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]]>Zeitschrift
für
Politik, Literatur und Kunst.
HZ. Jahrgang.
Erstes chuartal.
Leipzig.
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. with. Grunow,)
?,5M,
le Gegenwart sieht sich in gewisser Beziehung ungefähr in der
Lage eines Menschen, der ein Besitztum von einem Vorfahren
mit gutem Herzen, unklaren Kopf und schwachem Willen geerbt
hat. Da der Verstorbene Leben und Lebenlassen zu seinem Grund¬
satz erhoben hatte, nicht gut etwas abschlagen konnte, ungern
rechnete und sich um die Zukunft nicht sorgte, so ist der schöne Besitz überlastet,
die Disziplin gelockert und, die Leute sind gewohnt, sich allerlei Freiheiten heraus¬
zunehmen. Der Erbe erkennt nun, daß so nicht fortzuwirtschasten wäre, er
muß sich bemühen, wieder Ordnung herzustellen, Einnahmen und Allsgaben in
das richtige Verhältnis zu bringen, auf strenger Pflichterfüllung zu bestehen,
eingerissenen Mißbräuchen zu steuern. Darob natürlich große Entrüstung, bittre
Klagen über Schmälerung angeborner oder wohlerworbner Rechte. Er hat gut
predigen: Was ich thue, geschieht auch in euerm Interesse, auch eure Existenz
hängt von denk Gedeihen des Ganzen ab. Begreifen würden das die meisten
wohl, aber im Wirtshause sitzt der entlassene Amtsschreiber, der ihnen eindring¬
lich auseinandersetzt, daß sie unterdrückt, betrogen und bestohlen werden, daß
der neue Herr ein Tyrann sei u. s. w. Und der verstehts ja, dem muß man
glauben, was man übrigens so gern glaubt.
Die schlimme Erbschaft, mit welcher die Gegenwart sich abzufinden hat,
sind politische Glaubenslehren, die im vorigen Jahrhundert in die Welt gesetzt
und seitdem rastlos verbreitet worden sind, und die nun fast überall unbedingt
geglaubt werden. Hier gedrängt, da gezwungen, dort freiwillig haben die Regie¬
rungen aller West- und mitteleuropäischen Staateil sich nach und nach zu jenen
Lehren bekannt, Serben und Bulgaren haben deren Anerkennung erlangt, und
wäre es nach dem großen Midhnt und der liberalen Journalistik gegangen, so
würden auch die Türkei und Rußland sich bereits der Segnungen erfreuen,
welche unmittelbar mit der Proklamirung der Dogmen eintreten — wie man sagt.
Inzwischen sind die Sätze in den beglückten Ländern auf den Prüfstein
der praktischen Erfahrung gebracht und, wie es scheint, nirgends ganz Probe-
haltig gefunden worden. Überall äußern sich kritische Stimmen. Ziemlich
schüchtern allerdings, denn so entschieden sonst das unbeschränkte Recht der Kritik
in Anspruch genommen und verteidigt wird: die Artikel des, um es mit einem
Worte zu bezeichnen, progressistischen Katechismus auf ihre Wahrheit prüfen zu
wollen, ist ein Verbreche» oder vielmehr das Verbrechen, der Inbegriff aller
Verworfenheit, und wird, solange Guillotine und Galeere noch nicht der Partei
zur Verfügung stehen, mit der äußersten Verachtung bestraft. Erst die aller-
jüngste Zeit hat wieder derartige Ausbrüche eines tobsüchtigen Fanatismus ge¬
bracht, daß man sich sagen muß, bei günstiger Gelegenheit würde auch Deutsch¬
land seine Kommunards und Septembriseurs stellen. Im Augenblicke freilich
machen solche Schreier sich ganz nützlich, weil ihre Übertreibungen so manchen,
der ihnen sonst willenlos folgte, zum Nachdenken und dadurch zur Einsicht
bringen, wo die eigentliche Tyrannei zu suchen sei. So dürfen wir hoffen, nach
und nach die dem heutigen Geschlecht anerzogene Scheu vor dem Gebrauche der
eignen Urteilskraft weichen zu sehen. Dann wird auch der Mut wieder all¬
gemeiner werden, sich zu einer Überzeugung zu bekennen, welche den Demagogen
unbequem ist, der Mut, sich als reaktionär und servil und so weiter verketzern
zu lassen, wenn man wirklich die hö-lus röixudlieg.6 als höchstes Gebot aner¬
kennt, welchem jede Doktrin untergeordnet werden niuß.
Daß den größten Sturm entfesselt, wer das Prinzip absoluter Preßfreiheit
nicht über jeden Zweifel erhaben findet, ist begreiflich; und wenn trotzdem
überall jetzt diese Frage angerührt wird, so beweist das zur Genüge, wie arg
das Übel geworden sein muß.
Der Sturm, sagen wir, ist begreiflich, und wir beziehen dies nicht allein
darauf, daß die Organe und Nur zu oft die Fabrikanten der öffentlichen Meinung
ihre eigne Haut verteidigen. In der That wäre es unsäglich beklagenswert,
wenn die Welt sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts genötigt sehen
sollte, auf die Schutzmittel zurückzugreifen, mit welchen die geistliche Gewalt im
fünfzehnten und sechzehnten die Gedankenfreiheit glaubte unterdrücken zu können.
Allein man verrückt unsers Erachtens die Frage, welche heute sich nicht igno-
riren und nicht zurückdrängen läßt, von vornherein, wenn man nur die beiden
Gegensätze unbeschränkte Preßfreiheit und Zensur gelte» lassen will. Sicherlich
denkt im zivilisirten Europa kein Mensch daran, wieder einzelnen Personen die
Befugnis der Entscheidung einzuräumen, was durch den Druck veröffentlicht
werden dürfe und was nicht. Und die Zeitungen, welche es mit ihrem Beruf ernst
nehmen, auf ihre Würde halten, sollten selbst dein Vorurteil entgegenarbeiten,
daß nur die Wahl freistehe zwischen jenen beiden Extremen. Sie mögen ihr
Recht verteidigen und werden das umso wirksamer thun, wenn sie sich nicht
gleichzeitig zu Anwälten des journalistischen Freibeuter- und Rowdytums her¬
geben. Dieses, welcher Farbe immer es Unehre bringen mag, muß gebändigt
werden, wenn nicht unser öffentliches Leben gänzlich verrohen soll, das ist offen¬
bar, und niemand wird von den Folgen jenes Treibens unmittelbarer berührt
als die ernste, anständige Publizistik, deren Angehörige längst empfunden haben
müssen, das; die gebildete Gesellschaft mehr und mehr eine Mauer zieht
zwischen sich und allem, was mit der Presse zusammenhängt. Die
Mittel zu suchen, welche Abhilfe schaffen können, ohne das freie Wort zu be¬
schränken, müssen wir uns alle angelegen sein lassen. Und es giebt solche Mittel.
Vor allem werfen wir die hohlen Phrasen entschlossen über Bord, welche
uns soviele Jahrzehnte lang über die Bedeutung der Presse im Staate vorgeredet
worden sind. Wenn dieselben die Wahrheit ausdrückten, so bedürften wir keiner
Regierung, keiner Verfassung, keiner Justiz, keiner Kirche, keines Sittengesetzes,
vor allem keiner Armee: alles würde die freie Presse besorgen, richten und
schlichten. Was das Sittenrichteramt der Presse betrifft, wollen wir einen
Mann sprechen lassen, dessen Autorität, soviel wir wissen, auch im Lager der
Radikalen unangefochten ist. „Welcker hat die freie Presse als die einzig mög¬
liche Sittenzensur der neuen Zeit erklärt. Auch wir find der Ansicht, daß eine
wirkliche freie Presse einigen Ersatz für den Mangel der Institution biete. Aber
wo diese Freiheit entweder nicht oder nur zum Scheine geübt wird, fällt auch
dieser Ersatz weg; und selbst wo sie geübt wird, reicht sie nicht aus, um jene
Lücke zu decken. Teils ist die Presse meistens ein sehr parteiischer Sittenrichter
— die besten Zeitungen sind Parteiorgane und sind ebenso freigebig im Lob ihrer
Freunde wie tadelsüchtig gegen ihre Feinde —; teils ist das Wesen der ^Sitten->
Zensur staatliche Autorität, welche der Presse gänzlich abgeht." So schrieb
I. C. Bluntschli im Jahre 1857, und er konnte auf Grund persönlicher Er-
fahrung sprechen, denn der nachher auf Juristen-, Abgeordneten- und Prote¬
stantentagen Vielgefcierte gehörte zu den meistgeschmähten, als er es gewagt
hatte, dem Züricher Radikalismus entgegenzutreten und den kommunistischen
Schneidergesellen den Daumen aufs Auge zu drücken. Ob die Entwicklung der
Presse in den letzten fünfundzwanzig Jahren ihn wohl heute bestimmen würde,
den damaligen Ausspruch zurückzunehmen? Jene Sittenzensur, für welche er
sogar den besten Zeitungen den Beruf bestritt, maßen sich bekanntlich die schlechtesten
mit größter Dreistigkeit an.
Im besondern verweisen wir die Meinung, daß der Schaden, welchen die
freie Presse etwa verursachen könne, von ihr selbst wieder gutgemacht werde, in
das Reich des Aberglaubens. Nur Gedankenlosigkeit kann das beliebte Bild
vom Speer des Achill immer aufs neue vorbringe«. Selbst wenn die Verleum¬
dung in einer so direkten Form auftritt, daß der Verleumdete einen Widerruf
zu erzwingen vermag, weiß die journalistische Praxis den letztern so zu ver-
zögern, zu verllausuliren und zu glossiren, daß dessen Wirkung völlig illusorisch
gemacht wird. Und der politischen Lüge und Verdächtigung, dein Aussäen von
Mißtrauen, der Erfindung von Nachrichten zu Partei- oder Spekulations¬
zwecken ist vollends garnicht beizukommen. Die Leser des Lügeublattes erfahren
ja in zahllosen Fällen garnicht, wie schmählich sie getäuscht werden, denn sie
lesen kein andres Blatt, und das ihrige nimmt von den Zurechtweisungen ent¬
weder garnicht Notiz oder doch in einer Einkleidung, welche zur neuen Ent¬
stellung der Wahrheit wird. Und solch gemeinschädliches Treiben sollte in alle
Ewigkeit geduldet werden müssen, weil die frühere Gesetzgebung keine Waffe
dagegen bietet? Wenn neue Erfindungen in den Verkehr oder in das Fabrik¬
wesen eingeführt werden, sieht sich die Gesetzgebung genötigt, ihnen gegenüber
Stellung zu nehmen; die Ausnutzung neu entdeckter Naturkräfte, die Entwick¬
lung der Großindustrie, das Wachstum der Städte und hundert andere Er¬
scheinungen müssen sich im Recht abspiegeln, und nnr die Großindnstrie des
Zeitungswescns sollte nach wie vor behandelt werden wie das Kleingewerbe, aus
welchem sie hervorgegangen ist? Irgend ein Stoff kann Jahrtausende lang sür
völlig unschädlich angesehen worden sein, plötzlich wird entdeckt, daß er unter
gewissen Umständen, in gewissen Verbindungen verheerend wirken kann, und nun
sollte es uns versagt sein, Schutzmaßregeln gegen dessen Mißbrauch zu ergreifen?
Wer eine erfundene Nachricht verbreitet, weiß entweder, daß sie erfunden ist,
und dann betrügt er die Abnehmer der Zeitung, welche Wahrheit von derselben
zu erhalten glauben, oder er unterläßt es, sich seines Gewährsmannes zu ver¬
sichern oder Erkundigungen einzuziehen, weil er darüber die Zeit versäumen
könnte, die interessante oder pikante Neuigkeit „zuerst" zu veröffentlichen. Und
in beiden Fällen müßte es möglich sein, ihn zur Verantwortung zu ziehe».
Damit würde den einen das unsaubere Handwerk erschwert, und die andern
würden zur Vorsicht gemahnt.
Diese atemlose Hast, dieser Wetteifer, nicht das Beste, Durchdachteste, am
meisten von patriotischem Geist Erfüllte, sondern das Neueste, Überraschendste,
das Unglaublichste oder das Geheimste zu bringen, ist in die Publizistik einge¬
führt worden, seitdem sie sich in den Dienst der Zeitungsindustrie begeben hat.
Wir gönnen jedem Arbeiter seinen Lohn, wir freuen uns, wenn der Tag und Nacht
an den Redaktionstisch Geschmiedete nicht mehr Ursache hat, mit Neid ans den
Kommis eines Bankgeschäfts zu blicken und wenn beliebte Romanschreiber in einem
Jahre mehr Honorar einnehmen als unsre größten Dichter zusammengenommen
in ihrem ganzen Leben — so wenig wir auch zugeben können, daß die Literatur
davon Vorteil habe. Allein die Besserung dieser Verhältnisse wäre zu teuer
erkauft, wenn die Zeitung gänzlich Objekt der Spekulation werden sollte, wozu
wir augenscheinlich auf dem besten Wege sind. Man spekulirt in diesen wie n;
andern Papieren, und sie sind besonders beliebt, weil sie nicht nur direkt Zinsen
und Dividenden bringen, sondern indirekt einen viel höher zu veranschlagenden
Einfluß. Und die Verquickung der Publizistik mit dein Geschäfte offenbart sich
von Tag zu Tag ungenirter. Wie muß einem politischen Schriftsteller von Ehrge¬
fühl zu Mute sei», wenn nicht mir die Blätter für Freiheit, Volkswohl und In-
sertion sich in einem Stil anpreisen, als ob es sich um einen „Ausverkauf" handelte,
sondern die „Kollegen" selbst sich in dem Jargon und deu Usaneeu der Börse und
des Marktes bewanderter zeigen als in irgend etwas anderm! Nicht zufällig sind
Organe dieses Schlages die erbittertsten Gegner eines jeden Versuches, die ehrliche
Arbeit und das solide Geschäft gegen Schwindelkouknrreuz zu schützen; sie ver¬
teidigen ihre eigne Sache. Und gewiß muß auch auf dem Gebiete der Presse
auf entsprechenden Schutz gedacht werden, nicht aus Sentimentalität, nicht aus
romantischem Hange, nicht um einzelnen Unternehmungen eine Wohlthat zuzu¬
wenden, sondern weil eine ehrenhafte Presse eine Notwendigkeit ist. und man sie
nicht ersticken lassen darf unter den — Schlinggewächsen.
Der vor kurzem in diesen Blättern zitirte Ausspruch Holtzeudorffs über die
Anomalie, das höchste politische Lehramt als freies Gewerbe zu behandeln,
während in jedem andern Verhältnisse von dem Lehrer der Nachweis seiner Lehr-
befähigung gefordert wird, ist Tausenden aus der Seele gesprochen, die nur
nicht den Mut fanden, mit ihrer Meinung herauszurücken, weil gewöhnlich auch
diejenigen, welche eine Prüfung nicht zu scheuen brauchte», aus Korpsgeist oder
Befangenheit glaube», sich gegen jede Beschränkung der Preßfreiheit erklären zu
müssen.
Aus denselben und andern Gründen haben die Bcrufsjonrnalisten fast aus¬
nahmslos den Gedanken abgewiesen, daß der unwürdigen Abhängigkeit der
Publizistik von dein Ankündigungswesen ein Ende gemacht werde. Die technischen
Schwierigkeiten einer jeden derartigen Reform sind nicht zu verkennen, ohne
vorübergehende Härten ist keine solche Operation auszuführen. Allein man
nenne uns ein andres Mittel, den Stand von Elementen zu reinigen, welche
sich dem journalistischen Erwerbe zugewandt haben, ohne im mindesten Beruf
für denselben zu haben, und welche sofort mit etwas anderm handeln werde»,
sobald jener weniger lukrativ wird.
Noch einmal: die Fragen, welche hier berührt worden sind, lassen sich heilte
nicht mehr totschweigen und nicht mehr einfach zur Ruhe verweise». Sache der
ernsten Zeitungen wird es sein, zu beweisen, daß sie nicht blind sind gegen die
Schäden, welche sich in ihrer Welt ausgebildet haben, und dafür zu sorgen,
daß die Kur nicht ohne sie vorgenommen werden müsse. Derjenigen, welche
im Vollgefühl ihrer Gemeinschädlichkeit schon bei dem bloßen Gedanken an eine
rettende Operation schreien, sollten sich Leute von Charakter und nationaler
Gesinnung doch nicht annehmen.
»MMNöL^»^
WMni Gelegenheit der Beratung des landwirtschaftlichen Etats im preu¬
ßischen Landtage wurde auch die Wucherfragc gestreift, allein von
einer sachlichen Diskussion war keine Rede, vielmehr gab sie nur
dem Führer der Antisemiten und seineu Gegnern eine vom Zaun
gebrochene Gelegenheit zu persönlichen Invektiven. Das ist um
der Sache selbst willen zu bedauern. Auf einen ernsthaften Statistiker muß es
einen geradezu lächerlichen Eindruck machen, daß die Ergebnisse der preußischen
Kriminalstatistik für das Jahr 1881 in ihren Bemerkungen über den Wucher
zur Erörterung der Frage benutzt wurden, ob verhältnismäßig mehr Juden oder
mehr Christen an diesem saubern Gewerbe beteiligt seien. Wie viel Wucherfälle
zur Kenntnis der Behörden gelangt sind, darüber giebt jene Statistik überhaupt
keine Auskunft, sie behandelt bloß die Zahl der Angeklagten. Nun wird man
zugeben, daß bei einer Bevölkerung von mehr als 25 Millionen Einwohnern,
von denen 309 879 Personen überhaupt wegen strafbarer Handlungen verfolgt und
269 654 Personen verurteilt worden sind, die wegen Wuchers und Darlehngebens
an Minderjährige 32 verurteilten und 44 freigesprochenen Angeklagten kein
genügendes statistisches Substrat bilden. Wenn sich min unter diesen Verur¬
teilten 16 Protestanten, 7 Katholiken und 5 Juden befinden, so sind diese Zahlen
an sich so unbedeutend und so verschwindend, daß ein ernster Mann wahrlich
aus diesen Zifferchen keine Schlüsse für die Beteiligung der Konfessionen ziehen
wird, denn wenn man konsequent sein will und auf Grund dieser Zahlen weiter
forscht, so kann man z. B. in einzelnen Oberlandesgerichtsbezirlcn zwei Verur¬
teilte finden, von denen einer Jude und einer Christ war, und muß daraus
schließen, daß in diesem 50 Prozent Juden und 50 Prozent Christen bei dem
Wucher beteiligt waren — ganz abgesehen davon, daß es, wie wir hundertmal
auseinandergesetzt haben, nicht die Konfession ist, welche den Juden macht oder
aufhebt. Dagegen bieten diese Zahlen zu ernsteren Erwägungen genügenden Grund,
besonders wenn man sie mit den Resultaten der deutschen Kriminalstatistik für
das Jahr 1882 vergleicht, soweit diese schon jetzt gedruckt vorliegt. Im ganzen
deutschen Reiche kamen im Jahre 1882 wegen Wuchers nur 261 Fälle zur ge¬
richtlichen Verfolgung, darunter endigten 153 mit einer Verurteilung und 108
mit einer Freisprechung; angeklagt waren im ganzen 176 Personen, von denen
98 verurteilt und 78 freigesprochen wurden. Niemand wird leugnen können,
daß ein großer Teil unsrer Bevölkerung, und namentlich der ländlichen, vom
Wucher schwer bedrückt wird. Dies ergeben nicht nur die schon mehrfach be¬
sprochenen Veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik über die bäuerlichen
Zustände Deutschlands, das ergeben die allgemeinen Klagen ehrenhafter Männer
aus allen Gebieten. Betrachtet man dagegen diese statistischen Zahlen, so werden
entweder alle jene Klagen und Berichte Lüge» gestraft, oder mau muß zu der
Erwägung gelangen, daß der gesetzliche Begriff des Wuchers ein sehr mangel
hafter ist, daß das Gesetz die Mehrzahl der Schuldigen nicht trifft, daß dem¬
nach eine Abhilfe nicht in den gegenseitigen Rckriminationen der Amel- und
Philosemiten, sondern in einer Abänderung der Gesetze gefunden werden muß.
Zu dieser Erwägung führt auch die große Zahl der Freigesprochenen. Während
bei den übrigen strafbaren Handlungen diese nur 16 Prozent beträgt, steigen beim
Wvcher die Freisprechungen in Preußen auf mehr als 57 Prozent, im ganzen
Reich auf mehr als 41 Prozent. Das sollten unsre Volksvertreter und alle
diejenigen bedenken, denen das Wohl der Bedrückten am Herzen liegt, und auf
diesem Gebiete sollten sich Christen und Juden vereinigen, letztere umsomehr, als
infolge einer jahrhundertelangen geschichtlichen Entwicklung die niederen Klassen
des Judentums in einer entschieden unverhältnismäßigen Zahl noch diesem
schmählichen Gewerbe obliegen, das umsoweniger abschreckend wirkt, als man die
reichgewordencn Wucherer sogar mit Adel, Orden und Titeln ausgezeichnet sieht.
In der That ist der Wucherbegriff, wie er durch das Reichsgcsetz vom
24. Mai 1880 festgestellt ist, geeignet, nur in den seltensten Fällen zur An¬
wendung zu gelangen, denn er ist so verklausulirt und die Voraussetzungen zu
einer Bestrafung sind so verwickelt, daß nur wenige Schuldige von der rächenden
Themis ergriffen werden können und die überwiegende Mehrzahl straflos bleibt
und dem Gesetz ein Schnippchen schlägt. Denn zur Strafbarkeit gehört nach
diesem Gesetze:
Schon ein Blick auf diese Erfordernisse genügt, um zu sehen, daß ein geriebener
Wucherer leicht die Maschen findet, um durchzuschlüpfen.
Bereits die Voraussetzungen unter Ur. 1 bereiten dem Richter Schwierig¬
keiten in einer Zeit, welche von der freien Selbstbestimmung des Menschen so
durchtränkt ist wie die unsrige, und auf welche die manchesterlichen Doktrinen noch
immer ihren verheerenden Einfluß üben. Von solchen Anschauungen vermag sich
der Richter nicht freizuhalten, und der Gesetzgeber, statt ihn zu unterstütze»,
erschwert ihm sein Amt. In dreißig Fällen — soweit sie zur Veröffentlichung
gelangt sind — hat das Reichsgericht sich mit diesem neuen Wuchergesetz be¬
schäftigt, aber allen seinen Bemühungen ist es nicht gelungen, dem Gesetz ein
größeres Anwendungsgebiet zu verschaffen, denn für den Richter gilt der leidige
Satz: «imii lsx, shal lsx. Zur Ausbeutung gehört nach dieser Rechtsprechung
die bewußte Ausnutzung des Darlehnssnchenden zur Erlangung eines übermüßigen
Gewinnes. Ein solches Bewußtsein, da es eine innere Thatsache ist, läßt sich
nur schwer nachweisen; ein geschickter Wucherer läßt sich in eine Erörterung der
Vermögenslage seines Schuldners garnicht ein, er verweigert sogar, Referenzen
über dieselbe entgegenzunehmen, er zieht insgeheim seine Erkundigungen ein
und vermeidet Erörterungen mit dem Schuldner, die ihm nur gefährlich werden
können. Als eine Notlage wird aber nicht schon die öftere Geldverlegenheit
des Schuldners angesehen, vielmehr gehört dazu das dringende Bedürfnis des
Geldes zur Bestreitung der Lebensnotdurft oder zur Befriedigung andrängender
Gläubiger. Man wird zugeben, daß ein Kreditsuchender, welcher sich in dieser
Lage befindet, wohl auch bei dem ärgsten Halsabschneider keinen Kredit mehr
findet, sodaß also auch hier wieder eine ganze Reihe wucherischer Geschäfte ins
Freie fällt. Eine noch größere Schwierigkeit bieten die Begriffe Leichtsinn und
Unerfahrenheit; höchstens können dieselben mit Sicherheit auf Minderjährige
angewendet werden, und diese schützt schon der H 302 des Strafgesetzbuches.
Handelt es sich aber um Großjährige, um selbständige Handwerker und Bauer»,
um Leute, die ihren Beruf verstehen, wie soll dann der Richter sie als leicht¬
sinnige und unerfahrene Menschen hinstellen? Viele Schuldner aber werden die
Anzeige schenen, um sich nicht in öffentlicher Gerichtssttznng mit solchen Prädikaten
brandmarken zu lassen. Zur Strafbarkeit gehört ferner, daß die wucherischer
Vorteile für die Gewährung des Darlehns versprochen sind; ein geschickter
Wucherer, der den Schuldner in seinen Klauen behält, läßt sich erst bei der
Rückgabe des kleinern Darlehns die Vergütung gewähren und streckt dann die
weitere Summe vor, wenn er straflos bleiben will. Und in wie freier Weise
können hier mehrere Wucherer, ohne daß der Schuldner etwas merkt, zusammen
operiren! Ebenso sällt ein rein persönlicher Nutzen, den sich ein Dritter bei
Gelegenheit des Geschäftsabschlusses ausbedinge, also eine hohe Provision, nicht
nnter die Strafe. Auch diese dem Gesetz nur zu sehr entsprechende Auffassung
gewährt dem Wucher neue Beute, denn bekanntlich hat Harpagon nie selbst das
Geld geliehen, sondern sich dazu eines Courtiers bedient. Wenn es nun auch
gleichgiltig ist, ob bei dem Abschluß des wucherischer Geschäfts der Gläubiger
persönlich in den Vordergrund tritt, so läßt sich durch solche Mittelspersonen
das wucherische Geschäft nur allzuleicht verdecken, die Verhältnisse verwickeln
sich noch mehr, und die Unterscheidung, was wucherische Leistung oder erlaubte
Provision ist, wird so schwer, daß in solchen Zweifclsfällen das Gesetz wiederum
versagen muß. Sind aber schon diese Klippen geeignet, die Machtlosigkeit des
Gesetzes zur Erscheinung zu bringen, so bleibt noch die stärkste, „das auffallende
Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung," übrig. Auf diesem Gebiete ist
der Richter souverän, hier entscheidet sein Ermessen in jedem einzelnen Falle.
Um dieses Mißverhältnis festzustellen, genügt nicht, wie das Reichsgericht auf
Grund der Materialien mit Recht ausführt, die bloße Vergleichung des landes¬
üblichen Zinssatzes mit den dem Bewucherten abgenommenen Prozenten, sondern
es müssen konkret die Leistungen nach den gegenseitigen Verhältnissen abgewogen,
namentlich auch das von dem Gläubiger übernommene Risiko in Betracht ge¬
zogen werden. Ein solches Risiko wird in sehr vielen Fällen vorhanden sein,
denn erfahrungsmäßig spielt der Wucher seine Hauptrolle bei den kleinen Leuten,
die ihren Personalkredit in übertriebener Weise anstrengen, oder deren über¬
schuldetes Besitztum den Realkredit zu einem leeren Schein herabdrückt.
Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen die statistischen Zahlen, wie sie
eingangs erwähnt worden sind, freilich in einem andern Lichte, als in der trüben
Dämmerung der Etatsdebatte im Abgeordnetenhause. Diese Zahlen beweisen zu
voller Überzeugung, daß das Gesetz vom 24, Mai 1880 den Wucher nicht unter¬
drückt hat und auch garnicht geeignet ist, ihn zu unterdrücken. Es ist bekannt, daß
dieses Gesetz ein Kompromiß der Parteien darstellt; als es aus der Initiative des
Reichstages nach schweren Kämpfen hervorgegangen war, vermochte die Reichs¬
regierung bei der Aussichtslosigkeit des Erfolges nicht erst andre Mittel in
Vorschlag zu bringen. Es hat freilich nicht an Stimmen gefehlt, welche die
Mißerfolge des Gesetzes vorhergesagt haben. Der damalige Reichstagsabgeordnete
Graf Wilhelm von Bismarck bekämpfte das Gesetz mit aller Entschiedenheit und
beantragte die Fixirung eiues Zinsmaximums, dessen Überschreitung unter allen
Umstände» als Wucher bestraft werden sollte. Sein Antrag fand keinen An¬
klang, aber sieht sich jetzt vollkommen gerechtfertigt. Es muß heute nach diesen
Erfahrungen ernstlich gefragt werden, ob ein so unvollkommenes Gesetz noch
länger bestehen soll, ob noch länger dem Volke, das nach Brot verlangt, statt
dessen Steine oder schöne Reden seiner Abgeordneten gewährt werden dürfen.
