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]]>Zeitschrift
für
Politik, Literatur und Kunst,
HH. Jahrgang.
Erstes Quartal.
Leipzig.
Verlag von Fr. tons. Grunow.
^335.
lDie unbezeichneten Bücher sind in nrösiern Aufsahen
behandelt.)
it dem vorliegenden Hefte treten die Grenzboten in ihren vierund¬
vierzigsten Jahrgang. Jahrgang, nicht Band — wie wir gegenüber
dem Renommiren mancher Wochen- und Monatsschriften mit hohen
Ziffern ausdrücklich hervorheben wollen. Neue Zeitschriften sind wie kleine
Kinder: während sie noch in den Kinderschuhen stecken, möchten sie doch gern
schon die alten Leute spielen. Wollten wir uns und unsern Lesern das Ver¬
gnügen machen, Bände zu zählen statt Jahrgänge, so stünden wir jetzt beim hun-
dertdreiundsiebzigsten Bande. Von den jetzt florirenden deutschen Zeitschriften
find gegründet: „Nord und Süd" und die „Deutsche Revue" 1877, die „Deutsche
Rundschau" 1874, die „Gegenwart" 1872, die „Preußischen Jahrbücher" 1858,
„Westcrmcmns Monatshefte" 1856, „Unsre Zeit" (wenn man ihre Vorläuferin,
die bis 1856 erschienene Brvckhanösche „Gegenwart," daznrechnet) 1848. Andre,
die in den letzten drei bis vier Jahrzehnten entstanden sind, haben aber längst
wieder das Zeitliche gesegnet. Die „Deutsche Vierteljahrsschrift," 1838, also
drei Jahre vor den Grenzboten gegründet, erschien bis 1870, Prutzens
„Deutsches Museum" von 1851 bis 1867, Gutzkows „Unterhaltungen am häus¬
lichen Heerd" 1853 bis 1864, die „Deutsche Warte" von 1871 bis 1875, und
die Wochenschrift „Im neuen Reich," die 1871 recht eigentlich als Kor-
kurreuznnternehmen zu den Grenzboten ins Leben gerufen wurde, ist 1881 wieder
sanft und selig entschlafen. Die Grenzboten aber leben, erfreuen sich trotz ihrer
Jahre der besten Gesundheit und haben sogar in der letzten Zeit in aller Stille
und — gewiß eine seltene Erscheinung! — ohne alles Zuthun der Re¬
klame einen neuen Aufschwung genommen.
Diesen Aufschwung verdanken sie in erster Linie dem Umstände, daß sie
vor nunmehr sechs Jahren den Mut hatten, mit den wirtschaftlichen Irrtümern
des Liberalismus, deren Folgen in immer bedrohlicherer Weise für unser Volk
zutage traten, zu brechen und als Vorkämpfer der große» sozialpolitischen Re-
fornipläne des Reichskanzlers aufzutreten. Der Aufsatz „Vismcirck und das
Manchestcrtum," der — unter neuer Redaktion — an der Spitze des Jahr¬
ganges 1879 erschien, inaugurirte diese bedeutsame Schwenkung. Zunächst
freilich hatten die Grenzboten ihren Schritt zu büßen. Eine große Zahl
ihrer früheren Freunde war verblüfft und fiel ab, zahllose Angriffe, zum
Teil der niedrigsten Art, wurden in der Tagespresse gegen sie ausgeführt, und
am liebsten hätte man ihnen den Garaus gemacht. Aber sie haben sich nicht
beirren lassen; trotz aller Anfechtungen und Entbehrungen haben sie standhaft
den neueingeschlagenen Weg weiter verfolgt, neue Freunde fielen ihnen zu, erst
langsam, dann immer schneller, und heute, wo die Überzeugung von der Ver¬
kehrtheit unsrer-früheren wirtschaftlichen Anschauungen sich in immer weiteren
Kreisen Bahn gebrochen hat, wo die Reformpläne des großen Kanzlers zum
Teil verwirklicht sind, zum Teil ihrer Verwirklichung entgegengehen, wo ein
Glied unsrer Presse nach dem andern mit guter Manier und möglichst geräusch¬
los ebenfalls in die neue Bahn einzulenken sucht, haben die Grenzboten den
Triumph, die ersten gewesen zu sein, die aus eigenster Überzeugung und
freiester Entschließung diese Bahn eingeschlagen haben. Denn die Behaup¬
tung, die vor sechs Jahren mit großer Beflissenheit verbreitet wurde, die Grenz¬
boten seien ein „Reptil," sie stünden im Solde des Kanzlers u. s. w., war nichts
als ein einfältiges Märchen. Will man ein Organ, das auf politischem und
wirtschaftlichem Gebiete von ausgezeichneten, vorzüglich infvrmirten Mitarbeitern,
von wirklich „Wissenden" bedient wird, als „offiziös" bezeichnen — und was
kann anch den Lesern an dem Gerede von Unwissenden und Uneingeweihten ge¬
legen sein? —, so nenne man die Grenzboten in Gottes Namen ein „offiziöses"
Blatt. Wollte man aber mit dem Begriffe „offiziös" den der Abhängigkeit
verbinden, so würde man sich hier in starkem Irrtum befinden: die Grenzboten
sind — wir ergreifen auch diese Gelegenheit, es aufs neue zu betonen —
Aber auch auf den beiden andern Gebieten, die der Titel unsrer Zeitschrift
nennt, auf dem der Literatur und Kunst, haben die Grenzboten seit 1879 eine
gründliche Umwandlung erfahren. Während die nächstvorhergehenden Jahrgänge
auf diesen Gebieten wie jede andre Zeitschrift aussahen, d. h. ein vom Zufall
zusammengeführtes, ziemlich farb- und richtnngslvscs Allerlei von Aufsätzen
zeigten, unter denen seltsamerweise Geschichte und Kulturgeschichte dominirten,
sind diese Gebiete seit 1879 planvoll erweitert und von einem sehr deutlich aus¬
geprägte« Standpunkte aus gepflegt worden. Zu litcratur- und kunstgeschicht-
lichen Aufsätzen, die teils auf selbständigen Studien beruhten, teils an wichtige
neuerschienene Werke sich anlehnten, gesellten sich in immer größerer Anzahl
Charakteristiken lebender Schriftsteller und Künstler, eingehende Besprechungen
neuer Dichtungen und Kunstwerke, Geschichte und Kulturgeschichte, Erd- und
Völkerkunde und Naturwissenschaft konnten selbstverständlich keine planmäßige
Pflege finden, wurden aber stets berücksichtigt, so oft wichtige Tagesfragen oder
hervorragende literarische Neuigkeiten dcizn aufforderten. Daneben sind auch
religiöse und philosophische Fragen, Fragen, die das Unterrichtswesen, das Heer¬
wesen, die Rechtspflege, die Gesundheitspflege betreffen, fort und fort in den
Kreis der Betrachtung gezogen worden. Das Ziel aber, das die Grenzboten
bei alledem unverrückt im Auge gehabt haben und dessen beharrliche Verfolgung
ihnen einen immer größeren Kreis von Freunden und Verehrern zugeführt hat,
bestand darin, überall dem gesunden Menschenverstande gegen Modethorheiten,
dem guten Geschmack gegen weitverbreitete Geschmacksverirrung, dem Echten und
Bleibenden gegen das Hohle und Schwindelhafte, dem in deu engen Kreisen
der geistigen Aristokratie Gewürdigten gegen das von der urteilslvsen großen
Masse Angestaunte, der Wissenschaft gegen das Dilettantentum, dem Idealis¬
mus gegen den Materialismus zum Siege zu verhelfen. Wie oft haben die
Grenzboten in diesem Kampfe allein gestanden, wie oft aber auch die Genug¬
thuung gehabt, den Ton anzugeben, in den andre dann zögernd einstimmten!
Ein großer Vorzug, den die Grenzboten für sich in Anspruch nehmen,
und der von allen Urteilsfähigen auch als solcher anerkannt wird, ist die abso¬
lute grammatische Sauberkeit und stilistische Sicherheit aller ihrer Beiträge,
Angesichts der kläglichen Unwissenheit, Lüderlichkeit und Geschmacklosigkeit, die
gegenwärtig in der Sprachbchandluug der Tcigespresfe herrscht, und die von
dort aus infolge der leidigen gedankenlosen Gewohnheit massenhaft auch schon
in die Sprache der fachwissenschaftlichen und zum Teil selbst der schönwissen¬
schaftlichen Literatur eingedrungen ist, ist es sicherlich hoch anzuschlagen, wenn
eine Zeitschrift die Pflege der Nichtigkeit, Reinheit und Schönheit der Sprache
mit vollem Bewußtsein unter ihre Aufgaben zählt.
Endlich noch eine Bemerkung. Die meisten unsrer Wochen- und Monats¬
schriften legen ein großes Gewicht ans Namen. Wie sie bei jedem Jahreswechsel
ihren Lesern ein schönes Verzeichnis angeblicher Mitarbeiter vorführen, stellen
sie auch in den Juhaltsverzeichnisfen der einzelnen Hefte — sehr charakteristisch! —
die Verfassernamen immer fett voran und lassen die Überschriften der Aufsätze
mit kleinerer Schrift folgen. Die Namen sollen Eindruck machen! Die Grenz¬
boten verschmähen es, mit solchen Mitteln auf ihre Leser zu wirken. Wenn
ein Aufsatz eine Wahrheit ausspricht, die noch nirgends ausgesprochen worden
ist, ein ästhetisches Urteil abgiebt, das keine andre Zeitschrift drucken zu lassen
wagen würde, ein gesellschaftliches Übel oder eine Modethorheit bekämpft, die
allgemein verbreitet ist und der daher alle Welt schmeicheln zu müssen glaubt,
was liegt daran, wer den Aufsatz geschrieben? Wenn er nur den Nagel auf
den Kopf trifft. Unsre bisherigen Freunde wissen recht gut, daß die Grenz¬
boten keine Lagerstätte von beliebigen Aufsätzen „berühmter" Autoren sind,
sondern daß sie einen festgeschlossenen Kreis von Mitarbeitern haben, die nicht
bloß in ihren politischen, sondern auch in ihren religiösen und sittlichen, ihren
wissenschaftlichen und ästhetischen Anschauungen in allem wesentlichen überein¬
stimmen, und unter die so leicht kein monro novruz Aufnahme findet. Wer es
im einzelnen Falle ist, der seine Stimme erhebt, ist ganz gleichgiltig; was gesagt
wird und daß es gesagt wird, ist die Hauptsache.
So bitten wir denn auch beim Jahreswechsel nicht, wie manche unsrer
verehrten Kolleginnen, um die „Gunst" des Publikums, um jene Gunst, die so
leicht zu erwerben ist, wenn man nur dem Publikum immer hübsch zeigt, wie
klug es ist und wie recht es hat, wenn man der öffentlichen Meinung gehörig
nach dem Munde redet und sich wohl hütet, den Liebhabereien und Schwächen,
den Irrtümern und Thorheiten der Menschen zu nahe treten. Alles, um was
wir bitte» und verständigerweise bitten können, ist nach wie vor: guter Wille
und Empfänglichkeit.
ährend des verflossenen Jahres hat die englische Politik an drei
Krisen gelitten, die einer Katastrophe entgegenzugehen scheinen,
an der ägyptischen, an der afghanischen und an der südafrikanischen
Krise, welche man als Transvaalfrage zu bezeichnen pflegte. Die
beiden ersten bestehen im neuen Jahre unverändert fort, und die
zweite derselben hat vor einigen Wochen ein bedenkliches Zeichen ihrer Existenz
gegeben. Die dritte schien, Nachrichten zufolge, die zu Anfang des Dezembers
einliefen, der Beseitigung nahe zu sein, hat aber bald wieder, und zwar in
gefährlicherer Gestalt, von sich hören lassei: und wird vermutlich immer vou
neuem wiederkehren, da die ihr zu gründe liegenden thatsächlichen Verhältnisse,
die Bedürfnisse und Wünsche der holländischen Ansiedler im Trausvaallande
und die Ansprüche Englands in Südafrika, mit der Löschung eines vor kurzem
wieder brennend gewordenen Teiles der Frage nicht aus der Welt zu schaffe«
waren. Man hatte im besten Falle den Proteus in einer der vielen Gestalten,
die er annehmen konnte, gefaßt und beseitigt.
Jene Nachrichten lauteten kurz dahin, daß die Absendung englischer Truppen
zur Vertreibung der in das Gebiet der Betschuanen von der südafrikanischen
Republik her eingefallenen Boers, die vom Kabinet Gladstone endlich beschlossen
und bereits im Gange war, unnötig geworden sei, da diese „Freibeuter im
Lande Gösen" sich gefügt hätten. Die Bedingungen, welche die mit Beilegung
des Streites beauftragten Beamten der Kapkolonie ihnen gestellt, und die Zu¬
geständnisse, die sie ihnen zur Abfindung geboten hätten, wären von ihnen
angenommen worden.
Das sah allerdings wie ein Erfolg für England aus, der diesem eine
schwere Sorge abnahm, nur durfte man ihn nicht zu genau ins Auge fassen.
Die Betreffenden und ihre Hiutcrmcinner hatten, wie Londoner Blätter sich
auszudrücken beliebten, „klein beigegeben" oder, wie man den Ausdruck des
Frohlockens dieser Prcßstimmen, movet in, auch wiedergeben kaun, sie „waren
zu Kreuze gekrochen." Man soll jedoch den Tag nicht vor dem Abend loben,
und dieselben Blätter beachteten dies auch insofern, als sie hinzufügten, die
gemeldete Kapitulation sei etwas sehr verschiednes von der praktischen Aus¬
führung ihrer Bestimmungen. Wir meinen dies auch, und die Leser dieser
Blätter werden das gleiche thun, wenn sie die Angelegenheit mit uns näher
ins Auge fassen. Sie ist dessen, so klein sie auf den ersten Blick erscheinen
mag, keineswegs unwert. Bei der Transvaalfrage ist nicht bloß mit den !Z0-
oder 40 000 Boers der Gebiete im Norden des Vcmlflusses, souderu mit der
Mehrzahl der holländisch sprechenden Bevölkerung aller Staaten und Kolonien
Südafrikas zu rechnen, und es sind hier wohl die Anfänge zu einem Umschwunge
der Dinge zu verzeichnen, ähnlich dem, welcher den britischen Egoismus aus
dein größten Teile Nordamerikas hinauswarf. Für uns Deutsche aber hat
die Sache noch eine besondre Bedeutung, und zwar aus verschiednen Gründen:
die Boers Südafrikas sind als ein Volk holländischen Blutes und Idioms
nahe Verwandte von uns, sie könnten, wenn man ihnen ihr Recht, sich nach
Westen hin auszudehnen, nicht zu beschneiden imstande wäre, einmal Nachbarn
deutscher Kolonien werden, und ihr Land würde der deutschen Auswanderung
für die Zukunft günstige Aussichten bieten, wenn es vor weiterer Anglisiruug
bewahrt bliebe. Aber auch abgesehen hiervon schulden wir ihnen Interesse und
Sympathie, weil sie unerschrockene und beharrliche Vekämpfer der britischen
Selbstsucht gewesen sind und voraussichtlich auch in Zukunft sein werden, jener
heuchlerischen Selbstsucht, welche die besten Teile der Welt unter dem Vorwande,
Zivilisation, Freiheit und Christentum ausbreite!? zu wollen, in ihr Machtgebiet
zu zwingen und dem Geldsack der englischen Kaufleute und Fabrikanten dicust-
und tributpflichtig zu macheu strebt und dabei kein Recht achtet und kein Mittel
verschmäht. Ihr bisher erfolgreicher Widerstand gegen diesen Polypen, der die
Erde mit seinen Armen zu umschlingen und mit seinen Saugnäpfen cmszuznpfeu
sucht, sichert ihnen allein schon unsre volle Achtung und Teilucchme.
Das Land der Boers, früher der „Transvaalstaat," jetzt die „Südafrikanische
Republik" genannt, liegt fern im Nordosten der Kapstadt und westlich von der
Delagoabucht und macht den nördlichsten Teil der Gruppe europäischer Nieder¬
lassungen aus, die in den einst nur von Kaffernstämmen bewohnten Gebieten
des „dunkeln Erdteils" allmählich entstanden sind und teils die Gestalt britischer
Kolonien, teils die von selbständigen Freistaaten haben. Seine Grenze bildet
im Süden der Vaalfluß, dessen andres Ufer zum Oraujcfreistaat gehört, im
Westen die Kalahariwüste mit den fruchtbaren, von freien Kaffern bewohnten
Landstrichen an ihrem Rande, im Norden der Limpopostrvm, während es im
Osten nur durch das schmale Natal und weiter nördlich nur durch ein ver¬
hältnismäßig kleines Stück portugiesischen Gebietes von Indischen Ozean ge¬
trennt wird. Diese BauernrepulM hat eine Ausdehnung von nngeführ
5400 Quadratmeilen, und das Land ist seinem geologischen Charakter nach in
der Hauptsache eine Hochfläche, die sich im Norden meist steil über Tiefebene»
erhebt, im Osten terrassenförmig, im Westen allmählich abfällt und in dem
Drakengebirge mit etwa 2700 Meter ihren höchsten Punkt erreicht. Dies
Plateau ist reich an Kohlen und Metallen, darunter auch Gold, die Ebenen
werden von zahlreichen Flüssen durchströmt. Auch fehlt es, vorzüglich in der
östlichen Hälfte, während des Sommers, d. h. hier in der Zeit von September
bis zum April, nicht an Regen. Das Klima endlich ist, abgesehen von den
tiefliegenden Gegenden, gemäßigt warm und sehr gesund. Allenthalben, wo
Regen fällt, zeigt das Land üppigen Graswuchs, an verschiednen Stellen, be¬
sonders in den Drakenbergeu, trifft man stattlichen Wald an, und wo es nicht
um Wasser mangelt, werden Mais, Hirse, Kaffcrkvni, die meisten unsrer Gemüse,
Zuckerrohr und Melonen gebant. Mehr indes als Ackerwirtschaft wird Vieh¬
zucht getrieben, die nur da unterbleiben muß, wo die giftige Tsetsefliege vor¬
kommt. Die Jagd ist sehr ergiebig, das Laud wimmelt an vielen Stellen von
Antilopen und Springböcken, auch an Löwen und Leoparden ist kein Mangel;
nur die Zahl der Nashörner und Elefanten hat in den letzten zwanzig Jahren
merklich abgenommen; dagegen begegnet man dem Strauße noch so hänfig, daß
seine Federn einen beträchtlichen Teil der Ausfuhr bilden. Die Zahl der Ein¬
wohner soll gegen 600 000 betragen, indes befinden sich darunter nicht mehr
als 40- bis 50 000 Weiße, meist Boers; die große Mehrzahl besteht aus
Schwarzen, welche den Kafferstämmen der Basutvs und Betschuanen angehören.
Die Geschichte der Boers der südafrikanischen Republik ist eine Reihen¬
folge von Wanderungen und blutigen Kämpfen, zu welchen die holländischen
Ansiedler Südafrikas durch die Unerträglichkeit der Regierungsgrundsätze Eng¬
lands in diesen Gegenden veranlaßt wurden. Der erste große Exodus dieser
anfänglich nur innerhalb der Grenzen der Kapkolonie angesiedelten „Afrikanders"
hatte Natal, das im Nordosten von jener zwischen dem untern Laufe des
Tugela und den Drakenbergen sich erstreckende Küstenland, zum Ziele, welches
im Jahre 1335 von dem Zululonige Dingacm an den englischen Kapitän
Gardiuer abgetreten worden war. Der letztere gründete hier die Niederlassung
Port d'Urban und konstituirte das Land als Republik Viktoria, sah aber sein
an die britische Regierung gerichtetes Gesuch, dasselbe unter ihren Schutz zu
nehmen, abgelehnt und zog sich, als allein zu schwach gegen die Angriffe der
benachbarten Kaffern, 1838 zurück, worauf die Kolonie einging. Mittlerweile
jedoch waren in deren Gebiet mehrere starke Haufen von Boers eingerückt, die
unter der Führung von Pieter Relief, Gerk Maritz und Andries Prctorins in
der Auswanderung („Trekken") von der Kapkolonie nach herrenlosen Landstrichen
begriffen waren und sich nach verschiednen Gefechten mit den Eingebornen großer
Strecken des freigewordnen Gebietes bemächtigten, Sie nannten ihre Nieder¬
lassung die „ Batavisch-Afrikanische Maatschappy" und stellten sie unter den
Schutz des Königs der Niederlande. Ihre Gründung begann eben zu gedeihen,
und man hatte bereits als Mittelpunkt derselben den Ort Pietermaritzburg au¬
gelegt, als 1840 England sich einmischte. Der Gouverneur der Kapkolonie
bestritt deu neuen Ansiedlern in „Natal" die Befugnis, neben jener ein
selbständiges Gemeinwesen zu errichten, und als die Boers sich an seinen Ein¬
spruch nicht kehrten, schritt er 1842 zu Gewaltmaßregeln, und sie mußten die
Oberhoheit Großbritanniens anerkennen. Sehr bald indes machte sich die
Mehrzahl dieser holländischen Ansiedler von neuem nach Norden auf den Weg
und drang unter Pretorins erobernd in die Flußgebiete des Oranje und des
Vaal vor, die bis dahin gleichfalls mir von Kaffern bewohnt gewesen waren.
Nach kurzer Zeit sahen sie sich auch hier von der Herrschsucht und Anmaßung
der Engländer am Kap bedroht, und nur ein Teil von ihnen war gewillt, sich
derselben zu füge». Die andern leisteten Widerstand, zuletzt mit den Waffen,
es kam 1843 zu einem Treffen bei Bovmplatz, und schließlich zogen etwa
zweitausend dieser holländischen Männer, die mit ihren Angehörigen un¬
gefähr viermal soviel Köpfe zählten, Pretorius an der Spitze, abermals weiter
und überschritten den Vaalfluß, um im Norden desselben ein Gebiet von der
Größe des jetzigen deutschen Reiches zu erobern, wo man kurz nachher einen
Staat unter dem Namen der „südafrikanischen Republik" gründete. Die
südlich vom Vaal verbliebenen Voers, etwa 10000 Köpfe stark, gerieten gleich
denen, die sich der Auswanderung aus Natal nicht angeschlossen, sondern es
vorgezogen hatten, den Versöhnnngsversuchen des Gouverneurs Smith Gehör
zu geben, für einige Jahre unter britische Herrschaft, indes fand man es eng-
lischerseits zuletzt für geraten, ihnen zu gestatten, sich als „Oranje-Freistaat"
unabhängig zu organisiren. Wie überall, wohin die Voers Vordrängen, ver¬
wandelten sie die von ihnen besiegten schwarzen Eingebornen auch hier und jen¬
seits des Vaal in Leibeigne. Der Staat, der hier errichtet worden, wurde im
Januar 1832 uach kurzen Verhandlungen zwischen Pretorius und einem eng¬
lischen Kommissar in der sogenannten Sandriver-Konvention ebenfalls als selb¬
ständig anerkannt. Dabei stellte man britischerseits die Bedingung, es sollten
in demselben keine Sklaven gehalten werden, wogegen die Engländer sich ver¬
pflichteten, mit den Kaffern jenseits des Vaal keine Vertrüge abzuschließen und
überhaupt keine Verbindungen mit ihnen einzugehen. Das letztere ist von Eng¬
land niemals gehalten worden; denn wiederholt geberdete es sich als Beschützer
der jenseits der Grenzen der Republik hausenden Kaffern, die ihm dienten, die
Boers zu schwächen, und die Bedingung in betreff der Sklaverei innerhalb
dieser Grenzen war keineswegs von Humanität und Freiheitsliebe, sondern von
der Absicht eingegeben, eine Handhabe zur Einmischung zu gewinnen nett der
Mehrzahl der Bewohner des neuen Staates als wohlwollender Verteidiger
gegenüber der herrschenden Minderheit zu erscheinen; überdies aber war sie
zweideutig und nach der einen, der englischen Interpretation, unausführbar.
Der Begriff „Sklaverei" wurde in der Übereinkunft am Sandriver unbestimmt
gelassen, und kurze Zeit nach deren Abschluß fanden die Engländer Gelegen¬
heit, über Vertragsverletzung von selten der Boers zu klagen und daraus den
Schluß zu ziehen, daß ihre Anerkennung des Staates derselben als eines un¬
abhängigen hinfällig geworden sei. Die Boers aber konnten das Verfahren,
über das Beschwerde geführt wurde, sehr wohl rechtfertigen. Sie hatten ein
weitgedehutes Gebiet erobert und, da sie zu dessen Bewirtschaftung Knechte be¬
durften, die sie nicht mieten konnten, die unterworfenen Kaffern zu Leibeignen
(^Mvntiocis) gemacht, ungefähr so, wie es Wilhelm der Eroberer nach der
Schlacht bei Hastings mit den Sachsen gehalten hatte und wie die Holländer
und Engländer der Kapkolonie einst mit der dortigen Urbevölkerung verfahren
waren. Diese letztere war allerdings 1838 durch Gesetz zu einer Klasse freier
Tagelöhner geworden. In den Landen nördlich von: Vaal war aber ein der¬
artiges Verhältnis zwischen Siegern und Grundbesitzern und den Unterworfenen,
wenn die Boers sich dort behaupten wollten, deshalb unmöglich, weil diese sich
an Zahl zu der Kasfernbevöllerung innerhalb ihrer Grenzen etwa wie 6 zu 400
verhielten. Die Eingebornen mußten vielmehr gezwungene Arbeiter bleiben,
was nicht ausschloß, daß ihre Leibeigenschaft iaiMöiitiosMx) mild gehandhabt
wurde. Durften die Engländer auch das Sklaverei nennen, so hatten die
Bürger der Republik jenseits des Vaal die Übereinkunft von 1852 freilich ver¬
letzt; es war aber ein wesentlicher Unterschied zwischen dem rechtlosen Neger¬
sklaven und dem zu bestimmtem Dienste verpflichteten Kaffernkncchte des Boeren,
der nicht schlimmer, oft besser daran war als die Kukis, mit denen sich Eng¬
land über die in seinen Kolonien infolge der Abschaffung der Sklaverei ent¬
standene Verlegenheit hinweghalf.
Andries Pretorius, welcher die Südafrikanische Republik gegründet hatte
und dann der erste Präsident derselben gewesen war, starb 1853. Unter ihm
hatte das neue Gemeinwesen Wurzel gefaßt, und es waren innerhalb der Grenzen
desselben mehrere Ortschaften entstanden, unter deuen Pretoria und Potschef-
stroom die größten waren. Sein Sohn, der ihm 1869 auf dem Präsidenten¬
stuhle folgte, erfreute sich nicht des Ansehens, das der Vater genossen, und als
der „Volksraad," das Parlament der Boers, sich weigerte, seinem nicht un¬
verständigen Plane zu einer Vereinigung der beiden Republiken diesseits und
jenseits des Vaal beizustimmen, legte er sein Amt nieder, worauf man einen ge¬
wissen Burgers, der früher Prediger in der Kapstadt gewesen war, zu seinem
Nachfolger wählte. Derselbe war ein unpraktischer Phantast, der verschiedne
grobe Mißgriffe beging und durch unvorsichtige Großsprecherei die Engländer
Vor der Zeit darauf aufmerksam machte, daß die Südafrikanische Republik ihnen
einmal gefährlich werden konnte. Sein Gedanke, das Land mit der See durch
eine Eisenbahn nach der Delagoabai zu verbinden, zu welchem Zwecke er mit
der portugiesischen Negierung, der Besitzerin der Küste, einen Vertrag abschloß,
war verständig, mißfiel aber in der Kapstadt, da er den Ausfuhrhandel des
Freistaates von dem Wege über Raten ablenkte und den Boers gestattete, nn-
kontrvlirt von den englischen Behörden von auswärts Kriegsbedürfnisse zu be¬
ziehen. Seine falschen Maßregeln während der Kämpfe mit dem Kasfernkönige
Sikukuni, die den Waffen der Republik wiederholt schwere Niederlagen zuzogen,
und ebenso seine Prahlerei, er sei berufen, der Washington Südafrikas zu
werden, bewogen die Engländer, sich in die innern Angelegenheiten des Frei¬
staates zu mischen, und als britische Ansiedler in demselben, die sich als Krämer,
Bankiers, Goldgräber, Landspekulanten, Jäger und Glücksritter vorzüglich in
den Städten der Boers niedergelassen hatten, mit einigen der letzter» vereint
Annexion des Landes an die Kapkolonie verlangten, galt dies in London als
Wunsch des gesamten Volkes, dem man zu entsprechen sich beeilen müsse. Sir
Theophilus Shepstone, der Sekretär für die Angelegenheiten der Eingebornen
in Natal, kam im Mürz 1877 in Begleitung von Polizeisoldaten von Pieter-
maritzburg nach Pretoria, der Hauptstadt der südafrikanischen Republik, und
erklärte am 12. April das Land für einverleibt in die britischen Besitzungen.
Der Protest des Präsidenten Burgers blieb völlig unbeachtet. Auch darauf
nahm Shepstone keine Rücksicht, daß der Volksmad, der doch die wahre Stimme
des Landes repräsentirte, sich weigerte, über die Annexion zu verhandeln. Mau
wollte eben nur den einen Teil, mir den, dessen Meinung zu Englands Interesse
stimmte, hören, obwohl er uur die Bedeutung einer geringen Minorität hatte.
In London that man überrascht, fast erschrocken über diesen Gewaltakt,
ließ ihn aber gleichwohl durch das Parlament genehmigen. Aber noch mehr:
um den Boers den Verlust ihrer schwer errungenen Freiheit weniger schmerzlich
zu machen, hatte Shepstone ihnen die Erhaltung ihrer alten wandernden Ge¬
schwornengerichte, bei den Verhältnissen des Landes eine Notwendigkeit, die Er¬
richtung einer besondern Negierung und Gesetzgebung und die Schonung aller
ihrer privaten Rechte und Besitztitel verheißen, und von allen diesen Zusagen
wurde nur die letzte erfüllt.
Die Unzufriedenheit hierüber war unter der holländischen Bevölkerung des
Landes, das jetzt uur noch das Transvaalland heißen sollte, sehr groß und
wurde rasch allgemein. Ein Jahr nach der Annexion erklärten die Boers der
britischen Negierung in einer Denkschrift, die von Delegirten überreicht wurde,
rund heraus, wenn einige von ihnen früher das Bedürfnis nach einem festen
Regimente empfunden und sich vertrauensvoll zu England hingeneigt hätten,
so sei man jetzt allerwcirts davon zurückgekommen und wolle nichts mehr von
der Herrschaft der Königin wissen. Die Annexion sei ein Mißgriff gewesen, die
Lage des Landes gegenüber den Kaffern Siknknuis sei ärger gefährdet als vor
derselben, die Schwurgerichte habe man willkürlich beseitigt, die Gesetzgebung
abgeschafft und durch keine beratende Versammlung ersetzt, und schließlich habe
mau gegen das Volk, das hier seine nach London abgesandten Wortführer habe
hören wollen, Kanonen aufgefahren.
Angesichts der Mißstimmung, die sich auch in Natal und dem Oranje-
Freistaat über das Verfahren Englands vielfach äußerte, glaubte man in London
wenigstens ein paar Schritte weit einlenken zu müssen. Anfangs 1879 kam
Sir Vartle Frere als britischer Kommissar nach der Kapstadt, ging aber auf
die Beschwerden der Boers nur insofern ein, als er Anstalten zur Bekriegung
der Kaffern (der Zulus unter Siknkunis Nachfolger Tschetschwäjv) durch eng¬
lische Truppen traf. Erst als daS Ungeschick Lord Chelmsfords, des Führers
derselben, zu einer gründlichen Schlappe dieses Heeres geführt hatte, Natal
bedroht war und die Boers nochmals offen erklärten, man habe ihnen nutzlos
ihre Selbständigkeit genommen, erschien er in Pretoria, um die Unzufriedenen
zu beruhigen. Dieselben erwarteten ihn in bewaffneter Volksversammlung,
welche mit großer Stimmenmehrheit den Beschluß faßte, die Königin um Auf¬
hebung der Annexion und Rückgabe der Selbständigkeit Transvaals anzugehen.
Der britische Kommissar stellte sich von der Gerechtigkeit dieses Gesuchs über¬
zeugt und sandte dasselbe mit einer Depesche von ihm selbst nach London, die
er den Wortführern der Versammlung vorher gezeigt hatte und in der er u. a.
sagte, die Verfasser der Petition seien angesehene Männer, und er dürfe fügen,
ihre Vorstellungen seien sehr ernster Beachtung des Ministers für die Kolonien
wert. Die Boers meinten daraufhin, weil sie selbst ehrliche und arglose Leute
waren, man werde ihren Wünschen willfahren, und gingen infolge dessen be¬
ruhigt heim, fanden sich aber bald schlimm enttäuscht. Ihr Gesuch war im
April abgegangen, und im September erhielten sie vom General Wolseley, der
mittlerweile an Chelmsfords Stelle den Oberbefehl über die britischen Streit-
kräfte im Zululandc übernommen, die Kaffern besiegt, Tschetschwäjo zum Ge¬
fangenen gemacht und dessen Gebiet unter dreizehn Häuptlinge verteilt hatte,
eine vorläufige Antwort auf ihre Bitte in der Erklärung, die Einverleibung des
Trausvaallandes in die Besitzungen der britischen Krone werde nicht zurück¬
gezogen werden. Kurz darauf erfolgte eine Proklamation, welche diesen Bescheid
ausführlich wiederholte und eine Exekutivregierung für das Land einsetzte. Die
Boers waren empört über diese Abweisung, leisteten indes, von der Vorsicht
ihrer Führer wohl beraten, zunächst nur passiven Widerstand, da sie der in ihrer
Mitte angesammelten bedeutenden Trnppenmacht Englands nicht gewachsen
waren nud es ihnen an Pulver mangelte. Sie wußten aber, daß ein längeres
Verweilen dieser Streitkräfte ihrer Tyrannen den Engländern zu große Kosten
verursachen werde, und daß folglich ihre Gelegenheit, sich mit den Waffen zu
befreien, nur eine Frage der nächsten Zukunft sei. Sie verfuhren ganz so, als
ob ihr Volksraad noch zu Recht bestünde, und betrachteten die Verfügungen der
englischen Beamten als unverbindlich, soweit deren Befolgung nicht erzwungen
werden konnte.
Am 10. Dezember 1879 gingen die Patrioten des Transvaal einen großen
Schritt weiter. An diesem Tage fand wieder eine der Volksversammlungen statt,
die dort alle Vierteljahre zu gemeinsamem Genuß des heiligen Abendmahls ab¬
gehalten werden, und bei denen man nach der Feier politische Angelegenheiten zu
erledigen pflegt. Dieselbe war von etwa sechstausend Boers' besucht, die den
frühern Vizepräsidenten Paul Krüger zu ihrem Vorsitzenden und neben demselben
ein Komitee (Bureau) wählten und alsdann eine geharnischte Erklärung be¬
schlossen, welche unverweilt dem britischen General übersandt wurde. In dieser
einstimmig angenommenen Resolution sagten sie:
„Indem sich erwiesen hat, daß die Kommissare Ihrer Majestät von Recht
und Gerechtigkeit nichts wissen wollen, und indem es auf der Hand liegt, daß
wir die uns hinterlistig entrissene Unabhängigkeit auf dem Wege der Bitte nicht
zurückbekommen werden, fordern wir mit Nachdruck und Entschlossenheit: 1. Daß
der Vizepräsident als Präsident des Staates auftrete und sein Amt als solcher
übernehme, und 2. daß derselbe ohne Verzug den Vvlksraad uach Maßgabe des
Groudwet s^der Verfassuugj zusammcubcrufe. 3. Erklären wir hiermit, daß wir
uns der britischen Regierung nimmermehr unterwerfen werden, und verwahren
uns entschieden gegen alle Proklamationen derselben. 4. Verlangen wir nichts
als unsre Unabhängigkeit und erklären feierlich, daß wir bereit sind, Gut und
Blut für sie dahinzugeben. 5. Fordern wir, daß unsre Regierung unverweilt
wieder aufgerichtet werde, wie es die Verfassung der südafrikanischen Republik
vorschreibt, und wünschen daher dringend, daß unser Nationalkomitce so rasch
als möglich die Schritte thue, die zur Wiederherstellung unsrer Selbständigkeit
erforderlich sind. 6. Sollte das Komitee ein besseres Verfahren wissen, so
wünschen wir, daß es dasselbe dem Volke sofort vorlege."
Dem letzten Begehren wurde noch vor Schluß der Versammlung entsprochen,
und so ließ man dieser Unabhängigkeitsertlärung noch einige Zusätze folgen, in
welchen es hieß, das Volk der südafrikanischen Republik sei geneigt, mit den
englischen Kolonien Südafrikas einen Bund zu bilden, es sei ferner willens,
sich mit der britischen Negierung über die Rechte der Eingebornen zu ver¬
ständigen, es wolle der letzteren die Auslagen, die sie für die Republik gemacht,
zurückerstatten, und es werde die Bewohner des Transvaallandes, welche sich
den Engländern angeschlossen und gegen die Selbständigkeit des Volkes agilirt
hätten, mit Ausnahme derjenigen, welche es in der Eigenschaft von Bankiers
an seinem Eigentume geschädigt, in ihren Rechten ungekränkt lassen. Das zuletzt
erwähnte Versprechen bezog sich darauf, daß im November vorher einige hundert
Einwohner der Stadt Pretoria, der Mehrzahl nach eingewanderte Engländer,
in einer von Wolscley direkt oder indirekt veranlaßten Versammlung eine Ne-
solution gefaßt hatten, in welcher sie ihre Anhänglichkeit an die britische Re¬
gierung und den Entschluß aussprachen, falls den Boers die Unabhängigkeit
wieder zugestanden werden sollte, sich eine eigne Regierung zu wählen und sie
mit den Waffen zu verteidigen.
Die große Volksversammlung vom 10. Dezember nahm schließlich den
Alitrag an, der Vvlksraad solle am 12. April des nächsten Jahres ^1880^ zu¬
sammentreten, und zwar in der Stadt Potschefstroom, die weiter von Untat
entlegen und nicht so stark cmglisirt ist wie Pretoria. In der Kapstadt hatte
man befürchtet, die Partei der Boers, welche unverzüglich Gewaltschritte gethan
wissen wollte, werde die Oberhand gewinnen, und es werde zwischen den Ver¬
sammelten, die bewaffnet erschienen waren, und den Truppen Wolselcys zum
Kampfe kommen. Allein die Vorsichtigeren siegten und alles verlief in Ruhe,
zumal da auch der englische General, obwohl eine Bekanntmachung desselben
kurz zuvor „jede aufrührerische Versammlung" untersagt hatte und der Beschluß
vom 10. Dezember nach englischer Auffassung der Sachlage unzweifelhaft einen
aufrührerischen Charakter trug, ein Einschreiten seiner Soldaten zur Ausein-
andertreibnng der Tagenden für bedenklich ansah. Dagegen ließ er die Über¬
bringer jenes Beschlusses, Bot, den Sekretär des alten Volksrands, und Pre-
torins, den ehemaligen Präsidenten der südafrikanischen Republik, als des
Hochverrats schuldig verhaften, und während der erstere bald nachher gegen
Bürgschaft freigelassen wurde, blieb Prctorius in Haft, indem man ihn mit
Gerüchten in Verbindung brachte, nach denen Führer der Boers mit dem Könige
der Zulus über ein gemeinsames Vorgehen gegen die britischen Zwingherren zu
verhandeln versucht hatten. Ferner traf der englische Oberbefehlshaber ein Ab¬
kommen in betreff des alten Planes zur Erbauung einer Eisenbahn von Pre¬
toria nach der Delagvabai, nach welchem diese einzige Straße nach der See,
auf der die Boers sich rasch mit Kriegsmunition versehen konnten, unter die
Oberaufsicht Englands gestellt werden sollte. Endlich beeilte er sich, durch An¬
ordnung von Märschen seiner Rotröcke nach verschiednen Punkten hin seine
Machtmittel zu entfalten lind die aufsässige Bevölkerung nach Möglichkeit ein¬
zuschüchtern. Alle diese Maßregeln hatten einen gewissen Erfolg. Zwei von
den Führern der Boers, Krüger und Peter Jakob Joubert, machten sich, gleich¬
falls Verhaftung fürchtend, unsichtbar, ein Teil der holländischen Ansiedler be¬
reitete sich zu weiterem Abzüge nach Norden vor, und als drei von den nenn
für ven exekutiven Rat bestimmten Mitgliedern ablehnten, ließen drei englisch ge¬
sinnte Boers, Holls Tusen von Middelburg, Jan Joubert von Potschefstroom
und Marais vou Pretoria, sich bewegen, für sie einzutreten. Pretvrius, dem
gleichfalls eine Stelle in dieser Behörde angeboten wurde, schlug die Ehre aus.
Inzwischen hatten sich die Dinge in Natal für die englische Politik in
Südafrika unerfreulich gestaltet. Die gesetzgebende Versammlung dieser Kolonie,
in welcher die holländischen Elemente der Bevölkerung stark vertreten waren,
hatte die Wiederherstellung einer ihr Verantwortlicher Exekutive, die nach der
ursprünglichen Verfassung Landesrecht, durch Manöver Wolseleys aber praktisch
beseitigt und in ein Ministerium verwandelt worden war, das thatsächlich vom
Kolonialamte in London abhing, mit Ungestüm verlangt. Jetzt faßte sie weitere
verdrießliche Beschlüsse, verweigerte die Gelder zur Unterhaltung einer englischen
Residentschaft im Lande der Zulus, forderte dessen Vereinigung mit Natal und
beschloß die Einführung einer Vermögenssteuer in letzterem. Infolge dessen
verließ Wolseley Pretoria und begab sich nach Pietermaritzburg, um die wider¬
haarigen Gesetzgeber Natals zur Raison zu bringen, und bald nachher kehrte
er nach England zurück, wohin auch ein Teil seiner Truppen die Rückfahrt
antrat. Sein Nachfolger im Transvaallande war General Clifford. Derselbe
machte den Versuch, die Boers auf gütlichem Wege zu beschwichtigen, indem er
den gefangen gehaltenen Prctvrins mit vertraulichen Aufträgen auf eine Rundreise
nnter seine Gesinnungsgenossen abzugehen bewog. Diese Mission hatte jedoch,
wenn Pretorius es mit ihr überhaupt ernstlich meinte, keinen Erfolg, und
letzterer kehrte völlig unverrichteter Sache in sein Gefängnis zurück. Als er
aber dann freigegeben wurde, schloß er sich den andern Führern der Unzu¬
friedenen an, die jetzt für den Fall, daß die Bitten um Wiederherstellung der einstigen
Regierung und Verfassung des Landes wie bisher unbeachtet bleiben sollten,
einen Aufstand zur Wiedererlangung der Freiheit vorzubereiten begonnen hatten.
Eine gütliche Beilegung des Streites schien noch nicht vollständig aus¬
geschlossen zu sein. Die Boers hatten unter den englischen Liberalen Für¬
sprecher, und die Sympathien, die sich in der Kapkolonie und Natnl für ihre
Forderungen kundgaben, mußten in London Bedenken erwecken, ob ein Beharren
auf dem bisherigen Wege geraten und nicht vielmehr eine Umkehr zur Gerechtig¬
keit oder doch ein Kompromiß auf billige Bedingung hin, das den Boers eine
selbständigere Stellung verlieh, geboten sei. Bei Veaeousfield war etwas der
Art nicht zu erlangen, wohl aber hatte Gladstone, der Führer der Oppositions¬
partei, sich unzweideutig für die Rechte und Forderungen der Boers aus¬
gesprochen. Freilich war er damals nicht im Amte und folglich uicht verant¬
wortlich, und wir werden sehen, daß die auf ihn gesetzten Hoffnungen sich nicht
eher erfüllten, als bis die Patrioten des Transvaallandes sich mit den Waffen
für ihr Recht und Interesse erhoben, ihren Tyrannen wiederholt Niederlagen
beigebracht und so ihre Forderungen erzwungen hatten.
it Ägypten waren nach einer Schilderung des Clemens von
Alexandrien die Heiligtümer in den Tempeln dem Beschauer durch
goldgestickte Vorhänge entzogen. Begab er sich nach dein Innern,
um die Statue des Gottes zu suchen, so trat ihm ein Priester
mit ernstem und strengem Antlitz in den Weg und lüftete, indem
er eine Hymne sang, ein wenig den Vorhang, als ob er dem Andächtigen den
Gott zeigen wollte. Aber was erblickte dieser? Ein Krokodil, eine Schlange
oder ein andres gefahrbringendes Tier; der Gott der Ägypter erschien — es war
ein Ungeheuer auf einem purpurnen Teppich.
In fünf Jahren wird die große französische Revolution ihr hundertjähriges
Stiftungsfest begehen. Der Zeitraum von ncchezn hundert Jahren hat ausge¬
reicht, um über die Ereignisse von 1789 bis zum Sturze des revolutionären
Regiments einen goldgestickten Vorhang zu weben, der dem Volke als das herr¬
liche Symbol seiner Gottheit zur Anbetung gezeigt wird. Noch hente sind es
die Ideen von 1789, welche nicht bloß in Frankreich, sondern auch bei uns
lind in andern Ländern als das Evangelium der Völkerfreiheit gepriesen werden.
Noch heute gilt in den weitesten Kreisen die französische Revolution als der
Sieg des Lichtes über die Finsternis; noch heute wird ihr Untergang als das
Martyrium der hehrsten Freiheitshelden geschildert; noch hente predigt Fort¬
schritt, Sozialdemokratie und Anarchie die jakobinischen Lehren; noch heute wird
die Umwandlung des Parlaments in einen Konvent angestrebt, und den Ar¬
beitern werden die Doktrinen von Robespierre und Baboeuf als einziges Heil-
und Rettungsmittel gegen die verrotteten Zustände der alten Gesellschaft an¬
empfohlen. Schmückt man sich auch nicht mehr mit den Namen der Urheber
oder scheut man sich gar der furchtsame» Bourgeoisie gegenüber, diese zu nennen —
die Lehren sind im großen und ganzen dieselben geblieben, und auch das Ziel
ist kein andres, wenn man es auch nicht auszusprechen wagt. Alle jene Phrasen
von der Volkssouveränetät, von der Herrschaft der Massen, von der Unter¬
drückung durch die Regierer, von der Gleichheit des Besitzes und der Erziehung, von
der Beseitigung jedes Übergewichtes in Reichtum und Intelligenz — sie üben
noch immer eine berauschende Wirkung, und der goldne Vorhang, hinter welchem
sich die wahre Geschichte birgt, blendet wie früher die Augen.
Das große Verdienst, von der französischen Revolution den Vorhang
heruntergerissen und hinter demselben das Ungetüm in seiner ganzen Rohheit
und Gefährlichkeit bloßgelegt zu haben, hat sich in unsterblicher Weise Taine
erworben. Seine Studien unterscheiden sich wesentlich von ähnlichen Studien
andrer. Nicht bloß, daß die äußern Ereignisse ganz aus dem Kreise seiner Be¬
trachtung geblieben sind, auch im Innern werden die Thatsachen nicht in der
bisher üblichen Darstellung geschildert. Was Taine darbietet, ist eine fort¬
laufende Reihe getreuester Augenblicksbilder, bei denen auch nicht eine einzige
Figur fehlt; selbst der entlegenste Winkel ist seiner Beobachtung nicht entgangen.
Es ist, wie wenn man das Panorama einer großen Stadt, etwa Konstantinopels
betrachtete; jedes Blatt ist ein abgeschlossenes Bild für sich; erst wenn man die
ganze Reihe aufrollt und das eine an das andre fügt, gewinnt man einen Über¬
blick über das Ganze und nimmt in Geist und Seele den ganzen unermeßlich
scheinenden Anblick ans. Das ist ein mühevolles Unternehmen, denn jedes ein¬
zelne Blatt des großen Panoramas hält uns gefangen. Bis in das kleinste Detail
und stets an der Hand der in den Archiven niedergelegten Urkunden, oft mit
deu eignen Worten der Berichte, rollt Taine die Zustände des revolutionären
Frankreichs auf, und es ist nicht zu vermeiden, daß diese gewissenhafte Ge¬
nauigkeit, die unter den gleichen Verhältnissen an den verschiednen Orten des
Landes sich wiederholenden Ereignisse, die dem französischen Stilisten angeborne
Häufung der Synonyma oft ermüden. Aber der Eindruck des Ganzen wird da¬
durch umso gigantischer; wie mit einem «diirÄeter indelebilis prägen sich die
Schilderungen ein, und unvergessen wird das Buch einem jeden bleiben, der sich
von seinem großen Umfange nicht zurückschrecken läßt.
Taine geht den Ursprüngen des heutigen Frankreichs bis auf die letzten
Quellen nach. In dem vom imoioir ressiino hnndeludeu ersten Bande werden
die Grundlagen gezeigt, auf denen sich das vorrevolutionäre Frankreich ciuf-
bcinte, und die französische Gesellschaft mit ihrem Geiste, ihrer Anmut und ihrem
Leichtsinn geschildert, der eine schwache Negierung und ein unter den Mißbräuchen
der Feudalität seufzendes Volk gegenüberstand. Aus der Schilderung ist gleich¬
zeitig zu entnehmen, wie leicht es war, bei der Opferfreudigkeit der privilegirten
Klaffen die bessernde Hand anzulegen, wie alle Elemente gegeben waren, die
berechtigten Forderungen aus dem Reiche der Wünsche in das Gebiet der Wirk¬
lichkeit hin überzuführen. Allein die praktischen Männer waren zu schwach und
zu scheu vor Gewaltmaßregeln, der Doktrinarismus behielt die Oberhand, und
die von Rousseau formulirten Dogmen des «zorckrat soviel von der Souveränetcit
des Volkes und den Menschenrechten erhielten von Fanatikern und Thoren eine
Ausführung, daß die Ergebnisse der ersten konstituirenden Versammlung eine
vollständige Anarchie alles Bestehenden waren. Die Schilderung hiervon bildet
den ersten Band des von der französischen Revolution handelnden zweiten Teiles.
Die Anarchie führte zu der Herrschaft des Jakobinismus, jener teils geistesarmen,
teils blutigen Sekte Nvussecius, die, wie alle Fanatiker intolerant und vor keiner
Gewaltthätigkeit zurückschreckend, unter dem Dogma der Gleichheit, Freiheit und
Brüderlichkeit dem Einzelnen wie dem Ganzen ihre Lehrsätze aufzwang. Wie
sich dieser Jakobinismus von dem Pariser Klub aus über das ganze Land,
gleich dem Netze einer Riesenspinne, ausbreitete und seine Doktrinen in der
Hauptstadt wie in den Provinzen, in den Städten wie in den Dörfern, in der
Legislative wie in der Rechtsprechung und Verwaltung, in Kirche und Schule,
im öffentlichen und privaten Leben zur Geltung brachte, mit allen Greuelthaten
der fanatischen Volksmenge, mit Tod, Plünderung und Verbannung, mit Knech¬
tung der Gewissen und Vergewaltigung des Einzelnen und des Ganzen — das
ist der Gegenstand des unter dem Titel „Die jakobinische Eroberung" erschie¬
nenen zweiten Bandes. Der vorliegende dritte Band") umfaßt das revolutionäre
Regiment, sein jakobinisches Programm, die Zustände in der Regierung wie
in den regierten Kreisen, und er schließt mit dem Ende dieses Regiments durch
Bonaparte.
Die Bergpartei des Konvents riß die Zügel der Herrschaft mit einer
Energie an sich, welche die vorhergegangenen Regierungen mit Einschluß der
Girondisten niemals gezeigt hatten. Ohne Scheu und Scham wenden diejenigen,
die in ihren Reden von Freiheit und allen Tugenden des republikanischen Alter¬
tums überfließen, Gewalt und Trug an, um sich in ihrer Minorität der Herr¬
schaft über das ganze widerstrebende Land zu bemächtigen. Gleich die Ver¬
fassung von 1793 wird zur Lüge, indem die Wahlen teils gefälscht, teils unter
Druck und Einschüchterung sich vollziehen. Die Delegirten der UrVersammlungen,
welche in ihrer Mehrheit, um gegen diese Gewaltthätigkeiten zu protestiren, nach
Paris gekommen sind, werden teils genötigt, teils durch Schmeicheleien ver¬
lockt, sich zu dem jakobinischen Credo zu bekennen. So kann die Bergpartei,
anstatt die Konstitution in Kraft zu setzen und einen neuen gesetzgebenden Körper
wählen zu lassen, den Konvent für permanent erklären und mit dürren Worten
den Beginn der Schreckensherrschaft verkünden. Jene Delegirten werden aus-
ersehen, diese von Paris in die Departements zu trage», wohin die noch übrig¬
gebliebenen Girondisten versprengt sind. Trotzdem, daß die große Masse zu
ihnen hält, bleiben die Führer unthätig und wagen es nicht, ein Gegenregiment
gegen die Usurpation der Pariser Jakobiner aufzustellen. Allmählich gewinnt
auch in den oppositionellen Departements die jakobinische Herrschaft, welche
nach den Pariser Mustern handelt, die Oberhand, und wo dies nicht geschieht,
wird die Opposition, wie in Bordeaux, Marseille, Lyon, Toulon, mit Gewalt
vernichtet, in die Gefängnisse geworfen, ertränkt, erschossen oder guillotinirt.
Die mit dieser Aufgabe betrauten Kvnventsmäuner scheuen sich nicht, in ihren
Berichten mit ihren Heldenthaten zu prunken. In Bordeaux wird der Maire
nach Unterwerfung der Stadt ohne weitere Prozedur zum Schaffot geführt,
881 andre folgen ihm, 200 Großkauflentc werden in einer Nacht «verhaftet,
mehr als 1500 Personen befinden sich in den Gefängnissen, und 9 Millionen
Franks Buße werden auf die „reichen Egoisten" gelegt. Dabei kommt diese
Stadt gegenüber Marseille und Lyon noch sehr gut weg. Der letzte Rest der
girondisiischeu Führer, der nicht guillotinirt wird oder fliehen kann, legt Hand
an sich selbst. So ist der Jakobinismus überall Herr im Lande, das als in
Revolution befindlich erklärt wird. Es kann unter angeblichen Formen des
Gesetzes eine drakonische Maßregel nach der andern beschlossen werden. Der
Ausschuß des öffentlichen Wohls und der allgemeinen Sicherheit, die Nevo-
lutionstribunalc werden errichtet, reisende Prvkonsnln, ausgestattet mit unbe¬
schränkten Vollmachten, und Lokalausschüsse brandschatzen, verhaften lind töten
nach freiem Ermessen und ohne Kontrole. Was unter dem cmoivn rvgiinv
kaum im einzelnen Falle der absolutistische Monarch zu thun gewagt hat, wird
jetzt frei und offen als regelmäßiges Verfahren gehandhabt.
Aber nicht bloß der Unsinn, anch die Greuel und Scheußlichkeiten hatten
ihre Methode, und diese war nichts andres als die exakte Ausführung des
jakobinischen Programms, wie es sich aus dem Rousseauschen oorlliAt foci»,!,
aus der abstrakten Theorie eines spekulirenden, jeder Kenntnis der Dinge ent¬
behrenden oder sich ihr gewaltsam verschließenden Philosophen in den beschränkten
und leeren Köpfen fanatischer Sektirer ausgebildet hatte. Die Quintessenz des
(!uirtr»t soviel sah man in der vollständigen Entäußerung jedes Individuums und
seiner Rechte zu gunsten des Gemeinwesens. Dieser Satz, konsequent durch¬
geführt, war ein Freibrief für jede Gewaltthat und legalisirte Mord und Raub.
Nach diesem Dogma ist der Staat Eigentümer des gesamten Vermögens der
Einzelnen, und so wurden die Güter der Verdächtigen und Reichen eingezogen
und teils für öffentliche jakobinische Zwecke verwendet, teils unter die braven
Sanskülotten verteilt. Dieses Dogma berechtigte zur Requisition von Lebens¬
mitteln und Kleidern und gab die Habe des Individuums dem von einigen
entschlossenen Verbrechern geleiteten Pöbel preis. Dem Gemeinwesen gehören
aber auch die Individuen selbst, und so wurden auch die Widerstrebenden zur
Vermeidung harter Leibes- und Lebensstrafen für den Kriegs- und Zivildienst
ohne sonstige gesetzliche Ermächtigung gepreßt. Der Staat allein ist berufen,
die Idee des Guten anf Erden zu verwirklichen, er hat den Menschen zu er¬
ziehen, ihm seinen Glauben, seine Sitten, seine Gedanken und innersten Empfin¬
dungen vorzuschreiben. In Verkennung der Grundsätze des vortrat sooiÄ hat
die tausendjährige Geschichte nach jakobinischer Anschauung den natürlichen
Menschen verkommen lassen und ihn zum Sklaven mißgestaltet. Aufgabe des
Jakobinismus ist daher die Regeneration des Menschengeschlechtes und dessen
Überleitung zur Freiheit. Gegenüber der Größe dieses Unternehmens ist nicht
bloß jeder Physische Zwang erlaubt, sondern auch geboten. Zwei Faktoren sind
es, welche die Verkümmerung und Mißgestaltung des natürlichen Menschen ver¬
ursacht haben: die positive Religion und die soziale Ungleichheit. Gegen diese
beiden Quellen des Übels auf Erden richtete sich folgerichtig die ganze Breit¬
seite des jakobinischen Programms. Daher wurde die Ausübung des bisherigen
Kultus verboten und die konstitutionellen wie nichtkvnstitutionellen Priester ver-
folgt, verbannt oder getötet, die Kirchen wurden geschlossen, alle Zeremonien
unterdrückt. In gleicher Weise und mit den schärfsten Mitteln richtete sich der
Augriff gegen König und Adel als den Vorzug der Geburt, gegen Eigentümer,
Kapitalisten und Rentiers als den Vorzug des Besitzes. Die großen Vermögen
wurde» zerstört, die Bevorzugung eines einzelnen Kindes nicht mehr gestattet, un¬
eheliche Kinder in bezug auf die elterlichen und Erbrechte den ehelichen gleich¬
gestellt. Mit einer Tyrannei, wie sie Europa niemals geahnt und selbst der
Orient nie gelaunt hatte, wurden Maßregeln angeordnet, um den Menschen
fortan nach dem jakobinischen Muster umzumodeln, um jede individuelle Ader
im Menschen zu vernichten. Die Religion wurde nach abstrakten Begriffen be¬
gründet, die Erziehung und Ausbildung, die Nahrung und Kleidung wurde für
alle gleich reglementirt, und es darf uns uicht wunder nehmen, wenn Lavoisier
der erbetene vierzehntägige Aufschub des Todesurteils mit dem Bemerken ab¬
geschlagen wurde, daß die wahre Republik keiner Gelehrten bedürfe. Wie die Welt
aussehen würde, wenn es möglich wäre, jenes Programm der Freiheit, Gleich¬
heit und Brüderlichkeit zu verwirklichen — ein Programm, das sich von dem
der heutigen Sozialdemokratie kaum unterscheidet —, das hat Taine in einer
Weise geschildert, die hier angedeutet, aber nicht wiedergegeben werden kann.
Unter den Jakobinern ragen drei Männer hervor, welche das Programm
am tiefsten erfaßt und am gründlichsten zu verwirklichen gesucht haben: Marat,
der Verrückte, Danton, der Unmensch, und Robespierre, der Pedant. Der
Wahnsinn Marats beginnt mit dem Größenwahn, verbindet sich mit dem Ver¬
folgungswahn und endet mit Monomanie der Mordlust. Danton, ein Mann
von geistigen Fähigkeiten, wird von dem wildeu Instinkte einer bestialischer
Natur zu allen Schandthaten getrieben, durch welche eine Menschcmmtur be¬
fleckt werden kann. Der unbedeutendste von allen ist Robespierre, dem noch
jüngst Haiuel einen dreibändigen Paneghrikns gewidmet hat, worin er nicht an¬
steht, ihn mit Christus zu vergleichen — ein Vergleich, der ebenso richtig ist,
wie wenn man Paskals Jesuiten auf die gleiche Stufe setzte mit dem Jesus
der Evangelien. Robespierre ist ein Mann von nur mittelmäßiger Begabung,
ein Pedant (vuiströ) ohne eigne Ideen, der nur imstande ist, die Sätze des
Lehrmeisters Rousseau in einen langen, phrasenhaften Wortschwall künstlicher
Rhetorik auszuspinnen. Dabei ein Geck, den Eigenliebe und Beschränktheit zu¬
letzt sogar an die Nichtigkeit der Sätze seiner Nachmittagspredigten glauben läßt.
Wie Marat hält er sich überall für verfolgt, ist er der alleinige republikanische
Tugendspiegel, dem gegenüber er überall Verräter und Verderbte wittert, für
die es zuletzt kein andres Mittel giebt als die Guillotine. Nicht Moliere in
seinem Tartüffe noch Shakespeare in seinem Richard III. haben jemals einen
Heuchler auf die Bühne zu bringen gewagt, der so sehr von seiner eignen Auf¬
richtigkeit überzeugt ist, einen solchen Kam, der sich für Abel hält. Er ist es
auch, der wegen seiner großen republikanischen Tugenden der Würdigste zu sein
glaubt, um der Farce zu Präsidiren, die zu Ehren des höchsten Wesens in Szene
gesetzt wird.
Nach diesen Größen der Revolution kann man das Kaliber derjenigen
messen, die unter ihrer Direktive und vor ihren Augen als Gesetzgeber, Ver-
waltungsbeamte und Richter den Staat und dessen einzelne Teile leiteten.
Unter den Kränzen, die sie sich zuerkennen, und unter den Titeln, mit denen
sie sich schmücken, zeigt sich zu gleicher Zeit das Stigma des Sklaven und des
Tyrannen. Im Konvent ist neben dem jakobinischen Berg jede andre Partei
geschwunden, die übrigen Deputaten wagen es nicht, eine entgegengesetzte Meinung
zu bekunden, oder lassen sich, soweit es möglich ist, in den Sitzungen überhaupt
nicht scheu. Zu den Einschüchternngcn durch die Kollegen gesellt sich diejenige
durch den Mob, der in verschiednen von dem Klub in Szene gesetzten Paraden
dem Konvent und der Regierung zeigt, daß sie — wie dies noch vor einigen
Tagen der Abgeordnete von Vollmar dem größten Staatsmanne der Welt
gegenüber auszusprechen wagte — nur die Kommis und Untergebenen des
souveränen Pöbels sind. Im Zentrum liegt das Schwergewicht des Ganzen
im Wohlfahrtsausschuß, in welchem jedoch nur wenige Leute von Bedeutung,
wie Carnot, imstande sind, die eigentlichen Geschäfte zu führen, gegenüber den
Hanptmatadvrcn, die, teils aus der Hefe des Volkes hervorgegangen, teils schon
im ÄiroiöQ rögwis durch Verbrechen gebrandmarkt, nichts verstehen als in die
Trompete ihrer Führer zu stoßen. Dabei schweben sie gegenseitig und vor
einander in fortwährender Angst; jeder wittert in seinem Genossen seinen Gegner
und einen Verräter; jeder empfindet, daß wenn er selbst nicht köpfe, er geköpft
werden wird; jeder ahnt das Ende mit Schrecken. Daher die Brutalitäten,
die Grausamkeit und die Wollust, die Todesfurcht und die Genußsucht, die
Gleichgiltigkeit gegen das Leben und die Eitelkeit. Überall entwickeln sich die
bestialischer Instinkte des Menschen, welche tausendjährige Erziehung, Religion
und Philosophie uicht zu beseitigen, sondern nur abzuschwächen imstande gewesen
waren. Die Revolution fördert alle Bestialitäten wie aus dem Höllenkrater ans
Tageslicht. Am schlimmsten Hausen die Prvkonsuln in den Provinzen; delegirt
vom Konvent, um die Revolution in den Departements in Permanenz zu halte:,,
wächst ihre Unmenschlichkeit, je eingeschüchterter die Massen sind, und im Besitz
einer unbeschränkten Macht suchen sie jede Gelegenheit, sie zu üben und sich
zu zeigen. Einzelheiten hier aufzuzählen ist unmöglich, so groß sind die Greuel,
so zahlreich und so systematisch begangen, daß die Wahl schwer hält, auch nur
das schlimmste zu zeigen. Die Gradunterschiede, welche die menschliche Em¬
pfindung zu machen versteht, schwinden gegenüber diesen Berichten, die als
unzählige Blutzeugen uns auf jeder Seite des Buches begegnen.
Je tiefer auf der Leiter der hierarchischen Ordnung man hinabsteigt — wenn
man überhaupt diesen Ausdruck für den Zustand einer in Permanenz erklärten
Anarchie gebrauchen darf —, desto kläglichere Gruppen raubgieriger Bestien
in Menschengestalt treten einem entgegen. In Paris sind es etwa fünf- bis
sechstausend, die der gleiche Hang um das gleiche Dogma schart, die einen, weil
sie sich in Not befinde», die andern, weil sie die Ausübung der souveränen
Nvlksrechte der Arbeit gänzlich entwöhnt hat — alle von demselben Haß erfüllt
gegen die Verbrecher in Sänften, gegen die Reichen und Besitzenden. Diesen
Leuten hat die Revolution eine reiche Weide für ihre Begierden und Laster zur
Verfügung gestellt; bestrafte Diebe, Fälscher, Betrüger, Sträflinge aller Art,
Handwerker mit der geringsten Kenntnis der Orthographie, Trunkenbolde leiten
überall die Geschäfte. Man sehe sich nur einmal einen solchen Mann in der
Nähe an, wie Buchöl, Minister der auswärtigen Angelegenheiten, den Robespierre
selbst zweimal als einen braven, fähigen, energischen und für die wichtigsten
Geschäfte brauchbaren Mann bezeichnet hat, in Wahrheit ein Schulmeister aus
dem Jura, dessen Unwissenheit und gemeine Art alle Phantasie übersteigen.
Seine Untergebenen meiden ihn, und er selbst befindet sich niemals in seinem
Bureau. Um eine Unterschrift zu erlangen, muß man ihn im Cafe aufsuchen,
wo er im Trunk seine Tage verbringt. Nach dem Thermidor entsetzt, bettelt er
seinen Nachsolger um irgendeine Schreiberstelle im Ministerium an und will sich,
auf das Unpassende dieses Schrittes aufmerksam gemacht, zuletzt mit einer Ver¬
sorgung als Kauzleidiener begnügen. Dabei ist er noch ein unschädlicher Mann.
Schlimmere Seiten weist der berüchtigte Kommandant der Nationalgarde Henriot
ans, dessen Tagesbefehle wahre Kunstwerke des Blödsinns eines Trunkenboldes
und eines im Branntweinfnsel rasenden Tyrannen bilden. Wie schwer müssen
hier die Achiver den Wahnsinn ihrer „Herrscher" büßen, denn in den Provinzen
will das Volk durchaus nichts von seiner jakobinischen Regeneration wissen;
wer es überhaupt kann, zieht sich von Wahlen und sonstigen öffentlichen Ge¬
schäften zurück, und der jakobinische Klub sieht sich genötigt, fortwährend
Emissäre auszusenden, die in den einzelnen Städten, Flecken und Dörfern die
Hefe des Pöbels organisiren, um mit seiner Hilfe die Anarchie zu schaffen
und aufrecht zu erhalten. So fällt auch die Provinz in die Hände ihrer
Provinzinl-, Kreis-, Stadt- und Dorfbanditen, und es setzen sich Konfiskationen
mit Unterschlagungen und Erpressungen in ununterbrochener Reihe fort.
Das also war das Regiment derjenigen, die sich als „humanitäre Philo¬
sophen" ausgaben. Was sich die Welt schaudernd ans den wilden Zeiten der
mittelalterlichen Kriege bei einer einzelnen That, in einer einzigen Stadt erzählte,
das sah man jetzt im ganzen Reiche erfüllt. Das waren die Ergebnisse
des wieder in den Naturzustand zurückgeleiteten Menschen! Wie hebt sich von
ihnen das Mvisu rv^uns ab! Das Übergewicht Frankreichs im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert in Europa ist sicherlich nicht bloß seinen kriegerischen
Erfüllen zuzuschreiben. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß
die ganze geistige Bewegung der Zivilisation damals von Frankreich ausgegangen
sei. Größe Staatsmänner und Feldherren, Philosophen und Dichter, hervor¬
ragende Juristen, Künstler — es war kein Gebiet menschlicher Kultur, das nicht
in Frankreich seine besten Repräsentanten gefunden hätte. Abgesehen von den
paar tausend Müßiggängern, die in dein ununterbrochenen Schaugepränge des
Versailler Hofes die Statisten spielten, in Frivolitäten und Nichtsthun ihre
Kräfte und ihren Besitz vergeudeten, war Justiz und Verwaltung in einem für
damalige Zeiten mustergiltigen Zustande. Die französische Justiz hatte sich schon
seit Jahrhunderten einen hohen Ruf verschafft, ihre Stellen gingen in den guten
Bürgerkrcisen von Vater auf Sohn über. Der Provinzialadel war mäßig und
tapfer, seine Söhne hatten als Offiziere die großen Siege erfechten helfen. Kauf¬
mannschaft und Handwerk erfreuten sich geregelter Zustände. Die Pariser Börse
bedürfte schon damals derjenigen gesetzlichen Einschränkungen, welche man heute
vergeblich in Deutschland anstrebt — ein Beweis des großen Aufschwunges, deu
der Handel genommen hatte. Das Kunsthandwerk, das in Deutschland der
dreißigjährige Krieg vernichtet hatte, stand in Frankreich in Blüte. Freilich
waren daneben arge Mißstände; nicht sowohl in dem mangelnden Schutze einer
persönlichen Freiheit — denn die Bauern in der Bretagne berührte es wenig,
ob ein Pamphletist einmal 8g,n8 en)on in die Vastille gesteckt wurde. Aber die
Steuerlast war ins Unermeßliche gestiegen und bedrückte namentlich die Land¬
wirtschaft. Es mußten Reformen eintreten, aber alle diese privilegirten Klassen,
mit Ausnahme nnr weniger bornirten Köpfe, waren dazu bereit. Zu keiner
Zeit waren die Ideen der Freiheit und Gleichheit so sehr in den Kreisen der
obersten Zehntausend verbreitet, wie in dem Frankreich von 1,789, und die Ge¬
setze der Konstituante geben von dieser Gesinnung tausendfältiges Zeugnis. Was
ließ sich nicht mit solcher Elite alles leisten! Was hat die Revolution aus
ihnen gemacht? Am Ende der Schreckensherrschaft zählte man 150 000 Flücht¬
linge und Verbannte, 258 000 in Gefängnissen, 175 000 in Stubenarrest, andre
175 000 in ihre Gemeinden konfinirt, im ganzen 758 000 Personen, die in
ihrer Freiheit beschränkt waren. Wieviel Opfer an Menschenleben die Anarchie
verschlungen hat, läßt sich kaum annähernd bestimmen, nicht bloß der Tod durch
die Guillotine, die Massenmorde in den Gefängnissen, durch Pelotons oder
Noynaden ist auf ihre Rechnung zu schreiben; wenn z.B. in Nantes von 13 000
Verhafteten 3000 am Typhus starben, so kann man sich einen Begriff machen,
wie der Tod gewütet hat, da die Gefängnisse an allen Orten überfüllt waren.
Dazu trat die Hungersnot und die in ihrem Gefolge befindlichen Krankheiten,
sodaß die Sterblichkeit während der ersten Jahre der Revolution um mehr als
fünfundzwanzig Prozent gewachsen war. Alles war erschöpft; die Staatsfinanzen
am Bankerott, das Vermögen des Ganzen und der Einzelnen vergeudet oder
zerstört; das Neglementiren des Verkehrs durch das Reqnisitivnsrecht des Staates
und die Bestimmung eines Maximums für die Lebensmittel veranlaßte den Land¬
mann nicht mehr zu bauen, daher Not und Elend überall, und trotz dieses
jammervollen Lebens die stete Furcht vor Kerker und Tod.
Der Sturz Robespierres und seiner Anhänger am 9. Thermidor hatte nur
das Land von seinem schwersten Drucke befreit. Zwar hatten sich in der ersten
Zeit die gemäßigten Elemente wieder geregt, allein die Minorität, deren Leben
auf dem Spiele stand, wenn sie die Herrschaft verlor, verstand es, dieselbe all¬
mählich wieder an sich zu reißen, und die Diktatur des Direktoriums unterschied
sich von der der Schreckensmänner lediglich dnrch die Mittel, die Ziele waren
dieselben geblieben, nur die Männer, nicht das philosophische Regierungssystem,
wcireu andre geworden. Statt des blutigen Todes durch die Maschine Samsons
bedienten sich die Direktoren des trockenen „nach Caserne," und statt direkt
ihre Gegner zu töten, ließen sie dieselben sterben. Wurde auch das Leben, weil
die Guillotine nicht mehr so unmittelbar drohte, wieder lustiger und umso
ausgelassener, jemehr die Schreckenszeit alle Sinne gelähmt hatte — die Grund¬
sätze der Negierung blieben dieselben: Vernichtung der persönlichen Freiheit,
Konfiskation der Vermögen, Verbannung, Bankerott der Staatsfinanzen und
Hungersnot. Die Regierung konnte sich nnr dadurch halten, daß sie die Kriege
mit dem Auslande in die Länge zog und gegen das öffentliche Interesse des
Landes jeden Friedensschluß ablehnte. Die .Kontributionen und Plünderungen,
die im Inlande fast erschöpft waren, mußten im Auslande den Direktoren die
Beute liefern, die sich in drei Jahren auf zwei Milliarden belief, abgesehen
von den Kostbarkeiten und Schätzen, die von allen Seiten zusammengerafft
wurden. Im Gegensatz zu der Zerrüttung im Innern zeigten nach außen die
Armeen Fortschritte über Fortschritte, die Anarchie konnte der Disziplin keinen
Widerstand leisten, und im Heer galt nicht das Prinzip der Losreißung der
Individuen von einander, sondern das ihrer Vereinigung. Siegreiche Feldherren
beginnen in der Mitte ihrer Armeen Einfluß und Anhang zu gewinnen; das
Direktorium selbst hat schon mit Hilfe Angereans seinen Staatsstreich vollenden
müssen — das war der Weg, der dem siegreichsten der Heerführer gezeigt
wurde. Bonaparte giebt Frankreich die Zivilisation wieder und wird von dem
Lande als sein Befreier, sein Schutzherr, sein Wiederhersteller begrüßt. Sein
Regiment bezeichnet nach seinen eignen Worten die Vereinigung der Philosophie
mit dem Säbel. Die Philosophie im Sinne jener Epoche war die abstrakt¬
logische Staatskonstrnktivn nach allgemeinen Grundsätzen; sie führt zur Anarchie
oder zum Despotismus; der Herr der französischen Nation wählte den letztern,
um der erstem ein Ende zu machen. Mit dem Säbel in der Faust baut er
das Staatsgebäude nach einem bestimmten Plane — aber es ist der Plan einer
Kaserne. Es ist ein Bau von Schönheit und Symmetrie, mit schöner Fassade
und für den gemeinen Verstand auch bequem und wohnlich, angemessen für den
beschränkten Egoismus, gut eingerichtet, um die niedern und durchschnittlichen
Seiten der menschlichen Natur im Zaume zu halten und die höhern Seiten
entweder zu unterdrücken oder zu korrumpiren. „In dieser philosophischen Ka¬
serne — so schließt Taine seine Betrachtung — leben wir seit achtzig Jahren."
Die französische Revolution wird für den Geschichtschreiber, den Psycho¬
logen und den Dichter, der uns die Gestalten der Wirklichkeit menschlich näher
bringen soll, stets eine unerschöpfliche Fundgrube bleiben. An den Resultaten
der Forschung wird wenig mehr geändert werden, aber in den Einzelheiten
bieten sich dem Studium neue interessante Punkte dar, da in Memoiren und
Urkunden immer wieder neue Quellen mit neuen Aufschlüssen im Detail ent¬
deckt werden. Meistenteils aber hat man bisher die Zustände, die sich aus
jener Revolution entwickelten und in denen man einen Vorteil für die bürger¬
liche Gesellschaft zu sehen glaubte, als die verdienstvollen Folgen dieser Epoche
hingestellt und hat den Trümmer- und Leichenhaufen, den sie sichtbar zurück¬
gelassen hatte, teils wenig beachtet, teils für den bösen Tropfen erklärt, den
man gleichzeitig mit dem guten in den Kauf nehmen müsse. Taine hat das
große Verdienst, namentlich bei seineu der Phrase so zugänglichen Landsleuten
diese Legende zerstört zu haben; er hat mit eisernem Fleiß und mit einer
Energie, die übermenschlich zu sein scheint, alle authentischen Berichte der Zeit
zusammengetragen und liefert bis ins kleinste Detail das trostlose Bild der
damaligen inissru. xlods. Wie aber sein Buch über die Vergangenheit aufklärt,
so soll es auch sür die Gegenwart und Zukunft belehren. Leider sind diese
Lehren von den Völkern noch immer nicht beherzigt, und sollte die jetzige fran¬
zösische Republik, wie es deu Anschein hat, das Jahr 1889 erleben, so wird
unzweifelhaft die Wiederkehr des hundertjährigen Geburtstages der „Ideen von
1789" mit rauschenden Festen und Schaugeprängen aller Art gefeiert werden.
Und diese Feier wird vermutlich in einer Menge von leeren Köpfen und leeren
Herzen auch diesseits der Vogesen ihren vollen Wiederhall finden. Zum
größten Teile unbewußt und vou verbohrten oder selbstsüchtigen Führern ge¬
leitet, steuert auch unter uns eine große Masse jenen Zielen zu, wie wir sie
in dem jakobinischen Programm geschildert finden. In dem Hochverratsprozeß,
der sich in diesen Tagen vor dem Reichsgericht abgespielt hat, sehen wir bereits
Repräsentanten jener anarchischen Richtung, und wenn wir näher auf die Sache
eingehen, so sind die Reden von Neinsdorf nach den berühmten Mustern eines
französischen Jakobiners gehalten. Diese anarchische Richtung ist nur ein Ab¬
leger der Sozialdemokratie; sie entwickelt sich aus ihr mit derselben Notwendigkeit,
wie der Konvent aus der Legislative hervorgehen mußte, und wie auf die giron¬
distischen Republikaner die Schreckensmänner gefolgt siud. Dem kompakten und
energischen Vorgehen der Sozialdemokratie mit ihrer anarchischen Gefolgschaft
gegenüber wird die Mehrheit des übrigen Volkes so sehr von den Fraktions¬
führern bearbeitet, daß das höhere Interesse des großen Ganzen dem niedrigen
Parteivvrteil geopfert wird. Der oft wiederholte Ausspruch des Reichskanzlers,
daß jedes Weitere Vorschreiten des Liberalismus immer weitere Gravitationen
nach links zur Folge habe, wird uns auf jeder der blutigen Seiten der fran¬
zösischen Revolution aufs neue bestätigt. Hier sehen wir die Resultate dieses
Herabgleitens auf der abschüssigen Bahn, die Thatsache dieses Absturzes spielt
sich bereits vor unsern Angen ab. Erklärt der Abgeordnete Richter die un¬
günstige Finanzlage des Reiches als das Ergebnis der Wirtschaftspolitik des
Reichskanzlers, so übertrumpft der Abgeordnete Bebel diese Bemerkung, indem
er für die ungünstige Lage das ganze jetzige Gesellschaftssystem verantwortlich
macht. Erstrebt der Fortschrittsmann die Beseitigung des Kanzlers, so will
der Sozialdemokrat alles beiseite schaffen. Der Abgeordnete Löwe belehrt den
Begründer des deutschen Reiches und deutscheu Ansehens, wie er die Reichs-
politik bei Ersparung von 20 000 Mark ohne NeuLreirnng eines dritten Di¬
rektors im auswärtigen Amte leiten könne, der Abgeordnete von Vvllmar greift
direkt die Glaubwürdigkeit des Reichskanzlers an, indem er darauf hinweist, daß
bei Gericht schon vielfach Beamte wegen Verletzung des Diensteides bestraft
wurden. Der Fortschrittsmann bekrittelt mit selbstgefälliger suffisance den Manu,
dessen Thaten die Weltgeschichte in ihre Tafeln eingegraben hott; der Sozial¬
demokrat trägt bereits keine Scheu — und wir können ebenfalls den beschönigenden
Worten des Neichstagspräsidenten nicht beitreten —, den ersten Ratgeber des
Kaisers und nach diesem die erste Autorität des Reiches auf gleiche Stufe
mit Leuten zu stellen, die wegen Eidcsbruchs bestraft worden sind. Der Ab¬
geordnete Löwe glaubt die auswärtige Politik ebensogut verstehen zu können
wie seine Nähnadelfabrikativn und verweigert dem Kanzler die Hilfe, die er
seinerseits — freilich zugleich auch in dem eignen Bruder — von seinem Auf¬
sichtsrat erbeten und erhalten hat. Der sozialdemokratische Abgeordnete, der
mit Stolz seine Gymnasialvorbildung in den Neichstagskalender einschreibt
— er vergißt hinzuzufügen, daß dieselbe nur bis Quinta reichte —, vermißt sich,
deu erste» Beamten des Reiches, die in der Justiz und Verwaltung ergraut
sind, mit seiner Autorität entgegenzutreten. Die Fortschrittspartei erstrebt die
Herrschaft des Parlaments, und die Sozialdemokratie bezeichnet bereits dieselbe
als den Herrn und die Regierung als dessen Knecht. Der sozialdemokratische
Anarchist Reinsdorf erklärt seine Verurteilung als Mordgeselle lediglich für eine
Machtfrage. Als die Regierung im Jahre >876 die Strafmittel gegen das
Umsichgreifen der Sozialdemokratie forderte, wurden ihr diese vom Abgeordneten
Bninberger und der Reichstagsmehrheit verweigert; was die Mvstschen Brandreden
nicht vermochten, mußten erst die Attentate gegen die Person des Kaisers ermög¬
lichen. Überall sehen wir ein Zerbröckeln des Ansehens der Obrigkeit, dem sofort
der offene Angriff folgt. Zur Seite steht das Bestreben der Parteiführer, die Un¬
zufriedenheit im Lande wach zu erhalten; alle Maßregeln, welche die Negierung
anstrebt, um den Volkswohlstand zu heben, den Arbeitern Arbeit zu schaffen, den
begründeten Beschwerden der untern Klassen abzuhelfen, werden bekämpft und mir
nach langem Widerstreben kaum zur Hälfte und unter Aufreibung der Kräfte des
leitenden Staatsmannes durchgesetzt. Eine ganze große Partei opfert mit offnem
Hohne die Interessen des Vaterlandes den Herrschaftsgelüsteu der römischen Kirche
und folgt blindlings einem Führer, der erster Ratgeber eines mit dem Reiche im
Kriegszustande befindlichen und mit der polnischen Revolutionspropaganda ver¬
bündeten Fürsten ist. Fürwahr, das ist ein trostloses Bild, welches die Volks¬
vertretung im dritten Lustrum des unter so vielem Sehnen und Kämpfen,
mit so teuern Opfern erstnudeuen neuen Reiches bietet. Es scheint, als ob
die Geschichte uur dazu da sei, um nichts aus ihr zu lernen, und als ob
das Volk in Selbstverblendung dem gähnenden Abgrunde entgegeneilen wolle.
Wer sein Vaterland wirklich liebt, soll niemals an dessen Geschick verzweifeln;
aber es bedarf einer großen Zuversicht, wenn der deutsche Patriot nnter den
gegenwärtigen Zuständen nicht alle Hoffnung verlieren soll.
Das Studium des Taineschen Buches fordert zur Einkehr uns. Möchten
doch im neuen Jahre die Einsichtigen sich um das Banner des hohenzvllernschen
Königtums zusammenscharen und unter Führung des Reichskanzlers - Banner-
triigers die Wohlfahrt unserm Vaterlande erhalten und die deutsche und mensch¬
liche Zivilisation nicht zur Beute weniger Verblendeten und Fanatiker werden
lassen. Das walte der deutsche Gott!
och kurz vor Jahresschluß hat die Literatur der Gegenwart in
dem ersten Bande der dnrch den deutschen Generalkonsul in
Genua Felix Bamberg veröffentlichten Tagebücher Friedrich
Hebbels") ein Geschenk erhalten, welches ein bedeutendes und
doch in mehr als einem Sinne ein bedenkliches genannt werden
muß. Der erste Eindruck, den wir davon empfangen, ist allerdings der,
welchen der Herausgeber in seinem Vorwort davon erwartet. Die Tage¬
bücher zeigen gegenüber der bedeutenden und doch so mcmnichfcich peinlichen
Biographie Hebbels von Emil Kuh „das Bild des Dichters in vollerem und
freundlicherem Lichte, als dies irgendeiner mit zerstreuten Gliedern und Farben
gearbeiteten Biographie möglich war." Der zweite Eindruck aber war der, daß
die Veröffentlichung dieser Tagebücher in allem Betracht zu früh kaurn. Das
Wort, das in Hebbels „Nibelungen" König Günther dem trotzigen Hagen ent¬
gegenruft, daß er das kümmerliche Grün zertrete, welches eine blutige Gruft
bespvmien habe, wird, fürchten wir, Anwendung auf diese Herausgabe finden.
Das Bild Friedrich Hebbels mit allen Runzeln und Stirnfalten kann ja gar
nicht heraufbeschworen werde», ohne auf der Stelle kaum verstummte wilde Ge
hässigkeiten, den bittersten Hader um sein in mehr als einem Sinne unseliges
Lebensgeschick und eine durch dieses Geschick herb gewordene Anschauung, ohne
das ganze widerwärtige Schauspiel mit heraufzubeschwören, daß sich Ohnmacht
und Anmaßung des Dilettantismus, die Frivolität der gemeinsten Journalistik,
wohlmeinende Beschränktheit und höchste ethische Forderungen, ein allzuengeS
Schönheitsgefühl und ein Realismus, der jedes gedankliche Element in der
Poesie beargwöhnt, zur Bekämpfung eines mächtig beanlagten, tiefernsten, redlich
nach Wahrheit ringenden, aber mit schweren Mängeln und mit entstellenden
Narben aus einer allzuheißeu Lebcusschlacht gezeichneten Dichters verbünden.
Seit Friedrich Hebbels frühem Tode sind genau einundzwanzig Jahre, seit dem
Erscheinen der Biographie Hebbels von Emil Kuh noch nicht ganze zehn Jahre
verstrichen. Der Staub, der bei beiden Anlässen und namentlich bei dein
letzteren aufgewirbelt worden war, begann sich eben zu legen. Die Vorher-
sagungen, daß in drei oder vier oder fünf Jahren kein Mensch mehr von diesem
Dichter nud seinen widerwärtigen, renommistischen Fratzen spreche» werde, habe»
sich weder seit dem Tode.Hebbels »och seit der großen „Hetz," zu welcher das
bedeutende, aber unerquickliche Kuhsche Buch Veranlassung gegeben, bewahrheitet.
Hütte man noch ein Menschenalter, noch dreißig Jahre etwa hingehen lassen,
so würden die Hebbelschen Tagebücher ein Geschlecht vorgefunden haben, dem
der Name Hebbels erklunge» wäre, wie uns die Namen Heinrich von Kleist
oder Hölderlin erklingen. Niemand sieht populäre Dichter in ihnen oder er¬
wartet, daß sie je solche werden konnten. Niemand vergleicht die Wirkungen,
die sie geübt, mit den Wirkungen, die von Lessing, Goethe oder Schiller aus¬
gegangen sind. Niemand aber auch, der auf Bildung Anspruch erhebt, zieht
die subjektive Bedeutung ihrer Naturen, zieht die Thatsache in Zweifel, daß sie
ein Lcbensrecht in der Geschichte unsrer Dichtung und nationalen Bildung er¬
worben haben, niemand erwartet, daß ihre besten Leistungen jemals werden in
jenen Kehricht der Literatur geworfen werden, welchem weder lebendig genießende
noch historische Teilnahme gebührt. Den Eintritt dieser Situation hätte man
nach unserm Erachten für die Veröffentlichung der Tagebücher Hebbels ab¬
warten sollen. Für die Zahl derjenige», welche überzeugt Ware», daß die
de»tsche Literatur in Hebbel ein wahrhaft produktives, wem, auch sprödes Talent
und einen Dichter von höchster Auffassung seines Berufes besessen und verloren
habe, bedürfte es des Erscheinens der „Tagebücher," so bedeutsam, tief und
wertvoll sie auch siud, keineswegs, um sie über die volle Bedeutung des Mannes
ins klare zu setzen. Für die große Zahl derjenigen, die in Hebbel nichts sehen
wollen als den unbequemen Nigoristen, der beim allgemeinen Pickenick der
modernen Literatur den Störenfried gemacht, und für die kleinere Zahl jener
andern, welche einem Künstler jeden, mir nicht den herben Beigeschmack der
Früchte seines Talents verzeihen können, werden die „Tagebücher" nur eine
Fundgrube neuer Anklagen, heftiger und erbitterter Angriffe werden. Da sie
nnvermeidlicherweise Spuren des harten und Verzweifelten Ringens mit dem
Leben, Spuren anch der sittlichen Irrtümer und Verschuldungen Hebbels trage»,
da sich neben den mächtigsten und tiefsten Gedanken paradoxe und unerquick¬
liche Einfälle genug in ihnen finden, so ist es wohlfeil, aus ihnen heraus erneut
die Verwerflichkeit und Nichtigkeit des Dichters der „Judith," der „Marin Mag-
dalena" und der „Nibelungen" zu demonstriren. Dieselben Blätter, welche nach
Verlauf einer längern Zeit eine erfreuliche nud hochinteressante Bestätigung des
inzwischen festgestellten, den Dichter nach Verdienst ehrenden Urteils gewesen
wären, dürsten heute lediglich den literarischen Wortführern des Tages zur ten¬
denziösen Ausbeutung dienen. Die Diskussion, welche glücklich auf die poetische
Produktion des Dichters, somit auf ein Gebiet zurückgeführt war, auf dem es
den erbittertsten Gegnern schwer fiel, ihren Kraftgedanken nnnmwnndenen Aus¬
druck zu geben, kaun uun wieder an Hebbels Leben, seine Prinzipien, seine indi¬
viduellen Urteile und gelegentlichen Vorurteile angeknüpft und dem schaudernden
Publikum ein widerwärtiger Popanz an der Stelle des lebendigen Dichters
vorgeführt werden. Die Bemühungen, die Talentlostgkeit Hebbels zu erweisen,
sind seither von schlechtem Erfolg gekrönt gewesen, sie werden für die Zukunft
schwerlich einen bessern haben. Da jedoch die Verfechter dieser Behauptung — mit
wenigen Ausnahmen — über das nächste Jahr und das nächste Lustrum nicht
hinwegzudenken Pflegen, so hätte mau es nach unsrer Meinung dreimal bedenken
sollen, ehe man die Stimmen dieses Chorus wieder entfesselte. Wir glaube»
gern, daß nichts als die reinste Pietät die Herausgabe der „Tagebücher"
veranlaßt hat; aber wenn diese Pietät nicht von souveräner Verachtung des
nächsten Erfolges erfüllt gewesen ist, wird sie schwere und bittere Euttüuschuugeu
erleben.
Die Literatur des letzten Jahrzehnts hat unter andern wunderbaren Er¬
scheinungen auch die Idee einer Solidarität aller Schriftsteller „unbekümmert
um die Unterschiede, welche das Talent zwischen uns gesetzt hat" (wörtlich!)
gezeitigt. Das brutale Massenbewußtsein, welches in solchen Vorstellungen
zu tage tritt, hat sich früher weniger offen ausgesprochen, aber vorhanden und
die Herrschaft heischend ist es in den dreißiger und vierziger Jahren auch schon
gewesen. Der Begriff des Schriftstellers „ohne Talent," der sein Recht und seine
Weihe dadurch empfange, daß er angeblichen „Bedürfnissen" des Publikums, der
literarischen und theatralischen Industrie dient, ist nicht von heute und gestern,
und diejenigen, welche in dein Lobe Hebbels und ähnlicher Dichter eine Be-
leidignng für sich selbst erblicken, sind nur die Erben etwas verschämterer
Gesinnungsgenossen einer vergangnen Periode. Eine poetische Natur, für welche
das wahrhafte Talent das ein und alles war, die keinen Ersatz für die ur¬
sprüngliche Begabung im Fleiß, im Studium, in der Geschicklichkeit und der
mehr oder minder starken Nachempfindung wirklich schaffender Naturen erblickte,
dünkte schon den Hamburger Literaten von 1848 unerträglich. Die bis zum
Peinlichen und Grausamen gehende Selbstkritik, welche Friedrich Hebbel, wie
anch diese „Tagebücher" wieder erweisen, an sich ausübte, war der genügsamen
und jederzeit selbstzufriednem Oberflächlichkeit an sich fremd. Da die Selbst¬
kritik unglücklicherweise keine Bürgschaft für das höchste Gelingen ii? sich
schloß — denn auch der mit sich am strengsten ins Gericht gehende kann nur
den Ernst und die Lauterkeit seiner Gesinnung, die Wahrheit und Konsequenz
seines Gestaltens, die innere Notwendigkeit und Sicherheit seiner künstlerischen
Formgebung sich selbst zum Bewußtsein bringen und bleibt im Dunkeln darüber,
ob das, was für ihn individuelle Wahrheit ist, auch andre als Wahrheit berührt
und ergreift —, so ward sie von Andersgearteten lediglich als eine Selbst-
quülerei oder noch schlimmer als ein unverzeihlicher Hochmut betrachtet. Wer
besser sein will als seine Nachbarn, verdient bekanntlich immer gesteinigt zu
werden, und so stand ein Dichter wie Hebbel, der es sehr ernst mit der Kunst
und mit dein Beruf zur Kunst nahm, frühzeitig isolirt. Hebbel war mit seinen
Anschauungen und seinen Forderungen an sich selbst in eine Zeit hineingeboren,
in welcher es schon als Größenwahnsinn galt, überhaupt etwas Höheres zu
wollen, als die Befriedigung entweder der Oppvsitivns- oder der Unterhaltungslust
für andre und des äußerlichsten Ehrgeizes sür sich, eine Zeit, die wohl politisches,
aber kein poetisches Pathos zu ehren verstand und auf dieses NichtVerständnis
noch stolz war. Er war der poetische Zeuge gewaltiger sozialer Kämpfe, von denen
diejenigen, die mitten in ihnen standen, am wenigsten wissen wollten und deren
Widerspiegelung in der Dichtung zumeist peinliche Empfindungen erregte. Das
alles wurde gegen ihn angewendet und die zwei Jahrzehnte, die seit Hebbels
Tode verflossen sind, haben sicher noch nicht hingereicht, um eine größere Un¬
befangenheit für die Beurteilung seiner Erscheinung zu schaffen.
Jeder Blick, den wir vorläufig in Hebbels „Tagebücher" werfen, belehrt
uns, daß es sehr kleine Kreise sind, welche von diesem Buche Notiz nehmen,
und noch kleinere, welche ihm ein teilnehmendes Verständnis entgegenbringen
werden. Die Stellung des Dichters, welcher, auf Leben und Tod an die
Wahrheit seiner schwerflüssigen und wenig glücklichen Natur gebunden, die
möglichste Steigerung und Läuterung dieser Natur suchte, in der jungdeutschen
und der politisch tendenziösen Periode unsrer Literatur war schlecht genug, sie
würde (die äußerliche Wirkung eines langen Dichterlebens, persönlicher Be¬
ziehungen und Auszeichnungen beiseite gesetzt) heute kaum günstiger sein.
Wohl scheint die gegenwärtig vorherrschende Auffassung der ersten und letzten
Aufgaben der Poesie, die Forderung einer unbedingten Lebenswahrheit, den
Grundanschauungen, welche Hebbel in ein so entschiednes Mißverhältnis zu der
Mehrzahl seiner schreibenden (nicht seiner dichtenden) Zeitgenossen gebracht haben,
weit näher zu liegen. Allein man vergegenwärtige sich nur einmal, was der
größte Teil der jüngsten Belletristen und Feuilletonisten, Bühnenschriftsteller
und Erzähler unter Lebenswahrheit eigentlich versteht, man rufe sich ins Ge¬
dächtnis, wie scheu sie allem edleren Leben (und wenn es in der Wirklichkeit
zehntausend- und hunderttauseudmal existirt) ausweichen, wie sehr sie „alles
schreckt, was eine Tiefe hat," wie flach und platt man gerade im Augenblicke
nach Rezepten der Mode arbeitet nud „Gewerbeknnst" auch in der Poesie treibt,
um einzusehen, daß der wirklich schöpferische Dichter, soweit ihm nicht die Gunst
eines glücklichen Naturells Eingang verschafft, heute keineswegs besser gestellt
ist als in den vierziger Jahren.
Von Hebbel gelte« zwar jene Worte, die Wilbrandt in seiner Biographie
Heinrichs von Kleist gesprochen, nur zum Teil, aber doch gerade genug, um es
begreiflich zu macheu, daß er kein Liebling des großen Publikums sein konnte.
„Eine finstere Klarheit des Auges zerstörte ihm den geheimnisvollen Farben¬
glanz der Welt, er sah die Blüten des Lebens nur als Erscheinungen vorüber¬
wandeln, die sittliche Welt verriet ihm kein innewohnendes unzerstörbares Gesetz.
Eine innerliche Hitze und Heftigkeit warf ihm seine Kräfte durcheinander, und
so spotteten sie seines Strebens, sie zu reiner und mächtiger Harmonie zu
zwingen. Mit unbezwinglich haftender Leidenschaft hielt er alles, was er er¬
griffen, fest; wie er stets sein ganzes Leben daran setzt, so sollen ihm auch die
Dinge, nach denen er ringt, sich ganz und ans einmal ergeben. So schlürft
er jedes Gefühl, jede Leidenschaft, jede Seligkeit und jeden Schmerz unersättlich
bis auf den letzten Tropfen aus; sonst wären sie nicht sein eigen, wären sie
wertlos. Und wie leicht erkennt man, daß auch der Künstler Kleist in diese
verhängnisvolle Flut getaucht ist. Auch er muß jedes Problem erschöpfen, es
auch auf die zerbrechlichste Spitze stellen; bis ins Kleinste hinab, bis in Bilder
und Gleichnisse, flüchtige Züge, Spiele des Augenblicks verfolgt ihn derselbe
Trieb, und von dem Trank der Schönheit, den er uns reicht, soll nus auch
die Hefe nicht erspart sein." (Wilbrandt, Heinrich von Kleist, S. 416.) Völlig
kann, wie gesagt, diese Charakteristik eines ähnlich gearteten Talentes nicht auf
Hebbel angewandt werden; so entschieden der moderne Dichter hinter gewissen
Kräften und Eigenschaften Kleists zurückblieb, so sicher übertraf er ihn in andern,
für das Ungestüm seiner Seele und seines Lebensbedürfnisses fand Hebbel ein Maß,
und das Glück kam ihm, wenn auch sehr spät, doch immerhin noch rechtzeitig
zu Hilfe. Aber soweit die Charakteristik Anwendung auf ihn leidet, soweit
erklärt sie das Widerstreben der naiv Genießenden und Befriedigung ihrer
begrenzten persönlichen Genußbedürfnisse von jedem Dichter Fordernden gegen
seine Schöpfungen. Mit der kritischen Feindseligkeit gegen den Dichter ist dies
Widerstreben keineswegs identisch, aber die Feindseligkeit hat sich wesentlich auf
das Vorhandensein desselben gestützt. In dem Maße, als das Widerstreben
der Ehrlichen verschwindet, wird auch die Verurteilung dnrch die Mißwollenden
sinnloser, gehässiger erscheinen und endlich unmöglich werden. Darum hätten
wir von Herzen gewünscht, daß die besten Dramen Hebbels und die allmählich
ans der Menge seiner Dichtungen herausleuchtenden, ganz vollendeten lyrischen
Gedichte ihr stilles Werk noch ein paar Jahrzehnte weiter verrichtet hätten,
ehe der bittere Streit um die Grenze, innerhalb deren, und die Form, in welcher
sich das Selbstbewußtsein des großen Talentes cinßern darf, aufs neue zur
Hauptsache gemacht werden konnte.
Doch Friedrich Hebbels „Tagebücher" sind nun einmal erschienen, und der
Herausgeber hegt die Hoffnung, dem Andenken des Dichters schon jetzt durch
die Veröffentlichung genützt zu haben. „Hebbels Leben und Literatur ssoll wohl
heißen Schöpfungen oder Wevle!^ bilden im deutschen Literaturlebcu selbst ein
Drama; wir haben bis jetzt nur der Verwirklichung beigewohnt, die Lösung
kommt noch. Auch bis zur Klärung des verwandten Schattens Heinrichs von
Kleist ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen" heißt es am Schlüsse
von Bambcrgs Einleitung. Und gleichsam um den Leser für die Eindrücke des
folgenden Bandes vorzubereiten, setzt der Herausgeber hinzu, daß Hebbels Todes¬
krankheit im funfzigsten Lebensjahre (eine Knochenerweichung) „infolge mangel¬
hafter Nahrung in der Jngend, vielleicht infolge übergroßen Andranges geistiger
Stoffe, vielleicht durch beides zugleich" herbeigeführt worden sei. „Wenn die
Wirkung der Not auf das Gehirn nicht bloß in moralischer, sondern auch in
physiologischer Beziehung zu der außerordentlichen Steigerung der Geistesthätig¬
keit Hebbels beigetragen hat Mlle?j, so könnte man sich leichter mit seinem Loose
versöhnen. Die nicht tief genng in die Verkettung menschlichen Geschickes ein¬
gedrungen find, behaupten, Hebbel würde ein andrer geworden sein, wenn er
in günstigeren Verhältnissen gelebt hätte. Versöhnlicher nehme ich an, daß er
sich dann wahrscheinlich minder tief und umfassend entwickelt haben würde; ja
vielleicht ist das Bild von der Perle, mit welchem diese Abhandlung beginnt
sBamberg hat zu Anfang der Vorstellung gedacht, nach welcher Perlen, wenn
sie nicht getragen werden, absterben! nicht ganz zutreffend, da Hebbel von seiner
Zeit getragen, von seinen schöpferischen Dämonen vielleicht verlassen worden
wäre. Wer auf Erden keine Tragödie spielt, wird im Leben leine schreiben."
Die vielen „wenn" und „vielleicht" nehmen den Anschauungen, die der
Verfasser hier entwickelt, keineswegs ihr Bedenkliches, denn die alte Annahme
„Das Mal der Dichtung ist ein Kainsstempel" schaut überall aus ihnen heraus.
Wir empfangen im Gegensatz dazu sowohl ans Hebbels eignem spätern Leben
als aus den zur Zeit vorliegenden „Tagebüchern," welche der Leidens- und
Kampfesperiode des jugendlichen Dichters bis 1842) angehören, die be¬
stimmte Zuversicht, daß die Not keineswegs die vorzüglichste Amme der großen
und entwicklungsfähigen Kräfte des Dichters Hebbel gewesen ist, daß sie sogar
im einzelnen auf ihn einen verhängnisvollen Einfluß gehabt und, da ihm
„ein bischen leichtes Blut" von der Natur gänzlich versagt war, noch in
eine Periode seines Lebens und Schaffens nachgewirkt hat, in der er der Sorge
um das tägliche Brot enthoben war, daß er aber allerdings eine seltene
Widerstandsfähigkeit im Kampfe mit der langjährigen Unsicherheit seiner Lage
bewährt hat. Daß die Not Einsichten erschließt und Empfindungen erweckt,
welche dem Glnckvcrwöhnten ewig fremd bleiben, daß sie den Ernst erhöht
und den Eifer spornt, ist zum Gemeinplatz geworden, allein zwischen der Not,
die hier gemeint ist, und der bittersten Dürftigkeit, mit der sich Hebbel herum¬
schlug, liegt immer noch eine gewaltige Kluft. Die „Tagebücher" enthalten eine
Reihe unerquicklicher Einzelheiten zur Geschichte dieser dürftigen Lebenslage, bei
der immer mir das eine unbegreiflich bleibt, daß es dem Dichter niemals in
den Sinn kam, ein Stuck seiner vermeinten Freiheit zu opfern, um von solchen
drückenden Fesseln frei zu werden. In der ganzen Jugendgeschichte Hebbels ist
nichts so dunkel und widerspruchsvoll, als die schier fatalistische Resigna¬
tion, mit der er harte Entbehrungen und widerwärtige Demütigungen auf
sich nimmt, nur um im Vollbesitz des Einzigen zu bleiben, woran er Überfluß
hat — der Zeit. Und ebenso bleibt es dem nachdenkende» eil? Rätsel, daß der¬
selbe Mensch, der so entschlossen den Konflikt mit der bürgerlichen Sitte seiner
Heimat und den ganzen Fluch einer wilden Ehe auf sich nimmt, sich ander¬
seits scheut, für Erhaltung seines Leibes und seiner Kraft auch nur einen Pfennig
mehr aufzuwenden, als die dringendste Notwendigkeit erheischt. Er lebt von
Brot und Kaffee und Früchten, damit eine kleine Summe eine möglichst lange
Zeit hinreiche, und spricht sich die Fähigkeit des Erwerbcns und Verdienens
ohne weiteres ab.
Das Beste ist jedenfalls, daß diese Dinge in den „Tagebüchern" doch nnr
eine untergeordnete Rolle spielen, und der größere Teil der Hebbelschen Auf¬
zeichnungen gilt wichtigern Dingen als den Bedrängnissen einer Literatenexistenz,
hinter der kein federfertiger und rasch entschlossener Literat, sondern ein Dichter
stand, der das Höchste wollte und von sich forderte. Felix Bamberg hat voll¬
kommen Recht, wenn er von den „Tagebüchern" rühmt: „Die gesamte, sowohl
dein reinen Denken wie dem Schauen angehörende Geisteswelt Hebbels kommt
in den Tagebüchern mit bewunderungswürdiger Ursprünglichkeit und Festigkeit
zur Schall. Oft ist durch ganz eng geschriebene Seiten kein Buchstabe aus¬
gestrichen; auch beim Lesen des gedruckten Textes hat man die lebhafte Em¬
pfindung, es mit wirklichen Lebensmanifestationen zu thun zu haben, wie sie
sich ans den jedesmaligen geistigen Zuständen des Dichters entwickelten— Als
eine hohe Bereicherung für die Wissenschaft der Kunst sind Hebbels Gedanken
über die Poesie und das poetische Vermögen zu betrachten. Sie sind, wie eben
die Tagebücher beweisen, keine neuen Formeln nach ältern Systemen der Kunst-
Philosophie, sondern stilvoll dargestellte Ergebnisse innerer Erfahrungen und
tiefsten eignen Forschens. . , . Von einer Individualität wie der seinigen aus¬
gehend, haben seine innern Beobachtungen über das Wesen der Poesie und das
Auftreten der poetischen Kraft unleugbar allgemein wissenschaftlichen Wert; auf
ihn selbst bezogen wirkten sie aber geradezu tragisch, indem er einerseits, wenn
sich bei ihm nicht die natürlichen Prozesse einstellten, außer stände war zu dichten,
mithin für den Markt von vornherein zu kurz kam; anderseits der Maßstab,
den er gemäß dieser seiner eignen Beschaffenheit teils mündlich, teils schriftlich
an Dritte legte, seine Lebensverhältnisse verbitterte und seine eigne Anerkennung
verspätete,"
Die Erfahrung, welche sich aus der Lebensgeschichte Hebbels ergiebt, bleibt
immer die, daß, ein paar seltene Nusunhmefälle abgerechnet, der wirkliche Dichter,
der einer innern Notwendigkeit folgt, eine andre Basis seiner unentbehrlichen
Unabhängigkeit bedarf/ als die eigne Produktion. Die Verhältnisse sind
seit 1840 vielfach andre geworden, und dennoch, sobald wir uus die Frage vor¬
legen: Konnte sich unter heutigen Umständen das Geschick erneuern, welches diese
Blätter vor uus aufrollen, die Autwort müßte ohne Zögern bejaht werden.
Was Hütte sich denn zum Guten geändert? Der unverwöhnte Hebbel zeichnet
unter dein 25. März 1841 in sein Tagebuch ein: „Judith hat mir nun im
ganzen 43 Louisdor eingebracht, eine schöne Summe sür ein erstes Werk." Er
rechnet dabei die Bühnenhonvrare von Berlin und Hamburg und die zehn
Lonisdors, welche ihm der Verleger Julius Campe für die geniale Tragödie
zahlte, zusammen. Welcher Verleger würde heute den Mut haben, für ein noch
so vielversprechendes dramatisches Werk, das keinen „sensationellen" Erfolg gehabt,
mich nur deu bescheidenen Ehrensold zu zahlen, den 1841 die Hoffmann und
Campesche Buchhandlung in Hamburg bieten konnte. Aber wir haben seitdem
die Tantieme erhalten! Nun, wer glaubt im Ernst, daß sie einem Werke von
der Bedeutsamkeit und Gestaltungskraft, aber auch von der düstern Eigenart,
dem übersteigerten Ausdruck der „Judith" zugute kommen könnte? Wir wissen
nur zu wohl, welches Metalls und Gepräges die Mehrzahl der „theatralisch wirk¬
samen" Werke find, deren Tantiemen auf den Börsen der literarischen Industrie
nach Tausenden und Zehntausenden notirt werden, und welcher Zufälle es be¬
darf, um einer gehaltvollen Dichtung auch nur deu zehnten Teil der Autoren-
antcilc einer armseligen Feerie oder eines schwankes zu verschaffen, bei welchem
man so sehr über die Tölpelei der auf die Bretter gebrachten Figuren lachen
muß, daß man ganz vergißt, über die des Verfassers zu lachen. Die Aussicht,
welche heute für eine „Judith" und ihren Dichter vorhanden wäre, stellt sich
um nichts günstiger als vor einem Menschenalter. Aber die „Schillerstiftuug"!
werden Wohlmeinende ausrufen. Wir sind weit entfernt, die höchst wohlthä¬
tigen und segensreichen Wirkungen, welche die Schillerstiftung in einzelnen
Fällen gehabt hat, zu verkennen oder an dein redlichen Ernste ihres Verwal-
tuugsrates zu zweifeln. Es ist keine leichte Aufgabe, gegenüber Hunderten von
Ansprüchen und angesichts oft drückender Not die Berechtigungsfrage, die mit
der Talcntfrage zusammenfällt, unbefangen zu prüfen. Es ist ein andres, im
kritischen Areopag zu sitzen, in dem entschieden wird, ob ein Gedicht, ein Buch
den Anforderungen der Kunst entspreche, und ein andres, in einem Gerichtshöfe
zu stimmen, wo sich das abfällige Urteil dahin zuspitzt, daß Talent und Lei¬
stungen eines Mannes so unzulänglich sind, um dem Hungernden ein Stück
Brot zu versagen. Gar mancher, welcher den Rechenschaftsbericht der Stiftung
bei der Feier ihres fünfllndzwanzigjührigen Bestehens gelesen, mag zu einem
oder dem andern Dutzend der darin aufgeführten Namen der Unterstützten den
Kopf geschüttelt haben. Hätte er aber im Verwaltnngsrate gesessen und die
Dinge einzeln an sich herankommen sehen, so würde sich sein Kopfschütteln viel¬
leicht elfmal in ein Kopfnicken verwandelt haben. Aber fiir den Fall, den wir
hier besprechen, ist die Schillcrstiftung sogut wie nutzlos. Hand aufs Herz —
wenn sich die Herren fragen, ob sie ein Talent gleich dem des jungen Hebbel
fiir unterstützungswürdig, das heißt für ein wahrhaftes Talent halten sollen, so
werden sie nein und abermals nein sagen. Der Glanz, der von einer großen
und im ganzen doch siegreichen Entwicklung auf die Anfänge eines Talents
zurückstrahlt, kommt dem Anfänger nicht zugute. Je stärker, eigentümlicher und
selbständiger das Talent ist, je weniger es Abhängigkeit von den gerade herrschenden
Moderichtungeu verrät, umso leichter erscheint es als problematische Natur.
Nein, die Lebenslage, in der sich Hebbel, teils einem vermeintlichen Zwange
seines Innern folgend, teils und vor allem mit den Nachwirkungen seiner be¬
drückten Jugend kämpfend, im Jahre 1840 befand, sie kann unter gleichen Um¬
ständen jeden Tag bei einer andern Natur wiederkehren, sie würde lediglich ver¬
schärft sein durch den Umschwung der Verhältnisse, der inzwischen für die
industriellen Vertreter der Literatur und auch, wie gern zugestanden sei, für
einige anmutige, leicht eingängliche und durch die Eigenart ihrer echten Be¬
gabung mit den besten Neigungen des Publikums in Einklang befindliche Ta¬
lente eingetreten ist.
Wer wie Hebbel eine Hauptaufgabe der Poesie darin erblickt, „durch den
Todesgedanken den goldenen Faden des Lebens zu ziehen," wird heute um nichts
besser gestellt sein als der Dichter der „Judith" und „Genoveva," der uns in
diesem ersten Bande der „Tagebücher" ausschließlich begegnet. Für ihn lag die
leidige Reflexion: „Es läßt sich im Leben doch nichts, garnichts nachholen, keine
Arbeit, keine Freude, ja sogar das Leid kann zu spät kommen," nahe genug,
während das spätere Leben ihm die Überzeugung brachte, daß sich allerdings
manches nachholen lasse, nur daß das Nachgeholte dem Ursprünglichen nicht
gleichkomme. Und doch welche rührende Dankbarkeit mitten im beschränktesten
Dasein, wenn ihn nur die Gewißheit, daß sein Schaffen echt und wahr sei,
beglückt. Am 23. September 1840 schreibt der Dichter in sein Tagebuch:
„Heute morgen den ersten Akt der Genovcva beendet. Bin ganz zufrieden und
glücklich. In der Welt ist ein Gott begraben, der auferstehen will und allent¬
halben durchzubrechen sucht in der Liebe, in jeder edeln That." Und am
28. September: „Es ist ein schöner, herrlicher Herbstmorgen, golden liegt der
Sonnenschein auf dem Papier, draußen kühler Wind, der daran mahnt, daß
man die Früchte abnehmen soll, innen behagliche Wärme, Gott ist unverdienter¬
maßen unendlich gnädig gegen mich, und wohl will es sich ziemen, daß ich dies
in meinem Tagebuche, worin soviele Klagen und Ausbrüche der Verzweiflung
stehen, einmal mit freudiger Seele ausspreche. Der einzige Wunsch meiner
Jugend, derjenige, in dem ich nur lebte, war, daß ich ein Dichter werden möchte.
Ich bin einer geworden, und jetzt erst erkenne ich, was das heißt." So gewaltig
sich auch das Selbstgefühl Hebbels gegen deu Hochmut der Ohnmacht, gegen
unbillige Herabsetzung und erbärmlichen Klatsch aufbäumt und so leidenschaftlich
sein Jähzorn selbst gegen die liebsten und nächststehenden Menschen aufwallte,
so fehlte es ihm nicht an jener Gerechtigkeit und Selbsterkenntnis, die dem
modernen Streber und Jchvergöttrer als reine Lächerlichkeit gilt. Wie schmerzlich
ernst klingt es, wenn der Dichter am März 1342 sich selbst das Geständnis
ablegt: „Wäre ich Gott und jeder Menschenpflicht so treu, wie ich der Kunst
bin, dann könnte ich jedem Richter stehen," und am 19. März, am Tage nach
seinem Geburtstage, erläuternd hinzufügt: „Ich habe das Talent auf Kosten des
Menschen genährt und was in meinen Dramen als aufflammende Leidenschaft
Leben und Gestalt erzeugt, das ist in meinen: wirklichen Leben ein böses, uu-
hcilgebürcndes Feuer, das mich selbst und meine Liebsten und Teuersten ver¬
zehrt." Aus Kopenhagen vom 20. Januar 1843 schreibt er: „Ich habe mich
einer scharfen Selbstprüfung unterworfen und bin zu Resultaten gekommen, die
für mich keineswegs erfreulich sind; ich muß der Welt ein viel größeres und
mir selbst ein viel geringeres Recht einräumen als je zuvor, und das in einem
Augenblicke, wo ich ihr lieber fluchen als mich ihr beugen möchte; es ist
ebenso, als wenn einer in dem Moment, wo er ermordet zu werden glaubt,
sich überzeugt, daß ein gerechter Richterspruch an ihm vollzogen wird. Schwere
Arbeiten, große Anstrengungen und Aufopferungen stehen mir bevor, aber wenn
es mir nur gelingt, mir wieder ewige Fußbreit Existenz zu erkämpfen, so hoffe
ich auch diesmal dem Maße meines Erkennens zu genügen, vorausgesetzt freilich,
daß die physische Kraft der geistigen treu bleibe." Dieser wuchtige Ernst und
diese Selbstkritik verbürgten, wenn nicht eine erfreuliche, so doch eine große und
kräftige, eine Entwicklung, welche auch für andre erhebend wirken kann. Man
vergleiche diese und zahlreiche ähnliche Stellen der „Tagebücher" und sage sich
selbst, wer den großen Tagen unsrer Literatur und dem Geiste, der diese er¬
füllte, näher stand, ob der Dichter oder jene unversöhnlichen Widersacher, die
auch diesmal aus seinen geheimsten Aufzeichnungen nichts herauslesen werden,
als daß er ein wüster Gesell mit der Prätension auf Unsterblichkeit und dem
lächerlichen Anspruch, sein Können der strengsten Prüfung zu unterwerfen,
gewesen sei.
Freilich auch diese strengste Prüfung konnte zunächst einer Seele keine
völlige Befreiung bringen, die so schwer an den Rätseln des Daseins trug wie
Hebbel. Wenn wir unterm 7. Oktober 1842 in seinen „Tagebüchern" lesen:
„Was einer werden kaun, das ist er schon, zum wenigsten vor Gott! Diese
fürchterliche Wahrheit ist dnrch das Ausstreichen aus der Geuvveva keineswegs
abgethan. Derjenige, der einen Mord verübte, und derjenige, der ihn des
Mordes wegen zum Tode verdammt, worin sind sie unterschieden, wenn Gott,
der mit der wirtlichen zugleich alle möglichen Welten überschaut, erkennt, daß
jener bei eiuer andern Verkettung der Umstände der Richter nud dieser der
Mörder hätte sein können. Wenn man die Gemalt der Äußerlichkeiten wohl
erwägt, so möchte man an aller Wesenheit der menschlichen Natur und jeder
Natur verzweifeln." Mit dem landläufigen Pessimismus, der meist nur der
Widerschein eiues aristippisch-epikureischen Eudämonismus ist, hat diese düstre
Erkenntnis und verzweifelnde Stimmung nichts zu schaffen; daß sie bis zu einem
gewissen Punkte überwunden werden mußte, nur den Dichter auf die Höhe zu
führen, auf der wir ihn später erblicken, ist klar genug. Fast alle Seiten der
„Tagebücher" enthalten eiuen tiefen und schönen Gedanken, der rastlos arbeitende
Geist Hebbels bewegt sich nach den verschiedensten Seite» hin, weniger um sich
der ganzen Breite des Lebens zu bemächtigen, als um in jede Tiefe desselben
hinabzusteigen. Es fehlt unserm Dichter weder an Verständnis noch an der
gebührenden Anerkennung für völlig anders geartete Talente als das seine,
gleichwohl ist ihm echte Poesie ohne eine gewisse psychologische Tiefe, ohne
starke, überwallende Leidenschaften und ein letztes individuelles Element, das er
bei Uhland findet, bei Scott vermißt, doch undenkbar. Über Walter Scott
lesen wir unterm 4. März 1839: „Ich habe in der letzten Zeit mehrere
Romane von Scott gelesen. Scott unstreitig ein außerordentliches Talent und
dennoch kein Dichter. Warum nicht? Ich weiß mir hierauf nicht befriedigend
zu antworten, obgleich mein Gefühl entschieden ist. Zum Teil zeigt er seine
undichterische Natur dadurch, daß er immer nur das Äußere des Lebensprozesses,
das Handgreifliche und in die Augen fallende desselben darstellt; überhaupt nur
das Enwickelte, niemals das Werdende. Es ist freilich das höchste, Secleu-
creiguisse und Geistesrevolutioueu ohne Zergliederung und Beschwütznng un¬
mittelbar durch das Thun und Leiden des Menschen zu zeichnen, wie es Goethe
in seiner Ottilie, Kleist in seinen Novellen gethan hat; doch bei Scott geht
innerlich garnichts ^ vor, seine Personen siud und bleibe», was sie sind, sie
gewinnen oder verlieren wohl an Glück und Unglück, aber das Schicksal greift
nie den Keim ihres eignen Wesens an. Daher kommt auch die Monotonie,
welche die fortgesetzte Lektüre dieser Romane, trotz des frischen Wechsels von
Situationen und Charakteren, auf die Läuge unangenehm macht. Die Verhält-
nisse werden verrückt und wieder eingerichtet, etwas weiteres geschieht nirgends.
Merkwürdig und bezeichnend ist vor allem die Art, wie sich Scott der stoff¬
artigen poetischen Elemente der Sagen, Träume, Ahnungen ze. bedient; er weiß
sie mit kräftiger Hand zu packen und aufs geschickteste in den Gang des Ganzen
zu verweben, aber er besprengt sie immer vorher wohlbedächtig mit dem kalten
Wasser des Verstandes und erschwert sich dadurch die Wirkung, die er zuletzt
doch hervorzubringen weiß. Jedenfalls ist er in der bloßen Unterhaltungs-
literatur eine ganz einzige Erscheinung, und zwar vornehmlich wegen der großen
Kunst, der Feinheit in der Motivirung, die er aufwendet, um die gewöhnlichsten
Zwecke zu erreichen." Wenn Hebbel, überall zugleich die höchsten und be¬
stimmte subjektive Maßstäbe anlegend, hier dem Dichter der „Jungfrau vom
See" des „Waverley" und der „Chronik von Ccmongate" den Dichternamen
abspricht, so ist dies freilich eine der Einseitigkeiten, die vom selbständigen
schöpferischen Talent untrennbar scheinen, aber er räumt doch anderseits die
eminenten Vorzüge des großen Erzählers unumwunden ein. Was er zu einer
Belletristik sagen würde, die nicht einen dieser Vorzüge besitzt, und indem sie
für ihre gewöhnlichsten Zwecke weder Kunst noch Feinheit der Motivirung,
noch irgendwelche Motivirung überhaupt aufwendet, sich doch höchste Bedeutuug
zuspricht, das läßt sich leicht erraten, und die folgenden Bünde der „Tage¬
bücher" können garnicht verfehlen, einige höchst schätzbare Beiträge zur Kritik
dessen zu bringen, was heutzutage für Poesie ausgegeben und auch für Poesie
genossen wird.
Wir würden kein Ende finden, wollten wir anfangen, auf alle zum Teil
grundverschiednen Einzelheiten des reichen Inhaltes hinzuweisen. Die kleine
Zahl Empfänglicher, die wir in diesem Falle voraussetzen dürfen, werden
sich die Lektüre des vorliegenden Buches ja schwerlich entgehen lassen. Die
Schärfe der Voraussicht und Vorempfindung des Dichters in allen Zeitfragen,
welche wirklich allgemeine Probleme umfassen, wird ihre Teilnahme nicht minder
in Anspruch nehmen als die künstlerische Seite seines Naturells und Seelenlebens.
In einer Zeit, in welcher der Liberalismus nach französischem Muster fast aus¬
schließlich die politische Formfrage betonte, spürte der Dichter, daß sich die
soziale Frage zu dem finstern Gewölk zusammenballte, durch welches wir jetzt
hindurchschreiten müssen. „Der Pauperismus ist doch eine ganz furchtbare
Frage. Auf der einen Seite hat jeder, den die Erde trägt, ein Recht darauf,
daß sie ihn auch ernähre; auf der andern würde eine allgemeine Gütergemein¬
schaft unendlich viele Motive aufheben, die der insolenten Menschennatur not¬
wendig sind, wenn sie nicht erschlaffen soll" (31. Juli 1843). Auch in bezug
auf andre Momente sah er das Kommende gut genug voraus. „Die Eman¬
zipation der Juden unter den Bedingungen, welche die Juden vorschreiben,
würde im weiteren geschichtlichen Verlaufe zu einer Krisis führen, welche die
Emanzipation der Christen notwendig machte" (20. Mai 1843).
Doch Wir müssen innehalten, um nicht das Buch in ungehöriger Weise zu
plündern. Daß es wichtige Beiträge zur Beleuchtung ganzer Reihen von lite¬
rarischen und künstlerischen Zweifeln und Streitpunkten des Augenblicks enthält,
wird sich jeder selbst sagen. Nur auf eine Einzelheit sei hier noch hingewiesen.
Bekanntlich gefällt sich die neueste philologische Kritik darin, dem Leben und
der Inspiration beinahe jede Mitwirkung an der Entstehung großer Dichtungen
abzusprechen. Gedichte werden auf Gedichte, Bücher auf Bücher zurückgeführt,
selbst Goethe muß von Wieland entlehnt oder, wie es wohlklingender lautet,
an Wieland angeknüpft haben. In Hebbels „Tagebüchern" finden sich ein paar
interessante Stellen, die den Widersinn dieses Nachspürens nach den „Quellen"
entscheidend herausstellen. Am 14. April 1340 zeichnet Hebbel auf: „König
David, ein trefflicher Drcimenftoff. Mrster Akt Sauls Überwindung und Tod.
Urias Weib. Absalon. In Erwägung zu ziehen bei mehr Muße." Indem sich
dem Auge des Dichters bei der Lesung der Bibel der innere und änßere Zu¬
sammenhang des Verhältnisses Davids und Bathsebas und der Empörung Ab-
salons auf den ersten Blick darstellte, schoß ihm der Stoff in derselben Form
zusammen, in der er sich über zwei Jahrhunderte zuvor dem englischen Dichter
Georg Peele, dem Zeitgenossen Shakespeares, gezeigt hatte. Wäre Hebbels Tra¬
gödie ausgeführt worden, so würde sie starke Ähnlichkeiten mit Peelcs „David und
Bathseba" erhalten haben und als ein Produkt des altenglischen Dramas vor
der heutigen Kritik gelten. Nun ist aber nichts gewisser, als daß Hebbel im
Jahre 1840 kein Englisch verstand, daß die Shakespearewissenschaft damals den
Namen Peeles kaum genannt hatte, die Annahme einer Nachahmung daher
so absurd als — unvermeidlich wäre. Ähnliche Reflexionen ergeben sich bei¬
nahe Seite für Seite.
Alle Genugthuung, die wir über so vieles in dem ersten Bande der
Hebbelschen „Tagebücher" empfinden, erschüttert die Überzeugung nicht, daß sie im
Interesse des Dichters lieber später als heute hätten veröffentlicht werden sollen.
Da sie jedoch da sind, wollen wir dem Herausgeber für seine Pietät und Sorg¬
falt den verdienten Dank nicht schuldig bleiben und darüber hinaus von Herzen
wünschen, daß der deutschen Literatur die unerwartete Neujahrsgabe so zugute
kommen möge, wie es wohl möglich wäre, wenn alles mit rechten Dingen zu¬
ginge, was voraussichtlich leider nicht geschehen wird.
as Jahrhundert neigt sich seinem Ende zu, und noch immer
wollen sich nicht die Keime eines entwicklungsfähigen Knnststiles
zeigen, auf welchen man von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mit wach¬
sender Sehnsucht hofft. Noch nie zuvor hat der Eklektizismus
in gleicher Blüte gestanden, noch nie zuvor hat mau ihn mit
gleicher Sorgfalt, mit gleicher Gelehrsamkeit und — wir dürfen auch sagen:
mit gleichem Geschmack gehandhabt wie in der Gegenwart. Wenn der Eklek¬
tizismus ein Stil wäre, brauchten wir uns sogar keine Sorge mehr zu machen,
und das neunzehnte Jahrhundert könnte auf seinen Lorbern ausruhen. Und
doch kann unser Jahrhundert nicht über Mangel an schöpferischen Geistern Klage
führen. Wir haben einen Cornelius, welcher sich an Tiefe und Kühnheit der
Gedanken mit den größten Geistern der Weltgeschichte messen kann, wir haben
einen Schinkel, einen Rauch und einen Rietschel gehabt, ohne der großen
Künstler des Auslandes zu gedenken, welche sich auch in Deutschland das Bürger¬
recht erworben haben, eines Canova und Thorwaldsen, eines Delacroix und
Delaroche. Wir haben in Feuerbach und Makart Künstler besessen, welche nach
gewissen Richtungen hin den Geist unsers Jahrhunderts völlig erschöpfte,? oder
doch richtig begriffen, und wir besitzen noch jetzt in Menzel, Kraus, Meissonnier
und Defregger — um nur einige recht markante Persönlichkeiten zu nennen —
Künstler von so scharf ausgeprägter Physiognomie, daß gegen sie wenigstens
der Vorwurf des Eklektizismus nicht zu erheben ist.
Wir müssen übrigens die Malerei von den Betrachtungen, welche zur Be¬
antwortung unsrer Frage führen können, von vornherein ausschließen, weil der
malerische Stil viel enger mit der Persönlichkeit verwachsen ist als der pla¬
stische und vollends der architektonische. In der mittelalterlichen Kunst konnte
man freilich noch von einem byzantinischen und gothischen Stil der Malerei
sprechen. Damals schritten auch die Maler noch in gewissermaßen soldatischen
Kolonnen einher, aus deren Reihen niemand hervortrat, um das Licht seiner
Persönlichkeit leuchten zu lassen. Erst die Brüder van Eyck begannen das Be¬
freiungswerk, und die Renaissance vollendete es. Je persönlicher der malerische
Stil wurde, desto reicher und vielseitiger entfaltete sich die Malerei, und sie
stieg in dem Grade von ihrem Gipfel herab, als der malerische Stil oder eine ge¬
wisse Richtung desselben das Gemeingut mehrerer oder ganzer Schulen wurde.
Gerade der Reichtum an künstlerischen Individualitäten und die Auflehnung
derselben gegen jeden Schulzwang und jeden Schulzusammenhang haben der
Malerei in unserm Jahrhundert ihre bevorzugte Stellung vor den Schwester¬
künsten geschaffen. Auch der Plastik, die noch länger als die Malerei der Über¬
lieferung folgte und daher dem Walten der Individualität keinen so freien
Spielraum gewährte, hat es seit den Zeiten der Renaissance nicht an starken,
bahnbrechenden Geistern gefehlt. Aber der Stoff, mit welchem die Bildnerkunst
zu rechnen hat, kommt der Entfaltung des subjektiven Elements bei weitem nicht
so sehr entgegen wie die ungleich mehr gefügige Farbe. In der Plastik wirkte
auch die Formenüberlieferung mehr nach als in der Malerei, und die Renaissance,
welche sonst auf andern Gebieten das Signal zu einer freieren Bewegung gab, hat
für die Plastik die Überlieferung insofern noch mehr befestigt, als der Anschluß an
die Antike, welcher im Laufe des Mittelalters immer lockerer geworden war, von
neuem gewonnen wurde. Seit dem sechzehnten Jahrhundert hat dann die Plastik
ungefähr dieselben Stilwandlungen durchgemacht wie die Architektur, welche,
wen» man so sagen darf, die am wenigsten persönliche von allen Künsten ist.
Insbesondre entbehren die Schöpfungen der gothischen Baukunst so sehr eines
individuellen Charakters, daß man sie höchstens nur nach gewissen lokalen und
landschaftlichen Eigentümlichkeiten gruppiren kann. Einen gewissen Umschwung
führte die Renaissance auch für die Baukunst herbei. Besonders in Italien
lösen sich bestimmte Persönlichkeiten, wie Bramante, Michelangelo, Sammicheli,
Sansovino, Palladio u. a., ans der Menge heraus. Sobald aber erst die
unter dem Einfluß dieser Meister nach der Antike gebildeten Formen den
Vautunstlcrn cillgemeiu geläufig geworden waren, treten die Personen wieder
in das Dunkel zurück. Mau spricht vou einem genuesischen, florentinischen und
römischen Palaststil, von dem Palladiostil, der allmählich von ganz Italien
Besitz nahm; aber der Versuch, bestimmte Namen an bestimmte Bauwerke zu
knüpfen, erhebt sich nirgends über den Wert subjektiver Kritik. Die Entwicklung
der Architektur wie der Plastik vollzieht sich fortan nach großen Stilepochen,
von denen jede die genetischen Merkmale des Wachstums, der Blüte und des
Verfalls enthält.
Innerhalb der deutschen Renaissance ist die Macht der Persönlichkeit so
verschwindend gering, daß wir selbst da, wo die Urheber von Kunstwerken durch
Zeugnisse und Dokumente erwiesen sind, nnr mit Mühe die Kriterien eines
individuellen Stils zusammenbringen können. Die Schöpfungen der deutschen
Frührenaissance haben eine verwandte Physiognomie und die der Hoch- und
Spätrenaissance ebenfalls. Man kann auch innerhalb jeder Stilphase gewisse
Gruppen unterscheiden, welche sich um das Zentrum einer blühenden Stadt
oder einer üppigen Fürstenrcsidenz gebildet haben. Aber scharf ausgeprägte
Künstlerphysivgnomien treten aus dem dichten Gewebe, an welchem zahllose
Hände gearbeitet haben, nicht heraus. Der Hauptgrund dieser Erscheinung liegt
sicherlich darin, daß damals in Deutschland Kunst und Handwerk nicht in dem Grade
getrennt waren wie heute. Der erfindende und der ausführende Künstler waren
meist in einer Person vereinigt. Es gab damals noch keine Baumeister, welche
den Entwurf machten und dann Maurermeister und Steinmetzen in ihren Dienst
nahmen. Da überdies die Organisation der gothischen Bauhütten noch nach¬
wirkte, vollzog sich die Entwicklung der technischen Fähigkeiten innerhalb der
verschiednen Künstler- und Hcmdwerkerkrcise ziemlich gleichmäßig. Auch verhielt
sich Deutschland gegen das Eindringen der durch die Italiener umgebildeten antiken
Formenelemcnte ziemlich konservativ. Es ist bekannt, daß der gothische Stil,
freilich in starker Verwilderung, sich noch bis in die Spätzeit des sechzehnten
Jahrhunderts hinein lebenskräftig erhielt, und daß die Zierformen der italienischen
Art zum Teil noch neben der gothischen Ornamentik angewendet, zum Teil nur
sehr äußerlich auf das konstruktive Gerüst des mittelalterlichen Baustils auf¬
geklebt wurden.
Wenn man die Bedeutung der Renaissance richtig würdigen will, darf man
überhaupt nicht außer Acht lassen, daß dieselbe bei weitem nicht in dem Grade trieb-
uud entwicklungsfähig gewesen ist wie die romanische und die gothische Baukunst.
Die Keimkraft eines Baustils beruht in seinen konstruktiven Elementen, ins¬
besondre in der Art und Weise, wie der Raum, das eigentliche Gebilde der
Baukunst, nach oben zum Abschluß gebracht wird. Wenn wir nach dieser Rich¬
tung hin die Eigentümlichkeiten der drei großen Epochen der Baukunst bis zur
Renaissance in eine knappe Formel bringen wollen, dürfen wir sagen, daß die
griechische Architektur durch die beiden zusammenwirkenden Elemente der Säule
und des Gehalts das Prinzip der horizontalen Deckung aufgestellt, daß die
romanische Baukunst durch die Einführung des Rundbogens das System der
gewölbten Decken begründet und die Gothik mit Hilfe des Spitzbogens und des
Strebepfeilers die Höhentendenz der Decke soweit getrieben hat, als es auf
Grund des Stcinmciterials überhaupt möglich war. Was hat nach dieser Rich¬
tung hin die Renaissance gewirkt und neues gebracht? Streng genommen: nichts.
In Italien, wo der romanische Stil auch im späten Mittelalter das Übergewicht
über den gothischen behalten hatte, griffen die Baukünstler der Renaissance den
Gedanken des Gewölbebaues auf und bildeten ihn zu großartigster Wirkung aus,
wofür die Florentiner Domkuppel und die Kuppel von Se. Peter die glän¬
zendsten Beispiele sind. Im übrigen ist bekanntlich die kirchliche Architektur die
schwächste Seite der Renaissance. Im Profanbau mußte sich das Prinzip der
Deckenwölbung zu eiuer ungleich bescheideneren Rolle bequemen. Man half sich
mit kleinen Kuppelsystemen, mit Stichkappen, Zwickeln, Sterngewölben und mit
allerlei bunten Kombinationen, um alsdann die ganze schöpferische Kraft der
Renaissance auf die Ausbildung der Innenräume und die Dekoration zu kom-
zcntriren. Die italienische Renaissance hat — nach den aus den Ruinen der
alten Kaiserpaläste hergeleiteten Mustern — Treppeuhäuscr, Korridore, bedeckte
und offene Hallen, Prunkgemächer und Säle geschaffen, wie sie das Mittelalter
nicht kannte. Sie hat ein dekoratives System von einer Schönheit, einem Reich¬
tum und einer festlichen Anmut erfunden, wie sie der gothischen und der roma¬
nischen Bauweise fremd waren. Aber neue konstruktive Elemente hat sie nicht
erdacht, und darin war schon der Keim ihres Verfalls begründet. In Deutsch¬
land wurden die dekorativen Eigentümlichkeiten der Renaissance mit den Bau¬
grundsätzen der Gothik mehr oder weniger äußerlich verflochten. Wo, wie es
in mehreren Städten Süddeutschlands der Fall war, namentlich in Landshut
und Augsburg, italienische Kräfte herangezogen wurden, entstanden zum Teil
prächtige Gebilde aus einem Guß. Wo sich aber nationale Künstler der „anti¬
kischen Art" bemächtigten, wuchsen krause, wunderliche und seltsame Schöpfungen
aus dem Boden empor, wenn sie überhaupt organisch erwuchsen und uicht etwa
das neue dekorative System, an welchem man allerorten eine naive Freude
hatte, mit der größten Unbefangenheit auf mittelalterliche, notdürftig reparirte
Bauten aufgepfropft wurde. An den zahllosen Rat- und Bürgerhäusern,
welche man nach der neuen Mode erbaute, wurden bestimmte Elemente des
mittelalterlichen Stils, die Lauben, Erker und Spitzgiebel und im Innern die
horizontalen Balkendecken streng festgehalten und nur mit der cmtikisirenden
Dekoration wie mit einem edeln Gespinnst überzogen. Die Großräumigkeit
italienischer Paläste wurde im Innern der Häuser ganz und gar nicht nach¬
gebildet. Selbst in Rathäusern kommen große Säle nur sehr vereinzelt vor,
und auch diese machen keineswegs einen imposanten Eindruck, weil es ihnen
an der entsprechenden Höhenentwicklung fehlt. Für Deutschland bedeutet die
Renaissance in der Architektur also nicht viel mehr als ein verändertes
Dekorationssystem, und daher machte die deutsche Baukunst auch im sieb¬
zehnten Jahrhundert jene Stilphasen durch, die man jetzt gewöhnlich als Barock-,
Rokoko- und Zopfstil bezeichnet. Dem Auge des vergleichenden, den Zu¬
sammenhang der Dinge klar erfassender Historikers haben sich diese drei Ent¬
wicklungsphasen längst als Abwandlungen des Renaissancestils ergeben. Derselbe
hatte sich in Italien zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts noch keineswegs
ausgelebt, sondern im Barvcco nur eine kräftigere Blüte getrieben, die sich
dort ungestört entfalten konnte, während das übrige Europa, insbesondre
Deutschland, von den Stürmen des dreißigjährigen Krieges erschüttert wurde.
Als sich diese gelegt hatten, zog mit der katholischen Reaktion auch ihre künst¬
lerische Ausdrucksform, der Barockstil, in Deutschland ein, wo er sich so lange
behauptete, bis der französische Einfluß die Oberhand gewann und die schwer¬
fälligen Formen des Barockstils durch den gallischen Esprit gemildert wurden.
War schon in der Architektur der Frührenaissance dem malerischen Element
ein weiter Spielraum gelassen, so trat dasselbe in den folgenden Stilepochen
noch mehr in den Vordergrund. Auch dem Barockstil gebrach es an konstruk¬
tiven Gedanken; aber er suchte die raumbildende Kraft der Renaissance weiter
zu entwickeln, und so kam er wenigstens auf diesem Gebiete zu neuen Schöpf¬
ungen, welche, wenn man von der Dekoration absieht, für spätere Generationen,
deren Raumbcdürfnisse sich noch vergrößert haben, nachahmungswürdigcr sind
als die meisten Innenräume der Renaissance. Auch gelang es dem Barockstil,
in der Gestaltung der Fassaden eine Energie des monumentalen Ausdrucks zu
erringen, welche ebenfalls über die Schöpfungen der Renaissance hinausgeht.
Nach dieser Seite bedeutet der Rokokostil einen Rückschritt. Während sich im
Barocco die monumentale und die malerische Erscheinungsform noch so ziemlich
die Waage hielten, durchbrach im Nokokostil das malerische Element rücksichtslos
den architektonischen Nahmen. Es war nur die natürliche Folge jenes im Wesen
der Renaissance ruhenden Todeskeimes, daß der letzte Ausläufer derselben von
der dekorativen Plastik und Malerei wie von einer verderblichen Schlingpflanze
derartig überwuchert wurde, daß der architektonische Gedanke darunter völlig
zu gründe ging.
Die Schicksale, welche das Kunstgewerbe während der drei Jahrhunderte
durchzumachen hatte, sind dem Entwicklungsgange der Architektur konform, ob¬
wohl das Kunsthandwerk damals von der letztern noch nicht so abhängig war
wie heute. Die Handwerker machten sich ihre Entwürfe selbst, und es kam
auch wohl vor, daß sie dieselben zum Nutzen andrer durch Kupferstich und
Holzschnitt vervielfältigen ließen. Insbesondre sind es Goldschmiede gewesen,
welche derartige Sammlungen in die Öffentlichkeit schickten. Dann gab es
anch Maler, Zeichner und Kupferstecher, welche ornamentale Entwürfe und
allerhand Geräte zum Gebrauch für das Handwerk komponirter und in ganzen
„Kunstbüchlein," einzelnen Serien und fliegenden Blättern in den Handel
brachten. Auch sie griffen den neuen, über die Alpen herübergekommenen
Stil mit Enthusiasmus auf, und in dem Grade, als sich ihre Musterbücher
und Vorlagen verbreiteten, wurde auch der Stil der deutschen Renaissance
allgemein, der sich sür die Schöpfungen des Kunsthandwerkes aus denselben
Elementen zusammensetzt wie für die Schöpfungen der Architektur. Auch im
Kunsthandwerk bleiben die alten Formen bestehen: sie kleiden sich nur in ein
neues Gewand. Auch im Kunsthandwerk finden sich oft an demselben Geräte
Zierformen des gothischen und des Renaissancestils, wie z. B. die Silberarbeiten
des Antonius Eisenhoit aus Warburg beweisen, und es kann nicht geleugnet
werden, daß in dieser Stilmischung ein ganz besondrer Reiz der deutschen Re¬
naissance liegt.
An diesen Stil nun, dessen wesentlichen Charakter wir im obigen skizzirt
haben, klammern sich Architektur und Kunstgewerbe der Gegenwart. Durch die
Wiederbelebung der deutschen Renaissance hofft man unsrer Kunst einen natio¬
nalen Inhalt zu geben, und eine Summe einsichtsvoller und erfinderischer
Kräfte bemüht sich mit heißem Eifer, die vielseitigen Naumbcdürfnisse eines
Zeitalters, in welchem die gewaltigsten Naturkräfte in den Dienst des Menschen
gestellt worden sind, unter den Hut der deutschen Renaissance zu bringen.
Wenn wir die Entwicklung ins Auge fassen, welche Architektur und Kunst-
gewerbe in unserm Jahrhundert, also in einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne,
durchgemacht haben, vermögen wir zunächst zu einem längern Bestände der
Herrschaft des renovirten deutschen Renaissancestils nur ein geringes Vertrauen
zu fassen. Bis in die fünfziger Jahre herein behauptete sich die von Schinkel
im Anschluß an das Hellenentum begründete antikisirende Richtung in ganz Deutsch¬
land. Die von der Seite der Romantiker befürwortete Reaktion zu gunsten
der Gothik vermochte ebensowenig zu erheblichen Resultaten zu gelangen wie der
Versuch, den romanischen Baustil wieder in Flor zu bringen. Es kam aber
auch, schneller als man erwartet hatte, die Zeit, wo die neuen Hellenen eine
Abnahme ihrer Kräfte fühlten und sich neues Blut zuführten, indem sie mehr
und mehr mit der italienischen Renaissance, die ihnen am nächsten lag, lieb¬
äugelten und dieselbe schließlich als gleichberechtigt neben ihrer reinen Formen¬
sprache gelten ließen. Es fehlte dann anch nicht an Abstechern, welche in dos
Gebiet der französischen und deutschen Renaissance gemacht wurden. Der all¬
gemeine Umschwung zu gunsten der letztern schreibt sich aber erst seit dem großen
Kriege gegen Frankreich her. Es war nnr eine natürliche Folge der Ereignisse,
daß mit der Erstarkung des Nationalbewußtseins auch die Kunst unsrer Vnder
wieder zu Ehren kam und daß man an sie anknüpfte, um auch der Kunst der
Gegenwart ein nationales Gepräge zu verleihen.
Kaum anderthalb Jahrzehnte sind seit jener Zeit verflossen. In einem
zweiten Artikel werden wir untersuchen, ob die Leistungen des deutschen Re¬
naissancestils während dieses Zeitraumes uns berechtigen, die von uns aufge¬
worfene Frage zu bejahen.
cum ich heute das Wort nehme, so geschieht es in der Erwägung,
daß das Wort Ferien zwar auch auf Gesetzgeber seine Zauber¬
kraft ausübt, daß jedoch die Sehnsucht nach dem gewohnten Tage¬
werk des Redens und Nedcnlaffens sich sehr bald einzustellen
pflegt. Den ersten Teil davon können Sie, meine Herren, sich
selbst leisten, im Kreise der Familie, am Stammtisch, schlimmstenfalls auf ein-
samen Spaziergüngcn; aber mit der Gegenrede sieht es meistens bedenklich
aus, und ich hoffe daher, daß die wenigen Worte, die ich jetzt an Sie richten
will, Ihnen willkommen sein werden, am willkommensten den Herren von der
Majorität, denen ich diesmal nur Angenehmes zu sagen habe,
Wohl schien eS, als ob das Jahr unter recht niederschlagenden Eindrücken
zu Ende gehen wolle. Da war die maßlose Verschwendung, die Summe von
2700 Mark, sage! neunhundert Thalern, an Beamte des Chiffrirdcpartemcnts
zu vergeben! Mehr giebt schwerlich der Kollege Löwe seinem ersten Buchhalter
als Ncujahrsgratifikation, Wie soll aber das deutsche Reich solche Unsummen
aufbringen? Dann mußte die Veröffentlichung der afrikanischen Korrespondenz
jeden Biedermann schwer betrüben. Die Engländer wußten doch, daß das
deutsche Volk — oder, was dasselbe sagen will: der Abgeordnete Bamberger —
kein Spielverderber werden mochte; sie durften auf die Wiederkehr der schönen
Zeit rechnen, in welcher wir uns nicht erlaubten zu niesen, falls dies Lord
Palmerston unlieb gewesen wäre; sie hätten uns vielleicht großmütig verziehen,
daß gegen ihr ausdrückliches Verbot die Elbherzogtümer befreit worden sind,
und daß niemand sich an des Grafen Derby emphatisches Knock tun äovn!
gekehrt hat. War er doch selbst schon so gütig, die Ungehorsamen nicht dvwn-
zukuockcu. Nun aber die Rücksichtslosigkeit gegen die Engländer und den Ab¬
geordneten Vamberger! Wenn die Engländer nicht einmal mehr auf Herrn
Bamberger vertrauen können, und wenn nicht einmal mehr die Engländer auf
Herrn Bamberger vertrauen können — was soll aus der Welt uoch werden?
So erwerben wir uns keine Freunde,
Und nun vollends die offene Empörung gegen den Abgeordneten Richter,
die Zweifel an feiner Unfehlbarkeit! Man wirft ihm vor, er mische sich in alles
und am liebsten in Dinge, von welchen er nichts verstehe. Ja meine Herren,
wenn er nnr über das reden dürfte, was er versteht, wie selten würden wir das
Vergnügen haben, ihn reden zu hören, wie wenig unterhaltend würden die
Sitzungen, und wie kurz würden sie sein! Auf jedes unverdorbene Gemüt macht
ja eben die naive Zuversicht einen herzerhebenden Eindruck, wie wenn der kleine
Knirps, welcher in seiner Fibel bis zum Gvckclhahn gekommen ist, trocken sagt:
Jetzt weiß ich alles!
Von welcher Bedeutung das Urteil des gemeinen Mannes sein kann, hat
ja gerade wieder der hochverehrte Abgeordnete Ludwig Löwe gezeigt: „Ist die
eine Abteilung überlastet, so muß die andre ihr etwas abnehmen." Wie da
wieder einmal der Verstand der Verständigen durch die schlichte Einfalt be¬
schämt wurde! Die Sache ist jn in der That so einfach. Wenn der Markt¬
helfer eine Kiste allein nicht heben kann, so schickt der Prinzipal den Lehrling
ins Magazin; dafür muß der Markthelfer, falls er eine leserliche Hand schreibt,
bei Gelegenheit wieder dein Lehrling helfen. Es geht alles, wenn man nnr
will. Und Ihnen allen wird sich gewiß, wie mi>-, in jenem unvergeßlichen Mv-
mente das Bild einer lachenden Zukunft vor die Unger gestellt haben. Wenn
jetzt abermals die Parole ausgegeben wird: „Fort mit Bismarck!" so darf nicht
mehr höhnisch gefragt werden: „Wen wollt ihr denn an seine Stelle setzen?"
Darüber kann kein Zweifel, kein Streit mehr bestehen, der Mann ist gefunden,
welcher die auswärtige Politik nach kaufmännischen Grundsätzen leiten wird.
Früher dachte mau wohl an den Abgeordneten Virchow, aber dieser wird, dessen
dürfen wir uns zu seinem Patriotismus versehen, wohl kein Bedenken tragen,
unter seinem politischen und unpolitischen Freunde Löwe die Stellung eines
Disponenten für die politische Brauche anzunehmen, während für die handels¬
politische selbstverständlich Herr Vambergcr Proknra erhalten müßte. Wenn
dann noch das Portefeuille des Krieges an Herr» Richter (natürlich mit Herrn
Windthorst als Generalstabschef) gelangte, der ja längst und unlängst seine Er¬
folge auf dem Schlachtfelde der Leipziger Straße selbst anerkannt hat, so Ware
ein Kabinet zustande gebracht, um welches Deutschland sogar in Porte-an-Prince
und San Domingo beneidet werden dürfte.
Von andrer Seite ist vorgeschlagen worden, den würdigen Abgeordneten
für Frankfurt und Sachsenhauser durch Übertragung des Präsidiums für feine
klassische Jungfernrede am Tage uach der großen Schlacht zu belohnen. Ich
will nicht bestreikn, daß Herr Sabor seine Sache ebensogut macheu würde wie
Herr Löwe; vor allem hat er seine Fähigkeit dargethan, die Gemiitcr zu ver¬
söhnen, denn in der Huldigung für ihn fanden sich alle einträchtiglich zusammen,
die eben noch von der Wut des Kampfes geglüht hatten. Aber er ist unver¬
kennbar für etwas höheres geboren, als das Staatsschiff zu lenken. Nicht um¬
sonst erinnert sein Name trotz der Eliminirung des Buchstabens in an das früher
durch den falschen Demetrius und später durch seine Rhabarberknltur bekannt
gewordene Städtchen im Lande Galizien, welches der Welt so viele Taschenspieler
und andre Künstler geschenkt hat. Wie er sozusagen mit einem Bocksprung
über den Kopf seines verblüfften zwiefachen Lmidsmauues Herrn Sonncmanu
hinweg in das Parlament seinen Einzug hielt, und gleich die erste Pause be¬
nutzte, um mit erschütterndem, feierlichem Ernste seinen Gallimathias vorzutragen,
wurden wir sofort inne: da ist mehr als Helmcrding und Thomas! Wie lustig
müssen die Stunden gewesen sein, als er noch hoffnungsvolle Jünglinge in die
Mhstericn des Talmud einweihte! Welchen unerhörten Erfolg er davontrug,
das ist Ihnen allen gewiß unvergeßlich. Sein unnachahmliches: „Wenn Sie
noch einmal lachen, dann . . .!" kursirt bereits als geflügeltes Wort, wie vor
kurzem das „Schwamm drüber." Fern sei es, die Talente der Herren Richter,
Windthorst, Braun >— ach, daß ich Träger nicht mehr nennen darf! — ver¬
kleinern zu wollen. Doch ist in ihrer Komik immer etwas berechnetes, sie er¬
zwingen die „Heiterkeit," kündigen gewissermaßen an: „Du sollst und mußt
lachen!" Snbor hingegen ist der geborene Komiker, er macht den Eindruck,
garnicht zu wisse», wie drollig alles an ihm ist, Wort, Ton, Geberde, und
dies scheinbar Unbewußte wirkt so unwiderstehlich, Staatsmänner haben wir,
wie Sie wissen, genug zum — doch ich will keinen unparlamentarischen Aus¬
druck gebrauche»; wahre Komiker sind selten und ein wahrer Segen in dieser
trüben Zeit. Deshalb wäre es ein großer Fehler, ihn seinem eigentlichen Vcrnfe
abwendig zu machen.'
Ein Ministerium, wie ich es mir denke und wie es in der Luft liegt,
würde uicht fortwährend mehr Arbeitskräfte fordern mit der banalen Be¬
gründung, daß die vorhandenen der Geschäftslast erliegen. Mögen sie er¬
liegen oder mögen sie ihrer Wege gehen, die Kommis, denen die Arbeit
zuviel wird! Es kostet nur eine Anzeige an den Litfaßsäulen: „Offene Stellen,"
und man hat die Auswahl unter Bewerbern, die sogar Französisch sprechen.
Tritt wieder eine Geschüftsstockung ein, so werden die Überzähligen fortgeschickt.
Die besonders Fleißigen und Dienstwilligen könnten vielleicht durch Tantiemen
vom Reingewinn belohnt und angeeifert werden. Denn, meine Herren, nnr
keine falsche Scham! Geschüft ist Geschäft, Gewinn muß es abwerfe», sonst ist es
kein Geschäft, dann mögen es andre machen. Und wo Gewinn ist, können auch
Prozente abfallen. Dabei leidet der Staat keinen Schade», im Gegenteil spart
er an den Besoldungen. Z. B. ein Ministerialbeamtcr findet in seinem Stall
ein Paar neuer Pferde; wie soll er wissen, woher und von wem sie kommen?
Soll er sie auf die Straße hinausjagen? Das wäre doch abgeschmackt. Nachher
merkt er, daß sie ein Geschenk eines Lieferanten oder eines Mannes sind, der
gern einen Blick, nur einen einzige» Blick in ein gewisses Aktenstück werfen
möchte — soll er gegen einen so aufmerksame» Manu ungefällig sein? Ob dann
irgendwo die Soldaten verdorbenes Mehl bekommen oder ein diplomatisches
Geheimnis ausgebeutet wird, das sind kleine Unannehmlichkeiten, die im geschäft¬
lichen Leben mit hingenommen werden müssen.
Kommt es aber dahin, und das muß ja geschehen, dann wird der glor¬
reiche 15. Dezember anstatt des 2. September zum nationalen Festtage bestimmt
werden müssen. Wie soll ich ihn nennen, diesen historischen Montag? Blau
war er nicht, eher schwarz-rot-golden, insofern die schwarze, die rote und die
goldne Internationale gemeinsam den großen Sieg erfochten. Allein ihnen
standen noch allerlei Hilfstruppen zur Seite, und deshalb heißt er am passendsten
der kunterbunte oder kakelbunte Montag. Unter diesem Namen mag der Tag
im Gedächtnis des Volkes fortlebe», und bei seiner Nennung wird, wie der
Spanier bei dem Vo8 Äo Ney'v an den Beginn des Unabhängigkeitskampfes,
der Franzose bei dem 4. Angust an die Erklärung der Menschenrechte, der
Engländer bei dem (-uzs ^avkss-ä^ an die Pnlververschwörung, so der Deutsche
an den heldenmütigen Sturm ans den Kanzler und die Rettung von 20000
Mark zurückdenken. Dabei werden seine Wangen sich röter — vor Stolz na¬
türlich. Geschlagen ist der Unbesiegte, vor den: die Staatsmänner der ganzen
Welt sich beugen, der über ganz Europa triumphirte, er ist zu Boden gestreckt
von der ^llianoo i8rÄvUte-outrv-moatgßlw, wie ich mit Rücksicht auf die Stimm-
zettclvertcilung on>r der Hedwigskirche die neue Verbindung nennen möchte.
Man zeiht die tapfern Streiter der Undankbarkeit gegen den Mann, welcher
sich immerhin einige Verdienste erworben hat: wie voreilig! Wartet doch nur,
bis er einmal nicht mehr ist, dann wird er beklagt und besungen und bedenk-
malt werden. Man behauptet, wenn die Franzosen oder Engländer oder Ita¬
liener einen Bismarck besäßen, würden sie in einmütiger Verehrung sich um ihn
scharen, und keiner würde wagen, ihm mit erbärmlichen Nörgeleien das Leben
zu verbittern. Ja meine Herren, wir sind eben Deutsche und jener Ahnen wert,
welche einem Kotzebue und Börne und ähnlichem Gelichter gestatteten, die Stiefel
Goethes zu besudeln. Man macht auch den mehr oder minder würdigen Herren
im Zentrum einen Vorwurf daraus, daß sie nicht geredet, sondern mir gestimmt
haben. Nun, sie sind die Partei des Friedens und der christlichen Liebe, das
weiß ja jedes Kind, und außerdem sind sie zu klug, um bloße Manöverschüsse
abzugeben wie Herr Hänel oder Projektile aus der Gosse aufzulesen, wie der
„Arbeiter" und' päpstliche Leutnant a. D. Herr von Vvllmar: als es zum
Sturm ging, waren sie auf dem Platze, wohl wissend, daß die Stimmen nicht
gewogen, sondern gezählt werden.
Und um zum Schlüsse noch ein ernstes Wort. Die Bevölkerung steht,
wie es scheint, nicht ganz auf der Höhe der Situation, die Presse fällt ab, und
wenn nicht der „Bauer" Dirichlet mit Herrn Richter um die Wette seinen Dresch¬
flegel Schwange, so hätte die Koalition gar keinen Anhang in der „öffentlichen
Meinung." Schon schleichen sich Feigheit und Verrat durch die Reihen der
Tapfern und raten ihnen, bei der dritten Lesung zu kapitulireu. Das darf
um keinen Preis geschehen, ein Tag des Ruhmes, wie der kakelbunte Montag,
darf nicht wieder ausgelöscht werden! Hat etwa das souveräne Volk von Paris
seine glorreiche Kundgebung gegen den König von Spanien zurückgenommen,
weil ganz Europa dieselbe für eine ungeheure Dummheit erklärte? Im Gegen¬
teil wäre es bereit, das Stück sofort noch einmal aufzuführen. Das ist Kon¬
sequenz, das ist Wahrung der eignen Würde! Das Volk weiß jetzt, wessen es
sich von den verbündeten Zentralen. Linken, Äußerstlinken, Polen, Welsen, Dänen,
Franzosen zu versehen hat; es kennt jetzt die Macht der Konföderation und
deren Ziel; es hat eingesehen, daß ihm unter dieser Führung ein neues pol¬
nisches Reich anstatt des schon vierzehn Jahre alten deutschen aufgerichtet
werden wird. Das ist ein großer Erfolg, viel mehr wert als die 20 000 Mark,
von denen kaum für einige Tage die Diäten bestritten werden könnten. Lassen
Sie das Volk nicht wieder irre werden, verdunkeln Sie nicht wieder diese wohl¬
thuende Klarheit, meine Herren; im Gegenteil, führen Sie noch recht viele solche
Montagsbclnstigungeu auf — wir könnten dann den Montag etwa Skandaltag
taufen, als Seitenstück zum Schweriustagc — das wird der guten Sache den
größten Nutzen bringen.
Und sonach vorwärts mit frischem Mut in das neue Jahr hinein und mit
dem alten Schlachtrufe: „Fort mit Bismarck!"
in letzten Herbst wurde das fünfzigjährige Bestehen des könig¬
lichen Ghmnasiums zu festlich begangen. Von nah und fern
waren die einstigen Schüler dieser bewährten Lehranstalt herbei¬
geeilt, und am Festmorgen gewahrte man eine ansehnliche Zahl
von Beteiligten ans der Kirche in die Aula des Schulhauses
ziehen.
Sie waren nach Jahrgängen geordnet, die jüngsten voran, die gegenwär¬
tigen Schüler der sechs Klassen; ihnen folgten die Jahrgänge 1883 bis 1879
in vier Abteilungen, Studenten in bunten Abzeichen, Dann kamen die so¬
genannten alten Herren, von 1878 bis 1833 aufwärts, die jüngeren Abtei¬
lungen spärlich besetzt, was sich zunächst ans ökonomischen Gründen, sodann
wohl auch aus dein Erfahrungssätze erklärt, daß die in deu dreißiger Jahren
befindlichen der Anknüpfung von Jugenderinnerungen weniger zustreben, da sie
ihnen thatsächlich noch nahe stehen, während die Altgewordenen gern die Zug¬
brücke niederlassen, die ihnen zu dein entrückten Gebiete einen Ausfall gestattet.
Am stärksten vertreten waren die Jahrzehnte 1850 bis 1860, schwächer
wurden die Jahrgänge 1840 bis 1850, ganz dünn war die Dekade von 1830
bis 1840; 1837 bis 1834 fehlte ganz, aus dem Jahre 1833 aber, dein Stif-
tungsjahre, schritt ein wackeliges Männlein einher, ein Magister, graduirt auf
der Leipziger Hochschule, einer vou jener eigentümlichen, begeisterungsfähigen
Gelehrtenwelt, die ausstirbt wie die Trappen.
Dies waren die Kommilitonen.
Ihnen folgte das Lehrerkollegium nach dem Anstellungsalter geordnet, zu¬
letzt der Ghmnasialdirektor, ein hagerer Mann mit steifen Vatermördern und
großen, sehr blankgeputzten Brillengläsern; seine Haltung war die eines Korps¬
führers mit dem durch die Wichtigkeit der Aufgabe gehobenen Selbstbewußtsein.
Beschlusse» wurde der Zug durch die Spitzen der Kreisstadt und ihrer Be¬
hörden: Bürgermeister, Stadtverordnetenvorsteher, Oberstleutnant, Landgerichts-
präsideut, Landrnt, Pvstdirektor, Nrmcnhausdirektor und andre, wie sich denn
bei derartigen Gelegenheiten manche Stumpfheit zuspitzt; ganz zuletzt ging der
Vertreter der Regierung, ein vornehmer Herr, dessen Persönlichkeit, abgesehen
von der durch ihn vertretenen Amtsgewalt, das höchste Ansehen in Anspruch
nahm.
Die Stadtbevölkerung zeigte die regste Teilnahme. Die Häuser der Haupt¬
straße waren beflaggt und mit grünem Kranzwerk verziert, halbwüchsige Fichten
waren reichlich aus dem Stadtwalde geholt worden, Gewinde von Nadelgebüsch
waren über die Straße gezogen, in den Fenstern drängten sich Zuschauer, und
die Straßen entlang standen viel mehr Leute, als der Ort allem aufbringen
konnte.
Die Volksstimmung war die fröhlichste. Von den Fenstern wehten Taschen¬
tücher, und was Treibhäuser wie Gärten noch an letzten Blumenresten und
Grün herzugeben vermochten, wurde dem Festzuge als Willkvmmspende ent¬
gegengebracht. Jubel breitete sich aus, ringsum hörte man freudige Äußerungen,
die den einstige» Schülern galten. Sieh doch den, hieß es unzählige male,
was aus ihm geworden ist, sich den Rieger Theodor, den Sommerbrvt Franz,
wie er groß und stark geworden ist! Andre Stimmen ließen sich hören: Ist
das nicht gar der und der? Und wenn darauf zurückgerufen wurde: Freilich,
Meister, freilich, Frau Wirtin, bin ichs, dann jauchzten die Angerufeueu und
alle Umstehenden.
Den Studentenabteilungcn wurde» aus der Menge die reichsten Begrü¬
ßungen der Bürgertöchter zuteil, außerdem ergoß sich auf sie ein förmlicher
Platzregen von Blumen und Blattgrün, dem kräftige Hurrahs der Empfänger
folgten.
Auch für die Kinder, die in Schwärmen den Festzug umdräiigtc», gab es
allerlei Augenweide; den Kleinsten aber erschien von dem Gebotenen als das
Staunenswerteste ein braunflcckiger Wolfshund, der mit den Studenten klug
und bedächtig in Reih und Glied schritt, einen Spazierstock wagerecht im Maule
hielt, aber die laugschleppige Quaste um alles nicht auf das schmutzige Pflaster
auftivpen lassen wollte. Die etwas größeren Knaben und Mädchen richteten
ihre Blicke besonders auf zwei Kommilitonen, die von den andern merklich ab¬
stachen. Der eine war ein in einen jüngeren Jahrgang eiugereihter Matrose,
ein strotzender, sonnverbrannter junger Mann im Schiffsparadeanzuge mit tief
ausgeschnittenem Hemdenkragen, im Nacken den Glanzlederhut mit Flatterhaut;
er war von Quinta fortgelaufen, jahrelang auf hoher See gefahren, war kürzlich
aus Indien zurückgekehrt und nun in der Heimat auf Besuch. Der andre in
einem frühern Jahrgange war ein alter Förster mit langem Vollbarte, dessen
Flügel der Windzug hob wie graue Moosflechtcn, ein Hüne von Gestalt, in
fahlgrüner Joppe, Jagdstrümpfen und Bergschuhen; auch er hatte nur die nie¬
deren Klassen durchgemacht, aber draußen, im Walde, sich die Fakultäten geholt.
Die Gesetzteren nnter den Zuschauern und die, welche verständiger zu sein
meinten, belächelten solchen Geschmack der Straßenjugend; sie wendeten ihre
Aufmerksamkeit ganz andern Gestalten zu. Da war hier ein Ministerialrat,
der sehr einflußreich sein mußte, dort ein gestrenger Konsistoricilrat, dort ein Offi¬
zier vom Generalstabe, dort ein Schriftsteller, von dem es hieß, daß er berühmte
Romane habe drucken lassen, dort ein erzbischöflicher Kommissar, dort gar ein
General. Sie alle wurden von ihnen durch ehrfürchtiges Grüßen ausgezeichnet.
So feierten denn die Städter ihre Gäste, und der Himmel kam ihnen zu
Hilfe, denn ein feiner Sprühregen, der tagelang angedauert hatte, war kurz
vorher den ersehnten Sonnenstrahlen gewichen. Nun glitzerten die bepcrlten
Festranken wie mit unzähligen Edelsteinen besät.
Die Teilnehmer des Fcstzugcs bezeugten ihrerseits den ihnen entgegenkom¬
menden Städtern die größte Anerkennung. Diese steigerte sich bei den Studenten zu
lautesten Frcudenausrufen, als der Marktplatz erreicht war. Standen doch dort
vor dem stattlichen Gasthause zur „Krone" Damen im Festpntz, einheimische
und zugereiste, die älteren im Hintergründe, die jüngeren voran, unter ihnen
die reizendsten Fräuleins, von welchen wiederum eine in Veilchenblau als ganz
besonders begehrenswert erschien.
Auf diese nahegerückten Fcstjungfrauen mit ihrer unfreiwilligen Chorführerin
ergoß sich der Blumen- und Blättcrstrom zurück, der aus den Fcnsterspcndcn
aufgefangen worden war. Einige der kühnsten Korpsburschen wagten sich sogar
ans Augenblicke aus der Zugreihe heraus unmittelbar an die Seite der Hold¬
seliger, baten um einen Tanz auf dein für den Abend angesagten Balle oder
brachten sonst Artigkeiten an, denen die Veilchenblaue aber nur zu bald sich
entzog, weil sie ihr im Übermaß geboten wurden.
Als der Jahrgang 1849 herankam, eilte das veilchenblaue Fräulein ans
einen im Festzuge schreitenden ältlichen, aber noch rüstigen Herrn zu, einen
ausnehmend fein und stattlich aussehenden Kavalier, hängte sich an seinen Arm
mit dem Ausrufe: Vater, Bater! wie himmlisch das ist! und drückte sich zärtlich
an ihn. Dieser nahm sie anfangs wie zögernd ans, ließ sie aber gewähren,
nachdem er sich überzeugt hatte, daß auch andre Damen in den Zug eingereiht
worden waren, der nun wie mit bunten Blumen durchflochten aussah.
Hättest aber das weiße Barett nehmen sollen, Barbara, sagte er heimlich,
worauf sie erwiederte: Aber Vater, ich falle so schon mehr aus als —
Hierbei ließ er sie auf seine rechte Seite hinüber zu dem Generalstabs-
ofsizier, der neben ihm ging, stellte sie ihm vor. und dieser knüpfte alsbald ein
Gespräch mit ihr an.
Ein herrliches Mädchen, das am Arme Pipins! sagte einer aus demselben
Jahrgange zu seinem Nachbar.
In der That, sie sieht blühend gesund aus, meinte dieser, heiter ist sie
auch, ihr Wesen einnehmend und ohne Gefallsucht; wird wohl seine Tochter sein.
Auf die kann sich Pipin etwas zu gute thun, bemerkte wieder der andre
und schwieg dann, worauf der Arzt in der abgebrochenen naturwissenschaftlichen
Erörterung fortfuhr.
Pipin aber schmunzelte über das Wohlgefallen, das der Stabsoffizier an
seiner Tochter fand. Seine Freude darüber war deutlich sichtbar. Er betei¬
ligte sich nicht an ihrem lebhaften Gespräche, sondern ließ die heitern Ton¬
wellen desselben nur sein Ohr umspielen, während er, nach links und rechts
wie nach oben blickend, der festlichen Stimmung sich hingab.
Im Verlaufe des Wcchselgespräches waren Barbara und ihr Begleiter ans
die Tagcsfestlichkeiten gekommen. Dabei äußerte der Offizier, das Fräulein
würde auf dem Balle Wohl kaum all deu Huldigungen gerecht werden können,
die ihr soeben in Aussicht gestellt worden seien. Barbara meinte, sie würde
am liebsten von dein Balle wegbleiben. Dies bezweifelte jedoch der Herr,
worauf sie erklärte, Tanz und Spiel habe sie daheim genug, und da auch das
nicht geglaubt zu werden schien, eiferte sie: Ich rechne bei diesem akademischen
Feste auf ganz andre Genüsse.
Dies klang freilich etwas altklug oder blaustrümpfig, aber die Art, wie
das Mädchen es vorbrachte, wie die leichtgemutc schlanke Gestalt dabei den
veilchenblauen Saum hob und munter über die Unebenheiten des Pflasters
hinwcgeilte, mußte vom Gegenteil überzeugen. Auch der Stabsoffizier wurde
durch jene Äußerung nur angeregt, nicht verstimmt. Durch Hinundherfragen
stellte er noch folgendes fest. Ihr Vater halte gern an studentischen Erinne¬
rungen fest und habe sie den akademischen Interessen zugeführt; sie wohne all¬
jährlich den Rcdccckten in der Aula der Hauptstadt bei, sei vor zwei Jahren
mit zu dein Stiftungsfeste der „Teutonen" gereist und habe von dort die er-
hebcnstcn Eindrücke mit in die Heimat gebracht. Hieran knüpfte der Offizier
die Mitteilung, daß bei dem heutigen Feste gerade der Nedelust vorschrifts¬
mäßig ziemlich enge Schranken gesetzt seien; die Damen seien von dem Morgen¬
vortrage im Schulsaale wie vou dem Diner ausgeschlossen, sodaß eine Hoffnung
in dieser Beziehung sich wenig erfüllen dürfte. Sein wohlgemeinter Rat ging
nun dahin, sie möge lieber die sonst gebotenen Lustbarkeiten mitnehmen und aus
ihnen ihrem Gedenkbuche ein liebes Blatt beizufügen trachten.
Inzwischen war der Zug bei dem Klvsterschulgebäude angelangt. Die An¬
gekommenen breiteten sich in dem langen Flur und den Scitcngüugen aus.
Hier bildeten sich Ansammlungen von Festgenosscn und Stadtbewohnern, das
Wiedersehen und Wiederfinden wurde fortgesetzt, ein Jneinanderfluten der Meu-
fchenwogcn ging vor sich. Ihnen allen war etwa noch eine halbe Stunde der
Vereinigung geboten, bis die Schulglocke die Berufenen von den Unberufenen
sondern sollte.
Barbara, deren Vater mit andern auf und abging, war mit dem Stabs¬
offizier an einer Säule stehen geblieben. Seine leutselige Art flößte ihr das
größte Vertrauen ein; sprach er doch in dein Tone, den er seiner erwachsenen
Tochter gegenüber gewohnt war. So fügte sichs, daß sie ihm bald ihr heim¬
liches Begehren verriet, nämlich wie sie gar so gern sich Zutritt in den Schul¬
saal zu der Ansprache verschaffen möchte. Seine hierfür angebotene Verwen¬
dung lehnte sie ab, vielmehr sann sie einer eigenmächtigeren Veranstaltung nach.
Schließlich langte sie aus ihrem Margnretcutäschchcn die blauweißgoldene Kappe
nebst dem Ccrevisband ihres Vaters und druckte unvermerkt das Cerevis flott
auf das helle Haar. Dazu nahm sie die kecke Haltung eines Studenten an
und scherzte: Ich möchte doch wissen, wer mir jetzt den Eintritt verwehren wird.
Der Stabsoffizier war, wie gesagt, in bester Laune. Er ging sofort auf
diesen Einfall der Frenndestochter ein, winkte ihr Beifall zu, bot ihr auch wie
zu sichersten Schutze seinen Arm und war schon im Begriffe, sie die Stufen
hineinzuführen — denn das Anschlagen der Hausglocke beschied eben die Be¬
teiligten in die Aula —, als Pipin zu ihnen herankam und dem begonnenen
Spiele mit weit mehr Ernst entgegentrat, als das harmlose Vorhaben er¬
forderte.
Er hielt das Paar mit einer Handbewegung auf und mit einem Aus¬
drucke, wie etwa auf der Bühne, wenn Wallenstein wirkungsvoll seiner Thekla
wehrt, Max Piccolomini, dem Widersacher, bräutlich eutgegeuzufliegen. Er be¬
grenzte sich aber alsbald in der vollen Entwicklung der Aktion, da er selbst
fühlte, wie wenig eine derartige Gegenwirkung dem liebgcschätzten Freunde und
Gönner gegenüber am Platze sei. Er gab also ihm gegenüber in seinein Ge¬
sichtsausdruck die strenge Rolle gänzlich ans, und nur der Tochter gegenüber
blieb er — und zwar nur im Tone und auch da nur halb — ein Wallenstein,
indem er anhob: Wir vor allen müssen alles vermeiden, was uns als die¬
jenigen erkennen lassen könnte, die wir sind, nämlich als Schauspieler. Verstehst
du mich, Barbara?
Diese hatte schon die Hand von dem Arme des Stabsoffiziers mit fein
angedeuteten Danken und Umvergebnngbitteu gelöst und erwiederte ihrem Vater
nur: Freilich, Schauspieler! Dabei sah sie auf und schlug den Blick wieder
nieder, dann legte sie Kappe und Band ab, steckte beide wieder in die Tasche
und schloß sich ohne Widerrede einer kleinen dicken Dame um, die, auf sie zu¬
eilend, unter Liebkosungen sie mit sich fortnahm, um sie an den vorläufig für
sie bestimmten Freuden des Tages teilnehmen zu lassen. Denn die Frauen und
Töchter der Kommilitonen hatten einen Spaziergang durch die Stadt und die
Parkanlagen verabredet für die Zeit, während welcher der Nedcakt im Schul-
hause vor sich gehen sollte.
Vor dem Stabsoffizier erging sich dann der Schauspieler in wortreicherem
Entschuldigungen wegen der strengen Abweisung des Scherzes, wozu jener eine
abwinkende Bewegung machte. Pipin, sagte er, deine Tochter spielt die Rolle
der Entsagenden zum Entzücken, ich selbst konnte mich im Augenblicke nicht der
Täuschung erwehren, sie muß eine große Künstlerin sein. Er fragte noch, was
sie denn eigentlich spiele, wohl heroische oder hvchtragische Rollen?
Pipin, welcher in der Zuversicht, den Obersten begütigt zu wissen, erstarkte,
nahm lebhaft die Gesprächswendung auf, die Barbaras Thun und Lassen in
den Vordergrund gerückt hatte. Ist ja gar keine Schauspielerin, hochwerter
Freund und Gönner, sagte er eifrig und ging in den Ton der Betrübnis über,
ist ja alles ihr purer Ernst. Ja, wenn sie für die Bühne gewonnen worden
wäre, fügte er wehmütig hinzu, dann wäre ich groß, wären wir alle groß!
Aber — unterbrach er sich — lassen wir das!
Wie? rief der Offizier, diese Miene jetzt war ihr Ernst, und du läßt sie
weggehen, nimmst sie nicht mit dir und verschaffst ihr den so sehnlich erwünschten
unschuldigen Genuß? Und wenn die ganze Schulstube dazu ein täppisches
Lachen aufschlüge oder die Kleinstadt ein Fragezeichen dazusetzte! Pipin, ich
verstehe dich nicht!
Auf eine Entgegnung des andern fügte er noch ärgerlich bei: Nun, wie
du willst, aber nimm mir's nicht übel, dn bist ein arger Philister geworden.
Darin hast du recht, sagte der andre, indem er seine Hand in den Arm
des Freundes legte. Dann gingen beide die Schültrcppe hinauf. Dichte Schwärme
von Kommilitonen waren ihnen schon vvrcingeeilt, alles in dicker Freundschaft
und, wie man zu sagen pflegt, auf Du und Du.
(Fortsetzung folgt.)
Dem Reichstagsbeschluß vom 15. Dezember, den bereits der Verfasser
der „Ungehaltenen Reden eines Nichtgewnhlten" in ergötzlicher Weise glossirt
hat, werden von einem andern unsrer geehrten Mitarbeiter noch folgende ernste
Betrachtungen gewidmet:"
Als wir vor kurzem in diesen Blättern eine Besprechung „zur Diätenfrcige
brachten, konnten wir nicht umhin, zu konstatiren, daß das Ansehen des deutschen
Reichstages in unserm Volke leider nicht mehr dasselbe sei wie früher. Als Gründe
dafür bezeichneten wir das überhandnehmende persönliche Gezänk und das mehr
und mehr durch die Fraktionspolitik beherrschte sachliche Verhalten der Parteien.
Ueber einen weiteren Grund, den wir hätten anführen können, schwiegen wir lieber,
weil es zu schmerzlich war, ihn zu berühren. Aber die Neichstagsverhandlung
vom 15. Dezember läßt diesen Grund nicht mehr verschweigen. Es ist die Ge¬
hässigkeit, welche ganze Parteien des Reichstages, ihre Führer an der Spitze, der
Person des deutschen Reichskanzlers entgegenbringen.
Die staatsmännische Thätigkeit des Fürsten Bismarck liegt uns heute für einen
Zeitraum von länger als dreißig Jahren aufgeschlossen vor. Die Berichte, welche
er als Gesandter am Bundestage erstattete, ließen die bewunderungswürdige geistige
Kraft und Ueberlegenheit erkennen, mit welcher er schon damals, als noch die Poli¬
tischen Dinge fast vor aller Blicken verworren lagen, die deutscheu und europäischen
Verhältnisse durchschaute und festen Zielen zusteuerte. Bereits am 21. April 1360
— also lange vorher, ehe von einem Ministerium Bismarck die Rede war —
konnte Freiherr von Vincke, damals noch ein Polnischer Gegner Bismarcks, im
Preußischen Abgeordnetenhaus« aussprechen: „Die Umkehr Preußens von seiner ver¬
derblichen österreichischen Politik datirt von dem Augenblicke, als Herr von Bismarck
Bundestagsgesandter in Frankfurt wurde." Wie letzterer denn mit einer Energie
ohne gleichen die Gedanken, die ihn lange Jahre beseelt hatten, weiter verfolgt
und zur Ausführung gebracht hat, wissen wir alle. Was war Deutschland früher?
Ein ohnmächtiges Gebilde; seine Länder Spielbälle in den Händen Oesterreichs;
aber stets in der Gefahr, anch wieder Spielbälle in den Händen Frankreichs zu
werden. Jetzt steht Deutschland geeinigt, mächtig und angesehen da, und sein Volk
genießt einen Wohlstand, wie er, so lauge es eine Geschichte giebt, nicht in Deutsch¬
land bestanden hat. Wer dies alles bewirkt hat, ist bekannt. Aber Dankbarkeit? —
Nun, die Geschichte berichtet, daß Armiuius der Befreier Deutschland zwar vom
römischen Joche gerettet habe, daß aber gleichwohl einige Jahre darauf sich ein
edler Deutscher gefunden, der sich bereit erklärt habe, ihn mit Gift aus der Welt
zu schaffen. Auch heute wieder giebt es Deutsche, die den Kaiser Wilhelm zum
Danke für das, was er an Deutschland gethan, mit Dynamik in die Luft sprengen
wollen. Im Reichstage aber sitzen Auserwählte der Nation, welche zwar nicht mit
physischem Gift operiren, aber alles erdenkbare moralische Gift bereit haben, um
es dem großen Kanzler des Kaisers entgegenznspritzen.
Fürst Bismarck steht im siebzigsten Lebensjahre. Von der riesigen Arbeits¬
kraft, die er früher besessen, geben seine zahlreichen Werke Zeugnis. Dinge, wie
er sie vollbracht, gehen auch nicht ohne schwere innere Aufregung vorüber. Seit
Jahren ist deshalb seine Gesundheit erschüttert. Andrerseits haben die Geschäfte
im auswärtigen Amte erheblich zugenommen: siebzigtausend Nummern sind jähr¬
lich zu bewältigen. Wer noch nicht wissen sollte, wie dort gearbeitet wird, für den
liegen gerade jetzt die umfangreichen, meisterhaft geführten Verhandlungen vor,
durch welche der Reichskanzler dem deutschen Volke neue Quellen des Wohlstandes
in fremden Weltteilen eröffnet hat. Auch tagt gerade jetzt in Berlin eine Kon¬
ferenz aus alleu mächtigen Staaten der Erde, welche schon in ihrer Existenz den
Fürsten Bismarck zur Zeit als den leitenden Staatsmann der Welt ausweist. Da
tritt nun der Reichskanzler vor den Reichstag und sagt: „Ich bedarf einer zuver¬
lässigen Hilfe im auswärtigen Amte. Die Geschäfte haben sich vermehrt. Ich selbst
bin nicht mehr so arbeitskräftig wie früher. Deshalb bewilligt mir jährlich 20 000
Mark." Und was geschieht? Die Mehrheit des Reichstages, Zentrum, Freisinnige
und Sozialdemokraten, lehnt die Forderung ab!
Die Abstimmung des Zentrunis freilich kaun uns nicht Wunder nehmen. Man
kann ihm aus solchen einzelnen Akten seiner Politik kaum einen Vorwurf machen.
Der Fall liegt bei ihm analog jenem Falle, welchen im 0ol-xus M-is ein römischer
Jurist entscheidet, der gefragt wird, ob es schimpflich sei, daß gewisse Frauenzimmer
für gewisse Dinge Bezahlung nehmen. Nein! antwortet er. I^in-Mor kann,, cava
sse msrotrix, Spa ion turpitsr lÄeit, aura sit morstiix. Auch über die Sozial¬
demokratie ist ja kein Wort zu verlieren, und ihr Widerspruch würde kaum Beach-
tung gefunden haben, wenn nicht ihr Redner die Gelegenheit benutzt hätte, um
dem Reichskanzler Impertinenzen ohne gleichen ius Gesicht zu sagen. Endlich mag
auch Herr Eugen Richter und ein Teil seiner Genüssen in den Haß gegen den
Fürsten Bismarck sich so eingelebt haben, daß es ihnen ganz natürlich erscheint,
demselben da erst recht entgegenzutreten, wo mit den von ihm vertretenen sachlichen
zugleich seine persönlichen Interessen sich zu verbinden scheinen. Aber unter deu
Mitgliedern der freisinnigen Partei sind doch noch Männer, die eine andre Ver¬
gangenheit hinter sich haben, eine Vergangenheit, in der auch ihnen Fürst Bismarck
als ein Manu erschien, dem Deutschland doch manches zu danken habe. Haben sie
diese Zeit ganz vergessen? Und sollte ihnen nicht eine Vorstellung darüber auf¬
dämmern, wie die „Nadelstiche," mit denen man den Reichskanzler behandeln zu
dürfen glaubt, dereinst in der Weltgeschichte werden beurteilt werden?
Nun, in dem gegenwärtigen Falle hat man nicht den Verlauf der Weltgeschichte
abzuwarten brauchen. So tief ist doch der Sinn für das, was Dentschland einem
Manne wie Bismarck schuldig ist, uoch nicht gesunken, daß uicht ein erheblicher Teil
des deutsche» Volkes, mau darf sagen die gesamten besseren Elemente desselben,
in Entrüstung aufgebraust wäre» ob solcher schnöden Behandlung. Fast aus allen
Gauen Deutschlands sind Kundgebungen zutage getreten, welche dem Reichskanzler
versichern, daß es uoch zahlreiche Deutsche giebt, denen nicht das Kainsmal des
Undanks an der Stirne geschrieben ist. Und so hat jener Parlamentsbeschluß dazu
beigetragen, daß das deutsche Volk sich gleichsam seines bessern Selbst wieder be¬
wußt geworden ist. Schon jetzt liegt jene Abstimmung verurteilt von der Geschichte
da. Leider aber müssen wir zugleich in Anknüpfung an das, was wir im Eingang
sagten, von neuem konstatiren, daß das Ansehen des deutschen Reichstages auch hier
wieder einen schweren Stoß erlitten hat.
Die Polenlegende. Der dänische Abgeordnete Jnnggreen hat im deutschen
Reichstage den Helden Johann Sobieski als Retter Wiens und Deutschlands zi-
tirt, um für die polnische Gerichtssprache in Posen und Westpreußen Stimmung
zu machen, und sein welfischer Kollege Windthorst kam ihm mit den galizischen
Polen zu Hilfe, welche die besten Österreicher geworden seien, seitdem alles ge¬
schieht, was sie fordern. Wenn Herr Jnnggreen sich die Mühe nehmen will, einen
Blick in die neueren, aus archivalischen Quelle» geschöpften Darstellungen des Ent¬
satzes von Wien zu werfen, so wird er finden, wie weit der Anteil des Polen¬
königs an diesem Ereignisse reicht. Johann Sobieski verteidigte an der Donau sein Land,
ebenso wie die Polen, welche sich an den revolutionäre» Unternehmungen in Frank¬
reich, Deutschland, Italien beteiligten oder Dienste im türkischen Heere nahmen,
immer nur das Interesse ihrer Nation vor Augen hatte«. Das kaun ihnen nie¬
mand verübeln, aber man lasse uns endlich mit dem Edelmut und der Freiheits-
liebe der Polen in Ruhe. Herr Windthorst aber scheint ein schlechter Zeitungs-
leser zu sein, sonst würde er das mit so anerkennenswerter Offenheit kundgegebene
Zukuuftsprvgrcimm der Herren von Dzicdnszeki und Konsorten kennen, und wissen,
daß die Polen in Galizien alles thun, um aus wirklich guten Österreichern, den
Rnthenen, Mißvergnügte zu machen, welche Pauslavistischeu Tendenzen zugänglich
werden. Wenn er überhaupt noch ein Deutscher ist, so kann er unmöglich wün¬
schen, daß die Deutsche» in Posen und Wcstpreuße» wie die Ruthenen in Galizien
vergewaltigt und polnisch werden, damit jene Provinzen bei günstiger Gelegenheit
für das neue Polenreich reklamirt werden könnten. In der Politik giebt es keine
Sentimentalität, das weiß ja niemand besser als Herr Windthorst!
Friedrichs des Zweiten Unterhaltungen. Wer Friedrich den Großen
kennt, wird sich gewiß bei der Lektüre seiner vor kurzem erschienenen Gespräche
mit seinem Vorleser Henri de Caet") darüber Wundern, daß Friedrich einen Mann
gegen verhältnismäßig gute Bezahlung in seinen Dienst nahm, der meist nicht ihm,
sondern dem er vorlas, und der, soweit man aus den von ihm aufgezeichneten
Memoiren urteilen kann, keine andern Pflichten hatte, als zuzuhören und zur Ge¬
sellschaft zu dienen.
Mit vollem Rechte setzt der Herausgeber auseinander, daß Caet Friedrichs
Sekretär gewesen ist und alle Dienste eines solchen Beamten versehen hat. Aber
Andeutungen darüber entschlüpfen Caet nur selten, und uicht etwa in den zur
Veröffentlichung bestimmten Denkwürdigkeiten (Caet redet mehrfach seine „Leser" um),
souderu allein in seinem eigentlich doch nur für ihn selbst verfaßten Tagebuche.
Wer also Cakes Erinnerungen gutgläubig durchliest, der muß zu dem Glauben,
man könnte sagen verführt werden, er sei lediglich ein geistreicher, unterhaltender
Freund des Königs, ein Mann in einer Stellung wie Argens, Alembert und
Voltaire gewesen.
Dieser eine Umstand ist bezeichnend für den Charakter des Mannes und
giebt den richtigen Standpunkt für die Beurteilung seiner Nachrichten. Er war
ein unendlich eitler Mensch von kräftigstem Egoismus, der aufs kleinlichste dafür
Sorge trug, der Nachwelt im besten Lichte, ja im Lichte einer Vollkommenheit zu
erscheinen, welche künstlich zurechtgemacht ist, und der der hingebenden, unbekümmerten
Offenheit des Königs gegenüber häusig einen unwiderstehlich komischen Eindruck macht.
Ein starrer, ungesalzener Calvinist, hat er in seiner geistigen Zusammensetzung
keine Spur von Witz und versteht absolut keinen Spaß an andern. Friedrich
mit seinem unaufhörlich hervortretenden Bedürfnisse nach geistiger Erholung und
der Gabe, allen Dingen und Personen leicht eine lächerliche Seite abzugewinnen,
blieb dem frommen Schweizer eigentlich stets ein fremdartiges, unverständliches
Wesen, das er mit einer Art von Pathologischen Interesse betrachtet.
Freilich hat er dabei viele außerordentlich gute Seiten. Er ist zurückhaltend,
ehrlich, korrekt und zuverlässig — aber was für ein Gegensatz zu Friedrichs
Offenheit, manchmal geradezu kindlicher Gutmütigkeit, seiner Frische in der Em¬
pfänglichkeit für neue Eindrücke, seiner Höflichkeit, die aus dem innersten Herzen
kommt, seinem Witze, dem nichts entgeht, was ihm entgegentritt!
Für das leichte Spiel eines überlegenen Geistes, der auch dem unbedeutenden
Vorleser gegenüber niemals ängstlich bedacht ist, seine Stellung zu wahren, sondern
sich in freier Laune gehen läßt, fehlt Cult fast jedes Verständnis. Aengstlich
notirt er jeden Widerspruch, in welchen sich der König verwickelt, wenn er heute
etwas behauptet, was mit seinen Aussprüchen vor acht Tagen, die er längst bei
seinen schweren Sorgen vergessen hat, in Kontrast steht.
Da kommt freilich Caet bester weg. Er hat keine Launen, da ihn nichts
bedrückt; er vergißt nie, was er einmal behauptet hat, und bleibt daher stets bei
seiner Ansicht stehen. So macht er denn ans sich selbst den Eindruck überlegener
Weisheit, während der König schwankend und inkonsequent erscheint.
Seine Schwächen entgingen dem Könige keineswegs. Zwar ist von Caet
sorgfältig alles weggelassen worden, wodurch man Friedrichs Ansicht über ihn
kennen lernen konnte. Aber einmal konnte er doch eine Aeußerung nicht ausmerzen,
ohne den ganzen Gedankengang zu stören. In einer Unterhaltung über die Un¬
sterblichkeit der Seele (S, 96, 38) sagt ihm der König geradezu, sein (Cakes)
Hauptbeweggrund zu diesem Glauben sei seine Eitelkeit.
In Caet wohnten zwei Seelen. Einmal kann er dem nnbeugscnneu Mute,
der ihm wie so vielen andern gegenüber bewiesenen Gutherzigkeit, der unermüdlichen
Thätigkeit, der rührenden Familien- und Vaterlandsliebe, die so oft einen er¬
greifenden Ausdruck findet — all diesen und so vielen andern großen Eigenschaften
des geplagten Königs, der dem Sekretär immer noch ein kleines Stück seiner großen
Seele offen hält, seine Bewunderung nicht versagen. Er hätte kein menschliches
Herz haben miisseu, wenn ihn das stets wiederholte Schauspiel großartigster
Selbstverleugnung und kindlicher Offenheit des Gemütes nicht gerührt hätte. Oft
bricht er in Thränen aus und spricht mit begeisterter Liebe von dem gequälten
königlichen Feldherr»; dann aber zeigt er wiederum häufig genug eine Ab¬
neigung gegen Friedrich, die sich in allerlei kleinen Zügen und besonders in der
Beurteilung von Friedrichs religiösen und politischen Ansichten äußert.
Diese Stimmung erklärt sich, wie der Herausgeber in der Einleitung aus¬
einandersetzt, daraus, daß Caet bei der Abfassung der Memoiren in Ungnade ge¬
fallen war. Aber gerade diese dem Könige, wenigstens bis ans einen gewissen Grad,
abgeneigte Gesinnung Cakes macht das Gesamtbild, welches die Lektüre ergiebt, nur
umso wertvoller. Friedrich ist seinem Sekretär gegenüber so offen wie Cicero in
seinen Briefen, aber die unaussprechliche Liebenswürdigkeit eines dnrch und durch
edeln Charakters erscheint dabei im hellsten Lichte.
Wir müssen es uns versagen, hier auf Einzelheiten einzugehen. Als das
Rührendste erscheinen uns die lateinischen Brocken, welche der König von Zeit zu
Zeit in seine Unterhaltung einfließen läßt, und die Klagen über die Härte des
sonst so warm von ihm anerkannten Vaters, weil dieser ihn an der Erlangung
einer gründlichen Jugendbildung gehindert hat.
Schließlich notiren wir einige leicht zu verbessernde Schreibfehler. Der König
hatte Caet gefragt, wie er seine Satiren finde (S. 176, 17): Von« trouvW civile
esta, visu kort et dion a.öff'rL. Ein Wort Ws6rsr giebt es, soviel uns bekannt, im
französischen nicht, Worts' würde nicht passen. Caet hat offenbar geschrieben
aosrs. S. 185, 14 sagt der König von einem seiner Gedichte: Vous s.of8 raison,
mon LÜsr, vos oxprsssisus us sont MS bien, ü'iuilsurs tont vsrs <M a bosoin Ah
LommcmtÄN'v xour Stro saisi, oouv sur, us v-me risn; ,js vsux aus estto xivss
soit bisn unio, fils is hora, xour 1s ssntiinsllt, mon ecsur von« su rsxoncl; xour
ig, Iseturs äos vors o'sse uns s>nerf süoso, .js äsvrÄis soigusr plus est artiols.
Caet dürfte geschrieben haben: xour I» tonrnnro ävs vor«. S. 216, 31 sagt
Friedrich: .7s x»rs «Ze-main, vous xourrW ins suivrs a.ose ass -tiäss As eaux; pour
moi ^s vais ssul Avoe ass sousis se og. tristssss. I^s etraAriu mondo on eroups se
Wloxs s-oss Imi, qnsllo neüus eowvaAniv, mon fuor! Wahrscheinlich muß es heißen:
vt saloxv avov lui. S. 223, 36: 8i 1'Aus ÄöxovÄ si siuxuliörvmont ein vorxs,
si fils 1'it.tkaisLS, aus-na oslni-si oNAneollo, on voit xoni-t-me c^uft^uokois, et»us ass
inomsns, on lÄ maokins so clissouäro, o.us es c^ni pouso su nous pronci uns
nouvollo onsrxio. Offenbar hat Cult gemeint: si fils s'M's.isss.^)
Ein Lebensbild Hermann Hettners.*) Wenn der Biograph die Feder
zu seinein Werke ansetzt, hat er einen wichtigen, ja vielleicht den entscheidenden
Teil seiner Arbeit bereits hinter sich. Er hat sich über Dinge klar werden müssen,
von deren richtiger Beurteilung der Wert des ausgeführten Werkes abhängt
und in den meisten Fällen auch sein Erfolg gewährleistet wird. Zuerst soll der
Held dargestellt werden als Mensch unter Menschen, sodaß seine wissenschaftliche
oder künstlerische Bedeutung hauptsächlich sür die Darlegung seines innern Ent¬
wicklungsganges und für die Geschlossenheit des Charakterbildes verwertet wird —
oder gilt es, ihn als Träger bestimmter Kulturmomente zu zeichnen, sodaß aus
seiner Individualität heraus sein Wirken und seine Bedeutung für die Kultur er¬
klärt wird? Die scharfe Trennung, die hier formulirt wird, ist freilich so scharf
und einseitig nirgends möglich. Aber auch eine weniger entschiedene Betonung des
einen oder des andern ist nicht ganz in das Belieben det Biographen gestellt.
Eine vollständige und endgiltige Lebensbeschreibung wird ja eine angemessene Ver¬
schmelzung beider Gesichtspunkte umso gebieterischer fordern, jemehr der Held sich
den gefeierten Heroen des Menschengeschlechts nähert; in allen andern Fällen aber
wird der Takt, die geistige Gewandtheit und das biographische Talent des Autors
durch nichts deutlicher erkannt werden, als durch die Art, wie er jene beiden Ge¬
sichtspunkte zueinander in Verhältnis setzt, mithin wie er die gesamte Persönlichkeit
seines Helden zu analysiren und die Weltstellung desselben zu präzisircn weiß.
Denn eben diese Weltstellung ist maßgebend für den Gesichtspunkt der Biographie.
Wir wollen es gleich vornweg sagen : diese erste maßgebende. Auffassung seines
Helden ist Stern vortrefflich gelungen. Und für ihn war sie doch doppelt schwierig;
einmal weil er ein Freund des Verewigten war, dann um der eigenartigen Be¬
deutung Hettners willen. Weit über die Gepflogenheit gelehrter Werke hinaus hat
Hettner in den meisten seiner Schriften mit dem vollen Einsatz seiner Persönlichkeit
die Dinge behandelt: daher denn auch jeder, der sie liest, sich bald eines gewaltigen
Appells an sein edelstes Empfinden und Denken bewußt wird; daher denn auch ihre
Wirkung unvergleichlich viel weiter und tiefer gegangen ist, als der Gegenstand um
sich erwarten ließ. Und doch ist er kein Dichter, und seine Werke bilden nicht
die Objcktivirnng einer Persönlichkeit, wenigstens nicht annähernd so vielseitig und
tiefgehend, wie es bei Kunstwerken selbstverständlich ist. Da erwächst denn für den
Biographen die Aufgabe, auf jeden Fall im Gelehrten die Spuren des Menschen
und im Menschen die des Gelehrten zu suchen, ohne daß sich doch, wie beim
Dichter, wenn anders er ein wahrer Künstler ist, der Mensch mit dem Schrift¬
steller vollkommen deckt. Was das heißen will, kann vielleicht nur der recht ver¬
stehen, der einmal versucht hat, selbst ein entsprechendes Charakterbild zu entwerfen.
Leicht ist es uicht; selbst der schöpferischen Natur gelingt es nicht oft, die Urbilder
zu erzengen, und es ist unsers Erinnerns nur einer, der als seelenverwandt hier
an Hettners Seite treten könnte: David Friedrich Strauß.—
Die stete befruchtende Wechselwirkung von Mensch und Schriftsteller mit
der Zwischeninstanz des Gelehrten — aufzusuchen und darzustellen, ist, wie uns
scheinen will, die vornehmste Absicht Sterns gewesen. Daraus erklärt sich die ver-
hältnismäßig sehr ausführliche Schilderung der Entwicklungszeit, die fast ein Drittel
des Buches beansprucht. Wie liebevoll sind diese Kapitel geschrieben, mit welcher
liebenswürdigen Frische entrollen sie uns ein Bild des Gymnasiasten, des Stu¬
denten, des werdenden Privatdozenten; immer das Persönliche mit dem sachlichen
verbindend und eben dadurch den Leser mit strikten Beweis überzeugend, daß jede
wissenschaftliche That Hettuers ein unmittelbarer Ausfluß seiner ganzen Persön¬
lichkeit war. Das stimmt wehmütig, weil solche Persönlichkeiten selten geworden
sind, Moderne Menschen gehen eben auch in ihren Büchern immer im Gesell-
schaftsanzug, vielleicht weil ihr Negligee zu sehr Negligee ist. Aber eben das
thut fo wohl, daß Stern in aller und jeder Beziehung seinem Helden nachem¬
pfinden kann und, in zarter Huldigung, in der Form seiner Biographie dem Wesen
des Helden entspricht. Besonders dankenswert ist es, daß uns wiederholt Hettuers
Briefe gegeben werden, durch die sich das Charakterbild wesentlich abrundet und
belebt. Aber das durste eben nur ein Biograph wagen, der sicher war, daß seine
eigne Darstellung dadurch nnr Bestätigung, keine Beeinträchtigung erfahren würde.
Zum Schluß noch eins. Es ist ja unleugbar, daß ein umfangreicheres Werk,
Hettner als Gelehrten in den Strömungen seiner Wissenschaft darstellend, noch un¬
gemein viel des Anregenden und Klärenden bringen würde. Hettners wissen¬
schaftliche Bedeutung ist groß genug, um einem solchen Werke den Wert einer
Geschichte der modernen Kunsttheorie zu geben, und keinen bessern Autor würde»
wir ihm wünschen können, als wiederum Stern, Und doch ist die kurzgefaßte
Form des vorliegenden „Lebensbildes" eine viel glücklichere Wahl, als es ein
ausführliches Werk gewesen wäre, Hettuers Verehrer freilich würden wohl auch
die Bewältigung eines .ausführlichen nicht gescheut haben; aber so zahlreich sie
sind, so ist doch im Interesse unsrer nationalen Bildung ein noch viel, mehr ver¬
breitetes Studium namentlich von Hettners literatnrgeschichtlichen Schriften dringend
zu wünschen. Und unser „Lebensbild" ist wie geschaffen dazu, abzuregen und
einzuführen. Vielleicht hat nicht bloß die Bedeutung des Buches an sich, fondern
auch dieser Nebengedanke Stern dazu veranlaßt, die. „Literaturgeschichte des acht¬
zehnten Jahrhunderts" besonders eingehend zu besprechen?
Und nur noch ein Wunsch, ein unbescheidener: Wir möchten unser Buch als
Einleitung zu einer von demselben Verfasser besorgten Gesamtausgabe Hetel^ers
gern zum zweitenmale erblicken. Bis das möglich ist, Wollen wir .es den Ge¬
bildeten der Nation ans Herz legen: es ist ein Denkmal, das ein edler Geist dein
geschiedenen andern weihte.
och im letzten Augenblicke hat die Regierung den Fehler einer
Provinzialbehörde riickgäugig gemacht, welcher gerechtes Aufsehen
hervorgerufen und der Erbitterung der Deutschen neue Nahrung
gegeben hatte. Am 22. Dezember wurden in Brünn die Wahlen
für die Handelskammer vorgenommen, und aus denselben gingen
35 Deutsche und 13 Tschechen hervor, ein Ergebnis, welches den thatsächlichen
Verhältnissen des Handels und der Großindustrie in Mähren entspricht. Auf
die Frage des Kleingewerbes kommen wir später zu sprechen. Nach Beendigung
des Skrutiniums teilte der Regiernngskvmmissar mit, das Handelsministerium
habe verfügt, daß jede Gruppe mir solche Vertreter wählen dürfe, welche der¬
selben Gruppe als Wähler angehören. Dieser Bedingung entsprachen zwölf
deutsche Wahlen nicht, diese wurden für ungiltig erklärt und die betreffenden
tschechischen Kandidaten als gewählt proklamirt, sodaß die Gesamtzahl, 48, hier¬
nach 25 tschechische und 21 deutsche Vertreter in sich begreifen würde. Gegen
dieses Verfahren erhoben nicht nur die deutschen Kaufleute und Gewerbtrei-
benden Mährens, sondern die Presse fast ohne Ausnahme lebhaften Protest,
welchem sich in diesem Falle jedermann anschloß, der sich nicht der slavischen
Partei unbedingt verschrieben hat. Wohl machten offiziöse Stimmen den Ver¬
such, die Handlungsweise der mährischen Statthaltern zu beschönigen; doch fiel
dieser ganz unglücklich aus und wurde von der Regierung selbst desavouirt,
welche die ganze Wahl annullirte, weil die rechtzeitige Publikation des erwähnten
Ministerialerlasses unterblieben war. Sie hat damit gethan, was sie thun konnte,
der Schein einer planmäßigen Vergewaltigung der Deutschen ist dein Ministerium
abgenommen, aber es ist nicht verhindert, daß die Opposition aus der Sache
politisches Kapital schlagen kann. Sie wird sich diese Gelegenheit nicht ent¬
gehen lassen.
Sachlich erscheint uns die Verfügung ganz gerechtfertigt. Wenn die Han¬
dels- und Gewerbckammern ihren Zweck wirklich erfüllen sollen, die Interessen
bestimmter Berufsklassen wahrzunehmen und bei Behandlung einschlägiger Fragen
mit ihrer speziellen Sachkenntnis und Erfahrung den Faktoren der Gesetzgebung
und der Verwaltung an die Hand zu gehen, so genügt es keineswegs, daß die
verschiednen Berufsklassen in den Wahlkörpern vertreten sind. Allerdings hat
sich der Gebrauch ausgebildet, von diesem naturgemäßen Verhältnis abzusehen.
Im Gewerbestande sind die Männer stets weniger zahlreich, welche Zeit und
Arbeitskraft der gemeinsamen Sache zur Verfügung stellen wollen und können,
auch besteht da häufiger die Scheu, im Kreise mehr redegeübter Personen un¬
befangen von der Leber weg zu sprechen, und so fallen denn die Stimmen der
Gewerbsleute sehr gewöhnlich den Bewerbern aus dem Kaufmanns- und Fa¬
brikantenstande zu. Allein das ist unzweifelhaft ein Mißbrauch, und sein Alter
macht ihn nicht ehrwürdig. Nur hätte man bei dessen Abstellung nicht zu einer
höchst künstlichen Interpretation des Gesetzes seine Zuflucht nehmen, sondern
einfach das Widersinnige darlegen sollen. Das Schlimme bei der ganzen Sache
ist jedoch, daß der angeblich vom 22. November stammende Ministerialerlaß
einen vollen Monat geheimgehalten, wenn nicht gar einseitig mitgeteilt worden
ist. Da nämlich die Tschechen in Brünn wirklich „aus" den verschiednen Ka¬
tegorien gewählt haben, ist der Verdacht entstanden, daß sie unterrichtet gewesen
seien. Und wenn auch nicht: die Thatsache, daß man die Deutschen wählen
ließ in dem Glanben, der bisherige Usus gelte noch, bleibt in ihrer ganzen Hä߬
lichkeit bestehen. Wenn jetzt die Wahlen nach der neuen Ordnung vorgenommen
werden, kann das Zahlenverhältnis möglicherweise etwas verschoben werden,
weil in dem Handwerkerstande das tschechische Element stark vertreten ist; aber
eine tschechische Mehrheit kann sich niemals ergeben, eine solche war nur auf
dem Wege der Überrumpelung zu erlangen, wie sie in etwas andrer Weise,
aber mit demselben Endresultat schon ebendort vor nicht langer Zeit bei den
Wahlen des Großgrundbesitzes versucht worden war.
Mähren hat eine gemischte Bevölkerung, aber nicht bloß der Mittelstand
ist dort wie in Böhmen deutsch, die Deutschen haben auch der Bevölkerungs¬
ziffer nach das absolute Übergewicht, obgleich seit zwanzig Jahren mit äußerster
Energie an der Tschechisirung gearbeitet wird. Deshalb ist Mähren für die
slavische Partei ein Schmerzenskind, und der jetzige Statthalter Graf Schön¬
born, der Abkömmling eines alten rheinischen Geschlechtes, von welchem erst vor
ungefähr hundertundfunfzig Jahren ein Zweig nach Österreich verpflanzt worden
ist, scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, den Herzenswunsch der Grafen
Clam-Martinitz, Belcredi u. s. w. zu stillen. Dabei übersieht er augenscheinlich,
daß er nicht bloß die Partei, welche in Opposition zur Negierung steht, sondern
jeden Deutschösterreicher ohne Ausnahme aufbringt und die Zahl der Gegner des
Ministeriums mutwilligerweise verstärkt. Der Mann ist gewiß nach dem Herzen
der Tschechen, der österreichischen Negierung leistet er die schlechtesten Dienste,
und es ist nur zu wünschen, daß er die wiederholte Verleugnung sich zu Herzen
und — seinen Abschied nehmen möge, wie es sich nicht bloß für einen „Ka¬
valier" ziemen würde.
Auch im übrigen hat das Jahr mit so grellen Dissonanzen abgeschlossen,
als hätte das Schicksal mahnend und warnend auf wunde Stellen den Finger
legen wollen. Die letzte größere Verhandlung im Ncichsrnte drehte sich um
Eisenbahnkonzessionen. Der Streit darüber, ob gewisse Strecken als Lokalbahnen
oder als Hauptbahnen anzusehen seien, und ob die Negierung mit deren Ver¬
gebung an eine Privatgesellschaft korrekt gehandelt habe oder nicht, hat für die
Leser dieser Zeitschrift geringes Interesse. Aber bedenklich ist, daß auch diesmal
wieder, wie noch jedesmal bei Erwähnung des angeblich begünstigten Instituts,
der Länderbank, nicht mißzuverstehende verdächtigende Andeutungen vorkamen,
und auch diesmal nicht in einer Art zurückgewiesen wurden, welche deren
Wiederholung ein für allemal ausgeschlossen haben würde.
Und zu allem Überflusse stehen wir abermals mitten in einem „Krach"
schlimmster Art. Schon im Sommer wußte man, daß das rapide Sinken der
Znckerpreise verhängnisvoll besonders für Böhmen werden müsse, wo die Spe¬
kulation sich mit blinder Leidenschaftlichkeit auf den Bau und die Verarbeitung
von Rüben geworfen hatte. Die Erwartung ist nicht getäuscht worden. Bereits
weist der Kurszettel in den Rubriken der Bank- und Jndustrieccktien lange Lücken
auf, die Böhmische Bodenkreditgesellschaft, welche jener Spekulation hauptsächlich
Vorschub geleistet hatte, ist zusammengebrochen, und selbstverständlich bleibt die
Wirkung weder auf das eine Kronland noch auf die eine Kategorie von Unter¬
nehmungen beschränkt. Nun kommt zu tage, daß Beamte der größten und
solidesten Geldinstitute sich dem allgemeingültigen Verbot zuwider in Börsenspiel
eingelassen, die thuen anvertrauten Kassen angegriffen haben, und es handelt
sich dabei zum Teil um kolossale Summen. Einzelne sind verhaftet, andre haben
sich durch Selbstmord der Verantwortung entzogen; fast jeder Tag bringt neue
Nachrichten derart aus Wien oder den Provinzen. So traurig das ist, wird
es doch von einer damit in Zusammenhang stehenden Erscheinung überboten:
dein Mangel an Rechts- und Anstandsgefühl in gewissen Schichten der Be¬
völkerung. Einer von den Vankbeamten, welche sich das Leben genommen haben,
hat eine genaue Aufzeichnung seiner Malversationen hinterlasse»; ein andrer, der
sich erschoß, als der Defekt von zwei und einer halben Million Gulden nicht
mehr zu verheimlichen war, bezeichnete einen dritten als an seinem „Unglück"
schuldig, gab aber nicht die mindeste Aufklärung über das Verbleiben der
Papiere aus den Depots u. s. w. Und gerade für diesen Menschen sucht man
Stimmung zu machen. Da wird erzählt, daß er jeden Morgen vor dem
Geschäft die Messe gehört habe — man soll dabei Wohl an den frommen
Fridolin, kann jedoch mich an das geflügelte Wort denken: „Kinder, betet, der
Vater geht stehlen!" —; da wird insinuirt, er sei zu beschränkt gewesen, um
selbständig ein Verbrechen zu begehen, er müsse ein Opfer der Verführung sein;
da wagt es eine Zeitung, und noch dazu eine, die sich konservativ nennt, mit
den nichtsnutzigsten Romanfloskeln das Urteil der Leser zu verwirren. Er hat
sich dem irdischen Richter entzogen und dem höchsten selbst gestellt, das muß
milde stimmen — er hat seine Familie geliebt, der Abschied vom Leben muß
ihm so schwer geworden sein, und so fort mit der Logik eines Dumas, der eine
Dirne zur Heiligen machen möchte! Es fehlte nur noch als Motto die Parodie
auf eine Phrase Fiesevs: „Es ist frech, eine Million zu veruntreuen, aber es
ist namenlos groß, zwei und eine halbe zu stehlen," Und warum alles dies?
Warum dies doppelte Maß, die sittliche Entrüstung über diejenigen, welche sich
gestellt haben, und die Sentimentalität bei der Erinnerung an den Selbst¬
mörder? Das wissen die Götter! Vielleicht, weil er der Bruder jenes Mannes
war, welcher durch den Ringtheaterbrand eine furchtbare Berühmtheit erlangt
hat, „Der Escomptcbank-Jauner" wurde er in dem Artikel genannt — der
Verfasser hatte in seiner gerührte» Stimmung Wohl garnicht bemerkt, welch ein
böser Witz ihm aus der Feder geflossen war. Diese schmähliche Weichmütigkeit
und Rührseligkeit ist allerdings nicht neu. Tourville, der seine Frau vom
Stilfser Joch gestürzt hatte, fand schwärmerische Verehrer, die Maitresse des
Scheusals Franeeseoni, des Erfinders des Briefträgermordes, war Gegenstand
der zärtlichsten Teilnahme — es existiren Blätter, die vom Verbrecherkultus
leben. Wenn aber die größten Zeitungen in diesen Ton einstimmen und, wie
es scheint, von ihrem Publikum nicht die gebührende Zurechterweisuug erfahren,
so muß man zu sehr pessimistischen Anschauungen kommen.
und das Jahr 1880 brachte den Boers keine Erfüllung ihrer
Wünsche hinsichtlich ihrer Stellung zu England, Gladstone hatte
darüber als Minister eine wesentlich andre Meinung wie als
Volksvcrsammlnngsredner während des Wahlfeldzuges, Das
Transvaal sollte seine Unabhängigkeit nicht wieder erhalten, nicht
wieder eine selbständige Republik werden. Die Sandriver-Konvention sollte
aufgehoben, Shepstones Gewaltstreich ni Kraft bleiben und nur durch einiges
konstitutionelle Brimborium verziert werden, bei dem das Kolonialamt in
London bezüglich aller Hauptfragen die letzte Entscheidung hatte. Im Januar
wurde für das Transvaal ein so gestaltetes „verfassuugsmüßiges" Gouvernement
proklamirt, welches die große Mehrzahl der Boers natürlich nicht befriedigen
konnte, weshalb Krüger und Joubert, ihre Vertreter, am 10. Mai eine Denk¬
schrift an Sir Bartle Frere abgehen ließen, in welcher nochmals volle Unab¬
hängigkeit verlangt wurde. Am 20. Mai erklärte die Königin in der Thronrede
vor dem Parlamente: „Indem ich die Oberherrlichkeit über das Transvaal mit
seiner verschiednen Bevölkerung festhalte, wünsche ich Fürsorge für die Sicherheit
der eingebornen Nassen zu treffen Simmer das philanthropische Gesicht!s und
den europäischen Ansiedlern Institutionen zu verleihen, die auf den Grundsätzen
ausgedehnter und reichlich bemessener Selbstregierung beruhen." An demselben
Tage richtete Lord Kimberley, der Staatssekretär sür die Kolonien, ein Tele¬
gramm an Sir Bartle Frere, in dein es hieß: „Unter keinerlei Umständen kann
die Autorität der Königin im Trnnsvaalland aufgegeben werden," und am
24. Mai sagte er im Oberhause: „Die Regierung ist nach sorgfältiger Erwägung
der Verhältnisse zu dem Schlüsse gelaugt, daß wir das Transvaal sich nicht
selbst überlassen dürfen." Am 24. Juni endlich erteilte Kimberley im Auftrage
Gladstones die Antwort auf die vom 10. Mui datirte Denkschrift Krügers und
Jvnberts. Es hieß darin: „Unzweifelhaft ist sehr zu bedauern, daß es seit der
Annexion geschienen hat, als ob eine große Anzahl der Bevölkerung holländischen
Ursprunges im Transvaal gegen den Anschluß dieses Gebietes wäre. Aber es
ist dermalen unmöglich, diese Frage als jetzt zum erstenmale zur Sprache
gebracht anzusehen. Wir haben es hier mit einem Stande der Dinge zu thun,
der geraume Zeit existirt hat, während welcher vorzüglich, wenn auch nicht
ausschließlich gegenüber der eingebornen Bevölkerung Verpflichtungen eingegangen
worden sind, die nicht beiseite gesetzt werden können. Betrachten wir alle
Umstände, sowohl im Transvaal als im übrigen Südafrika, und die Not¬
wendigkeit, die Wiederkehr von Unordnungen zu verhindern, welche nicht allein
für das Transvaal, sondern für das ganze südliche Afrika zu verhängnisvollen
Folgen führen könnten, so geht unsre Meinung dahin, daß der Königin nicht
der Rat erteilt werden darf, das Transvaal aufzugeben; Wohl aber verträgt
es sich mit der Behauptung dieser Souveränetät, wenn wir wünschen, daß die
weißen Bewohner des Transvaal, ohne Präjudiz für die übrige Bevölkerung,
sich der vollständigsten Freiheit erfreuen sollten, ihre Angelegenheiten selbst zu
verwalten. Wir glauben, daß diese Freiheit dem Transvaal als einem Gliede
der südafrikanischen Konföderation sehr leicht und bald zugestanden werden kann."
Eine solche Konföderation war in London ins Auge gefaßt und sollte natürlich
von dorther die Direktive in allen wichtigeren Dingen, welche zu thun oder zu
lasten waren, empfangen.
Die Boers wußten jetzt zur Genüge, woran sie mit der britischen Politik
waren. Die gütlichen Mittel waren erschöpft, man war nur noch auf den Weg
der Gewalt angewiesen, man war gerüstet, ihn zu betreten. Die Patrioten
besaßen zwar leine Kanonen, aber gute Hinterlader, sie waren im Gebrauche
derselben geübt, sie waren tüchtige Reiter, und sie kannten das Land nach allen
Richtungen. Sie bauten auf die Geschicklichkeit ihrer militärischen Führer, auf
die Gerechtigkeit ihrer Sache und als fromme Leute auf Gott, der auch mit
kleinen Häuflein gewesen war, wenn sie unter der Fahne des Rechtes den
Heerscharen starker Tyrannen Widerstand zu leisten gewagt hatten. Kurz vor
der Mitte des Dezember 1880 traten sie in Paardekrcml in Masse zusammen,
wählten zur Leitung des Aufstandes ein Triumvirat, das aus Krüger, Prctorius
und Joubert bestand, desgleichen einen Volksraad und erklärten die Südafrikanische
Republik. Da nnr schwache englische Garnisonen im Lande zurückgeblieben
waren, ließ sich die Revolution nicht sofort erdrücken. Die englischen Land-
drosten wurden abgesetzt, Detachcments, welche Oberst Bellairs gegen die Lager
der Insurgenten entsandte, überfallen und teils niedergeschossen, teils zu Ge¬
fangenen gemacht, die Städte Rustenburg, Pretoria und Pvtschefstrovm ein¬
geschlossen und in den Drakenbergcn starke Stellungen gegen von Natal her
erwartete britische Hilfstruppen besetzt. Zu Anfang des Jahres 1881 war das
ganze Land mit Ausnahme einiger Städte, deren Besatzungen aber zur Un-
thätigkeit gezwungen waren, weil die Boers sie mit Übermacht in Schach hielten,
in den Händen der Aufständischen. Der Versuch der Engländer, von Natal
her über die Drakenbcrge in Transvaal einzudringen und jene Ortschaften zu
entsetzen, schlug vollständig fehl. Der General Sir George Colley, welcher von
dort mit etwa tausend Mann zur Unterdrückung des Aufstandes heranrückte,
erlitt bei Lcnngs Reck, einem Gebirgspässe an der Grenze, trotz seiner Artillerie
durch die Vüchsenschützen Smith, des Oberfeldherrn der Boers, eine schwere
Niederlage, durch welche sich die Lage der britischen Streitkräfte bedenklich ge¬
staltete. Am 21. Januar traf der neue Gouverneur der Kapkolonie, Sir
Hercules Robinson, in der Kapstadt ein, und bald darauf kamen von England
in Natal beträchtliche Verstärkungen unter dem General Sir Evelyn Wood an.
Ehe dieselben aber noch den Kriegsschauplatz erreichen konnten, hatte England
hier neues Unheil zu verzeichnen. Am 27. Februar fand in den Drakenbergen
ein zweites Gefecht zwischen den englischen Notröcken und den Boers statt, dessen
Mittelpunkt der Madschuba-Hill war und das mit einer blutigen Schlappe
Colleys endigte, welcher dabei selbst fiel. Es war eine Aktion etwa wie
Packenhams Niederlage vor der Baumwollenballenschanze Jacksons bei New-
orlecms. General Wood, der zugleich als Administrator von Natal fungirte,
scheint dadurch Respekt vor den Boers bekommen zu haben; denn obwohl er
über mehrere tausend Man» guter Truppen gebot und grobes Geschütz zur
Verfügung hatte, trat er uach seiner Ankunft vor dem verhängnisvollen Gebirgs-
passe mit den Führern seiner Gegner ohne Verzug in Verhandlung über einen
Waffenstillstand, der später wiederholt verlängert wurde nud dann zu einem
Prälimincirfrieden führte, welcher zwischen Wood, den Führern der Boers und
dem zum Vermittler gewählten Präsidenten des Ormijefreistciats Brand am
25. März abgeschlossen wurde. Durch diese vorläufige Verständigung wurden
der britischen Krone von seiten der Boers gewisse Befugnisse innerhalb des
Transvaal eingeräumt, im übrigen aber das Recht desselben, sich selbst zu
regieren, im allgemeinen wieder festgestellt. Die Erledigung aller Einzelheiten
und die Formulirung des definitiven Friedensvertrages übertrug man einer
Kommission, die aus Sir Hercules Robinson, General Wood und dem Chef
der Justiz de Villiers bestand. Dieselbe machte sich unverweilt an die Aus¬
arbeitung einer Konvention, diese wurde vou den Führern der Boers annehmbar
befunden und gelangte am 3. August 1881 zur Unterzeichnung, worauf sich am
10. der alte Volksraad von neuem konstituirte.
England hatte hier nicht bloß im Hinblick auf die unvermutete Stärke
und das Waffenglück seiner republikanischen Gegner von der Fortsetzung der
Feindseligkeiten abgesehen und Nachgiebigkeit gegen die Forderungen der Boers
gezeigt, sondern auch in Erwägung der Stimmung, die sein Verhalten in
Transvaal bei den Nachbarn im Westen der Drakenberge und südlich vom
Vaalslusse, ja selbst in der Kapkolonie erregt hatte, und die während der
Wasfenstillstandsverhandlungen eine ziemlich bedrohliche Sprache führte. Mit
andern Worten: eine längere Fortsetzung des Krieges gegen die Insur¬
genten des Transvaal konnte leicht ernstlichere Verwicklungen zur Folge
haben, da die Boers sich in ihrem Widerstande gegen England und in ihrem
Verlangen nach Rückerstattung der mit der Sandriver-Konvention erlangten
Freiheit nicht nur der Sympathien ihrer Volksgenossen in dem Omnjesreistaate,
sondern auch in Natal und weiter südlich bis zum Kap erfreuten. Fanden doch
nach den englischen Blaubüchern im März 1881 allein in der Kapkolonie nicht
weniger als vierunddreißig Volksversammlungen statt, welche Resolutionen und
Petitionen beschlossen, in denen den Boers in unzweideutigen Worten Recht
gegeben wurde.
Der Vertrag von Pretoria, der am 3. August 1881 zwischen Robinson,
Wood und de Villiers auf britischer und Johann Paul Krüger, Martin Wessel
Pretorius und Peter Jakob Joubert auf südafrikanischer Seite abgeschlossen
worden war, trug den Charakter eines Kompromisses und gab den Boers ihre
Unabhängigkeit nur teilweise zurück. Die Einleitung verspricht und verbürgt
den Bewohnern des Transvaalgebietes nur „Gewährung vollständiger Selbst¬
regierung unter der Suzerünetät der Königin von England." Artikel 1
bestimmt die Grenzen „des Gebietes, weiches hierin jm der Konvention^ fortan
der »Transvaalstaat« genannt werden soll" — also nicht, wie die Boers wollten,
die „Südafrikanische Republik." Artikel 2 wahrt der Königin und ihren Nach-
folgern „das Recht, von Zeit zu Zeit einen britischen Residenten in und für
besagten Staat zu ernennen, das Recht, durch den genannten Staat in Kriegs¬
zeiten oder wenn zu befürchten, daß ein Krieg zwischen der suzeränen Macht
und irgendeinem andern Staate oder einem Stamme der Eingebornen unmittelbar
bevorstehe, Truppen marschiren zu lassen und die Oberaufsicht über die aus¬
wärtigen Beziehungen des erwähnte» Staates mit Einschluß des Abschlusses
von Verträgen und der Führung des diplomatischen Verkehrs mit fremden
Mächten, sodaß ein derartiger Verkehr durch Ihrer Majestät diplomatische und
konsularische Beamte im Auslande besorgt werden soll." Die Funktionen des
britischen Residenten sollen nach Artikel 18 die eines Geschäftsträgers und Ge¬
neralkonsuls sein. In betreff der Eingebornen sKaffern j im Transvaalstaate
„soll er dem Oberkommissar als dein Vertreter des Suzcräns über die Wirk¬
samkeit und Beobachtung der Bestimmungen dieses Vertrages, den Behörden
des Transvaal über alle Fälle übler Behandlung der Eingebornen oder der
Aufreizung derselben zur Rebellion, die zu seiner Kenntnis kommen, Bericht er¬
statten, seinen Einfluß auf die Eingebornen zu gunsten von Gesetz und Ordnung
anwenden und Schritte für die Person und das Eigentum derselben thun, die
mit den Landesgesetzen im Einklange stehen. In bezug auf die Eingebornen,
die nicht in Transvaal wohnen, wird er dem Oberkvmmissar und der Negierung
des Transvaalstaates jede ihm bekannt werdende Ausschreitung ^noroMiiuöntsj
von Bewohnern des Transvaal nach dem Lande solcher Eingebornen hin zur
Kunde bringen, und falls zwischen der Transvaalregierung und dem Residenten
eine Meinungsverschiedenheit obwalten sollte, ob eine Ausschreitung stattgefunden,
soll die endgiltige Entscheidung dem Suzerän zustehen. >Der Resident soll mit
andern Worten der Anwalt der Kaffern im Lande und hinsichtlich der benach¬
barten Stämme der Spion Englands sei», welches keine Ausdehnung der Boers,
vorzüglich keine nach Südwesten, nach den: Betschuaueugebiet hin, zulassen
will.j Der Resident wird der Vermittler des Verkehrs mit den Eingebornen
außerhalb des Transvaal sein und die Aussicht über deu Abschluß von Ver¬
trägen mit ihnen führen, und über jeden Streit zwischen Bewohnern des Trans¬
vaal und Eingebornen jenseits der Grenzen desselben richterlich entscheiden. In
betreff des Verkehrs mit fremden Mächten wird die Transvaalregierung mit
derjenigen Ihrer Majestät durch den britischen Residenten und deu Oberkommissar
kvrrespondiren."
Wichtig sind noch folgende Bestimmungen der Konvention vom 3. August
1881. Artikel 10: „Der Transvaalstaat wird auszukommen haben für den
Betrag der Schulden, für welchen die Südafrikanische Republik am Tage der
Annexion auszukommen hatte, nämlich für die Summe von 48000 Pfund Ster¬
ling in betreff der Cape Commercial Bank-Anleihe, für 85 667 Pfund Sterling
aus der Eiscubcchnanleihe, sowie für den am 8. August 1881 fälligen Betrag
bezüglich der Waifcnlammerschuld, der sich jetzt auf 27 226 Pfund Sterling
13 Schilling beläuft. Diese Schulden sollen die Einkünfte des Staates an
erster Stelle belasten. Der Transvaalstaat wird ferner verantwortlich sein für
die gesetzliche Rückzahlung der notwendigen Ausgaben der Provinz seit der An¬
nexion, d. h. die Summe von 265000 Pfund Sterling, welche Schuld die Ein¬
künfte des Staates an zweiter Stelle belasten wird." Der 13. Artikel bestimmt,
daß auf keine Waare, die aus englischen Besitzungen in den Transvaalstaat ein¬
geführt wird, ein höherer Zoll gelegt werden soll als auf dieselbe Waare, die
von anderswo importirt wird, und daß keine britische Waare ausgeschlossen
werden darf, wenn derselbe Gegenstand der Einfuhr aus andern Ländern nicht
ebenso behandelt wird, wogegen England sich zu gleichem verpflichtet. Artikel 15
endlich sagt: „Die Bestimmungen des 4. Artikels des Sandriver-Vertrages werden
hiermit bekräftigt, und es soll keine Sklaverei oder g.xxr<ZQti<Z08nix, die Züge
von Sklaverei in sich schließt (xm-t^ce;« of 8illo<?ry), von der Regierung des ge¬
dachten Staates geduldet werden."
Der Volksraad der Boers nahm diese Konvention nicht ohne Zögern und
Widerstreben an. Er gab nur dem Drucke bis auf weiteres uach, den Sir
Evelyn Wood mit seinen in Ncital stehenden Truppen übte. Dieser hatte seine
Regimenter, von denen einige bereits zur Heimkehr nach England beordert
worden waren, sämtlich zurückbehalten und so aufgestellt, daß er, falls der Ver¬
trag nicht ratifizirt wurde, unverzüglich in den Transvaalstaat einrücken und
eine neue allgemeine Erhebung der Boers zu bewaffnetem Widerstande verhin¬
dern konnte, und er ließ die Führer der letzteren nicht in Zweifel darüber, daß
er, der im ganzen über eine Streitkraft von 7000 Mann verfügte, nach einer
etwaigen Ablehnung der Auguftkonvcntion durch den Volksraad die Feindselig¬
keiten sofort wieder eröffnen werde. Trotzdem sträubte sich die Mehrheit des
Parlaments der Boers noch mehrere Wochen und wollte noch in einer Reso¬
lution vom 3. Oktober nicht weniger als elf Artikel jener Übereinkunft geändert
wissen. Es gab eine sehr starke Kriegspartei, die vor den Drohungen des eng¬
lischen Generals sich nicht zu beugen entschlossen war. Neben ihr bestanden
aber noch zwei andre Parteien, eine, welche die Konvention für annehmbar hielt,
und eine vermittelnde, welche Modifikationen derselben zwar für unbedingt er¬
forderlich ansah, aber mit Erstrebung derselben zu warten riet, bis Woods
Soldaten sich von der Grenze entfernt hätten und heimgekehrt wären. Diese
vorsichtigen Politiker behielten schließlich die Oberhand, und der Volksraad faßte
am 24. Oktober den einstimmigen Beschluß, den Angustvertrag in der Hoffnung
anzunehmen, daß die englische Regierung zu einer Abänderung solcher Artikel
desselben, die sich später als praktisch nicht ausführbar erweisen würden, ihre
Einwilligung erteilen werde. Man dachte dabei zunächst vermutlich an die
Punkte, welche England in bezug auf die Stellung der Ansiedler zu den Kaffern
innerhalb und außerhalb des Staates der Boers in die Konvention gebracht
hatte, an die »xproiitieoZlüp MrtiMnss 8ki>>v<zi'/ und an das Verbot der
MoroÄ<zIi.<zniönt8 — beides sehr dehnbare Begriffe, und sodann an die finan¬
ziellen Bestimmungen des Vertrages, die schwer zu erfüllen waren, und man
rechnete ohne Zweifel darauf, daß England, wenn seine Truppen erst wieder
heimgeschifst wären, sich zweimal überlegen würde, ob es sich nochmals an eine
kostspielige und wegen der Stimmung der Holländer in ganz Südafrika gefähr¬
liche Expedition wagen dürfe, um die Erfüllung aller Stipulationen des Ver¬
trages zu erzwingen.
Diese Rechnung trog auch zunächst nicht. Obwohl die freihändlerische
Presse sich höchlich entrüstet geberdete, als der Vollsraad bald nach Ratifikation
der Augustkonvention einen nicht unerheblichen Zoll auf die Einfuhr aller fremden
Waaren zu legen beschloß, gelang es nicht, die Negierung zu einem Protest da¬
gegen, zu dem sie beiläufig in Artikel 13 keinen Anlaß hätte finden können, zu
bewegen, und ebensowenig Gehör würden beim Ministerium Klagen der ^nti-
Llg-vör^ IlLüAuo gefunden haben, wenn dieser über die Leibeigenschaft der Kaffern
in Transvaal Beschwerden zugegangen wären. Gladstone ist kein kriegerischer
Staatsmann, und das gebrannte Kind fürchtet sich vor dem Feuer.
So vergingen etwa anderthalb Jahre ohne Konflikt, und als die Boers
im Spätsommer 1883 den Beschluß faßten, eine Delegation nach London zu
schicken, die mit der britischen Regierung über Abänderung des Vertrages von
1881 verhandeln sollte, fand dieselbe freundliche Aufnahme und Bereitwilligkeit,
wenigstens einige der Wünsche, die sie mitbrachte, zu erfüllen. Am 7. November
wurden die Abgesandten des Transvaalstaates, Präsident Krüger, General Sinn
und Unterrichtsminister Dudon, von Lord Derby, dem neuen Staatssekretär für
die Kolonien, empfangen, und Tags darauf deutete die limvs in einem offi¬
ziösen Leitartikel dessen Stellung zu dem Anliegen der Boers an. Es hieß
darin, dieselben würden von Lord Derby vermutlich zugestanden werden, ob-
schon sie praktisch auf gänzliche Wiederherstellung der Unabhängigkeit des
Transvaal hinausliefen. Das Aufgeben einiger Punkte der Konvention von
1881 wolle wenig bedeuten; denn faktisch sei sie doch nie ausgeführt worden,
und der Schatten von Macht, welchen sie England gelassen, sei wohl einen kost¬
spieligen Krieg seinetwegen nicht wert. Die Delegation verlange vorzüglich
dreierlei: Erlaß der 265000 Pfund Sterling, welche ihr Staat England noch
von der Zeit der Annexion her schuldig sei, Ersatz des Namens „Transvaal¬
staat" durch die alte Bezeichnung „Südafrikanische Republik" und Erlaubnis
sür die Boers, alles südafrikanische Gebiet, welches nicht unter britischer Herr¬
schaft stehe, in westlicher Richtung bis an das Atlantische Meer ihrem Staate
einzuverleiben. Die Gewährung der beiden ersten Punkte werde keinen Anstand
haben; denn hier handle es sich um eine für England nicht bedeutende Summe
und einen bloßen Namen. Dagegen ließen sich gegen den dritten Bedenken er¬
heben, wenn man die Interessen der Kapkolonie und des englischen Handels ins
Auge fasse. Indes könne der Ausdehnung der Boers über das Land der Bet-
schuanen sum die es sich hier vorzüglich handelte! nur in dem Falle Halt ge¬
boten werden, wenn England die Schutzherrschaft über dieses übernähme, und
zu einem so folgenschweren Vorgehen werde das Kabinet sich nicht wohl ent¬
schließen. Die konservative Presse war sehr andrer Meinung. Sie bemerkte
nicht ohne Grund, daß mit der Bezeichnung „Südafrikanische Republik" An¬
spruch ans britisches Gebiet erhoben werde jetwa wie mit dem Namen der nord¬
amerikanischen Union „Vereinigte Staaten von Amerika," nicht „Nordamerika"!
und verurteilte energisch eine Preisgebung der Betschuanen, die Englands Ver¬
bündete seien und ihm ihr Vertrauen geschenkt hätten.
Die Verhandlungen über den Abschluß einer neuen Konvention zogen sich
einige Wochen hin und endigten damit, daß die britische Negierung den Dele-
girten der Boers verschiedne Zugeständnisse machte. Die finanziellen Ansprüche
Englands wurden ermäßigt, da Lord Derby zugeben mußte, daß bei der Zer¬
streuung der Bevölkerung Transvaals und deren geringer Seßhaftigkeit Steuern
schwer einzutreiben seien. Ferner machte der Minister für die Kolonien in der
That keine Einwendungen gegen die Vertauschung des bisherigen Namens des
Bvernstaates mit dem der „südafrikanischen Republik." Dagegen gab er den
Vorstellungen des Vertreters der Kapkolonie, in denen darauf hingewiesen
wurde, daß die Boers sich in der letzten Zeit fort und fort weiter über das
zwischen dieser Kolonie und dem Transvaal sich erstreckende Gebiet der Bet¬
schuanen ausgedehnt hätten, und daß deshalb dieser große Stamm der Ein-
gebornen unter das Protektorat der britischen Regierung gestellt werden müsse,
insofern nach, als er hier eine bestimmte Demarkation und die Zusage der
Boers verlangte, diese Scheidelinie nicht überschreiten zu wollen. Von der
Proklmnirung eines förmlichen Protektorats über die Betschuanen und einer
darauf bezüglichen Klausel in dem in Aussicht genommenen neuen Vertrage sah
er ab, und so kam derselbe am 27. Februar 1884 zustande und wurde von
Sir Hercules Robinson, Krüger, Sinn und Dudon unterzeichnet.
Dieser Londoner Traktat enthält zwanzig Artikel, deren erster in aus¬
führlichster Weise Gebiet und Grenzen der „südafrikanischen Republik" bestimmt.
Im zweiten heißt es: „Die Regierung der südafrikanischen Republik wird sich
streng an die im ersten Artikel dieser Übereinkunft festgesetzten Grenzen halten
und ihr äußerstes thun, um jeden ihrer Einwohner zu verhindern, daß er sich
solcher Landstriche bemächtige, die jenseits besagter Grenzen liegen. Die Re¬
gierung der südafrikanischen Republik wird an den östlichen und westlichen
Grenzen Kommissare ernennen, deren Pflicht es sein wird, sorgfältig über Un¬
regelmäßigkeiten und alle Verletzungen der Grenzen zu weichen. Die Regierung
Ihrer Majestät wird, falls es notwendig ist, in den Gebieten der Eingebornen
jenseits der Grenzen im Osten stgegen die Zulus j und im Westen sgegen
die Betschuanen"! der südafrikanischen Republik Kommissare zur Aufrecht¬
haltung der Ordnung und zur Verhütung von Überschreitungen einsetzen."
Artikel 3 sagt: „Wenn ein britischer Beamter beauftragt wird, in Pre¬
toria oder sonstwo innerhalb der südafrikanischen Republik zu residiren
und Funktionen ähnlich denen eines Konsularbeamten auszuüben, so wird
ihm der Schutz und Beistand der Republik zuteil werden." Im vierten
Artikel wird bestimmt: „Die Südafrikanische Republik wird weder mit einem
andern Staate oder Volke als dem Oranjefreistaate einen Vertrag oder
eine Verpflichtung abschließen, noch mit irgendeinem eingebornen Stamme öst¬
lich oder westlich von der Republik, bis die Übereinkunft von Ihrer Majestät
der Königin gebilligt worden ist." Artikel 5 und 6 regeln die finanziellen
Obliegenheiten der Republik, wobei die Schuld von 265 000 Pfund Sterling
auf 250 000 ermäßigt wird. Artikel 7 sorgt dafür, daß die, welche bei den
Kämpfen von 1881 für England Partei ergriffen haben, deswegen weder
kriminell noch zivilgerichtlich verfolgt werden, und sichert ihnen alle ihre bürger¬
lichen Rechte, Artikel 8 lautet: „Die Südafrikanische Republik erneuert die im
Sandriver-Vertrag und der Übereinkunft von Pretoria abgegebene Erklärung, daß
die Regierung besagter Republik keine Sklaverei oder Äpprontiossliix, die etwas
von Sklaverei an sich trägt, dulden wird." Die übrigen Bestimmungen der
Konvention, in welcher nirgends mehr von einer Suzcräuetät der britischen
Krone die Rede ist, können hier folglich Übergänge» werden. Bald nach Ab¬
schluß des Vertrages begab sich die Delegation der Boers zunächst nach Holland,
um hier womöglich eine Anleihe zur Deckung der Summen, die sie England
schuldete, zu kontrcihiren. Im Haag wurden den Herren als südafrikanischen
Vettern, die tapfer und mit Erfolg für ihre Unabhängigkeit gestritten hatten,
von allen Schichten der Gesellschaft Ovationen bereitet. Ein Komitee, an dessen
Spitze der Bürgermeister der Residenzstadt stand, begrüßte sie bei ihrer Ankunft
auf dem Bahnhofe. Beinahe Tag für Tag fanden ihnen zu Ehren Bankette
und sonstige Vereinigungen statt, an welchen sich die angesehensten Männer
beteiligten. Der frühere Minister Graf Lynden van Scmdenburg und der
Präsident der zweiten Kammer veranstalteten Soireen, deren Mittelpunkt die
„Afrikanders" aus dem Transvaallande bildeten. Dabei fiel auf, daß, während
der General Sinn und Superintendent Dudon gutes modernes Holländisch
redeten, ihr Kollege, Präsident Krüger, sich eines Idioms bediente, wie es etwa
um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts in den Niederlanden gesprochen
worden war. Auch der Hof erwies den von der Bevölkerung gefeierten Gästen
die Ehre, sie zu empfangen und zu bewirten. Der Prinz von Oranien lud
Krüger zum Frühstück ein und gab der gesamten Delegation dann am Abend
ein Diner. Der König lehnte zwar einen Empfang der Delegation als solcher
ab, empfing aber später im Beisein seiner Gemahlin den Präsidenten Krüger.
In Amsterdam gab es wieder allgemeine Begeisterung und feierliche Sympathie¬
bezeugungen. Aber die Finanzoperation, welche die Vertreter der Boers im
Auge hatten, wollte, obwohl man anfangs einige Hoffnung haben durfte, nicht
gelingen, und zuletzt war nicht mehr von einer Anleihe, sondern nur noch von
einer Beihilfe einiger Bankiers und Millionäre bei der beabsichtigten Gründung
einer Nationalbank im Transvaallande die Rede,
Die Delegation kam auf ihrer europäischen Tour einige Wochen später
auch nach der Kaiserstadt des deutschen Reiches, wo die Herren die Ehre hatten,
vom Kaiser Wilhelm und dem Fürsten von Bismarck empfangen zu werden.
Was der letztere dabei mit ihnen besprochen, blieb Vermutung. Dagegen wollten
Zeitungen von der Audienz beim Kaiser Kunde haben. Nach einem in New-
York erschienenen Blatte, das uns vorliegt, hätte — wir betonen das „hätte" —
Präsident Krüger bei dieser Zusammenkunft gesagt: „Es ist mir eine Ehre und
wahre Freude, von Euer Majestät in so freundlicher Weise empfangen worden
zu sein, und zwar umsomehr, als ein großer Teil der Bevölkerung der süd¬
afrikanischen Republik, ja von ganz Südafrika, von deutscher Abstammung ist.*)
Ich selbst bin stolz darauf, deutscher Herkunft zu sein, obgleich ich zu meinem
Bedauern nicht imstande bin, Euer Majestät in der Sprache meiner Vorväter
anzureden. Ich hege die Hoffnung und den Wunsch, daß die Beziehungen
zwischen Deutschland und Transvaal und in der That zwischen Deutschland und
ganz Südafrika immer freundschaftlich bleiben werden, und daß der kommerzielle
Verkehr zwischen den beiden Ländern zur Förderung ihrer beiderseitigen Wohl¬
fahrt gedeihen wird. Wahrhaft glücklich würde ich sein, wenn mein gegenwär¬
tiger Besuch und derjenige der übrigen Vertreter der südafrikanischen Republik
dazu beitragen könnte, dieses Ergebnis herbeizuführen." Darauf hätte Kaiser
Wilhelm erwiedert: „Ich freue mich sehr, Herr Präsident, in Ihnen dem Ver¬
treter eines Gemeinwesens zu begegnen, das mit Deutschland durch die Bande
der Verwandtschaft verknüpft ist. Ich habe stets ein lebhaftes Interesse an
dem Entstehen und Gedeihen Ihres Staates genommen, und bin umso befrie¬
digter darüber, daß die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und
der Republik im Transvaal jetzt vertragsmäßig Ausdruck erhalten sollen. Ich
bin überzeugt, daß ein wachsender Verkehr zwischen dem deutschen Reiche und
Ihrem Lande dazu führen wird, die Gefühle der Freundschaft und Sympathie,
welche zwischen den beiden verwandten Völkern bestehen, zu verstärken, und Ich
meinesteils werde mich bemühen, dieses Ziel zu fördern."
Wie es mit dem hier erwähnten Vertrage steht, wissen wir nicht. Viel¬
leicht sind sogar die hier mitgeteilten Reden halb oder ganz apokryph. Aber
bisweilen haben auch amerikanische Blätter gute Quelle», und so darf sie der,
welcher Zeitgeschichte schreibt, nicht ganz außer Acht lassen.
L-ÜNK roixudlioiw suproma. Isx ostn.
^^
ssKAhG
'ÄMö
MUMZ^
WM
it einer der bedeutenderen politischen Zeitungen waren neulich
folgende Sätze zu lesen:
1. Das Wort „Verwaltungsgericht" enthält einen Widerspruch
in sich selbst, denn eine Verwaltungsbehörde kann nicht richten, und
ein Gericht kann nicht verwalten.
2> Die Verwaltungsgerichtsbarkcit ist ein modernes, lediglich aus theoretischen
Erwägungen hervorgegangenes Produkt unpraktischer Gelehrsamkeit.
3. Auch in Fragen des öffentlichen Rechtes muß der sogenannte ordentliche
Richter zuständig sein, sodaß für die Verwaltungsgerichte kein Raum weiter bleibt.
Diese drei Sätze müssen einer gesonderten Betrachtung schon deshalb unter¬
zogen werden, weil sie durchaus verschiednen Ursprunges sind, denn der erste
soll von einem großen Staatsmanne herrühren, wird aber wohl — wie am
Schlüsse dieser Betrachtung gezeigt werden soll — etwas anders gelautet haben
oder doch etwas anders zu verstehen sein; der zweite ist ein Zusatz von Nicht-
kennern und bedarf in der Hauptsache der Berichtigung, und der dritte kann
unter Umständen als eine Konsequenz des ersten angesehen werden, jedenfalls
aber hat man seinen Ursprung in dem ersten zu suchen; beide stehen und fallen
miteinander.
Der erste Satz beruht auf einer schlichten und natürlichen Wahrheit,
welche nur durch eine langjährige Übung entgegenstehender Anschauungen ver¬
dunkelt worden ist. Diese Wahrheit entspricht — obwohl sie in unserm Zeit¬
alter nicht mehr aufrecht zu erhalten ist — so sehr unsrer vaterländischen Ge¬
schichte und demi tiefeingewurzclten Rechtsbewußtsein der regierten Bevölkerung,
daß ein Verständnis für das Wesen und die Aufgabe der Verwaltungsgerichte
auch jetzt noch nur bei einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Sachverstän¬
digen gesunden wird. Vielfach hört man selbst von Leuten, denen man nach
ihrer Lebensstellung wohl eine gute Einsicht in die öffentlichen Angelegenheiten
zutrauen sollte, die Fragen aufwerfen: Was ist denn eigentlich ein Verwaltungs¬
gericht, was sind das für Sachen, über welche dort Recht gesprochen wird,
warum können denn diese nicht ebenfalls bei dem Amtsgerichte oder Landgerichte
erledigt werden? und staunend steht der rechtsuchende Staatsbürger da, wenn
ihm nach langwierigem Prozessiren eröffnet wird, daß er bei dem Amtsrichter
nicht an die richtige Thür gekommen sei, daß er kostenpflichtig abgewiesen werde
und nun sein Heil bei dem Verwaltungsgerichte versuchen möge; und ebenso
umgekehrt, wenn ihn der Verwaltungsrichter abweist mit dem „Anheimstellen,"
sich an den Amtsrichter oder an eine andre Behörde zu wenden, weil über die
betreffende Frage der „ordentliche" Richter, beziehungsweise die Aufsichtsbehörde
oder sonst eine Verwaltungsbehörde zu entscheiden habe. Dabei kommt es denn
auch vor, daß sowohl der Amtsrichter als der Verwaltuugsrichter oder sonst
eine der vielen Behörden sich für zuständig oder für unzuständig erklären, und
dann beginnt ein Verfahren zur Entscheidung dieses „Kompetcnzkonfliktcs," um
mit einem bewundernswürdigen Aufwand von Scharfsinn und Gelehrsamkeit allein
die Vorfrage zur Erledigung zu bringen, an welcher Thür der Rechtsuchende
anklopfen müsse, um überhaupt erst in die Lage zu gelangen, daß über seine
Angelegenheit ein Urteil gefällt werde. Dann erst beginnt der eigentliche, wirk¬
liche Instanzenzug bis hinauf zum Reichsgericht oder dem Bundesamt für das
Heimatswesen oder dem Oberverwaltungsgerichte, dem Oberlandeskulturkollegium,
und wie sonst diese höchsten, sämtlich mit richterlichen Qualitäten ausgestatteten
Behörden alle heißen mögen. Hierüber wird denn vielfach (und wohl auch
nicht mit Unrecht) geklagt, und es ist denkbar, daß schon manchem Rechtsbediirf-
tigeu während der Suche nach dem zuständigen Richter die Neigung vergangen
ist und auch die Mittel ausgegangen sind, den eigentlichen Prozeß anzu¬
fangen.
Zwar find die durch die Vielgestaltigkeit der Gerichtsbehörden und durch
die „Kompetenzsuche" verursachten Härten dadurch bereits gemildert, daß weder
Kostenpauschquantum noch baare Auslagen erhoben werden, auch eine Erstattung
der den Parteien erwachsenden Kosten nicht stattfindet, wenn sich in derselben
Sache die zur Entscheidung im Verwaltungsstreitverfahren berufene Behörde und
eine andre Verwaltungsbehörde für zuständig oder für unzuständig erklären,
worüber das Oberverwaltungsgericht entscheidet. Zwar ist das Verfahren bei
dem Gerichtshofe zur Entscheidung der Kompetenzkonflikte und bei den Konflikten
in Disziplinarsachen gebühren- und stempelfrei, auch werden baare Auslagen nicht
erstattet und eine Erstattung der den Parteien erwachsenden Kosten findet nicht
statt, auch sind diese Bestimmungen auf die Konflikte zwischen den ordentlichen
Gerichten und den Auseinandersetzungsbehörden anwendbar. Allein einerseits
enthalten diese Vorschriften ein Anerkenntnis der beklagten Härten, andrerseits
erwachsen doch noch Kosten in den unteren Instanzen, und der mit der „Kvm-
petenzsuche" verbundene Zeitverlust ist garnicht zu ersetzen.
Diese Übelstände empfindet aber keineswegs allein der Laie, sondern auch
Rechtsanwälte und Richter zerbrechen sich die Köpfe, bevor sie zu einem Ent¬
schlüsse über die Zuständigkeit dieser oder jener Behörde gelangen; und dick¬
leibige Bücher liefern den Beweis, in welchen Kompetenzschmerzen sich selbst
hochgelehrte Männer zu winden haben (vergl. z. B. das vortreffliche Werk von
Oppenhoff „Die preußischen Gesetze über die Nessortverhältnisse zwischen den
Gerichten und Verwaltungsbehörden," Berlin, Georg Nenner, 1863), Solche
Bücher sind dann, solange sie durch die rastlos weiterarbeitende Gesetzgebungs¬
maschine nicht überholt sind, die Rettungsanker, an welche sich der hilflose
Beamte anklammert, wie in Sachen seiner Seele an das Evangelium, sodaß
man die Aussprüche dieser Autoritäten von dem geltenden Rechte schließlich
garnicht mehr unterscheidet. Das sind die thatsächlichen, von niemand in
Abrede zu stellenden Resultate der Vervielfältigung der Gerichtshöfe, welche sich
in der Praxis darstellen als eine endlose Kette von Streitigkeiten verschiedner
gerichtlichen und Verwaltungsbehörden über ihre Zuständigkeit und Nicht¬
zuständigkeit, während die Regierten hoffend und geduldig harrend vorläufig
beiseite treten, ohne eine Ahnung vou dem zu haben, was ihretwegen da oben
verhandelt wird.
Wenn unter solchen Umständen ein großer Staatsmann kraft seiner tiefern
Einsicht in die geschichtlichen Verhältnisse des Vaterlandes und in die Be¬
dürfnisse der Bevölkerung zu der Überzeugung und vielleicht (!) auch zu dem
Wunsche gelangt, daß das Richten nur dem Richter, das Verwalter nur dem
Verwaltungsbeamten zustehen möchte, so ist das wohl begreiflich; jedoch es fragt
sich, ob die sonstigen Verhältnisse des Landes dies gestatten. Wir glauben
diese Frage verneinen zu müssen, kommen jedoch zunächst zur Prüfung der
zweiten Behauptung, welche — dies muß ausdrücklich wiederholt werden -—
nicht ans derselben Quelle stammt, nämlich, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit
ein modernes, lediglich aus theoretischen Erwägungen hervorgegangenes Produkt
unpraktischer Gelehrsamkeit sei.
Wer das sagt, befindet sich in einem großen Irrtume, denn die Verwal-
tuugsgerichtsbarkeit hat eine Entstehungsgeschichte, die lediglich auf Thatsache»
zurückweist, welche mit der Gelehrsamkeit nichts zu thun haben. Wenn die Ge¬
lehrten es später und namentlich in neuerer Zeit zur Ausbildung und Durch¬
führung eines richtigen Prinzips unternommen haben, diesen Thatsachen einen
wissenschaftlichen Mantel umzuhängen und ihnen gleichsam den Doktorhut auf¬
zusetzen, so war dies teils unumgänglich notwendig, teils ändert dies nichts an
dem Ursprünge der Verwaltungsgerichtsbarkeit, welcher in den verschiednen
Ländern ein grundverschiedner ist.
Diese Verschiedenheiten und die daraus zu folgernden Abweichungen sind,
zur Vermeidung von Irrtümern, sorgfältig zu beachten, denn es wäre z. B.
durchaus unrichtig, wenn man die Vcrwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie sich in
Brandenburg-Preußen rechtsgeschichtlich entwickelt hat, als eine Nachahmung
der französischen Vcrwaltuugsgerichtsbarkeit ansehen, oder wenn man auch nur
diese beiden mit einander vergleichen wollte. Sie haben weder nach ihrer Ent¬
stehung noch nach ihrer heutigen Gestaltung irgendwelche Ähnlichkeit, wenn sie
auch beide schließlich darauf hinauskommen, daß die Zuständigkeiten des „ ordent-
liehen"*) Richters dadurch geschmälert werden, daß ihm ein Teil seiner ihm von
Natur zukommenden Befugnisse thatsächlich entzogen ist. Die Gründe für diese
Entziehung sind aber in beiden Ländern durchaus von einander verschiedene.
In Frankreich ist die heutige Verwaltungsgerichtsbarkeit der Abkömmling
einer illegitimen Schwester der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Jene Schwester ist
aber nicht etwa ein Kind der französischen Revolution, sondern sie ist älter,
nämlich schon ein Sprößling des absoluten Königtums mit dem Motto: I/6ta>t
e'est nroi. Gewährsmann für diese Behauptung ist ein Franzose, Alexis de
Toqueville, welcher in seinem vortrefflichen Werke I/unoien r^imo se ig. r6vv-
lution (Paris 1.8S7) etwa folgendes sagt (Kap. 4):
In keinem Lande waren die ordentlichen Gerichte von der Regierung unab¬
hängiger als in Frankreich. Der König hatte nicht den geringsten Einfluß auf die
amtliche Lanfbnhu der Richter, denn er konnte sie nicht entlassen, nicht versetzen
und in den meisten Fällen auch nicht zu höheren Stellen befördern. Weder Ehr¬
geiz noch Furcht machten die Richter abhängig, aber diese Unabhängigkeit erschien
nicht vereinbar mit den Bedürfnissen des absolute» Königtunis, sie wurde also
unbequem, namentlich in Angelegenheiten, bei denen die königliche Macht unmittelbar
interessirt war. Man schuf deshalb für solche Angelegenheiten besondre Tribunale,
welche aus abhängigen Richtern zusammengesetzt und den Unterthanen gegenüber
mit dem Schein der Gerechtigkeit umgeben waren. Den ordentlichen Gerichten
aber wurden die betreffenden Angelegenheiten entzogen.
Diese 6voviMon8 waren der erste Schritt auf dem Wege, welchen man ein¬
schlug, um die Zuständigkeiten der ordentlichen und unabhängigen Gerichte ein¬
zuschränken.
In Deutschland war eine derartige Maßregel zu derselben Zeit nicht geboten,
weil die Richter garnicht das Maß von Unabhängigkeit besaßen wie in Frankreich,
es gab demnach auch dort keine Verwaltungsgerichte, in Frankreich aber bildete sie
sich immer mehr aus. Bei jeder neuen Negiernngsmaßregel wurde, wenn dies
im Interesse des Königs lag, bestimmt, daß etwaige Streitigkeiten von dem Inten¬
danten, in höherer Instanz von dem königlichen Rate entschieden werden sollten,
den ordentlichen Gerichtshöfen wurde durch eine stehende Formel geradezu Ver¬
bote», von diese» Angelegenheiten Kenntnis zu nehmen. Was anfangs nur als
eine Ausnahme galt, wurde bald zur Regel, die Thatsache verwandelte sich in
Theorie.
Nicht in den französischen Gesetzen, sondern in den Köpfen derer, die diese
Gesetze handhabten, faßte die Staatsmaxime Wurzel, daß alle Rechtsstreitigkeiten,
mit denen ein öffentliches Interesses verknüpft ist oder bei denen es auf die Aus¬
legung eiuer Verwnltungsverordnung ankommt, nicht vor das Forum des ordent¬
lichen' Richters gehören, daß diesem vielmehr nur die Befugnis zustehe, über privat-
rechtliche Streitigkeiten Entscheidung zu treffen. Für diese Ideen des alten französischen
Staates hat dann eine spätere Zeit ein bestimmtes Verfahren geschaffen und dafür
die geeigneten Formeln gefunden.
So wurden alle Streitfragen, welche bei der Steuererhebung vorkamen,
dem Intendanten und dem königlichen Rate zur Entscheidung überwiesen, ferner
diejenigen, welche auf die Polizei des öffentlichen Fuhrwesens, auf die Landstraßen,
die Flußschifffahrt, überhaupt auf alles, wobei eine öffentliche Behörde beteiligt
war,' Bezug hatten.
Bei dem Bestreben der Intendanten, diese Ausnahmegerichtsbarkeit immer
weiter auszudehnen, gelangte man bald zu dem Grundsatze, daß nur der ordent¬
liche Richter bei seiner Rechtsprechung an feste Regeln gebunden sei, daß dagegen
der Verwaltungsrichtcr das Recht habe, diese Regeln ans Zweckmäßigkeitsrücksichten
zu umgehen. Diesem Grundsatze entsprechend zogen die französischen Verwaltungs¬
gerichte Prozesse an sich, welche durch ein beinahe unsichtbares Band an die Ver¬
waltung geknüpft waren, oder welche unzweifelhaft mit derselben keinen Zusammen¬
hang hatten. Ein Adlicher, welcher mit seinem Nachbar im Prozeß lag und sich
mit der Entscheidung des ordentlichen Richters nicht zufrieden geben wollte, be¬
antragte ganz einfach die Evolution dieser Sache. Seinem Antrage wurde ent¬
sprochen mit der Begründung, Se. Majestät der König von Frankreich könne jede
Streitsache, wenn es sich dabei auch um Privatrechte handle, welche zum Ressort
des ordentlichen Richters gehörten, überhaupt jede beliebige Angelegenheit den Ver¬
waltungsgerichten zur Entscheidung überweisen, ohne zur Angabe von Gründen
verpflichtet zu sei«. Personen ans dem Volke, welche die öffentliche Ordnung ge¬
waltsam störten, wurden dem Intendanten oder dein Marschallsgerichte (inn'E-
el^ussso, berittene Polizei) behufs der Aburteilung zugeführt, und dies geschah
namentlich bei deu Tumulten, welche dnrch die hohen Kornpreise hervorgerufen
wurden. In solchen Fällen improvisirte der Intendant einen Gerichtshof, welcher
aus Personen bestand, die von ihm selbst gewählt waren, und trat damit als
Strafrichter in Thätigkeit. Die Angeklagten wurden von diesen französischen Aus¬
nahmegerichten zur Galeercnstrafe und zum Tode verurteilt, ja es fanden derartige
Kriminalprozeduren sogar noch am Ende des siebzehnten Jahrhunderts häufig statt.
Die moderne« französischen Juristen haben diese Erscheinungen, welche sich
unter dem alten Regime zeigten, als eine Errungenschaft der Revolution und als
Trennung der Justiz von der Verwaltung bezeichnet, es ist dies jedoch ein ge¬
schichtlicher Irrtum und dabei nicht zu übersehen, daß die richterliche Gewalt im
alten französischen Staate die natürliche Sphäre ihrer Machtvollkommenheit nach der
einen Seite überschritt, nach der andern nicht vollständig ausfüllte. Denn bald
war es ihr gestattet, Verwaltungsverordnungen zu erlassen, bald beschränkte man
ihre Befugnis zur Entscheidung von Prozessen. In ersterer Beziehung hat der
moderne französische Staat Abhilfe geschaffen, die Justiz ans der Verwaltung ver¬
trieben; was jedoch das Eindringen der Verwaltung in die Justiz betrifft, so ist
es im modernen französischen Staate dabei verblieben, als ob die Vermengung der
Gewalten hier nicht ebenso gefährlich wäre wie dort. Ja die Einmischung der
Verwaltung in die Justiz ist sogar viel gefährlicher als die Einmischung der Justiz
in die Verwaltung, denn diese schadet nur den Geschäften, jene aber verdirbt die
Menschen und macht dieselben zugleich revolutionär und servil."
In einer der in Frankreich seit sechzig Jahren „auf ewige Zeiten eingeführten
neun oder zehn Verfassungen ist gesagt, daß kein Verwaltungsbeamter von dem
ordentlichen Richter verfolgt werden könne, wenn nicht vorher eine Ermächtigung
dazu erteilt wurden sei. Diese Bestimmung ist so schön ausgedacht, daß sie alle
Revolutionen überdauert hat; man hat sie, als die betreffende Verfassung beseitigt
wurde, unter den Trümmern hervorgezogen und stets sorgfältig behütet. Daher
kommt es, daß man dies Vorrecht der französischen Beamten als eine Errungen¬
schaft der Revolution von 1789 zu betrachten pflegt, obwohl auch dies aus einem
Irrtume beruht, deun schon nnter der alten Monarchie war man kaum weniger als
heute darauf bedacht, den Beamten die Unannehmlichkeit zu ersparen, gleich jedem
schlichten Bürger über ihre Handlungen vor Gericht Rechenschaft abzulegen. Der
einzige erhebliche Unterschied zwischen sonst und jetzt ist in Frankreich nur der, daß
die Regierung vor der Revolution ihre Beamten durch ungesetzliche und willkür¬
liche Maßregeln deckte, während nach der Revolution die französischen Beamten
das Gesetz gesetzmäßigerweise verletzen können.
Wenn die Gerichtshöfe der alten französischen Monarchie einen königlichen
Beamten verfolgen wollten, so trat in der Regel der königliche Rat mit einem Be¬
schluß dazwischen, durch welchen der Angeschuldigte seinem Richter entzogen und vor
eine von dem Rate ernannte Kommission verwiesen wurde, denn — so schrieb
damals ein Rat des Königs — ein in dieser Weise angeklagter Regierungsbeamter
hätte bei dem ordentlichen Richter eine vorurteilsfreie Beurteilung nicht gefunden,
und dadurch würde die Autorität des Königs von Frankreich bloßgestellt werden.
Solche Evolutionen waren in Frankreich an der Tagesordnung, sie betrafen
aber nicht allein höhere Beamte, sondern anch die niedriggestellten, wenn sie nur
überhaupt in irgendeinem losen Zusammenhange mit der Regierung standen. So
wurde ein bei dem Brücken- und Straßenbancnnte angestellter Aufseher von einem
Arbeiter wegen Mißhandlung verklagt, jedoch der königliche Rat evvzirte die Sache,
nachdem der Oberaufseher ein Gutachten dahin abgegeben hatte, daß die Verwal¬
tung dnrch derartige Prozesse nur gestört und die öffentliche Abneigung gegen die
Beamten dadurch nur gefördert werde. Es sei deshalb im Interesse der Ver¬
waltung der Brücken und Straßen dringend zu empfehlen, daß die ordentlichen Ge¬
richte dergleichen Klagen der Arbeiter gegen die Aufseher nicht annähmen, wenn
mich das Verhalten des Beamten im vorliegenden Falle nur getadelt werden könne.
In einem andern Falle hatte ein königlicher Baubeamter aus dem Acker eines
Privatmannes widerrechtlich Baumaterialien entnommen, jedoch der Intendant be¬
richtete darüber an seine Vorgesetzten, es empfehle sich nicht, die Verfolgung dieser
That ordentlichen Gerichten zu überlassen, denn deren Grundsätze würden sich nie¬
mals mit denen der Verwaltung vertragen.
Genau ein Jahrhundert ist es her — so schließt Toqueville seine Betrach-
tung —, daß diese Zeilen geschrieben wurden, es ist aber, als ob die Beamten,
welche sie schrieben, unsre Zeitgenossen gewesen wären.
Auf welchem Standpunkte die heutige französische Verwaltnngsgerichts-
barkeit steht, ist von deutschen wissenschaftlichen Autoritäten*) sorgfältig be¬
schrieben worden, es ist aber doch auch interessant, einmal zu sehen, wie ein
sachverständiger Franzose seine vaterländische Verwaltungsgerichtsbarkeit beurteilt.
Es giebt darüber ein kleines, merkwürdiges Buch/') in welchem auf echt
französische Weise Anleitung zu geben versucht wird, wie ein guter Vater es
anfangen müsse, um seinen Sohn schon in der Jugend zum Politiker zu er¬
ziehen. Zu diesem Zwecke sollen ihm vor allem die richtigen Begriffe über
Gesetz und Recht beigebracht werden, und dabei kommt denn auch die Unter¬
haltung (das Ganze ist in die Form eines Gespräches zwischen Vater und Sohn
eingekleidet) auf die tribrmMX g.ällrini8trg,tM, welche dem zwölfjährigen Jungen
deshalb auffallend vorkommen, weil doch nach den ihm bereits beigebrachten
Grundbegriffen zufolge der Teilung der Gewalten die Gerichte allein die Gesetze
anzuwenden hätten, mithin ausschließlich mit dieser Anwendung (iMUivMoir) zu
betrauen seien. Darauf antwortet der Vater: „So wie du, denken in dieser
Beziehung viele, und ich wage auch nicht zu behaupten, daß dieser Gedanke ein
unrichtiger sei. Allein in Frankreich haben wir eine Verwaltungsjustiz, man
überträgt eben der Verwaltung die Entscheidung der Fragen, welche die Ver¬
waltung interessiren." Als hierauf der naseweise Junge antwortet, das komme
ihm so vor, als ob er von dem Garten seines Bruders ein Stück Land amiektircn
und den infolge dessen entstandenen Zwist allein entscheiden wollte, bemerkt der
Vater: „Dein Urteil über die Verwaltungsjustiz ist zu strenge! Denn du
urteilst in dem angeführten Falle in eigner Sache, wogegen unsre Verwaltungs¬
behörden doch uneigennütziger (xtus closurtorLSLös) und unparteiischer (plus
iinMrt,ig,ri.x) sind öder Komparativ ist bezeichnend!j. Mit einem Worte, wenn
man der richterlichen Gewalt die Rechtsprechung in Vcrwaltungsangelegenheiteu
übertragen hätte, würden da die Gerichte nicht geneigt sein, in diejenigen Rechte
Eingriffe zu thun, welche der Verwaltung ausschließlich vorbehalten werden
müssen?" — „Woran erkennt man denn aber — lautet die Gegenfrage —, daß
eine Sache zur Verwaltungsjustiz gehört?" Antwort: „Ja das sind delikate
Kompetenzfragen, über welche sich die Tribunale zuweilen täuschen. Man hat
sogar zur Entscheidung dieser Fragen einen obersten Gerichtshof eingesetzt, das
ist das trilmng,! clss oonWs, welches aus Staatsräten und Kafsationsgerichts-
räten zusammengesetzt ist. Im nächsten Jahre wollen wir das einmal näher
betrachten, du wirst denn sehen, daß die Präfekten und die Minister gleichzeitig
Verwaltnngsrichter sind, daß der Staatsrat in Verwältungsangclegenhcitcn eine
Art von Kassationshof darstellt, vor welchen die Rekurse wegen Unzuständigkeit
oder Übergriffe (öxe,ö8 av xouvoir) gebracht werden. Ich werde dir dann auch
sagen, was man unter der Rolle des Rechnungshofes versteht." — „Na, ich sehe
es schon kommen — unterbricht ihn der Junge —, da wird wohl mein schönes
6o ^istiivo einen Anbau (HWwent iwuoxs) erhalten mit der Inschrift
auf der Fahne (clrkPgM): ^U8tlo6 g,äministrativv.
Das zeigt nicht gerade von hoher Ehrfurcht vor einer staatlichen Ein¬
richtung, aber das Urteil ist vollkommen gerecht, dem, die französische Ver¬
waltungsgerichtsbarkeit ist eine Mißgeburt, und alle Versuche, derselbe» eine
schöne Gestalt zu geben, sind gescheitert. Wären viele heutige Franzosen nicht
von dem Irrwahn befangen, daß ihre Verwaltuugsgcrichtsbarkeit als eine Er¬
rungenschaft der Revolution gepflegt werden müsse, so würden sie sich von ihrem
Landsmnnn Tvqueville belehren lassen und würden längst auf den ursprüng¬
lichen natürlichen Standpunkt zurückgekehrt sein und dem ordentlichen Richter
auch die Rechtsprechung in Sachen des öffentlichen Rechtes wieder übertragen
haben, denn es steht einer solchen Rückkehr in Frankreichs nichts entgegen.
Vollständig abweichend von der Entstehungsgeschichte der Verwaltungs¬
gerichtsbarkeit in Frankreich ist diejenige der ähnlichen Einrichtungen in Deutsch¬
land, insbesondre in Brandenburg-Preußen,
Hier lag, wie dies auch Tvqueville ausdrücklich erwähnt, gar keine Ver¬
anlassung vor, den ordentlichen Richter seiner Zuständigkeiten zu berauben,
denn schon die Manischen Markgrafen sahen die Richter ebenso an wie alle
übrigen Beamten, deren Einsetzung und Absetzung vollständig dein Beliebe» des
Landesherr» überlassen war.*) Erst später, als die im öffentlichen Rechte vor¬
herrschende privatrechtliche Anschauung zur Veräußerlichkeit und Vererblichkeit
der Staatsämter und insbesondre des Nichteramtes führte, wurde der reine
Beamtenstaat untergraben, um einer sich langsam, aber sicher entwickelnden, auf
dem ständischen Prinzip beruhenden Staatsverfassung Platz zu machen. Allein
die Erinnerung an die ehemalige verfassungsmäßig und geschichtlich begründete
unumschränkte Macht der Landesherren blieb doch lebendig, und dies erklärt
jene erbitterten Kämpfe zwischen den Vertretern des ständischen und des mon¬
archischen Prinzips, welchen erst mit der Errichtung der stehenden Heere ein
Ende gemacht wurde. Der alte, auf rein monarchischer Grundlage beruhende
Veamtenstaat wurde wiederhergestellt, und damit das ursprünglich geltende öffent¬
liche Recht. Das letztere hatte aber während der laugen ständischen Herrschaft
eine auf Gewohnheitsrecht beruhende Gestalt angenommen, während das Privat¬
recht unter dem Einflüsse des römischen Rechtes zu einer von dem öffentlichen Rechte
abgesonderten Wissenschaft geworden war. Der fortdauernden Anwendung des
reinen Privatrechtes durch die angestellten Richter stand auch kein Hindernis
entgegen, dagegen stellten sich bei der Anwendung des neuentstandenen öffent¬
lichen Rechtes bald erhebliche Schwierigkeiten heraus, weil die auf ständische»
Anschauungen beruhenden Gewohnheitsrechte mit den Grundsätzen der wieder
erstarkten Monarchie nicht mehr in Einklang zu bringen waren. Die auf
dem Rechte der Eroberung beruhenden und in derselben Weise durch die
Belehrung auf die Territorialherren übergegangenen Hoheitsrechte, welche
jetzt noch im allgemeinen Landrechte aufgezählt werden, waren durch die Mit¬
wirkung der Staude bei der Ausübung dieser Rechte stark beeinträchtigt und
verdunkelt worden, sodaß sie den Anforderungen der bewegten Zeit nicht mehr
genügten und der Monarch sich genötigt sah, das Steuer des Stnatsschiffes
selbst und ohne Mitwirkung der Stände mit kräftiger Hand zu ergreifen, wenn
dasselbe nicht sinken und die Bemannung nicht rettungslos verderben sollte.
Es war mithin ein hohes Verdienst um das der Gefahr des Unterganges aus¬
gesetzte Vaterland und ein Akt der Notwehr im Interesse des allgemeinen
Wohles, wenn der Landesherr in die Befugnisse der lediglich in seinem Namen
und in seinem Auftrage arbeitenden Richter eingriff, da diese ihre einmal ein¬
gelernte Wissenschaft mit den Forderungen der Zeit nicht in Übereinstimmung
zu bringen vermochten und als gewissenhafte Gelehrte auch nicht Wohl konnten.
Es war ein tragischer Konflikt, in welchen die damaligen Gerichte, denen auch
ständische, d. h. von den Ständen erwählte Beisitzer angehörten, gerieten, wenn
sie in Sachen des öffentlichen Rechtes ein Urteil sprechen sollten; denn wollten
sie nach dem bestehenden Rechte urteilen, so konnten sie den Anforderungen des
monarchischen Prinzips nicht Rechnung tragen, wollten sie aber das letztere,
so verletzten sie wieder das auf der ständischen Verfassung beruhende Recht.
Unter diesen Umständen blieb garnichts weiter übrig, als für die Angelegen¬
heiten des öffentlichen Rechtes besondre Gerichtshöfe einzusetzen, wobei auch deu
ordentlichen Gerichten keinerlei wohlerworbene Rechte entzogen wurden. Während
die französischen Evolutionen sich als Gewaltakte und Willkürlichkeiten darstellten,
fehlte es in Brandenburg-Preußen zur Substantiirung einer gleichen Anklage
an dem objektiven Thatbestände, weil nichts vorhanden war, was zu „rauben"
gewesen wäre. Dem Landesherrn allein gebührte die Einsetzung der Richter
und die Bestimmung der Zuständigkeiten derselben, und es war ihm nach dem
geltenden Staatsrechte unbenommen, für gewisse Rechtsgebiete auch besondre
Richter und Gerichtshöfe zu bestimmen. Während die französischen Evokationen
lediglich die Erweiterung der königlichen Macht bezweckten und zur Unterdrückung
des Volkes führen mußten, hatten die ähnlichen Maßnahmen der brandenburgisch-
preußischen Monarchen, in direktem Gegensatze dazu, nur das Wohl des Volkes,
die Befreiung desselben von dem unleidlich gewordenen Drucke der Stände zum
Ziele. Während in Frankreich das Volk mit Furcht und Grauen auf die könig¬
lichen Ausnahmegerichte blickte und sich nach dem Ausspruche des gesetzlich allein
berechtigten Richters sehnte, flüchtete das hartbedrängte brandenburgisch-preußische
Volk mit Freuden und mit berechtigtem Vertrauen unter die Fittige des mäch¬
tigen Adlers, um gegen die Verfolgungen kleiner, selbstsüchtiger und liebloser
Tyrannen Schutz zu finden.
Um diesen Schutz zu ermöglichen, mußten zunächst und bis zu einer zeit¬
raubenden, schwierigen, über doch unaufschiebbaren, gesetzlichen Regelung des
öffentlichen Rechtes eine Scheidung zwischen Gerichten des Privatrechtes und
des öffentlichen Rechtes vorgenommen werden.
Und mit welcher außerordentlichen Sorgfalt wurde hierbei zu Werke
gegangen! Denn schwierig genug war es oft, die Fragen des öffentlichen
Rechtes von denen des Privatrechtes zu scheiden, namentlich deshalb, weil im
Einzelfalle beiderlei Arten von Recht ineinandcrgriffen, eine Sonderung durch
eine allgemeine Regel mithin garnicht möglich war. Es ist dies ein Umstand,
über welchen sich unsre Gelehrten noch heute vergebens streiten, wie man dies
bei der Beratung der neuen Verwaltungsgesetze in den Häusern des Landtages
beobachten konnte. Weil die zur Auffindung einer Grenze zwischen Justiz und
Verwaltung angestellten Versuche nicht gelingen wollten und konnten, so klagte
mau laut über „Syftemlosigkeit," als ob das Heil der Welt einzig und allein
in „Systemen" zu suchen wäre. Mögen die Gelehrten nur ruhig weiter darüber
deliberiren, das schadet ja nichts, nützt freilich auch nichts, denn die Schöpfer
des preußischen Verwaltungsrechtes hatten sicherlich kein „System" vor Augen,
sondern einzig und allein ein durchaus berechtigtes Prinzip, und zwar dasjenige
der Aufrechterhaltung und Durchführung der Majestäts- und Hoheitsrechte zum
Besten des allgemeinen Wohles. Wo diese Rechte mit den subjektiven An¬
sprüchen der Regierten in Kollision kamen, da sollten eben nicht die ordentlichen
Gerichte, sondern die mit den erforderlichen Kenntnissen besser ausgestatteten
Verwaltungsbehörden an Stelle der Gerichte entscheiden. Dazu waren sie auch
sehr wohl geeignet, weil man damals von den Mitgliedern der Verwaltungs¬
behörden die Aneignung derselben Kenntnisse verlangte wie von den Mitgliedern
der Justizkollcgieu, und ebenso denselben Grad von Unabhängigkeit und Ob¬
jektivität, wie dies später in einer, weiter unten noch zu erwähnenden Kabinets-
ordre ausdrücklich betont wurde.
Die hiernach aus dem Ressort der Gerichte auszuscheidenden Fälle in ein
System zu bringen war ganz unmöglich, jeder Versuch dazu erschien jenen
praktischen Staatsmännern anch wohl zu schwierig, zu doktrinär und deshalb
überflüssig, mau griff also zu dein einfachsten aller Mittel, indem mau eine
Art Liste der betreffenden Fülle aufstellte, und das ist die älteste Zuständigkeits¬
tabelle für die Verwaltungsbehörden. Darauf beruht auch die vielfach um-
strittcue positiv- oder negativ-kasuistische Methode oder, wie man in Baiern
sagt, die Enumerationsmethode, ein einfaches Ding, welches dem Laien nur
wegen dieser halsbrechenden Bezeichnungen dunkel und schwierig erscheint.
Vollständig durchgeführt ist übrigens weder das vorstehend gedachte Prinzip
noch die kasuistische Methode, denn auch die ordentlichen Gerichte haben noch
mit Verwaltnngssachcn und Angelegenheiten des öffentlichen Rechtes zu thun
(Vormuudschufts-, Grundbuch-, Gefängnis-, Justizverwaltung, Strafrechtspflege),
ferner sind mehrere rein privatrechtliche Angelegenheiten (Vvrslutsachen, Armen-
streitsnchen) den Gerichten aus Zweckmäßigkeitsrücksichten entzogen, und endlich
gehört zu den Zuständigkeiten der Verwaltungsbehörden und jetzt der Ver¬
waltungsgerichte vieles, was garnicht ausdrücklich, sondern nur imMeitg in
ihrer Liste steht. Auf diesen letztern Umstand wird der aufmerksame Leser der
Entscheidungen des königlichen Oberverwaltungsgerichtes vielfach hingewiesen.
(Schluß folgt.)
iemals haben wir den Mangel eines ordentliche» Unterrichtes in
den „Realien" so schwer empfunden wie heute. Hätten wir statt
eines Gymnasiums eine jeuer Anstalten besucht, wo ordentlich
Geographie gelehrt wird, so wußten wir, wo Bancmsvs liegt.
Möchte nur schnell das neulich vorgeschlagene Rezept (Pädago¬
gisches Archiv XXVI, S. 597) ausgeführt werden, damit wenigstens der nächsten
Generation die Segnungen nicht vorenthalten werden, die uns gefehlt haben.
Dort wird nämlich von sachkundiger Seite folgendes gesagt:
„Leider ist in gewissem Sinne Deutschland schon den Ncichslanden voran¬
gegangen, denn hier sind ja die Lateinschulen (Rcktvrschnlen) der kleinen Städte die
Brutstätten der Gymnasien und Progymnasien gewesen, die wir nun in solcher
Fülle oder Überfülle haben. Man zerstöre diese Brutstätten, indem man an¬
ordnet, »in den kleinen höheren Schulen dürfen die alten Sprachen nicht obli¬
gatorisch sein, sie werden nur fakultativ gelehrt gegen ein erhöhtes Schulgeld,
das man gern ganz besonders Begabten, die mittellos sind, erlassen mag.«
Damit bahnt man der lateinlosen Realschule den Weg, die allerdings für viele
Örter den Bedürfnissen weit besser entspricht als ein Progymnasium, mag es
nun humanistisch oder realistisch sein."
Hier ist uns infolge mangelhafter „realer" Bildung vieles fremdartig; wir
nennen Städte nicht „Örter," sondern „Orte," wir rechnen Elsaß und Lothringen
zu Deutschland, und wir liebe» die krummen Wege nicht, auf denen durch höhere
Bezahlung eines bestimmten Unterrichtsgegenstandes derselbe aus der Schule
verbannt und ihr ganzer Charakter verändert werden soll. Doch um auf Ba-
nansvs zurückzukommen, so wird in derselben Nummer (9, 10) des „Archivs"
(S. 61ip aus dem zweiten Hefte der Mitteilungen an die Mitglieder des All¬
gemeinen deutschen Nealschulmännervereins, zusammengestellt vom Oberlehrer
Dr. Hilmer in Goslar, nachstehendes mitgeteilt:
„Aus der Rektoratsrede des Herrn Professur Ad/Kirchhofs wird dessen
Klage hervorgehoben, daß das Banaustertum immer mehr eindringe in
das Studium der alten Philologie. Da auch Professor Dr. von Schulte in
Bonn dieselbe Klage erhebt in bezug auf das Studium der Jurisprudenz, so
wird durch diese beiden Gelehrten Herr Professor A. W. Hofmann in Berlin
widerlegt, der die Zulassung der Rcalschulabiturienten zum Universitütsstudium
für das in demselben hervortretende Banaustertum verantwortlich machen wollte,
denn alte Philologie und Jurisprudenz sind ja den Rcalschulabiturienten ver¬
schlossen."
Keinem wird die unwiderlegliche Schärfe dieser Beweisführung entgehen.
Sachlich haben wir nur zu bemerken, daß „Banausier" offenbar von einer Stadt
BanausoS (oder Banauson) herkommt, hier also nicht etwa jene griechischen
Banausen gemeint sind, von denen es im Aristotelischen „Staate" (8, 2, 1)
heißt: „Für banausisch ist jede Thätigkeit, Kunst oder Wissenschaft anzusehen,
welche den Körper, die Seele oder den Verstand freier Männer zur Ausübung
der Tugend unfähig macht. Darum nennt man derartige Künste banausisch,
soweit sie den Zustand des Leibes verschlechtern."
Und zu dieser unsrer geographischen Unwissenheit kommt noch ein zweites
Unglück. Wir können die Rede Kirchhoffs, auf die sich der Verfasser bezieht,
nicht finden. Unmöglich kann nämlich die schöne Rektoratsrede aus dem Jahre
1883 gemeint sein, in welcher der große Gelehrte, der zwanzig Jahre Gym¬
nasiallehrer gewesen war, ehe er in seine jetzige Stellung überging, seine durch
lange Jahre ernster Arbeit gewonnene Überzeugung in folgenden Sätzen (S. 12)
zusammenfaßt.
„Zunächst ist der Versuch gemacht worden, dem anerkannten Bedürfnis in
der Form zu genügen, daß man neben dem alten Bildungsideal ein zweites
neues aufgestellt und zu seiner Verwirklichung eine besondre Art höherer Schulen
organisirt hat, in denen unter Eliminirung des Griechischen und teilweiser oder
gänzlicher Beseitigung des Lateinischen der Unterricht in der Mathematik und
den Naturwissenschaften neben dem in den Sprachen der modernen Kulturvölker
als hauptsächliches Bildungsmittel zur Anwendung gelangt, und welche gegen¬
über den alten Gymnasien als Realschulen, neuerdings als Realgymnasien,
charcckterisirt zu werden pflegen. Demgemäß werden unter staatlicher Autorität
der Nachfrage des beteiligten Publikums zwei Sorten von Bildung offerirt,
zwischen denen es nach Belieben seine Auswahl treffen kann; zwischen beiden
und ihren Vertriebsanstalten wogt der Kampf der Konkurrenz, angeblich um
Gleichberechtigung, in Wirklichkeit, bewußt oder unbewußt, um Alleinherrschaft,
wenigstens von der einen Seite; denn das Neue hegt, wie immer, übertriebene
Vorstellungen von der eignen Vortrefflichkeit und hat die Energie der Offen¬
sive für sich. Es ist indessen einleuchtend, daß dieser Dualismus auf Kriegs¬
fuß keinen normalen Zustand darstellt, sondern lediglich ein Übergangsstadium
sein kann, aus welchem zu dauernden, normalen, den Bedürfnissen der Gegen¬
wart entsprechenden Verhältnissen erst zu gelangen ist: diejenige allgemeine
Geistesbildung, durch welche die Jugend der führenden Stände der Nation für
die Aufgaben des Lebens innerhalb und außerhalb des Staatsdienstes vor¬
bereitet werden soll, kann naturgemäß und im Interesse des Wohles der Ge¬
samtheit nur eine einzige und einheitliche sein, und die Organisation derjenigen
Schulen, welche diese Bildung zu vermitteln bestimmt sind, muß und wird darum
ebenmäßig eine einheitliche sein oder wieder werden, man möge ihnen einen
Namen geben, welchen man wolle; nur die Beschaffenheit dieser Organisation
in Ansehung der in Anwendung zu bringenden Vildungsmittel und der Art
und des Maßes ihrer Anwendung kann vernünftigerweise ein Gegenstand der
Erwägung oder des Streites sein. Zu sagen, welches das Endergebnis nach
dieser Richtung in Wirklichkeit sein wird, müßte ich ein Prophet sein: ich kann
allein meine subjektive Überzeugung dahin aussprechen, daß, solange im Geistes¬
leben unsers Volkes ein Bruch mit seiner ganzen Vergangenheit nicht ein¬
getreten sein wird, und solange es als ein Erfordernis der allgemeinen natio¬
nalen Bildung zu gelten haben wird, daß der sich gebildet nennende und wirklich
Gebildete mit Bewußtsein in dem Zusammenhange des historischen Lebens seines
Volkes stehe, die höheren Schulen bei uns, sagen wir die Gymnasien, die alten
Sprachen, im besondern auch das Griechische, zu ihren Unterrichtsgegenständen
zu zählen haben werden, und daß es sich allein darum handeln kann, die Be¬
schäftigung mit ihnen in das richtige Verhältnis zu den übrigen Disziplinen
und deren berechtigten Anforderungen zu bringen. Und daß es bei gutem
Willen gelingen könne und werde, einen passenden mnäus vivsnäi zu finden,
ist mir nicht zweifelhaft."
Daß diese Sätze Kirchhvffs den Nagel auf den Kopf treffen, braucht wohl
nicht auseinandergesetzt zu werden. Das wunderbarste an der Sache ist, daß es
den Realschulen garnicht einfällt, auf das Griechische zu verzichten, wie man
z. B. aus ihren mit Vorliebe dem griechischen Altertume entnommenen deut¬
schen Aufsätzen ersieht. Thäten sie dies, so würde man die Behauptungen ihrer
Vorkämpfer überhaupt erst verstehen und mit ihnen rechnen können. Nein, das
Griechische soll nur nicht als Sprache gelernt, das heißt, der im griechischen
Altertum vorhcmdne Bildungsstoff soll in bequemerer Weise zugänglich gemacht
werden als durch Erlernung der Sprache, oder mit andern Worten, es wird
der Kampf gegen jede wissenschaftliche historische Bildung geführt.
Die Folgen davon führt Kirchhofs kurz (S. 14) so aus: „Ich begnüge
mich zu konstatiren, daß auf dem Gebiete gewisser deu meinigen verwandter Diszi¬
plinen sich ein Notstand fühlbar zu machen beginnt, indem z. B. sprachwissen¬
schaftlichen Vorträgen aus der völligen Unkenntnis des Griechischen bei einer
unverhältnismäßig großen Anzahl ihrer Hörer ein störendes und unleidliches
Hemmnis erwächst, welches durchaus in irgendeiner Weise beseitigt werden muß,
Wenn nicht auf diesem Gebiete ein nngründliches Halbwissen Platz greifen soll,
welches weder der Wissenschaft noch dem Leben frommen und dem deutschen
Namen keine Ehre machen kann,"
Wir lassen dahingestellt, ob diesem Übel durch den in der anfangs er¬
wähnten ersten Abhandlung des „Archivs" gemachten Vorschlag (S, 688) ab¬
geholfen werden kann, den Abiturienten der höheren Schulen mit neunjährigen
Kursus, gleichviel ob Gymnasium oder Realschule, den Eintritt für alle Fakul¬
täten zu gestatten. Der Verfasser jener Abhandlung ist überzeugt davon; „denn,
sagt er, der Einzelne wird schon dafür sorgen, daß er lernt, was ihm etwa
noch fehlt (sie!). Der Arbeitssinn und der sittliche Ernst auf der Universität
können dabei nur gewinnen."
Nun wäre es ja immerhin möglich, daß von Herrn Dr. Hilmer auf eine
andre Stelle der Kirchhoffschen Rede (S. 16) Bezug genommen wäre, in welcher
es heißt: „Die Erfahrung lehrt, daß heutzutage eine große Anzahl, wenn
nicht die Mehrzahl, der jungen Philologen, welche sich später dem Lehramt
zu widmen beabsichtigen, ihre Studien auf der Universität damit beginnt, daß
sie sich ein gedrucktes Exemplar der Prüfungsordnung für die Kandidaten des
höheren Schulamtes beschafft und zur Richtschnur ihrer Studieuorduuug nimmt."
Wenn ein derartiges Gebühren weiterhin als „banausisch" bezeichnet wird, so
ist ja ganz klar, daß durch die Erfüllung der Postulate des Herrn Dr. Hilmer
diesem Mangel an Idealismus abgeholfen werden würde. Denn derselbe hat
(S. 612) „darauf hingewiesen, wie die neuerliche Umgestaltung unsrer staatlichen
und gesellschaftlichen Verhältnisse dahin dränge, denjenigen, welche in die lei¬
tenden Kreise der Gesellschaft eintreten, schon in der Schule ein Verständnis
der neuzeitlichen Verhältnisse zu vermitteln."
In diesem Sinne ist Kirchhofs allerdings ein Bundesgenosse des Feindes
der Einwohner von Banausos und wird sich gewiß mit uns der am Schlüsse
des Berichtes über den Hilmerschen Aufsatz (S. 615) geäußerten Hoffnung an¬
schließen: „Es steht zu erwarten, daß, wenn der Verein fortfährt, in ebenso
sachgemäßer Weise ohne Animosität einfach die Thatsachen zu registriren und
deren Kenntnisnahme möglichst zu erleichtern und zu verallgemeinern, in nicht
allzu ferner Zeit seinem unentwegter Ringen die Palme des Erfolges zuteil
werden wird."
le Leni geht also nicht in die Stadt — darin besteht die Um¬
arbeitung, der Anzengruber sein Werk unterzogen hat,*) Für
diejenige», welche ihn und diesen seinen ersten Roman kennen,
ist mit dieser Mitteilung schon viel gesagt. Es ist merkwürdig,
wie sehr dieser Dichter an den Boden, aus dem er es zu seiner
nunmehr rückhaltlos anerkannten Bedeutung und seinen Erfolgen als Drama¬
tiker gebracht hat, gebunden ist. Ein Meister ersten Ranges in der Schilderung
des Dorflebens und der Baucrncharaktere, ist er schwach, rhetorisch und ver¬
schwommen idealistisch, wenn er den Städter schildern will. Es ist, als wenn
sein ganzes Denken und seine ganze Weltanschauung nur in solchen Formen
den ihnen angemessenen Ausdruck finden könnte, welche aus den Verhältnissen
des bäuerlichen Lebens stammen. Wo er den Gegensatz zwischen der rein
praktischen Einsicht des Bauernphilosophen in alle menschlichen Dinge hervor¬
heben kann gegen die jeder Wirklichkeit fremden spiritualistischen, spezifisch ka¬
tholischen Lehren, da ist Anzengruber unerschöpflich an geistvollen Aussprüchen;
jede andre Form, als diese Antithese, ist nicht die seinige. „Rcindvrfer, sagte
der Pfarrer, Sein Weib ist nun mit Gott versöhnt, aber ehe ich ihr das heilige
Abendmahl reiche, begehrt sie noch Seine Verzeihung für all das, womit sie
sich gegen Ihn versündigt hat. Neindorfer, Er ist ein Christ, habe ich es nötig
Ihm viele Worte zu machen?" — „Nein, Hochwürden, dasselbe ist nicht not.
Sie hat schon recht, wenn sie das begehrt, denn unser Herrgott nimmt die
Dinge wohl nicht so auf wie ein Mensch, und darum ist es gut, mau verlangt
auch den Meuscheu ihre Verzeihung ab!" . . . Das ist ein charakteristisches
Beispiel für Anzengrubers Denkart. Der Bauer ist in Wahrheit klüger als
der Pfarrer; aber er hat nicht die Kraft, diesem auf theologischen Gebiete po¬
lemisch zu folgen; er läßt daher Gott Gott sein, bringt ihm seine vorgeschriebene
Huldigung dar, aber im übrigen folgt er seinem eignen Gesetze. Diesen Gegen¬
satz darzustellen, sei es unmittelbar als solchen, wo er dann als Konflikt
zwischen den Geboten der Kirche und denen des reinen Menschentums, oder
mir die eine Hälfte, wohl die poetischere, wo dann nur menschliche Schuld und
Sühne geschildert wird: das ist das immer variirte Problem der Unzen-
gruberschen Muse, „'s is nix Geschenktes, 's liebe Leben, mein Haserl!" —
das ist sein sittliches Gesetz. „Nur mit offenen Augen und rührigen Händen
erringen wir unser Teil an der Welt und machen nur andre an unsre Stelle
rücken, die es da anfassen, wo wir es gelassen, die müssen, wie wir gemußt
haben, da einmal jede Kraft, die wir in uns verspüren, sich zu bethätigen
drängt."
