Magie zur unmittelbaren Einsicht über
das Wesen und Wirken der Welt zu gelangen, die auf dem Wege der Wissenschaft
nicht gewonnen werde. Scherer aber begnügt sich nicht damit, den Eingang
des Monologs dahin mißzuverstehen, daß Faust auch nach Erlangung un¬
mittelbarer Erkenntnis des Bandes, das die Welt im Innern zusammenhält,
wie fabelhaft dies auch jedem dünken muß, Professor bleiben wolle, er legt
darauf so großes Gewicht, daß er dem Dichter, der diesen Monolog in glühendem
Drauge ergossen hat, dabei eine besondre Absicht zuschreibt: er habe etwas daran
knüpfen, etwas daraus folgern wollen. Und wie ihm aus den Blasen seiner
Einbildungen sich immer neue bilden, soll Faust „etwa diese Einsichten nicht
zurückhalten und dadurch Gefahren über sich heraufbeschwören." Und weiter
hören wir Scherer weissagen, der „Fortsetzung," welche Goethe bei deu
Worten, daß er nicht mehr zu sagen brauche, was er nicht wisse, „im Sinne
gehabt," entspreche die Stelle im zweiten Teile, wo es heißt, er habe vor
widerwärtigen Streichen zur Einsamkeit entweichen und, um von ihm nicht ganz
versäumt allein zu leben, sich doch zuletzt dem Teufel übergeben müssen (1621
bis 1626); diese „gehöre nicht der Form, sondern dem Inhalte nach zu den
ältesten im Faust." Was kümmert es Scherer bei einer so ganz absonderlichen
Entdeckung, daß dort nicht von einer durch Magie vermittelten Erkenntnis,
sondern von eignem Anschauen die Rede ist, und das Bündnis mit dem Teufel
»ach den „widerwärtigen Streichen" gesetzt wird! Auch gedenkt Faust ja schon
im Gespräche mit Wagner der Thorheit derjenigen, die dem Pöbel ihr Schauen,
ihr Gefühl offenbart hatten, wonach er sich doch kaum derselben Thorheit
schuldig gemacht haben würde. Aber was kämpfen wir gegen Luftblasen! Von
derselben Art ist es, wenn die Bemerkung, er habe weder Gut noch Geld u. s. w.,
deren Zusammenhang wir oben angedeutet haben, als Wunsch Fausts mißdeutet
und darin ein Motiv für die fernere Entwicklung des Stückes entdeckt wird.
Nachdem die Absicht der ersten 32 Verse, besonders des Schlusses, gründlich
mißverstanden ist, wird es leicht, den Zusammenhang mit den folgenden Versen
zu vermissen; ist es doch nicht der gewissenhafte Erklärer, sondern der auf Un¬
gehörigkeiten gierige Kritiker, dem diesmal der Monolog verfallen ist. Nach
jenem Eingange erwarteten wir zunächst zu erfahren, was die Magie dem Faust
nützen werde, aber die erregte Spannung, lesen wir S. 250, werde nicht be¬
friedigt. Es beginne ein neuer Gedankengang, der mit dem vorigen nur in¬
sofern zusammenhänge, als auch hier Faust, die Unerträglichst seines Zustandes
aussprechend, einen neuen Weg, hinter die Geheimnisse der Welt zu kommen,
einschlagen wolle. Freilich macht sich Scherer die Sache dadurch sehr leicht, daß
er 33—74 als ein Ganzes betrachtet, das durch den Gegensatz zwischen der
Studirstube und der freien Natur beherrscht werde. Gehen wir fein sacht zu
Werke, und betrachten zunächst den Zusammenhang mit den Versen 33—44, die
keineswegs diesen Gegensatz zeigen. Scherer hält sich eben den wirklichen Zu¬
sammenhang und das glücklich verwandte dramatische Element vom Leibe, für
das er hier gar kein Auge hat, um scharfe Kritik zu üben, die natürlich, da ihr
das Verständnis abgeht, in die Irre geht. Faust hat es ausgesprochen, was ihn
zur Magie getrieben hat und welche Erkenntnis er von ihr hofft. Aber noch
ist es ihm nicht gelungen, auf diesem Wege vorzudringen, wie sehnsüchtig und
innig auch sein Streben gewesen ist. Was ihm noch fehlt, ist oben angedeutet.
Da ist nun nichts natürlicher, als daß der gerade aufgehende Vollmond, der
so oft Zeuge seiner mitternächtlichen Studien gewesen ist, ihm den Wunsch erregt,
er möge heute zum letztenmale Zeuge seiner argen Not sein, möge ihn bald im
Besitze unmittelbarer Kenntnis durch Hilfe der Magie sehen, die Beschwörung
der Geisterwelt möge ihm gelingen. Das ist so deutlich ausgesprochen, daß
es niemand übersehen kann. Aber indem er sich ganz in den Anblick seines
alten, immerfort ihn so trübselig anhebenden Freundes versenkt, wird zunächst
der Wunsch in ihm geweckt, seinen mächtig wirkenden Schein, der die Geister
aufregt, draußen zu genießen, an der Erquickung, die er der Welt bringt, sich
zu laben und alles ihn quälenden toten Wissens im Zusammenleben mit den
Naturgeistern sich zu entschlagen. Da aber fällt sein schwärmerischer Blick auf
seine beengende Umgebung, die ihm jetzt ganz unerträglich geworden ist, der er
flucht, da sie ihn so lange von der Welt und der freien Natur fern gehalten hat,
der er das bitter spottende Wort zuruft: „Das ist deine Welt! das heißt eine
Welt!" (56). Jetzt fühlt er, weshalb hier sein Herz verdumpft und verdorrt
ist. Der Mensch ist für Gottes freie Natur bestimmt, dort nur kann er leben
und gedeihen, während er hier so viele Jahre in dieser von Rauch geschwärzten,
von Moder angefüllten Enge verkümmert ist. Scherer findet auch hier einen
Widerspruch mit dem Eingange. Faust, der früher über die Ursachen seines
Schmerzes im klaren gewesen sei, komme hier erst über die Ursachen des auf ihm
lastenden Druckes zur Klarheit. Wo steckt denu hier der Widerspruch? Der
sehnsüchtige Blick in die freie Natur läßt ihn jetzt erkennen, weshalb ihm die
heitere Lust der Seele gefehlt habe, er nur ein halber Mensch gewesen sei, den
bloß das Wissen angezogen habe, Und da kann er natürlich dem Triebe nicht
widerstehen, in die freie Natur zu eilen, wo er noch immer den lockenden
Mondschein bemerkt. Auch hierin liegt für Scherer ein Widerspruch. Während
im Eingange die Magie schlechthin (doch nur der Erkenntnis) helfen solle und
an neue Lehrthätigkeit mit vermehrter Einsicht (nichts weniger als dieses!) gedacht
werde, soll jetzt die Flucht nötig sein (doch um der Verdumpfung des Herzens
zu entgehen). Das „Flieh, auf! hinaus ins weite Land!" ist durch den Eindruck
des Mondes höchst glücklich eingeleitet. Aber nicht weniger vortrefflich wird
gleich darauf der Drang nach magischer Beschwörung damit verknüpft. Ehe er
wegeilt, sieht er das Zauberbuch des Nostradamus auf dem Pulte liegen, und
so nimmt er es auf seinen Ausflug mit, um endlich, wenn er sich dazu mächtig
fühlen wird, in der dazu geeignetem freien Natur die Beschwörung zu ver¬
suchen. Aber in diesem Augenblicke, wo er klagt, daß er hier, an diesem ihm
jetzt so verhaßten Orte, durch trockenes Sinnen es zu nichts bringe, glaubt er
die draußen gesuchten Geister in seiner Nähe zu fühlen, und so wagt er es mit
der Beschwörung. Scherers Bemerkung, das Buch scheine erst nur uuter An¬
weisung der Natur selbst seine Macht zu erweisen, und es falle deshalb auf, daß
die Beschwörung dennoch im Zimmer geschehe, übersieht gerade das, worauf es
ankommt, daß die Geister von seinem magischen Drange angezogen werden, wie
sie auch bei Pfitzer sich dem Faust in seiner Wohnung zeigen.