Eine wirksame Begrenzung des Wuchers wird sich in der That nur durch Be-
stimmung eines Zinsmaximums erreichen lassen. Kaufleuten gegenüber mag man
eine volle Zinsfreiheit hinstellen und nur die im Art. 10 des Handelsgesetzbuches
genannten kleinen Geschäftsleute und Handwerker ausnehmen. Für alle übrigen
Fälle mag das Gesetz oder der Bundesrat mit nachträglicher Genehmigung des
Reichstags dieses Zinsmaximum bestimmen, das sich freilich bei unsern jetzigen
Verhältnissen nicht auf die landesüblichen Zinsen belaufen darf, sondern dieselben
wenigstens um das Doppelte überschreiten muß. Nur dann wird man hoffen
können, des Wuchers Herr zu werden, dieser schmarotzenden Giftpflanze, welche
an dem Marke unsres Volkes zehrt, ganze Geschlechter vernichtet und den innern
Frieden raubt. Auf dieses Ziel sollten aller Bestrebungen gerichtet sein; sie
würden fruchtbringender sein als alle Debatten mit den gegenseitigen Vorwürfen
und Beschwerden.
iM
KAMn der Geschichte des Kapitals werden die drei oder vier letzten
Jahrzehnte als die Zeit der großen Eisenbahnbauten bezeichnet
werden, weil diese Unternehmungen mittelbar oder unmittelbar
die Bewegung des Kapitals während jener Zeit bestimmt haben.
Zunächst findet dieser Einfluß seine Erklärung in der außerordent¬
lichen Absorptionsfähigkeit der Eisenbahnen, welche die freien Kapitalien in
bisher unbekanntem Maße aufsaugten und in Kapitalbildner verwandelten. Neben
dieser direkten Einwirkung auf das Kapital war aber dann noch der mittel¬
bare Antrieb thätig, welchen die Eisenbahnbauten auf die Industrie ausübten,
die ihrerseits hierdurch veranlaßt wurde, die Hilfe des Kapitals in Anspruch zu
nehmen. In dieser Weise entwickelte sich durch Wirkung und Rückwirkung eine Art
Kreisprozeß im wirtschaftlichen Organismus, indem durch die erwähnten Unter¬
nehmen große Kapitalmassen absorbirt, alsdann im Laufe der Zeit in vergrößerten!
Maße neu erzeugt und so für neue Verwendung frei wurden, um darauf aufs neue
in den Kreisprozeß einzutreten. Bei einem solchen Prozesse ist es wesentlich,
daß der einmal gebildete Organismus, auf dessen Funktion jener Kreisprozeß
beruht, entweder erhalten bleibe oder in seinen Funktionen durch einen andern
ersetzt werde, weil andernfalls der Verfall desselben eine Störung der gesamten
wirtschaftlichen Thätigkeit bedeutet.
Einem solchen Verfall eines großen wirtschaftlichen Organismus nähern
wir uns, und dieser Organismus sind die Eisenbahnen, soweit es sich um ihre
Absorptious- und Assimilationsfähigkeit für das Kapital handelt. Denn die
Hauptlinien der großen Eisenbahnnetze sind ausgebaut und wo sie es, wie in
Amerika, noch nicht sind, wird es im Laufe des nächsten Jahrzehnts oder jeden¬
falls vor Ablauf des Jahrhunderts geschehen. Der Ausbau der Sektionen der
Netze dürfte einen bedeutenden Einfluß auf das Kapital kaum noch ausüben
können, und was eventuelle große Eisenbahnbauten in China u. s. w. betrifft,
so ist wohl kaum zu erwarten, daß hier eine sehr intensive Bauthätigkeit ein¬
treten werde. Aber wenn wir auch wirklich den günstigsten Fall annehmen, so
werden wir doch sagen müssen, daß einmal der Zeitpunkt kommen wird, in
welchem die Absorptionsfähigkeit der Eisenbahnen im Verhältnis zur gesteigerten
Kapitalproduktion so gesunken sein wird, daß sie das freie Kapital nicht mehr
aufnehmen können, jenes sich also in wachsendem Maße anhäufen und eine
neue Verwendung suchen wird. Ein solcher Zustand hat aber eine erhebliche
nationale Bedeutung, denn die künftige Gestaltung der Verhältnisse und das
Geschick eines Volkes ist eng verbunden mit der Verwendung seiner erarbeiteten
Kapitalien. Somit gewinnt jene Erscheinung, der Verfall der Funktionsfähigkeit
der Eisenbahnen in Bezug auf den erwähnten Kreisprozeß, an Wichtigkeit für
den Nationalökonomen wie für den Politiker, und es wird jeden interessiren, eine
Industrie kennen zu lernen, welche nicht nur die Eisenbahnindustrie in den er¬
wähnten Beziehungen ersetzen, sondern die Funktionen derselben in weit höherem
Maße ausüben kann. Diese Industrie ist die elektrische Industrie.
Um die Bedeutung dieser Industrie für die Zukunft zu zeigen, will ich
kurz die volkswirtschaftliche Bedeutung der Elektrizität auseinandersetzen, sowie
zwei Probleme der Elektrotechnik besprechen, von deren Lösung die allgemeine
Einführung der Elektrizität und damit die vollständige Umbildung der technischen
Verhältnisse abhängt.
Wie bekannt ist, sind die Wärme, die mechanische Kraft, das Licht, die
Elektrizität und die chemische Kraft nicht etwas durchaus Verschiednes, sondern
nur verschiedne Formen der Kraft schlechthin; jede dieser Formen läßt sich in
die andre verwandeln, und wir haben also in der einen Form zugleich auch alle
andern. Für die verschiednen Zwecke des Lebens und der Technik bedürfen wir
nun bald dieser, bald jener Form, und wir erzielen heutzutage diese verschiednen
Formen mittels verschiedner' Verfahren, so die Wärme durch Verbrennung, das
Licht ebenfalls durch Verbrennung, die mechanische Kraft in sehr verschiedner
Weise, indem wir sie teils den Wasserfällen oder dem Muskelapparat der Tiere
entnehmen, oder sie mittelst der Dampfmaschine aus Wärme erzeugen u. s. w.
Es erweist sich nun technisch als vorteilhaft, die aus deu Kraftquellen fließende
Kraft, gleichviel in welcher Form wir sie erhalten, zuerst in Elektrizität zu ver¬
wandeln und diese dann nach Bedarf in die verlangte Kraftform umzusetzen,
sich also der Elektrizität als allgemeiner Übergangsform zu bedienen. Die
Gründe für die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens sind folgende. Zunächst ist
die Umsetzung in und aus Elektrizität die leichteste; es empfiehlt sich daher,
in alle Umwandlungen aus einer Kraftform in eine andre die Elektrizität als
Zwischenform einzuschieben. Ich gebe ein Beispiel. Wir können heute mittelst
der Dampfmaschine Wärme in bewegende Kraft umsetzen; allein dieses Verfahren
ist durchaus kein sehr rühmenswertes, weil der Dampfkessel und die Dampf¬
maschine gefährlich und teuer sind, und weil sie die in den Kohlen aufgespeicherte
Kraft kaum zu einem Zehntel ausnutzen. Wäre es nnn möglich, Wärme direkt
in Elektrizität umzuwandeln — womit eines der Hauptprobleme der Elektro¬
technik bezeichnet ist —, so könnten wir diese zum Bewegen eines Motors be¬
nutzen und so unter Einschiebung von Elektrizität Wärme in mechanische Kraft
verwandeln. Dieses Umwandlungsverfahren wird aber in ökonomischer, tech¬
nischer und sanitärer Beziehung dem heutigen ohne allen Zweifel weit überlegen '
sein, und wie hier, würde sich auch für die andern Umwandlungen, z. B. von
Wärme in chemische Kraft oder in Licht, von chemischer Kraft in mechanische
und umgekehrt, die Einschiebung von Elektrizität als ein Vorteil erweisen.
Ein weiterer Vorteil der Verwendung der Elektrizität zur Erzeugung andrer
Kraftformen liegt darin, daß wir mittels der Elektrizität die andern Kraft¬
formen in einer solchen Intensität erzeugen können, wie es uns auf andre Weise
garnicht oder nur schwer möglich ist. Es sei in dieser Beziehung nur an das
elektrische Licht erinnert, das wir in solcher Intensität erzeugen können, daß es
hierin selbst die Sonne überbietet. Gleiches gilt aber auch von der Erzeugung
der Wärme, der chemischen Kraft u. s. w. durch Elektrizität. Endlich — um
die kleinern Vorzüge der Elektrizität, namentlich auch die größere Sicherheit
derselben unberücksichtigt zu lassen — hat die Elektrizität noch eine Eigenschaft,
welche sich bei andern Kraftformen nur in geringem Maße findet, welche aber
von der größten Bedeutung ist, nämlich die Übertragungsfähigkeit von einem
Ort auf den andern und von einem Zeitpunkt auf den andern, die Leitungs-
uud die Aufspeicherungsfähigkeit. Die Bedeutung dieser Fähigkeit gründet sich
auf die lokale und zeitliche Verschiedenheit zwischen Krafterzeugung und -Ver¬
brauch. Im allgemeinen fällt nämlich der Ort des Verbrauches und derjenige
der Kraftquelle nicht zusammen, sodaß also an dem einen Orte der Verbrauch,
an dem andern die Produktion von Kraft überwiegt. Diese Inkongruenz er¬
fordert einen Ausgleich, und zu diesem Ausgleich erweist sich einzig die Elektri¬
zität geschickt, welche man ohne Schwierigkeit auf weite Entfernungen hin leiten
kann. Eine zweite Inkongruenz zwischen Verbrauch und Erzeugung findet sich
bei der Kraft in zeitlicher Beziehung, indem sowohl der Verbrauch als auch die
Erzeugung mit der Zeit wechselt, ohne daß beide Bewegungen zusammenfielen,
vielmehr im allgemeinen eine Nichtübereinstimmung zwischen beiden herrscht,
welche einen Ausgleich erfordert. Wir erzielen diesen, indem wir die zu dem
einen Zeitpunkt erzeugten Kraftmengen, an welchem die Produktion überwog,
auf einen andern Zeitpunkt übertragen, an welchem der Verbrauch größer ist
als die Erzeugung. Zu diesem Zwecke bedarf es aber einer Überführung der
Kraft aus ihrer wirkenden Form in eine nichtwirkende, ans welcher sie leicht
wieder wirksam gemacht werden kann. Diese Umformung der Kraft nennen wir
die Aufspeicherung von Kraft, eines der größten und folgenschwersten Probleme
der modernen Technik. Auch in Bezug auf diese zeitliche Übertragung erweist
sich die Elektrizität als die überlegenere Kraftform, und so kann es denn kein
Zweifel sein, daß die Verwendung der Elektrizität eine so allgemeine werden
wird, daß wir etwas ähnliches bis heute noch nicht kennen gelernt haben.
Welche Umwandlungen diese Einführung der Elektrizität haben wird, läßt
sich schon aus einem flüchtigen Überblick erkennen, den wir nach einigen Worten
über die beiden Hauptprobleme der heutigen Elektrotechnik, von deren Lösung
jene allgemeine Einführung abhängt, geben wollen.
Die Elektrizität ist heute noch zu teuer. stehen Wind- oder Wasserkraft
zu Gebote, so sind die Kosten für die Erzeugung von Elektrizität allerdings
nicht sehr hoch: wo aber die Dampfmaschine zur Elektrizität angewendet werden
muß, und dies ist vorderhand noch im überwiegenden Maße der Fall, so wird
der Preis der Elektrizität zu hoch, um eine allgemeine Verwendung derselben
zuzulassen.
Nun erhebt sich die sehr natürliche Frage, ob nicht die Dampfmaschine bei
der Erzeugung der Elektrizität umgangen und die in den Kohlen aufgespeicherte
Kraft direkt in Elektrizität umgesetzt werden könne, und ferner, ob wir die billige,
durch Wind- oder Wasserkräfte gewonnene Elektrizität nicht etwa allgemein
nutzbar machen können. Hiermit sind die erwähnten beiden Hauptprobleme
genannt. Das erstere derselben ist die direkte Erzeugung von Elektrizität aus
Wärme. Mit Lösung dieses Problemes wird der Preis der Elektrizität bedeutend
geringer werden; denn bei der jetzigen Erzeugung der Elektrizität mittels der
Dampfmaschine werden etwa nur acht Prozent der in der Kohle aufgespeicherten
Kraft als elektrische Energie wiedergewonnen, während wir für die direkte Er¬
zeugung von Elektrizität durch Wärme einen mindestens zehnfachen Nutzeffekt
annehmen dürfen. Damit sinkt aber auch der Preis der Elektrizität auf ein
Zehntel, und falls die Einrichtungen für die genannte Umwandlung billiger
sind als die Dampfmaschine, was sehr wahrscheinlich ist, auf einen noch geringeren
Bruchteil.
Mit Lösung dieses Problemes wird also die Elektrizität zu einem Kon¬
kurrenten, dem alles Entgegenstehende unterliegen muß. Dann fällt die Gas-
und jede andre nicht elektrische Beleuchtung, die Dampfmaschine, die Feuer¬
heizung, welche durch elektrische Zentralheizung ersetzt wird, und die Anwendung
des Feuers für Erzgewinnung. Wie diese Veränderungen aber in die Verhält¬
nisse der Industrie eingreifen, braucht wohl nicht auseinandergesetzt zu werden.
Noch durchgreifender werden aber die Veränderungen mit der Lösung des
zweiten Hauptproblemes, der Aufspeicherung der Elektrizität, weil hierdurch die
großen Kraftquellen, Wind und Wasser, im ausgedehntesten Maße nutzbar
gemacht werden können, und infolge hiervon der Preis der Elektrizität noch
weiter sinkt. Abgesehen von diesem Einfluß auf den Preis bewirkt aber auch
die Lösung des Ausspeicherungsproblemes eine erhebliche Änderung auf jenen
Gebieten, wo aufgespeicherte Kraft gebraucht wird, und wo man heutzutage
entweder die Kohle oder bei geringerem Bedarf die tierische Kraft anwendet,
wie bei den Wagen ze.
Im allgemeinen können wir sagen, daß eine rationelle Bewirtschaftung
der Kraftquellen nur mit Hilfe der Aufspeicherung der Kraft möglich ist, oder,
da Aufspeicherung von Kraft und Aufspeicherung von Elektrizität identifizirt
werden können, nur mit Hilfe der Aufspeicherung der Elektrizität, und dies
wird die außerordentliche Bedeutung des genannten Problemes am besten
erkennen lassen.
Fassen wir das Gesagte zusammen, so werden wir verstehen, daß eine allge¬
meinste Verwendung der Elektrizität eintreten und von den größten Umände-
rungen in Bezug auf die gesamten Lebensverhältnisse begleitet sein wird. Der
Durchbruch dieser neuen Verhältnisse ist nnr noch eine Frage der Zeit und
hängt einzig von der Lösung der beiden genannten Probleme ab; diese Lösungen
können wir aber stündlich erwarten, da sie durchaus nicht etwas Fernstehendes
für unsre Wissenschaft bedeuten. Hiermit ist die wirtschaftliche Bedeutung der Elek¬
trizität und die der elektrischen Industrie ausgesprochen, und wir werden uns
dereinst nicht zu wundern brauchen, wenn die letztere sich mit größter Rapidität
entwickeln und hierbei den größten Teil des freien Kapitals an sich ziehen und
absorbiren und auf das gesamte freie oder angelegte Kapital in bestimmender
Weise einwirken wird. Man wird dies zugeben, wenn man sich das unge¬
heure Thätigkeitsgebiet der neuen Industrie etwas näher betrachtet.
Zunächst umfaßt dieses die Einrichtungen für Erzeugung der Elektrizität
und unter diesen die Arbeiten zur Nutzbarmachung der ungeheuern, noch unbe¬
nützten Kraftquellen unsrer Flüsse, sowie des Windes. Verbunden mit diesen
Arbeiten sind die Einrichtungen für die Leitung, die Aufspeicherung und
den Transport der aufgespeicherten Elektrizität. Noch größer und jedenfalls
viel mannichfaltiger aber ist das Gebiet der Anwendungen der Elektrizität.
Wenn wir überlegen, welche enormen Kapitalien und Arbeitsmengen die Umge¬
staltung unsers heutigen Belenchtungswesens und der Bewegungsmnschincn,
die Herstellung der elektrischen Bahnen, der elektrischen Heizung, der Kleinkraft-
motorcn, die elektrischen Einrichtungen für die Landwirtschaft, der Bau der
durch Elektrizität bewegten Wagen, Schiffe und was sonst alles hier noch aufzu¬
führen wäre, erfordern, wenn wir uns dies im Geiste vorführen, so werden wir
die außerordentliche industrielle Bewegung einigermaßen begreifen können, welche
sich als natürliche Folge der Anwendung der Elektrizität ergeben wird. Eine
zahlenmäßige Bemessung dieser Bewegung soll hier nicht versucht werden, ein¬
fach weil eine zuverlässige Aufstellung nicht möglich ist, eine solche auf unvoll¬
ständige und unrichtige Daten hin aber nicht von großem Nutzen sein würde.
Jedenfalls wird die elektrische Industrie nicht nur die Eisenbahn-, sondern anch
die gesamte Dampfindustrie weit hinter sich lassen und zudem sich weit inten¬
siver entwickeln, weil ihr die technischen Errungenschaften der vorhergehenden
Periode zu Gute kommen.
Das Gesagte mag die finanzielle Bedeutung der elektrischen Industrie ahnen
lassen. Neben dieser finanziellen hat aber die elektrische Industrie auch ihre
politische Bedeutung, und auch auf diese mag hier noch in Kürze eingegangen
werden.
In einer unlängst erschienenen Schrift „Die volkswirtschaftliche Bedeutung
der Elektrizität und das Elektromonopol" habe ich den Nachweis zu führe»
gesucht, daß die Verstaatlichung der Kraftquellen und des Gewinnes von Elek¬
trizität aus denselben, wie die des Handels mit Elektrizität nicht »ur empfehlens¬
wert, sondern geradezu notwendig sei. Dieser Satz ist mehrfach dahin mißver-
standen worden, als sei in demselben die Verstaatlichung der gesamten elektrischen
Industrie gemeint gewesen. Eine solche Verstaatlichung ist überhaupt unmöglich.
Zur Verstaatlichung irgend eines Zweiges der wirtschaftlichen Thätigkeit
ist als erstes und unerläßliches Erfordernis anzusehen, daß jener Zweig seinen
„generellen" Charakter habe. Dieser besteht darin, daß die betreffende Industrie
nicht von individuellen, lokalen und sonstigen Verhältnissen abhängt und auch
in zeitlicher Beziehung nicht einer raschen Veränderung unterworfen ist, sondern
in Produktion und Verkauf in allen Teilen und an allen Orten des Landes im
wesentlichen dieselben Erscheinungen zeigt, ihr Betrieb also durch allgemeine
Grundsätze und Einrichtungen geleitet werden kann und spezielle Dispositionen
von Fall zu Fall nicht nötig macht. Eine „individuelle" Industrie, bei welcher
der Industrielle sich den Wünschen und Eigenheiten eines jeden Kunden, den
besondern lokalen Verhältnissen und der Mode anpassen muß, bei welcher auch
die Produktion nicht eine Massenproduktion ist, sondern in kleinen Stücken,
an vielen Stellen und in zahllosen Formen stattfindet, eine solche Industrie
kann schlechterdings nicht verstaatlicht werden, weil sie die Erhaltung der In¬
dividualität des Produzenten voraussetzt, was bei dem Staatsbetriebe nicht in
vollem Maße möglich ist.
Die Grenzscheide zwischen generellen und individuellen Industrien ist nun
keine feste und scharf bestimmte. Es kann ein Artikel, welcher bisher den indi¬
viduellen Charakter hatte, sehr wohl im Laufe der Zeit ein Massenartikel und
damit seine Herstellung im Staatsbetriebe möglich werden. Es kann auch bei
gewissen Artikeln Zweifel bestehen, ob sie den individuellen oder generellen Cha¬
rakter haben, wie dies die vielfachen Verhandlungen über das Tabaksmonopol
gezeigt haben. Immerhin giebt es Dinge, bei denen ein Zweifel über ihren
generellen oder individuellen Charakter nicht besteht. Zu den ersteren gehört
das Produkt der nationalen Kraftquellen, welches wir in der Form der Elek¬
trizität gewinnen werden, zu den letzteren der größere Teil der bei der Ver¬
wendung der Elektrizität für die verschiedenen Zwecke des Lebens dienenden
Vorrichtungen und Maschinen. Hiermit ist die Frage, ob die elektrische In¬
dustrie ein Privat- oder ein Staatsbetrieb sein soll, schon entschieden; denn
soweit ihr nicht der generelle Charakter zukommt — und dies wird für abseh¬
bare Zeiten nur bei ihrem kleinsten Teile der Fall sein -—, kann sie mir von
Privaten ausgeübt werden.
Hierzu kommt aber noch ein besondrer Vorzug der Privatindustrie: die
„Findigkeit" derselben, welche sich besonders in kommerzieller Hinsicht geltend
macht, indem sie neue Artikel und Einrichtungen viel besser einzuführen vermag,
als es eine Staatsindustrie kann.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Bemerkung einschalten, daß ein
eigentlicher feindseliger Gegensatz zwischen Privat- und Staatsindustrie nicht
besteht, sondern daß vielmehr beide bestimmt sind, einander zu ergänzen. Die
Privatindustrie ist ihrer ganzen Anlage nach berufen, den ersten Anbau und
die erste Ausbeutung eines neuen Industriegebietes vorzunehmen und so den
Staatsbetrieb vorzubereiten, dem dann die dauernde und rationelle Bewirt¬
schaftung gehört. Bei diesem Zusammenarbeiten stehen beide Wirtschaftsformen
sich nicht schlecht. Die Staatsindnstrie profitirt von der Initiative der Privat¬
industrie, und diese gewinnt durch den vorteilhaften Verkauf ihrer Unterneh¬
mungen an den Staat die Mittel zu neuen Unternehmen, die ihrem Geiste viel
angemessener sind, als das Bedauem alter Exploitationsfelder.
Im Gegensatz zu der elektrischen Bewirtschaftung der nationalen Kraft¬
quellen, das heißt der Erzeugung und dem Verlauf der Elektrizität, für welche
der Staatsbetrieb notwendig ist, soll für die elektrische Industrie, welche die
Elektrizität verwendet und die zu ihrer Verwendung nötige Einrichtung, Ma¬
schinen, Apparate?c., erzeugt, die freie Ausübung durch Private gefordert werden.
Doch ist daraus keineswegs der Schluß zu ziehen, daß der Staat sich um jene
Industrie und ihre Entwicklung durchaus nicht zu bekümmern habe, im Gegen¬
teil soll er diese so wichtige und mächtige Industrie nach allen Kräften unter¬
stützen.
Das erste Erfordernis in dieser Beziehung ist offenbar das elektrische Unter¬
richtswesen, dessen Bedeutung von den Regierungen durch Errichtung von Lehr-
stühlcn für die gedachte Disziplin anerkannt worden ist. Aber dies genügt
noch nicht; es müssen auch Stätten für die Ausbildung der Arbeiter geschaffen
werden, und ebenso scheint es zweckmäßig, durch Errichtung eines elektrischen
Museums das Publikum zu belehren und für die neuen Einrichtungen empfäng¬
lich zu machen. Der Einfluß eines solchen Museums darf nicht unterschätzt
werden. Man sehe nur die Wirkungen der elektrischen Ausstellungen auf das
Publikum; jede derselben hat den elektrischen Unternehmungen neue Anhänger
zugeführt, und eine ähnliche Wirkung dürfen wir auch von einem elektrischen
Museum erwarten, welches gewissermaßen eine permanente elektrische Ausstellung
darstellen würde. Diese Beeinflussung des Publikums ist für den Fortschritt
der elektrischen Industrie unentbehrlich, weil das Publikum das Geld hergiebt,
sei es als Aktionär, sei es als Käufer.
Als ein weiteres Mittel zur Beförderung der Elektotrechnik betrachte ich
die Aussetzung von Staatsbelohnungen. Der Durchbruch der elektrischen Ära
hängt, wie wir schon sahen, von der Lösung zweier Probleme ab, der direkten
Erzeugung von Elektrizität aus Wärme und der Aufspeicherung von Elektrizität.
Durch die Aussetzung einer Belohnung würden zunächst die Erfinder auf die
Bedeutung dieser großen Probleme aufmerksam gemacht, ihre schaffende Thätig¬
keit auf ein bestimmtes Ziel gelenkt, und ihr Eifer durch die Hoffnung auf den
Gewinn angespornt werden. Wenn das Versprechen einer solchen Belohnung
auch nicht ein unfehlbares Mittel ist, welches die endliche Erfindung und Lösung
des Problems notwendig zur Folge haben muß, so darf man doch einen Erfolg
dieses Mittels für wahrscheinlich halten. Und gegenüber dein in dem Erfolg
erzielten Gewinn würden die paar tausend Mark für die Belohnung vollständig
verschwinden. Jedenfalls wäre es eine Ehre für Deutschland, wenn es mit dem
Aussetzen von Belohnungen für die genannten beiden Probleme den andern
Nationen voranginge.
Zum Schluß möge noch auf die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung
der bei elektrischen Anlagen und Anwendungen entstehenden Verhältnisse hinge¬
wiesen werden. England ist darin mit seiner Msotrio ^c-t, 1882 den andern
Ländern vorangegangen, wozu es durch die massenhaften n»d nicht immer soliden
Gründungen elektrischer Gesellschaften und Unternehmer, welche die letzten Jahre
brachten, genötigt ward. Auch bei uns wird ein solches Gesetz über elektrische
Unternehmen und über die Sicherheitsmaßregcln bei elektrischen Anlagen bald
notwendig werden, für welches dann von vornherein festgestellt werden muß,
ob das Elektromonopol eingeführt werden soll oder nicht. Sicherlich wird es
gut sein, diese Frage sobald wie möglich zu entscheiden, weil ein nachheriges
Unbilden der eingewachsenen Verhältnisse schwierig werden dürfte; namentlich
für den so überaus wichtigen Anbau der nationalen Kraftquellen wird eine
gründliche Umänderung nicht mehr möglich sein, nachdem derselbe einmal be¬
gonnen ist, und die folgenden Jahrhunderte werden dann die Folgen der Sünden
der vorhergehenden zu tragen haben.
as ablaufende Jahr hat die erste Sammlung der Werke zweier
Dichter gebracht, welche trotz mancher Berührungspunkte und
obschon sie gemeinsam jener poetischen Tafelrunde angehörten,
die vor einigen Jahrzehnten König Max II. vou Baiern in seiner
Hauptstadt München versammelt hatte, verschiedne Naturen sind
und verschiedne literarische Schicksale gehabt haben. Der Gesamtausgabe der
Werke Emanuel Geibels ist ein überaus großes Publikum von vornherein
gewiß, und der Nus und Ruhm, dessen sich der erfolgreichste deutsche Lyriker
des jüngsten Menschenalters erfreut, kann demnach kaum noch gesteigert werden.
Die Gesamtausgabe der poetischen Werke des Grafen Friedrich Adolf von
Schack wendet sich umgekehrt zunächst an eine kleinere Gemeinde, welche der
Dichter im letzten Jahrzehnt für sich gewonnen hat, und es ist nur zu hoffen,
daß der seltene Reichtum der Anschauung, des Geistes und der Formen, den
diese Werke offenbaren, den Kreis der Genießenden und Verstehenden wesentlich
erweitern werde. Beide Dichter, deren Lebensresultat in den Bänden dieser
Gesamtausgaben vor uns liegt, haben ein gutes und volles Anrecht auf Wür¬
digung, ein umso volleres, als ihre Werke, auch die Geibels, ganz sicher nicht
unter jene Literatur gezählt werden, welcher die „zeitgemäße" Kritik das Prädikat
der „Aktualität" erteilt. Die „Aktualität" hat bekanntlich den Begriff des „Zeit¬
gemäßen," mit welchem die jungdeutsche Tendenzkritik ihrer Zeit Unheil genug
anrichtete, abgelöst, sie ist nur scheinbar synonym mit ihm, insofern dieselben
Leute, welche vor einem Menschenalter mit großem Geschrei die Forderung des
„Zeitgemäßen" erhoben, heutzutage mit der Forderung der „Aktualität," des
„Aktuellen" hantieren. Auf dem Wege von der Tendenzliteratur zur Jndustrie-
literatur hat sich die neueste Deutung des „Wirklichen und Wirksamen" voll¬
zogen. Das „Aktuelle" ist schlechthin dasjenige Element in der Produktion,
aus dem sich ein großes Geschäft entwickeln kann. Es mag als Kriminalroman
oder Berliner Posse, als Zeitsatire oder Gesellschaftslustspiel, selbst als Tragödie
oder romantisches Epos auftreten, es mag das Walten des Geschlechts der
Gründer und Stifter oder im Anschluß an die „altdeutsche Trinkstube" und die
deutsche Renaissance der Gewerbekunst vergangnes Leben schildern, die Frage ist
lediglich, ob es die Kosten der großen Reklame und berechneten Jnszenirung lohnt.