Auf diesen tiefen sittlichen Gedanken ist der „Schandfleck" aufgebaut.
Der „Schandfleck" ist die Leni (Magdalena). Sie gilt als die Tochter
des Bauers Reindorfer in Langcndorf (man hat sich immer Niederösterreich
als Lokal zu denken), — aber sie ist es in Wahrheit nicht. Sein Weib hat
sich, nachdem sie zwanzig Jahre mit ihm in ungetrübter Ehe gelebt hatte und
selbst schon über die Jahre der Jugendeselei hinaus war, in einem schwachen
Augenblicke dem herumstromernden Müllcrssohn Florian (auch einem „Bänkerl")
hingegeben, und die Leni ist die Frucht dieser Verirrung. „Aber auch der Bauer
hat seine Ehre." Der Reindorfer muß seinen Schimpf vor den Leuten verbeißen
und das Mädchen, welches ihm beim Eintritte des höhern Alters noch ins Haus ge¬
kommen ist, als sein eheliches Kind anerkennen. Es wächst aber zur Freude aller
als ein kreuzbraves Geschöpf heran, schön, klug, tugendhaft, und erwirbt sich
schließlich von seinem unechten Vater mehr Liebe, als dessen echte Kinder es je ver¬
mochten. Der Müllerssohn Florian hat seinerseits unterdes auch das Stromer-
lebcn aufgegeben, nach dem Tode seines Vaters den Besitz der Mühle ange¬
treten und ein ruhiges Familienleben geführt. Da will es das Schicksal, daß
sich sein herangewachsener Sohn Florian in die Leni verliebt, und daß beide
zur Heirat fest entschlossen sind. „Und man kann doch Geschwister nicht zu¬
sammengehen, selbst beim Tier thut das kein gut, der Stamm geht zurück, wie
jeder Züchter weiß, und daher ist wohl dem Menschen die Scheu davor gekommen,
denn was wider den Zweck geht, das schreckt ihn; das hat er aber auch nur
vom Aufmerken und nicht ans sich, denn in allem da rundum ist doch mehr
Vernunft, als wir selber in unser Leben hineinthun können. . . . Viel weiter
als das liebe Vieh hat es der Mensch auch nicht gebracht, nur daß er sich
schämen thut, das hat er voraus. ... Ich wollt', der Mensch müßt' sich lieber
über seine Schuftereien schämen als über seine Schwachheiten, so würde er nicht
so oft ans Scham über seine Schwäche zum Schuft. Der sakermentische Müller
hätte doch auch dazu thun können, daß es nicht dahin kommt, wo sich alle
Fäden bis zum Zerreißen spannen. Und jetzt sitzen alle, die angesponnen und
nicht angesponnen haben, im Netz und können sich anfallen wie Geziefer."
So denkt der Reindorfer und verhindert mit aller Energie die unnatürliche Ver¬
bindung, entdeckt, da er nicht anders kann, der Leni ihre Verwandtschaft zu
ihrem Geliebten, und um allem Gerede ein Ende zu machen, schickt er sie in
die Stadt, wo sie sich das Recht ihrer Existenz durch eigne Arbeit erwerben
soll. Denn nicht wie sie lebt, ist die Schuld, sondern daß sie lebt. Schon
bei ihrer Geburt hatte die schuldbeladene Mutter sie ans dem Haus, in die
Stadt zu den frommen Frauen geben wollen, „damit sie christlich auferzogen
wird und einmal selber eine werden kann." Aber damals hatte ihr der Rein-
dorfer gesagt: „Sei nit so dumm, unsern Herrgott geht es nicht so nah an
wie mich, so wird er doch keinen Zorn auf das Kind haben, das, an allem ganz
unschuldig ist; du aber verbleibst eine Sünderin, wenn es gleich eine Heilige
werden möcht', und es soll doch vorerst nur eine Klosterfrau werden, und die
sollen nicht alle auf das Heiligwerden aus sein. Es ist nicht mein Kind, so
red' ich ihm auch nicht das Wort, aber die Frommheit kann man keinem an¬
lernen, wie jungen Hunden das Wildaufspüren, und wenn dann plötzlich eins
zu Jahren und zu Verstand kommt, und es mag sich nicht darein finden, dann
taugt es für Erd' und Himmel nicht mehr. Und sich dabei auf gut Glück ver¬
lassen, wie es ausgeht, dazu ist heuttags schon gar kein Zeitpunkt, wo alle Welt
hinter den Kutten her ist, früher hat man noch manches vertuschen können,
jetzt aber braucht unser Herrgott nur Leute in seinem Dienst, die ihm Ehre
machen, die andern sollen davon bleiben. Wär' das aber auch nicht meine
Meinung, hierin that' ich dir doch nicht deinen Willen! Du hast vermeint, ich
würde jasagen, weil ich selber das Kind nicht gerne vor mir sehen möcht', und
dabei hättest du es auch aus den Augen gekriegt und aus dem Sinn, und das
wär' dir recht gewesen, denn mit der Schamhaftigkeit über seine Sünden hält
es der Mensch wie die Katze mit dem Unrat, weiß sie den nur eingescharrt,
so geht sie stolz davon, als hätte man sie nie darüber hocken gesehen. Du
hättest darauf vergessen und dir einbilden können, es wäre noch alles in alter
GeHörigkeit. Darum bleibt das Kind im Hause und dir unter Augen!" Jetzt
aber muß Leni trotz aller Vorsicht aus dem Hause, und sie setzt sich auf die
Eisenbahn, nach Wien zu kommen.
Auf der Fahrt dahin, im Coupe, macht sie die Bekanntschaft eines alten
Bauern. Der hat an der schmucken Dirne seine Freude, er beobachtet sie, und
da gerade sein verwitweter Schwiegersohn, der Gmsbvdenbauer Kaspar Engert
in Föhrndors, eine zuverlässige Person braucht zu seinem verwaisten Mädchen,
welche es in seiner Nervenkrankheit (dem Veitstanz) betreuen soll, macht der
„Ehul" der Mitreisenden den Vorschlag, diese Stellung anzunehmen. „O, ich
hab' dich ganz g'nau beobacht', mein' liebe Dirn'! Vorhin, wie d' noch munterer
g'wehen bist und die zwei Herren dort ent' im Eck kurzweilige Reden g'führt
hab'n, da haft du wohl g'schmunzelt, denn Spaß bleibt Spaß, und ihn nit ver¬
kennen, das is schon recht, aber verquer is er dir kommen und zur Unzeit, und
d'rum Hast's Lachen bezwungen; wann sich's schickt, würd'se wohl auch 'n Ernst
bezwingen können, und g'rad dös, daß einer geg'n sich selber aufkommen kann,
is 's notwendigste, was der Mensch auf der Welt braucht, und was mer schon
'n Kindern von klein auf beibringen sollt', denn so lang ich's unter'» Händen
hab', verhüt ich wohl, daß 's ein' Dummheit macheu, wann ich's aber freilassen
muß, nachher nimmer. Ja, schau Dirn', vermocht sich nur ein jeder zu be¬
zwingen, kein' Schlechtigkeit güb's mehr in der Welt, kein' Sund nit! Freilich,
mein' liebe Dirn', kann ich nach dem kurz'u Aug'röcheln nit wissen, wie weit
du über dich selbst Herr bist, aber du giebst dir das Altsch'n, wie eins, das
sich bei sich selber in Respekt zu setzen weiß, und dasselbe g'lassenc Wesen wirkt
auch auf andre, denn wenn die Ärzte sag'n — du magst baden oder trinken —,
daß sich vom Wasser mitteilt, was drein steckt und dich g'sunt oder krank macht,
so mehr wird sich doch, was in ein' Menschen Gut's oder Übels steckt, ein'in
andern mitteilen, der mit ihm häufig Umgang hat! Soweit wär's mir Wohl
recht, du thät'se dich entschließen und gingst mit mir und schautest dir unser'
Kleine an. Denn hast auch so ruhig's, bedeutsam's G'schau; das is eine
Gottesgab', wann eins mit den Augen reden kann — wo oft keine tausend
Wort flecken, hilft dös."
Auf dieses Zureden unterbricht die Leni ihre Fahrt, der „Ehrt" nimmt sie
gleich auf seinem Wagen nach Föhrndorf mit, und unter den glücklichsten Auspi¬
zien tritt sie in den Dienst des Grasbodcnbauers. Denn die Burgerl, das
kranke Kind, faßt gleich eine Vorliebe für die neue Pflegerin; die Selbstüber¬
windung, welche der Alte an ihr pries, läßt sie deu gräßlichen Anblick der
Anfülle des kranken Mädchens ertragen, Und das allein schon gereicht diesem
zum Heile, da es in seiner Frühreife die liebevolle Teilnahme am meisten
vermißte.
Man errät leicht, daß die heilbringende Pflegerin des Töchtcrchens auch
dem verwitweten jungen Vater nicht lange fremd bleibe» kann, und daß gar bald
das Band der Liebe diese vereinigen muß. Von dem Augenblicke an, wo Leni
erfahren hat, daß ihr geliebter Florian ihr Bruder ist, siud alle bräutlichen
Gefühle gegen ihn erloschen. Für Florian aber werden diese Erfahrungen der
Anlaß zu einem weltschmerzlichen Verzweifeln an jeder sittlichen Ordnung; er
stürzt sich in ein Lumpculebeu und kommt dabei um. Der Verbindung Magda-
lcuens mit dem Grasbvdenbauer steht nun nichts mehr im Wege; ihn hindert
auch nicht die Mitteilung von ihrem „Schandfleck," sie zu seinem ehrlichen Weibe
zu macheu.
Dies die Haupthandlung des Romans mit Ausschluß all der zahlreichen
Fäden, die damit parallel laufen. Von der eigenartigen Schönheit desselben
giebt unsre Skizze freilich keinen Begriff, denn diese liegt ganz und gar in der
Ausführung. Auf die Entfaltung der Charaktere, auf das behagliche Sich-
nuslcben der Menschen legt Anzcngruber sein Hauptgewicht, und die Freude, die
einem so ein geschwätziges Sichausleben der Gestalten, die Fülle von Detailzügen,
welche der Dichter unerschöpflich anzubringen weiß, bereitet, bedarf keiner nähern
Erklärung. Kommt ja doch alles in der Erzählung auf diese Behaglichkeit
an, in der man zur vollen Vertrautheit mit ihren Gestalten geführt wird; eine
Fabel mag noch fo schlicht sein, wenn sie nur dazu dient, uus eigenartige,
lebendige Menschen in Bewegung und Leidenschaft vorzuführen. Die Schilde¬
rung der Werbung der Müllerin um Leni für ihren Sohn und die daraus
folgende Entdeckung des „Schandfleckes," die Schilderung des Eintritts der
Leni in den Grasbodenhof und die Werbung des spröden Witwers um ihre
Liebe: das sind die Höhepunkte der Dichtung, Meisterhaft ist die Kunst zu
chciraktcrisiren bei Anzcngruber: der Humor, die Tiefe, die „Schneid." Meister¬
haft ist seine Behandlung des Dialektes /°) der im zweiten Teile merklich anders
ist als im ersten, wo er sich mehr dem Schriftdeutsch nähert; im Dialekt findet
Anzcngruber seinen Naturlaut, da spricht er, wie die bisher angeführten Zitate
zeigen, auch oft in drastischen Bildern. Am feinsinnigsten jedoch scheint uns
die Art zu sein, in der er die eigentlich schuldigen und die am Ehebruch zu¬
nächst beteiligten Personen dargestellt hat. Die Reindorferin, ein schwaches
Weib, bleibt im Hintergründe, und ebenso ihr Verführer. Aber der Ncindorfer,
der als Hahnrei so leicht die komische Figur hätte werden können, wurde zur
bedeutendsten Gestalt der Dichtung. Der Autor motivirt seine Handlungsweise
mit seinem Alter und seiner philosophischen Vcdachtsamkeit. Daß er freilich diesen
Thpus der Biederkeit und Bravheit bis zu tragischer Größe in die Höhe ge¬
trieben hat, hat auf uns nicht den Eindruck organischen Zusammenhanges oder
Wachstums machen wollen. Den Mann, der sich so groß in der Selbstver¬
leugnung und Rechtlichkeit gezeigt hat, läßt nämlich Anzcngruber schließlich auch
noch den Lohn des leidenschaftlichen Königs Lear gewinnen. Als er seinem
mißratenen Sohne nach dessen Verheiratung mit einem übclbeleumundeten
Frauenzimmer den Hof abgetreten, da duldet thu die saubere Schwiegertochter
nicht lange mehr im Hause, und der bald achtzigjährige Greis wird auf die
Gasse getrieben, zum Bettler gemacht. Auch die andre verheiratete Tochter
will ihn nicht ins Haus nehmen, bis er an seinem unechten Kinde, der Leni,
die Cordelia findet, welche dem Greise ein Kissen zum Sterben zurichten will!
Sein Tod stiftet noch Gutes: denn Burgerl, welches sein Nervenleiden durch den
Anblick der sterbenden Mutter bekommen, wird durch den Anblick des selig
scheidenden Greises, den sie standhaft aushält, geheilt.
So legt man den Roman, der jedenfalls dem Bedeutendsten beizuzählen ist,
was die Dorfpoesie der neueren Zeit geschaffen hat, mit ernsten, wenn auch nicht
rein tragisch erschütternden Empfindungen aus der Hand.
ir haben gesehen, daß die Architektur unsers Jahrhunderts in
sechzig Jahren von dem strengen Hellenismus Schinkels, unbeirrt
dnrch die antagonistischen Bestrebungen der Vertreter romanischer
und gothischer Baukunst, bis zur italienischen, deutscheu und fran¬
zösischen Renaissance hindurchgedrungen ist. Man könnte also
daraus schließen, daß die Renaissance, in welcher Erscheinungsform sie auch auf¬
treten möge, derjenige Stil sei, welcher der Geschmacksrichtung unsers Jahr¬
hunderts am meisten sympathisch ist. Wir sind sogar berechtigt, dieser Meinung
eine sehr gewichtige Grundlage dadurch zu geben, daß selbst die Franzosen den
Begriff Renaissance, der ihnen in dem von uns Deutschen angewendeten Sinne
bis vor kurzem vollkommen fremd oder doch nicht geläufig war, seit vier oder
fünf Jahren adoptirt haben. Wenn wir Belgien und Holland, die einzigen
Länder, in welchen — abgesehen von Deutschland und Frankreich — noch nach
historischer Überlieferung gebaut wird, hinzurechnen, so scheint in der That die
Renaissance des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zu einer souveränen
Macht geworden zu sein, welche alle Bestrebungen niederkämpft, die zu einem
baukünstlerischen Ausdruck moderner Gedanken führen wollen. Wohin wir blicken,
überall tritt uns die helle Begeisterung für die Renaissance entgegen, am leiden¬
schaftlichsten freilich in den drei Ländern der europäischen Mitte, in Deutsch¬
land, Holland und Belgien, weil in Frankreich die historische Überlieferung
durch die herrschende Mode niemals soweit unterdrückt worden ist, daß jene
völlig in Vergessenheit geriet, und weil in Italien wenigstens die materiell er¬
gebnisreichsten Zweige der Kleinkunst stets im Anschluß an die Hcmdwcrkstra-
ditivn geblüht haben.
Und doch war auch in Deutschland das Wort „Renaissance" und der damit ver¬
bundene Begriff vor einem Menschenalter noch so unbekannt, daß ein geistvoller und
kenntnisreicher Mann wie Karl Bötticher, der Verfasser der „Tektonik der Hellenen,"
in einer im Jahre 1846 am Schinkelsche des Berliner Architektenvereins gehaltenen
Rede garnicht an die Möglichkeit dachte, der damals anscheinend unerschütterlich
festbegründete Baustil des Hellenismus könnte jemals durch italienische oder gar
deutsche „Renaissance" verdrängt werden. Unter Renaissance verstand man damals
überhaupt nur die Wiedergeburt der griechischen Bauweise, Diese wurde schon
zu jener Zeit, weil sich ihr Formcninhalt sehr schnell verbraucht hatte, als
„ Eklekticismus" bezeichnet, und Bötticher durste in jener Rede mit vollem
Rechte fragen: „Wohin wird eine solche nur aus den Fingern quillende Thätig¬
keit zuletzt führen, wenn nichts mehr zu eklegiren da sein wird, wenn die
Formen der Schinkelschen Werke, wenn die der alten Monumente abgezogen
und verbraucht sein werden?" Bötticher fügte noch hinzu: „Vielleicht zu einer,
wiederholten Renaissance!" und auch darin hat er das Richtige vvrausgesehent
Zu einer wiederholten Renaissance, welche in tollem Wettlauf alles wiederholt
hat, was im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Italien, Frankreich,
Deutschland und Holland geschaffen worden ist.
Wenn jemand noch daran zweifelt, daß die Renaissance, die italienische wie
die deutsche, kein neuer Kunftftil, sondern nur ein wieder aufgefrischtes orna¬
mentales Musterbuch ist, der mag die modernen Monumental-, Industrie- und
Nutzbauten der Reihe nach durchprüfe!! oder im Geiste nebeneinander auf-
marschiren lassen, um sich davon zu überzeugen, daß die angebliche nationale
„Stileinheit" auf einer dürftigen Grammatik von Formenelementen beruht, welche
nach modernen Begriffen nur für die nötigsten Phrasen ausreichen. Wir wollen
eine Villa oder ein ländliches Wohnhaus im Stile der deutschen Renaissance
bauen; aber die deutsche Renaissance liefert uns kein Vorbild, weil sie kleine,
freistehende Bauwerke dieser Art nicht gekannt hat. Man hat Wohl Rathäuser
erbaut, welche auf größeren Plätzen isolirt standen; im Wesen des bürgerlichen
Wohnhauses lag jedoch der Anschluß an seinesgleichen und im Charakter der
aus dem Mittelalter herausgewachsenen Ncnaissaneestadt zugleich die Notwendig¬
keit der größten Raumersparnis begründet. Für die geringe Frvutentwicklung,
welche durch das enge Zusammenwohnen behufs wirksamerer Verteidigungs¬
fähigkeit bedingt war, mußte die größere Tiefe der Grundstücke entschädigen.
Ein Berliner Architekt hat vor einigen Jahren den Versuch gemacht, ans dieser
auch in modernen Städten noch vorhandnen Raumnot eine Tugend zu machen
und die schmale Straßenfront zu gunsten der deutschen Renaissance in einem
von ihm sogenannten „Dreifensterwohnhaus" künstlerisch auszubilden. Aber
trotz seiner geistvollen Durchführung und Begründung hat er mit seinen Pro¬
jekten nur wenig Anklang gefunden. Im Gegensatz zu dem Menschen des
Mittelalters strebt der moderne Mensch zu einer größeren Jsolirung, zumal da
die Mittel des modernen Staatenshstems dem einzelnen Bürger auch über das
Weichbild einer von Mauern umschränkten Stadt hinaus zureichende Sicherheit
für Wohlfahrt und Eigentum gewähren. Wir wollen mehr Licht und Luft
haben, als fie uns der enge Rahmen der mittelalterlichen Bauart zu bieten
vermag. Mit der Befreiung des Individuums von den Fesseln der Tradition,
welche That man gewöhnlich als die Quintessenz und das Symbolum des welt¬
bewegenden Gedankens der Renaissance bezeichnet, ist auch das Naturgefühl in
seiner vollen Freiheit erwacht. Für die Troubadours und die Minnesinger
hatte die Natur nur insofern einen Wert, als sie sich zum Preise der Geliebten,
also rein akademisch ausbeuten ließ. Ebenso ließe,: auch die Begründer der
modernen Malerei, die Brüder van Eyck, und ihre Nachfolger die Blumen nur
aufsprießen, wenn die Madonna mit dem Jesusknaben aus der Wiese saß oder
verehrungswürdige Heilige durch ein freundliches Flußthal schritten. Erst seit
dem sechzehnten Jahrhundert sing mau an, die Natur um ihrer selbst willen
zu lieben, nachdem die allgemeinen Sicherheitszustände soweit befestigt worden
waren, daß der Bürger es wagen durfte, vor die Thore hiucuis- und über Land
zu gehen, ohne von Schnapphähnen aufgegriffen zu werden- Was man damals
im Angesichte dieser neuen Entdeckung empfand, hat keiner der gleichzeitigen
Schriftsteller und Dichter so klar und empfindungsvoll ausgesprochen wie der
mit scharfem Auge rückwärtsblickeude Goethe in seinem großen Nenaissaneedrama,
in welchem Faustens Ofterspazicrgang ihm die Veranlassung giebt, das Erwachen
der Natur zu schildern.
Aber das Gefühl für die unauslöschlichen Reize der freien Natur war bei
den Renaissancemenschen noch so sehr in den ersten Ansängen begriffen, dnß
niemand daran dachte, sich außerhalb der Stadtmauern ein Landhaus zu bauen.
Die Gebäude, welche draußen auf Meiereien und Landgütern aufgerichtet
wurden, behielten schon mit Rücksicht auf die Sicherheit der Bewohner den
burgartigen Charakter des Mittelalters. Höchstens verstieg man sich innerhalb
der städtischen Umfriedigung oder im Schutze der Stadtmauern zur Erbauung von
Gartenhäusern, für welche mau die Vorbilder in Italien kennen gelernt hatte.
Wie die italienischen Kasinos, hatten aber mich die deutschen Gartenhäuser nur
eine provisorische Bestimmung. Für den Zweck unsrer modernen städtischen
Villa, welche auch im Winter bewohnbar sein soll, können sie nicht als Muster
dienen. Den modernen Villentypus geschaffen zu haben, ist das Verdienst der
Nachfolger Schinkels, eines Persius, Hitzig, Lucae u. s. w. Was später nach
dieser Richtung hin gethan worden ist, änderte nichts an dem Typus, sondern
beschränkte sich nur auf praktische Verbesserungen im Innern. Als die deutsche
Renaissance auskam, wurden auch nur die Zierratcn geändert. Mau machte
aus Balkonen und Vorhanden Erker, man schloß die Dachfenster statt mit geraden
Linien mit Spitz- oder Treppengiebcln ab und setzte überall Svitzsüuleu,
Voluten und allerhand ornamentale Schnörkel ans, wo die Monotonie der
architektonischen Linien nach der Ansicht der Vautiiustler eine Unterbrechung
erforderlich machte. Das System blieb jedoch dasselbe.
Ebenso verhält es sich mit den städtischen Wohnhäusern für mehrere Miets¬
parteien und mit den Geschäftshäusern. Für beide Gattungen bietet die deutsche
Renaissance, die Renaissance überhaupt keine Vorbilder. Ihr fehlte vor allen
Dingen jene Möglichkeit, die wir im vorigen Artikel als das charakteristische
Kennzeichen eines besondern Baustils genannt haben, einen Raum so zu über-
dachen, daß die Decke mit dein wachsenden Naumbedürfnis gleichen Schritt hält.
Um für große Verkaufsladen, für Lagerräume, Bankinstitute ein Unterkommen
in deutschen Nenaissaneehänsern herzustellen, müssen die Architekten zur umfang¬
reichsten Anwendung der Eisenkonstruktivn ihre Zuflucht nehmen. Die Spann¬
weite, welche für Schaufenster, für breite Ladencingänge, für Fenster von Büreau-
räumen nötig ist, kann nur durch Einziehung von eisernen Querbalken erreicht
werden, und die dadurch entstandnen weiten Öffnungen, welche mit Glas verdeckt
werden müssen, stehen in vollkommenem Widerspruch zu dem Charakter der
deutschen Renaissance Abgesehen davon, daß bei solchen Gebäuden, welche halb
Geschäfts-, halb Wohnhäuser sind, die Zwiespältigkeit ihres Wesens bisher nicht
durch eine organische Zusammenfassung der beiden Hälften beseitigt werden
konnte, sind die Formenelemente der deutschen Renaissance nur ganz äußerlich
den Fassaden aufgeklebt worden. Durch eine möglichst reiche, sehr oft in Über¬
treibung ausartende Ornamentik sucht man die Zusammenhangslosigkeit der
inneren Disposition zu verdecken; aber dem schärfer blickenden Auge kann es
nicht entgehen, das; wir nur ein leeres Spiel mit dekorativen Formen vor uns
haben. Oft geht das Streben nach rein dekorativer Wirkung soweit, daß die
Steinmetzenarbeit an den Fassaden den monumentalen und selbst deu architek¬
tonischen Charakter völlig aufgiebt und in der Zierlichkeit der Details mit den
Künsten des Schreiners wetteifert. Am weitesten wird dieses Spiel getrieben,
wenn man Bauwerke von völlig moderner Bestimmung mit den Schmuckstücken
der deutschen Renaissance ausstattet, wie es z. B. an einigen Stadtbahnhöfen
in Berlin geschehen ist. Wenn man durch ein im Stile der deutschen
Renaissance dekorirtes Portal in eine mächtige, aus Eisen kvnstruirte und mit
Glas gedeckte Halle tritt, so liegt darin ein Widerspruch, welcher durch
kein vermittelndes Glied stilistisch zu losen ist. Zum Ausdruck einer ernsten
Monumentalität ist die deutsche Renaissance vollends nicht geeignet. Die
Wahrheit dieses Satzes ist bei der Konkurrenz um einen Bauplan für das
deutsche Neichstagsgebüude hinreichend erprobt worden. Schon in der That¬
sache, daß sich unter hnndertunducunzig Entwürfen kaum ein Dutzend im Stile
der deutschen Renaissance befand, konnte man eine Kritik dieses Stils erblicken,
und von diesen wenigen Entwürfen kam, trotzdem daß einige von sehr begabten
Architekten herrührten, nicht ein einziger der Lösung der Aufgabe nahe. Die
weitaus überwiegende Mehrzahl der Konkurrenten hatte zur italienischen Re¬
naissance zurückgegriffen, die doch nur eine reichere und, wenn auch nicht in
allen Punkten höhere Entwicklungsstufe der antiken Baukunst ist.
Es sind kaum zehn Jahre, daß der Stil der deutschen Renaissance in der
Architektur der Gegenwart eine umfassende Anwendung findet, und schon sind
überall die Anzeichen des Verfalls sichtbar. In München, wo man zuerst mit
Hellem Enthusiasmus den „Stil unsrer Väter" aus der Gruft der Geschichte
zu neuem Leben erweckt hatte, ist schnell eine solche Verwilderung und Ver¬
rohung eingerissen, daß sich die warnenden Stimmen, welche sich gegen Mi߬
brauch und Maßlosigkeit erhoben haben, von Tag zu Tag vermehren, selbst
Lübke, welchem wir die erste wissenschaftliche Behandlung der Geschichte der
deutscheu Renaissance verdanken, hat schon vor drei Jahren vor den Gefahren
gewarnt, welche in diesem Stile schlummern, und feine Ansicht dahin ausge¬
sprochen, daß die deutsche Renaissance nur „eine Kunst für durchgebildete, reife
Meister" sei, welche „an den ewig mustergültigen Werken der Antike und der
italienischen Renaissance eine feste künstlerische Überzeugung g-Monum haben,
daß aber Unreife, Unfertige ferngehalten werden sollten/' Indem er noch
weiter davor warnt, die Ausartung dieses Stils ins Barocke nachzuahmen,
faßt er vorsichtig seine Meinung über die Verwendbarkeit desselben in unsrer
Zeit in die Mahnung zusammen: „Lassen wir dnrch seine belebteren Außeu-
fvrmen dem toten ^chablonenwcsen unsrer bürgerlich-städtischen Architektur ein
Element der Erfrischung zukommen; lassen wir namentlich ihn, in Verbindung
mit einem künstlerisch geadelten Handwerk, das Innere unsrer Wohnungen in
jener anheimelnden, stimmungsvollen Ton- und Formenfülle gestalten, in welcher
kein andrer Stil ihm gleichkommt." Das heißt mit andern Worten: Die
deutsche Renaissance hat nur einen rein dekorativen Wert. Sie enthält kein
konstruktives Element, welches einer Fort- und Ausbildung sähig wäre, und ist
daher nur in jenen engen Grenzen verwendbar, welche ihr durch ihre histo¬
rische Entwicklung im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert vorgezeichnet
worden sind.
Unsre Zeit hat sich aber nicht in jenen Grenzen gehalten. Als Lübke
seine Warnung nussprach, hatten die süddeutsche» Architekten und Kunsthand¬
werker die Formcnelemente der deutscheu Renaissnnee schon in den Barockstil
hineingespielt. Genialen Männern, wie den jüngst verstorbenen Getön und
Graues, welche durch ihre» Reichtum an Phantasie und durch ihre Schaffens¬
kraft der tadelnden Kritik immer noch glänzende Thaten entgegenstellen konnten,
schlössen sich gedankenarme, aber fingerfertige Macher an, welche, gleich den
Faiseurs auf andern Gebieten der geistigen Thätigkeit, durch ihren Phrasen¬
schwulst die Menge bethörten. Unter dem Deckmantel der deutschen Renaissance
förderten Baukünstler und Handwerker die wildesten Ausgeburten einer fieber¬
haften Phantasie zu tage, welcher jeder vernünftigen Konstruktionsmethode Hohn
sprachen. Besonders in München wurde der Begriff der deutscheu Renaissance
gleichbedeutend mit Stillvsigkeit. Die internationale Ausstellung von 1883,
ans welcher auch das Münchener Kunstgewerbe vertreten war, hat uns gezeigt,
daß die edeln und jugendfrischem Formen der deutschen Frührenaissance dein
überreizten Geschmack der Münchener längst nicht mehr zusagen. Wenn man
dem Berliner Kunstgewerbe den Vorwurf macht, daß es, unter dem beständigen
Einflüsse von Architekten großgezogen, an Steifheit und Nüchternheit leide,
so muß mau dem entgegenhalten, daß die Münchener Kunstindustrie dank der
Willkür und den barocken Launen der Maler, welche in Süddeutschland meist
den Architekten den Rang abgelaufen haben, nicht mehr weit von jener Barbarei
entfernt ist, die das Ende aller Dinge bedeutet. Personen, künstlerische In¬
dividualitäten oder landschaftliche Eigentümlichkeiten sind für diesen raschen
Verfall nicht verantwortlich zu machen. Auch in Verliu sind genug Merkmale
des Verfalls vorhanden, nur daß sie sich bei dem kühleren Naturell der Nord¬
deutschen später gezeigt haben, ganz analog dem Gange der Entwicklung im
sechzehnten Jahrhundert, wo man dem Eindringen der italienischen Manier den
längsten und zähesten Widerstand im nördlichen Deutschland entgegensetzte.
Aber die vollständige Verwilderung wird auch in Berlin nicht ausbleiben,
obwohl man hier, wie anerkannt werden muß, ernste Versuche gemacht hat, den
Zierformen der deutschen Renaissance dnrch Einfügung romanischer Konstruktions-
elemente eine solide Grundlage zu geben.'
Die Kunstindustrie hat durch den Anschluß an die deutsche Renaissance
ebensowenig ein neues Lebcnselixir gewonnen wie die Architektur. Ihre Ent¬
wicklung kann nicht durch die Annahme neuer Dekorationsformen, sondern nnr
durch die Aneignung neuer technischer Prozeduren gefördert werden. Wenn
wir bei der Prüfung ihrer Leistungen während des letzten Jahrzehnts den
Schein vom Wesen zu trennen verstehen, werden wir gewahr, daß nicht die
wieder in Fluß gebrachte Bewegung zu gunsten der Renaissance, sondern die
Wiederbelebung der einzelnen Zweige der Technik die Ursache so vieler erfreu¬
lichen Schöpfungen der modernen Kunstindustrie gewesen ist. Wie das deutsche
Kunsthandwerk des sechzehnten Jahrhunderts gewisse Techniken von Spanien,
Arabien und der Levante übernommen hat, so haben auch unsre Knnstindnstriellen
aus Japan und China, aus Indien und Persien technische Kunstgriffe und
Prozeduren kennen gelernt, welche ihnen mehr genutzt haben als das Kokettiren
mit den Stilformen der Renaissance. Aus den Fortschritten der Technik, welche
sich den ästhetischen und praktischen Grundbedingungen des Materials anschließen,
kann sich eher ein neuer Stil entwickeln als ans der Nachahmung von historischen
Formen, die sich ausgelebt haben.
Man könnte ein analoges Beispiel aus der politischen Geschichte unsers
Jahrhunderts zitiren. Die Sehnsucht nach deutscher Einheit, nach Größe und
Macht des deutschen Vaterlandes ist nicht dnrch das Tragen von langen
Haaren, breiten Hemdenkragen, schwarzen Sammetröckcn und derben Knotenstocken
erfüllt worden, sondern dnrch die von jeder romantischen Schrulle unabhängige
Blut- und Eisenpolitik, welche bis zur Stunde die Geschicke des deutschen Vater¬
landes lenkt. Diese Politik des Realismus, welche in ihren Fundamenten wie
in ihren höchsten Zielen so gut idealistisch ist wie der deutsche Volkscharakter
selbst, kann auch der Entwicklung unsrer Kunst als Richtschnur dienen. Man
kann sogar den Vergleich noch weiter treiben und für die Architektur speziell
auf das Eisen exemplifiziren. Vor vierzig Jahren hat Karl Bötticher in seiner
obenerwähnten Schinkelrede ans die im Eisen schlummernden, damals noch nicht
erweckten und auch heute noch lange nicht misgebentetcn Kräfte hingewiesen und
die prophetischen Worte gesprochen: „Es ist das Eisen bestimmt, mit der
steigenden Prüfung und Erkenntnis seiner statischen Eigenschaften in der Bau-
weise der kommenden Zeit als Grundlage des Deckenshstems zu dienen und
dasselbe, statisch gefaßt, einmal so weit über das hellenische und mittelalterliche
zu erheben, als das Bogen- und Deckensystem das Mittelnlter über das mono¬
lithe Steinbalkensystcm der alten Welt erhob."
Schon jetzt kämpft die Renaissance mit dein Eisenbau um ihre Existenz.
Daß der letztere sich aus rohen Anfängen noch nicht zu einem bestimmt aus¬
geprägten Stilcharakter emporgearbeitet hat, darf über die geringe Lebensfähigkeit
der ersteren nicht täuschen. Auch der Eisenbau wird sich nicht ausschließlich und
rein aus dem Material entwickeln. Seine Allianz mit dem Glase wird im
nordischen Klima sehr oft unmöglich sein. Auch er wird von der Gothik, von
der romanischen Bauweise und von der Renaissance borgen. Aber er allein
gewährt uns augenblicklich die materielle Möglichkeit, dem Gesetze und der
Grundlage aller menschlichen Dinge, der konstanten Entwicklung, gerecht zu
werden und endlich einmal aus der Tretmühle ewiger Nachahmung herauszu¬
kommen.
le Aula in dem nenausgeführten Anbau des Gymnasiums sah
genau so aus wie andre Schulsäle: ein Katheder, davor ein
Auftritt für die Sprecher niederen Grades, war an der Mittel¬
wand angebracht, ein freier Raum davor, rechts und links durch
Stühle begrenzt, im übrigen füllten den Saal Bänke ans.
Zunächst drängte sich alles ungeordnet durcheinander, bis der Gymnasial-
direktor das obere Katheder bestieg und mit der Glocke ein Zeichen gab.
Hierauf hob ein vierstimmiger Schülergesang an, ein Chören, der die Fest¬
handlung einleitete. Die Lehrer nahmen links, die Spitzen der Behörden rechts
die Stühle ein, die andern fanden auf den Bänken Platz, die Schüler auf den
hintersten. Der Saal war gedrückt voll.
Der Direktor sprach einige Worte der Begrüßung an die überaus zahl¬
reich eingetroffenen Kommilitonen, teilte den Inhalt des schon draußen an der
Kirche ausgegebenen Programms mit und ging dann zur Erledigung des erste,?
Teiles desselben über, zur Einzeichnung der Festgenossen in das Album, ein
rvtgebundenes großes Heft, dessen Spalten ausgefüllt werden sollten.
Dies vollzog sich in der Weise, daß die einzelnen Jahrgänge der Abitu¬
rienten von 1833 ab aufgerufen wurden und jeder Zugehörige seinen vollen
Namen, das Alter, das Fachstudium, die Universität, das Amt, die Würde, den
Anstellungsort angab. Es ist dies eine Einteilung, welche, weil sie ausschlie߬
lich Gelehrtenfücher und Beamten begreift, sich ohnehin als unzureichend er¬
weist; hier aber erregte sie peinlichen Anstoß, wenn ein oder der andre Herr
angeben mußte, daß er das Abiturientenexamen nicht gemacht, ein Fachstudium
nicht erwählt, eine Universität nicht besucht, ein Amt nicht erlangt habe.
Als das Geschäft der Albumausfüllung beendet war, verkündete der Di¬
rektor, daß nun zur Erledigung des zweiten Abschnittes des Programms über¬
gegangen werde, nämlich zu dem Vortrage, und zwar werde sich dieser ver¬
breiten „über unsre Errungenschaften in den letzten fünfzig Jahren, seil, irrlittsris."
Aber, fuhr er fort, in Ausführung eines Kollegialbcschlusfes — diesen
Worten gab er eine Betonung, als wollte er andeuten, daß er dagegen gestimmt
habe — sei noch folgendes zu vermelden: In Erwägung, daß vielleicht der eine
oder der andre Herr Kommilito sich vorgenommen habe, das Wort zu er¬
greifen, in fernerer Erwägung, daß die Gelegenheit hierfür programmmäßig
nur bei dem Einleituugs- wie Abschiedsakte gewährt werden könne, da die
Tischordnung nur offiziellen, bereits bestimmten Festrednern das Wort verstatte,
so stehe es jedem der Herren Kommilitonen frei, jetzt über das angegebene
Thema das Wort zu ergreifen; nur werde gewünscht, daß der betreffende Herr
Kommilito mit den Herren Kommilitonen seines Jahrganges zunächst hervor¬
trete zur Mitteilung seines Vorhabens; fünf Minuten seien zur Erledigung
dieser Formalien gegeben.
Nach Verkündigung dieses viclcrwvgenen Beschlusses schlug der Direktor
mit seinem laugen Bleistifte einmal auf das Pult, wendete dann den Kopf in
außerordentlich unbequemer Weise uach der hinter ihm über dem Katheder tickenden
Uhr, brachte ihn in seine vorige Stellung zurück, vermerkte die ermittelte Zeit
und setzte sich zurecht, indem er steif den Kopf vorstreckte. Wie ein versteinertes
Abwarten sah er aus.
Im Saale herrschte tiefes Schweigen, das nur durch ein halbes Niesen
eines kleinen Schülers unterbrochen wurde; der pausbäckige Quartaner hemmte
sich selbst Helden- oder Hasenhaft in Abwicklung dieses natürlichen Dranges.
Vier Minuten waren nach der großen Uhr abgelaufen, der Gymnasial-
direktor drehte wieder den Kopf mit einer fast noch unbequemeren Wendung als
das erste mal nach dem Zeitmesser, drückte die Brille an und stellte fest, daß
noch eine Minute fehle. Daun richtete er sich am Pulte zurecht, schlug sein
Manuskript auf und wollte eben — da wird eine Stimme laut: Ich bin bereit,
über das gegebene Thema zu sprechen.
Es entstand eine hörbare Bewegung uuter deu Anwesenden. Der Direktor
entfärbte sich und ließ den Bleistift fallen, erlangte aber durch Hinuuterbücken
seine Farbe wieder.
Den Sprecher jener überraschenden Worte konnte man nicht sehen, weil
alles aufgestanden war, um ihn zu Gesicht zu bekommen, dieser aber sitzen ge¬
blieben war.
Der Direktor stieß hierauf mit der ganzen Schärfe eines Schulmonarchen
hervor: Wer? Und dann: Welcher Jahrgang?
Als es hieß, 1849, rief der Direktor noch: Dann bitte ich den betreffenden
Jahrgang, hervorzutreten; eine Äußerung, die durch ihren schulmeisterlichen Ton
auf den Gesichtern der älteren Herren Befremden hervorrief, die anwesenden
Schüler aber, die den Unwillen des gestrengen Obern heraushörten, erbeben
machte.
Inzwischen wanden und schoben sich die acht Kommilitonen des Jahr¬
ganges 1849 nach vorn. Einer von ihnen mit einem finstern Gesichte murrte
halblaut: Ist wirklich eine Unbescheidenheit, solches Sichvordrängcn gerade von
diesem.
Was fällt dir ein, entgegnen ein andrer, er war doch unser Primus, und
was für einer! worauf jener unwillig erwiederte: Jetzt Ultimus, wie sichs bei
Feststellung der Personalien zeigte; kann eine abscheuliche Blamage für uns alle
abgeben.
Vorbereitet! raunte der auftauchende Redelustige seinem Nebenmanne auf
eine an ihn gerichtete Frage zu, und erhielt hierauf die soldatische Anspornung:
Also los!
Ein Hintermann fügte noch bei: Möge der Allmächtige dich stärken in
deinem Beginnen! und trat damit als Erster an; es war der Ortsgeistliche,
Superintendent sah .... nur die Schulspitznamen seien genannt, sie werden
im Laufe des Festtages noch mehrfach zur Geltung kommen.
Dieser zuerst Vorgetretene war ein behäbiger Biedermann, das Urbild eines
Pastors, von Sexta her Ratz gerufen, Abkürzung seines Vornamens Ignaz.
Ihm folgte ein auffallend eleganter Herr in sehr jugendlichem Kleiderschnitt,
Kameralist von Fach, dann Parlamentarier, jetzt auf seiner erheirateten Ba-
ronie auf großem Fuße lebend; er hatte seit Sekunda den Spitznamen Mirbl,
Verstümmelung von Mirabeau, über den er damals einen schwungvollen Vor¬
trag gehalten und den er sich seitdem zum Muster erwählt hatte. Er war
in xoMieis wegen Mangel an Begabung gestrauchelt, übrigens hatte er nicht
die Riesenkräfte seines Musters und war frühzeitig entnervt; jetzt trug er ein
unbefriedigtes Wesen zur Schau — er hielt sich für einen Märtyrer der Frei¬
sinnigkeit. Der dritte war der „blasse Heinrich," eine derbe Gestalt in schlichtem,
weitem Rock, Schulmann mit wohlwollendem Gesichtsausdruck, glatt rasirt bis
auf den schmalen Streifen, der Kinn und Wange säumte (ein verunstaltender
Bart!), dazu quer über den Mund eine tüchtige Schmarre. Der vierte war
der Oberst aus dem Generalstabe, der im Zuge mit Pipin zusammen gesehen
wurde, wiederum ein Musterbild, nämlich von Schneidigkeit und Ehrenfcstigkcit.
Aus den untern Klassen hatte er den Spitznamen Genserich wegen seines langen
Halses mitgebracht, und später, in Tertia, nach einer Geschichtsstunde, die mit
den Worten schloß: „Genserich, gewaltig im Kriege, dabei klug, aber auch hart
und grausam, starb 477," war er unter allgemeinem Halloh wiederum zum
Genserich geschlagen und ausgerufen worden. Der fünfte, ein „äußerst Vor¬
nehmer," mit bunten Bändchen im Knopfloch, war Regisseur eines Hoftheaters,
Pipin genannt; niemand wußte, wie er zu diesem Spitznamen gekommen war,
aber jeder meinte, er könne garnicht anders heißen. Der sechste, jener Finster¬
schauende, war ein Geheimrat, nervös, mit etwas gebückter Haltung. Seit Quinta
hieß er Kautschuk, wegen seines Ganges, der den Eindruck machte, als habe er
immerfort Gummischuhe an. Der siebente, ein dürftiges, aber sich sehr empor¬
reckendes Kerlchen in abgetragenem Zivil, darüber einen Militärpaletot, dessen
zinnoberroter Kragen das einzige Neue daran war, hatte Unglück im Referendar-
cxamen gehabt und war Rendant in einer Administrativstelle geworden, Archimed
schon früher wegen seiner Geschicklichkeit im Arithmetischen genannt und zuletzt
in Sekunda vou neuem getauft; die Klaffenschüler hatten damals ein Gedicht
über den Tod des Archimedes zu fertigen, und bei Beurteilung ihrer Leistungen
hatte der Korrektor gesagt: Auf der niedrigsten Stufe poetischer Auffassung und
Versschreibung steht unser er beginnt seine Epopöe:
Archimedes, der Erfinder der Sanduhr und der Hydraulik,
Lebte 212 vor Christi Geburt zu Syrakus.
Das sollten zwei Hexameter sein. Der achte, der Mediziner, Kreisphysikus und
Stabsarzt a. D, wieder eine Charaktermaske, trug den Spitznamen „Cohn,"
seitdem in Unterprima der zerstreute Lehrer ihn einmal mit diesem Namen auf¬
gerufen hatte. Der Schüler hatte unwirsch gesagt: Aber entschuldigen Sie,
Herr Oberlehrer, ich heiße doch garnicht so! worauf dieser ihn hatte beruhigen
wollen: Sie sehen aber doch ganz wie ein Cohn aus.
Der Gymnasialdirektor musterte die Reihe der acht Vorgetretenen mit
starren Blicken und dem Ausdruck von Ungehaltenheit, fühlte sich aber einiger¬
maßen beschwichtigt, als er unter ihnen den Ortsgeistlichen, einen Stabsoffizier
und zwei sonstige vornehme Herrengestalten unterschied. Er durchflog die Album¬
aufzeichnungen, indem er halblaut nachlas: Geheimrat, Generalstabsoberst,
Assessor von —
Auf Obenhofen! ergänzte Mirbl, es geschieht nur behufs Unterscheidung
von einem gleichnamigen Vetter (der aber garnicht anwesend war).
Sehr wohl, winkte der Direktor, und vervollständigte die Spalte.
Der Geistliche, welcher wußte, daß die Zeremonie auf eine Beglaubigung
hinauslaufe, wies auf den „blassen Heinrich" mit den Worten: Hier, unser lieber
Schulfreund — und damit nannte er den Namen. Der Direktor dankte durch
Nicken, durchforschte die Spalte und fragte nur: Privatlehrer? Dieser bejahte;
der Direktor räusperte sich, nickte wieder, aber sichtlich weniger verbindlich, dann
sagte er: Danke, meine Herren Kommilitonen, bitte (gedehnt gesprochen) Herr
Kommilito!
Auf vielen Gesichtern machte sich der vorhin von Kautschuk ausgesprochene
Gedanke bemerkbar: Wie kann ein so Zurückgebliebener es wagen, hier unter
uns das Wort führen zu wollen?
Demnächst traten die Sieben zurück, und der „blasse Heinrich" bestieg das
kleine Katheder. Er war es, der vorhin auf Befragen zu dem Nebenmanne das Wort
„Vorbereitet" gesagt hatte, und das war richtig. Gleich nach den ersten Sätzen
wußte jeder: hier spricht ein wirklicher Redner. In ihm vereinigten sich alle
Vorbedingungen eines solchen, Kraft der Stimme, Tonfülle, Gedanken- und
Wortreichtum, Klarheit des Ausdruckes, Sicherheit, Leidenschaft, Maß, Liebe
zur Sache, Begeisterung; dazu kam ein dreißigjähriges Studium, das in ihm
den Meister der Beredsamkeit ausgebildet hatte. Er war auf der Tribüne ein
fertiger Mann, eine ungewöhnliche Erscheinung, die erobernd wirkte. Solche
Redner können großes Unheil stiften, wenn sie in dem Aufgebote des Bösen
stehen; im entgegengesetzten Falle müssen sie Segen verbreiten, nicht mir auf
die Hörer, sondern auch auf deren Hörer — ein unbegrenztes Gebiet! Was
endlich sein Äußeres betrifft, so möge es ein Dichterwort veranschaulichen:
Denn anders scheint Ihr mir als sonst
An Stimm' und AugeiicUauz, auch hochgestreckt
Wie Recken aus der Sage.
Nachdem er seinen Plan der Behandlung kurz vorausgeschickt hatte, ging
er näher auf die nach Fächern geordneten Gebiete der Kulturentwicklung der
letzten fünfzig Jahre ein, stets in Anschluß an deu Stand des vorletzten Halb¬
jahrhunderts (1783 —1833) und indem er sich stets an die Aufgabe: seil, in
llltorik; hielt. Er behandelte zunächst die unmittelbar auf Gymnasialbildung be¬
ruhenden Wissenschaften, streifte die unmittelbar auf ihr ruhenden Fächer und
ging endlich auf die Künste ein. Seine Rede gipfelte in dem auf Gymnasien
allgemein giltigen Lieblingssatze vom clictioisss liäölitsr artss (Wissenschaft und
Kunst veredelt).
Schon während der Rede machten sich bei einzelnen Stellen Beifallsbe¬
zeigungen der durch den Gegenstand besonders Berührten Luft. Zuletzt sagte
der Redner: Hieraus ergiebt sich, daß ein Fortschritt in den letzten fünfzig
Jahren vorhanden ist fast in allen Einzelgebieten der Kulturarbeit, die auf die
Gymnasialbildung sich gründet oder mit ihr im Zusammenhange steht, ein Fort¬
schritt, der die gewaltigen Ergebnisse des vorletzten Halbjahrhunderts in eben
dem Maße übersteigt, wie dieses seinen Vorläufer an Errungenschaften über-
loffen hatte, daß also die Kulturentwicklung sich in stetiger stufenweiser Stei-
gerung befindet.
Die Blume der Kulturentwicklung aber ist die „Bildung," und zwar jene
allgemeine Bildung, die sich aus der gesamten Geistesarbeit der Zeit zusammen¬
setzt, ein Duftbouquet gleichsam, dessen Inhalt die aus dem gesamten Wissen
für den Einzelnen sich ergebende Teilnahme ist. Sie macht den Gedanken frei,
setzt die Urteilskraft in ihr oberstes Recht ein, rückt den Gesichtskreis in das
Weite hinaus, befähigt zu der Erfüllung der Pflichten, deren Gebiet mit der
fortschreitenden Entwicklung sich immer mehr ausbreitet. Sie macht tüchtig zu
der gedeihlichen Lösung des Widerstreites der sich kreuzenden Pflichten.
Zu dieser höchsten Bildung möglichst viele, zuletzt das ganze Menschen¬
geschlecht emporzuziehen, ist die letzte und höchste Aufgabe der Schule.
Nach diesen Schlußworten brach die Versammlung einstimmig in ein Bravo¬
rufen aus, das den Schulsaal erzittern machte.
Der Regierungspräsident ging zu dem Festredner, der den Tritt verlassen
hatte, und sagte ihm einige anerkennende Worte, auch dem herzueilenden Gym-
nasialdircktor gab er wie beglückwünschend die Hand und flüsterte ihm etwas zu.
Letzterer machte eine dienstergebene Bewegung, wandte sich mit Eifer und Ge¬
schäftigkeit an den „blassen Heinrich," den er wieder: Mein Herr Kommilito an¬
redete, und ersuchte ihn, in Anknüpfung an diese höchst bedeutende Redeleistung
auch den Vortrag für den Abend zu übernehmen; hier sei gehandelt worden über
das, was errungen worden sei; dort solle die Frage behandelt werden, wer
es errungen habe; der Abendvortrcig sei für das größere Publikum, nicht bloß
für die Herren Kommilitonen bestimmt. Der „blasse Heinrich" übernahm diesen
ehrenden Auftrag unter Danksagungen.
Hierauf strömten die Kommilitonen aus dem drückend heißen Schulsaale
in die frische, freie Luft; von vielen Seiten empfing der Festredner noch Lob
und Händedrücke, besonders von den Achtzehnhundertuudneunundvierzigern, die
sich mit gehoben fühlten.
NurKautschuk verharrte abgewendet, und dazu kam noch die an ihn gerichtete
Frage Pipins: Nun, Geheimrätchen, wie denkst du über die gefürchtete Blamage?
Der Angeredete maß den Schulfreund mit einem Blicke, den dieser glück¬
licherweise nicht bemerkte, dann betastete er das bunte Bändchen am Knopfloche
des Regisseurs und fragte lächelnd: Wofür denn? Ausländer? — zwei Nadel¬
stiche in das Herz des Schauspielers.
Pipin trat einen Schritt zurück, nahm eine Stellung an gerade wie König
Philipp im letzten Auftritt des Don Carlos und sagte: Dieser Orden ist von
mir wohl erspielt, und zwar im Auslande, nicht ergaukelt im Inlande; dabei
sah er auf das Goldschnürchen des andern mit seinen zwei Emaillesternlein und
ging hinweg.
Das gab einen kleinen Ärger für Kautschuk ab; aber er wandte sich dem
größern zu, der in ihm wühlte und zur Gegenwirkung drängte.
(Fortsetzung folgt.)
Nochmals die Unterhaltungen mit Friedrich d. Gr. Ein Freund
unsers Blattes teilt uns mit, daß die auf Seite 54 geäußerte Vermutung dadurch
hinfällig wird, daß S. 216, 31 der Memoiren de Cakes über seine Unterhaltungen
mit Friedrich dem Großen
is L^ÄArill wollig Sil orouxe se gÄloxs*) »Vo<z lui
ein Vers ist. Dadurch, daß der König hier zitirt, wird natürlich das sonst uner¬
klärliche lui entschuldigt. Die Stelle ist im Texte nicht so abgesetzt wie sonst Zi¬
tate (z. B. 317. 12).
Wir benutzen diese Gelegenheit, dem scharfsinnigen Leser einige weitere Ver¬
mutungen zur Beurteilung vorzulegen.
'
S, 97, 2: of nost xoint, Lirs, xgroo aus ^s 1s ässirs q.us ^js ig (nämlich
l'immortglits as l'gens) orois, engl8 xgros a.n'fils S8t tonäoo 8ur as8 xrsuvss c^n'on
it<z äötrnirg ^jgmgis, se 8npxo8Su aus ^js I» orois , xgros aus ^s 1a ässirs, Votrs
U^östs vonärgit-lZlls in'grrgodsr cotes äonos S8xsranos? Wir meinen, es ist zu
schreiben 8nxpv8s.
S. 124, 34: Friedrich spricht von seinem Plane... as ins rstirsr, non xonr
gllor su og.tliolio.us vivrs agil8 Roms moäsrno, non xonr gllsr ins kgirs gdbs as
Sgint-Oormgin Ass ?rss, engl8 xonr wsttrs su 8gxo um intsrvalls vntrs tons los
trgogs as ig mort. Hier scheinen einige Worte ausgefallen und die Ergänzung
frei-s tous Is8 trgogs as ig vis se ig mort notwendig zu sein.
S. 148, 10: ägris is8 von^onoturo8 mgllionrsu8ö8 on jo ins trouvs, 8vit xonr
sortir ä'um xgs agil^freux, soit xonr ins äöksnärs ä'um snoswi ans ^'gi su tot",
xonr oourir i^ nu gntro a.ni ins mongos: ^s avis g^ir vrssa.no ton^ours gvso ans
vivgoitö ä'gotion se uns gnägos q.us ig oiroonsxootion se ig xinäsnoo us psrmsttrgivnt
xgs. Vor den Worten xonr oourir dürfte einzuschalten sein soit.
S. 244, 15 hat Caet irrtümlich ^s lui als-us vor die Worte Friedrichs ge¬
setzt, während es vor die Cakes (20) Lirs, voioi u. s. w. gehört.
S. 270, 36: Der König las den Brief Hallers, ovinus it lisgit oräiugirsmsut
es c^n'it us vonlgit xg8 gxpronvor. . . ^s .juAögis xgr ostts lsotnrs, o.n'it äonnsrgit
ig rspon8s (nämlich Hallers) mgnvWs, se ^s ^nAsgi mal. Es ist wohl zu lesen
«.n'it äonnsrgit ig rsxon8s xonr mguvgiso.
S. 27S, 31: Caet hatte mehrere Möglichkeiten dargelegt, die in Sätzen aus¬
gedrückt sind, welche stets mit si anfangen. Der König erwiedert: 8i, mon Sinn-,
von« xonvisx ins zufuhr bis» loin. Sollte es nicht heißen müssen: Vos 8i, mon
olior, xonvgiont ins zufuhr bisn loin?
S. 284, 5: Der König liest Caet die beiden Episteln an die Markgräfin von
Baireuth und an Lord Marishal vor: ^xres in'gvoir in oss äsux xisos8, it ins
xgrlg as eoux as 8g 8ozur oni su stgisnt is su^se. Daß dies keinen Sinn giebt, ist
klar, da natürlich in keinem von beiden Gedichten Is8 xisos8 as 8g 8oznr erwähnt
werden. Der Sinn dürfte sein it ins xgrlg as os8 äsnx strss (seiner Schwester und
Feldmarschall Keith), oui su ötgiont is 8n^se.
S. 290, 32: Der König hat sein Arbeitszimmer in Freiberg eingerichtet:
Vo^fil, ovinus ins 8NI8 grrgn^6, os tont loi, Is8 livrö8 0.As ^'s ooulorgi loua
xsrägnt mon sHonr loi, se pong mo8 mgtsrignx xonr barbonillsr.. . Lies^'gi tont loi.
'
S. 301, 27: II ^ g äsnx ogbgle« g Vor8gilts8, Iuns ohne ig pgix, engl8 is
osrtgin ministrs gai as ig minanäisro vont ig ^usrrs, it g tgnt o.u'it g tronvö is
mo^su as xrsvgloir 8ur los gutrss. Lies it ^ tgie tgnt. . .
S. 303, 1 Der Komm schenkt Caet Bücher: Il ins ut is -gäsgn as os8 trois
ouvrgFos: Virxils pgr l'gbbö Zs8 Z?ontgins8, Horaos xgr Sgngäon, Solon 1'Säition an'it
su gvgit kgits su un volaws agil8 I'imprimsris ro/gls, se I torus pgr?sito^rin.
Sollte etwa gemeint sein is8 oäss ä'Horgos (trgänitss) xgr kslloArin?
S. 307, 21: Der König dichtet xonr ins xrocnrsr o.nslo.usf instans as ssonrits.
Lies 86ronn6.
Italienische Neisebücher, Während die dritte Auflage des Meyerschen
Neisebuches über Rom und die Campagna, obgleich vielfach vermehrt und verbessert,
doch im wesentlichen in derselben Gestalt und demselben Umfange erscheint wie die
beiden früheren Auflagen, liegt in der vierte» Auflage des Neisebuches über Ober-
italien der Anfang einer durchgreifenden Umgestaltung der Meyerschen Reisebücher
über Italien vor, die von einer neuen Einteilung ihren Ausgang nimmt, aber
gleichzeitig auch anderweitige Veränderungen nach sich zieht, ^)
Schon äußerlich betrachtet, unterscheidet sich die handlichere Form des Reise¬
buches über Oberitalien nach der neuen Einteilung vorteilhaft von dem schwer¬
fälligen Bande, der bisher auch Florenz noch mit umfaßte. Nach dieser neuen
Einteilung sind nämlich Oberitalien, d. h, das nördliche Italien bis einschließlich
Genua und Bologna, und Mittelitalien von der Linie Genua- Bologna bis zur
Linie Rom-Ancona von einander getrennt worden. Eine weitere Verringerung des
Umfanges ist aber dadurch erzielt worden, daß die Behandlung der Eingcmgsrouteu
und der nicht zu Italien gehörenden Gegenden auf eine nur in flüchtige« Umrissen
gegebene Orientirung beschränkt worden ist. Mit Recht. Denn wer z. B. bei seiner
Reise nach Italien zugleich die Städte und Gegenden an der Brenner- oder der
Gotthardbahn eingehend berücksichtigen will, mag eben sein Reisebuch über Tirol
oder über die Schweiz mit sich nehmen. Für den, der direkt seinem Reiseziele
zustrebt, ist aller solcher Stoff unnützer Ballast, den er in Italien selbst nur
widerwillig mit sich herumschleppt.
Der Raum, der durch diese Beschränkung gewonnen worden ist, ist dem
Gebiete zu gute gekommen, auf welchem von jeher der Hauptwert der Neisebücher
vou Gsell-Fels zu suchen war, dem der Kunstgeschichte, und zwar sowohl den
kunstgeschichtlichen Vorbemerkungen wie den erläuternden Notizen , die bei dein ge¬
bildeten Reisenden das Verständnis des historischen wie des absoluten Wertes der
einzelnen Bauwerke und Kunstschätze wecken und begründen wollen. Eine besondre
Berücksichtigung ist dabei dem Architektonischen und Dekorativen., der Kunstindustrie
und auch den Kunstwerken der späteren Zeit zugewendet worden, entsprechend dem
täglich wachsenden Interesse, das man allerorten den Grenzgebieten der Kunst und
des Gewerbes zu widmen begonnen hat. Daß auch die neuerrichteten Museen, die
neugefundenen oder erst dem Reisepublikum zugänglich gemachten Kunstschätze ge¬
bührend beachtet sind, ist selbstverständlich.
So kann man wohl sagen, daß die Reisebücher in ihrer neuen Gestalt noch
mehr als früher dem Zwecke dienen, dem sie nach der Absicht des Verfassers dienen
sollen! das Reisen möglichst zu einem besondern Zweige der allgemeinen Bildung
zu gestalten. Denn auch der Unterrichtetste kann nicht alles präsent haben, was sich
auf die Entwicklungsgeschichte des Landes, der einzelnen Staaten und Städte, ihre
Bedeutung für die Kultur der Vergangenheit und der Gegenwart, ihre Beziehungen
zur Literatur und Kunst, sowie auf die Geschichte der einzelnen Künstler und
der einzelnen Kunstwerke bezieht. Wenn das Reisebuch den Zweck hat, allen
diesen Stoff in einer übersichtlichen Form, an der Stelle, wo man ihn braucht und
sucht, darzubieten, so kann man Wohl behaupten, daß die Meyerschen Reisebücher
über Italien diesem Zwecke in hohem Grade dienen.
Auch das halten wir nicht für unwesentlich, daß der Verfasser außer mög¬
lichster Klarheit des Ausdrucks überall da, wo es am Platze ist, seiner Darstellung
auch eine wohlthuende Wärme einzuhauchen verstanden hat, ohne daß sich der
Reisende dadurch in seinem eignen Urteile, das sich ja nach dem individuellen
Grade seiner Empfänglichkeit und Begeisterungsfähigkeit richtet, sich beeinträchtigt
fühlen könnte.
Der Verfasser dieser Zeilen hat in Rom mehrfach von Kunstforschern die
Ansicht aussprechen hören, daß Gsell-Fels des Guten zuviel gebe und daß sein
Neiselmch nur eine geschickte Kompilation von Kunsturteilen der maßgebenden
Kunsthistoriker enthalte. Aber ist es denn nicht die Aufgabe eines Reisebnches,
sorgfältig die Ergebnisse der kunstgeschichtlichen Forschung wiederzugeben, wie es
Gsell-Fels unter Angabe der Quellen und unter Berücksichtigung des Bedürfnisses
des gebildeten Reisenden thut? Andrerseits ist doch zu bedenken, daß ein solches
Reisebuch in erster Linie gerade sür solche vorhanden ist, die weder Kunstkenner
von Fach sind, noch auch die Möglichkeit haben, durch eingehende kunstgeschichtliche
Lektüre sich auf den Genuß der Schätze Italiens vorzubereiten. Auch in den
immer mehr wachsenden Kreisen der Goethefreunde hat sich Gsell-Fels gerade da¬
durch Anspruch ans Dank erworben, daß er alle bedeutsamen Urteile Goethes über
einzelne Kunstwerke, mögen sie auch nur subjektiven Wert haben, mitgeteilt hat,
sodaß man sie in ihrer bestimmten charakteristischen Ausprägung am geeigneten Orte
vor sich hat.
Die allgemeinen Ratschläge über die passendste Reisezeit, über Reisekosten,
Reisezurüstnugen, Gasthofswesen, Diät und dergleichen verraten durchaus die Prak¬
tische Erfahrung. Soll der Verfasser dieser Zeilen aus seiner Neiseerfahrung hier
noch etwas herausheben, so wäre es dies, daß er nicht warm genug die Aneig¬
nung der italienischen Landessprache empfehlen kann. Für den Verkehr in den
Gasthöfen und mit den Fremdenführern genügt zwar bei allgemeinster Bekannt¬
schaft mit den Sprachregelu des Italienischen die Benutzung eines „Sprachführers"
wie des von Kleinpaul; wer aber dein Volke näher treten, sich dadurch den Reise-
gcnuß erhöhen und besonders nach der Seite gemütlicher Anregung den ganzen
Aufenthalt im fremden Lande wesentlich behaglicher machen will, für den ist die
so leicht zu erlangende Kenntnis des Italienischen unumgänglich nötig. Man wird
sich alsdann auch in den italienischen Gasthäusern, von denen diejenigen ersten
Ranges noch unter den Preisen, nicht aber unter der Qualität der internationalen
Hotels zweiten Ranges stehen, viel wohler fühlen als in den Gasthäusern, deren
Portiers schon in mehreren Zungen radebrechen. Es ist deshalb auch sehr dankens¬
wert, daß in den Meyerschen Reisebüchern diese italienischen Häuser, die in andern
Reisebüchern bisweilen garnicht genannt werden, besonders berücksichtigt sind.
Das Zwiebelmuster. Wenn Schopenhauer Recht hätte mit der Behaup¬
tung, daß es vergeblich und folglich überflüssig sei, allgemein verbreitete Narrheiten
zu bekämpfen, weil sie ganz von selbst verschwinden, sobald sie so riesengroß ge¬
worden sind, daß alle Welt sie sehen kann, so würde eine der größten Narrheiten
der Welt jetzt am Anfange ihres Endes angelangt sein: das sogenannte Zwiebel-
muster. Dieses Muster — das übrigens seinen Namen trägt, wie — ja wie luous
A mein luMuclo kann man nicht mehr sagen, seit es feststeht, daß inen8 (die Lichtung)
in der That luesuüo genannt ist; also sagen wir: wie das Leipziger Rosenthal
davon, daß keine Rosen drin wachsen — ist, wenn wir nicht irren, zuerst auf Kaffee-
und Theegeschirr der königlichen Meißner Porzellanfabrik verwendet worden, und
dort ließ man es sich gern gefallen, so seltsam es auch aussah. Zu den Düften
des Orients, die aus der Tasse uns entgegenströmen, schien das wunderliche Muster,
das an orientalische Vorbilder erinnert und in seinem Motiv wohl auch schwerlich
dem Kopfe eines königlich sächsischen Porzellanmalers entsprungen ist, gut zu passen.
Da es mit der Zeit sehr beliebt wurde und sür viele Leute mit dem Begriff
„Meißner Porzellan" so unzertrennlich verwuchs, daß sie sich einbildeten, in Meißen
werde überhaupt weiter nichts als das „berühmte" Zwiebelmuster fabrizirt, so über¬
trug es die Fabrik selbst bald auch auf Speisegeschirr, Lampen, Leuchter, Schreib¬
zeuge u. s. w., was freilich schon weniger annehmbar war. Nun kamen aber die
Nachahmer. Nicht bloß eine zweite Porzellanfabrik in Meißen, die plötzlich anfing,
„Meißner Porzellan" zu fabriziren — was ihr natürlich gerichtlich nicht verwehrt
werden konnte, im übrigen aber auf derselben Höhe steht, wie wenn ein beliebiger
Hoff „Höfisches Malzextrakt" macht, in Cöln bei Meißen sich eine Fabrik von
„echt Cölnischen Wasser" aufthut, oder Skribenten, die zufällig den Namen eines
renommirten Kunstschriftstellers oder Kunstverlegers tragen, sich auf Knnstschrift-
stellerei werfen —, sondern auch andre Fabriken, die gewöhnliches irdenes Ge¬
schirr liefern, fingen an, in ausgedehntesten Maße das Zwiebelmuster nachzumachen.
Solches Geschirr zu kaufen war nun schon eine arge Geschmacklosigkeit, denn der
ursprüngliche Reiz lag doch wahrhaftig nicht in dein lächerlichen Muster, sondern
darin, daß dieses Muster mit einem so edeln und kostbaren Material verbunden
war, wie dem in der königlich sächsischen Porzellanfabrik zu Meißen fabrizirten
Porzellan. Fiel das Material hinweg, das Muster an sich war doch die bare
Albernheit und nicht einen Dreier wert. In den letzten Jahren ist nun aber
vollends das Unglaubliche geschehen, daß dieses in sothaner Weise immer mehr
unter die Leute gekommene Muster auch in allen erdenklichen andern Zweigen der
Technik nachgeäfft worden ist. Kaum war mit der Erfindung der deutschen Re¬
naissance in der Zimmerausstattung das Bedürfnis nach „stilvoller" Tischwäsche
erwacht, so erschien auch schon das Zwiebelmuster auf Tisch- und Tellertüchern.
Dann bemächtigte sich die Luxuspapierfabrikation des geistvollen Motivs und brachte
es auf Glanzpapier, das nun zum Überzieher von Briefmappen, Notizbüchern,
Briefbogencartons, Schmuck-, Bonbon- und Seifenkästchen, ja selbst von Pappernen
Photographie- und Spiegelrahmen benutzt wurde. Und neuerdings kann man
sogar Fenstervorhänge und — unglaublich, aber wahr! — Kleiderstoffe mit Zwiebel-
muster kaufen! Das einzige, was noch fehlt, aber sicherlich in der nächsten Zeit
auch erscheinen wird, sind Hemdenkragen und Manschetten und — Tapeten mit
Zwiebelmuster. Wenn diese erst da sein werden, und wir wünschen aufrichtigst,
daß dies fo bald als möglich geschehe, dann ist der von Schopenhauer bezeichnete
Punkt erreicht, dann ist die Narrheit so riesengroß, daß alle Welt, auch der
Bornirteste, sie sehen kann.
Die Sache ist sehr komisch, hat aber doch auch ihre ernste Seite, denn sie
enthüllt einmal an einem einzelnen, besonders eklatanten Beispiele die ganze Arm¬
seligkeit, die auch sonst vielfach in unserm sogenannten Kunstgewerbe und — in
den Geschmacksansprüchen der großen Masse herrscht. Dieser ganze Plunder würde
doch nicht fabrizirt werden, wenn er nicht auf tausende und abertausende von
Käufern rechnen könnte. Wenn aber erst die Wände der Mädchenkammer mit
Zwiebelmustertapeten beklebt sein werden, dann wird sich die Hausfrau doch viel¬
leicht überlegen, ob sie ihren Tischgästen mit ihrem langstieligen Zwiebelmuster¬
geschirr noch eine besondre Augenweide bereitet.
is Palmerston wegen verschiedner Ungehörigkeiten von der Königin
seines Dienstes entlassen worden war, ließ er sich in einer Flug¬
schrift als den echt britischen Minister und zugleich als Opfer
der Ränke des Prinzen Albert, „dieses Ausländers," darstellen,
und das abgeschmackte Machwerk hatte wenigstens den Erfolg,
daß Presse und Publikum an den deutschen Ränkeschmied und das Opfer der
echt britischen auswärtigen Politik glaubten und Palmerston zu großer Be¬
liebtheit gelangte.
Ein ähnliches Manöver hat vor kurzem die offiziöse Dail^ Usvs mit
Gladstone versucht, der nach ihrer Behauptung unter Bismarcks Haß und
Arglist zu leiden hatte, weil er gleichfalls immer das wahre britische Interesse
zu fördern bemüht gewesen war. Es hieß da, die Haltung der festländischen
Mächte hinsichtlich der englischen Vorschläge in der ägyptischen Finanzfrage sei
nichts als eine Folge der Politik des dentschen Kanzlers, der, wie der Mann
in der Aristophanischen Komödie zwischen seinen beiden Sklavinnen, zwischen
der französischen und österreichischen Negierung stehe und sie anweise, den ihm
unangenehmen Nachbar zu ärgern, wozu sie sich denn auch bereitwillig hergaben.
„Fürst Bismarck glaubt — so wollte dieser „Mann hinter den Kulissen" dem
englischen Patrioten einreden — oder lebt wenigstens der zuversichtlichen Hoffnung,
wenn er die Politik der jetzigen britischen Negierung in Ägypten vereiteln könne,
werde Herr Gladstone abtreten müssen... Er hält sich für schlecht behandelt
von den gegenwärtigen Ratgebern Ihrer Majestät. Er ist sehr böse über die
Art und Weise, mit welcher man seiner Ansicht zufolge in der Angelegenheit
der Niederlassung von Angra Pequcna gegen ihn verfahren ist. Deutschland
und sein Kanzler sind hier, so glaubt er, vom englischen Auswärtigen Amte
etwas von oben herab, etwas kavalierement behandelt worden. Vielleicht hat
Fürst Bismarck Grund zu dieser Ansicht, ich sage aber nnr, daß es seine
Ansicht ist. Natürlich hat er noch andre Gründe für sein jetziges Verfahren.
Sein verschiednen Ministerien oft ausgedrückter Wunsch ist, England möge sich
Ägyptens unbedingt bemächtigen und es zu einer britischen Besitzung machen.. .
Das würde ein ganzes Kapitel der verschiedensten Annexionen zur Folge gehabt
haben. Denn hätte es sich für befugt gehalten, nach Ägypten zu greifen, und
wäre es bei diesem Verfahren von einer Macht wie Deutschland unterstützt
worden, so hätte es gegen keinerlei Zugreifen Deutschlands Einspruch thun
können, und dem Beispiele Deutschlands würden Frankreich und Italien gefolgt
sein... Fürst Bismarck betrachtet Herrn Gladstone und seine Amtsgenossen als
verantwortlich dafür, daß der Ehrgeiz Deutschlands Halt machen mußte, es
ärgert ihn, und er ist nicht der Mann, der sich ärgert und dann die ganze
Sache rasch vergißt. Kurz und gut: der deutsche Kanzler macht sich jetzt zu
einem Faktor in den politischen Angelegenheiten Englands. Er wird kein Mittel
unversucht lassen, mit dem sich die Gladstonesche Regierung stürzen oder doch
Herr Gladstone selbst beseitige» läßt. England soll in Ägypten insultirt werden,
damit Herr Gladstone gedemütigt und zum Verzicht auf sein Amt genötigt werde,
und er soll zu diesem Verzicht gezwungen werden, weil Fürst Bismarck ihn nicht
leiden kann."
Herr Gladstone läßt hier ganz ähnliche Ideen wie einst Palmerston ver¬
breiten', aber der Erfolg dieses Blendwerkes ist diesmal nicht derselbe gewesen
wie damals. Die heutigen Engländer sind weniger leicht zu bethören, sie haben
Fortschritte in der Erkenntnis gemacht, sie wissen ausländische Politiker besser zu
würdigen, auch war der Versuch, den gegenwärtigen britischen Premier mit
Bismarckschen Haß und deutschem Ehr- und Ländergeiz von seinen Sünden
reinzuwaschen, zu wenig geschickt, um viele Gläubige zu finden, und so klang
das Echo, welches die Stimme „hinter den Kulissen" schon in der Londoner
Presse weckte, weit mehr wie Gelächter als wie Zustimmung oder gar wie Be¬
geisterung für den Staatsmann, der durch den Mund jener Stimme sich zu
rechtfertigen und den deutscheu Kanzler zu verdächtigen gesucht hatte. Noch
viel komischer aber muß dieser Versuch dein unbefangenen festländischen und
namentlich dem deutschen Politiker erscheinen. Fürst Bismarck soll Gladstone
hassen, ans dessen Sturz hinarbeiten, ihm Verlegenheiten schaffen, ihm in Eng¬
land Gegner erwecken wollen — Thorheiten, die auf der Hand liegen. Das
Gegenteil ist die Wahrheit. Wollte mau sagen, Gladstone hege als alter Neu-
peelit unfreundliche Gefühle gegen Deutschland, namentlich gegen das heutige
friedfertige und den Frieden auf dem Festlande zu sichern bemühte Deutsch¬
land, so würde das nicht schwer zu beweisen und zu belegen sein, und wollte
man hinzufügen, er sei von Abneigung gegen Bismarck erfüllt, so ließe sich das
gleichfalls mit zahlreichen schlagenden Beispielen darthun. Bismarck aber treibt
durchaus keine persönliche, keine Gefühlspolitik, und er denkt nicht daran, sich
in die innern Angelegenheiten fremder Völker und Staaten zu mischen, deren
Ministerien zu untergraben u. dergl. Am wenigsten hat er Ursache, sich in
London eine andre Regierung zu wünschen, ja man darf getrost behaupten,
stünde dort kein Gladstone mit seiner unklaren, zaghaften und wankelmütigen
Politik in auswärtigen Fragen am Ruder, so müßten fremde Staatsmänner
den Wunsch hegen, daß er oder ein andrer Politiker solchen Schlages dorthin
gelangte, da niemand ihren Zwecken besser zu dienen verspräche, niemand weniger
zu Befürchtungen Anlaß gäbe als er. Den deutschen Reichskanzler als ehr¬
geizigen und ränkevollen Friedensstörer hinstellen kaun nur die Dummdreistig¬
keit, die als ars dsliiirä et<z soönss in og.it/ I^vos offiziös das englische Pu¬
blikum zu beschwindeln bemüht war. Weit besser wäre es, Gladstones Politik
als eine solche nachzuweisen, welcher der Friede zwischen den Völkern des Fest¬
landes nicht recht ist, und welche deshalb nichts für dessen Sicherung thu»
will. Allgemein und selbst in englischen Kreisen weitverbreitet ist die Über¬
zeugung, daß das Verdienst des leitenden deutscheu Staatsmannes seit 1871
jahrelang vorwiegend in seinem erfolgreichen Bestreben bestanden hat, nach Mög¬
lichkeit vermittelnd, versöhnend und vorbauend für den europäischen Frieden zu
wirken und starke Bürgschaften für dessen Erhaltung zu schaffen. Dieses Be¬
mühen gelang zunächst mit Österreich-Ungarn, dann mit Italien und mit Ru߬
land. Schwieriger war das Werk, auch Frankreichs Mitwirken in dieser Richtung
zu gewinen und für die Dauer zu sichern, da hier eine zeitlang Partei¬
kämpfe einer festen Politik entgegenstanden und Politiker von Einfluß Rache¬
gefühle gegen die deutscheu Sieger vou 1870 in ihre Berechnungen aufgenommen
hatten. Leichter dagegen schien es unter Beaeonsfields Regierung, England in die
Gemeinschaft der zur Erhaltung der Ruhe in Europa verbündeten hereinzuziehen,
und der Versuch wurde von Berlin her gemacht. Der Reichskanzler fand Ge¬
legenheit, den Engländern ihre Absichten auf Sicherung der nächsten Wasser¬
straße nach Indien zu erleichtern, und die damalige Regierung Großbritanniens
zeigte sich erkenntlich für solche Gefälligkeit. Sie siel indes unter dem Ansturme
der liberalen Gegenpartei, und Gladstone, der Führer der letzteren, erwies sich,
einmal, weil er das Gegenteil von dem, was sein Amtsvorgänger gethan, thun
zu müssen meinte, dann, weil er die Feindschaft Frankreichs gegen Deutschland
für unlösbar und letzteres sür stärker und somit für einen bessern Bundes¬
genossen ansah, den Werbungen der deutscheu Politik unzugänglich, er lehnte
es ab, sich den Bemühungen Bismarcks um Sicherung des Friedens anzu¬
schließen, und statt auch Englands Gewicht zu diesem Zwecke in die Wagschale
allen zu lassen, zeigte er sich vielmehr bei verschiednett Anlässen geneigt, den
Franzosen zur Seite zu treten. Die natürliche Folge war, daß die deutsche
Politik den Versuch unternahm, sich mit der Pariser Negierung zu verständigen.
Allerdings standen ihr in Frankreich Erinnerungen und EmpsindlichkcitenZim
Wege, aber andrerseits waren England gegenüber gemeinsame Interessen der
beiden festländischen Nachbarn vorhanden, die schwerer wogen als Gefühle, und
ruhig überlegender Verstand gewann in der That, namentlich seit Gambettas
Tode, in den leitenden Kreisen Frankreichs allmählich die Oberhand. Man
begriff, daß ein gutes Verhältnis zu Deutschland, vorzüglich in den Fragen
der neuen französischen Kolonialpolitik, mehr Nutzen versprach als die Freund¬
schaft Englands, die allezeit eigennützig und habsüchtig sein wird. Das gute
Verhältnis Deutschlands zu Fraukreich ist hergestellt worden, und der Welt¬
friede, das unablässige Bemühen des deutschen Kanzlers, hat dadurch eine neue
hochwichtige Bürgschaft erhalten. Frankreich ist dabei nicht übel gefahren.
Gladstone aber hat bereits Ursache gehabt, seine Haltung vor zwei Jahren zu
bereuen. Es würde ihm nicht leicht fallen, wenn er, der damals Anknüpfungen
von sich wies, jetzt selbst solche mit Deutschland allein suchte. Dasselbe steht
eben nicht mehr allein. Die Dinge haben infolge jener Abweisung deS deutschen
Annäherungsversuches eine andre Gestalt angenommen, zunächst in der für
England bedeutungsvollen ägyptischen Angelegenheit. „Wollte die deutsche Re¬
gierung, so äußert sich die „Kölnische Zeitung" in einem offenbar inspirirter
Artikel, jetzt der Anwalt englischer Wünsche sein, so würde sie dadurch auf
Frankreich, Negierung und Volk, den Eindruck der Unstetigkeit und einer un¬
zuverlässigen Unterlage für politische Berechnungen machen." Sie erfreut sich
nicht mehr derselben Freiheit wie vor zwei Jahren, dem englischen Interesse
am Nil mit guten Diensten beizustehen; denn sie würde dann ihre Haltung
Frankreich gegenüber ändern müssen und dadurch dort verstimmen, was zu
ihren Bemühungen im Interesse des Friedens in keiner Weise passen würde.
Nicht der Haß Bismarcks gegen Gladstone oder gar gegen England also ist es, der
die Politik des deutschen Kabinets in den letzten Jahren bestimmt hat, vielmehr
hat Gladstone sich dieselbe infolge seines Übeln Willens und seiner Kurzsichtigkeit
selbst zuzuschreiben. Man wollte mit ihm gehen, fand aber kein Gehör, und
nahm nun im Interesse des Friedens den Arm eines andern.
und der Vertrag vom 27. Februar 1384 konnte die Boers im
Transvaallande nicht vollständig und auf die Dauer zufrieden
stellen; denn er setzte ihrer Ausdehnung nach Westen und Osten
hin Grenzen, die umso unbequemer waren, als die Teilung des
Gebietes des Znlnkönigs Tschetwäjo unter dreizehn Häuptlinge,
die sich untereinander befehdeten, das an die „Südafrikanische Republik" stoßende
Land zum Schauplatze unaufhörlicher Plünderungszüge, Überfälle und Kämpfe
gemacht hatte und störend auf den Handel mit den schwarzen Stämmen wirkte.
Die Regierung in Pretoria konnte dagegen zunächst nichts thun, aber mancherlei
im stillen geschehen lassen, z. B. den heimlichen Zusammentritt von Frei-
scharcn, die sich aus allen Teilen Südafrikas rekrutirten und mit der Absicht
umgingen, in das Gebiet der Häuptlinge einzufallen, welche besonders Anlaß zu
Klagen gegeben hatten. Im Sommer 1834 bereitete sich rasch ein Zug von
Boers nach den östlichen Grenzgcgendcn vor. Geführt von einem Deutschen,
Adolf Schiel,*) rückten fünfhundert wohlbewaffnete Boers in das Zululand
ein, um der dort seit Tfchetwäjos Tode herrschenden Anarchie ein Ende zu
machen. Das kleine Jnvasionsheer fand sofort bei den Eingebornen Anhang
und Zulauf, und Dinizulu, Tfchetwäjos Sohn, ging mit ihm ein Bündnis gegen
die rebellischen Häuptlinge Ohain und Usipepu ein, die nun von einer aus
Boers und Zulus gebildeten Armee angegriffen und in blutiger Schlacht voll¬
ständig geschlagen wurden. Die Folge war, daß Dinizulu von allen bisherigen
Kleinkönigen als alleiniger Herrscher des Landes und Volkes der Zulus an¬
erkannt wurde. Schiel blieb als erster Rat und Minister bei Dinizulu, der
den eingerückten Boers zum Danke für ihren Beistand eine bedeutende Strecke
seines Gebietes abtrat, aus welcher dann ein besondrer Staat, die „Neue Re¬
publik," gebildet wurde. Die letztere beeilte sich, mit dem Staate der Zulus
und der „südafrikanischen Republik" ein Schutz- und Trutzbüudnis abzuschließen,
wozu sie der Erlaubnis Englands nicht zu bedürfen glaubte, weshalb dieselbe
auch nicht nachgesucht wurde.
Auch die Vorbereitungen zu einem Einbrüche in das gleichfalls von allerlei
Unruhen heimgesuchte und den Boers der „südafrikanischen Republik" sehr un¬
bequem gewordene Betschuanenland im Südwesten, zunächst das Gebiet des Häupt¬
lings Montsioa, nahmen zuletzt einen offenkundiger Charakter an. und Nutherford,
der britische Resident in Pretoria, nahm daraus Anlaß, die Regierung der „südafri¬
kanischen Republik," deren Präsident jetzt ein Herr Meier war, auf sie aufmerksam zu
machen, gegen sie zu Protestiren und Abhilfe zu verlangen. Eine dortige Zeitung
hatte die Nachricht gebracht, daß sich bereits eine Schar von fünfzig Freiwilligen
gebildet habe, um gegen Montsioa zu dienen. Dasselbe Blatt druckte die Bitte
gewisser Boers ab, die schon die Grenze überschritten und sich im „Lande Gösen"
festgesetzt hatten, Pretorius möge zu ihnen kommen und sie gegen jenen
Häuptling ins Feld führen, wobei das genannte Territorium auch als „Land
Moab" bezeichnet wurde, das im Namen Gottes den Heiden entrissen werden
solle. Nutherford berichtete darüber an Sir Hercules Robinson und schrieb
dann am ö. Juli nach dessen Weisungen an die Negierung in Pretoria, „es
existire im Transvaal und innerhalb der Hauptstadt desselben eine Organisation
zu feindseligen Maßregeln gegen ein Gebiet, das jetzt praktisch britisch sei," und
forderte dagegen „entschiednes präventives Einschreiten von seiten der Regierung
des Transvaal." Diese verbot darauf durch eine Proklamation allen Be¬
wohnern der Republik die Werbung von Rekruten gegen das Betschuanenland.
Als die letztere trotzdem fortgesetzt wurde, erfolgte englischerseits eine weitere
Zuschrift, in der es hieß, es werde „eine stärkere Maßregel als eine bloße
pnpierne Bekanntmachung notwendig sein, um der Transvaalregierung die Ver¬
antwortlichkeit für den Einbruch einer innerhalb des Transvaal öffentlich
vorbereiteten und angezeigten Expedition in britisches Gebiet ^ hinein abzu¬
nehmen." Die Freischaren setzten sich demungeachtet in Bewegung, rückten Ende
Juli in Montsioas Land ein, schlugen ihn in einem Treffen und zwangen ihn
zu einem Vertrage, in welchem er ihnen sein Land abtrat, das darauf zur
Republik erklärt und unter den Schutz des benachbarten Boernstaates ge¬
stellt wurde.
Dazu trat noch ein andres Ereignis, welches in England die Entrüstung
über das Verfahren der Freischaren gegen Montsioa erheblich verstärkte. Im
Lande Montsioas existirte eine kleine britische Polizeimacht, die von einem
Beamten namens Bethel befehligt wurde. Dieser stellte sich, als der Einbruch
der Boers erfolgte, den Angreifern mit einer Anzahl von Eingebornen entgegen
und blieb dabei auf dem Platze. Wie englische Berichte wissen wollen, wurde
er zunächst schwer verwundet und dann, in diesem Zustande auf der Wahlstatt
liegend, von hinzutretender Boers kalten Blutes ermordet. Nach diesen Berichten
wäre Bethel ein edler Held und seine Tötung eine greuelvolle Schandthat ge¬
wesen. Wir halten die Sache für einigermaßen zugestutzt, wollen sie aber
auszugsweise nacherzählen.
Während des Treffens, welches dadurch herbeigeführt wurde, daß Bethel
einen Trupp Freibeuter an einem Viehraub verhindern wollte, stand jener
neben dem verwundeten Betschuaneuhäuptliug Israel Molema und versuchte
diesem auf sein eignes Pferd zu helfen. Als das mißglückte, bat ihn der
Betschucmc, ihn zu verlassen und sich selbst zu retten. Bethel lehnte das
edelmütig an^ und bekam bald daraus einen Schuß in das eine Auge, der
zum andern Ohr hinausging und ihn zu Boden streckte. Ein englischer
Renegat, der auf feiten der Boers focht, wollte ihn nach deren Lager bringen,
wenn er sich ergäbe. Letzteres geschah, aber jetzt näherten sich zwei andre von den
Gegnern, von denen einer Joel van Nooyeu hieß, und welche den Verwundeten
höhnisch fragten, ob er totgeschossen sein wolle. „Schießt nur zu!" rief der
heroische Bethel, und die Ungeheuer jagten ihm sofort ihre Kugeln durch den
Kopf. So sollte der verwundete Betschuane, der dabei gelegen und sich in der
Nacht darauf gerettet hätte, erzählt haben.
Die Londoner Presse, besonders die konservative, erhob über diese Vorgänge
ein gewaltiges Geschrei, und die „öffentliche Meinung," ihr Spiegelbild, bekam
ein sehr rotes Gesicht. Auffallend war dabei für Fernerstehende nur, daß man
über das Einschreiten der Boers im Zululande viel weniger Entrüstung äußerte
als über die Vorgänge jenseits der westlichen Grenze. Hier war, wie be¬
hauptet wurde, „britisches Gebiet," das „britische Protektorat über das Bet-
schuanenland" verletzt worden, ein englischer Beamter, der das Recht seiner
Königin hatte wahren wollen, war grausam ermordet worden, und sein Blut,
die Ehre Britanniens schrie laut um Rache. Solche Unthaten mußten für
die Zukunft unmöglich gemacht, die „Südafrikanische Republik" mußte ver¬
nichtet werden; denn deren Regierung steckte entweder unter einer Decke mit
den „Freibeutern" oder war zu schwach, um dem Treiben derselben zu steuern,
und das erstere kam den Londoner Zeitungsschreibern auch dann noch als das
wahrscheinlichere vor, als man in Pretoria das Protektorat über die neue Re¬
publik im „Lande Gösen" vorläufig fallen ließ. Im Parlamente machten sich diese
Ansichten gleichfalls geltend, wenn auch in etwas maßvollerer Form und Sprache,
und daneben hörte man eine lange und schwungvolle Rede Forsters, des frühem
Kabinetsmitgliedes, über die Pflicht der Negierung, sich der unglücklichen Kaffern
aus Gründen der Philanthropie und damit man ihnen die Segnungen des
Christentums und der Gesittung zuteil werden lassen könne, gegen die hab¬
gierigen und treulosen Boers mit aller Energie anzunehmen, was sehr schön
klang, aber bei Kennern der englischen Parteiverhältnisse nur Lächeln erwecken
konnte.
Die Regierung wurde mit der Sache nicht so leicht und schnell fertig
wie die öffentliche Meinung, indes mußte sie auf dieselbe Rücksicht nehmen,
auch stand in gewissem Maße Englands Prestige in Südafrika auf dem Spiele,
wenn man dort die Dinge gehen ließ. Handeln war bedenklich, denn man
konnte damit gegen die Überzeugungen, Sympathien und Wünsche der Mehrzahl
der Holländer in ganz Afrika verstoßen; Unthätigkeit war auch bedenklich, denn
sie schadete der ,,Reichspolitik", die Bcaeonsficld mit Eclat iuaugurirt hatte,
und sie konnte die Konservativen unter Umständen in den stand setze», Glad-
stone und seine Leute zu Falle zu bringen. So entschloß sich denn die Ne¬
gierung nach mehrfachen Veratungen um die Mitte des Oktober v, I. zu
handeln und militärisch gegen die Voers im Vctschuaueulande vorzugehen,
und ließ diesen Entschluß einige Tage später durch Ashley, den Untcrstaats-
sekretür im Kolonialamte, dem Unterhause mitteile», nachdem Lord Derby der
Regierung der südafrikanischen Republik wiederholt und noch am 18. Oktober
geschrieben hatte, „die Stellung der Marodeure in Montsioas Gebiet sei in
hohem Grade dadurch veranlaßt, daß sie unterlassen habe, ihre Verpflichtungen
in wirksamer Weise zu erfüllen, und es werde gut sein, wenn sie sich erinnere,
daß sie für alle Ausgaben, welche die Regierung Ihrer Majestät zur Wieder¬
herstellung der Ordnung nötig habe, aufkommen müsse." Ashley aber erklärte
im Unterhause u. a., der Polizeiinspektor Bethel habe die Freibeuter in über¬
großem Mute angegriffen, und solange die Identität seiner Mörder nicht fest¬
gestellt sei, müsse man davon absehen, die Auslieferung derselben von der Re¬
gierung im Transvaal zu verlange«. Die Negierung der Königin habe die
von den Voers übernommene Schntzherrlichkeit über das Gebiet Montsioas
nicht anerkannt, und die Regierung in Pretoria habe daraufhin die betreffende
Bekanntmachung zurückgezogen, aber die Freibeuter befänden sich noch im Besitze
des Landes jenes Häuptlings, und die Regierung Ihrer Majestät habe uun
beschlossen, sie mit Gewalt zu entfernen, und zu dem Zwecke die nötigen Vor¬
bereitungen getroffen. Inzwischen bemühe sich die Regierung der Kapkolonie,
durch gütliches Abkommen Blutvergießen zu vermeiden, und das Kolonialamt
habe derselben sein Einverständnis hiermit erklärt, jedoch unter der Bedingung,
daß ohne ausdrückliche Erlaubnis des Oberkommissars keiner der Freibeuter in
Montsioas Gebiet verbleibe. Mittlerweile organisire sie zur Vertreibung dieser
Eindringlinge eine hinreichende Streitmacht, mit welcher Generalmajor Warren
in etwa vierzehn Tagen nach dem Betschucmenlaudc abgehen werde. Hoffentlich
werde es ihm gelingen, die Rechte Englands ohne Blutvergießen geltend zu
machen und sicherzustellen.
So geschah es denn auch. Am 14. November schiffte sich Sir Charles
Warren in Begleitung Sir Bartle Freres und einer Anzahl von Stabsoffizieren
in Dartmouth nach der Kapstadt ein, und bald nachher folgten ihm die ihm zur
Verfügung gestellten Truppen. Die Instruktionen, die er als „Spezialkommissar
für das Betschucmenland" mitnahm, hatten im wesentlichen nachstehenden Inhalt.
Er wurde darin angewiesen, durch alle geeigneten Mittel die Mitwirkung der
Regierungen des Oranjefrcistaats und der „südafrikanischen Republik" zur „Er¬
haltung des Friedens und der Sicherheit im Betschuaneulcmde, sowie zur For-
dcrimg der allgemeinen Wohlfahrt der Bevölkerung desselben" nachzusuchen und
zu erlangen. Dann hieß es in dem Schriftstücke weiter: „Der nächste Zweck
Ihrer Sendung besteht darin, die Freibeuter aus dem Betschuanenlcmde zu
entfernen, die Ordnung in dem Gebiete wiederherzustellen, die Eingebornen
wieder in den Besitz ihrer Ländereien zu bringen, die nötigen Maßregeln zur
Verhütung fernerer Beraubungen zu ergreifen und endlich das Land besetzt zu
halten, bis über dessen weiteres Schicksal entschieden sein wird. Als Spezial-
kommissar werden Sie unter der Leitung des Gouverneurs der Kapkolonie und
des Oberkommissars in Südafrika, Sir Hercules Robinson, stehen, der ersucht
werden wird, Ihnen in lokalen Angelegenheiten ein sehr weites Feld der Ver¬
fügung einzuräumen. Sie werden natürlich begreifen, daß die Negierung
ihre Beistimmung erteilt hat, wenn die Kapminister sich zuvörderst bemühen,
eine friedliche Beilegung der Schwierigkeiten im Lande Montsivas herbeizuführen,
und daß aktive militärische Operationen nicht eher beginnen dürfen, als bis eine
angemessene Frist verstrichen ist. Sir Hercules Robinson hat angedeutet, daß
dazu sechs Wochen erforderlich sein dürften. Die Regierung hofft aufrichtig,
daß die Kaprcgierung imstande sein werde, eine Regelung vorzuschlagen, die
mit Ehren angenommen werden kann. Aber es liegt auf der Hand, daß, wo¬
fern dies unglücklicherweise mißlingen sollte, keine Zeit verloren werden dürfte,
aus dem Protektorate ^ diejenigen zu entfernen, die dessen Unabhängigkeit
verletzt und die Ländereien der unter unserm Schutze stehenden Häuptlinge mit
Beschlag belegt haben. Die Kapregicrnng hat erklärt, daß sie, falls ihre
Sendung Erfolg hat, in der Lage zu sein denkt, dem Kolvnialparlamente sofort
nach dessen Zusammentritt einen Plan für die Verwaltung des Landes, vorbe¬
haltlich dessen Einverleibung in die Kolonie, zu unterbreiten. Sollten sich ihre
Erwartungen erfüllen, so wird Sir Hereules Robinson nach vorgängiger Be¬
ratung mit Ihnen zu erwägen haben, ob Sie die Aufsicht in dem Gebiete fort¬
setzen sollen, bis die erforderlichen Maßregeln zu dessen Übernahme vom Kap¬
parlamente angenommen worden sind. Wenn andrerseits die Einverleibung des
Gebietes in die Kolonie sich als für jetzt unpraktisch erweisen sollte, so würde
es notwendig werden, innerhalb des Territoriums eine hinreichende bewaffnete
Pvlizeimacht zu unterhalten, wozu geeignete Mannschaften sich unzweifelhaft
unter den berittenen Freiwilligen finden werden, die Sie sin der Kapstadtj an¬
zuwerben im Begriff stehen."
Also Mitwirkung der Oranjerepnblik erwartet und Anwerbung von Frei¬
willigen am Kap in Aussicht genommen, bei dem tiefen Groll, welcher sich der
holländischen Bevölkerung in ganz Südafrika gegen alles Englische bemächtigt
hatte! Ferner ein einseitiges Protektorat Englands über das Bctschucmenland
behauptet, und schließlich ganz ungescheut gesagt, daß Montsioas Gebiet, falls
es nugehe, der Kapkolonie und damit dem überseeischen Besitz Englands ein¬
verleibt werden solle, dieses Gebiet, das also gegen alle Welt protegirt sein'
sollte, ausgenommen gegen die Ländergier seines Protektors! Und hatte denn
die britische Negierung, so konnten die Boers und ihre Stammgenossen und
Freunde am Kap, in Natal und im Orangefreistaate einwerfen, auch nur eil?
ungeteiltes Protektorat über die Betschuanen rechtlich zu beanspruchen? In
dein im vorigen Abschnitte dieser Darstellung auszugsweise mitgeteilten Über¬
einkommen zwischen ihr und den Bevollmächtigten der Boers im Transvaal ist
von einem förmlichen Protektorate nirgends die Rede, und der Ausdruck „Bet-
schuanenland" kommt darin ebensowenig vor. Es heißt, wie wir gesehen haben,
im zweiten Artikel des Vertrages vom 27, Februar 1884 nur: „Die Regierung
der »südafrikanischen Republik« wird an den östlichen und westlichen Grenzen
Kommissare ernennen, deren Pflicht es sein wird, sorgfältig gegen Unregelmäßig¬
keiten und gegen alle Überschreitungen der Grenzen zu wachen. Ihrer Majestät
Regierung wird, wenn es nötig ist, Kommissare in den Gebieten der Eingebornen
außerhalb der östlichen und westlichen Grenzen der »südafrikanischen Republik«
einsetzen, um die Ordnung zu erhalten und Übergriffe zu verhindern." Also
gleiche Berechtigung der „südafrikanischen Republik" und Englands, nichts von
einseitiger Überwachung, einseitiger Schutzherrschaft, und wenn die offiziöse
Dg.it^ Uvvs neulich einen Brief aus Kimberley abdruckte, in welchem ein
Verteidiger der Kriegspolitik das Betschucmenland kurzweg als „britisches Ge¬
biet" bezeichnete, so war das eine dreiste Irreführung des englischen Publikums,
das sich in seiner Unwissenheit und Leichtgläubigkeit freilich alles Mögliche und
Unmögliche bieten läßt.
Während Sir Charles Warren auf dem Wege nach der Kapstadt war,
meldete der Telegraph von dort, daß Dudon, der Spezialkommissar der „süd¬
afrikanischen Republik" im Bctschuanenlande, auf die Nachricht von der Absen-
dung englischer Truppen nach dem Kap in Mvntsioas Gebiet die Fahne seines
Staates aufgehißt und den Boers in Gösen Schutz in ihrem Besitze zugesichert
habe, daß man indes hoffe, seine Negierung werde ihn in seinem Vorgehen
nicht unterstützen. Einige Tage später, am 26. November, berichtete der Tele¬
graph in London willkommene Kunde: „Das friedliche Abkommen, welches die
Kapminister im Bctschuanenlande zustande zu bringen bemüht sind, basirt sich
auf den Plan, den Freibeuter» in Gösen in der unvergebenen Gegend von
Stellaland Farmer anzubieten. Nach den letzten Nachrichten machten die Ver¬
handlungen, welche Uvington, der Premier des Kaps, und Herr Sprigg im
Bctschuanenlande angeknüpft haben, Fortschritte, aber die Minister begegneten
trotzdem großen Schwierigkeiten, und Montsioa wolle nicht mit ihnen ver¬
kehren." Am 2. Dezember folgte dann die hochwichtige Meldung: „Herr
Uvington, der Premier, identifizirte sich in einer Ansprache an eine Volksver¬
sammlung in Rooi Grond mit der holländischen Partei. Er drückte Sympa¬
thien mit den Freibeutern in Gösen aus und ertheilte ihnen warme Lobsprüche,
und während er die Ermordung Bethels nußbilligte, sprach er die Gemeinschaft
derselben von jedem Vorwurfe in der Sache frei, Herr Upington tadelte
schließlich die Politik, die Sir Hereules Robinson verfolgt. Die Goseuiter
sollen über die Äußerungen des Premiers jubeln. Die Rede hat in der Kap¬
kolonie großes Aufsehen gemacht und allgemeine Entrüstung hervorgerufen."
Am 4. Dezember traf Warren in der Kapstadt ein und wurde von der
Bevölkerung begeistert empfangen. So meldete der englisch gesinnte Telegraph,
der zugleich von weiteren Zeichen des Mißvergnügens über das Verhalten der
Kvlonialregierung zu erzählen wußte und mit den Worten schloß: „Es
herrscht die Meinung vor, die Zeit sei gekommen, wo die Frage, ob
englische oder holländische Suprematie in Südafrika, endgiltig und
für allemal entschieden werden muß."
Wir lassen hier zunächst einem englische» Blatte das Wort, welches die
Meinung der konservativen Partei vertritt, und sprechen dann unsre Über¬
zeugung aus. Der van/ 1o1og'i-g.M sagt über den Schlußsatz des zuletzt er¬
wähnten Telegramms: „Die Wahrheit ist, daß die Angelegenheiten ganz Süd¬
afrikas allmählich zu einem Punkte gediehen sind, der diese Meinung vollständig
rechtfertigt. Der Ruf: Holländer oder Engländer! ist jetzt ein allgemeiner ge¬
worden. Von der gebirgigen Grenze des Zululandes bis zur Kalahariwüste
hat sich das Voer-Element beharrlich ausgebreitet oder mit offenem Trotz in
erobernder Weise weiter vorgedrängt. Die Swazis und die Zulus, desgleichen
die Betschuanen haben den harten Druck dieser gottseliger Gemeinde empfunden,
welche niemals Verträge oder Übereinkünfte achtete. Ruhte auf dem Lande der
Basutos nicht der Schatten des englischen Weltreiches, so würden die dort
wohnenden Stämme morgen schon dieselbe Plage fühlen. Viele Leute sahen
voraus, daß die jetzt sichtbaren Phänomene aus der Großmut entspringen
würden, welche die britische Autorität zeigte, als ihre Truppen drei Niederlagen
in offener Feldschlacht erlitten hatten. Die Antwort ans diese Großmut einer
Weltmacht ist von den rohen Abenteurern erteilt worden, welche die Zulugrenze
überschritten und im Betschuanenlande geplündert und gemordet haben. Selbst
der neueste der verschiedenen Pakte mit denselben ist cynisch gebrochen und
vernichtet worden. . . . Bisher jedoch hat die Negierung der Kapkolonie noch
nicht aktiv Partei in dieser Störung der Ordnung genommen; jetzt aber scheinen
wir in der Entwicklung eines Geistes, der durch den merkwürdigen Ausgang
eines militärischen Mißgriffs um Madschubabcrge wo nicht geschaffen, doch
gereizt und ermutigt wurde, ein neues Stadium erreicht zu haben. Herr
Upington, der Premier des Kapministeriums, soll sich — wir hoffen, es ist ein
Irrtum — öffentlich mit der holländischen Partei einverstanden erklärt, die
Politik Sir Hercules Robiusous getadelt und die im sogenannten Stellaland
und Gösen begangenen Schändlichkeiten teilweise oder ganz gerechtfertigt haben.
Die Mörder und Raubgesellen sollen mit Landschenkungen belohnt werden. . . .
Die Negierung hat nach einer beispiellosen Entwicklung von Geduld jetzt den
richtigen Schritt gethan, sie ist nicht nur entschlossen, Erfüllung von Verträgen
zu fordern, sondern hat auch die Mittel zur Erzwingung ihrer Forderung be¬
schafft. Was wir uns selbst und was wir den Eingebornen schulden, die ihr
Vertrauen auf uns gesetzt haben, wird, so nehmen wir an, gewissenhaft und
befriedigend erfüllt werden, und die Betschuanen, deren wachsende Gesittung so
schwer verletzt, deren Fleiß, deren gute Aufführung und deren Ehrlichkeit so
übel belohnt worden sind, werden hoffentlich auf soliderer Basis von neuem
einen Anfang machen können. . . , Sir Charles Warren ist ein Mann von
außerordentlicher Erfahrung, Er macht jetzt nicht zum ersten male Bekannt¬
schaft mit dem Volke und dem Lande. Er kennt sowohl den Charakter der
Boers als den der Eingebornen, und da er mit tüchtigen Weisungen ausge¬
rüstet ist, so kann es keine Frage sein, daß er seinen Auftrag befriedigend aus¬
führen wird, , , . Aber die Wirren im Betschnanenlande sind nur ein Punkt
in der weit größeren und wichtigeren Frage, die jetzt zur Sprache kommen und
entschieden werden muß. Wer soll in Südafrika herrschen? Eine sehr
eigentümliche Frage heutzutage! Die Königin Victoria herrscht in Süd¬
afrika, nicht der König von Holland, nicht Präsident Krüger oder Präsi¬
dent Brand, nicht der Zuluhäuptliug Dinizulu oder Herr Upingtou, Ohne
Frage giebt es in dein uns von unsern Vorvätern vererbten Lande drei
Nassen: die Eingebornen, welche die bei weitem überwiegende Mehrzahl bilden,
die Holländer, die das alte Land zum Teil verlassen haben, und die Engländer,
Die ersten können keinerlei Regierung zustande bringen, welche in den Angen der
Zivilisation irgend erträglich wäre. Die zweiten begünstigen nach Sir Bartle
Frere ein System, das wir in seiner besten Gestalt in Java sehen, das aber
der britischen Billigkeit und Gerechtigkeit ganz und gar widerspricht, weil es
die eingebornen Nassen als Heloten oder Knechte betrachtet, die menschlich zu
behandeln, aber nicht von Natur aus so beschaffen sind, daß man sie praktisch
irgendwie auf gleiche Stufe mit den weißen Rassen stellen dürfte. Die Eng¬
länder andrerseits erkennen an, daß alle Rassen vor dem Gesetze wesentlich
gleichberechtigt sind. Nach diesem Grundsätze sind wir, wie Sir Bartle Frere
schrieb, zwei Generationen hindurch mit den Eingebornen Südafrikas mehr oder
minder gleichförmig und erfolgreich verfahren, und unsre Kolonien sind dabei
zu einem großen Reiche geworden. Wir sehen keinen zwingenden Grund, von
dieser Praxis abzugehen. , . . Neben der Nützlichkeit und Gerechtigkeit unsrer
Regierungsmethode steht aber die Thatsache, daß Südafrika einen bedeutenden
Handel hat, und daß durch das Land der britischen Kolonien die Straße nach
dem Innern läuft, welches die in Berlin zusanunenberufenen Mächte mit solchem
Eifer in Verbindung mit Europa zu bringen bemüht sind. Der Weg, über
welchen der Handel sich bewegen würde, ist derjenige, dessen sich jetzt die Horden
bemächtigt haben, welche räuberisch ins Betschucmenlaud eingebrochen sind. Die
Kapkolonie ist in ihrem eignen Interesse verpflichtet, zur Sicherstellung dieses
Weges nach den Zentralgegenden Afrikas mitzuwirken. Wir haben direkte Ver¬
pflichtungen gegen die Betschunuen und können sie nicht verlassen. Endlich
aber, was die Hauptfrage, Kapstadt und Simons Bah, betrifft, so sind das
Besitzungen, die wir nicht herausgeben dürfen, weil die alte Wasserstraße nach
Indien . . , noch heute um das berühmte Vorgebirge führt wie einst, als der
erste portugiesische Seefahrer hier seinen Kiel von Süden nach Osten hin steuerte.
Wir haben genug gelitten von Zweifeln an unsrer Entschlossenheit und Macht,
das britische Weltreich aufrecht zu erhalte». Wenn es wahr ist, daß die Süd¬
afrikaner jetzt solche Zweifel hegen, so müssen diese unverzüglich und gründlich
beseitigt werden."
Darstellungen der Sache in diesem Lichte beruhen in allem wesentlichen
auf Heuchelei und Verdrehung oder Verschweigung derjenigen Thatsachen, welche
hier in Betracht kommen. Worauf die britische Politik hinzielen würde, wenn
es ihr gelänge, die Boers in Südafrika unschädlich zu machen, sehen wir an
ihrem Verfahren in Natal, wo die schwarze Bevölkerung weit überwiegt, und wo
die englischen Pflanzer dieselbe zwar nicht als Leibeigne behandeln dürfen, dafür
aber Kukis einführen, die als gezwungne Knechte statt jener Kaffern für sie
arbeiten. Bezwingen die Engländer die „Südafrikanische Republik," so werden
sie die besten Gegenden derselben in Plantagen verwandeln, sie mit englischen
Kolonisten und Kukis besetzen und dann von hier aus die Eroberung von
Zentralafrika mit Einschluß der Becken der großen West- und ostwärts fließenden
Ströme versuchen, um auf diese Weise die bessere Hülste des schwarzen Kontinents
allmählich dem britischen Handel tributpflichtig zu macheu. Das Land der Boers und
der Betschumien wird als Operationsbasis hierzu erstrebt. Die Engländer würden
mit ihrem langsamen Vordringen nach Norden eine Flankenbewegung gegen die Eu¬
ropäer macheu, die bisher sich um Anteil am zentralafrikanischeil Handel bemühten.
Bis dahin wird man vielerlei von deu Missethaten der Boers zu hören be¬
kommen, aber nichts von der Aushungerung der Kaffern durch den Import
chinesischer und malayischer Knechte, die alles von Sklaven haben, nur nicht
den Namen. Irgendein andres Opfer gern zu bringen, ausgenommen das
Interesse andrer Leute, liegt nicht in den Gewohnheiten der britischen Kauf¬
mannspolitik, und ihre Bekämpfung der Sklaverei, ihre Behauptung, es sei
England in Südafrika um philanthropische Zwecke, Verbreitung von Zivilisation
und dergleichen zu thun, ihre schonen Reden von Freiheit und Gleichheit aller Rassen
sind in den letzten Jahren, wenn überhaupt etwas andres, nur Speck gewesen,
mit dem man Mänse fängt. Man sehe, wie sie es mit den Interessen des Volkes
von Britisch-Columbia machten, wo sie ebenfalls fortwährend chinesische Zwangs¬
arbeiter einführen, und zwar gegen die einmütiger Bitten und Einsprüche der
eingebornen Bevölkerung, die dadurch um allen Verdienst gebracht wird. Jene
Politik faßt sich in drei Worte zusammen: Eroberung, Beraubung und Ausschluß
derer, die früher kamen und sich mit schweren Mühen und Opfern eine neue
Heimat gründeten. Ihre Maxime ist: „Steh auf, daß ich mich zu Tische setze
und fett werde!"
Um das in Afrika ausführen zu können, müssen die Boers beseitigt werden.
Aber wie ist das zu bewerkstelligen? Die einen sagen, mit Benutzung der
Wilden, der Kaffern und Betschuanen, die wir protegiren und als Bundes¬
genossen gegen die holländischen Afrikanders verwenden müssen. Die Klügeren
wissen, daß ein solches Mittel, offen gebraucht, gegen den Geist der Zeit ver¬
stoßen und Proteste hervorrufen würde. Überdies sind die Wilden geteilt, und
viele neigen sich den Boers zu. So bemühte sich denn jener Kaufmannsgeist
im philanthropischen Gewände schon seit Jahrzehnten, die britische Negierung
zur Bekriegung der Boers zu bewegen, indem alles, was gegen sein Interesse
geschah, als Rebellion oder Vertragsbruch dargestellt wurde, und wiederholt
gelang dieses Bemühen, aber nur, um zuletzt doch zu mißglücken. Wir hoffen,
daß dies auch jetzt der Fall sein werde.
Aber die Interessen des Handels sind nicht die einzigen, die hier in Frage
kommen. Das nichteuglische Europa hat hier auch andre Interessen auf dem
Spiele stehen. Dieses Europa bedarf Grund und Boden, Beschäftigung und
Verdienst für seine Auswanderung, und diese würde sich in Fülle in Afrika südlich
vom Äquator finden, wo das Klima gemäßigt ist und weite Gebiete mit frucht¬
barem Lande uoch unbebaut sind. Die Auswanderung nach den Vereinigten
Staaten von Amerika wird in fünfzig Jahren aufhören müssen, weil die
lohnenden Gebiete dort überfüllt sein werden. In Südafrika dagegen wäre
uoch lauge Raum und sonstige Gelegenheit zur Ansiedlung. Wird aber den
Engländern gestattet, sich dort weiter zu befestigen und auszubreiten, so wird
bei ihrer auf Ausschluß fremder Elemente abzielenden Politik, bei ihrem Import
asiatischer Knechte dieser Raum und diese Gelegenheit nur für sie dasein.
Noch halten die Boers die Festungen für sich und das nichtbritische Europa,
und sie sind Männer unsers Stammes und Blutes. Ju London sind Rings,
Syndikate und Cliquen bemüht, diesen Widerstand zu verdunkeln, zu schmähen
und lächerlich zu machen und die edeln Absichten Englands in Helles Licht zu
stelle». Es ist dieselbe Fülle von Verlogenheit, die hier über die europäische
Presse ausgegossen wird, wie die, welche einst sich vernehmen ließ, als den:
Kontingent der alleinseligmachende Freihandel gepredigt wurde. Man glaube
daher jenen Darstellungen nicht! Die Konvention vom 27. Februar vorigen
Jahres ist von den Boers nicht verletzt worden, und sie sollte als eine unsach¬
gemäße und unbillige verbessert, es sollte auf die Sandriver-Konvention zurück¬
gegriffen werden, die, zwischen den englischen Kommissären Hogge und Owen
einerseits und Andries Pretorius nebst fünfzehn Delegaten der Boers
andrerseits abgeschlossen wurde, und bei der sich die Königin von England ver¬
pflichtete, keine Ausdehnung ihrer Macht nördlich vom Vaalflusfe zu unter¬
nehmen, keine Bündnisse mit den Eingebornen dort einzugehen und denselben
keine Munition zu liefern, während jetzt dies alles geschehen ist, und England
die Schwarzen wiederholt zu Feindseligkeiten gegen die holländischen Ansiedler
aufgereizt hat. Englische Waffen haben, das wolle man sich merken, wenn
man dessen Philanthropie und Beschützung der Eingebornen rühmen hört, zehn¬
mal mehr Kaffern umgebracht als die der Boers. Die Aufhebung der Sklaverei
in der Kapkolonie wurde von seiten des holländischen Elements vorgeschlagen,
und zwar ans verständigere Prinzipien hin, als die waren, nach denen sie dann
euglischerseits verkündigt wurde. Der Einmarsch der Voers ins Betschucmen-
und andrerseits ins Zululand erfolgte, um unaufhörlichen Kämpfen zwischen
dortigen Stämmen ein Ende zu machen, die in die „Südafrikanische Republik"
störend und bedrohlich hinüberspielten. Das Betschuanenland ist unter dem
Namen der Kreise Bloemhof und Marieo jahrelang ein Teil der „südafrika¬
nischen Republik" gewesen. Die Konvention vom 27. Fcbrncir konnte endlich das
Recht zur Auswanderung nicht einschränken, und wenn es den Engländern frei¬
steht, von ihren Seehäfen aus als Auswanderer hinzusegelu, wohin es ihnen
beliebt, so haben die Boers unzweifelhaft das Recht, als Auswanderer ihre
West- wie ihre Ostgrenze zu überschreite,?. Endlich ist nicht zu begreife», warum
nur den Engländern auf Kosten der „südafrikanischen Republik" eine Handels¬
straße nach Zentralafrika gewährt werden soll, und nicht anch der letzteren und
der ganzen übrigen Welt.
ehr man auf den im vorigen Abschnitt geschilderten Ursprung der
preußischen Verwaltungsgerichtöbarkeit zurück, so sollte man meinen,
daß mit dem Wegfall der Veranlassung zur Einrichtung dieser
Ausnahmegerichtsbarkeit anch diese letztere selbst hätte beseitigt
und das ordentliche Gericht in seine naturgemäßen Zuständigkeiten
wieder eingesetzt werden sollen. Das ist aber thatsächlich nicht geschehen, selbst
als das Allgemeine Landrecht die Anforderungen der Monarchie mit den, gel¬
tenden Rechte in Einklang gebracht hatte.
Der Grund sür diese Unterlassung ist zunächst darin zu suchen, daß die
Parole „Trennung der Justiz von der Verwaltung" einmal ausgegeben und
zum Schlagworte der Parteien geworden war. Die einen wollten damit sagen,
daß sich die Justiz nicht in die Verwaltung, die andern, daß sich die Verwal¬
tung nicht in die Justiz einmischen sollte. Aus jenen sind die Anhänger, aus
diesen die Gegner der heutigen Verwaltungsgerichtsbarkeit entstanden.
Dann aber ist auch zu bedenken, daß sich seit der Teilung der Ressorts
die Zeilen und mit ihnen die Verhältnisse in einer Weise geändert hatten, daß
eine Rückkehr zu dem ursprünglichen Zustande, die Wiedervereinigung sämtlicher
gerichtlichen Zuständigkeiten in den Landesgerichten nicht mehr möglich er¬
scheinen konnte, wenn man nicht die Justizkollegien zur Ungebühr überlasten lind
sie mit Angelegenheiten betrauen wollte, durch die sie ihrem eigentlichen Be¬
rufe entfremdet worden wären und für deren Beurteilung ihnen mich vielfach die
praktische Übung in Behandlung von Verwaltungsaugelegenheiten gefehlt hätte.
Die Kameralwissenschaften, mit denen sich der eigentliche Fachjurist in der
Regel nicht viel beschäftigt und bei dem Umfange seines eigne» Ressorts auch
nicht wohl beschäftigen kann, haben noch keine alte Geschichte. In der Haupt¬
sache datirt dieselbe erst aus der neueren Zeit des Aufschwunges der Industrie,
des Gewerbes und des Handels. Anfangs drehte sich auch das gesamte Steuer-
wesen, überhaupt die Finanzwissenschaft nur um die Interessen des Krieges; das
Armenwesen und die Schulangelegenheiten erforderten nur eine geringe Thätig¬
keit, ebenso stand es mit der Wege-, Wasser-, Deich-, Fischerei-, Jagd- und
Gewerbepolizei u. s. w., und es wäre nicht zweckmäßig gewesen, die hierbei vor¬
kommenden Streitigkeiten der Entscheidung des ordentlichen Richters durchweg
zu überweisen. Allein bei der heutigen Gestaltung aller dieser Angelegenheiten
wäre dies durchaus unmöglich, und dies war auch schon in einem gewissen
Grade der Fall zur Zeit der Emanation des Allgemeinen Landrechtes und der
Stein- und Hardenbergischen Reorganisation der preußischen Staatsverwaltung
und der daran sich anschließenden, überall auf der positiv-kasuistischen Methode
fußender Gesetzgebung bis zu unsern Tagen.
Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen hat gegenwärtig eine Gestalt
gewonnen in dem neuesten Zuständigkeitsgesetze vom 1. Angust 1883, einer nach
der positiv-kasuistischen Methode bewirkten Kodifikation des schon längst geltenden
Rechtes, wahrend das Landcsverwaltungsgesetz vom 30. Juli 1883 über die
Organisation der Behörden und die prozessualischen Formen nähere Bestimmung
trifft, und bei dieser Gesetzgebung, welche seit 1874 bekanntlich verschiedne Vor¬
läufer gehabt hat, beginnt denn auch in Preußen die Arbeit und der Einfluß der
Theoretiker, worauf später noch eingegangen werden soll.
Vorweg ist nochmals zu bemerken, daß den Verwaltungsbehörden in ihrer
Eigenschaft als judizirende Kollegien schon längst dieselben Pflichten oblagen
wie den „ordentlichen" Gerichten, sodaß dies Epitheton als Gegensatz zu den
Verwaltungsgerichten durchaus nicht mehr paßt.
In diesem Sinne sprach sich schon die Kabinetsordre vom 22. August 1833
aus, wenn sie sagte: es ist „der Meinung nicht beizustimmen, daß nur von
feiten der ordentlichen Gerichtshöfe nach den Grundsätzen des strengen Rechtes
entschieden werde, das Eigentum also größeren Schutz bei den gerichtlichen als
bei demjenigen Verfahren fände, welches die Gesetze in besonders bestimmten
Fällen der Kognition administrativer Behörden überwiesen haben, da auch die
letzteren die zu ihrer Erörterung und Entscheidung gestellten Rechtsverhältnisse
nicht nach Billigkeit, sondern ganz wie die Gerichtshöfe nach Recht zu ent¬
scheiden verpflichtet sind, und das Gesetz gewisse Gegenstände nnr dann und nnr
deshalb den ordentlichen Gerichten entzieht, wo und weil die Feststellung des
rechtlichen Gesichtspunktes wesentlich von der richtigen Beurteilung solcher Mo¬
mente abhängt, die in ihren Motiven und in allen ihren Details den Verwal¬
tungsbehörden gründlicher und vollständiger bekannt sind als den Gerichten."
Man ersieht hieraus, daß die Verwaltungsgcrichtsbarkeit in Preußen als
solche nicht etwa erst seit einem Jahrzehnt besteht, auch ergiebt sich das Gegen¬
teil aus vielen Beispielen, von denen wenigstens einige hier angeführt werden
mögen.
Zu den Zeiten des Großen Kurfürsten wurden die Leistungen für das
Militär an den Kaiser aufgebracht, nachdem durch den Kreistag eine Verteilung
dieser Lasten auf die Gutsherrschaften und die damals bestehenden Ämter statt¬
gefunden hatte. Hierbei kamen mancherlei Streitigkeiten vor zwischen der Ritter¬
schaft und den Ämtern, welche von dem 1604 eingesetzten Geheimen Rate ent¬
schieden wurden. Der Geheime Rat fungirte in diesen Angelegenheiten als
Verwaltnngsgerichtshof ebenso, wenn auch uicht in denselben Formen, wie noch
hente bestimmte Behörden bei der Entscheidung über Staats- und Kommuual-
steuerreklamationen. Die Reklamativuskommissivucn siud Verwaltungsgerichte
ebenso wie hinsichtlich der Kvmmnnalsteuerreklamationen die Kreis- und Bezirks¬
ausschüsse und das Oberverwaltungsgericht.
Auch in polizeilichen und militärischen Angelegenheiten kann man bei uns
schon im siebzehnten Jahrhundert von einer Verwaltungsjurisdiktivn sprechen,
weil die durch die kollegialisch formirter Aussichtsbehörden von Amtswegen
oder auf Beschwerde geübte Kontrole in ihren Formen dem Verfahren vor den
ordentlichen Gerichten durchaus nachgebildet war, sodaß hier wie dort die besten
Garantien einer korrekten Rechtsprechung gegeben waren. Erst später, als sich
bei den Verwaltungsbehörden das Präfektentum und die büreaukratische Arbeits¬
weise durch einzelne Dezernenten geltend machte, ergab sich das Bedürfnis nach
Schaffung neuer gerichtlicher Formen, und es entstanden die Vorschriften über
die Einsetzung militärischer Neklamationskommissiouen, deren Thätigkeit ebenso
eine verwaltungsgenchtliche ist, wie diejenige der Behörden, welche über die
Beschwerden und Klagen gegen polizeiliche Verfügungen und Zwangsbefugnisse
zu entscheiden haben.
In Postangelegenheiten haben wir eine Verwaltungsgerichtsbarkcit schon
seit König Friedrich dem Ersten, welcher durch ein Edikt vom 9. April 1703
allen Beamten verbot, sich irgendeine Kognition in Postsachen anzumaßen oder
die Postbeamten nnter ihre Jurisdiktion zu ziehen, da das Postwesen und alle
Postbeamten hinsichtlich ihres Amtes der ausschließliche» Jurisdiktion des Ge-
ncralpostmeisters unterworfen seien. Auf einem ähnlichen Standpunkte steht
noch heute das Reichspostgesetz vom 28. Oktober 1871.
Jnnungsstreitigkeiten unterlagen schon im dreizehnten Jahrhundert der Juris¬
diktion der Magistrate in den Städten, wobei allerdings zu berücksichtigen ist,
daß die Städte damals Staaten im Staate bildeten, weshalb denn auch schon
im siebzehnten Jahrhundert, als man mit diesem Übelstande aufräumte, diese
Jurisdiktion in der Regel den ordentlichen Gerichten zustand, d. h. wo damals
besondre Provinzialgcrichtc bestanden. Jetzt gebührt die Entscheidung den Ge¬
meindebehörden oder den Jnnuugsschiedsgerichtcu, welche hierbei ebenfalls eine
verwaltungsrichterliche Thätigkeit entfalten, allerdings in den Formen des privat¬
rechtlichen Verfahrens.
Wie man solchen Thatsachen gegenüber behaupten kann, daß die Verwal¬
tungsgerichtsbarkeit (an sich und abgesehen von einer einzigen, sogleich zu er¬
wähnenden Eigentümlichkeit) ein modernes, lediglich aus theoretischen Erwägungen
hervorgegangenes Produkt unpraktischer Gelehrsamkeit sei, ist nicht wohl be¬
greiflich. In den nichtprcußischcu Ländern mögen wohl die Theorien der Ge¬
lehrten hie und da mächtig genug gewesen sein, der ordentlichen Gerichtsbarkeit
ohne jeden historischen Vorgang einen Konkurrenten an die Seite zu stellen,
allein in Brandenburg-Preußen beruht die Vcrwaltuugsgerichtsbarkeit ihrer Ent¬
stehung und ihrem ursprünglichen Wesen nach auf der vaterländischen Rechts¬
geschichte, hier war sie (in vollständigem Gegensatze zu dem Entwicklungsgange
in Frankreich) eine unvermeidliche Folge der Kollision zwischen dem siegreich
aus der ständischen Verfassung hervorgegangen«! monarchischen Prinzip und dem
geltenden öffentlichen Rechte; in Frankreich war sie ein Akt der Willkür, durch
welchen die Handhabung des unverändert gebliebenen öffentlichen Rechtes dem
unabhängigen ordentlichen Richter entzogen und auf abhängige Verwaltungs¬
beamte übertragen wurde. Seit der Stein- und Hardenbergischen Gesetzgebung
ist die preußische Verwaltuugsgerichtsbarkcit ihren eignen Weg gegangen, an¬
fangs mit Zielen, welche lediglich auf das Praktische gerichtet waren, und erst
später mit einigen theoretischen Zuthaten, welche vielleicht manchem als die
Essentialien der Verwaltungsgerichtsbarkeit erscheinen mögen, was sie aber that¬
sächlich nicht sind.
Es soll mit dieser letzteren Bemerkung hingewiesen werden ans jenen eigen¬
tümlichen Zusammenhang der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der obrigkeitliche»
Selbstverwaltung, eine Einrichtung, welche englischen Zuständen nachgebildet
ist und darauf hinausgeht, die obrigkeitliche Selbstverwaltung in die Hände
der kommunalen Organe zu bringen, wodurch aber das Wesen der Verwal-
tnngsgerichtsbarkcit mit der Zeit vollständig aus den Fügen zu gehen droht.
Denn an die Stelle der früher kollegialisch konstruirten, aus juristisch und
kamcralistisch gebildeten Bernfsbeamten zusammengesetzten rechtsprechenden Be¬
hörden sind Kollegien getreten, welche der ihnen gestellten Aufgabe, in Sachen
des öffentlichen Rechtes in derselben Weise wie die ordentlichen Gerichte Recht
z» sprechen, nimmermehr gewachsen sind, insofern diese rechtsprechende Thätigkeit
nicht mit voller und ausschließlicher Hingabe, sondern mir als Nebenbeschäftigung
geübt wird.
Worauf es ankommt, ergiebt sich aus der oben mitgeteilten Kabinetsordre
vom 22, Angust 18.83. Was König Friedrich Wilhelm der Dritte damals von
den judizirenden Verwaltungsbehörden verlangte, kann man auch hente noch von
den modernen Verwaltungsgerichten erwarten, allein dazu siud dieselben, wenn
auch vielleicht augenblicklich, so doch in keiner Weise für die Dauer geeignet.
Die eigentümliche Vereinigung kvmmuualer und richterlicher Befugnisse in den
preußischen Kreis- und Stadtausschüsseu, ja sogar für Einzelheiten in den
Magistraten kleinerer Städte, dürfte in Zukunft schmerlich aufrecht zu erhalten
sein, ebensowenig wie die derselben ähnliche bei den Schöffengerichten. Die
Rechtsprechung bei den Kreis- (Stadt-) Ausschüssen und Magistraten ist eine
Nachbildung fremdländischer Einrichtungen, welche für preußische Verhältnisse
nicht passen. Im Hinblick auf die Gerichtsverfassung unsrer deutschen Urväter
kann sie als eine stilvolle Nachbildung von Rechtsaltertümern Passiren; im
übrigen gebricht dieser Einrichtung die erste Existenzbedingung eines wirksamen
richterlichen Organes in der Staatsverwaltung, die innere intellektuelle Kraft.
Als Organ der wirtschaftlichen Selbstverwaltung haben sich die Kreisaus¬
schüsse, Stadtausschüssc und Magistrate wohl bewährt, aber als Nichterkollegicn
werden sie sich für die Dauer schwerlich als brauchbar erweisen, mag man sich
auch noch so sehr bemühen, denselben geeignete Kräfte zuzuführen. Die Vor¬
sitzenden Lnudrätc find zwar nach ihren wissenschaftlichen Qualifikationen als
richterliche und Ncrwaltungsbcamte in der Regel der ihnen gestellten Aufgabe
gewachsen, aber der prozessualische Formenkram paßt garnicht zu ihren sonstigen,
auf eine möglichst freie Beurteilung der Verhältnisse zugeschnittenen Obliegen¬
heiten. Ein richtiger Landrat soll als ein rühriger Verwaltuugsbcamter in
seinem Kreise überall sein, aber hinter den Akten nicht mehr sitzen, als durchaus
nötig ist. Jede derartige Beschäftigung trägt schon den Keim der Pedanterie
in sich, und diese paßt zu den Laudratsaufgaben wie die Faust aufs Auge.
Dies fühlen auch viele tüchtige Landräte, welche sich ihrer Stellung bewußt
sind, sehr wohl heraus, sie spreche» wohl über die „Entscheidungen der Kreis¬
ansschüsse," aber im Hinblick auf das mit seiner wahrhaft vernichtenden Über¬
legenheit in Verwaltuugsrechtssacheu stets im Hintergründe drohende Oberver-
wnltungsgericht mit einer gewissen Beklommenheit und mit angnrischem Lächeln.
Die Mitglieder der Kreisausschüsse sind sicherlich die besten, gewiß mit der
größten Objektivität urteilenden, vom besten Willen beseelten und geeignetsten
Kreiseingesessenen, welche sich für diesen Zweck haben auftreiben lassen, man
findet unter denselben nur hochchrcnhafte Männer, und darunter sogar viele
mit juristischer und kameralistischer Vorbildung, z. B. ehemalige Rechtsanwälte,
Landräte, Gerichts- oder Regiernngsrcite, welche ihren einstigen Beruf wegen
Invalidität oder wegen ihrer wirtschaftlichen Angelegenheiten aufgegeben haben;
aber alle diese Herren können ja doch ihr richterliches Ehrenamt immer nur als
ein Nebengeschäft auffassen, eine Regel, von welcher wohl nnr manche aktive
gelehrte Bürgermeister als Mitglieder des Selbstverwaltuugsgerichtes eine Aus¬
nahme macheu. Will man diese Ausnahme zugeben, so stellt sich dabei wieder
heraus, daß man solche Mitglieder nicht mehr zu den „Laien" rechnen kann,
denn sie werden Verwaltungsjuristen von Beruf und wirkliche Fachleute, an
denen doch in den Negieruugskollegieu kein Mangel ist, sodaß jeder Grund
wegfällt, jene an die Stelle dieser zu setzen.
Die juristische Beurteilung von Fragen des öffentlichen Rechtes läßt sich
als Nebengeschäft nimmermehr betreiben, dazu sind diese Fragen denn doch zu
schwieriger Natur, und wenn man bisher mit der Bearbeitung dieser Fragen
bei den Krcisausschüssen u. s, w. nicht gerade unzufrieden gewesen ist, so findet
das seine Erklärung in der unendlichen Langmut des Oberverwaltuugsgerichtes,
welches dieselben Ncchtsgrundscitze in seineu Entscheidungen hundertmal wieder¬
holt und unermüdlich, aber doch nnr mit verhältnismäßig geringem Erfolge,
in den gedruckten Entscheidungen Belehrungen erteilt. Diese Erfolge würden
besser sein, wenn in den untern Instanzen nicht die Laien mit zu Gericht säßen.
Was würde ein Gutsbesitzer wohl dazu sagen, wenn man ihm als Ge¬
hilfen in seiner Landwirtschaft einen Berliner Referendar oder einen Assessor
oder einen alten Regierungs- oder Gerichtsrat aufdrängen wollte? Mit Hohn
würde er ihn zurückweisen; und doch sollte es zulässig sein, Personen, welche
in der Handhabung unsrer verwickelten Gesetzgebung auch nicht die mindeste
Übung und Erfahrung haben, an den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte
teilnehmen zu lassen?
Ähnliche Versuche sind schon früher einmal in einer erregten und bedrängten
Zeit gemacht worden (s. die Verordnung vom 26. Dezember 1808). Das war
damals als eine euxt-Mo dLnsvolvirtias auch wohl begreiflich; allein als die ruhige
Erwägung wieder platz griff, nahm man von dieser ungewöhnlichen Maßnahme
wieder Abstand.
Aktive Rechtsanwälte als Richter in den Verwaltungsgerichten zu sehen,
ist auch bedenklich, weil Kollisionen mit ihrer Praxis, selbst bei dem redlichsten
Streben nach Objektivität, dabei ganz unvermeidlich sind, und weil die Welt
nicht nach der Wirklichkeit, sondern nach dem Scheine urteilt.
Eine ganz eigentümliche Existenz führt aber in der juristisch-knmeralistischen
Atmosphäre der Selbstverwaltungsgerichtssitzuugen der schlichte Landmann oder
Bürger, der Repräsentant des „gesunden Menschenverstandes," eines Dinges,
welches nach dein Ausspruche des verewigten berühmten Germanisten Homeyer
viel seltener anzutreffen ist, als gewöhnlich angenommen wird, und welches doch
auch für die Ausbildung juristischer Denkweise nur die unerläßliche Voraussetzung
bildet und ohne langjährige und mühsame Schulung nur einen zweifelhaften
Wert hat. Die unter solchen Verhältnissen zu stände kommenden „Entschei¬
dungen" der Kreis- und Stadtausschüssc und Magistrate trage» denn auch
stets den Charakter des Provisoriums an sich, und erwartungsvoll sehen Richter
lind Parteien in den sogenannten Prinzipienfragen dem Endurteil des Ober-
vcrwaltungsgerichtes entgegen. Die Aussprüche der Berwaltuugsgerichte in
der Mittelinstanz spielen dabei keine Rolle, denn sie sind, was die Lcncnmit-
glieder betrifft, im wesentlichen ebenso zusammengesetzt wie die Kreisausschüssc,
selbst die Repräsentanten des „gesunden Menschenverstandes" fehlen ihnen nicht,
und die Vorsitzenden haben vor denen der Kreisansschüsse nichts weiter voraus
als den Rang und den Titel.
Wie man überhaupt dazu gekommen ist, in dieser Mittelinstanz ein zum
Teil mit Laien besetztes Selbstverwaltungsgericht einzusetzen, ist auch theoretisch
genommen unbegreiflich, denn hier kann ja die von den Theoretikern gewünschte
Anlehnung an eine kommunale Körperschaft garnicht stattfinden, weil der Re¬
gierungsbezirk einen Kvmmunalbezirk nicht bildet, mithin zur Ausübung eigner
wirtschaftlicher Selbstverwaltung niemals Gelegenheit hat.
Den Mängeln, welche in diesen beiden untern Instanzen zu tage treten,
soll nun das Oberverwaltungsgcricht die Wage halten, und dies geschieht auch,
soweit die Sachen vor das Forum dieses höchsten Verwaltungsgerichtshofes in
Preußen gelangen — wie schon angedeutet — mit bewundernswürdiger Aus¬
dauer, Langmut und Gewissenhaftigkeit. Da? preußische Obcrverwaltungsgericht
ist eine der großartigsten Schöpfungen der Neuzeit; dasselbe ist aber keines¬
wegs eine Selbstvcrwaltuugsbehörde, sondern ausschließlich ein Gerichtshof für
Angelegenheiten des öffentlichen Rechtes. Zusammengesetzt lediglich aus Männer»
der Wissenschaft, welche im Privatrechte ebenso beschlagen sein müssen wie im
öffentlichen Rechte, hat diese Behörde das beinahe verloren gegangene preußische
öffentliche Recht zu einem neuen frischen Leben erweckt und dadurch unendlich
viel Segen gestiftet. Jeder Angriff ans die Existenzberechtigung dieses Gerichts¬
hofes ist unstatthaft, höchstens wäre noch die Frage distutirbar, ob es zweck¬
mäßig sei, denselben mit samt dem Bundesamte für das Heimatwesen mit den
höchstinstanzlichen sogenannten „ordentlichen" Gerichten wieder mehr Fühlung
gewinnen zu lassen, und damit kommen wir zu der dritten, an die Spitze dieser
Betrachtung gestellten Behauptung oder Forderung, daß auch in Frage des
öffentlichen Rechtes der ordentliche Richter zuständig sein soll.
Wohl nicht ohne Recht wird dem entgegengehalten, daß sich die Juristen,
denen die Pflege des Privatrechtes in den unteren Instanzen obliegt, infolge
langjähriger Enthaltung von den Fragen des öffentlichen Rechtes von diesem
Rechtsgebiete in einem gewissen Grade entwöhnt beiden, daß also bei der ju¬
ristischen Durchbildung und bei der letzten juristischen Staatsprüfung ans die
Kenntnis des öffentlichen Rechtes mehr Gewicht gelegt werden müßte, wenn man
den ordentlichen Gerichten auch die Verwaltungsrechtsprechung übertragen wollte.
Es mag dahingestellt bleiben, ob jene Behauptung zutrifft, jedenfalls liegt
aber in der daran geknüpften Forderung keine Unbilligkeit, weil das Privatrecht
und das öffentliche Recht in einem so untrennbaren Zusammenhange mitein¬
ander stehen und so vielfach ineinander greifen, daß das eine ohne das andre
garnicht gründlich erfaßt werden kann. Man wird sich davon leicht über¬
zeugen beim Lesen höchstinstanzlicher Entscheidungen, denn das Reichsgericht
muß öffentlich-rechtliche Fragen ebenso in den Bereich seiner Betrachtungen
ziehen, wie das Oberverwaltuugsgericht privatrechtliche. Weshalb die äußere
Trennung zwischen diesen beiden Dikasterien zu verewigen wäre, ist zwar nicht
wohl abzusehen, und es dürfte die Frage der nähern Erwägung wert sein, ob
dieselben nicht von Reichswegen wieder unter einen Hut zu bringen wären :
allein man wird sich schon aus der oben mitgeteilten Entstehungsgeschichte der
preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit davon überzeugen müssen, daß für die
Entscheidung der Streitsachen des öffentlichen Rechtes in Preußen und auch
wohl in den andern deutschen Ländern ein besondrer höchster Gerichtshof an
der richtigen Stelle ist.
Die Anhänger der Wiedervereinigung der ordentlichen und der Vcrwcil-
tnngsgerichtsbarkeit in einer und derselben höchsten Instanz haben etwa fol¬
gendes angeführt: „Hat mau das gesamte büvgerliche Recht, das Strafrecht und
das gerichtliche Verfahren der gemeinsamen deutschen Gesetzgebung vorbehalten und
diese Materien zum Teil bereits geregelt, warum sollte dies nicht auch hinsichtlich
des öffentlichen Rechtes möglich sein? Hat man ferner in jenen Materien mit Rück¬
sicht auf berechtigte Eigentümlichkeiten der Landesgesetzgebung vielfach Spielraum
lassen müssen, solange das materielle bürgerliche Recht nicht einheitlich geregelt
ist, warum sollte in derselben Weise nicht hinsichtlich des öffentliches Rechtes
verfahren werden können?"
Das find Fragen, denen man in der Theorie eine gewisse Berechtigung
nicht absprechen kann, allein, wie schon nachgewiesen wurde, wäre eine in dem
angedeuteten Sinne vorzunehmende Umgestaltung in Preußen unmöglich und
könnte auch dem Vatersande nicht zum Segen gereichen. Die Verwaltungs-
gerichte müssen also ihrem eigentlichen Wesen nach erhalten bleiben, und nur
der große Fehler, daß man sie als Sclbstverwaltungsbehvrdcn konstruirt hat,
sollte baldigst wieder gutgemacht werden.
Die Anhänger der Wiedervcrschmelzung der Verwaltungsgerichte mit den
ordentlichen Gerichten haben ferner hervorgehoben: „Es wäre schon ein großer
Gewinn für das Allgemeine, wenn wir für die Gerichtsbehörden nur einen
Namen weniger hätten, wenn sich das rechtsuchende Publikum nicht mit den
Unterschieden zwischen den verschiednen Gerichten zu beschäftigen hätte, denn die
Folge dieses ersten Schrittes zur wahrhaften Vereinfachung des gerichtliche»
Behördenorganismus, zur Wiederherstellung des natürlichen Zustandes aller
Gerichtsbarkeit im Staate würde die sein, daß auch verschiedne andre Spezial¬
gerichte aufhörten. Hieraus würde sich dann ferner die Notwendigkeit ergeben,
die jetzigen Vcrwaltungsstreitsachen den Landgerichten, beziehungsweise Amts¬
gerichten zu überweisen, sodaß den Bezirksansschüsseu, den Kreis- (Stadt-) Aus¬
schüssen und in den vereinzelten Füllen den Magistraten nnr die landesgesetzlich
auszuscheidenden eigentlichen Beschlußsachen verblieben. Die damit wegfallende
Mitwirkung der Laien bei deu Entscheidungen der Selbstverwaltungsgerichte
wäre leicht zu ersetzen dnrch -ra Kop heranzuziehende oder auch ein- für allemal
zu bestimmende Sachverständige, wie dies ja auch hänfig genug in privatrecht¬
lichen Prozessen erforderlich werde. Vor einer solchen wahrhaften Vereinfachung
müßten alle übrigen bisherige» Experimente die Segel streichen, und der recht¬
suchenden Bevölkerung wäre mit einem Schlage geholfen. Dadurch würden auch
noch ganz andre Schwierigkeiten beseitigt, denn mit dem Bestreben, den Ver¬
waltungsgerichten eine würdige, selbständige Aufgabe zu schaffen, sei man immer
noch auf halbem Wege stehen geblieben, und man werde sich schließlich doch ge¬
nötigt sehen, das Ressort der Verwaltungsgerichte dahin auszudehnen, daß von
ihnen jede privatrechtliche Frage, welche in den bei ihnen einmal anhängig ge¬
wordenen Streitsachen vorkommt, zu entscheiden ist, damit in derselben Sache
das Hin- und Herschicken des Publikums von einem Gerichte zum andern auf¬
höre. Wenn — so sagt mau weiter — infolge einer solchen tiefeingreifenden
Veränderung die Zahl der Richterstcllen erheblich vermehrt werden müßte, so
wäre dies kein Schade, denn teils würde diese Vermehrung im Interesse des
besser organisirten Rechtsschutzes geschehen, teils würde dem durch unsre so¬
zialen Verhältnisse wohl erklärlichen Zudrange der Jugend zu dem juristischen
Studium durch Eröffnung besserer Aussichten entsprochen, während vielleicht
viele Unberufene dnrch die erhöhten Anforderungen bei Zeiten von dieser Lauf¬
bahn abgehalten würden, teils endlich würden die doch vielfach nur als eine
Last empfundenen Ehrenämter bei den beiden vvrinstanzlichen Verwaltungs¬
gerichten entbehrlich werden, und vielleicht auch eine Anzahl von Negierungsrüten
und Assessoren, deren Thätigkeit jetzt durch die Vcrwaltuugsgerichtsbarteit in
Anspruch genommen werde u. s. w."
Allein alle diese Gründe fallen doch in nichts zusammen vor den oben
bereits mitgeteilten Erwägungen, welche für die Herstellung einer besondern
Verwaltuugsgcrichtsbarkeit einst maßgebend gewesen sind; auch läßt sich der
zuerst angeführte, dem Interesse der rechtsuchcnden Bevölkerung dienende Grund
ohne Schädigung der besondern Verwaltungsgerichtsbarleit ans eine viel ein¬
fachere Weise erreichen, und darüber mögen hier zum Schlüsse uoch einige Be¬
merkungen gestattet sein.
Weshalb für das Verwaltungsstreitvcrfahren (von den Beschlußsachen ist
hier zunächst nicht die Rede) gerade drei Instanzen notwendig sein sollen, ist
nicht recht einzusehen, zumal da das Reich in den ihm zugewiesenen Angelegen¬
heiten doch auch nur deren zwei fordert. Demgemäß würde es wohl genügen,
wenn an die Stelle der jetzigen erstinstanzlichen Entscheidungen der Kreis- und
Stadtausschüsse oder der Magistrate ein einfacher mvtivirter Bescheid des
Landrates oder des Bürgermeisters (anch in den kleinen Städten) träte, und
wenn dagegen lediglich die Klage an die Negierung und sodann das Rechtsmittel
der Berufung an das Oberverwaltungsgericht gegeben würde, vielleicht auch in
geeigneten Füllen die Revision, wie dies schon jetzt mehrfach der Fall ist. Den
Aufsichtsbefugnissen des Landrates hinsichtlich der Städte, welche Stadtkreise
nicht bilden, könnte man dadurch gerecht werden, daß die betreffenden Bürger¬
meister ihre Bescheide bei dem Landrate einzureichen hätten, und daß auch
diesem dann das Recht der Anfechtung bei der Regierung eingeräumt würde.
Als Gehilfe des Landrates wäre der „Kreissyndikus" jedenfalls der ge¬
eignetste Mann.
Bei den Regierungen wäre eine besondre Abteilung für Verwaltungs¬
streitsachen unter dem Vorsitze eines Oberregierungsrates zu bilden, zu welcher
sämtliche Justitiarien und ebensoviele Kameralisten zu gehören hätten, wobei es
dem Präsidenten unbenommen bliebe, den Vorsitz selbst zu übernehmen. Die
Garantie für die Unabhängigkeit und Objektivität dieser Regierungsabteiluugeu
wäre dann lediglich in der Ehrenhaftigkeit der Mitglieder zu suchen. Zweifel
an diesen Eigenschaften sind ihnen gegenüber ebenso unschicklich wie gegenüber
den Mitgliedern der ordentlichen Gerichte. Beide Arten von Beamten sollten
nach demselben Disziplinargesetze beurteilt werden, um auch in dieser Beziehung
jeden Unterschied zu beseitigen. Mißtrauen gegen die Objektivität der bei den
Regierungen und deren Abteilungen beschäftigten Räte und Assessoren wäre dann
jedenfalls weniger begründet, als das Mißtrauen gegen die Leistungsfähigkeit
der bei den jetzigen Selbstverwaltungsgerichten als Ehrenbeamte fungirenden
Laien, für deren dauernde Bereitwilligkeit zur Fortführung der lästigen Neben¬
beschäftigung nach den gemachten Erfahrungen gar leine Garantien geboten sind.
Will man den Einfluß des Provinzialausschusfes auf die Besetzung der
richterlichen Stellen bei den Regierungen durchaus nicht missen, so kann man
denselben, obwohl er sich thatsächlich längst als ein illusorischer herausgestellt
hat, und obgleich das vor Augen schwebende Ziel des „Rechtswächteramtes"
ein verfehltes ist, in irgendeiner schicklichen Form, dnrch welche das hoheitlichc
Anstellungsrecht am wenigsten geschädigt wird, auch beibehalten.
Die Besorgnis, daß mit der hier vorgeschlagenen abermaligen Umgestaltung
uur die alten Kammcrjustizdeputationen wiederhergestellt werden würden, ist un¬
begründet, denn dieselben hatten, wie jeder Sachkenner weiß, ein ganz andres
Gebiet zu bearbeiten als unsre heutigen Verwaltungsgerichte.
Was das Verfahren vor diesen neuen Verwaltungsgerichten erster Instanz
betrifft, so wäre das jetzt in dem Landesverwaltungsgesetze vom 30. Juli 1883
vorgeschriebene im wesentlichen beizubehalten, in vieler Hinsicht würde sich
aber schon in der Praxis eine höchst wünschenswerte Vereinfachung heraus¬
stellen. So z. B. würde die im Publikum seither und auch in Zukunft nie¬
mals verstandene und gewürdigte Lehre von der Wahlklage und von der Wahl¬
beschwerde bald gegenstandslos werden, weil es gleichviel bedeutete, ob der von
dem Landrat oder dem Bürgermeister zu erteilende Bescheid auf eine Klage
oder auf eine Beschwerde erfolgte, und weil die Aufsichtsbefugnisse des in der
betreffenden Negierungsabteilung Vorsitzenden Regierungspräsidenten hinsichtlich
seiner spontanen Maßnahmen keineswegs beeinträchtigt zu werden brauchten.
Im übrigen sind gerade diese Vorschriften über das Verfahren ein großes
Kunstwerk, welches unverdienterwcise vielfach von Leuten geschmäht wird, die
kein Verständnis dafür haben. Hochverdiente Männer, an deren Spitze der
verewigte Max Karl Ludwig von Brauchitsch stand, haben dieses Werk mit
Einsetzung ihrer ganzen Lebenskraft geschaffen, im Sinne der preußischen Rechts-
geschichte ausgebaut und nach bestem Vermögen — wenn auch nicht immer
mit dem gewollten Erfolge — gegen das Eindringen unfruchtbarer doktrinärer,
theoretisirender, spekulativer und rechtsphilosophischer Anschauungen geschützt.
Der treuen Arbeit der Praktiker gegenüber ist es unbillig und ungerecht,
auf die preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit einen Stein zu werfen, und wenn
der im Eingange diefer Betrachtung erwähnte große Staatsmann in dem Worte
„Verwaltungsgericht" eine (zoirtiÄäiotio in ach'feto gefunden haben sollte, so
hat ihm jedenfalls das Wort „Selbstverwaltuugsgericht" vorgeschwebt, und
darin kann man ihm vom preußischen Standpunkte aus nur Recht geben.
Was endlich die schon jetzt nach richtigen Prinzipien ausgeschiedenen Be¬
schlußsachen betrifft, so wären dieselben in der Kreisinstanz ebenso wie die Streit¬
sachen von den Landräten und Kreissyudiken, in den Stadtkreisen von den
Bürgermeistern zu erledigen, in der Bczirksinstanz, wo diese erstinstanzlich zu
entscheiden hat, von dem Regierungspräsidenten und dem Oberregierungsrate der
Abteilung für Verwaltuugsstreitsachen. Die weitere Beschwerde könnte dann,
je nach Lage der Sache, wie dies schon jetzt vortrefflich geregelt ist, an den
Regierungspräsidenten oder den Oberpräsidenten und schließlich an den Pro-
vinzialrat oder an den Ressortminister gehen.
Wir schließen diese Betrachtung mit dem altpreußischen, unsre Auffassung
durchweg kennzeichnenden Spruche: suum ornans.
s giebt wohl kaum einen Zeitraum in der Weltgeschichte, in
welchem folgenreichere Umwandlungen vor sich gegangen wäre»,
als im fünfzehnten Jahrhundert. Das fünfzehnte Jahrhundert
ist die Zeit der Entdeckungen und Erfindungen, die Zeit, wo
durch die Auffindung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien
dem abendländischen Handel neue Bahnen eröffnet wurden, wo durch die Er¬
findung der Ölmalerei der Boden urbar gemacht wurde, auf dem die neuere
Kunst ihre höchsten Triumphe feiern konnte, die Zeit endlich, wo infolge der
Erfindung der Buchdruckerkunst ein neuer Abschnitt auch im Geistesleben der
Völker begann. Wie jede andre Erfindung ist aber auch die Buchdruckerkunst
nicht mit einemmale fertig aus dem Kopfe ihres Erfinders hervorgegangen, im
Gegenteil, der alte Satz: I^nul in imtwA xsr sAltuni läßt sich auf keine andre
besser anwenden als auf sie.
Schon lange bevor Gutenberg geboren wurde, hatte ein allerdings noch
planloses Bedürfnis nach Belehrung alle Klassen des Volkes ergriffen. Während
der Bücherbesitz im Mittelalter nur das Vorrecht der Begüterten gewesen war,
regte sich jetzt die Leselust auch unter den Armen und machte den Wunsch nach
einer bequemere», mehr fabrikmäßigen Vervielfültigungscirt der Bücher rege.
Diesem Bedürfnis kam der Holzschnitt entgegen. Man hatte schon früh den
gewebten Stoffen ornamentale und figürliche Darstellungen als Ersatz für
gestickte oder eingewebte Ornamente durch hölzerne Model ausgedrückt. Vom
Zeugdruck war man zum Papierdruck fortgeschritten und hatte Heiligenbilder,
Spielkarten, Neujahrswünsche durch Holzschnitt hergestellt. Und so kam man
naturgemäß auf den Gedanken, von einzelnen Heiligenbildern zur Darstellung
ganzer Geschichten in einer Reihe vieler Blätter überzugehen. Die Hauptsache
wurde im Bilde und die notwendigste Erklärung in Schrift dargestellt und das
Ganze durch den Druck vervielfältigt. Man bestrick) die Form mit einer aus
Lampeuruß und Öl gemischten Druckerschwärze, legte das befeuchtete Papier
darauf und fuhr mit einem mit Pferdehaaren ausgestopften Lederballen, dem
Reiher, darauf hin und her, sodaß die Umrisse der Figuren und Buchstaben
sich in das Papier eindrückten. Da auf diese Weise immer uur die eine Seite
eines Blattes bedruckt werden konnte, klebte man dann, um fortlaufende Bücher¬
seiten zu erhalten, je zwei Blätter mit der Rückseite zusammen. Anfangs war
der Text nur kurz und neben den Figuren angebracht; später gelangte man
dazu, ihn auf besondern Seiten beizudrücken, sodaß immer Text und Bild einander
gegenüberstanden. Man nennt diese Drucke, weil sie mit dem ganzen Holz¬
block, der ganzen Holztafel hergestellt wurden, Blockbücher oder Holztafeldrucke.
Die Literatur, welche dieselben umfassen, ist eine ausgedehntere, als man
denken sollte. Da das fünfzehnte Jahrhundert eine besonders religiös angelegte
Zeit war, entstand in erster Linie eine ganze Reihe kirchlicher Bücher, die kaum
eine Seite des religiösen Lebens unbeachtet ließen.
Das Werk, das am meisten in Holztafeldrucken verbreitet wurde, war die
Bibel. Doch besaß man noch nicht die eigentliche Bibel, sondern mir eine
sogenannte Konkordanz des alten und neuen Testamentes. Ein Cyklus neu-
testamentlicher Vorstellungen wurde mit beständiger Hinweisung auf das alte
Testament vorgeführt, welches der Auffassung des Mittelalters gemäß das
neue vorbereitete. Man bezeichnete dieses Buch, da es von den sogenannten
vNixores Ow'isti, den Franziskanern, Karthäusern und Kapuzinern, bei ihren
Kanzelvorträgen benutzt wurde, als die Armenbibel, IZidlig, xg,uxorunr. Die
Bilder sind immer so angeordnet, daß die Hauptdarstellung mit ihren Neben¬
bildern, also je eine Szene ans dem neuen, umgeben von je zwei Szenen aus
dem alten Testament, gleichsam in der Mitte eines geöffneten Flügelaltares
erscheint, in dessen Predelle und Lünette je zwei Propheten mit Spruchbändern
angebracht sind; ein kurzer Text deutet die Beziehungen der Nebenbilder auf
das Hauptbild an.
Außer diesem Hauptwerke wurden auch viele kleinere Teile der Bibel be¬
handelt. Die zehn Gebote schildert ein kleines, aus zehn Blättern bestehendes
Werkchen mit dem Titel „Die zehn Bott für die ungelernte Leut," während
das aus zwanzig Folioblättern bestehende „Buch der Könige" die alttestament-
lichen Begebenheiten aus den Büchern Samuels vorführt.
Weit mehr aber als das alte Testament wurde das neue bearbeitet. Die
Lieblingsgestalt desselben war die Jungfrau Maria. Ihr ist das Lkmtivnm
«kmtiooruin, das Hohe Lied gewidmet, ein Cyklus von zweiunddreißig Dar¬
stellungen, welche im Anschluß an die Salomonische Dichtung das Verhältnis
Christi zu seiner Braut, der als Sinnbild der christlichen Kirche gedachten
Jungfrau Maria schildern. An das tü-uitioiuu schließt sich das 3s,los Rsg'inÄ,
dessen vierzehn Holzschnitte eine Reihe von Wundern darstellen, die teils von
Maria selbst, teils durch Absingen des L^los rsMia vollbracht worden waren.
Noch öfter wurde das Leben Jesu bearbeitet, das in nicht weniger als vier
Büchern vorgeführt wird, von denen das aus sechzehn Kleinoktavblättern be¬
stehende „Zeitglöcklein des Lebens Jesu" das wichtigste ist. Das Gebet Christi
wurde in den: üxsroitinro. snxizr Mtörnostsr ausgelegt. Ein Priester bittet
Gott, ihn beten zu lehren, darauf wird ihm ein Engel gesendet, welcher zu ihm
spricht: V«ziü, cloosdo x^ehr lip8ehr; und so unterrichtet er ihn in den einzelnen
Bitten des Vaterunsers, von denen jede durch einen Holzschnitt illustrirt ist.
Den Abschluß des neuen Testaments macht die Apokalypse, das „Buch der
haymlicheu Offenbarung Sand Johans," das in achtundvierzig Darstellungen
die Visionen des Johannes auf Palaos und Szenen aus seiner Leidensgeschichte
enthält. Die Holzplatten siud durch einen Horizontalstrich in zwei Hälften
geteilt, der Text ist auf Spruchzetteln neben den Figuren angebracht. Das
letzte Werk, das auf die Bibel Bezug hat. ist die ^rs nisnrorMäi, die „Kunst,
die Erzählungen der vier Evangelisten im Gedächtnisse zu behalten." Es führt
die Hauptgegenstände vor, welche in den Evangelien vorkommen, um so den
Inhalt derselben nach der Folge der Kapitel dem Gedächtnisse einzuprägen.
Die Grundlage der bildlichen Darstellung ist jedesmal das stehend abgebildete
Symbol der einzelnen Evangelisten, der Adler, der Löwe, der Ochs und der
Engel; die dabei angebrachten Ziffern bedeuten die Kapitelzahl der Evangelien.
Den Anfang macht das Symbol des Johannes, ein Adler mit ausgespreizten
Fittigen. Auf seinem Kopfe sieht man die heilige Dreieinigkeit, weil das erste
Kapitel von der Dreieinigkeit handelt, auf der Brust eine Laute mit der
Ziffer 2 inbezug auf die Hochzeit zu Koma, zwischen den Beinen einen
Wassereimer mit der Ziffer 4. weil im vierten Kapitel Jesus am Brunnen zu
trinken verlangt, auf der rechten Schwinge einen Fisch mit der Ziffer 5, als
Symbol des Teiches Bethesda im fünften Kapitel, auf der linken zwei Fische
und fünf Brote mit der Ziffer 6, das Wunder der Speisung im sechsten Kapitel
bezeichnend. Im ganzen besteht das Buch aus fünfzehn Bildtafeln, von denen
dem Johannes drei, dem Markus drei, dem Lukas vier und dem Matthäus
fünf gewidmet sind.
Außer der Bibel wurde natürlich auch die heilige Legende vielfach bear¬
beitet. Da haben wir die aus achtundvierzig xylographischen Oktavblättern be¬
stehende Legende vom heiligen Meinrad, welche die verschiednen Anfechtungen
erzählt, die der Heilige zu erleiden hatte und bei denen immer zwei vom Himmel
gesendete Raben sich seiner annahmen. Wir haben ferner ein zweites, achtnnd-
drerßig Blätter enthaltendes Buch, das die im Mittelalter so verbreitete Legende
vom Antichrist schildert, dem vom Satan gesendeten falschen Messias, dessen
Erscheinen das nahe Ende der Welt verkündet. Von einem Mädchen, welches
von ihrem eignen Vater geschwängert ist, wird der Antichrist geboren. Er wird
beschnitten und wächst schnell heran. Bald lehrt er die Leute Gold machen
und giebt sich für Gott aus. Zwar kommn'n Henoch und Elias aus ixmi Pa¬
radiese und predigen gegen ihn. Aber es ist vergeblich. Er verbrennt die
Bücher des Gesetzes, predigt eine neue Lehre und thut Wunder: das Meer
schäumt auf sein Geheiß empor und senkt sich wieder, dürre Bäume erblühen,
aus einem El kriecht ein Niese, aus einem Stein ein Hirsch hervor, ein Schloß
läßt er an einem Faden hängen. Die Juden, die sich dnrch diese Wunder zu
ihm bekehren lassen, werden von ihm mit Kreuzen bezeichnet. Zugleich sendet
er seine Boten zu den Königen von Ägypten, Libyen und Morgenland, zu der
Königin von Amason und läßt überall predigen, der wahre Messias sei ge¬
kommen. Alle, die an ihn glauben, ziehen zu ihm, zuerst die roten Juden, die
Alexander in den kaspischen Bergen eingeschlossen hatte, dann die verschiednen
Könige, welchen die Boten gepredigt hatten. Er giebt allen Anhängern Gold
und Silber und bekehrt die Zweifelnden durch Wunder. Als der König von
Mohrenland zaudert, bewirkt der Antichrist, daß eine Säule Rede und Ant¬
wort giebt; als der Herrscher von Libyen nicht an ihn glauben will, läßt er
ihm den Vater und die Mutter vom Tode auferstehen. Allmählich strömt allerlei
Volks, aus Pfaffen, Mönchen, Rittern und Knechten bestehend, bei ihm zusammen.
Alle, die nicht kommen, werden gefangen genommen und verbergen sich vergeb¬
lich in Höhlen, ans denen der Hunger sie wieder heraustreibt. Der Antichrist
läßt sich anbeten, läßt Henoch und Elias töten, die dann freilich ein Engel
wieder auferweckt, stellt sich tot und steht, um zu beweisen, daß er der wahre
Gott sei, am dritten Tage wieder auf, läßt Feuer vom Himmel fallen und be¬
ruft schließlich alle Fürsten, die an ihn glauben, ans den Berg Oliveto, mit
dem Versprechen, gen Himmel zu fahren. Da aber, als er dieses versucht, läßt
ihn Gott durch Teufel wieder hinabstoßen, die dann mit ihm in die Hölle fahren.
Henoch und Elias predigen von neuem den Völkern die wahre Lehre, worauf
Reue und bange Erwartung des jüngsten Tages folgt. In der That läßt das
jüngste Gericht nicht lange auf sich warten und kündigt sich in fünfzehn Zeichen
an. Das Meer erhebt sich vierzig Ellen hoch und steht aufgerichtet wie eine
Mauer, darauf senkt es sich und die Erde wird dürr, die Meerwunder und
Fische schreien und blicken jammernd gen Himmel. Die Flüsse mit allen Tieren
verbrennen. Die Vögel versammeln sich auf dem Felde, die Bäume und Ge¬
bäude stürzen nieder, die Steine springen in die Höhe, die Bergbewohner
kommen aus ihren Höhlen hervor, die Gräber thun sich auf, die Sterne fallen
vom Himmel herab, die Menschen sterben, das Firmament und alles Erdreich
verbrennt. Da endlich lassen die Engel ihre Trompeten ertönen, und Christus
ruft mit Donnerstimme den Seligen zu: Vsnits, den Verdammten: Ils.
Eine dritte Legende war die des heiligen Kreuzes, dessen mannichfache
Schicksale von Adam bis auf Kaiser Heraklins der dem fünfzehnten Jahrhundert
eignen Sehnsucht nach dem Fabelhaften und Wunderbaren besondre Nahrung
boten.
An diese der Bibel und der heiligen Legende entnommenen Stoffe schließen
sich solche, welche die Dogmengeschichte behandeln. Das aus sieben Quart-
blcitteru bestehende Lyinboluni axostolitzum enthält zwölf Holzschnitte, von denen
jeder durch einen kurzen Text erläutert wird. Ein zweites Buch ist das v<z-
tsusorwrn innig-oulAtg-s viiZiQitMs Kg-rias, das den Zweck hat, durch verschiedne
aus der Geschichte des Heidentums entlehnte Beispiele den Beweis zu führen,
daß Maria ohne Verletzung ihrer Jungfräulichkeit den Heiland habe empfangen
können. Die Gründe, welche angeführt werden, sind von rührender Einfalt.
Diomedes' Gesellen wurden Vögel, Circe konnte die Gefährten des Odysseus
in Tiere verwandeln, Claudia ein ganzes Schiff ans Land ziehen. Tnllia trug
in einem Siebe dus Wasser. Das Geicrweibchen gebiert Junge, ohne Eier zu
legen. Der Jspisvogcl, der sich getötet hat, bekommt neues Gefieder. Der
Phönix verjüngt sich im Feuer. Eine Eiche in Avernia trägt Trauben. In
Spanien gehen aus den Blüten eines Baumes Vögel hervor. Der Magnet¬
berg zieht Menschen an sich. Die Tauben empfangen in reinem und keuschem
Kusse. Danae wurde durch den Goldregen befruchtet. Ein Hirt wurde durch
einen Windstoß drei Meilen weit getragen. Der Pelikan erquickt mit seinem
Blute seine Jungen. Die Stuten in Kappadocien werden vom Winde befruchtet.
Das Einhorn paart sich mit Jungfrauen. Der Sonnenschein allein brütet Eier
aus. Ebenso wie alle diese Wunder möglich sind, meint der Verfasser, kounte
auch die Mutter Christi als Jungfrau gebären.
Daran schließen sich die freieren moralischen Werke, als deren wichtigstes
uns die ^rs inciritmell, die „Kunst zu Sterben," entgegentritt. Von den vier¬
undzwanzig Blättern derselben sind elf mit Bildern, elf mit Text, zwei mit dem
Vorwort bedruckt. Das Ganze stellt die fünf Versuchungen zur Ungeduld, zum
Unglauben, zur Verzweiflung, zur Eitelkeit und zum Geiz dar, durch welche der
Teufel sich um die Seele des Sterbenden bewirbt. Der Schutzengel hält dem
Bösen seine guten Eingebungen entgegen, die gleich den Einflüsterungen des
Satans auf bandartigen Sprnchzetteln im Bilde selbst angebracht sind. Der
Teufel rät dem Kranken, welcher im Todeskampfe verzweifelt: siorit xg-Mru,
intorlioms to ix8v,in, aber der Engel entgegnet: 8is ürmus in lläg. Und so
schließt das Buch mit der Niederlage des Teufels und dem Siege des Ster¬
benden. Die Teufel fliehen hinweg und rufen aus: () vioti sunrus, trnstrn,
l-idoiAvimus.
Ein zweites Buch dieser Klasse ist der aus acht Quartblättern bestehende
Beichtspiegel, das ^oirtössionalö, eine Anleitung, sich nach Maßgabe der zehn
Gebote gehörig zur Beichte vorzubereiten. Ein drittes aus acht Kleinoktav¬
blättern bestehendes Buch behandelt die sieben Todsünden Üppigkeit, Völlerei,
Hoffart, Zorn, Geiz, Trägheit und Neid. Den Abschluß macht das Lpöoulum
nnirmns.<z sg-los-tioins, der „Heilsspiegcl," eine Geschichte der Erlösung des Men¬
schengeschlechtes, die ihren Stoff der griechischen und römischen Literatur, dem
alten und neuen Testament, wie den Legenden und Volkstraditionen entlehnt.
Das Werk ähnelt der Armcnbibel, nur mit dem Unterschiede, daß der Text hier
nicht die Nebensache, sondern die Hauptsache ist. und gehört nur teilweise hierher,
weil es nur in einer Ausgabe zum Teil mit Holztafeln, in den andern schon
mit beweglichen Lettern gedruckt ist.
Wie sich aber die Kirche die neue Kunst dienstbar machte, so bemächtigte
sich ihrer auch das profane Leben. Eine besondre Gruppe unter den pro-
sauer Werken bilden die Kalender, deren wir bis jetzt fünf nachweisen rönnen.
Der erste wurde von dem Wiener Mathematiker und Professor Johann von
Gmünden verfaßt und enthält als figürlichen Schmuck sogenannte Monatsbilder,
worin die verschiednen Beschäftigungen vorgeführt werden, wie sie jedem einzelnen
Monat eigentümlich sind. Den ersten Januar feiert mau durch festliches Mahl,
im Februar wärmt man sich am Feuer, im März wird der Boden gehackt, im
April das Getreide gesäet, im Mai sitzen die Liebespärchen unter den blühenden
Linden, im Juni wird geankert, im Juli gemäht, im August das Getreide ge¬
schnitten, im September der Wein gekeltert, im Oktober das Obst abgenommen,
im November Holz gehackt, im Dezember das Schwein geschlachtet. Der zweite
Kalender ist der des Magisters Johannes Regiomontanus; er enthält einund-
dreißig ganz in Holz geschnittene Tafeln, während ein dritter unter dem Namen
„Folge der sieben Planeten" bekannt ist und außer einem Kalender auch die
Abbildungen der Planeten Sol, Luna, Saturnus, Juppiter, Mars, Venus und
Mereurius giebt.
Zu deu Kalendern kommen verschiedne andre kleinere profane Werkchen.
Das erste ist ein Totentanz, welcher in der im Mittelalter beliebten Weise den
Tod vorführt, wie er unter allerlei Gestalt mit den Menschen ans allen Ständen
und Lebensaltern tanzt und sie zum Grabe leitet. Ein zweites aus zwölf
Folioblättern bestehendes und mit neun Holzschnitten geschmücktes Buch behan¬
delt die Fabel vom kranken Löwen, einen dem Fabelkreise des Reineke Fuchs
entnommenen Stoff. Ferner gehören hierher die „Acht Schalkheiten," worin
auf acht Blättern der Unterhändler, der Lügner, der Betrüger, der falsche Gold¬
schmied, der betrügerische Kaufmann, der Kirchendieb, der betrügerische Seiler
und der Eisen für Stahl verlaufende Grobschmied vom Dichter vorgeführt
werden. Auch kleine Neisebücher erschienen schon. Ein solches ist das zwei-
uudneunzig Blätter enthaltende, zum Gebrauche der deutschen nach Rom wall¬
fahrenden Pilger verfaßte „Geistliche und weltliche Rom." Zuerst wird darin
das alte Rom behandelt. Ein Holzschnitt zeigt Rhea Silvia, wie sie vor einem
kleinen Tempel betet, davor die Wölfin mit den Zwillingen Romulus und Remus.
Dann kommen andre Erzählungen aus der antiken Geschichte, die mit rührender
Naivetät vorgetragen werden. Besonders breit wird die Geschichte von Marcus
Curtius, hier Martin genannt, behandelt, der sich erbietet, in den Abgrund zu
springen, aber nur, wenn man ihm „sein muthwillen wollt lassen esu jar mit
welcher frawen er wolt zu slaffen." Darauf folgt die Schilderung des geist¬
lichen Roms, die Angabe des Ablasses, den man durch das Gebet bei den sieben
Hauptkirchen Roms erhalten kann, ein Verzeichnis der kleinern Kirchen u. a.
Von der Kapelle Sancta Sanctorum wird erzählt, daß in ihr einstens die
Engel Gottes den Altar ausgeschmückt, Sankt Peter in päpstlichen Ornate die
Messe gelesen und Christus dieser in seiner ganzen Majestät beigewohnt habe.
Dort befinde sich auch das vom heiligen Lukas auf Bitten der Jungfrau
Maria gefertigte Bildnis des Heilandes, welches, während der Maler schlief, von
Engeln vollendet wurde.
Das letzte in diesem Zusammenhange zu erwähnende Werk ist die aus vier¬
undzwanzig Blättern bestehende „Kunst Chiromcmtia," ein Anweisung, aus den
Linien der Hand zu wahrsagen, welche Dr. Johann Hartlieb, der Leibarzt Herzog
Albrechts des Frommen von Baiern, verfaßt hat. Der erste Holzschnitt zeigt,
wie Hartlieb der Gemahlin seines Herrn knieend das Buch überreicht. Dann
kommen Abbildungen verschiedner Hände mit chiromantischen Linien. Den Schluß
macht eine Bildtafel, auf welcher verschiedne Ereignisse des Lebens dargestellt
sind, je nachdem die Linien der Hand dieselbe» angedeutet hatten. Wem die
Linien Böses prophezeien, der wird gehenkt oder gerädert, während auf einen
andern, der eine glückliche Handlinie hat, der himmlische Vater Gold regnen läßt.
Dies ist der Stoffkreis, welchen die Blockbücher umspannen. Ihre Zahl ist,
wie man sieht, nicht unbedeutend; im ganzen können wir siebenunddreißig nach¬
weisen. Und sie müssen im fünfzehnten Jahrhundert weit verbreitet gewesen
sei», da uns noch jetzt fast von jeder Schrift verschiedne Ausgaben erhalten
sind. Von der ^rs lnorienäi sind nicht weniger als elf, von der Livia pau-
1)LrnrQ sieben, von der Apokalypse sechs, vom lüll-utivunr vier, vom Paternoster drei,
vom Dskönsoriurn. und von der ^.rg lnenrorNM zwei Ausgaben bekannt, von
denen jede von der andern in Einzelheiten abweicht. Auch die Zahl der Exem¬
plare, die von jeder Ausgabe erhalten sind, läßt auf die weite Verbreitung
jedes einzelnen Buches schließen. Von der ^.rs morisucli befinden sich Exem¬
plare der erste Ausgabe in London und Paris, der zweiten in Wolfenbüttel,
Memmingen, Paris und München, der dritten in Paris, Althorp, München
und London, der vierten in Gottweich und München, der fünften in Hannover,
der sechsten in Wolfenbüttel, der siebenten in Paris und München, der achten
in Zwickau, der neunten in Paris, Mailand und München, der zehnten in
München, der elften in Lille; vom O^ntivum Exemplare der ersten Ausgabe in
Althorp und Paris, der zweiten in Harlem und London, der dritten in Paris
und Oxford, der vierten in London; vom Vaterunser Exemplare der ersten Aus¬
gabe in Paris, der zweiten in London, der dritten in Mons; von der ^rs
M6nu)i'g.mal Exemplare beider Ausgabe» in München und Dresden.*) Von
andern Büchern wiederum kennen wir mir mehrere Exemplare einer Ausgabe.
Von dem geistlichen und weltlichen Rom z. B. befinden sich Exemplare in
Althorp, London, Paris, Gotha und München, von der Chiromantie in Wien,
München, Wolfenbüttel, Memmingen und Paris, von dem Kalender des Regio-
montanus in Dresden und München, von der Meinradslegende in München
und Einsiedeln. Wieder andre sind überhaupt nur in einem einzigen Exemplare
bekannt. So wird das einzige bis jetzt bekannte Exemplar von den „Zehn Ge¬
boten," dein „Totentanz" und der „Fabel vom kranken Löwen" in der Uni¬
versitätsbibliothek zu Heidelberg, von dem „Buch der Könige" in der Hof¬
bibliothek zu Wien, von dem „Zcitglöcklein des Lebens Jesu" in Bamberg, vom
„Apostolischen Glaubensbekenntnis" in München, vom „Hcilsspiegel" im Haag
bewahrt. Wieder andre sind nur in einem verstümmelten Exemplare vorhanden.
So befand sich ein Bogen der Geschichte vom heiligen Kreuz in der Weigclschen
Sammlung, während vom Planetarium ein unvollständiges Exemplar im Bri¬
tischen Museum vorhanden ist.
(Schluß folgt.)
is ich im Jahre 1884 zum erstenmale den geweihten Boden von
Baireuth betreten hatte, um die berühmten „Bühnenweihfestsvicle"
nach besten Kräften mitfeiern zu helfe», drängte sich mir ein
Gedanke auf, der sich zwar unter den vielen großen und merk¬
würdigen Gedanken, die in und um Baireuth von und über
Wagner gedacht worden sind und — was die über Wagner betnfft — zur
nämlichen Zeit jedenfalls noch gedacht wurden und noch später werden gedacht
werden, sehr unbedeutend aufnahm, mir aber doch in jenem Momente als die
Quintessenz dessen erschien, was durch die mannichfach mir sich bietenden Ein¬
drücke in mir an- und aufgeregt wurde. Es war, in Worte gefaßt, der ein-
fache Satz: Wie schlecht paßt doch manchmal die Theorie zur Praxis!
Was hatte Wagner mit dem ganzen großen und kostspieligen Apparat
bezweckt, der als Plan teils angestaunt, teils bespöttelt worden, im Stadium
der Vorbereitung ein angst- und mühevolles Hasten, Ringen und Kämpfen ge¬
wesen war und als endlich fertiges Werk den Beifall und die Bewunderung
fast der gauzen gebildete» Welt Wirklich?) erregt hatte? Der „Meister" hat
auf diese Frage selbst oft genug und ausführlich Antwort gegeben. Er wollte
ein erwähltes Publikum, das ausschließlich oder wenigstens hauptsächlich sich
für seiue Musik interessirte, a» einem Orte versammeln, der gewissermaßen nur
diesem einen Interesse Raum gewährte; er wollte die Begeisterten oder Be-
-
geisterungsfcihigen isoliren, sie der Alltäglichkeit entziehen und sie gleichsam in
eine ideale, kunstgeschwüngerte Atmosphäre versetzen, um so den höchsten Grad
der Empfänglichkeit in ihnen zu erregen, sie ganz sich, d. h. Wagners Sich,
diesem alles andre ausschließenden und sich selbst zum All, zum All der Kunst,
ja zum Weltall sich erweiternden Sich zu eigen zu machen. Das ungefähr
war die Theorie Wagners gewesen.
Und die Praxis? Die Praxis gab ihm Recht, nicht wahr? Ohne Zweifel.
Wenn man dem glauben dürfte, was man sah und hörte, wenn man von den
Ach's und Oh's der Bewunderung bis zu den bändereichen Auslegungen und
Variiruugen dieser Ach's und Oh's alles glauben, alles für baare Münze nehmen
durfte, dann hätte der „Meister" Recht behalten. Die große Menge wenigstens,
die große Menge, auf die er in der Zeit seines Werdens, in der Zeit der Er¬
folglosigkeit so viel und weidlich zu schimpfen pflegte, sie hatte zu allem Ja
und Amen gesagt, was er ihr vorzuschwatzen beliebt hatte. Er hatte ja so
Recht — auch in der Praxis.
Und doch gab es einzelne Leute, die den Kopf schüttelten auch noch nach
dem großen Siege, Leute, die mitten im Tosen des Beifalls ganz leise zu sich
sagten, daß doch nicht alles so sei, wie es sein sollte, Leute, die endlich zu der
klaren Einsicht gelangten, daß selbst in diesem ganz ausnahmsweisen Falle
wieder einmal das Wort gelte, daß die Theorie nicht immer zur Praxis passe,
oder richtiger hier die Praxis zur Theorie.
Daß ich zu diesen wenigen einzelnen, gewiß recht verstockten, möglicherweise
beklagenswerten Leuten gehörte, habe ich mir schon im Eingange dieser Zeilen
zu bemerken erlaubt. Auf mich machte es einen seltsamen, unangenehmen,
mesquinen Eindruck, dieses Baireuth mit allem, was sich während der Fest-
spieltagc dort zutrug. Da lobe ich mir doch die Alltäglichkeit. Sie regt uicht
an, sie begeistert nicht, sie setzt nicht in Kunststimmung, aber sie stört auch-
uicht. Die Alltäglichkeit, und wenn sie auch recht alltäglich ist und für den,
der außer ihr steht, sich auch langweilig, geisttötend, unbequem, ja unerträglich
ausnehmen mag — man ist sie doch nun einmal gewöhnt. Und dann, wenn sie
dem, der in ihr steckt, auch lieb und wert ist wie ein alter Rock oder ein behaglich
eingerichtetes, gut durchwärmtes Zimmer, mau sehnt sich doch, auch wenn man
der eingefleischteste Philister ist, immer ein bißchen aus ihr hinaus; man ist
nicht abgeneigt, sich auch einmal die Welt von einem andern Standpunkte aus
anzusehen, und da giebt es denn kein bequemeres Mittel, um aus der Alltäg¬
lichkeit hinauszukommen und doch in ihr zu bleiben, körperlich nämlich, als
seinen Geist auf Reisen zu schicken, ein gutes Buch in die Hand zu nehmen oder
ins Theater zu fahren. Wir brauchen uns da garnicht erst zu sammeln; wir
sind nicht zerstreut, kein ungewöhnlicher Eindruck präkkoupirt uus, und das
übrige, die Erhebung, die Begeisterung, das besorgt eben die Kunst
lind malt mit lieblichem Betrüge
Elysium auf unsre Kerkerwaud,
Wagnern schien aber diese Kerkerwand nicht geeignet, um auf sie die Ge¬
bilde seiner Kunst zu malen. Er wollte die beengenden Mauern niederreißen,
uns mit Gewalt befreien und hinausführen auf eiuen schönen Aussichtspunkt,
wo wir alles viel besser überblicken könnten. Er hetzte uns bergauf bergab,
ließ uns klettern, keuchen, schwitzen — und wenn wir endlich zu seiner schönen
Aussicht gelangt waren, sollten wir pM orärs as Nvutti bewundern. Ja wenn
wir nicht Hunger und Durst hätten, wenn wir nicht todmüde wären, wenn es
da oben nicht so verwünscht zöge und man nicht nnr daran denken müßte, wie
man sich, echauffirt wie man ist, möglichst vor Erkältung schlitzen könne. O du
liebe, liebe Alltäglichkeit, hätte ich mich doch nicht aus dir herausreißen lassen,
sondern hätte mich begnügt, den „Lohengrin" in meinem behaglichen Stadttheater
anzuhören und mich durch Elsas und ihres hehren Retters himmlische Gesänge
rühren zu lasse», wie damals, als ich noch so klug war, mir meine Kunst¬
genüsse hübsch zu Hause zu verschaffen, billig und bequem, statt ihnen nach¬
zujagen bis — nach Vaireuth.
Schon die Fahrt hin, die bedenkliche Gesellschaft im Eisenbahnknpee; das
stille Städtchen mit den breiten, öden Straßen und dem weitläufigen, aus-
gestorbenen Park; des „Meisters" Grab, das man sich durch ein Gitter ansehen
darf; die großen Hunde, die im Garten vor der Villa „Wahnfried" drohend
auf- und abprvmeniren; die leeren Schlösser mit den vielen Ställen, in denen
so wenig Pferde sind; das schlechte Essen, das man um die Mittagsstunde an
einer langen und langweiligen t-ibis et'lluw zu sich zu nehmen gezwungen wird;
die teuern Wohnungen, in denen man die lächerlichen Gntestubenmöbel der
Bcnreuther Bürgerschaft zu seiner Bequemlichkeit benutzen soll; die unmöglichen
Betten . . . doch das alles ist ja schon vielfach bis ins Detail geschildert worden,
und ich war auch ziemlich auf allerlei Strapazen und Entbehrungen vorbereitet.
Als es aber nun endlich soweit war und ich emporklomm zu dem der Kunst
geweihten Tempel, dem hochragenden, der weithin die lieblich-idyllische Landschaft
verunziert, da bemächtigte sich meiner eine Empfindung, die weit entfernt war
von derjenigen, welche der „Meister" bei seiner gläubigen Zuhörerschaft durch
seine umständlichen Vorbereitungen hatte erzeugen wolle«, eine Empfindung, die
ich nicht anders bezeichnen kann als mit dein Worte „Galgenhumor."
Wie sie da angefahren kamen in langen Reihen, die schöngepntztcn Mit¬
glieder der zahlreich anwesenden „obern Zehntausend," und die weniger schön,
aber nicht minder kostbar gekleideten Vertreter des Mittelstandes, „der es kann,"
und die ebenfalls mit mehr oder weniger gutem Geschmack möglichst heraus-
stafsirtcn Künstler und Kunsttheoretiker — alles so ziemlich nach der Scha¬
blone —, und wie sie sich dann in aller ihrer Pracht hineinquetschten in die
höhlenartigen Eingänge des Wagnertempels und die steilen, in der Breite nur
für einen Menschen Raum lassenden Hühnersteigcn hinanftappten, dann, einge¬
treten in den weiten, dunkeln, unheimlichen Raum, nach mehrmaligem Stolpern
über unsichtbare Stufen, durch die engen Zwischenräume zwischen den Bänken,
über Hühneraugen und an kantigen Knieen vorbei, sich einen Weg bahnten zu
ihren so eng bemessenen Sitzplcitzchcn, und nun Schulter an Schulter, Ellbogen
an Ellbogen — „Ich hatte mir eingebildet, dieses Theater wäre der Inbegriff
aller Bequemlichkeit!" wagte ich halblaut gegen meine Nachbarin zur Linken, mit
der ich gekommen war, zu bemerken. „Das ist es auch!" ließ sich laut und
mürrisch eine kratzige Baßstimme zu meiner Rechten vernehmen, und als ich
mich erstaunt umblickte, sah ich in ein so erhöhtes, graubärtiges, altes Manns¬
gesicht mit einem Paar so vou heiligem Wahnsinn funkelnden Auge», daß es
mir eiskalt über den Rücken lief und ich es vorzog, obgleich gerade keine Vier¬
seidel bei der Hand waren, der leisen Warnung meiner Begleiterin, die mich
sanft in die Seite stieß, nachzugeben und den Handschuh, den mir der alte,
streitlustige Wagnerkämpe hinwarf, nicht aufzuheben, sondern zu schweigen. Ich
hatte übrigens die Genugthuung, den enragirten Greis nach einer Weile zu
seiner neben ihm sitzenden Ehehälfte sagen zu hören, daß, wenn zufällig in
dem Theater Feuer ausbräche, wir alle miteinander verbrennen würden, denn
um Rettung sei bei dieser Engigkeit der Platz- und Ansgangsverhältnisse
nicht zu denken. Dieser Bemerkung mußte ich innerlich mit ganzer Seele bei¬
stimmen.
Ja, man muß wirklich ein hohes Gottvertrauen besitzen, um es in diesen:
Theater auch nur eine Stunde lang auszuhalten. Aber im Grunde, wir stehen
ja immer in Gottes Hand, d. h. wir schweben in jedem Augenblicke in der
Gefahr, unser Leben zu verlieren. Von der furchtbaren Unsicherheit inbezug
auf die Frage, ob man gebraten oder nicht gebraten aus dem Baireuther Theater
ans Tageslicht kommen wird, soll daher an dieser Stelle abgesehen werden.
Das ist ja auch Sache der Wohlfahrtspolizei, die ihre sämtlichen Augen, welche
sie sonst in Theaterangelegenheiten so weit auszureißen pflegt, in diesem Falle
zugedrückt zu haben scheint. Auch über die Architektonik des Saales in ästhe¬
tischer Beziehung darf der Laie sich höchstens die Bemerkung erlauben, daß
sie ihm mißfalle. Aber eine andre Frage ist es, die bei dieser Masseneinpferchuug
des kunstliebenden Publikums und bei dem, was vorhergeht, ins Spiel kommt,
eine Frage, die sich wohl von allgemeinen Gesichtspunkte» aus erörtern läßt,
über die sich auch eine Stimme aus dem Publikum, deren Inhaber nicht die
sieben Weihen der Kunst und Kunstgelehrsamkeit empfangen hat, ein Urteil er¬
lauben darf. Es ist die Frage, auf die es von vornherein bei dieser Erörterung
abgesehen war: Hat Wnguer mit seinem Baireuther Unternehmen den Zweck
erreicht, den er erreichen wollte, d. h. hat er dadurch, daß er das Publikum
von allen äußern Eindrücken, die nicht unmittelbar zu der Darstellung des „Musik¬
dramas" gehören, isolirte, daß er es gewaltsam hinderte, sich mit sich selbst zu
beschäftige», den Eindruck, den die Darstellung auf der Bühne machen soll,
verstärkt und die Stimmung des Publikums wesentlich erhöht?
Was die Reise nach Vaireuth und den Aufenthalt daselbst im allgemeinen
betrifft, so habe ich im vorstehende» meine Ansicht darüber schon anzudeuten
versucht. Ich möchte dem uur uoch die Bemerkung hinzufügen, daß das
Reisen, auch abgesehen von den unangenehmen, störenden Wirkungen, die es
ausübt, selbst durch das Gute, das es an und für sich bietet, der Empfäng¬
lichkeit für Kunsteindrücke durchaus nicht günstig ist. Denn das Reisen bringt
es mit sich, daß der Mensch sich für die Wirklichkeit in andrer Weise interessirt
als sonst, und geneigt ist, die Dinge als Erscheinung auf sich wirken zu lassen.
Alles, was ihn umgiebt und was ihm begegnet, ist ihm ungewohnt, neu. Er
steht auch diesem Neuen, Ungewohnten meist ohne egoistisches Interesse gegen¬
über und empfängt, selbst künstlerisch produktiv werdend, einen objektiven, künst¬
lerische» Eindruck, der zu mächtig ist, als daß die viel schivücher wirkenden
Kunsteindrücke dagegen aufkommen könnten. Wo Wirklichkeit und Kunstwerk
mit einander rivalisiren, trägt in der Regel die erstere den Sieg davo». El»
feuerspeiender Berg, das brandende Meer, eine alte Stadt, eine merkwürdige
Persönlichkeit, wenn wir sie zum erstenmale sehen oder nach langer Pause
wiedersehen, machen einen weit tieferen Eindruck auf uns, als die schönste
Theaterdekvration und der bestgeschulte Schauspieler. Zwar stumpfen sich diese
Eindrücke sehr schnell ab; der Mensch weiß auf die Läuge mit allen diese»
wunderbaren Naturerscheinungen, ja mit allen Gebilden der Wirklichkeit, den
Menschen eingeschlossen, nichts rechtes anzufangen und kehrt immer wieder zu
den Schöpfungen der Kunst zurück, die ihm eben, als vom Menschengeiste aus¬
gehend, menschlich näher treten. Aber im ersten Momente des Begegnens über¬
wältigt ihn doch die Wirklichkeit.
Aber kehren wir wieder in das Innere des Wagttertheaters zurück und
suchen uus die oben aufgeworfene Frage nun inbczug auf diese, am spe¬
ziellste» auf unsre Knnstempfänglichkeit berechnete Erfindung Wagners zu be¬
antworten.
„Sehen Sie," sagte mir jemand, der übrigens ein großer Waguervcrehrer
ist, nach der Vorstellung, „ich habe immer das Gefühl, we»n ich da heraus¬
komme, als hätte ich in einen Guckkasten gesehen, oder als wäre ich in einer
Zauberbnde gewesen. Man sühlt sich der Wirklichkeit, der Natur entrückt, aber
in einer unheimlichen, mysteriösen Weise. Da zaubert mir irgend ein Magier
oder Spiritist bunte, singende Gestalten vor, Wesen, die ans einer andern
Welt zu kommen scheine». Ich bin nicht mehr ein Mensch unter Menschen,
ich bin tot, von allen Lebenden, die mir teuer waren, abgeschieden und ver¬
kehre nur uoch mit Phantomen. Kein Mensch, der ein Mensch ist, wird sich
gern ohne Gesellschaft zu Tische setzen, um eine lukullische Mahlzeit zu sich zu
nehmen; denn selbst Lucull, wenn er bei Lucull speiste, hatte doch noch ein
Heer von Sklaven um sich. Und ein Wagner-Opus soll man sich ganz allein
schmecken lassen! In der Strafrechtspflege betrachtet man es als die härteste
Strafe, einen Menschen vom Verkehr mit seinesgleichen auszuschließen. Sogar
ihre Andacht müssen die Unglücklichen allein verrichten; sie werden in der
Kirche so gesetzt, daß sie nur den Geistlichen sehen. Es soll furchtbar sein.
Wagner hat die Zellengefänguistheorie auf die dramatische Kunst übertragen.
Es fehlt nur noch die Gesichtsmaske, Ich kann mir nicht helfen, ich finde das
barbarisch, ja ich finde es geschmacklos."
Das war allerdings ein subjektives Urteil, Aber in jedem auch noch so
subjektiven Urteil steckt doch ein Körnchen allgemeine Wahrheit — und um
dieses Körnchens willen und weil außerdem dieses subjektive Urteil mit dem
meinigen so ziemlich übereinstimmt, will ich versuchen, dasselbe hier zu erklären
und zu begründen.
Wir werden uns wohl am ehesten verständigen, wenn wir uns einmal
darüber Rechenschaft zu geben suchen, was das eigentlich ist, was man Pu-
blikum nennt.
„Die erste beste Menschenmasse," wird mir jemand zurufen. Gewiß; jeden¬
falls gehört eine Masse Menschen dazu, um ein Publikum zu bilden, vielleicht
eine recht große Masse, die Menschen aller Zeiten und Länder, oder auch kleinere,
gesonderte Massen, Es giebt ein Publikum der Gebildeten und ein Publikum
der Ungebildeten, wie es ein deutsches und ein französisches Publikum giebt;
ja mau kann noch weiter gehen und sagen, nicht nnr jedes Land und jede Zeit,
jede Bildungsklasse und jede Gesellschaftsklasse bilden ein Publikum für sich,
nein, das große allgemeine Publikum zerteilt sich in noch viel kleinere Kreise,
jede Kunst, jede Kunstrichtung, ja jeder bedeutende Künstler hat sein Publikum
für sich, und wie es ein musikalisches Publikum und ein Publikum sür italie¬
nische Musik giebt, so giebt es auch ein Schumann- und Brahms-Publikum,
die sich von jedem andern Publikum scharf unterscheiden, jedes ein Publikum
für sich bilden, manchmal ein recht sonderbares, wie das Publikum, von dem
hier speziell die Rede ist: das Wagner-Publikum.
Aber obwohl zum Publikum immer eine größere oder kleinere Masse ge¬
hört, der Massenbegriff ist nicht das, was den Begriff „Publikum" allein be¬
stimmt; es muß noch eine andre, entscheidendere Bestimmung dazu kommen,
eine höhere Einheit, ein Ereignis, durch dessen Einfluß die Bestandteile der
formlosen, breiigen Masse zu festen, krystallinischen Gebilden zusammen¬
schießen.
Die meisten Menschen, besonders Künstler und Dichter, wenn sie vom Pu¬
blikum sprechen, thun dies unter dem Einflüsse irgendeiner Stimmung, gewöhn¬
lich Verstimmung. Sogar Goethe war von solchen Velleitäten nicht frei.
O sprich mir nicht von jener bunten Menge,
Bei deren Anblick uns der Geist entflieht!
Verhülle mir das wogende Gedränge,
Das wider Willen uns zum Strudel zieht.
So läßt er im „Faust" den Dichter im „Vorspiel auf dem Theater" sprechen.
Und gar der Direktor in demselben Vorspiel giebt eine noch viel gehässigere
Schilderung des Publikums, von dem er doch existirt, und dem um jeden Preis
zu schmeicheln er für seine höchste Aufgabe hält:
Bedenkt, ihr habet weiches Holz zu spalten,
Und seht nur hin, für wen ihr schreibt!
Wenn diesen Langeweile treibt,
Kommt jener satt vom übertischten Mahle,
Und was das Allerschlimmste bleibt,
Gar mancher kommt vom Lesen der Journale.
Man eilt zerstreut zu uns wie zu deu Maskenfestcn,
Und Neugier uur beflügelt jedem Schritt;
Die Damen geben sich und ihren Putz zum Beseelt
Und spielen ohne Gage mit.
Was träumet ihr auf eurer Dichtcrhohc?
Was macht ein volles Haus euch froh?
Befehl die Gönner in der Nähe!
Halb sind sie kalt, halb sind sie roh;
Der, nach dein Schauspiel, hofft ein Kartenspiel,
Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen . . .
Eine ähnliche Ansicht vom Publikum, wie dieser biedere Theaterdirektor, muß
Wagner auch gehabt haben, als er für seine Verehrer das Baireuther Zcllen-
gefängnis zu bauen beschloß.
Noch grober als Goethe spricht sich der berühmte französische Jamben¬
dichter August Barbier über das Publikum aus, allerdings hinsichtlich seines
Verhaltens gegen den Staatenlenker, nicht gegen den Künstler.
Das Volk — was ist das Volk? ES ist die Schcnkendirne,
Die, wenn vom Wein das Blut ihr kocht,
Sich den zum Buhlen wühlt, der mit verwegner Stirne
Und eh'rnen Arm sie unterjocht,
Und die auf ihrer Streu, zum Brautbett umgewandelt,
Noch keinen: ihre Reize bot,
Als nur dem Kühnen, der sie schlägt und sie mißhandelt
Vom Abend bis zum Morgenrot.
Ähnliches wie von Napoleon dem „Großen," den der französische Dichter
hier im Auge hatte, hat sich das Publikum auch von Richard Wagner gefallen
lassen. Siehe Baireuth! Und ist es diesem merkwürdigen Manne nicht auch
gelungen — offenbar der höchste Triumph, den je ein Künstler zu verzeichnen
gehabt hat —, eine Kunstgattung populär zu machen, die einzige, die der scharf¬
sinnigen Voltaire für unfähig erklärte, je einen Erfolg zu erringen: 1<z ggnro
MMyoux? Ich wollte indessen nicht jedem raten, auf solche napoleonisch-wäg/
ncrische Art die Menschen mit Löwentatzen zu karessiren, um sich ihre Zu¬
neigung zu erwerben. Dazu muß man eben ein Löwe sein.
Doch genug der Beispiele, Wollte mau die Stimmen nur der Allcr-
bedeutendsten sammeln, die gelegentlich oder ganz expreß das Publikum ihren
Haß und ihre Verachtung habe» fühlen lassen, man müßte ein dickes Buch
schreiben, das übrigens recht amüsant werden würde, Ein solches Buch aber,
wenn es auch sicher manches Wahre enthielte, würde immer uoch mehr gegen
die scheltenden sprechen als gegen die Gescholtenen. Denn bei den meisten ist
es doch verletzte Eitelkeit, Vorurteil, sich geschädigt glaubender Egoismus, kurz,
nicht die bessern Eigenschaften des Menschen, die ihnen den Groll gegen da^
Publikum eingeben. Es hat daher auch nie an gerechter und besonnener
Denkenden gefehlt, die bereit waren, für die verkannte und verschmähte Würde
desselben einzutreten; vor allem der Volksmund selbst, der vom Volke, also
vom Publikum im weiteste» Sinne, sagt, daß seine Stimme Gottes Stimme
sei. Diese Stimme ist ja auch thatsächlich die letzte, oberste Instanz, an die
alle, die etwas geleistet haben oder geleistet zu haben glauben, nppellircn müssen,
auch in Sachen des Geschmackes, Und das Volk übt dieses oberste Richteramt
nicht uur der Macht uach ans, sondern auch dem Vermögen nach. Sein Urteil
ist nicht nur entscheidend, es ist jedenfalls auch das weiseste und gerechteste,
das von Menschen gefällt werden kann. Freilich, wenn man die Leute,
die zu einer Masse vereinigt ein Publikum bilden, im einzelnen betrachtet,
so nehmen sie sich auf den ersten Blick nicht viel besser aus, als Goethe
sie in einer Anwandlung übermütiger Laune geschildert hat. Wenn mau
aber schärfer Hinsicht, so entdeckt man unter den vielen trivialen, stupiden
Gesichtern doch auch manche ernste Denkcrstirne, manches von Geist
strahlende Auge, manchen zu fein verständnisvollen Lächeln geformten Mund.
Aber nicht nur weil das Publikum im ganzen doch auch immer die Klügsten
und Besten enthält, die es giebt, nicht bloß weil selbst in jeder zufällig zu¬
sammengekommenen Masse doch wenigstens ein Verständiger sein wird, dessen
Meinung ans die übrigen nicht ohne Einfluß bleiben kann, hat das Publikum
die Berechtigung und Befähigung zum Urteilen, nicht allein also weil es nur
aus vielen besteht, sondern noch mehr, weil diese vielen, sobald sie sich als
Publikum konstituirt haben, ein Ganzes bilden. Der jüngere Plinius drückt
diesen Gedanken in einem seiner Briefe fo aus: „Wenn du gleich anfangs
leinen Beifall zu erhalten glaubst, wirst du uicht entmutigt und niedergeschlagen?
Ich suche den Grund darin, daß die Zahl gewissermaßen einen großen und
allgemeinen Verstand darstellt, wobei zwar dem Einzelnen sehr wenig, allen
zusammen aber sehr viel Urteil zusteht." Ja, ein großer und allgemeiner
Verstand ist es, der diese Masse, Publikum genannt, beseelt; ein Geist durch¬
weht sie, giebt diesem großen, vielgliedrigen Körpern seinen Kopf und befähigt
ihn, zu verstehen und zu urteilen.
Wer ist nun aber dieser Geist, der über die Menge ausgegossen wird und
sie erleuchtet, der unter den Vielen eine Einheit herstellt, oder, um auf ein schon
gebrauchtes Gleichnis zurückzukommen, dieser elektrische Funke, der die trübe,
chaotische Substanz mit einem Schlage in ein reines, krystallinisches Gebilde
verwandelt? Kein andrer ist dieser Geist, als der in jedem Menschen wohnt,
der immer da ist, aber oft schlummernd, sein selbst uicht bewußt, unklar, ge¬
hemmt in seinen Neigungen nud Kundgebungen durch allerlei egoistische Triebe
und Empfindungen, durch Stolz, Kummer, Sorge — der Menschengeist, Und
was diesen Geist plötzlich erweckt, ihn zum Bewußtsein bringt, ihm eine Stimme
giebt, ihn von allen Fesseln befreit, das ist wieder der Menschengeist, und zwar
der, der im Genie, im Künstler wohnt und durch deu Mund dieses Auserwählten
den freudigen Weckruf ertönen läßt,
Und in diesem Sinne weist Goethe die frivole Ansicht vom Publikum, die
er selbst den spekulativem Theaterdirektor hat aussprechen lassen, zurück, indem
er den Dichter endlich in heiliger Entrüstung ausrufen läßt:
Geh hin und such' dir einen andern Knecht!
Der Dichter sollte wohl das höchste Recht,
Das Menschenrecht, das ihn: Natur vergönnt,
Um deinetwillen freventlich verscherzen!
Wodurch bewegt er alle Herzen?
Wodurch besiegt er jedes Element?
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen bring!
Und in sein Herz die Welt znrnckeschlingt?
Wenn die Natur des Fadens co'ge Länge,
Gleichgiltig drehend, auf die Spindel zwingt,
Wenn aller Wesen unharmvn'sche Menge
Verdrießlich durch einander klingt;
Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ub, daß sie sich rhythmisch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,
Wo es in herrlichen Akkorden schlägt?
Wer läßt den Sturm der Leidenschaften wüten?
Das Abendrot im ernsten Sinne glühn?
Wer schüttet alle schönen Frnhlüigsblüten
Auf der Geliebten Pfade hin?
Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter
Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art?
Wer sichert den Olhmp, vereinet Götter?
Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart!
Das Höchste, das Beste, des Menschen Kraft ist es also, wodurch der
Künstler auf die Menge wirken soll; den Menschen soll er in ihr erwecken, und
er könnte diese Aufgabe nie erfüllen, wenn nicht in jedem des Menschen Kraft
lebendig wäre. Und der Künstler selbst ist es, der ans der Menge ein Pu¬
blikum macht, sein Publikum, und in je weitere Kreise seine Stimme dringt,
umso größer wird die Einheit, die er schafft, umso zahlreicher sein Publikum,
umso gewaltiger seine Wirkung. Deshalb können wir es auch keinem Künstler,
von dem wir nicht Übermenschliches begehren, verargen, wenn er nach dieser
einzigen Befriedigung trachtet, wenn er sich der Menge aufdrängt, um die ein¬
zige Probe zu bestehen, durch die er sein Können, seine Berechtigung zum
Schaffen erweisen kann, indem er ihren Beifall erringt. Ja wir verzeihen ihm
wohl auch, wenn dieses Trachten in ärgerlicher Form auftritt und der Künstler,
nicht der Macht seines Genius allein vertrauend, zu falschen Mitteln greift,
um sein Ziel zu erreichen.
Ein solcher der Verzeihung bedürftiger Künstler war Richard Wagner,
und er hat es im Leben schwer büßen müssen. Zu den falschen Mitteln, die
Wagner ergriff, um für seine Kunst Propaganda zu machen, gehört auch das
Baireuther Unternehmen, gehört insbesondre die innere Konstruktion des
Waguerthcaters. Ist das hier vom „Meister" in Anwendung gebrachte Jsv-
lirnngs- und Absperrungssystcm irgendwie mit der Art der künstlerischen Wirkung
vereinbar, wie wir sie soeben als die einzig wahre erkannt haben? Empfinden
wir nicht den menschlichen Drang, uns mit den vielen, mit denen wir uns
durch den Zauber der Kunst innerlich eins fühlen, auch äußerlich im Einklange
zu wissen? Suchen wir nicht unwillkürlich in der freudig erregten Stimme
des zunächst Sitzenden eine Bestätigung dessen, was in uns selbst vorgeht?
Bereitet uns die Kunst nicht die höchste, reinste Freude — und ist es nicht ein
altes, wahres Wort: Geteilte Frende ist doppelte Freude? Und von alledem
nichts in dem Baireuther Guckkasten. Es geht ein erkältender, menschenfeind¬
licher Zug durch dieses dunkle, kahle Hans, mit seinen geraden Sitzreihen,
die jedem eben nnr gestatten, die Rückseiten der vor ihm Sitzenden und
die Ellbogen der Nachbarn wahrzunehmen. Höchstens ein verständnisvoller
Rippenstoß kann hier die Mitteilung des Empfundenen vermitteln. Da
lobe ich mir einen hellerleuchteten Zirkus, wo jeder jeden sieht, wo kein
Zeichen des Beifalls oder des Mißfallens verloren gehen kann. Das ist ein
Areopag für Kunstwerke. Die Alten wußten das und bauten demgemäß ihre
Theater im Halbkreise. Und im ganzen und großen haben wir bis jetzt, Gott
sei Dank, unsre Opern- und Schauspielhäuser auch so vernünftig eingerichtet
und nicht nnr darauf Rücksicht genommen, daß man die Bühne sieht, sondern
anch daß die Zuschauer sich gegenseitig im Auge haben.
Möge das Baireuther Mustertheater noch lange auf seiner einsamen Höhe
thronen, als ein warnendes Exempel für alle, die es angeht, wie man Theater
nicht bauen soll.
me der bedauerlichsten Erscheinungen unsrer Teige ist die, daß nie¬
mand mehr einen Spaß versteht. Vormals galt es, wie wir noch in
der italienischen und französischen Komödie sehen, für einen ge¬
mütlichen Scherz, einem einen Schlag ans den Bauch zu ver¬
setzen und als Antwort einen Fußtritt zu erhalten; oder man
zog einem den Stuhl unter dem Leibe weg, sodaß er sich etwas unsanft auf
den Boden sehen mußte, und darüber lachten alle herzlich, handelnde Personen
und Zuschauer. Aber heute ist alles so überfeinert und nervös und empfindlich,
daß man bald nicht mehr wird wagen können, einem Kinde das, was es gern
haben möchte und man ihm ja auch geben möchte, schäkernd vorzuenthalten.
Wie falsch eine solche Schäkerei aufgefaßt werden kann, lehren uns die Folgen
des 16. Dezember. Wer hätte soviel Aufhebens wegen einer harmlosen Neckerei,
wie gute Freunde sie sich gegenseitig erlauben dürfen, für möglich gehalten!
Betrachten Sie einmal Männer wie den Abgeordneten Meyer (ich sage nicht
Alexander Meyer, weil ich mich vom preußischen Landtage her erinnere, daß
er das nicht gern hört), der seiner Gesundheit etwas schuldig zu sein glaubt,
oder den Abgeordneten für Rüdesheim-Neroberg, ich wollte sagen: für Leisnig,
unsern nllverehrteu Karl Braun, und dann sagen Sie selbst, ob so die Männer
aussehen, welche im Ernst einen Beschluß fassen würden, von dem sie voraus¬
setzen mußte», er werde die Nation empören? Ich frage Sie, wenn im Tier¬
garten am hellen lichten Tage ein guter Bekannter mit den Worten: I^i.
donrsg on in. vo! ans Sie merite, werden Sie sofort zum Revolver greifen
oder nach der Polizei rufen? Und eine andre Bedeutung hat ja der Beschluß
vom Dezember ganz und gar nicht, in der dritten Lesung wird alles be¬
willigt werden. Wozu wäre auch die dritte Lesung auf der Welt, wenn schon
in der zweiten alles in Richtigkeit gebracht würde? Eine parlamentarische
Berscunmlnng befindet sich da manchmal in der Lage eines Porträtmalers, der
die Angehörigen des Pvrtrcitirten zur Besichtigung des Bildes einlädt und
»ach deren Wunsche die grünen Augen blau, den kupferigen Teint rosenrot
macht, die Ohren kürzt n. s. w. Aber diesmal liegt die Sache nicht so. es be¬
darf keiner Kritik und keiner Belehrung, man war ja von vornherein ent¬
schlossen, die ominösen 20 000 Mark zu bewilligen, nur später, die graziöse
Weigerung sollte nur der nachträglichen Gabe einen pikanten Beigeschmack ver¬
leihen. Ist das ein Verbrechen? Müssen deshalb die Erwachsenen den Siegern
vom 15. Dezember auf der Straße ausweichen und die Kinder ihnen das un¬
angenehme Datum nachrufen? Unschuldiger kann man nicht zu einem bösen
Leumund kommen. Ich für meine Person bin sogar überzeugt, daß viele Herren
von der Majorität gern selbst zu den Sammlungen beitragen würden, um nur
die ärgerliche Geschichte endlich zur Ruhe zu bringen.
Herr Nickert hat es mit gewohnter Klarheit auseinandergesetzt, was die
Freisinnigen mit ihrem Votum nicht gewollt haben. Dem Kanzler eine not¬
wendige Arbeitskraft vorenthalten? Nein. (Das muß also Herr Löwe auf sein
Privatkonto nehmen!) Gegen eine etwaige Anstellung des Grafen Herbert
demonstriren? Nein. (Herr Richter murrt, allein ich kann ihm nicht helfen,
Herr Nickert sagts, und Herr Nickert ist ein ehrenwerter Mann.) Der auswärtigen
Politik des Kanzlers ein Mißtrauensvotum gebe»? Nein. (Wenn Bismarck sich
verbürgt, daß die Stelle unentbehrlich ist, und dabei geltend macht, daß seine
Erfolge in der auswärtigen Politik ihn doch vielleicht berechtigen, einiges
Vertrauen in Anspruch zu nehmen, die Majorität jedoch gegen ihn stimmt, so
versagt sie ihm nur den Ausdruck des Vertrauens, spricht ihm aber beileibe kein
Mißtrauen aus!) Revanche für die Freikarten? Nein. Mit der ganzen Würde
des Verleumdeten verwahrt daher Herr Nickert sich und seine Freunde gegen
die Unterschiebung falscher Motive. Welches Motiv hatten sie denn? höre ich
fragen. Darauf antworte ich: Erstens braucht man nicht immer ein Motiv zu
haben oder — einzugestehen; zweitens war, wie gesagt, „alles nur ein Spiel,
ihr Freier lebt ja noch alleund drittens war es keineswegs ein Spiel, sondern
eine sehr ernste Angelegenheit, um die konstitutionellen Garantien handelte sichs.
Man mußte dem Kanzler sage»: Siehe, was wir können, darum sei gefügig;
jetzt sind wir noch gute Leute, aber wenn wir einmal anfangen, können wir
fürchterlich werde»! Sie sehen, meine Herren, es sind soviele und sogute Gründe
da, wie jener gegen das Schnapstrinker hatte: erstens niemals, zweitens heute
erst recht nicht, »ut drittens hatte er soeben einen getrunken.
Im übrigen muß man die verschiednen Kundgebungen nach ihrem wahren
Werte beurteilen. Der Abgeordnete Bamberger hat eine ganze Vertrauensadresse
aus Alzey bekommen: das ist die Stimme des Volkes! Die Adressen an den
Kanzler rühren nur von Leuten her, und was die Leute reden, das braucht uns
nicht zu kümmern. Wenn sie meinen, es besser zu verstehen als die Erwählten
des Volkes, so werden diese ihnen antworten wie der Bankier, dem Strnßen-
arbciter „Hephep!" nachriefen. „Wartet nur, sagte er, es wird eine Zeit kommen,
wo ihr in der Equipage fahrt, und wir an der Straße sitzen und Steine klopfen,
und dann werden wir Hephep rufen!" So muß man den Leuten sagen: Setzt
ihr euch zusammen und haltet Reden und macht Gesetze, dann werden wir
darunter leiden, und das wird unsre Rache sein.
Eigentlich wollte ich über die jetzige Wirtschaftspolitik spreche», will mich
jedoch bei der vorgerückten Stunde kurz fassen. Was braucht es denn auch
langer Auseinandersetzungen! Das Arbeiten ist eine langweilige Erfindung,
und man verliert die schönste Zeit damit darin wird mir wohl niemand
widersprechen. Wenn um Amerikaner und Engländer und Franzosen und andre
gutherzige Völker zu uns sagen: Was plagt ihr euch so? Wir wollen für euch
den Acker und den Wald bauen, wir wollen für euch fabriziren, was ihr braucht,
ihr sollt weiter keine Mühe haben, als uns das Getreide und den Wein und
den Zucker und das Holz und das Tuch und den Shirting und das Geschirr
und das Gerät u, s. w. u. s. w. abzukaufen, so haben wir alle Ursache, ihnen dankbar
zu sein. Wir können dann Bücher schreiben oder Reden halten oder spazieren
gehen oder im Wirtshaus sitzen, wie es uns beliebt: das reine Schlaraffenleben!
Ja noch mehr, die andern Nationen würden sich sogar erbitten lassen, für uns
die notwendigen Kriege zu führen, wenn wir nur eine Kleinigkeit dazu beisteuern
wollten, nämlich die Schlachtfelder hergeben, wie das unsre Vorfahren in der
gute« alten Zeit gethan haben. Diesem idealen Zustande waren wir schon so
nahe — kommt uns da die verderbliche Wirtschaftspolitik in die Quere! Wie
verderblich sie ist, will ich Ihnen an einer Thatsache demonstriren. Ich habe
meiner Frau zu Weihnachten einen Kanarienvogel gekauft und zwanzig Pfennige
mehr zahlen müssen, als für einen ganz gleichen vor fünf Jahren. Nun frage
ich mit dem Abgeordneten Richter: Sind das die goldnen Berge, die man uns
versprochen hat? Der Vogelhändler sagt aber, er könne es nicht billiger thun,
denn in seiner Zeitung stehe, daß eine Hanfsamenstcuer eingeführt werden wird,
und was in der Zeitung steht, ist bekanntlich wahr. Einer Politik, welche die
notwendigen Lebensbedürfnisse der Stubenvögel belastet, damit die Reichen täglich
Fasan essen können, werde ich meine Zustimmung niemals geben.
autschnk war erbost über den Treffer, den der „blasse Heinrich"
gezogen hatte. Alle andern, er selbst mit, kamen ihm wie lauter
nieder vor, zurückgesetzt, schachmatt, bankerott — und was seine
Reizbarkeit ihm sonst für Schlagwörter eingab. Er geriet in
einen Zustand, der sich zu körperlichem Übelbesindcn zuspitzte.
Dazu gab er sich über den Grund, der doch so nahe oder vielmehr niedrig
lag, keine Rechenschaft. Ausgcstrichen hätte er am liebsten diesen so plötzlich
aus dem Nichts sich Emporhebenden, ausgekratzt ans dem roten Album.
Dies beschäftigte ihn; den Niesen zum Straucheln bringen, ihm wenigstens
einen Knüppel zwischen die Beine werfen — das war das nächste, einigermaßen
erlösende Gedankenbild Kautschuks, der ja ein Witzbold war, was er eben durch
solchen Gedankengang bethätigte. Aber der Witz ist ein Schmarotzer, der sich
nie selbst genug ist, sondern Mitlacher haben muß, und diese fehlten ihm hier.
Gerade in diesem Augenblicke kam Archimedes — der Exempelmann —
heran mit der Nachricht, daß er mit dem Plane umgehe, die heute versammelten
Kommilitonen zu katalogisiren, und zwar nach Nangklcissen, ein Vorhaben,
welches Kautschuk, der als Geheimrat auf einer sehr ansehnlichen Stufe stand,
nicht mißfiel. Dabei blitzte der Gedanke in ihm auf, dieses Papier zu einem
Handstreich gegen den Rcmgloscu zu verwerten.
Er beflügelte also das Beginnen des Nubrikmenschen und begleitete ihn,
um ihm behilflich zu sein; doch überzeugte er sich bald davon, daß dies über¬
flüssig war, denn Archimedes erwies sich auf diesem Gebiete weit über das Ge¬
wöhnliche hinaus sachkundig, sodaß ihm die Listenanfertigung allein überlassen
bleiben konnte.
In Kautschuk aber war durch alle die eben erfahrenen Beunruhigungen
heftiger Bierdnrst erregt worden. Daher begab er sich zu den übrigen Zech-
lustige» zum Frühschoppen, welchem denn auch die größere Anzahl der Fcst-
brüder mit Beharrlichkeit bis gegen ein Uhr oblag, sehr zum Nachteil ihres
Festanzuges. Es sei nur angedeutet, daß man später einige mit schicfsitzcnder meißer
Binde, hervorguckendem Frackheukel und ungestriegcltem Hute durch die Straßen
eilen sah, verspätete Festgenvssen, denen man anmerkte, sie ärgerten sich über
sich selbst. Der Frühschoppen hatte aber wenigstens das Dcmlensmerte mit sich
gebracht, daß durch ihn den Kommilitonen Gelegenheit zu längerer zwangloser
Aussprache und dem „blassen Heinrich" zur Stoffsammlung für den Abend-
vvrtrag gegeben worden war.
Das Mittagessen in dem Gasthause zur „Krone" ging in einer für die
Verhältnisse der Kreisstadt großartigen Weise vor sich. Die Vorbereitungen
erschienen gelungen und alle Ansprüche zufriedenstellend. Selbst die Schwierig¬
keiten in der Verteilung der Tischplütze wurden überwunden. Man war näm¬
lich zuletzt dahin übereingekommen, die Einreihung nach Jahrgängen zu voll¬
ziehen, was auch eine malerische Abwechslung erzeugte; die zugeknöpften geistlichen
Herren saßen unter Laienbrüdern, Offiziere unter Zivilisten, und das Doppel¬
tuch der Militärs sowie einiger in Uniform erschienenen Zivilbenmten schuf
ein buntes Gesamtbild.
Die Stimmung an der Tafel war eine festliche, der Regierungspräsident
brachte den Kaiscrtoast aus, indem er mit erhebenden Worten den Schirmherrn
der Lehranstalt feierte; in die begeisterten Hochrufe fielen Fanfaren ein, die
dann überklangen in das „Heil dir im Siegerkranz," dessen ersten Vers die
Festgesellschaft stehend absang.
Dein Programm gemäß kam daun, nachdem einige Gänge der Speisekarte
erledigt waren, ein Oberlehrer des Gymnasiums an die Reihe, der die Gäste
zu begrüßen hatte. Seine Rede mar inhaltsvoll, aber für den vorgesteckten
Zweck zu lang. Als Historiker von Fach flocht er eine Fülle fleißig zusammen¬
getragenen geschichtlichen Stoffes ein, den er bis aus den Zeiten der Völker¬
wanderung herholte. Er legte dar, was alles dafür spreche, daß hier am Orte
eine weitvorgeschvbene römische Niederlassung bestanden habe, ging das Mittel-
alter durch und schilderte die Zeiten des dreißigjährigen Krieges und ihren
Einfluß auf den Musensitz. Daun gaben ihm der siebenjährige Krieg und die
französischen Invasionen von 1806 bis 1813 reichliche Beute für seine Aus¬
führung, die dann endlich in die Grüudungszeit der Schule, das Jahr 1833,
auslief, etwa so, wie der große Rheinstrom in dünnem Wasserlaufe ins Meer
mündet.
Nach einigen weitern Tafelgüngen erhob sich der zur Begrüßungserwiederung
ausersehene Festredner, ein Greis in Silbergrnu, der einem der vordersten
Jahrgänge angehörte. Dieser lispelte einige Worte, die durch lange Pansen ge¬
trennt waren; man hörte immer nur: Rührung . . . Kommilitonen . . . früher.,.
oft . . . schönster Augenblick meines Lebens. Zuletzt eilte der Regierungs¬
präsident auf den Redner zu, berührte das Weinglas desselben mit dem seinigen,
faßte des Greises Hand und legte sie in seinen Arm. Mit ungemeinem Wohl-
klange redete er daun die Versammelten an: dem Herrn Professor, der des
schweren Amtes, die vergleichende Sprachforschung zu doziren, fünfundvierzig
Jahre hindurch gewaltet, versage die Stimme in diesem so ergreifenden Augen¬
blicke, wo er seinen innigen Dank in Worte zu fassen habe; daher bringe er
in Vertretung des Festredners das Hoch auf das königliche Gymnasium und
das Lehrerkollegiuni aus, eine Wendung, welche die schon etwas bedrohte
Stimmung wieder in das richtige Geleis brachte.
Hiermit war der zu Trinksprüchen und Ansprachen bestimmte Teil des
Festes geschlossen, gleichsam die amtlich gehobene Hälfte, und es begann nun
die liäölitÄS, die eingeleitet wurde durch ein Potpourri ans Studentenliedcrn,
welches von der Musik aufgespielt und von den Festgenosseu anfangs schwach,
dann vollstimmig mitgesungen wurde. Dabei wurden die Gasflammen an den
drei Kronleuchtern angezündet.
Inzwischen hatten sich auch die Tribünen gefüllt; Damen aus der Stadt
und Umgegend, selbst aus der Regierungsstadt, sowie Angehörige der Kommi¬
litonen hatten sich eingefunden, eine glänzende Zuschauer- und Zuhörerschaft, die
sich hier über der Festtafel festgesetzt hatte, über welcher sie gleichsam zu Ge¬
richt saß. Die durch bevorzugte Plätze Ausgezeichneten waren uach kurzer
Umschau darüber einig, daß die Tischordnung wenig geschmackvoll arrangirt sei,
man hätte die allereinfachste Zusammensetzung nach Stand und Rang durch¬
führen sollen, das hätte den Überblick erleichtert, jetzt mache die Gesellschaft
einen chaotischen Eindruck. Gegen die entschiedene Art, mit welcher die Ge-
schmacksverkünderinnen sich äußerten, regte sich keinerlei Widerspruch.
Anknüpfend hieran wurde dann die in solchen Vereinigungen sich kundgebende
Zeitströmung „auf das Traditionelle hin" geprüft und verworfen. Besonders
ausschlaggebend wurde die eine dieser Oberinnen, die in mattschillernden Seiden¬
rips gekleidet war und mit Kopfnicken nach rechts und links hinüber jeder an¬
geregten Frage Bescheid erteilte: über Negierung, Gerichte, Post, Eisenbahn u. s, w.
Unten an der Tafel saßen ein Reichsgerichts- und ein Oberlandesgerichtsrat,
mehrere Landgerichts- und Amtsgerichtsräte; da wurden denn die wirklichen
und die Tribunalräte gewissenhaft auseinandergehalten. Alles das verstand sie
und war doch noch garnicht so alt, wie eine andre beiseite bemerkte.
Daneben sprach man über das geringe Ansehen, das die Ärzte in der Ge¬
sellschaft genössen, es wurde das auf jüdische Übcrwucherung zurückgeführt,
hierüber aber nur mit Flüsterstimme verhandelt, da zwei strcitfertige Tief-
brünetten bereits Ohren und Zunge spitzten. Auch auf die Stellung der Rechts-
cmwälte wurde eingegangen, manch Bedenkliches hervorgehoben, dagegen die
Stellung der Staatsanwälte mit „süperb" bezeichnet.
Wieder auf einer andern Seite stellte man die Universitätsprofessoren den
Gymnasiallehrern gegenüber. Die vorlaute Frage einer Gutsbesitzerstochter,
welchen Rang denn ein Privatgelehrter (sie wollte Privatlehrer sagen) wie der
berühmte Redner habe, wurde totgeschwiegen, die Mutter raunte ihr zu: Haus-
offiziant. Vernehmbar erklang das Wort „subaltern," worauf eine reizbare
Oberlehrersfrau mit verhaltenem Weinen die Tribüne verließ. Ihr folgten
Unzufriedene oder solche, die eine Meinungsäußerung für unzuträglich
hielten.
Alle diese Kundgebungen bemerkte Barbara, welche durch die Frau Super¬
intendent hier eingeführt worden war. Man hatte die „artige Künstlerin" vor¬
nehm-freundlich aufgenommen, etwa wie man ein bethautes Vergißmeinnicht in
der durch Glaeeeleder geschützten Hand hält. Sie, die in den Künstler- und
Gclehrtenkreisen der Großstadt heimisch war, fühlte sich wie in einem Festungs¬
stückkeller. Welcher Mangel an Verständnis für die Bedeutung dieser Zu¬
sammenkunft, welche unpassende Stimmung! dachte sie und trat zur Seite.
Sie lehnte sich an die Brüstung, sah auf die Festtafeln in den Saal hinab
und gedachte des Festredners vom Vormittag.
Ihr Vater hatte sie vor Tische mit in die Zuckcrbäckcrei genommen, ihr
dort im Gesellschaftszimmer ausführlich über die Feier in der Aula berichtet
und mit seiner Kunstfertigkeit den Vortrag des „blassen Heinrich" wiederge¬
geben; sein geschultes Gedächtnis war ihm dabei zu Hilfe gekommen. Von
alleu Seiten hatten die Mitanwesenden aufmerksam zugehört, es war eine genu߬
reiche Stunde gewesen.
Jetzt kehrte ihr der Held des Tages den Rücken zu, sie sah aber, wie
man ringsum ihn auszeichnete durch Herantreten und Anklingen, und wie er
allen Bescheid that.
In diesen Beobachtungen wurde die Veilchenblaue gestört durch drei
Jungfräulein, hübsches junges Volk, Auslese für den Ball, die in übermütiger
Weise ihre Scherze trieben. Freilich bot ihnen die Festtafel mancherlei Kurz¬
weil. Eben steuerte ein ehrwürdiger Alter mit ungebundener Serviette un-
sichern Schrittes auf den Nmtsbruder zu — die Gläser klangen, eins ging in
Scherben, und der Nachbar, ein alter Forstmeister in neuer Uniform, war von
oben bis unten begossen. Dann traten die drei schalkhaften an den äußersten
Ausbug des Geländers näher zu den Studenten hin, fanden an ihnen viel Ve-
sprechenswertes, mußten aber die Guckgläser strecken vor der Übergewalt der
zurückgesandten Blickgeschosse. Endlich wandten sie sich der Tafellangseite zu,
wo zwei Überlaute die Beherrschung des Gesprächs einander streitig machten,
zwei große Klugsprecher, der reichste Fabrikherr des Ortes und der Stadtver¬
ordnetenvorsteher. Sie erörterten eine dem Gymnasium zugefallene Stiftung
ihrer formellen Geltung nach; dabei wurden Rechtsirrtümer ausposaunt, von
denen ergraute Juristen Ohrenzwang bekamen.
Wie Papa sich ereifert! näselte zu den aufgescheuchten Spaßvögeln eine
festauftretende Dame, die Tochter des donnerstimmigen Geldfürsten, eine üppige
Schönheit, die mit wallender Schleppe den Gang entlang an den drei Mädchen
vorbeirauschte und sich neben der unter dem Wandleuchter verharrenden Bar¬
bara niederließ, wobei das flimmernde Neapclblau ihrer Sammetrobe das
schlichte Veilchenblau der andern fast aufsaugte. Wie suche ich Sie, liebes,
liebes Fräulein! rief sie erregt und so laut, als ob sie zu allen andern mit¬
spräche; ich kann mir vorstellen, wie wenig Ihnen die Weltanschauung dort
— sie machte mit der bloßen Achsel eine Bewegung — genügt. Ja ja, hier
wird der Gesichtskreis beengt. Ich beobachte Sie schon längst, ach! ich fühle
innig mit Ihnen; ich bin in der Großstadt erzogen, aber schon zwei ewiglange
Jahre hier, ich muß Ihnen das näher erzählen.
Barbara blieb zurückhaltend gegenüber deu Annäherungsversuchen der
Dame, obwohl sie ihr bei der Vorstellung nicht mißfallen hatte. Sie äußerte
nur, für sie sei es belehrend, in diese ihr fremde Stimmung einen flüchtigen
Einblick gewonnen zu haben.
Und das können Sie so ruhig, so ohne Kampflust aussprechen! eiferte die
schöne Blondine, ich beneide Sie um diese Kunst! Ich selbst bin Feuer und
Flamme, ich möchte das Spießbürgertum zertreten, ich Protestire gegen die
Büreaukratie, weise das adliche Koteriemesen zurück, ich darf es furchtlos thun,
denn ich bin reich, das sage ich ohne Stolz, aber — mit Wonne.
So schüttete sie vor der Fremden ihr Herz aus, geriet ihrem kühlen
Wesen gegenüber in immer heftigere Leidenschaft und suchte endlich sie im
schmachtenden Tone aufzuhalten, als Barbara sich zum Gehen anschickte.
Aber das Schauspielerkind ging, und die reiche Fabrikantentochter blieb
unter dem Wandleuchter zurück, weitab von den Vordersitzen der Auserwählten,
wo die Mutter sie nur ungern vermißte. Es war schwer zu sagen, ob die
Schöne spielte und vielleicht wußte, wie ausnehmend sie die Rolle kleidete, als
sie der Mutter, die jetzt kam, um sie zurückzuholen, flehend zurief: Laß mich
noch ein Weilchen mich absondern, einzige Mama! und auf deren besorgte
Frage: Was hast du, Kind? die überschwängliche Antwort gab: Heimweh habe
ich beim Anblick dieser Geistergestalt aus dem von mir verlassenen Gebiete des
Idealen!
Aber Konstantine! wenn das der Herr Kcunmerjunker gehört hätte, sagte
die Alte streng und nahm die Tochter wieder mit sich hinüber.
Unterdes lichteten sich unten im Saale die Reihen der Festgenossen. Einige
suchten Nuhepolstcr und Armsessel auf, die in Nischen und unter künstlichen
Banmgehegen zum Plaudern einluden; andre begaben sich in anstoßende
Zimmer.
Auch die Achtzehuhundertneunundvierziger hatten verabredet, sich zurück
zuziehen, Kautschuk und Archimedes übernahmen die Beschaffung eines Sonder-
zimmers. Dem ersteren lag viel daran, diese Vesperstunde, in welcher die
Schulfreunde ihren Lebenslauf erzählen sollten, in möglichster Abgeschiedenheit
zuzubringen, er fürchtete dabei das Lautwerden von fortschrittlichen Ideen, die
ihm in seiner Stellung schaden könnten. Durch irgendwelche Vorkehrungen hoffte
er vor allen den „blassen Heinrich" und Mirbl zu beseitigen, auch sich des „Juden"
Cohn zu entledigen. Das letztere glückte ihm sofort; er hatte Cohn auf dessen
Frage so ausweichend über die Wahl des Sonderzimmers geantwortet, daß
dieser die Absicht merkte und wegblieb.
Eben teilte Cohn diesen Entschluß Mirbl mit, der in einem Polsterstuhle
neben einem Spiegel lag und seine Haartour und den am Halse hängenden
Maltheserorden zurechtzupfte. Mirbl zeigte sich infolge dieser Mitteilung höchst
aufgebracht über Kautschuks Gesinnung; er sprach von „bornirten Antipathien,"
von „Idiosynkrasie," und von dem Servilismus, Egoismus und Cynismus,
durch welchen Kautschuk Karriere gemacht habe. Er selbst hatte das freilich
vergeblich versucht, und so stand ihm am allerwenigsten solches Verurteilen des
andern zu, der ihm überdies in einem wirklich voraus war, denn Kautschuk
leistete in seinem Fache als Jurist wirklich tüchtiges, während Mirbl doch nur
als Drohne in dem Honiggenusse schwelgte, den ihm die von ihm übel behan¬
delte Gattin durch ihre Reichtümer verschafft hatte.
Cohn mißfiel die prahlerische, mit Flitter aufgeputzte Art des Schulgefährten,
er wollte gehen und bat nur noch, die ihm aufgetragene Verzugsentschuldigung
des „blassen Heinrich" bei den Genossen auszurichten. Mirbl aber hielt ihn fest,
um sich noch einiger auf der Zunge prickelnden Schönrednereien zu entledigen.
Er übernehme, sagte er, den Auftrag in betreff des „blassen Heinrichs," aber der
Schulfreund müsse uun auch seine „diskret kommunizirten" Ansichten über dessen
Standpunkt erfahren; und dann führte er aus, daß ihn der Frühvortrag
„tragisch" berührt habe; wo bleibe bei solche» edeln Redeübungen das praktisch
Verteilbare in unsrer korrumpirten Ära, dem Zeitalter ohne ethischen Gehalt?
Einen Widerspruch Cohns ließ er garnicht zu. Cohn! wer wie ich sein
Herzblut für Ideen geopfert hat! unterbrach er ihn. Dann atmete er tief auf,
machte die Augen so auf, als wenn er in das Weite schaute, hielt die Hand
vor das Gesicht und flüsterte: Eine Afterbildung ist unsre gegenwärtige
Bildung, rctrvgrad; allerorten sind hierarchische Interessen sieghaft (das Wort
„sieghaft" brauchte er gern und stets unter Augenaufsperren), Mirakel, Intole¬
ranz, Antisemitismus, Nationalitäten, Denunziantentum, maroder Parlamen¬
tarismus, legislatorische Impotenz, relaxirtcr Sozialismus! Noch andre Kunst¬
ausdrücke von Zeitungsschreibern, wie elidiren, insuffiziente Palliative, exorbi¬
tant, Velleitäten ließ er durcheinander schwirren. Zu seiner Entschuldigung sei
gesagt, daß er einen kleinen Champagnerspitz hatte.
Mirbl, bat der Arzt, der des Schulfreundes Hemd hielt, willst du mich
hören? Eine Viertelstunde drüben auf dem Nischcnpolster? Es gilt deiner
Verstimmung.
Aber Mirbl wurde unruhig. Er bemerkte, wie zwei Herren, Johanniter-
ritter, zu ihm herübersahen, als ob sie etwas von ihm begehrten.
Er entzog die Hand dem ihn aufmerksam beobachtenden Arzte, der ihm
im Augenblicke wie ein Vivisektor vorkam. Dann bückte er sich, indem er that,
als ob er etwas ausheben wolle oder suche, und dann bat er unter Hüsteln:
Cohn, jetzt unmöglich, Bester, ich will dich auch nicht aufhalten.
Es gilt aber doch dir selbst, Mirbl, deiner Unruhe, deiner Nervosität,
sagte Cohn bedeutungsvoll und gutmeinend.
Mirbl stand aber schon. Glaube mir, Guter, drängte er, ich weiß, was
du sagen willst. Dabei sah er wieder zu den Herren hinüber, die ihm abermals
zugewandt erschienen. Aber jetzt, sagte er noch dringender, indem er einen
Blick in den Spiegel warf und einen letzten Tupf an Perrücke und Halsbinde
anbrachte, bitte entschuldige mich! Er hörte auch garnicht mehr, was darauf
erwiedert wurde, sondern tänzelte zu den beiden Gutsbesitzern.
Diese erörterten eben die Wahrnehmung, welche Menge von unverhohlener
Unzufriedenheit und Mißgunst doch unter diesen Beamten bemerkbar sei. Sie
empfingen den Herangetretenen artig, aber kühl, und richteten die Bitte an ihn,
doch eine Rücksprache mit seinem Spezialkommilitonen, dem Redner vom Vor¬
mittag, zu vermitteln.
Cohn aber sagte für sich, indem er Mirbl nachblickte: Den da erfolgreich
zu behandeln, dazu bedürfte es einer größern Beredsamkeit, als mir zu Gebote
steht, seine Krankheit ist eine in unserm leis-Verzeichnis noch nachzutragende,
die „chronische Phrasitis." Damit verließ er den Festsaal, um noch alte Be¬
kannte in der Stadt aufzusuchen.
(Fortsetzung folgt.)
Ein Vorschlag. Zentrumsorgane haben die Befürchtung ausgesprochen, daß
die Erregung, welche durch den Reichstagsbeschluß vom 15. Dezember in der
nationalgesinnten Bevölkerung hervorgerufen worden ist, wieder vergehen werde wie
„Schützenfeststimmung." Als ein Mittel, um eine so beschämende Wendung zu
verhüten, schlagen wir folgendes vor. Ein Bruchteil der Summen, welche an ver-
schiednen Orten für die Deckung des Betrages von zwanzigtausend Mark gezeichnet
worden sind, wird auf die Herausgabe einer Schrift gewendet, welche den steno¬
graphischen Bericht über die denkwürdige Sitzung und die nachträglichen Aeußerungen
klerikaler und freisinniger Blätter zu enthalten hätte, Zeitungsblätter werden, wie
bekannt, selten aufbewahrt, und es ist oft schon nach kurzer Zeit unmöglich, den
Wortlaut eiues Aufsatzes festzustellen. Die bei dieser Gelegenheit gethanen Aus¬
sprüche namentlich auf nltramontaner Seite dürfen aber nicht in Vergessenheit ge¬
raten, sie vor allen, die so glücklich die freisinnigen Reden ergänzen, sind darnach
geartet, die vaterländische» Empfindungen, welche jetzt aufgerüttelt worden find, wach
zu erhalten und so die Besorgnisse der ultramontanen Presse zu zerstreuen. Die
Schrift müßte in einer so großen Auflage gedruckt werden, daß man in jedes
deutsche Haus wenigstens ein Exemplar stiften könnte, und Vereine und Privat¬
personen würden sich gewiß gern der Mühe der Verbreitung unterziehen, sowie
sie zunächst bei dem Sammeln der Dokumente behilflich fein würden.
Zum Schutze des Wahlrechts. Nach Zeitungsmitteilnngeu hat der Ab¬
geordnete Nickert in einer im Berliner Arbeiterverein gehaltenen Rede angekündigt,
daß die deutsch-freisinnige Fraktion des Reichstages in nächster Zeit den Antrag
stellen werde, das Strafrecht dahin zu erweitern, daß jeder, der das Wahlrecht
irgendwie gefährdet oder beeinflußt, einer strengen Bestrafung verfällt. Und in
der That, so wenig wir sonst von solchen deutsch-freisinnigen Ankündigungen zu
halten Pflegen und mit soviel Mißtrauen ihnen in der Regel begegnet werden
muß, hier scheint uns der Gedanke wenigstens durchaus zeitgemäß und richtig.
Nicht nur die Reichstngswahlen, sondern in erster Linie und hauptsächlich diejenigen
Wahlen, welche mehr lokale Interessen berühren — im Grvßherzvgtuiu Hessen z, B.
die direkten Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen in den Dorfgemeinden —
haben gezeigt, daß unsre Strafgesetzgebung in dieser Richtung sehr mangelhaft ist
und daß sie einer Ergänzung recht nötig bedarf, wenn anders das Ergebnis einer
Wahl dem wahren Willen der Wähler immer entsprechen soll.
Die in Betracht kommenden Paragraphen des Strafgesetzbuches sind die Para¬
graphen 107 und 109, Dieselben lauten:
Z 107. Wer einen Deutschen durch Gewalt »der durch Bedrohung mi' einer strafbaren
Handlung verhindert, in Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte zu wählen oder zu stimmen,
wird mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten oder mit Festuugshnft bis zu fünf Jahren
bestraft. Der Versuch ist strafbar.
Z 109. Wer in einer öffentlichen Angelegenheit eine Wahlstimme kauft oder verkauft,
wird mit Gefängnis von einem Monat bis zu zwei Jahren bestraft; auch kann auf Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
Es ist klar, daß der Fall, den Paragraph 107 vorsieht, nur selten vorkommen
wird. Nicht oft wird jemand zu gewaltsamen Mitteln greifen, um die Abgabe
von Wahlstimmen zu verhindern, herbeizuführen oder zu beeinflussen. Es ist das
zu gefährlich, auch kann die Handlung der Natur der Sache nach nur gegenüber
einzelnen wenigen vorgenommen werden und verspricht deshalb nur wenig Erfolg.
Anders ist es mit dem Thatbestande des Paragraphen 109. Die Wahlbeeinflussung
durch sogenannte Stimmenkaufe kommt recht häufig vor, und es wird daher vor
allem dieser Paragraph ins Auge zu fassen und zu fragen sein, ob er genügt, um
alle Wahlbeeinflussungen, die über bloßes Zureden und dergleichen hinausgehen,
unter Strafe zu stellen. Der zitirte Paragraph bedroht nach Vorgang des dem oociiz
pönal nachgebildeten Paragraphen 86 des preußischen Strafgesetzbuches denjenigen,
welcher „in einer öffentlichen Angelegenheit eine Wahlstiinme kauft oder verkauft,"
Diese Worte siud nach der Rechtsprechung des Reichsgerichtes „im volkstümlichen
Sprachgebrauche zu verstehen, es muß eine Erwerbung und bezw. eine Entäuße¬
rung des — freien — Wahlrechts für irgendein, das Privatinteresse des Wahlberech¬
tigten berührendes Entgelt stattgefunden haben, die Ausübung des Wahlrechtes
muß dem Wahlberechtigten feil geworden sein, ohne daß es auf eine besondre
zivilistische Obligation ankommt. Insbesondre ist zur Vollendung des Vergehens
weder die wirkliche Stimmabgabe noch die Gewährung des Vorteils seitens des
Versprechenden wesentlich. Immer aber ist eine erkennbar gemachte Willenseini-
gung des sogenannten Käufers und Verkäufers, insofern ein ausdrücklich erklärtes
oder aus schlüssigen Handlungen zu entnehmendes (vertragsmäßiges) Abkommen er¬
forderlich." Es ist einleuchtend, daß bei einer solchen Beschränkung des strafbaren
Stimmeuknufs uur ganz wenige, besonders eklatante Fälle zu eiuer Verurteilung führen
können. Zunächst ist die Beweisfrage sehr schwierig. Käufer und Verkäufer der
Stimmen sind mit Strafe bedroht. Beide haben also ein wichtiges gemeinsames
Interesse an der Geheimhaltung des Geschäfts, und es kommen daher nur ganz
seltene Fälle, in denen mit besondrer Unvorsichtigkeit Verfahren wurde, zur allge¬
meinen Kenntnis und vor die Gerichte. Dazu kommt, daß der innere Vorgang,
durch den sich der Verkäufer der Stimme der — freien — Wahl entäußert und ans
das Anerbieten des Käufers eingeht, dein Leugnenden gegenüber nur sehr schwer
zu beweisen ist. Schon mit Rücksicht hierauf ist Paragraph 109 sast illusorisch.
Aber auch wenn die Beweisfrage nicht so schwierig und eine Verurteilung ans
Paragraph 109 thatsächlich leichter herbeizuführen wäre, als es der Fall ist, ent¬
steht doch die Frage, ob es richtig sei, nnr die Wahlbeeinflussuug durch Gewalt
oder Bedrohung oder durch vollendeten Stimmenkauf unter Strafe zu stellen und
alle andern Wahlbceinflussungen, seien sie auch uoch so widerwärtig und unmoralisch,
straflos zu lassen. Wir glauben diese Frage verneinen zu müssen. Freilich wird
mit Recht eingewendet werden, daß die Grenze zwischen erlaubter, durchaus unverfäng¬
licher Gewinnung von Einfluß auf eine Wahlstimme und die Erlangung einer solchen
durch mehr oder minder leisen Zwang sehr schwer zu ziehen sei. Wir geben das
zu. Indessen wird es doch immerhin möglich sein, dem Paragraphen 109 eine
solche Fassung zu geben, daß auch die illegale Wahlbeeinflussuug wenigstens zum
Teil, soweit sie in der Form des Versprechens eines Entgeltes überhaupt zu tage
tritt, unter Strafe gestellt werden kaum. Bis jetzt bedroht das Strafgesetzbuch
uur den vollendeten Stimmenkauf mit Strafe. Wenn daher, wie es in Hessen bei
den direkten Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen auf dein Lande die Regel
ist, die Kandidaten eine je nach der Größe ihres Geldbeutels längere oder kürzere
Zeit vor der Wahl in bestimmten Wirtschaften an ihre Anhänger und solche, die
es werden wollen, unentgeltlich Speise und Trank uach Belieben gewähren, so ist
das straflos. Es liegt nnr ein Versuch vor, die Wähler zu beeinflusse«. Auch
werden sie wohl beeinflußt, aber der Thatbestand des Paragraphen 109 ist auch
dann noch nicht gegeben, denn es fehlt die Willenseinigung eines Käufers und
eines Verkäufers, sowie der Nachweis, daß der das Freibier benutzende Wähler
sich dadurch seines freien Wahlrechtes entäußert habe oder auch uur habe entäußern
wollen, umsomehr als viele stimmberechtigte es nicht verschmähen, bei allen Kan¬
didaten hcrumzukueipen. Aehnliches kommt bei alleu andern Wahlen vor,
insbesondre geschieht es bei den Reichstngswahlen nicht selten, daß, ab¬
gesehen von den allgemeinen goldenen Versprechungen, die namentlich
die Kandidaten der radikalen Parteien ihren Wählern zu machen Pflegen,
dem einen Wähler hier, dem andern da bestimmtes Entgelt strafrechtlich nicht
greifbar in Aussicht gestellt wird, um ihn zur Abgabe seiner Stimme in gewisser
Richtung zu veranlassen. Dem könnte unsers Erachtens einfach dadurch abgeholfen
werden, wenn Paragraph 109 folgendermaßen gefaßt würde: „Wer es unter¬
nimmt, in einer öffentlichen Angelegenheit eine Wahlstimme zu kaufen oder zu ver¬
kaufen oder wer eine solche kauft oder verkauft u. f. w," Bei dieser Fassung
würden wenigsteus alle Fälle getroffen werden, in denen der Stimmenkauf auch
nur vorbereitet wird. Es würde dann wenigstens das schmutzigste in dem vielen
Wahlschmutz ganz wegfallen, nämlich die Versuche, Stimmen durch Gewährung
eines Entgelts zu gewinnen.
Mäßigkeitsvereine. Wie die Engländer in ihrer Sonntagsfeier übermäßig
streng sind, so schütten sie auch in der Bekämpfung des in jenem Lande besonders
häusig vorkommenden Mißbrauchs des Alkohols das Kind mit dem Bade aus. Die
englischen Mäßigkeitsvereine bekämpfen nicht nur deu Mißbrauch der geistigen
Getränke, sie eifern gegen den Gebrauch überhaupt. Daß sie damit nicht die ge¬
wünschten Erfolge erzielen, sondern in ihrer ausgeprägtesten Erscheinung, der so¬
genannten Heilsarmee, den Spott und Hohn der ganzen Welt auf sich gezogen
haben, ist bekannt. Von ganz andern Ansichten geht jetzt, nachdem die den englischen
Vorbildern nachgebildeten Mäßigkeitsvereine entschieden Fiasko gemacht haben, die
deutsche Bewegung auf diesem Gebiete aus. Nicht der Gebrauch, sondern nur der
Mißbrauch geistiger Getränke soll bekämpft werden. Und darum hat auch der vor
noch uicht langer Zeit gegründete „Deutsche Verein gegen den Mißbrauch geistiger
Getränke" schon nennenswerte Erfolge auszuweisen. Ueber seine Ziele und die
Auffassung, wie dieselben zu erreichen seien, giebt die kürzlich in Düsseldorf ab¬
gehaltene Versammlung jenes Vereins ein so klares Bild, daß es sich bei der
Wichtigkeit der Sache in bezug auf unser Volksleben wohl der Mühe lohnt, sich
dasselbe näher anzusehen. Der Geschäftsführer des Vereins, A. Lammers in Bremen,
erstattete den Geschäftsbericht etwa wie folgt: Als der Verein vor ein paar Jahren
die so gut wie ganz aufgegebene Mnßigkeitsarbeit wieder angefangen habe, habe
er zwar den edeln Namen der Mäßigkeitsvereine etwas in Verruf gefunden, weil
sie sich auf halbem Wege hätten abschrecken und zerstreuen lassen, zugleich aber
eine kaum, zu erhoffende Uebereinstimmung hinsichtlich der Art des Vorgehens unter
Männern der verschiedensten sozialen, politischen und religiösen Richtung angetroffen.
Weitgehende Uebereinstimmung bestehe insbesondre darüber, daß Mäßigkeit im
Genuß der sogenannten geistigen Getränke zu erstreben sei, nicht völlige Ent¬
haltung; daß fröhlicher altgermanischer Zechlust, die sich selbst in vernünftigen
Schranken halte, ihr Recht bleiben soll, dagegen das maßlose Kneipen, auch wenn
es nicht zur Betrunkenheit führt, in allen Ständen und in jeglichem Alkohol ent¬
haltenden Getränk mit Bann und Acht zu belegen sei; daß folglich zwar mit der
Eindämmung des Branntweinkonsums als des gefährlichsten Getränkes der Anfang
zu machen, daß aber auch die Agitation gegen den übermäßigen Biergenuß zu
richten sei. Aus diesen Sätzen habe sich ganz wie von selbst das Aktionsprogramm
des Vereins gestaltet. Der Verein müsse vor allein die Ueberzeugung seiner Urheber
und Mitglieder vou der verführerische» Kraft und Gefährlichkeit des Alkoholgenusses
allgemein zu machen und die Versuchungen zu entfernen suchen, welche mächtig zu
ihm locken. Wenn dabei vor allem der sogenannte Arbeiterstand, d. h. die weniger
bemittelten Volksklassen, ins Auge gefaßt würde», so geschehe das nicht deshalb,
Weil man ihnen Erholung und ihr bischen Lebensgenuß nicht gönne. Im Gegenteil,
es zerreiße einem das Herz, zu sehen, wie teuer sie das flüchtige Glück der Schnaps-
kneipe später bezahlen müssen. Der Verein habe das Bewußtsein, den Arbeitern
eine Wohlthat zu erweisen, wenn er das übermäßige Angebot von billigem, vielfach
noch obendrein unreinem, fuseligem Schnaps beschränke und zuträglichere Aufenthalts¬
orte zu freier Wahl neben die alten Schenken setze. Das letztere könne und müsse
solange, bis es sich als ein lohnendes Geschäft erwiesen habe, durch praktische
Philanthropie geschehen. Zu ersteren bedürfe es des Beistandes der Gesetzgebung,
vor allem derjenigen des Reiches. Es müsse gefordert werden eine gesetzliche Be¬
stimmung, nach welcher die Zahl der Branntwein absetzenden Schenken und Läden
nach der Einwohnerzahl der Gemeinden bemessen werde. Hierdurch werde die
Willkür und die Verlegenheit beseitigt, zu welchen die Entscheidung der jetzt
geltenden Bedürfnisfrage oft Anlaß geben. Ferner müsse verlangt werden die
Einführung einer Schcmksteuer zu gunsten der Gemeinden, die ja die Last und
Gefahr der in den Schenken gepflegten Trunksucht hauptsächlich trüge«, weiter eine
verschärfte Ueberwachung des Schenkenbetriebes, und zwar sodaß in ihnen an schon
Betrunkene und Halberwachsene kein Schnaps verabreicht, nur gegen baar verkauft,
uur reiner Schnaps geschenkt und neben demselben auch leichtere Getränke und
feste Speisen feilgeboten werden, endlich eine Trennung des Schnapsansschcmks
von andern Kleinhandluugen und Verhütung des Unfuges, daß Schnapsschenken
entstehen unter der Maske von Gastwirtschaften.
In der erwähnten Versammlung wurde dann berichtet über die Schritte,
welche zur Erreichung dieser Ziele bereits unternommen worden sind. In zahl¬
reichen Städten sind Kaffeeschcnken teils schon eingerichtet, teils steht ihre Errichtung
bevor. Eine Eingabe an die Reichsregiernng knüpft an die Arbeiten an, welche
früher schon im Gange waren, zur Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes über Be¬
strafung ärgerniserregender oder mit Verbrechen verbundener Trunkenheit und über
Entmündigung und Heilung von Säufern. Auch die anderweite Regulirung der
Branntweinsteuer wird ins Auge gefaßt. Neben diesen direkten Mitteln zum
Zwecke werden die indirekten nicht übersehen. Die Sparsamkeit wird gefördert,
eine an Hans und Werkstelle fesselnde Handgeschicklichkeit wird in den Knaben schon
zu entwickeln gesucht, die Erziehung der Mädchen zu tüchtige» Hausfrauen, welche
dem Arbeiter sein Heim lieb zu machen verstehen, angestrebt. Man sieht, der
Verein greift seine Aufgabe mit allein Ernste und mit derjenigen Thatkraft an, die
allein zum Ziele führen kann.
Schließlich wollen wir noch aus der „Kölnischen Zeitung," deren Referat wir
schon im vorstehenden gefolgt sind, eine statistische Zusammenstellung darüber
mitteilen, wieviel Einwohner in einer Reihe rheinisch-westfälischer Städte auf je
eine Schucipsverkaufsstelle kommen. In Osnabrück kommt je eine auf 370 Ein¬
wohner, in Düsseldorf auf 307, in Barmer auf 295, in Krefeld auf 236, in
Gelsenkircheu auf 210, in Dortmund auf 194, in Düren auf 188, in Bochum auf
177, in Viersen auf 157, in Bielefeld auf 156, in Mülheim an der Ruhr auf
152. in Siegen auf 148, in Harun auf 137, endlich in Trier auf 130 Ein¬
wohner. Diese Zahlen geben zu denken und fordern mehr als die schönsten Reden
zur Teilnahme an den Bestrebungen eines Vereins auf, der sich die Bekämpfung
des übermäßigen Vranntweingeuusses zur Aufgabe gemacht hat.
or ungefähr neun Jahren hatten, wie die „Kolonial-Politische
Korrespondenz" meldet, zwei Herren eine Unterredung mit dem
Reichskanzler, die sich auf die Gründung einer deutschen Nieder¬
lassung im südlichen Afrika bezog, Sie waren durch Studien
zu der Überzeugung gelangt, daß Deutschland zur Verwertung
seiner überschüssige» Menschenkraft, die jetzt mit der Auswanderung nach Nord¬
amerika unsrer Nationalität mehr oder minder verloren geht und die Konkurrenz
für unsre Industrie mir verstärken muß, eignen Kolonialbesitz bedürfe, und daß
sich zu diesem Zwecke vor allem Südafrika mit den Republiken der Boers
empfehle. Die in diesen Republiken damals herrschende Sehnsucht nach Beistand,
um England gegenüber unabhängig zu bleiben, die sehr günstigen klimatischen
Verhältnisse, die Fruchtbarkeit des Bodens und die Verwandtschaft der Be¬
völkerung jener Länder mit uns, alles hatte sie auf dieses weite Gebiet hin¬
gewiesen, Sie hatten darauf sich genaueres Material verschafft und einen
ausführlichen Plan zu einem Unternehmen in der erwähnten Richtung entworfen,
den sie nun dem Kanzler entwickeln durften. Dieser Plan hatte folgende Haupt¬
gedanken: Man versuche, die deutsche Auswanderung nach dein südlichen Afrika
zu lenken, man lehne sich zu diesem Ende an den Staat der Boers, die
„Südafrikanische Republik" jenseits des Veni, an und lasse durch eine Gesellschaft
die Delcigva- oder die Santa Lucia-Bucht erwerben und durch eine Eisenbahn
mit Pretoria, der Hauptstadt jener binnenländischen, also küstenlosen Republik
verbinden; mau richte endlich eine Dampfergclcgcnhcit zwischen Bremen oder
Hamburg und der gewählten Bucht ein, und schou im Verlaufe von einem
Jahrzehnt kann hier und weiter landeinwärts eine ansehnliche deutsche Nieder¬
lassung im Aufblühen begriffen sein. Der Kanzler fand diesen Plan der
Erörterung wert, meinte aber, die Ausführung desselben würde sehr bedeutende
Mittel erfordern, und wenn die Herren ein eine Staatssnbventivn dächten, so
könne er nicht dienen, da der gegenwärtige Reichstag das dazu nötige Geld
nicht bewilligen werde. Man erwiederte ihm, es werde lediglich auf eine Zinsen-
garcmtie für die Dampferlinic und die Eisenbahn gehofft, und dazu würde el»
Staatszuschuß von fünf Millionen Mark jährlich hinreichen. Der Fürst fand
diese Summe nicht zu hoch, wollte jedoch kein Versprechen geben, da die politische
Lage uoch zu ungünstig sei, Frankreichs Eifersucht und Englands Empfindlichkeit
geschont werden müßten und der Kulturkampf der Sache im Wege stehe. Die
Herren entgegneten, das deutsche Reich brauche dieselbe nicht offiziell in die
Hand zunehmen, es werde genügen, wenn dasselbe eine Dampfersnbvcntion zur
Belebung des deutschen überseeischen Handels gewähre und die betreffende
Privatgesellschaft chien Landungsplatz im südöstlichen Afrika erwürbe, England
habe man nicht zu fürchten, da die Abneigung der Boers gegen die britische
Herrschaft dieser über kurz oder laug in Südafrika ein Ende machen werde, ohne
daß Fremde dazu mitwirkten. Die Unterredung endete damit, daß der Kanzler,
nachdem er die Herren gebeten, die von ihnen gesanunelten Darstellungen, Be¬
rechnungen und Karten ihm zum Studium zurückzulassen, mit der Erklärung
schloß, der gegenwärtige Zeitpunkt sei sehr ungünstig, erst müsse in der Nation
ein fruchtbarer Boden für derartige Unternehmungen geschaffen werden, und
dann müsse die äußere Lage sich anders gestalten. Hierauf rechne er mit Be¬
stimmtheit, und dann könne man handeln. Acht bis neun Jahre könnten noch
vergehen, bis die Frage für ihn reif sei.
Daß Fürst Bismcirck die Angelegenheit im Auge behalten und mit der
Lösung der Frage begonnen hat, beweise» die neuesten Ereignisse, das Weißbuch
mit seinen Aufschlüssen, die Übernahme der Kolonie zu Angra Pequcun in den
Schutz des Reiches, die Vorlage wegen der Dampfersubventivu und andres.
Jetzt stehen wir vor der wichtigen Frage, ob anch die Dclagoci- oder die Lueia-
Bucht, welche die Verbindung mit dem Staate der Boers und die deutsche
Auswanderung nach demselben ermöglichen würde, von privater Seite erworben
und unter deutsches Protektorat gestellt werden kann.
Um die Wichtigkeit der genannten Buchten würdigen zu können, müssen
wir einen Blick ans die Gebiete und Kolonien werfen, welche sich um daS
Hauptland Südafrikas, das große, unregelmäßige Dreieck der Kapkolonie,
gruppiren. Die Kapkolonie erstreckt sich im Westen bis zum Ausflüsse des
Oraujeflusses, auf dessen anderm Ufer das Namaland mit der Lüderitzschcn
Besitzung Angra Peqncna beginnt, welches seinerseits im Norden an die Ge¬
biete der Hcrcrvs und Damaras und im Osten an die sogenannte Kalahari-
Wüste stößt. Die letztere ist keineswegs durchweg unfruchtbar und menschenleer,
sondern vielfach bewässert lind dicht bewaldet, auch nicht arm an Weidegründcu,
wie das benachbarte Bctschuaneuland und die nordöstlich sich anschließende „Süd-
afrikanische Republik," das Gebiet der Boers jenseits des Vaalflusses. Das
Naiualand und das der Hereros, in welchem sich die englische Walsischbai befindet,
werden im Westen vom Atlantischen Meere bespült. Im Nordosten der Kap¬
kolonie folgen einander die Küstengebiete des indischen Ozeans: Trcmskei, Tcmbu-
land, Pondoland, die britische Kolonie Raten, das Land der Zulus mit der
Lucia-Bucht und die den Portugiesen gehörige Delagoa-Bai. An die Kap¬
kolonie schließt sich, rein im Norden, der Oranje-Freistaat an, welcher östlich
an das Gebiet der Basutos und der Griquas stößt und weiter nach Nordosten
an Natal grenzt, das seinerseits als Keil zwischen jenen Boerenstaat und die
„Südafrikanische Republik" hineinragt. Die letztere hat wieder im Osten die
Zulus zu Nachbarn und weiter nördlich die Portugiesen der Delagoci-Bai.
Über das Pondoland hat die britische Ncichsregierung erst in diesem Jahre
ihre Schutzherrschaft in aller Form ausgedehnt; doch stand hier am Ausflüsse
des Se. Johns-River, dem Handelswege vom indischen Ozean nach den Ländern
der Griqnas und Basntos, schon früher ein englisches Zollhaus, und die
britische Autorität wurde deshalb nicht weiter geltend gemacht, weil das Pondo¬
land weiße Ansiedler nicht anlockte und andrerseits nicht wie das Transkei und
das Basutolaud während der Streitigkeiten mit deu Boers deu Truppen der
Kapkolonie Beschäftigung gab. Es ist, ganz wie Natal und die übrigen be¬
nachbarten Küstenländer, dicht von eingebornen Stämmen bewohnt, deren
Menschenzahl in den letzten Jahrzehnten nicht nur nicht abgenommen hat
sondern fortwährend gewachsen ist. In Natal z. B. Verhalten sich die Zulus
zu den Weißen ungefähr wie zwanzig zu eins, es befinden sich hier ueben einer
halben Million Zulus nur etwas mehr als fünfundzwanzigtausend weiße An¬
siedler, von denen die große Mehrzahl holländischer Abkunft ist. Wenn mau
jetzt das britische Protektorat über das Pondoland erklärt hat, so geschah es,
um „Ungewißheiten ein Ende zu machen und Britisch-Südafrika abzurunden,
dessen Küste sich nunmehr vou der Mündung des Oranjeflusses ununterbrochen
bis an die Grenze zwischen Natal lind Zululcmd erstreckt." Wir bemerken zu
dieser notwendigen Einschaltung noch, daß dieses neue englische Kvlonialgebiet
vom Tembulande durch den Umtata- und von Natal durch den Umtavnnafluß
geschieden ist, daß die Bevölkerung von Pondoland auf 200000 Eingeborne
geschützt wird, und daß man „zu hoffen berechtigt ist, Umbiquela, der Häuptling
der Pondos, werde mit seinem Volke die Einsetzung der Herrschaft Englands
willkommen heißen."
Wesentlich anders verhält es sich mit der Lucia-Bucht, die weit nördlich
von Natal im Znlulaude liegt, und zwar nicht fern vou den Orten Ulundi und
Jsandnla, deren man sich ans den Kämpfen der Engländer mit Tschetwäjo er¬
innern wird. Diese erweitert sich landeinwärts zu einem bedeutenden See und
würde den Bewohnern der „südafrikanischen Republik" unter Umständen durch
deutsche Vermittlung den Zugang zum Indischen Ozean schassen. Ja es ist
schon — vielleicht etwas vorschnell — ein die Möglichkeit gedacht worden, daß
sich hier der erste Punkt, das Anfangsglied einer Kette nichtenglischer Gebiete
bilden könnte, zu welcher sich deutsche Besitzungen mit den Republiken der Boers
südlich und nördlich vom Vaal zusammenzuschließen bestimmt wären, und welche,
an der Lucia-Bucht beginnend, im Osten und Norden um das südafrikanische
Besitztum der Engländer herumreichend und an der Bucht von Angra Peauena
endigend, vom Indischen bis zum Atlantischen Meere gehen würde.
Wir sehen für jetzt von diesen Spekulationen ab und sprechen einfach von
den Thatsachen, soweit sie sich mitteilen oder andeuten lassen. Mit Recht ist
darauf hingewiesen worden, daß dem vaterländischen Interesse hier am besten
gedient wird, wenn man vorsichtig von der Sache spricht und sich des Ein¬
gehens auf gewisse Details enthält, bis es Zeit ist, sie zu veröffentlichen. In¬
folge dessen stellen wir vorläufig uur Bekanntgewordenes zusammen, was sich
in die Worte zusammenfaßt: Der ErWerber von Angra Peqnena und Zubehör
hat auch die Lucia-Bucht in seinen Besitz gebracht, und andrerseits ist später
auf Befehl des Gouverneurs von Natal, Herrn Bulwer, die englische Flagge
dort aufgehißt worden; die großbritannische Regierung aber wird diesen vor¬
eiligen Schritt nicht gutheißen können, wenn Recht bei ihr Recht ist, und so
wird jene Flagge vermutlich nicht lange mehr in den Winden der Lucia-Bucht
wehen, auch wenn ihre Entfernung in London mit einiger Verlegenheit ver¬
bunden sein sollte.
Die Zulus oder Amazulus sind ein von Norden her in ihre jetzigen Wohn¬
sitze eingezogenes Volk, das auch in dein benachbarten Natal in großer Zahl
vertreten ist. In manchen Beziehungen verschieden von den Betschuanen des
Kalaharilandes westlich von der „südafrikanischen Republik," sowie von den Hotten¬
totten im Hinterkante von Angra Pequeua, gehören sie ihrer Sprache nach
derselben Völkergruppe an, welcher die Dnalla am Kamerun und die Stämme
am untern Laufe des Kongo zugerechnet werden. Unter kriegerischen Königen
konzentrirten sie ihre Kraft, organisirten sie und überwanden mit ihr die nie¬
driger stehenden Nachbarn. Der Begründer ihrer Wehrverfasfung war der König
Tschcikci, welcher die Krieger der Nation zu Regimentern formirte, deren Sol¬
daten, um für Feldzüge geeigneter zu bleiben, nicht heiraten durften, und weite
Länderstrecken eroberte. Nach ihm herrschte über das Volk der König Dingcmn,
der mit den Boers jenseits des Vaal auf gutem Fuße stand und um geringen
Preis große Gebiete an sie verkaufte. Tschetwüjo, sein Sohn, war dagegen
andrer Meinung; er betrachtete die Boers als eine Gefahr und neigte sich an¬
fangs den Engländern zu, die gleichfalls die wachsende Macht der holländischen
Ansiedler mit argwöhnischen Augen ansahen und sie im Bunde mit den Zulus
zu bekriegen beabsichtigten, zu welchem Zwecke sie den Zulus Waffen lieferten.
Als das Transvaalland den britischen Besitzungen einverleibt worden war, sollte
Tschetwüjo diese Waffen, mit denen er jetzt selbst eine Gefahr bildete, wieder an
Natal herausgeben, und als er sich weigerte, kam es zum Kriege, in welchem
er zuerst siegreich war, aber zuletzt von Wolseley geschlagen und zum Gefangenen
gemacht wurde. Man brachte ihn nach England, ließ ihn aber nach einiger
Zeit frei. Er kehrte dann in das Znluland zurück, welches man in der Zwischen¬
zeit zwar nicht in britischen Besitz umgewandelt, aber nach dem Grundsatze
ckivickv se, irnxvr-r dadurch ungefährlich zu machen versucht hatte, daß man es
bis auf eine kleine reservirte Strecke in zwölf Stücke geteilt und an ebensoviele
Häuptlinge vergeben hatte. Dabei waren die Brüder Tschetwäjos bis auf den
mit England befreundeten Ohain, der bei seinen Landsleuten dieser Hinneigung
halber verhaßt war, unberücksichtigt geblieben, und ein an die „Südafrikanische
Republik" stoßendes Stück Gebiet war dem Häuptlinge Usipepu zugesprochen
worden. Tschetwäjo erkannte nach seiner Rückkehr diese neue Ordnung der Dinge
nicht an, und es kam zu einem Kampfe, der damit endigte, daß der Zulnkönig
in der Schlacht bei Ulnndi überwunden und so schwer verwundet wurde, daß
er bald unchher auf der Flucht starb. Zuvor aber legte er im Beisein seiner
vornehmsten Häuptlinge die Negierung des Landes in die Hände seines Sohnes
Dinizulu nieder, der sie übernahm und bis jetzt geführt hat, nachdem er Usipepn
mit Hilfe von Boers besiegt und zur Flucht genötigt hatte. Dinizulu machte
den Anführer der Boers, einen Deutschen namens Adolf Schiel, der vorher als
Farmer in der „südafrikanischen Republik" gelebt und dort einen Beamten¬
posten bekleidet hatte, zu seinem obersten Rate, trat den Boers eine Strecke
Landes ab, welche die eingerückten Hilfstruppen in eine neue Republik ver¬
wandelten, und erkannte im Einvernehmen mit seinem Kronrate die Schntzherr-
schnft der „südafrikanischen Republik" über Zulnland um. Zu gleicher Zeit
schloß er mit Herrn Lüderitz durch einen deutschen Vermittler einen Vertrag
ab, durch den er die ihm gehörige Lucia-Bucht und ein daran gelegenes Stück
Land dem Bremer Kaufmann zum Eigentum überließ. Auch dieser Vertrag
wurde dem Kronrate des Königs vorgelegt und von diesem genehmigt. Das
betreffende Dokument befindet sich gegenwärtig im Auswärtigen Amte zu Berlin,
über seine Bestimmungen ist noch nichts in die Öffentlichkeit gelangt, es wird
indes versichert, daß seine Giltigkeit rechtlich nicht anzufechten sei. Die Fahne,
welche Bulwer, der Gouverneur von Natal, an der Lucia-Bucht aufgepflanzt
hat, würde in diesem Falle auf Befehl der Neichöregierung in London als
oberster Behörde zu entfernen sein.
Die englische Presse will davon allerdings nichts wissen. Sie behauptet
ein Recht Englands auf die Oberherrlichkeit über alle Küstengebiete Südafrikas
vom Orcmjeflusse bis zur Delagoa-Bau, also auch über Zululand, und zwar
soll dieses Recht schon seit langer Zeit, man sagt, seit mehr als vierzig
Jahren, bestehen. Dabei kommen jedoch zunächst folgende Fragen in Betracht.
Weshalb pflanzte man jene Flagge erst nach dem Lüdcritzschcn Vertrage mit
Dinizulu auf? Warum fand man nötig, erst vor einigen Wochen Pondolcmd
einzuverleiben? Wie verhält sich England zum Lande der Zulus, wie verhielt
es sich zu ihm nach dem Kriege mit Tschetwäjo? Zululand ist offenbar seit
dieser Zeit als selbständig und von England unabhängig, mithin als disposi¬
tionsfähig betrachtet worden. Vier volle Jahre hindurch haben die Engländer
jenes weite Gebiet sich selbst überlassen, Sie haben den Krieg zwischen dem
heimgekehrten Tschetwäjo und dem von ihnen eingesetzten Usipevn gestattet, des¬
gleichen deu gegen die Usntos, sie haben nichts gegen die Krönung Dinizulus
gethan und keinen Einspruch erhoben, als dieselbe erfolgt war, sie haben den
Missionären im Zulnlande keinerlei Schutz gewährt, als sie angegriffen und
geplündert wurden. Ihre angebliche Autorität war also, wenn irgend etwas,
nur ein wesenloser Schatten, der ihnen keinerlei Recht verleihen konnte; denn
ein Recht ohne Pflicht und deren Erfüllung ist in Kolonialsachen undenkbar
oder mindestens höchst streitig. Das von Lüderitz erworbene Recht aber scheint
schon nach dem, was allgemein bekannt ist, unanfechtbar zu sein. Auch in Eng¬
land scheint das im stillen anerkannt und nur von der Presse, besonders der
oppositionellen, noch mit Emphase in Abrede gestellt zu werden. Bezeichnend
war, daß Lüderitz in der zweiten Woche des Januar dieses Jahres in Berlin
ein Telegramm mit der Anfrage erhielt, um welchen Preis er ein bedeutendes
Stück des ihm gehörigen Gebietes an der Lucia-Bucht verkaufen würde. Es
seien Engländer zur Stelle, „die nicht feilschen wollten." Da er den Hinter¬
mann dieser Kauflustige», gewiß nicht mit Unrecht, in London vermutete, tele-
graphirte er als guter Patriot rasch entschlossen lind bündig zurück: Vor n«>
priov!
Die „Frankfurter Zeitung" ließ sich vor kurzem aus Berlin schreiben, die
englische Regierung habe der deutschen mitgeteilt, gegen die Erwerbung des
Landes an der Lucia-Bucht durch Herrn Lüderitz sei nichts einzuwenden, da¬
gegen könne sie nicht zugeben, daß diese Erwerbung uuter das Protektorat des
deutschen Reiches gestellt werde; denn dieser Landstrich stehe nnter dem Schlitze
Englands, „welches seit einundvierzig Jahren einen unbestrittenen Vesitztitel und
unbestrittene Hoheitsrechte in den dortigen Gegenden ausübe." Wir wissen
nicht, ob diese Erklärung Thatsache ist, müssen sie aber schon ans den oben
angeführten Gründen und sodann schon auf Grund der Darlegung bezweifeln,
die Herr Lüderitz einem Korrespondenten des LtÄmKM entwickelt hat. Die Herren
Lüderitz und Schiel haben nämlich, wie angedeutet, vor etwa zehn Tagen dem
deutschen Auswärtigen Amte die Originale sowie die Kopien der mit dem Kö¬
nige der Zulus abgeschlossenen Kaufvertrage hinsichtlich der Lucia-Bucht über¬
geben, und in diesen wird sie mit Einschluß eines beträchtlichen Landkomplexcs
i» der Weise an Lüderitz abgetreten, daß die betreffende Erwerbung alle Hoheits¬
rechte einschließt, das dem Herrn Luderitz überlassene Territorium also als fortan
außerhalb des Zulnlandes liegend betrachtet wird. Ferner aber konnte der
jetzige Besitzer der Bucht die obenerwähnten englischen Einwendungen damit
zurückweise», daß er sich auf das englische Blnubuch vom August berief, nach
welchem die Grenze Natals vom Tugclaflusse und die des anstoßenden „reser-
virten Gebietes" (roservocl törritar^v), welches die Engländer nach dem Kriege
mit Tschctwäjo für sich abzweigten, vom Umblatnziflnsse gebildet wird, an dessen
Nordufer das freie Zululand beginne. Auf dieses habe England keinen An¬
spruch, und folglich auch keinen auf die Lucia-Bucht, die in diesem Gebiete liege.
Die Aufhissung der britischen Flagge auf seinem Grund und Boden erklärte
Lüderitz vor jenem Korrespondenten als eine Übereilung des Gouverneurs
Bulwer, die ohne Wissen der englischen Regierung erfolgt fein müsse. Er schloß
mit der Hoffnung, daß er das deutsche Protektorat über seine Besitzung um der
Lucia-Bucht umso bestimmter erhalten werde, als hier die Aufpflanzung der
britischen Flagge erst geraume Zeit nach dein Abschlüsse seiner Kaufvertrage
stattgefunden habe.
Nußer der Unabhängigkeit und vollen Dispvsitionsfähigkeit kommen bei
der Sache aber much noch andre Momente in Rechnung. Einige Tage vor dem,
um welchem die Verträge des Herrn Liideritz mit dem Könige Diniznln im
Auswärtigen Amte zu Berlin eintrafen, schrieb die „Nordd. Allg. Zeitung"
offenbar offiziös: „Die in der Presse verbreiteten Nachrichten über die Er¬
werbungen des Herrn Lüdcritz an der Lnein-Bai entbehren bisher jeder Be¬
stätigung durch amtliche Berichte. Zur Giltigkeit einer solchen Erwerbung und
zur Übertragung von Hoheitsrechten würde übrigens ein Vertrag mit den ein-
gebornen Häuptlingen nicht genügen; ein solcher würde der Zustimmung der
Boeren-Republik bedürfen, welche das Protektorat über das Znland übt. Außer¬
dem wäre das Verhältnis der letzteren zu England in Rechnung zu ziehen,
welches sich ein Bcstätignngsrecht für die von der Republik abzuschließenden
Verträge vorbehalten hat."
Viele Zeitungen, namentlich englische, haben diese Erklärung so angesehen,
als ob die Sache damit entschieden sein sollte und zwar zu gunsten der An¬
sprüche Englands, als ob, mit andern Worten gesagt, ein Verzicht Deutschlands
angekündigt würde. Wir meinen, ohne zwischen den Zeilen zu lesen, daß dies
keineswegs der Fall sei, und daß die, welche in England den Artikel mit Ge-
nugthuung begrüßt haben, den Tag vor dem Abende gelobt haben. Um die
Notiz des offiziösen Blattes recht zu verstehen, muß mau sich zuvörderst des
Vertrages erinnern, der, am 27. Februar v. I. zu London zwischen den
Führern und Bevollmächtigten der Boers im Norden des Vaal und Sir Her-
cules Robinson, dem Beauftragten der großbritannischen Regierung, abgeschlossen,
die Stellung der „südafrikanischen Republik" zu England bestimmte. Die
hierher gehörigen Artikel dieser Übereinkunft siud von den Grenzboten in
Nummer 2 d. I. mitgeteilt worden. Artikel 1 setzte Gebiet und Grenzen der
„südafrikanischen Republik" fest; dann hieß es im zweiten weiter: Die Re¬
gierung der „südafrikanischen Republik" wird sich streng an die im ersten
Artikel dieser Konvention vereinbarten Grenzen halten und ihr äußerstes thun,
um jeden ihrer Einwohner zu verhindern, daß er sich solcher Landstriche be¬
mächtige, die jenseits besagter Grenzen liegen. Die Regierung der „süd¬
afrikanischen Republik" wird an den östlichen und westlichen Grenzen Kommissare
ernennen, deren Pflicht es sein wird, sorgfältig über Unregelmäßigkeiten und
alle Verletzungen der Grenzen zu wachen. Die Negierung Ihrer Majestät
wird, salls es notwendig ist, in den Gebieten der Eingebornen jenseits
der Grenzen im Osten und im Westen der „südafrikanischen Republik"
Kommissare zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Verhütung von
Überschreitungen einsetzen." Im vierten Artikel endlich wird bestimmt: „Die
»Südafrikanische Republik« wird weder mit einem ander»? Staate oder
Volke als dem Oranje-Freistaate einen Vertrag oder eine Verpflichtung ein¬
gehen, noch mit einem eingebornen Stamme östlich oder westlich von der
Republik, bis die Übereinkunft von Ihrer Majestät der Königin gebilligt
worden ist." Dieser Vertrag enthält kein Wort von einem einseitigen Pro¬
tektorate Großbritanniens über die eingebornen Stämme im Westen und im
Osten des Voernstaatcs, aber ebensowenig findet sich in ihm eine Klausel, welche
klar nud deutlich ein solches Protektorat der „südafrikanischen Republik" aus¬
spräche. Im Gegenteil bezweckt die Londoner Februarkonvention den Ausschluß
der Boers sowohl von den Gebieten der Betschuanen als von denen der Zulus
und verlangt für die Giltigkeit von Verträgen mit den einen oder den andern
vorherige Bestätigung derselben durch England. Der Vollsraad der Boers
nahm den von seinen Delegirten Krüger, Sinn und Dudon unterzeichneten
Vertrag nur mit lebhaftem Widerstreben an, und bald nachher begann eine
Bewegung, welche zu einer Verletzung der angeführten Bestimmungen im
Betschuanen- wie im Zululande führte. Sowohl dort als hier brachen Frei-
scharcn von Boers in das Land ein und gründeten neue Republiken, dort
Gösen, hier die „Nieuve Republik," und die Boernregierung übernahm die Schutz¬
herrschaft über Zululnnd. Nur zögernd zog sich die Regierung in Pretoria
von dieser Bewegung zurück, und vermutlich geschah dies mit Vorbehalt. England
aber rüstete die Warrcnsche Expedition gegen die Boers im Betschuauengebiete
aus, und da diese nach den neuesten Berichten Widerstand zu leisten entschlossen
sind, scheint es dort zum Kampfe kommen zu sollen. Von einem ähnlichen
Vorgehen der Engländer gegen die Boers im Osten war bis jetzt nicht die
Rede. Sollte man in London Gründe haben, davon abzusehen? Jedenfalls
darf man es mit der „National-Zeitung" bemerkenswert finden, „daß das
offiziöse Organ des deutschen Reichskanzlers in einem Augenblicke, wo allem
Anscheine nach eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Boeren, Engländern
und Eingebornen bevorsteht, das von den Engländern nicht nur nicht aner¬
kannte, sondern durch den oben charakterisirten Londoner Vertrag geradezu
beseitigte soir würden sagen, abgeschwächte, geteilte, auch England in gewissem
Maße zugesprochene! Protektorat der Boeren über Zululand als zu Recht
bestehend anerkannt. Besteht dieses Protektorat nach der Meinung der deutschen
Regierung zu Recht, so folgt daraus naturgemäß, daß für sie. wie für jeden,
welcher derselben Auffassung ist, eine einseitig von England vorgenommene
Prvllamiruug seiner Svnverünctät über Teile des Zululandes sin unserm Falle
der Sanct Lucia-Bucht samt Zubehörs nicht rechtsgiltig ist; um letzteres zu sein,
bedürfte sie zuvor der Einwilligung des Protektors »der des andern Protektors^,
nach der Darstellung des offiziösen deutschen Organs also eben der Bvern,
welche allem Anscheine nach vor einem bewaffneten Konflikte mit England stehen."
Wir machen keinen weiteren Versuch, das Dunkel aufzuhellen, in welches
sich die Angelegenheit trotz der bevorstehenden Betrachtungen noch hüllt, sondern
vertrauen einfach dem vielbewährten Geschicke des Reichskanzlers, Knoten zu
schürzen und zu lösen; er wird auch hier die rechten Mittel zur Förderung
und Wahrung des Interesses der Nation gefunden haben und, wenn nötig,
weiter finden. Daß es dabei zu einem Konflikte ernster Art zwischen Deutschland
und England kommen könne oder gar müsse, halten wir für eine grundlose
Befürchtung, die sich bald in nichts auflösen wird.
Zum Schlüsse noch die Bemerkung, daß die Sache im Laufe des Januar
verschiedene seltene und auffallende Besuche, außer Lüderitz anch den Minister
König Dinizulus, den Kommandanten Adolf Schiel, und Herrn EinWald, einen der
Vermittler des Ankaufs der Lucia-Bucht, nach Berlin geführt hat, und daß sich
die Zahl dieser interessanten Gäste noch dnrch zwei andre Persönlichkeiten ver¬
mehren wird, von denen die eine durch nachstehende eigentümlich gefaßte Notiz
der Zeitungen angekündigt wurde: „Die Reihe seltsamer Gäste, welche während
der Dauer der Konferenz der Hauptstadt des deutschen Reiches einen Besuch
abgestattet, ohne daß derselbe immer mit der Konferenz selbst in direkte Ver¬
bindung gebracht werden könnte, wird dnrch den ehemaligen Generalschatzmeister
der neuen Boerenrepublik Gösen im Betschuanenlande vervollständigt werden.
Herr Henderick de Körte, das ist der Name des neuen Gastes, ist mit Herrn
EinWald zu gleicher Zeit von Kapstadt nach London gekommen. Er hat seinen
Aufenthalt dort benutzt, um an maßgebender Stelle vor jeder gewaltsamen Ein¬
mischung in die neuen Staatengründuugeu der Boeren zu warnen, da dieselben
jeder englischen Truppemnacht waffenfähige Männer in genügender Zahl ent¬
gegenwerfen können. Herr Henderick de Körte gedenkt sich zunächst nach Holland
zu begeben ftvo sich zu Amsterdam ein ständiger Vertreter der „südafrikanischen
Republik" befindet^ und von da nach Deutschland. Über den eigentlichen Zweck
dieser Reise hat man bis jetzt noch nichts verlauten lassen. Daß dieselbe einen
offiziellen Charakter nicht tragen kann, d. h. daß sie nicht auf Veranlassung
der Regierung des Goscnlandes oder seines Präsidenten Geh van Pittius er¬
folgt sein kann, geht schon daraus hervor, daß Herr de Körte wegen Streitig¬
keiten mit letzterm flüchtig geworden ist und seine Äcker mit Beschlag belegt
sind." Der letzte Schluß läßt an Beweiskraft zu wünschen übrig, und die
Boerenrepublik im Betschuanenlcmde ist ziemlich weit von hier.
Nachschrift. Soeben teilt man uns noch mit, daß die englische Regierung
wiederholt und zwar vor kurzer Zeit im Parlament erklärt hat, daß sie ein
Protektorat über das Zululand nicht übernehmen könne, man müsse es ent¬
weder annektiren, was mit zu großen Schwierigkeiten und Verantwortlichkeiten
verbunden sei, oder die Hand ganz davon lassen. Damit wird erklärlich, daß
Warrens Expedition nur gegen die Boers im Betschuanenlcmde, nicht aber gegen
die Zulus oder deren Verbündete, die dortigen Boers, gerichtet ist, und die
von Bulwer an der Lucia-Bucht aufgepflanzte Flagge kann in der That nur
voreilige Eigenmächtigkeit eines Unterbeamten sein, welcher keine Bestätigung
durch die Reichsregierung folgen wird.
in 13. Januar dieses Jahres abends gegen acht Uhr wurde zu
Frankfurt a. M. der Polizeirat Dr. Rumpfs vor seiner Wohnung
in den letzten Zügen liegend aufgefunden; ein Wort zu sprechen
war er nicht mehr imstande. Der Tod war herbeigeführt worden
durch einen mit großer Gewalt beigebrachten, die sämtlichen Klei¬
dungsstücke des Getöteten durchdringenden, das Herz durchbohrenden Stich mit
einem langen, dreikantigen Stilet. Die That war so rasch und sicher vollführt worden,
daß kein Laut des Angefallenen vernommen worden ist. I)r. Rumpfs war einer
der höheren Polizeibecnnteu, welche sich durch Aufspürung und Entdeckung von
Verbrechen auszeichneten, und war allgemeiner bekannt geworden durch die vom 10.
bis zum 20. Oktober 1881 vor dem Reichsgerichte zu Leipzig angestellte Verhand¬
lung des Hochverratsprozesses gegen fünfzehn Sozialdemokraten Mostscher Rich¬
tung. Bei diesem Prozesse hatte namentlich Dr. Rumpfs sich das Verdienst
erworben, die anarchistischen Verbindungen aufzudecken, welche damals zur Ab¬
urteilung kamen; er hatte zu diesem Zwecke einen gewissen Horsch benutzt, welcher
sich den betreffenden Anarchisten genähert und ihre Pläne ausgekundschaftet hatte.
Dieser in dem damaligen Prozesse als Zeuge vernommene Horsch starb nicht
lange nach der Beendigung des Prozesses; Polizeirat or. Rumpfs hatte wegen
der von ihm entfalteten Thätigkeit seit jener Zeit verschiedne Drohungen erhalten
und war nicht mehr im Zweifel darüber, daß er jeden Augenblick eines Atten¬
tats sich zu gewärtigen habe. Nimmt man hinzu, daß auch in dem neuer
dings verhandelten Reinsdorffschen Hochverratsprozesse die Anhänger der Ver¬
urteilten es gewagt haben, die höchsten Richter für den Fall gewissenhafter
Erfüllung der ihnen obliegenden Pflicht mit dein Tode zu bedrohen, so kann,
obgleich bis jetzt der Mörder des Polizeirath Rumpfs noch nicht gefaßt ist, es
keinem Zweifel mehr unterliegen, daß der vorliegende Mord ein Werk der
Anarchisten ist und an dem Opfer in Ausführung der Drohungen wegen seiner
Thätigkeit in dem 1881er Hvchverratsprozesse begangen wurde.
Der Anlaß ist geeignet, sich die Frage vorzulegen: Sind die bestehenden
gesetzlichen Einrichtungen hinreichend, um dem Treiben der Anarchisten mit
Aussicht auf Erfolg entgegenzutreten, und sind insbesondre die im Dienste des
Staates und der Gesellschaft thätigen, ihr Leben jeden Augenblick einsetzenden
Beamten genügend gegen Angriffe geschützt? Die Antwort kann nur lauten:
Nein! durchaus nein! — Was die letzte Frage betrifft, so ist in dieser Beziehung
gleich an die von dein Polizeipräsidenten von Hergenhahn ausgesetzte Belohnung
von zunächst dreitausend, später zehntausend Mark für Anzeige des Thäters
anzuknüpfen. Solange ein Zeuge weiß, daß er leine Aussicht auf Geheim¬
haltung seines Namens hat, und deshalb nach gemachter Anzeige jeden Augen¬
blick riskiren muß, von den Anhängern des Denunzirten ermordet zu werden,
wird ihn die Aussicht ans Gewinn der ausgesetzten Summe nicht leicht bewegen,
seine sichere Verborgenheit gegen die unsichere Hoffnung auf ungestörten Genuß
des erlangten Gewinnes auf das Spiel zu setzen. Diese Aussicht auf Ge¬
heimhaltung seines Namens in dein zu erwartenden Prozesse kann aber dem
Zeugen nicht eröffnet werden, denn nach der bestehenden Prozeßordnung müssen
nicht nur dem Angeklagten sämtliche Zeugen namhaft gemacht werden, und zwar
nicht erst in der Hanptverhnndlnng, vielmehr schon lange vorher in der An¬
klageschrift, sondern es sind trotz der unter Umstünden gewährten Möglichkeit
der Verhandlung bei geschlossenen Thüren die gesetzlich zulässigen Maßregeln
zur Erwirkung wirklich geheimer Verhandlung so unzureichend, daß von einer
ernstlichen Geheimhaltung irgendeines Beweismittels gegenüber dem Publikum
keine Rede sein kann. Die Borkehrungen zum Schutze der Verbrecher gehen
ja heute noch den Demokraten und dergleichen Leuten nicht weit genug, und
es finden sich bereits Blatter dieser Richtung, welche bei dem vorliegenden
Morde des Polizeirath Rumpfs an dessen „wenig rühmliche Thätigkeit" in dem
genannten Hochverratsprozesse anknüpfen und damit mehr oder weniger deutlich
ihren Lesern zu verstehen geben, wenn auch die Ermordung des Beamten gerade
nicht zu billigen sei, so habe er sich dieselbe doch selbst zuzuschreiben, weil er
in dem genannten Hvchverratsprozesse Mittel zur Erforschung der Wahrheit
angewendet habe, welche sich aus ethischen Gründen nicht rechtfertigen lassen.
Der ermordete Beamte ist schon während des betreffenden Hochverratsprozesses
in der Demokratenpresse vielfach angegriffen worden, und einer der Herren
brachte die Sache sogar im Reichstage zur Sprache. Bei der Neigung eines
großen Teils des Publikums, sich durch doktrinären Blödsinn imponiren zu
lassen, ist es ja nicht wunderbar, daß es eine Anzahl von Menschen giebt,
welche es in der That glaubt oder wenigstens die so und so oft gehörte
Phrase nachspricht, daß es unerlaubt und unsittlich sei, durch einen Spion sich
Kenntnis über die Anschläge und Pläne der Gegner zu verschaffen. Über An¬
schläge und Pläne von Gegnern, die nicht wie'j der Feind im Kriege mit
ehrlichen Waffen kämpfen, sondern denen jedes, mich das infamste Mittel gut
genug ist, ihren Gegner zu vernichten! Diesen Leuten gegenüber spricht man
von unerlaubten Mitteln, wenn ein Beamter einen Spion benutzt, um die
Wege aufzudecken, auf welchen diese Leute den ganzen bestehenden Staat, die
Gesellschaft einschließlich der skrupulosen Gerechten in die Luft sprengen wollen!
Das ist so albern, als wenn sie sich darüber beklagen wollten, es sei illoyal,
einem tollen Hunde ein vergiftetes Stück Fleisch zu fressen zu geben, da er es
nicht gefressen haben würde, wen» man ihn zuvor über dessen Eigenschaft auf¬
geklärt hätte.
In die gleiche Kategorie gehören die Redensarten über die Verwerflichkeit
der sogenannten Kronzeugen, d. h. derjenigen Personen, denen das Gesetz Straf¬
losigkeit ihrer Teilnahme an einem Verbrechen für den Fall zusagt, daß sie
ihre Teilnehmer angeben und dadurch deren Bestrafung ermöglichen. Eine
solche Belohnung des Verrath wäre verwerflich, wenn es sich darum handeln
würde, die Teilnehmer an einer edeln Handlung zum Abfalle von derselben
zu bewegen; wo es sich aber darum handelt, Verbrechen zu hintertreiben oder
gemeine Verbrecher der verdienten Strafe zu überliefern, da sind derartige Be¬
denken blödes Gefasel. Dem Gesindel gegenüber kommen wir nicht mit Hu¬
maner Redensarten aus, wir müssen die ihm angemessenen und bei ihm
wirksamen Mittel anwenden, und daß das Mittel der Kronzeugen ein wirksames
ist, das haben die — freilich weit praktischeren — Engländer längst eingesehen
und wenden es deshalb längst an.