Wir sind leider mit Scherers Mißverständnissen und seiner willkürlichen
Zerschlagung des Monologs noch nicht zu Ende. Daß seine dritte und vierte
Partie 77—114 und 115—164 nicht unmittelbar aneinandergeschlossen seien, be¬
weist ihm Fausts Rede an den Erdgeist (122): „Ich steht's, du schwebst um mich, er¬
flehter Geist!" Im Ernste werden wir belehrt: „Aber der Geist ist noch garnicht er¬
fleht. Faust hat ihn noch mit keinem Wort um sein Erscheinen gebeten. Er hat
nur sein Zeichen aus sich einwirken lassen. Er hat auch nicht »lang« an der Sphäre
des Geistes gesogen, wie dieser in Z. 131 behauptet." Aber muß denn das
Erflehen mit dürren Worten ausgesprochen werden? Bedarf die schmachtende
Sehnsucht, die Fausts Seele bewegt, die sich so ergreifend in seinen Worten
kundgiebt, einer ausdrücklichen Bitte, empfindet der Erdgeist nicht in Fausts
Drängen nach ihm hin sein „Scelenflchen" (135)? Das eigentliche Anrufen
des Geistes erfolgt erst mit dem geheimnisvollen Aussprechen des Zeichens. Und
um auf den andern Punkt zu kommen, warum sollte Fausts leidenschaftliches
Verlangen nach dem Erdgeiste, wie es 109—128 schildern, nicht als ein „langes
Saugen an seiner Sphäre" bezeichnet werden können? Es hat andauernder,
fieberhaft anspannender, ihn bald mit Grauen, bald mit glühendsten Seelen-
dränge erfüllender Anziehung bedurft, ehe Faust mit der stärksten, sein Leben
aufs Spiel setzenden Willenskraft es wagt, durch Aussprechen des geheimnis¬
vollen Namens den Geist zum Erscheinen zu zwingen. Und dies hätte der
Dichter nicht als langes Saugen an dessen Sphäre bezeichnen dürfen? Mit
solchen kleinen Mittelchen, mit solchem überkritischen Spannen auf die Folter
sollte man den Dichter verschonen und vielmehr sich redlich bemühen, das, was
er gewollt hat, zum klaren Verständnis zu bringen. In dem Glauben, nicht
weit genug gehen zu dürfen, übersieht man das nächste. Iirtollög'Lnäo lÄvwnt,
ut M intollug'g.ut.
Scherer will nun in den beiden ersten Partien, in die er den Monolog
zerhackt hat, zur Vollendung seines Beweises auch einen verschiednen Stil auf¬
zeigen. In den erstei? 32 Versen finde sich eine kindlich undramatische Exposition,
wogegen in 33—74 alles vollkommen dramatisch sei, wahre Empfindung des
Augenblickes. Der Eingang musste aber gerade den Zustand, in welchem Faust
sich eben befand, zur Darstellung bringen; daraus folgte von selbst, daß wir hier
„überwiegend thatsächlichen Bericht empfangen," aber von dem selbst tief bewegten
Faust, wodurch auch hier lebendiges dramatisches Leben entsteht von dem ersten
„ach!" an bis zu dem seinen tiefsten Widerwillen verratenden „Und thu' nicht
mehr in Worten kramen." Dabei soll nicht geleugnet werden, es sei nicht gerade
durch den Augenblick geboten, daß Faust seines bisherigen vergeblichen Strebens
und seiner dadurch erregten Verzweiflung gedenkt; aber der Dichter war dazu
genötigt, wenn er den Übergang zur Magie begründen wollte. Freilich hätte er
den Faust gerade in dem Augenblicke einführen können, wo er allen Wissenschaften
entsagt nud sich der Magie ergiebt, aber er wollte ihn eben als schon längere
Zeit ihr ergeben und dem Augenblicke sehnlich entgegensehend darstellen, in welchem
er endlich die Beschwörung wagen könne, damit er „des Geistes Kraft und
Mund" vernehme; zu dieser sollte er rasch hingerissen werden. Der abweichende
Ton des Folgenden liegt in dem durchaus verschiednen Charakter der bewegten
Handlung begründet, nicht darin, daß der Dichter bei höherer dichterischer Aus¬
bildung diesen schwungvollen Drang nach der Verbindung mit der Geisterwelt
schrieb. Daß die innere Form des Einganges „prosaisch" sei, hat Scherer be¬
hauptet, aber nicht bewiesen; auch hier ist Faust tief bewegt, aber er mußte zum
Verständnisse seines Zustandes manches aus der Vergangenheit hereinziehen, wozu
der Anfang einer Exposition sich so häufig genötigt sieht. Aus dem verschiednen
Charakter und Tone ergab sich anch die metrische Verschiedenheit, nicht aus der
fortschreitenden Entwicklung des Dichters. Wenn nach Scherer in der zweiten
Partie „ein strengeres Gesetz im Sinne einer an den Jambus gewöhnten Kunst"
herrscht, so werden wir doch wohl nicht glauben sollen, dies sei Goethe bei
Dichtung dieser Partie, die Scherer selbst nicht vor die Leipziger Zeit zu setzen
wagt, noch nicht geläufig gewesen; hiergegen würde die einfache Verweisung auf
die Leipziger Lieder genügen. Daß Goethe zuweilen den Haussachsischen
Ton auch zu einer Zeit anschlug, wo er meist der gangbaren neuern Formen
sich bediente, ist allbekannt, und so benutzte er hier seinem Zwecke gemäß beide
nebeneinander.
Weiter wird der ersten Partie eine altertümelnde oder mundartlich gefärbte
oder niedrige Sprachweise vorgeworfen. Wundern muß man sich, was hier
alles aufgeführt wird. Da figurirt das dem Dichter von Hause aus geläufige
zweisilbige „zehen," das wir z. B. in „Künstlers Erdenwallen" und noch viel
später antreffen, wo Vers und Reim nicht „zehn" forderten; der Plural „Jahr"
im Reime, den Goethe auch sonst häufig in wie außer dem Reime hat, wie
im „Faust" selbst 1651, 2272. 3641; die Apokope „was rechts", die im
„Faust" vielfach und auch in höhern Gedichten selbst viel stärker, wie „mcnsch-
lichs," „unauslöschlichs," sich findet; das fehlende „ich," das unserm Dichter
gerade am Anfang des Verses so sehr beliebt ist; das Wort „schier," das hier
durchaus an der Stelle ist; die Häufung „als wie," die sich Goethe im Jahre
1774 im „Ewigen Juden" und auch später gestattet; die ihm auch im „Faust"
so geläufige Umschreibung mit „thun." Das beanstandete „mit saurem Fleiß"
steht ebenso im „Prometheus" (II, 77). Am allerwenigsten sieht man, wie das
ganz eigentümliche, scharf bezeichnende: „Möchte kein Hund so länger leben!"
in diese Liste gekommen ist. Wenn Scherer sich an dem „an der Nase Herum-
führen mit Angabe aller Richtungen" stößt, so hat er den höhnenden, ganz
eigentümlichen Ausdruck eben mißverstanden. „Herauf, herab und quer und
krumm" ist nicht mit „Ziehen an der Nase herum" zu verbinden, sondern steht,
wie auch die Interpunktion zeigt, für sich allein, und es wird dazu ein „gehend"
gedacht; erst später springt die Rede in die gewohnte Redensart über. Jedenfalls
ist der Ausdruck recht bezeichnend für den Spott.