Was zwei oder drei Auflagen in vier Wochen verspricht, was mit Trompeten¬
stößen und Paukenwirbel angekündigt werden kann, was große Tantiemen für den
Autor und einen honetten Prosit für den literarischen Agenten in Aussicht stellt,
das mag im übrigen so gut sein als es immer kann, oder so verächtlich als es
immer will, es hat „Aktualität." Die gesammelten Werke auch des beliebtesten
Dichters und Schriftstellers können sie schon darum nicht haben, weil sie von
gestern und nicht von heute sind, für die Literatur aber, welche nach „Aktualität"
strebt, für die Kritik, welche sie preist, und für das Geschäft, welches sie „frukti-
fizirt," giebt es nur ein Heute. Und wenn es schon tausendmal gesagt worden
wäre, so muß es zum tauseudunderstenmale gesagt werden, wie verwüstend und
das gesamte Leben verödend diese ganze Behandlung geistiger Angelegenheiten
schon gewirkt hat und noch wirkt. Die Bildungsreste, welche aus besserer Zeit
noch vorhanden find, die instinktive Empfindung für das Reine und Schöne,
welche trotz alledem in großen Kreisen des deutschen Volkes noch lebt, das
einfache Schanigefühl, welches an dem rein industriellen Betriebe und der in¬
dustriellen Ausbeutung des schaffenden Talents Anstoß nimmt, werden von den
Verkündern der „Aktualität" systematisch bekämpft und, soweit es angeht, vernichtet.
Wer es anders will, wer sich gegen die ungerechte Verteilung von Licht und
Schatten in der literarischen Kritik erhebt, bei der alles Lob auf die modischen
Macher der untergeordnetsten Klasse fällt und die äußerste Geringschätzung jeder
wirklich poetischen Natur, jedes künstlerischen Gewissens zu Tage tritt, den darf
Herr Paul Lindau mit der Parole „Schulmeister" brandmarken- Schulmeister
sind alle, die kritisch andre Maßstäbe als die der Aktualität anlegen, Schul¬
meister wahrscheinlich auch die Dichter, welche das Prädikat des „aktuellen"
nicht in Anspruch nehmen können.
Emanuel Gelb el gehört zu den wenigenpvetischen Naturen des verflossenen
Menschenalters, die unter dieser Afterkritik verhältnismäßig wenig gelitten haben.
Nicht etwa, daß sie für ihn eine Ausnahme gemacht, für die Anlage, die Be¬
strebungen und die in der That bedeutende Entwicklung, deren vollgiltiges
Zeugnis die „Gesammelten Werke" (in acht Bänden, Stuttgart, I. G. Cotta)
sind, je etwas andres gehabt hätte als das mitleidige Zugeständnis, daß er
„schöne Verse" schreibe. Aber der Dichter der „Juniuslieder" hatte seinen Weg
und sein Publikum so sehr ohne die Tageskritik gefunden, daß er ihrer Souverä¬
nität als ein poetischer Rebell trotzen konnte und sogar jene besser berechtigte
Kritik unbeachtet lassen durfte, welche bei Geibels erstem Auftreten das liebens¬
würdige Talent des Dichters voll anerkannte, jedoch die Besorgnis aussprach,
daß seine zum Weichen und Zarten neigende Natur und die Frühreife seiner
Form, welche schon seine ersten und am weitesten verbreiteten Gedichte an den
Tag legten, einer größern Entwicklung hinderlich sein würden. Er hätte sie unbeachtet
lassen dürfen, sein Publikum war ihm gewiß genug. Daß er es nicht gethan, daß
er selbst den innern Mangel, oder sagen wir besser die enge Begrenzung des
poetischen Horizontes seiner ersten und gefeiertsten „Gedichte" gefühlt hat, daß
er höher gewachsen ist, als selbst enthusiastische Freunde seiner Poetenjugend in
den vierziger Jahren je für möglich gehalten hätten, das erweisen die „Ge¬
sammelten Werke" unwiderleglich, und das scheint uns des Dichters höchste Ehre.
Ruft man sich ins Gedächtnis zurück, unter welchen Umständen Geibels
Name zuerst einen gewissen Klang gewonnen, so muß man auch betonen, in wie
hochfahrender Weise zu Ausgang der dreißiger Jahre die Tendcnzliteratur aller
Lyrik, soweit sie nicht politische Poesie sein wollte, den Krieg auf Leben und
Tod ankündigte. Jeder Anschluß an die Dichtung der klassischen und nach¬
klassischen Zeit galt als Zeichen innerer Leere und Unselbständigkeit, jede Aus¬
sprache in den alten, gleichsam ewigen Weisen des volkstümlichen Liedes für
Gedudel und Leierkastenmusik. Was Wunder, wenn diejenigen, die das Bedürfnis
der unmittelbaren und künstlerisch schönen Gefühlsaussprache empfanden, welche
die Überlieferungen der klassischen und romantischen Dichtung nicht verloren geben
wollten, auf der andern Seite nur zu geneigt waren, einen neuauftauchenden
jungen Dichter in ihrem Sinne zu überschätzen. Es war eine kleine Gruppe
von besondern Talenten, unter der Geibel mit seinen Anfängen auftauchte. „Vom
Boden des Gegebenen und einer gewissen Nachbildung aus erhoben sie sich zur
Selbständigkeit, die sonach niemals eine energische, scharfgeprägte, gleichsam in die
Augen springende ward, wie diejenige der umwälzenden und kraftgenialen Naturen.
Die Behauptung und Weiterbildung des klaren und reinen poetischen Ausdruckes,
die Pflege der sprachlichen Schönheit überwiegt bei den Poeten dieser Art die Freude
an der Fülle des Lebens und der künstlerischen Bewältigung und Organisation
großer Massen." (Ad. Stern, Gottfried Kinkel. „Westcrmanus Monatshefte."
Oktober, 1883.) Was hier von Kinkel gesagt wird, galt um 1840 und 1843 auch
von Geibel. Jene erste Sammlung der „Gedichte" Geibels, die so großen An¬
klang bei der weiblichen Jugend gefunden, daß der Dichter daraufhin unzählige-
male als der „Backfischlyriker" charakterisirt und verspottet worden ist, war bei
durchgehend musikalischen Wohllaut der Rhythmen, bei allen Einzelreizen der
Sprache ein Buch, hinter dem nur die schärfsten Augen eine selbständige Em¬
pfindung, eine eigenartige, wenn auch begrenzte Phantasie und plastische Ge¬
staltungskraft wahrnehmen konnten. In drei, vier ganz eigentümlichen Gedichten
(„Wie es geht," „Im April," „Sanssouci"), in gewissen energischen Bildern,
die aus den nachgebildeten Gedichten herausleuchtetcn, in einem und dem andern
plötzlich wie aus der Tiefe herauftönenden Klänge, der rasch wieder in die all¬
gemein gefällige, aber oft gehörte Musik untertauchte, war eigner Geist und
eignes Leben zu spüren. In dem Sonett „Gegen den Strom" gab sich ein
männlicher Trotz gegen die Pöbelanbetnng kund, und der zürnende Zuruf:
Denn Sünde ward es, ans dem Schwarm zu ragen!
gilt leider auch heute noch, und heute — das Strebertum ausgenommen, das wieder
einen Schwarm für sich bildet — mehr als je. Schon in den „Zeitstimmen"
begann der Dichter zum Teil andre Töne anzuschlagen und verriet, daß er „im
Lernen wachsend durch das Leben schreite," und die „Juniuslieder" zeigten ihn
reifer, eigentümlicher, als die „Gedichte" erster Sammlung hatten ahnen lassen.
Selbst in den rein lyrischen Gedichten, den Frühlingsliedcrn und Liebesliedern
der zweiten Sammlung, spürt man, daß nicht nur die Musik seiner Sprache fester
und schwungvoller erklingt, sondern daß ein Wiederschein erlebter Wonnen und Leiden
durch sie hindurchgeht. Dazu schreitet die Phantasie des Dichters aus dem engen
Kreise, in den sie ursprünglich gebannt schien, energisch heraus, Gedichte wie „Eine
Septembernacht," „Morgenländischer Mythus," „König Sigurds Brautfahrt," das
Fragment des Gedichts „Julian" erwiesen, daß der Dichter sich nicht mehr mit
der Darstellung seiner persönlichen Empfindungen begnügen mochte. In den
„Juniusliedern" beginnen auch jene Gedichte, in denen Geibel eine Reflexion so
ganz in Stimmung zu tauchen weiß, daß sie lautere Poesie wird („O Heimat-
liebe, Heimatluft" ist eine treffliche Probe dieser Art), und jene Liederchklcn
wie „Der Troubadour," in denen sich eine Folge lyrischer Bekenntnisse zu
einem vollen Lebensbilde gestaltet. Allein trotz des innern Wachstums, das
die „Juniuslieder" kundgeben, der große Schritt, mit dem sich Geibel den
bleibenden Ehrenplatz in der Geschichte der poetischen Literatur und auf lange
hinaus in der lebendig wirkenden Poesie gesichert, ist nicht zwischen der ersten
und zweiten, sondern zwischen der zweiten und dritten Sammlung seiner Gedichte
gethan worden. Diese dritte und vierte Sammlung, die jetzt den dritten Band
der „Gesammelten Werke" bilden, die „Neuen Gedichte" und die „Gedichte und
Gedenkblätter" enthalten fast alles, was Geibel zu den Dichtern höhern Ranges
gereiht hat. Da finden sich die schönsten, tiefsten und unvergänglichsten von seinen
Liedern, der „Ada" überschriebene Cyklus, in dem das reinste Glück nachfunkelt
und der seelenergreifende Schmerz nachzittert, da die verwandten Klänge aus
späterer Zeit: „Ein Traum" und „Um Mitternacht," da die schönen „Lieder
aus alter und neuer Zeit" und die „Erinnerungen aus Griechenland," da die
ernsten, formedeln Zcitgedichte: „Der Acker ewig umgewühlt vom Pfluge," „Mein
Friedensschluß," „Geschichte und Gegenwart," da die kräftigen und geist¬
vollen Sprüche, da die phantasievvllen Dichtungen: „Mythus vom Dampf,"
„Babel," „Die Sehnsucht des Weltweisen." „Der Tod des Tiberius," „Der
Bildhauer des Hadrian," „Omar," aus denen allen ein Klang tont, der des
Dichters eigne Zeit mächtig und ahnungsvoll berührt, da auch die reizenden Lebens¬
bilder: „Ich führ von Se. Goar," „Erste Begegnung," „Die Lachswehr" und
zahlreiche andre. Die tiefsten Empfindungen, die farbenreichsten Anschauungen»
die kühnsten Gedanken, die ein wechselvolles Leben Geibel verliehen, erscheinen in
diesen beiden Sammlungen konzentrirt. Wer dem Dichter des Adacyklus das
echte, herzgebvrene Gefühl, wer den Dichtungen „Tod des Tiberius" und „Der
Bildhauer des Hadrian" die Phantasie absprechen kann, der ist um die dürftige
Begrenzung seiner eignen Empfänglichkeit nicht zu beneiden.
Auch die „Spätherbstblätter" sind im großen und ganzen den Hauptgaben
der „Gesammelten Werke" noch hinzuzuzählen. Man muß bei diesem poetischen
Spätherbst unwillkürlich jener wunderbaren sonnigen Oktobertage gedenken, in
denen einige letzte, aber süße Trauben noch vom Spalier gepflückt werden und
die buntgewordnen Laubkronen gewisser stattlichen Bänme noch so voll und
stolz dreinschauen, als gingen die Lager welker Blätter zu ihren Füßen sie
nichts an. Freilich, sowenig ein solcher Oktobertag trotz seines eigensten Reizes
einen Vergleich mit einem thauigen, rosenprangenden Junimorgen oder einem
leuchtenden Hochsommerabend zuläßt, sowenig darf man die „Spätherbstblätter"
mit den „Neuen Gedichten" und den „Gedichten und Gedenkblättern" unmittel¬
bar vergleichen. Der eigenste Wert dieser Gedichte liegt schon darin, daß sie
zumeist nicht mehr dem Erlebnis, sondern der Erinnerung entströmen:
Weithinaus, wohin die Fahrt
Das Lebens einst den nimmermüden Pilger trug,
Schweife wachen Traums in fcsscllosem Flug der Sinn
Und sucht die Stätten seiner alten Freuden auf.
Aus Sonncnnebeln hell mit ihren Tempeln steigt
Die Burg Athens; das alte Schloß im Habichtswald,
Das forstmnrauschte, wo der Dichter still gereift,
Taucht grüßend auf; am Lorlehfelscn braust der Rhein,
Ein Echo weckend ungestümer Jugendlust,
Und fern vom weißen Säntisgipfcl überragt,
Ammen Schimmers, wie ein Stück vom Himmel, blaue
Der See von Lindau, dessen üppig Rebgestad
Den schönsten meiner Herbste sah.
Beinahe durchgehend knüpfen die Gedichte, die den ergreifendsten Empfin¬
dungslaut und den reinsten Wohlklang haben, an vergangene Momente an
und verbinden vergangene mit gegenwärtigen. Die Lieder „Mitsommernacht,"
„An eine junge Sängerin," „Eine Sommernacht" (wohl das lieblichste und
innigste der „Spätherbstblätter"), „In den mondverklärten Lüften," „Nun ist
auch dieser Bann gebrochen" mit ihrem elegischen Hauch und ihrer schönen Er¬
gebung erweisen dies ebenso wie die epischen Bilder „Nausikaci" und „Der Tod
des Perikles," in denen die jugendliche, freudige Begeisterung für griechische
Schönheit und griechisches Leben noch einmal auflebt. In vielen andern Ge¬
dichten macht sich freilich ein Ermatten und Erstarren geltend. Am bedenklichsten
erscheint die allzugroße Zufriedenheit des sonst so edelstolzen Dichters mit dem
Laufe des Tages, es ist, als ob er gewissen Erscheinungen gegenüber die Augen,
welche einst so scharf und fest Herz und Nieren der Zeitstimmung geprüft hatten,
geradezu schlösse. Freilich nicht immer; von Zeit zu Zeit bricht auch durch
seinen Optimismus der heilige Zorn über den Troß und das Gesindel hervor,
welche sich unter seinem eignen, einst glorreichen Banner gesammelt haben. In
dem Gedicht „An einen Schulmann" entringt sich dem Dichter der Stoßseufzer:
Flacher Afterweisheit Sätze
Werden unsres Tiefsinns Schätze,
Unsrer Bildung Hort zerwühlen
Und hinweg die Ehrfurcht spülen,
Bis zuletzt im seichten Schwalle
Sich die Gleichheit fand für alle.Wenn die Roheit dann entbunden,
Jedes Ideal verschwunden,
Wohl ein Grausen mögt ihr spüren;
Denn ihr haist es selbst vollführen:
Die ein Volk des Geistes waren,
Ihr erzöge sie zu Barbaren.
Begreiflich ist es immerhin, daß der Dichter nur selten zu dergleichen
Empfindungen gelangt. In den „Gesammelten Werken" folgen den „Spät¬
herbstblättern" unmittelbar die „Heroldsrufe," jene Zeitgedichte, mit denen Geibel
die Entwicklung der vaterländischen Verhältnisse zwischen 1849 und 1870, an¬
fänglich in Trauer und Besorgnis, dann mit wachsender Hoffnung, zuletzt mit
Jubel begleitet hat. Es liegt in der Natur solcher Dichtungen, daß hier die
Geibelsche Poesie rhetorischer erscheint als in den Bildern und erzählenden
Dichtungen. Doch wird in den schönsten der „Heroldsrufe" auch wahrhaft
poetische Stimmung im anschaulichen Bilde verkörpert. Die Gedichte „Böse
Träume" (1850). „Den Bauleuten, bei Eröffnung des ersten norddeutschen
Parlaments" (1866), „Am 3. September" (1870) belegen dies am besten,
andre erheben sich wenigstens in einzelnen Versen zu gleich mächtiger und nach¬
haltiger Wirkung. Wer aber so wie Geibel den Umschwung der Dinge sehnend
begleitet hat, dem mag es schwer fallen, die Kehrseite erfüllter Hoffnungen zu
erblicken.
Der fünfte Band der „Gesammelten Werke" bringt eine Dichtung „Judas
Ischarioth," die zu den bei Gelegenheit der „Neuen Gedichte" charakterisirten
ergreifenden Monologen und Phantasiestücken gehört, die „Dichtungen in antiker
Form" und das „Klassische Liederbuch," Übertragungen aus dem Griechischen
und Lateinischen, in denen Geibels Altersmuse der deutschen Literatur manche
schöne Ode glücklich gewonnen hat. Unter den eignen Dichtungen in antiken
Maßen sind die „Distichen vom Strande der See" vielleicht die anmutendsten,
die Oden charakterisirt Geibel selbst als Versuche, die Rhythmen Klopstocks,
Hölderlins und Platens aus unsrer Poesie nicht verschwinden zu lassen.
Der sechste und siebente Band umfassen Geibels dramatische Dichtungen
unter die der Dichter sein ältestes Trauerspiel „König Roderich" nicht aufge¬
nommen hat. Wir erhalten nur die Tragödien „Brunhild" und „Sophonisbe,"
das Lustspiel „Meister Andrea," das dramatisirte Sprichwort „Echtes Gold
wird klar im Feuer" und die für Felix Mendelssohn gedichtete, von diesem
leider nur zum kleinsten Teil komponirte Operndichtung „Loreleh," endlich „Die
Jagd von Beziers," das Bruchstück einer beabsichtigt gewesnen, aber unvollendet
gelassenen Albigensertragödie. Geibels dramatische Dichtung steht zweifellos
nicht auf der Höhe seiner lyrischen und lyrisch-epischen Dichtung. Während das
Fehlen der bisher charakterisirten Schöpfungen eine wahrhafte Lücke in unsrer
Literatur bezeichnen würde, haben die Tragödien „Brunhild" und „Sophonisbe"
weder in den Entwicklungsgang des neuern deutschen Dramas eingegriffen, noch
offenbaren sie eine Eigentümlichkeit oder einen Teil des innern Lebens des
Dichters in entscheidender Weise. Natürlich läßt sich diesen ernsten Anläufen
nicht die armselige Weisheit jener „theatralisch-praktischen" Bühnenkundigen
gegenüberstellen, für die es ausgemacht ist, daß eine dramatische Dichtung ver¬
fehlt sei, sobald sie überhaupt einer poetischen Phantasie entstammt und eine
formvolle künstlerische Haltung behauptet. Der Grundmängel der Geibelschen
Tragödien liegt nach unsrer Empfindung darin, daß der Dichter dem modernen
Drama eine falsche Aufgabe stellte. Ob ihm überhaupt die Fähigkeit gebrach,
in die Tiefen des Lebens hinabzusteigen, aus denen die großen dramatischen Leiden¬
schaften und Konflikte erwachsen, ob er jene feste Gestaltungskraft besaß, welche
dramatische Charaktere durch den ganzen Verlauf einer Handlung gleichmäßig
und doch wechselreich zu entfalten weiß, kann dabei zunächst unerörtert bleiben.
Geibels Tragödien, namentlich „Brunhild," aber auch „Sophonisbe," legen der
Natur des Dichters zufolge auf die klare Darstellung der streitenden innern
Empfindungen mit allem Licht und Schatten der Augenblicksstimmvngen und
allen feinsten Übergängen ein Gewicht, welches nur da wirksam ist, wo die
Dramatiker einen bestimmten gegebenen Stoff wieder und wieder behandeln
und ihm immer neue Seiten abzugewinnen trachten. Doch auf diesen Vorzug,
oder sagen wir besser auf diese Besonderheit der griechischen Tragödie muß der
Dramatiker der Neuzeit verzichten. Wenn er es nicht vermag, wird er zur
Bühne immer nur ein vorübergehendes Verhältnis gewinnen. Geibels „Brun-
hild" verdankte ihren theatralischen Erfolg nicht den dichterischen Vorzügen, die
sie in Wahrheit hat, nicht dem reifen Gleichmaß der einzelnen Teile, nicht der
klangvollen Sprache, sondern dem Versuch, die übermächtigen Gestatte» der
Nibelungensage auf ein Maß zurückzuschrauben, welches gewissen Anschauungen
und Gewöhnungen des heutigen Theaterpublickums entsprechender ist, und dem
Eintreten einiger Heroinen wie der Damböck, der Ziegler und der Janauscheck für
die Tragödie. Allein dieser theatralische Erfolg entscheidet nicht. Es fehlt den
beiden Geibelschcn Tragödien eine Handlung, deren Eigenart und Besonderheit
sich der Phantasie unverlöschlich einprägt, es fehlen ihnen Gestalten, die, einmal
geschaut, unvergeßlich bleiben. Die Gründe des Erfolges auf der Bühne sind
mannichfach, aber in der dramatischen Dichtung wiegen doch die Worte am
schwersten, die solche Handlung und solche Gestalten besitzen. Der seine Künstler¬
sinn Geibels kann sich nicht mit der Wahrheit abfinden, daß im Drama
weniger oft mehr ist. Den Beleg dazu giebt beispielsweise der eine Lustspiel¬
versuch „Meister Andrea," die Dramatisirung einer altflorentinischen Novelle
„Der dicke Tischler," die abwechselnd dem Baumeister Brunellescho und dem
Humanisten Antonio Manetti zugeschrieben worden ist. Ein toller, an die
Posse streifender Schwank, der auch nur als solcher zu wirken vermag, der mit
rücksichtsloser Lebendigkeit in Szene gesetzt werden müßte, damit Zuschauer und
Hörer zur Erwägung seiner Möglichkeit garnicht gelangen können. Statt dessen
versucht Geibel die lustige Geschichte zu vertiefen, den Vorgang psychologisch
wahrscheinlich zu machen und erreicht damit eher die entgegengesetzte Wirkung,
so reizend und anmutig auch einzelne Szenen sind und so fein und sorgfältig
auch der Prosadialog des kleinen Stückes bearbeitet erscheint. Dem Dichter
von Geibels Art ist schließlich nur wohl, wenn er sich in gebundener Rede be¬
wegt. Mit ihr hebt er einen so unbedeutenden Vorgang, wie den im Sprichwort
„Echtes Gold wird klar im Feuer" dargestellten, in eine höhere Region, mit
ihr giebt er einem Fragment wie der „Jagd von Beziers" einen Reiz, der
freilich mehr der episch frischen Schilderung der südfranzösischen Zustände als
der dramatischen Anlage gilt, welche wenigstens in diesem Vorspiel nicht eben
zwingend ist.
Der Schlußband der „Gesammelten Werke" unsers Dichters enthält die
größeren Gelegenheitsdichtungen, darunter namentlich die schöne Dichtung „Beim
Tode Felix Mendelssohn-Bartholdys," die Übertragungen französischer Lyriker,
die Geibel einst zusammen mit dem unglücklichen Heinrich Leuthold heraus¬
gegeben, drei Gedichte Lord Byrons und die „Spanischen Romanzen," die unsers
Wissens gleichfalls einer frühern Zeit angehören. Jeder längst anerkannte Vor¬
zug des Dichters: die edle Reinheit seiner gesamten Weltanschauung, die „tiefe
Sehnsucht nach dem Ewigschvnen," die Ehrfurcht vor dem Genius unsrer Sprache,
mit der er nie leichtfertig gespielt, bewähren sich auch hier. Die Gesamtaus¬
gabe läßt keine Täuschung zu über die Grenze von Geibels Kraft und Kunst,
aber sie gewährt dem Dichter ein volles Anrecht auf den Dank und dereinst
auf das ehrende Gedächtnis seines Volkes, sie mahnt mit dem Dichter selbst die
großen Kreise, denen die Literatur unsers Volkes noch ein teures Gut ist, um
Gerechtigkeit:
Denn eure Gunst zwar ließet ihr vor vielen
Mir angedeihn, doch hat mich eins verdrossen,
Daß bei des Jünglings unvollkommnen Spielen
Ihr allzufrüh in Beifall euch ergossen,
Doch als er vorwärts drang zu würd'gen Zielen,
Ein halbes Ohr nur seinem Ernst erschlossen,
Als wär' allein der leichte Schmelz der Jugend,
Nicht reife Kunst, des Dichters Zier und Tugend.Von »den freilich flammt in Feuerzungen
Die Kraft herab, doch uus gehört das Streben;
Noch keinem ist, was Dauer hat, gelungen,
Der nicht das Pfund gewahrt, das ihm gegeben.
So hab auch ich beharrlich fortgerungen
Und schritt, im Lernen wachsend, durch das Leben;
Drum seid mir endlich unbefangne Richter,
Und wagt ihr mich, so wägt den ganzen Dichter!
Wenn man sagen darf, daß die Geibelschcn Werke eben nur den Zusammen¬
hang und die Folge einer poetischen Entwicklung verdeutlichen, die jederzeit unter
großer Teilnahme weiter Kreise stattgefunden, daß sie in diesem Sinne, ein paar
Gedichte und Fragmente ausgenommen, wenig neues enthalten, so gilt von den
„Gesammelten Werken" von Adolf Friedrich von Schock das Gegenteil. Sie
bringen neben manchem längst Veröffentlichten viel Ungedrucktes, aber auch das
längst Veröffentlichte hat verschiedene Schicksale gehabt. Gleichwohl läßt sich nicht
sagen, daß diese Schicksale allzu ungewöhnliche seien. Die Gleichgiltigkeit, welcher
der phantasievolle und formenreiche Dichter meist begegnet ist, haben vor ihm
verwandte Dichtcrnaturen erfahren und, wenn überhaupt, nur sehr allmählich
überwunden. Sie hängt mit einer aus der ganzen Entwicklungsgeschichte unsrer
Literatur entspringenden Thatsache zusammen. Von alten Tagen her fehlt in
unserm Volke die Genußfreude an der poetischen Darstellung, die mit rein künst¬
lerischen Ansprüchen und Zwecken auftritt; die unbefangenste Teilnahme — das
hat Geibel erfahren — herrscht im ganzen für den Lyriker. Wer an jede
Wiederspiegelung des Lebens in allen Formen der erzählenden und dramatischen
Dichtung werden in Deutschland Forderungen gestellt, denen bestimmte poetische
Talente, wirkliche Talente, nicht zu entsprechen vermögen. Die deutsche poetische
Literatur hat bekanntlich in trüben Zeiten an der Erziehung unsers Volkes
einen weit über ihre nächsten Aufgaben hinauswachsenden Anteil nehmen, hat unter
gedrückten Verhältnissen jenes echte und crscheinnugsreiche Leben, welches die
Dichtung eigentlich poetisch erfassen, darstellen und verklären soll, meist erst er¬
schaffen und erwecken müssen. Trotz des Erstarkens andrer Lebensmächte und
völlig veränderter Verhältnisse werden diese aus einer andern Zeit stammenden
Anforderungen auch heute noch gern an Dichtung und Dichter gestellt. Nun
soll und wird es unbestritten bleiben, daß der Poet, dessen Weltanschauung dem
Leben der Nation über die Dichtung hinaus zu Gute kommt, dessen Werke etwas
von den alten großen Sonderleistnngen vergangener Tage in sich einschließen,
der vorausschauend die Zukunft des Lebens erkennen und schaffen hilft, am
höchsten steht. Allein daraus folgt doch uicht, daß keiner ein Dichter sei, der
diesen Anspruch uicht erfüllt, und daß die poetische Phantasie, die empfänglich
das Schöne in jeder Erscheinung in sich aufnimmt und wiedergiebt, darum nichts
zu bedeuten habe. Zugegeben, daß bei poetischen Naturen letzterer Art die
Greuze zwischen der Produktion im höchsten Sinne und dem, was man poetische
Reproduktion nennen dürfte, unendlich schwieriger zu ziehen ist mis bei Dichtern
der ersten Gattung, zugegeben auch, daß die Entwicklung der Literatur im we¬
sentliche an die Naturen gebunden bleibt, welche unmittelbarer in die Seele
ihrer Zeit hineinwirken als diejenigen Dichter, zu denen wir F. A. von Schack
rechnen müssen, folgt daraus, daß die Gleichgiltigkeit des deutschen Publikums
berechtigt wäre, daß man nichts oder wenig verlöre, wenn man an der Phan-
tasiefülle und dem außerordentlichen Formtalent, die sich in den zahlreichen,
mannichfaltigen, nunmehr „gesammelten" Werken Schacks offenbaren, achtlos
vorüberginge?