Es sind nun aber nicht nur die bestehenden Maßnahmen zum Schutze der¬
jenigen Personen, welche im Interesse der ganzen Gesellschaft zur Habhaft-
werdung und Bestrafung ihrer grundsätzlichen Gegner mitwirken, ungenügend,
sondern es sind auch die zur energischen Unterdrückung dieser Verbrecherbande not¬
wendigen Einrichtungen nach unsrer geltenden Gesetzgebung nicht vorhanden. Welche
Mühe allein hat es gekostet, das gegen die auf den Umsturz der bestehenden Staats¬
und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen gegebene Sozialistengesetz seiner
Zeit durchzubringen, und welchen Kämpfen haben wir entgegenzusehen, wenn in
kurzer Zeit die Verlängerung dieses Gesetzes beantragt werden wird! Schon bei der
letzten, die Geltungsdauer dieses Gesetzes bis zum 30. September 1836 festsetzenden
Beratung des Reichstages war nur notdürftig eine Majorität für diesen Be¬
schluß zu erlangen, und welche Aussichten ein Antrag der Negierung auf weitere
Verlängerung der Geltung des Gesetzes haben würde, laßt sich bei der der-
maligen Zusammensetzung des Reichstages, wenn er bis dahin noch am Leben
sein .sollte, leicht voraussagen. Daß ein Gesetz gegen Bestrebungen, welche
den Umsturz der ganzen bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezwecken,
nötig ist, sollte eigentlich jedem Nichtteilnchmcr an diesen Bestrebungen ohne
weitere Auseinandersetzung von selbst klar sein und kaun mit Grund auch von
einem Sozialisten nicht bestritten werden, welcher ohne Heuchelei zu behaupte»
vermag, daß seine Absichten nicht auf diesen Umsturz gerichtet seien. Der Staat
bedarf aber zu seiner und der Gesellschaft Erhaltung nicht nur eines Gesetzes,
welches diese Bestrebungen verbietet und Zuwiderhandlungen mit einfachen Ge¬
fängnis- oder Geldstrafen bedroht, sondern er muß die Anhänger solcher Be¬
strebungen dahin stellen, wo sie selbst ihren Platz suchen, nämlich außerhalb
seines Schutzes. Wer selbst zugiebt oder überwiese» wird, daß er mit alleu
Mittel» den Bestand der Staatsordnung vernichten will, welche ihm die Mög¬
lichkeit der ungefährdeten Existenz sichert, hat keinen Anspruch darauf, als poli¬
tische Partei dieses Staates betrachtet zu werde»; er ist ein geschworener Fel»d
dieses Staates, und zur Verewigung gegen einen solchen Feind ist jedes Mittel
erlaubt, welches notwendig ist, um seinen Angriff gegen den Staat oder dessen
Angehörige abzuwenden. Die Anarchisten sind solche Feinde, wie sie selbst nicht
bestreiten; sie erwarten bloß und ergreifen jede Gelegenheit, ihre Vernichtnngs-
plcine ins Werk zu setzen. Es erscheint deshalb notwendig, Maßregeln gegen
sie zu treffen, welche das Einschreiten gegen dieselben nicht hintanhalten, bis
ein Angriff erfolgt ist, sondern solchen Angriffen soweit möglich schon vorbeugen.
Wem also die Zugehörigkeit oder Verbindung mit der Anarchistenpnrtei nach¬
gewiesen wird, gegen den kann der Staat nicht warten, bis er ein Attentat,
zu dem er jeden Augenblick bereit ist, verübt hat, er muß ihn vielmehr sofort
und mit den äußersten Mitteln unschädlich machen, und zwar für immer. Die
Anarchisten setzen uus in deu Stand der Notwehr; »lachen wir von dem Rechte
der Notwehr Gebrauch, solange es nicht zu spät ist!
as Lebendiggebären für eine ausschließlich den Säugetieren zu¬
kommende Eigentümlichkeit zu halten, ist eine dem Laien geläufige
Vorstellung. Er hat Eier von Vögeln, Fischen, Eidechsen, Schmetter¬
linge», Spinnen, Schnecke», vielleicht sogar eines jener großen
denen der Vögel ähnlichen Eier desMrokodils gesehen, und aus
dieser Thatsache des Eierlegens so vieler ihm als Nichtsäugetiere bekannten
Wesen glaubt er als selbstverständlich entnehmen zu dürfen, daß alle Tiere,
welche ihre Jungen nicht säugen, Eier legen. Es ist dies jedoch eine Annahme,
welche eine genauere Beobachtung der Thatsachen längst als irrig erwiesen hat.
Der Tierkuudige kennt eine stattliche Zahl von Tieren fast aus allen Klassen
des Reiches, hohen und niederen, deren Fortpflanzung auf ein Lcbendiggebciren
hinausläuft. So unwahrscheinlich es dem Laien auch erscheinen mag, es giebt
in der That Reptilien, Fische, Schnecken, Insekten und Krebse, welche ihre
Jungen lebendig zur Welt bringen, und was das auffallendste dabei ist, es sind
gar oft Tiere, die in andrer Beziehung einander sehr nahe stehen, in der Art
der Fortpflanzung jedoch sich scheinbar so weit von einander entfernen.
Bei einer Erwägung dieser Verhältnisse drängt sich nun bald die Frage
auf, ob denn in der That, wie es zuerst den Anschein hat, die beiden Arten
der Fortpflanzung, um die es sich hier handelt, so weit von einander verschieden
seien, ob nicht vielmehr, ermöglicht durch ein beiden gemeinsames Prinzip, ein
Übergang von der einen zur andern verständlich sei? Die vergleichende Ent¬
wicklungsgeschichte hat in der That diese Fragen im Sinne der Fragestellung
beantwortet. Ob eine Eidechse Eier legt, ob sie die Eier im mütterlichen
Körper bis zur Vollendung der embryonalen Entwicklung bewahrt, hängt von
verhältnismäßig nebensächlichen Umständen der Organisation ab; beiden Fort¬
pflanzungsarten gemeinsam und das wichtigste dabei ist das Vorhandensein des
Eies. Lebendiggebären bei einem niederen Tiere, also z. B. bei der Eidechse,
und Lcbendiggebciren bei einem Säugetiere ist zwar bei weitem nicht dasselbe,
aber eines finden wir auch hier als beiden gemeinsam, und dies ist — das El.
Auch das Säugetier, auch der Mensch entsteht aus einem El.
Den Begriff des Eies allerdings, den der Laie gewöhnlich mitbringt und
den er lediglich vom Vogelei abgezogen zu haben pflegt, hat die Wissenschaft
längst berichtigt. Das Vogelei mit seinem großen gelben Dotter und der
mächtigen umlagernden Eiweißschicht, mit seiner festen, kalkigen Schale ist nicht
das El im wissenschaftlichen Sinne. Das eigentliche El, welches fast allen
Tieren, auch dem Menschen zukommt, und welches uns im Vogelei, wenn auch
in schon fortgeschritteneren Entwicklungsstadium, in einer kleinen weißlichen Scheibe
des Dotters entgegentritt, ist — eine Zelle, ein kleines, oft mikroskopisches
Bläschen mit zähflüssigem Inhalte und eingelagerten! festerem Kerne; alles andre
sind Zuthaten, die auftreten oder wegfallen können, je nach den verschiednen
Umständen, unter denen sich die Eizelle entwickelt. Denn die Eizelle ist es,
welche durch tausend- und abertausendfache Teilung in weitere Zellen bei gleich¬
zeitigem Wachstum derselben und dnrch Verschiedenwerden dieser Zellen nach
den vielfachsten Richtungen hin große wie kleine Organismen entstehen läßt.
Die Umstände nun, unter welchen sich die Eizellen der verschiednen Tiere
entwickeln, sind verschieden genug. Die einen bringen ihre Eizellen in ihrer
ursprünglichen Gestalt, und dann meist in großer, oft ungeheurer Zahl, in die
Außenwelt und überlassen sie ihrem Schicksal. Bei der geringen Menge der
alsdann in die Entwicklung eintretenden Stoffe ergiebt es sich, daß die ent¬
stehenden Organismen noch sehr klein oder, was oft gleichbedeutend ist, auf
einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe selbständig in den Kampf des Lebens
eintreten müssen, um unter mannichfachen Hindernissen ihn zu bestehen oder in
ihm zu unterliegen, d. h. zu gründe zu gehen — ein Nachteil, welchen die
Natur durch die große Zahl der Eier mit der Wahrscheinlichkeit des Fortkom¬
mens des einen oder des andern auszugleichen sucht. Sollten dagegen nur
wenig Eier hervorgebracht und doch das Bestehen der Art gesichert werden, so
mußten sich die äußern Umstände der Entwicklung günstiger, gefahrloser ge¬
stalten, d. h. die jungen Tiere mußten die Eihülle höher entwickelt und demgemäß
besser ausgerüstet für den Kampf ums Leben verlassen können. Um das zu
ermöglichen, mußten dem aus der Eizelle sich entwickelnden Organismus Nah¬
rungsstoffe in reichlicherer Menge geliefert werden. Und dieses Mittels hat
sich die Natur in zahllosen Fällen bedient. Das Dotter und das Eiweiß des
Vogeleies und des Eies vieler andern Tiere hat keinen andern Zweck, es ist
Zuthat, nichts als Nahrungsmaterial des entstehenden Jungen. Ob nun ein
solches El seine Entwicklung im Innern des mütterlichen Körpers durchmacht,
was die eine oder andre Einrichtung der in betracht kommenden Organe leicht
ermöglichen konnte, oder nach der Ablegung sie in der Außenwelt vollendet, ist
kein grundsätzlicher Unterschied.
Aber noch eine andre Art der Herbeiführung günstiger Ernährungsverhält-
nisse für das zu entwickelnde Wesen kennt die Natur, sie hat sie in erster Linie
bei den Säugetieren zur Anwendung gebracht. Die Eizelle bleibt klein wie sonst,
um sie herum werden keine Nahrungsschichten, wie Dotter und Eiweiß, abge¬
schieden, aber — sie löst sich nicht ab vom Organismus der Mutter, sie bleibt
mit ihm durch gewisse sekundäre Einrichtungen in lebendiger Verbindung, lebt
mit ihm in Gemeinschaft des Blutes. Das Blut der Mutter, wie es diese
selbst ernährt, ernährt auch die wachsende, sich leitende und verschieden in
ihren Teilen werdende Eizelle, das Junge, welches nun, unter denkbar günstigsten
Verhältnissen entwickelt, in hoher Vollendung nach der Geburt zur Außenwelt
in Beziehung tritt, um auch daun noch durch die Milch der Mutter für längere
Zeit des selbständigen Nahrungserwerbes enthoben zu sein.
Nun fragt es sich: Ist ein Übergang denkbar zwischen demjenigen El, das
mit Nahrnugsdotter umgeben im Innern des mütterlichen Körpers seine Ent¬
wicklung vollendet, und jenem, welches ohne solche Umhüllungen von Nahrungs¬
stoffen direkt durch die Säfte der mütterlichen Organe gespeist wird? Die Frage
läßt sich nach dem vorhergegangenen leicht beantworten: Der Übergang ist
denkbar. Die umlagernden Nahrungsschichteu schwinden, das mehr und mehr
der ursprünglichen Einfachheit genäherte El wird eng umschlossen von blut¬
reiche» Schleimhäuten des bergenden mütterlichen Organes, des Fruchthalters, so
daß das Blut der Mutter den wachsenden Organismus gleichsam durchtränken
kann, und der Übergang hat sich allmählich vollzogen.
Damit aber sind wir zu einem Standpunkte gelangt, von dem betrachtet
eine der überraschendsten neuern Entdeckungen auf dem Gebiete der Tierkunde
nicht mehr vou vornherein als ein Märchen zu erscheinen braucht. Vor einiger
Zeit brachte das Kabel aus dem jüngsten Weltteile die seltsame Kunde, ein
junger englischer Forscher habe gefunden, daß der Ameisenigel (lüvliiäll^ it/Strix),
welchen alle Zoologen als unzweifelhaft zu den Säugetieren gehörig betrachten —
hartschalige Eier lege! Und die Nachricht wird nicht widerrufen, sie bestätigt sich
vielmehr durch die andre, daß schon fünf Tage vor dem Engländer und unab¬
hängig von ihm ein deutscher Naturforscher, Dr. W. Hacicke, ein Schüler Häckels
und zuletzt Assistent am zoologischen Institute zu Kiel, jetzt Direktor des süd-
australischeu Museums zu Adelaide, dieselbe Thatsache festgestellt habe.
'
Der Ameisenigel und das Schnabeltier (0rintil0rll^n<zllc>8 Mrs.et0xn8) bilden
die einzigen bekannten Vertreter einer unter den Sängetieren ganz vereinzelt
dastehenden Gruppe. Was schon dem Laien auffallen und diese Sonderstellung
einleuchtend macheu würde, ist der merkwürdige Umstand, daß wir bei diesen
Tieren statt der bekannten, mit Knochenzähnen versehenen Säugetierschnanze
einen hornigen, vogelähnliche» Schnabel finden. Dem vergleichenden Anatomen
fallen jedoch innere, noch wichtigere Eigentümlichkeiten der sogenannten „Gabel¬
tiere" ans. Das Schultergerüste zeigt sich reptilieuartig gebildet, ebenso mahnt
die gemeinschaftliche Ausmündung der Harnorgane, der Geschlechtsdrilsen und
des Darmes an diese Tierklasse. Auch die Organe, welche unsre Gabeltiere zu
eigentlichen Säugetiere« machen, die Milchdrüsen, zeigen sich nicht gebildet wie
bei andern Säugern. Sie sind bei weitem nicht so vollkommen: die einzelnen
Milchdrüsensäckchen münden nicht, wie sonst, zusammen ans einer „Zitze" aus,
sondern die Ausführungsgänge bleiben zeitlebens weit von einander gesondert —
ein Zustand, der, obgleich er sich auch bei den übrigen Säugetieren, wenn anch
nur vorübergehend während ihres embryonalen Lebens findet, die ersten Be¬
obachter geneigt machte, die in Rede stehenden Organe überhaupt nicht für
Milch-, sondern für Schleimdrüsen zu halten, wie solche anch an der Haut
reptilienartiger Tiere vorkommen.
Während wir so bei den sonderbaren Gabeltieren mancherlei Anklänge an
den Bau der Reptilien entdecken, um derentwillen Anhänger der Abstammungs¬
lehre sich für berechtigt halten, die Gabeltiere direkt von jenen herzuleiten,
können wir andrerseits bei ihnen, abgesehen von den typischen Eigentümlichkeiten des
Süngetierbaues, eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einer andern, nächst höher¬
stehenden Säugetiergruppe, den Beuteltieren, feststellen, welche gleichfalls fast
ausschließlich Bewohner Australiens sind. Diese nämlich — der bekannteste
ihrer Vertreter ist das Känguruh — gehalren ihre Jungen auf einer sehr frühen
Entwicklungsstufe, noch völlig unreif, um sie dann in einem dnrch zwei Knochen
gestützten Beutel, welcher die Zitzen umgiebt, noch lange Zeit mit sich herum¬
zutragen. Diese eigentümlichen Beutelknochen finden sich auch bei den Gabel¬
tieren und bei einem von ihnen, dem Ameisenigel, auch ein Analogon des Beutels
in der sogenannten Mammillartasche, einer das Milchdrüseufeld umgebenden
Hnutfaltung.
Fassen wir nun diese Thatsachen gleichzeitig mit dem so höchst merkwür¬
digen Eierlegen des Ameisenigels und wahrscheinlich auch dem des Schnabel¬
tieres ins Auge, so haben wir das Schauspiel eines ganz allmählichen Über¬
ganges, nicht nur von der Gestalt des Reptils zu der des Säugetieres, auf
welche es uns hier weniger ankommt, sondern auch von einer Fortpflnnzungs-
art zu einer von ihr scheinbar dnrch eine unüberschreitbare Kluft getrennten
andern. Wir gehen aus von einem Tiere, welches seine Eier, um ihre Ent¬
wicklung mehr zu sichern, mit reichen Nahrnngsmasscn umgiebt, sie dann nach
außen bringt und sie sich selbst überläßt — ein Zustand, welcher sich bei den
meisten Reptilien findet. Mit der Entwicklung der Warmblütigkeit war dieser
Zustand nicht mehr vereinbar; die Eier mußten auf der Temperaturhöhe des
mütterlichen Körpers gehalten werden, falls sie sich entwickeln sollten. Beim
Ameisenigel finden wir das Problem gelöst, jedoch anders als bei den brütenden
Vögeln: er bringt seine Eier gleichfalls nach außen, aber um sie sofort wieder
in einem andern Organe seines Körpers, der Mammillartasche, zu bergen, wo,
durch die Wärme des mütterlichen Körpers entwickelt, die Jungen nach dem
Verlassen des Eies in der Milch der Mutter noch längere Zeit die notwen¬
digen Ncchrnngsstoffe finden. Einen Schritt weiter führen uns die Beuteltiere.
Hier kommt es garnicht mehr zur Bildung von Eiern im gewöhnlichen Sinne.
Aber die Verbindung der Eizelle mit dem mütterlichen, blut- und säftevermittelnden,
d. h. ernährenden Organe ist noch keine innige, der wachsende Organismus wird
daher auf noch früher Entwicklungsstufe geboren, aber wieder nicht, um sich
selbst und den Unbilden der Außenwelt überlassen zu werden: im Beutel der
Mutter findet er Schutz und an den nunmehr schon weiter entwickelten milch-
spendcnden Organen eine reiche Nahrungsanelle für lange Zeit, bis er endlich,
völlig ausgereift, seinen eignen Weg geht.
Der Übergang zu den Verhältnissen, wie die höheren Säugetiere sie auf¬
weisen, ist nun, im Prinzip wenigstens, verständlich. Die Verbindung der
wachsenden Eizelle mit der Mutter wird enger und enger, später und später
erfolgt die Trennung durch die Geburt, bis zuletzt ein nahezu vollendeter
Organismus durch dieselbe zutage tritt, der nunmehr nur kurze Zeit durch die
Muttermilch ernährt wird und bald selbständig in das Leben eintritt.
Einlegende Säugetiere, so paradox diese Verbindung auch anfangs scheinen
mochte, sind also keine Wunder, wenigstens rückt die Allmählichkeit des Über¬
ganges von einem zum andern, welche die Natur hier wie überall zeigt, ihre
Erscheinung unserm Verständnisse näher, wenn auch der Übergang von hier
zur wirklichen Erkenntnis, wie in allen menschlichen Versuchen zur Auffassung
der Welt, sich leider nicht vollziehen zu wollen scheint.
roß ist die Anzahl der Streitfragen, die sich an die Vlockbiicher
knüpfen.
Schwer zu entscheiden ist schon die Frage nach dem Ort ihrer
Entstehung, da nur wenige Werke mit Ortsangabe versehen sind.
Einen Anhaltepunkt bietet die Sprache. Die Sprachen, die wir
in den Blockbüchern angewendet finden, sind das Lateinische, das Niederländische
und das Deutsche. Lateinisch ist der Text in sieben Ausgaben des ^rs morivncli,
in fünf Ausgaben der Armenbibel, in der Apokalypse, im (^rutivuiu, im Pater¬
noster, im LxvLulurQ L-it,va.t.ioniL, sowie im DölöQ8prima, in der ^.rs lusiuorimäi,
im I/ivvr KvAuni und in den verschiednen Kalendern. niederländisch ist er in der
Geschichte vom heiligen Kreuz, in den sieben Todsünden und im Leben Jesu;
deutsch in den Zehn Geboten, dem Antichrist, der Passion, dem apostolischen
Glaubensbekenntnis, dem Totentanz, der Fabel vom kranken Löwen, dem Lato«
lisZ-irn, der Meiuradslegende, den acht Schalkheiten, dem geistlichen und welt¬
lichen Rom, dem Zcitglöcklein, der Chiromantie, sowie in zwei Ausgaben der
Armeubibel und in drei Ausgaben der ^.r» morlöuäi. Die Bücher mit nieder¬
ländischen Texte werden wir natürlich den Niederlanden, die mit deutschem Text
Deutschland zuweisen. Bei den lateinischen Ausgaben muß der Stil der Holz¬
schnitte, auch das Papier, auf das sie gedruckt sind, als Bestimmungsmittel des
Ursprunges dienen. Die Vergleichungen lehren, daß die meisten dieser latei¬
nischen Werke — Armenbibel, Liimtie-uur, Paternoster, Apokalypse, Lpsoulum
LÄlviMorü8 — den Niederlanden angehören, während bei der ^rs urorlönäi,
dem O6lM80i'iuin, dem lador Reg'um, der ^8 msinorg.nÄi und den Kalendern
der deutsche Ursprung wahrscheinlich ist. Die Niederlande und Deutschland siud
es also, die sich in den Ruhm teilen, dem Holztafeldruck weite Verbreitung ver¬
schafft zu haben. In den Niederlanden entstehen die großen Hauptwerke, wäh¬
rend die lange Reihe der kleineren religiösen und profanen Schriftchen Deutsch¬
land angehört.
Weiter zu gehen und nach den Künstlern zu fragen, welche die Zeichnungen
für die Bücher anfertigten, ist mißlich und hat, namentlich was die Nieder¬
lande anlangt, schon zu großen Irrtümern geführt. Früher hat man immer
bedeutende Meister angenommen und versuchte z. B, zu beweisen, daß die Original¬
zeichnungen zur Armenbibel von Jan van Eyck oder Roger van der Weyden
entworfen seien. Aber diese Behauptungen sind ohne jeden wissenschaftlichen
Wert. Auf namhafte Meister zu raten, verbietet allein schon die Ermägnug,
daß bis in das sechzehnte Jahrhundert die Miniaturmalerei eine noch unan¬
getastete Stellung in der flandrischen Kunst einnahm, und daß eine Schule,
welche das Breviarium Grimani schuf, keine große Neigung zu den noch ganz
primitiven Holzschnitten der Blvckbücher fassen konnte. Möglich, daß einzelne
verlaufene Glieder der Schule zu dem neuen Erwerbszweige griffen und auf
diese Weise Handwerk und Kunst vermittelten; oft wurden aber die Bücher über¬
haupt nicht von Künstlern oder Kartenmachern, sondern von schlichten Kloster-
geistlichen zur Erbauung angefertigt. Und zwar scheint sich vorzugsweise die
von I. de Grovte im vierzehnten Jahrhundert in Deventer begründete halb-
klösterliche Genossenschaft der Brüder des gemeinsamen Lebens mit der Ausgabe
der Plattendrncke in den Niederlanden beschäftigt zu haben. Hier in Deventer,
sowie in deu spätern Zweigniederlassungen dieser Brüderschaft in Zwolle, Her¬
zogenbusch, Grönendal, Brüssel und Löwen sind wahrscheinlich die meisten dieser
alten niederländischen Blvckbücher entstanden.
Über Deutschland sind wir etwas besser unterrichtet. Hier kommt zuerst
der Niederrhein mit Köln als Mittelpunkt in Betracht. Dort entstand, wie
man aus dem Charakter der Holzschnitte, sowie ans der Ähnlichkeit mit spätern
in Köln erschienenen typographischen Ausgaben schließen kann, die schöne Lanio
xriuoexs der ^rs moriouäi, die ans der Weigelschen Sammlung in das Bri¬
tische Museum gelangt ist und von der wiederum vier spätere lateinische Aus¬
gaben abhängig sind. Ebenso wichtig wie der Niederrhein war aber für den
Hvlztafeldruck Oberdeutschland. Hier sind drei Schulen auseinanderzuhalten.
Die erste ist die schwäbische mit den drei Hauptstädten Nördlingen, Ma und
Augsburg. In Nördlingen wurde durch zwei Briefmaler, Friedrich Walther und
Hans Hürning die erste deutsche Ausgabe der LWm MUPsrniri angefertigt. In
Ulm lieferte ein Meister Ludwig die zweite ohne Jahresangabe erschienene deutsche
Allsgabe der ^.'8 irwriLiräi, ein andrer das Buch über die acht Schalkheiten,
wie man aus dem Dialekt mit Sicherheit schließen kann. In Augsburg ent¬
stand Hartliebs Chiromantie, als deren Verfertiger sich am Schlüsse Jörg Schapff
zu Augsburg angiebt. Auch im südlichem Schwaben und in der Schweiz war
man thätig, denn es kann als sicher gelten, daß die Legende vom heiligen
Meinrad in Einsiedeln, dem Kloster dieses Heiligen, gedruckt worden ist. Von
Schwaben aus scheint sich die Vorliebe für Blockbücher nach Vaiern verbreitet
zu haben. So nennt sich beim Lulvo UvM^ der Holzschneider Lienhart zu
Regensburg als Verfertiger, Die Sprache des Textes ist aber ganz schwäbisch,
und Meister Lienhart scheint mit einem Ulmer Formschueider Lienhart identisch
zu sein, der in den dortigen Urkunden unter dem Jahre 1442 erwähnt wird
und wahrscheinlich wie viele andre Formschneider Schulden halber aus Ulm
ausgewiesen wurde. Ein Hauptort in Bairen wurde dann das Kloster Tegernsee,
wo wahrscheinlich das L^mboluw Apo8t,0ki<mur entworfen wurde. Der Haupt¬
sitz der fränkischen Schule endlich ist Nürnberg, und von Druckern ist nament¬
lich ein auch später uoch nachweisbarer Hans Sporer bekannt. Er veröffent¬
lichte im Jahre 1472 eine Ausgabe des Antichrist, welche auf der ersten Seite
die Angabe enthält: „Der jung hanns priffmaler hat das puch zu Nürn¬
berg 1472 ^gedruckt!," sowie im Jahre 1475 die zweite deutsche Ausgabe der
Livus, xg,uvvrum.
Mit dem Umstände, daß es einfache Formschneider, keine Künstler waren,
welche die Zeichnungen anfertigten, hängt nun ein weiterer Punkt zusammen,
nämlich daß die Kompositionen nicht selbständig sind, sondern auf alte Vorlagen
zurückgehen. Die erste Thätigkeit der Xylographie bestand darin, alte, im Mittel¬
alter beliebte handschriftliche Werke in Massen zu verbreiten, und so gehen auch
die Holzschnitte fast sämtlich auf Miniaturen alter Manuskripte zurück. Mau
kam auf diesen Gedanken zuerst bei der Prüfung der Apokalypse. Die Holz¬
schnitte derselben zeigen einen ausgesprochen byzantinischen Stil, und da sie aus
diesem Grunde keinem abendländischen Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts
angehören konnten, nahm man zuerst an, daß sie das Werk eines der griechischen
Künstler seien, die nach der Einnahme von Konstantinopel 1453 aus ihrem
Lande vertrieben wurden. Später fand mau die einfachere Lösung, nämlich daß
die Holzschnitte uralte mittelalterliche Miniaturen kopiren. Die Apokalypse
eignete sich ja mehr als jedes andre Buch zur Illustration und hat zu allen
Zeiten die Geister zum Grübeln angeregt. Johannes war der Lieblingsapostel
Griechenlands, und so hat Ostrom früh den Cyklus der apokalyptischen Illu¬
strationen festgestellt. Dieser Cyklus wurde bald nach dem Abendlande über¬
tragen, und wir können Manuskripte aus dem elften Jahrhundert nachweisen,
die schon dieselbe Folge von Darstellungen enthalten, welche in den xylographischen
Werken vorkommt.*)
In ähnlicher Weise giebt es Bilderfolgen, die lange vor Erfindung der
Xylographie dieselben Gegenstände wie die Armenbibel behandelten. Der ganze
Vorstellungskreis der Armenbibel geht zurück auf das Wort Jesu (Luk. 24, 44):
„Es muß alles erfüllet werden, was in dem Gesetze Mosis, in den Propheten
und den Psalmen von mir geschrieben ist." Dieser Gedanke, daß die Begeben¬
heiten des alten Bundes Vorbilder dessen seien, was in dem neuen Bunde zur
Erfüllung gelangt ist, daß in ersterem eine lange und geschlossene Reihe von
Hinweisungen auf die Segnungen liege, die durch den Erlöser geschaffen worden
sind, ist der stehende Gedanke in den Schriften der Kirchenväter, ein Gedanke,
welcher sich tief in die ganze Auffassungsweise des Volkes einsenkte und sofort
im Bilde verkörpert wurde, als die Kunst in lebendiger Regung sich geltend
machte. Schon auf einem Email-Antipendinm aus dem Stifte Klosterneuburg/')
einem Werke des zwölftel, Jahrhunderts, tritt er uns vollständig ausgebildet
entgegen. Die neutestamentlichen Begebenheiten beginnen mit der Verkündigung
Marias, führen die bedeutsamsten Momente aus dem Leben Christi vor Augen
und schließen mit dem Reiche der Zukunft, wo Christus als Weltrichter seine
zweite Ankunft feiert. Dieser Reihe von Darstellungen gehen zwei Reihen alt-
testamentlicher Vorbilder zur Seite; die obere Reihe nimmt ihre Typen aus
der Zeit vor der Gesetzgebung Mosis — into lögsm —, die untere enthält
die Darstellungen ans der Zeit der Herrschaft der mosaischen Gesetze — sud
IfiKL —, zwischen beiden erscheinen die Darstellungen des neuen Bundes, der
Zeit des Heils — «u1> ZMin. Ist in diesem Werke ein direkter Zusammen¬
hang mit der späteren Armenbibel noch nicht nachweisbar, so begegnen wir
einem zweiten, dessen Abfassung in nicht viel spätere Zeit zu setzen ist und das
uns als direkte Quelle der gedruckten Liblig. ^mxizruni, entgegentritt. Es ist
ein Manuskript, das im Stifte Sankt Florian in Oberösterreich bewahrt wird,**)
fast zweihundert Jahre älter ist als die Armenbibel, aber schon die nämlichen
Kompositionen enthält wie diese. Wie in der Armenbibel, ist auch hier die
neutestamentliche Darstellung, welche den Mittelraum einnimmt, von den Halb-
gestalteu vou vier Propheten umgeben, mit Spruchbändern in den Händen,
worauf die Worte der Verheißung angebracht sind. Die Armenbibcl ist also
ein bloßer wortgetreuer Abdruck einer viel älteren Quelle.
Ebenso klar ist der Zusammenhang mit alten Miniaturen bei dem Vater¬
unser nachzuweisen. Die Holzschnitte desselben sind den zwölf Miniaturen eines
von Henrieus und Pomerio 1440 angefertigten, 8xirit,uÄl<z ?oinsriuiri betitelten
Manuskriptes verwandt, welches die Bibliothek von Brüssel bewahrt und worin
die Seele belehrt wird, wie sie sich zu jeder Stunde des Tages in frommen
Meditationen zu üben habe. Das O-urtieurn og-ntioornin hängt zusammen mit
einem Werke des heiligen Bonaventurci. Man hat festgestellt, daß Bonaventura
in einer seiner Abhandlungen der Jungfrau Maria die meisten Verse in den
Mund legt, die man auf den Bändern des (^ntioum, liest. Auch der Umstand,
daß wir auf der ersten Tafel Mönche des Franzistanervrdens fehen, dessen
General Bonaventura war, weist daraus hin, daß der erste Ursprung des Buches
im Kreise der Franziskaner zu suchen ist. Offenbar hat ein italienisches Mi-
niaturwerk dem Xylographen vorgeleget!, worauf auch die etwas italienische
Formenbehandlung hinweist. Es kann als sicher gelten, daß bei weiterer Nach¬
forschung sich auch noch für andre Blockbücher der Zusammenhang mit mittel¬
alterlichen Manuskripten wird feststellen lassen.
Die Zeit, in welcher diese mittelalterlichen Schriften durch den Hvlztafel-
drnck neu verbreitet wurden, wurde früher viel zu früh augesetzt. Die Haupt¬
thätigkeit in den Niederlanden scheint in die vierziger Jahre des fünfzehnten
Jahrhunderts zu fallen. Damals dürften dort die ersten Ausgaben der Armen¬
bibel, der Apokalypse und des Heilsspiegels entstanden sein, während das (lau-
tieum und das Vaterunser etwa ins Jahr 1450 fallen. In der zweiten Hälfte
des Jahrhunderts war dann die Thätigkeit in Deutschland eine besonders rege.
Der Vorrang scheint hier den Kölnischen Ausgaben der ^r>8 riioriemäi zu ge¬
bühren, die wohl noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, 1440 bis 1450,
entstanden find. Das De4Susa'iurn., die ^rs lnsravrMäi, das Buch der Könige,
die Zehn Gebote, der Antichrist, die Passion, das Apostelsymbol, der Toten¬
tanz und die Fabel vom kranken Löwen werden der Mitte des Jahrhunderts
angehören. Etwa ins Jahr 1460 setzt man die acht Schalkheiten, ins Jahr
1466 die Legende vom heiligen Meinrad und das 3Aos Usg'iun. Besonders
viel wurde dann in den siebziger Jahren veröffentlicht. 1470 entstand die
Nördlinger, 1475 die Nürnberger Ausgabe der Armenbibel, 1473 die Bam-
berger, 1477 die Ulmer Ausgabe der ^rs raorlöväi; 1470 bis 1473 druckte
man die .Kalender des Johannes von Gmünd und des Regiomontanus. Auch
das „Heilige und profane Rom" muß damals, in den Jahren 1471 bis 1484,
entstanden sein, da sich unter den Wappen dasjenige des Papstes Sixtus IV.
befindet. Und noch in den letzten zwanzig Jahren des Jahrhunderts wurde
der Hvlztafeldruck in Deutschland rüstig weiter betrieben. So weist bei dem
Beichtspiegel der Stil der Teppiche, welche im Hintergründe der Holzschnitte
hängen, auf die neunziger Jahre des fünfzehnten Jahrhunderts hin. Als eines
der letzten deutschen Werke kann schließlich die Chiromantie gelten, da Jörg
Schapff zu Augsburg, der sich auf der letzten Seite des Buches als den Fvrm-
schneider bezeichnet, in den Augsburger Steuerbüchern vom Jahre 1473 bis
zum Jahre 1516 zu verfolgen ist. Es ist also eigentlich nicht richtig, von
einem „Buchdruck vor Gutenberg" zu reden; wir beobachten vielmehr in den
Blockbüchern das letzte Ringen der alten Kartenmacher mit den neuen Buch¬
druckern und sehen, daß noch lange nach der Erfindung der Buchdruckerkunst
das alte Gewerbe der Briefdrucker, wenn auch in beschränkterem Maße, weiter
betrieben wurde.
Daß wir über alle diese Dinge jetzt besser als früher unterrichtet sind,
verdanken wir hauptsächlich einem neuen, vielversprechenden Buche, dein Niinuc-I
cle ä'vswmpvL, dessen Herausgabe Eugene Dutuit, ein allen Kunst¬
freunden als Kenner und Sammler alter Drucke längst bekannter Gelehrter,
begonnen hat und dessen kürzlich erschienener erster Band die ältesten Erzeug¬
nisse des Grabstichels bis zum Jahre 1460, dann die Arbeiten in Schrvtmmüer,
schließlich die Holztafeldrucke behandelt. Leider ist auch in diesem Werke, wie
in allen früheren, die Behandlung der alten Drucke eine sehr ungleiche.
Die ^'8 Morlölicli, die Armenbibel, die Apokalypse, das Liwtioum, das Vater¬
unser, das vokönsoriurn und das Lxöonlunr sg.1og.t,inn8 werden genau besprochen,
während die andern dreißig in einer Uotioo soiruirmre kurz abgethan werden.
Es ist das umso bedauerlicher, als man gerade für diese dreißig bisher auf
sehr ungenaue Beschreibungen angewiesen war, während über die sieben großen
Werke schon ausführliche Arbeiten vorlagen. Auch die Frage nach dein Zu¬
sammenhange der Blockbücher mit alten Miniaturwerkeu ist hier noch keineswegs
gelöst, sondern wird noch zu vielen Eiuzelforschuugen Anlaß geben. Aber trotz
dieser Mängel finden Kunsthistoriker wie Sammler bei Dntuit eine Fülle neuen,
hochwillkommenen Materials und werden auch das dem Werke beigegebene Album
vorzüglicher Nachbildungen alter Holzschnittblätter freudig begrüßen. Dutuits
Werk ist nicht abgeschlossen, sondern erst begonnen. Die Abhandlung über die
Blockbücher bildet nur den ersten Band eines gewaltige», auf acht Bände be¬
rechneten Werkes, das die Geschichte der zeichnenden Künste aller Zeiten und
Schulen umfassen soll und von dem der vierte und fünfte Band — die flä¬
mische und holländische Schule — bereits vor einigen Jahren erschienen sind.
Der erste Band ist bei weitem wissenschaftlicher gehalten, als man nach jenen
frühern Bänden hätte erwarten sollen, und es ist nur zu wünschen, daß auch
die beiden folgenden, welche die Einzelblätter und illustrirten Bücher des fünf¬
zehnten lind sechzehnten Jahrhunderts umfassen sollen, sich auf gleicher Höhe
halten. Damit dies eintrete, ist dem Verfasser dringend anzuraten, auch die
Sammlungen und Bibliotheken Deutschlands, die er bis jetzt noch wenig zu
kennen scheint, eingehend zu studiren. Wenn dies geschieht und dieselbe Me¬
thode wie beim ersten Bande weiter verfolgt wird, dürfe» wir von dem Buche
eine wesentliche Bereicherung unsrer Kenntnisse erwarten.
er die verhältnismäßig große Anzahl von Werken über die Ge¬
schichte der neueren Kunst vor Augen hat, der möchte wohl glauben,
daß sich aus ihnen ein sicheres und wenigstens annähernd voll¬
ständiges Bild dieser Kunst gewinnen lasse. Wie aber jeder Sach¬
kundige weiß, ist dies leider nicht der Fall. Was wir aus jenen
Darstellungen lernen können, ist in der That nicht viel mehr als eine im ganzen
und großen richtige Anschauung über den bisherigen Gang der Entwicklung,
nicht aber eine in allen Teilen gleichmäßig auf sichere Thatsachen begründete
objektive Geschichte. Freilich ist das Verlangen nach einer solchen wirklichen
Geschichte gegenwärtig noch unerfüllbar, da wir bei genauerer Prüfung bekennen
müssen, daß unser Wissen auf diesem Gebiete noch die größten Lücken zeigt.
Wenn es sich darum handelt, auch nur bei den hervorragendsten Künstlern einen
tiefern Einblick in das Werden und Wachsen ihrer Schöpfungen zu gewinne»
und die Einwirkungen zu bestimmen, die für ihre Entwicklung maßgebend gewesen
sind, so geben uns die bisherigen Kunstgeschichten in der Regel keinen befriedi¬
genden Aufschluß; wir müssen uns statt dessen meistens mit einer Reihe sub¬
jektiver Urteile abspeisen lassen, deren Richtigkeit oft in umgekehrtem Verhält¬
nisse zu der Sicherheit steht, mit der sie vorgetragen werden.
Diese Erfahrung wird jeder gemacht haben, der das Glück gehabt hat,
jemals mit Künstlern intimer zu Verkehren, und der sich auf diese Weise über
ihr Wirken und Wollen genauer unterrichtet hat. Er wird dann immer finden,
daß die Darstellung der gangbaren Handbücher von dem, was er aus eigner
Anschauung weiß, abweicht, und zwar nicht nur in Einzelheiten, sondern oft
gerade in der Hauptsache. Ist aber einmal auf diese Weise in dem Leser der
Zweifel rege geworden, dann dehnt er denselben unwillkürlich auch auf diejenigen
Partien eines Buches aus, für welche ihm eine Information aus persönlicher
Bekanntschaft nicht zur Seite steht. Am allerwenigsten aber wird er geneigt
sein, sein skeptisches Verhalten gegen die landläufigen Kuustausichten aufzugeben,
wenn er sieht, wie gerade diejenigen, welche nicht im mindesten historisch geschult
sind und auf ihre Schilderung der neuern Kunst die allergeringste Sorgfalt
verwende», den Ton absoluter Unfehlbarkeit anschlagen und sich dem Wahne
hingeben, die Welt müsse ihr einseitiges Kunsträsonncment als eine Offenbarung
höchster Weisheit hinnehmen.
Es ist nicht schwer zu erraten, wen wir bei diesen Bemerkungen in erster
Linie im Ange haben. Wir meinen niemand anders als Friedrich Pecht in
München, den „deutschen Vasari," und sein Opus: Deutsche Künstler des
19. Jahrhunderts, von dem uns vor wenigen Wochen ein neuer, der
vierte Band, beschert worden ist. Wir sind erstaunt über die Kühnheit, mit
der Pecht bei seinen Leistungen Anspruch auf den Ehrennamen eines „deutschen
Vasari" erhebt, und über die Naivität derer, die ihm denselben zuerkennen.
Sich einen solchen Ruhmestitel beilegen zu können, dazu fehlen dem Münchener
Kritiker fast alle nötigen Vorbedingungen. Nur die Fehler und Mängel des
alten Jtalieners könnte er als Vergleichungsmomente für sich anführen: der
„deutsche Vasari" steht in den vielen historischen Ungenauigkeiten nicht hinter
seinem Vorbilde zurück. Was wir aber an Vasari rühmen, die vollendete Schön¬
heit der Sprache, die treffende Wahrheit, Lebendigkeit und Anmut in der Dar¬
stellung künstlerischer Gegenstände, die Schärfe und Klarheit des Urteils/') das
dürften nur wenige Leser, natürlich mit Ausnahme seiner speziellen Freunde,
in Pechts Küustlerbiographien wiederfinden. schwankend in feinen ästhetischen
Grundanschauungen, mit wunderbarer Geschicklichkeit den im Laufe der Zeit zu
tage getretenen Richtungen sich anpassend, heute voll Lob für einen Künstler,
dessen gleichartige Schöpfungen morgen den herbsten Tadel erfahren — Ueber,
der literarische Kompagnon Pechts, nennt diese Wandelbarkeit mit einem Bon¬
mot, das niedriger gehängt zu werden verdient, die Fähigkeit, „vorurteilslos und
unverknöchert dem Gange seiner Zeit sich anzuschließen" —, ist sich Pecht bis
heute nicht darüber klar geworden, daß in der Kunstgeschichte wie in aller Ge¬
schichte das Urteilen erst an zweiter oder dritter Stelle kommt und die erste
und wichtigste Aufgabe des Historikers die Feststellung der Thatsachen und ihre
Einreihung in den Gang der Entwicklung ist. Ist dies geschehen, dann gilt es,
dieselben zu begreifen, und erst auf Grund des so gewonnenen Verständnisses
kann ein einigermaßen wertvolles Urteil abgegeben werden. Das ist die Me¬
thode, welche alle großen Geschichtschreiber beobachtet haben, und eine andre
giebt es auch für die Kunstgeschichte nicht. Wir wollen daher nicht hoffen, daß
die Prophezeiung, die Reder neulich in der „Allgemeinen Zeitung" Pecht zu
geben in frcundnachbarlicher Gesinnung für nötig hielt, daß nämlich in Zukunft
der „Vasari des 19. Jahrhunderts" in der allgemeinen Wertschätzung gewinnen
werde, jemals in Erfüllung gehe. Wenn ein fo charakterloses Knnstgeschwätz,
wie es Pecht in seinem neuesten Bande in Anknüpfung an Schinkel und A. von
Werner verführt,**) je als Kunstgeschichte gelten sollte, wäre jede Beschäftigung
mit derselben Verlorne Zeit.
Auch die kunsthistorischen Studien können nur dann zu wertvollen Re¬
sultaten gelangen, wenn man, wie dies bei der politischen Geschichte schon längst
der Fall ist, den mühevollen, aber sichern Weg der Einzelforschung betritt und
vor allem darnach trachtet, sich in den Besitz aller einschlägigen Quellen zu
setzen. Denn daß authentische Äußerungen der Künstler über ihren Bildungs¬
gang und ihre Bestrebungen wertvoller für die Kunstgeschichte sind, als die
ästhetischen Urteile selbst des trefflichsten Kritikers, bedarf wohl kaum des Be¬
weises. Wir können uns daher nur darüber freuen, daß auch auf kunstgeschicht-
lichen Gebiete durch die Veröffentlichung von Briefen, Tagebüchern und Memoiren
die Summe unsrer Kenntnisse von Tag zu Tag zunimmt, und daß wenigstens
die hervorragenden Künstler einer monographischen Behandlung gewürdigt werden.
Wenn jedoch die Erschließung der Quellen einen Nutzen haben soll, dann
müssen sich diejenigen, welche sich an die Aufgabe eiuer umfassenden Schilde¬
rung der neueren Kunst wagen, auch um die dargebotenen Schätze kümmern
und dürfen nicht mit souveräner Geringschätzung die Beiträge andrer beiseite
liegen lassen. In dieser Beziehung erhebt sich Reder wenig über seinen Mitarbeiter
Pecht. Denn die vor kurzem erschienene zweite Auflage seiner „Geschichte der
neueren deutschen Kunst" verrät eine ähnliche Vernachlässigung der neueren kunst¬
historischen Publikationen, wie sie Pechts Künstlerbiographien eigen ist.*)
Wir glaubten diese Bemerkungen vorausschicken zu müssen, um durch sie
den Standpunkt zu kennzeichnen, von dem aus wir im folgenden einige Find¬
linge zur Geschichte der neueren deutschen Kunst mitzuteilen gedenken. Es sind
nur bescheidene Beiträge, die wir zu liefern in der Lage sind, aber sie haben
den Vorzug der Authentizität und werden deshalb, wie wir hoffen, den
Freunden einer wirklich historisch verfahrenden Knnstbetrachtung nicht unwill¬
kommen sein.
Unter all den Künstlern, welche durch ihre Schöpfungen die Wiedergeburt
der deutschen Kunst im Anfange unsers Jahrhunderts herbeigeführt haben, ist
keiner dem deutschen Volke so allgemein bekannt und wert geworden als Ludwig
Richter, dein wir, wie Springer sagt, die „Einkehr in das deutsche Volkstum"
verdanken. Der Popularität Ludwig Richters — das Wort im besten Sinne
genommen — entspricht jedoch keineswegs das geringe Maß dessen, was wir
über die Entwicklung und die persönlichen Eigenschaften des Künstlers wissen.
Alle biographischen Darstellungen von Ludwig Richters Leben sind zurückzu¬
führen auf die grundlegende Schilderung, welche Otto Jahr zuerst in diesen
Blättern (Grenzboten 1852, Ur. 5) und dann in überarbeiteter Fassung in der
dritten und den folgenden Auflagen des Richter-Albums gegeben hat.")
Jcihu schöpfte seine Angaben zum Teil aus persönlicher Bekanntschaft mit
dem Meister und dessen Verleger Georg Wigand, zum Teil folgte er jedoch
auch den Mitteilungen des bekannten Kunstfreundes von Quandt. welcher im
Jahre 1848 in einem Schreibe» an Ernst Förster „Nachrichten über Ludwig
Richter" veröffentlicht hatte."") Nicht viel mehr als Jahu konnte Hermann Steinfeld
bieten, als er im Jahre 1877 Hvffs sorgfältiger Zusammenstellung von Richters
Ölgemälden und Radirungen eine kurze Lebcnsskizze des Künstlers vorausschickte.
Dies war bis vor kurzem das einzige biographische Material, welches demjenigen
zu gehste stand, der den Künstler Ludwig Richter durch seine Arbeiten lieb
gewonnen hatte und deshalb auch den Menschen kennen lernen wollte.
Unter Otto Jahns Angaben war diejenige wohl die wertvollste, welche auf
den Ursprung von Richters eigentümlicher Auffassung der engen Zusammen¬
gehörigkeit von Natur- und Menschenleben in dem Landschaftsbilde aufmerksam
machte. Diese Auffassung hatte sich dem Künstler in dem Umgänge mit seinem
Freunde Julius Schuorr von Carolsfeld aufgedrängt und war durch eine
Staffage des letzteren für Richters Bild von Amalfi zu einem bleibenden
künstlerischen Grundsatze geworden, den er fortan in allen seinen Arbeiten fest¬
hielt. Da ist es nun von Bedeutung, daß wir seit kurzer Zeit noch einen
weiteren Beleg für die innige Freundschaft haben, die Richter für Schuorr hegte.
Derselbe ist enthalten in einem Briefe Richters an Schmorr aus der Zeit seines
Meißener Aufenthaltes. Leider an einer Stelle zum Abdruck gelaugt, wo ihn
niemand sucht, in dem ersten Hefte der Mitteilungen des Vereins für Geschichte
der Stadt Meißen (Meißen. 1882. S. 117 bis 119), ist er bis jetzt nicht in
der Weise bekannt geworden, wie er es um seiner Bedeutung willen verdient.
Wir sehen aus demselben nicht nur, welchen großen Einfluß Schmorrs Land-
schaftszeichnuiigen auf Richters eigne Arbeite» gehabt haben,""") so»der» finden
auch darin mit Richters eignen Worten eine Charakteristik seines Wesens aus¬
gesprochen, die als das treffendste Motto in Zukunft allen seinen Schöpfungen
an die Spitze gestellt werden sollte. Dies zu zeigen, wird es am besten sein,
wenn wir die ganze Stelle hier einschalten.
„Vielleicht weißt dn, schreibt Richter, daß ich als Lehrer der Zeichnenschule
an der Meißner Porzelanfabrik angestellt bin, einem wahren Sibicrien für jeden
Künstler, der noch Einen Grad Wärme für Kunst im Herzen hat. Ja ich gestehe
dir, ich vermöchte hier nicht zu leben, wenn ich in Rom nicht mit der Kunst
zugleich jene köstliche Perle gefunden hätte, für welche man alles auch noch so
Liebe hingeben, und mit diesem Schatze glüklich leben könnte. Und letzteres ist
denn auch wirklich der Fall, ich habe eine liebe walre Fran, ein kugelrundes,
kerngesundes wildes Töchtergen, und einen Vater im Himmel, dem ich wohl
vertrauen kann, da ich gar wunderliche Beweise seiner Liebe und Fürsorge er¬
fahren habe und noch täglich erfahre; denn ich bin einer von jenen, die recht
um's tägliche Brod zu bitten haben, weil es eben immer nur vou einen Tag
zum Andern reichen will; nun habe ich den lieben Gott die leeren Schränke und
Vorrathskammern überlassen, der mag sie immer füllen, und thuts anch so, daß
wir doch immer vollauf haben. Ich denke eben, der alte Wirthschafter, der das
Ölkrüglein und den Mehlkasten füllte, ist ja noch nicht gestorben, und wahrlich
er giebt noch ganz andere Speise! — Wenn nun diese helle Sonne in die vier
Wände meiner Stube und meines Herzens so recht erquiklich hereinscheint,
dann mag's draußen immerhin verdrießlich und trübe aussehen, toll und kunter-
bund hergehen, es rührt mich wenig."
Wem treten nicht in diesen Zeilen Richters Darstellungen eines dnrch
frommes Gottvertrauen beseligten Familienlebens vor Angen, wie er sie uns in
seinem „Strauß fürs Haus," im „Beschaulichen und Erbaulichen" und in hundert
andern seiner Holzschnitte zu stiller Erbauung vorgelegt hat!
Zu diesem Briefe aus deu jungen Jahren Richters kommen seit wenigen
Wochen eine Reihe von Briefen aus den Tagen des Alters. Die Mitteilung
derselben verdanken wir einem langjährigen Freunde des Meisters, Herrn Eduard
Cichorius, welcher sie als einen wertvollen Beitrag für die kürzlich erschienene
Liebesspende von Dresdner Schriftstellern und Künstlern beigesteuert hat/") Wir
lernen aus diesen Briefen die rührende Bescheidenheit und bezaubernde Liebens¬
würdigkeit des in seinem Alter von allen Seiten gefeierten Künstlers kennen
und erfreuen uns an seiner milden Auffassung der Menschen und Dinge wie
an der lichten Klarheit seines Geistes, die selbst sein schweres Augenleiden nicht
zu trüben vermochte.
Zu diesem schönen Zuwachs authentischen Materials für eine künftige
Richter-Biographie können wir heute noch einen, wie uns scheint, nicht minder
wertvollen Beitrag liefern. Es ist bekannt, daß Richter durch die uneigennützige
Unterstützung des Dresdner Buch- und Kunsthändlers Johann Christoph Arnold
die Mittel erhielt, dem Zuge seiner Sehnsucht Folge zu leisten und in Italien
seiner künstlerischen Ausbildung nachzugehen. Leider wissen wir nur wenig aus
der Zeit, wo dieser wichtige Wendepunkt in Richters Leben eintrat, werden
Wohl auch erst dann genaueres darüber erfahren, wenn einmal seine autobio-
graphischen Aufzeichnungen an das Tageslicht treten, die sicherm Vernehmen
nach bis in die erste Zeit des römischen Aufenthalts reichen. Doch läßt sich
schon jetzt nachweisen, daß die Eindrücke, welche Richter von der ewigen Stadt
und ihrer Umgebung erhielt, zunächst nicht seinen hochgespannter Erwartungen
entsprachen. Dies geht mit Sicherheit ans einem Briefe Richters an seinen
Dresdner Gönner hervor. Der Brief wurde bald nach seiner Niederschrift in
dem von C. A. Böttiger redigirten „Artistischen Notizenblatt," dem Beiblatt
zur „Dresdner Abendzeitung," veröffentlicht, und zwar unter dem Titel: „Ge¬
ständnisse eines deutschen Landschaftsmalers in Rom in einem Briefe an seinen
väterlichen Freund,"*) und er ist dort allerdings nur mit den Buchstaben L. R.
unterzeichnet. Bedenkt man jedoch, daß die Abendzeitung im Verlage von Arnold
erschien, so kann unter gleichzeitiger Berücksichtigung des Inhalts kein Zweifel
sein, daß unter dem väterlichen Freunde niemand anders als Arnold gemeint und
der Schreiber des Briefes Ludwig Richter ist. Da Richter damals nur wenigen
Männern bekannt war, so wird man sich kaum die Mühe gegeben haben, zu
erraten, wer dieser L. N. sei, und so konnte es leicht geschehen, daß die Ge¬
ständnisse in Vergessenheit gerieten und von allen Biographen Richters über¬
sehen wurden. Daß sie dieses Schicksal nicht verdienen, wird der folgende
Wiederabdruck lehren. Der Brief bedarf keiner weiteren Erläuterungen; hervorheben
wollen wir, wie zutreffend das Urteil des jungen Malers über die Gebrechen
der großen Masse italienischer Landschaften ist, und wie klar er sich der Gründe
derselben bewußt war. Wem die Darlegungen Prellers in dessen von Noquette
bearbeiteter Biographie über die gewöhnliche Vedutenmalerei nach italienischen
Motiven vor Augen stehen, dem wird in Richters Briefe die merkwürdige Über-
Einstimmung beider Künstler nicht entgehen, und diese ist umso bedeutsamer,
je mehr die künstlerische Entwicklung beider Männer verschieden war. Übrigens
darf man auch in diesem Falle nicht vergessen, daß Briefe meist der Ausdruck
augenblicklicher Stimmungen find und als solche beurteilt sein wollen. Wenn
Richter hier im ganzen so wenig zum Lobe Roms zu sagen weiß, so hat das
gewiß zum Teil seinen Grund darin, daß er seinen Bericht gerade in einer
Jahreszeit abfaßte, zu welcher der Aufenthalt in Rom wegen der drückenden
Hitze für jeden Nordländer fürchterlich wird. Der hier ausgesprochenen Ansicht,
daß deutsches Land und deutsches Volksleben das Feld sei, auf dem er allein
Tüchtiges zu leisten vermöge, ist er freilich Zeit seines Lebens treu geblieben;
aber der innige Verkehr mit den römischen Freunden machte auch ihm die
herrliche Stadt im Laufe der Zeit lieb und wert und erzeugte in ihm nach
seiner Rückkehr in die Heimat eine solche Sehnsucht, daß er bekanntlich nur
mit Mühe dem Verlangen wehren konnte, Italien wiederzusehen.
Rom, den 17. Juni 1824.
Kaum getraue ich mir es zu schreiben, und doch habe ich es schon seit dein
letzteii Briefe, den ich Ihnen aus Rom schrieb, mit Mühe unterdrücken können,
und einmal muß es heraus. Mit einem Worte- Italien gefällt mir nicht, es
bietet mir bei weiten nicht das reiche Feld, die große herrliche Natur, die ich schon
in Salzburg") sah, in der Schweiz leicht noch größer wiederfinde; ja ich bin fest
überzeugt, daß ein längerer Aufenthalt in Italien für den Deutschen Landschnft-
maler, der den Boden, auf welchem er die frühesten Eindrücke empfing, nicht auf
immer vergessen kaun und darf, nicht allein unnütz, sondern auch schädlich seyn
kann. Eine solche Meinung wird Ihnen ans alle Fälle wunderbar genug vorkommen;
doch hören Sie mich. Mein Gefühl hat schnell und bestimmt entschieden. Ich
sehe, was dabei herausgekommen ist, wenn geistvolle Künstler, die drei und sechs
Jahre in Italien studirten, endlich znrmkkoniinen und italiänische Landschaften malen
wollten; es wurden Zwittergebiirten, in welchen deutsche und italiänische Natur
vereinigt und geschändet wurden. Ich könnte sehr gefeierte Namen aufführen, in
deren Werken auch nicht der geringste Zug nu Italien erinnert. Unser Dahl
hielt sich nicht lange hier auf, und machte hier obendrein nordische Landschaften,
da ihn die südlichen nicht ansprachen, ja er hätte beinahe seinen Ruf verloren,
wenn er bei seinen italiänischen Gemälden geblieben wäre. Der berühmte und
größte der neuen Landschafter, der Tyroler Koch, welcher nun seit 30 Jahren
hier lebt, verdirbt sein ungeheures Genie an charakterlosen Bildern; denn in seinen
südlichen Landschaften sieht mau immer das wilde Tyrol, da hingegen seine
Schweizerlandschaften, wozu er nicht einmal Studien hat, als einzig dastehen. Die
alten Niederländer Berghem und Both verderben ihr hohes Talent in Italien,
dahingegen Ruisdael und Everdingen, die nie Italien sahen und noch dazu
in einer fast ganz nnmalerischen Gegend lebten, die größten Männer in diesem
Fache sind und unerreichbar dastehen. — Wie viel weniger Eindruck eine italiä¬
nische Landschaft übrigens auf einen Deutschen, der Italien nie gesehen hat, macht,
als die Darstellung auf einem gleich gut dargestellten deutschen Bilde, davon habe
ich die stärkste« Beweise. — Wie wäre es auch anders möglich? Wie kann sich
ein ächter deutscher Mann über ein fremdes, ihm ganz unbekanntes Land so recht
freuen? Das sind und bleiben ihm ungemessene Größen, und das ist auch recht
gut; aber die oft unbeachteten Schönheiten seines Vaterlandes auf eine edle und
bedeutende Art vor Augen zu stellen, damit der Deutsche sich daran erfreuen kann,
indem er darin sich selbst und die geringste seiner Umgebungen wiederfindet, das
scheint mir das Wahre, Rechte. — Doch durch Thaten wollte ich Ihnen das alles
besser zeigen, als hier mit den abgerissenen schwachen Worten. Ich will meinen
eigenen Weg gehen, weil mir kein anderer genügt. Die Landschaftmalerei ist
jetzt sehr gesunken, man ahnet ja kaum das höhere göttliche Leben der Natur und
die heilige, schöne Bestimmung der Kunst; und nun denken sie, wenn sie nur den
Schein recht geuau nachmachen, steckt auch der Geist mit drinnen; aber der Geist
läßt sich so uicht binden und fesseln, im Herzen des Künstlers muß er sich wiedcr-
kennen, sich spiegeln können. Die eine Parthei ist ganz naiv, die andre ganz sen¬
timental, und eines ist so weit von dem Wahren, wie das andre; und letzteres ist
gewiß die allerabschenlichste Krankheit unsers nervenschwachen Jahrhunderts.
Die alten Griechen und selbst die Römer, als Menschen, welche die Natur selbst
bildete, und welche dabei eine Höhe erreichten, über welche wir staunen, kannten
nichts von jenen mephitischen Ausdünstungen, in welchen sich unsere reizbaren, em¬
pfindsamen Mondscheinseelen so wohl befinden; sie hielten sich rein an die Natur
und erhielten deren hohen Geist. — Rom muß der Künstler fehen, der sich
völlig ausbilden will, um die Richtung zu begreifen, die er eigentlich zu nehmen
hat und an den großen Werken der Künstler zu lernen; doch dazu bedarf es für
den dentschen Landschafter nicht Jahre, denn wer das Schöne im ersten Augenblick
nicht faßt und versteht, faßt es auch in Ewigkeit nicht. — Das Gute liegt uns
so nah, warum es immer in weiter Ferne suchen? — Und läßt sich das millionen¬
fach sprudelnde Leben der Natur in 2 bis 3 Jahren fassen oder gar studiren und
in Koffer gepackt uach Hause tragen? —
Künftiges Frühjahr möchte ich mit dem Skizzenbuche für ein paar Monate
das Neapolitanische durchstreifen,") und im Sommer wieder in Salzburg oder in
der Schweiz seyn. Meine Sehnsucht nach deu wunderschönen Alpen ist unaus¬
sprechlich, das ist mein Paradies, und dort möchte ich studiren. Einen Winter
könnte ich noch in München nützlich zubringen und dann am Rhein und an die Donau,
die Grenzströme Deutschlands, zurück. Heute lege ich diesem Briefe ein kleines Er-
zeugniß meines Pinsels bei. Nehmen sie (!) es mit Nachsicht ans.
Ihnen vielleicht ewiges Vergnügen damit zu machen, gab mir neue Lust und
Kraft zur Arbeit; Sie werden es hoffentlich nicht ausschlagen. Gebe der Himmel,
daß es in der Heimat eben den Beifall ärndct, wie hier; der Wille war gut, aber
die Hand noch sehr schwach. Es soll besser kommen, doch das Beßte kann nicht
eher hervorgebracht werden, als bis ich deutschen Boden unter mir habe, deutsche
freie Lust athme. Hier beim schwächenden, gräßlichen Sirocco muß Alles mich
L. R.
Das unter Dohmes Leitung erscheinende Sammelwerk: „Kunst und Künstler
des neunzehnten Jahrhunderts" hat uns in diesem Jahre auch eine Biographie
des originellsten der römischen Kunstgenossen, des Landschaftsmalers Josef Anton
Koch, von der Hand Th. Frimmels gebracht. Dieser Arbeit ist jedenfalls eine
sorgsame Verwertung des vorhandenen biographischen Materials nachzurühmen.
Ob die künstlerische Beurteilung und Charakteristik, die Frimmel giebt, überall
die richtige ist, lassen wir dahingestellt; wir begnügen uns damit, gegen die
Behauptung, daß ungefähr seit dem Jahre 1809 ein Abnehmen von Kochs
Leistungsfähigkeit zu bemerken gewesen sei (S. 19), die Autorität Julius Schmorrs
anzurufen. Schmorr hatte im Jahre 1326 Gelegenheit, die wunderbare Frische
und Lebendigkeit des hochbetagten Malers täglich zu beobachten, da er gleich¬
zeitig mit Koch in der Villa Massimi beschäftigt war, wo er die Fresken für
das Ariostzimmcr schuf, während Koch die vier Wände des Dcmtezimmers zur
Ausschmückung übernommen hatte. Schmorr berichtet über das Zusammen¬
arbeiten mit Koch an einer Stelle seines italienischen Tagebuches, das uns der
gegenwärtige Besitzer desselben freundlichst zur Einsicht überließ, folgende, wie
uus scheinen will, für Kochs Wesen sehr charakteristischen Einzelheiten:
Nachdem die Zeit verflossen our, die hier^) zuzubringen ich mir erlauben
durfte, ging ich nach Rom zurück und begann mich nun mit Ernst zu dem letzten
Theile meiner Arbeit in der Villa Massimi zu rüsten. Vieler Vorbereitungen be¬
dürfte es nicht; denn ich hatte schou im Sommer vor meiner Reise nach Sizilien
den Carton zur letzten Wand gemacht. Mein Antonio war auch bereit, und so
konnte ich denn gleich anfangen zu malen. Koch, der schon vor längerer Zeit die
Wände des Zimmers auszumalen übernommen hatte, dessen Decke von Philipp Veit
gemalt war, war auch gleich bei der Hand, als ich zu arbeiten anfing. Ich be¬
merke bei dieser Gelegenheit, daß ich noch nie die Lebensfülle und Frische dieses
Mannes in solcher Mühe kennen gelernt hatte, als sie sich bei der Arbeit zeigte,
die er hier ausführte. Es ist gewiß keine Kleinigkeit, daß ein Mann in seinen
Jahren, der nie vorher größere historische Sachen ausgeführt, am allerwenigsten
ni ki'i'ssoo gemalt hatte, eine große Arbeit dieser Art übernimmt; noch mehr will es
aber sagen, daß dieser Manu seine Aufgaben mit so lebendigem Eifer und mit
solcher Beharrlichkeit durchführt, wie er es gethan hat. Dabei war Koch auf eine
Weise anspruchslos, die mich oft rührte und beschämte. Er, der berühmte Künstler,
der bejahrte Mann, stellte sich hier ganz als Anfänger, als Schüler: jede Belehrung
nahm er mit Dank an, und wollte man an seiner Arbeit irgend etwas bessern,
so ließ er gewähren und machte wohl gar den Handlanger. Konnte er nicht zu¬
recht kommen, so klagte er sich auf das Bielersee "der Ungeschicklichkeit an und for¬
derte mich auf, ihn zu schelten: „zause Sie mich bei de Ohre, wenn ich's nicht
recht mache," sagte er öfters in seinem Tiroler Deutsch. Freilich war er dann auch
manchmal übermüthig, wenn er glaubte, daß ihm die Arbeit gelungen wäre, und in
solchen Augenblicken meinte er Wohl, daß die Decke kaum seiner Wände werth sei.
Dann tanzte er, sang und sprang wie ein Knabe, belauschte die Frösche (die Grün-
hösler, wie er sie nannte) an dem Bassin im Garten: oder er machte dort den
Neptun, wie er sagte: das bestand darin, daß er mit seinen Füßen sich auf ein
Brett stellte, das mit drei Vierteilen auf dem Wasser lag, mit einem Vierteile auf
dem Rande des Bassins ruhte: durch heftiges Treten brachte er dies Brett so in
Bewegung, daß es heftig auf das Wasser schlug, große Wellen hervorbrachte, die
über den Rand des Wasserbehälters auf das Trockene stürzten. Solche Uebungen
schlössen sich gewöhnlich an die Ruhestunde um, die wir bei Gelegenheit des zweiten
Frühstücks hielten. (Fortsetzung folgt.)
es muß mein tiefes Bedauern darüber aussprechen, daß die höchsten
Staatsbeamten nicht Deutsch verstehen. Die Reden, welche am
12. Januar gegen die Verkümmerung eines Grundrechtes, der
Wirtshausbesuchsfreiheit, gehalten wurden, waren ja doch deutlich
genug. Äußerste Freunde des Vaterlandes wollen dieses Vaterland
sobald als möglich von der großen Militärlast befreien; als ein sicheres Mittel
dazu erscheint ihnen die Belehrung der Soldaten über die Verderblichkeit der
Disziplin, über die Nichtigkeit des Fahneneides u. dergl. in. Man kann hier¬
über vielleicht verschiedner Ansicht sein, aber die Wissenschaft und ihre Lehre
sind frei! Der Staat ist bisher seiner Verpflichtung, Lehrstühle für die Wissen¬
schaft der Anarchie einzurichten, nicht nachgekommen, daher muß sie durch Privat¬
dozenten in den Wirtshäusern vorgetragen werden; und anstatt dankbar dafür
Zu sein, daß edle Männer sich so uneigennützig der Fortbildung der Soldaten
widmen wollen, legen die Militärbehörden der Wißbegier Fesseln an- Es
handelt sich also um eine eklatante Verletzung der Lehr- und Lernfreiheit, das
schien der Herr Kriegsminister aber garnicht zu begreifen. Daneben fällt die
Beeinträchtigung der Gastwirte wenig ins Gewicht, auch können sie ja Schaden¬
ersatz verlangen, der ihnen ohne Zweifel zugesprochen werden wird. Allein, wie
will Herr Bronsart von Schellendvrff vor Mit- und Nachwelt verantworten, wenn
das möglicherweise in einem Musketier schlummernde Talent zu einem Barri¬
kadenhelden oder Petroleur durch Schuld des Ministers ungeweckt bleibt? Wie
sollen die weltbeglückenden Ideen eines Stellmacher, Reinsdorf und Konsorten
Sur Herrschaft kommen, so lange sich ihnen die brutale Gewalt von Menschen
entgegenstellt, welche dem Befehl des Vorgesetzten Folge leisten? Wie herrlich
weit hätte es vor vierzehn Jahren in Paris gebracht werden können, wären
die französischen Svldnten nicht so ungebildet gewesen, daß Felix Pyat und die
übrigen feinen Naturen der Berührung mit ihnen aus dein Wege gehen mußten!
Zu Bundestagszeiten wurden die verschiednen Truppenteile gemischter
Garnisonen gezwungen, verschiedne Wirtshäuser und Tanzlvkale aufzusuchen,
die tyrannischen Obern fragten nicht darnach, daß einem das Bier im roten
Ochsen besser schmecken oder die Mädchen dort besser gefallen mochten als im
blauen Karpfen: er mußte gehorchen. Und warum? Weil es regelmäßig
Schlägerei gab, wenn Preußen, Österreicher und Baiern irgendwo zusammen¬
trafen. Bedenken Sie die Kurzsichtigkeit, weine Herren! Die Mannschaften
fühlten die Notwendigkeit, während der langen Friedenszeit sich in ernsten
Kämpfen zu üben und zu stählen, und die Offiziere verhinderten sie daran.
Das war empörend, aber einen Fortschritt kann ich darin nicht erkennen, daß
den armen Soldaten jetzt die revolutionäre Weisheit vorenthalten werden soll.
Der Herr Reichskanzler wieder mißverstand Herrn Windthorst, als dieser
äußerte, mit „zwei Millionen" Soldaten sei es garnicht so schwer, gute aus¬
wärtige Politik zu machen. Wenn man zwischen den Zeilen liest, und das muß
man ja bei Herrn Windthorst iiumer thun, so findet man die Worte: „Der
große Staatsmann, dessen Überlegenheit ich hente wieder kennen zu lernen das
Glück gehabt habe, bedürfte einer solchen Rückendeckung garnicht, er ganz allein
würde ebenso glänzende Erfolge errungen haben." Ein solches Kompliment
hätte wohl eine etwas sympathische Gegenäußerung verdient, z. B.: „Ich bin
dem Herrn Vorredner für die gute Meinung sehr verbunden und werde mir
die Sache überlege«. Allerdings könnte durch Auflösung der Armee viel Geld
erspart, sogar eine bedeutende Einnahme erzielt werden, wenn man sie vermieten
wollte, z. B. an den Herzog von Cumberland oder an ein Konsortium in Krakau
und Lemberg; andrerseits würde ich ans viele anregende Verhandlungen in
diesem hohen Hause verzichte» müssen, und ich wüßte nicht, von welcher andern
Seite mir eine so gründliche Belehrung über militärische Angelegenheiten, für
die ich mich einigermaßen interessire, zugehen könnte, wie ich sie ans den Vor¬
tragen der Herren Richter, Bebel, Vollmar n. s. w. zu schöpfen gewohnt bin.
Es wird ja wohl nicht notwendig sein, heute noch eine Verfügung zu treffen,
aber die Anregung soll nicht verloren sein." Statt dessen sah sich der ehr¬
würdige Greis mit einer unbarmherzigen Ironie behandelt, welche ihn notwen¬
digerweise verschüchtern und ihm die Lust benehmen muß, mit großen organi¬
satorischen Ideen zum Heile des Vaterlandes hervorzutreten.
Wie soll ich mir ferner das Mißverständnis erklären, dessen Opfer der
Herr Abgeordnete Richter wurde, gerade als seine wahrhaft antike Charakter-
große strahlender denn je zuvor in die Erscheinung trat? Er rügte, daß ein
Offizier in Lauenburg versucht habe, seine Untergebenen politisch zu beeinflusse»
Man zog die Lauterkeit der Quelle dieser Mitteilung in Zweifel; ich bin aber
in der Lage, den Zusammenhang völlig aufzuklären. Der Tambour Haberstroh
hat den Vorgang seiner Geliebten, der Köchin Karoline, anvertraut, und wir
haben keinen Grund anzunehmen, daß er dein Wesen, welches ihm über alles
teuer ist, einen Bären aufgebunden habe, Karoline hinterbrachte als gute Tochter
die Neuigkeit ihrer Mutter, einer achtbaren Waschfrau, welche dieselbe in voller
Entrüstung noch brühwarm einer Kollegin am Waschkessel mitteilte. Letztere
hielt die Sache für ernst genug, um sofort ihren Mann davon in Kenntnis zu
setzen. Der Mau» ist Barbier, steht also im Dienste der Publizität, ist aber
außerdem entschieden freisinnig. Er begnügte sich daher nicht, allen Kunden zu
erzählen, was sich ereignet hatte, sondern erstattete pflichtmäßig dienstlichen
Rapport an deu Parteichef. Leider ist bei uns die Organisation noch so mangel¬
haft, daß dem Parteichef nicht, wie es in der Ordnung wäre, die Befugnis zu¬
steht, eine Untersuchung einzuleiten und bis zu deren Ausgange den Offizier zu
suspendiren: er mußte also den Umweg über den Kriegsminister nehmen. Sie
sehen also, meine Herren, daß alles seinen vorschriftsmäßigen Weg gegangen
ist. Nun ziehen Sie aber folgendes in Betracht. Der Offizier hat von der
Partei gesprochen, welche thut, was der Kaiser will. Damit kann er nur die
Partei des Abgeordneten Richter gemeint haben, denn eben dieser, der genauer
als irgendeiner (den Kaiser nicht ausgenommen) des Kaisers Willen kennt, der
nur dessen Willen befolgt, der bereit war, mit seinem Leibe das Haus Hohen-
zollern gegen die Attentate des bösen Kanzlers zu schütze», ist bekanntlich die
Verkörperung der freisinnigen Partei. Ihm als Parteimann konnte mithin die
Ansprache jenes Offiziers ganz gelegen sein; allein das Gerechtigkeitsgefühl ist
in ihm mächtiger als der Parteigeist, er selbst überlieferte den Bundesgenossen,
Welcher seine Stellung mißbraucht haben soll, dem Richter, und nicht anders
würde er handeln, wäre jener sein eigner Sohn. Wahrlich, wenn künftig in
den Schulen die Bürgertugend gepriesen wird, muß neben Junius Brutus Eugen
Richter genannt werden! Und keine passendere Legende wüßte ich für eine Me¬
daille, für ein Denkmal zu Ehren des großen Patrioten vorzuschlagen, als jene
öffentliche Anklage des eignen Verbündeten. Ja, meine Herren, es ist Zeit, daß
wir daran denken, unsern großen Rednern noch bei Lebzeiten Denkmäler zu er¬
richten, denn wer weiß, ob die Nachwelt für ihre Verdienste das richtige Ver¬
ständnis haben wird? Ich denke mir z. B, daß eine Doppelherme, Richterund
Windthorst, aus (zarwu-xierrv angefertigt und in allen Volksschule» aufgestellt
Werden sollte. OM-ton-xleM — Steinpappe — ist es nötig, Sie darauf auf¬
merksam zu machen, welche sinnigen Beziehungen sich schon ans diesem Namen
ergeben? Und das würde garnicht teuer kommen. Wenn alle unnützen Reden
«ut Artikel der beiden Heroen eingestampft würden, so könnten von dem Brei
unzählige Dvppelbüsten geformt werden, stummberedte Verkttndiger der Wahrheit,
daß Mundwerk und Druckpapier die Elemente der Größe und des Ruhmes sind.
Ich empfehle diesen Gedanken Ihrer wohlwollenden Erwägung.
n dem bereitgehaltenen Svnderzimmer fanden sich zunächst Nah,
der Ortsgeistliche, und Pipin, der Theaterregisseur, ein. Sie
streckten sich auf das bequeme Langsofa. Die Lampen sollten
später angezündet werden. Jetzt sollte nur ein einziges Licht
auf dem Armleuchter brennen, der Kaffee auch später kommen.
Nach hatte sich aus der Pastorei die Tabakspfeife bringen lassen, Pipin rauchte
Zigarretten von türkischem Tabak.
Beide waren etwas matt, es fehlte ihnen das gewohnte Mittagsschläfchen,
und sie suchten es sogut wie möglich nachzuholen durch behagliches Sichhin¬
strecken und halbschlafartiges Dämmern, aus welchem nur dann und wann eine
Äußerung sich löste, wie wenn ein Steinklopfer, bei dem der Aufseher vorbei¬
gegangen ist, nach überhasteter Arbeit nur hin und wieder nach einem winzigen
Stücke langt und es zerkleinert. Als Ergebnis dieser unbewachten Gedcmken-
steinklopferei kam heraus, daß sie für große Zecherei nicht mehr angethan seien,
und daß ein regelmäßiges Leben mit mäßigen Berufsgeschäften ihnen am liebsten
wäre — der Pastor vergaß wohl anzuführen, daß er unter mäßigen Berufs-
geschäften eine Sinekure verstand, da er fast alle seine Arbeit dem Pfarrhelfer
aufzuhalseu pflegte. Der Schauspieler blies mit seinem Zigarretteurauche her¬
vor, daß er sich längst frei fühle von dem Virtuosenungestüm; keinen Pfennig
mehr werfe er für Reklame hinaus, das überlasse er jüngeren Thoren. Der
Pastor nickte dazu, und der Regisseur blies weiter: O Unverstand der Jugend,
das ruhige Tagesdasein den Leidenschaften, den nichtigen, preiszugeben! Der
Pastor nickte noch tiefer und meinte, als einziger Hochgenuß, der die Älteren
an diese Sinnenwelt noch knüpfe, sei der „Wohlgeschmack" zu preisen. Darauf
wurden einige Lieblingsspeisen aufgezählt. Von Pastors Lippen löste sich un-
deutlich: Hammelrücken mit Gurkensauce. Da glitt ihm die Pfeife aus der
Zahnlücke, er fuhr auf, rieb sich die Augen, schob die Brille vom Munde auf
die Stirn und begann zu reden. Es waren Worte, die anfänglich zusammen¬
hanglos blieben, sich aber dann zu einem Lobe des stillen Familienglückes am
häuslichen Herde zusammenfügten.
Der Schauspieler verhielt sich hierzu äußerst schweigsam. Erst auf instän¬
diges Drängen des Schulfreundes ließ auch er sich zu Äußerungen bewegen.
Ihm fehle gerade dieses Glück, er habe sich spät als Witwer wieder verheiratet,
habe eine bildhübsche, aber unsolide junge Frau an der Seite, durch die er den
durch Jahre so mühsam eroberten Platz in der guten Gesellschaft so ziemlich
wieder eingebüßt habe — das war der Kern seiner verblümten Rederanken. Der
Pastor verstand ihn und gab die Versicherung seines herzlichsten Bedauerns.
Dann fuhr der Regisseur fort, auch Barbara habe seine hochfliegenden Hoff¬
nungen nicht erfüllt.
Oh! meinte der Pastor, seine Frau habe doch das Mädchen so sehr heraus¬
gestrichen, das und das an ihr gelobt.
Der Regisseur nickte wehmütig und fügte aufklärend hinzu, er hätte sie
gern der Bühne zugeführt und dann vornehm verheiratet; sie habe aber beide
Pläne gekreuzt; in letzterer Beziehung treffe vielleicht auch die Stiefmutter eine
Mitschuld — so ließ er durchblicken. Dann teilte er in schlichten Worten mit,
Barbara habe sich auf ein an sich gar löbliches, aber für sie aussichtsloses
Gebiet zurückgezogen, nämlich auf das „Sichausbildcn" und „Sichnützlichmachen,"
sie sei im musikalischen Spiel auf mancherlei Instrumenten wie im Gesänge perfekt
und beteilige sich mit Leidenschaft bei seiner Theaterschule, die sie eigentlich
dirigire.
Theaterschule? Du hast eine Theaterschule, unterbrach ihn der Pastor,
und nach einigem Hinundherfragen kam heraus, daß er einen einzigen, sehr
talentvollen Sohn habe — seine fünf Töchter, wahrhafte Musterkinder, wären
glücklich unter die Haube gebracht. Der liebe Unband von Sohn — natürlich
Theologe — sei eben relegirt worden und müsse ein Jahr Pausiren; er habe
aber unter anderm ganz hervorragende Anlage und Liebe zur Schauspielkunst.
So sagte der Vater und hielt es wohl auch für wahr; allein dies Dafür¬
halten hatte keine sachlich zureichenden Gründe. Der Pastvrssvhn liebte nämlich
in Wirklichkeit nicht die Muse, sondern nur die Musenpriesterinnen oder vielmehr
-Dienerinnen, die Choristinnen von Oper und Ballet. Der Vater Pastor aber
machte nun dem biedern Regisseur und Theaterschulvorsteher den Vorschlag,
diesen Sohn aufzunehmen, probeweise auf ein Jahr, da sich hoffentlich inzwischen
ein andrer Ausweg finden würde; die Stichhaltigkeit seiner Kunstneiguug würde
sich aber so am sichersten ermitteln lassen.
Während beide hierüber fortsprachen, erschien Kautschuk, der Geheimrat, und
Archimedes, dieser wieder im Offiziersmantel mit aufgeschlagenen Zinnoberkragen.
Der Geheimrat winkte den beiden auf dein Sofci liegenden, sich ja nicht durch
ihn stören zu lassen, was diesen freilich ohnehin nicht einfiel; er selbst setzte sich
mit Archimedes an einen andern Tisch, ließ Licht machen und begann mit dem
Schulfreunde zu verhandeln. Mit Hast nahm Kautschuk das Papier mit dem
Rangkatalog an sich, den dieser ins Reine gebracht hatte, während die übrigen
Kommilitonen ihre Zeit beim Frühschoppen vergeudeten. Über den Verwendungs¬
plan war er inzwischen mit sich einig geworden. Er zischelte Archimedes noch
etwas von Rcchnuugs- oder Steuerrad zu, und der Oberst würde wohl auch
das seinige dazu thun können.
Da kam Genserich herein, wurde von dem Seitentisch in Beschlag genommen,
und nun sprachen Oberst und Geheimrat hin und her; Archimedes saß dabei
und gaffte dem Beginnen der beiden einflußreichen Gönner zu. Auf seinem
ausdruckslose» Gesichte zeigten sich Regungen von ehrerbietiger Scheu, schwach
aufdämmernder Hoffnung, dann von erstarkenden Selbstbewußtsein, wie das
Abendrotleuchten eine trostlose Novemberlandschaft streift.
Hierauf trat Mirbl, der Parlamentarier, geräuschvoll ins Zimmer, brachte
ein Gleichnis von germanischer Zersplitterung vor, forderte zum Zusammenrücken
auf und zum Eintritt in die Tagesordnung, die darin bestand, daß jeder seinen
Lebenslauf erzählen sollte. Kautschuk mahnte noch an Paragraph 1 der
Geschäftsordnung, daß die Politik aus dem Spiele bleibe« solle, und Ratz fügte
hinzu, er müsse bitten, ebenso Paragraph 1a, die Kirche. Der weitere Vorschlag
Kautschuks, einen Präsidenten zu wählen — er wies auf das Sofa hin, an
das er sich anlehnte —, wurde verworfen. Genserich ließ Karten ziehen, und
die Plätze wurden nach den Nummern verteilt. Dabei trug der Kellner Kaffee
auf und ging wieder ab.
Kautschuk setzte sich übelgelaunt, suchte aber seiue Verstimmung zu verbergen
durch ein in vergnüglichen Tone angeschlagenes: Da wären wir ja unter uns,
Landsleute im engern Sinne, lauter abendländisch Blut, durch keinen Morgen¬
länder versetzt. Der Geistliche fügte gutartig hinzu, ohne an eine bestimmte
Person zu denken, es sei jetzt in der That eine Seltenheit, wenn fünf an einem
Tische säßen »ud kein Jude unter ihnen sei, eine Anmerkung, der Pipin
beipflichtete.
Kautschuk freute sich über den fruchtbaren Boden, auf den sein Körnlein
gefallen war, aber Mirbl verdarb ihm die Freude. Wenn dies unserm lieben
Cohn gilt, begann er, so möchte ich bemerken, daß dieser solche antisemitische
Geschmacksrichtung herausgefühlt hat, denn er läßt sein Ausbleiben hier ent¬
schuldigen — durch mich, der ich außerhalb dieser Fraktion stehe.
Pipin und Ratz machten lange Gesichter. Genserich aber fuhr auf: Kinder,
was sind das für Plänkeleien! Auf diese Weise werden wir unsern Zweck des
kameradschaftlichen Zusammenseins nicht erreichen.
Mirbl fühlte sich Kautschuk gegenüber im Vorteil lind fügte hinzu, er habe
auch noch einen andern zu entschuldigen, den „blassen Heinrich."
Wie? auch der bleibt aus? riefen alle.
Kautschuk schien einen Erfolg verzeichne,, zu wollen, Mirbl aber fuhr fort,
der „blasse Heinrich" lasse sich nur für eine halbe Stunde entschuldigen, „behufs
Materialsammlung."
Ach so! hieß es. Man beschloß nun, ohne ihn nicht zu beginnen, inzwischen
sollte ein Robber abgespielt werden. Mirbl, Pipin und Archimedes setzten sich
zusammen, ließen Karten kommen und begannen alsbald ihr Spiel.
Am Svfatische ging inzwischen die Unterhaltung fort. Genserich sagte zu
Ratz und Kautschuk: Er ist ein Kraftmensch, der etwas leistet, wir können stolz
auf ihn sein. Er hat den Vogel abgeschossen, sein Vortrag heute früh wäre
wert, daß er gedruckt und veröffentlicht würde.
I ja, entgegnete der Pastor, es möchte sich wohl kaum einer finden, der
ihm gleichkäme oder ihn gar überträfe an Beredsamkeit; ich selbst erkenne be¬
scheiden seine Übergewalt an in — na in Eloquenz (er selbst hatte die Früh-
Predigt gehalten und war dabei stecken geblieben); allein, fuhr er fort, und das
will ich nicht hinter seineu, Rucke», sondern ihm ehrlich ins Gesicht sagen, damit
auch er nicht ohne Vorteil heimgehe, der doch so vielen hier ein Licht aufgesteckt
hat: ich meine, daß er sich in seiner Rede nicht innerhalb des Christentums befand.
Liebster Ratz, sagte der Parlamentarier von, Whisttische herüber, ich fasse
nicht recht, wie er seinen auf das allgemeine gerichteten Speech —
Bitte Pik! bat Archimedes.
— anders hätte durchführen sollen als aus der Perspektive, von der aus
er alle Religionsgesellschaften überblicken konnte.
Bitte Treff! mahnte Archimedes.
Bester Mirbl, sagte der Geistliche lant zum Whisttische zurück, da hast du
mich nicht recht verstanden oder ich habe mich undeutlich ausgedrückt; ich meine,
der „blasse Heinrich" war mir zu wenig positiv und, um es hier gleich end-
giltig abzuthun: in Sachen der Religion giebt es für einen Christen nur einen
einzigen Standpunkt, nämlich das geoffenbarte Wort; eine Kritik aber, die sich
außerhalb desselben stellen und sich über dasselbe erheben will, ist eine — nach
meinen Begriffen - superkluge und deshalb nicht zu duldende, ich bitte mir
meine» theologischen Standpunkt nicht zu verübeln, ich kann nicht anders! Dabei
wurde der sonst ruhige Mann rot und schlug sich vor die Brust, worauf eine
kleine Pause entstand.
Dann nahm Kautschuk wieder das Wort und sagte: Das ist „positiv" und
ganz richtig; zu wenig Positives hat der Rhetor in seiner weitumfassenden Über¬
sicht auch dem Juristen geboten; was er über den Segen der deutschen Zivil-
und Krimiualprvzeßordnung laut werden ließ, klang wie ans einer fortschritt¬
lichen Gerichtszeitung, und was er ferner über Schöffen- und Schwurgerichte
vorbrachte, wird wohl keiner unter den sämtlichen praktischen Juristen im ganzen
Saale gebilligt haben.
Da möchte ich doch opponiren, entgegnete Mirbl gedehnt, indem er seine
Hnndkarten als Fächer benutzte und sich Hintenüberboa,, Der „blasse Heinrich"
hat den Grundgedanken dieser Institution, Beteiligung des Laienelements bei
der Rcchtsfindung, sehr richtig erfaßt, aber das Goethische: „Wohlthat — Plage"
springt natürlich bei der Verbalhornenden legislatorischen Ausführung der Grund¬
idee in die Augen.
Bitte Coeur! sagte Archimedes,
Hört nur diese Juristen! spottete Genserich, es fehlt nur noch, daß sie uns
Paragraphen vorreiten, 1)s l,c>Jul8 äiM M^lor, warf Pipin vom Whisttische
dazwischen, und Reitz lachte vergnügt.
Nun laßt auch einmal den Soldaten zu Worte kommen, sagte Genserich.
Ich bin völlig damit einverstanden, was der Rhetor über den Einfluß der Gym¬
nasialbildung auf die Strategie äußerte, finde den Überblick, den er betreffs der
weltgeschichtlichen Errungenschaften aus den Kriegen von 1866 und 1870 ge¬
geben, wahrhaft —
Liebevoll! sage ich auch, ergänzte Mirbl, wenn ich auch seinen Optimismus
keineswegs teile (dabei hatte er seine Stimme gedämpft), und dasselbe gilt,
sagte er, indem er die Stimme wieder hob, von dem Gebiete der Politik, der
Staatswissenschaft, der Nationalökonomie, der Statistik, der Presse, die er ge¬
streift und in großen Zügen durch eine inhaltsvolle Schraffirung gezeichnet hat,
ich wünschte nur, ich vermöchte es —
Ach wie schade! fuhr Archimedes auf.
Wieso?
Ich meine nur.
Ach so — also ich vermöchte es, ihn vor diesem Areopag ebenso in der
Philosophie, Philologie und Pädagogik zu kontroliren und vor diesem Ostra-
zismus zu salviren, denn auf diesen Gebieten vertiefte sich sein Vortrag ganz
besonders. Allein, allein — und dabei zuckte er mit den Achseln und machte
eine demütige Bewegung, der aber ein arger Hochmut zugrunde lag.
Nun denn, so darf ich wohl auch seiner Ausführungen über die Kunst¬
leistungen gedenken, hub Pipin an, der übrigens sehr schlechte Karten hatte.
Bitte Coeur! sagte Archimedes zu ihm.
Ja freilich, in der Malerei und Plastik wie in der Musik vermag ich ihn
nicht zu „kontroliren," wie Mirbl so treffend sagt (Mirbl hob die Nase, als
röche er ein Lieblingsparfüm), auch in der Lyrik und Epik vermag ich ihm
nicht ins Blatt zu gucken, aber was er über das Drama gesagt, war ebenfalls
„lichtvoll," insbesondre seine Ausführungen über den Niedergang der Tragödie
und das abweisende Verhalten des Publikums zu dieser Kunstgattung, und
geradezu prophetisch war das, was er über das moderne Lustspiel und seine
Aussichten bemerkte, über die üppige Produktion, die sich bei den Konkurrenz¬
ausschreibunge» zeigt und die entschieden einen gesunden Kern aufweist, eine
Naturkraft, die sich zur höchsten Höhe durchringen muß, wenn die Misere der
Theaterleituugeu überwunden sein wird.
Trifft! rief Archimedes Pipin zu. Dieser wurde eben klcinschlemm und
hätte großschlemm werden müsse», wenn nicht Mirbl den Stich vorhin, als
Archimedes: Ach, wie schade! gerufen, vergeben hätte.
Kcintschnk aber fühlte sich fast erdrückt durch alle diese seinen Ausfall zurück¬
weisende Gegnerschaft und fügte süßsaner hinzu, es sei schade, daß nicht auch
"och Cohn da sei. um für die naturwissenschaftlichen und medizinischen Er¬
rungenschaften aus dem Vortrage einzutreten; gerade Cohn würde ain geeig¬
netsten dazu sein, da er noch auf dem Gange ans der Kirche in die Aula den
Redner unterwiesen habe, wie er selbst mit angehört.
Umso bemerkenswerter, entgegnete Genscrich, umso anerkennenswerter für
den „blassen Heinrich," daß er es verstanden hat, das eilig Gesammelte so geschickt
seinem Plane einzufügen.
Kautschuk sah ein. daß er zu weit gegangen war, er lenkte in Form und
Inhalt ein. Es sei auch höchst anerkennenswert, meinte er, daß der „blasse
Heinrich" bei seinen beschränkten äußern Verhältnissen sich zu einem solchen Her¬
vortreten aufgerafft habe, er, der leider NiclMgewordeue, der Mensch ohne
Rang und Titel, der sogar den doch am Wege liegenden Doktorhut aufzuheben
"icht für nötig befunden habe. Ihn selbst würde vielleicht vor einer so no-
tabeln Gesellschaft in solchem Falle ein Gefühl der Bedrückung zurückgehalten
haben.
Ihr Lieben, sagte mit Ernst der Geistliche, an unsern guten Schulkameraden
möchte ich gerade dieses allzu — selbstbewußte oder vielmehr auf eigner Macht¬
vollkommenheit fußende tadeln; das ist es eben, was ich vorhin berührte, als
ich von dem außerhalb des Christentums — aber (er schlug sich auf den Mund):
schweige, Mund!
Er schwieg, und die andern schwiegen auch. Eine Weile hörte man nur
das Auffallen 'der Kartenblätter. Dann kam vom Spieltische die Bemerkung,
vielleicht gebe es jetzt endlich für den „blassen Heinrich" eine Anerkennung, einen
Titel, einen Orden.
Oh! sagte Kautschuk möglichst weich zu den Spielern, ein solcher Cato
oder Brutus, was ist dem eine staatliche Auszeichnung? Das hilft ihm nicht
"uf die Beine, nur das Reelle - er schlug sich an die Tasche, in welcher das
Portemonnaie klirrte. Dieser Vortrag bringt ihn. hoffentlich etwas em. etwas
laufendes, fortgesetztes.
Glaubst du, daß er das beabsichtige? fragte Genserich.
Ich weiß nicht; aber wer wollte es ihm verübeln? erwiederte Kautschuk. Ich
wünsche es dem armen Menschen, der sich, wie ich höre, kümmerlich genug mit
seinem Broterwerb durchgeschlagen hat; leider ist meine Information ungenau,
ihn selbst fand ich auffallend ausweichend.
Das letzte log Kautschuk.
Was hat er denn eigentlich für ein Geschäft, fragten einige. Keiner, wie
sich herausstellte, hatte mit ihm darüber gesprochen.
Pensionat, glaube ich, hieß es, oder Kindergarten, hoffentlich keine .Wipp-
schule, sagte Kautschuk mit dem Ausdruck reinsten Mitgefühls.
So? Ooch! hörte man ringsum. Der mare anch besser an einem andern
Platze.
Ja, fuhr Kautschuk fort, Jugeudthorheiteu höre ich sagen — die Leute
übertreibe» offenbar — aber (er schlug seinen Witzmacherton an) wie heißt es
doch? erst Champagner, dann Grünebcrger Schattenseite. Er mird wohl jetzt
den Verhältnissen Rechnung tragen müssen, dn heißes freilich, sich bücken vor
dem Mammon.
Jetzt verstehe ich sein auffällig artiges Wesen den Stadtleuten gegenüber,
schnarrte der Offizier, es hat mich fatal berührt.
Niemand sagte etwas dagegen. Kautschuk hatte gewonnen.
Geuserich sah ärgerlich uach der Uhr und wollte nicht länger warten; der
Robber Whist war beendet, man rückte am großen Svfatisch zusammen und
trat in die Tagesordnung ein.
Archimedes, dein die Karten immer hold waren, hatte Nummer eins ge¬
zogen. Er begann denn auch mit seiner vita, die aus einer Reihe Zeitangaben
nach Tag, Monat und Jahr bestand, alles schüchtern und stockend hererzählt.
Kautschuk, der Witzige, dessen gute Laune förmlich mit den Flügeln arbeitete,
foppte den Sprecher durch Zwischenbemerkungen und brachte ihn so zu immer
ausführlicheren Zeitangaben; die andern konnten kaum ihr Lachen verbergen.
Hierauf war Kautschuk an der Reihe. Er wußte die Gunst der Zuhörer
gleich dadurch zu geminnen, daß er versprach, sich kurz zu fassen. Sein Leben,
sagte er, sei arm an erzühlbaren Ereignissen, reich an fortgesetzter Arbeit, die
in der Stube und im Amtslokal verborgen bleibe. Von seiner politischen
Thätigkeit schwieg er im Hinblick ans den gegenüber sitzenden Mirbl, der nur
darauf zu lauern schien, ihm hierbei in die Parade zu fahren. Schließlich er¬
zählte er einen verzwickten Mordprozeß, den er als Vorsitzender ins Reine
gebracht hatte, und rief aufgeräumt: Fidueit, ihr Brüder!
Nummer drei wurde von Genserich zu Ehren gebracht. In anschaulicher
Weise gab er zum besten, wie es ihm geglückt sei, sich bei Königgrätz und dann
wieder im Kriege 1870 hervorzuthun. Es waren wirkliche Lichtpunkte seines
Lebens, die er schilderte, alles jubelte ihm zu, die beim Fidneit des Vorredners
gebrachten Sektflaschen wurden eben entkorkt lind gaben die Freudensnlve
dazu ab.
(Fortsetzung folgt,)
Aus New York erhalten die Grenzboten folgende Zuschrift:
Dank Samiel! — Wenn jemals ein unerfreuliches und widerwärtiges An¬
stifte» auf seine Urheber zurückgefallen, wenn irgendwo die Kraft wirksam ge¬
wesen ist, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, so war es letzthin, als
die großen Männer unsers Volkes mutvoll auszogen und dem Fürsten Bismarck
eine seiner vielen „Niederlagen" beibrachten.
Wie kurzsichtig war dieser Feldzug angelegt! welch ein Pyrrhussieg ist er¬
fochten worden!
Das gesamte Anstand, zuerst verblüfft, besieht sich die Sache, fängt an, den
Kopf zu schütteln, die Achseln zu zucken, und wenn jemals Sympathie für den
Lenker unsers Reiches geworben worden ist, so geschah es jetzt durch seine Feinde.
Ueber die Sache selbst ist wenig zu sagen. Ein Handlungshaus, das gute
Geschäfte macht und dessen Korrespondenz sich vergrößert hat, braucht einen neuen
Clerk. Welcher Leiter einer aufblühenden Firma wäre so domit, hier an den
Mitteln zu krausem? Deutschland ist eine gute Firma geworden, sein Einfluß ist
gestiegen, seine Beziehungen sind gewachsen, das Personal seiner Offizin muß ver¬
mehrt werden. Der einzig kompetente Mensch sagt, daß es nötig sei, und — man
verweigert den Gehalt für den Anzustellenden. Es ist zu dumm!
Aber es ist nicht das allein. Die Geldfrage, die elenden paar Mark, die
dabei in Frage kennen, setzen die Frage in ein viel schärferes Licht.
Wie klein, sagt sich die Welt, muß doch die Gesinnung der deutscheu National¬
vertreter, wie schäbig müssen ihre Gewohnheiten, wie engherzig müssen ihm Kal¬
küls sein, um wegen einer solchen Bagatelle in einer ganz außerhalb des Prinzips
liegenden Sache dem Reichskanzler ein Bein zu stellen, einem Manne einen Buben¬
streich zu spielen! Kein Franzose hätte es gethan — sie sind hierin weiter —,
kein Engländer, kein Amerikaner hätte es gethan, nicht so, nicht bei einer solchen
Gelegenheit — not lor tvvies so arcet, sagen die Amerikaner.
Es ist beschämend gerade für einen Deutschen in Amerika, den Führer unsers
Volkes so behandelt zu sehen. Was der Deutsche an Achtung im Auslande ge¬
nießt, verdankt er ja diesem Manne; was ihn befähigen wird, sich als Deutschen
"n fremden Volkstum zu behaupten, verdankt er diesem Manne; was ihn über¬
haupt auf den Gedanken gebracht, im fremden Lande ein Deutscher sein zu wollen,
verdankt er diesem Manne. Es ist das größte Verdienst des Fürsten Bismarck,
daß er sein Volk von Grund ans aufgerüttelt hat. Er hatte alle Eigeilschafte.i,
die dein Dentschen bis dahin fehlten: den Blick für das Notwendige, den Verstand
sür das Praktische; er hatte das Geschick und das Selbstvertrauen, die dem Deut¬
schen mangelten. ^ _ ^ ,
Seit noch uicht zwanzig Jahren ist unser Volk wie umgewandelt. Sem Cha¬
rter ist vollständig im Fluß; er hat sich geradezu erstaunlich geändert und w.rd
'es immer noch mehr ändern. Zum erstenmale seit Jahrhunderten wissen die Deut¬
schen wieder, was sie wollen, sie haben neuen Boden unter den Fuß^ sie haben
"nen gesunden politischen Besitzstand, sie haben Ziele vor sich. Ihr Blick ist acht
'«ehr in die Wolken, er ist auf das Leben gerichtet, sie regen sich überall, sie sind
d'e Konkurrenten aller Welt, sie sind jedermann im Wege, weil mau ihre Leistungs-
fähigkeit sieht und ihren Eifer fürchtet, weil man sieht, daß sie endlich deutsch sei»
wollen, überall und allerwegen, und für sich und für das Deutschtum schaffen und
erwerben.
Was war ein Deutscher in Amerika vor zwanzig Jahren? Ein Lump, der
sich treten lassen mußte, der sich so schnell als möglich zu beeilen hatte, Amerikaner
zu werden, um nicht jedermanns Prügeljunge zu sein. Was tönte dem Deutschen
entgegen, wenn er aufbegehrte? Koäämu' et Dutelr! — Kill bim! Es ist noch
nicht lange her, da schlief ein deutscher Arbeiter auf einer Bank des Madisvn
Square in Newyork. Ein irischer Bummler betrachtete ihn als ein legitimes Sub¬
strat für seine humoristischen Regungen und stach ihm — zur Unterhaltung — das
rechte Auge aus. Was sagte die Bestie vor dem Judge? „Ja Richter, ich dachte,
es sei ja uur ein Deutscher! " O gewiß, nur ein Deutscher! Sie waren „nur
Deutsche" und wären ewig „nur Deutsche" geblieben, Leute ohne Volk, nirgends
einzureihen, nur zum Gebrauch als Füllsel für andre Nationen, willig und bereit,
dazu zu dienen, jeder nationalen Energie entbehrend.
Man hat den Deutschen früher vielfach vorgeworfen, daß sie ihre Nationalität hier
immer gar zu schnell aufgegeben. Man that ihnen Unrecht. Sie hatten gar keine Natio¬
nalität. Sie fühlten sich als Leute, die zufällig deutsch sprachen. Sehen wir von
dem kleinen Bruchteil Gebildeter ab, die überhaupt politische Neigungen und Ab¬
neigungen herüberbrachten, was war dem ganzen großen Rest der Einwanderer ihre
Heimat? Was ließen sie zurück? Ihr Thal und ihr Dorf, ihren Düngerhaufen
und ihre Großeltern, aber doch beileibe nichts, was wie ein Politisches Gemein¬
wesen ausgesehen hätte. Dies fanden sie erst hier, es war ihnen etwas vollständig
neues, sie gingen darin ans und spieen wie oft! auf ihre deutsche Abkunft.
Erst heute säugt der Deutsche an zu wissen, daß er ein stolzes Volkstum
hinter sich hat, und sagt auf Befragen dem Amerikaner: I mu prout to i)v u,
Llörman! Und in dem Maße, als der Deutsche an Selbstachtung gewinnt, steigt
seine Achtung bei der Nation, deren Gast er ist. Aber möge man wandern vom
Morgen bis zum Abend, diese Achtung geht auf den Namen Bismarck, und ohne
ihn hätten nur sie nicht.
Und Sie vollends, Herr Eugen Richter, Sie sind darau so unschuldig wie
ein Kind. Von Ihnen weiß mau nichts. Aber Ihre Kcimpfesweise hat man letzthin
kennen gelernt, man hat voll Erstaunen gesehen, mit welchen Mächten unser Staats¬
mann zu ringen hat, und es hat ihm viel, viel Sympathie eingetragen. „Wie
groß muß dieser Manu doch sei», daß seine Feinde so tief vor ihm sinken können!"
So denkt man in der Fremde.
Die Sam va-Jnseln. Nach der Debatte im Reichstage und dem Vorgehe»
der Regierung vou Neuseeland, welches der britische Minister für die Kolonien
nicht gutzuheißen scheint, beanspruchen die Samoa-Jnseln wieder einmal das Interesse
des größeren Publikums. Diese Inselgruppe, auch als die „Schifferinseln" <M-
viMor Islauäs) bezeichnet, liegt bekanntlich östlich vom australischen Festlande und
hat zwischen sich und diesem die von den Franzosen ins Auge gefaßten Neuen
Hebriden, die französische Insel Neukaledonien und die englischen Fidschi-Inseln.
Dicht im Süden von ihr zeigt die Karte die Freundschafts-Jnseln, weiter in dieser
Richtung die beiden Stücke von Neuseeland. Die Samoa-Gruppe besteht aus neun
bewohnten Eilanden, die zusammen eine Fläche von 2600 englischen Quadratmeilen
einnehmen und von denen Sawai, Manna, Tntuila und Upolu die größten sind.
Sawai, die nördlichste, hat eine Größe von etwa 700 englischen Quadratmeilen.
Obwohl die Gruppe den Tropen angehört — sie liegt zwischen dem 1,3, und
15. Grade südlich vom Aeqnator hat doch das Land, meist hochgelegen, ein
mildes Klima, und da der Boden aus verwittertem vulkanischen Gestein besteht,
ist er vou größter Fruchtbarkeit. Dichte Wälder von Brotfruchtbäumen, Kokos¬
palmen und Bauaueu bedecken einen erheblichen Teil der Oberfläche, und Orange»,
Yams, süße Kartoffeln, Muskatnüsse und Zuckerrohr gedeihen daneben in lippiger
Fülle. Die Zahl der Eingebornen soll ungefähr 00 000 betragen.
Schon vor etwa zwölf Jahren verlautete, daß die Deutschen nach diesen Inseln
strebten, und daß andrerseits die Kolonisten von Neuseeland dieselben unter den
Schutz der britischen Flagge gestellt zu sehen wünschten. Wie und von wem jenes
Streben vereitelt wurde, ist männiglich bekannt, aber auch vou feiten Englands ist
bisher nichts bestimmtes geschehen. Bis heute ist in betreff der Korrespondenz
zwischen Lord Derby und der Negierung in Wellington auf Neuseeland nichts in
die Oeffentlichkeit gelangt, woraus sich auf Zustimmung des ersteren zu dem Vor¬
schlage der letzteren schließen ließe. Von den britischen Besitzungen liegen der
Samoa-Gruppe die Fidschi-Inseln am nächsten, verhältnismäßig nahe Punkte in
andern englischen Kolonien sind Auckland (auf Neuseeland) und Brisbane (in
Queensland); doch beträgt deren Entfernung zwischen 12- und 1400 Meilen. Die
neuseeländischen Ansiedler schreiben jener Gruppe namentlich deshalb Bedeutung
zu, weil sie auf dem Handelswege nach San Francisco liegen; außerdem besitzen
sie in Pago Pago eine der besten Kohlenstationen im Süden des Stillen Meeres.
Die deutschen Interessen wurden hier hauptsächlich durch die Hamburger Handels¬
firma Godeffroy und Komp., die „Südseekönige," vertreten, die hier schon vor
Jahren die Hochfläche der Hauptinsel durch deutsche Ansiedler anzubauen begannen
und damit Erfolge erzielten, welche den Reichskanzler daran denken ließen, dem
Unternehmen den Schutz und eine gewisse Unterstützung des Reiches zuzuwenden,
und zwar soll der erste Gedanke zu einem solchen Plane schon vor dem deutsch-
frnnzösischeu Kriege angeregt worden sein. Vou deu Engländern sind bereits 1830
auf deu Samoa-Jnseln Missionsarbeiteu (häufig die Vorbereitung von Annexion)
betrieben worden, bei denen der Reverend John Williams sich als der „Märtyrer
von Erromanga" einen in gewissen Kreisen gefeierten Namen erwarb; sein Werk
wurde von deutschen und amerikanischen Missionsgescllschaften fortgesetzt, und gegen¬
wärtig bekennt sich die größere Hälfte der Snmoaner zur christlichen Religion.
Taine und Sybel. Der „Schwäbische Merkur" schreibt in seiner Sonntags¬
beilage vom 11. Januar: , . ,
eolution
In einem vortrefflichen Aufsatze: „Ans der französischen Rv
>u Nummer 1 der Grenzboten von 1885 findet sich die Stelle: „DaS große
Verdienst, von der französischen Revolution den Vorhang heruntergerissen und
hinter demselben das Ungetüm in seiner ganzen Rohheit uno Gefährlichkeit blo߬
gelegt zu haben, hat sich in unsterblicher Weise Taine erworben/ Gegen drehen
Satz in„ß im Interesse deutscher Geschichtschreibung eutsch.eben Verwahrung ein-
gelegt werden. Nicht den, Franzosen Taine, der jetzt se.ne hochinteressante Ge¬
schichte der Revolution schreibt, sondern unserm Sybel gebührt dies unsterbliche
Verdienst. Er hat schon in den fünfziger Jahren (1. Bd. der Geschichte des Revo-
iutionszeitalters erschienen 1353) den Vorhang von der einseitigen Verherrlichung
der Revolution' wie sie durch die Mignet, Thiers u. s. w. zur allgemeinen Legende
geworden gezogen; er zuerst — uach ihm und mit ihm Hanffer — hat die erste
gnellenmäßige, mit historischer Kritik verfaßte Geschichte der Revolution geschaffen;
er zuerst hat die in der französischen Geschichtschreibung ganz vernachlässigte innere
Geschichte zu ihrer Geltung gebracht und die unheilvolle, zerstörende Wirkung der
Gewaltthaten der Revolution auf das gesamte Leben, auf Persönliche Sicherheit,
Eigentum, auf Wohlstand. Gesittung, Recht, Religion aufgezeigt. Sybel selbst sagt
i« einer Besprechung eines der früheren Bände des Taineschen Buches in der
Historischen Zeitschrift (vergl. Kleine historische Schriften, 3. Band, S, 2K3): „Vor
mehr als zwanzig Jahren habe ich in meiner »Geschichte der Revolutionszeit« diese
Verhältnisse uach authentischen Materialien dargestellt und damit bei dem franzö¬
sischen Publikum vielfachen Anstoß gegeben. Umso größere Befriedigung darf ich
jetzt empfinden, wenn ein so bedeutender Forscher wie Taine nach Heranziehung
zahlloser Dokumente der Pariser Archive ganz und gar zu demselben Ergebnisse
gelangt." Taine hat jetzt zahllose Einzelheiten, urkundlich belegt, mit bienenhaftem
Fleiße gesammelt, welche alle die längst von der deutschen Geschichtschreibung auf¬
gestellten großen Gesichtspunkte bestätigen. Das „unsterbliche Verdienst" gebührt
sonach nicht Taine, sondern dem Deutschen. Daß gleichwohl Taiues Forschungen,
daß sein Mut, den Landsleute.it die Wahrheit zu sagen, eine That ersten Ranges
sind, ist selbstverständlich. Wir aber wollen die Verdienste unsrer großen Ge¬
schichtschreiber nicht herabsetzen lassen. —
Wie wenig es die Absicht der Greuzvoteu gewesen ist, durch den Abdruck des
Aufsatzes „Aus der französischen Revolution" die deutsche Wissenschaft „herabzusetzen,"
möge der „Schwäbische Merkur" daraus entnehmen, daß wir seine Bemerkungen
hier unverkürzt wiedergeben.
Das vorliegende Werk will die Entwicklung des deutschen Volkes „von jenem
breitern Kreise der Betrachtung aus zur Darstellung bringen, den die deutsche Ge¬
schichtschreibung in allen Teilen der Kultur gewonnen hat," und zwar nicht mir
für den engen Kreis der Gelehrten, sondern für alle Gebildeten. Neue Resultate
eigner Forschung zu bringen, darauf verzichtet der Verfasser, er ist vielmehr bestrebt,
an der Hemd der hervorrcigeudsten Werke in den einzelnen Gebieten die gesicherten
Ergebnisse kurz und übersichtlich in ein Gesamtbild zusammenzufassen. Ob es ihm
dabei gelungen ist, aus der unendlichen Fülle des Stoffes immer nnr das für dus
Verständnis durchaus Notwendige herauszuheben, möchtet: wir bezweifeln; einzelne
Abschnitte, wie das Kapitel über Konstantin den Großen, hätten entschieden kürzer
gefaßt werden können. Mit den neuen Forschungen scheint der Verfasser hinreichend
vertraut zu sein, doch kann man hie und da andrer Meinung sein, wie z. B. in
der Auffassung Ludwigs des Frommen und Karls des Kahlen. Die Ansicht Rankes,
daß die sogenannte» Annalen Einhards offiziösen Ursprunges seien, ist nicht mehr
aufrecht zu erhalten. Am besten gelungen siud dem Verfasser die ersten Kapitel,
die Anfänge der deutschen Geschichte; hier hat er auch ziemlich selbständig gearbeitet,
doch ist er bei der Darstellung der Religion der alten Deutschen, so anziehend auch
gerade dieser Abschnitt geschrieben ist, in der Benutzung der nordgermanischen
Quellen nach unsrer Meinung zu weit gegangen. Am schwächsten sind die kunst-
geschichtlichen Stücke des Buches. Es ist selbstverständlich, daß der Verfasser in
der Auswahl des Stoffes nur seinein persönlichen Ermessen gefolgt ist, aber jedenfalls
hätten Ungleichheiten, wie sie vorhanden sind, vermieden werden sollen. Auf zehn
Seiten wird uns eine Uebersicht der Kunstgeschichte gegeben von den ersten An¬
fängen der christlichen Kunst bis zur Entwicklung der byzantinischen Architektur
und Malerei; darauf folgt auf vier Seiten die ostgothische, langobardische und
karolingische Kunst; von den karolingischen Bilderhandschriften, von der irisch-angel¬
sächsischen Kunst, deren Einfluß auf die deutsche doch bekannt ist, erfährt der Leser
nicht ein Wort, Der Verfasser besitzt hier offenbar nicht die ausreichende Kenntnis
der neueren Literatur. So wird z. B. uoch erzählt, daß für das christliche
Gotteshaus nur die alte Kauf- und Gerichtshalle das Muster abgegeben habe. Ein
Irrtum ist es auch, daß die römischen Konsuln beim Amtsantritt Diptychen zum
Geschenk erhalten hätten; sie schenkten sie vielmehr selbst. Wenn es endlich von der
Sophienkirche heißt: „Das Innere ist mit seinem Eindruck machtvoller Größe und
phantastischer Pracht, den , . die Naumverteilung und die überaus glänzende Aus¬
stattung mit auf Goldgrund prangenden Mosaikgemälden ., hervorbringen, bis auf
den heutigen Tag als ein Wunderwerk gepriesen worden," so muß doch in dein
Leser der Gedanke entstehen, daß die Mosaiken noch heutigen Tages in all ihrem
Glänze sichtbar seien.
Das Werk, welches drei Bände umfassen soll, ist gefällig geschrieben, wenn
auch hie und da mit einer gewissen Nüchternheit, die seiner Verbreitung in weiteren
Kreisen, für die es doch bestimmt ist, nicht förderlich sein wird. Die meisten werden
ohnehin, wenn sie sich über Kunst, Literatur n, s. w. unterrichten wollen, nach wie
vor nach einem den betreffenden Gegenstand gesondert behandelnden Werke greifen.
Nichts ist begreiflicher als das Streben eines zu Ruhm und Anerkennung
gelangten Schriftstellers oder Künstlers, die Grenzen des Gebietes, des Genres,
der Kunstform, die ihm jene verschafft haben, zu erweitern und sich dadurch gegen
das zweifelhafteste Lob zu wehren, welches einem Schaffenden erteilt werden kann:
das der „Spezialität." Es sind nicht die Kritiker, wie Nosegger in dem streitbaren
Vorworte dieses seines neuen Buches, in der „Verhandlung zwischen Autor und
Verleger" meint, welche rufen: „Aber immer wieder Bauern und nichts als
Bauern!" Diese Kritiker haben ihm im Gegenteil eben die Beschränkung auf sein
virtuos beherrschtes Gebiet angeraten. Sein eigner Ehrgeiz ist es, der ihn treibt,
die Phantasie auch ins „Weltleben" zu tauchen und aus diesem sich seine Probleme,
Gestalten und Sonderlinge zu holen. So zeigt denn auch das neue Werk, welches
Rosegger dem deutschen Leser vorlegt, ein doppeltes Gesicht, doppelt deswegen,
weil der Autor Stadt und Land, Wald und Welt, die einfachen Verhältnisse des
Dorflebens und die entwickelteren des städtischen als Gegensätze auffaßt, deren
vereinigendes Band er bisher nicht gefunden hat und wohl auch, wie es allen
Anschein hat, nicht finden wird. Natur sieht er nur in seinem Wald, seinen
Bauern, seineu elementaren Zuständen; zu einem umfassenderen Begriff derselben
ist er nicht gekommen. Es steckt auch gewiß im Autor selbst der bäuerliche Zug,
insofern er die Nichtbauern mit Vorliebe satirisch auffaßt und seine Phantasie,
sobald sie die Stadt betritt, sich mit düsteren, unsittlichen Konflikten erfüllt. Kein
Zweifel, daß Rosegger an dem Treiben der „Welt" tiefen Anteil nimmt. Die
Weltgeschichten kamen ihm, wie er selbst sagt, ebenso tief wie die Dorfbilder; „es
">ag mancher Tropfen Galle daran sein, aber sicherlich mich ein wenig Herzblut.
Das Herzblut den Menschen, die Galle den Spitzbuben und Thoren. Es liegt
Absicht in den Sachen, ich gestehe es." Darin liegt es eben: in der Absicht!
Als ein abgeklärter, harmonischer Künstler, voll tiefen, hinreißenden Mitgefühls
mit seinen Gestalten nud ihrem schlichten Leben erscheint Rosegger im ersten Bande,
den „Geschichten und Bildern aus Alpen, Wald und Dorf." Dieser enthält Stücke,
welche zu den allerbeste» Leistungen gehören, die der Dichter aufzuweisen hat: die
„Zwiugmesse," die „Sieben Todsünden," das „Wunderbild," die „Sennerin und ihre
Freunde," „Empor zu Gott," der „Staudenhiesl," der „Ameisler." Hier ergötzt
uns der tiefe Kenner steirischen Volkslebens durch duftige Naturschilderungen, durch
meisterhafte Charakteristik, durch unerschöpfliche Erfindung, und vor allem durch
einen köstlichen Humor, der darum so entzückend ist, weil er der Liebe entspringt.
Die Bildung, welche sich der Dichter angeeignet, diente ihm eben dazu, den feinen,
skeptisch-ironischen Ton gegenüber dem armen, im Aberglauben und in treu¬
herziger Anhänglichkeit an die Kirche dahinlebcndeu Volke zu finden. Es fällt
ihm nicht ein, reformirend oder strafend sich diesem entgegenzustellen, und dadurch
erreicht er die wohlthuenden künstlerischen Wirkungen, die einzelnen seiner
Stücke den Stempel voller Schönheit aufdrücken. Ein ganz andres Gesicht
zeigt uns der Dichter im zweiten Bande, den „Novellen und Skizzen aus dem
Weltleben," zumal in den ersten Stücken. Da entpuppt sich der heitere Natur-
schwärmer, der sympathiereiche Beobachter als ein arger Pessimist, der die
Bestie im Menschen garnicht so gering schätzt, da sind es Ehebruchgeschichten
in sarkastischen Tone vorgetragen, welche mit düsterer, unheimlicher Romantik ab¬
wechseln: „Meister Hermann," „Der Kammerdiener," „Das Bekenntnis eines Ver¬
urteilten" gehören in die Kategorie der Kriminalnovellen; „Ein moderner Hellespont,"
„Aus dem Tagebuche einer Ehefrau" würden jeden: französischen Ehebruchsdichter
Ehre macheu. Bei allen diesen Dingen hat man immer das Gefühl, daß Rosegger
von seiner Lektüre, und eben nicht der besten, sich anregen ließ, auch einmal derlei
zu versuchen. Wert haben sie nicht. Liebenswürdiger wird er erst dann, wen»
er'im Gebiete der eignen Erfahrung bleibt und aus der eignen Anschauung fa-
bulirt, so in den Sonderlingen „Herr Florian," „Ein Naturfreund." Daß dieser
Stndtmensch, „in welchen sich auch einmal eine Kinderseele verirrt hat," schließlich
doch nnr im Zwiespalt zwischen seinen Neigungen zur Stadt und zum Landleben
stecken bleibt, ist für Rosegger höchst charakteristisch. Ebenso im „Jünger Darwins,"
Dieser hat durch die Lektüre der Schriften des großen englischen Naturforschers
(den Rosegger konsequent als Katholiken bezeichnet, als gäbe es keine englische
Hochkirche) den Glanben an Gott und die Unsterblichkeit der Seele verloren, was
ihn ganz unglücklich macht, Der realistische und tief ethische Dichter läßt ihn in
der aufopfernden Thätigkeit für Unglückliche seine innere Gemütsruhe wiederfinden,
ähnlich wie der religiöse Hochmut des Pfarrers in „Empor zu Gott" die wahre
Religiosität in Praktischer Nächstenliebe erkennen muß. Aber allerdings hat jener
„Jünger Darwins" damit noch nicht die Antwort ans die Fragen gefunden, die
er gestellt hat, und so mag es auch mit dem Dichter selbst sein. Die übrigen
Stücke des zweiten Bandes sind sehr munter und unterhaltend; als besonders witzig
sei hervorgehoben „Das Geheimnis von Defreggers Erfolgen," welches in höchst
konkreter Art eigentlich das Wesen der Kunst erklärt.
n der Einleitung zu seiner Geschichte des neunzehnten Jahrhun¬
derts bezeichnet es Gervinus als eine charakteristische Eigentüm¬
lichkeit unsrer Zeit, daß in ihr der große Einfluß Einzelner,
Regenten oder Privaten, kaum zum Vorschein komme. Seit Na¬
poleon dem Ersten sei kein wahrhaft hervorragender Geist auf¬
getreten, der die Aufmerksamkeit der Mitlebenden vorzugsweise auf sich hätte
lenken können, kein wahrhaft großer Charakter, der die Geschicke eines Volkes
in seine Hände genommen hätte oder der Vertreter einer ganzen Zeitbestrebung
geworden wäre. Aber darin gerade sieht der Geschichtschreiber die eigentümliche
Größe unsrer Zeit. Der hervorragende Rang der großen Begabung sei in
Abnahme, aber die Zahl der mittleren Begabungen in desto größerer Zunahme
begriffen, im einzelnen geschehe nichts Großes und Erhabenes, aber im ganzen
sei es eine wahrhaft große und erhabene Wendung in der Gestalt des öffent¬
lichen Lebens, daß die Geschichte dieser Zeit nicht bloß Biographien und Fnrsten-
geschichte zu erzählen habe, sondern Völkergeschichte.
Diese Worte hatten zu der Zeit, in der sie niedergeschrieben wurden, zu
Anfang der fünfziger Jahre, einen Schein von Berechtigung insofern, als die
vorangegangenen Jahrzehnte sich in der That erschreckend arm an schöpferischen
Geistern bewiesen hatten. Daß freilich auch die tiefgehendsten Bewegungen eines
ganzen Volkes nicht imstande sind, zu einem gedeihlichen Erfolge zu führen,
wenn sie nicht von einer über die Masse hinausragenden Individualität erfaßt
und geleitet werden, darüber hätte den Heidelberger Professor ein Blick auf das
klägliche Scheitern der auf Herstellung der nationalen Einheit gerichteten Be¬
strebungen in Deutschland und Italien, sowie die vor seinen Augen sich voll¬
ziehenden Vorgänge in Frankreich, wo gerade damals die demokratische Be-
wegung Von 1848 in einen Sieg des Cäsarismus ausmündete, belehren können.
Insofern aber diese Worte außerdem eine Prophezeiung für die Zukunft be¬
deuten sollten, ist wohl selten eine solche schneller und glänzender Lügen gestraft
worden. Nur wenige Jahre weiter, und eben jene italienischen und deutschen
Einheitsbestrebungen, welche das ganze Jahrhundert hindurch immer wieder auf¬
getaucht und immer von neuem gescheitert waren, halten sich durchgesetzt, nicht
sowohl durch die Wucht der ihnen zugrunde liegenden Volksstimmung, als viel¬
mehr durch die Genialität zweier hochbedeutenden Individuen, Cavours und
Bismarcks, welche sich dieser Bewegung zu bemächtigen und dieselbe in richtiger
Weise zu lenken verstanden hatten. Und ein weiteres Moment, welches den
Sieg dieser Bestrebungen wenn nicht möglich gemacht, so doch jedenfalls er¬
leichtert hat, haben wir zu suchen in der ganz individuellen Charakterbeschaffen-
heit einer dritten, immerhin hervorragenden, wenn auch jenen beiden andern nicht
gleichzustellenden Persönlichkeit, Napoleon des Dritten, der im Gegensatz zu der
Stimmung seiner Nation das Nationalitätsprinzip innerhalb gewisser Grenzen
wirksam gefördert hat.
Jenem Ausspruche von Gewinns, welcher durch die unmittelbar folgenden
Ereignisse eine so beschämende Widerlegung gefunden hat, kommt aber insofern
eine gewisse höhere Bedeutung zu, als in ihm nach dem alten Satze, daß der
Wunsch der Vater des Gedankens sei, eine weitverbreitete Lieblingsmeinung
unsrer Zeit zu tage tritt. Die demokratische Stimmung unsers Jahrhunderts,
nicht zufrieden damit, mit dem blinden Autoritätsglauben früherer Zeiten gründ¬
lich gebrochen zu haben, ist allmählich dazu vorgeschritten, gegen jede über das
Mittelmaß hinausragende Kapazität eine Art von instinktiver Abneigung zu
empfinden. Es macht sich dieser Zug auf allen Gebieten ohne Ausnahme be¬
merkbar. Wer auf gewöhnliche Weise mit den gewöhnlichen Mitteln und der
gewöhnlichen Technik Mittelmäßiges leistet, wird beifällig begrüßt, wer es ver¬
sucht, auf selbstgebahntem Wege wandelnd ein Neues zu schaffen, wird verkannt
und bleibt unverstanden. Sieht man sich schließlich kraft der unwiderruflichen
Macht, welche dem Genius innewohnt, zu einer halb widerwilligen Anerkennung
gezwungen, so sucht man diese sofort nach Kräften abzuschwächen, indem man
das nicht abzuleugnende Gute soviel als möglich ans fremde Einflüsse, ans schon
Dagewesenes zurückführt, dagegen mit Vorliebe bei den etwa vorhandenen Män¬
geln verweilt und die unbestreitbaren Vorzüge mit einigen lobenden Prädikaten
kurz abfertigt. Die immer mehr überwuchernde Neigung zur Kritik, welche unser
Zeitalter charakterisirt, scheint ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber großen und
segensreichen Leistungen garnicht mehr aufkommen lassen zu wollen.
Einen bezeichnenden Ausdruck hat dieser immer mehr überhandnehmende Hang
zur Undankbarkeit neuerdings gefunden in einem Aufsatze des englischen Philo¬
sophen Herbert Spencer. Derselbe wendet sich gegen den von August Comte,
den Begründer des Positivismus, ausgehenden Vorschlag, künftig an die Stelle
der Verehrung der Gottheit diejenige der Menschheit zu setzen, wobei unter
Menschheit diejenigen großen Individuen verstanden werden, die sich um die
Kulturentwicklung in irgendeiner Weise verdient gemacht haben. Dieser Vorschlag
hat namentlich in der von Comte ihm gegebenen Fassung viel wunderliches, und
man wird den von Spencer gegen ihn erhobenen Einwendungen bezüglich mancher
Punkte nur beistimmen können. Bedenklich aber ist ein Argument, welches er
unter andern: gegen die Verehrung jener großen Individuen in die Schranken
führt. Er meint, man sei auch deshalb jenen Männern, die mit Wollen und
Wissen die Kulturentwicklung gefördert haben, keinen Dank schuldig, weil sich
dieselben nicht sowohl von selbstlosen Interesse an der Menschheit, als von
egoistischen Beweggründen hätten leiten lassen, möchten diese letztern nun in
der eignen Freude am Schaffen oder in der Hoffnung auf materiellen oder
geistigen Lohn bestehen. In dieser Allgemeinheit ist das entschieden nicht richtig.
Wenn jemand ein schönes Gedicht schafft oder ein schönes Bild malt, so läßt
er sich zunächst freilich durch seinen Schaffenstrieb bestimmen, dem das Kunst¬
werk als solches Selbstzweck ist; daneben aber hat er doch beständig das Gefühl,
daß das, was er schafft, dazu geeignet sei, andern Freude zu machen, und dieses
Bewußtsein giebt seinem Thun erst den rechten Nachdruck und die rechte
Freudigkeit. Noch unmittelbarer füllt beim Erfinder und vollends beim Staats¬
mann die Freude an der eignen Thätigkeit mit der Freude an dem durch diese
Thätigkeit bewirkten allgemeinen Nutzen zusammen. Denn jedem Staatsmanne,
der nicht von der nacktesten persönlichen Herrschsucht bestimmt ist, gewährt seine
Thätigkeit doch nur eben deshalb Befriedigung, weil sie der Allgemeinheit dient.
Wollten wir denen, welche auf diesem Gebiete mit Absicht und Bewußtsein
erfolgreich thätig find, deshalb unsern Dank versagen, weil ihr Wirken bis zu
einem gewissen Grade immer gleichzeitig unter dem Einflüsse egoistischer Motive
steht, so müßte die Dankbarkeit als solche aus der Welt verbannt werden, denn
wer immer wohlthätig wirkt, wird dies auch seiner eignen Selbstbefriedigung
halber thun.
Indes die von dem englischen Philosophen eröffnete Aussicht, der manchmal
recht unbequemen Dankverpflichtung, welche die Verdienste großer Männer uns
auferlegen, durch die jederzeit mögliche Berufung auf deren etwaige egoistische
Motive entgehen zu können, ist dem Zeitgeist viel zu willkommen, als daß seine
Ausführungen nicht auch diesseits des Kanals freudige Zustimmung hätten
finden sollen. So finden wir sie beispielsweise in einem Aufsatze „Von dem
Werte der Menschheit," welchen die „Nation," das Organ des rechten Flügels
der deutsch-freisinnige» Partei, am 1. November v. I. veröffentlicht hat, wieder¬
gegeben und beifällig kommentirt. Den Verfasser dieses Aufsatzes interesstrt als
Laien und immer auf das „Aktuelle" gerichteten Politiker, dem es nicht sowohl
um die allgemeinen Gedanken als solcher, als vielmehr um die Verwertung
derselben für die Erfordernisse des Tages zu thun ist, vor allem der Nutzen,
der sich aus diesen Ausführungen in bezug auf einen ganz konkreten Fall zu
ergeben scheint. Welches dieser ganz konkrete Fall ist, offenbart er uns selber
am Schlüsse seines Artikels, Er kann es dem Engländer nicht hoch genug an¬
rechnen, daß er dem Kultus der Menschheit, welcher zwar eine bloße Phrase,
aber doch mehr als harmlose Phantasterei sei, ein Ende gemacht habe. Denn
von der Anbetung einer solchen Abstraktion sei es nicht weit zu dem Gedanken,
irgendeinem Vertreter der Menschheit, einem unfehlbaren Sterblichen praktisch
die Rolle der Vorsehung zuzuleiten. Und damit nicht irgendein harmloses Ge¬
müt auf den Gedanken komme, unter jenem unfehlbaren Sterblichen, vor dessen
Verehrung so nachdrücklich gewarnt wird, könne etwa der heilige Vater in Rom
gemeint sein, fährt der Verfasser erläuternd sort, es fehle nicht an Beispielen,
daß mächtige Staatsmänner in ihrer Person die Funktionen einer irdischen
Vorsehung zu konzentriren suchten, indem sie davon ausgingen, daß die Mensch¬
heit als Gesamtheit zu unbeholfen für eine solche Thätigkeit sei. Solche Konse¬
quenzen der Menschheitsreligion halte er für gefährlich, und er sei deshalb
dem Philosophen dankbar, der den Vordersatz umstoße.
Knie illa.6 1g.eriiQÄS. Also all dieser Eifer, die vertrauensselige Menschheit
vor allzu inniger Dankbarkeit gegen ihre Wohlthäter zu warnen, wird nur des¬
halb aufgewandt, damit das deutsche Volk sich nicht etwa verleiten lasse, seinen
größten Staatsmann als unfehlbar oder als eine Art von Vorsehung zu be¬
trachten.
Nun, der Verfasser möge sich beruhigen. Soviel wir gehört haben, ist die
Unfehlbarkeit des Reichskanzlers noch von keiner Versammlung proklamirt worden,
und auch Tempel oder Altäre sind ihm unsers Wissens bisher noch nicht er¬
richtet worden. Ein guter Teil der Deutschen ist nnr der einfältigen Meinung,
der Leiter unsrer öffentlichen Angelegenheiten habe nachgerade hinreichende Proben
seiner Befähigung abgelegt, um ein gewisses Bertrailen auch in bezug auf die¬
jenigen Maßregeln, deren Erfolg noch unbekannt ist, zu rechtfertigen, wenigstens
solange als nicht die Schädlichkeit derselben in evidenter Weise nachgewiesen ist.
Sie haben für diese ihre kindliche Anschauung einen Bundesgenossen an dem
bekannten Ausspruche des freilich heutzutage sehr altmodischen Aristoteles: wo
in einem Staate ein Bürger sich so vor den andern auszeichne, daß die Tugend
und staatliche Kunst aller andern zusammengenommen mit der seinigen nicht zu
vergleichen sei, da bleibe nichts weiter übrig, als daß alle ihm freiwillig ge¬
horchten.
Es ist zuzugeben, daß diese hervorragenden Männer selten genug vorkommen,
aber bisweilen werden sie durch eine besondre Gunst des Geschickes den Völkern
zuteil, und es ist immer eine große Unklugheit gewesen, wenn man diese seltene
Gabe undankbar zurückgestoßen hat, eine Unklugheit, die sich jedesmal an den
Betreffenden aufs bitterste gerächt hat, wofür vielleicht das schlagendste Beispiel
die Ermordung Cäsars ist.
Die ängstliche Warnung davor, einem Sterblichen die Rolle der Vorsehung
zuzuleiten, hat aber einen tieferen Grund. Die Rolle der Vorsehung spielt der¬
jenige, welcher im Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit einem andern die
Sorge für sein Wohl ganz oder teilweise abnimmt. Nun ist es aber ein demo¬
kratisches Axiom, daß für sein eignes Wohl im allgemeinen der Betreffende am
besten selber sorge. Dies ist nun nicht einmal in bezug auf den Einzelnen
immer richtig, denn um sein wahres Wohl zu erkennen, dazu gehört schon eine
gewisse Erfahrung und Reife des Urteils, die man nicht ohne weiteres jeder¬
mann zutrauen kann. Noch weniger aber ist die Nichtigkeit dieses Axioms zu¬
zugeben, wenn es sich um ein ganzes Volk handelt. Denn ein Volk besteht
aus vielen Einzelnen, von denen jeder sein bestimmtes, von dem der andern ver-
schiednes und oft ihm geradezu entgegengesetztes Interesse hat. In dem Streite
der verschiednen Interessen diejenigen, welche für die Gesamtheit im Augenblicke
und auf die Dauer die meiste Wichtigkeit besitzen, herauszufinden, das vermögen
weder die einzelnen Interessenten als solche, noch die Gesamtheit derselben, deren
Meinung sich ja naturgemäß nur durch Majoritätsbeschlüsse kundthun kann.
Denn die Majorität eines Volkes Pflegt für die selbständige Lösung derartiger
schwierigen Fragen weder hinreichende Reife des Urteils noch die gehörige Er¬
fahrung zu besitzen. Was das wahre Interesse einer Nation ist, versteht nur
der in genügendem Maße zu beurteilen, der sich mit den Angelegenheiten und
Bedürfnissen derselben eine Zeit lang beschäftigt hat. und zwar nicht bloß in
theoretischer Weise, sondern auch praktisch. Denn in der Politik kommt es nicht
lediglich darauf an, gewisse Regeln festzustellen, mit deren strikter Befolgung
dann alles abgethan ist, sondern die Hauptsache ist, in jedem Falle genau zu
prüfen, welche Regel und wieweit dieselbe anzuwenden sei. Die Politik ist mit
einem Worte, wie mich Fürst Bismarck neuerdings wieder einmal hervorgehoben,
keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Jeder Künstler aber unterscheidet sich
von denen, welche es nicht sind, nicht in quantitativer Weise, sodaß z. B. viele
Dilettanten einem Künstler gleichkämen, sondern qualitativ. Selbst der mittel¬
müßige Künstler, der mittelmäßige Staatsmann hat vor dem Laien einen un¬
schätzbaren Vorteil voraus, die Beherrschung des Technischen; bei dem Meister
gesellt sich als zweites noch eine mehr oder minder hohe Begabung hinzu.
Ein gewisses Maß solcher Begabung gestehen ja nnn unsre Demokraten
dem Reichskanzler auch zu; siud sie doch sogar so gütig, denselben, wie
dies beispielsweise in der am 17. Januar d. I. ausgegebenen Nummer der
„Nation" geschieht, als einen „hervorragenden Diplomaten" zu bezeichnen.
Leider hat gerade diese Bezeichnung in demokratischen Munde einen etwas fa¬
talen Beigeschmack. Wenn wir nicht irren, war es Herr Virchow, der einmal
erklärte, Bismarck sei ja ein ganz guter Diplomat, aber er gehöre als solcher
doch einer MenschenKasse an. die sich eigentlich überlebt habe. In Zukunft,
meinte er, werde es zur Regelung internationaler Angelegenheiten der Kniffe
und Praktiken dieser Herren nicht mehr bedürfen, sondern diese Regelung werde
sich mit der größten Offenheit und Loyalität vor den Augen der ganzen Welt
vollziehen können. Vielleicht ist dieser glückliche Zeitpunkt sogar schon gekommen,
ohne daß die Herren Diplomaten, die nicht gern ihre Überflüssigkeit bekennen
möchten, dies gemerkt haben, und die Lösung der deutschen Frage z. B> wäre
am Ende ohne viele Spitzfindigkeiten nach der alten bewährten Methode der
Fortschrittspartei möglich gewesen.
Wie eine solche Methode der Zukunft zu denken sei, darüber kann ein Vor¬
schlag Auskunft geben, den ein früherer Parteifreund des Herrn Virchow kurz
vor dem Ausbruche des dänischen Krieges im preußischen Abgeordnetenhause
gethan hat. Dieser Vorschlag ging dahin, sich den Beistand Schwedens durch
die Überlassung des freilich erst zu erobernden Jütlands zu gewinnen, welches
man ihm ja nicht dauernd zu lassen brauche, sondern später gelegentlich wieder
wegnehmen könne. Diesem Vorschlage gegenüber bezeichnete der Ministerpräsident,
Herr von Bismarck, es als eine eigentümliche Naivität unzünftiger Politiker,
von der Tribüne aus dasjenige anzuführen, was, in dieser Weise ausgesprochen,
die empfohlene Kombination gründlich unmöglich mache. Solche Dinge, wie
die vorgeschlagenen, kämen Wohl vor, aber wenn man solche Politik treiben
wolle, so Posaune man es wenigstens nicht von der Tribüne aus.
Daß auch bei Herrn Virchow das Verständnis für die Kunst des Staats¬
mannes, wie für die derselben analog und auch häufig, z. B. schon vou Plato,
mit ihr zusammengestellte Steuermannskuust nicht viel größer war, bekundet
eine Äußerung desselben aus dem Jahre 1865 über die Politik der Regierung
in der Schleswig-holsteinischen Angelegenheit, eine Politik, deren Erfolge damals
ziemlich deutlich vor Augen lagen und die Fürst Bismarck später selber einmal
als die glänzendste, weil vielleicht schwierigste seiner Nuhmesthaten bezeichnet
hat. Der Herr Abgeordnete warf nämlich dieser Politik vor, sie sei keine konse¬
quente gewesen und habe, je nachdem der Wind gewechselt habe, auch das Steuer¬
ruder gedreht. Worauf der Angegriffene gelassen mit der Frage erwiederte:
was man denn, wenn man zu Schiffe fahre, andres thun solle, als das Ruder
nach dem Winde drehen, wenn man nicht etwa selbst Wind machen wolle, was
er andern überlasse.
Warum wir auf diese unliebsamen und längst verjährten Geschichten zurück¬
kommen? Weil dieser durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte gründlich
aosui'aum geführte und dadurch scheinbar vernichtete Dilettcmtimus erst
neuerdings wieder einmal Spuren seines immer noch fortdauernden Daseins
uns vor Augen geführt hat. Es war in jener bekannten Reichstagssitzung,
deren Datum für gewisse Leute hoffentlich stets etwas Ominöses behalten wird,
wo man es unternahm, einem Minister, der als solcher eine zwanzigjährige Er¬
fahrung für sich hat und zu dessen Fachkenutms man deshalb einiges Vertrauen
hegen darf, der aber außerdem zufälliger Weise noch die Eigentümlichkeit besitzt,
der größte Staatsmann seiner Zeit zu sein — wo man es unternahm, diesem
Manne wohlmeinende Ratschläge zu besserer Verteilung der zu seinem Ressort
gehörigen Geschäfte zu geben. Das unauslöschliche Gelächter, mit welchem jene
Ratschläge zwar nicht von diesem Reichstage, aber von dem übrigen Deutsch¬
land, Europa, ja der Welt aufgenommen wurden, hätte die Herren belehren
können, daß ein bischen Dilettantismus sich zwar innerhalb der eignen vier
Wände und auf der Bierbank recht gut macht, daß er aber unfehlbar vernich-
tenden Hohne anheimfällt, sobald er es unternimmt, ans den öffentlichen Markt
hinauszutreten und die luftigen Gebilde seines impotenten Laiengehirns den
soliden Schöpfungen eines anerkannten Meisters an die Seite zu stellen.
us meiner Jugendzeit entsinne ich mich, daß ein verständiger
Bauersmann, mit dein ich über Feuervcrsicherungswesen sprach
und dem ich meine Bewunderung dieser trefflichen Einrichtung
ausdrückte, mir antwortete: alle diese Versicherungsanstalten liefen
eigentlich nur darauf hinaus, daß eine Anzahl „Herren" bequeme
und einträgliche Stellungen hätten. Diese Ansicht schien mir damals entsetzlich
altmodisch und thöricht, und auch heute noch gebe ich zu, daß sie mindestens
sehr einseitig war; aber zu dem Standpunkte, anzuerkennen, daß der Mann nicht
so ganz Unrecht hatte, bin ich heute doch auch gekommen.
Es ist mit dem Versicherungswesen eine vortreffliche Sache, und altmodische
Leute, welche prinzipiell nichts davon wissen Wollen, werdeu sich gewiß nur noch
ganz vereinzelt finden. Wenn gewisse Lasten, welche unfehlbar die Gesamtheit
treffen müssen, von denen man aber nicht im voraus wissen kann, welchen Ein¬
zelnen sie treffen werden, durch Versicherung in einer für niemand sonderlich
drückenden Weise ihre Ausgleichung finden, so ist das gewiß die Befriedigung
eines öffentlichen Interesses von allerersten Range; freilich ist dann immer noch,
den heutigen Zustünden des Versicherungswesens gegenüber, die Frage gestattet,
ob dieses ganze Gebiet nicht zweckmäßiger von der gesamten Öffentlichkeit, dem
es dienen soll, auch betrieben werde, statt der Privatindustrie überlassen zu
sein — eine Frage, die ich heute nicht weiter untersuchen will, da sich bereits
die Parteipolitik ihrer bemächtigt hat. Nun kommt aber weiterhin eine Klasse
von Versicherungsgeschäften, bei denen es sich nicht in gleicher Weise um ein Ge¬
säme-, sondern nur um ein Einzelinteresse handelt, und wo die Fälle, gegen
deren Eintritt versichert werden soll, zwar gleichfalls im natürlichen Laufe der
Dinge früher oder später eintreten müssen, aber doch nicht im Lichte einer Klasse
von Ereignissen aufzufassen sind, bei denen ein bestimmter Schaden andernfalls
vom Einzelnen zu tragen wäre und mittelst der Versicherung einer Gesamtheit
zugewälzt wird. Auch diese Versicherungen, welche vielleicht das einzig berech¬
tigte Gebiet eines privaten Versicherungswesens in sich darstellen, mögen von
hohem Werte für die bürgerliche Gesellschaft sein, indem mit ihrer Hilfe durch
verhältnismäßig kleine Opfer eine Sicherheit der Familie erkauft werden kann,
die sich auf anderen Wege nur durch ungleich größere Summen bewerkstelligen
ließe. Zugegeben also, daß die „Lebensversicherung," um welche es sich hier
handelt, gleichfalls eine sehr gute und zweckmäßige Sache und jede mit ihr sich
befassende Gesellschaft die Trägerin eines sozialen Fortschrittes sei. Aber schon
viele, der Sache an und für sich nicht abgeneigte Leute haben gegenüber den
zahllosen für sie gemachten und ihre unbegrenzte Zweckmäßigkeit als ganz
selbstverständlich voraussetzenden Reklamen für alle denkbaren Formen des Le-
bensversichernngswesens den Eindruck erhalten, daß da doch wohl manche Über¬
treibung mit unterlaufen möge, und daß die ganze Sache doch in erster Linie
ein „Geschäft" sei — weniger für das Publikum, welches haranguirt wird, sich
auf dasselbe einzulassen, unbedingt aber und in größtem Maße für diejenigen,
welche eben in die Reklametrompete stoßen. Und so ist es anch in der That.
Für viele ist es eine absolute Notwendigkeit, für sehr viele eine lobenswerte
Vorsicht, für noch andre eine ihren VcrlMtnifseu entsprechende Geldanlage, ihr
Leben in der einen oder andern Form zu versichern. Aber weder ist es wahr,
daß irgendeine Form der Lebensversicherung sich für jeden empfehle, noch daß
nicht in sehr vielen Lebenslagen die gleichen Vorteile, welche die Versicherung
bietet, auch auf anderem Wege zu erzielen wären. Es ist recht merkwürdig,
daß dieselben Leute, welche die Abwehr jedes Hilfskassenversichernngszwanges
für die Arbeiter damit zu rechtfertigen wußten, der Arbeiter wolle vielleicht
lieber ein Grundstück erwerben oder ein kleines Baarkapital erübrigen oder alle
seine Mittel in höhere Ausbildung seiner Leistungsfähigkeit stecken — daß die¬
selben Leute, sage ich, so außerordentlich geneigt sind, die Erwerbung einer
Lebensvcrsicherungspolice als eine absolute Pflicht jedes leidlich situirter Mannes
aufzufassen. Sollte hier nicht mindestens dasselbe gelten wie von den Arbeitern,
die keiner Hilfskasse aus eignem Antriebe beitreten wollen? Und muß man hier
nicht unwillkürlich auf den Gedanken kommen, daß in dem einen Falle der
Vorteil für Privatwirtschaft und Privatkapital, im andern der „heillose" staat¬
liche Charakter des zu übenden Zwanges das eigentlich Ansschlaggebende war?
Hiermit rücken wir den Gegenstand in die rechte Beleuchtung. Das ganze
Versicherungswesen ist ein gewaltiger Hebel der modernen Kapitalwirtschaft und
bildet darum einen der Punkte, wo das in seinem Ansprüche auf absolute Herr¬
schaft bedrohte Kapital einerseits alle seine geistigen und materiellen Mittel auf-
bietet, um auch diesen Zweig großzuziehen, andrerseits sich aufs erbittertste
gegen alle Angriffe (und in der Regelung des Unfallvcrsicherungswesens wurde
nicht mit Unrecht ein solcher erblickt) zur Wehr setzt. Da darf es sich denn
nicht wundern, wenn ein prinzipieller Gegner dieser Kapitalherrschaft auch dem
Lebensversicherungswesen einmal scharf auf die Finger sieht und es in einem
Punkte öffentlich zur Sprache bringt, welcher mit besondrer Deutlichkeit erkennen
läßt, daß wenigstens ein bestimmter Zweig desselben in gröblichster Weise auf
Ausbeutung des Publikums berechnet ist. Mögen andre zusehen, ob es sich
nicht mit andern Zweigen ähnlich verhalte.
Ich meine die Versicherung von Leibrenten. Wiederum ist ja an und für
sich ohne weiteres anzuerkennen, daß diese Versichernngsform in vielen Fällen
einem reellen Bedürfnisse entspricht, und ich selbst (der ich kinderlos bin) habe
mich lange mit dem Gedanken getragen, von einem bestimmten Zeitpunkte ab
einen Teil meiner verfügbaren Mittel auf den Ankauf einer Leibrente zu ver¬
wenden. Aber ich bin, nachdem ich mir die Prospekte der Lebensversicherungs-
gesellschaften angesehen, von diesem Gedanken zurückgekommen, denn ich mußte
mir sagen, daß es geradezu gewissenlos sein würde, um der paar Prozente
Mehreinkommen willen, welche für mich auf diese Weise zu gewinnen wären,
meinen Erben große Summen zu entziehen und obendrein der National¬
wirtschaft den Schaden zuzufügen, daß ein angesammeltes Kapital wieder
zerstört werde.
Nehmen wir einmal den Prospekt einer sonst wohlberufenen süddeutschen
Nentenversicherungsanstalt, oder auch den Auszug aus derselben, welchen die
Anstalt seit Jahren in allen Journalen und Wochenschriften publizirt. Von
vornherein muß man schon überaus mißtrauisch werden durch den Satz, welcher
besagt, „die Aufnahme sei unabhängig vom Gesundheitszustande." Dieser Satz
ist offenbar auf Erweckung falscher Vorstellungen beim Publikum berechnet,
da er doch nur den Zweck haben kann, diese „Unabhängigkeit vom Gesundheits¬
zustande" als einen dein Publikum gebotenen besondern Vorteil darzustellen,
während der Käufer einer Leibrente doch selbstverständlich der Bank umso er¬
wünschter sein muß, je schlechter sein Gesundheitszustand ist. Stirbt er morgen,
so ist dies der Bank ja am allerliebsten! Warum soll sie sich da auch noch
um den Gesundheitszustand kümmern? Die besondre Hervorhebung dieses
Punktes kann kaum anders als schwindelhaft genannt werden; sie ist eine
Anlockung auf innerlich unwahre, eine bewußte Täuschung des Publikums in
sich schließende Gesichtspunkte hin.
Sehen wir uns nun aber einmal die Grundlagen des Ncntenkaufs selbst
an. Für ein Kapital von 100 Mark wird dem 40 jährigen Manne eine sofort
beginnende Rente von 6 M. 41 Pf., dem 45 jährigen von 6 M. 85 Pf., dem
50jährigen von 7 M. 40 Pf., dem 5ö jährigen von 8 M. 8 Pf., dem 60jährigen
von 8 M. 93 Pf., dem 66jährigen von 10 M. 3 Pf., dem 70 jährigen endlich
von 11 M. 1 Pf. zugesagt. Sind das nicht einfach lächerliche Zahlen? Allem
Anschein nach hat die Bank selbst gefühlt, daß diese Anerbietungen doch gar
zu wenig verlockend seien und auf jeden Versicherungslustigen, der einigermaßen
mit Zahlen umgehen kann, wie ein Strahl kaltes Wasser wirken müssen; sie
sügt daher hinzu, daß die Versicherten „Anspruch auf Dividende" besitzen, und
daß die letztere in den letzten Jahren 15 bis 25 Prozent der Rentensumme
betragen habe. Recht erfreulich für die Versicherten, einen so hohen Gewinn
herbeiführen zu helfen! Darin liegt doch thatsächlich das Zugeständnis, daß die
zu gründe gelegten Sätze von: Standpunkte eines soliden, nicht ausschließlich
auf Gewinn bedachten Geschäftsbetriebes viel zu niedrig sind, und da diese
Sätze allem Vermuten nach deshalb so schlecht sind, damit sie sich von denen
andrer Rentenbanken nicht in zu „unknlnnter" Weise unterscheiden, so ist damit
über unsre Lebensrentenanstalten das Urteil ausgesprochen, daß sie einen
kolossalen Gewinn abwerfen, für das Publikum also unmöglich zuträglich sein
können.
Eine Betrachtung der oben angegebenen Zahlen ergiebt dies denn auch
aufs deutlichste. Greifen wir mein eignes Alter, 50 Jahre, heraus und legen
wir einen Zinssatz von 3 Prozent zu gründe, der doch gewiß niedrig genug
ist, um für Verwaltungskosten und Gewinne einen hübschen Spielraum zu
lassen. Dann ist, um ein Kapital von 100 Mark mit jährlich 7 M. 40 Pf.
aufzuzehren, rechnungsmüßig ein Zeitraum vou 17 Jcihreu erforderlich. Ist es
nun wahr, daß sür einen 50 jährigen Mann die Erreichung eines Alters von
67 Jahren den Durchschnitt darstellt? Niemand wird dies im Ernste behaupten
wollen, und wenn die Statistik zu dieser Zahl gekommen ist, so behaupte ich
ohne weiteres, daß dieselbe auf irgendeinem Mißverständnis oder einer falschen
Beobachtung beruhen muß. Noch toller stellt sich die Sache bei dem Alter von
60 Jahren. Um 100 Mark mit 8 M. 33 Pf. jährlich aufzubrauchen, dazu
gehören bei 3 Prozent Verzinsung immer noch 14 Jahre. Also ein 60 jähriger
Mann soll die Durchschnittswahrschcinlichkeit haben, 74 Jahre alt zu werden!
Ist das nicht handgreiflicher Blödsinn? Aber freilich, für die Nentenbanken
stellen diese Zahlen gar keinen Blödsinn, sondern einen sehr respektabeln Gewinn
dar, wenn sich nämlich so rechennnknndige oder gegen die Interessen ihrer Erben
so absolut gleichgiltige Leute finden, die auf solche Bedingungen einen Leib¬
rentenvertrag abschließen.
Wenn ich recht berichtet bin, so ist das ganze Leibrentengeschäst in Deutsch¬
land noch sehr unentwickelt. Das ist freilich unter solchen Umständen nicht zu
verwundern. Zugleich aber ist es ein weiterer Beweis dafür, daß das Kapital
keineswegs mit der kühlen, überlegenen Weisheit zu Werke geht, die ihm von
seinen Verehrern so gern zugeschrieben wird, sondern in manchen Fällen lieber
die Ausdehnung des Geschäftes in die Schanze schlägt, um nur so lange wie
möglich einen ungebührlich hohen Einzclgewinn zu erzielen.
ick gefeiert und viel verlästert klingt der Name des Friedländers
in der Geschichte; doch von der Herrschaft, die ihm den Namen
gegeben, weiß man wenig. Und doch tritt die Natur des merk¬
würdigen Emporkömmlings vielleicht nirgends klarer hervor als
dort, wo er als Regent und Grundherr geschaltet hat: im „Herzog¬
tum Friedland." Längst verweht ist die staatliche Schöpfung, die er mitten in
den Stürmen des großen Krieges hier im nordöstlichen Böhmen aufzurichten
versuchte, aber was er dort an Bauten und Anlagen schuf, das steht fast überall
noch anfrecht, denn nicht für die wenigen Jahre seiner Herrschaft hat er es be¬
messen, sondern ans Jahrhunderte.
Sein Herzogtum erwuchs aus den massenhaften Güterkäufen und Güter-
scheuknngen nach der Schlacht am Weißen Berge; er hat auf solche Erwerbungen
allein in den Jahren 1621 bis 1623 über sieben Millionen Gulden verwandt.
Erst im Januar 1627 erhielt er den Titel eines „Herzogs von Friedland,"
doch die Bildung des Gebietes war im wesentlichen schon im Jahre 1623 voll¬
endet, als er den Fürsteutitel erhielt. Damals zählte der „Majestätsbrief," den
ihm der Kaiser darüber ausstellte, neun Städte (Friedland, Reichenberg, Arrau,
Weißwasser, Münchengrätz, Böhmisch-Leipa, Turnau, Gitschin, Böhmisch-Aicha)
und siebenundfünfzig Dörfer und Schlösser als zum Fürstentum gehörig auf.
Es umfaßte also einen großen Teil des nordöstlichen Böhmens, und indem der
Kaiser an Wallenstein die Lehnshoheit über seine Vasallen innerhalb dieser
Grenzen abtrat, machte er ihn gleichzeitig zum Oberherrn einer stattlichen Va¬
sallenschaft, der im Jahre 1634 3403 lehnspflichtige Grundstücke gehörten.
Als nunmehriger Landesherr säumte Wallenstein nicht, dein Gebiete eine ge¬
ordnete, selbständige Verwaltung zu verleihen. Ein Landeshauptmann (Statt¬
halter) trat an die Spitze, unter ihm besorgte die herzogliche Kammer, von
einem „Regenten" geleitet, die Finanzverwaltung, die Kanzlei unter einem
Kanzler fungirte zugleich als höchste Justizbehörde und als eine Art Ministerium
des Innern, übrigens ausschließlich in deutscher Amtssprache. Als die
Verhältnisse sich einigermaßen befestigt hatten, dachte der Herzog sogar
daran, seinem Lande eine ständische Verfassung zu verleihen, mitten im
Gewühl des beginnenden entscheidenden Feldzuges gegen Gustav Adolf. Nach
der „Landesvrdmmg" vom März 1632 sollten drei Stände den Landtag
des Herzogtums Friedland bilden, die Geistlichen, an ihrer Spitze der Propst
von Gitschin, die Herren und Ritter, die Vertreter von sieben Städten, und
sich auf Berufung des Landesherrn in Gitschin versammeln; selbst einen Anteil
an der Rechtspflege wollte er den Mitgliedern des Landtages zugestehen. Die
Rechtspflege aber sollte ihre höchste Instanz in einem besondern Tribunale finden,
nicht in Prag. Alles in allem betrachtet, gewann das Herzogtum Friedland
die Gestalt eines selbständigen Staates, der sich vom Kronlande Böhmen mehr
und mehr löste und nur durch Lehnsrecht mit dem Hause Habsburg zusammen¬
hing, etwa wie die schlesischen Fürstentümer der Piaster. Demselben Ziele strebte
Wallenstein auf kirchlichem Gebiete zu: er wollte für seinen Staat ein eignes
Bistum errichten, indem er sich selbst die Ernennung des künftigen Bischofs vor¬
behielt. Doch ist es dazu so wenig gekommen, wie zur wirklichen Begründung
einer ständischen Verfassung.
Als Landesherr eines ansehnlichen Territoriums hat Wallenstein Tendenzen
verfolgt, die, seiner Zeit vorauseilend, mehr an ein Regiment im Stile der
ersten Jahrzehnte Ludwigs des Vierzehnten als an das eines kleinen Landes¬
herrn im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts erinnern. Ganz persönlich war
seine Regierung vom ersten Tage an, das Größte wie das Kleinste im Auge
haltend, gerichtet auf einen prachtvollen Hofhält, auf Förderung der Steuer¬
kraft seiner Unterthanen, auf Beherrschung ihrer Gemüter durch eine reich do
tiree Kirche, die freilich dem Willen des Landesherrn stets gefügig bleiben, als
sein Werkzeug dienen sollte. Mit königlichem Prunk umgab er sich, wenn er
in Prag oder in Gitschin residirte, und selbst im Feldlager. Ein Oberhofmeister,
ein Oberstkämmercr und ein Oberststallmeister, alle glänzend ausgestattet und
besoldet, standen an der Spitze des Hofstaates, der allein 24 Kammerherren
und 60 Pagen, im ganzen 899 Personen zählte, 1072 Pferde brauchte (1633)
und jährlich mindestens 60000 Gulden kostete. An der herzoglichen Tafel
speiste man nur von vergoldetem Silber, und an festlichen Tagen erschien der
Hofstaat in blauem Sammet mit earmoisinroten Aufschlägen und silberner Ver-
schnüruug.
Doch so verschwenderisch sich dies ausnimmt, der Herzog war auch eifrig
bemüht, die'Hilfsquellen seines Landes zu entwickeln, jn er hätte anch als
Oberbefehlshaber des kaiserlichen Heeres schwerlich so großes zu leisten vermocht,
wenn er nicht in seinem eignen Herzogtume die Mittel zur Ausrüstung und
Verpflegung großenteils beschafft hätte. Etwa 150 meist eigenhändige Briefe
und Dekrete, die er in den Jahren 1623 bis 1632 nu seinen Landeshauptmann
in Gitschin erließ, stellen seine unermüdete Sorgfalt ins hellste Licht. Da er¬
läßt er Befehle, in seiner Residenz „allerlei meos von Seiden- und Wollarbeiten zu
introduziren"; er giebt 60000 Gulden Vorschuß, um die Seideniudustrie in Gang
zu bringen, anch die Juden läßt er zu. Im nahen Smrkowitz richtet er ein
Gestüt ein' und schickt mecklenburgische Pferde dorthin; er kümmert sich ge¬
legentlich um jede einzelne Stute und ist eifrig dahinterher, seinen Hauptleuten
auf den Gütern die Sorge für Züchtung von Kälbern und Ferkeln einzu¬
schärfen, wie er durch seine Brauereien auch für „einen Trunk guten Bieres"
sorgt. In der That muß das Herzogtum eine Reihe von Jahren hindurch
eine bedeutende Leistungsfähigkeit entwickelt haben, denn er ließ sich z, B, 1628
von dort 17 000 „Strich" Korn nach dem Halberstädtischen schicken und befahl
ebendmnals, in seinen Städten und Märkten 10 000 Paar Schuhe für das
Heer anfertigen zu lassen, auch für Tuchvorräte zu sorgen. Freilich fehlte es
nicht an Stcuerrückstäuden; sie beliefen sich im Jahre 1626 auf 250 000 Thaler
und vermehrten sich in den späteren Jahren unter dem Drucke des Krieges so,
daß Wallenstein nicht selten in peinliche Verlegenheit geriet und seine Beamten
zu scharfen Maßregeln antrieb, jn sie selbst wohl, heftig, wie er war, mit schweren
Strafen bedrohte. Sein Landeshauptmann Gerhard von Taxis hat sich diesen
dringenden Anforderungen sogar durch die Flucht zu entziehen gesucht, was er
mit Verlust seines im Herzogtum gelegenen Gutes bezahlte (November 1632).
Jedenfalls scheinen sich die Finanzen Wallensteins gegen das Ende seiner Lauf¬
bahn in vollständiger Verwirrung befunden zu haben, vielleicht ein Grund mehr
für ihn, nach einem Ausgleich mit den protestantischen Kurfürsten zu streben.
Wie Wallenstein innerlich zur Kirche stand, ist bekannt genug; als An¬
hänger der Astrologie war er Fatalist und hat der katholischen Lehre schwerlich
jemals anders als rein äußerlich gehuldigt. Doch kann von grundsätzlicher
Duldsamkeit andern Konfessionen gegenüber bei ihm ebensowenig die Rede sein.
Es bezeichnet ihn, daß er den Kalvinismus mit seiner durch und durch demo¬
kratisch-republikanischen Kirchenverfassung geradezu haßte. Die Kirche war ihm
ein Werkzeug zur Sicherung seiner Herrschaft, nichts weiter, und da für diesen
politischen Zweck die katholische bei weitem am meisten zu leisten schien, so hat
er sie auch in seinem Herzogtum zur alleinherrschenden gemacht. Seiner kon¬
fessionellen Gleichgiltigkeit lag fanatische Verfolgung Andersgläubiger allerdings
fern, er nahm bisweilen wohl auch persönliche Rücksicht, aber wenn er seine
Beamten zur Milde mahnte und sein Landeshauptmann gelegentlich einem über¬
eifriger Geistlichen die Verbrennung protestantischer Bücher verbot, so geschah
das nicht aus Duldsamkeit, sondern aus Vorsicht. Der Befehl: „Die Bürger
und Panem ungchütt ^ungchudelt^ zu lassen, bis der Adel aus dem Land sein
wird" (1628) charakterisier sein ganzes Verfahren am besten. Doch versuchte
er sein Ziel weniger durch rohe Gewaltmaßregeln zu erreichen, die doch nur
zu äußerlicher Unterwerfung führen konnten, als durch Ausbildung der kirchlichen
Institutionen, insbesondre durch Errichtung von Klöstern. So siedelte er die
Augustiner in Böhmisch-Leipa an, die Dominikaner und Kapuziner in Gitschin,
die Karthäuser in Walditz eine Stunde davon; den Jesuiten richtete er ein statt¬
liches Kolleg in Gitschin ein, ein zweites wollte er ihnen in Friedland gründen,
denn er legte den größten Wert auf ihre Wirksamkeit als Erzieher der Jugend
höherer Stände. In Gitschin machte er eine Stiftung für zwanzig junge Edel-
lente, er schickte sogar aus Sagan und aus Mecklenburg Knaben dorthin und
behielt jeden einzelnen im Auge. Freilich hat er an diesem Orden nicht immer
Frende erlebt. Den Bekehrungseifer und die Novizenmacherei der Väter Jesu
mußte er gelegentlich scharf zurückweisen, und die Karthäuser begehrten statt der
Renten, die sie beziehen sollten, Grundbesitz, den ihnen der Herzog nicht geben
wollte, „denn, schrieb er einmal, ich will dem Clero nicht zuviel Güter ein¬
räumen." *)
Das alles ist nicht die Art eines gewöhnlichen Emporkömmlings, der vom
Glück erhoben nur an den Genuß des Augenblickes denkt; aus allem tritt eine
wahrhaft fürstliche Natur entgegen, die überall für die Zukunft sorgt. In der
That scheint dem Herzog niemals der Gedanke gekommen zu sein, daß seine
fürstliche Gewalt ein so rasches und blutiges Ende finden werde. Wie seine
Verfügungen, so erwecken seine baulichen Anlagen die Vorstellung, daß er sich
der glänzenden Zukunft seines Hauses ganz sicher glaubte, denn großartig wie
er gelebt, hat er gebaut, nicht für Jahrzehnte, sondern für Jahrhunderte. Und
was hat er in den kurzen zehn Jahren seines herzoglichen Regimentes, in einer
Periode voll kriegerischer Unruhe und materieller Not, von der er den größten
Teil — mindestens sechs Jahre — unter den Waffen verbrachte, nicht nur in
Prag, wo jeder seinen stolzen Palast auf der Kleinseite kennt, sondern vor allem
in seinen: Fürstentum geschaffen! Hier allerdings nicht in Friedland, wo er sich
nur selten kurze Zeit aufgehalten hat, sondern in und um Gitschin, in Leipa
und auf dem stolzen Bergkegel des Bösig wenige Meilen südöstlich davon. Hier
reden noch die Steine von dem Friedländer und seinem hochstrebenden Geiste.
Es ist nicht ganz bequem, nach Gitschin zu gelangen; zwar hat jetzt die
Stadt Eisenbahnverbindung, aber nur nach Süden und Westen (nach Pardnbitz,
Nienburg, Backofen) und zudem mit langsamem Sekundärbetrieb. Für den von
Norden kommenden empfahl es sich deshalb mehr, sich den Jährlichsten eines
k. k. Postwagens auszusetzen, der von Turnau aus meist durch anmutige Gegend
Tschechen und Deutsche, in ausgleichender Gerechtigkeit gleichmäßig sie durch¬
rüttelnd, in etwa drei Stunden südöstlich nach Gitschin befördert. Ist schon
der Stadt Turnau ein fast ausschließlich tschechischer Charakter auf¬
geprägt, sodaß nur wenige Firmen auch etwaige deutsche Besucher wohlmeinend
berücksichtigen und sogar die k. k. Post zu einigem Befremden des Ausländers,
der immer noch so naiv ist, das Deutsche mindestens für die thatsächliche Staats¬
sprache der „westlichen Reichshälfte" zu halten, ihren Fährschein in reinem
Tschechisch ausstellte, so verschwand während der Fahrt auf der Landstraße
jeder deutsche Laut und jedes deutsche Wort. Niemals konnte dem „Njemez,"
dem Deutschen, deutlicher zum Bewußtsein kommen, daß die Slaven ihn mit
dieser Benennung als den „Stummen" mit vollem Rechte bezeichnen. In¬
zwischen zog der Wagen seine Straße durch das freundliche Libunkathal, links
niedrige Höhen, die allmählich zum langgestreckten Rücken des Kozcckov empor¬
steigen, rechts die eigentümlichen Felsenmauern, welche kurz hinter Turnau das
Schloß Waldstein tragen, das Wallensteins Geschlecht den Namen gab, dann
in den steilen Sandsteiuwändeu von Groß-Skat gipfeln, etwas oberhalb des
besuchten Bades Wartenberg. Weiterhin ragt über dunkeln: Wald die wunder¬
same Doppelzinke der Trosky empor, eine charakteristische Landmarke für das
ganze nordöstliche Böhmen. Langsam windet, sich dann die Straße die Wasser¬
scheide nach der Cidlina hinauf, um endlich in fast schnurgerader Richtung, das
Schlachtfeld von 1866 der Länge nach durchschneidend, den weithin sichtbaren
Türmen Gitschins zuzueilen. Auf ihr zog am heißen 29. Juni die Division
von Tnmpling des brandenburgischen Armeekorps von der Jser her; dort links,
in Obstbäumen versteckt, liegt Diletz, wo gegen sie am späten Nachmittage die
tapfern Sachsen der Brigade „Kronprinz" in blutigem Kampfe standen, und da,
wo dicht vor der Stadt die Turnauer Straße in die westwärts nach Sobotka füh¬
rende einmündet, erhebt sich ein schlichter Obelisk, „dem Andenken der in der Schlacht
bei Gitschin am 29. Juni 1866 gefallenen österreichischen und sächsischen Krieger"
in deutscher und tschechischer Sprache gewidmet. Auf dieser ganzen Strecke ist
jeder Fußbreit Boden mit Blut getränkt, und hundert Schritte weiter führt über
den breiten, nassen Thalgrund der Cidlina, an der Schmalseite eines langgestreckten
Teiches vorüber, den sie an der Westseite der hochliegenden Stadt bildet, die
Holzbrücke, über die am späten Abend die Vortruppen der Division Werber
nach wechselvollem Kampfe in Gitschin eindrangen.
Die Aufschrift Nösto .uom (Stadt Gitschin) auf weiß-rotem Schilde an
einem der ersten Häuser belehrt den Fremdling, daß er am Ziele augelangt sei.
Er kann von Glück sagen, wenn er zuvor sich eines slavischen Idioms befleißigt
hat, um den Ladenfirmen und den Verfügungen der gestrengen Obrigkeit etwas
Verständnis entgegenzubringen, denn in Gitschin hofft der Deutsche vergebens
auf eine deutsche Inschrift. Nur das „k. k. Bureau für Evidenzhaltung" (Be¬
zirkskommando) erinnert wenigstens daran, daß die Armeesprache vorläufig noch
deutsch ist, und wohl nur diesem Umstände zuliebe nennt sich der Gasthof zur
„Stadt Hamburg" auch so und nicht nur, wie auf der andern Seite zu lesen,
Nesto Ilnmbin'!'. denn dort schien das Hauptquartier der Offiziere zu sein und
kündigte sich ein „Leseverein" an, allerdings zur Herstellung der nationalen
Gleichberechtigung, auch ein OwnMky olens. Im übrigen herrschte im „Hotel
Rosoulek" das Tschechische vor, in der Sprache der Gäste wie in der der auf¬
liegenden Zeitschriften; doch behaupteteten die Münchner „Fliegenden Blätter"
auch hier siegreich ihre internationale Geltung. Überhaupt thut man gut, sich
die Tschechen nicht als fortwährend von Deutschenhaß sprudelnd vorzustellen;
dem Fremden begegnen sie — in Prag mag es anders sein — höflich und
zuvorkommend, und wenn er nicht tschechisch spricht, was sie allerdings zunächst
annehmen, so reden sie sogar deutsch. Und vorwärts gekommen sind sie; die Vor¬
stellung von der böhmischen und insbesondre tschechischen Unreinlichkeit und
Liederlichkeit beginnt seine Berechtigung zu verlieren oder hat sie vielmehr schon
verloren. Gitschin ist eine saubere, freundliche, ansehnliche Stadt in sichtbarem
Aufblühen, Noch erinnern ein paar alte Thortürme und Neste der Stadt¬
mauern an eine wehrhafte Vergangenheit, aber geschmackvolle Neubauten erheben
sich besonders in den Vorstädten, und stattlich genng nimmt sich der „Ring"
aus, nach der Art der slavisch-deutschen Lande ein großer, länglich viereckiger
Platz, ringsum massive, zumeist einstöckige Hänser unter hohem Schieferdach,
über offenen, gewölbten Lauben, die den Zugang zur Hausflur und zu den
Läden öffnen. Und dort an der Südostseite erhebt sich ein mächtiger, palast-
ühnlicher Bau: das ist das Schloß, welches Wallenstein sich errichtete.
Als er Gitschin von den Smirieky erwarb und es zu seiner Residenzstadt
erhob, war es ein ärmliches Städtchen von 1W schlechten, schindelgedeckten
Häusern voll Schmutz und Unflat, Da sorgte er zunächst dafür, daß sie massiv
hergestellt, die Straßen gesäubert wurden; er gab selber die Steine und Ziegel
dazu her, machte den unvermögenden Bürgern Vorschüsse und befahl im Jahre
1627, zweihundert Maurer zu bestellen, ja er dachte den Umfang des Ortes
auf etwa fünfhundert Häuser zu bringen. Inmitten dieser ärmlichen Umgebung
— „Bauernhütten" nannte er die Hänser seiner Bürger — begann er im Jahre
1627 den Bau seines Residenzschlosses nach den Plänen des Jtalieners Pironi.
Doch war es noch Anfang 1630 nicht bewohnbar; erst nach seinem Rücktritte vom
Oberbefehl (im Juni desselben Jahres) konnte er seinen Aufenthalt dort nehmen.
Noch steht es äußerlich im ganzen so, wie er es errichtete, doch enthält es jetzt
nieist Amtslokalitäten. Über Lauben, die sich auf kräftigen dorischen Pfeilern
wölben, erhebt sich der zweistöckige Ban, außen ziemlich schlicht, über den paar¬
weise angeordneten Fenstern mit geradem Sturz ein gebrochenes Adlerdach, an
den beiden Ecken polygonale Erker auf starken, runden Pfeilern; im Innern
ist er um zwei malerische Höfe geordnet. Der größere, westliche zeigt nur auf
zwei Seiten des Erdgeschosses offene, jetzt allerdings meist verbaute Laubcngcingc,
im übrigen glatt ansteigende Wände; weit reicher ist der kleinere, östliche ge¬
gliedert: in allen drei Stockwerken umgeben ihn offene Galerien ans Bogen¬
stellungen, im Erdgeschoß auf dorischen, im ersten Stock auf ionischen, im zweiten
auf korinthischen Pfeilern. An die Rückseite des Schlosses schließt sich der lang¬
gestreckte Stallhof, in dessen Stallungen einst Wallensteins Pferde aus mar¬
mornen Krippen fraßen.
Dem fürstlichen Schlosse durfte die Schloßkirche nicht fehlen. Dicht an
seiner Ostseite und mit ihm durch einen bedeckten Gang verbunden steht die
Dekanalkirche zu Se. Jnkob. Nach dem Muster von San Jago ti Campo-
stell« in Galicien sollte sie eine mächtige Kuppel tragen, die vier Türme
flankirten. Doch ist sie nicht nach diesem Plane zur Ausführung gekommen.
Eine die ganze Breite einnehmende Vorhalle leitet in das sast quadratische
Innere. Hier erhebt sich in der That über dem Mittelraume die Kuppel¬
wölbung, doch bei näherer Einsicht stellt es sich heraus, daß der Eindruck einer,
solchen nur auf geschickter perspektivischer Malerei beruht; ein Blick von außen
zeigt vollends da, wo mau die Kuppel erwartet, nur einen niedrigen polygonalen
Aufsatz. An den Mittelraum stoßen fast gleich hohe Seitenschiffe, eine halb¬
runde Apsis umschließt den Hochaltar, das Ganze einfach nud schlicht, von
korinthischen Pfeilern getragen.
Die Jakobskirche steht fast unmittelbar an dem Waloitzer Thore, das noch
ein wohlerhaltener Thorturm mit spitzem Schieferdache deckt. Hier führt links
die Straße nach Wallensteins „Lustgarten" (I^do^ä) und zugleich zu seiner
Begräbnisstätte in der Karthause. Da, wo die Häuser der Vorstadt aufhören,
beginnt die Lindenallee, welche er anlegte, eine vierfache Reihe mächtiger, ehr¬
würdiger Bäume, die breite Fahrstraße und zwei Fußwege rechts und links
begrenzend in einer Länge von dreitausend Schritt, jetzt zum Teil schlecht gehalten,
aber in ihrer Anlage die Schöpfung eines Fürsten. So führt sie schnurgerade
auf das Thor eines Gehöftes, das auf drei Seiten niedrige Gebäude umgeben,
auf der Südostseite die Gartcuhalle schließt, denn an »diese grenzt der Garten
selbst. Die Halle ist das leibhaftige Abbild der berühmten Prager Loggia, die
W. Lübke zu den gewaltigsten Schöpfungen der ganzen Zeit rechnet, nur etwas
vereinfacht und verkleinert, nach hinten und an den beiden Schmalseiten mit
Mauern geschlossen, nach vorn, uach dem Garten hin mit drei hohen Bögen
sich öffnend, die von gekuppelten Pfeilern getragen werden, und von Kreuz¬
gewölben überspannt; eine breite Terrasse, vorn von einer Steinbalustrade ein¬
gefaßt, leitet auf zwei seitlichen Freitreppen hinunter in den Garten. Alles ist
in großartigen Verhältnissen angelegt, jetzt freilich ohne die reichen Stnckatnrcn,
die der Erbauer für sie bestimmte, und einfach weiß getüncht. Von dieser Halle
aus schweift der Blick geradeaus über ein Nasenparterre nud durch eine lange
Doppelreihe hochstämmiger Pappeln, an deren Ende ein grüner Hügelkamm
jetzt die Aussicht schließt. Ehemals sprang auf dem Platze vor der Halle
eine „großmächtige Fontana," wie Wallenstein sie nennt, die rechts und links
noch andre Springbrunnen speiste. Das ist verschwunden, wie der Schwanenteich
und der Fasanengarten, aber schöner, als sie der Herzog je sehen konnte, ziehen
sich vier Reihen mächtiger Linden dnrch den Garten hindurch, wenngleich die
Zeit schon viele Lücken in ihnen gerissen hat. Heute liegt seine Schöpfung still
und wenig besucht; statt der Kammerherren und Pagen des Herzogs tummeln
sich hier die Kinder der Gitschiner.
Eine Wanderung von wenigen hundert Schritten weiter an dem spitzen
Basaltkegel des Zibin (Nsdw) vorüber führt zur Karthause. Sie ist jetzt nicht
zugänglich, denn die weitläufige Anlage hat sich, übrigens gänzlich umgestaltet,
in ein Zuchthaus verwandelt (seit 1857). Aus der Mitte ungefähr des niedrigen,
meist nur einstöckigen Gebäudekvmplexes ragt die Kirche empor, ein hoher, aber
nicht eben umfänglicher Bau mit geschweiften Giebeln, von einem kleinen Dach¬
reiter überragt. Hier wurde Wallenstein an der Seite seiner ersten Gemahlin,
Lucrezia von Landeck, „die sein erstes Glück gegründet," beigesetzt, doch seine
letzte Ruhestätte fand er nicht hier. Als 1785 Kaiser Joseph der Zweite die
Karthause aufhob, ließ die Familie Waldftein die Neste des Ahnen nach der
Se. Annenkirche in Münchengrätz überführen, wo sie seitdem ruhen.
Den besten Blick auf die Karthause gewährt der schroffe Basaltkegel, der
sich, von einer kleinen Kapelle gekrönt, unmittelbar über ihr im Westen erhebt,
der Zebin. Da oben öffnet sich die umfassendste Rundschau: nach Süden und
Südosten hin, nach der Gegend von Königgrätz, eine flachwellige, scheinbar
unbegrenzte Ebene, ein fruchtbares Laud, von zahlreichen Dörfern besetzt und
von Obstbaumalleen nach allen Richtungen hin durchzogen, nach Westen hin
im Vordergrunde der Lindengang und die Turme des nahen Gitschin, sonst
ringsum im Norden und Nordosten waldige Höhenzüge in langen, geschwungenen
Linien, über ihnen die abenteuerlichen Zinken der Trosky, dort in blauer Ferne
die Kuppen des Riesengebirges. Ein freundliches und friedliches Bild, anders
als am Abende des blutigen 29. Juni 1866, als dort im Norden, bei Dilctz
und Eisenstadtl, auf beiden Seiten des Wiesenthales der Cidlina nach heißem
Kampfe die Österreicher und Sachsen den Preußen wichen. Wallensteins
Geist war nicht mit den kaiserlichen Waffen; doch ob er wohl den Ausgang
geändert hätte gegen den neuen „Löwen aus Mitternacht," der dort ans dem
Norden heranzog, um wenige Meilen weiter südvstwärts die Entscheidungsschlacht
zu schlagen, die den Träumen habsburgischer Oberherrschaft über Deutschland
ein Ende machte für immer?
Wie Wallenstein sich seine Residenz einrichtete, zeigt Gitschin; wie er für
die kirchlichen Institute sorgte, in denen er wichtige Stützen seiner Herrschaft
erblickte, tritt in Böhmisch-Leipa und auf dem Bösig hervor. Auf einer sanft
nach Norden ansteigenden Hochfläche über dem Polzenflusse gelegen, zeigt Leipa
dieselbe Anlage wie fast alle Städte in den deutsch-slavischen Landen und wie
auch Gitschin; um einen weiträumiger Markt, den „Ring," rechtwinklig sich
schneidende Straßen, nur daß hier die Laubengänge fehlen, die dort so malerisch
wirken. Aber so tschechisch Gitschin, so durch und durch deutsch erscheint Leipa.
Was große Brände, die verheerendsten 1787 und 1820, von alten Baudenk¬
mälern übrig gelassen haben, wie die Magdalenenkirche am Polzeu und die
gothische Kreuzkirche in der östlichen Vorstadt, ein Hans am Ring von
1555, ein andres mit zwei gefesselten Türken als Schildhalter u. a. in., das
deutet auf eine alte Blütezeit deutschen Bürgertums, als die Stadt, obwohl
keine königliche, sondern dem weithin mächtigen, deutsch-freundlichen Geschlechte
der Berta von der Dudu unterworfen, dessen alter Stammsitz (Danha) nnr zwei
bis drei Meilen weiter südlich liegt, und von ihm um 1250 mit deutschem
Rechte bewidmet, ein vielbesuchter Durchgangsplatz an der großen Straße war,
die Prag mit der Lausitz und dem deutschen Nordosten verband. Die Bürger¬
schaft scheint sich dieser Vergangenheit bewußt zu sein, deren lebendige Vcr-
gegenwürtigung dem böhmischen Deutschtums den besten Halt giebt, denn sie
hält die Denkmäler ihrer Vorzeit in Ehren. Die Fassade des Rathauses wurde
restaurirt, und unten an der Wassergasse steht ein eigentümliches Bauwerk aus
dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts, das „rote Haus," laut Inschrift 1683
erbaut, 1883 reuovirt, die Langseite auf kräftigen Bögen über roten Pfeilern,
die einen Laubengang bilden, darüber ein Sims in Sgrafitto mit Jagdszenen,
im ersten Stock eine offene Bogcngalerie auf roten dorischen Säulen, im
Sgrafittofries, der sich über ihr hinzieht, zahlreiche Porträtköpfe; die glatten
Wandslüchen der Schmalseiten imitircn Quadratbckleidung, deren faeettenartige
Behandlung durch schwarzweiße Bemalung angedeutet wird, das Ganze von
kräftiger und malerischer Wirkung. Neben solcher achtungsvollen Wiederherstellung
alter Denkmäler beweisen stattliche Neubauten ein rüstiges Vorwärtsstreben.
In den Jahren 1880 und 1881 hat die Gemeinde auf einem der höchsten Punkte
der Stadt unweit des aussichtsreichen, ausgedehnten Stadtparks, einer ebenfalls
neuen Anlage, dein Gymnasium ein weithin sichtbares, ansehnliches Gebäude
errichtet, mit wahrhaft künstlerisch aufgeschmückten Vestibül, in dem eine Mar¬
mortafel die Namen der während der Bauzeit amtsführenden Leiter der Gemeinde
verkündet. Sie ist offenbar stolz auf den Bau und kann es sein, sie weiß auch,
daß ihr Deutschtum am sichersten in der Pflege höherer Bildung wurzelt.
Das Gymnasium steht in doppeltem Sinne auf historischem Boden. Ehe¬
mals nahm diesen Platz das sogenannte „Schlüssel" der Berta von der Duba
ein, ein ehrwürdiger Holzbau, der selbst die großen Brände überdauert hatte.
Die Anstalt selbst aber kann sich auf keinen geringeren Stifter berufen, als auf
Albrecht von Wallenstein.
Als er die Stadt käuflich vom Fiskus übernahm (im Dezember 1622 und
Januar 1623), dem sie nach der großen böhmischen Rebellion als das bisherige
Eigentum der geächteten Herren von Wartenberg und Saalhausen, den Besitz-
nachfolgcrn der Berta, zugefallen war, war die Gemeinde seit Jahrzehnten völlig
evangelisch. Schon im Januar 1623 wurde nun zwar die Hauptkirche unter
militärischer Assistenz vom Reichsstädter Dechanten in Besitz genommen, aber
noch im September 1624 mußte Wallenstein der Bürgerschaft „ernstlich be¬
fehlen," dem (katholischen) Gottesdienste beizuwohnen, was sie übrigens kaum
abhielt, die geheimen protestantischen Andachten im sogenannten Schlüssel der
Berta zu besuchen, bis auch das verhindert wurde, die große Masse sich äußer¬
lich unterwarf, die standhaften über die Grenze gingen, wie es eben überall
im Lande Böhmen geschah. In den Zusammenhang dieser katholisirenden Be-
Strebungen gehört sowohl die Stiftung des Gymnasiums als die des Augustiucr-
klosters. Schon in jenem Erlaß vom Jahre 1624 hatte Wallenstein der Stadt
zugesichert, die Augustiner würden eine höhere Schule aufrichten, vornehmlich,
um den Besuch fremder protestantischer Schulen zu verhindern, der in derselben
Zuschrift auch ausdrücklich verboten wurde. Gleichzeitig — im Jahre 1627 —
erfolgte nun die Stiftung der Schule und des Klosters. Diesem wies der
Herzog eine jährliche Summe von 2000 Gulden als Beitrag zum Ban zu,
aber er verfügte auch zu seinen Gunsten über drei der Gemeinde gehörige
Dörfer und zwei ihrer Güter, ohne sie für diesen empfindlichen Verlust irgend¬
wie zu entschädigen.
So entstand das noch jetzt vorhandene und bis heute im Besitz des Ordens
verbliebene Augustinerkloster. Es steht am westlichen Ausgange der innern
Stadt, ein ansehnlicher Gebäudekomplex, an der Westseite die Kirche, daran
westwärts sich anschließend die lange einstöckige Front der Klostergebäude, nur
durch dorische Pfeiler zwischen je zwei Fenstern gegliedert. Die Kirche, ein
einschiffiger Bau, unter einem Tonnengewölbe, das von der Umfassungsmauer
etwas zurückspringt, auf jeder Langseite drei Bogen über korinthisch prvsilirten
Pfeilern, über ihnen und den Bogenfenstern, die sie einrahmen, drei kleinere
Bogenfenster, die mit Zwickeln in das Tonnengewölbe eingreifen, der Hochaltar
in halbrunder Apsis, das Ganze schlicht, aber würdig gehalten, ohne den bunten,
überladenen Aufputz des Jesuitenstils. An die innere Langseite der Kirche schließt
sich dann ein Hof, von einstöckigen Gebäuden umgeben, und jenseits von einem
zweiten schmälern Hofe, der sich nach hinten in den Klostergarten öffnet, betritt man
den Kreuzgang mit seinen Stationen und der heiligen Stiege aus höhnischem
Marmor, die zur Lorettokapelle führt. Zahlreiche Weihgeschenke zeugen von
der fortdauernden Verehrung, welche diese Stätte genießt, insbesondre ein ur¬
altes, wohl byzantinisches Marienbild, nud eine Marmortafel erinnert an einen
erst vor wenigen Jahren verstorbenen Augustiner als einen „unvergeßlichen
Lehrer." Deun erst seit dem Neubau des Gymnasiums hat die Gemeinde die
Anstalt aus der Verwaltung der Augustiner übernommen.
Sie hat im übrigen wenig Ursache, auf die Herrschaft des Wallensteinischen
Geschlechts mit Freuden zurückzublicken, denn der Herzog entzog ihr nicht nur ihren
Grundbesitz, sondern er bestätigte ihr auch ihre Privilegien uur zum Teil (1628)
und nahm ihr das einträglichste, die Braugerechtigkeit. Aber eben diese Stadt
verblieb allein von allen Orten des Herzogtums Friedland als Zubehör der
Herrschaft Neuschlvß der Witwe Wallensteins, der Gräfin Elisabeth Harrach, und
kam dann durch die Tochter derselben, Maria Elisabeth (das sehr unähnliche
Urbild zu Schillers Thekla!), an das gräfliche Halts Kaunitz, mit dem sie dann
lange und hartnäckige Kämpfe um ihre Gemeindefreiheit gefochten hat. Der
trotzige Bürgersinn, der sich darin entwickelte, ist, wie es scheint, wieder zum
Ausdruck gekommen bei der Errichtung des Kaiser-Josef-Denkmals (1882), das
jetzt keine deutsch-böhmische Stadt entbehren mag: das Bild des großen Kloster¬
zerstörers steht dem Augustinerkloster gerade gegenüber, jedenfalls ein nicht eben
rücksichtsvoll gewählter Platz.
Das Augustinerkloster hat von allen Wallensteinischen Stiftungen dieser
Art allein Bestand gehabt; wie sein Jcsuitenkollegium in Gitschin und seine
Walditzer Karthause längst aufgehoben wurden, so ist sein Kloster auf dem
Bösig, drei Meilen südöstlich von Leipa, seit einem Jahrhundert in Trümmer
gesunken. Wer jemals auf einem beherrschenden Punkte der nordböhmischen
Grenzgebirge gestanden hat, der hat auch die malerische Doppelphrcnnide des
Bösig (tschechisch ZZe^äW) gesehen. Die ganze Umgebung weit überragend und
auf Meilen beherrschend, ist der höhere, östliche Kegel, den eine tiefe, waldige
Schlucht von dem nur in der Wurzel mit ihm zusammenhängenden westlichen,
dem Teufelsberge, trennt, frühzeitig befestigt worden und erscheint als Burg
bereits 1185, gewöhnlich im Besitz der böhmischen Könige, von denen Karl IV.
oft hier geweilt hat. Die Hussiten zerstörten die Burg 1421, und nachdem sie
dann wiederhergestellt und nach mehrfachem Wechsel um die Berta übergegangen
war, erlitt sie noch einmal dasselbe Schicksal durch die siegreichen Ligisten im
Jahre 1621. Ein Jahr später kam der Berg an Wallenstein, der nun an die
Burg ein Augustinerkloster baute.
Man ersteigt die gewaltige Phonolithmasse auf gewundenem, rauhem Fels¬
wege an vielen Kalvarienstationen vorbei von dem südlich gelegenen Dorfe
Schloß-Bösig aus, dessen Gasthof „Zur Wallensteinshöhe" noch an seinen größten
Besitzer erinnert. Drei mächtige, im Spitzbogen aufgemauerte Thore führen
ins Innere der umfänglichen Ruinen. Aus Phonolith ausgemauert, scheinen
die finstern Massen wie mit dem Gesteine des Berges verwachsen. In tiefer
Einsamkeit liegen sie da, nur Mauerschwalben flattern aufgescheucht in den zer¬
fallenen Gewölben. Nur den südwestlichen Teil der Trümmer, halb auf dem
Abfalle hängend, bildet die Burg. Der Hof und das alte Zugangsthor zu
demselben ist halb verschüttet, aber auf der vollen Höhe ragt, an den Pallos
gelehnt, der uach Süden schaut, mächtig der Berchfrit auf, ein riesiger Rund¬
turm mit fünf Meter dicken Mauern. Zwischen ihn und die weiter östlich
liegende Burgkapelle stellte Wallenstein sein Kloster hinein, als einen lang¬
gestreckten, zweistöckigen Bau, mit der Außenfront nach Südosten, auf der Innen¬
seite nach dem Hofe zu anschließend den Kreuzgang, jenseits des Hofes die Kirche
und das Refektorium. Von diesen beiden stehen nur noch die Umfassungs¬
mauern, und auch die Wohngebäude sind längst dachlos geworden, doch ist die
Anlage noch deutlich zu erkennen. Die Zimmer des obern Stockes, alle ein-
fcnstrig, waren gewölbt, die des untern hatten nur eine Balkendecke. Noch
haftet hie und da der Mörtel an den Mauern, und vermorschte Balkenköpfe
stecken in der Wand, im Zimmer des Priors bemerkt man sogar noch Reste
von Malerei. Am besten erhalten und noch unter Dach ist die Burgkapelle,
ein kleiner, einschiffiger gothischer Bau mit schöner Wölbung und reichem Detail
an den schlanken Pfeilern; doch wird sie nicht benutzt, statt ihrer steht ein bunt
aufgeputzter Altar im Klosterhöfe,
Den Bau des Klosters hat Wallenstein wie alles derart mit großem Eifer
betrieben. „Ich will, daß Bezdiczi mit Furia sollte gebaut werden," schreibt
er im August 1627, auf seinem Eilmärsche nach Holstein begriffen, von Havel¬
berg aus, und im nächsten Jahre erwartete er, daß die Augustiner ihren luftigen
Sitz dort oben bezogen hätten, wozu sie offenbar keine besondre Neigung hatten,
„denn ich muß selbst ihr Visitator sein," setzt der Herzog einem Schreiben von
Wolgast aus zu.
Jedenfalls hat das Kloster nur kurze Zeit in der von ihm geplanten
Weise bestanden. 1642 zerstörten die Schweden den Bau, 1666 wurde er
wiederhergestellt und den Benediktinern übergeben, die nun bis 1785 hier oben
aushielten und im Besitz eines Gnadenbildes der Muttergottes von Moutserrcit
den Berg zu einem besuchten Wallfahrtsorte machten. 1785 hob Joseph der Zweite
das Kloster auf, das noch sieben Jahre zuvor von preußischem Truppen ge¬
plündert worden war. Die leeren Gebäude verkaufte der Fiskus um ganze
fünfzig Gulden. Seitdem verfielen sie der Verwahrlosung und Zerstörung.
Nur den Hauptturm hat der gegenwärtige Besitzer, Graf von Waldstein-Warten¬
berg, mit einen: Aufwande von 20000 Gulden wieder herstellen lassen.
Was die Mönche da oben schwerlich jemals sehr bekümmert hat, das ist
jetzt der Hauptreiz des Berges, die Rundschau. Sie umfaßt das ganze
Grenzgebiet bis zum Riesengebirge im Osten, dem Lausitzer Gebirge im Norden,
dem Mittelgebirge im Nordwesten, aber landschaftlich malerischer wirkt doch die
nähere Umgebung: auf der einen Seite unmittelbar gegenüber der Teufelsberg,
aus dichtem Walde aufsteigend, weiterhin die großen Teiche bei Hirschberg, die
man eher Seen nennen möchte, umgeben von dunkeln Waldmassen, aus denen
wieder spitze Kegelberge ragen, ihre breiten, hellen Spiegel von keinem Fahrzeuge
belebt, in einsamer Stille, die nur zuweilen der Schrei einer Möve unterbricht,
und nun weithin im Westen und Süden schroffe Kegel und langgestreckte Höhen-
züge, das ganze Land im Abendlichte, wenn die Weißen Nebel über der Tiefe
liegen, ähnlich den riesigen, erstarrten Wogen eines Urmeeres. Gerade im
Norden erhebt sich die imposante Pyramide des Roll; sonst decken breite Wald¬
massen das flache Land im Norden und Osten. Ein schicksalsvoller Boden!
Dort, bei Hühncrwasser, stieß am 26. Juni 1866 zuerst die Elbarmee auf die
Österreicher; im Osten schimmert Weißwasser, und darüber zeigt sich die Gegend
von Mttnchengrcitz mit dem breiten Plateau des Musky. wo Prinz Friedrich
Karl am 28. Juni den Grafen Clam-Gallas schlug, den Nachkommen eines der
Hauptgcgner Wallensteins. Und kaum eine Stunde vom Bösig entfernt, noch
vor Weißwasser, läuft die Sprachgrenze zwischen Deutschen und Tschechen; kein
äußeres Merkmal bezeichnet sie, aber schroffer als jemals trennt sie zwei Volks-
stamme, die nun doch eben miteinander auskommen müssen und nicht eher den
Frieden finden werden, als bis beide die historisch gewordenen Bedingungen
ihrer Existenz rückhaltlos anerkennen.
er weltflüchtige Idealismus und weltdurchbeizendc Humor sind
also nur die zwei Seiten eines Kontrastes, beide schärfen sich an¬
einander, es sind zwei Negationen, die in steter Unruhe einander
setzen und aufheben. Jean Paul kennt allerdings auch eine Ver¬
söhnung: er steigt herab von seiner Höhe in das kleine Lerchcn-
nest, die Hütte, wo gute, beschränkte, kindliche Menschen Hausen, mit Blutwenigem
beglückt; die beißende Satire wird z»in liebevollen Humor, der den heiteren
Kontrast innerer Seligkeit mit dem unendlich Kleinen, was ihr genügt, sich
Königen gleich zu träumen, mit mikroskopischem Auge und mit dem Lächeln des
innigsten Gemütes auffindet und anschaut. Es ist dies der zweite unter den
drei Wegen zum Glücke, die Jean Paul in der bekannten Vorrede zum „Quintus
Fixlein" aufzählt; der erste ist der des weltverachtenden Idealismus, der nicht
den freien Humor, nur die Satire begründet; als dritter wird genannt: mit
den beiden andern wechseln, und gerade hier verrät Jean Paul die große Lücke
seiner Weltanschauung. Mau erwartet, er werde als dritte» aufführen: Ent¬
faltung, Ausdehnung des cngbegrenzten Humors der gemütlichen Idylle, also
eben des zweiten unter den drei Wegen, auf das Ganze des Lebens, Ncst-
machcn auch im großen, daß es uns wohl werde in der weiten Welt trotz ihren
Mängeln."
Ausdehnung des begrenzten Humors der Idylle — auf das Ganze des
Lebens — Nestmachcu im großen — daß es uns wohl werde in der weiten
Welt, trotz ihren Mängeln — wahrlich, wir wüßten keine bezeichnenderen Worte
für die Grundstimmung, aus der die zwei neuesten Erzählungen Wilhelm
Naabes") erwachsen sind, als diese eben angeführten, welche wir einem Aufsatze
des sprachgcwaltigeu Meisters der Kritik, Fr. Th. Bischer, über Jean Paul^)
entnommen haben.
Bischer führt an demselben Orte weiter die Gründe aus, warum Jean
Paul weder in seiner Theorie noch in seiner Praxis diese dritte Art des Hu¬
mors, diesen rechten Weg der Mitte gefunden hat. Er erklärt dies aus Gründen,
welche weniger in der Persönlichkeit des Dichters, als vielmehr in den Zeit¬
umständen lagen, unter denen er schuf. „Gewiß, sagt er,-ist Jean Paul dadurch
ein Bild und Typus seiner Nation, wie sie war, als sie zwischen der idealen Höhe
der weltbürgerlichen Weite ihres Geistes, ihrer innern Bildung und der Kläg¬
lichkeit ihrer äußern Zustände in tiefem Widerspruche lag, noch ohne Streben
und ohne Aussicht, sie davon zu befreien. Der Deutsche war damals wirklich
der gute, liebenswürdige, träumerische, schlechthin unpraktische Junge, und wie
der Dichter den gefühlsseligen Burschen (Gottwalt) lächelnd auf seinen dunkeln
Wegen begleitet, ohne selbst ein Ende des Weges zu finden, so blieb der Nation
in ihrem jünglinghaften Zustande nichts übrig, als die Ironie über seine halb¬
verkannte Unreife."
Auch diese Begründung des Verfehlens jener rechten Mitte des Humors,
jener Ausdehnung des Engbereuzten der gemütlichen Idylle auf das Ganze des
Lebens, paßt sehr wohl auf Wilhelm Raabe, der, diesmal wenigstens, diese
überaus glückliche Mitte gefunden hat. Denn der Deutsche ist nicht mehr träu¬
merisch, nicht mehr schlechthin unpraktisch, nicht mehr gefühlsselig, jünglinghaft
unreif: wenigstens sieht ihn der Humorist nicht mehr als solchen an. „Das
Ideale im Praktischen" — „das Schöne, das Großartige im Verein mit dem
Nützlichen" — so läßt Raabe in „Pfisters Mühle" (S. 193) die Tendenzen
seines Helden, des Doktors A. A. Asche, aussprechen, und so sieht er sein Volk
an, welches deu ihm ureigner Idealismus uun auch ins Gebiet der thatkräf¬
tigen Arbeit überträgt. Und weil diese am Ausgange des achtzehnten Jahr¬
hunderts in allem Praktischen, Realen so kläglich dastehende Nation nunmehr
zur wirklichen Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit fortschreitet, weil sich
auch in der That so manche Träume unsrer Borfahren verwirklicht habe» und
weil der Humorist seinerseits mit tiefem Gemüte und tiefer Einsicht an dem
Fortschritte dieser einst so hamletartigen Deutschen teilnimmt, enthusiastisch teil¬
nimmt und sich in Einklang mit der Gegenwart stellt, darum ist ihm jener dritte
Weg zum Glück gelungen, und er füllt die Lücke aus, welche Jean Paul in der
humoristischen Weltanschauung gelassen hat.
Freilich spricht ein Humorist diesen seinen Enthusiasmus, diese seine Zu-
und Übereinstimmung mit der Gegenwart nicht unmittelbar, nicht direkt aus,
sondern verbirgt sie vielmehr oft in gar drolligen Formen. Er ist uns aber
dadurch nur umso lieber. Wie leicht wird der feine Unterschied zwischen liebe¬
voller Teilnahme und leerem Chauvinismus übersehen; ein Fehler, in den
mancher unsrer Erzähler geraten, der seine Aufgabe nicht künstlerisch genug zu
fassen vermocht hat. Bei Raabe atmet jene Grundstimmung aus der ganzen
Erfindung der Handlungen und Charaktere wohlthuend, beglückend dem Leser
entgegen, jedes tiefere Eingehen auf das Werk offenbart ihm nur immer mehr
seinen wahrhaft kunstvollen Bau.
Dies der gemeinsame Charakter der Erzählung „Villa Schönow" und des
liebenswürdigen „Sommerferienheftes" von Vater Pfisters Mühle, von denen
das letztere den Lesern dieser Blätter wohl in freundlicher Erinnerung
bleiben wird.
Bezeichnend für den Reichtum der Erfindungsgabe Wilhelm Raabes ist es
aber, in wie verschiedner Weise er von seiner Stimmung und Teilnahme an
dem gegenwärtigen Leben der Nation dichterische Mitteilung machen konnte;
denn über jene Gemeinsamkeit der Grundstimmung geht die Ähnlichkeit der beiden
Werke nicht hinaus.
Oder doch, noch ein Umstand ist ihnen gemeinsam. Der Autor sieht von
seinem stillen Poetenwinkel aus, welche Rolle nachgerade Berlin im deutschen
Reiche zu spielen beginnt, und er trägt auch diesem Faktum Rechnung. Es
scheint uns kein bloßer Zufall zu sein, daß in „Pfisters Mühle" Berlin einen
wirksamen Hintergrund zu der ländlichen Sommerfrische abgeben muß, auf
welcher die eigentliche Geschichte und ihre Erzählung, die selbst wieder humori¬
stischer Weise Handlung ist, sich abspielen; und in „Villa Schönow" ist sogar das
spezifisch Berlinische Wesen der Mittelpunkt der Dichtung selbst. Auch dies ist ein
Beitrag mehr zu unserm Urteil von dem vollen Aufgehen des Dichters in der
Gegenwart: denn wie in der Wirklichkeit die Reichshauptstadt sich inimer mehr
zum Zentrum des nationalen Lebens zu krhftallisiren strebt, so gewinnt sie auch für
unsern Dichter, der sich die Aufgabe stellte, von diesem Leben ein in seiner hu¬
moristischen Art gefaßtes Bild zu entwerfen, in gleichem Sinne an Bedeutung.
Das Motiv von „Pfisters Mühle" bildet ein Faktum, welches jetzt in
Deutschland die Kopfe der Regierenden und der Regierten am meisten in An¬
spruch nimmt und welches man als das Grundproblem der innern Politik be¬
zeichnen könnte. Es ist dies der Umwandlungsprozeß aus einem Agrikultur-
in einen Industriestaat, in welchem wir mitten drin stehen. Natürlich bildet
dieses Motiv nnr den innersten Kern der Erzählung vom Schicksale der Mühle
Vater Pfisters, welche im übrigen soviel wie garnichts mit Nationalökonomie
sich abgiebt, sondern nur nach echt dichterischer Weise eine Reihe der kostbarsten
Gestalten vorführt. In der Art und Weise aber, wie Raabe den Konflikt des
armen Müllers gestaltet und löst, liegt sein weltbejahender Humor, der die
Idylle auszuweiden versteht auf das Ganze des Lebens, wie er auch im vor¬
gesetzten Motto aus Seneca „Von der Gemütsruhe" es andeutet: „Und in dem
Blick auf das Ganze ist der doch ein stärkerer Geist, welcher das Lachen, als
der, welcher das Weinen nicht halten kann." Der Aufschwung der Industrie,
welchen Raabe nur als Frucht der wissenschaftlichen Arbeit erkennt — besitzen
doch die deutschen Chemiker einen Weltruf —, stimmt den Humoristen nichts
weniger als sentimental. Diese großartige Thätigkeit erfreut ihn und gefällt ihm,
der nicht zum Geschlecht der weltflüchtigen Idealisten gehört. Die Verbindung
prahlerischer Großmannssucht mit nüchternsten Militarismus gewinnt ihm nur
ein Lächeln ab? eine Zuckerrübenfabrik, die phantastischer als eine Ritterburg
der Vergangenheit mit ihren Dächern und Zinnen, ihren Türmen und Schorn¬
steinen im Nebel des Weihnachtstages aufragt, ist ihm ein humoristischer Kon¬
trast, vor dem er aber die Meinung ausspricht: „Kind, habe dreist wie die
andern Furcht, dich ihm gegenüber lächerlich zu machen, und renne dir ja den
Schädel nicht daran ein mit irgend etwas drin, was über der Zeit und dem
Raume liegt." In dem Sinne kann er es auch nicht tragisch, sondern nur hu¬
moristisch-mitleidsvoll nehmen, wenn die alte gute Zeit mit ihrer sorglosen Lebens¬
freude, ihren lauschigen Winkeln, ihrer ungestörten Natur der lärmenden, nüch¬
ternen, ja die Luft oft weit im Umkreis verderbenden, verstänkerndcn Industrie
weichen muß. Und in dieser einzig poesiereichen Stiuunuug, in welcher das
Herz in gleicher Weise geteilt ist zwischen der mit romantischem Gold nmspon-
nenen Vergangenheit und der freudig anerkannten Gegenwart, erzählt der Hu¬
morist die Geschichte von Pfisters Mühle.
Durch zwei Jahrhunderte hatte sie sich in der Familie der Pfister (wahr¬
scheinlich ein verdeutschtes Pistorius) von Vater auf Sohn als einträgliches Ge¬
schäft fortgeerbt; an einem schönen, krystallhellen Büchlein gelegen, inmitten einer
anmutigen Landschaft Mitteldeutschlands, war ihre Schankmirtschaft der belieb¬
teste Ausflugsort der nahegelegenen Musenstadt. Der pvesievolle Schimmer,
welcher die akademische Jugend umgiebt, vergoldet auch sie. Da, in den letzten
Jahren, wurde dritthalb Kilometer oberhalb ihres Rades die Zuckerrübenfabrik
Krickerode angelegt, deren schlammiger Abfluß den Lebensquell der Mühle, das
Bächlein, versumpfte, vergiftete, verstänkerte. Damit waren die Mühle und ihr
Besitzer ruinirt; denn so lieb auch alle Welt den klugen, edeln, treuherzigen
Vater Pfister haben mochte — in der Mühle roch es doch zu stark nach allerlei
fürchterlichen Düften, als daß man zur Erholung sich bei oder in ihr hätte aufhalten
mögen. Zum Glück hatte Vater Pfister seinen eignen einzigen Sohn nicht zum
Müller, sondern zum Gelehrten erzogen; zum Glück auch hatte er sich an dem
praktisch-idealistischen „chemischen Doktor" Adam August Asche einen wissen¬
schaftlichen Verteidiger durch frühere Wohlthaten erworben, und obgleich dieser
chemische Doktor „selbst Partei" ist, d. h. „ein Mensch, der die feste Absicht
hat, selber einen sprudelnden Quell, einen Krystallbach, einen majestätischen Fluß,
kurz, irgendeinen Wasserlauf im idyllischen, grünen deutschen Reiche so infam als
möglich zu verunreinigen," so verhilft er ihm doch durch die chemische Analyse
des Bachwassers zum Gewinne des Prozesses gegen die Aktiengesellschaft von
Krickerode. Dem Müller selbst freilich kann dieser Ausgang nichts nützen: die
Mühle ist tot, und er, der gar keinen Sinn für die neumodische Arbeit und für
Aktien hat, ist es mit ihr. Nach seinem Tode verkauft sein Sohn, der Philo¬
loge an einem Berliner Gymnasium, das Grundstück, ans dem ein neues, Kricke-
rode ähnliches Industrie-Etablissement aufgerichtet werden soll; Doktor Asche er¬
richtet eine eigne Fabrik zur Reinigung schmutziger Wäsche, in der es fürchterlich —
riecht. Die letzten Wochen, bevor mit dem Neubau begonnen wird, verbringt
der Philologe Pfister auf seinem väterlichen Grundstück, „und wie mich diese
guten Sommertage, so zwischen Traum und Wachen, zwischen Gegenwart und
Vergangenheit gleich leise schaukelnden Wellen getragen haben bis an das Ende
meiner Schulferien und den Beschluß der Geschichte von Pfisters Mühle" — in
diesem seligen Zustande, an der Seite seiner vor kurzem angetrauten jungen Frau
erzählt er die Geschichte. Diese selige Ferien- lind Honigwochenstimmung lagert
über dem ganzen „Sommerferienheft" von Pfisters Mühle. In Gestalten, die
wir hier nicht weiter anführen können, wird die Szene bereichert und das Idyl¬
lische zum sozialen Bilde der Gegenwart erweitert. Man wird „Pfisters Mühle"
ohne Frage zu den anmutigsten und zugleich geistvollsten Schöpfungen Wil¬
helm Randes rechnen dürfen.
Wenn wir uns etwas weniger enthusiastisch über das zweite neue Werk
des Dichters, die „Villa Schönow" äußern, so möge man uns nicht der Par¬
teilichkeit zeihen; denn wir glauben, daß diese letztere Erzählung, wenn sie auch
in mancher Beziehung „Pfisters Mühle" überragt, doch im ganzen hinter ihr
zurückstehe. Und zwar darum, weil der Dichter, wie uus bedünkt, sich etwas
zu sehr in dem humoristischen Behagen gefällt, seinen Helden im unverfälschten
Berliner Dialekt vorzuführen. Die Lektüre der Erzählung wird dadurch etwas
erschwert, und mau hat hie und da Mühe, sein Interesse lebendig zu erhalten.
Und doch, wenn dies gelingt, und es geht bei einiger Geduld, welche liebens¬
würdigen Geschöpfe einer tief gemütvollen Phantasie lernt man auch hier
kennen! Wie hat sie der Dichter mit dem ganzen Reichtume seines Herzens
und der ganzen Fülle seiner sich in fortwährenden Kontrasten bewegenden Phan¬
tasie ausgestattet!
Um Nestmachen im eigentlichen Wortsinne handelt es sich in der „Villa
Schönow," auch hier und ganz eigentlich weitet sich der Humor der Idylle aufs
Ganze der Welt aus. Das Hauptinteresse wendet sich dabei mehr der meister¬
lichen Schilderung komischer und sonstiger liebenswürdigen Charaktere als den an
sich ernsteren Vorgängen zu. In der Mitte steht natürlich Herr W. Schönow,
„Berliner Hausbesitzer, Provinzialfteinbruchbesitzer, k. k. Unteroffizier a. D. und
no ^ allerlei Kurioses," wie er sich selbst unterzeichnet, das „alte Krokodil," der
„olle Potsdamer," wie ihn andre bezeichnen, der treuherzigste, rührungsreichste,
bravste, praktischste und maliziöseste Mensch des ganzen neuen deutschen Reiches;
er und mit ihm das Fräulein Julie Kiebitz. Die letzte Hegelianerin Berlins, die
häßliche, magere, pergamentfarbige, sehr gelehrte alte Jungfer, eine Tochter des
Zeitgenossen der großen Hegelschen Schule, des Universitätsprofessors Dr. Kiebitz,
und doch, wie Schönow ganz richtig bemerkt, eine „Fürstin, die immer In¬
kognito auf der Erde wandelt," eine „hohe Julia," wie sie der Dichter selbst
nennt. Der Freundschaftsbund dieser zwei Leute gehört wohl zu dem merk¬
würdigsten der Geschichte. „Fräulein Julie, schreibt ihr Schönow, wie wäre
et denn nun mal wieder? Als sich unser Herrgott in mir vergriff und mich,
wie Sie von Olimszeiten wissen, statt zu einem Menschen zu einem Kameel
machte, hat er Sie doch nur deshalb gleich hinter mir her erschaffen, um seineu
Fohpah zur Hälfte wieder gut zu machen." Und Julie spricht sich ihrerseits
aus: „O, ihr unsterblichen Götter, was möchte aus meines Vaters Tochter
geworden sein, wenn ihr dem verwahrlosten, verstaubten, verschimmelten jungen
Geschöpf nicht diesen verwahrlosten, ungekannten, ungewaschenen, halbver¬
hungerter, närrischen Kerl und Straßenjungen in den Weg geführt hättet?. .
Ihr habt es doch wohl gut mit uns gemeint, ihr im ewigen Man!.. Und,
bei den drei furchtbaren Schwestern, im Grunde war ich seiner Hilfe doch viel
bedürftiger, als er der meinigen! Er machte mich wieder zu einem Kinde —
dann und wann sogar zu einem wirklichen, fröhlichen, vergnügten, lachenden
Kinde, und ich — ich konnte ihm nach des Papas Tode nur die dreitausend
Thaler geben, die er brauchte, um sein Geschäft anzufangen. Schönow und
Kompagnie!.. Schönow und Kompagnie! Durch Sauer und Süß, durch gute
und schlechte Zeiten, durch Krieg und Frieden — Schönow und sein stiller
Kompagnon!" Heiraten konnten die zwei nicht: die Professorstochter und der
„Unteroffizier vom siebenten brandenburgischen Infanterieregiment," den sie sich
von „uuter der Treppe" hervorgeholt hat. Er nahm sich in früherer Zeit eine
hübsche Köchin oder was sie sonst gewesen sein mag, die Helene Schönow, welche
ihm im jetzigen Augenblick zu einem umfangreichen, eifersüchtigen, eiteln, bös¬
artigen Hauskreuz gealtert ist, aber von der „jöttlichen" Julie ließ er trotz
seiner zarten Ehehälfte nicht locker; und so bildete sich „das Kurioseste, das
Lächerlichste, das, was der Menschheit am meisten Spaß machen würde, wenn
sie je ihre alberne Nase genauer hätte hineinstecken können, dies Verhältnis
zwischen ihr und ihrem Freunde." In allen Nöten des Herzens — andre hat
er ja nicht — muß ihm die Julie beispringen, sie ist die „Jntellijcnz," welche ihm
leuchten muß.
Ein solcher Fall bildet die eben vorliegende Geschichte. Da hat er in der
Provinzstadt, wo er seine Schicferbrüche besitzt, wieder einmal einen „närrischen"
Streich gemacht. In der Provinz tritt Schönow immer etwas breit auf, etwas
prahlerisch, fühlt sich als Großstädter, Berliner. Aber es steckt doch etwas
mehr dahinter, als daß die philiströsen Provinzialen ihn nur so als „her¬
gelaufenen, großschnauzigen Berliner Haselantc" bezeichnen dürfen. „Es dauert
immer etwas länger als zehn Jahre, ehe der Nachklang eines weltgeschichtlichen
Faktums auszittert" — dieser Nachklang freilich zittert gar mächtig, das ganze
liebe tolle Wesen durchglühend, in dem ehemaligen Unteroffizier und jetzigen
Schieferbruch- und Hausbesitzer Schönow nach. Darum widmet er seine tiefste
und werkthätigste Teilnahme dem unglücklichen Ludolf Amelung, welcher zehn
Jahre nach dem Kriege den Wunden, die er sich auf dem Schlachtfelde geholt,
erliegt. „Ach, in Frankreich uf dem elmnrv Äo vataillv hat er sich hoffentlich
seinerseits nicht zu ville draus jemacht, wenn er sie so zu taufenden um sich
her liegen ließ un ruhig weiter marschirte, bis die Reihe an ihn kam. Det
Miserable is ja wohl nnr, daß det ihn so lange nach geschlossenen Akten und
sojar jlücklich zuletzt ooch beendeten Jeneralstabslverke Passiren muß. Wahr
is es: det Jräßliche, sich so unbekannterweise eenandcr ums Leben zu bringen,
wird Eenen hierdurch ville deutlicher als durch det wohlgepflejteste Schlacht¬
feld." Diese Teilnahme an dem sterbenden Unteroffizier Amclung führt Schönow
aber auch zu allerlei Handlungen und Konflikten, in denen sich sein ganzes
braves Herz in der hinreißendsten Weise offenbart. Ans den kleinen Besitz des
Sterbenden besaß der Bürger der Kleinstadt, Liebelotte, eine Hypothek, die er
aber nun kündigt, als es mit jenem zu Eude geht. Das veranlaßt den Berliner
zu scharfen Ausfällen. Die Partikularistischen Provinzler nehmen ihren geschäfts¬
kundige!: Mitbürger in Schutz: „Kameradschaft hin, Kameradschaft her!" ent¬
gegnen sie. „Daß einer auch einmal dabei gewesen ist, zum Beispiel Sie Anno
sechsundsechzig, thut garnichts zu diesen Verbindlichkeiten. Im Gegenteil, wer
weiß, wenn Sie uns damals hier nicht annektirt hätten, ob nicht Ihr Kamerad
Amelung heute noch auf gefunden Beinen herumliefe, sein Geschäft verrichtete
und keines andern Menschen pekuniäre Unterstützung nötig gehabt hätte," und
dergleichen mehr. Und nun höre man die Antwort des reichstrenen Schönow:
„Hab ick et mich doch jleich jedacht, dat se mir den Nassauer, den Potsdamer, den
Weltstädter, den Jardeleutncmt und den alljemeenen deutschen Reiseonkel in eene
Persönlichkeit ufmntzen werden! Wollen Sie jütigst auch was andres nich dabei
derjessen, wenn Sie mal Vater- und mutterlos uf die Jrenze zwischen Moabit
und Martinikenfelde aus die Taufe jehoben werden sollten, meine Herren;
nämlich det wenn auch jroßartige, so doch merkwürdije Jefühl, als eijentliche
Wiege man bloß den janzen Ersatzbezirk des siebten brandenburgischen Infanterie¬
regiments Numero sechzig — Ober- und Nicderbarnim, Teltow und beiläufig
ooch det bißken Stcidteken Berlin — zu haben!.. Wer hat da ebene det jroße
Wort fallen lassen, Kameradschaft hin, Kameradschaft her? Meine Herren, der
dvrmalije Unteroffizier im siebten brandenburgschen Jnfanterierejiment und jetzije
Landsturm und Berliner Hausbesitzer Schönow bemerkt Ihnen doch, daß Sie
w diesem Falle ihn mit Ihre bekannte verdeckte Anspielungen uf die bekannte
Ansiedelung am Strand der Spree doch nur bis an die Pelle kommen. Det
süße Innerste kriejen Sie damit noch lange nicht raus: Jetzt haben se im vorigen
Jahr die Sechzijer nach Düsseldorf verlese und die Rheinländer und nich mehr
die Teltower. die Treptower, die Lützower, die Tempelhofer, die Nixdvrfer, die
Schmargendorfer, die Plötzeuseer, die Weißenscer, die Stralauer, die Rummels-
l'urger und det übrige nnzählijc Gänsekleen liefern mehr den Bedarf an Füsilir-
steesch und Jrenadirknochen für't sechzigste. Aber - Schönown sein Heimath-
jeflihl habe» sie damit nich'n Ende jemacht und seine Kameradschaftsjefühle hält
er ufrecht, soweit sie Abends Punkte nenne von Memel bis Metz det Volk
und die Brüderschaft in Waffen mit dieselbe Trommel- und Hornmelodie
ärjern und in die Kvmmisflaumfedern locken. Und in diesem Sinne, wie
Joethe jesagt haben soll, trete ick immer als richtijer Berliner in jede
Provinz, wo et sich um eenen Kameraden in Schwulibus handelt, mög¬
lichst feste uf, und wenn et sich ooch um die höchsten sittlichen Fragen in
Hinsicht uf die Hosentasche handelt, wie Rothschild, Bleichröder und die übrigen
Klassiker in det Fach sagen. Und wenn jemand mich jar noch mit olle An¬
spielungen uf die oller verjährten Annexionen von Anno bis ans Ende von de
Dinge, Dietrich von de Wilhelmshöhe und sonstige wirkliche dämliche Nassauereien
auf den Pelz rucken sollte, so verkündije ich hier jetzt nischt weiter als: jrade
darum! . . , Nicht, daß mir mein Jewissen bisse; denn bei Königgrätz haben
wir persönlich im Sechzigster ruhig Jewehr bei Fuß jestauden und still die
andern uns mit die historischen Jranaten beschmeißen lassen; aber Noblesse
oblijirt immer, und jrade weil ick mir doch meinen juten Kameraden Amelung
mit canellirt habe, fühle ick mir bewogen, die Bitte auszusprechen: Kinder jeht
mal so anständig als möglich mit ihm und seine mögliche Hinterlassenschaft um.
Weltjeschichte bleibt doch nun mal Weltgeschichte, und im Privatfall ändert manchmal
leider niemand det jeringste dran, sagt Fräulein In— sage ick hier bei Danck...
Womit ick bloß sagen will, det man ja jedem seine persönlichen Jefühle jerne
hochachten und doch bei außerjewöhnliche Jelegenheiten von ihm verlangen kann,
daß er in einem speziellen jejcbenen Fall einmal jroß und nich bloß an seine
cmjebvrene Privatranküne oder wie jesagt sein innigstes Portmvnnä denkt. Ick
hätte zum Exempel in Liebelottes Stelle jetzt nich det Kap'tal jekündigt."
Aber mit diesen Reden begnügt sich der thatkräftige Mann nicht. Der
Tod Ludolf Nmclungs setzt dessen jüngeren Bruder ganz aufs Trockene. Schönvw
kauft die gekündigte Hypothek auf. Das entzückend liebenswürdige Mädchen
Wittchen (Wita, Hroswitha) Hamelmann, ein wahres „Schneewittchen," veran¬
staltet für seinen verwaisten Jugendkameraden Gerhard eine Wohlthätigkeits-
lvtterie, und der „olle Potsdamer" läßt sich fünfhundert Loose eine Mark
aufbinden, die er in Berlin schon „ohne Schwierigkeit bei Kaiser Wilhelm und
Moltke besorgen wird. Mit Bismarck muß man erst mal sehen. Komme ick an ihm
ran, so fasse ick ihn sicher und natürlich bei seine zartesten menschlichen Jefühle
un hänge ihm soviel als möglich von eure Spekulation auf seine patriotische Mit¬
leidigkeit uf. Das Resultat als möglich in Baar." Aber man denke, nun
stirbt zum Unglück auch noch gleich darauf und ganz plötzlich der Vater Schnee¬
wittehens und hinterläßt dem nunmehr ganz verwaisten Kinde gar kein Ver¬
mögen! Was liegt da näher, als daß Schönow nun anch bei dem sechzehn¬
jähriger Mädchen seines Geschäftsfreundes Hamelmann dieselben Vaterpflichten
übernimmt, wie bei dem zwanzigjährigen Bruder seines Kriegskameraden Ane-
lung? „Versetze dir ganz ins erste Buch Moses, Leucten!" schreibt er boshaft seiner
liebenswürdigen Frau Gemahlin. „Versetze dir ganz in Sarah ihre Gefühle.
Dein Gatte ist Vater geworden — doch noch — endlich noch! Zwillinge sogar!"
Aber was soll er, der Geschäftsmann, mit den zwei verliebten jungen Leuten
anfangen? Da muß die Julie helfen, sie muß augenblicklich zu ihm in die
Provinz eilen (es ist etwa die Gegend von Wolfenbüttel gemeint), und die
Kinder übernehmen. Julie kommt, wann fehlte sie in solchen Dingen? Aber
die Vernünftige sagt ihm doch: „Sie sind und bleiben ein verrückter Mensch,
lieber Freund. Macht Ihnen denn der Unsinn wirklich immer noch so vielen
Spaß, Schönow?" Und mit vollster, herzlichster Gewißheit antwortet er:
„Ja! Entweder unter die Treppe jeblieben und im Verborgenen jeblüht und
verduftet — oder alles jroßartig, alles mit volle Musik." — Wie sich nun die
Sache weiter entwickelt, wie Frau Leucten in ihrer Eifersucht der alten Jungfer
und Freundin ihres Gatten nachreist, die sie im Verdachte hat, daß es ihre
eignen, nunmehr hervorgeholter Kinder von Schönow wären, wenn sie auch
nicht begreifen kaun, wie es möglich wäre; wie dann Julie, „daß ich liebens¬
würdig sein kaun, wissen Sie, Schönow, und ich war es jetzt ungemein," die
Alte herumkriegt und deu Hausfrieden herstellt; wie Schönow mit seinem Schütz¬
ling nach Berlin fährt und je näher er der Hauptstadt kommt, umso bescheidner
auftritt — das möge man selbst nachlesen.
Die Analysen der beiden Erzählungen „Pfisters Mühle" und „Villa
Schönow" sollten unsre eingangs gegebene Charakteristik des weltfreudigen Hu¬
mors Wilhelm Naabes illustriren. Beide Bücher geben ein in hellsten Farben
gefaßtes Bild der aufstrebenden Gegenwart, und gewiß ist es auch einer der be¬
deutendsten Züge der beiden Handlungen, wenn der Dichter mit dem halb ver¬
rückten, rhetorisch hohlen, pessimistischen Literaten Felix Lippoldes (Pfisters
Mühle) und mit der irvnisirten Hegelei im zweiten Werke die traurigen Kenn¬
zeichen der Vergangenheit, die starken Schlagschatten zu dem Bilde der Gegen¬
wart einsetzt. Wenn es nur mehr Dichter bei uns in Deutschland gäbe, die
gleich Wilhelm Raabe mit dem tiefsten Aufgehen in der Gegenwart allen Welt¬
schmerz, allen Pessimismus überwinden möchten, den Humor der Idylle erweitern
auf das Ganze des Lebens! Wir wollten sie mit Freuden begrüßen.
MA^röter Zeitraum. Natürlich war es Stadtrats Ernst gewesen, und
der kleine Supprian hatte darum nachsitzen müssen, was den alten
Herrn Supprian mit gerechter Entrüstung erfüllte. Natürlich war
die Sache in der Nektorklassc passirt, und das Ende vom Liede
waren Klagen und Eingaben. Es ist ja richtig, daß der Herr Rektor
ein sehr tüchtiger Lehrer ist, der seine Schule im Zuge hat, wie auch
neulich der Herr Superintendent anerkennen mußte, es ist auch richtig, daß der Herr
Rektor Schmalz, welcher eine angesehene Bürgerstochter zur Frau hat, eine geachtete
Stellung in der Stadt einnimmt. Aber er ist doch zu heftig und rücksichtslos.
Nein, alles was Recht ist. Aber Bierfässer! In der Schule Bierfässer! Das muß
ja den Charakter der Schüler moralisch untergraben.
Was war denn geschehen? Stadtrats Ernst und „dem Bürgermeister seiner"
und noch ein Paar andre hatten die alten morschen Bänke solange malträtirt, bis
eine von ihnen zusammengebrochen war. Wie gewöhnlich, war es wieder niemand
gewesen; nur über den kleinen Supprian brach das Verhängnis herein, weil dieser
sein Vergnügen an dem Vorgange nicht hatte bemeistern können.
Nach dem Unterrichte eilte der Herr Rektor pflichtmäßig zum Herrn Superinten¬
denten. Der Herr Superintendent, ein in der Stadt sehr beliebter Mann, hatte
viel zu thun, wickelte sich aber aus seinen Akten heraus und begrüßte seineu lieben
Rektor mit seiner in der Stadt so geschätzten und ihm selbst so geläufigen Herz¬
lichkeit. Der Herr Rektor trug seine Sache vor. Die Bänke seien schon seit zehn
Jahren schlecht, er habe so oft darauf hingewiesen, jetzt sei eine derselben zusammen¬
gebrochen. Was er nun thun solle? Der Herr Superintendent, dem gerade eine
schwierige Ablösungssache im Kopfe saß, machte einige allgemeine Bemerkungen
über Schulbänke und schloß mit den: Ausdrucke der Hoffnung, daß sein lieber Rektor
gewiß das Rechte treffen werde.
Da stand nun mein Herr Rektor Schmalz wieder auf der Straße und war
keineswegs gewiß, daß er das Rechte treffen werde. Wenn er noch den Herrn
Bürgermeister getroffen hätte, aber der war zu irgendeinem Städtetage gereist.
Was also thun? Für den Nachmittagsunterricht mußten die Trümmer beseitigt
werden, was der Schuldiener besorgte. Dann wurden etliche Klassenstühle, Kisten
und Küchenmöbel herbeigeschafft und in eine Reihe gestellt. Das gab in der
Rektorklasse ein gewaltiges Gaudium; in den Zwischenstunden wurden meisterhafte
Barrikaden gebaut und „Bebel" gespielt, das Ende vom Liede waren Ohrfeigen,
Reklamationen und zerrissene Hosen. Zur Strafe ließ der Herr Rektor nun alle
Sitzgelegenheiten beseitigen und die Missethäter während des Unterrichtes an der
Wand stehen."
Tags darauf brachte das freisinnige „Korrespoudenzblatt für Stadt und Land
eine Notiz etwa folgenden Inhalts- „In unsern Schulen scheint es ja recht munter
zuzugehen. Unsre Jugend muß für das teure Schüttgelb, das wir zahlen, tage¬
lang an der Wand stehen, was doch der Gesundheit nichts weniger als zuträglich
sein kann. Wenn freilich unsre Behörden statt zum Rechten zu sehen auf Städte¬
tagen bankettiren, so kann man sich über so etwas nicht wundern."
"
Am andern Tage replizirte der „Kreisbote, der Vertreter der Bürger¬
partei: „Unsre geschätzte Kollegin kann einmal wieder ihre genugsam bekannte Ge¬
pflogenheit, gehässige Unterstellungen zu machen, nicht unterdrücken... . Was übrigens
Bankette mit Schulbänken zu thun haben, ist uns unerfindlich."
Dies war nun nichts besondres, denn die „Korrespondenz" und der „Kreis¬
bote" lagen täglich im Streite; doch hatte das eben berichtete Geplänkel zur Folge,
daß die Bürgerschaft alarmirt wurde, und daß beim Herrn Superintendenten Klagen
über die Nektvrklasse einliefen. Der Herr Superintendent drückte soviel Bürger¬
fäuste, als er zwischen seine beiden Hände bekommen konnte, und versicherte innigst
bewegt, daß es ihm, wie er zuversichtlich hoffe, gelingen werde, die Uebelstände zu
beseitigen.
Er erschien denn auch in der Schule, und richtig, die Bank war nicht da,
ihre Trümmer lagen im Holzstalle.
Der Herr Superus bemerkte — anknüpfend an Hiob 19, 10: „Er hat mich
zerbrochen um und um" —, es sei allerdings die höchste Zeit, daß die Bank wieder¬
hergestellt werde, und es gehöre zweifellos zu den Obliegenheiten des Rektors, für
die Instandhaltung des Inventars zu sorgen.
Jawohl, Herr Superintendent, erwiederte der Herr Rektor stammelnd vor
innerer Wut, aber wie, wo, wer? Es rührt ja kein Mensch einen Finger.
Mein lieber Rektor, wenden Sie sich vertrauensvoll an den Herrn Bürger¬
meister. Er ist mein lieber Freund und wird gewiß alles thun, was in seinen
Kräften steht.
Der Herr Bürgermeister ist nicht da, und keiner der Herren Stadträte will
etwas in seiner Abwesenheit thun.
Wenn Sie es den Herren nur in der rechten Weise vorstellen, so werden sie
ohne Zweifel bereit sein, das nötige zu thun. Adieu. Und weg war er.
Man würde Grund haben, sich über das kühl abwartende Verhalten des Herrn
Superintendenten zu wundern, wenn man nicht wüßte, daß der Herr Rektor zur
Loge gehört, es auch bisweilen an der mit Recht zu fordernden Devotion hat
fehlen lassen. Es ist dem Herrn Superintendenten nicht zu verdenken, wenn er
fich für die Angelegenheiten des Herrn Rektors nicht sonderlich erwärmt, wie er es
unter andern Umständen gewiß gethan haben würde.
Der Herr Rektor jedoch schäumte vor Zorn, und abends in der Loge machte
er seinem Herzen gründlich Luft: Was! eine heitere Zucht! ich reine von Pontius
zu Vilnius wie ein Betteljunge und muß demütig bitten, als ob ich nicht das
Recht hätte, zu fordern, daß sie mir die Utensilien stellen. Himmeldonnerwetter!
Sei doch gut, Eduard, sagte der dicke Stadtbrauereibcsitzer, einstweilen setzest
du was andres hin.
Jawohl, was andres! Ich kann doch was andres nicht aus den Fingern
saugen! Ich kann keine einzige Bank entbehren, die Gesellschaft sitzt sowieso schon
^le die Heringe.
Dann konstruiren wir uns ein Paar Bänke. Laß mich nur machen, ich will
dir schon was hinbauen.
Das geschah denn auch. Je zwei große und zwei kleine Bierfässer und ein
paar darüber gelegte Bretter gaben die schönste Bank ab, und unser dicker Bier-
brcmer glänzte im ganzen Gesichte, als er sich sein Werk besah und sich vorstellte,
was der Herr Superintendent für eine Miene dazu machen würde. Die „Bier¬
bank" ward in der That ein „sensationelles" Ereignis. Auf allen Bierbänken redete
man von der Bierbank. Die Wohlgesinnten schüttelten den Kopf, und die Uebel¬
gesinnten machten schlechte Witze, der Herr Superintendent seufzte über den Herrn
Rektor, und die Frau Superintendent hatte es schon immer gesagt, daß der
Rektor ein gottloser Mensch sei.
Da kehrte der Herr Bürgermeister zurück, und übelgelaunt, wie er ohnehin
war, fand er die Eingabe des Rektors vor und außerdem das „Korrespondenzblatt
für Stadt und Land," in dem die Sache mit dem üblichen Pfeffer und Salz ver¬
sehen aufgetischt wurde. Aber der Herr Bürgermeister war vor allen Dingen
Jurist, d. h. er war ein Verehrer des kontradiktorischeu Verfahrens, er sah in allen
Nichtjuristen mehr oder weniger Angeklagte und stellte in jeder Sache vor allen
Dingen die Rechtsfrage. Er erließ also um den Rektor eine bitterböse Verfügung,
worin er ihm eröffnete, daß sein „nicht genügend substanziirtes" Gesuch zurückgewiesen
werde. Zuvörderst sei der Nachweis zu sichren, ob die Bank reparaturfähig sei
oder nicht. Sodann sei eine Untersuchung anzustellen, wer die Bank zerbrochen
habe. Sollte diese Untersuchung ergebnislos ausfallen, so sei der Rektor selbst
regreßpflichtig, da er für das Inventar aufkommen müsse.
Als der alte Kanzlist Neben diese Verfügung abschrieb, schob er sie seinem
Nachbar zu und sagte: Sehen Sie 'mal, Augustin, nächstens werden wir noch für
die Tinte aufkommen müssen, die wir verbrauchen. — Wieso? — Nu, auf der
Schulbank hat schon mein Vater gesessen.
Der Herr Rektor geriet abermals in eine furchtbare Wut, rannte zu Hinz
und Kunz und setzte mit großer Zungengeläufigkeit auseinander, daß die Bank
morsch und völlig verbraucht gewesen sei. Die Väter der Stadt konnten das
auch nicht leugnen, und da der Dezerneut für Bausachen versprach, so bald als
möglich hinzukommen und deu Zustand der Bank zu begutachten, so ließ sich vor
der Hand nichts weiter machen.
Nach vierzehn Tagen stellte sich denn auch der Herr Dezernent ein, der ein
ganz tüchtiger Zimmermeister war, es aber in städtischen Sachen nicht allzneilig
hatte. Zuerst besichtigte man die Stelle, wo die Bank gestanden hatte. Dann
begab man sich nach dem Holzstalle. Aber welcher Schreck! Der Unglücksmensch
von Schuldieuer hatte die Bank zerhackt und verfeuert!
Man kann sich denken, welche schwierigen und weitumfassenden Verhandlungen
nun nötig wurden, um aus Indizien festzustellen, ob die Bank reparaturfähig ge¬
wesen sei oder uicht. Der Herr Rektor weigerte sich unbedingt, die Bank zu be-
zahlen, und der Schuldiener, dem natürlich gekündigt wurde, hatte nichts. Erst
als bei der weiteren Untersuchung über die Urheber des Bankbruches immer deut¬
licher die Figuren von Stadtrats Ernst und „dem Bürgermeister seinem" aus dem
Nebel herausträte», gewann wvhllöblicher Magistrat die Ueberzeugung, daß die
Bänke in der That morsch und ersatzbcdürftig gewesen seien.
Zweiter Zeitraum. Nachdem seit der Katastrophe zwei Monate vergangen
waren, schickte man sich an, der Nencmschaffnng von zwei Schulbänken ernstlich
näherzutreten, obwohl Bedenken laut wurden und der Wunsch geäußert wurde,
mit der Sache bis zur Aufstellung des nächsten Etats zu warten. Letzteres hatte
etwas für sich, denn es verursacht offenbar den geringsten Aufwand von Willens¬
stärke, wenn man eine Sache verschiebt. Wenn nur nicht die fatalen Bierfässer
gewesen wären, welche der boshafte Bierbrauer und Freund des Herrn Rektors
der Stadt zum Hohn ruhig in der Klasse stehen ließ. In der nächsten Magistrats¬
sitzung stand die Schulbank auf der Tagesordnung. Leider konnte der Gegen¬
stand nicht zur Erledigung gebracht werden, weil der Herr Dezernent für Bausachen
fehlte. In der nächsten Sitzung handelte es sich um Einquartierungsangelegenheiten,
welche dringlich waren, dann aber ging mau auf die Bankfrage ein. Der Herr
Bürgermeister gab aus den Akten ein lichtes Expose, und die Diskussion beleuchtete
die Frage von allen und noch etlichen Seiten. Der Beschluß ging dahin, daß
die Bank ncnbeschafft werden sollte, v) der Herr Zimmermeister Engelmann den
Auftrag erhalten sollte, einen Anschlag auszuarbeiten.
Acht Tage später gingen die Akten an den Stadtverordnetenvorsteher Herrn
Buchhändler Lila ab, und vierzehn Tage später, also bereits in der nächsten
Sitzung, stand die Schulbank auf der Tagesordnung der Stadtverordneten.
Dritter Zeitraum. Vor den Angen beratender und beschließender Ver¬
sammlungen giebt es für wichtig oder unwichtig einen andern Maßstab als sonst
in der Welt. Es kommt nämlich nicht darauf an, was eine Sache ist, sondern
was sich daran anknüpfen läßt. Beim Gas- oder Steueretat läßt sich nicht viel
sagen, da handelt es sich um feste Zahlen, darum werden solche Etats schnell er¬
ledigt. Aber eine Schulbankfrage trägt ihre enorme Wichtigkeit an der Stirn
geschrieben. Nicht allein, daß hier sämtliche städtische Angelegenheiten, das Prinzip
der Verwaltung, der Schulneuban, die Gehaltszulage des Bürgermeisters, sowie
die Tapezicrung der guten Stube in der Superintendentur von selbst in das Gebiet
der Debatte fallen, diese Frage ist auch geeignet, die Parteien zu alarmiren und
die Leidenschaften zu entfesseln. In unsrer Stadt — doch wozu soll ich den
Namen noch länger verschweigen, da ihn der aufmerksame, in Mitteldeutschland
einigermaßen bekannte Leser ohnehin erraten würde — also in Hinneburg gab es
in der Stadtverordnetenversammlung zwei Parteien, welche sich schroff gegenüber
und zu einander im Verhältnis von 13 zu 11 standen. Die dreizehn bildeten die
sogenannte Bürgerpartei, die Partei der Ordnung, des Bürgersiunes und des an-
ständigen Einkommens. Die andern hießen die Gemeinnützigen nach dem von ihr
gegründeten „Verein für gemeinnützige Zwecke." Es bezeichnete die Gesinnnngs-
niedertracht der Bürgerpartei, daß ihre Mitglieder das Wort ,,gemeinnützig" mit
gehässiger Betonung auszusprechen pflegten.
Nach diesem Stimmenverhältnisse und da die Versammlung vollzählig er¬
schienen war, konnte das Resultat der Abstimmung nicht zweifelhaft sein. Die
Bürgerpartei war bereit, die Position für die Bank zu bewilligen, in dem Be¬
wußtsein, die teuersten Güter des Vaterlandes gegen die „Gemein"-nützigen ver¬
teidigen zu müssen. Die Letztgenannten wußten, daß sie überstimmt werden
würden; aber umso höher ist der Mannesmut zu achten, wenn er uuter solchen
Umständen „unentwegt" auf seinem „Nein" besteht. Hat man doch die Genug¬
thuung, den Gegnern das Leben gründlich verbittern zu können, und ist doch nicht
die Möglichkeit ausgeschlossen, daß einer der Gegner umkippt oder' Nasenbluten
bekommt, und dann triumphirt Freiheit und Recht gegen Finsternis und Lüge.
Alles in allem war es nicht unmöglich, die Verweisung der Position in eine ge¬
mischte Kommission durchzusetzen, was einem halben Siege gleichkam. Hinter der
Barriere saßen neben einigen Straßengestalten, welche sich gratis wärmten, die
Vertreter der öffentlichen Meinung, die Redakteure der beiden Zeitungen; sie
spitzten die Bleistifte und überlegten im Stillen die Malicen, welche sie sich im
Berichte des nächsten Tages gegenseitig serviren wollten.
Nach ewigen andern Gegenständen, welche nur geteilte Aufmerksamkeit fanden,
räusperte sich der Herr Vorsitzende, nahm seine ereignisschwangerste Miene an und
sprach: Meine Herrn. (Bewegung.) Wir kommen jetzt zu der Vorlage des Magi¬
strats, die Anschaffung einer neuen Schulbank betreffend. (Bravo! Gelächter bei
den Gemeinnützigen.) Der Herr Bürgermeister hat das Wort. Der Führer der
Gemeinnützigen holte sogleich die Städteordnung hervor und fing an mit nervöser
Eile darin zu blättern, während seine Mienen von Gesetzeskunde und schnei¬
dender Kritik förmlich trieften. Der Herr Bürgermeister lieferte, wie uicht
anders zu erwarten war, in geschäftsmäßigen Tone ein klares Expose, wobei nur
der eine Punkt nicht recht deutlich wurde, wer eigentlich die Bank zerbrochen hatte,
und schloß mit der Forderung von dreißig Mark für eine neuauzuschaffende Bank,
Es entstand eine kurze Pause, die Stille vor dem Sturm. Da keiner redete,
erhob sich der gute alte Bürger und Bäckermeister Wieprecht und erklärte: Nu,
meine Herren, ich denke, wir bewilligen die Position. Wir sind alle einmal jung
gewesen, und wenn wir was zerbrochen hatten, dann ist es wieder gemacht worden,
worauf der Herr Stadtverordnete Rödiger erwiederte: Ja, meine Herrn, was
Herr Wieprecht eben gesagt hat, ist ganz gut, aber es entsteht doch die Frage, ob
wir uicht alle Bänke der Rektorklasse neu machen lassen.
Hiergegen bemerkte der Herr Stadtverordnete Klnmbusch: So wohlgemeint
dieser Vorschlag auch sei, er müsse es doch für Verschwendung halten, jetzt Bänke
anzuschaffen, da der Schulneubau bevorstehe, und man das Haus nicht nach den
Bänken, sondern die Bänke nach dem Hause einrichten müsse. Er beantrage daher,
den Magistrat aufzufordern, endlich den Plan und Kostenanschlag des Schulneu¬
baues vorzulegen.
Der Herr Bürgermeister hatte gegen den letzten Antrag nichts einzuwenden,
vorausgesetzt, daß die erforderlichen Mittel bewilligt würden, worauf der Herr
Stadtverorduete Schreyer (Führer der Gemeinnützigen) zu wettern anfing: So?
Das sind ja nette Dinge, die man hier zu hören bekommt. Herr Wieprecht
fordert die Söhne der Bürger auf, ihren Uebermut an städtischem Eigentum aus¬
zulassen (Heiterkeit links), Herr Rödiger will vou der Sache erst dann etwas hören,
wenn sie fünfhundert Mark kostet, und Herr Klnmbusch will aus lauter Sparsamkeit
eine neue Schule bauen. (Erneute Heiterkeit.) Daß der Herr Bürgermeister nichts
dawider hat, städtische Mittel zu verbrauchen, nimmt uns weiter nicht wunder. (Mit
erhöhter Stimme und einem aufmunternden Seitenblicke nach dem Platze, wo der
Referent des „Korrespvndenzblattes" mit wütender Eile schreibt:) Die Steuerzahler
unsrer Stadt mögen sich vorsehen. Die Bürgervereinler wollen einmal wieder
mit dem Gelde des kleinen Mannes die Großmogel spielen. Aber soweit sind
wir noch nicht. Halten Sie den Daumen auf deu Beutel, bewilligen, sie keinen
Groschen, den die Herren da drüben fordern! — Wenn ich mich der Vorlage selbst
zuwende, so muß ich zuvörderst gestehen, daß ich deu Mut des Magistrates be-
wundre, uns eine so dürftig vorbereitete Vorlage zu machen. Diese Vorlage geht
wieder nach der alten bekannten Melodie: Thu Geld in deinen Beutel. Wofür, das
wird nur von ferne angedeutet. Für eine Schulbank. Ja, wer hat denn die Schul¬
bank zerbrochen? Die Kinder des armen Mannes nicht. Ich muß verlangen, daß
eine wirkliche Untersuchung angestellt wird. Wenn es sich um Städtctage, Ban¬
kette, Orden und Auszeichnungen handelt, fragt kein Mensch nach uns; wenn aber
bezahlt werden muß, was der Uebermut gewisser Söhne ruinirt hat, sind wir
gut genug. Sehen Sie sich vor, meine Herren! Wir haben auch nichts davon
vernommen, daß der Rektor voni Magistrat in Strafe genommen worden sei,
Weil er Bierfässer in die Schulstube gestellt hat. Warum hat der Herr Superin¬
tendent nicht seiue Inspektion ausgeübt? Es wäre doch interessant, hierüber die
Meinung der königlichen Regierung zu hören. Angesichts aller dieser Thatsachen
beantrage ich, die Vorlage des Magistrats abzulehnen. (stürmisches Brnvo links,
Murren rechts.)
Nun fiel der Herr Stadtverordnete Klitzsch (der Vorkämpfer der Bürgerpartei)
über den Vorredner her, der nichts weiter könne, als gehässige Insinuationen nus-
sprecheu. Jene freiheitlichen Herren seien, wie sich eben wieder gezeigt habe, die
ersten, wenn es sich ums Denunziren handele.
Hieraus entwickelte sich eine lange persönliche Debatte, in der, wie jede der
beiden Parteien behauptete, die Gegenpartei vernichtet wurde. Endlich erinnerte
der Herr Vorsitzende daran, daß die Bewilligung einer Schulbank auf der Tages¬
ordnung stehe, was von keiner Seite geleugnet werden konnte.
Darauf nahm Herr Stadtverordneter Doktor Merseburger das Wort, um doch
auch von hygieinischer Seite auf die Wichtigkeit der vorliegenden Frage aufmerksam
zu machen. Die richtige Konstruktion der Schulbank sei, sagte er, für die Schule
von allergrößter Bedeutung. Schlecht gebaute Schulbänke hätten Rückgratsver-
krümmung, Unterleibsübel, Blutmangel, Hysterie und Schwindsucht im Gefolge. Ja
selbst für die geistige Ausbildung sei sie von Wichtigkeit, da das Gehirn beim
Denken Stoff absorbire, der ihm durch den Blutumlauf wieder zugeführt werden
müsse. Bei gebückter Haltung könnten die Lungen nicht genügend funktioniren,
und die Folge sei ein mangelhaft ernährtes Gehirn. Darum schlage er zur An¬
schaffung das System Zimmermann vor.
Aber diese an sich gutgemeinte Rede war für das Resultat verhängnisvoll.
Die Gemeinnützigen erklärten ihre volle Zustimmung zu den Ausführungen des
Herrn Doktor Merseburger, machten dem Magistrat bittere Vorwürfe, daß er darauf
ausgehe, die Verdummung des Volkes zu betreiben, um sich willige Steuerzahler
zu erziehen, und beantragten die Zurückweisung der Vorlage an den Magistrat.
Aber meine Herren, wurde von andrer Seite eingewendet, wir alle haben
doch auf der alten Schulbank gesessen, ohne am Leibe oder Verstände gelitten zu
haben! — es half nichts, die Hygieine war entfesselt und herrschte unbeschränkt.
Als es zur Abstimmung kam, kippten, von der Hygieine eingeschüchtert, drei Mit¬
glieder der Bürgerpartei um, und der Antrag der Gemeinnützigen auf Zurückver¬
weisung der Vorlage ging durch.
Am nächsten Tage brachten die beiden Zeitungen höchst widersprechende Be¬
richte. Nach dem einen war es „leider der alles negirenden Nörgelei einiger
Fanatiker abermals gelungen, das Bürgcrwohl empfindlich zu schädigen," nach der
cindern hatte man Gelegenheit gehabt, die „verkommene Charakterlosigkeit ge¬
wisser altersschwacher Nickemäuner zu bewundern." Die Bürger der Stadt waren
miteinander sehr unzufrieden, nur darin stimmten alle Ansichten ttberein, daß die
städtische Verwaltung eine unglaublich schwierige Sache sei, welche todesmutiges Ein¬
setzen der ganzen Manneskrnft erfordere.
Am nächsten Sonntage predigte der Herr Superintendent über die Kinder
Gottes und die Kinder der Welt und machte dabei gewisse, nur ihm allein ver¬
ständliche Andeutungen über das Wort der Lüge wider das Wort der Wahrheit
und über das unschuldige Leiden der Gerechten. Es sollte eigentlich deutlicher
herauskommen, aber als er, wie er es bei wichtigen Dingen gewöhnt war, das
Konzept seiner lieben Frau vorlas, ließ diese ihr Strickzeug in den Schoß sinken
und sagte: Bedenke, lieber Mann, daß die gute Stube tapeziert werden muß.
Liebes Kind, erwiederte er, das bedenke ich Wohl; aber ich bin in öffentlicher
Sitzung angegriffen worden und habe doch die Pflicht, Zeugnis abzulegen. — Sie
sagte aber: Ach was! Mit deinen Zeugnissen! Damit tapezierst du dirkeine Stube.
Was wollte er macheu? Er seufzte über seine liebe Frau und legte Zeugnis
in Rätselform ab.
Vierter Zeitraum. Wenn eine zurückverwiesene Vorlage wieder zu Hause
ankommt, so ist sie höchst ermattet. Man muß ihr längere Zeit Ruhe gewähren,
ehe daran zu denken ist, sie zu neuer Thätigkeit zu beleben. So lag auch unsre
Schulbankfrage zunächst vier Wochen lang fest. Dies ist nicht viel, wenn man be¬
denkt, daß während dieser Zeit das System Zimmermcinu studirt werden mußte.
Leider war dieses System nirgends aufzufinden; Herr Doktor Merseburger bezog
sich auf die Empfehlung einer medizinischen Fachzeitschrift, konnte aber weder die
Zeitschrift noch die Nummer angeben. Inzwischen ward durch eingehendes Studium
einer Anzahl eingegangener Offerten soviel festgestellt, daß 1. bei der normalen
Schulbank die Hinterkante des Tisches und die Vorderkaute der Bank in einer
senkrechten übereinander liegen, daß also niemand in der Bank stehen kann, der
dicker ist als ein Bogen Papier, und 2. daß die Schulterblätter, das Kreuz und
die Füße durch Bretter, Latten und Wülste unterstützt werden, was voraussetzt,
daß alle Schüler dieselbe Größe haben. Um das Stehen in der Bank zu ermög¬
lichen, wird entweder die Bank oder der Tisch klapperig, d. h. zum Zurückklappen
eingerichtet; um die Wülste und Stützen anzubringen, nimmt man das Mittelmaß
der Schüler an, d. h. ein Maß, das für die Großen zu klein und für die Kleinen
zu groß ist.
Der Magistrat zog alle Offerten in gründliche Erwägung, konnte sich jedoch
einem der Vorhandellen Systeme unmöglich anschließen; es wäre ja auch ein tosti-
momum xlnlxortg.dis gewesen, wenn Hinneburg nicht eine eigne Konstruktion auf¬
gestellt hätte. Man acceptirte also im ganzen und großen das System Schäfer
und Maier, nur daß die Sache der Billigkeit halber doch anders gemacht wurde.
Nach Verlauf von wiederum vier Wochen gelangten die Akten samt einer
Zeichnung in Lebensgröße wieder an den Herrn Stadtverordlietcllvorsteher Lila,
welcher den Gegenstand sogleich auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung stellte.
Wieder gab es eine eingehende Plenardebatte, wieder „platzten die Geister aufeinander,"
aber wieder kam es zu keinem entscheidenden Resultat; der Gegenstand wurde an
die vereinigte Schul- und Etatskommission verwiesen. Die Kommission machte sich
auch sogleich mit Eifer an die Ausgabe, die absolute Wahrheit zu finden, was von
selbst in sich schloß, daß sie die Arbeit ganz von vorn anfing.
Fünfter Zeitraum. In der Zeit, wo die Schulbankvorlage in dieser Kom¬
mission bearbeitet wurde, bereiste der Herr Schulrat die Landschulen der Nachbar¬
schaft. Dabei hörte er von der „Bierbank" in Hinneburg, erschien schleunigst in der
Rektorklasse und ließ brsvi eng-nu Fässer und Bretter hinauswerfen. Hierauf er¬
folgte durch Kouvert des Superintendenten eine an den Magistrat gerichtete ener¬
gische Verfügung, sogleich für Aufstellung einer Schulbank Sorge zu tragen.
Der Herr Superintendent war von dieser Verfügung höchst unangenehm be¬
rührt und die Frau Superintendent fühlte sogleich heraus, daß der schreckliche
Schmalz auch hinter diesem Ungemach stecke. Lieber Mann, sagte sie, du gehst
selbst zu dem Herrn Bürgermeister und redest mit ihm, aber vergiß uur uicht,
daß die gute Stube tapeziert werden muß.
Der Herr Superintendent ging denn auch zum Herrn Bürgermeister, drückte
ihm beide Hände und sprach sein herzliches Bedauern aus über die Wendung, welche
die Sache, er wisse nicht durch welchen Einfluß, genommen habe. Er bedaure
umsomehr die neue Belastung des Etats, da ja auch für die gute Stube in der
Superintendentur etwas geschehen müsse.
Indes, es half alles nichts: eine Bank mußte geschafft werden, der Stadt-
verorduetenkommission durfte aber auch nicht vorgegriffen werden, und so schlug
man eine Rothaut zusammen, die sich von der ursprünglich beabsichtigten dadurch
unterschied, daß man anderthalbzöllige statt zweizölliger Bretter nahm.
Sechster Zeitraum. Die vereinigte Schul- und Etntskommission arbeitete
mit voller Hingebung und Gründlichkeit. Auch an sie war ein ganzer Haufe von
Bankofferten eingelaufen, aber auch sie hielt es für unwürdig, ein fremdes System
zu adoptiren. Nur war es schwierig, bei den sich innerhalb der Kommission be¬
kämpfenden Strömungen sich über ein andres zu einigen. Denn einerseits bestand
Herr Doktor Merseburger auf der Reinheit des Prinzips von Vorder- und Hinter¬
kante, andrerseits mußte auf den Herrn Stadtverordneten Mitzschke Rücksicht ge¬
nommen werden, dessen Schwager in feinem Schulblatte auch Schulbänke beschrieben
und empfohlen hatte. Um ganz sicher zu gehen, wählte man eine Subkommission
aus drei Mitgliedern, welche aus den Herren Doktor Merseburger, Schreyer und
Mitzschke bestand. Diese Subkommission hielt für nötig, die in besagtem Schul¬
blatte empfohlenen Schulbänke des Warneckischen Instituts in Leipzig einer Oknlar-
inspektion zu unterziehen. Nach drei Wochen fand sich denn auch ein Tag, an
welchem keiner der drei Herren behindert war. Man besah die Bänke und nahm
dabei eine höchst günstige Meinung von dem Wnrueckischen Institut mit nach Hause.
Aber auch die Warneckische Bank war nicht annehmbar, weil sie der Schulhygieine
doch nicht „voll und ganz" gerecht wurde, weil sie ferner zu teuer war und end¬
lich auch — garnicht Paßte.
Endlich einigte man sich im Prinzip dahin, daß die Sitzbank unbeweglich, da¬
gegen die Tischplatte beweglich sein sollte. Es war dies das gerade Gegenteil von
dem, was der Magistrat vorgeschlagen hatte, welcher deu Sitz beweglich und die
Platte fest haben wollte. Nach weiteren monatelang dauernden mühevollen Be¬
ratungen stand jedoch die definitive Form fest, sie wurde in der nächsten Plenar¬
sitzung vorgelegt, und das Plenum nahm die Vorschläge der Kommission wie üblich
vertrauensvoll an.
Aber, aber! Jetzt widersprach der Magistrat. Er hatte eine Bank mit be¬
weglichem Sitze empfohlen, die genehmigte Bank mit beweglicher Tischplatte ent¬
sprach durchaus nicht seineu Anschauungen.
Noch hätte alles gut werden können; ein Kompromiß war ja nicht ausge¬
schlossen, indem man entweder Sitz und Platte beweglich oder beide unbeweglich
machte. Zwei Anträge, welche diese Auswege empfahlen, waren bereits vorbereitet —
da stellte der Stadtverordnete Schreyer die Prinzipfrage! In den herbsten Rede¬
wendungen gab er dem Magistrat zu verstehen, die Mitglieder des Magistrats
seien nichts weiter als Exekutivbeamte der Stadtverordneten. Letztere bewilligten
die Gelder, ersterer gebe sie aus. Der Magistrat also habe sich einfach zu fügen.
Hierauf wurde ebenso scharf erwiedert: Die Stadtverordnete» hätten Gelder zu
bewilligen, das heißt ja oder nein zu sage», uicht aber die Stadt zu regieren.
Die Uebergriffe der Herren seien nachgerade unerträglich geworden. Antwort:
Wer Geld bewilligt, muß auch prüfen dürfen, wofür es ausgegeben wird. Für
bewegliche Sitzbänke bewilligen wir keinen Groschen. Replik: Aber die Her¬
stellung beweglicher Tischplatten erklärt der Magistrat nicht verantworten zu
können.
Und dabei blieb es, die Schulbankfrage war rettungslos festgefahren. Die
Gemeinnützigen, die erst gegen die neue Schulbank überhaupt eingenommen waren,
aber hernach sich für die Kommissionsvvrlage begeistert hatten, durften abermals
einen großen Erfolg verzeichnen. „Ihr" Schreyer hatte sich als einen Freund des
Volkes und wahrhaft großen Maun bewiesen, und bewegliche Sitzbänke mußten ge¬
radezu als unsittlich verurteilt werden.
Siebenter Zeitraum. In diesem Zeitraume geschah eigentlich garnichts,
anßer daß die Frau Superintendent zu ihrem lieben Manne sagte: Bedenke, lieber
Mann, daß unsre gute Stube tapeziert werden muß. Die Damen im städtischen
Kasino sind alle der Meinung, daß der Magistrat etwas thun müsse. Und das
siehst du selbst, so geht es uicht weiter.
Mein Kind, erwiederte er, beruhige dich. Der Bürgermeister ist mein lieber
Freund —
Aber sie wollte nichts hören. Geh mir mit deinem lieben Bürgermeister,
der uns nun schon dreizehn Jahre in dieser Stube sitzen läßt. Jetzt nimmst du
einen Bogen Papier und kommst in aller Form darum ein. Wir Wollen doch sehe«,
ob die Herren endlich einmal ein Einsehen gewinnen!
Der Herr Superintendent seufzte über seine liebe Frau, nahm einen Bogen
Papier und schrieb — anknüpfend an Psalm 118, 27: „schmücket das Fest mit
Maien bis an die Hörner des Altars" — eine Eingabe, in der er zahlenmäßig
nachwies, daß seine Vorderstube bereits feit drei Jahren der Neutapezierung dringend
bedürftig sei.
Aber bald mußte sich der Herr Superintendent überzeuge», daß er gut gethan
hatte, auf seine liebe Frau nicht zu hören. Auf dem Rathause war schlechtes
Wetter. Man hatte dem allbeliebten Prediger doch übelgenommen, daß er es mit
allen, selbst mit Schreyer halten wollte, außerdem wehte ein ungünstiger Wind von
der Loge her, wo der Rektor alle Abende grollte, und so geschah das Unerhörte,
daß das Gesuch uicht durchging. Die Majorität war nämlich der Meinung, daß
der verlangte Betrag mit Rücksicht auf die schwebende Schulbaukfrage nicht aus
dem Neparaturfonds genommen werden dürfe, daß vielmehr das Gesuch „zwecks"
einer Nachbewilliguug an die Stadtverordneten zu gehen habe, was einer Ab¬
lehnung so ziemlich gleichkam.
Die Frau Superintendent war außer sich.
Achter Zeitraum. Hätte man die Rothaut auf ordentliche Stollen gestellt
und mit Zapfen eingelassen, so wäre es keine Rothaut gewesen, und die wirk¬
liche Bank wäre überflüssig geworden. Man hatte sie aber nur zusammen¬
genagelt, und so war es kein Wunder, daß sie bald wieder beselt war. Ob
Bürgermeisters „Zweiter" hierbei in hervorragender Weise beteiligt gewesen war,
ließ sich beweiskräftig nicht feststellen; jedenfalls legten die sich mehrenden Winkel¬
maße in den Hosen der Herren Söhne der Väter der Stadt einem wohllöblichen
Magistrat die zwingende Notwendigkeit nahe, die festgefahrene Schulbankvorlage
wieder flott zu machen. Da aber der Herr Bürgermeister durchaus nicht nach¬
geben wollte, so wurde folgender Feldzugsplan ausgearbeitet.
Der Magistrat machte eine neue, nur wenig veränderte Vorlage, für dessen
Genehmigung sich die Majorität der Stadtverordneten im voraus verpflichtete.
Man verlangte von deu Mitgliedern der Kommission unter Vorhaltung der höchsten
Gefahr des Vaterlandes, ihr eignes Projekt fallen zu lassen und sich für die
Magistratsvorlage zu entscheiden. Dies gelang, zwar unter großen Schwierig¬
keiten, aber es gelang. Der Sieg war an die Fahne des Magistrats gefesselt.
Die Gemeinnützigen schäumten und drohten mit der nächsten Stadtverordnetenwahl;
auch sollte kein Mitglied der gegenwärtigen Majorität je wieder zu einer städtischen
Lieferung zugelassen werden.
Kurz vor Beginn der entscheidenden Sitzung traf die Nachricht ein, daß der
alte gute Wieprecht in vergangener Nacht sanft und selig entschlafen sei. Noch
war nichts verloren. Das Stimmenverhältnis war jetzt 12:11, schlimmstenfalls
gab der Vorsitzende den Ausschlag. Aber siehe da — bei der Abstimmung ging
der Stadtverordnete Müller, welcher bisher die städtischen Kohlenlieferungen gehabt
hatte und nun dem Landfrieden bezüglich der bevorstehenden Wahlen nicht traute,
zur Gegenpartei über, und die Magistratsvorlnge war abermals abgeworfen.
Jetzt folgte der Antrag des Herrn Superintendenten, die Tapczicruug seiner
guten Stube betreffend. Noch freudig bewegt von dem abermaligen glänzenden
Erfolge, zugleich aber auch unter der taktischen Erwägung, daß die Partei auch
einmal etwas bewilligen müsse, um nicht in den Verdacht der absoluten Negation
zu kommen, erhob sich der Herr Stadtverordnete Schreyer und beantragte, die Po¬
sition zu genehmigen. Damit war sie genehmigt. Nur stellte die darauf folgende
eingehende Diskussion fest, daß das Hinterzimmer in der Superintendentur der Ta-
pczierung noch viel bedürftiger sei als das Vorderzimmer. Man bewilligte also
unter Erhöhung des Betrages um fünf Mark die erbetene Summe, mit der aus¬
drücklichen Bedingung, daß sie auch wirklich zu dem ausgesprochenen Zwecke: Ta¬
pezierung des Hinterzimmcrs, verwendet werden müsse.
Am andern Tage gab es „bei superintendents" einige unerfreuliche Momente;
wenigstens erklärte die Frau Superintendent den Vorschlag ihres lieben Mannes,
die gute Stube in das Hinterzimmer zu verlegen, für ganz unpraktisch, unbegreif¬
lich und unausführbar.
Neunter Zeitraum. Nach der Städteordnung mußte nunmehr eine ans
Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordneten gemischte Kommission zu¬
sammentreten, um die Schulbnnkfrage ans der Welt zu schaffen. Dies geschah,
und den patriotischen Bemühungen der Mitglieder dieser Kommission gelang es
nach drei anstrengenden Sitzungen, zu der Vorlage einer Kompromißbank zu ge¬
langen, welche in der nächsten Sitzung der Stadtverordneten ohne Debatte ge¬
nehmigt wurde. Endlich, endlich!
Allen Menschen es recht zu machen, ist freilich unmöglich. In der Loge gab
es eine ziemlich bewegte Versammlung, in welcher der Rektor jedem, der es hören
wollte, erklärte: diese Kompromißbank sei ein Ungetüm, welches sämtliche Fehler
von einem halben Dutzend verschiedner Systeme habe und auf welchen: weder ein
Mensch noch sonst eine Kreatur sitzen könne. Das war auch richtig. Ich habe
die Zeichnung für die Bank gesehen, sie war in der That schlimm.
Es wurde nun ein Lizitationstermin mit achtwöchentlicher Frist festgesetzt und
in den Lokalblättern sowie im „Schulboden" bekannt gemacht. Bei Eröffnung der
Angebote zeigte sich, daß die Firma Walter Fischer und Komp. in Gera das niedrigste
Gebot abgegeben hatte. Dieser Firma wurde unter den üblichen Kautelen und
Garantien die Ausführung übertragen. Die Firma wollte nichts verdienen, son¬
dern sich nur die Anwartschaft auf die Lieferungen zum Schulneubau erwerben.
Aber dieses Ungetüm von Bank konnte sie doch nicht ausführen; sie hätte sich ja
dabei gründlich blamirt. Darum erlaubten sich Walter Fischer n. Komp. einige Ab¬
weichungen von dem Programm und stellten etwas Halbweg Brauchbares her.
Es war eines schönen Sonnabendmorgens, als die Bank anlangte; sie
wurde — ein schönes Zeugnis für die Promptheit der städtischen Verwaltung —
sofort in die Rcktorklassc geschafft, wo sich auf besondre Einladung außer dem
Herrn Bürgermeister auch der Herr Superintendent, sowie einige Stadträte und
Stadtverordnete einfanden. Der Herr Superintendent konnte die Gelegenheit nicht
vorübergehen lassen, eine Ansprache zu halten, in der er — anknüpfend an
Nehemia 4, 12: „Ein jeglicher, der da bauet, halte sein Schwert an seine Lenden
gegürtet und klare also" — auf den unter mancherlei Kampf zu stände gekommenen
segensreichen Bau der Schulbank hinwies und mit der ihm selbst wenigstens ver¬
ständlichen Andeutung schloß: Mögen denn die Mauern Jerusalems wachsen und
ihren Thoren der Schmuck in dem Herrn nicht fehlen. Er dachte nämlich an die
bewußte Tapete.
Ueber dies Resultat gab es in der Bürgerschaft große Unzufriedenheit. Die
Herren Tischlermeister, welche entweder keine oder zu hohe Forderungen gestellt
hatten, beklagten sich, daß man städtische Arbeiten an auswärtige Unternehmer
vergebe. Wofür bezahle man denn Steuern, wenn man sie von der Stadt nicht zurück-
verdicnen könne. Dies war für die Gemeinnützigen der Moment, wieder in Aktion
zu treten.
Am selbigen Sonnabend fand im Schützenhause eine Von den Gemeinnützigen
einberufene Volksversammlung statt, in welcher sich der Stadtverordnete Schreyer
über besagte Bank interpclliren ließ. Und zwar wurde erstens gefragt: Warum
ist unter Uebergehung der städtischen Tischlermeister die Bank auswärts bestellt
worden? und zweitens: Warum ist die Bank der Schuldeputation der Stadtverordneten
nicht zur Vorprüfung übergeben worden? Der Jnterpellirte wußte darauf keine
andre Antwort als die: es sei dies Schuld der städtische» Verwaltung, welche
die Bevölkerung als Steuerzahler und Stimmvieh ausnutze, jedoch die Interessen
derselben aufs rücksichtloseste preisgebe. Hiermit waren sämtliche anwesende
Tischlermeister höchlichst einverstanden. Was den zweiten Punkt anlange, so müsse
der Redner zwar zugeben, daß eine Verpflichtung des Magistrats nicht vorliege,
indessen sei es immerhin charakteristisch, wie sich derselbe der Kontrole der Bürger¬
schaft entziehe, wo er nur könne. Meine Herren — so schloß er —, die Stadt-
verordnetenwahlen sind vor der Thür. Treten Sie einmütig an die Urne und geben
Sie ihre Stimme nicht jenen, welche ihren persönlichen Herrschergelüsten fröhnen,
sondern wahrhaft gemeinnützigen Männern! Aus der Versammlung wurde der
Einwand erhoben, die Bank sei doch da, was man denn noch wolle? worauf die
sieghafte Antwort erteilt wurde, man habe es überhaupt nicht mit Thatsachen,
sondern mit dein Prinzip zu thun.
Zehnter und vorläufig letzter Zeitraum. In der nächsten Stadt¬
verordnetenwahl ging die gesamte zweite Klasse an die Gemeinnützigen verloren;
damit hatten dieselben die unbestrittene Majorität gewonnen. Die Bürgcrpartei,
welche großer Säumigkeit angeklagt werden mußte, machte ein höchst verdutztes
Gesicht, konnte aber mit aller Zerknirschung nichts an der Sache ändern.
Inzwischen liefen Klagen ein, auf der neuen Bank sei nicht zu fitzen. Der
Rektor ließ alle Stunden wechseln, aber bald half auch das nicht mehr. Der Magistrat
machte den Stadtverordneten und diese dein Magistrat Vorwürfe. Zuletzt fand
Herr Schreyer heraus, daß Walter Fischer und Komp. sich eigenmächtige Ab¬
änderungen erlaubt hätten. Man stelle sich den Brustton der Entrüstung vor,
mit dem dieser Fund vorgetragen wurde! Die Gemeinnützigen hatten über dem
Wohle der Stadt gewacht, ihnen war es zu danken, daß die Versäumnisse derer,
welche eigentlich berufen waren, Hüter der Stadt zu sein, uicht die Stadt
völlig zu Grunde richteten.
Die Bcink ward, weil kontraktwidrig ausgefallen, der Firma zur Dispo¬
sition gestellt. Walter Fischer und Komp. antworteten: da die Bank in Gebrauch ge¬
nommen sei, so könnten sie sich auf nichts einlassen. Kürzlich ist beschlossen worden,
die Firma zu verklage». Was aus dem Prozesse werden wird, ist unabsehbar.
Inzwischen ist die Rothaut wieder zusammengezimmert und zum Gaudium der
Nektorklcisse wieder in Gebrauch genommen worden.
Soweit ist die Sache bis jetzt gediehen. Daß eine Geschichte von einer
„ewigen" Schulbank kein Ende haben werde oder haben könne, wird der einsichtige
Leser von vornherein angenommen haben. Jedoch möge es gestattet sein, eine vor¬
läufige Kostenberechnung aufzustellen.
Es ist unbegreiflich, wie angesichts dieser Zahlen ein Beamter, den ich aus
Schonung uicht nennen will, sagen konnte: Die ganze Geschichte wäre mit dreißig
Mark und einem Bogen Papier zu bestreiten gewesen. Ganz schön. Aber wo
bliebe dann die städtische Selbstverwaltung?
Die Kommilitonen.
ipin mit Nummer vier begann, er habe eine schwierige Position
hinter dem Obersten, denn: Avr> ownos xossuinus 6Wo Loixi0No8;
seine ganze Vergangenheit und Gegenwart wolle er damit ver¬
anschaulichen, daß er einst den „Hamlet schlecht" gespielt habe,
jetzt den „Polonius gut" spiele, ein unzweifelhaft zutreffender
Ausspruch, der ein großes Bravo hervorrief. Durch diesen Beifall aufgemuntert,
erbot sich der Sprecher zum Vortrage einer nach seiner Meinung wie für den
heutigen Tag gedichtete Stelle aus einem neuen Schauspiele, das er in seiner
Thcaterschule gerade vorhabe und dem er eine Art Zukunft verspreche. Auf
allseitiges Verlangen deklamirte er sie (und er that es mit Meisterschaft). Es
war eine Stelle, in der die vier Lebensalter des Menschen: Kindheit, Jugend,
Mannes- und Greisenalter sehr eingehend mit den vier Jahreszeiten und ihren
einzelnen Monaten verglichen wurden. Als er geendet hatte, wiederholten sich
die Bravorufe, Archimedes rechnete heraus, daß sie nach dieser Tabulatur sich
sämtlich im Oktober des Lebens befänden, da noch keiner sechuudsünfzig Jahre
alt sei, was einen allgemeinen Freudensturm zur Folge hatte, aus dem sich
Mirbl mühsam mit seiner Nummer fünf hervorzwängte.
Mirbl leitete seine Erzählung folgendermaßen ein: Pipin hat vorhin
freundlich ein Bonmot von mir acceptirt, ich revanchire mich gleich, indem ich
anstatt seiner „schwierigen Position" für mich einen Komparativ vindizire und
mich hinter ihm als „auf verlorenem Posten" erachte. Dann brachte er noch
das Wort Superlativ an, bewegte sich in vielen fremdländischen Ausdrücken
und bemerkte, daß sein Leben ein öffentliches, vor aller Augen liegendes sei;
sein ganzes Glück und Unglück beruhe darin. Diesen Gedanken sprach er in
mehrfachen Wendungen aus, beugte sich aber im übrige» vor Paragraph 1 der
Geschäftsordnung und leerte sein Glas trübselig wie bei einem Leichenschmäuse;
er selbst erschien als der still Begrabene.
Endlich räusperte sich der Theologe, stieß eine dicke Rauchwolke ans der
Pfeife und erzählte seine Geschichte, anfangs recht belebt, da er von seiner
Kandidatenzeit berichtete, augenscheinlich seinen liebsten Erinnerungen. Er war
damals zwei Jahre lang Hauslehrer bei einer Standesherrschaft oben im
Preußischen gewesen und mit seinem Zöglinge mehrere Monate lang am Rhein
und in der Schweiz herumgereist; in diese Kandidatenzeit war auch sein Liebes¬
frühling gefallen, da er sich mit der Gutsdirektorstochter verlobt hatte. Dann
kam er auf seine Probepredigt und seine erste Anstellung als Landpfarrer,
eine ereignislose Zeit, bei deren Schilderung sich eine gewisse Schlaflust geltend
machte, die ansteckend wirkte. Als er aber eben den letzten Abschnitt seiner
Anstellung als Superintendent begonnen hatte, wurden alle in ihrem Gähnen
durch ein Ereignis unterbrochen, das wie erlösend wirkte.
Es traten nämlich zwei von einem geputzten Studenten begleitete Damen
ins Zimmer. Sie fuhren vor der aus dem Rauchgewölk ragenden Tafelrunde
zurück, aber die Herren sprangen auf und kamen der scheuen Weiblichkeit artig
zu Hilfe.
Eine der Eingetretenen war durch das über den Kopf gezogene Umschlagetuch
nur ihren Umrissen nach erkennbar, und diese verhießen eine schlanke Grazie.
Die andre, unverhüllte, kleine Kugelrunde war eine ältliche Dame in unkleid¬
samer Haube, die Frau Superintendent, die auf ihren Eheherrn zntrollte und
ängstlich hervorbrachte: Wir bitten tausendmal um Entschuldigung, wenn wir
die Herren stören, aber Barbara, hier Fräulein Barbara, wollte gar zu gern
den berühmten Redner kennen lernen. Und ich, fügte sie heimlich hinzu, wollte
dir dein Käppchen bringen.
Haha! berühmter Redner! schmunzelte der geistliche Herr, und setzte die
Sammetmütze auf. Danke dir, Kathrina! Den „blassen Heinrich" meinst du,
liebe Kathrina?
Er hielt seine Frau an der Hand, und zu seinen Freunden gewendet stellte
er sie vor: Meine liebe Frau, wobei diese ein paar knixartige Verbeugungen
machte. Dann fuhr er fort: Ja, bestes Fräulein Barbara, der Rhetor ist noch
nicht auf seinem Platze, haha!
Die Angeredete war durch den eben geschilderten Austritt und das un¬
beschreiblich Linkische ihrer Einführung so außer Fassung geraten, daß sie ganz
vergaß, ihre Umhüllung abzulegen. Ihr Vater aber, der Regisseur, löste die
Vermummung, bei welchem Geschäfte ihm der Student mehr hinderlich als
hilfreich war.
Aber Barbara! flüsterte der Vater ihr zu, du hast noch immer nicht den
Vallstaat angelegt und zerdrückst ganz deine Frisur! Dann führte er die Ent¬
schleierte vor.
Den Herren entrang sich ein unwillkürliches Ah! beim Anblick der enthüllten
Blondine, von der gleichsam ein Stern lichter Farbenstrahlen ausging. Der
Dichter sagt irgendwo:
Verklärt der schattige Hag erscheint
Durch solch ein Mädchengesicht,
Ein Sinnderwirren, wo man vermeint,
Man habe das Herz voll Licht,
Solch eine Empfindung war an den Herren der Tafelrunde bemerkbar.
Die holde Fremde wurde durch den Obersten allen vorgestellt, nur Mirbl
war zurückgeblieben und widmete der Lieblichkeit dieser Freundestochter ein weh¬
mütiges Anschauen in der Erinnerung an einstige Zeiten, in denen es sich für
ihn noch schickte, nach solcher Blume zu langen. Dabei fiel sein Auge auf den
beiseite verharrenden Studenten, den er für den Coeurbuben dieser Herzdame
nahm und zu beneiden anfing. Doch wurde er eines andern belehrt, als er
die Miene sah, mit welcher Barbara einen dreisten Blick des Burschen abwehrte.
Dieser bartumleimte, pomadisirte Geck mit weit mehr Fettleibigkeit, als
seiner Jngend anstand, war der erwähnte Pastorssohn, dem der liebreiche Vater
alsbald den Plan mit der Kunstprobe und der Theaterschule mitteilte. Hierbei
tauchte auf dem sehr abgelebten Gesichte ein sprühender Zug auf, mit welchem
er der Schauspielertvchter nahte. Der hierauf ihm zuteil gewordene Blick des
Mädchens war es, den Mirbl eben auffing. Er belächelte den verdutzten
Farbenstudcuteu; ihn selbst hob die Erwägung: so leicht waren wir auf unsrer
sieghaften Laufbahn zu Bonn nicht abzuführen.
Der Pastor führte unterdes seinen Sprossen vor den einflußreichen Mann
des Hoftheaters und knüpfte an das vorige Gespräch an, wobei ihm väterliche
Liebe und hausvätcrliche Vorsicht reichliche Worte eingaben. Der Regisseur setzte
seinerseits dem an ihn herangetretenen Vorschlage gleichfalls viel väterliche Liebe
und hausvätcrliche Vorsicht entgegen und betrachtete mit Teilnahme und Auf¬
merksamkeit den Pastorssohn.
Der Lasse Künstler? war sein erster Gedanke; dann folgte die Erwägung:
Und diesen Nichtsnutz soll ich ins Hans nehmen? etwa für Barbara?
Er klingelte unsanft, bestellte Grog, einen recht heißen, denn ihn fröstelte.
Dn wirst dich lieber zurückziehen, deutete er Barbara an, die mit Genserich
in einem Gespräch war, in welches Kautschuk Witze einstreute, die er stets zu¬
nächst selbst laut belachte. Inzwischen hatte anch die Frau Superintendent ihre
mit Archimedes geführte Unterredung beendigt. Pipin sagte nur noch: Und
Barbara, verstehst dn mich? Daß du deinen Ballstaat sogleich anlegst!
Gleich thu' ich's, lieber Vater, und gern! sagte sie beim Abschiedsknß ihm ins
Ohr; sie merkte an dem „Verstehst du mich," daß er nicht spaßte. Zudem legte sie
wirklich gern — sie war eben erst dreiundzwanzig Jahre alt — ihr kostbares gelb¬
seidenes Kleid an, das er besonders für das Kommilitoncufest angeschafft hatte,
Weil er meinte, sie werde so im Kreise der Studirten, unter denen er einem
ehrenvollen Jahrgange angehörte, am besten mit ihren Vorzügen zur Geltung
kommen.
Der saloumäßigen Verbeugung, mit welcher Barbara sich dann verab¬
schiedete, schloß sich die Frau Superintendent an. Eben aber, als beide Damen,
denen der mit Sporen klirrende und mit dem Schläger rasselnde Student auf
dem Fuße folgte, das Zimmer verlassen wollten, erschien in demselben — der
„blasse Heinrich," indem er beinahe an die Abgehenden anprallte.
Da ist er ja, der berühmte Redner, den Sie so gern sehen wollten, Fräu¬
lein Barbara! rief Kautschuk, und es gewährte ihm ein besondres Vergnügen,
die vorher abgespielte Verlegcnhcitsszene wieder aufzunehmen.
Betroffen standen Rhetor und Grazie einander gegenüber; ihm fehlte das
Wort, ihr die Bewegung, Die praktische Pastorsfrau aber nahm das Mädchen
an der Hand und sagte: Kommen Sie, liebste Barbara, hier ziehts gefährlich!
und damit schloß sie die Thür, und die Herren waren allein.
Wie kann man diese attische Anmut Barbara benamsen? begann der Theo¬
loge. Das ist doch zu barbarisch, Pipin! Gabs denn keinen entsprechenderen
Taufnamen im ganzen Kalender?
Archimedes flüsterte zu Kautschuk, indem er sich mit seinem Wortwitz nicht
vorwagte, weil er dessen Güte mißtraute: Helena wäre das richtige!
Natürlich! rief Kautschuk schrill hinein, Helena, Helena wäre der richtige
Name für diese attische Anmut.
Auf das: Wieso? Pipins meinte der „blasse Heinrich": Das war ein
Geistesblitz Kautschuks! Helena mußte sie heißen! verstehst du uns denn nicht,
du kundiger Thebaner? Dabei drückte er dein Schauspieler herzlich die Hand.
Ich war eben, Kinder, fuhr er fort, ganz perplex; ich wollte gerade mein
Kleid wechseln, da stoße ich auf ein paar feine Damen (er hatte eben den Frack auf-
und den Rock angezogen). Nun, jetzt bin ich wieder schlichter Mensch, jetzt laßt
uns plaudern! Aber was für ein Qualm hier! Er machte ein Fenster auf, und
frische Luft drang herein, das merkten sie äußerlich und innerlich. Cohn noch
nicht da? Bin doch entschuldigt?
Ja ja! hieß es, und man nahm Platz um ihn herum. Jedem gab er die
Hand, und jedem sah er in die Augen.
Nur Kautschuk, der sehr unruhig geworden, hatte sich dem entzogen. Er
überlegte, ob er nicht lieber dem „Kraftmenschen" ausweichen sollte. Aber seine
Äußerungen über ihn waren ja klugerweise alle uur als Möglichkeiten hin¬
gestellt worden. Er mußte bleiben, um das Feld zu behaupte!?, zunächst mit
Hilfe seines Humors, schlimmstenfalls dnrch Einsetzen seiner Würde. Er hob
den hingelegten Frack auf und sagte: Abiturientenfrack? Aha!
Ganz der einstige Kautschuk, erwiederte der Angeredete und nickte ihm zu;
führt noch dieselben Kalauer, aber hente sollen die schlechtesten Witze Freipaß
haben.
Kautschuk setzte sein Augenglas an und trat vor, wie zum Ausfall. Mirbl
lachte laut auf und flüsterte Pipin zu: Sieh diese parlamentarische Pose! wo¬
durch Kautschuk entwaffnet wurde.
Der „blasse Heinrich" fragte erstaunt, was sie mit einander hätten; aber
Kautschuk wich der Erörterung ans, nahm den Scherz wieder auf und hielt
den Frack vor.
I, um ein Klcidcrstück wollen wir nicht hadern, begütigte der „blasse
Heinrich," und dies hier ist, um dich zu beruhigen, ein richtiges Feicrkleid, das
ich mir dreimal im Jahre anlege: bei Kaiscrsgeburtstag zur Festtafel, am Sedan-
tage zum Aufzuge mit meinen fünfundzwanzig Jungen und zu Ostern zur öffent-
lichen Prüfung.
Bravo! rief ihm Genserich zu, so hast du uus gleich mitten in deine vio
eingeführt, du brauchst nun nur noch weniges hinzuzufügen, denn dein Ncde-
vrgan hast du heute schon brav gebraucht und wirst es noch weiter nötig haben.
Aber wir möchten doch gern noch etwas näheres hören, meinte Pipin gut¬
mütig.
Diesem Verlangen möchte ich mich anschließen, fügte Ratz mit ernster Be¬
tonung bei; ihn hatte die Frackverwendung, da sie jeder kirchlichen Beziehung
entbehrte, wenig befriedigt.
Ich trete dem geehrten Herrn Vorredner bei, witzelte Kautschuk, der die
unbefriedigte Miene des Geistlichen zur Bundesgenossin erkor; noch manches
ist aufzuklären. Du siehst wie ein Wanderlehrer aus, nicht wie ein seßhafter
Pädagoge, als welcher du dich entpuppst und nach deinem solid gehaltenen
Barte auch erscheinst. Aber woher diese krumme Schmarre über dem beredten
Munde?
Ich will alles aufklären, wenn du mich ruhig anhörst (das „ruhig" be¬
tonte er); du kommst mir ungeduldiger vor als vor dreißig Jahren!
Kautschuk verschluckte eine Entgegnung, worauf der andre begann: voosw
Bart und Schmarre — ich war im achten Semester und steckte tief in den
Staatsexamen-Arbeiten, als ein riesiger Westfale —
Pardon! unterbrach ihn Kautschuk, -z.ä vovonr Staatsexamen, hast du's
auch gemacht?
Freilich! lächelte ihm der Unterbrochene zu.
Ich meine, bestanden?
Auch bestanden, du Witzbold! lachte der „blasse Heinrich" und sah ihn an,
als wollte er seine Art ergründen. Dann fügte er wehmütig hinzu: Zwecklos
wars, doch davon nachher! Jetzt weiter in der unterbrochenen Ballade. Der
riesige Westfale war weit hergereist, um, wie er mir sagen ließ, meine famosen
Jenenser Doppelquarten kennen zu lernen. Ich war sofort bereit, sie ihm zu
zeigen, lehnte aber nach unserm Burschenschafterbrauche die „abgetretenen Se¬
kundanten" ab. Da ließ der Riese eine Redensart fallen, die mich nötigte,
seine Forderung zu übertrumpfen. Es war wohl ein Hochsport für Kenner,
jene Mensur „ohne Binden und Bandagen." Ich bekam diesen Tiefriß durch
den Mund.
Und der riesige Westfale? fragten mehrere Stimmen.
Habt ihr den baumlcmgeu Regierungsrat mir schräg gegenüber fitzen
sehen, den mit dem Pflaster auf dem linken Auge und der steifen rechten
Hand?
O mein Gott, gräßlich! eiferte der Pastor und rückte seine Brille zurecht.
Meine Sprechwerkzeuge, fuhr der Redner fort, haben die Gefahr über¬
dauert, aber um meinen Bart bin ich dabei gekommen, der wächst auf dem
losgetrennten Boden nicht wieder, und fo muß ich, wie ihr mich da seht,
bartlos einhergehen.
Die Hauptsache ist, meinte der Offizier, indem er den angeschlagenen
trüben Ton bannen wollte, daß man Haare auf den Zähnen hat.
Sehr richtig! pflichtete ihm Mirbl bei.
Du freilich, witzelte Kautschuk weiter, hast sie auf dem Kopfe. Dabei
betupfte er die kunstvolle Perrücke Mirbls und traf damit die verwundbarste
Stelle des Parlamentariers.
Mirbl entzog sich ihm mit Heftigkeit und rief: Ich muß doch sehr bitten!
Kautschuk aber hatte hiermit den letzten Rest von Gunst auch dieses Kom¬
militonen verspielt und sich gänzlich mit ihm entzweit für lange Zeit oder für
immer, denn diese Altersklasse versöhnt sich schwer.
Kautschuk wurde immer unheimlicher zu mute. Plötzlich beschloß er sein
Sprenggeschoß anzuwenden und rief ohne irgendwelche Vermittlung: Hier,
Material für deinen übernommenen Nedeakt zum Abend, bitte! und damit hielt
er das von Archimedes beschriebene Blatt hin.
Wieder Waare ans Kalau? fragte der „blasse Heinrich" scherzend.
Mit möglichst gewichtiger Stimme und indem er zugleich mit einer Hand¬
bewegung Archimedes einen Wink gab, entgegnete Kautschuk: Mein Lieber, du
hast die Gewohnheit angenommen, alles ins Lächerliche zu ziehen.
Kautschuk, ich verstehe dich nicht! erwiederte der Angeredete, ich finde mich
in deine Art nicht hinein, wo ist die Grenze von Ernst und Scherz? Du
bietest mir Material zu meinem Vortrage für heute Abend?
Ja, sagte Kautschuk, wenn du es eines Blickes würdigen willst? Es ist
ein Katalog, der die heute anwesenden Kommilitonen nach den gesetzlich festge¬
stellten Rangklassen ordnet.
Der „blasse Heinrich" entgegnete: Diesen Katcilogos sollte ich zu meiner
Ilias verwenden können? Da, Thersites! Er reichte ihm das Blatt zurück,
und Kautschuk gab es dem Archimedes mit denselben Worten, aber mit andrer
Betonung: Da, Thersites!
Archimedes machte ein bitterböses Gesicht und verließ das Zimmer.
Was ist das für eine widerwärtige Art, die jede Verständigung aus¬
schließt! rief jetzt der „blasse Heinrich" mit gewaltiger Stimme. Es klang wie
ein Wetter, das zu Thale zieht. Wer mit mir etwa anbinden will, der sage
es bald heraus; den Archimedes werde ich versöhnen, seine Aufzeichnungen
mögen dem Gymnasialdirektor zur Verfügung gestellt werden, der sie vermutlich
bei statistischen Mitteilungen wird brauchen können, dem Verfasser aber werde
ich sagen, daß er sich einen untüchtigen Mittelsmann gewählt hat. Das gilt
diesem Herrn hier, fügte er hinzu.
Aber Freunde! Kommilitioncn! Friede doch! begann Reitz.
Der „blasse Heinrich" hat Recht, warf Pipin dazwischen.
Völlig Recht! fügte Mirbl bei. Auch Genserich bezeugte mit Blicken, wie
unzufrieden er mit Kautschuks Benehmen sei, und gebot dann: Verständige
euch, ihr Herren!
Das meine ich auch! rief der Geistliche. Der „blasse Heinrich" mag sich
unsrer Tagesordnung fügen und seine vitg, weiter erzählen. Zugleich hielt er
Kautschuk zurück, der aufgestanden war und ein Gesicht machte wie ein Makao¬
spieler, wenn er sich mit dem Schlagacht verrechnet hat.
Der „blasse Heinrich" fügte sich und fuhr in seiner Erzählung sort: Mein
Tiefriß war längst vernarbt, und ich wartete immer noch auf meine Anstellung;
endlich erfuhr ich, daß ich als Burschenschafter kompromittirt und anstcllungs-
unfcihig sei. Meine Mutter lag schon lange krank darnieder, meine Schwester
mußte im Institut ausgebildet, mein Bruder auf dem Gymnasium erhalten
werden; ich als Ältester hatte die Pflicht vom Vater überkommen. Ich habe
die Pflicht erfüllt, wenn auch meine großen Hoffnungen und meine schönen
Luftschlösser dabei zu gründe gegangen sind. Dozent auf der Hochschule hatte
ich werden wollen, die Dissertation war fertig. Sie mußte weggelegt werden,
und sie ist längst beseitigt. Ich kam in die Tretmühle des Privatunterrichtes,
in welcher allein der nötige Gelderwerb für mich möglich war. Es glückte mir
besonders mit der Vorbereitung von Einjährig-Freiwilligen, aber die Be¬
schäftigung wurde mir bald „unmöglich" gemacht. Ich begann die Heranbildung
von Pensionären für höhere Gymnasialklassen und kam auch hierbei vorwärts,
die Methode unsers ehemaligen Magisters bewährte sich. Inzwischen war meine
Mutter gestorben, die Schwester verheiratet, der Bruder im Amte — er ist
jetzt Schulrat —, ich hatte schon eine Stube voll Zöglinge. Cohns Vater
lieh mir ein Kapital, ich richtete ein Schulhaus ein, das 1870 schon zwanzig
Pensionäre beherbergte. Vierzehn davon zogen mit unter den Johannitern nach
Frankreich, ich natürlich an ihrer Spitze.
Bravo! frohlockte der Oberst dazwischen.
Meine Wiederaufnahme in das Heer — ich bin als Vicefeldwebel abge¬
gangen — war „unmöglich" gemacht, fügte der „blasse Heinrich" bei.
Du bist also ebenfalls ein Märtyrer, hob Mirbl mit Nachdruck an,
nämlich ein burschenschaftlicher.
Bei diesen Worten nahm Kautschuk rasch seinen Hut und ging mit den
Worten ab: Die Bedingung unsers Zusammenbleibens war, daß politische Er¬
örterungen fernbleiben sollten; diese Bedingung ist verletzt!
Haha! lachte Mirbl ihm nach, der Ministerialrat wittert hier Demagogie!