Ebensowenig wird eine Verschiedenheit des Stils, welcher strenge vom Ton
zu sondern ist, durch die Armut an Beiwörtern bewiesen. Der schwungvollere
Ton greift natürlich auch zu lebhaft bezeichnenden Beiwörtern; daß dieses aber
in der Partie 33—74 in besondrer Weise der Fall sei, kann mau nicht eiumcil
behaupten, weshalb denn auch Scherer diese nicht in Reih und Glied erscheinen
läßt. Auch ist das heiße Bemühen des Einganges so neu wie bezeichnend,
und man würde es dem Dichter wohl verargen, hätte er der Neuheit wegen
den armen Thoren und den sauren Schweiß durch andre weniger treffende
Beiwörter geändert. Die Seltsamkeit des Versuches, Relativsätze als poetische
Mittel einzuschmuggeln, haben wir schon zurückgewiesen. Man sehe sich nur
die Beispiele an (35, 60 f. und, wenn man die Sätze mit wo, da und wie
dazu zählen will, 47, 62 und 72) und frage sich nach der poetischen Wirkung
dieser Sätze! Auch Nvminaleomposita sollen eine poetische Wirkung haben,
besonders wenn sie ueugeprägt seien oder sein könnten. Aber nicht alle solche
Bildungen „machen die Anschauung lebendiger, frischer, poetischer," es kommt
eben auf den einzelnen Fall an. In deu 32 Versen des Einganges findet sich
freilich nur ein Beispiel dieser Art, das neue Wirkenskraft (31). Dagegen
zählt Scherer in den 41 Versen seiner zweiten Partie „etwa 15" Beispiele,
aber davon müssen zunächst die Zusammensetzungen ausgeschlossen werden, die
nicht mehr als solche empfunden werden, wie Mondenschein, Mitternacht,
Hausrat. In Tiergerippe, Tvtenbein, Lebensregung, Seelenkraft
wird man kaum etwas Poetisches finden könne», ebensowenig in Bücherkauf,
Himmelslicht, worunter Scherer die Sonne verstehen möchte, Bergeshöhen,
Bergeshöhlen; nur das einzige Wissensqnalm hat des darin liegenden Ver¬
gleiches wegen einen poetischen Anstrich. Giebt es denn nicht anch sonst längere,
sehr bewegte Stellen, wo sich keine von dem Leser als poetische Znsammen¬
setzung empfundene Nominalcompositivn findet? Man vergleiche 101—134,
281—332, 825—900. Und wir fragen, wo hätte im Eingänge mit Fug eine
Nvuünalkvmpositiou angewandt werden können? Freilich wenn Scherer behauptet,
es sei durchaus möglich gewesen, den vier Fakultäten ein poetisches Gewand
anzuziehen (etwa durch langweilige Nominalkompositionen) und den Lehrerberuf
weniger dürr und trocken zur Sprache zu bringen (doch wohl nicht etwa in
poetischen Relativsätzen?), so kann man darin ehrlicherweise nur Chikane sehen.
Der Ton ist im Eingang nicht weniger glücklich getroffen wie in der folgenden
schwungvollen Stelle. Die Namen Magister und Doktor waren ebensowenig zu
vermeiden wie Magie, und das durchaus studiren wird man nur höchst
bezeichnend finden können. Auch das erzprosaische weder — noch (16, 21) wird
dem Dichter ausgenutzt, obgleich Goethe dasselbe auch sonst in Versen nicht
meidet, wie er selbst weder — weder im „Faust" und in der „Iphigenie" hat.
Die schärfere Markirung durch eine doppelte Disjunktion ist oft bezeichnend, bei
einzelnen Redeweisen nicht zu vermeiden. Natürlich wird der wenn auch unentbehr¬
liche Gebrauch von zwar, drum als zu logisch dem Monolog verwiesen; wie aber
in gleiche Verdammung das konsekutive daß, ob, dafür, auch eingeschlossen
werden, sieht man ebensowenig, wie daß dein dreimaligen dann der zweiten Partie
(37,69,71) eine „sehnsüchtige Stimmung," die Einleitung „des kontrastirenden
bessern Zustandes" zugeschrieben wird. Stunde dieses dreifache dann, das sich
zweimal auf eine Zeitbestimmung, einmal auf wenn zurückbezieht, im Eingänge,
statt des Lobes würde es scharfen Tadel gefunden haben. In der ersten Partie
sollen „Ausruf, Wunsch, Frage, Imperativ gänzlich fehlen" (S. 253). Und
doch findet sich ein Ausruf 4, 11 und in der stärksten Weise 23; auch hatte der
erste Druck Ausrufungszeichen nach ach! (1) und ich armer Thor (5), und es
stünde ein solches auch besser statt des ungehörigen Gedankenstrichs nach 15.
Die gesteigerte Bewegung der folgenden Partie bringt natürlich einen häufigern
Gebrauch von Ausrufungen und Fragen mit sich.
Das Aufsuchen stilistischer Verschiedenheiten, die von dem verschiednen Tone
unabhängig sein sollen, ist vollständig gescheitert. Wo sich solche wirklich finden,
find sie freilich beachtenswert. Aber die Art, wie Scherer hier zu Werke geht,
erinnert mir zu sehr an die Weise homerischer Athetesen, wo man oft nahezu
den Dichtern der für eingeschoben gehaltenen Verse die Kenntnis der griechischen
Sprache aberkannt hat, weil man durchaus die Einschiebung sprachlich beweisen
wollte. Das stärkste Vorurteil zeigt sich auch in Scherers Behauptung, die
von ihm aufgezeigten Verschiedenheiten flössen nicht aus der Verschiedenheit des
Gegenstandes. Dieser sei in ihnen nicht wesentlich verschieden, der Eingang
beziehe sich auf Fausts Übergang zur Magie, die Fortsetzung auf die Flucht aus
der Studirstube, die beide aus der Unerträglichkeit seines bisherigen Zustandes
begründet würden; diese Unerträglichkeit sei in beiden Fällen das Grundthema.
Freilich fließen beide aus der Unbefriedigung seines Zustandes, aber die dadurch
hervorgerufenen Stimmungen find sehr verschieden. Dies läßt Scherer hier
absichtlich zur Seite, während er früher zu seinem Zwecke die Verschiedenheiten
hervorgehoben hat. S. 251 heißt es: „Dort empfangen wir überwiegend that¬
sächlichen Bericht, wenn auch durch bittern und höhnenden Ingrimm gefärbt:
hier herrscht ein hoher Seelenschwung, der sich schwärmerisch erhebt, den Redner
wie den Zuhörer stürmisch fortreißt." Und eine solche Verschiedenheit sollte
sich nicht notwendig anch im Tone ausprägen? Der Beweis, daß ein solcher
Wechsel auf der verschiednen Abfassungszelt beruhe, würde mir dann erbracht
sein, wenn sich herausstellte, daß derselbe nicht der Stimmung entspreche. Aber
gerade das Gegenteil liegt offen vor. Der Anblick des Mondes erregt in Faust
das sehnsüchtige Verlangen, endlich durch die Magie zur Erkenntnis des Wesens
der Dinge zu gelangen, endlich von der schrecklichen Pein des Nichtwissens
befreit zu werden. Er sehnt sich nach der freien Natur, nach dem Zusammen¬
leben mit den durch den Mondschein aufgeregten Geistern, und gerade der leidige
Gegensatz seiner engen Klause, die ihn so viele Jahre gefesselt hat, läßt ihn gegen
diese Schmähend losfahren, treibt ihn ins Freie hinaus, aber zugleich will er
des Nostradamus Zauberbuch mit sich nehmen, von dem er die schönste Er¬
leuchtung seiner Seelenkraft sehnsuchtsvoll erwartet. Und trotzdem sollen in der
zweiten Partie die Gegenstände dieselben sein wie in der ersten? Und stellt denn
das Drama Gegenstände dar, nicht vielmehr das persönliche Deuten, Fühlen und
Wollen, nach dessen wechselnder Gestaltung sich der Ausdruck richten muß?