Die Werke Schacks bringen in bunter Folge die sämtlichen lyrischen und
lyrisch-epischen wie die dramatischen Dichtungen des geistvollen, von den um¬
fassendsten Anschauungen getragenen und mit dem Mark der vielseitigsten und
reifsten Bildung genährten Dichters. Die „Nächte des Orients," das Epos
„Die Plejaden," die poetischen Erzählungen, welche in den „Episoden" vereinigt
sind, die Romane in Versen: „Durch alle Wetter," „Ebenbürtig" und „Lothar,"
die Tragödien: „Die Pisaner," „Timandrn," „Atlantis" und „Heliodor," die
„Politischen Lustspiele," die „Lvtosblätter." die „Wcihgesänge" — welche Reihe
von Werken, von denen kein einziges inhaltleer oder mittelmäßig in den Poe¬
tischen Ausdrucksmitteln genannt werden kann, von denen mehr als eines, die
künstlerischen Voraussetzungen des Dichters zugegeben, sogar einzig in unsrer
modernen Literatur genannt werden muß. Sollen wir indes den Gesamtein-
druck aller dieser Dichtungen kurz charakterisiren, so drängt sich doch das Wort
eklektisch in die widerstrebende Feder, Wir denken hierbei ganz unmittelbar an
die großen und in ihrer Weise ohne Frage unsterblichen Eklektiker der Malerei.
Wie es die Caracas, Domenichino und Guido Reni unwiderstehlich lockte,
gewissen überwältigenden Vorzügen der vorausgegangenen großen Meister ihrer
Kunst nachzuringcn, eine Vereinigung der Wirkungen Rafaels und Correggios
und Tizians in ihren Werken zu versuchen, wie sie diesem Traum nachgingen
und darüber die Ausbildung ihres eigensten Lebens und Könnens wenn nicht
ganz hintan, so doch in die zweite Linie setzten, so hat unser Dichter von früh-
aus unter deu stärkste» Einwirkungen großer Meister gestanden. Der geistvolle
Übersetzer des großen Epos des Firdusi hat sich tiefer, als es in bloßer Lektüre
geschieht, mit dem poetischen Geist des Morgenlandes durchdrungen, der Ge¬
schichtschreiber des spanischen Dramas und poetische Vermittler einer Gruppe der
bedeutendsten spanischen Schauspiele ist nicht gleichgiltig gegen den Reiz geblieben,
welcher in dem Phantasiereichtum und der erfindenden Kühnheit spanischer Lebens-
darstellnng liegt. Der hochgebildete Weltwandrer hat auf großen Reisen die
Dichtung der Völker sogut wie ihr Lebe» auf sich wirken lassen. Seine reiche
Belesenheit hat Graf Schack empfänglich für die Eindrücke der Dichter, in die er
sich versenkte, gemacht, er kennt sie von Sophokles bis Byron alle, und seine
eigne Entwicklung hat nicht nur Anregungen, Fingerzeige von ihnen empfangen,
sondern gewisse Elemente aller in sich gesogen. Dabei ließe sich doch nicht be¬
haupten, daß der Dichter eigner Elemente entbehre und ein Nachbildner in dem
platten Sinne sei, wie es jene Dichter sind, die man akademische nennt. Wir
sind überzeugt, daß er niemals nachahmend im schlechten Sinne des Wortes
verfahren ist, daß jederzeit eine Regung der eignen Empfindung, des selbst-
gelebtcn, selbstgeschauten oder in die eigne Gedankenwelt einbezogenen Lebens
die Wahl seiner Stoffe und seine Erfindungen mit bestimmt hat. Allein der
Subjektivismus Schacks ist offenbar nur in einzelnen Fällen so stark gewesen,
daß er mit seiner Flamme alle nährenden und anregenden Elemente der großen
Dichter, in und mit denen er aufgewachsen ist, verzehrt und mit jenem Lichte
durchleuchtet hätte, welches den einen, mit keinem zweiten zu verwechselnden Dichter
umstrahlt.
Es würde, unsers Erachtens, eine der schwierigsten Ausgaben der Kritik
sein, das Verhältnis der einzelnen Schackschen Werke zur innerlichen Welt des
Dichters und wieder das eigentümliche Verhältnis dieser innerlichen Welt, der
poetischen Grundanschauung, zu deu grundverschiedenen künstlerischen Eindrücken,
die hier bewußt und unbewußt mitwirken, festzustellen. Daß ein subjektives
Element vorhanden ist, erweisen außer einzelnen Gedichten vor allem die
„Nächte des Orients," in deren rasch wechselnden Phantasiebildern die eigne
Auffassung des Dichters von Welt und Menschen deutlicher und entschiedener
zu Tage tritt als in zahlreichen andern seiner Dichtungen. Daß er an die
Perfektibilität des Menschengeschlechts glaubt und trotz seiner ursprünglichen
Sehnsucht nach den vergangenen goldnen Altern der Welt der Zukunft ver¬
traut, soll gleichfalls in Ehren gehalten werden. Und auch darin mag er Recht
haben, daß er fälschlich beschuldigt worden sei, in der ersten Hälfte des Gedichts
einem trüben Pessimismus, in der zweiten jenem Optimismus zu huldigen, den
die neuesten Elendsphilosophen ruchlos schelten. „Man kann, sagen wir mit
Schack selbst, den Jammer, welcher durch alles Leben und durch die ganze Ge¬
schichte bis auf den heutigen Tag geht, erkennen und lebhaft empfinden, ohne
deshalb der ersten dieser beiden Lehren zuzustimmen, aber wenn mau auf Grund
der neuesten Naturwissenschaft annimmt, daß der Mensch, der sich im Verlaufe
von Jahrhunderttausenden aus den untersten Formen des animalischen Lebens
emporgerungen, auch noch einer höheren Entwicklung entgegengehe, und daß dann
wie das Böse, so auch das Leiden auf der Welt sich mindern werde, wenn man
gegen das viele Gute und Schöne, das doch inmitten alles Weltelends schon
zu Tage gekommen ist, das Auge nicht verschließt und in ihm die Keime zu
einer noch reicheren Ernte für die Zukunft erblickt, so bekennt man sich dadurch
noch nicht zu der Leibnizschen These, die Voltaire so köstlich verspottet hat."
Wir rechten auch nicht mit dem Dichter, daß ihm die Retorte des Chemikers
und der Sezirtisch des Physiologen der heilige Bronnen sind, aus dem ihm Er¬
quickung quillt, sondern wir wünschten, daß das Erwachen des Dichters von
seinem orientalischen Traum, das Gelübde, welches ihn aufs neue an die Heimat
bindet, in der indes das Reich erstanden ist. noch viel mächtiger, siegfreudiger,
zukunftgewisser klänge und das Bild der Gegenwart die düstern Reminiscenzen
vergangener Jahrhunderte aufwöge.
Eine durchaus eigne Bahn schlagen, trotz der Beziehung, die zwischen ihnen
und Byrons „Don Juan" und „Beppo" obwaltet, die gereimten Romane ein
in welchen der Dichter seine eignen Lebenseindrücke und Lebensanschauungen
am unbefangensten und unmittelbarsten walten läßt. Den Vorzug verdient
nach unsrer Empfindung hier „Durch alle Wetter," allein auch „Ebenbürtig,"
gleich dem erstem in prächtig wechselnden, reichen und bisweilen klangvoll
schönen Stanzen geschrieben, weist jene feinste Mischung von ehrlicher Begeisterung
und lächelnder Ironie auf, in der wir ein Hauptverdienst Schcickscher Dichtung
erblicken. Wo wir ein Stück aus diesen Dichtungen herausgreifen, da haben
wir den lebendigen, sich selbst und seinem innersten Zuge folgenden Schack vor
uns. Und die Art, wie er bald episch seine Helden vorführt, bald für sie, bald
in eigner Sache das Wort nimmt, ist köstlich. Die Fahrt des Prinzen Nikolas
nach Welschland mag hier statt aller Empfehlungen stehen und die Leser, welche
bei dem bloßem Titel „Roman in Versen" leise erschrecken, daran mahnen,
daß alles Ding in der Welt, vor allem alles künstlerische Ding, erst geprüft
werden will:
Schon liegt der See vor ihm, in dessen Welle
Die Heilgen Stätten all der Tell-Legende
Sich spiegeln, Rutil, Küßnacht und Kapelle —
Gelesen hat man früher zwanzig Blinde
Bon jenem Helden und von jeder Stelle,
Wo er gelebt, gewirkt; doch nun am Ende
Noch zwanzig andre, dickre muß man lesen,
Damit man weih, er sei nie dagewesen. Wahr ists, es giebt verschiedne Gcßlerhüte,
Und Schweden auch hat seinen Apfclschuß,
Doch wenn wir die Geschichte so zur Mythe
Verwandelt sehen, glauben wir zum Schluß,
Beinahe selbst aus mythischem Gebiete
Zu stehn, und mustern uns von Kopf zu Fuß,
Ob wir nicht Fabeln sind; nach hundert
Jahren
Beweist man sicher, daß wir niemals
waren. Eins aber stell' ich fest und außer Frage:
Mein Held ist da und lebt, Prinz Nikolns,
Selbst, daß ich jeden Zweifel niederschlage,
Bewahr' ich seinen Taufschein, seinen Paß;
Und findet sich in der Wilkinasage,In einem Manuskript des Ulfilas,
Daß schon bei Sknndinnvcn oder Gothen
Ein gleicher war — was kümmern mich die
Toten? Wohl! sehn wir, wie der Prinz auf dem
Luzerner
Tiefblauen See »ach Silben weiter reist!
Trüb sitzt er da, für Arnold Melchthals,
Werner Stauffachers Heimat achtlos bleibt sein Geist,
Und für die Wunder, Firnen, Fclsenhörner,
Die ihm des Sees krystallner Spiegel weist;
Nicht Nitetis will er sehn, noch Nigiknlme,
Nur Hohn, wo Reben ranken »in die Ulme. Voll ist wie stets der Dampfer von Tonriste»,
Fast sandte jedes Land sein Exemplar;
In reiche» Kleider», seiden und battisten,
Prange die Pariserin vom Boulevard;
Ladies mit ihrem Zubehör von Kisten
Und Koffern giebt es eine ganze Schaar,
Und Moskowitinncn mit Schuhu von Juchten
Rüster zur Fahrt sich durch Gebirg nud
Schluchten.
Prinz Nikolas aber, nach dem der
wendet, ist unempfänglich für die blonde
sein Sinn steht nur nach Italien, dortBlick der schonen Pilgerinnen sich oft
Schönheit Germaniens und Altenglanbs,
blühen:
mit den Lorberrosen, den Agrumen,
In Glut und Pracht die echten Frauenblumen.
Und jetzt empor auf steilen Schwindclpfadcn,
An Schlünden hin, wo gelber Nebel brant,
Hoch oben haben sich die Boreaden
Aus Eis und Schnee den Winterthrvn gebaut,
Zur Seite schäumt und wirbelt in Kaskaden
Die wilde Reuß; auch wo man sie nicht schaut,
Hört man die Flut, wie sie an den gezackten
Felswände» tobt in co'gen Katarakten. Die Brücke, nicht gebaut von Menschenhänden,
Bebe bei dem Sturz der Wogen wie ein Rohr;
Durch Nebel flatternd an den Felsenwänden
Und durch das schwarze, nie erhellte Thor
Schwingt sich der Weg, als wollt' er nimmer
enden,
In hundert Windungen empor, empor,
Dann endlich — denkt euch Nikolas' Ent¬
zücken —
Nach Süden senkt sich des Gebirges Rücken.Bald stäubt der Nebel hin in leichten Flocken,
Herauf vom Thale wehn die Lüfte lauer,
Und unsers Prinzen Herz bebt süß erschrocken,
Wie blau der Himmel wird und immer
blauer,
Wie längs des Stromes, der mit Silber¬
locken
Nach unten springt, an grüner Rebenmauer
Die erste Myrthe sich, noch halb verzagt
Und schüchtern, an die freien Lüste wagt. Und nun Italien! Heimat dieser Stanze,
So ivie du bist, ein ewiges Gedicht,
Mit deiner Tage goldnem Sonnenglanze,
Mit deiner Nächte Stcrnensilberlicht,
Entfalte meinem Helden deine ganze
Prachtfülle! Was bisher im Traumgesicht
Er nur geschaut, die Farben und Gestalten,
Laß es lebendig sich vor ihm entfalten. Wo ist ein Land, auf das mit reichern Gaben
Mutter Natur ihr großes Füllhorn leert,
Erschließ denn mir zugleich dein Thor aufs
neue,
Du, deren immerdar mein Herz gedenkt!
Wohl häng' ich an dem Vaterland mit Treue,
Wie oft es mich mit Galle auch getränkt;
Allein seit einmal deines Himmels Bläue
In meiner Seele Spiegel sich gesenkt,
Stets wieder, wie mit unsichtbaren Fäden,
Zurückgezogen werd' ich dein Eden!Als über dich? Früh hast du mich, den
Knaben,
An deinem treuen Busen schon genährt;
Was zart und stark, was lieblich und er¬
haben,
Wer anders hätt' es mich als du gelehrt,
Wer auf die Lippen mir gleich fühlen
Semle
Zuerst gelegt die holde Kunst der Reime?
Auch das Epos von der Salamisschlacht „Die Plejaden" müssen wir
Schacks selbständigste» Dichtungen hinzurechnen. Denn die Begeisterung für die
individuelle Freiheit der Hellenen gegenüber dem Herdendespotismus des Orients,
für den Sieg der freien beweglichen Kraft gegenüber der schweren Masse, ist
uns in Fleisch und Blut übergegangen, und stammt sie von den Schulbänke»,
so mögen die gnädigen Götter geben, daß sie noch Generation auf Generation
voir dorther empfange! In der Liebe des Kallias zur Arete hat Schack eine
seiner reinsten und amnutendsten Erfindungen gegeben, und der gleichsam jauch¬
zende Ton, mit dem die Seeschlacht, die zu den leuchtenden Menschheitscrin-
uerungen zählt, gegen den Schluß des Gedichts geschildert ist, wird immer den
stärksten Wiederhall finden.
So mahnt die Sammlung anch dieser „Werke" schließlich doch, sich in ihre
Einzelvorzüge zu versenken und zu versuchen, sich in die Intentionen wie in die
künstlerischen Neigungen des Dichters hineinzudenken. Leisten die Paneghriker,
die Schack den „einzigen Klassiker unsrer Zeit" nennen, ihm einen schlechten
Dienst, so wird er damit des Rechtes nicht verlustig, von ernsten Naturen, die
an dem Wohl und Wehe unsrer Literatur Anteil nehmen, in vollem Maße
beachtet und gewürdigt zu werdeu. Kann man sich der Empfindung nicht ent-
schlagen, daß hier eine eigentümlich angelegte Kraft dnrch die üppigen Ranken
ihrer Bildung nicht so hoch, frei und stark gewachsen ist, wie ihr Wohl von
Haus aus zugedacht war, so mag man sich der zahllosen Dichter aus jüngster
Zeit erinnern, deren Subjektivität um nichts stärker lind deren Bildung dabei
viel schwächer und ärmlicher ist als die des farbenreichen und weltkundigcu
Poeten. Der deutschen Literatur ist in den „Gesammelten Werken" Geibels wie
Schacks ein Weihnachtsgeschenk der erfreulichsten Art zuteil geworden.
anter als jemals zuvor schallt aus den Reihen der Künstler der
Ruf: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent!" und
am lautesten hört man ihn zur Zeit in Berlin, wo allerdings die
Künstler mehr als irgendwo Ursache haben, die mahnende Stimme
des schlechten Gewissens durch ein wildes Geschrei zu betäuben.
Wir sind human genug, diesen Grund als mildernden Umstand anzuerkennen
und die Wortführer und den Troß der Beifalljohleudeu zu entschuldigen.
Kann es härtere Schläge für die Einzelnen und für die Masse geben, als sie
das Jahr 1883 den Berliner Künstlern gebracht hat? Eine gänzlich verunglückte
Kunstausstellung in den eignen Mauern, doppelt verunglückt, weil sie dem Pu¬
blikum nichts bot und den Künstlern nichts brachte. Dann der unrühmliche
Kanvssagang nach München, wo die Arbeiten der Berliner Künstler nur dazu
diente», sür die Münchener eine Folie herzugeben. Zwar warf man ihnen das
Almosen einiger Medaillen hin; aber kein ernsthafter Mensch ist über den wahren
Charakter dieser Schmerzenspflastcr getäuscht worden. Der große „Maler der
europäischen Diplomatie und der zeitgenössischen Geschichte" wird wegen seines
Kongreßbildcs von den Künstlern ausgelacht und von den Kritikern wie ein An¬
fänger behandelt, Ist es bei solchem Mißgeschick nicht natürlich, daß dem Be¬
troffenen die Galle überläuft und daß er zur Feder greift, um seinen eignen
Ärger fortzuschreibcn und zugleich als Anwalt derer aufzutreten, welche die Feder
nicht so geschickt zu sichren wissen wie den Pinsel? Und soweit das Auge reicht,
keine Aussicht, die auf künstlerischem Felde erlittenen Niederlagen durch künst¬
lerische Thaten wettzumachen. Da wird auch der sanftmütige Domenichino,
welcher sonst vor den Kritikern den Hut so tief als möglich zieht, zu einem
wütenden Benvenuto Cellini, der mit dem Stilet um sich stößt, nur daß in
unserm zivilisirteu Jahrhundert aus dein Dolche die Feder geworden ist. Und
die bösen Kritiker müssen es i» erster Linie ausbaden, daß die Maler schlechte
Bilder gemalt haben, Sie werden mit dem Instrumente bestraft, durch welches
sie gesündigt haben, weil sie es nicht über ihr Herz bringen konnten, die letzte
Berliner Kunstausstellung für lobwürdig in allen Punkten zu halten. Manche
haben es aus angeborner Gutmütigkeit gleichwohl gethan. Aber das giebt ihnen
keine Absolution. Hier heißt es: Mitgefauge», angehangen! und alle müssen
erbarmungslos über die Klinge der erbitterten Tintorettis springen. Und um
das Maß des Ingrimms noch voll zu machen, tritt gerade in dem Augenblick, wo
die Verstimmung unter den tonangebenden Künstlern auf das höchste gestiegen
ist, das Kultusministerium an den Landtag mit einer außerordentlichen For-
derung von zwei Millionen Mark zur Vermehrung der königlichen Kunstsamm¬
lungen im Museum heran. Jetzt wird auf der ganzen Front der Mißver¬
gnügten zum Angriff geblasen. Die alten Künstler sind tot, und nur die lebenden
haben Recht! Wir brauchen keine alten Bilder, wohl aber stecken unsre Ateliers
voll neuer, und der Staat hat die Verpflichtung, uns diese Bilder für die
Nationalgalerie und andre öffentliche Sammlungen abzukaufen, damit wir weiter
malen könne»! Was nützt uns die Bildergalerie? Wir gehen doch nicht hinein,
weil wir die alten Meister längst überholt haben!
Die Welt ist kraus und bunt genug, als daß uns eine Thorheit mehr in
Erstaunen setzen könnte, und auch dieser Streit wird vorübergehen, ohne daß
an der bestehenden Ordnung der Dinge etwas geändert wird. Der Weise lacht
schon heute darüber, und nur der Menschenfreund empfindet eine leise Wehmut,
daß die Leidenschaften von Bosheit und Dummheit im Bunde angestachelt werden,
um Haß und Zwietracht auszustreuen.
Wenn man der Theorie oberflächlicher Politiker huldigte, daß kleine Ur¬
sachen große Wirkungen hervorbringen, so könnte man auch hier eine solche
Ursache namhaft machen, welche den unmittelbaren Anlaß zu dem Sturme
gegeben hat, der augenblicklich in der Berliner Künstlerschaft tobt. Ein
Berliner Journalist hat unter dem Pseudonym „Quidam" eine Broschüre
herausgegeben, in welcher er die Urteile der Berliner Zeitungen über eine An¬
zahl von Bildern und Skulpturen der letzten Kunstausstellung einander gegen¬
übergestellt hat, in der Absicht, die Nichtigkeit und Wertlosigkeit der Zeitungs¬
kritik nachzuweisen, weil die meisten Urteile über dasselbe Bild einander
widersprechen und der eine ein Bild schlecht gemacht hat, welches der andre
in den Himmel gehoben. Nichts konnte den Künstlern bei ihrer Mißstimmung
erwünschter kommen als eine solche Bloßstellung der Kritik. Niemand fragt
darnach, woher der anonyme Herausgeber die Berechtigung zu einem solchen
Verfahren habe. Niemand kümmert sich darum, ob die Zusammenstellung eine
richtige sei. Niemand nimmt Anstoß daran, daß der Herausgeber nicht einmal
die Kourage besitzt, das Pasquill mit seinem Namen zu decken, sondern alles
klatscht jubelnd Bravo! und stimmt in das Kreuzige! Kreuzige! ein, mit welchem
der anonyme Stcgreifsritter seine Betrachtungen schließt. Wer ist Quidam?
Ein Berliner Journalist, dem dieselbe wohlwollende Kritik, die er heute mit
Schmutz bewirft, einen Ruf gemacht hat, welchen er erst verdienen soll. Sie
hat ihn einen „liebenswürdigen Humoristen" genannt, obwohl er sich in den
plattesten Formen des Berliner Witzes bewegt. Sie hat ihn wegen seiner
Gelehrsamkeit gerühmt, weil er die wissenschaftlichen Forschungen wirklicher
Gelehrten für ein breites Publikum in breite Bettelsuppen umkocht. Wer solche
Erfahrungen gemacht hat, der kann freilich vor der Kritik keine besondre Hoch¬
achtung haben. Aber er sollte doch aus Dankbarkeit schweigen und sich be¬
scheiden ducken. Denn dieselbe Kritik, welche heute aus kollcgialischem Auslands-
gefühl Schonung übt, kann morgen ebensogut das hohle Treiben literarischer
Spekulanten an den Pranger stellen.
Willkürlich hat der Herausgeber die einzelnen Stellen aus zusammen¬
hängenden Kritiken, die als etwas Ganzes geschrieben worden sind und daher
auch als etwas Ganzes gelesen werden sollen, herausgerissen, ohne dabei den
Standpunkt zu berücksichtigen, welchen ein jeder Kritiker einnimmt. Der eine
ist seinem innern Wesen nach mehr Idealist und wird ein Kunstwerk daher
mehr auf seinen Gedankengehalt als auf die Ausdrucksweise seines Urhebers
prüfen. Ein andrer sieht in der realistischen Richtung das Heil der Kunst
und wird daher mehr auf die zeichnerischen und koloristischen Vorzüge eines
Kunstwerkes scheu. Ein dritter glaubt, daß beide Richtungen mit einander
vereinigt werden müssen, wenn die Kunst wirklich vorwärts kommen soll, und
er wird darnach seine Beurteilung einrichten. Ein vierter endlich berücksichtigt,
ohne eine vorgefaßte Meinung oder ein Shstem zu haben, jedes Kunstwerk
nach der Individualität seines Schöpfers und spricht seine Anerkennung schon
da aus, wo er ein ernstes Streben zu erkennen glaubt, sodaß seiue Kritik
durchweg eine wohlwollende Färbung annimmt. Ist einer dieser kritischen
Standpunkte ein unberechtigter oder gar verwerflicher? Nein! Aber aus ihnen
erklärt es sich für jeden Einsichtigen zur Genüge, weshalb über ein und das¬
selbe Kunstwerk die verschiedenartigsten Urteile abgegeben werden. Das ist
immer so gewesen und wird so bleiben, solange Menschen Bilder malen und
Bilder beurteilen. Und der Kritiker ist doch kein Halbgott, sondern auch nur
ein Mensch, der ebenso gut unter dem Eindruck subjektiver Empfindungen steht
wie jeder Laie, der sein Urteil privatim zum besten giebt. Man denke nur,
wie schroff sich die Urteile über Nasfael und Michelangelo zu Lebzeiten beider
Männer gegenüberstanden, wie man sich in Rom nicht scheute, Arbeiten eines
Sebastiano del Piombo hoch über Gemälde Raffaels zu stellen, wie man in
Amsterdam die prosaischen Schützenbilder eines van der Helft den poesieerfüllten
Schöpfungen eines Rembrandt vorzog. Noch heute giebt es Leute, welche
diesen Standpunkt teilen, welche für Rembrandt nicht das mindeste Verständ¬
nis besitzen und Rubens sogar abscheulich finden. Mit den Urteilen über
moderne Kunst verhält es sich genau ebenso. Dieselben Leute, welche sich von den
Zeichnungen eines Ludwig Richter kühl und teilnahmlos abwenden, geraten
vor Entzücken außer sich, wenn sie vor einer der protzigen Leinwandflächen
stehen, welche Hans Makart bemalt hat. In gewissen Gesellschaftskreisen hat
sich ein förmlicher Thumannkultus gebildet, und wer sich in einer solchen Ge¬
sellschaft erdreistet, Thumannsche Illustrationen fade und abgeschmackt zu nennen,
läuft Gefahr, hinausgeworfen zu werden.
Das Verhältnis des Beschauers zu einem Kunstwerke entspricht ungefähr
der Stellung des Künstlers zu einem Stoffe, den er behandeln soll. Wie man
von zwölf Personen über dasselbe Bild zwölf verschiedne Urteile hören kann,
so muß man ebenso von zwölf verschiednen Künstlern, welche dasselbe Thema
bearbeiten, zwölf verschiedne Auffassungen erwarten, vorausgesetzt, daß jeder
Künstler eine ausgeprägte Individualität besitzt. Nehmen wir z, V. an, daß
ihnen die Aufgabe gestellt sei, den Abschied eines preußischen Soldaten, der in
den Krieg zieht, von seiner Geliebten zu malen. Piloty würde die beiden Fi¬
guren, dem Ernste des Moments entsprechend, mit theatralischen Pathos er¬
füllen, etwa wie Hektors Abschied von Andromache. Unter Thumanns Händen
würde die Braut in Jammer zerfließen, und der Krieger würde auch einer
Thränenweide ähnlicher sehen als einem preußischen Grenadier. Kraus würde
sich die Szene mit etwas Humor zurechtmachen, etwa nach der Melodie:
„Lavise! Lavise! wisch ab dein Gesicht! Eine jede Kugel, die trifft ja nicht!"
Gussow würde die beiden Figuren zu Trägern gewagter Farbencxperimente
machen, und A. v. Werner würde vor allen Dingen darauf sehen, daß die Uni¬
formknöpfe richtig sitzen, er würde darauf halten, daß die Soldatenstiefel recht
natürlich aussehen, der Waffenrock recht blau gemalt ist, und sich im übrigen um die
seelische Stimmung der beiden Leutchen nicht im mindesten kümmern. Jeder
wird behaupten, daß er von seinem Standpunkte aus Recht habe, weil sich die
Situation in seinem Gemüte so widergespiegelt hat, wie er sie zum Ausdrucke
gebrocht hat.