Überlebter Standpunkt! Fürst Bismarck hat selbst das Reichsbanner entfaltet
und sieghaft aufgepflanzt, das man den Burschenschaftern einst entwunden hatte!
Kinder! unterbrach ihn Genserich, lassen wir das! Es streift in der That
ein Gebiet, das wir aus unsrer harmlosen Vereinigung ausgeschlossen wissen
wollten.
Er war aufgestanden, Ratz flüsterte ihm noch etwas zu und wandte sich
dann auch an Mirbl.
Das versteht sich von selbst, sagte der Oberst, es hätte längst aufgeklärt
Werden müssen. (Fortsetzung folgt.)
Peter der Große auf Reisen. Der nachfolgende, 1717 französisch ge¬
schriebene Brief, ein bisher nicht an die Öffentlichkeit gelangter authentischer Bericht
eines ungenannten Verfassers, bietet eine Schilderung des berühmten Zaren, wie
sie drastischer und ungeschminkter wohl selten gefunden werden wird. Er bezieht
sich auf den Aufenthalt Peters des Großen, den er 1717 auf seiner Reise in das
Bad Pyrmont auf dem Schlosse zu Harburg nahm. Peter war Anfang April
vom Haag nach Paris gereist, blieb dort vier Monate, ging dann nach Amsterdam
zurück, wird im August in Pyrmont gewesen sein und traf am 21. Oktober 1717
wieder in Se. Petersburg ein. Der Brief lautet:
Mein Herr! Der Zur hat nach seiner löblichen Gewohnheit einen ganzen Tag
unnützerweise auf sich warten lassen. Er kam endlich letzte Mittwoch gegen sieben
Uhr abends in einer kleinen, schmucken, achtrudrigen Schaluppe an, die Ruderer in
Binsen und mit kleinen roten Mützen auf dem Kopfe. Der Zar saß allein am Steuer¬
ruder, die Herren seines Gefolges zu seiner Rechten und Linken, alle unter einem
Zeltdach, ausgenommen die Ruderer. Se. Majestät wurde bei ihrer Ankunft durch
eine dreimalige Abfeuerung von neununddreißig Kanonen begrüßt. Sie war sehr
nachlässig gekleidet: ein scheußlicher blauer Rock, ein Gürtel von schwarzem Leder,
ehemals mit feinen Goldfäden gestickt, in Violet spielende Matrosenhosen, zimmt-
farbenc Strümpfe und ein alter Hut ohne Garnirung, sodaß ihm die Knopfseite auf
die Nase herabhing; vielleicht hatte er ihn absichtlich so machen lassen, um gegen die
Sonne geschützt zu sein, obgleich er, wie gesagt, das Zelt über sich hatte. Ein Priester,
ein Kammerherr, sein Adjutant, sein Arzt, ein Zwerg so hoch wie ein Kohlkopf (elwu),
etwa zwanzig Jahre alt, einige Lakaien und zwölf Grenadiere machten sein Gefolge
aus. Als er ans Land gestiegen war, warf er sich in die Karosse des Oberhauptmanns,*)
wir andern folgten zu Fuß, Er kam zuerst auf dem Schlosse an, Frau von
Spörken empfing ihn. Aber da er Eile hatte, seine Hosen herunterzulassen, lief
er durch alle Zimmer und begab sich direkt in die Schloßkapelle, indem er glaubte
dort den „Cacador" zu finden. Wer war in Verlegenheit? Das war Frau von
Spörken, Allein mit einem Manne, dessen Qualen sie erraten mußte, bezeichnete
sie ihm endlich halb durch Zeichen, halb durch Worte deu Ort. Das war das erste
Geschäft, welches Se. Majestät bei ihrer Ankunft auf dem Gebiete des Königs ^von
England und Kurfürstens von Hannovers verrichtete. Mittlerweile kamen nur an
und fanden Se. Majestät in Wahrheit einer großen Last entledigt, aber sehr in
Unrnhe, da sie sich nicht entschließen konnte, ob sie weiter reisen oder bleiben sollte.
Endlich entschied sie sich so: „Da wir hier gut aufgehoben sind, so laßt uns bleiben."
Sie forderte ein Glas Bier, der Oberhauptmann reichte ihr dieses, demnächst forderte
sie Wein, er gab ihr Burgunder, welchen sie so vortrefflich fand, daß sie erklärte,
davon mitnehmen zu wollen.
Von Zeit zu Zeit sprach der Zar sehr gnädig zu seinem Gefolge, indem er
ihnen die Hand auf die Schulter legte oder sie beim Arme erfaßte. Mein Vater
fragte den Zar, ob Se. Majestät ihm die Ehre erweisen wolle, die Parole auszu¬
geben. Er verbeugte sich und antwortete, daß er hier garnichts zu befehlen habe.
Er beauftragte den Oberhauptmaun, an den or. Ebel zu schreiben, er solle nach
Pyrmont nachkommen, versprach Herrn von Spörkeu sein Porträt, indem, er hinzu¬
fügte, sie hätten nur nötig, ihm den Maler zuzuschicken. Als endlich Se. Majestät
sich langweilte, sagte sie, sie wollte den Ort sehen, wo das Wachs gebleicht würde.
Die Karosse wurde bespannt und in der Erwartung derselben verzehrte der Zar
schnell eine Orange; die Karosse fuhr vor, siehe da! holterdipolter saß der Zar
darin mit seinem Hofkavalier. Aus Respekt wollte der Oberhauptmann sich dein
Zar nicht gegenüber setzen, aber dieser faßte ihn beim Arme und nötigte ihn, dort
Platz zu nehmen. Dies gelang nicht, ohne daß der Oberhauptmaun ihm ans den
Fuß trat, was verursachte, daß er auf Moskowitisch einen Schrei ausstieß, der
mehr aus Konsonanten als aus Vokalen zusammengesetzt war. Die Karosse fuhr
ab, und der Zar sah, was er sehen wollte.
Während seiner Abwesenheit kamen der Großkanzler Doloffkinj und der Fürst
Kurakin, welche Sr. Majestät ein wenig mehr Glanz verliehen; der erstere ist ein
großer Mann, welcher nur mittelst eines Dolmetschers spricht und dessen Kopf
ein gesundes Urteil in sich zu schließen scheint; das Gefolge sagte uns, er sei bei
seinem Herrn allmächtig; den zweiten Herrn werden Sie kennen.
Sobald der Zar zurückkam, fand er die Tafel gedeckt. Den Lehnstuhl am
Ehrenplatz beachtete er uicht, er setzte sich gegenüber, und mit seiner Erlaubnis
nahmen die Damen Platz; an der Tafel saßen zwölf Personen. Eine zweite Tafel
war für das Gefolge da, und anderswo eine dritte für die Dienstboten und
Matrosen, denen man auf Befehl des Zaren nur Wein zu trinken gab. Der Zar
aß sehr wenig und Frau von Spörken, welche zu seiner Linken saß, erduldete drei
oder vier souxiis u. la. Ilolla-ncioiso, auf die sie nicht vorbereitet war, sonst würde
sie die Nase abgewandt haben. Das, was der Zar nicht nach seinem Geschmacke
fand, gab er seinem Kanzler, nachdem er es gekostet hatte. Endlich als er nicht
mehr bei Tische sitzen mochte, gähnte er und machte über die Mundöffnung ein
Zeichen des Kreuzes,") erhob sich und lief spornstreichs in sein Schlafgemach.
Am folgenden Tage um neun Uhr reiste er ab mit gleichem Kanonendonner
wie bei seiner Ankunft. Ohne Lebewohl zu sagen, machte er nur den Damen,
welche am Fenster standen, eine tiefe Verbeugung. In der Karosse hatte er zu
seiner Rechten feinen dicken Schlingel von Priester (son, gro8 cocMn Ah xrStro)
mit kupferfarbigem Gesicht, welcher eine genauere Beschreibung verdiente, wenn
mich das nicht zu weit führte; der geringste seiner Fehler war, daß seine Socken
wie alle l"^- rochen. Der Arzt saß dem Priester gegenüber, und der Zwerg
zwischen deu Beinen des Zaren. Er hat nicht ein Geschenk gemacht.
Ich kann Ihnen versichern, mein Herr, daß der Zar sich nicht mit dem Fuße
Schnauze, was man sehr Wohl an dem Rockärmel sieht. Er hat allerdings ein
Schnupftuch, aber er besitzt das Geheimnis, sich desselben nicht zu bedienen,
indem er die Finger auf der Nase reiten läßt (ein msttant iss cloig'es » Lüsval sur
to no/.). Uebrigens schien er nicht vergnügt; er ist sehr mager und beklagte sich bei
Frau von Spörken, daß er alt Werde, daß er schon fünfundvierzig Jahre alt sei.
Einige Personen waren verdrießlich, daß Se. Majestät nicht viel mit ihnen sprach.
Sie wissen, mein Herr, daß der Zar zuweilen genötigt ist, konvulsivische Be¬
wegungen zu machen; eine machte er unter andern bei Tische, welche Schrecken
erregte. Da er wenig aß, aß er ziemlich sauber. Man gab ihm italienischen Wein
zu kosten, er spie das Wenige, was er davon genommen hatte, wieder aus. Man
bot ihm Forellen an, er hielt sie um die Nase, rümpfte diese und gab jene zurück.
Ich sage Ihnen nichts von den Herren seines Gefolges, weil — ich versichere
Ihnen — sie nicht der Rede wert sind, ausgenommen den Großkanzler und den
Fürsten Knrakin. Kaum waren sie angekommen, so forderten sie Pfeifen, Tabak und
Branntwein. Es waren Schmutzfinken, Stinker, Grobians. Der Arzt war
recht nett.
Sie werden hierin vielleicht besondre Umstände finden, welche andre Ihnen
nicht berichten können. Ich bin mit Ehrfurcht, mein Herr, :c.
Eine verlorene Schrift Winckelmanns, Zu Anfang des Jahres 1767
hatte Winckelmann seine „Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alter¬
tums" herausgegeben. Daun rüstete er sich zu der Reise, die ihm so verhängnis¬
voll werden sollte: am 10. April 1768 trieb ihn das Heimweh nach den geliebten
Freunden auf den Weg nach Deutschland.
Unter den Fremden, die ihn in diesen Monden der Hoffnung und Vorberei¬
tung aufsuchten, waren vornehme Gäste aus dem Norden: Graf I. I. Schuwaloff,
der Gründer der Moskaner Universität. Graf Cyrill Grigoriewitsch Rasumowski,
gewesener Hetman der Kosaken und Präsident der Petersburger Akademie der
Wissenschaften, und fein Sohn Alexey, von 1810 bis 1316 russischer Unterrichts-
"nnister. Mit ihnen kam als Reisebegleiter und Hofmeister des jungen Rasumowski
der Professor Ludwig Heinrich Nicolay aus Straßburg, ein junger Dichter, der
sich durch seine späteren Werke ein Anrecht erworben hat, neben und nach Wieland
M den Poeten gezählt zu werden, die dazu beitrugen, den Stil der deutschen Poesie
leichter und gefälliger zu machen und aus den Literaturen des Südens und Westens
eigenartige und fesselnde Stoffe nach Deutschland einzuführen. Er wurde uuter
Kaiser Paul I. ein einflußreicher Mäcen am russischen Hofe, seine Stellung als
Kabiuetsverwalter des Kaisers, als Sekretär der Kaiserin, als Präsident der Aka¬
demie der Wissenschaften und sein eignes großes Vermögen gaben ihm manche
Gelegenheit, sein Interesse an Kunst und Altertum zu bethätigen. Ein Zeugnis
eingehenderen Studiums ist seine Geschichte der Steinschneidekunst, die er in der
Form eines Lehrgedichtes an Voß, den Erzieher seines Sohnes, richtete.
Diese Liebe zu Kunst und Altertum hatte Nicolay schon als Straßburger
Student bewiesen; als er mit Winckelmann in Berührung kam, mußte er eiuen
guten Eindruck auf ihn macheu. Aber alles, was uns von dem Verkehr zwischen
beiden erhalten ist, sind zwei Briefe Winckelmanns. Der eine von ihnen ist wichtig!
er giebt uns Kunde von einem unzweifelhaft wertvollen Werke des großen Pfad-
finders unsrer klassischen Bewegung, einem „Gespräche........," das leider un¬
wiederbringlich verloren ist; andrerseits ist er ein Zeugnis von deu widerwärtigen
Hindernissen, die unserm großen Landsmanne im Wege lagen. Beide Briefe sind
ohne Datum, der zweite ohne Adresse.
Die Art mit welcher Dieselben das Gespräch von mir verlangcte, verdienete
nicht allein, Ihnen dasselbe unverzüglich mitzutheilen, ja ich würde eine besondere
Abschrift mit eigener Hand verfertigen. Allein ich habe dieselbe vertilget, da mir
über die Zuschrift der Abhandlung von der Empfindung des Schönen, die einem
jungen Liefländer zugeschrieben wurde, etwas Schuld gegeben ward, wovon ich noch
itzo keinen deutlichen Begriff habe. Diesen Verdacht würde ich durch gedachtes
Gespräch, bey groben Sinnen, wieder mich bestärket haben, da ich sowohl den Be-
schreibungen als den Ausdrücken allen möglichen Reiz zu geben gesuchet, u. mich
sonderlich über das jugendliche Rankende von der höchsten Schönheit so erkläret
habe, daß ich es unter meinem Namen nicht hätte können erscheinen lassen. Mein
im Unwillen gesafteter Schluß gereuet mich, aber ich kann den Verlust nicht ersetzen,
da es ein Aufsatz von langen Denken u. würklicher Betrachtung war. Ich kein mit
nichts aufwarten, als mit den gedruckte» Anmerkungen über die Geschichte der
Kunst, u. mit einem guten Herzen, mit welchem ich die Ehre habe zu seyn
Adresse:
NouÄsur
Nonsigur Nicolai.
Nach Lesung des schönen und zärtlichen Gedichts, welches Sie die Gewogen¬
heit gehabt haben, mir mitzutheilen, bedauere ich noch mehr als ich bereits vorher
gethan habe, die Ehre einer genaueren Bekantschaft nicht erlanget zu habe», in
welcher ich nicht unthätig gewesen (seyn) würde. Da ich nun wegen meiner sehr nahen
Abreise in mein Vaterland nicht hoffen kaun, Denenselben persönlich aufzuwarten,
wünsche ich tausend Vergnügen ans Dero ferneren Reise u. empfehle mich zu ge¬
neigten Andenken.
Die Briefe befinden sich jetzt im Besitze der Baronin Nicolay auf Monrepos
in Finland. Durch die Zuvorkommenheit dieser Dame, namentlich aber durch die
thätige Hilfe eines wackern deutschen Landsmannes, des öl. G. Schmid am philo¬
logisch-historischen Institut zu Se. Petersburg, der die Abschrift besorgte, sind sie
mir für eine Abhandlung über den Dichter Nicolay, die ich unter der Feder habe,
mitgeteilt worden.
Ein bischen Griechisch. In Ur. 3 der „Gegenwart" belehrt ein Herr
Moritz Alsberg die Leser in einem Artikel „Die Genossenschaft im Tier- und
Pflanzenreiche," daß der Ausdruck Symbiose von De Vary in die Naturwissen¬
schaften eingeführt worden sei, und bemerkt dazu, daß dieser Ausdruck „vom griechischen
2u^ßls,.v" herkomme. Die Leser der Grenzboten, die zufällig einen Sohn in der
Obertertia des Gymnasiums sitzen haben, mögen ihm diese Ableitung zu seiner Er¬
heiterung mitteilen.
Ju dem Kampfe gegen die thörichten Angriffe, die von gewisser Seite gegen
den Unterricht im Griechischen auf unsern Gymnasien gemacht werden, kann man
sich gar keine bessere Waffe wünschen, als die schauderhafte Blöße, die sich die
meisten unsrer Zeitschriften geben, so oft sie einmal ein griechisches Wort anführen.
Und doch können sie's nicht lassen! So ein bischen Griechisch, es ist doch zu hübsch,
es giebt der Zeitung gleich so ein gewisses Air. Freilich, den Accent auf das
griechische Wort zu setzen, ist eine kitzliche Sache, am klügsten ist es, ihn wegzu¬
lassen. Ist er aber gesetzt, dann ist zehn gegen eins zu wetten, daß er in der
Hälfte aller Fälle falsch ist, und in den Fällen, wo er richtig ist, ist sicherlich irgend
ein andrer Bock in dem Worte: ein falscher Buchstabe (sieht man doch gewisse
griechische Wörter, selbst wenn sie mit deutschen Buchstabe» gedruckt find, regelmäßig
falsch, wie philanthropisch, Rhythmus, Logogriph, wofür stets Philantropisch, Ryth-
ums, Logogryph erscheint) oder, wie im vorliegenden Falle, wo sich der Verfasser
gar auf das Gebiet der Formenlehre gewagt hat, ein feister grammatischer Schnitzer,
ein „Doppelhacksch," wie wir als Schuljungen sagten.
Ja ja, das liebe Griechisch — man kann fürchterlich dabei hineinfallen. Ist
es doch vor kurzem sogar einem Professor um einer berühmten deutschen Univer¬
sität begegnet, daß er in seiner Antrittsvorlesung in der Aula vor feierlicher Ver¬
sammlung behauptet hat, Biologie komme her von ßiciv!
Wie beugt man solchen Fatalitäten vor? Dadurch, daß man Griechisch lernt?
vvdentlich lernt? Oder dadurch, daß man den Unterricht im Griechischen — ab¬
schafft? Antwort, ihr Herren vom „Realgymnasium"!
Im verflossenen Jahre ist eine neue Zeitschrift ans Licht getreten, welche so¬
wohl durch die Namen ihrer Mitarbeiter, wie durch den Zweck und die Richtung
Unternehmens selbst besondern Anspruch aus die Teilnahme des Publikums
Me: die „Zeitschrift für Allgemeine Geschichte," herausgegeben von H. v. Zwiedineck-
Südenhorst. Das neue Unternehmen ist „allen gewidmet, welche Geschichte lesen
wollen, Geschichte in ihrem weitesten Begriffe, in welchem sich alle Elemente des
materiellen und geistigen Lebens abspiegeln, die einer Zeitepoche ihr Gepräge ver¬
leihen." In größern Aufsätzen und kleinern Mitteilungen sollen die Ergebnisse
der neuen Forschung in eingehender und anregender Weise dargelegt werden. Der
vorliegende erste Jahrgang giebt einen Begriff von den reichen Mitteln, über
welche die Redaktion verfügt, sowie von der Umsicht, mit welcher sie diese Mittel
zur Anwendung bringt. Gleich das erste Heft bringt einen interessanten Aufsatz
von Moritz Brosch über die Ermordung des englischen Gesandten Ascham. Schön¬
bach rügt mit vollem Recht die elementare Unkenntnis, welche wir täglich in bezug
auf die Vereinigten Staaten um den Tag legen, und führt uns dann in lebens¬
vollen Bildern die Gestalten der hervorragendsten nordamerikanischen Staatsmänner
vor Augen. Dann folgen Aufsätze von Riehl, Dümmler, Krones, Gindely. Gre-
gorovius erzählt von einem Besuche in Sardes, und der Herausgeber selbst hat
eine sorgfältige Untersuchung über die Einleitung des Herbstfeldzuges von 1813
beigesteuert. Kurz, der Inhalt des Bandes ist ebenso gediegen wie reichhaltig,
namhafte Kräfte der deutschen Geschichtswissenschaft unterstützen den Herausgeber.
Wenn es der Redaktion gelingt, der Zeitschrift einen Kreis tüchtiger und treuer
Mitarbeiter zu sichern, so wird das Unternehmen auch beim Publikum immer die
Teilnahme finden, die ihm in hohem Grade gebührt.
In sorgfältigster Ausstattung, mit zahlreichen Bildern und in geschmackvollem
Einbande tritt mit diesem Buche ein Unternehmen in die Öffentlichkeit, dem ein
glücklicher Gedanke zu gründe liegt. Es ^will in allgemeinverständlicher Weise
«inen Ueberblick liefern über die gesamte künstlerische Produktion auf deu Gebieten
der Architektur, der Bildhauerei, der Malerei, der Musik, der Dichtkunst und des
Theaters, welche in den Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie im letzten
Jahre zu tage getreten ist, ohne sich dabei in den Dienst irgendeiner nationalen
oder künstlerischen Partei zu stellen. Bei der hohen Blüte, welche die bildenden
Künste eben in Oesterreich erleben, bei der Wichtigkeit, welche die Kaiserstadt in
der musikalischen Welt besitzt, bei dem Range, welchen das Theaterleben daselbst
einnimmt, kam? es einem solchen Jahrbuche nicht an allgemein interessanten Stoffen
fehlen, wovon auch der vorliegende erste Jahrgang Zeugnis ablegt, wenn er auch
kein in allen Teilen gleichartiges Ganze bietet. Er enthält Schilderungen des
neuen Wiener Parlamentsbaues, des neuen Rathauses, des Budapester Opernhauses,
in der Abteilung über Malerei Charakteristiken von Mnnkacsy's, Boziks, Steinles,
Defreggers u. a. neuesten Schöpfungen. Bloße Ausstellungsberichte halten wir in
einem Jahrbuch für weniger geeignet, sie werden in den nächsten Jahrgängen
hoffentlich selbständigeren Aufsätzen über einzelne Künstler Platz machen. Zu den
besten Beiträgen gehören neben Emil Vürdes Aufsätzen über einzelne Mitglieder
des Burgtheaters die Essays über die Dichter Ferdinand von Saar und Julius
von der Traun von E. Guglia, welche diese wenig gekannten vornehmen Gestalten
der deutsch-österreichischen Literatur nach Verdienst würdigen. Im ganzen ver¬
dient das Jahrbuch als ein vielversprechender Anfang eines fruchtbaren und dem
Kunstleben in Oesterreich förderlichen Strebens die Unterstützung des kunstliebenden
Publikums.
in 24. Januar, an einem Samstage, an welchem die Besichtigung
des Towers und des Parlamentsgebäudes in London dem Pu¬
blikum gestattet ist, haben verruchte Hände die Gelegenheit benutzt,
in beiden Gebäuden Dynamitexplosionen zu veranstalten. In der
Westminsterhalle wurden siebzehn, im Tower sieben Personen mehr
oder weniger schwer beschädigt; die in der ersteren mit der Beseitigung des
entdeckten Dynamitpackets sich befassenden beiden Polizeibeamten sind in einer
Weise verwundet worden, daß sie voraussichtlich das Leben verlieren werden.
Angesichts der im März 1883 auf der Westminstcrbrücke von dem Haupte der
irisch-amerikanischen Dynamitverschwörer Dr. Gallagher gegenüber seinem Genossen
Norman, als er diesem das Parlamentsgebäude zeigte, gethanen Äußerung:
"Wenn das zusammenkracht, wird es einen gehörigen Knall geben," angesichts
der in Bahnhöfen, auf der Loudonbrücke und an andern Orten in letzter Zeit
teils versuchten, teils vollführten Dynamitattentatc und angesichts des Umstandes,
daß die beiden jetzt vorliegenden Verbrechen den Zwecken keines andern Menschen
irgend dienlich sein konnten, ist es, obgleich die Verbrecher noch nicht aufgefunden
sind, doch keinem Zweifel unterworfen, daß wir es auch hier wieder mit einer
That der Anarchisten, seien diese nun Fenier, irische Nationalligisteu oder
Internationale, zu thun haben. Daß diese Annahme die richtige ist, beweisen
auch die Vorgänge bei einer am 26. Januar in Chicago abgehaltenen Sozialisten-
versammlung, in welcher die am Tage zuvor in London verübten Attentate von
mehreren Rednern gepriesen und der Gebrauch des Dynamits gegen die be¬
sitzenden Klassen anempfohlen wurde.
Die englische Regierung hat vor kurzer Frist ein strenges Gesetz gegen
die Dynamitvcrbrechen eingebracht, und das Parlament hat dasselbe an einem
und demselben Tage beraten und angenommen; das deutsche Reich hat mit
seinem Gesetz vom 9. Juni 1884 gegen den verbrecherischen und gemeingefähr¬
lichen Gebrauch von Sprengstoffen ebenfalls seinen Behörden eine brauchbare
Waffe in die Hand gegeben, und auch die Vereinigten Staaten scheinen dem
allgemeinen Bedürfnisse nunmehr Rechnung tragen zu wollen, indem von dem
Senator Edmunds in den letzten Tagen ein Gesetzentwurf bei dem Senate ein¬
gebracht worden ist, in welchem neben den Maßregeln zur Bestrafung der durch
Explosivstoffe begangenen Verbrechen und zur Verhinderung solcher Verbrechen
anch die Bestrafung einer jeden wissentlichen Beteiligung an der Transportirung und
Ablieferung von Sprengstoffen für verbrecherische Zwecke mit Strafe bedroht wird.
Wenn nun auch mit diesen von den einzelnen Ländern angenommenen
Gesetzen der Anfang zur wirksamen Bekämpfung der überall verbreiteten
Anarchistenbande gemacht ist, so genügen doch die bisherigen Maßregeln
keineswegs, um die Seuche mit der Wurzel auszurotten. Es ist eine
Vereinbarung sämtlicher kultivirten Nationen dahin nötig, daß alle Anarchisten¬
attentate verfolgt werden, sie mögen begangen worden sein, wo sie wollen; die
Anarchisten müssen gegenseitig ausgeliefert werden, es darf für dieselben keine
Stätte mehr geben, von welcher aus sie ihre Brandreden ungestraft in die Welt
gehen lassen können, ob dieselben nun zum Augriff gegen den Staat aufreizen,
in welchem sie sich augenblicklich befinden, oder gegen einen andern; die sämt¬
lichen Staaten dürfen keinen Unterschied mehr darin machen, unter welcher
Firma das Verbrechen gepredigt wird, und ganz besonders muß der Wahn
fallen, ein zu sogenannten politischen Zwecken verübtes oder geplantes Ver¬
brechen habe irgendeinen Anspruch auf andre Behandlung und Beurteilung als
jedes andre. Einen Schritt in dieser Richtung haben Preußen und Rußland
mit dem unter dem 13. Januar d. I. in Se. Petersburg vereinbarten Vertrage
über die gegenseitige Auslieferung der Verbrecher gethan, und es ist Aussicht
vorhanden, daß in nächster Zeit Österreich diesem Vertrage beitreten wird. Der
Inhalt dieser auf die jüngste Zusammenkunft der drei Monarchen in Skicrniewiee
zurückzuführenden Vereinbarung geht dahin, daß wegen Totschlags, Thätlichkeit,
Körperverletzung, vorsätzlicher Freiheitsberaubung, Beleidigung gegenüber dem
Kaiser oder einem Mitgliede seiner Familie, sowie wegen Vorbereitung einer dieser
Handlungen, wegen Mordes, Mordversuchs, strafbarer Herstellung oder Jnnehabung
von Spreugstoffen die Auslieferung des Verbrechers auf Verlangen erfolgen
soll, ohne Unterschied, ob das betreffende Verbrechen in einer politischen Absicht
begangen worden sei oder nicht, und daß in allen andern Fällen eines Ver¬
brechens oder Vergehens die Auslieferung des betreffenden Unterthanen von
der ersuchten Regierung in Erwägung gezogen und derselben, wenn nichts
entgegensteht, stattgegeben werden soll.
Den „liberalen" Blättern ist diese Vereinbarung natürlich wieder bedenklich,
sie finden insbesondre, daß die zweite Bestimmung hinsichtlich der Auslieferung
Wegen der nicht gegen die kaiserliche Familie gerichteten Vergehen dehnbar sei
und es vollständig dem Ermessen der Regierung überlasse, wegen irgend eines
Vergehens dem Auslieferungsbegehren stattzugeben; auch sei die Möglichkeit
gegeben, daß jemand z. B. wegen Beleidigung eines Mitgliedes der kaiserlichen
Familie angeschuldigt und deshalb ausgeliefert werde, während in Wirklichkeit
man seiner aus ganz andern Gründen habhaft werden wolle.
Man sollte meinen, die täglich sich mehrenden Unthaten der Anarchisten,
ihr die ganze bürgerliche Gesellschaft mit Tod und Vernichtung bedrohendes
System des Meuchelmordes, die uns selbst so nahe berührenden Schandthaten
auf dem Niederwalde und neuestens in Frankfurt, die von Tag zu Tag wach¬
sende Frechheit dieser Mörderhände konnten auch einem „liberalen" Politiker
genügen, um seine Bedenken hinsichtlich eines etwaigen Mißbrauches des ange¬
führten Auslieferungsvertrages gegenüber der Notwendigkeit von Schutzmaßregeln
zu gunsten des Staates und der Gesellschaft fallen zu lasten. Zur Ausdehnung
des preußisch-russischen Vertrages auf das deutsche Reich ist die Zustimmung
des Reichstages erforderlich. Hoffen wir, daß der Majorität die notwendige
Erleuchtung nicht fehlen werde.
eilten wir auch gegenwärtig, wenn wir an England und sein über¬
seeisches Weltreich denken, unsre Aufmerksamkeit vorzüglich nach
dem südlichen Afrika und nach den Inselgruppen des Stillen
Ozeans, so dürfen wir doch niemals die Hauptfrage ganz aus den
Augen verlieren, deren Gegenstände in Asien liegen und deren
brennender oder, wie wir richtiger sagen werden, glimmender Punkt jetzt im
Zentrum dieses Weltteils zu suchen ist. Vorläufig bedeckt ihn der Schnee der
Steppen und Wüsten am Murgab und Ann Darga, aber mit dein Frühjahr,
wo der Schnee thaut, wird auch die Frage wieder aufthauen und sofort wieder
Fluß kommen: zunächst, wo die Grenze zwischen der englischen und der russi¬
schen Machtsphäre in Mittelasien zu ziehen sei, dann, wie bald der oft ge¬
leugnete, immer fortgesetzte Marsch der Russen nach Astghanistcm, dem Vorlande
Britisch-Indiens, weiter gehen und ein deutlicher erkennbarer Schritt nach
dem Gebiete hin gethan werden wird, in welchem die moskowitische Weltmacht
endlich nicht mehr schleichend, sondern in direktem Sprunge mit der britischen
zusammentreffen muß. Die Sache liegt uns nur scheinbar fern; seit Deutsch-
land gleichfalls eine Großmacht geworden ist, geht das, was sich dort vor¬
bereitet, in Wirklichkeit auch uns wesentlich an, es wird indirekt dort auch für
und gegen unsre Interessen gewirkt und gekämpft werden, sodaß wir uns davon
nicht als teilnahmlose und ununterrichtete Zuschauer betreffen lassen dürfen.
Wer uns bei der gegenwärtigen Haltung des englischen Kabinets von den beiden
Parteien mehr Sympathie einflößen sollte, kann nicht wohl zweifelhaft sein.
In Europa scheint die russische Politik seit dem letzten Kriege mit der
Pforte zu ruhen, doch übt sie in Bulgarien bedeutenden Einfluß, und daß sie
auf den Besitz Konstantinopels verzichtet habe, ist nicht zu glauben. England
hat seine dort erhobenen Ansprüche in den letzten Jahren, seit Beaeonsfields Rück¬
tritt, nicht so wie früher betont, es schien sich damit begnügen zu wollen, seine
Interessen auf den wcstasiatischcn Meeren und an deren Küsten von Ägypten
aus zu wahren, wo ihm beiläufig Frankreich gegenübersteht, und wo es sich
bis jetzt nicht rühmen konnte, befriedigende und für die Zukunft sichere Ge¬
schäfte gemacht zu haben. Sehr ins Gewicht fallende Erfolge hatte dagegen
Rußland am Schwarzen Meere und zwar auf dessen europäischem wie auf dessen
asiatischem Ufer aufzuweisen. Odessa ist in den letzten Jahrzehnten allmählich
zu einer der wichtigsten Seehandelsstädte geworden. Vor hundert Jahren stand
hier der kleine türkische Ort Hadschi Bey mit kaum zweitausend Seelen, ärmlich,
schmutzig und ohne Bedeutung für Schifffahrt und Handel. Heute nimmt dessen
Stelle eine prächtige Großstadt mit breiten Quais, mächtigen Speichern, statt¬
lichen Läden und stolzen Palästen ein, und die Zahl der Einwohner hat sich
verhundertfacht. Bis vor der Vollendung des Suezkanals verkehrte Odessa mit
Indien und China fast nur über Hamburg, seitdem aber größtenteils direkt,
und Rußland kann von hier und von andern seiner südlichen Häfen aus zu Wasser
bis zu den Besitzungen am Amur gelangen. Auch Sebastvpol ist aus der Zer¬
störung, die ihm der Krimkrieg brachte, wieder erstände»; die Trümmerhaufen
von 1865 sind schon seit geraumer Zeit verschwunden und haben neuen Straßen
und Plätzen Raum gemacht, und mit Aufwendung sehr beträchtlicher Summen
sind die Anlagen für die Marine verbessert worden. Mit Staatsunterstützung
ist eine Dampfschifffahrtsgesellschaft großen Stils bemüht, den Franzosen, Eng¬
ländern und Österreichern auf dem Schwarzen und dem Mittelländischen Meere
bis nach Ägypten hin Konkurrenz zu machen, und die Fahrzeuge derselben werden
so eingerichtet, daß sie im Notfall auch zu Kriegszwecken, d. h. als Kreuzer
zweiten Ranges und als Transportschiffe dienen können. Was die asia¬
tischen Ufer des Pontus betrifft, so haben sich hier an der Ostküste verschiedene
Handelsplätze entwickelt, welche einem unmittelbaren Verkehre Rußlands mit
dem Binnenlande dienen, der infolge dessen bereits sehr lebhaft geworden ist.
Die tscherkessische Bevölkerung dieses Teiles der Kaukasusgegenden, die unter
Schamils Führung und mit englischer und türkischer Unterstützung viele Jahre
mit Erfolg gegen die Soldaten des Zaren kämpfte, wurde endlich überwunden
und ist jetzt, soweit sie nicht auswanderte und in der Türkei sich ansiedelte,
für Rußland völlig unschädlich geworden. Dasselbe gilt von den Lazen, die
gleichfalls die Heimat verließen und gegenwärtig in Kleinasien, wie es scheint,
nicht leben und nicht sterben können. Im Nordwesten des alten Armeniens, wo
dessen Gebiet an den Kaukasus stößt, geht Nußland damit um. den Anfang zu
einem großen Neuarmenien unter seiner Herrschaft zu schaffen — ein Plan,
dessen Ausführung zu verhindern die Engländer allein oder bloß im Bunde mit
den Türken außer stände sein werden. In den Besitz der armenischen Hoch¬
ebene gelangt, die immer den besten Schutz gegen einen von Norden her vor¬
dringenden Eroberer darbot, würde Nußland verhältnismäßig geringen Schwierig¬
keiten begegnen, wenn es schon in nächster Zukunft den Versuch unternehmen
wollte, nach den südlichen Vorbergen, nach dem Quellgebiete des Murad Tschai
und von dort in Stationen langsam nach den Ebenen Mesopotamiens zu ge¬
langen. Schon seit fünf Dezennien befindet sich seine Politik im Vorgehen nach
diesem Ziele, und eine gute Strecke des Weges ist schon zurückgelegt. Seit
die Festung Kars, der Schlusses Armeniens, eine russische Stadt geworden ist
und die beiden andern Hauptbollwerke der Pforte in diesem Landstriche, Bajazid
und Erzerum, nicht mehr weit von der Grenze des Zarenreiches liegen, ist der
Tag erheblich näher gerückt, an dem die den armenischen Unterthanen des Sultaus
von russischer Seite zugewendeten Sympathien die Früchte tragen werden, welche
mit ihnen beabsichtigt sind; jene Sympathien werden auf armenischer Seite
dankbar empfunden und erwiedert. Nur Unbekanntschaft mit den Verhältnissen
oder bewußte Täuschung durch Jnteressirte kann die den Russen günstige Stim¬
mung der Mehrzahl in Armenien leugnen und von allgemein verbreitetem Russen-
hcisse unter derselben sprechen, und von der Sehnsucht nach einem selbständigen
Armenien, von einem armenischen Nationalstaate träumen vielleicht ein paar
Dutzend Söhne armenischer Bankiers und Großhändler, die sich europäische
Ideen und Phrasen angeeignet haben, aber ihr eignes Volk nicht kennen; die
Masse des letztern denkt an dergleichen Phantasiegebilde nicht entfernt, sondern
erhofft eine bessere Zukunft einzig und allem von Nußland. Hier ist nach ihrer
Meinung ihr Trost über die Mißwirtschaft der Türken, ihr Schutz und ihr
Heil; von hier kommt ihre Erlösung — so wird ihnen auf Anregung des
Hauptes ihrer Kirche im Kloster Edschmiazin von ihren Wartabets bis nach
Diarbekir hin gepredigt, und alle Welt sagt Amen dazu. Von diesem Glanben
und dieser Hoffnung droht der Türkenherrschaft in Asien die größte Gefahr,
und darin liegt der hauptsächlichste der Gründe, welche den Sultan zögern lassen,
M Armenien Reformen einzuführen und der dortigen christlichen Bevölkerung
Freiheiten und Rechte zu gewähren. Allerdings ist er dazu durch den Berliner
Vertrag von 1878 verpflichtet, aber die türkischen Staatsmänner sind überzeugt,
daß eine den Armeniern gewährte Autonomie gleichbedeutend mit baldigem An¬
schluß derselben an Nußland sein würde.
Nicht minder bedeutend, ja noch wichtiger sind die Erfolge, welche Ru߬
land in den letzten Jahrzehnten auf dem direkten Wege durch das innere Asien
nach Afghanistan, zunächst nach Herat, dann nach Kandahar und Kabul, diplo¬
matisch und militärisch errungen hat. Auch in England empfindet man in
weiten Kreisen darüber von Jahr zu Jahr mehr Beklemmung, die sich zuweilen
in lauter Klage über die schwachsichtige, unentschlossene und zaghafte Politik
des jetzt am Ruder befindlichen Parteiregiments vernehmen läßt und die dop¬
pelte Berechtigung hat, wenn man sie mit Beaconssields Verhalten in dieser
Angelegenheit vergleicht. Erst vor kurzem machte sich die schwere Besorgnis,
welche sich jener Kreise bemächtigt hat, in dem verbreiterten Blatte Londons,
dem konservativen vint^ ?e1sg'ra,xk, in einem Leitartikel Luft, den wir als ein
Zeichen, daß man unter den verständigen Politikern an der Themse für diese
schwarze Wolke am nördlichen Gesichtskreise Indiens keineswegs mehr blind ist,
in seinen Hauptgedanken folgen lassen. Es hieß da u. a., nachdem auf die
überraschend neue Thatsache aufmerksam gemacht worden war, daß die russischen
Truppen in den letzten zwölf Monaten eine Stellung gewonnen haben, die sie
in den Stand setzt, in jedem ihnen geeignet erscheinenden Augenblicke sich der
Oasenstadt Herat zu bemächtigen: „Die heutige Lage der Dinge wurde uns
schon vor vielen Jahren mit staunenswerter Genauigkeit vorausgesagt, aber die
Leute, welche die Frage sorgfältig studirt und erwogen hatten und auf Grund
dessen die Folgen der russischen Politik in Mittelasien angeben konnten, wurden
verspottet oder mit mitleidiger Gcringschätzigkeit behandelt. Den Inhabern der
Gewalt und beglaubigten Führern der öffentlichen Meinung scheint es nicht bloß
an der höhern Eigenschaft scharfen und weiten Blickes, sondern auch an der
Gabe gefehlt zu haben, nahegelegenes und Offenkundiges zu kombiniren und
daraus Schlüsse zu ziehen. ... So haben sie gehandelt, wie wir es sahen,
wenigstens nach dem Hinscheiden Lord Clarendons, ausgenommen während einer
kurzen lichten Zwischenpause, wo die heutige Negierung sich bewogen fand, das
festzusetzen, was wir häufig afghanische Grenzlinie Gladstones und Grcmvilles
genannt haben — eine Art von »Bis hierher und nicht weiter« ans dem Papier.
Bereits vor sechzehn Jahren waren Gang und Ziel der russischen Politik so
offenkundig wie jetzt. Es handelte sich um eine Bewegung zum Angriff auf
Indien, unternommen in der Hoffnung, dieselbe werde die Aktion Englands von
den Dardanellen bis zum Persischen Meerbusen begrenzen und lahmen."
Zwar täuscht sich der Verfasser, wenn er meint, das Vorgehen Rußlands
in Mittelasien sei nur ein Mittel zu Zwecken im südöstlichen Europa und im
westlichen Asien, nur ein Manöver zur Ableitung und Irreführung, namentlich
wenn er glaubt, es habe diese Bedeutung noch jetzt und werde sie behalten. Aber
er meint das wohl auch nicht im Ernste, da er nach einigen weiteren Bemerkungen
fortfährt: „Der schwarze Geier, wie Vambery das Symbol Rußlands be¬
zeichnet, flog von Taschkend nach Samarkand, von der Hauptstadt Timurs,
nach Chiwa, von Krasiwwodsk nach Askabci bunt von dort nach Merw, Sar-
rachs und Pri-i-Chatnn. So oft er eine dieser Stationen erreichte, erhoben
sich warnende Stimmen, und zuweilen begegnete man ihnen mit spöttischen
Redensarten, zuweilen mit feierlichen Worten, die als Beweise gelten sollten,
aber ebenso seicht und abergläubisch waren. Rußland stimmte natürlich in das
Lied dieser vorwiegenden Meinung ein und versah seine britischen Verbündeten
zu ihrer Fabrikation imponirender Scheingründe mit faulem Stoffe, indem es
ihnen plausibel aussehende Thatsachen, Proteste und selbst allerlei Versprechungen
lieferte. Man hatte durchaus keine Absicht, sich Indien zu nähern. Man hätte
auf dem Wege dahin brennende Sandwüsten, dürre Felsen, hohe und unüber-
steigbare Gebirgsketten vor sich. Man dächte an kein andres Ziel, als an die
Unterdrückung der Sklaverei, an die Bestrafung schlimmer Nachbarn, die Aus¬
dehnung des Handels und ähnliche mehr oder minder harmlose Dinge. . . .
So wurden die Charade aufgesogen, die Turkomanen bemeistert und verschlungen
und Afghanistan und Chorafscm mit dem gleichen Schicksale bedroht. Alles,
was sich innerhalb der letzten sechzehn Jahre begeben hat, ist mit Einschluß des
Baues einer Eisenbahn vom Kaspischen Meere vorausgesagt worden, aber bei
jedem der aufeinander folgenden Schritte Rußlands hörte man die, welche für
Wissende galten, aber nichts wußten, welche sehen wollten, aber blind waren,
welche die Verantwortlichkeit trugen, aber keine Neigung hatten, das in sie
gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, die Propheten des heraufziehenden Unheils,
das nun herangekommen ist, lächerlich machen und anklagen."
„Haben wir, so fragt das Blatt weiter, jetzt volle Sicherheit, daß man
den heutigen Stand der Dinge begreift, daß die von der Vergangenheit erteilte
Lehre Frucht getragen hat, daß die Größe der Aufgabe, die uns hier gestellt
ist, in ihrer ganzen Ausdehnung verstanden wird? Nichts läßt darauf schließen,
daß die Regierung sich der gegenwärtigen Lage vollständig bewußt sei. ausge¬
nommen der Umstand, daß in der Nähe von Maimenah eine Kommission zur
Bestimmung der afghanischen Nordgrenze lagert und die Ankunft der russischen
Kollegen erwartet, während russische Truppen sich strategischer Punkte weiter und
immer weiter nach Herat hin bemächtigen. Rußland beabsichtigt, wie es scheint,
Merst seine Grenzen abzustecken; es handelt dabei nach dem Grundsatze LeM
possiÄcmtW, Besitz ist die größere Hälfte des Rechts, es denkt uns zur An¬
nahme derselben zu zwingen oder, was ihm am besten passen würde, die ganze
Frage als eine offene fortbestehen zu lassen. Es spielt sich als Anwalt und
Vorkämpfer der Nationalitäten in Mittelasien auf und wird sich nur mit dem
gesamten Gebiete begnügen, aus welches die dortigen Turkoinanenstämme, seine
neuen Unterthanen, Anspruch erheben. Es ist daher nicht viel Hoffnung vor¬
handen, daß die Grenzmarken werden weiter entfernt von Herat abgesteckt werden,
als vorherige Usurpation sie vorschieben kann, und das steigert die jetzt unbe-
bedingt nachweisbare Gefahr, daß Rußland mit den Truppen, über die es ver-
fügt, nach Belieben nicht nur auf Herat, sondern auch auf Maimenah und Ball
die Hand legen kann. Man hat Herrn Lessar, der das Land zum Zwecke der
Anlegung einer Eisenbahn untersuchte und dabei die Entdeckung machte, daß
die »unübersteigbaren Gebirge« nur in einer Kette von Sandhügeln bestanden,
einen Vertrauensposten in den transkaspischen Regionen verliehen; das zeigt
allein schon genügend, was das wirkliche Ziel des russischen Unternehmens ist.
Selbst wenn wir eine Reihe Grenzsteine setzen, die mehr oder minder zu unsrer
Zufriedenheit ausfällt, wird die Gefahr für Herat nicht hinwegbeschworen sein.
Die Kaukasusgcgend und die transkaukasischen Provinzen Rußlands sind bis
nach Kars hin mit Truppen angefüllt. Eine Eisenbahn verbindet den jetzt be¬
festigten Hafen von Batna mit Tiflis und dieses wieder mit Baku, und beide
Armeen sind verwendbar zur Kriegführung östlich vom Kaspisee, während nie¬
mand sagen kann, wie viele Bataillone, Schwadronen und Batterien bereits in
Turkestan und den neuen transkaspischen Eroberungen stehen. Kurz, wie längst
vorausgesehen wurde, Nußland hat seinen nächsten Zweck erreicht, es hat sich
so vieler vorteilhaften Punkte bemächtigt, daß es sich selbst die passendste Ge¬
legenheit wählen kaun, einen Streich nach Herat zu führen und einen Druck auf
den Hof von Teheran zu üben, der Persien nötigen wird, ihm die Hilfsquellen
von Chorasscm zur Verfügung zu stellen."
Die englische Regierung hat dem gegenüber nur wenig gethan, obwohl
eine schwere Verantwortlichkeit ans ihr lastet und obwohl sie genügend unter¬
richtet war, um zu wissen, was kommen würde, wenn nicht alles geschähe,
was möglich und ausführbar ist, um der drohenden Flut einen zuverlässige»:
Damm entgegenzustellen. Sie muß sich vollkommen klar darüber fein, welcher
Art die Eventualitäten find, denen sie sich oder ihre Nachfolger aussetzt, zunächst
in Mittelasien, dann in Indien, wenn sie die Warnungen Rnwlinsons, die sich
zum großen Teil schon erfüllt haben, in den Wind schlägt und die dringend
gebotenen Vorsichtsmaßregeln unterläßt. Die britische» Staatslenker scheinen
aber ihre Rechnung nicht auf verständige Betrachtung und Untersuchung, sondern
auf phantastische Vermutungen und empfindsame Träume gegründet zu haben.
„Nach jahrelangen Warnungen, so sagt unser Verfasser in kläglichem Tone
weiter, haben wir, um die heranrückende Gefahr, den Stoß gegen die Grund¬
lagen unsrer Herrschaft über Indien, abzulenken oder aufzuhalten, nichts gethan,
als daß wir Quella besetzt, eine Eisenbahn dahin, die anfangs vom Parteigeiste
befehdet und verurteilt wurde, zu bauen angefangen, dem Indus bei Attock
überbrückt, dem Emir in Kabul Subsidien gezahlt und jene Kommission zur
Absteckung der Grenze von Afghanistan abgesendet haben, die von den Russen
mit dürftiger Höflichkeit behandelt wird" sunt die, fügen wir hinzu, bei der
Natur des Landes und seiner Bewohner nur Schcinergebnisse ohne Dauer
zurücklassen kann>. Innerhalb der Grenzen Indiens selbst aber ist zu unmittel¬
barer Vorbereitung auf den Tag des russischen Angriffes noch weniger geschehen-
„Lord Mayo, Lord Northbrook, Lord Lytton wurden, so schreibt der Verfasser
des hier zitirten Artikels ferner, mehr oder minder gelähmt durch irrige Schlüsse
und Parteifordcrungcn, die daheim ausgeheckt waren, und Lord Ripou besaß
weder das Temperament noch die Befähigung, die der Gelegenheit gewachsen
waren, und so ist auf Lord Dufferins Schulter, der ebenfalls den in der ewig
wechselnden Atmosphäre von Westminster entstehenden Einflüssen ausgesetzt sein
wird, eine schwere Last geladen, jwozu wir bemerken, daß diese Last eine doppelte
ist, da der neue oberste Vertreter der britischen Regierung in Indien nicht allein
die Aufgabe, Schutzmaßregeln gegen die von Norden drohende Invasion auf¬
zufinden, hat. sondern auch die Auslosung der zum Teil sehr starken Armeen
der einheimischen Fürsten in die Hand nehmen soll^. Der Kampf der Klassen
und Nassen, welchen der abgetretene Vizekönig begann, war nicht geeignet, die
Wurzeln unsrer Macht zu festigen. Die Ausdehnung der Eisenbahnen ist die
einzige deutlich erkennbare Vorbereitung dazu, sehr wahrscheinlich gewordenen
Ereignissen die Spitze bieten zu können. Im übrigen ist keine einzige der
Maßregeln zur Ausführung gelangt, welche nach dem großen Militäraufstande
öder Sipoy-Rebellion der fünfziger Jahres empfohlen wurden. Es ist eine er¬
schreckende Thatsache, daß, obwohl Indien aufgehört hat, »eine Insel« gegenüber
den Großmächten zu sein und obwohl auf einer Seite die Franzosen gegen
Tonking und selbst gegen Sieur vorzurücken anfangen und auf der andern
Rußland in Schlagweite vor Herat und Kabul steht, wir im Reiche weniger
Bewaffnete haben als selbst vor jenem Aufstande. Die eingeborne Armee in
Indien wurde um fast die Hälfte ihrer früheren Stärke vermindert, und wenn
die britischen Steitkräfte vermehrt wurden, so hat man die damals festgesetzte
Durchschnittszahl derselbe» nicht beibehalten, sodaß sie jetzt sogar schwächer ist
als vor einigen Jahren. Nichts ist geschehen, um von den durch die eingebogen
Fürsten gesammelten Truppen, von denen einige gut, andre schlecht sind, Gebrauch
wachen zu können, ausgenommen allein diejenigen, deren Schicksal mit dem
unsrigen verknüpft ist. Wir haben keinerlei neue Festungswerke augelegt und
keine Schutzmittel in der Nachbarschaft der großen Städte geschaffen. In demselben
Augenblicke, wo eine schwarze Gewitterwolke am Horizont aufsteigt, würde die
indische Negierung. wenn sie durch kühnen Angriff an der nordwestlichen Grenze
gefährdet würde, es höchst schwierig finden, eine Streitkraft von allen Waffen¬
gattungen zusammenzubringen, die vollen Anspruch ans die Bedeutung und den
Namen einer Armee hätte... Wir haben zwei weitverbreitete Schulen, die sich
und dieser Verteidigungsfrage beschäftigen und von denen die eine sich einer
russischen Invasion am Indus entgegenstellen will, während die andre empfiehlt,
dem Feinde an den Pässen entgegenzutreten. Jene würde eine Armee in Pendschab
und Seirbe sammeln, diese würde sie nach Afghanistan führen. Ohne eine der
einen oder der andern Partei günstige oder widersprechende Meinung zu äußern,
erklären wir mit vollem Bedacht: Indien besitzt nicht die militärischen Mittel,
um den Anforderungen seiner Lage zu genügen. Man erwiedert: Soldaten,
Kanonen, Vorräte lassen sich rasch von hier hinsenden, aber wir möchten die
Meinung des Kriegsministeriums darüber hören. Die Truppen würden durch
Zauber beschafft oder es würde das Vereinigte Königreich von Soldaten ent¬
blößt werden müssen. Das ist keine erfreuliche Aussicht und natürlich sehr
»alarmistisch,« aber es enthüllt die Wahrheit, und je rascher wir' nach der Lehre,
die es enthält, handeln, umso bessere Hoffnung werden wir haben, Indien un¬
berührt zu sehen und einige andre Dinge zu behalten, welche phantasievolle
Politiker wegzuwerfen Lust zu haben scheinen."
Wir ergänzen diesen Notschrei zunächst dnrch einen Überblick über das
Vordringen Rußlands in der jüngsten Zeit, den wir aus andern guten Berichten
zusammenstellen. Bekannt ist, daß die Russen einen großen Teil der Turkmenen-
stcimme im Norden von Afghanistan unterwarfen, welche früher ihre Raubzüge
über die benachbarte« russischen und persischen Provinzen ausdehnten und von
Persien wiederholt ohne Erfolg bekämpft worden waren, und über welche uns
der englische Reisende O'Donovan, der sie vor einigen Jahren in Merw besuchte,
ausführliche und zuverlässige Mitteilungen gemacht hat,"') aus denen wir n. a.
ersehen, daß es unter den Telles von Merw vor vier Jahren eine zu England
hinneigende und mit Aufwendung einer Summe Geldes leicht zu gewinnende
Partei gab. Rußland spielte hier das Prävenire und gelangte, nachdem es
früher die Jamudeu unterworfen, dann unter General Lomcckin eine Niederlage
erlitten, dann aber unter Skobeleff wieder Erfolge errungen hatte, bald nach der
Erstürmung von Geol-Tepe mit Einwilligung der Häuptlinge ans gütlichem Wege
in den Besitz jener wichtigen Oase, durch deren Erwerbung und Besetzung es
jetzt das Chenal Chiwa von allen Seiten umfaßt. Merw und das seitwärts
davon gelegene Sarachs sollen nun befestigt werden, und es ist jetzt so gut
wie sicher, daß demnächst auch Chiwa dem russischen Reiche einverleibt werden
wird. Die Beziehungen zwischen diesem und dem Charade sind neuerdings sehr
gespannte geworden. Die Russen hatten dem Chan während der Moskaner
Krönung allerlei Aufmerksamkeiten und Auszeichnungen erwiesen und hielten
ihn für ihrer Sache ergeben, erfuhren aber dann, daß er ihnen feindlich gesinnt
sei und dies kaum noch verberge. Er gewährte räuberischen Tekinzen Zuflucht,
gestattete ihnen Streifzüge in das russische Gebiet hinein und teilte mit ihnen
ihre Bente. Die früher ziemlich sichere Handelsstraße zwischen Krcisnvwodsk
und Chiwa ist jetzt sehr gefährlich geworden, und es ist wiederholt vorgekommen,
daß hier nicht nur einzelne Reisende, sondern ganze Karawanen russischer Kauf¬
leute angefallen und beraubt worden sind. Man geht infolge dessen mit
energischen Maßregeln um, und bereits hat sich die russische Regierung, um
Vorfälle wie die Ausrandung eines großen Waarenznges bei Kungrad für die
Zukunft zu verhüten, veranlaßt gesehen, nach jenem Orte eine Abteilung Kosaken zu
verlegen. Übrigens hat der gegenwärtige Chan als arger Tyrann in seinem
Volke keinen Halt. Viele Chiwesen sind vor seinen Erpressungen und Grausam¬
keiten über die Grenzen nach Nußland oder Persien geflüchtet, und die Zurück¬
gebliebenen sind über seine Habsucht und sein ausschweifendes Leben sehr un¬
zufrieden. Ferner geht man in Petersburg mit der Absicht einer „Grenzregulirung"
gegenüber dem von Nußland längst schon völlig abhängigen Buchara um. Dieses
Chaine besitzt nämlich am linken Ufer des Ann-Darja einen Landstrich mit
den Städten Chargni und Kerki, auf welchen aber auch die Chane von Merw
Ansprüche erhoben. Beide Parteien verständigten sich, nachdem es deshalb schon
mehrmals zu blutigen Fehden gekommen war, endlich im Jahre 1838 dahin,
daß jenes Gebiet vorläufig und bis zu endgiltiger Einigung über den Gegenstand
bei Buchara verbleiben sollte, welches dafür den Bewohnern von Merw gewisse
Abgaben liefern würde. Jetzt macht nun Rußland als Besitzer des letzteren
ein gewisses Anrecht ans den erwähnten Landstrich geltend, und nächstens wird
eine russisch-bocharische Kommission diese Angelegenheit entscheiden — selbst¬
verständlich zum Vorteile Rußlands. Wie indische Zeitungen erfahren haben,
bereisen ferner russische Ingenieure, die in Diensten des Chans von Vochara
stehen, den mittleren Lauf des Ann-Darja, um dort Stellen aufzusuchen, die
sich zur Anlage von Forts eignen. In Bochara versichert man zwar, dieselben
hätten die Bestimmung, gewisse unter der Oberherrlichkeit des dortigen Chans
stehende Nomadenstämme an Überschreitungen des Stromes und Einbrüchen
M das Gebiet des Emirs der Afghanen zu verhindern. In Afghanistan
aber hegt man, da diese Befestigungen in großem Maßstabe ausgeführt und
mit Geschützen schweren Kalibers armirt werden sollen, nicht ohne guten Grund
die Befürchtung, man habe mit ihnen nicht sowohl grenzpolizeiliche, sondern
strategische Zwecke im Auge, mit andern Worten, es sei mit ihnen viel weniger
""f die Verhütung von Raubzügen der benachbarten Nomadenhorden als auf
die Beherrschung der Straßen und Fluszübergänge zwischen Zentralasien und
Afghanistan, dem Vorlande des nordwestlichen Indiens, abgesehen. An der Stelle,
die am weitesten nach Herat zu liegt, haben die russischen Vortruppen schon
vor dem Eintreffen der mit starker Truppenbegleitung von Quella abgegangenen
Kommission zur Feststellung der afghanischen Grenze von Sarachs ausmarschirend
Posto gefaßt und sich militärisch eingerichtet. So u. a. an dem Flußübergangc
Pul-i-Chatun (d. h. Weiberbrück, weil hier die Weiber über eine Brücke zu
reiten Pflegen, während die Männer eine daneben befindliche Furt zum Über¬
gange auf das andre Ufer benutzen), wo General Lumsdeu, der von London
über Teheran hierher reiste, um die Leitung der englischen Negulirungskom-
'uission zu übernehmen, zu seinem großen Erstaunen den wichtigen Punkt bereits
von russischen Soldaten besetzt fand, während man ihn doch erst vereinbaren wollte.
Schließlich kommen in der zentralasiatischen Frage noch zwei Regierungen
in Betracht: die afghanische und die persische. Jene scheint zu schwanken und
folglich unzuverlässig zu sein, ja man darf annehmen, daß sie russischen Ein¬
flüssen, die sich bekanntlich schon früher deutlich geltend machten (wir denken
an die famose Korrespondenz zwischen Taschkend und Kabul, die vor einigen
Jahren euglischerseits entdeckt und veröffentlicht wurde) unter Umständen zu¬
gänglicher sein würde als britischen. Russische Emissäre befinden sich bereits
in Kabul und erfreuen sich nach Gerüchten des Vertrauens des Afghanenfürsten
in dem Maße, daß er ihnen den Inhalt der zwischen ihm und der Regierung
in Kalkutta gewechselten Depeschen mitteilt. In Persien aber hat jeuer Einfluß
in der letzten Zeit offenbar gute Fortschritte gemacht, wie schon die Anstellung
russischer Militärinstruktoren und der Bau einer Eisenbahn Poli-Tiflis-Baku-
Rescht, der von russischen Ingenieuren bewerkstelligt werden soll, erkennen lassen.
Wir meinen, die neue deutsche Gesandtschaft am Hofe des Schäds in Teheran
wird auch nicht gerade angewiesen sein, sich der Interessen John Bulls in
Mittelasien mit Wärme anzunehmen, sondern eher dem Monarchen förderlich
zu sein, der in Skjerniewiec bekundete, daß er mit unserm Kaiser und dessen
nächstem Bundesgenossen gute Nachbarschaft zu halten gesonnen ist.
Lord Dufferin, der neue Vizekönig in Indien, hat sich neulich vertrauensvoll
über Rußlands Absichten in betreff des seiner Leitung anvertrauten asiatischen
Reiches der englischen Königin geäußert. Wir können ihm nach dem Obigen nicht
beipflichten und teilen die Ansicht Vamberys, wenn er die erwähnte Grenz¬
kommission mit allem Staube, den sie aufgewirbelt hat, für ein kostspieliges,
aber lächerlich nutzloses Unternehmen, ja für eine Posse erklärt und dann fort¬
fährt: „Es ist möglich, daß die Komödie, von einem gewissen Parteistandpunkt
aus betrachtet, ihren Zweck erfüllt, aber die Gladstonesche Regierung hat nicht
den Schatten eines Versuches gemacht, die Frage der Zukunft zu lösen, die des
Besitzes von Indien. Man muß sicherlich sehr sanguinisch sein, wenn man sich
einredet, daß Nußland nach seinen großen Erfolgen in Zentralnsien sich ganz
plötzlich damit zufrieden geben wolle, einen Kampf aufzugeben, der über hundert
Jahre gedauert hat."
Beachtenswerter als Dufferins Auslassungen sind diejenigen, welche der
russische General Ssoboleff vor kurzem in einem Aufsatze der Aksakoffschen Zeit¬
schrift „Russj" über Zentralasien und Indien veröffentlicht hat, nur können wir
uns auch hier mit dem Gedanken, Rußland müsse den Bosporus durch einen Angriff
auf Britisch-Jndien mittelbar erobern, nicht befreunden, da es sich am Bosporus
nicht bloß um Englands Widerstand, ja überhaupt weniger um diese Macht
als um andre handeln würde. Ein indischer Krieg, sagt der russische Schrift¬
steller, würde den Russen fünfmal weniger kosten, und bei einem solchen würden
Deutschland und Österreich-Ungarn keinen Finger rühren — was wir als selbst¬
verständlich ansehen möchten. Die zentralasiatische Stellung, welche Rußland
gegenwärtig einnimmt, erscheint Ssobvlcff als sichere Bcisis für ein derartiges
Unternehmen, „Hütten wir, so behauptet er weiter, in Mittelasien schon 1853
auch nur die Stellung eingenommen, die wir 1874 inne hatten, so würden wir
keinen Krimkrieg erlebt haben oder wenigstens keinen solchen wie damals, sondern
einen Krieg mit Österreich statt einen mit Frankreich. Wir wissen, daß Lord
Beaconsfield 1876, vor dem letzten russisch-türkischen Feldzuge, eine Koalition
zwischen England, Indien, Afghanistan und Persien anstrebte, die ihre Spitze
gegen Rußland kehren sollte. Eines der Hauptziele dieser Allianz bildete die
Errichtung eines großen russenfeindlichen Reiches in Turkestan. Ein Kriegs-
Plau war bis in die Einzelheiten entworfen. England wollte 30 000 britische
Soldaten an das Schwarze Meer, 15000 nebst 45000 indischen Sipoys nach
Bagdad senden, und 100 000 türkische Irreguläre, sowie 95 000 Kurden sollten
unter englischen Offizieren in Russisch-Armenien einbrechen. Indes wurde dies
alles dadurch vereitelt, daß der Emir der Afghanen seinen Beitritt zur Allianz
verweigerte und sich auf Rußlands Seite stellte."
Dieser Artikel machte sowohl in England als in Frankreich viel Aufsehen,
da man wußte, daß die Presse in Rußland nur mit höherer Erlaubnis über
solche und ähnliche Dinge spricht, und da man zu wissen meinte, die Ssoboleff-
schen Gedanken seien sogar inspirirt. Wir glauben nicht an diese Vermutung,
obwohl Ssoboleff eine hcillvffizielle Stellung einnehmen soll, obwohl er die
russische Politik am Hose von Bulgarien eine Zeit lang vertrat, und obwohl
Alsakoff, der Herausgeber des „Nussj" zu den Männern gezählt wird, die sich
beim Kaiser Alexander besonder-: Vertrauens erfreuen. Doch wollen wir einiges
von den Äußerungen mitteilen, welche die MxrchÜMö Nranyiüss infolge
dieses Aufsatzes hinsichtlich der englischen Politik der letzten Jahre thut. Das
Blatt verurteilt die freundschaftliche Haltung Gladstones den Russen gegen¬
über und zeiht den britischen Premier grober Unvorsichtigkeit, weil er Afgha¬
nistan geräumt und Kandcchar aufgegeben habe. Es heißt da: „Im Austausche
für solche bedeutende Zugeständnisse meinte Herr Gladstone auf die Versiche¬
rungen der Frau von Novikoff, dieser panslavistischen Egeria hin, die in der
Bildung der Meinung über Rußland bei den englischen Liberalen eine so her¬
vorragende Rolle gespielt hat, auf eine gleich versöhnliche und friedfertige Hal¬
tung seitens des Kabinets von Se. Petersburg rechnen zu dürfen. Es ist aller¬
dings gestattet, zu glauben, daß Herr von Giers, dessen Politik auf die Erhaltung
und Befestigung des Friedens zwischen den Westmcichtcn gegründet ist, seiner¬
seits sich ehrenhalber verpflichtet gefühlt habe, die Annäherungen des britischen
Kabinets in demselben Geiste zu erwiedern, in welchem sie gemacht worden
>parer, und an die Stelle der eifersüchtigen Wachsamkeit, welche zwischen Ru߬
land und England in Mittelasien herrscht, ein gegenseitiges Einvernehmen treten
ö» lassen, das im Einklange mit den wahren Interessen beider Länder stehen
würde. Allein es giebt zu gleicher Zeit etwas, was stärker ist als der ent-
schiedenste Wille des mächtigsten Selbstherrschers, Es giebt auf der einen Seite
eine öffentliche Meinung oder vielmehr den rohen, aber unwiderstehlichen In¬
stinkt der Massen, und auf der andern die unerbittliche Logik der Ereignisse,
die Fatalität der Geschichte, die nicht gestatten, daß in der fortdauernden Ent¬
wicklung oder dem Vorwärtsgange eines großen Volkes nach der Erfüllung seiner
Geschicke und Aufgaben Halt gemacht werde."
Die Schlüsse, die das Blatt aus diesen Sätzen abgeleitet zu sehen
wünscht und denen wir uns anschließen möchten, lauten etwa folgendermaßen:
Herrn Gladstones angelegentliche Werbungen um die Freundschaft Rußlands
kamen zu spät und haben ganz und gar keinen Nutzen, wenn damit der Zweck
verfolgt wird, Indien Sicherheit zu verschaffen. Soll die Macht und Geltung
Englands im Osten der alten Welt nicht rasch abnehmen und schließlich ganz
in die Brüche gehen, so muß der leitende Minister Großbritanniens seine bis¬
herige Haltung in diesen Angelegenheiten aufgeben und zu der festen und mut-
vvllen Politik seines Vorgängers Bcaconsfield zurückkehren.
Was aber die militärische Seite der Frage betrifft, so fragt sich sehr, ob
die hier empfohlene energische Politik des verstorbenen Führers der englischen
Konservativen sich mit Aussicht auf dauernden Erfolg durchführen lassen, mit
andern Worten, ob England bei seiner jetzigen Wehrversassung imstande sein
wird, einen Krieg in großem Stile, wie ihn die Verteidigung Indiens gegen
eine Macht wie Rußland erfordern würde, zu führen und bald oder doch zuletzt
zu siegen. Sehr interessant ist in dieser Beziehung ein Artikel der Le. .Isimo«
(la^veto vom 17. Januar d. I., welcher den Titel 2?n<z vstenoo cet ImUs trügt
und in welchem allem Anscheine nach ein Sachkenner sich ausspricht, womit
indes nicht ausgedrückt werden soll, daß er das betreffende Problem hinreichend
löse. Der Verfasser, I. Bvyd Kinnear, sagt hier, nachdem er vorausgeschickt
hat, daß er sich an die Prüfung der Angelegenheit weder als geängstigt und
verblendet von übertriebenen Befürchtungen vor Nußland begebe, noch zu Partei¬
zwecken Lärm zu schlagen beabsichtige, und daß er vielmehr einerseits das Vor¬
dringen der Russen in Asien stets als unvermeidlich und schließlich dem bri¬
tischen Interesse uicht unbedingt feindlich betrachtet, andrerseits immer gegen
eine Vermehrung der Rüstungen daheim gesprochen habe: „Aber jenes Vor¬
dringen hat gegenwärtig eine Stelle erreicht, wo wir uns gezwungen sehen,
die thatsächliche Lage mit ruhigem Verstände zu überschauen. Die Theorie von
einem ueutralisirten Gebietsgürtel zwischen unsrer indischen Grenze und der des
russischen Reiches, im beseelt Falle nur eine uichtsbedeutende Redensart, ein
Wortgcspinnst (vsrb-z.1 rrmIcWtlil't), ist jetzt praktisch aufgegeben. Die Absicht der
russischen Regierung, uns zu bedrohen, ist deutlich erkennbar. Ihre Vorposten
stehen bereits ganz dicht an der afghanischen Grenze, deren Verbindungen mit
ihrer Operationsbasis sind gesichert lind erfahren Tag für Tag Verbesserungen,
und es drängt sich uns die Frage auf: an welchem Punkte werden wir uns
genötigt sehen, ihrem Weiterschreiten in den Weg zu treten?" Der Verfasser
meint dann, die Negierung, das Gladstvneschc Kabinet, habe das Dringende der
Frage durch Absendung der mehrerwähnten Grenzregulirungs-Kommission an¬
erkannt, und er meint ferner, das Ergebnis dieses Unternehmens werde eine
genaue Bestimmung über Anfang und Ende des afghanischen Gebietes sein,
wobei er sich die großen Schwierigkeiten, welche die Natur hier der Ge¬
nauigkeit entgegenstellt, uicht recht vergegenwärtigt zu haben scheint. Doch kommt
ihm der Gedanke sogleich, denn zweifelnd fährt er fort: „Wenn es ihr mit
diesem Ziele mißlingt, so wird die Ursache darin liegen, daß Rußland es für
geraten hält, den schließlichen Zusammenstoß zu beschleunigen. Aber gleichviel,
ob die Sache mißglückt oder ein gutes Resultat hat, so wird es als eine positive
Thatsache fortan irgendwo in Asien eine Linie geben, die eine Landgrenze zwischen
Großbritannien und Rußland vorstellt — eine Linie, deren Überschreitung von
seiten der einen oder der andern Großmacht mit einer Kriegserklärung gleiche
Bedeutung haben wird. Denn ob nun unsre Regierung sich entscheidet, auf der
nördlichen oder auf der südlichen Seite der Grenze des Afghanenlandes Stellung
zu nehmen, immer wird, wie auf der Hand liegt, das Ergebnis das gleiche
sein, insofern es besagt, daß es eine feststehende Linie geben muß, von der aus
wir nicht rückwärts gehen und ans der Rußland, wenn es vorrückt, britischen
Bajvnnetspitzcn begegnen muß.
Nun denn, eine solche Lage der Dinge ist absolut neu in unsrer Geschichte.
Bis jetzt sind wir eine rein insulare Macht gewesen. >Die Gebirge und Sand¬
wüsten Mittelasiens schlössen, wie es schien und lange Zeit wirklich der Fall
war, das Reich der Kaiserin von Indien ebenso ab, wie das Meer das Reich
derselben in Europas Wir lebten in Sicherheit vor Angriffen, und wenn wir
die Offensive ergriffen, so konnten wir eine beliebig starke Streitkruft nach dem
Punkte im Gebiete des Feindes senden, den wir selbst auswählen durften. Die
Kämpfe, die wir zu kolonialen Zwecken zu bestehen hatten, hatten keinen Einfluß
auf dieses Verhältnis der Dinge. In diesem Falle hatten beide Mächte ihre
Streitlüste auswärts zu senden, und unsre Herrschaft zur See setzte uns in
den Stand, den überseeischen Besitzungen unsers Gegners die von daheim zur
Unterstützung zugeschickten Hilfstruppen abzuschneiden. Jetzt aber haben wir
eine Landgrenze gegen Nußland zu verteidigen. Und ferner: jetzt ist es Ru߬
land, welches zu Hause ist und nach Belieben Ort und Stunde zum Angriffe
wählen kann. Wir stehen daher zu diesen, in derselben Beziehung wie Deutsch¬
land und Österreich. Daraus ergiebt sich die unvermeidliche Folgerung, daß
wir von jetzt an allezeit ganz ebenso wie Deutschland und Österreich vorbereitet sein
müssen, unsre Landgrenze mit Übermacht an Streitmitteln zu verteidigen, sonst haben
wir zu erwarten, daß wir unterliegen und der Unterjochung anheimfallen werden.
Es ist ja wahr, daß es in unserm Falle Indiens, nicht Großbritannien
sein würde, welches der Eroberung versiele. Aber wenn wir die Verteidigung
Indiens übernehmen, so thun wir dies, weil wir nicht gestatten dürfen, daß es
in den Besitz einer andern Macht gelangt. Es giebt nur sehr wenig Leute,
welche den Mut haben, zu sagen: Laßt uns Indien aufgeben!*) und ich
bin wahrscheinlich anderer Meinung als Sie, wenn ich die Hoffnung aus¬
spreche, daß einmal die Zeit kommen wird, wo wir den Jndiern soviel Selbst¬
regierung und Vertrauen auf sich selbst gelehrt haben werden, daß wir gerecht¬
fertigt sind, wenn wir sie unabhängig werden lassen. Aber es jetzt aufgeben,
hieße es der Anarchie oder dem Tartaren überantworten, und ich glaube nicht,
daß es einen Kreis von Engländern, mit denen sich disputiren läßt, geben kaum,
der solch ein Verfahren zu verteidigen geneigt wäre, sdas, wie wir hinzufügen
und nicht vergessen sehen möchten, auch dem Geldbeutel John Bulls, der viel
schwerer bei seinen politischen Erwägungen ins Gewicht fällt, als alle seine
immer stark betonte Sorge um das geistige und leibliche Wohl seiner Kolonien
und andrer Länder, außerordentlich schweren, ja Verhängnisvolleu Schaden zu¬
fügen würde.j
So fragt es sich denn nunmehr einfach: da wir nus entlchloffen haben,
Indien zu verteidigen, die indische Grenze wie unsre eigne zu betrachten, wie
werden wir sie in der neuen Lage verteidigen, wo sie mich die Grenze Ru߬
lands ist und Nußland sie mit Streitkrüften bedroht? Bei der Beschäftigung
mit dieser Frage haben wir uns zuerst Klarheit über die militärische Stärke
Rußlands zu verschaffen. Wir haben aus authentischen Angaben in Ihren
Spalten, die noch niemand zu widerlegen versucht hat, ersehen, daß es binnen
drei Monaten mit 90 000 Mann zum Angriffe schreiten kann, und daß es im¬
stande ist nach Verlauf einer mäßigen Anzahl von Jahren mit 200000 vor¬
zurücken. Das will sagen, wenn man es nicht abhält, kann es 90000 Mann
nach Afghanistan vorschieben, dessen feste Punkte besetzen und dieselben so lange
okkupirt halten, bis es die Verbindung mit seinem eignen Gebiete vervollständigt
hat, eine Verbindung, welche es befähigen würde, 200000 Soldaten mit Zu¬
behör nachzusenden, um und am Indus anzugreifen. Auf Grund dieser That¬
sachen tritt uns unmittelbar die Frage vor die Augen: sollen wir den Russen
das Einrücken in Afghanistan unter Bedrohung einer sofortigen Kriegserklä¬
rung verbieten, oder lieber warten, bis Afghanistan aufgesaugt ist, und nur die
Linie des Indus verteidigen?
Ich nehme mir nicht heraus, in die rein militärische Erörterung, zu der
diese Frage Anlaß giebt, einzutreten. Aber militärische Beweisführungen unter¬
liegen am Ende physischen und politischen Rücksichten, und über diese darf auch
der Zivilist eine Meinung zu hegen wagen. Da nun Afghanistan ein Land ist,
das eine Ausdehnung von etwa vierhundert Meilen besitzt, da es äußerst ge-
birgig ist und nur von einigen engen und sehr schwierigen Pässen durchschnitten
wird, da es ferner von einem Volke bewohnt ist, welches eifersüchtig auf seine
Freiheit und Unabhängigkeit und stets bereit ist, für dieselbe zu kämpfen, so
scheint es Aar am Tage zu liegen, daß wir den Versuch zu machen haben,
dieses Volk uns zu Bundesgenossen zu gewinnen und sein Land zu einem
Außenwerk für die Verteidiger Indiens zu gestalten. Diese Zwecke würden so¬
fort vereitelt werden, wenn wir darauf ausgingen, uns des Gebietes oder der
Städte Afghanistans zu bemächtigen und sie als Eigentum zu behalte», um
den Russen auf der andern Seite die Spietze bieten zu können. Wir würden
durch ein derartiges Verfahren die Afghanen abermals uns zu Feinden machen,
wie schon zweimal, und wir würden Rußland am äußersten Ende einer sehr
langen, schwierigen und gefahrvollen Operation die Spitze zu bieten haben. Aber
diese Verhältnisse nehmen eine völlig andre Gestalt an, wenn wir uns die Af¬
ghanen zu Freunden machen, indem wir ihnen Sicherheit vor der Unterjochung
durch Rußland verbürgen. In diesem Falle würden sie an unsrer Seite statt
gegen uns kämpfen, alle Schwierigkeiten des Vordringens würden sich gegen
die Russen kehren und alle Vorteile, die das Land dem Militär darbietet, von
vornherein uns gesichert sein. Es ist wahr, der eigentliche Kampf würde immer
noch in sehr großer Entfernung von unsrer eigentlichen Basis stattfinden müssen.
Aber es ist von Wichtigkeit, daß es garnicht zum Kampf kommen würde, wenn
die Russen Klarheit darüber erhielten, daß ihrem Vorrücken eine Macht entgegen
treten würde, welche, von den Afghanen auf deren eignem Grund und Boden
unterstützt, ihnen unzweifelhaft I^I, eine Niederlage beibringen würde.
Es muß folglich unser klares und entschiedenes Ziel sein, für eine Streit¬
macht zu sorgen, die Nußland überzeugt, daß dies der sichere Ausgang eines
von ihm genagten Angriffes sein würde. Ohne in strategische Erörterungen .
einzugehen, betrachte ich es als auf der Hand liegend, daß eine solche Streit¬
macht nicht numerisch geringer sein darf als die der Russen, lind da, wie ge¬
sagt, die gegenwärtige Stärke der letztern 80 000 Mann beträgt, so sollten wir
wenigstens in gleicher Nähe der afghanischen Grenze 50000 Mann stehen haben. Wo
nicht 50 000 Mann britische Truppen, doch wenigstens so viele neben den ein¬
heimischen, daß sie mit diesen 90 000 Russen gleichkämen. Vermutlich giebt es
dermalen keinen General, der 30 000 britische Soldaten mit mindestens ebensv-
bielen indischen zur Verteidigung genügend finden würde. Denn die russischen
Regularen müssen als den indischen überlegen betrachtet werden----Man muß
jedoch bemerken, daß die hier aufgestellte Schätzung und Forderung keinen An¬
spruch darauf macht, gegenüber den größern Streitkräften zu genügen, die Rußland
später hierher dirigiren kann. Wenn dazu die Zeit kommt, so müssen wir ihm
i« der Stärke begegnen, welche die Umstände erfordern werden" — falls wir
das können mit einer Armeeverfassung wie die jetzige englische, vergißt der
Verfasser hinzuzusetzen, oder nimmt er etwa stillschweigend eine tiefgreifende
Änderung in dieser Beziehung an? Was würden die englischen Liberalen dazu
sagen, und erst die Radikalen, Gladstones Verbündete? Vorläufig hat unser
Autor einen Trost von der Mieawberschen Sorte bei der Hand. Wir brauchen
uns auf jenen Fall, meint er, auf das Hauptheer der 200 000 hinter der Vorhut
von 90 000 Russen nicht im voraus zu rüsten. „Es könnten in Rußland
Ereignisse eintreten, welche es von seinen Plänen einer Eroberung in Asien
ganz ablenkten. ... Es könnte u. a. kommen, daß Nußland, wenn wir den greif¬
baren Beweis lieferten, daß wir entschlossen sind, es jetzt zu bekämpfen, uns
niemals auf die Probe stellen würde, ob wir anch ebenso bereit sind, für 200 000
Verteidiger zu sorgen." Das Schicksal soll also in Indien für England gute
Dienste thun, und Nußland soll sich vor dessen 60 000 Notröcken und Sipoys
fürchten. Hier hofft der sonst verständige Engländer, wie gesagt, ungefähr wie
sein Landsmann, der wackere Micawber.
Die Summe aller unsrer Mitteilungen ist, daß sich an den Ufern des
Murgab und zwischen Merw und Herat weltgeschichtliche Ereignisse ankün¬
digen, die, seit vielen Jahren gesät und in stetem Wachsen, bereits deutlich
ihre Häupter am Horizont dieser Stcppenlünder zeigen und zuweilen ihre rie¬
sigen Schatten selbst bis nach Afghanistan hineinwerfen und bis nach Kalkutta
und Bombay hinab Schrecken verbreiten. Bisher geglaubte Versicherungen über¬
weiser Leute sind zerstoben, man lächelt jetzt, wo man früher als Schwarzseher
und thörichter Unglücksprophet verlacht wurde. Auch in England, sogar im
dortigen Ministerium, hat man die Augen aufgethan und die nahende Gefahr
zu erkennen angefangen, und wer noch ein Jahrzehnt vor sich hat, wird
vermutlich in Ostasien Veränderungen der Landkarte erleben, die er nicht er¬
wartet hat.
olange unsre Universität in dem alten Gemäuer neben der Je^
suitenkirche untergebracht war, trat sie nur äußerst selten in den
Gesichtskreis des großen Publikums. Sie lag ja ganz abseits
von den Hauptverkehrsader» der Stadt, und so gab es sehr viele
Wiener, die überhaupt nicht wußten, wo denn die „Universität"
eigentlich sei. Weil man aber keine bestimmte Vorstellung mit diesem Worte
verband, so interessirte man sich auch im allgemeinen wenig für Universitcits-
angelcgenhciten, und wenn nicht von Zeit zu Zeit irgend ein Studentenrummel
an die Existenz der Hochschule erinnert hätte, so würde man sie wohl völlig
vergessen haben. Denn so ist das Leben der modernen Großstadt: was ihr
nicht täglich vor Augen kommt, was nicht immer wieder recht fühlbar in ihre
Interessensphäre eingreift, was keine Mode mitmacht oder nicht als Produkt
der Mode erscheint, ist ihr gleichgiltig. wird ignorirt oder höchstens anstands¬
halber hie und da eines Blickes gewürdigt. Einigen Zeitungsblättern blieb es
vorbehalten, interne Angelegenheiten der Universität bisweilen mit den Tages¬
fragen in Verbindung zu bringen und aus ihnen publizistisches Kapital zu
schlagen.
Jetzt aber ist dies ganz anders geworden. Mit einemmale ist die Uni¬
versität populär, ja man darf beinahe sagen, sie ist Mode: es sieht so aus,
als besäßen wir sie jetzt erst. Diese Wandlung hat nur das neue Ge¬
bäude bewirkt. Auf einem der schönsten Plätze der Welt gelegen, der zugleich
ein Hauptkreuzuugspunkt städtischen und vorstädtischen Verkehres ist, wird es
bemerkt, muß es bemerkt werden. Nicht nur die Fremden treten des Sonntags,
wo die Besichtigung der Innenräume gestattet ist, in das Gebäude ein; auch
die Wiener, die so selten geneigt sind, zu bewundern, was sie besitzen — die
z. B. von den Schätzen des Belvedere gemeiniglich gar keine oder nur eine sehr
schwache Ahnung haben, kommen zu Besuch. Über den Bau selbst ist das Urteil
der Kenner keineswegs einig. Wenn Eitelberger in der vom österreichischen
Museum vor einigen Monaten zum Andenken Ferstels herausgegebenen Fest¬
schrift namentlich die edle Harmonie desselben rühmt, wenn er meint, daß hier
Etagenbau, Arkaden, Entwicklung der verschiedenen Räume, Vestibüle, Stiegen¬
anlagen und Pavillons zu einem ganz eigenartigen Kunstwerk „vereinigt" seien,
so ließen sich dagegen andre Stimmen vernehmen, die behaupteten, nichts fehle
dem Gebäude gerade so sehr als Einheit; die Linien des Mittelbaues fänden
gar keine Fortsetzung in den Flügeln, die einzelnen Teile hätten überhaupt nur
einen sehr losen° Zusammenhang und das Ganze zerfalle vor dem Auge des
aufmerksamen Beschauers in mehrere Gebäude, die miteinander eigentlich sehr
wenig zu thun hätten.
Wie dem auch sei, in der Anerkennung des Treppenhauses, des Arkaden¬
hofes und der Bibliothek sind doch schließlich alle einig, und das, was den Ge¬
samteindruck des Baues etwa stört, ist doch nichts andres als jenes Zeichen
der Zeit, das allen ihren Schöpfungen mehr oder minder deutkchauf gedruckt
ist- Und gerade in diesem Falle spiegelt ja die ünßere Disharmonie anch nur eme
wnere wieder, an der nicht nur die Wiener Universität, sondern die moderne
Hochschule überhaupt leidet.
Als selbständige Korporationen wurden die Universitäten gegründet, ihre
Stiftungsbriefe lauteten so. und sie waren es ebensogut wie die Zünfte. Der
Kirche standen sie weit näher als dem Staate, der ihnen lange Zeit hindurch
oft nichts andres war als ein Schirmer, ein mehr oder weniger mäcenatischer
Förderer. Nun aber nahmen die Ereignisse ihren Lauf, die Jahrhunderte ver¬
änderten Staatswesen und Gesellschaftsformen. Korporationen von solcher
Machtfülle wollte man nicht mehr dulden, schon den Begriffen des angehenden
siebzehnten Jahrhunderts widersprach dies. Und die Summe von geistiger Macht
und Bildung, die ein Land besaß, sollte auch nicht mehr einer Institution zu¬
gute kommen, die sich mit dem Staate nicht deckte, die ihm oft genug feindlich
gegenüberstand, deren Mittelpunkt nicht das Kabinet des Landesherrn, sondern
die römische Kurie war. Konnte man aber Einrichtungen, an denen die her¬
vorragendsten Männer, welche dem Staate gar oft durch ihre Gelehrsamkeit Glanz
verliehen, teil hatten und die durch die Weihe der Kirche ehrwürdig geworden
waren, ebenso schnell vernichten wie die alten Organisationen der Handwerker,
konnte man über ihre Privilegien ebenso leicht zur Tagesordnung übergehen?
Auf der andern Seite bedürfte der Staat, je mehr er sich von seiner mittel¬
alterlichen Organisation entfernte, immer dringender eines Beamtenheeres, dessen
Bildung er nicht Körperschaften anvertrauen konnte und wollte, welche ihre
eignen Interessen hatten, die mit den seinigen nicht immer identisch waren.
So galt es denn, die Universitäten umzuschaffen. Ein energischer Widerstand
erhob sich da freilich: wer, der einer Gemeinschaft angehört, die seit Jahrhun¬
derten mit Vorrechten ausgestattet ist, wird diese uicht gegen jeden Angriff ver¬
teidigen? Auch die Kirche wollte nicht ohne weiteres die Pflanzstätten eines
Geistes, der ihr Bundesgenosse war, vernichten lassen. Und so entbrannte denn
ein lebhafter Kampf zwischen Regierungen und Universitäten.
An der Wiener Hochschule trat der Gegensatz zwischen der alten autonomen
Verfassung und den Tendenzen, die das neuere Staatswesen beherrschen, zur
Zeit Maria Theresias zuerst grell und entschieden hervor. Einmal wurden die
Privilegien, welche die Jesuiten an der Universität besaßen, aufgehoben, aus
den Diplomen die Formel Äuotoritg.t6 ÄpoLwIi«», entfernt. Dies waren Streiche,
die der Staat gegen den überwiegenden kirchlichen Einfluß führte. Die Rechte
der Korporation, der Gelehrtenzunft schmälerte er, indem er den Doktoren die
Adelsvorrechte entzog, die sie bis dahin genossen hatten. So recht als Staats-
anstalt behandelt erschien endlich die Hochschule durch die Verordnung über den
Unterricht in der deutschen Sprache, indem hauptsächlich auf den Geschäfts- und
Kanzleistil Rücksicht genommen werden sollte, damit die Beamten doch auch
einmal richtig deutsch zu schreiben verstünden. Kaiser Josef schritt ans dem im
Unterrichtswesen von seiner großen Mutter betretenen Wege sehr energisch fort:
unter ihm wurde der eignen Gerichtsbarkeit der Universität ein Ende gemacht.
Unzcihligemale wurde dann wiederholt, daß sie nur dazu da sei, dem Staate
tüchtige Seelsorger, Richter, Beamte und Lehrer zu erziehen.
Am Beginn unsers Jahrhunderts trat dann freilich — wie überall in
Europa, so auch in Osterreich, ja hier ganz besonders — eine starke Reaktion
gegen die Tendenzen der Aufklärungszeit ein, die auch nicht ohne Einfluß auf
die Stellung der Wiener Universität blieb. Aber man war doch weit davon
entfernt, ganz in das vortheresianische Verhältnis zurückzutreten. Die Allgewalt
des Staates auf allen Gebieten gesellschaftlichen Lebens war ja eine jener Er¬
rungenschaften der letzten Vergangenheit, die man deshalb nicht aufgeben mochte,
weil auch die Revolution sie zu ihrem Dogma gemacht hatte. Mau hütete sich
nur. zu den noch erhaltenen Resten des Mittelalters in einen feindlichen Gegen¬
satz zu treten, wie man dies zwei Generationen hindurch gethan hatte. Die
Universitäten sollten also ihren auf einem Historischen, verbrieften Rechte be¬
ruhenden korporativen Charakter beibehalten, und auch der Kirche wurde wieder
ein gut Teil des Einflusses zurückgegeben, den sie einst besessen hatte. Andrer¬
seits blieb aber doch die staatliche Bevormundung, die vor allem darauf achtete,
daß bloß dasjenige gelehrt werde, was dem Staate, wie mau ihn damals in
Österreich auffaßte, nützlich sei: die Universität sollte mir Beamte heranziehen —
die neue Wissenschaft schien, abgesehen davon, daß sie für gefährlich galt, vou
keinem praktischen Werte. So blieb es bis zu dem Jahre 1348, das auch der
Hochschule verschiedne vorübergehende Umwälzungen brachte. Aber auch nach
Wiederherstellung der Ordnung kehrte sie nicht ganz in den alten Zustand zurück.
Graf Leo Thun, dessen Thätigkeit als Unterrichtsminister neulich von
G. Wolf*) besser gewürdigt worden ist, als es Walter Rogge in seinem ten¬
denziösen „Österreich von Villagvs bis zur Gegenwart" gethan hatte, öffnete
der früher so gefürchteten Wissenschaft die Thore, Berufungen aus dem Aus¬
lande mußten aushelfen, wo das Inland im Stiche ließ, die Freiheit der Lehre
und des Lernens wurde schon damals — ein Dezennium vor dem Beginne der
konstitutionellen Ära — erklärt. Aber an die innere Verfassung der Universität
wagte man sich nicht. Es blieb der geistliche Kanzler, Akatholiken konnten
nicht zu Doktoren ntrwsiuv Mi-s, bloß zu Doktoren Mi« vivilis promovirt
werden, das Lehramt der Geschichte sollte nur einem Katholiken anvertraut
werden, in dem Doktoreide gelobte man dem Rektor die odeMvurm und versprach
die Privilegien der Universität jederzeit zu beschützen. Die Verwaltung der
Hochschule ' blieb geteilt zwischen den Professoren und deu Doktoreukollegieu,
welche das Recht' ihres Bestehens mir aus dem Stiftungsbriefe herleiteten,
der die Universität eben nur als einen Verein gelehrter Männer auf¬
faßte, in welchem das Lehren zwar nicht Nebenzweck, aber doch nicht aus¬
schließlicher Zweck sei. In den sechziger Jahren begannen aber die Professoren
die Rechte dieser Kollegien zu bestreiten und die Notwendigkeit oder Nützlichkeit
derselben zu leugnen: 'sie plädirten für ihre Auflösung. Nach langem Kampfe
entschied die Regierung im Sinne der Professoren: die Universität sollte nichts
andres sein als eine Lehranstalt, Zugleich (1873) wurde ihr der katholische
Charakter genommen, die Kanzlerwürde aufgehoben und nicht lange darauf
wurde ein Protestant — der Physiologe Ernst Brücke 1879/80 — mit den
Rektoratsinsignien geschmückt. Aller Zwiespalt ist aber damit nicht beseitigt.
In den Kanzleien am Minvritenplatz arbeitet man noch heute daran, die Über¬
reste eines abgestorbenen Organismus wegzuräumen und an dem, was neu
geschaffen worden ist, zu bessern. Die Tendenz, die Universität in eine vor¬
züglich dem Staate dienende Institution umzuwandeln, tritt dabei oft genug
dem Selbstbewußtsein der modernen Wissenschaft, die ihren Zweck in sich selbst
finden will, feindlich entgegen, aber das Dogma von dem Werte des Wissens
an sich ohne jede Beziehung zum Leben verliert doch in der Gesellschaft
immer mehr an Boden, und die Sympathien derselben gehören in dieser An¬
gelegenheit jedenfalls dem Staate.
Betrachtet man das Verhältnis der einzelnen Fakultäten zu einander, so
wird man zwar nicht gerade wiederum auf einen Gegensatz stoßen, aber von
einer innern Übereinstimmung, von einer Identität der Ziele wird man doch
auch sehr wenig entdecken. Es sind eben vier Lehranstalten, vier Akademien
dn, die durch gewisse gemeinsame Besitztümer miteinander verbunden sind, aber
im Grunde sehr wenig mit einander gemein haben. Denn widerspricht zum
Beispiel nicht gar vieles, was auf den weltlichen Fakultäten gelehrt wird,
geradezu dem, was die theologische Fakultät dozirt? Diese letztere ist übrigens
auch äußerlich so viel als möglich vou ihren Schwestern abgeschlossen: ihre
Hörsäle liegen abseits von den übrigen, ihre Korridore dürfen von den Stu¬
denten der andern Fakultäten kaum betreten werden, die Theologen selbst ver¬
kehren fast nur unter sich und erscheinen selbst bei großen Universitätsfestlich¬
keiten nur dann, wenn der Rektor gerade ein Geistlicher ist; auch dann aber
vermeiden sie die Berührung mit den Weltlichen und bilden isolirte Gruppen.
Zu ihren Prüfungen entsendet der Staat keinen Kommissar, nur das Resultat
wird der Statthalterei vorgelegt, das Doktorat kaun nur der erlangen, der zum
mindesten Subdiakon ist, sich also an den geistlichen Stand bereits gebunden
hat. Bei den Promotionen interveuirt der Dekan, wenn der Rektor einer welt¬
lichen Fakultät angehört. Die Mehrzahl der Hörer gehört übrigens den Semi¬
narien — dem Stephaneum, dem Pazmaneum und dem rumänischen Priester¬
seminar — an, ihre Kollegiengelder werde» denn auch von diesen Instituten
bezahlt, und nur selten begegnet einem ein Theologe in den Räumen der
Quästur. Wissenschaftliche Thätigkeit wird von der jungen Generation sehr
wenig entwickelt, die Doktoren der Theologie sind selten genug. Übrigens gilt
schon der, welcher die Universität absolvirt hat, für sehr gelehrt, da ein großer
Teil der österreichischen Priesterschaft sich aus den Diözcsananstalten rekrutirt,
in welchen auch Nichtgraduirte zum Lehramt zugelassen werden. Außerdem
haben manche Klöster — wie Se. Florian — ebenfalls ihre eignen theologischen
Schulen. Vo» den Professoren der Wiener theologischen Faknltüt genießen einige
eines bedeutenden wissenschaftlichen Rufes. Vor allem der humane und geistvolle
Karl Werner, der dnrch seine Arbeiten auf dem Gebiete der mittelalterlichen Philo¬
sophie rühmlich bekannt ist; dann Hermann Zschokke, der jetzige Rektor, einer
strengeren Richtung angehörig, doch maßvoll im Auftreten und seit Dezennien
als Exeget und Bibelhistoriker anerkannt; endlich Laurin, der Kirchenrechtslehrer,
durchaus orthodox und seiner Zeit als Kandidat für den erledigten Budweiser
Bischofssitz genannt. Anselm Ricker, Professor der Pastoraltheologie, ein
Schvttenvriester, hat anch als Rektor die Sympathien der Studentenschaft im
höchsten Grade zu erwerben gewußt. Neumann endlich sieht unter seinen Hörern
auch zahlreiche Philologen und dürfte überhaupt neben David H. Müller der
hervorragendste Vertreter semitischer Sprachwissenschaft in Osterreich sein.
Die juristische Fakultät — so Wollen wir sie nennen, anstatt mit der in
Wien üblichen Bezeichnung „juridisch"*) — ist thatsächlich in eine Fachschule
umgewnudelt worden, die für die Ausbildung der Beamten und Richter zu
sorge» hat. Mau kann aber getrost behaupten, daß kein Student der Welt so
wenig studirt wie der Wiener Jurist. Die Hörsäle stehen fast alle leer, wenn
es nicht gerade irgendeinen Skandal auszuführen giebt; höchstens daß die Vor¬
lesungen über Institutionen des römischen Rechtes bei Professor Exner und
die des berühmten Lorenz von Stein über Nationalökonomie und Verwaltungs¬
lehre hie und da besticht werden. Den meisten Studenten dieser Faknltüt
scheint es hinreichend, die letzten Monate vor den Staatsprüfungen aus Büchern
und lithographirten Vorlesungen das Allernotwendigste „zusammenzuleiten."
Die Abteilung des großen Lesesaals der Bibliothek, welche den Juristen reservirt
ist, zeigt ebenfalls nicht die Frequenz, welche man nach der numerischen Starke
der Fakultät erwarten sollte.**) Am übelsten ist es aber wohl mit der histo¬
rischen Bildung unsrer Juristen bestellt, da die Geschichte keinen Prüfuugs-
gegenstand, weder bei Staatsprüfungen noch bei „Rigorosen," bildet, die obli¬
gaten Vorlesungen über österreichische und allgemeine Geschichte aber am
allerwenigsten besucht werden. Schon vor dreißig Jahren hat Graf Leo Thun
auf die Gefahr hingewiesen, die in einem solchen Bildungsmangel liege: eine
Geringschätzung des historisch Gegebenen, der Tradition in Staat und Gesell¬
schaft muß daraus erwachsen. Die freilich, die später in den Staatsdienst treten,
werden vielleicht durch die hergebrachten Formen, welche sie da antreffen, von
einer solchen Geringschätzung bald wieder geheilt, aber die andern, die sich der
Advokatur und dein Notariat zuwenden, finden in ihrem künftigen Berufe nichts,
was der auf der Schule angenommenen Richtung entgegenwirken könnte. Dies
ist nicht bloß heute so: in allen Revolutionen habe», die Advokaten und Notare
eine bedeutende Rolle gespielt, und aus ihrem Berufskreise rekrutircn sich anch
vornehmlich die extremen Parteien in den Vertretungskörpern aller Nationen.
Wenn aber dem Wiener Juristen wissenschaftliche Bestrebungen oder auch
mir ein etwas tiefergehendes Studium seines Faches gewöhnlich sern liegen, so
repräsentirt er vor allem die Studentenschaft nach außen, dem Publikum gegen¬
über. In den Vereinen, den Burschenschafter, den Ballkomitees dominirt der
Jurist; gilt es eine Demonstration zu veranstalten, einen Kranz auf ein Grab
zu legen, einen Jubilar zu beglückwünschen, einen Kommers zu arrangiren,
immer wird der Jurist in erster Linie dabei beteiligt sein, er ist der Faiseur,
der Redner, der Politiker, der Führer der Studentenschaft; er, der in der Regel
am wenigsten studirt, hier erscheint er als der Student xar"
Das Professorenkollegium der juristischen Fakultät zählt unter seinen Mit¬
gliedern Männer von europäischem Ruf. Wir gedachten schon des geistvollen
und redegewandten Lorenz von Stein, der heute, da Exminister Unger nicht
liest, wohl der einzige ist, dem es gelingt, bisweilen auch einen großen Saal
mit aufmerksamen Zuhörern zu füllen. Sein Vortrag ist weit entfernt, pathetisch
zu sein; ein großer schlanker Mann von eleganten Allüren und so jünglinghafter
Beweglichkeit, daß ihm wohl niemand seine siebzig Jahre ansieht — diskutirt
Stein vielmehr auf dem Katheder mit sich selbst, und diese Diskussion steigert
sich im Verlaufe der Vorlesung zu wahrhaft dramatischen Effekten. Dabei sind
aber die Anforderungen, die Stein an sein Publikum stellt, nicht etwa gering,
er liebt abstrakte Wendungen und seltsame Bilder, überrascht gern mit para¬
doxen Apercus. Friedrich Maaßen, so bedeutend als Kirchcnrechtslehrer und
.^irchenhistvriker, versteht als akademischer Lehrer kaum zu fesseln oder anzu¬
regen. Nur wenn er von momentaner Erregung hingerissen wird — was selten
geschieht —, macht er Eindruck auf seine Zuhörer. Professor Siegel, der
deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte, sowie deutsches Privatrecht vorträgt, im-
ponirt durch stattliches Austreten, ein sonores Organ und einen getragenen Ton,
der bisweilen geradezu an Deklamation streift. Am meisten bringt er sich bei
feierlichen Gelegenheiten zur Geltung, so im Herbst 1879, wo er als scheidender
Rektor den Bericht über das abgelaufene Studienjahr gab. Auch versteht er
es wohl, in kritische Situationen energisch einzugreifen und sie befriedigend zu
lösen: auf einem Kommers, der infolge der aufeinanderstoßenden Gegensätze
zwischen Burschenschafter und Korps in einen Tumult auszuarten drohte, er¬
griff er selbst deu Schläger des Präses und kommandirte mit Donnerstimme
Silentium, und wirklich gelang es ihm, den heraufziehenden Sturm zu be-
schwören. Er gehörte zu den wenigen Professoren der juristischen Fakultät,
welche die im Juni 1883 gegen den Rektor Maaßen wegen seiner Haltung im
Landtage gerichtete Adresse nicht unterschrieb, wie er denn überhaupt nicht zu den
politisch prononcirten Persönlichkeiten der Hochschule zählt. Er ist zugleich
beständiger Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften, ein Amt, das ihm
ebenfalls Gelegenheit giebt, bei bedeutenden Anlässen aufs würdigste zu reprä-
sentiren.
Es kann uns hier natürlich nicht einfallen, Urteile über die Thätigkeit der
einzelnen Professoren abzugeben, wir können höchstens über ihre Lehrthätigkeit
und ihr Ansehen flüchtig berichten. Als anregender, verständiger Lehrer muß
namentlich Exner genannt werden — unter den Studenten eine äußerst populäre
Persönlichkeit. Dantscher von Kollersberg, Lehrer des Staatsrechts, weiß bei
streng konservativer, ja reaktionärer Gesinnung, die er sogar im Salon gern
zur Schau trägt, durch Persönlichkeit und Vortrag einen wenn auch bescheidnen
Kreis von Zuhörern zu fesseln. Juana-Sternegg, der sich dnrch seine Arbeiten
auf dem Gebiete der älteren Wirtschaftsgeschichte einen Namen gemacht hat,
gehört erst seit wenigen Jahren unsrer Hochschule an und ist unter den Stu¬
denten verhältnismäßig wenig bekannt. Demelius dagegen, gleichfalls vor kurzem
an unsre Universität berufen, erfreut sich großer Beliebtheit und hat schon
öfters Gelegenheit gehabt, sich vermittelnd und mäßigend zu bethätigen. Über
den engen Kreis der Fakultät hinaus wird noch Wahlbergs, des Strafrechtslehrers,
Name mit Anerkennung genannt. Auch einen praktischen Politiker giebt es unter
den juristischen Professoren: Wenzel Lustkandl, den der Verfassungspartei un¬
gehörigen Reichsratsabgeordneten. Die Ausführungen, die wir ihn auf der
Rednerbühne des Parlaments haben machen hören, sind ziemlich sachlich ge¬
halten und entbehren der unfruchtbaren Deklamationen gegen das Ministerium,
in denen sich die Linke sonst so gern ergeht. Freilich geht Lustkandl die Gabe
der Rede vollständig ab, und er verfehlt daher niemals, sein Auditorium, so¬
wohl auf der Universität wie im Reichsrat, bis zur Verzweiflung zu lang¬
weilen, wie gehaltvoll auch das bisweilen sein mag, was er vorbringt.
Auch die medizinische Fakultät ist ganz zur Fachschule geworden, und die
Lernfreiheit ist in ihr ebensosehr beschränkt wie in der juristischen. Die Kory¬
phäen des Faches halten sich von den akademischen Ämtern fern, sowohl Bam-
berger wie Billroth sollen vor zwei Jahren die Wahl zum Rektor abgelehnt
haben. Dies war allerdings nicht immer so, Oppolzer hat es seinerzeit nicht
verschmäht, den Titel „Magnificenz" zu tragen. Die Hörer der Medizin re-
krutiren sich vorzüglich aus den Ländern der ungarischen Krone und sind nur
selten katholischer Religion. Das Elend, das mitunter gerade unter diesen
Studenten herrscht, hat Professor Billroth vor ungefähr acht Jahren zu einer
Broschüre veranlaßt, in der er sich gegen den Zudrang Mittelloser zu den
Studien, namentlich den medizinischen, aussprach und vor der Gefahr warnte,
die in der Ausbildung eines „wissenschaftlichen Proletariats" unzweifelhaft liegt.
An demselben Übelstande krankt übrigens in nicht geringem Grade die philo¬
sophische Fakultät, an der aber doch das Studium nicht so kostspielig und lang¬
wierig ist wie an der medizinischen, auch die Beschäftigung mit Privatunterricht
weniger störend in den Studiengang eingreift. Allerdings hängt mit der Ar¬
mut der Hörer aus der philosophischen Fakultät wiederum das ziemlich geringe
Ansehen zusammen, denen sich die Mittelschullehrer im allgemeinen erfreuen, da
der arme Staat nicht in der Lage ist, sie in einer würdigen Weise zu bezahlen,
und also jeder, der diesem Stande angehört und nicht zufällig eine gute Partie
macht, gesellschaftlich tot ist. Dazu kommt, daß ihnen Bildung — im eigent¬
lichen Sinne, nicht gelehrtes Wissen — gewöhnlich fehlt, ja oft genug selbst
feinere Lebensformen, was freilich nur selten eigne Schuld ist, sondern durch
den Druck der äußern Verhältnisse herbeigeführt wird. Die Autorität in den
Schulen erleidet so in Österreich gar manchen harten Stoß, denn bei dem
Selbstgefühl und dem kritischen Blick für die äußeren Schwächen andrer, den
die Jugend gerade in den „Flegeljahren" so häusig besitzt, genügt nicht das
Wissen allein, um ihr zu imponiren; der Lehrer muß in jeder Beziehung auf
der Höhe der Bildung erscheinen, auch Takt und gute Manieren besitzen, und
dies erwerben zu können, ist dem weitaus größern Teile unsers Lehrerstandes
niemals möglich gewesen.
In der philosophischen Fakultät tritt zwar das Brotstudium ebenso domi-
nirend hervor wie an den beiden andern weltlichen Fakultäten, aber es hat
doch freiere Bewegung, auch sorgen wissenschaftliche Institute für die Pflege
des eigentlichen Gelehrtenstudiums. Freilich kann man diesen Instituten einen
Vorwurf machen: sie legen sich zu sehr auf die Ausbildung von Privatdozenten.
Obwohl es deren fast in allen Fächern giebt, so ermuntern doch die Professoren
so ziemlich jeden, der Fleiß und Neigung zu rein wissenschaftlicher Beschäftigung
und Abneigung gegen den Beruf eines Gymnasiallehrers zur Schau trägt, die
akademische Karriere zu ergreifen, während sie doch die sorgsamste Auswahl
treffen und — wo nicht ein ganz hervorragendes Talent zu erkennen ist —
eher davon abschrecken sollten. Denn von einem Mangel an akademischen Lehrern
kann im allgemeinen in dieser Fakultät auf lange Jahre hinaus nicht die Rede
sein, im Gegenteil, es ist Überproduktion zu befürchten.
Die Lehrkräfte der philosophischen Fakultät können sich zwar in den meisten
Disziplinen nicht mit denen von Berlin oder auch von Leipzig und München messen,
aber Männe role sinket, Büdinger, Lorenz, Claus, Oppolzer, Wiesner, Eitelberger,
Miklosich, Gomperz, Mussafia, Schmidt, Bühler und andre würden jeder Hoch¬
schule zur Zierde gereichen. Wir müssen darauf verzichten, sie alle als akade¬
mische Lehrer zu charakterisiren, und wenden uns nur noch für einige Augenblicke
einem von ihnen zu, den Wien leider nicht mehr lange besitzen dürfte. Es ist
Ottokar Lorenz, der vor Jahresfrist durch sein Auftreten in der Maaßen-Affaire
Viel von sich reden gemacht hat. Die Popularität bei den Studenten, die er bis
dahin in hohem Maße genoß, verlor er damals mit einem Schlage und von
den Blättern der Opposition wurde er als ein Abtrünniger verfehmt.
Lorenz ist im Jahre 1832 zu Iglau geboren und gehört seit 1856 unsrer
Universität als Lehrer an. Die erste historische Arbeit, die er veröffentlichte,
behandelt ein Thema der alten Geschichte. Sehr bald wandte er sich aber von
dem Studium des Altertums ab und den neueren Zeiten zu. Aufmerksamkeit
in weiteren Kreisen erregte er zuerst durch die Schrift „Josef II- und die bel¬
gische Revolution." Seine Unabhängigkeit, die sich durch kein Dogma, wie modern
es auch sein mag, beschränken läßt, tritt schon hier bedeutend hervor. Josef II.
war von der liberalen Partei in Österreich längst als eine Art Schutzheiliger
ausgerufen worden, und es war in ihren Augen Ketzerei, diesem großen Mon¬
archen nicht alle die Eigenschaften zuzuschreiben, die dem Ideal entsprachen,
welches sie sich einmal von dem Fürsten gebildet hatten. Nun kam Lorenz und
bewies, wie despotisch Josef wenigstens in einem Falle verfahren sei, ja er stand
nicht an, ihn mit Philipp II. zu vergleiche», indem er den Unterschied der
Mittel, welche die beiden gebrauchten, um ihre Ziele zu erreichen, nur auf Rech¬
nung der verschiedenen Zeitalter setzte. Aber noch mehr, Lorenz trat auch für
die vielgeschmähten österreichischen Aristokraten der josefinischen Zeit ein, die
sich nach der allgemeinen Ansicht den edeln Reformplänen des Kaisers so oft
hemmend entgegengestellt hatten. Er betonte, daß der österreichische Adel der
damaligen Zeit garnicht reformfeindlich, sondern im Gegenteil von den Ideen
der Zeit so gut erfüllt gewesen sei wie das Staatsoberhaupt selbst; nur habe
die Realisirung dieser Ideen nicht ohne sie geschehen sollen; sie wollten dabei
mitwirken, man sollte sich mit ihnen abfinden, nicht über sie, ihre Rechte und
Verdienste zur Tagesordnung übergehen.
Ein österreichischer Dichter, Alexander Gigl, dessen größter Schmerz es
gewesen ist, nicht in Wurzbachs Lexikon aufgenommen worden zu sein, und der
hie und da auch im historischen Fache dilettirte, veröffentlichte damals eine
Gegenschrift, die wenig Eindruck machte. Größeres Aufsehen erregte Michel
Etienne's, des verstorbenen Chefredakteurs der Neuen Freien Presse, fast leiden¬
schaftliche Zurechtweisung von Lorenz' Häresie gegenüber dem modernen liberalen
Dogma, und es dauerte mehrere Jahre, bis Lorenz sich wieder in ein leidliches Ver¬
hältnis zu dem tonangebenden Journal der Kaiserstadt gesetzt hatte. Dazu mochte
auch beitragen, daß er sich nach einem verunglückten Versuch, in Klosterneuburg
gewählt zu werden, von der Tagespolitik ganz zurückzog, es auch aufgab, in
Zeitungsblättern anderswo als „unterhalb des Striches" zu erscheinen. Die
Schriften aber, die er in den nächsten Jahren herausgab, und die Feuilletons,
die er schrieb, mochten durch ihren freimütiger Ton, in welchem er über Kaiser
und Könige, Päpste und Bischöfe sprach, die Männer des Tages immerhin
glauben mochten, daß er ganz und gar der ihrige sei, und so war die Episode
von 1862 bald vergessen. Die gelehrten Arbeiten, die er nun über das spätere
Mittelalter folgen ließ — die „Quellenkunde" und die „Deutsche Geschichte im
dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert," die leider unvollendet geblieben ist —,
haben allgemeine Anerkennung in Fachkreisen gefunden und das Ansehen Lorenzens
auf die Dauer gesichert. Will mau aber recht in die Sinnesart des Mannes
eindringen, so muß man seine „Drei Bücher Geschichte und Politik" aufschlagen
und es sich nicht verdrießen lassen, in den Akademieschriften die Rede aufzusuchen,
die er im Jahre 1877 zur Erinnerung an Friedrich Christoph Schlosser ge¬
halten hat.*) Hier wie dort sind durchaus „aktuelle" Fragen berührt, und wenn
der Fachmann, der alles geringschätzt, was nicht „neuen Quellen" entnommen
ist, für diese köstlichen Blätter nur ein Achselzucken oder eine zweifelhafte An¬
erkennung hat, so kann sich Lorenz darüber trösten, denn jeder, der dem öffent¬
lichen Leben unsrer Zeit nur einigen Anteil entgegenbringt, wird sie zu schätzen
und dankbar zu genießen wissen. Es sind keine Essays im Sinne derjenige»
Macaulays, denn Lorenz vertritt in seinen historischen Schriften niemals eine
bestimmte politische Tendenz. Aber dadurch unterscheidet er sich von der großen
Mehrzahl seiner Berufsgenossen, daß er sich nicht daran genügen läßt, geschicht¬
liche Fakten festzustellen, sondern daß er zu einem Urteil über den Wert der
politischen Bestrebungen jedes Zeitalters zu gelangen sucht. Daß dies zu er¬
reichen kein leichtes Ding sei, weil es sich vor allem darum handelt, den rich¬
tigen Wertmesser festzustellen, giebt er zu, und er beansprucht auch durchaus
nicht, in jedem Falle zu einem Resultat gelangt zu sein. Aber er hat doch un¬
endlich anregend auf eine Reihe von Schülern gewirkt, die sich nach seinem
Beispiel von der antiquarischen Richtung der Geschichtschreibung abgewendet
haben und denen es um das „Entscheidende in der Geschichte" zu thun ist.
In diesem Sinne hat Richard Mähr über Lessing geschrieben, und er ist dabei
vielleicht in jugendlichem Ungestüm weiter gegangen, als es seinem Lehrer
selbst heute geraten erscheint, in diesem Sinne hat derselbe Gelehrte über
die geschichtsphilosophische Auffassung der Neuzeit ein wenig bemerktes, aber
bei manchen Schwächen doch bedeutendes Buch veröffentlicht, in diesem
Sinne endlich hat Fournier neulich erst ein scharfes, aber in der Hauptsache
nur gerechtes Verdikt über Wertheimers „Geschichte von Österreich-Ungarn
im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts" ausgesprochen. In der
Schrift über Schlosser insbesondre hat Lorenz das Programm der neuen Rich¬
tung verkündigt, die allerdings schon vorher von Sybel und Ficker in ihren
Kontroversen über das deutsche Kaisertum praktisch anerkannt worden war und
die auch Lorenz in den „Drei Büchern" — namentlich in dem ersten „Staat
und Kirche" überschriebenen Teil — auf konkrete Fälle in mehr oder weniger
gelungener Weise anzuwenden versucht hat. Schlossern, der den Wertmesser des
Politischen Lebens aus der Sittenlehre herübergenommen, kann Lorenz freilich
nicht folgen, aber dies erkennt er doch im Gegensatz zu einer Schar hochmütiger
Büchermenschen freudig an, daß Schlosser wenigstens nach einem Wertmesser
gesucht hat, „Man hat zuweilen getadelt, ruft er ans, daß Schlosser sich über
manche Personen oder Sachen zu verschieden Zeiten verschieden aussprach —
sicherlich kann man darin mir einen Beweis erblicken, welche gewaltige Gährung
den Urteilen des Mannes voranging und wie er immer bemüht war, den wahren
Wert der Dinge zu erkennen. . . . Wie er von dem Schauplatze der Welt-
begebenheiten in seinem ganzen und tiefsten Innern erfüllt und erschüttert war,
fand er sich keinen Augenblick gleichgiltig und teilnahmlos; indem er sich in das
Ereignis, um es verstehen und darstellen zu können, hineinlebte, empfand er
sich überall als mitwirkender Geist." Mit leisem Spott spricht er von „jenen
Glücklichen, welche sich jahrelanger friedlicher Beschäftigung mit der Geschichte
erfreuten, denen aber niemals die Stunde geschlagen, in welcher sie unruhig
nach den Werten des ganzen geschichtlichen Lebens der Staaten und Menschen
aufblickten." Zu diesen aber gehört Lorenz ebensowenig wie Schlosser, und er
hat als Lehrer sich redlich bemüht, daß die Zahl solcher „Glücklichen" geringer
werde. Denn darin sieht er auch die einzige Zuknnftshoffnung der Geschichts¬
wissenschaft, daß der vielbeschäftigte gebildete Mensch unsrer Tage sich von der
„chronistisch-antiquarischen" Historik mehr und mehr zurückziehe und vor dem
Abgrunde eines den Geist ertötenden, unermeßlich nichtigen Wissens schaudere.
Es giebt aber wohl keinen akademischen Lehrer, der von seinen Zuhörern
sowohl als auch namentlich von der Studentenschaft im allgemeinen seit Jahren
so konsequent mißverstanden worden ist wie Lorenz. Weil er es in den Vor¬
lesungen liebte, sarkastische Bemerkungen über allerlei Personen und Verhält¬
nisse der Gegenwart zu machen, weil er sogar einmal einen kleinen Konflikt
mit der Regierung gehabt hatte, so nahm man bald alles, was er redete, als
modern-liberale, deutsch-nationale Opposition auf und überhörte konsequent die
Bemerkungen, übersah die Handlungen, die mit dieser Annahme garnicht in
Einklang zu bringen weren. Andrerseits wurde das harmloseste Wort, das er
bei irgendeinem öffentlichen Anlasse sprach, im Parteisinne gedeutet, und wir
erinnern uns noch wohl, wie seine Rektoratsrede, die von der Unzulässigkeit
handelte, die Kategorien der aristotelischen Politik auf moderne Verhältnisse zu
übertragen, Beifallstürme entfesselte, die ihn sichtlich überraschten. Davon, daß
dieser Mann mit seinen Meinungen und Überzeugungen nicht so leicht auf eine
jener einfachen Formeln zu bringen sei, mit denen unsre Tagespolitiker allein
zu rechnen gewöhnt sind, hatten die wenigsten eine Ahnung, und die es wußten,
fanden es in ihrem Interesse für passend, davon zu schweigen. Es war also
ausgemacht, daß Lorenz der akademische Vertreter jenes leicht faßlichen, von
der Jugend ohne viel Prüfung angenommenen Glaubensbekenntnisses sei, das
unsre Oppositionsblätter — wie die „Neue Freie Presse," das „Neue Wiener
Tageblatt" und die „Deutsche Zeitung" — seit Jahr und Tag mit mehr oder
weniger Konsequenz, Geschick und Beredsamkeit verfolgen. Nun aber nahm er
auf einmal für Maaßen Partei, der als Rektor der Universität Wien sich nicht
gescheut hatte, im Landtage für die Errichtung einer tschechischen Schule in
Wien einzutreten, der schon lange klerikale Anwandlungen zur Seba» getragen
hatte und überhaupt niemals ein Anhänger des landläufigen deutschen Libe¬
ralismus war. Kein Wunder, daß sich da die Einen vor Erstaunen nicht zu
fassen wußten, die Parteipresse mit gut gespielter sittlicher Entrüstung über
einen solchen Gesinnungswechsel aburteilte, die Organe der Regierung aber
sofort ihren Vorteil wahrnahmen und Lorenz als den Ihrigen reklamirten.
Und doch war er damit so wenig dieser geworden, als er jemals ganz jener
gewesen war. Er hatte selbst die Adresse unterschrieben, in der die Professoren
sich mit Maaßen nicht einverstanden erklärt hatten, nun aber gestand er vor
den Studenten ein, dies sei ein Fehler gewesen, er hätte von dem Manne, mit
dem er jahrelang in Freundschaft verbunden gelebt hatte, sich in einem so be¬
deutenden Moment nicht trennen sollen, denn es wäre doch schlimm, wenn der
mutige Ausdruck innerer Überzeugung jemals verpönt würde. Jetzt, wo Maaßen
um eines solchen Ausdrucks willen von einer unreifen und mißleiteten Jugend
verhöhnt und beleidigt werde, da könne er nicht länger schweigen.
Damit hatte nun Lorenz freilich nichts andres gethan, als daß er mit an¬
erkennenswerten Freimut und ohne Rücksicht auf seine Popularität für eine»
vielgeschmähten Freund eingetreten war, über das Meritorische ^? D. Red.^j der
Angelegenheit hatte er sich nicht geäußert. Doch genügte dies den Fanatikern der
liberalen Partei, es entspann sich bald ein lebhaftes Für und Wider, und
schließlich vernahm man doch auch Worte von Lorenz, die keinen Zweifel darüber
ließen, daß ihm diese Partei und ihre Bestrebungen unendlich wenig bedeuteten.
Dies legte er im Laufe des Jahres auch dadurch in ganz unzweideutiger Weise
dar, daß er, der bisherige Mitarbeiter der „Neuen Freien Presse," nun in den
Spalten der regierungsfreundlichen alten „Presse" erschien. Im Juni veröffentlichte
er nämlich darin zwei Aufsätze über Oskar Medings „Memoiren für Zeitgeschichte."
Obwohl er in diesen der Vorfälle des Winters mit keiner Silbe gedenkt, wird
der aufmerksame Leser doch einige Nachklänge derselben herausfinden; so wenn
Lorenz von dem „tragischen Konflikte zwischen Nationalgefühl und legitimem
Rechtsbewußtsein" spricht, in dem aber „die Entscheidung so wenig zweifelhaft
sein könne, als zwischen einer leeren Phrase und einer vollen Mannespflicht."
Auch unterläßt er es nicht, hier gelegentlich anzudeuten, wie sehr er in der
Auffassung politischer Verhältnisse der Gegenwart ganz und gar von den land¬
läufigen Doktrinen abweiche, er betont, daß es da „auf die persönlichen Ge¬
sinnungen der Machthaber und nicht auf fadenscheinige Theorien" ankomme,
und bezeichnet es als einen der größten politischen und historischen Irrtümer
des vulgären Liberalismus, die streng dynastischen Fragen zu unterschätzen. Im
übrigen zeigt er sich auch hier als objektiver Historiker, der Österreich gegenüber
den ungerechten Anschuldigungen des hannoverischen Anwaltes zwar in Schutz
nimmt und es bedauert, daß die Regierung dies Geschäft nicht durch eine be¬
rufene Feder in eindringlicherer Weise habe verrichten lassen — der aber auch
andrerseits in der Haltung Kaiser Wilhelms im Jahre 1867 die „milde Festig¬
keit und Klarheit" völlig anerkennt, die, wie er meint, wohl geeignet war, „für
alle Zukunft auch den strengsten Partikularisten zu entwaffnen."
Ein abschließendes Urteil über Lorenz als Historiker kann heute, da er noch
im kräftigen Mannesalter steht, ebensowenig gegeben werden, als seine Indivi¬
dualität als Politiker in vollen Farben gezeichnet werden könnte. Nur soviel
darf man getrost schon heute behaupten, daß er in der nachrcmkischen Generation
von Geschichtschreibern eine der interessantesten Charakterfiguren ist. Unsre
Hochschule verliert sehr viel an ihm, aber auch der Staat. Deun wer könnte
dem Staate größere Dienste erweisen als derjenige, der wie Lorenz die Wissen¬
schaft dem Leben zu nähern trachtet? Unvergeßlich wird er vor allen auch seinen
Schülern sein, die er aus dem engen Bezirk eines unfruchtbaren Bemühens immer
wieder auf freiere Bahnen gewiesen hat.
le Vorliebe der Niederländer für allegorische und mythologische
Schildereien hängt mit der außerordentlichen Verbreitung und
Pflege zusammen, welche die humanistische Bildung und Gelehr¬
samkeit in dem katholischen wie in dem protestantischen Teile des
Landes fanden. Man darf wohl behaupten, daß die neugewonnene
klassische Kultur in keinem zweiten Lande Europas alle geistigen Kundgebungen und
alle Lebensverhältnisse so tief durchdrang wie in den Niederlanden. Vornehm und
Gering suchten eine Ehre darin, sich mit den feinsten Blüten klassischer Bildung
zu schmücken. Nicht bloß Gelehrte, Ärzte, Juristen glänzten durch die Feinheit
ihres lateinischen Stils, auch Künstler gaben sich die Mühe, wenigstens lateinische
Briefe zu schreiben oder ihre Schöpfungen mit lateinischen Inschriften oder gar
mit lateinischen Sentenzen und Versen auszustatten. Die antike Mythologie
wurde den Niederländern bald geläufiger als die christliche Legende, und wo die
Gestalten der ersteren nicht ausreichten, um abstrakte, aus der modernen Spe¬
kulation erwachsene Begriffe zu versinnlichen, wurden allegorische Figuren er¬
funden, die häufig zu umständlichen und höchst komplizirten Darstellungen
sinnbildlichen Inhalts vereinigt wurden. Es war ein angenehmes Spiel des
Verstandes, solche Darstellungen, Embleme oder Symbole, wie man sie nannte,
zu entziffern. Unsre Zeit findet an diesem trocknen Gedankenspiel keine Freude;
aber damals widmeten sich gerade die erlesensten Geister der Beschäftigung mit
Allegorien, und das merkwürdigste an dieser Erscheinung ist, daß diese Neigung
zum Allegoristren mit einer nach unsern Begriffen durchaus realistischen Kunst¬
übung parallel lief. Schon in dem gedankenreichsten und universellsten Künstler
germanischen Stammes, welchen das sechzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat,
in Albrecht Dürer, finden sich beide Strömungen neben einander. Derselbe
Meister, welcher das lebendige Treiben der Marktbauern mit unübertrefflicher
Wahrheit schilderte, schuf so tiefsinnige und deutungsreiche Allegorien wie die
Fortuna, die Melancholie und Ritter, Tod und Teufel. Wir haben gesehen,
daß sich in den Niederlanden die ersten Regungen der Genremalerei unter
moralischen Devisen verbargen. Das rasch aufblühende Buchdruckergewerbe, dessen
Hauptsitze Leyden, Harlem, Amsterdam und Antwerpen waren — in letzterer Stadt
gewann die Buchdruckerfamilie Plantin-Moretus sogar einen bedeutenden Einfluß
auf die Förderung der Wissenschaften und Künste —, begünstigte ganz besonders
die Produktion von allegorischen, symbolischen und emblematischen Zeichnungen.
Wenn man die Säle und Zimmer des in dem alten Hause der Plantin-Moretus
eingerichteten Museums durchwandert und die erstaunliche Menge von solchen
Zeichnungen, Kupferstichen und Holzschnitten und die Rechnungen und Quittungen
für diese künstlerischen Leistungen durchmustert, kann man sich eine Vorstellung
von dem Umfange machen, in welchem dieser Zweig der Kunst kultivirt wurde,
und zugleich von dem Werte, welchen man auf derartige Darstellungen legte.
Rubens' Lehrmeister Otto Vaenius, ein Künstler von hervorragender Gelehr¬
samkeit, war nach dieser Richtung von außerordentlicher Fruchtbarkeit. Rubens
selbst war für den Buchverlag der Moretus ebenfalls in ausgedehnter Weise,
wie wir sagen würden, als Illustrator thätig. Wie tief diese Neigung aber
auch in das Volk eingedrungen war, dafür spricht am deutlichsten die Sitte,
bei feierlichen Einholungen fürstlicher Persönlichkeiten, bei Umzügen und Volks¬
festen Schaugerüste, Triumphbogen und Triumphwagen mit allegorischen Figuren,
mit lebendigen, plastischen oder gemalten, zu besetzen. Diese Sitte ist allerdings
schon aus dem Mittelalter übernommen worden und vermutlich auf die mittel¬
alterlichen Mysterienspiele zurückzuführen. In ein festes System wurde sie
jedoch erst seit dem Anschwellen der humanistischen Bewegung gebracht. Aus
der literarischen Überlieferung ist uns das feierliche Einreiten Karls des Fünften
in Antwerpen im Jahre 1S20 bekannt, und zwar nicht bloß durch eine gleich¬
zeitige lateinische Beschreibung, sondern auch durch einen Künstler wie Dürer,
welcher Augenzeuge dieser Feierlichkeit gewesen ist. Wir ersehen daraus, daß auf
den Triumphbogen nur mit einem dünnen Schleier bekleidete Jungfrauen, welche
mythologische Figuren, Tugenden u. dergl. darstellten, sich aufgestellt hatten.*)
Unzweifelhaft waren Künstlerhände an der Erfindung und Ausschmückung dieser
Schaugerüste beteiligt, gewiß aber nicht in dem Grade, wie im Frühjahr 1635
bei dem Einzuge des neuen Statthalters der Niederlande, des Erzherzogs Fer¬
dinand, in Antwerpen. Bei dieser Festlichkeit, deren Glanz bis auf den heu¬
tigen Tag nicht verdunkelt, auch durch das Nubensjubilänm von 1877 nicht
erreicht worden ist, wirkten viel bedeutendere künstlerische Kräfte mit, als sie
im ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts verfügbar waren, in erster Linie
die unerschöpfliche Phantasie und Arbeitskraft eines Rubens, unter dessen Lei¬
tung ein Heer von Malern und plastischen Künstlern aller Art thätig war. Die
Ehrenpforten wurden von oben bis unten mit mythologischen und allegorischen
Figuren und Darstellungen überladen, die uns zum Teil noch in den Origi¬
nalen, zum Teil in Skizzen erhalten sind. Die Bedeutung derselben konnte
niemand ohne Erläuterung verstehen, und deshalb hatte, wie Max Rooses in
seiner „Geschichte der Mnlerschule Antwerpens" erzählt, der gelehrte Stadt¬
schreiber und Humanist Gevaerts alles nach der damaligen Sitte mit lateinischen
Aufschriften erklärt und verherrlicht oder auch verdunkelt. „So viel Distichen
und geschraubte Verse, so viel bombastische und pedantische Gelehrsamkeit, womit
hier auf allen Ehrenpforten durch Schulmeisterpoesie und langatmige Prosa
Rubens' Schöpfungen ausgelegt wurden, sind vielleicht bei keiner ähnlichen Ge¬
legenheit aufgestapelt wordeu. Der ganze Olymp aber, die ganze Sammlung
von griechischen und lateinischen Dichtern und Prosaikern, die Münzen und Me¬
daillen des Altertums und was der gelehrte Sekretarius aus älteren und
neueren Büchern auftreiben konnte, das wurde zu Häuser gebracht in dem die
Beschreibung von Ferdinands Einzug bildenden Werke."
In der That hatte hier die aus den humanistischen Studien der Nieder¬
länder erwachsene Lust an allegorischen Schangeprängen und symbolischen Rätsel-
Versen insofern ihren Höhepunkt erreicht, als zum letzten male die schöpferische
Kunst mit der Symbolik eine lebensvolle Verbindung einging. Von da ab
verlor die Phantasie, welche allegorische Begriffe lebendig gemacht hatte, mehr
und mehr ihre zeugende Kraft, und die allegorische Kunst förderte nur noch
Monstrositäten zu tage, welche dieses ganze Genre in Mißkredit gebracht haben.
Als Jan Brueghel auf dein Höhepunkte seines Schaffens stand, sah die
allegorische Malerei ihre besten Tage, und Brueghel selbst verstand es meister-
lich, Ideen durch rein realistische Mittel zu versinnlichen. Seine allegorischen
Gemälde bedurften kaum erläuternder Unterschriften. Wer ein Helles Auge
nud einen klaren Verstand besaß, fand sich ohne Kommentar auf seinen Ge¬
mälden zurecht, obwohl Brueghel jedes Fleckchen ausnutzte, um mit seinem
Pinsel eine seltene Blume, eine Frucht, eine Muschel, ein Tier oder ein Produkt
menschlichen Fleißes anzubringen. Das älteste dieser Bilder, welches eine
Jahreszahl trägt, ist von 1604 datirt und befindet sich, wie wir bereits am
Schlüsse des vierten dieser Aufsätze erwähnt haben, im Wiener Belvedere. Der
Katalog bezeichnet die Darstellung im allgemeinen richtig als „Die Gaben der
Erde und des Wassers." Man kann aber an der Hand der kostbaren
Brueghelschen Korrespondenz mit dem Erzbischofe Federigo Borromeo in Mailand
die Hauptfigur noch näher präzisireu. Das junge blonde Weib mit dem Kranze
von Kornblumen und Ähren im Haar, welches in der Mitte des Bildes sitzt
und ein Füllhorn mit Früchten in den Händen hält, ist die Göttin Ceres. Das
erfahren wir aus einem Briefe, welchen Brueghel am 8. Juli 1605 an den
Erzbischof schrieb und in welchem er ihm ein Bild anbietet, das er mit folgenden
Worten schildert: „Die Geschichte stellt die Göttin Ceres dar mit dem mit
Früchten angefülltem Horne des Überflusses in den Armen, begleitet von vier
kleinen Genien, welche die vier Elemente bedeuten: die Erde mit Früchten,
Blumen und Tieren, das Wasser mit vielen seltenen Muscheln, mannichfaltigen
Fischen nud andern Seltsamkeiten, die Luft mit vielen Arten von Vögeln: und
alles sorgsam vollendet." Das vierte Element, das Feuer, beschreibt Brueghel
nicht, und merkwürdigerweise fehlen auch auf dem Wiener Bilde Figuren oder
Symbole, welche auf das Feuer bezogen werden könnten, obwohl die drei andern
Elemente deutlich personifizirt sind. Zur Linken der Ceres liegt nämlich eine
zweite, von einem Knaben begleitete Frau auf dem Boden, welche der Göttin
eine Traube reicht und nur die Personifikation der fruchttragenden Erde sein
kann. Zur Rechten der Ceres steht eine dritte Fran, welche mit beiden Händen
eine Muschel emporhebt. Ein gleiches thut ein auf der Erde ruhender Knabe.
Das Wasser ist also durch Muscheln charalterisirt. Oben in der Luft schwebt
ein Liebespaar, von zwei Genien, einem Adler und mehreren andern Vögeln
umgeben.") Man darf vielleicht aus diesem Thatbestande schließen, daß es dem
Künstler noch nicht gelingen wollte, alle vier Elemente in einer Komposition zu
vereinigen. Das Verfahren, welches er einschlug, war im allgemeinen folgendes:
er komponirte, natürlich auf Grund realistischer Naturstudien, eine Phantasie-
landschaft. In den Vordergrund derselben plaeirte er diejenigen mythologischen
und allegorischen Figuren, welche den Gedanken zu versinnlichen hatten, also
Erde und Wusser, Luft und Feuer, Überfluß und Reichtum, Geruch und Gehör,
Gefühl und Geschmack, oder diejenigen Personen, die durch ihre Anwesenheit
den Titel für das Bild hingeben mußten, so z. B. Adam und Eva für die
ausführliche Darstellung einer Menagerie im Freien, welche das Paradies ge¬
nannt wurde, Diana und ihre Nymphen für eine malerische Gruppirung er¬
legten Wildes oder einer Koppel jagdlustiger Hunde und den heiligen Hubertus
für die Schilderung eines mit Hirschen und Neben belebten Waldes. Oft schob
Vrueghel auch die figürliche Staffage in den Mittel- oder Hintergrund, was
besonders auf Darstellungen des Paradieses vorkommt, wo sich die kleinen Fi¬
guren von Adam und Eva fast in der blaugrünen Ferne verlieren, während
sich im Vordergründe allerhand wildes und zahmes Getier breit macht.
Wie innig sich bei Vrueghel Allegorie und Realismus zu einem harmo¬
nischen Ganzen verbanden, zeigt am besten der Umstand, daß er auf die Figuren
einen großen Wert legte. Wem: er sie nicht selbst malte, ging er einen andern
hervorragenden Kunstgenossen darum um. Er selbst kam niemals in Verlegen¬
heit — er verstand alles und er wußte alles geschickt und geistreich zu machen,
natürlich in dein Maßstabe, durch welchen seine malerischen und zeichnerische!?
Fähigkeiten von vornherein begrenzt waren. Nach der Malerei großen Stils,
nach Altarbildern und umfangreichen Historien strebte er nicht. Er hat, soviel
Nur wissen, niemals einen Versuch gemacht, sich über das ihm von der Natur
verliehene Körpermaß emporznrecken. Aber er hat die Genugthuung gehabt,
daß selbst Männer, denen eine so breite und gewaltige Pinselführung zu eigen
war wie Rubens, zu seiner feinen und überaus sorgsamen Durchführung herab¬
fliegen und sich dem Stile des fleißigen Miniaturenmalers anpaßten. Wir
dürfen diese Kvmpagniearbeiten, auf welche wir schon früher hingewiesen haben,
keineswegs in dein idealen Lichte eines uneigennützigen Zusammenwirkens etwa
zum Zwecke rein künstlerischer Befriedigung auffassen. Die Figurenmaler ließen
sich von den Landschaftsmalern ihre Arbeit nach der Stückzahl vergüten. Wir
wissen das ans mehreren Rechnungen, die uns aufbewahrt sind. Wir können
sogar eine zitiren, welche uns ganz besonders interessirt. Wie Vrueghel sich
seine Landschaften von andern Künstlern stafsiren ließ, so malte er auch selbst
Figuren in fremde Landschaften hinein. Am 9. August 1613 sandte er an
Ercole Biauchi, den schon erwähnten, dem Erzbischöfe nahestehenden Kunstfreund
und Kunsthändler in Mailand, eine Rechnung ein, in welcher es heißt:
Die Figuren in sechs Gemälden von Mvmper gemalt zu 25 Gulden das
Glück.......................ISO
Die vier Jahreszeiten, gemalt von Momper. . , die Figuren gemalt von
meiner Hand zu 40 Gulden dus Stück............160,
Nach unserm Gelde würden diese beiden Posten, ohne Berechnung der
snthcr erfolgten Steigerung des Münzwertes, 307 und 320 Mark betragen,
höchst ansehnliche Summen, wie denn Vrueghel stets auf den vorteilhaften
Verkauf seiner Gemälde bedacht war. Im Jahre 1613 war sein Ruhm soweit
verbreitet, daß er für ein „Paradies" in einem Briefe an Bicmchi schon acht¬
hundert Gulden fordern durfte, mit dem Bemerken, daß er überall einen gleichen
Preis für ein Bild solcher Qualität erhalte. Selbst Rubens erzielte um diese
Zeit noch keine höhern Preise für seine Bilder. Für einen sechs Fuß hohen
und drei Fuß breiten „Prometheus auf dem Kaukasus," auf welchem der Adler
noch dazu von Snyders gemalt war, forderte er im Jahre 1618 fünfhundert
Gulden.
Gleichwohl gewann natürlich eine Landschaft von Brueghel bedeutend an
Wert, sobald Rubens die Figuren darin malte. Eines der schönsten Stücke,
auf welchem Rubens in der Feinheit und Zartheit der Durchführung, in Schmelz
und Transparenz des Kolorits mit dem ausgezeichnetsten Feinmaler der flämischen
Schule wetteiferte, ist das Paradies im Museum des Haag. Hier hat Rubens
die Gestalten von Adam und Eva, welche im Begriff ist, die verbotene Frucht
zu pflücken, in den Mittelgrund hineingemalt. Auf einer Landschaft der Ber¬
liner Galerie ist der heilige Hubertus, welchem der Hirsch mit dem Kruzifix
zwischen dem Geweih begegnet, von Rubens' Hand. Die Münchener Pinakothek
besitzt ein Gemälde, auf welchem die von der Jagd ermüdeten und eingeschlafenen
Nymphen der Diana, die von Satyrn belauscht werden, und wahrscheinlich auch
die Landschaft von Rubens gemalt sind, während die auf dem Erdboden liegende
Jagdbeute von Brueghel ausgeführt ist: Federwild, Rehe, Hasen und dazwischen
zwei Jagdhörner. Auch in der Entfaltung reichster Farbenpracht wetteifern
beide Künstler auf einem Bilde derselben Galerie. Hier wird ein Madonnen¬
bild von einer üppigen Blnmenguirlande umkränzt, welche von elf Engelsbübchen
gehalten wird. Die Mutter mit dem heiligen Kinde ist im Kolorit so lebendig
und glühend gehalten, daß man trotz des Nahmens, welcher auf einem Tische
steht, an ein lebendes Bild denken möchte. Gleichwohl bleibt der Farbenzauber,
welcher von dem Blumenkranz ausgeht, nicht dahinter zurück. Es sind Rosen,
Lilien, Tulpen, Schneeballen, Nelken, Maßliebchen und andre Blumen, welche
sämtlich so getreu und charaktervoll gemalt sind, daß sie der Pflanzcnknndige
leicht bestimmen kann. Kein Wunder! Arbeitete doch Brueghel mit unermüd¬
licher Geduld nach der Natur. Bei strengem Winter mußte er das Blumen-
maler unterbrechen und seine Auftraggeber auf milderes Wetter vertrösten. Er
ließ sich sogar die Mühe nicht verdrießen, gelegentlich nach Brüssel zu fahren,
um dort Blume«? zu malen, die in Antwerpen nicht aufzutreiben waren. Wir
erfahren diese Einzelheiten wiederum aus jener Mailändischen Korrespondenz,
welche sich im Jahre 1606 um ein Blumenstück in naturgroße dreht, das
Brueghel für den Kardinal in Arbeit hatte. „Es sind an Zahl mehr als
hundert Blumen darin, schreibt er, zum großem Teile alle selten und schön-
Gewöhnliche Blumen sind Lilien, Rosen, Nelken und Veilchen. Die andern
sind außergewöhnlich, einige darunter, die man in unserm Lande noch nicht
gesehen hat." Man achte aus die Farbe der genannten Blumen: weiß, rosa,
dunkelrot und violett. Wenn man dazu grünes oder gelbliches Laubwerk
rechnet, hat man die herrschenden Töne in den Brueghelschen Blumenstücken.
Eine bunte Gesellschaft! Trotzdem verstand es aber der Meister, sie zu einer
wundervollen Harmonie zusammenzustimmen, ohne daß er sich, wie die hollän¬
dischen Blumenmaler, eines zusammenfassenden Grundtones, sei es eines bräun¬
lichen, silbergrauen oder eines grünlichen, bediente. Die flämischen Künstler
legten immer den Hauptwert auf eine ungeschmälerte Wirkung der Lokalfarben.
Die Tonmalerei ist erst durch die Holländer, namentlich durch Adriaen Brouwer
in Antwerpen, eingeführt worden; doch vermochte sie nicht, die angeborene
Farbenfreudigkeit der Flamländer erheblich zu dämpfen. Sie blieb auch später
der Grundzug der flämischen Blumen- und Stilllebenmalerei, als deren Be¬
gründer Jan Vrueghel anzusehen ist. Sowohl sein Schüler, der Jesuit Daniel
Seghers (1390—1661), und dessen Schüler Philips van Thiele (1618—1667),
als der aus Utrecht nach Antwerpen gekommene Jan Davidsz de Heem, das
berühmteste Mitglied dieser Malerfamilie, bevorzugten eine lebhafte Frische der
Lvkalfarben, wenn dieselben auch allmählich einen etwas tiefern Ton annahmen.
Aber nicht bloß in der Blumenmalerei an sich war Jan Brueghel der
Vorgänger und das Vorbild dieser Meister, sondern auch darin, daß er die
Blumen mit Libellen, Fliegen und allerhand Insekten belebte, welche er mit
wunderbarer Naturtreue, bis auf die feinen Rippchen und den metallischen Glanz
ihrer Flügeldecken, nachbildete. Diese zarte Gefolgschaft der Blumen finden wir
bereits auf jenem obenerwähnten Stücke für den Erzbischof von Mailand. Es
war im Hochsommer 1606 vollendet. In dem Begleitbriefe schreibt Brueghel
in seiner naiven, durch die unbefangene Freude an fleißigem Schaffen zu ent¬
schuldigenden Art: „Ich schicke Eurer erlauchtesten Herrlichkeit das Bild mit den
Blumen, die alle nach der Natur gemalt sind. Auf diesem Bilde habe ich
gemacht, was ich überhaupt zu machen imstande bin. Ich glaube, daß niemals
soviele seltene und mannichfaltige Blumen gemalt worden sind und mit solchem
Fleiß. Im Winter wird das einen schönen Anblick geben: einige Farben erreichen
fast die Natur. Unter den Blumen habe ich ein Kleinod gemalt mit kunstvollen
Medaillen und mit Seltenheiten aus dem Meere. Ich überlasse es dem Urteile
Ew. erlauchtesten Herrlichkeit, ob die Blumen nicht Gold und Juwelen an Farbe
übertreffen." Trotz seines Eifers hat Brueghel dieses noch in der ambrosianischen
Bibliothek in Mailand vorhandene Bild nur unvollständig geschildert. Der
Blumenstrauß steht nämlich in einer Vase von gebräuntem Thon, und auf dem
Blumenkelche sitzen jene obengenannten Insekten, welche Brueghel, soviel wir
wissen, zuerst in das Bereich künstlerischer Darstellung zog. Die „Seltenheiten
aus dem Meere" sind Muscheln, wie sie nach Brueghcls beiläufiger Bemerkung
durch holländische Schiffe aus Indien nach Antwerpen gebracht wurden. Durch
dieselbe Vermittlung wird Vrueghel auch die seltsamen roten und blauen Fische
kennen gelernt haben, die er auf seinen Darstellungen des Elements des Wassers
wiedergegeben hat.
Ein andresmal schuf Vrueghel eine ähnliche Komposition wie die Münchener
Madonna in der Guirlande mit Hendrik van Balen zusammen. Da er einen
Ebcuhvlzrahmcu für S0 Gulden dazu hatte machen lassen, forderte er in einem
Briefe an Bianchi 1460 Gulden dafür. Das Gemälde war uach Mailand ab¬
geschickt, aber von dem Besteller nicht bezahlt worden. Vrueghel brauchte Geld,
und so willigte er schließlich ein, daß Bianchi das Bild für 800 Gulden los¬
schlug, immer noch eine respektable Summe, zumal wenn man in Betracht zieht,
daß van Balen nicht sehr hoch für seiue Mitarbeiterschaft bezahlt wurde. Wir
erfahren, daß ihn Vrueghel gelegentlich in sein Haus nahm und ihm einen
Tcigclohn von vier Gulden gab. Welche Summe mag er demnach gefordert
habe», wenn Rubens eine Madonna mit Engeln in und um seinen Blumenkranz
malte? Das Münchener Bild, so köstlich und farbenreich, so sorgfältig und
gewissenhaft es ist, bezeichnet dabei noch nicht einmal den Höhepunkt dessen, was
Rubens und Brueghel zusammen leisten konnten. Nach Brucghels persönlicher
Auffassung, die sich als richtig erweist, weil wir die Dinge kvntrvliren können,
ist das schönste Stück, welches er selbst jemals zustande gebracht hat, eine
Madonna in einer Vlumcnguirlande, die er am ö. September 1621 an den
Erzbischof uach Mailand sandte. „Ich hoffe, so schreibt er. daß diese Malerei
Eurer erlauchten Herrlichkeit eine außergewöhnliche Befriedigung gewähren wird,
nicht allein wegen der von mir angewendeten Schönheit und Sauberkeit an den
Blumen, Tieren und Vögeln, sondern anch, weil die Figur der Madonna von
der Hand des Herrn Rubens, des in diesem Fache ausgezeichneten und berühmten
Mannes, gemalt ist." An Bianchi schrieb Brueghel zugleich: Es ist „das schönste
und seltenste Stück, das ich jemals in meinem Leben gemacht habe. Die Vögel
und Tiere sind nach dem Leben gemalt und zwar nach einigen, welche die er¬
lauchteste Infantin besitzt."
Leider wissen wir den Preis nicht, den der Kardinal für dieses Bild gezahlt
hat. Jedenfalls muß Brueghel damit zufrieden gewesen sein, da der rege Brief¬
wechsel mit dem Kardinal ohne den geringsten Mißklang bis zum Tode des
Malers anhielt. Auch gab der Erzbischof beiden Künstlern noch einen besondern
Beweis seiner Gunst, indem er jedem eine goldene Medaille mit dem Bild¬
nisse seines Oheims, des heiligen Carlo Bvrrvmev, verehrte, wofür ihm
sowohl Brueghel als Rubens in einem sehr verbindlichen Schreiben daukten-
Jenes Bild der Madonna mit dem Blumenkranze befindet sich nicht mehr in der
ambrvsianischen Bibliothek in Mailand, sondern in Louvre zu Paris. Als
Napoleon der Erste seiue Raubzüge durch Oberitalien unternahm, wurden
auch die Kunst- und Vücherschütze der Ambrosiana uach Paris geschleppt,
und als die Zeit der Vergeltung und der Herausgabe des geraubten
Gutes kam, wurden gerade die drei besten Bilder der nmbrosianischen Bibliothek,
jene Madonna und die Elemente der Erde und der Lust, in Paris „vergessen,"
wie so viele geraubte Kunstwerke in Paris und in andern Städten Frankreichs
„vergessen" worden sind, weil man sie nicht finden wollte/')
Vrueghcl hat Recht: die Madonna im Blumenkränze ist wirklich ein
Werk von bezaubernder Schönheit, Auf dem Schoße der Madonna steht, von
ihr gehalten, der Jcsnskncibe, Ein Engel setzt einen Blumenkranz auf das
Haupt der Jungfrau, und andre Engel umschweben sie. Dieses Bild im Bilde
ist vou einer breiten Blumcnguirlande umgeben, welche mit kleinen Affen, mit
bunten Vögeln, Eidechsen, Schmetterlingen und andern Insekten belebt ist. Alle
diese Tiere sind so liebevoll und mit so seiner Beobachtung gemalt, daß selbst
der raffinirte Realismus unsrer Tage, welcher mit Hilfe von „Augenblicks¬
photographien" arbeitet, nichts besseres und vor allem nichts schöneres zustande
bringen kann. Es ist auch anzunehmen, daß Brueghel selbst diese Schöpfung
nicht mehr übertroffen hat. Bereits im Jahre 1620 klagt er darüber, daß sein
zunehmendes Alter ihm die Ausführung von Miniaturmalereien erschwere, und
wir besitzen auch kein in der Zeit von 1621 bis zu seinem Tode (1625) ent¬
standenes Bild, welches in der Feinheit der Ausführung und dem Reichtum des
Inhalts mit der Pariser Madonna im Blumenkranze zu vergleichen wäre.
meer der Flut von Luthcrlitcratur, welche 1883 die Feier des
vierhundertjährigen Geburtstages des großen Reformators hervor¬
rief, kann nur einer im Verhältnis erschreckend geringen Zahl von
Schriften dauernder wissenschaftlicher Wert zuerkannt werden.
Unter den Biographien nehmen den ersten Rang ein die mittlere
Lutherbiographie Köstlins, dessen 1875 erschienene große Darstellung des Lebens
und der Schriften Luthers der erste Versuch war, das gegenwärtig für eine
solche Biographie vorliegende Material vollständig und auf Grund wissenschaft¬
licher Prüfung zu einem Ganzen zu gestalten, die noch im Erscheinen begriffene
Biographie Luthers von Kolbe, die ein reiches, neugewonnenes archivalisches
Material zum ersten nulle verwertet, die von Lenz, deren Hauptwerk darin
liegt, daß sie die Bedeutung des Lebens und Wirkens Luthers aus dem großen
Zusammenhange der Welt- und Kulturgeschichte heraus darstellt, und einige
wenige andre, unter denen nur noch die von dem verstorbenen Pult namhaft
gemacht werden soll.
In allen diesen Werken zeigt sich aber das Bestreben, die Persönlichkeit
Luthers mehr als bisher durch Zurückgehen auf seine unmittelbaren Äußerungen,
wie sie in seinen Schriften, seinen Reden und Briefen vorliegen, unsrer Zeit
nahe zu bringen, indem sie Luther gern in seinem geliebten Deutsch reden lassen.
Dadurch ist aber auch das Interesse an seinen Werken und an den Aufzeich¬
nungen seiner nicht für die Veröffentlichung bestimmten Äußerungen gewachsen,
und in gleicher Weise ist auch den Veröffentlichungen einzelner Schriften oder
ganzer Sammlungen, die den Zweck haben, ein Bild von der Vielseitigkeit
Luthers durch eine zweckentsprechende Auswahl aus seinen Schriften zu geben
ein ganz besondres Interesse zugewandt worden, sowohl von den sachkundigen
Schriftstellern wie von dem laufenden Publikum und den dieses Interesse be¬
nutzenden Buchhändlern.
Von diesem Teile der Lutherliteratur, die uns die Lutherfeier des Jahres
1883 gebracht hat, sind wohl zu unterscheiden die Veröffentlichungen lutherischer
oder auf Luther bezüglicher Schriften, welche ausschließlich die wissenschaftliche
Erforschung seines Lebens und seiner schriftstellerischen wie kirchengeschichtlichen
Bedeutung zum Zweck haben. Der Erforschung von Luthers äußeren Lebens¬
gange und seinem Auftreten in dem Nahmen der politischen Geschichte Deutsch¬
lands dienen z. B. Th. Briegcrs „Quellen und Forschungen zur Geschichte der
Reformation," wie auch die nicht gerade zur Verherrlichung Luthers unternom¬
menen NormniontÄ rokorinMoniL Jene,u<zrana<z ex eg-bulariis 8. Loäis sverotis
(1521—1525) des frühern vatikanischen Unterarchivars Bakar diesem Zwecke
dienen müssen. Unter den Veröffentlichungen dagegen, welche die literarische
Bedeutung Luthers und seine Einwirkung durch Schrift und Wort auf seine
Zeit erkennen lassen, steht die durch Munificenz der königlich preußischen Re¬
gierung ermöglichte und durch H. Kuaccke veranstaltete würdige Gesamtausgabe
der Schriften Luthers — sicher die bedeutendste aller Gaben, die die Jubelfeier
hervorgerufen hat ^— obenan.
Eine solche auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Gcsamtsausgabe
war ein dringendes Bedürfnis geworden. Denn während noch die Walchsche
Ausgabe (Halle, 1740—53) wegen Mangels an Rechenschaft über die Quellen
und vieler einzelnen Willkürlichsten und Nachlässigkeiten zu wissenschaftlichen
Forschungen nicht verwendbar ist, so kann doch auch die zu Erlangen und
Frankfurt in den Jahren 1862— 1873 erschienene Ausgabe, welche Luthers
deutsche Schriften in 67 Bänden (einzelne, wie die Predigten in 20 Bänden, bereits
in zweiter Auflage), seine lateinischen in 33 Bänden umfaßt, noch nicht allen
Anforderungen genügen, weil das benutzte Textmaterial unzureichend war, wenn¬
gleich da, wo es geschehen konnte, die ältesten Texte zugrunde gelegt und ver¬
glichen worden sind. Wer im Luthcrmusenm zu Wittenberg Gelegenheit gehabt
hat, die stattliche Sammlung von ältesten und ersten Drucken Lutherscher
Schriften zu sehen, wer daran denkt, daß in verschiednen größern Städten
Deutschlands Ausstellungen wertvoller Ausgaben von Lutherschriften oder Briefen
von und an Luther zur Zeit der Jubelfeier veranstaltet wurden, eine wie we¬
sentliche Bereicherung das Material sür die Herstellung eines kritisch gereinigten
Textes seit 1826 erfahren, und daß es an der Zeit war, diese Bereicherung für
eine neue, den wissenschaftlichen Anforderungen der Gegenwart genügende Aus¬
gabe zu verwerten.
Bei der Sorgfalt aber, die auf die Gewinnung eines diplomatisch getreuen
Textes verwendet wird, kann die neue Gesamtausgabe nur langsam vorwärts
schreiten, und wenn man nach der bisherigen Aufeinanderfolge der Bände den
Zeitpunkt ihrer Vollendung berechnen wollte, so würde sich etwa ein Zeitraum
von einem halben Jahrhundert ergeben. Soll während dieser langen Zeit alles,
was bereits neu entdeckt worden ist oder was in Zukunft noch gefunden werden
sollte, unbenutzt bis auf den Termin liegen bleiben, wo die Ökonomie der ganzen
Anlage bis zu der Veröffentlichung des betreffenden Teiles der Lutherschcn
Schriften gediehen ist? Es würde ein solches Zuwarten die weitere Luther¬
forschung der Gefahr aussetze», in mehrfacher Hinsicht rasch zu veralten. Darum
ist es eine dringende Forderung der Wissenschaft, daß alles, was von bisher
unbekannten Schriften oder sonstigen Äußerungen Luthers durch den Zufall
oder durch den Eifer kundiger Forscher dem Schoße der Vergessenheit entrissen
wird, möglichst bald zur Veröffentlichung gelange, zumal wenn außer dem mehr
oder weniger wichtigen Inhalte der neuaufgefundenen Stücke auch wichtige
chronologische Angaben über Luthers Leben und Wirken in denselben enthalten
sind. So sind auch während der Zeit des Erscheinens der Erlanger Ausgabe
verschiedne wichtige nachtrüge zu Luthers Schriften veröffentlicht worden: die
Sammlung der „Briefe, Sendschreiben und Bedenken" von de Wette (5 Bände,
1825 bis 1828, dazu ein 6. Band von Seidemann 1856), von Seidemann
allein „Lutherbriefe" (1359) und vou Burkhardt „Luthers Briefwechsel"
(1866); ferner verschiedne Ausgaben der Tischreden (von Fürstenau und Blüt¬
hen, 4 Bände, 1844 bis 1848; volloauig. vo. von Blüthen, 3 Bünde, 1863
bis 1866, sowie auch von Seidemann nach den ursprünglichen Aufzeichnungen
von Lauterbach, Veit, Dietrich u. a.); vor allem aber als der wertvollste
Zuwachs zu den Werken Luthers aus den letzten Jahren der vollständig aus¬
gearbeitete Text der 1513 bis 1516 gehaltenen Vorlesungen über die Psalmen,
die Seidemann 1876 in zwei Bänden „nach der eigenhändigen lateinischen
Handschrift Luthers auf der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden" ver¬
öffentlicht hat.
Diesen wichtigen Funden stellt sich nun der dem Umfange wie dem Werte
nach bedeutende Fund zur Seite, den der Religionslehrer am Zwickcmer Gymna¬
sium, Illo. Dr. Georg Buchwald, in der Zwickcmer Ratsschnlbibliothek gemacht
hat.*) Er umfaßt eine ganze Anzahl wichtiger ungedruckter Lutherschrifteu, von denen
Buchwald bis jetzt wenigstens soviel veröffentlicht hat, daß die Wichtigkeit seiner
Entdeckung auch außerhalb der speziell theologischen Kreise bereits bekannt ge¬
worden ist. So die Vorlesungen Luthers über das Buch der Richter aus der
Zeit vor dem Jahre 1517 und die jetzt in der zweiten Auflage der Erlanger
Ausgabe zum erstenmale erscheinenden ältesten Nachschriften der Vorlesungen
Luthers über die kleinen Propheten.
Noch wichtiger ist jedoch die gegen fünfhundert zum größten Teile bisher
völlig unbekannte Predigten Luthers enthaltende handschriftliche Sammlung
Andreas Poachs. Es gebührt daher der Verlagsbuchhandlung von Fr. Wilh.
Grunow der Dank aller derer, denen Luther und die Kenntnis seines Lebens
wie seiner Schriften am Herzen liegt, daß sie es unternommen hat, die Poachsche
Sammlung in ihrem ganzen Umfange zu veröffentlichen, sodaß nur bei den
bereits bekannten Predigten die Wiedergabe auf die Varianten und die die
bisherige Chronologie rektifizirenden Zeitbestimmungen beschränkt wird.
Von dem stattlichen, auch in trefflicher Ausstattung erscheinenden Werke,
welches gegen einhnndertzwauzig Bogen in Großvktav umfassen wird, ist zunächst
der erste Halbhart erschienen, der auch die Einleitung des Herausgebers enthält.
Unter deu Predigten aus den Jahren 1623 bis 1530, welche der erste Band
bringen soll, sind wegen der historische» Beziehungen besonders die von Wich¬
tigkeit, welche Luther 1529 auf dem Wege nach Marburg, in Marburg und
auf der Rückreise vom Religionsgespräche gehalten hat, und wegen ihres dog¬
matischen Inhalts verschiedne andre Predigten, wie die im Zusammenhange
über das Proömium des Johannesevangeliums gehaltenen, von denen allen mir
wenige bisher veröffentlicht waren. Der zweite Band soll dann die Predigten
von 1531 bis 1536, der dritte die von 1537 bis 1539, der vierte die von
1540 bis 1542 und von 1544 bis 1546 enthalten.
Der Wert dieser Predigtsammlung liegt, nach dem maßgebenden Urteile
Köstlins, nicht bloß darin, daß uns nun erst ein zusammenhängendes Ganze
von Luthers Predigtthätigkeit vergegenwärtigt wird, sondern auch in den eigen¬
tümlichen Rückschlüssen, welche man aus dem Verhältnisse des Textes der bereits
früher veröffentlichten Predigten zu dem der Poachschen Sammlung auf ihre
ursprüngliche Gestalt ziehen kann. Darnach stellt sich heraus, daß bei den
Predigten, welche in früheren Zeiten nach Luthers Tode aus Nachschriften
herausgegeben worden sind, der Text nicht den Wortlaut der ursprünglichen
Notizen, die der Nachschreibende sich beim Anhören gemacht hatte, wiedergiebt,
sondern eine Erweiterung und Stilisirung dieser nachschriftlichen Notizen durch
den Herausgeber, wobei gar oft auch die ursprüngliche Form der Predigten
breitgezogen wurde. Daß die Poachsche Sammlung wegen der zahlreichen
chronologischen Angaben, durch welche die Abfassungszeit der Predigten genau
bestimmt wird, auch für die Chronologie von Luthers Leben von Wichtigkeit ist,
wurde schon angedeutet.
Einige Notizen über den Mann, der diese das ganze Leben Luthers um¬
fassende Predigtsammlung zusammengebracht hat, werden dem Leser nicht unwill¬
kommen sein. Zugleich mit Justus Jonas war Andreas Poach 1541 von
Wittenberg nach Halle übergesiedelt, wohin ersterer vou der Bürgerschaft ein¬
geladen worden war, um hier das evangelische Kirchen- und Schulwesen zu
organisiren, nachdem der Erzbischof Albrecht bei dem wachsenden Verlange» der
Bevölkerung nach evangelischer Predigt das Feld geräumt und sich nach Mainz
zurückgezogen hatte. Später, nachdem Poach inzwischen auch in Nordhausen
gewesen war, wo ihm 1649 sein Sohn Petrus geboren wurde, finden wir ihn
in Erfurt als „Pfarhern zun Augustinern," wie er sich selbst auf dem Berichte
über das Ende des Luther durch Verwandtschaft und innige Freundschaft nahe¬
stehenden Arztes Natzcbergers, der 1559 in Erfurt starb und dessen Beichtvater
er war, bezeichnet. Er war zugleich Senior des Erfurter inwistorii, mußte
aber diese hervorragende Stellung infolge eines unangenehmen Streites 1572
an Aurifaber abtrete». Als nämlich der Erfurter Pfarrer M. Johann Gnllus
1569 zum Rektor der Universität Erfurt gewählt worden war und das Amt
angenommen hatte, mißbilligte dies Poach als sein Vorgesetzter, weil ein öffent¬
licher Umgang eines lutherischen Geistlichen mit katholischen Geistlichen bei dem
gemeinen Manne ärgerlich sei; Aurifaber dagegen, der seit 1566 Pfarrer an
der Prcdigerkirche war, nahm die Partei des Gallus. Nach der Sitte ihrer
Zeit brachten beide Parteien die Sache auf die Kanzel. Als nun trotz der Ver¬
mittlung des Rates Poach den Streit 1572 aufs neue aufrührte, zog ihn der
Rat zur Verantwortung und gab ihm in der Charwoche seine Entlassung. Wie
sehr diese Amtsentsetzung bei seinen Amtsbrüdern Anstoß erregte, läßt sich daraus
erkennen, daß die Ruhe nur dadurch wiederherstellt werden konnte, daß der Rat
auch vier andre Prediger, die auf feiten Poachs standen, absetzte.
Neben der Verwaltung seines Pfarramtes fand nun Poach noch Zeit, mit
Wärmstein Eifer sich der Sammlung Lutherschcr Predigten zu widmen. So
erschien im Jahre 1559 als Frucht seines Sammelfleißes die Hauspostille Luthers,
ein Werk, welches Poach die größte Anerkennung bei seinen Zeitgenossen ein¬
brachte, und zwar nicht bei solchen, die mit ihm persönlich oder durch brieflichen
Verkehr bekannt waren.
Aber die in der Hauspostille „aus N. Georgen Rörers seligen geschrie¬
benen Büchern" von Poach herausgegebene Auswahl von Predigten Luthers
und was von ihm in den beiden Ergänzungsbänden zu der zehnbändigen Jenaer
Gesamtausgabe der Schriften Luthers (1555—68), die Aurifaber 1564 und
1665 zu Eisleben herausgab, veröffentlicht wurde, bildete uur einen kleinen Teil
des umfassenden Materials, welches er gesammelt hatte. Seine reiche hand¬
schriftliche Sammlung von Predigten Luthers, welche ursprünglich mit Luthers
Weihnachtsprcdigt 1522 begann, ist fast vollständig, mit alleiniger Ansncihme
der Predigten von Weihnachten 1522 bis Weihnachten 1628. auf der Rats¬
schulbibliothek zu Zwickau erhalten. Für die jetzt verlorenen Bände der Poach-
schen Sammlung bieten uns die gleichfalls in der Zwickauer Bibliothek befind¬
lichen — es sind im ganzen etwa siebzig Predigten — teilweise Ersatz für das
Verlorene, An dieser Stelle sei auch der wichtigen Sammlung von gegen acht¬
hundert fast sämtlich noch ungedruckten Briefen an den Zwickcmcr Oberstadt¬
schreiber N, Stephan Noth gedacht, welche aus dem Nachlasse Rvths gleich¬
falls in den Besitz der Zwickauer Ratsschulbibliothek gelangte. Da sich unter
den Vricfschrcibern hervorragende Theologen, Pädagogen und Juristen der Re-
formationszeit befinden und die Vriefsammlung deshalb ein interessantes Bild
der Zeit von 1515 bis 1545, aus welcher sie stammen, sowie der dieselbe jeweilig
bewegenden Fragen giebt, so ist die von derselben Verlagsbuchhandlung beab¬
sichtigte Herausgabe dieser Briefe (in drei Bänden) ein gleich verdienstliches
Unternehmen wie die Veröffentlichung der Poachschen Predigtsammlung.
In die Zwickauer Bibliothek sind Poachs Manuskripte und Briefe wohl
durch dessen Sohn Petrus, einen seinerzeit berühmten Arzt, gelangt, der in
Zwickau, wo er 1592 Stadtphysikus und Schulinspektor, 1610 aber Stadtvogt
geworden war, am 10. Februar 1622 starb. Einer der neun Bände der
Poachschen Sammlung kam erst 1694 mit der gesamten Bibliothek des 1687
als Rektor zu Zwickau gestorbenen Magisters Dann, eines eifrigen Sammlers
von Lutherantographeu, der ihn wahrscheinlich aus Petrus Poachs Nachlaß er¬
worben hatte, in den Besitz der Stadt Zwickau. Ein andrer, ohne Zweifel
ursprünglich ebenfalls der Poachschen Sammlung angehörender Band, welcher
Predigten aus dem Jahre 1537 enthält, befindet sich merkwürdigerweise jetzt in
der fürstlich Oettingen-Wallerstcinschen Bibliothek zu Mayhingen bei Waller¬
stein in Baiern. Früher war er im Besitze Valentin Ernst Löschers, welcher
bereits verschiedne in den damals vorhandenen Gesamtausgaben der Werke
Luthers fehlende Predigten daraus veröffentlichte.
le werden, meine Herren, mit Recht mich von mir eine Äußerung
über den Normalarbeitstag, und weis damit zusammenhängt, er
warten; und ich beabsichtige auch umsoweniger, mich dieser Pflicht
zu entziehen, als ich mich mit diesen Fragen noch niemals be¬
schäftigt habe, man aber einen Gegenstand am leichtesten kennen
lernt, indem man über denselben spricht oder schreibt. Diese Thatsache darf ich
als allgemein bekannt voraussetzen. Vorher fühle ich mich jedoch verpflichtet,
wieder ein Mißverständnis aufzuklären. In der Reichstagssitzung vom 17. Januar
wies der verehrte Abgeordnete für Hagen den Vorwurf, daß die deutschfrei¬
sinnige Partei ihren Wahlaufruf mit der Parole „Vorwärts für Kaiser und
Reich" geschlossen, mithin die Worte „mit Gott" weggelassen habe, mit der
Erklärung zurück: „Es giebt ein Gebot, welches heißt: Du sollst den Namen
Gottes nicht mißbrauchen." Dazu wurde auf der Rechten „Oho!" gerufen.
Beide Äußerungen sind außerhalb der Versammlung mißverstanden worden.
Während Herr Richter offenbar sagen wollte: „Wenn wir den Namen Gottes
in einem solchen Wahlaufrufe gebracht hätten, so wäre das ein Mißbrauch ge¬
wesen," und die Rechte hiergegen höflich protestirte, indem sie ihre Einwendung,
daß der Redner wieder einmal die Bescheidenheit für sich und seine Partei zu
weit treibe, im Interesse der Abkürzung der parlamentarischen Verhandlungen
in ein kurzes „Oho!" zusammendrängte — hat man im Publikum die Er¬
klärung Richters als eine verunglückte Bosheit aufgefaßt und dementsprechend
auch den Zwischenruf gedeutet. Ich weiß nicht, wodurch das Publikum sich
für berechtigt hält, an die Möglichkeit eines so gereizten Tones in der Versamm¬
lung zu glauben, in welcher doch, wie es ihrer Würde angemessen ist, stets die
verbindlichsten Formen für den Ausdruck gegenseitiger Hochachtung, ganz be¬
sonders von dem Abgeordneten Richter, gewahrt werden. Wenn min jener
Auffassung nicht widersprochen würde, könnte sie sich einbürgern und eine be¬
klagenswerte Entstellung der Weltgeschichte verschulden. Dem möchte ich hiermit
vorgebeugt haben!
Indem ich nun zu den Klagen über unmäßige Arbeitszeit, Nachtarbeit der
Frauen u. s. w. übergehe, kann ich meine Verwunderung darüber nicht unterdrücken,
daß die Herren so vielerlei schwer auszuführende oder ungenügende Vorschläge
machen und das Zunächstliegende übersehen. Ganz besonders nimmt mich das
von den Rednern des Zentrums wunder. Sie haben doch so oft von den
Herren Windthorst und von Schorlemer vernommen, daß es ein Universal-
und Radikalmittel für alle sozialen Übelstände giebt: Aufhebung der Maigesetz¬
gebung. Das ist kurz und bündig und zeichnet sich außerdem vor dem Ar-
kanum der befreundeten Partei auf dem linken Flügel: Etablirung des sozia¬
listischen Staates durch eine jeden Zweifel ausschließende Klarheit aus. Ich bin
zwar auch überzeugt von der Unfehlbarkeit des Mittels, welches die Sozialdemo¬
kraten mit der ebengenannten Etikette bezeichnen. Aber leider lassen sie uns
immer nur die Aufschrift sehen, und die gelegentlichen Mitteilungen über den
Inhalt der Wunderflasche widersprechen einander gewöhnlich. Bei der Forderung
des Zentrums hingegen sieht man Wie und Wo. „Schafft die Maigesetze ab,
und alles ist wieder gut," singen die Herren. Und haben sie nicht Recht?
Ich will nicht von der guten alten Zeit sprechen, als noch der Papst Fürsten
ein- und absetzte, es keine Cholera gab, höchstens ein bischen Pest, keine
Kartoffelkrankheit und Zuckerkrise, höchstens Hungersnöte, welche auf die ein¬
fachste Art der Übervölkerung steuerten, nicht von der Einfalt der Sitten, der
Zucht und Ehrbarkeit, welche herrschten, bis Luther den unseligen Einfall hatte,
reformiren zu Wollen, wo keine Reform Vonnöten war. Wir können ja in der
Gegenwart bleiben, brauchen nur die Zustände in Ländern, welche von der Pest
der Reformation verschont geblieben oder doch wieder befreit worden sind, mit
denen andrer, weniger glücklicher Länder zu vergleichen. Nehmen wir z. B.
Holland und Belgien: dort eine langweilige Wohlhäbigkeit, welche die Herzen
gleichgiltig und hart macht, hier auf Schritt und Tritt die Mahnung, Werke
der Barmherzigkeit zu üben, viel energischer an uns herantretend als durch die
Schildereien am Spital zu Pistoja. Oder gehen wir nach Italien. Hören wir
da von Sklavenarbeit der Kinder und Weiber in dunstigen Fabriken? Nein,
unter freiem Himmel, im goldenen Sonnenschein verdienen sie ihr tägliches
Brot in Gestalt einer Armensteuer, welche dem Forestiere, dem reichen Mossiou
oder Mylord nicht wchethut, die Finanzen des Landes nicht belastet. Die ver¬
blendete italienische Regierung macht Wohl Anstrengungen, diese natürliche
Ordnung der Dinge abzustellen, allein es wird ihr nicht gelingen, diese freie,
zwanglose Art des Erwerbes, dem die Leute auch gern an Sonn- und Feier¬
tagen nachgehen, auszurotten, oder den stolzen Freiheitssinn des Calabrcsen
und Sizilicmers zu brechen, die geduldig tagelang hinter einem Busche lauern,
bis sie einem gutsituirten Wanderer ihr: ?A<zoiÄ g. t,srra>! zudonnern können, aber
niemals dem schnöden Mammon Knechtesdienste leisten werden. Der schlichte,
fromme Sinn, welcher vor jedem Raube die Madonna anrufen läßt, die heitere
Thätigkeit der durch keinen Schulzwang geknechteten Jugend können freilich in
einem Polizeistaate nicht gedeihen! Ich begreife es, daß der Abgeordnete
Windthorst endlich müde geworden ist, auf die Wurzel alles Übels hinzuweisen,
und sich bescheidet, Wendungen anzubringen, wie: „Wo der Grund für solche
Zustände liegt, will ich nicht untersuchen." Wissen wir es doch alle, und es
mangelt nur an einem frischen Entschlüsse. Darum sage ich: Heben wir die
Maigesetze auf, dann brauchen wir uns nicht die Köpfe über Normalarbeitstag,
Steuernachlaß, Schutzzoll, Kolonisation und all dergleichen eigentlich recht schwer
verständliche und langweilige Dinge zu zerbrechen!
Zu meinem Leidwesen zeigen sich auch soviele Herren von dem sogenannten
Nationalgefühle befangen, welches von den Aufgeklärten längst als „Schwindel"
erkannt worden ist. Wie anders war das einst in Deutschland! Da hätten
Gebildete sich jedes andern Bekenntnisses, als eines kosmopolitischen geschämt.
Alle Menschen sind ja Brüder, und die reine Zufälligkeit, daß der eine in
diesem, der andre in jenem Lande das Licht erblickt hat, ist kein Grund der
Trennung. Es ist wahr, daß alle andern Völker den Kosmopolitismus immer
nur dn gelten lassen, wo sie aus demselben für ihre Nationalität Kapital zu
schlagen hoffen. In Österreich z. B. haben es die Deutschen mit der Gleich¬
berechtigung der Nationalitäten glücklich dahin gebracht, daß sie selbst kaum
noch irgendwo als berechtigt anerkannt werden, und mich die Polen, Dänen
und Franzosen im deutschen Reiche würden ohne Zweifel die Sache so verstehen,
daß das Deutsche ausgerottet werden müsse, zuerst in Posen, Westpreußen,
Oberschlesien, Schleswig, Elsaß-Lothringen, und dann langsam weiter gegen
Westen, Süden und Osten. Jene Nationalitäten stehen eben nicht ans der
Höhe kosmopolitischer Bildung wie wir, und unsre Sache ist es, sie zu be¬
schämen und durch Nachgiebigkeit zu bekehren. Im Jahre 1871 predigten ja
die wahrhaft Freisinnigen, daß es sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts nicht mehr schicke (wenigstens nicht für Deutsche), Eroberungen
zu machen. Deutschland hätte damals die Franzosen wegen seiner Siege höflich
um Entschuldigung bitten, nach Hanse gehen und seine Festungen an der West-
grenze schleifen sollen, dann würden die Franzosen ihr Unrecht eingesehen und
Frieden gehalten haben. Leider ist damals der gute Rat in den Wind geschlagen
und dadurch eine Menge von Unannehmlichkeiten verschuldet worden. Wir Hütten
ein erhabenes Beispiel gegeben, und Victor Hugo, Alexander Dumas, Tissot,
und Dervnllde würden unsre besten Freunde sein. Das ist nun verscherzt, vielleicht
nuf immer. Und trotz dieser warnenden Erfahrung verschließen Sie störrisch
ihre Ohren gegen das billige Verlangen der Vertreter der universellen Kirche,
der universellen Demokratie und des universellen Kapitals, der Staat möge
südlich aufhören, der Ausbreitung des Polen-, des Dänen- und des Franzosen-
tums Hindernisse zu bereiten. Das ist nicht schön von Ihnen, meine Herren,
nein, das muß ich engherzig nennen, wenn der Herr Präsident nichts dagegen hat.
Und das erkläre ich vornweg: Wenn dieselben Prinzipien der Unterdrückung
fremder Nationalitäten etwa auch im Pfcfferlande zur Anwendung kommen sollen,
wenn es darauf abgesehen ist, die Buschmänner und Bantuneger durch Schulen
hinterlistig zu germanisiren, so werden Sie in mir den entschiedensten Gegner
der Kolonialpolitik kennen lernen.
er „blasse Heinrich" hatte eben auf eine Zwischenfrage Pipins
geantwortet: Zum Verlieben habe ihm im wahren Sinne des
Wortes die Zeit gefehlt — wobei er seinen kaltgewordenen Kaffee
austrank.
Jetzt wandte er sich wie fragend zu den heimlich Redenden,
von denen der Geistliche begann:
Ja, noch ein kitzlicher Punkt, mein Jungchen, es ist, um es kurz zu sagen,
hier ausgesprochen worden —
Sage doch, wer es angeregt hat, warf Mirbl dazwischen.
Ach, lassen wir den Namen! bat der Pastor.
Nun, was ists denn, alter Ratz? drängte ihn der Angeredete.
Also, ums kurz zu machen, fuhr dieser fort, es fragt sich, ob es auf
Wahrheit beruhe, daß du mit deinem heutigen Nedcakte — wie hieß es doch?
Politik treibst, ergänzte Mirbl.
Für dein Pensionat von Geschäftswegen, setzte Ratz hinzu, und Genserich
unterbrach ihn ärgerlich: Ganz einfach, ob du dich zum Worte gemeldet hast,
um für dein Institut zu wirken.
Der Gefragte fuhr aus seiner nachlässigen Haltung auf, setzte sich zurecht,
und der Ausdruck des gemütlichen Sichbehabens schien im Nu von ihm ge¬
wichen. Die Veränderung war schreckenerregeud.
Ich soll euch Rechenschaft geben? Euch allen? Er sah jedem in das
Gesicht. Aber ich weiß ja nicht, ob ich Glauben finde, es fehlt mir hier an
Zeugen.
Die andern hielten diese Herabstimmung für belastend, nur Genserich sagte:
Nein, blasser Heinrich, was du sagst, gilt uns für wahr, deß kannst du
gewiß sein.
Der „blasse Heinrich" erwiederte: Ich habe fünfundzwanzig Pensionäre,
und diese bringen mir jeder achthundert Mark jährlich.
Das ist nicht viel, bemerkte der Pastor, das kann ich jetzt gut beurteilen,
denn die Auslagen für Wohnung, Beköstigung, Hilfslehrer —
Für mich genug! Hilfslehrer brauche ich nicht, ich erteile den Unterricht
ausschließlich selbst, und die jüngern Schüler werden von den ältern unter
meiner Aufsicht unterrichtet, nur in Musik und Religion fehlen mir die Fakul¬
täten, dafür sind Hilfslehrer da. Den Haushalt führt meine Schwester, eine
Pastorswitwe — hier atmete der durch das „Fehlen der Fakultäten" Beun¬
ruhigte sichtlich auf — sie ist zugleich der Hauskaplan und läßt sichs nicht
nehmen, uns siebenundzwanzig Tafelnden den Segen zu sprechen.
Gott sei Dank! rief der Theologe.
Sie führt zugleich die Wirtschaft so gut, daß mir alljährlich uoch genug
erübrigen und die Zahl unsrer fleus Freistellen nächstens ans sechs erhöhen
werden. Eine „Vergrößerung" des Pensionates ist aber ausgeschlossen, zunächst
aus räumlichen Rücksichten, sodann weil ich meinen geistigen und körperlichen
Kräften gemäß über diese Zahl nicht hinausgehen kann, denn mehr als fünf¬
undzwanzig kann ich nicht brauchen, und wenn mir auch ein zahlungsfähiger
Mann tausend oder zehntausend Mark für die Aufnahme eines Sohnes böte
oder selbst ein Freund mich darum bäte. Für diese Anzahl aber bin ich auf
Jahre hinaus vollständig versehen mit Aufträgen und Vormerkungen-
Er setzte die Tasse, in der nichts mehr zu trinken war, an den Mund und
wieder ab. Seid Ihr jetzt zufriedengestellt? und bin ich von dem aufgetauchten
Verdachte gereinigt, als sei ich hier ein Geschäftsreisender?
Vollkommen zufriedengestellt, sagte der Oberst unwillig, und ich werde dafür
sorgen, daß auch die geringste Spur des Zweifels gebührend niedergetreten wird.
Nimm's nur nicht übel! fügte der Pastor begütigend hinzu, der es heraus¬
gefühlt haben mochte, daß das Kreuzverhör jenem ans Herz griff. Du weißt
doch, alter Freund, oder vielmehr junger Freund, denn du bist uns ja von je
um einige Jahre nach gewesen, haha, dn weißt doch, daß ehrliches Aussprechen
ein Privilegium der Zusammengehörigen ist, und du bist arg mißverstanden,
durch ungenaue fremde Information übel gedeutet worden, um dieses glimpf¬
liche Wort zu brauchen.
Stoß an, blasser Heinrich! ermutigte ihn der Schauspieler.
Zwei frische Flaschen Sekt! herrschte der Parlamentarier in die Nebeu-
swbe, indem er die Thür halb anstieß, an welche eben die Superintendeutin
mit Barbara trat.
Letztere hatte durch geschickte Veranstaltung die anfangs ungeneigte Frau
zu dem Wagnis verleitet, dem Sonderzimmer der Herren noch einmal zu nahen
und auszukundschaften, ob etwa die auf die Tagesordnung gesetzte Erörterung
erledigt sei und ein die Damen nicht ausschließendes Gespräch begonnen habe.
Drin im Zimmer erhob Mieder Ratz die Stimme zum „blassen Heinrich,"
welcher dasaß wie einer, der von einer Bergpartie verschmaust. Nun? Dn sagst
ja garnichts? Bist uns doch nicht etwa böse? He? Und dabei streichelte er ihn
unbeholfen und hob ihm das gesenkte Antlitz, wie man mit einem ausgcscholteueu
Kinde thut, das man wieder aufrichten will.
Der Angeredete stand auf, zog seinen Frack an, den weiten Nock darüber,
trat dann an den Tisch der Kommilitonen und sagte: Das eine noch! Wie
muß es mit euerm Mcuschenvcrtrauen aussehen, wenn ihr mich, euern einstigen
Primus, der euch heute bewiesen hat, daß er nicht zurückgeblieben ist, solcher
Verdächtigung aussetzt! Ich bin der Einstige geblieben und ertrage keine un¬
gerechte Zurücksetzung; ich fühle mich außerhalb euers Gesichts- und Gedanken¬
kreises, keineswegs aber unter demselben; ich gehöre nicht mehr zu euch und
ihr, wie ich euch wiedergefunden habe, gehört nicht mehr zu mir. Ich weiß
nicht, seid ihr zu alt geworden oder bin ich zu jung geblieben? Ich brauche
Zutrauen, Liebe, viel Liebe! Ich bin verwöhnt. Laßt mich wieder zu meinen
fünfundzwanzig Jungen gehen!
Damit schritt er aus der Saalthiir und verließ die Verblüfften.
Die beiden Damen vor der Thür hörten die letzten ausdrucksvoll ge¬
sprochenen Worte. Barbara wollte hineinstürmen, um den Abgehenden irgend¬
wie aufzuhalten, eine innere Stimme forderte sie dazu auf, wie wenig auch
dieses Vorgehen sich dem Herkömmlichen angepaßt haben würde.
Aber die Snpcrintendcntiu trat ihrer Absicht entgegen. Was fällt Ihnen
ein, liebes Fräulein? In dieses Strcitgctricbe der Herren dürfen wir uns doch
nicht hineinmengen!
Die in der Stube gebliebenen vier aber saßen da, und der gebrachte Sekt
blieb unberührt. Mirbl, der Parlamentarier, rünsperte sich zum Nedcansatz,
aber es kam kein Laut heraus. Der Schauspieler und der Theologe fingen an,
ein paar Worte zu zischeln; der Parlamentarier und der Offizier erwogen im
Stillen gleichmäßig: Was konnte aus dem alles werden, wenn — beide be¬
wegten sich eben in den Grenzen ihrer Urteilskraft. Zuletzt sagte der Oberst:
Er hat recht, der „blasse Heinrich." In diesem Augenblicke traten die Damen ein.
Der „blasse Heinrich" hatte den Festsaal hastig durchschritten und ging
rasch über den Marktplatz, wo er sich durch die Kopf an Kopf gedrängten Leute
durcharbeitete. Groß und Klein, Arm und Reich, alles freute sich des hellen
Abends, alles sammelte sich hier und harrte auf Nachrichten, die ans dem Fest¬
saale von Zeit zu Zeit herausgetragen wurden. Die innigste Teilnahme an
dem Schuljubiläum beherrschte noch die Gemüter der Bewohner, die da oben
in dem erleuchteten Gasthause den funfzigjährigen Segen ihrer so hochgefeierten
Schulanstalt prangen sahen.
Niemand erkannte den einsam Dahinstürmenden, obwohl viele darunter
waren, die ihn als Jüngling lieb gehabt hatten. Er selbst mied jedes Begegnen
und schlug sich seitwärts in ein ihm unbekanntes Stadtviertel, ein durch Gewerb-
fleiß schnell aus dem Boden gewachsenes Varakengewirr. Fabrikgebäude mit
turmhohen Schornsteinen ragten hier empor; es rauchte, sauchte und klapperte.
Ein verdüsterter Menschenschlag arbeitete hier, rußige, bestaubte Leute, denen
man den Tag zum Mitgenusse dieses Friedensfestcs nicht freigegeben hatte aus
Furcht vor Störungen, die bei andern Feierlichkeiten durch sie entstanden waren.
Der „blasse Heinrich" schenkte diesen Bildern keine Aufmerksamkeit, seine Ge¬
danken hafteten an dem eben mit den Kommilitonen erlebten Auftritte.
Abscheuliche Gesellschaft! rumorte es in ihm. Ich war breit und schwäch¬
lich, ich mußte ihnen kurz den Rücken kehren oder sie vor die Klinge fordern!
Der Cohn soll mirs ausrichten, virilia will ich sie vornehmen. Dabei machte
er mit dem Handgelenk die Bewegung eines Tiesquarthicbes und zog eine steile
Terz nach. Aber, fuhr er fort, sind das Paukanten für mich? Kautschuk, dieser
abgesetzte Ministeriale mit seiner Bürecmpagode? Oder Ratz mit seinem blöden
Haha? Oder der geschminkte Pipin? Schöne Kullissenfechterei mag er Pariren!
Oder der ruinirte Mirbl? Genserich ist noch der einzige Mann! Mit dem
möchte ich — die Klinge kreuzen.
Damit war er an die Quermauer einer Sackgasse geraten. Unsinn! stieß
er hervor, findet man sich in diesem neuen Gassengewirr nicht zurecht? Er tastete
im Schatten seitswärts, erreichte eine Quergasse und noch eine, an deren Ende
mvndbeschicnenes Gebiet sich ausbreitete. Nach dem Auenwege strebte er, der
außerhalb der Stadt im Bogen zu den stillen Arkaden führte, der alten Kloster-
tcrrasse des Gymnasiums. Dort wollte er den übernommenen Abeudvortrag
in Ruhe überlegen. Es war ihm ein störender Gedanke, daß er sich vor diese
Schulgenossen hinstellen, vor sie seine Geistesarbeit bringen sollte. Vielleicht
und hoffentlich haben sie ein gleichartiges Empfinden, dachte er, und fahren
spornstreichs mit dem Abeudzuge ab — ich darfs leider nicht — oder sie bleiben
weg aus der Aula.
Während solche feindliche Absonderung von den Kommilitonen ihn hinaus¬
trieb, sammelten sich diese, wenigstens die zurückgebliebenen vier, in entgegenge¬
setzter Richtung. Die beiden Damen hatten — Barbara mit einem flehenden
Blick auf ihren Vater — das Herrenzimmer wieder verlassen, in welchem ihre
Anwesenheit störte.
Pipin, Ratz. Mirbl und besonders Genserich besprachen, auf welche Weise
der eben erfolgte Zusammenstoß gemildert und etwaige unliebsame Folgen ver¬
mieden werden könnten. Sie wollten zunächst dem Verletzten gut freundschaftlich
entgegenkommen, vor allem sollte Kautschuk, der das Mißverständnis verschuldet
hatte, zu einem tratsr xeova-öl veranlaßt werden; hierauf drang besonders Gen¬
serich mit seiner Kommandeurstimme. Der Abend sollte übrigens nicht auf dem
Balle, sondern in der Pastorci zugebracht werden, wo der Jahrgang 1849 in
gemütlicher Zurückgezogenheit den Friedensschluß bei einem Glase Punsch zu
feiern gedachte.
Wie beruhigend würden diese besorgten Gesichter, ihr eifriges Hinuud-
herverhandcln auf den „blossen Heinrich" gewirkt haben! Und wenn ihm gar
dazu eine schutzgeistartige Gestalt genaht wäre, ihn mit der Hand berührt hätte —
Barbara als liebliche Friedensbotin ihm zur Seite getreten wäre! Wenn sie
die Gefühle ihm kundgegeben hätte, die sie in der Fülle ihres bcgeisternngs-
fähigen Herzens zu ihm hegte, der ihr wie ein entrückter Heros der Bered¬
samkeit und Humanität erschien! Eilt ihm nach, er hat Zuspruch nötig in
seiner Vereinsamung in der fremden Winkelgasse der einstigen Heimat) Aber
der „blasse Heinrich" blieb allein. Er stand am Ende der Neubauten vor dem
Stadtgraben, und dahinter lag die durch den Mondschein erhellte Landschaft
in welcher er sich nicht zurechtzufinden vermochte.
Heda, Alterchen! rief er ein die Stufen zu dem Eckhause hinanftappendcs
Männlein an, wo bin ich denn eigentlich hier?
Na, am Stadtgraben! gurgelte der Pfahlbürger.
Richtig, sagte der Fremde, und hier ist die Pfennigbrücke. Wo aber ist
drüben der Eichenbaum und hüben der Auenweg, und hier rechts, was ist das
für eine Baumpflanzung?
Baumpflanzung? wiederholte der Alte, das ist ja der neue Stadtpark.
Stadtpark? Hier muß doch der breite Turnplatz sein.
Hat sich was, das war vor dreißig Jahren!
soso! nun, das muß einem doch gesagt werdeu. Väterchen! Nur nichts
für ungut!
Garnichts für ungut, kam es ans dem Murrkopf freundlicher heraus, jetzt
ist hier die Gasanstalt und das Fabrikviertel, dort drüben an Stelle des Eichen-
baumes die Eisenbahn. Dann plapperte er weiter: Turnplatz? ja ja, war just
breit genug für die zweihundert Stndenter, jetzt zieht sich das schmale Land
am Ufer bis zu den Arkaden.
Danke für Auskunft! Jetzt finde ich mich schon zurecht. Hier komme ich
doch gleich zu den vier Ulmen mit der Säule?
Ach was! längst weggeputzt, murrte das Männlein; das sah zu plump
und zerrcmft aus, jetzt stehen die Rosenbuketter dort.
So sind wohl auch die Arkaden umgerissen? fuhr der „blasse Hein¬
rich" auf.
Bewahre, belehrte ihn der Einheimische; das ist königlich, das steht fest-
Nur das Städtische haben sie rattenkahl gemacht. Aber, wertester Herr, fuhr er
fort, sind wohl gar der S. Heinrich? (er nannte den Familiennamen). Die
Stimme, fügte er weinerlich hinzu, kommt mir so bekannt vor.
Der „blasse Heinrich" hielt den alten, mit den Händen hcrumfachirendcn
Mann an und betrachtete ihn näher. Ja freilich, Alter, bin ichs, und Ihr seid
der Hvlfert ans der Kapuzincrgasse, der Wirt Pipins?
Jnstcment, sagte der Alte und gab nun weiter ans Befragen Bescheid, daß
es ihm schlecht und recht gehe, und er vom Rathause vierundzwanzig Thaler
Pension beziehe, und als ihm der „blasse Heinrich" ein silbernes Fünfmarkstück
reichte, griff er gierig darnach und beteuerte: Dies Schaustück lasse ich mir aufs
Herz legen, wenn ich tot bin, denn es kommt von dem Allerbesten aus unsrer
ganzen Schule, von dem die ganze Stadt heute fabulirt, wie er die Rede so
schön gehalten über allen den Aufgeputzten.
Er wollte noch so fortplappern, aber der „blasse Heinrich" sagte: Genug
für heute, wir kommen alle morgen zu Euch, Meister Hvlfert, die ganze
Kameradschaft von ehedem, ich sag's dem Pipin, wo Ihr wohnt. Oder nein,
unterbrach er sich selbst, — denn er war im Augenblicke ganz außerhalb der
veränderten Sachentwickluug, — geht nur morgen früh in die „Krone," und
fragt nach dem Herrn Hoftheaterregisseur. Werdet Jhr's Euch merken?
Merken! wiederholte das Männlein.
Und fragt anch nach seiner Tochter Barbara!
Barbara! wiederholte jener.
Merkt Euch nur die Namen, Meister! Ihr werdet eine freundliche Auf¬
nahme finden und ein gutes Stück Geld bekommen.
Geld bekommen! hallte es wieder ans dem alten Gerüste nach.
Nun. sagt mir noch, Meister, ob denn auch mein ehemaliger Wirt noch
vorhanden ist, der Schiefwurz?
Der Schiefwurz? fragte Meister Holfert und sann nach.
Erinnert Euch doch, Alter! Lebt der Schiefwurz uoch?
Ach nein, gnädiger Herr, kam es mit Wisperstimme aus dein Männlein
heraus (während er oft das Silberstück vor die Angen führte): Der Schicfwnrz
liegt schon über die dreiundzwanzig Jahre begraben.
So gehabt Euch wohl, Meister! Kommt nur, ich führe Euch die Stufen
hinauf.
Er geleitete ihn bis an die Thürschwelle, dort schüttelte er ihm die Hand
zum Abschiede. Im Weitergehen dachte er: Ich werde hier nicht viele mehr
antreffen, muß morgen früh auf dem Kirchhofe einmal nachsehen.
(Fortsetzung folgt.)
Presse und Publikum. In Wien ist ein Strike in Szene gesetzt worden,
ti!r auf die Art, wie die dortige Presse in ihrer Mehrzahl ihren Beruf auffaßt,
^>n bezeichnendes Licht wirft. Der bekannte Abgeordnete schönerer führte, wie c?
scheint in seiner eigentümlichen grobkörnigen Manier, darüber Klage, daß Zeitungs¬
reporter sich in diejenigen Lokalitäten in: Parlamcntshause eindrängten, welche nur
für die Abgeordneten bestimmt sind, und drohte, falls dem Mißbräuche nicht ge¬
steuert werde, mit Selbsthilfe. Daraufhin verfügte der Präsident des Abgeordneten¬
hauses das Erforderliche, und zur Strafe bringen die meisten Zeitungen keine
Sitzungsberichte mehr! Einige fühlen wenigstens, daß sie damit eine ihren Abon¬
nenten gegenüber übernommene Pflicht verletzen, und wollen diese glauben macheu,
daß die Berichterstattung unmöglich gemacht worden sei. Hier liest mau, auf der
Galerie erfahre der Reporter nicht genug, er müsse sich von Mitgliedern des
Hauses über die „Vorgänge" in demselben unterrichten lassen; dort heißt es, auf
der Galerie höre man überhaupt nichts n. f. w. Nun ist zwar thatsächlich der
Hansensche „Prachtbau" im äußersten Grade unakustisch, und der Platz der Jour¬
nalisten mag in dieser Beziehung besonders schlecht beschaffen sein: aber von den
Gänge» und Konferenzzimmern aus werden sie doch noch weniger die Reden ver¬
nehmen! Zum Ueberfluß wird den Blättern ein nach stenographischen Aufzeich¬
nungen gearbeiteter Sitzungsbericht geliefert, sodaß sie im Grnnde garnicht nötig
hätten, Reporter in das Haus zu schicken Und man sollte glauben, daß jedes
Organ von den Abgeordneten seiner Partei mit Mitteilungen über die Parlamen¬
tarischen Vorgänge, welche sich nicht öffentlich abspielen, werde versorgt werden-
Die Ausreden über den Wegfall der Sitzungsberichte sind genan so stichhaltig, als
wenn der Theaterreferent behaupten wollte, er könne eine Aufführung nicht be¬
sprechen, weil ihm nicht erlaubt werde, sich hinter den Coulissen aufzuhalten; das
Publikum wird dafür gestraft, daß die Abgeordneten gegen die Zudringlichkeit der
porro-^-Iinöi- geschützt werden sollen! Es wird nun darauf ankommen, ob die
Parlamentarier es länger aushalten, in den Zeitungen nicht genannt zu werden,
oder die Leser, den Parlamentsbericht zu entbehren.
Römische Toleranz. Nach Zeituugsmittciluugen ist am ersten und zweiten
Sonntage nach Epiphanias in allen katholischen Kirchen Badens ein Hirtenbrief des
Erzbischofs von Freiburg verlesen worden, in welchem hinsichtlich der Stellung der
katholischen Kirche zu den gemischten Ehen den Gläubigen folgendes zur Nach'
nchtung eröffnet wird: „Die katholische Kirche besteht darauf, daß gemischte Ehen
ihrer Angehörigen nicht nur nach katholischer Vorschrift allein eingegangen werden,
sondern daß auch dem katholischen Teil die ungehinderte Ausübung seiner Religion
bestimmt zugesagt und die Taufe und Erziehung sämtlicher Kinder in dem römisch-
katholischen Glauben zugesichert werde. Darauf zu verzichten, wäre nicht Liebe und
Duldung, souderu Verrat an der Wahrheit, die nur eine sein kann. Das hieße
den Irrtum der Wahrheit gleichstellen und zugeben, daß Katholiken in ihren Kin¬
dern vom katholischen Glauben abfallen. Ueberaus groß ist aber die Verblendung
und Sünde jener Katholiken, welche gegen Gottes und der Kirche Gebot vor dem
Diener einer andern Religion (!) eine Ehe einzugehen versuchen (!), den Segen der
Kirche und den giltigen Empfang des Sakraments verschmähen (!) und zum voraus
schon leichtsinnig und gewissenlos auf die katholische Kindererziehung verzichten.
Solche Katholiken schließen sich damit von den Segnungen der Kirche aus und
können auch zu den übrigen Sakramenten nicht zugelassen werden, bis sie ihr
schweres Vergehen wahrhaft bereuen und dessen Folgen, soweit sie es vermögen,
wieder gut machen u. s. w."
Dieser neueste erzbischöfliche Hirtenbrief ist wieder einmal ein Dokument echt
römischer „Duldung." Die Wahrheit ist nur eine, und sie ist natürlich nur ans
der römischen Seite zu finden. Nicht mir gegen die Kirche, nein, auch gegen
Gottes Gebot ist es, wenn ein Katholik vor dem Diener einer andern Religion (!)
eine Ehe einzugehen den Versuch macht. Und es zeugt von Leichtsinn und Gewissen¬
losigkeit, wenn auf die katholische Kindererziehung, d. h. in diesem Zusammenhange
auf die Taufe und Erziehung der sämtlichen Kinder aus einer gemischten Ehe in
dein rlimisch-katholischen Glauben Verzicht geleistet wird.
Damit ist sehr unzweideutig ausgesprochen: Auf einen Kompromiß und
Friedensschluß mit der evangelischen Kirche — sie ist es die, in dem Hirtenbriefe
als „andre Religion" bezeichnet wird — lassen wir uns nnter keinen Umständen ein.
Nun, wenn die römische Kirche auf diesem wichtigen Grenzgebiete jedweden
Einigungsversuch und Vorschlag von sich weist, so bleibt eben anch dem friedens-
bedürftigcu Protestant»» nichts weiter übrig, als dem Willen der römischen Kurie
und der Bischöfe anch den seinigen fest und bestimmt entgegenzustellen und mit
allen sittlich erlaubten Mitteln dahin zu wirken, daß, wenn einmal eine gemischte
Ehe eingegangen ist, entweder sämtliche Kinder ans einer solchen der evangelisch-
Protestantischen Kirche gewonnen oder doch ein Teil — mit Rücksicht je auf die
Konfession von Vater oder Mutter — derselben erhalten werde. Auch auf diesem
Gebiete gilt leider das Wort: 81 öl« xaoem, paru. belluw! Wer nur auf Krieg
und fortgesetzte Zwietracht sinnt, der darf sich nicht wundern, wenn man ihm mit
der Hand an der Schwertscheide gegenübersteht. Die evangelische Kirche wird sich
trotzdem den Ruhm nicht nehmen lassen, daß sie nicht nur weiß, was wahre To¬
leranz ist, sondern sie auch gern bethätigt.
Hinsichtlich der „Duldung" bleibt sich übrigens Rom stets gleich. Als wir
die Ausführungen des Freiburger Erzbischofs lasen, traten uns die Zeilen inS
Gedächtnis, welche ein katholischer Geistlicher ans dem Regierungsbezirk Trier wegen
einer gemischten Ehe im Anfang des Jahres 1870 an den Schreiber dieses ge¬
richtet. „Wenn es — so hieß es dort wörtlich — nur eine wahre Kirche Christi
giebt, woran kein vernünftiger Mensch zweifelt (denn Christus, das unsichtbare Haupt
der Kirche, kaun ja nicht verschiedne Leiber haben, er wäre dann ein Ungeheuer) (sie),
dann kann auch nur eine Kirche die alleinseligmachende sein. Nun sind wir
Katholiken aber fest überzeugt, daß wir uns in der einzig wahren Kirche Christi
befinden. Folglich müssen wir überzeugt sein, daß sie die alleinseligmachende Kirche
ist nud daß außer ihr kein Heil; sie kann es nicht dulden, wenn in unsrer Zeit
alle christlichen Religionen für gleichberechtigt ausgegeben werden. Welch ein
Unsinn' würde daraus folgen!"
Durch das Erscheinen dieses neuesten Werkes des rühmlichst bekannten Autors
wird ein in weitesten Kreisen längst nud tief empfundener Mangel endgiltig ge¬
hoben. Ein einheitliches Gesamtbild der Vergangenheit dieser unsrer schönsten und
so wichtigen Ostprovinz von der ältesten bis zur Neuzeit, eine bezüglich der Er¬
forschung und Darstellung heutigen Anforderungen wirklich entsprechende Landes-
geschichte, wie sie uns Grünhagen, zunächst für die ältere Periode, in dem vor¬
legenden ersten Bande darbietet und in einem voraussichtlich bald folgenden
zweiten Teile fortzusetzen und zu beenden verspricht, ward bisher schmerzlichst vermiß!.
Das seiner Zeit von Steuzel, dem Altmeister der schlesischen Geschichte, gleich¬
sam als Schlußarbcit seines Lebens unternommene gleichartige Werk ist bekannt¬
lich nur bis zum Jahre 13S5 gediehen, die Weiterführung desselben hat der Tod
des großen Gelehrten (f 1854) verhindert. Nach vollen drei Dezennien mithin
hat Grünhagen, der Nachfolger Stenzels in der Leitung des Breslnuer Staats¬
archivs und der langjährige Vorstand des wohl unbestritten regsamsten und pro¬
duktivsten Provinzial-Geschichtsvcreins der Gegenwart, den alten Plan von neuem
aufgenommen. Sicher war hierzu niemand berufener als er. Wie überaus schwierig
auch die Aufgabe, eine Geschichte Schlesiens zu schreiben, war, gegenwärtig kam
und kommt hierbei dem Neubenrbeiter derselbe» die große Fülle der inzwischen
veröffentlichten einschlägigen Quelleuwerke und Spezialforschuugeu, welche ihre Ent¬
stehung zum weitaus größten Teile dem genannten Vereine nud dessen Mitgliedern
verdanken, außerordentlich zu statten.
Die Darstellung des in dem vorliegenden ersten Baude Gegebenen ist, den
obwaltenden Bedingungen entsprechend, knapp, aber klar, fesselnd und sichtlich von
hingebcndster Zuneigung des Verfassers zu seinem speziellen Heimatslande erfüllt.
Von dem reichen Inhalte selbst dürften namentlich diejenigen Abschnitte des Buches
das besondre Interesse anch außerschlesischer Kreise erregen, welche die frühzeitige
Germanisirung Schlesiens und die mannhafte Behauptung des Deutschtums gegen
die slavischen Stämme, ferner die Leidcnsperiode der Hussitenkämpfe und in dritter
Linie die kulturhistorischen Zustände des Landes (als Rückblick aufs Ganze) be¬
handeln. Dem eigentlichen Texte, dem ein sorgfältiges Register beigegeben ist,
stehen die Qnellennachweisnngen und kritische Anmerkungen als selbständiger An¬
hang gegenüber. Die Ausstattung des Werkes ist, wie dies von der Perthesscheu
Verlagsbuchhandlung nicht anders zu erwarten, vortrefflich. Schließlich mag die
Mitteilung nicht unterlassen sein, daß Grünhcigcns Werk einen Teil der von dem
genannten Verlage unternommenen Sammlung deutscher Landesgeschichteu bildet.
Die holde Gestalt der Königin Luise und ihr tragisches Schicksal zu verherr¬
lichen, darf gewiß als ein glücklicher Vorwurf für einen Patriotischen Dichter be¬
zeichnet werden, vorausgesetzt, daß der Dichter ebenso stark als Künstler wie als
Patriot ist; der Stoff ist des höchsten Aufwandes von Kunst würdig genug. In
deu obigen Romanzen berührt uns die begeisterte Vaterlandsliebe allerdings
sympathisch, uur daß es ebeu selten wirkliche Romanzen sind, sondern zumeist
sentimental moralisirende, in nicht eben tiefsinnigen Reflexionen einherschreitende
Verse. Eine gewisse Gewandtheit in der Form, eine äußerliche Kunst der Sprache
soll uicht verkannt werden. Was soll man aber dazu sagen, wenn der Autor, vor
lauter Enthusiasmus für seine Heldin, ihre eignen Briefe mit möglichster Treue in
seine gereimten Verse übertragen zu müssen glaubt, und sich dadurch selbst das
Zeugnis ausstellt, daß er keine Ahnung von der Aufgabe des Dichters im Unter¬
schiede vom Historiker hat? In Reime gesetzte Anekdoten geben noch kein Kunst¬
werk, und dein unverdorbenen Leser ist die reine Wirklichkeit unendlich viel poetischer
als solche Versifikation. Besser gelungen ist die Romanze „Bayard-Blücher" (S. 61)!
einige Stimmung herrscht in der Romanze (S. 47) „Beim alten Fritz"; hübsch ist
auch „Eine preußische Weihnacht (S. 2b). Bilde, Künstler, rede nicht — "N
diesen Grundsatz aller Kunst möge sich der Autor halten.
rgend jemand hat einmal den Ausdruck gebraucht, Würtemberg
sei die protestantische Vendee. In der That ist die hierin ent¬
haltene Charakteristik für mehrere Jahrhunderte unsrer Landes-
geschieht« durchaus zutreffend. Seit den Tagen, wo Herzog Ulrich
nach dem Siege bei Lauffen 1534 sein Land in einer Weise pro-
testantisirte, die so wenig den Beifall des Herrn Johannes Janssen gefunden hat,
ist das Laud über zweihundcrtundfünfzig Jahre so gut wie rein evangelisch ge¬
wesen; die Stiftung Herzog Christophs, das „höhere evangelische Seminar" in
Tübingen, kurzweg das „Stift" genannt, lieferte dem Lande und der deutschen
Wissenschaft eine Reihe hervorragender Zierden und machte Würtemberg zu
einem bevorzugten Sitze protestantischer Gesinnung und oft auch autipäpstlicher
Polemik. Erst die rasch aufeinander folgenden und verhältnismäßig außerordent¬
lich umfangreichen Gebietserlverbungen, welche der schnell vom Herzogtum zum
Königreich aufsteigende Staat in den napoleonischen Zeiten gemacht hat, führten
ihm um obern Neckar, an der Tauber und Jagst und zwischen Donau und Boden-
see eine Reihe katholischer Städte und Dörfer zu, wodurch der vorher religiös
ausschließliche Staat zu einem paritätischen wurde; heutzutage zählt er etwa
1300000 Protestanten und 600000 Katholiken, sodaß die letzteren ein schwaches
Drittel der Bevölkerung bilden.
Aus jener rein protestantischen Zeit schreibt sich nun die Gewohnheit her,
vermöge deren man in Würtemberg die politische und die kirchliche Gemeinde
als identisch betrachtet, und ein Ausdruck dieser ursprünglich durchaus die Sache
äffenden Ansicht war es, wenn mau auch die Verwaltung des kirchlichen Ver¬
mögens der Gemeinde im wesentlichen der weltlichen Vertretung der Gemeinde
übertrug. Des nähern geschah dies so, daß man zu den Gemeinderäten und
dem Ortsvorsteher (Schultheißen) die oder den Geistlichen hinzufügte und so
aus dem weltlichen Gemeinderate den kirchlichen Stiftungsrat bildete, welcher die
kirchlichen Gelder (auf dem Lande der „Heilige" genannt) verwaltete.
Diese Ordnung hatte nun freilich ihre unleugbaren Schattenseiten. Es
liegt auf der Hand, daß bei den Gemeindewahlen nicht religiöse, sondern poli¬
tische oder kommunale Gesichtspunkte den Ausschlag gebe», daß die Wähler
mehr daran denken, daß sie den Gemeinderat zusammenzusetzen im Begriff sind,
als den Stiftungsrat. Ferner kommen wohl in allen größeren Orten natürlich
auch Vertreter der in der Minderheit befindlichen Konfession in den Gemeinde¬
rat, und so verfügen oft genug Katholiken mit über protestantische Gelder und
Protestanten mit über katholische; in vereinzelten Fällen können so auch Juden
in die Lage kommen, über die Mittel der christlichen Gemeinschaften mit zu
bestimmen. Endlich aber ist es wohl ziemlich naheliegend, daß die Gemeinde¬
räte allemal, wenn die Gemeinde eine kostspielige Aufgabe zu lösen hat und der
„Heilige" über eine wohlgespickte Börse verfügt, der Versuchung unterliegen, sich
zu fragen: Hat die betreffende Sache nicht von weitem einen Zusammenhang
mit der Kirche, sodaß man den „Heiligen" für sie in Anspruch nehmen kann?
Diese Frage wurde oft genug auch dann bejaht, wenn sie schlechtweg zu ver¬
neinen gewesen wäre, und so ist von der Regierung aktenmäßig nachgewiesen
worden, daß mit kirchlichen Geldern die Kosten für Feuerspritzen, für Monturen
von Polizeidienern, für Hebammen, für Vereinsfahnen und dergleichen bestritten
worden sind. In einem Dorfe auf der schwäbischen Alb war die Kirche in
baufälligen Zustande; aber statt sie herzustellen, entnahm man dem Kirchenfonds
zehntausend Mark für die Herstellung — einer Wasserleitung, die freilich in
das System der großartigen Albwasserversorgung gehört, aber doch zur evan¬
gelischen Kirche gewiß in einem noch entfernteren Verhältnis steht als der geistig
avancirteste Universttätsprvfcssor zum Affen.
Schon lange hatte man in kirchlichen Kreisen diese Übelstände schwer und
schmerzlich empfunden; die kirchlichen Stiftungen liefen vielfach Gefahr, zu kom¬
munalen Zwecken aufgezehrt zu werden; dem katholischen Bischof von Rotten¬
burg stand überdies ein verfassungsmäßiger Anspruch auf die Oberleitung der
katholischen Stiftungen zu, der in langen Jahren nicht zu gesetzlicher Fest¬
stellung gekommen war. Alle diese Gründe bewogen die Regierung, den
Ständen zwei Gesetzesvorlagen zu unterbreiten, welche für beide christliche Kirchen
die Anordnung trafen, daß besondre Kirchcngemeinderäte für die Verwaltung des
Kirchenvermögens gebildet werden und die Ortsvorsteher diesen kirchlichen Kol¬
legien nicht ohne weiteres angehören sollten, um deren Selbständigkeit von der
Politischen Gemeinde möglichst zu sichern; im Notfall sollte von der evangelischen
Kirche auch eine Kirchensteuer erhoben werden dürfen. Man konnte anfänglich an¬
nehmen, daß diese Vorlagen, welche in der Kommission der Abgeordnetenkammer
sorgfältig vorberatcn und im Grundsatz angenommen worden waren, auch im
Plenum Annahme finden würden; aber es geschah das Gegenteil. Der katholische
Entwurf würde zwar ohne Zweifel durchgegangen sein, wenn er nicht als unlöslich
mit dem evangelischen angesehen worden wäre; die protestantische Mehrheit der
Kammer hätte, da in Würtemberg ja voller konfessioneller Friede herrscht, gern der
katholischen Minderheit einen von derselben sehnlich gewünschten Zustand bewilligt.
Aber der protestantische Entwurf fand viele Gegner, und so wurde am 22. De¬
zember mit 48 gegen 19 Stimmen und 21 Enthaltungen der katholischen Abge¬
ordneten das Eingehen auf beide Entwürfe von der Kammer abgelehnt.
Woher kam dies? Wie konnte ein Gesetz fallen, das doch einem unleug¬
bar ungerechten Zustande abhelfen sollte?
Die Antwort ist eine doppelte. Erstlich erhoben sich gegen die beantragte
Neuordnung alle die, welche überhaupt am Alten hangen, und deren Zahl ist
ja immer und überall groß. Dann setzten sich auch diejenigen zur Wehre,
welche den seitherigen Stand der Dinge deshalb nicht aufgeben wollen, weil er
für die Gemeinden bequem und nützlich war; man hatte so oft schon mit dem
Gelde des „Heiligen" so schöne Dinge möglich gemacht, man wollte sich dies
auch fernerhin nicht versagen, man wollte nicht „depossedirt werden." Zweitens
aber bekam der Entwurf auch von kirchlichen Gesichtspunkten aus Feuer von
rechts und links. Die streng kirchliche Partei und die Liberalen reichten sich
die Hand zum gemeinsamen Ansturm. Dies kam daher, daß der Entwurf aus¬
drücklich als Fortsetzung früherer gesetzgeberischer Akte auf kirchlichem Gebiete
auftrat, daß er die Organisation der evangelischen Kirche weiter entwickeln wollte,
und die Motive es aussprachen, daß die 1867 vom König als Luininu8 vxi-
Moxus eingeführte protestantische Synode zu einer staatlichen Beanstandung keinen
Anlaß biete; die Synode als Schlußstein des ganzen neuen Zustandes wurde
damit staatlich anerkannt. Diese Synode aber, so streng orthodox sie sich be¬
nommen hatte, war aus einem Wahlverfahren erwachsen, das nach modernem
Konstitutionalismus schmeckte; davon wollten aber alle streng Lutherischen nichts
wissen. Und dann verfolgt man auf dieser Seite das Ziel, die politische Ge¬
meinde nicht von der religiösen zu trennen, sondern letztere durch die erstere
wie mit einem Sauerteige zu durchdringen und alles unter den Einfluß der Re¬
ligion zu stellen, nicht aber letzterer ein gesondertes Gebiet abseits von der Welt
anzuweisen. Ein merkwürdiger Standpunkt vielleicht, daß man trotz kirchlichster
Gesinnung ein Stück kirchlicher Selbstverwaltung abzulehnen sich entschließt;
aber ohne Frage ist es doch verständlich und konsequent in sich selbst; seine
Anhänger gaben zu erkennen, daß sie die politischen Gemeinden für das reli¬
giöse Leben in ihrem Sinne nach zu erobern hofften, und warfen sozusagen die
Fahne ins feindliche Lager, um die Soldaten zum Sturm anzufeuern.
Aber noch schwerer wog die Gegnerschaft von links, als dessen hauptsäch¬
lichster Wortführer der frühere Kultusminister Rümelin, seit 1868 Kanzler der
Landesuniversität Tübingen, auftrat. Vor bald fünfundzwanzig Jahren ist der
geistvolle, als Philosoph und Statistiker mit Recht überall berühmte und an¬
gesehene Mann über dem Konkordat zu Falle gekommen, gegen das sich das
protestantische Gefühl mit Macht empört hatte; nach so langer Frist trat er
wieder in einer kirchlichen Debatte im Vorderkampfe auf, und sofort erhielt der
ganze Streit eine Wendung, welche ihm eine Bedeutung über die würtem-
bergischen Grenzpfähle hinaus sichert. Rümelin sprach sich mit aller Schärfe
gegen den Entwurf aus, weil er dahin führe, daß die Synode, welche bis jetzt
bloß auf königlicher Verordnung beruhe und durch eine solche auch wieder auf¬
gehoben werden könne, staatlich anerkannt werden würde; denn indem der Kirchen-
Vertretung das Recht gewährt würde, kirchliche Anlagen zu beschließen, würde
sie auch staatlich als bestehend hingenommen. Zu diesem Schritte aber könne
er sich nicht verstehen, weil die Synode nicht bloß unnötig, sondern auch positiv
schädlich sei. Unnötig sei sie, insofern sie gar keinen dauernden Stoff zur Be¬
ratung besitze; denn kirchliche Gesetze seien nur selten notwendig, und über andre
Dinge entschieden besser andre Körperschaften; so über Gesangbücher, Choral-
bücher u. s. w., zu deren zweckmäßiger Fassung einige sachverständige Männer,
nicht aber eine Synode von etlichen sechzig Köpfen berufen sei. Positiv schädlich
aber sei die Synode, weil jeder, der in sie eintritt, sich auf das „Bekenntnis
der evangelischen Kirche" verpflichten müsse; und unter diesem Bekenntnis seien
ohne Zweifel die Lehrsätze der symbolischen Bücher des sechzehnten Jahrhunderts
verstanden, zu welchen die Zeitübung und die Wissenschaft des neunzehnten Jahr¬
hunderts in schroffem Gegensatze stünden. Eine große Zahl von Männern, die
nichts weniger sein wollten als Gegner ihrer Kirche, die wie er, der Redner,
es sich selbst zum höchsten Gewinn schätzten, der evangelischen Kirche Deutsch¬
lands anzugehören, und ihr den Besitz ihrer geistigen Güter zu verdanken glaubten,
werde durch diese Eidesformel thatsächlich aus der Synode ausgeschlossen; sie
fühlten sich dem überlieferten Kultus der Kirche entfremdet, weil sie mit den
Akten desselben den von der Kirche geforderten Sinn nicht zu verbinden ver¬
möchten; und obwohl sie Protestanten sein und bleiben wollten, müßten sie sich
doch zur Zeit der Kirche äußerlich fern halten. Daraus folge, daß die dring¬
lichste Aufgabe der Gegenwart die sei, Theologie und Wissenschaft wieder in
Fühlung mit einander zu bringen und Glauben und Wissen unter einander
auszugleichen. Diesen so nötigen Prozeß der leisen, allmählichen Umbildung
des Dogmas im Zusammenhang mit der Wissenschaft störe die Synode, sie
mache jede Änderung vom orthodoxen Gesichtspunkte abhängig. Deshalb stimme
er, obwohl er ein abgesagter Feind aller materialistischen Weltanschauung, alles
Unglaubens, alles Wissenshochmuts sei, gegen den Entwurf, welcher in 8 57
eine ganze Reihe von Artikeln der Synvdalvrdnnng staatlich so festlegen wolle,
daß der König ohne ständische Verabschiedung nichts von derselben zurücknehme»
könnte.
Die Worte des Kanzlers machten tiefen Eindruck in der Kammer, und alle
die warmen und eindringlichen Worte, welche namentlich vom Ministertisch, von
dem Referenten Freiherrn Wilhelm von Gemmingen und von dem General-
superintendenten von Hall, dem Prälaten Beck, für den Entwurf gesprochen wurden,
konnten ihn nicht rettein Beck fragte den Kanzler, ob denn irgendeine Religions-
genosfenschaft ohne Dogmen bestehen könne, ob nicht selbst der krasseste Unglaube
seine Dogmen habe? ob irgendeine Gemeinschaft ohne Bekenntnis und ohne
alle Zuchtmittel ihren Gliedern gegenüber denkbar sei, und ob die Synodal¬
ordnung nicht gerade in der Kirchenzucht äußerst gemäßigt und vorsichtig sei?
Er berief sich anf die Geschichte und ihre Erfahrungen, auf Nümelins Ansichten
als Minister, auf das gute Recht der evangelischen Kirche auf Autonomie und
Selbstverwaltung; er sprach Stunden lang, so glänzend, so durchdacht, so fein,
daß selbst das Organ der Demokratie ihm volle Anerkennung zollte. Am Ende
wurde, wie gesagt, der Antrag des Kanzlers angenommen und der Negierung
mir anheimgegeben, durch besondres Gesetz die Ausscheidung des Kirchenver¬
mögens da zu ermöglichen, wo sie von einer Gemeinde gefordert werde. Der
erste Versuch, die Trennung der Kirche vom Staate an einem einzelnen, be-
sonders dringlichen Punkte zu vollziehen, ist damit in Würtemberg gescheitert,
und deshalb wird der 22. Dezember 1884 ein Tag von lange nachwirkender
Bedeutung bleiben.
obere von Mohl, dessen .Klassizität als Zeuge in dem vorliegenden
Thema niemand bezweifeln wird, sagt einmal: „Ohne unmittel¬
bare Stütze und Hilfe der Rechtspflege kann der Bürger mög¬
licherweise sein ganzes Leben ruhig hinbringe», nicht aber eine
Stunde ohne sichtbare Einwirkung der Polizei."'") In dieser ihrer
überall eingreifenden Thätigkeit mag der Grund dafür liegen, daß die Polizei
^' zahlreichen Mißdeutungen ausgesetzt ist; denn natürlich wird der, dem eine
^vlizeiliche Verfügung zugeht, nicht leicht glauben, daß er sich eine Versäumnis
hube zu Schulden kommen lassen, oder daß er gerade verpflichtet sei, den oft
"ut nicht unerheblichen Kosten oder Mühseligkeiten verbundenen Verfügungen
nachzukommen. Dies Mißtrauen mag dadurch noch verstärkt werden, daß
die Polizei ihre Verfügungen bisher regelmäßig ohne vorhergehendes kontra-
diktorisches oder gar öffentliches Verfahren ergehen ließ, sodnß die Beteiligten
über die Entstehung einer solchen Verfügung oft im Dunkeln waren, weshalb
man nicht selten hören konnte: Wer weiß, wie die Verfügung entstanden ist!
Und da auch die Entscheidungen der Beschwerdeinstanz in gleicher Weise er¬
folgten, so übertrug sich dies Mißtrauen naturgemäß auch auf diese. Als ein
einziges, aber wohl recht bezeichnendes Beispiel, wie weit dies Aburteilen liber
die Polizei ging, mag eine Stelle aus Adolf Stahrs Lebensbeschreibung des
Kaisers Tiberius dienen, wo Stahr bei der Schilderung des vortrefflichen Cha¬
rakters des Stadtpräfekten L. Piso und seiner wackern Amtsführung ohne allen
Zusammenhang ausrufen zu müssen glaubt: „Wie sticht gegen solche Charak¬
teristik das BeHaben unsrer modernen Hinckeldeys ab!" Nach den Erfahrungen
Greises*) hat sich in Preußen infolge der neueren Verwaltungsgesetze in wunder¬
barem Kontraste mit den Zuständen von 1850 bis 1858 „das Vertrauen auf
die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wiederhergestellt," und wir dürfen daher
annehmen, daß eine gleiche angenehme Wahrnehmung in den übrigen deutschen
Ländern, welche gleiche Systeme durchgeführt haben, gemacht worden ist, und in
den preußischen Provinzen, in welchen diese Gesetzgebung eingeführt werden wird,
mit dieser Einführung ebenfalls gemacht werden wird. Wunderbar aber erscheint
es im Gegensatze dazu, welches großartige Mißtrauen den Verwaltungsbehörden
und insbesondre den dabei am meisten in Betracht kommenden Polizeibehörden
im engern Sinne des Wortes in der großen Justizgesetzgebung, welche am
1. Oktober 1879 ins Leben trat, entgegengebracht wird. Es hat dies zu ganz
schiefen und unhaltbaren Zuständen bezüglich der Stellung der Polizei im
Strafverfahren geführt. Auf den folgenden Blättern sollen einige Punkte in
dieser Richtung beleuchtet werden. Bei allen diesen Punkten wird sich zeigen,
daß die Gesetzgebung die Polizeibehörden nicht als ein ebenbürtiges Glied des
Staatsorganismus, sondern als ein der speziellen Aufsicht durch andre Behörden
bedürftiges Institut betrachtet. „Durch die ganze einschlagende Gesetzgebung
der neueren Zeit, klagt das Berliner Polizeipräsidium,"*) zieht sich wie ein
roter Faden eine gewisse Besorgnis vor möglichen Willkürlichkeiten der Polizei
und das Streben, jede polizeiliche Thätigkeit mit Vorsichtsmaßregeln zu um¬
geben, die das Publikum vor dieser vermeinten Willkür schützen sollen. Leider
wird mit dieser übergroßen Vorsorge auch die Thätigkeit der Polizei gelähmt,
ihr Ansehen untergraben und gerade das bei ihr verhindert, was man an der
englischen Polizei so lobt und als musterhaft anerkennt, jenes Ansehen, jene
amtliche Würde, mit der der Konstabler dem Publikum entgegentritt und ihm
gegenübersteht."
Drei Punkte mögen hier speziell erörtert werden: 1. Die Stellung der
Polizei im Ermittlungsverfahren, 2. die Vertretung der polizeilichen Interessen
vor Gericht, namentlich nach vorausgegangener polizeilicher Strafverfügung, und
3. die richterliche Prüfung von Polizeiverordnungen.
1. Ganz mit Recht legt die „Begründung" des dem Reichstage vorgelegten
Entwurfs eines Gerichtsverfassungsgesctzes (zu Paragraph 123 des Entwurfs)
einen entscheidenden Wert darauf, auch „ohne gerichtliches Verfahren die Grund¬
losigkeit einer Denunziation oder eines angeregten Verdachtes zu erkennen und
also ergebnislose Untersuchungen zu vermeiden." Es ist nun die Frage, auf
welchem Wege man dies Ziel am besten erreicht. Selbstverständlich muß in
allen Fällen das Ermittlungsverfahren in der von der Staatsanwaltschaft an¬
gegebenen Richtung — im allgemeinen und im speziellen — geführt werden,
oder, um mit der „Begründung" zu reden, es ist unzweifelhaft, daß der Staats¬
anwaltschaft als „derjenigen Behörde, welcher die Verantwortlichkeit für die Ver¬
folgung strafbarer Handlungen zugewiesen ist, notwendig auch die Organe zu
Dienste stehen müssen, deren sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe bedarf."
Man kann nun das Ermittlungsverfahren den Gerichten überlassen, man
kann es den Polizeibehörden übertragen, man kann auch, dem von Robert von Mohl
in seinem Lehrbuch der Polizeiwissenschaft entwickelten System folgend, dafür
eine eigne Behörde der Prüventivjustiz oder gerichtlichen Polizei schaffen. Das
erste System, auf welches wir weiter unten noch zurückkommen werden, war
bei Erlaß der Juftizgesetze nirgends mehr in Übung, sämtliche damals giltigen
Strafprozeßordnungen kannten nur ein polizeiliches Ermittlungsverfahren. Ein
solches wird nun theoretisch am richtigsten nach dem Mohlschen System ein¬
gerichtet, da nach diesem der für die Ermittlung der Gesetzesübertretungen Ver¬
antwortlicher Staatsanwaltschaft auch das Ermittlungsverfahren vollständig
überlassen wird, sodaß dann das Ermittlungsverfahren als eine Justizsache auch
nur in den Händen von Justizbehörden unter Ausschluß aller Verwaltungs¬
behörden liegt. So theoretisch richtig aber dieser Gedanke auch ist, so wenig
ist er praktisch durchführbar; denn bei ganz konsequenter Durchführung des¬
selben muß auch die Sicherheitspolizei unter die Staatsanwaltschaft gestellt
werden, wodurch diese mit einer Menge von Dingen belastet wird, welche mit
ihrer eigentlichen Thätigkeit nichts gemein haben, vielmehr wiederum in das
Gebiet der Verwaltung übergreifen. Will man aber die Gerichts- und die
Sicherheitspolizei trennen und unter verschiedne Behörden stellen, so erhält man
— neben einer ganz bedeutenden Belastung des Staatsbudgets — zwei kon-
kurrirende Arten von Polizei, welche sich mit ihrer Thätigkeit gegenseitig kreuzen
und hemmen. Es ist daher dies System, obwohl es von einer so bedeutenden
Autorität wie Mohl lebhaft verteidigt worden ist, nirgends zur Durchführung
gebracht worden, vielmehr hat man überall das Ermittlnngsverfahrcn den mit
der Verhinderung der Gesetzesübertretungen betrauten Organen der Sicherheits¬
polizei übertragen und der Staatsanwaltschaft nur eine gewisse Einwirkung darauf
verliehen. Daß die Regelung eines solchen gegenseitigen Verhältnisses zwischen
Polizei und Staatsanwaltschaft eine sehr schwierige ist, liegt auf der Hand,
es wird aber auch niemand, der mit den Verhältnissen der Pvlizeivcrwaltung
vertraut ist, behaupten können, daß dies Verhältnis dnrch das Gerichtsver-
fasfuugsgesetz und die Strafprozeßordnung in befriedigender Weise gelöst worden
sei. Wie konnte aber auch eine Gesetzgebung gerecht gegen die Polizei ver¬
fahren, welche in der „Begründung" zum Gcrichtsverfassungsgesetz ausspricht, daß
die nunmehr durchgeführte „Leitung der Sicherheitspolizei durch die Staats¬
anwaltschaft wesentlich duzn beitragen muß, der ersteren eine gesetzliche Haltung
zu verleihen!" Hiermit wird ja geradezu ausgesprochen, daß die Polizei der
gesetzlichen Haltung entbehre, und die ihr koordinirte Staatsanwaltschaft aufge¬
fordert, die auf ungesetzlichen Wegen wandelnde Polizei ans den Boden des
Gesetzes zuriickzufnhren. Hierdurch werden solche Anschauungen über die Polizei
genährt, wie sie mehrfach im Reichstage und im preußischen Landtage zum
Ausdruck gekommen sind und den Minister des Innern zu den von allen Polizei¬
behörden mit vollstem Danke vernommenen warmen Vertcidigungswvrten z»
gunsten der Polizei veranlaßt haben.
Bis 1879 stand in sämtliche» deutsche« Staaten mit Ausnahme Braun-
schweigs das erste Ermittlungsverfahren den Polizeibehörden selbständig zu,
welche zu diesem Zwecke Beschlagnahmen, Haussuchungen und Verhaftungen vor¬
nehmen konnten. Sie hatten alle Anzeigen, welche keinen Aufschub gestatteten, selbst
zu verfolgen, alle übrigen ohne Verzug der Staatsanwaltschaft einzusenden, wurden
dann, wenn die Staatsanwaltschaft die weiteren Ermittlungen nicht selbst vor¬
nehmen wollte, zu deren Vornahme ersucht und hatten diesem Ersuchen (je nach
dem Sprachgebrauche der einzelnen Gesetzgebung auch Angeben, Weisungen oder
Anordnungen genannt) Folge zu leisten. Nach der Begründung zum Gerichtsvcr-
fafsungsgesetze wird dies Verhältnis zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft als
ein unfertiges, der organischen Verbindung entbehrendes angesehen. In Vrauu-
fchweig hatte man nach dem Gesetz vom 19. März 1850 die gerichtliche Polizei
direkt unter die Staatsanwaltschaft gestellt, und in Baiern war nach der ge¬
nannten Begründung eine gleiche Organisation der gerichtlichen Polizei „in
Aussicht genommen." Es hätte nun freilich stutzig machen können, daß
sämtliche deutsche Strafprozeßordnungen, welche alle nach dem 19. März 1859
ergangen sind, lieber das „unfertige, der organischen Verbindung entbehrende"
Verhältnis einführten, als daß sie das braunschweigische System eingeführt
hätten, nicht einmal das stammverwandte Hannover nahm dies System an, und
so sprach eigentlich für die Güte dieses Systems nur die Erfahrung in dem
kleinen Herzogtum«: Braunschweig, dessen zufällige örtliche Verhältnisse dabei
nicht ohne Einfluß gewesen sein mögen. Trotzdem hat man diese Erfahrungen
für maßgebend gehalten und das braunschweigische System bei der neuen Ge¬
setzgebung zu gründe gelegt. Jetzt ist der Staatsanwalt „das Haupt der ge¬
richtlichen Polizei," selbst „der Beginn der Ermittlungen" hängt „lediglich von
der Entschließung des Staatsanwalts ab."*) Man sah zwar ein, daß man
unmöglich die ganze Polizei unter die Staatsanwaltschaft stelle» könne, und
kam daher auf die Idee, einzelne (von den Landesregierungen der einzelnen
Bundesstnatcu näher zu bezeichnende) Polizeibeamte für „Hilfsbeamte der Staats¬
anwaltschaft" zu erklären, neben ihrer dienstlichen Unterordnung unter die Polizei
direkt der Staatsanwaltschaft unterzuordnen und mit gewissen der Staats¬
anwaltschaft vorbehaltenen Befugnissen im Gegensatz zu den übrigen Polizei¬
beamten auszustatten. Daß die gleichzeitige Unterordnung dieser Beamten unter
Behörden verschiedener Verwaltungszweige Übelstände mit sich bringen könne
und deshalb begründeten Bedenken unterliege, entgeht der „Begründung" nicht,
allein sie tröstet sich damit, daß sich solche Übclstcinde „da, wo die gerichtliche
Polizei schon jetzt der Staatsanwaltschaft untergeordnet ist, nicht gezeigt haben."
Daß dies nur die Erfahrungen Braunschweigs sind, welche mitzumachen die
übrigen deutschen Staaten nicht für zweckmäßig gehalten hatten, ist bereits
dargelegt.
Und diese Staaten handelten richtig, denn, wenn man den jetzigen Zustand
genauer betrachtet, so ergeben sich formell und materiell schwere Unzuträglich¬
keiten. Die ersteren betreffen freilich nur die Polizei, und die Justizgesetzgebung
ist ja im einseitigen Interesse der Justiz entworfen, also insofern folgerecht; so¬
bald man aber die Polizei auch als ein der Justizverwaltung ebenbürtiges
Glied der Staatsverwaltung ansehen will, wird man finden, daß das jetzt ge¬
schaffene Verhältnis anch formell etwas ganz unfertiges ist. Dies mögen
einige Beispiele zeigen, welche leicht vermehrt werden könnten.
Geht eine Anzeige wegen einer Gesetzesübertretung bei der Polizei, also
doch beim Vorstände der betreffenden Polizeibehörde ein, so hat dieser wegen
der ihm nach ß 161 der Strafprozeßordnung obliegenden Verpflichtung, straf¬
bare Handlungen zu erforschen oder durch seine Organe erforschen zu lassen,
in allen Sachen, die keinen Aufschub gestatten, auf Grund der ergangenen An¬
zeige Ermittlungen alizuordnen. Ergiebt sich nun im Verlaufe derselben, daß
eine Durchsuchung oder Beschlagnahme nötig ist, so ist er selbst und sein beauf¬
tragter Untergebener, wenn dieser nicht gleichzeitig einer der doch schon allein
aus Mangel an Zeit nicht überall zu verwendenden „Hilfsbeamten" ist, plötzlich
unzuständig, diese beiden Handlungen kann ja nur der Hilfsbeamte vornehmen,
und da dieser in seiner Eigenschaft als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft
nur der letzteren, nicht dem Vorstande der Polizeiverwaltung untergeben ist, so
kann dieser seinem eignen Untergebenen nicht den „Auftrag" zur Vornahme der
Durchsuchung oder Beschlagnahme erteilen, sondern er muß ihn darum „er¬
suchen," und wenn dieser aus irgend einem Grunde Bedenken gegen die Vor¬
nahme hat, so kann er ihn nicht dazu zwingen, sondern kann sich nur an die
Staatsanwaltschaft wenden und diese ersuchen, seinem Untergebenen das zu
befehlen, was er für nötig hält, wenn er es nicht, wie wahrscheinlich, vorziehen
wird, die ganze Sache der Staatsanwaltschaft zur weiteren Betreibung zu über¬
senden. Daß aber durch einen solchen notwendigen Wechsel in den handelnden
Personen viel Zeit, oft die beste Zeit verloren geht, liegt ans der Hand.
Nach Z 153 des GerichtSverfassungsgesctzes sind sodann die als Hilfs-
beamten der Staatsanwaltschaft bezeichneten Polizeibeamten „in dieser Eigen¬
schaft verpflichtet, den Anordnungen der Staatsanwälte Folge zu leisten," und
die Begründung dazu erklärt! „Es ergiebt sich von selbst, daß die betreffenden
Staatsanwälte jene ihnen untergeordneten Beamten durch Exekutivstrafen zur
prompter Erledigung der erteilten Aufträge anhalten können." Was ist nun
unter diesen mit Disziplinarstrafen zu erzwingenden Aufträgen zu verstehen?
Beziehen sich dieselben nur auf die ordnungsmäßige Ausführung der über¬
tragenen Ermittlungen oder auf die Dienstführung überhaupt? Ist der Staats¬
anwalt nicht infolge davon in der Lage, seinem Hilfsbeamten aufzugeben, alle
Vernehmungen auf dem Bureau der Staatsanwaltschaft zu bewirken, dort täglich
einige Stunden zuzubringen? Kann er ihn nicht jederzeit plötzlich aus der
Thätigkeit in seinem Hauptamte auf eine für dies letztere sehr störende Weise
heransbcfehlen? Der Stciatsnuwalt wird und muß von diesen ihm erteilten
Rechten jeden ihm nötig oder auch nur nützlich scheinenden Gebrauch machen,
der Polizeidienst aber kommt dabei auf das entschiedenste zu kurz. Wenn nun
beide Vorgesetzte dem „Hilfsbeamten," der Staatsanwalt und der Polizeichef,
diesem gleichzeitig Aufträge erteilen, wessen Auftrag geht vor? Welche Behörde
entscheidet Meinungsverschiedenheiten zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft,
die beide zwei ganz verschiedenen Ressorts angehören? Lauter gewichtige Fragen.
Im Zweifel aber wird bei deren Beantwortung stets die Polizei zu kurz kommen;
denn die ganze fragliche Organisation ist ja nur zu dem Zwecke eingeführt, um
der Polizei „einen gesetzlichen Halt zu geben," es wird also im Zweifel stets
die Vermutung gegen die Polizei sprechen.
Neben diesen formellen Mängeln der jetzigen Regelung des Verhältnisses
zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft treten aber auch sehr wichtige mate¬
rielle Bedenken zu tage. Wie die Versäumnis der kostbarsten Zeit dadurch ein¬
treten kann, daß der dirigirende Polizeibeamte nicht alsbald den „Hilfsbeamten"
zur Hand hatte oder nicht voraussetzen konnte, daß es sich um eine Beschlag¬
nahme oder Durchsuchung handeln würde, ebenso trifft dies zu, wenn ein nicht
zum Hilfsbeamten ernannter Polizeibeamter bei selbständig angestellten Er¬
mittlungen die Spuren eines Verbrechens, eines Diebstahls, eines Mordes findet.
Er kann den Verbrcch er verhaften, aber die gestohlenen Gegenstände, die Mord¬
werkzeuge oder die blutbefleckten Kleider darf er nicht mit Beschlag belegen;
bevor er aber den „Hilfsbeamten" ermittelt hat, können die Angehörigen des
Thäters alle graoirendcn Gegenstände beiseite geschafft, alle Spuren der That
verwischt haben, da sie dies nach § 257 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs ungestraft
thun dürfen. Ebenso können, wenn es, wie z. B. bei einem Ladcndiebstahl,
feststeht, daß nur eine von mehreren im Laden anwesenden Personen das Ver¬
brechen begangen haben kann, aber nicht feststeht, wer es gethan hat, eine Reihe von
Personen zeitweise ihrer persönlichen Freiheit beraubt werden, bis der „Hilfs¬
beamte" herbeigeholt ist, der im Gegensatz zu dem zuerst anwesenden Polizei¬
beamten die notwendige Durchsuchung vornehmen kann.
Es erhellt wohl hieraus zur Genüge, daß die in dem Gerichtsverfassungs¬
gesetz und der Strafprozeßordnung beliebte Regelung des Verhältnisses zwischen
Staatsanwaltschaft und Polizei eine mißlungene ist. Man hat nun auch daran
gedacht, die Chefs der Polizciverwaltnngen zu Hilfsbeamten der Staatsanwalt¬
schaft zu ernennen; dies scheiterte aber daran, daß sie alsdann direkt dienstliche
Untergebene des Staatsanwalts werden würden, was mit der Dienst- und
Lebensstellung der meisten Polizeichefs nicht vereinbar ist. Es bleibt also, wenn
man überhaupt polizeiliche Ermittlungen verlangt — und ohne diese kann man
wenigstens im ersten Stadium des Ermittlungsverfahrens nicht auskommen —,
nichts andres übrig, als entweder das Mohlsche System der dem Staatsanwalt
untergeordneten gerichtlichen Polizei vollständig durchzuführen, anstatt wie jetzt
mit demselben verschämt zu liebäugeln, oder das bis zum 1. Oktober 1879 in
Giltigkeit gewesene System wieder einzuführen, wonach der Polizei als solcher
das Ermittlungsverfahren zusteht, diese aber allen Ersuchen der Staatsanwalt¬
schaft Folge zu leisten hat. Die Polizei als solche würde dann die ersten not¬
wendigen Ermittlungen machen, wofür man mit Schwarze der Polizei die
Grenzen nicht zu eng zu stecken hat, dann die Akten der Staatsanwaltschaft
mittielen und auf deren Ersuchen etwaige weitere Ermittlungen anstellen; der
„Hilfsbeamte" würde wegfallen. Es ist doch gewiß nicht zu fürchten, daß die Po¬
lizeibehörden so unfähig oder so zu ungesetzlichen Handeln geneigt sein sollten,
daß ihnen erst durch Einwirkung andrer Behörden ein gesetzlicher Halt verliehen
werden müsse. In den größern Städten ist, wie auch Schwarze in der Anmer¬
kung zu § 161 seines Kommentars einräumt, das Verhältnis der Polizei ein so
geordnetes, „daß von der Polizeibehörde ein verständiges und energisches Ein¬
schreiten und Mitwirken gefordert und erwartet werden darf." An diesen Orten
sind ja auch die Vorsteher der Pvlizeiverwaltungen juristisch gebildete Personen,
welche ihren Vorbereitnngskursus bei den Gerichten und der Staatsanwalt¬
schaft durchgemacht haben und also mit diesem Zweige der Geschäftsthätigkeit
vertraut sind. Ebenso verhält es sich da, wo die Ortspolizei der kleinern Ge¬
meinden in den Händen der Landräte liegt. Wo dies alles in kleinern Städten
und Landgemeinden nicht der Fall ist, in welchen man deshalb nicht auf eine
ordnungsmäßige Leitung der Polizeivcrwaltung rechnen kann, da entziehe man
diesen lieber die Polizeiverwaltung und lege diese in die Hand der Landräte oder
juristisch vorgebildeter Amtmänner, als daß man unter dieser mangelhaften
Einrichtung die ganze Polizei leiden läßt. Hat der Polizeivorstand die genügende
sachliche Ausbildung, so wird ihm und dem von ihm geleiteten Personal so leicht
keine Neigung zu Gewaltthätigkeiten oder Überschreitung der Amtsbefugnis
kommen: die abwechselnd möglichen Beschwerden an die Oberbehördc, Verwal¬
tungsklagen und Provokationen auf gerichtliche Entscheidung, die drohenden Be¬
stimmungen der Paragraphen 339 bis 349 und 357 bis 359 des Strafgesetz¬
buches, ja endlich die große Vorliebe der Presse und des Lesepublikums für
„wieder einmal" vorgekommene Übergriffe der Polizeibehörden, die sich dann
regelmäßig bei näherer Betrachtung ganz anders darstellen, wirken wahrlich
genügend dämpfend auf den Diensteifer. Mißgriffe einzelner Polizeibeamten
werden immer vorkommen; darunter aber darf man wiederum nicht das ganze
Institut leiden lassen, ebensowenig wie man unsre Post- und Kasseubeamten im
allgemeinen für die Veruntreuungen einzelner ihrer Kollegen oder die Richter
und Staatsanwälte dafür verantwortlich machen will, daß bisweilen ungerecht¬
fertigte Verhaftungen oder Gefangenhaltungen einzelner Personen vorkommen,
oder daß aus den Gefängnissen von Zeit zu Zeit Klagen über die zu milde
oder zu stramme Thätigkeit der Gefangenaufseher erschallen.
Aber es entsteht endlich die Frage, ob denn das Ermittlungsverfahren
außer in betreff der Feststellung der ersten Spuren, welche, wie bemerkt, naturgemäß
der Polizei verbleiben muß, nicht überhaupt einer andern Behörde übertragen
werden kann. Damit knüpfen wir um die obengemachte Bemerkung an, daß
man das Ermittlungsverfahren den Gerichten übertragen könne. Das System
hatte in Hannover und Kurhessen schon lange Geltung gehabt, war durch die
dortigen Strafprozeßordnungen von 1859 und 1863 aufrecht erhalten worden,
wurde aber durch die Strafprozeßordnung für die neuen preußischen Landes¬
teile vom 25. Mai 1867 beseitigt. Es einzuführen, wurde in der Reichstags-
kommission beantragt, der Antrag wurde aber abgelehnt.^) Dies ist das einzig
richtige und zweckmäßige System, nach welchem also der Staatsanwalt die an
ihn abgegebenen vorläufigen Ermittlungen der Polizeibehörden zur Vornahme der
weiter erforderlich befundenen Ermittlungen an die Gerichte abgiebt. Die
Aufklärung von Rechtsverhältnissen, namentlich, wenn daraufhin Richtersprüche
ergehen sollen, ist in Wahrheit ein Zweig der richterlichen Thätigkeit und hat
mit der Thätigkeit der Sicherheitspolizei garnichts gemein, da diese Thätigkeit
mit der Vereitlung oder Entdeckung der Gesetzesübertretung, sowie der ersten
Sicherung der Spuren und AnHaltung des Thäters vollendet ist. Für die
Polizei, welche noch dazu durch die Vornahme der weiteren Ermittlungen nur
von ihrer eigentlichen Thätigkeit abgezogen wird, giebt es auch kaum eine
unerquicklichere Thätigkeit als diese Ermittlungen, da sie vom Ergebnis derselben
nie etwas mitgeteilt erhält, höchstens den inhaltsleeren Tenor des Urteils über
einen in ihrem Bezirk angesessenen Übelthäter zur Aufnahme in die Personal¬
akten desselben, sodaß sie nie erfährt, ob sie mit Erfolg und den Fortschritten
der Rechtswissenschaft entsprechend gearbeitet hat oder nicht. Ja es kommt vor,
daß die Polizei nach Abgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft gemäß ihrer
Verpflichtung aus § 161 der Strafprozeßordnung") immer fort weitere Er¬
mittlungen versucht, während der Verbrecher, ohne daß es die Polizei erfährt,
an einem andern Orte verhaftet ist oder die Sache sonst ihre Erledigung gefunden
hat. Aber das Ermittlungsverfahren gewinnt auch materiell in den Händen
der Gerichte, da der Richter Fühlung mit der Fortentwicklung der Rechts¬
wissenschaft hat, die gerichtlichen Protokolle im Gegensatz zu den polizeilich
aufgenommenen volle Glaubwürdigkeit besitzen, vor Gericht der Zeuge die Wahr¬
heit reden muß und der Richter nach K 65 der Strafprozeßordnung den
Zeugen vereidigen kann, was selbstverständlich der Polizei versagt sein muß.
Es liegt sonach geradezu im Interesse der Autorität der Polizei, wenn ihr
das Ermittlungsverfahren abgenommen wird, da diese Autorität nur leidet,
wenn in der gerichtlichen Hauptverhandlung die größere oder geringere Wert-
losigkeit der Handlungen und Protokolle der Polizei in Gestalt der Erörte¬
rungen über die Glaubwürdigkeit der von der Polizei abgegebenen Aussagen
einen Gegenstand der Erörterung bilden kann und muß.
Aus alledem erhellt, daß das Ermittlungsverfahren, soweit es über die
erste Ermittlung hinausgeht, den Gerichten zu übertragen ist; will man dies
aber nicht, dann beseitige man die durch die Strafprozeßordnung eingeführten
Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft wieder und gebe der Polizei die Stellung
zurück, welche sie vor dem 1. Oktober 1879 einnahm. Es wird sich anch auf
diesem Boden durch spezielle Vorschriften über die Befolgung ergehender Er¬
suchen ein organisches Verhältnis zwischen Polizei lind Staatsanwaltschaft
herstellen lassen.
2. Gleichfalls sehr bedenklich ist die Vertretung polizeilicher Interessen vor
Gericht, namentlich nach vorausgegangener polizeilicher Strafverfolgung, und
zwar in doppelter Richtung: bezüglich des Verhältnisses der Polizei zur
Staatsanwaltschaft und bezüglich der gerichtlichen Verhandlung selbst.
Zunächst muß hervorgehoben werden, daß der Staatsanwalt (Staatscmwnlt
im engeren Sinne und Amtscinwalt) nicht verpflichtet ist, polizeiliche Ersuchen
auszuführen, die Polizei aber auch nicht berechtigt ist, etwaige ihr notwendig
erscheinende Anträge selbst zum gerichtlichen Austrage zu bringen. Der Privat-
manu kann Privatklage erheben und als Nebenkläger auftreten, in allen hierzu
nicht geeigneten Fällen nach 8 170 der Strafprozeßordnung den Staats-
anwalt durch das Gericht zur Erhebung der Anklage zwingen lassen, der
ihn vertretende Rechtsanwalt mus; nach seinen Instruktionen handeln. Die
Steuerbehörden, welche doch gewiß auch einen mehr einseitigen Standpunkt,
die Vertretung des pekuniären Interesses des Fiskus haben, können nach
Z 459 ff. der Strafprozeßordnung neben dem Staatsanwalt als Nebenkläger
auftreten oder, wenn der Staatsanwalt die Klcigerhcbnng verweigert, selbst
klagend auftreten. Die Polizei aber ist schlechter als der Privatmann und als
die Steuerbehörde gestellt, sie ist vollständig abhängig von dem Ermessen der
Staats- (und Amts)anwaltschaft hingestellt worden, und es ist dies auch nach
dem Grundgedanken der Strafprozeßordnung ganz konsequent, da ja darnach
nur durch Unterordnung unter die Staatsanwaltschaft der Polizei eine „gesetzliche
Haltung" verliehen werden konnte. Aber trotz aller Konsequenz in der Durch¬
führung des Systems führt diese Bestimmung doch zu sehr eigentümlichen
weiteren Konsequenzen. Keine Polizeibehörde kann in Angelegenheiten, welche
ihr Ressort betreffen, eine richterliche Entscheidung herbeiführen oder gegen eine
Entscheidung der unteren Instanz die einer höheren Instanz anrufen, wenn der
Staats- oder Amtscmwalt nicht will; der Regierungspräsident hängt z. B. von
dem Büreaugehilfcn oder dem in der Justiz und Verwaltung vollständig unaus-
gebildeten Privatmanne ab, welchem man in Ermangelung geeigneter anderweiter
Personen die Thätigkeit des Nmtsanwalts bei einem kleineren Gerichte übertragen
hat. Nun haben die Polizeibehörden (Landes- und Ortspolizeibehörden) doch
sehr oft ein bedeutendes Interesse daran, über eine bestimmte Frage überhaupt
eine richterliche Entscheidung oder gar eine solche präjudizieller Natur zu er¬
wirken, teils um ihre Praxis darnach einzurichten, teils um vielleicht die Ab¬
änderung unhaltbar erwiesener Bestimmungen herbeizuführen. Wenn aber die
Staatsanwaltschaft nicht will, so ist die Polizei vollständig machtlos, und selbst
eine Beschwerde an die höhere Instanz der Staatsanwaltschaft kann nicht immer
helfen, da bis zu deren Erledigung die Verjährung der Übertretung vollendet
sein kaun, die Berufungsfrist immer verstrichen sein wird.
Ganz besonders treten aber diese Übelstände im Verfahren nach voraus¬
gegangene» polizeilichen Strafverfüguugeu hervor, deren Mehrzahl doch „zur
Aufrechterhaltung der polizeilichen Ordnung, nicht zur Sühne eines Rechts-
bruches" dient, „wenn auch der Form nach die VerHandlungsweise eines Kri¬
minalprozesses daraus übertragen worden ist."*) Wird gegen diese Strafver¬
fügungen Widerspruch, d. h. Berufung an das Schöffengericht erhoben, worauf
wir später noch spezieller zurückkommen werden, so kann die Polizei nicht selbst
handelnd auftreten, es kommt auf den Amtsanwalt an, ob er die Strafver-
fugung, welche nach Erhebung des Widerspruches nur noch die Natur einer An¬
klageschrift hat, vertreten oder von der Verfolgung der Übertretung absehen,
ob er in der Hauptverhandlung, auch ohne daß neues vorgebracht wird, Ver¬
urteilung oder Freisprechung beantragen, ob er die Berufung gegen ein frei¬
sprechendes Urteil ausführen will oder nicht, Nun ist ja doch nicht gesagt,
daß die Polizeibehörde in allen Fällen einer Meinungsverschiedenheit sich im
Unrecht befinden muß, sie hat vielleicht auch einmal Recht, mindestens aber
kann die Sache doch zweifelhaft sein. Die Polizei hat ebensowenig wie die
Staatsanwaltschaft die Absicht, widerrechtliche Bestrafungen herbeizuführen, sie
Prüft die von ihr zu erlassenden Verfügungen und zu stellenden Anträge wie
jede andre Behörde nach bestem Gewissen auf deren Gesetzlichkeit, und da sollte
doch die Staatsanwaltschaft die Verpflichtung haben, dem Ersuchen der Polizei¬
behörden auf Erhebung oder Vertretung einer Anklage, auf Anzeige einer Be¬
rufung u, s, w. Folge zu geben, wie ja auch sonst alle ersuchten Behörden das
Ersuchen andrer Behörden unweigerlich auszuführen haben. Bei eintretenden
Meinungsverschiedenheiten kann sie ja, natürlich unter Wandrung aller Fristen
(Verjährung, Nechtsmittelfristen ?e.), ihre Bedenken äußern, eine Korrespondenz
zwischen beiden Behörden wird sicherlich ein gedeihliches Ergebnis herbeiführen,
und sei es nur dahin, daß man eine zweifelhafte Frage beiderseits ohne Vor¬
urteil dem, richterlichen Ermessen unterbreiten wolle. (Schluß folgt.)
wei Briefe Lassalles, die er nicht lange vor seinein Tode an
V. A Huber geschrieben hat, sind seither nur mit Auslassungen
veröffentlicht worden.*) Dennoch haben sie als Denkmale der
reichen, wenn auch arg mißbrauchten Geisteskraft ihres Schreibers
und einer bei ihm nicht erwarteten Schmiegsamkeit und — wenn
man will — Liebenswürdigkeit Aufsehen erregt, wie denn noch jüngst ein diesen
Briefen entnommener Ausspruch Lassalles das Motiv zu einer vielverbreiteten
Broschüre von Ludwig Hahn „Das soziale Königtum" hat bilden können. Einem
mehrfach ausgesprochenen Wunsche gemäß, der auch in der Öffentlichkeit seinen
Ausdruck gefunden hat, lassen wir die beiden Briefe hier vollständig folgen.
Zur Erläuterung wollen wir nur kurz an die Umstände erinnern, welche
sie hervorgerufen haben. V. A. Huber hatte feit der Mitte der vierziger Jahre
unermüdlich und mit immer gleichem Ernste auf deu offnen Abgrund hinge¬
wiesen, der sich zwischen dem Kapital und den besitzlosen Massen aufthue und
stetig erweitere, und er hatte von der Regierung und von der Geistes- und
Geldaristokratie rettende Thaten gefordert. Aber er hatte lange Zeit umsonst
gerufen, und erst als die in den sechziger Jahren beginnende Organisation des
Arbeiterstandes, die in zahlreichen Strikes zu tage trat, und das Auftreten einer
sozialdemokratischen Partei die allgemeine Aufmerksamkeit auf die sozialen Fragen
lenkte, erinnerten sich viele Politiker, denen Hubers Mahnungen seither sehr
uninteressant gewesen und die ihnen möglichst aus dem Wege gegangen waren,
daran, daß er schon immer von solchen Dingen gesprochen habe, und sie fingen
jetzt an, uach seiner Meinung zu fragen und seineu Beistand zu begehren. In den
literanschen Kämpfen, welche zwischen Schulze-Delitzsch und Lassalle und ihren
beiderseitigen Anhängern entbrannten, wurde nicht selten auch Hubers Ausspruch
provozirt, und jede Partei schien Wert darauf zu legen, daß er sich für sie
erkläre. Huber aber säumte nicht, in seiner herben und derben Art nach jeder
Seite hin kräftige Hiebe auszuteilen und viel mehr das, was ihn von jeder Seite
schied, als das, worin er ihr beistimmte, hervorzuheben. In seiner 1863 er¬
schienenen Broschüre „Die Arbeiter und ihre Ratgeber" griff er Schulze an,
weil dieser in rein theoretisirender Weise ohne Rücksicht auf die thatsächlichen
Verhältnisse jede Staatshilfe für die Arbeiter verwarf und die soziale Frage
als Mittel für die Herrschaft der Fortschrittspartei ausbeutete. Dagegen den
maßlosen Angriffen gegenüber, welche Lassalle gegen Schulze erhoben hatte,
verteidigte er diesen und stellte das große Verdienst, welches sich Schulze durch
die Gründung der Genossenschaften erworben hatte, in das rechte Licht. Er
griff Lassalles Lehre, das; ein „ehernes Gesetz" den Arbeiter zum kärglichsten
Lohn verurteile, als große Übertreibung an, und wenn er auch sein schließliches
Ziel, das Aufgehen der Großproduktion in genossenschaftliche Bildungen, nicht
verwerfen wollte, so verwarf er doch sehr entschieden die Mittel, mit denen
Lassalle dies Ziel erreichen wollte. „Der wesentliche Unterschied zwischen uns,
so schrieb er, liegt, wenigstens was die materielle Seite der Sache betrifft, darin,
daß wir jenes Ziel nur auf dem weiten, mühsamen, steilen Wege der friedlichen
Selbsthilfe in langsamer Bewegung Schritt vor Schritt für erreichbar halten,
während Lassalle meint, dasselbe könne und müsse nur mit Hilfe des Staates,
dann aber mit einem Sprung und Griff, erstrebt werden. Aber gerade dieser
Unterschied hinsichtlich des Weges wirkt so entscheidend ans die Sache selbst
zurück, daß wir schon dadurch in die entschiedensten Gegensätze getrieben werden."
Diese Äußerungen wurden die Veranlassung, daß Lassalle, der seither in
keine direkte Berührung mit Huber getreten war, sich brieflich an ihn wandte.
Er schrieb ihm aus Berlin am 26. Juni 1L63:")
Geehrter Herr Professor! Ich habe soeben Ihre neueste Schrift „Die Ar¬
beiter und ihre Ratgeber" gelesen, und bei der sympathischen Hochachtung, die ich
stets für Sie gehegt habe, drängt es mich, mich gleichsam bei Ihnen selbst zu be¬
schwere», daß Sie mich so ungerecht behandelt haben.
Ungerecht in hohem Grade!
Wenn Sie Zweifel ausdrücken, ob ich in der ökonomischen Materie hinreichend
bewandert sei, — so «eng dies den liberalen Zeitungsschreibern gestattet sein, Ihnen
ist es dies aber eigentlich nicht. Abgesehen davon, daß ein Man der Wissenschaft
schwerlich die Voraussetzung wird machen können, daß ich nach meinen anderweitigen
wissenschaftlichen Werken (Heraklit, System der Rechte n, f. w.) ans einem andern
Gebiete das Wort ergreifen würde, wenn ich auf demselben nicht ebenso zu Hause
wäre, so müßte, glaube ich, gerade mein „Antwortschreiben" trotz seiner Kürze
und zum Teil gerade durch dieselbe sehr deutlich zeigen, wie nachdrücklich dies der
Fall ist. Noch schlimmer ist die Alternative, die Sie setzen: ignoriren oder
ignoriren wollen! Gewiß sehr unverdient. Ich glaube, daß mein „Antwortschreiben,"
wie alle meine Schriften, jedenfalls der höchste Beweis von hommo toi ist.
Und was führen Sie zum Beweise dieser Alternative an? Folgendes:
„Er behauptet: »Die Arbeiter leiden nur (!) als Produzenten, nicht als
Konsumenten, denn vor dein Verkäufer ist, wie vor dein Gendarmen, jeder Kunde
gleich.« Wer sich nun aber je irgend ernstlich um diese Dinge bekümmert hat,
weiß, daß gerade der große Unterschied zwischen dem großen und kleinen Konsu¬
menten in dem Ankauf der notwendigsten Lebensbedürfnisse eines der drückendsten
g'rü,va,miua, der Arbeiter ist."
Indem Sie jene Worte in Anführungsstriche setzen, erregen Sie den Schein,
als ob sie sogar wörtlich von mir herrührten. Und sie rühren doch weder wörtlich
uoch auch nur dem Sinne nach von mir her. Ich sage „Antwortschreiben" S. 15:
„Als Konsumenten steheu wir bereits heute im allgemeinen gleich. Wie vor dem
Gendarmen siud vor dem Verkäufer alle Menschen gleich, wenn sie uur zahlen. Es
ist wahr, daß eben hierdurch für den Arbeiterstand infolge seiner beschränkten
Zahlungsfähigkeit sich noch ein besondrer Nebenschaden entwickelt hat, der aber
mit dem Haupt- und Krebsschaden, an dein er leidet, nichts zu thun hat: der Nachteil,
seine Bedürfnisse im kleinsten Detail ankaufen zu müssen und so dem Wucher des
Kramladens — des slioxlcvovkr — verfallen zu sein. Hiergegen helfen ?c."
Leugne ich also diesen gewichtigen Nachteil für die Arbeiter? Jgnvrirc ich
ihn oder will ich ihn ignoriren? Sage ich wirklich: „Die Arbeiter leiden nur
als Produzenten, nicht als Konsumenten," da ich vielmehr das Gegenteil, daß sie
auch als solche bedeutend leiden, ausdrücklich hervorhebe? Ich sage uur, daß der
Hauptkrebsschaden sie in ihrer Stellung als Produzenten trifft.
Ebenso thun Sie mir Unrecht, wenn Sie mich das heutige Arbeitslohngesetz
als ein „Naturgesetz" anerkennen lassen und mich dadurch in Gegensatz zu Rod^
bertus bringen. In meiner Leipziger Rede vom 16. April, die Sie nicht zu
keimen scheinen und die ich deshalb hier beilege, habe ich schon vor Nodbertus'
Brief mich sehr bestimmt darüber ausgesprochen. Ich halte jenes Arbeitslvhugcsetz
für so unvermeidlich wie ein Naturgesetz, solange die heutigen historischen
Produktionszustäude bestehen.
Ich halte es also nur für ein historisches Gesetz, ebensowohl der Ver¬
änderung fähig wie alle historischen Zustände und nur solange „ehern" „not¬
wendig," als seine Bedingungen, die heutigen bestimmten Produktionsverhältnisse,
walten.
Das ist ja aber auch schon im „Antwortschreiben" hinlänglich ausgedrückt.
Denn wenn ich es wirklich für ein „Naturgesetz" hielte, würde ich ja nicht darauf
ausgehen könne», es ändern zu wollen, was dann unmöglich wäre! Statt dessen
erkläre ich, daß es in dein heutigen historische!: Produktionsverhältnis — Privat¬
unternehmer mit Lohnarbeiter — wurzelt und dnrch Assoziativ» im großen Stil
beseitigt werden würde.
Beiläufig ist es ebensowenig richtig, daß ich mir die Staatshilfe unter der
Form einer Zinsgarantie denke. Ich zog nur die Zinsgarnutie bei Eisenbahnen
als Beispiel einer solchen Staatsintervention überhaupt an und sagte, der Staat
würde auch bei seiner Intervention für die Assoziationen keine größere Gefahr
laufen, als damals bei jener Zinsgarantie der Fall war.
Ich denke mir vielmehr, wie ich S. 27 des „Antwortschreibens" ja ganz direkt
andeute, diese Staatshilfe für die Assoziationen als durch Staatsbanken (Kredit)
eintretend.
Kurz, nicht ich bin „flüchtig," geehrter Herr Professor, sonder» es scheint mir,
daß ich von Ihnen ziemlich flüchtig gelesen und behandelt worden bin.
Was mich aber am meisten überrascht hat, ist ein Ton bitterer und feind¬
licher Polemik, der durch Ihre Schrift überall hindurchgeht, wo Sie mich erwähne»,
und zu dem ich Ihnen keinerlei Anlaß gegeben zu habe» glaube. Es schmerzt
mich Ihre Ungerechtigkeit eben deshalb, weil ich sie bei Ihnen treffe, dem ich, wie
Ihnen manche meiner Schriften zeigen können, stets eine große Hochachtung ge¬
widmet hatte. Käme sie von einem rudern — sie sollte mich wenig kümmern,
und am wenigsten zu einem Briefe veranlasse»!
Es ist richtig: Sie mögen meine politische Richtung nicht. Das begreife und
achte ich. Aber meine politische Nicht»»g ist der Ihrige» nicht stärker entgegen-
gesetzt als die Ihrige der meinigen. U»d warum hat mich das nie abgehalten,
stets billig und gerecht gegen Sie zu sein? Warm» hält es Sie ab, der Sie
sonst billig gegen alles und gegen jedermnuu sind und sich gerade dadurch meine
warme Sympathie und Hochachtung erworben haben?
Sie hassen meinen Weg, die Massenagitation. Aber warum wollen Sie gerade
mich nicht auf meinem Wege versuchen laste», was Sie a»f dem Ihrigen ver¬
folgen?
Und sind wir denn wirklich in bezug auf den Weg prinzipiell verschieden?
Sie sagen i» der Vorrede: „Uebrige»s habe» wir scho» öfters erklärt: wenn die
aristokratischen Elemente des Volkslebens in der Verkennung oder Vernachlässigung
ihres sozialen Berufes verharren, und wenn die Arbeiter selbst sich unfähig zeige»,
sich i» größer?» Maße selbst zu helfen," so würden Sie auch für weitgehende
Staatsinitiative sein!
Nun, verehrter Herr, nur unterscheiden uns nur dadurch, daß für mich diese
„Wenns" seit lange keine „Wenns" mehr sind, sondern nach meiner gesamten wissen¬
schaftliche» Geschichtsauffassung u»beti»gte Thatsachen!
Sie hassen meine«. Weg, den der Massenagitativn! Ich möchte sage»: Sie
haben hierzu ein gewisses subjektives Recht! Wenn nämlich auch nur el« Dritl-
teil oder ein Zehntel oder ein Zwanzigstel der Besitzende» wäre wie Sie, so voll
vo» Liebe und ehrlichem Wohlwollen für die Sache der Arbeiter und der unteren
Klasse» überhaupt, so uneigennützig und aufopferungsfähig — jn dann wäre mein
Weg der Massenagitation sehr unnötig, und dann würde ich auch nie zu demselben
gegriffen haben. Aber schauen Sie doch um sich! Sehen Sie doch, wie vereinzelt
Sie dastehen im konservativen Lager! Wenn diese Ihre Vereinzelung ein Grund
ist, Ihnen eine ganz ausnahmsweis hohe Achtung zu widmen, so ist dieselbe Ver¬
einsamung aber auch ein Grund, der mich berechtigt, den Weg der Masscnagitation
zu beschreiten.
Kurz, ich mag auch irren, ich mag einen sehr verderblichen Weg ergriffen
haben, aber ich bitte Sie, an meine tiefe Ueberzeugung zu glauben, daß es eben
schlechterdings nur auf diesem. Wege der Massenagitation geht!
Sie sind ungerecht gegen mich gewesen, und ich müßte eigentlich mit Härte
antworten. Aber bewahre mich der Himmel, wegen einer momentanen Ungerechtig¬
keit gegen mich jemandem mit Härte zu antworten, den ich seit so manchem Jahre
und aus so vielen Schriften liebe und achte. Und so antworte ich Ihnen lieber
garnicht öffentlich und sende Ihnen statt dessen beiliegend mein neuestes kleines
Opus, welches Sie vielleicht etwas gerechter gegen mich macht.
Jedenfalls bitte ich in diesem Briefe nur einen Beweis der vorzüglichen
Hochachtung zu sehen, mit der ich die Ehre habe zu zeichnen Ew. Hochwohlgeboren
ergebenster F. Lassalle.
Was Huber auf diesen Brief geantwortet hat, vermögen wir nur aus dem
späteren, aus Berlin vom 24. Februar 1864 datirten Briefe zu ersehen. Dieser
lautet:
Geehrter Herr Professor. Seit lange bin ich Ihnen eine Antwort schuldig
auf Ihren Brief, deu ich in der Schweiz erhielt. Aber dort verschob ich es aus
einem später anzuführenden Grunde bis zu meiner Rückkehr nach Berlin, und kaum
in Berlin angelangt, war ich so über Hals und Kopf mit meinem soeben die Presse
verlassenden nntivnalvkonomischen Werke, das ich Ihnen beiliegend zu überreichen
mich beehre, beschäftigt, daß es mir schlechthin unmöglich war, zu schreiben.
Hier also die Antwort!
Daß Sie mich, wie Sie schreiben, nach meinen früheren Antecedentien, nach
den Hcchfeldschen Prozessen beurteilten, weil jede Trennung des Politischen und des
Privatmenschen doch uur wie andres Zopftnm sei, finde ich — ganz in der
Ordnung!
Ich finde es umsomehr in der Ordnung, als, was ich auch seitdem gethan
habe und was mir noch etwa in der Zukunft zu thu» vergönnt sein möchte, doch
jene meine Intervention für die Gräfin von Hatzfeld dasjenige Faktum in meinem
Leben sein wird, ans welches allein ich stolz bleiben werde!"
Daß Sie, wie Sie selbst sagen, als ein „Atom des Publikums über jene
Affmre nicht gut unterrichtet waren, kann ich Ihnen ebensowenig verdenken. Eben
deshalb wollte ich in Berlin zurück sein, um Ihnen darauf zu antworten — um
Ihnen nämlich, wie beifolgend geschieht, meine Kölner Assiscnrede einsenden zu
können. Sie werden jedenfalls daraus ersehen, daß ich bei jener Angelegenheit
von nichts weiter entfernt war als von Frivolität! Daß ich vielmehr durch und
durch religiös — in meinem ethischen Sinne — dabei war! Es ist die liebste
Erinnerung meines Lebens, die mich — welche Reihe von Jahren seitdem auch
verflossen — mit der reinsten Befriedigung erfüllt. Acht Jahre lang habe ich
jenen Kampf geführt und die Waffen nicht aus der Hand gelegt, bis ich der Gräfin
Recht und Sieg verschafft hatte! Und ich würde den Kampf auch bis heute ge¬
führt haben, wenn ich ihn nicht ebeu schou 1354 siegreich beeudet hätte.
Lesen Sie die Rede, so werden Sie einen Beleg mehr dafür haben, daß kein
Unterschied zwischen dem Politischen und dem Privatmenschen, nämlich bei ganzen
Charakteren.
Jene Intervention für die Gräfin war nichts andres als eine Insurrektion,
eine Insurrektion auf eigne Faust, in einem Falle, welcher als der reinste Mikro¬
kosmus unsre ganze soziale Misere in sich enthält. Mein ganzer Mensch liegt in
jener Handlang.
Soviel hierüber.
Ihrem Ausspruch, daß Sie die von Ihnen in Ihrem Briefe wie in der Vor¬
rede zum zweiten Teil Ihrer Reisebriefe zitirtcn Worte des Kaisers Nikolaus: „Ich
begreife die absolute Monarchie, ich begreife die Republik, aber ich begreife uicht
den Konstitntioncilismus" — unterschreiben, pflichte ich wieder ans ganzer Seele bei.
Republikaner von Kindesbeinen an, habe ich nie etwas für lächerlicher, kor-
rnmpirter und auf die Dauer unmöglicher gefunden als den Konstitutionalismus.
Es ist die organische Selbstzerstörung.
Wie gesagt, von Kindesbeinen an bin ich Republikaner.
Und trotzdem oder vielleicht gerade dadurch bin ich zu der Ueberzeugung ge¬
kommen, daß nichts eine größere Zukunft und eine segensvollere Rolle haben könnte
als das Königtum, wenn es sich nur eben entschließen könnte, soziales Königtum
zu werden. Mit Leidenschaft würde ich dann sein Banner tragen, und die kon¬
stitutionellen Theorien würden schnell genug in die Rumpelkammer geworfen werden.
Aber wo gäbe es ein Königtum, das den Mut und die Einsicht hat, sich zum
sozialen Königtum herzugeben? Sie werden selbst zugeben, daß ich dasselbe
kaum finden dürfte. Und somit amo Kurs?
In den Glaserschen Jahrbüchern sind Sie schon wieder ungerecht gegen mich
gewesen. Sie sagen, wir hätten beide — ich und Schulze — große Worte genug
gemacht, aber Thäte» u. s. w. Erstens ist es fast naiv ungerecht, mich so mit
Schulze in einen Topf zu werfen! Zweitens nennen Sie die Verbreitung von
theoretischer Erkenntnis — und dies werden Sie mir doch nicht abstreiten können —
,.Worte machen"? Drittens wollen Sie absolut nicht einsehen, daß ich durch meinen
ganzen Standpunkt — und es muß doch jeder von seinem Boden aus beurteilt
werden — grundsätzlich an jedem „Handeln" im Kleinen gehindert bin. In meinem
beifolgenden Werke habe ich hinreichend ausführlich auseinandergesetzt, warum ich
in dem Manischen im Kleinen nichts wirklich Nützliches und Praktisches erblicken
kann. Ich kann also nichts andres thun, als Massenerkenntnis hervorrufe» und
freilich damit auch Masseuaufregnng. Das ist aber auf die Länge ganz eminent
praktisch! Ja gerade, wenn Sie uns beide — mich und sich — vergleichen, können
Sie schou an den jetzigen Resultaten sehen, wie praktisch dies ist! In der That,
wie lauge machen Sie nicht schon mit der rührendsten Liebe, dem größten Eifer
den Prediger in der Wüste in Ihrer Partei? Was hat das genützt? Ich und
noch ein paar Dutzend Menschen, für die Sie gerade nicht schrieben, haben Sie
aus Ihren Schriften lieben gelernt — das war alles! Sonst hat kein Mensch
Notiz davon genommen, und die Organe Ihrer eignen Partei haben Sie totge¬
schwiegen. Sie beklagen sich darüber ja selbst so oft, so wahr, so rührend in
Ihren Werken.
Nun sehen Sie mich an, meine Agitation dauert erst neun Monate, und
rechts und links und hüben und drüben ist die Sache zur allgemeinen Tagesfrage
gemacht, und alle Welt hat sich mindestens bis zu einem gewissen Punkte darum
bekümmert, und ist es auch uoch nicht bis in die Gehirne, so ist es doch schon
bis an die Trommelfelle aller Menschen gedrungen — was doch der erste Schritt
ist — und jedes Blatt Ihrer eignen Partei hat siebenundsicbzigmal mehr Notiz
von meiner Agitation genommen in den neun Monaten, als alle Blätter zusammen
von der Ihrigen in den vielen Jahren.
Und warum? — Nun ganz einfach, weil ich auftrat, Zorn im Blick und
Drohung in der Geberde; weil man mir die feindseligsten Absichten lieh und leiht
und nur für solche empfänglich und aufmerksam ist. Ich werde mich daher hüten,
die Leute darüber zu enttäuschen; der beste Teil der Expansivnskraft liegt darin!
Freilich ist es für mich gar oft unbequem. Aus den feindseligen Absichten, die
man mir leiht, blühen mir Hochverratsprozesse — deren ich jetzt einen habe —
und andre Kriminalprozesse, deren ich fünf habe, empor. Aber für die Sache ist
es sehr gut! Die Welt im gauzeu genommen ist für Furcht viel empfänglicher als
für Einsicht und Liebe!
Nun vielleicht finde« Sie, daß auch mein jetziges nationalökonomisches Werk
bloß „Worte" sind!
Es scheint, daß ich schon einmal Ihr bötu noirs bleiben soll. Sie, gerecht
bis zum Exzeß gegen alle Welt (gegen Schulze bis zum Unrecht gerecht sogar) sind
nun einmal konstant ungerecht gegen mich, Sie brauchen einmal einen Sündenbock!
Nun, nehmen Sie mich dazu. Ich habe einen breiten Buckel! Und schon seit
Ihren spanischen Skizzen, wie dann noch mehr seit den Reisebriefen schätze ich
Sie so innig, daß ich mir dadurch meine Gerechtigkeit gegen Sie nicht verbittern
lassen werde.
Das Einzige, worum ich bitte, ist, daß Sie, wenn Sie einmal nach Berlin
kommen, zu mir kommen, um mir das Vergnügen Ihrer Persönlichen Bekanntschaft
zu gewähren. Sie sollen mit offnen Armen empfangen werden von Ihrem
Soweit Lassalle. Es ist ihm nicht gelungen, Hubers Billigung für sich
und sein Treiben zu gewinnen. Dieser konnte sich zwar dem Eindruck von
Liebenswürdigkeit, den diese Briefe hervorrufen, nicht ganz entziehen und scheint
ihm freundlich geantwortet zu haben. Aber bald ergrimmte er wieder über die
„Sophistereien und Spiegelfechtereien," womit Lnssalle seiner Agitation den
Schein wissenschaftlicher Begründung in den Augen unwissender, fanatischer oder
unbewußt unredlicher Anhänger und Anbeter zu geben suchte. Mehrere Jahre
nach seinem Tode gab er in einem Artikel in der Augsburger Allgemeinen
Zeitung (18K8, Ur. 298) sein Schlußurteil über ihn dahin ab: „Lassalle war
ohne Zweifel eine durchaus bedeutende, reichbegabte, vielseitig auch wissenschaft¬
lich gebildete Persönlichkeit, die man aber nach ihren durch maßlosen Ehrgeiz
entwickelten bedenklicheren Anlagen des kürzesten sehr richtig als eine »eatili-
narische« Natur bezeichnet hat. Wohin der Weg, den er betreten, ihn lind seine
Sache geführt hätte, wenn er nicht derselben so plötzlich und gewaltsam in einem
ihr ganz fremden Streit entrissen worden wäre, ist schwer zu sagen; immerhin war
auch dieses Ende allzu charakteristisch für den Mann. Jedenfalls ist es sehr merk¬
würdig und nach mehr als einer Richtung belehrend, daß ein Rome im Sinne
der sogenannten »Welt« — zumal jener der mammonistischen Emporkömmlinge,
der in einem dieser Welt würdigen Abenteuer sein Leben verliert, nachdem er
nie einen Beweis einer wirklichen Liebe, eines Herzens für das Volk gegeben,
den» die Agitationsrhetorik genügt dazu wahrlich nicht — daß ein solcher Mensch
zu einer Art von Arbeiterheiligen und Märtyrer werden konnte."
n ungewöhnlich kurzer Zeit hat sich der Ruf Dostojewskys in
Deutschland verbreitet. In die weiteren Kreise der Gelnldeten
ist vor ihm von den russischen Dichten nur Turgenjew gedrungen,
den die deutsche Kritik mit großer Begeisterung pries und geradezu
als den „Shakespeare der Novelle" bezeichnete. Gewiß war es
die liebenswürdige Kunstform der Novelle mit unter den andern großartigen
Vorzügen, welche ihm seinen Triumphzug nicht bloß durch Deutschland ermög¬
lichte und erleichterte. Eine kurze Novelle, eine Skizze aus dem „Tagebuch
eines Jägers," ein dünner Nomanband sind schnell gelesen.. Über seine Anti¬
pathie gegen die Deutschen als Volk, die er mit jedem Russen teilte, sah man
umso leichter hinweg, als Turgenjew nie seine vorwiegend aus deutschen Quellen
geschöpfte Bildung — er hatte ja Anfang der vierziger Jahre an der Berliner
Hochschule Vorlesungen gehört — und ganz besonders seine große Verelmmg
für Goethe und seine Belesenheit in dessen Schriften verleugnete.
Einen ungleich schwierigeren Stand hatte Dostojewski), der zwei Jahre
vor Turgenjew, um 28. Januar 1881, starb und erst zwei Jahre nach seinem
Tode durch die Übersetzung eines älteren, schon aus dem Jahre 1867 stammenden
Romanes (Raskolnikow) in Deutschland bekannt wurde. Ein mehrbändiger
Roman erfordert mehr Hingabe vom Leser als eine kurze Novelle, die übrigens
auch noch deu Geist ihres Autors, wie in einem Focus konzentrirt, ausstrahlt
Und Dostojewski) bedarf, recht im Gegensatze zu Turgenjew, ganz ungewöhnlich
viel Raum, um sich zu entwickeln und alles, was er zu sagen hat, auszusprechen,
eine Eigenschaft, die noch keineswegs eine Jnferioritüt dem Novellisten gegen¬
über begründet. Aber trotz seiner größeren Ansprüche an die Aufmerksamkeit
des Lesers hat es Dostojewski) nach kaum zwei Jahren soweit gebracht, daß
er jetzt auch bei uns als eines der größten dichterischen Genies der Gegenwart
überhaupt anerkannt wird, so wie es in seinem Vaterlande schon längst feststeht,
wo die Begeisterung und Liebe seines Volkes sich bei seinem Tode in der im-
ponuendsten Weise durch eine allgemein nationale Beteiligung an seinem Leichen¬
begängnisse kundgab.
Und noch eine Schwierigkeit hat Dostojewski), im Vergleich mit Turgenjew,
im Auslande zu überwinden gehabt, eine Schwierigkeit allerdings, die in seinem
ganzen Wesen ebenso tief begründet war, als der Mangel derselben in dem
Turgenjews. Der letztere äußerte sich in einem (nach seinem Tode veröffent¬
lichten) deutschgeschriebenen Briefe vom 16. April 1879: „Daß ich mein Vater-
land dein europäischen Publikum etwas näher gerückt habe, betrachte ich als
das größte Glück meines Lebens." In der That ist Turgenjew der literarische
Entdecker des russischen Volkes und seiner Psychologie für das europäische
Publikum geworden, wie Georg Brandes in einer Charakteristik desselben mit
Recht hervorhob. Turgenjew schrieb und schuf aber auch mit Rücksicht auf
dieses Publikum; da er seit dem Jahre 1854 sich ständig außerhalb des Zaren¬
reiches aufhielt, nahm sein Wesen in dem Verkehr mit fast allen Nationen und
großen Literaturen des Weltteils einen kosmopolitischen Zug an, der ihn zum
berufensten Erklärer russischen Lebens für Europa machte. Dostojewsky aber
hat vom Kosmopolitismus nicht das Mindeste an sich; er schreibt mir für sein
eignes Volk. Daß er sich außerhalb Rußlands je aufgehalten hätte, ist nicht
bekannt, wohl aber haben die bittersten Schicksale nicht vermocht, feine Anhäng¬
lichkeit an die heimatliche Erde zu erschüttern. In jungen Jahren, 1849 (er
war geboren am 30. Oktober 1821) widerfahr ihm das verhängnisvolle Un¬
glück, in Gesellschaft andrer Altersgenossen ganz unschuldiger Weise einer stnats-
gefährlicheu Verschwörung verdächtigt zu werden; er wurde mit den andern zum
Tode verurteilt, auf dem NichtPlatze aber wurde er zu achtjähriger Verbannung
nach Sibirien begnadigt, von wo er erst 1858 wieder zurückkehren konnte. Und
doch, wie ergreifend offenbart sich in seinen Dichtungen seine Liebe zur Heimat!
Dem zur Deportation verurteilten Dimitrh in dem Romane, der uns hier
näher beschäftigen soll,*) giebt man die Mittel an die Hand, nach Amerika zu
entfliehen. Aber der Dichter läßt ihn erwiedern: „Wenn ich auch entfliehe,
mit Geld und Paß ausgerüstet, so ermutigt mich noch der Gedanke, daß ich
nicht zur Freude, nicht zum Glücke entfliehe, sondern in Wirklichkeit zu einer
andern Sträflingsarbeit, welche vielleicht nicht geringer ist als diese hier!
Schon jetzt hasse ich dieses Amerika! Und wenn sie dort alle bis zum letzten
wer weiß wie großartige Maschinisten sind, oder sonst was — hol' sie der
Teufel, meine Leute sind es nicht, meiner Seele nicht verwandt! Rußland
liebe ich, den russischen Gott liebe ich, wenn ich auch selbst ein Schuft bin!
Dort aber werde ich umkommen!" (IV, 308.) Dostojewsky ist also, wie man
zu sagen Pflegt, ein Stockrnsse.
Aber noch ein weiterer, höchst wichtiger Unterschied besteht zwischen ihm
und Turgenjew; er betrifft das innerste Wesen beider Schriftsteller und läßt
sich, überraschenderweise, leicht an Gegensätze anknüpfen, welche wir aus unsrer
eignen Literatur sehr genau kennen. Es scheint uns sehr bedeutsam zu sein,
daß Turgenjew mit Vorliebe Goethe studirte, und daß Dostojewsky von
deutschen Dichter» Schiller mit Verehrung zitirt; wahlverwandte Elemente ent¬
schieden wohl ihre Neigungen. Wie sich in Goethe und Schiller der natur-
fromme Realist und der ethische Idealist gegenüberstehen, so ist es ähnlich mit
den beiden russischen Dichtern, so wenig Gemeinsames sie im übrigen mit den
deutschen haben mögen.
Die Ohnmacht des sittlich bewußten Geistes der Natur gegenüber, das ist
die Grundanschauung Turgenjews. Darum herrscht eine so tiefe, hoffnungslose
Melancholie in seinen Dichtungen, in denen ein mächtiges und eigentümliches
Naturgefühl und das seltenste Vermögen der lyrischen Naturschilderung zunächst
ins Auge fallen. Darum ist er recht eigentlich der Dichter der menschlichen
Schwäche, darum ist er in überwiegender Weife der Dichter des Weibes. Er
wird garnicht müde, jene seine Grundanschauung von der Übermacht der Natur,
sei es nun als Leidenschaft oder schwerblütigen Hang oder Willensschwäche oder
als völlig unbewußte Macht des dumpfen Gefühlslebens zur Darstellung zu
bringen. Darum endlich auch herrscht ein so niederdrückender Fatalismus in
seineu Schriften, daß dem Leser das Herz sich bis zum schmerzlichen Aufschrei
zusammenschnürt. Kein Dichter der gesamten Literatur, kein Byron und kein
Lcopardi, kein Hölderlin und kein Lenau vermag eine so hoffnungslos ver¬
zweifelte Stimmung im Leser hervorzurufen wie Turgenjew.
Wir wollen nun nicht gerade behaupten, daß sich Dostojewsky vorwiegend
mit den lichtesten Seiten des menschlichen Lebens beschäftige. Ein Dichter, der,
wie er, mitten in einem von tausend sozialen Schäden gequälten Volke, in einem
gährenden Zeitalter aufwächst und selbst ein furchtbares Schicksal erlebt hat,
kann die Welt nicht in rosigem Lichte ansehen. Auch er behandelt haltlose
Charaktere, dunkle Thäte», und seine einzig dastehende Psychologie des Ver¬
brechens (in „Raskolnikow") ist ja gleich in rückhaltloser Bewunderung aner¬
kannt worden. Aber was ihn, unsrer Meinung nach, sowohl menschlich wie
dichterisch weit über Turgenjew stellt, das ist sein starkes ethisches Naturell, sein
hohes sittliches Pathos, die ungebrochene Kraft seines Glaubens an das Ideal
menschlicher Güte, die sein innerstes Wesen ausmacht, das feste Rückgrat, welches
die herbsten Leiden überdauerte und ihm schließlich eine Führcrrolle in der
Arbeit seines Volkes für die geistige und soziale Freiheit erwarb. Menschlich,
sagen wir, ist sein Charakter höher; denn, mit Lotze zu reden, ist der Glaube
an das Gute ein Entschluß des Willens. Dichterisch ist er im Vorzug; denn
die Dichtkunst hat diesen Glauben in letzter Instanz in uns zu befestigen, uns
die Harmonie der Welt zur Anschauung zu bringen. Wie tief uns auch der
Dichter in den Abgrund menschlicher Schwäche hinabführen darf, sie als die
einzige Wahrheit hinzustellen ist ein Fehler, eben weil es nur die halbe Wahrheit
ist. Mag er sich die metaphysischen Rätsel zurechtlegen, wie er will, mag er
einer religiösen Tradition angehören, welcher er will, gemeinsam ist allen großen
Religionen und philosophischen Systemen das Bewußtsein von der Erhabenheit
des Geistes über die Natur, die Einsicht, daß sittliches Wollen und natürliches
Streben keine unversöhnlichen Gegensätze sind.
So tief also reichen die Unterschiede zwischen den beiden größten Dichtern,
welche wir bis jetzt aus der russischen Literatur kennen gelernt haben. Tur¬
genjew ist Kosmopolit als Künstler und lebt die ganze Zeit seines Lebens
im Auslande; Dostojewsky geht ganz aus im Studium seines eignen Volkes
und hält es für unmöglich, das heilige Rußland je verlassen zu können, Tur¬
genjew ist ein Weltmann, im besten Sinne des Wortes; Dostojewsky hat die
Alliiren eines Apostels, eines religiös Begeisterten. Turgenjew ist ein meta¬
physischer und sozialer Pessimist; Dostojewski) verzweifelt nicht uur nicht an der
Zukunft seines Volkes, sondern legt mit Hand an das Werk der Reformation,
wenigstens in religiöser Beziehung. Turgenjew vertritt den Weltschmerz;
Dostojewski) die Weltfreude, deren Evangelium er direkt, in bewußter polemischer
Tendenz, verkündet; er ist positiver als jener. Turgenjews größtes Ruhmes¬
blatt ist sein Verdienst um die Aufhebung der Leibeigenschaft des russischen
Bauern; Dostojewskys als mächtig bezeugte Einwirkung ist minder leicht er¬
sichtlich, weil sie sich auf die innere Gesinnung seines Volkes erstreckt, die er
nicht bloß kritisirt, souderu befruchtet. Turgenjews Erzählungen sind oft ge¬
taucht in lyrische Stimmung; Dostojewskys, des Ethikers, Extrem liegt in der
Freude am Juristischen. Findet man in der Galerie Turgeujewscher Maunes-
gestalten kaum einen starken Charakter und straft er mit Nachdruck das Erb¬
übel deS russischen Volkes, den maßlosen Hang zur Lüge, sieht er also nichts
als moralische Feigheit und Schwäche, so weiß Dostojewski) auch lichte Seiten
seiner Volksseele zu schildern, er hebt den tiefen religiösen Sinn derselben
hervor, in seinen Dichtungen stehen neben den schwachen auch starke Männer,
neben den typischen Lügnern auch solche, die mit heißem Bemühen nach Wahrheit
streben, sein Weltbild ist reicher und harmonischer als das Turgenjews. Aber
freilich gewinnt dieser letztere durch seiue, aus dein Studium der Franzosen ge¬
wonnene Form, die er als Meister beherrscht, einen Vorsprung vor Dostojewsky,
der mit seinem Reichtum uicht Haus zu halten versteht und bei aller Bewun¬
derung, die nus sein Genie Seite für Seite abtrotzt, den Leser zuweilen ermüdet.
Einige Stellen aus dem vorliegenden Romane mögen diese Charakteristik
illustriren. Gleich im Beginne der „Brüder Karamasow," bei der Einführung
des jüngsten der drei, des Alexei, erklärt der Dichter in ganz eigenartiger Weise
seinen Begriff vom Realismus. Er bezeichnet nämlich Alexei, obwohl er da¬
mals im Kloster ist, um Mönch zu werden, als einen Realisten und fügt hinzu:
„O gewiß, im Kloster glaubte er vollkommen an Wunder, aber meines Trachtens
wird niemals ein Realist durch Wunder beunruhigt. Nicht Wunder machen den
Realisten zum Glauben geneigt. Der aufrichtige Realist, wenn er ungläubig
ist, findet in sich immer die Kraft und die Geschicklichkeit, an ein Wunder nicht
zu glauben, und wenn ein Wunder vor ihm steht als unabweisbare Thatsache,
so ist er schneller bereit, seinen Sinnen zu mißtrauen, als die Thatsache zu stci-
tuiren. Und wenn er sie statuirt, so statuirt er sie als natürliches Ereignis,
das ihm bis dahin unbekannt geblieben war. Im Realisten entspringt der
Glaube nicht aus dem Wunder, sondern das Wunder aus dem Glauben. Wenn
ein Realist einmal glaubt, dann zwingt ihn gerade sein Realismus, auch das
Wunder zu statuiren. Der Apostel Thomas erklärte, er werde nicht glauben,
es sei denn, er habe gesehen; aber nachdem er gesehen hatte, sagte er: »Mein
Herr und mein Gott!« Hat etwa das Wunder ihn gezwungen, zu glauben?