Nachdem Scherer so bewiesen zu haben glaubt, daß die stilistischen Ver¬
schiedenheiten, wie er sie nennt, nicht ans der Verschiedenheit des Stoffes geflossen
seien, gedenkt er nun zweier andern möglichen Herleitungen derselben, die er aber so
gestellt hat, daß ihre Widerlegung ein Spiel ist, welches uns nicht darüber zu
tauschen vermag, daß er den offen zutage liegenden wirklichen Grund unter nichts¬
sagenden Worten erstickt hat. Mit der ganzen stilistische» Verschiedenheit ist es
ebenso eitel Werk wie mit der Zersplitterung des Monologes, an welchem sich
Scherer schwer versündigt hat.
le Reichstagsabgeordneten Dr. Windthorst und Graf von Wald¬
burg-Zeil haben einen Antrag beim Reichstage eingebracht, der
am 10. März gegen die Stimmen der Deutsch-Konservativen an
die Geschäftsvrdnuugskommissivn verwiesen worden ist und wohl
demnächst den Reichstag wieder beschäftigen wird. Der Antrag
lautet: Der Reichstag wolle beschließen, eine Erklärung abzugeben, daß es un¬
zulässig sei, einen Reichstagsabgeordneten wegen Äußerungen über Thatsachen,
welche ihm in dieser seiner Eigenschaft mitgeteilt worden sind und welche er
infolgedessen im Reichstage vorgetragen hat, einem Zeugniszwangsverfahren zu
unterwerfen.
Sehen wir zunächst von der praktischen Bedeutung einer etwaigen ent¬
sprechenden „Erklärung" durch den Reichstag ab und fragen wir nach der Be¬
gründung dieses Ausspruches gemäß den bestehenden Gesetzen, so wird von den
Antragstellern und ihren Genossen der Antrag auf deu Artikel 30 der Ver¬
fassung des deutschen Reiches gestützt und diese Bestimmung als eine solche be¬
zeichnet, welche zweifellos das fragliche Recht der Zeugnisfrciheit in sich schließe.
Der Artikel 30 der Reichsverfassung lautet wörtlich: „Kein Mitglied des Reichs¬
tages darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in
Ausübung seines Berufes gethanen Äußerungen gerichtlich oder disziplinarisch
verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen
werden." Zu weiterer Unterstützung dieses Anspruchs wird der K 11 des deut¬
scheu Reichsstrafgesetzbuches angeführt, welcher wörtlich bestimmt: „Kein Mit¬
glied eines Landtages oder einer Kammer eines zum Reich gehörigen Staates
darf außerhalb der Versammlung, zu welcher das Mitglied gehört, wegen seiner
Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes gethanen Äußerungen
zur Verantwortung gezogen werden."
Hervorgerufen wurde der Antrag bekanntlich durch die gerichtliche Vor¬
ladung des Abgeordneten von Schalscha, der im Reichstage geäußert hatte, es
sei ihm vou gut unterrichteter Seite mitgeteilt worden, zwei Firmen in Berlin
betrieben das einträgliche Geschäft, preußische Thaler alten Gepräges in der
Schweiz und Südfrankreich anfertigen zu lassen, um sie alsdann im deutschen
Reiche als echtes Geld mit erheblichem Nutzen zu verkaufen, und der über seiue
Wissenschaft von diesem, im Strafgesetzbuche nicht unter zwei Jahren bedrohten
Verbrechen als Zeuge vernommen werden sollte. Für die Frage der Zeugnis-
Pflicht eines Abgeordneten ohne Bedeutung ist die Thatsache, daß Herr von
Schalscha — offenbar nachdem er von der Strafandrohung des Z 139 des Straf-
gesetzbuches wegen unterlassener Anzeige eines Müuzverbrechens Kenntnis erlangt
hatte — der Behörde schriftlich diese Anzeige ebenfalls erstattet hat, und wir
können deshalb von dieser Thatsache hier völlig absehen.
Der Abgeordnete Windthorst hat die Begründung seines Antrages dein
deutsch-freisinnigen Staatsrechtslehrer Hänel überlassen, und dieser hat damit
begonnen, die von dein konservativen Abgeordneten von Hammerstein vertretene
gegenteilige Ansicht als jeder Begründung entbehrend zu bezeichnen und der
konservativen Partei vorzuwerfen, daß sie stets bereit sei, ein von der Regierung
bestrittenes Recht des Reichstages bis zum Beweise des Gegenteils als nicht
vorhanden anzusehen. Nach der Meinung des Herrn Hänel ist die Zeugnis-
freihcit der Abgeordneten durch die Verfassung so klar ausgesprochen, daß über
diese Frage ein Streit garnicht sollte bestehen können; nach seiner Auslegung
schließt der Artikel 30 der Verfassung nicht nur jede gerichtliche und diszipli¬
narische Verfolgung ans, sondern kann nur den Sinn haben, daß überhaupt
keine Behörde den Abgeordneten wegen einer in seinem Berufe gethanen Äuße¬
rung in irgend einer Weise, auch nicht als Zeugen, vor ihr Forum ziehen darf.
Sollten — ruft er aus — Parlamentsmitglieder etwa einen geringern Grad
von Redefreiheit haben als Verteidiger und Geistliche, die doch wegen der ihnen
vertranensvll gemachten Mitteilungen nicht zur Verantwortung gezogen werden
dürfen! In England würde ein Richter, der sich eines Bruches der Rechte
des Parlamentes schuldig machte, sich vor den Schranken des Parlamentes des¬
wegen verantworten müssen! Soweit sind wir — wie Herr Hänel mit Schmerz
bemerkt — leider noch nicht. Er wünscht, wir hätten „Parlamentsjustiz."
Es ist ein großes Verdienst der konservativen Partei, daß sie sich, anch
wenn Rechte des Reichstages (also mit ihre eignen Rechte) in Frage kommen,
den unbefangenen Blick offen hält und nicht in der sucht nach Anmaßung einer
immer schraukeulosern Macht die Grenzen übersehen will, welche ihren Befug¬
nissen durch die Gesetze gezogen sind. Den von den Antragstellern und ihren
Genossen beigebrachten Gründen für das von ihnen beanspruchte Recht fehlt
jeder Boden. Sehen wir uns zunächst den Wortlaut der betreffende» gesetz¬
lichen Bestimmungen an, so kaun auch die kühnste deutsch-freisinnige Auslegung
in deu Worten „gerichtliche oder disziplinarische Verfolgung" nichts andres
sinden, als daß den Abgeordneten keine strafrechtlichen oder zivilrechtliche» Folgen
als Beklagten infolge seiner Äußerungen treffen dürfen; denn von einer „Ver¬
fügung" zu reden, wenn jemand als Zeuge vernommen werden soll, so mit
der deutschen Sprache umzuspringen, hat bisher noch niemand gewagt. Daß
mit dem weiter» Ausdrucke: „oder sonst außerhalb der Versammlung zur Ver¬
antwortung gezogen werden" ebenfalls nichts andres gemeint ist, als was mit
der vorhergehenden Wendung gesagt werden sollte, ergiebt wiederum der Wort¬
laut; denn von einer „Verantwortung" kann nur demjenigen gegenüber ge¬
sprochen werden, welcher durch seiue Handlung eine strafrechtliche oder zivil-
rechtliche Folge übernimmt, also dem Beklagten gegenüber, und diese Ansicht
findet weiter darin ihre Bestätigung, daß in dem oben zitirten §11 des deut¬
schen Strafgesetzbuches, der sich mit den Rechten der Abgeordneten befaßt, statt
der in der Reichsverfassung gewählten Synonymen Ausdrücke die einfache Be¬
stimmung enthalten ist, der Abgeordnete dürfe nicht zur Verantwortung ge¬
zogen werden.