Muß man nicht das gleiche Recht subjektiver Anschauungs- und Empfindungs-
weise dem Laien zugestehen, welcher ein Bild betrachtet, dem Kritiker, welcher
das Resultat seiner Betrachtungen in Worten formulirt? Ebensowenig wie
einer jener Künstler von sich sagen kann und wird, daß er einen Gegenstand
allein und voll und ganz erschöpft habe, ebensowenig wird ein Kritiker sein
Urteil als allein- und allgemeingiltig proklamiren können und wollen. Wenn
es hüben und drüben dünkelhafte Leute geben sollte, die solches dennoch thun,
so wären das doch nur vereinzelte Ausnahmen, um deretwillen nicht alle
übrigen leiden dürfen. Wenn ein Künstler statt eines Literaten die kritische
Feder führt, was die Künstler fortwährend verlangen, so ist er genau denselben
subjektiven Stimmungen unterworfen wie der Laienkritiker, der nicht zeichnen
oder malen kann, und man wird genau ebensoviele, einander widersprechende
Urteile finden, wenn man die Kritiken der Maler zusammenstellt, als sie Quidam
bei den Literaten gefunden hat. Man vergleiche nur, was Friedrich Pecht und
Ludwig Pietsch, zwei Maler, die freilich nicht mehr malen, über Berliner Künstler
urteilen. Der erstere verfolgt alles, was in Berlin gemalt, gezeichnet, gemeißelt
und gebaut wird, mit unerbittlicher Strenge, während der amore für alle
Äußerungen des Berliner Kunstgeistes eine zärtliche Liebe hegt. Beides ist er¬
klärlich: der Süddeutsche Pecht ist mit der Münchner Künstlerschaft so innig
verwachsen, daß er den unbefangnen Blick für alles, was außerhalb Münchens
geschaffen wird, völlig eingebüßt hat, und zwar bis zu einem Grade, daß er
z. B. A. v. Werners Kongreßbild, auf welchem die Zierden der europäischen
Diplomatie etwa aus der Perspektive eines Portiers dargestellt sind, als ein
rühmliches Werk preisen konnte, Ludwig Pietsch dagegen ist ein Kritiker, der einen
ungleich universelleren Standpunkt einnimmt. Auch er ist durch seine Lebensbe¬
ziehungen mit den Berliner Kiinstlcrn ans das innigste verwachsen. Das macht
ihn aber keineswegs blind gegen die Leistungen auswärtiger Künstler und fremder
Nationen. Im Gegenteil. Er ist vielmehr der am meisten internationale oder
kosmopolitische Kritiker, der überhaupt auf der Welt existirt. Er gehört zu
jener vierten Kategorie von Kunftrichtern, die wir oben charakterisirt haben. Es
giebt kaum ein antikes oder modernes Kunstwerk auf der Welt, an welchem er
mit einem wahrhaft bewunderungswürdigen Talent nicht wenigstens eine lobens¬
werte Seite herausfände. Dieses ihm zur zweiten Natur gewordene Wohl¬
wollen hat zum großen Teil seine außerordentliche Beliebtheit in der Künstler-
welt begründet. Er thut niemandem wehe, und man muß schon ein sehr scharfes
Auge haben, um in seinen Rezensionen die kleinen Bosheiten zu entdecken, welche
wie Eidechsen durch das üppig aufschießende Gras des Wohlgefallens
huschen. Man muß aber stockbliud sein, wenn man Ludwig Pietsch, den vor¬
nehmen, durch und durch gebildeten, stilgewandten und geschmackvollen Schrift¬
steller, mit Friedrich Pecht in eine Linie stellt, wie es oft genug unter unsern
Künstlern geschieht. Niemand mag das bittere Unrecht, welches ihm dadurch
angethan wird, schwerer empfinden als Ludwig Pietsch. Aber er ist bereits
in einem Alter angelangt, in welchem ihm die Resignation keine Selbstüber¬
windung kostet und das Gleichgewicht der Seele ihm zu einem sichern Panzer
geworden ist.
Was in der Tagespresse zum Vorschein kommt, besteht und vergeht mit
dem Zeitungsblatt. Pecht leidet aber unter der Unklugheit, feine Zeitungs¬
artikel ab und zu noch einmal in Buchform erscheinen zu lassen, ohne daß er
sich die Mühe giebt, sie für diesen Zweck zuzurichten. Kann selbst dem flüchtigsten
Leser die Unbeholfenheit seines Ausdrucks, der Mangel an literarischem Schliff
und die Oberflächlichkeit seiner Kenntnisse verborgen bleiben? Ein Maler, der
so zeichnet und malt, wie Pecht schreibt, würde unter seinen Fachgenossen nur
Hohn und Spott ernten. Ebenso dürfen die Literaten fordern, daß jemand,
der sich unter sie mischt, anch mit den Anfangsgründen des literarischen Hand¬
werks vertraut sei. Und damit kommen wir zu dem entscheidenden Pnnkte, welcher
die Meinung der Künstler, daß nur einer ihresgleichen über ihre Arbeit zu
urteilen berechtigt sei und befähigt sein könne, hinfällig macht. Der litera¬
rische Beruf erfordert ebensogut eine Vorbildung, eine strenge Schulung wie
jeder andre. Wie die Fähigkeit zum Zeichnen, ist auch die Fähigkeit zum
Schreiben eine Mitgift der Natur, die ausgebildet sein will. Eine solche Aus¬
bildung erfordert aber den ganzen Man», und wer dennoch, wenn ihm die Natur
beide Fähigkeiten verliehen hat, beide auszubilden versucht, der giebt gewöhnlich
zu einem gewissen Zeitpunkte die Übung in einer von beiden auf, oder er kommt
in keiner von beiden über den Dilettantismus hinaus. Pecht und Pietsch sind
Beispiele für die erstere Kategorie, Maler Müller, Robert Neinick, Hugo von
Vlomberg und Arthur Fitger Beispiele für die zweite.
Der berufsmäßige Kunstschriftsteller hat doch nicht bloß die Aufgabe, über
die Erzeugnisse der zeitgenössischen Kunst zu urteilen, sondern auch den Zusammen¬
hang der künstlerischen Thaten vergangener Jahrhunderte darzulegen. Er muß
zu diesem Zwecke ein umfangreiches Studienmaterial seiner Darstellung zu Grunde
legen, er muß Quelleuforschuugeu in Urkunden und Geschichtswerken anstellen,
er muß gründliche Sprachkenntnisse besitzen, er muß Philologe und Historiker
zugleich sein. Kann ein Künstler, d. h, ein wirklicher Künstler, dessen schöpfe¬
rische Kraft noch nicht verdorrt ist, solche Studien treiben, ohne seinen eigent¬
lichen Beruf zu vernachlässigen? Aus der Anschauung der Kunstwerke allein,
wie die Künstler glauben, lernt man den Gang der Kunstgeschichte nicht kennen.
Wer die Dresdner Galerie und die Akademie und die Kirchen Venedigs studirt
hat, ist noch lange kein Kenner Tizians. Dazu gehört vor allen Dingen das
Studium seiner Vorgänger und der Zeit, innerhalb welcher dieser Genius er¬
wachsen ist, und die Kenntnisse derselben können nur durch literarische Forschungen
erworben werden. Die Künstler verachten freilich solche Studien als totes
Buchstabenwesen; ihnen ist das Kunstwerk allein der lebendige Quell der Er¬
kenntnis. Anders urteilt aber das große Publikum, zwischen welchen: und den
Künstlern zu vermitteln die Hauptaufgabe des Kunstschriststellers ist. Das
Publikum will nicht ausschließlich technische Gesichtspunkte berücksichtigt wissen,
auf welche es dem Künstler hauptsächlich, man darf beinahe sagen allein an¬
kommt. Das Publikum betrachtet die bildende Kunst nur als ein mit den
andern gleichberechtigtes Glied in der Kette der Offenbarungen des mensch¬
lichen Geistes. Der Kritiker, der ihm das Verständnis derselben vermittelt,
hat die Pflicht, die Musik, die Dichtkunst, die theatralische Kunst von demselben
allgemeinen ästhetischen Gesichtspunkte zu beurteilen wie die bildende Kunst.
Das Technische jeder Kunst kommt erst in zweiter Linie in Betracht und bildet
bei der Beurteilung insofern ein nur untergeordnetes Moment, als bei einem
Kunstwerke nicht der Werdeprozeß, sondern das Gewordene die Hauptsache ist.
Wenn wir das Technische in den Vordergrund rücken, kommen wir am Ende
zu dem Schluß, daß Theaterkritiken nur von Schauspielern geschrieben werden
dürfen, Rezensionen über Gedichte nur von Dichtern u. s. w. Denn was den:
Maler recht ist, ist den andern Künstlern billig! Man mache sich doch einmal
die Konsequenzen der von den Malern erhobenen Forderung klar. Der Bild¬
hauer wird dann auch nicht mehr den Maler als kompetenten Beurteiler seiner
Arbeiten anzuerkennen brauchen, sondern nur einen Bildhauer, und am Ende
würde statt eines einzelnen Laienkritikers eine ganze Kohorte von Fachkritikern
erwachsen, die vor lauter Fachkenntnissen das höchste Ziel der Kunst aus den
Augen verlieren würden. Dem Künstler würde am Ende mit diesen fachmän-
Nischen Kritiken auch nicht mehr gedient sein als unter den jetzigen Verhältnissen.
Im Gegenteil. Man weiß, daß die bissigsten Kritiken diejenigen sind, welche
mündlich von Atelier zu Atelier getragen werden. Aber angenommen, daß der
Künstler eine bittere Wahrheit lieber von einem Kollegen hörte als von einem nicht¬
fachmännischen Kritiker, so wäre mit solchen Kritiken aus Künstlcrfedern nur ihm ge¬
dient, nicht aber auch dem Publikum. Und für das Publikum, welches in seiner
Majorität aus Nichtkünstlern besteht, sind doch in erster Linie die Kunstkritiken in
den öffentlichen Blättern bestimmt. Nur einem Künstler, welcher in der Fülle seines
Selbstbewußtseins glaubt, daß die Kunst der Mittelpunkt des Weltalls sei, kann
es einfallen, anzunehmen, daß die Kunstkritiken um seinetwillen geschrieben werden.
Ich glaube schwerlich, daß es heute noch wirklich einsichtige Kunstkritiker giebt,
welche vermeinen, durch ihre Kritiken die Künstler bessern zu wollen. Der
Kritiker ist nur seinem Publikum verantwortlich, welches sein Richter ist, nicht
dem einzelnen Künstler, welchem sein Urteil mißfällt, und deshalb war es nur
eine Überschätzung des Wertes der eignen Persönlichkeit, wenn ein Berliner
Künstler, indem er sich zugleich ohne Auftrag zum Vertreter der gesamten
Künstlerschaft aufwarf, einen Berliner Kritiker zur Rechenschaft forderte, weil
derselbe im Gegensatze zu Quidam darauf hinwies, wie außerordentlich viel den
Künstlern an dem Wohlwollen der Kritik gelegen ist, und wie sie bestrebt sind,
dieses Wohlwollen sich durch Höflichkeit zu erhalte». Herr von Werner, der
Verfasser dieses Schreibens, malt sich nur schwärzer, als er selbst ist, wenn er
sich über den Verdacht einer solchen Höflichkeit erhaben hinstellt. Auch er, der
heute so geringschätzig von der Kritik urteilt, wird, so vermute ich, einmal
eine schwache Stunde gehabt haben, in welcher er sich für eine wohlwollende
Besprechung seiner Persönlichkeit bedankt hat. Freilich mag er selber Ursache
dazu gehabt habe»; aber daran ist die Kritik vielleicht weniger Schuld als er
selbst. Auch über seine Kongreßbilder haben die Münchner Kritiker so böse Dinge
gesagt, daß man sie garnicht wiederholen mag, und daher finde ich es durchaus
natürlich, daß er einmal die Gelegenheit ergriffen hat, den Kritikern auch seinerseits
gehörig seine Meinung zu sagen, wobei die letztern zu ihrer Genugthuung die
Beobachtung gemacht haben, daß sein schriftstellerischer Stil sich durch dieselbe
Derbheit und Grobknochigkeit auszeichnet wie sein malerischer. Nur ist es
etwas befremdlich, daß der Direktor der Berliner Kunstakademie sich als Vertreter
der Berliner Künstler aufwirft. Es wäre natürlich, wenn er sich als Vertreter
der unter seiner Leitung stehenden Akademie geriren. Ob aber anch die er¬
wachsenen alten Leute unter den Berliner Künstlern seiner Vormundschaft be¬
dürfen, ist doch fraglich, und wenn es der Fall wäre, so würde dieser Umstand
auf die letztern kein günstiges Licht werfen.
Am Ende wird auch dieser Sturm im Glase Wasser vorübergehen, ohne
daß die Frage nach der Berechtigung der Kunstkritik gelöst werden wird. Mir
kam es hier nicht darauf um, die Künstler, die ja oft genug triftige Gründe
zu Klagen haben mögen, von neuem zu erbittern oder gar der Schreibwut des
süddeutschen Champions der Künstlerschaft neue Nahrung zu geben, sondern auf
den Faktor aufmerksam zu machen, der auch ein Wort, und zwar ein gewich¬
tiges, hineinzureden hat — das Publikum. Nicht der einzelne Künstler, welcher
sich gekränkt fühlt, sondern das Publikum einer Zeitung oder Zeitschrift hat
sich mit den Mitarbeitern derselben abzufinden und zu ihnen eine wohlwollende
oder ablehnende Stellung einzunehmen. Als Emile Zola im Jahre 1866 die
Kunstberichte über den Pariser „Salon" für die Zeitung ^vvnemönt schrieb,
ließ er sich durch seine Überzeugung dazu verleiten, den Impressionisten Manet,
den alle Welt abscheulich fand, für einen bedeutenden Künstler zu erklären, welcher
allein richtig zu sehen verstünde. Darob erhob sich ein solcher Sturm der Ent¬
rüstung unter den Lesern des Blattes, daß sich der Besitzer der Zeitung ge¬
nötigt sah, dem kühnen Naturalisten einen minder einseitigen Kritiker an die
Seite zu stellen. Das ist eine Revolution, welche natürlich und begründet ist.
Aber die Künstler haben nicht das Recht, in eigner Sache zugleich Kläger und
Richter zu sein.
Es ist wahr, daß nicht die Kritik einen Künstler unsterblich machen kann,
sondern nur er sich selbst durch seine Werke. Aber der Weg zum Tempel der
Unsterblichkeit ist heutzutage mit so vielen sehnsüchtigen Pilgern vollgepfropft,
daß die meisten nicht von der Stelle kommen würden, wenn die wohlwollende
Kritik nicht diesem und jenem mit einem Schlage ein gut Stück vorwärts hälfe.
s ist ruhiger geworden in der Bewegung gegen die Juden, aber
man täusche sich nicht: es ist kein völliges Zerfließen der Frage
oder auch nur ein Stillstand in der Entwicklung derselben, denn
dazu ist sie historisch und politisch zu tief begründet. Bei ihrer
weiteren Verhandlung wird weniger die Leidenschaft als die
Wissenschaft das Wort haben, und so steht zu hoffen, daß man mit der Zeit
zu einer Verständigung und zu annähernder Lösung gelangen werde. Als ein
lesenswerter Beitrag zur Erreichung dieses Zweckes erscheint uns die mit ebenso¬
viel Sachkenntnis als Mäßigung geschriebene Schrift: Die antisemitische
Bewegung in Deutschland, besonders in Berlin, von Erich Lehnhardt
(Zürich, Verlagsmagazin, 1884, 102 S), welche Wesen, Berechtigung und
Folgt!» derselben mit Geschick und Klarheit charakterisirt und eine ziemlich aus¬
führliche Geschichte der Episode enthält. Es ist ein Rückblick auf die Jugend-
periode der Bewegung, der am Anfange eines neuen Lebensabschnittes derselben
recht zeitgemäß kommt, und den wir infolge dessen im nachstehenden in seinen
Hauptzügen soweit wiedergeben, als wir uns die Meinung des Verfassers an¬
eignen können.
Grund und Keim der antisemitischen Bewegung war die Zeit der Gründer
und Schwindler mit dem Krach von 1873. Hier war die Wunde Stelle, die
Laster in seiner bekannten parlamentarischen Rede auszubrennen versprach, aber
nicht ausbrannte, weil das viele seiner politischen Freunde und noch mehr von
seinen Glaubensgenossen schwer getroffen Hütte, die ja zur Schar der Gründer
ein unverhältnismäßig großes Kontingent gestellt hatten. Der ursprüngliche
Antisemitismus hatte denn auch seinen Hnuptsitz in dem vom Gründertum zu¬
nächst geschädigten Mittelstände. Der erste Schlag, den er dem Judentums
beibrachte, waren die Glagauschen Artikel über den Börsen- und Grllndungs-
schwindcl, die im Dezember 1874 in der „Gartenlaube" zu erscheinen begannen.
An Glagau schloß sich die junge Partei der Agrarier an, welche sich die Be¬
kämpfung der unbeschränkten Herrschaft des Kapitals zur Aufgabe machte. Ihr
Organ, die „Deutsche Lcmdeszeituug," von Niendorf redigirt, wurde in Ver¬
bindung mit Gehlsens „Deutscher Eisenbahnzeitung" Vorkämpferin der Gegner
der Juden. Im Niendorfschen Verlage erschien das Buch „Die Sittenlehre des
Talmud und der zerstörende Einfluß des Judentums im deutschen Reich," eine
Schrift, welche reiches Material zur Beurteilung der Frage brachte, aber in
ihren Behauptungen vielfach zu weit ging, wie der Verfasser denn u. a. wissen
wollte, „daß unsre Geschichte seit drei Jahrhunderten von jüdischem Geiste ge¬
schrieben worden sei." Zu gleicher Zeit trat die liberale „Staatsbürgerzeitung"
energisch in den Kampf ein, indem sie ausdrücklich an die Laskerschen Ent¬
hüllungen anknüpfte.
Nachdem die Judenfrage da, wo ihre materielle Seite lag, in dem durch
das Gründertum geprellten Mittelstande Wurzel gefaßt hatte, suchten auch andre
Klassen von ihr zu profitiren und sie politisch auszubeuten. So die Partei
der Kreuzzeitung und des Reichsboteu, die richtig herausfühlte, daß das moderne
Judentum viel zur Zunahme der heutigen Glaubenslosigkeit beigetragen habe.
So ferner die Ultramontanen, welche in der „Germania" aus der Sache Kapital
gegen den Kulturkampf schlugen. Der Antisemitismus griff von jetzt an sehr
rasch um sich. Der Berliner Stadtgcrichtsrat Willmanns veröffentlichte seine
Schrift: „Die goldne Internationale und die Notwendigkeit einer sozialen Re¬
formpartei," und Marrs Broschüre „Der Sieg des Judentums über das
Germanentum," die 1873 erschienen war, erlebte bis 1879 zwölf Auflagen.
Epochemachend wurde für die Bewegung der Eintritt des Hofpredigcrs Stöcker
in dieselbe. Stöcker vertrat zunächst die Kirche, die positive Religion, welche
durch die snvole und unverschämte Aufklärung, die sich in reformjüdischen Kreisen
häusig findet, verletzt wurden war, er hatte anfänglich keine radikalen Neigungen,
vielmehr die Absicht, durch offnen Tadel des Schlechten und ebenso offne An¬
erkennung des Guten für Juden und Christen Ersprießliches zu schassen; die
Elemente aber, die sich um ihn scharten und aus denen sich die christlich-soziale
Partei entwickelte, gingen weiter und zogen ihn mit sich sort, auch bewog ihn
wohl die dreiste und unwürdige Art, wie die von Juden redigirten Zeitungen
ihn angriffen und verhöhnten, allmählich zu schärferer Polemik. Die Bewegung
schwoll nun immer mehr an. Am 19. September 1878 hielt Stöcker seine erste
Rede über die Juden, im Oktober folgte die zweite. Unterdessen bereitete sich,
von dem Ghmuasiallehrcr Bernhard Förster veranlaßt, die bekannte Antisemiten-
Petition vor, in welcher vom Reichskanzler Verhinderung der Einwanderung
von Juden in Deutschland, Einschränkung des Judentums im Richter- und
Gymnasiallehrerstande, Fernhaltung derselben von den Volksschullehrerstellen und
Durchführung einer Statistik über die Juden verlangt wurden, und welche
Hunderttausende von Unterschriften fand, aber sonst ohne Erfolg blieb. Wieder
von Bedeutung war, daß ein angesehener deutscher Publizist wie Heinrich von
Treitschke sich über die Bewegung ausließ. Er that dies im November 1879.
in den von ihm herausgegebenen Preußischen Jahrbüchern, wobei er die Juden¬
frage als berechtigt anerkannte und dadurch den beiden bisher bezeichneten Rich¬
tungen derselben, der Gegenwirkung gegen die materielle und derjenigen gegen
die moralische Schädigung des deutschen Volkes durch die Juden, eine dritte
zuführte, die, besonders in den obern Schichten der Bevölkerung fußend, die
Reaktion gegen die sich im persönlichen Verkehr geltend machenden unerfreulichen
spezifisch jüdischen Eigenschaften zum Wesen hatte. Treitschke dachte nicht daran,
sich mit der Bewegung zu identifiziren, ja er wendete sich in gewisser Beziehung
ausdrücklich von ihr ab, betonte aber ihre Existenz, und das veranlaßte in der
jüdischen Presse lautes Wutgeheul. Sehr charakteristisch für die Kampfweise
der Preßjuden war die Flugschrift eines Herrn S. Meyer gegen Treitschke.
Von Eingehen auf die Berechtigung des von diesem Gesagten war darin nicht
die Rede, es war nur ein dünkelhaftes, anmaßliches Herunterreißen, Verdächtigen
und Verunglimpfen, welches bewies, daß der Verfasser einer von den vielen war,
welche auch nach Treitschkes milder Meinung mit ihrem jüdischen Wesen dem
Germanentum als völlig fremdes Element gegenüberstehen. Besser war das
Sendschreiben Professor Breßlaus an Treitschke. Derselbe gestand zu, daß im
Judentume viele schlechte Elemente seien, bestritt aber, daß diese das eigentliche
Judentum seien, das letztere werde vielmehr durch die „jüdische städtische Durch¬
schnittsbevölkerung" vertreten, „die ohne den vordringlichen Luxus der Geld¬
aristokratie und ohne den verkommenen Schmutz des Wucherer- und Trödler-
tums in stiller bürgerlicher Arbeitsamkeit lebt." Ein solcher idyllischer Mittel¬
stand existirt aber nicht, und ferner darf man bei Beurteilung eines Volkes dessen
Auswüchse nicht unbeachtet lassen.
Die Bewegung war inzwischen von Monat zu Monat leidenschaftlicher ge¬
worden. Nichts half es, daß im Januar 1880 Pastor Gruber in seiner Schrift
„Christ und Jsraelit" eine Versöhnung der Philosemiten, unter denen sich Pro¬
fessor Mommsen hervorgethan hatte, mit den Antisemiten herbeizuführen versuchte,
und vergeblich war es, daß der Kronprinz, dem die Broschüre gewidmet war,
dem Verfasser den Wunsch ausdrückte, daß „sein Wort des Friedens in weite
Kreise dringen und die verdiente Anerkennung finden möge." Der Kampf nahm,
vorzüglich unter der studirenden Jugend, einen ernsten Charakter an. Ihren
Höhepunkt erreichte die Krisis mit der vielbesprochenen Pferdebahnnffäre, deren
Helden die Gymnasiallehrer Förster und Jungfer und auf der andern Seite der
jüdische Kaufmann Kantorowitz waren. Am 11. November 1880 gelangte die
Sache in die Berliner Stadtverordnetenversammlung, wo man soweit ging, die
Lehrer in ihrer Thätigkeit als solche einer abfälligen Kritik zu unterziehen. Da¬
gegen erfolgte unverweilt in der Broschüre „Die Judenfrage und die Gymnasial¬
lehrer" von Dr. Siecle, einem Kollegen Försters und Jungfers, ein kräftiger
Einspruch, dessen schlichter, ruhiger und doch selbstbewußter Ton sehr angenehm
berührte. Ungefähr um dieselbe Zeit erschien in der Vossischen Zeitung die soge¬
nannte Notabelncrklärnng, ein Protest vieler angesehenen Männer gegen den
Antisemitismus, und einer der Unterzeichner derselben, Mommsen, nahm Ge¬
legenheit, sich in einer besonderen Schrift „Auch ein Wort über unser Judentum"
über seine Stellung zu der Frage auszulassen. Er gestand das Vorhandensein
unberechtigter spezifisch-jüdischer Eigenschaften zu und verlangte von den Juden
bewußte Annäherung an das Deutschtum durch Ablegung dieser Eigenschaften.
Sonderbar aber klang es, wenn er, von dem Satze ausgehend, daß der Eintritt
in eine große Nation stets seinen Preis kostet, die Bemerkung machte, er koste
ihn für die Juden ebensoviel wie für die Holsteiner, Hannoveraner u. a. Der
Unterschied im Wesen deutscher Stämme ist im Vergleich mit deutschem und
jüdischem Wesen verschwindend klein, und überall ist zu beachten, daß die
Holsteiner, Hannoveraner u. a. stets Deutsche waren, also wohl in den deutschen
Staat, nicht aber in die deutsche Nationalität aufgenommen werden konnten,
wogegen die Juden stets Juden waren und blieben, und erst vor wenigen Jahr¬
zehnten Aufnahme nicht mir in einen ihnen fremden Staat, sondern in eine
ihnen heterogene Nationalität fanden.
Interessant ist, daß jetzt von jüdischer Seite der Versuch gemacht wurde,
das Judentum als etwas Solidarisches in die Bewegung hereinzuziehen. Pro¬
fessor Lazarus berief eine Versammlung angesehener Männer jüdischen Glaubens,
die am 1. Dezember 1880 zu dem Zwecke zusammentrat, die Juden als Ge¬
samtheit zu der Bewegung Stellung nehmen zu lassen. Wie das zu geschehen
habe, sollte ein Koniitce bestimmen. Die Versammlung fand denn auch statt,
und ein Komitee von 28 Personen wurde gewählt, aber von einer Wirksamkeit
desselben hat bis dato nicht das geringste von Belang verlautet. Dieselbe wäre
auch zu spät gekommen; denn auf den Sturm war allmählich ruhiges Wetter
und Klärung des Himmels gefolgt. Als Beginn dessen ist die Einbringung
und Durchberatung der Hämelschen Antisemitcninterpellativn im preußischen Ab¬
geordnetenhause zu bezeichnen, welche bewirkte, daß von den verschiedensten Stand¬
punkten die Ansichten über die Judenfrage klar dargelegt wurden, und daß die
Regierung die Erklärung abgab, sie beabsichtige nichts gegen die den Juden zu¬
stehenden Rechte zu thun, womit eine private Erklärung des Reichskanzlers
zusammenfiel, nach welcher derselbe nicht mit dem Antisemitismus sympathisirte.
Noch folgten einige Blitze nach dem Gewitter. Dr. Jungfer gab seine
Schrift „Die Juden unter Friedrich dem Großen" heraus, welche bewies, daß
letzterer den Jsraeliten wenig wohlwollend gegenübergestanden hatte. Dühring
ließ ein Pamphlet vom Stapel, das sich „Die Überschätzung Lessings und dessen
Anwaltschaft für die Juden" nannte, und worin der Beweis versucht wurde,
daß „noch nie eine Nation mit einem Autor so getäuscht worden sei, wie die
deutsche durch die Juden mit Lessing." Ein Anonymus veröffentlichte zuerst
in diesen Blättern, dann ausführlicher in der Schrift „Israel und die Gojim"
Beiträge zum Verständnis der Judenfrage, die reich an wertvollen statistischen
und geschichtlichen Material waren. Ein Herr von Schleinitz wandte sich gegen
dieses Buch, indem er namentlich davor warnen zu müssen glaubte, in allem
Schlechten jüdischen Einfluß zu erblicken. Gegen Stöcker polcmisirten die Prediger
Baumgarten und Kassel in Schriften, die sich viel mit dem religiösen Gebiete
befaßten, neues aber nicht boten.
Unterdes hatte die Einigkeit im radikal judenfeindlichen Lager selbst einen
harten Stoß erlitten. Dr. Förster hatte einem Studenten wiederholt Satis¬
faktion verweigert und war darauf von demselben überfallen und thätlich beleidigt
worden, worauf er seiner Stellung als Leutnant der Reserve verlustig gegangen
war. Ein Nachspiel der Bewegung, und zwar kein erfreuliches, hatte dann das
antisemitische Drama in den Exzessen, die im Sommer 1881 in Pommern gegen
die Juden ausbrachen. Es kam dort in den Orten Argenau, Neustettin, Stettin
und Schivelbeiu zu Zusammenrottungen und Angriffen, welche das Einschreiten
der bewaffneten Macht erforderten und als Landfriedensbruch bestraft werden
mußten. Eine allgemeine und andauernde Beruhigung der Gemüter trat erst
ein, als die Neichstagswcihlen vom Oktober 1881 vorüber und nicht im anti¬
semitischen Geiste ausgefallen waren. Die Bewegung entwickelte sich von da
an mehr aus sich selbst heraus, und eine der Folgen dieser Änderung der Dinge
ist die deutsche Bürgerpartei, die sich bei der letzten Stadtverordnetenwahl in
Berlin bereits in ansehnlicher Stärke zeigte. Es ist um zu hoffen, daß man
sich fortan in mehr Ruhe und Sachlichkeit zu verständigen suchen werde. Nur
so wird verhindert werden, daß die Gegensätze über kurz oder lang abermals
aufeinanderplatzen, und zwar heftiger und gewaltsamer als das erstemal-
eilige Leute sind der Meinung, daß sie dort stehen, wo sie eigent¬
lich stehen sollten. Ich kannte in Rom einen Maler, der eine
Leidenschaft für das Verfertiger von Damenhüten hatte. Das
wäre mein Beruf gewesen! pflegte er zu seufzen; ihr lobt meine
Bilder, aber der Schwerpunkt meiner Begabung liegt anderswo.