Am wahrscheinlichsten ist es, daß es nicht der Fall war, sondern er glaubte
lediglich deshalb, weil er zu glauben wünschte, und vielleicht glaubte er voll¬
ständig, im geheimsten Herzen, schon damals, als er sprach: »Ich werde nicht
glauben, es sei denn, daß ich sehe.«" (I, 29.) Dostojewsky gebraucht hier die
Bezeichnung „Realist" in einem bei uns nicht gangbaren Sinne; einen Men¬
schen, der sich auf den thatsächlichen Augenschein nicht so stützt, daß er diesen
allein als Wahrheitsbeweis anerkennt, pflegen wir nicht als einen Realisten zu
bezeichnen. Wer da sieht, was er zu scheu wünscht, hat mehr Vertrauen in
sich selbst, in die Wahrheit, die sein Geist produzirt, als in die Außenwelt. Und
da es der ideale Held des Romans ist, den der Dichter so charakterisirt, so ist
es vielmehr der entschlossenste Idealismus, zu dem er sich in dieser Form bekennt,
als der wirkliche Realismus.
Auch aus den als sechstes Buch in den Roman eingeschobenen Bekennt¬
nisse» „Aus den Unterhaltungen und Lehren des Staretz Svssima" (eines im
Gerüche der Heiligkeit stehenden geistlichen Weisen) darf man die eigne An¬
schauung des Dichters herauslesen; sie enthalten seine Ethik. Und da heißt es
u. a.: „Brüder, scheut nicht zurück vor der Sünde der Menschen, liebet die
Menschen auch in ihrer Sünde, denn das ist das Ebenbild der göttlichen Liebe
und der Gipfel der Liebe auf Erden. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, wie
das Ganze, so auch jedes Sandkörnchen. Liebet jedes Blättchen, jeden Licht¬
strahl Gottes. Liebt die Tiere, liebt die Pflanzen, liebt jegliches Ding. Liebst
du jegliches Ding, so wird sich dir Gottes Geheimnis in den Dingen offenbaren.
Einstmals wird es dir offenbar werden, und dann wirst du es Tag für Tag
immer mehr erkennen. Und schließlich wirst du das ganze Weltall lieben mit
alles umfassender, alles umspannender Liebe. Liebet die Tiere. Gott hat ihnen
das Prinzip des Denkens und harmlose Freudigkeit verliehen. Stört sie nicht,
quält sie nicht, nehmt ihnen nicht den Frohsinn, handelt nicht dem Gedanken
Gottes zuwider. Der Mensch überhebe sich nicht den Tieren gegenüber; sie
sind sündlos, er aber in seiner Größe versetzt die Erde durch seine Erscheinung
in Fäulnis und läßt seine faulige Spur hinter sich — v weh, fast jeder voll
uus. Liebet besonders die Kinder, denn auch sie sind sttudlos, gleich den Engeln,
sie leben zu unsrer Demütigung, zur Reinigung unsrer Herzen und gleichsam
als Beispiel für uns. Fluch dem, der ein Kind gekränkt hat. Mich hat der
Pater Anfim (sein Begleiter beim Pilgern) gelehrt, die Kinder zu lieben. Auf
unsern Wanderungen hat dieser liebe Schweiger ihnen für geschenkte Groschen
Lebkuchen und Zuckerwerk gekauft und verteilt; er konnte nicht an ihnen vorüber¬
gehen, ohne daß seine Seele erbebte, . . . Meine Freunde, bittet Gott um
Fröhlichkeit, Seid heiter wie die Kinder und die Vöglein des Himmels."
(II, 202 bis 204,)
Der ganze Dostojewski.) spiegelt sich in diesen Worten; was er hier als
Gebote hinstellt, das führt er als Künstler, und zwar als ein Dichter ersten
Ranges, in seinem Roman aus: er schildert Kinder z, B. mit hinreißender
Wärme. Wollte man indes aus diesen mit großer Virtuosität den Ton mittel¬
alterlicher Mystiker nachahmenden Fragmenten den Schluß auf ein orthodoxes
Christentum als Glaubensbekenntnis Dostojewskys machen, so würde man sehr
irren. Vielmehr ist er ein Gegner alles absolutistischen, autoritativen Kirchen-
tums, ein Gegner, der an satirischer Kraft den größten Geistern, welche für die
Freiheit des Gewissens gestritten haben, füglich gleichgestellt werden kann. In
nichts weniger als in mönchischer, thatenloser Beschaulichkeit und Askese erkennt
er sein Lebensideal: den Vertreter seiner Ideale, eben jenen obenerwähnten
Alexci, den jüngsten der drei Brüder Karamasow, läßt er von seinem Lehrer,
dem Weisen Svssima, selbst aus dem Kloster in die Welt schicken, dort seinen
Beruf zu erfüllen. In sarkastischer Weise geißelt er den Unfug des Einsiedler-
tums durch einige lächerliche Gestalten; er macht sich lustig über den Heiligen¬
kultus, und eins der ergötzlichsten Kapitel im Roman ist jenes, welches die
Enttäuschung des abergläubischen Volkes schildert, als der Wohlgeruch von der
Leiche des Staretz Sossima nicht, wie erwartet wurde, ausströmt, sondern viel¬
mehr ein ungewöhnlich schnell eintretender Leichenverwesungsprozeß die Räume
höchst unerträglich macht — mit der Heiligkeit des Verstorbenen nimmts des¬
halb auch bei diesem Pöbel ein schnelles Ende. Mit der Ironie, die eines
Pascals würdig ist, geißelt Dostojewsky in der Form einer Legende, „Der Gro߬
inquisitor," das Treiben des Jesuitismus und des katholischen, auf Gehorsam
und Autorität gegründeten Systems, (II, 95 fg,)
„Soviele Jahrhunderte hindurch hatte die Menschheit in flammendem Gebete
gebetet: »Gott, Herr, komme zu uns,« daß er, in seinem unermeßlichen Mitleide,
zu den Betenden hat herabsteigen wollen. O, es war nicht jenes Herabsteigen,
K>nur er nach seiner Verheißung am Ende der Zeiten in ganzer himmlischer
Herrlichkeit erscheinen wird, und wann es plötzlich sein wird »wie ein blendender
Blitz vom Aufgang bis zum Niedergang.« Nein, für einen Augenblick nur will
^ seine Kinder besuchen, und zwar gerade dort, wo eben die Scheiterhaufen
der Ketzer prasselten. In seiner unermeßliche» Herzensgüte will er noch einmal
umritten der Leute einherschreiten, in derselben Menschengestalt, in welcher er
dreiunddreißig Jahre lang vor fünfzehn Jahrhunderten unter ihnen einher-
gewcmdcrt war. Er steigt herab auf den „heißen Marktplatz" der Stadt des
Südens, Sevilla, wo eben, gestern erst, in einem „prächtigen Autodafe" im
Beisein des Königs, des Hofes, der Ritter, der Kardinäle und der schönsten
Damen des Hofes, in Gegenwart der zahlreichen Bevölkerung Sevillas von dem
Kardinal-Großinquisitor fast ein volles hundert von Ketzern ans einmal fiel
inxiM'sin. Dsi Aloriaw verbrannt worden war. Er erscheint leise, unmerklich,
und siehe da, alle — merkwürdig ist es alle erkennen ihn. Mit unwider¬
stehlicher Gewalt drängt sich das Volk zu ihm, es umringt ihn, es sammelt
sich um ihn, es folgt ihm nach. Schweigend schreitet er durch die Menge mit
dem stillen Lächeln unendlichen Mitleides. Eine Sonne der Liebe brennt in
seinem Herzen, aus seinen Rügen brechen Strahlen des Lichtes, der Er¬
leuchtung und der Kraft, und auf die Menschen sich ergießend machen sie ihre
Herzen von Gegenliebe erbeben. Er streckt ihnen die Hände entgegnen, er
segnet sie, und von seiner Verührung, ja selbst von der Berührung seiner
Gewänder geht heilende Kraft aus. Christus macht einen blinden Greis sehend,
ein totes Kind erweckt er auf den flehenden Jammer der Mutter, Kinder streuen
Blumen auf seinen Weg, und das Volk singt ihm Hosiannah! In diesem
Augenblicke geht aus dem Platze an der Kathedrale (wo alles das sich ereignet)
der Kardinal-Großinquisitor vorüber. Es ist ein fast neunzigjähriger Greis, hoch
und aufrecht, mit verdorrtem Antlitze, mit eingefallenen Augen, aus denen aber
ein Glanz wie Feuerfunken leuchtet. O, er trägt nicht das prachtvolle Kardiuals-
gewand, in dem er gestern vor dem Volke geprunkt hat, als man die Feinde
des römischen Glaubens verbrannte, nein, in diesem Augenblicke trägt er nur
seine alte grobe Mönchskutte. Ihm folgen in gemessener Entfernung seiue
finsteren Gehilfen und Knechte und die „heilige" Wache. Er bleibt vor der
Menschenmenge stehen und beobachtet aus der Entfernung. Er sieht alles, er
sieht, wie man den Sarg zu seinen Füßen niederstellt, sieht, wie das Mädchen
aufersteht, und sein Gesicht verfinstert sich. Er runzelt die grauen, buschigen
Brauen, und seine Augen leuchten in boshaftem Feuer. Er streckt den Finger
aus und befiehlt den Wachen, Christus zu ergreifen. Und so groß ist seine Macht,
so dressirt, so unterwürfig, so zitternd gehorsam ist das Volk, daß der Haufe
sofort vor deu Wachen zurückweicht, und diese, inmitten der plötzlichen Grabes¬
stille, legen die Hand an ihn und führen ihn fort. Sogleich beugt die Menge,
wie ein Manu, vor dem alten Inquisitor die Köpfe zur Erde; dieser segnet
schweigend den Volkshaufen und schreitet weiter. Im Gefängnis, einem dunkeln,
engen Verließ, besucht er ihn in der stillen Nacht. Bist du es? spricht er ihn
an, und da er keine Antwort erhält, fügt er rasch hinzu: Antworte nicht,
schweige! Und was könntest dn auch sagen? Ich weiß es nur zu gut, was
du sagen würdest. Du hast nicht einmal ein Recht, irgend etwas dem hinzu¬
zufügen, was du früher gesagt hast. Warum bist du gekommen, uns zu stören?
Denn uus zu stören bist du gekommen, und du weißt das selbst. Weißt du
aber, was morgen geschehen wird? Ich weiß nicht, wer du bist, und will es
nicht wissen, ob du es bist oder mir sein Ebenbild, aber morgen werde ich dich
richten und dich ans dem Scheiterhaufen wie den schlimmsten aller Ketzer ver-
brenne,?, und dasselbe Volk, welches heute deine Füße geküßt hat, wird morgen,
auf einen Wink meiner Hand, hinstürzen und mit Kohlen deinen Scheiterhaufen
schüren — weißt dn das? Und da er noch immer schweigt und den Gro߬
inquisitor nur so still mit seinen sanften Augen betrachtet, läßt sich dieser zu
einer langen Rede herbei, welche ihm seine Unkenntnis der menschlichen Natur
nachweisen soll, die alles eher als jene Freiheit des Gewissens und Glaubens
verträgt, welche er ihm schaffen wollte und in seiner Schwärmerei ihm zumutete.
Diese Rede des Großinquisitors ist ein Meisterstück tiefsinniger Satire, und
merkwürdig charakteristisch für den Dichter in Dostojewsky ist die Art, wie er
die Szene beschließt. Wisse, sagt der Großinquisitor, daß auch ich in der Wüste
war, daß auch ich mit Heuschrecken und Wurzeln mich nährte, daß auch ich die
Freiheit segnete, mit welcher dn die Menschen gesegnet hast. Ich bereitete mich
vor, mich zu der Zahl deiner Auserwählten zu stellen, zur Zahl der Kräftigen
und Starken, dürstete darnach, die Zahl voll zu machen. Ich kehrte aber zurück
und stieß auf die Schar derer, die dein Werk verbessert haben. Da verließ ich
die Stolzen und kehrte zu den Demütigen zurück, zum Glücke für diese De¬
mütigen. Das, was ich dir sage, wird in Erfüllung gehen, und unser Reich
wird gegründet werden jdie römische Weltherrschaft^ Morgen verbrenne ich
dich." „Nachdem der Inquisitor ausgeredet hat, wartet er einige Zeit, daß der
Gefangene ihm antworte. Sein Schweigen wird ihm drückend. Er hat be¬
merkt, daß ihn der Gefangene die ganze Zeit über, während er ihn anhörte,
still und eindringlich anblickte, und daß er offenbar nicht gewillt ist, zu ant¬
worten. Der Alte aber wünscht, daß jener ihm etwas sage, und wenn es auch
etwas Bitteres, Schreckliches wäre. Er aber nähert sich schweigend dem Alten
und küßt ihn leise ans seinen blutlosen, neunzigjährigen Mund. Das ist die
ganze Antwort. Der Alte fährt zusammen. Seine Lippen zittern; er geht zur
Thür, öffnete sie und spricht zu ihm: Geh und komm nicht wieder . . . lehr nie
zurück . . . niemals, niemals. Und er läßt ihn ans den finstern Marktplatz
hinaus. Der Gefangene geht fort."
Aber alle diese Satire gegen deu Aberglauben, gegen die Möncherei, gegen
den Heiligenkultus, gegen den Jesuitismus, gegen das kalvinistische Mnckertnm —
alles das tritt bei Dostojewsky hinter der Leidenschaft zurück, mit der er den
schlechthin Ungläubigen, die Materialisten (Clnude Bernard), die Atheisten ver¬
urteilt. Einer der Brüder Karamasow ist ein solcher Atheist, und der Dichter
läßt ihn eben deswegen im Wahnsinn endigen; der andre Bruder, der Ver¬
brecher, hat angesichts der furchtbaren Strafe, die ihm droht, keinen andern
Schmerz, als die Qualen, die ihm der beigebrachte Zweifel an die Existenz
einer Gottheit verursachen. Alles Unheil in seinem Vaterlande, den wahnwitzig
wütenden Nihilismus, die verbrecherische Zerstörungswut, die von ihm ausgeht,
führt Dostojewsky auf deu Mangel an Gottesglauben zurück. In der dem Aus¬
bruche des Wahnsinns vorangehenden phantastischen Unterredung mit dem Teufel,
beiläufig bemerkt einem der tiefsinnigsten Kapitel, sagt dieser jenem Skeptiker
unter den Brüdern Karamasow mit Hohn ins Gesicht: „Das sind dort neue
Leute, meintest du sehr entschieden, sie beabsichtigen alles zu zerstören und mit
der Menschenfresserei zu beginnen. Die dummen Kerle, sie haben mich nicht
um Rat gefragt! Meiner Ansicht nach braucht man nichts zu zerstören, es
bedarf nur der Vernichtung der Gottesidee in der Menschheit. Damit hat man
das Werk einfach zu beginnen. Damit, damit muß man beginnen — o, ihr
Blinden, die ihr das nicht begreift! Sobald nur die Menschheit Mann für
Mann sich von Gott losgesagt hat — und ich glaube, daß eine solche Periode,
als Parallele der geologischen Perioden, eintreten wird —, alsdann wird ganz
von selbst, ohne Menschenfresserei, die ganze frühere Weltanschauung und vor
allem die ganze frühere Sittlichkeit fallen. Alsdann bricht all das Neue an.
Die Leute werden sich dazu vereinigen, um aus dem Leben alles zu ziehen,
was es nur zu bieten vermag, aber unbedingt nur zum Zwecke des Glückes
und der Freuden in dieser Welt hinieden." (IV, 132.) Man sieht, wie Dosto-
jewsky seine Gottesidee meint: mit ihr steht und fällt ihm jede Sittlichkeit.
An einer andern Stelle sagt der jüngere Bruder, Dimitry Karamasow, eben der
Verbrecher: „Mich aber martert der Gedanke an Gott. Nur dieses eine martert
mich. Wie dann, wenn er nicht existirt? Wie dann, wenn er Recht hat, daß
es eine von der Menschheit künstlich erzeugte Idee ist? Denn, wenn er nicht
existirt, dann ist der Mensch das Oberhaupt der Erde, des Weltgebäudes.
Großartig! Wie aber wird er tugendhaft sein ohne Gott? Eine Frage! Hierüber
sinne ich immer. Denn wen wird er dann lieben, dieser Mensch? Wem wird
er dankbar sein? Wem wird er einen Hymnus singen? Denn was ist die
Tugend? Für mich ist dieses eine Tugend, für den Chinesen jenes — also ein
relatives Ding." (IV, 46.) Also die Bedeutung seines Gottesbegriffes ist ihm
die objektive Einheit aller sittlichen Ideen, die notwendige Einheit, ohne die die
Menschheit in ihre Atome zerfällt und sich selbst vernichtet. Die Menschheit
aber hat, nach seiner Anschauung, ganz umgekehrt die größte Sorge nach ihrer
totalen Zusammenfassung in ein Ganzes. In der Rede des Inquisitors vor
seinem Gefangenen heißt es: „Die großen Eroberer, ein Timur und ein Dschingis-
Khan, wie Sturmwinde sind sie über die Erde gebraust, als sie darnach strebten,
das Weltall zu erobern, aber auch sie haben, wenn auch unbewußt, dasselbe
große Bedürfnis der Menschheit nach allgemeiner, weltumfassender Vereinigung
zum Ausdruck gebracht. Hättest du die Welt und den Purpur Cäsars ange¬
nommen, so hättest du das Weltreich gegründet und dem Weltall Frieden ge¬
schenkt. Denn wer soll über die Menschen herrschen, wenn nicht diejenigen,
die im Besitz ihrer Gewissen, und in deren Händen ihr Brot sich befindet?"
(II. 110.) Und ganz in dem Sinne stellt sich Dostojewskys Zukunftstrcmm dar,
auf dessen Verwirklichung sein inbrünstiges Sehnen gerichtet war: Der Staat
— jeder Staat — hat in der Weltkirche aufzugehen; die alles umfassende,
geläuterte, vom Mönchtnme befreite, orthodoxe Kirche aber hat nicht Beherrscher,
sondern nur Berater und Leiter zu sein. Und von keinem andern erhofft der
Dichter die Regeneration seines Vaterlandes, als vom Volke selbst, nicht von
den Mönchen und nicht von den Nihilisten: „Vom Volke wird Rußlands
Rettung kommen. Das russische Kloster aber stand von jeher zum Volke. Ist
aber das Volk isolirt, so sind auch wir isolirt. Das Volk ist gläubig in unsrer
Weise, und eine ungläubige Kraft, mag sie auch noch so aufrichtigen Herzens,
noch so genialen Geistes sein, wird bei uns, in Rußland, nie etwas ausrichten.
Das Volk wird dem Atheisten begegnen und wird ihn bewältigen und wird das
einige, rechtgläubige Nußland bleiben. schätzet das Volk und behütet sein Herz.
Erzieht es in der Stille. Das ist eure mönchische Aufgabe, deun dieses Volk
trägt Gott im Herzen" — so die Ermahnungen des Trägers von Dostojewskys
geistlichem Ideale. (II, 196.)
Wir haben uns etwas lange bei der allgemeinen Darstellung des Geistes
unsers Dichters aufgehalten und haben bisher noch nichts von der Handlung
des Romanes der „Brüder Karamasow" erzählt. Indes scheint uns eben dieser
großartige allgemeine Gehalt des jüngern Werkes seine das ältere, „Raskolnikow,"
weitaus überwiegende Bedeutung auszumachen; denn bei dem Einfluß, welchen
Dostojewsky auf seine Nation ausübt, liegt in diesen seinen Bekenntnissen für
den Ausländer ein eminent kulturhistorisches Interesse; so wie er denkt, darf
man annehmen, denkt die Mehrzahl der Gebildeten und zugleich Vernünftigen
seiner Nation. Aber Unrecht würden wir seinem Werke thun, wollten wir es
nur so einseitig charakterisiren; wollten wir nicht gleich hinzufügen, daß es vom
rein epischen Standpunkte, im Reichtum der Handlung, der Gestalten und der
packendsten Szenen dem Ideengehalte die Waage hält. Man kann ohne Über¬
treibung sagen, daß die Handlung des Romans Himmel und Hölle umfaßt,
die ganze Stufenleiter sittlicher Gestaltung, die höchste Fülle an verschieden¬
artigen Charakteren, sodaß keine Klasse sozialer Verhältnisse darin fehlen dürfte.
Und in allen diesen Verschiedenheiten bewährt sich des Dichters große plastische
Kraft. Mag er uns die Seligkeit eines beschaulich frommen Lebens oder die
teuflischen Qualen eines an aller Wahrheit und Sittlichkeit verzweifelten Ge¬
mütes schildern; mag er uns mit der liebevollsten Hingabe in das Innere un¬
schuldiger und kindlich trotziger Knabenseelen einführen oder zu der ausschweifenden
Orgie eines verzweifelten Verbrechers geleiten, der entschlossen ist, sich aus dem
Höhepunkte seines wollüstigen Rausches eine Kugel durch das Hirn zu jagen;
mag er uns in die Psychologie der Liebe, oder, mit dem nur ihm eignen Be¬
hagen, in der ausführlichen Mitteilung eines vom Untersuchungsrichter geführten
Verhörs in die Psychologie des Verbrechens einführen; mag er den Ton des
Evangelisten oder Staatsanwalts, den Ton des analytischen Skeptikers oder
den des Schwärmers anschlagen — Dostojewsky beherrscht alle diese Töne,
diese Leidenschaften, diese Charaktere, diese Zustünde, und ein Zweifel an der
Wahrheit dessen, was er vorbringt, kann in uns nicht aufkommen. Nicht über¬
allhin werden wir ihm mit gleicher Bereitwilligkeit folgen, seine Art, das eine
Faktum von den verschiedenen Gesichtspunkten aus, von denen des Dichters,
des Untersuchungsrichters, des Staatsanwaltes, des Verteidigers, der großen
Menge und der gebildeten Gesellschaft zu beleuchten, wird uns einen Augenblick
vielleicht mißfallen. Aber schließlich werden wir nicht umhin können, die Kunst
seiner Komposition zu bewundern, die mit so geistvoll komplizirten Mitteln die
Handlung vorwärts bringt.
Diese selbst in ihrer ganzen Breite wiederzugeben, kann hier nicht unsre
Aufgabe sein; doch wollen wir in Kürze eine Andeutung derselben versuchen-
Ganz im allgemeinen erinnert die Konzeption der „Brüder Karamasow" an
Zola; wie dieser in einer Reihe von Romanen das Frankreich vor der dritten
Republik schildern wollte und dabei die Geschichte der Familie Rougeou als
Träger der Entwicklung zu gründe legte, so nimmt die Geschichte der Familie
Karamasow eine ähnliche Stellung bei Dostojewskh ein, die in ihren einzelnen
Gliedern typische Vertreter der russischen Gesellschaft in deu letzte» zwei Jahr¬
zehnten darstellen sollte. Der vorliegende Roman macht den Anfang dieses
großartigen dichterischen Planes: er schildert die nächste Vergangenheit und die
Gegenwart; die erhoffte Zukunft darzustellen war dem Dichter nicht mehr ge¬
gönnt — kurz nach Erscheinen des Werkes starb er.
Aus vier Personen besteht die Familie Karamasow, aus dem Vater Feodor
Pawlowitsch und ans den Söhnen Iwan, Dimitry und Alexei. Der Vater ist
ein zügelloser, ausschweifender Mensch, der sich in der schmutzigsten Weise zu
einem Kapital verholfen und seine stets der Mitgift wegen erheirateten Frauen
in rohester Weise behandelt hat. Die Kinder vernachlässigt er, läßt sie von
seinen Dienern nnferziehen und sie sich schließlich von mitleidigen Verwandten
gern abnehmen, um ungestört das Leben eines Lüstlings führen zu köunen. Die
einzige Maxime des Alten ist: Äprvs nroi Is ckslug'ö. Dieser Feodor Karamasow
repräsentirt die rohe Vergangenheit, Sein ältester Sohn, Iwan, ist einer von
den glänzend gebildeten jungen Leuten unsrer Zeit, mit starkem Verstände und
wirklichem Wissensdurste. Durch kritische Aufsätze hat er sich schon einen hoff¬
nungsvollen Namen in früher Studentenzeit gemacht. Doch glaubt er an nichts
mehr in der Welt und hat schon vieles in seinem Leben verworfen und aus¬
getilgt; er ist ein geschickter Dialektiker, aber ohne eignen innern Halt. Das ist
die sich selbst in geistiger Unzucht zugrunde richtende Gegenwart, indes der
zweite Bruder Dimitry durch seine Charakterschwäche, durch seine maßlose Ge¬
nußsucht, seine Gewaltthätigkeit und Rohheit die materielle Unzucht derselben
repräsentirt. Das Schicksal dieser drei Gestalten bildet die Handlung des Ro¬
mans, in dem die sympathischste Gestalt der ganzen Dichtung, der Liebling aller
Welt, Alexei, ein Jüngling, der sich in alle Herzen ohne sein Zuthun stiehlt
und die Ideale des Dichters verkörpern soll, mehr passiv bei all den Ereig-
Nissen sich verhält. „O, das ist noch ein Jüngling, ein Gottesfürchtiger und
Frommer, der im Gegensatze zu der finstern, verderblichen Weltanschauung seines
Brnoers Iwan sich den »Volksprinzipien« sozusagen anzuschmiegen sucht. In ihm
hat, gleichsam unbewußt, jene schüchterne Verzweiflung Ausdruck gefunden, in
welcher jetzt so viele in unsrer Gesellschaft, die durch deren Cynismus und
Sittenverderbnis geängstigt sind und alles Übel fälschlich der europäische» Bil¬
dung zuschreiben, sich dein »vaterländischen Untergrunde« heftig zuwenden, so¬
zusagen der mütterlichen Umarmung des vaterländischen Bodens." (IV, 206.)
Diese Söhne sind alle fern von ihrem väterlichen Hause aufgewachsen; daß
zwischen ihnen und ihrem saubern Vater kein rechtes Verhältnis besteht, ist
begreiflich. Der zweite Sohn Dimitry lebt übrigens mit seinem Vater im
Streite wegen vermeintlicher Zurückhaltung seines mütterlichen Erbteils. Die
Gegensätze schürfen sich, als beide sich für ein und dasselbe, nicht im besten Rufe
stehende Mädchen interessiren, bis zur stadtkundiger Feindschaft. Der Sohn
haßt seinen Vater als Nebenbuhler umsomehr, und als er dnrch das ihm vor¬
enthaltene Geld in den Besitz des mit toller Eifersucht geliebten Weibes, wie
er meint, kommen müßte. Es kommt zu Schlägereien zwischen beiden, und als
schließlich der Alte in seiner Wohnung erschlagen und beraubt gefunden wird,
fällt der stark begründete Verdacht auf den eignen Sohn, der nach langen Ver¬
handlungen verurteilt wird, allerdings in „gerichtlicher Irrung," denn erschlagen
wurde der Vater Karamasow durch seinen eignen Bastard, einen epileptischen
Hallunken, der sich erhängt. Der Sohn Iwan, der mit seinem gewaltthätigen
Bruder übrigens in einem andern, von diesem fallengelasseneu Liebesverhält¬
nisse rivalisirt, hat im Herzen schließlich oft genng den Tod des Alten herbei¬
gewünscht, mehr aus Haß als aus sonstigen Motiven; und in all der Ver¬
wirrung bei der Suche nach dem wahren Mörder straft ihn sein eignes unreines
Gewissen, und er verfüllt in Wahnsinn.
Natürlich laufen eine Menge spannender Nebenhandlungen daneben her,
und ein fast unübersehbarer Reichtum interessanter Charaktere breitet sich aus.
Auf alles das sei hier nur verwiesen.
Dostojewsky erzählt höchst eigenartig und geistreich fesselnd. Gedanken
und Bilder strömen ihm nur so zu, daß er sich ihrer nicht erwehren kann.
Am liebsten hält er sich in der dialogischen Form, die den dramatischen Reiz
der Charakterentwicklung erhöht. So weiß er neben der Fülle von Ideen,
die er ausstreut, auch für das reine Unterhaltungsbedürsnis seiner Leser zu
sorgen, und es dürfte kaum Einen geben, der, einmal in der Lektüre des Ro¬
mans begriffen, ihn ans den Händen legte, ohne ihn bis zur letzten Seite
zu lesen.
BW
>-^MMle Ausführungen von Calderons Richter von Zalainea in
der Wilbrandt sehen Übersetzung und Bearbeitung, die gegen¬
wärtig auf den bedeutendsten deutschen Bühnen stattfinden, find
ein Theaterereiguis von solchem Range, daß eine kritische Wür¬
digung dieses Meisterwerkes der spanischen Dichtkunst wohl auch
an dieser Stelle nicht ganz überflüssig ist. So viel auch schon über Calderon
und die Haupterzeugnisse seines fruchtbaren Schaffens geschrieben worden ist,
so ist doch die Tageskritik, die hier allein zum Worte kommen soll, in der
Lage, sich anders auszusprechen als die literarhistorische Betrachtungsweise.
Während es dieser obliegt, die poetischen Produkte der Vergangenheit im Zu¬
sammenhange mit ihrer Zeit und als abhängig von vorhergegangenen Bildungs-
epochen zu erklären, hat der Tageskritiker das Recht, solche Dichtungen lediglich
vom Standpunkte der Gegenwart aus zu beurteilen, der sie als etwas neues,
oder wenigstens als etwas, das wie ein Neues aufs neue wirken soll, wieder
vorgeführt werden.
Der erste Eindruck, den wir von dem Caldervnschen Drama empfingen,
war ein geradezu überwältigender. Alles, was an diesem Werke im engern
Sinne Kunst ist, erscheint vollendet. Um zunächst das äußerlichste zu erwähnen:
welche Beherrschung der Bühne! Und — wir müssen das gleich hier einschalten
die Wilbraudtsche Bearbeitung gereicht gerade in dieser Hinsicht dem spanischen
Originale nicht durchgängig zum Vorteil. Die an sich so häßliche Zweiteilung
der Bühne im ganzen zweiten Akte, von der Calderon nichts weiß, wirkt sehr
störend und konnte überdies, wenn auch der größer» Szcneueinhcit zuliebe
geändert werden mußte, doch vielleicht vermieden werden. Ferner welcher Auf¬
bau der Handlung! Eine Komposition von beinahe mathematischer Eleganz
und Korrektheit, einfach und klar bei dem größten Überflüsse in den Einzel¬
heiten! Dabei diese Charakteristik, die sich Zug für Zug an der mit der
sichersten Meisterhand geführten Handlung entwickelt; eine Fülle von Geist und
Witz, von Lebensweisheit und Erfahrung in Worten und Situationen! Alles
dieses und mehr noch zeigt uns hier die kunstvolle Arbeit eines Dramatikers,
der sich als solcher getrost zwischen Shakespeare und Moliere niederlassen
darf.
Wenn wir nun aber auf den Kern der Sache eingehen und, indem wir
uns losmachen von dem bestrickenden Zauber der Form, uns Rechenschaft geben
über den Eindruck, den das „Was" des Gebotenen in uns hinterläßt, so ge¬
langen wir allerdings zu einem Resultate, welches uns zunächst erklärt, warum
dieses Stück trotz seiner hervorragenden dichterischen Schönheiten nicht schon
längst ans der deutschen Bühne Fuß gefaßt hat. Das Stück war ja unsern
Literaturkennern und Dramaturgen nicht aus den Augen geschwunden, und
mehrfache Versuche sind gemacht worden, es bei uns, sowie auch auf andern
außerdeutschen Bühnen einzubürgern. Unter andern gab kein geringerer als der
berühmte Schröder eine Bearbeitung und trat selbst mit großem Erfolge in der
Rolle des Richters Crespo auf. Otto von der Malsburg, dessen Übersetzung
mir vorliegt und ans dessen Vorrede ich obige Notiz entnehme, bemerkt dazu:
„In allen diesen Versuchen liegt das Gefühl einer ausnehmenden Wirksamkeit
des mannichfach veralteten Stoffes; und denkt man, wie die Zeit dem Dichter
in Anerkennung und Würdigung poetischer Tiefe nud Eigentümlichkeit näher¬
gerückt ist, so sollte man an der Möglichkeit eines weit approximativeren Ge¬
brauches für unsre jetzigen Bühnen nicht verzweifeln, wenn nicht diese Zeit
wieder das Wunderliche einer Prüderie hätte, die das Großartige nicht versöhnt."
Aber ich glaube nicht, daß bloße Prüderie die Ursache ist, wenn der Stoff des
„Richters von Zalamea" auf uns nicht die tiefgehende und nachhaltige Wirkung
ausübt, die uns die vollendete dichterische Gestaltung des Stoffes erwarten läßt.
Mit Recht nennt der feinsinnige Literarhistoriker Adolf Stern (in seiner „Ge¬
schichte der neueren Literatur") unser Werk „eine Dichtung, in welcher der Poet
über sich selbst und bei aller Volkstümlichkeit über sein Volk hinauswächst.
Die starre und dabei vollkommen äußerliche Standesehre, sagt Stern, ist hier in
jenes wahrhafte innerste heilige Ehrgefühl, welches in der Brust jedes Menschen
lebt, verwandelt; der Bauer Crespo ist eine so mächtige charakteristische Gestalt,
daß sie mit Recht als die beste Calderons bezeichnet werden möchte." Sehr
wahr! Aber wenn wir auch vollkommen mit dem Ehrgefühl, welches in der
Brust des Bauern Crespo lebt, shmpathisiren, so sind wir doch nicht mit ihm
darüber einig, wie weit er sich von diesem Ehrgefühl in seinem Handeln be¬
stimmen lassen darf.
Prüfen wir zunächst von unserm Standpunkte aus den Vorgang, durch
welchen das Ehrgefühl des Mannes verletzt wird.
Das an seinem Kinde verübte Verbrechen ist in unseru Augen nicht mehr
ein solches, das die Ehre befleckt; es gereicht dem armen Wesen, das davon
betroffen wird, so wenig zur Schande, als wenn es von einem tollen Hunde
gebissen oder von einer ansteckenden Seuche befallen würde. Und wenn wir
den Ausdruck „schänden" aus einer früheren, härter urteilenden Zeit beibehalten
haben, so entspricht dem nicht mehr unser Gefühl und unsre geläuterte Moral.
Für eine solche Unglückliche haben wir und sollen wir nur haben Mitleid.
Nun ist es allerdings trotzdem sehr begreiflich, wenn ein solches Verbrechen
in denen, die es trifft, ein brennendes Rachebedürfnis erregt. Wir finden es
menschlich, wenn ein so in Verzweiflung gebrachter Vater dem Verbrecher nach
dem Leben trachtet. Aber, wie gesagt, als einen „Rächer seiner Ehre" kann
man einen solchen Vater nicht verherrlichen. Was er zu rächen sucht, das sind
weit weniger berechtigte, weit egoistischere und materiellere Interessen. Ob der
Thäter ein adlicher Hauptmann oder ein Strolch ist, das kommt für uns
ebenfalls garnicht in Betracht. Das Zuchthaus, dem er entgegengeht, hebt den
Standesunterschied auf.
Dieser unsrer Auffassung nach wird auch ein andres Hauptmotiv des Stückes
hinfällig: der Versuch des Vaters, „die Sache in Güte beizulegen." Was würde
es nützen, wenn der Missethäter Don Alvaro das Opfer seines tierischen Ge¬
lüstes zur Frau nähme? Das würde eine traurige Ehe abgeben. Diese Er¬
wägung muß auch die an sich wirkungsvollste Szene des Stückes, wenigstens
in ihrer Nachwirkung, bedeutend abschwächen.
Aber es giebt noch einen andern, weit wichtigeren Umstand, der uns den
Helden des Stückes bei näherer Betrachtung in einer viel weniger günstigen
Beleuchtung erscheinen läßt, als er sich uns auf den ersten Anblick darstellt.
Nicht nur das Motiv seiner Rache ist für uns weniger stichhaltig, als der
Dichter uns glauben machen will, auch die Rache selbst kann uns nicht be¬
friedigen — selbst wenn wir dem Motiv eine höhere Berechtigung zuerkennen
wollten.
Nehmen wir einmal an, die Ehre des Bauern Crespo wäre durch die
Unthat des Hauptmanns Don Alvaro wirklich verletzt, und zwar nicht die
spezifisch spanische Ehre, sondern die wirkliche Ehre, wie sie in jedes Menschen
Brust lebt, also auch heute noch überall zu finden ist. Man braucht uicht auf
dem Standpunkte Falstaffs zu stehen, der bekanntlich von der Ehre seine eigen¬
tümliche Anschauung hat, um doch diesem edeln menschlichen Triebe nicht eine
unbedingte, unbegrenzte Wirkungssphäre einzuräumen. Nach unsrer, wesentlich
durch das Christentum gebildeten moralischen Anschauung steht der Ehre zunächst
eine Duldsamkeit gegenüber, die, wenn die eine Wange geschlagen wird, die andre
Wange hinzuhalten gebietet. Und wenn wir auch diese christliche Morallehre,
die allerdings in der Praxis zu sehr weitgehenden Konsequenzen führen würde,
nicht zur unbedingten Richtschnur unsers Handelns machen können, so suchen
wir uns doch mit ihr abzufinden, indem wir den Erfordernissen der Ehre — auf
welcher schließlich nicht nur ein Teil der Existenz des Individuums, sondern
auch der Familie und des Staates beruht — Genugthuung gewähren lasse»
eben von dem Staate, der das größte und zugleich das objektivste Interesse an
der Erhaltung des Ehrgefühls hat. Um ein Beispiel dafür anzuführen, daß
diese moralische Anschanung jetzt eine allgemein verbreitete und maßgebende ist,
brauche ich nur auf den Fall der Frau Clovis Hugues hinzuweisen, deren That
der Selbsthilfe die allgemeinste Entrüstung hervorrief. Der Einzelne darf nicht
nur, er soll sogar sich den Erfordernissen der Ehre entziehen, soweit sie mit
seiner tieferen Moralcmschauuug in Kollision kommen. Zugleich aber sehen wir
es allerdings auch als ein Zeichen vom Verfalle des Staates an, wenn derselbe,
wie in dem ebenerwähnten Falle, nicht imstande oder nicht Willens ist, die
Ehre des ihm angehörigen Individuums zu schützen und zu rächen. Und so
kommen wir zu der freilich seltsam klingenden, aber darum nicht minder richtigen
Behauptung, daß man auf die Ehre wohl Staaten aufbauen kann, aber keine
soliden Theaterstücke. Denn nicht nur, wie schon bemerkt, der Staat überhaupt,
sondern im besondern die modernen europäischen Staaten beruhen zum großen
Teil auf dem namentlich von den germanischen Völkern zu seiner ganzen Schärfe
und Kraft ausgebildeten Begriffe der Ehre. Selbst der sogenannte „spanische
Ehrbegriff" kommt uns nur gewisser Äußerlichkeiten wegen so spanisch vor. Im
Grunde ist er noch ganz derselbe, dein jährlich souudsoviele Menschenleben zum
Opfer fallen, der den Jammer und die Verzweiflung in so manche Familien
bringt und der unter Umständen das Dasein eines Jeden zu einem höchst un¬
behaglichen, ja unerträglichen machen kann, der aber auch unendlich viel Großes
und Gutes, wie gesagt, eine bedeutenden Teil unsrer Gesittung und Bildung zur
Folge gehabt hat. Die Menschheit kann nun einmal ohne solche Zuchtmittel
nicht bestehen.
Andernteils ist und bleibt dieser Ehrbegriff eine Form des Egoismus und
lebt deshalb in beständigem Konflikte mit der christlichen Morallehre, die ihrer¬
seits allerdings wieder, als eine den Egoismus verneinende, in ihrer strikten
Befolgung sowohl die Existenz des Individuums als auch noch sicherer die der
Familie und des Staates in Frage stellen würde. In diesem Bewußtsein hat
der Stifter unsrer Religion selbst es für richtig gehalten, den obenerwähnten
Kompromiß zu schließen: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist," während
er dem Individuum unbedingt die Wiedervergeltung untersagt.
Und auf diesem letzter», höhern Standpunkte muß unbedingt der Dichter
stehen, der unsre volle Sympathie erringen will. Wenn es ihm auch unver-
wehrt bleibt, seinen Helden gegen das ewige Sittengesetz verstoßen zu lassen,
so darf er ihn doch nicht deswegen verherrlichen und ihn so darstellen, als
wenn er vollständig in seinem Rechte wäre; wie dies Calderon in seinem
„Richter von Zalamea" gethan hat. Der Bauer Crespo versündigt sich in der
That am ewigen Sittengesetz, ebenso wie er sich gegen das formelle Recht ver¬
geht. Nicht „im Nebeupunkte irrt er," wie er selbst behauptet und wie der
König ihm gutmütig bestätigt, sondern im Hauptpunkte. Trotz aller Sophismen
bleibt die Thatsache, daß er den Hauptmann dem Gerichte, vor das derselbe
gehört und das ihn vielleicht weniger streng bestraft haben würde, entzieht und
selbst — wenn auch in seiner Eigenschaft als Dorfrichter — ihn aburteilt und
hinrichten läßt, sowohl vor dem Gesetze seines Landes unentschuldbar, als auch
vor dem Richterstuhle der Moral, ein Akt willkürlicher, persönlicher Rache, den
der kluge Bauer noch dazu mit vollem Bewußtsein und klarer Absicht begeht.
Denn daß es ihm nicht um stritte Befolgung des Rechtes zu thun ist, beweist
der vorhergehende Sühneversuch, durch welchen der strenge Richter darthut, daß
er unter Umständen seinen Gefangenen auch freigebe» könne. Der Bauer
Crcspo ist also kein Brutus, nicht einmal ein Michael Kohlhaas. Und doch
läßt der moderne Dichter Heinrich von Kleist den letztern, der ebenfalls sein
Recht um jeden Preis auf eigne Faust, aber ganz 0011g. Mg sucht, darüber zu
gründe gehen — wie sichs gebührt.
Um dem Spanier nicht Unrecht zu thun, müssen wir allerdings noch ein
andres Moment erwägen. Offenbar wollte Calderon durch sein Stück nicht
nur beweisen, daß ein Mensch das volle Recht habe, seine Ehre zu rächen,
sondern er wollte auch zeigen — und das scheint ihm fast wichtiger als der
Hauptzweck gewesen zu sein —, daß im Bauersmann das Ehrgefühl ebenso
lebhaft sein könne als im Adlichen; daß die Ehre kein Standesvorrecht, sondern
etwas allgemein menschliches sei. Dies darzuthun ist ihm denn auch aufs
glänzendste gelungen. Und da diese Tendenz auch heute noch als berechtigt
gilt, so find auch wir geneigt, das Stück gerade in dieser Hinsicht zu würdigen.
Ja ein solches Beispiel von Selbstbewußtsein und Thatkraft, von Stolz und
zugleich gerechter Anerkennung wahren Verdienstes und Vorranges thut in
unsrer Zeit sogar recht wohl und dürfte manchen zum Nachdenken über sich
selbst anregen.
Und so können wir uns denn zum Schluß, obgleich wir es nicht für über¬
flüssig hielten, gerade bei dieser Gelegenheit mit Genugthuung einen Fortschritt
in unsrer sittlichen Entwicklung zu konstatiren, doch zu der Wiedererweckung des
„Richters von Zalamea," auch teilweise in Bezug auf dessen ethische Bedeutung,
Glück wünschen. Möge die herrliche dramatische Dichtung, die uns Wilbrandt
besonders durch seine außerordentlich wohlklingende und fließende Übertragung
in die deutsche Sprache wirklich zugeeignet hat, diesmal von dem Schicksale des
baldigen Wiederverschwindens bewahrt bleiben!
er „blasse Heinrich" durcheilte die Stadtparkpflanzung und kenn
an die Stelle der Rosenbosketts, eine schwächliche Strauchanlage,
ein hirnlos hingenommenes Tauschstiick für die ehemaligen vier
Riesenulmen mit der Steinsäule, jenes dauerhafte Erbstück aus
markiger Vorzeit, Der Zeitenwechsel trat ihm hier recht deutlich
vor die Augen — nicht aus dem blätterschüttelnden Herbste, von dem Bäume
und Büsche zeugten, sie füllen sich ja im Frühling mit neuem Grün —, wohl
aber aus dem Menschenwerk und dem Menschen selbst als Einzelwesen! Er kam
sich altgeworden vor, allein übriggeblieben aus einer früheren Zeit. Wehmut
beschlich ihn und begann seine Erbitterung zu lösen.
Dann gelangte er an die Steinterrasse der Arkaden, den untern Vorbau
zu der höher gelegenen Klosterschule. Die Terrasse fand er unverändert, ebenso
die Arkaden, einen etwa sechzig Schritt langen, bedeckten Säulengang, der gleich¬
laufend mit dem Klosterbau in frühern Zeiten wohl durch Seitengänge mit
ihm verbunden gewesen sein mochte. Er unterließ es, den Blick von hier ans
über deu Fluß hinüber zu richten, wo er alles verändert wußte; er tauchte
vielmehr in den Schatten des Säulenganges und hier verweilte er, um über
seinen Vortrag nachzudenken.
Aber er fand keine Sammlung, die Stimmung fehlte, er vermochte deu
überreichen Stoff nicht zu ordnen, auch gewaltsame Anstrengung erwies sich als
wirkungslos. Er wurde unzufrieden mit sich selbst, wie ihm es noch nie er¬
gangen war. Dann trat er wieder auf die Terrasse ins Helle, bis vor an das
Geländer, an welchem dichter Epheu wucherte wie vordem; um diese knorrigen
Ranken klammerte sich seine Seele an, er fühlte eine Art Halt und Aufrichtung.
Indem er das Geländer entlang mit der Hand über das frische, feuchte
Grün führ, gelangte er an die Seitenwand zu einer denkwürdigen Mauernische,
Hier waren während der langen Jahre die Epheuranken fleißig nachgewachsen,
sie verdeckten jetzt beinahe den Eingang. Beim Eintreten in die Nische umfing
ihn ein eigentümlich moderiger Wnrzelgeruch, der ihn im Augenblicke fast körper¬
lich um fünfunddreißig Jahre zurück in seine Kindheit versetzte. Indem er wieder
hinaustrat, hob er das Epheugehänge und teilte es, um den ober» Nischenrand
freizulegen. Richtig, da stand noch die Aufschrift eingemeißelt, schwarzgefärbt
von der Hand des Archimedes, das vieldeutige horazische Wort: I>08e,iinur (Wir
werden verlangt!). Er betrachtete lange die halbverwitterten Züge. Das hatten
sie damals dem Lieblingslehrer zum Geburtstage besorgt, ihm seinen Lieblings¬
platz zu schmücken, dem er den Namen „Grotte des Horaz" gegeben hatte.
Unter der Inschrift fand er jetzt anch noch neuere Zeichenreste, weniger
dauerhafte; er unterschied im Mondenlichte ein schwarzes Kreuzlein, darunter
die Worte: Mag. H..t...b Novbr. 185., also des Lehrers Todesanzeige.
Magister Hartlieb war schon vor dreißig Jahren ein steinalter Mann ge¬
wesen, konnte also unmöglich jetzt noch am Leben sein; dennoch erschütterte der
eben gelesene Sterbebricf den so lebendig in die Jugendzeit zurückversetzten
einstigen Schiller. Thränen traten ihm in die Augen, und er ließ sich an dem
alten, morschen Eichentische auf das Nischenbrett nieder.
Ein tiefinniges Verhältnis hatte den alten Magister mit seinen Schülern
verknüpft; nicht bloß daß der Lehrer es verstanden hatte, die Schüler in den
Geist des Lehrgegenstandes einzuführen, ihnen Liebe zur Sache einzuflößen, er
hatte auch außerhalb der Schulstunden mit ihnen verkehrt. Der „blasse Heinrich"
aber, der xrimus mniüum, war sein Liebling gewesen, auf seine Gedanken war
er am liebsten eingegangen, den Hochflug seiner Pläne und Hoffnungen hatte
er am liebsten gefördert. Noch in den ersten Semestern seiner Universitätszeit
hatte der „blasse Heinrich" Briefe mit dem Alten gewechselt; dann war der
Verkehr durch die burschenschaftlichen Bestrebungen, denen er sich nach der
Meinung des Lehrers mit allzu großer Leidenschaftlichkeit hingegeben hatte,
unterbrochen worden. Später hatte er den Verkehr wieder anknüpfen und ihm
seine Dissertation zueignen wollen; die Verhältnisse hatten das vereitelt. In
der trüben Zeit seines mühseligen Brotverdienens aber hatte er es nicht über
sich gewonnen, vor seinen alten Gönner mit Klagen zu trete«. So waren sie
einander aus dem Gesichtskreise gekommen. Aber es war dies doch nur schein¬
bar der Fall, denn in Wirklichkeit trug der Schüler das Vorbild des Meisters
stets in seinem Herzen, vor allem seine Erziehergabe hatte er sich zu eigen zu
machen gesucht, und das war es, wie er wohl fühlte, was ihm Kraft und zu¬
letzt Sieg im Daseinskampfe verschafft hatte. Dies trat ihm jetzt mit Klarheit
vor das Bewußtsein. Er brach in Lobsprüche auf den Abgeschiedenen aus,
und in der gehobenen Stimmung erstarkten seine Geister zu rühriger Gedanken¬
arbeit.
Da schlug die Klvsteruhr mit ihrem vertrauten Schalle, der die Jünglinge
sonst in die Hörsäle getrieben hatte. Nun machte sich der „blasse Heinrich"
ernstlich an die Kopfarbeit; Erinnerungsbilder, Personen, Thatsachen, Erfahrungen,
den ganzen Stoff, den er für seine Abendaufgabe gesammelt hatte, ordnete er,
und als die Uhr einViertel schlug, war die Sichtung vollzogen, der Überblick
gewonnen. Darauf ging er die einzelnen Abschnitte durch, und siehe da, als
es halb schlug, hatte er den Bau des Ganzen i» seinen Gliedern vor sich. Eine
Viertelstunde noch verwendete er darauf, den Vortrug durchzusprechen und zu¬
gleich die Stimmmittel zu verteilen.
Mit dem Schlage dreiviertel erhob er sich. Er hatte ein weites Gebiet der
Gedankenwelt durchmessen und die Verstimmung, die ihn kurz vorher im Banne
gehalten, hatte sich verflüchtigt. Alle Unbill des Tages, auch die Drangsale
eines Menschenlebens kamen ihm klein vor — auflösbar selbst die Störungen,
die der gesetzmäßig fortschreitenden Kulturentwicklung eines ganzen Volkes ent¬
gegentreten und doch nur scheinbar den Zeitgeist trüben können.
Der „blasse Heinrich" war die alte Steintreppe, die vom Wasser her aus
den Arkaden in die Klosterschule führte, hinaufgestiegen und betrat uun den
Schulhvf, der einsam in Hellem Mondschein dalag. Aber wer sind die drei
Gestalten dort? Ist's möglich? Ist das nicht Barbara? — Ja, sie war es,
und sofort hatte auch sie den von der Treppe her Auftauchenden mit ihren
scharfen, weithin blickenden Augen erkannt.
Dort! flüsterte sie, indem sie ihrem Vater die Richtung angab.
Ja wahrlich, da ist er! rief Pipin.
Da ist er endlich! fiel auch Cohn ein, und da standen sie auch alle drei
schon vor ihm.
Endlich! ließ ihn der stets pflichteifrige Freund tadelnd an, aber dabei
hätte er den Aufgefundenen am liebsten in die Arme geschlossen. Jetzt stellte
er nur als Arzt mit Hand und Auge fest, daß seine Besorgnis unbegründet
gewesen sei und der „blasse Heinrich" sich in völlig beruhigten Zustande be¬
finde. Drinnen, sagte er hastig, sind schon alle in der äußerste» Verlegenheit
und Besorgnis um dich und den Vortrag, alles ist ratlos, wo bleibst du denn?
Aus sieben Uhr hatte ich mich versprochen, um dreiviertel sieben bin ich
zur Stelle, erwiederte der „blasse Heinrich," was wollt ihr also? Ich mußte
deu Vortrag doch überlegen, mich rüsten, damit ich uns nicht bloßstelltc.
Wieder „falsch bezichtigt," rannte Cohn dem Pipin zu, und sagte dann
zum „blassen Heinrich": Aber wo warst du denn geblieben? Wir suchten dich
in allen Richtungen vergeblich.
Wo sonst, bekam er zur Antwort, als in den Arkaden!
So hatte ich doch wieder Recht, eiferte Cohn.
Bald darauf traten alle Vier in die Musikhalle des Klostergebäudes, die
für die Schlußfcier des Schulfestes ausersehen war. Es war ein gothisch
gewölbter Saal mit großen Spitzbogenfenstern; Kronleuchter an der Decke und
Wandleuchter an den Seitenwänden aus Eicheuastwcrk hergestellt, gaben dem
weiten Raume ausreichende Beleuchtung; an der einen Querwand war das
Katheder mit Auftritt, an der entgegengesetzten die Orgel. Davor war freier
Raum gelassen, im übrigen füllten Stühle und Baute für die Zuhörer den
Saal. Die ganze Herrichtung erschien geschmackvoll, der altehrwürdige Raum
wie dazu erlesen, deu Abschluß des Schulfestes zum wirkungsvollsten zu gestalten.
Der vier Eingetretenen bemächtigte sich sogleich das herandrängende Lehrer¬
kollegium, vor allem der Direktor, der seine Freude über das rechtzeitige Ein¬
treffen des „blassen Heinrich" Ausdruck gab. Es habe in doppelter Beziehung,
sagte er, um die projektirte Schlnßfeicr ungünstig ausgesehen: Erstens habe sich
ein Gerücht über „plötzliche Behinderung" verbreitet. Diese Hanptbesorgnis sei
nun gehoben; von der „gefänglichen Beigabe" — so drückte der Herr Rektor sich
wirklich aus — könne eher abgesehen werden. Der Orgelspieler nämlich sei
abhanden gekommen; der hierzu allein befähigte, ein sekundärer, der Sohn
des Organisten, habe sich in sträflicher Weife untauglich gemacht, der Vater
desselben den Kopf verloren; der Organist der andern Kirche aber verweigere
unter Ausflüchten seinen Beistand, als kenne er diese Orgel nicht.
Alles dies teilte der Festordner mit, und man merkte ihm an, wie ungern
er von dieser musikalischen Ausschmückung des Festes Abstand nahm.
Barbara richtete ihre Blicke fragend auf den Vater, und ihre Lippen
flüsterten: Vater, darf ich mich anbieten?
Warum nicht, Barbara? sagte er zur Seite gewandt mit Hast, indem er
offenbar sehr gern ihrem Verlangen zu Hilfe kam, denn es war ihm hocher¬
wünscht, die Kunstfertigkeit seiner Tochter zugleich mit ihrer im Bnllstaate
prangenden Gestalt in diesem günstigsten Momente zur Geltung zu bringen.
Er teilte also dem Ghmnasialdircktor mit, daß seine Tochter in dem Spiel
verschiedener Instrumente, insbesondere auch im Orgelspiel, ausgebildet sei, und
daß sie ihm soeben ihre Bereitwilligkeit ausgesprochen habe, die entstandene
Lücke auszufüllen. Dabei trat er an Barbara heran, welche sich hinter ihn
zurückgezogen hatte, und hieß die Zögernde vorgehen.
Der Direktor machte der jungen Dame eine Verbeugung, worin Staunen
und Hoffen, Steifheit und Leutseligkeit um die Herrschaft rangen, und reichte
ihr ein Notenheft. Sie nahm das Heft ohne Ziererei in die Hand und sagte,
nachdem sie einen Blick hineingeworfen, daß sie sehr gern eintrete, zumal da sie
die Psalmpartitur wohl kenne.
Hiermit schien dem Ghmuasialdirektor auch der letzte Zweifel über den
gemachten Vorschlag zu schwinden, und vollends stimmte Barbaras Erscheinung
ihn um; den sonst schwer zu überzeugenden, immer sichergehenden Schulvorsteher
erfüllte sie mit einer Zuversicht, welche auch durch die zurückhaltende Bemerkung
der Dame, sie müsse erst das Instrument besichtigen, nicht beeinträchtigt wurde.
Und selbst, als sich bei der Besichtigung der Orgel ergab, daß in der That
Eigentümlichkeiten der Register aufzuklären wären, war der Gymnasialdirektor
der erste, welcher das Hemmnis zu beseitigen übernahm. Es sollte dies
einfach durch den herbeizuholenden „Jnhaftaten" geschehen, den orgelknndigen
sekundärer. Der junge Mensch war nachmittags bei Aufhebung eines Zech¬
gelages von dem Pedell unterm Tische hervorgeholt, festgenommen und ins
Kärzer gesteckt worden. Aber es war anzunehmen, daß er seinen Rausch jetzt
einigermaßen verschlafen haben und so weit zur Vernunft gekommen sein werde,
um die nötigen kunst- oder handwerksmäßigen Griffe zu offenbaren.
Er wird alles wieder gutmachen! frohlockte Barbara und ließ sich auch
von der strengen Miene des Schuldirektors nicht zurückschrecken Und dann
möchte ihm vielleicht zuletzt doch uoch zum heutigen Feste ein Gnadcncckt zu teil
werden! fügte sie mit weicher, einschmeichelnder Stimme hinzu. — Ein phan¬
tastischer Oberlehrer fand, daß sie von der Unwiderstehlichkeit jener Bittenden
ans der Heiligenlegende sei, die Unmenschen zu Christen gemacht haben sollen.
Wirklich bewegte Barbara den harten Römer. Es solle der Straferlaß
erfolgen, dekretirte der Direktor, wenn das Fräulein dnrch die Explikation
des Sünders zur endgiltigen Übernahme des Begleitspiels ausgerüstet worden
sein würde.
Hierauf spielte sich eine für Kleinmalerei geeignete allerliebste Zwischen-
szenc ab. Der aus dein Kärzer hervorgeholte Baechantc war ein schmächtiger
sechzehnjähriger, ein Trotzkopf mit krausem Langhaar und großen Augen, in deuen
der Dämon noch sein Wesen trieb. Der Direktor maß ihn mit Strenge und
gab ihm dann seine Weisung, worauf er sich zu einem andern Geschäfte in den:
immer mehr sich füllenden Saale wandte; er setzte voraus, sein Gebot könne
hier auf keinen Widerstand stoßen.
Allein dem Missethäter hatten in der Thür die Gefährten eindringlich zu¬
geraunt: Laß dich nicht —
Barbara verlangte freundlich Aufklärung über die Register.
Er hatte darauf nur ein kurzes verbissenes Nein.
Sie bat: O nicht doch, Sie sollen auch freikomme!?.
Er trotzte aber lauter und sagte: Ich will nicht.
Als Barbara darauf sich hilfesuchend umsah, war der „blasse Heinrich"
zur Hand, der mit sichtlicher Teilnahme den Vorgang beobachtet hatte.
Kennen Sie mich, Freund? fragte er deu Schüler.
Dieser nickte.
Glauben Sie, ich meine es böse mit Ihnen?
Der Angeredete schüttelte den Kops.
Die Hand her, Konrad (er hatte den Namen von einem andern erfragt),
sehen Sie mich an! Sie wissen, mir geben uns alle viel Mühe um unser heu¬
tiges Fest, und Sie wollen es stören?
Nein! sagte der andre mit dünner Stimme.
Das dächte ich selbst! erwiederte der „blasse Heinrich," es würde auch
schade sein und Ihnen später leid thun, nicht?
Konrad sagte nichts darauf, sondern griff mit seinen langen feinen Musikus-
fingern in das Gefüge der Orgel; anfänglich war er ein wenig unsicher, bald
aber gewann er die Fassung wieder und wies mit Geläufigkeit alle Geheimnisse
des Instrumentes vor, bis Barbara selbst sich daran setzte und nach einigem
Hinundhertasten sagte: Jetzt weiß ich genug.
Als dann die schöne Dame sich erhob, dem Gymnasiasten dankte, dem eifrig
hcrangctretenen Direktor erklärte, sie sei durch des Schülers Explikation zur
Übernahme des Begleitspicls endgiltig entschlossen, und der Direktor die Be¬
gnadigung aussprach, war alle Flegelei aus dem sekundärer gewichen, und er
mußte sich eiligst davonmachen, weil sich in seinen Augen etwas regte, was er
um alles in der Welt nicht hätte zeigen mögen.
Inzwischen hatte sich der Saal ganz gefüllt, der Chor trat ein, und die
Thür schloß sich. Alles war auf dem Platze, der Dirigent vor dein Pulte,
Barbara, die sich noch eilig ihres Hutes und des Herbstmantels entledigt hatte,
saß in ihrem schönen gclbseidnen Kleide an der Orgel. In weitem Halbbögen
standen die festlich geschmückten Sänger und Sängerinnen, alle voll heiligen
Ernstes und von dem Bewußtsein des Liebeswerkes verschönt, das sie einte.
Der nun zum Vortrag gebrachte Psalm gelang aufs vortrefflichste und
schuf unter den Versammelten die für die Fcsthcmdlung empfänglichste Stimmung.
Der Direktor bestieg denn auch wohlgemut das Katheder, schlug ein Heft auf
und las seine statistische Arbeit vor, die allerseits lebhaftes Interesse erregte.
Man erfuhr daraus Zahlenverhältnisse ans den fünfzig Schuljahren und That¬
sachen, die das allmähliche Heranwachsen veranschaulichten; much sämtliche Lehrer,
die seit 1833 bei der Anstalt thätig gewesen waren, wurden genannt, und allen
wurde ein dankbares Erinnern geweiht.
Endlich teilte der Direktor noch mit, ein Herr Kommilito habe ihm ein
Verzeichnis der nach den gesetzlichen Rangklassen geordneten anwesenden Herren
Kommilitonen übergeben, das er zum Abschlüsse der statistischen Mitteilungen
noch verlesen wolle; diese dankenswerte Arbeit sei von — er entzifferte den
Namen des Verfassers mit sichtlicher Mühe — Hauptmann a. D. Mutter—
Müller! verbesserte eine Stimme, was einige Heiterkeit erregte. -
Der Direktor klingelte aber und verkündete, daß er zum Verlesen schreite.
Er begann. Aber, aber! Die Schrift, so sauber und gezirkelt sie auch
aussah, erwies sich als ganz unleserlich; sie glich einer Ballschöuheit, aus der
kein vernünftiges Wort herauszubekommen ist. Fast jeder Name kam verstümmelt
heraus, jedesmal erfolgte eine Berichtigung, und jedesmal lustiges Gelächter.
Archimedes mußte selbst hervortreten und sein Verzeichnis vorlesen, ein
Geschäft, das er mit ängstlichem Gebühren und unsicherer Stimme zur Aus¬
führung brachte, während über ihm der Direktor ragte und sich ungeduldig
geberdete wie ein Kosakenpnlk, der für die Prozession eine Straße bahnfrei
machen will.
Dieser Zwischenfall wirkte unangenehm störend und hob die erforderliche ernste
Stimmung auf. Unter so ungünstigen Umständen trat um auf den Wink des
Festordners der „blasse Heinrich" vor. Er begann aber mit einem Ausdruck
und einer Stimme, die alsbald deu sattelfesten Fachmann erkennen ließen und
Achtung heisesten.
Der Vortrag des Vormittags, begann er, habe die Ergebnisse unsrer
Kulturarbeit der letzten fünfzig Jahre zum Gegenstände gehabt, jetzt sei mit
Anknüpfung an den sachlichen Befund das Persönliche der Kultnrarbciterschaft
ins Ange zu fassen, es sei den Kommilitonen näher zu treten in den Abschnitten
ihrer Entwicklung, einzublicken in unsre geistige Werkstatt, in unser Inneres,
in uns selbst. Der Vortrag, welcher die Gymnasialbildung als Mittel zur
höhern allgemeinen Bildung voraussetze, gehe nicht ein auf die Darlegung des
allmählichen Hcranschnlens der Jugend durch die einzelnen Schulklassen hindurch,
sondern er gehe ans von dein Abschnitt, in welchem die Schulklassen zurück¬
gelegt seien, das Abiturientenexamen bestanden sei.
Bei den Worten: Einer der wichtigsten Lebensabschnitte für uns alle! hob
er die Stimme, hielt ein wenig an und fuhr dann fort: Also Kommilitonen,
jüngere und ältere, versetzen wir uns an den Lebensabschnitt zurück, wo wir
zur Hochschule überzugehen berufen waren, in die schöne Zeit der jungen Triebe,
um das Schillersche geflügelte Wort parodisch anzuwenden. Der Jüngling ist
der Schnlzucht entwachsen und tritt in das Gebiet freier Entwicklung. Sein
Geist und sein Gemüt sind erfüllt mit den Segnungen, die Hans und Schule
in ihn gepflanzt haben. Vor ihm breitet sich das Leben weit aus wie das
Meer; zur Ausfahrt hat er den Kahn zur Hand, alle Gebiete scheinen ihm
erreichbar. Er fühlt Mut und Kraft zum höchsten Streben, alles Edle erfüllt
ihn, er ist bereit, einzutreten für die Wohlfahrt des Freundes, der Angehörigen,
des Vaterlandes, ja für die der ganzen Menschheit, denn seine Herzenshcbung
ist grenzenlos, ihn zieht der ferne Wächterruf, das Homzische ?0K0inuir!
(Fortsetzung folgt.)
Ein neues philosophisches System. In den exakten Wissenschaften
muß es doch klipp und klar werden, sagt der Verfasser eines nen er¬
schienenen philosophischen Systems") und giebt damit einem wohlberechtigten Ge¬
fühle Ausdruck: man kann allerdings die bestimmte Erwartung nnssprechen, daß
der menschliche Verstand eine zusammenhängende Erklärung für alle Natur¬
erscheinungen finde» wird. Er wendet sich dann anch mit Energie gegen jeden
Wunderglauben, worunter er aber nicht den an die biblischen Wunder versteht,
sondern vielmehr den Glauben an mancherlei Hypothesen der Physiker über Fern¬
wirkung, Massenanziehung, Molekularbewegung, welche noch nicht vollständig klar
bewiesen sind, und auch hierin müssen wir ihm beistimmen, denn die Tciuschnngs-
fähigkeit der Meuscheu ist sehr groß, und man ist im allgemeinen nur zu sehr
geneigt, jede kühne und gewagte Hypothese, die ein angesehener und berühmter
Mann aufgestellt hat, für die reine Wahrheit zu halten, bevor man ihre Ueber¬
einstimmung mit den Prinzipien der Erfahrung selbst geprüft hat. Aber etwas
andres ist es, wenn der Verfasser nun selbst die einzig richtige Hypothese aufzu¬
stellen versucht, welche nach seiner Meinung geeignet ist, den Verstand vollständig
in der Erklärung aller Naturerscheinungen aus einem Prinzip zu befriedige«.
Bei einem so großartigen Unternehmen ist es durchaus notwendig, zuerst auf
den Unterschied von dogmatischer und kritischer Philosophie zurückzukommen. Dog¬
matische Hypothesen aufzustellen, die ohne Widerspruch mit allen Thatsachen der Er¬
fahrung gedacht werden können, ist nicht schwer, sondern vielmehr in unbeschränktem
Maße möglich. Die einfachste Hypothese, die in diesem Sinne gemacht wordeu ist,
ist die, daß man die letzte Ursache aller Bewegung und alles Geschehenen Gott
genaunt hat. Eine andre Hypothese war die, daß man diese letzte Ursache Be¬
wegung nannte, und die Physiker, die diese Annahme machten, schlössen meistens,
wenn sie nicht zufällig auch noch kühne philosophische Dilettanten waren, die geistigen
Thätigkeiten von dem Gebiete aus, welches durch diese Bewegungen der Materie
erklärt werden sollte. Darüber hinaus gingen diejenigen, die für Geist und Materie
durchaus eine und dieselbe Quelle des Ursprunges haben und begreifen wollten,
und zu ihnen gehört unser Verfasser, indem er uns den leicht beweglichen Elek-
trizitätsstvff empfiehlt, um alle Erscheinungen der sichtbaren äußern sowohl wie der
innern geistigen Welt zu erklären. Er nennt ihn „die Kraft, die zum Ganzen
eint die Teile, das Element, welches die innersten mit den äußerste» Formen ver¬
knüpft, die Ursache der Triebe, Begierden, Emanationen, Effnlgurationen, das Binde¬
glied zwischen Idee und Erscheinung und zwischen den Sinneseindrücken und der
Empfindung und dem Bewußtsein." Neu und originell ist bei ihm die Art und
Weise, wie er den Elektrizitätsstoff alle Bewegungen hervorrufen läßt, Wie die Be-
wegnugen wieder modifizirt werden sollen durch die Form und Größe der Atome,
die die Materie zusammensetzen, wie sür alle Veränderungen chemischer Art, sowie
für alles Entstehen und Vergehen organischer Formen gewisse Veränderungen in der
Belvegungsrichtuug des Elektrizitätstoffes zur Erklärung dienen. Im ganzen aber ist der
Grundgedanke doch nicht neu. Denn man wird sehr leicht um die Substanz Spinozas
erinnert, die ebenso wie Manns Elektrizitätsstoff die letzte Ursache sür alles Geistige
und Materielle darstellen sollte. Es ist nur der eine Fehler bei allen diesen
Systemen, die widerspruchslos alle Erscheinungen unter sich einordnen können und
dadurch auch für manche Gemüter eine gewisse innere Beruhigung darbieten, daß
sie dogmatisch, d, h. nicht bewiesen und sogar unbeweisbar sind. Denn die völlige
Sicherheit entspringt nur aus der Uebereinstimmung der Erkenntnis mit alleu
Prinzipien des Verstandes, keineswegs, wie unser Verfasser noch im Sinne der
vorkritischcu Philosophie glaubt, dadurch, daß wir unsre Vorstellungswelt mit der
äußern Erscheinungswelt in Uebereinstimmung bringen. Man muß erst einsehen,
daß die äußere Erscheinungswelt unsre Vvrstellungswett ist; dann kann man kritisch
untersuchen, ob diese Vvrstellungswelt vou uns richtig begriffen nud beurteilt wird,
indem nun sie mit dem Maßstabe unsrer Verstandesfnnktionen oder Erkenntuiskräfte
mißt nud bis auf ihren Ursprung analysirt. Dann dürfte sich freilich sehr bald
ergeben, daß mau Dinge, die man unmöglich jemals anschauen kaun, nicht zur Er¬
klärung von Naturerscheinungen verwerten darf, weil sie nie bewiesen werden
können. Daher langen auch keine ausgedehnten und tetracderförmig gestalteten
Atome zur Erklärung der Welt, weil ihr Begriff gegen die Prinzipien des
Verstandes verstößt. Dogmatisch philosophische Systeme sind unfruchtbar und haben
keine Zukunft mehr.
Das Rezensionsexemplar. Die seit Neujahr erscheinende, von Herrn
Hofrat Professor Joseph Kürschner redigirte „Deutsche Schriftstellerzeitung" — es
ist erstaunlich, was dieser Mann alles leistet! — bringt in ihrer ersten Nummer
folgenden Schmerzensschrei des Redakteurs der „Gegenwart", Th. Zolling. über
das „Rezensionsexemplar,"
Das Rezensionsexemplar ist ohne Zweifel eine pa,i't,lo bontouss des deutschen
Journalismus, Es hat das Verhältnis zwischen Verleger und Autor einer¬
seits und dem Redakteur andrerseits zu einem recht unerquicklichen gemacht.
Der Autor ist unzufrieden, weil er nicht angezeigt, nicht besprochen, weil er
„totgeschwiegen" wird. Der Verleger ist unzufrieden, weil er mit dem ge¬
spendeten Rezensionsexemplar die Verpflichtung einer Besprechung auferlegt zu
habe» glaubt und in dieser Annahme sich oft betrogen sieht. Der Redakteur
endlich ist unzufrieden, weil die Zumutungen, die Autor und Verleger an sein
kritisches Nezeptionsvermögen und sein „Organ" stellen, ins Ungeheuerliche wachsen
und weil die Rezensionsexemplare meist in einer Form auftreten, die seine Schrift¬
stellerwürde verletzen muß.
Betrachten wir uns einmal das in die Redaktionsstnbe fliegende Nezeusivus-
exemplar! Es ist selten ein freudig begrüßter Ankömmling. Davon abgesehen, daß
es literarisch in zehn Fällen neunmal in die Kategorie der wertlosen Schmöker
gehört, der lyrischen Jugendsünden und epischen Altersschwachen, der saftlosen
Lesedrnmen und handwerksmäßigen Leihbibliothekenromane, so ist schon sein Gewand
meist wenig verlockend. Hat der fürsorgliche Verleger nicht ein ramponirtes
Exemplar ausgewählt, so hat er es doch gewiß recht knapp beschneiden lassen, um
dem Rezensenten die Mühe des Aufschreibens zu ersparen. Sicherlich aber ist
das Titelblatt mit unauslöschlichen Farbeustcmpeln: „Zur Besprechung!" oder:
„Freiexemplar!" oder: Aus der Hand des Verlegers!" oder: „Graels!" oder mit der
Firma des Verlags beschmiert. Ein Berliner Verleger, nennen wir ihn Herr
Schauerbach, pflegt sogar das Titelblatt seiner Rezensionsexemplare mit seinem
kostbaren Autograph zu verzieren: „Herrn Dr. in vorzüglicher Verehrung er-
gebenst Cchauerbach." Daß die Herren Redakteure auch Geschmack haben, daß sie
sich nur für ein Buch mit anständigen Aeußern interessiren können, daß sie nicht
die erstbeste ssoll heißen: erste bestes Scharteke in ihre Privatbibliothek aufnehmen,
dnvou scheinen die Herren keine Ahnung zu haben. Wieviel zartfühlender werden
da die Pariser und Londoner Journalisten behandelt! Für sie verschickt der Ver¬
leger nur tadellose Exemplare, meist schön gebunden, oft erste Abdrücke, womöglich
Extraabzüge auf Büttenpapier, um auch ja für das Buch einzunehmen.
Aber das Rezensionsexemplar hat bei uns stets noch einen bösen Begleiter:
das Zirkulär. Hier giebt der Verleger seinen Ansichten über Zweck und Wesen
der Kritik einen rührenden schriftstellerische» Ausdruck. Da wird nicht gebeten,
sondern gefordert. Der Verleger verlangt oder bestellt sich die Besprechung —
„möglichst eingehend," „in einer der nächsten Nummern," „in einem eignen Artikel"
oder „an erster Stelle," wie die bescheidene» Wendungen alle lauten. Eine kurze
Notiz über das natürlich „hochinteressante" Werk enttäuscht, dessen bloße biblio¬
graphische Aufnahme ins Novitätenvcrzeichnis empört ihn. Die meisten legen dem
gedruckten Begleitschreiben eine schülerhaft stilisirte Lobhudelei des Buches bei, „zur
gefälligen Benutzung;" wie es unverfroren s!s heißt. Andre schicken gleich ein
Inserat mit, welches „in derselben Nummer stehen soll, die die Besprechung ent¬
hält." Mit andern Worten: keine Besprechung, kein Inserat. Und die ersten
Firmen machen sich dieser Taktlosigkeit schuldig.
Es giebt aber auch Rezensionsexemplare, die der Redakteur garnicht zu scheu
bekommt und deren öffentliche Anpreisung in seinem Blatt ihm dennoch zugemutet
wird. Teure, umfangreiche Publikationen lernt er nicht selten nur aus den ihm
eingesandten Prospekten kennen, deren Illustrations- und Textprvbeu nebst dazu
gehöriger Reklame aus der Feder des Verlegers oder Autors ihm einen Begriff
von dem Werke selbst geben sollen; das Werk selbst wird ihm nnr gegen baar,
mit Rabatt oder auf Abzahlung in Inseraten geliefert. Von Subskriptiouswerken
folgen in der Regel nur die ersten Hefte; ist der Redakteur so gutmütig, sie an¬
zuzeigen, so ist eins gegen zehn zu wetten, daß der Verleger ins Fäustchen lacht
und die Fortsetzung nicht mehr schickt. Kein Wunder, daß gewitzigte Redaktionen
angefangen haben, einzelne Lieferungen gleich in deu Papierkorb zu werfen und
nur noch komplett eingesandte Werke zu berücksichtigen. Andre Firmen wieder sind
so unverfroren s!j, das Rezensionsexemplar garnicht an die Redaktion, sondern an
irgendeinen obskuren Svldschreiber zu schicken, und sie unter anständigen Blättern
zu, die Prosa dieses Herrn abzudrucken und noch obendrein zu honoriren! Es sind
manchmal ganz große und renommirte Hänser, die sich einen solchen Privatkritiker
halten und die Besprechung durch einen andern, z. B- ein Mitglied der betreffenden
Redaktion, mit vorsichtigem Dank ablehnen. Kürzlich anerbot sich san erbot sich!^
sogar der Buchhalter eines berühmten Jugcndschriftenverlags, die Novitäten seines
Brodherrn besprechen zu wollen, natürlich gegen Honorar, und als sein Anerbieten
abgelehnt wurde, entzog die Firma dem Blatte zur Strafe die ihm bereits schon
^bereits schon!s zugewandten Inserate und Beilagen.
Ist das Rezensionsexemplar so oder so in den Besitz des Redakteurs gelaugt,
so ziehen die Verleger eine andre Saite auf. Geschriebene und gedruckte Mahn-
briefe und Postkarten, worin peremptorisch Besprechung oder Rücksendung gefordert
wird, hageln in die Redaktion. Man mutet also dem Journalisten zu, daß er alle
die unverlangten Bücher nicht mir lesen und besprechen, sondern eventuell auch
verpacken, zur Post schicke» und wohl gar frankirt zurückschicken soll! Dabei vergißt
der Verleger, daß der „gewissenlose" Rezensent meist gerade allzu gewissenhaft ist:
daß er die Literatur und aufstrebende Talente herzlich gern unterstützen möchte,
aber daß seine Kraft in diesem Massenaufgebot erlahmt; daß er oft mehrere Bände
mühsam durchgearbeitet hat, um am Ende einzusehen, daß sich nichts Günstiges
darüber schreiben läßt; daß er in solchen Fällen Schillers „weisem Verschweigen"
den Vorzug giebt, und daß gar keine Besprechung besser ist als eine ungünstige.
Oft macht auch der Raummangel des Blattes eine eingehende oder überhaupt eine
Kritik unmöglich. Und mittlerweile wächst der Berg der Rezensionsexemplare immer
höher, wie die Akten über den Kopf des Stnatshämorrhvidarius. Da kann auch
nur ein Staatsstreich retten. Der Redakteur verschenkt so erschenkt?j also schließlich
den ganzen Segen irgendeiner Volksbibliothek oder einer Wohlthätigkcitslotterie,
oder er läßt den nächsten Antiquar oder Makulaturhändler kommen und entledigt
sich so der Geister, die er nicht rief. Wer will ihm das verdenken ?
Wie ist diesem unwürdigen Zustande abzuhelfen?
Ganz einfach dadurch, daß keine Redaktion mehr Rezensionsexemplare vom
Verleger annimmt. Die bibliographischen Organe, die überhaupt alles anzeigen,
mögen auch ferner ihre Massenrezension üben und pflichtschuldigst über jedes
Exemplar kritisch quittiren. Literatur- und andre Blätter, die den Büchermarkt
nur mit Auswahl besprechen, sollten unverlangte Rezensionsexemplare garnicht mehr
annehmen. Juteressirt sich der Redakteur für ein Buch, so mag er es kommen
lassen: bezahlt er den Preis, so steht es ihm frei, es anzuzeigen oder nicht; bezieht
er es als „verlangtes Rezensionsexemplar," so verpflichtet er sich zur Besprechung.
Dem Autor soll es aber unbenommen sein, in feinem Namen dem Redakteur sein
Werk zuzusenden; dies involvirt für letzteren keine Verpflichtung. Nur den ge¬
schäftsmäßigen Einsendungen des Verlegers, der für jedes Rezensionsexemplar
einen literarischen Handlangerdienst beansprucht, soll auf diese Weise abgeholfen
werden. Wünschen die Verleger ihre Erzeugnisse zur Kenntnis des Publikums und
der Kritik zu bringen, so mögen sie den einzig sicheren, wenn auch nicht billigeren
Weg des Jnserats betreten, der bereits schon sbereits schon!j aufhörte ^aufhörte?
der Herr Verfasser meint wohl: angefangen hatj, „nicht mehr ganz ungewöhnlich"
zu sein. Auf solche Weise finden alle ihre Rechnung, giebt es keinen Verdruß
und bleibt die Würde des Schriftstellers gewahrt. —
Dieser Schmerzensschrei enthält ohne Zweifel viel Wahres. Es ist für eine
anständige Zeitschrift in hohem Grade beleidigend, ihr abgestempelte, nicht bloß
auf dem Unischlage, sondern selbst auf dem Titelblatt abgestempelte, knapp und schief
beschnittene, ja selbst inkomplette Exemplare zur Rezension einzusenden. Nicht
minder beleidigend ist es, anständigen Zeitschriften jene Waschzettel zuzuschicken, auf
denen die gewünschte Besprechung des Buches bereits fix und fertig gedruckt steht.
Was die Verleger mit den gekennzeichneten Exemplaren bezwecken, ist freilich öffent¬
liches Geheimnis: sie wollen sich davor schützen, daß die Rezensionsexemplare, wie
es früher sehr oft vorgekommen ist, von dem Redakteur ungelesen zum nächsten
Sortimenter getragen und von diesem dann zur Ostermesse als unverkaufte Kvn-
ditionscxemplare an den Verleger zurückspedirt werden. Und auch die Waschzettel¬
wirtschaft findet in dem ganz gemeinen Gebahren mancher Zeitungen eine gewisse
Entschuldigung: auch das ist ja öffentliches Geheimnis, das; manche Zeitungen den
Verlagsbnchhandel in der aufdringlichsten Weise um Inserate betteln und sich dabei
erbieten, gleichzeitig mit dem Inserat jede ihnen zugesandte Rezension des Buches
im redaktionellen Teile abzudrucken. Aber sollte es nicht das Richtigere sein, Zei¬
tungen, denen mau eine unanständige Handlungsweise zutraut, lieber gar keine
als verhunzte Rezensionsexemplare zu schicken? Eine Zeitschrift in einem Atem
um eine Gefälligkeit zu ersuchen und zugleich zu beleidigen, das ist doch zu naiv.
Und sollte nicht auch in der Ausseuduug jener Waschzettel etwas größere Vorsicht
am Platze sein?
Unser ganzes Nezensionswesen ist nachgerade zu eiuer wahren Zeitnngsplage
geworden. Bei der dörrenden Ueberproduktion im Buchhandel möchte eine Re¬
daktion manchmal schier ersticken in den Bücher- und Broschürenhaufeu, die sich
rings um sie auftürmen. Auch bei dem ausgedehntesten Mitarbeiterkreisc ist es
unmöglich, diesen Segen unterzubringen. Je größer die Zahl der Bücher wird,
desto kürzer möchten die Besprechungen werden, um möglichst vieles berücksichtigen
zu können. Aber kein Mitarbeiter will kurze Besprechungen schreiben, und man
kann es ihnen auch nicht verdenken, denn wer tagelang über einem Buche gesessen,
es gründlich gelesen und sich allerhand Notizen über das Gelesene gemacht hat,
soll der das Ergebnis tagelanger Arbeit dann auf eine Quartseite zusammen¬
drängen, für die er ein paar Mark Honorar erhält? Jede Redaktion weiß, daß
jeder Mitarbeiter am Rezensioneuschreiben nnr kurze Zeit Geschmack findet. In
der Regel sind es jüngere Kräfte, denen es eine Weile Vergnügen macht, sich als
Kritiker zu fühlen. Haben sie erst gewisse Jahre erreicht, so befällt sie ein un-
überwindlicher Degout an diesem ganz undankbaren Geschäft.
Viel würde schon gewonnen werden, wenn die Verleger ihre Rezensions¬
exemplare nicht vielfach gar so Sinn- und planlos ausstreuten, wenn sie nur ein
wenig sich überlegen und sich darum kümmern wollten, ob sie bei einer Zeitschrift
und deren Leserkreis auch wirklich auf Interesse für ihr Buch rechnen können.
Welchen Sinn hat es, einer „Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst" fachwissen¬
schaftliche medizinische Werke zuzuschicken? Täglich kann man Bücher in Tages¬
blättern besprochen sehen, bei denen man es kaun? für möglich halten sollte, daß der
Verleger habe so einfältig sein können, von solchen Büchern überhaupt Rezensions¬
exemplare an die Tagespresse zu verschwenden. Vor allem aber sollte in ausgedehntem
Maße offen und ehrlich der Schritt vom Waschzettel zum Inserat vollzogen werden.
Das Publikum beißt doch schon längst ans diese Waschzettel nicht mehr an, es weiß ja,
daß das keine Rezensionen sind, wenn sie auch fort und fort unter der Rubrik
„Literatur" oder ähnlichen Ueberschriften figuriren. Wenn der Zeitungsleser jeden
Monatsanfang in Dutzenden von Zeitungen wörtlich dieselben lobpreisenden Anzeigen
von dem neuesten Hefte dieser oder jener Monatsschrift und seinem „reichen und
mannichfaltigen Inhalt und Bilderschmuck" findet, so muß doch der größte Dumm¬
kopf endlich dahinterkommen, daß das keine Rezensionen, sondern verkappte Inserate
sind, die nur um das Publikum irrezuführen an diesen Platz gestellt werden.
Diesem Schwindel muß vor allen Dingen ein Ende gemacht werden.
Arme Logik! Was mußt du dir uicht alles gefallen lassen! Man dozirt
dich auf allen Universitäten, aber was du lehrst und wie du wirklich behilflich sein
kannst, Fehler zu vermeiden, in welche der Eifer des Marktes und der Spezial¬
Wissenschaften leicht hineintreiben mag, darnach fragt man im Leben fo gut wie
nicht, denn man hat dich oder man hat von dir wohl gehört, aber deine Lehren
zu beachten fehlt Geduld und Gabe. Platzen jedoch die Geister aufeinander, dann
holt man dich schnell als Prügeljungen hervor. So behauptete der Abgeordnete
Kayser in der Rcichstagssitzung vom 31. Januar, der Abgeordnete von Köller habe
,,mit seiner unverfrorenen Logik" den Schluß gezogen, daß er (Kayser) zur Anar¬
chistenpartei gehöre, worauf von Köller entgegnete: Besser eine unverfrorene Logik
als eine „eingefrorene." Soviel Heiterkeit auch solche Witzgefechte bei der großen
Masse erwecken mögen, auf den denkenden Menschen machen sie einen recht nieder¬
schlagenden Eindruck. Zieht denn irgendjemcmd Schlüsse mit seiner Logik? Nein,
jeder zieht sie doch mit seinem Verstände oder, wie andre wollen, mit seiner Ver¬
nunft. Die Logik will wohl lehren, wie überhaupt Schlüsse gezogen werde« und
wieviel giltige Schlußnrteu es giebt, aber sie kümmert sich nicht um den Inhalt,
nicht um den wirklichen Wert der Prämissen, aus denen die Konklusion folgt.
Hat einer falsche Prämissen aufgestellt, so widerlege man dieselben durch Aufzeigen
der Thatsachen; hat er aus richtigen Prämissen die Konklusion falsch abgeleitet, so
zeige man logisch, welche sMgeür vorliegt. Aber auf die Logik eines schließenden
(als ob jeder seine besondre hätte!) blindlings mit Worten loszuschlagen, das ist
doch Böotergeschwätz, ganz unwürdig des „Volkes der Denker." Man konnte Wohl
sagen — vorausgesetzt, daß man das thörichte Wort „unverfroren" überhaupt
acceptirt —, daß bei einem Denker die Gedanken unverfroren seien, wenn er keck
mit seineu Behauptungen vorgeht, und daß bei einem andern die Gedanken einge¬
froren seien, wenn er sich sträubt, Folgerungen anzuerkennen, die man zu ziehen
berechtigt ist. Aber eine „unverfrorene Logik" oder eine „eingefrorene" — vor
solchen verwahrlosten Redensarten sollte man doch zurückschrecken.
Zwei Schriften, welche in den Streit um deu kantischen Begriff der Dinge
an sich und zwar gegen die bezüglichen Behauptungen Kuno Fischers eintreten.
Beide wollen nachweisen, daß Dinge an sich als den Erscheinungen zu gründe
liegend folgerecht an den Grenzen der kantischen Kritik sich vorfinden müssen, und
daß Kant keineswegs durch Aufstellung seines Beweises für die objektive Realität
der äußeren Anschanung von sich selbst abgefallen sei. Die Darlegungen Stan¬
dingers leiden bei bester Absicht an einiger Schwerfälligkeit und sind nicht ganz
durchsichtig, die von Drobisch sind angenehm zu lesen und leicht verständlich. Was
des letzteren weitere Ausführungen über Kants Erfahrungsbegriff betrifft, so dürfte
wenn er auch mit Recht einzelnes an kantischen Ansprüchen tadelt, doch im
ganzen nicht Recht haben; er verkennt offenbar den Unterschied zwischen dem
physischen Begriff an wirklich gemachter Erfahrung, auf dem die Naturwissenschaften
süßen und dem auch Kant auf dem Boden derselben vollständig zustimmt, und zwischen
dem metaphysischen Begriff von überhaupt möglicher Erfahrung, den auf- und
sichergestellt zu haben Kants Verdienst bleibt. Trotzdem muß allen, welche sich
um die gegenwärtigen philosophischen Bewegungen kümmern, die Broschüre Dro-
bischs zum Studium empfohlen werden.
Die günstigen Bedingungen, nnter welchen die beiden schon von früheren
Expeditionen her bekannten Forscher ihre Reisen in Lykien und Knrieu machten,
indem ihnen die Unterstützung der k. k. Regierung zu teil wurde, haben es ihnen
ermöglicht, ungewöhnlich reiche Resultate zu gewinnen. Davon giebt das vor¬
liegende prachtvolle Werk vollgiltiges Zeugnis. Außer den beiden Verfassern des¬
selben, dem Archäologen Beuudorf und dem Architekten Niemann, beteiligten sich
an der Expedition der Dr. ahnt. von Luschan für naturwissenschaftliche Studien
und der Hofphotvgraph Burger zur Aufnahme von Lichtbildern. Das Ziel der
Expedition waren zunächst die Felsengräber von Telmessos, dann die sonstigen inter¬
essanten Denkmäler Lykieus, und endlich eine Durchsuchung des uoch unbekannten
Hochlandes von Karien. Die. Darstellung beschäftigt sich hauptsächlich mit den
Bauten und Inschriften, die in Halikarnaß, Kos, Knidos, Loryma, Rhodos, Kekowa
(Aperlai), Gjölbaschi (Trysa). Matri (Telmessos), Minara (Pirara), Dodurgar
(Sidyma), Kinik (Xanthos), Patara, Letoon, Pyduai, Tlos und Kadyauda gefunden
wurden. Höchst interessant ist ucunentlich die Beschreibung der lykischen Gräber.
Während die zahlreiche» Skulpturen und griechischen Zuschriften, die in dem Werke
zur Anschauung gebracht werden, ein Bild der Kultur gebellt, die einst in diesen
Landstrichen blühte, zeigen die schönen Photographien und enzelne Heliogravüren
nicht nur den wissenschaftliche» nud künstlerischen, sondern auch den landschaftlichen
Reiz derselben. Die Ansichten von Matri, von Piunra, vo« Eldschikdagh, sowie
andre von Niemann ausgeführte Zeichnungen sind wahre Meisterwerke. Einen höchst
eigentümlichen Eindruck machen die zahlreichen Felsengräber, die sich bald einzeln
wie dorische Tempelchen in solidester Steinarbeit darstellen, bald in Menge neben-
nnd übereinander gehäuft liegen, sodaß der Felsen, der sie trägt, einem Tauben-
schlage nicht unähnlich sieht. Einige Gräber in Hoiran sehen wieder mit ihren
überspringenden Steindächern und der balkeunrtigen Lage langer Quadersteine kleinen
Schweizerhäuscrn ähnlich.
Das Werk vereinigt die Resultate mehrerer Reisen, und wie es im Vorwort
heißt, stehen noch weitere Unternehmungen in derselben Richtung in Aussicht.
Das vorliegende Buch wird einer großen Reihe von Lesern bereits durch
die Mitteilungen „Aus zwei auuektirteu Ländern" in der „Deutschen Rundschau"
bekannt geworden sein, das besondre Verdienst und die Eigentümlichkeit desselben
lassen sich aber erst nach der selbständigen Veröffentlichung klar beurteile«. Es
nimmt eine seltsame Zwischenstellung zwischen Memoirenroman, Autobiographie und
historischen Erinnerungen ein, ist keines von ulledem ganz, hinterläßt aber doch auch
nicht den geteilten und meist unerquicklichen Eindruck, welchen Werke unbestimmten
Charakters sonst hervorzurufen pflegen. Der Verfasser geht in der Annäherung
an den Roman nicht weiter, als die lebendige Wiedergabe einzelner häusliche»
Szenen und die Schilderung von gewissen Empfindungen der Menschen, denen
wir in seinem Buche begegnen, erfordert. Er giebt im wesentlichen eine Biographie,
welche als Lebensgeschichte eines ans guter Familie stammenden Offiziers, der die
unheilvolle Entwicklung der Dinge im ehemaligen Königreiche Hannover bis zum
Sommer 1866 mit durchlebt und nach 1866 seinen Schmerz um das Verschwinden
des Heimatkönigreiches aus der Reihe der Staaten mit der reinen, Pflichtvollen
Hingabe an die Interessen des großen Gesamtvaterlandes überwindet, eine allgemeine
Bedeutung hat. Nicht um unerfreuliche historische Thatsachen nochmals breit zu
treten, sondern um es lebendig empfinden zu lassen, in welchem Zwiespalt vor der
Katastrophe des Jahres 1866 viele der besten und tüchtigsten Männer dahingelebt
haben. Seine historischen Erinnerungen erstreckt der Verfasser kaum über das
hinaus, was er selbst unmittelbar beobachtet, unmittelbar erfahren hat. Dadurch
gewinnt die Erzählung um subjektivem Reiz und flößt überdies das Gefühl un¬
bedingter Zuverlässigkeit ein. Die mit den historischen Erinnerungen verbundene
Familiengeschichte spiegelt in warmer Beleuchtung gutes norddeutsches Leben, allerhand
Freud und Leid, am Ende des Buches bei der Heimkehr aus dem siegreichen Kriege
von 1870 bis 1871 überwiegend Frohes. Die Gestalten, obschon ohne poetische
Verklärung, einfach gezeichnet, werden uns doch in dem Maße lieber, als wir den
Verfasser liebgewinnen. Er versichert freilich wiederholt in der Vorrede, daß „die
erzählende Person eine erdachte" sei, und daß dasselbe mehr oder minder von
denjenigen in dem Buche vorkommenden Personen, welche nicht mit ihrem bekannten
Namen aufgeführt sind," gelte, aber er fügt doch hinzu, daß er den Zeitraum habe
schildern wollen, wie er ihn durchlebte, und er wird wohl zu dem einfachsten Kunst¬
griffe seine Zuflucht genommen haben, die Schicksale verschiedner ihm bekannten
und befreundeten Offiziere mit seinen eignen Geschicken in einer einzigen typischen
Person zu verschmelzen. Jedenfalls bekommt das Ganze erst, wir sagen nicht ein
mehr novellistisches, aber ein mehr romanhaftes Gepräge bei den Szenen, die zu
Anfang des zweiten Bandes in Kassel spielen. Wieviel hier Wahrheit, wie viel
Dichtung ist, läßt sich schwer erörtern, das Interesse, das der Leser an der Er¬
zählung nehmen kaun, beruht durchaus auf der Wahrheit, weil die Poetische Zuthat
von Erfindung sich nicht allzuweit vom Gesehenen und Erfahrenen entfernt und
die Zuthat von Stimmung nichts Zwingendes und unwillkürlich mit sich Fort¬
ziehendes hat. Lebendig tritt uns in diesem zweiten Teile die Zeit zwischen 1867
und 1870 mit ihren Auf und Ab, ihrer Hoffnung und Unbefriedigung entgegen,
vortrefflich sind die geteilten Empfindungen geschildert, mit denen sich die „An-
nektirten" in ihren neuen Staat und in die Tradition der preußischen Armee
hineinlebten, selbst den Aeußerlichkeiten läßt sich hier tiefere Teilnahme nicht ver¬
jagen, man fühlt nach, wie sehr diese Aeußerlichkeiten für Hunderte von tüchtigen
Männern in jenen Jahren zur Lebensfrage geworden waren. Der Abschluß des
Werkes mit der siegreichen Heimkehr von 1871 ist ein wohlbegrttndeter; was bis
dahin nnr zusammengefügt erschien, war uach den Blutdrüsen von Mars la Tour,
Se. Privat und Sedan völlig ineinander gewachsen. Uebrigens deuten gewisse
„Erinnerungen" Hartmanns bereits in eine Zukunft hinaus, die auch wir noch
vor uns sehen: in der trefflichen Gestalt des thatkräftigen Holsteiners Alfred, der
vom hannoverschen Offizier zum Hamburger Kaufmann, zum Pionier des deutscheu
Handels im ostafrikanischen Zanzibar wird. Indem wir dem Verfasser Dank zollen
für die Pietät, mit der er die jüngste deutsche Vergangenheit und ihre Konflikte
allsgedeutet hat, können wir mir wünschen, daß in bezug auf die Zukunft seine
verheißende Darstellung volle Wahrheit werden möge.
Dieser Roman, welcher den Gegensatz zwischen Königtum und Papsttum in
Italien zum Gegenstande, die Umgegend Roms zur Szene hat, wird nicht ver¬
fehlen, Aufmerksamkeit und Teilnahme zu erregen. Der Verfasser verfügt über
eine lebhafte Sprache, Erfiuduugstalent und psychologischen Blick, die Entwicklung
des Romans ist geschickt angelegt, einzelne Situationen mit Glück, noch mehr mit
Liebe gezeichnet, die landschaftlichen Beschreibungen find immer durch wohlthuende
Wärme ausgezeichnet, manchmal sogar sehr gelungen. Dennoch wäre es vielleicht
besser gewesen, wenn der Verfasser seine Fabel nach Deutschland, vielleicht nach
Westfalen, verlegt hätte. Die Gegensätze sind in Deutschland dieselben, die Leiden¬
schaften, die er bei den Italienern voraussetzt, sind aber nicht italienisch, sondern
deutsch, oder allenfalls französisch; der Italiener steht der Religion nicht mit der
Art von Innerlichkeit gegenüber, welche unsre Ultramontanen haben, er ist auch
ihr gegenüber durch und durch Realist. Und die Hauptklippe, welche durch Ver¬
legung nach dem Norden hätte vermieden werden können, ist das Detail des ita¬
lienischen Lebens, welches in dein Romane häufig nicht zu seinem Rechte kvmiut.
Der Bischof, welcher in dem Romane eine große Rolle spielt, heißt immer „Eminenz,"
was bekanntlich nur der Titel der Kardinäle ist; bei Tische warten im Hanse der
Fürstin Nomanelli Kammerfrauen auf (I, S. 87), was in Italien geradezu uner¬
hört ist; die Fürstin redet ihren Widersacher, den Grafen belin Rorcci, mit „Ihr"
an is. 235), während doch „Sie" in Rom ebenso unerläßlich ist wie männliche
Dienstboten; statt Campagna steht S. 13 Romagna, vino aseinw (statt aseinttv)
soll (S. 76) sauern Landwein bedeuten, während damit nur herber (im Gegensatz
zum süßen) Wein gemeint ist; S. 76 wird „gebackener Broevli" gegessen statt „ge-
bratene Broccoli"; S. 190 heißt es: „da das päpstliche Ostia noch eine Galeere
war," wo Galeere mit Bagno, dem Gefängnis der zu Galeereucirbeit verurteilten
Sträflinge, verwechselt ist.
Dies sind mir Einzelheiten, die sich aus dem zweiten Bande vermehren ließen.
Aber die Hauptsache ist der Mangel richtiger Beurteilung des Landes. Wenn z. B.
der liberale Graf (t, S. 237) sagt: „Ich halte es für allgemein bekannt, daß ich
im Parlamente einer derjenigen war, die für Italien die Zivilehe durchsetzen halfen,
eines der köstlichsten Geschenke, das wir unserm armen Vaterlande zu geben ver¬
mochten," so ist zu erwiedern, daß die Zivilehe gar keinen Erfolg gehabt hat, im
Volksbewußtsein auch der Radikalen nur die kirchliche Ehe etwas gilt. S. 80 wird
von einem Priester gesagt: „Er schlich durch den weißen Meersand und zertrat die
lebenden Muscheln, die am Strande lagen. Als er einen großen Polypen erblickte,
stürzte er sich darauf und zerfleischte das gallertartige Tier mit den Händen."
Das würde höchstens ein Engländer thun, ein Italiener gewiß ebensowenig wie
ein Deutscher.
Manches mag bloß Druckfehler sein, wie wenn es S. 4 Subnrra heißt statt
Subnra, S. 11 Fideue statt Fidenae, S. 108 Euryolus statt Euryalus. S. 168
Subiaeeo statt Subiaco. Auch S. 190 mag die unerträgliche Setzertyrannei daran
Schuld sein, daß sich der römische König Altens mit einem k schreiben lassen mich, da
unsers Wissens die neue Orthographie das c doch noch nicht aus den lateinischen
Eigennamen verbannt hat. Aber niemand wird in Ausführungen wie den folgenden
etwas andres als Phantasiegebilde erkennen, die mit der wahren Geschichte nichts
zu thun haben: „Ueber drei Jahrhunderte gebrauchte Rom, um sich das eroberte
Gebiet >nämlich Latinni^ zu unterwerfen, Städte wurden zerstört und die Ein¬
wohner als Sklaven nach Rom geschleppt. Mit der Entvölkerung des Landes begann
sein Verderben,"
Wir glauben zwar, daß niemand römische Geschichte aus einem Roman wird
lernen wollen, aber ein Gemälde will auch einen richtigen Hintergrund haben, und
deshalb möchten wir dem Verfasser raten, seine mit unleugbaren Geschick entwor¬
fenen Schilderungen und Verwicklungen in Zukunft auf einen andern Boden zu
beilegen.
Ein dreht'ger Autor, dessen ernster Sinn
Dir ärgerlich, deß Mut dir war ein Schrecken,
Schickt dir sein Werk; dir aber schien's Gewinn,
Ihn totzuschweigen. Wer zur Clique nicht
Gehört und euch durch Silber nicht besticht,
Den werft ihr schweigend zu den Toten hin.
Das ist einer jener fürchterlichen Vorwürfe, die der Autor dem Literaten, der
ein Blatt redigirt hatte, „von Hunderttausenden gelesen," bei dessen Ankunft im
Jenseits, wo ihm der Lohn für seine Thaten zugemessen werden soll, entgegen¬
schleudern läßt, Nur die fatale Furcht, einem gleichen Schicksale dermaleinst zu
verfallen, hat uns gehindert, dem Beispiel jenes verdammten Literaten zu folgen,
nämlich diesen Totentanz totzuschweigen, und so wollen wir deun von dein Gedichte
kurz Rechenschaft geben. Es will nichts mehr und nichts weniger als eine moderne
Divina Commedia sein, nur mit dem Unterschiede, daß Dante Alighieri ein Katholik
und Politiker war, August Ebrard aber Protestant und — sehr wahrscheinlich —
Theologe ist. Einige kleinere Unterschiede laufen dann so nebenbei noch mit, z. B.
die gewaltige Phantasie und Gestaltungskraft des Florentiners und das poetische
Unvermögen des Deutschen. Zwar ist dies ein sehr wichtiger Punkt; bloß die
Poetische Kraft des Ersteren, die großartige Klarheit nnter anderen, mit welcher er
ein solches Bild vom Jenseits zu geben wußte, daß man es geradezu in Linien,
wie sonst ein geographisches Bild, fixiren konnte, hat seinem Gedichte Unsterblichkeit
verliehen, Ebrards Phantasie fehlt es nicht am Vermögen, Barockes und Gräßliches
zu erfinden, aber klar find seine Bilder und Schilderungen keineswegs, man wird
vielmehr verwirrt davon, und damit fällt die heutzutage einzig denkbare Wirkung
weg: die poetische, Dante hat ferner seine Sprache mustergiltig für Jahrhunderte
geschaffen: Ebrards Sprache hat eine fatale Ähnlichkeit mit der jeuer längst über¬
wundenen Epoche der deutschen Literatur, in der Lobenstein und Hoffmannswnldau
ihre schwülstige» Dichtungen schrieben. Und sachlich: Dante hat in seine Gedanken
systematische Ordnung gebracht, es war Methode in seiner phantastischen Wanderung
von der Hölle bis ins Paradies; ein solcher höchst notwendiger systematischer Zu¬
sammenhang fehlt bei Ebrard. Schließlich: Dantes Werk stand auf der höchsten
Höhe der Bildung der Zeit, damals glaubte die Menschheit an Strafe und Lohn
in Hölle und Paradies. Repräsentirt der orthodoxe Theologe, der seine Form der
Auffassung der Gottheit für die einzig wahre hält und Goethe und Schiller und
Kant und Shakespeare, die Quellen unsrer Bildung, weil sie sich das metaphysische
Rätsel anders zurechtlegten als er, nicht in die Seligkeit, ius Paradies eingehen
läßt, die heutige Bildung? Nein, nicht einmal Kinder schreckt und lockt man heut'
zutage mit den Vorstellungen materieller Höllenqualen und Paradiesesfrcuden unes
dem Tode. Es wäre besser, der Theologe verwendete den Geist, den er offenbar
besitzt, und die redliche Gesinnung, die wir ihm durchaus nicht absprechen wollen,
um in der ihm einzig gemäßen Form: der Predigt, seine Ideen zu verbreiten.
Denn die Kunst ist um ein für allemal weltlich in jedem Sinne geworden: dies¬
seitig, weltfreudig.
Dieser Roman verdient es, daß ihm eine warme Empfehlung mit auf den
Weg gegeben werde. Zwar besitzt er keine jener großen und start hervorstechenden
Eigenschaften, welche den Werken der wahrhaft großen Kunst einen individuellen
Stempel aufdrücken, die Individualität des Autors hat nichts Apartes. Gleichwohl
verdient sein Talent, welches uns in diesem Werke zum erstenmale begegnet, er¬
munternder Berücksichtigung. Mit einer Art resoluter Unbefangenheit geht der
Autor — der uns, beiläufig bemerkt, eine Dame zu sein scheint — zu werte; liebens¬
würdig schlicht und anspruchslos, wie er ist, besticht und gewinnt er uns schon
damit allein. Verbirgt sich doch oft hinter scheinbar großartigen Anläufen und
Bestrebungen, hinter vielem lyrischen Pathos nichts als epische Ohnmacht. Haid¬
heim bleibt stets sachlich, geht ganz in seiner Erzählung auf, seine anmutige Bil¬
dung, seinen schonen sittlichen Ernst und auch seine nüchtere, realistische Weltan-
schauung errät mau nur im Verlaufe seiner Darstellung. Man könnte seinen Roman
als einen Familienroman in zwiefachem Sinne bezeichnen, in dem, was er erzählt,
und in dem, für wen er erzählt. Es ist die Geschichte einer unglücklichen Ehe
zwischen einem alten, ehrlichen Manne und einer jungen, überaus schönen, über
falschen Frau; sie hat ihn geheiratet, weil sie bei ihrem nicht ganz makellosen Rufe
und einer maßlosen Genußsucht nur durch diese Verbindung sich eine soziale Stellung
und Befriedigung ihrer Leidenschaften verschaffen zu können meinte. Wie sie ihn
finanziell und physisch ruinirt, durch ihre Aufführung ins Grab bringt und doch
auch schließlich selbst nicht zur Befriedigung ihrer wahnsinnigen Selbstsucht ge¬
langt — das erlebt der Leser unter der höchsten Spannung, die nur je ein unter¬
haltender Roman erzeugen kann, ein Vergnügen übrigens, das viele höchst glücklich
macht, uns aber, die Wahrheit zu sagen, nicht gerade beglückt: es ist mehr Pein
bei dieser neugierigen Lektüre, als ästhetischer Genuß. Aber es soll anerkannt
werden, daß L. Haidheim die Kunst zu spannen, die Handlung, ohne der Klarheit
Abbruch zu thun, immer neu zu verwickeln, vorzüglich versteht, und ein besondres
Lob verdient auch der graziös und oft wirklich geistreich geführte Dialog, der ja
in der modernen Nomanliteratur zu einer großen Geltung gelangt ist. Natürlich
laufen eine Menge Nebenfiguren neben den beiden Hauptgestalten mit, Figuren, die
wieder unter sich ihre Geschichte erleben. Schade, daß uns keim rechte Perspektive
innerhalb dieses Figurenreichtums gewahrt zu sein scheint, daß die Gestalten, was
die Ausmalung ihres eigentümlichen Charakters anbetrifft, alle mit gleicher und
darum eben nnkünftlerischer Ausführlichkeit behandelt sind. Aber dies führt uns
am Ende zum Tadel, während wir doch nur sagen wollten, daß der Roman „Im
tiefen Forste" zu jener Utiterhaltungslektüre gehört, die man mit Beruhigung in
die Hände der weibliche» Mitglieder der Familie legt, wenn auch gewärtig, su'
mit fieberhaft geröteten Wangen und fliegenden Blicken eine Zeit lang darüber
fitzen zu sehen.
le Begründer der nationalökonomischen Wissenschaft, insbesondre
Adam Smith, haben sich, wie sie nicht anders konnten, der in¬
duktiven Methode bedient, d. h, sie zergliederten, untersuchten und
prüften die Thatscicheu, um welche es sich handelte, und leiteten
daraus allgemeine Gesetze ab. Diese Gesetze wurden alsdann
ans das wirtschaftliche Leben angewendet und damit die Hindernisse bekämpft
und zu beseitigen gesucht, welche der materiellen Entwicklung entgegenstanden;
es wurde ein Weg gebahnt, der es den Völkern möglich machen sollte, zu
Wohlstand und Reichtum fortzuschreiten. Die von Adam Smith gefundenen
und von seinen Nachfolgern und Schülern bestätigten und aller Welt verkün¬
digten Gesetze erschienen so augenscheinlich richtig und wirkten überdies unter
den gegebenen Umständen so segensreich, daß sie bald als Axiome, ja als un¬
antastbare Naturgesetze betrachtet wurden, die keines Beweises mehr bedürften.
Sie regierten bis auf unsre Tage das wirtschaftliche Leben aller Kulturvölker,
und was sich ihnen nicht fügen wollte, galt als verkehrt, wurde bekämpft oder
blieb unbeachtet. Kurz, die Nationalökonomie wurde deduktiv wie die Theologie,
die von gewissen Dogmen ausgeht, welche man glauben muß, wenn man nicht
für einen Ketzer gelten will.
So richtig indessen die induktive Methode ist und so sehr sie jede andre
bei Erforschung der Wahrheit überragt, so trägt sie doch die Unvollkommenheit
in sich selbst, weil eben unser Erkenntnisvermögen unvollkommen ist. Wie genau
und gewissenhaft auch unsre Beobachtungen sein mögen — nach Ablauf einiger
Zeit haben sich unsre Erfahrungen erweitert, hat sich unser Überblick ausgedehnt,
haben sich die Hilfsmittel unsrer Beobachtung vervollkommnet; es kann daher
nicht ausbleiben, daß, wenn wir von neuem zur Untersuchung derselben That¬
sachen schreiten, wir zu andern Ergebnissen gelangen. Aus diesem Grnnde
trägt die induktive Methode das Bedürfnis und die Notwendigkeit wiederholter
Revision der grundlegenden Beobachtungen in sich. Dies entging auch der Wel>,
dem Volke, der Wissenschaft keineswegs,
Adam Smith war kein einseitiger Kopf. Er hatte die menschlichen Hand¬
lungen unter sein philosophisches Sezirmesser gelegt und hatte gefunden, daß
dieselben eine doppelte Natur hätten, eine sittliche und eine materielle. Er be¬
handelte zuerst in seinem Werke 'Illöorie- ok moM «eirtimvnt« das moralische
Element der Handlungen und gelangte zu einem sittlichen Gebote, zu einem
kategorischen Imperativ, der etwa so lautet: „Nichte deine Handlungen so ein,
daß sie sich des Beifalls der Nebenmenschen erfreuen können." Später unter-
suchte er die materielle Seite der Handlungen und fand in seinem Werke ^Vvaltn
ok nMon», daß hier die Selbstsucht die Triebfeder sei. Während er in den
Noi'in söntimsnts den Menschen als Glied der Gesellschaft betrachtete, nach deren
Anforderungen er sich zu richten, deren „Sympathie" er zu erwerben habe,
war ihm in seinem Werke Vo-tilli ot' nu.ti0N8 der Mensch nichts weiter als ein
Individuum, das vom Staate, von der Gesellschaft nichts andres zu verlangen
habe, als daß man ihm keine Hindernisse bereite. /
Man sieht, Adam Smith hatte sich seinen Gegenstand von zwei Seiten
betrachtet; aber er verkannte, daß dies eben doch nur zwei Seiten eines und
desselben Gegenstandes waren, daß es zwar möglich ist, den Menschen einmal
als Glied der Gesellschaft, ein andermal als freies Individuum zu betrachten,
daß aber in Wirklichkeit der Mensch beides zugleich ist und daß mau ihn
ebensowenig seiner Zugehörigkeit, seiner Mitgliedschaft zur Gesellschaft, als seiner
Individualität entäußern kann.
Vielleicht aber hat dies Smith auch garnicht verkannt, vielleicht war es
seine Absicht, in einem dritten Werke die Auflösung, die Versöhnung der in den
menschlichen Handlungen liegenden Gegensätze zu behandeln und damit eine wahre
Gesellschaftswissenschaft zu begründen. Wenigstens ist es schwer zu glauben,
daß der nämliche Mann die Menschen lediglich auf ihre Selbstsucht verwiesen
hätte, der in seinen NorÄ sontiinour« folgende, eines echten Sozialisten würdige
Worte schrieb: „Wessen Herz sich den Gefühlen der Menschlichkeit niemals
öffnet, der sollte auf gleiche Weise von aller Teilnahme seiner Mitgeschöpfe
ausgeschlossen werden und inmitten der Gesellschaft wie in einer großen Einöde
leben, wo niemand nach ihm fragt und niemand sich um ihn kümmert. Freilich
ist ein jeder von Natur sich selbst der Nächste, sich selbst ist er die nächste
Rücksicht schuldig, und da niemand tauglicher ist, für ihn zu sorgen, als er
selbst, so ist es auch recht und billig, daß er für sich sorge. Allein wenn »us
auch unsers Nächsten Untergang nicht mehr rühren mag, als irgendein kleiner
eigner Unfall, so dürfen wir doch seinen Untergang nicht herbeiführen, um
diesem geringen, eignen Unfall vorzubeugen, ja nicht einmal um unsern eignen
Untergang zu verhüten. Wir müssen hier, wie in allen andern Fällen, uus
selbst nicht so sehr in dem Lichte betrachten, in welchem wir vou Natur aus
selbst erscheinen, als vielmehr in demjenigen, in welchem wir audern vorkommen.
Mag es auch wahr sein, daß jeder Mensch sich im Herzen allen andern
Menschen vorzieht, er darf es den Menschen doch nicht ins Angesicht gestehen.
Er fühlt, daß sie in diesem Vorzüge nie mit ihm übereinstimmen können. Will er
so verfahren, wie denn jeder Mensch so zu verfahren dringend wünscht, daß
der unparteiische Zuschauer die Beweggründe billigen möge, so muß er bei
dieser, wie bei jeder andern Gelegenheit die Anmaßungen der Eigenliebe dämpfen
und sie zu etwas herabstimmen, was andre Menschen ihm nachempfinden können.
Im Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Beförderung mag er so stark rennen,
wie er kann, und jeden Nerv und jede Muskel anstrengen, um allen seineu
Mitbewerbern den Rang abzulaufen. Sollte er aber irgendeinen von ihnen
uiederrennen, so hat die Nachsicht des Zuschauers durchaus ein Ende. Er
beeinträchtigt die Gleichheit des Spiels, ein Verfahren, das kein Mensch gut¬
heißen kaun."
Mag nun Adam Smith die Versöhnung der gegensätzlichen Elemente in
den menschlichen Handlungen mit oder ohne Absicht unterlassen haben, so viel
ist gewiß, daß die Menschheit die Lücke empfunden hat, welche er gelassen. Es
regten sich zuerst die gedrückten, leidenden Klassen, die Armen, die Arbeiter,
denen das neue Wirtschaftssystem nicht die gehoffte Verbesserung ihrer Lage
brachte. Was konnte es ihnen frommen, daß die Flüsse sich mit Dampfschiffen,
die Länder sich mit Eisenbahnen bedeckten, daß Fabriken entstanden, welche die
nützlichsten und kostbarsten Dinge in unglaublichen Massen erzeugten, daß Wohl¬
stand in vielen, außerordentlicher Reichtum in einzelnen Händen angehäuft
wurden, daß Kunst und Wissenschaft blühten, daß täglich neue Entdeckungen und
Erfindungen gemacht wurden, welche Glück und Behagen der Menschen zu
fordern verhießen — was konnte ihnen dies alles frommen, wenn sie von dem
Mitgenusse ausgeschlossen blieben, ja wenn sich ihre Lage verschlimmerte, und
wenn es unbestreitbar war, daß diejenigen, deren Hände allen Reichtum erzeugen
oder doch wesentlich dazu beitragen, in elenden Hütten wohnen, bei aufreibender
Arbeit sich und die Ihrigen nur mangelhaft ernähren können, daß ihre Kinder
„an trockenen Brüsten trügerische Nahrung saugen," daß sie ihre Jugend in
ungesunden Fabrikräumeu bei schädlicher Arbeit verzehren müssen, und daß die
Hoffnung des Alters sich auf die zweifelhafte Aussicht beschränkt, von dem Auge
mildthätiger Menschen bemerkt zu werden? Männer wie Owen, Cabet, Fourier,
Se. Simon, Enfantin, Bciyard, Proudhon und andre erhoben ihre Stimme
und ersannen halb gelehrte, halb phantastische Pläne zur Umgestaltung der Gesell¬
schaft. Sie scheuten sich nicht, die Grundlagen derselben, Eigentum und Familie,
anzugreifen und ihre Pläne sofort zur Ausführung zu bringen. Es war natür¬
lich, daß solche Bestrebungen von dem Bürgertum (bourAsoiküö), welches sich
bei dem System des Geschehcnlassens, des Is-isssr »Hör, des vlmqu'un xonr
soi, oliÄciu'un ÄiW soi, der 1ihrs8 trÄNsaoticmL vorerst noch Wohl befand, ohne
viel Umstände niedergeschlagen wurden.
Gleichwohl faßte der sozialistische Grundgedanke Wurzel, daß der Mensch
in unsern Kulturzuständen nur als Glied der Gesellschaft denkbar sei, daß er
nicht bloß Pflichten gegen dieselbe, sondern auch Rechte habe, oder wenigstens
daß die Gesellschaft Pflichten gegen ihre wirtschaftlich ohnmächtigen Mitglieder
zu erfüllen habe, wie sie sich ja auch zum Schutze vou Unmündigen und Geistes¬
schwachen seit langen Zeiten verbunden hält. Man begann das herrschende wirt¬
schaftliche System auf seine Grundlagen zu untersuchen und damit den Weg zu
betreten, der, wie wir oben sahen, bei jeder induktiven Wissenschaft von Zeit zu
Zeit erforderlich ist, nämlich den Weg erneuerter Prüfung der ursprünglichen
Beobachtungen und der daraus abgeleiteten Gesetze. Dieser Weg allein kann
zu einem praktischen Ziele führen. Denn es folgt die That dem Gedanken, nicht
der Gedanke der That. So oft die Menschheit zu einer weltbewegenden That
geschritten ist, war derselbe vorher geistig durchgearbeitet und vollendet. Die
Geschichte bewegt sich nicht in Sprüngen, die, so oft sie versucht werdeu, auch
wieder zurückgethan werden müssen, sondern in Evolutionen, die zwar manchmal
einen eruptiven Charakter annehmen, wenn sie einen gewaltigen Widerstand
sprengen müssen, sich aber immer auf eine vorausgegangene und wenigstens
nahezu zum Abschluß gekommene Geistesarbeit stützen.
Unsre Zeit ist mitten in dieser Arbeit begriffen. Selbst die schöne Lite¬
ratur nud die bildenden Künste haben ihre Mitwirkung geliehen, indem sie sich
mit unverkennbarer Vorliebe dem Realismus oder, wie es die Italiener noch
besser ausdrücken, dem Verismus zugewendet haben; sie reißen die Schleier
weg, welche die Blößen unsrer Gesellschaft verdecken, und zeigen deren physische
und psychische Eiterbeulen mit furchtloser Wahrhaftigkeit. Diese Richtung, so
beklagenswert sie in ästhetischer Hinsicht sein mag, trügt doch mächtig dazu bei,
die Schäden in den weitesten Kreisen erkennen zu lassen und die Geister auf
die Notwendigkeit durchgreifender Abhilfe aufmerksam zu machen. Daß aber
jene Geistesarbeit noch weit entfernt selbst von einem nur vorläufigen Abschlüsse
ist, dafür zeugt am besten die absolute Unfähigkeit der sozialdemokratischen Partei,
irgendein auch nur scheinbar positives Programm aufzustellen. Andrerseits aber
beweist die Existenz dieser Partei und ihr fortwährendes Wachstum die dringende
Notwendigkeit der Durchführung jener Geistesarbeit, welche die Reform der
Gesellschaft vorzubereiten hat.
Die Sozialdemokratie hat längst über die eigentlichen Arbeiterkreise hinaus¬
gegriffen und reicht bis hoch in die mittlern bürgerlichen Schichten, die zwar
keineswegs gesonnen sind, Eigentum und Familie preiszugeben, wohl aber dem
unbestimmten Gefühle folgen, daß die Grundlagen des wirtschaftlichen Zustandes
der Gesellschaft einer Änderung bedürftig und auch fähig seien. Das Wachsen
jener Partei möchte von einem höhern Standpunkte aus eher erfreulich als be¬
drohlich erscheinen. Noch ist das Gefüge unsers Staates stark und gesund
genug, um einem gewaltsamen Handstreiche erfolgreich zu widerstehe,,, auch
würden in dem Augenblicke, wo die Partei zur Gewalt schritte, alle diejenigen
von ihr abfallen, welche ihr jetzt nur zugehören, weil sie zwar Veränderung,
aber keineswegs Umsturz wollen, wobei auch sie vieles zu verlieren hätten.
Erfreulich aber kaun das Wachstum der Partei und namentlich auch ihrer
Vertretung in, Parlamente erscheinen, weil sie dadurch naturgemäß genötigt
wird, ihre bloß anarchistischen Elemente auszuscheiden und auf eine ernstliche
Erörterung der sozialen Lebensfragen einzugehen. Dies nebenbei zur Be¬
ruhigung ängstlicher Gemüter.
lind nun wollen auch wir einige kritische Blicke auf die Grundlagen und
Grundlehren des herrschenden wirtschaftlichen Systems werfen, und wenigstens
einiges davon unsrer Prüfung unterziehen.
Was ist, worin besteht eine wirtschaftliche Produktion oder die Erzeugung
wirtschaftlicher Güter? Welches sind ihre Elemente?
Eine Gütcrproduktion besteht darin, daß ein Stoff, den die Natur giebt,
ein Stück Materie durch die menschliche Arbeit zum menschlichen Gebrauche her¬
gerichtet wird, sei es durch Formgebung oder durch Ortsveränderung. Also
Natur und Arbeit sind die nächsten Elemente der Produktion, sie müssen zu¬
sammen wirken. Jedes für sich allein ist wirtschaftlich wertlos. Der Stein,
der auf dem Berge, das Erz , das in der Grube liegt, der Baum, der im
Walde steht, sind (den Fall des Monopols ausgenommen, wovon nachher noch
die Rede sein wird) keine Güter; ebenso ist es keine Arbeit im wirtschaftlichen
Sinne, wenn ich laufe, dürre, tanze, singe oder ein musikalisches Instrument
zu meinem Vergnügen spiele, ich mag mich dabei noch so sehr ermüden. Frei¬
lich können auch solche Leistungen wirtschaftlich werden, wenn sie vom Clown,
vom Ballettänzer, vom Sänger und Virtuosen, wenn sie im Theater, im Kon¬
zert, im Unterricht geschehen, aber sie erzeugen keine wirtschaftlichen Güter und
bleiben daher bei unsrer Untersuchung außer Betracht.
Entsteht nun aber auch ein Gut aus Stoff und Arbeit, so muß doch noch
ein drittes hinzukommen, nämlich die wirtschaftliche Zweckbestimmung. Das
Kind, welches ein Hölzchen schnitzelt oder ein Gebäude im Sand aufführt, be¬
arbeitet zwar einen Stoff, erzeugt aber kein Gut, seine Arbeit ist wirtschaftlich
zwecklos. Es steht also auch bei der Gütererzeugung der Geist, die Persönlich¬
keit über der Materie und der bloßen Kraft; es ist das Gehirn des Menschen,
welches der Arbeit ihren Zweck am Stoffe anweist. In dieser wirtschaftlichen
Thätigkeit nennen wir den Menschen Unternehmer. Demnach entsteht ein Gut,
wenn ein Unternehmer Materie zu wirtschaftlichem Zwecke durch Arbeit her¬
richtet, und die Elemente der Produktion sind also: 1. zweckbestimmte Arbeit des
Unternehmers, und 2. Materie, Natur oder, wie die Engländer sagen, Land.*)
Wenn ich mit selbstgefertigten Werkzeuge im herrenlosen Walde Bäume
fälle, so habe ich ein Gut, nämlich Baumstämme, erzeugt, und in diesem Gute
finde ich den Lohn für meinen Gedanken und für meine Arbeit, indem ich die
Stämme entweder für mein eignes Bedürfnis verwende oder sie gegen andre
Güter, die ich nötig habe, austausche. Das Produkt meiner zweckbestimmten
Arbeit ist mein Lohn.
Eine Störung dieses einfachsten Verhältnisses tritt ein durch die Vertei¬
lung der Erdoberfläche samt ihrem Untergrunde an einzelne Eigentümer, d. h.
durch Errichtung jenes Monopols, welches wir Grundeigentum nennen. Fortan
werden die Stoffe, welche durch die Arbeit zu Gütern hergerichtet werden sollen,
nicht mehr von der Natur geliefert, sondern durch die Zwischenpersou des
Grundeigentümers, der sie nicht ohne Gegenleistung hergicbt. Er tritt an die
Stelle der Natur, und die Elemente der Produktion sind fortan: Grundeigen¬
tümer und zweckbestimmte Arbeit des Unternehmers. Ein weiteres Element ist
nicht erforderlich, insbesondre nicht das Kapital, wie es die herrschende Lehre
behauptet, weil aus diesem der Arbeitslohn bestritten werden müsse. Weni/ich
hundert Bäume im Walde fällen will, so muß ich dem Eigentümer des Waldes
zehn Stämme als Gegenleistung für seine Erlaubnis abgeben. Allein dies
ändert an der Thatsache nichts, daß das Produkt allein den Lohn für die bei
der Produktion mitwirkenden Personen liefert. Dieser Satz wird auch nicht
alterirt, wenn ich dem Waldeigentümer für seine Erlaubnis Korn oder Vieh
statt der Stämme gebe oder wenn ich gar jenes allgemeine Tauschmittel gebe,
für welches er sich jedes Gut anschaffen kann, nämlich Geld. Denn dies Korn,
dies Vieh, dies Geld sind nichts andres als Stämme, welche ich bei dritten in
Korn, Vieh oder Geld umgesetzt habe. Die Sache bleibt auch ganz dieselbe,
wenn der Waldeigentümer selbst der Unternehmer ist und den Arbeiter zum
Fällen mietet. Auch hier wird der Arbeiter mit Baumstämmen entlohnt, mag
er nun wirklich Stämme oder Korn, Vieh oder das allgemeine Tauschmittel,
Geld, erhalten. Denn der Waldeigentümer verschafft sich Korn, Vieh oder Geld
eben nur mittels der Stämme, welche der Arbeiter gefällt hat. Ein solches
Verhältnis finden wir vielfach ganz unverhüllt in manchen europäischen Län-
dern, wo in der Landwirtschaft das System der Halbpacht gilt, d. h. wo der
Gutsherr dem Pächter das Land gegen Abgabe des halben Ertrages überläßt,
und also Geld oder Kapital ebensowenig bei der Produktion wie bei der Ent¬
lohnung mitwirkt.
Eine weitere Verwicklung des Herganges der Produktion findet statt, wenn
der Unternehmer eine sowohl vom Arbeiter als von dem Grundeigentümer ver-
schiedne Person ist. Hiermit tritt kein neues Element der Produktion ans, son¬
dern nur eine Scheidung dieser Elemente. Statt des arbeitenden Unternehmers
haben wir nur den Unternehmer und den Arbeiter. Auch in diesem Falle bleibt
das Produkt die einzige Quelle der Entlohnung für die beteiligten drei Per¬
sonen, den Unternehmer, den Grundherrn und den Arbeiter, und sie bedürfen
für die Erzeugung des Gutes keiner weiteren Beihilfe.
Angenommen, ich habe den Gedanken, die nnter dem Grunde des A liegenden
Eisenerze durch Arbeiter zutage fördern, schmelzen und zu Masseln umformen
zu lassen, so wird die Entlohnung des Grundherrn und der Arbeiter sowie
mein eigner Gewinn eben in Masseln bestehen. Masseln sind es, auch wenn
ich statt Masseln meinen Gehilfen Korn, Vieh oder Geld gebe, die ich anderswo
gegen meine Masseln eingetauscht habe. Der Unternehmer hat zur Erzeugung
des Gutes nichts andres nötig, als Stoff und Arbeit, und daß die Entlohnung
für beide lediglich aus dem Produkte und nirgends anders woher entnommen
wird, ist darum ganz unbestreitbar, weil das Zustandekommen der Masseln
garnicht verhindert wird, wenn der Unternehmer nichts als seine Idee und seine
Arbeitsteilung, der Grundherr nichts als sein Land und der Arbeiter nichts
als seine Hände besitzt. Ein jeder von ihnen wird in Masselu entlohnt und
lauscht dann seine Masseln bei dritten in andre Güter um. Man nehme ein
Praktisches und ganz gewöhnliches Beispiel. Ein Bäcker bringt seinen Weizen
zum Müller, der ihn wie üblich gegen einen Abzug von zehn Prozent an der
Frucht in Mehl verwandelt. Das Mehl läßt er von seinen Gesellen in Brot
backen und am Ende der Woche entlohnt er sie — in Geld allerdings! Aber
dies Geld hat er im Laufe der Woche durch den Verkauf der Brote eingetauscht.
Es ist nur Sache der Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit, daß die Entlohnung
nicht in Broden geschieht. Wir sehen hier ganz deutlich, wie alle mitwirkenden
Personen, Müller, Gesellen und Bäcker, aus dem Produkte entlohnt werden. Die
Zahl der Gesellen, welche er beschäftigen kann, wird also lediglich von der Menge
der Brote, die er absetzen kann, abhängig sein, und nicht von etwas anderm,
z. V. von dem Kapital oder Gelde, welches ihm zur Verfügung steht, wie es
die Schule lehrt.
Endlich tritt bei der Gütererzeugung noch eine letzte Verwicklung ein.
Sobald nämlich vervollkommnete Werkzeuge, Maschinen zur Arbeit verlangt
werden, die der Arbeiter nicht wie seine Schaufel, seine Axt oder sein Messer
selbst liefern kann, muß das Ergebnis vergangener Arbeit, d. h. Kapital, zu
Hilfe gerufen werden; aber nicht um sich in Arbeitslohn, sondern um sich in
Werkzeuge zu verwandeln. Diese Beteiligung des Kapitals ist aber eine ver¬
hältnismäßig sehr geringe, überdies ist sie eine einmalige und abgesehen von
der Instandhaltung der Werkzeuge nicht wiederkehrende.
Die Gehilfen des Unternehmers sind also für die Kraft der Arbeiter, für
den Stoff der Grundherr, für die Werkzeuge der Kapitalist; aber alle, wie er
selbst, werden aus dem erzeugten Gute entlohnt. Und ob diese Gehilfen gerufen
werden oder nicht, hängt lediglich von der Lust des Unternehmers, d. h. von
der Unternehmungslust ab, mit andern Worten von dem Grade, in welchem
Unternehmungen durch das Bedürfnis des Volkes (der Konsumenten) angeregt
werden. Es können demnach, wie man leicht einsieht, zur Belebung der pro¬
duktiven Thätigkeit eines Volkes niemals solche Mittel dienlich sein, die Grund¬
eigentum, Kapital oder Arbeiter begünstigen; solche Mittel werden höchstens zur
Folge haben, daß sie zu Produktionen verleiten, für welche keine genügende
Nachfrage vorhanden ist.
Wir haben die Produktion bis zur Vollendung des Gutes verfolgt und
haben gefunden, daß alle Mitwirkenden aus dem Produkte selbst entlohnt werden.
Henry George hat dies in seinem merkwürdigen Buche „Fortschritt und Armut"
(deutsch von Gutschow, Berlin, 1884) so ausführlich und schlagend nachgewiesen,
daß ich den Versuch eiuer eignen Begründung, wenn auch auf teilweise anderen
Wege, kaum entschuldigen kann. Er führt den Satz, daß kein Kapital/zur
Bezahlung des Arbeitslohnes erforderlich sei, dieselbe vielmehr vom Produkte
selbst geliefert werde, auch für diejenigen Fälle schlagend durch, wo die Vollendung
des Produktes, wie bei der Landwirtschaft und dem Schiffsbau, lange Zeit in
Anspruch nimmt. Man lese sein drittes und viertes Kapitel. Er sagt hier
unter anderm folgendes: „Macht der Unternehmer am Montag Morgen vor
beginnender Arbeit ein genaues Inventar seines Kapitals, so wird es aus seinen
Gebäuden, Maschinen, Rohstoffen, seinem baaren Gelde und seinen fertigen
Waaren bestehen. Wir wollen der Einfachheit wegen annehmen, daß er während
der Woche weder einlaufe noch verlaufe, und nachdem die Arbeit aufgehört und
er seine Leute am Sonnabend Abend bezahlt hat, ein neues Inventar seines
Kapitals mache. Der Vorrat an baarem Gelde wird verringert sein, denn es
sind davon die Löhne bezahlt worden, es werden weniger Rohstoffe, weniger
Kohlen u. f. w. vorhanden sein, und vom Werte der Gebäude und Maschinen
muß für die Abnutzung in der Woche ein entsprechender Abzug gemacht werden.
Macht er jedoch, wie dies durchschnittlich der Fall sein muß, ein nutzbringendes
Geschäft, so wird der Vorrat fertiger Waaren soviel größer geworden sein, daß
alle diese Verminderungen ausgeglichen werden und in der Gesamtheit sich eine
Kapitalvcrmehrung herausstellt. Somit wurde offenbar der Betrag, den er
seinen Leuten bezahlte, nicht aus seinem oder sonst jemandes Kapital entnommen.
Derselbe kam nicht aus einem .Kapital, sondern aus dem durch die Arbeit selbst
geschaffenen Werte."
Ich füge hinzu, daß der Fabrikant sich dessen auch sehr wohl bewußt ist,
denn es fällt ihm garnicht ein, die Arbeiter für die geleisteten Zahlungen zu
belasten, sondern er belastet dafür sein Waarenkouto, da er wohl weiß, daß
sich die Arbeit direkt in Waare verwandelt hat, ohne irgendeine andre Beihilfe
als seine, des Unternehmers Leitung, sowie der Werkzeuge und der verwendeten
Stoffe. I» dem obigen Falle des Bäckers habe ich gezeigt, daß die Produktion
ganz ohne Geld vor sich gehen kann, oder doch daß das Geld zur Entlohnung
der Gesellen direkt aus dem Werte der Brote entnommen wird. Der Fall
kommt häufig vor, und selbst bei sehr verwickeltem Fabrikationen, wenn sie, wie
es garnicht selten ist, im Dienste eines Kaufmanns arbeiten, der die fertige
Waare sofort abnimmt und bezahlt. Diese Fülle sind besonders lehrreich, denn
sie weisen uus auf die Grenze hin, wo die Gütererzeugung im eigentlichen
Sinne aufhört und jene andre Thätigkeit beginnt, welche sich mit dem Umsätze
der Güter beschäftigt und welche wir Handel nennen. Wenn, wie in dem Falle
des Bäckers, das fertige Erzeugnis sofort in die Hände des Konsumenten
kommt, bedarf es »veiter keiner Thätigkeit und keines Aufwandes. Dies ist
aber in der Regel nicht der Fall. Entweder muß der Produzent den Konsu¬
menten erst mit Mühe und Zeitaufwand suchen, oder er will eine günstige
Konjunktur für die Verwertung des Fabrikats abwarten. Alsdann bedarf er
allerdings des Kapitals, aber er bedarf es nicht zur Entlohnung seiner Arbeiter
oder überhaupt zur Deckung der Produktionskosten, sondern wegen seines Zögerns
mit dem Verkauf, für seinen Handel, denn er ist in diesem Falle zugleich Güter-
erzeugcr und Kaufmann. Er wird diese Rolle meist wider Willen spielen, und
sie eigentlich nur alsdann in größeren Maße übernehmen, wenn die Verhältnisse
ungünstig sind, d. h. wenn seine Abnehmer in weiter Entfernung aufgesucht
werden müssen, oder wenn die Nachfrage für sein Fabrikat nicht lebendig
genug ist und ihm kein Dritter diese Arbeit abnimmt. Bei ganz gesunden Ver¬
hältnissen, wenn eben nnr dasjenige produzirt wird, wonach eine aktuelle lebendige
Nachfrage besteht, ist diese Thätigkeit unnötig oder doch auf ein Minimum
beschränkt, denn es wandert alsdann das fertige Fabrikat sofort und ohne
weitere Mühe in die Hände des Konsumenten. Man erzählt, daß die berühmte
Bierbrauerei in Pilsen einen solchen Absatz gehabt habe, daß die Besteller im
voraus Zahlung leisteten und nach der Reihenfolge ihrer Anmeldung die Waare
erhielten. Hier sehen wir nngenscheiulich und unwiderleglich, daß die Arbeits¬
löhne, überhaupt die Produktionskosten, direkt ans dem erzeugten Werte und
nicht aus einem für sich bestehenden Kapital bezahlt, d. h. daß sie nicht ans
dem Erzeugnis vorausgegangener anderer Arbeit (denn dies ist das Kapital)
vorgeschossen werden müssen.
So schlüssig, wie mich dünkt, diese Beweisführung bereits ist, so soll
dieselbe doch, um jeden Zweifel zu beseitigen, noch Weiler ausgedehnt
werden.
Es giebt eine wichtige Klasse der Gütererzeugung, wobei der Verkauf, der
Umsatz der Produkts, prinzipiell ausgeschlossen ist. Dahin gehören Straßen-,
Brücken-, Eisenbahnanlagen und dergleichen. Da bei solchen Anstalten ein Kapital
für alle Zeiten festgelegt wird, so könnte es scheinen, daß hier wenigstens die
Löhne aus vorhandenem Kapital vorgeschossen oder bezahlt und nicht dem
Produkte der Arbeit selbst entnommen würden. Dies ist aber auch hier nicht
der Fall; denn nicht nur können wir uns denken, daß z. B. eine Eisenbahn
ohne alle Beihilfe anderweiten Kapitals gebaut werde, sondern, wenn wir recht
zusehen, so ist dies sogar im großen und ganzen wirklich der Fall. Eine
Gesellschaft, die eine Eisenbahn bauen will, hat weder eignes Kapital, noch nimmt
sie fremdes Kapital in Anspruch. Sie giebt Aktien aus, d. h. sie veräußert
Anteile an dem noch zu schaffenden Produkte. Der Gegenwert der Aktie ist
also nichts andres als der autizipirte Kaufpreis für ein künftig zu lieferndes
Gut, und indem die Gesellschaft das auf diese Weise erhaltene Geld zur Be¬
zahlung der Löhne verwendet, entnimmt sie dieselbe recht eigentlich dem dnrch
die Arbeit zu schaffenden Produkte. Kommt es nicht häufig vor, daß die
größern Bauunternehmer, die Maschinenfabriken, diese Vormänner der Arbeiter,
ihre Zahlung in Stamm- oder Prioritätsaktien nehmen müssen, und ist es dann
nicht sonnenklar, daß alles, was die Gesellschaft an Zahlung giebt, und alles,
was die Vormänner der Arbeiter für Zahlung annehmen, lediglich eine An¬
weisung ans das Produkt ist, welches dnrch die Arbeit geschaffen werden soll?
Zuletzt allerdings, wenn die Aktien in feste Hände kommen, repräsentiren sie
ein Kapital, aber es ist nicht früher vorhanden gewesenes Kapital, sondern das
neue Kapital, welches die Arbeit erst erzeugt hat. Der Irrtum entsteht nur
dadurch, daß sich bei der vollendeten Ausbildung unsers Güterverkehrs jeder
Umsatz dnrch das allgemeine Tauschmittel Geld vollzieht, nud daß Geld mit
Kapital verwechselt wird. Nbrigeus können wir gerade bei den wichtigen Eisen-
bahnbauten auch auf indirekten Wege unsern Beweis unterstiitzcn. In der
großen Eiseubahubauperiode von 1847—1879 wurden in Preußen im Durch¬
schnitt jährlich 15>4l/2 Millionen Mark verdaut, in der ganzen Periode also
50981/., Millionen. Nun ist es doch ganz gewiß, daß diese Betrüge nicht oder
wenigstens nicht ganz dem vorhandenen Kapital des Landes entnommen werden
konnten; so reich war Preußen nicht! Vielmehr ist es klar, daß diese mehr als
fünf Milliarden Werte wenigstens zum großen Teil erst dnrch die Arbeit des
Erbcmeus selbst geschaffen werden mußten. Wenn aber Preußen nicht reich
genug war, jährlich 154^ Millionen bereits vorhandenen Kapitals auf Eisen¬
bahnen zu verwenden, so war es deshalb doch nicht außer stände, seine Bauten
durchzuführen. Dies war möglich, weil der Wert, welchen die Bahnen
heute repräsentiren, nach und nach durch die Arbeit erzeugt ward, und aus eben
diesem Werte die Arbeiter cutlohnt und die sonstigen Produktionskosten bestritten
werden konnten.
Allein obwohl, wie ich bemerkte, an und für sich und bei einfachen und
ganz gesunden Verhältnissen die produzirten Giiter ohne Vermittlung des Han¬
dels in die Hände der Konsumenten gelangen könnten, so ist dies doch in dein
komplizirten Organismus unsers Wirtschaftslebens nicht der Fall. Die Kon¬
sumenten müssen aufgesucht, die Güter müssen, an den richtigen Ort gebracht
und bis zur richtigen Zeit aufbewahrt, es müssen Vorräte gehalten werden -e..
kurz, der Handel ist ein notwendiges Glied unsers Wirtschaftslebens geworden,
und seine Thätigkeit wird deshalb von vielen für einen wesentlichen Bestand¬
teil der Güterproduktion erklärt, indem sie die Produktion als Gesamtheit der¬
jenigen Thätigkeiten auffassen, welche erforderlich sind bis zu dem Zeitpunkte, wo
das Gut von dem Konsumenten übernommen wird. Allein dies ist falsch, und
diese Auffassung mag wesentlich mit dazu beigetragen haben, das Kapital für
das hauptsächlichste Element der Güterprodnktion zu halten.
Es ist zwar unzweifelhaft, daß der Handel, indem er die Güter an die
richtige Stelle bringt, aufspeichert, feilhält, auch seinerseits einen wirklichen Wert
erzeugt, also produzirt; allem er produzirt nicht das Ganze, was er dem Kon¬
sumenten liefert, sondern er hat mit der Waare, die ihm vom eigentlichen Güter-
Produzenten überliefert wird, nur eine Wertcrhöhung vorgenommen. Und weil
er nicht alles produzirt hat, was er liefert, kann er anch nicht alles, was er
liefert, aus dein Ertrage seiner Arbeit bestreiten, vielmehr bedarf er des Ka¬
pitals, um das Gut von dem Fabrikanten zu übernehmen, und nur seine eigne
Arbeit nebst dem Zins des von ihm beschäftigten Kapitals wird aus dem Pro¬
dukte seiner eignen Arbeit bezahlt.
Fassen wir aber, um den bestehenden Zustünden Rechnung zu tragen, die
Güterproduktion im engern Sinne mit dem Handel als ein Ganzes auf, so
werden wir allerdings sagen müssen, daß für dieses Ganze, d. h. für die wirt¬
schaftliche Thätigkeit des Volkes, das Kapital ein wesentliches Element ist.
Allein dies ändert an unserm Satze nichts, daß die Gilterproduktion an und
für sich nur grundsätzlich von dem Kapital, soweit es sich nicht um Lieferung
des Stoffes und der Werkzeuge handelt, unabhängig sei.
Unsre Untersuchung ergiebt, daß der Ausgangspunkt aller Produktion das
Bedürfnis der Gesellschaft, die Nachfrage der Konsumenten ist, daß durch sie
der Unternehmer angeregt wird, und daß dieser zur Leistung der Kraft die
Arbeiter, zur Lieferung des Stoffes den Grundbesitzer und zur Beschaffung der
Werkzeuge das Kapital zu Hilfe ruft. Wenn dem so ist, so können die Ge¬
hilfen, abgesehen von der relativen Höhe ihres Lohnes, nnr gedeihen, wenn die
Thätigkeit der Unternehmer lebhaft ist. Alsdann werden Grundrente, die wir
bvrläufig noch erwähnen, Arbeitslohn und Kapitalzins eine steigende Tendenz
haben, bei schwacher Thätigkeit der Unternehmer aber eine fallende Tendenz.
Mit andern Worten: die Bewegung von Grund- und Kapitalzins sowie des
Arbeitslohnes folgt, wenn nicht störende Ursachen einwirken, einem und demselben
Gesetze, sie steigen und fallen miteinander.
Unsre Untersuchung ergiebt ferner, daß die Löhne, überhaupt die Pro¬
duktionskosten, uicht einem bereits vorher vorhandenen Kapital, sondern dem
durch die Arbeit selbst erzeugten Werte entnommen werden; das; mithin die
Produktionsthätigkeit eines Volkes nicht durch die Menge der vorhandenen
Kapitalien bedingt ist, vielmehr umgekehrt der Kapitalreichtum durch die Arbcits-
thätigkeit; denn das Kapital ist ein Erzeugnis der Arbeit, und uicht die Arbeit
ein Erzeugnis des Kapitals.
Wir befinden uns demnach im vollkommensten Gegensatze zur herrschenden
Lehre und müssen also auch die Schlußfolgerungen verwerfen, welche sie aus
ihren Vordersätzen ableitet, nämlich: daß das Kapital, d. h, das Ergebnis
früherer Arbeit, bei der Güterproduktion ein wesentliches Element sei und daß
es die Funktion habe, den Arbeitslohn, überhaupt die Produktionskosten, zu be¬
zahlen oder doch vorzuschießen; daß demnach ohne Kapital keine Produktion
zustande kommen könne; daß ferner die Zahl der Beschäftigung findenden Ar¬
beiter von der Größe des (für diesen Zweck) vorhandenen Kapitals abhängig
sei; daß zwischen Kapital und Arbeitern demnach ein gegenseitiges Aufsuchen,
d. h, ein Verhältnis von Nachfrage und Angebot, bestehe, und deshalb die
Höhe der Kapitalmiete (Zins) und die Höhe des Arbeitslohnes in umgekehrten!
Verhältnisse stünden, daß also zwischen Kapitalist und Arbeiter entgegengesetzte
Interessen herrschten. /
Und aus diesen Irrlehren ist unsre Nationalökonomie aufgebaut, durch sie
werden unsre Finanz- und Steuerpolitik beherrscht, sie bilden den Gegenstand
der Kämpfe, welche unsre Gesellschaft zerreißen, indem sie uns zu dem Glauben
verführen, daß .Kapitalisten und Arbeiter zwei feindliche Klassen seien, deren
jeder das Gebot der Selbsterhaltung die erbarmungslose Unterjochung der
andern auferlege! (Fvrtschuna fvlgi.)
icht weniger ungünstig für die Polizei ist die gerichtliche Ver¬
handlung, sowohl für die Beamten der Polizei als auch für
die Polizeibehörden selbst; es zeigt sich dies am deutlichsten
in dem Verfahren nach vorausgegangener polizeilicher Stmfver-
füguug, obwohl die bezüglich dieses Verfahrens gerügten Miß-
stände bei Vernehmung von Polizeibeamten vor Gericht auch bei solchen Ver-
nehmnngcn in andern Strafsachen gleich lebhaft wie hier hervortreten. In
England ist die Aburteilung der zu solchen Strafverfügungen Anlaß gebenden
Falle infolge des oben dargelegten Gedankens, daß solche Verfügungen im
Dienste der polizeilichen Ordnung stehen, nicht den ordentlichen Gerichten zu-'
gewiesen, sondern dem Friedensrichter, d, h. dem Beamten, welcher in erster
Instanz Polizei und Justiz vereinigt. Die Berufung gegen dessen Urteile ist
sehr eingeschränkt, hat mir aufschiebende Wirkung, wenn der Beamte, gegen
dessen Verfügung die Berufung erhoben werden soll, es für zulässig hält, und
geht an die sogenannte Quartalssitzung der Friedensrichter, in welcher mehrere
solcher gemeinschaftlich erkennen; es wird dadurch Schnelligkeit der Aburteilung,
Energie in der Durchführung der Polizeivcrordnuugcn und Aburteilung dnrch
sachverständige Personen erreicht. Bei uns geht die Berufung an das Schöffen¬
gericht und dessen vorgesetzte Instanzen, und die Polizei muß sich dabei
dnrch den Staatsanwalt vertreten lassen; dadurch entsteht naturgemäß eine
erhebliche Verzögerung in der Aburteilung der Fälle, die Sache wird nicht mit
der im polizeilichen Interesse wünschenswerten Energie betrieben, und es fehlt,
man darf es, ohne den Gerichten zu nahe zu treten, aussprechen, der Sach¬
verstand bei Aburteilung der Sachen, da wohl meistens die Vorstünde der
Polizeibehörden ihren Kursus bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften
durchgemacht haben, aber kein Amtsrichter oder Vertreter der Staatsanwaltschaft
je in die Polizeiverwaltung hineingesehen hat. Endlich, und das ist das
schlimmste, erscheint die Polizei bei der Handhabung der ihr zur Aufrecht¬
erhaltung überwiesenen öffentlichen Ordnung nicht, wie es sich gebührt, als
Obrigkeit, sondern sie muß als Partei vor eiuer koordinirten Behörde die
Rechtmäßigkeit ihrer Handlungen nachweisen und hat daher, da sie der an¬
greifende Teil ist, die Vermutung aber stets zu gunsten des Angegriffenen gilt,
immer die Vermutung gegen sich. Es läßt sich für ein solches Verhältnis
gar keine Analogie finden. Die Verwaltungsklage gegen polizeiliche Ver¬
fügungen geht an ein mit der vorgesetzten Verwaltungsbehörde in Verbindung
stehendes Verwnltungsgericht, der Staatsanwalt wird als Mitglied des Gerichts,
vor welchem es auftritt, angesehen, die Zivilgerichtsbarkeit stellt Rechtsverhältnisse
sest, welche für die Verwaltungsbehörden zwar von Interesse sind, nicht aber
die denselben organisch zugewiesene Amtsthätigkeit betreffen, die Polizei allein
'se wegen ihrer eigentlichsten Berufsthätigkeit einer ihr vollständig fremden
Behörde, dem Schöffengericht, zur Entscheidung darüber unterworfen, ob sie in
ihrem Dienstzweige nach deu Gesetzen und mit sachgemäßem Ermessen ge¬
handelt habe.
Betrachten wir nnn die Folgen, welche ans den entwickelten Grundlagen
entstehen. Nach den älteren Strafgcsetzgebungen^) war für alle öffentlichen
Beamte», welche über ihr Amt betreffende Gegenstände Zeugnis ablegen sollten,
die Versicherung ans den geleisteten Diensteid vorgeschrieben. Man wollte
bemerkt haben, daß diese Versicherung namentlich von Beamten, welche häufig
vernommen wurden, nicht immer mit der genügenden Vorsicht abgegeben worde»
sei, was ja, ohne damit ein allgemeines Zugeständnis für die Mannhaftigkeit
der Einrichtung zu machen, für einzelne Fälle gewiß zugegeben werden kann.
Die Bundesregierungen faßten daher den § 56 der Strafprozeßordnung im
Entwürfe dahin, daß es bei solchen Vernehmungen „der Eidesleistung für gleich
geachtet werden" könne, „wenn der Zeuge die Richtigkeit seiner Aussage uuter
Berufung ans seinen Diensteid versichert"; nach den Motiven hierzu sollte
hierdurch „dein Ermessen des Richters die Wahl zwischen der einen und der
andern Form der Vereidigung überlassen bleiben," „dem Richter die Möglichkeit
gewahrt" werden, „eine Berufung auf den Diensteid da auszuschließen, wo die
Besorgnis obwaltet, daß der Zeuge sich der Bedeutung einer solchen Berufung
nicht hinreichend bewußt sei." Da nach H 260 der Strafprozeßordnung das
Gericht „über das Ergebnis der Beweisverhandlnng" nach seiner freien, aus dem
Jubegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheidet, also an keine,
auch an keine beschwvrene Aussage irgendeines Zeugen gebunden ist, so war
die Fassung des Entwurfes das äußerste, was man noch verlangen konnte. Dem
Reichstage genügte es aber nicht, er strich den 56 des Entwurfs, und min
ist jeder Beamte verpflichtet, vor jeder Vernehmung wie ein andrer Zeuge
seinen Zeugeucid zu leisten. Von den regelmäßig zur Vernehmung kommenden
Beamten sind die Polizeibeamten wieder am schlechtesten gestellt. Die Forst-
schutzbeamten können nach den §§ 24 und 25 des ans Grund der Ermäch¬
tigung des H Z des Einführungsgesetzes zur Strafprozeßordnung erlassenen
Gesetzes vom 1.5. April 1878 über den Forstdiebstahl die Nichtigkeit ihrer
Aussagen unter Berufung auf ihren Diensteid, in welchen die Wahrhaftigkeit
ihrer Anzeigen und Aussagen aufgenommen ist, versichern, die Polizeibeamten,
welche doch mindestens aus demselben Material wie die Fvrstschutzbeamten zu¬
sammengesetzt sind, können es nicht, obgleich in ihrem Diensteide gleichfalls die
Verpflichtung auf Wahrheit der Anzeigen und Aussagen aufgenommen ist. Der
Kommission des Reichstages mag zwar vorgeschwebt haben, wie ungeheuerlich
es sei, wenn ein und derselbe Polizeibeamte mehreremale in derselben Sitzung
den Zeugeneid ableisten müsse, aber statt deshalb den § 56 des Entwurfs bei¬
zubehalten kam man auf ein viel bedenklicheres Auskunftsmittel: die Kommission
koustatirte,") daß sie durch Streichung des § 56 des Entwurfs eine Bestimmung
dahin habe treffen wollen, daß bei Forftvcrgehen und polizeilichen Übertretungen
der betreffende Beamte hinsichtlich aller in derselben Sitzung verhandelten Sachen
nur einmal vcreidet werde; es ist aber kein entsprechender Paragraph i» das Gesetz
aufgenommen worden, und es hängt um vom Ermessen der Parteien ab, ob sie
sich mit der einmaligen Vereidigung begnügen wollen oder nicht. Jeder An¬
geklagte, welcher seine Sache gehässig oder auch nur energisch führen null, be¬
gnügt sich nicht damit, wirft er doch damit schon gleich von vornherein, ohne
auch nur etwas direkt gesagt zu bilden, den Zweifel an die Glaubwürdigkeit
des Beamten für seinen Fall ans, er bringt von vornherein einen gehässigen
Ton in die Verhandlung, welcher uur zu leicht bei dem zengnisablegenden
Beamten fortklingt und damit dessen Aussage der Veurteiluug des Gerichts
gegenüber zu trüben geeignet ist. Begnügen sich aber auch sämtliche Angeklagte
mit der einmaligen Vereidigung des Zeugen, so liegt doch eine große Inkonsequenz
vor; denn ist überhaupt anzunehmen, daß dem Beamten die richterliche Hin-
weisung auf seinen Diensteid nicht genüge, um ihn zur vollen Wahrhaftigkeit
seiner Aussagen anzuhalten, dann wird man auch annehmen müssen, daß ihm
die Hinweisung auf den im Anfange der Sitzung geleisteten Eid nach einer
Anzahl lebhafter, vielleicht erregt geführter Verhandlungen am Ende der
Sitzung mich wenig mehr rührt. Auch ist gewiß ein Zweifel darüber gerecht¬
fertigt, ob wohl einem nicht gewissenhaften Beamten die unaufhörlich zu
wiederholende Eidesformel überhaupt uoch Eindruck mache.
Aber man kann doch wohl die Frage aufwerfen, ob die Polizcibenmten wirklich
so unglaubhaft sind oder ob nicht andre Gründe in Betracht kommen, welche
sie bisweilen unglaubhaft erscheinen lassen. Als solche lassen sich nnn gleich
wieder verschiedne Konsequenzen des jetzigen Verfahrens anführen, zunächst die
große Verspätung in den Verhandlungen polizeilicher Sachen vor Gericht, für
welche, wie gleich bemerkt werden mag, nicht den Gerichten, sondern der ganzen
Einrichtung' die Schuld beigemessen werden soll. Die Polizei erläßt die
Strafverfügnng, dagegen ist Widerspruch innerhalb einer Woche zulässig, nach
dessen Eingang hat die Polizei nochmals zu prüfen, ob sie die Straf-
versttgung zurückziehen will; hält sie dieselbe aufrecht, dann sind die Akten
den Amtsanwalt abzugeben, welcher wiederum die Sache dem Gericht vor¬
legt, wo nun endlich der Verhandlungstermin angesetzt werden kann, der na¬
türlich sich darnach richtet, wie viele Fülle bereits angesetzt sind. So kommt
es, namentlich bei der verhältnismäßig schwachen Besetzung vieler Amtsgerichte,
namentlich der in größern Orten, daß oft lange Zeit verstreichen muß, ehe
die Sache zur Verhandlung kommen kann. Kommt endlich der Terrrr
heran, so leugnet der Angeklagte natürlich, der bei seiner Vorführung vor
die Polizei nicht leugnen konnte, weil er eben frisch betroffen war, er hat auch
>vödl eine Anzahl Zeugen gestellt, welche nichts von dem fraglichen Vorfalle
wahrgenommen haben, was ja sehr erklärlich ist. wenn auch daraus uicht ohne
weiteres folgt, daß der Vorfall nicht doch so. wie die Anzeige lautet, ftattge
Sünden hat und nur von den Zeugen nicht beobachtet worden ist. „Der Schutz-
manu, sagt nun der Berliner Pvlizeibericht,") der inzwischen vielleicht Hunderte
von ähnlichen Übertretungen zur Anzeige zu bringen gehabt hat, erinnert sich
jetzt kaum noch der Einzelheiten des Falles, bei dem frechen Leugnen und ent-
schiednen Auftreten des Angeschuldigte» verliert seine Aussage wohl auch an
Bestimmtheit; der Richter redet ihm wohl auch ins Gewissen, ob er sich wirk¬
lich geuau des Falles erinnere, ob nicht doch ein Irrtum, eine Verwechslung
in der Person möglich sei. Wird der Schutzmann dadurch unsicher, will er
sich mit einem falschen Eide nicht belasten, giebt er vielleicht zu, daß er sich
jetzt nach so lauger Zeit nicht mehr mit voller Bestimmtheit der Sache er¬
innere — dann wird der Angeklagte schließlich freigesprochen." Nun könnte
mau sagen, der Polizeibeamte könne sich auf das Geständnis des Angeklagten
zu den Pulizeiakten oder auf die vou ihm selbst an seine vorgesetzte Behörde
erstattete Anzeige oder die daselbst abgegebene Aussage berufen. Damit kommt
er aber nicht durch; denn da die Polizeibehörde Partei ist, so entbehrt das bei
ihr aufgenommene Protokoll jeder Glaubwürdigkeit, und nach 8 252 der Straf¬
prozeßordnung darf eine Anzeige nie und kann ein früheres Protokoll zwar
zur Schärfung des Gedächtnisses des Zeugen verlesen werden, es soll aber von
einer solchen Verlesung möglichst wenig Gebrauch gemacht werden,"") es ^kommt
also ganz ans das Ermessen des Richters an, ob er eine Schärfung des Ge¬
dächtnisses für angebracht hält oder nicht. Drängt sich ihm dabei bewußt<oder
unbewußt die Erinnerung daran ans, daß nach der Begründung zum Gerichts-
verfassnngsgesctze die Sicherheitspolizei häufig der gesetzlichen Haltung entbehre,
so wird er eine Schärfung des Gedächtnisses nicht für nötig halten. Eine
Reihe von Dingen kann zur Sprache kommen, welche über die polizeilichen
Vorverhandlungen hinausgehen. Der Exekutivbeamte, welcher mit der Person
eines Übelthäters beschäftigt ist, hat nicht immer Zeit, ans alle möglichen
Zwischenfragen, welche ihm nach Monaten noch vorgelegt werden können, sich
einzurichten, während er bei einer bald nach dem Vorfalle stattfindenden Ver¬
handlung alles noch vollständig im Gedächtnis hat. So kann er später uicht
mehr die einzelnen Momente angeben, aus denen der Grad der Angetrunken-
heit des Angeschuldigten erhellt (starke Angetrunkenheit ist ja leider immer noch
ein Mildernngs- oder geradezu Strafnnsschlicßnngsgrnnd), aus denen erhellt,
daß ein Lärm „ruhestörcnd" gewesen sei, eine Tierquälerei Ärgernis erregt
habe, daß eine Straße wirklich versperrt gewesen sei, daß der Angeschuldigte zu
rasch gefahren sei und dergleichen. Solche Zwischenfragen wird aber der An-
geklagte mit Vorliebe zur Sprache bringen. Er hat sehr bald heraus, daß der
ihm gegenüber auftretende Pvlizeibcnmte kaum die Stellung eines Zeugen, weit
eher die einer Partei zugewiesen erhält, er kann dabei die Sache anf das ärgste
Verdunkeln, dem Polizeibeamten, sofern er nur nicht formell beleidigend wird, die
ärgsten Dinge öffentlich sagen, es kann ihm nichts geschehen, er macht mir von
seinem Rechte Gebrauch. So muß denn schließlich der Richter von seinem
Standpunkte aus freisprechen, obwohl die Sache nicht im entferntesten dazu an¬
gethan ist. und die Gesetzgebung erreicht gerade das, was sie nicht will:
gegenüber dem gewissenhafteren Polizeibeamten hat der Angeklagte mehr Schutz
als gegenüber dem weniger gewissenhaften, welcher deshalb auch weniger Be¬
deuten bei Abgabe seiner Aussagen hat.
Die gerügte, bei der Verhandlung der polizeilichen Sachen vor Gericht
unausbleibliche Verzögerung der Sachen hat aber nicht uur für die einzelnen
vor Gericht auftretenden Polizeibeamten, nein für die gesamte Polizei sehr üble
Folgen. Sieht es nicht wie eine reine Gehässigkeit aus, wenn jemand wegen
irgend einer kleinen, noch dazu ohne Nachteil für das Gemeindewohl abge¬
laufenen Polizeiübertretung uach Monaten erst gestraft wird? Hat die Über¬
tretung schlimme Folgen gehabt, hat z. B. jemand durch zu schnelles Fahren
einen Menschen überfahren, dann tritt ja das polizeiliche Mandat überhaupt
iMriick, dann liegt eine der richterlichen Entscheidung vorbehalten? Strafthat
vor. Das VollMewußtsein faßt hier den oben angedeuteten Unterschied zwischen
den zur Aufrechthaltung der polizeilichen Ordnung dienenden Polizeiverfügnngcn
und dem zur Sühne eines begangenen Rechtsbrnches bestimmten Strafverfahren
scharf ans, die dnrch unsre Gesetzgebung herbeigeführte Vermengung beider Insti¬
tutionen will ihm nicht einleuchten. Niemand wird etwas dagegen einwenden,
wenn jemand, frisch bei Übertretung einer Pvlizeiverorduung betroffen, zur Ver¬
meidung ähnlicher Übertretungen alsbald polizeilich gestraft wird; jedem aber
erscheint es kleinlich, wenn solche an und für sich geringfügig erscheinende
Handlungen nach längerer Zeit, wo sie bereits in Vergessenheit geraten sind,
»ur Erörterung vor Gericht mit allem Apparat einer Strafgerichtssitznng ge¬
bracht werden. Mit Rücksicht hierauf liegt es auf der Hand, daß ein solches
Verfahren nur geeignet ist, die Polizei in den Augen des Volkes herabzusetzen,
sie als von Verfolgungssucht beseelt erscheinen zu lassen, und ihr das gerade
ihr bei ihrer so tief in das Leben eines jeden Einzelnen eingreifenden Thätig¬
keit so unbedingt nötige Vertrauen der Bevölkerung zu entziehen. Die Strafe
selbst aber verliert uach so langem Zwischenraume zwischen ihrer Erkennung
und zwischen der zu gründe liegenden Handlung alle Wirkung ans den Ange¬
klagten, der sich jetzt selbst mehr als einen gehässig Verfolgten denn als einen
>"it Recht Bestraften ansieht.
Es kann aber auch durch eine solche Verspätung der Verhandlung die
polizeiliche Thätigkeit vollständig lahmgelegt werden, denn sowie der Ange¬
schuldigte gegen die Strafverfugung Widerspruch erhoben hat, weil etwa die
der Strafverfolgung zik gründe liegende Handlung nicht strafbar sei, so ist die
Polizei nicht in der Lage, bis zum Erlaß einer gerichtliche« Entscheidung die
betreffende Handlung zu verhindern, und muß oft bei der klarsten Sachlage
Monate lang die Gesetzübertretung zum Hohn für die Polizei und zum
Ärgernis und Nachteil für die übrigen Insassen ihres Bezirkes ruhig mit an¬
sehen, ohne daß bei der späteren Verurteilung des Angeschuldigten diese fort¬
gesetzte Übertretung für die Strafausmessnng verwertet werden kann, Beschleu-
uigungsauträge führen aber regelmäßig zu keinem Ziele, weil die Gerichte teils
leine Zeit zu rascherem Verfahren haben, teils auch die Sache nicht für an und
für sich eilig halten werden, da der für die Polizei maßgebende Grund der
Beschleunigung die Sache nicht auch nach der Strafprozeßordnung als eine
schleunige ansehen läßt.
Noch ein für die Autorität der Polizei sehr bedenklicher Umstand liegt
aber auch in den gesetzlichen Bestimmungen über das Verfahren vor dem
Schöffengericht nach vorausgegangener polizeilicher Strafverfnguug (Strafproze߬
ordnung Z 453—458). Nach diesen Bestimmungen wird zunächst über das Ver¬
fahren der Polizei, dann erst über die That des Angeklagten abgeurteilt. Nach er¬
hobenem Widerspruch gegen die Strafverfügung hat diese nur noch die Bedeutung
einer Anklageschrift.") In allen Verhandlungen auf Grund einer vom Staats¬
oder Amtsanwalt verfaßten Anklageschrift kann nun das Gericht den Ange¬
klagten anch auf Grund eines nicht in der Anklageschrift, beziehungsweise dem
darauf ergangenen Ervffnungsbcschlnsse enthaltenen Strafgesetzes verurteilen,
sofern es demselben entsprechende Gelegenheit zu seiner Verteidigung gegeben
hat. Anders aber liegt es bei der Anklage ans Grund der polizeilichen Straf¬
verfnguug. Stellt sich uach Ansicht des Gerichts oder nach dem Inhalt der
neuen Verhandlungen vor dem Schöffengerichte die That als eine solche dar,
bei welcher die Polizeibehörde zum Erlaß einer Strafverfolgung uicht befugt
war, so hat das Gericht nach 458 der Strafprozeßordnung die Strafver¬
fügung durch Urteil aufzuheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Weichen
nun Gericht und Polizei in ihren Ansichten von einander ab oder ergeben sich
bei der Verhandlung vor Gericht erschwerende Umstünde, welche den Fall über
das polizeiliche Strafrecht hinausgehend erscheinen lassen, so wird nicht das
Verfahren nach der Ansicht des Gerichts oder nach den anderweiten Er¬
mittlungen eingeleitet, nein, die Strafverfügung wird einfach aufgehoben, nach
der Auffassung des Angeschuldigten also nnr ausgesprochen, daß die Polizei
Unrecht habe. Mit dieser Entscheidung wird die Sache an die Staatsanwalt¬
schaft zur weiteren Entschließung über die Einleitung einer strafrechtlichen Ver¬
folgung gebracht."") Mag nun der Amtsanwalt auch ein Interesse an der Ver¬
folgung des Falles haben oder mit Rücksicht auf dessen geringe Bedeutung und
die inzwischen verstrichene längere Zeit nicht, jedenfalls hat die Autorität der
Polizei gegenüber dem Angeklagten einen erheblichen, nicht leicht gntznmachenden
Stoß erhalten. Sind aber auch Polizei und Gericht über die Zulä'ssigkcit einer
Strafverfolgung einig, so ist das Gericht wieder nicht an den Ausspruch der
Polizei gebunden, sondern kann die von der Polizei angesetzte Strafe beliebig
umändern, also namentlich auch herabsetzen. Wie tief diese Bestimmung in die
Polizeiliche Wirksamkeit eingreift, liegt auf der Hand; ein an und für sich nicht
leichter Fall einer Übertretung erscheint nach Wochen oder Monaten sehr ab¬
geschwächt; die persönlichen Verhältnisse, die nähern Umstände, um derentwillen
die Polizei eine höhere Strafe erkennen mußte, siud dem Richter unbekannt,
sie können nicht alle in der knappen Form der Strafverfügung aufgenommen
werden, und vor Gericht kaun sie die Polizei aus Maugel an eigner Vertretung nicht
geltend machen. Der Angeklagte feiert aber bei einer solchen Herabsetzung der
Strafe immer einen Triumph über die Polizei. Endlich, um recht deutlich das
gesetzliche Vorurteil gegen die Polizei auszudrücken, ist sogar für den Fall der
Kontumaz ein verschiedenes Verfahren vorgeschrieben, je nachdem der Angeklagte
gegen einen richterlichen Strafbefehl oder eine polizeiliche Strafverfügung Wider¬
spruch erhoben hat. Bleibt der Angeklagte in dem auf Grund des Widerspruchs
angesetzten Verhandlungstermine aus, so gilt im ersten Falle der Widerspruch
als zurückgenommen (§ 462 der Strafprozeßordnung), im letztern nicht, sondern
das Schöffengericht hat sich trotzdem damit zu befassen und die Verfügung der
Polizei zu prüfen.") Endlich aber erhalt die Polizei nicht einmal eine Mit¬
teilung darüber, was aus der Verhandlung auf Grund ihrer Strafverfügung
geworden ist. Sie erhält den Tenor eines Urteils, wonach jemand wegen
einer Übertretung bestraft oder freigesprochen ist; ob es sich um einen vou ihr
bereits verhandelten Fall handle, muß sie aber selbst erst ermitteln.
Es bedarf keiner Bemerkung, daß derartige Einrichtungen für die Autorität
der Polizei als solcher und deren Beamten nur äußerst nachteilig heilt können.
--Daß solche Vorkommnisse, sagt der Berliner Polizcibericht,^) nur dazu bei¬
tragen können, das Ansehen der Behörde, die ... ja doch nur das Beste des
Publikums im Auge hat, es vor Gefahren, Rohheiten, Exzessen und Über¬
vorteilungen ... zu schütze» und zu bewahren sucht, zu schädige» und in den
Augen des Publikums herabzusetzen, liegt auf der Hund. Jedenfalls ist die
Stellung der Exekutivbcamten gegenüber den gewohnheitsmäßigen Übertretern
der Polizeiverorduungcn eine keineswegs beneidenswerte, und es gehört für die
Beamten schon einiger Mut dazu, eine Übertretung festzustellen und zur Anzeige
Zu bringen, wenn sie aus dieser Erfüllung ihrer Pflicht, aus dieser ihnen
obliegenden Amtsthätigkeit große Weitläufigkeiten und Widerwärtigkeiten für
sich zu befürchten haben und sich im Termine oft sogar öffentliche Krcin-
lungen und Verhöhnungen roher Menschen aussetzen müssen, wie es leider sehr
häufig ist."
Wenn auf solche Weise die Gesetzgebung selbst die Autorität der Polizei
untergräbt, dann darf man sich nicht wundern, daß den Polizeibeamten gegenüber
dem Publikum keine große Autorität beiwohnt, daß bei einem polizeilichen Ein¬
schreiten der Widerstand in Wort oder That geradezu herausgefordert wird
und daß sich hierdurch schließlich auch der Polizeibeamten eine persönliche Reiz¬
barkeit bemächtigen kann, welche für das Verhältnis zwischen Polizei und Publikum
uicht gut ist. Hören wir auch über diesen Punkt die Erfahrungen des Berliner
Polizeipräsidiums^): „Bei den Vergleichen zwischen den Konstablern Londons
und den hiesigen Schutzmännern pflegt gewöhnlich auch darauf besonders hin¬
gewiesen zu werden, daß die Konstabler ruhiger, gemessener, aber auch bestimmter
gegen etwaige Gesetzcsübertreter vorgehen, mehr amtliche Würde bewahren, und
daß sie deshalb bei ihrem Einschreiten weniger Widerstand und Ungehorsam
und im Publikum mehr llnterstntznug finden als hier die Schutzmänner, welche
in ihrem Auftreten gegen Übelthätcr mehr als Partei erscheinen, daher durch
ihr Einschreiten mehr zum Widerstande anreizten und deshalb auch das Publikum
meist gegen sich hätten. Diese Bemerkung und diese Ansicht mag vielleicht uicht
ganz ohne Berechtigung sein, häufig mag es so erschienen. Die Schuld an
diesem keineswegs erfreulichen Verhältnis liegt in den meisten Fällen jedoch
weniger an dem persönlichen Auftreten der Beamten, als an dem Publikum
und an dem dnrch die Gesetze, dnrch alle Einrichtungen und durch die Ge¬
wohnheit eingelebten Gebrauch, da die Stellung der Beamten, die ganzen Ver¬
hältnisse dort andre und von den hiesigen Verhältnissen wesentlich verschiedene
sind. Nicht die schweren Verbrechen und Vergehen sind es, bei deren Ver¬
folgung der Schutzmann mit den Übelthätern kleine Kämpfe zu bestehen hat
und von dem Publikum im Stiche gelassen wird, sondern vielmehr die kleinen,
im gewöhnlichen Leben hundertfach vorkommenden Übertretungen nud geringeren
polizeilichen Vergehen, bei denen das Publikum gegen die Beamten Partei
nimmt. Freilich flehen in England weit schwerere Strafen auf den Polizci-
nbertrctnngen als in Deutschland — ein Punkt, der außerhalb des Rahmens
dieser Betrachtung liegt. Aber die Hauptsache ist, daß die Strafe dort gleich
vollstreckt, uicht die Polizei vor eine andre Behörde zur Aburteilung ihres
Vorgehens gefordert werden kann. Fälle, wie sie hier häufig vorkommen, daß
eiuzelue Übelthätcr, weil sie die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit einer
gegebenen polizeilichen Anordnung nicht einsehen oder nicht anerkennen wollen,
derselbe» wiederholt entschieden Widerstand und Ungehorsam entgegensetzen und
die Polizei nötigen, erst in langwierigen Prozessen und umständlichen Streit-
Verfahren den erforderlichen Gehorsam zu erzwingen, um die notwendigen
Polizeilicher Maßregeln durchsetzen zu können, können jm Londonj garnicht
vorkommen, dort wird es deshalb mich der Behörde viel leichter, Ordnuugs-
Pvlizei zu üben und äußere Ordnung aufrecht zu erhalten."")
Soll nun ernstlich Wandel geschaffen und auch bei uns ein erträgliches
Verhältnis hergestellt werden, so müssen vor allen Dingen die hier entwickelten
Mängel beseitigt werden. Man betrachte den Polizeibeamten vor Gericht in
erster Linie als einen glaubhaften Beamten, als äußersten Notbehelf gebe man
dem Richter die Möglichkeit, ihn in Zweifclsfüllen zu vereidigen. Man lege der
Staatsanwaltschaft die Verpflichtung ans, alle Ersuchen der Polizei auszuführen,
oder berechtige die Polizei im Falle der Weigerung der Staatsanwaltsckmft,
selbst zu handeln, auch als Nebenkläger aufzutreten, man beseitige die Berufung
gegen den Erlaß polizeilicher Strafverfnguugen an das Schöffengericht und lasse
diese Berufung an die vorgesetzte Verwaltnngsgcrichtsinstanz, also an den Kreis-
vder Bezirksausschuß, gehen, gestatte aber daneben die sofortige Vollstreckung
der Polizeistrafe, welche' jn im Falle des Unterliegens zurückgezahlt werden kann.
Soll aber die Berufung an das Schöffengericht aufrecht erhalten werden, dann
Rede mau der Polizei die Möglichkeit, ihre Sache selbst zu vertreten, stelle das
Verfahren nach Erlaß polizeilicher Strafvcrfügnngen dem auf Grund einer
staatsanwnltlichen Anklageschrift und eines richterlichen Strafbefehls gleich, be¬
schränke die Thätigkeit des Gerichts auf die (thatsächliche und rechtliche) Schuld-
fmge, und zwar dergestalt, daß der Angeschuldigte als Bcrufungskläger die
Unrichtigkeit der polizeilichen Verfügung darzuthun hat, während die polizei¬
liche Strafansmessung unanfechtbar ist, man erkläre diese Sachen als schleunig
zu behandelnde Eilsachen oder gestatte die Vollstreckung der erkannten Polizei¬
strafe noch vor der gerichtlichen Verhandlung, wiederum mit cventncller Aus¬
sicht auf Rückerstattung der eingezogenen Strafe. Endlich muß die Polizei
Mitteilung darüber erhalten, wie und weshalb auf Grund ihrer Strafverfügung
das Gericht später erkannt habe.
3. Zum Schlüsse noch einige Worte über den dritten Punkt unsrer Be¬
trachtungen, die richterliche Prüfung von Pvlizeivcrorduungcn.
In Preußen z. B. gestatten das Gesetz über die Polizeiverwaltung vom
U. März 1850 und die ihnen nachgebildeten Erlasse, sowie das Gesetz über
die allgemeine Laudesverwnltuug vom 30. Juli 1883, 8 136 ff., daß Polizei-
Verordnungen von den Ministern, den Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten,
Regierungen, Landräten, Amtmännern und Ortspolizeibehörden erlassen werden
dürfen, nachdem in den meisten Fällen das Selbstverwaltnngsorgan der be¬
treffenden Instanz seine Zustimmung gegeben hat.
Jede von einer unteren Instanz erlassene Polizeivervrdnnng kann jedoch
von Amtswegen von der höheren Instanz, welcher dieselbe deshalb sofort nach
Erlaß vorzulegen ist, aufgehoben werden.
Man sollte also denken, daß die sämtlichen Beteiligten über die Notwendigkeit
und Gesetzlichkeit einer solchen Anordnung einig seien, und diese Anordnung des¬
halb auch Allspruch auf Anerkennung und Befolgung finden müsse. Dem ist aber
nicht so; das Schöffengericht, vor welches ein auf Grund einer solchen Polizei-
Verordnung zur Anklage gebrachter Straffall kommt, kann sie einfach außer
Kraft setzen, indem es sie im Widerspruch mit den Gesetzen oder den Verord¬
nungen einer höhern Instanz findet. Daß das Gericht, wie auch nach Z 106
der preußischen Verfassungsurkunde vorgeschrieben ist, die formelle Giltigkeit
einer Polizeivcrordnung zu prüfen hat, versteht sich natürlich von selbst, da von
einer Polizeivervrdnnug nur die Rede sein kann, wenn der fragliche Erlaß in
den dafür vorgeschriebenen Formen erlassen ist. Die Prüfung aber, ob die
Verordnung auch materiell neben der bestehenden Gesetzgebung zulässig sei, sollte
doch füglich der gesetzgebenden Gewalt, also in diesem Falle den zum Erlaß der
Polizeivervrdnungen delegirten Polizeibehörden und deren vorgesetzten Behörden
überlassen bleiben. Will man aber neben der jetzt schon bestehenden Verpflichtung
der höhern Instanz, die Polizeiverordnungen der niedern Instanz von Amts¬
wegen zu prüfen, noch eine richterliche Prüfung haben, so übertrage man ^>lese
doch wenigstens dem Verwaltungsgerichte, den Kreis- und Bezirksausschüssen
für die von den Lokalbehörden, dem Oberverwaltnngsgericht für die von den
Landespvlizcibchörden erlassenen Polizeiverordnnngen. Jetzt prüft der Amts¬
richter mit zwei Schöffen die Polizeiverordnungen des Ministers oder Ober-
präsidenten, und man bedenke, daß die Strafrechtspflege der Amtsgerichte regel¬
mäßig einem der jüngsten Richter übertragen wird, dem jedenfalls keine längere
Lebenserfahrung zur Seite steht, während die Schöffen möglichenfalls nicht
ohne Interesse daran sind, ob ihnen eine solche Polizeiverordnung aufgelegt
wird oder nicht. Nach dem hier gemachten Vorschlage würden Behörden ent¬
scheiden, welche mit der höhern Instanz der Polizeibehörde in Verbindung stehen,
oder, wo dies einem Regierungspräsidenten, einem Oberpräsidenten oder dem
Minister gegenüber nicht mehr angeht, die durch langjährige Praxis mit den Er¬
scheinungen des staatlichen Lebens vertrauten Mitglieder des Obcrverwaltungs-
gerichts, in alleil Instanzen aber wird neben dem juristischen auch das polizeiliche
Interesse bei der Entscheidung zur Geltung kommen, da die Verwaltungsgerichte
aus Juristen und Verwaltungsbeamten gemischt sind.
Doch wir sind am Ende dieser Betrachtungen. Ich denke, ich habe gezeigt,
wie die Polizei nichtvcrstandener Grundsätze halber in eine Stellung gebracht worden
ist, welche ihr nicht die Möglichkeit giebt, ihre Thätigkeit frei zu entfalten und
dadurch die für sie so notwendige, auf das Vertrauen der Bevölkerung ge¬
stützte Autorität zu erlangen, welche sie aber täglich in Lagen versetzt, aus
denen Reibereien mit dem Publikum, Differenzen mit den Justizbehörden ent¬
stehen, welche das Wirken der Behörden beeinträchtigen, die Autorität unter¬
graben und geradezu eine Mißstimmung ans feiten der Polizeibeamten im Ge¬
folge haben müssen. Man räume einmal der Polizei eine der englischen
entsprechende Stellung auch bei uns ein, und man wird alsbald dieselben Er¬
fahrungen macheu, welche der Engländer mit seiner Polizei gemacht hat.
s ist eine sehr weitverbreitete Meinung, daß die Herrschaft der
Mode, jener Tyrann!u, welche heutzutage nicht bloß die Tracht
sondern auch die Gestalt des Mobiliars und des Hausrath, die
Formen des geselligen Lebens und des Verkehrs überhaupt, ja
selbst die geistigen Genüsse der Lektüre, des Theaters, der Musik;c.
mit solcher Strenge uns vorschreibt, daß kann jemand imstande ist, sich dieser
Herrschaft zu entziehen, verhältnismäßig jungen Datums sei. Aber jung ist nur
der Gebrauch des Wortes für die mannichfaltigen Äußerungen einer und der¬
selben Erscheinung; die Erscheinung selbst ist uralt. Freilich nicht in der starken
Form, in welcher wir heute sie täglich zu beobachten in der Lage sind. Jener
so überraschend schnelle Wechsel in der Kleidung, namentlich der Frauenwelt,
in den Mustern für Gewandung und Möbel, in der Dekoration des Geschirrs ze.
>se allerdings erst eine in ihrem Werte sehr zweifelhafte Errungenschaft der
Neuzeit; aber nur die Schnelligkeit des Wechsels, eine Folge der in der letzten
Zeit so überaus gestiegenen und erweiterten Industrie, ist neu, nicht die Sache
selbst. Schon die Miniaturen des Mittelalters zeigen uns vornehmlich in den
Trachten den Einfluß der Mode; der Wechsel von Schnitt und Form der
Kleidung vollzieht sich zwar entsprechend den noch unzureichenden Verkehrsmitteln
und dem beschwerlichen Betriebe des Handels sehr langsam, darum aber nicht
»unter sicher, nur mit dem Unterschiede gegen die spätere Zeit, daß sich der
gegenseitige Einfluß verschiedner Länder noch nicht so zwingend geltend macht
wie heute, und daß vielfach der Trachtenwechsel sich wesentlich innerhalb eines
einzelnen größern Landes oder Volkes vollzieht, während heutzutage — dank
dem auf diesem Gebiete seit dem siebzehnten Jahrhundert unumschränkt gebie¬
tenden Einflüsse Frankreichs — jede Veränderung der Kleidermode ihren
Triumphzug über die ganze zivilisirtc Welt hält. Gehen wir weiter zurück, so
finden wir auch in Rom, und zwar vornehmlich im kaiserlichen Rom, infolge
bes tonangebenden Hofes bereits die Mode auf verschiednen Gebieten des Le-
bens wirksam, und es ist vor kurzem in einem hübschen Vortrage"') auseinander¬
gesetzt worden, wie die Herrschaft der Mode im alten Rom bereits zur Zeit
der Republik beobachtet werden kann und in welcher Weise sich dieselbe dann
weiterhin kundgegeben hat. Am wenigsten aber pflegt man heute den Einfluß
der Mode im alten Griechenland anzuerkennen. Hier, wo kein monarchischer
Hof nach irgendwelcher Seite hin einen Druck auszuüben oder durch sein Bei¬
spiel zur Nachahmung anzureizen imstande war, wo die Trennung in zahlreiche
kleine Republiken, die zum Teil schon durch Stamuceseigentnmlichleiteu sich deut¬
lich schieden und sich dabei in der Regel so feindlich gegenüberstanden, daß ein
gegenseitiger Einfluß dadurch bedeutend vermindert werden mußte — hier scheint
der Boden für die Herrschaft der Mode in der That so ungünstig wie möglich
zu sein. Und doch fehlt es auch hier nicht, wenn wir näher zusehen, an ganz
der gleichen, offenbar tief in der Natur des Menschen, zumal in seinem. Nach¬
ahmungstrieb begründeten Erscheinung, daß gewisse Veränderungen in der Tracht,
im Gerät, im Leben und in Gebräuchen allmählich oder bisweilen auch plötzlich
auftauchen und nach und nach mit so unwiderstehlicher Geivalt sich Geltung zu
verschaffen wissen, daß sie das vorher Dagewesene fast vollständig verdrängen und
allgemein angenommen werden, um nach eiuer gewissen Zeit selbst wieder andern
Neuerungen zum Opfer zu fallen. Von den verschiednen Gebieten, auf welche»
sich dies nachweisen läßt, wählen wir für unsre im folgenden zu gebende Dar¬
stellung dasjenige, auf welches die Mode vou jeher den weitaus größten Einfluß
ausgeübt hat und welches man daher von selbst zu verstehen Pflegt, wenn man
von Mode im eigentlichen Sinne des Wortes spricht: die Tracht. Leider müssen
wir dabei auf die unsre Darlegungen verdeutlichenden Abbildungen verzichten;
doch wollen wir uns bemühen, durch möglichst scharfe Beschreibung diesen
Mangel einigermaßen zu ersetze», und bitten nur um Entschuldigung, wenn es
hie und da den Anschein hat, als schrieben wir einen Artikel für ein antikes
Modejournal.
Wenn man heute von griechischer Tracht spricht, so versteht man darunter
fast durchweg diejenige Kleidung, welche wir, was die weibliche Tracht anlangt,
am schönsten wiedergegeben finden in den Jungfrauen des Parthenonfrieses oder
in den Karhatiden des Erechthcivns, und welche, wenn es sich um männliche
Tracht handelt, uns nirgends so großartig und würdevoll entgegentritt wie in
der Sophokles-Statue des Laterans. Aber diese Tracht schlechtweg griechisch
zu nennen, ist ebenso falsch, wie wenn man, was freilich heutzutage gang und
gäbe ist, die sogenannte „Gretchentracht" schlechtweg „altdeutsch" nennt. Die¬
jenige Tracht, welche wir in den genannten Bildwerken finde», ist weder die
Tracht des ganzen Griechenlands noch die des gesamten griechischen Zeitalters;
sie ist vielmehr zunächst wesentlich attisch, wenn sie auch von Athen aus sich
weiterhin über das übrige Hellas verbreitet hat und allgemein geworden ist;
und sie ist zweitens zunächst der speziell sogenannten „klassischen" Epoche Athens,
der zweiten Hülste des fünften Jahrhunderts v. Chr., und der Folgezeit eigen,
hat sich aber in den vorhergehenden Jahrhunderten erst langsam und allmählich
aus einer ursprünglich gar sehr davon verschiednen Tracht zu jener harmonischen
Schönheit und Einfachheit entwickelt, welche wir heute uoch mit Recht an ihr
bewundern. Gehen wir nun der Entstehung dieser Tracht, beziehentlich ihre»
Vorläufern nach, soweit uns dies unsre Quellen verstatten.
Wir lassen dabei den Frauen den Vortritt — sie sind es ja ganz be¬
sonders, welche sich von der Mode am meisten tyrannisiren lassen, und ihnen
ist auch wohl ganz wesentlich die Schuld daran beizumessen, daß deren Herr¬
schaft eine so unentrinnbare geworden ist.
Die ältesten Nachrichten, welche wir über die griechische Frauentracht besitzen,
verdanken wir den Gedichten Homers. Aber wenn die moderne Zeit sich daran
gewöhnt hat, sich Helena, Penelope und all die andern Gestalten des homerische»
Epos ungefähr so vorzustellen, wie der Griffel eines Flaxmnnn, Genelli, Preller
sie uns vor Augen geführt hat, so haben die Forschungen der neueren Zeit
die Unzulänglichkeit, den Anachronismus dieses Kostüms zur Genüge erwiesen.
Der Fehler — wenn man künstlerische Freiheit so nennen dürfte — ist
ungefähr der gleiche, wie wenn die Personen des Nibelungenliedes uns in der
Tracht des zehnten oder elften Jahrhunderts n. Chr. vorgeführt würden.
Wolfgang Helbig hat in seinen höchst lehrreichen Untcrsnchnnge» über das
homerische Epos") teils durch sorgfältige Erwägung der einschlägigen Stellen
des Dichters, teils durch Vergleichung der ältesten griechischen Denkmäler und
der orientalischen, sowie der altetruskischer Kunst, mit Evidenz nachgewiesen,
daß wir uns die Frauen jenes Zeitalters, welches Homer schildert, in einer
Kleidung zu denken haben, welche bei weitem mehr der Tracht des Orients als
der der späteren Epochen sich nähert. Der Peplos, welchen die homerischen
Frauen trugen, war darnach el» gemähtes Kleid (nicht ein kleidartig um den
Körper gelegtes Tuch), ein Chiton mit Öffnungen für Hals und Arme von
dem Schnitt, welchen wir noch auf den ältesten Vasen finden. Am oberen
Teile des Körpers bis zum Gürtel lag derselbe ganz eng dem Körper an;
unterhalb des Gürtels siel er faltenlos und ebenfalls sehr eng bis zu den
Fußknöcheln herab. Der Schlitz, vermittelst dessen man das Gewand anlegte,
war längs der Mitte der Brust angebracht und daselbst durch Fibeln oder
Heftel zusammengehalten. Was uns hier ganz besonders fremdartig erscheint,
weil wir es später nirgends mehr finden, ist der Verschluß des Kleides durch
die den Brnstschlitz zusammenhaltenden Fibeln; die gesamte spätere Tracht der
Griechen wendet die Fibeln an dieser Stelle nie mehr an. Hier liegt denn auch
wahrscheinlich orientalischer Einfluß vor, gerade an Denkmälern mit Darstellungen
orientalischer Völker kommen derartige Brustschlitzc, wie Helbig nachweist, sehr
häufig vor.
Über die Kleidung der Frauen in den auf das homerische Zeitalter
folgenden Jahrhunderten bis zur Periode der Perserkriege liegen uns wenig
schriftliche Nachrichten vor. Die bekannteste Stelle ist die des Herodot (V, 87 fg.),
welcher folgendes berichtet. Bei einem Unternehmen der Athener gegen Ägina,
welches unglücklich verlief, sei bloß ein einziger Athener lebend entkommen, der
daheim von der Niederlage berichtete. Da wären die athenischen Frauen, deren
Männer auf Ägina gefallen waren, ergrimmt darüber, daß dieser eine um Leben
geblieben, über ihn hergefallen und hätten ihn mit den Nadeln ihrer Ge¬
wänder („Himatien" neunt sie Herodot) so gestochen, daß er davon starb.
Infolge dessen hätten dann die Athener eine Änderung der weiblichen Tracht
von Gesetzeswegen beschlossen: an Stelle der bisher üblichen dorischen Tracht,
welche der korinthischen sehr verwandt war, sei nunmehr die ionische getreten,
ein leinener Chiton, bei welchem man sich keiner Nadeln bediente. Herodot
fügt »och hinzu, streng genommen sei das nicht ionische, sondern karische Tracht;
denn in alter Zeit sei die ganze hellenische Tracht überhaupt eben die gewesen,
welche man jetzt noch zur Zeit Herodots als dorisch bezeichne. Dies Zeugnis
Herodots ist wie das älteste, so auch das klarste unter den uns erhaltenen.
Indem man nun mit dieser Nachricht das kombinirte, was man sonst aus
Schriftstellern und Denkmälern über die Form des dorischen und ionische» Chitons
wußte, nahm ma um der Regel an, daß die altgriechische oder dorische Tracht
aus einem Stück Wollenstoff bestanden habe, welches ziemlich kurz war, auf deu
Schultern durch Spangen festgehalten wurde, ein der linken Seite oben bis zur
Mitte zusammengenäht, nach unter aber offengelassen war, und daß die herab¬
hängenden Zipfel auf der rechten wie auf der linken Seite entweder unverbunden
geblieben oder durch Nadeln zusammengeheftet worden seien. Unter dem ionischen
Chiton dagegen, welchen die Atheuerinnen angeblich nach jenem Unglück von
Ägina angenommen hätten, verstand man einen ganz genähten Chiton von
Leinwand, mit Ärmeln, welche im Gegensatz zum dorischen sehr lang und falten¬
reich war und der Spangen oder Nadeln nicht bedurfte. So wenig es sich
min leugnen läßt, daß sowohl die eine wie die andre der eben beschriebenen
Trachten auf Denkmälern häufig ist und daß namentlich die erstere (die Tracht
der Artemis, der Amazonen u. f. w.) in der spezifisch dorischen Kunst gewöhnlich
ist, so sehr mußte es auffallen, daß, wenn man die ältesten Denkmäler in Betracht
zieht und namentlich wenn man die Vasenbilder auf diesen Punkt hin durch¬
mustert, nicht nur von einem Übergange ans dieser dorischen Tracht in jene
ionische nichts zu bemerken ist, sondern daß auch die Frauentracht auf den
ältesten Denkmälern ganz und gar keine Ähnlichkeit hat mit der sonst als dorisch
bezeichneten. Daß das reiche Material, welches uns zur Lösung dieser Frage
in den Vasenbildern und alten Reliefs vorliegt, bis in die neueste Zeit noch
fast gänzlich unbenutzt geblieben ist, erscheint in der That auffallend. Es muß
daher umso freudiger begrüßt werden, daß ein soeben erschienenes Schriftchen
von I. Bostan*) den Versuch macht, diese Frage und damit im Zusammenhange
die nach der älteren griechischen Frauentracht überhaupt in gründlicher und mit
Hilfe eines eingehenden Denkmalerstudiums angestellter Untersuchung zu lösen.
Bei den vielfach noch sehr irrigen Ansichten, welche über die griechische Tracht
nicht bloß beim Laienpnblitnm verbreitet sind, halte ich es für wohl angebracht,
den wesentlichen Inhalt des Schriftchens in dieser Besprechung einem größeren
Leserkreise vorzuführen, obwohl ich bemerken muß, daß ich in verschiednen
Punkten vou den Ansichten des Verfassers mich ganz beträchtlich entferne.
In den Vasenbildern des ältesten Stiles sehen wir die Frauen bekleidet
mit einem ziemlich engen, um die Hüften gegürteten Chiton, welcher bis zu den
Füßen reicht, ohne dieselben jedoch zu verdecken; die Brust bedeckt eine Art
Jacke, welche den Oberkörper lose hängend umgiebt und nicht ganz bis zum
Gürtel herabreicht. Da die Gürtung in der Regel ziemlich hoch liegt, so ist
dieser jackenartige Überwurf meist kurz. Die Art, wie derselbe angelegt wurde,
ist nicht überall deutlich zu erkennen; in zahlreichen Fällen aber bemerkt man
auf der einen Schulter einen halbrunden, von hinten nach vorn darübergehenden
Überschlag oder Zipfel, und es ist in hohem Grade wahrscheinlich, daß der
Überwurf eben an dieser Stelle durch eine Nadel oder Fibel befestigt war.
Freilich kommen daneben auch andre Formen vor. Wir finden Jäckchen, die
mit kurzen, einen kleinen Teil des Oberarmes bedeckenden Ärmeln versehen
sind; wir finden andre, bei denen zwar keine Ärmel, aber deutlich Armlöcher
da sind. Beide Arten müssen genäht gewesen sein; wie sie aber angelegt wurden,
wo sie den Schlitz und den Nadelverschluß hatten, läßt sich aus den Abbil¬
dungen nicht erkennen. Diese Kleidung entspricht nun gar wenig der, die wir
sonst gewohnt sind als dorischen Chiton zu bezeichnen; daß wir aber trotzdem
sie für diejenige zu halten habe», welche Herodot als die früher allgemeine der
später üblichen ionischen entgegensetzt, darin werden wir durch die Beobachtung
bestärkt, daß die in den demnächst jüngeren Vasen auftretende Frauentracht sich
in verschiedenen Punkten ganz wesentlich von ihr unterscheidet. Deal einmal
reicht in jener ältern Tracht der Überwurf, wie erwähnt, nicht bis zum Gürtel
herab, während er später bald mehr, bald weniger tief herunterreicht; ferner hat
diese spätere Kleidung meistens Ärmel, welche sowohl länger als weiter sind
als die der ältern Tracht. In einem Punkte muß ich nun allerdings von Böhlnu
abweichen. Da häufig Farbe und Muster des Überwurfs verschieden sind von
denen der unterhalb der Taille zum Vorschein kommenden Kleidung, so ergiebt
sich, daß der Überwurf in diesen Fällen nicht aus einem Stück mit dem Chiton
bestehen konnte. Ich nehme jedoch nicht bloß dies an, sondern ich glaube, daß
jeder solche jackenartige Überwurf auf den archaischen Vasenbildern ein besondres
Kleidungsstück war, welches uicht mit dem den Unterleib und die Beine bedeckenden,
ost auch uoch oberhalb des Gürtels und unter dein Überwurf zum Vorschein
kommenden, die Brust bedeckenden Kleide oder Chiton zusammenhing. Ich glaube
dies einerseits deshalb, weil ich mir keinen Kleiderschnitt denken kann, bei welchem
es möglich wäre, Unterkleid und Überwurf in der bezeichneten Form aus einem.
Stück herzustellen, und andrerseits deshalb, weil sehr häufig nicht bloß der
untere Rand des Überwurfs, sondern auch der obere, den Hals umgebende Rand
desselben mit einer besonderen gemusterten Borte verziert ist, und wenn Ärmel
da find, auch die Ränder von diesen. Ich denke mir also diese älteste „dorische"
Tracht als ans zwei Teilen bestehend, einem gegürteten Unterkleid oder Chiton,
welches zumeist unterhalb der Taille ringsum geschloffen, also zusammengenäht
war, doch bisweilen auch auf der einen Seite einen offenen, bis zu den Füßen
reichenden Schlitz hatte (Beispiele hierfür liegen vor), und einem bloß den
Oberleib bedeckenden, entweder durch Nadeln auf der Schulter befestigten oder
unter Umständen ebenfalls genähten Überwurf. Bisweilen kommt dann, wie es
scheint, noch ein drittes Stück hinzu; auf einigen Vasenbildern sieht man
nämlich oberhalb des Untergewandes noch ein darüber gelegtes, aber vom Gürtel
mit umfaßtes Kleidungsstück, welches auf der einen Seite offen ist. (Bostan nimmt
an, daß es daneben auch solche gegeben habe, welche ringsum geschloffen waren;
aber wenn auch auf Abbildungen bisweilen jener Schlitz fehlt, so ist das doch
gar kein Beweis, da der Vasenmaler dann eben die geschlossene Seite abgebildet
hat, wie in andern Fällen die offene.) Dieser untere Überwurf ist bald aus
demselben Stoff gefertigt wie die Jacke, bald auch nicht, immer aber, soweit
ich es beobachten konnte, in Farbe und Muster verschiede» von dem darunter
getragenen Unterkleid. In welcher Weise wir uns diesen Überrock, wenn ich
so sagen soll, angelegt denken sollen, ist schwer zu sagen; doch hat es ganz den
Anschein, als hätten die Frauen damals etwas ähnliches gehabt, wie die bis
vor kurzem übliche „Tuniqne" unsrer Damen, d. h. einen über den eigentlichen
Rock fallenden Überwurf, welcher um die Hüfte, also am Gürtel, befestigt wurde.
Es ist das umso eher möglich, als man sich damals, wie es scheint, fester gürtete
als später, sodaß der Gürtel recht gut außer dem eigentlichen Chiton noch ein
andres Gewand festhalten konnte.
Zu dieser bisher besprochenen alten Form des Chitons tritt dann häufig
uoch ein mantelartiger Überwurf, ein Himation, hinzu, wie es ja auch die
spätere Frauentracht kennt; doch wird dieser Mantel in der älteren Zeit in
etwas andrer Weise getragen als später, nämlich ähnlich wie heute ein Um¬
schlagetuch, also so, daß der Mantel ganz den Rücken bedeckt und hinten mehr
oder weniger lang über die Beine herabfällt, während seine beiden andern Enden
nach vorn über die Schultern gezogen werden und dort von den: Leibe zu beiden
Seiten herunterhängen. Nicht selten wird dieser Mantel auch so hoch herauf¬
gezogen, daß er den Hinterkopf bedeckt. Die eine wie die andre Art, den Mantel
zu tragen, findet sich freilich auch in der sonst abweichenden Tracht der Folge¬
zeit noch häufig angewandt.
In welcher Weise sich der Übergang von dieser altertümlichen Tracht zur
späteren vollzogen hat, können wir trotz der zahlreichen Denkmäler nicht genau
verfolgen. So viel scheint aus der Betrachtung der Vasenbilder sich zu ergeben,
daß der Hauptunterschied der alten und der neue» Tracht darin bestand, daß
jene jackenartige Bedeckung des Oberkörpers verschwindet und dafür zunächst
eine Tracht tritt, bei der ein den ganzen Körper bedeckendes Gewand, welches
über die Körperlänge hinausgeht, so angelegt wird, daß ein Teil desselben
über den Gürtel herausgezogen und als Bausch über den Gürtel herunter fallen
gelassen wird: jene charakteristische Tracht, welche die Grundlage der späteren,
allgemein üblichen bildet, anfangs aber freilich in noch sehr verschiedenartiger
BeHandlungsweise uns entgegentritt. Zunächst ist folgendes zu beachten. Während
der erwähnte Bausch (Kolpos) einerseits durch das Gewand selbst gebildet
werden konnte, finden wir daneben die Mode, ihn durch einen über das
Untergewand angezogenen Überwurf zu ersetzen, welcher sich allerdings in seiner
Form wesentlich von jener alten Form der Jacke unterscheidet; denn nicht nur
hat er in der Regel weite und ziemlich lange, bis zum Ellenbogen reichende
Ärmel, sondern er geht auch bis zum Gürtel hinab, wird von diesem mit fest¬
gehalten und fällt nur vorn in reicherer Stvffmenge über denselben als Bausch
herunter. Wir haben also, wie bei der älteren Tracht, zwei Kleidungsstücke:
das lauge Untergewand und darüber die besondre Bekleidung des Oberkörpers;
nur daß letztere in den meisten Fällen der Nadeln nicht bedarf, sondern ein
zum Anziehen fertig gemachtes, gemähtes Kleidungsstück ist, bei welchem höchstens
an den Ärmeln, wenn diese geschlitzt waren, kleinere Fibeln oder Knöpfchen zur
Verwendung kamen. Sehr deutlich pflegen auch die Vasenmaler diese beiden
Kleidungsstücke als aus Verschiedellen Stoffen hergestellt zu kennzeichnen: das
Unterkleid wirft gerade, glatte Falten, wie ein Linnenstoff, der Überwurf da¬
gegen krause, wie ein Wollenzeug. Doch finden wir auch diese beiden Teile
aus einem einzigen Stoffe und offenbar als zusammenhängendes Kleidungsstück
hergestellt, sodaß also Unter- lind Obergewand nicht gesondert angelegt wurden.
Ärmel sind meistens vorhanden; dieselben haben auch in der Regel eine ganz
charakteristische Form: nämlich am untern Ende, unterhalb des Ellenbogens,
erweitern sie sich glockenförmig, während das Armloch ziemlich eng bleibt.
Daß diese Tracht ionisch war, dafür tonnen wir vielleicht darin einen
Beleg scheu, daß am Harpyien-Denkmal von Xanthos uns ganz die gleiche
Ärmelform begegnet, wie wir sie eben beschrieben und wie wir sie auch auf
attischen Denkmäler» aus der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts häufig
genug finden; doch fehlt dort der für attische Tracht so charakteristische untere
Bausch. Zieht man namentlich Grabreliefs wie das albanische sogenannte
Leukvthea-Relief und das in Athen befindliche Bruchstück eines ähnlichen Reliefs
zur Vergleichung heran, so wird man mit Rücksicht auf die oben angeführte
Hcrodvtstclle zu der Ansicht kommen, daß der Gegensatz zur früheren Tracht in
der That vornehmlich, abgesehen vom Stoff, darin bestand, daß bei dieser Tracht
Nadeln gewöhnlich nicht zur Verwendung kamen, sondern daß das ganze
Kleid durch Näharbeit so hergestellt war, daß man deu Verschluß auf den
Schultern und an deu Ärmeln, wenn letztere nicht ringsum geschlossen waren,
durch Knöpfchen bewirken konnte. Aber dieser der Nadeln entbehrende Chiton,
dem wir demnach die Bezeichnung „ionisch" zu geben berechtigt sind, hat sich,
wenn er überhaupt jemals in alleiniger Anwendung war, jedenfalls nicht lange
als alleinige Tracht erhalten; denn noch in altertümlichen Kunstwerken begegnen
wir bereits wieder einer andern Tracht, welche in wesentlichen Punkten von der
eben beschriebenen abweicht und offenbar auch vou Nadeln eine ziemlich reich¬
liche Anwendung macht. Zunächst freilich finden wir eine Kleidermode, welche
der Nadeln in den meisten Fällen noch entbehrt.
Bei weiterem Fortschritt der Mode nämlich — und damit treten wir in
eine Periode ein, welche namentlich durch die altertümlichen rotfignrigcn Vasen-
bilder eines Brygos, Dnris, Euphronios, Hiero u. f. w. (Vasenmaler aus der
ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts) bezeichnet wird — wird es Brauch,
Chitone vou solcher Lauge anzulegen, daß man ein sehr beträchtliches Stück
über den Gürtel herausziehe» und in weitem, rings um den ganzen Körper
gehenden Bausch tief über die Hüften bis in die Gegend der Kniee fallen lassen
kann. Indem mit diesem untern Bausch noch ein Brusttuch, welches nur bis
wenig unter den Busen hinabreicht, verbunden wird, erhalten wir vornehmlich
folgende Formen: 1. Als Untergewand ein Chiton, welchen man sich ans den
Schultern in nicht sichtbarer Weise befestigt zu denken hat; derselbe ist gegürtet,
der überschüssige Teil aber in der bezeichneten Weise als kreisrunder Bausch
über den Gürtel Herabgclassen, sodaß letzterer nicht sichtbar ist; darüber wird
ein mit Ärmeln versehenes oder auch ein ärmelloses und dann häufig der mo¬
dernen sogenannten Pelerine ähnliches Brusttuch gelegt, welches mehr gerad¬
linig unterhalb der Brust und in entsprechender Höhe auf dem Rücken abschließt,
also nicht wie der untere Bausch in einer Falte, sondern mit der Schnittkante
des Tuches endigt, 2. Als Untergewand ein einfacher Chiton; darüber el»
Überwurf ohne Ärmel aus anderm Stoff, welcher von den Schultern über den
Gürtel fällt und unten jenen vbenbeschriebenen runden Barsch bildet; hier-
über das vorher bezeichnete Brusttuch mit Ärmeln vom Stoff des Chiton.
3. Wiederum der einfache Chiton als Untergewand; darüber von anderm Stoff
jener den runden Bausch bildende Überwurf, diesmal aber mit Ärmeln, und
über diesem ein ärmelloses Brusttuch, welches demnach wesentlich aus zwei
Brust und Rücken bedeckenden, auf den Schultern zusammen gesteckte» Tüchern
besteht, von gleichem Material wie der Chiton. Die Ärmel sind bei dieser Tracht
weniger glockenförmig als bei den vorigen, das Armloch auch nicht so eng,
sondern meistens weit; sie sind auch in der Regel nicht zusammengenäht, sondern
durch kleine Knöpfe oder Fibeln zusammengehalten.
Schön kann mau diese Tracht, mag sie nun auf die eine oder auf die
andre Art erzielt sein, keineswegs nennen, da der kreisrunde Bausch meist weit
vom Körper absteht, was plump und ungeschickt aussieht. Aber trotzdem ent¬
wickelt sich daraus durchaus folgerichtig jene edle Tracht, welche wir ein¬
gangs als die „klassische," als die Tracht der besten Zeit der Kunst be¬
zeichnet haben. Anstatt nämlich diese verschiedenen Bausche und Brusttücher
aus zwei oder gar aus drei verschiedenen Kleidungsstücken herzustellen, geht
man allmählich zu dem an sich einfacheren, aber freilich ein noch viel kunst¬
volleres Arrangement der Kleidung erfordernden System über, die ganze Tracht
aus einem einzigen Kleidungsstück herzustellen. Es ist das ein langer, die
Körperlänge weit übertreffender Rock, welcher unten in der Länge von der
Taille bis zu den Füßen zusammengenäht, von da an aber entweder auf beiden
Seiten oder wenigstens auf der einen Seite offen ist. Mau gürtet diesen Rock
um die Hüften, nimmt den obern Teil des Rockes bis zu deu Schultern hinauf
und nadelt hier Rücken- und Brustblatt zusammen; mit dem überschüssigen Stoffe
kann man dann aber verschiedentlich verfahren. Entweder man nimmt gerade
so viel Stoff bis zur Schulter herauf, als man für den Körper vom Gürtel
bis zur Schulter nötig hat, und läßt dann das übrige vorn über die Brust
und hinten über den Rücken hinunterfallen und gürtet es mit; dann entsteht,
indem man diesen obern Gewandten noch etwas über den Gürtel herauszieht,
zunächst ein Bausch oberhalb des Gürtels, und das Ende des Gewandes
füllt bis unterhalb des Gürtels ungefähr etwas oberhalb der Kniee. Oder
>nan nimmt vom Gürtel ab ein größeres Stück ans, als man bis zur
Schulterhöhe brauchen würde, läßt das überschüssige Stück des zwischen dem Gürtel
und den Nadeln auf der Schulter befindlichen Teiles über den Gürtel herab¬
fallen, sodaß derselbe gänzlich dadurch verdeckt wird, und läßt dann, was vom
Stoff noch oberhalb der Schulternadeln übrig bleibt, über Brust und Rücken
wie ein Brusttuch uiederwalleu; die Nadelung auf den Schultern kann mau
dann entweder so vornehmen, daß die zuletzt bezeichneten Enden des Brusttuches
darübergelegt werden und die Nadeln verdecken, oder man nadelt das Bruststück
mit, hat also auf der Schulter von vorn wie von hinten eine doppelte Tuch¬
lage zu radeln, und die Nadeln liegen dann sichtbar zu tage; letzteres pflegt
das häufigere zu sein. Diese letztbeschricbcne Tracht ist eben diejenige, welche
uns in ihrer schönsten Form ans den attischen Denkmälern aus der Epoche des
Phidias entgegentritt; ihr Zusammenhang mit jenem früher allgemeinen kreis¬
runden Bausch läßt sich aber ans Vasenbildcrn verfolgen, denn es kommt nur
darauf an, den über deu Gürtel fallenden Bausch der älter» Tracht möglichst
zu verkleinern, sodaß der Abstand zwischen Überschlag und Bausch beträchtlich
verringert wird, nud dann den Bausch in jener der Linie des Überschlages sich
anschließenden Weise, wobei die Falten um den Seiten tiefer liegen als in
der Mitte, zu arrangiren, um die edle Form des Gewandes der Karyatiden vom
Erechtheion zu erhalten.
Ärmel sind bei dieser Tracht bald vorhanden, bald fehlen sie; wo sie da
sind, haben sie meistens, wie die früher besprochenen, die Form der offenen,
durch Knöpfe oder kleine Nadeln verbundenen Halbärmel, und es hat vielfach
den Anschein, als feien dieselben nicht eigens angenähte Ärmelstücke, sondern
gehörten zum Chiton selbst, welcher, weil er, wie in der Länge, so anch im
Umfang beträchtlich mehr Stoff enthielt, als an und für sich zur Umhüllung
des .Körpers nötig war, hinlänglich Material bot, um oben auf jeder Seite
noch ein bedeutendes Stück über die Oberarme zu ziehen nud durch Zusainmen-
nesteln zu scheinbaren Ärmeln zu verbinden.
(Schluß folgt.)
er ans dem kürzesten Wege einen möglichst umfassenden Einblick
in den Vorstellungskreis und die Anschauungen der Berliner
Aufklärer im vorigen Jahrhundert gewinnen will, der greift am
besten zu Friedrich Nicolais satirischen» Romane: „Das Leben
und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker."
Friedrich Nicolai, das Haupt der deutschen Aufklärer, hat in diesem drei-
gen Werke, zu dem er deu Gedanken gleichzeitig mit dem der Begründn»g
der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" faßte, gewissermaßen die Quintessenz
seiner rationalistischen Weltansicht niedergelegt, die bei stetem Kampfe gegen alle
Orthodoxie die Einheit der christlichen Offenbarung und der sogenannten natür¬
liche» Vernunftreligion zu erweisen sich als Ziel gesetzt hatte. Wir haben
heute eingesehen, daß ein derartiges Unternehmen niemals gelingen kann, dürfen
jedoch nicht vergessen, daß Nieolcii trotz seines platten Rationalismus und seiner
merkwürdige,, Beschränktheit, welche ihn im Alter hinderte, dem geistigen Fort¬
schritte in den Werken unsrer großen Dichter und Philosophen zu folge», doch
das Verdienst hat, durch seinen rastlos geführten Vernichtungskrieg gegen jeden
Zelotismus und jede Heuchelei den Weg geebnet zu haben, anf dem allein die
freie Forschung und die Humanität sich entwickeln konnten.
Außer der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" hat keine Schöpfung Nicolais
durchschlagender gewirkt als eben sein „Sebaldus Nothanker." Dieser Roman
muß sich zur Zeit seines Erscheinens einer ungemeinen Beliebtheit erfreut haben,
und das nicht nur in Deutschland, sondern auch im Auslande, da er in mehrere
Sprachen übertragen worden ist. In kürzester Frist waren vier starke Anflügen
verkauft. Eine ganze Sebaldus-Nothanker-Literntur entwickelte sich an ihm: man
setzte den Roman fort, schrieb zahlreiche Abhandlungen und Predigten nach den,
von Nicolai gegebenen Beispiele und suchte seine Ideen zu widerlegen, indem
man die vo» ihm selbst dargebotene Form zum Muster «ahn. Nicolai sah
sich daher schon am Schlüsse des zweiten Bandes genötigt, gegen eine derartige
Ausnutzung seiner Arbeit Protest zu erheben; er that dies in der „Zuver¬
lässigen Nachricht von einigen nahen Verwandten des Herrn Magister Sebaldus
Nothanker. Ans ungedruckten Familieimachrichten gezogen," welche dem zweiten
Bande als Anhang beigegebe» ist.
Heute ist der „Sebaldus Nothanker" in Vergessenheit geraten, und zwar
namentlich aus zwei Gründen: einmal steht der Roman als Kunstwerk auf
einer sehr niedrigen Stufe, und dann ist Nicolais Satire uns, die wir unter
ganz andern Verhältnissen leben, vielfach nicht mehr ohne weiteres klar. Es
wird daher zum Verständnis des folgenden gut sein, wenn wir einige Be¬
merkungen über Inhalt und Tendenz des Romans vorausschicke».
Nicolai selbst erklärt sein Werk für eine Fortsetzung von Thümmels
„Wilhelmine," deren Heldin, eine fürstliche Kammerjungfer, am Schlüsse den
guten Dorfpfarrer Sebaldus heiratet. Diese Gutherzigkeit ist auch ein Hanpt-
charcckterzug von Nieolnis Helden. Sein Sebaldus hat eigentlich nur eine
Leidenschaft, nämlich den Wunsch, ein gelehrtes Werk über die Apokalypse zu
stände zu bringen, das alle andern Kommentare übertreffen und alle falsche»
Auslegungen derselben beseitigen soll. Daneben schwärmt er tüchtig für die
Crusinssche Philosophie und ist ein Gegner der symbolischen Bücher, wie er
denn auch die Zweifel an der Ewigkeit der Höllenstrafen Zeit seines Lebens
nicht los wird. Deshalb gilt er den orthodoxe» lutherischen Geistlichen als ein
gefährlicher Freidenker und wird von ihnen fortwährend verfolgt, sodaß sein
Leben aus einer Kette von Anfeindungen und Verleumdungen besteht. Auch
die Ungunst des Schicksals wird ihm in reichem Maße zuteil. Er wird seines
Amtes entsetzt, von Haus und Hof vertrieben; Weib und Kind stirbt ihm, von
allen Mitteln entblößt sieht er sich gezwungen, ein abenteuerliches Leben zu
beginnen, und muß als Korrektor, Hauslehrer, Vikar, Schriftsteller, Wcghittcr
und endlich als Gesellschafter eines reichen Herrn mühsam sein Dasein fristen.
Ein mäßiger Lvtteriegewinn läßt ihn endlich nach langen Leiden ein hinreichendes
Auskommen und die ersehnte Muße finden, sein großes Hauptwerk über die
Offenbarung zu vollenden.
Obwohl Nicolai im Laufe der Erzählung den ganzen damaligen Noman-
apparat in Bewegung setzte, wiederholten Überfall dnrch Räuber, Schiffbruch,
Gefangennahme durch holländische Seelenfänger, zahlreiche Übervortcilungeu
des Arglosen und Unerfahrenen dnrch Schurken aus alleu Ständen, ist es ihm
doch um die Handlung nicht im mindesten zu thun. Die Hauptsache sind ihm
die Unterhaltungen, die Sebaldus mit den Anhängern fast aller protestantischen
Glaubensrichtungen führt, welche in ihrer provinziellen Verschiedenheit vor¬
geführt werden. Immer ist der Zweck, die Heuchelei und Intoleranz der Geist¬
lichen in eine möglichst grelle Beleuchtung zu stellen und ihre Bildung als
höchst einseitig und beschränkt erscheine» zu lassen. Vielfach werden die Si¬
tuationen nur deshalb gewählt, um dasselbe Thema von eiuer neuen Seite noch
einmal behandeln zu können.
Mit der Geschichte des Sebaldus hat dann Nicolai noch die seiner Tochter
Marianne verbunden, welche als angebliche Französin in übliche Dienste tritt
und bald in ein Liebesverhältnis zu einem poetisch angehauchten Jüngling sich
einläßt, dessen Gattin sie nach Vesiehnng mancher Abenteuer, darunter mehr
facher Entführungen, wird. In der Geschichte Mariannens tritt glücklicherweise
die Handlung mehr in den Vordergrund, jn selbst an Ansätzen zu einer
psychologischen Motivirung fehlt es hier nicht. Doch hat Nicolai seiner satirischen
Stimmung auch in diesen Teilen des Romans Raum gegeben; sie richtet sich
gegen die Überhebung des Adels, verspottet dessen Gallomanie lind Ahnenstolz
und zieht die Sentimentalität der Zeit, die sich gern in schauerlicher Liebes-
tändelei erging, ins Lächerliche. Aber das alles geschieht mit Maß; die Satire
entspringt hier meist den verkehrten Handlungen der Leute; selten arten die
Gespräche, die sie führen, in so endlose moralische Abhandlungen aus, wie sie
in der Geschichte des Vaters immer wiederkehren. Der Leser verweilt daher
gern bei diesen Partien, welche in der That ein gewisses Talent für die Erzäh¬
lung verraten.
Nicolai war darauf bedacht, seinem Roman einen erhöhten Wert zu ver¬
leihen dadurch, daß er denselben mit einer Anzahl Illustrationen schmücken ließ.
Er wußte zu diesem Zwecke den beliebteste» Illustrator der damaligen Zeit, den
Kupferstecher Daniel Chodowiecki zu gewinnen, welcher wiederholt seine Kunst
in den Dienst von Nicolais literarischen Unternehmungen gestellt hat. Chodowiecki
schuf für den „Sebaldus Nothanker" in seinen verschiednen Auflagen im ganzen
einundzwanzig Blätter, die sich den besten seiner Schöpfungen ans dein Gebiete
der Vnchillnstration würdig an die Seite stellen/")
Chodowiecki ging nur mit Widerstreben an diese Arbeit. Nicolais unge¬
stüme Angriffe gegen die Prediger des göttlichen Wortes waren dem frommen
Anhänger der ealvinistischen Kirche überaus bedenklich, da er annahm, daß die
Religion selbst durch die Verspottung ihrer Diener herabgesetzt würde. Dennoch
vermochte er die Bedenken, welche ihm bei der Lektüre der ersten beiden Bände
des „Sebaldus Nothanker" aufstießen, zu überwinden; als ihm aber Nicolai
das Manuskript des dritten Bandes übersandte, fand er sich durch die darin
enthaltenen frcigeistigen Ausführungen so unangenehm berührt, daß er dem
Verfasser seine Mitarbeiterschaft an dem Werke verweigern zu müssen glaubte.
Er schrieb deshalb einen längern Brief nu Nicolai und legte in demselben alle
die Gründe für die Ablehnung des ihm erteilten Auftrages dar. Namentlich
an dem sechsten Abschnitte nahm er Anstoß. Dieser enthielt Proben einer Über¬
setzung, welche Sebaldus von dem Werke eines englischen Deisten gefertigt hatte,
nur sie dem holländischen Buchhändler van der Nun zum Verlage anzubieten,
und in der That hat Nicolai in diesem Abschnitte das schärfste Geschütz auf¬
gefahren, mit dem er überhaupt in seinein Romane operirt. Er legt in dem¬
selben nicht nur dar, welcher Widersinn es sei, die Prediger eidlich auf fest
formulirte Bekenntnisschriften zu verpflichten, ein Herkommen, gegen welches an
zahlreichen Stellen des Werkes Protest erhoben wird; auch die Autorität der
Bibel, ihre göttliche Eingebung, die Notwendigkeit, alle ihre Lehren anzunehmen,
wird in Frage gestellt und dabei hervorgehoben, wie wenig sicher die Über¬
lieferung des biblischen Textes sei. Chodowiecki bemüht sich daher, Nicolai von
der Verkehrtheit solcher Anschauungen zu überzeugen, und liefert in seinem
Schreiben den Beweis, wie ernst es ihm um seine Kunst war, die er nicht in
den Dienst desjenigen stellen wollte, der seiner innersten religiösen Überzeugung
reich durch seine Schriftstellern nur entchristlichend wirken konnte.
Dieser Brief Chodowieckis ist uns erhalten geblieben, scheint jedoch bisher
nirgends durch den Druck bekannt gemacht zu sein. Daß man schon früher
daran gedacht hat, ihn zu veröffentlichen, beweist eine Abschrift desselben von
der Hemd L. F. G. von Göckingks, welche sich unter der großen Menge von
Briefen des C. A. Böttigerschen Nachlasses auf der königlichen öffentlichen Bi¬
bliothek zu Dresden befindet. Es ist augenscheinlich, daß Göckingk bei der An¬
fügung desselben daran dachte, das interessante Dokument von Chodowieckis
Gesinnung drücke» zu lassen. Hierauf deutet schou die Einleitung und der
Schluß hin, die er dem Schreiben zu kurzer Erläuterung beigegeben hat. Ju
seinem „Leben Friedrich Nicolais" erzählt Göckingk, daß er Nicolais Nachlaß zum
Teil durchgesehen habe, er gedenke, ucich und nach das Jnteressanteste aus
Nicolais Korrespondenz in einem der periodischen Blätter bekannt zu machen.
Wahrscheinlich wird er bei dieser Gelegenheit auch auf den in Rede stehenden
Brief Nicolais gestoßen sein, und da Völliger damals (1819) auf eine große
Anzahl von Zeitschriften einen weitgehenden Einfluß ausübte, lag es nahe, ihm
die Abschrift zur Veröffentlichung zu übersenden, zumal da Göckingk mit Böttiger
persönlich bekannt war und wiederholt für die nnter seiner Leitung stehenden
Journale gearbeitet hat. Böttiger hat jedoch die Arbeit Göckingks uuter seinen
Papieren verschwinden lassen, ohne sie zum Druck zu befördern; wenigsteus ist
es mir nicht gelungen, ausfindig zu machen, daß dieser Brief Chodowieckis
irgendwo gedruckt sei. Auch Engelmann hat ihn nicht gekannt, da er ihn sonst
in seinen sorgfältig gearbeiteten Literaturangabcn verzeichnet haben würde. Gegen
die Annahme, daß Böttiger Göckingks Wunsche nachgekommen sei, spricht auch
die Beschaffenheit des Manuskriptes, das völlig sauber aussieht, also gewiß nie
in Setzerhänden gewesen ist.
Warum Böttiger sich nicht entschlossen hat, den Brief zu veröffentlichen,
darüber kann man nur Vermutungen haben. Wüßte man sonst von ihm, daß
er in diesen Dingen zartfühlend gewesen, so läge die Vermutung nahe, daß er
Rücksicht auf Nicolai habe walten lassen, mit dem er in vertrautem Briefwechsel
stand. Wir wissen jedoch aus andern Fallen zur Genüge, daß Böttiger der¬
artige Bedenken nicht kannte.
Wie dem anch sei, Chodowieckis Schreiben an Nieolcn verdient jedenfalls
der Vergessenheit entrissen zu werden. Wer mit uns der Ansicht ist, daß zur
Würdigung eines Künstlers auch die Kenntnis seines Charakters und seiner
Lebensanschauungen gehöre, der wird nicht ohne Interesse den Bekenntnissen
eines Mannes folgen, dessen künstlerische Eigenschaften längst genügend dargelegt
worden sind, von dessen menschlichem Wesen wir aber noch wenig wissen.")
Der berühmte Daniel Chodowiecki hatte bereits die Kupfer zu den erste»
Theilen des Sebcildus Nothanker gestochen, als er bey dem letzten Theile sich
Gewissenszweifel machte, ob er mit dieser Arbeit fortfahren solle oder nicht?
Nicolai hatte ihm die Handschrift mitgetheilt, damit der Künstler die Situationen,
welche durch einen Kupferstich dargestellt werden sollten, sich desto lebhafter denken
könne. Wahrscheinlich mogte Chodowiecki zwar mündlich dein Verfasser gesagt
haben, warum er Bedenken trage, ferner für dieses Werk zu arbeiten, allein da
dieß bey Nsievlaij nicht die gewünschte Wirkung gethan hatte, so schrieb er an ihn
folgenden Brief, an dem bloß die Fehler gegen die Sprachrichtigkeit und Recht¬
schreibung geändert worden sind.
Ich bin warlich sehr betrübt, daß ich Ihnen nicht helfen kann; ich habe etliche
Male die mir anstößigen Stellen gelesen. Wenn ich die Blätter aus der Hand
lege, deucht es mir, ich thue Ihnen Unrecht, und alles, was Sie zu Ihrer Recht¬
fertigung sagten, scheinet mir wahr und richtig; wenn ich sie aber von neuem lese,
verschwindet alles dieses, und ich finde nur Gelegenheit, zu tausenderley widrigen
und gefährlichen Ausstellungen. Ich finde in Ihren Ansdrttcken zu viel beißendes,
bitteres und spottendes, wenn von der Religion und der h. Schrift die Rede ist,
und die Lehrer derselben können Sie dnrch das ganze Werk nicht genug herunter
setzen, den einzigen Alkmarer") ausgenommen.
Sie halten dafür: Es sey Niemand mehr so einfältig, die übernatürliche
Einblasung der heiligen Bücher zu glauben. Ich glaube sie auch uicht so, wie
Sie dieses Wort auslegen. Aber daß etwas übernatürliches bei Stiftung der
christlichen Religion, wovon diese Bücher Folgen sind, vorgegangen, ist, das kann
doch uicht geläugnet werden. Was waren die ersten Prediger des Christenthums?
Waren es nicht ganz gemeine Leute? Fischer, Zöllner; u. dergl.? Waren sie
nicht zu der Zeit, da Christus noch mit thuen auf Erden war, einfältige, furcht¬
same, und mit Vorurtheilen behaftete Menschen? Flöhen sie nicht alle, da Christus
gefangen wurde? Verleugnet Petrus ihn nicht? Hielten sie sich nicht verschlossen
aus Furcht vor den Juden? Nach dem Pfingstfest aber, oder nach der Nusgießuug
des h. Geistes über sie, wurden sie erst, was sie werden sollten. Mit welcher
Glaubhaftigkeit redete Petrus nun nicht mit dem ganzen versammelten Volke? Was
für eine Folge hatte seine Rede nicht! Wurden er und die andern Apostel von
dieser Zeit an nicht ganz andre Menschen? War nun ein Wunder an ihnen geschehen,
so mußte ja dieses Wunder Einfluß auf ihr ganzes folgendes Leben haben, und was sie
geschrieben habe», kaun man, ohne die Nothwendigkeit eines jedesmal neue« Wunders, als
Schriften von mehr als gemeinen vernünftigen Leuten nusehen. Ich halte dafür, es ge¬
hörte uoch mehr als Vernunft dazu, die Bücher zu schreiben, die sie uns hinterlassen
haben, sonst hätten die gelehrten Männer, die vor ihnen gelebt, und die weit mehr
natürliche Vernunft hatten als diese, auch so schreiben können."") Was Weren-
sels") schrieb von der Bibel, ist übertrieben, sonst müßten die Mahomedaner auch
ihre Lehre darin finden. Freilich kann man mehr glauben, als darin steht, und
auch weniger, wenn man das verwirft, was Einem nicht ansteht.
Glied hat seit den Tafeln auf Sinai keine Offenbarung unmittelbar gegeben.
Woher ist denn die Lehre Christi gekommen, dem Sie doch die Gottheit nicht ab¬
sprechen? Er hat sie jn unmittelbar gepredigt. Hier setze ich mich an die Stelle
so vieler jungen Leute, die Ihr Buch lesen, und schon einen Hang zum Unglauben
mitbringen, und bete mit frohem Herzen nach: Gott hat sich der Einsichten guter
Leute bedient, welche Bücher geschrieben haben, die durch verschiedene Vorfälle den
Menschen wichtig geworden sind. Also war alles, was vorher gesehen war,
nämlich die Zukunft Christi auf Erden, um die Menschen den Willen Gottes besser
zu lehren, als vorher geschehen war, ihnen das vollkommenste Beyspiel eines guten
Menschen zu geben, einige Menschen zum Fortpflanzer seiner Lehre vorzubereiten,
für alle zu sterben, um thuen, wenn sie sonst Gutes thun wollen, die Seeligkeit
zu erwerben: Alles dieses wäre also unnöthig gewesen. Die Ausgießung des
h. Geistes am Pfingstfest, wäre anch nicht nöthig gewesen, und doch sind dadurch
diese Guten eigentlich zu ihren Einsichten gekommen. Oder alle diese Sachen sind
nicht wahr. Dieß schließe ich, wenn mir weiter nichts gesagt wird, als daß Gott
sich der Einsicht dieser guten Leute bedient habe.
Um nun aus diesen Schriften seine Pflichten kennen zu lernen, braucht er
nicht viele Betrachtungen im Schließen. Der gemeinste Mann, (und man sieht oft,
daß dieser es um besten thut) kann es. Ich habe oft, da ich uoch Dinere bey unsrer
Kirche war/"") bey den ärmsten und gemeinsten Leuten die besten Christen gesehen,
und besonders auf dem Sterbebette im Hospital. Ich habe ein junges melancho¬
lisches Frauenzimmer von guter Familie gekannt, das niemand besser trösten konnte,
als die Frau des Kutschers.
Diese armen Leute verstehen in diesen Büchern nichts, als was ihnen nützlich
ist. Was sie nicht begreifen können, das können fie mich zu ihrer Besserung im
Leben, zu ihrem Troste im Tode, und zu ihrer Seligkeit entbehren. Die aber
alles erklären wollen, so dunkel es auch sein mag, die müssen nothwendig in ihren
Erklärungsarten sehr verschieden seyn; aber es sey. Wenn sie nur das eigentlich
nothwendige verstehen und befolgen, so hat es keine Noth um sie, und es ist gleich
viel, von welcher Seite sie die Hieronymische Perle ""^) durchbohren.
Die heiligen Bücher sollen Allen Quellen der Wahrheit seyn. Sagt man
ihnen aber nicht erst wie diese Bücher entstanden sind, so werden sie bey der erstell
Gelegenheit, wo ihr Interesse oder ihre Leidenschaften eS verlangen, das Buch zu¬
mache», und sich befriedigen.
...
Illo Ubvr ost, irr gro su«. growrit ÄogmstN, iMKguo;
Invvnit se peu'lehr <IoUUnt»>> guisgns fus»
Die Anzeigen der Varianten können bey Layen viel mehr schaden, als NnKen
stiften. Sind diese Stellen falsch befunden worden: Wer weiß, wie es um die
andern steht? Was ist mir gut dafür, daß sie nicht auch falsch sind? — Sind
das nicht die natürlichen Gedanken, die darauf folgen? So wie der Spruch
1. Thun. III, 16 in der Uebersetzung steht, hat er doch Zusammenhang; kann er
auch Zusammenhang haben, wenn ans dem 0 der Strich ausgelassen wird?
Man mag den 14den Vers im 5ton Kapitel im Briefe an die Römer nehme»
wie man will; ich sehe nicht, welche Lesart ihm den besten Sinn giebt. Nach der
französ. Uebersetzung scheint mir der am besten zu sein- (jul n'avownt Mink, poclw.
Ich habe nichts wider den Ausspruch Joh. 1, Br, V. II. lsvll heißen! 2, Brief
Joh. V. 9j, Wer übertritt und bleibt nicht in der Lehre Christi, hat keine» Gott,
Wer einmal dieser Lehre kundig ist, kann Wohl nicht anders als sehr »»glücklich
werden, wenn er davon abgeht; wird er nicht zugleich mich Gott abtrünnig werden?")
*"
Der andere) ist ohnstreitig für die ersten Christen bestimmt gewesen, und
konnte damals sehr nützlich seyn.
Dieses sind wohl die Erklärungen aller vernünftigen Gottesgelehrten. Giebt
es unvernünftige, die sie unrecht erklären, so müssen doch nicht alle in eine Classe
gesetzt werden, wie mehrentheils in diesem Buche geschehen ist. Ich finde gar
nichts unglaubliches im 5den Verse des Briefes Judä.***) Steht nicht ausdrück¬
lich im 4den Buch Mosis, daß Gott die Jsraeliten, um ihres Unglaubens willen,
in der Wüste aussterben ließ, und daß nur die Kinder, und Josua und Kaleb in
das gelobte Land kamen? Indessen bewahre mich Gott, daß ich den verfluchen
sollte, der das nicht glauben kann; nur bey der Wahl dessen, das sich für mich
schickt, muß ich mich auch in Acht nehmen, denn Natur und Erfahrung könnten
auch mauuigiual trügen. Wie wnreu unsre Vorfahren beschaffen, ehe das Christen¬
thum, und nachher die Reformation, bey uns eingeführt wurde? Haben wir es
nicht dem Christenthum zu danken, daß wir unsre Natur kennen gelernt haben,
nud unsre Erfahrungen nutzen können? Und das Christenthum haben wir doch
nur durch diese Bücher erlaugt, so wie sie sind. Freilich mag man ungereimtes
Zeug genug mit der Bibel vorgenommen haben; aber sind die englischen Verses)
nicht auf eine zu burleske Art übersetzt? Das arme Buch!
Ja wohl ist zwischen blinde» Glauben und Unglauben ein Mittelding, das ist
der rechtschaffene, einfältige, demüthige Glaube, den der Mann, der Christo ein
mondsüchtiges Kind zu heile» zuführte, hatte. Ich glaube) rief er; hilf meinen
Unglauben!
Kein Freidenker ist verwünschenswerth; aber zu beklagen ist ein jeder, der es
ist, und man soll sich wohl hüten, keinem Gelegenheit zu geben, es zu werden.
Ich versichere Sie auf meine Ehre, daß ich Ihnen keine üble Intention zutraue;
aber es ist doch auch fast keine Zeile, die ich mir die Freiheit nehme zu nnter-
Das arme Buch! Was muß es nicht ertragen!
Von jeher hat es sich geduldig lassen Plagen,
Und schief verzerr», nach jedes Lehrers Lehre»,
Griech'sah u»d Hetu'nisch tan» sich ja nicht wehre»! (III, 65.)
streichen, die mir nicht anstößig wäre, und die es nicht auch vielen andern seyn
wird. Was soll man doch dem Tindal für seinen Vewciß, daß das Christenthum
so alt ist als die Welt, danken? Irre ich mich, oder haben wir alsdann Christus
nichts zu verdauten? Was könnte es helfen, wenn mich das Pokoksche Kapitel")
in die Stelle der 9 ersten Kapitel des ersten Buchs der Chronik gesetzt würde?
Wir haben jn im neuen Testamente verschiedene Stellen, die die Toleranz hin¬
länglich empfehlen.'
Die Vergleichung des Dr. Thvrntorus**) ist doch eine wahre Plnisnuterie, die
ich nicht recht verstehen kann. Besser ist der folgende Abschnitt; der hat meinen
völlige» Beyfall, oder ich verstehe ihn much uicht. Das, werden Sie sagen, sey
meine Schuld; aber leider mögen viele solche verstopfte Köpfe seyn. Ich setze nun
den Fall, das alles, was ich befürchte, geschieht nicht: Niemand ärgert sich an
Ihrem Buche; Niemand wird dnrch Lesung desselben schlimmer als er war: Wer
sind denn die, die davon Nutzen haben sollen? Die Intoleranten? Die werden
aber so satyrisch gegeißelt, daß sie für Schmerzen das nicht bemerken, was zu
ihrer Besserung darunter verborgen ist.
Ihre Absicht: Alle Gottesgelehrten zur Vertragsamkeit zu bringen, ist sehr
gut. Aber auf die Art, wie Sie vom Anfange des Werkes bis zu Ende der
Bogen, die ich vor mir habe, sie behandelt haben, werden Sie den Zweck nicht
erreichen.
Anfangs 177-t, da ich den Kalender mit den Kupferstichen des Liederlichen***)
gemacht hatte, schrieb mir ein mir ehrwürdiger Mann, der in meiner Jngend mir
oft mit guten Rath an die Hand gegangen war, auch mir sonst viel Gutes gethan
hatte: (ju'oft-co pro Von« ont f-ut los pimvros kastvnrs, your Von« obligor, av
cknnnor uno liguro si ooinic^no » oslru, Mi bonn, lo um-iiiKv <lo Votrv »Arvablo I)o-
»)9>it<Zit6? »lo orairuz <MV lo libriuro Meolüi, gri äoit vero nu L>"nul vlmomi (los
Uinisti'of, no Von« ayo svSuit; so vonnois lo livro «zu'it n. serie clonnis von. Den Sommer
vorher war der erste Theil des Sebaldus herausgekommen. Er wußte nicht, daß
der Kalender älter war, als der Sebaldus.'
Vor Kurzem schrieb mir derselbe Mann: Oro^in moi, Vou« tore« bion, av im
piu» kairv et'sstitmxv« ponr lo Uvro do övdaläus, <in xour ä'antros gut lui rvWvm-
blvnt. II kinn bien, gro Ziiioolai soit un lium'o, (vergeben Sie den Ausdruck!)
pnishn'it 6el'it ass livrsg ooukro 1» liolission, se Vous 1s8 orno/. as Vos sstNNi>os.
Ich habe ihm hierauf nicht geantwortet. Ich nahm Ihren Sebaldus zur L>and
las ihn vom Anfange bis zu Ende, und zeichnete mir alle Stellen an, wo ich
etwas fand, das zu Erlangung der Vertragsnmkeit zwischen den Predigern und
andern Glieder der verschiedenen Religions-Partheyen dienen sollte, um ihm zu
zeigen, daß dieses ihr eigentlicher Zweck bey dieser Arbeit gewesen sey. Ein ein¬
ziger Artikel fiel mir auf, den ich unschicklich fand, der vom blauen Lamme.^)
Die Vergleichung Christi mit eiueiu Lamme kömmt schon in den Propheten vor,
und ist in den Lutherischen Liedern nur zu sehr gebraucht worden. Dieser Einfall
wird wohl allen frommen Leuten, besonders den Lutheranern, ärgerlich seyn, und
er schien mir etwas schwer zu vertheidigen.
Ich habe auch gehört, daß in einem Journale, ich weiß nicht, in welchem?
einen: Recensenten es befremdet hat, daß ich mich rin Verzierung dieses Werkes
abgegeben hätte. Darüber würde ich doch lachen, wenn ich mich überzeugen könnte,
daß ich mit gutem Gewissen für diesen letzten Theil, so wie einst, die Kupfer
machen könnte. Ich halte dafür, daß in allen Sachen, wo man zweifelt, ob mau
Recht thut, man zurückhaltend seyn muß.
Ich gestehe, daß mir Ihre Verlegenheit zu Herzen geht; ich wollte Ihnen
gern helfen, wenn ich könnte; aber wenn ich auch bey Ihnen für abergläubisch ge¬
halten werden sollte, so sehr mich das betrübe» würde, kann ich doch nicht; Berlin,
den 8den März, 1776.^)
Nicolai that hierauf C. den Vorschlag, über seine Zweifel einen noch jetzt
lebenden französischen Prediger in Berlin, der vermuthlich C.'s Beichtvater war,
zu Rath zu ziehen, und dieß that er auch. In einem Billet vom 12te» März I^1776j
meldete C. ihm, daß er mit dem Prediger sBoqnctj gesprochen habe, und daß
dieser zwar weniger Gefahr bey der Sache sehe, als C., indessen doch manche
Stellen der Handschrift so anstößig finde, daß er deren Abänderung für nöthig
halte. Diese Stellen zeigt C. an, und da N. sich zu deren Abänderung, z. B.
„eingeblasen" in „eingegeben" versteht, so erklärt sich C. anch bereit, nunmehr
die Kupfer sogleich zu entwerfen.
Chodowiecki hat wohl hier diejenige Szene im zweiten Bunde vor Augen, wo der
Pietist mit dem Sebaldus Nothanker nach Berlin kommt, empört über die vergnügungs¬
süchtigen Weltkinder, die am Sonntag spazieren gehen, an ihnen Bekehrungsversuche anstellt.
„Endlich, heißt es daselbst, gerieth er öder Pictistj an einen Kerl, der... ein Schlächter oder
Gerber sein konnte." „Mein Freund, redete er ihn an, er gehet, um sich die Zeit zu ver¬
leiben, o! wenn er wüßte, wie wohl dem ist,
„Herr, sagte der Kerl mit starren Augen, was kann mir das helfen, ich bin vorigen Sonntag
un Lamme gewesen, aber das Bier war sauer." sei>. Nothanker ZI, S. 28. Chodowiecki
hat diese Szene selbst sür die Darstellung ausgewählt. Engelmemu S. 8S, Ur. 129.
**
wollten die Gereiften sich erinnern an jene Herzenshebung, die
wir wirklich empfunden haben! Wer von uns sie leugnet und
für unwahr erklärt, der frevelt an sich selbst! Dies sagte der
„blasse Heinrich" wieder mit gehobener Stimme. Dann fuhr er
fort: So erfüllt von Idealen, tritt der Jüngling in die Univer¬
sität ein. Jetzt sammelt er Svnderkenntnisse für ein „Fach," aber vor allein
ist doch seine geistige Arbeit seiner allgemeinen Ausbildung gewidmet: er studirt
„Humaniora," die Grundlage zu der am Schlüsse unsers Vormittagsvortrages
zur Sprache gebrachten höchsten Bildung. Es ist dies aber eine Lehranweu-
dung, die nicht hoch genug angeschlagen werden kann, eine Aufgabe, welche in
die kurze Zeit des Hochschullebens gedrängt ist, eine Vergünstigung des Realen
an den Idealismus; aber das Leben selbst kann ja nur das Gemäßigte
brauchen und uicht das Maßlose der Überschwnnglichkeit. Wenn doch die Kom¬
militonen der Universität, diese auserwählten Söhne des Glückes, sich der
Wichtigkeit dieses Abschnittes recht bewußt werden wollten — wieder ein
I^osLiinur!
Darauf hielt er wieder an und ging in einen andern Ton über: Doch ich
fürchte, es wird mir aus dem Liede das Wort entgegengehalten werden:
Doch dabei vergißt er,
Daß er ein Philister,
Und daß jedes Ding hat seine Zeit.
Das Zitat erregte ein Beifallsrufen der Studenten, das die alten Herren
mit fortriß und sich endlich auf die gesamte Zuhörerschaft, einschließlich der
Damen, erstreckte.
Nein, fuhr der Redner fort, der Einfluß dieser wunderthätig wirkenden
Uuiversitätsjahre ist und bleibt maßgebend für das ganze geistige Leben, er
drückt dem klassisch Gebildeten das Gepräge auf, er reiht ihn nach beendigter
Studienzeit zwar den „alten Herren," aber nicht den Philistern ein; mir „alter
Herr" ist der durch den Verlauf der Zeit Promovirte, er bleibt aber immer
akademischer Bürger, wie Sie alle heute bei der Tafel fröhlich einstimmten in
die Worte:
Miichte nie auf Erden
Etwas andres werden,
Als ein kreuzfideler Studio.
Die BeifaUsbezeugungen wiederholten sich, worauf der Redner wieder begann:
Philister sind nur diejenigen, die entweder nie eigentliche Burschen gewesen sind
oder die den Burschen ausgezogen haben. Bei den echten Burschen wirkt der
geheimnisvolle Zauber der akademischen Weihe fort, wie der Dichter von denen
sagt, die einst zu Bologna studirten:
Aber sie bleiben geweiht mit dem Nardenblc der Jugend
Wie zur ewigen Lust, und sie prangen in blühender Myrte,
Ob auch der Scheitel ergraut in der Dürre des Ernsts und der Würden.
Wieder hielt er an, um die durch dichterischen Aufschwung gehobene Stim¬
mung, die sich auch in seinem Gesichtsausdruck kundgab, einzudämmen und zu
der Ruhe sachgemäßer Behandlung zurückzukehren. Des Ernstes und der Würde,
heißt es! nahm er die Rede auf, und damit sind die obersten Pflichtcngebicte
gemeint, in die der Exmatrikulirte eintritt: die Pflichten gegen sich selbst, gegen
die Familie, die Gemeinde, den Staat.
Der Redner ging nun diese Gebiete einzeln durch, schilderte ihren Zu¬
sammenhang, ihr Jneinandergreifen, ihren Widerstreit und dessen Losung —
nue kunstvoll rednerische Leistung, die ihm reiche Anerkennung von der Lchrcr-
dank her eintrug.
Die einzelnen Thatsachen, die er dabei vorbrachte und denen die Erfah¬
rungen seines Lebens, und besouders die heute gemachte« Wahrnehmungen zu
gründe lagen, machten sichtlich einen tiefen Eindruck auf die Versammelten;
jeder hörte etwas heraus, was ihn betraf, jeder fühlte sich gemeint.
Dieser Widerstreit der Pflichten — fuhr der Redner fort — und seine
richtige Lösung bildet den Inhalt des Lebens der Hochgebildeten gegenüber
dem pol-nun vu1gu8, den Ungeschulten und den Halbgebildeten; und uus,
Kommilitonen, ist in diesem Kampfe ein Führeramt gegeben: ?08ownr!
Diesem Absätze gab er eine ganz besondre, der Wichtigkeit desselben ange¬
messene Betonung. Dann sprach er weiter: Jeder in seinem Kreise, jeder nach
seiner Kraft und seinem Einfluß. Die Losung ist: Hingebung an die Sache,
der Schild: ehrliche Gesinnung, die Waffen: alle die Mittel an Geist und
Gemüt, mit denen uns Haus und Schule, Fach- und Lebensweisheit ausge-
rüstet haben. Die Wege können auseinandergehen, Parteien können und müssen
sich bilden je nach der Auffassung, die durch verschiedene Verhältnisse beeinflußt,
verschiedenartig sein wird. Die Grundsätze aber stehen fest, die Grundsätze des
Schönen, Wahren und Guten; diese drei Ideale bleiben unser Ziel. Und in
dem Streben nach diesem Ziele haben wir fortgearbeitet im Anschluß an unsre
Vorfahren, die einstigen Kommilitonen, deren Gedankenarbeit wir fortsetzen.
Wir fühlen uns als ihre Erben und werden, wo wir die Erbschaft überblicken,
von Dank erfüllt, zugleich aber werdeu wir uns bewußt, daß auch wir durch
sie tüchtig gemacht, das Erbe wacker verwaltet und bereichert unsern Erben
überlassen. Denn Bildung ist ein die Zeiten dnrchdaueruder Garten, er kräftigt
und füllt sich im Laufe der Jahrhunderte immer man. Mögen die, die uns
folgen, die Arbeit, die wir begonnen, weiter und zu Eude führen, mögen sie
die Zeitfragen lösen, die wir ungelöst zurücklassen. Wir Ältern haben in den
Morgenstürmen großer Zeitereignisse gestanden, mögen unsre Nachfolger des
Sonnenscheins beruhigterer Zeitläufte und ihres Segens genießen, dann wird
der Ernteertrag der nächsten fünfzig Jahre unsre Erfolge übertreffen, wie wir
mit den unsrigen die Früchte übertroffen haben, die vor fünfzig Jahren gezeitigt
worden sind. Dies dürfen wir heute ohne Überhebung sagen, wo wir unsern
letzten Wunsch euch und den zukünftigen Kommilitonen verkünden.
Er machte eine kleine Pause, um der hoch gehobenen Stimme Erholung zu
gönnen, dann sagte er sanft: Kommilitonen! Wir gehen auseinander, und nur
die Wenigsten von uns werden das nächste Fest, das Fest der hundertjährigen
Jubelfeier erleben. Es kommt ein letztes ?oMiin,ur! Darum Wollen wir uns
der frohen Stunde ganz hingeben in Liebe und Freundschaft und mit so jugend¬
lichem Herzen wie damals, als wir Abiturienten waren! Weg mit dem Nieder¬
schlage, den das Getriebe der Welt in unserm Innern zurückgelassen, hier, am
Busen der ^Inn irultvr, wird Herz und Auge klar, hier suhlen wir uns alle
frug und gut!
So sprach und schloß der „blasse Heinrich."
Ist schon ein Bild oder ein Musikstück nicht zu beschreibe«, so läßt sich
vollends das Meisterstück des Redners, das gehört und — gesehen sein will,
nicht annähernd durch Worte wiedergeben, und strengte auch der kühnste Epiker
jeine Darstellungkraft an.
Gleicht der Dichtende doch dein Hochlands-Felsengesteinc,
Das zuthal dem Schützen den Hall des Schusses zurückschickt
Matt im luftigen Hauche mit Echos zärtlicher Stimme.
So tönt schwächer das Lied des nncherzählcndell Dichters
Als der dröhnende Schall der übergewaltigen Großthat,
Die er nur wiedergehallt.
Die Festversammlung war nach den letzten Worten des Vortmgs von einer
Weihevollen Stimmung ergriffen, deren Bedeutsamkeit sich durch das Ausbleiben
jeglicher Beifallsbezengung kundthat. Dies war besonders an Barbara, der für
Beredsamkeit so schwärmerisch Eingenommenen wahrnehmbar. Sie saß da,
anfangs wie in Starre vor dem Gesamteindruck, dann traten ihr die letzten
hcrzbezaubernden Worte in die Erinnerung, und sie wurde sich der Lust be¬
wußt; denn
nie bei den Festen der Henne
Hatte sie Solcherlei Kunst vernommen; ihr seliger Aufblick
Ließ ans dein Silbermeere die Perlenreihe von Thränen
Rinnen die Wangen hinab zur goldiggesalteten Seide,
Aber geklärt war dann das thränenumflutete Auge,
Wie der Romantiker singt.
Pipin, der Leichterregbare, der seine Rührung nur schwer bemeisterte und
nun seiner Beifallslust den Zügel schießen lassen wollte, wandte sich zu seiner
Tochter: Nun Barbara?
Ach Vater! hauchte sie.
Nun Barbara? wiederholte er, indem er aufstand, und, Barbara am Arm,
den: Katheder zustrebte.
Sie erwiederte: Jetzt weiß ich, was euer Studium besagen will! Diese
Rede wird mir allezeit unvergeßlich sein! Endlich habe ich gefunden, was ich
so sehnlich erstrebte!
Geh, du bist überspannt! sagte Pipin. Ein andres Wort fiel ihm eben
nicht ein.
Jetzt erhob der Direktor auf dem obern Katheder seine Stimme und kreuzte
so den Beifallssturm, der sonst das inhaltsvolle Schweigen gelöst haben würde.
Er redete laut und mit bewegter Stimme den Redner an, der eben den Tritt
verlassen wollte, dabei trat er vornehm die Stufen zu ihm hinab, reichte ihm
die Hand und dozirte, daß sie alle heute auf ihn stolz seien, daß die ^,1nrg,
Krater segnend auf ihn blicke und solcher Beredsamkeit den Lohn des Kranzes
weihe. Ein donnernder Jubel brach in der Versammlung los. Der Direktor
ließ wohlgefällig die Beifallsspende, die er für sich in Anspruch nahm, ausdröhnen,
stieg wieder die Stufe hinan und winkte gewichtig dem Alterspräsidenten, jenem
Magister aus dem ersten Schuljahrgange, welcher für die höchste Ehre auser¬
sehen war, das Kaiscrhoch zum Schlüsse auszubringen. Dieser würdige Greis
trat denn auch auf das gegebene Zeichen hervor, und sagte: Es gelte dem er¬
habenen Vorbilde von Pflichterfüllung, dem machtvollen Schirmherrn unsrer
Ideale, Kaiser Wilhelms Majestät!
Alle Anwesenden, Kommilitonen und Gäste, fielen begeistert in den drei¬
maligen Hochruf ein- Zugleich wurde auf der Straße vor dem alten Kloster¬
gebäude eine Festmusik laut, ein Heller Schein drang durch die bunten Fenster
in die Halle, ein Aufleuchten, das von dem durch die Feuerwehr veranstalteten
Fackelzuge ausging, dem die Anwesenden nnn zuströmten.
Nur um den „blassen Heinrich", der neben dem Katheder verzog, blieben
sie noch einen Augenblick zurück: Genserich, Nah mit seiner Gattin, Pipin mit
Barbara, Cohn, Mirbl, Archimedes und Kautschuk, die letztern beiden freilich
nur wie unfreiwillig und so, als ob sie einem auf sie ausgeübten Zwange sich
fügten.
Der „blasse Heinrich", von der Anstrengung der Rede und von der Frende
des Herzens jugendlich angehaucht, verbündete sich den Komilitonen aufs neue,
allen ohne Ausnahme, und herzinniger als zuvor. Er sah es uicht, wie diese
zwei ihn dabei bespöttelten und sich fortstahlen.
Barbara aber nestelte aus ihrem Haar den Gvldlackstengel, ihren einzigen
Blumenschmuck. Deu gab sie dem „blassen Heinrich". Er blickte sie an, und
beseligt nahm er das Gegebene. Es war ein Herzenstansch.
Die Frau Superintendent sah ihren Eheherrn bedeutungsvoll an. Auf
seine Frage: Was meinst du, Katherina? zischelte sie ihm ins Ohr: Ich meine,
aus den Beiden wird gar noch ein Paar.
Wo denkst du hin? sagte der Superintendent, er ist ja in meinem Alter,
und wenn auch uicht ganz, so doch nahe an die Fünfzig.
Nun sieh ihn dir nur an! Hat er in diesem Augenblick nicht dreißig
Jahre von den Schultern geschüttelt? und ist das „Spät, aber doch noch"
nicht schon manchmal eingetroffen?
Dn kannst recht haben, oder vielmehr es ist so, wie du sagst, raunte er
ihr z», und indem er sich an die Umstehenden mit vielsagender Miene wandte,
fuhr der geistliche Herr fort: So kommt, Ihr Lieben, allesamt mit mir in unser
Hans, auf daß wir in festlicher Weihe den Tag beschließen und eine Familien¬
feier begehen. Wahrlich, eine innigere Verbrüderung folgte den Kommilitonen
aus der uns vorhin aufgetauchten Gefahr. Und erkennet Ihr nicht eine ander¬
weite hochlicbliche Fügung? Fürwahr, der Himmel segnet uns noch die zwei
Auserkorenen, die sich um das Schuljubiläum so ausnehmend verdient ge¬
macht haben.
Bravo! riefen ihm die übrigen zu, und folgten den mit Barbara und dem
„blassen Heinrich" fürbaß Schreitenden in die Pastorei.
u der Zeit, als in der festen und mächtigen Stadt Mantua die
Frage noch in der Schwebe war, ob man sich freiien oder be¬
klagen sollte, daß dem soeben aus dem Leben abgerufenen pracht¬
liebenden Herzoge Vincento dem Ersten el» Regent von ganz
entgegengesetzter Geschmacksrichtung, der sparsame Herzog Fran¬
cesco, gefolgt sei, also im Jahre des Heils 1612, hat sich im Zusammenhang
mit der langjährigen, heftigen Verfeiudung der Gvnzagas und der Buonacolsis
eine Geschichte begeben, welche gut verbürgten Berichten hier nacherzählt
werden soll.
Die Bnonaeolsis hatten Mantua im dreizehnten und vierzehnten Jahr¬
hundert beherrscht und waren dann dnrch die Gonzagas verdrängt worden;
ganz ausgestorben waren sie aber immer noch nicht, es gab zur Zeit der hier
i>l Rede stehenden Begebenheiten einen jungen Geistlichen dieses Namens im
Priesterseminar zu Rom, und in Mantua selbst bewohnte das Haupt des
uralten Geschlechtes, Marcello mit Namen, das stattliche Gebäude, welches der
Palazzo Passcrinv genannt wurde und in dem engen Gcißlein del Zodiaco
gelegen war, versteckt wie ein Plan, der das Licht scheut. Mit dem Spott¬
namen Passerino — das Spätzlein — hatte das Volk den letzten Regenten
aus dem Geschlechte der Buonacolsis betitelt, wie es scheint, wegen seines kleinen
Wuchses und seiner Gefräßigkeit. In ersterer Beziehung war er aber unter
den Bnonaeolsis eine Ausnahme von der Regel gewesen, wie nicht nur die im
Rittersaale hängenden Ahnenbilder dieses stolzen Geschlechts, sondern auch die
mächtigen Schwerter und Lanzen und die gigantischen Harnische bewiesen, welche
der Prunk der Waffenkammer des Passerinopalastes waren.
Schön und stolz und kraftvoll war denn auch bis uoch vor wenige»
Sommern das Aussehen jenes Marcello Buonacolsi gewesen, der als Haus¬
herr des alten Familiensitzes sich in Mantua behauptet hatte. Aber seit dem
Tode seiner Gattin schien seine Kraft gebrochen, und Mißtrauen gegen alle
Welt, selbst gegen seine Tochter Florida, einen Engel von Güte, fürchte ihm
die Stirn.
Dennoch wußten die Gonzagas recht wohl, daß immer noch einige Un¬
zufriedene Mantnas an dem Glauben festhielten, die Bnonaeolsis würden wieder
aus Regiment kommen, und es hatte Regenten eins jenem Hause gegeben, die
sich bis zu der Äußerung erniedrigten, sür das Ohr eines Gonzaga dürfe es
keine lieblicher klingende Botschaft geben als die Meldung: der letzte Buvnaeolsi
ist gestorben.
Damals war es denn auch öfter vorgekommen, daß Vravos nach Gelegen¬
heiten ausspähten, die stadtkundiger Wünsche der Gouzagas aus eigner Voll¬
macht zu erfüllen. Aber nachdem mehrere solcher Versuche für den Thäter
übel abgelaufen waren, gewann das Gerücht, es sei den Buonacolsis von den:
Papste eine schützende Reliquie verliehen worden, immer mehr Boden, und in
dem Maße, wie namentlich die unsinnigen Soldatenspielereien Vincenzo Gou¬
zagas und seine kläglich verlaufenden Türkenkriege den Säckel der Stadt mehr
und mehr erschöpften, erinnerten sich die Mißvergnügten immer häufiger des
stillen Palazzo in der düstern engen Gasse, ohne freilich ernstliche Hoffnungen
darauf zu setzen.
Still geworden war er in der That. Er hatte seit drittehalb Jahrhun¬
derten höchstens Neugeborene schreien hören; denn selbst die Kinder dieses
Hauses, wenn sie nur erst irgend zu Verstand kamen, tollten und tobten nicht
nach der Art andrer Kinder; jeder Erwachsene bemühte sich, durch Lautlosig¬
keit des eignen BeHabens sie früh zu leisem Verhalten zu erziehen, und bald
wurde die Gewöhnung dazu eine von selbst sich vererbende. Wie die Herren,
so die Diener: es gab in ganz Mantua keine schweigsameren und, wenn sie
redeten, bescheidner auftretenden Leute als die sämtlich im Dienst ergrauenden
Lakeien des Palazzo Bnonaeolsi; und auch die Mägde, obgleich sie in dem
Dienste nicht gar lange ausdauerten, vielleicht vor allem wegen der altmodisch
unkleidsamen Pfeffer- und Salzfarbe ihrer Kleider, auch die Mägde unterschieden
sich von andern Dienenden, wenigstens in der Öffentlichkeit, durch den gedämpften
Ton ihrer Redeweise. Dabei trugen so die Herren wie die Diener den Kopf hoch,
und aus ihren Augen blitzte Selbstgefühl. Man wußte nicht: war jenes auf¬
fällige Vermeiden aller Lautheit einst der Ausfluß von Furcht und Vorsicht
gewesen und hatte er sich dann aus bloßem Festhalten an einer überlieferten
Familiensitte in den folgenden Geschlechtern festgesetzt, oder aber lag diesem
Benehmen von jeher der Plan zu gründe, das lärmende Treiben vieler der
Gonzagas noch greller und vorlauter erscheinen zu lassen.
Auch hatte es Ausncihmeu von der Regel gegeben. Vittoria Buonacolsi,
die Urgroßmutter Floridas, war eine Veltlinerin ans dem edeln Geschlechte
der Sansalvatorc gewesen, eine fröhlich geartete Natur, die das Herkommen
des stillen Palazzo während zweier Jahrzehnte schier auf den Kopf gestellt
hatte. Man sagte, daß Giulio Romano, der Liebling des Herzogs Federiao
Gonzaga, zuweilen abends in dem Schatten des schmalen Gcißchens del Zodiaeo
verschwunden sei, und es gab Leute, welche in der hüllenlosen Hauptfigur seines be¬
rühmten Deckcnbildes des Palazzo dueale — der Nacht in einem Wagen mit
Weißen Rossen — die schöne Veltlinerin wiedererkannt haben wollten. Daß
sie für den Raub der Helena in der Sala ti Troja dem großen Künstler Modell
gestanden habe, ist bestritten worden, und wohl mit umso größerm Rechte, als
die Gonzagas dein Künstler eine solche Apotheose einer Buonacolsi unmöglich
gestattet haben würden.
Im übrigen hatten weder jene fröhlicheren Zeiten des Palazzo Passerinv
noch auch die Perioden zahlreicher Nachkommenschaft eine Wiederholung ge¬
funden. Selten nur war der alte Stamm über ein spärliches Vegetiren hinaus¬
gekommen.
Es ist schon erwähnt worden, daß die Vereitelung der Mvrdanschläge auf
eine von den, Papste gespendete Reliquie zurückgeführt wurde. I» der That
hatten die Buoncicolsis, seit sie im Unglück waren, dort Trost gesucht, wo das
Spenden desselben sich mit besondrer Zuversicht ans die dazu erhaltene himmlische
Vollmacht beruft: aus den Ghibellinen waren Guelfen geworden.
Beichtväter des Teatinerordens nicht allein, mich Mönche des durch
Viueento den Ersten gestifteten Minimiklvsters schlüpften daher in dem düstern
Zvdiaevgäßchcn aus und ein und traten mit ihren Schuhen oder Sandalen die
Stufen der breiten Saudsteintreppen aus. Während um das, wie erwähnt,
ans vier Unger herabgekommene Prätendentengeschlecht den Gonzagas nicht
>mehr gefährlich werden zu können schien, und Vineento der Erste sich daher
inmitten seiner verschwenderischen Feste kaum noch um den Palazzo Passcriuo
gekümmert hatte, war in seinem Nachfolger Francesco gleich nach dessen Re¬
gierungsantritt jener alte Argwohn in fast krankhaftem Grade wieder erwacht.
Möglich daß, wie vielseitig vermutet wurde, er schon nach Kronprinzenart andrer
Ansichten sein zu müssen glaubte als sein Vater, und in der That begann er
ja sein kurzes Regiment mit Entlassung der Komödianten und eines großen
Teils der Diener seines prachtliebenden Vaters, setzte die von diesem verab¬
schiedete Schweizergcirdc des Castello ti Corte wieder ein, begünstigte in grellem
Abstände zu den formlosen Gewohnheiten Vineentos die steife spanische Etikette,
nötigte die von seinem Vater in letzter Zeit glimpflich behandelten Juden, ein
strohgelbes Band um den Hut zu tragen, und enthob den alten Hofarzt Doktor
Pcissavino seiner ärztlichen Funktionen, indem er ihn mit der ihm sehr nn-
tteläufigcn Aufgabe betraute, eine Geschichte der Gonzagas „von ihrem Ursprünge
"n" zu verfassen.
Aber wahrscheinlich entsprang Frcmeeseos Furcht vor den Buonaeolsis
den Einflüsterungen Vitalianos, eines Mannes, welcher nnter Vineento als so¬
genannter superiore der geheimen Kundschafter eine bedeutende Stellung ein¬
genommen hatte und, um sich auf diesem Posten zu behaupten, gleich bei dem
Regierungsantritte Francescos beflissen gewesen war, den letztern gegen die
bnonaeolsis in den Harnisch zu bringen.
Dies hatte umsoweniger Mühe gekostet, als Francescos abergläubische
Neigungen auf halbem Wege den Bemühungen Vitciliauos entgegenkamen.
Von den drei legitimen Söhnen Vincentos ging im Volke die Sage, sie würden,
ohne männliche Nachkommen zu hinterlassen, ans der Welt gehen, eine Prophe¬
zeiung, welche allerdings eingetroffen ist und deren Entstehung vielleicht ans
ihre lockere Lebensweise zurückzuführen war, durch Vitaliano aber geschickt mit
geheimen Veranstaltungen der Buonarottis in Zusammenhang gebracht wurde.
Kurz vor Fraueeseos Thronbesteigung hatte seine bisher nur mit Töchtern
gesegnet gewesene Gattin Margarete von Savoyen ihm nun einen Thronerben
geboren, und die goldene Wiege des schwächliche!? Prinzchens Lodovico war von
diesem Tage an der Gegenstand so auffälliger Vorkehrungen Vitalianos ge¬
worden, daß der ohnehin nervöse Frcincesev kaum noch um andres als an die
Nähe drohender Gefahren zu denken vermochte.
In dieser Zeit, wo der Gedanke an den Palazzo Passcrino allnächtlich die
Träume Francescos mit Schrecknissen erfüllte, verbrachte der alte Marcello
Buonacolsi während eines heftigen Gichtanfalls manche schlaflose Nacht mit
einer ihn nicht minder beunruhigenden Sorge, einer an sich sehr harmlosen, aber
endlich dem alten Herrn so lustig werdenden Sorge, daß er das Gelübde that,
für den Fall daß er genese, sich dieselbe dnrch eine Reise nach Verona ein sür
allemal vom Halse zu schaffe».
Es handelte sich nämlich um den Ankauf einer jener unförmlichen Perlen,
die zu Zeiten sehr geschätzt sind und für die, wenn sie ein Schmuckstück ver¬
vollständige» helfen sollen, der höchste Preis uicht zu hoch ist, da ein komplettes
Stück dieser Art immer Liebhaber findet. Aus dem Familienschmuck der Bnona-
colsis war eine solche Perle vor langer, langer Zeit abhanden gekommen.
Oft hatte der alte Bnouneolsi von der Ehrenpflicht geredet, eine so häßliche
Lücke uicht fort und fort bestehen zu lassen. Endlich, nachdem jene .Krankheit
überstanden war, begab er sich in der Gesellschaft seiner Tochter und begleitet
von einem Diener und einer Dienerin auf die Reise nach Verona, dem da¬
maligen Hnuptmarkt Italiens für kostbare Perlen.
Heute fährt man dreimal täglich in einer bis fünfviertel Stunde von
Mantua bis Verona; die Erfindung des Dampfes hat die Entfernung zwischen
den beiden Städten nahezu aufgehoben. Zur Zeit des letzten Buonacolsi reiste
man noch zumeist zu Pferde, und nur eilige Leute, nicht Leute von Stande,
legten die Strecke in einem einzigen Tage zurück.
In der Mitte des Weges, .in Villafranca, nahm daher auch die Kavalkade
des alten Buonacolsi Nachtquartier. Es gab in dem Städtchen drei oder vier
für Kavaliere benutzbare Herbergen. Die mindest ansehnliche führte auf ihrem
Schilde den an die Zeit der Scaliger gemahnenden Namen 1-r Lo-it-i und über
dem Schilde hatte sich, umrankt von Rebeulaub und Kletterrosen, das steinerne
Wappen des einst mächtigen Geschlechts erhalten, das, zum Gedächtnis an
seinen armen, mit hölzernen Leitern handelnden Vorfahren, eine Leiter — eine
Scala — in seinem Schilde führte, ans welcher ein Adler saß, das Wappentier
der römisch-deutschen Kaiser.
Bei dein Sturze der Scaliger hatten die Gonzagas mitgeholfen, von jeher
lehrten die Buonacolsis daher in der Herberge zu Scala ein, mochte die Be¬
wirtung noch so viel zu wünschen übrig lassen, und auch der Vater Floridas,
der an solchen Überlieferungen seines Hauses mit ehrfurchtsvoller Treue festhielt,
nahm in keiner andern dortigen Herberge Unterkunft.
Im Gegensatz dazu waren die Gonzagas von Alters her ebenso nachsichtig
anspruchslose Kunden des der Scala gegenüberliegenden Gasthauses zum Comte
della Virtu — bekanntlich der Beiname des ersten Herrschers, welcher den Scaligern
folgte, des Giovanni Gcileazzo Visconti, dessen Jugend in kirchlichen Übungen
verstrichen war.
Nun fügte es der Zufall, daß eben zu derselben Zeit, als die Buonaeolsis
in der Scala nächtigten, Giuseppe Gonzaga im ersten Stock des Conte della
Virtn beim Weine saß, denn in der Nähe der Wallfahrtskirche Madonna ti
Campagna bei Verona pflegte an jedem ersten Quartalmontag ein stark be¬
suchter Pferdemarkt abgehalten zu werden, Giuseppe, ein leidenschaftlicher Pferde¬
liebhaber, hatte aber heute dort ein Dreigespann von Modeneser Grau¬
schimmeln erstanden, und da das zur Kvmpletirung des Gespannes erforderliche
vierte Pferd gleicher Farbe in Villafranca zu finden sein sollte, so hatte er sich
dahin begeben.
Dieser Handel lag ihm sehr am Herzen, denn die berühmte Naturbrücke
Porte ti Veja — unweit Lngo war ohnlängst von einem verwegenen
jungen Fant aus S. Martino mit einem Zweigespann befahren worden — ihre
Breite betrügt nnr sechs Meter und rechts und links gähnen Abgründe —, und
seitdem redeten alle Damen Veronas nnr von dein Mute Felice Ligozzis, so
hieß der glückliche Wagehals.
Da nun Giuseppe Gonzaga bisher niemandem das Recht zugestanden hatte,
ihn in Leistungen dieser Art in den Schatten zu stellen, so war er Willens,
sobald er ein passendes Viergespann finde, vor aller Augen den Ponte ti Bejn
mit demselben zu befahren. Das Dreigespann hatte nun zwar mehr Jugend-
fe»er und mehr Lust zu tollen Seitensprüngen, als für das gefährliche Vorhaben
zweckdienlich war. Diese Eigenschaften hatten es ihm aber gerade empfohlen,
da er nun einmal nnr im Vollbringen von Tollkühnheiten Befriedigung fand,
und so war ihm auch der Besitzer des vierte» Grauschimmels, obschon nur ein
simpler Holzkvhlenhändler, nicht zu schlecht und nicht zu schwarz gewesen, als
daß Giuseppe Gonzaga nicht den Versuch gemacht hätte, die Abgeneigtheit des
Kohlenhändlers gegen das Weggeben des ihm werten Tieres durch ein paar
Stunden Zuredens bei einigen Fiaschctteu läutern Valpolieella-Weins ins Wanken
zu bringen.
Gelungen war es ihm nicht, und so wollte er sich ebeu unmutig uach Aus¬
löschen seines Lichtes aufs Lager werfen, als sein Auge plötzlich in der Richtung
zweier tagheller Fenster festgehalten wurde, die denen seines Zimmers gerade
gegenüberlagen, also in den: altmodischen Albergo della Seal«. Die Helligkeit
war so groß, daß er ohne Mühe eine bei ihrer Nachttoilette beschäftigte, von
einer robusten, rosigen Kammerjungfer oder Kammerfrau bediente anmutige junge
Dame in allen ihren Bewegungen und, wenn sie ihr Gesicht nach der Fenster¬
seite wandte, auch in allen Einzelheiten ihrer reizvollen Erscheinung deutlich
übersehen konnte, was mit gespannten Blicken zu thun er denn auch nicht unter¬
ließ. Sie saß in einem weißen, mit schwarzen Schleifen besetzten Nachtkleide vor
zwei stumpfwinklig nebeneinander stehenden Spiegeln, und uuter dem Kamme
ihrer Cameriera flutete über die Schultern der jungen Schönen eine so reiche
Fülle goldblonden Haares, wie Giuseppe, obschon auch auf dem Gebiete weib¬
licher Schönheit kein Neuling, nie im Leben gesehen zu haben glaubte. Ob ihre
Augen blau oder braun waren, vermochte er nicht zu erkennen; waren sie braun,
so hatten sie ein sanfteres Feuer, als er ebenfalls je an braunen Augen wahr¬
genommen zu haben meinte. Nur wenn sie Einwände gegen die zu große
Helligkeit des Zimmers zu erheben schien, oder wenn eine ihrer Hände nach den
Fenstern deutete, als sei ihr die Abwesenheit jeder Art von Vorhängen störend,
nur dann nahm ihre Miene unter dein Zusammenziehen ihrer feinen dunkeln
Brauen etwas Gebieterisches an, was aber im nächsten Angenblicke vorüberging,
da die Cameriera augenscheinlich mit ihrer redseligen Zungen- und Gebärden¬
sprache allemal den Beweis zu führen vermochte, mindere Helligkeit sei für
Personen von Stande doch nnn einmal nicht schicklich — solche Personen reisten
damals immer mit eignen Kerzen —, und da in dem gegenüberliegenden Gast¬
hofe schon alles stockfinster sei, so bedürfe man doch auch wahrlich keiner
Vorhänge.
Ungefähr hatte Giuseppe Gouzciga das Nichtige erraten, doch war es ihm
im Grunde weit gleichgiltiger, was über solche Dinge zwischen der schönen
jungen Dame und ihrer Duena geredet wurde, als ihn das Auskuudschafteu
ihres Namens und ihrer Herkunft interessirten; mehr als das aber noch be¬
schäftigte ihn, während er jede ihrer Bewegungen mit immer heftiger klopfendem
Herzen verfolgte, die Frage, wie er Mittel und Wege ausfindig machen solle,
um sich ihr morgen zu nähern; denn schon hatte er sich den vierten Grau-
schimmel und die Veja-Naturbrücke aus dem Sinn geschlagen und dachte nur
noch an die Reize der namenlosen Schönen.
Während er im Schutze der Dunkelheit seines Zimmers immer mit den
Augen die liebliche Szene in dem tagheller Gemache jenseits der Straße um¬
kreiste — ein Nachtfalter, den der Schimmer der Kerze in ihren Bann gezogen
hat —, zermarterte er sein Hirn mit verwegnen Plänen aller Art, bis ans
einmal das Geschaute nur noch in seiner Vorstellung lebte — die Nachttoilette
hatte ihr Ende erreicht, die Schöne war in einem Alkoven verschwunden und
die robuste Camerierci blies die Lichter aus.
Der junge Veroneser zündete seinerseits nun ein paar Kerzen an, trat vor
den auch in einem Winkel seines Zimmers stehenden Doppelspiegel und musterte
seine Erscheinung. Er gefiel sich nicht. Vor allen: sein üppig um Kinn und
Lippen wuchernder roter Bart, der Gegenstand des Neides manches jungen
Veroneser Edelmannes, schien ihm heute weit mehr zu dem Charakter eines
Raufboldes als zu dem eines schwärmerischen Anbeters zu gehören. Ob er
eher als ersterer oder als letzterer dein Gegenstande seines Sehnens nahe¬
kommen würde, blieb freilich fraglich. Die junge Dame konnte durch bloßen
Zufall in dein Gasthause, das die Anhänger der Buonaeolsis begünstigten, ein¬
gekehrt sein; für diesen Fall stand einer Anknüpfung vielleicht kein andres
Hindernis im Wege, als der in Verona stadtkundige Ruf Giuseppe Gvnzagas
und das schon ziemlich lange Register seiner Abenteuer. Gehörte sie oder ihr
Stammbaum aber zu der alten, immer noch nicht ganz bekehrten Gegenpartei der
Gonzagas, so mußte die Unsicherheit der Straßen möglicherweise als Mittel
zur Annäherung benutzt werden, sei es, daß Wegelagerer dabei für Giuseppe
Gonzagci in Thätigkeit zu treten hätten, wo er selbst sich dann die Rolle eines
Retters der jungen Dame zuleiten würde, sei es, daß er als politischer Partei¬
gänger die Reisenden zwischen Villa Franca und Verona aufzuheben und auf
Grund irgendeines Verdachtes zeitweilig in einem Schlupfwinkel der gebirgigen
Umgegend festzusetzen habe.
Sehr viel lieber Hütte er ans der Stelle den Conte della Virtu geräumt
und sich mit seinem Diener in der Scala einquartiert. Aber sein Faktotum
Beppo hatte zumeist nnr vormittags seine fünf Sinne beisammen. Ohne Lurn
und Aufsehen war die Umquartieruug also nicht zu beschaffen, und so mußte
schon abgewartet werden, was der nächste Tag im Schilde führe.
Mit dem ersten Hahnenrufe war der junge Veroneser wach. Im Neben-
g^mach schnarchte noch auf einem Bündel Reisstroh Beppo. Giuseppe faßte
ihn am Kragen und stellte ihn mit einem kräftigem Ruck auf die Füße. Dann
""es er ihn an, sein struppiges Haupt in einen Wasserzuber zu tauche» — das
^uzige damals übliche Waschgerät für Dienerzimmer —-, und kehrte, während
Beppo auf diese Weise die letzten Reste seines Rausches Vertrieb, an das Fenster
-Zurück, von welchen, aus er gestern Abend die holde Nachbarin beobachtet hatte.
Es war ein kühler Junimorgen. Hoch in der klaren blauen Luft wirbelte
Lerche. Auf dem ragenden Giebel des Gasthofs zur Scala schmatzte und
schnalzte der frühwache Rotschwauz,
Der frische Hauch der Morgens durchfröstelte den noch vom Schlummer
Erhitzten. Er trat vom offenen Fenster zurück, machte einige Gänge durchs
Zimmer und blieb endlich vor einem breiten Holzschnitt, der über zwei Wand¬
kalendern hing, stehen, ohne etwas dabei zu denken. Erst als er nach aber¬
maligem Hin- und Hergehen wieder an der nämlichen Stelle still stand, kam
ihm der Gedanke, sich die Kalender etwas genauer anzusehen, um nach dem
Namen des den heutigen Tag beherrschenden Heiligen einen Schluß auf die
günstigen oder ungünstigen Aspekte seines eben in der Vorbereitung begriffenen
Abenteuers zu ziehen. Er kam indessen nicht darüber ins Klare, denn die
Kalender stimmten keineswegs überein. Auf dem einen gehörte der heutige Tag
der heiligen Katharina, auf dem andern dem heiligen Theobald. Über jenem
Kalender befand sich das Hvlzschnittpvrträt eines römischen, mit dem Lvrber
gekrönten Imperators, über diesem dasjenige eines Papstes, beide, wenn mich
mit dem Rücken gegen einander gekehrt, friedlich in einem gemeinsamen Holz¬
rahmen untergebracht, ebenso friedlich und verträglich wie im gemeinsamen Gold-
papierrahmeu unter ihnen die beiden ungleich lautenden Kalender hingen.
Giuseppe Gonzaga hatte immer den Sitz im Sattel dem uns der Schul¬
bank vorgezogen. Er machte Verse, aber seine Schrift war schwer zu entziffern.
Er las nicht ohne Mühe und wußte aus den: Gelesenen nicht allzurasch klug
zu werden. Vom heiligen Theobald und von dem Schutzgebiet desselben war
ihm nie etwas zu Ohren gekommen, und was er von den armen Schluckern
gesehen hatte, die vor der heiligen Katharina ihre Andacht verrichteten, paßte
ihm auch uicht sonderlich; Kavaliere waren nicht darunter gewesen.
Zur rechten Zeit meldete sich Beppo als wieder völlig im Besitz seiner
körperlichen und geistigen Funktionen. Er war wenig älter als sein Herr, hatte
aber, wanderlustig wie die meisten Paducmer, viel von der Welt gesehen, war
ebenso gewitzt als verschmitzt und nie um eine Auskunft verlegen.
Im vorliegenden Falle brauchte er seinen Kopf nicht gerade anzustrengen,
denn er war ehemals Lakai bei einen: Kardinal gewesen und hatte solche aus
Nürnberg und auch aus Augsburg stammende Kalender — den julianischen
und deu gregorianischen — nicht selten zu sehen bekommen, wußte auch zu be¬
richten, daß die sogenannten Evangelischen noch immer nach dem julianischen
rechneten, weshalb die Kalendermacher in Ländern beider Konfessionen beide
Zeitrechnungen neben einander stellten.
Soweit, meinte sein Herr, würde er selbst wohl auch noch das Nichtige
herausgeklügelt haben. Wie stehe es aber mit den Heiligen?
Bei den Evangelischen, replizirte Beppo, habe die heilige Katharina hente
das Patronat.
Und bei uns Rechtgläubigen?
Se. Theobald.
Der Schutzpatron von welcher Art von Subjekten?
Der Schuster und Schuhflicker, Euer Gnaden.
Ich hätte mir's denken können, sagte Giuseppe unwirsch. Der Tag ist
ungünstig. Gestern, als mein Schutzherr S. Giuseppe regierte, nicht heute
musste es sein. Aber mit einem Trunkenbold wie dn ist man nie imstande,
den rechten Nngenblick zu benutzen.
Mit Verlaub, Euer Gnaden, schluckte Beppo die Pille lächelnd hinunter,
habt Ihr jeinnnden auf dem Strich?
Du wirst gleich das Nähere hören.
Eine Bellezza?
Warum?
Etwa die Frau eines Schusters?
Einfaltspinsel!
Oder die Tochter eines Schuhflickers?
Du wirst unverschämt.
Aber im Gegenteil, Euer Gnaden, ich gebe mir Mühe, Euch zu beweisen,
das; Ihr jn gerade heute die besten Chancen habt.
Und wie willst du mir das beweisen?
Indem ich Euch zu Gemüte führe, das; heute Se. Theobnld regiert.
Und weiter?
Und daß wir also uur uicht den Schustern und Schuhflickern ins Gehege
kommen dürfen, Eure Schöne gehört nun nicht zu der Sippe dieser ledernen
Gesellen. Also mutig an das Tagewerk, Signore! Was ist Euer Auftrag?
Giuseppes Bedenklichkeiten zerstreuten sich. Er beschrieb dem findigen Schlau-
kopf die beiden Frauenzimmer, über deren Reiseziel und etwaiges Vorhaben
unter der Hand Erkundigungen einzuziehen seien, und Beppo verschwand wie
der Jagdfalke in die Lüfte steigt, sobald ihm die Kappe von dem Kopfe ge¬
nommen wird. (Fortsetzung folgt.)
Die journalistische Arbeitseinstellung in Wien, welche im L. Hefte
d- Bl. erwähnt wurde, hat rasch ein Ende gefunden und zwar in der geahnten
Weise. Zunächst sah sich der Präsident des Abgeordnetenhauses, welcher dem Verlangen
des Abgeordneten schönerer, die Reporter von den nur für Mitglieder des Hauses
bestimmten Räumen ferngehalten zu sehen, volle Berechtigung zuerkannt hatte, be¬
wogen, demselben in der nächsten Sitzung eine Rüge für Beleidigung eines ganzen
ehrenhaften Standes zu erteilen und hiervon die Reporter schriftlich zu benachrich¬
tigen. Die Einwendung Schöuercrs. seine abfälligen Bemerkungen hätten sich nach
Ausweis des stenographische» Protokolls ausdrücklich auf diejenigen Journalisten
bezogen, welche gefälschte Berichte verbreiten, blieb unbeachtet. Dann kam durch
Intervention der Ordner des Hanfes ein Uebereinkommen zustande, demzufolge ein
Raum für diejenigen Abgeordneten, welche mit den Reportern nicht zu Verkehren
wünschen, durch einen Vorhang abgeschlossen, im übrigen jedoch den Journalisten
wieder der freie Verkehr gestattet wurde, damit sie, wie ein Blatt sich ausgedrückt
hat, in gewissenhafter Weise über die Vorgänge im Hause berichten rönnen. Den
Abgeordneten war also der Gedanke unerträglich, daß vielleicht mehrere Tage lang
ihre Namen nicht gedruckt erscheine» könnten! Die liberalen Zeitungen aber haben
sich verpflichtet, von dein Abgeordneten schönerer fortan keinerlei Notiz zu nehmen.
Er nahm seine Revanche in einem öffentlichen Vortrage über die „Verjudung der
Presse," Obgleich der Eintritt nur gegen Karten gestattet war und selbstverständ¬
lich keins der verbreitete» Blätter die Versammlung angekündigt hatte, zeigte sich
der größte Saal Wiens zu klein für dieselbe. Hunderte mußten zurückgewiesen
werden, da auch auf der Galerie und im Vorsaal bald nicht ein Plätzchen mehr
frei war. Und während die Zeitungen früher zu erzähle» liebten, die von schönerer
einberufenen Versammlungen bestünden aus Janhagel, war diesmal wenigstens sein
Auditorium aus fast allen Gesellschaftsklassen zusammengesetzt, und die Haltung
konnte schlechthin musterhaft genannt werden. Auch entsprach das Auftreten Schö-
ncrers sehr wenig dem Bilde, welches durch die liberale Presse von ihm entworfen
worden ist. Gelegentlich kam allerdings seine Verachtung der Gegner zu starkem
Ausdruck, aber er selbst bat, ihm das bei der Art der Angriffe zugute zu halten.
Von der Menge charakteristischer Mitteilungen übrr Korruption der Presse und
über die ihm gegenüber beobachtete Taktik verdienen zwei erwähnt zu werden.
Nachdem zwei von ihm verklagte Redakteure von den Geschworenen verurteilt
worden waren, ist in mehreren Provinzblättern ein gleichlautender Bericht erschienen,
dessen Zweck war, den Leser glauben zu machen, nicht seine Beleidiger, sondern
schönerer selbst sei verurteilt worden. Einige Herren begaben sich zu dein Vor¬
stande der „Vereinigten Linken" des Abgeordnetenhauses, um zu fragen, ob jener
Artikel wirklich, wie das Gerücht behaupte, aus dem Preßbürenu der Partei her¬
vorgegangen sei: der eine Abgeordnete antwortete ausweichend, der andre erklärte
sich uicht zu eiuer Antwort verpflichtet zu fühlen, was die Herren dann als eine
Bejahung auffaßten. Das zweite Faktum bezieht sich auf die Agitation für eine
Verlängerung der Konzession der Nordbahn. Schon im verflossenen Jahre hatte
schönerer von der Tribüne des Abgeordnetenhauses aus Summen und Personen
namhaft gemacht, durch welche die Presse gewonnen worden sei; diesmal fügte er
hinzu, daß den Blättern erlaubt worden sei, die Nordbahn anzugreifen, damit sie
umso unbefangener gegen die Verstaatlichung auftreten könnten; er nannte ferner
den Agenten, welcher zu demselben Zwecke die Provinzen bereist, den kleinen
Blättern 30V Gulden sofort und 300 Gulden nach Verlängerung der Konzession
angeboten, aber zugleich für sich selbst 33^ Prozent Provision ausbedungen habe;
er erwähnte endlich, daß Personen mit zwei Petitionen, einer für und eiuer gegen, die
Verstaatlichung, Schlesien und Galizien bereist, je nach der Stimmung der Leute
die eine oder die andre vorgelesen, im Augenblicke des Unterzeichnens jedoch stets
die zweite untergeschoben haben u. dergl. mehr. — Ueber alle solche Dinge geht
natürlich die liberale Presse mit dem „Schweigen der Verachtung" hinweg, und
sie kaun sich dabei jetzt noch aus deu erwähnten Jgnorirungsbeschluß berufen. Wie
lange sie diesen wird aufrecht erhalte» können, muß abgewartet werden; die nächsten
Wahlen dürften da manche Ueberraschung bereite».
in 4. November 1884 ist durch das Votum der nordamerika-
nischen Bürger der Gouverneur des Staates Newyork, Grover
Cleveland, zum Präsidenten berufen worden; am 1. März d. I.
wird er sein Amt antreten.
Die Wahl war im höchsten Grade vio86, wie der Amerikaner
sagt; es sind nahe an zehn Millionen Stimmen abgegeben worden, und die
Majorität Clevelands betrug nur wenig über 60 000! Trotzdem war das, was das
Befremden des Nichtamerikancrs erregte, nicht die ungeheure Aufregung und Er¬
bitterung der Parteien — dergleichen hat man auch daheim; es war vielmehr
der kraß hervortretende Maugel an Ideen, welcher der Wahlkampagne eine
so eigentümliche Signatur gab.
In dem weiten Lande, das, von einem Weltmeere zum andern reichend,
wehr als die Hälfte eines ganzen Kontinents umfaßt, mit Hilfsquellen, die
alles in Schatten stellen, was die Erde bietet, mit Raum für sechsmal soviel
Menschen, als jetzt darin Hausen, in diesem glücklichen Lande ohne Feinde und
>äst ohne Nachbarn giebt es anscheinend keine brennende Frage außer der
Machtfrnge, d. h. der Frage, wer imstande sein solle, seine Kreaturen in die
Unter zu bringen, um sich selbst auf Kosten des Ganzen zu bereichern. So
trat denn das Prinzip vollständig hinter der Person zurück. Was die Stellen-
läger von dem einen oder dem andern Kandidaten zu hoffen hätten, dies war
der springende Punkt; ob der zukünftige Präsident zu laufen sei oder nicht,
dies war das Entscheidende.
Bevor wir uns jedoch zur Charakteristik der in Frage gekommenen Männer
und — Frauen wenden, ist es nötig, für die, welche mit den hiesigen Verhält¬
nissen nicht vollständig vertraut sind, einige kurze Bemerkungen vorauszuschicken'
Ganz wie im alten Mutterlands, ist auch in den Ilniwä Liftes die poli¬
tische Welt in zwei Hauptlager gespalten, in denen sich die Summe aller Gegen¬
sätze konzentrirt. Während aber dort Tories und Whigs auf stolze Namen
und stolze Thaten zurückblicken, nach einer ruhmvollen Vergangenheit beide noch
jung und kräftig, haben sich hier Republikaner sowohl wie Demokraten über¬
lebt und in ausgiebigster Weise anrüchig gemacht. Fragt man hier jemand
nach dem Unterschiede der beiden großen Parteien, so erhält man vielfach die
Antwort, die Demokraten seien die Partei der unanständigen Leute, hätten aber
anständige Führer, die Republikaner seien die Partei der anständigen Leute,
hätten aber unanständige Führer — eine Wechselbeziehung, die sehr un¬
vorteilhaft sein muß. Die Demokraten waren ihrer Zeit für Aufrechterhaltung
der Sklaverei und haben ihren Hauptsitz in den Südstaaten; außerdem hat die
Stadt Newyork eine starke demokratische Majorität. Die Republikaner haben
ihren Sitz hauptsächlich in den Nordstaaten, und zu ihnen gehört auch das
Gros der Deutschen, darunter sehr angesehene Männer, wie Karl Schurz. Sie
sind jetzt vierundzwanzig Jahre am Ruder gewesen und sind, wie alle Parteien,
die zu lange die Macht in den Händen gehabt haben, stark degenerirt. Sie haben
gleich vom Anbeginn dem Lande gegenüber eine große Schuld auf sich aufge¬
laden, indem sie den eben erst freigemachten Negern — lediglich zu Pnrtei-
zwecken, um sich eine dauernde Majorität zu sichern — volle politische Gleich¬
berechtigung einräumten, wodurch eine gewaltige Herde von Stimmvieh geschaffen
und die Ära maßlosester Wahlkvrruption inaugurirt wurde. Im übrigen sind
sie in noch höherem Maße mit dem Großkapital amalgamirt als bei uns die
Liberalen, und was ihnen hauptsächlich zum Vorwurfe gemacht wird, ist die
Korruption der Verwaltung, die Verschleuderung von Staatsländereien an große
Gesellschaften, von denen die Herren in Washington ihre Trinkgelder beziehen,
das Großziehen der in,on<z^-IcinA8. Wenn die Verteilung des Besitzes in Amerika
bald ebenso exzessiv ungleich sein wird wie bei uns, und Amerika ebenfalls seine
soziale Frage haben wird, so soll daran in erster Linie die republikanische Partei
schuld sein.
Ein Fluch beider Parteien sind die sogenannten Politiker, ein — bis jetzt —
spezifisch amerikanisches Gewächs. Ebenso wie es anderwärts Schuster und
Schneider giebt, giebt es hier „Politiker," Leute, die lediglich von der Agitation
und, wenn sie Macht in den Händen haben, von der Korruption leben. Sie
zählen nach Hunderttausenden und sind in Hunderten von Logen orgcunsirt.