Hätte die Gesetzgebung ein weitergehendes Recht der Abgeordneten als das¬
jenige auf persönliche UnVerantwortlichkeit für die von ihnen gethanen Äuße¬
rungen festsetzen wollen, so hätte sie hierzu allen Anlaß bei Beratung der erst
im Jahre 1877 eingeführten Prozeßordnungen gehabt, wo diejenigen Personen
besonders aufgeführt werden, denen das Recht der Zeugnisverweigernng zustehen
soll. Uuter diesen Personen sind allerdings die von Herrn Hänel bezeichneten
Verteidiger und Geistlichen in Ansehung des ihnen in ihrem Berufe anvertrauten
genannt, nicht aber die Abgeordneten, und gerade aus deren Nichtausführung
ist darauf zu schließen, daß sie entweder mit aller Absicht weggelassen worden
find oder daß überhaupt kein Mensch daran gedacht hat, daß ein Abgeordneter
ein so weitgehendes Privilegium beanspruchen könne, da die Zeugnispflicht eine
zur Aufrechterhaltung eines geordneten Staatswesens durchaus notwendige
allgemeine Bürgerpflicht ist und deshalb für die von dieser Regel zugelassenen
Ausnahmen möglichst enge Grenzen zu ziehen sind.
Daß diese Auslegung des einer Bestimmung der englischen und belgischen
Verfassung entsprechenden Artikels 30 der deutschen Reichsverfassung dem Sinne
desselben entspricht, daß also ein Abgeordneter wie jeder andre nicht ausdrück¬
lich von der Zengnispslicht befreite Staatsbürger dem Zengniszwcmgc unter¬
liegt, bestätigt die von dem Gerichtshöfe in Gent im Jahre 1884 gegen den
Abgeordneten Wocste (den spätern Justizminister) wegen Zeugnisverweigernng
ausgesprochene Geldstrafe, welche dieser als Jurist angesehene Abgeordnete nach¬
träglich durch ein von ihm eingereichtes Begnadigungsgesuch als gesetzmüßig aus¬
gesprochen anerkannt hat. Von den Lehrern des deutschen Staatsrechts wird
der Immunität der Abgeordneten nirgends die von den gegenwärtigen Antrag¬
stellern verlangte Ausdehnung gegeben.
Was die materielle Seite der Frage der Zengnispslicht anlangt, so ist
nicht abzusehen, wie die ordnungsmüßig gebrauchte Redefreiheit der Abgeord¬
neten durch ihre Pflicht, möglicherweise Zeugnis abzulegen, sollte beeintrüchtigt
werden. Hat ein Abgeordneter glaubhafte Kenntnis von einem bestehenden
Übelstande erhalten, so kann die vom Gerichte verlangte Angabe desjenigen,
der ihm hiervon Mitteilung gemacht hat, für diesen letztern keine nachteiligen
Folgen haben, wenn die behauptete Thatsache der Wahrheit entspricht, denn
nur der ist strafgesetzlich verantwortlich, welcher unbeweisbare vcrächtlichmachende
Behauptungen über einen Dritten aufstellt. Zur straflosen Verbreitung leicht¬
fertiger Verleumdungen und Verdächtigungen dritter Personen aber geradezu
ein neues Institut zu schaffen, dazu haben wir wahrhaftig keine Veranlassung.
Die Straffreiheit der Abgeordneten ist schon jetzt derartig, daß wir uns
damit befassen sollten, sie einzuschränken, nicht aber die letzten Schutzmaß-
regeln gegen deren böswilliges oder leichtfertiges Treiben aufzuheben. Schon
jetzt hat der außerhalb des Parlaments stehende gegen Verleumdungen und Be¬
schimpfungen Vonseiten eines Abgeordneten keinerlei Rechtsmittel, er kann (nach
vorliegenden Entscheidungen des Reichsgerichts) nicht einmal eine ihm wider¬
fahrene Beleidigung erwiedern, ohne sich strafbar zu machen, so groß auch
die vorangegangne Herausforderung gewesen sein mag. Zu welchen Zuständen
würden wir kommen, wenn jeder dritte sich eines gefälligen Volksvertreters be¬
dienen konnte, um Unwahrheiten ungestraft in die Welt gehen zu lassen?
Sehen wir uns zum Schlüsse noch die Form an, in welcher der Abge¬
ordnete Windthorst seinem Antrage Geltung verschaffen will. Er will eine Er¬
klärung des Reichstages, welche den Zeugniszwang gegenüber einem Abgeord¬
neten für unzulässig erklären soll. Was soll denn eine derartige Erklärung
helfen, selbst wenn sie vom ganzen Reichstage einstimmig beschlossen würde?
Nicht der jüngste Richter oder Staatsanwalt hätte sich auch nur im mindeste!',
darum zu kümmern, denn er weiß, daß ein Gesetz der Übereinstimmung der ge¬
setzgebenden Faktoren zu seiner Giltigkeit bedarf, und daß einer einseitigen Inter¬
pretation eines solchen der gleiche Wert beizulegen ist, wie etwa einer Resolution
eiues Männergesangvereins, die sich gegen den Zeugniszwang ausspräche. Der
Richter und Staatsanwalt wird also die Zustimmung der Negierung zu der
fraglichen Erklärung abwarten und bis dahin die Verfassungsbestimmung nach
seiner Auffassung auslegen.-
Was die Herren Windthorst und Hänel wünschen, haben sie allerdings
deutlich allsgesprochen, wenn sie bedauern, daß wir leider noch keine „Parlmnents-
justiz" haben und, bis wir vollends so weit sein werden, erwarten, „daß die
Richter sich wohl veranlaßt sehen werden, in sehr ernste Erwägung zu nehmen,
ob sie sich mit einer solchen Erklärung in Widerspruch setzen wollen." Sie er¬
warten also von den Beamten, daß sie einem einseitigen Beschlusse des Reichs¬
tages Folge geben ohne Rücksicht darauf, ob dieser Beschluß im Einklange mit
dem Gesetze steht oder nicht. Was würden die Herren wohl sagen, wenn die
Regierung ein solches Ansinnen stellen wollte?