Ich kannte in London einen Dichter. Mehrere seiner Bücher mußten jährlich
neu aufgelegt werden. Er lebte in lauter Poesie. Bei alledem, pflegte er zu
sagen, habe ich meinen Beruf verfehlt. Ich darf in gar keine Handelszeituug
blicken. Dieses Hin- und Herfluten von Erzeugnissen des menschlichen Fleißes!
Dieses Kommen und Gehen der Schiffe unter den Flaggen aller denkbaren
Nationen! Dieser rastlose, weltumspannende Verkehr! Kaufmann hätte ich werden
müssen. Es ist eine Sünde und Schande um das Festgeber im Ergreifen der
Lebensthätigkeit. Ich kannte in Paris einen beliebten Arzt. Er hatte ein
Landhaus unweit der Marne. Sein Obstgarten erfreute sich unter den Pomo-
lvgen eines sehr günstigen Rufes, mehr fast noch unter den kleinen Barfüßlern
der Umgegend. Aber selten erntete er mehr als ein winziges Bruchteil seiner
Lese. Er war, wie er selbst zu klagen Pflegte, auf den sogenannten Zehnten
gesetzt. Als ich einst zufällig bei einem solchen Ausplündern seines Gartens
dazugekommen und so glücklich gewesen war, einen der kecksten Schlingel zu er¬
wischen, hielt mein Freund ihm eine Strafpredigt, schenkte ihm dann aber zu
dem Raube, der aus beiden Hosentaschen herausguckte, noch einen saftigen Pfirsich.
Dieser Menschenfreund hatte die fixe Idee, in ihm sei der Welt ein Kriminalist
ersten Ranges verloren gegangen.
Wenn diese drei Sonderlinge nach ihrer Meinung nicht auf dem rechten
Platze im Leben standen, so hatte das Ehepaar, von welchem in den nachfolgenden
Blättern die Rede sein wird, sich die Frage iwch nicht beantworten tonnen, ob
der Platz, auf dem es nach redlicher Arbeit und Thätigkeit angelangt war, so
oder so um schicklichsten einzurichten sei und ob es überhaupt gelingen werde,
sich auf ihm einzurichten.
Das ereignet sich weit öfter im Leben, als die Nichtbeteiligten ahnen, und
diese Frage hat schon manchem Hausherrn und mancher Ehegenossin graue
Haare gemacht, während alle Welt der Meinung war, es wachse das Blümchen
Befriedigung aus jeder Dielenritze des Hauses,
Mit sechzig Jahren kann ein Fabrikant sich ohne Gewissensskrupel zur
Ruhe setzen. Nach dem Ausspruch eines berühmten Statistikers sollte der
Staat sogar jeden Beamten mit dem sechzigsten Jahre Pensioniren und solcher¬
art für den Nachwuchs Platz schaffen. Mit dem sechzigsten Jahre, hatte der
einzige Chef der Firma Gebrüder Hartig, Kaspar Benedikt Hartig, seine Spinnerei
denn auch gegen einige hunderttausend Thaler — er liebte nicht die Mnrk-
rechnung — und el» hübsches kleines Besitztum an der Chaussee vertauscht,
und nun galt es, unter den veränderten Verhältnissen guter Dinge zu sein.
Die Ehe war nicht kinderlos gewesen, obschon das Ehepaar jetzt in sei»
neues Heim ohne Kinder und ohne Enkel eingezogen war. Zwei Kinder hatten
ein paar Jahre lang dem Bunde Sorge und Freude bereitet. Dann war eins
nach dem andern abgerufen worden, und Ersatz hatte sich, trotz allem Hoffen
und Harren, nicht eingefunden.
Umsonst war das kurze Dasei» der beiden kleinen Wesen aber nicht ge¬
wesen. Wenn die erste Mondsichel am Himmel sichtbar wurde, erinnerte sich
Frau Anna Hartig allemal eines kleinen blauäugigen Bübchens, das sie auf
dem Arme getragen und dem sie das Wort Mond so oft und so geduldig vor¬
gesprochen hatte, bis es ihm gelungen war, das Wort, wenn auch ohne das
Schluß-d, nachzusprechen. Und Kaspar Benedikt konnte keine roten Hände sehen,
ohne eines kleinen schwarzäugigen Mädchens zu gedenke», dem er einst weh
statt wohl gethan hatte, ja das er bitter hatte weinen machen, als er, um die
frostkalten Händchen seines kleinen Lieblings zu erwärmen, sie mit etwas derbem
Zufassen gerieben hatte.
Das waren so einzelne, aus einer holdseligen Zeit noch nachklingende Töne,
nicht gerade fröhliche, eher fröhlich und schmerzlich gemischte, denen sich in ein¬
samen Stunden andre zugesellten, sodaß zuweilen in den beiden alternden Leuten
allerlei Gesinge und Gesumme war, das sie gegen einander aber sorglich ver¬
schwiegen, denn wozu Wolken aufstören, sagte Kaspar Benedikt vor sich hin,
und Frau Anna philosophirte in ihrer Weise, ohne sichs merken zu lassen.
Wie mein guter Kaspar über jene schöne verschwundene Zeit denkt, darüber redet
er nicht, vielleicht hat er die zwei kleinen Engel glücklich vergessen, und dann
gönne ichs ihm auch. Aber es war doch ein großes Geschenk des Himmels!
Ich kanns nicht anders auffassen: ein großes, nachhaltiges Geschenk!
Und sie fühlte deutlich, daß es nachwirke, obgleich er nicht davon rede;
wie und was er sei, geworden sei ers doch, weil er mit ihr durch jene Schule
der Freude und der Heimsuchung gegangen sei.
Kleine Engel, Mondsichel, Kaspar Venedikt, Frau Anna, das klingt ziemlich
idyllisch, altväterlich und scheint in Verhältnisse zu versetzen, wie sie etwa mit
dem Gedicht „Luise" zusammenklingen, in welchem Johann Heinrich Voß unsern
Großeltern von dem Glücke und der Unschuld bescheidener Ländlichkeit erzählt
hat. Dergleichen trifft hier aber keineswegs zu.
Abgesehen von ihren nicht gerade neumodischen Namen, waren der Fabrikant
Hartig und seine Frau ganz modern geartete Menschen, wie denn ja auch das
wehmütige Festhalten einer lieben Erinnerung dem Herzen nicht nur in diesem
oder jenem Jahrhundert ein Bedürfnis gewesen ist. Was nun dem Ehepaar
zu grübeln gab, war sein neues Besitztum: eine müßig große, vor wenig Jahren
erbaute, mit blauem Schiefer gedeckte zweistöckige Villa, d. h. sie hatte ein hohes,
aus fünf bis sechs Räumen bestehendes Parterre und darüber eine gleich große
erste Etage, war an passenden Stellen mit Balkons und Veranden und einem
Glasanbau, einem Wintcrgartcnzimmer, versehen. Entsprechend wohnliche und
sorglich durchgeführte Einrichtungen enthielt das Souterrain. Es fehlten auch
nicht, in gebührendem Abstände von dem herrschaftlichen Hause, Gcirtuer-
wie Kutscherwohnung, Stallung für eine oder zwei Milchkühe und für vier
Pferde, wie Remise für zwei bis drei Wagen, und daneben Treibhäuser mit
Heiz- und Wasscrdampfvorrichtungen nach dem neuesten System.
Alles dies war, was ein Mann in deu angenehmen Verhältnissen des
Fabrikanten Hartig sich füglich vergönnen konnte. Wenn er bis vor kurzem
sich in seiner Fabrik ohne allen Luxus beholfen hatte, so brauchte er deshalb
noch nicht auf derartige Verschönerungen des Daseins für immer zu verzichten.
Er sowie Frau Anna waren mit allen diesen Dingen ganz einverstanden, gerade
so sehr wie mit der geschmackvoll aus bunten Ziegelstein und geschmiedeten Eisen--
gittcr hergestellten Einfriedigung des Vordcrgartens, mit den mosaikartigen Back-
steintrottoirs, mit den Blumen- und Gcmüsepartien des großen Hintergartens,
mit dem Teiche und seinen Goldfischen, ja selbst mit dem anderthalb Morgen
großen jungen Eichwäldckeu, in welchem Fasanen gehegt werden sollten; etwas
sehr nach dem Muster der kleinen Privatwäldchen in der Umgebung von Paris,
meinte Fran Anna, die mit ihrem Gatten manche Reise gemacht hatte, im übrigen
jedoch nicht zu verachten, da ein Fasanenbraten ja von Zeit zu Zeit jetzt auch
wohl für etwas Erlaubtes gelten dürfte.
Soweit also hatte das Ehepaar keine Ursache, den gemachten Ankauf zu
bereuen. Bei gutem Wetter saß man auf dem Balkon oder auf einer der
Veranden und freute sich an dem Verkehr auf der passend entlegenen Chaussee.
Bei schlechtem Wetter hatte man das Glashaus, der Gärtner nannte es das
Palmenhaus, obschon es nur bescheidnere Blattpflanzen enthielt, Feigenbäume,
Rhabarber und Farrenkräuter. Oder man spazierte selbander unter dein Regen¬
schirm auf den Mvsaiktrvttvirs des Gartens und fand immer neue Befrie¬
digung an der hier endlich bewiesenen Entbehrlichkeit aller Arten von Gummi¬
schuhen oder Galoschen. Pferde und Wagen hatte man noch nicht angeschafft.
Von Zeit zu Zeit wurde aber zwischen Kaspar Benedikt und Frau Anna das
Pferde- und Wagenthema in Gemächlichkeit durchgesprochen.
Im allgemeinen weiß oder beachtet man nur, daß unsre körperliche Ein¬
kleidung unter dem Gesetz der Mode steht. Die letztere beherrscht aber so ziem¬
lich alle Erzeugnisse des menschlichen Gewerbfleißes und ist die eigentliche
Lebensluft der Industrie. Selbst das Weinglas auf meinem Tische darf ja,
wenn ich ein moderner Mensch sein will, nicht diese oder jene Form, diesen
oder jenen Schliff, diesen oder jenen Farbenton aus einer überwundenen,
oft nur wenige Jahrzehnte oder ein paar Jahre zurückliegende» Geschmacks¬
periode haben, notabene, wenn ich ein moderner Mensch sein will, wozu mich
glücklicherweise niemand zwingen kann. Und gilt in gleichem oder gar in er¬
höhtem Maße nicht das nämliche von unzähligen Unentbehrlichsten des täg¬
lichen Bedarfs? Auch das Pferde- und Wagenthema erwies sich als ein dem
Diktum der Mode in geradezu staunenswerter Weise unterworfenes Gebiet, sodaß
selbst ein auf das Dauerhafte und Nützliche gerichteter Geschmack, wie der des
Hartigschen Ehepaares, Ursache hatte, nicht ohne reifliche Überlegung einen Ent¬
schluß zu fassen.
Alles dies war aber nicht dasjenige, was immer noch von neuem die
Antwort auf die Frage verzögerte: Werden wir uns hier einleben tonnen?
Was war es denn?
Ehe die Verwicklungen zur Sprache kommen können, die aus der endlich
gegebenen Antwort hervorgingen und die dann zwei junge Herzen fast zum
Zerbrechen brachten — wer hätte das je in der ruhigen Atmosphäre des Hartig¬
schen Ehepaares für möglich gehalten? — muß auch davon noch die Rede sein.
Also um was handelte sichs?
Um das Verhängnisvollste, das sich denken läßt, um eine Fessel, die der
damit Belastete nur abstreifen kann, wenn er seine wiedererobcrte Freiheit mit
dem Fluche der Geschmacklosigkeit, ja der Barbarei bezahlen will.
Man wird mich vielleicht der Übertreibung bezichtigen, aber da ich eine
wahre Geschichte erzähle, muß für diesen Fall der Schein der Übertreibung auf
Rechnung der verhältnismäßigen Flüchtigkeit kommen, die ich dem Gegenstände
widmen darf; liegt es mir doch begreiflicherweise daran, bald von den jünger
gearteten Wünschen, Hoffnungen und Empfindungen zu berichten, die neben den
leichten Stimmnngstrübungen des alternden Hartigschen Ehepaares in den schönen
Räumen der Villa Anna aus- und einschliipften. Das Hartigsche Häuschen
„Villa Anna" zu taufen war ein erstes Wagnis in jener Richtung auf das
Barbarische gewesen, denn Villa Anna, Villa Augusta, Villa Marie heißen eine
Menge geschmackloser Architektur-Machwerke, das in Rede stehende Häuschen
oder Haus war aber ursprünglich — wie die Engländer es ausdrücken würden —
die Villa gewesen, d. h. der Inbegriff alles Geschmackvollen, was eine Villa sein
soll, also gewissermaßen eine Mustervilla, etwas, in dessen Hervorbringung die
Vereinigung von Sinn für Raumschönheit, für Farbenreiz, für bildnerischen
Schmuck, für geistige Feinfühligkeit und für häusliches Behagen ihren höchsten
Trumpf ausgespielt hatte.
Selbstverständlich war sie demnach in den Besitz Kaspar Benedikts nicht
als ein Gebäude gelangt, in dem man diesen oder jenen alten Familienhausrat
mit unterbringt, an dessen Wänden mau eine von der Großmutter ererbte Kukuks¬
uhr oder das stark verzeichnete Kreidebild des Großvaters aufhängt, auf dessen
Fensterbrett man eine kränkelnde Mirthe stellt, die von der silbernen Hochzeit
herstammt, oder das Glas mit einer Leiter und einem Laubfrosch, das schon
vor Jahren einmal aus dem Fenster gefallene Glas, das man, gerade weil es,
bis auf einen Sprung, bei dem Fall sich so tapfer gehalten hat, mit einer ge¬
wissen verhätschelnden Treue bis ans Ende der Tage zu hegen gedachte.
Als ein so freundlich zu allem ein harmloses Gesicht machendes Gebände
war die namenlose Villa nicht in den Besitz Kaspar Benedikts gelangt. Viel¬
mehr hatte er sie fix und fertig, von oben bis unten möblirt, übernommen, noch
nie bewohnt und benutzt, ein Ideal von Vollkommenheit, die Erfüllung der
jemals in Bezug auf schöne und liebliche Einrichtung durch Frau Annas Seele
gezogene Träume, für Kaspar Benedikt eine Erlösung von dem erwerbsstaubigen
Dasein, in dem er vierzig Jahre seines Lebens zwischen knarrenden Maschinen
und sausenden Spindeln und dickleibigen Rechnungsbüchern verbracht hatte.
Eine Erlösung — so hatte er gewöhnt. Und der Verkäufer, der erste
Architekt des Landes, dem auf einer Industrieausstellung für die jetzt in der
Villa befindlichen Möbel und Kunstschätze als Prämie für geschmackvolle Zimmer¬
einrichtungen die große goldne Medaille zuerkannt worden war, hatte bei der
Übergabe der Villa gesagt: ihm sei's, als gebe er ein Stück seines Herzens her;
aber das sei das Schicksal jedes Architekten; er wolle nicht murren; in bessere
Hände wenigstens habe sein kleines Schmuckkästchen wohl nicht gelangen können.
Das kleine Schmuckkästchen kam in dem Anrechnungsgeschäft auf nahe an
hunderttausend Thaler zu stehen, aber Kaspar Benedikt und seine Frau waren
damals der Meinung gewesen, im Grunde sei es unbezahlbar, und sie würden
nie müde werden, die reizend ausgestatteten Räume selbander zu durchwandeln.
Wie übrigens in Bezug auf seine verstorbenen Kinder das Ehepaar sich
gegenseitig ein schonendes Schweigen auferlegt hatte, so pflegten auch Trübungen
untergeordneter Art nicht ohne Not zur Sprache gebracht zu werden, und es
dauerte daher lange, ehe Kaspar Benedikt seinerseits, und ihrerseits wiederum
Frau Anna, nur erst jedes für sich die Einrichtung der Villa mit etwas
kritischem Auge zu prüfen begannen.
Zunächst hatten sie die in ihnen gesondert aufgestiegenen Bedenken dadurch
zu zerstreuen gesucht, daß sie ihre Bildung nach den Forderungen der Einrich¬
tung vertieften.
Ich hatte mich geirrt, sagte der Fabrikant zu seiner Gattin, unser B-Zimmer
ist deutsche Frührenaissance, nicht schlechthin deutsche Renaissance; der Baron,
der sich eben empfahl, hat sich immer des ersteren Ausdrucks bedient. Er bat
um die Erlaubnis, Excellenz den Höchstkommcmdirenden gelegentlich auch einmal
bei uns einzuführen. Wir sind plötzlich berühmte Leute geworden. Ich glaube,
seit wir die Villa bezogen haben, ist auf jede Woche wenigstens ein Besucher
dieser Art gekommen. Es soll in einem Kunstblatte von einer bevorstehenden
Umgestaltung der Einrichtung die Rede gewesen sein. Daher das Drängen um
Besichtigungserlaubnis. Ich habe den Baron gebeten, die Leute zu beruhigen.
Als ob wir nicht froh sein müßten, wie das blinde Huhn zu einem so guten
Funde gekommen zu sein. Wer möchte sich denn hier getrauen, auch nur einen
Sessel vom Platze zu rücken!
Frau Anna hatte die Baronin herumgeführt und gestand, daß auch sie
einen glücklicherweise unbemerkt gebliebenen Schnitzer begangen habe. Unsre
sogenannten Herrenzimmer hielt ich für Frührenaissance, sagte sie, es ist aber
ini Gegenteil Spätrenaissauee, oder vielmehr, wie die Baronin sich ausdrückte,
individuelle Beherrschung der Renaiffcmceformen in freier, verständnisvoller Ver¬
wendung für moderne Einrichtungen. Die Baronin erwartet unsern Gegen¬
besuch. Sie hofft, wir werden gute Nachbarschaft halten. Der Baron hat
eine Kegelbahn, wir müssen uns überlegen, wieweit wir über unsre bisherige
Stellung hinaus wollen.
Du hast Recht, erwiederte der Fabrikant nachdrücklich; das will sehr über¬
legt sein. Bis unser Berthold von seiner großen Reise zurückkommt, ergänzte
Frau Anna, sind wir ja Herren unsrer Zeit. Man muß keine Vorurteile haben.
Unter dem Adel giebt es auch Menschen, denen man nicht aus dem Wege zu
gehen braucht.
Unser Berthold, ein Ingenieur, der Adoptivsohn des Paares, konnte von
seiner Studienreise durch die Vereinigten Staaten Nordamerikas noch in Jahr
und Tag nicht zurückerwartet werden. Zeit hatte das Ehepaar also in der That.
Vorher aber die Wagen- und Pferdefrage zu erledigen, schien dem Fabrikanten
doch ratsam. Die Sache spielte bereits lange genug. Eigentlich war man längst
im klaren, wennschon der Gatte immer noch etwas mehr nach der Seite der
Arbeitstüchtigkeit der anzuschaffenden Vierbeiner neigte, Frau Anna hingegen
nach der Seite einer eleganten Erscheinung derselben.
Ich habe oft genug gesehen, daß die prächtigen Jsabellwallciche unsers
Landesherr» in höchsteigner Person ihr Heu von der Wiese einfahren müssen,
sagte Kaspar Benedikt; arbeiten ist auch in den vornehmsten Stellungen keine
Schande.
Als ob ich daran zweifelte, begütigte Frau Anna, aber sahen die Wallache
bei solchen Verrichtungen wie Arbeitspferde aus? Ich denke, man merkte bei
solchen Beschäftigungen erst recht, wie stattlich und herrschaftlich ihre Haltung ist.
Gut, du sollst Recht habe», fügte sich der Gatte; nehmen wir also die
Fasanenschwänze.
Sie sind schön und stark zugleich.
Abgemacht; sie gefallen mir schließlich auch am besten.
Ein gut empfohlener Kutscher war schon früher gemietet worden. Mit
seiner kundigen Hilfe brachte man um auch die Wagenfrage zum Abschluß. Eine
Chaise mit Trittvvrnchtuugcu, die den Lakaien entbehrlich machten, war vor der
Hand alles, was mau brauchte. Aber den Wagenschlag lackiren Sie mir neu,
sagte Kaspar Benedikt zu dem Wagcnhäudlcr; das Wappenschild muß weg.
Ein H; nichts weiter. Verstanden?
Euer Gnaden befehlen nicht etwa irgendein Emblem, das auf Handel und
Industrie Bezug hätte? erlaubte sich der Wagenhändler einzuwenden; denn er
hätte gern sein prächtiges Wappenschild gerettet.
Es thut mir um die saubere Arbeit leid, sagte Hartig, aber ein simples
H ist alles, was ich brauche.
Mit der Livree ging es ebenso. Es gab bei dem Schneider, der für diesen
Artikel am besten empfohlen war, nur Knöpfe mit Wappenschildern; wenigstens
kamen Buchstabeuknöpfe erst zum Vorschein, als der Fabrikant sich mehrmals
gegen die Anrede Herr Baron aufgelehnt hatte.
Ganz wie Herr Hartig befehlen, lautete endlich die resignirte Antwort des
Schneiders.
Und Frau Anna fühlte sich im stillen bei dem nichtssagenden Klänge
„Herr Hartig" zum erstenmale in ihrem Leben unbehaglich.
Es ist lächerlich, dachte bei sich in ähnlicher Verstimmung der Fabrikant,
ich verlange, daß er mir keinen Titel andichtet, und nun er mich „Herr Hartig"
nennt, ist mirs nicht vornehm genug.
Die Mieter müßte natürlich der Staat bezahlen, die Lebensmittel müßten
jedem gratis in die Küche geschafft werden, und Schneider, Schuster, Uhrmacher,
Ärzte müßten dasjenige, was man von ihnen brauchte, aus reiner Freude an
der Ausübung ihres Berufs ohne alles Entgelt liefern, wenn die nicht ganz
gutgestellten oder die verarmten unter den betitelten Nachbarn des Fabrikanten¬
paars die Bekanntschaft der Hnrtigs ohne alle Nebengedanken gesucht haben sollten.
Der respektabelste dieser Pläneschmieder, von Waltershausen, ein älterer
Herr, dessen Steckenpferd die Politik war, hatte in dem konservativen Klub die
Frage ventilirt, ob dem Fabrikanten Hartig etwa Aussichten auf Gunstbezeigungen
von höchster Stelle eröffnet inertem konnten, für den Fall nämlich, daß er für die
„gute Sache" zu gewinnen wäre. Die dem Frager gewordenen Antworten mußten
günstig lauten, denn er zeigte für Villa Anna und ihre Bewohner ein immer
wärmer sich äußerndes Interesse und benutzte auch jede sich ihm darbietende
Gelegenheit, um sich bei dem auf haudelswirtschaftlichem Gebiete wohlerfahrenen
Fabrikanten Rats zu erholen. Freihandel oder Schutzzoll, Tabaksmonopol
oder Tabakssteuer — von Waltershausen behauptete seinem »enen Freunde die un¬
schätzbarsten Belehrungen zu verdanken, und Hartig freute sich, aus dem Schatz
seiner langjährige» Erfahrungen zu Nutz und Frommen der Gesamtheit einiges
verwertet zu sehen.
Weniger unverfänglich hätte man vielleicht die Absichten des gichtischen
Majors a. D. von Stobbe nennen müssen, denn seine Schwäche oder — wie
mens nehmen will — seine Stärke war das Geldborgen; doch handelte sichs
bei ihm nie um so geringfügige Summen, daß die Sache — wenigstens nach der
Meinung der guten oder der bessern Gesellschaft — geradezu für unschicklich gelten
konnte. Auch hatte er eine gewisse Fertigkeit, sich hinter allerlei Aktienunter-
nehmungen zu verbergen, die allemal philanthropische Zwecke verfolgten, sei es
daß man Sekundärbahnen bauen wollte, sei es daß Snppcnanstalten oder
Magdalenenstifte oder Movrentwässcrungsgesellschaften ins Leben zu rufen waren.
Seine ganze Erscheinung hatte denn auch, namentlich seitdem er ergraut war,
etwas Ehrwürdiges, und die schwarzen Augen unter den silberweißen Brauen
waren von so schwärmerischem Feuer, daß selbst die gebrannten Kinder unter
seinen Nachbarn in Zweifel blieben, ob er bei jenen Projettcnmachereien seine
Finanzen zu verbessern suchte, oder ob er nicht im Gegenteil, wie er versicherte,
aus Enthusiasmus für das Wohl andrer von dem Seinigen opfere.
Am interessirtesten sollten, nach dem Urteil einiger scharf beobachtenden
Damen der Nachbarschaft, die letzten Pläne einer Frau von Mvckritz sein, da
diese Pläne nur auf Verheiratung ihrer dritten Tochter Hermione mit dein noch
immer unsichtbaren Adoptivsohne des Ehepaares hinauslaufen konnten, eine
Behauptung, die einigen Anhalt dadurch erhielt, daß bereits die ältesten beiden
Fräulein von Mockritz auf ähnliche Veranstaltungen hin große Partien gemacht
hatten. Hermione von Mockritz war übrigens eine bildschöne junge Person,
blond, rosig, blauäugig, mit sehr feinem Profil und unglaublich zierlichen Augen¬
brauen, dazu von gutem Wuchse und sehr gefälligen Manieren. Wenn sie in
die Pläne ihrer Mutter nicht eingeweiht war, so hatte sie doch jedenfalls unter
den finanziellen Bedrängnissen, von denen Freir von Mockritz erst durch die
Verheiratung ihrer beiden ältesten Töchter (an Nichtadeliche) einigermaßen erlöst
wurden war, den Wert einer guten Partie kennen und schätzen gelernt. Ihr
Hallwetter Botho von Falkenberg hatte sich deshalb schon zweimal bei ihr
eine» Korb geholt. Er war zwar von altem Adel, aber nichts weiter als ein
geschätzter Privatdozent der Astronomie an einer, wie sie es nannte, obskuren
Universität und konnte höchstens eine Frau Professorin aus ihr machen.
Wir haben wirklich Glück gehabt, sagte Kaspar Benedikt zu Frau Anna,
man kann in einer Gegend nicht freundlichere Menschen finden. Etwas freilich
müssen wir auf Rechnung dieses merkwürdigen Rahmens bringen, in welche uns
die Leute gleich von vornherein kennen gelernt haben. Es ist etwas Eignes
darum. Hast du den Major heute auf den Busch klopfen hören? Er ist eine
ehrliche Haut und kann sich nicht ruhig schlafen legen, wenn er nicht wenigstens
einen Menschen glücklich gemacht hat. Aber ist's denn wahr, daß jeder, der unsre
Villa gesehen hat, sich draußen unser Messingschild mit dem simpeln Namen
K. B. Hartig kopfschüttelnd ansieht? Zuletzt — was liegt daran? Laß sie
schütteln.
Laß sie schütteln, stimmte Frau Anna bei, wenn auch etwas zögernd; denn
nicht ganz so stark wie bei ihrem Gatten war bei ihr die Abneigung gegen alles
entwickelt, was in eine höhere Standessphärc hinausführen konnte.
K. B. Hartig klingt freilich etwas kurz angebunden, setzte sie daher hinzu.
Wieso kurz angebunden? fuhr Kaspar Benedikt auf.
Versteh mich recht, Alter —
Das möcht' ich eben.
Du hast mich ganz aus dem Text gebracht.
Ich frage einfach: wieso kurz angebunden?
Als ob du nicht nur den kleinen Finger zu rühren brauchtest, und andern
Tags wären wir Kommerzienrat.
Warum nicht gar geheimer Kommerzienmt!
Und andern Tags wären wir geheimer Kommerzienrath, verbesserte sich
Frau Anna, ich wollte nur nicht gleich mit der Thür ins Haus fallen, aber
Herr von Waltershausen sagte neulich, den Geheimen wollte er für dich in vier-
undzwanzig Stunden herunterschütteln, der hänge reif am Baum.
Hier griff sich Kaspar Benedikt in die spärlichen Haare. Wie rasch die
Weiber vergessen! rief er; geheimer Kommerzienrat! Und dir läuft bei dem
bloßen Klänge geheimer Kommerzienrat nicht schon eine Gänsehaut über den Leib?
Frau Anna wurde kleinlaut. Du denkst an Gebhardi, sagte sie.
War er etwa nicht geheimer Kommerzienrat?
Dn hast Recht.
Auch ein Mann, zu dem sich alles drängte, den man um seiner Millionen
willen mit Orden und Titeln überschüttete —
Und der als Fälscher und Bankcrotteur im Zuchthaus endete.
Nein, er nahm sich am Tage seiner Verurteilung das Leben,
Und gab seine Kinder in Schuld und Ungeduld dem Elende preis. Sie
dienen in niedern Stellungen!
Mögen sie! Die Witwen und Waisen, die der geheime Kommerzienrat
Gebhardi an den Bettelstab brachte, zehren auch am Hungertuche! Kaspar Benedikt
machte einen Knoten in sein Taschentuch; er war mit der Unterstützung einer
dieser Verarmten im Rückstände.