Sie rekrutiren sich vornehmlich aus den Jrishmen, die in Newyork das deutsche
Element noch überwiegen, in den andern großen Städten sehr stark vertreten
sind und auf die Wandlung des amerikanischen Nationalcharakters wesentlich,
wenn auch keineswegs heilsam, eingewirkt haben. Den Jrishmen begegnet man
überall, aber ohne Freude. Sie sind weder friedliebend noch nüchtern noch
arbeitsam, und besitzen somit von den drei Hauptbürgertugenden keine. Politisch
ungemein regsam, stets zu Umtrieben geneigt, sind sie geborne Verschwörer und
im Grunde ihres Herzens krasse Anarchisten, die am liebsten mit Dynamik ar¬
beiten. Rechnet man hierzu ihren religiösen Fanatismus, so ergiebt sich ein so
unerquickliches Bild, daß man wirklich sogar für ihr nationales Unglück die
Sympathie verliert, nachdem man sie sich erst in der Nähe betrachtet hat. Die
Stadt Newyork haben die Jrishmen vollständig in der Hand, und Tausende und
Abertausende von „Politikern" leben davon.
Seitdem Tammany-Haiti, die mächtigste und bestorganisirte Loge, vor zehn
Jnhren vom Newyorker Stadthaus Besitz ergriffen hat, bei welcher Gelegenheit die
von den Vorgängern zu übergebenden Bücher charakteristischerweise in Rauch
aufgingen oder am hellen Tage „gestohlen" wurden, ist dieses große Gemein¬
wesen nichts als eine fruchtbringende Domäne für irische Faullenzer. An der
Spitze dieser Domäne steht der Mayor, der Bürgermeister. Seine Wahl findet
aller zwei Jahre (diesmal zusammenfallend mit der Msotion) statt. Er hat sehr
wichtige Befugnisse, u. a. das Vorschlagsrecht*) für den On^-Qontrollsr (Archiv
und Dokumente), den Loinlnissioiiizr ok xublio vorks, einen höchst einflußreichen
Posten, was flüssiges Geld anlangt, und außerdem für die Spitzen der Polizei¬
behörde, sodaß die Herren „Politiker," falls nur die richtigen Leute an obigen
Stellen sitzen, in Newyork so ziemlich alles thun und lassen können, was ihnen
beliebt: brandschatzen, erpressen, Vollmachten und Lizenzen erteilen, öffentliche
Gelder stehlen u. s. w.
Der jährliche Etat der Stadt Newyork beläuft sich auf fünfzig Millionen
Dollar: zweihundert Millionen Dollar Schulden sind im Laufe der Zeit ge¬
macht worden. Was läßt sich außerdem nicht alles „machen": von Laden¬
besitzern, die ihren Kram auf die Straße stellen, von Bierwirten, die über die
Polizeistunde offen halten wollen (alle thun es), von Hausbesitzern, die ungern
hohe Steuern zahlen, und dergleichen? Es giebt untere Polizeibeamte, die
jährlich vierzig- bis fünfzigtausend Dollar Nebeneinnahmen haben; was mag
weiter oben „verdient" werden! So war denn Tammcmy-Hall, obwohl demo¬
kratisch, diesmal bereit, für den Republikaner Blaine zu stimmen, falls man
nur ihren Mann für die Mayorswahl unterstützte — ein Handel, der beide
Teile ehrt; auch Newyork ist eine Messe wert.
Nun ist aber weder der Tamnmny-Kandidat Great zum Bürgermeister
uoch ihr Vertrauensmann Blaine zum Präsidenten gewählt worden, und ihre
Macht ist stark erschüttert, wenn nicht gebrochen — für zwei Jahre.
Die Aufstellung des James Blaine Esq. als Kandidaten war von seiten der
republikanischen Partei weniger ein Mißgriff als ein Akt großartiger Naivität.
Man hielt die Zeit bereits für gekommen, um so etwas dem Lande bieten zu
können. Blaine galt schlechtweg sür bestechlich und genoß als „Mann, der mit
sich reden läßt," nicht nur die Unterstützung der großen Geldkönige, besonders
eines gewissen Jay Gould, sondern war auch der Tammany-Hall viel angenehmer
als der Kandidat ihrer eignen Partei. Blaine gilt an und für sich für sehr
intelligent, als g. sins-re, man nach dem Herzen der Amerikaner; er soll auch
Persönlichkeit besitzen. Als diplomatischer Vertreter seines Landes in Chile und
Zentralamerika hat er zwar großsprecherisch und mit wenig Geschick agirt, doch
hätte man ihm dies in Anbetracht seiner sonstigen fing-rtusss verziehen. Auch
waren es nicht eigentlich die großartigen Bestechungen, die er als Sprecher des
Ilnitsä Le-Ms - Senats in Washington mit sich vornehmen ließ, und die scham¬
lose Ausnutzung seines Amtes zu eignem Vorteil, welche ihm das Genick
brachen. Man ist in diesem Lande hierin nicht so skrupulös, und was man
von Gebildeten, von Mitgliedern der bessern Gesellschaft bei Besprechung dieses
Punktes zu hören bekommt, geht weit über unsre Begriffe. Präsident Arthur
habe doch auch den denkbar schlechtesten Ruf gehabt, alles sei auf die größten
Unanständigkeiten gefaßt gewesen, und schließlich habe sich der Mann doch ganz
gut herausgemacht. Blaine habe allerdings sein Amt mißbraucht, das sei
ja wahr. Aber darin — ja darin finde man hier eben nicht soviel u. s. w.
Ein Vollblutamerikaner aber fragt wohl mit pfiffigem Gesichtsausdruck ganz
ernsthaft: ^Vovlä u't, z^on nig-Ich g. ^ok>? (Würden Sie sich vielleicht ge-
niren, einen Schnitt zu machen?) So wäre denn bei James Blaine Esq. alles
g.11 riAtck gewesen, wäre diesem von den Sympathien seines Landes getragenen
Manne nicht ein unverdientes Mißgeschick widerfahren.
Die Briefe nämlich, die er während jener erwähnten Transaktionen an
„Geschäftsfreunde" geschrieben hatte, kamen ganz unvermutet an die Öffent¬
lichkeit und wirkten mit umso schneidenderer Ironie, als jeder von ihnen mit
den Worten schloß: Lurn tIÜ8 Isttsr! Sie wurden von Blaine und seiner Presse
zuerst verleugnet; endlich, als es nicht mehr anders ging, als „harmlos" an¬
erkannt (»nM)äy poulet alö tust)! So begann der Fluch der Lächerlichkeit
auf dem düpirten und schwankenden Manne zu lasten, der sich trotz aller Win¬
dungen fortwährend festgenagelt sah. Die ehrlichen Leute wurden in den
Blättern mit einemmale sehr gesprächig über einen starken Faustschlag in ihr
Gesicht, den sie schon vor einiger Zeit erhalten, aber bis dahin nicht ganz so
stark verspürt hatten; ?not aber, ein grausamer Witzbold — die Leistungen
dieses Blattes stehen künstlerisch weit über unsern heimischen, doch kann es uns
trösten, daß sie von Deutschen herrühren — ätzte unter dem Beifall des Landes
die Stichworte mit blauer Tusche dem Leibe seines Opfers ein und brachte den
unglücklichen Schriftsteller nur noch als t^ttovatkä Illa^, wie deren in den
landesüblichen „Museen" zu sehen sind, nach welchen der Durchschnitts-Ameri-
kaner pilgert, um seine ästhetische Vorliebe sür das Geschmacklose zu pflegen.
Die Agitation gewann mehr und mehr an Boden, und Blaine unterlag mit
einer Minorität von 50000 Stimmen bei zehn Millionen, die abgegeben worden!
Seine Niederlage hätte eine viel eklatantere sein müssen, wenn die großen
nicht solche Anstrengungen für ihn gemacht hätten. Man hat
erfahren, daß die Staatswahlen im Staate Ohio, die als eine Art Vorposten¬
gefecht vor der lÄeotiou stattfanden, dem republikanischen Kampagne-Seckel
1800000 Dollar gekostet haben; Ohio hätte sonst eigentlich demokratisch
wählen müssen. Für eine Blaine-Stimme wurde in den letzten Tagen vor
der Wahl in Newyork bis zu zehn Dollar geboten. Auf dem Lande und
im Innern, in Indiana z. B., sind die Stimmen allerdings billiger, und
es ist wirklich zu verwundern, daß die fehlenden 60000 votss sich nicht haben
auftreiben lassen; Geld war vorhanden, und Blaine war vollkommen im Rechte,
die Entrepreneurs seiner Wahl der Unfähigkeit und Schwerfälligkeit zu be¬
schuldigen, als sich nach dem 4. November die Sache durchaus nicht mehr
wollte nrrangiren lassen. Die Aufregung in Newyork in diesen Tagen war eine
ungeheure; man kam nachts nicht zum Einschlafen, weil fortwährend Extrablätter
nusgeschrieen wurden. Die Irilmiuz, das Blaine-Blatt, machte ein ausgezeich¬
netes Geschäft; sie behauptete fortwährend mit unerschütterlicher Frechheit,
Blaine habe gesiegt, und Hunderttausende kauften sich die Iridnns, um zu sehen,
womit sie das belegen wolle (echt amerikanisch!). Das Land blieb beinahe
vierzehn Tage im Unklaren, bis die Evidenz endlich erfolgte.
Ein würdiger Kompetitor Blciines und eine höchst anziehende Erscheinung
an und für sich war der nunmehr wieder in sein stilles Privatleben zurückge-
tauchtc Butter, der „alte Butler," wie er genannt wurde. Der Ruf dieses
Mannes, was Integrität anlangt, ist so schlecht, daß er nicht schlechter sein
kann, obwohl man hört, er sei zu schlau, um sich irgendetwas beweisen zu lassen.
Er gilt für einen der geriebensten Advokaten des Landes, ist ein vorzüglicher
Redner und hat auch einige Gedanken über die soziale Frage. Während des
Rebellivnskrieges war er General und hat als solcher große Energie bewiesen'
u. a. in Neworlecms, das sich unaufhörlich im rive befand, Ordnung geschaffen,
und selbst die südlichen Ladies, die seinen Soldaten auf der Straße ins Gesicht
spieen, durch — allerdings sehr drastische Maßregeln — zur Ruhe gebracht.
Auch in Newyork hat er durchgegriffen, als Anno 63 alles im Aufstande war
und seine lieben Parteigenossen die farbigen Kinder in die Flammen des Oolorsä
^one- warfen und Neger und andre mißliebige Leute an den Laternen auf¬
hingen. Er hielt bei dieser Gelegenheit einmal eine stNnp-Rede, die mit den
Worten begann: „Bummler, Tagediebe und Lumpen von Newyork!" und er
kam mit dem Leben davon! Butler ist, wie gesagt, Demokrat und hat sich
"ur dazu als Kandidaten aufstellen lassen, um seinem eignen Parteigenossen
Cleveland Stimmen zu entziehen, wofür er angeblich von den Republikanern
gut bezahlt worden ist. Es fand hierüber in den Blättern natürlich ein sehr
starker Verbrauch von Entrüstung statt, doch geht man sicherer, anzunehmen,
daß dieser Coup von viel Lutlkr als überaus haare bewundert wurde.
Erwähnen wir jetzt noch kurz der Bella Lockwovd, die ebenfalls in die
Wahlarena hinabgestiegen war, da die Frauen ja in der nordamerikanischen
Verfassung nicht ausdrücklich vom Präsidentenstuhle ausgeschlossen sind, und
des Temperenzlcrkandidaten Se. Johns, so ist die Liste der Erfolglosen hiermit
geschlossen, und wir können uns dem Sieger zuwenden.
Der zukünftige Präsident Grover Cleveland, bisher Gouverneur des Staates
Newyork, ist ein Mann in seinen besten Jahren. Er genießt erfreulicherweise
den Ruf der Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit und soll sich durch große Gerech¬
tigkeitsliebe während seiner Amtsführung ausgezeichnet haben. Während der
Wahlkampagne wurde er von seinen Gegnern zwar in ausreichender Weise mit
Schmutz beworfen, doch hat sich mit Sicherheit nur feststellen lassen, daß ein
natürlicher Sohn von ihm im Waisenhause und dessen Mutter sich in einem
Irrenhaus befindet. Dies begeisterte die Republikaner zu dem Feldgeschrei:
Mi, — — ^kisr's (Mama, Mama — wo ist mein Papa?), welches
sie Tag und Nacht, einzeln und in Gruppen, mit — sit voni^ vsrbo — hyste¬
rischer Krampfhaftigkeit ausstießen, wenn sie eine Cleveland-Fahne oder einen
Cleveland-Mann oder eine Cleveland-Prozession erblickten. Mau Hort es noch
jetzt. Cleveland hat übrigens von der Pike auf gedient und war früher einmal
Sheriff. Ein Sheriff hat u. a. auch das Amt, die verurteilten Leute zu hängen,
und hält sich zu diesem Zwecke einen Untcrsheriff, dem er für den betreffenden
Akt hundert Dollar giebt. Vösc Zungen behaupten nun, daß Grover, ein sehr
haushälterischer Mann, diese hundert Dollar immer gespart und die Sache
selber „gemanaget" habe; doch ist dieser so wohlthuende Zug wahrscheinlich
nur von hungrigen Stellenjägern erfunden worden, die sich im voraus dafür
rächen, daß sie unter dem kommenden Präsidenten leer ausgehen sollen.
Cleveland hat sich nach keiner Richtung hin die Hände gebunden und sich
niemand gegenüber zu irgendetwas verpflichtet, und via Äsmoorg.ti« part,^,
die so lange Jahre abseits von den Staatskrippen hat stehen müssen, findet
vielleicht nicht einmal ihre Rechnung, nachdem einer der Ihrigen gesiegt hat.
So wurden denn auch bereits Stimmen laut, die den genialen Butler mit dem
schwerfälligen Cleveland verglichen. Mag das Land sich immer dessen getrosten,
daß kein schöpferischer Kopf, voll von großen Ideen, an seine Spitze treten wird.
Einer Verwaltung, in der so eigentümliche Gewohnheiten durch langjährige
Tradition geheiligt sind, thut vielleicht eine Hand am besten, die nur ordnet, ohne
zu experimentiren, und vorerst eine Zeitlang einfach das Korrekte thut. Die
ehrlichen Leute im Lande behaupten jedenfalls, daß die Wahl Clevclcmds ein
Triumph für sie sei.
Wenn nicht ein Triumph, so doch ein sehr erfreuliches Ereignis ist der
schließliche Ausgang ohne Zweifel für eine Klasse von Bürgern, auf die ich
zum Schluß noch die Aufmerksamkeit lenken möchte; dies sind die Deutsch-
Amerikaner. Unsre Landsleute haben sich fast überall sehr für Cleveland inter-
essirt und sind auch zum erstenmale in größern Massen als geschlossene deutsche
Wählerschaften in die Kampagne eingetreten. Hätte Blaine gesiegt, so wäre
das für unser Volkstum, hier eine Niederlage gewesen; so wie es gekommen,
ist es jedenfalls besser. Ein großer Anteil hieran gebührt Karl Schurz, dem
bekanntesten Vertreter der hiesigen Deutschen in politischer Beziehung. Er war
bereits einmal Münster des Jnnern und hat sich als solcher große, wenn auch
nicht anerkannte Verdienste um das Land erworben durch Opposition gegen
das wahnsinnige Ausrauben der Wälder an den obern Flußläufen; übrigens
ist er nach amerikanischen Begriffen arm, was mehr sagt als ganze Bücher.
Schurz warf, obwohl selbst Republikaner, sein ganzes Gewicht gegen Blaine
in die Wagschale, weil ihm die Aufstellung dieses Mannes das Maß des Er¬
träglichen überschritt. Er bereiste kurz vor der Wahl den Westen und hielt in
den großen Zentren des Deutschtums, in Cleveland, Chicago, Cincinnati,
Se. Louis, zuletzt auch in Newyork fulminante Reden, durch die ganz gewiß
viele Hunderttausende beeinflußt worden sind. Die gegnerischen Stimmen klagen
denn auch darüber, daß die igncirg,ut olg-Sö cet iinniig'rg,ut,8 diesmal bei der Wahl
so verderblich eingewirkt habe. Die eingewanderten Deutschen besonders gelten
in den Angen des Vollblut-Amerikaners für sehr i^norant,. Ob der llonsst
^in-niiz.Q, wie er hier vielfach genannt wird, sich übrigens an und für sich so
sehr gegen Blaine erbittert hätte, ist noch die Frage. Er sorgt, wie früher
daheim, so auch hier an: liebsten für sich selbst und fragt nicht uach dem
Ganzen. So war es denn vielleicht ein Glück, daß Blaine zugleich auch stark
teinverenzlichc Gelüste zur Schau trug, worauf sich ein Schrei sittlicher Ent¬
rüstung den vereinten Kehlen unsrer Landsleute entrang. Denn Bier und Blut
sind doch eigne Säfte; besonders aber Bier.
lief, was die menschliche Thätigkeit von Werten und Güter»
erzeugt, wird 1. entweder zur Konsumtion verwendet, zur Er¬
nährung, Kleidung, Wohnung und zu andern Bedürfnissen, wie sie
die mehr oder weniger entwickelte Kulturstufe des Einzelnen und
der Gesamtheit des Volkes erzeugt, wie die häusliche Einrichtung,
Besoldung von Dienerschaft, Pferde u. s. w. Was an erzeugten Werte» müßig
liegen bleibt zu späterer Verwendung, dürfte bei der heutigen, überaus leichten
Gelegenheit, auch die kleinsten Beträge nutzbringend anzulegen, kaum in Betracht
kommen, und man kann daher sagen, 2. daß alles, was von erzeugten Werten
nicht der Konsumtion dient, nutzbringende Verwendung sucht. Diesen letzteren
Teil der erzeugten Werte nennen wir Kapital.
Eine nutzbringende Verwendung kann das Kapital nur in folgender Weife
finden: 1. Wenn es sich in Land verwandelt, um der Güterproduktivn die
Stoffe zu liefern, oder 2. wenn es sich in Werkzeuge verwandelt, wodurch es
an der eigentlichen Gütererzeugung beteiligt wird, oder 3. wenn es der Kon¬
sumtion dienstbar wird. Dies kann geschehen a) durch Verwandlung in Wohn¬
gebäude oder b) durch Übernahme der erzeugten beweglichen Güter zur Überleitung
derselben in die Hände der Konsumenten, was wir Güterumsatz, Austausch,
Handel nennen.
Diese dreierlei Arten oder Wege der Kapitalverwendung oder Kapitalanlage
sollen nun im einzelnen erörtert werden.
1. Für das Verhalten des Grund und Bodens hat sich eine besondre
Theorie gebildet, d. h. man glaubt ein Gesetz gefunden zu haben, nach welchem
sich der Boden ganz anders zur Produktion verhalte als Kapital lind Arbeit.
Dieses in England entstandene, zuerst von Ricardo verkündete oder formulirte
„Gesetz der Bodenrenke" ist von der gesamten nationalökonomischen Wissenschaft
adoptirt worden und hat allgemeinen Einfluß gewonnen.
Die Lehre lautet so: Die Rente von Grund und Boden wird bestimmt
durch den Überschuß seines Ertrages über den — bei gleichem Aufwand von
Mitteln — auf dem mindest einträglichen Boden, der in Benutzung steht, zu
erzielenden Ertrage.
Die scharfe Unterscheidung zwischen Kapital und Land (Grund und Boden)
mag in England gerechtfertigt sein, wo fast das gesamte Land sich im Besitz
weniger Personen befindet, und diese ihr Eigentum nicht gegen Kapital ein¬
getauscht, sondern es als Monopol von der Staatsgewalt erhalten haben, wo
dies Eigentum geschlossen und dem Austausch und Besitzwechsel fast völlig entzogen
ist, wo sich die Eigentümer mit der Bebauung ihrer Güter nicht befassen, sondern
sie der Ausbeute einer kapitalistischen Pächterklasse überlassen, alles Verhältnisse,
durch welche allerdings ein Gegensatz zwischen Land und Kapital vor aller
Augen entsteht.
Die Ermittlung, welche 1876 für England und Wales stattgefunden hat,
scheute sich die volle Wahrheit ans Licht zu bringen und rechnete deshalb die
Pächter auf 99 Jahre zu den Eigentümern. So ergaben sich 972 836 Eigen¬
tümer; man weiß aber seitdem, daß es nur 270 000 sind, von denen 5207 Per¬
sonen 551/., Prozent der gesamten Oberfläche von England und Wales besitzen.
Von diesen 55^ Prozent fallen 12^ Prozent auf die Besitzer von mehr als
10 000 Acres.
In Schottland sind es nur zwölf Personen, welche 70 Prozent des ganzen
Landes besitzen, und in Irland fallen 98 Prozent der Oberfläche auf 19 547 Eigen¬
tümer, von welchen 100 mehr als und 300 die Hälfte des Landes zu
Eigentum haben.
Sieht man von Mecklenburg ab. wo allerdings der gesamte Boden sich in
der festen Hand des Domaniums (43 Prozent), der Ritterschaft (42 Prozent),
der Städte (11 Prozent) und der Klöster (3 Prozent) befindet, so haben selbst
die östlichen Provinzen Preußens, wo der Großgrundbesitz überwiegt, keine
entfernte Ähnlichkeit mit den Zustünden Großbritanniens. In Pommern be¬
tragen die Güter über 600 Morgen nur 62^, Prozent, in Posen 57^ Prozent,
wogegen in den übrigen Provinzen die kleinen Besitzungen unter 600 Morgen
in der Mehrzahl sind und die ganz kleinen unter 30 Morgen beispielsweise in
Westfalen 34 Prozent und in der Rheinprovinz 37 Prozent betragen. In
Sachsen nehmen die mittleren Güter von 20 bis 100 sächsischen Ackern 58 Prozent
des Bodens ein; vollends überwiegt der kleine Besitz in Baiern und in Würtem-
berg, wo die Güter unter 10 Acker S3,8 Prozent ausmachen.
Hiernach ist es einleuchtend, daß schon die äußeren Verhältnisse der Boden¬
verteilung einen Vergleich zwischen Großbritannien und Deutschland (von
Frankreich garnicht zu reden) in keiner Weise zulassen. Dazu kommt aber
"och ein weiterer Umstand. Während nämlich der englische Grundbesitz nicht
nur rechtlich geschlossen ist, sondern sich auch im unveräußerlichen Besitze weniger
Familien befindet, demnach dem Austausch gegen Kapital, dem Verkauf gänzlich
entzogen bleibt, bildet die Geschlossenheit in Deutschland, da wo sie besteht, mehr
bloß 'eine Teilungsgrenze, ohne die Güter selbst dem Austausche und Besitz-
Achsel zu entziehen. Unsre Rittergüter bilden fast eine stehende Waare auf
dem Markte, und nnr der Grundbesitz weniger altfürstlichen Häuser mag sich
n> gleicher Lage wie der englische befinden.
Wenn ich demnach anf dein Kontinente mit Kapital, d. h. mit Vermögen,
welches durch meine oder meiner Borfahren Arbeit gewonnen ist, jederzeit Land
eintauschen kaun und wenn dieser Austausch tagtäglich stattfindet. also Laud sich
als knrante Waare auf dem Markte befindet, so kann die wirtschaftliche Natur von
Land und Kapital nicht grundsätzlich verschieden sein, so können beide nicht
widersprechenden Gesetzen solgen. Ich will das Nicnrdosche Gesetz der Grund-
^e>'te für England nicht bekämpfen, wo es den Verhältnissen entsprechen mag.
""r für Deutschland kann ich es nicht ohne weiteres gelten lassen, wie denn
«und die Folgen und Wirkungen jenes Gesetzes bei uns nicht erkennbar sind.
Diese Folgen sollen und müssen bei steigernder Kulturentwicklung nnter englischem
System ein stetiges Steigen der Grundrente sein und, wie George richtig bemerkt,
ein ebenso stetiges Sinken von Zins und Arbeitslohn, weil beide sich und dem¬
jenigen Reste der produzirten Werte begnügen müssen, welchen die Grundrente
i'brig läßt. Wenn George aber hieraus den Schluß zieht, daß in der Ab-
Schaffung des Eigentums an Grund und Boden oder doch in der Konfiszirnng
der Grundrente durch den Staat das einzige Mittel zur Lösung des sozialen
Problems zu suchen, sei, so schießt er über das Ziel, Denn nur das geschlossene,
starre, monopolistische, unveräußerliche Grundeigentum, wie es in England besteht
oder wie es eine zügellose Spekulation in seinem Vaterlande, den Vereinigten
Staaten, gestaltet, hat jene verderbliche Wirkung, die sich indessen wohl noch für
Jahrhunderte beseitigen läßt, wenn man das Grundeigentum von seinen Banden
erlöst und es dem freien Güterverkehr zugänglich macht.
Freilich in den aufblühenden Städten sieht man den Wert des Bodens oft
ins Unglaubliche wachsen. Allein wenn wir genau zusehen, so ist es doch nicht
das vermeintliche Gesetz der Bodenrenke, welches hier wirksam ist.
Der beste und der geringste Ackerboden bringt die nämliche Frucht hervor,
und der Unterschied besteht nur darin, daß auf dem geringen Boden ein
größerer Aufwand von Arbeit und Kapital erforderlich ist, oder daß bei gleichem
Aufwands die Menge des Ertrages geringer ist. Das Produkt bleibt immer ein
gleichartiges und die Bodenrenke besteht nach Ricardo ja eben in der Differenz
des Ertrages auf dem guten Grunde zum geringen Grunde bei gleichem Auf¬
wand?, und das Steigen der Bodenrenke besteht darin, daß immer geringeres
Land in Kultur genommen wird.
In den Städten dagegen verhält es sich ganz anders. Der Bauplatz am
Markte, am Bahnhof, überhaupt an den Mittelpunkten des Verkehrs, und das
darauf errichtete kostspielige Gebäude gewährt etwas qualitativ besseres als das
Haus an einem toten Ende der Stadt. Die günstige Lage erleichtert das Ge-
schäft, das Vergnügen, die Schaustellung des Luxus. Das prächtige, moderne
Gebäude gewährt bessere, bequemere, schönere Wohnung. und so erregen Lage
und Bauart eine starke Nachfrage unter den wohlhabenden Klassen, während
das Angebot verhältnismäßig gering bleibt. Daß hier eine höhere Leistung und
eine stärkere Nachfrage Grund der Preissteigerung ist, zeigt sich sehr deutlich,
wenn ein Verkehrszentrum, z. B. der Bahnhof, die Kaserne, das Justizgebüude
u. dergl. in einen andern Stadtteil verlegt wird, oder wenn die Stadt selbst
an Bedeutung einbüßt, weil sie aufhört, Sitz der Garnison, der Regierung zu
sein, oder weil der Handel andre Wege nimmt. Alsdann hört die Nachfrage
auf, der Wert der städtischen Immobilien sinkt, und nur was das Kapital durch
Errichtung des Gebäudes an Wert geschaffen, bleibt wenigstens teilweise als
ein Gewinn übrig. Es ist also klar, daß hier nicht das Gesetz der steigenden
Bodenrenke wirksam gewesen ist.
Sehen wir ab von dem Verhalten des städtischen Grundbesitzes, wo nicht
so sehr allgemeine Preissteigerung, als vielmehr Preisverschiebung in die Augen
fällt, oder doch die Preissteigerung Folge höherer Leistung ist, betrachten wir
also den Grundbesitz im allgemeinen, so wird nicht zu leugnen sein, daß der
Wert desselben, oder um genauer zu sprechen, sein Preis thatsächlich zuge-
nommer hat. Wie viel dabei auf Rechnung der vermehrten Bevölkerungsziffer
kommt oder auf die Abnahme des Geldwertes oder den mehr gesicherten Rechts¬
zustand oder die Entwicklung der Verkehrsmittel, die Beseitigung innerer Ver-
kehrsschranken u. dergl., ist schwerlich zu entscheiden. Jedenfalls ist die Ansicht,
daß die einfache Division der Gesamtbodenfläche eines Landes durch die Zahl
seiner Einwohner zur Wert bestimmun g des Bodens ausreiche, d. h. daß der
Wert des Bodens umso höher steige, als die Bevölkerung zunehme — jedenfalls
ist diese Ansicht unerwiesen, und wie bereits oben angedeutet, namentlich in
England keineswegs ersichtlich. Man kann nur sagen, daß der Preis des
Bodens infolge unsrer allgemeinen Kulturvcrhältnisse gestiegen sei. Es ist un¬
leugbar, daß ich heute mit tausend Mark uicht so viel Land kaufen kann als
vor hundert oder fünfzig Jahren. Ob aber die sogenannte Bodenrenke eben¬
falls in gleichem Maße gewachsen ist, ist sehr zweifelhaft.") Vielmehr scheint
die gedrückte Lage, in welcher sich die landwirtschaftlichen Grundbesitzer befinden,
ihre starke Verschuldung und das fortwährende Sinken des Preises der haupt¬
sächlichsten landwirtschaftlichen Produkte eher auf das Gegenteil schließen zu
lassen.
Indessen will ich diese Dinge uicht weiter verfolgen, denn es ist nicht
meine Absicht, die Theorie der Bodenrenke hier zu erschöpfen, sondern es sollen
meine kritischen Bemerkungen mir nur zur Rechtfertigung dienen, daß ich bei
meinen weiteren Untersuchungen über die Güterproduktion, die Bodenrenke oder
vielmehr den Boden als einen besondern, von dem Kapital verschiedenen Faktor
nicht aufführe, sondern daß ich den Boden als eine Form des Kapitals, der
Kapitalanlage betrachte, mit der Funktion der Produktion die Naturstoffe zu
liefern.
Wenn ich mich übrigens nicht gänzlich täusche, so ist für die englische
Praxis die Bodenrenke eben nnr noch ein Theorem. Denn nicht nur ist der
Wert landwirtschaftlichen Bodens dem Dogma entgegen keineswegs im Steigen,
sondern nach Zeitungsberichten in manchen Gegenden um 30 bis 50 Prozent
gesunken; nicht nur findet die Verwandlung von Ackerland in Jagdgründe in
ziemlich ausgedehntem Maße, namentlich in Schottland, statt, sondern es kostet
der Quarter Weizen, den man vor Aufhebung der Kornzölle mittelst der glei¬
tenden Scala auf 90 Schillinge zu halten suchte, jetzt nur noch 30 Schillinge.
Zu diesem Preise liefern Indien und Persien zum Teil im Siege über Amerika
den Weizen nach England, welches kaum mehr als die Hälfte seines Bedarfes
selbst erzeugt. England scheint sich um landwirtschaftliche Interessen nur noch
wenig zu kümmern. Auf eine Bauernschaft, die längst vernichtet ist, braucht
es keine Rücksicht zu nehmen. Was seinen vorgeschrittenen Politikern vorschwebt,
ist das (^'nckor-Lrlk-um, d. h. ein englisches zvllgceinigtes Weltreich, in
welchem die Provinz Großbritannien die Waaren und die Kolonien mit Aus¬
schluß derjenige», die wie Canada und Australien bereits selbst Industriestaaten
geworden sind und sich mit Schutzzöllen umgeben, das Getreide und die Roh¬
stoffe liefern. Diesem Ziele strebt seine Politik augenscheinlich zu, und wahr¬
scheinlich um soviel energischer und bewußter, als aus anderen Wege kaum eine
lokale Umwälzung in den Verhältnissen des Grundbesitzes vermieden werden
kann, d. h. eine Revolution, welche die englische Aristokratie vernichten würde.
2. Die unmittelbare Beteiligung des Kapitals an der Gütererzeugung durch
Lieferung der Werkzeuge ist, wie bereits erwähnt, eine verhältnismäßig unbe¬
deutende, so groß auch im einzelnen die Summen erscheinen mögen, die in
Maschinen angelegt sind, und so häufig auch ein einzelner Fabrikant durch
Mangel an Kapital an der Verbesserung oder Ncubeschasfuug der nötigen
Maschinen sich behindert fühlen mag. Im große» und ganzen wird die Pro¬
duktion bezüglich ihrer Werkzeuge nur wenig von dem Kapitalreichtum des
Landes abhängig sein, es wird ihr vielmehr (immer im großen und ganzen)
gelingen, so viel selbst zu erübrigen, als zu einer solchen Vervollkommnung der
Werkzeuge nötig ist, wie sie die allgemeinen und besondern Verhältnisse be¬
dingen. George weist in dieser Beziehung treffend auf das Beispiel der Sioux-
Jndiciner hin, die kein andres Bedürfnis haben als Nahrung und etwas
Kleidung, und keine andre Beschäftigung als die Jagd, und doch alle mit Ge¬
wehren neuester und bester Konstruktion Versehen sind, obwohl ihnen kein Ka¬
pitalist dazu verholfen hat.
Wir glauben, daß die Produktion im allgemeinen bezüglich ihres Bedarfs
an Werkzeugen uur in geringem Grade von dem Kapitalreichtum des Landes
abhängig sei. Noch gewisser aber ist es, daß die Menge der vorhandenen Ka¬
pitalien die Produktion durch Lieferung von Werkzeugen nicht willkürlich steigern
kann. Denn der Bedarf an Werkzeugen, ihre Vollkommenheit und Leistungs¬
fähigkeit hängt von Verhältnissen ab, welche auf anderm Gebiete liegen. Eine
Steigerung der Arbeitskraft durch komplizirte Maschinen ist nur da erforderlich,
ja uur da möglich, wo die einfache Arbeitskraft und die gewöhnlichen Werkzeuge
nicht imstande sind, dem Bedürfnisse zu genügen. „Eine mit allen neuesten
Verbesserungen ausgestattete Fabrik ist das wirksamste Instrument, das bis jetzt
ersonnen worden ist, um Wolle oder Baumwolle in Tuch zu verwandeln, aber
nur da, wo große Mengen davon gemacht werden sollen. Das für ein kleines
Dorf nötige Tuch kann mit weit weniger Arbeit durch Spinnrad und Handstuhl
hergestellt werden. Eine Schnellpresse macht auf jeden dabei beschäftigten Manu
viele tausend Abdrücke, während auf einer gewöhnlichen Presse ein Maun mit
seinem Gehilfen uur etwa hundert zu drucken imstande ist; aber für die kleine
Auflage eines Landstadt-Blättchcns ist die altmodische Presse bei weitem die
wirksamste. Um hin und wieder zwei oder drei Passagiere zu fahren, ist der
Kahn ein dienlicheres Fahrzeug als das Dampfboot; einige Sack Korn können
mit weniger Aufwand von Arbeit durch ein Maultier transportirt werden als
durch einen Eiscnbcihuzug n. f. w. Und im allgemeinen wird man finden, daß
die unter den zerstreuten Bevölkerungen »euer oder wenig kultivirter Länder
üblichen rohen Vorrichtungen für Produktion und Austausch nicht so sehr von
dem Mangel an Kapital herrühren, als von der Unfähigkeit, dasselbe vorteilhaft
zu verwenden." (George ni, a. O.)
Es ist deshalb ein großer Irrtum, wenn man glaubt, durch Zuführung
nicht verlangten Kapitals zur Beschaffung von Maschinen die Produktion
steigern zu können. Es ist dies ebensowenig der Fall, als wenn man die
Zahl der Arbeiter vermehren wollte. In beiden Fällen würde der Erfolg nur
darin bestehen, die Industrie auf Abwege zu führen, d. h. zur Erzeugung vou
Gütern, zu deren Aufnahme die Konsumtion nicht fähig ist.
3. Das Kapital dient der Konsumtion, a) indem es die erzeugten unbe¬
weglichen Güter übernimmt und sie den Konsumenten zur Verfügung hält.
Diese unbeweglichen Güter sind die Wohn- und sonstigen Nutzgebäudc. Das
Kapital findet darin eine feste, dauernde Anlage, und es geschieht dieselbe ent¬
weder in der Form des Eigentums oder mittels Belehnung durch Hypotheken.
Im erstern Falle (des Eigentums) ist der Kapitalist zugleich Unternehmer, und
ist als solcher, wie wir spater sehen werden, nicht ans einen festen Zins, sondern
auf einen schwankenden Unternehmergewinn angewiesen.
In ähnlicher Weise dient das Kapital v) der Konsumtion beweglicher Güter,
indem es dieselben von der Produktion übernimmt und sie durch Ortsverände¬
rung, Aufspeicherung, Schaustellung, kurz dnrch den Handel, in die Hände der
Konsumenten bringt.
Wir haben gesehen, daß die Produktion des Kapitals an und für sich
nicht oder doch nnr in sehr geringem Maße bedarf. Der Handel, der Güter¬
umsatz dagegen ist ohne Kapital nicht denkbar, und deshalb ist neben der festen
Anlage in Gebänden Handel, Güterumsatz und Austausch recht eigentlich die
Domäne des Kapitals. Die Vermittlung des Handels aber ist an und für
sich und im Prinzip weder für die Produzenten noch für die Konsumenten
^'förderlich.
Sehr wohl konnten wir uns eine wirtschaftliche Gesellschaft ohne Handel
denken, wo das Gut direkt ans den Händen des Erzeugers in diejenigen des
Gebrauchers wanderte, ähnlich wie wir es bei der großen Brauerei in Pilsen
gesehen haben.
Die Wirkung eines solchen Zustandes würde wahrscheinlich im Anfange
günstig für die Produktion sei», denn die Konsumenten würden jeder für sich
genötigt sein, Vorrat zu halten, und die Summe dieser unzähligen Einzelvor¬
räte würde vermutlich weit größer sein als der Vorrat fertiger Waaren, der sich
in den Magazinen des Handels ansammelt. Die Nachfrage würde also wachsen.
Bald jedoch würden die Konsumenten erkennen, daß die Vermittlung des Handels
weit weniger kostspielig ist, als wenn jeder Einzelne die Waare an dem Er-
zcugungsorte aufsuchen, sie selbst transportiren, die Gefahr des Verderbens im
Vorrat selbst tragen, kurz, wenn er alle die zahlreichen Dienste, welche der
Handel leistet, entbehren muß, und es würde daher nicht lange dauern, bis der
Handel die Vermittlung zwischen Produzenten und Konsumenten wieder über¬
nehmen würde. Diese Episode würde den Beweis geliefert haben, daß der
Handel zwar für den Konsumenten unentbehrlich sei, aber auch, daß die Pro¬
duktion für sich der Mitwirkung des Kapitals nicht bedürfe. Das Kapital
würde in der Zeit der Abwesenheit des Handels großenteils müßig gelegen
und der Zinsfuß den tiefsten Stand erreicht, aber weder die Unternehmer noch
die Arbeiter würden gelitten und daher ihre Unabhängigkeit vom Kapital be¬
wiesen haben.
Die Thatsache, daß die Produktion das Kapital nötig habe zur Beschaffung
des Stoffes und der Werkzeuge, weil diese vorhanden sein müssen, bevor die
Arbeit beginnen kann, ist nicht zu verwechseln mit der Lehre der Schule, daß
die Produktion vom Kapital abhängig sei, weil aus diesem die Arbeitslöhne
bezahlt oder doch vorgeschossen werden müßten. Aus dieser irrigen, bereits
widerlegten Lehre werden aber die verhängnisvollsten Konsequenzen gezogen,
und mit diesen wollen wir uns jetzt befassen.
Wenn der Vordersatz richtig ist: Ohne Kapital keine Löhne, so folgt
daraus allerdings, daß großes Angebot von Kapital, also niedriger Zinsfuß,
hohe Löhne erzeugen müsse, oder doch Beschäftigung von mehr Arbeitern, und
umgekehrt, daß bei Kapitalmangel, also bei hohem Zinsfuß, der Lohnsatz fallen
müsse. Daraus folgt dann weiter, daß Kapitalisten und Arbeiter entgegengesetzte
Interessen hätten und also zwei Klassen wären, die sich feindselig gegenüber¬
stehen müßten. Diese Ansicht ist weitverbreitet, nicht nur in der Theorie,
sondern auch im Leben, ja selbst die Gesetzgebung ist davou beeinflußt, insoweit
sie sich bewegen läßt, im angeblichen Interesse der Arbeit auf das Kapital zu
drücke», wie dies beispielsweise bei der projektirteu Knpitalrentensteuer der Fall
ist. Es ist traurig geung, daß es in der Gesellschaft wirklich feindliche Interessen
giebt; umsomehr ist es der Beruf der Wissenschaft, ihre Stimme lant zu erheben,
wo solche Feindschaft durch Mißverständnis erzeugt wird.
Ich habe schon oben gezeigt, daß Kapital und Arbeiter nur die Gehilfen
des Unternehmers sind, daß sie von diesem nach Bedarf zur Mitwirkung bei
der Produktion zugezogen werde», und daß sie also beide gleich abhängig sind
Von der Unternehmungslust, von der Blüte der Industrie, von der Lebhaftigkeit
der Nachfrage und Aufnahmefähigkeit der Konsumenten, welches der letzte und
oberste Grund einer gesunden Produktion ist. Wir wollen nun untersuchen,
wie sich die Wirklichkeit, das Leben zu unsrer Ansicht verhält.
Beginnen wir mit der Gegenwart. Der Zinsfuß erreicht nicht mehr
4 Prozent; alle 4prozentigen Papiere, die nicht etwa wegen der Unsicherheit
des Schuldners eine Assekuranzprämie bezahlen, stehen im Kurse über xari.
Alle mehr als 4 Prozent tragende Papiere sind oder werden zu 4prozeutigeu
konvertirt, und diese Operation geht überall ohne jede Schwierigkeit von statten.
Selbst die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben ihre «Zprozeutigen
Bonds schon lange in 4^/z- und 4prozeutige verwandelt, wovon erstere 108 bis
109, die letzteren 115 bis 116 stehen. Ja selbst England schickt sich an, die an
und für sich schon niedrigen Zinsen seiner Konsols von A Prozent auf 2^/-.
und 2^ herabzusetzen. Diese vom Parlament bereits beschlossene Maßregel
erstreckt sich auf einen Kapitalbetrag von nicht weniger als 712-^ Millionen
Pfund Sterling oder 14 Milliarden Mark. Mögen sich die englischen Consols
nun auch fast ausschließlich in englischen Händen befinden, so kann eine so
kolossale Finanzoperation doch nicht ohne Einfluß auf den kontinentalen
Kapitalmarkt bleiben. Es ist demnach gewiß, daß wir weit davon entfernt
sind, an einem Endpunkte der rückläufigen Bewegung des Kapitalziuses angelangt
zu fein, vielmehr ein weiteres Sinken zu erwarten haben oder doch in einer
länger andauernden Periode niedrigen Zinses stehen. Mit andern Worten: das
Kapital befindet sich in einer gedrückten Lage, es fehlt ihm an nutzbringender
Beschäftigung, das Angebot übersteigt um vieles die Nachfrage. Nach der
herrschenden Lehre müßte die Folge hiervon sein eine besonders günstige Lage
der Arbeiter, auf veren Seite die Nachfrage das Angebot überwöge.
Nun sehen wir aber, daß dies durchaus nicht der Fall ist, im Gegenteil
befinden sich sowohl in England wie in Frankreich und Amerika die Arbeiter
in sehr schlimmer Lage. Wir nehmen leine Zeitung in die Hand, welche uns
nicht ans diesen Ländern betrübende Berichte über Maugel an Beschäftigung
der arbeitenden Klassen und über unzureichenden Arbeitslohn brächte; ja in
Frankreich ist man bereits an dem bedenkliche» Punkte angekommen, von Staats¬
wegen Arbeit zu schaffen.*) In Deutschland steht die Sache vielleicht weniger
schlimm; aber auch hier kann man gewiß nicht sagen, daß die Lage der Ar¬
beiter so günstig sei, wie sie es nach der herrschenden Lehre gegenüber dem
unbegrenzten Angebot von Kapital sein müßte.
Die Wahrheit ist, daß der Unternehmungsgeist darniederliegt, und daß
aus diesem Grunde die Industrie weder an das Kapital noch an die Arbeiter
hohe Ansprüche macht, daß also diese beiden Gehilfen des Unternehmers einer
wie der andre Mangel an Beschäftigung leiden müssen.
Forschen wir nun nach dem Grunde, warum Kapital in solcher Überfülle
vorhanden ist, so giebt uns die Vergangenheit eine genügende Erklärung.
England und die Niederlande hatten im siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hundert durch ihren Handel, mit dem sie Länder und Meere beherrschten, un¬
geheure Reichtümer (Kapitalien) angesammelt. England erfreute sich auch nach
den Kriege» im zweiten Jahrzehnt des laufenden Jahrhunderts, trotz der un¬
geheuern Schuldenlast, welche es sich in den Koalitionskriegen gegen den ersten
Napoleon aufgebürdet hatte und nun verzinsen mußte, der unbestrittenen poli¬
tischen, kommerziellen und industriellen Überlegenheit, welche der Gewinn jener
Kriege war, die seinen Boden niemals berührt, Industrie und Handel des Fest¬
landes zerstört und den Kolonialbesitz Frankreichs und der Niederlande fast
gänzlich in seine Hände gebracht hatten. Die vorhandenen Kapitalien, die Frucht
der Arbeit der Vergangenheit, genügten den Ansprüchen, welche Handel und
Industrie der Gegenwart an sie zu machen hatten; Nachfrage und Angebot
hielten sich ungefähr die Wage, und dieser gedeihliche Zustand fand in einem
mäßigen Zinsfuß seinen Ausdruck. Zwar traten unglaubliche Notstände unter
der arbeitenden Klasse ein; sie waren aber uicht Folge eines Darniederliegens
der Industrie oder gar des Mangels an Kapital, wie man nach der herrschenden
Lehre vermuten sollte, sondern sie wurde«: durch die Höhe der Steuern erzeugt,
welche der Staat in Anspruch nehmen mußte, sowie durch die ungeheure Ver¬
wirrung, welche der niedere und fortwährend auf- und abschwankende Wert der
Banknoten hervorbrachte, die in jener Periode das einzige gesetzliche Zahlungs¬
mittel in England bildeten. Zu jenen Notständen trug ferner die Überstürzuug
bei, mit welcher die englische Industrie den wiedereröffueten, durch die Konti¬
nentalsperre lange verschlossen gewesenen Markt des Festlandes wieder zu er¬
obern trachtete, ohne zu bedenken, daß die Völker zu sehr verarmt waren, um
viel kaufe» zu können. Der Zinsfuß war damals in England, wie gesagt,
mäßig. Während die verarmten Staaten des Kontinents, namentlich Frank¬
reich, Osterreich, Rußland, zu hohen Zinsen borgen mußten, weil sie eben kapital¬
arm waren, konnte England schon 1818 ein Anlehen von 63 Millionen Pfund
Sterling zu 3^ Prozent aufnehmen. Ja trotz raschem und unaufhaltsamem
Steigen seines Handels und seiner Industrie war der Überfluß an Kapitalien
1824 so groß, d. h. der Zinsfuß so niedrig, daß eine wilde Spekulation ent¬
stand, welche mit dem üblichen Krach endigte.
Auch auf dem Kontinent war unmittelbar nach den Kriegen der Zinsfuß
nicht hoch. Es war dies aber kein Zeichen des Gedeihens, sondern eine Folge
des wirtschaftlichen Stillstandes. Das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert
hatte auf dem Festlande nicht wie in England große Reichtümer erzeugt, auch
war der verhältnismäßig geringe Vorrat an Kapitalien in den langen Kriegs¬
jahren zum Teil aufgebraucht; das Angebot von Kapitalien war daher gering;
ebenso gering war aber auch die Nachfrage, denn Handel und Industrie waren
so gut wie vernichtet, Mangel an Verkehrswegen, zahllose Binnenzölle, ver¬
altete Gesetze und Gewohnheiten hielten die Gewerbthcitigkeit in Fesseln;
Mutlosigkeit herrschte überall, und willig überließ man es dem Auslande, uns
mit den nötigen Waaren zu versorgen. So trat denn, nachdem das Kapital-
bcdnrfnis der Regierungen unmittelbar nach dem Frieden zu hohen Zinsen
befriedigt worden war, eine Periode niedrigen Zinses ein, als deren Grenzen
etwa die Jahre 1830 und 1845 zu bezeichnen sind. In diese Periode fällt
auch das wirtschaftliche Erwachen der Nation; der Zollverein wurde be¬
gründet, man begann Maschinen in die Landwirtschaft und Industrie einzu¬
führen. Eisenbahnen zu bauen. Die Gegenwart begann also erhöhte Ansprüche
an die Vergangenheit (das Kapital) zu machen; trotzdem blieb der Zinsfuß
niedrig. Es ist dies auffällig, aber es erklärt sich durch die große Langsamkeit,
womit sich der Fortschritt vollzog, und durch eine starke Beteiligung fremden,
namentlich englischen Kapitals. Wenn dagegen Kohn in seinem verdienstlichen
Buche „Geschichte des Zinsfußes in Deutschland" (Stuttgart, Cotta, 1884),
dem ich sonst gern überall folge, den niedrigen Zinsfuß dieser Periode der
Kapitalbildung zuschreibt, welche die Folge der durch den Frieden und die
Gründung des Zollvereins angeregten Industrie gewesen sei, so ist dies doch
offenbar eine irrigeAnsicht. Denn einmal war der Zinsfuß in den ersten andert¬
halb Jahrzehnten nach dem Frieden hoch, und dann ist folgendes zu beachten.
Wenn eine gesteigerte Produktion überhaupt Einfluß auf den Zinsfuß übt, fo
kann es zunächst doch nur eine Steigerung desselben sein, weil die erhöhte
Produktion erhöhte Ansprüche (Nachfrage) an die vorhandenen Kapitalien macht.
Erst im späteren Verlaufe kann eine gesteigerte Produktion neue Kapitalbildung
zur Folge haben, also auf den Zinsfuß drücken, wenn die Nachfrage nach Ka¬
pital nicht in gleichem Maße fortdauert. Kohn übersieht, daß die Ursache einer
gewissen Zeit bedarf, um eine Wirkung zu erzeuge». Dies ist in unserm Falle
umsomehr zu beachten, als der wirtschaftliche Aufschwung jener Periode außer¬
ordentlich langsam von statten ging. Die Wirkungen des Aufschwunges zeigten
sich erst in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, als er ein erhöhtes Tempo
annahm, und diese Wirkung war Nachfrage nach Kapital, nicht Sinken, sondern
Steigerung des Zinsfußes!
Mit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre beginnt eine etwa dreißig Jahre
andauernde Periode der lebhaftesten Thätigkeit fast aller Völker der zivilistrten
Welt. Diese Periode ist durch die Ausbildung des Systems von Eisenbahnen
charakterisirt, welche jetzt fast alle Länder in der dem heutigen Bedürfnis ent¬
sprechenden Menge bedecken. Ich sage, diese Periode wird durch den Eisenbahnbau
„charakterisirt," denn auch viele andre, vielleicht fast alle Industriezweige nehmen
Teil an jener lebhaften Thätigkeit, ganz insbesondre die gesamte Eisenindustrie
vom Bergbau bis zu den Maschinenfabriken. Zugleich wurde der Erdball mit
einem Gewebe von Telegraphendrähten umsponnen, wurden die Städte erweitert
und umgebaut, das häusliche Leben des Bürgers ward behaglicher und an¬
spruchsvoller, und die Kunst hielt ihren Einzug in das Gewerbe. Diese ganze
Bewegung der Gegenwart bedürfte der Unterstützung des in der Vergangenheit
angesammelten Kapitals in hohem Grade, und der Zinsfuß mußte deshalb
steigen. Er stand höher als fünf Prozent, und das Allgemeine deutsche Handels¬
gesetzbuch, dessen Verkündigung in den Anfang der sechziger Jahre fällt, hat
sechs Prozent für nicht vereinbarte Zinsen im Handelsverkehre für einen billigen
Satz gehalten. Nach der herrschenden Lehre hätten in dieser Periode dem hohen
Zinsfuß niedrige Arbeitslöhne gegenüberstehen müsse». Aber das Gegenteil
war der Fall, sie stiegen unaufhörlich in vorher ungeahnter Weise bis zum
Ende dieser Periode.
Diese Glanzperiode der Gütererzeugung hat die Völker bereichert und eine
Masse neuer Kapitalien erzeugt, die nun Verwendung suchen, während die
Thätigkeit der Industrie ein sehr bedächtiges Tempo angenommen hat. Das
Beispiel eines einzigen Jndustriezweiges in einem einzigen Lande mag genügen,
um einen Begriff von der Größe und Bedeutung des Umschlages zu geben.
In den dreiunddreißig Jahren von 1847 bis 1879 wurden in Preußen
5098500000 Mark oder durchschnittlich im Jahre 154500000 Mark für Eisen¬
bahnbauten dem Kapitalmarkte entnommen. Dieser Aufwand sank in der Pe¬
riode von 1879 bis 1884 auf 272^ Millionen oder jährlich 54^ Millionen.
Zieht man davon noch die zur Verwendung gelangten, bereits vorhanden gewesenen
Fonds der in Staatsbesitz übergegangenen Eisenbahnen mit 166 Millionen ab,
so wurden in dieser neuesten Periode jährlich nicht ganz 22 Millionen gegen
1542/2 Millionen in der vorhergegangenen dreinnddreißigjährigen Periode von
1847 bis 1879 dein Kapitalmarkte entzogen; die Differenz beträgt also jährlich
132-/2 Millionen! Aber auch dieser Rest von Kapitalbedarf des Staates von
22 Millionen verschwindet und verwandelt sich in eine Rückgabe des Staates
an den Kapitalmarkt von jährlich 11 Millionen, wenn man (mit dem Berliner
Ältestenkollegium) in Betracht zieht, daß nach dem Budget von 1884/85 der
preußische Staat 19108113 Mark für Amortisation von Staatsschulden und
13 bis 14 Millionen für Amortisation von Eisenbahnprioritäten, zusammen
über 33 Millionen auf den Kapitalmarkt zurückfließen läßt. Dies ist, wie gesagt,
nur das Beispiel eines einzigen, wenn auch sehr bedeutenden Zweiges der In¬
dustrie. Es würde nicht schwer fallen, ein gleiches oder doch ähnliches Ver¬
halten auf dem gesamten Arbeitsfelde nachzuweisen. Wir wollen dies aber
unterlassen und statt dessen einen Blick auf einen Teil der Kapitalbildimg
werfen, welche sich gerade unter den weniger wohlhabenden Klaffen vollzieht
und durch den Rückgang der Industrie nicht in sichtlicher Weise aufgehalten worden
ist. Wir meinen die Sparkassen.
Im Königreich Sachsen betrug die Gesamteinlage 1850 14109108 Mark,
1881 349088 702 Mark; also Zunahme 334979604 Mark, d. h. das 22^-
fache. In Preußen beträgt der Zuwachs im Jahre 1832/83 rund 123 Millionen.
Ganz Deutschland, mit Ausnahme Baierns, hatte (nach der LtMstiantz in-
törnMvnÄlö, Rom, 1876) 1871 1941388 899 Franks an seine Sparkassen zu
fordern, Preußen allein aber 1883 2350000000Franks gegen 1232883066Franks
im Jahre 1871; die Zunahme in diesen dreizehn Jahren betrug demnach in
Preußen 1117116 944 Franks, also 90 Prozent.
Trotz alledem blieb der Zinsfuß steigend, wobei vielleicht der ungeheuere
Kapitalabfluß ins Ausland, der in dieser Periode stattfand, namentlich nach
Österreich-Ungarn, Rußland, Italien, Schweden und Amerika, nicht ohne Ein¬
fluß geblieben ist. Noch in der Mitte der sechziger Jahre zahlten selbst die
besten Hypotheken 5 Prozent.
Erst seit dem großen Zusammensturz (dem sogenannten Krach) im Jahre
1873 macht sich der Rückgang des Zinsfußes geltend. Aber obwohl sich die
Industrie in den letzten fünf Jahren sichtlich erholt hat, geht doch der Zinsfuß
immer weiter zurück, ein Beweis, daß die Kapitalbildung die Produktions- und
Konsumtiousfähigkeit der Völker stark überholt hat und nun warten muß, bis
diese nachkommen. Vielleicht ist der Wirkungskreis im alten Europa nicht mehr
groß genug, um dem Kapital eine den Zins steigernde Beschäftigung zu geben,
und erst wenn Afrika und Asien zu ihrer Umgestaltung zu modernen Kultur¬
wesen unsre Hilfe kräftig in Anspruch nehmen werden, oder wenn — was wir
nicht hoffen wollen — große Kriege arge Verheerung unter den Kapitalien an¬
gerichtet haben werden, werden für den Zinsfuß bessere Tage zu erwarten sein.
Ich hoffe keinem Widerspruche zu begegnen, wenn ich sage: niedriger
Kapitalzins bedeutet eine Notlage der Kapitalisten. Um Mißverständnissen
dorzubeugen, will ich gleich hier bemerken, daß das Kapital scharf von dem
Großkapital und die Kapitalisten von den Geldfürsten zu unterscheiden sind.*)
Von diesen letzteren, deren Gedeihen allerdings von dem Zinsfuß ganz unab¬
hängig ist, weil sie nicht auf Rente, sondern auf Kapitalgewinn ausgehen, werde
ich an andrer Stelle sprechen. Ich verstehe hier unter Kapitalisten diejenigen,
welche einen Teil ihres Vermögens ausleihen, um Zinsen zu erhalten, und von
ihnen sage ich, daß sie sich in gedrückter Lage befinden.
Man denke sich einen Familienvater, der vor zwölf oder fünfzehn Jahren
aus einem Kapitalvermögen von 100 000 Mark 5 Prozent, also 5000 Mark
Rente zog. Wir nehmen an, daß er davon leben konnte, oder wenn er auf
höherer Gesellschaftsstufe stand, daß diese Zubuße zu seinem Erwerbseinkommen
genügte, um die Familie standesgemäß zu erhalten. Dieser Mann konnte sein
Kapital nicht vermehren, weil er weder spekulirte, noch auch etwas zurückzulegen
vermochte. Heute nun hat sich die Rente aus seinem Kapital von 5000 auf
weniger als 4000 vermindert. Er kann also nicht mehr auskommen, sondern
muß entweder, was bekanntlich sehr schwierig ist, die Bedürfnisse seiner Familie
beschränken, oder von seinem Kapital zusetzen.
Wenn von Kapitalisten gesprochen wird, so schwebt der Menge immer das
Bild eines Mannes vor, der morgens einige Stunden in seinem eleganten
Kabinet mit Kuponabschneiden beschäftigt ist, der dann in den Klub fährt, von
da zu einem üppigen Diner geht und abends gähnend in seiner Loge sitzt. Das
sind aber nur seltene Ausnahmen, und selbst diese werden, wenn sie nicht Gro߬
oder spekulirende Kapitalisten sind, den Rückgang des Zinses mit wenig Behagen
empfinden. Die große Menge der Kapitalisten aber sind Leute, die außerdem
sehr angestrengt arbeiten, ja arbeiten müssen, um auszukommen, oder solche,
die, nachdem sie aus irgendeinen: Grunde nicht mehr arbeiten und erwerben
können, mit ihrem Lebensbedarf auf die Erträgnisse ihres ersparten oder er¬
erbten Kapitals angewiesen sind. Alle diese Leute befinden sich in gedrückter
Lage, und es ist unter Umständen selbst der Besitzer einer halben Million nicht
ausgeschlossen, wenn 20000 Mark für den standesgemäßen Unterhalt seiner
Familie nicht ausreichen. Es ist eine arge Täuschung, wenn man, wie es ge¬
wöhnlich geschieht, die Not auf die unteren Klassen beschränkt glaubt. Nein,
sie steigt hoch hinauf in die höheren gesellschaftlichen Stufen. Jene Familie,
die an gebildete Geselligkeit, an ausgedehnte Lektüre, ein musikalische und andre
künstlerische Beschäftigungen gewöhnt ist, befindet sich nicht minder im sozialen
Elend, wenn sie diese geistigen Bedürfnisse einschränken muß, als eine Arbeiter¬
familie, die an Kleidung oder Nahrung ersparen muß. Das musikalische In¬
strument, das jene gebildete Familie etwa zu verkaufen genötigt wäre, würde
von größerem Elend zeugen als die Kommode, welche der Arbeiter ins Pfand¬
haus trägt.
Aber auch die kleinen und oft sehr kleine Leute sind Kapitalisten, und auch
sie haben unter dem Rückgange des Zinsfußes zu leiden. Werfen wir wieder
einen Blick aus die Sparkassen, denn dies sind Anstalten, wo eben nur kleinere
Leute ihre Ersparnisse hintragen. Im Königreich Sachsen, dessen betreffende
Statistik am vollständigsten vorliegt, betrugen die Spareinlagen 1857 14109108
Mark, 1881 349088 702 Mark. Es kamen auf ein Einlagebuch 1850 148,86
Mark, 1871 364,18 Mark und auf den Kopf der Bevölkerung 1850 eine Ein¬
lage von 7,32 Mark, 1871 115,77 Mark. Ein Einlagebuch war 1850 in den
Händen je des 20,32. Einwohners, 1871 je des 3,15. Einwohners.
Ein noch überraschenderes Bild erhält mau, wenn man die Bevölkerung
unter zwanzig Jahren, die ja noch nicht als selbständig gelten kann, außer
Betracht läßt. Alsdann kommt eine Einlage von 362,18 Mark auf 58 Pro¬
zent der Bevölkerung oder 212,22 Mark auf jeden Einwohner über zwanzig
Jahre, ob männlich oder weiblich. Aber auch diese Summe wird sich noch recht
wesentlich erhöhen, wenn man bedenkt, daß doch nur ein Teil der sparenden
Einwohner zu den Kunden der Sparkassen gehört, daß die oberen Stufen von
der Benutzung der Sparkassen teils statutarisch, teils durch ihre Gewohnheiten
ferngehalten werden, und daß für die untern Stufen noch zahlreiche andre
Kassen bestehen, die sich mit der Ansammlung ihrer Ersparnisse beschäftigen.
In Preußen ergiebt sich eine Einlage von 118 Mark auf jede über zwanzig
Jahre alte Person, und es überschreitet die Hälfte aller Einlagen (nämlich
1>/-i Millionen von 3 363 518) nicht den Betrag von 150 Mark.
Wenn nun aber auch bei Hypotheken, deren Beleihung ein hauptsächliches
Geschäft der Sparkassen ist,") der Rückgang des Zinsfußes sich wegen der
größeren Abhängigkeit der Schuldner von den Gläubigern und infolge der
großen Stabilität dieses Obligationsverhältnisses erst später geltend gemacht
hat als im freie» Darlehnsverkehr, so sind doch alle Sparkassen seit Ende der
siebziger Jahre genötigt gewesen, den Zins, den sie ihren Einlegern gewähren,
um bis 1 Prozent herabzusetzen.
So ist es deun klar, daß auch die kleinen Leute, ja wie wir gezeigt haben,
daß alle unter dem Druck des Zinses leiden. Es ist also die größte Thorheit,
die Meinung gegen das Kapital aufzuhetzen und einen Klassenkampf zu erregen**)
unter Bürgern, welche in diesem Punkte durchaus keine entgegengesetzten Inter¬
essen haben. Allerdings ist es wahr, daß den Gläubigern die Schuldner gegen¬
über stehen, und daß die letzteren von dem niedrigen Zinsfuße Nutzen haben.
Allein dies ändert an der Thatsache nichts, daß die Kapitalisten in gedrückter
Lage sind. Vielleicht gleicht sich bei einigen oder auch bei vielen Nachteil und
Vorteil aus, indem sie zugleich Kapitalisten und Schuldner sind, aber gerade
bei den kleinsten Leuten wird dies kaum der Fall sein. Jedenfalls sind die
vorgetragenen Ergebnisse der Sparkassenstatistik gerade für das Königreich
Sachsen sehr bemerkenswert, weil dieses Land mehr als jedes andre von der
Sozialdemokratie unterwühlt ist und von dem Geschrei: Der Racker, das Kapital!
ertönt. (Fortsetzung folgt,)
ein Bundesrate ist neuerdings ein Gesetzentwurf vorgelegt worden,
welcher eine Vereinfachung der Schwurgerichte und damit eine
Erleichterung der Erfüllung des Geschworeneudieustes bezweckt.
Nach der bestehenden Gesehgebung sind zu den jedes Quartal
stattfindenden Schwurgerichtssitzungen, welche oft mehrere Wochen
dauern, stets dreißig Hauptgcschworene berufen, aus welchen je vor Beginn der
Verhandlung eines Falles zwölf Personen ausgelost werden, welche dann für
den betreffenden Fall Dienst zu leisten haben? die nicht gezogenen Personen sind
für diesen Fall zum Dienste nicht berufen, sie müssen dagegen je zu Beginn der
nächsten Verhandlung wieder erscheinen, um sich einer neuen Auslosung zu
unterziehen und können deshalb, auch wenn sie an dem betreffenden Tage nicht
zum Dienste nötig sind, sich vom Sitzuugsorte nicht entfernen, wenn sie nicbt
in allernächster Nähe wohnen, da sie jeden Morgen wieder anzutreten haben
und nur eine einmalige Entschädigung für Hin- und Rückreise auf die ganze
Dauer der Sitzungsperiode erhalten. Die Geschworenen sind also jedes Quartal
in der Regel mehrere Wochen ihren Geschäften entzogen, liegen unthätig in
der Gerichtsstadt und haben einen erheblichen Aufwand zu bestreiten, der ihnen
nicht ersetzt wird. Zur Verminderung dieser Übelstände schlägt der obenerwähnte
Gesetzentwurf vor, statt dreißig Hauptgeschwvrenen nur dreizehn aufzulösen und
zur Entscheidung im einzelnen Falle statt zwölf nur sechs Geschworene zu be¬
rufen, welche über die Schuld des Angeklagten zu entscheiden haben, und eine
Frage zum Nachteile des letzteren mit vier gegen zwei Stimmen entscheiden.
Zur weiteren Sicherheit des Angeklagten hat der Entwurf die Bestimmung auf¬
genommen, daß, wenn die dem Angeklagten nachteilige Entscheidung nur mit
vier gegen zwei Stimmen gefällt ist, das Gericht selbst (d. h. das Kollegium
der rechtsgelehrten Richter) in Beratung zu treten hat und ohne Angabe von
Gründen über den von den Geschworenen zum Nachteile des Angeklagten fest¬
gestellten Punkt entscheidet.
Von den fortschrittlichen und sonstigen Oppositionsblättern wird der Gesetz¬
entwurf als eine reaktionäre Maßregel äußerster Gattung augegriffen und das
Volk zur Verteidigung seiner Freiheit gegen diesen hinterlistigen Überfall auf¬
gerufen. Es wird ausgeführt, daß die Haupttendenz des Entwurfs eine Herab-
drückung des Geschworenengerichts seiner juristischen und moralische» Bedeutung
nach sei, daß die Selbständigkeit und das Selbstbewußtsein des Einzelnen in
dem Maße vermindert werde, wie der Einfluß zunächst des Obmannes und dann
haupsächlich der des gelehrten Richterkollegiums steige, daß durch die Herabsetzung
der Zahl der Geschworenen diese ans ihrer Stellung als gleichberechtigter Faktor
gegenüber dem (aus drei Mitgliedern bestehenden) rechtsgelehrten Richterkollegium
verdrängt würden, und daß die Bestimmung, der zufolge bei Entscheidung der
Schuldfrage zum Nachteile des Angeklagten der Gerichtshof noch einmal selb¬
ständig über die Schuldfrage entscheiden solle, eine „geradezu ungeheuerliche"
sei, weil er das Prinzip, auf dem die Schwurgerichtsbarkeit aller Staaten be¬
ruhe, vollständig durchbreche. Schon an und für sich im Interesse des An¬
sehens der Geschwvrenenbank müsse das Hinübergreifen der Wirksamkeit des
Gerichtshofes in die Sphäre der Geschworenen bekämpft werden, es müsse dies
aber auch ans praktischen Erwägungen geschehen. Es liege ans der Hand und
sei dnrch die Erfahrung vielfach bestätigt worden (?), daß, falls die Richter
eine derartige Mitwirkung ausüben, die Geschworenen die Verantwortlichkeit
von sich abzuwälzen suchen, sie verurteilten in zweifelhaften Fällen, sodaß das
Richtcrkollegium die schließlich? Entscheidung in der Hand habe und die Ge¬
schworenen jeder eigentlichen Verantwortlichkeit überhoben seien. Keine Partei,
die das Interesse des Volkes vertrete oder vertreten wolle, werde es wagen,
für ein Gesetz einzutreten, das bestimmt sei, den Einfluß des Laienelements auf
die Rechtsprechung zu brechen.
Es ist in diesen Blättern die Widersinnigkeit, Gefährlichkeit und Unbrauch-
barkeit des ganzen Geschworcneninstitnts schon früher so schlagend nachgewiesen
und gezeigt worden, welch völlig andre Motive als diejenigen einer geord¬
neten unparteiischen Rechtspflege dem Verlangen nach Beibehaltung dieser Ein¬
richtung bei einer großen Zahl der lautesten Schreier für dasselbe zugrunde
liegen, daß es nicht erforderlich ist, diese Darlegung hier zu wiederholen. Wenn
Wir aber auch von diesem prinzipiellen Standpunkte absehen und uns auf den
des Bestandes dieses unglücklichen Instituts stellen, so ist in keiner Weise zu
erkennen, inwiefern die vorgeschlagenen Änderungen die von der Opposition er¬
hobenen Einwendungen rechtfertigen könnten. Es ist weder gezeigt, warum das
Selbstbewußtsein oder die Selbständigkeit eines Geschworenen leiden sollte, wenn
er in einer Vereinigung von sechs statt von zwölf Personen zu urteilen hat;
es ist in keiner Richtung dargethan, wie der Einfluß des Richterkollegiums auf
die sechs Geschworenen ein größerer sein sollte als auf die bisherigen zwölf,
da auch die sechs Geschworenen ganz ebenso wie die bisherigen zwölf ohne jede
Kommunikation mit dem Gerichtshofe in ihrem abgeschlossenen Zimmer sich zu
entscheiden haben; jedes Beweises, ja selbst jedes plausibel« Vorwandes ent¬
behrt der Behauptung, daß sechs Geschworene kein gleichberechtigter Faktor
gegenüber den drei rechtsgelehrten Mitgliedern des Gerichtshofes seien, da doch
die Zahl in der Zusammensetzung der einzelnen Faktoren deren Gewicht und
Bedeutung nicht bestimmen kann; endlich ist die Entrüstung über die „geradezu
ungeheuerliche" Bestimmung, daß der Gerichtshof eine mit vier gegen zwei
Stimmen zum Nachteile des Angeklagten durch die Geschworenen entschiedene
Frage selbständig zu prüfen habe, eine offenbar auf die Gedankenlosigkeit der
Leser berechnete Finte, denn wer diese Bestimmung auf ihren Inhalt ansieht,
muß sich doch sofort sagen, daß hier von einer Benachteiligung des Angeklagten
auch nicht im entferntesten die Rede sein kann. Ist der Angeklagte von vier
Geschworenen für schuldig erklärt worden, so hat ja der Gerichtshof höchstens
das Recht, ihn ebenfalls schuldig zu finden, und dann ist der Angeklagte von
zwei verschiednen Instanzen gleichmäßig schuldig befunden worden; findet er ihn
aber entgegen der Ansicht der Geschworenen nichtschuldig, so kann er nichts
thun als ihn freispreche». Für die so oft und laut begehrte Sicherung des
Angeklagten gegen ungerechte Verurteilung ist also mit der Bestimmung des
Entwurfes nur eine weitere Vorkehrung getroffen. Man sieht hiernach in der
That nicht ein, wozu der Lärm.
Die Wortführer der Opposition haben ja allerdings stets ihre Gründe,
eine von der Regierung vorgeschlagene Maßregel als reaktionär anzuschwärzen,
wenn sie hoffen können, ihre Freiheitsliebe bei dem fraglichen Anlasse aufs
neue ins Licht zu stellen; die große Mehrzahl der belästigten und in ihren
Geschäften beeinträchtigten Geschworenen aber, die schon jetzt alle erdenklichen
Mittel anwenden, um sich der ihnen auferlegten Last möglichst zu entziehen,
werden es mit Dank anerkennen, daß die Negierung einen Weg vorgeschlagen
hat, auf welchem die Gesetzgebung ihnen diese Last einigermaßen erleichtern kann.
leichzcitig damit, daß die Größe des Bausches auf ein bescheidnes
Maß zurückgeführt und die durch denselben gebildete Linie in har¬
monisches Verhältnis zur Linie des Überschlages gesetzt wird,
schwindet anch eine andre Eigentümlichkeit der älteren Tracht,
welche jedem, der einmal altertümliche Bildwerke in Skulptur oder
Malerei gesehen hat, aufgefallen sein wird: der Brauch nämlich, die unteren,
herabhängenden Ränder der Kleider, am Überschlag vornehmlich, aber auch am
eigentlichen Chiton selbst, in großen Ecken auszuschneiden und längs der Seiten
der durch diese Einschnitte entstandenen Winkel lauter kleine regelmäßige Zickzack¬
falten hervorzubringen, welche sicherlich, worin ich Bostan vollkommen beistimmen
muß, nur durch künstliche Mittel, als Brenneisen, Stärken, Pressen und Auf¬
nähen, zu erzielen waren. Man darf diese ganz symmetrisch fallenden, mit pein¬
licher Sorgfalt einander korrespondirende Faltenzüge in den Bildwerken sicherlich
nicht bloß als eine Folge des archaischen Kunststiles, welcher darin von der
wirklichen Tracht sich entfernt oder dieselbe in übertrieben zierlicher Weise zum
Ausdruck gebracht hätte, betrachten; hier haben wir offenbar Nachahmung einer
gar mühselig und kunstvoll gefalteten, gesteifter und geplätteten Garderobe,
was umsomehr durch die Beobachtung bestätigt wird, daß diese regelmäßigen
Falten ganz vornehmlich an denjenigen Teilen der Kleidung hervortreten, welche
man als leinene, demnach zum Stärken geeignete zu betrachten hat, dagegen
viel weniger oder auch garnicht an den Teilen, welche durch die ganze BeHand¬
lungsweise sich als Wollenstoffe kennzeichnen. Es ist schwerlich zu weit ge-
gangen, wenn Bostan (der im übrigen in seiner Darstellung des Wechsels der
Mode von meiner Auffassung meist sehr wesentlich abweicht) auf Grund einiger
Denkmäler annimmt, daß bisweilen solche künstliche Falten sogar direkt beson¬
ders gearbeitet und dem Gewände aufgenäht worden sind.
Zu der im vorhergehenden beschriebenen Tracht treten nun selbstverständ¬
lich ebenfalls noch Oberkleider oder mantelartige Kleidungsstücke hinzu. Die
Art, diesen Mantel zu tragen, ist aber wiederum sehr mannichfaltig. Zunächst
wird er häufig ganz in der oben beschriebenen Weise als Unischlagetuch be-
handelt, sodaß zwei Zipfel vorn über die Schultern herabfallen, und zwar ent-
weder so, daß das Tuch dabei den ganzen Rücken bedeckt und hinten noch weiter
herabfällt, oder so, daß es, ähnlich einem Shawl oder einer sogenannten Echarpe,
mehrfach zusammengelegt, bloß um einen Teil des Rückens gelegt wird und
demnach auch in mehrfachen Lagen über die Arme nach vorn fällt. Zweitens
ist sehr gewöhnlich die später allgemeine Art des Anlegens, wobei das Himation
vom Rücken her mit dem einen Ende über die linke Schulter gelegt und mit dem
an den Körper gepreßten linken Arme festgehalten wird; darauf wird das Tuch
in ganzer Breite über den Rücken hinweggezogen und auf der rechten Seite
wieder nach vorn geführt: entweder über die rechte Schulter und den rechten
Arm hinweg oder unter der rechten Achsel hindurch, sodciß der rechte Arm und
die Schulter frei bleiben. Schließlich wird dann das so nach vorn geführte Ende
quer über den Leib geschlagen und wieder über die linke Schulter nach hinten
geworfen, sodaß der zuerst über diese Schulter geworfene Zipfel nunmehr durch
die Last des letzten, darüber gelegten Endes (in der Regel wird das Gewicht
dieser Zipfel noch durch eingenähte kleine Thon- oder Bleikugeln erhöht) voll¬
ständig festgehalten wird. Eine dritte Art, das Himation umzulegen, ist die,
daß es von der rechten Schulter quer über die Brust zur linken Hüfte herab¬
geht, wobei die linke Brust frei bleibt und die Zipfel an der rechten Seite des
Körpers herabhängen. Bostan nimmt an, daß hierbei häufig das Himation
auf der Schulter durch Nadeln festgehalten oder auch zusammengenäht gewesen sei.
Es ist dies jedenfalls auch in gewissen Fällen zuzugeben, dagegen möchte ich
seine weitere Behauptung, daß das Himation ursprünglich überhaupt kein zum
bloßen Umwerfen, sondern ein zum Festnadeln bestimmtes Gewand gewesen sei,
doch bezweifeln.
Die oben beschriebene Tracht des Chitons, welcher durch Gürtnng und
Nadelung Bausch und Überschlag bildet, nebst dem darüber geworfenen Himation,
bleibt auch in der Folgezeit bestehen und scheint sich in der griechischen Tracht
sehr lange erhalten zu haben. Selbstverständlich ist sie aber niemals die alleinige
gewesen. Teils behielt man zwar ihre Form bei, machte sich aber die Kleidung
selbst etwas bequemer, indem man den Überschlag wiederum, wie wir es schon
früher gefunden haben, als besondres, für sich anzulegendes Kleidungsstück ar¬
beitete; teils wählte man überhaupt auch wieder Kleidungsstücke von anderm
Schnitt oder veränderte die Art, sie zu tragen, wofür die späteren Vasenbilder,
namentlich auch unteritalischer Fundorte, zahlreiche Belege liefern. Auch in der
Folgezeit kommt es nicht selten vor, daß der Überschlag so lang gezogen wird,
daß er unterhalb des Gürtels liegt, und daß der Bausch entweder ganz fehlt
oder, wenn er angebracht wird, oberhalb des Überschlag-Endes zu liegen kommt,
statt wie bei der klassischen attischen Tracht, unterhalb desselben. Die Gürtung
fehlt mitunter ganz, in andern Fällen liegt sie nicht, wie die Natur es mit sich
bringt, unmittelbar über den Hüften, sondern (ähnlich wie zur Zeit des Em¬
pire) dicht unter der Brust. Auch das mit genähten Ärmeln versehene Gewand
tritt wieder auf; entweder so, daß es mit dem Untergewande zusammenhängt,
oder so, daß es besonders als ein nur Oberkörper und Leib bedeckendes Über¬
kleid gearbeitet ist, welches rings eingeschlossen und an den durch Knöpfe ge¬
schlossenen Ärmeln behufs Anziehens zu öffnen war. Dagegen wird es auch
in der späteren Zeit niemals Mode, gemähte Kleider so einzurichten, daß sie
vorn auf der Brust geschlossen werden: darin bleibt sich die griechische Tracht
getreu, daß sie fast regelmäßig den Busen mit einer einheitlichen, durch keine
Naht oder Verschluß geteilte Kleidfläche bedeckt. Nur die ältere Tracht, welche
auch am Unterkleide Längsstreifen bis zu den Füßen herabführt, kennt eben¬
solche streife» zwischen den Brüsten; wo dergleichen aber sich später findet,
kann man es, vielleicht einige Ausnahmen abgerechnet, als Nachahmung archai¬
scher Tracht ansehen. Nationale Eigentümlichkeiten können wir aber in der
Frauentracht der späteren Zeit nicht mehr verfolgen, obgleich es sicher ist, daß
solche auch weiterhin sich noch erhalten haben.
Bei weitem geringer sind die Veränderungen, welche die männliche Tracht
im Laufe der Jahrhunderte in Griechenland durchgemacht hat. In der heroischen
Zeit ist die übliche Tracht der um die Hüften gegürtete Chiton und die den
Mantel, das spätere Himation, bedeutende Chlaena. Der Chiton wird teils kurz,
teils lang, bis zu den Füßen reichend, getragen. Den langen Chiton trugen,
wie das Helbig a. a. O. aus zahlreichen Beispielen nachweist, vornehmlich
Männer vorgerückten Alters und vornehmen Standes; er ist Pracht- und Fest¬
gewand, und keineswegs bloß speziell ionisch, wie vielfach geglaubt wird, sondern
auch bei den Doriern in Gebrauch. Die Bedeutung als Festkleid hat der lange
Chiton auch später noch beibehalten: Priester, Kitharöden, Flötenbläser, Wagen¬
lenker in heiligen Spielen u. s. w. trugen ihn selbst in klassischer Zeit, und ebenso
ist er die stehende Tracht der tragischen Schauspieler geworden. Sonst aber
ist die gewöhnliche Tracht, namentlich wo es gilt, sich frei und ungehindert zu
bewegen, wie im Kriege, auf der Jagd, bei Handwerkerarbeit u. s. w., der kurze
Chiton. Über den Schnitt der älteren Männertracht werden wir allerdings
durch Homer nicht unterrichtet; dafür treten hier wieder die Vasenbilder zum
Ersatz ein- Wir ersehen daraus, daß wie bei der weiblichen Tracht die ältere
Mode keine weiten, faltigen Gewänder, sondern nur schmale, enganliegende kennt.
Der kurze Chiton liegt ganz knapp, fast trikotartig, dem Körper an (Helbig,
S. 129); der lange Chiton fällt wie in der Frauentracht senkrecht herab, wäh¬
rend für den Oberleib allerdings jene Jacken, welche wir oben kennen gelernt
haben, bei der männlichen Tracht nicht vorkommen, sondern am Oberkörper eben¬
falls der Chiton eng an den Körper sich anlegt. Da das Himation von den
Männern ebenso straff und faltenlos und auch ganz in demselben Wurf um¬
gelegt wird, wie vou den Frauen, so sind auf den älteren Denkmälern die
Männer, wenn sie das Himation tragen, oft von den Frauen der Tracht nach
garnicht zu unterscheiden. Darüber, wie dieser ältere Chiton angelegt war,
lassen die Vasenbilder kein sicheres Urteil zu; soviel ist sicher, daß er nicht bloß
durch Nadeln befestigt werden konnte, sondern nach bestimmtem Schnitt zusammen¬
genäht sein mußte.
Der Gebrauch des kurzen Chitons für jüngere Männer, des langen für
ältere und bei besonders festlichen Anlässen bleibt auch in der Folgezeit noch
bestehen; nur wird der Chiton weiter und faltenreicher, erscheint bald mit kurzeu
Ärmeln, bald ohne solche, oder auch in der Form der auf der einen Schulter
gelösten, die Brust halb frei lassenden Exomis; dazu treten dann ferner jene
durch künstliche Stärkung und Bügelung hergestellten regelmäßigen Zickzack¬
falten, welche wir schon in der Frauentracht kennen gelernt haben und welche die
zierliche Mode der damaligen Zeit auch der Männertracht nicht ersparte. Immer¬
hin ist nicht entfernt von jener Mannichfaltigkeit und dem verhältnismüßig schnellen
Wechsel in der Mode der Männerkleidung die Rede, wie das bei der weiblichen
der Fall ist. Nach dem Zeugnis des Thukydides an einer bekannten Stelle
(I, 6) kam die Mode des langen Chitons in Athen erst im fünften Jahr¬
hundert v. Chr. ab; ältere Männer aus den wohlhabenderen Ständen trugen
noch bis kurz vor Thukydides' Zeit den langen Chiton und die altertümliche
Haartracht (über welche später); und die Sitte, durchweg die gleiche maßvolle
Tracht, d. h. einen kurzen Chiton, anzulegen, soll zuerst in Lcckedümvn auf¬
gekommen sein. Auf einen Wechsel in der Tracht hat man aus den Worten
des Thukydides nicht gerade zu schließen; sie besagt nichts andres, als daß,
während früher langer und kurzer Chiton (welche sich vermutlich nicht durch
den Schnitt des obern Teiles, sondern nur durch Läuge und Stoff unter¬
schieden, indem der lange immer, der kurze von Wolle war) neben einander
getragen wurden, später der kurze Chiton der allgemein übliche wurde. Wo
wir seitdem Männer oder Jünglinge im bloßen Chiton dargestellt sehen, ist es
denn auch überall der kurze; und dazu tritt dann für die Straßentracht das
Himation, welches in jener Weise umgelegt wird, wie wir es von da ab immer
finden, d. h. von der linken Schulter über den Rücken nach vorn herüberge¬
zogen. Nur ist zu bemerken, daß hinsichtlich der Männertracht die Vasenbilder
uns weniger Ausschluß geben als über die Frauentracht; denn während diese
offenbar meistens, wenn auch keineswegs durchweg, im Anschluß an die Wirk¬
lichkeit und zumal in älterer Zeit an die jeweilen herrschende Mode gegeben
wird, bürgert sich bei den Männern auf den Bildwerken eine Art von Jdcal-
tracht ein, welche in vielen Fällen der Wirklichkeit garnicht entsprach. So wird
es z. B. ganz allgemein, daß Epheben auf Kunstwerken in der bloßen Chlamys,
dem (ursprünglich thessalischen) Reisemantel, ohne jedes Untergewand erscheinen,
während doch im Leben niemand so einherging, sondern uuter der Chlamys
den Chiton trug; ebenso finden wir hänfig Männer ohne Chiton im bloßen
Himation, was gleichfalls im Leben zwar nicht unerhört, aber auf alle Fälle
selten war.
Weniger gut als im Schnitt läßt sich der Wechsel der Mode auf den
Bildwerken in Bezug auf Farben, Muster und Stoffe verfolgen. Ob gewisse
Farben vorübergehend besonders beliebt gewesen seien, können wir aus den
monumentalen Quellen selbstverständlich garnicht entnehmen, und auch die litera¬
rischen geben uns darüber keinen Aufschluß. Was die Muster anlangt, so
treten hier allerdings wiederum die Vasenbilder als Zeugen ein. Wir ersehen
daraus, daß vornehmlich die ältere Zeit bunt gemusterte Stoffe, entweder mit
rein ornamentalem oder auch mit figürlichen Muster, sehr liebt. Ganze figuren¬
reiche Szenen, in Buutwirkerci oder Stickerei hergestellt, werden zur Kleidung
benutzt, wobei ebenso, wie die Dekoration an Gefäßen und andern Geräten der
ältern Kunst, die Anordnung in Reihen bevorzugt wird. Es begreift sich dies
übrigens, wenn man erwägt und auch an den Darstellungen selbst beobachtet,
daß eben jene alte Kleidertracht den Faltenwurf wenig oder garnicht kennt;
da sowohl der Chiton als der Mantel ganz straff um den Körper herumgelegt
sind, so können auch die figürlichen Szenen vollständig dabei zur Entfaltung
kommen und ohne Entstellung durch Falten oder Brüche gesehen werden. Auch
die rein ornamentalen Muster sind sehr häufig und zeigen große Mannichfaltig-
keit und Abwechslung, dagegen nur selten wirklich schöne Motive; besonders
beliebt sind Schachbrett- und Rankenmuster. Mit der Veränderung der Tracht
wird auch der Gebrauch der gemusterten Stoffe ein andrer. Für religiöse Ge¬
wänder, für Kultus-, Fest- und Schallspielertracht behält man zwar die bunt¬
gestickter Stoffe bei; dagegen nimmt die Musterung im gewöhnlichen Leben
nicht bloß bei der männlichen, sondern auch bei der Frauentracht mehr und
mehr ab oder wird, gegenüber der reichen, die eigentliche Grundfarbe des Kleides
fast ganz verdeckenden Hülle der Ornamente in der älteren Mode, auf ein be¬
scheidenes Maß zurückgeführt. Es gilt das namentlich (vergl. Helbig a. a. O.
S. 153) von dem in freien Falten brechenden Chiton, während die wenig oder
gar keine Falten werfenden, der ältern Bekleidungsweise sich nähernden Chitone,
denen wir mitunter auch später noch auf Vasen begegnen, ein energischeres
Muster aufweisen. Das gleiche gilt von den Himatien, welche auch später
noch, als man sie nicht mehr brcttartig steif wirkte und faltenlos über den
Rücken hängen ließ, sondern in reicherem Wurf sich umlegte, auch in klassischer
Zeit häufig mit reicher Wirkerei verziert waren, was Helbig gewiß mit Recht
darauf zurückführt, daß mantelartige Kleidungsstücke in loserer Beziehung zu
dem Körper stehen, und demnach die Beifügung eines den Eindruck der Formen
abschwächenden Musters minder störend wirkt als beim Chiton. Immerhin
sind auch solche bnntgemnsterte Mäntel jedenfalls Ausnahmen und Luxuskleider
gewesen; die Mode der beseelt Zeit zeigt auch darin ihren klassischen Schön¬
heitssinn,' daß sie Chiton und Mantel wesentlich aus einfarbigen Stoffen her¬
stellt und dafür an den Säumen und Borten Ornamente, welche meist von
außerordentlicher Schönheit und dabei edler Einfachheit sind, anbringt; diese
wirken hier nicht nur nicht störend, sondern tragen sogar in ausgezeichneter Weise
dazu bei, die Tracht als etwas selbständiges hervortreten zu lassen, ohne daß
die Deutlichkeit der Körperformen darunter litte. Im vierten Jahrhundert
v. Chr. fängt jedoch allmählich auch auf diesem Gebiete bereits wieder der Verfall
an, und seit der Zeit Alexanders des Großen wird auch bei rein hellenischer
Tracht reiche Musterung, namentlich auch mit figürlichen Darstellungen, immer
allgemeiner; besonders nnteritalische Vasengemälde zeigen darin große Üppig¬
keit. Es fehlt nicht an Beispielen unter deu Denkmälern, welche uns das Un¬
gereimte, Unästhetische dieser Mode erkennen lasse»; die reichen Muster verleihen
der ganzen Figur etwas unruhiges, die Körperformen treten unter dem Ge¬
wände vollständig zurück, und wenn sich bei figurenreichen Kanten oder Kleider¬
stoffen durch den Faltenwurf die Darstellungen verschieben oder übereinander
legen, so entstehen nicht selten ganz monströse Bildungen.
Was endlich den Stoff anlangt, so haben wir schon angeführt, daß in der
Frauentracht bei dem von Herodot bezeugten Wechsel der Kleidung der linnene
Chiton eingeführt wurde, ohne daß jedoch deshalb der Gebrauch wollener Stoffe
abgekommen wäre, bei den Männern dagegen mit Abnahme der langen Chitone
der wollene mehr allgemein wurde. Die ältere Kunst zeigt jedoch, nachdem
einmal die enganliegende Kleidertracht der ältesten Zeit abgekommen war, in der
Regel zwei Bekleidungsstoffe, einen feine und flache Falten werfenden und einen,
welcher mehr in großen und tiefen Falten bricht. Man kann nicht überall mit
Bestimmtheit behaupten, daß das zwei verschiedene Stoffe, jener Wolle, dieser
Leinwand sei; oft hat es sogar den Anschein, als seien nur zweierlei Qualitäten
desselben Materials, eine feinere, dünnere und eine gröbere, dickere damit ge¬
meint. Doch erweisen die häufige Anwendung der Leinwand die gerade in der
ältern Kunst so gewöhnlichen, regelmäßigen Zickzackfalten, die wir oben be-
sprochen haben und die wesentlich nur im Linnenstoff durch künstliche Mittel
hervorgebracht werden konnten. Wenn wir in den archaischen Denkmälern sehr
oft auf durchsichtige Gewänder stoßen, welche die Formen des Körpers voll¬
ständig durchschimmern lassen, so sind wir deshalb doch schwerlich berechtigt,
einen sehr verbreiteten Gebrauch wirklich durchsichtiger Gewänder für jene Zeit
vorauszusetzen. Wenn auch schon damals solche dünne Stoffe im Gebrauch
sein mochten, so beruht ihre so ausgedehnte Verwendung in den Vasengemälden
doch wohl mehr darauf, daß die Maler in ihrem Unvermögen, Formen und
Bewegungen des Körpers auch in der Gewandung hervortreten zu lassen,
andrerseits aber doch in dem Bestreben, dieselben nicht ganz lind gar durch die
Gewandung zu verdecken, eben dies als Auskunftsmittel wählten, daß sie die
Körperformen durch den Kleiderstoff durchschimmern ließen. In der Tracht der
Hetären waren freilich diese musselinartigen Gewebe immer beliebt; eine an¬
stündige Frau machte davon höchstens für Unterkleider Gebrauch. Daß aber
auch da die Mode mitsprechen möchte, können wir daraus schließen, daß die
durch ihre Feinheit und Durchsichtigkeit besonders berühmten Stoffe aus den
Webereien der Insel Amorgos offenbar nur vorübergehend, in der Zeit der
ältern attischen Komödie, besonders beliebt waren; spätere Erwähnungen dieser
Stoffe scheinen fast durchweg mehr gelehrte Anspielungen, als der thatsächlichen
Wirklichkeit entnommen zu sei».
Während nun in der Kleidung uns die Denkmäler einen weit reicheren
Aufschluß über den Wechsel der Mode gewähren als die schriftlichen Nachrichten,
liegt die Sache umgekehrt beim Schuhwerk. Denn obgleich die Männer im
Hause meist unbeschuht zu gehen pflegten und bei den Frauen die Sandalen
Wohl das ganze Altertum hindurch wenigstens für das Haus die herrschende
Tracht geworden zu sein scheinen, so zeigen uns doch die zahlreichen bei den
Schriftstellern erhaltenen Benennungen des Schuhwerkes, daß die Mode gerade
in diesem Teile der Tracht ganz besonders veränderlich war. Nach den Perser-
kriegen waren Schuhe nach persischem Schnitt in Mode; gleichzeitig finden wir
lakonisches Schuhwerk auch in Attika im Gebrauch. Später kommen rhodische,
thessalische, böotische, argivische, sikhvnische, amhkläische Schuhe auf, wobei es
sich jedenfalls immer mehr um Schnitt und Art, als um den Fabrikativnsort
handelte. Freilich können wir den Gebrauch dieser verschiedenen Gattungen nicht
chronologisch verfolgen, dafür reichen die Schriftquellen nicht aus, aber es ist
wahrscheinlich, daß die von irgendwelcher Stadt oder Landschaft ausgehende
Schuhtracht sich für längere oder kürzere Zeit auch weiterhin Geltung zu ver¬
schaffen wußte und ebenso „in die Mode kam," wie das andrerseits mit
Schuhen der Fall ist, welche einzelne Männer von Bedeutung, wie Alkibiades,
Jphikrates u. ni., aufbrachten und welche nach diesen ihren Erfindern benannt
wurden. Diese reiche Mannichfaltigkeit der Fußbekleidungen können wir aus
den Denkmälern nicht illustriren, obgleich es auch auf diesen nicht an Ab¬
wechslung fehlt.
Ob man bei den Schmucksachen, bei denen gewisse Unterschiede der früheren
gegen die späteren Zeiten vereinzelt zu beobachten sind, obgleich das Material
zu einer vollständigen Beurteilung derselben nicht ausreicht, ebenfalls von einem
Wechsel der Mode sprechen darf, oder ob man hier nicht vielmehr gerade da,
wie beim Mobiliar und Gerät, von einer stilistischen Entwicklung zu sprechen
hat, kann fraglich erscheinen; indessen ist letzteres jedenfalls viel begründeter.
Bei uns unterliegt gegenwärtig der Schmuck ganz und gar der Mode, d. h.
seine Form wird nicht bestimmt durch die natürliche Beschaffenheit des Goldes
als Substrat und durch die Entwicklung des Goldstiles im Zusammenhange mit
den übrigen dekorativen Künsten, sondern sie unterliegt jetzt wesentlich dem Be¬
liebe« oder besser der Willkür und größeren oder geringeren Erfindungsgabe
der Goldarbeiter, ganz ebenso wie heute die Kleidermoden mehr ein Produkt
der Fabrikanten von Kleiderstoffen und der Schneider sind als das einer selb¬
ständigen und naturgemäßen Entwicklung. Wir übergehen daher hier das Ka-
pitel der Schmucksachen, um uns schließlich der Haartracht zuzuwenden, bei
welcher wiederum in viel höherem Maße von wirklicher Mode die Rede ist.
Auffallenderweise sind es hier nicht, wie bei der Kleidung die Frauen, die
da in erster Linie in Betracht kommen, sondern die Männer. Zwar haben die
Frauen zu allen Zeiten einen großen Reichtum an Haararrangements gekannt,
und auch hierbei ist die Mode vou bedeutendem Einfluß gewesen; aber dieser
Einfluß der Mode fällt uns in den älteren Jahrhunderten der griechischen
Kultur bei der Haartracht der Müuner viel stärker auf als bei der der Frauen,
weil bei letzterer künstliche Haarmoden uns nicht verwunderlich erscheinen, wäh¬
rend sie uns bei jenen einigermaßen befremden.
Daß in der heroischen Zeit volles Lockenhaar den Schmuck des Mannes
ausmachte, darauf deuten neben dem so beliebten Epitheton der „hanptumlockten
Achäer" manche Stellen des Epos hin; verschiedene Andeutungen scheinen des
weiteren auch dafür zu sprechen, daß man dabei nicht die Locken fo fallen ließ,
wie die Natur es mit 'sich brachte, sondern sich künstlicher Vorrichtungen be¬
diente, welche den regelmäßigen Fall der Locken erleichtern und konserviren sollten.
Zwar wenn der „weibische Paris" mit seinem Horn prunkvoll genannt wird
und alte Erklärer dieses „Horn" als einen hornühnlich gedrehten Zopf oder
eine Flechte bezeichnen, so könnte man am Ende derartige Frisuren lediglich durch
Anwendung von Pomaden oder andern kosmetischen Mitteln sich hergestellt
denken; aber die Stelle (Ilias 17, 52), wo von den goldenen nud silbernen
Lockenhaltern des Troers Euphorbos die Rede ist, spricht deutlich genug von
künstlichen Haareiulageu. Daß diese Tracht des langen, regelmäßig gelockten
Haares zunächst längere Zeit im Gebrauch blieb, dafür sind die ältesten Skulptur-
denkmciler und Vasenbilder hinreichend Beleg, da wir bei diesen fast durch¬
weg langes, über den Nacken fallendes Haar sehen, welches meist (wie z. B. an
den sogenannten Apollostatuen von Thera, Orchomenos und Tenea) in ganz
regelmäßig steifen Flechten, die auch wohl horizontale Weitung aufweisen, herab¬
wallt, während kleine, ebenso peinlich genan arrangirte Löckchen die Stirn um¬
rahmen. Was nun die Hilfsmittel anlangt, mittels deren diese Haartracht
hervorgebracht wurde, so hat Helbig schon vor mehreren Jahren die Ansicht
aufgestellt und sie neuerdings in seinem obenerwähnten Buche (S. 166 ff.)
mit neuen Gründen unterstützt, daß die in alten Gräbern an verschiedenen
Punkten der alten Welt vorkommenden Spiralen aus Bronze-, Silber- oder
Golddraht dazu gedient hätten, die Locken daran zu befestigen. Obgleich in¬
dessen zur Unterstützung dieser Hypothese angeführt wird, daß in etruskischen
Gräbern diese Spiralen oft neben der Stelle, wo der Kopf der Leiche ruht
gefunden werden (und zwar gewöhnlich eine auf jeder Seite), so ist Helbigs
Vermutung doch keineswegs über allen Zweifel erhaben; und wenn von andrer
Seite (zuletzt von Hehdemanu) jene Spiralen als Ohrringe gedeutet worden
sind, so soll dies sogar ganz neuerdings (Journalnachrichten zufolge) durch
Aufsindung eines Terracottcckopfes, in dessen Ohren noch die Spiralen befestigt
sind, direkte Bestätigung gefunden haben. Außerdem dürfte es schwer sein,
Frisuren wie die des Apoll von Tenea z. B. mit Hilft solcher Spiralen her¬
zustellen. Man wird sich also die Lockenhalter der heroischen und der Folgezeit
etwas anders denken müssen; vielleicht war das Silber und Gold, womit der
Troer Euphorbos seine Flechten „zusammenschnürte," bloßer Gold- und Silber¬
draht ohne bestimmte Form.
Daß langes Haar auch in der nächstfolgenden Zeit, bis ins fünfte Jahr¬
hundert hinein, von den Männern getragen wurde, das lehren neben verschie¬
denen Schriftsteller wiederum ganz besonders die Denkmäler; ja wir finden in
denselben nicht selten Haar von solcher Länge und Fülle dargestellt, daß es uns
geradezu wunderbar erscheinen muß, wie der Haarwuchs des männlichen Ge¬
schlechts selbst durch die sorgfältigste Pflege in solchem Maße gefördert werden
konnte. Indessen wird es nunmehr seltener frei herabwallend getragen, zum
mindesten wird es, ungefähr in der Nackengegend, dnrch ein Band oder einen
Reif eingeschnürt und breitet sich darum erst unterhalb desselben wieder in
breiterem Falle über den Rücken aus, oder es wird der Schöpf, nachdem er an
der einen Stelle eng zusammengeschnürt worden ist, unterhalb mit Schnüren
und Bändern umwunden, beziehentlich durchflochten, sodaß er zwar breiter als
an der Einschnürnngsstclle ist, von einem freien Fall aber keine Rede mehr sein
kann, wie das ätherische Grabrclief eines den Diskus auf der Schulter tragenden
Epheben dies zeigt. Andrer Art wiederum ist dann diejenige Haartracht, bei
welcher der Haarschopf in der Weise zusammengebunden wird, daß er einem
breiten und ziemlich dicken Baude gleicht, diese Haarlage wird ein kleines Stück
des Nackens hinabgeführt, dann wieder nach oben aufgenommen und dort mit
dem andern aufs neue durch ein Band zusammengebunden, sodaß der letzte Nest
des Schopfes über dieses Band hinwegfällt. Diese Haartracht finden wir z. B.
an dem archaischen Vronzelopf des Zeus ans Olympia, auf dem Relief des
(fälschlich) sogenannten Theseus von der Akropolis u. ö,; sie ist auch bei gleichem
Prinzip nicht überall die gleiche, indem der angebundene Haarschopf bald ziem¬
lich tief im Nacken liegt, bald von diesem wieder in die Höhe bis zum Hinter¬
kopfe hinaufgeht.
Das häufigste aber ist, daß auch die Männer sich ihr langes Haar in
Zöpfe flechten; und zwar kommen dabei verschiedene Verfahrungsweisen zur
Anwendung, über welche Th. Schreiber in den „Mitteilungen des deutschen
archäologischen Instituts in Athen" Bd. VIII (1833), S, 246 ff. eingehend
gehandelt hat. Gemeinschaftlich ist den verschiedenen Arten dieser Mode, daß
die Zöpfe um den Kopf gelegt werden; bei der einen Art aber gehen zwei
Flechten von der Mitte des Nackens nach entgegengesetzten Punkten anseinander
und legen sich wie Binden um den Kopf, bei der andern geht hinter jedem
Ohre ein Zopf aus, welcher rückwärts um den Nacken geschlungen wird, dort
sich mit dein andern kreuzt und dann wiederum nach vorn geführt über der
Mitte der Stirn mit dem andern zusammengeknotet ist. Im einzelnen ergeben
sich dann noch manche weiteren Unterschiede: entweder legt sich der Zopf bez.
Doppelzopf über das vom Scheitel nach der Stirn herabgestrichcue Haar wie
eine Taille und hält dasselbe fest; oder das Scheitel- und Stirnhaar ist über
die vorn zusammengebundenen Zopf-Enden darübergelcgt. Dazu treten dann
uicht selten noch andre Zöpfe, welche hinter den Ohren vorkommend in regel¬
mäßiger Anordnung vorn über die Schultern fallen und oft noch bis zur
Brust reichen. Das Stirnhaar ist meist nicht minder sorgfältig behandelt;
auch bei dieser Haartracht sind die ganz regelmäßig gelegten Stirnlöckchen, in
einer oder in mehreren Reihen angeordnet, sehr gewöhnlich.
Das sind die wesentlichsten archaischen Haartrachten, soweit wir sie auf
den Denkmälern finden; doch ist damit noch keineswegs die Menge der Varie¬
täten, welche sich beobachten lassen, erschöpft. Gegenüber dieser reichen Mannich-
faltigkeit berichten uns die Schriftsteller namentlich von einer altertüm¬
lichen Haartracht. In jener schon oben angeführten Stelle des Thukhdides,
welche uns von den laugen Chitonen berichtet, welche früher die Athener trugen,
wird zugleich erzählt, man habe gleichzeitig mit jener altväterischen Kleidung
auch die altertümliche Haaranorduung verlassen, bei welcher man das Haar in
den sogenannten „Krobylos" aufband und goldene „Cikaden" hineinsteckte.
Über diesen, auch von andern Schriftstellern erwähnten „Krobylvs," der identisch
zu sein scheint mit der anderwärts sich findenden Bezeichnung „Korymbos," sowie
über die goldenen Cikaden sind nun die verschiedenartigsten Ansichten aufgestellt
worden. Bald hielt man den im Nacken oder Scheitel kunstlos zusammenge¬
faßten und aufgebundenen Hnarkuoten, der anch später noch bei Frauen und
Kindern, sowie in Apollofiguren sehr häufig ist, für den Krobylos; bald meinte
man, wie Conze, in jener oben beschriebenen Art, den bandartig gefügten Haar-
schopf in eigentümlicher Weise am Hinterkopfe aufzubinden, den attischen Krobylos
zu erkennen, wobei dann eine dafür zur Verwendung kommende Nadel die Be¬
zeichnung Cikade geführt habe; bald glaubte man luden Cikaden einfache Fibeln zur
Befestigung der Haare zu erkennen. Helbig a. a. O. ist der Ansicht, daß jene
von ihm als Lockenhalter erklärten Spiralen auch später noch zur Verwendung
gekommen und wegen einer gewissen (aber doch gar fernliegenden) Ähnlichkeit
mit dem eingesunkenen Leibe der Cikaden benannt worden seien; Schreiber endlich
hält den oben besprochenen, wesentlich auf attischen Denkmälern vorkommenden
Dvppelzopf, welcher von den Ohren ausgehend vorn durch eine Cikaden-Nadel
befestigt worden sei, für den Krobylvs oder Korhmbos. Von allen diesen Hypo¬
thesen über die Cikaden zeichnet sich keine einzige vor den andern dnrch
größere Wahrscheinlichkeit aus. Denn wir finden eben ganz verschiedenartige
Haartrachten in alter Zeit offenbar gleichzeitig nebeneinander im Gebrauch,
sodaß ein Anhaltepunkt dafür, daß die eine oder die andre gerade der Krobylos
sei, fehlt; andrerseits ist für die Cikaden bisher noch keine plausible Erklärung
gefunden, und alle diejenigen Erklärer, welche dieselben als Nadeln, Fibeln u. s, w.
auffassen, müssen zugestehen, daß gerade bei der altertümlichen Haartracht der
Männer, trotz aller Künstlichkeit derselben, Nadeln oder dergleichen sich auf den
Denkmälern nicht nachweisen lassen; und ebensowenig hat man bisher Nadeln
gefunden, welche, wie man bisweilen auch zur Erklärung angenommen hat, als
Spitze oder Kopf eine Cikade zeigen oder durch ihre Form die eigentümliche
Benennung gerechtfertigt erscheinen ließen. Der in altertümlicher Weise frisirte
Kopf des Apollo vom Westgicbcl in Olympia zeigt allerdings Bohrlöcher,
welche auf Befestigung bronzenen Zierrath im Schöpfe deuten; wie aber derselbe
ausgesehen haben mag, können wir nicht wissen. Immerhin darf Schreiber für
seine Deutung des Krobylos sich darauf berufen, daß sie am meisten mit der
von den Alten gegebenen Erklärung in ihrer besten Version (denn die spätere
Zeit hatte natürlich vom Krobylos anch keine lebendige Kunde mehr und be¬
nutzte ältere Quellen) übereinstimmt.
Alle diese maiinichsaltigen archaischen Haartrachten, bei denen sich eine chrono¬
logische Reihenfolge schwerlich wird herstellen lassen, verschwinden nun aber — und
so finden wir auch hier wieder den Beweis für den ans sämtlichen Gebieten
des Lebens hervortretenden Schönheitssinn der klassischen Epoche — in der
zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts. Anspielungen bei Aristophanes zeigen
uns, daß damals nur uoch altfränkische Leute, die vermutlich auch noch im
langen Chiton einhergingen, von der Cikadentracht Gebrauch machten; auf den
Denkmälern der Skulptur fehlen sie so gut wie ganz und gar, und wenn die
Vasenmaler sie länger beibehalten, so hängt das damit zusammen, daß die
Malerei überhaupt länger an den alten Formen und Moden festhält als die
Plastik, wie sie ja auch stilistisch sich erst später frei entwickelt. Von jener Zeit
an verschwindet das lange, wallende Haar der Männer ebenso wie der Zopf;
ganz kurzgeschnittcne Haare tragen zwar nur Epheben und Athleten, aber auch
das Haar der Männer ist mit der Schere gekürzt und erhält seinen schönsten
Schmuck durch die Natur selbst, welche ja gerade dem Haar der südlichen wie
der orientalischen Völker die Gabe, sich anmutig zu kräuseln, verliehen hat.
Die Porträtköpfe aus jener und der folgenden Zeit zeigen uns in der schönsten
Form einen einfach gelockten, reichen und doch nicht zu üppigen, geschmeidigen
Haarwuchs. So scheint es in den nächsten Jahrhunderten im wesentlichen
geblieben zu sein; wenigstens finden wir in den Denkmälern nirgends mehr eine
Spur, daß künstliche Frisuren, wie sie die alte Zeit liebte, je wieder bei den
Männern Mode geworden seien. Wie die Zeit der Allongeperücken, des
Puters, des Zopfes für uns auf alle Zeiten vorbei ist, so kehrte auch die alte
Welt, nachdem sie einmal die Schönheit des natürlichen Haarwuchses erkannt
hatte, nie mehr zu der steifen und jedenfalls sehr mühsam herzustellenden Haar¬
tracht der Vergangenheit zurück. Damit soll nicht gesagt sein, daß man nicht
auch noch Abwechslung in der Art, sein Haar zu tragen und vom Friseur sich
stutzen zu lassen, gekannt hätte: es werden uns eine ganze Anzahl Namen
solcher Haarschnitte genannt: „der Garten" hieß der eine, „der Nachen" ein
andrer; aber wir wissen nicht, wie die beschaffen waren, weil die Denkmäler
uns keinen Aufschluß darüber geben. Höchst wahrscheinlich waren es anch
wesentlich nur Stutzer, welche auf dergleichen Dinge Wert legten.
Einen ähnlichen Wechsel der Mode hat auch die Barttracht im griechischen
Altertume durchgemacht. Die homerische,: Gedichte geben uns hierüber aller¬
dings keinen direkten Aufschluß; wohl aber, wie Helbig nachgewiesen hat, einen
indirekten Fingerzeig. Bei Homer wird in einem allbekannten Gleichnis das
Schermesser erwähnt. Da nun die Achäer lange Haare trugen und jedenfalls
nicht glatt rasirt zu denken sind, so fragt es sich, wozu sie denn eigentlich sich
des Schermessers bedienten. Hier hat denn Helbig durch den Hinweis auf
Analogien in ägyptischer »ut phönikischer Sitte, die ja auf die ältere hellenische
Kultur von bedeutendem Einflüsse gewesen ist, sowie durch Heranziehung alt¬
griechischer Denkmäler es durchaus wahrscheinlich zu machen gewußt, daß die
Jonier der homerischen Epoche, ebenso wie in alter Zeit auch die Dorier es
thaten, sich die Oberlippe rasirten. Freilich wäre dieser Periode noch eine ältere
vorausgegangen, welche diesen Brauch nicht kannte: denn die in mykenischen
Gräbern gefundenen Gvldmasken zeigen Schnurrbärte, und zwar ist derselbe an
den besterhaltenen Exemplaren so behandelt, daß der Gebrauch einer haarstci-
fendcn Pomade, sowie ein künstliches Beschneiden des Schnurrbartes angenommen
werden muß.
Die Denkmäler lehren uns weiter, daß die Sitte, sich die Oberlippe zu
rasiren, anch noch ziemlich weit in die folgenden Jahrhunderte hinein sich er¬
halten hat; doch ist sie nicht die ausschließlich herrschende, es kommt daneben
auch voller Backen-, Kinn- und Schnurrbart vor. Daß man in jener Zeit,
wo man für.das Kopfhaar die künstlichen Frisuren ersann, auch der Pflege des
Bartes große Sorgfalt widmete, ist selbstverständlich; nicht nur, daß man ihn
regelmäßig, und zwar meist in spitzer Keilform, Verschnitt, man schnitt auch
an einzelnen Partien, namentlich zwischen Unterlippe und Kinn, das Barthaar
kurz, sodaß eine so behandelte Stelle sich wesentlich von dem Gelock des übrigen
Bartes abhob; man kräuselte den Schnurrbart und drehte ihn in Bogen nach
oben; ja wenn man den archaischen Denkmälern auch darin Glauben beimessen
darf, so möchte man vermuten, daß sogar das Brenneisen nicht selten zur künst¬
lichen Lockenordnung des Bartes hat dienen müssen. Eine ganz freie, allen
Zwanges ledige und dabei doch maßvolle Barttracht tritt erst gleichzeitig mit
der entsprechenden Behandlung des Kopfhaares in der zweiten Hälfte des fünften
Jahrhunderts auf. Von da überließ man den Bart zwar nicht ganz seinem
natürlichen Wachstum, verschnitt ihn vielmehr in einer dem Oval des Gesichts
entsprechenden Form, anstatt der früher allgemeinen Keilform; wohl aber ver-
ziehende man auf alle künstlichen Hilfsmittel, wie Pomaden, zierlichen Locken¬
fall und dergleichen. Der Porträttypus des Perikles oder des Sophokles zeigt
uns das schönste Beispiel einfacher und dabei edel großartiger Barttracht, wäh¬
rend der Jdealkopf des Zeus von Otrieoli mit seinem künstlich geteilten Kinn¬
bart trotz aller Großartigkeit der Behandlung doch bereits wieder von der klas¬
sischen Einfachheit der Epoche des Phidias sich entfernt.
Seit Alexander dem Großen und seinen Nachfolgern kommt bekanntlich das
Rasiren des ganzen Gesichtes auf. Die Porträtbildungen lehren uns, daß na¬
mentlich bei älteren Männern, welche früher allgemein den Bart stehen zu lassen
Pflegten, es jetzt fast ausnahmslose Regel ist, sich den ganzen Bart abzunehmen;
Aristoteles, Menander, Posidipp u. ni. zeigen glattrasirte Gesichter. Jünglinge
und Männer im besten Alter freilich lassen auch in der Diadochenzeit den Bart
stehen; ältere Männer und Greise aber nur, wenn sie durch einen möglichst
langen und struppigen Bart sich als Anhänger der lyrischen Sekte bezeichnen
wollten, denn der lange Bart blieb noch bis weit in die Kaiserzeit hinein das
Kennzeichen des Philosophen.
Kürzer können wir uns fassen hinsichtlich der Haartracht der Frauen. In
welcher Weise in der homerischen Zeit das mit wohlriechenden Ölen und Po¬
maden, wovon ja die heroische Zeit einen so reichlichen Gebrauch machte, be¬
handelte Frauenhaar aufgebunden und angeordnet wurde, wissen wir nicht.
Als Kopftracht wird namentlich eine Haube hervorgehoben und eine irgendwie
damit in Verbindung stehende geflochtene oder gedrehte Binde erwähnt; Helbig
(a. a. O., S. 157 ff.) glaubt die gleiche Tracht in der Kopfbedeckung von Frauen
in altetruskischer Grabgemälden wiederzufinden, bei der man eine hohe, trichter¬
artige Haube und eine darüber gelegte Zeugbinde unterscheidet. Mag er nun
damit Recht haben oder nicht, auf jeden Fall ist die ganze Haarcmorduung,
wie sie uns Homer bei der Andromache beschreibt, durchaus orientalisch. Für
die Folgezeit sind in Ermanglung einschlägiger Schriftquellen wiederum die
Denkmäler unsre besten Führer. Sie zeigen uns, daß, wenn man absieht von
Kopfputz und Schmuck, die Haartracht der Männer wie die der Frauen in
der ältern Zeit wesentlich die gleiche war. Wir finden das lange, entweder
frei aufgelöste oder in einzelnen Flechten auf den Rücken herabfallende Haar
mit auf die Schultern fallenden Locken und den die Stirn umrahmenden kleinen
Löckchen; wir finden den im Nacken aufgebundenen Schöpf, ferner die oben
besprochene Tracht des bandartig gelegten und mehrfach zusammengebundenen
Haares (z. B. an dem Relief der wagenbesteigenden Frau und am Harpyien-
denkmal von Xanthos); wir treffen auch jenes Arrangement der mehrfach um
den Kopf gelegten Doppclzöpfe, in welchem Schreiber den Krobylos erkennen
will. Letztere Tracht findet sich sogar noch an den lieblichen Karyatiden des
Erechtheivns, doch vielleicht nur als Reminiscenz alten Brauches, da ein Fest¬
halten am Altertümlichen gerade bei diesen, hier gleichsam im Dienste der Göttin
stehenden Frauengestalten begreiflich ist; sonst gehen alle diese Haartrachten bei
der Frauenwelt offenbar ebensowenig wie bei den Männern über das letzte
Viertel des fünften Jahrhunderts hinaus. Um die Mitte des fünften Jahr¬
hunderts muß eine Zeitlang die Mode der bunten, den größten Teil des Haares
bedeckenden Kopftücher sehr stark herrschend gewesen sein; so malte Polygnot
seine Franc», lind diese Tracht finden wir anch in den Giebelfeldern von Olympia
wieder und an einigen der Frauengestalten im Ostfrics des Parthenon. Zu der
gleichen Zeit aber, dn die Männer sich von jenen steifen Frisuren zu emanzipiren
und ihr Haar kunstlos zu tragen beginnen, wird auch bei deu Frauen eine
einfach edle Haartracht immer allgemeiner: das Haar ist meist in der Mitte
gescheitelt, fällt sanft gewellt rechts und links herab und wallt hinten entweder
frei über den Rücken oder wird am Hinterkopf in einen kunstlosen Knoten zu¬
sammengebunden. Letztere Tracht, die. man heute noch als „griechischen Knoten"
zu bezeichnen Pflegt, bleibt die schönste anch für die Folgezeit, mag nun der
Knoten tief unten im Nacken oder etwas höher oder direkt am Hinterkopf an¬
gebracht sein. Im übrigen aber ist die Mannichfaltigkeit, welche nunmehr in
der Haartracht der Frauen eintritt und welche näher zu verfolgen außer den
Vasenbildcrn namentlich die Terraeotten Gelegenheit geben, ganz außerordentlich
groß. Es ist aber nicht unsre Aufgabe, hier die verschiedenen Arten der Kopf¬
tücher und Netze, Schleier und Binden, Stirureifen und Diademe, Nadeln und
sonstige Schmucksachen, welche in das Haar gesteckt oder geflochten wurden,
aufzuzählen oder all die zahlreichen Frisuren, welche wir im vierten und dritten
Jahrhundert finden, zu beschreiben. Es hat das für uns hier keine Bedeutung,
da wir nicht beurteilen können, ob in diesen verschiedenen Frisuren wirklich eine
von der Mode hervorgerufene chronologische Reihenfolge stattfand, oder ob
— was allerdings das Wahrscheinlichere ist — hier lediglich das Belieben und
der Geschmack jeder einzelnen Frau in Betracht kam und die Mode darin keine
Gesetze mehr vorschrieb. Bestimmte, eine Zeitlang herrschende und dann wieder
verschwindende Moden in der Haartracht der Frauen vermögen wir erst in der
römischen Kaiserzeit wieder nachzuweisen.
Wir schließen hiermit unsre Betrachtungen über die Mode im griechischen
Altertum, als deren Resultat wir hier mit wenigen Worten folgendes hinstellen
können. In der uns erkennbaren ältesten Periode der sogenannten heroischen
Zeit herrscht in Kleidung und sonstiger Tracht der orientalische Einfluß noch
sehr beträchtlich vor. Indem derselbe daun in der Folgezeit allmählich verschwindet,
finden wir auf dem Gebiete der Kleidung wie der Haartracht ein Suchen nach neuen
Formen, das mancherlei Moden und ziemlich schnellen Wechsel derselben zur
Folge hat und bei dem auch allerlei Häßliches und Unnatürliches zu tage tritt,
während über dem Streben nach Zierlichkeit die Anmut größtenteils verloren geht.
Die Periode des Perikles ist es erst, in der wir die Griechen much ans diesem Ge¬
biete zur vollen Freiheit und zur Erkenntnis der höchsten Schönheit gelangen sehen-
n der letzten Zeit ist mehreremale Schluß der Debatte ange¬
nommen worden, während doch noch verschiedene Redner, zu
denen auch ich gehörte, zu Worte zu kommen wünschten. Daraus
geht hervor, daß sich bei der Mehrheit der verhängnisvolle
Irrtum eingenistet hat, es könne jemals genug oder gar zu viel
geredet werden! Das kann furchtbare Folgen haben, für welche ich und meine
Politischen Freunde die Verantwortlichkeit feierlich ablehnen müssen. Die im
Parlament unterdrückte Eloquenz muß und wird sich mit elementarer Gewalt
anderwärts Bahn brechen, und niemand wird in seineu vier Pfählen vor dem
Einbruch empörter Nedeflutcn sicher sein. Ich bin glücklicherweise in der Lage,
nieine Privattribüne besteigen und mir die nötige Erleichterung verschaffen zu
können. Nun müssen Sie sich aber mich gefallen lassen, daß ich, dem Beispiele
berühmter Kollegen folgend, auf Gegenstände zurückgreife, welche bereits von
der Tagesordnung verschwunden sind.
Die Beschränkung der Redefreiheit fuhrt mich naturgemäß auf das So¬
zialistengesetz, welchem der Abgeordnete Liebknecht die Mord- und sonstigen
Schandthaten der letzten Jahre zur Last legt. Der verehrte Abgeordnete ist
ohne Zweifel in der Geschichte, und namentlich in der Geschichte der Revolutionen,
viel besser bewandert als ich, und wird daher imstande sein, die in mir auf¬
getauchten Bedenken gegen jene Äußerung zu widerlegen. Wahrscheinlich existirte
z. B. in Frankreich im Jahre 1792 ein (von der reaktionären Geschichtschreibung
tückisch verschwiegenes) Svzialistengesetz, welches die Unterdrückten zu den Sep-
tcmbcrmorden zwang; wahrscheinlich war es auch ein Sozialistengesetz, welches
den tugendhaften Bürgern von Paris im Jahre 1871 das Petroleum auf¬
nötigte. Aber dergleichen Thatsachen müssen in aller Form ans Licht gestellt,
nicht so beiläufig oder, um mit Herrn Nickert zu reden, nebenher erwähnt
Werden. Geschichtsfälschungen sind ja so schwer auszurotten! Die Beispiele
liegen nahe genug. Trotz aller Protestationen glaubt die Welt noch immer,
daß Hödel und Konsorten, gleichviel, ob sie Mitglieder der sozialdemokratischen
Vereine gewesen oder nicht, ans deren Schule hervorgegangen seien, und daß
die Philanthropen, welche jetzt im freien Amerika Vorstände von Vanditen-
fachschulen sind, solange der Partei der Herren Bebel und Liebknecht angehört
haben, bis es ihrer Verrücktheit und Dummdreistigkeit in Deutschland unheimlich
Würde. Herr Liebknecht versagt dem Treiben der Dynamitriche seine „Billigung";
das ist gewiß sehr — zart von ihm; aber daß diese Zartheit schlecht belohnt,
daß er von den Entschiedener dafür angefeindet wird, wie er sagt, kann ihn
Wohl nicht wundern. In der politischen Gegend, in welcher er sich aufhält,
darf sich niemand einbilden, wenn er Trumpfaß ausspielt, könne er nicht über¬
trumpft werden, oder wenn er an der Wand sitzt, könne niemand „linker"
sitzen: die einen steigen ihm auf den Kopf, die andern versuchen mit dem
eignen Kopfe durch die Wand zu rennen und erklären alle, die dazu noch zu viel
Vernunft oder Vorsicht besitzen, für Reaktionäre und Verräter. Goethe hat
diesen Erfahrungssatz einmal in ziemlich unhöflicher Form ausgesprochen. Wenn
Herr Liebknecht sich daraus nichts macht, daß frühere Freunde ihn in die Acht
erklären, ist das schon ein gutes Zeichen. Denn, wie ich mir habe sagen lassen,
handeln nicht selten Politiker gegen ihre bessere Einsicht lediglich aus Furcht,
daß irgendein entschiedener Dummkopf sie als Unentschiedene, als Halbe, als
Abtrünnige ausschreien werde. Dem Terrorismus solcher Helden muß man
begegnen wie den Gespenstererscheinungeu. Also nur fest zugegriffen, Herr
Liebknecht, und der Popanz wird niemand mehr in Schrecken setzen.
Aber wie noch jedesmal, wenn sie über das Ausnahmegesetz Klage führen,
sind die Redner der sozialdemokratischen Partei anch in der Neichstagssitzung
vom 31. Januar der Beantwortung der entscheidenden Frage vorsichtig aus
dem Wege gegangen. Es giebt gewiß in Deutschland hente keinen politischen
Menschen, der nicht sofort das Svzialistengcsetz durch ein andres ersetzen möchte,
welches nur auf diejenigen Parteien gemünzt wäre, welche den Umsturz des
Staates und der Gesellschaftsordnung mit allen Mitteln auf ihre Fahne ge¬
schrieben haben. Niemand will den Arbeitern die Diskussion der sozialen Frage
verbieten. Wenn sie glauben, sich ihre sauer erworbenen Pfennige absparen zu
müssen, um sich von Nichtarbeitern etwas von einem Zukunftsstaate vorphan--
tasiren und sich gegen die praktischen Bestrebungen zur Besserung ihrer Lage
einnehmen zu lassen, so wird man das in ihrem Interesse beklagen, aber da¬
gegen nicht die Polizei zu Hilfe rufen. Denn die ruhige Neformarbeit muß
endlich doch den Leuten die Augen öffnen. Aber lossagen müssen sie sich offen
und unzweideutig von den Mordbrennern und Meuchelmördern, ausstoßen müssen
sie die gewissenlosen Schwätzer, welche ihnen einen Hebert, Delescluze u. s. w.
als Vorbilder aufstellen. Warum halten die Wortführer im Parlament hinter
dem Berge? Fürchtet sich etwa auch da einer vor dem andern? Giebt eS
auch unter ihnen Communards, Cordeliers und Jakobiner, die einander nicht
über den Weg trauen?
Da sollten sie sich an den Freisinnigen ein Exempel nehmen. Richter und
Rickert, Nickert und Richter, ein Herz und eine Seele, bald wird man ihre
beiden Namen in einen zusammenziehen können. Doch glaubt man immer, der¬
jenige, welcher zuletzt gesprochen hat, sei der größere. War —et— nicht er¬
haben in der Kornzvlldebatte? So habe ich mir immer Savonarola vorgestellt,
wenn er düster lodernden Blickes die Florentiner zur Buße und zum Opfer
alles sündigen Besitzes, der Landwirtschaft, des Gewerbes :c. auf dem Altar reinen
Freihandels antrieb. Oder würde ich ihn besser mit den Propheten des alten
Bundes vergleichen? Wie dem sei, ein großer Prophet ist er, und sein heiliger
Zorn gegen den Reichskanzler ist schon durch die Hinterlist gerechtfertigt, mit
welcher dieser Rickerts Prophezeiungen regelmäßig zu schänden macht. Nur
auf die beiden Schleswig-holsteinischen Bauern hätte Nickert sich nicht berufen
sollen. Denn sind sie Bauern vom Schlage des Herrn Dirichlet, so will ihr
Zeugnis nicht viel besagen, und sind sie echte Bauern, so ist es noch viel
schlimmer, dann vertreten sie ja ihre Standesinteressen, dürfen also von einem
freisinnigen Parlamentarier allenfalls über auswärtige Politik oder über Fragen
des höheren Unterrichts, aber beileibe nicht über bäuerliche Angelegenheiten zum
Worte gelassen werden. Hingegen war das schönste in den beiden langen und
an so vielen Schönheiten reichen Reden zur Verteidigung des von der Regie¬
rung bedrohten Einmaleins folgende Stelle: „Die Danziger Rheder sind viel
zu stolz, die Staatshilfe anzurufen, von der sie doch wissen, daß sie ihnen nichts
helfen kann." Das ist einmal ein vernünftiger Stolz, ein Seitenstück zu dem
jenes Handelsmannes: „Ich bin stolz darauf, ein Jude zu sein, denn warum?
wenn ich auch nicht stolz darauf wäre, wäre ich doch ein Jude, bin ich lieber
gleich stolz darauf." Jetzt wäre ich nur begierig zu erfahren, ob sie auch stolz
sind auf ihren Vertreter, die Rheder?
Schließlich muß ich mich heute eines Auftrages entledigen. Ein im Aus¬
lande lebender Deutscher hat mir ein Schreiben mit der Bitte um Mitteilung
desselben übersandt, weil er glaubt, daß für einen NichtWähler ein Nichtgewählter
das geeignetste Organ sei. Das Schreiben lautet:
Der Telegraph giebt sich zwar zu sehr vielen unnützen Botschaften her,
aber jede scharfsinnige Entdeckung, jeden geistreichen Einfall des Abgeordneten
Richter kann er doch nicht verkünden, so lange für den Allerredseligsten nicht
eigne Kabel gelegt werden. Und da wir schon gewohnt sind, die Spalte der
Telegramme in unsern eignen Zeitungen als das Inhaltsverzeichnis der später
folgenden deutschen Blätter zu betrachten, können uns leicht die wichtigsten Aus¬
sprüche des Prinzen Eugen des armen Ritters entgehen, wenn sie dort nicht
wenigstens mit einem Schlagwort angekiindigt waren. Das Lesen der Zeitungen
nimmt ja ohnehin mehr Zeit weg, als wir eigentlich verantworten tonnen; wer
aber alle Verhandlungen in allen Parlamenten gewissenhaft verfolgen wollte,
müßte an seine Tage noch ein gutes Stück ansetzen lassen. So bin ich erst
spät und ganz zufällig zur Kenntnis der Äußerung E. Richters gelangt, daß
die Deutschen im Auslande sich durch Manifestationen nach dem glorreichen
16. Dezember „unangenehm bemerklich" gemacht hätten. So ungefähr soll der
Ausdruck gelautet haben. Und diese Freude hat uns der Telegraph nicht
gegönnt! Herrn Richter und Konsorten unangenehm zu werden, war gewiß
eine der Absichten bei den erwähnten Manifestationen; er braucht deshalb nicht
eitler zu werden, als er schon sein mag: wir haben ihm nur einen geringen
Teil des schuldigst Dankes abgetragen, da er sich den nationalgesinnten Deutschen
unangenehm zu machen pflegt, beinahe so oft er den Mund aufthut. Wenn
er uns übrigens das Recht abgesprochen hat, in solchen Fragen mitzusprechen,
weil wir keine Steuern zahlen, so hat er vergessen, daß viele Deutsche im Aus¬
lande sich bereit erklärten, die ungeheure Summe, welche das Deutschland der
Herren Richter und Windthorst nicht aufbringen kann, aus ihrer Tasche zu
decken. Über den erhabenen Standpunkt der Betrachtung dieser ganzen An¬
gelegenheit natürlich kein Wort. Ich habe leider den Lessing nicht zur Hand,
um wörtlich zu zitiren, aber mir klingt die Abfertigung des Marchese Marinelli
im Ohre: „Darüber zu streiten — mit Ihnen!" Einen guten Rat indessen
möchte ich dem Herrn Richter zukommen lassein er sollte einmal ins Ausland
gehen! Nicht mit einem Rundrcisebillet, nicht einzig, um im Kreise von Ge¬
sinnungsgenossen das tausendmal Geredete abermals zu reden; nein, um unter
Fremden zu leben und ein nützliches Tagewerk zu verrichten. Vielleicht thäte
ihm das gut. Ich habe solche klimatische Kuren vielfältig von dem besten Erfolge
gekrönt gesehen. Nicht alle, das versteht sich — bei weit vorgeschrittener
Schwindsucht versagen ja auch Kairo und Madeira häufig. Aber wenn des
Lebens Kern noch nicht zerstört ist, gesunden die meisten. Da kommt bei so
manchem, der alles Nationale längst „überwunden" zu haben glaubte und bei
dem Worte Vaterland nur mitleidig zu lächeln liebte, die ursprüngliche Natur
wieder zum Durchbruch. Da wird einer, dem es Gewohnheit geworden war,
alles Heimische mit Verachtung und Hohn zu besprechen, zu dessen entschiedenem
Verteidiger gegen Haß und Unkenntnis der Fremden. Da lernen viele beschämt
wieder Anhänglichkeit an den Boden, der sich nach Danton nicht an den Schuh¬
sohlen mitnehmen läßt. Da sehen sie, wie in jedem andern Lande alle Parteien
zusammenstehen, sobald die nationale Größe und Ehre ins Spiel kommt, mit
welcher Art von Achtung der Fremdling behandelt wird, der sich durch Verun¬
glimpfung seiner Heimat angenehm zu macheu sucht; da empfinden sie mit Stolz
alle Mißgunst, welcher der Deutsche heute begegnet, alles Gekläffe in Nähe und
Ferne allein als den Beweis dafür, daß Deutschland „reitet." Das kollegiale
Anerbieten des Herrn Wörmann, ihn zum Besitzer einer afrikanischen Insel zu
machen, auf welcher er den parlamentarischen Musterstaat etabliren könnte,
scheint Herr Richter nicht angenommen zu haben. Allein er braucht auch gar¬
nicht so weit zu wandern. In jeder Himmelsrichtung könnte schon beim Über¬
schreiten der Grenze die Schule für ihn beginnen; und wenn er so aus einer
Entfernung von hundert oder etlichen hundert Meilen beobachten würde, wie
seine guten Freunde darüber verhandeln, ob denn das reitende Deutschland
wirklich Sattel und Zaum und Sporen nötig habe, und ob es nicht Luxus, ja
sogar gefährlich sei, das Pferd zu beschlagen, sintemalen der wißbegierige Wolf
der Fabel, welcher den unter dem Huf des Pferdes angebrachten Namen lesen
möchte, von dem Hufeisen arg zugerichtet werden könnte: dann würde er vielleicht
Neigung verspüren, sich seinen guten Freunden unangenehm bemerklich zu machen.
Um eine perle.
me Stunde später wußte Giuseppe Gonzaga, daß er es mit einer
Tochter des alten Marcello Buonacolsi zu thun hatte.
Er war der Leichtsinn in Person, aber es flössen doch auch
noch einzelne Tropfen adlicher Gesinnung in seinen Adern, und
ob er, inmitten seiner Thorheiten, sich auch wenig um Politik
gekümmert hatte und von der Wahrscheinlichkeit des Aussterbens dieses er¬
lauchten Geschlechts und der trübseligen Verödung des Palazzo Passerino so
gut wie nichts wußte, die Nachricht brachte ihn doch außer Fassung.
Laß satteln! herrschte er den Überbringer der Botschaft an, Marcellos Vor¬
fahren trugen ein Diadem, das Unglück ist mir heilig.
Die junge Dame ist zu Petri Kettenfeier siebzehn Jahre alt geworden
und —
Laß satteln!
Und besucht Verona, um bei dem Juwelier Brondolo, meinem geizigen
Vetter, eine Barock-Perle zu erhandeln.
Das ändert nichts; laß satteln!
Sie soll in Mantua kaum je ans Tageslicht gekommen sein, doch sind die
Brüder des regierenden Herrn, ich meine Fernando, der vorige Prior von
Bcirlotta — jetzt ist er Kardinal — und Vincento, der Kardinal in sxs, schon
auf sie aufmerksam geworden und werden —
Laß satteln!
Und werden Euer Gnaden ohne Zweifel zu großem Danke verbunden sein,
wenn Ihr ihnen Papa Buonacolsi und sein Töchterchen unversehrt heimschickt,
vor allem sein Töchterchen.
Sie stellen dem schönen Kinde nach?
Vermutlich aus Gutherzigkeit. Das Zoroaster- oder Zodiaco-Gäßchen, in
welchem die arme Florida ihre Tage verseufzt, soll kalt und düster sein wie ein
Grab.
Florida heißt sie? Ich hätte mir's denken können. Welch ein Liebreiz!
Verona kennt nichts ähnliches!
Sie blühe, sagte mir die Cameriera, wie eine maienblnmige Wiese.
Und der Alte sperrt sie also ein?
Nur zur Messe dürfe sie gehen, sagte die Cameriera, und dann zwei- oder
dreifach verschleiert.
Was meinst du?
Euer Gnaden wissen, daß ich nie eine eigne Meinung habe; ein Diener
fragt nur nach der Meinung seines Patrone.
Giuseppe trat ans Fenster. Die Straße war jetzt nicht mehr menschenleer.
Auch in einigen Teilen des gegenüberliegenden Gasthofes war Leben und
Bewegung. In dem gestern bis tief in den Hintergrund taghell gewesenen, jetzt
halbdunkeln Zimmer wurden von einen« alten Diener Mantelsäcke gepackt und
Reisedecken zusammengeschnürt. Von den Frauenzimmern etwas zu entdecken,
wollte dem Späherblicke Giuseppes nicht gelingen. Vielleicht war Florida schon
zu ihrem Vater hinübergegangen. Augenscheinlich hatte man drüben Eile, vor
der Hitze in den Sattel zu kommen.
Der Paduaner stand mit den Händen auf dem Rücken an der Thür und
wiederholte, ein Diener frage nur nach der Meinung seines Patrone.
Und Vrvndolv wäre dein Vetter? nahm? Giuseppe das Perlenthema
wieder auf.
Was man so Vetter nennt, Euer Gnaden.
Verwandtschaften, denen der Segen der Kirche fehlt?
Ungefähr so, Euer Gnaden.
Hin ... Ich könnte vielleicht zufällig als Käufer irgendeines Ohr- oder
Nasenringes im Laden sein, während der Alte mit seinem Töchterchen dort ein¬
spräche.
Wenn Euer Gnaden unerkannt ein Stündchen mit den Beiden Verkehren
wollen, sagte Beppo, indem er den Zeigefinger nachdenklich an die Unterlippe
legte, so möchte ich wohl einen unmaßgeblichen Vorschlag machen.
Heraus damit!
Mein Vetter hat, wie Euer Gnaden wissen, keinen eigentlichen Laden, son¬
dern einen halboffenen Stand.
Was weiter?
Der Perlenhandel wird also garnicht dort gemacht werden —
Sondern im Gasthof. Herrlich. Du bist zum Diplomaten geboren.
Beppo verneigte sich.
Aber was nun weiter? drängte Giuseppe. Natürlich habe ich mich bei
Zeiten in demselben Gasthofe einquartiert, womöglich Zimmer an Zimmer, und lasse,
wenn der Vetter bei den Buonacolsis ist, durch dich unter fremdem Namen um
die Erlaubnis bitten, die Perlen mit besehen zu dürfen. Ja, so wollen wir es
machen, ^.pinel!
Vielleicht dürfte ich Euer Gnaden ausgezeichneten Einfall noch etwas
weiter ausführen.
Immerzu! Aber rasch!
Statt in dem nämlichen Gasthofe Quartier zu nehmen, würden Euer
Gnaden etwa meinen Vetter bestimmen, den edeln und erlauchten Signor Giu¬
seppe Gonzaga unter dem Namen eines beliebigen Giovanni oder Antonio So¬
undso auf ein Stündchen in seinen Dienst zu nehmen.
Wozu?
Damit Ihr und nicht mein Vetter selbst die zur Auswahl gewünschten
Perlen auf das Zimmer des schönen Fräuleins trüget —
Und mit ihr selbst das Geschäft abmachtet! OiulMIc.! Jetzt sehe ich
meinen Weg klar vor nur. Hier — er griff in die Tasche — aber nein, du
bist ein zu durstiger Schwamm. Der Gvldbatzen könnte alles verderben. Erst
bringe mich bis an das Zimmer des himmlischen Mädchens, und dann netze dir
die Kehle mit dem besten Tropfen, der in Verona zu haben ist.
In dieser Weise kam es dann allerdings zum Satteln und zum eiligen
Aufbruch, aber nicht aus Achtung vor der Heiligkeit des Unglücks, sondern
aus brennendem Verlangen nach einem Wiedersehen Floridas, wenn auch unter
der Devise eines Ritterdienstes; sollte das schöne Mädchen doch nur durch väter¬
lichen Zwang von dem Leben und seinen sonnigen Seiten abgesperrt worden
sein; galt es doch nach Art der Märchenritter, eine gefangen gehaltene Prin¬
zessin zu befreien. So wenigstens wollte der Veroneser die Skrupel hinweg¬
vernünfteln, die ihn inmitten seiner freudige» Aufregung beunruhigte».
Auch in Verona hatten die Buonacolsis zu allen Zeiten eine an das
Regiment der Scaliger gemahnende Herberge vor andern Gasthöfen bevorzugt,
das Albergo ti Scmmichele, angeblich auf jenen Garkoch Sanmichele zurück¬
deutend, welcher durch Frignano, den natürlichen Bruder Cangrandes des Zweiten,
etwa um das Jahr 1355 oder 1356 zum Vergiften des letzteren hatte bestimmt
werden sollen, den argen Anschlag aber verraten hatte, wofür Cangrande ihm
freistellte, eine beliebige Menge Steine zum Ban eines Hauses, das überdies
ewige Steuerfreiheit genießen sollte, dem berühmten Veroneser altrömischen
Amphitheater zu entnehmen. Statt zu einem Wohnhause war diese Fürsten¬
spende dann aber zu einem großen, mit weiten Stallungen und allerlei Hinter¬
gebäuden versehenen Gasthofe benutzt worden, über dessen, auf Plünderung jenes
altehrwürdigen Bauwerkes beruhenden Umfange die Veroneser sich so sehr
ärgerten, daß niemand außer den Anhängern des Cangrande, also der Scaliger,
dort einkehrte. Da ein altes Wappen über der Einfahrt des Albergo — das an¬
geblich eine Schierlingspflanze darstellte und an den erwähnten Vergiftungsplau
Frigncmos erinnern sollte — von Übelwollenden im Laufe der Zeit auf einen
späteren Scmmichcle bezogen wurde, welchem von dem Veroneser Senat für
zahlreiche, diesem Scmmichcle nachgewiesene Weinfälschungen das Schierlings¬
warnzeichen als Strafe auferlegt worden sei, so blieb das Albergo ti Scm-
michele verfehmt.
Die Buonacolsi-Kavalkade fand daher, als sie nach mehrfachem Rastmachen
nachmittags in Verona eingetroffen war, eine beliebige Anzahl geräumiger
Zimmer zu ihrer Verfügung.
Es ist schon gesagt worden, daß der alte Buonaeolsi seit dem Tode seiner
Gattin die rechte Lebensfreudigkeit verloren hatte und gegen alle Welt, selbst
gegen seine Tochter, mißtrauisch geworden war. Den Ritt von Mantua nach
Verona, wie er anfangs beabsichtigt hatte, allein zu machen, war ihm aus
demselben Grunde als ein zu großes Wagnis erschienen. Nur wenn er selbst
Florida überwachte, glaubte er für sie einstehen zu können.
So mußte sie ihn denn jetzt auch im Schutze ihres Doppelschleiers auf
dem Gange durch Veronas volkserfüllte Straßen zu dem „Perlenkönig"
Brondolo begleiten.
Wir werden zwar seine Schätze nicht inmitten der Gaffer besehen können,
die immer bei jedem Handel mit zuschauen, sagte der alte Buonaeolsi, als nach
einem vorsichtigen Ausblick unter dem Thore des Albergo der Gang begann,
einem Ausblick vor allen nach den wenigen elegant gekleideten jungen Herren, die
doch hie und da zwischen den übrigen Passanten umherschlenderten; er wird
uns, was wir brauchen, nach dem Schließen seiner Bilde um Ave Maria in
unser Albergo bringen müssen. Aber wenn er heute noch so vorsichtig ist wie
dazumal, als ich das letzte Geschenk für deine Mutter bei ihm kaufte, Gott
habe sie selig, so kommt er auf keine bloß durch einen Boten aufgerichtete
Bestellung zu uns in den Gasthof. Man muß ihm zuerst persönlich aufwarten.
O, diese jüdischen Juweliere sind jetzt vornehmer als wir andern. Habe ich
Recht, Lazzaro? setzte er mit einem Blick über die Schulter hinzu, denn hinter
ihm schritt der grauköpfige Kammerdiener, der auf diesen traditionellen Namen
aller ersten Kammerdiener der Buvnaeolsis hörte, mochten sie auch auf weit
fröhlicher klingende Namen getauft sein.
8i ä^vvero, Leröniw, stimmte Lazzaro bei.
Und auch Eufemia, welche hinter Florida ging, glaubte mit einem (^ohl ö,
Lörsnits.! ihres Herrn Ausspruch bestätigen zu sollen.
Das Lädchen oder der halb offene Verkaufsstand des Perlenkönigs war
gleich vielen andern Butiken in einen der äußeren Bogen des Amphitheaters
hineingebaut, die auf den großen, jetzt Piazza Vittorio Emanuele (früher
Piazza Brä) benannten Platz münden. Von der Via Leoni, wo das Albergo
Sanmichele lag, hatte man bis zu dem Amphitheater nur wenige hundert Schritt
zu gehen. Aber der alte Buouaeolsi schlug zunächst den Weg nach einer
seitab führenden Richtung ein.
Verona ist, Gott sei Dank, nicht Mantua, sagte er zu der neben ihm
schreitenden Tochter gewandt, und machte nach nochmaligem Umherblicken ein
Zeichen, die Cameriera möge den Dvppelschleier Floridas lüften, damit ihre
Verschleierung, ans ein einziges ganz dünnes Seidengewebe beschränkt, nicht mehr
den Genuß der Sehenswürdigkeiten Veronas beeinträchtige. Die hiesigen Gon-
zagas sind machtlos, wenn nicht gar ausgestorben; wir können durch diese
Straßen wandeln, ohne von Spähern umlauert zu werden. Unser nächster
Gang gelte daher den Manen der Scaliger. Sie waren Ghibellinen wie unsre
Vorfahren. Die Zeitverhältnisse haben uns Überlebende auf die Seite der
Guelfen gedrängt, wenn auch nur in unsern Herzen, denn wir sind ja nur noch
Phantome, Schemen, wandelnde Leichen! Aber unsre teuersten Erinnerungen,
Tochter, du weißt es, sind mit den Ghibellinen durch die Scaliger verknüpft,
waren sie es doch, mit deren Hilfe der nichtswürdige Sohn des greisen Pinamonte
Vuvnaeolsi, des einstigen Stifters unsrer Dynastie, von dem Neffen dieses
Trefflicher zur rechten Zeit vom Throne gestoßen wurde, sodaß sich die schon
aufsässig gewordenen Mcmtuaner mit dem Namen Buonacolsi wieder aussöhnten,
nachdem ihn jener Unmensch durch die Einkerkerung Pincunontes, seines Vaters,
befleckt hatte. O, über die mißrateneu Kiuder! Meine Augen füllen sich mit
Thränen, so oft ich der Thatsache gedenke, daß ein Vuvnaeolsi durch seinen
leiblichen Sohn ins Gefängnis gestoßen wurde. O, über die Kinder, denen das
Silberhaar ihrer Eltern nicht heilig ist!
Florida ergriff die Hand ihres Vaters und preßte sie an ihre Lippen. Sie
hörte nicht zum erstenmale Worte dieser Art. Allemal schnitten sie ihr ins
Herz. Was sie auch heute nur zu antworten vermochte, waren sanft begütigende
Versicherungen ihrer kindlichen Liebe. Aber wider Willen dachte sie dann mit
einem unterdrückten Seufzer im Stille,,: Wer weiß freilich, wie alles zusammen¬
hing ! Mich jammert der Vater, den der Sohn einkerkerte, aber fast noch mehr
der Sohn selbst, der sich so schwer verging. Wie viel Steine sind wohl seitdem
auf ihn geworfen worden, und wer vermag doch zu sagen, ob er allein der
Schuldige war?
Unweit des Kirchleins Santa Maria Antica, wohin man unterwegs war,
sollte, so hieß es, Santa Enfemici, die Schutzpatronin der Cameriera, ein Gottes¬
haus haben, und die letztere begann daher mit Lazzaro zu flüstern, denn sie hätte
gern dahin einen Abstecher gemacht. Aber die umwölkte Stiru des alten Herr»
verhieß für ein etwaiges Urlaubsgesuch der Cameriera nichts gutes, und so fügte
sie sich gleich Lazzaro in das herkömmliche Muß, Teilnahme zu zeigen für Dinge
und Personen, die einst für die Vorfahren ihres Herrn von Bedeutung gewesen
sein mochten, bei denen aber sie sowohl wie ihr grauköpfiger Kollege sich
herzlich wenig zu denken vermochte.
Desto feierlicher war die Stimmung des alten Vnonacvlsi, Die zum Teil
mit prächtigen Denkmälern bedeckten Gräber des berühmten Veroneser Fürsten¬
geschlechtes liegen in einem gartenartigen Vorhofe des Kirchlein Santa Maria
Antica; dieser ist von einem eisernen Geländer umgeben, dessen Hauptverzierung
in regelmäßiger Wiederholung das schon erwähnte Wappen mit der Leiter ist.
Nur Florida durfte dem alten Buonacolsi in diesen geweihten Raum folgen.
Er hatte sein schneeweißes Haupt ehrfurchtsvoll entblößt und blickte wohlgefällig
auf das Niederknieen der Tochter. Im siebzehnten Gesange von Dantes Paradies
feiert Dante ?as Andenken Cangrnndes des Ersten, des Gönners so vieler Ge¬
lehrten und Dichter, des gastlichen Beschützers so manches politischen Flüchtlings,
darunter auch des großen Florentiner Dichters selbst:
1/0 xrimc> tuo riKiMo o it zzrimo QLtolln
Lkr», I->, oortsÄ», <Jo1 grau I,c>ends,rclo
<Aw' w sulln, LvlÜÄ xort^ it snow uoosllo.(Die erste Zuflucht und das erste Obdach
Wird dir der mächtige Lombarde bieten,
Der auf der Leiter führt den heil'gen Vogel.)
Der Vater Floridas sagte diese Verse halblaut vor sich hin und kam dabei
auf die Leiter zu sprechen, die er nicht nach der volkstümlichen Auslegung ge¬
deutet wissen wollte — ein so vornehmes Geschlecht, sagte er, könne unmöglich
von einem gemeinen Leiterhändler abstammen —, sondern in der er vielmehr
das stolze Bewußtsein des echten Ritters erblicke, der dem Kaiser zwar zu immer
höherem Aufsteigen die Leiter halte, aber auch kühn ausspreche, daß ihm der
Kaiser für diesen Dienst verpflichtet zu bleiben habe.
Lange blieb der Greis vor jedem einzelnen Denkmale stehen. Er kannte
die Geschichte sämtlicher Scaliger und wußte mit wenigen Worten, oft mit ta¬
delnden, zu schildern, wie und was sie gewesen waren. Verächtlich sprach er
von dem Verschwender Cangrande dem Zweiten, mit Absehen von dem Bruder^
mörder Cansignore, mit Schauder von Cansignores Söhnen, in denen das
brudermörderischc Beispiel des Vaters nachgewirkt habe.
Florida ersehnte ein Ende dieses den Vater so tief erregenden Anblickes
unter Bestatteten, an denen er dennoch, da sie Scaliger gewesen waren, abge¬
sehen von den Flecken ihres Bildes, mit Ehrfurcht hing.
Endlich riß er sich von den alten Bundesgenossen seiner Vorfahren los.
Aber nochmals hielt er Florida, die an das Sinken der Sonne mahnte,
vor den Wappen fest, über die er schon so manches geredet hatte. Es war das
erstemal, daß er auf die fröhlich, vielleicht leichtfertig gemutete Urgroßmutter
Floridas zu sprechen kam, auf die Veltliueriu Vittoria Buonacolsi. Er hatte
sie noch gelaunt und erzählte mit bitterbösen Worte», wie sie einst, über das
Wappen ihres Stammhauses befragt, lachend gesagt habe, dasselbe sei ihr
längst aus dein Sinn gekommen, vielleicht habe es auch eine Leiter im Schilde
geführt, wenn nicht gnr eine Strickleiter, und ein schmuckes Knäbchen mit Bogen
und Köcher auf einer der Sprossen —>sie sei leine Heilige gewesen und hoffe
auch nie kauonisirt zu werden.
Florida suchte sich das Ansehen zu geben, als beliebe der Vater zu scherzen,
aber seine trübe Miene verscheuchte das Lächeln ihres Mundes, und das Blut
stieg ihr in die Wangen; denn das Nachwirken des bösen Beispiels, von dem
er kurz zuvor gesprochen hatte, beängstigte sie jetzt selbst, und sie sagte uuter
dem Drucke dieses Gefühls: Es war uicht schön von der Urahne, so etwas ins
Gelag hineinzureden, und wir wollen es lieber beide zu vergessen suchen.
Der Rückweg ging durch die Via Cappello (heute San Sebastian»). Die
Sonne warf im Niedergehen ihre Strahlen in so gerader Richtung in die
Straße, daß ihrer Blendung nicht auszuweichen war. Florida hielt vergebens
den Fächer vor das Gesicht. Der Alte bemerkte mir das letztere, ohne die
Veranlassung zu beachten. Er sagte kein Wort, aber Florida hatte das Gefühl,
als habe sein Blick sie mit Mißtrauen gestreift, und die Nöte stieg ihr von
neuem in die Wangen.
Vor einer Osteria machte der alte Buvnaeolsi mitten im Strome der
Spaziergänger und der Geschästsciligcu Halt und deutete mit der knochigen
Hand auf einen über der Thür der Osteria in Stein gehauenen Hut. Treten
wir etwas auf die Seite, sagte er, denn die Leute hier haben andre Dinge im
Kopfe, und man muß ihnen nicht zumuten, daß sie einem ausweichen. Der Hut
dort, fuhr er, gegen Florida gewendet, fort, indem er, mit dem Rücken gegen
einen Brunnen gelehnt, Florida ans dem niedrigen steinernen Rande desselben
Posto fassen hieß, damit sie über die Passanten wegblicken konnte — der Hut
dort ist das Wappen eines in Verona einst angesehen gewesenen Geschlechts
mit Namen Cappnletti. Hier in Verona weiß man freilich nur, daß in der
Osteria drüben ein guter, reiner und nicht zu hitziger Landwein geschenkt wird;
unter taufenden wird kaum einer sein, der ans Befragen von der Osteria und
ihrem Wappen andres zu erzählen weiß, als daß vor grauen Jahren unter
den fleißigen Trinkern der Osteria auch ein Abbate gewesen sei, der nie soviel
Geld in der Tasche wie Durst in der Kehle gehabt habe. Nachdem er, so er¬
zählt man weiter, nach manchem Jahrzehnt Schuldenmachens zur Würde eines
Kardinals emporgestiegen und dadurch zu fetten Pfründen gelangt sei, habe
nun der Wirt ihn wohl hin und wieder an die ausgelaufene Zechschuld schüch¬
tern mahnen lassen, sei aber bei Lebzeiten des hohen Herrn nicht zu dem Sei¬
nigen gelangt und habe nach dem Tode des harthörigen Prälaten zur Warnung
für andre Schuldenmacher einen Kardinalshut über der Thür der Osteria in
Stein aushauen lassen, ein Kunstwerk, das er bald darauf, und zwar auf Re-
quisition des päpstlichen Stuhls, der charakteristischen Kardinalsattribnte, also
der Schnüren und Klunkern, habe entkleiden müssen, sodcch endlich nichts als
ein simpler Cappello übrig geblieben sei. So geht hier im Volke die Sage,
fuhr der Alte fort, es hängt dem Klerus gar zu gern eins an. Ich besitze
die Veroneser Chronik des gelehrten Girolamo della Corte, und der weiß andres
und für ein junges Blut, wie du es bist, weit Lehrreicheres zu berichten. Es
war Anno 1302, also zu der Zeit, als Bartolomeo della Scala das Ruder des
Staates führte. Da begab es sich, daß ein Sohn aus dem mit den Cappulctti
tödlich verfeindeten Geschlechte der Mvnteechi in sträflicher Liebe für die sieb¬
zehnjährige Tochter des alten Cappuletti entbrannte, und daß diese, von
hitzigerem Blute als der heutigen Tages in der Osteria geschenkte Landwein,
seinen Werbungen hinter dem Rücken ihres Vaters Gehör schenkte. Die Sache
hat ein übles Ende genommen. Ich werde dir morgen den granitnen Sarko¬
phag zeigen, in welchem die Gebeine des Mädchens ruhen, samt denen ihres
Verführers, denn der Himmel hat nicht zugegeben, daß diese entarteten Kinder,
denen die Fehde ihrer Hänser nicht heilig war, anders als im kurzen Rausche
einander angehörten. Und so, schloß der Alte, möge jeder Frevel enden, der
aus der Mißachtung väterlichen Ansehens und kindlicher Pflichten entspringt.
Diesmal konnte Florida nur schweigen. Als der alte Buvnaeolsi ihr die
Hand zum Herabsteigen vom Brunnenrande reichte, tropfte ihr es von den
Wimpern, weder sie noch er wußte, ob aus Teilnahme für das Loos der Lie¬
benden oder weil sie, die ebenfalls siebzehnjährige und von den Nachstellungen
einzelner der Mcmtuauer Gonzagas oft genug beunruhigt gewesene, sich von
dem Vernommenen, als auf sie persönlich gemünzt, getroffen fühlte.
Kurz vor dem Ave-Maria-Läuten wurde Ephraim Brondolos Butike
erreicht.
Der Juwelier war ein dürres, altes Männchen mit sehr krummer Nase,
langem, graumelirtem Spitzbart und kleinen, etwas schielenden grauen Angen-
Er war in einen abgeschabten grünen Talar von Bologneser Wollengewebe ge¬
kleidet und hatte ein kirschrotes Sammetkäppchen auf dem kahlen Kopfe. Seine
Hände zitterten, und er hüstelte in einem fort, was ihn aber nicht hinderte,
über einen jungen, schmucken Gehilfen, der mit dem abendlichen Aufräumen unter
der Musterauslage beschäftigt war, eine Flut von keifenden Schmähungen aus¬
zugießen, ja ihn dazwischen auch beim Ohre oder gar bei den Haaren zu
zerren.
Als Ephraim den alten Buonacvlsi erblickte, gab er sich das Ansehen, als
schäme er sich, über einer solchen häuslichen Szene betroffen worden zu sein,
klopfte dem jungen Mann, den er jetzt seinen lieben Neffen nannte, begütigend
auf die Schulter und sagte hüstelnd und zitternd, indem er sein Käppchen mit
tiefer Verneigung abzog, das Alter sei bei ihm mit Harthörigkeit, Gallenstein¬
beschwerden, halbem Erblinden und noch zehn bis zwanzig andern unleidlichen
Gebrechen eingezogen; wenn er nicht seinen Neffen Antonio noch zur rechten
Zeit angelernt hätte, so wäre er jetzt ein völlig Hilfloser.
Der Vater Floridas erwiederte einige bedauernde Worte, ließ seine Tochter
das lückenhafte Armband, das sie an der Linken trug, vorzeigen und fragte,
ob Signor Brondolo binnen einer Stunde im Albergo Sanmichele mit den
Barock-Perlen, unter welchen die Wahl zu treffen sei, sich einfinden könne.
Wenn er nicht selbst zu kommen imstande sei, entgegnete der hüstelnde
Greis, so werde er seinen Neffen schicken. Er zieht seine neue Sammtjacke an,
setzte er hüstelnd hinzu, Va»8er^ altg^^Ä braucht nicht zu fürchten, daß er ein
unmanierlicher Tölpel sei, obschon er — schäme dich, Antonio! — jetzt in
Hemdsärmeln dasteht. Er war zwei Jahre lang im Dienste Sr. Exzellenz des
Conte Valicr und weiß mit vornehmen Herrschaften umzugehen; nur mit den
Frauenzimmern mag er nichts zu thun haben, das war sein Unglück, sonst wäre
er noch heute im Dienste Sr. Exzellenz; aber die Frauenzimmer haben lieber
Courmacher als Schneemänner — habe ich recht, Altezza? Wir waren doch
beide auch einmal jung, Altezza! Also spätestens in einer Stunde, nichts für
ungut, Altezza! Hat mich ausnehmend gefreut, Altezza bei so ausnehmender
Gesundheit zu sehen. Und die Signorita nicht zu vergessen! Ganz der lieben
Frau Mutter aus den Augen geschnitten. Ganz die liebe Frau Mutter.
Der alte Buonaeolsi verabschiedete sich mit einem frostigen: In einer Stunde
also. Er hörte lieber, daß seine Tochter ihm selbst nachartete.
Eine Stunde später — die Buonaeolsis hatten inzwischen im Dome ihre
Abendandacht verrichtet und dann auf Bitten der Cameriera auch noch dem
Kirchlein der heiligen Enfemia einen Besuch abgestattet —, eine Stunde später
fand sich der hüstelnde Juwelier im Geleit seines Neffen mit einigen Lederkasten
voll Perlen und sonstigen Schmucksachen im Albergo Sanmichele ein. Er hatte
zwar versprochen, Giuseppe Gonzaga seine Rolle als Neffe Antonio allein spielen
zu lassen, und er hatte dafür von dem jungen Verschwender eine erkleckliche
Summe bereits eiugeseckelt. Aber seine Juwelen waren ihm doch allzusehr
ans Herz gewachsen. Er vermochte sie nicht ganz in andre Hände zu geben.
So waren denn Onkel und Neffe jetzt selbander im Gasthofe eingerückt, und
Antonio hatte Ursache, damit zufrieden zu sein, denn der alte Buonaeolsi er¬
wies sich als ein im Perlenhandel so wvhlgeschulter Kunde, daß es dem jungen
Edelmann unmöglich gewesen sein würde, ihm ohne die Hilfe des alten Bron¬
dolo Rede zu stehen.
Lazzaro und Eufemia waren wie gewöhnlich zu Handreichungen in der
Nähe geblieben; auf heimliches Betreiben des verkappten Liebhabers machte
ihnen aber Ephraim Brondolo so schiefe Gesichter, daß der alte Buonaeolsi sich
erinnerte, wie ungern Juweliere mit mehr als einer Person zur Zeit zu thun
haben, weshalb er die beiden überflüssigen Zuschauer hinausschickte.
Es war zwischen Ephraim und Giuseppe unterwegs verabredet worden,
daß sich Ephraim zunächst hauptsächlich mit den zu Floridas Augenweide mit¬
gebrachten Ringen, Halsbändern, Ketten und Brustnadeln, also auch mit dem
schönen Fräulein selbst, beschäftigen solle, während der Neffe dem Vater Flo¬
ridas beim Auswählen der geeignetsten Barock-Perle zur Hand gehen werde.
Die dabei zu gründe liegende Berechnung erwies sich gar bald als richtig.
Nicht nur merkte der alte Buonaeolsi schon nach wenigen Minuten, das; die
Geriebenheit des handelskuudigen Juweliers das Töchterlein in eine bedenkliche
Bewunderung und Kauflust für alles von ihm Ausgekramte hineintreibe; die
augenscheinlich noch unverhältnismäßig geringen Perlenkenntnissc des Neffen
Antonio und seine Unsicherheit im Ratgeber und Mitauswählen machten aber
auch deu alten Buonaeolsi selbst nur immer unsicherer. Er rief also Ephraim
zu, derselbe möge vor allem bei dem Handel um die Barock-Perlei: selbst mit¬
raten und seinem Neffen das Aufpassen auf die übrigen ausgekramten Neben¬
sachen überlassen.
(Fortsetzung folgt.)
Paulus Cassel hat in der Judenfrage Stellung gegen den Antisemitismus
genommen. Es erklärt sich dies wohl mehr daraus, daß er von jüdischen Eltern
abstammt, als aus seinem Berufe als Prediger. Zwar betont er in seinen
Broschüren gegen die Antisemiten und für die Juden vor allem das letztere, indem
er sich, Stöcker gegenüber, darauf beruft, daß er, eingedenk seiner Pflicht als christ¬
licher Prediger, „mitten in dem fanatischen Toben politischer Parteien das Banner
der Liebe, wie sie aus Christi Geiste Paulus lehrt, mit Kraft erhoben habe."
Darin liegt zugleich ein Vorwurf für Stöcker. Aber wenn wir auch nicht verkenne»
wollen, daß in einem Streite wie dem über die Judenfrage und in dem Kampfe
gegen jüdische Anmaßung, von welchem Standpunkte ans Stöcker bewußt den Kampf
begonnen hat, nicht immer allein mit Worten der Liebe, sondern bisweilen auch
mit dem Feuer sittlichen Zornes gestritten worden ist, so ist doch Cassel gegenüber
daran zu erinnern, daß es Zeiten giebt, wo auch der Diener des Evangeliums
gewappnet auftreten muß, um die Sache und das Heil seiner Herde zu schützen,
wo Schweigen oder Lcisetreterei nicht nur ein Zeichen der Lauheit und Schwache,
sondern direkt Verrat an dem heiligen Rechte der eignen Sache wäre. Und das
Verdienst muß man trotz Cassel seinem Gegner Stöcker zusprechen, daß er durch
seine Agitation die Juden bescheidener und die Judenpresse stiller gemacht hat.
Und wenn Cnssel in seiner Broschüre ruhig und bescheiden auftritt und sich — nicht
ohne Selbstgefälligkeit — seiner Milde rühmt, so hat vielleicht auch hieran Stöckers
mannhaftes Auftreten ein Verdienst.
Die wissenschaftliche Abhandlung Cassels ist, wie alles, was er spricht und
schreibt, interessant und bis zu einem gewissen Grade auch geistvoll, wenngleich
man bei seiner Art geistreich zu fein immer etwas den Eindruck des Forcirtcn
erhalt. Die Sage vom ewigen Juden ist hinlänglich bekannt; in der Gegenwart
hält das Interesse am Faust, an dem Goethischen Epos-Fragmente und sonstigen
poetischen Bearbeitungen, ferner die reiche Literatur über die Sage bis auf Hclbigs
(Berlin 1374). Schölbels (Paris 1877) und Neubaurs (Leipzig 1834) Schriften
unsre Kenntnis der Sage und ihrer einzelnen Gestaltungen und Entwickluugsphasen
wach. Ccissel giebt eine überraschende Deutung des Namens Kartaphilos, den nach
der eiuen Tradition der Thürhüter des Pontius Pilatus trägt: er sieht in Karta¬
philos eine Verstümmelung ans Chartophylax, Mit diesem Namen wurden im
spätern Griechisch die byzantinischen Archivare bezeichnet, als die Vewcihrer aller
die Rechte und Privilegien der Kirche enthaltenden Papiere. Den Namen Charto-
phylax trägt aber der ewige Jude eben als Personifikation des Judentums, das
in der christlichen Auffassung als der Archivar der heiligen Schrift, des alten
Testaments, gilt, wie z. B. Augustin zu Psalm 41 sagt: „Jetzt dienen die Juden
uns; sie sind gleichsam unsre Bibliothekare. Wenn wir studiren, bringen sie die
Bücher; aus ihren Schriften (v ota-re-is) wird der Gegner überwunden."
Auch die übrigen Namen des ewigen Juden und fein Schuhmacherhandwerk
finden eine bald mehr, bald weniger befriedigende Ausdeutung und Erklärung. Ob
Ccissel in diesen Nameuserklnruugeu Vorgänger hat, wissen wir nicht; seine belle¬
tristisch gefärbte Darstellung macht es ihm in seiner „wissenschaftlichen Abhandlung"
unmöglich, überall die Quellen anzuführen, aus denen er geschöpft hat.
David Müllers Geschichte des deutschen Volkes bewahrt anch in der kürzlich
erschienenen elften Auflage ihren wohlbegründeten Ruf als Lehr- und Schulbuch,
dem wir augenblicklich kein andres zur Seite zu stellen wüßten. Der Absatz von
80 000 Exemplaren bezeugt, welchem Anklang das Werk gefunden hat. In dem
neuen Herausgeber, Prof. Junge, hat die Verlagshandlung auch den richtigen Mann
gewonnen, der einerseits unablässig daran arbeitet, daß sich das Buch auf dem
Standpunkte der heutige» Geschichtswissenschaft behauptet, andrerseits mit dem
nötigen Takt schnell auftauchende, nicht hinlänglich begründete Aufstellungen und
Ansichten fernzuhalten weiß. Die früher sehr ausführlich erzählte Geschichte der
Ereignisse von 1866 und 1370 ist diesmal gekürzt worden, jedoch ohne daß dadurch
die Wärme des Vortrages gerade dieser Abschnitte, die unter dem Eindrucke des
Miterlebte,, niedergeschrieben waren, zerstört worden wäre. Eine größere Um¬
arbeitung hat dann noch auf Grund der neueren Arbeiten die Geschichte der
Hanse erfahren. Bei einer künftigen Auflage würde die Anmerkung auf S. 18
wegzufallen haben, da Bugges Aufstellungen der sichere Boden fehlt. Ferner muß
429 als sicheres Datum für den Beginn der Unterwerfung Afrikas durch Gaiserich
angenommen werden. Einer größere» Umgestaltung bedarf endlich der Abschluß
des H 301.; nach der jetzigen Darstellung wird man unter anderm zu dem Glauben
verleitet, daß der Rheinische Städtebund in seiner ganzen Ausdehnung ununter¬
brochen bis gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts bestanden habe.
Der Verfasser dieses Buches hat einen langen Aufenthalt in Deutschland dazu
benutzt, umfangreiche Nachforschungen über seine Heldin anzustellen; Familienbc-
ziehuugen verschafften ihm eine genauere Kenntnis ihrer Umgebung und ihrer Ver¬
wandten, ausgedehnte Studien in verschiedenen Archiven und Bibliotheken
lieferten ihm bisher noch unbekanntes Material, und dazu kommt die eingehendste
Kenntnis der einschlagenden deutschen Arbeiten, deren Trefflichkeit gebührend aner¬
kannt wird. Auf Grund dieser Vorarbeiten erzählt der Verfasser seinen franzö¬
sischen Landsleuten in anmutigster Form, frisch und lebendig die Geschichte der
Eleonore d'Olbreuze, der Herzogin von Celle, die, anfangs nnr durch eine Ge¬
wissensehe mit Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg verbunden, später dessen
legitime Gemahlin wurde. Die Streitigkeiten im Hause Braunschweig, Ludwigs XV.
Kriege gegen Deutschland, die Zurücknahme des Edikts von Nantes bilden den
Hintergrund, von dem das Bild der Fürstin sich abhebt. Des Verfassers besondres Ver¬
dienst aber besteht in der Schilderung der Beziehungen Eleonorens zu Ludwig XIV>,
zu den französischen Hugenotten, der vielseitigen Wirksamkeit, die sie zu gunsten
dieser Emigranten entfaltete, und nicht minder in der Darstellung ihres glücklichen
und reinen, in der Hofgeschichte der damaligen Zeit einzig dastehenden Familien¬
lebens. Eleonorens einziges Kind ist die unglückliche Sophie Dorothea, die Ge¬
mahlin des Kurprinzen Ludwig Georg von Hannover, bekannt durch ihre Be¬
ziehungen zu den: Grafen von Königsmarck. In der Erzählung dieser so oft
behandelten Angelegenheit folgt der Verfasser mit Recht den abschließenden Unter¬
suchungen Kochers, Sophie Dorothea ist demnach „am Rande eines Abgrundes ge¬
wandelt, indem sie einen fremden und noch dazu lockern Mann zwar nicht ver¬
brecherischen Umganges, aber eines doch Pflicht und Sitte verletzenden Vertrauens
würdigte." Mit dem Sturze ihrer Tochter hörte Eleonore auf, eine Politische Rolle
zu spielen, auch der Einfluß auf ihren Gemahl war geschwunden. Still und nur
selteu an die Öffentlichkeit hervortretend, lebte sie nach Georg Wilhelms Tode erst
in Lüneburg, dann wieder in Celle. Ihre Thätigkeit beschränkte sich wesentlich
darauf, für die französische Emigrantenkolonie zu sorgen, ihre französischen Be¬
sitzungen zu verwalten und der unglücklichen Gefangenen von Ahlden Trost zu
spenden. Eleonorens Enkel bestieg als Georg II. den Thron von England, Friedrich
der Große von Preußen ist der Sohn ihrer Enkelin.
Der Anhang des vornehm ausgestattete!: Werkes bringt außer andern Bei¬
lagen eine ansehnliche Sammlung von Briefen, welche Eleonore entweder geschrieben
oder empfangen hat,
Ein wahres Volksbuch, das wir in den Händen eines jeden Deutschen scheu
möchten. Von sachkundiger Seite sind aus den Reden, Briefen und Erlassen des
Kaisers und des Reichskanzlers die wichtigsten Stellen in vollem Wortlaute zu¬
sammengestellt und nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet worden, dazwischen
ist in der knappsten Form ein verbindender Text eingeschoben. Wir erhalten so
ein vollständiges Bild der deutschen Geschichte seit dem Oktober 1858, der Ueber¬
nahme der Regentschaft durch den Prinzen von Preußen, Die Anordnung des
Stoffes in den einzelnen Kapiteln wie die Auswahl aus dem vorhandenen un¬
geheuern Material ist so glücklich wie nur möglich, man mag einen Abschnitt
aufschlagen, welchen man will. Alle Fragen, die rein politischen und sozialen, die
kirchenpolitischen, die wirtschaftlichen, die heute sichtbarer denn je unser gesamtes
Politisches Leben beeinflussen, lassen sich hier in ihrer ganzen Entwicklung verfolgen.
Bei weitem die größere Hälfte der Darstellung ist der Geschichte des Ausbaues
des deutscheu Reiches seit 1371 gewidmet. Wir haben nur einen Wunsch, daß
nämlich in den künftigen Auflage» auch die eine und die andre Stelle aus
Poschingers Veröffentlichungen aufgenommen werde, um zu zeigen, wie Deutsch¬
lands Einigung von Anfang an das Ziel der Bismarckschen Politik gewesen ist.
Wenn aus dem Rahmen dieser Blätter, wie es nicht anders sein kann, die
Gestalten des Kaisers und des Kanzlers gewaltig und machtvoll heraustreten, so
wird der Leser Wohl dem dem Büchlein vorgesetzten Motto beipflichten — Luther
zieht es als Summe in einer durch die Münzcrischen Schwarmgeister veranlaßten
Predigt — : „Es liegt nicht an Büchern noch Vernunft; es liegt daran, daß Gott
Leute auf Erden schicket. Wenn Gott einem Volat hat wöllen helfen, hat ers nicht
mit Bücher» gethan; sondern nicht anders, denn daß er einen Mann oder zween
hat aufgeworfen, der regieret besser, denn alle Schrift und Gesetze."
Die Weidmannsche Buchhandlung beginnt gegenwärtig, eine Auswahl aus
ihrer neuen kritischen Gesamtausgabe der Werke Herders herauszugeben. Der erste
Band dieser Ausgabe der „Ausgewählten Werke" enthält in derselben soliden
Ausstattung wie die große Gesamtausgabe den ersten Band der „Ausgewählten
Dichtungen." Darin sind abgedruckt der Cid, das Drama „Admetus' Haus," das
Melodram „Ariadne-Libera," die Paramythien, die uuter der Ueberschrift „Blätter
der Vorzeit" zusammengefaßten Dichtungen aus der morgenländischen Sage und
die Legenden. Dieser Ausgabe der „Ausgewählten Werke" steht eine zweite Auswahl
zur Seite, welche in derselben Ausstattung einzelne, besonders wichtige und beliebte
Werke Herders bringen soll; von dieser liegt „Herders Cid" vor. Da der weitere
Kreis der Gebildeten kein unmittelbares Interesse an der Gesamtausgabe Suphaus
hat, so kann man es nur mit Freude begrüßen, wenn der kritisch gereinigte Text,
den Suphan endgiltig festgestellt hat, in einer würdigen Gestalt nun auch dem
größeren Publikum zu gute kommen soll.
Eugen Zabel hat sich der dankenswerten Arbeit unterzogen, aus all den bisher
zur Verfügung stehenden Quellen ein Bild von dem Leben und Schaffen des
großen russischen Dichters zu liefern, welcher auch bei uns in Deutschland soviel
Interesse, Teilnahme, und auch die Freundschaft angesehener literarischer Männer
gefunden hat. Die Quellen sind weniger russische, als deutsche; besonders wichtig
und lehrreich waren dem Biographen die Aufzeichnungen von Ludwig Pietsch. welche
dieser vor einigen Jahren zur Charakteristik der Persönlichkeit des Dichters in
„Nord und Süd" veröffentlicht hatte; Pietsch war seit dem Jahre 1847 mit Turgenjew
genau bekannt und in beständigem Verkehr mit ihm. In glücklicher Weise hat Zabel
die Dichtungen des Autors zu gruppiren gewußt. Nach kurzer Erwähnung seiner
Jugendversnche spricht er von deu ersten erfolgreichen Prosaarbeiten, den „Skizzen
aus dem Tagebuche eines Jägers"; dann von den politisch so wirkungsvoll ge¬
wordenen Novellen mit dem Thema der Leibeigenschaft; von den Liebesnovellen
(Frühlingsfluten), von den Kulturromanen (Rubin, Rauch, Väter und Söhne,
Neulnud) und endlich von den phantastischen Novellen; in kurzem Referat auch
von den dramatischen, nicht eben glücklichen Versuchen Turgenjews, wie es sich
letzthin wieder bei einer Aufführung eines Schauspiels desselben, „Nntalie," im
Wiener Burgtheater gezeigt hat. Außerdem wird, soviel man eben weiß, von
dem Freundschaftsverhältnisse Turgenjews zur Familie Vinrdot berichtet, und
persönliche Charakterzüge beschließen die Darstellung.
Zabel steht auf dem Standpunkte rückhaltloser Bewunderung, höchstens daß
er hie und da die mangelhafte Form betont. Er verteidigt seinen Dichter u. a.
mit Erfolg gegen die (auch von Georg Brandes geteilte) Meinung, daß er Per¬
sönlich kein Freund der Deutschen gewesen sei. Indes darf die Vermutung aus¬
gesprochen werden, daß sich bald eine nüchternere Anschauung verbreiten werde, die
vielleicht den Einfluß, welchen die Tnrgcnjewsche Grundstimmung, sein grenzenloser
Pessimismus auf die belletristische Produktion auch bei uns gehabt haben, als keinen
glücklichen bezeichnen wird. Anzeichen für diese kühlere Betrachtung sind schon da.
Julien Schmidt, selbst ein persönlicher Freund und Verehrer Turgenjews, giebt in
einem letzthin in der „Gegenwart" vom 7. Februar erschienenen Aufsatze über Graf
Leo Tolstoy eine Andeutung davon; ja es scheint, als wäre Turgenjew im Verkehr
mit seinem vaterländischen Freunde und Kollegen in Apoll selbst von der höheren
Wahrheit einer zuversichtlicheren Weltanschauung, als es die seinige war, ergriffen
worden. Indes sollen diese Bemerkungen nicht das Verdienst Zabels schmälern,
der durch zahlreiche mit Geschmack gewählte Zitate und Exzerpte aus den Dichtungen
Turgenjews sein Buch lehrreich und interessant zu machen verstanden hat. Auf Grund
desselben hat übrigens Otto Brahm im Februarhefte der Westermcmnscheu Monats¬
hefte eine lesenswerte Studie über Turgenjew veröffentlicht.
Es scheint doch nicht so ganz wahr zu sein, daß jeder, der eine Reise thut,
etwas erzählen kann — wenigstens so erzählen, daß man ihm gerne zuhört. Die
Reisebeschreibungen häufen fich bei der jetzt so mächtig erregten Phantasie des
Volkes natürlich auch in besondrer Fülle, ob aber auch alles, was geboten wird,
seinen Zweck, ein anschauliches, interessiredes, zugleich belehrendes und fesselndes
Bild zu geben, ganz erfüllt? Das ist eine Frage, welche bei der vorliegenden
leider nicht bejaht werden kann. Eine sympathische, bilduugsfrohe, begeisterungs¬
fähige Persönlichkeit soll in dem Reisenden durchaus uicht verkannt werden; er
hat wohl auch ein Bewußtsein davon, was zu einem Buche, wie er es geschrieben
hat, gehört. Aber sein Erzählertalcnt ist gar so gering, seine Begeisterung hat
gar so wenig Kraft, den Leser anzustecken, sein Stil ist gar so trocken und nüchtern,
daß selbst ein mitgebrachtes Interesse für das schöne Land, welches er schildert,
nicht über die Langeweile seiner Darstellungen hinweghelfen kann. Schade!
l er Entwurf eines Postsparkassengesetzes hatte bereits bei der Be¬
ratung im Plenum des Reichstages von so verschiednen Seiten
> Widerspruch erfahren, daß nur sehr sanguinische und optimistische
Anhänger des Gesetzes aus der Kvmmissionsberatung eine Wand¬
el trug erwarten konnten. In der That ist auch diese Hoffnung zu
Schanden geworden, und man kann für diese Sitzung den Entwurf für begraben
betrachten. Es kann nur noch fraglich erscheinen, ob ihm die Ehre eines an¬
ständigen Begräbnisses in einer zweiten Lesung zuteil wird, oder ob er dem
Schicksal des betlchemitischeu Kiudesmordes anheimfällt und am Schlüsse der
Session mit andern rückständigen Vorlagen unerledigt in den Orkus sinkt.
Die Feinde des Entwurfs setzen sich im großen und gauzen aus den Ele¬
menten zusammen, welche entweder offne Gegner des Reiches sind oder doch im
Geheimen alle Maßregeln zu hintertreiben suchen, die auf eine Kräftigung des
Neichsgedankens abzielen. Zu den ersteren gehört das Zentrum mit seiner anti¬
deutschen Dependenz, zu den letztern gehören jene außerpreußischcu Partikularsten,
welche der Neichsregierung nur mit halbem Herzen folgen und, seit der Libera¬
lismus in seinen fortgeschrittene» Partien sich lediglich von seiner Abneigung
gegen den Reichskanzler leiten läßt, immer mehr ihren partiknlaristischen Nei¬
gungen Geltung zu verschaffen wissen. Eine dritte Gruppe von Gegnern ist endlich
dem Entwürfe in jenen altpreußischen Konservativen entstanden, die sich immer
noch von einer Politik auf eigne Faust nicht lossagen können und der unbe¬
greiflichen Meinung sind, daß die preußische konservative Partei sich auch
einmal den Luxus einer Opposition gegen Sr. Majestät Regierung gönnen dürfe.
Die Beweggründe dieser Gruppen sind natürlich verschiedne; die der ersten
beiden liegen außerhalb der Sache, die der letzten sind zwar sachlich, aber stehen
auf einem so kleinen und engherzigen Standpunkte, daß das Volk schwerlich
ein Wohlwollen daraus wird erkennen mögen. Das Zentrum und sein Anhang
geht nur soweit mit dem Reichskanzler, als es die vitalsten Interessen der
Wählerschaft erheischen; aus diesem Grunde allein ist die Gefolgschaft in der
nationalen Zollpolitik zu erklären, da selbst die blindlings der klerikalen Parole
folgenden Wähler für die Brot- und Magenfrage zugänglicher sind, als für
die Deklamationen über die sogenannte diocleticmische Kirchenverfolgung. Das
Postsparkasfengesetz ergreift diese vitalen Interessen nicht in so hohem Grade.
Es ist zwar eine Maßregel, welche gerade den untersten Klassen der Bevölkerung
zugute kommt, deren Fehlschlagen aber umso weniger Rücksicht verdient, als
sich der Entwurf an die bessern Seiten des Menschen, an seinen Spartrieb
wendet. Der Entwurf zielt darauf ab, dem Einzelnen das Sparen zu erleichtern,
ihm dnrch den Besitz eines Sparpfennigs eine größere Behaglichkeit zu schaffen
und dadurch Zufriedenheit im Lande zu verbreiten. Ein solches Ergebnis muß
natürlich von den Gegnern des jetzigen Regiments beseitigt werden, da sich die¬
selben nur von Unfrieden und Mißstimmung zu erhalten vermögen. Auch die
Partikularisten finden die Vorlage nicht dringlich genug, um dem Neichsgedanken
ein Opfer zu bringen. Denn in der That, wenn der Entwurf zum Gesetz er¬
hoben würde, würde jener Gedanke in die fernste Gegend, in Haus und Hütte
getragen. Abgesehen von Baiern und Würtemberg würden die für die Spar¬
einlagen bestimmten etwa 11000 Poststellen in mehr als 10400 Orten auch
dem kleinen, nicht an dem PostVerkehr beteiligten Manne zeigen, daß das Reich
ein warmes Herz für seine Bedürfnisse hat, und ihm täglich dieses Mahuzeichen
sichtbar vor die Augen führen. Zwar ist mit dieser Stärkung des Reichs-
patriotismus durchaus keine Schwächung des föderativem Charakters unsers
Reiches verbunden, aber innerhalb ihrer engern Pfähle fühlen sich jene Herren
durch jede Äußerung der Neichsmacht beklommen, und sie zögern nicht, soweit
sie es mit der Rücksicht auf ihre Wahlsitze vereinigen können, das materielle
Volkswohl ihrem engen Territorialpatriotismus hintanzusetzen. Die preußischen
Konservativen endlich leitet die Rücksicht auf ihre kommunalen Sparkassen, bei
denen sie selbst Verwaltung und Aufsicht haben und dadurch bei dem Aus¬
leihen der Gelder einen gewissen Einfluß besitzen. Ihr Widerspruch ist sachlich,
aber engherzig und in beschränktem Gesichtskreis entstanden.
Der sozialpolitische Charakter, welchen das hohenzollernsche Königtum von
jeher auf seine Fahne geschrieben hat, hat auch dem heute so entwickelten kom¬
munalen Sparkassenwesen seinen Ursprung gegeben. Das Reglement vom 12. De¬
zember 1838 hebt ausdrücklich hervor, daß die Einrichtung hauptsächlich auf das
Bedürfnis der ärmeren Klasse berechnet sei, welcher Gelegenheit zur Anlegung
kleiner Ersparnisse gegeben werden solle. Schon im Jahre 1870 betrug die
Summe der gesamten Spareinlagen in Preußen nahezu fünfhundert Millionen
Mark, und das hier gegebene Beispiel fand namentlich seit der Einigung Deutsch-
lands mit vielen andern preußischen Vorbildern auch in den andern deutschen
Staaten Nacheiferung. Man kann annehmen, daß sich für das ganze Gebiet
des Reiches die Summe der Spareinlagen z, Z. auf mehr als drei Milliarden
mit etwa sechs Millionen Sparkassenbüchern beläuft.
Der Zweck, den das preußische Reglement verfolgte, wurde mit Rücksicht auf
die damaligen sozialen Verhältnisse auch erreicht. Der kleine Bürger- und
Bauernstand, sowie die Dienstboten, welchen die Sorge um die unmittelbare
Notdurft des Lebens genommen ist, machten von den Sparkassen reichlichen Ge¬
brauch. Besonders in den wohlhabenderen Gegenden kamen die Kassen bald in
Aufschwung und Blüte. In Preußen waren im Jahre 1881 etwa 2050 Spar¬
stellen an nahezu 1700 Orten. Mit dem Gedeihen der Kassen entfernten sie
sich freilich auch immer mehr von ihrem ursprünglichen Zweck. Die aufgesam¬
melten Summen wurden nutzbar angelegt und konnten, da sie sich in der sehr
guten Verwaltung der angesehensten Bürger und Kreiseingesessenen befanden,
ihre Depositen aber nur gering zu verzinsen hatten, einen reichlichen Gewinn ab¬
werfen. Die Kommunalsparkasse ist heute der Stolz eines jeden Landrath im
Kreise, und wo eine solche noch nicht besteht, da verdient sich nicht selten der
junge Landrat seine Verwaltungsspvren i» der Errichtung einer derartigen Kasse.
Sieht man sich aber die Guthaben näher an, so wird man finden, daß von
Sparpfennigen des kleinen Mannes nur wenig mehr die Rede sein kann. Denn
durchschnittlich beträgt die Einlage auf ein Sparkassenbuch bei den städtischen
Kassen mehr als 400 Mark, bei den ländlichen nahebei 650 Mark. Die Zahl
der Sparkassenbücher über 600 Mark ist in fortwährendem Wachsen begriffen,
und so erscheint es denn zweifellos, daß der größere Bestandteil der Baarein-
lagen aus Depositen größerer Kapitalisten, Gesellschaften und Behörden besteht.
Daß trotz dieser Entfremdung von ihrem ursprünglichen Ziele die Kom¬
munalsparkassen ein höchst segensreiches Institut sind, das nicht bloß erhalten
und gepflegt werden soll, sondern des höchsten Wohlwollens der Gesetzgebung
würdig ist, bedarf kaum einer Erörterung. Bei dem fortdauernden Niedergange
der Landwirtschaft haben jene Kassen in Zeiten von Krisen und Not die kleinen
Gutsbesitzer über Wasser gehalten; sie haben fast überall den gesunden Kredit
gefördert und modcrirend ans den Zinsfuß gewirkt. Nicht selten hat die von
den Kommunalsparkassen geführte Verwaltung dem unsaubern und blutgierigen
Handwerk der Wucherer eine Grenze gesetzt und auch die bessern Kreditinstitute,
wie die Genossenschaftsbanken, durch ihre heilsame Konkurrenz in Schranken zu
halten verstanden. Auf der andern Seite ist der von den Kasten gezogene Ge¬
winn, der sich erheblich über die den Sparern zu gewährenden Zinsen erstreckte,
den Kommunen selbst zugute gekommen. Eine Reihe bewährter Kommunal-
einrichtungen, wie Kranken- und Schulhäuser, Chausseen, hätten ohne den durch
die Kreissparkasse gewährten Zuschuß garnicht geschaffen werden können, und
so brachte das, was den einzelnen Sparern entzogen wurde, der ganzen Be-
völkernng Nutzen und Vorteil. Es sollten hier nur die in die Augen springenden
Punkte erwähnt werden; sie werden genügen, um jeden Zweifel darüber zu be¬
seitigen, daß der deutsche Gesetzgeber so sinnlos sein könnte, diese Institute
schädigen zu Wollen. Wohl aber mußte derselbe sich die Frage vorlegen, ob
nicht ein Mittel gefunden werden könne, welches, wie im Jahre 1338, gerade
für das Bedürfnis der ärmeren Klasse berechnet sei. Denn seit dieser Zeit
haben sich die sozialen Verhältnisse erheblich verschoben; neben dem kleinen
Bürger- und Bauernstande ist in der Arbeiterbevölkerung in den Städten und
auf dem Lande ein Proletariat aufgewachsen, dessen Besserung und Hebung in
materieller und moralischer Beziehung eine der vornehmsten Sorgen unsers
greisen Heldenkaisers und seines großen Kanzlers bilden. Prüft man die be¬
stehenden Sparkassen auf ihre innere Einrichtung, so sind es sehr bemerkenswerte
Hindernisse, welche dem Sparen des kleinen Mannes entgegentreten. Einmal
sind die Sparstellen im Verhältnis zu der Bevölkerung doch nur sehr genug.
Mehr als ein Drittel der Orte über 2000 Einwohner, selbst ein Teil derjenigen
über 5000 Einwohner, war in Preußen ohne jegliche Spargelegenheit. Über¬
dies waren in den einzelnen Provinzen je nach deren Wohlhabenheit die Spar¬
kasse« sehr ungleich verteilt; es schwankt die Spnrstelle zwischen 14000 und
60 000 Einwohnern; ja in dem treuen, aber oft genug nur allzu stiefmütterlich
bedachten Ostpreußen bedürfen die Sparer oft an zwei Meilen, um ihren Spar¬
pfennig zur Aufbewahrung abliefern zu können. Soll aber der Arbeiter und
kleine Mann zum Sparen gereizt werden, so muß ihm die Gelegenheit zum
Sparen fast in jedem Orte und in jedem Viertel geboten werden. Der zweite
Hinderungsgrund liegt in der Festsetzung eines Minimums für die Einlagen; diese
Anordnung empfiehlt sich für die Kommunalsparkassen mit Rücksicht auf die Bequem¬
lichkeit und die Kosten der Verwaltung. Dem kleinen Manne wird aber dadurch die
Möglichkeit zum Sparen vielfach entzogen; er besitzt keinen eisernen Geldschrank,
in welchem er das Geld solange aufsparen kann, bis die Minimalsumme er¬
reicht ist, welche die Kasse annimmt. Sein Aufbewahrungsort bietet in deu
wenigsten Fällen genügende Sicherheit gegen Diebstahl; trügt er das Geld aber
mit sich herum, so steht er unter dem Druck und der Lockung einer beständigen
Versuchung, welcher er nicht selten auch unterliegt. Endlich sind die bestehenden
Kommunalkassen ausschließlich auf eine seßhafte Bevölkerung berechnet; wer bei
ihnen Geld einlegen oder abholen will, muß in ihren Bureaus erscheinen. Der
fluktuirenden Arbeiterbevölkerung, die heute hier und morgen dort arbeitet, ist
daher die Benutzung dieser Kassen geradezu unmöglich gemacht. Wie viele Tau¬
sende von Arbeitern finden im Sommer Arbeit in Gegenden, welche von ihrer
eigentlichen Heimat und ihrem Wohnsitze weit entfernt sind: wer ist nicht ost-
und westpreußischen Erdarbeitern bei den Eisenbahnbauten am Rhein, bei den
Befestigungswerken um Straßburg und Metz begegnet? Diese Leute verdienen
in den Sommermonaten ihren Unterhalt für den Winter. Wie sollen sie nun
ihren Verdienst anlegen? Bringen sie denselben in die Sparkasse ihres zeit¬
weiligen Arbeitsortes, so können sie ihn nicht etwa bei ihrer Rückkehr in die
Heimat von der dortigen Sparkasse erheben, vielmehr bedarf es dann einer
Reihe von Transaktionen, die vielleicht nur für einen geübten Geschäftsmann
ohne Schwierigkeiten sind.
Wie die Lichtseiten der Kvmmnnalsparkassen, so sind auch ihre Schatten¬
seiten — soweit sie die kleinen Leute betreffen — hier nur mit grellen Strichen
gezeichnet worden. Nach beiden Richtungen könnte das Bild in seinen Details
noch unser ausgeführt werden. Hervorhebung verdient vielleicht noch eine
sozialpolitische Seite. Wie kommt der Arbeiter dazu, daß aus dem Gewinn
seiner Spareinlage irgendeine kommunale Einrichtung geschaffen wird? Er,
der vielleicht nur vorübergehend in dieser Kommune sich aufhält und an deren
Verwaltung gar keinen Teil hat. Es ist dies gleichsam eine Steuer, welche
auf das Sparen gelegt wird, also den geringern Konsumenten am härtesten
trifft. Auch noch eine andre Scheu hält namentlich in den kleinen Städten den
weniger Bemittelten ab, sein Geld in die Sparkasse zu tragen. Wenn er dies
thut, handelt er offen vor aller Augen; ihn sieht vielleicht der Herr Landrat
oder der Steuereinnehmer, und dann tritt, wie er fürchtet, gewiß eine Steuer¬
erhöhung für das nächste Jahr ein; man sieht ja, daß er noch Geld hat, um
es auf die Sparkasse zu thun.
An Versuchen zur Abhilfe dieser Übel stände hat es nicht gefehlt; sie schei¬
terten an dem Widerstande der bestehenden Sparkassen, die bei ihrer Prospe¬
rität in der That keinen Anlaß hatten, sich größere Mühe und größere Kosten
aufzuerlegen. Die Indolenz der besitzenden Klassen gegen das Anwachsen der
sozialen Mißstände erstreckt sich auch auf diese Institute. Schon im Jahre 1873
erbot sich die rührige und für die Vertehrsbedürfnisfe so erfindungsreiche Reichs¬
postverwaltung, den Kommunalsparkassen in den Postanstalten Ein- und Ans-
zahlstellen für die Sparer zu schaffen. Nachdem im Rheinland? und in Westfalen,
sowie im Jahre 1876 von dein Berliner Magistrate diese Beihilfe abgelehnt
worden war, gab die Neichspost ihre Versuche auf. Es machte sich ferner unter
den Sparkassen selbst eine Bewegung geltend, um durch einen engern Verband
untereinander eine leichtere Übertragbarkeit der Spareinlagen von einer Kasse
an die andre im Interesse der fluktnirenden Bevölkerung zu ermöglichen. Allein
die überwiegende Mehrheit der Sparkassen nahm eine ablehnende Haltung ein,
und nur in einem sehr geringen Teile Deutschlands haben etwa 230 Kassen den
Ubertragungsverkehr unter sich eingeführt.
Indessen zeigte die Sparbeweguug im Volke, wie sehr ein Bedürfnis auf
Vermehrung der Spargelegenheiten vorhanden war. Fabrik-, Schulsparkassen,
Sammlung von Sparmarken und ähnliche Einrichtungen beweisen, wie sehr
von allen Seiten der Wunsch auf Befriedigung dieses Bedürfnisses genährt
wurde. Endlich machten die Vorgänge im Auslande klar, welche segensreichen
Wirkungen von den Postsparkassen zu hoffen waren. Wenn auch in Anschlag
zu bringen ist, daß in den fremden Ländern im allgemeinen ein Kommunal-
sparkasscnverkehr fehlte, so ist doch durch diese Vorbilder klar erwiesen, daß eine
Vermehrung der Sparstellcn und eine Herabsetzung des Minimums der Spar¬
einlagen den Sparbetrieb mächtig fördert. Die Begründung zu dem Entwurf
enthielt ein reiches statistisches Material, das deutlicher als alle Gründe spricht.
In Holland lagen 36,4 Prozent aller Einlagen während des Jahres 1882 innerhalb
der Grenze bis einschließlich 1 Gulden, weitere 46,2 Prozent zwischen 1 und 10 Gul¬
den. In Österreich kam von den während der ersten nenn Monate des Jahres 1883
geschehenen Einzahlungen von 1125800 Gulden der überwiegende Teil, nämlich
1027 500, auf Beträge von 1 bis 5 Gulden. In Belgien lagen 81,9 Prozent
aller im Jahre 1882 geleisteten Einzahlungen zwischen 1 und 20 Franks, von
den Sparkassenbüchern lauteten 51,6 Prozent über Guthaben von nicht mehr
als 20 Franks. In allen diesen Ländern und in noch andern tritt aber
auch mit Einführung der Postsparkassen eine erhebliche Vermehrung der Spar¬
einlagen ein. In Italien, welches sehr gute Kommunalsparkassen besitzt — man
weiß, daß der schönste Palast in jeder Kommune der Sparkasse zum Obdach
dient —, haben sich die Einlagen seit dieser Einführung fast verdoppelt; sie
betrugen im Jahre 1833 mehr als 786 Millionen Lire, von denen ^ auf die
Postsparkassen entfällt. In England, wo man charakteristisch diese Sparkassen
als xsoplös xurss bezeichnet, waren die Einlagen bis zum Jahre 1880 auf
mehr als 33 Millionen Pfund Sterling gestiegen.
Gegenüber diesem Rüstzeug, mit welchem der Regierungsentwurf ausgestattet
ist, erweisen sich die Argumente der Gegner als kleinliche Notbehelfe egoistischer
oder kurzsichtiger Parteitaktik. Der erste Einwand bezog sich auf die mangelnde
Kompetenz des Reiches; eine Rolle spielten hierbei die Postreservatrechte von
Baiern und Württemberg, denen übrigens schon im Bundesrate mit der Konnivenz
Rechnung getragen war, welche die Haltung des Reichskanzlers in seiner außer¬
ordentlich bundesfreundlichen Gesinnung gegen die verbündeten Fürsten des
Königs von Preußen kennzeichnet. Wir wollen zwar die Frage nicht eingehend
erörtern; sie erscheint uns gegenüber dem vorliegenden wirtschaftlichen Bedürfnis
von so untergeordneter Bedeutung, daß man die Zuständigkeit des Reichs schaffen
müßte, wenn sie nicht schon vorhanden wäre. Solche Einwände gehören in die
Kategorie juristischer Spitzfindigkeiten, mit denen man alles und nichts beweisen
kann — das Volk verlangt Brot, und die Opposition reicht ihm Steine, unter
denen sich der der Weisen gewiß nicht befindet. Die Postsparkassen gehören
zum Bankwesen, dessen Regelung verfassungsmäßig dem Reiche obliegt; daß zu
derselben die Postanstalten herangezogen werden, berührt die staatsrechtliche
Frage nicht, sondern bezieht sich lediglich auf die Billigkeit und Bequemlichkeit
der Verwaltung.
Der zweite Einwand bezog sich auf das Ansammeln großer Fonds in der
Reichshauptstadt. Man fürchtete, der Reichsregicrung mit diesen Geldern ein
neues Machtmittel in die Hand zu geben, man scheute Störungen des Kredits,
wenn neben der Ncichsbcmk noch ein zweites gleich geldmächtiges Institut
bestünde. Man hielt endlich das Geld nicht für sicher genug in dem großen
Zentrum aufbewahrt und wies besonders auf die Zeit vou Krieg und ähnlichen
Krisen hin. Der Entwurf will aber garnicht, daß das Geld lediglich der Reichs-
verwaltung zur Verfügung stehe; ein großer und entsprechender Teil desselben
sollte vom Reiche den Einzelstaaten behufs Ausleihung wieder zugeführt werden.
An eine Störung des Kredits war aber umso weniger zu denken, als der
Reichskanzler sowohl Chef der Reichsbank ist, als auch Chef der Neichspost-
sparkassenverwaltung werden sollte. Die für den Kredit so wichtigen Ver-
waltungsgrundsätze fanden in dem einheitlichen Chef eine durchaus genügende
Garantie. Auch für Zeiten der Krisis war Vorsorge getroffen, die eine Ge¬
fährdung der Spareinlagen ausschließt. Der Vorwurf mangelnder Sicherheit
der Gelder in Berlin bedarf wohl keiner ernstlichen Widerlegung. Wenn der
Kaiser mit seiner Familie sich in seiner Hauptstadt sicher fühlen darf, dann kann
man wohl das Gleiche von den Spargeldern annehmen.
Der dritte Einwand endlich entstammt der Befürchtung, daß die Kommnnal-
sparkasseu durch das neue Institut gefährdet werden könnten. Wir haben schon
mehrfach diesen Einwand als einen kurzsichtigen bezeichnet. Denn wie die Er¬
fahrung im Auslande lehrt, wenden sich die Postsparkassen an ein ganz andres
Publikum als die kommunalen Sparkassen. Beide können und werden ohne
Konkurrenz sehr gut nebeneinander bestehen. Die letztern genügen — wie ge¬
zeigt worden ist — nicht mehr dem Bedürfnis des kleinen Mannes und in¬
sonderheit des Arbeiterstandes; dieses Bedürfnis sollen die ersteren befriedigen.
Es ist deshalb anch nicht zu befürchten, daß die Summen, welche den Post-
sparkasscn zufließen, den Kommuualsparkasseu werden entzogen werden, vielmehr
sind dies Summen, welche überhaupt nicht gespart werden, wenn sie nicht in
die Postsparkassen getragen werden. In übertriebener Ängstlichkeit und um
diesem Vorwurfe zu begegnen, hat der Entwurf die Kommnnalsparlassen noch
besonders geschützt, indem er ein Maximum von geringer Höhe für die Postspar-
einlagen festsetzte und deren Verzinsung unter den von den ersteren gewährten
Zinsfuß brachte. Der Einfluß der Grundbesitzer auf die kommunalen Spar¬
kassen bleibt also völlig unberührt.
Selten hat ein Entwurf in den Vorstadien eine so reifliche Erwägung er¬
fahren als gerade der Postsparkassenentwurf. Es beweist dies schon die ein¬
gehende, vielfach auf persönliche Anschauungen und Sammlungen beruhende Be¬
gründung. Auch ist ja aus den Zeitungen bekannt geworden, daß der Entwurf
von dem preußischen Staatsrate sehr sorgfältig beraten worden ist und die Ge¬
nehmigung dieser Versammlung gefunden hat, in welcher die bewährtesten Kenner
Von Staat und Verwaltung sitzen. Die souveräne Fraktionspolitik tritt aber
wiederum sachlichen Gründen und dem wirklichen Bedürfnis des Volkes ent¬
gegen. Das ist ein gewagtes Spiel, und nach den gemachten Erfahrungen ist
der Einsatz ein hoher. Wir erinnern daran, daß der Widerstand gegen die
Dampfersubvention den Freisinnigen einen Teil ihrer Sitze gekostet hat. Wir
erinnern an die Opposition, welche der Liberalismus durch drei Sessionen der
Unfallversicherung gemacht hat. Jetzt können wir täglich in den Zeitungen lesen,
mit welcher Begeisterung gerade von den beteiligten Kreisen die Segnungen der
staatlichen Unfallversicherung aufgenommen werden. Die freisinnige Opposition
beklagt sich darüber, daß der Reichskanzler das Ansehen des Parlaments unter¬
grabe. Wenn in dieser Klage das Zugeständnis liegt, daß das Parlament
immer mehr an Kredit bei der Bevölkerung verliere, so kann man diese Klage
nur als durchaus begründet ansehen. Aber nicht der Reichskanzler ist es, son¬
dern die Fraktionen sind es, welche dem Parlament seinen Boden entziehen.
Denn besonders die gewählte Vertretung des Volkes müßte es für ihre höchste
Aufgabe betrachten, den realen Wünschen und Bedürfnissen desselben Rechnung
zu tragen. Doch gerade diesen gegenüber schließt das Parlament die Augen.
Ist es dann nicht natürlich, daß das Volk einmal überlegt, wie alle die großen
Erfolge der letzten fünfundzwanzig Jahre nicht mit Hilfe des Parlaments, son¬
dern im Kampfe gegen den Widerspruch desselben durchgesetzt worden sind?
Muß uicht das Volk in dem Parlament mehr ein Hindernis als eine Förde¬
rung seiner Wohlfahrt erblicken? Fürwahr, wenn man diese ewigen Nörgeleien
und Kämpfe mit einem nicht vom Parteigeist getrübten Auge sieht, muß man
mit Schamgefühl an die künftigen Geschlechter denken, welche dereinst über die
Thaten unsrer Gegenwart zu Gericht sitzen werden. Dann wird sich auch ein
andrer Mommsen finden, der diejenigen glücklich preist, denen in der Nähe des
Reichskanzlers — wie einst Cäsars — vergönnt war, einen Abglanz seiner
Weisheit zu erHaschen, und der diejenigen brandmarkt, welche in geistiger und
moralischer Verblendung dem Wirken dieses großen Staatsmannes Hindernisse
auf Hindernisse häuften. Aber so wenig wie die Lobeserhebungen Mommseus
des Volkes Versündigung gegen Cäsar gutmachen, so wenig kann das unaus¬
bleibliche Lob der Zukunft über unsern großen Reichskanzler uns das Elend der
Gegenwart vergessen lassen.
ir haben den Prozeß der Güterprodnktivn untersucht und gefunden,
daß der Unternehmer zwei Gehilfen nötig hat, das Kapital zur
Beschaffung der Gebäude, des Stoffes und der Werkzeuge, den
Arbeiter zur Leistung der Kraft; wir haben gefunden, daß Kapital
und Arbeiter in keinem direkten Verhältnisse zu einander stehen,
weil die Zahlung der Arbeitslöhne keineswegs durch das Kapital, sondern un¬
mittelbar aus dem erarbeiteten Werte erfolgt, daß daher Kapital und Arbeiter
gleich abhängig sind von der Nachfrage des Unternehmers, welcher seinerseits
durch das Bedürfnis oder die Aufnahmefähigkeit der Konsumenten bestimmt
wird. Wir haben gefunden, daß, der herrschenden Lehre entgegen, Zinsfuß und
Arbeitslohn in der Regel miteinander steigen und fallen, und daß, wenn dies
ausnahmsweise uicht der Fall ist, es mir deshalb geschieht, weil jedes von
beiden fein besondres Verhalten zum Unternehmer hat, daß aber in keinem Falle
feindliche Interessen zwischen Kapital und Arbeiter bestehen.
Wir haben ferner gesehen, daß alle bei der Produktion Mitwirkenden: Unter¬
nehmer, Kapitalist und Arbeiter, aus dem Werte des erzeugten Gutes entlohnt
werden. Nach welchem Maßstabe dies geschieht, das ist der Kern der
sozialen Frage.
Es springt sofort in die Augen, daß Kapital und Arbeit sich anders bei
der Verteilung verhalten als der Unternehmer. Als die von dem letzteren
herbeigerufenen Gehilfen müssen sie — Zins und Arbeitslohn — unter allen
Umständen befriedigt werden, während der Unternehmer auf das Übrigbleibende
mit Gewinn oder Verlust angewiesen ist.^) Dies verschiedne Verhalten erzeugt
einen Gegensatz der Interessen zwischen dem Unternehmer einerseits und dem
Kapitalisten und dem Arbeiter andrerseits. Denn indem der Unternehmer
lediglich auf dasjenige angewiesen ist, was nach Entlohnung der Arbeiter und
des Kapitalisten übrigbleibt, er also das ganze Risiko trägt, wird er bestrebt
sein, Kapitalzins und Arbeitslohn möglichst herabzudrücken. Kapitalist und
Arbeiter sind demnach ans die Defensive verwiesen. Was sie im Kampfe mit
dem Unternehmer gewinnen können, bleibt in gewissen bescheidnen Grenzen. Der
Gewinn dagegen, aber auch ebenso der Verlust des Unternehmers ist unbegrenzt,
weil er neben dem Kampf mit Kapitalisten und Arbeitern, seinen Gehilfen, noch
einen andern Kampf zu führen hat, an welchem jene keinen Anteil nehmen,
nämlich den Kampf mit dem Konsumenten um den Verkaufspreis.
Unter diesen Verhältnissen ist es natürlich, daß Kapitalist sowohl als
Arbeiter, welche beide auf eine mäßige Entlohnung beschränkt sind, die der
Natur der Sache nach gewisse Grenzen niemals überschreiten kann, bestrebt sind,
an dem Unternehmergewinn beteiligt zu werden. Auch hier zeigt sich ganz
deutlich, daß Kapital und Arbeit keineswegs natürliche Feinde, sondern im
Gegenteil daß sie durch gleichartiges Interesse verbunden sind, wenn auch jedes
von beiden seine besondern Wege geht.
Eine gerechtere oder, zutreffender gesagt, eine befriedigendere Verteilung
der erzeugten Werte zwischen Unternehmer, Kapitalist und Arbeiter ist also die
große Aufgabe, vou deren Lösung die soziale Befriedigung abhängt, und eben
dies ist in der That auch der Schlachtruf des vernünftigeren Teiles der so¬
zialistischen Schule.
Wenn die erzeugten Güter unmittelbar in die Hände der Konsumenten
gelangten, wenn nichts produzirt würde, was nicht von der Konsumtion er¬
wartet oder gewissermaßen bestellt wäre, wenn also der Unternehmer jenen
andern Kampf mit den Konsumenten um den Preis der Waare nicht zu führen
hätte, so würde eine höhere oder, wenn man will, eine gerechtere Entlohnung
des Arbeiters Wohl ohne große Schwierigkeiten zu erzielen sein. Denn eines¬
teils würde in diesem Falle, wie wir oben gezeigt haben, das Kapital nur in
sehr untergeordnetem Maße bei der Produktion (für Beschaffung der Gebäude,
Stoffe und Werkzeuge) beteiligt sein, und demnach würden die Produktionskosten
wesentlich geringer sein; andrerseits aber hätte der Unternehmer das ganze
Risiko des Verkaufs und der damit verbundenen Spekulation nicht zu tragen.
Er könnte daher, ohne seinen Gewinn wesentlich zu kürzen, dem Arbeiter sehr
wohl höheren Lohn bewilligen, und würde sich dem aus tausend Gründen nicht
entziehen können und wollen.
Freilich könnte es müßig erscheinen, eine solche Hypothese aufzustellen, weil
sie offenbar unter den heutigen verwickelten Verhältnissen nicht möglich ist.*)
Es schien mir aber von Nutzen, diese Hypothese aufzustellen, weil daraus
hervorgeht, daß ebenso wie das bei der Produktion beteiligte Kapital, an
und für sich auch der Unternehmer es nicht ist, der auf den Arbeiter drückte,
sondern der Umstand, daß die erzeugten Güter statt direkt in die Hände der
Konsumenten, zuvor in diejenigen des spekulirenden Handels gehen, also in ein
Gebiet, welches außerhalb der eigentlichen Gütererzeugung liegt, ein Gebiet, in
welchem es sich nicht um den in dem Gute erzeugten Wert, sondern um den
mit dem Gute zu erzielenden Preis handelt.
Ich denke mich hier nicht auf die schwierige Untersuchung einzulassen über
den Unterschied zwischen Wert und Preis und inwieweit der letztere von dem
Werte abhängig sei. Dies würde mich viel weiter führen, als es die ganz
Praktischen Zwecke dieses Aufsatzes erlauben. Es genügt mir, gezeigt zu haben,
daß der Abgrund, welcher in Gestalt des Handelsrisikos zwischen der Vollendung
des Gutes und dessen Aufnahme durch den Konsumenten liegt, den Unternehmer
nötigt, seinen Anteil an dem erzeugten Werte auf Kosten des Kapitals und beson¬
ders der Arbeit soviel als möglich zu erhöhen. Und so kehren wir zu dem Kampfe
zurück, welchen Kapitalist und Arbeiter mit dem Unternehmer zu führen haben.
Wir haben gefunden, daß Kapitalist und Arbeiter natürliche Gegner des
Unternehmers sind. Aber ihre beiderseitige Lage ist doch ganz verschieden.
Beide wünschen an dem Gewinne des Unternehmers größern Anteil zu nehmen.
Allein bei diesem Streben befindet sich der Kapitalist in einer günstigeren Lage
als der Arbeiter. Denn indem der Kapitalist sähig ist, sich auch an dem et¬
waigen Verluste des Geschäftes zu beteiligen, wird es ihm leicht, sich mit dem
Unternehmer zu verständigen. Auch geschieht dies in Wirklichkeit in zahllosen
Fällen, ja wir besitzen in der Aktiengesellschaft und ähnlichen Vereinigungen
ausreichende rechtliche Formen, in welchen die an und für sich widerstreitenden
Interessen des Kapitalisten und des Unternehmers ihre Ausgleichung finden.
Alsdann bleibt der Arbeiter allein im andern Lager, mit indem ihm nnn
Kapitalist und Unternehmer vereint gegenüberstehen, wird seine Lage schwieriger,
seine Aussicht auf einigen Erfolg im Kampfe hoffnungsloser (was freilich auch
dann immer der Fall ist, wenn der Unternehmer mit eignem Kapital arbeitet.)
Auf dieses Verhältnis nun — es ist von besondrer Wichtigkeit, dies klar
zu machen — hat die Höhe des Kapitalzinses einen ganz entschiedenen Einfluß.
Ist nämlich der Zinsfuß hoch, so wird sich der Kapitalist mit der einfachen
Vermietung seines Kapitals begnügen und den Gewinn der Geschäfte neidlos
den Unternehmern überlassen. Wird der Zinsfuß aber niedrig, so ändert sich
das Verhältnis. Es wird der Wunsch rege, von dem Kapitale größern Nutzen
SU ziehen als den bloßen Zins, also sich mit den Unternehmern auf Ge¬
winn und Verlust zu assoziiren, und bei kleinen Kapitalisten, welche mit ihrer
Lebsucht auf ihre Rente angewiesen sind, wird es oft geradezu zur Notwendig¬
keit, aus ihrer gesicherten Lage als bloße Kapitalisten herauszutreten und sich
»ut den Unternehmern zu vereinigen oder selbst Unternehmer zu werden.*)
Man könnte hierin eine der Volkswirtschaft günstige Konjunktur erblicken.
Denn das Geschäft findet alsdann nicht nur billiges Kapital, sondern auch
größere Leichtigkeit, einen Teil der Gefahr durch Assoziirung auf den Kapitalisten
abzuwälzen oder, um eine andre Wendung zu gebrauchen, das Kapital ist willig,
sich, zumal bei größeren Unternehmungen, mit eignem Risiko einzulassen. Es
müßte also, so könnte man schließen, eine allgemeine Belebung und Steigerung
der Geschäfte die Folge sein, mithin auch eine vermehrte Frage nach Arbeitern
und eine Erhöhung des Arbeitslohnes. Allein diese Schlußfolgerung enthielte
eine arge Täuschung; sie wäre so falsch, wie überhaupt die Lehre, daß niedriger
Zins hohen Arbeitslohn zur Folge habe, oder überhaupt, daß Kapital Arbeit
erzeuge. Haben wir doch gesehen, daß der Zinsfuß eben nur darum niedrig
ist, weil die wirtschaftliche Thätigkeit des Volkes nicht hinreicht, um die zins-
snchenden Kapitalien genügend zu beschäftigen. Die bestehenden Unternehmungen
sind also um Arbeiter keineswegs verlegen, und ihre, der Unternehmer, Lage
ist — vorausgesetzt, daß es an Absatz nicht fehlt — umso günstiger, je tiefer
der Zinsfuß für das nötige Kapital steht. Der Unternehmer kann in dieser
Konjunktur den Arbeiter seine ganze Macht sühlen lassen und den Arbeitslohn
auf die niedrigste Stufe Herabdrücken.
Aufs neue sehen wir also, und es kann dies nicht oft und laut genug betont
werden, daß der Arbeiter durchaus kein dem Kapitalisten entgegengesetztes Inter¬
esse hat, vielmehr daß er leidet, wenn den Kapitalisten ein niedriger Zinsfuß
bedrückt, und daß er in der Negel höhern Lohn genießt, wenn sich das Kapital
eines höher» Zinses erfreut.
Allerdings wird oder kann mit der Zeit eine gewisse Ausgleichung ein¬
treten. Ein aufdringliches Angebot von Kapital wird die Produktion zu er¬
höhter Thätigkeit verführen und die vermehrte Produktion wird neben der
Steigerung des Zinsfußes auch eine vermehrte Nachfrage nach Arbeitern zur
Folge haben. Allein abgesehen davon, daß eine Vermehrung der Produktion
ans diesem Wege meist eine ungesunde sein wird, die zu einer Krise führen muß,
ist die Aussicht der Arbeiter auf Verbesserung ihrer Lage durch Maugel an
Arbeitskräften, d. h. durch Überwiegen der Nachfrage, im allgemeinen eine sehr
geringe. Im Verhalten zwischen Kapital und Unternehmer wird immer der¬
jenige Teil im Nachteil sein, der zu weit vorausgeeilt ist; das Kapital wird,
wenn es sich zu rasch vermehrt hat, an niedrigem Zinsfuß, die Produktion,
wenn sie über die Maßen gestiegen, an hohem Zinse leiden, und der voraus¬
geeilte Teil wird warten müssen, bis ihm der zurückgebliebene nachgekommen
ist. Anders dagegen steht es mit den Arbeitern; denn bei ihnen wirkt ein wei-
teres Moment mit, welches außerhalb des Prozesses der Gütererzeugung liegt,
nämlich die Volksvermehrung.
Die Lehre der Manchesterschule, welche die Menschheit auf die Ausgleichung
vertröstet, die die wirtschaftlichen Mißstüude durch das naturgemäße Walten
der Gesetze der Vertragsfreiheit und der Preisbildung durch Nachfrage und
Angebot finden sollen, diese Lehre erweist sich in keinem Punkte so hinfällig,
so trügerisch und trostlos als gerade bei dem Arbeitslohn. Denn ein vermin¬
dertes oder wenigstens ein zurückbleibendes Angebot von Arbeitern wird durch
die fortwährende Zunahme der Bevölkerung ausgeglichen. Wo gleichwohl einmal
in einer beschränkten Örtlichkeit wirklicher Mangel an Arbeitern entstehen sollte,
da findet infolge der außerordentlichen Entwicklung unsrer räumlichen und
geistigen Verkehrscmftcilten alsbald ein Zuströmen arbeitsuchender Menschen
statt, sei es, daß sie von den Arbeitgebern gerufen werden, welche auf den
steigenden Lohn drücken wollen, sei es, daß sie aus eignem Antrieb kommen,
weil sie von der vermehrten Nachfrage Nutzen ziehen wollen.
Nun lehrt freilich die Schule (Malthus), daß solches Elend, wie es ein
ungenügender Arbeitslohn mit der Zeit erzeugt, eines jener repressiven Heil¬
mittel sei, welche der an und für sich naturgesetzlich fortschreitenden Bevölkerungs¬
zunahme steuern. Malthus giebt mit großartiger Ruhe, welche dem Menschen¬
freunde Schauder erregt, das Rezept, durch welches die Arbeiter zu einer
Beschränkung des Angebots ihrer Kräfte gelangen können: „Die Produktivkraft
des Menschengeschlechtes, sagt er, ist derjenigen der Erde sin betreff der Nahrungs-
mittelj so endlos überlegen, daß, wenn jene nicht durch zuvorkommende Hemm¬
nisse j geschlechtliche Enthaltsamkeit^ gezügelt wird, ein unzeitiger Tod in einer
oder der andern Gestalt die Menschen dahinraffen muß. Die Laster der Menschen
sind kluge Knappen der Entvölkerung. Sie sind gleichsam die leichten Truppen
in der großen Verheerungsarmee und beenden nicht selten allein schon das
schreckliche Geschäft. Gelingt es ihnen nicht, dann treten ungesunde Jahre,
Seuchen u. dergl. in fürchterlicher Gestalt hervor. Ist der Sieg noch nicht
vollkommen, dann schreitet zuletzt das unwiderstehliche Ungeheuer Hungersnot
hervor, das mit einem Schlage die üppige Volksmenge niederwirft und der
vorhandenen Menge der Nahrungsmittel gleichmacht." Malthus belehrt uns
weiter über die tröstliche Ausgleichung in dem Walten unerbittlicher Natur¬
gesetze, indem er sagt: „Mehrere reiche Ernten bereiten eine Hungersnot vor,
denn wohlfeile und fruchtbare Jahre verleiten eine Menge Menschen zum Hei¬
raten, sodaß bald darauf schon ein mittelmäßiges Jahr Mangel erzeugen kann.
Tölliche Epidemien haben oft ungemein gesunde Jahre zur Folge, weil die
vorhergegangene Seuche die meisten schwachen und schadhaften Körper wegrafft;
der Gewinn an Raum und Nahrung des gemeinen Mannes mehrt sich, da ihm
die Verstorbenen Platz gemacht haben. Dann steigen die Löhne!" Aber das
Behagen des gemeinen Mannes hat vermehrte Heiraten und eine stärkere Kinder¬
erzeugung, also Vermehrung des Angebotes von Arbeitern zur Folge, und die
arme Menschheit kehrt zurück zum Fallen der Löhne, zum Elend, zu den Epi¬
demien, zur Hungersnot, und so mit Grazie fort in alle Ewigkeit!
Es ist eines der schönsten Kapitel, welches George in seinem oft ange¬
führten Werke der Widerlegung der schrecklichen Theorie von Malthus widmet.
Er hätte diesem Kapitel den schönen Ausspruch Goethes zum Motto geben
können: „Ich bete den an, der eine solche Produktionskraft in die Welt gelegt
hat, daß, wenn auch nur der millionste Teil davon ins Leben tritt, die Welt
von Geschöpfen wimmelt, sodaß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts an¬
zuhaben vermögen. Das ist mein Gott!" Georges Kritik des Malthusschen
Gesetzes versöhnt uns mit den Geschicken der Menschheit, mit den Gesetzen der
Natur und mit dem Walten Gottes, zumal wenn wir jenes entsetzliche Buch
des anonymen englischen Arztes gelesen haben, der als ein beinahe fanatischer
Anhänger jener Lehre die äußersten und trostlosesten Konsequenzen zieht.*)
Es ist indessen nicht zu verkennen, daß rein praktisch genommen, d. h. so¬
viel die Diagnose der Krankheit des sozialen Körpers anlangt, die beiden schroff
entgegenstehenden Ansichten doch auf eins und dasselbe hinauslaufen.
Nach Malthus ist die Vermehrungsfähigkeit der Menschen weit größer
als diejenige der Natur in bezug auf Nahrungsmittel; daher strebe die Volks¬
zahl das Ernährungsgebict zu überschreiten. Die Ausgleichung, d. h. das Heil¬
mittel der Krankheit bestehe in Hemmnissen der Volkszuucihme, die Malthus
teils positive nennt, hohe Sterblichkeit durch Krieg, Pest, Hungersnot, teils vor¬
bauende, worunter er neben Prostitution u. dergl. besonders die geschlechtliche
Enthaltsamkeit versteht.
George leugnet eine unaufhaltsame Vermehrungstendenz des menschlichen
Geschlechtes, weil im Zustande der Zivilisation die Triebe des Menschen sich
vervielfältigen und veredeln. Er glaubt, daß die Vermehrungstendenz nur da
stark sei, wo eine größere Bevölkerung erhöhten Wohlstand erzeugen würde und
wo die Fortdauer des Geschlechts von der durch ungünstige Verhältnisse her¬
beigeführten Sterblichkeit bedroht ist; sie schwache sich ab, sobald die höhere
Entwicklung des Menschen möglich werde und die Fortdauer des Geschlechts
gesichert sei.
Nach George stimmt das Bevölkerungsgesetz mit dem Gesetz der geistigen
Entwicklung überein und ist demselben untergeordnet; die Gefahr, daß mensch¬
liche Wesen in eine Welt gesetzt werden könnten, wo nicht für sie gesorgt werden
kann, entstehe nicht aus den Satzungen der Natur, sondern aus soziale» Mi߬
verhältnissen, die inmitten des Reichtums Menschen zum Mangel verurteilen.
Die beiderlei Lehren unterscheiden sich also, abgesehen von den Aussichten
in die Zukunft, nur dadurch voneinander, daß die eine die Gesetze der Vor¬
sehung, die andre die Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft für das Übel
verantwortlich macht, daß demnach die eine aussichtslos ist, die andre aber die
Hoffnung auf Heilung nicht ausschließt.
Das Übel nun, um welches es sich handelt, heißt Übervölkerung. Malthus
nimmt sie mathematisch, d. h. er versteht darunter das numerische Überschießen
der Gesamtbevölkerung über die gesamten Nahrungsmittel. Er übersieht dabei,
daß es sich für die hungernden Menschen nicht um das Vorhandensein, sondern
um die Erreichbarkeit der Lebensmittel handelt. Die unendlichen Viehherden,
welche in Herrervland unbenutzt weiden, und die unerschöpflichen Früchte des
Pflanzenreiches, welche Immer-Afrika hervorbringt, vermögen den Hunger eines
Darbenden in London oder Paris so wenig zu stillen als die Delikatessen
hinter dem Schaufenster eines reich versehenen Ladens, an dem er vorübergeht.
Auch der größte Überfluß an Lebensmitteln in einem Lande schließt den Hunger
einer mehr oder weniger zahlreichen Klasse seiner Bewohner nicht aus. Es
kommt eben nur darauf an, daß jedem soviel als nötig von den vorhandenen
Lebens- und Unterhaltsmitteln erreichbar sei. Für den Wohlhabenden giebt
es keine Übervölkerung, für den Armen ist sie vorhanden, auch wenn die Volks¬
zahl stillsteht oder gar im Rückgange befindlich ist, denn die Verteilung der
Unterhaltsmittel geschieht ja nicht auf Grund eines Divisionsexempels. Wir
sehen an dem Beispiele Frankreichs, daß auch bei fast stillstehender Bevölkerungs¬
ziffer das Elend sehr weit verbreitet sein kann. Der ganze Begriff der Über¬
völkerung, wie er aufgefaßt wird, ist demnach unhaltbar, Übervölkerung besteht
immer mir für diejenige Klasse, und besteht für diese unter allen Formen der
Bevölkerungsbewegung, für welche die vorhandenen Lebensmittel nicht in ge¬
nügendem Maße erreichbar sind. Aus ylledem muß ich folgern, daß das soziale
Problem nicht, wie der anonyme englische Arzt glaubt, in einer Regelung des
Bevölkerungszuwachses besteht, sondern vielmehr in einer entsprechenderen Ver¬
teilung der Werte, welche die Produktion erzeugt. Wenn es wahr wäre, daß
Volk nicht soviel erarbeiten, nicht soviel Güter erzeugen könnte, wie zur
Erhaltung aller erforderlich ist, so wäre eine Überproduktion unmöglich, an
welcher wir doch allemal leiden, wenn die Not der Armen am größten ist. Es
könnte niemals eine Überproduktion geben, wenn alle, auch die letzten, imstande
wären, sich den zu ihrer Erhaltung direkt oder im Austausch erforderlichen Teil
«"zueignen.
Die regelmäßige Zunahme der Bevölkerung wird in allen zivilisirten Staaten
beobachtet und dürfte demnach wohl ein Zeichen, sei es Ursache oder Wirkung,
der Kulturentwicklung sein. Jedenfalls ist es eine Thatsache, mit welcher wir
rechnen müssen. Was die Natur dieser Vermehrung anlangt, so ist es zwar
nicht durch die Statistik ziffermäßig bewiesen, aber doch unleugbar, daß die
untersten Schichten der Gesellschaft daran den hervorragenden Anteil haben. Je
mehr dies der Fall ist, desto weniger haben die sogenannten arbeitenden Klassen
eine irgendwie begründete Aussicht, ihre Lage durch ein Überwiegen der Nach¬
frage nach Arbeit über das Angebot zu erzielen. Vielleicht könnte man ein¬
wenden, daß die intensiv soviel erhöhte Arbeitsthätigkeit unsrer Zeit steigernd
ans die Nachfrage wirken müsse, und allerdings kann nicht geleugnet werden, daß
die Ansprüche, welche die moderne Industrie an die Arbeit macht, nicht nur ab¬
solut, sondern auch relativ weit größer sind als in vergangenen Perioden. Allein
dieses Mehr wird jedenfalls ausgeglichen' durch die intensiv höhere Leistung
der vollkommneren Maschinen und die dadurch verursachte größere Wirkung der
menschlichen Arbeit/")
Ich habe darauf hingewiesen, daß die tiefsten Schichten der Gesellschaft
einen größern Anteil an dem Wachstum der Vvlkszcihl haben. Nähere Be¬
obachtung zeigt aber, daß das verschiedene Verhalten wahrscheinlich ganz aus¬
geglichen wird, durch das fortwährende Aufsteigen von Untenstehenden in die
Stufen der Höherstehenden. Die immer zunehmende Verbreitung und Zugänglich¬
keit der Schulen und Bildungsanstalten, verbunden mit der zunehmenden Ge¬
wohnheit, Ersparnisse anzusammeln, haben in sehr ausgedehntem Maße die Wir¬
kung — und dies ist gewiß an und für sich ein sehr erfreuliches Zeichen unsrer
Zustände —, jeder höheren Schicht fortwährend neue Elemente von untenher
zuzuführen. Auf diesem Wege wird das Arbeitsangebot in den höheren Stufen
vermehrt. Es darf nicht übersehen werden, daß bei diesem Aufsteigen die Neu¬
ankommenden im Vorteil gegen diejenigen sind, welche der höhern Stufe durch
Geburt und Erziehung angehören. Denn sie bringen die geringern Bedürfnisse
der tiefern Schichten mit in die höheren und können daher mit den üblichen
Lohnsätzen der letztern besser auskommen, ja sich eine Herabsetzung derselben ohne
Nachteil gefallen lassen. Ein gewöhnlicher Arbeiter, der zum Werkmeister auf¬
steigt, kann, solange er die frühern Lebensgewohnheiten nicht ablegt, mit'einem
geringern Lohn auskommen als ein solcher, dessen Eltern schon eine dem Werk¬
meister gleichwertige Stellung eingenommen haben. Ein Landrichter, der aus
kleinbürgerlichen Kreisen hervorgegangen ist, wird mit einem Gehalte behaglich aus¬
kommen, der für seinen Kollegen aus höherer Stufe, mit verwickelteren und
verfeinerten Bedürfnissen, sich als unzureichend erweist, und dergleichen.
Man wird leicht einsehen, wie das Wachstum des Arbeitsangebotes durch
jene aufsteigende Bewegung von Stufe zu Stufe fortwirken muß, und man wird
es daher erklärlich finden, daß auch auf den höchsten Stufen der Arbeitsleistung
ein Zustand der Unbehaglichkeit eintritt, wenn die Zahl der Bewerber überwiegt,
wie groß anch die absolute Höhe der Gehalte sein mag. Es kann daher nicht
befremden, wenn auch in diesen Kreisen, im Handelsstande der Kommis, in der
Industrie der Techniker und Ingenieure, im Staate der Juristen, der Theologen
und vieler Beamten von Übersetzung und Folgen der Übervölkerung die Rede geht.
(Schluß folgt.)
me pragmatische Geschichte des Jahres 1848 ist noch nicht ge¬
schrieben. Zwar fehlt es nicht an vielen und ausführlichen Schil¬
derungen der einzelnen Vorgänge dieses Jahres, und die Staats¬
aktionen, an denen das Jahr reich war, mögen immerhin voll¬
ständig genug in die Jahrbücher der Geschichte eingetragen sein;
aber die letzten Gründe, die alle diese Dinge hervorgerufen haben, und die eigen¬
tümliche Wandlung, die damals in dem Fühlen und Denken der großen Mehr¬
heit des Volkes vorging und die nicht bloß in den großen Städten und in der
großen Politik zu tage trat, sondern die in jedem Orte, wo Menschen zusammen¬
wohnten, ihre besondern Blasen trieb, warten noch auf eine erschöpfende und
unparteiische Darstellung.
Freilich mag für eine solche die Zeit trotz der dazwischen liegenden sieben¬
unddreißig Jahre noch nicht gekommen sein. Denn der Zusammenhang zwischen
dem Jahre 1848 und der heutigen Tagespolitik ist noch zu eng, als daß wir
Ichor unbeirrt durch Parteimeinungen und Parteirücksichten über die damaligen
Vorgänge urteilen könnten. Das Jahr 1848 ist noch immer den einen das
schöne Jahr der Freiheit, der Völkerfrühling und den andern das tolle Jahr,
das, wie Friedrich Wilhelm der Vierte einst in einer feierlichen Stunde sagte,
die Treue werdender Geschlechter wohl mit Thränen. aber vergeblich wünschen
unrd aus unsrer Geschichte zu entfernen.
Wenn man über Mein und Dein streitet und der Streit sich aus diesem
oder jenem Grunde zur Zeit noch nicht vor den bürgerlichen Gerichten zum
Austrag bringen läßt, so sorgt man durch Vernehmung von Zeugen zum so-
genannten ewigen Gedächtnis dafür, daß die, welche die streitigen Vorgänge mit¬
erlebt haben, noch vor ihrem Abscheiden darlegen, wie sich ihnen diese Vorgänge
eingeprägt haben und wie sie dieselben erklären zu können meinen. So mag
es denn auch seinen Wert für die künftige Geschichtschreibung haben, wenn immer
wieder ein Alter nach dem andern auftritt und berichtet, was er Anno 1848
wahrgenommen hat und worin er die Gründe von den wunderbaren Dingen,
die damals geschahen, gefunden zu haben glaubt. Müssen doch sonst manche
dieser Dinge der jetzigen und den späteren Generationen, die mit andern An¬
schauungen und unter ganz andern Verhältnissen aufgewachsen sind, schier un¬
verständlich sein, und es gilt daher, ihnen rechtzeitig die Brücken für ihr Ver¬
ständnis zu bauen. Und so mögen auch die nachfolgenden Darlegungen eines
Alten freundliche Beachtung finden.
Was mit den jetzigen Anschauungen und der herrschenden Denkweise glück¬
licherweise aufs schärfste im Widerspruche steht, das ist die unbestreitbare That¬
sache, daß die ganze Umwälzung von 1848 zunächst durch einen Vorgang her¬
vorgerufen wurde, welcher allein die innere Politik Frankreichs betraf. Wie
konnte es geschehen, fragt man verwundert, daß aus dem Streite, ob dort der
Zensus für die Wahl zur zweiten Kammer durch „Reform" heruntergesetzt
werden solle oder nicht, ein Brand entstehen konnte, der halb Enropa und zumal
unser bis dahin friedliches Deutschland in Flammen setzen konnte, und wie war
es überhaupt möglich, daß sich in so unglaublich kurzer Zeit aus ruhigen und
wohlgeordneten Verhältnissen ein so wirrer revolutionärer Zustand entwickeln
konnte, wie er vom März bis spät in den Herbst hinein in Deutschland
herrschte?
Was Frankreich betrifft, so ist es, ja bekannt, wie der Ruf nach Reform
des Wahlgesetzes zunächst nur ein Mittel in der Hand der parlamentarischen
Opposition gewesen war, um der herrschenden Partei Verlegenheiten zu bereiten,
wie sie durch die Reform-Bankette die Massen in den parlamentarischen Kampf
verwickelte, und wie daraus die Emeute wurde, als die Negierung die Bankette
verbot und es doch unterließ, alle Kraft und alle Energie daran zu setzen, um
ihrem Verbot Geltung zu verschaffen. Als der König vor der Emeute zurück¬
wich und erst sein Ministerium wechselte, daun zu gunsten seines Enkels ab¬
dankte, ward sie schnell zur Revolution, und die Republik war fertig, allen un¬
erwartet und vielen unerwünscht, ehe der Tag geendigt hatte.
Daß dieser lokale Wirbelwind zum Sturm ward, der mit rasender Gewalt
durch die Länder fegte und vieles niederriß, was morsch geworden war, aber
auch gar manches kräftige Leben brach, wurde nur dadurch möglich, daß Frank¬
reich damals eine ganz andre Macht über die Geister übte als jetzt. Jeder,
der Zeitungen las, folgte den französischen Kammerverhandlungen mit dem leb»
haftesteu Interesse; sie und die englischen Parlamentsverhandlungen hatten uns
lange Zeit dafür entschädigen müssen, daß es in Deutschland keine parlamen-
darischen Versammlungen im großen Stile gab, und eine Rede von Odilon
Barrot oder von Thiers war für die damaligen politischen Kannegießer ein
wichtigeres Ereignis, als für die heutigen eine Rede von Virchow oder Richter,
Auch stand die damalige Generation noch viel mehr unter dem gewaltigen Ein¬
drucke der Revolutionszeit und der napoleonischen Zeit als die jetzige; von 1848
bis zum Beginn der Freiheitskriege war es ja nicht länger als von 1848 bis
jetzt. Noch war es jedem gegenwärtig, welch eine Gewalt der französischen
Volkskraft innewohnen könne/ und man bangte bei dem Gedanken, daß sich diese
wieder einmal in wildem Rausche erhebe. Man hatte sich zwar lange daran
gewöhnt, auf die Schlauheit des Königs Louis Philipp zu bauen und der guten
Zuversicht zu sein, daß, so lange er lebe, es ihm gelingen werde, den Riesen
niederzuhalten und alle Kriegsgefahren glücklich zu umschiffen; erst mit seinem
Tode, so meinte man allgemein, werde eine neue, schlimme Zeit über die Welt
kommen. Umso überraschter war man, als diese vielgepriesene Schlauheit schou
bei den ersten Regungen des Riesen gänzlich versagte, und als er das Ruder
des französischen Staatsschiffes scheu im Stiche ließ.
Die Nachricht, in Frankreich sei die Republik erklärt, ward daher nicht
aufgenommen, wie wir heutigen Tages die Nachricht von einer in einem Nachbar¬
staate vorgekommenen Staatsverändernng aufnehmen — selbst die grause Kunde
von dein Kaisermorde in Rußland hat uns vor etlichen Jahren trotz aller be¬
gleitenden Umstände nicht so im Innersten erregen und aufschrecken können. Im
Februar 1848 fühlte jeder im Volke bis in die abgelegensten Dörfer hinein,
daß es sich um ein Ereignis handle, welches in sein eigenstes persönliches Leben
hineingreifen würde, und daß es gleichbedeutend mit Krieg und Graus sei, da
Man sich eine französische Republik nicht als einen friedlichen Nachbarn unsrer
ehrwürdigen Monarchie denken konnte.
Preußen hatte damals noch keine elektrischen Telegraphen zur Verfügung,
sondern begnügte sich für seine Zwecke mit dem optischen Telegraphen, der in
Abständen von etwa einer halben Meile von Berlin bis Aachen auf eigens
dazu erbauten Telcgraphenhäusern stand und durch die verschiedne Stellung der
sechs Arme alle Nachrichten, wenn auch in etwas langsamer und von dem
Wetter abhängiger Weise übermitteln konnte. Diese Linie endete in Berlin auf
dem nach der Dorotheenftmße hin gelegenen Flügel des Akademiegebäudes.
sodaß man von der Ecke der Linden aus die Bewegungen des Telegraphen
wahrnehmen konnte. In gewöhnlichen Zeiten sah man nur selten einmal, daß
sich die großen Arme rechts und links ausstreckten, nud niemand pflegte davon
weiter Notiz zu nehmen, da die Zeichen ja nur für die wenigen Eingeweihten
verstündlich waren. Mit den letzten Februartagen aber begann der Telegraph
unablässig vom ersten Morgenlichte bis in die Abenddämmerung hinein zu
arbeiten, und ebenso lange stand eine gaffende, unruhige und fortwährend
wechselnde Menge an der Lindenecke und starrte nach den auf- und abklappenden
Riesenarmen. Jeder fühlte, daß es Weltgeschichte im großen Stile sei, die da
oben geschrieben werde, und jeder wollte wenigstens den Genuß haben, an dem
Inhalt derselben herumzuraten. In den Haufen, die sich dadurch bildeten, war
man schon in den ersten Tagen darüber einig, daß jetzt der Befehl abgebe, die
franzö fische Grenze zu besetzen, die rheinischen Festungen auf Kriegsfuß zu setzen,
die Landwehr einzuberufen; man disputirte über die Aufstellung von Armeen,
man ließ eindringende französische Frcischaren durch unsre braven Kanoniere
niederkartätschen, und keine Nachricht war abenteuerlich genug, um nicht geglaubt
zu werden.
Der Vorgang in Paris war etwas so überraschendes, ungeheures gewesen,
daß man schon dafür den ganzen Vorrat an der Gabe des Sichverwunderu-
könnens ausgegeben hatte. Man war nun auf alles noch so ungeheuerliche
gefaßt, ja in der gewaltigen Aufregung, in der man begriffen war, begehrte
man, wie das so menschliche Art ist, noch immer neue Nahrung für die Neu¬
gierde und konnte nicht genug des Erregenden erfahren- Diese Stimmung steigerte
sich noch, als die Revolution immer weiter um sich griff, und aus immer
näheren Kreisen die unerhörtesten Nachrichten einliefen. Immer mehr schwand
aber auch die Gabe der Kritik, und es ließ sich fast keine noch fo thörichte
Nachricht erfinden, die nicht, wenn sie nur in den Geist der Zeit hineinpaßte,
ihre Gläubigen gefunden hätte.
Unser großer Humorist, Fritz Reuter, führt uns unter den bunte» Bildern
aus der Revolutionszeit, die er in der „Stromtid" aus dem angeblichen mecklen¬
burgischen Städtchen Rahnstädt giebt, den Advokaten Rein vor, wie er in jenen
Märztagen den Kleinstädtern vorfabulirt, daß auch die Eskimos revoltirten,
weil sie die Erdachse am Nordpol nicht mehr umsonst drehen und wenigstens
den Thran zum Schmieren der Erdachse bezahlt haben wollten, und daß
auf der Insel Ferro ein Kavallerieregiment zum Schutz des Meridians habe
ausrücken müssen, und er läßt den Advokaten Nein gläubige Zuhörer für
seine Tollheiten finden. Wenn es uns aber scheinen will, als würden mit der
letzteren Behauptung die Grenzen, welche ein Dichter beachten muß, wenn er
Glauben für seine Gebilde finden will, gar zu weit überschritten, so müssen wir
uns nur an alle die wunderbaren Mären von drohenden Gefahren erinnern,
die in jenen Tagen in Deutschland umgingen und die oft genug die komischsten
Szenen hervorriefen. In Berlin ward das Wort „Der Russe rüstet" alsbald
nach den Märzkämpfen zum Schlagwort in Volksversammlungen und Mauer¬
anschlägen, und obwohl damals noch leine Eisenbahn über Berlin hinaus an
die russische Grenze führte und der Marsch einer russischen Armee jedenfalls
Monate gedauert hätte, so fand doch schon wenige Tage nach dem 18. März
die Nachricht Glauben, daß die Russen bereits auf Berlin marschirten, ja auf
dem Gesundbrunnen im Norden der Stadt mit ihren Vorposten stünden und
in der Nacht eindringen und alles massakriren würden, und es sollen in dieser
Nacht nicht wenige Barrikaden zum Schutze gegen die Kosaken gebaut worden
sein. Die Furcht vor plündernden und sengenden Scharen trat einige Wochen
epidemisch auf, nur daß die gefürchteten Feinde überall verschiedne Namen hatten.
Im Schwarzwald hieß es, die Franzosen kämen, sie seien schon im nächsten
Dorfe, und man läutete Sturm; anderswo hieß es, die Polen seien da, oder
die Oberschlesier oder die Bewohner von andern Gegenden, die man als arm
und bettelhaft kannte; oder es hieß gar, die Züchtlinge irgendeiner großen
Strafanstalt seien ausgebrochen und im Anmarsch, und oft genug rückten die
neugegründeten Bürgerwehren mit grimmem Kampfesmut und in ernster Todes¬
verachtung gegen Feinde aus, die garnicht existirten.
So war überall wirre Unruhe über die deutschen Länder gekommen. Aber
von dieser Art der Unruhe war es doch noch ein weiter Weg bis zur offenen
Auflehnung gegen die bestehenden Gewalten, und wie haben wir es uns zu er¬
klären, daß auch dieser Weg in so unglaublich kurzer Zeit zurückgelegt wurde?
Grausamer Steuerdruck, allgemeine hoffnungslose Verarmung, Bestechlichkeit der
Richter, willkürliche Bedrückung durch unkontrolirbare Beamte, tyrannische
Gewalt eines fremden, unrechtmäßigen Herrschergeschlechts, und was sonst die
Völker zum Aufstand getrieben hat, das alles war auch vor 1848 in den
deutschen Landen nicht vorhanden; vielmehr muß man anerkennen, daß sich die
öffentlichen Angelegenheiten in den vorhergehenden Jahrzehnten in mancher Be¬
ziehung günstig entwickelt hatten. Der Wohlstand war im Zunehmen begriffen,
die großen Wunden, welche die Franzosenzeit geschlagen hatte, waren vernarbt,
die Bevölkerungen hatten sich in die neuen Staatsgebilde, denen sie in dem
Wiener Frieden in oft sehr willkürlicher Weise zugeteilt waren, mehr und mehr
hineingewöhnt und hatten sich auch innerlich ihren jetzigen Landesherren unter¬
worfen, das Staatswesen wandelte sich allmählich aus dem alten Patrimonial-
staat in den modernen Rechtsstaat, und von der erstrebten deutschen Einheit
hatte man sich wenigstens nicht entfernt, sondern hie und da sogar genähert.
Man durfte hoffen, daß man auch bei ruhigem Fortschreiten nicht in schlechtere,
sondern in bessere Zustände kommen würde.
Daneben gab es freilich auch manche dunkeln Schatten in den einzelnen
deutschen Ländern. Ich rechne namentlich dahin ein gewisses Überwuchern der
Polizei, die viel zu viel unter ihre Aussicht nehmen und durch ihre Organe
regeln wollte, und doch nicht beweglich und gewandt genug war, um den wech¬
selnde» Anschauungen und Bedürfnissen des Lebens schnell gerecht werden zu
können und deshalb unendlich oft nur als Hemmschuh oder gar als Hindernis
empfunden wurde, ferner ein Übertreiben der Staatsidee in den einzelnen
deutschen Ländern,' sodaß auch manche der kleinsten Länder sich geberdeten, als
wären sie große Staaten, die alle Bedingungen der Existenz in sich trügen und
sich daher in sich möglichst abschließen könnten, und als Folge davon eine Un¬
gleichheit in der Entwicklung der an einander grenzenden Länder, sodaß man
in dem einen Lande beförderte, was in dem andern gehemmt wurde, und in
dem einen von oben her belobte, was in dem andern verfolgt wurde, und dies
mußte bei den engen Beziehungen, welche das soziale und literarische Leben
zwischen den einzelnen Ländern knüpfte, dahin führen, daß viele Negierungs-
maßregeln den Schein der Willkür und Gewaltthätigkeit annahmen.
Dazu waren nun noch in einzelnen deutschen Ländern besondre Schäden
gekommen. In Baiern hatte seit anderthalb Jahren die spanische Tänzerin
Lota Montez den altgewordenen König Ludwig in einen schweren Konflikt mit
allen anständigen Leuten verwickelt, in welchem auch schon vor den Märztagen der
Straßenpöbel gelegentlich Partei gegen die fremde Landfcchrerin und den König
genommen hatte. In Kurhessen wurde der Kampf gegen die Ansprüche der
Ständeversammlung von der Regierung mit soviel Rechthaberei und Rachsucht
geführt, daß er aufs tiefste erbitterte. In andern Ländern hatte man taktlos
und unverständig geistige Bewegungen mit bloß polizeilichen Mitteln nieder¬
halten zu können vermeint; man hatte veraltete Einrichtungen, die dem Rechts-
bewußtsein uicht mehr entsprachen, ans Mangel an Thatkraft zu lauge bestehen
lassen, oder man hatte für materielle Not nicht eher Augen und Ohr gehabt,
als bis ihr nicht mehr gesteuert werden konnte, und in dem Hungerjahre,
welches auf die schlechten Ernten von 1845 und 1846 folgte, hatte man es
an vielen Orten erst zu Vvlkstumultcn, den sogenannten Kartoffelunruhen,
kommen lassen. ehe man zu energischen Maßregeln schritt, und hatte dadurch
dem Pöbel die sehr bedenkliche Lehre gegeben, daß das Tumultiren unter Um-
ständen ganz nützlich sein könne.
Das Schlimmste von allem aber war, daß ein Geist des Widerspruchs
und der Unzufriedenheit großgezogen war, der von der Tagespresse und von
den sogenannten politischen Dichtern genährt wurde, und der nirgends ein aus¬
reichendes Gegengewicht fand. Unbehagen über die Zustände, wie sie die Wiener
Verträge im deutschen Bunde geschaffen hatten, der dringende Wunsch, die Ver¬
fassungsideale erfüllt zu sehen, in welchen die damalige Staatsweisheit das Heil¬
mittel gegen alle Notstände sah, Unzufriedenheit mit dem Übereifer der Polizei,
Verstimmung der Nationalisten von der alten Art über das mehr und mehr
erwachende und an Einfluß gewinnende religiöse Glaubensleben, und daneben
die Propaganda der jungen atheistischen und materialistischen Schule — alles
wirkte zusammen, um der damaligen Generation die Zufriedenheit und den
Glauben an die Dauerhaftigkeit der öffentlichen Zustände zu nehmen. Es war
eine gewisse Schadenfreude vorherrschend. Wie jeuer Knabe sagte: Es geschieht
meinem Vater schon recht, wenn mir die Hände erfrieren, warum kauft er mir
keine Handschuhe! so freute sich damals auch der große Haufe, ja die gute Gesell¬
schaft jeder Niederlage, welche die Obrigkeit erlitt, und jedes Ereignisses, welches
an den Fundamenten der öffentlichen Ordnung rüttelte, ohne zu bedenken, daß
sie selbst demnächst die Kosten des Zusammenbruches würden bezahlen müssen-
Außerdem gab es aber auch noch eine, wenn auch kleine, so doch sehr
rührige Schaar eigentlicher Wühler und Verschwörer, die in bewußter Absicht
auf deu Umsturz hinarbeiteten und kein Mittel scheuten. Ihre Brandschriften
fanden namentlich von der Schweiz aus auf den verschiedensten Wegen Eingang
in Deutschland und weite Verbreitung. Sie unterhielten die Verbindung mit
den Anarchisten der andern Ländern und arbeiteten mit ihnen auf gemeinsame
Ziele hin und nach gemeinsamem Plane, und wenn es darauf ankam, so standen
auch Geldmittel zu ihrer Verfügung, die sie für ihre Zwecke verwenden konnten.
In den Märztagen soll in Berlin mancher Tumult von bezahlten Leuten ar-
rangirt worden sein.
Allen diesen niederreißenden Kräften gegenüber stand aber für die Erhal¬
tung der alten Ordnung fast niemand anders ein als die Regierungen, und sie
hatten dem herandringenden Sturme gegenüber keine andern Waffen als polizei¬
liche Maßregeln. Vergeblich hatte Viktor Aime Huber in mehreren schon im
Anfange der vierziger Jahre geschriebenen Broschüren darauf hingewiesen, wie
es nötig sei, daß alle erhaltenden Kräfte des Staates sich zu thätigem Handeln
zusammenschlossen, daß die Regierungen in ihrer Jsolirung dem Kampfe auf die
Länge der Zeit nicht gewachsen bleiben würden, und daß sich eine selbständige
konservative Partei bilden müsse; sein Kassandraruf war unerhört verklungen.
Die vereinzelten Versuche, eine selbständige konservative Tagespresse zu schaffen,
waren bis dahin fast vollständig mißlungen.
Die Folge dieser Zustände war. daß mit dem Augenblicke, in welchem die
Macht der Regierungen und ihr Vertrauen auf sich selbst zu schwinden begann,
und ihre Waffen sich als wirkungslos erwiesen, nirgends ein andrer Halt vor¬
handen war, sondern daß sich die unzufriedenen Schaaren und die Neuerer des
Staatsruders rücksichtslos bemächtigen konnten. Das ist eine der großen
Lehren, welche uns das Jahr 1848 mit Blut eingeprägt hat, daß es nicht gut
thut, wenn in einer von politischen Bestrebungen beherrschten Zeit die Staats¬
gewalt den Kampf für Recht und Ordnung allein führen muß, sondern daß sie
der Vuudesgenossenschaft von Parteien bedarf, die aus Überzeugung und im
eignen Interesse und mit der nötigen Freiheit und Selbständigkeit dieselben
Feinde bekämpfen.
Alle diese Umstände erklären aber doch noch nicht allein den wunderbar
schnellen Wechsel, der in den Märztagen eintrat, und den furchtbar tiefen Fall,
den unser Staatswesen damals that; es muß noch ein Moment in Rechnung
gezogen werden. Viele werden es den Zufall, das Verhängnis nennen, besser
wird man es als besondre göttliche Führung und Zulassung bezeichnen. Schon
daß das Wetter in jenen ersten Frühlingstagen so außerordentlich schön war, ist
eine solche Fügung. In Paris würde das Reformbankett am 22. Februar einen
ganz andern Charakter gehabt haben, hätte Nebel und Schnee die Menschen-
Massen in ihren Häusern festgehalten; wäre das schöne Wetter nicht mit dem
Revolutionslärm über den Rhein gezogen, mancher Pulses wäre unterblieben,
und namentlich in Berlin waren es die wunderbar milden Mondscheinabende,
an denen es der Menge eine Lust war, stundenlang die ausrückenden Truppen
anzusehen, und an denen sich allmählich durch Neckereien von der einen Seite
und durch das nicht immer verständige und maßvolle Zurückweisen derselben von
der andern Seite eine Flut von Erbitterung sammelte, welche die Katastrophe
nachher beschleunigte und verstärkte. Und hätte am 18. März, an dem die
Frühlingssonne so hell und warm schien, ein tüchtiger Regen die zusammen¬
geströmten Schaaren vom Schloßplatze getrieben, es hätte des Ausrückens der
Truppen zu seiner Räumung nicht bedurft, und das unglückliche sogenannte Mi߬
verständnis und der sich daran knüpfende Kampf und der tiefe Fall Preußens
und weiter als Folge davon der trostlose Verlauf der deutschen Bewegung —
alles wäre nach menschlichem Berechnen vermieden worden.
Auch sonst noch hat der böse Zufall manches Feuer geschürt und manchen
Funken, der sonst vielleicht erstickt wäre, zum hellen Aufflammen gebracht. Hie
und da ging ein Gewehr los, wo nicht geschossen werden sollte, von unter¬
geordneter Stelle erfolgten verkehrte Befehle, wichtige Anordnungen kamen nicht
rechtzeitig an, und alles ging anders, als es sollte. Noch wunderbarer war oft
die plötzliche Wandlung in dem Denken und Fühlen der Menschen, für die man
vergeblich nach einem äußern Grunde sucht und die es einem verständlich macht,
wenn schon Homer davon singt, daß ein Gott die Gedanken der Menschen plötz¬
lich verwandelt und ihre Sinne umstrickt habe. Ich habe nie im Leben wieder
auch nur annähernd solchen wunderbaren Wechsel in der Stimmung von Men¬
schen erlebt, wie an jenem 18. März in Berlin. Ich will nur einige Beispiele
anführen.
Am Abend zuvor war eine Schaar Studenten, die das Friedensamt von
Schutzverordneten übernommen hatten, mit der Berliner Schützengilde zusammen
im Gebäude der Akademie stationirt, um von dort aus mit Ermächtigung der
Behörden die Ordnung in den benachbarten Stadtteilen aufrecht zu erhalten
und womöglich die Reibereien zwischen dem Pöbel und dem Militär zu ver¬
hindern. Die Arbeit war an diesem Abend leicht, denn es war rauhes Wetter
und die Straßen zum erstenmale wieder fast ter. Aber im Stillen gährte es
fort; die Umsturzmänner, die sich durch auswärtigen Zuzug verstärkt hatten,
plänkelt an den für den folgenden Tag beabsichtigten Demonstrationen und
waren geschäftig, schlimme Gerüchte zu verbreiten und dadurch die Aufregung
zu mehren. Da sollte das Volk in Dresden den Thron verbrannt haben, am
Rhein die Republik erklärt und der Anschluß an Frankreich beschlossen, der
Kurfürst von Hessen verjagt worden sein, und noch vieles andre. Mir, der ich
eine Führerstelle unter den Studenten einnahm, waren diese Nachrichten brüh¬
warm zugetragen worden, als ich zum Rapport im Hauptquartier der Studenten
auf der Universität gewesen war, aber ich hatte sie für mich behalten, solange
der Dienst dauerte. Als wir aber dann gegen Mitternacht, als alles ruhig
war, unsre Station verließen, und als die Männer der Schützengilde mich noch
zu einem gemütlichen Souper eingeladen hatten, mit welchem man in später
Stunde die glücklich gethane Arbeit und das Zusammenwirken von Bürger und
Student feiern wollte, glaubte ich, mit meinen Hiobsposten nicht mehr zurück¬
halten zu dürfen, und erzählte von allem, was ich gehört hatte. Aber es wollte
mir nicht gelingen, die einmal eingezogene gemütliche Stimmung zu stören.
Wenn wir nur unsern Mann bei der Flasche stehen — so hieß es —, so kommt
das Vaterland schon wieder in Ordnung, und schließlich sind auch noch Soldaten
da. Die Frage, warum ein Studenteuball in diesem Winter nicht wie sonst
bei Milenz, sondern in einem andern Lokal abgehalten worden sei, interessirte
die Gesellschaft schließlich mehr als alle Politik. Und dennoch — zwei Glieder
dieser Tafelrunde, und darunter gerade einen, bei dem ich an diesem Abende ge¬
sessen hatte, sah ich am folgenden Nachmittage, nachdem der Kampf ciusgebrochcn
war, in ihren goldgestickten Uniformen schußbereit mit der Büchse in der Hand
hinter dem Universitätsgebäude stehen, wo sie mir mit wuteutstcllter Miene zu¬
riefen: Heute heißt es nur noch, die Hunde von Soldaten niederschießen.
Ein adlicher Referendar, der mir mehrfach in Gesellschaften begegnet, mir
aber ziemlich fremd geblieben war, fiel mir ans dem Schloßplatz in Freude
über die königlichen Proklamationen mit ihren Zusagen freiheitlicher Regierung
und deutscher Einheit schier um den Hals, und eine Viertelstunde später sah
ich ihn wieder, wie er in furchtbarer Aufregung und buchstäblich mit Schaum
vor dem Munde zum Kampf gegen die Soldaten aufrief. Ein Student, den
ich als einen besonnenen und liebenswürdigen Menschen näher kannte, trat mir,
als ich in dem Universitätsgebüude die dort noch unbekannte königliche Prokla¬
mation verlesen wollte, drohend mit einer eisernen Stange, die er sich irgendwo
abgerissen hatte, und mit wütender Geberde entgegen und schrie: Rache ist
jetzt das heiligste Gefühl — was sollen jetzt Proklamationen! Ich habe ihn
nie wiedergesehen, aber von gemeinsamen Freunden weiß ich, daß dieser
Paroxysmus bei ihm nur bis zum nächsten Tage, bis zur Beendigung des
Kampfes dauerte; dann ist fürchterliche Reue über ihn gekommen, und er
ist vor sich selbst von Berlin geflüchtet und hat bis zu seinem nach wenigen
Jahren erfolgenden Ende den Eindruck jener Stunde nie wieder ganz über¬
wunden.
Das sind nur einzelne Beispiele des wunderbaren Stimmungswechsels. Mir
sind noch eine Menge ähnlicher Bilder vor Augen, und ich höre noch die
wüsten tierischen Töne, die im Universitätsgebäude von denselben Jünglingen
ausgestoßen wurden, die bis dahin in korrekten parlamentarischen Formen de-
battirt hatten. Das allerdings verbreitete Gerücht, daß das Militär die friedliche
Menge ans dem Schloßplatze mit Waffen angegriffen habe, kann einen solchen
Umschwung der Stimmung nicht erklären, denn die ganze Woche war schon
in allen Versammlungen davon geredet wurden, daß die Soldaten auf das
Volk geschossen und Wehrlose ermordet hätten, und man hatte solchen Nach¬
richten gegenüber sein kühles Blut behalten. Wenn aber jetzt der Unsinn
Glauben fand, daß man das „Volk" arglistig durch eine Proklamation auf
den Schloßplatz gelockt habe, um es dort durch das Militär abschlachten zu
lassen, so war das schon ein Zeichen der Geistesverwirrung, von welcher die
Menge plötzlich ergriffen war. Wir werden für solche Erscheinungen vergebens
nach einer andern Erklärung suchen als der: Der Sinn der Menschen ward
verwirrt, weil es so bestimmt war, damit unser Volk die ihm vorgezeichnete
Bahn beschreibe.
Die Waffe, deren sich die Revolution in Deutschland zunächst bediente,
ist, so will es ans den ersten Blick scheinen, wenig kriegerisch und gewaltsam
gewesen; man trat ja nur mit Petitionen den Regierungen gegenüber, man bat
also nur. Aber die Art, wie man bat, war von vornherein eine eigentümliche.
In großen aufgeregten Massenversammlungen und unter dein frischen Eindruck
der Pariser Nachrichte» wurden diese Petitionen beraten und angenommen, so
schon am 27. Februar, also drei Tage nach der Erklärung der französischen
Republik, in Mannheim und in Karlsruhe, am 28. in Stuttgart, in deu
ersten Märztagen in Wiesbaden, Köln, Düsseldorf, Leipzig u. s. w. Große
Deputationen sollten diese Petitionen übergeben, und wo es anging, zogen
dichte Volksmassen mit den Deputationen, um erkennen zu lassen, welche Folgen
eintreten würden, wenn die Petitionen nicht bewilligt würden. Am 1. März
machten sich schon fünfhundert Menschen von Mannheim unter Struves Führung
auf, um bereits eine zweite, weitergehende Petition in Karlsruhe zu übergeben,
und das schöne Wort „Stnrmpetition" war erfunden. Als Beispiel dafür, in
welchem Stile diese Petitionen geschrieben waren, will ich nur die mitteilen,
welche eine Volkskommissivn von Heman dem Kurfürsten von Hessen am 9. Mürz
zugehen ließ, und welche die entscheidende Wendung in Kassel herbeiführte:
Durch die Proklamation Ew. Königlichen Hoheit vom 7. dieses sind die
Wünsche des Volkes nicht erfüllt und seine Bitten unvollständig gewährt worden.
Das Volk ist mißtrauisch gegen Ew. Königliche Hoheit selbst, und sieht in
der unvollständigen Gewährung seiner Bitten eine Unaufrichtigkeit. Es sieht darin
die dringendste Aufforderung, sich noch enger zusammenzuschaaren und eine noch
festere Haltung Ew. Königlichen Hoheit gegenüber einzunehmen.
Das Volk, welches wir meinen, ist nicht mehr der vage Begriff von ehedem
nein — es sind alle — alle —, ja, Königliche Hoheit, alle! Auch das Militär
hat sich einstimmig dafür erklärt.
Das Volk verlangt, was ihm gebührt. Es spricht den Willen aus, daß seine
Zukunft besser sein solle als seine Vergangenheit, und dieser Wille ist unwider¬
stehlich. Das Volk hat sich eine Kommission gewählt, und die verlangt nun für
dasselbe und namens seiner —
Es folgen dann die sich immer wiederholenden Märzfordcrungen, von
denen ich später noch sprechen will, und dann heißt es weiter:
Jetzt ist die Stunde gekommen, wo Sie zu zeigen haben, Königliche Hoheit,
wie Sie es mit dem Volke meinen.
Zögern Sie nicht einen Augenblick, zu gewähren, vollständig zu gewähren.
Besonnene Männer, Königliche Hoheit, sagen Ihnen hier, daß die Aufregung
einen furchtbaren Charakter angenommen hat. Bewaffneter Zuzug aus den Nach¬
barstädten ist bereits vorhanden; schon wird man mit dem Gedanken einer Los-
trennnng vertraut und kennt recht wohl das Gewicht der vollendeten Thatsache.
Königliche Hoheit, gewähren Sie! Lenke Gott Ihr Herz!
Das war der Stil, in welchen: man damals bat.
(Schluß folgt.)
on einer nationalen Wirksamkeit, von einer nationalen Stellung
des deutschen Dichters wird man heute nicht leicht sprechen
können. Fast jeder gehört nur einem kleinen Kreise an, nur in
diesem weiß man von ihm, lobt ihn oder tadelt ihn, von der
^Koterie wird er getragen, für sie muß er schaffen und leben, ins
^"ik hinaus dringt nur selten ein Ton von seinem Psalter. Die deutschen
Dichter unsrer Generation sind so gleichweit entfernt von dem erhabenen Amte
mich Propheten und Lehrers, das zu manchen Zeiten, bei manchen Völkern
der Dichter geübt hat, wie von der problematischen Existenz, in der das
poetische Genie in andern Perioden dahinzuleben gezwungen war. Weder mit
Verehrung noch mit Geringschätzung begegnet man ihnen heute, eher mit Gleich¬
artigkeit oder höchstens mit einer Art naiven Erstaunens, naiver Neugier; so
wenigstens die mittleren Schichten, das eigentliche Volk. Auch die Aristokratie
hat aufgehört, sich für Poeten und schöne Geister zu interessiren; nur in den
Salons der Großindustriellen und der Finanzwelt werden sie als Modestücke
wuner noch gern gesehen. Da die meisten auch im Dienste der Tagesliteratur
stehen, so haben sie gewöhnlich ihr leidliches Auskommen, ja nicht selten eine
^hr behagliche Existenz. Freilich verweisen sie trotzdem immer wieder auf
Frankreich und England, wo literarische, wo dichterische Qualitäten ganz anders
^schützt würden als hierzulande. Daß dort überhaupt andre Verhältnisse
"^stehen, Staat und Bürgerschaft reicher sind, auch für andre Dinge weitaus
größere Summen aufgewendet werden können als bei uns, bedenken sie nicht
"der ignoriren sie, und jeder findet eS ungerecht, daß er nicht wenigstens das
Einkommen eines Ministers genießt, denn er ist ja ein „Schriftsteller," ein
„Dichter." Diese schönen Worte haben aber leider zu verschiedenen Zeiten ver¬
schiedene Bedeutung, was freilich gar zu gern vergessen wird. „Erhebe die
Kunst nicht höher, als sie mag verdienen" sagt ein österreichischer Dichter unsrer
Zeit; „so manches um sie her hält ihr die Schwebe": in der That eines der
größten Worte, die von einem modernen Schriftsteller gesprochen worden
sind, sie verraten eine tiefe Erkenntnis des gesellschaftlichen Wertes unsrer
heutigen Dichtung.
Am ehesten ist unsrer Generation derjenige Dichter verständlich, der nicht bloß
dichtet, sondern nebenbei irgendeinem Berufe nachgeht. Hierzu aber wollen sich
die wenigsten verstehen, die einmal Verse haben drucken lassen. Und doch, wen
beschliche nicht ein Lächeln, wenn er von unsern heutigen Poeten zweiten und
dritten Ranges den Grund dieser Abneigung vernimmt: die Fesseln prosaischer
Alltagsarbcit würden den Flug ihres Geistes hindern, Phantasie und Ge¬
staltungskraft würden in ihnen versiegen. Man braucht sich dabei garnicht
Goethes zu erinnern, aber wie wenige bedeutende Dichter trieben das Dichten
als Profession! Um bei den Österreichern zu bleiben: Joseph Heinrich Collin
war Staatsbeamter mit Leib und Seele, er fühlte sich in seinem Berufe
glücklich, und gerade dieser lieferte ihm bedeutende Anregungen. Grillparzer
allerdings war in einer bürgerlichen Stellung, die seinem Talente nicht nur
keine Nahrung gab, sondern der freien Entwicklung desselben sogar hinderlich
war, aber er sehnte sich nicht etwa nach einer beschaulichen Muße, um ganz
der Dichtkunst leben zu können, sein Streben war nur, aus dem Staube der
Finanzakten in den Bezirk des politischen Geschäftslebens oder zu einer wissen¬
schaftlichen Beschäftigung — etwa in einer Bibliothek — zu gelangen. Anton
Prokesch, der nachmalige österreichische Jnternuntius in Konstantinopel, ein
über die Grenzen seines engern Vaterlandes leider wenig bekannter vorzüg¬
licher Prosaiker und formvollendeter Dichter, war Soldat und freute sich seines
Standes; auch diplomatischen Geschäften aller Art unterzog er sich gern mit
Geschick und Erfolg; in seinen vertraulichen Briefen klagt er nicht etwa über
Mangel an Muße, sondern über Mangel an Thätigkeit. Der Höhepunkt von
Bauernfelds poetischem Schaffen fällt auch nicht in die Tage, die er ganz und
gar dem Schriftstellertum widmen konnte, und Julius von der Traun täuscht,
sich ebenfalls, wenn er glaubt, die schönsten Früchte seines Dichterlebens seien
ihm erst gereift, als er den Schauplatz des thätigen Lebens bereits verlassen
hatte. Wenig ersprießlich dürfte allerdings die journalistische Beschäftigung für
die künstlerische Ausbildung eines Dichters sein, denn diese höhlt doch den
innern Menschen unendlich aus, indem sie ihn zwingt, kaum Erworbenes gleich
wieder auszugeben, sodaß er niemals dazu kommt, einen geistigen Besitz anzu¬
sammeln und die Früchte seines Lebens reifen zu lassen. Aber gerade dieser
Erwerbszweig wird von unsern Dichtern mit Vorliebe ergriffen, weil sich dabei
Viel Geld verdienen läßt. „Ich brauche jährlich siebentausend Gulden," sagte
jüngst ein hier ziemlich geschätzter Schriftsteller zu einem unsrer wenigen wahr¬
haften Poeten, „die muß ich mir mit der Feder verdienen." — „Ich möchte
das nicht alles lesen, was sie für diese siebentausend Gulden schreiben," erwiederte
dieser lächelnd. „Kann man das überhaupt?" fragte ein andrer, jüngerer, der in
die Geheimnisse der Tagesschriftstellerei noch nicht eingeweiht war. Allerdings,
wenn man ehrlich sein will, wenn man nur dann vor das Publikum tritt, wenn
man wirklich etwas zu sagen hat, kaun man es nicht. Und so ist es denn
unsrer Meinung nach für den Dichter wohl besser, wenn er gerade so wie ein
gemeines Menschenkind einen bürgerlichen Beruf ergreift, oder falls er so
beschaulicher Natur ist, daß nnr in wcltabgcwmidter Stille Gedanken und
Worte sich ihm zu einem Werke fügen, so mag er mit dem bescheidensten Lose
genügsam vorlieb nehmen, denn wie die Zeiten heute eben sind, wird er wohl
kaum dem Staate und der Gesellschaft als Dichter soviel zu bieten haben, daß
sie ihm eine glänzende Existenz als Entgelt dafür verschaffen könnten. Bitter
freilich muß es für ihn sein, daß soviele, die nur dem Bedürfnis und dem
Geschmack des Tages dienen, ohne dabei ein sittliches oder ästhetisches Ideal
zu verfolgen, diese Existenz erwerben können, aber dies ist ein sozialer Übelstand,
der einstweilen noch getragen werden muß, anschließen dürfen sie sich deshalb
jener Schaar doch nicht, wenn sie auf den Namen und die Würde eines
Dichters noch ferner Anspruch machen wollen. Der Dichtung dieses Jahr¬
hunderts ist es wohl kaum beschieden, das Höchste zu erreichen; die sich ihr
aber widmen, dürfen das nicht meinen, dürfen sich nicht selbst aufgeben, indem
sie auf den Markt hinabsteigen und mit dem alltäglichen Bedürfnis schnöde
Pallirer.
Von unsern heute lebenden österreichischen Dichtern haben dies leider doch
so manche gethan und scheinen sich recht wohl dabei zu befinden. Andre giebt
es, die sich mit redlichem Bemühen irgendeinem praktischen Zweige menschlicher
Thätigkeit zugewandt haben, die es nicht begreifen, wie man bloß leben könne,
um zu dichten, die nur dichten, weil sie leben; leben aber bedeutet ihnen, thätig
sein. Endlich fehlen auch die nicht, welche fernab von dem Weltgetriebe nach
altem Dichterbrauch dem Murmeln des Baches, dem Gesänge der Vögel und
dem Blühen der Blumen lauschen, welche den menschlichen Schicksalen und
Leidenschaften nachsinnen oder in die ewigen Probleme alles Daseins sich ver¬
senken, ohne Geld und Gut und Ehre und Herrlichkeit der Welt für dies ihr
stilles Thun zu fordern; sie haben entsagt und ohne Haß sich in sich selbst
verschlossen.
Diese dreifache Gliederung der poetischen Zunft ist aber nicht dem deutschen
Österreich allein eigentümlich, auch draußen im Reich scheint sie uns recht
deutlich ausgeprägt zu sein, und auch dies ist beiden Ländern gemeinsam, daß
es jene erste Klasse von Dichtern ist, die in unsern Tagen dem dichterischen
Streben unsrer Nation ihr charakteristisches Merkmal verleiht; die beiden andern
treten völlig zurück. Auch betrachten sich jene allein als die berufenen Ver¬
treter der deutschen Dichterwelt. Hand in Hand mit dem Journalismus treten
sie voll Selbstbewußtsein auf und gehaben sich so recht als die unumschränkten
Herren und Meister auf dem deutscheu Parnaß.
Wie steht es nun um Inhalt und Form der deutscheu Dichtung in Öster¬
reich? Ist auch hier alles uur Reflex der literarischen Zustände jenseits der
schwarzgelben Pfähle? Kommt die bedeutsame Verschiedenheit von Landschaft
und Stammesart, von Geschichte und politischen Zuständen nicht auch in der
Literatureutwickuug zum Ausdruck?
Im allgemeinen wird man sagen dürfen, daß die spezifisch österreichische
Literatur, welche etwa mit Collin anhebt und in Grillparzer ihre höchste
Vollendung erreichte, keine Fortsetzung im modernen Osterreich gefunden
hat, wie denn überhaupt unser geistiges Dasein garnicht im alten Österreich
wurzelt. Weniger als irgendein andres Volk haben wir hier an unsre Väter
angeknüpft, vielmehr unsre Ideen und Meinungen aus der Fremde geholt und
höchstens hie und da leise verändert. Namentlich den charakteristischen Zug der
altösterreichischen Dichtung, den Staat Österreich mit Enthusiasmus zu um¬
fassen, dürfte man heute vergebens in unsrer schönen Literatur suchen, schon die
Revolution des Jahres 1848 hat ihn völlig verwischt. Seit „König Ottokars
Glück und Ende," das aus dem Jahre 1825 stammt, ist kein bedeutenderes
Dichterwerk erschienen, das von der österreichischen Staatsidee erfüllt gewesen
wäre, und wer wird behaupten wollen, daß jenes heute noch imstande sei, das
österreichische Publikum mit sich fortzureißen? Eine pietätvolle Teilnahme ist
alles, was man bei der Lektüre dieses Stückes — denn zu scheu bekommt man
es ja garnicht mehr — empfindet, und nur wenige werden dabei mit Enthu¬
siasmus und — mit Wehmut jener alten Zeit gedenken, die ihren dichterischen
Ausdruck darin gefunden hat.*) Aber auch Raimunds harmlose Zauberwelt
berührt uns heute fremdartig und kühl, und vergebens suchen wir uns wciß-
zumachen, daß uns noch ein lebendiges Interesse erfülle, wenn wir sie betreten;
es ist doch nur antiquarische Feinschmeckerei, die uns bisweilen noch eine Stunde
in ihr festhält. Endlich hat auch Banernfeld keinen Nachfolger gefunden, und
unsre Lustspielbühne wird von Norddeutschland oder Paris her versorgt; öster¬
reichische Verhältnisse, die österreichische Gesellschaft finden wir fast niemals
auf ihr vorgeführt. Dafür hat sich eine ganze Generation von Dichtern ge¬
bildet, die einer fremden Richtung folgt. Robert Hamerling, Siegfried Lipiner,
Richard Kraut verraten fast in jedem Verse, daß sie ein srciudes Element in
ihrem Blute tragen, daß sie ihre dichterische Kraft nicht aus der vaterländischen
Erde gesogen haben. Ebensowenig besitzt unsre heutige Romanlitcratnr ein ent¬
schieden landschaftliches Gepräge, Friedrich Abt ist mit feiner „Botschaftcrin"
in das leidige Genre des antiquarischen Romans übergegangen, und die „Bilder
ans .Halbasien" erinnern in ihrem an Effekthascherei streifenden Realismus
gar zu deutlich an die Sittenschilderungen moderner französischer Romanciers.
Dennoch giebt es noch einige bedeutende Erscheinungen in unsrer litera¬
rischen Welt, die sich ein gut Teil echt österreichischen Wesens bewahrt haben;
isolirt freilich stehen sie da und nicht mehr in der Fülle ihrer Kraft, sondern
entweder ermüdet und in sich gekehrt, wie Ferdinand von Saar, oder gar dem
völligen Verlöschen nahe, wie Julius von der Traum, der schon seit Wochen
auf seinem Schmerzenslager mit dem Tode ringt. Nur auf einem bescheidenen
Gebiete steht noch alles in schönster Blüte, keimt noch alles voll Hoffnnngs-
freude: das Volksstück, wie es Nnzcngrnber pflegt, gehört unsrer Meinung nach
zu dem edelsten, was die moderne Zeit im deutschen Dichtcrgarten gereift hat,
und Noseggers Schilderungen von Land und Leuten dürfen sich wohl mit den
spanischen Mustern dieser Gattung — Quevedo und Estebanez (IA Koli-
tlu-ig) — kühnlich messen.
Ferdinand von Saar gehört zu den Dichtern, die ein innerer Drang zu
ihrer Kunst geführt hat; ihr leben sie ganz und verlangen dafür von der
Mitwelt keinen Lohn, keine Nlihmeskränze, keinen lauten Beifall. Wenn auch
des Lebens Ungemach sie bisweilen übermannt und zu bitteren Vorwürfen und
Klagen hinreißt, so fassen sie sich doch gleich wieder voll Bescheidenheit und
Entsagungskraft. Tragisch werden uns solche Erscheinungen dann, wenn sie
trotzdem in ihrer Kunst wahrhaft Großes nicht erreichen können und dies auch
selber gewahr werden. In diesem Falle sehen Nur Ferdinand von Saar. Der
Baum — ruft er einmal aus —
Der Baum gedeihet nicht im dumpfen Sande,
Zu Tod sich flattern muß der Aar in Schlingen,
Und ernstes Thun kann stets nur halb gelingen,
Wenn sich die Mitwelt freut an hohlen: Tande.
Wie ein Schmerzensschrei klingt es, wenn er die Muse einmal fragt, warum
sie, die einst Goethes und Schillers Stirne geküßt, nachdem doch ein Jahr¬
hundert verflossen, nicht wieder einen Auserwählten umfange, ans daß dem
deutschen Volke aufs neue ein Dichter entstehe, „groß, edel und gewaltig wie
jene." Aber er muß diese Frage, diesen Anruf dann selber thöricht schelten,
längst versiegt sei ja der kastalische Quell und die Kunst tot, ob auch ein Heer
^on Dichtern skandirende Hände rege, nnr hin und wieder „weit abseits vom
Markte" zucken verendend noch ihre letzten äisjöetA nwmrn-g.. Den „Jüngern"
ruft er zu, sie möchten bedenken, daß ungünstiger noch keine Zeit dem Dichter
gewesen sei als die, in der wir leben:
Weggeschwunden ist
Unter dem Fuß der Boden euch
Wie der Menschheit,
Die entwachsen der Vergangenheit
Und losgelöst von Jahrtausenden
Nach neuem Leben verlangt
Und doch vielleicht nur ins Leere greift.
Dasselbe Motiv in mehr konventioneller Fassung erscheint in der Widmung
des Trauerspieles „Die beiden de Witt" an den Großherzog Karl Alexander
von Sachsen-Weimar-Eisenach, und wenn wir nicht irren, so liegt es noch
einer ganzen Reihe im düstersten Kolorit gehaltener Gedichte zu gründe.
„Hoffnungen und Thaten hat die Zeit gefällt," giebt er da einmal zu, „und
du siehest neue Saaten ohne dich bestellt." Dann klagt er wieder, daß das
Vollbringen immer schwerer, das Gelingen immer seltener werde —
Und es schwindet die Geduld,
Und ich fühl' die eigne Schuld,
Fühl' es mit geheimem Beben:
Uferlos verrinnt mein Leben
In ein Meer von Qual und Not —
Komm, v komme, Tod!
Selbst das einzige Gedicht, in dem er sich seines reinen Strebens zu freuen
scheint, sein Ziel „fast erreicht" nennt und die ewigen Mächte nur noch um
„ein letztes Mühen" bittet, damit er getrost vollende, was er ernst und fest
begonnen, selbst hier schließt er doch mit dem Ausdruck inneren Zagcns, inneren
Zweifels:
Also sich' ich, von den Schwingen
Der Erfüllung leis' umweht,
Und doch fürchtend, daß mein Ringen
Im Verhängnis untergeht.
Dieser innere Zwiespalt aber, der die Dichtung Saars durchzieht, ist es
gerade, der ihn interessant macht, der ihm ein originelles Gepräge verleiht,
denn die traditionellen Elemente deutscher Lyrik und Dramatik hat er sonst
nur selten mit neuem Geiste zu durchdringen und individuell zu gestalten ver¬
mocht. Namentlich seine Liebeslieder dürften dem Literarhistoriker der Zukunft
nur wenig lehren, was er nicht an hundert andern Orten ebensogut erfahren
könnte. In seinen Trauerspielen treten eher zeitbewegende Ideen in den Vorder¬
grund, und sie werden zur Charakteristik des deutsch-österreichischen Geisteslebens
im sechsten und siebenten Dezennium unsers Jahrhunderts einst so manchen
Beitrag liefern. „Kaiser Heinrich der Vierte" verdankt seine Entstehung wohl
den Tagen des Konkordatsabschlusses, der den Österreichern die immer noch
fortwirkende Kraft des römischen Papsttums zur unerfreulichen Anschauung
brachte; dann dem italienischen Feldzuge des Jahres 1859, den Saar als
Offizier mitgemacht hat; endlich vielleicht mich der Anregung Giesebrcchts, der
im Jahre 1855 den ersten Band seiner Geschichte der deutschen Kaiserzeit ver¬
öffentlichte. Neben Saar ist ja gerade in den fünfziger und sechziger Jahren
eine ganze Reihe von Dichtern auf denselben Stoff verfallen; die Bruno Arnim
und Weißbrvdt überragte er freilich an Gestaltungskraft bedeutend, und
namentlich der zweite Teil des Dramas, „Heinrichs Tod," ist ein durchaus
btthnenfühigcs Stück „Die beiden de Witt" dagegen, die vor etwa sieben
Jahren über die Bretter des Burgtheaters gingen, konnten sich nicht auf dem
Repertoire erhalten, und dem Trauerspiel „Tempesta," das erst 1881 erschien,
kann man wohl voraussagen, daß kein Direktor es mit ihm wird wagen wollen.
Indes behandeln sowohl „Die beiden de Witt" als auch „Tempesta" Konflikte,
die unsrer Zeit nicht unverständlich sind: dort sehen wir einen Jdealpolitiker
im Kampfe und den realen Mächten, die den Gang der Dinge auf der Welt¬
bühne bestimmen, untergehen; hier tötet ein Mann seine Fran, nicht weil sie
ihm untreu gewesen ist, sondern weil er in ihrem Herzen den ersten Keim einer
Leidenschaft zu einem andern entdeckt. „Und so hab ich sie mit Recht getötet,"
ruft er an der Leiche aus. Dieses Verlangen nach ganz unumschränktem Besitz,
nach einer Herrschaft selbst über das Wollen des geliebten Wesens ist doch nur
eine Spielart des „titanischen" Dranges, der in Hamerlings „Nero," in Lipiners
„Prometheus" wohnt, und der sich bei näherem Zusehen als ein Stück Faust¬
motiv entpuppt — übrigens ein Motiv, das seit Lenau in der österreichischen
Literatur nicht wieder zur Ruhe gekommen ist, weshalb es uns auch garnicht
überrascht, wenn wir in Wnrzbachs Lexikon lesen, auch Ferdinand von Saar
habe in seiner Jugend an einem „Faust" gedichtet, der aber verloren ge¬
gangen sei.
Am entschiedensten als österreichischer Dichter tritt Saar in seinen Novellen
auf; hier hat er so manchen glücklichen Griff in unser Gesellschaftsleben gethan,
und auch die Ausführung läßt unter den früheren wenigstens nichts zu wünschen
übrig. Es sind kleine Genre- und Stimmungsbilder, die den Übergang von
der Neaktionsperiode der fünfziger Jahre zu der neuen, mit Konstitutionen be¬
glückten Zeit schildern, jedes derselben hat eine andre Lebenssphäre zum Hinter¬
grunde: so „Jnuozenz" den geistlichen Stand, „Marianne" das bürgerliche
Kleinleben, die „Geigerin" die dunkeln Existenzen Wiens, die „Steinklopfer"
den Arbeiterstand, das „Haus Reichegg" die Aristokratie, Va«z Vivtls den
Militärstand, der „Exzcllenzherr" die österreichische Büreaukratie und „Tambi"
literarische Zustände. Die letzten aber — „Tambi" ausgenommen — verraten
leider eine Abnahme an origineller Gestaltungskraft, die Figuren sind fast typisch
geworden, der Stil nicht bloß vornehm-kühl, sondern ausdruckslos-konventionell.
Eine ganz andre Dichternatur ist Julius von der Traun (Julius Alexander
Schindler). Von Beschaulichkeit ist nichts in ihm, und er hat nie gefürchtet,
sich seinem dichterischen Beruf zu entziehen, wenn er sich dem öffentlichen Leben
widmete. Bei diesem war sein Interesse und ist es bis heute geblieben, ein
Gespräch über schöne Literatur und — was mehr sagen will — über seine eignen
poetischen Leistungen fesselt ihn nicht lange, er bringt immer wieder politische
Fragen aufs Tapet. Wenn Saar nach kurzer militärischer Dienstzeit in stiller
Zurückgezogenheit, ohne thätige Teilnahme am praktischen Leben, zwanzig Jahre
verbringen konnte, so ist Traun nach einem wechselvollen vielbeschäftigten, muße¬
losen Mannesalter nur sehr unfreiwillig von der öffentlichen Thätigkeit zurück¬
getreten, und sein Notariatsgeschäft übte er noch als kranker Mann von sieben-
undsechzig Jahren ans. Schon als Jüngling hatte er sich in den mannichfaltigsten
Lebensstellungen versucht und überall wenigstens leidlich bewährt. Wie Saar
aus guter bürgerlicher Familie, aber in behaglicheren Verhältnissen aufgewachsen,
leitete er nach absolvirten technischen Studien die Fabriken des Vaters zu
Fischamend. Dann trat er als leitender Chemiker in eine Kattunmanufaktur
zu Steyr. Bald aber verließ er wieder die technisch-merkantile Laufbahn und
studirte in Wien Jura. Er durcheilte die hergebrachte Laufbahn des Beamten
der vormärzlichen Zeit. Praktikant beim Magistrat einer kleinen, aber industrie¬
reichen Stadt, Adjunkt beim Salinenamt im Salzkammergut, endlich Patri-
monialbeamter eines reichbegüterten frvndirenden Fürsten, das alles ist er in
ziemlich rascher Folge noch in der Blüte seiner Jahre gewesen. Die erste Schrift,
mit der er — anonym — vor das Publikum trat, war einem politischen
Thema gewidmet: der ständischen Bewegung des Jahres 1847 in den deutsch¬
österreichischen Provinzen; erschienen ist sie am Vorabend der Revolution. Das
starke Pathos, in dem er sich darin über die vorhandenen Zustände, namentlich
über die prädvminirende Stellung von Adel und Klerus, ereiferte, streift manch¬
mal an den Ton phrasenhafter Volksredner, ist aber mitunter auch von hin¬
reißender Kraft, so namentlich dort, wo er über die österreichische Vüreaukratie
seiner Zeit spricht: er vergleicht sie mit einer „Schmarotzerpflanze, die im faulen
Friedenstag dem urkräftiger Stamme entwachsen, seit Jahren Kraft und Ge¬
deihen nicht nur den Wurzeln, sondern auch der Krone entzieht." Von den
loyalen Empfindungen Collins und Grillparzers zeigte sich der jugendliche
Autor freilich weit entfernt, und in der That haben die Worte „Fürstenhoheit,
angestammtes Recht, ererbter Besitz, überkommene Ordnung" auch später seine
Harfe niemals ertönen machen können. Dennoch ist er ein echt österreichischer
Dichter. Als solcher zeigte er sich zuerst (1848) in genrehaften Schilderungen
von Heimatsboden und Landsleuten, wie sie sein „Skizzenbuch aus Oberöster¬
reich" erfüllen, das vor wenigen Jahren unter dem Titel „Exkursionen eines
Österreichers" teilweise neu bearbeitet erschien. Drei Jahre später gab er die
„Rosenegger Romanzen" heraus, in welchen der ganze Frohsinn, die helle Welt-
freute und die naive Innigkeit der mittelalterlichen Dichter Österreichs wieder
anflehten. Als fahrender Sänger tritt er da auf, dessen Lied einer stolzen
Schloßfrau gilt, die vergebens auf ihre festen Türme und die Breite des
Grabens, über welchen keine Brücke führt, vertraut; er rühmt sich seiner treuen
Liebe, die alle diese Hindernisse besiegen wird. Dann aber erscheint er wieder
als Bittender auf der Schwelle des Hauses, wo die Geliebte wohnt; wie sie
ihn erblickt, wünscht er alles Gute, dann bittet er um Abendbrot. In ein lieb¬
liches Städtchen zieht er als Wandersmann ein und denkt da zu wohnen, da
erzählen ihm Knaben und Mädchen, daß sie es verlassen hat, und er muß
wieder weiter irren. Im einsamen Walde, nach beendeter Jagd, wenn das Wild
sich verkrochen und alles in tiefer Stille liegt, stoßt er ins Horn, daß die Töne
wie Hirsche vor dem Bellen hinfliehen über die Wiesen, der Vielgeliebten fernes
Haus zu suchen. Die Sehnsucht nach dem Entfernten, die Wehmut des Scheidens,
den Schmerz um den Abgeschiedenen weiß er aufs rührendste zu schildern —
ohne alle rhetorischen Mittel, bloß durch ein flüchtig angedeutetes Bild, einen
rasch vibrirenden Ton. Die Poesie des Waidwerkes ist ihm wie kaum einem
andern modernen Dichter aufgegangen, er besiegt den Edelhirsch immer wieder,
der ihn im tiefen Forst des Lebens rechte Kunst gelehrt; er warnt ihn vor
den Jägern, wenn er im friedlichen Gehege ruht; er folgt ihm auf seinem atem¬
loser Lauf, wenn er aufgestört aus seinem Frieden vor der Meute flieht, und
sieht in des Tieres Geschick sein eignes Dasein sich spiegeln. Ein andres Motiv,
das Julius von der Traun mit Virtuosität behandelt, ist der Posthornklang:
einmal fleht er ihn an, er möge ihn auf seinem Zuge ins ferne Thal tragen,
zu jener alten Stadt, wo ihn einst sein Liebchen erwartet; wo immer er auf
weltvergessenen Straßen die trauten Töne vernimmt, hört er die goldnen Wogen
seiner Jugend rauschen. Gerne knüpfen seine Bilder an ein bestimmtes Lokal
an, die Sagen der Heimat geben so manchen Vorwurf für seine Lieder. Dann
kann er auch fromm sein wie die Dichter der guten alten Zeit, ja es der Gegen¬
wart vorwerfen, daß sie den Gott unsrer Väter vergessen. Wenn er hie und
da Anwandlungen von materialistischen Zweifelmut sich nicht ganz entziehen
kann, so bricht doch wieder selbst auf Gräbern und Ruinen inbrünstiges Hoffen
aus seiner Seele und erhebt ihn über das Irdische. Politische Schlagwörter
des Tages trifft man in seiner Lyrik nicht, wenn er es auch nicht vermeiden
kann, mitunter schneidige Kampfesweisen gegen die Überhebungen der Klerisei
und des Feudalismus anzustimmen. Soldat ist er nie gewesen, aber in seinen
»Soldatenliedern," die den „Nosenegger Romanzen" folgten, vernehmen wir
doch einen Nachhall aus dein Radetztyschen Feldlager, von dem Grillparzer das
berühmte Wort gesprochen, dort sei Österreich selber. Die Motive sind wieder
die uralten des Volksliedes. Da ist der Kürassier, der zu Temesvar liegen
wuß, während er doch „ein Mädchen hübsch und fein" zu Linz am Donau¬
strande weiß; er gäbe seinen Küraß und sein Pferd und alle seine Gulden
darum, wenn er nur einmal mit ihr wieder reden könnte, aber auch den Helm
und die Sporen, „könnt' er sie küssen still allein." Dann erinnert er sich des
Abschieds:
Als ich zum lichten bei ihr war,
Da bot sie mir zu trinken;
Mit ihren braunen Äugelein
That sie mir freundlich winken, ja — winken.
Ein andermal hören wir einen jungen Krieger vor seinem Zelt darüber nach¬
sinnen: er hat seinen Schatz verlassen, aber es ist ihm doch keine Schande.
„Geliebtes Österreich" ist der Abschiedsgruß eines Ausziehenden betitelt, der
also ausklingt:
Muß ich unter fremdem Himmel
Schlafen in der Feldschlacht ein:
Ach von Östreichs schönen Auen,
Die ich immer durfte schauen,
Wird im Grab mein Träumen sein.
Am schönsten ist das Lied von der Schäferin, die gern ein Knabe sein
möchte, um ihrem Liebsten in die weite Welt folgen zu können; auch dies
Motiv ist ja nicht neu, aber wie lieblich ist es hier variirt!