Wir wollen keine Kabinetsjustiz, aber noch viel weniger „Parlamcntsjustiz,"
und wir freuen uns der unbefangnen Haltung der konservativen Partei, welche
derartigen Anmaßungen entgegentritt. Wir tragen kein Verlangen nach einem
Nichterstande, der von dem guten Willen einer Parlamentsmehrheit abhängig
wäre, und wir hoffen, daß, solange ein Hohenzoller auf dem Throne sitzt, die
Herren, welche Konvent spielen möchten, in die gebührenden Schranken zurück¬
gewiesen werden.
aße mich gehen, Manuel, damit ich der Mauritt erklären kann,
wie glücklich sich alles fügt, sagte Camoens, mit einer Verbeugung
die Erlaubnis auch König Sebastians erbittend. Ihn drängte
ein dumpfer Unmut hinweg, der stumme Dank, welchen Gräfin
Catarum dem Edelmute des Königs zollte, währte ihm zu
lange, er fühlte etwas heiß in sich aufwallen, nicht Eifersucht, denn zur
Eifersucht hatte er kein Recht, aber etwas, das ihn an die Tage gemahnte,
da König Johanns glühende Blicke auf Catarinas Mutter geruht hatten, wie
jetzt die Dom Sebastians auf Catcirina Pcilmeirim. Mit raschen Schritten
schlug er den Weg am Wasserfall hinab ein, auf dem sich vorhin Joaua mit
Esmah entfernt hatte. Der König sah dem Enteilenden mit einem Blicke nach,
welcher Barreto veranlaßte, den Arm des Priesters zu ergreifen und sich mit
demselben bis zur Hütte der Ziegenhirtiu zurückzuziehen. Offenbar wünschte er
mit Catarina allein zu sprechen — er hielt durch eine» gebieterischen Wink die
Diener der jungen Dame fern, welche sich in demselben Augenblicke näherten,
in welchem Barreto und der Pater hinwegtraten. In den Augen des Königs
flammte ein Strahl, vor welchem Catarina Palmeirim die ihrigen niederschlug,
sein Atem wehte sie heiß an, als er mit leiser, aber leidenschaftlich zitternder
Stimme anhob l Nur um Euretwillen, Gräfin, verzeihe ich den Frevlern ihre
unbefugte Einmischung in die großen Angelegenheiten meines Reiches, um Euret¬
willen will ich der neuen Christin gnädig sein, darum sagt mir, was Ihr für
sie wünscht, und erspart mir, mit Manuel Barreto und Camoens viel darüber
zu sprechen.
Warum wollen Eure Majestät die Gerechtigkeit und Großmut ihrer Seele
zur bloßen Laune herabsetzen? entgegnete Catarina leise. Da Ihr mir zu
Wünschen gestattet, Herr, so bitte ich das maurische Mädchen bei mir im Palast
behalten zu dürfen, uicht als meine Dienerin, denn sie ist edelgeboren, wie mir
die Herren sagen, sondern als Gesellschafterin und Gespielin.
Sie sah den König bei dieser Bitte ernst und doch kindlich vertrauend an.
Dom Sebastian versagte sich einen Seufzer nicht, daß die junge Gräfin immer
wieder seinem fürstlichen Sinne zuschrieb, was er als Ausfluß seiner persönlichen
Empfindung betrachtet wissen wollte.
Ich hatte Euch im voraus gewährt, was Ihr erbitten würdet, Donna
Catarina! gab er in etwas gereizterm Tone zur Antwort. Ihr werdet natür¬
lich auch begehren, Eure Schutzbefohlene und neue Gespielin mit Euch zu nehmen
und mich nicht durch Eure Teilnahme an meiner Jagd erfreuen können?
Und warum nicht, allergnädigster Herr? fragte Catarina dagegen. Esmah
kann im Geleit Senhor Manuels und seines Freundes, die ihre ersten Beschützer
waren, nach Cintra hinabkommen, mein Stallmeister und Falkner sind mit mir,
Eure Majestät hat zu gebieten, ob ich ihrem Jagdzug folgen soll oder nicht!
Ich gebiete Euch nichts! versetzte Dom Sebastian, und wieder traf der
Blick, vor dem Catarina Palmeirim schon einmal zu Boden gesehen hatte, das
schöne Mädchen. Wenn ihr nicht freiwillig und weil auch Ihr Freude dabei
empfindet, meine Jagdlust zu teilen begehrt, so war es unnütz, daß ich mich
dieses unverhofften Begegnens freute!
Ihr wißt, Herr, wie hoch mich Eure Einladung ehrt, sagte Catarina, welche
den gereizten Ton, in dem der König die letzten Worte gesprochen hatte, völlig
zu überhören schien. Erlaubt, daß ich, bis Senhor Luis wiederkehrt, meinem
alten Miraflores die nötigen Weisungen gebe.
Sie winkte ihren Stallmeister zu sich heran, welcher mit verdrossener Miene
die unverständlichen Vorgänge der letzten Viertelstunde mit angeschaut und, als
Dom Sebastian seine Annäherung zurückgewiesen hatte, von seinem Unmut beinahe
überwältigt worden war. Der König darf alles — doch ich möchte den sehen
außer dem König, welcher nur verbieten wollte meine Pflicht zu thun! hatte
er gemurrt. Es ist meine klare Pflicht, neben meiner jungen Gebieterin zu
bleiben, und mir ist, als Hütte ich heute viel hartnäckiger auf meinem Platze
bestehen sollen. Wo der verruchte Poet seineu Fuß hinsetzt, wächst ein Unheil
für das Haus Palmeirim aus dem Boden.
Mit erfreuten Gesicht folgte er jetzt dem Winke Catarinas und war,
während er vor dem König auf die Kniee siel und sich steif und mühselig wieder
erhob, ganz Ohr für ihre Weisung. Laß unsre Pferde rüsten, Seine Majestät
wünscht, daß wir der Jagd des Königs folgen! sagte sie mit lauter Stimme.
Leiser fügte sie hinzu: Geh zum Jägermeister des königlichen Gefolges, das
dort hält, erkundige dich, wohin wir reiten und wie lange die Jagd währen wird!
Die Zufriedenheit, mit welcher der Alte diese Befehle vernahm, ward ihm
durch die Rückkehr von Senhor Luis Camoens getrübt. Er sah, daß Barreto
und der Priester von der Hütte aus den Emporkommenden winkten, sich zu
beeilen. Gleich darauf erklomm Camoens den Rand der Hochfläche. Er führte
Esmah, die ihm ohne Zagen folgte; an einer andern Stelle tauchte Joauas
Krauskopf auf, nur schüchtern wagte sie sich in die Nähe ihrer Hütte und schaute
mit weit geöffneten glänzenden Augen deu König an, Dom Sebastian, welcher
inzwischen eifrig zu Catarina gesprochen und ihr mit der Zutraulichkeit eines
Knaben von seinen einsamen und gefährlichen Jagden in der Sierra Estrella
erzählt hatte, schien die Hirtin garnicht zu bemerken, sein Blick war Camoens
und Esmah entgegengcrichtet, um seiue Mundwinkel lag mit einemmale wieder ein
böser, starrer Zug, der den sich nähernden wenig gutes verhieß. Doch ruhig
und zuversichtlich sah Catarina auf den jungen Herrscher, und Dom Sebastian
fühlte, daß er in ihrem Banne stehe. Er redete die Maurin in ihrer Heimat¬
sprache an, wünschte ihr Glück zu ihrer Bekehrung und zu dem Schutze der
Gräfin Palmeirim, den sie gewonnen habe und hoffentlich stets verdienen werde,
und wandte sich dann jäh und abgerissen, nach seiner Weise, zu Camoens:
Du hast mit Senhor Manuel dies Werk begonnen, Luis Camoens, um
führe es auch zu Eude, soweit du vermagst. Geleitet dies Mädchen nach Cintra
hinab in unsern Palast, zur Herzogin von Brcigcmza. Und laßt jedermann
wissen, daß wir die junge Maurin unter unsern königlichen Schutz genommen
haben! Die große Sorge, wie Mulei Muhammed zu begütigen sei, habt Ihr
ans deu König geworfen; von dir zumal, der du doch Portugals Geschick und
Nuhm in deiner Seele, wagst, hätte ich Klügeres erwartet. Doch ich tadle dich
nicht, dn hast nach dem Maße deiner Einsicht gehandelt. Jetzt thut, was Euch
noch ziemt, alles weitere will ich von Donna Catarina hören. Manuel Barreto,
du wirst dich noch einmal bei mir zeigen, ehe du uach deinem Landsitze zurück¬
kehrst! Pater Henriqnes, grüße mir den Ordensmarschall, und mögest du
Freude an der Seele erleben, die du der heiligen Kirche gewonnen hast! Geh
mit Gott, Esmah Catarina und bete fleißig zu deiner Schutzheiligen! Und nun
Herrin, wenn es Euch beliebt, denken wir an unsre Jagd, es soll ein Morgen
werden, wie wir noch keinen erlebt haben!