Ich bin wie zerschlagen, sagte Frau Anna; wir haben, dacht' ich, weder
ihn noch einen von den Seinigen je zu Gesicht bekommen, aber was wurde
damals über ihn in die Blätter geschrieben! Dir schmeckte Wochen lang weder
deine Cigarre noch dein Schlummerpunsch.
Weder mir noch dir. Der Fabrikant konnte schon wieder spaßen.
Ich rauche doch nicht.
Aber von dem Schlummerpunsch —
Rippe ich — geh, Kaspar Benedikt, wenn du mich nur aufziehen kannst!
Von heute an magst du ihn dir selbst bereiten.
Der Fabrikant nahm die Hand seiner schmollenden Ehehälfte und küßte
sie. Lassen wirs bei dem einfachen K. B. Hartig bewenden, sagte er; einver¬
standen?
War ich jemals andrer Meinung als du? antwortete Fran Anna und
entzog ihm beschämt ihre Hand. (Fortsetzung folgt.)
Zur Lotteriefrage. Ein Ereignis, welches geeignet ist, nicht nur in den bei
den verschiednen deutschen Staatslottcrien beteiligten Kreisen, sondern auch in der
Juristenwelt allgemeines Aufsehen zu erregen, ist aus den letzten Wochen zu ver¬
zeichnen. Am Is. November d. I. hat das Reichsgericht zu Leipzig die Re¬
vision eines sächsischen Lvtteriekollckteurs, welcher von einem preußischen Landgerichte
wegen Verkaufs eines Looses der sächsischen Staatslotterie nach Preußen zu einer
geringfügigen Geldstrafe verurteilt worden war, verworfen, also den beteiligten
sächsischen Lotteriekollckteur wegen seiner in Frage kommenden Handlung für straf¬
fällig erklärt, während drei Tage zuvor, ant 12. November, das königl. prenß.
Kammergericht zu Berlin die Revision der königl. Staatsanwaltschaft beim Land¬
gericht II. zu Berlin, welches das einen andern sächsischen Lottcriekollektenr wegen
ganz derselben Handlung wie im ersten Falle, nämlich wegen Verkaufs eines
sächsischen Lotterielooses nach Preußen, freisprechende Urteil des Schöffengerichts
zu R. bestätigt hatte, verworfen, den beteiligten Lotterickollekteur also für straffrei
erklärt hat.
Wir stehen sonach vor der gewiß nicht leicht zu nehmenden Thatsache, daß
zwei oberste Gerichtshöfe im deutschen Reiche über die Strafwmdigkcit einer und
derselben Hnndlnng diametral entgegengesetzter Ansicht sind. Denn in beiden
Fällen handelt es sich darum, daß die vom Staatsanwalt angeklagten sächsischen
Lotterickollektcnre auf vorgiingige briefliche Bestellung von seiten eines in
Preußen wohnenden oder vorübergehend aufhältlichen Spielers Loose der in Preußen
nicht zugelassenen sächsischen Staatslotteric um letztern mittels in Sachsen zur
Post gegebener Briefe übersandt hat.
Unter diesen Verhältnissen wird jeder Laie mit Recht fragen: Wie ist so etwas
möglich? Was ist in Lotterieangelegenhciten überhaupt Rechtens im
deutschen Reiche? Wollte man darauf antworten: Nachdem das Reichsgericht diese
Frage entschieden hat, müssen alle übrigen deutschen Obergerichte sich der Ansicht des
Reichsgerichts anschließen, so würde man damit schon deshalb sehr irren, weil die
Beantwortung der Frage, von welchen: Obergerichte jeder künftige derartige Fall
in letzter Instanz zu entscheiden sein wird, von strafprozessnalen Zufällen abhängt.
Die Beantwortung der aufgeworfenen Frage ist vielmehr, wenn überhaupt, nnr
durch ein näheres Eingehen auf die zahlreichen dabei in Betracht kommenden, zum
Teil sehr streitigen Gesichtspunkte möglich.
Auf alle Fälle sind dnrch die erwähnten beiden richterlichen Entscheidungen
Mißstände zutage getreten, unter deren Einfluß der von dem Abgeordneten Löwe
(Bochum) bei der Beratung des Lotterieetats im preußischen Abgeordnetenhaus« vom
10. Dezember für die dritte Etatsberatung angekündigte Antrag, die Regierung
aufzufordern, beim Bundesrate die Aufhebung aller Lotterien zu beantragen, erhöhte
Bedeutung gewinnt. Wir werden daher in einer der nächsten Nummern dieser
Blätter auf diese wichtige Frage ausführlicher zurückkommen.
Äer in dem Titel dieses Buches gebrauchte Ausdruck „Lebensbild" läßt etwas
andres erwarten, als die Schrift darbietet. Man denkt an jene Art von Lebens»
bittern, wie sie das Lutherjubiläum zu Dutzenden hervorgebracht hat, harmlose
Er.eerpte, die ihre Existenzberechtigung darin suchen, einen Gegenstand einem be¬
stimmten Leserkreise mundgerecht zu machen. In diesen: Sinne ist der Cranach
Lindaus kein Lebensbild. Es ist ein auf solide wissenschaftliche Basis gebautes
Werk, die einschlägigen Quellen sind dem Verfasser bekannt und von ihm ziemlich
vollständig benutzt worden. Wenn er dennoch den Ausdruck Lebensbild brauchte,
so wollte er offenbar andeuten, daß er nicht beabsichtigt habe, eine kunstgeschicht-
liche Monographie, sondern einen Geschichtsansschnitt zu bearbeiten, in dessen Mitte
Cranach steht. Diese Auffassung ist darum ganz besonders zu billigen, weil es
das Eigentümliche der Reforniationszeit ist, daß man kein Gebiet derselben von
dem benachbarten ohne Schaden für das Verständnis isoliren kann, und weil die
jetzt beliebten Spezialsorschungen — mögen sie auch durch die Fülle des zu be¬
arbeitenden Stoffes veranlaßt worden sein — nicht überall der Gefahr der Ein¬
seitigkeit entgangen sind. Es giebt Düreristen, Holbcinistcn, Raphaelisten, Cranacisten,
Renaissaueicrs, Gothiker und so weiter. Die von den einzelnen Spezialforschern
geschriebenen Werke pflegen der allgemeinen Zeitlage durch historische Einleitungen
Rechnung zu tragen, es können jedoch hierbei nur die allgemeinsten Linien berührt
werden. Mur könnte interessante Beispiele beibringen, wie Schriftsteller von grvßeni
Verdienste sich in geistreichen Kombinationen erschöpfen, während die Lösung der
gerade vorliegenden Frage ganz einfach ist und nur darum nicht gefunden wird,
weil sie in einem andern Kapitel der Reformationsgeschichte steht.
Lindau wollte seinen Lucas Cranach in der Umgebung lassen, in welcher er
lebte, in den Ideen, unter deren Einfluß er malte; er betrachtet seinen Helden
nicht wie ein Einzelbildnis, sondern wie die Hauptperson eines großen, figuren¬
reichen Gemäldes. Das meint er mit der Bezeichnung Lebensbild. Es ist in
seinem Buche fast soviel von Luther die Rede wie von Cranach, aber das ist ganz
natürlich. Cranach steht mitten in der Reformationsbewegung als einer der Führer
der Wittenberger Bürgerschaft, als ein persönlicher Freund Luthers, als Buchdrucker
und Knnstverleger, als einflußreiche Person bei Hofe und xorsomr g'mtÄ selbst bei
den Feinden der Reformation. Die bürgerliche Bedeutung Cranachs ist fast noch
größer als seine artistische. Die vorliegende Schrift bemüht sich, gerade diese Vcr-
Hältnisse in das rechte Licht zu bringen. Manche Fragen sind freilich ungelöst
geblieben, so z, B. der Grund des Konfliktes zwischen Cranach und Lotter, worüber
seiner Zeit in diesen Blättern ausführlich berichtet wurde*); andre, wie die literarische
Fehde vor dem Ausbruche des schmalkaldischen Krieges, an der sich Cranach mit
seinem Holzschnittwerkc wider das Papsttum beteiligte, werden kürzer als wünschens¬
wert ist abgethan, wie denn überhaupt die Schlußkapitel etwas knapp geraten sind;
dafür bringt Lindau aber neues, unsers Wissens noch nicht veröffentliches Quellen¬
material. Höchst interessant und von wirklich dramatischem Verlaufe ist die Geschichte
des Studeutenauflauses Wider Cranach und die Bürgerschaft von Jahre 1520,
welche nach den im Archiv zu Weimar befindlichen Untcrsuchuugsakten erzählt wird.
Hier treten die handelnden Personen mit greifbarer Lebendigkeit hervor: die
Herren Junker, welche nicht auf das Privilegiuni, Waffen zu tragen, verzichten
wollen, da die Bürger durch das Gebot des Kurfürsten nicht getroffen werden,
die Eckianer aus Leipzig und die Barfüßer, welche das Feuer schüren, der Rektor
der Universität, welcher für die Studenten eintritt, Lucas Cranach, welcher mit
jenem hart aneinander gerät, Luther, welcher jedermann gründlich die Wahrheit
sagt und allgemeinen Zorn erregt, endlich der kurfürstliche Marschall Hans von
Dvlzich, der mit seinein Fußvvlke schnell die Ordnung herstellt. Hier liegt ein
wahrer Novellenstoff vor.
Während also in der Darstellung Lindaus der eigentlich artistische Teil keines¬
wegs vernachlässigt wird, gewinnt seine auf breitere Grundlage gestellte Schilderung
umso größeres Interesse. Das Buch ist nicht bloß dem Spezialisten, sondern jedem
zu empfehlen, der sich für Verhältnisse und Personen jener Zeit interessirt.
Das neue Jahr bringt uns auch wieder eine Anzahl neuer wissenschaftlicher
Zeitschriften, von denen die Probehefte bereits vorliegen. Es beschleicht uns eine
gewisse Angst dieser immer mehr anschwellenden Zeitschriftenflut gegenüber. Wer
soll sie alle noch kaufen und lesen? Die öffentlichen Bibliotheken saugen bereits
mi, sich zu weigern, zu der Unzahl von Zeitschriften, die Jahr für Jahr einen
beträchtlichen Teil ihres Budgets verschlingen, alljährlich noch neue hinzuzufügen,
die wissenschaftlichen Lesezirkel sträuben sich auch gegen den steigenden Schwall;
wenn also die neuen Schöpfungen nicht durch ihre ganz spezifische Färbung eine
Anzahl Privatabnehmer herbeilocken, so ist nicht einzusehen, wie sie sich neben den
alten halten wollen.
Die „Akademischen Blätter" — der Titel ist recht wunderlich gewählt —
»vollen eine Nüance zu unsern bisherigen germanistischen nud literaturwisseuschaft'
liehen Zeitschriften darstellen, also zur „Germania," zu Haupts Zeitschrift, zu
Zachcrs Zeitschrift, zu Schmorrs „Archiv für Literaturgeschichte," Diese Nüance
soll darin bestehen, daß sie zu diesen Zeitschriften „die neuzeitliche Ergänzung
bilden" — daher auf dem Titel der Zusatz: 16. Jahrhundert bis Gegenwart
(übrigens schön gesagt!) —, und da das Geschäft, die Dichtungen unsrer Zeit zu
beurteile», bisher fast ausschließlich in den Händen der populären Literatnrvrgauc
ruhte, so sollen sie zu diesen letztem zugleich die „wissenschaftliche Ergänzung"
abgeben.
Sehen nur uns das erste Heft daraufhin um, inwiefern die angegebene Nüance
darin zur Erscheinung kommt, so bemerken wir, daß sie sich beschränkt auf die
Anzeige der neuen Ausgabe von Eichcndorffs poetischen Werken und des Schriftchens
von Frank! über Grillparzer, und auf die Rezension zweier Dramen: „Don Juans
Ende"von P. Heyse und „Von Gottes Gnaden"von A. Fitgcr. Der ganze übrige
Inhalt des Heftes - Briefe an Bertuch, Jugendgedichtc Karl Landmanns, Hundert¬
jährige Druckfehler in deutscheu Klassikern, Zur Chronologie der lyrischen Gedichte
Goethes, Minna von Barnhelm und Don Quijote? — könnte ebensogut in einer
der obengenannten Zeitschriften, z. B. in Schmorrs „Archiv," stehen. Wenn also
die Nüance, durch die sich das neue Unternehmen von den bisherigen ähnlichen
unterscheiden will, in Zukunft nicht kräftiger hervortritt, so müssen wir die „Aka¬
demischen Blätter" für ein höchst überflüssiges Unternehmen erklären, mir dazu
angethan, die bedauerliche Stoffzersplitteruug, die ohnehin ans diesem Gebiete herrscht,
noch zu vermehren. In der That giebt gleich der erste Beitrag hierfür einen
charakteristischen Beleg: die von Ludwig Geiger mitgeteilten Briefe an Bertuch.
Seit länger als drei Jahren veröffentlicht nun L. Geiger bruchstückweise Briefe an
Bertuch, die er ans dem Bertuch-Froriepschcu Archiv in Weimar entnommen hat.
Wenn er alle diese Bruchstücke recht absichtlich hätte zerstreuen wollen, er hätte es
nicht geschickter anfangen können, als er es gethan hat. In der „Gegenwart" von
1380 stehen die Briefe von Corona Schröter, in der „Deutschen Revue" von 1380
die von Schiller, in den „Grenzboten" von 1831 die von Glenn, im Goethejahr¬
buch von 1833 die von Goethe, in der Zeitschrift „Vom Fels zum Meer" von
1333 die von Bürger, im „Archiv für Literaturgeschichte" werden demnächst die
von Weiße erscheinen, und im ersten Hefte der „Akademischen Blätter" stehen die
von Herder, Campe n. a. Ist das nicht geradezu toll? Wahrscheinlich sollen alle
diese einzelnen Klcxchcn später einmal auf einen Haufen getragen und ein Buch
daraus gemacht werden. Aber warum wird das Buch nicht lieber gleich fertig
gemacht und dann erst veröffentlicht? Wozu dieses betriebsame Herumkleckern in
allen möglichen Zeitschriften?
Nach unsrer Meinung liegt nicht die geringste Nötigung vor, eine wissen¬
schaftliche Zeitschrift, die sich mit der neuern deutschen Literatur beschäftigt, „bis
Gegenwart" auszudehnen. Es klingt recht schön, wenn das Programm sagt: „Die
hervorragenderen Dichtungen und sonstigen Werke von nationnlliterarischer Be-
deutung, welche die Jetztzeit ^ hervorbringt, werden einer ernst gehaltenen Kritik
unterzog!'» werden," Aber diese Kritik gehört vor allem und in erster Linie vor
das größere Publikum, das oft förmlich darnach lechzt, also in unsre besseren
populären Wochen- und Monatsschriften, Seit Jahren sind diese auch auf dem
besten Wege, Haben nicht unsre namhaftesten Literarhistoriker sich herbeigelassen,
dichterische Erzeugnisse der Gegenwart in populäres Zeitschriften zu besprechen?
Wer die ehrliche Absicht hat, Nutzen zu stiften, der helfe mit dafür sorgen, daß
diese erfreulichen Anfänge Fortgang finden, daß es immer mehr Sitte werde, daß
tüchtige, urteilsfähige, wissenschaftlich und ästhetisch gebildete Männer, welche durch
Amt und Beruf in fortwährender Berührung mit dem Besten und Edelsten ge¬
halten werden, was unsre Literatur hervorgebracht hat, sich der Aufgabe der lite¬
rarischen Kritik in unsern guten populären Zeitschriften annehmen und sie urtcilslvsen
journalistischen Lohnschreibern aus den Händen winden. Diese Kritik in „Akademischen
Blättern" zu vergraben, wo sie kein Mensch weiter zu sehen bekommt als ein Paar
Leute von der Zunft, hat doch wahrlich keinen Sinn.
Die „Akademischen Blätter" werden monatlich erscheinen, und jedem Hefte
wird eine bibliographische Übersicht über die neu erschienene, in den Bereich der
Zeitschrift fallende Literatur beigegeben werden. In der Bibliographie des vor¬
liegenden Heftes haben mich die „Grenzboten" wiederholt Erwähnung gefunden.
Dabei ist einmal einem Artikel, der nicht unterzeichnet war („Eine deutsch-nationale
Verslehre"), ein Verfasser angedichtet worden. Der genannte Aufsatz war nicht
von Herrn Prof. Stern geschrieben. Wir raten dem Zusammensteller der Biblio¬
graphie, in diesem Punkte recht vorsichtig zu sein, Wir haben anch anderwärts
in letzter Zeit die Erfahrung gemacht, daß Grcnzbotenaufsätze mit größter Dreistig¬
keit Autoren zugeschrieben worden sind, von denen sie nicht verfaßt waren. Man
weiß nicht, worüber man sich dabei mehr wundern soll, über den Mangel an
Takt oder über den Mangel an Stilgefühl,
Der Umschlag des vorliegenden Heftes zeigt auf der Rückseite die übliche Liste
von Renvmmirnamen, Es sind natürlich alle die guten alten Bekannten wieder
darunter, die sich nie den Kitzel versagen können, in einer solchen Liste zu Para¬
diren, obgleich es ihnen nicht einfällt, der neuen Zeitschrift jemals einen Beitrag zu
„liefern." Nun, wir werden ja weiter sehen.
Eine Bitte haben wir noch um den Herausgeber, nämlich die, daß er uner¬
bittlich und mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln darauf dringe, daß in
seiner Zeitschrift ein anständiges Deutsch geschrieben werde. A. Lindner redet in
seinen Rezensionen von dem „Abtritt" einer Prozession und von dem „Mcnsch-
tum" einer Fürstin, In den Besprechungen von W. Brandes und I. Minor kommen
Provinzialismen vor, wie „bislang," „nachgeradezu im vornhinein," „Fränkl hat
uus mit Mitteilungen über Schillers Beerdigung beteiligt," „da auch sonst an
schwächerem nicht gerührt wird," „aus der früheren Ausgabe hinüber nehmen" :c.
Wenn diejenigen nicht auf reines und richtiges Deutsch halten wollen, die sich ex
proteWO mit deutscher Sprache und Literatur beschäftige», wer soll es denn thun?
er Novellist Hans Hopfen schickt einer neue» Erzählung eine
Widmung ein den Maler Franz Defregger voraus, welche in
glatten Oktaven abgefaßt »ut von einem Selbstgefühl erfüllt ist,
über dessen Berechtigung wir, mit den Werken des Dichters un¬
bekannt, kein Urteil haben. Allein er tritt in diesem Falle auch
weniger als Dichter denn als „Politiker," wie er sich selbst nennt, auf, und
in dieser Eigenschaft veranlaßt er uns zu einigen Bemerkungen. Hopfen macht
sich Sorgen um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Tiroler im be¬
sondern und der Dentschösterrcicher im allgemeinen. Das ist keinem Deutschen
, zu verübeln. Aber auch einem Dichter ist, wenn er sich in die Politik mischt,
anzurathen, daß er sich um die Dinge genau bekümmere, über welche er sprechen
null. Das hat uun Hopfen unterlassen, und die Folge ist, daß er der Sache,
für welche er gewiß in bester Meinung eintritt, durch die Art, wie er es thut,
einen sehr schlechten Dienst erweist.
Defreggers Bild der sogenannten Sentlinger Schlacht giebt dem Dichter
den Wunsch ein, alle Österreicher hätten damals bairisch werden sollen, dann
stünde jetzt alles besser; und darauf folgt eine Vision: die Eroberung Öster¬
reichs durch und für Deutschland.
Wenn ein Dichter aus Baiern durch die Erinnerung an den helden¬
mütigen Kampf herrischer Bauern gegen die österreichische Okkupationsarmee
im Jahre 1705 in patriotische Begeisterung versetzt wird, so ist das wohl ver¬
ständlich. Der deutsche Politiker aber sollte sich auch daran erinnern, daß das
Unheil über Baiern durch seinen Kurfürsten heraufbeschworen wurde, welcher im
Bündnis mit Ludwig XIV. stand. Weiter. Die bairischen Bauen, ließen sich
bei Sendling hinschlachten, weil sie nicht kaiserlich werden wollten. Ein Jahr¬
hundert später standen die Tiroler auf, um nicht bairisch zu werden, und auch
damals war Baiern der Trabant Frankreichs. Wollte ein Tiroler Poet etwa,
an die Schlacht am Isel anknüpfend, den Baiern zurufen: Wäret ihr doch
damals österreichisch geworden! so würde Herr Hopfen aller Wahrscheinlichkeit
nach entrüstet sein, und doch wäre der eine Wunsch genau soviel wert
wie der andre. Eine retrospektive Politik, welche an die schlimmsten Zeiten
des deutschen Partikularismus mahnt, scheint ans jeden Fall wenig geeignet,
Proselyten zu machen! Versuche er übrigens sein Heil, predige er den Ti¬
rolern selbst den Anschluß an Baiern — oder nein, versuche ers lieber nicht,
wenn ihm seine gesunden Knochen lieb sind! Und vielleicht ein weniger grober,
aber gewiß ein nicht weniger deutlicher Bescheid würde ihm werden, wenn er
seine Lehre weiter in das Land hineintragen wollte, so weit Deutsche in Öster¬
reich wohnen, von der Etsch bis zum Königsboten, wo die Sachsen so mann¬
haft ihr Deutschtum verteidigen. Es ist noch nicht so weit gekommen, daß
der Dentschösterreichcr letzte Hilfe die „Verzweiflung der Poeten" wäre, und
käme es einmal soweit, dann würde diese ihnen auch nicht viel nützen.
Soviel Worte um ein politisches Gedicht! Haben doch gereimte Leit¬
artikel heutzutage noch weniger zu bedeuten als die gewöhnlichen ungereimten.
In der That würden wir uns nicht dabei aufhalten, wenn nicht Kundgebungen
wie diese die deutsche Sache in Österreich schädigten. Seit siebzehn Jahren
ermüden die „struppigen Karyatidenhäupter" nicht, die Deutschen hierzulande
als schlechte Österreicher zu verdächtigen. Je mehr sie selbst auf dem Kerbholze
haben, desto munterer schwärzen sie diejenigen an, welche niemals über die
Grenze geschickt haben und jetzt allein noch den österreichischen Staatsgedanken
hochhalten. Das schöne Wort Preußenseuche taucht immer wieder auf und
macht, so unglaublich das klingt, noch häufig einen gewissen Eindruck. Es
giebt keine deutschen Jrredentisten in Österreich, auch jetzt noch nicht, wo die
verbündeten Slawen sich herausnehmen dürfen, die Deutschen wie Eindringlinge
zu behandeln; wer politischen Verstand hat, muß sich sagen, daß Deutschland
für einen neuen Zuwachs an fremdartigen, wenig disziplinirten Elementen, an
katholischer Bevölkerung, an Staatsschuld sich höflich bedanken würde; die
deutsche Regierung hat keinen Zweifel darüber bestehen lassen, daß sie im
eigensten Interesse Österreich groß und stark zu sehen wünscht — thut nichts,
ein Rest von Mißtrauen ist noch von 1866 her übriggeblieben. Und nun kommen
unsre guten Freunde daher und stoßen in die Trompete, wie zu einem neuen
deutschen Kriege!
Wenn Tschechen und Polen aus dergleichen unverständigen Phantasien
Kapital zu schlagen suchen, so kann man sie mit Verachtung strafe». Doch es
giebt natürliche und hochwichtige Bundesgenossen der deutschen Partei, welche
erfahruugsmüßig leicht scheu zu machen sind.
Vor kurzenr wußten fremde Zeitungen von einer Liga gegen den Minister
Taaffe zu erzählen und wurden dafür von ministeriellen Organen abgeführt.
Diesen war die Arbeit bequem gemacht, denn in der That zeugte die Wahl der
Namen, welche in jene angebliche Aktion verflochten wurden, von sehr geringer
Personenkenntnis, Immerhin lag, wenn die ganze Geschichte erfunden sein sollte,
der Erfindung die Wahrheit zu Grunde, daß der Kern des österreichischen
Beamtentums und nicht minder die gebildeten Militärkreise durch die jetzige
„autonomistische" Politik, die bald wird eine atomistische genannt werden können,
mit ernster Sorge erfüllt werden. Militärische Fachblätter haben bereits wieder¬
holt ihre Bedenken gegen ein System ausgesprochen, welches die eine österreichische
Armee in eine Anzahl nationaler Armeen aufzulösen droht; und der entsprechende
Vorgang auf dem Gebiete der politischen Verwaltung wird nur von verhallten
Strebern als ganz unbedenklich dargestellt. Bei diesen Gegnern der herrschenden
Politik spielt die Nationalität eine untergeordnete Rolle, und wenn slawische
Blätter glauben machen wollen, lediglich die „deutsche Bürokratie" im Zivil¬
dienst und im Heere mache dem Ministerium stille Opposition, so reden sie gegen
besseres Wissen. Die Überzeugung, daß Österreich nicht zu einem Staatenbunde
gemacht werden dürfe, bildet eben das Bindeglied zwischen der national-deutschen
Partei und der schwarzgelben, mit welchem Namen wir heute, wo er seine ge¬
hässige Bedeutung verloren hat, die Militär- und Zivilbürokraten belegen dürfen.
Und die Männer dieser österreichischen oder kaiserlichen Partei sind ebenso mi߬
trauisch gegen die extremen Parteien im deutschen wie im tschechischen und
polnischen Lager; sagt ihnen, sie sollen „preußisch" werden, und sie werden ein
Österreich unter slawischer Führung als das kleinere Übel wählen,
Zu dieser Partei kommt eine dritte, die katholische ans den deutschen Alpen¬
ländern, welche bisher mit der slawischen Rechten gegangen ist, aber Miene
macht, sich von dieser abzulösen. Sie ist, während man die Schwnrzgelben haupt¬
sächlich im Herrenhause zu suchen hat, im Abgeordnetenhause durch eine Fraktion
vertreten, welche nicht groß an Zahl, aber von großer Bedeutung ist, weil sie
für die eine oder die andre Seite den Ausschlag geben kann.
Und in dem Verhältnis zu ihr dokumentirt sich wieder die Geringfügigkeit
des politischen Talentes, über welches die leitenden Organe der Verfassungs¬
partei verfügen. Die ebensogut deutschen wie gut katholischen Bauern in Ober-
österreich, Salzburg u. s. w. sind die längste Zeit damit einverstanden gewesen,
daß ihre Erwählten mit der Rechten stimmten, weil sie von der Linken ihren
Glauben bedroht glaubten. Seitdem aber die Tschechen es nicht mehr für nötig
halten, ihrem nationalen Fanatismus ein Müntelchen umzuhängen, die alte
Hnssitenmtur in ihrer ganzen Ungeschlachtheit herauskehren, und die Polen so
aufrichtig geworden sind (welche Tugend ihnen sonst selten nachgerühmt wurde),
zu bekennen, daß sie gut österreichisch seien, so lange in allem ihr Wille ge¬
schieht — seitdem ist den Älplern unheimlich zu Mute geworden und haben
ihre Vertreter angefangen, sich »»abhängig zu machen. Natürlich setzt die Rechte
alle Mittel in Bewegung, um eine förmliche Sezession zu verhüte», während
die Blätter der Linie» de» Schwankenden predige», es sei ihre verfluchte Pflicht
und Schuldigkeit, sich ihre» Stnmmesgeiwssen anzuschließen. Daß aber die
Linke und deren Blätter jenes Häuflein in die Reihe» des Feindes getrieben
haben und daß die Bildung einer das gesamte deutsche Element umfassen¬
den Partei ein Ding der Unmöglichkeit ist, solange Deutschtum, politischer
und kirchlicher Liberalismus als identisch gelten, das scheinen die Herren
noch immer nicht zu begreifen. Und doch ist das Zustandekommen einer solchen
Partei die einzige Aussicht des Deutschtums, Früher konnte man an eine Ver¬
ständigung der Liberalen verschiedener Nationalität glauben; davon ist heute
keine Rede »lehr. Die Dissidenten unter den Tschechen werden immer wieder
unter das Joch der Alttschecheu, Feudalen und Klerikalen gezwungen, und
— was wichtiger ist — sie sind in de» nationalen Fragen womöglich noch ver¬
rannter und halsstarriger als ihre konservativen Landsleute; und was polnischer
Liberalismus bedeutet, das brauchten uns nicht erst die Herren Smvlka, Czar-
torhski und Konsorten zu lehren.