Hat sie mein Vater verrauschet
Des Nachts am Kartentisch,
Fahr wohl, du Traum von Liebe,
Du Reiter jung und frisch!Ach Mutter, liebste Mutter,
Den Reiter muß ich frei'n,
Gieb mir dreihundert Gulden
Und Kleider weiß und fein.
Ach Tochter, liebste Tochter
Der Gulden sind nicht viel;
Dein Bater hat sie verrauschet
Bei Würfel- und Kartenspiel.So muß ich wieder hüten
Die Schaf im grünen Klee. —
Dort fahren mit fliegenden Fcchueu
Soldaten über den See!
Ach wär' ich ein Knabe geboren,
Ich lief in die weite Welt,
Ich schlüge dein Kaiser die Trommel,
Verdiente dem Kaiser sein Geld! . . .
Freilich auch den ungesunden Tendenzen, welche sich in der deutschen Literatur
während der letzten Dezennien vielfach breitgemacht haben und welche natur¬
gemäß auch nach Österreich herüberwirkten, konnte Julius von der Traun nicht
ganz fremd bleiben. In der „Schönen Helena von Malchin" begegnen wir dem
unvermeidlichen Faustproblem, und auch in dem „Geiger von Absam" und in
den „Goldschmiedskindern" wird das heute so beliebte Thema — der Kampf
zwischen den Anforderungen der Pflicht und dem Drange nach Genuß — aufs
neue variirt. Traums Helden folgen meist den ersteren, aber glücklich werden
sie darum nicht, durch ihr ferneres Leben geht ein Bruch, der den Geiger von
Absam zum stillen Wahnsinn führt, den jungen Goldschmied aber mit tiefer
Schwermut erfüllt, die er nicht wieder abzuschütteln vermag. Im historischen
Stillleben — wenn wir von einer solchen Gattung ans dem Gebiete der schönen
Literatur sprechen dürfen — hat sich Julius von der Traun in der „Äbtissin
von Breban" versucht — einem überaus schwachen Produkt, das uns anmutet,
als wäre es für eine höhere Töchterschule geschrieben. Überhaupt scheint mit
seiner politischen Thätigkeit auch seine poetische Schöpferkraft geendet zu haben,
während er selber freilich das Gegenteil behauptet und dabei auf so manchen
Entwurf verweist, der noch in seinem Pulte der Vollendung harre. Dazu wird
es nun wohl kaum mehr kommen. Im Oktober des vergangenen Jahres war
es uns zum letztenmale vergönnt, den kranken Dichter zu sprechen. Sein ganzes
Interesse war da wieder den öffentlichen Angelegenheiten zugewendet, er sprach
davon, daß er einen ihm angebotenen Sitz im Herrenhause mit dem Bemerken
ausgeschlagen habe, er sei nicht in der Lage, für das gegenwärtige Ministerium
einzutreten. Aber er geberdete sich sonst weder extrem liberal, noch extrem
national: über so manches berühmte Mitglied der Verfassuugspartei — na¬
mentlich über Herbst — sprach er sich aufs schärfste aus, gedachte mit Wehmut
der Zeiten, wo alle Nationalitäten des Kaiserftciates zuerst gut österreichisch,
dann erst deutsch, tschechisch oder polnisch gefühlt haben, und wollte selbst dem pa¬
triarchalischen Despotismus Franz I, einen gewissen Vorzug vor den heutigen
Zuständen gegeben wissen. „Wir Ältern, äußerte er, kannten und liebten nur
Osterreich, in dem Einheitsstaat sind wir erwachsen, und umdenken können wir
uns nicht, aber vielleicht kann es, vielleicht muß es die folgende Generation."
Wie er diese Worte sprach, das bleiche, von schneeweißem Haar umrahmte
Antlitz sorgenvoll ans die eine Hand gestützt, mit der andern bisweilen wie zur
Bekräftigung den Hörer berührend, mußte er diesem wie ein scheidender Kämpfer
erscheinen, der seine Sache aufgegeben und verloren sieht.
Deutet so auch in der Erscheinung dieses Dichters alles ein Ausklingen
und Hinschwinden an, weist auch sie mehr in die Vergangenheit zurück, als sie
den Blick in der Gegenwart festhält und Hoffnungen für die Zukunft erregt,
so stehen Anzengruber und Rosegger dafür noch in vollster Lebens- und
Schaffenskraft, und wenn sie erlahmen sollte, so ist schon ein frischer Nachwuchs
bereit, der zwar heute zu ihnen noch immer dankbar als zu unerreichten Vor¬
bildern emporblicken mag, aber doch schon Proben eines Talentes gegeben hat,
das schönster Entwicklung fähig ist. Freilich auf den großen deutschen Literatur¬
markt dringt davon kaum etwas; nur der, der unsre kleineren Bühnen hier und
in der Provinz besucht, kaun sie bemerken und würdigen.
Die Vorwürfe der beiden — Anzengrubers und Noseggers — sind bekannt:
sie sind fast immer der bäuerlichen Welt und ihren Konflikten entlehnt, und in
diesen Blättern ist unlängst darauf verwiesen worden, wie sie ihre Meisterschaft
verläßt, sobald sie diesen engen, aber doch so reichen Bezirk verlassen. Während
Noseggcr seine Größe in der Schilderung von Zuständen und ruhigen oder nur
mäßig bewegten Lebensläufen gefunden hat, weiß Anzengruber vor allem Er-
eignisfe und Leidenschaften künstlerisch zu gestalten; die großen Konflikte zwischen
Natur und formellem Recht, Gefühl und Herkommen, Bestreben und Vorurteil
vermag er erschütternd darzustellen und bisweilen harmonisch zu lösen. Von
Rosegger wird man am liebsten hören, wie der einfache Holzknecht und der arme
Waldschulmeister, der alte Pfarrer hoch im Gebirge und der reiche Hofbesitzer,
die Großbäuerin und ihre junge Magd ihr Alltagswerk vollbringen, wie sie sich
in den verschiedenen Lagen des gewöhnlichen Lebens benehmen und was sie
dabei sinnen und denken. Anzengrubcr lockt uns tiefer in das Wesen des Natur¬
menschen hinein, indem er ihn auch in bedeutsamen Vorfällen, in gewal¬
tigen Schicksalen, in großen innerlichen und äußerlichen Kämpfen zu schildern
versteht.
Im „Pfarrer von Kirchfeld" wird der durch soviele Romane und Novellen
schon trivial gewordene Zwiespalt, in den ein katholischer Priester, welcher ein
Mädchen liebt, mit seiner Pflicht geraten muß, dadurch unendlich vertieft, daß
die Beteiligten so ganz sittliche und fromme Naturen sind, und er wird zu
wahrhaft tragischer Höhe erhoben, weil der Priester von der Bedeutung seines
Amtes eine so edle Auffassung hat, die er den unsittlichen hierarchischen Ge¬
walten gegenüber behauptet und versieht. Der Ausgang ist doppelte Entsagung,
hier siegt die Pflicht über die Leidenschaft, dort die äußere Macht über ideelles
Bestreben. Aber gerade jener Sieg erhellte uns mit dem Troste, daß dieses
Bestreben auch nicht eigentlich verloren war, und in dem Schmerze, mit dem die
ländliche Gemeinde ihren Hirten scheiden sieht, sehen wie die Bürgschaft auch
seines Sieges. Eine Gestalt von fast titanischen Kern ist dann der Wurzel-
sepp; das Unrecht, das ihm einst von einem Priester geschehen ist — der nach
den bestehenden Ordnungen doch im Rechte war —, hat die Fülle seiner Liebe
in Haß verwandelt, und nicht nur gegen jenen einen kehrt sich dieser grandiose
Haß, sondern gegen alle jene Ordnungen der gleißnerischen Welt.
Im „Meineidbauer" liegt ebenfalls ein starkes tragisches Motiv: der
falsche Eid, der den rechtmäßigen Erben um das Seine bringt, wirkt als ein
Fluch fort, der den geldstolzen, hartherzigen auf seinen Kirchenglauben pochenden
Bauern zuletzt innerlich völlig zerstört und in Wahnsinn enden läßt. Auch in
dem Roman „Der Schandfleck" werden ja tragische Probleme gestreift, wie an
dieser Stelle bereits unlängst erörtert worden ist. In andern Schauspielen und
Geschichten bewegt sich der Dichter zwar mehr in den mittleren Regionen des
Gefühlslebens, aber immer führt er uns Charaktere von reichem inneren Leben
vor, auf die wir denn bedeutsame Geschicke wirken sehen: so im „Krcnzel-
schreiber" und im „Doppelselbstmord"; dort ist es der Steinklopferhans, hier
der arme Hauderer mit seinem „Heilandsbewußtsein," der uns tiefe psychologische
Blicke in die Bauernwelt thun läßt. Selbst in den kleinen Kalendergeschichten,
die Anzengruber fast alljährlich schreibt, ist uns dies bisweilen vergönnt, und
jedenfalls wird er auch hier seinem Wunsche gerecht, „Geschichten zu schreiben.
die man gern des öfteren liest, wo über das letzte Wort hinaus Gedanken sich
fortspinnen und Gefühle nachklingen."
Anzengruber sowohl wie Rosegger knüpfen an eine ältere Generation
österreichischer Dialektdichter an, die mit Castelli beginnt und mit dem Sänger
des „Schwarzblattl," Baron Klesheim, endete. Aber welch ungeheurer Fort¬
schritt liegt dazwischen! Dort wurde doch mehr das Äußerliche der ländlichen
Natur und des bäuerlichen Lebens aufgefaßt, und wenn man auch die Sprache
des Herzens durchaus nicht vermißte, so blieb man doch immer auf der Ober¬
flüche haften. Namentlich aber hatte man gar kein Bedürfnis, ethischen und
gesellschaftlichen Problemen nachzugehen; Gehorsam gegen Gott, den Kaiser und
die Eltern, Liebe zu seinen Nächsten, Freude an der schönen Schöpfung bis zum
kleinsten Vogel und Käfer herab, das erschöpfte so ziemlich den ernsten Motiven¬
schatz der älteren Dialektdichter. Dazu trat allerdings ein derber, naiver Humor,
der unserm Volksstamm von jeher eigen war. Bei Anzengruber und Rosegger
durchwandert man aber die ganze Stufenleiter menschlicher Empfindungen, und
in lokalen Tönen wird uns ein Bild der Welt geboten. Immer wieder wird
durch sie der Mensch der höheren Bildnngsschichten, der sich so gern Kultur¬
träger nennt und leicht geneigt ist, sich für das allein Maßgebende im Staate
zu halten, auf die gewaltigen Energien verwiesen, die in dem bäuerlichen
Volke liegen.
Wir wollen nicht schließen, ohne noch einer neuen Erscheinung der öster¬
reichischen Dichterwelt gedacht zu haben, die zwar auf fremdem Boden wurzelt,
aber doch das anderswo Erworbene eigenartig zu gestalten und im vaterlän¬
dischen Sinne zu verwerten bemüht ist. Wir meinen Richard Kraut, der der
jüngsten Dichtergeneration angehört und — ganz im Sinne derselben — vor allem
über die großen Welträtsel nachgesonnen hat. Und heute rühmt er sich, eine
Lösung gefunden zu haben: eine kleine Gemeinde hat sich um ihn versammelt,
die den Jugendlichen fast wie den Stifter einer Religion verehrt und von Zeit
M Zeit Apostel in die profane Gesellschaft hinaussendet, um dem neuen Evan¬
gelium Anhänger zu werben. Dem Schreiber dieser Zeilen wurde vor kurzem
durch einen solchen, der gute Gesinnungen bei ihm vermutete, unter geheimnis¬
vollen Zeremonien ein Büchlein eingehändigt, das den bedeutsamen Titel „Offen¬
barung" trägt. Es wurde ihm bedeutet, nur ja alles, was da zu lesen stünde,
wörtlich aufzunehmen und zwischen den Zeilen keinen verborgenen Sinn zu suchen.
Das Motto desselben sind die Worte des Evangelisten Johannes: „Steht nicht
geschrieben in euerm Gesetz: Ich habe gesagt, ihr seid Götter?" Der Dichter
verrät uns nun in dem ersten Gesänge ein Geheimnis, das uns das irdische
Unglück — wie er meint — leichter tragen lassen wird:
Muß ich dich erst ernähren an das, was dir entfiel?
Weißt du's, wir sind ja Götter, die Welt ist unser Spiel....
Die gemeinen Sterblichen haben es vergessen, daß sie selber beschlossen haben,
sterblich zu werden und den Kampf ums Dasein nach bestimmten, selbst gege¬
benen Gesetzen zu kämpfen. Der Dichter aber, der vom Lethetrank, den die
übrigen leerten, nur genippt hat, erinnert sich daran, und wie seltsam, ja lächer¬
lich erscheint es ihm nun, wenn die Menschen klagen, ja wohl gar verzweifeln
wollen über ein bloßes Spiel, in das sie sich mit freiem Willen begeben!
„Zerreiße schnell den Trug," ruft er dem Menschen zu,
Darum, daß du zum Schaden nicht auch noch habest den Spott,
Erheb' dein Haupt nun wieder recht wie ein junger Gott.
Gedenk', wir werden von oben gesehen und bewacht!
Wenn wir nicht gut uns hielten, wir würden gar ausgelacht.
Aber weil der arme Mensch diese neue Märe nur ungläubig vernimmt — denn
warum hätte er sich nicht wenigstens eines Königs Loos, größere Kraft und
Reichtum, Schönheit und mehr Lebensmut erwählt —, so belehrt ihn der
Dichter weiter:
Nun höre, Himmelskind,
Warum die seligen Götter zur Welt gekommen sind.
Sie sind nicht hergekommen zur Bube hier verdammt,
Auch nicht um zu erfüllen bestimmungsschweres Amt,
Nur um das zu genießen, was sie noch nicht gewußt:
Die Wonnen alle des Schmerzes und der Leiden Lust. . .
Zu hungern und zu dürsten, das strebten sie wohl recht,
Den Willen einzuschließen als strenger Schicksalsknecht;
Ihre Kraft zu suhlen in süßer Müdigkeit,
Das Glück erst zu ersehnen in hängender Liebe Leid;
Den Mut selbst zu erproben in sclbstgcschaffner Not,
Den Augenblick zu genießen, im Gefühl der Vernichtung, im Tod;
Der göttlichen Würde doch sicher in niederster Knechtschaft Schmach,
Nicht scheuend die bittersten Bande, die die Gottheit endlich zerbrach....
Wie man sieht, sind die verwendeten Motive nicht neu, die deutsche philo¬
sophische Lyrik hat sie wiederholt vciriirt, aber originell ist die optimistische
Wendung, die denn auch zu ganz andern Konsequenzen führt, als die meist pessi¬
mistische andrer modernen Dichter.
Du hast nun keinen Führer, du stehst nun ganz allein,
Du selber mußt dein Führer, du selbst dein Meister sein,
So sorg' nur an dir selber, daß nichts zu richten sei;
Wenn du dich selbst verdammest, so spricht dich niemand frei.
Das, was ich euch hier biete, es ist ein schwer Gebot,
Ihr müßt ein jeder leben wie der vollkommne Gott.
Über die Wirklichkeit zu schmähen hat also dieser Dichter keinen Grund, er freut
sich des Lebens, des Kampfes, fordert seine Mitstreiter ans, nur ja den Gegner
nicht zu schonen, denn wo bliebe des Spieles Lust, wenn man den eignen Sieg
und des Feindes Unterliegen nicht wünschte? Von Mitleid möge man die Seele
frei halten, es sei nicht Sünde zu kämpfen, man thue es ja nur aus Not.
Zum Vaterlande, zum Staate stellt sich der Dichter in das beste Verhältnis;
er hat es sich ja selber gewählt:
Ich bin nicht dein dnrch Zufall, ich hab' dich selbst erwählt.
Bevor ich von der Mutter hier geboren ward,
Ersah ich deine Schönheit, deine hohe Art.
Mit deinen guten Söhnen wollt' ich beisammen stehn,
Nur unter deinem Zeichen wollt' ich zum Siege gehn.
Aber noch mehr, auch dies sein Vaterland muß er aneifern zu kämpfen, auf
Kosten andrer sich zu erweitern:
Behagt dir nicht der Boden, ist dir zu eng das Land,
Wohlan denn, Straßen gehen bis an den Meeresstrand. , . .
Aus einem transcendentalen Märchen, das man immerhin reizend finden wird
— wenn man auch das Aufbauschen seines Inhalts zu einer erlösenden neuen
Lehre lächelnd abwehren muß — löst sich so zuletzt eine politische Idee. Vou
kosmopolitische« Friedensträumereien weit entfernt, entpuppt sich Kraut als ein
Dichter, der vor Blut und Eisen nicht zurückschreckt, ja in diesen Stoffen die
Elemente des historischen Werdens erblickt, eine Anschauung, die durch die Er¬
eignisse der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts hervorgerufen worden sein mag
und die unsers Wissens in poetischer Gestalt noch nicht vor uns erschienen ist.
Wir können hier schließen. Daß es um die Kunst in Österreich so schlimm
stehe, wie uns der etwas grämliche Verfasser der jüngst ausgegebenen Flugschrift
„Nur nicht österreichisch"^) glauben machen will, können wir nicht zugeben, aber
freilich daß der Lvkalton in ihren Schöpfungen allmählich zurücktritt, läßt sich
nicht leugnen. Namentlich aber haben jene Produkte sowohl der dichtenden wie
der darstellenden Kunst, welche den meisten Effekt machen und aus welche die
Kritik so gern deu geistigen Kredit Österreichs basirt, eigentlich garnichts spezifisch
Österreichisches an sich. Die „parfümirte Stickluft," die in Hamerlings „Ahas-
ver in Rom," in Wilbrandts „Arria und Messalina" oder „Nero" und in
vielen andern modernen Erzeugnissen weht und deren Hauch wir ja auch em¬
pfinden, weiln wir vor den berühmtesten der Malartschen Bilder stehen, ist
nicht dem österreichischen Boden entstiegen.
in 6. Februar ist zu Dresden infolge eines Hcrzschlages der
Kuustgelehrte und Schriftsteller Wilhelm Rvßmanu unerwartet
rasch aus dem Leben geschieden. Seiner vollen und frischen
Thätigkeit war er schon seit länger als einem Jahre durch eine
schwere Krankheit, welcher eine sehr langsame Genesung folgte,
entrückt worden. Seit einigen Monate» hatte er wieder begonnen, sich lebhafter
an den Dingen zu beteiligen, welche früher seine ganze Seele erfüllten, und
schien eben bereit, die vielseitigen Pflichten und Aufgaben seines Amtes neu zu
übernehmen, als der Tod ihn überraschte. Wenn das Schicksal immer grausam
erscheint, das einen Mann aus der Mitte seines Lebeus und seiner Thätigkeit
entrafft, so gilt dies in Noßmanns Falle doppelt; er hatte sich Aufgaben ge¬
stellt, die nur bei längerer Lebensdauer zu erfüllen gewesen wären, und Arbeiten
begonnen, von denen nur wenige, seither nicht veröffentlichte noch vollendet sein
werden. Man spürte es der Magerkeit und unerfreulichen Kargheit der in den
Dresdner Zeitungen erschienenen Nekrologe an, daß die Berichterstatter weder
unter dem Drucke einer überwältigenden Meinung standen, welche sich über No߬
manns Streben und Leisten im großen Publikum ausgebildet hatte, noch
daß sie liebevollen Anteil an dem Ringen und Streben des Mannes und an
Anfängen genommen hatten, die erst ein Ganzes werden sollten. Es war wieder
einmal zu empfinden, wie rubrizirt in unserm öffentlichen Leben nachgerade
alles geworden ist, und wie die Leute nur über denjenigen etwas zu sagen wissen,
der einer bestimmten Rubrik fest und unverrückbar angehört, was bei Roßmann
freilich nicht der Fall war.
Wilhelm Roßmann war am 29. Mai 1832 zu Seesen im Herzogtum
Braunschweig geboren, hatte das Gymnasium zu Braunschweig und in den
Jahren 1851 bis 1854 die Universitäten Jena, Tübingen und Göttingen besucht.
Er hatte sich zuerst der Theologie zu widmen beabsichtigt, entschloß sich aber
bereits nach einigen Semestern, hauptsächlich auf Drohsens Anregung, die theo¬
logischen mit historischen Studien zu vertausche», denen er eifrig oblag und bei
denen er eine akademische Laufbahn ins Auge faßte. Namentlich die deutsche
Geschichte des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts zog ihn an, und einigen
Partien derselben widmete er besonders eingehende Teilnahme. Ostern 1856
habilitirte er sich bei der philosophischen Fakultät der Universität Jena und las
dort in verschiedenen Semestern mit steigendem Beifall, veröffentlichte auch zwei
historische Erstlingsarbeiten „Betrachtungen über das Zeitalter der Reformation"
(Jena, 1858) und „Die malkabäische Erhebung" (Leipzig, 1860). Die poetischen
und künstlerischen Neigungen, welche der Student und der junge Dozent daneben
hegte, traten wohl nicht ganz zurück, wurden aber durch die ihm zunächst
obliegende Arbeit wesentlich eingeschränkt und wären, da ein starkes und
zwingendes Dichtcrtalent in Roßmann nicht lebte und wirkte, mit der Zeit
vielleicht erloschen, wenn nicht eine Wandlung seines äußern Lebens sie neu
angefacht hätte. 1860 ward Noßmann als Erzieher des Prinzen Bernhard
von Meiningen, des ältesten Sohnes des damaligen Erbprinzen und nachmaligen
Herzogs Georg von Sachsen-Meiningen, berufen. Eine außerordentliche Pro¬
fessur in Halle, die sich gleichzeitig aufthat, lehnte er ab und entschied sich für
Meiningen. In seiner dortigen Stellung verblieb er neun Jahre hindurch, er¬
lebte in der kleinen Residenz an der Werra die großen Umwälzungen des
Jahres 1866, welche zur Abdankung des greisen Herzogs Bernhard Erich Freund
und zur Übernahme der Regierung durch den Herzog Georg führten, sah die
Vorbereitungen zu dem reichen und eigentümlichen Kunstleben, welches der
künstlerische Sinn des neuen Herzogs in Meiningen schuf, und ward gleichsam
»»merklich von seinen historischen zu kunsthistorischen Studien geleitet. An der
»eubeginnenden Ära des Meiningcr Theaters nahm er durch eine Bearbeitung
der „Choephoren" des Äschylos als „Orest" (Stuttgart, 1867) unmittelbaren
Anteil. Als sein fürstlicher Zögling, der inmittelst Erbprinz geworden war, im
Winter 1868 nach Italien ging, begleitete ihn Noßmann dahin, und dem längern
Aufenthalte in Sizilien und in Rom entstammten die Reisebilder „Vom Gestade
der Cyklopen und Sirenen" (Leipzig, 1869) und „Eine protestantische Oster-
andacht im Se. Peter zu Rom" (Oldenburg, 1871). Nach beendeter Erziehung
des Erbprinzen zog sich Roßmcmn mit dem Titel eines Herzvglich sächsischen
Hofrats und mit einer Penston nach Wolfenbüttel zurück, wo er bis 1872 lebte.
Seine Hauptarbeit während dieser Jahre galt der Sammlung von Materialien
Zu einer urkundlichen Geschichte der Hildesheimer Stiftsfchde, von der wir nicht
Riffen, wie weit sie gefördert worden ist. 1872 ward er als Sekretär der
großherzoglichen Kunstschule und als Professor der Kunstgeschichte an eben
dieser Anstalt nach Weimar berufen. Hier half er im gleichen Jahre die vier¬
hundertjährige Geburtsfeier Lukas Crcmachs festlich begehen und schrieb für
diese Gelegenheit ein Festspiel „Meister Lukas" (Oldenburg. 1872), das seinem
Zwecke vollständig entsprach. Der Winter von 1872 zu 1873 entführte ihn den
neuen Verhältnissen, in die er sich kaum eingelebt hatte. Er begleitete seinen
ehemaligen Zögling, den Erbprinzen von Meiningen, auf einer großen Orient¬
reise, welche derselbe unternahm. Er sah Athen, Konstantinopel, Kleinasien
unter günstigeren Verhältnissen, als sie vielen Gelehrten gegönnt sind, gewann
^lebe Anschauungen und hätte nur der Ruhe bedurft, um dieselben literarisch
Zu verwerten. Aber kaum nach Weimar heimgekehrt, erreichte ihn eine Be-
rufung zum Professor der Kunstgeschichte an der Düsseldorfer Kunstakademie.
Da die dortigen Verhältnisse in jedem Betracht sicherer und aussichtsreicher
waren als die Weimarischen, so gebot die Rücksicht auf Weib und Kind — Noß-
mcmn hatte sich inzwischen mit einem Fräulein von Roter verheiratet — den
Ruf nicht auszuschlagen. Doch sollte er am Rhein noch viel weniger heimisch
werden als ein der Ilm: schon im Herbst 1873 erhielt er den Antrag, in
die durch Albert von Zahns Tod erledigte Stellung eines Referenten bei der
Generaldirektion der königlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft zu
Dresden einzutreten.
In dieser Stellung hat Noßmcmn die zwölf letzten Jahre seines Lebens
verbracht und in ihr eine vielseitige und unermüdliche Thätigkeit entwickelt.
Die Generaldirektivn der königlichen Sammlungen ist eine Behörde, welcher
die Oberaufsicht über die Gemüldegaleric, die königliche Bibliothek, das Antiken-
kabinet, das Museum der Gypsabgüsse, das historische Museum, die Porzellan-
und Gcfnßsammlung u, s. w. vertraut ist und der ein Verantwortlicher Staats-
mimster vorsteht. Roßmann war also nicht, wie hie und da angenommen
worden ist, Generaldirektor dieser verschiednen Sammlungen, er war den Mu¬
seumsdirektoren und andern Chefs lediglich koordinirt, und seine Mitwirkung
bei der Vermehrung und Verwaltung der Kunstschätze war in den meisten Fällen
eine beratende. Nur infolge speziellen Auftrags des Ministeriums übernahm
er einige größere Vilderankäufe für die Gemäldegalerie. Aber es lag in der
Natur seiner Stellung, daß es ihm leicht war, Vorschläge, die er nach seiner
Überzeugung für ersprießlich hielt, zu begründen und durchzusetzen, und es
konnte nicht ausbleiben, daß gegenüber solchem Einfluß manche reizbare Eifersucht
und mancher kleinliche Neid wach wurden. Noßmaun kam gerade in einem
Augenblicke uach Dresden, wo reiche Mittel zur Verfügung standen und große
Kunstunternehmungen geplant, langegeplante ausgeführt wurden. Da man an
maßgebender Stelle volles Vertrauen zu ihm hegte, so wurde ihm die Leitung
auch dieser Unternehmungen anvertraut. Die künstlerische Ausschmückung des
gerade im Bau besindlichen neuen Hoftheaters und die der restaurirten, aus
ihrer unwürdigen Verwendung als Porzellanmanufaktur zu neuer Herrlichkeit
auferstandenen Albrechtsburg in Meißen stellte ihm vielumfassende, weit aus¬
greifende Aufgaben, an die er mit mutigen Entschluß Hand anlegte und bei
deren Übernahme er schwerlich ahnte, welche Bitterkeiten sie ihm bereiten sollten.
Der Fehler, den Noßmcmn hierbei beging, lag unsers Trachtens nach nur darin,
daß er sich eine ungeheure Verantwortlichkeit aufbürden ließ, die ein Mann nur
dann übernehmen sollte, wenn er volle Freiheit in der Wahl der ausführenden
Kräfte und die tiefste Überzeugung hat, daß diese ausführenden Kräfte jeder
ihnen gestellten Aufgabe gewachsen sind. Daß dies bei den genannten großen
künstlerisch-dekorativen Arbeiten nur teilweise der Fall war, konnte jeder draußen
Stehende leicht wahrnehmen und jeder unbillig Urteilende dem beauftragten
Kunstgelehrten allein zur Last legen. Wer die Dinge etwas besser kannte,
wußte wohl, daß hier mannichfache Umstände zusammenwirkten, das volle Ge¬
lingen zu erschweren, Lokalpatriotismus, welcher nie zugestanden hätte, Mangel
an starken, frischen und poetischen Knustlerkräften zu haben, der berechtigte
Wunsch, den heimischen Talenten möglichsten Spielraum zu verschaffen,
gelegentlich auch ein falsches Sparst)Stein, obschon im allgemeinen reiche, ja
überreiche Mittel aufgewendet wurden. Wie dem immer sei, der Leiter des
Ganzen mußte die Verantwortung, die er nicht auf die Schultern eines Kollegiums
abgewälzt hatte, voll einlösen; neben der berechtigten Kritik trafen ihn hämische
Persönliche Schmähungen und jene uuqualifizirbaren Anschuldigungen, die unser
gesamtes öffentliches Leben vergiften. Es würde zu weit führen, wenn wir
auf die unerquicklichen Einzelheiten zurückkommen wollten, sie haben jedenfalls
Noßmann ein gutes Teil Lebenskraft und Lebensmut gekostet. Indessen ließ
er sich durch bittere Erfahrungen niemals seine Thätigkeit und kaum den
frischen Eifer beeinträchtigen, mit dem er in diese Thätigkeit eingetreten war.
Regen Anteil widmete er vor allen Dingen der Herausgabe des großen
Kupferstichwerkes nach neueren Gemälden der Dresdner Galerie, durch welche
die Kupferstecherschule Dresdens recht eigentlich wieder belebt wurde. Der Text,
den Roßmann dazu schrieb, ist ein schönes Zeugnis seiner Wärme sür die Be¬
strebungen und Schöpfungen der neuesten deutschen Kunst; er hegte ehrlich den
Glauben, daß diese Kunst mit der Herrschaft des Realismus und Naturalismus
in eine neue vielverheißende Periode getreten sei. Auch wer andrer Überzeugung
war, konnte der Hingabe und Konsequenz, mit welcher Noßmann für die seine
eintrat, die Achtung nicht versagen. Daß ihm sein Einstehen gerade sür die
Künstler der Gegenwart wenig Dank brachte, lag in der Natur der Dinge, das
Verhältnis zwischen Künstlern und „Kunstschrcibern" ist ja nur so lange und
so weit ein gutes, als die letzteren imstande sind, die wahren und noch mehr
die vermeintlichen Interessen der Künstler zu fördern.
Literarisch konnte Noßmann während seiner Dresdner Jahre minder thätig
sein als in früheren Lebensperioden. Er hatte die Freude, eine zweite Auflage
seiner Reisebilder „Vom Gestade der Cyklopen und Sirenen" (Leipzig, Grunow,
1882) erscheinen zu sehen, und veröffentlichte unter dem Titel „Gastfahrten" Bilder
und Studien, welche sämtlich der Orientreise von 1872 und 1873 ihre Ent¬
stehung verdankten. Einige derselben, wie z. B. „Ein Besuch auf dem Berge
Athos" und „Von Smyrna nach Beirut," waren früher in Zeitschriften veröffent¬
licht worden, das ganze Werk erfreute sich einer günstigen Aufnahme und bestä¬
tigte, daß der Verfasser die reichen Eindrücke, welche ihm durch eine besondre Gunst
des Glückes gewährt worden waren, zu fruchtbarer Nachwirkung in sich aufgenommen
hatte. Die „Gastfahrten" fanden nicht so rasch ein größeres Publikum wie die
früheren Reiseskizzen, und doch waren sie literarisch ein Fortschritt. Der Stil
in dem Buche „Vom Gestade der Cyklopen und Sirenen" war wohl fesselnd
und lebendig, aber hie und da etwas pretiös und mit Beziehungen über¬
laden. Die Schilderungen wie die Erörterungen in den „Gastfahrten" wirken
frischer, unmittelbarer und einfacher, sie gehören zu dem Besten, dessen wir uns
in neuerer Zeit auf diesem Gebiete erfreut haben. Eine größere kunsthistorische
Arbeit, mit welcher Noßmann seit Jahren beschäftigt war, scheint so wenig zum
Abschlüsse gelangt zu sein wie sein historisches Hauptwerk. Immerhin genügen
die vorhandenen Schriften des in bester Manneskraft Dahingerafften, um seinem
literarischen Streben in engern und weitern Freundeskreisen ein rühmliches
Andenken zu sichern. Noßmanns ganze Persönlichkeit war darnach angethan,
zahlreiche Freunde zu erwerben. Von stattlicher Erscheinung, mit einem sprechenden
Auge und einem klangvollen Organ begabt, eine gewisse Vornehmheit und Würde
der Lebensform mit bescheidener und ruhiger Zurückhaltung verbindend, vielseitig
unterrichtet und darum den verschiedensten geistigen Bestrebungen verständnis¬
volles Interesse bezeigend und bewahrend, war er jedem Lebenskreise willkommen
und zählte Freunde in allen. Die Krankheit, der Tod lind die prunklose Be¬
stattung Roßmanns gaben für die Freunde Anlaß, ihre Teilnahme an den Tag
zu legen. Noch besser und nachhaltiger werden sie diese Teilnahme erweisen
können, wenn sie dafür sorgen helfen, daß ein ernstes, pflichtvolles und pflicht¬
treues, edeln Aufgaben dienendes Leben nicht in den Schlamm geringschätziger
Gleichgiltigkeit und frivoler Nichtachtung versenkt wird, welche die Losung eines
Geschlechtes sind, bei dem, in anderen Sinne als es der Dichter meinte, nur
der Lebende Recht hat.
es habe geschwankt, ob ich auf die vor einigen Tagen von einer
Anzahl deutscher Zeitungen abgedruckte „Erklärung" der Herren
von Sybel und or. Koser mich mit einer Gegenerklärung an die
betreffenden Zeitungen allein wenden oder den gegen mich, be¬
ziehentlich gegen meine Firma gerichteten Angriffen an dieser Stelle
entgegentreten sollte. Da ich Herrn von Sybel nicht mit wenig Worten zurück¬
weisen kann und befürchten muß, daß die Zeitungen einer längeren Antwort
nicht so willfährig ihre Spalten öffnen möchten wie der „Erklärung" des Herrn
Archivdirektors, so habe ich das letztere vorgezogen, umsomehr, als die Hand-
lungsweisc des Herrn von Sybel eine so unerhörte ist, daß es mir wünschenswert
erscheint, die Angelegenheit an einer Stelle aufzubewahren, wo sie besser vor dem
Vergessenwerden geschützt ist als in den schnell verwehten Blättern der Tagespresse.
Herr Professor Koser wolle es nicht als eine UnHöflichkeit betrachten, daß ich
mich allein mit Herrn von Sybel beschäftige. Der Sachverhalt ist folgender.
Als der 22, Band der „Publikationen aus den Königlich Preußischen
Staatsarchiven" erschienen war, wurde mir der Antrag gestellt, die interessanten
Memoiren de Cakes in einer deutschen Übersetzung dem größeren Publikum zu
vermitteln, für welches sie ja in den Archivpublikationen beinahe ebenso ver¬
graben geblieben wären, wie in den Archiven selbst.
Ich war bereit, auf dieses Unternehmen einzugehen, da es mir verdienst¬
lich schien, dem deutscheu Volke diesen Schatz zugänglich zu machen, wandte
mich aber — obgleich dem Unternehmen rechtlich nichts entgegenstand—, um
mich auch gegen den Vorwurf eines Anstandsvcrsänmnisses zu schützen, am
6. Dezember an den Direktor der preußische» Staatsarchive mit einem Briefe,
in welchem ich ihn von meiner Absicht in Kenntnis setzte und um Mitteilung
bat, ob dem Unternehmen — wie ich annähme — nichts im Wege stünde.
Die Absicht meines Briefes war, mich zu vergewissern, ob die Archivdircltivn
»icht selbst etwa einen ähnlichen Plan hege, in welchem Falle ich ohne weiteres
von dem Unternehmen zurückgetreten sein würde. Statt einer derartigen Nachricht
erhielt ich folgendes Schreiben:
Ew Wohlgeboren kann ich nur anheimgeben, sich in Sachen der Uebersetzung
i'bsx. Auswahl der Caet'schen Memoiren an den Verleger derselben, Hu L. Ilirxvl
daselbst zu wenden. So weit mir ein Widerspruchsrecht zusteht, muß ich mich
gegen jede ohne meine Zustimmung veranstaltete Uebersetzung verwahren. Auch
die Publication einer „Auswahl" in der Sprache des Originals würde mir als
unstatthafter Nachdruck erscheinen.
Auf diesen Brief hatte ich keine andre Antwort, als das Buch ein¬
fach anzukündigen. An Herrn Hirzel mich zu wenden, hatte ich durchaus
keine Veranlassung (ganz abgesehen davon, daß ich von ihm schwerlich eine
liebenswürdigere Antwort erhalten haben würde), denn Herr Hirzel ist zwar der
Verleger der Archivpublikationen, aber nicht der Inhaber irgendeines Rechtes,
die Ausnutzung der zum Nutzen des Volkes veröffentlichten Archivalien als sein
Monopol zu betrachten. Daß die Verweisung an Herrn Hirzel ebenso wie die
Phrase: „soweit mir ein Widcrspruchsrecht zusteht" gleichbedeutend ist mit einer
Verhüllung des Rechtsverhältnisses, wird jedem Unparteiischen klar sein.
Meiner Ankündigung (mit welcher zugleich ich natürlich nun auch den
Druck der mir angebotenen Bearbeitung begann) folgte auf dem Fuße eine
Klagezuschrift des Verlegers der Origiualpublikatiou; die Klage wurde jedoch bei
Gericht einfach abgewiesen, und ich konnte nach erfolgtem Urteil das inzwischen
zu Ende gedruckte Buch versenden.
Vierzehn Tage nach Ausgabe desselben überraschten mich die Zeitungen mit
der Denunziation des Herrn von Sybel, welche nachstehend noch einmal voll¬
ständig abgedruckt sein möge. ^
Erklärung.
Eine Lücke in dem Reichsgesetze über den Schutz des literarischen Urheber¬
rechts hat der Verlngshandlung von Fr. W. Grunow in Leipzig die Handhabe ge¬
boten, unter dem Titel „Gespräche Friedrichs des Großen mit Henri de Caet"
einen deutschen Auszug aus den als 22. Band der „Publikationen ans deu König¬
lichen Preußischen Staatsarchiven" (Leipzig, S. Hirzel) erschienenen, von N. Koser,
dem Zweitunterzeichneten, herausgegebenen Aufzeichnungen Cakes über seine „Unter¬
haltungen mit Friedrich dem Großen" zu veröffentlichen, trotz des Einspruches der
königlichen Archivverwaltuug und des Verlegers der „Publikationen." Der Grunow-
scheu Auswahl liegen allein die Memoiren Cakes zu gründe; fortgelassen (sie)
sind seine Tagebücher uuter der Motivirung, daß dieselben mehr eine Fundgrube
für den Geschichtsschreiber, als Gegenstand einer wirklichen Lektüre seien. Nun
enthalten die Memoiren allerdings eine Menge des interessantesten und auch wohl
beglaubigten Stoffes, da sie aber erst 1786, mithin dreißig Jahre nach den Er¬
lebnissen geschrieben sind, zeigt sich an vielen Stellen eine falsche chronologische
Gruppirung des Inhalts, und nicht selten werden dem Könige Aeußerungen in
den Mund gelegt, welche nachweislich andern Personen angehören. Wer also sich
nicht durch diese Erfindungen de Cakes täuschen lassen will, muß überall bei der
Lektüre der Memoiren die 1753 bis 1760, gleichzeitig mit den Ereignissen, auf¬
gezeichneten Tagebücher, die in der Originalausgabe mit abgedruckt sind, zur Ver-
gleichung heranziehen.
In dem kritischen Apparat der Originalausgabe sind solche historische Licenzen
dein Verfasser der Memoiren zu Dutzenden nachgewiesen worden. Durch einfache
Verschweigung des dort Schritt für Schritt konstatirten Sachverhaltes macht sich
die im Grunowschen Verlage erschienene Auswahl zur Mitschuldige» der Caleschen
Mystifikationen. Gegenüber diesem Versuche, die Erfindungen de Cakes, eines Me-
moircnschreibers, ohne die erforderlichen und in der Originalausgabe beigebrachten
faktischen Berichtigungen zu kolportireu, erscheint die Veranstaltung einer authen¬
tischen deutschen Ausgabe der interessantesten Teile der Memoiren und Tagebücher,
in welcher die der Wahrheit beigemischte Dichtung als solche kenntlich wird, jetzt
als eine Notwendigkeit. Dieser authentischen Bearbeitung, deren demnächstiges Er¬
scheinen hiermit in Aussicht gestellt wird, soll dann als wertvolle Ergänzung eine
deutsche Uebersetzung des im Königlichen Geheimen Staatsarchive befindlichen ita¬
lienischen Manuskriptes der Tagebücher des Marquis Lucchesini über die Tisch¬
gespräche der Tafelrunde zu Sanssouci (1730—1783) hinzugefügt werden.
Ich konnte erwarten, daß mir das Unterliegen des Herrn Hirzel im Prozeß
und meine Ausführung des allein richtigen Gedankens, ein Werk von so außer¬
ordentlichem Interesse für das gesamte deutsche Volk alsbald in guter Be¬
arbeitung zu verbreiten, nicht geschenkt bleiben würde; ich war also eines
Angriffs gewärtig. Daß dieser aber in solcher Weise ausgeführt werden würde,
hatte ich auch nach dem oben abgedruckten Briefe des Herrn Archivdirektors nicht
erwartet. Da es ihn? nicht zu passen scheint, daß ein andrer berechtigt sein soll,
ein solches Unternehmen zu veranstalten, so muß zur Verdächtigung desselben
eine „Lücke im Gesetz" ihm die „Handhabe" zu seinem Unternehmen geboten haben!
Eine Lücke im Gesetz pflegt derjenige zu finden, dem irgendeine Absicht
des Gesetzes nicht behagt. Das Gesetz betreffend das Urheberrecht ze. vom
1I.Juni1870 sagt aber klar und deutlich, daß der Autor eines Schriftstückes
und dessen Rechtsnachfolger bis dreißig Jahre nach seinem Tode gegen Nach¬
druck geschützt sein soll. Wo ist die Lücke im Gesetz?
Von gleichem Werte ist die zweite Verdächtigung, welche der VerlagS-
hnndluug vorwirft, sie habe „durch einfache Verschweigung des dort hin dem
kritischen Apparate der Originalpnblilation^ Schritt für Schritt konstatirtcn
Sachvcrhciltes sich zur Mitschuldigen der Caleschen Mystifikationen" gemacht,
und dann von dem „Versuche" spricht, „die Erfindungen de Cakes, eines Me-
moirenschrcibcrs, ohne die erforderlichen und in der Originalausgabe beige¬
brachten faktischen Berichtigungen zu kolportiren."
In der Vorrede der „Gespräche Friedrichs des Großen mit Henri de Caet"
S. 5 ist aber ausdrücklich gesagt worden: „Auch aus den Memoiren wurde
vieles weggelassen, was teils anderweitig zu bekannt, teils aus besseren
Ouellen in richtigerer Fassung zu lernen ist. Das letztere gilt vor allem von
den Berichten über kriegerische Vorgänge, die Caet von andern Offizieren
erhielt, und dann, wie der Herausgeber anführt, dem Könige in den
Mund legt." Dies mußte Herr von Sybel wissen, denn eine solche Leicht¬
fertigkeit, daß er das Buch, welches den Anlaß zu seiner „Erklärung" gegeben
hat, garnicht angesehen habe, kann doch kaum angenommen werden. Es bleibt
also nur die wissentlich Sasche Darstellung des Sachverhaltes übrig, durch
welche ich und mein Buch bei laufenden von Zeitnngslesern anrüchig gemacht
werden sollten.*)
Über das Sachliche des Angriffs lasse ich — indem ich nur noch auf die
eigentümliche Taktik hinweise, das Werk de Cakes als „Mystifikationen" und „Er¬
findungen" hinzustellen, um meine Ausgabe zu diskrcditireu, gleich darauf aber
eine „authentische" deutsche Ausgabe der „interessantesten Teile" der Memoiren
und Tagebücher anzukündigen — dem Bearbeiter meiner Ausgabe das Wort.
Er schreibt:
. ., Wir waren so weit entfernt, Cakes Kriegsberichte wiedergeben zu wollen, daß
dies nur dort geschah, wo sie sich nicht ans dem Zusammenhange reißen ließen.
So ist denn auch S. 25« ausdrücklich ans Th. von Bernhardts Werk die
richtige Auffassung eiues von Caet verwirrt wiedergegebenen militärischen Vor¬
ganges hingesetzt worden.
Herr Professor Koser hat in der Vorrede zu der Originalpublikation sS. XXV.)
einige wenige Fälle zurechtgemachter, d. h. im Interesse von Cakes Person
schief dargestellter Vorgänge namhaft gemacht, durch die der Sachverhalt nicht
gelindert, sondern nur gefärbt wird. Daß Caet dazu neigte, ist in unsrer Vorrede
(S. VI f.) auseinandergesetzt worden.
Aus dem „kritischen Apparat" der Originalausgabe, in welchem nach Herrn
von Sybel „solche historische Licenzen dem Verfasser der Memoiren zu Dutzenden
nachgewiesen worden" sind, ergiebt sich, was die von uns ausgewählten
Stellen anlangt, folgendes.
S. 60 unsrer Auswahl ist von Schmettaus Treulosigkeit die Rede. Herr
Professor Kvscr nennt das (S. 470) einen Anachronismus, da der König diese
Anklage erst im folgenden Jahre erhoben habe, giebt aber zu, daß Schmetwu schon
damals die Gunst des Königs verloren hatte.
S. 74 ist von dein Krebs des Prinzen Moritz von Dessau die Rede.
Kvser (S 47 t) zitirt Orlichs Lebensbeschrcilmiig zum Beweise, daß der Prinz
erst drei Monaie später vom Krebs befalle» wurde!
S, 107 behauptet Caet, der König habe dem Feldmarschall Keith nichts
über das Benehmen der Russen bei Zorndorf geschrieben. Koser (S. 473)
weist nach, daß der König fich allerdings in einem Briefe an Keith darüber ge¬
äußert hat.
S. 17t ist von dem Entlassungsgesuche des Erbprinzen von Brauuschweig-
Vever» die Rede. Kvser (S. 477) weist nach, daß dasselbe zehn Tage früher
eingereicht worden ist, als Caet angiebt.
S. 197 ist vom Regimente Lindstedt bei Mollwitz die Rede: Koser
(S. 470) bemerkt, daß Lindstedt erst 1759 ein Regiment erhallen hat. Caet
hätte also von dein „. . . Regiment, jetzt Lindstedt" sprechen sollen.
S. 250 nennt Caet einen Ort Neitwein, wo (nach Kvser S. 431) Trettin
gemeint ist.
Ans diesen Beispielen wird der Unparteiische ermessen, was es mit den
von Herrn von Sybel Caet vorgeworfenen „Mystifikationen" auf sich
hä,t. .Komisch aber erscheint diese Hypcrlritik, wenn man sieht, wie wenig der
Herr Direktor der preußischen Staatsarchive für einen, sei es diplomatisch ge¬
naue», sei es kritisch revidirte» Texte gesorgt hat.
Wir habe» schon früher in diesen Blättern eine Reihe von Stellen teils durch
hinzugesetzte oder geänderte Jnterpunktivu, teils aus Konjektur verbessert und ver¬
weise» »»fre Leser auf die „Gespräche," wo die »leiste» dieser Verbesserungen kurz
angegeben sind, um die darnach, dem Originale gegenüber, veränderte Ueberhebung
zu rechtfertigen. Wir wollen hier noch ein paar ähnliche Stellen anführen, die
in. den Gesprächen nicht erwähnt zu werden brauchten, da dieselben nicht zu unsrer
Auswahl gehören/'')
S. 65, 7 macht sich Friedrich über die Aussprache Kitcro lustig und sagt:
ÄalKrö mon önormo Mras alö Isttrvs, ^'in bien t'r»it ä'antros vkosvs onooro, .j'ni
itpxris p-u- von- <in (jmyM-on, oconte^-wol, ^'in toussö/) oommouvo. . Dcizil
die Anmerkung: 0'v8t «iusi qu'it clismt pres<iuo toujours pour imitor lo AÄNMs.
Daß dies sinnlos ist, sieht jeder. Die Anmerkung gehört natürlich zu (iuig.uSrou,
lind nicht zu toussu.
S. 335, 37 steht: l^r uöoessitö as xremuuir les Lulans coutiv ec-s im^rossiou»
kitenEnses clos xröAiML statt los.
'
S. 33», 3: Ua^iZLtü tut, tout IpIuNuuio on ^uliclvl
S. 350, 21: (Der König) tut alö 0-Miim statt is.
'
Ebenda 37 gar: it -r (!) rohes I^i. strsa.nirn 23!
S. 3L0 fragt der König: VoulW-vous clef ki^ues alö Laussouei se, av« r.ücliv»
no monta-L-no? Wie würde Friedrich der Große lachen, wenn er läse, daß die
Archippfirsichen auf den Bergen wachsen, anstatt in Potsdam!
Wir können nnr wünschen, daß Friedrich der Größe und sein Vater bei künf¬
tigen Publikationen besser wegkommen als bisher: Wenn Friedrich in diesem Bande
(S. 170, 17) voll einer seiner Satiren sagen muß: Von« tiouve./ clouo oolir vivu
kalt, se bien assarö (-rssörgr ist gar kein Wort) statt aeoro, so zwingen die Heraus¬
geber des bekannten Briefes Friedrich Wilhelms (Wnvros XXVIl, 3, 10) den König,
tun seinem Sohne zu sagen, daß er „zum andern hoffärtig, recht bauerustolz ist,
mit keinem Menschen spricht als mit welchen, und nicht populär und affable ist,"
wo der König natürlich gemeint hat Wälschen.
Der angekündigten „authentischen" Ausgabe, welche sich von der meinigen
dadurch unterscheiden wird, daß sie keine Erfindungen de Crees „kol-
Portiren" und die der Wahrheit beigemischte Dichtung (also wohl
meiner Ausgabe?) kenntlich machen wird, sehe ich mit Spannung entgegen und
verspreche ihr die aufmerksamste Würdigung in diesen Blättern.
ich War, was Giuseppe Gonzaga gewünscht hatte, Mail war an
zwei Tischen beschäftigt. Da Schmucksachen vor allem bei Abend
ihren Glanz zu entfalten haben, war von Ephraim für seiue
Spangen, Ringe und sonstigen Angenbleuden der am weitesten
von dem einzigen Fenster des großen Zimmers befindliche Tisch
ausgewählt worden, und hier beherrschten das ganze Gebiet der ans einer grünen
Decke ausgebreiteten funkelnden Schaustellung drei mächtige, von einem silbernen
Armleuchter herab ihr Licht ausströmende Kerzen. Ans dem andern, dem Fenster
näherstehenden Tische, auf welchem die Barock-Perlen gemustert wurden, war die
nämliche Kerzenbeleuchtuug, in ihrer Wirkung aber durchkreuzt von dem herein¬
bringenden Lichte des noch rosig bewölkten Abendhimmels. Hier saß im gemächlichen
Armsessel der alte Vnouacolsi, jetzt nicht mehr unwirsch, da der alte Ephraim in
den Wirrwarr der von seinem Neffen unverständig aus ihren Fächern herausge¬
nommenen und durcheinander gebrachten Perlen-Ungetüme allmählich Ordnung zu
bringen begann, und da überhaupt eine frühere Leidenschaft für diese Art abson-
derlichen Schmuckes sich in dem nlteu Bnonaeolsi wieder regte. An dem Tische
im entlegenen Teile des Zimmers hatte sichs Florida ebenfalls in einem Sessel
bequem gemacht. Hinter ihr stand der gewesene Lakai, zum Auskunftgeber über
die Kostbarkeiten, wie sich gezeigt hatte, noch untauglich, eine bloße Sclnldwache,
die als Aufpasser von dem alten Ephraim hinter ihren Sessel postirt war,
damit sie — eine Buouacolsi! — nicht etwa Diamanten aus den Schmucksachen
herausbreche und verschlucke, wie es ja bei Goldschmiedsdiebstählen in Matera,
so sagte man, öfter vorgekommen war.
Wer den alten Bnonaeolsi vorhin über diejenigen Kinder hatte reden
hören, welche sich gegen das väterliche Ansehen vergehen, der würde aus den
gleichzeitigen sorgenvollen Seitenblicken des Alten den Schluß gezogen haben,
er stehe in allen Lebenslage» unablässig unter dem Drucke der Vorahnung eines
schweren Mißgeschickes. Unablässig war dies aber durchaus nicht der Fall, und
gcnwärtig dachte er an nichts als an seinen Handel mit dem Hebräer, denn er
gehörte zu denjenigen Leuten, die das Bedürfnis haben, sich von Zeit zu Zeit
in lehrhaft bekümmerten Worten Luft zu machen, und die, nachdem sie so ihr
Herz erleichtert haben, den Dingen geruhig für eine Weile ihren Lauf lassen, ja
sie Wohl ganz vergessen.
Nun war aber auch der Handel, der ihn nach Verona geführt hatte, kein
so geringfügiger, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Es handelte sich
immer um mehrere tausend Dukaten, wenn auch nicht um achtzigtausend, wie
die Schätzung für die dem König Philipp dem Zweiten von Spanien einst ver¬
ehrte Perle ig, ?in-og'riim lautete. Auch dieses Weltwunder hatte namentlich
um seiner Größe willen einen so hohen Wert gehabt. Rund war es ebenso¬
wenig gewesen wie das Ideal, welches dem alten Bnonacolsi sür die Kvm-
Pletirnng des bewußten Nrmbandes vorschwebte, und groß sollte dies Ideal
eiuer Barock-Perle ebenfalls sein.
Ephraims Methode bei solchen Geschäften war zunächst, dnrch das Vor¬
legen geringer und wohlfeiler Exemplare den Käufer zu der Äußerung zu
bringen, er sei denn aber doch kein Vettelmauu und komme nicht nach Verona,
um sich mit Ausschuß zu beladen. Der Juwelier schob dann alles Gering¬
wertige schweigend auf die Seite und stieg in Qualität und Preisen mit dem,
was er auskramte, eine Stufe höher. Auch dies konnte nicht im entferntesten
genügen. Und so ging es denn langsam, langsam aufwärts, bis statt einem
Dutzend Perlen drei bis vier, die dafür aber umsomehr kosten sollten, und
endlich nur noch eine oder zwei in Frage blieben, in die sich der Käufer nun
so gründlich vernarrte, daß die dafür gemachte unerhörte Forderung keineswegs
zum Abbrechen des Handels führte.
Auch diesmal verfuhr Ephraim nicht anders und der alte Buonacolsi
mochte, als die kostbarste Perle endlich an die Reihe kam und volle dreitausend
Dukaten kosten sollte, noch so sehr außer sich geraten, mochte dazwischen sich zu
noch so verbindlichen Schmeichelworten erniedrigen, mochte mit seinem von Golde
strotzenden Lederbentel noch so heftig in der Luft herumfuchteln, mochte ihren In¬
halt dann mit der Versicherung, dies sei sein letztes Geschäft mit Ephraim, noch so
zornig auf den Tisch verstreuen — nicht einen Deut ließ Ephraim sich abhandeln;
er wußte, seine Kunden sagten sich hinterdrein doch allemal: Bei Ephraim sollte
man nie feilschen, er schlägt nie vor, er ist ein ganzer Geschäftsmann; so muß
der rechte Kaufmann sein.
Daß er dennoch keine eigentliche-! festen Preise hatte und seine Forderung
nnr ganz nach dem Grade der Vernarrthcit des Käufers einrichtete, dies ließ
sich bei Gegenständen, deren Wert auf bloßer Liebhaberei beruhte, selbstverständ-
lich am wenigsten durchschauen, und der alte Bnonaeolsi war also, nachdem er
die eingehandelte Perle endlich als sein Eigentum in den Händen hielt, wohl der
Meinung, daß er zu Ehren seines Famiiieuschmnckes viel Geld ausgegeben habe,
aber ob ein andrer sich zu bessern Bedingungen in den Besitz des seltnen Mecr-
wnnders gebracht hätte, blieb ihm doch zu seiner Beruhigung zweifelhaft.
Während dessen hatte Florida, in ihrem Sessel lehnend und nur vou Zeit
zu Zeit nach dem lauten, bald zornigen, bald wortreich muntern Gerede des
Vaters hinüberlauschend, sich die trüben Gedanken ans dem Kopfe geschlagen,
von denen sie bis dahin heimgesucht worden war. Sie liebte Schmucksachen
— wer liebt sie nicht? — und wenn vorhin der alte hüstelnde Ephraim für
das behagliche Durchmustern der von ihm ihr vorgelegten Schmuckkästchen keine
angenehme Beigabe gewesen war, so gefiel ihrs umso besser, daß der bescheidene
junge Mensch, den sein häßlicher Oheim vorhin so arg am Ohr und an den
Haaren gezaust hatte, jetzt die Stelle des Alten eingenommen hatte. Wie gut
er aussah — er trug eine Art Figarvkostüm, wie an Festtagen die Vauern-
söhne aus Lavagno und Colognola — bemerkte sie freilich erst, als er mit
ihrer Erlaubnis den Wacht- oder Nespektsposten hinter ihrem Sessel räumte
und nun, wie es sein Onkel gethan hatte, die Mühe des Oeffnens der Etuis
ihr abnahm. Von nun an brauchte sie auch nicht die allerliebst in Weißen,
grünen oder violetten Sammt gebetteten Schätze, wie vorhin bei dem Vorzeigen
durch den peinlich vorsichtigen Ephraim, nur mit den Augen zu genießen. An¬
tonio hatte die feinsten weißen Finger und wußte sie zum Herausnehmen bald
einer mit Rubinen besetzten Spange, bald eines Diamantkreuzes, bald eines
von Smaragden und Topasen funkelnden Halsbandes nicht nur so zierlich zu
gebrauchen, daß diese Kostbarkeiten noch einmal so festlich dreinschanten, er
gab sie ihr anch in die Hände, anfangs indem er seine Stellung in solcher
Weise nahm, daß Ephraim diese Übertretung seiner — angeblichen — Vor¬
schriften nicht sehen konnte, dann, als beide junge Leute schon Blicke über des
Alten Überlistnng zu wechseln begannen, indem er den aufgeklappten Deckel des
Koffers, welcher'die Etuis enthielt, wie eine Art spanischer Wand dienen ließ,
hinter welcher man gegen die von dem andern Tisch' aus geübte Kontrole nun
völlig geschützt war.
Da Florida nicht sicher war, ob drüben ein Geschäft zustande kommen
werde, störte es sie bei alledem einigermaßen, daß auf keinen Fall sie selbst etwas
kaufen könne, daß also Antonio wie anch fein Oheim sich vielleicht ganz
umsonst bemühen würden. Aber als sie das dem dienstfertig immer neues
hervorholenden jungen Manne zu verstehen gab und dann mit der Bitte, es
nun der fröhlichen Augenweide genug sein zu lassen, das einzige Goldstück, das
sie in ihrer Tasche hatte, hervorholte und ihm in die Hand drückte, da hatte
auch er im nämlichen Augenblick einen zierlichen Goldring — eine Schlange
mit leuchtenden Rubinenäuglcin — unvermerkt aus einem der Etuis heraus¬
genommen, und ehe sie sich dessen versah, steckte der Ring an ihrem Finger.
Aufs höchste erzürnt wollte Florida ihn abstreifen und vom Sessel aufspringen.
Aber die Angst vor ihrem Vater überwog. Sie blieb sitzen, wenn anch weiß vor
Zorn, und streifte nur den Ring ab. ksräigiorno! sagte sie, Tagedieb! Ltroir-
ticko! Unverschämter!
Der kühne Werber hatte seine Figaro-Jacke zurückgeschlagen. Unter der¬
selben funkelte das Kreuz der Malteser Ritter. Mit leiser Stimme fügte er,
indem er seine Augen voll stolzer Überlegenheit auf der verwundert ihn An-
starrenden ruhen ließ, die allbekannten Danteschen Worte — ich bin nicht der,
für den dn mich hältst:
son potiti, non S0Q ciolui vus Msäi.
Floridas wollte sich eine grenzenlose Angst bemächtigen. Nie war sie in
einer ähnlichen Lage gewesen.
Und wer seid Ihr denn? stieß sie heraus.
Ein Gonzaga, lautete die dumpfe Antwort.
Ein Gonza____! Sie konnte das verfehmte Wort nicht vollenden. Eine
Art von Ohnmacht war im Anzüge. Nur die Furcht vor dem stolzen Blicke,
der mit brennender Gewalt auf ihr ruhte, hielt sie bei einiger Besinnung.
Nehmt ihn an Euern Finger, Prineipcssa, sagte Giuseppe Gonzaga, dem
weder das Versagen ihrer Kraft noch die Sorge Floridas um die Ruhe ihres
Vaters entging, und er führte ihre willenlose Hand an seine Lippen, indem er
gleichzeitig behutsam den Schlaugcnrcif wieder ans den Goldfinger Floridas
hinausschob. Ich weiß, fuhr er gedämpften Tones fort, wie schwer meine Man-
tuauer Vorfahren sich einst gegen Eure Altvordern vergangen haben, ich weiß,
wie vieles gut zu machen ist, ich weiß, wie viel Grund Ihr zu haben glaubt,
alle zu verabscheuen, die den Namen Gonzaga sichren. Aber mit Unrecht macht
Ihr keinen Unterschied zwischen den entarteten und übermütigen Schwächlingen
dieses Namens, unter deren Joch das edle Mantun seufzt, nud den andern
Gonzagas, welche seit langem in Verona der Erlösungsstunde dieser ehrwür¬
digen Stadt entgegenharren. Zu diesen einst verbannten Gonzagas gehöre ich,
und seit ich Euch gestern gesehen habe, ist mein Schicksal besiegelt — Euch und
Eltern gramgebeugten Vater ist von nun an mein Degen geweiht. Von neuem
drückte er ihre Hand gegen seine Lippen. Redet nicht, bat er, als sie die blut¬
losen Lippen bewegte, wir müssen zu einer Abrede gelangen, ohne Elters Vaters
Aufmerksamkeit zu erregen. Was ich, was die Veroneser Gonzagas wagen
werden, bleibt für Eltern Vater nur dann ungefährlich, wenn er auf der hei¬
ligen Hostie beschwören kann, von unserm Vorhaben nichts gewußt zu haben.
Ich kenne den rachsüchtigen Sinn meiner werten Mincio-Vettern. Ein einziges
mit Giuseppe Gonzaga in Verona gewechseltes Wort könnte ihm in Mantua
den Kopf kosten. Auch Ihr, teueres Fräulein, habt Euch zu hüten. Wollte
Gott, ich bedürfte Eures Beistandes nicht, um für Euch und die Euern ans
Werk zu gehen. Mein halbes Leben würde ich willig opfern, könnte ich Euch
vor der Gefahr beschirmen, die unsre weitem Zusammenkünfte begleiten wird.
Aber Ihr liebt Eltern Vater, ich lese es in Euern Augen, Ihr liebt ihn mehr
mis Euer Lebe», und Euer Beistand allein bietet einige Gewähr, daß wir andern
nicht umsonst unser Blut verspritzen werden. Noch einmal führte er Floridas
nur kraftlos widerstrebende Hand an seine Lippen. Wie Ihr schön seid, Prin-
cipessa! sagte er, und sein Blick nahm ein sanftes Feuer an; für Euch in den
Tod zu gehen, ist nicht leicht, denn erst, wer in Eure Augen schaute, weiß,
was es bedeutet, zu leben. Ich hatte nie, wenn das Schicksal der Buonacolsts
Mein einsames nachdenke» beschäftigte, an etwas andres gedacht, als an die hohen
ritterlichen Tugenden dieses edeln Fürstengeschlechtes, und doch stand mein
Kopf in Flammen, so oft ich mich diesen politischen Grübeleien überließ. Ur-
llnlt danach, welcher Sturm meine Adern erst bei Euerm Anblick durchtoben!
Acht galt es nicht mehr aus Haß gegen jene ruchlosen Vettern das Schwert
zu wetzen; für die zertretenen Rechte der schönsten Jungfrau, die uns Sterb¬
lichen die Gunst des Himmels in der Glorie ihrer Unschuld, Reinheit und Güte
anzubeten vergönnt hat, darf ich in den Kampf ziehen. Statt dem kalten Hasse
führt die Liebe, die glühende Hingebung das Panier, und ich will nicht ruhen,
bis sie mich zum Siege geführt haben wird.
Am andern Tische hatte der Perlenhandel eben sein Ende erreicht, es
wurde nur noch wegen einiger, aus der kleinen Goldwage Ephraims zu leicht
befundener Goldstücke debcittirt. Giuseppe Gonzaga ließ Floridas Hand los und
nahm wieder die ehrerbietige Haltung Antonios ein. Aber im Flüstertöne sagte
er: Wo ist Euer Zimmer, Prineipessa? Ich muß Euch heute noch in den
ganzen Plan einweihen. Ihr müßt mich im Geheimen empfangen. Wo ist
Euer Zimmer?
Florida, noch nicht wieder Herrin ihrer Kräfte, vermochte nur mit bittendem
Blicke den Kopf zu schütteln. Hätte sie reden können, so wären die Worte:
Barmherzigkeit! mir schwindelt, lasset mich zur Besinnung kommen! das einzige
gewesen, was er vernommen h^ben würde.
Ich danke Euch, Prineipessa, gab er zur Antwort, als habe sie auf das
anstoßende Gemach als das Ihrige hingedeutet.
Nicht, nicht, lallte sie.
Also auf der andern Seite, schloß er ab; man kommt. Verbergt den Ring
jetzt in Euerm Busen, Prineipessa. Wir werden, eines nachdem Ihr heute Nacht
in den von mir entworfenen Plan eingeweiht worden sein werdet, noch manche
Botschaft zu wechseln haben. Hier diesen dünnen Reif ziehe ich Euch vom
Finger. So oft ein Vertrauensmann von mir an Euch nach Mantua gesandt
wird, soll er sich durch dieses dünne Ringlein als mein Sendbote ausweisen.
Und habt Ihr, teure Prineipessa, mir etwas wichtiges zu senden, so zeigt Euer
Bote das goldne Nubinschlünglcin vor, und ich weiß, von wem er kommt.
Er hatte sich, ohne daß sie es hindern konnte oder — wollte, des dünnen
Ninglcins bemächtigt, drückte es an die Lippen und ließ es darauf in seiner
Sammtjacke verschwinde«. Zugleich war er emsig geschäftig, die Etuis zu
schließen und alles vor der Tochter des alten Buonacolsi Ausgekramte wieder
in den Lederkoffer zu packen.
Nach einer linkischer Verbeugung gegen sie wie gegen ihren, mit der kost¬
baren Perle in der Hand herankommenden Vater verabschiedete er sich dann
und folgte dem in der Thür auf ihn wartenden Juwelier, dessen Taschen von
dein Klänge des edeln Metalls bei jeder Bewegung wie die Schellen einer
ganzen Lämmcrhcrde läuteten.
(Fortsetzung folgt,)
in 2. März hielt Fürst Bismarck im Reichstage eine Rede, die
wir seinen bedeutendsten Leistungen ans dem Gebiete der parla¬
mentarischen Diskussion beizählen, und von der wir hoffen, daß
sie mit ihrem mächtigen Appell an das patriotische Gefühl des
deutschen Volkes tiefer und nachhaltiger wirken werde als auf die
vielfach von kleinlichen Parteirücksichten verblendete und bethörte Versammlung,
an welche sie zunächst gerichtet war. Ju folgendem betrachten wir dieselbe aber
nicht sowohl nach dieser Wendung, als nach der nicht weniger wichtigen, wo der
Kanzler über die Grenzen Deutschlands hinaus sprach und Aufschluß über seine
Stellung zur Politik der englischen Regierung erteilte.
Lord Granville hatte im Oberhause geäußert, die vom deutschen Reichs¬
kanzler erhobenen Ansprüche zielten dahin, England zum Verzicht auf alles freie
Handeln in kolonialen Angelegenheiten zu nötigen — eine Übertreibung, die,
verglichen mit dem bescheidnen Auftreten der deutschen Politik auf diesem Ge¬
biete, sofort in die Augen springt.
Der britische Minister des Auswärtigen hatte ferner behauptet, der Reichs¬
kanzler nehme zu dem Verfahren Englands in Ägypten eine ungünstige Stel¬
lung ein. und zwar deshalb, weil sein Rat, sich Ägyptens zu bemächtigen, von
der britischen Negierung nicht befolgt worden sei — ein Vorwurf, der, wie
Man vermuten durfte, in der Absicht erhoben wurde, in Frankreich zu verstimmen
und mißtrauisch zu machen, der aber nach der Rede des Fürsten, sowie nach anderem,
was wir wissen, jeder Begründung entbehrt. Der deutsche Kanzler hat der englischen
Negierung in Sachen Ägyptens niemals jenen Rat, ja er hat ihr in dieser
Hinsicht überhaupt keinen Rat erteilt, obwohl er wiederholt darum angegangen
wurden ist. Er hat, weiter gedrängt, wenigstens einen Wink zu geben, was
geschehen könne, nur eine Meinung geäußert, die folgenden Gedankengang
hatte. England bedarf in Ägypten, diesem Vindeglicde zwischen seinen euro¬
päischen und asiatischen Besitzungen, einer gewissen sichern Stellung. Eine An¬
nexion des Landes aber ist in diesem Augenblicke nicht zu empfehlen, da sie ein
gespanntes Verhältnis zu mehreren europäischen Mächten, zum Sultan und zu
dem gesamten Muhamedanismus zur Folge haben würde. Dagegen kann man
dnrch den Sultan die wünschenswerte sichere und einflußreiche Stellung am Nil
gewinnen. Diese Form würde bei andern Nationen kaum Anstoß erregen, da
sie einerseits nicht gegen die Verträge wäre, andrerseits den französischen und
englischen Bondholdcrs, diesen Hanptinteressentcn an den ägyptischen Finanzen,
eine geschickte und geordnete Verwaltung durch britische Beamte verhieße. So
würde eine Verstimmung zwischen England und Frankreich vermieden werden,
und das ist für Deutschland in erster Linie, dann aber für ganz Europa drin¬
gend zu wünschen. Zieht England einer Besitznahme Ägyptens im Einvernehmen
mit der Pforte und unter der Snzeränetät des Sultans die direkte Annexion
vor, so wird Deutschland das nicht verhindern, da ihm die Freundschaft mit
England wichtiger ist als das zukünftige Schicksal Ägyptens.
Der Kanzler hat also nicht nur nicht geraten, Ägypten zu nehmen, son¬
dern davor gewarnt, Vorsicht und Achtung vor den Verträgen, sowie vor den
Rechten des Sultans empfohlen und schließlich die Erledigung der Sache für
alleinige Obliegenheit der englischen Negierung erklärt. Das ist der geschicht¬
liche Hergang dieser Episode, jede andre Darstellung ist Mißverständnis oder
Verdrehung mit der Absicht, die Franzosen irrezuführen und dem neuerdings
hergestellten guten Einvernehmen mit Deutschland abgeneigt zu machen.
Dieselbe Absicht hat, so sagte man sich bisher, Wohl auch zu der Indis¬
kretion bewogen, mit welcher die jüngst ausgegebenen englischen Blanbücher
vertrauliche Besprechungen britischer Diplomaten mit dem leitenden deutsche»
Staatsmanne veröffentlicht haben. Der diplomatische Verkehr mit der deutschen
Negierung wird englischerseits gegenwärtig fast ausschließlich in schriftlicher Form,
d. h. in Gestalt von Noten, betrieben, die in London redigirt, dann an den
Botschafter in Berlin gesandt und von diesem dem Reichskanzler entweder vor¬
gelesen oder übergeben werden. Der Reichskanzler hält den mündlichen Verkehr
sür zweckmäßiger, er hat gefunden, daß es, wem? man diplomatische Geschäfte
zu macheu beabsichtigt, geraten ist, erst mündlich zu sondiren, welche Aufnahme
eine Eröffnung zu erwarten hat. Der Gesandte oder Botschafter kennt den
fremden Hof, die fremde Politik genauer als sein Minister daheim, er kann
besser als dieser herausfühlen und vorbereiten. Merkt er, daß die betreffende
Eröffnung keiner günstigen Aufnahme sicher ist, so kaun er sie fallen lassen oder
abändern. Auf diesem Wege werden Verlegenheiten und verdrießliche Ent¬
täuschungen vermieden. Derselbe setzt aber Diskretion und Vertrauen voraus;
kann man bei jenen Vorverhandlungen nur Dinge sagen, die sofort veröffent¬
licht werden dürfen, so sind solche Verhandlungen zwecklos, und man thut wohl,
sie zu unterlassen und nur auf die englische Weise diplomatisch zu verkehren,
wobei im Grnnde der kostspielige Gesandte entbehrlich ist und ein Briefträger
genügt. Im vorliegenden Falle nun besaß Fürst Bismarck dem Lord Amthill
gegenüber jeues Vertrauen, welches Offenheit gestattet; auch fand er zunächst
keine Ursache, es dessen Nachfolger, Sir Edward Makel, zu versagen, und so
stand er nicht um, demselben rückhaltlos anzudeuten, daß ihm an Englands
Freundschaft gelegen sei, und daß er sie aufrichtig erstrebe. Der Maletsche
Bericht hierüber wurde aber in den Blaubüchern sogleich auszugsweise ver¬
öffentlicht, eine Indiskretion, die sich nur mit der Absicht Lord Granvilles er¬
klären zu lassen schien, in Frankreich Mißtrauen gegen die deutsche Politik zu
erwecken. Die englische Negierung hofft, so durfte mau vermuten, Frankreich
ihren Plänen gefügiger zu sehen, wenn dieses ein unfreundliches Deutschland
neben sich hat. Stehen beide ungefähr gleich starke Mächte sich feindlich
gegenüber, so wird der Überschuß an Kraft, den die eine noch gegen eine dritte
verwenden könnte, nicht bedeutend sein. Daher die Veröffentlichung des
Maletsche» Berichts. Aber die Berechnung, die dem wahrscheinlich zu gründe
lag, war eine durchaus irrige. Die Depesche des britischen Botschafters bewies
nur aufs neue die Geradheit der deutschen Politik. Am 5. Mai v. I. wurde
der Vertreter Deutschlands in London beauftragt, zu verstehen zu geben, wenn
England eine Verständigung mit uns ablehne, so würden wir es mit einer
Annäherung an Frankreich versuchen, und als man sich in Berlin überzeugte,
daß England sich wirklich dem deutschen Entgegenkommen versagte, wurde jener
Weg ohne Zögern eingeschlagen. Die Welt weiß, daß er zu guten Erfolgen ge¬
führt hat, zunächst zu einem Einvernehmen zwischen Deutschland und Fraukreich
über die Kvngofrcige und über die westafrikanische Konferenz, dann anch über
die ägyptische Angelegenheit. Hierin liegt nichts, was die Franzosen irgendwie
mißtrauisch gegen die Berliner Politik stimmen könnte, und der Maletsche Bericht
selbst zeigt ihnen, daß der Versuch, das gute Verhältnis zwischen ihrer Re¬
gierung und der unsrigen wieder zu locker», von Fürst Bismarck unter aus¬
drücklicher Beziehung auf die Frankreich gegenüber bestehenden Verpflichtungen
abgewiesen wurde.
Der Reichskanzler sprach gegen den Schluß seiner Rede hin die Hoffnung
aus, daß diese Episode samt der Verstimmung, die sich in England an sie
knüpfe, bald vorübergehen werde, und fuhr dann fort: „Ich suche ihren Grund
in der Erfahrung, daß man, wenn man überhaupt in übler Laune ist, die Ur¬
sache der Ereignisse, über die man verdrießlich ist, immer lieber bei andern als
bei sich selbst sucht. Aber ich werde thun, was in meinen Kräften steht, um
«ins irg, se stuckio in der versöhnlichsten Weise die Sache wieder in das Geleis
ruhigen und freundschaftlichen Verkehrs zu bringen, der zwischen uns und
England jederzeit bestanden hat und der natürliche ist, weil keiner von beiden
vitale Interessen hat, die denen des andern widersprächen."
Wir teilen die hier ausgesprochene Hoffnung, zweifeln aber, ob eine Ver¬
ständigung von Dauer sein wird, solange in England die Unentschlossenheit und
Unzuverlässigkeit und die alteingewurzclte Abneigung gegen Deutschland und
Österreich am Ruder des Staates stehen, welche die hervorstechenden Cha¬
rakterzüge des Kabinets Gladstone ausmachen, und sind der Meinung, daß eine
solche Verständigung niemals auf Kosten der Pflichten stattfinden wird, die wir
jetzt Frankreich gegenüber zu erfüllen haben. Die Entfremdung zwischen Deutsch¬
land und England datirt nicht von gestern. Ihr Ursprung ist vielmehr in
den Tendenzen zu suchen, welche die gegenwärtige liberale Negierung des letzteren
von Anfang an kundgab. Gladstone und Genossen kamen ins Amt mit einer
starken Hinneigung zu Frankreich, der Republik, und zu Rußland, das sich ihnen
als Befreier der christlichen Slaven von der Herrschaft der Pforte empfahl.
Ein näheres Verhältnis zu ersterm war für sie allerdings in gewissem Maße
bereits durch Lord Salisbury angebahnt worden, welcher die Doppelkontrole
am Nil entwickelt und in den ägyptischen Angelegenheiten überhaupt Hand in
Hand mit der Republik überm Kanal zu gehen sich bemüht hatte. Andrerseits
freilich hatte Lord Beaconsfield 1878 den Wunsch nach nähern Zusammengehen
mit Deutschland an den Tag gelegt und einiges gethan, was die Verbindung
mit Frankreich lockerte. Als die Liberalen das Heft in die Hand bekamen, er¬
kaltete die Freundschaft Englands zu Deutschland sofort merklich. In Frankreich
war jetzt ungefähr ausgeprägt, was die Liberalen und die mit ihnen vereinigten
Radikalen als Ideal im Herzen trugen, und zudem erschien es ihnen als die
stärkere Macht. Gambetta war Gegenstand ihrer Verehrung. Auf alle Fälle
erschien ihnen ein Zusammenhalten mit der französischen Fortschrittspartei
leichter und naturgemäßer als ein solches mit den „Militärmouarchien" Mittel¬
europas. Die Traditionen der Partei schlössen eine feindselige Haltung gegen
Österreich ein, und Deutschland war ihr mindestens unsympathisch. So war
denn das Hanptbestreben des Ministeriums Gladstone von Anfang an ein enges
Freundschaftsverhältnis zu der französischen Politik, und als Fürst Bismarck
sich in seinem Bestreben, den Weltfrieden immer sicherer zu stellen, bemühte,
auch England indirekt zur Verbürgung desselben zu gewinnen, begegneten seine
Andentungen einer kühlen Ablehnung. Ju England weiß man jetzt wohl
ziemlich allgemein, daß die Wahl Gladstones nicht die rechte war. Ziemlich
allgemein sagt man sich dort, wenn man zurückblickt, daß das Zusammengehen mit
Frankreich den englischen Interessen wenig Segen gebracht hat. Es führte, so
vergegenwärtigen sich nicht bloß die Gegner Gladstones, sondern auch Freunde
desselben die jüngste Vergangenheit, 1882 zu gemeinschaftlicher Drohung, dann
zu gemeinschaftlicher Flottendemonstration in der ägyptischen Frage, und schließlich
dampften die französischen Panzerschiffe unversehens von dannen und ließen die
englische Flotte vor den Batterien Alexandriens im Stiche. Seitdem hat
Frankreich — wir lassen englische Politiker hier weitersprechen — statt uns in
Kairo zu unterstützen, bei allen Protesten gegen uns den Wortführer gemacht,
und seine auswärtige Diplomatie hat unsern Finanzplan vereitelt. Um den
Franzosen zu gefallen, hatte Salisbury mit Frankreich dein Chedive Ismail
Bezahlung des Coupons empfohlen, dann in dessen Absetzung gewilligt und die
Doppelkontrole weiter ausgedehnt. Granville folgte ihm mit jener drohenden
Note und jener Seeexpedition uach Ägypten. Und was war der Lohn? Man
ließ uns vor Alexandrien allein, und man machte uns Opposition an allen
Höfen Europas. Zu gunsten dieses Verbündeten, der sich stets unzuverlässig
zeigte, sich immer zuletzt gegen uns wandte, haben wir uns den größten Staats¬
mann des Jahrhunderts zum Gegner gemacht, und es ist hohe Zeit, umzukehren.
„Wir müssen, sagt der konservative vint/ 1's1og'ra>pli, so verfahren, wie Lord
Palmerston 1859 verfuhr. Er hatte 1855 und 1858 dem Bündnis mit Frank¬
reich viel geopfert und im letzteren Jahre durch seine Nachgiebigkeit gegen Graf
Walewski sogar an Macht eingebüßt. Als aber Frankreich Savoyen sich ein¬
verleibte, veränderten die englischen Staatsmänner ihre Taktik, sie näherten sich
sofort den deutschen Staaten, und Lord Russell ging sogar soweit, Cavour vor
der Hoffnung ans die Erwerbung Veneticns zu warnen. Keine empfindsame
Liebe zur Sache Italiens, kein alter Groll gegen Wien hinderte Palmerston,
Österreich gegen Frankreich auszuspielen, als Napoleon der Dritte, die öffentliche
Meinung in England mißachtend, Savoyen und Nizza in Besitz genommen hatte.
Von jetzt an war die englische Politik unabhängig, und Frankreich wurde in
Schach gehalten. Wir bedürfen und verlangen jetzt eine ähnliche Umkehr von
jener unverständigen Bevorzugung der französischen Allianz, die Lord Salis¬
bury zu dem Mißgriffe der doppelten Kontrole verleitete, die Lord Granville
bewog, in etwas zu willigen, was wie vielköpfige Kontrole aussieht, die uns
endlich Deutschland entfremdet hat."
Wir finden hieran nur eins auszusetzen: Ein gutes Verhältnis Englands
zu Deutschland erfordert nicht, wie dieses Nüsonncmeut annimmt, ein feindliches
zu Frankreich, schließt ein solches vielmehr ans; es verlangt auf feiten der
Engländer einfach Mäßigung und Billigkeit, willige Anerkennung fremder Be¬
dürfnisse und Rechte, zunächst der deutschen und der französischen. Deutschland
von Frankreich zu trennen wird englischem Zureden schwerlich gelingen. Der
Reichskanzler war, solange Frankreichs Negierung ihm gegenüberstand, durchaus
berechtigt, ja im Interesse des Friedens verpflichtet, um ein Bündnis mit Eng¬
land zu werden. Seit er sich mit Frankreich in der Art verständigt hat, daß
dieses als neben Deutschland stehend bezeichnet werden darf, kann England nur
noch insoweit ein Freund Deutschlands werden, als es kein unversöhnlicher
Gegner Frankreichs ist und bleiben will. Es muß sich jetzt begnügen, die Ur¬
sachen der jüngsten Verstimmung Deutschlands hinwegzuräumen und ferner
keinen Grund zu Klagen zu geben, woran es auf dem Gebiete der Kolonial-
politik bisher bekanntlich nicht mangelte.
In ersterer Hinsicht ist ein guter Anfang gemacht worden, der zunächst
auf vernünftige Beurteilung der Sachlage selbst von seiten der radikalen Ele¬
mente des Kabinets Gladstone schließen läßt. Die ?-ni NÄl OiiWtto, das
Organ dieser Politiker, gestand in diesen Tagen, daß denselben die Feindselig-
reit Bismarcks viel bedenklicher erscheine als sogar ein Bruch mit Rußland
wegen Herat; denn der deutsche Reichskanzler sei bei weitem der mächtigste
Mann der Welt und sein Wort Gesetz von Moskau bis Paris. Wäre auch
ein Krieg zwischen England und Deutschland nicht zu befürchten, so würde doch
in ersterem nichts recht von statten gehen, so lange man „im Mittelpunkte der
europäischen Macht" englische Staatsmänner nicht anders beurteile, als in der
letzten Rede Bismarcks geschehen. Das scheint auch Herrn Gladstone endlich
klar geworden zu sein, und daran scheint sich bei ihm der Gedanke geknüpft zu
haben, daß in dieser Richtung etwas Ungewöhnliches gethan werden müsse.
Man mußte nachgeben, eine Vermittlung herbeizuführen suchen, und da Eng¬
land vermutlich keinen dazu recht geeigneten Diplomaten besaß, bat man sich
in Berlin einen aus, und zwar in Gestalt des ältern Sohnes des Kanzlers,
der die Ansichten und Absichten des letzteren kennen und selbstverständlich dessen
Vertrauen besitzen mußte. So reiste denn Graf Herbert Bismarck, nachdem
er beim Kaiser eine Audienz gehabt, Mitte voriger Woche nach London ab,
wo er alsbald eine Unterredung mit Lord Granvillc hatte, welche befriedigend
verlief. Am 6. März gab Granvillc dann im Oberhause eine Erklärung ab,
in welcher er u. a. sagte, er werde dein deutschen Reichskanzler auf dem regel¬
mäßigen Wege darzuthun suchen, daß dem Verfahren der englischen Regierung
in Betreff der Depeschen eine Deutung gegeben werden könne, die von der
seinigen verschieden sei. Hinsichtlich der Rede, die er im Oberhause uuter dem
Druck eines heftigen parlamentarischen Angriffs gehalten, und die dem Fürsten
Bismarck Verdruß bereitet habe, bemerke er, daß sie keinen andern Zweck ver¬
folgt habe, als den Vorwurf eines Redners der Opposition zurückzuweisen, nach
dem die Politik der Regierung so schlecht gewesen sein solle, daß sie ein großer
auswärtiger Staatsmann verurteilt habe. Habe er hinzugefügt, daß dieser
Redner nicht erwarten dürfe, England werde alle Freiheit des Handelns in
fremden und kolonialen Fragen aufgeben, so habe dies nicht dem Fürsten
Bismarck gegolten. Der letztere habe sich dann beklagt, daß er, Granvillc, einen
Rat oder vielmehr Ansichten inkorrekt wiedergegeben, die er, selbst wenn sie wahr
wären, zu erwähnen nicht berechtigt gewesen sei, da sie höchst vertraulicher Natur
gewesen seien. Statt der Worte: „Nehmt Ägypten" habe er wahrscheinlich
einen bessern Ausdruck anwenden können. Der Minister fuhr dann fort: „Es
wurde angenommen, daß das von mir hinsichtlich des Rates oder der Ansichten
Gesagte sich auf sehr vertrauliche und sehr freundschaftliche Mitteilungen gestützt
habe, die 1882 erfolgt seien. Ich wies aber nicht auf die vertraulichen und
freundschaftlichen Mitteilungen hin, deren Fürst Bismarck im Reichstage gedachte,
sondern auf spätere nicht vertrauliche Erklärungen, die mir auszudrücken scheinen,
daß vor zwei Jahren die deutsche Regierung gewünscht und gehofft habe, England
werde die Vertretung der Interessen Europas in Ägypten für die Zukunft über¬
nehmen, womit ich nicht anzudeuten wünsche, daß diese Hoffnung in einer Weise
ausgedrückt worden sei, die mit den bestehenden Verträgen unvereinbar wäre____
Das Oberhaus wird mit Befriedigung die Schlußworte des Fürsten Bismarck
über die zukünftigen Beziehungen der beiden Nationen zu einander bemerkt
haben, die umso eindrucksvoller sind, als sie in einem Augenblicke der Erregung
gesprochen wurden. Man scheint in Deutschland zu argwöhnen, daß wir die
jetzige Stellung dieses großen Volkes nicht vollständig erkennen. Ich glaube
im Gegenteil, daß es kein Land giebt, wo alle Klassen der Bevölkerung mehr
und freudiger die hochwichtige Stellung würdigen, die Deutschland seit seiner
Einigung in Europa inne hat. Ich glaube, daß es im Interesse Europas liegt,
wenn die Beziehungen Deutschlands zu England und nicht minder zu Frank¬
reich und andern Nachbarn gute sind. Ich bin überzeugt, daß es mehr als je
im Interesse Deutschlands und Englands liegt, gut mit einander zu stehen, zu
einer Zeit, wo wir im Begriffe sind, einander fast in jedem Weltteile zu be¬
gegnen. . . . Ich erkläre mit voller Aufrichtigkeit, daß alle meine Bestrebungen
darauf gerichtet sein werden, die versöhnliche Politik, die uns der Reichskanzler
Fürst Bismarck angedeutet hat, soweit meine Macht reicht, auszuführen" —
Schlußworte, welche die Lords mit langdauernden Beifallsbezeugungen be¬
gleiteten.
Diese Erklärung läßt kaum mehr zu wünschen übrig, als daß man nach
dem, was sie glaubt und spricht, in Zukunft auch zu handeln bemüht sein möge.
Das Kabinet Gladstone-Granville hat vielleicht mehr ans Unfähigkeit als ans
bösem Willen viel verfahren. Es befindet sich infolge dessen in schlimmer Lage.
Die öffentliche Meinung in England ist fast einmütig gegen den Fortbestand
dieser Regierung, und obwohl dieselbe beschlossen hat, vorläufig im Amte zu
verbleiben, sind ihre Tage gezählt, und wahrscheinlich wird es schon mit ihr ein
Ende nehmen, wenn das Parlament die Kredite für Ägypten bewilligen soll,
denn das hier von Gladstone u. Co. geleistete Fiasko hat bis jetzt bereits
20 Millionen Pfund, nach deutschem Gelde 400 Millionen Mark, gekostet.
cum nach allein, was ich angeführt habe, die Arbeiter wenig
Aussicht haben, ihr Verhältnis zum Unternehmer durch Ver¬
minderung ihres Angebotes zu bessern, so entsteht die Frage, ob
dies nicht in andrer, vielleicht in ähnlicher Weise geschehen könne,
wie wir es beim Kapitalisten beobachtet haben, d. h. dadurch,
daß sie in ein Assoziativnsverhältuis zum Unternehmer treten.
Wenn matt von Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen spricht,
so ist mit allen denjenigen nicht zu rechten, deren Phantasie von einer völligen
Gleichheit der wirtschaftlichen Lage aller Menschen träumt. Selbst die Se. Si-
monisten gingen doch nur soweit, die Verteilung des erzeugten Reichtums nach
Fähigkeit und Fleiß eines Jeden zu verlangen: Ä e.wuzu'uir selcin Sö, oax^önö
et ^ eliÄMö <zg,xg,<zit,«z srnvaut 8öL cvuvrks. Diese argen Doktrinäre sahen jedoch
bald ein, daß ihr System in kurzer Zeit zu den schreiendsten Ungleichheiten
führen würde, weil unter den Menschen nichts so verschieden ist als Fähigkeit
und Fleiß. Ihre Schule hat sich daher auch bald auf die Forderung einer
gerechteren Verteilung des Prvduktionsgewinnes beschränkt und dazu mehr oder
weniger radikale Mittel, bis zur gänzlichen Abschaffung des Privateigentums,
vorgeschlagen. Lassalle empfahl einfach die Konfiskation des Unternehmer¬
gewinns, als ob derjenige, der der geistige Urheber einer Produktion ist, nicht
anch seines Lohnes würdig wäre. Auch bei diesem scharfen Denker — dies sei
im Vorübergehen bemerkt — sieht man, zu welchen Irrtümern es führt, wenn
man als Elemente der Produktion nur Kapital und Arbeit betrachtet, ohne zu
bedeuten, daß sie wie die Kometen unstät im Raume herumirren würden, wenn
sie nicht vom Unternehmer Zweck und Bestimmung erhielten.
Ich will und kann mich nicht auf eine Kritik der verschiedenen sozialistischen
Systeme einlassen, sondern will nur bemerken, daß auf solchen Wegen aus sehr
einfachen und naheliegenden Gründen niemals das erstrebte Ziel zu erreichen
sein wird, selbst wenn man mit alleil unsern staatlichen und gesellschaftlichen
Einrichtungen und Ordnungen vollständig aufräumen wollte und könnte. Denn
die unendliche Mehrzahl der Menschen wird niemals auf die Dauer zugeben
oder dulden, daß ihnen die Frucht ihrer Gedanken, ihrer Arbeit und Anstrengung,
ihres Fleißes zu gunsten andrer vorenthalte» werde. Eine gleiche äußere Lage
aller Menschen ist unmöglich, ja sie ist undenkbar, weil die Natur sie ungleich
an Kraft und Fähigkeit des Geistes, sowie des Körpers, und ungleich an Tugend
erschafft; auch wäre solche Gleichheit nicht einmal wünschenswert, weil damit
der Wetteifer, das Streben, durch Anstrengung in eine bessere Lage zu kommen,
vernichtet, also ein Zustand der Versumpfung und allgemeiner Barbarei, und
an die Stelle fortschreitender Vervollkommnung des menschlichen Geschlechtes eine
rückläufige Bewegung zu Urzuständen treten würde. Auch ist ja eine solche
Gleichheit zum Glück der Menschen garnicht nötig, denn wir wissen alle, daß
das Glück viel häufiger in Hütten als in Palästen wohnt.
Ohne Zweifel sind unsre sozialen Zustände sehr wesentlicher Verbesserungen
fähig, gewiß aber keiner radikalen Umgestaltung, wie sie von sozialistischen Sy¬
stemen geträumt werden, aber mit der menschlichen Natur im Widerspruche
stehen. Wo die bessernde Hand anzulegen sei, das zu finden ist eben die Auf¬
gabe unsrer Zeit. Und dieser Aufgabe ist sich unsre Zeit vollkommen bewußt,
und eben darin liegt der Trost für alle diejenigen, welche an die Perfektibilitüt
des menschlichen Geschlechtes glauben und von der Überzeugung durchdrungen
sind, daß das Elend keine göttliche Einrichtung sei.
Wie anders war es in jener klassischen Zeit des wirtschaftlichen Geschehen-
lassens, unter der Herrschaft der Bourgeoisie Louis Philipps, wo mau den
furchtbaren Huugeraufstand der Seidenarbeiter Lyons, welche unter dem Ruhe:
Vivr«z <zu tiÄVÄlllMt on uwurir ein eorudiMaut, zur Gewalt getrieben, einfach
für einen Streit zwischen Arbeitern und Fabrikanten erklärte, der den Staat
nichts angehe! Das vornehmste Organ der herrschenden Bourgeoisie, das ^ouriuü
6ö8 ÄLvs.t8, konnte damals offiziös und unter allgemeinem Beifall die cynischen
Worteschreiben: ^88uro as 1a Mix vn äsllor8, eirtourv ä'uns xuissiullö ariue-o
rvuniö sous 1o Zraxsau trioolorö, 1v gouvorneniWt no xsut orawÄrs ä'autrö8
vonL^usnoes as Is r6voll,o, qus ass wsüisurs xartiouUm-8, bien tuir<Z8es8 SMS
äoute, null8 <mi seront !rdrössL8 se äumvuös xar 1» rissusur av 1» rvxression
1v^a.I«z.
Wenn wir näher in die Untersuchung eintreten, so haben wir zunächst den
Kampf auszuscheiden, der zwischen Produzenten und Konsumenten naturgemäß
und unabänderlich besteht. Bedürfnis, Not, Willkür, Laune führen hier die
Herrschaft, sie allein entscheiden, ob und was ich Produzire, ob und was ich
konsumire, und das Verhältnis zwischen Nachfrage und Angebot allein ist es,
was den Preis bestimmt und beim Austausch zwischen Produzenten und Kon¬
sumenten die Herrschaft übt. Die soziale Frage, wie wir sie verstehen, kaun
sich nicht auf diesen Prozeß erstrecken, der das fertige Gut in die Hände des
Konsumenten bringt und der bei richtiger Auffassung, wie wir oben gezeigt
haben, Sache des Handels, nicht der Produktion ist. Wenn der chimärische
Sozialistenstaat auch imstande sein mag, alle Unterthanen unter seiner Führung
zum Produziren zu zwingen, so würde er doch niemals vermögen, mehr Kon¬
sumenten zu schaffen, als sich freiwillig darbieten. Ein solches Phalanstere
würde den Lohn festsetzen können, aber niemals den Preis der Güter, wenn
man nicht zu einer zweiten Gewaltmaßregel schritte, wie sie Rvdbertus vorge¬
schlagen hat. Er wollte ein besondres, nach dem Arbeitswerte berechnetes
Lohngeld einführen, mit welchem alle Arbeiter entlohnt werden sollten; die fer¬
tigen Güter sollten in Staatsmagazine abgeliefert werden, aus denen sich dann
jedweder mittelst seines Lohugeldes kaufen könnte, was ihm beliebte!
Auf solche Traumgebilde lassen wir uns nicht ein, sondern beschränken uns
auf die Behauptung, daß die soziale Frage in Nahmen der eigentlichen Güter¬
produktion liege, d. h. eine Frage der Verteilung des Produktionswertes zwischen
den bei der Produktion beteiligten Personen sei.
Kehren wir zu dem Ausgangspunkte unsrer Untersuchung zurück. Dort
haben wir gesehen, daß bei aller Gütererzeugung drei Faktoren mitwirken, der
Unternehmer und als seine Gehilfen das Kapital und die Arbeit.
Besteht nun das Problem, welches uns beschäftigt, in dem Kampfe dieser
Faktoren gegeneinander, in der Verschiedenheit und dem Widerstreite ihrer In¬
teressen, so ist es einleuchtend, daß dieses Problem alsdann und überallda nicht
besteht, wo alle drei Faktoren in demselben Individuum vereinigt sind. Dies
Verhältnis bildet die Regel in den Uranfängen der Gesellschaft; die Scheidung
der wirkenden Faktorei? in verschiednen Personen ist die Wirkung der fort¬
schreitenden Kultur. Übrigens kommt jenes einfache Verhältnis garnicht selten
auch in der modernen Gesellschaft vor. Ein Arzt, der seine Ausbildung aus
eignen Mitteln bestritten hat, der imstande ist, sich seine Instrumente, seine
Equipage mit eignem Gelde zu beschaffen und der bei der Ausübung seines
Berufes keines Gehilfen bedarf, ist Unternehmer, Kapitalist und Arbeiter seines
Geschäfts in eigner Person; er genießt die Früchte desselben allein, von Ver¬
teilung des Gewinnes, von Konflikt der Interessen ist keine Rede. In gleicher
Lage ist der Handwerker, der mit eignen Werkzeugen, im eignen Hanse ohne
Gesellen arbeitet u. s. w.
Wenn in diesen Fällen das Problem nicht besteht, so ist damit der Weg,
wenigstens die Richtung gezeigt, in welcher, wenn auch nicht die Lösung des
Problems — denn diese wird niemals vollständig zu erreichen sein — so doch
die Milderung des Konfliktes erzielt werden kaum Auch haben wir schon oben
gesehen, daß der Kapitalist seinen Frieden mit dein Unternehmer schließen kann,
indem er sich mit demselben vereinigt, auf Gewinn und Verlust assoziirt. Kann
dies der Arbeiter nicht ebenfalls?
Wenn wir auf diese Frage eingehen, so füllt zunächst in die Augen, daß
die Lage des Arbeiters dem Unternehmer gegenüber verschieden von derjenigen
des Kapitalisten ist. Der Kapitalist vermag dem Unternehmer einen Teil seines
Risikos abzunehmen, und deshalb kann ihm der Unternehmer einen Teil seines
Gewinnes überlassen, womit der Konflikt ihrer Interessen beseitigt ist. Der Ar¬
beiter aber im allgemeinen ist nicht in gleicher Lage; er vermag nicht einen
Teil des Uuternehmnngsvcrlustes zu tragen.
Nun wäre es zwar theoretisch denkbar und ist auch sozialistischcrseits, ich
glaube von Louis Blanc in seiner Organisation Zu er^vAil, vorgeschlagen
worden, daß mau den Arbeitslohn so bestimme, daß ein Teil den festen Lohn
bildet, der zu den Produktionskosten gehört und unter alleu Umständen aus¬
gezahlt werden muh, ein zweiter Teil aber diejenige Quote darstellt, mit welcher
der Arbeiter an Gewinn und Verlust teilzunehmen hätte. Es ist dies aber,
ivie wohl allgemein anerkannt ist, aus tausend Gründen unausführbar, wovon
ich nur einige erwähnen will.
1. Nur diejenigen Arbeiter könnten in dieser Weise beteiligt werden, welche
das ganze Bilanzjahr in dem Unternehmen beschäftigt gewesen sind. 2. Da
die einzelnen Arbeiter verschiedene Löhne haben, so müßte mit jedem einzelnen
abgerechnet werden. 3. Es hätte große Schwierigkeiten, wenn es überhaupt
möglich wäre, das Verhältnis des einzelnen Arbeitslohnes zum Prvduktious-
werte festzustellen. 4. Der Zeitpunkt der Abrechnung wäre kaum festzu¬
stellen, weil die Frage, ob Gewinn oder Verlust erzielt ist, erst mit dem
wirklichen Verkaufe der produzirten Güter gegeben ist. 5. Allgemein ein¬
geführt, würde das System die Unternehmungen in solche scheiden, die Gewinn
bringen, und solche, die mit Verlust arbeiten; damit würde der Kredit der
letzteren und damit ihre Existenz vernichtet, und kein Arbeiter würde in solchen
gewinnlosen Geschäften dienen wollen. 6. Die Unternehmer würden, wenn nicht
aus Eigennutz, so doch aus Vorsicht, den Lohn im engern Sinne möglichst
Herabdrücken, wodurch der Borten des Systems für die Arbeiter illusorisch
würde — und vieles andre.
Trotz alledem erscheint es nicht ausgeschlossen, daß der Arbeiter auf dem
angedeuteten Wege seine Interessen mit denen des Unternehmers wenn auch
nicht ausgleiche, doch mehr oder weniger versöhne. Das anzuwendende Mittel
muß dasselbe bleiben, das Ziel aber wird nicht Anteil an Gewinn und Verlust,
sondern nur eine billige Verzinsung des Angeführten Kapitals sein.
Worin aber besteht das Kapital, welches der Arbeiter mitbringen und damit
dem Unternehmer einen Teil seines Risikos abnehmen kann?
Zu jeder Produktion im heutigen Sinne des Wortes ist eine Kraft er¬
forderlich, welche nach dem Willen und der Absicht des Unternehmers auf ein
Werkzeug wirkt, um dem Stoffe die gewollt? Gestalt zu geben. Die Kraft
(die Bedienung der Maschine) liefert der Arbeiter, das Werkzeug der Unter¬
nehmer mittelst des Kapitals, welches zu dessen Anschaffung erforderlich ist.
Wenn nun der Arbeiter imstande ist, das Werkzeug, mit dem er arbeiten soll,
selbst zu stellen, so erhöht er seine Leistung und mindert den Kapitalaufwand
des Unternehmers. Auch die Intelligenz, welche zu einer Produktion erforder-
lieh ist, muß, soweit sie nicht vom Unternehmer selbst geleistet werden kann, als
eine Ergänzung des toten Werkzeuges von Arbeitern übernommen werden. So
ist denn dem Arbeiter Gelegenheit gegeben, indem er außer seiner rohen Kraft
Werkzeuge und Intelligenz mitbringt, dem Unternehmer einen Teil des Betriebs¬
kapitals abzunehmen, ihm die Verzinsung und das Risiko zu erleichtern, dafür
entsprechende Entschädigung, Lohnerhöhung, zu verlangen und sich über die¬
jenigen zu erheben, welche nur mit ihrem Körper bei der Gütererzeugung mit¬
wirke!?.
In dieser Weise sehen wir die über ganz Europa verbreiteten und bei allen
großen Erdarbeiten bevorzugten italienischen Arbeiter in kleineren und größeren
Gruppen unter Leitung eines Obmanns, der die Arbeit verteilt und überwacht,
die Zucht aufrecht erhält, das Kastenwesen besorgt und mit dem allein der
Unternehmer koutrahirt; wir sehen sie mit ihren Werkzengen, ja selbst mit
Karren und Pferden versehen, umfangreiche Erdarbeiten übernehmen und auf
diese Weise in weit höherem Grade Gehilfen des Unternehmers werden, als
dies bei andern Arbeitern der Fall ist.
Ich könnte mir sehr gut eine Genossenschaft ländlicher Arbeiter denken,
die im Besitze vou Lokomobilen, Dampfpflug, von Mäh- und Dreschmaschinen
den größeren Landwirten ihre Arbeit abnähme — Genossenschaften, die sich
so kräftig organisirten, daß man ihnen größere Arbeiten als Unternehmer an¬
vertrauen könnte, eine Forderung, die jetzt in Frankreich vou Maurern, Tischlern
und andern GeWerken gestellt und von der Regierung freundlich aufgenommen
wird. Solche Vereinigungen haben ja in England (traclvL rmions) schon längst
zu großartigen Erfolgen, ja mitunter zu gänzlicher Emanzipation von Kapitalisten
und Unternehmern geführt; und wenn ich nicht irre, erblickt darin John Stuart
Mill das hauptsächlichste Mittel zur Besserung des Loses der Arbeiter.
Vielleicht steht es in den Sternen geschrieben, daß diejenigen Arbeiter, die
nur ihre Hände mitbringen, zu gründe gehen müssen. Denn darüber kann
kein Zweifel bestehen, daß der unaufhaltsame Fortschritt der Naturwissenschaften
die Industrie mehr und mehr befähigt, die rohe menschliche Kraft durch Ma¬
schinen zu ersetzen, zu deren Bedienung Übung und Intelligenz, aber wenig
Kraft erforderlich ist. Man hat dies einen Kampf der Maschinen mit den
Arbeitern genannt und deshalb den Maschinen einen Krieg erklärt, der oft zu
blinder Zerstörungswut ausgeartet ist. Dieser Krieg, wenn man es so nennen
will, besteht allerdings; allein die Arbeiter sind darin nicht ohne Waffen. Sie
dürfen eben in der allgemeinen Vorwärtsbewegung nicht allein zurückbleiben,
sie müssen sich in die Lage versetzen, den Unternehmern höhere Intelligenz und
Geschicklichkeit mitzubringen. Dazu sind ihnen die Wege geebnet durch den all¬
gemeinen und unentgeltlichen Schulunterricht; durch die täglich sich mehrende
Gelegenheit zur Ausbildung in einzelnen Fächern, durch vielfache Veranstaltungen
von Regierungen und Vereinen, ja selbst von vielen größeren Industrielle» zur
bessern Ausbildung und sittlichen Hebung der Arbeiter durch Gewährung von
Wohnungen, Bädern, Leihbibliotheken u. s. w.
Die moderne Industrie kann ohne die umfassendste Anwendung von Ma¬
schinen garnicht gedacht werden. Menschenhände, und gäbe es deren noch
tausendmal mehr, würden garnicht imstande sein, die nötige Kraft zu liefern;
die Zerstörung auch mir eines kleinen Teils der Maschinen würde den Hungertod
unzählbarer Arbeiter zur unmittelbaren Folge haben. Im Gegenteil sind die
Maschinen die größten Segenspender für die Arbeiter, sie ermöglichen die Be¬
schäftigung von mehr Menschen und Beschäftigung in einer menschenwürdigeren
Weise. Auch wird kaum bestritten werden können, daß das Bestreben der
modernen Industrie, die rohe Kraft durch Maschinen zu bewirken, nur auf die
Klasse von Arbeitern nachteilig wirkt, welche eben nur rohe Kraft verrichten
können. Der Heizer einer Dampfmaschine wird besser bezahlt als derjenige, der
den Gaul an einem ungefügen Göpelwerk beaufsichtigt oder selbst im Rade geht;
der Führer einer Lokomotive hat einen viel höhern Gehalt als ein Postillon oder
ein Kutscher, und es sind hente wohl mehr Lokomotivführer beschäftigt, als vor
achtzig Jahren Postillone und Fuhrleute für den Transport von Personen und
Gütern auf unsern Landstraßen erforderlich waren.
Was also die Arbeiter zur Produktion außer ihren Händen mitbringen
müssen — und darin eben unterscheidet sich die Gegenwart von der Vergangen¬
heit —, sind Werkzeuge und Intelligenz, und es kann gar kein Zweifel darüber
bestehen, daß diese Leistungen von den Unternehmern auch wirklich bezahlt werden.
Allerdings entstehen dadurch gewisse Abstufungen unter den Arbeitern, die so
bedeutend sind, daß der Gebrauch des gemeinsamen Namens „Arbeiter" un¬
passend wird und, wie wir dies täglich sehen, zu den ärgsten Irrtümern und
Fehlschlüssen Anlaß giebt. Was würden z. B. Feinschmiedc, künstlerisch ge¬
bildete Glasarbeiter und andre dazu sagen, wenn man sie mit gewöhnlichen
Erdarbeitern ans eine Stufe setzen wollte, und welche Unterschiede ergiebt die
Vergleichiiug ihrer Lohnsätze? In den höhern Stufen der Arbeiter finden wir
Familien in nahezu behaglicher Existenz, denen auch edlere Genüsse nicht un¬
zugänglich sind und die imstande sind, einen Sparpfennig für schlimme Zeiten
zurückzulegen. Auch ist kein Grund, daran zu zweifeln, daß es acht den ver¬
einigten Anstrengungen der Arbeitgeber und -nehmer, der Gesellschaft und des
Staates gelingen sollte, die Lage dieser Klassen noch weiter zu verbessern und
gegen Unfälle zu sichern. Auch sehen wir alle die genannten Faktoren, einem
mächtigei: Zuge der Zeit gehorchend, auf diesem Wege vorwärts schreiten. Bei
tiefern Stufen der Arbeiterklassen wird man größeren, zum Teil unbesiegbaren
Schwierigkeiten begegnen, wenn Sittlichkeit und Bildung noch zu niedrig stehen
oder die betreffende Industrie noch auf einer Stufe verharrt, wo der Mensch
nur gleich einer Naturkraft benutzt wird und willenlos ausgebeutet werden kann.
Diese Klassen mögen als die Opfer einer gewerblichen Übergangsperiode gelten,
beklagt und mildthätiger Fürsorge empfohlen werden. Aber die Übergangs¬
periode ist da, wir befinden uns mitten darin und mögen uns getrosten, daß
sie zu bessern Zuständen fuhrt. Dem Wahne aber sollen wir uns nicht hin¬
geben, es sei möglich, Not und Elend aus dieser Welt zu verbannen. Wohl
aber mögen wir einen Zustand anstreben und für erreichbar halten, wo kein
Notstand unbeachtet bleibt und die menschliche Gesellschaft sich ihrer Solidarität
vollkommen bewußt ist.
Notstände aber wird es immer geben, auch wenn es gelingt, den Lohn der
Arbeit in allen Zweigen gewerblicher Thätigkeit nach befriedigenden Sätzen, nach
ihrem innern Werte zu regeln. Denn dahin können wir zwar gelangen, daß jeder
Arbeiter in gerechter Weise entlohnt werde, nicht aber auch dahin, daß unter allen
Umständen und zu allen Zeiten auch jeder Arbeitsuchende beschäftigt werde.
Der Umfang, in welchem Arbeiter beschäftigt werden können, hängt nicht
von der Güterproduktion, sondern von der Nachfrage nach Produkten ab, vom
Bedürfnis der Konsumenten. Die Vermittlung aber zwischen Produzenten und
Konsumenten, das Aufsuchen von Konsumenten für die Produzenten und die An¬
regung der Unternehmer nach den Bedürfnissen der Konsumtion, die Sorge
dafür, daß die Produktion sich nicht in falsche Bahnen verirre, daß augen¬
blicklicher Mangel oder Überfluß an Gütern durch entsprechende Spekulation
ausgeglichen werde — dies alles ist Sache des Handels, und deshalb ist die
Blüte und Ausdehnung des Handels ein so wichtiges Erfordernis für das
wirtschaftliche Gedeihen eines Volkes. Auch dessen ist sich unsre Zeit, Volk
und Negierung vollkommen bewußt, und wie wir hoffen dürfen, daß innerhalb
der Produktion das Verhältnis zwischen Kapital, Unternehmer und Arbeiter
sich befriedigender gestalten werde, so können wir auch darauf vertrauen, daß
unser Handel solche Ausdehnung gewinnen werde, daß kein zur Arbeit williger
und fähiger Mensch ohne Beschäftigung bleibe.
Das Wesentliche ist, und damit will ich diese Bemerkungen schließen, daß
die Mängel unsrer wirtschaftlichen und sozialen Zustände erkannt werden, und
daß auf allen Seiten, sei es freiwillig oder vom Zeitgeiste genötigt, der Wille
vorhanden sei, die bessernde Hand anzulegen. Rom ließ sich dnrch drei gefähr¬
liche Sklavenkriege (141—71 v. Chr.), die das Reich an den Rand des Ab¬
grundes brachten, nicht warnen und ging an der Zersetzung seiner Gesellschaft
durch das Sklavenwesen zu gründe. Der deutsche Adel fand weder in der Re¬
ligion noch in politischer Klugheit einen Anlaß, auf die Klagen seiner zum
Äußersten mißhandelten Leibeignen zu hören und mußte es in den Bauernkriegen
büßen. Mit derselben Blindheit waren die regierenden Klassen in Frankreich
geschlagen, als der dritte Stand seine Gleichberechtigung, ja seine Überlegenheit
geistig bereits erkämpft hatte, ihm aber jede Beachtung im Staate versagt wurde,
sodaß der Ausbruch der großen Revolution und der Umsturz aller bestehenden
Verhältnisse die unvermeidliche Folge wurde.
Der Sklave, der leibeigne Bauer, der dritte Stand erlangten ihre Zulassung
in die bürgerliche Gesellschaft als selbstberechtigte Klasse nur unter ungeheuern
Erschütterungen, weil die herrschenden Klassen sich nur als Feinde fühlten und
nur an Verteidigung und fühlloses Niederwerfe!, dachten. Wenn dagegen die
Leiden und Beschwerden des vierten Standes in unsern Tagen ein teilnehmendes
Entgegenkommen finden, so mag uus dies nicht nnr als ein höchst erfreulicher
Fortschritt der Gesittung mit Befriedigung, sondern auch mit dem Vertrauen
erfüllen, daß die Heilung der sozialen Gebrechen ohne gewaltsamen Umsturz
sich auf friedlichem Wege vollziehen werde.
le in den Petitionen gestellten Forderungen sind ganz beson¬
ders interessant, und es lohnte sich schon der Mühe, sie aus
ganz Deutschland zusammenzustellen. Denn wenn sie mich zu¬
erst, solange sie aus den großen Städten kamen und an die
größeren Regierungen gerichtet waren, sich nach dem Mann¬
heimer Muster ans dieselben Forderungen nach Preßfreiheit, Volksbewaffnung,
Schwurgerichte, Amnestie, volkstümliches Ministerium und deutsches Parlament
beschränkten, so nahmen sie doch einen andern Charakter an, je mehr sich dieser
Petitionsstnrm verteilte und verästelte; immer mehr wurden sie ein unmittel¬
barer Ausdruck der innersten Volkswünsche, und immer mehr spiegelte sich der
eigentliche Vvlksinstinkt darin wieder. Sie haben insofern einen dauernden
Wert, um das innerste Denken und Wünschen des Volkes kennen zu lernen.
Wenn der Pöbel aus so mancher kleinen Stadt nach Preßfreiheit schrie, ob¬
gleich doch die wenigsten begriffen, was man damit eigentlich meine, so hatte
man natürlich mit eingelernten Phrasen zu thun, die keine weitere Bedeutung
hatten; aber charakteristisch ist es schon, wenn man in Lippe-Detmold von dem
Fürsten nicht nnr die Zusicherung haben wollte, daß er die deutsche Einheit
herbeiführen wolle, sondern auch, daß er keine Allsländer mehr anstellen wolle,
d- h. keine Lippe-Schauenburger, Waldecker oder gar Preußen, oder wenn sich
mitten zwischen all dem Geschrei nach Freiheit auch Petitionen gegen die Gewerbe¬
freiheit, welche das Handwerk schädige, vernehmen ließen, wenn am Main und
um Odenwald, dem alten Schauplatz der heftigsten Ausbrüche des Bauernkrieges,
das Landvolk wieder mit der Forderung kam, daß der Adel mit ihm teilen solle,
wenn in Mecklenburg die Tagelöhner auf den adlichen Gütern unter den andern
Punkten, in denen sie eine Verbesserung ihrer Lage begehrten — wenigstens
vier bis sechs solcher Punkte mußte jede Petition enthalten —, auch die For¬
derung stellten, daß die Gutsherren künftig nicht mehr die Gutsuhren während
der Arbeitszeit umstellten und auf diese Weise die Arbeitszeit verlängerten.
Die Schüler eines Gymnasiums forderten in einer „Sturmpetition," daß die
Primaner und sekundärer fortan nicht mehr mit Du, sondern mit dem höf¬
lichen Sie von den Lehrern angeredet würden — nur dem alten Direktor sollte
als ein persönliches Recht die Erlaubnis bleiben, das gewohnte Du noch ferner
zu brauchen; ferner forderten sie, daß ihnen der Besuch von Wirtshäusern frei¬
gegeben würde, u. dergl.
Ganz besonders war es der Wald, auf den sich die Petitionsstürme rich¬
teten, und der alte vom Rechte längst begrabene, aber doch immer im naiven
Volksbewußtsein schlummernde Gedanke, daß es am Walde kein Privateigentum
gebe, sondern daß der Wald Gemeingut sei, kam überall zum offenen Ausdruck.
Jagdfreiheit wurde begehrt, und man wartete meistens auch garnicht die förm¬
liche Gewährung derselben ab, sondern es erhob sich alsbald fast in allen
deutschen Landen ein wahrer Vernichtungskrieg gegen alles Wild, und die Jäger
wuchsen zu tausenden aus der Erde. Selbst alte Musketen und Donnerbüchsen
mußten dazu dienen, um dem edeln Wilde, welches noch an die Heiligkeit der
Schonzeit glaubte, den Garaus zu machen, und nicht bloß das Wild, sondern
auch sehr viele der neuen ungeschickten Jäger mit den schlechten Waffen haben
mit ihrem Blute der jungen Freiheit und ihrer großen Ungeschicklichkeit Opfer
bringen müssen. Neben freier Jagd forderte man aber auch freies Holz und
setzte sich ebenfalls alsbald in Besitz dieser Freiheit, und mancher schöne Wald
hat viele Jahre gebraucht, um die damals erlittenen Schäden zu überwinden.
So friedlich sich mancherorts der Petitivnssturm abwickelte, so kam es doch an
andern Orten schon in diesem ersten Nevolutivnsstadium zu Zerstörungen, zu
Brand und Blutvergießen. Der aufgeregte Pöbel begehrte hie und da Rache
an den seitherigen Machthabern zu nehmen und wollte seinen Sieg durch Zer¬
störungen gefeiert sehen; anderswo wurde zur Vernichtung der Archive aufgehetzt,
damit nicht mit deren Hilfe alte Rechte geltend gemacht werden könnten, und
nirgends konnte man sich bald wieder in ruhige Ordnung hineinfinden.
Am trostlosesten war der Verlauf in Berlin; hier wurde jener blutige, zer¬
störende Kampf vom 18. März ohne bewußten Zweck in sinnloser Wut gekämpft,
ohne daß ein Kampfpreis vorhanden war, den die Menge der Kümpfenden Hütte
erringen wollen. Allerdings gab es bewußte Umsturzmänner und fremde Emissäre,
die den Kampf schürten, und sie wollten in dem allgemeinen Chaos, das sie
herbeizuführen suchten, ihr Schäfchen ins Trockene bringe»; aber die Zahl dieser
Leute war doch verhältnismäßig sehr klein, und auf Grund meiner Wahr¬
nehmungen muß ich sehr bestimmt der mitunter verbreiteten Meinung entgegen-
treten, daß diese Fremden den ganzen Kampf arrangirt, geleitet und geführt
hätten. Nein, es war wirklich der Berliner, der sich schlug, wenn er es auch
in einem vorübergehenden Rausche that. Ehe der Kampf begann, hatte der
König schon das volle Eingehen auf die Forderungen der neuen Zeit zugesagt
und dies in einer Proklamation verkündet. Damit war den politischen An¬
sprüchen der Berliner mehr als genug gethan; sie hatten bis dahin noch wenig
praktische Politik getrieben, sie wollten nur im allgemeinen räsvnniren und sich
nicht persönlich durch die Polizei belästigen lassen, und außerdem ärgerten sie
sich über das oft rücksichtslose und unliebenswürdige Auftreten der jungen Garde-
offiziere. Die Reibereien, welche in den vorhergehenden Tagen zwischen dem
ausgerückten Militär und den nmherwogenden Haufen stattgefunden hatten, trugen
dazu bei, diese Mißstimmung über den Übermut der Offiziere und die Übermacht
der Polizei zu mehren, und gegen sie, nicht gegen das preußische Königtum und
die Ordnung des Staates, war jener Kampf gerichtet. Als er aber beendet
war, lag das Königtum am Boden, und Preußen war in einer Zeit, in der
ihm, wenn es nur seine ruhige Haltung bewahrte und Recht und Ordnung bei
sich aufrecht erhielt, das ganze damals verwirrte und machtlose Deutschland von
selbst zufallen mußte, selbst klein und machtlos geworden und weckte mit seinen
Versuchen, sich an die Spitze der deutschen Bewegung zu stellen, nur den Hohn
und die Spottlust der Menge.
Haben wir aus der Weise, wie die Revolution plötzlich über Deutschland
hereinbrach und mit wunderbarer Geschwindigkeit um sich griff, die Lehre ent¬
nehmen können, daß die Sorge für die Erhaltung des Staates nicht bloß auf
den Schultern der Negierung ruhen darf, sondern daß sie der Unterstützung
durch selbständige und thatkräftige Parteien bedarf, so zeigt uns der weitere
Verlauf der Revolution, daß das Staatswesen, wenn ihm eine kräftige Regierung
fehlt, trotz aller Freiheit und Bildung mit raschem Schritt der Barbarei und
Verwilderung entgegeneile.
An gutem Willen von Einzelnen hat es auch damals nicht gefehlt; ja mau
kann sagen, die Menge war von einem gewissen idealen Hauch bewegt, der sie
über die niedere Atmosphäre erhob, in der sich seither ihr tägliches Leben bewegt
hatte. Deshalb waren auch gemeine Verbrechen, wie gewöhnlicher Diebstahl,
Betrug u. dergl. verhältnismüßig selten. Dagegen konnte der kleinstädtische
Philister, dessen Gedankengang sich früher nicht über die nächste Umgebung er¬
hoben hatte, und der ganz in den Sorgen des täglichen Lebens aufgegangen
war, sich jetzt mit aller Begeisterung an den vielstündigen Verhandlungen seines
Klubs über die beste Staatsform und die Stellung der Parteien zueinander be¬
teiligen. Ich will nur an die lebenswahren Schilderungen erinnern, die Reuter
in der „Strvmtid" von den Verhandlungen des Rahnstedter Neformvereins
giebt, die einen großen Mischmasch von den kleinlichsten Lvkalstreitigkeiten und
den Beratungen über große staatswissenschaftliche Fragen bilden und in der
wichtigen Entdeckung Bräsigs, „daß die große Armut in der Stadt von der
großen Pvwerteh herkomme," ihren sachgemäßen und allgemein befriedigenden
Abschluß finden. So unendlich lächerlich dies Getriebe auch war, so muß man
doch den idealen Zug, der hindurchging, anerkennen, wie denn die Leute auch
damals schon in der äußern Erscheinung nach einem gewissen phantastischen
Aufputz suchten, der für manches Künstlerauge etwas bestechendes gehabt hat.
Ja das deutsche Parlament, das seit dem 1. Mai in Frankfurt tagte, war
der deutliche Ausdruck eiues solchen, die Zeit beherrschenden, in gewissem Sinne
liebenswürdigen, wenn auch sehr unpraktischen Idealismus. Mit Recht sagt
Ranke von ihm: „Die Frankfurter Versammlung ist dadurch einzig in ihrer Art,
daß in ihrer Mitte alle Fragen über das Gesamtlebe» der Nation in freier
Diskussion erörtert wurden, und die verschiedensten Standpunkte wie in einer
aneinanderschließendm Kette ihre Vertreter fanden. Sie war gleichsam eine
Akademie der politischen Wissenschaften in Bezug auf die nationalen Angelegen¬
heiten." So wenig unmittelbaren Nutzen dies Parlament trotz der großen auf
seine Arbeiten verwendeten Mühen gehabt hat, und so arg es deshalb die ge¬
waltigen, auf seine Zusammenkunft gesetzten Hoffnungen des deutschen Volles
getäuscht hat, der Ruhm, daß seine große Mehrheit von einem ideale», ans
hohe Ziele gerichtete» Streben beseelt war, darf ihm nicht bestritten werde».
Mau darf sich also durchaus nicht der Meinung hingeben, als seien damals
nur unlautere und wüste Gesinnungen zu tage getreten, und als habe jeder¬
mann bewußt an dem Untergange des Vaterlandes gearbeitet. Aber das
Fehlen eines kräftigen Armes, der alles geleitet und jeden in seine Schranken
verwiesen hätte, ließ alle jene besseren Bestrebungen in sich zergehen und führte
dahin, daß sich die meisten deutschen Länder mit immer schnelleren Schritten
der Ochlokratie näherten.
Die unter den Märzstürmen eingesetzten neuen Ministerien konnten nur in
wenigen Ländern zu innerer Festigkeit gelangen und sich wirklich der Zügel des
Staates bemächtigen; in den meisten Ländern und zumal in Preußen gerieten
sie alsbald in die Abhängigkeit von den leidenschaftlich erregten und in sich
haltlosen parlamentarischen Versammlungen oder, was noch schlimmer war, von
den Demonstrationen des Straßeupöbels, und ihre Macht schwand dann wie
der Schnee an der Sonne.
Dafür fiel die Macht den Leuten anheim, die bewußt auf den Umsturz
hinarbeiteten, um dabei ihren persönlichen Vorteil oder doch den Vorteil eines
fremden Landes oder einer fremden Sache zu fördern, oder wenigstens solchen
Leuten, denen der wunderbare Umschwung der Dinge zu Kopfe gestiegen war,
sodaß sie wie im Rausche handelten und allen Blick für die realen Lebensverhältnisse
verloren hatten. Oft genug teilten sich Schurken und Fanatiker in das Regiment.
Die Mittel, durch welche sie die Herrschaft führten, waren die Straßen-
cmente, die Presse und die Klub- oder Volksversammlungen, also dieselben Mittel,
mit denen die Umsturzparteien auch in der großen französischen Revolution ihr
Regiment geführt hatten.
Die Straßenemcnte war namentlich in Berlin fast zu einer ständigen In¬
stitution geworden. Zwar zuerst uach den Kämpfen vom 18. Mürz hatte die
große Mehrheit der Berliner einen tiefen Schauder davor bekommen, und die
schnell geschaffene Bürgerwchr bemühte sich wirklich mit allem Ernste und nicht
ohne persönliche Aufopferung dafür, daß fortan die Ordnung auf den Straßen
aufrecht erhalten und ein friedlicher Gang der Dinge möglich werde. Als die
„Zeitungshalle," ein damals vielverbreitetes Blatt, gegen Ende März daran
erinnerte, daß die Arbeiter, die am 18. März für Berlins Freiheit gefochten
hatten, nun auch ihren Lohn erhalten oder sich solchen mit den Waffen erkämpfen
müßten, erhob sich ein einmütiger Entrüstungsschrei über diese Aufhetzung, und
der Redakteur der „Zeitungshalle" soll unangenehme Eindrücke von der Kraft
der Bürgerwehrfäuste erhalten haben.
Aber es war niemand da, der diese Stimmung auszunutzen, zu leiten und
zu organisiren vermocht hätte, und so hielt sie den fortgesetzten Wühlereien
nicht stand. Als im Mai mißliebig gewordene Minister auf offener Straße
mißhandelt wurden, da wurden sie zwar von den bewaffneten Studenten befreit
und in das Universitätsgebäude gerettet; aber diese hielten es doch schon für
angemessen, die Gelegenheit zu benutzen, um den Ministern in der Aula eine
Vorlesung über ihre Schlechtigkeit und ihre Pflichten als Staatsminister zu
halten. Es soll namentlich einen drastischen Eindruck gemacht haben, als ein
kleiner jüdischer Student, der an einen großen Kavalleriesäbel angeschnallt war,
vor Heinrich von Arnim, einen bereits ergrauenden Kämpfer aus den Freiheits¬
kriegen und gewiegten Diplomaten, hingetreten ist und ihm zugerufen hat: „Ich
verachte Sie, aber ich schütze Sie."
Im Juni konnte schon der traurige Zeughaussturm geschehen, der umso
trauriger war, als dabei auch der sonst so blank erhaltene Schild der Preußischen
Armee mit einem schwarzen Fleck besudelt wurde. Wie die Erneute zu einer
mit voller Überlegung und mit Raffinement von den Umsturzleulen benutzten
Waffe geworden war, davon habe ich mich am Tage des Zeughaussturmcs, an
dem ich nach dreimonatlicher Abwesenheit nach Berlin zurückgekehrt war, per¬
sönlich überzeugen können. Die Parole, daß dem Arbeiter Waffen verschafft
werden müßte», war schon seit einigen Tagen ausgegeben, Maueranschläge ver¬
handelten das Thema in allen Variationen, radikale Klubs zogen in geschlossenen
Trupps vor das Kriegsministerium, um ihre Forderungen zu übergeben, die
»och von den Pfingsttageu her feiernden Arbeiter wogten in den Straßen un¬
ruhig auf und ub, vor allem unter den Linden und in der Leipziger Straße.
Aber noch fehlte das Losungswort und das Angriffssignal. Da wurde ich auf
einen Mann aufmerksam, der einen Volkshaufen um sich sammelte und anredete.
Er sprach anfangs mit gemäßigter Stimme und ruhiger Haltung; aber all¬
mählich steigerte er die Leidenschaft, er sprach von der Tyrannei, welche noch
geübt werde, von der Gefahr, die von Potsdam her drohe, wo die Soldateska
konzentrirt sei, um jeden Augenblick das friedliche Berlin zu überfallen, von
einem Aufstande, den ein Teil der Garden zu unternehmen bereit sei, und den
er unternehmen werde, wenn er sehe, daß das wirkliche Volk Berlins, die Ar¬
beiter, Waffen hätten und zur Hilfe bereit seien, daß es deshalb nötig sei, ge¬
meinsame Schritte zu beraten, und daß sich alle die, welche Mut hätten, vor
dem Zeughause versammeln wollten. Wenn er soweit gekommen war und die
Parole „Versammlung vor dem Zeughause" ausgegeben hatte, dann wußte er
geschickt unterzutauchen und 'in der Menge zu verschwinden. Es gelang mir
aber, mich an seine Fersen zu heften, und so noch mehrmals Zeuge zu sein,
wie er dieselbe Rede in verschiedenen Haufen wiederholte und sich immer wieder
von einem gemäßigten Anfange zur höchste» Leidenschaft hinaufschraubte.
Dies Manöver gelang, und nach wenigen Stunden, nachdem die im Zeug¬
hause aufgestellte Linienkvmpagnie durch schändlichen Lug und Trug, der von
einem früheren Offizier ausging, und durch die Kleinmütigkeit ihres Kom¬
mandeurs zum Abzug bewogen war, und nachdem auch noch die üblichen
Zwischenfälle von rechtzeitig gefallenen Schüssen, die nachher niemand abge¬
schossen haben wollte, vorgefallen waren, folgte jene wüste Plünderung des Zeug¬
hauses, die ich im einzelnen nicht schildern mag.
An diesem Abende erwies sich auch, daß die Bürgerwehr kein Schutz mehr
sei; ihre 26 000 Mann waren durch Generalmarsch zu den Waffen gerufen
worden, sie waren mich zum großen Teil gekommen, aber als man nach den
Schüssen, die am Zeughause fielen, durch die Stadt schrie, die Bürgerwehr schieße
auf das Volk, und gar einem Kaufmann, der angeblich als Bürgerwehrhaupt¬
mann den Befehl zum Feuern gegeben haben sollte, in aller Eile den Laden
ausgeplündert und demvlirt hatte, da fanden viele Bürgerwehrleute es geraten,
ihren Abscheu vor solchem Blutdurst Ausdruck zu geben und ihre Gewehre
umzukehren. Die Bürgerwehr löste allerdings an diesem Abend die strategisch
nicht leichte Aufgabe, eine Armee von 26 000 Mann einem siegreichen Feinde
gegenüber ohne Verlust aus dem Gefecht zu ziehen, sie that es, indem sie in
alle Straßen Patrouillen sandte, die alle nicht wieder kamen, sondern sich zum
häuslichen Herde rückwärts konzentrirten. Aber ihr Prestige war nun auch
dahin.
Dieser Zeughnussturm machte in ganz Berlin und weit hinaus durch alle
preußischen Laude einen furchtbar niederschlagenden Eindruck, man schämte sich,
daß so etwas in Preußen möglich sei, und jeder fragte entsetzt: Soll es so
weitergehen? Aber auch diese Stimmung verflog wieder unter dem fortwährenden
Wühlen und Hetzen, da niemand sie auszunutzen und zu einem bewußten und
entschlossenen Thun umzusetzen verstand, und nach wenigen Tagen konnte der
berüchtigte Kaufmann Ottcnsoser es schon wagen, in einer öffentlichen Ver¬
sammlung zu sagen, er begreife uicht, daß über die Beschädigung von ein paar
wertlosen Zeuglappen — den alten Fahnen — und über das Abhandenkommen
von etwas altem Eisen soviel Geschrei gemacht werde. Es gäbe wahrlich Wich¬
tigeres zu verhandeln.
So ging es denn weiter und weiter bergab. Es kamen die Zeiten, wo
die Fenster eines Ministerhotels in der Wilhelmstraße während einer Soiree,
in welcher das diplomatische Korps anwesend war, von einem Pvbelhaufen de-
molirt wurden, sodnß die fremden Gesandten kaum ihre Köpfe vor den Stein¬
würfen wahren konnten — dann wurden die Abgeordneten, welche nicht nach
den Wünschen des Pöbels stimmten, lebensgefährlich bedroht, und es kam sogar
so weit, daß uralt den Sitzungssaal der Abgeordneten im Schanspielhciuse von
anßen vernagelte, um die ganze Nationalversammlung eine Weile gefangen zu
halten.
Dabei wurde es natürlich in der Stadt immer ungemütlicher; wer irgend
konnte, verließ sie, die Wohnungen standen massenhaft leer, die Gewerbe stockten,
der Hunger zog in viele sonst wohl situirte Familien ein, aber die Wohl¬
meinenden blieben dennoch ohnmächtig und konnten das tiefer und tiefer
sinkende Staatsschiff nicht aufhalten, solange eine Regierung fehlte, die mit
kräftiger Hand dem wüst dahinrasenden Stantswagen Halt und Umkehr zu ge-
bieten vermochte.
Die Straßenemeute war aber nicht auf Berlin beschränkt, sie trat auch an
vielen andern Orten auf und war eines da das Schreckbild, durch welches sich
die schwachen Regierungen immer tiefer in die Wege der Revolution verstricken
ließen. So weiß z. B. auch Kassel von einem schon im April stattfindenden
Zenghaussturm zu erzählen, der in seinen Einzelheiten und namentlich in betreff
der dabei zu tage tretenden Schwäche der Regierung fast noch trostloser war
wie der Berliner.
Das zweite Mittel, mit welche», die Umsturzpartei Macht gewonnen, war
die Presse. Um deren Einfluß begreifen zu können, muß man sich daran er¬
innern, daß bis zu den Märztagen alle Druckschriften, mit Ausnahme etwa der
großen wissenschaftlichen Werke, ehe sie gedruckt wurden, die Zensur der ange¬
stellten Zensoren passiren mußten, und daß diese nicht mir bestrebt gewesen
waren, die Einrichtungen des Staates zu schützen, sondern auch die Personen
der Machthaber vor allen Angriffen zu behüten. So verhaßt die Zensur
war — in Schwaben soll sogar ein Verein junger Damen bestanden haben,
die sich gelobt hatten, nie einen Zensor zu heiraten —, so hatte sie doch be¬
wirkt, daß jedermann der Presse gegenüber sehr feinfühlig war, und daß man
einen persönlichen Angriff derselben als eine schwere Schmach, die man erlitten,
anzusehen geneigt war. Als nun die Zensur mit den ersten Märzwehen überall
gefallen war, um nie wieder zu erstehen, war die Furcht vor solcher Schmach
ein Schreckmittel, durch das sich viele schwachmütige Leute in die Gefolgschaft
der Revolution hineintreiben ließen. Und auf der andern Seite wurde von
diesem Schreckmittel der rücksichtsloseste und oft ruchloseste Gebrauch gemacht.
Überall schössen neue Blätter der verschiedensten Farbe und der verschiedensten
Tonart hervor, und daneben brachte jeder Tag Massen von Plataeer und flie¬
genden Blättern, die zum Teil so flüchtig waren, daß es später nur mit vieler
Mühe und großen Kosten hat gelingen wollen, eine vollständige Sammlung
dieser Blätter, selbst nur soweit sie Berlin betrafen, für die dortige Bibliothek
herzustellen. Ein wirres Durcheinander von Plänen, Aufreizungen und An¬
schuldigungen ist in dieser Straßenliteratur niedergelegt, und sie, sowie die vielen
kleinen Zeitungen, die oft ebensoschnell wieder eingingen, wie sie entstanden
waren, spritzten eine wahre Fülle von Gift um sich her. Hinter der Berliner
Presse blieb man aber auch anderwärts nicht zurück. In Kassel brachte z. B.
die „Hornisse" regelmäßig unter der Überschrift „Er" einige den Kurfürsten
lächerlich machende Verse und publizirte sehr oft Intimitäten aus dem kur¬
fürstlichen Palais, wie sie nur von ungetreuen Dienstleuten erlauscht worden sein
konnten.
Ein weiteres Machtmittel der Umsturzpartei waren Vereins- und Volks¬
versammlungen, und es gehört zu den wunderbaren Erscheinungen jener Zeit,
daß mit einemmale soviele Volksredner vorhanden waren, die, von der Erregung
der Zeit ergriffen, mit Geschick und Erfolg auf die Massen zu wirken und oft
sie aufzuregen und zu begeistern vermochten, obgleich die ganze seitherige Ent¬
wicklung der öffentlichen Zustände nichts gethan hatte, um Volksredner auszu¬
bilden. Die Art dieser Versammlungen und der darin gehaltenen Reden war
freilich unendlich mannichfach, und es war eine lange Skala zwischen dem klein¬
städtischen konstitutionellen Vereine, der, um mit Bräsig zu reden, seine Beschlüsse
über alle möglichen staatsrechtlichen Fragen so gut machte, „als jeder dat libre
hett," und sich damit tröstete: „Wird da nichts draus, denn wird da nichts
draus," bis zu jener Septembcrversammlung auf der Pfingstweide bei Frankfurt,
deren bluttriefende Reden die Einleitung zu der Ermordung von General von
Auerswald und Fürst Lichnowski und zu all dem andern Graus jener Frank¬
furter Bluttage wurden.
Alle diese Versammlungen hatten aber doch insofern einen gemeinsamen Zug,
als darin überall die Meinung zum Ausdruck kam, daß mit den Märztagen
ein neuer Weltabschnitt begonnen habe, welcher lediglich nach seinen eignen
Gesetzen, ohne Rücksicht auf die Vergangenheit auszugestalten sei. Es gab kaum
einen größeren Vorwurf, als wenn man jemand beschuldigte, er sei „vormärz¬
lich," d. h. er stehe noch mit seinen Anschauungen in der gleichsam durch
eine große Sintflut von der neuen Zeit geschiednen alten Zeit. Wer seine
Rede mit: Meine Herren! begann, der hatte schon den Verdacht der „Vor-
märzlichteit" gegen sich wachgerufen; denn in der neuen Zeit hieß es
nur noch: Bürger! Selbst die Anrede: Mitbürger! oder gar: Verehrte
Mitbürger! war nicht ganz zweifelfrei, denn so hätte man auch vor dein
März sagen können; jetzt war es nur uoch modern, schlechtweg zu sagen:
Bürger!
Nach der damals herrschenden Lehre stand es auch fest, daß die Bürgerwehr
ein notwendiges Erfordernis jedes freien Staates und die beste Gestalt der
Landesverteidigung sei, ja zeitweilig trat die Meinung hervor, daß die Souveränität
im Staate eigentlich bei der Bürgerwehr beruhe. Eine mir vorliegende Festschrift,
welche die Fahnenweihe einer Bürgerwehr beschreibt, führt ans, daß der alte deutsche
Heerbann sich in verschönter und veredelter Form in der Bürgerwehr verjüngt
habe, nachdem er im Laufe der Zeiten verfallen und im Landsturm und in der
Landwehr nur schwache und einseitige Schößlinge aus seinem veralteten Stamme
getrieben habe. Kein Ort war so klein, der nicht seine Bürgerwehr gehabt und
deren Fahne mit großem Pomp und vielen Reden eingeweiht hätte, als ob es
gelte, ein Werk für die Ewigkeit zu gründen. Nach wenigen Monaten war die
ganze Herrlichkeit vorbei.
Zu den immer wiederkehrenden Illusionen, an die jeder glauben mußte
und die kaum jemand anzugreifen wagte, obgleich sie mit den klaren Gesetzes¬
buchstaben in Widerspruch standen, gehörte es auch, daß die Frankfurter
Nationalversammlung für sich allein die Macht besitze, Deutschland eine beliebige
Verfassung zu geben, Reichsverweser und Kaiser zu wählen und allen deutschen
Regierungen zu gebieten, und daß die Berliner Nationalversammlung eine ver-
fassnngsgcbende Versammlung sei, die auch Ministerien absetzen und Steuern
verweigern könne, Irrtümer, die später manches treue Herz, das daran auch
dann noch festhielt, als wieder andre Luft in Deutschland wehte, in tiefe
Verbitterung getrieben oder gar gebrochen haben. Nur wenigen eisenfesteu
Männern war es gegeben, in dieser allgemeinen Gedankenverwirrung fest und
unbewegt auf dem Boden des Rechtes zu stehen; der wenigen einer war der
damals viel geschmähte Junker, jetzt Fürst Bismarck, der fast allein auf dem
schnell berufenen „Vereinigten Landtage" sein Nein gegen die Berufung der
Nationalversammlung und gegen die Gewährung eines Kredits von vielen
Millionen zur Befriedigung der Bedürfnisse der neuen Zeit aussprach.
Ja, es war eine wunderbare Zeit, und ich weiß die Schilderung derselben
nicht besser zusammen zu fassen, als indem ich die Worte anführe, mit denen
Fritz Reuter seine mehrfach zitirten Erzählungen aus Nahnstedt abschließt.
Er schreibt, wenn wir seine plattdeutschen Worte hier hochdeutsch wieder¬
geben (Stromtid III, S. 108): „So war es denu überall im Lande schlimm
bestellt, jeder erhob seine Hand gegen den andern. Die Welt war wie um¬
gekehrt. Diejenigen, welche Vermögen hatten und sonst hochmütig drein gesehen
hatten, waren jetzt klein geworden, und die garnichts hatten, waren gar dreist
geworden; wer sonst als klug gegolten hatte, wurde nun dumm gescholten, und
die Dummen waren über Nacht klug geworden. Vornehme wurden zu geringen
Leute», Edelleute gaben ihren Adel auf, und die Tagelöhner wollten „Herren"
genannt werden. Aber zwei Dinge liefen als sichtbare Fäden durch dies Gewühl
von Feigheit und Unverschämtheit und konnten den Menschen wieder trösten
und ermuntern. Der eine Faden war kunterbunt, und wer ihm nachging und
sich von der allgemeinen Angst und der allgemeinen Begehrlichkeit freimachen
konnte, der konnte soviel Vergnügen haben, als er irgend wollte. Das war die
Lächerlichkeit des menschlichen Treibens, die so recht zu tage trat. Der andre
Faden war rosenrot, und an ihm hing alles das, womit ein Mensch einen
andern glücklich machen kann, das Mitleid und das Erbarmen, der gesunde
Menschenverstand und die Vernunft, die treue Arbeit und das Entsagen, und
dieser Faden war die Liebe, die reine Menschenliebe, die von hilfreicher Hand
in das Gewebe von grauer Eigensucht eingewebt war, vorläufig nur nach dem
Ratschluß unsers Herrgotts als ein Zeichen, daß sie auch in den schlimmsten
Zeiten wirksam bleiben solle. Aber wer weiß, der feine Streifen kann einmal
breiter werden und das graue Gewebe kann noch einmal rosenrot leuchten, denn
der Faden ist, Gott sei Dank, nicht durchschnitten."
Diesen letzten Faden, von dem Reuter redet, können auch wir in dem wirren
Treiben des Revvlutivnsjahres erkennen, wenn wir ihn auch vielleicht in andern
Dingen finden, als worin ihn der Dichter gesehen hat. Mitten in den Stürmen
dieses Jahres gehen Samenkörner auf, die zwar längst gestreut waren, die aber
bis dahin unter der polizeilichen Bevormundung dürre dagelegen oder sich nnr
kümmerlich hatten entfalten können.
Jetzt drängte sich allen denen, welche unserm Volke den alten Glauben und
das alte Recht gewahrt haben wollten, die Überzeugung auf, daß es nicht genüge,
gehorsam die Befehle der Obrigkeit zu erwarten, sondern daß sie selbstthätig
für ihre Sache streiten und handeln müßten. Auch die erhaltenden Elemente
des Staates schlössen sich zu Parteien zusammen und traten in die Kämpfe des
Tages ein; eine selbständige konservative Presse entstand, und so heftig sie auch
im Anfang geschmäht und verhöhnt wurde, sie wußte sich zu behaupte» und
Boden zu gewinnen, sodaß sie jetzt zu eiuer auch von den Gegnern geachteten
Macht geworden ist. Die Frommen im Lande besannen sich darauf, daß es
ihre Aufgabe sei, das Wort der Wahrheit unter die wüsten Massen zu bringen
und die äußere und innere Not durch Werke der Barmherzigkeit zu überwinden,
und gar vieles von dem, was man mit dem Worte „innere Mission" bezeichnet,
hat seine Wurzeln im Jahre 1848. Auch das gehört zu den Wahrzeichen
dieses Jahres, daß darin im September der erste evangelische deutsche Kirchentag
in Wittenberg abgehalten wurde.
Und was dieserart einmal angeregt und in Thätigkeit getreten war, das
ist Gott sei Dank auch nicht wieder eingeschlafen und der alten Erstarrung ver-
fallen, auch nicht als der wilde Hexentanz der Revolution vorüber war. Frei¬
lich den damaligen Sieg über die Revolution verdanken wir nicht der jungen
konservativen Partei oder den Bestrebungen der innern Mission, sie waren nur
Bundesgenossen des Siegers von verhältnismäßig noch geringer Kraft; der
eigentliche Sieger war das alte Königtum, als dieses endlich das Szepter wieder
ergriff und sein wohlbewahrtes schneidiges Schwert aus der Scheide ziehen
ließ. Es waren für Preußen tiefernste Tage, jene Novembertage, in denen
es sich entscheiden mußte, ob das Wort des Königs noch Glauben und Ge¬
horsam im Lande finde, oder ob alles Volk bereits rettungslos der Revolution
verfallen sei; aber nach wenigen Tagen war es entschieden, das Heer und das
Land stand zu seinem König, und die großen Städte mußten sich fügen. Als
die Revolution in Preußen darniederlag, da war ihr Schicksal auch für ganz
Deutschland entschieden, mochte es immerhin auch noch manches heftigen Ringens
bedürfen und im Frühjahr 1849 noch langes blutiges Kämpfen in Dresden
und in Baden nötig werden.
Um die einmal wachgerufeneu bösen Geister auch innerlich zu überwinden,
dazu gehörte freilich mehr Zeit und mehr Arbeit, und man kann nicht behaupten,
daß die damaligen Machthaber immer mit der nötigen Liebe, Geduld und Ent¬
sagung gearbeitet hätten. Zumal in den kleinen deutschen Ländern war der
Abstand zwischen den in dem Sturmjahre erstrebten idealen Zielen, dem einigen,
großen, mächtigen deutschen Reich, und der nunmehrigen Wirklichkeit unter dem
wiederhergestellten Bundestage und den auf ihre Souveränität so eifersüchtigen
Duodezregierungen gar zu trübselig, als daß nicht ein tiefer Stachel in dem
Herzen aller derer hätte zurückbleiben müssen, die mit Aufmerksamkeit und mit
Vaterlandsliebe die öffentlichen Dinge beachteten, und dieser Stachel hat der
neuen deutschen Einigkeit, die 1866 und 1870 hergestellt wurde, gewaltig vor¬
gearbeitet, sodaß sich der Übergang aus der jahrhundertelangen Zerrissenheit
in das neue Reich so überraschend leicht vollziehen konnte. In Preußen
dagegen wurde die öffentliche Meinung von diesem Gefühl der Trostlosig¬
keit und Hoffnungslosigkeit mehr bewahrt; sie suchte und fand für die Ideale
der deutschen Einheit, die sie ohnehin nie mit solcher Inbrunst gepflegt
hatte, wie es in den Kleinstaaten geschehen war, einigermaßen Ersatz in der
Freude an der Kraft des preußischen Königshauses und an der Tüchtigkeit
seines Heeres. Diesem Heere wandte sich fortan die Liebe und die beste Kraft
des Volkes zu, und von jenem hochmütigen Bespötteln des Leutnants, wie es
vor 1848 in vielen Kreisen zum guten Ton gehört hatte, war fortan nichts
mehr zu spüren. Das preußische Königtum und das preußische Heer, sie gingen
mit neuer und erhöhter Kraft aus den Wirren des Rcvvlutivnsjahres hervor,
und so trug dies Jahr dazu bei, sie für die große, ihnen damals noch bevor¬
stehende und 1866 und 1870 gelöste Aufgabe, die Herstellung des deutscheu
Reiches, geschickter zu machen.
Darum, meine ich, hat das Jahr 1848 trotz aller Schmach, das es uns
gebracht hat, trotz allem Blute, das es uns gekostet hat, und trotz so manchem
treuen deutschen Herzen, das daran zerbrochen ist, doch unsrer deutschen Ge¬
schichte nicht fehlen dürfen.
raf Leo Tolstoi konnte keinen bessern Anwalt bei uns in Deutsch¬
land finden, als Turgenjew, der kurz vor seinem Tode in Berlin den
Ruhm des jüngern Kollegen und Freundes verkündete, Turgenjew
ging in seiner bekannten, ehrlichen, unaffektirten Bescheidenheit
sogar soweit, Tolstoi über sich selbst zu stellen, dessen Gemütsart
und Weltanschauung er im persönlichen Umgange wohlthuend und das eigne,
so tief in der Melancholie einer grenzenlosen Skepsis vergrabene Gemüt erhebend,
besänftigend, ermutigend hatte kennen lernen. Und es liegt etwas wundersam rüh¬
rendes, ja erschütterndes darin, daß ein Genie wie Turgenjew ein langes Leben
hindurch an einer einseitigen Weltanschauung festhält, aus ihr heraus Werke,
welche die Bewunderung aller Zeitgenossen erregen, produzirt, mit dieser seiner
Weltnnschanung einen bisher noch garnicht zu überschauenden Einfluß auf die
Produktion andrer Belletristen ausübt, sie mit seiner tiefpessiinistischen Stimmung
ansteckt, um am Abend seines Lebens, ja knapp vor Thorschluß im Umgange
mit einem heitern, sittlich edeln, harmonischen Gemüte die Grenzen seiner selbst,
ja vielleicht auch die Unwahrheit seines mit ihm alt gewordenen Systems zu
erkennen! Es ist, als wenn in diesem Erlebnis sich der Geist der Geschichte
offenbart hätte, der alle Einseitigkeit ablehnt und deshalb sich in Gegensätzen
fortbewegt; und auf den Unterschied und, sagen wir es auch gleich, auf den
Vorzug ini Naturell ist es einzig und allein zurückzuführen, daß Turgenjew,
dieser ehrlichste der Schriftsteller, sich so sehr von Tolstoi begeistern ließ. Man
bewundert immer das, was man nicht besitzt, und ist selbst geneigt, es zu über¬
schätzen.
Wir haben bisher leider uur ein Werk des Grafen Leo Tolstoi kennen
gelernt, das ist der soeben in deutscher Übersetzung erschienene Roman: Anna
Karcnina*); aber wir haben die Anerkennung Turgenjews begreifen lernen,
der diesen Autor in die allererste Reihe der europäischen Nomaneiers stellte.
Als Künstler wie als Mensch ist Tolstoi gleich bewundernswert, und in der
Art, wie er die allerneuesten, von den Franzosen vertretenen Prinzipien eines
die Wirklichkeit streng festhaltenden Naturalismus mit dem sittlichen Adel des
wahrhaften Dichters und nicht bloß Kopisten der Außenwelt verbindet, steht er
wohl einzig da. Als Künstler zeichnet ihn eine merkwürdig objektive Haltung
in der Erzählung ans; nie tritt er selbst hervor, immer spricht er durch das
Bild, den Gang der Handlung, die Entwicklung der Charaktere und Schicksale
aus, was er will. Er ist ferner — was noch seltener vorkommt — niemals
abstrakt. Und hat man Ursache gehabt, sein älteres Werk „Krieg und Frieden"
von feiten der Komposition zu tadeln, so zeichnet sich „Anna Karenina" durch
eine vollendete Einheit der Handlung und eine wohlabgewogne, auf die Wirkung
des Kontrastes aufgebaute Erfindung aus. Dabei ist die Darstellung immer
erfüllt, ja übersättigt von malerischem, der Natur abgelauschtem Detail, und es
ist wahrhaft entzückend, was Tolstoi alles in den Bereich seines liebevoll be¬
obachtenden Künstleranges zieht- Und den Menschen Tolstoi kennzeichnet der
ganz schlicht hingestellte und vielleicht einzige abstrakte Satz in dein Werke, der
ans der letzten Seite des Romans erscheint, in einer Stimmung der süß er¬
frischenden Ruhe nach einem stürmisch ausgetobten Gewitter: „Die einzige Offen¬
barung des Göttlichen ist das Gesetz des Guten," Zabel spricht in dem Vor¬
worte zu dem Romane von einem Hang zum Mystizismus in Tolstoi, einem
Hang, dem jedes in der Empfindung reiche Gemüt früher oder später ein Opfer
bringt, und dem auch Turgenjew in seinen phantastischen Erzählungen seinen
Tribut zahlt. Indes ist Tolstoi niemals freier von Mystik als in dem von
der größten Klarheit getragenen und von allen Vorurteilen seiner Kirche und
Nation freien Roman „Anna Karenina." Hier erscheint er als echter Tragiker,
der den schweren Ernst des Sittengesetzes mit dem tiefsten Gefühl für die Ge¬
walt der Leidenschaft in einer Empfindung zugleich im Busen trägt. Wohl
geht ein Nousseauscher Zug durch sein Werk: der ironisch und satirisch geschil¬
derten Gesellschaft der Großstädte Moskau und Petersburg steht das mit Be¬
hagen und Begeisterung gezeichnete Leben auf dem Lande, dein sittenlosen, egoi¬
stischen Junggesellenleben das mit unendlicher Liebe und mit der Vertiefung
derselben geschilderte Familienleben gegenüber. Aber Tolstoi ist auch ebenso
weit entferut, mit Rousseau die Rückkehr zur Natur durch Verachtung aller
Zivilisation erkaufen zu wollen. Sein Held, der die Liebe zum Landleben ver¬
tritt und nnr in der landwirtschaftlichen Thätigkeit die wahre Arbeit erkennt,
Macht sich alle Erfindungen der modernen Technik zu nutze, und sein größter
Jammer ist, daß seine Arbeiter, die Bauern, darauf nicht eingehen wollen,
sondern im alten Schlendrian träge verharren. Auf dem Lande und seiner der
Zerstreuung fernen Einsamkeit ergiebt er sich tiefen philosophischen Studien.
Nur die Prvtektiouswirtschaft der russischem Beamtenhierarchie haßt Tolstoi und
behandelt sie demgemäß mit feiner Ironie. Auch sonst ist er nichts weniger als
um Doktrinär; in derselben Leidenschaft, welche zu tragischen Ende eines
Menschenlebens führt, läßt er auch seinen Helden — so unsittlich im gewöhn¬
lichen Sinne sein Verhältnis zur Frau eines andern ist — sittlich besser werden.
Nicht wie bei Turgenjew zu schwachmütiger Entsagung und aussichtslosen Unter¬
gange führen bei Tolstoi die schweren Konflikte der Leidenschaft; der ganze Mensch
wird dabei aufgewühlt, er hat die Goldprobe zu bestehen, und selbst wenn er
untergeht, verläßt ihn nicht unsre Sympathie, da er die Grenzen der mensch¬
lichen Kraft erreicht hat.
Doch genug von diesen Allgemeinheiten, die den Versuch machen sollen,
ungefähr die Grundstimmung mitzuteilen, auf der sich alle die Vorgänge des
Romans abspielen. Es ist nichts schwerer, als von einem wahrhaft objektiven
Dichter und zumal nach einem einzigen Werke ein persönliches Bild zu ent¬
werfen.
Die Ehe und das Familienleben geben das Thema unsers Romans ab.
In drei Gruppen — alle dem Stande der hohen, an Geld und Einfluß reichen
Aristokratie angehörig — werden drei verschiedene, aber typische Verhältnisse
dargestellt. Die eine Gruppe bildet Stipcm Oblonsky mit seiner kinderreichen
Frau Darja. Er ist einer jener Durchschnittsmenschen, die gutmütig und schlau
zugleich das Leben sich so genußreich als möglich einzurichten bestrebt sind.
Grundsätze giebt es für sie nicht, aber da sie harmlos bloß auf materiellen
Genuß bedacht sind, richten sie auch nach außen keinen Schaden an. Solch
ein Mann schwimmt stets mit der Majorität und läßt sich von ihr tragen, von
den einflußreichen Verwandten beschützen. In seiner Ehe möchte Stipcm am
liebsten das Leben des Junggesellen fortführen; über rein animalische Liebe zu
seinen Kindern und zu seiner Frau, und zwar solange sie seine Sinne reizt,
kann er sich nie erheben. Was für ein Leben eine zarte, edle, selbstlose Frau
an seiner Seite führen muß, läßt sich leicht voraussehen. Sie kommt in der
That hinter seine Untreue, hinter ein Verhältnis zu einer Gouvernante seiner
Kinder; aber was soll die gute Darja machen? Ihr erster Zorn, in dein sie
das Haus verlassen und zu ihren Eltern zurückkehren will, wird besänftigt,
und sie muß auch fortan ihren Kindern zuliebe die Augen zu dem Treiben
ihres Gatten zudrücken. Er ist nun einmal nicht anders zu machen; sie muß
es leiden.
Die zweite Gruppe umfaßt die Hauptgestalten des Romans. Stipans
schöne Schwester Anna, seit mehreren Jahren schon an den hohen politischen
Beamten Alexei Karmin in Petersburg verheiratet, war auf deu Lärm, der
durch jenen ehelichen Streit in der Familie entstanden war, zu ihrem Bruder
nach Moskau geeilt, und ihren Bemühungen gelang es, den häuslichen Frieden
wiederherzustellen. Doch eben da lernte sie den Freier ihrer Schwägerin Kitty
(Katharina), der Schwester Darjas, kennen. Es ist ein schöner Offizier mit
all den Vorzügen und Lastern der modernen russischen, adlichen Jugend, un¬
sittlich und doch nicht prinzipicnlos, denn die Prinzipien seiner Welt des Sports
und des Klubs entfernen sich eben sehr von der bürgerlichen Moral. Wronsky
— so heißt er — läßt Kitty stehen, die ihm zuliebe die Werbung des ehr¬
lichen Gutsbesitzers Lewin abgewiesen hat, und eilt der Karenina nach Peters¬
burg nach. Nuna lebte mit ihrem Gatten bis dahin in einer kühlen, leidenschafts¬
losen, immerhin aber ungetrübten Ehe. Sie wird als ein Weib geschildert von
Charakter, Klugheit und ungewöhnlicher Schönheit, liberall geehrt, geliebt. Der
Besitz ihres Sohnes Serescha ersetzte ihr bisher, was sonst etwa ein unbefrie¬
digtes Gemüt dunkel ersehnte. Mit dem Augenblicke aber, da Wronsky in
ihren Kreis tritt, nimmt dieses Glück ein Ende. Sie flieht, der Gefahr sich
bewußt, und ist doch so glücklich, sich geliebt zu wissen. Denn ihren kalten,
ganz im ehrgeizigen Büreautreiben aufgehenden, sonst aber so ziemlich charakter¬
losen und überdies um ein bedeutendes älteren Mann hat sie nie geliebt.
Wronsky aber ist ihr, der Fliehenden, immer auf den Fersen; sie mag gehen,
wohin sie will, er ist in der Nähe. Auch ihn beherrscht die Leidenschaft derart,
daß er seinen Dienst vernachlässigt, ja im Verlaufe der Geschichte seine Karriere
ganz aufgiebt und den Dienst quittirt. Es kommt, wie es kommen muß: die
schöne Karcuina ergiebt sich ihrem Liebhaber, die Gesellschaft, die im Geheimen
alles erlaubt, zieht sich vou Anna zurück, da ihr Geheimnis offenkundig wird —
es geschieht dies bei einen: Wettrennen, bei dem Wronsky stürzt und Anna sich
aus dem Zuschauerraum halb ohnmächtig entfernen muß —, es muß zu eiuer
Scheidung ihrer Ehe kommen. Aber eben um diese Scheidung erheben sich eine
Menge von Schwierigkeiten, die teils aus dem Charakter des Gatten, teils aus
dem Wesen der Kareuina als Mutter, als Weib herrühren. Jener will nach
ihrem aufrichtigen, eignen Geständnis des Ehebruchs gleichwohl von einer
Scheidung nichts wissen. Pharisäerhaft verbrämt er mit Sprüchen aus dein
Evangelium seine Unmännlichkeit: schlägt man dich auf die eine Wange, sagt
er u. s. w., und er will ihr verzeihen, das fremde, illegitime Kind mit der eignen
Ehre decken, wofern die Gattin mir vor der Welt den Anstand bewahrt und
den Verkehr mit ihrem Liebhaber abbricht. Im Grunde ist's ihm aber nur
darum zu thun, den Eklat vor der Gesellschaft in der Besorgnis um seine
Stellung zu vermeiden. Auch ein Duell mit Wronsky, welches diesem als
Offizier keineswegs unwillkommen wäre, vermeidet der Pharisäer. Aber kann
denn so ein verlogenes Leben ertragen werden? Ist nicht Anna viel zu edel
und leidenschaftlich verliebt, die Maske vor der Welt festzuhalten und Wronsky
zu entbehren? Dieser hat, um mit all den Wirren ein Eude zu machen, schon
einmal selbst Hand an sich gelegt, doch wurde er vom Tode errettet. Nun aber
wird auch jede Rücksicht zur Seite geschoben und die Liebenden ziehen zusammen
nus ein Gut des Offiziers, wo sie ehelich leben, in steter Erwartung, daß ihr
Bund werde legitimirt werden. Die Unterhandlungen wegen der Scheidung
werden jedoch fruchtlos fortgesetzt; mit gleicher Leidenschaft wie an ihrem Ge¬
liebten hängt nämlich Anna an ihrem Sohne, dem acht- oder neunjährigen
Knabe» Serescha. Um diesen seinen Besitz dreht sich der Streit zwischen den
beiden Gatten: im Sohne sieht die ehebrecherische Frau ihren zukünftigen Richter,
ihn selbst auferziehen heißt das Urteil Gottes mildern oder doch beeinflussen.
So wenig aber Karmin auch sein Kind liebt — er liebt eben nichts als seine
politische Karriere —, so wenig mag er es der Mutter überlassen, wobei ihn noch
zum Unglück das Gesetz unterstützt. Das illegitime Zusammenleben mit Wronsky
gedeiht indes der Karcnina auch nicht zum Heile, und es ist die Kunst des
Dichters gerade in diesen Teilen seiner Erzählung nicht genug zu bewundern.
Aus der innersten Natur des Weibes und des vorliegenden Verhältnisses scheint
sich die Katastrophe ganz notwendig zu entwickeln. Denn Anna ergreift in dem
Gefühle, Wronsky durch kein stärkeres Band als ihre jugendliche Schönheit und
die freie Liebe an sich geknüpft zu sehen, zu deu seltsamsten und oft bedenklichsten
Mitteln, ihn festzuhalten, sich ihre Schönheit zu bewahren, durch diese ihn immer
neu zu bezaubern. Da ihr eignes Gewissen sie foltert, wächst der Liebhaber selbst
ihr in ihrer Überreiztheit zum Richter ihres Thuns heraus, indes er nnr seiner
Mannesnatur treu bleibt, sie aufrichtig liebt, sich aber immerhin von ihren an¬
stachelnden Hilfsmitteln zeitweise verletzt fühlt. Eine wahnsinnige Eifersucht
beherrscht die Unglückliche, ein grenzenloses Mißtrauen in alle seine Handlungen,
in seine Treue führt die peinlichsten Szenen herbei, bis Anna durch einen
Selbstmord ihrem qualvollen Dasein ein gräßliches und doch erlösendes Ende
bereitet. Wie Tolstoi diese Vorgänge darstellt, ist es wohl eine der er¬
schütterndsten Tragödien, die je geschrieben worden! Und wie weit ist er hier
ebenso von Sentimentalität wie von Frivolität entfernt! Wronsky. der zusehends
sittlicher und edler in der Liebe zu Anna geworden, weiß nun seinem ruinirten
Leben kein andres Ziel zu geben, als die Teilnahme am Freiheitskämpfe der „sla¬
vischen Brüder," der Serben gegen die Türken. Dort will er den Tod suchen.
Die dritte Gruppe bildet das liebenswürdige und in seiner Liebe glückliche
Paar Lewin und Kiels, das erst nach manchen aufregenden Zwischenfällen sich
vereinigt. Denn, wie oben erwähnt, hatte ursprünglich das unerfahrene Mädchen,
unklar über seine eignen Gefühle, Lewins Heiratsantrag in Gedanken an
Wronsky ausgeschlagen. Und als sie dieser verließ, da verfiel das schöne Kind
in einen besorgniserregenden Zustand, der zu einer Reise in ein deutsches Bad
Anlaß gab. Hier erst, im Verkehre mit einer mannichfaltigeren Welt, reift das
Kind zum Selbstbewußtsein heran und wird sich klar, daß es den absonderlichen
Lewin eigentlich schon geliebt habe, als es ihm einen Korb gab. Absonderlich
ist Lewiu, weil er das heuchlerische, unsittliche und thatenlose Dasein der gro߬
städtischen Gesellschaft haßt und, ein Naturschwärmer, das Leben des Land¬
wirtes jedem andern vorzieht. Mit der Naivität keuscher und gerader Cha¬
raktere benimmt er sich in den Salons der Aristokratie, und es bedürfte erst
jener Läuterung, um dem von äußerem Schein leichtgcblcndeten Mädchen das
Verständnis für seine Ideale zu eröffnen. Dieses glückliche Ehepaar, bei dem
es auch nicht an Eifersuchtsszenen drolligster Art mangelt, bildet das ideale und
doch immer lebensvoll realistisch gezeichnete Gegenstück zu den zwei andern Gruppen,
Noch ein viertes Ehepaar wird gelegentlich skizzirt, ein altes, man möchte
sagen, echt rassisches: die fürstlichen Eltern Kitths und Darjas, ein tüchtiger,
klarblickender und verständiger Mann, der zuweilen der Nedeflut seiner eiteln
Frau weiche» muß, ohne deswegen das Szepter aus der Hand zu legen. Daß
»och eine ganze Menge von Nebengestalten neben diesen Typen einherlaufcn,
braucht nicht eigens erwähnt zu werden.
Das eheliche und Familienleben bilden also das nach verschiedenen Seiten
hin beleuchtete Thema der „Anna Kareuina." Auch die Schilderungen der Kindeo
stube, der Sorgen um die Kinder, der Freude an ihnen sind Glanzpunkte der
Tolstoischen Kunst. Vergleicht man diese Teile mit einem Werke S. Farinas:
„Mein Sohn," welches anch das Thema der Elternlust an ihren Kindern,
wenigstens im ersten Bande behandelt, so muß man sagen, daß der Russe dem
Italiener an Beobachtungsgabe und unverkünstelter Natürlichkeit weit überlegen
ist — eine Bemerkung, die zu belegen uns hier zu weit führen würde. Die
Politik spielt in dem Romane Tolstois diesmal fast gar keine Rolle; nur gegen
das Ende hin, wo der Eintritt des unglücklichen Wronsky in die serbische Armee
vorbereitet wird, wird sie berührt, und in einer Weise, daß man den Autor als
einen Gegner des Panslavismus bezeichnen muß. Auch dies ist wohlthuend
und gestaltet sein Werk zu einer rein poetischen Schöpfung.
Die Übersetzung des Romans könnte sorgfältiger sein; es fehlt nicht an
Verstößen gegen die deutsche Grammatik, z. B. I, 49: Die jungen Leute sollen
„sich einander" heiraten. Wir haben mehr dergleichen notirt; doch lieben wir
solches Herumstochern nicht.
ach der Sitzung vom 4. März ist mir der Vorwurf gemacht
worden, ich hätte mich über das Verhältnis zwischen —es— und
—et— getäuscht und dazu beigetragen, die öffentliche Meinung
irrezuführen. Demgegenüber kann ich umsoweniger schweigen, als
jener Vorwurf zugleich beweist, wie schwer sich selbst Politiker in
den Gedaukeugnng von Staatsmännern zu finden wissen. Ja, dein ober¬
flächlichen Blicke kann der 4. März lvie ein Wagram nach dein glorreichen
Aspern des 15. Dezember vorkommen; in der That aber wollten die Feld-
Herren der Verbündeten an diesem Tage keinen Sieg, weil demselben unaus¬
weichlich die furchtbarste Niederlage gefolgt sein würde, sie ordneten einen
ehrenvollen Rückzug an, um die Armee zu retten. Daß der Sieg in ihrer
Hand lag — wer will daran zweifeln? Wären sämtliche Heerhaufen abermals
in die Schlachtlinie gerückt, so hätten sie den Kanzler und seine Getreuen in
Grund und Boden gestimmt. Allein was dann? Urgemütlich wie der Kanzler
ist, würde er die Auslösung des Reichstages durchgesetzt haben, und bei den
Neuwahlen wäre die ebenso freisinnige als deutsche Partei hinweggefegt worden.
Denn, so schmerzlich es ist, muß doch eingestanden werden, daß die Deutschen
mehr und mehr sich von idealen Bestrebungen abwenden, daß sie die Gründung,
innere und äußere Befestigung des Reiches höher anschlagen als die Existenz
einer parlamentarischen Fraktion, ja, als die fulminanteste und hohlste Oppo¬
sitionsrede. So weit ist es gekommen, täuschen wir uns nicht, und damit muß
man rechnen. Wer weiß, ob zur Eröffnung eines neuen Reichstages die ge¬
nannte Partei noch der von Herrn Eugen Richter öfters zitirten einen Droschke
bedurft, ob sie nicht ihr gänzliches Ausbleiben „Entrüstnngsschwindels halber"
hätte entschuldigen müssen. Und was dann eingetreten sein würde, vermag sich
jeder auszumalen. Die Geschäfte wären in aller Ruhe besorgt worden, die
verhaßten Reformen durchgeführt, keine große Debatte hätte Abwechslung in
das trockene Einerlei gebracht, die Majorität Hütte großmütig dann und wann
den Herren Ultramontanen gestattet, ihre bekannten Klagelieder abzusingen, und
den Herren Sozialdemokraten, das jüngste Gericht an die Wand zu malen — das
wäre alles gewesen. Einen solchen Zustand herbeizuführen, das gestattete den
Freisinnigen ihre Ehre und ihr — hin, hin! — Patriotismus nicht. Diese
Sachlage hatte anch das Zentrum wohl erkannt, und es nahm für den Schlacht¬
tag Beurlaubungen vor, damit der Rest als alte Garde in der Minorität sein
konnte, sich aber nicht zu ergeben brauchte. General Windthorst war klug,
aber der weiche und der harte freisinnige Kehllaut, Richter und Rickert, waren
weise. Der eine hielt die Fraktionsfahne hoch, der andre half den ungelegener
Sieg verhindern und brachte zugleich der (irregeführten) öffentlichen Meinung
ein Opfer: er wurde nicht marode, sondern ging über, sodaß der liberale Phi¬
lister sagen kann, die Leute seien doch nicht ganz so schlimm, wie er nach dem
15. Dezember gemeint habe, sie ließen doch mit sich reden. Der Auflösung ist
vorgebeugt, und nun kann die negative Thätigkeit lustig fortgesetzt werden.
Ich hoffe mit diesen wenigen Worten zur Aufklärung des Urteils über die
letzten parlamentarischen Vorgänge das meinige beigetragen zu haben, und will
nur noch meiner Befriedigung darüber Ausdruck geben, daß nun auch festgestellt
worden ist, wer eigentlich den Frieden in Europa aufrecht erhält. Parteiische
Schriftsteller Pflegen die Sache so darzustellen, als ob dieses Verdienst dem
Fürsten Bismarck zukäme. Jetzt haben wir jedoch gesehen, daß gerade er drauf
und dran war, an der Spitze der blutdürstigen Nativnalliberalen über die un¬
schuldigen wehrlosen Engländer herzufallen, und daß ohne Zweifel bereits ein
Blutbad angerichtet worden wäre, wenn nicht Eugen Richter sich ihm kühn ent-
gegengeworfen und mit seiner Brust die Speere aufgefangen hätte. Engländer
und Deutsche vereinigen sich daher in dem Gebet um Erhaltung dieses Schirm¬
herrn des Friedens. Möchte nur auch auf allen Seiten seine Warnung be¬
herzigt werden, kein Oel in das Feuer zu gießen, welches etwa zwischen Deutsch¬
land und andern Ländern entbrennen könnte. Denn wir brauchen ja unser Oel
höchst notwendig, um damit die inländischen Brände zu nähren!
t^-L^^ßeilige Schritte von dem Albergo Sanmichele harrte Beppo seines
Herrn. Es war in den Straßen schon ziemlich finster ge-
worden, aber der von dem Padnaner für seinen Herrn in Be¬
reitschaft gehaltene Mantel kam dem von seinem unverhofften
Erfolge aufgeregten Verliebten doch zupaß, denn die wenigen
seiner ansichtig gewordenen hatten schon Miene gemacht, als erkennten sie in
seiner Vermummung den tollen Giuseppe Gonzaga, obgleich sein roter Voll¬
bart tüchtig gestutzt worden war.
Jetzt nimm deine Goldfüchse in Gottes Namen mit nach Hanse und meinet¬
wegen mit ins Bett, sagte Giuseppe zu Ephraim, indem er den Koffer mit den
Schmucksachen auf das Pflaster stellte, um sich mit Beppo von dannen zu be¬
geben; wenn ich morgen das Leben habe, bezahle ich dir noch einen Ring, den
ich dem Fräulein verehrte. Wo nicht, so laß dir an deinem heutigen Fisch¬
zuge genügen. Einen ganzen Monat voll solcher Geschäftstage, und du kannst
der Republik Venedig den Löwen des heiligen Markus ablaufe».
Und wer trägt mir den Koffer heim, Eure Herrlichkeit? fragte Ephraim,
der mit seiner Perlenkassctte unterm Ann und mit der Dukatenlast in seinen
beiden Hosentaschen gerade schon hinreichend beladen war.
Das ist deine Sache, Jude! lachte Giuseppe.
Beppo erbot sich, den Alten heimzugeleiteu. aber Ephraim setzte sich pro-
testirend auf seinen Lederkoffer. Macht, daß ihr mir beide ans den Augen
kommt! eiferte er; einer ist noch schlimmer als der andre.
Mich jammert der alte Mann, sagte Beppo, dessen lallende Zunge übrigens
schon wieder die Ansicht seines Herrn, daß Beppo nur vormittags zu brauchen
sei, bestätigte; laßt ihn mich Heimgeleiten, Signore! Wer weiß, was ihm mit
seinen Taschen voll klingenden Goldes zustößt!
Was du Schurke mit mir im Sinne hast, das weiß dein Herr sogut wie
ich, jammerte Ephraim; nehmt ihn mit Euch, hoher Herr. Ich verlange keine
Zahlung für den Ring, mag er noch so kostbar gewesen sein. Nur laßt den
Burschen mir nicht nachschleichen. Er wäre die längste Zeit Euer Gelegenheits-
macher gewesen, wenn Ihr ihn heute aus den Augen ließet, denn ich fühle seine
Kralle schon im Nacken: er ist die rechte Sorte, die, um selbst den Herrn spielen
zu können, ehrlichen Leuten im Dunkeln den Garaus macht.
Beppo wollte sich an dem Schmähenden vergreifen, aber Giuseppe Gon-
zaga faßte deu Trunkenen beim Kragen und nötigte ihn mit einem derben
Rippenstöße, seiner Dienerpflichten eingedenk zu sein, also zunächst aus dem
Versteck eines Thorwegs die für den Heimweg in Bereitschaft gehaltene bren¬
nende Laterne hervorzuholen und mit dieser dann seinem Herrn, wenn auch
schwankenden Schrittes, vorcmszuleuchtcn.
Wie von der Erde verschlungen verschwand währenddessen der alte Hebräer.
Er hatte oft schon schwerere Kisten und Säcke getragen als den ledernen Koffer,
die Perlcnkassette und die Taschen voll Dukaten, und wenn er vovhin sich ge¬
stellt hatte, als könne er nicht ohne Giuseppe Gonzagas Hilfe seine Schätze
fortbringen, so war es nnr in der Hoffnung geschehen, unter dem Schutze
desselben heimzukommen.
In einer der nächsten Straßen, durch welche der Diener lallend und in
Schlangenwindungen, mehr stolpernd als gehend, seinem Herrn mit der hell-
leuchtenden Laterne vorausschritt, sprudelte ein munter gurgelnder Qucllbrnnnen.
Setze nieder, befahl Giuseppe dem Berauschten, und da dieser nicht verstand,
von was oder von wem die Rede war, nahm Giuseppe ihm die Laterne ans
der Hand und wies ihn an, sich unter der Brunnendvuche womöglich wieder
zu einiger Ernüchterung zu verhelfen.
Aber das Mittel wollte nicht sogleich verschlagen, und so faßte Giuseppe
einstweilen auf dem Sitze des niederen Brunnenrandes Posto, indem er Beppo
zu verstehen gab, er möge von Zeit zu Zeit das Experiment wiederholen, denn
es sei noch Wichtiges zu besprechen, und es solle Beppos Schaden nicht sein,
wenn er vor MWiZg. molto wieder zu dem vollen Gebrauch seiner fünf Sinne
gelange.
Inzwischen hüllte sich der von einem wüsten Durcheinander bunter Bilder
Erfüllte fest in seinen Mantel und stützte, indem er zum sternenbesäten Nacht¬
himmel emporblickte, seinen Kops in die Hand.
Es war lanliche Luft, und Orangendüfte von der Terrasse irgend eines
hochgelegenen Gartens mischten sich in den Duft der Kletterrosen, welche zwischen
zwei hinter dein Brunnen stehenden ehrwürdigen Zypressen in üppigem Geranke
sich hin- und herwicgten.
Aber Giuseppe war es, als umspiele ihn der Atem des lieblichen Wesens,
dessen Ringlein er am Finger trug.
Der Brunnen plätscherte melodisch, Heimchen zirpten traulich bald hier,
bald dort, Nachtigallen lockten von weitem in langgezogenen Tönen.
Aber Giuseppe hörte im Geiste nur noch immer, und nicht ohne Beschä¬
mung, die einzigen Worte, die über die Lippen Florida Buonaeolsis gekommen
waren, ihr stockend erschrockenes: Ein Gonzaga! Und dann ihr tonlos heraus-
gestoßenes: Nicht, nicht! als er ihr abwehrendes Kopfschiitteln mit überlistenden
Mißverstehen als ein stummes Beantworten der Frage nach dem Gemache, wo
sie ihn erwarten werde, gedeutet hatte.
Also auf der andern Seite, das waren die Worte gewesen, mit denen er
wiederum ihrem: Nicht, nicht! die abweisende Bedeutung genommen hatte, um
weiter zu dem Ringwechsel und zu dem Scheine ihres Einverständnisses in be¬
treff der Boten zu gelangen, die zwischen ihr und ihrem Verschwornen im Ge¬
heimen hin- und herzureiscn haben würden, und er hatte ihr nicht Zeit gelassen,
zu widersprechen, sich von ihrer Bestürzung zu erholen, ihre freie Entschließung
zu wahren, den dünnen Goldreif zurückzufordern, das Schlänglein mit den fun¬
kelnden Nnbinäugelchen weit von sich zu weisen.
Was zwischen ihm und ihr vorgegangen, in dieser Weise zog es an seinem
innern Auge vorüber. Halb zürnte er sich, halb war er berauscht von der
Lieblichkeit Floridas, wenn nicht gar schon von dem Vorgenusse der Wonnen,
um deren Preis er sich zu dem kecken Wagnis erniedrigt hatte.
Erniedrigt? Nein, rief er, so ängstlich moralisirt nur eine Memme. Wenn
ich ihre Liebe erst gewann, würde sie da noch fragen, was ich, um dieses Zieles
willen, in die Schanze geschlagen habe? Aus Leidenschaft zu ihr! Wird sie
mir da noch nachtragen, daß ich zur Kriegslist meine Zuflucht genommen hatte,
einer Festung gegenüber, für deren Besitz mir kein Preis zu hoch sein durfte?
Komm her, Beppo! befahl er, ich habe nicht Zeit, bis zum Lerchentriller
hier die Sterne zu zählen.
Der Herbeigerufene trat unsichern Schrittes vor seinen Herrn.
Heb die Laterne in die Höhe.
Beppo gehorchte.
Wie eine gebadete Maus! sagte Giuseppe ärgerlich? alles schwimmt an dem
Nichtsnutz, sogar noch immer seine Augen! Einerlei, ich werde erwartet. Zeit
ist nicht zu verlieren. Getraust du dich, mich ohne Aufsehen in den ersten
Stock des Albergo Scmmichele zu schaffen?
In das Albergo —
Scmmichele.
Scmmichele, bestätigte der erst halb Ernüchterte, zum Beispiel? Dssmxi-
N'Wen?
Es ist nichts mit ihm anzufangen, brummte Giuseppe; eine nochmalige
Traufe! ^.viurti! Das Wasser wird deines dicken Schädels endlich doch Wohl
sogut Herr werden wie der lästerliche Wein!
Beppo ging gehorsam wieder an die unliebsame Prozedur.
Von neuem blickte Giuseppe Gonzaga zu dem Nnchthimmel empor und
hüllte sich fester in seinen Mantel.
Er war nicht so guter Dinge wie noch kurz zuvor. Wen» Beppos Scharf¬
sinn ihm nicht zu Hilfe kam, war im Grunde nicht abzusehen, wie der Liebes¬
handel weitergehen sollte. Alle Abenteuer, die er bisher bestand, hatten unter
.günstigeren Chancen begonnen als dieses hier.
Verstimmt blickte er um sich. Eine Mandoline klang in der Ferne, be¬
gleitet von einer Guitarre und einer Vivi^ ä'^nrvr». Die Musizirenden mochten
irgendwo ein Ständchen bringen. Aber nein, sie hatten nur präludirt und sich
in der Ferne gehalten, um ein Zeichen, daß sie willkommen seien, zu erwarten,
ehe sie näher lauten. Gerade gegenüber dem Brunnen schien das wiederholte
Öffnen und Schließen eines Fensters als dieses Zeichen aufgefaßt werden zu
sollen. Auch ein Licht, das angezündet und gleich darauf wieder ausgeblasen
wurde, diente offenbar ebenfalls als Signal, den» jetzt kam das präludirende
Terzett näher und näher und nahm endlich kecklich unter dem bewußten Fenster,
das nun wieder weit offen und bis auf eine weißgekleidete oder weißlich schim¬
mernde Gestalt — vermutlich einer die Huldigung erwartenden Hörerin — auch
rabenschwarz war, seine Aufstellung.
Es war eine recht harmlose Serenade, bei welcher namentlich die Violg.
ä'g.mors zu dreien malen mehr als billig ihre eignen Wege ging. Auch das
Liedchen, welches am Schluß des Ständchens nach einer damals in Verona
landläufige» Tonweise zur obligaten Guitarre gesungen wurde, litt unter der
Heiserkeit des Sängers, und es »kochte fraglich sein, ob der Text des Liedchens
— jenes Sonett, worin Petrarca „die nicht »lehr auf Erden weilende" Ma¬
donna Laura feiert —:
I^ovouiilli !1 mi» iMlsioi' in Mrto vo'or^
(jiwllli, oll'lo osroo s mein ritrova in körr-l —
in dieser Vortragsweise vorn Dichter wiedererkannt worden wäre, zumal da sich
der Sänger im Hinblick auf seine der Erde noch keineswegs entrückte Zuhörerin
einige Änderungen erlaubte.
Als mit einem herzlichen Ottiirig-inöirls! IiöirlssiiQu! die weißlich schimmernde
Schone ihr Fenster geschlossen hatte, bewegte sich das Terzett, angelockt durch
das Licht der Laterne, auf die Stelle zu, wo Giuseppe Gonzaga mit ironischem
Unbehagen das Konzert mehr ertragen als genossen hatte.
Der Mann im Mantel wurde respektvoll begrüßt und um etwas Feuer
für die von dem Terzett unangezündet mitgebrachte Laterne gebeten. Als Giu¬
seppe dem Wunsche gewillfahrt hatte, hielt der Sänger für schicklich, sich und
seine Freunde dem von ihm in seinem beschaulichen Alleinsein gestörten Signore
vorzustellen. Über Ginlietta, seine liebe Braut, die Tochter des Wciuwirts zum
steinernen Cappello — denn das Haus der Cappuletti war es wiederum, vor
welchem diese Szene sich abspielte —, fügte er hinzu, dieselbe werde, aus Rück¬
sicht auf ihren in Coruegliauo angestellten Paten, namens Lievito, der einen
Teil der Aussteuer bestreite, erst im nächsten Jahre, wo ihm ein Urlaub zu¬
gesichert sei, heiraten können, sie aber wie auch ihr Zukünftiger, der in diesem
Augenblicke die Ehre habe, dem Signore aufzuwarten, sie beide seien leiden¬
schaftliche Musikfreunde, und so werde der etwas lange Brautstand denn mit
Hilfe seiner lieben Freunde zu Nachtmusiken fleißig benutzt.
Damit empfahl sich mit höflichem Verneigen das mit seinem Tagewerke
nun vergnüglich fertige Terzett, und Giuseppe Gonzaga war wieder mit seinen
Gedanken allein. Sie waren keine erbaulichen. Der Gegensatz zwischen diesem
ehrbar unschuldigen Liebeshandel und demjenigen, der ihn beschäftigte, hielt ihn
eine gute Weile in unerquicklichen Betrachtungen fest. Endlich rief er wieder
ärgerlich uach dem Paduaner und sprang unmutig von seinem steinernen
Sitze auf.
Der Gerufene hatte seine durch die wiederholten Traufen arg mitgenommen
gewesene Toilette wieder in Ordnung gebracht und war von seinem Rausche
völlig genesen.
Euer Gnaden danke ich für gütige Nachsicht, sagte er mit tiefem Bücklinge,
und bitte meiner Besferuugsvvrsätze versichert z» sein.
Lassen wir das, versetzte Giuseppe, bist du endlich klaren Geistes?
So klar wie ein Spiegel aus Pisaner Krystall!
Leus. Mache mir es auf der Stelle möglich, daß ich in Florida Buona-
colsis Nähe gelange.
Schon wieder, Signore?
Wie du hörest.
Aben eben kommen Euer Gnaden ja erst von ihr.
Und auf der Stelle sollst du Rat schaffen, daß ich sie im Geheimen
sprechen kann.
Da bitte ich vor allem Euer Gnaden, mir zu sagen, ob Ihr mit dem
Fräulein einig geworden seid.
Du sollst alles wissen. So also bin ich verfahren.
Und Giuseppe Gonzaga wiederholte genau die Phantasmagorien, die er
in der Geschwindigkeit improvisirt hatte, zu seinem eignen Erstaunen, wie er
bekannte, denn sonst immer gewohnt, Veppo in solchen Angelegenheiten statt
seiner den Schlachtplan entwerfen zu lasten, habe er eigentlich seinen Weg nicht
klar vor sich gesehen und begreife nachträglich selbst nicht, wie er solchen Riesen¬
bau von Erfindungen unter dem Einflüsse des drängenden Augenblickes habe zu¬
sammenzimmern können.
Auch Beppo war erstaunt, vor allem aber über den Wahn seines Herrn,
es lasse sich von diesem Schwiudelgerüst ans nun sofort ein Fenster ersteigen.
Mit aller Behutsamkeit kleidete er diesen Einwand in Worte.
Das möglich zu machen, ist deine Sache, rief Giuseppe; ich habe deinen
Witz diesmal meilenweit überholt; jetzt spanne einmal alle Pferde vor, die in
deinem dicken Schädel vor der Krippe stehen. Oder bist du noch immer vom
Wein umnebelt?
Nicht im mindesten, Euer Herrlichkeit. Gestattet, daß ich auf zwei kurze
Minuten verschwinde.
Wohin?
Aber fort war er.
Giuseppe patronillirte ans und ab. Ihm war sehr unbehaglich zu Mute.
Er hatte manchen Schelmenstreich begangen, und die jungen Edelleute von
Verona waren ja überhaupt ans hundert Meilen im Umkreise bei den Damen
als Abenteurer berüchtigt oder — je nachdem — berühmt. Aber das Mittel,
durch welches er Florida Buonacvlsi ins Netz zu locken gesucht hatte, war — er
sagte sichs mit Zähneknirschen — so unritterlich, wie es nur ein feiler Schurke,
wie es uur ein Beppo hätte ersinnen dürfen. IZu, öl«,! Pfui! stieß er un¬
wirsch heraus und ballte die Faust. Ein Gonzaga und auf bübischer Schleich¬
wegen !
Noch schritt er wie ein im Käfig eingesperrtes Tier der Wüste in wilder
Bewegung auf und ab, da ließen sich in der Ferne Schritte vernehmen.
Giuseppe wandte das Haupt. Vier Gestalten kamen näher; um der Stimme
der einen erkannte er den Sänger von vorhin; der Padnaner führte mit vielen
Reverenzen ihn und seine Genossen seinem Herrn wieder zu.
Eure Herrlichkeit, sagte er, diese braven Leute wollen die Güte haben, vor
dem Albergo Sanmichele noch einige Proben ihrer Kunst abzulegen. Belieben
Euer Gnaden die Laterne, wenn wir in die Nähe des Albergo kommen, unter
Euerm Mantel zu verbergen, denn wir zwei, Euer Gnaden und ich, werden,
dem Albergo gegenüber, aus irgendeinem Winkel verstohlen zu beobachten haben,
wer sich an den Fenstern zeigt.
Es soll uns eine Ehre sein, Euer Herrlichkeit zu dienen, bestätigte der
Sänger; er hatte schon vorhin die Manieren des Mannes im Mantel als die
eines Kavaliers zu erkennen geglaubt.
Giuseppe verstand nicht ganz, was Beppo im Schilde führe, aber er hatte,
wie er fühlte, sich selbst so schlecht beraten, daß er mit einem Dank an das
dienstwillige Terzett diesem und dem verschlagensten aller zweibeinigen Veroneser
Spürhunde das Weitere überließ.
Gehenkten Kopfes folgte er den lautlos ihm Vorauswcindelnden. Er war
entschlossen, die nächste Gelegenheit zum Enttäuschen Floridas zu benutzen.
Das breite, einstöckige Albergo Sanmichele lag, so schien es wenigstens,
in tiefem Schlaf, als die Mandoline, die Guitarre und die Viola it'-unorc; vor
dem breiten, eisenbeschlagenen Thore desselben Posto faßten.
Große Auswahl mochte das Repertoire des Terzetts nicht bieten. Nach
kurzem Präludiren hob es mit der nämlichen hüpfenden Tonweise an, welche
vor einer Stunde die weißlich schimmernde Ginlietta ans Fenster gerufen hatte,
die unbewußte Epigouin jener andern Ginlietta, von welcher nur noch Chro¬
nisten und Poeten zu erzählen wußten.
Ständchen Ware» weder in Verona noch in andern Städten des sang- und
klangreichen Italiens je etwas Ungewöhnliches. Auch um das harmlose Ge¬
klimper der drei ehrbaren Musikliebhaber kümmerte sich daher weder der Wirt
des Albergo noch seine Gattin, noch selbst der weibliche Teil ihres sehr wenig
zahlreichen, für die geringe Frequenz des Gasthofes mit dem Schierlingswappeu
freilich noch immer zu zahlreiche» Dienstpersonals.
Anders der alte Buonaeolsi. Er hatte beim Beziehen seines Quartiers
die Auswahl unter allen sechs oder acht auf die Straßenseite hinausgelegenen
Zimmern gehabt, denn sie standen sämtlich leer. Nur seiner Tochter konnte
demnach das Ständchen gelten.
Er sprang daher im Nachtkleide hurtig aus dem Bette, riß das Fenster
auf und verbat sich die Störung seiner Ruhe.
Dergleichen war nächtlichen Musikbeflissenen nichts neues.
Man habe ihn garnicht im Sinne gehabt, rief der Sänger mit einen:
übrigens ehrerbietigen Hutlüften hinauf, und ohne daß die hüpfende Tonweise
unterbrochen worden Ware, verfügte sich das Terzett unter die Fenster des
uächstanstoßenden Zimmers.
Aber kaum hatte es sich dort wieder mit voller Seele in die Saiten ge¬
legt, als abermals ein Fenster aufgerissen wurde und die nämliche bezipfelte,
weiße Baumwollenmütze zum Vorschein kam.
Dieselben verbietenden, schon etwas lebhafter durch Gestikulationen unter¬
stützten Worte, dieselben höflichen Entschuldigungen und das nämliche Verschieben
der hüpfenden Tonweise unter die Fenster des uächstanstoßenden Zimmers.
So ging es von einer Station zur andern, bis mit einer brennenden
Kerze in der Hand ein grauköpfiger Diener sich zu dem alten, allmählich zornig
werdenden Herrn gesellte, worauf mit neugierigen Augen der Kopf einer rot-
bückigen, robusten Frauensperson in Papilloten an einem abseits liegenden Fenster
sichtbar wurde, von einem Nachtlichte eben deutlich genug beschienen, daß Beppo,
gleich seinem Herrn hinter einem dem Albergo gegenüberstehenden Heuwagen
verborge», jenem zuflüstern konnte, er wisse jetzt, was er habe wissen wollen.
Und Was ist das? fragte Giuseppe Gonzaga.
Folget mir, Eccellenza!
Wohin?
Nur ein paar Schritte, Signore!
Aber wohin?
Nun, Eccellenza, zu Eurer Schönen.
Beppo wollte vorausgehen, aber Giuseppe hielt ihn beim Ohrzipfel fest.
Erst rede, sagte er.
Wenn Ihr, Signore, so wenig Eile habt, mit Bergnügen.
Also geschwind. Ans welches Zeichen hattest dn gepaßt.
Auf die Papilloten.
Unsinn!
Oil Ag.llmtM0M(»!
Und was sollten sie nach Abrede zwischen dir und der Cmneriera bedeuten?
Ein Ja, er ist willkommen, wenn sie links saßen.
Und ein Nein, wenn rechts?
?ör iixxunto, Signore.
Tollheit! Und sie saßen wirklich links?
Ihr habt es nicht beobachtet, Eccellenza?
Und ich werde in Wahrheit erwartet? Aber so halte mich doch nicht auf,
Nichtsnutz! Geschwind, hier ist meine Börse. Belohne unsre biedern Tonmeister.
Und dann hin zu meinem Idol!
Beppo nahm ein paar Goldstücke aus der Börse.
Das ist mehr als genug, sagte er, schob sie aber unvermerkt in die eigne
Tasche, fertigte gleich darauf das Terzett mit einigen Händedrücken ab und holte
dann seinen jetzt doch vor Ungeduld zitternden Herrn hinter dem Heuwagen
hervor, um im Schutze der Dunkelheit, die nun wieder in der Straße herrschte,
mit ihm ein nahes Seitengcißchen zu gewinnen.
Folgt mir blindlings, Signore, beruhigte er seinen Herrn, dem der Umweg
nicht gefallen wollte; auf der Rückseite des Albergv sind mir alle Schlupflöcher
von früherher noch bekannt; allemal, wenn ich hier mit Sr. Eminenz, meinem
Herrn Kardinal übernachtete —
Genug des Geschwätzes! Sind wir am Ziel?
Hier ist das geheime Hintertreppchcn; siebzehn Stufen, Euer Gnaden.
Giuseppe Gonzaga legte vor freudiger Beklemmung die Hand muss Herz.
Hier, nimm die Laterne, sagte er, und um noch eins: Wann träfet Ihr zwei
die Abrede? Doch hoffentlich vor deinem Rausche?
Vergessen wir doch deu, Euer Gnaden.
Meinetwegen! Aber wann und wo?
Schon gestern wurde alles verabredet.
Schon in Villafranca? Unmöglich!
Unmöglich? ^.l oontrMio, Signore. Dergleichen muß festgestellt werden,
sobald man handelseinig ist, und da ich noch nie mit einer Cameriera zu thun
gehabt habe, die dem täglichen Einerlei ihrer Dienstpflichten nicht eine kleine
romantische Episode vorgezogen hätte, so waren wir in fünf Minuten einig.
Und wofür hast du mich ausgegeben?
schlechtweg für einen Principe; das ist immer das Einfachste.
Giuseppe Gonzaga hatte nur zu Atem kommen wollen. Warum, sagte er
zu sich selbst, verriet ich meinen unseligen Namen! Nur diese unnötige Offenheit
zwang mich zu dem Gewirre von Täuschungen, in das ich mich verstrickte!
Ihm pochte das Herz im Halse. Also siebzehn Stufen? fragte er, nicht
wahr, siebzehn? Und dann?
Dann reicht Euch die Cameriera schon die Hand. Aber greift in den
Beutel, Signore, greift tief in den Beutel. Wir werden vor allem in Mantua,
wo ich weniger zu Hanse bin, der guten Dienste des braven Frauenzimmers
nicht entraten können. Siebzehn Stufen, Euer Gnaden, die unterste ist etwas
morsch.
Und morsch sind die Stützen meiner Hoffnungen, sagte Giuseppe Gonzaga
vor sich hin, indem er treppan stieg. Was soll ich beginnen? Den Betrug
fortsetzen? Unmöglich! Ihn eingestehen? Noch unmöglicher! Ich möchte, ein
Abgrund verschlänge mich. O läge ich doch mit meinem Viergespann in diesen:
Augenblicke in der Tiefe des Veja-Grundes!
(Fortsetzung folgt.)
Nochmals Friedrich der Große und de Caet. Zum Beweise dafür, wie
wenig Herr von Sybel Ursache hat, sich auf die im 22. Baude seiner Archiv-
Publikationen besorgte Herausgabe der ,,Unterhaltungen Friedrichs des Großen mit
de Caet" etwas einzubilden, sendet uns der Herausgeber der im Grunowschen Ver¬
lage erschienenen deutschen Bearbeitung noch einige Nachträge zu den bereits früher
mitgeteilten Schnitzerverzeichnifsen. Der unparteiische Leser wird daraus abermals
entnehmen, ob Herr von Sybel ein Necht hat, eine deutsche Bearbeitung anzufeinden
die solche Schnitzer bemerkt und stillschweigend verbessert.
S. 368, 16: yuiuul ,sar tÄit wich rsutrs su moi-iusmv, js zg^s vos nrou-
vsmcms se rougis su moi et'avoir in-mgus ein als in floh uumgus. Es muß heißen
as« (nämlich as ecmseioues).
S. 369, 24 ist die in unsrer Auswahl aufgenommene Erzählung von Friedrichs
Vater bis zur Unkenntlichkeit entstellt: . - brouills avse W «sur, on dsNi,-t>su>, ^
UMnvi-s, ein wi 6it qu'it laikan Sö röooooilisr se xsrSoimvr. — M disu, övrivs--.' --
On fern. — jo rsvisus, us äouusii xoiut rua. lsttrs, mais Ag.us is es.» ins ^s mourr-ii.
Natürlich ist gemeint: si js rsvisus u. s. w.
S. 333, 3: on xsrruo.us g. 17er. soll doch Wohl bedeuten: (-uisbarä su
psrruPis », la lltrsent,
S. 385, 19: i?oliAuae . . . su vont^it I>uorses se Ah>olor et xarlait toujours
Avoo xlaisir eoutro hos ouvraxes. Lies: Los ouvra,g'Sö.
S. 406, 33: loi it Sö laisso sutormsr .... psut-on ag'ir toujours avöv 1^
moins tores ÄÄN8 tous los suclroits on on sntsrmo? Schwerlich, denn es muß
heißen: on on ost sukorruö.
S. 408, 2: I^o soir, co 21, staut Ag iniiuvaiss liumsur. Lies: ota.it.
'
S. 410, 19: O'sse surtout äaus so mstior vsuibls <inon axprsuä g. us somptor
c^us sur es gui sse co q.u'on tisut. Hier ist offenbar etwas ausgefallen, es muß
heißen: (zus sur es ani sse se sur es <zu'on tisut.
Eine häßliche Eigenschaft Cakes ist es, daß er sein Tagebuch zum Teil in
griechischen Buchstaben niedergeschrieben und dabei griechische und lateinische Phrasen
angewendet hat, wenn auch andrerseits nicht geleugnet werden soll, daß daraus
manches neue für diese Sprachen gelernt werden kann. So hat man z. B. bis
jetzt den Dativ von 6<?I« gebildet c>o5^? hier heißt er (374, 38). ri^rrc^-
galt bis jetzt nicht für ein griechisches Wort; hier (413, 3) lesen wir mit Befrie¬
digung alios Mullulum r^^rroc,' oral ad istu (beiläufig: Caet hat gemeint ludus).
Vor einem Vokal hat man bis jetzt ö/6w<7^ gesagt, hier (389, 29) heißt es ^rleaniu
<M«<7«. c,5, wo nach den bis jetzt bekannten Schriftstellern <,5 als nicht griechisch
zu bezeichnen ist (wahrscheinlich ist eine Abbreviatur angewandt, jedenfalls muß es
heißen: «or</7).
Im Lateinischen würde man bis jetzt (386, 17) eoZitavorat rogis douolioiis
nicht verstanden, sondern gesagt haben: alö rogis bouetieiis.
'
I'rien-Alle bslli tksatrum in alls, Silosia ist gegen die bisherige Grammatik statt
in Mg,in Silssiam (338, 37).
S. 414, 4 steht versus qui «^«^o/ltevos co?,t statt quos.
^raotabatur ab ipso steht 39V, 4 statt as ipso.
S. 396, 11 heißt es ut sibi Äarstur octo dataillons statt üaröutur.
S. 405, 7 heißt es von Finck, der zu sehr exponirt war, od^votum statt
ni^oetuiu.
Alles dies ist Caet nicht zuzutrauen, der an mehreren Stellen verrät,
daß er ganz ordentlich Latein verstand und wenigstens über derartiges er¬
haben war.
Nicht anders aber steht es mit dem Französischen.
S. 384, 33 steht pone-ßtrs fut-it hev msillour pour moi ü'avoir ses tun a.
XoruÄort statt luisux.'
S. 337, 21: .1s pssg bisu tout et ^o us korai risn i^, I» lsgöro. Il initio
pas a kairs statt it v a.
S. 499, 1: I/Ä Nöttrio avait aoeouturus statt sea.it.
S. 441, 7: xuuir as hos sujots statt öff suM.s.
S. 441, 37: un . . particulisr <lui voula.it Kö ^jouer a un g'rana roi statt ä'un.
Eduard von Hartmann und das Judentum. Der Philosoph des Un¬
bewußten, der mehr und mehr den Aufgaben des praktischen Lebens seine Auf¬
merksamkeit zuwendet, bietet in einer kürzlich erschienenen Schrift: Das Judentum
in Gegenwart und Zukunft (Leipzig und Berlin, W. Friedrich, 1885) Darlegungen,
denen man zunächst unbefangene Beobachtung und einen gewissen Gerechtigkeitssinn
nicht absprechen kann. Er schildert die durch das überwuchernde Judentum für die
europäischen Kulturvölker vorhandenen Gefahren und Anstöße richtig und anschaulich;
neben den auf die wirtschaftliche Ausbeutung bezüglichen Stellen dürste besonders
das in Kapitel 11 „Politik" Gesagte — wie der überall zur Schau gestellte politische
Liberalismus der Juden gegen ihre konservative Gesinnung in bezug auf die eignen
Stammeseigentümlichkeiten absticht — sowie das in Kapitel 10 über die Presse Ge¬
äußerte lesens- und beherzigenswert sein. Man darf Wohl behaupten, es fehlt
dn Herrn von Hartmann fast nichts mehr zum ausgeprägtesten Antisemitismus,
und doch — er beliebt von oben herab zu reden als ein der antisemitischen Ge¬
sinnung ganz und gar Fernstehender; immer wieder klopft er dem eben gegeißelten
Judentum auf die Schulter und sagt: Nur ruhig, Bruder; zwar jetzt ist es so,
wie ich sage, aber es kann ja anders werden; und wenn es anders wird, denn bist
du mir ganz angenehm!
Zu diesem Auftreten — er geberdet sich besonders im Anfang sehr vorsichtig,
und erst gegen das Ende seiner Schrift hin redet er immer offener — dürften ihn
die eignen literarischen Erfahrungen bestimmt haben. Denn es ist Wohl ein offen¬
kundiges Geheimnis, daß niemand mehr zur Begründung des Rufes und Ruhmes
Hartmanns als des wahren zeitgenössischen Weltweisen beigetragen hat als das
jüdische Literatentum, als die unter jüdischer Leitung steheude Presse Norddeutsch¬
lands; alle Fachblätter verhielten sich mehr oder weniger ablehnend gegen das fa¬
mose „Unbewußte," aber die verjudete „liberale" Tagespresse lobhudelte, so breit
sie uur ihren Mund öffnen konnte. Wie kam das? Nun, sie freute sich (gemäß
der S. 162 Von Hartmann selbst gegebenen trefflichen Beschreibung) über den zer¬
setzenden, skeptisch ncgircnden, kritisch auflösenden Inhalt der Philosophie des Un¬
bewußten, sie fand in ihr eine Bundesgenossin des eignen kulturzersetzenden Trachtens
und Treibens. In der That sucht sich ja die Philosophie des Unbewußten ge¬
radeso schmarotzend auf die christliche Kultur zu setzen, wie das Judentum schon
lange darauf sitzt. Ramus in-nun Ig.vu>l, darum muß nun dem Knaben Absalom
überall fein säuberlich ein Kompliment gemacht werden, wenn man auch die Wahrheit
über thu offen sagt. Wegen dieser thatsächlichen Beziehungen und überhaupt wegen
seiner nußcrchristlichen Stellung war Hartmann, trotz seiner Einsicht in die wirkliche
Sachlage, nicht zum Zeugnisablegen über die Judenfrage befugt.
Wir müssen gegen den Philosophen des Unbewußten, der in der vorliegen¬
den Schrift auf sein großes Unbewußtes gänzlich Verzicht leistet, aber nach
S. 176 sich nicht genng bei der alten, profanen „Vorsehung" bedanken kann, „daß
sie uns die Juden gegeben, um das Ansehen der Presse desto schneller zu rui-
niren" — wir müssen gegen ihn selbst sein Unbewußtes ins Feld führen. Er
verlangt als Gegenleistung für die volle Gleichstellung der Juden mit den Christen
„rückhaltlosen Verzicht auf das Stammesgefühl zu gunsten des Nationalgefühls"
(S. 65), „Zurückstellung" jenes Gefühls gegen dieses „in praktisch ausreichendem (!)
Maße" (S. 72), „Ersatz" des ersteren durch das zweite (S. 131), „Vertauschung"
des ersteren mit dem zweiten (S. 144), aber er hat sich nicht die Frage vorgelegt,
ob man denn ein vorhandenes „Gefühl" wie einen Rock ausziehen und mit einem
andern vertauschen könne. So wenig das bei den Gefühlen des Zahnwehs oder
des Podagras und überhaupt alles Leiblichen möglich ist, so wenig geht es bei den
rein psychischen Gefühlen an; das Bewußtsein mag gegen sie ankämpfen, aber sie
haben ihre tiefsten Wurzeln meist im Unbewußten, und so ist es entschieden gerade
beim Stammesgefühl des Judentums. Mohren wäscht man nicht weiß, und in
Juden Wäsche oder reibt man kein deutsches Nationalgefühl hinein, sie sind und
bleiben — Schmarotzer auf dem deutschen Volke. Als solche kennt und kenn¬
zeichnet sie unser Verfasser selbst, doch erst S, 127 seiner Schrift wagt er das
offene und ehrliche Wort „Volkshaß gegen den Schmarotzerstamm als solchen,"
vorher hilft er sich von S. 17 an immer wieder mit der schlauen Bezeichnung
der europäischen Kulturvölker als der „Wirtsvölker" der Juden, nur muß er un¬
willkürlich zugestehen, daß diese Wirtsvölkcr nicht etwa Schilder ausgehängt haben
mit der Aufschrift: Ihr lieben Gäste, kehret ein, ihr sollt uns recht willkommen
sein! sondern daß die Juden als „ungebetene Gäste" gekommen sind (S, 54, 59, 87).
Ungebetene Gäste sind Eindringlinge, und gegen solche muß der Wirt sein Haus¬
recht brciucheu. Begreift Hartmann nicht, daß er damit über deu Aufenthalt der
Juden unter uns eigentlich den Stab bricht, da er selbst nicht leugnen kann, wie
diese ungebetenen Gäste bis jetzt noch unter uns sich zu geberden pflegen; ja daß
von seiner Auffassung ans recht wohl eine allgemeine Judensteuer sich wieder fordern
ließe; wer die nicht zahlen will, der ziehe weiter zu andern Wirtsleuten, wo er
es billiger hat —?
So schaut aus dieser Schrift, wenn man tiefer blickt, unbewußterwcise eine
seltsame Ironie heraus. Ob die Herren Schuiul und Jtzig an diese sich stoßen
oder den galanten Herrn von Hartmann weiter als guten Freund und Bundes¬
genossen begrüßen werden? Das letztere wird schwerlich der Fall sein trotz aller
aufgewendeten Vorsicht. Die guten Ratschläge aber für „wirtschaftliche Selbsthilfe
des Publikums" S. 148 bis 156 (Ur. 1 „Niemand darf seine ganze Einnahme
verbrauchen, sondern muß eine Reserve legen, mindestens zehn Prozent" und noch
sieben andre derartige Punkte) nehmen sich im Munde des Weisen von Berlin
wirklich kindlich, recht kindlich aus, und zeigen, daß ihm die Nöte und Sorgen
andrer Menschenkinder, die ciira, noosWitas in so vielen Fällen, und überhaupt
die Lage unsrer Kulturwelt im ganzen und großen allerdings unbewußt, gänzlich
unbewußt geblieben ist. Z. B. scheint er sich kein deutsches Haus ohne Dienstboten
denken zu können und scheint persönlich mit der Vergendungslust dienstbarer Geister
üble Erfahrungen gemacht zu habe». Von den beschränkten Verhältnissen des
kleinen Mannes, der zuerst der Juden Beute zu werden pflegt, hat er keine
Ahnung. Die Welt aber ist rund und dreht sich weiter, und im deutschen Vater¬
lande sind die Juden drin, und bleiben bei aller Emanzipation und trotz aller xi-d
ässiäöris. was sie sind — Juden.
Zum Schlüsse uoch eine kleine Auswahl von Sätzen aus Hartmanns Schrift,
die wir mit Vergnügen unterschreiben.
Die Kunst des Zeitungsschreibers wie des Parlamentariers besteht darin,
sofort über alles oratorisch gewandt und bestechend schwatzen zu können, wovon er
nichts versteht, und dabei immer in dein Sinne und Interesse derjenigen Partei
oder Clique zu operiren, in deren Dienst er gerade steht. (S. 171.)
Der Zeitdiebstahl, den die Presse an der Menschheit begeht, wächst proportional
dem Umfang der Blätter, und droht nachgerade bereits in bedenklicher Weise das
Bildungsniveau der gebildeten Klassen herabzudrücken, ohne dasjenige der niedern
entsprechend zu heben. Die Kalamität ist noch nicht auf ihrem Gipfel angelangt,
und doch ist sie schon jetzt zu einem Punkte gediehen, wo man ernstlich im Zweifel
sein kann, ob der Schade, den die Erfindung der Buchdruckerkunst mit dein Zei-
tungswesen stiftet, nicht größer ist als ihr gesamter Nutzen. (S. 174.)
Durch die Presse wird die jüdische Wissenschaft, Literatur und Kunst pvussirt
und so der unterirdischen Minirarbeit der jüdischen Clique vorgearbeitet; durch die
Presse wird die öffentliche Meinung über die vom Judentum drohenden nationalen
Gefahren eingelullt und so die Zeit zur Befestigung und Ausbreitung der jüdischen
Aristokratie gewonnen- durch die Presse werden die Interessen des Kapitalismus
vertreten und Schlepperdienste für die höhere Bauernfängerei der Börse geleistet;
dnrch die Presse endlich werden diejenigen politischen, religiösen und volkswirt¬
schaftlichen Parteien bekämpft, welche den Interessen des Judentums widerstreben,
und diejenigen verteidigt und gefördert, welche ihnen dienen oder mit ihnen Hand
in Hand gehen. (S. 178.)
Das Publikum sollte sich daran gewöhnen, alle Belehrung über Politik, Volks¬
wirtschaft, Wissenschaft, Literatur und Kunst nnr aus den sorgsamer redigirten
Wochen- und Monatsschriften zu schöpfen, in der Zeitung aber nichts als kurze
thatsächliche Mitteilungen ohne Kritik und Msonuement zu suchen. Eine solche
Reform der Journalistik würde das Übel an der Wurzel angreifen und die jüdische
Ausbeutung der Presse ohne jede Ansnahmemaßregel gegen die Juden auf ein un¬
gefährliches Maß beschränken. (S. 177.)
Wie man Reklame macht. Am 30. Januar d. I. feierte Oberhofprediger
C. Gerok in Stuttgart, der bekannte Dichter, seinen siebzigsten Geburtstag und erhielt
dabei Gunst- und Dankesbezeugungen von nah und fern. Bei der allgemeinen
Verehrung, deren sich Gerok erfreut, hatte es einer besondern Anregung zur Teil¬
nahme weiter Kreise an dieser Feier nicht bedurft. Es gab aber doch jemand,
der sich den Ehrentag eines Ehrenmannes nicht entgehen lassen wollte, um in seiner
Weise Kapital daraus zu schlagen. Der gleichfalls in Stuttgart lebende C. Beyer,
den Lesern der „Grenzboten" als Verfasser einer dreibändigen „Poetik" nicht un¬
bekannt, versandte kurz vor dem genannten Tage ein Zirkular an die Zeitungen,
welches verdient, durch Hvherhäugen der Vergessenheit entrissen zu werden. Wir
zitiren dasselbe im Wortlaut, wie es vor uns liegt. Es lautet:
Das anerkannte Wohlwollen, durch welches Sie meine dichterischen und schrift¬
stellerischen Werke auszuzeichnen die Güte hatten, läßt es mir wie eine angenehme
Pflicht erscheinen, Ihrer beliebigen (!) Redaktion eine Notiz sub I zu vermitteln,
durch deren Aufnahme in den redaktionellen Teil Ihres Blattes Sie sicher einem
großen Teil Ihrer Leser einen Dienst erzeigen durften. Da Sie möglicherweise
eine inhaltvollere, ausführlichere Mitteilung zu bringen wünschen, so habe ich im
Voraus auch eine solche «ub II angefügt, es Ihnen überlassend, ob Sie dieselbe
wählen wollen oder nicht. Selbstredend (!) ist dieselbe honorarfrei, und werde ich (!)
schon erfreut sein, wenn Sie nur 1 Abdruckscxemplar an meine Adresse (Schick¬
straße 9, I) senden lassen wollen, um den (!) mir herzlich befreundete» v. Gerok
an seinem Ehrentage eine kleine Frende bereiten zu können. Indem ich noch im
eigenen Interesse eine kurze Notiz Ihrer ganz gelegentlichen Beachtung empfehle,
zeichnet (!) zu Ihren ferneren Diensten stets bereit hochachtungsvollst"
Stuttgart, Schickstr. 9, I.
Es folgt nun die „Notiz sub I":
„Stuttgart. (Karl von Gervk's 70. Geburtstag.)
Der bekannte Lyriker Carl Gerok, der namentlich als religiöser Dichter in
allen Kreisen des höchsten Ansehens genießt, und nach dem beispielsweise Prof.
Dr. C. Bayer's Deutsche Poetik eine deutsche Strvphenform benennt, feiert am
30. Januar seinen 70. Geburtstag! Zur Auszeichnung dieses Tages hat die
Verlagshandlung von Greiner und Pfeiffer in Stuttgart, bei welcher Geroks
bedeutendste Werke erschienen, ein wohlgelungenes Lichtdruckbild des Jnbilars her¬
stellen lassen, das Wohl durch jede Buch- und Kunsthandlung zu beziehen ist."
"
Sodann die „inhaltvollere, ausführlichere Mitteilung:
'
„Stuttgart. (Karl von Geroks 70. Geburtstag.)
Karl von Gerok ist unstreitig einer unsrer bedeutendsten Lyriker und vielleicht
der erste unter deu religiöse» Dichtern der Gegenwart. Er genießt in allen Kreisen
weitaus des größten Ansehens. Beispielsweise zeichnet ihn die Deutsche Poetik
vou Prof. Dr. C. Beyer aufs höchste aus, indem sie sogar eine deutsche Stropheu-
form nach ihm benennt. Am 30. Januar feiert nun Gerok seinen 70. Geburtstag,
und es dürfte Wohl anläßlich dieses Umstandes von Interesse sein, einige Momente
aus Leben und Wirken dieses gottbegnadeter Dichters zu erfahren. Karl von
Gerok" :e.
Nun folgt eine Aufzählung der Werke des Dichters, von denen die „Palm¬
blätter" besonders hervorgehoben werden: von ihnen heißt es: „Ihr Inhalt besteht
aus tief empfundenen, lebensvollen, dabei formenschönen, religiösen Dichtungen.
Mühelos — so ruft Geroks Biograph Beyer in der Leipziger Jllustrirten Zeitung
ans — scheinen diese Dichtungen hingeworfen, und doch sind sie das Resultat
hoher dichterischer Kunst."
Und nun zu guter letzt die Notiz „im eignen Interesse zu ganz gelegentlicher
Beachtung":
„Stuttgart. (Auszeichnung.) Die im vorigen Jahre erschienene „Deutsche Poetik"
vou Prof. I)r. C. Beyer wurde von den Ministerien Würtembergs, Weimars und
Meiningens zur Einführung in die höheren Lehranstalten, event, zur Anschaffung :e.
empfohlen."
Sollte man es glauben, daß eine Anzahl von Blättern ans dieses Zirknlnr
hineingefallen ist? Und zwar nicht nur kleine Provinzialblötter, die ihr Futter
nehmen, wo und wie sie es finden, sondern auch ernsthafte größere Zeitungen, wie
beispielsweise die in Basel erscheinende „Allgemeine Schweizerzeitung"? Selbst
wenn diese Blätter uicht wußten und wissen konnten, was es mit der Ehre der
Beyerschen Strophenbenennuug auf sich hat — bedarf es eiues weiteren Zeugnisses
als des Zirkulars selbst, um die ganze Häßlichkeit dieses heuchlerischen Rcklamestücks
zu durchschauen? Aber man muß allerdings die „Poetik" Beyers keimen, um
die Unverschämtheit dieses Herrn in ihrer ganzen Größe würdigen zu können.
Gerok, ein Dichter, nach welchem „sogar" der große Prof. Dr. Beyer eine Strvphen-
forin benannt hat — das ist etwa, wie wenn einer sagen wollte: Fürst Bismarck,
ein Staatsmann, von dem „sogar" die „Gartenlaube" einmal eine Abbildung ge¬
bracht hat.'") Mit dem „herzlich befreundete» von Gerok" ist es natürlich ebenfalls
Flunkerei, Die Herzlichkeit dieser Freundschaft ist ebenso groß, wie die Aufrichtigkeit
der Freude, die Herr C, Beyer — einem andern bereiten wollte. Zum mindesten
ist jene Freundschaft, deß kann man sicher sein, sehr einseitiger Natur,
Wir haben es für Pflicht gehalten, an diesem Herrn und seiner Reklamekunst ein
Exempel zu statuiren, umsomehr als derselbe einen „Professor" und „Doktor" vor
seinen Namen und eine ganze Litanei von Ordeusdekorationen hinter denselben zu
scheu befugt ist.
Ein Laie, der so tiefe und auf alle Fragen des Dogmas wie der Ethik ein¬
gehende, Gedanken niederschreibe, um sich seine, das höchste und wichtigste Interesse
berührenden Empfindungen, Auffassungen und Triebfedern selbst recht klar zu
machen und zu einem einheitlichen, in sich selbst folgerichtigen Ganzen zu verbinden,
muß nicht bloß ein hochgebildeter, sondern auch ein edler Mann, er muß eine
reiche, tief angelegte Natur sein. Zugleich aber eine harmonische, zu inueriu Frieden
geläuterte Natur. Denn es weht aus diesen Gedanken eines Hochbetagten in der
That ein Geist starker, fester und doch zugleich ruhiger und milder Überzeugung,
wie wir sie bei einem Greise uns vorhanden zu denken vermögen, der auf ein
Leben voller Arbeit und treuer Pflichterfüllung zurückblickt und sich zu vergegen¬
wärtigen sucht, was ihm im Kampfe, des Lebens immer neue sittliche Kraft, im
Streite widerstrebender Anschauungen eigne feste Ueberzeugung und im Jagen nach
den Gütern des Lebeus das stille Glück innerer Befriedigung gegeben hat.
Solche Aufzeichnungen, so rein persönlich sie auch sind, verdienen doch eine Ver¬
öffentlichung, weil sie bei manchem Leser zu etwas anregen können, wozu nicht
jeder von selbst gelangt und in der Arbeit des Lebeus auch uicht gelangen kau«!
zu einer innern Sammlung, zu einem Anhalte, die eignen Empfindungen, An¬
schauungen und daraus sich ergebenden Folgerungen zu überdenken, zu prüfen und
zu befestigen, und dessen entschiedener sich bewußt zu werden, was ihn als Wahr¬
heit erfaßt und dem Frieden entgegcnzuftthren geeignet ist.
Möchten viele diese Anregung aus der kleinen Schrift schöpfen. Bei ernsteren
Naturen wird sie diese Anregung zu geben geeignet sein, nicht bloß deshalb, weil
es für viele einen Unterschied macht, ob ein Theologe von Fach — wie manche
denken — pro äomo spricht oder ob ein Laie redet, eben weil diese Fragen für
jeden denkenden Menschen von höchster Bedeutung sind und ihre Erwägung eine
Notwendigkeit ist, sondern auch um deswillen, weil man aus dem Zuhalte ersehen
kann, wie so manche Dogmen, welche in ihrer streng dogmatischen Formulirung den
Anschauungen der modernen Welt fremdartig erscheinen, im Zusammenhange eines
alle Verhältnisse umschließenden und durchdringenden Standpunktes als einfacher
Ausfluß selbstverständlicher Prämissen gerade den Forderungen frommen Glaubens
wie konsequenten Denkens entgegenkommen.
Es dürfte schon die Bemerkung gemacht worden sein, daß die ältere Generation
der Germanisten persönlich ein näheres Verhältnis zur Poesie hatte, als die darauf¬
folgende, jetzt in voller Wirksamkeit stehende. Die Freude an der Poesie, ein Zug
der Sehnsucht in die von romantischem Dunkel umspouuene deutsche Vergangenheit
war in der That auch der Ausgangspunkt der germanistischen Wissenschaft, und es
waren zunächst selbst Poetisch angelegte Geister, welche sich ihrer Pflege widmeten.
Seitdem ist es etwas anders geworden, und heutzutage scheint das Verständnis für
Poesie keine unumgänglich notwendige Eigenschaft bei einem Jünger dieser Studien
zu sein. Der Verfasser obiger Erzählungen, ein in fruchtbarem Dienste der Ger¬
manistik ergrauter und als Forscher weltbekannter Mann, gehört noch jener älteren
Generation an. So realistisch und nüchtern und auch materialistisch die Zeit ge¬
worden ist, er hat sich seine in der Jugend erworbenen romantischen Ideale be¬
wahrt, und selbst im Alter verschmäht er es nicht, von den gelehrten Lexicis und
Weistümern weg einen kleinen Flug ins alte romantische Land zu machen. Ganz
den Gelehrten, den wohlbewanderter Kenner des Mittelalters und seiner Poesie,
und speziell des tirolischen Volkes und seiner eigenartigen Denkweise, kann und
will er wohl auch nicht bei solchen Ausflügen abstreifen, und an seinen Anspielungen
fehlt es deshalb auch nicht in seinen Erzählungen; ja diesmal sind sie zahlreich
genug, um zwei, drei Seiten enggedruckter gelehrter Anmerkungen und Verweise
auf die Quelleu abzugeben. Damit soll aber nichts gegen ihren eignen poetischen
Reiz gesagt sein. Zingerle liebt es, in seinen Erzählungen die engste Heimat zu
verherrlichen. Ein Meraner von Geburt, hängt er seine poetische Phantasie mit
der Treue des Herzens, welches die ersten Jugenderinnerungen bewahrt, an jenes
landschaftliche Paradies im Etschthale, welches in neuerer Zeit ganz besonders zahl¬
reiche Verehrer gefunden hat. Er ist immer enthusiastisch, wenn er von diesen
italienischen Landschaften des äußersten Vorpostens deutscher Nation spricht, und
Kenner der Gegend versichern, daß der Dichter in der Zeichnung des Lokalkolorits
seine eigentliche Stärke besitze. Die sechs Erzählungen, welche in diesem Bändchen
vereinigt siud, sollen, nach dein Vorwort, die Umgebung seiner Vaterstadt Meran
mit Geschichte» aus alter und neuer Zeit beleben, und man macht in der That
den Weg dnrch die Jahrhunderte von den ruhmvollen Zeiten der Minnesänger,
deren mächtigsten Meister, Walter von der Vogelweide, Zingerle ja mit Glück für
Tirol, als dessen Heimat, erobert hat, bis hinab zu den nicht minder berühmten
Zeiten des Kampfes um die Freiheit von der französischen Herrschaft. Am hüb¬
schesten ist die Geschichte vom Naifcr Einsiedler. Zingerle erzählt schlicht und volks¬
tümlich; seine Psychologie ist gesund und gerade; seine Fabeln ebenso rein und
klar wie seine Prosa. Allerdings werden sie einem an der modernen Novelle ge¬
schulten Geschmacke zu einfach vorkommen; doch wird ein unverdorbener Geschmack
sie so, wie sie siud, gern und warm anerkennen.
le auswärtige Politik Englands ist zu allen Zeiten von gewissen
Devisen und Schlagwörtern beherrscht worden. Gegenwärtig sehen
wir dort zwei Strömungen hervortreten, von denen jede eine
Phrase an der Spitze ihres Programms tragt: die Politik der
„reinen Hände" des manchcsterlichcn Herrn Gladstone und das
chauvinistische „Greater Britain" des radikalen Sir Charles Dilke. Dagegen
ist eine andre Beschwörungsformel ans dem Handbuche der englischen Diplo¬
matie gestrichen, welche Dezennien lang für die internationalen Beziehungen des
britischen Kabinets bestimmend war: die bekannte Phrase, daß der Weg nach
Indien über Konstantinopel führe und der Besitz der türkischen Meerengen ma߬
gebend sei für die Sicherheit des größten britischen Kolonialgcbietes. Obgleich
zu keiner Zeit — seitdem England in den Besitz Vorderindiens gelangt ist —
die Verbindung dieser beiden Ländergebiete über Kvnstmitinvpel geführt hat, so
war doch die obige Formel eine Art von Glaubenssatz der britischen Staats¬
männer beider Parteien. Wie die Parole eines Wachtpostens wurde sie von
dem abtretenden Teile an den einrückenden überliefert. Niemand prüfte sie auf
ihre innere Wahrheit. Bei der Vorliebe der älteren europäischen Diplomatie
für Scntcnzenwesen und Tradition ist dies weniger anffallend als der Umstand,
daß sich ein geographischer und politischer Nonsens selbst dann noch erhalten
hat, als dem Wege nach Indien durch die Eröffnung des Suezkanals bereits
eine bestimmte, unverrückbare Straße gezogen war. Ungeachtet dieser Thatsache
wurde die abgedroschene Phrase, daß Konstantinopel den Schlüssel für Indien
besitze, noch in der Konferenz von 1877 von dein damaligen Torhministerium
aufrecht erhalte». Sie führte während des türkisch-russischen Krieges zur Ent-
Sendung des britische» Geschwaders nach der Besicabai und der drohenden Hal¬
tung Englands bei dem Friedensschlüsse von San Stefano,
Und dies geschah in einer Zeit, wo Rußland durch die Besetzung Chiwas
der Nordgrenze Britisch-Jndiens bereits so nahe gerückt war, daß die Haltung
des Emirs von Afghanistan für die Sicherung des englischen Besitzstandes ent¬
scheidend wurde. Während Rußland auf jener Etappenstraße unauffällig, abxr
sicher vorwärtsrückte, glaubte Herr Layard die Existenz Indiens durch die Ko-
sakenschwärme bedroht, die sich der türkischen Hauptstadt näherten. Und dieser
Wahn wurde in England so allgemein geteilt, daß ein englisch-russischer Konflikt
fast als unabwendbar galt.
Seit jener Zeit haben wir in der englischen Presse und in den Parla¬
mentsreden von der „Schlüsseltheorie" nichts mehr gehört. Der Landweg nach
Indien führt heute so wenig wie früher über Konstantinopel; der Seeweg dort¬
hin hat selbstverständlich nie diese Richtung eingeschlagen. Thatsächlich hat sich
in der geographischen Lage wie in der politischen Konfiguration des Osmanen-
reiches seit 1L73 nichts geändert. Aber es scheint, daß auch in den Augen
der englischen Diplomaten der Seeweg jetzt definitiv durch das Rote Meer
und der Landweg über Herat führt. Für die andern politischen Kreise Europas
ist dies nichts neues.
Der Umschwung in den englischen Anschanungen ist aber seit einiger Zeit
schon peinlich von der Pforte empfunden worden. Die ägyptischen Wirren
haben ihn beschleunigt. England hat seine Rolle als strenge, aber gewissenhafte
Gouvernante des schwächlichen Sultanats aufgegeben. Die schulmeisterliche Hal¬
tung der britischen Vertreter war von Abdul Medschid und Abdul Asts oft
als lästige Fessel empfunden worden. In Augenblicken der Gefahr aber war
die Schutzmacht immer zur Stelle gewesen; auch hatte sie argwöhnisch jede
Bedrohung ihres Schützlings abzuwenden gesucht.
Wie hat sich das alles seit einigen Jahren verändert! An die Stelle eines
positiven, auf Erhaltung der Türkei gerichteten Bündnisses ist eine laue Haltung
getreten, eine Teilnahmlosigkeit, die leicht in offene Gegnerschaft umschlage»
könnte. Erst Cypern, dann Ägypten, später vielleicht ein Stückchen Kreta oder
doch wenigstens den vorzüglichen Kriegshafen dieser Insel: die Sudahnese.
Man kaun nicht sagen, daß eine solche Politik auf die Erhaltung der Integrität
des Osmanenreichcs gerichtet sei. Dein Bulgarenfrcunde und Philhellenen
Gladstone wie den Pnritanern des Unterhauses wäre wohl auch ein vollständiger
Exodus der Muhamedaner aus Europa nicht unwillkommen. Die Staats-
weisheit dieser Herren ist ja stark mit philanthropischen und religiösen An¬
schauungen versetzt. Bisher aber war doch in den politischen Kreisen Englands
die Ansicht vorherrschend, daß die Türkei ein wichtiges und unentbehrliches
Bollwerk bilde zwischen Europa und dem indischen Kvloninlgebiet. Nun wird
in dem Maße, wie sich diese Ansicht als unhaltbar erweist, auch die englische
Freundschaft für das Sultanat eine starke Abschwächung erfahren. Die Türkei
ist auf beiden Flanken umgangen, der Gedanke, den Euphrat schiffbar zu machen
und durch eine Eisenbahn von Alexaudrette nach Bagdad eine kürzere Militär¬
straße nach Indien herzustellen, längst aufgegeben. Der Besitz Chperns, welches
den Ausgangspunkt dieser Straße beherrschen würde, ist damit Politisch wertlos.
Ein wirtschaftlicher Gewinn war der Erlverb dieser Insel überhaupt nicht.
Sie hat für England jetzt nur noch den Wert eines Tauschobjektes gegenüber
andern strategisch wichtigeren Küstenplätzen, Eine Transaktion in diesem Sinne
wird voraussichtlich dann stattfinde», wenn England über die Form seines Pro¬
tektorats in Ägypten zur Entscheidung gelangt ist. Soviel ist einleuchtend, daß
Großbritannien durch Gewinnung einer ausschlaggebenden Stellung am Nil
und als Hüterin des Suezkauals für die Frage der türkischen Meerengen nicht
mehr das gleiche Interesse haben kann wie ehedem. Sollte bei Ausbruch eines
neuen russisch-türkischen Konflikts Stambul abermals von einer feindlichen In¬
vasion bedroht werden, so ist nicht anzunehmen, daß eine britische Panzerflolte
in den Bosporus einlaufen und ihre Geschütze gegen die russische Avantgarde
richten wird. Wenn es dann zur Wahrung des europäischen Gleichgewichtes
nötig sei» sollte, dem Vordringen der Russen abermals Halt zu gebieten, so
wird ein solches Veto von andern Großmächten ausgehen als von England.
Wir wollen uns nicht in die müßige Betrachtung solcher Eventualitäten
verlieren. Zweck dieser Untersuchung ist nnr die Feststellung der Thatsache,
daß der vielbegehrte Besitz Konstantinopels und der von ihm beherrschten Meer¬
enge bei der gegenwärtigen Lage der Dinge nicht mehr dieselbe Bedeutung hat,
welche ihm bis zu den siebziger Jahren unsers Jahrhunderts beigelegt wurde.
Das Kampfgebiet ist nach entfernteren Distrikten verlegt. Stambul gilt nicht
mehr so viel wie das alte Bhzanz. Die Türkei bildet nicht mehr das Grenz¬
gebiet zwischen Europa und Asien. Dem politischen Expansionsbedürfnis er¬
öffnen sich neue Ausgänge. Das einst so wichtige Debvuche am Bosporus ist
umgangen. So sehen wir die Friktionssphäre der europäischen Interessen immer
weiter ostwärts rücken, Differenzen, die vor fünfzig Jahren am Balkan aus¬
gekämpft wurden, finden ihren Schauplatz in den Schluchten des Hindukusch,
und neue, der wissenschaftlichen Forschung fast unzugängliche Gebiete rücken in
den Kreis politischer Betrachtung. In Afghanistan wird es früher oder später
zum Zusammenstoß zwischen den rivalisirenden Mächten kommen müssen. Viel¬
leicht vollzieht sich der fabelhafte Kampf zwischen Bär und Haifisch dereinst an
der Mündung des Indus.
In allen Fällen, welche einen Konflikt zwischen England und Rußland
veranlassen können, wird das streitige Objekt immer ein Küstenstrich sein. Seit
Generationen ringt der russische Koloß nach einem maritimen Ausgange. Eine
»»geheure Landgrenze und keine einzige freie Verbindung mit dem Ozean! Die
Ostsee hat für deu nordischen Kaiserstaat nnr die Bedeutung eines Binnenmeeres,
mit der Einschränkung außerdem, daß die russischen Häfen nur während der
kleineren Hälfte des Jahres eisfrei sind. Die arktische Küste und die entlegene
Station Nikolajew am Stillen Ozean sind wirtschaftlich wie politisch wertlos.
Den Ausgang nach dem Mittelmeere beherrschen die türkischen Batterien des
Bosporus. So wirkt denn der Trieb, sich nach einer freien Meeresküste hin
Bahn zu brechen, in Rußland mit der Gewalt einer verhaltenen Elementarkraft.
Er nimmt an Intensität zu in dem Maße, wie das Binnenland durch Schienen¬
wege prvduktivnsfähig und der russische Handel absatzbedürftig wird. Sobald
die asiatischen Besitzungen erst mit den europäischen durch ein Eisenbahnnetz
verbunden siud — und dieser Zeitpunkt ist nicht fern —, so ist ein Durchbruch
nach irgend einem südlichen Küstenstriche ein Gebot der Notwendigkeit, dem keine
Macht sich auf die Länge wird widersetzen können. Dieser Zug nach dem Meere
ist das Leitmotiv aller Vorgänge in Zentralasien. Er bezeichnet die Richtung,
die der russische Vormarsch einzuschlagen hat, und es bedarf nur eines Blickes
auf die Karte, um sich von der Planmäßigkeit der bisherigen Expeditionen zu
überzeugen.
Die Gebiete, welche das asiatische Rußland jetzt noch vom Meere trennen,
sind Afghanistan und hinter demselben entweder das Küstenland Beludschistan
oder das anglvindische Stromgebiet des Indus. Afghanistan müßte in jedem
Falle, gleichviel an welchem Teile der Küste das Meer erreicht werde» soll, zu¬
nächst in russischen Besitz übergehen. Herat und Kandahar sind Schlüsselpunttc
dieser Linie. Strebt Rußland von dort aus weiter dem Meere zu, so bleibt
ihm uur die Wahl, entweder bei Siwi auf britisches Gebiet aufzutreten und
den zwischen diesem Grenzteil und der JndnSmündnng liegenden Distrikt von
England zu erobern oder den ungleich näheren Weg über Kelat einzuschlagen
und durch Annexion des betreffenden Teils von Beludschistan in direkt südlicher
Richtung die Küste zu gewinnen. Der letztere Weg gewährt außer dem Vorzuge
der Kürze noch den Vorteil, daß man es dort nur mit unabhängigen asiatischen
Stämmen zu thun hat und keinen Rvtröcken begegnet. Mit dem Imam von
Maskat, zik welchem das Küstengebiet von Beludschistan in einem lockeren tri-
bntären Verhältnis steht, würde sich Rußland leicht abfinden. Diese Erwägungen
sind es, welche auf deu Vormarsch der Russen und ans die Wahl der Richtung
bestimmenden Einfluß haben. Und wenn wir uus einen kurzen Rückblick auf
die letzten Vorgänge gestatten, so ist aus demselben leicht zu entnehmen, welche
Tendenzen in den Entschließungen der nächsten Zukunft überwiegen werden.
Am 34. Januar 1881 erwarb General Skobeleff durch deu entscheidenden
Sieg bei Got-Tepe das Gebiet der Akhalturkmenen und ergänzte dadurch die
Abrundung der südliche» Grenze, welche bereits durch die Annexion von Chiwa
bedeutend südwärts gerückt war. Die Operationsbasis der neuen Expeditions-
linic bildete der am Ostufer des Kaspischen Sees gelegene militärische Stations¬
ort Michailowsk. Von ihm ans führt bereits eine Eisenbahn hundertfünfzig
englische Meile» weit landeinwärts nach dem ostwärts gelegenen Kizil Arven,
Wenn die zentralasiatische Okkupation von Rußland rationell betrieben werden
soll, so wird die erste Aufgabe des transkaspischen Gouvernements in der Fort¬
führung dieser Linie bestehen. Terrainschwierigkeiten stehen diesem Unternehmen
nicht entgegen. Im Frühjahr 1882 bereisten russische Emissäre das Gebiet der
Merwturkmeneu. Die wichtigste!, Dienste dabei leistete ein gewisser Alichanow,
der, aus einem zentralasiatischen Volksstamm hervorgegangen, früher in rus¬
sische,, Diensten stand, wegen eines militärischen Vergehens aber degradirt war.
Durch seine Kenntnis der Landessprachen und Sitten erwies er sich während
der Skobeleffscheu Expedition so nützlich, daß er allmählich seinen frühern Rang
als Rittmeister wiedergewann. Während der nächsten Monate hielt er sich
verkleidet in Maro auf und agitirte unter den Häuptlinge» für die Einverleibung.
Seine Studien über das Land sind in einer „Die Oase Merw" betitelten Schrift
pnblizirt. Neuerdings nimmt er eine hervorragende militärische Stellung in
der Okkupationsarmee ein. Gleichzeitig bereiste der russische Ingenieur Lessar
das turkmenische Grenzgebiet. Ihm verdankte mau die erste» Aufschlüsse über
die geographischen Verhältnisse dieses fast unbekannten Landstriches. Er hielt
darüber im Dezember 1883 einen Vortrag in einer Sitzung der Geographische»
Gesellschaft in Se. Petersburg. In den letzten Monaten dieses Jahres hatte in¬
folge der russischen Agitation die Uneinigkeit der mcrwturkmenischen Häuptlinge
einen Grad erreicht, welcher das Land in einen Zustand der Anarchie versetzte.
Der Moment zum Eingreifen war günstig. Ein russisches Expeditionskorps
unter Führung des Generals Komarow begann im November 1883 den Vor¬
marsch, der in so wenig auffälliger Weise geleitet wurde, daß die am 31. Ja¬
nuar 1884 nach Petersburg gelangende Meldung von der „freiwilligen" Unter¬
werfung mehrerer Stämme in Europa überraschend wirkte. Die englische Regierung,
welche früher auf die Unabhängigkeit des Merwgebietcs großen Wert gelegt
hatte, war infolge der ägyptischen Wirren zu energischem Protest nicht imstande.
Die englische gouvernementale Presse erklärte ihren Lesern, daß dnrch die Ein¬
nahme von Got-Tepe die Situation bereits verändert sei und eine russische
Okkupation von Merw jetzt keine» Grund zur Beunruhigung biete. Auch die
?irr«Z8 sprach sich in gleichem Sinne ans. Man machte in London gute Miene
zu dem kalt avomnxli, und der Nvtcuaustausch mit Se. Petersburg bewahrte
den freundschaftlichen Charakter.
Inzwischen drang General Komarow weiter vor; aber die Gefechte, welche
er in der Umgegend von Maro zu liefern hatte, bewiesen, daß die Unterwerfung
der Turkmenen nicht so freiwillig war, wie die offiziellen Telegramme sie dar¬
stellten Nachdem i» de» letzten Tagen des Februar verschiedene Reitergefechte
bei Karyb-Ala und beim Art Abdal - Topas stattgefunde» hatte», wurde die
russische Abteilung auf ihre», weiteren Vormarsch nach Osten beim Ani Sary-
Khcm in der Nacht vom 2. ans den 3. Mnrz von Merwscheu Turkmenen über-
fallen, und erst am 4. gelang es, die Festung Koschut-Chan-Kala zu besetzen,
womit die Eroberung Merws vollzogen war. Am 22. März wurde das Expe¬
ditionskorps aufgelöst, und die Verwaltung des Landes begann. Den beteiligten
russischen Truppen wurde durch kaiserlichen Mas die Expedition als Feldzug
angerechnet.
Die Besitznahme Merws bildet den Abschluß der dreißigjährigen Kriegs¬
arbeit, durch welche die beiden wichtigsten Stromgebiete Mittelasiens und die
Persien benachbarten Teile des Turangebietes in russische Hände gebracht worden
sind: auf drei gesicherten Wegen, von denen einer an das Kaspische Meer führt
und zwei die Verbindung mit dem Aralsee herstellen, wird Rußland alle zu¬
künftigen Expeditionen mit Kriegsmaterial versorgen können. Merw bildet
die Südspitze eines Operationsdreiecks, das sich keilförmig gegen Afghanistan
vorschiebt. Die Stadt ist aber auch in handelspolitischer Beziehung ein wich¬
tiger Schlüsselpunkt. Von Buchara, dem Mittelpunkte des Karmvanenhandels
zwischen Indien und Europa, kaun man nnr über Merw nach Mesched ge¬
langen. Mesched aber ist die wichtigste Fabrik- und Handelsstadt des nord¬
östlichen Persiens, von den Zentralpnnkten dieses Landes durch eine ungeheure
Salzwüste getrennt und von altersher den Einflüssen der Beherrscher des be¬
nachbarten Turkestan ausgesetzt. Die frühere englische Staatsleitung hatte die
Wichtigkeit des Platzes wohl erkannt. Unter der schlaffen Politik des Glad-
stoneschen Kabinets blieben die Vorgänge in Zcntralasien weniger beachtet. Von
einer Regierung, die nicht einmal in Äghptcu zu festen Entschlüsse» gelangte,
wo die Ehre der englischen Armee und britisches Kapital engagirt waren, konnte
und kann man nicht erwarten, daß sie in dem entlegenen Grenzgebiet Anglv-
Jndiens Umsicht und Thatkraft entwickelt. Rußland weiß dies und macht sich
den gegenwärtigen Schwächezustand seines Rivalen zunutze. Die vor kurzem
auftauchende Nachricht, daß General Kvmarvw sich zu einem Vormarsch auf
Herat anschicke, konnte für diejenigen Politiker daher nichts überraschendes
haben, welche den bisherigen Vorgängen in Zentralasien mit Aufmerksamkeit
gefolgt waren. Allerdings nehmen die Ereignisse einen schnelleren Gang, als
selbst die chauvinistische Moskaner Presse noch vor einem Jahre annahm. Da¬
mals hieß es, das gegenwärtige Geschlecht werde es wohl kaum erleben, daß
aus der bedeutsamen Okkupation Merws die letzten Konsequenzen gezogen
würden- Jetzt ist durch die Indiskretion eines polnischen Blattes die Thatsache
bekannt, daß ein Expeditionskorps von 35 000 Mann Baku verläßt, um den
afghanischen Grcnzkonslikt zum Austrag zu bringen. In den offiziellen De¬
peschen des Petersburger Kabinets ist natürlich nur von einer Abwehr räube¬
rischer Einfälle afghanischer Stämme die Rede. Aber das ist der bekannte
Vorwand für alle außereuropäischen Annexionsgelüste. Diese afghanischen
Räuber habe» eine auffallende Ähnlichkeit mit den tunesischen Krnmirs nud deu
albanesischen Hammeldieben. Trotz aller beruhigenden Zusicherungen, welche
Baron Staat in London abgiebt, kann an der ernstlichen Absicht eines Vor¬
marsches ans Herat füglich nicht gezweifelt werden. Unternehmungslustige
Kosakengenercile pflegen sich nicht ängstlich an den Wortlaut russischer Staats¬
depeschen zu halten. Und sind die Vorposten erst handgemein geworden, so
bleiben diplomatische Unterhandlungen meistens fruchtlos.
Man kann nicht verkennen, daß die militärische Lage Großbritanniens
Nußland zu einem Vordringen in Afghanistan geradezu ermutigen muß. Die
Expedition in Ägypten zieht alle militärischen .Kräfte an sich und fordert sogar
die Verwendung indischer Truppen. Italien ist durch seine Kolonialbestrebungen
am Noten Meer, Frankreich in Tonkin engagirt. Wir legen der jüngsten zwischen
England und Deutschland eingetretenen Spannung, als einer leicht zu besei¬
tigenden Verstimmung, keine größere Bedeutung bei. Aber unsre Beziehungen
zu Großbritannien sind doch nicht derart, daß sie zu einer Intervention in
dem drohenden anglo-russischen Konflikt Anlaß böten. Auch läßt sich nicht er¬
kennen, wie wir in die Lage kommen könnten, ein russisches Vordringen gegen
Afghanistan zu verhindern. Denn selbst wenn die Reichsrcgiernug ihre versöhn¬
lichen Absichten England gegenüber in der noch unerledigten ägyptischen Frage
bethätigen sollte, so wird sich Rußland bei solchen diplomatischen Unterhand¬
lungen nachgiebig zeigen und eventuelle frühere Forderungen fallen lassen,
während gleichzeitig General Kvmarvw schrittweise in Afghanistan vorrückt.
Ganz objektiv betrachtet, hat Deutschland außerdem kein Interesse, Rußland
an der Gewinnung eines Kiistenplatzcs am Persischen oder Indischen Meer zu
hindern. Je mehr der Schiverpunkt des großen Reiches nach Osten verlegt
wird, desto friedlicher werden sich unsre Beziehungen an dem europäischen Grenz¬
gebiete gestalten.
Herat liegt etwa 1^0 englische Meilen von der russischen Grenze entfernt.
Der Weg dorthin führt dnrch wasserreiches, fruchtbares Gebiet. Die bedeu¬
tendere« Terrninschwierigteiten des afghanischen Gcbirgslandes befinden sich
weiter östlich bei Kabul und steigern sich bei den Pässen des Hindukusch.
Südlich nach Kandahar zu siud militärische Operationen durch die Terrain-
fvrmation nicht erheblich beeinträchtigt. Eine leichte Kriegführung aber wird
es nicht sein. Die afghanischen Stämme sind wild, fanatisch und kriegerisch.
Den wichtigsten Vorteil in einem solchen Kampfe zieht Rußland aus dem
Umstände, daß ihm in den kaukasischen und kaspischen Regimentern, vielleicht
mich in den ueuaugewvrbcueu turkmenischen Irregulären ein dem Feinde gleich¬
wertiges Material zu gehste steht, sowie daraus, daß die in Asien komman-
direnden Truppenführer vor den Mitteln einer grausamen und schvuungsloscu
Kampfweise nicht zurückschrecken. Der Emir von Afghanistan hat die englische
Unterstützung erbeten. Dieser Fürst ist in einer traurigen Lage. Wie auch
die Würfel rollen —- der Bundesgenosse so wenig wie der Feind werden
ihm seine Unabhängigkeit in Zukunft gewähren. Die Frage ist mir, ob
England willens und militärisch imstande ist, den Kampf mit Rußland ohne
Bundesgenossen aufzunehmen und nochmals mit einem britischen Expeditions¬
korps den Chaiberpaß zu überschreiten, an dem so traurige Erinnerungen
haften. Eine entscheidende Stimme wird hierbei die öffentliche Meinung in
England haben. Vielleicht gelingt es aber den Optimisten, der Whigpartei,
ihre Landsleute zu überzeugen, daß eine russische Annexion Afghanistans für
Englands Machtstellung in Indien ebensowenig bedrohlich sei, als die Besetzung
Chiwas und Merws, und hierin würden sie in gewissem Sinne nicht Unrecht
haben, denn Rußland — das heutige Zarenreich Rußland — strebt nicht
nach dem Besitz Indiens, Ein solcher Gebietszuwachs würde das ohnehin schon
übermäßig ausgedehnte Staatsgebiet einem innern Zerfall und Teilungsprozeß
entgegenführen, Rußland strebt vielmehr, wie schon oben erwähnt, dem Meere
zu und kann dies auch mit Umgehung britischen Kvlonialgebiets erreichen. Die
Entfernung von Herat nach Kandahar beträgt 325 englische Meilen, von dort
nach der Küste des Arabischen Meeres ungefähr 500 englische Meilen, d, h.
wenig mehr als das doppelte der von Kandahar nach Silvi führenden Straße.
Welche Richtung der russische Vormarsch nach der eventuellen Einnahme von
Kandahar dereinst einschlagen wird, darüber würden wohl die sekreter Akten
des russischen Generalstabs heute noch keine Auskunft geben. Diese Richtung
wird bestimmt von dem seitlichen Gegendruck oder auch von dem Widerstande,
den eine britische Armee ausüben würde.
Herat, Kabul, Kandahar, diese drei Orte werden wohl, falls nicht diplo¬
matische Beschwörungen die Aktion noch vorübergehend aufhalten, in den nächsten
Monaten viel genannt werden. Wer wird heute zu bestimmen wagen, wieviel
Zeit noch verstreicht, bis ans den Reihen der russischen Vorhut in der harten
Umbildung asiatischer Mundart der klassische Freudenruf ertönt: //«/l«?.^
le westafrikanische Konferenz, das Werk des deutschen Reichs¬
kanzlers und die erste thatsächliche Folge seiner wohlgelungenen
Bemühungen um gutes Einvernehmen und Zusammenwirken mit
der französischen Regierung, hat als denkwürdigstes ihrer Er¬
gebnisse einen afrikanischen Staat hinterlassen, der allem Anscheine
nach eine bedeutende Zukunft hat und in der Geschichte des bisher in seinem
Innern dunkeln, jetzt aber sich rasch aufhellenden dritten Erdteils der alten
Welt fortan von Jahrzehnt zu Jahrzehnt eine wichtigere Rolle spielen wird.
Der neue Staat im Becken des Kongo umschließt nach allem, was wir wissen,
Naturschätze in Fülle, die sich mit deu Hilfsmitteln der Gegenwart in ver¬
hältnismäßig kurzer Zeit werden zugänglich machen, erschließen und ausbeuten
lassen, und er ist ziemlich dicht bevölkert, wenn auch in diesem Augenblicke fast
nur von wilden Stämmen. Seine Grenzen sind von der Konferenz bestimmt
worden, desgleichen seine Stellung zum Welthandel, und als wertvolles An¬
gebinde haben ihm seine Paten in Berlin die Neutralität in die Wiege gelegt.
Seine weitere Ausstattung und Einrichtung ist noch zu beschaffen, und
vorläufig gehen über einen Hauptpunkt derselben mir Gerüchte durch die Welt.
Es heißt, Leopold der Zweite von Belgien, dem der neue Staat, so lange er
noch im Entstehen war, sehr erhebliche Förderung zu verdanken hatte, sei
bestimmt, der erste König von Kongolaud zu werden. Das wäre dann wohl
ein Seitenstück zu dem Doppcltitcl „Königin von England und Kaiserin von
Hind," deu die Königin Viktoria unter Lord Beaeonsficlds Regime annahm,
und dessen zweite Hälfte, wie damals Lord Rosebcrh bemerkte, ont/ lor extsrnül
-rpxlicüMon hinzugefügt wurde. „König der Belgier und des Kongo" würde
kaum so gut klingen als „König von Spanien und beiden Indien." Hier nämlich
besaß der betreffende Souverän beide Gebiete, das heimische und das überseeische,
kraft Desselben Rechtes und mit der gleichen Befugnis und Machtvollkommenheit.
König Leopold dagegen würde der verfassungsmäßig beschränkte Beherrscher von
Belgien sein, während er um Kongo notwendig unumschränkt, antokrntisch,
despotisch oder überhaupt nicht zu regieren hätte. Das werden selbst die
Politiker einräumen, welche ihre pedantische Borliebe für liberale Verfassungen
soweit treiben, daß sie dieselben in ganz Europa, auch ans Halbbarbaren, als
Heil- und Beglückungsmittel angewendet zu sehen wünschen. Der eifrigste und
bornirteste Fortschrittler wird sich, obwohl einem solchen ungemein viel möglich
ist, doch wohl besinnen, wenn es gilt, einen Land- oder Reichstag halb oder
ganz nackter Neger zusammentreten und Gesetze anfertigen zu lassen, Legislatoren,
die, statt wie er und Genossen im heimischen Palaver Gesetzentwürfe der Re¬
gierung mit mehr oder minder verständigen Klauseln zu spicken, einander gegen¬
seitig Spieße oder Schwerter in den Leib zu jagen vorziehen würden. Der
Kongostaat würde auch in keiner Weise von den belgischen Kammern abhängen,
und diese würden mit keinem Worte in seine Angelegenheiten hineinzureden
haben. Er würde den Belgiern nichts kosten und ihnen direkt nichts leisten,
nichts einbringen und nichts helfen. Er würde ein persönliches Besitztum des
Königs Leopold und seiner Dynastie sein, etwa wie die Normandie dem Hanse
Plcmtagenet, Hannover den Welsen auf dem englischen Throne, Neuenburg den
Hohenzollern gehörte.
Ob die öffentliche Meinung in Belgien und die verfassungsmäßige Ver¬
tretung des Volkes sich mit dieser Ausdehnung der Macht und Verantwvrtlich-
keit ihres Souveräns vcfreundcll und emvcrstaiideil erklären wird, muß sich erst
noch zeigen; bis jetzt scheint sie vielen nicht erwünscht zu sein und namentlich
die ultramontane Partei zur Gegnerin zu haben. König Leopold hat die sehr
beträchtlichen Kosten, welche die Erforschung und vorbereitende Ansiedelung des
Landes beanspruchte, aus seinem Privatvermögen bestritten. Er hat die Ent¬
sagung und Unthätigkeit, die ihm als dem Monarchen eines neutralen Staates
in Europa auferlegt war, unter dem Beistande des Entdeckers Stanley dadurch
ausgeglichen, daß er eiuen der besten Striche Afrikas dem Handel, der Gesit¬
tung und dem Kulturleben überhaupt aufschloß. Immerhin aber kann der letzte
Erfolg dieser Wirksamkeit in Brüssel Unbehagen und Bedenken mich bei andern
belgischen Politikern als denen der genannten Partei hervorrufen. Im Jahre 1848
drohte in Belgien eine republikanische Umwälzung, und die Urheber derselben
gingen so weit, daß sie eine Deputation nach dem Schlosse abordneten, welche
dein Könige den Rücktritt von der Regierung nahelegte. Leopold der Erste
fühlte sich sicher und erwiederte den Herren, daß er bereit sei, die Krone nieder¬
zulegen, und daß er sich dazu eher entschließen werde, als zur Annahme einer
«»ehrenvollen Stellung; der Wille des Volkes möge über diese Alternative
entscheiden. Seine Kaltblütigkeit imponirte und brachte die Gegner zum Nach¬
denken. Die Mehrheit des Volkes begriff, daß Belgien nichts gewinnen, wohl
aber einen verhängnisvollen Verlust erleiden würde, wenn seine in der That
sehr weitreichenden, eher zu reichlich als zu kärglich bemessenen Freiheiten nicht
mehr unter dem Schutze eines Herrschers stünden, der mit der königlichen Fa¬
milie in England nahe verwandt und an allen Höfen Europas geachtet war,
und der sich immer verfassungstreu gezeigt hatte. Die Krisis in Brüssel ging
vorüber, der König blieb, und als dann ein Haufe französischer Nevolutions-
hclden in Belgien eindrang und die Republik ausrufen wollte, wurden diese
Fremden, denen sich nur wenige Einheimische anschlössen, von den belgischen
Truppen ohne Mühe zersprengt und über die Grenze zurückgeworfen. Leopold
der Zweite könnte jetzt als Herrscher über viele Tausende von Quadratmeilen
und dreißig oder vierzig Millionen von Einwohnern im Innern Afrikas eines
Tages, wenn ein ähnlicher Fall einträte, »och leichter als sein Vater sich zur
Throueutsngung in Belgien entschließen. Er könnte auch einmal der Ein¬
förmigkeit seiner dortigen Rolle, bei der er nicht viel mehr als Ornament,
höchstens Zünglein an der Wage der Parteien ist, müde werden und, angefeuert
von hochsinnigen Unternehmungsgeiste, zu dem Entschlüsse kommen, am Kongo
ein dankbareres Feld der Wirksamkeit aufzusuchen und die wackeren Belgier sich
selber zu überlassen. Und wenn er dies nicht könnte, so würde es einer seiner
Nachfolger können, der in Afrika ein entwickelteres Staatswesen zu seiner Auf¬
nahme vorfinden würde. Beispiele eines derartigen Verfahrens finden sich bereits
in der Geschichte, auch in der neuesten. Die Fürsten vom Hause Brnganza
verließen im November 1807, weil sie dem Bunde mit Napoleon den Blind
mit England Vorzogen, Portugal und begaben sich nach Brasilien, wo König
Johann der Sechste noch mehrere Jahre nach dem Sturze des französischen
Kaisers, jetzt selbst Kaiser geworden, verweilte. Die Portugiesen hatten jetzt
einem Souverän zu gehorchen, der in der Hauptstadt einer ihrer alten trans¬
atlantischen Kolonien Hof hielt. Nicht die Kolonie wurde vom Mutterlande,
sondern dieses wurde von jener beherrscht, und wenn dieses unnatürliche Ver¬
hältnis den Stolz der Portugiesen schwer verletzen mußte, so wurde es dadurch
nicht erträglicher, daß der Vertreter des Königs und Kaisers durchweg im eng¬
lischen Interesse regierte. Derartiges könnte sich unter Umständen in Belgien
wiederholen. Der König könnte, ohne seine Ansprüche ans den Brüsseler Thron
aufzugeben, auf kürzere oder längere Zeit seine Residenz nach dem Kongo ver¬
legen, und Befehle von da an seine europäischen Unterthanen — wir sagen
Befehle, den» keine Konstitution ist ja für die Ewigkeit geschaffen — würden
vielleicht einen äquatoriale!? Beigeschmack haben, der den Liberalen daheim wenig
behagte. Alles das sieht jetzt nicht gerade wahrscheinlich aus, aber mau hat
mit Möglichkeiten zu rechnen, und es ist auf Erden schon Unwahrscheinlicheres
wirklich geworden. Auf alle Fälle wird der König von Belgien durch den
Besitz des Kongvstaates. wenn dessen Hilfsquellen entwickelt sind, mächtiger und
unabhängiger von den belgischen Parteien werden, als es diesen von ihren?
Standpunkte aus wünschenswert sein kann.
Die praktische Schwierigkeit wäre vielleicht auf dem Wege zu überwinden,
den ein zweites Gerücht bezeichnete. Stanley könnte zum Vizckönige des neuen
Staates ernannt werden nud König Leopold nur die gekrönte Spitze des Ge¬
bäudes sein. Der letztere würde herrschen, jener regieren, wie die Minister im
Parlamentarisch beglückten Belgien, aber, wie gesagt, unbeschränkt, oder nur durch
die ihm vom Könige erteilte Vollmacht beschränkt. starkes ist kein Fürst, kein Sprö߬
ling einer vornehmen Familie, sondern bloß ein Entdecker, freilich der erste jetzt le¬
bende, und überdies ein eminent praktischer Geist. Ohne ihn gäbe es keinen Kongv-
staat. Es scheint nur billig, daß er das, wozu er den Grund gelegt hat, auch
auszubauen und zu entwickeln beauftragt werde. Es wäre ein Ehre für ihn und
ein Sporn für die Thatkraft und die Unerschrockenheit ähnlicher Geister, und
da er das Land kennt, wie kaum jemand neben ihm. so würde es sich auch als
eine Wahl erweisen, die sich lohnte. In der Urzeit trug jeder tapfere Kriegs-
mcm» die Möglichkeit in sich, ein Herzog, ein König zu werden, und noch im
Anfange unsers Jahrhunderts wiederholte sich das bei Soldaten Napoleons,
die sich von? Gemeinen zum General und Marschall emporschwangen, und zu¬
letzt aus Generalen Herzöge, ja wie Murat und Bernadotte Könige wurden.
Heutzutage bedarf ein Herrscher mehr als Tapferkeit, Ausdauer und andre krie¬
gerische Tugenden, und zwar auch unter Barbaren und halbwilden Völkerschaften.
Gordon, welcher den gewaltigen Aufstand der Tmpings niederwarf, leistete mit
seinem „siegreichen Zauberstabe," wie die Chinesen das Spazierstöckchen nannten,
mit dein er bei öffentlichen Anlässen und selbst bei Schlachten erschien, mehr,
als er geleistet haben würde, wenn er wie el» homerischer Held mit Schwert
oder Lanze an der Spitze seiner Krieger gekämpft oder wie Murat mit dem
Säbel in der Faust Reitergeschwader gegen feindliches Fußvolk geführt hätte.
Das diplomatische Geschick, der Takt und die Umsicht Stanleys bei seiner großen
Entdeckungsfahrt quer durch Afrika und später bei der Anlegung und Entwick¬
lung von Stationen und Niederlassungen am untern Kongo hatten bessere Er¬
folge zu verzeichnen als all sein Pulver und Blei, obwohl zuweilen auch dazu
gegriffen werden mußte. Die Eigenschaften, die er von Anfang bis zu Eude
seiner bisherigen Thätigkeit, als Reisender, als Berichterstatter für amerikanische
und englische Zeitungen, als Agent des Königs Leopold, als Unterhändler in
Palavern mit Negerfürsteu und in Besprechungen mit französischen und portu¬
giesischen Nebenbuhlern, endlich als Gründer und Leiter von Kolonien an den
Tag legte, sind derart, daß sie ihn für eine Stellung an der Spitze der Ver¬
waltung des neuen Staates aufs angelegentlichste empfehlen. Er ist der ge¬
gebene Mann für die hier der Erfüllung harrenden großen Aufgaben, er ist
für jetzt und die nächstfolgende Zeit der einzig in Frage kommende Mann. Er
mußte unternehmend, unerschrocken, voll Selbstvertrauen, voll Geistesgegenwart,
voll Geduld nud Ausdauer, nie um Hilfsmittel und Auskunft verlegen sein, er
mußte stets wisse», wem zu trauen und wem gegenüber vorsichtig zu sein war,
er mußte allenthalben über genügende Kenntnis der ihn umgebenden Verhält¬
nisse oder die Gabe, sie sich rasch anzueignen, gebieten, wenn er auf den Geist,
die Einbildungskraft und die Instinkte der Eingeborenen und ihrer Häuptlinge
vorteilhaft einwirken und nicht von ihnen getäuscht werden wollte, und er hat
alle diese Eigenschaften in bewundernswürdigem Maße bekundet. Jetzt wird
auch seine begabte Feder ihre Arbeit zu thun haben, insofern es gilt, die Blicke
der öffentliche«! Meinung noch mehr als bisher auf das Kongoland zu lenken
und für das von ihm angebahnte Unternehmen zu interessire», dem Handel ge¬
eignete Wege zu Einkauf und Absatz zu weisen und dem Kapital soviel Ver¬
trauen einzuflößen, daß es sich befruchtend in den neue» Staat ergießt. Deal
Kapital ist ein erster Stelle nötig, wenn dieser Teil Afrikas der Kultur rasch
gewonnen und zu der Blüte gebracht werde» soll, welche seine natürliche Be¬
gabung verspricht.
Der Kongo ist für den Westen des dritten Kontinents, was der Nil für
den Nordosten ist: die große Straße für den Verkehr Europas mit dem Innern
jenes Erdteils. Beide Flüsse werden von unpassirbarer Stromschnellen unter¬
brochen, aber der eine viel weniger als der andre. Die des Nils sind zahlreich
und weit, über mehr als hundert deutsche Meilen, von Assuan bis nach Chartum,
wo der Fluß sich nach Süden hi» gabelt, zerstreut; die des Kongo dagegen
liegen fast ohne Ausnahme verhältnismäßig dicht bei einander, auf der Strecke
zwischen Stanley Pook, dem vom Flusse gebildeten Landsee, und Ictinia. Wenn
dieses Hindernis für die Beschiffung des Kongo vom Waarenverkehr auf einer Eisen¬
bahn umgangen werden kann, deren Ban beiläufig keinen sehr wesentlichen Schwie¬
rigkeiten begegnen würde, so wird man in dem Kongo eine prachtvolle Wasserstraße
von der See bis tief in das Herz des Erdteils offen vor sich sehen, die mit ihren
Verzweigungen, den Nebenflüssen, von Jahr zu Jahr mehr Erzeugnisse des
europäischen Gewerbefleißes zum Austausche mit den Produkten der Eingebornen
ins Land fuhren und zugleich die Einflüsse der Zivilisation welche deu Bahnen
des Handels folgen, mit Macht in diese Varbareugebiete eindringen lassen wird.
Natürlich ist, daß die .Kapitalisten Europas sich nicht eher entschließen werden,
das zur Anlegung jener Schiencnstraße und zur Errichtung von Dampfer¬
linien auf dem Strom erforderliche Geld herzugeben, als bis wenigstens in
einem großen Teile des weiten Gebietes Ordnung, Friede und die Möglich¬
keit gedeihlicher Entwicklung überhaupt hergestellt sind. Die Gebietsabgren¬
zungen, die man in Berlin vorgenommen hat, lassen uns gutes hoffen. Ein
mächtiges Stück der afrikanischen Länder- und Vvlkerwelt ist dort in gütlicher
Übereinkunft in drei Stücke zerschnitten worden, und man hat davon das nörd¬
liche den Franzosen, das mittelste der Gesellschaft, an deren Spitze der belgische
König steht, und das südliche den Portugiesen zugesprochen. Das ganze süd¬
liche Ufer des Stanley Pook und der Strecke, welche die großen Stromschnellen
einnehmen, gehört zu dein neuen Staate, das ganze nördliche ist französischer
Besitz geworden. Das Nordufer des Kongo vom untern Ende der Strom¬
schnellen bis um die Meeresküste hat mau gleichfalls dein neuen Staate zugeteilt,
und zwar in der Weise, daß dessen Grenzen vom Strome wie von der See
bis tief ins Binnenland sich erstrecken. Auch im Süden des Flusses gehört
ihm eine bedeutende Strecke Land am Ufer hin und weiter einwärts, die un¬
gefähr bis zur Hälfte des Landstriches zwischen den Stromschnellen und dem
Atlantische» Meere reicht. Frankreich besitzt weitgedehnte Gebiete im Norden
des neuen Uferstaatcs, und Portugal hat noch ausgedehntere Landstrecken im
Süden, sowie eine» Streifen Küste bekommen, welcher der Kongomündung nahe
ist. aber sie nicht unmittelbar begrenzt. Über die starke Besitzausdehnnng Por¬
tugals und Frankreichs über das Thal des Kongo kann mau sich nicht mit
ungemischten Gefühlen freuen, namentlich in England nicht. Die Portugiesen
haben hier bisher keine sehr rühmliche Rolle gespielt. Ihre Beamten standen
nicht mit Unrecht immer in dem Rufe, als kärglich oder garnicht besoldete
Leute sich von Sklavenhändlern bestechen zu lassen und deren Treiben nach
Kräften zu begünstigen. Ihre Zolloffizicmteu waren wegen ihres anmaßenden
Auftretens berüchtigt und galten ebenfalls für der Bestechung viel zugänglicher
als dem guten Rechte derer, die hier Handel treiben. Den Franzosen wird der¬
gleichen Untugend nicht nachgesagt, aber den englischen Schiffern und Kauf¬
leuten sind sie als Schutzzöllner mit hohen Tarifen für britische Kattune und
Eisenwaaren gewiß ein Dorn im Auge. Indes wird Manchester mit seiner
freihändlerischen Betrachtung der Dinge sich in diesem Falle mit dein Troste
zufrieden geben müssen, daß in Afrika, wo alles noch soweit zurück ist, jede
europäische Einmischung, sei sie, welche sie wolle, einen Fortschritt nach oben
einschließt. Selbst die schlimmste Sorte der Weißen bringt hier besseres mit,
als die beste Sorte der Schwarzen zu leiste» vermochte, wenn man sie ihre
Zustände sich selbst schassen ließe.
Nur der Sklavenhandel bildet eine Ausnahme von dieser Regel. Doch
wird derselbe jetzt viel weniger von Europäern als von den Arabern des Sudan
betrieben. Die Eröffnung des ganzen Kongo für den europäischen Handel wird
der Sklavenjagd in den dortigen Negergebietcn ein schleuniges Ende bereiten.
Im fernen Innern war der Mensch bis jetzt der hauptsächlichste, wo nicht der
einzige Handelsartikel. Der Islam ist für die schwarzen Stämme, die sich zu
ihm bekehre», ohne Zweifel in vieler Hinsicht ein Fortschritt und ein Segen;
er hat aber für sie eine Seite, wo er als Fluch erhebende, er legt ihnen die
Pflicht auf. ihre heidnischen Nachbarn zu bekämpfen, und verleiht ihnen das
Recht, sie zu Sklaven zu machen und zu verlaufen. Gordon versuchte dem
während seiner ersten Anwesenheit im tropischen Sudan von Osten her ein Ziel
zu setzen. Seine Absichten wurden nur halb ausgeführt, und das Werk der
Befreiung ging schließlich in die Brüche. Der neue Kougvstaat ist berufe»,
es vom Westen her neu zu beginnen, und er wird es, im Besitz größerer nud
wirksamer Mittel, aller Wahrscheinlichkeit nach im Verlauf der Zeit glücklich zu
Ende führen.
Den neuesten Nachrichten aus Brüssel zufolge scheint es
ziemlich sicher zu sein, daß die Übernahme der Souveränität über den neuen Staat
am Kongo von selten des Königs Leopold in den belgischen Kammern die Mehr¬
heit für sich habe» wird, insofern die Verhandlungen des Ministeriums mit den
Führern der Rechten das Ergebnis gehabt haben, daß die Majorität der letzteren
(die Ultramontanen) für die Sache zu stimmen bereit ist. Die einzige Bedingung
ist, daß es sich dabei uur um eine Personalunion handle nud der Kougvstaat
mit dem sonst unabhängigem und neutralen Belgien in keine andre Beziehung
gebracht werden dürfe. Die Änderung in der Ansicht der Ultramontanen wird
ans hohe Geistliche zurückgeführt, welche in dieser „solideren Gestaltung des
neuen Staates" eine „Erleichterung der Aufgabe der Kirche" erblicken.
entsche Kolonien ist das Stichwort unsrer Tage. Lauter und
lauter verlangt das deutsche Volk eine kraftvolle Kolvnisations-
pvlitik, »ud die Regierung ist bereit, diesem Drängen zu folge».
Deutsche Kolonien sollen auch den Gegenstand der folgenden Be¬
trachtungen bilden, aber nicht solche in fernen Landen, sondern
deutsche Kolonien in Deutschland selbst.
Eduard von Hartmann hat jüngst in zwei Artikeln (Gegenwart 1885,
Ur. 1 und 2) über den Rückgang des Deutschtums gehandelt und mit Recht
darauf hingewiesen, daß die Pflicht der Selbsterhaltung eine energische Ger-
manisirung der polnischen Elemente im Reiche erfordert. Den Beweis, daß
diese Germnuisirung im Interesse der Sicherheit des Reiches nach außen, sowie
des ungestörten inneren Ausbaues dringend notwendig ist, an dieser Stelle
»och einmal zu bringen, ist wohl überflüssig. Das Geschrei des reichsfeiud-
licheu Zentrums und der gleichgesinnten polnischen Volksvertreter über Ver¬
gewaltigung kann uns mir in unsrer Meinung bestärken. Die Frage kann nur
noch die sein: Wie ist die Germanisirung am erfolgreichsten und nachhaltigsten
zu bewirken?
Der freie Verkehr mit dem übrigen Deutschland, die deutsche Schule, über¬
haupt alle die gegenwärtig wirksamen Faktoren erreichen diesen Zweck nicht.
Eine staatliche Beförderung der Auswanderung polnischer Familien — Posen
hat jetzt schon im Verhältnis zu seiner dünnen Bevölkerung nächst Pommern
die höchste Answanderungsziffer uuter den preußischen Provinzen — würde ohne
Zweifel wirksam sein. Dieser Maßregel müßte aber doch vor allein eine ener¬
gische Beförderung der dentschen Einwanderung gegenüberstehen. Der niedrigen
Kulturstufe und geringen Bevölkerungsdichtigkeit Posens gemäß müßten diese
Einwanderer zum weitaus größte!, Teil Bauern, landwirtschaftliche Arbeiter und
landwirtschaftliche Handwerker sein.
Abgesehen von dein nationalen und politischen Interesse, würde eine Ver¬
wehrung des bäuerlichen Besitzes auch im wirtschaftlichen und sozialen Interesse
der Provinz liegen, da der landwirtschaftliche Grundbesitz zum überwiegenden
Teil in den Händen großer Besitzer ist. Nach der Zeitschrift des preußischen
statistischen Bureaus 1873 nahmen die Landgüter von einem Umfange bis zu
300 Morgen uur 3913211, die größeren dagegen «311042 Morgen ein,
während z. B. in Westfalen mit seinem gesünder verteilten Grundbesitz jene
Güter 5061444. diese nur 1667 987 Morgen umfassen/')
Räume man die Notwendigkeit und Angemessenheit einer Vermehrung der
bäuerlichen deutschen Besitzungen ein, so entstehen vor allem drei Fragen: Wie ist
der erforderliche Grund und Boden zu beschaffen? Woher sollen die Kolonisten
genommen werden? In welcher Form soll diesen der Besitz überwiesen werden?
Für die erste Frage würde in erster Linie der erhebliche Krvnbesitz in Be¬
tracht kommen. Preußen besitzt in Posen an landwirtschaftlichen Domänen (nach
Meitzen) 127 406, an Forsten 602165 Morgen. Mit einer Zerschlagung eines
Teiles des Domänenbesitzes — um eine Beseitigung aller großen Güter kann
man selbstverständlich nicht denken — würde schon viel, aber nicht genng er¬
reicht sein. Ob ein erheblicher Teil des Waldbodens nicht wirtschaftlicher als
Ackerland bearbeitet werden würde, müßten die Spezialuntersuchnngeu ergeben,
ebenso, wie weit eine Urbarmachung und Besiedelung der Ödländereien und
Moore angebracht wäre. Vermutlich würden jedoch die ans diese Weise ver¬
fügbar werdenden Grundflächen nicht genng Spielraum für die deutsche Be¬
siedelung gewähren. Schon weil die Germanisirung aller Gebietsteile, ja gerade
der in polnischem Privatbesitz befindlichen, notwendig ist, würde die Negierung
auch zum Erwerb polnischer Güter schreiten müssen. Darf man den Stimmen
der Zentrums- und Pvleuführer glauben, so seufzen die polnischen Besitzer ja
so unter der preußischen Herrschaft, daß sie froh sein müßten, baares Geld für
ihre Güter zu erhalten und auszuwandern. Auf alle Fälle ist es höchst un¬
wahrscheinlich, daß es nicht möglich sein sollte, eine große Anzahl Güter auf
dem Wege freier Übereinkunft zu erstehen. Sollte diese Voraussetzung sich als
unrichtig erweisen, dann dürfte unsers Erachtens die Regierung im äußersten
Falle selbst vor einem auf verfassungsmäßigen Wege zu schaffenden Exprvpria-
tivnsrechte nicht zurückschrecken. Denn wenn alle andern Mittel und Wege er¬
schöpft sind, würde ein solches Recht, so hart und einschneidend es auch ist,
dnrch die Interessen des gesamten Reiches seine Rechtfertigung finden. Nur
energisches Handeln — unbeirrt dnrch Phrasen von der Unverletzlichkeit des
heiligen privaten Eigentums, das sich schon so manchen Eingriff hat gefallen
lassen müssen — kann hier helfen.
Die zweite Frage: Woher sollen die Kolonisten genommen werden? er¬
ledigt sich am einfachsten. In einer Zeit, in welcher in vielen Gegenden Deutsch¬
lands thatsächlich Übervölkerung herrscht, wo jährlich Tausende und Abertausende
ins Ausland wandern, werden sich auch geeignete und uicht ganz unbemittelte
Kolonisten für Besiedelungen in Deutschland selber finden, und umso leichter,
wenn die Negierung diesen Kolonisten gewisse Vorteile (z, B, Steuerfreiheit für
eine Reihe von Jahren) gewährt und den Erwerb des Grundbesitzes nach Mög¬
lichkeit erleichtert. Letzteres führt uns auf die dritte Frage,
Diese dritte Frage ist leicht zu lösen, wenn wir die Geschichte als Lehr¬
meisterin nehmen und so handeln, wie unsre Väter gehandelt haben. Fast alle
ihre großen Kolonisationen, mochten sie dem Zweck der Germanisirung oder der
Urbarmachung wüster Landstriche dienen, sind in der Weise vor sich gegangen,
daß den Ansiedlern ihr Grundbesitz in der Form der Erbzinsleihe oder der
Erbpacht übertragen wurde. Diese Vesitzformen sind zwar jetzt aus dem preu¬
ßischen Recht verbannt, aber mit Unrecht. Erbpacht und Erbzinsleihe — im
Grunde dasselbe — sind in Preußen wie in andern deutschen Staaten bei Ge¬
legenheit der Schöpfung der großen, im allgemeinen segensreichen Ablösuugs-
gesetze „im Rausch" (At venin vorbo) mit abgeschafft worden. Man lese die
Kammerverhandlungen jener Zeit, die Motive der Gesetzentwürfe, und man
wird finden, daß es nicht „der übermächtig drängende Wille des Volkes," nicht
Klagen der Erbpächter oder Erbverpächter gewesen find, welche zur Beseitigung
der Erbpacht geführt haben. Sie siel mit den andern „schädlichen Neallasten."
An eine Reform der Erbpacht hat niemand gedacht. Nur diese, nicht aber die
einfache Abschaffung wäre am Platze gewesen, wenn es galt, die thatsächlich
vorhandenen Mängel des Shstems zu beseitigen. Selbstverständlich kaun nur
an die Einführung einer reformirten Erbpacht, die von allen überflüssigen Zu¬
thaten und schädlichen Bestimmungen gereinigt, deren Wesen aber wie früher
in der Überlassung von Grundbesitz gegen Zahlung einer einseitig nicht künd¬
baren Rente bestehen muß, gedacht werden.^)
Die wesentlichsten Vorteile der Erbpacht sind die, daß der Erbpächter sich,
ohne über erhebliche Kapitalien zu verfügen und ohne die Sorge vor einer
ungelegener, vielleicht noch mit einer Steigerung des Zinsfußes zusammen¬
treffenden Kündigung der zur Deckung des Restes eines Kaufschillings auf¬
genommenen Hypothekarschulden, in den eigentümlichen Besitz eines Landgutes
setzen tan». Von jeglicher Kapitalanzcchlnug kauu freilich nur in dem Falle
abgesehen werden, daß der Erbpachten bloßen Grund und Boden erwirbt und
selbst die nötigen Gebäude errichtet, Inventar anschafft :c. Wo es sich wie in
unserm Falle um möglichste Erleichterung der Ausiedlungsbedingungeu oder um
Urbarmachung von Grundflächen handelt, die erst nach und nach reichlicher
Frucht tragen, wird die Gewährung von Freijahren oder eine allmähliche
Steigerung des Zinses bis zu der für die Dauer festgesetzte» Höhe desselben gute
Dienste leisten.
Wir verhehlen uns nicht, daß die vorgeschlagene Maßregel ans erheblichen
Widerstand stoßen würde, ganz abgesehen davon, daß der Zweck der Germani-
sirung Von gewissen Seiten heftig bekämpft werden würde. Ob die preußische
Negierung beim Landtage eine Mehrheit für eine reformirte Erbpacht finden
würde, ist nicht unzweifelhaft, obwohl die Aussichten dafür heute erheblich besser
sind als früher. Außer den Konservativen würde ein erheblicher Teil der ge¬
mäßigt Liberalen zustimmen.*) Die Mehrzahl der „Deutsch-Freisinnigen" würde
wahrscheinlich vor der Wiederbelebung dieser „mittelalterlichen Rechtsform" zurück¬
schrecken. Die Haltung des Zentrums ist schwer vorauszusagen, da sie sich in der
Regel nicht nach Gründen, die in der Sache selbst liegen, regelt, und, falls außer¬
dem die Wiedereinführung der Erbpacht direkt mit dem Zwecke der Germanisirung
in Zusammenhang gebracht werden würde, wahrscheinlich erhebliche Opposition zu
erwarten wäre. Viele werden auch vor den nicht zu leugnenden Schwierigkeiten und
Kosten eines Unternehmens, welches vielleicht für lange Jahre eine fehr bedeu¬
tende Vermehrung der Negierungsthätigkeit verlangt, zurückschrecken. Aber diesen
Kleinmütigen ist entgegenzuhalten: Sollen Preußens Könige, deren Thätigkeit
für das Wohl des deutschen Volkes immer umfang- und segensreicher geworden
ist, nicht mehr imstande sein, das zu vollbringen, was ihren Vorgängern ge¬
lungen ist? Ich erinnere daran, daß Albrecht der Bär mit großem Erfolg die
slavischen Gebiete der Provinz Brandenburg mit freien deutschen und nieder¬
ländischen Erbzinsbauern besiedelt und germanisirt hat. Ich erinnere an die
gleiche erfolgreiche Thätigkeit des Großen Kurfürsten und Friedrichs des Großen
in andern Provinzen. Gerade die größten preußischen Fürsten haben Großes
auf diesem Gebiete geleistet. In manchen Beziehungen mögen die Schwierig¬
keiten gewachsen sein: wir haben z. B. höhere Bvdenpreise, mehr entgegen¬
stehende Privatrechte, vielleicht auch größere Volksdichtigkeit in den zu besie¬
delnden Gebieten. Es ist auch nicht zu verkennen, daß unsre heutige Verfassung
dem Vorgehen eines energischen Fürsten einen Hemmschuh anlegen kann. Mit
diesen Schwierigkeiten läuft aber auch eine gewaltige Steigerung der Mittel
parallel. Die heutige Negierung besitzt, um nur zweierlei hervorzuheben, er¬
heblich bessergeschulte und zuverlässigere Beamte^) und ausgiebigere pekuniäre
Mittel. Freilich nach den Vorgängen in der jüngsten Neichstagssessivn könnte
man glauben, das deutsche Reich oder Preußen befinde sich in einer pekuniären
Klemme. Aber wenn es sich um produktive Anlagen handelt, wenn es gilt,
Samen in die Zukunft zu säen, so besitzen wir, wie Fürst Bismarck mit Recht
im Reichstage erklärt hat, immer noch reichliche Mittel, mögen auch sonst noch
so schwere Lasten zu tragen sein. Ob die vorgeschlagene Maßregel insofern
produktiv sein würde, daß der eingehende Erbpachtkanon reichlichen Ersatz für
die aufgewandten Kapitalien brächte, können nur Versuche ergeben. Diese Frage
hier entscheiden zu wollen, würde vermessen sein. Aber der Gewinn, welcher
aus einer erfolgreichen Besiedelung und Germanisirung der von polnischer Be¬
völkerung bewohnten Landteile für die Kräftigung Preußens und des Reiches
im Innern und nach außen erwachsen würde, ist kaum hoch genug zu schätzen.
bgleich die Arbeitsleistungen des Seemannes ihrer Natur uach
und nach den Bedingungen, unter welchen sie geleistet werden, sich
durch nichts von denen eines andern Lohnarbeiters unterscheiden,
die Schiffsleute demnach geradeso „Leibesarbeiter" sind wie alle
andern gewerblichen Arbeiter, so hat doch diese Arbeiterklasse
bisher eine sehr passive Stellung zu der großen Arbeiterfrage eingenommen, und
die Schlagwörter, welche in die öffentliche Diskussion über diese Frage geworfen
werden, „Versicherung gegen Arbeitslosigkeit," „Recht auf Arbeit," „Organisation
der Arbeit" haben bisher auf sie keine passende Anwendung finden können. Diese
begünstigte Stellung haben die Seeleute bisher nicht bloß in Deutschland ein¬
genommen; anch in England, dem klassischen Vorbilde der Arbeiterkämpfe, und
in allen andern Staaten, wo dieselben zum Brennpunkte der sozialen Bewegung
geworden sind, ist der Stand der Seeleute aus dieser vorteilhaften Ausnahme¬
stellung innerhalb der arbeitenden Bevölkerung nicht herausgetreten. Die Er¬
klärung dafür liegt sehr nahe. Die Seeleute aller Nationen sind, und waren
dies früher noch in höherm Grade als heute, in ihrer materiellen Lage ungleich
begünstigter als die andern Lohnarbeiter, indem der höhere Gebrauchswert ihrer
Arbeit, also der höhere Lohn, und ein nie in Frage gestelltes befriedigendes
Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf ihrem Arbeitsmarkte über eine
wesentlich bessere wirtschaftliche Lage entschieden, als solche von den Lohnarbeitern
der Gewerbe zu Lande erreicht werden konnte.
So richtig es nun auch ist, daß sich diese günstigen Verhältnisse der See¬
leute in den meisten Handelsmarinen auch bis jetzt noch erhalten haben, so zeigt
es sich doch, daß in der deutschen Marine dieselben je länger je mehr zu einer
ungünstigen Veränderung hinneigen. Der bei uns sich außerordentlich schnell
vollziehende Übergang der Segelschifffahrt zur Dampfschiffahrt hat zugleich mit
seiner nicht ausgebliebenen Überproduktion an Dampferraum in erster Linie auf
die Lage der Seeleute sehr ungünstig eingewirkt, insofern dieser Übergang
zunächst die Veranlassung geworden ist, daß ein Teil der erfahrensten und besten,
noch ausschließlich der alten Schule der Segclschifffahrt angehörigen Seeleute
aus unüberwindlicher Abneigung gegen den Dampfbetrieb in andre Mariner,
besonders zahlreich in die Marine Nordamerikas übergetreten sind, welches selbst
weniger eine seefahrende Bevölkerung besitzt, als auf die Heranziehung fremder See¬
leute angewiesen ist, und welches noch eine Schifffahrt mit ausschließlicher Segel-
auwendung auf zahlreichen Linien betreibt. Sodann sind Nachteile dadurch ent¬
standen, daß an der Ostseeküste der hier besonders vorherrschenden Scgelschifsfahrt
durch die Konkurrenz der Dampfschifffahrtsgesellschaften und Nhedereien von Ham¬
burg und Bremen einerseits und Kiel und Stettin andrerseits starker Abbruch gethan
worden ist, der stellenweise zu einem Vollständiger Stillstande geführt hat. Be¬
sonders dadurch, daß namentlich in den kleineren Hafenstädten der holsteinischen,
pommerschen, mecklenburgischen und preußischen Küste die Nhederei fast traditionell
in deu Händen der Kapitäne der Schiffe als ihrer Besitzer liegt und diese teils
ans Mangel an Verständnis für die wirtschaftliche Tragweite neuer Verkehrs-
einrichtungen, teils auch aus Vermögenslosigkeit ihr Transportgewerbe dem
Dampfbetriebe nicht dienstbar zu machen gewußt haben, hat die .Kalamität der
Segclschifffahrt in den Ostseehäfen die gegenwärtige Höhe erreicht. Wo hin¬
gegen an der Ostseeküste der Schifffahrtsbetrieb kaufmännischen Rhedereien an¬
gehört, wie namentlich in Kiel, Flensburg und Stettin, da hat sich mit Hilfe
des kaufmännischen Kapitals auch hier dieser Übergang einigermaßen überwinden
lassen.
Es liegt außerhalb des Nahmens dieser Darlegung, des näheren nachzu¬
weisen, wie auf Grund dieser veränderten Verhältnisse im technischen Betriebe
unsrer Seeschisffnhrt die wirtschaftliche Lage unsrer Schiffsmannschaften nicht
mehr die frühere lohnende und vorteilhafte geblieben ist. Die beiden Umstände,
daß infolge der zunehmenden Dampfschifffahrt ein großer Teil der deutschen
Segelflvtte zur Unthätigkeit gezwungen wird und daß der Dampfschifffahrts¬
betrieb den deutschen Seeleuten alten Schlages unter heimatlicher Flagge den
Spielraum ihrer altgewohnten Thätigkeit beeinträchtigt, sind zwei thatsächliche
Voraussetzungen dafür geworden, daß sich gewisse wirtschaftliche Notstände in
der Lage unsrer Seemannschaften bemerkbar gemacht haben, deren Beseitigung
oder deren Milderung wenigstens schlechterdings unabweisbar zu werden scheint.
Die Frage der Sicherstellung unsrer Seeleute gegen die wirtschaftlichen Nach¬
teile der Gefahren ihres Berufslebens, welche schon seit längerer Zeit die
deutschen Schifffahrtskreise beschäftigt hat, hat man mit Rücksicht hierauf aus
ihren bisherigen theoretischen Erörterungen jetzt dein Stadium der praktischen
Allsführung näher geführt, und zwar gehen die Bemühungen darum von dem
Deutschen nautischen Vereine aus, einer Körperschaft, welche, da sie die nautischen
SpezialVereine aller Hafenstädte der Nord- und Ostseeküste umfaßt und Rheder
und Seemannfchaften — also Arbeitgeber und Arbeiter — gleichmäßig in sich
vereinigt, als das berufenste Organ der Privatinteressen der deutschen See¬
schifffahrt gelten darf. Die Arbeitsunfähigkeit des Seemannes, wie solche durch
Unfall, Krankheit oder Tod herbeigeführt wird, ist von dieser Körperschaft als
Ausgangspunkt für Maßnahmen zur Förderung der Interessen der Angehörigen
des Schisffahrtsbetriebes ins Auge gefaßt worden, indem nach früheren An¬
regungen des letzten Vorsitzenden des Deutschen nautischen Vereins (Gibsou in
Danzig) von seinem jetzigen Vorsitzenden, Konsul Sartori in Kiel, nach dem Vorbilde
der Gesetzgebung vom 6, Juli 1884 betreffend die Unfallversicherung der Gewerbe¬
arbeiter in Verbindung mit dem Gesetze über die Krankenversicherung der Ar¬
beiter vom 15, Juli 1883 die staatliche Organisation einer Unfall- und Kranken¬
versicherung für Seeleute angeregt worden ist. Unsers Erachtens kann die
nautische Arbeiterversicherung einen aussichtsvollen Schritt auf dem Wege zur
Besserung der wirtschaftlichen Lage der deutschen Seemannschaftcn bedeuten, weil
einerseits die Gefahren, welche der Sicherheit der wirtschaftlichen Existenz des
Seemannes und seiner Familie infolge der Eigentümlichkeit seiner Arbeits¬
leistungen aus erlittenen Unfällen erwachsei,, schwerlich von einem andern Ge¬
werbe übertroffen werden, andrerseits auch kein andres Gewerbe eine so regel¬
mäßig und verhältnismäßig große Zahl von Arbeitsinvaliden als Opfer einer
unausgesetzt aufreibenden Lebensthätigkeit liefert, wie gerade die den verderb¬
lichsten Einflüssen eines häufigen Klimawechsels ausgesetzte Seeschifffahrt; sodann
auch, weil trotz alledem unsre Seeschifffahrt wohl die am wenigsten entwickelte
Wvhlthätigkeitsorganisation zum Besten ihrer notleidenden Angehörigen besitzt.
Bisher haben die Seemannsordnung und das Handelsgesetzbuch neben der
Thätigkeit der privaten Seemannskassen die Fürsorge in Fällen von Erkrankungen
und Verletzungen in der Seeschifffahrt geordnet. Beide Gesetzgebungen haben
keine Trennung dieser Materien gekannt, und in dem Entwürfe des nautischen
Vereins für die Kranken- und Unfallversicherung ist diese übereinstimmende Behand¬
lung auch als Grundlage für die staatliche Gesetzgebung einer nautischen Kraukeu-
und Unfallversicherung beibehalten worden. Wir möchten einstweilen dahingestellt
sein lassen, wie weit eine Vereinigung der Kranken- und Unfallversicherung für
Seeleute in dieser Übereinstimmung mit den bestehenden Vorschriften des
Handelsgesetzbuches und der Seemannsordnuug zweckmäßig sein kann. Vom
nautischen Verein selbst wird die im In- und Auslande für eine längere Zeit¬
dauer vorzunehmende statistische Erhebung über die Erkrankungs- und Unglücks¬
fülle unter den Angehörigen der deutscheu Haudelsmariue als eine notwendige
Voraussetzung für jedes abschließende Urteil über die zweckmäßigste Organisation
der nautischen Arbeiterversichernng anerkannt, und es ist nicht abgeschlossen,
daß die Resultate dieser Statistik, wie über manchen andern so anch über diesen
Punkt der vom nautischen Verein erstrebten Organisation der Kranken- und
Unfallversicherung noch Änderungen herbeiführen. In den Gewerben zu Lande
wird bekanntlich eine verschiedne Behandlung der Unfallversicherung und Kranken¬
versicherung der Arbeiter anerkannt, indem man bei den Gefahren, welche die
wirtschaftliche Existenz der Arbeiter bedrohen, einen Unterschied hinsichtlich ihrer
Dauer macht. Die Gefahr nämlich, bei der Arbeit durch einen Unfall betroffen
zu werden, danert ihrer Natur nach nur so lange wie die Beschäftigung, aus
welcher der Arbeiter die Mittel zur Prämienzahlung hernimmt. Die Gefahr
dagegen, daß der Arbeiter dnrch Krankheit, Alter oder Tod arbeitsunfäh'g wird,
droht ihm und seiner Familie, so lange er lebt, gleichviel ob er beschäftigt oder
arbeitslos ist. Daraus ergiebt sich eine wesentlich verschiedne Auffassung der
Hilftbedürfti gien der durch Unfall oder Krankheit betroffenen.