Das Gesicht des Königs, das während seiner Ansprachen an alle andern
nur ein künstliches Lächeln zur Schau getragen hatte, leuchtete in froher Er¬
wartung wahrhaft auf, sobald er sich zu Catarina Palmeirim wandte. Die junge
Gräfin schien von der unruhigen Hast des Gebieters noch nicht ergriffen, sie
umarmte Esmah und nahm von den Männern, in deren Schutz sie die neue
Christin ließ, längern Abschied. Der alte Miraflores hatte ihr graues Jagdpferd
längst herangeführt, auch Dom Sebastian hatte seinem Gefolge ein Zeichen
gegeben, sich bereit zu halten, und noch sprach Catarina zu Manuel Barreto
und befahl ihm Grüße für die Herzogin und die treueste Sorge für Esmah.
Der König merkte, daß er seinen Wunsch zum Aufbruch wiederholen müsse, er
trat Catarina wieder um einen Schritt näher und befahl Miraflores, das Pferd,
das dieser am Zügel hielt, noch näher heranzuführen. Ihr gestattet, Donna
Catarina, daß ich Euch in den Sattel helfe! sagte er und bot ihr ritterlich die
Hand. Sie hörte erglühend sein Drängen und wagte nicht länger zu zögern.
Aber noch vom Pferde herab, und während der König selbst seinen Rappen
bestieg, grüßte sie die Zurückbleibenden. Miraflores, der den alten Falkner an¬
gewiesen hatte, sich dicht hinter ihm zu halten, wollte den Platz neben seiner
jungen Gebieterin einnehmen, den ihm die Sitte zusprach, Dom Sebastian jedoch
scheuchte ihn mit einem Blitz aus seinen blauen Augen bis zu dem eignen
Gefolge zurück, das sich in gemessenem Abstände von dem jungen Herrscher hielt.
Und nun überließ sich der König dem wilden Ungestüm seiner Natur, er lenkte
mit der einen Hand sein Pferd und griff mit der andern in die Zügel, welche
die junge Gräfin hielt, im schärfsten Trabe flog er an dem Häuflein seiner
Begleiter vorüber und denselben Weg thalwärts, den er vorhin emporgekommen
war. Das Jagdgcfolge brauste hinter ihm drein, die Blicke der zurückbleibenden
Männer, Esmahs und Jvanas hafteten nur auf dem Paare, das sie noch
lange auf dem sonneuübergläuzten Wege wahrnehmen konnten. Sie alle hatten
den übermütig jauchzenden Laut gehört, mit welchem sich der König aus dem
Bügel in den Sattel schwang, und hatten den freudigen Schein gesehen, der auf
seinem Gesichte lag, als er allein neben dem schönen Mädchen hielt. Barreto
und der Priester blickten ernst einander an, Camoens aber starrte traumverloren
den Enteilenden nach, es waren sichtlich schlimme Träume, die in seiner Seele
erwachten. Leise sagte er zu Barreto: Ich weiß nicht, ob ich es für ein Glück
oder für ein Unglück halten soll, daß ich in dieser Stunde kein Pferd mein
nenne. Mir ist, als müßte ich hinter dem König dreinjagen, jedes Wort er¬
lauschen, das er zu Catarina Palmeirim spricht! Ich liefe Gefahr zu ver¬
gessen, was ich der Majestät unsers Herrschers schulde.
Ihr würdet es nicht vergessen, Freund, weil Ihr nicht allein seid und weil
Ihr wißt, was Ihr unsrer Schutzbefohlenen und Donna Catarina schuldet, weil
die ja nur auf Euer Wort hier heraufgekommen ist! erwiederte Barreto.
Camoens fühlte den scharfen Tadel in den ruhigen Worten des Freundes
und fliisterte ihm zu: Versteht mich nicht falsch, Manuel. Eben weil ich die
Gräfin überredete, an Esmahs Taufe teilzunehmen, weil ich die Ursache bin,
daß der König sie hier antraf, möchte ich sie vor jedem Unheil wahren!
Würdet Ihr es ein Unheil nennen, an Dom Sebastians Seite den Thron
von Portugal zu teilen? fragte der Fidalgo und sah den Erregter mit einem
Blicke an, welcher Camoens verriet, daß der ältere Freund auf den Grund
seiner Seele hinabschaue. Er drückte Barreto schweigend die Hand und wandte
sich dann zu Esmcch, welche er aufforderte, sich zum Gange nach Cintra bereit
zu halten und von der Ziegenhirtin Abschied zu nehmen. Das Mädchen eilte
sofort zu Joana hin, die vom Eingange ihrer Hütte aus noch immer uach dein
Westen hinüberschaute, wo eben die letzten Reiter des königlichen Jagdgefolges
zwischen den Felsenthoren verschwanden, aus denen die ganze Herrlichkeit vor
einer Stunde unerwartet aufgetaucht war. Esmah legte zärtlich ihren Arm
um den Nacken der kleinen hilfreichen Freundin und schmiegte ihre Wange an
die sonnenbraune des Hirtenkindes, Jocma verstand auch ohne die wenigen ge-
brochnen Worte, daß Esmah hinweg müsse, und stammelte, während ihre Angen
sich mit Thränen füllten, schlichte Segenswünsche für die Scheidende. Diese fand
es schwer, sich aus den umschlingenden Armen der Hirtin loszuwinden, bis ihr
Barreto zu Hilfe kam und zu Jocma sagte: Laß es gut fein, Kind, es ist kein
Abschied für immer, du sollst Esmah Catarina, der du im Unglück beigestanden,
auch im Glück wiedersehen. Aber jetzt halte sie und uns nicht auf. Wir müssen
vor Mittag in Cintra und in Sicherheit sein, nicht nur wegen des Gewitters,
das sich dort über der Waldschlucht immer deutlicher zusammenballt; sie wissen
drunten in der Welt noch nicht, daß Esmah jetzt von Kirche und König zu
gleicher Zeit in Schutz genommen ist, wir dürfen, bis sie es wissen, Mulei
Muhammeds Häschern nicht begegnen. Wir haben erfahren, daß sie heute
Esmah in andrer Richtung suchen, sie sind schon früh nach der Küste hin aus¬
gezogen, also müssen wir vor ihrer Rückkunft den Palast erreichen!
Jocma nickte lind trennte sich rasch mit einer letzten Umarmung von Esmah.
Senhor Manuel reichte der Kleinen die Rechte und steckte mit der Linken ein
paar große Goldstücke mit König Sebastians Bild in ihren Gürtel. Auch
Camoens und Pater Henriques nahmen herzlich Abschied, und Jayme Leiras,
der alte Seemann, versagte sich nicht, Jocma mit einem Kusse zu beteuern,
daß sie recht gethan habe und ein tapferes Kind sei. Der kleine Zug, den
wiederum der Bursche aus Okaz' Herberge schloß, hatte sich schon in Bewegung
gesetzt, als Manuel Barreto mit plötzlichem Besinnen noch einmal zu Jocma
zurückeilte.
Noch ein Wort, Kleine, sagte er, als er wieder vor ihr stand und sie ihr
gutes Gesicht zu seinem emporrichtete. Bist du an die frommen Schwestern
von Santa Enfemia gebunden oder willst du mit mir nach meinem Gute
kommen? Es giebt auch dort Ziegen zu hüten und mancherlei sonst zu thun —
du sollst es in Almocegema so gut und besser haben als hier! Nicht daß es
nötig wäre, ich glaube, du bist hier oben so sicher als irgendwo — doch wäre
es mir lieb, mein Auge auf dir zu behalten!
Jocma suchte umsonst nach einer Erwiederung, gleichwohl las der Edelmann
ihre Antwort auch von den stummen Lippen, die sich öffneten und wieder
schlössen, und aus den verlegen zu Boden gesenkten Augen.
Schon einen Liebsten? sagte er teilnehmend. Dem Schatz würde der Weg
nach meinem Gute zu weit sein? So behüte dich Gott und die Mutter aller
Gnaden, Jocma, und habe noch einmal Dank für alles, was du an Esmah gethan!
Er verließ sie wieder, Jocma blickte ihm feuchten Auges uach und sprang
dann leichtfüßig zu ihren Ziegen auf den höchsten der verstreuten Felsblöcke
hinan, um die Scheidenden noch weithin grüßen zu können. Die Männer
führten Esmah zwischen sich und legten den Pfait durch das Hochthal, der schon
svnnenheiß ward, rasch zurück. Als der kleine Zug deu eifrig und tcilnahmvoll
nachschauenden Augen des Mädchens entschwand und sie auch drüben im Westen
nichts mehr wahrnahm als die Felsen, den Waldrand und das alte Mutter¬
gottesbild, legte sie sich auf das braune Moos des Stcinblockes und überließ
sich träumend der Ruhe. Die grüne Fläche lag wieder so einsam und sonnen¬
überglänzt wie vor den wunderbaren Erlebnissen, die in ihrer Seele nachklangen,
aber das Rauschen des Baches, das Summen der wilden Bienen und der
würzige Duft der roten Qnendclblüten wiegten Joana heute so wenig in
Schlummer als die merkliche Schwüle der Luft. Sie lag und sann und folgte
mit ihren Träumen dem Könige und der schönen jungen Dame, welche vor
wenigen Stunden uuter ihrem Strohdache verweilt hatte. Nur weil sie gewiß
war, daß ihre Hand in der Hand Donna Catarinas geruht habe, weil sie sich
jedes gütige Wort, das die Gräfin zu ihr gesprochen, wieder vorsprechen konnte,
blieb sie auch gewiß, daß sie den König gesehen habe, daß es der König ge¬
wesen sei, der Donna Ccitarina wie im Sturme davon geführt hatte. Die
Kleine schützte die Augen mit der Hand vor der leuchtenden Sonne zu Häupten
und sah besorgt nach den dunkeln Wolken, die sich dichter und dichter um die
Bergspitzen lagerten. Es fiel ihr schwer aufs Herz, wo die junge Gräfin und
der König jetzt wohl weilen möchten, und ob sie deu schimmernden Palast
in Cintra, den sie nur einmal gesehen, vor Losbruch des Gewitters erreichen
Würden
Das Werk, von welchem wir jetzt die dritte Auflage anzeigen können, wurde
bei seinem ersten Erscheinen von zwei Dcutschösterrcichern dein neu erstandenen
Reiche als Gabe dargebracht; es kam damals, 1871, dem vollen Tagesinteresse ent¬
gegen und wurde freudig begrüßt. Die neue Auflage beweist, daß das Interesse
nicht nur ein vorübergehendes war. Seit der Wiedererwerbnng des Elsasses ist
eine wahre Flut von Arbeiten, und zwar tüchtigen und gehaltvollen Arbeiten, über
die so reichhaltige Geschichte dieses Landes erschienen, namentlich hat in dieser Be¬
ziehung auch die Landesuniversität anregend gewirkt. Die Verfasser haben diese
neuen Forschungen — in der politischen Geschichte ebenso wie in der Wirtschafts-,
Kunst-, Literatur- und Kirchengeschichte — muss sorgfältigste benutzt, wir wüßten
nicht eine einzige Schrift nachzutragen. Die in der Gemeindezeitung für Elsaß-
Lothringen bis 187V erschienenen größeren Artikel bezogen sich, so weit wir uns
erinnern, hauptsächlich ans Straßburg. Sehr dankenswert ist die Zugabe der An¬
merkungen, in welchen einerseits Rechenschaft abgelegt wird über die in deu einzelnen
Abschnitten benutzten Werke, anderseits die vorhandne Literatur kurz und schlagend
charakterisirt wird.
„Die Einwohnerschaft eines bestimmten Landes als Individuum zu betrachten
und seine Schicksale wie die allseitige Entfaltung einer einheitlichen Persönlichkeit
darzustellen" — damit kennzeichneten Lorenz und Scherer von vornherein ihr Ziel.
Sie bieten weiten Kreisen in dem von der Verlagshandlung geschmackvoll ausge¬
statteten Bande eine deutsche Provinzialgeschichte, noch Anlage wie Ausführung
gleich vollendet, welcher kein deutscher Stamm ein ebenbürtiges Erzeugnis zur Seite
zu stellen hat.
Vom Historischen Tnschenbuche ist soeben ein neuer Jahrgang erschienen,
welcher „Leopold von Ranke, dem Meister deutscher Geschichtswissenschaft" zum
neunzigsten Geburtstage gewidmet ist. Raumers Taschenbuch ist dasjenige, welches
sich aus der ehemals blühenden Almanache und Taschenbuchliteratur bis auf unsre
Tage erhalten hat. Das Gedeihen eines derartigen Unternehmens beruht nicht
allein auf der Umsicht des Heratisgebers in der Auswahl der Arbeiten, dieser ist
"auch vom Glück abhängig, es müssen ihm Sachen zukommen, welche sich für den be¬
sondern Zweck des Taschenbuches eignen.
Oncken eröffnet diesmal die Reihe der Aufsätze; er giebt nähere Aufschlüsse
über eine Episode in den Friedensverhandlungen der Verbündeten mit Napoleon l.,
als im Februar 1814 durch den Wankelmut Alexanders von Nußland das ein¬
mütige Vorgehen Europas gefährdet erschien. Menzel erzählt die Geschichte der
durch ihren Ehestreit mit den Erzbischöfen Erkanbald und Aribo von Mainz be¬
kannten Gräfin Jrmengard von Hammerstein. Der Aufsatz über Taeitus steht der
eigentlichen Aufgabe des Taschenbuches, die Resultate historischer Forschung in an¬
regender und geschmackvoller Form zu geben, ferner. Einen glänzenden Beitrag
hat der Herausgeber selbst beigesteuert in dem Vorspiel und der Einleitung des
Tridcutiner Konzils; die Verhandlungen vor dem Konzil, die Helden des Triden-
tinums selbst, die ersten aufregenden Debatten über die Einrichtung, die Geschäfts¬
ordnung, die Arbeitsteilung des Konzils werden uns auf Grund der eingehendsten
Studien scharf und klar vorgeführt. An neu aufgefundene Briefe der Pfnlzgräfin
Elisabeth an Descartes knüpft Heinze eine anziehende Darstellung der Beziehungen
Elisabeths zu dem Philosophen: eine wertvolle Ergänzung zu Gührauers Abhand¬
lung über die Prinzessin, welche vor sechsundzwanzig Jahren im Taschenbuche er¬
schienen ist. Dem allgemeinen Interesse wird der Aufsatz Löwenfclds über die
Geschichte des päpstlichen Archives entgegenkommen, der uns in vier kurzen Ab¬
schnitten über die Entwicklung dieser für die Geschichtschreibung so wichtigen Samm¬
lung belehrt.
Zur Beachtung.
Mit dem nächsten Veste beginnt diese Zeitschrift das z,. Quartal ihres 45. Jahrganges,
welches durch alle Buchhandlungen und vostanstaltcn des In- und Auslandes zu beziehen ist.
preis für das Swartal g Mark, wir bitten um schleunige Aufgabe des neuen
Abonnements. Leipzig, im März Mb. Die Verlagshandlung.
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