In seinen Grundzügen wird der mit großer Sachkenntnis und entschiednen
Wohlwollen für seine Zwecke ausgearbeitete Entwurf die Bestätigung vieler seiner
Voraussetzungen durch die Ergebnisse der von der Reichsregieruug noch zu
fordernden Statistik erhalten, und die Hoffnung des Vorsitzenden, daß sein
Entwurf mit diesen statistischen Erhebungen gemeinsam „ein für die Zwecke der
Gesetzgebung brauchbares Material und die zahlreichen gewichtigen Momente,
die hierbei Berücksichtigung erheischen, klären helfen werde," darf gewiß als eine
höchst berechtigte erscheinen. Indem wir uns vorbehalten, auf die Materie vor
ihrer gesetzgeberischen Behandlung noch einmal zurückzukommen, wollen wir im
nachstehenden einige Gesichtspunkte skizziren, welche dem nautischen Verein für
seinen Entwurf maßgebend gewesen sind.
Was zunächst den Umfang der Versicherung betrifft, so wird empfohlen,
der Anwendung des Gesetzes die Große der registnrten Schiffe deutscher
Nationalität — von 50 Kubikmeter aufwärts — zu gründe zu legen.
Hinsichtlich der Zusammensetzung der Besatzungen der Schiffe entsteht die
Frage, ob das Gesetz nur den Mannschaften deutscher Nationalität zu gute
kommen soll, oder ob auch auf deutschen Schiffen dienende fremde Mannschaften
einzuschließen wären, und ob zwangsweise oder freiwillig. Es muß einerseits
berücksichtigt werden, daß sofern Ausländer bedingungslos ausgeschlossen werden,
dies namentlich in den Grenzküstengcbieten zu mancherlei Bedenken Veranlassung
bieten wird, und daß für ausländische Mannschaften alsdann der Schutz des
Z 48 der Seemannsordnung und des Artikels 523 des Handelsgesetzbuches
Giltigkeit behalten würde; daß andrerseits im Falle der unbeschränkten Zulassung
von Ausländern, sich eine große Schwierigkeit in der Handhabung des Gesetzes
bei Schiffen erwarten läßt, die in überseeischen Gewässern fast ausschließlich
mit Mannschaften fremder Nationalität, Chinesen, Mcckayen, Negern?c,, fahren.
Wahrscheinlich werden die Widersprüche damit gelöst werden, daß die auf deutschen
Schiffen ziemlich zahlreich fahrenden Ausländer auf Antrag der Rheder — unter
vom Reichsversicheruugsamte näher festzusetzenden Bedingungen — der Vorteile
der zum Gesetz gewordenen Versicherung teilhaftig werden können.
Bei Ermittlung des Jahresverdienstes der Mannschaften (dessen Höhe
entsprechend die Höhe der Beiträge normirt werden soll) müßte beim Abzug
der Prämie vom Lohne die auf den Schiffen gewährte Beköstigung und Woh¬
nung, Wäsche u. s, w, ohne Bedenken mit in Rechnung gezogen werden, weil
diese Lieferungen Naturallvhnleistungen sind, die von den Erträgen der Ar¬
beitsleistungen bezahlt werden sollen. Im übrigen würde es uns passend er¬
scheinen, daß die Ermittlung der in jedem Hafen verschiednen Jahreslöhne
nur auf Grund einheitlich in Anschlag zu dringender Sätze innerhalb des
ganzen Gebietes unsrer Seeküsten vorgenommen werde.
Für den Kernpunkt der Versicherung — die gegenständliche Versicherungs¬
materie — schlägt der Entwurf des Vorsitzenden des Deutschen nautischen
Vereins wörtlich nachstehende Fassung vor:
Jeder Schiffsmann, der nach Antritt seines Dienstes erkrankt, verwundet oder
beschädigt wird, hat Anspruch auf Verpflegung bis zu seiner Wiederherstellung.
Die Verpflegung erfolgt, den Umständen entsprechend, entweder auf dem Schiffe
oder auf dem Lande, in der Fremde oder im Heimatshafen.
Geschieht die Verpflegung auf dem Schiffe selbst, so bestreitet der Schiffs¬
eigentümer, d. h. entweder der Rheder oder, falls sem^ solcher nicht vorhanden ist,
der Schiffer, auf eigne Rechnung die Kosten, ohne daß ihm ein Anspruch auf
Ersatz zusteht.
Geschieht die Verpflegung an einem fremden Platze, so trägt der Schiffs¬
eigentümer zunächst die erwachsenden Kosten; seine nachweislich in ^ dieser Veran¬
lassung gemachten Auslagen werden sodann oder aus der allgemeinen Versicherungs¬
kasse für deutsche Seeleute vergütet.
Als zu ersetzende Kosten sind auch die Auslagen für die Beförderung der als
krank oder verwundet in fremden Hafenplätzen zurückgelassenen Mannschaften uach
dem Hafen, von welchem das Schiff seine Ausreise angetreten hat, anzusehen.
Im Heimatshafcn bei Verpflegung auf dem Lande ist ssiud?) als Kranken-
^rgütung zu gewähren:
Das Krankengeld ist wöchentlich postnumerando zu zahlen und endet spätestens
wie dem Ablauf der dreizehnten Woche.
An Stelle der ebeu vorgeschriebenen Leistungen kann bis zum beendigten
Heilverfahren freie Kur und Verpflegung in einem Krankenhause gewährt werden
und zwar:
1- für Kranke oder Verunglückte, welche verheiratet sind oder bei einem Mit¬
gliede ihrer Familie wohne», mit ihrer Zustimmung oder unabhängig von
derselben, wenn die Art der Krankheit oder Verletzung Anforderungen an
die Behandlung oder Verpflegung stellt, denen in der Familie nicht genügt
werden kann;
2. für sonstige Kranke oder Verunglückte in allen Fällen.
Für die Zeit der Verpflegung in dem Krankenhause steht den Angehörigen
eine Rente (s. u.) insoweit zu, als sie ans dieselbe im Falle des Todes des Er¬
krankten oder Verletzten einen Anspruch habe» würden.
Dauert die Erwerbsunfähigkeit länger als dreizehn Wochen, so tritt von nun
an eine Rente sein^.
Die Rente ist entweder nach dem für den Grad des Betreffenden festgesetzten
Satze zu berechnen oder unter Zugrundelegung desjenigen Arbeitsverdienstes zu
bemessen, den der Erkrankte oder Verletzte während der letzten sechs Monate seines
Dienstes als Heuer durchschnittlich für den Monat, sowie unter Berücksichtigung
des für Beköstigung ze. zu berechnenden Zuschlages bezogen hat, wobei der
2000 Mark jährlich übersteigende Betrag nur mit einem Drittel zum Ansatz gelangt.
War der Betreffende in seiner Stellung nicht sechs Monate von dem Tage der
Erkrankung bez. der Verwundung an gerechnet, so ist die zuletzt bezogene Monats¬
heuer mit sechs zu multipliziren.
Im Falle des Ablebens eines Schiffmannes in nachweislicher Folge von Er¬
krankung während der Dauer des Arbeitsverhältnisses oder als Folge von Ver¬
letzung ist außerdem zu leisten:
Diese Rente beträgt:
für die Witwe des Verstorbenen bis zu deren Tode oder Wiederverhei¬
ratung 20 Prozent, für jedes Hinterbliebene vaterlose Kind bis zu dessen
zurückgelegten!, fünfzehnten Lebensjahre 15 Prozent und, wenn das Kind
auch mutterlos ist oder wird, 20 Prozent des jährlichen Arbeitsverdienstes-
Die Renten der Wittwe und der Kinder dürfen zusammen 60 Prozent
des Arbeitsverdienstes nicht übersteigen; ergiebt sich ein höherer Betrag, so
werden die einzelnen Renten im gleichen Verhältnis gekürzt.
Im Falle der Wiederverheiratung erhält die Witwe den dreifachen Be¬
trag ihrer Jahresrente als Abfindung.
Für Ascendenten des Verstorbenen, wenn dieser ihr einziger Ernährer war
für die Zeit bis zu ihrem Tode oder bis zum Wegfall der Bedürftigkeit
20 Prozent des Arbeitsverdienstes.
Wenn mehrere der unter d genannten Berechtigten vorhanden sind, so
wird die Reute den Eltern vor deu Großeltern gewährt.
Wenn die unter d bezeichneten mit den unter -i, bezeichneten konkurriren,
so haben die ersteren einen Anspruch nur, soweit für die letzteren der Höchst-
betrng der Rente nicht in Anspruch genommen wird.
Die vorstehenden Bestimmungen gelten zugleich für die Mannschaft eines
nach deu Artikeln 866 und 867 des H.-G.-B. als verschollen einzusehenden
Schiffes. Die Rente an die Hinterbliebenen beginnt hier mit dem Tage zu
laufen, von welchem an, den gesetzlichen Bestimmungen zufolge, die Ver-
schollenheit eines Schiffes erklärt worden ist.
Von ganz besondrer Wichtigkeit erscheint uns angesichts der häufigen
Katastrophen auf See und des unbekannten Unterganges von Schiffen, daß man
die vorstehenden Bestimmungen auch auf die Besatzungen aller derjenigen See-
fahrzeugc auszudehnen wünscht, welche nach den Artikeln 866 und 867 des
Handelsgesetzbuches als verschollen betrachtet werden.
Bei Bemessung der Beitragsleistungcn (Prämien) will man von einer
Diskussion dieser Prämien noch so lange absehen, bis ein greifbarer Anhalt für
die Leistungen der Versicherung dnrch die erwähnte und zu schaffende Statistik
gewonnen sein wird. Von Wichtigkeit ist der Standpunkt, daß man in den nautischen
Vereinen jetzt schon dafür eingetreten ist, neben den Rhedern auch die Mann¬
schaften zur Zahlung der Beitragsleistungen (mit 1 bis 3 Pfennigen pro Mark
der Heuer) mit heranzuziehen. Es ist dies ein Standpunkt, der sich leicht er¬
klären läßt aus dem Wunsche, daß die dein Unternehmen angehörenden finanziellen
Lasten, namentlich mit Rücksicht auf den gegenwärtig nicht sehr florireuden
Schisffahrtsbetricb nicht allein von den Rhedern getragen werden sollen,
der aber unsers Erachtens nicht in dem Maße, wie die Sicherstellung des
Arbeiters gegen die aus Unfall, Krankheit und Tod entstehenden Gefahren,
als ein menschenwürdiges Bedürfnis anerkannt wird, mit den Bemühungen zur
Befriedigung dieses Bedürfnisses vereinbar ist. Ob es an und für sich auch
einerlei wäre, ob der Schiffsmann oder der Rheder, oder beide gemeinsam die
Beitragsleistungen zahlen, in allen drei Fällen entspräche es der idealen Auf¬
fassung der Versicherung, wenn die Beiträge durch den Ertrag der Arbeits¬
leistungen des versicherten Seemannes gedeckt und auf den Preis dieser Arbeits¬
leistungen zur Bezahlung durch die Konsumenten der letzteren übertragen würden,
sodaß eine Frage, ob der Seemann den Teil dieses Ertrages, welchen er zu
seiner Versicherung gegen die Folgen der Gefahren von Unfällen, Krankheit,
Tod verwenden muß, erst als Lohn in die Hände bekommt und ihn selbst ein¬
zahlt, oder ob der Rheder diesen Teil für ihn sofort abführt, hiernach also an
und für sich eine lediglich untergeordnete oder nur formelle Frage sein müßte.
Wir glauben aber nicht, daß man in den Schifffahrtskreisen ans seiten der
Arbeitgeber der Frage mir diese formelle Bedeutung beimißt. Oder beabsichtigt
man, die Heuern der Seeleute um denjenigen Betrag zu erhöhen, welchen sie
als Versicherungsprämie aus ihrem Einkommen zahlen sollen?
Die Eventualität eintretender Arbeitslosigkeit übergehen die nautischen
Vereine in ihren Vorschlägen für die nautische Arbeitcrvcrsicherung, und soweit
mir die Lage übersehen können, liegt zu ihrer Berücksichtigung auch keine
Veranlassung vor. Man bemüht sich jetzt zwar, in der Arbeiterfrage das „Recht
auf Arbeit" dadurch in die Grenzen des Möglichen und Denkbaren einzuführen,
daß man die Unfall-, Kranken-, Alters- u. s. w. Versicherung einer Versicherung
gegen Arbeitslosigkeit unterordnen zu müsse» glaubt. Weil Gefahren von Krankheit,
Alter und Tod den Arbeiter und seine Familie nicht nur während der Dauer
seiner Beschäftigung, sondern Zeit seines Lebens bedrohen, und weil die zur
Versicherung für den Fall ihres Eintrittes nötigen Prämienzahlungen, wenn
sie zur wirklichen Sicherheit des Versicherten führen sollen, auch während der
Arbeitslosigkeit des Arbeiters geleistet werden müssen, die Mittel hierzu aber
nur aus den Leistungen einer Versicherung gegen solche Arbeitslosigkeit gewonnen
werden könnten, so hätte, sagt man, nach Durchführung eines derartigen „Rechts
auf Arbeit," verbunden mit einer Versicherung gegen Arbeitslosigkeit die Krankeu-
und Unfallversicherung vor der Hand in ihrer jetzigen Gestalt ganz unterbleiben
können. Nach diesem Gesichtspunkte die nautische Arbeiterversicherung zu prüfen,
erscheint uns überflüssig. Haben wir auch im Eingange dargelegt, daß die Lage
unsrer Seeschiffahrt keine sehr befriedigende ist, so dürfte sie doch nicht mit
einer Notlage identifizirt werden, die zu einem umfassenden Arbeitsmangel ihrer
Angehörigen und damit zu einer Illusion für die Unterhaltung der Unfall- und
Krankenversicherung führen könnte, umsoweniger als man berechtigt ist, anzu¬
nehmen, daß die augenblicklich sehr großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten
im Schifffahrtsbetriebe auch nur vorübergehender Art sind.
Aus diesen flüchtigen Andeutungen (die äußere Organisation der nautischen
Arbeiterversicherung interessirt uus zur vorläufigen Beurteilung ihrer in¬
neren Bedeutung nicht) läßt sich erkennen, daß es sich um ein Unternehmen
handelt, welches, von vielem Wohlwollen getragen, dem Besten eines Standes
dienen soll, von dem sich trotz der Überfülle der Gefahren seines Berufslebens
und bei allem „Schutz der nationalen Arbeit" das öffentliche Interesse bisher
doch sehr ferngehalten hat, ein Unternehmen, welches vollen Anspruch auf Be¬
achtung verdient, in dem Maße, wie gesunde Zustünde im Schifffahrtsbetriebe von
wundcrthätiger Wirkung ans die wirtschaftliche Wohlfahrt jeder seefahrenden
Nation erkannt werden. Der außerordentlich schnelle Aufschwung des deutscheu
Seeverkehrs hat es mit sich gebracht, daß bei ihm mancherlei Unzuträglichkeiten
entstanden sind, die, wie wir gesehen haben, ungünstig auch auf die wirtschaftliche
Lage unsrer Seeleute eingewirkt haben. Aber wie Deutschland sich bestrebt
zeigt, seine Seehandelsstellung zu konsolidiren, in dem Grade muß es auch be¬
müht sein, dem Stande, der ihm diese Stellung trügt, seine Fürsorge und
seinen Schutz zu gewähren.
egenüber den Zuständen und Ereignissen im heutigen Rußland
haben wir besondern Anlaß, auf die Geschichte zurückzugehen, da
sie uns allein zum rechten Verständnis derselben verhelfen kann.
Rußlands Stellung in Europa ist seit der Wiederaufrichtung des
deutschen Reiches eine wesentlich andre geworden, sein Einfluß seit
dem Frankfurter Frieden stetig zurückgegangen, und zu gleicher Zeit ist die Kraft
des Zarentums durch revolutionäre Bewegungen geschwächt worden. Beides aber
hat das letztere bewogen, sich möglichst vom Auslande im Westen abzuwenden
und sich mehr den innern, den nationalen Interessen zu widmen. Diese Abkehr
von Europa ist in Rußland als Rückkehr von der Politik Peters des Großen,
als Abschluß einer Periode der Verirrung bezeichnet worden, in welcher Rußland
nach fremden Ideen, mit fremden Mitteln und zu fremden Zwecken regiert
worden sei, und welche jetzt ihre verhängnisvollen Folgen offenbare, weshalb die
Zaren aufhören müßten, zu europäisiren, und die Pflicht hätten, zu der alt¬
russischen Natur und Kultur mit ihren Tugenden und ihrem Glücke zurück¬
zugreifen, sie neu zu beleben, zu pflegen und zu befestigen. Dem gegenüber war
es dankenswert, daß ein Geschichtsforscher daran ging, zu untersuchen, ob die
Entwicklung Rußlands in den letzten anderthalb hundert Jahren wirklich Irr¬
wege gegangen sei, und ob der Weg abseits vom europäischen Wesen, den man
demselben jetzt aurae, wirklich zu eignen russischen Kulturzielen führe. Dies ist in
der Schrift Wie Rußland europäisch wurde von E. v. d. Brügger (Leipzig,
Veit u. Comp., 1885) geschehen, die wir wegen der gründlichen Sachkunde und
der außerordentlichen Klarheit, mit welcher der Verfasser seinen Gegenstand be¬
handelt, eindringlichst empfehlen. Wir Deutsche haben jene von Peter dem
Großen eingeleitete Periode bisher vielfach einseitig beurteilt, teils aus Unkenntnis,
teils von dem Bestreben der Russen getäuscht, ihren heimischen Dingen das An¬
sehen europäischer Art und Gestalt zu geben, und so lobten wir, überzeugt von
der Trefflichkeit und Unfehlbarkeit europäischer Bildungsmittel, Peter und seine
Nachfolger als die Begründer dieser Kultur, ohne viel zu fragen, wie tief sie
in das Volk gedrungen und wie hoch der Preis sei, den es für den europäischen
Rock gezahlt hatte. Erst in der neuesten Zeit, wo Moskowien diesen Putz ab¬
zulegen aufing, begannen wir die russischen Dinge genauer zu erkennen, und vom
Standpunkte dieser Kenntnis aus ist unser Buch geschrieben. Der Verfasser
teilt nicht die Hoffnung der altrussischen Partei, ein durchgreifendes Heilmittel
zu finden, er glaubt nicht an die Ausführbarkeit der von ihr unternommenen
Rückbildung zum vorpetrinischen Staate, er sieht in ihren Meinungen vielfach
mißverständliche Auffassung dessen, was wirklich petrinisch und nichtpetriuisch
ist, ja er fürchtet, „daß dieses höchst kritiklose und leidenschaftliche Unternehmen
in nichts andres auslaufen wird als in schwere Schädigung der wirklichen
Kulturelemente, die sich manchenorts und besonders in den unrussischen Grenz¬
landen des Zarenreiches sOstsceprovinzen^ vorfinden, ohne dem Ganzen zugute
zu kommen." Dein ungeachtet scheint es ihm von Wert, das von der Partei
Katkvffs und AtsakvffS für bankerott erklärte bisherige Negierungsshstem, mit
Peter, dessen Begründer, anfangend, sorgfältiger als seither geschehen, zu prüfe»,
um daraus beurteilen zu können, wie tief die gegenwärtig immer deutlicher
werdenden großen Schäden in Volk und Staat wurzeln, welche Aussichten sich
für eine Heilung darbieten, oder ob zuletzt überhaupt eine solche bei diesem
Körper möglich sei.
Der Verfasser betrachtet zu diesem Zwecke zunächst in einer Einleitung die
Geschichte Rußlands von der Normannenzeit (Rurik) bis zur Ausbildung des
Grvßfürstentums Moskau aus dem mongolischen Riesenstaate des Mittelalters,
dann in einem ersten Abschnitte jenes Großfürstentum nach seiner politischen
Natur, seiner Verwaltung, seiner Kultur und seinen Sitten, sowie nach dem
Charakter seines Volkes. Moskowien war das Resultat einerseits des Zerfalls
der mongolischen Stciatskraft, andrerseits der Zusammenraffung von russischen
Fürstentümern und Republiken. Diese nur halb russische Schöpfung versuchte
Peter in einen europäischen Staat zu verwandeln. Seine Persönlichkeit stach
schroff von dem Wesen seiner Vorgänger und seines Volkes ab. Er fand
ein Reich vor, das durch Furcht und Schlaffheit entstanden war und zu¬
sammengehalten wurde. Dem Volke des alten Rußlands mangelte alle That¬
kraft, Peters Thatkraft dagegen war unerschöpflich. Das Volk war voll
Vorurteile, er frei davon, jenes abergläubisch und staatlich kirchlich, er
beinahe ein Freidenker, jenes mißtrauisch gegen alles neue, er begierig darnach;
das Volk hing an Formeln und Zeremonien, er war formlos bis zum Cynis¬
mus, das Volk widerstrebte jeder schaffenden Kultur, er arbeitete rastlos für
dieselbe, das Volk verabscheute die Berührung mit Europa, der Zar erzwang
sie unter Aufbietung aller Kräfte dieser widerstrebenden Nation. Trotzdem war
Peter eine durchaus russische Natur; lebhaft, frohsinnig und gesellig in der
Jugend, wurde er später genußsüchtig und zügellos im Vergnügen, mißtrauisch
und oft hochfahrend, aber stets mit jenem Zuge von geselliger Freiheit und
weitherziger Duldung, der dem Russen eigen ist. Leicht aufbrausend und dann
gewaltthätig, folgte er in letzterer Beziehung nicht einer gebieterischen Natur,
als vielmehr einer Denkweise, die ihm durch die sklavische Unterwürfigkeit seiner
Umgebung allmählich anerzogen worden war. Hätte er, dem persönlicher Mut
nicht in hohem Maße eigen war, Widerstand fürchten müssen, so wäre er anders
aufgetreten. „Hierin wie in vielem andern machte die charakterlos weiche Masse
seines Volkes ihn zu dem Tyrannen, der er war." Seine ungewöhnlichen in¬
tellektuelle» Anlagen wurden durch unablässige Übung zu großer Schärfe der
Beobachtung, erstaunlicher Leichtigkeit der Auffassung und unermüdlicher Viel¬
seitigkeit und Anpassungskraft ausgebildet. Aber sein Verstand hatte verhältnis¬
mäßig enge Grenzen, er beherrschte als praktischer Kopf ein bestimmtes Gebiet
meisterhaft, aber er dachte zu wenig abstrakt, um weitverzweigte Dinge richtig
zu beurteilen und fern in die Zukunft hinauszublicken. Bewundernswerte Spann¬
kraft, Rührigkeit und Unermüdlichkeit des Geistes verband sich in ihm mit großer
Ausdauer der Körpers. „Wie er stets in körperlicher Bewegung war, so auch
in geistiger. Nichts von dem bequemen Gehenlassen, das der damalige Russe
wie der heutige zeigte. . . . Während er Krieg führte, Städte baute, nach hundert
Richtungen hin plante und ordnete, konnte er Übersetzungen fremder Bücher,
wovon er sich Proben vorlegen ließ, eingehend prüfen und mit sehr scharfsinnigen
Verbesserungen versehen. Kein Herrscher hat jemals so umfassend und aus¬
dauernd Dinge verrichtet, die oft Handlangerarbeiten zu sein schienen, und keiner
zugleich so viele und so wichtige staatliche Anordnungen erlassen und ausgeführt
wie er."
Mit siebzehn Jahren begann Peter sein Reformatorenwerk, seitdem war er
fast unausgesetzt in Thätigkeit und Bewegung, besonders in seinen reiferen
Jahren. Seine Ruhelosigkeit war maßlos. Hatte er nicht gerade Truppen zu
üben, Schlachten zu schlagen, Feldzüge zu entwerfen, bestechliche Minister zu
köpfen oder Kanalbcmten zu überwachen, so wurden neue Eisen gruben in Tula
oder Olvnetz angelegt, neue Häuser in Petersburg gebaut, zu Schiffe und die
Hand am Steuer der Ladogasee untersucht, es wurden Verordnungen ersonnen
und erlassen zur Auffindung neuer Einnahmen, zur Besserung der Verwaltung
oder Rechtspflege, oder es wurde zur Einweihung einer Kirche eine Orgie ver¬
anstaltet, von der niemand fortgehen durfte, der noch bei Sinnen war. „Ich
vermag mir, sagt der Verfasser, Peter sogar in einsamen Stunden, wo die
Staatsarbeit ruhte, nicht anders vorzustellen als wenigstens mit einem Hand¬
werkszeug ... hobelnd, bohrend, schnitzeud. Zähne ausziehend, in einer Schmiede
etliche Zentner Eisen verarbeitend, selbst im Getöse der Schlacht Verwundete
verbindend oder ampntirend — uur nicht ruhend." Die europäische Kultur
schätzte er rein um der Vorteile willen, die sie dem praktischen Leben verhieß,
die ideale Seite derselben wußte er ebensowenig zu würdige» wie der heutige
Nüsse. Alle seine Unternehmungen tragen den Stempel des Mechanischen und
Technischen. So fern ihm aller äußere Schein lag, wenn er als Zar auf der
Werft das Beil oder bei einem Brande den Löscheimer handhabte, so wenig
begriff er das innere Wesen des Staats - oder Volkslebens. Für den
nächstliegenden Zweck griff er nach dem nächstliegenden Mittel, ohne sich viel
um tiefere Ursachen und weitere Wirkungen zu kümmern. „Brauchte er Arbeiter,
so ließ er sie in den nächsten Provinzen aufgreifen, brauchte er Geld, so be¬
steuerte er Waaren oder Menschen. . . . Wenn es sich um die Befriedigung seiner
augenblicklichen Bedürfnisse handelte, galt ihm selbst die Heiligkeit des Eigen¬
tums nicht sonderlich viel. Die ethischen Grundempfindungen mangelten ihm
in der Stacitsknnst sowohl wie ihm persönlichen Leben. Die geselligen Formen
wurden durchaus geändert, . . . dafür aber, daß nicht feinerer Geschmack sich
darin ausbreitete, sorgte Peter selbst durch die Rohheit seiner Umgangsformen
und Gelage. Er brachte die Sitte ans Europa herüber, wie er sie dort gerade
fand, gerade verderbt genug, um seiner derben Sinnlichkeit zu genügen. . . .
Die wüste Lasterhaftigkeit, welche sich nach Peter am zarischen Hofe breitmachte,
floß bequem durch die weite Öffnung daher, die der Zar in die alte strenge,
wenn auch rohe Ordnung des Familienlebens gebrochen hatte."
Ebenso mechanisch wie die Sitten übertrug der Reformator auch Ein¬
richtungen des Westens auf sein ganz unvorbereitetes Land. Die Flotte machte
er holländisch, das Heer deutsch, die Zentralregierung schwedisch. Fand er
irgendwo eine gut arbeitende Anstalt, so wurde ihr Organismus durch einen
Ukas in Rußland eingeführt, oder man packte an Ort und Stelle im Westen
eine Anzahl von Beamten oder Handwerkern ans und schaffte sie nach Tula
oder Moskau, wo sie dann dasselbe leisten sollten wie daheim. Peter „hatte
die rasche Fassungsgabe, welche wir auch heute an den Russen bewundern, der
von seinem Gute am Don, wo er niemals Maschinen oder Fabriken gesehen,
nach dem Westen kommt und sich in kürzester Zeit mit den Vorteilen . . . aller
möglichen industriellen Erfindungen bekannt macht; er hatte aber auch die ganze
Oberflächlichkeit an sich, mit der dieser heutige Gutsbesitzer meint, es bedürfe
nur des Geldes, um belgische industrielle Kultur zu erwerben und an den Don
zu versetzen."
Die auswärtige Politik des Reformators verfolgte ähnliche Ziele wie die
innere. Er trat als Eroberer auf, um seinem Volke neue Erwerbsquellen zu
öffnen und neue Kulturelemente in sein Reich zu ziehen. Er eroberte vor
allem Küstenländer, um Häfen und die Aussicht auf Schiffahrt zu gewinnen.
Aber mit Unrecht schreibt man seiner äußeren Politik weitausschauende Plan¬
mäßigkeit zu. Sie gründete sich nach der Meinung des Verfassers „auf seine
unmittelbaren natürlichen Anlagen und Leidenschaften, sie wurde gehalten von
praktischer Klugheit und außerordentlicher Thatkraft." Es war ein Verdienst,
überhaupt zu regieren, wo die Vorgänger dies fast garnicht gethan hatten; aber
die Art, wie er regierte, hatte mehr von der praktischen Fertigkeit des Hand-
werkers als von der Erfindungskraft des Künstlers, sie erinnerte mehr an einen
thätigen Unterbeamten als an einen großen Staatsmann. Seine Findigkeit im
Aufsuchen der erforderlichen Mittel, im Ersinner neuer Pläne und Anordnungen
war erstaunlich, aber vieles davon war unausführbar, vieles unnütz, manches
geradezu schädlich. „Und welche Verwirrung, welches Elend richteten die meisten
derselben an, weil sie urteilslose Nachahmungen fremder Vorbilder waren, weil
sie äußere Zwecke verfolgten, ohne die innere Möglichkeit zu erwägen, weil sie
einander wechselsweise aufhoben oder lähmten und, ohne tieferes Verständnis
entworfen, mich ohne solches Verständnis vom Volk aufgenommen wurden."
Schwerlich hätte sich ein andres Volk Europas als das durch Charakter und
eine lange Leidensgeschichte Willensschwäche russische bieten lassen, was Peter ihm
bot. Fast immer verstießen seine Unternehmungen gegen die ältesten und mäch¬
tigsten Anschauungen und Gewohnheiten des Volkes, und mit brutaler Energie
zwang er es in die Formen seiner europäischen Ideale hinein, nachdem er sich
nach Niederwerfung der Streichen und Bojaren, sowie durch Brechung der Macht
der Kirche zum unumschränkten Gebieter gemacht hatte.
Beim Stapcllauf eines Schiffes in Petersburg sagte der Zar nach einem
Rückblick ans seine dreißigjährige Ncgenteimrbeit u. a.: „Die Geschichte ver¬
legt die Wiege aller Wissenschaften nach Griechenland, von wo sie nach Italien
hinnbergingen. Von da breiteten sie sich über das übrige Europa aus, drangen
aber wegen der Rohheit unsrer Vorfahren nicht zu uns. Jetzt ist auch an uns
die Reihe gekommen, mit der Zeit werden, wie mir scheint, die Wissenschaften
ihren Sitz in England, Frankreich und Deutschland aufgeben und nach Nu߬
land kommen— Hoffen wir, daß wir in unserm Jahrhunderte die andern Knltnc-
lünder beschämen und den russischen Namen auf die höchste Stufe des Ruhmes
erheben werden." Das war eine stolze Rede, aber eine flache Auffassung des
Wesens der menschlichen Kultur. Weil Peter äußere Formen der letzteren in
Müsse impvrtirt hatte, meinte er sie sell'se gewonnen zu haben. Seine Ab¬
sichten waren gut und groß. Mit seinen Zeitgenossen Karl von Schweden und
Ludwig von Frankreich verglichen, war er selbstloser wie diese, stand ihm nicht
wie ihnen seine Person, sondern sein Land und Volk in erster Reihe. Sein
Wollen war groß, und groß auch die Energie, mit der er es zu verwirkliche,,
strebte, aber er verstand sein Ziel nicht genügend, er war selbst zu wenig tul-
twirt, um die Kultur Europas ganz zu begreife» und zu würdigen. Er sah
uur deren Oberfläche, ihn entzückten die Wirkungen, ohne daß er in die Ursachen
einzudringen vermochte, er erkannte leicht die praktischen Vorzüge europäischer
Menschen und Dinge, aber für die intellektuellen und moralischen Voraus¬
setzungen der Kulturarbeit besaß er wenig Verständnis. „Ein so vortrefflicher
Ingenieur er geworden wäre, ein so vollkommener Schiffsrheder, so genügte
sein technisches, praktisches Talent doch nicht, um die ethischen Kräfte eines
Volles in organische Bewegung zu setzen." Selbst die entschiedensten Verehrer
Peters konnten nicht behaupten, daß er bei seinen Reformen selbständig und
originell gewesen sei. Nirgends hat er die in seinem Volte und Lande vor¬
handenen Stoffe und Kräfte in eigentümlich schöpferischer Weise zu lebendigen,
ihrer Natur entsprechenden sozialen oder staatlichen Gebäuden geformt, sondern
stets nnr nach den fremden Mustern gearbeitet, die ihm in die Augen fielen....
In der Ausführung, den Mitteln wäre es ein leichtes, für jede seiner einzelnen
Schöpfungen in Enropa das Urbild zu finden, und zwar in genauester Über¬
einstimmung mit dem russischen Abbilde. Die Geistlosigkeit, mit der Peter ko-
pirte, ist erstaunlich; eines der veränderlichsten Beispiele ist Petersburg ^die
Kopie Amsterdams^ mit seinen Kanälen und Sümpfen in dem trockensten Lande
Europas, mit seiner europäischen Maske, hinter der ein halb trauerndes,
halb zorniges russisches Gesicht steckte, seiner Flotte und seinem Hafen ohne rus¬
sische Seeleute und seiner Akademie der Wissenschaften in einem Lande ohne
Schulen."
Indem der Verfasser dieses Urteil begründet, sagt er über das von Peter
geschaffene Seewesen u. ni.: „Wenn man nach dem Nutzen fragt, den ihm die
Flotte in seinen Kriegen brachte, so stellt sich heraus, daß er nicht sehr er¬
heblich war. Die Beherrschung der Ostsee ist ein von Peter erhobener Anspruch,
dem zu genügen Opfer erforderlich sind, die außer Verhältnis zu dem Nutzen
stehen und von dem russischen Volke stets nur mit äußerstem Widerstreben ge¬
bracht werden würden. Gleich nach seinem Tode geriet das Seewesen in Ver¬
fall, sodnß 1734 zur Blockade von Stettin nur noch fünfzehn Schiffe in elendem
Zustande seetüchtig gemacht werden konnten, und dieser Zustand der Flotte ist
seitdem mit geringen Schwankungen bis auf unsre Zeit derselbe geblieben. Die
großen Ausgaben, welche seit Peter von Zeit zu Zeit auf sie verwendet wurden,
haben nicht einmal zuwege gebracht, daß sich eine russische Handelsmarine von
einigem Belang entwickelte. Der russische Seehandel ist nach wie vor fast ganz
in den Händen fremder Nationen, und insbesondre hat der nationale Russe
seine alte Abneigung gegen die Schifffahrt sich unveränderlich bewahrt.... Und
abgesehen von nationalen Neigungen und Gewohnheiten wäre es heute wie
damals unverständig, von einem Volke, wie das russische ist, zu erwarten, daß
es sich in ein seefahrendes verwandeln konnte. Denn es fehlen ihm alle Vor¬
bedingungen dazu. Für die äußere Stellung bedarf es keiner Kriegsflotte, das
Reich ist durchaus kontinental, es hat keine überseeischen Gebiete, noch braucht
es solche, es ist, mit Ausnahme des von Peter gegründeten Petersburg, zur
See unangreifbar.*) Der Binnenverkehr ist noch so wenig entwickelt, daß jeder
Rubel, der sich dem Außenverkehr zuwendet, eine Vergeudung bedeutet. Für
jede Art von Erwerb steht dem Russen im eignen Lande ein so ungeheures
Feld offen, daß ihn für eine weite Zukunft voraussichtlich nichts dazu bewegen
wird, die leichte heimische Erwerbsart gegen das harte Seeyandwerk zu ver¬
tauschen. Der Sinn des Volkes ist so sehr als der kaum eines andern Volkes
nu die endlose« Flächen seines Landes gebunden; . . , eine starke instinktive
Scheu entfernt den Russen heute wie vor zweihundert Jahren gerade von den
Kulturvölkern Europas. So wenig es einem Attila gelungen wäre, aus seinen
Hunnen Seefahrer zu machen, so wenig konnte Peter seine Russen dazu um¬
bilden." Ebenso wie mit seiner Flotte erstrebte der Zar mit seiner Vergrößerung
des Heeres das Ziel, der Herr eines unter den europäischen Staaten hervor¬
ragenden Reiches zu werden, ans unnatürliche, den Verhältnissen nicht ent¬
sprechende Weise. Ein Naturvolk mag die Notwendigkeit empfinden, sich neue
Weiden oder Äcker zu verschaffen. Ein Kulturvolk nniß, nachdem es sich innerlich
konsolidirt und Kräfte gesammelt, uach außen drängen, um Boden für die Ver¬
wendung dieser Kräfte zu erobern. Das Rußland Peters war weder in jenem
noch in diesem Falle. Es hatte nnr seine Grenzen zu schützen gegen Polen
und Tataren, die damals beide nicht mehr sehr zu fürchten waren. Statt
dessen begann aber Peter einen europäischen Eroberungskrieg und drang andrer¬
seits gegen Persien vor. Er lenkte damit in die Politik der Zersplitterung der
spärlichen Knltnrträfte Rußlands ein, die seit ihm an der Tagesordnung ge¬
wesen ist, er bemühte sich, ein Reich z» vergrößern, dessen Schwäche schon da¬
mals in seiner großen Ausdehnung bestand. Ein Land und Volk ohne alle
Kultur, das sich gleich den Horden des Dschingiskhan ausbreitete, konnte sich
so wenig wie diese der intensiven innern Arbeit zuwenden, da seine Kraft
immer wieder über die eigentlichen Grenzen hinaus zur Eroberung und zur
Erhaltung des Eroberte« verbraucht wurde. „Mit einem Volke, so roh, wie
Peter das großrussische vorfand, einen Kulturstaat und zugleich einen eroberten
Staat gründen wollen, hieß mit der einen Hand zerstören, was die andre auf¬
baute." Die kleinsten Knltnrkeimc mußte er ans der Fremde holen oder mühsam
sich erst im Lande vorbereiten, und zugleich verwendete er sie wieder nach außen
hin. Mit schweren Opfern schaffte er die Werkzeuge herbei, mit denen sich in
seinem Reiche Ordnung, Arbeit und Erwerb, Wohlstand und Gesittung fördern
ließen, und zu derselben Zeit verrichtete er das alles durch Anspannung und
Ausnutzung der letzten Kräfte in Kämpfen jenseits der Grenzen. Als Peter
hier Erfolge errungen hatte und sich den Fürsten des Westens für ebenbürtig
halten konnte, erwies sich diese neue Stellung seines Reiches sehr bald als ein
Unheil. Es sollte nur in der Stanteufamilie Europas anführende Macht
sein, ohne die Kräfte dazu zu besitzen. Es übernahm die Sorge um Dinge,
die, seinen wirklichen eignen Interessen fernliegend, nnr zur Befriedigung von
Ehrgeiz und Machtgier dienen konnten. Rußland hatte fortan den kostspieligen
Apparat einer europäischen Großmacht zu bezahlen, seine beste Kraft einer Po¬
litik zu opfern, die ihm lediglich sein Ansehen im Westen zu erhalten bemüht
war, und, da es noch in den Anfängen der Kultur sich befand, den Mangel
durch blendenden Schein im Auftreten von Hof und Regierung oder kriegerischen
Aufwand zu verdecken.
„Peter hat, so fährt der Verfasser in seiner Betrachtung dieses Herrschers
fort, mit großer Kraft seine beiden Ziele erreicht: die Erhebung Rußlands zu
einer europäischen Großmacht und den Aufhalt Rußlands zu einer europäischen
Bureaukratie. Aber der Erfolg blieb ein äußerlicher; wie die neue Großmacht
dem Wesen europäischer staatlicher Ordnung fernstand, so wenig war die neue
Büreaukratie imstande, den Staat mit europäischem Geiste zu erfüllen. Nach
Peters Verordnung erwarb jeder den erblichen Adel, indem er eine leicht zu
erklimmende Dienststnfe erreichte. Nachdem die Veamtenklasse über den Adel gehest
und zur obersten im Volte erhoben, nachdem die Menge der Beamten fortwährend
vermehrt worden und alle Gewalt in die Hände derselben gelangt war, steigerte
sich natürlich die Anziehungskraft dieser Klasse, sodaß es bald Voraussetzung
gesellschaftlicher Stellung und fast alleiniges Zeugnis von Bildung und guter
Sitte ward, Beamter zu fein oder gewesen zu sein. . . Diese Vorteile lockten
viele Nichtadliche in den Dienst, die sich hier flugs in erbliche Edelleute ver¬
wandelten und so die Masse des eidlichen Pöbels verstärkten. . . Der Adel als
Stand war damit in seiner Wurzel zerstört, die Möglichkeit seiner Entwicklung
vernichtet. Es war nur noch eine Beamtenhordc da, von der viele die Besitzer
großer oder kleiner Güter waren, die man in steter Sorge um Beförderung
und Orden möglichst wenig und schlecht bewirtschaftete. . . Der Grundbesitz
war Gnadenverleihuug für geleistete Dienste und konnte durch Ungnade ver¬
loren gehen. Es fehlte die rechtliche ständische Selbständigkeit und die kor¬
porative Geschlossenheit, welche diesen Dienstadel unabhängig und geachtet
machen konnten. . . Auch der Stärkung des Bürgertums geschah hierdurch
Abbruch, da jeder Städter erst durch Erwerbung einer Rangklasse Ansehen ge¬
wann und dann alsbald in jenen Adel überging, was ihn und seine Nach¬
kommen dem bürgerlichen Gewerbe entzog und, da ihm die Landwirtschaft fremd
war, ihn und seiue Söhne meist gänzlich dem großen Znchtstalle der Beamten-
klnsse überantwortete." Die preußische Bureaukratie hat ihre Tüchtigkeit großenteils
aus den großen ständischen Erziehungsanstalten, die wir Adel und Bürgertum
nennen, und aus freiem Unterricht auf Schulen und Universitäten geschöpft.
Peters Beamtenheer erhielt von den Bojaren, Dworünen und Bvjarenkiudern,
Volksklassen, in denen nie ständischer und freier, sondern stets nur sklavischer
Geist gelebt hatte, keinen Zuwachs an sittlicher Kraft, und durch die vielen
Fremden, die seit Peter in den Staatsdienst gezogen wurden und vielfach lockere
Charaktere waren, während sie den Russen Sittenlehrer sein sollten, wurde es
auch nicht moralisch gestärkt. Die preußische Büreaukratie ist andernteils durch
die Zucht vou Königen zu ihrer Trefflichkeit gelangt, welche die besten Lehr¬
meister aller Zeiten waren. Nicht so Peter. Er war ein Fanatiker der Kultur,
der aber deren Wesen nicht verstand, und der seine Lehren einem Volke ein-
Peitschte, welches sie nicht begriff und nur den Schmerz empfand. Seine Re-
formation war weit mehr eine despotische Revolution. Er meinte ein Varbarenreich
in einen Kulturstaat umzuschaffen, und er hat in Wirklichkeit nur die alten
rohen Formen der ethischen Volkskräfte umgegossen. Er hat dem Volke den
letzten Funken selbstwilligcr Thatkraft ausgetreten, ohne welche keine Kultnrkeim
Leben gewinnen und gedeihen kann. Wären auf ihn Zaren gefolgt, die ihr
Volk und die Kultur ihrer Zeit so gut gekannt hätten wie die Hohenzollern des
vorigen Jahrhunderts, so hätte es gelingen können, die um so ungeheuern Preis
erkauften Machtmittel der Krone heilsam zu verwenden, die Beamtenwelt sittlich
zu heben und mit ihr erziehenden Einfluß auf das Volk zu üben. Die neue
Staatsmaschine, ein Gewirr europäischer Formen und asiatischer Gewohnheiten,
das weder vom Volke noch von den Beamten verstanden wurde, hätte zu heil¬
samer Ordnung nur durch die unermüdliche Energie eines sich der Schärfe seines
Werkzeuges und seiner eignen Verantwortlichkeit bewußten Despoten entwickelt
werden können. Peter war kein solcher Herrscher, und so konnte er wohl in
drei Jahrzehnten die gesamten äußern Verhältnisse, nicht aber den Geist des
russischen Volkes umgestalten. Er hatte, als er starb, nur den Beamtenstaat,
den alten Staat im Staate, ungebührlich vergrößert, in welchem sich das Kultur¬
leben auch der neuen Ära fortan abspielte, ohne die Masse des Volkes wesentlich
zu erfassen.
Erst als der Reformator gestorben war, wurden den Russen seine Ziele
allmählich klarer, und das trug zu seiner Verherrlichung erheblich bei. „Es
ist, sagt der Verfasser, eine heute sehr verbreitete Lehre, daß nur der ein großer
Mann sei, welcher große Strebungen der Massen zu den seinen macht und zum
Ziele zu führen wisse; der aber gilt als Tyrann, der seine willkürlichen Pläne
der Menge aufdrängt; dieser, meint man, mag wohl eine geraume Zeit durch
Thaten der Gewalt hervorleuchten, aber nur, um als ein Meteor wieder ins
Dunkel zu versinken. Die Geschichte redet deutlich gegen die Meinung, auch
die aufgedrungene Willkür des Einzelnen ist oft von ganzen Völkern heilig ge¬
sprochen worden. Indessen ist es der höchste Ruhm eines Mannes, von einem
instinktiven Streben des Volkes sich herausheben zu lassen aus der Menge,
dieses Streben zu einem festen Plane zu gestalten und den Plan an der Spitze
des Volkes auszuführen. Die sittliche Größe jedoch wird nicht durch die Ge¬
walt des Willens bestimmt, auch die Massen werden von unsittlichen Zielen
fortgerissen wie der Einzelne. Die sittliche Größe wird bestimmt durch die sitt¬
lichen Ideen, welche den Willen leiten, und der Mann, welcher, mit diesen aus¬
gerüstet, den Massen seine willkürlichen Pläne aufzwingt ^willkürlich ist doch
hier nicht das rechte Wort^, wird ihrer Achtung nicht entbehren. Allein es giebt
ein Maß, welches auch dem Größten in der Verwirklichung seiner erhabenen
Pläne gesetzt ist, und das sind die Mittel, die der Ausführung zu Gebote stehen,
die Kräfte des Volkes, für welches er wirkt. Wird dieses Maß überschritten,
fordert er vom Volk Leistungen, die über dessen Kräfte gehen, so verfehlt er
sein Ziel, so verdunkelt er die sittliche Idee, und sein Streben wird zu tyran¬
nischer Willkür. Ein nicht unerheblicher Teil von Peters Wirken trügt das
Zeichen solcher thrannischeu Willkür um sich. sEs war noch nicht die Kraft,
die Schulung, das Bedürfnis vorhanden, welche seiue Reformen voraussetzten.s
Und dennoch hat die Welt, hat das russische Volk ihm bereitwillig deu Namen
des Großen gegönnt. Sein Volk hat die Willkür und Tyrannei schnell ver¬
gessen und nur sein hohes Streben im Gedächtnisse bewahrt."
Auf die Abschnitte referirend einzugehen, welche sich mit Rußland uuter
Peters Nachfolgern beschäftigen, müssen wir uns versagen. Wir begnügen uns,
zu bemerken, daß auch sie das Studium von Geschichtsfreunden und Politikern
verdienen. Das Ergebnis, mit welchem unsre Schrift schließt, ist folgendes:
„Nicht in der Rückkehr zu deu staatlichen und kirchlichen Einrichtungen Alexe!
Romanows swelchc die Aksakvffsche »Nationalpartei« empfiehlt und erstrebts
wird eine wirkliche Abwendung von dem bestehen, was Peter übles in seinen
Staatsbäu hineinlegte — vielmehr in der Abwendung von der kriegerisch er¬
obernden äußeren und von der national erobernden innern Verrnssungspvlitik,
im Abbrüche des Beamtenstaates, in der Schöpfung selbständiger Volksklassen,
vor allem kräftiger leitender Stände, in der Befreiung des religiösen und des
lokalen Volkslebens, in der Vernichtung der despotischen Zentralisation, in der
Auflösung der unhaltbaren Einheit des Riesenreiches, in der Rückkehr zu deu
wirklichen russischen Volksinteressen, die noch heute ihre Heimat in Moskau,
»bei den Gräbern ihrer Altväter,« nicht in der Fremdenstadt Peters des Großen
haben. Denn die wirkliche Freiheit ist nur vorhanden in dem örtlichen und
provinziellen Geist, in der Ungleichheit der Klassen, der Aufsichtsämter und der
Gewalten selbst. Die Einheit ist der mehr oder minder glänzend gekleidete
Despotismus."
le oberste Stufe war unmittelbar vor der Thür, welche sich
dem nächtlichen Besucher öffnen sollte. Mit einem schwach¬
leuchtenden vierarmigen Ollümpchen in der Hand stand Enfemia
hinter der nur angelehnten Thür auf ihrem Posten, Sie
hatte sich ihrer Papilloten wieder entledigt, da sie gleich ihrer
Herrin den Besuch, obschon er unter dem Druck der Umstände bei Nacht er¬
folgen mußte, doch als eine Tagesvisite ansehen sollte. Beppo war bei seiner
gestrigen Unterredung mit Enfemia beflissen gewesen, die Absichten seines Herrn
als durchaus ehrbare darzustellen, und wenn die ehemalige Amme Floridas
auch nicht für unrecht gehalten hatte, von dem Diener des Principe ein kost¬
bares Geschenk anzunehmen — ein mit Goldfäden durchwvbenes Kopftuch, wie
es die Ammen in Friaul beim Verlassen ihres Nährdienstes zu empfangen
Pflegten —, so war sie doch der Meinung, dem Principe durch ihre gemessene
Haltung von vornherein einen ebenfalls strenge ehrbaren Eindruck machen zu
müssen.
Als sie daher das Nahen des Besuchers zu hören glaubte, öffnete sie die
bewußte Thür und machte mit feierlicher Miene, auf die Gefahr hin, sich mit
dem Hi ihres Lämpchens zu begießen, den tiefsten Knix, den sie zu machen
verstand.
Giuseppe Gonzaga drückte ihr einige Goldstücke in die Hand, was sie nicht
gu verhindern wußte, und sie ging ihm dann, den Teppich, der zu dem Zimmer
ihrer Herrin führte, sorglich Schritt für Schritt beleuchtend, mit ehrfurchts¬
vollem Neigen des Kopfes voraus.
Sie hätte für schicklich gehalten, mit eintreten und Zeugin der von dem
Principe zu machenden Anträge sein zu dürfen, aber Florida hatte ihr bedeutet,
es handle sich zunächst nur um Politik, und so zog sie sich, nachdem sie dem
vornehmen Fremden die Thür des Zimmers leise geöffnet hatte, mit noch¬
maligem Knixen in das Nebengemach zurück.
Auch in dem geräumigen Zimmer, dessen Schwelle Giuseppe Gonzaga nun
mit pochendem Herzen betrat, brannte ein einziges jener mattleuchtenden mehr-
armigen Lcimpchcn, wie sie in den vlivenrcicheren Gegenden Italiens noch jetzt
hie und da im Gebrauche sind und den von dem Mißgernch des Steinöls nur
zu oft daheim belästigten Nordländer durch das goldklare Baumöl anheimeln,
aus dem das Flämmchen des Dochts seine Nahrung zieht. Das Lämpchen
stand auf dem breiten Marmorsims des Kamins. In der Mitte des Zimmers,
dessen Fenstergardinen geschlossen waren, befand sich ein Tisch, um welchen
herum drei oder vier Stühle gestellt waren. Den Boden des Zimmers bedeckte
ein Teppich. Was etwa an Spiegeln oder Bildern an den Wänden hing,
wurde vou der Dunkelheit verschluckt. Selbst daß Florida im Zimmer war,
bemerkte Giuseppe Gonzaga erst, als ein leises Geräusch seinen Blick auf eine
Seitenthür lenkte, die unmittelbar neben einem der Fenster zu der Zimmerreihe
führen mochte, als deren Bewohner kurz zuvor der alte Buouaeolsi gegen die
Störer seiner Nachtruhe protestirt hatte. Floridas Hand ließ soeben den Schlüssel
los, mit dem sie die Thür behutsam verschlossen hatte. Wenige Augenblicke
darauf wandte sich Florida dem Eingetretenen zu. Sie trug wie vorher ein
graues Reisekleid.
Ich habe um Entschuldigung zu bitten, sagte sie mit befangenen nieder¬
ducken, daß ich Euch vorhin nur fast wie eine Stumme Rede stehen konnte.
Mich einem Gonzaga plötzlich so nahe gegenüber zu befinden, das hatte mich in
zu hohem Grade erschreckt, ich vermochte mich nicht zu fassen. Dabei noch der
beängstigende Gedanke an meinen Vater. Eben vorher hatte er mir angesichts
des ehemaligen Besitztums der Cappulleti eine Geschichte erzählt, deren tra¬
gischer Ausgang mich warnen sollte, je die anerzogene Sehen vor den Feinden
unsers Hauses abzustreifen. Und nun auf einmal in meines Vaters Hörbereich
ein Gonzaga, der mir eiuen Ring aufdrängt, der mir einen Ring vom Finger
zieht und gegen den ich die Hilfe meines Vaters doch nicht anrufen kann! Wäre
es zu verwundern gewesen, Signore, wenn mich der Schlag gerührt hätte?
Sie ließ sich auf eiuen Stuhl sinken und machte dem Besucher ein Zeichen,
er möge sich ebenfalls setzen.
Prineipessci, sagte Giuseppe mit bebender Stimme, indem er den Mantel
abwarf und ihr gehorchte, Ihr habt nur zu sehr Recht, ich beging eine sträf¬
liche Unvorsichtigkeit. Wie mein Leben bisher eine Kette von Thorheiten ge¬
wesen ist, für welche einzig ein nahezu kindischer Grad von Todesverachtung
die Erklärung abgeben kann, so übersah ich ganz die Gefahr, in die ich Euch
stürzte, Euch, Priucipessa, für die ich doch hundert Leben hingeben möchte.
Warum für mich? sagte sie mit einem verlegneu Erröten. Sie war, indem
sie so fragte, in Wirklichkeit ein Inbegriff aller weiblichen Lieblichkeit, und Giu¬
seppe Gonzaga stammelte als Antwort, mit glühenden Wangen und mit Blicken
anbetender Inbrunst, nur die Worte: Weil Ihr eben seid, wie Ihr seid, Fioritn
Bnonaeolsi.
Das Gespräch stockte einige Augenblicke. Florida hatte ein noch zu kind¬
liches Herz, um zu wissen, was sie antworten sollte, und Giuseppe Gonzaga,
dem das Aussprechen des schrecklichen Geständnisses bevorstand, er habe sie
vorhin belogen, suchte ebenfalls umsonst nach der rechten Wendung, mit der
sich dieses unerläßliche Bekenntnis einleiten ließ.
Verstehe ich Euch recht, nahm Florida unsichern Tones das Wort, denn
er hatte während jener leidenschaftlichen Huldigung ihre auf dem Tische ruhende
Hand leise in die seinige gezogen, und sie mußte daran denken, daß der nächt¬
liche Besuch doch vor allem nur von Politik hatte handeln sollen, verstehe ich
Euch recht, so wolltet Ihr sagen, es sei Euch bei meinem und meines armen
Vaters Anblick schwer aufs Herz gefallen, daß den ehemals in Mantua ?M
mächtigen noch niemand Beistand gegen ihre Unterdrücker geleistet habe.
Giuseppe Gonzaga biß sich auf die Lippen. Er seufzte.
Erzählet mir, bat er; o wie Ihr schon seid, Florida Bnonaeolst! Wie
konnten die Schicksalsmächte die Jugend eines solchen Engels mit Wolken so
düsterer Art verschütten! Erzählet mir von Euerm Leben in Mantua, von
Eltern Vater, von Eurer Mutter, von Euern Schwestern, Eltern Brüdern —
Ich habe keine Brüder —
Ganz recht, und Eure Schwestern? Nicht wahr, Ihr seid die jüngste?
Ich habe auch keine Schwestern.
Ihr seid das einzige Kind Eurer Eltern, Florida, ich wußte es ja! Wo
habe ich meine Gedanken! Aber Eure Mutter ist doch noch am Leben? Ihr
seid nicht die Einzige, die um Eltern Vater ist?
Ich bin allein um meinen Vater!
Giuseppe zog ihre Hand an seine Lippen. Er war bewegt bis ans den
Grund seiner Seele. Arme Florida! sagte er; nein, Ihr sollt Euch nicht in
Giuseppe Gonzaga getäuscht haben. Sagte ich vorhin zuviel, als ich v«u einem
Plane sprach, in den ich Euch einweihen wollte — hier hebe ich meine Hand
gen Himmel: dieser Arm, der bisher so lässig gewesen ist, er soll nicht ruhen,
bis ich Euch eingesetzt habe in Eure Rechte, gleichviel um welchen Preis!
Er war aufgesprungen. Sein Auge blitzte. Edleres Feuer, als seit langem
auf seiner Stirn gebrannt hatte, flammte in seinen Mienen.
Wir Veroneser Gonzagas, fuhr er fort, haben, wie alle in ihren Herrscher¬
ansprüchen Verkürzten, den Freibrief für die große Heerstraße der Verschwörer.
Wenn ich aus der Art schlug, statt wie so manche meiner Borfahren den hoch¬
mütigen Vettern in dem Pcilazzo del Te die Nachtruhe zu verderben, so trug
mein Mangel an Ehrgeiz die Schuld. Possenspiele, Liebeleien, Neiterkünste
haben meine Tage ausgefüllt, und noch vor einer Stunde, Florida Vuonaevlsi,
— denn es muß heraus — war ich nicht wert, die Spitzen deiner Finger zu
berühre». Erst dein kindliches Vertrauen hat aus mir einen andern gemacht.
In hundert schalen Wässerchen hatte sich bis auf diesen Tag der Strom meiner
Kräfte verzettelt, keinem zum Nutzen, mir zur Schmach. Du erst hast ihn ein¬
gedämmt und auf ein klares Ziel gerichtet. Nimm meine Huldigung an für
das, was sie in Wahrheit ist, für das Frciheitsaufjauchzen eiuer Seele, die
lange in unwürdigen Ketten lag, in selbstgeschmiedeten — ich bereue es — denn
selbstgeschmiedete sind ja eben auch nicht minder verächtliche Fesseln. Nimm meine
Huldigung an, Florida! Wage es, an mich zu glauben! Begeistere mich!
Halte mich, wenn wir von einander fern sind, mit unsichtbarer Hand auf dem
Pfade der Ehre und des Ruhmes fest, den ich von dieser Stunde an beschreitc!
Und ist dein Herz noch frei, so möge mir am Ziele werden, was beseligender
ist als der Besitz aller Macht und Fülle dieser Erde: die Liebe einer süßen
Braut, deine Liebe, Florida Buouaeolsi.
Während er so seinem Herzen Luft machte, hatte Florida, vou seinen
Worten ergriffen, aber anch beängstigt, sich mit bittend beschwichtigenden Hände¬
falten erhoben. Ehe sie es hindern konnte und wollte, hielt er sie in seinen
Armen, sie fühlte es: in seinen starken Armen, und ein fester Kuß besiegelte
den verheißungsvoller Bund.
Es pochte an der Wand. Herrin, mahnte die Stimme Eufemias, bedenkt,
wenn Euer Vater erwacht und deu Prinzen in Euerm Zimmer findet, so bin
ich um meinen Posten!
Geht, Giuseppe Gonzaga, bat Florida; zum erstenmale däuchte ihr
der verhaßte Name Gonzaga allen Wohlklang der Welt in sich zu bergen.
Geht, geht!
Aber sie meinte wie dnrch Zaubermacht an dem Geliebten zu haften, und
daß sie ihn lassen sollte, füllte ihre Augen mit Thränen.
Macht geschwind! mahnte im Nebenzimmer Eufemia von neuem.
Giuseppe Gonzaga öffnete seine um das holde Mädchen geschlungenen
Arme. Wo sehen wir uns wieder? fragte er.
Ach, erst in Mantua! schluchzte Florida. Was hast du aus mir gemacht?
Alles dreht sich um mich im Kreise!
Ich höre den Herrn Vater! drängte die Stimme im Nebenzimmer.
Giuseppe horchte. Dann raffte er seinen Mantel vom Boden auf. Leb
Wohl! rief er und nahm ihr thräueuüberströmtes Gesicht in beide Hände, indem
er ihre Stirn mit Inbrunst küßte. Lebwohl!
Wie kannst du sagen: Lebwohl? schluchzte Florida, eben erst gabst du
mir das Leben, und schon raubst du mir es wieder!
Noch einmal drückte er sie an sein Herz.
In Mantua, rief er, erwarte mich in Mcmtnci, Florida Buonaeolsi! Und
wenn der heilige Aloysius selbst mir den Weg zu dir verlegen wollte, ich bräche
mir Bahn zu dir!
Florida war bei dem unehrerbietigem Anrufen des Mautnaner Schutzpatrons
erschrocken zusammengefahren. Von Giuseppes Arm umschlungen, begleitete sie
ihn bis an die Thür, dann noch in den dunkeln Korridor, dann noch, auf
seinen Arm sich kraftlos stützend, die halbe Treppe hinab.
Da hieß er sie umkehren. Sie ließ den Kopf hängen. So muß es denn
sein! seufzte sie tonlos, indem sie die Augen mit den Händen bedeckte. Trage
wenigstens meinen Ring, trage ihn Tag und Nacht, Giuseppe Gonzaga, trage
ihn wie ein Stück von mir, und wenn dn betest, drücke ihn, als drücktest du
meine Hemd; ich trage den deinen.
Am kleinen Finger, klang es zurück — er war schon unten —; das Ring¬
lein ist gar so lieb, ist gar so kinderklein.
Und bin ich es nicht etwa auch zu sehr?
Du? Wie eine Hcldenjungfran stehst dn vor meinem innern Auge, hast
du doch dem Drachen der Leidenschaften in meiner Brust den Giftzahn aus¬
gebrochen.
Bester! Einziger! rief sie hinab, die Madonna beschütze dich! Thränen er¬
stickten ihre Stimme. Sie horchte noch vom Korridor ans auf den Klang seiner
verhallenden Schritte, tastete sich dann durch das Dunkel ins Zimmer, eilte an
das Fenster und riß es auf, um ihm noch in der Straße nachzuwinken.
Aber sein Weg ging nicht durch ,diese Straße, und als sie ewig lange
Minuten vergebens nach ihm ausgeblickt hatte, ließ sie sich händeringend auf
ihr Bett sinken und machte dem überquellenden Drange ihres zum erstenmale
vom Pfeil der Liebe getroffenen Herzens in unendlichen Thränenfluten Luft.
In der Frühe des andern Tages saßen die Buonaeolsis wieder im Sattel,
um beim ersten Thoröffnen Verona zu verlassen.
Es war ein erquickend frischer Morgen, die Sterne verblaßten eben, im
Osten begann das goldne Vorspiel des noch fernen Sonnenaufganges, nichts als
der Hufschlag der vier Reitpferde antwortete in den menschenleeren Straßen
den vereinzelt sich hervorwagender Vogelstimmen; von weitem klang das Rauschen
der Etsch, wie sie über das Wehr zur Seite des Ponte delle Ravi dahin-
brauste.
Florida, in ihren Neitmantel aus weicher weißer savoischer Wolle gehüllt,
den breiten Rand ihres grauen Filzhutes tief in die Stirn gezogen, ritt schwei¬
gend und mit tropfender Wimper zur Seite ihres greise» Vaters, der, mit dem
offenen Gebetbuche in der Hand, solange im Schritt geritten werden mußte,
für sich und die Seinen halblaut das angeblich vom Papste Innocenz dem
Achten selbst verfaßte Reisegebet ablas, dessen neunzehn oder zwanzig Verse so
ziemlich alle dazumal mit einer Reise verbundenen Gefahren aufzählt und bei
jeder dieser Gefahren den Schutzpatron anruft, der zur Abwendung derselben
am geeignetsten ist.
Zuweilen unterbrach der Vater Floridas dies Geschäft, um Gedanken, die
ihm eben durch den Sinn zogen, auszusprechen.
Du sagst, die Musikanten seien sicherlich ganz harmlose Leutchen gewesen,
versetzte er; harmlos ist alles, solange die Gelegenheit zu etwas anderen fehlt.
Und wieder, nach einen: Verse gegen Blitz und Donner: Ich wette, wäre
ich nicht noch wach gewesen, du hättest die halbe Nacht vor dem elenden Ge¬
klimper nicht zur Ruhe kommen können, denn xor Die»! die Männer sind in
Verona ebenso große Narren wie in Mantua, wozu sonst das Gethue um einen
kaum erst flüggen Zeisig wie du?
Und wieder, als er mit dem Schutzpatron gegen Pest und Blattern fertig
war: Ich hatte dir den bewußten Sarkophag der Giulin Cappulletti und ihres
ehrvergessenen Verführers zeigen wollen, aber das Kloster, in dessen Kreuzgange
er steht, ist so zeitig nicht zugänglich; es siud Frauziskcmerinnen in dem Kloster;
xovm-iluz! sie haben die Veroneser Waisenkinder den Tag über zu versorgen;
wir wollen ihnen ihre sauer verdiente Nachtruhe nicht verkürzen.
Und dann nach der Anrufung des Schutzheiligen gegen Beutelschneider,
Wegelagerer und Korsaren: Der Hebräer hat mich arg geschröpft; ich Hütte
mich eines himmlischen Beistandes versichern sollen, ehe ich mich mit ihm ein¬
ließ; aber auf der Reise wird mau im Umsehe» leichtsinnig und läßt den Rosen¬
kranz Rosenkranz sein.
Florida brauchte nicht zu antworten, denn der Alte ging nach jeder solchen
Randglosse wieder zur Fortsetzung des Reisegebets über, und es wäre ihr auch
schier unmöglich gewesen, dem Vater Rede zu stehen. Daß sie ein Geheimnis
vor ihm hatte, und noch dazu ein so zentnerschweres, das allein lastete ja nicht
auf ihr. Weber noch ums Herz war ihr's bei dem Bewußtsein, daß jeder
Schritt ihres Pferdes sie von dem Orte entfernte, wo der Freund ihrer Seele
weilte. Bei ihm, sagte sie sich, in seinen Armen, an seiner Brust, welches Ent¬
zücken! Fern von ihm, welche Öde! Schauder schüttelten sie, so oft sie an
das düstere, kalte Zodiaco-Gäßchen dachte. Nur in Verona schien die Sonne,
sangen die Vögel, dufteten die Blumen, hatten die Glocken einen Klang, der
fröhlich wie Hochzeitslieder tönte. Und nun wollte der Geliebte ihretwegen
sich in Gefahren stürzen, wollte sie erst durch Heldenthaten verdienen, durch
blutige Wagnisse sie erst erringen, sie, das einfältige, unbedeutende Kind, das,
seit er es aus seinen Armen ließ, nicht aufgehört hatte, um ihn zu zittern!
Wozu Heldenthaten! seufzte sie vor sich hin, mochte im Palazzo Dncale oder
im Palazzo del Te doch thronen wer wolle, brauchte es für Florida denn
andres als die Nähe des Geliebten, als einen Rasensitz an seiner Seite, als
eine Hütte, die sie und ihn gegen Sturm und Regen und gegen neugierige
Blicke schützte, als ein Büchlein, dessen Murmeln das Getöse der fernen Stadt
übertönte, als einen alten Baum mit weiten, dichtbelaubten Ästen und einem
Bilde der Gütigen, der Gnadenreicher, der alles Mitfühlenden und ach, doch
hoffentlich auch wohl alles Verzeihenden, zu der sie gemeinsam die Hände im
Gebet erheben konnten! Aber freilich der Vater, der von ihr Hintergangene
Vater!
Und ihre Thränen tropften auf die silberbeschlagene Reitgerte, und das
Wappen in dem Silberbeschlag sah sie strafend an, bis es vor ihren Augen ver¬
schwamm.
Ich war es freilich der Ehre unsers Hauses schuldig, begann der Alte zwischen
dem Ablesen des Neisegebets von neuem, der Schmuck mußte endlich einmal
wieder kompletirt werden. Und nach einer Weile fuhr er in einem liebreicheren
Tone fort: Erinnerst du dich eines Knaben, der, als du ein kleines, kleines
Kind warst, mit seinem Vater, meinem seligen Neffen Vittorio Buonacolst, öfter
zu uns kam? Er war zwei Jahre dir im Alter voraus. Du hast damals viel mit
ihm in dem Saale, wo das Bild deiner Urgroßmutter hängt, gespielt, am
meisten, wenn ich mich recht besinne, Maulesel und Pferd oder wie nanntet ihr
es sonst? Deine in Gott ruhende Mutter war seine Pate.
Florida war mit ihren Gedanken noch immer weit ab. Sie hatte geglaubt,
der Vater habe von einem Schutzpatron geredet, dessen Name ihm entfallen sei,
und da sie nicht verraten mochte, daß sie nicht zugehört hatte, antwortete sie
aufs Geratewohl: Meint Ihr Sant' Abbondio, Vater?
Der Alte klatschte schmunzelnd seinem Rappen den Rücken. Nun, ob er
dereinst kcmonisirt werden wird, sagte er, das wollen wir der Zukunft über¬
lassen. Dn weißt, mein seliger Vetter Vittorio hatte allerdings den Knaben
der heiligen Kirche verlobt, sehr gegen meinen Willen, denn die schon so arg
zusammengeschmolzene männliche Nachkommenschaft unsers Stammes wurde da¬
durch wieder um zwei Augen reduzirt. Dann ist meinem armen Vetter ja
sein Liebling gestorben, sein Taddeo, setzte der Alte mit einem tiefen Seufzer
hinzu, wenige Mouate, nachdem Vittorio eben jenen jüngeren Knaben, um
Taddeo am Leben zu erhalten, dem geistlichen Stande verlobt hatte. Und somit
blieb ich — ein Priester zählt ja nicht mit — der letzte männliche Träger
unsers erlauchten Namens. Nun höre — denn wozu es dir länger ver¬
schweigen? — was mich bewogen hat, nach Jahren des Daheimsttzens wieder
in den Sattel zu steigen und zu Ehren unsrer Schmuckkammer mit dir den
langen Ritt nach Verona zu machen. Er schob sein Gebetbuch in die Tasche
und sammelte sich, indem er nach Lazzaro und Eufemia Umschau hielt.
Florida hatte, wie sie merkte, ohne wirklich bei der Sache gewesen zu sein,
schon bei der ersten Frage bewußtlos zugehört und den heiligen Abbondio auf
die Lippen bekommen, weil ihr eine blasse Erinnerung an den gleichnamigen
Knaben, den kleinen Abbondio Buvnaeolsi, durch den Sinn gezogen war.
Der liebreiche Ton ihres Vaters beunruhigte sie jetzt nicht wenig, und sie
sagte: Diese Range mit dem heiligen Abbondio zusammenzuwerfen, war frei¬
lich recht sinnlos, Vater. Ihr erinnert Euch, daß er mir meine schönste Puppe
wegnahm, und daß er sie, mir zum Tort, dann sogar in den Mineio warf,
wo sie unter den Mühlrädern jämmerlich ihr Leben endete.
?0?Mo1lÄ! lächelte der Alte.
Er war blatternarbig, glaubte Florida hinzufügen zu müssen, nud wie er
mir jetzt in der Erinnerung vorschwebt, mochte an ihm nichts zu loben sein
als seine Zähne, soweit man sie nämlich nicht zu kosten bekam. Mich hat er
für alle Zeit gegen alles, was Zähne zeigt, mit Angst und Schrecken erfüllt.
Hier am Oberarm trage ich noch die Spuren. Man kann doch wohl Maul¬
esel und Pferd spielen, ohne zu beißen. Ich war das Pferd und schlug mir
hinten aus. Aber er — nun, das weiß ich, mir graust, wenn ich an die
Fastenpredigten denke, mit denen er dereinst den armen Leuten die Hölle heizen
wird!
Lospstto al L^ovo, lachte der Alte, du hast, wie ich sehe, ihn wenigstens
lebendig genug vor Augen. Was übrigens die Fastenpredigten betrifft, die
wird er nicht halten.
Er nimmt nicht die Weihen?
Durch eine besondre Vergünstigung unsers heiligen Vaters wird das Ge¬
lübde meines Vetters Vittorio entkräftet werden.
Und Abbondio?
Mehr brauchst du für heute noch nicht zu erfahren.
Die Kavalkade war am Thor angelangt, an der Porta Vescovile, denn
bis jetzt befand man sich noch innerhalb der Festung.
Lazzaro war mit einer Volte seines Fuchses an die Spitze des Zuges
galoppirt, um das Öffnen des Thores zu veranlassen. Der griesgrämige Wacht¬
posten, ein nur schlechtes Italienisch redender Waadtläuder mit Blechhaube,
Radschloßbüchse und Hellebarde, wies die Zumutung aber kurzweg ab, indem
er, ohne sein Hin- und Herstapfen einzustellen, über die Achsel gen Osten deu¬
tete, wo allerdings nur erst ein mattes Rot das Näherrücken des Tagesgestirns
verkündete.
Auf der andern Seite des Thores lagerten, wie sich durch die Schie߬
scharten der Umwallung scheu ließ, Bauern und Bäuerinnen ans der gemüse¬
reichen Umgegend, der Stunde harrend, wo sie mit ihren beladenen Eseln Einlaß
fänden.
Der alte Buonaeolsi sah eine Weile dem Parlamentiren Lazzaros aus der
Ferne zu. Dann sprengte er selbst ärgerlich vor und suchte hoch aus dem
Sattel dem Waadtläuder zu Gemüte zu führen, daß es nicht schicklich sei, Per-
hören von Rang warten zu lassen wie gemeine Marktleute. Er erhitzte sich
dabei so sehr, daß er sich endlich selbst komisch vorkam, des Abstandes gedenkend,
der jenen widerhaarigen Söldner, zu dessen Ohr vermutlich nie die Kunde von
dem Fürstengeschlechte der Buonaeolsi gelaugt sein mochte, von ihm, dem letzten
Hüter ihrer Pergamente, Wappen und Trophäen, trennte.
Während das Unterhandeln diesen unbefriedigender Verlauf nahm, hatte
Florida, bestürzt über die unerwarteten Eröffnungen ihres Vaters, Enfemin
herangewinkt. Was soll ich thun, Eufemia? rief sie und ihre Thränen brachen
von neuem hervor; rate mir, hilf mir! Eher den Tod als einen Gatten wie den!
Eufemia hatte die Reden des Alten nur halb verstanden.
Florida wiederholte ihr die Schreckenskunde Wort für Wort.
Nun wollte mich die Amme in Thränen zerfließen.
Was soll ich thun! l'amor al vio; was soll ich thun, Eufemia?
jammerte Florida.
Oniinö! schluchzte die Amme, der ungezogene Schlingel Abbondio!
Soll ich dem Vater alles sagen? Er wird mich töten! Ein Gonzaga!
Ein Gonzaga!
OK! Otu! volo! Und wie wird es erst mir ergehen!
Wenn wir ihm Nachricht geben könnten —
OK! Obi! Wem, gnädiges Fräulein?
Wein anders als ihm, als meinem Giuseppe!
Und was könnte der thun?
Uns unterwegs überfallen.
Oio in« us g'us,räi!
Mich rauben, mich und dich.
vin nie ut libkri!
Oder weißt du eine andre Rettung vor diesem schrecklichen Abbondio?
Vielleicht hat er sich im Kloster gebessert.
Und hätte er Flügel an beiden Schulter», ich mag ihn nicht. Nie werde
ich einem andern als Giuseppe Gonzaga gehören; der Name Bnvnaevlsi macht
mich schon krank!
Gnädiges Fräulein, sagte Enfemia und trocknete ihre Thränen, das wunder¬
thätige Bild der heiligen Barbara in dem Kirchlein San Sebastian» steht nicht
umsonst in dem Rufe, aus Liebesnöteu herauszuhelfen. Wir wollen ihm in
Mantua schon fleißig zusprechen. Wer weiß denn, ob Abbondio nicht seinem
Bruder nachartet. Heute rot, morgen tot, hieß es bei dem. Der Himmel wird
vielleicht noch ein Einsehen haben.
Nein, rief Florida, ich wünsche, daß er hundert Jahre alt werde, ich wünsche
ihm ein treffliches Weib und eine Unzahl von Söhnen; er soll der Stolz
meines Vaters sein, ja, mein Vater soll im sterbe», wenn es sein muß, mich
vergessen und ihn segnen. Ach, ich will Tag und Nacht die heilige Barbara
anflehen, daß sie es so mit mir wende, nicht glimpflicher, nicht glimpflicher,
Eufemia! Nur helfe sie mir aus meiner Bedrängnis nicht auf Kosten meiner
Liebe heraus. Ich will von keinen Nöten los und ledig sein, die ich gemeinsam
mit ihm trage, mit meinem Giuseppe! Und sie küßte durch ihren Neithaudschuh
hindurch den Ring, den sie von ihm am Finger trug.
Der alte Buvnaeolsi, von Lazzarv begleitet, trabte wieder heran. Er hatte
die Gewohnheit, kleine Verdrießlichkeiten mit guter Lanne zu überwinden. Es
muß nach Gottes Ratschluß auch Tölpel geben, lächelte er, indem er Lcizzaros
Zorn über deu querköpfigen Waadtländer mit einer würdevollen Geste zum
Schweige» brachte. Und gen Osten blickend, setzte er, indem er Florida heran¬
winkte, hinzu: Wir sollen uns noch ein halbes Stündchen in Geduld ergeben;
orsu, wohlan! setzen wir unsre Studien von gestern fort.
Von diesem Augenblicke an war er wieder ganz der mit ernstem Auge
die Geschichte vergangener Zeiten überschauende, mit allen Chroniken vertraute
Grübler aus dem Eckzimmer des Zodiaeo-Gäßchens, einem Heiligtum, in welchem
er der trüben Gegenwart sich entrückt zu fühlen pflegte und dessen Stille den
Zügen des sonst heißblütigen und gewaltthätigen Mannes jenen vorwiegend
friedlichen und ehrwürdigen Ausdruck verliehen hatte, an welchem Florida bis
heute mit kindlicher Liebe gehangen hatte.
(Fortsetzung folgt.)
Die Verstaatlichung der Pfälzischen Eisenbahnen. Die Verhand¬
lungen, welche in der jüngsten Zeit mit der Hessischen Ludwigsbahn zur Festsetzung
veränderter Tarifirnngen bez. Jnstradirnngen geführt worden sind, sind in Baiern
mit einem gewissen Unbehagen verfolgt worden, weil man, wohl nicht mit Unrecht,
fürchtet, daß über kurz oder lang auch den Pfälzischen Eisenbahnen von den preu-
ßischen Staatsbnhnen der Krieg erklärt werden könnte. Die Zinsengnrnntie, welche
seinerzeit von der bairischen Regierung zu gunsten der Aktionäre der Pfälzischen
Ludwigs-, der Maximilians-, der Nordbahueu in vielleicht etwas übereilter Weise
eingegangen worden ist, hat dem bairischen Staate bis Ende 1334 rund etwa
neunzehn Millionen Mark gelastet (ohne Zinsen berechnet), und für deu Landtag
ist es immer eine harte Nuß, die Zuschüsse, welche bisher zwischen einer und drei
Millionen Mark jährlich geschwankt haben, zu bewilligen. Es ist daher schon
wiederholt vorzugsweise in der angesehenen ultrnmvntanen Presse verlangt worden,
die vairische Regierung möge die Pfälzischen Bahnen erwerben, und zwar aus
verschiedenen Gründen. Erstens ist die Verwaltung der Pfälzischen Bahnen, die
bekanntlich auch eine Anzahl sehr unrentabler Linien besitzen, welche seinerzeit nur
aus Rücksicht für Großaktionäre gebant worden sind, gegenüber den königlich
bairischen Staatsbahneu sehr teuer, wie dies auch durch den eben erschienenen
statistischen Bericht der königlich bairischen Verkehrsanstalten für 188J wiederum
konstatirt werdeu kann. Zweitens sind es politische Rücksichten, welche dabei ins
Treffen geführt werden. Um es kurz zu sagen .- es ist die bloße „Preußrnfurcht,"
welche der gegenwärtigen Kammermajorität die Erwerbung der Pfälzerbahnen durch
die baierische Regierung als ein geringeres Uebel erscheinen läßt, als wenn die
ersteren in preußische Hände übergingen. Denn während im linksrheinischen
Baiern (Pfalz) mit seiner aufgeklärten und fleißigen Bevölkerung der Uebergang
der Pfalzbahnen an Preußen ganz gerne gesehen werden würde, fürchtet man im
rechtsrheinischen, daß dadurch die norddeutschen Elemente, die ohnehin mehr, als
den Altbaiern lieb ist, bis in die Armee und an die Universitäten schon vorge¬
drungen find und daselbst vielfach eine dominirende Stellung behaupten, sich noch
weiter zum Nachteile der heimischen Kräfte vermehren möchten. Inwieweit diese
Befürchtungen nach den bisherigen Erfahrungen in Baiern gerechtfertigt sind, soll
hier nicht untersucht werden, aber soviel ist doch sicher, daß der Plan der Er¬
werbung eines unrentabel» Unternehmens, das bei dermaligen Kursen ein Aktien¬
kapital von etwa achtzig Millionen Mark rcprcisentirt, abgesehen von ungefähr
Millionen Mark Prioritätsschulden, wofür die bairische Negierung ebenfalls
die Zinsengarantie übernommen hat, nicht bloß vom politischen Standpunkte aus
betrachtet werden darf. Baierns Selbständigkeit, wie solche durch die Versailler
Verträge geregelt ist, würde gewiß nicht angetastet werden, wenn statt durch eine
Aktiengesellschaft der Betrieb der Pfälzischen Bahnen durch die preußische Staats¬
bahnverwaltung geführt würde.
Die Frage kann also nur von ihrer finanziellen Seite ans in Erwägung ge¬
zogen werden, und da machen sich folgende Gesichtspunkte geltend. Das Netz der
Pfälzerbahnen ist zum großen Teile begrenzt von preußischen Staats-, sowie von
den Neichseisenbahnen. Abgesehen von der Vcrkehrsentziehung, welche den Pfälzer¬
bahnen durch die Linie Münster am Stein—Neunkirchen erwachsen ist, hat Preußen
bis jetzt noch keinen Tarifdruck auf die Pfälzerbahnen ausgeübt. Wie lange diese
Schonung noch dauern wird, läßt sich uicht voraussagen, aber darau ist doch uicht
zu zweifeln, daß die preußischen Staatsbahnen, wenn sie erst mit der Hessischen
Ludwigsbahn neue. Vereinbarungen zustande gebracht haben werden, auch an die
Pfälzerbahnen mit einer anderweitigen Regelung der Verkehrsleitnugen herantreten
werden. Ob nun in diesem Falle Regierung und Regierung einander gegenüber¬
stehen würden, oder ob die preußische Bahnverwaltung sich der Leitung eines
Aktienunternehmens gegenüber sähe, ist ganz irrelevant, denn erfahrungsgemäß be¬
kommt der Stärkere Recht, und dies würde auch im vorliegenden Falle gewiß zu¬
treffen. Hierzu kommt noch der weitere Umstand, daß die Pfälzische Industrie,
Landwirtschaft:e., die sehr wohl weiß, daß ein weiterer Ausfall an dem Erträgnis
der Pfälzerbahuen von den sämtlichen bairischen Steuerzahlern, in der Hauptsache
also von rechtsrheinischen Baiern, getragen werden muß, fortwährend nach Tarif-
ermäßigungen verlangt. Dadurch muß naturgemäß der Staatszuschnß sich ver¬
größern, und nachdem mich die bairischen Staatsbahnen, dank der viel zu keltern
Erwerbung der bairischen Ostbahnen, und der Eröffnung der Arlbergbahn, in ihrer
Rente von Jahr zu Jahr zurückgehen, so wäre es gewiß angemessen, bezüglich der
Pfälzische» Bahnen noch ein Abkommen mit Preußen zu treffen, bevor dasselbe
einen Tarifdruck auch auf die Pfalzbahueu ausübt. Dieselben haben für das
Stammland Baiern gar keinen Wert; sieht doch schon auf der Landkarte die
bairische Pfalz ans wie ein abgehauenes und vom Rumpfe weit abliegendes Glied,
und grcivitirt doch der ganze wirtschaftliche Verkehr nicht nach der Donau und dein
Osten, sondern nach den Gebieten des Mittel- und Niederrheins, und nach dem
Süden oder Westen. Die Deckung der Ausfälle, welche die Pfälzerbahuen und
von jetzt ab auch die bairischen Staatsbahnen den Steuerzahlern eine so drückende
Last auferlegen, kann der bairische Staatshaushalt für die Dauer nicht ertragen.
Deshalb ist es die höchste Zeit, sich schon jetzt nach denjenigen Mitteln umzusehen,
welche geeignet erscheine«, nicht bloß eine zur Zeit schon hart empfundene Last zu
beseitigen, sondern auch einer Mehrbelastung vorzubeugen, die sich voraussichtlich
alljährlich noch steigern wird.
Zur Wiener Museumsfrage. Es liegt uns fern, an dieser Stelle Pikante
„Enthüllungen" über die interne Geschichte des österreichischen Museums während
der letzten Monate vorzubringen; schwerlich wäre auch jemand imstande, alle die
feinen Fäden, die da hin- und derschießen, auf ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel
zu prüfen. Aber die Frage um die Neubesetzung der Direktorstelle hat einen
prinzipiellen Untergrund, und dies veranlaßt uns, sie hier in Kürze zu besprechen.
Die gnuze Geschichte begann schon vor Jahren. Man darf wohl sagen, daß
der Mann, der sich in den: österreichischen Museum ein unvergängliches Denkmal
gesetzt hat — Hofrat Eitelberger —, sich die Kraft, es zu leiten, nicht bis in sein
hohes Alter bewahrte, daß er aber auch — thätig wie er ist und voll eifersüchtiger
Anhänglichkeit für seine Schöpfung — sich dies niemals gestehen wollte, niemals
daran dachte, es könne der Moment gekommen sein, wo es notwendig sei, sein
schweres Amt rüstigeren Schultern aufzuladen. An maßgebender Stelle — und
es siud sehr hohe Kreise, in welchen man sich seit geraumer Zeit mit diesen Dingen
beschäftigte — war aber zuletzt doch kein Zweifel mehr, daß irgend etwas geschehen,
irgend etwas verändert werden müsse. Zunächst wurde also Hofrat Eitelberger, der
ja in der That schon lange bedenklich kränkelt, auf drei Monate beurlaubt.
Nun traf es sich, daß vor kurzem der Regierung ein sehr tüchtiger und, wie
es heißt, auch talentvoller Beamter verfügbar wurde. Der Statthaltereirat Graf
Latour in Zara wurde wegen unliebsamer Polnischer Meinungen von extrem
nationalen Kreisen Dalmatiens arg angefeindet und seine Abberufung aus der
Landeshauptstadt, ja aus dein Lande überhaupt zu einer vonäitio sing ciug, iwo
für den Frieden gemacht. F.-M.-L. Jovanovits empfahl ihn aber den höchsten
Behörden in Wien aufs wärmste zur weiteren Verwendung. Die Negierung,
momentan außer Stande, den Grafen an einer Politischen Stelle unterzubringen,
verfiel auf deu Gedanken, ihn einstweilen zum Direktor des österreichischen Museums
zu machen, wobei fie unter anderen darauf hinwies, daß auch für diesen Posten
administrative Routine sehr erwünscht sei, Eitelberger aber gerade eine solche immer
einigermaßen habe vermissen lassen. Als es jedoch in die Oeffentlichkeit drang, in
welcher Weise man die Dircktorfrage zu lösen gedenke, erhob sich die öffentliche
Meinung gar sehr dagegen, und mit seltener Einmütigkeit wurden in Zeitungen
und gesellschaftlichen Kreisen die trübsten Reflexionen an die knndgewordne Absicht
der Regierung geknüpft. Niemand konnte begreifen, wie man eine Stelle, die doch
vor allen einen Fachmann, ja einen Fachgelehrten erfordert, einem politischen
Beamten übergeben könne. Da sich das Kuratorium des Museums in derselben
Weise aussprach, endlich auch eine Petition der hervorragendsten Vertreter des
Wiener Kunstgewerbes Befürchtungen über die geplante Veränderung und Wünschen,
die sich in einer ganz andern Richtung bewegten, Ausdruck gab, verfiel man auf
einen Ausweg. Ein hochgestellter Beamter des Unterrichtsministeriums, dem in
Sachen gewerblichen Bildungswesens wenigstens Erfahrung nicht abzusprechen ist,
war — so behauptet man, — wegen gewisser heute nicht gerade beliebten An-
schauungen einigen nationalen Politikern schon lange unbequem gewesen. Wie,
wenn man den Grafen Latour an dessen Stelle setzte und ihm selber die Leitung
des Museums anvertraute. Schien damit nicht allen geholfen zu sein?
Wenn man nun auch zugeben muß, daß diese Lösung für das Museum selbst
eine etwas günstigere genannt werden müßte, als jene andre, zuerst Projektirte: die
öffentliche Meinung — und worauf das meiste ankommt, die Meinung der
künstlerischen und kunstgewerblichen Kreise — würde auch durch dieses Arrangement
keineswegs beschwichtigt werden. Wenn das Museum noch ferner berufen sein soll,
unsrer vaterländischen Kunstindustrie die Bahnen vorzuzeichnen, ein Sammelpunkt
und eine Schule für junge Kräfte zu sein, so muß auch an der Spitze desselben
ein energischer, anregender, ideenreicher Mann stehen, der in dem Fache lebt und
webt, nicht ein Beamter, und ritte er auch den erprobtesten Verwaltnngsschimmel.
Da können denn nur zwei Männer in betracht kommen: Regierungsrat von Falke
und Bruno Bücher. Beide sind in ihren, Fache höchst tüchtig und haben dies auch
literarisch genugsam dargethan; daß sie anch mit den rein administrativen Geschäften
des Amtes fertig werden würden, kann nach den Proben, die sie in dieser Richtung
bereits gegeben haben, ebenfalls nicht zweifelhaft sein. Vor allem aber würden sie
es auch verstehen, ihre Beamten wissenschaftlich zu diszipliniren, sie in Erreichung
eines Zieles zusammenzuhalten und jede Zersplitterung der Kräfte zu vermeiden.
Wozu also noch suchen? Welchen Grund hätte man, die beiden zu umgehen? Etwa
den, daß sie beide Ausländer sind?*) Aber sie wirken schon lange im Interesse
des österreichischen Kunstgewerbes, und, wohin man auch seine Blicke wenden mag,
man wird kaum einen gebornen Oesterreicher finden, der die gleiche Tüchtigkeit zur
Leitung eines solchen Institutes voraussetzen ließe.
So ist es denn wohl die Ansicht der überwiegenden Majorität unter den
in dieser Frage nrteilsberechtigteu Personen, daß dem einen jener Männer die
Direktor-, dein andern die Vizedirektorstelle gebühre. Als Durchhüuser für Aspiranten
höherer politischer Aemter oder als Belohnnugssinekuren scheinen uns Aemter, die
durchaus einen Fachmann erfordern, herzlich wenig geeignet, und es ist nnr recht
und billig, wenn die öffentliche Meinung gegen eine solche Ignorirung fachmännischer
Wissens in nicht mißzuverstehender Weise Stellung nimmt — hier und anderswo.
Angelo. Angelos Vater war ein Deutscher gewesen, der in Rom lebte; so
erklärt es sich, daß Angelo nnr eine mangelhafte Kenntnis des Deutschen hatte und
sich einbildete, Berntrudis sei „ein schlichter deutscher Name."
Angelo und Berntrudis sind nämlich die Helden der neuesten Erzählung von
Hermine vou Hillern, welche unter den: Titel „Um der Liebe willen" in der
„Deutschen Revue" erscheint und deren erster Teil uns mit wahrer Begeisterung
erfüllt hat.
Entzückend ist vor allein die Sprache, in welcher hier um der Liebe willen
geschrieben wird. Die wahre Poesie ist bekanntlich eine abgesagte Feindin der
Hilfszeitwörter, deshalb ist Angelvs Vater „ein deutscher Maler, den die Schönheit
Italiens gebannt, also daß er für immer in der ewigen Stadt seiner Seele Heimat
gefunden." Auch gewöhnliche Wörter sind dem wahren Dichter ein Gräuel: Locken
sind schon so verbraucht, daß man heute „wie segnend mit mütterlichem Kuß das
wirre Gelock" versieht und „eine bleiche, schattenhafte Gestalt mit blutgetränktem,
goldenem Gelock" daliegt. Wer wird da noch von Thränen reden wollen! Nein,
die geschlossenen Augen haben „arme, vom salzigen Naß geMete Lider," Wer
wird Haar sagen! Nein, „die bleiche, edle Stirn ist von goldenem Dunst" um¬
wogt. Bloß Angst oder Furcht zu empfinden, wäre Prosaisch! „ein Ausdruck seeli¬
scher Angst liegt auf seinen Zügen," „die ganze Erscheinung trägt den Ausdruck
körperlicher Erschöpfung, tiefen seelischen Leids," Unglücklich ist abgegriffen, leider
ist für glücklich noch kein Ersatz in der Poesie gefunden und so stehen Poesie und
Prosa neben einander in den Worten: „ach, wie glücklich war der Tote, und wie
glücklos war er," Durchaus unwürdig höherer Poesie ist ein volles Adjectivum,
„ein zerfallen Muttergottesbild" muß, es mag wollen oder nicht, die Arme aus¬
breiten; geradezu verächtlich aber klingt die gewöhnliche Wortfolge im Satze: „Ge-
sang und Saitenspiel tönt und vou ven Wänden der Pruuksülc niedersteigen lebendig
geworden die Gestalten, die die Maler dahingeznubert,"
Ach, wir werden ganz wehmütig, wenn wir in einer Sprache, die wir nicht ver¬
stehen, Vorgänge lesen, die wir selber niemals nachmachen können: hier, hier da¬
gegen „saugen die dunkeln, blicklosen Augen den rötlichen Schimmer ein, der von den
langen seidenen Wellen ausgeht," Es kommt uns beim Lesen dieser Schilderungen
vor, wie „manchem, der in die tiefe Nacht dieser Augen geblickt: den mochte es
gemahnen, als habe er hinabgesehen in ein offenes Grab, darinnen er seines Leben
Hoffnung geborgen und an dessen Rand für alle Zeit seines Mundes Lächeln er-
storben sei. Also »kochte, wer weichen Herzens und Gemütes war, Wohl nimmer
froh werden, wen» er den tröst- und hoffnungslosen Blick des Jünglings geschaut."
Ja, im Lande der Poesie ist alles anders als in der gemeinen Wirklichkeit:
„eine Schlacht ist geschlagen worden in Oberitalien, darin die Kriegskunst der
deutscheu Landsknechte deu Sieg davongetragen über die verbündeten, aus Menschen
aller Nationen gemischten Truppen," „die Sonne ist heraufgestiegen und die volle
Hitze eines italienischen Sommertages brütet über dem Schlachtfeld," Wenn doch
die Leute bei der immer ärger werdenden Hitze („es lagert sich" ja schon „wie eine
schwere Dunstschicht über der Erde und verpestet die Luft, die die mühsam atmende
Lunge einzusaugen sich gnält"!) endlich aufstehen und in den Schatten gehen
wollten! Aber nein: „tiefe Stille breitet sich aus über der Stätte, wo Lebende
und Tote friedlich der Ruhe sich weihen."
Manchmal legt man sich freilich in der Poesie zu große Qualen auf, der
Held ist „hingezogen in das gelobte Land auf nackten Sohlen," Warum mochte er
nur barfuß gehen, da er ja „Pilgergewand genommen" hatte, und die Pilger doch
Sandalen tragen?
Es ist eigentlich ein Jammer, daß es Angelo so schlecht geht; denn er ist ein
höflicher, dienstfertiger junger Mann: Berntrndis kommt mit ihrer Mutter (schade,
daß man den Namen der Mutter nicht auch erfährt, allerdings muß es schwer
sein, wenn man eine Tochter namens Berutrndis hat, selber auch einen anständigen
poetischen Namen aufzuweisen) weit aus Deutschland auf das Schlachtfeld, um den
Geliebten des Mädchens, vou dessen Tode der Telegraph ihnen Nachricht gegeben
hatte — so kann man sich irren, nein, „weil so viel der Zeichen geschehen waren,
die ihnen verkündet, daß dem Geliebten Gefahr droht — zu begraben," Sogleich
sagt Angelo: „LaßtS jetzt genug sein des Jammerns und Klagens, so ich euch zu
nützen vermag, thut mirs kund," — „Habt Dank, sagt die Mutter, so Ihr Euch
zweier verlassenen Frauen annehmen wollt im fremden Lande, mög' es Euch der
Himmel lohnen, .. So Ihr uus Eure Hilfe leihen wollt, sorget, daß wir ihm ein
recht und christlich Begräbnis geben auf fremder Erde, da ihm nicht vergönnt ist,
im Dorfgärtleiu unter der Linde zu ruhen, wie er so oft sich gewünschet."
Und wie hübsch benimmt sich Angel», wenn er zu den beiden sagt: „Wollt
gestatten, ihr Frauen, daß ich Euch zu einem Zelt geleite, darinnen ihr geborgen
vor der Sonnenglut harren möget, bis ich dem Toten das Grab gerüstet," So
„weist" er deun den Frauen „ein bergend Gezelt," denn sie sind nicht so gewöhnt
an die Hitze wie die Landsknechte, was die Mutter verständig so ausdrückt: „beide
sind wir ungewohnt der laugen Wanderung und des Brandes italischer Sonne" —
aber seine Höflichkeit wird schlecht belohnt, denn er muß solgeude herzerschütternde
Klagen des Mädchens anhören: „O trautes Lieb, o trautes Lieb, was bist du von
mir gegangen, o viel bitterer Tod, was hast du mir meines Lebens Licht, meines
Herzens Trost geraubet. Nun erlischt im Weinen meiner Angen Glanz, die nur
für ihn geleuchtet, und mein junger Leib welkt wie die Blume am Grabesrand,
denn meiner Seele Wurzeln sollen in deines Grabes Erde haften, und was du an
mir lieblich erfandest, soll vergehen für dich in Regen und Sonnenbrand! O mein
junger Gesell, mein süßes Gespiel, o du meines Herzens liebste Wonne!"
Solche Klagen müssen schrecklich anzuhören sein, freilich ist Angelo überhaupt
sehr unglücklich, sein Vater ist in Rom ermordet worden, von seiner Mutter weiß
er nur, daß sie eine „hoheitvolle" Erscheinung, keine Römerin war, nnn ist er
Landsknecht geworden, und in diesem zu innerer Einkehr sehr passenden Leben
„war er immer stiller, immer schroffer geworden, seine Bewegungen hatten die
Elastizität verloren, in seinen dunkeln Augen war das blitzartige, rasch wechselnde
Leuchten erstorben, und ein breiter, matter, weißlicher Schimmer, wie an dein Auge
eines Blinden, gab ihm den seltsam müden, hnlberloschenen Blick," Allerdings
war auch Angelos Vater von unerklärlichen Unglück heimgesucht, er scheint zwar
ein recht bedeutender Maler gewesen zu sein, er hatte viele Aufträge, Rom gefiel
ihm auch, wie meist deutschen Malern, offenbar recht gut, aber, aber — „wenn
der Abend kam und sie znsammensnßen in der Dämmerung (sie) oder hinaus-
gingen in die rebennmrankteu Ruine», dann sang der Bater zur Laute die süßen,
schwermütigen Weisen, und wie die Klage eines gefangenen Vogels klang aus ihnen
allen der monotone, immer sich wiederholende Schmerzensschrei einer nie gestillten
Sehnsucht." Und nun muß auch noch die Mutter gerade eine Italienerin sein,
sodaß Angelo an „der Melancholie, die das Erbe seines südlichen Blutes war,"
auch von selten der Mutter zu leiden hatte,
Zu all diesem Unglück kommt nun aber noch ein unbegreifliches Versehen
Augelos. Er hatte nämlich dem gefallenen Wendelin Berntrudis' Bild weg¬
genommen und für sich behalten. Da Berntrudis in ebenso unbegreiflichein Ver¬
gessen garnicht an daS Bild dachte, so wäre wenigstens doch noch alles gut
geworden, wenn Angelo sie gefragt hätte, wo sie her sei. „Aber er weiß ja nicht
einmal, wo ihre Heimat ist, er hatte es versäumt darnach zu fragen in der Ver¬
wirrung seiner Seele," Deshalb muß er barfuß uach Jerusalem gehen, deun der
um dem Toten begangene Diebstahl quält ihn in schrecklicher Weise, Er ist nämlich,
wie wohl die meisten Menschen, „ein Kind seiner Zeit: einer Zeit, da der be¬
stehenden Rohheit aller Sitten in grellem Gegensatz die höchste Feinheit der Em¬
pfindung, wie sie uns das Blütenalter spanischer und italienischer Poesie zeigt,
gegenübersteht,"
Wir schließen für heute, der Genuß ist zu groß, die Belehrung zu wertvoll.
Nun, haben wir doch endlich auch gelernt, wann die wahre Blüte der spanischen Poesie
war. Nächstens hoffen, wir das unglückliche getrennte Paar zu seiner glücklichen
Vereinigung zu begleiten.
Herr von Sybel fährt fort, die Zeitungen durch Zusendung von Aeußerungen
seines Aergers über die im Grnnowschcn Verlage erschienene Auswahl aus Friedrichs
des Großen Gesprächen mit de Caet zu belästigen. Die letzte uns vorliegende
derartige Expektoration macht die von der Archivverwaltung publizirten Memoiren
wegen ihrer freien Behandlung der Geschichte, die wir mehrfach genügend gekenn¬
zeichnet haben, möglichst schlecht, und versteigt sich am Schlüsse zu ehrenrühriger
Beschimpfungen, die zu erwidern oder zu widerlegen der Verleger d. Bl. unter
seiner Würde erachtet. Die zahlreichen groben Sprachschnitzer, die wir in der
Publikation nachgewiesen haben, erwähnt natürlich Herr von Sybel mit keinem
Worte, sondern stellt nnr ihre „Beleuchtung" in „einem der nächsten Hefte" seiner
historischen Zeitschrift in Aussicht. Wir wollen wünschen, daß er bis dahin jemand
finde, der das Wort -5^-509- (S. 413, 3) und deu Dativ (S. 374, 38)
kennt, und es erklären kann, auf welche Weise ein gebildeter Mann wie de Caet
dazu kam, so zahlreiche grobe Fehler im Französischen zu machen.
Obgleich das neue deutsche Reich dem unverjährbaren Wunsche des deutschen
Volkes uach einer staatlichen Einheit einen neuen lebendigen Ausdruck gegeben hat,
ist es doch weder historisch noch staatsrechtlich eine Fortsetzung des römischen
Reiches deutscher Nation oder des deutschen Bundes. Schon vielfach ist in den
offiziellen Aktenstücken des jetzigen Bundesrates dieser Zusammenhang abgelehnt
wurden. Das jetzige deutsche Reich ist eine neue Schöpfung, die, wenn sie auch
einige Einrichtungen aus dein früheren Bundesstaat herübergenviumeu hat, ans
ganz eignen Grundlagen dem Doppelcharakter der Deutschen nach Absonderung und
Zusammenschließen am besten gerecht geworden ist. Ungeachtet der Originalität dieses
staatlichen Nettgebildes wird mau aber seine Institutionen, seine Aufgaben und seine
Ziele nur dann unparteiisch und objektiv würdigen können, wenn man die deutsche
rechtsgeschichtliche Entwicklung versteht, deren Eude zu deu jetzigen Zuständen geführt
hat. Diese Geschichte des öffentlichen Rechtes in Dentschland giebt der Verfasser
des oben angekündigten Buches mit vielem Geschick. Seit 1361, wo die erste
Auflage erschien, ist die mehrerwähnte staatliche Umwälzung eingetreten, der
damals ausgesprochene Wunsch des in den öffentlichen Rechtsdisziplinen als Autorität
geltenden Verfassers, das; uns ein der Würde und dem Geiste unsers Volkes ent¬
sprechendes deutsches Recht in den öffentlichen Dingen bleibe und werde, ist früher,
als wir geahnt, zur herrlichsten Erfüllung gelaugt. In den Vorbemerkungen werden
zunächst die allgemeinen Begriffe des Staatsrechts in klaren und von allem Beiwerk
befreiten Gedanken auseinandergesetzt. Der erste Abschnitt giebt sodann eine
Uebersicht des in dem alten Reiche entwickelten Staatsrechts, sowohl hinsichtlich der
Reichsgewalt als der Emanzipation der Territorien. Der zweite Abschnitt behandelt
von denk Reichsuntergange und der Bildung des Rheinbundes sechzig Jahre des
Staatenbundes, wo Deutschland nur durch ein loses völkerrechtliches Band um-
schlungen war. Beiden Abschnitten sind Erörterungen über die Rechtsquellen und
die einschlägige Literatur eingefügt. Der letzte Abschnitt ist dem heutigen deutscheu
Reiche gewidmet. Das Buch wird zunächst als ein schätzbares Hilfsmittel dem
akademischen Unterricht dienen. Der Inhalt und die klare, verständliche Darstellung
desselben eignet es aber auch ganz besonders zur Lektüre für den gebildeten Nicht-
juristen, welcher eine größere Belehrung Aber das öffentliche Recht verlangt, als
ihm in der periodischen Literatur der Tagespresse und der Zeitschriften geboten
wird und geboten werden kann.
Solveit mau nach einer einzigen Lieferung über ein Werk urteilen kaun,
welches 15 Lieferungen umfasse» soll, reiht sich dieses neue Prachtwerk den besseren
der in den letzten Jahren massenhaft produzirten Werte an, bei denen ein wirklich
guter, wissenschaftlich wertvoller Text eines Fachmannes durch Bilder, die deu alten
Denkmälern entnommen oder getreue Ausnahmen der heutigen Landschaft und des
moderne» Volkslebens sind, eitle sachgemäße Illustrirung erhält. Denn wir leugnen
durchaus nicht, daß durch derartige „Jllustrntioueu," seien es nun kulturgeschichtliche
Abbildungen oder Porträts, seien es Grundrisse, Karten und Schlachtenpläne, viele
Mißverständnisse verhütet, namentlich viele Worte gespart werden können. So sehr
man demnach gegen Historienbilder in eigentlichen Geschichtswerken, vor allem aber
gegen Illustrirung der Werke unsrer Klassiker eifern und sich verwahren mag, so
wird man doch auf.der andern Seile anerkennen müssen, daß der Bilderschiuuck z, B,
der von Oncken herausgegebenen „Allgemeinen Geschichte in Einzeldarstellungen"
oder der klassischen und biblischen Realwörlerbttcher, oder etwa des großen Werkes
über Palästina von Ebers und Guthe wirklicher Belehrung dient und auf kür¬
zestem Wege Anschauungen vermittelt, die manchmal durch die beste nud ausführe
liebste Schilderung nicht zu erzielen siud.
An Interesse für das Land der Pyramiden fehlt es gegenwärtig nichl, Deun
wenn auch das einst über Ägypten nud die Ägypter schwebende mystische Dunkel durch
das Licht der Deukniälerforschnng in überraschender Weise aufgehellt worden ist und
anch die Ägypter, die man sich früher entsprechend dem Kanon ihrer bildlichen Dar¬
stellungen nur steif und äußerlich abgezirkelt zu denken vermochte, als fühlende
Menschen gleich uns sich entpuppt habe», so gewährt es doch ni»en eigne» Reiz,
eine Kultur kennen, zu lernen, die fünf Jahrtausende hinter der Gegenwart zurück¬
liegt und deren Eigenart immerhin von der modernen Art zu fühlen, zu denken
und zu schaffen gnr sehr verschieden ist.
Das erste Heft enthält — anßer einer Einleitung über die Wichtigkeit Ägyptens
für die Geschichte , über die Quellen seiner Geschichte und deren Entzifferung —
als erstes Kapitel einen Abschnitt über Ägypten als Land, Die Abbildungen,
welche die Topographie des Landes, seine hydrographischen Verhältnisse, die Vege¬
tation », s. w, vergegenwärtigen, sind schöne und unterrichtende Illustrationen in
dem oben besprochenen Sinne.
Die vorliegenden Aufsätze erschienen vor längerer Zeit im Braunschweigischen
Magazin, jetzt sind sie in neuer Bearbeitung zu einer Gesamtausgabe vereinigt
und Wesentlich vermehrt worden durch das, was der Verfasser inzwischen hat
sammeln können. Mit großem Fleiße ist der Stoff aus den mannichfachsten Quellen
zusammengetragen, die Grabstätten der Welsen an zweiundsechzig verschiedenen
Orten Deutschlands, Österreichs, Italiens, Englands, Dänemarks/Rußlands und
der Schweiz werden genan beschrieben, die einzelnen Glieder des so weit verzweigten
Fürstenhauses siud also im weitesten Umfange aufgenommen worden. Eine dankens¬
werte Zugabe bilden die kurzen historischen Notizen. Aufgefallen ist uns uur,
daß hie und dn nicht genauere biographische Daten gegeben sind, wo sie sicher be¬
glaubigt und ohne große Mühe zu beschaffen waren, wie z. B. der Todestag
Mathildens, der Gemahlin Heinrichs des Löwen, und Kaiser Ottos des Vierten.
Agnes, die Gemahlin Heinrichs von Braunschweig, ist 1248, nicht 1266 gestorben.
Eleonore d'Olbreuse ist den 3., nicht den 7. Januar geboren, ihr Todestag ist
der ö., nicht der 3. Februar. Das Marienkloster zu Stade, die Begräbnisstätte
der Agnes von der Pfalz, ist übersehen worden. Das Werk, welchem gerade jetzt
ein besondres Interesse entgegengebracht werden wird, ist gut ausgestattet, und ein
sorgfältig gearbeitetes Personen- und Sachregister erleichtert die Orientirung.
Der Verfasser null keine Familiengeschichte des Geschlechtes Schwerin geben,
sondern darstellen, wie, in der Geschichte eines einzelnen Geschlechts die Ver¬
gangenheit des gesamten Vaterlandes sich abspiegelt, und zwar geschieht das auf
Grund vou GollmertS Geschichte des Geschlechtes Schwerin. So werden uns denn
eine Reihe anziehender Lebensbilder vorgeführt. Wir erwähne» uur die Bio¬
graphien Ottos und Detlevs von Schwerin und des Feldmarschalls Curt Christoph.
Als historische Leistung ist das Buch nicht allzuhoch anzuschlagen. Es finden sich
wiederholt darin phantasievolle Ausführung«» von Möglichkeiten und Wahrschein¬
lichkeiten, wo der gewissenhafte Historiker nur sage» kann: Wir Nüssen es nicht.
Und doch wird uns versichert: „der Phantasie durfte kein Spielraum gewährt werden
in diesem Buche." Die Jugendgeschichte Detlevs ist geradezu novellenartig be¬
handelt. Die Vorliebe für das Geschlecht hat den Verfasser übrigens bisweilen
zu weit geführt, so, wenn er von Otto von Schwerin urteilt, „er sei ein Mann
von so hoheitsvollen und erlauchten Charakter, wie er in der gesamten Geschichte
unsers Vaterlandes sich kaum zu einem zweitenmal«.' wieder auffinden lassen möchte."
Besonders interessirt hat uns das Bruchstück ans dem Tagebuch? Ottos, des Er¬
ziehers deS Kurpriuzcu Karl Aemil; sollten diese Aufzeichnungen wirklich uoch nicht
gedruckt sein, so wäre eine Veröffentlichung derselben sehr zu wünschen. SchwcbclS
Buch ist frisch geschrieben; störend wirkt die häufige Verwendung von gesperrten
Druck und von Ausrufezeichen.
Sowohl die ans Archiven, als die aus eignen Erlebnissen geschöpften Mit¬
teilungen dieses Buches enthalte» mancherlei Charakteristisches für die Zeit, von
welcher der Verfasser am Schlüsse seiner Schrift wünscht, daß sie nie wiederkehren
möge, doch auch manches, was kaum Verdiente, wiedergegeben zu werden. An«
interessantesten sind die Aeußerungen Nadetzkys, die durchweg einen klaren Blick
bekunden. Denjenigen Tirolern im österreichischen Parlamente, welche bei der Ver¬
teidigung der „Glanbenseinheit" sich das Ansehen zu geben pflegen, als hätten sie
persönlich im Jahre 1848 das Reich gerettet, wird folgender Ausspruch des da¬
maligen Kmnmandirenden in Innsbruck vom 6. April des genannten Jahres etwas
unangenehm klingen: „Die Einwohner der südlichen Teile, als italienisch, sind ganz
in der revolutionären Stimmung wie Italien, und die Leute in deu andern Teilen
Tirols sind ohne irgendwelchen guten Willen, etwas für die Regierung zu thu»,
die, wie sie sagen, nichts für sie gethan. Als jüngst die Schtttzendeputationen für
das Laud Tirol aufgefordert wurden, war ihre erste Frage, wie viel der Mann
täglich bekäme, und ihre erste Erklärung, sie würden sich schlagen, wenn der Feind
vor ihrer Thüre wäre, das andre ginge sie nichts an." Und der das schrieb, war
der General Melden! Von Haynau wird erzählt, daß er, um 28. Juli 1848 zum
Kommandanten des dritten Armeekorps ernannt, um Auszahlung der Tafelgelder
für den ganzen Monat Juli ansuchte, was Radetzky natürlich ablehnte. Im März
1849, als die Dinge in Ungarn sehr übel standen und mau dort kaum schon
etwas von dem Siege bei Novara Nüssen konnte, fand die Militärbehörde zu Gnus
noch Muße, dem Zivil- und Militärgouverneur nach Wien zu melden, ein prote¬
stantischer Prediger in Basel habe die Sendung einiger Bibeln mit den Apokryphen
für Vliland und Se. Ruprecht angekündigt, und Melden verfügte, die Bibeln seien
vorläufig in Verwahrung zu behalte». Wolf vermutet wohl richtig, daß den Herren
die Apokryphen bedenklich gewesen seien, weil sie nicht gewußt hätten, was das sei.
Um dieselbe Zeit, am 24. Mnrz, soll Viktor Emanuel in einer Zusammenkunft
mit Radetzky seinen festen Willen erklärt haben, der demokratischen Umsturzpartei,
die seineu Vater ins Unglück gestürzt habe, Meister zu werden. Um das durch¬
führen zu können, bedürfe er der Zeit und der guten Stimmung in der Armee
und im Volke, und deshalb möge Radetzky von der Besetzung ganz Alessandrias
nebst der Zitadelle abstehen. In der Nacht vorher war Karl Albert ans der
Flucht und incognito bei dem Feldmarschall-Leutnant Grafen Thurm gewesen und
hatte erklärt, der Krieg sei in sehr unnützer Weise von Zeitungsschreibern und
Demokraten herbeigeführt worden. In welcher Art noch 1852 die Kriegsgerichte
in Wien verfuhren, hatte der Verfasser selbst zu erleben, wie S. 112—119 um-
ständlich erzählt wird. Als Haftgenvsseu halte er einmal einen Wiener Bürger,
der beim Kartenspiel gesagt hatte: „Wir brauchen keinen König," wodurch er
republikattischer Gesininmg verdächtig geworden war.
Geschrieben ist das Buch in einem Stil, der zu verraten scheint, daß die be¬
rühmte „Versöhnung der Nationalitäten" wenigstens ans dein Felde der Sprache
tund natürlich auf Kosten des Deutschen) Fortschritte macht. Abgesehen von Flüchtig¬
keiten wie: „daß Zeitschriften . . . aufgelegt werden durften, um sich weiter aus-
zubilden," sind wahre Ungeheuer der Satzbildung garnicht selten. Z. B. „In¬
zwischen machte jedoch der Kommandirende von Wien, Graf Auersperg, am
12. Oktober Radetzky darauf aufmerksam, daß bei dem Umstände, da dermalen
kein ordentliches Kriegsministerium besteht und das diesfällige Portefeuille nur
provisorisch dein Finanzminister Krauß übertragen sei, mit dein natürlich nnr
Gegenstände administrativer Natur verhandelt werden können, so möge Ra¬
detzky u. s. w."
Diese Schrift hat uns die alte Anekdote von einem Professor der Medizin
iii die Erinnerung gerufen, welcher lang und breit irgendeine krankhafte Erscheinung
der menschlichen Haut besprach, um damit zu schließe», man müsse sie sich selbst über¬
lassen, da sie schnell und ohne nachteilige Folgen wieder verschwinde. Dr. I. Dernjciö
hat keine Mühe gescheut, über die Lebensumstände, den Bildungsgang und die
Arbeiten des Bildhauers Johann Christian Wilhelm Beyer ans Gotha (von 1759
bis Z767 „Statunire" in Diensten des Herzogs von Württemberg und Modelleur
für die Ludwigsburger Porzellanfabrik, seit 1770 „Hofstatuarins" in Wien, ge¬
storben daselbst 1797) Nachrichten zusammenzutragen, und dem Leser die Ueber¬
zeugung beizubringen, daß Beher ein mittelmüßiger Künstler gewesen sei, ohne
Originalität, ein Klassizist, dessen angebliches „Studium der Antike eigentlich eine
mehr oder minder genaue Bekanntschaft mit gewissen Partien der Lippertschen
Daktyliothek und eine noch eingehendere mit dein ersten Bande von Montfaucon"
gewesen sei. Ein Verdienst hat der Mann allerdings, nämlich das, auf die Ver¬
wendbarkeit des tiroler Marmors wieder aufmerksam gemacht zu haben; aber um
dies ins Licht zu stellen, wären nicht sechs Druckbogen nötig gewesen, und noch
weniger erscheinen die häufigen Ausfälle auf die Kuustwissenschnft, welche bisher
dem Meister und seinen Hauptwerken, den Statuen im Garten von Schönbrunn,
nicht die verdiente Aufmerksamkeit gewidmet haben soll, am Platze. Ein gewisses
Ergötzen kaun die Lektüre von Sätzen wie der nachfolgende bereiten. „Da er,
wie schon gesagt, sein Reisepauschale nicht erhalten hatte, borgte er eiuen Betrag
von 30 Gulden — wie man sieht, nnr um 5 Gulden mehr als letzteres betrug —
von einem gewissen Abbe Miloni, welcher weiter nicht bekannte Ehrenmann auf
dessen „in Rom zurückgelassene Pretivsa die Hand deckte," als der Künstler decretaliter
angewiesen, „der gnädigsten Intention gemäß unterwegs allerorten zu verweilen,
wo etwas vor ihm zu sehen," von dem Gelde, das, wie bereits erwähnt, demselben
nachträglich in Florenz zugekommen war, nicht genug erübrigen konnte, um der
ihm gegenüber eingegangnen Verbindlichkeit nachkommen zu können, und als Beyer,
bereits nach Stuttgart zurückgekehrt und außer jener früher angeführten Stellen-
und Gehaltszusichernng trotz ,,zu wiederholten malen übergebenen unterthänigen
Snpliquen" irgendetwas zu erreichen nicht imstande war, nach einem mehrmonat¬
lichen Aufenthalte daselbst in so bedrängten Umständen sich befand, daß er mangels
um (!) Mitteln zur Hinreise nicht einmal eine Erbschaft, welche ihm inzwischen in
Gotha zugefallen war, flüssig machen konnte, nicht zufrieden damit, demselben die
genannten Kostbarkeiten „bis Hieher ungebührlicher Weise vorzuenthalten" — etwa
im Juni 1760 — beim Oberhvfmarschallnmt die Klage gegen ihn einreichte."
Ein Satz! Der Verfasser scheint sich wenigstens eines gesunden Atems zu er¬
freuen.
Zur Beachtung.
Mit dem nächsten hefte schlicht diese Zeitschrift das z. Guartal ihres 44. Jahr¬
ganges, welches durch alle Buchhandlungen und postanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen ist.
preis für das Guartal g Mark. Mr bitten um schleunige Aufgabe des neuen
Abonnements.
Leipzig, im März M5. Die Verlagshandlung.
me Episode und nichts andres war es, was in voriger Woche
mit der von Gladstone im Parlament verkündigten Verstän¬
digung zwischen Rußland sein vorläufiges Ende erreichte, eine
Episode in dem weltgeschichtlichen Vorgänge, den die Historiker
der Zukunft als Einleitung oder Vorspiel des Kampfes um den
Besitz Indiens bezeichnen werden. Einige Zeit sah es an der afghanischen Grenze
zwischen Margab und Herirud recht triib und beängstigend für den Freund des
Weltfriedens aus, trüber vielleicht, als es in Wirklichkeit war. Jetzt giebt es
wieder blauen Himmel — für die Zeitungen und Börsen, die beide viel vom
Scheine und der momentanen Gestaltung der Dinge leben. Das Wesen der
Sache hat sich durch den Zwischenfall in keiner Weise verändert. Es hat sich
nnr noch einmal wiederholt, was schon oft dagewesen ist: Rußland hat auf
seinem Wege nach Süden Halt gemacht, ist aber keinen Schritt zurückgetreten,
und wird weiter vorgehe», sobald günstige Umstände dies erlauben; England
hat nachgegeben, es hat gute Miene zum bösen Spiele gemacht, es hat bekommen,
was man ihm bis ans weiteres bot, nicht, was es anfänglich beanspruchte.
Nach der Darstellung der englischen Blätter hatten die Russen durch einen
Spezialabgeordneten, den Ingenieur Lessart, in London hinsichtlich der zu ver¬
einbarenden nordwestlichen Grenze Afghanistans unerfüllbare Forderungen stellen
lassen, und zu gleicher Zeit hatten russische Truppen von Punkten und Ge¬
bieten Besitz ergriffen, welche zu Afghanistan gehörten. Sie befanden sich, so
berichteten diese Zeitungen weiter, offenbar auf einem Marsche, dessen Ziel die
Einnahme Hcrats, des „Schlüssels von Indien," war. Der britische General
Lumsden, welcher die Absteckung der Grenzlinie zwischen Rußland und dein
Gebiete der Afghanen im Einvernehmen mit russischen Kommissären leiten sollte,
hatte, so hieß es ferner, sich von der Sache zurückgezogen, und schließlich sollte
sogar ein Ultimatum in der Angelegenheit von London nach Petersburg ab¬
gegangen sein. Darob große Unruhe und Aufregung in England, namentlich
in den Kreisen der Gegner Gladstones, HWiribal ano xorws, mächtige
Worte, erhebliche Entwicklung von Kraftbewußtsein und Selbstgefühl, lärmendes
Verlangen nach Rüstungen, journalistisches Säbelgerassel, begleitet vom Zähne¬
klappern der Börsenjobber. Was war in Wahrheit geschehen? Vor einigen Mo¬
naten schickte die russische Regierung den Ingenieur Lesscut, einen gründlichen
Kenner von Land und Leuten in Zentralasien, nach London, damit er dem dortigen
russischen Gesandten von Staat bei den Unterhandlungen, die über die russisch-
afghauische Grenzregulirung stattfinden sollten, mit seinem Rate zur Seite
stehe. Lessart wurde auch dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten,
Lord Granville, und dem Kolonialminister, Lord Kimberley, vorgestellt, über¬
brachte denselben aber keine Forderungen seiner Regierung, am wenigsten un¬
annehmbare; vielmehr wurden alle Verhandlungen über den Gegenstand aus¬
schließlich durch stark und die genannten beiden britischen Staatsmänner ge¬
führt. Auch dabei wurden russischcrseits keine unbilligen und unannehmbaren
Ansprüche erhoben, sondern es kam zwischen den betreffenden Herren nur zu
Meinungsverschiedenheiten über die Nordwestgrenze Afghanistans, die darin ihren
Grund hatten, daß die letztere niemals endgiltig und in den Einzelheiten genau
fixirt worden war. Sie war vor dein Übereinkommen von 1870 bis 1873 nur
in allgemeinen Ausdrücken einigermaßen bestimmt worden. Nach dieser Ver¬
einbarung zwischen Rußland und England, bei welcher ersteres von Fürst Gvr-
tschcckoff, letzteres zunächst von Lord Clarendon, dann von Granville vertreten
war, sollten die unabhängigen Turkmenen in Zukunft in die Aktionssphäre Ru߬
lands eingeschlossen sein, Afghanistan aber der Interessensphäre der Engländer
angehören. Das ließ wesentlich verschiedne Deutungen in lokaler Beziehung zu.
Das Land war damals und noch Jahre hindurch nachher sehr wenig bekannt,
und es fragte sich, wie weit geht das Gebiet der unabhängigen Turkmenen?
Nun machte die russische Regierung bald, nachdem sie Merw erworben und da¬
durch in London Anlaß zu Befürchtungen gegeben hatte, der englischen, um sie über
weitergehende Absichten zu beruhigen, den Vorschlag, sich mit ihr über eine ge¬
nauere Feststellung der Grenzen zwischen dem russischen Turkestan und dem Ge¬
biete des Emirs von Afghanistan zu verständigen, wobei das Abkommen von
1873 die leitenden Gesichtspunkte abgeben sollte. Eine Teilung des von Turl-
menenstümmen bewohnten und nomadisch durchzogenen Gebietes zwischen Ru߬
land und Afghanistan ist nicht wohl thunlich, wenn nicht die Grenzregulirung
selbst sofort zum Keim neuer Meinungsverschiedenheiten und Verwicklungen werden
soll, und so betonte Rußland schon vor Jahresfrist, also nicht erst, als es
die Engländer im Sudan in Verlegenheit und mit ihren militärischen Kräften
festgehalten sah, die Notwendigkeit, bei der Bestimmung seiner Grenze gegen das
Afghancnlcmd die ethnographischen Verhältnisse mehr oder doch mindestens eben¬
sosehr zu berücksichtigen als die topographischen, d. h. das Turkmcnenland soweit
ausgedehnt anzunehmen, als Turkmenen wohnen und für ihre Herden Weide-
grüude haben müssen. Über die Grundsätze, nach denen hierbei zu Verfahren sei,
wolle man sich, so schlug das Petersburger Kabinet dem Londoner vor, ins
Einvernehmen zu setzen bemühen, bevor man zur Grenzregulirung im einzelnen
schreite. Das Kabinet Gladstone verfuhr diesen Vorschlägen des Herrn von
Giers gegenüber ungefähr wie Deutschland gegenüber in der Frage wegen Angra
Peauena; es ließ erst lange Zeit auf Antwort warten und gab dann eine
zweideutige Antwort, welche, da sie in Petersburg ungenügend befunden wurde,
zu Verhandlungen führte. Schließlich aber entsandte es, während jene noch
schwebten, von Quellens aus seine Grenzkommission nach dem streitigen Gebiete,
und zwar in Begleitung einer Eskorte von etwa tausend Soldaten, also eines
kleinen Heeres, wozu, wenn man nicht geheime Absichten hatte, dans avvouiM»
schaffen, den Russen das Prävenire spielen wollte, kaum Veranlassung vorlag.
Rußland säumte nicht. Gegenmaßregeln zu treffen, zumal da auch der Emir
Abdurrachman von Afghanistan, von England angeregt, Truppen zur Besetzung
von Punkten abgeschickt hatte, die er für sein Reich in Anspruch nahm, die
man aber in Petersburg als zur Interessensphäre Rußlands gehörig betrachten
durfte, weil sie von Turkmenen bewohnt waren oder zur Existenz von solchen
notwendig erschienen. Die Russen handelten hierbei rascher als die Engländer,
die zu ihrer Verwunderung, als sie am Herirudflusse eintrafen, das dort ge¬
legene Pul i Chatun schon von Kosaken besetzt fanden und bald nachher erfuhren,
daß russische Truppen auch schon in dem südlicher liegenden Zalsikar, am Passe
von Ak Robat und in dem nordöstlich davon befindlichen Orte Sari Jasi,
zwischen Iman Bachsch und Penjdeh Posto gefaßt hatten. Die Besetzung dieser
Punkte war den Russen, wie gesagt, schon aus dem Grunde nicht zu verargen,
weil eine viel stärkere Abteilung britischer Truppen, angeblich als Bedeckung der
Grenzkommission, in der streitigen Grenzzone zu erscheinen im Begriffe war und
kurz nachher wirklich erschien, und weil zu gleicher Zeit die Afghanen Penjdeh
vkkupirt hatten. Das Vorgehen Rußlands war aber auch deshalb zu recht¬
fertigen, weil eine bestimmte Grenzlinie nicht existirte, sondern erst vereinbart
werden sollte. Auf beiden Seiten hatte man das desM xoWiäsrckizs vor Augen.
Daß die von den Russen okkupirten Stellungen in der Richtung nach Herat hin
liegen, ist richtig, wird aber durch geographische Verhältnisse bedingt, auf die
Nußland keinen Einfluß auszuüben vermag. Auf eine Besitznahme Herats war
es dabei für jetzt nicht abgesehen, sondern zunächst nur auf die Wahrung eines
russischen Interesses gegenüber dem Versuche, ein fremdes vor gütlicher Ver¬
einbarung geltend zu machen; auf die rechtzeitige Besetzung eines Gebietes, das,
wie es scheint, naturgemäß in die Interessen- und Aktionssphäre Rußlands, wie
sie durch frühere Vereinbarung in allgemeinen Umrissen festgestellt worden ist,
einbezogen werden muß.
Obgleich es schwierig, fast unmöglich ist, in dieser nächsten Frage der Be¬
ziehungen Rußlands und Englands in Mittelasien mit Bestimmtheit einen gün¬
stigen Ausgang zu prophezeien, da noch immer Zwischenfälle eintreten könne»,
die einen solchen verhindern, so darf man doch wohl hoffen, daß sich, nachdem
die Gefahr eines Konfliktes nunmehr für die nächste Zeit beseitigt ist, im Verlaufe
weiterer Verhandlungen eine Basis finden lassen wird, die den Interessen Ru߬
lands wie denen Englands entspricht, und daß daraufhin die afghanische Nord¬
westgrenze regulirt werden wird, ohne zu neuer Befürchtung eines baldigen Zu¬
sammenstoßes der beiden Großmächte Anlaß zu geben. Auf wie lange, ist freilich
eine ganz andre Sache, und rasch wird die afghanische Grenzfrage wahrschein¬
lich auch uicht gelöst werden. Rußland aber hat hier keine Eile, es kann
warten; denn seine Stellung ist im ganzen sicherer als die Stellung Englands.
Betrachten wir die Angelegenheit und namentlich das Vorgehen der Russen
an der Grenze Afghanistans jetzt etwas genauer. Was die bisherigen Unter¬
handlungen in London betrifft, so haben wir schon bemerkt, daß die Ansichten
über die Grenzlinie zwischen Turkestan und Afghanistan dabei auseinander-
gingen. Die russische Regierung glaubt, daß dieselbe von einem etwa zwei deutsche
Meile» südlich von der Stadt Zalfikcir gelegenen Punkte am Herirndflusfc
(der persischen Grenze) genau nach Osten zu laufen, Chamnn i Bald zu durch¬
schneiden, dann jenseits des Kaschk, eines Nebenflusses des Margab, nach Nord-
osten bis zu einer Stelle vier Meilen südlich von Peujdeh weiter zu gehen und
zuletzt wieder nordöstlich bis nach Kodscha Sales zu laufen habe. Die Russen
haben bei dieser Ansicht den Vorteil, sich auf eine Karte beziehen zu können,
welche die östlichen Provinzen Persiens und die an Merw grenzenden Gebiete
Afghanistans und Mittelasiens darstellt und — englischen Ursprungs ist, indem
sie im Jahre 1872 auf Anordnung des Amtes für Indien begonnen und zwei
Jahre später von demselben veröffentlicht wurde. Diese Karte, nach den besten
Quellen gearbeitet, zieht die Scheidelinie zwischen Afghanistan und Turkmenien,
wie soeben angegeben, und somit erheblich südlicher als die Herren Indiens sie
jetzt haben »vollen. Sie teilt den Turkmenen von Merw nud folglich den Russen,
die deren Gebiet seitdem einverleibt haben, die Positionen zu, um welche sich der
jetzige Streit dreht. Andrer Meinung war man anfänglich und ist man im
Grunde wohl uoch jetzt auf englischer Seite. Sir Peter Lumsden hielt dafür,
daß die Herrschaft des Emirs Abdnrrachman sich viel weiter nach Norden, näm¬
lich bis zu einer Linie erstrecke, die von Sarachs am Herirud östlich über Jrolan
nach Imam Bachsch und dann nordöstlich nach Kodscha Sales zu ziehen sei.
Als die Verhandlungen zur Vermittlung zwischen diesen verschiedenen Auf¬
fassungen der Besitzsphäre der afghanischen Fürsten begonnen hatten, war der
beste Weg für beide Teile, es zuvörderst beim Statusanv zu lassen, also
weder über die von den Russen für richtig gehaltene Linie südlich, noch über
die voll England für Afghanistan beanspruchte Grenze nördlich in die streitige
Zone vorzudringen. Statt dessen rückten im Juli vorigen Jahres afghanische
Truppen von Baka Margab in jene Zone ein lind besetzten Pcnjdeh. Die
Russen protestirten gegen diese Einschreituug, und da ihr Einspruch unbeachtet
blieb und die Turkmenen von Sarachs und Pul i Chatnn einen Einbruch der
Afghanen in ihre dortigen Städte, Dörfer und Lager mit obligater Ausplün-
derung befürchteten und sich zu schleuniger Flucht rüsteten, gab der Befehls¬
haber der in und bei Sarachs zusammengezogenen russischen Truppen, General
Komaroff, seinen Vorposten Befehl, zuvörderst am Herirud weiter nach Süden
zu gehen und Pul i Chatuu zu okkupiren. Darauf unternahmen die Afghanen
von Penjdch im Januar 1885 eine fernere Bewegung nach Norden bis in die
Gegend von Ak Tepe, und so sahen sich die Russen genötigt, anch in diesem
Teile des streitigen Gebietes (am Margab) weiter nach Süden zu marschiren
und zur Besetzung von Sari Jasi zu schreiten, um dieselbe Zeit rückten sie
auch im Westen vor und nahmen in Zalfikar und Ak Rabat Stellung, welcher
letztere Ort nicht fern von einem Passe im Varchutgebirge liegt, wo die Straße
uach Herat diese» Bergzug, dessen höchste Spitzen 3000 bis 5000 Fuß
über dem Spiegel des Kaspischen Meeres liegen sollen, überschreitet, und an
dessen Nvrdfuß Rußland, wie Lessart geäußert hat, jetzt die Grenze zwischen
Turkestan und Afghanistan gezogen zu sehen wünscht. In England verlangte
man auf die Nachricht vom Vorrücken Komaroffs nach den genannten Punkten
anfangs Zurückziehung der russischen Truppen, besann sich aber, als man in
Petersburg darauf nicht eingehen zu können erklärte und auf jene englische
Karte von 1874 hinwies, eines bessern und stand von seinem Verlangen ab,
sodaß die Russen vorläufig im Osten wie im Südwesten die neuerdings von
ihnen eingenommenen Positionen noch jetzt behaupten und sich nur verpflichtet
haben, nicht weiter vorzurücken und jeden Zusammenstoß mit den Leuten des
Emirs von Afghanistan zu vermeiden, die ihre Stellungen ebenfalls festhalten.
Es ist hier die Frage am Orte, wie England dazu kommt, den Emir der
Afghanen gegen Augriffe Rußlands zu verteidigen. In der Londoner Presse
ist behauptet worden, man sei dazu nicht bloß mit Rücksicht auf die Sicherheit
Indiens, sondern auch vertragsmäßig verpflichtet. Das letztere aber läßt sich
bestreikn, wenigstens stimmt es nicht vollständig zu den Dokumenten, welche
dem Parlamente in betreff der Sache vorgelegt worden sind. Nach dem ersten
Kriege der Engländer mit dem Emir schir Ali kam es zu einem Frieden, der
am 26. Mai 1879 in Gandamcck unterzeichnet wurde. Im dritten Artikel des
betreffenden Vertrages heißt es: „Seine Hoheit der Emir von Afghanistan er¬
klärt sich damit einverstanden, seinen Verkehr mit fremden Staaten nach den
Ratschlägen und Wünschen der britischen Regierung einzurichten. Seine Hoheit
wird keine Verträge mit fremden Staaten abschließen und gegen keinen derselben
zu den Waffen greifen, wenn die britische Negierung nicht vorher ihre Ein¬
willigung dazu gegeben hat. Unter dieser Bedingung wird dieselbe ihr» gegen
jeden Angriff von außen her mit Geld, Waffen oder Truppen beistehen, die
dann in der Weise zu verwenden sind, welche die britische Regierung für zweck¬
entsprechend betrachtet. Sollten irgendeinmal britische Truppen zur Abwehr
eines fremden Angriffs in Afghanistan einrücken, so werden sie, sobald der Zweck,
zu welchem sie gekommen sind, erreicht ist, in ihre Garnisonen auf britischein
Gebiete zurückkehren." Bald darauf brach abermals Krieg zwischen England
und Afghanistan aus, der jenen Vertrag selbstverständlich nngiltig machte. Die
Afghanen zogen den kürzern, schir Ali floh und starb auf der Flucht,
sein Sohn Jakob Chan wurde in Indien internirt, und an seiner Statt
bestieg Abdurrachman den Thron, den er noch jetzt inne hat. Da der
Vertrag von Gandamcck nicht mehr galt und der neue Emir zu wissen
wünschte, wie die britische Negierung über seine Stellung gegenüber auswärtigen
Mächten, zunächst natürlich Rußland und Persien, den Nachbarn, denke, so bat
er deu Vizekönig von Indien um Auskunft über diesen Punkt. Er bekam darauf
im Namen des Vizekönigs von dessen Vertreter in Kabul folgende schriftliche
Antwort: „Da die englische Regierung keiner auswärtigen Regierung das Recht
zuerkennt, sich in Kabul einzumischen, und da Nußland und Persien verpflichtet
sind Ersteres durch das 1873 zwischen Lord Granville und Fürst Gvrtschakoff
abgeschlossene Übereinkommens, sich jedes Eingreifens in die Angelegenheiten
Afghanistans zu enthalten, so liegt es auf der Hand, daß Eure Hoheit keine
politischen Beziehungen zu irgendeiner auswärtigen Macht als der britischen
Regierung unterhcilteu kann. In dem Falle, daß eine fremde Macht es unter¬
nähme, sich in Afghanistan einzumischen, und daß eine derartige Einmischung
zu einem unprovozirten Angriff auf die Besitzungen Eurer Hoheit führte, würde
die britische Negierung bereit sein, Ihnen in dem Umfang und in der Weise,
wie es ihr zur Abwehr dieses Angriffs notwendig erscheint, beizustehen, immer
unter der Voraussetzung, daß Eure Hoheit hinsichtlich Ihrer auswärtigen Be¬
ziehungen dem Rate der britischen Regierung unbedingt Folge leistet." Diese
Erklärung wurde, als der Emir später über seine Lage gegenüber dem Nachbar
im Norden wieder Beunruhigung empfand, in einem Schreiben vom Juni 1883
wiederholt. Ein Vertrag aber, der England zum Schutze Afghanistans gegen
auswärtige Aggression verpflichtet hätte, ist seit 1879 niemals abgeschlossen
worden. Es liegt in dieser Hinsicht nichts vor, als jene einseitige Erklärung
des Vizekönigs, deren Abfassung, wie man sieht, den Entschlüssen der englischen
Negierung einen ziemlich weiten Spielraum überläßt.
Was Herat angeht, so sind wir überzeugt, daß Nußland jetzt nicht die
Absicht hat, sich seiner zu bemächtigen, ebenso fest aber sind wir überzeugt, daß
es nur die Gelegenheit dazu abwartet, und daß diese Gelegenheit gesucht und
in nicht gar langer Zeit auch gefunden werden wird. Dieselbe würde gegeben
sein, wenn die Gerüchte, daß England beabsichtigte, Herat zu besetzen, sich be¬
stätigten sollten, was wir für die nächste Zeit noch nicht fürchten. Jene
Gerüchte haben in dein persischen Blatte „Scheins" (die Sonne) Ausdruck
für die westliche Welt gefunden. Es heißt da unter anderm: „Infolge eines
Befehls des Emirs Abdnrrachman wird die alte Heerstraße von Herat nach
Pcschnwer, die über Kabul führt, der sogenannte Köuigsweg, in aller Eile und
Beschleunigung ausgebessert, und eine Erneuerung der hölzernen Brücken der¬
selben ist im Gange. Man erzählt, nächstens werde eine Abteilung anglo-
indischer Truppen auf derselben hier (in Herat) eintreffen, was wohl nur eine
Verwechslung von afghanischen Truppen, die zur Verstärkung der Garnison
Herats abmarschirt sein mögen, mit anglo-indischen Streitkräften sein wird... Die
Heratis, welche gleich den Turkmenen Sunniten sind, aber ihrer Nationalität
und Sprache nach suur in der Mehrzahl zu den Persern gehören, sind ebenso¬
wenig den Engländern als den Russen zugeneigt. Sie wollen auch nichts
von dem beabsichtigte» Bau einer Eisenbahn von Maro nach ihrer Stadt
hören, weil die Russen dann die letztere und die ganze Umgegend mit ihren
Waaren überschwemmen würden, was unsern Kaufleuten, welche sich jetzt fast
ausschließlich von Indien her mit Vorräten versorgen, sehr empfindlichen
Schaden zufügen würde. Schon ist der Handel zwischen Herat und Merw,
der noch vor zwei Jahren blühte, seit der Besitznahme des letzteren durch
Nußland beinahe ans nichts herabgegangen."
Herat ist der Mittelpunkt des wirtschaftlichen und kommerziellen Verkehrs
mit Chorassan und dem Gebiete der Turkmenen. Wenn ferner den Engländer«?
gestattet würde, sich in Herat festzusetzen, so würde die Stellung der Russen in
den transkaspischen Ländern eine schwierige werden, und so kann die russische
Negierung zwar sonst mancherlei Zugeständnisse machen, in dieser Frage aber
nicht; sie kann auch in eine etwaige Verstärkung der jetzigen afghanischen
Garnison der Stadt durch Truppen des Emirs Abdnrrachman nicht willigen;
denn dieser handelt im Interesse und nach dem Rate Englands, seines politischen
Vormundes.
Während wir diese Betrachtung nochmals überblicken, treffen Mitteilungen
der offiziösen v-ni^ «co8 ein, ans denen man schließen darf, daß die afgha¬
nische „Episode" noch nicht ausgespielt hat. Es heißt da, das „bloß zeit¬
weilige Abkommen," nach welchem das Vorrücken der russischen Vorposten ein¬
gestellt werden sollte, berühre durchaus nicht die Hauptfrage, die in der Forderung
Englands gipfele, daß Nußland alle Stellungen zwischen Margab und Herirud
aufgebe, welche es seit der Ernennung der zur Regelung der afghanischen Nord-
westgrenze abgeordneten Kommission eingenommen habe. Die eigentliche eng¬
lische Note, die sich mit der Streitfrage sehr eingehend beschäftigt, soll in sehr
festem Ton abgefaßt und erst in diesen letzten Tagen nach Petersburg abge¬
gangen sein, sodaß sie noch nicht beantwortet sein kann.
Schließlich die Bemerkung, daß Deutschland in dieser Frage keinerlei Anlaß
zur Einmischung hat, da unser Interesse von ihr nicht berührt wird, auch nicht
berührt werden kann. Man wird in Berlin vermutlich eine Meinung aus-
spreche», wenn man darum angegangen wird, vielleicht auch einen Rat erteilen,
wenn eine der beiden Parteien einen solchen verlangt. Jrgendetwas weiteres
zu gewähren, verböte bis auf weiteres unser Interesse und unsre Stellung, die
zu beiden Parteien eine freundschaftliche ist, wenn auch die englische Freundschaft
leichter wiegen mag als die russische.
Und wieder schwankt die ernste Wage,
Der alte Kampf belebt sich neu —
u diese Worte des Dichters fühlt mau sich unwillkürlich erinnert,
wenn man beobachtet, wie in unserm Tagen aufs neue mit
steigendem Eifer und oft anch steigender Leidenschaft dieselbe
Frage verhandelt wird, die vor dreinndeinemhalbcn Jahrhundert
die Nation bewegte und in zwei feindliche Lager schied, die
Frage: Ist die Reformation nicht richtiger eine Deformation der Kirche zu
nennen? Ist das Werk, das Luther begann, aus Gott gethan oder aus dem
Satan? Ist es zum Wohle der deutschen Nation unternommen worden oder
zu deren Verderben?
Es ist nicht unsre Absicht, auf diese Streitfrage hier einzugehen, die für
uns freilich keine mehr ist. Wir wollen vielmehr in den Grenzen objektivster
Betrachtung bleiben und den Blick lediglich auf den Mann richten, der damals
am Steuerruder der Nation stand, und die Lage klar machen, in welcher sich
beide, Volk und Kaiser, durch ihre Verbindung befanden.
Gewiß entsprang die Gcihrung, welche am Anfange des sechzehnten Jahr¬
hunderts in unserm Volke herrschte, nicht lediglich religiösen Ursachen. Sie
hatte vielmehr ebensowohl soziale und politische Gründe. Der kolossale Umschwung,
den die Folgen der Conquista in den wirtschaftlichen Verhältnissen Westeuropas
hervorzubringen anfingen, die gleichzeitige Preissteigerung, welche aus der Über¬
produktion von Edelmetallen aus deutsche» Bergwerken sich entwickelte: sie
erzeugte» in weiten Kreisen, wo man sich den veränderten Dingen nicht so schnell
anzupassen vermochte, erhebliche Mißstimmung; der Adel, welcher mit den
überlieferten Einkünften aus seinen Rechten an Grund und Boden nicht mehr
auskam und doch seinen LtMäurä ok Ms nicht unter das Maß der kauf¬
männischen Aristokratie hinabgedrückt sehen wollte, setzte die Schraube da an,
wo er es allein konnte, beim Bauern, und dieser, der auch „an seidnen Kleidern
und goldnen Ketten" Gefallen fand, wollte und konnte gewiß oft auch uicht
mehr Lasten tragen; man lehnte sich ans gegen die Bethätigung einer Ge¬
sinnung, die in dem Worte gipfelte: Der Bauer ist an Ochsen Statt, nur daß
er keine Hörner hat. Auf politischem Gebiete mühten sich Kaiser und Reich
seit Jahrzehnten ub, etwas haltbares zu schaffen, eine staatliche und militärische
Ordnung zu gründen, die den Landfrieden im Innern und den Schutz der
Reichsgrenzen nach außen verbürgen sollte: es war aber nicht gelungen, etwas
andres zustande zu bringen, als Entwürfe ans dem Papier.
Aber alles dies zugegeben: das Ethos der Zeit war doch religiöser Art.
Man lechzte vor allem nach einer Verbesserung der Kirche, weniger ihrer Lehre,
die sich leidlich korrekt erhielt, als ihrer Praxis. Das Gefühl, daß es so uicht
gut stehe, wie die Dinge lagen, war allgemein, und machte sich in den wunder¬
lichsten Formen Luft. Endlos war die Zahl der Prozessionen an allen Orten,
schwunghaft der Handel mit Reliquien, deren Besitz Not und Elend des Leibes
und der Seele bannen sollte: plötzlich konnte die Leute die Sucht anwandeln,
um ihres Seelenheils willen etwa nach Monte Gargano in Apulien zum
heiligen Michael oder nach den Gnadenorten der Normandie sich aufzumachen;
1456 zogen ans Augsburg 76 Arme und 356 „Hcibige," unter ihnen zwölf
Pfaffen, „gegen die Türken." Wie oft ist das Beispiel des Kurfürsten Friedrichs
des Weisen angeführt worden, der unter andern die Bruderschaft der elftausend
Jungfrauen gründen half, deren Genossen „sich gegenseitig in den Himmel
beten" wollten! Alles dies, so sonderbar es ist, bezeugt doch die Thatsache eines
ungestillten Sehnens, eines rastlosen Suchens nach dem Heil. Und nun trat
ein Mann auf, der die verschütteten Quellen dieses Heils ausgrub, der furchtlos
der Kirche den Fehdehandschuh hinwarf, als man ihm verbieten wollte, Kritik
an deren mißbräuchlicher Praxis zu üben; ein Manu, der die Allgewalt der
Hierarchie anfocht, der sich ihr gegenüber auf das Wort Gottes, auf die Lehre
der Apostel, auf das Beispiel der alten Christen berief. Er machte ungeheuern
Eindruck überall, bei Hoch und Niedrig, bei Gelehrten und Umgekehrten, bei Edel¬
mann, Bürger und Bauer: die Nation, das bezeugen selbst die Gegner, war sein.
In dieser Lage wurden die Deutschen in die Notwendigkeit versetzt, sich
nach Maximilians Tode, der im Januar 1519 erfolgte, ein neues Haupt zu
wählen. Es ist bekannt, wie hart bestritten die Wahl war, wie sich König Franz
der Erste von Frankreich um die deutsche Krone bemühte, er, damals von:
frischen Glänze des Sieges von Marignanv umstrahlt, von dem Selbstgefühl
getragen, „daß er alle andern Fürsten in Europa soweit übertraf, als die Sonne
die andern Gestirne überstrahlt." Sein Gegner aber war der junge — erst
neunzehnjährige — „katholische König" Karl der Erste von Spanien, der
Enkel des verstorbenen Kaisers Maximilians des Ersten; ihm wandten sich alle
nationalen Sympathien und alle Gefühle dynastischer Anhänglichkeit zu; am
28. Juni 1519 fiel die Wahl aller Kurfürsten in der Bartholomäuskirche zu
Frankfurt auf ihn; selbst Richard Greiffenklcm, Erzbischof von Trier, hatte die
Sache des Welschen verlassen: „es war bedenklich, schreibt der Engländer Pace
schon im Anfang Juni aus Köln, auch nur ein gutes Wort von einem Franzosen
zu reden"; er fand „das ganze Volk bereit, all sein Gut und Blut gegen den
Franzosen aufzuwenden, wenn er gewählt wird."
Aber es waren nicht bloß die nationalen Empfindungen, nicht bloß die
Stimme altgewohnter Anhänglichkeit an das Haus Habsburg, welche Karl den
Ersten, nach deutscher Rechnung Karl den Fünften, so populär in Deutschland
machten. Was man von ihm erwartete, das lehren die Worte Luthers, der den
jungen Kaiser als „das junge edle Blut" begrüßte; das lehrt das fast
schwärmerische Angebot Ulrichs von Hütten: „Tag und Nacht will ich dir dienen
ohne Lohn; manchen stolzen Helden will ich dir aufwecken; du sollst der Haupt¬
mann sein, Anfänger und Vollender, es fehlt nur an deinem Gebot." Solche
Hoffnungen machten sich umso entschiedner geltend, als jedermann wußte, daß
der Papst Leo der Zehnte trotz aller dringlichen Gründe, die Karl den Fünften
der Kurie hätten empfehlen sollen, sich doch für Franz den Ersten entschieden,
für ihn bis hart vor der Entscheidung gearbeitet hatte. Niemand konnte mit
mehr Nachdruck und Aussicht auf Erfolg der steigenden türkischen Flut einen
Damm entgegenstellen als der katholische König, welcher Neapel und Sizilien
beherrschte, welcher nach Nordafrika übergriff: von niemand ließ sich auch
besserer Wille dazu voraussetzen. Aber gerade der König von Neapel, dessen
Grenzpfähle so nahe bei der ewigen Stadt standen, sollte nicht Kaiser werden,
damit er nicht allzumächtig werde und den Papst in Rom erdrücke; die Rücksicht
auf die weltliche Macht, nebenbei mediceische Hausinteressen hatten in Leo dem
Zehnten die Stimme verstummen lassen, die sich im Herzen des Oberhirten der
Gläubigen Hütte damals vor allem, die sich Hütte allein regen sollen. Der Papst
war unterlegen, sein Kandidat war gänzlich zurückgewiesen worden; was war
natürlicher, als daß man in Deutschland annahm, der neue Kaiser werde seine
Rache nehmen, wo er es so trefflich konnte, auf kirchlichem Gebiete, er werde auf
die Begünstigung Franz' des Ersten mit der Begünstigung Luthers antworten.
Ja, wie wir aus den Wormser Verhandlungen wissen, man hoffte Luther zu
einem räsonnabeln, politisch überlegten Vorgehen zu bringen; man hoffte ihn
in die nationale Phalanx einzureihen, welche der Kurie 1518 die „hundert
Gravamina der alemannischen Nation" entgegengeschleudert hatte; man hoffte
den regellosen Freischärler in einen disziplinirten Soldaten zu verwandeln;
weshalb sollte es nicht gelingen, nach allem vorausgegangenen Karl den Fünften
zum Alexander dieser antikurialen Phalanx zu gewinnen?
So waren die Hoffnungen vieler im Sommer 1519. Je jünger der König
noch war, dessen wohl 1517 gefertigtes Bild in der Pariser Nationalbibliothek
eher auf einen Dreizehnjährigen, als auf einen siebzehnjährigen schließen läßt,*)
desto idealer angelegt, desto begeisterungsfähiger mußte er ja noch sein, desto
offener, desto wagemutiger für religiöse Reform. Nicht zwei Jahre vergingen,
und die Optimisten waren gründlich enttäuscht.
Wie war dies zugegangen?
Da ist nun erstlich sicher, daß von vornherein ein gewaltiger Fehler der
Rechnung darin steckte, daß man Karl überhaupt eine innerliche Verwandtschaft
mit den Ideen zutraute, welche damals unsre Nation in ihren tiefsten Tiefen
aufwühlten. „In Deutschland, bezeugt der Legat Alecmder, schrieen Bäume und
Steine nach Luther"; das Schisma unter Heinrich dem Vierten gegen Gregor
den Siebenten erschien ihm, wie wir aus seinen 1884 vollständiger als seither
herausgegebenen Berichten wissen,**) als ein Kinderspiel gegen die jetzige Be¬
wegung; in Worms wollte niemand dem Legaten auch nur Quartier geben, so
viel Geld er auch bot; unbezahlbar ist die Geschichte von dem Franziskaner,
der in Ulm solange keine Zuhörer finden konnte, als er orthodox predigte, aber
alsbald ans der ganzen Gegend Zulauf bekam, als er anfing, Luthers Sätze
zu verteidigen; selbst Herzog Georg von Sachsen hat mit voller Energie die
zahllosen von Rom aus geübten Erpressungen getadelt und eine durchgreifende
Reform der Kirche gefordert; gerade er, welcher gegen Luther aufgestanden war,
ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß antilutherisch noch lange nicht papistisch
im Sinne des damaligen „romanistischen" Wesens war.
Aber ganz anders lag die Sache bei Karl dem Fünften. Sein Erzieher
war jener Bischof Hadrian von Utrecht gewesen, der später als Papst Hadrian
der Sechste so eifrig bemüht war, die Sache der kirchlichen Reform mit den
Mitteln der Hierarchie, mit absoluter Ausstoßung aller Ketzereien und aller
Ketzer zu betreiben. Was wir hiernach schon vermuten dürfen, das wird durch
alle Berichte Aleanders ans Worms. an deren Ehrlichkeit zu zweifeln nicht der
geringste Grund vorliegt, bis zum Übermaß bestätigt: Karl der Fünfte war so
gesinnt, wie er es am Abend jenes denkwürdigen 18. April 1521 aussprach,
Luther sollte ihn nicht zum Ketzer machen. Alecmder, der den Eindruck des „großen
Hciresiarchen" auf so viele Mitglieder des Reichstags wahrnahm, fühlte sich
ganz aufgerichtet durch das Benehmen dieses „wahrhaft katholischen" Fürsten;
was an religiösem Ernst und Empfinden in Karl dem Fünften lebte, das trieb
ihn eher von Luther hinweg als zu Luther hin. „Kaiserliche Majestät, schreibt
Aleander am 18. Februar, ist guten Mutes und standhaft; so sollten die andern
sein." Alles faßt Aleander in die Worte zusammen: Karl sei „die beste Person
der Welt," d. h. der dem römischen Stuhle ergebenste Mann.
Zu diesem Moment aber trat ein zweites. Wenn der Kaiser von vorn¬
herein für Luther absolut kein Verständnis hatte, wenn er sich eine Reform der
Kirche nur auf dem Boden der Kirche denken konnte, gemacht durch die offiziellen
Vertreter der Kirche, so lag überhaupt der Schwerpunkt seines Wesens garnicht
da, wo er bei den damaligen Deutschen lag, nämlich nicht im religiösen Leben.
Er war Politiker durch und durch, und wenn er es 1621 ja noch nicht völlig
war, so wurde er es doch bereits, wurde es schnell genug durch die Schule der
Ereignisse selbst. Er war einer der größten politischen Rechner, die es je
gegeben hat, kaltblütig, umsichtig; das Herz ging ihm nicht mit dem Verstände
durch; er eröffnete keine neuen Vahneu, sein Ideal war das mittelalterliche, die
Herrschaft des Kaisers über die ganze Christenheit, und dieses Ziel suchte er
zu erreichen, wie es nur immer möglich war; in ihm ging alles Pathos seiner
Seele auf. Nichts ist lehrreicher hierfür als jene Denkwürdigkeiten, welche er 1550
den Rhein herausfahrend zu diktiren begann, in Augsburg vollendete und dann
1552, nachdem er sie dem Vergil gleich hatte verbrennen wollen, an seinen
Sohn Don Philipp nach Spanien sandte; wir besitzen sie seit 1862 in französischer
Übersetzung durch Kervyn de Lettenhove, welcher eine portugiesische Übertragung
vom Jahre 1620 in Paris gefunden hat; das spanische Original ist noch nicht
entdeckt worden. Man schlägt begierig die Seite auf, wo Karl vou dem Wormser
Tag erzählt: man erwartet, daß er da seines Zusammentreffens mit Luther
ausführlicher gedenken werde, von dessen Persönlichkeit doch sein eigner Lebens¬
gang so entschieden beeinflußt worden ist; wie ist man enttäuscht, die fast nichts¬
sagenden Worte zu lesen (S. 15): II t-lire xröiniörö «MW » ^Voriris. L<z tut
ig. proniiöro lois czri'it hö roman su ^llerugAuv se sur 1e L-Iriu. Oans es temxs
vmnnrvuocMirt g, pullulvr los llsrösios as I^utuvr vn ^IlöNMMö, et Jos ecuu-
inuui<kaav8 ein IZiZMMö. Kein Wort von dem, wenn auch abstoßenden Eindrucke,
den Luther auf ihn gemacht hatte; dafür die lehrreiche Zusammenstellung mit
der Erhebung der spanischen Städte. Die lutherische Sache interessirte den
Kaiser nur insoweit, als sie politische Bedeutung gewonnen hatte; sie erschien
ihm als eine Bewegung, welche gegen ihn gerichtet war, wie der Aufstand der
Communcros, nichts weiter. Genau ebenso verfährt der Kaiser bei der Erzählung
des Augsburger Reichstages vom Jahre 1530 (S. 28): er redet lediglich von
den Beschlüssen über den Türkenkrieg, von der Wahl „des Königs, seines
Bruders, zum König der Römer": kein Wort von der Augustana, der Konstitution,
den langen Verhandlungen über einen Ausgleich; erst beim Jahre 1532, bei
dem Berichte über den Aumcirsch der Türken, findet sich dann die Notiz (S. 31):
On suspsuÄait äono Jos allÄrös et<z reli^ion, xaroe- ^no 1s tsinps iQÄQ<zMit,
se on iss Ig-issg. äg.ut 1'Le.s.t, 0ü gllss hö t,rcmvg,ihre. So steht es überall: beim
schmalkaldischen Kriege bezeichnet der Kaiser (S, 129) das als seinen festen
Entschluß: rohem', mort on vivMt, Eruporsur en. L.11«zur^us. Gewiß war dieser
Krieg in gewissem Sinne einer sür die „deutsche Libertät," so wie man dieses
Wort verstand, einer für die Fortdauer des Partikularismus und gegen die
Zentralgewalt; aber es heißt das Wesen der Dinge doch verkennen, wenn der
Kaiser der religiösen Beweggründe dabei garnicht gedenkt; es galt doch Raum
zu gewinnen oder zu erhalten für die neue deutsche Kirchenform; es galt die
Abwehr der „Weltkirche," die Bewahrung des nationalen religiösen Lebens.
Eben hier aber kommen wir ans den dritten, den entscheidendsten Puukt.
Der Kaiser wurde zu einer feindseligen Haltung gegen die lutherische Sache
gezwungen durch die Grundbedingungen seiner ganzen Existenz. Er war eben
nicht bloß König der Deutschen, der darnach ausschließlich fragen durfte, was
die Deutschen wünschten, was bei ihnen der überwiegenden Stimmung entsprach;
er nahm eine europäische Stellung ein. So gewiß er „lebendig oder tot Kaiser
in Deutschland bleiben" wollte, so gewiß wollte er Flandern, wollte er Spanien,
wollte er Neapel und Sizilien festhalten. Vor allein war Spanien die Grundlage
seiner Macht. Mit dem Golde Spaniens hatte er dem französischen Könige 1519
das Gegengewicht gehalten. In Spanien aber gab es, mindestens jetzt, mindestens
bei den leitenden Ständen, in religiöser Hinsicht kein Schwanken; mit offenem
Zischen hatten die spanischen Edelleute das Hinausgehen Luthers aus dem
Saale zu Worms begleitet, der Kampf gegen die Ketzer stand diesen Männern
durchaus auf derselben Linie mit dem gegen die Türken; als Karl 1529 nach
Italien sich aufmachte, um von da nach Deutschland zu gehen, boten ihm
1500 spanische Edelleute je tausend Dukaten für vier Jahre gegen die Ketzer an,
andre erklärten sich bereit, auf ihre Kosten ein Jahr lang eine Anzahl Soldaten
zu stellen. Wollte sich der Kaiser nicht zu diesen Leuten in unlösbaren Gegensatz
bringen, deren Hingabe er doch so dringend bedürfte, so konnte er nicht anders,
als stets im strengsten Wortsinne als „katholischer König" handeln. Er durfte
wohl dem Papste in weltlichen Fragen gegenübertreten, durfte ihn selbst be¬
kriegen, durfte sogar die Bistümer, wie er dies in Spanien und in Utrecht und
Lüttich that, zum königlichen Kcnmnergntc schlagen; aber eins durfte er nicht:
Pallirer mit der Ketzerei. In Italien aber war ihm der Papst als Inhaber
des Kirchenstaates unter Umständen ein lästiger Feind oder ein wertvoller Bundes¬
genosse. Er hat wohl 1527 nach dem 8g,Loo all Rora-i auch daran gedacht, den
Kirchenstaat einzuziehen; da dies denn doch nicht rätlich erschien, so empfahl es
sich mit dein Papste auszukommen.
Endlich aber weist Baumgarten mit Recht auch darauf hin, daß „dieser
mächtige Gebieter durch die innerste Natur seines Weltreiches unwiderstehlich
zur Wclttirche hingezogen wurde." Es war in der That nicht anders möglich,
als daß Karl der Fünfte, in dessen Reichen die Sonne nicht unterging, der
nach Aufrichtung einer kaiserlichen Hegemonie in Europa strebte, das vornehmste
Bindemittel seiner weitzerstreuten Länder in der Einheit des Glaubens sah.
Die Unterstützung nationaler Kirchenbildungen vertrug sich nicht mit dem weit¬
umfassenden spanischen System, dessen geistiger Vater nicht erst Philipp der
Zweite war, sondern Karl der Fünfte. Gelangte in Deutschland die Reformation
zum Siege, so ließ es sich nicht mehr im spanischen Geiste regieren. Entweder
mußten alle Länder, die er leiten wollte, protestantisch werden oder alle katholisch
bleiben; ein drittes gab es nicht. Da das erste schlechterdings undenkbar war,
so galt es alle Segel aufzuspannen, um das zweite Ziel zu erreichen.
Von diesem Gesichtspunkte aus aber muß man sagen: es gestaltete sich die
Lage unsrer Nation im zweiten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts geradezu
tragisch. Mit allen Fasern ihres Wesens strebte sie eine Erneuerung ihres
kirchlichen Lebens auf rein nationaler Grundlage zu erstreite», mit allen Fasern
seines Wesens setzte sich ihr erwähltes Oberhaupt diesem Streben entgegen. Nach
zwei Jahren schon war der Bruch zwischen der zweifellosen Mehrheit der
deutschen Nation und ihrem jungen Kuiser offenkundig; Hütten fing an, „sich
allmählich seines Vaterlandes zu schämen;" er, der nichts hatte als sein Schwert
und seine Feder, ließ dem Kaiser die Annahme des Jahrcssoldes aussagen, mit
dem man ihn an goldner Kette zu halten meinte. Eine Verbindung hatte die
deutsche Nation mit Karl dem Fünften geschlossen, die sich als eine unglückliche
Ehe, als ein ungeheurer Mißgriff erwies. Und doch war es ein Unding ge¬
wesen, wenn man 1519 an die Wahl des Kurfürsten von Sachsen oder an die
des Brandenburgers gedacht hatte. Es gab damals nur die Wahl zwischen dem
Franzosen und dem halb burgundischen, halb kaftiliauischen Habsburger. Wäre
aber die erste Wahl sicherlich verderblich gewesen, so war es die zweite nicht
minder; die religiöse Einheit unsers Volkes ist der Preis, den wir für die
Kaiserwahl von 1619 zu entrichten hatten; denn ohne Frage wäre es möglich
gewesen, diese Einheit durch Fortentwicklung der reformatorischen Bewegung
binnen kurzer Zeit zu vollenden. Der es verhindert hat, ist Karl der Fünfte
gewesen. Wohl begreift man, wie Luis d'Avila unter eine Büste Karls des
Fünften, die er zwischen Augustus und Antonius stellte, die Worte schreiben
konnte: „Karl der Fünfte. Dieser Name sagt genug." Uns Deutschen krampft
es vielleicht das Herz zusammen, daß die Dinge so gegangen sind, und doch
erstirbt uus jedes Wort der Anklage und des Tadels ans den Lippen, wenn
wir erwägen: dieser Kaiser konnte nicht anders handeln, als er gehandelt hat;
die bekannte Kritik Napoleons träfe nnr dann zu, wenn Karl der Fünfte lediglich
oder auch nur in erster Linie der Vertreter deutscher Interessen gewesen wäre.
Die furchtbarste, ja die einzig wirkliche Tragödie ist die, wo beide Teile in
ihrem Rechte sind, Kreon und Antigone, Hagen und Krimhild, wo das Schlacht¬
schwert, wo die Gewalt allein entscheiden kann, und der grelle Mißton des
Schlusses durch den Jubelschrei des Siegers nur verschärft wird. Darum ziemt
es uns, mit Dank vor dem Allerhöchsten uns zu neigen, der unserm Volke
endlich ein nationales Herrscherhaus beschieden hat, welches — fremden Interessen
niemals dienstbar — die Knochen auch uicht eines einzigen pommerschen Gre¬
nadiers für nichtdeutsche Zwecke opfern wird und ohne konfessionelle Befangenheit
beide unter seine schützenden Adlerfittige nimmt, Katholiken wie Protestanten.
s ist eine merkwürdige Thatsache, daß ein Mann, der innerhalb
der Fricdensgcschichte Preußens eine Wirksamkeit geübt hat wie
kaum ein andrer, bisher keinen Biographen gefunden hatte. Wir
meinen den Juristen Svarez. Jetzt endlich liegt uns ein Werk
vor, welches dieser geschichtlichen Anforderung gerecht wird. Und
es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß es einem gemeinrechtlichen Juristen
vorbehalten war, den: Schöpfer des preußischen Landrechts dieses biographische
Denkmal zu setzen. Allerdings hat Stölzel, der Verfasser dieses Werkes,")
wie dessen Widmung uns belehrt, die Anregung dazu vom preußischen Justiz¬
minister selbst empfangen. In der That konnte die Arbeit kaum in bessere
Hände gelegt werden. Mit einem namenlosen Fleiße ist aus Quellen aller Art
ein Lebensbild zusammengetragen, welches schon als ein lebendiges Stück Ge¬
schichte des vorigen Jahrhunderts im allgemeinen unser größtes Interesse in
Anspruch nimmt, in seiner Spezialität aber uns eine klare Anschauung davon
giebt, wie die großen Gesetzwerke des preußischen Staates, deren größtes bis
auf die heutige Stunde in Geltung ist, entstanden sind. Zum erstenmale tritt
hier der Zusammenhang des Wöllnerscheu Regiments, des Religionsedikts und
des dadurch veranlaßten Prozesses Schulz, sodann auch der Teilung Polens
mit dem Fortgang, der Sistirung und der endlichen Gesetzwcrdung des all¬
gemeinen Landrechts in klares Licht. In seiner trefflichen Darstellung und
seiner schönen Ausstattung wird das Werk auch nichtjuristischen Lesern viel
Freude machen.
Karl Göttlich Svarez — so schreibt er sich, nicht wie man jetzt gewöhn¬
lich ihn nennt, Suarez — wurde am 27. Februar 1746 zu Schweidnitz als
Sohn des dort ansässigen Ratsherrn und Advokaten Gottfried Svarez geboren.
Wir werden belehrt, daß der uns so spanisch klingende Name nur die ver¬
dorbene Latinisiruug des guten deutschen Namens „Schwarz" ist, und daß
die Voreltern des Mannes wahrscheinlich aus Vorpommern nach Schlesien ge¬
wandert waren. Seine Jugendzeit fiel in die schlimmen Jahre der schlesischen
Kriege, unter welchen auch seine Eltern schwer zu leiden hatten. Schon nach
vollendetem sechzehnten Jahre bezog der frühreife junge Mann die Universität
Frankfurt. Dort übte vor allen der Rechtslehrer Darjcs Einfluß auf ihn aus.
Wer kennt heute noch Darjes? Wir erfahren aber, daß es die Anschauungen
dieses Mannes sind, welche in den später von Svarez geschaffenen Gcsctzwerken
vielfach wiederklingen. Nach seiner Rückkehr in die schlesische Heimat lenkte Svarez
bald die Aufmerksamkeit des damaligen schlesischen Justizministers Carmer auf
sich. Dieser zog ihn, den zweiundzwanzigjührigen jungen Mann, an sich heran;
und nnn sehen wir ihn fast ein ganzes Menschenalter hindurch an der Seite
Carmcrs, gleichsam als dessen rechte Hand, in rastloser Thätigkeit fortarbeiten.
Freilich waren es anfangs keineswegs juristische Aufgaben, die ihm gestellt
wurden. Wir erblicken Svarez, den wir uns immer nur als den hervorragen¬
den Juristen denken, zunächst äußerst thätig bei Neugestaltung des Kreditwesens
in Schlesien, desgleichen des dortigen Schulwesens. Jahre hindurch waren dies
die Gegenstände, welche ihn beschäftigten. Indessen plante Carmer schon damals
eine Umgestaltung der Justiz, und zwar vor allem des bürgerlichen Verfahrens.
König Friedrichs Geist umfaßte auch diesen Gegenstand des öffentlichen Wohls
mit lebhaftem Interesse. Angeregt durch gewisse praktische Erfahrungen, war
bei Carmer der Gedanke lebendig geworden, daß die ganze Grundlage des da¬
maligen, allerdings jämmerlichen Prozesses, nämlich die Verhandlungsmaxime,
aufzugeben und die Offizialmaxime, eine freie selbstthätige Ermittlung der Wahr¬
heit durch den Richter, an die Stelle zu setzen sei. Bereits im Jahre 1774
hatte Carmer einen Entwurf in diesem Sinne angefertigt, ihn von Svarez
näher ausarbeiten lassen und denselben (1775) dem Könige vorgelegt. Der
damalige Großkanzler von Fürst vertrat aber gegenteilige Ansichten. Carmer
wurde nach Berlin berufen, wohin Svarez ihn begleitete. Eine in Gegenwart
des Königs zwischen Carmer und Fürst abgehaltene Konferenz führte vorerst
zu keinem Siege Carmers, und er kehrte nach Breslau zurück. Da trat im
Jahre 1779 der bekannte Arnoldsche Prozeß ein, dessen Entscheidung den
bittersten Zorn des großen Königs über die Handhabung der Justiz hervorrief.
Der Großkanzler Fürst ward entlassen, und Carmer trat an seine Stelle. Sehr
bald folgte ihm Svarez als erster Rat nach Berlin. Beide bezogen das näm¬
liche Haus als Dienstwohnung. Nun vollzog der König am 14. April 1780
eine auf die Justizreform bezügliche ausführliche Ordre im Sinne Carmers.
Sie bildete die Grundlage für die Schöpfung einer neuen Gerichtsordnung und
eines Gesetzbuches.
Zuerst wurde die Gerichtsordnung in Angriff genommen. Für diese lag
bereits der Entwurf von 1775 vor, der nur geringer Umarbeitung bedürfte.
Schon im Dezember 1780 konnte der vollendete Entwurf veröffentlicht werden.
Es wurde eine Gesetzkommission errichtet aus acht hervorragenden Juristen
(einschließlich Svarez). Dieser wurde der Entwurf zur Begutachtung überwiesen.
Später wurde derselbe auch wiederholt den Gerichten mitgeteilt, um Morio zu
stellen. Alle auf Grund solcher Verbesserungsvorschläge gebotenen Umarbei¬
tungen lagen in Svarez' Hand. So zog sich das Werk hin, bis es am
6. Juli 1793 als „Allgemeine Gerichtsordnung" ins Leben trat. Zur Er¬
gänzung desselben hatte Svarez auch noch eine Deposital- und eine Hypotheken¬
ordnung gearbeitet, deren Entwürfe schon im Jahre 1783 vollendet waren.
War die Gerichtsordnung in ihren Grundzügen dem Geiste Carmers ent¬
sprossen, so lag dagegen bei dem bürgerlichen Gesetzbuch die Arbeit in erster
Linie auf den Schultern von Svarez. Gleichwohl war man nicht abgeneigt,
weitere Kräfte zuzuziehen. Der Oberamtsrat Schlosser zu Emmendingen in
Baden, der Schwager Goethes, hatte im Jahre 1777 eine beachtnngswerte
Schrift über Verbesserung des bürgerlichen Rechtes in Deutschland veröffentlicht.
Er sprach sich darin mit Entschiedenheit gegen die gänzliche Beseitigung des
römischen Rechtes aus und bekämpfte die Möglichkeit, ein alles umfassendes
Gesetzbuch herzustellen. Bezüglich der Prozeßgesetzgebung vertrat er das Prinzip
möglichster Einfachheit. „Der bravsinnige Mann braucht nur eine ganz Plane
simple Prozeßform; das beste muß sein Herz und sein Sinn thun. Es geht
uns wie dem Götz von Berlichingen. In dem Kabinet kann man so wenig
nach dem Zettel arbeiten, als man im Felde darnach reiten kann. Je ängstlicher
eine Prozeßform ist, umsomehr giebt sie dem Chikancur Schlupfwinkel." Mit
diesem hervorragenden Manne knüpfte man nun Verhandlungen an wegen Teil¬
nahme an dem Gesetzwerkc. Er war anch in seinem Sinne dazu bereit und
machte mehrfache Vorschläge, nach welchen er an der Arbeit sich beteiligen
wollte; er wollte aber nicht nach Berlin kommen, sondern in seiner süddeutschen
Heimat verbleiben. Darauf wurden seine Vorschlüge abgelehnt. Ob deshalb,
weil er Berlin verschmähte, oder weil man seine Ansichten nicht billigte? Wer
kann es sagen. Jedenfalls war ihm Carmer später nicht hold. Denn er strich
ihn unter denjenigen Juristen, welchen die Entwürfe zur Begutachtung mitgeteilt
werden sollten. Wie anders aber würde vielleicht die gesamte deutsche Rechts¬
entwicklung sich gestaltet haben, wenn der Einfluß dieses Mannes auf die preu¬
ßischen Gesetzwerkc zur Geltung gekommen wäre!
Man sah sich nun nach einer andern geeigneten Hilfe um. Nach mehrfach
mißglückter Versuchen fand man eine solche in dem Assistenzrat (später Kammer¬
gerichtsrat und dann Professor) Klein, welcher ein ganzes Jahrzehnt hindurch
der treue Mitarbeiter von Svarez blieb. Da Klein gleichfalls ein Breslciuer
war, so bildeten die Gesetzesarbeiter inmitten der Hauptstadt eine Art schlesischer
Kolonie, welche von der Berliner Juristenwelt anfangs nicht mit großem Ver¬
trauen betrachtet wurde. Die Arbeitsteilung zwischen jenen Männern kann man
in der Art bezeichnen, daß Klein der Sammler, Svarez der eigentliche Arbeiter,
Carmer aber der Mann war, dessen Geist, Einsicht und Eifer das ganze
Unternehmen belebte. Kleinere Teile wurden auch von letzterem selbständig be¬
arbeitet oder umgearbeitet.
Die Grundsätze, nach welchen Svarez arbeitete, legte er gleich anfangs in
einem Promemoria nieder. Er verlangte nicht allein Deutlichkeit und Kürze,
sondern auch „Vollständigkeit" eines Gesetzbuches. Diese aber verstand er dahin,
daß „jeder Folgesatz, zu welchem man nur durch eine Reihe von Schlüssen
gelangen könne, als eine besondre Position wirklich exprimirt werde." In
diesem Sinne bearbeitete nun Svarez unter Mitwirkung Carmers eine Abteilung
nach der andern. Die fertige Abteilung wurde der Gesetzkvmmissivn zur Be¬
gutachtung mitgeteilt, auch öffentlich bekannt gemacht mit der Aufforderung,
Mouna eiuzuschickeu. Die eingegangenen Erinnerungen gaben für Svarez die
Grundlage zu neuen Bearbeitungen. So wurde das Werk mit der größten
allseitigen Anstrengung gefördert.
Die äußere Geschichte des Werkes läßt sich in drei Perioden zerlegen.
Die erste umfaßt die Arbeitsjahre noch bei Lebzeiten Friedrichs des Großen;
die zweite die Zeit uuter Friedrich Wilhelm dem Zweiten bis zur Publikation
des „Allgemeinen Gesetzbuches"; die dritte eine eigentümliche Nachgeschichte,
welche das reife Werk nochmals zum Gegenstände politischen Getriebes machte.
Es kann nicht bezweifelt werden, daß sowohl Carmer als Svarez sich zu
den Grundsätzen der „Aufklärung," wie sie das vorige Jahrhundert verstand,
bekannten, wenn sie auch dieselben durchaus maßvoll vertraten. Solange der
große König regierte, hatten sie deshalb freies Fahrwasser. Der König inter-
essirte sich in hohem Maße für ihre Arbeiten. Als ihm Carmer Ende 1783
die erste Hälfte des Werkes als Probe der Arbeit vorlegte, dankte er ihm durch
eine noch vorhandene Kabinetsordre. Aber in dein gesunden Sinne des Königs
regte sich doch schon ein gewisser Zweifel. Als man im März 1785 die zweite
Abteilung des Persvnenrechts ihm einsandte, schrieb Friedrich eigeuhündig darauf:
„es ist aber Sehr Dicke und gesetze müssen kurtz und nicht Weitläuftig seindt."
Das war eine Kritik, die wohl auch heute noch bei manchem, der dem Land-
rcchie gegenüber sich eine objektive Stellung bewahrt hat, Anklang finden wird.
Svarez ließ sich aber dadurch nicht irremachen. In der zu Berlin bestehenden
„MiMvochsgesellschaft" hielt er kurz darauf einen Vortrag: „Inwiefern müssen
Gesetze kurz sein?" worin er seine Ansichten und seine Methode verteidigte.
Nicht lange nachher war der große König heimgegangen. Unter seinem
Nachfolger machte sich sehr bald ein andrer Geist fühlbar. Zwar verhielt sich
derselbe dem Werke gegenüber nicht positiv ablehnend. Aber er vertrat doch
eine andre Richtung. Es sollten bei der Ausarbeitung Deputirte der Stände
mitwirken, damit die in den Provinzen vorhandenen Statuten und Einrichtungen
erhalten blieben. Das bedeutete nichts andres, als daß den in den Entwurf
aufgenommenen Neuerungen ein möglichst starker Damm entgegengesetzt werden
sollte. Bald wurden auch mittelst Jmmediateingaben an den König, welche
allen Umständen nach von dem schlesischen Minister Danckelmann und von dem
bekannten Wölluer herrühren, Einwürfe gegen das neue Werk erhoben. Es
wurde geltend gemacht, es müsse ans dem Gesetzbuche das, was wirklich zu
einem Gesetze sich qualifizire, von den bloßen spekulativen Rechtssätzen und
Meinungen abgesondert und letztere aus dein Gesetze entfernt werden. Es
wurden auch sonst anstößige Stellen des Gesetzbuches bezeichnet. Nun erging
auch, durch Wölluers Einfluß veranlaßt, das bekannte Neligionsedikt vom
9. Juli 1788 gegen die „Aufklärung." Drei Wochen vorher war der letzte
Teil des entworfenen Gesetzbuches mit der Aufforderung zur Begutachtung ver¬
öffentlicht worden. Auf Grund der eingegangenen Erinnerungen arbeitete Svarez
nochmals den Entwurf um. Am 20. März 1791 vollzog der König das
Publikationspatent, nach welchem das nunmehr vollendete „Allgemeine Gesetz¬
buch" am 1. Juni 1792 in Kraft treten sollte.
Die dritte Periode in der Geschichte des Gesetzwerkes wurde vor allem
durch die Thatsache beeinflußt, daß die französische Revolution immer bedroh¬
licher mit ihren blutigen Schrecken am Horizonte auftauchte. Neue Angriffe
wurden gegen das Gesetzbuch gerichtet. Man sagte ihm insgeheim nach, „es
stehe auf dem Boden der Revolution." Dazu kam ein neuer verhängnisvoller
Prozeß. Ein Prediger Schulz zu Gielsdorf sollte wegen Irrlehren nach dein
neuen Religionsedikt abgesetzt werden. Das Kanunergericht aber entschied, „daß
er als christlicher Prediger zu dulden sei." Darob großer Zorn des Königs.
Er „bestätigte" das Urteil dahin, „daß Schulz als' protestantisch-lutherischer
Prediger seines Amtes zu entsetzen sei." Zugleich erfolgten höchst unliebsame
Reskripte an das Kammergericht. In diese ganze traurige Verhandlung ward
auch Carmer verwickelt, und es ward dadurch seine Stellung einigermaßen er¬
schüttert. Nun richtete auch Danckelmann von neuem seine Augriffe gegen das
Gesetzbuch. Durch Allerhöchste Ordre vom 18. April 1792,' ward dasselbe
suspendirt, auf den angeblichen Grund hin, daß das Publikum sich noch nicht ge¬
nügend mit demselben vertraut gemacht habe. Eine Remonstrativn von Carmer
hatte keine Wirkung. Damit war die Einführung überhaupt in Frage gestellt.
Die von. vielen gehegte Hoffnung, daß Preußen ein Gesetzbuch haben werde,
„wie die Erde noch keines gesehen," schien zu zerfließen. Da trat plötzlich ein
andres politisches Ereignis in den Vordergrund. Im Jahre 1793 wurde die
zweite Teilung Polens vollzogen. Politische Gründe ließen es nötig erscheinen,
in dem nunmehrigen Südpreußen einen neuen Rechtszustand einzuführen. Dazu
aber hatte man nichts andres in Bereitschaft als das neue Gesetzbuch. Das
konnten auch die bisherigen Gegner desselben nicht verkennen. Sie entschlossen
sich daher, seiner Einführung nicht länger zu widerstreben, und beschränkten sich
darauf, einzelne Mängel desselben zu bezeichnen. Auf dieser Grundlage fand
eine neue Bearbeitung statt. Einzelne Paragraphen wurden ausgeschieden oder
verändert, einige Lehren umgearbeitet. Verhältnismäßig waren dies nur wenige
Änderungen. Dem Ganzen wurde nun der Name „Allgemeines Landrecht" ge¬
geben. Am 5. Februar 1794 vollzog der König das Patent, wonach das Land¬
recht am 1. Juni 1794 in Kraft trat.
Kurze Zeit darauf schied Carmer aus dem Dienste. Auch uuter seinem
Nachfolger Goldbeck war Svarez uoch mehrere Jahre thätig, wenn auch mit
minder bedeutenden Arbeite» beschäftigt. Aber schon am 14. Mai 1798 starb
er, noch nicht dreiundfünfzig Jahre alt. Eine interessante Episode seines Lebens
hatte auch darin bestanden, daß er während des Jahres 1791 dem da¬
maligen Kronprinzen — spätern König Friedrich Wilhelm dem Dritten — rechts-
wissenschaftliche Vorträge zu halten hatte. Die Berichte, welche Stölzel darüber
giebt, gewähren tiefere Einblicke in die Anschauungen, welche das Leben des
Mannes beherrschten.
Wenn wir dieses ganze überaus strebsame, von dem besten Willen geleitete
und auch wirkungsreiche Leben überblicken, so werden wir unwillkürlich zu der
Frage geführt: Welches waren denn nun die Erfolge dieser wirksamen Thätig¬
keit? Sind die reichen Hoffnungen, welche die Schöpfer jener Gesetzwerke und
mit ihnen unzählige andre an diese Schöpfung knüpften, auch in Erfüllung ge¬
gangen? Leider ist diese Frage, wie auch Stölzel anerkennt, nicht unbedingt
zu bejahen.
„Die Geschichte sprach schließlich kein günstiges Urteil über die Proze߬
reform." Die Einführung des Offizialprinzips war ein verhängnisvoller Irrtum,
weil es Menschen voraussetzte, wie sie nicht existiren. Lange hat die preußische
Rechtsprechung unter diesem Irrtum gelitten. Dennoch sind die Verdienste des
damals geschaffenen Prozesses um die deutsche Rechtsentwicklung unverkennbar.
Er brach vor allem mit dem rechtskräftigen Beweisinterlokut, dieser traurigen
Institution des gemeinen Prozesses, und zwar so gründlich, daß selbst Minister
Leonhardt, so sehr er auch Neigung dazu spürte, dasselbe nicht wieder in den
deutscheu Prozeß hineinbringen konnte. Und wenn wir auch heute noch an¬
erkennen, daß der Richter nicht mit absoluter Passivität den Verhandlungen der
Parteien gegenüberstehen soll, wenn wir es als eine wertvolle Errungenschaft
ansehen, daß der Zivilprozeß ein Stadium bietet, wo der Richter innerhalb der
Verhandlungsmaxime durch Erläuterungsfragen auf Klarstellung der Sache hin¬
wirken soll — denn das ist das eigentlich Wertvolle der mündlichen Verhand¬
lung —, so liegt darin das aus dem preußischen Prozeß überkommene ge¬
sunde Element der Offizialmaxime, welche nur durch die Erhebung zum
„Prinzip" des Prozesses eine übertriebene und unwahre Anwendung erhalten
hatte.
Betrachtet man das Landrecht, sieht man, welch ungeheurer Fleiß, welche
Fülle von geistiger Kraft und praktischem Gerechtigkeitssinne darin bethätigt
sind, so muß man die Männer, welche dieses kolossale Werk schufen, wahrhaft
liebgewinnen. Und dennoch ist dessen Schöpfung kein Glück gewesen, weder
für Preußen, noch für Deutschland. Auch hier lag, trotz allen redlichen Strebens,
ein verhängnisvoller Irrtum zu gründe. Es war der Irrtum, daß man meinte,
eine gute Rechtsprechung schaffen zu können ohne Rechtswissenschaft. Man glaubte,
das gesamte Recht ließe sich dergestalt im Gesetze verkörpern, daß der Richter
letzteres nur noch mechanisch anzuwenden brauche. So wie der Reiter das un¬
vernünftige Tier, das er reitet, bei jeder Wendung, die es machen soll, den
Zaum im Gebiß fühlen läßt, so sollte auch der Richter bei Schritt und Tritt
den Zaum des Gesetzes fühlen. Um dies zu erreichen, schrieb man zahllose
Einzelvorschriften, 19200 Paragraphen, zusammen — die vielbesprochene „Ka¬
suistik" des Landrechts. Diese Kasuistik ist aber nicht an sich das Schädliche;
sie ist nur die äußere Erscheinungsform eines tiefern, innern Mangels, des
Mangels an Wissenschaftlichkeit. Und wenn man heute Gesetze gäbe, zwar ohne
Kasuistik, die aber auch des wissenschaftlichen Gedankens entbehrten, so würden
sie nicht besser wirken als das kasuistische Landrecht. Allerdings aber ist die
Durchführung des wissenschaftlichen Gedankens umso schwerer, je mehr der
Gesetzgeber in Einzelvorschriften sich verliert. Und es ist deshalb kein Wunder,
daß aus dem preußischen Landrecht der wissenschaftliche Gedanke nur schwer
herauszufinden ist. Deshalb hat sich auch keine gesunde Jurisprudenz daraus
entwickeln können. Es ist die geisttötende Jurisprudenz daraus entstanden,
welche stets mit dem Buchstaben der unzähligen Paragraphen zu rechnen hat.
Für das übrige Deutschland ist die Schaffung des Landrechts kein Glück ge¬
wesen, weil sich infolge davon die preußische Rechtswissenschaft von der gemeinen
deutscheu getrennt hat, und dadurch die reichen Kräfte jener für diese verloren
gegangen sind.
Man sagt, der Wert der Geschichte liege vorzugsweise darin, daß man
daraus für die Gegenwart etwas lernen könne. Man thut es nur nicht immer.
Jedes Geschlecht blickt voll Mitleid auf die Verirrungen der Vergangenheit,
und — begeht ähnliche. Vor hundert Jahren glaubte man in dem Offizial-
prinzip des Prozesses den Stein der Weisen gefunden zu haben. Heute glaubt
man denselben in dem „Prinzip der Mündlichkeit" zu besitzen. Dieselbe Über¬
treibung, dieselbe innere Unwahrheit, dasselbe Rechnen mit Menschen, welche
nicht existiren. Ein folgendes Geschlecht wird über dieses Prinzip gerade so
urteilen, wie wir heute über das Offizialprinzip, vorausgesetzt, daß dann noch
eine Jurisprudenz vorhanden ist, welche überhaupt urteilen kann. Ob wir noch
weiter ähnliche Fehler wie vor hundert Jahren begehen werden? Vielleicht
wird schon eine nahe Zukunft es lehren. Jedenfalls ist das Stölzclsche Buch
sehr lehrreich für alle, welche den Beruf haben, an der deutschen Nechtsent-
wicklung mitzuarbeiten.
ir haben an einigen Beispielen gesehen, daß Jan Brueghel seine
Allegorien der Elemente, der Fruchtbarkeit, des Überflusses ?e.
in einem durchaus realistischen Sinne auffaßte, indem er nämlich
die antiken Gottheiten, wie Ceres, Poseidon, Vulkan, und die
Personifikationen von Begriffen mit Natur- und Kuustprodulten
umgab, welche unter ihrer Obhut stehen. Wir haben auch von zwei Bildern
gesprochen, auf welchen der durch Luft, Wasser und Feuer erzeugte Segen der
Natur an lebenden Wesen, Blumen, Früchten und sonstigen Vegetabilien dar¬
gestellt ist. Brueghels Absicht war, in diesen Gemälden den Einfluß der vier
Elemente auf die schöpferische Kraft der Natur zu verkörpern. Aber das eine
Element, das Feuer, wollte nicht recht in den Rahmen einer einzigen Kompo¬
sition hineinpassen, und deshalb faßte er den Plan, die vier Elemente getrennt auf
vier verschiednen Bildern in ihrer Wirksamkeit zur Anschauung zu bringen. Aus
dem Umstände, daß er gerade das Feuer zuerst in Angriff nahm, darf man
vielleicht schließen, der Kardinal Federigo Borromeo in Mailand, der Besteller
des einen jener eben erwähnten Bilder, habe ihn an das Fehlen deutlicher Be¬
ziehungen auf das Feuer erinnert, und deshalb habe sich Brueghel zuerst an
eine Darstellung des Feuers gemacht, welche der Erzbischof von Mailand eben¬
falls für sich zu haben wünschte. In einem an ihn gerichteten Briefe vom
26. September 1608 schreibt Brueghel: „In wenigen Tagen werde ich das Bild
mit dem Element des Feuers schicken, in welchem alle Arten von Waffen, Me¬
talle, Gold, Silber und eine Feuerstätte, auch Alchemie und Destillirung zu
sehen sind, alles nach der Natur und mit größtem Fleiße gemalt." Im De¬
zember 1608 schickte er das vollendete Bild nach Mailand, wo es so gefiel,
daß er nicht nur den Auftrag auf die drei andern Elemente erhielt, sondern
daß auch der Mailänder Kunstfreund Ercole Bianchi für sich eine Wieder¬
holung der ganzen Bilderreihe bestellte. Die Ausführung der drei andern Ele¬
mente verzögerte sich freilich bis zum Jahre 1621, mit welchem Datum Brueghel
das letzte Bild, die „Luft," bezeichnet hat. Diese und die „Erde" sind im Louvre,
wohin sie Napoleon entführen ließ, zurückgeblieben, während sich das „Feuer"
und das „Wasser" noch in der ambrosianischen Bibliothek in Mailand befinden.
Aus einer andern Folge der Elemente besitzt die Berliner Galerie das
Feuer unter dem Titel: „Die Schmiede des Vulkan." In einem großen, ruinen-
haften Gebäude ist Vulkan beschäftigt, einen Schild zu schmieden, während
Venus und Amor feiner Arbeit zusehen. Die Erde ist mit Hunderten von
Nüstungsstücken, mit Helmen, Brustpanzern, Arm- und Beinschienen, mit kunst¬
vollen Pokalen und sonstigen Gefäßen aus Gold, Silber und andern Metallen
bedeckt, kurz, mit allem, was mit Hilfe des Feuers ans Metall gefertigt werden
kann. Jedes einzelne Stück ist mit erstaunlicher Sorgfalt nach der Natur ge¬
malt: man sieht, wie die goldnen Damascirungen der Waffen mit feinem Pinsel
aufgetragen siud, und felbst die Spiegelung der Metallflächen ist mit großen:
Geschick nachgeahmt. Neben Vulkan sind noch mehrere Gesellen in der Schmiede
thätig, und rechts ist in der Ferne ein feuerspeiender Berg sichtbar. Die Fi¬
guren dieses Gemäldes hat Hendrik van Balen gemalt, ebenso wie ans zwei
andern, aus demselben Gedankenkreise hervorgegangenen Bildern, die sich im
königlichen Schlosse zu Berlin befinden. Das eine derselben ist eine Allegorie
auf die Gaben der Erde und des Wassers. In einer waldigen Landschaft sitzt
am Ufer eines Flusses die Göttin Ceres, welcher Flora, ein Satyr und ein
Kind von zwei Seiten Blumen und Früchte darbringen. Im Hintergrunde links
sieht man Poseidon und Amphitrite, von andern Meeresgottheiten umgeben,
auf einem Gespann die Fluten durchschneiden. Das Hauptgewicht ist auch hier
auf die Darstellung der Blumen und Früchte und des Getiers gelegt, welches
den Fluß, die Erde und die Bäume belebe Man sieht seltsam gefärbte blaue
und rote Fische, wie sie Brueghel in Italien oder aus der exotischen Fracht
der niederländischen Handelsschiffe kennen gelernt haben mag, Hummer, eine
Fischotter, einen Reiher, Affen, Meerschweinchen und dergleichen mehr, alle mit
derselben Geduld und Sauberkeit gemalt wie die Blumen, wie jeder Zweig,
jedes Blatt der Bäume. Das zweite Bild gipfelt ebenfalls in einem Triumph
der Ceres, welche mit beiden Armen das reichgefüllte Horn des Überflusses hält.
Zu ihrer Rechten steht man einen Satyr und ein Kind mit Trauben beladen,
zu ihrer Linken einen Knaben mit Blumen, und auf dem Boden liegt ein Mann
mit einem Ährenbündel unter dem Arme. Links blickt man auf ein Getreide¬
feld mit erntenden Arbeitern, rechts auf einen Fluß, an welchem Städte und
Dörfer liegen. In der Luft fliegen bunte Finken und Schmetterlinge umher,
Eichhörnchen hüpfen von Ast zu Ast und auf dem Erdboden bemerkt man n. ni.
ein Meerschweinchenpaar.
Brueghels erstaunliche Virtuosität in der Wiedergabe solcher Kleinigkeiten
oder „Galanterien," wie er sie selbst in einem Briefe nennt, veranlaßten das
Statthalterpaar der spanischen Niederlande in Brüssel, Erzherzog Albert und
seine Gemahlin Jsabella, zu zahlreichen Aufträgen. Aus ihrem Besitz sind nicht
weniger als vierundfünfzig Gemälde Brueghels in das Museum zu Madrid
gekommen, und aus der schon oft erwähnten Briefsammlung ersehen wir, daß
Brueghel zu wiederholten malen in Brüssel sür die Fürsten thätig war. Im
August 1609 malte er dort vier Bilder. Im nächsten Jahre hielt er sich sogar
drei Monate in Brüssel auf, um elf große Gemälde auszuführen. Das mußte
in Brüssel selbst geschehen, weil es sich darum handelte, auf diesen Bildern
allerhand Kunstwerke und Kostbarkeiten darzustellen, welche sich im erzherzog¬
lichen Palast befanden. Zu solchen Darstellungen wurden allegorische Vorwände
genommen, vielleicht weil man ein reines Stillleben nicht sinnvoll genug fand.
Zwei ungewöhnlich große Bilder aus dieser Gruppe sind Allegorien der fünf
Sinne, und zwar in der Anordnung, daß auf dem einen das Gesicht und der
Geruch, auf dem andern das Gehör, der Geschmack und das Gefühl symboli-
sirt sind. „Im »Gesicht« findet Brueghel die Gelegenheit, alle Kunstschätze der
Fürsten, ihre Gemälde, Statuen, Kupferstiche und kostbaren Geschirre, wie auch
ihren herrlichen Garten und Palast bewundern zu lassen, im »Geruch« prangen
die prächtigsten Blumen, im »Gehör« kommt eine Sammlung von Musikinstru¬
menten zur Darstellung, im »Geschmack« finden wir die auserlesensten Speisen
im Speisesaal der Fürsten aufgetragen, im »Tastsinn« ist ihre reiche Waffen-
sammlung ausgebreitet. Die Sinne werden dabei durch Frauen und Kinder
dargestellt, welche auf den Instrumenten spielen, die Speisen kosten und die
schönen Dinge bewundern."*) Im Jahre 1617 behandelte er dasselbe Thema
der fünf Sinne noch einmal, aber in fünf einzelnen Bildern, auf welchen ähn¬
liche Gegenstände vorkommen. Ein vierter größerer Auftrag wurde dem Künstler
1619 erteilt, wo er neun Monate in Brüssel festgehalten wurde, um dort acht¬
unddreißig Miniaturen anzufertigen, welche er am 1. Dezember „zur großen
Zufriedenheit der hohen Auftraggeber" ablieferte. Was er in der Miniatur¬
malerei leisten konnte, zeigt am besten eine acht Zentimeter hohe und drei Zenti¬
meter breite, ovale Platte von Elfenbein, welche er im Jahre 1616 dem Erz-
bischof von Mailand zum Geschenk machte und welche noch in der ambrosianischcn
Bibliothek vorhanden ist. Sie zeigt auf der einen Seite eine Episode aus der
Kreuztragung Christi, und zwar die Begegnung mit der Veronika, und auf der
andern Seite den Kalvarienberg mit den drei Kreuzen. Jede dieser figuren-
reichen Darstellungen ist nur vier Zentimeter hoch und drei Zentimeter breit.
Eine große Menge von Figuren auf möglichst kleinem Raume darzustellen, reizte
besonders seine Virtuosität in der Klein- und Feinmalerei, auf welche er mit Recht
stolz sein dürfte. Das' war schon die Passion seines Vaters gewesen, welcher gern
große Volksmengen auf die Beine brachte, wenn es sich um den Turmbau zu
Babel, den bethlehemitischen Kindermord, die Kreuztragung oder um eine Schlacht
zwischen Jsraeliten und Philistern handelte. Jan Brueghel bearbeitete nicht
nur ähnliche Stoffe aus der biblischen Geschichte und dem Altertum — wir
nennen nur die „Anbetung der Könige" im Wiener Belvedere und die „Schlacht
von Arbela" im Louvre —, sondern er griff auch in die neuere Zeit hinein.
Das Brüsseler Museum besitzt eine Predigt des heiligen Norbert, des Stifters
des Prämonstratenserordens, welche am Portal der Se. Michaeliskirche in Ant¬
werpen vor einem zahlreichen Kreise von Zuhörern aus dem Volke gegen die
Ketzerei gehalten wird. Im Neichsmuseum zu Amsterdam befindet sich eine noch
figurenreichere Komposition gleichfalls religiösen Inhalts, welche sogar eine sa¬
tirische Spitze gegen die Geistlichkeit enthält. Aus einem Flusse fahren nämlich
katholische und protestantische Geistliche umher, um ihre Netze nach Seelen aus¬
zuwerfen. Am Ufer schaut eine Anzahl von Personen, unter denen sich auch
das Statthalterpaar der spanischen Niederlande mit seinem Hofzwerge befindet,
dem Treiben der Seelenfischer zu.
Die große Geschicklichkeit, welche Vrueghel in der Nachbildung von lebenden
und toten Naturprodukten und von Erzeugnissen der menschlichen Hand ent¬
faltete, wurde von andern Malern nicht minder in Anspruch genommen als seine
Fertigkeit in der Landschaftsmalerei. Das merkwürdigste und künstlerisch be¬
deutsamste Beispiel dasür bietet das Antwerpener Museum in einer „Bewcinung
des Leichnams Christi durch Johannes und die heiligen Frauen." Die Figuren
hat Rubens gemalt; von Brueghel rührt die schöne Landschaft und eine Anzahl
von Gegenständen im Vordergrunde her, welche, für sich allein betrachtet, ein
Stillleben im Geschmack und in der technischen Ausführung der spätern Schule
bilden. Wir sehen da eine kvpfcrne Schüssel mit einem blutbefleckten Schwämme,
einen Eimer mit einem weißen Leinentuch, eine Laterne, einen Besen, eine Vase
und eine Schachtel mit Salbe, einen Hammer, eine Zange und drei Nägel.
Jeder dieser Gegenstände ist mit höchster Sorgfalt der Natur nachgebildet.
Don, der Tausendkünstler in diesem Fache, von welchem eine Anekdote erzählt,
daß er drei Tage an einem Besen gemalt habe, hat nichts besseres zu stände
gebracht.
Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß Brueghel auch in seinen
Allegorien realistischen Tendenzen huldigte. Vollkommen frei von aller Symbolik
erscheint er in derjenigen Gruppe seiner Gemälde, welche die umfangreichste ist,
in seinen Landschaften, deren Staffage ausschließlich aus Figuren von Land-
leuten besteht. Auch hierin hatte ihm sein Vater die Wege gewiesen. Der alte
Vrueghel hatte bereits Bauernhochzeiten, Kirmsen und Bauernschlägereien ge¬
malt, ohne allegorische Beziehungen hineinzulegen. Ebenso hatte er bereits die
vier Jahreszeiten in vier Landschaften mit reicher Staffage dargestellt. Seinem
Sohne War es aber vorbehalten, Genre und Landschaft zu größerer Freiheit
zu entwickeln, einerseits die Figuren über den Wert bloßer Staffage empor¬
zuheben und sie individueller lind lebendiger zu gestalten, andrerseits den Einzel¬
formen der Landschaft ihren konventionellen Charakter zu nehmen und ihnen
eine nationale Grundlage zri geben. Die verblauenden Fernen sah er freilich
noch mit den Augen derjenigen Maler, welche in Italien ihr Naturgefühl und
ihren Blick für landschaftliche Schönheit entwickelt hatten. Aber die Details
der Landschaft, die sich durch üppige Thalgründe schlängelnden Flüsse, die Städte
und Dörfer an ihren Ufern mit ihren spitzen Türmen und engen Straßen, die
Windmühlen, die sanft ansteigenden Hügelketten, die lichten Laubwälder, die
goldenen Kornfelder und die fetten Wiesen mit weidenden Vieh find heimatlich,
sind vlümisch. Die Vordergründe dieser immer sonnigen und freundlichen Land¬
schaften belebt er mit zahlreichen, kaum zollgroßen Figuren, oft bis zu dreißig
und vierzig, die alle mit gleicher Lebendigkeit charakterisirt und mit gleicher
Feinheit gezeichnet sind. Wenn er in einer Landschaft den Sommer versinn¬
lichen wollte, ließ er Bauern einen Reigentanz unter Musikbegleitung und von
Zuschauern umringt ausführen. In einer Herbstlandschaft mußten gewöhnlich
Schnitter ihre Arbeit verrichten: die einen nähert, die andern die gebundenen
Garben auf den Erntewagen ausladend, wieder andre im Schatten eines Baumes
essend oder ruhend. Er selbst pflegte solche Bilder nach ihrem Figureninhalt
zu bezeichnen. So schreibt er einmal dem Ercole Bianchi nach Mailand, er
hätte uir lliorosito, einen Markt, und uim tsstg, 0 K«zrnÜ88L g-II» üg-nrong»,
eine vlämische Kirmes, abgesendet. Die Galerien von Dresden und München
sind besonders reich an solchen Landschaften mit Reitern, Wanderern, Jägern,
Fischern, Marktweibern, Soldaten. Wenn mau auch in Betracht ziehen muß,
daß ein Teil der unter Brueghels Namen gehenden Bilder Kopien von der
Hand seines Sohnes Jan Brueghel (1601 bis etwa 1677) sind, so bleibt doch
noch eine so große Summe mit höchstem Fleiße ausgeführter Bilder übrig, daß
Jan Brueghels Leben eitel Mühe und Arbeit gewesen sein muß. Es gelang
ihm auch, zu hohem Wohlstande zu kommen. Aber wenige Jahre vor seinem
Tode trafen ihn schwere Verluste. Bei einem Bankerott büßte er 9000 Gulden
ein, und es scheint, daß er deshalb in den letzten Jahren seines Lebens seine
Thätigkeit noch steigerte, um das Verlorne wieder einzubringen. In wie hohem
Ansehen er bis zu seinem Tode stand, beweist u. a. der Umstand, daß das achte
Kind feiner zweiten Frau im Jahre 1623 von einem Vertreter der Infantil?
Isabella und einem Vertreter des Erzbischofs von Mailand über der Taufe ge¬
halten wurde, und mehr noch bei seinem Begräbnis, welches eine umso tiefere
Teilnahme hervorrief, als zugleich mit dem Vater drei feiner Kinder, ein Sohn
und zwei Töchter, beigesetzt wurden. Alle vier waren innerhalb von zwanzig
Tagen an einer epidemischen Krankheit gestorben, der alte Brueghel am 13. Ja¬
nuar 1625. „Sein Tod wurde, so schrieb sein ältester Sohn später an den
Erzbischof von Mailand, von der ganzen Stadt Antwerpen betrauert, und es
war ein mitleiderregcnder Anblick bei der Leichenfeier, als man zuerst den Vater
trug und nach ihm seine drei Kinder, welche den Vater bis in die Erde und
auch zum Paradiese begleiteten." Noch in seinem Testamente hatte Brueghel
seines hohen Gönners zu Mailand in Dankbarkeit und Verehrung gedacht. Er
hatte bei Lebzeiten niemals das Versprechen einlösen können, dem Kardinal ein
Bild seines Vaters zu verschaffen, und daher vermachte er ihm testamentarisch
das einzige Bild des Bauernbrueghel, welches er noch besaß: Christus und die
Samariterin. Aber dem Erzbischof erlaubte sein Zartgefühl nicht die Annahme
eines solchen Opfers. Er ließ für sich eine Kopie davon anfertigen und schickte
das Original an die Familie zurück, nachdem er dasselbe mit einem kostbaren,
mit Gold und Intarsien verzierten Rahmen hatte umgeben lassen, welcher in
silbernen Lettern die Inschrift trug: l^ocksrivus (^räiruMs LorromÄsci» urelü-
episovMS Noäioliuü 5os>lois Li-nZuM Iimiv tabnlain roäouat, ut in o» cloinv
oonsörvotnr.
Bis an sein Lebensende blieb Brueghel in inniger Freundschaft mit Rubens
verbunden. Dem ersteren machte die italienische Sprache viele Schwierigkeiten,
und es war ihm daher eine große Erleichterung, als Rubens seit dem Jahre
1610 an seiner Stelle die Korrespondenz mit den Mailänder Kunstfreunden
führte und so gewissermaßen, wie er sich im Scherze ausdrückte, Sekretärdienste
bei ihm versah. Wenn Rubens auf Reisen war und er selbst wieder zur Feder
greifen mußte, vergaß er nicht hinzuzufügen, daß sein „Sekretär" sich hier oder
dort befände. Er benutzte jede Gelegenheit, um neidlos das Lob seines großen
Freundes zu singen, und noch im Jahre 1624 schrieb er, vermutlich unter dem
Eindruck der gerade damals vollendeten Medieisgalerie für den Luxembourg-
palast in Paris, an Bianchi nach Mailand: „Herr Rubens schreitet beständig
vorwärts in seinem Knnstvermögcn, und überdies ist er vom Glück in einer Art
begünstigt, daß er an Ehren und Reichtum alle Künstler unsrer Zeit übertrifft."
Rubens bewahrte ihm auch seinerseits die Freundschaft über den Tod hinaus.
Für das aus schwarzem Marmor errichtete Grabdenkmal Brucghels in der
Se. Georgskirche malte Rubens das Bildnis seines alten Freundes. Er übernahm
auch die Vormundschaft über feine minderjährigen Kinder, und daß er ihn auch
als Künstler hochschätzte, ergiebt sich daraus, daß er sich die letzte, unvollendet
zurückgelassene Arbeit Brueghels, ein Gemälde mit Wild, von der Familie
ausbat und dafür einige von ihm selbst gemalte Figuren hergab. Auch in
Rubens' Nachlaß befanden sich einige Stücke von Brueghel: ein irdisches Paradies,
also die Allegorie der Erde, eine von Brueghel stciffirte Landschaft von Momper,
Diana auf der Jagd und Diana von der Jagd heimkehrend, die beiden letzteren
mit Figuren von Rubens.
Es konnte nicht fehlen, daß das Zusammenwirken der beiden Künstler auch
auf den stärkeren von ihnen, ans Rubens, nicht oben Einfluß blieb. Auf jedem
Gebiete der Malerei, welches dieser universelle Geist betrat, war er zugleich
ein Neuerer, der alles das, was andre vor ihm gedacht und geschaffen hatten, zu¬
sammenfaßte, zur höchsten Blüte brachte lind vollendete. Ohne Zweifel reizte
schon die italienische Natur seinen Nachahmungstrieb, und wenn wir auch keine
Zeichnung, keine Studie, kein Bild nach einem landschaftlichen Motiv des Südens
unter seinen Werken mit Bestimmtheit nachweisen können, so ist uns doch
wenigstens von dem französischen Maler Roger de Piles überliefert worden,
daß sich im Kabinet des Herzogs von Richelieu eine von Rubens in Italie»
gemalte Landschaft befand, „die Ansicht eines Fanals ans einem Berge bei Porto
Venere." Auch haben wir in den zahlreichen, in der Heimat gemalten Land¬
schaften und in den landschaftlichen Hintergründen seiner religiösen, mythologischen,
historischen und allegorischen Kompositionen den Beweis, wie mächtig die
italienische Natur mit ihrer Lichtfülle, ihrem Sonnenglanz und ihren großartigen
Linien auf ihn gewirkt hatte. Dazu kam als ein neues, aus der Natur seiner
Heimat gezogenes Element die Farbenfülle und die Intensität des Kolorits.
Sobald er einer seiner Landschaften eine individuelle Physiognomie gab, waren
die Züge derselben stets seiner Heimat entlehnt, der Umgebung von Antwerpen,
Mecheln und Brüssel und derjenigen seines Landgutes Steen. Laubwald,
Wasser und ein welliges Terrain waren ihm unentbehrliche Ingredienzien,
gewissermaßen die substantielle!, Träger der beabsichtigten Stimmung. Denn
Rubens ist als Landschafter bereits ein Stimmungsmciler, welcher alle Em¬
pfindungen, alle Regungen der Ncitnrseele mit nie versagender Meisterschaft
wiederzugeben weiß. Schon dadurch wächst er um ein bedeutendes Stück über
Brueghel hinaus. Die Landschaften des letzteren tragen trotz der hohen
Vollendung in allen Einzelheiten doch einen sehr einseitigen Charakter. Wenn
seine Vollendung der Durchführung auch ein gewissenhaftes und eindringliches
Naturstudium zur Voraussetzung hat, so strebte Brueghel doch niemals nach
großartigen Wirkungen, nach schlichter Wahrheit und nach den? Ausdruck gewisser
Stimmungen, sondern heitere, gefällige Schönheit war sein Ideal. Damit hätten
sich Sturm, Gewitter und Regenguß, Überschwemmung und Wolkenbruch nicht
vertragen. Er liebt eine gleichmäßige, helle Beleuchtung, damit man auch alles
genau betrachten konnte, was er mit unendlichem Fleiß in die Landschaft hinein¬
gemalt hatte: das ganze zierliche Nebeneinander von Hügeln, Flüssen, Häusern,
Städten, fernen Bergspitzen, Bäumen, Zweigen und Blättern. Sein Standpunkt
der Natur gegenüber war noch derjenige kindlicher Naivität, noch die alte
Freude an jedem Detail und die stolze Genugthuung, auch das kleinste Erzeugnis
der Natur mit subtilen Pinsel bis zur Täuschung nachgebildet zu haben. Mit
Rubens tritt zum erstenmale die kühne, alles ihrem Wesen sich unterordnende
Subjektivität in die Landschaftsmalerei ein. Er schlägt das große Buch der
Natur auf, nicht um die einzelnen Worte Silbe für Silbe nachzubuchstabiren,
sondern um der Natur ihre Geheimnisse abzufragen, um bis in den tiefsten
Grund ihrer Seele hinabzusteigen und das Erfahrene dann nach den Eindrücken
widerzuspiegeln, die es in seiner eignen großen Seele hinterlassen hat. Mit
dem ABC der Landschaftsmalerei, mit der direkten Studie nach der Natur,
hatte sich Rubens selbstverständlich ebenso eingehend beschäftigt wie die Land¬
schaftsmaler ex xratöWv. In den verschieden Sammlungen lassen sich noch
etwa dreißig solcher mit Kreide, Feder und farbigen Stiften gezeichneten Nntur-
studieu nachweisen, die vom Künstler, wie es scheint, nicht immer für einen
bestimmten Zweck, sondern gelegentlich auch zur Auffrischung seines Naturgefühls
angefertigt worden sind. Bis zu welcher Feinheit er schon frühzeitig gelaugt
war, beweist am besten eine mit brauner und blauer Tusche gehobene Feder¬
zeichnung im Berliner Kupferstichkabinet, welche man für die Arbeit eines
modernen Naturalisten halten würde, wenn die Rückseite des Blattes nicht von
Rubens' unverkennbarer eigner Hand die Aufschrift trüge: 1610 av tiosvs
rug'Ks voll, (der Hof beim rauhen Feld) ?. I>> R-nMons. Wir blicken auf ein
mit Stroh gedecktes Bciueruhaus, vor dem ein leerer Wagen steht. Rechts
steht ein zweites Geführt unter einem gleichfalls mit Schindeln gedeckten
Schuppen, und im Vordergrunde links sieht man den Backofen unter einem
von Stützen gehaltenen Dache. Keine figürliche Staffage erinnert an die Zeit,
und dadurch wird die Illusion der modernen Entstehung dieses Bildes noch
erhöht. Da der Verdacht der Fälschung ausgeschlossen ist, giebt uns dieses
Blatt von neuem die Gewißheit, daß der Prüfstein echter Künstler ihre Stellung
der Natur gegenüber ist und daß die Entfernung der Jahrhunderte keinen
Unterschied darin macht. Das Dresdner Kupferstichkabinet besitzt eine ähnliche,
mir etwas sorgfältiger behandelte Studie, deren Motiv offenbar derselben
Gegend entlehnt ist. Hier sind ^vier mit Stroh gedeckte Bauernhäuser um
einen Tümpel gruppirt, vor welchem sich einige Schweine aufhalten. Drei
Menschen und zwei Hunde bilden die übrige, nur flüchtig angedeutete
Staffage der Landschaft, welche den ersten Schmuck des Frühlings trägt,
während die völlig kahlen Bäume der Berliner Zeichnung auf den Winter
deuten. Die Details sind auf beiden Zeichnungen von dem Standpunkte
eines Malers aufgefaßt, welcher jedes Blatt, jeden Zweig so gründlich studirt
hat, daß ihm ans diesem Studium die Berechtigung erwachsen ist, ganze
Gruppen des Naturganzen summarisch zu sehen und so gleichsam einen Auszug
aus dem Buche der Natur zu machen. Eine mit schwarzer und weißer Kreide
ans graublauem Papier gezeichnete Baumstudie im Louvre lehrt uns, daß Rubens
jedes Blatt so genau zu fixiren und von seinem Nachbar zu sondern wußte
wie Brueghel. Er war sich aber vollkommen der höheren Aufgabe des Land¬
schaftsmalers bewußt, die Fülle der einzelnen Erscheinungen zu einem in sich
harmonisch abgeschlossenen Ganzen zu vereinigen und in diesem Ganzen eine
gewisse Stimmung wiederzuspiegeln. Wie er in seinen menschlichen Figuren alle
seelischen Affekte zum Ausdruck zu bringen verstand, so bewegen sich auch seine
Landschaften in dem weitesten Umkreise des Stimmuugslebens, von dem Stadium
idyllischer Ruhe bis zur höchsten dramatischen Spannung und Erregtheit. Um
zwei Beispiele schroffster Gegensätze aus den fünfzig Landschaften herauszuheben,
die wir uoch von Rubens besitzen, brauchen wir uur an die herrliche Abend¬
landschaft mit dem Regenbogen im Louvre, ein Wunderwerk in der feinen Ab¬
stufung der Lufttöne und von großer Meisterschaft in der Perspektive, und an
den gewaltigen Gewittersturm mit Jupiter, Merkur, Philemon und Baucis im
Wiener Belvedere zu erinnern. Von den ältern Meistern hat nicht ein einziger
eine ähnliche Kraft entfaltet wie Rubens in dieser Landschaft, welche die Ele¬
mente in wildesten Aufruhr zeigt. Unter schwefelgelben Blitzen entladet sich
ein Wolkenbruch über der gebirgigen Landschaft. Ein Gebirgsstrom ist zu einer
breiten Flut angeschwollen, welche, vom Orkane gepeitscht, alles mit sich wegreißt,
was sie erreichen kann: Bäume, Felsen, Tiere lind Menschen. Von neueren
Meistern haben uur Calcnne und Andreas Ueberhand ähnliches geschaffen.
Wenn in dieser Landschaft das dramatische Motiv durch das Gewitter ge-
geben ist, so suchte Rubens in andern landschaftlichen Kompositionen ein solches,
indem er zu rein malerischen Mitteln griff. Er rief die dramatische Spannung
durch den bloßen Gegensatz zwischen Licht und Schatten, zwischen großer Hellig¬
keit und tiefem Dunkel, zwischen glänzendem Sonnenschein und schwarzem Ge¬
wölk hervor. So war es eines seiner Lieblingsmotive, eine Landschaft in dem
Augenblicke zu erfassen, wo ans der einen Seite die Sonne siegreich die Nacht
der Regenwolken durchbrochen hat und auf der audern Seite das zerstreute
Gewölk zurückweicht. Von einer Partie zur audern spannte Rubens dann ge¬
wöhnlich einen Regenbogen. Außer dem Louvre besitzen auch die Münchener
Pinakothek und das Museum der Ermitage solche Landschaften mit Regenbogen,
während sich andre Exemplare in englischen Sammlungen befinden. Dieses
Motiv eines kurz vorausgegangenen Regens bot Rubens noch den Vorteil, daß
er an dem nassen Grün der Wiesen, an dem aufgefrischten Laub der Bäume
und an der mit Feuchtigkeit geschwängerten Luft den ganzen Zauber seines
saftigen Kolorits entfalten konnte. Auch als Landschaftsmaler — und darin
besteht ein weiterer Schritt über seine Vorgänger hinaus — war Rubens in
erster Linie Kolorist, d. h. ein Maler, der nach Tonwirkuug strebte, während
Vrueghel mit der gefälligen Wirkung von sauber neben einander hingesetzten
Lokalfarben zufrieden war.
Rubens nahm auch bei der Wahl der Staffage sorgfältige Rücksicht auf
den Charakter der Landschaft, wenn er nicht etwa, was ebensogut anzunehmen
ist, zuerst das Motiv für die Staffage wählte und darnach die Landschaft kom-
ponirte. Auf der „Jagd des Meleager und der Atalante" im Museum zu
Madrid und der „Begegnung des Odysseus mit der Nausikaa" zeigt die Land-
schaft die volle Größe des heroischen Stils. Poussin und Cicade Lorrain haben
nichts erhabeneres geniale. Die Landschaften aus seiner brabantischen Umgebung
belebte er mit vornehmen Kavalieren und ihren Damen in den reichen Trachten
seiner Zeit, häufiger jedoch mit Landleuten bei ihrer Arbeit, auf der Heimkehr
vom Felde, mit Rinderherden, mit Pferden, Gänsen, Enten und Schafen, mit
Hirten, Fischern und Holzfällern. An dieser Staffage fand er allmählich ein
solches Gefälle», daß er sie immer bedeutungsvoller und reicher entwickelte und
endlich so sehr in den Vordergrund schob, daß aus der Landschaft mit figür¬
licher Staffage ein Genrebild mit landschaftlichen Hintergründe wurde.
Auch wenn man die ersten niederländischen Bauernmaler nennt, muß
man Rubens in ihrer Reihe aufzählen und ihm sogar einen Ehrenplatz darin
einräumen. Dieser universelle Geist konnte eben alles angreifen, was er wollte,
und stets kam etwas zu stände, was einen Höhepunkt auf dem betreffenden
Knnstgebiete bezeichnet. Die ausgelassensten Banerntünze und Kirmcßbelusti-
gungen eines Teniers des Jüngern sind zahm und geziert im Vergleich mit der
urwüchsigen Derbheit und der ungestümen, echt vlcimischen Kraft, welche sich
in den beiden Baucrnfesten von Rubens offenbaren, die der Louvre in Paris
und das Museum zu Madrid besitzen. Ju der Anordnung der Figuren sind
diese Bilder von einander verschieden, sie gleichen sich aber hinsichtlich der Verve
und Heißblütigkeit der Darstellung und der leuchtenden Kraft des Kolorits,
beide noch bewunderungswürdiger dadurch, daß sie Rubens etwa um 163S,
also wenige Jahre vor seinem Tode, malte. Im Mai jenes Jahres hatte
Rubens das Landgut van Steen zwischen Mecheln und Vilvorde gekauft, und
hier brachte er fortan die Sommermonate zu. Jene ländlichen Festgelage sind
also aus der frischen Anschauung der Natur erwachsei,, und daraus erklärt sich
die Unmittelbarkeit der Schilderung, die überquellende Lebensfülle. Alle Toll¬
heiten und Rohheiten, die ganze brutale Lustigkeit und Ungezogenheit, welche
bei Kirmeßbclustiguugeu zum Ausbruch kamen, hat Rubens nach seinen Be¬
obachtungen in diesen Bildern geschildert, ganz wie er auf seinen mythologischen
Kompositionen die Ausgelassenheit der Lymphen und die Derbheit der Satyrn
mit voller Unbefangenheit, mir in der Absicht, die höchste dramatische Wirkung
zu erzielen, dargestellt hat. Es sind Bacchanalien in modernem Gewände, und
mit Recht sagt Max Nooses von diesen Bildern, daß Teniers daneben „ein
wahrer Höfling, Jan Steen ein Spaßmacher ist, der seine Witze giebt, und van
Ostades und Brouwers Helden Schuljungen sind, die bei ihrer ersten Pfeife
und ihrem ersten Glase unwohl und unanständig geworden sind."
Einen starken Gegensatz zu diesen beiden Vancrnstücken bildet die unter
dem Namen „Der Liebesgarten" bekannte Komposition, welche in mehreren
Exemplaren vorhanden ist, von denen das des Madrider Museums am meisten
Anspruch darauf hat, für das von Rubens eigenhändig ausgeführte Original ge¬
halten zu werden. Man darf hinter dieser Komposition keine symbolische oder
allegorische Bedeutung suche». Sie ist vielmehr ein reines Genrebild, und die
in der Luft herumschwebeuden Amoretten sollen nur auf die galante Unterhaltung
deuten, welche zwischen den Kavalieren und ihren Damen gepflogen wird, wie
denn auch Rubens selbst diese Bilder oouversMö 51a moäv genannt hat. Im Gegen¬
satz zu jenen rohen Äußerungen elementarischer Triebe wird hier die gesittete
Art des Verkehrs geschildert, welche in den vornehmen Ständen herrscht, denen
Rubens selbst angehörte, und wie er dort zu dem vollendeten Ausdruck des
Gesehenen kam, so-feiert hier die Feinheit seiner Charakterisirungskunst und die
Noblesse seiner Auffassung einen hohen Triumph, während sich zugleich seine
malerische Virtuosität in der Wiedergabe glänzender Atlas- und Seidenstoffe,
prunkvoller Sammetgewänder und kostbarer Spitzenkragen erschöpft. So hat
Rubens auch auf dem Gebiete des feineren Genrebildes den späteren hollän¬
dischen Sitteumalcrn, einem Dirk Hals, einem Palamedes, einem Terborch,
Netscher und Metsu ihre besten Wirkungen und Erfolge vorweggenommen.
on zwei Münchener Professoren sind uns fast gleichzeitig Äuße¬
rungen über die deutsche Frage zugekommen. Giebt es denn noch
eine deutsche Frage? Nach dem Dafürhalten gewöhnlicher Sterb¬
lichen hat Deutschland wohl keinen Mangel an Fragen, aber die
sogenannte deutsche Frage, um welche einst so viel Tinte und dann
so viel Blut verspritzt wurde, ist eben dadurch erledigt und abgethan, daß wieder
ein Deutschland dasteht. Dieser Ansicht ist auch der eine vou den Professoren,
der zweite dagegen hat den alten Gegensatz „Klcindeutsch und Großdeutsch" noch
nicht überwunden, nur daß er für den letzteren Ausdruck „deutsches Gesamt-
bewußtsein" setzt. Professor Brinz, oder richtiger von Brinz (das Adels¬
diplom hat er sich, wenn wir nicht irren, aus Österreich mitgebracht) fand es
vor einiger Zeit angemessen, einem wegen Beleidigung einer hohen Person
verurteilten Demokraten mit Ostentation die Hand zu drücken; nun veranlassen
ihn wieder paradoxe Behauptungen Ed. von Hartmanns, zu verkünden, „daß
je engherziger, ja herzloser sich ein gewisses klcindeutsches Wesen zeigt, desto
sicherer das deutsche Gesamtbewußtsein wieder aufleben werde." Es ist nicht
notwendig, ausdrücklich zu betonen, daß wir nicht gewillt sind, uns den Satz
anzueignen, daß das Deutschtum in Österreich unrettbar verloren, und noch
weniger den, daß ein slavisirtes Österreich ein Schutz gegen den Panslavismus
sei. Allein mehr politischer Verstand scheint uns doch in den Hcirtmannschen
Spekulationen zu stecken, als in den Brinzschen Gegenbemerknngen. Achtzehn
Jahre lang mühte man sich damit ub, ein gesundes Verhältnis herzustellen
zwischen den rein- oder weitüberwiegenddeutscheu Ländern einerseits und einem
Staate, in welchem die deutsche Bevölkerung die Minderheit bildet, nichts wurde
unversucht gelassen, bis endlich die Aufgabe als unlösbar erkannt werden mußte.
Als die Trennung erfolgte, war man geneigt, daß einzige Hindernis einer andern
Lösung in dem Nebeneinander zweier Großmächte, einer deutschen und einer nur
zum Teil deutschen, zu sehen. Seitdem haben wir einsehen lernen, daß eine
wohl ebenso große Schwierigkeit in der Zusammensetzung Österreichs - selbst
bestand. Als nicht mehr der außerdeutsche Besitzstand der Krone mit seinem
Gewichte die deutschen Ansprüche Österreichs zu rechtfertigen hatte, begannen die
inneren Kämpfe mit erneuter Gewalt, trat an die Stelle der deutschen die
österreichische Frage, auf welche auch die letzten achtzehn Jahre noch keine Antwort
gebracht haben. Und auch da ist nichts unversucht geblieben. Wenn nun ein
deutscher Patriot sagt: Ich gebe die Hoffnung auf. daß dieser Knäuel zum
Vorteil der deutschen Nationalität in Österreich entwirrt werden könne; auf
keinen Fall darf das kostbare Gut der Einigung der außerösterreichischen
deutschen Länder wieder gefährdet werden, eher sollen die Deutschösterrcicher
von den Slaven aufgezehrt werden: dann kann dagegen mancherlei eingewandt
werden, allein es ist doch ein Standpunkt. Aber der Politiker Brinz hat gar
keinen Boden unter den Füßen. Fürst Schwarzenberg und Schmerling träumten
einen österreichischen Einheitsstaat, der zugleich die Führung in Deutschland
haben sollte — wie diese Doppelstellung möglich zu machen wäre, darüber zer¬
brachen sich wohl beide nicht sonderlich den Kopf; die Eventualität, daß Preußen
sich nicht gutwillig auf die Stufe der Mittclstaaten hinabdrücken lassen könne,
faßte man lieber nicht ins Auge, so wenig wie die Frankfurter Kaisermacher den
Fall der Nichtannahme der Krone in Erwägung gezogen hatten; wozu berechnen,
was ja hoffentlich nicht eintreten wird? das Ungewünschte kommt immer noch
früh genug, und dann ist es Zeit, Entschlüsse zu fassen. Mit der Demütigung
Preußens ist es jetzt nichts. Vielmehr müßten die „Großdeutschen" sich nun
fragen, was sie mit Österreich beginnen wollen, wenn dessen deutsche Länder dem
Reiche einverleibt werden sollen. Wollen sie Österreich zerschlagen? Galizien,
Ungarn, Dalmatien u. s. w. sich selbst überlassen und dem deutschen Reiche eine
Menge von neuen Elementen zuführen, welche nationale oder religiöse Antipathie
oder beide mitbringen, die zentrifugalen und antinationalen Kräfte erheblich ver¬
stärken würden? Wollen sie, um dieses Ziel zu erreichen, einen neuen Krieg
entzünden? Oder glauben sie mit Zeitungsartikeln den Kaiser von Österreich
zum Abtreten seiner deutschen Besitzungen bewegen zu können? Oder wenn sie
nicht so weit denken, wie soll dann den Deutschen in Österreich genützt werden?
Soll sich Deutschland zu ihrem Schirmherrn auswerfe»? So oft noch das — gewiß
jedesmal grundlose — Gerücht aufgetaucht ist, der deutsche Reichskanzler mache
Miene, sich in die innern Angelegenheiten Österreichs zu mischen, gerieten nicht
nur Slaven und Klerikale in hohe Aufregung, sondern gerade diejenigen, welche
sich rühmen, den österreichischen Staatsgedanken und die altösterreichischen Tra¬
ditionen unverbrüchlich hochzuhalten: die Deutschen; der bloße Gedanke an eine
Zolleinigung hat Tschechen und Magyaren zu den leidenschaftlichsten Protesten
bewogen; unzcihligcmale in den letzten Jahren haben wir gehört, daß die Deutsch¬
österreicher der sträflichen Hinneigung zu Preußen bezichtigt worden find, und
es wird behauptet, daß solche Verdächtigungen nicht ohne Einfluß auf die
Wendung der Dinge in den letzten fünf Jahren gewesen seien. Was anders
glauben die Herren Brinz und Konsorten mit ihren Deklamationen zu erreichen,
als abermalige Belebung des Mißtrauens, welches wenigstens in den obersten
Regionen beseitigt zu haben einer der schönsten Triumphe der Bismarckschen
Politik genannt werden darf?
Jeder gute Deutsche wird das Ringen der Stammesgenossen um ihre
Nationalität mit seinen wärmsten Sympathien begleiten, ob sie nun an der
Moldau oder an der Ostsee, in den Bergen Steiermarks oder Siebenbürgens
oder auf irgendeinem Flecke jenseits des Weltmeers den Ansturm fremder Völker
zu bestehen haben. Darüber jedoch muß Klarheit herrschen, daß Deutschland
ihnen keine Hilfe leisten kann, und daß jeder Schein des Strebens nach einem
Protektorat, gehe er auch von gänzlich unberufener Seite ans, ihre gute Sache
nur schädigen würde.
Aber die übereifriger Freunde des Deutschtums im Auslande denken sich
bei ihren Standreden wohl überhaupt uicht viel. Die heillose Gewohnheit, in
unverantwortlicher Stellung Phrasenraketen in die Luft zu werfen, welche dem
naiven Publikum ein Ah! der Bewunderung entreißen, zehnmal verpuffen, in¬
dessen auch einmal zünden können, läßt sie nicht los. Es ist ein starkes Stück,
einem Manne von dein wissenschaftlichen Berufe des Professor von Brinz so
etwas zuzutrauen. Allein wir erleben ja täglich völlige Kopflosigkeit bei Pro¬
fessoren, die auf dem Felde der Politik dilettiren. Und wer es über sich gewinnt,
zwischen die Worte „das hohe Glück, die Reichsgründung mitanzusehen," ein
höhnisches „allerunterthänigst" einzuschieben, der beweist ja klar, daß er in der
That zu den Unverbesserlichen gehört. Armer Mann, der einem solchen welt¬
geschichtlichen Ereignis gegenüber seine bairisch-schwäbischen Schrullen nicht ver¬
gessen kann! In Münchener Philisterregionen mögen ja solche Wendungen als
sehr freisinnig nud patriotisch bewundert werden, aber wer um deren Beifall
wirbt, sollte sich wenigstens nicht vermessen, andern Leuten Vorlesungen über
Nationalgefühl und deutsches Gesamtbewußtsein zu halten.
Eine wahre Erquickung gewährte nach der Beschäftigung mit dieser Art von
deutschen Gesamtbewußtsein die Lektüre von Aussähen W. H. Nichts, welche
dasselbe Thema berühren.*) Da ist lebendiges Nationalgefühl! Wohl selten
hat des Verfassers Eigenart sich so glücklich bethätigt, wie in der Arbeit „Nord
und Süd in der deutschen Kultur." Wir wissen ja, wie scharf und fein er die
Charakterzüge in den deutschen Volksstämmen beobachtet und den Beziehungen
zwischen ihnen und dem heimatliche:: Boden nachgeht. Hier nun finden seine
derartigen Studien praktische Verwendung bei den: Nachweise des Anteils,
welchen die verschiednen Gegenden an der Gestaltung der deutschen Geschichte
genommen haben, einander ablösend, bekämpfend, ergänzend oder ersetzend. Das
ganze Reich in verschiednen Richtungen durchmessend, läßt Riehl überall die
Mensche:: in ihrer Besonderheit und geschichtlichen Bedeutung auf dem Hinter¬
grunde ihrer Landschaften und Städte scharf umrissen aufstehen und zeigt, daß
in der Menge stark ausgeprägter Vvlksindividualitütcn, so schwer sie oft dem
armen Deutschland das Leben gemacht haben, doch auch wieder das Geheimnis
seiner unerschöpflichen Lebenskraft liegt. So oft sich ein Stamm aufgebraucht
zu habe:: scheint, tritt ein andrer jugendfrisch an seinen Platz, die „Knlturachse"
verschiebt sich, der Schwerpunkt verrückt sich aller paar Jahrhunderte, der tiefste
Fall, die ärgste Zerrissenheit birgt in sich bereits den Keim neuer Erstarkung.
„Der Fremde wundert sich, daß Deutschland vor lauter Übergängen nicht
längst zu gründe gegangen ist. Wer aber Deutschland kennt und die Deutschen
versteht, dem enthüllt sich hier vielmehr ein Hauptpunkt seiner unverwüstlichen
Dauer. In den düsteren Tagen des stinkenden neunten Jahrhunderts schien es,
als ob Deutschland sich in ein Chaos auflöse; auf die Karolinger folgten die
sächsischen Könige und Kaiser — Deutschland erstand aufs neue. Im Wende-
punkt des elften und zwölften Jahrhunderts schien sich unser Vaterland zu ver¬
bluten durch den Kampf der »zwei Schwerter«; das Reich der fränkischen
Salier sank, aber nur damit sich das Reich der schwäbischen Staufer umso
glanzvoller erhebe. Im dreizehnten Jahrhundert, in »der kaiserlosen, der
schrecklichen Zeit« des Interregnums, schien es mit uns gar aus und vorbei,
da schaffte der strenge Habsburger wieder Recht und Ordnung im Reiche. Zur
Reformationszeit zerrann die alte politische Macht der Deutschen, aber eine
neue Geistesmacht zog aus unsern Landen siegreich durch halb Europa. Nach
dem dreißigjährigen Kriege waren unsre Gaue eine Wüste geworden und unser
gemeinsames Staatswesen ein Spott. Doch erst stille, dann immer lauter und
gewaltiger begann die innere Erhebung deutscher Kultur, die uns im achtzehnten
Jahrhundert wieder zu einer Großmacht des Geistesschaffens erhob. Zur Zeit
der napoleonischen Herrschaft lag Deutschland zerstückelt darnieder und in Dienst¬
barkeit versunken. Gerade die Dienstbarkeit schuf uns Kraft, die Fesseln zu
breche::. Durch das Nationalbewußtsein kamen wir wieder zum Staatsbewußtsein.
Andre Völker gingen den umgekehrten Weg. Wechselnd tritt in der deutschen
Geschichte ein Stamm nach dem andern, ein Gau nach dem andern, wechselnd
tritt Nord und Süd in den Vordergrund. Wir ergänzten uns in diesem
Wechsel, der doch niemals zur Alleinherrschaft eines Teiles über das Ganze
führte. In der Fülle unsers individuellen Volkslebens ruht unsre Stärke, so¬
fern nur der Gemeingeist wachsend lebendig bleibt. Wir dürfen und müssen
von Nord und Süd in ihrem Wettkampfe reden, wir sollen diese Gegensatze
nicht vertuschen: die sich kreuzende,?, das Ganze verbindenden Diagonalen in
der Natur unsers Landes und Volkes sorgen dafür, daß Süd und Nord ein¬
ander suchen, selbst wenn sie sich zu fliehen scheinen. Der Fremde begreift dies
schwer, aber wir selber sollen es wenigstens begreifen lernen. Denn in diesen
Thatsachen ruht das Geheimnis der Unverwüstlichkeit Deutschlands, die Zauber¬
kraft seiner Verjüngung. — Und wir haben uns verjüngt!"
In diesen Worten resumirt nicht den Inhalt zweier Vortrüge, die wir
das Glaubensbekenntnis eines echten Deutschen nennen möchten. Er glaubt an
die Zukunft seines Volkes nicht allein deshalb, weil er dieser Nation angehört,
sondern weil die tausendjährige Vergangenheit und die große Gegenwart ihm
feinen Glauben als den wahren zeigen. Ob seine Wünsche nicht noch über das
jetzt Erreichte hinausgehen? Vielleicht. Dem Vorwurfe kleindeutscher Eng¬
herzigkeit bietet er keinen Anlaß. Aber er ist zu viel Patriot und Historiker,
um querköpfig und leichtfertig zu ignoriren, welche gewaltige Arbeit die letzten
Jahrzehnte geleistet haben, und zu schmollen oder zu höhnen, weil noch uicht
„alle Blütentrüume reiften." Die Verlagshandlung sollte von den beiden Vor¬
trägen „Nord und Süd in der deutschen Kultur" eine besondre Ausgabe ver¬
anstalten; sie könnten dann in viel weitere Kreise dringen als jetzt, wo sie einen
Bestandteil eines Buches von vierunddreißig Druckbogen bilden, und würden
ohne Zweifel zur Erfrischung und Ermutigung so manches guten Deutschen bei¬
tragen, der sich jetzt durch das Gerede und Geschreibe der absterbenden alten
Parteien den Kopf verwirren läßt, weil er nicht vorbereitet genng oder zu bequem
ist, die Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit zu betrachten, nicht unbefangen
genug, um die heutigen Zustände in Deutschland mit den Zuständen in den¬
jenigen Ländern zu vergleichen, welche im Vollbesitz der Freiheiten sind, deren
Mangel für Deutschland ein so schweres Unglück sein soll.
"
Der zweite Band der „Freien Vortrüge enthält noch verschiedne wert¬
volle Aufsätze kultur-, kunst- und musikwissenschaftlichen Inhalts. Namentlich
möchten wir den „Gang durch die Kulturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts"
hervorheben, welcher an Vater, Sohn und Enkel die Wandlungen in den An¬
schauungen, Bestrebungen und Lebensgewohnheiten des deutschen Bürgertums
sehr glücklich zur Anschauung bringt. Im Vorworte weiß der Verfasser viel
Rühmliches über die Institution der Wcmdervorträge und insbesondre über das
Wirken des deutschen Verbandes von Vereinen für öffentliche Vorträge zu sagen,
welcher jetzt 104 über ganz Deutschland ausgebreitete Vereine umfaßt. Wir
würden das unbedenklich unterschreiben, wenn alle Vorträge von der Qualität
der Riehlschcn wären oder sich wenigstens nicht gar so viel Spreu unter den
Weizen mischte.
in Morgengrauen bewegte sich die Kavalkade denn nun lang¬
samen Schrittes durch die von uralten Zypressen umsäumte
Straße, welche von der Porta Vescovile, an dem hochgelegenen
Aussichtspunkte — der jetzigen Terrasse des Giardino Giusti —
vorüber, nach dem ältesten Teile der erinnerungsreichen Stadt
sührt, nach dem Castel San Pietro. Ein Veroneser Hakenschütze stand auf
dem Posten, ein blutjunges, schmuckes Bürschchen, dem die schöne Reiterin
so sehr ins Auge stach, daß er am liebsten selbst ihr aus dem Sattel geholfen
hätte. Principe Buonacolsi, legitimirte sich mit würdevoller Hoheit der Alte-
^ voLt.ro xig-ohre, grüßte der Schütze.
Lazzaro hob Florida aus dem Sattel, und Vater und Tochter begaben
sich Hügelauf. Hier hatte in grauer Borzeit das Capitol Veronas gestanden,
und der alte Buonacolsi belebte in seiner anschaulichen Schilderung des ihm
durch genaue Aufrisse bis ins Einzelne bekannten Ortes den längst mit andern
Baulichkeiten bedeckten Hügel in solchem Grade, daß selbst seine nur erst zer¬
streut ihm zuhörende Tochter die Römerzeit wie in einem farbenbunten Bilde
vor Augen zu haben glaubte. Nicht minder hatte er im Kopfe, was gegen
Plutarchs Annahme sprach, bei Vercelli habe Marius die Cimbern aufs Haupt
geschlagen, statt bei Tomba vor den Thoren Veronas, und auch hier gewann
alles durch die wenigstens scheinbare Sicherheit der örtlichen Nachweise Leben
und Bewegung. In großen Zügen stellte er dann die staunenswerte kriegerische
Bedeutung des Marius, dieses herrischen, aber in seinem rastlosen Thatendrange
bewundernswerter Charakters fest, begleitete ihn nach Aqua Sextiä im römischen
Gallien, wo Marius in zweitägiger Schlacht die mit den Teutonen verbun¬
denen Cimbern vernichtete; folgte ihm auf der Flucht nach Afrika, wo Marius
auf den Trümmern Karthagos einsam und verlassen dem Wechsel des Geschickes
nachsann; zurück nach Rom dann, wo Marius mit viertausend Sklaven fünf
Tage und Nächte lang Rache an seinen Feinden nahm; und endlich an das
Sterbelager, auf welchem Marius seine unruhige Seele aushauchte, kurze sech¬
zehn Tage, nachdem er wieder — zum siebenten male — diesmal an der Seite
Cinnas — die Würde eines Konsuls erlangt hatte.
Florida wagte zu sagen: Und das heißt nun gelebt haben! denn sie
dürstete nach einer Gelegenheit, um ihr Herz in dasjenige ihres Vaters aus¬
zuschütten. Aber seine Seele war vollauf von den Geistern erfüllt, die mit
Veronas Vergangenheit zusammenhingen, und in der That umschwebten die
Stätte, auf der man verweilte, Geister in Menge. Über jene Brücke, so do-
zirte der Alte weiter, zog Theodorich mit seinen siegestrunkenen Ostgothen, um
hier oben sich die Königsburg bauen zu lassen, in der er von da an Hof hielt,
so oft er nicht in Ravenna residirte. Er versah die Stadt mit Türmen und
leitete frisches Gebirgswasser in die Röhren ihrer versumpften Brunnen, ein
großer, ein merkwürdiger Mann. Sein arianisches Glaubensbekenntnis freilich
mußte daneben mit in den Kauf genommen werden, und so weist denn noch
ein marmornes Doppelrelief am Portal der Kirche zu San Zeno, drüben jen¬
seits der Etsch, auf ihn als schlimmen Ketzer hin, und ein geistlicher Dichter
hat zu besseren Verständnis nachlebender Geschlechter eine Inschrift dazu ver¬
faßt, nach welcher der Teufel den argen Gothenkönig samt seinem Jagdtroß in
die Hölle spedirt.
Auch diesmal wagte Florida sich mit einem Seufzer über den ewigen
Meinungsstreit der Männer und der Geschlechter und mit der Ansicht hervor,
so vieles im Leben würde sich gewiß friedlich begleichen lassen, wollte nur jeder
Teil dem andern mit etwas versöhnlichen Gesinnungen entgegenkommen.
Aber der Alte hatte, während sie mit bittend auf ihn gerichtetem Blick so
redete, schon ein neues Bild zu entrollen begonnen, dasjenige Alboins, des
Gründers des Lombardenreiches, der einst in dieser selben Königsburg residirte
und den das Schwert eines Günstlings seiner Gattin Rosamunde erschlug.
Du hast mir eines Tages von dieser schrecklichen Ehe erzählt, Vater, sagte
Florida, es war das erstemal, daß ich von einer Ehe hörte, zu der ein Mädchen
gezwungen worden war; ich erinnere mich noch deutlich, wie arg mir der Schreck
in die Glieder fuhr — zur Ehe gezwungen zu werden! — gezwungen!
Ganz so war es doch nicht, wollte der Alte sie berichtigen.
Und worüber hätte ich mich damals denn so arg entsetzt?
Wohl über den Trunk —
Aus des Vaters Schädel! Florida bedeckte ihre Augen mit der Hand,
Und wir stehen hier auf der Stelle, wo diese grauenhaften Dinge sich zutrugen?
Es ist die nämliche Stelle, Kind, sagte der Greis; wo giebt es aber Stellen,
die seit Jahrtausenden den Menschen und ihren Leidenschaften zum Tummelplatz
dienten und an denen dennoch ein in die Vergangenheit gründlich Eingeweihter
vorübergehen kann, ohne daß sein Haar sich sträubt?
Der alte Buonacolsi wollte auf andres übergehen, ans das Veroneser Ge¬
burtshaus Catulls, des anmuthvoller Dichters, auf dasjenige des großen Bau¬
meisters Vitruvius, auf das, jetzt vom ersten Morgenrot angeglühte, rosig aus
der Mitte der Stadt herübergrüßende Amphitheater, in welchem das Volk einst
seine Schaulust sättigte, zuerst an den blutigen Kämpfen der Sklaven und der
gewerbsmäßigen Fechter, dann, unter den Viscontis, an den gerichtlich ver¬
ordneten Zweikämpfen, endlich, nnter den Sealigern, an den zahlreichen Ent¬
hauptungen namhafter Empörer oder Widersacher.
Aber wie Lehrreiches er auch über diese weitschichtigen Materien an die
lokalen Fingerzeige zu knüpfen bemüht war, immer fand Florida wieder ein
Mittel, um auf den der schönen Königstochter angethanen Ehezwang zurückzu¬
greifen.
Und wer sagt dir, daß sie dem Lombardenkönig nicht freiwillig die Hand
reichte? versetzte der Alte, indem er, was er sonst noch der Tochter zu erzählen
hatte, auf eine andre Gelegenheit verschob und die Pferde wieder vorführen ließ.
Ihr selbst, Vater, versetzte Florida, oder war es nicht so? Hatte nicht
Alboin den Gepidenkönig Kunimund, den Vater Rosamundens, erschlagen, und
zwar mit eigner Hand?
Das ist durch glaubhafte Geschichtschreiber verbürgt.
Und also?
Und also heiratete sie denjenigen, der ihren Vater erschlug, sagte der Alte,
was weiter?
Was weiter, Vater? Wird eine Tochter einem solchen Manne aus freien
Stücken die Hand reichen? Unmöglich! Rosamunde muß also doch unbedingt
dazu gezwungen worden sein.
Darüber, sagte der Alte, hat man uns nichts Bestimmtes überliefert. Es
gab immer Kinder, die über thörichten Sinnenreizen vergaßen, was sie ihren
Eltern schuldig waren. Wer weiß, wie schön und verführerisch der Lombarden¬
könig ihr erschien? Er hatte gesiegt; der Sieg verherrlicht immer. Vielleicht
gehörte sie auch zu den oberflächlichen Naturen, die nicht begreifen, warum sich
die Völker bekriegen, warum eine Fehde zwischen Herrschergeschlechtern sich ver¬
erbt, sich vererben muß, soll gelittenes Unrecht nicht den Schein des Rechtes
annehmen. Du schüttelst den Kopf. Ich weiß, zu jenen oberflächlichen Naturen
gehört, dank dem Himmel, meine Tochter nicht. Oder würdest du — aber warum
frage ich nur! — würdest du deinen Freund denjenigen nennen können, der
deinen Vater gestern ins Gesicht schlug? Und ist er minder für alle Zeit dein
Feind, wenn es nicht gestern, sondern vorgestern, wenn es nicht vorgestern,
sondern vor Jahresfrist, wenn es nicht vor Jahresfrist, sondern vor zehn,
vor zwanzig Jahren geschah, oder wenn es nicht dein Vater, sondern dein
Großvater, dein Urgroßvater, dein Ururgroßvater war, den er schug, oder wenn
nicht der Übelthäter selbst mehr am Leben ist, sondern nnr noch sein Sohn,
sein Enkel, sein Urenkel, die aber alle die Stirn hoch tragen oder hoch tragen
dürfen, weil sie für jene Unbill noch nicht zu büßen brauchten? Doch wohin
verirre ich mich? Da steigt die Sonne über die Berge Jstriens empor. Werfen
wir in Andacht noch einen Blick rückwärts auf die lombardische Ebene, wo seit
Jahrtausenden der Boden mit dem Blute solcher Tapfern gedüngt worden ist,
die eine ihnen angethane Unbill nicht ungesühnt lassen wollten. Und nun zu
Roß und heim nach Mcmtuci!
Es war ein schöner, wolkenfreier Tag heraufgezogen. Verona lag den
Reitern im Rücken, und die Pferde durften endlich fröhlich auskrähen.
Was kann ich machen? hatte sich Florida mit den Ängsten, unter denen
sie litt, abzufinden gesucht; was bleibt mir übrig, als den Dingen ihren Lauf
zu lassen und daheim fleißig zur Madonna und zur heiligen Barbara zu beten?
Der Rappe des alten Buonaeolsi war ein echter Vollbluttraber, durch
dessen Hitze zu Zeiten auch Floridas Apfelschimmel — damals die beliebteste
Farbe für Damenpferde — sich zu übereilten Tempo verführen ließ. Lcizzaro
mußte daher mit seinem schon etwas gemächlichen Fuchswallach an die Seite
seines Gebieters rücken, sodaß die Ungeduld des von der Lust am Heimkommen
erfüllten Rappen sich einigermaßen legte.
An die Seite Floridas rückte nun Eusemia.
Sie wollte sofort ihrer Herrin wieder von Vorsichtsmaßregeln reden, durch
welche das etwaige Mißtrauen des gnädigen Herrn abzulenken sei, aber Florida,
von der Schönheit des Morgens und dem Reiz der Landschaft erfüllt und
nicht minder von dem Bedürfnis beherrscht, mit dem Geliebten im Geiste allein
zu sein, blieb stumm und lächelte nur ohne zuzuhören wie im Traume vor sich
hin, sodaß die Friaulerin endlich ihren Nededrang eindämmte.
In der That war Floridas Seele von lieblichen Bildern umgaukelt. Sie
hatte sich wenig mit der Welt berührt, hatte viel in Legenden und heiligen
Müren gelebt, hatte nie die täglich sich wiederholenden Wunder des Sonnen¬
auf- und Unterganges und der Sternenpracht, der Blumendüfte und der Farben¬
spiele von den Wundern, welche die Heiligen verrichteten, getrennt, noch auch, wenn
es ihr zugemutet worden wäre, zu trennen vermocht. Mitten in einem der hol¬
desten Wunder, das fühlte sie, schwebte sie seit gestern selbst. Oder war die
Liebe kein Wunder? Ließ sie sich besser erklären als das Sonnenlicht und der
Sternenschimmer, als der Duft der Rose und das Grün des Waldes? War
all ihr Denken und Sinnen ihrem Herzen jemals früher so willenlos unter-
thänig gewesen? Hatte sie nicht bis gestern als zu der einzigen Obrigkeit über
sich nächst Gott zu ihrem Vater aufgeblickt? Und wohin war, seit die Liebe
ihr ganzes Wesen wie mit einem neuen Blut erfüllt hatte, die Herrschaft, die
bis dahin ihr Kopf geübt hatte? Wohin, wohin hatte sich die stumme Ehr¬
furcht vor ihrem Vater verkrochen? Fast empfand sie ihm gegenüber nur noch
Furcht! Hatte alles das nicht die deutlichen Kennzeichen eines Wunders —
soweit es ihr die Welt in ein blühendes Eden verwandelte, dem Himmel sei
Dank: eines holden Wunders!
So, sagte sie sich, löst sich die reife Frucht vom Baume los, und ein
Wunder Gottes läßt ans ihrem Kern den Keim hervorbrechen, aus dem ein
neuer Baun, geu Himmel schießt. So entflattert dem Neste das Vöglein, wenn
seine Stunde gekommen ist, und durch ein Wunder Gottes siudet es in der
ihm wildfremden Welt allgemach sein Futter, erlernt ohne Unterweisung sein
Lied, verlernt und vergißt, wer seine Eltern waren, baut ohne Unterweisung
selbst sein Nest und setzt das andre Vöglein, seine Genossin, hinein, die durch
ein Wunder weiß, mit welchen Federn oder Gräsern oder Moosen das Nest für
die Eierchen ausgepolstert werden und wie lange Tage in geduldigen Brüten
ans ihnen ausgeharrt werden muß.
Trunkenen Blickes sah sie mit gefalteten Händen himmelan und dann
ringsum, wo alles vom Nachtthnu und vom Spiel der noch niedrig über die
Erde hinstreifenden Sonnenstrahlen glänzte und leuchtete. Und inmitten des
lauter und lauter werdenden Vogelgesanges, der aus feuchten Wiesen weißlich
aufsteigenden Nebel, der Lämmlein, die jetzt am Enter der Mutter sogen und
jetzt wieder mit neugierigen Augen nach den Reitern auf der Heerstraße herüber
staunten, überkam sie nach und nach ein so maßloses Entzücken und ein so in¬
brünstiges Dankgefühl für das Wunder, dessen auch sie gewürdigt worden war,
daß sie Mühe hatte, nicht jauchzend die Stimme zu erheben.
Während sie so, vom Drucke der Wirklichkeit befreit, sich von unklaren
Glücksempfindungeu wie ein Kind auf den Armen der Mutter schaukeln ließ,
war Eufemia etwas zurückgeblieben, denn sie hatte im Rücken Hufschlag ver¬
nommen und beim Anblicken den gestern in Villafrancci früh morgens im
Albergo della Scala von ihr über den Namen und das Reiseziel ihrer Herr¬
schaft belehrten Diener des Principe erkannt.
Mein Herr ist des Teufels, sagte er, als er die auf ihrem Schecken hinter
ihrer Herrin Zurückgebliebene erreicht hatte, er hat mich ans dem Dienste ge¬
jagt; er behauptet, mein Gesicht und meine Gesellschaft nicht mehr ertragen zu
können.
Mir geht es, fürchte ich, nächstens nicht besser, gab Enfemia zur Antwort,
meine besten Ratschläge hört man seit gestern mit tauben Ohren an. Aber was
wollt Ihr denn mit mir hier auf der Landstraße? Wenn der mißtrauische alte
Herr sich umschaut und mich mit einem Fremden plaudern sieht, so verliere ich
bei ihm alles Vertrauen.
Mein Ziel ist vor der Hand Villafranca, sagte Beppo. Warum? Weil
mein Herr mir als Schmerzensgeld drei Grauschimmel geschenkt hat, die er
vorgestern auf dem Pferdemarkt bei der Madonna ti Campagna unweit Verona
gekauft hat, und weil das vierte Pferd im Conte ti Virtü eingestellt ist, Ihr wißt,
in dem Gasthofe, der uns das Glück verschaffte, Euch ins Zimmer zu gucken.
Ng-in-aeneo, ich wünschte, es wäre nie geschehen, denn wo finde ich einen so frei¬
gebigen und so nachsichtigen Herrn wieder, wie meinen Principe! In ganz
Verona nicht! Und wer weiß, ob in Mantua?
Aber was wollt Ihr denn mit dem vierten Pferde? fragte Enfemia, deren
Neugierde immer am Nebensächlichen hängen blieb, ich denke, drei Pferde fressen
schon mehr Hafer, als Euch lieb sein wird.
Das vierte war vorgestern angeblich nicht feil, sagte Beppo, man wollte
meinen Herrn eben schrauben; so treibens die Pferdehändler immer; wollt Ihr
wetten? ich bekomme es auf der Stelle, und zwar zur Hälfte des Preises, den
mein Herr vorgestern bot. Lehrt mich Pferde einkaufen!
Aber so wollt Ihr also durchaus mit Vieren fahren und selbst den Herrn
spielen?
Nein, versetzte Beppo, das will ich nicht.
Was denn sonst?
Beppo strich sich ums Kinn. Die Wahrheit zu gestehen, sagte er, ich
möchte meinen Herrn noch nicht ganz aufgeben.
Und dazu braucht Ihr vier Pferde?
Drei Pferde spannt man vor gemeines Fuhrwerk, antwortete Beppo.
Das ist mir nicht neu.
Er konnte also mit den drei Schimmeln absolut nichts anfangen.
Weiter!
Der vierte mußte herbei.
War aber nicht feil; weiter!
Nun müßt Ihr wissen — ganz im Vertrauen —, daß mein Herr eigent¬
lich ein rechter Spatz ist — laßt mich ausreden —, daß er also aller acht
Tage sein Herz an eine andre Schönheit verliert. Sagte ich, aller acht Tage?
nein, übertreiben will ich nicht, sagen wir aller vierzehn Tage, zuweilen hat er
auch schon sechs Wochen lang sich eingebildet, nun werde er nie wieder eine
andre ansehen mögen.
Ihr solltet Euch schämen! kam endlich Enfemia zu Worte.
Ihr meint: mein Herr?
Nein, Ihr! Eltern Herrn so zu verunglimpfen.
Ihr thut mir Unrecht, Madonna Enfemia, sagte Beppo gekränkt; die
jungen Damen in Verona recken alle nach uns die Hälse; ich wüßte keine, die
nicht gern ein kleines Abenteuer mit ihm bestanden hätte. Wenn ihn das nicht
rechtfertigt, so weiß ich nicht, was ihn rechtfertigen kann. Die Damen in Verona
Würden, glaube ich, vor Verdruß und Neid platzen, wenn es eine durchsetzte,
ihn an die Kette zu legen. Daß er es zu einem solchen allgemeinen Unglück
nicht kommen läßt, das kann Verona ihm danken, und wenn ich Euch als Kol¬
legin das alles so ohne Verbrämung sage, da solltet Ihr mir dafür danken
und nicht von Verunglimpfen reden.
Ich glaubte, Ihr schmiedet auf, entschuldigte sich Eufemia.
Das ist nicht meine Art, am wenigsten mit meinesgleichen, und Ihr er¬
laubt doch, daß ich Euch meinesgleichen nenne.
Ich bin nnr eine Bäuerin, sagte Eufemia mit verschämten niederblicken.
Ihr seid Witwe?
Zum wenigsten frei.
Darüber reden wir ein andermal. Wo war ich stehen geblieben?
Ihr habt mich selbst ganz konfus gemacht. Ich denke, bei den vier Pferden.
So ist es!
Was Euch die helfen sollen, weiß ich nämlich noch immer nicht.
Lsiie, jetzt gebt Acht. Ich sagte Euch, mein Herr habe mich weggejagt —
Und sei ganz des Teufels.
So sagte ich, und so steht es in der That mit ihm. Nun scheint mir's,
da ihn bisher noch keine Liebschaft bis zu diesem Pnnkte aus den Fugen gebracht
hat, daß ich ihn nicht im Stiche lassen darf, versteht Ihr, nicht darf; denn unser¬
eins hat doch auch sein Gewissen.
O, und vielleicht mehr als mancher andre.
Lasse ich ihn im Stiche, so rennt er mit dem Kopfe gegen die Wand —
hundertmal hätte er ihn sich schon eingerammt, wäre ich nicht bei der Hand ge¬
wesen, um rasch vorher ein Loch zu machen; aber nie früher hat er sich gegen
mich der Worte bedient: Beppo, ich kann dein Gesicht und deine Gesellschaft
nicht mehr etragen. Nicht mehr ertragen! Spricht man so bei gesunden Sinnen?
Ich schicke nicht, ich habe mehr gesunde Zähne im Munde als die meisten Men¬
schen, die Nase steht mir nicht der Quere. Sagt mir, Madonna Eufemia, was
soll man von einem solchen Menschen halte», dein bei meinem Gesicht schlimm wird?
Beppo wirbelte seinen pechschwarzen Schnurrbart in den Fingern und blickte
so menschlich in die Welt hinaus, wie es seinen verschmitzten kleinen Augen
nur irgend möglich war.
Ihr habt Recht, Signor Beppo, gab Eufemia mit einem wohlgefälligen
Seitenblicke nach dem Besitzer der drei Grauschimmel zur Antwort; ich wüßte
nicht, warum einem in Eurer Gesellschaft schlimm werden sollte.
Aber bei meinem Anblick?
Erst recht nicht — ich wollte sagen — aber Ihr treibt Euern Scherz
mit mir.
Meine Absichten sind die allerehrlichsten — er legte die Hand auf die
Brust; doch davon ein andermal. Wo war ich stehen geblieben?
Immer noch bei den Schimmeln, Signor Beppo. Er gefiel ihr je länger
je mehr.
Ganz recht; Ihr paßt gut auf, Madonna Eufemia; so muß ein richtiges
Frauenzimmer beschaffen sein.
Also was ist mit den Schimmeln?
In s-niirrg. Mg,, Ihr habt mir's angethan. Noch nie ist mir der Faden
der Rede so oft abgerissen. Also um kurz zu sein: wenn mein Herr die vier
Pferde in einer Hand sieht — und hente noch fahre ich mit ihnen durch alle
Hauptstraßen Veronas —, dann weiß ich, hält er's nicht aus. Schneidet mir
beide Ohren ab, Madonna Eufemia, wenn er's aushält. Halt still, Beppo,
höre ich meinen Herrn schon rufen, ich war ein Narr, Beppo, ich war ein Be¬
sessener. Was geht mich die Mantuaucrin an? Herab vom Bock, Esel
— denn ohne Grobheiten geht's auch bei Versöhnungen mit ihm nicht ab —,
und damit sitzt er oben und hat die Zügel in der Hand und knallt, daß die
Grauschimmel meinen, der jüngste Tag breche an, und nun in scharfem Trabe
zur Porta Stuppa hinaus, daß die Hufeisen dem Wachtposten in die Suppe
fliegen, und daß ganz Verona die Fenster aufsperrt und sich zuruft: Nach dem
Ponte ti Veja! Der tolle Gonzagn fährt mit Vieren über die Veja-Abgründe
weg! Ihm nach! Das muß man gesehen haben! Lvvivu, Gonzaga! IZvviva,
Guiseppe Gonzaga!
Eufemia hielt sich die Ohren zu.
Wir haben noch nie den Hals gebrochen, wollte Beppo sie beruhigen; an
irgendeinem Buschwerk bleiben wir im Notfall immer hängen —
Aber nein, nein, remonstrirte Enfemia, Ihr sollt nur nicht so schreien, und
noch dazu so dicht hinter meiner armen Herrin, an der ich hier, Euch zu Liebe,
Verrat üben soll, wie Judas unsern Herrn und Heiland verraten hat. Denn
zuletzt wollt Ihr ja doch nur hintertreiben, daß beide ein glückliches Paar
werden. Und warum sollen sie's nicht werden? Weil Ihr keinen so freigebigen
und nachsichtigen Herrn wieder bekommt. O ich habe jedes Wort gehört, wenn
ich auch über Eltern galanten Redensarten etwas konfus geworden war. Meine
Herrin wird es aber nicht überleben, sage ich Euch, wenn sie einen andern hei¬
raten soll. Und Enfemia mußte sich Gewalt anthun, um nicht aus Mitgefühl
in lantes Schluchzen ciuszubrcchcn.
Ich hatte Euch für vernünftiger gehalten, sagte Beppo.
Mich in solche Anschläge einzuweihen!
Für sehr viel vernünftiger.
Um zu so etwas zu schweigen, müßte ich ja einen Stein im Leibe haben.
Statt des Herzens, wollt Ihr sagen.
Ja, statt des Herzens. Ihr habt keins, sonst spannet Ihr nicht solch finstre
Pläne.
Ihr vergesset nämlich eins —
Daß jeder sich selbst der Nächste ist — o Ihr habt den Herrn Gonzaga
nicht als Säugling auf dem Schoße gehabt, wie ich mein gnädiges Fräulein,
sonst sagtet Ihr nicht, daß jeder sich selbst der Nächste ist. So reden nur
Diener, die einzig um des Geldes und um der bequemen Tage willen die Livree
ihrer Herrschaft tragen, nicht aus Liebe und Anhänglichkeit.
Gegen Euch ist nicht auszukommen, sagte Beppo, der im Grunde auch für
diese löbliche Seite der Friaulcrin nicht ganz unempfindlich war, eher kommt
eine Forelle einen Sturzbach hinauf.
Redet nur, hielt Eufcmia an sich, ich bin froh, wenn Ihr mir's abnehme.
Was habt Ihr also ganz vergessen? wollte Beppo seine Rechtfertigung
beginnen, daß mein lieber Herr —
Den sämtlichen Veroneser Damen schon die Köpfe verdreht hat, fiel ihm
Eufcmia schon wieder ins Wort; was kann er dafür? Das weibliche Geschlecht
ist eben zum Fenerfangen da! Icläio hat es so gewollt! Ihr blitzet, und wir
brennen. Was kann man gegen die Natur?
Lsirissww, sagte Beppo, reden wir aber Naturgeschichte oder reden wir
Logik? — das war eine Reminiscenz aus der Zeit seines Kardinaldienstes —
reden wir von den Weibern oder von meinem gnädigen Herrn? Gut, es soll
kein Fehler an ihm sein, daß er sich in jedes glatte Gesicht zum Sterben ver¬
liebt, aber ahnt das Eure Herrin? Will sie sich dem aussetzen? Ist sie nicht
zu gut dazu? Thut Ihr uicht ein gutes Werk, wenn Ihr bei Zeiten Wasser
ins Feuer gießt? Daraus antwortet mir. Ich bin neugierig, was Ihr darauf
zu sagen habt, Madonna Eufcmia.
Darauf antworte ich, Signor Beppo: daß Ihr mich folglich schnöde hin¬
ters Licht führtet.
Ich Euch?
Besinnet Euch!
Mein Gedächtnis macht mir keinen Vorwurf.
Und Ihr wißt nicht wehr, was Ihr mir gestern Morgen im Albergv
della Scala von den Tugenden Eures Herrn vorgegaukelt habt, bis ich schwach
genug war, Euch den Reisezweck meiner Herrschaft zu verraten, ja den Vor¬
schlag mit dem Papillotcnsigncil anzunehmen?
Aus Liebe zu Euerm gnädigen Fräulein.
Gewiß. Ich wollte ihrem Glücke nicht im Wege stehen.
Und ich nicht dem Glücke meines Herrn, obschon ich ihn nicht als Säug¬
ling auf dem Schoße gewiegt habe.
Eufcmia sah ein, daß er nicht in die Enge zu treiben war. In dieser
Weise verlieren wir nnr unsre Zeit, sagte sie, verständigen wir uns! Wenn Ihr
dazu thut, daß Euer Herr sich mein Fräulein ans dem Sinne schlägt, so
mag Euch das für eine Weile zum Vorteil gereichen, vorausgesetzt, Ihr und
Euer Herr brecht uicht schon heute das Genick —
Beppo fühlte unter sein Wams, da ihm einfiel, es sei freilich ratsam,
die halsbrecherische Fahrt nicht ohne Amulet zu wagen.
Aber, fuhr Eufemia fort, vielleicht könnte es für Euch doch uoch ein gut
Teil vorteilhafter sein, wenn Ihr ihm eine Neuigkeit hinterbrächtet, die er,
wenigstens in seiner jetzigen Gemütsverfassung, mit Gold aufwiegen würde.
Kommt Ihr mit einer solchen Neuigkeit, statt mit dem vierten Grauschimmel,
nach Verona zurück, so seid Ihr bei ihm einer guten Aufnahme gewiß, wohl
auch Eurer Wieder«nstellnng. Zugleich braucht Ihr aber auch nicht mit Neue
an alles das zu denken, was Ihr gestern im Albergo della Scala an preis¬
lichen Eigenschaften Eures Herrn vor der leichtgläubigen Eufemia auskramtet,
und Ihr konnt Euch dann ferner sage», daß Eufemia es Euch nicht nachträgt.
Sie blickte bei diesen Worten in seine kleinen, verschmitzten Augen so gut¬
herzig hinein, daß ihm warm uns Herz wurde und er für heute wenigstens in
der That die Spekulation mit dem Schimmel aufzugeben beschloß, vorausgesetzt,
was er jetzt hören würde, entspreche seinen Erwartungen. Das that es dann
allerdings. Die Gefahr, die seit den heutigen Eröffnungen des alten Buona-
eolsi über dem Fräulein schwebte, war eine Neuigkeit, wie Beppo keine wert¬
vollere wünschen konnte. Er hatte in betreff seines Herrn nicht übertreiben
wollen. Nach dem Urteil Beppos wenigstens konnte der Wind, der jetzt nach
Mantua und nach dem Zodiaeo-Gcißchen blies, gar leicht nach einer audern
Richtung umspringen. Die Heftigkeit, mit der er blies, war aber, wenn sofort
auf ein Hindernis treffend, recht wohl zur raschen Durchführung eiues Hand¬
streichs geeignet.
Auch diesmal an Eufemia alles auszuplaudern, was nun geschehen werde,
hielt Beppo jedoch nicht für ratsam; der Einblick in Eufemias Art und Weise
hatte ihn gewitzigt.
So wurde deun nur verabredet, daß Eufemia ihre Herrin zu bestimmen
suchen werde, dem Gebieter Beppos während ihrer Abendandacht in der Kirche
des heiligen Stefano hin und wieder Gelegenheit zum Einziehen von weiteren
Nachrichten über die Pläne des alten Bnonacolsi zu verschaffen. Nachdem
solcherart die lange Zwiesprache zu diesem Ergebnis gekommen war, wechselten
Beppo und die Friaulcrin noch einige kurze Worte, denen aber die sie beglei¬
tenden Blicke eine vielsagende Wärme gaben, worauf Beppo, den Kopf seiner
mausefarbeneu Stute umkehrend, im Galopp nach Verona heimsprengte.
(Fortsetzung fulgt.)
Den ersten in diesen Blättern besprochenen Teilen ist früher, als selbst bei
der bewundernswerter Schaffenskraft des Verfassers erwartet werden konnte, der
dritte Teil gefolgt. Derselbe nimmt seinen Ausgang von der Reformation und
zeigt von dem hohen Standpunkte, den nur eine tiefgründliche- und ebenso viel¬
seitige Wissenschaft gewähren kann, in den großen Zügen wie in den Einzelheiten,
wie die Reformation der Kirche zu einer Reformation in Bildung und in Bildungs-
wesen wurde. Neben dem Glauben eröffnet sich ein neues, weites geistiges Gebiet,
und das bisher mit dem Kredo verknüpfte Bildungswesen gestaltet sich allmählich
zu einem staatsbürgerlichen aus. Dieser Gedanke wird innerlich an der Fort¬
entwicklung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen (Philosophie, Natur-, Rechts¬
und Staatswissenschaft) gezeigt und äußerlich an den Hanptfaktoren der Bildung
(Universitäten, Gymnasien, Volksschulen) dargelegt. Dabei behandelt der Verfasser
das deutsche Bildnngswesen immer nur als einen Teil und im Zusammenhange
mit dem gleichen in deu großen europäischen Kulturländern, und so wird das
ganze Werk zu einer Geschichte der europäischen Bildung überhaupt. Erst nachdem
der größte Teil des Unternehmens fertig vorliegt, ist der Zweifel über die Mög¬
lichkeit eines solchen gehoben und ein neues epochemachendes Denkmal deutschen
Fleißes und deutscher Wissenschaft geschaffen.
Auf Einzelheiten näher einzugehen, verbietet der hier vergönnte Raum. Es
kann aber uur wiederholt werden, daß das Buch sich ebenso an den Gelehrten
wie an den gebildeten Laien wendet, und daß abgesehen von dem reichen Inhalt
auch die ansprechende Darstellung, die sich von allem sonst üblichen Gelehrtcnkrmn
fernhält, überall einen wahren Genuß bieten und dem größten Interesse be¬
gegnen wird.
Auf 293 Seiten stattlichsten Formats enthält dieses Buch Briefe, welche namhafte
Männer freisinniger Richtung in Politik und Wissenschaft an den Herausgeber
gerichtet haben als Antwort ans die Zusendung seiner die Frage des Antisemitismus
behandelnden Schrift „Sollen die Juden Christen werden?" (2. Auflage, 1884).
Mit Recht geht Singer dabei von der Ansicht aus, daß alle Aeußerungen hervor¬
ragender Juden gegen die Vorwürfe der Antisemiten doch nur eine sehr geringe
Wirkung haben können, da diese Anwälte des Judentums ja zugleich Partei sind.
Er beabsichtigt darum, die „intelligenten Kreise der Bevölkerung, welche kraft ihrer
höheren Bildung Vernunftgründen noch zugänglich find," durch das, was vorur-
teilsfreie Christen zur Entschuldigung des Judentums geäußert haben, von der
Grundlosigkeit der gegen die Juden erhobenen Anschuldigungen zu überzeugen.
Nun sind aber verschiedne Briefe nichts weiter als höfliche Empfangs¬
bescheinigungen. Wer Max Müllers wortreichen Stil und seine verbindliche
Artigkeit kennt, wird auf folgenden Brief kein großes Gewicht legen: „Ihr Ein¬
wirken habe ich mit Frende gelesen. Wie unendlich bedeutender sind die Wahr¬
heiten, in denen uicht uur Judentum, Christentum und Islam, sondern alle
Religionen übereinstimmen, als die Dogmen, über welche Rabbis, Priester und
Ulemas zanken und streiten. Hoffen wir, obgleich wir nun schon fast zweitausend
Jahre vergebens gehofft haben, daß die Zeit doch kommen wird, wo wir weder
auf diesem Berge noch zu Jerusalem werden den Vater anbeten — nud wenn
dies Heil vou den Juden kommen soll — warum nicht?"
Andrerseits sind doch auch die Antworten, welche diese Gesinnungsgenossen
eines jüdischen Liberalen gegeben habe», nicht immer ganz befriedigend ausgefallen.
Es ist Singer in dieser Hinsicht etwas bange um den Eindruck, den die von ihm
herausgegebenen Briefe auf seiue Glaubensgenossen machen werden. Er sagt deshalb
in seinem Borworte, welches zu einem nicht geringen Teile nichts als ein Zitateu-
konglomerat aus den darauf folgenden Briefen ist: „Vou vornherein erkläre ich es
für ein unwürdiges Unternehmen, wenn sich etwa anläßlich einiger Allssprüche in
meiner Sammlung jüdische Schriftsteller hinreißen ließen, die betreffenden Männer
als Freunde der Antisemiten und als Feinde der Juden hinzustellen."
Den Standpunkt, den er selbst vertritt, ist der des flachsten Liberalismus,
und zwar des spezifisch österreichischen Liberalismus. Mau kann es auch schon
aus dieser Vorrede ersehen, wie es kommt, daß die Deutschen des cisleithanischen
Oesterreichs als die eigentlichen Vertreter dieses alles Positive uegirenden Liberalis¬
mus, mit deren Standpunkt sich der Verfasser des Vorwortes identifizirt, keine
regierungsfähige, Partei zu bilden imstande sind. Interessant ist es überdies zu
sehen, daß er Christentum und katholischen Ultrcimontanismus einfach als gleich¬
bedeutend ansieht, wie er auch von dem gesamten Protestantismus offenbar nichts
andres kennt als Stöcker, den er stets mit dein geschmackvollen Beiwarte „Hof-
derwisch" beehrt, ganz dem entsprechend, daß er die katholischen Geistlichen überall
nur als Schwarzröcke oder Schwarzkutten bezeichnet. So geht aus allem das für
Leute seines Standpunktes trotz redlichsten Strebens kaum je überwindbare Un¬
vermögen hervor, die Berechtigung andrer Anschauungen zu würdigen und an¬
zuerkennen.
Die den Briefen vorangestellten biographischen Skizzen der Autoren, die dazu
dienen sollen, „dem in der Literatur minder bewanderten Leser mit wenigen
Worten ein Bild von der Persönlichkeit des Autors zu verschaffen," sind zum
größtem Teil, wie der Verfasser selber mitteilt, dem „Biographischen Schrift¬
stellerlexikon" aus dem Verlage des Bibliographischen Instituts entnommen. Bei
aller Anerkennung der Brauchbarkeit dieses Nachschlagewerkes müssen wir doch be¬
zweifeln, daß der Leser sich nach derartigen Notizen „ein Bild von der Persön¬
lichkeit des Autors" zu machen imstande sei.
Diese Sammlung ethnographischer Charakterbilder, welche man Grubes
Geographischen Charakterbildern an die Seite stellen kann, will dem seit 1870
bedeutend gestiegenen Interesse für Ethnologie in der gegenwärtigen, umfassenderen
Ausdehnung des Begriffs der „Völkerkunde" dienen. Dem entsprechend beschränkt
sich der Verfasser nicht ans Themata der eigentlichen Ethnographie oder „Völker-
beschrcibung," sondern er hat mich ans den Gebieten der Sprachgeschichte, der Volks¬
dichtung, überhaupt der Kulturgeschichte und Völkerpsychologie, eine, Reihe von
prägnanten Darstellungen aufgenommen, welche das ethnographische Bild der be¬
handelten Völker auch von diesen, früher meist gänzlich übersehenen Seiten
charakteristisch beleuchten.
Den Stoff hat er den besten und neuesten Quellen entlehnt, anch mit Ver¬
ständnis und formellem Geschick bearbeitet. Etwa vierzig Aufsähe oder Ueber-
setzungen stammen aus seiner eignen Feder, andre Partien sind wörtlich aus
bewährten Werken herübergenommen, welche teils mehr zusammenfassende Dar¬
stellungen der Ethnologie sind, wie Peschcls „Völkerkunde." Friedrich Müllers „All¬
gemeine Ethnographie" und Bastians „Allgemeine Grundzüge der Ethnologie," teils
die Schilderungen berühmter Reisender enthalten, wie denn z. B. für die Völker
Afrikas von deutschen Reisenden G. Rohlfs, Freiherr von Maltznn, Oskar Lenz u. a.,
von ausländischen Kapitän Villot, Ansone de Chaneel, General Daumas, ferner
Samuel White Baker, Livingstone, Burton, Bayard Taylor u. a. zum Worte
kommen. Von periodisch erscheinenden Schriften haben u. a. die „Tägliche Rund¬
schau" und die „Zeitschrift für Erdkunde" verschiednen Stoff geboten. Zur
Charakteristik der heutigen Türken ist eine Partie aus dein Werke des durch seine
treffenden Neiseschildcrungen bekannten Jtalieners Edmondo de Amicis aufgenommen.
In den der Behandlung der einzelnen Völker Afrikas, Australiens, Amerikas und
Asiens vorausgeschickten allgemeineren Kapiteln handelt der Verfasser über die
Sprache als Klassifikativnsinittel der Völkerkunde, über Kultur und Kulturvölker,
sowie über die Kulturmittclpuukte der Menschheit; von noch größerm Interesse
aber sind die den Schluß dieser einleitenden Kapitel bildenden Aufsähe über die
Missionäre als Pioniere der Wissenschaft und höheren Gesittung, in denen er die
Thatsache betont, daß keine Kolonie unter barbarischen Völkern ohne Missiousnn-
stalten bestehen kann, nud den Verdiensten der Missionäre um die Wissenschaft,
besonders um die Kenntnis der Sprachen der barbarischen Völker, die höchste An¬
erkennung zollt. Freilich haben nicht alle Missionäre in gleich uneigennütziger
Weise gewirkt, wie anerkanntermaßen unsre deutschen Missionäre protestantischer mild
katholischer Konfession, die es immer als ihre Aufgabe angesehen haben, die Natur¬
völker, uuter denen sie wirken, vor unbilliger Uebervorteilnng, vor einem Aus¬
beutungssystem, auch vor der Einführung von Spirituosen zu schützen.
Am Schlüsse des Vorwortes spricht der Verfasser der Buchdruckerei, die den
Druck ausgeführt hat, seine Anerkennung aus für die außerordentliche Gewissen¬
haftigkeit und Intelligenz, mit welcher sie den nicht leichten Druck besorgt habe.
Wir schließen uus dieser Anerkennung an, indem wir die Verantwortung für einige
böse Druckfehler (z. B. mutAtio mutanciio, ferner: „für die erst im Entstehen be¬
griffene naturwissenschaftliche Ethnologie, jener großartigen Wissenschaft") dem
Verfasser zueignen.
Es erinnert etwas an Turgenjew, wenn sich der Autor dieses Buches in den
drei von den fünf Geschichten, welche in der Ich-Form vorgetragen werden, als
passionirtcn Jäger einführt; auch die Haltung, welche dieser Jäger gegenüber der Natur,
die er begeistert preist, den geschilderten Menschen und ihren ganz objektiv erzählten Ge¬
schichten einnimmt, erinnert an ihn, wenngleich eine Tendenz im übrigen ausgeschlossen
bleibt. Dadurch aber hat sich Ganghofer eine Spielart der Dorfgeschichte geschaffen,
welche sich von den Erzählungen eines Rosegger oder Auzengrnber merklich unter¬
scheidet. So wenig er es, klugerweise, besonders hervorhebt, so stellt er sich doch
deutlich als ein Stadtherr dein Volke gegenüber; er läßt es aber weder so tief¬
sinnig philosophiren, wie der Wiener, noch ergreift er so leidenschaftlich rousseauisch
Partei für dasselbe, wie der steiermärkische Schriftsteller. Er bemüht sich so realistisch
als möglich der Wahrheit nahe zu bleiben. Aber — und das sei zu seinem Lobe
hervorgehoben — so ernst alle die Katastrophen auch sind: eine gewisse Heiterkeit,
eine klare Gemütsruhe geht über dem Ernst nicht verloren. Die Geschichten spielen
meist in dem rauhen Gebirgswinkel des Berchtesgadner Landes, an der bairisch-
salzburgischeu Grenze. Es sind arme Leute, die auftreten: Sennerinnen und Jäger;
von eiuer konventionellen Romantik hat sich Ganghofer allerdings noch nicht frei
gemacht, auch haftet den Gestalten noch znsehr das Typisch-Allgemeine an, zu wirk¬
licher Individualisirung hat er es noch nicht gebracht. Es liegt vielleicht im
Stoff: ein Jäger ist ein Jäger, die eine Sennerin ist wie die andere; doch ist ja
auch die Wahl des Stoffes Sache des Dichters. Auch in der Form wird Gang¬
hofer noch zu lernen haben. Wenn er z. B. in einer Novelle zwei parallel laufende
Handlungen verfolgen will, wie im „Dschapei" und im „Falkenfang," so wird er
sie in eine innerlich einander mehr bedingende Verbindung zu bringen lernen müssen,
als es hier geschehen ist. Dagegen besitzt er schon jetzt Vorzüge, die ihm einen
eignen Wert verleihen. Er erzählt spannend, fesselnd, dramatisch bewegt; er läßt
seine Gestatten sich ganz, von innen heraus aussprechen, sich entfalten. Er hat —- was
heutzutage übrigens in die Mode, kommt — eine numutige Kunst in der Zeichnung
von Tieren, er hat die Tiere genau beobachtet und schildert sie sehr anschaulich. Die
Schilderung des jungen Schäsleins in „Dschapei" — das ist der Name des zier¬
lichen Tierchens selbst — ist meisterhaft, ebenso die von Hunden, deren Behandlungs-
weise von seiten ihrer Herren sehr glücklich zur Charakteristik der letzteren benntzt
wird; daß er das Schäflein aber oft geradezu zum Helden der Geschichte macht,
wenn auch immer nur humoristischer Weise, ist verfehlt. Ganghofer verwendet
endlich den oberbairischen Dialekt mit wirklicher Virtuosität, und in der Natür¬
lichkeit, der glaubwürdigen Wahrheit, der Unmittelbarkeit dieser dialektischen Reden
kann er sich füglich Rosegger an die Seite stelle». Wenn sich Ganghofer mit
künstlerischem Ernst zu einer durchgebildeteren Form durcharbeitet, wenn er, bei
dem Wohlwollen, welches ihm von der Kritik allerseits entgegengebracht wird, sich
auf den Standpunkt des Noblesse adlige stellt und sich bestrebt, wahrhaft eigne,
originelle Motive darzustellen, so darf man des Besten in seinem Genre von ihm
gewärtig sein. Als Beispiel seiner Dialektbehandlung sei hier das Bekenntnis eines
seiner Jäger zitirt, hinter dem wohl ein Teil des Dichters steckt: „Ja, wann ich
kein Jaager net sein könnt', möcht' ich gleich lieber gar net auf der Welt fein!
So 'was Schöns gibt's ja gar nimmer! Aber weißt — es is net g'rad weg'in
Schießen und Jacigern — ah na — aber wann so draußen bist, in die Berg',
und du schaust so umeinander, und dn hörst so alles — da a Tierl und dort
a Vögerl — und nachher der Himmel und die Felsen — und drunten nachher
die Baum' und 's Thal, wo d'Sonn' dreinscheint, daß nur die Bacherln g'rad so
blitzen — ja — weißt — da geht dir g'rad 's Herz auseinander, und du mußt
Ins schreien, ob d'willst oder net!"
An die Lektüre dieser drei Werke sind wir mit großer Erwartung gegangen.
Von vielen Seiten hatten wir ein ganz ungewöhnliches Lob ihres Verfassers gehört.
Vom „Hermann" hieß es, die moderne Epik habe nicht viel erzeugt, was ihm an
die Seite gesetzt werden könne; vom „Saul" hatten wir gelesen, der verstorbene
Laube habe ihn, so wie er vorliege, d. h, ohne Abstrich, was bei dem streichlustigcn
alten Dramaturgen nicht wenig sagen wollte, für die Bühuenausführung fähig
erklärt; die Erzählung schließlich wurde kurzweg in einem Wiener Blatte, als „wahres
Kabinetsstück" gefeiert. Mehr als einen vollen Druckbogen im Lob übersprudelnder
Rezensionen aus vielen deutschen Blättern konnte der Verleger jedem Buche anheften.
Daraus erfuhren wir auch, daß der Dichter ein Fräulein sei, Marie Eugenie
delle Grazie heiße, ans Ungarisch - Weißenburg stamme, jetzt Wohl in Wien lebe,
noch nicht ganz zwanzig Jahre alt sei, daß man sich das großartigste von ihm
verspreche, daß ein in der Aesthetik berühmter Wiener Professor die Dame eifrigst
beschütze, und daß sie, wie es in jenem erwähnten Wiener Blatte hieß, ohne darum
anzusuchen, ein zweites mal von der Schwestern-Fröhlich-Stiftung sür würdige
Künstler einen Ehrensold bekommen habe. Wir müssen, ans die Gefahr hin, recht
ungalant zu erscheinen, unsrer Verwunderung über all dieses maßlose Lob und die,
wie uns scheint, ungemeine Überschätzung des Wertes obiger Dichtungen Ausdruck
geben, nachdem uns die Lektüre derselben so bitter enttäuscht hat. Wir wollen
nicht behaupten, daß jenes Lob der Clique und ihrer brutale» Reklame entstamme;
ein zwanzigjähriges Mädchen kann nicht das literarische Geschäft betreiben, und
ferner ist auch der Ton jener ästhetischen Rezensionen im ganzen zu ehrlich und
aufrichtig. Aber wenn wir auch annehmen wollen, daß ein großer Teil jener
Anpreisungen auf Rechnung der zwanzig Jahre der produzireuden Dame zu setzen
sei, welches jugendliche Alter die Nachsicht zu erfordern scheint — scheint, sagen
wir, denn das Alter geht uus nichts an, wer zwingt sie, in die Öffentlichkeit zu
treten? und wenn es geschieht, hält sie sich damit nicht für reif genug dafür? —, so
bleibt doch immerhin noch soviel Lob übrig, daß wir es in seinem Umfange keines¬
wegs berechtigt finden können. Eben jene Eigenschaft, welche um meisten an Fräulein
delle Grazie gepriesen wird, die ungewöhnliche Herrschaft über die Sprache, scheint
uns die größte Reserve von selten einer ancrkennungslustigen Kritik zur Pflicht
zu macheu. Aber freilich müßten mehr Menschen, als es der Fall ist, einmal zu
der Einsicht gekommen sein, daß der Dichter ein Bildner sei, daß Poesie und
Rhetorik zwei grnndvcrschiedne Thätigkeiten sind, daß es in der Dichtkunst nicht
aufs Schönreden, sondern aufs Schöngestalten ankommt, und daß das Stammeln
des jugendlichen Genius bedeutungsvoller für seine Zukunft sein kann, als der in
mächtigem Schwalle sich ergießende Strom eines äußerlichen Talentes. Wäre diese
Erkenntnis verbreiteter, so würde man auch im Urteile über Fräulein delle Grazie
vorsichtiger sein. Das einzig bewundernswerte, was wir an ihr fanden, war die
nie verlegene Suada in ihren Büchern: eine sentimentale, durch keine tiefere
innerliche Arbeit aufgehaltene, urbildliche Rhetorik, die allerdings als solche un¬
gewöhnlich ist. Von einem höheren künstlerischen Gestaltungstriebe, Volt jener
Keuschheit, die nie das letzte Wort sagt, von jenein Lakonismus, der mit wenig
Worten seiner Wirkung sicher ist, von jenem Sprechen in Bildern, welches dem
Genie eigen ist — von alledem keine Spur. Und wie es schon in der menschlichen
Natur liegt, daß jedermann, bewußt oder unbewußt, in der Sphäre seiner ihm
eigentümlichen Begabung seine Erfolge sucht, weil er hier seine Stärke fühlt, so
sind alle Ziele und Höhepunkte der Dichtungen delle Grazies nichts als große
Wortgefechte, lange Prunkreden, große Phrasen. Mit einer gewissen Naivität
giebt sie sich ihrem Hange nach dein Prunk und Schwall der Rede hin, aber sie
hat Wohl keine Ahnung, wie weit sie sich von der wahren plastischen Kunst dar¬
stellender Poesie entfernt.
Vom Heroischen hat das so anspruchsvoll auftretende „deutsche Heldengedicht
Hermann" ungefähr soviel als ein schwärmerisches, sentimentales junges Mädchen,
Welches das beste Herz von der Welt, aber keine Kenntnis von Charakteren haben
kann. Ist doch schon die Rhetorik als solche der extreme Gegensatz des heroisch
epischen Stiles. Es ist rührend, wie sie Flavius in der Poesie rehabilitirt, und
ihn mit einem ganz und gar unpassenden schwungvollen Lobe Uvinas sich in die
alten Rechte bei seinen Landsleuten wieder einschmeicheln läßt. Von historischem
Geiste ist, wie man sieht, in diesem Heldengedicht, oder sagen wir lieber Erzählung
in Reimen, blutwenig zu finden, und wir meinen doch, daß der Epiker einige Pflicht
dazu hätte, sich vom Historiker, dessen schlichte Thatsächlichkeit hier weit gewaltiger
erscheint, nicht überflügeln zu lassen. Den Leuten schließlich patriotische Prophe¬
zeiungen von rückwärts aus in deu Mund zu legen, sollte doch nachgerade für
kindisch gehalten werden. Ohne einen Realismus, der das Wirklichkeitsgefühl des
moderne» Lesers berücksichtigt, ist heutzutage die Kunst nicht mehr denkbar, und
es ist nicht wahr, daß der Dichter mit einem historischen Stoffe umspringen könne,
wie er wolle. Jedenfalls ist die Wirklichkeit poetischer als die Phantasie delle
Grazies, was auch vom „Saul," der Tragödie, gesagt werden muß. Im ersten
Buche Samuelis, Kapitel 15 ff. wird erzählt, wie Saul, wegen seiner Schonung
König Agags, sich mit dem Propheten überwarf, und David daher zum König
gesalbt wurde. Saul gilt als ein Abtrüttniger; aber der Knabe David erwirbt
sich Ruhm durch die Erlegung des Niesen Goliat und später als Feldherr; die
Weiber singen: Saul erlegte tausend, David aber zehntausend. Mau sieht: der
heroische Zug charakterisirt. die ganze Zeit, und zugleich wird Davids Krönung zum
Nachfolger politisch motivirt. Delle Grazie aber macht aus Saul einen modernen
Zweifler, der tragisch im Kampfe mit dem strenggläubigen Jehooapriester untergeht,
und David, jene verklärte Sängergestalt, welche die Phantasie der Menschheit zum
Vater des Hauses machte, aus dem der Erlöser kommen sollte, jeuer David erscheint
in der Dichtung „Saul" als ein ganz gemeiner Streber und wankelmütiger Patron,
der sich zum Werkzeug der Priester hergiebt, ohne daß im »lindester der Versuch
gemacht wäre, durch andres als Worte seine Wahl zum Könige zu motiviren.
Vom biblischen Geiste und Kolorit, welche etwa ein Hebbel wiederzugeben sich
künstlerisch verpflichtet hielt, ist ebensowenig in diesem Drama wie vom heroischen.
Eine gewisse Begabung für theatralische Effekte soll nicht verkannt werden.
Am unbedeutendsten ist die Erzählung in Prosa, abgestandene Zigeunerromautik,
und natürlich wieder verbrämt mit Rhetorik.