Ob die Verfassungstreuen endlich von ihren Feinden lernen werden, die
Dinge zu sehen und zu nehmen, wie sie sind? Wir haben wenig Vertraue»
daz». Die Herren haben seinerzeit den Namen Herbstzeitlose sehr übel genommen,
zeigen aber immer aufs neue, wie passend derselbe ist. Als nach 1868 eine
kleine Partei mit der Forderung auftrat, dem Königreich Galizien eine Sonder¬
stellung einzuräumen, erklärte sich die Mehrheit entschieden dagegen. Jetzt, da
die Polen beinahe alles, was ihnen Rechbaucr damals gewähren wollte, erreicht
haben und wahrscheinlich noch vielmehr erreichen werden, taucht jener Gedanke
wieder auf. Selbstverständlich wollen die Polen jetzt nichts mehr davon wissen.
Sie sind ja ohnehin die Herren in dem Lande, welches jetzt auf Kosten der
übrigen Kronlündcr existirt, und sie geben den Deutschen Gesetze, legen ihnen
Steuern auf, strecken die Hände nach Schlesien aus, bekommen ihre eigne Eiscn-
bahuverwaltung und, wenn das Glück ferner gut ist, ihr eignes Heer — was
können sie besseres wünschen?-Ebenso wurde der Plan, in den Ländern mit
gemischter Bevölkerung die Rechte der Nationalitäten gesetzlich zu wahren, vor
zwanzig Jahren und später, so lange die Verfassungspartei am Ruder war,
abgewiesen; jetzt sucht man ihn hervor, da die Majorität ihn entweder ver¬
werfen oder zum Schaden der Deutschen ausführen wird. Was soll aber dann
geschehen? Dann Abstinenz! Noch haben die Besonnenen die Oberhand, welche
dieses äußerste Mittel für den äußersten Fall aufgespart wissen Wollen. Die
Heißsporne der Rechten kündigen an, nicht eher ruhen zu wollen, bis die ver¬
haßten Deutschen auf weniger als ein Drittel im Reichsrate herabgebrncht seien,
und dann werde man an die Verfassungsrevision gehen. Damit würden freilich
die Deutschen vor die Erwägung gestellt werden, ob sie überhaupt noch am
politischen Leben teilnehme» sollten oder nicht, und auch dann wurden sie alle
Möglichkeiten sehr ernst und nüchtern abzuwägen haben. Die Abstineuzpolitik
ist stets eine zweischneidige Waffe. Sieht die Opposition sich einer entschlossenen
Regierung gegenüber, so spielt sie ein hohes Spiel. Lange Unthätigkeit hält
die beste Truppe nicht ohne Schaden aus, und die Deutschösterreicher haben
noch keineswegs bewiesen, daß ihnen stramme Zucht zur andern Natur geworden
wäre. Auch ist unter ihren vielen „Führern" kein Politiker, welcher den Ein¬
fluß und das Ansehen eines Rieger, geschweige eines Deal genösse. Das ist
gerade bei deu jüngsten Verhandlungen über die Frage der Abstinenz aufs neue
zu Tage getreten.
Von regieruugsfreuudlichcr Seite sind die Apostel der Abstiueuzpolitik
darauf aufmerksam gemacht worden, daß der Austritt der Deutschen denjenigen
Recht geben würde, welche behaupten, der KvnstitutioualiSninS passe nicht für
Österreich. Daß der Parlamentarismus für dieses Reich noch weniger Paßt
als für andre Länder, darüber muß man sich schon heute klar sein.
<Lis zur Mitte unsers Jahrhunderts hatte sich der Sozialismus auf
unwissenschaftlichen Wege entwickelt. Er hätte noch nicht ver¬
standen, sich die unstreitigen positiven Ergebnisse der Volkswirt¬
schaftslehre anzueignen und auf ihnen weiterzubauen. Erst in
Proudhons Schriften wurde dies versucht, und was hier wegen
der mystischen Anffnssnngsweise des Verfassers nicht gelang, wurde von Karl
Johann Rvdbertus erreicht. Indem er die Konsequenzen aus den grund-
legenden Lehren Adam Smiths und Ricardos vom Werte zog und fern von
den Deklamationen der Franzosen in ruhigem, auf gründliches Studium gestütztem
Gedankengange die gesellschaftliche» Verhältnisse der Gegenwart prüfte, wurde
er der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Von da an hörte der
Sozialismus auf, eine Utopie zu sein, er wurde zu einer Theorie, einem Shstcm.
Dieses in seinen Hauptsätzen darzustellen, seine Keime in der früheren Literatur
nachzuweisen und sie selbst möglichst eingehend zu beleuchten, wird in einer kürzlich
erschienenen Schrift verflicht, die den Titel führt: Rodbertus, der Begründer
des wissenschaftlichen Sozialismus. Eine sozial-ökonomische Studie von
or. Georg Adler. (Leipzig, Duncker und Humblot, 1884, 90 S.) Da eine
zusammenfassende, alles wesentliche hervorhebende Darstellung des Rodbcrtusschcn
Systems, eine sorgfältig abwägende Kritik desselben und eine Ableitung seiner
Lehre» aus den Ansichten früherer volkswirtschaftlicher Denker noch nicht existiren,
so verdient diese Studie entschieden Beachtung, und so weisen wir durch einige
Mitteilungen aus ihr auf sie hin.
Nvdbertus geht von folgenden philosophischen Grundnnschanuugcn aus.
Der Mensch ist ein dreieiniges Wesen, das aus Geist, Willen und materieller
Kraft besteht. Die Einigung der Individuen in diesen drei Elementen sührt zum
sozialen Organismus, d. h. zu Sprache und Wissenschaft, Sitte und Recht,
Teilung der Arbeit und nationaler Wirtschaft. Das Individuum lebt und wirkt
in dreifacher Lebensgemeinschaft mit seinesgleichen: in geistiger, ethischer und
materieller. Die Geschichte ist die einer vollkommner werdenden Ausbildung des
gesellschaftlichen Lebens, die sich so vollzieht, daß der niedere Organismus fort¬
während im höheren aufgeht. Dieselbe zerfällt in verschiedene Abstufungen: in
eine Familien- oder Stammperiode, eine Staatenperiode und eine Periode der
organisirten menschlichen Gesellschaft. Nach dem Grade ihrer größeren Voll¬
kommenheit sind die genannten Hanptperivden wieder in Ordnungen und Arten
zu teilen: die Staatenperiode in die heidnisch-antike, die christlich-germanische und
die noch höhere Staatenvrdnung der Zukunft, die heidnisch-antike Ordnung ihrer¬
seits wieder in die Arten Theokratie, Kastcnstaat, Scitrapie und Polis, die
christlich-germanische Ordnung in den kirchlichen Staat, den ständischen, den
bürokratischen und den Repräsentativstaat. Von diesen Staaten im weitern
Sinne muß man den Staat im engern Sinne unterscheiden, welcher die zentralen
Organe eines solchen sozialen Organismus bezeichnet, also nur einen Teil des
sozialen Körpers bedeutet; die übrigen Teile stehen im Systeme neben diesem
als Gesellschaft. Der Staat im engern Sinne verändert seine Gestalt nach den
Entwicklungsstufen seines Lebens, er nimmt an Umfang und Kraft zu, er wird
mannichfaltiger und übereinstimmender, d. h. einerseits wird jede Funktion mehr
und mehr an ein besonderes Organ gebunden, andrerseits werden die einzelnen
Organe von Stufe zu Stufe abhängiger von einem Zentralorgane. Infolge
dessen, wegen der Wechselnden Natur des Staates im engern Sinne, läßt sich
sein Begriff nicht endgiltig gegen den der Gesellschaft abgrenzen. Daraus folgt
auch, daß die Konstruktion des Staates g. priori, das Suchen nach der besten
Verfassung ein vergebliches Bemühen ist. Der Staat ist immer nur das äußer¬
liche Ergebnis der gerade bestehende» Gesellschaft, seine Form wird durch den
veränderten Gesellschaftszustand bestimmt.
Nach Rodbertus hat sich ferner das ethische Gebiet ebenso wie das der
Wissenschaft und der Wirtschaft erst allmählich entwickelt. Ursprünglich, in der Fa¬
milie, fallen Sittlichkeit und Recht noch in der einer Sitte zusammen, die den positiven
Geboten der erste» sozialen Gewalt, des Familienhauptes entspringt und des¬
halb nur einen positiven Inhalt und einen gebietenden, objektiven Charakter an
sich trägt, in welchen: sie einzig und allein durch den Zwang der sozialen
Gewalt aufrecht erhalten wird. Die Erklärung des Umstandes, daß i» diesem
faktischen Vorgänge doch, das ganze ethische Gebiet in nnos enthalten sein
kann, liegt erstens in dem individuellen Willen, der die Eigenschaft hat, sich ge¬
wöhnen zu können, zweitens in dem in die Geschichte gelegten sozialen Ent¬
wicklungsgesetze, das, mit der Familiengeineinschaft beginnend, durch die immer
weiteren Gemeinschaftskreise des Geschlechts, des Stammes, des Volkes, des
Staates zu jener schließlichen Lebensgemeinschaft des großen Menschentums führt,
die zu ihrem wesentlichen Teile in der menschlichen Willcnsgemcinschaft besteht.
Immer mehr tritt der Egoismus zurück. Moralische Urtriebe giebt es nicht,
vielmehr sind die Impulse des Willens anfänglich sinnlich-egoistischer Natur,
also unsittlich — die christliche Erbsünde. Das Sittliche liegt dagegen „ob¬
jektiv in derjenigen Seite des zu allgemeiner Lebensgemeinschaft führenden so¬
zialen Entwicklungsgesetzes, subjektiv in der Konkordanz des individuellen Willens
mit diesem Gesetz, und hinter der Verwirklichung dieses Sittlichen hat immer
eine historische Gewalt gestanden, die dem individuellen Willen erst die Impulse
zu einer sittlichen Richtung eingegeben hat, heiße diese Gewalt nun Familien¬
vater, Stammhaupt, Staatsgewalt oder Kirche. Deshalb sind kategorische Im¬
perative, Gewissen n. d. nur geschichtlich anerzogen, nur Anteil des Einzelnen
an einem sozialen Sittlichkeitskapital." Wie in der Familienperiode der mensch¬
lichen Entwicklung, so blieben auch in der Stammpcriode derselben Moral und
Recht ungeschieden. Erst mit dem Übergang aus dem schon gesitteten Stamme
in den Staat erfolgte die Scheidung, indem es „abermals diese neue soziale
Gewalt war, die nach ihrem aus den Umständen geschöpften Ermessen die Pflege
eines Teiles dieses Gebietes fortan der Macht der sittlichen Freiheit überließ
und nur noch den andern Teil uuter seinen eignen Zwangsgcboten behielt.
Jener Teil bildete hinfort die Moral, dieser das Recht." Das letztere war
zunächst nnr positiv, nicht ideal, es hatte nur eine gebietende, objektive, ihm
von der sozialen Gewalt zugekommene, nicht auch schon fordernde subjektive, sich
an das Individuum knüpfende Natur. Noch im römischen Rechte herrscht diese
Einseitigkeit. Es kennt nur RechtSgebotc, die von der Staatsgewalt ausgehen,
aber nicht entfernt Forderungen wie die modernen Menschenrechte, und es be¬
hält jene Einseitigkeit noch zu der Zeit, als die s-LiMta,«, diese höchste Blüte
des idealen Teiles des antiken Rechts, alle Lebensverhältnisse umzugestalten
beginnt. „Es sind nur Gebote einer sich weiter entwickelnden Gerechtigkeit,
welche in dieser Fortbildung des Rechtes walten, nicht der Forderungsdrang
unsers subjektiven Nechtsgcfühlö, wie er sich in den Naturrechtsshstemen aus¬
spricht." Erst mit dem christlich-germanischen Staate bildet sich auch der
andre Pol des Rechtes aus. „Die Erklärung hiervon liegt in dem individua¬
listischen Selbstgefühl, welches Erdbeschaffenhcit und Klima bei den Occidcntalen
stärker ausprägen als bei den Orientale», welches auf demjenigen spezifische»
Kulturgrade, auf dem vie Germane» standen, als sie die antike Erbschaft an-
traten, besonders stark prcivalirte. Infolge dessen tritt uns jetzt die Erscheinung
entgegen, daß in den auf den antiken Kulturstätten sich umbildenden germanischen
Staaten das positive Recht mit dem gewonnenen formalen Inhalte des römische»
sofort in der Natur eines subjektiven Rechts zutage kommt, und daß sich die
Staaten sogar durch und durch aus einem an die Person geknüpften eignen
Rechte aufbauen, dergestalt, daß, wenn im römischen Reiche sogar das Privat-
recht einen staatsrechtlichen Charakter besitzt, umgekehrt in den germanischen
Reichen selbst das Staatsrecht privatrechtliche Natur annimmt." In solcher
Form wurde das positive Recht im ganzen Mittelalter gepflegt, und in den
Natnrrechtsshstemen des vorigen Jahrhunderts trat diesem bloß subjektiv ge¬
arteten positiven Rechte ein idealer Teil entgegen, „der in seinen Untersuchungen
nach Art und Umfang solcher subjektiven Berechtigung anfing, den Menschen
als solchen dem Rechtssubjekt unterzuschieben, und damit auf einmal jene Unter¬
scheidung von natürlichen und erworbenen Rechten ins Leben rief, an deren
Hand sich in der Neuzeit allein in der Idee des subjektiven Rechts das positive
Recht fortgebildet hat." Damit war die antike Allgewalt des Staates gebrochen;
denn jetzt wurden dessen Gebote durch die Forderung des subjektive» Rechts-
gcfühls beschränkt, und er bekam von entgegengesetzter Seite Impulse, und so trat
durch neue Begrenzung und neue Antriebe allmählich der ganze grnndrechtliche
Inhalt des gegenwärtigen Rechts ins Leben, so ist derselbe für die Zukunft
besser gesichert als durch seine Aufnahme in Vcrfassnngsnrknnden,
Dies sind die allgemeinen Grundlagen, ans denen die »alio»alökonomische
Lehre von Rvdbertns richt. „Ist, so schließt er, die Gemeinschaft i» alle» Lebens-
sphären, besonders auch in der wirtschaftlichen, das Hauptprinzip des sozialen
Körpers, so muß man auch in der Sozialökouomie anstatt von den einzelnen
Individuen vielmehr von der Gesamtheit ausgehen," und dies hat er grundsätz¬
lich und mit vollem Bewußtsein, nicht wie Smith und Ricardo bloß instinkt¬
mäßig und flüchtig, gethan. Schon bei Smith findet sich die Andeutung, daß
die Grundbesitzer und die Kapitalisten vom Ertrage der nationalen Arbeit leben,
aber während dieser Satz bei ihm harmlos auftritt, steht er bei Rodbertus im
Mittelpunkte der Darstellung und ist ein wuchtiger Schlag gegen die heutige
Gesellschaftsordnung. Der Begriff des verhältnismäßigen Arbeitlohnes ist bereits
von Ricardo in die Wissenschaft eingeführt worden, aber Rodbertus zieht daraus
kühne Folgerungen, indem er jenen verhältnismäßigen Arbeitslohn nicht ge¬
nügend bestimmt findet.
Das Ziel der Geschichte ist nach Rodbertus die kommunistisch organi-
sirte Menschheit. Er unterscheidet drei Perioden: die des Menscheneigcn-
tums, deren Typus die heidnisch-antike Wirtschaftsordnung ist, die des Grnnd-
und Kapitalcigcimims, welche von der christlich-germanischen Staatcnordnung
repräsentirt wird, und die in etwa fünfhundert Jahren zu erwartende Periode
des bloßen Einkommens- oder Nerdicnsteigentnms. Obgleich dieses den ratio-
malen Grund und Boden und das Nationalprodnkt bis dahin, wo letzteres sich
als Einkommen verteilt, als Gesamteigentum dem Staat überläßt, begründet
es doch ein so echtes Eigentum, als jemals eins prinzipiell sanktionirt worden
ist. „Denn es knüpft die Portion materieller Güter, die es für jedes Indivi¬
duum einschließt, an den heiligsten Rechtsanspruch, den es giebt, an die Arbeit,
und zwar an genau dieselbe Quantität Mühe und Arbeit, mit der sich das Indivi¬
duum an der gemeinschaftlichen Herstellung des Nationaleinkommens beteiligthat."
Auf die Frage, wie die nationale Arbeit zu leiten und deren Erzeugnis
zu verteilen sein würde, antwortet Rodbertus: „Es würde an der Spitze jeder
Produktionswirtschnft statt des heutigen Privatunternehmers ein Beamter der
menschlichen Gesellschaft stehen und mit dem in der Unternehmung befindlichen
Teile des Gesellschaftskapitals nach einem vom Staate vorher entworfenen all¬
gemeinen Bedürfnisetat produziren, anstatt daß dies wie heute der Privat¬
unternehmer nach der von ihm gemachten Erforschung des gesellschaftlichen
Bedürfnisses mit seinem Kapitale thut. Es bedürfte dann nur einer Anordnung
der volkswirtschaftlichen Behörde, um das in der Produktion begriffene und
immer noch im Besitze der Gesellschaft befindliche Gut von einem Abschnitte und
Orte der Produktion zum andern und zuletzt an den Wohnort des Konsumenten
schaffen zu lassen. Jene Behörde hätte auch dafür zu sorgen, daß in einem
Teile des Nationalprodukts stets der Ersatz des bei der Produktion verbrauchten
Kapitals geschaffen, in dem übrigen erst das Nationaleinkommen, d. h. das un¬
mittelbar zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse notwendige Produkt,
hergestellt würde. Die Produktion jedes Gutes zerfiele in mehrere Teile, in
verschiedene GeWerke oder Produktionswirtschaften, die sich, weil das Produkt
bis zu seiner Vollendung durch alle hindurchgehen muß, als ebensoviele Pro-
duktionsstufen darstellen, auf welchen allen zugleich gearbeitet wird. Hiernach
ist auch das Nationalkapital verteilt. In jeder Produktionswirtschaft finden
sich sowohl die Werkzeuge, mit denen, als das Material, aus dem produzirt
wird. Der letztere Teil des Nationalkapitals nimmt aber die Gestalt an, daß,
je näher die Produktionsstufe der Vollendung des Gutes steht, desto vorge¬
schrittener das Material ist, weil es durch desto mehr Stufen hindurchgegangen
ist, sodaß auf der letzten nur noch die Arbeit an ihm nötig wird, die es zum
vollendeten Gute macht, während auf der ersten das roheste Material erst der
Erde abzugewinnen ist. Zugleich indessen existirt, da diese Reihe von Produk¬
tionsstufen nur Einkommensgüter schafft, eine Nebenreihe von Gewerken, die
stets die unter der Arbeit abgenutzten Werkzeuge zu ersetzen hat. Die Ver¬
teilung des Nationaleinkommens vollzieht sich in der Weise, daß der Wert jedes
Produkts nach der darauf verwendeten Arbeitszeit bestimmt wird. Jeder Teil¬
nehmer an der nationalen Produktion erhält in einer Bescheinigung über die
von ihm geleistete Arbeitszeit die Anweisung auf einen gleichen Wert beliebiger
Einkommensgüter, die ihm gegen Abgabe jener Anweisung aus deu Staats-
Magazinen zu ebenso strikten Eigentumsrechte verabfolgt werden als heute sein
Lohn... Der Arbeiter erhält jedoch nicht den ganzen Wert seines Produkts.
Ein Teil davon wird abgezogen, damit die Beamten, welche die Produktion
leiten, die Richter, Lehrer, Ärzte, Künstler, kurz alle, welche die immaterielle
Arbeit verrichten, dafür belohnt werde»? können. Alle diese Verdienste würden
natürlich nicht wie die aus mechanischer Arbeit nach Normalarbeitszeit, sondern
vielmehr in Gehalt nach autoritativen Ermessen vergütet werden."
Es läßt sich nicht leugnen, daß der Rodbertussche Zukunftsstaat sich vor¬
teilhaft von den roh kommunistischen Traumgebilden der extremen Sozialisten
unterscheidet. Wir haben es hier mit einem wissenschaftlichen Forscher und
Denker, nicht mit einem Phantasten zu thun. Trotzdem erweckt sein Plan große
Bedenken, die unsre Schrift nicht unterläßt hervorzuheben.
Rodbertns will seinem Zukunftsstaate die Leitung der gesamten agrarischen
und gewerblichen Produktion übertragen, aber wird diese Leitung in den ein¬
zelnen Produktionswirtschaften mindestens so gut wie die jetzige privatwirtschaft-
liche, und werden letztere also mindestens so einträglich sein wie die heutigen Produk-
tiousapparate? Nodbertus hat diese Frage unbeantwortet gelassen. Ferner würde
im Rodbertnsschen Staate die Regierung über hunderttausende von Beamten ge¬
bieten, und dies würde, wenn man nicht die sorgfältigsten Vorbeugungsma߬
regeln träfe, zur allerschlimmsten politischen Korruption führen. Ist es endlich
möglich, das Rodbertussche Vcrteilungsprinzip: „Jedem nach seiner Arbeit!"
durchzuführen? Ist es vor allem möglich, den Wert des Produktes beständig
genau auf der kostender Arbeitsquantität festzuhalten? Unsre Schrift weist, wie
uns scheint, mit schlagenden Gründen, nach, daß dies unmöglich ist.
Wir geben nur noch einige Notizen über die politischen Meinungen unsers
Sozialisten, die, wie man sehen wird, mit denen der Herren Bebel und Liebknecht
nichts gemein haben, ja teilweise in direktem Gegensatze zu denselben stehen.
Rodbertus hat einmal den bezeichnenden Ausspruch gethan, die Partei, welche
großartige Aussichten in die Zukunft gewinnen wolle, werde eine sozial-monarchisch¬
nationale sein müssen. Er hat auch thatsächlich einmal die Absicht gehabt, mit
Rudolf Meyer und Hasenclever eine solche Partei zu gründen, doch wurde der
Plan aufgegeben, ohne daß man über Anfragen bei den beteiligten Personen
hinausgekommen wäre. Jener Ausspruch trifft aber wirklich den Kern der
Rodbertusschen Anschauungen.
Solange die Ziele der sozialdemokratischen Partei rein wirtschaftliche waren,
gehörte ihr Rodbertus mit ganzer Seele an, wenn er auch für die konkrete
Form der ökonomischen Bestrebungen der Lassalleaner, für die Produktivasso-
ziationen mit staatlicher Unterstützung, sich nicht erwärmen konnte. Gerade jene
Ausscheidung der Politik aus dem Programme der ersten Sozialdemokraten ist
für ihn besonders charakteristisch. Vom Komitee des deutscheu Arbeitervereins
zu Leipzig aufgefordert, über die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen
seine Ansicht darzulegen, bekannte er offen, daß ihm die sozialen Fragen über
die politischen gingen, und riet den Arbeitern entschieden davon ab, sich an eine
politische Partei anzuschließen, ja auch nur das allgemeine Stimmrecht auf ihr
Panier zu schreiben. „Seien Sie die soziale Partei, die Sie nun doch einmal
sind, auch offen und unumwunden. Keine» politischen Umweg, sondern geradeaus!"
so ruft er ihnen in seiner Antwort zu.
Rodbertus war sein ganzes Leben hindurch ein Mann von streng mon¬
archischer Gesinnung. Im Jahre 1848 gehörte er in der preußischen verfassung¬
gebenden Versammlung zur Partei des linken Zentrums, einer Gruppe von
Politikern, welche Reformen wünschte, aber zugleich fähig sein wollte, ein Mi¬
nisterium zu bilden. Am 25, Juni desselben Jahres trat er als Kultus- und
Unterrichtsminister in das Kabinet Auerswald-Hansemann ein, nahm aber schon
nach vierzehn Tagen seinen Abschied, nachdem er sich überzeugt hatte, daß ein
Zusammengehen mit der Frankfurter Nationalversammlung nicht beabsichtigt war.
1849 in die zweite Kammer des preußischen Landtags gewählt, stellte er am
13. April den Antrag auf Anerkennung der Reichsverfassung der Paulskirche,
welcher einige Tage später angenommen wurde. Nach Oktroyirung des Drei¬
klassenwahlgesetzes vertrat er das Prinzip der Wahlenthaltung. Nach Annahme
der Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde er als Kandidat für den
Reichstag aufgestellt, aber nicht gewählt, und seitdem ist er bis zu seinem 187S
erfolgten Tode der Politik ferngeblieben. Zwar hielt er die sozialistische Re¬
publik für möglich, doch war er überzeugt, daß derjenige Sozialismus, der in
der Geschichte obzusiegen und sich auf die Dauer zu behaupten bestimmt sei,
monarchischer Natur sein werde. Er hoffte vor allem, daß ein deutscher Fürst
die Rolle eines Sozialkaisers übernehmen, und daß ein solcher den die Fort¬
entwicklung zu einer höhern und vollkommnern Staatenvrdnung versperrenden
„Hexenbann der sozialen Frage" lösen würde. Zugleich aber betonte er, daß
eine solche wahrhafte Sozialmonarchie von freiheitlichen Geiste durchdrungen
sein und Karlsbader Beschlüsse unbedingt ausschließen müsse.
Endlich freute sich Rodbertus aufrichtig über die Wiederaufrichtung des
deutschen Reiches und die dadurch entstandene bewirkte Einigung der Nation,
die er als zur Trägerin der Weltgeschichte berufen und als bestimmt ansah, in
Wahrheit an der Spitze der Zivilisation zu marschiren. „Jeder echte Deutsche,
sagte er nach Rudolf Meyers Bericht, trägt heute das Vollgefühl in der Brust,
daß, obwohl seine Nation schon einmal in der Weltgeschichte die großartigste
Titelrolle mit Glanz gespielt hat, sie international und sozial noch zu größeren
und zu den größten Dingen berufen ist." Doch war er kein Chauvinist. Er
glaubte vielmehr, daß das deutsche Reich noch manche Mängel zu überwinden
habe, ja er äußerte sogar, wenn man „zu einer Art Karlsbader Beschlüsse gegen
die Sozialdemokratie kommen sollte, dies ein Unglück sein würde, welches das
Glück des wiedererstandenen deutschen Reiches aufwöge."
in klares und zugleich vollständiges Bild von der Theaterleitung
Goethes wird sich aus Mangel an Quellen nie entwerfen lassen,
da bekanntlich das Theaterarchiv aus der Goethischen Zeit dnrch
üble Verwaltung so schwer geschädigt worden ist, daß wir nur
noch Bruchstücke desselben besitzen. Aus diesem Umstände erklärt
sich auch zum guten Teil, daß wir bis jetzt nur ganz vereinzelte Arbeiten zur
Geschichte dieses hochbedeutsamen Institutes besitzen, die in völligem Zusammen¬
hange nicht stehen können, weil das vorhandne, zum Teil auch gedruckte Material
ein planmäßiges Arbeiten nicht gestattet. Man ist deshalb nicht in der Lage
gewesen, einen tieferen Einblick in die theatralische Thätigkeit Goethes zu er¬
möglichen, um das Wesen und die leitenden Grundsätze seiner Verwaltung ver¬
stehen und würdigen zu können.
Wie man auch in Zukunft die Theatergeschichte Weimars behandeln mag,
über die Betrachtung dessen, was quantitativ geleistet worden ist, wird man
nicht hinweggehen dürfen, um das Verständnis für die qualitativen Leistungen
zu ermöglichen. Es handelt sich hier zunächst um eine Reihe statistischer Er¬
hebungen, die sich auch auf die Zeit vor Goethes Leitung erstrecken müssen, um
die äußerst interessanten Wandlungen kennen lernen zu können, die unter ihm
vorgingen.
Bevor Goethe die Theaterleitung übernahm, wirkte als Schauspieldirektor
bekanntlich Bellomo von 1784—1791. An das Repertoire Bellomos, das uns
nur für Weimar selbst vorliegt, mußte Goethe sich aus einer Reihe innerer
Gründe halten, wenn er mit dem Geschmacke des Publikums nicht in Konflikt
kommen wollte; erst allmählich vermochte er diesen zu läutern und das Institut
ganz nach seinen Absichten zu leiten. Der hauptsächlichste Unterschied der
beiderseitigen Leitung beruhte darin, daß Bellomo das Theater als eine Quelle
des Erwerbes ansah, woran Goethe nie gedacht hat. Allerdings mußte auch
Goethe darauf Bedacht nehmen, daß er zunächst mit äußerst spärlichen Mitteln
das Gewollte in Szene setzte, und schon deshalb schloß er sich an das Reper¬
toire Bellomos möglichst eng an, sür welches das Weimarische Theater nun
einmal eingerichtet war.
Es ergiebt sich dies aus folgenden rechnerischem Nachweisen, welche ich aus
einem möglichst vollständig aufgestellten Repertoire von 1784—1817 herzuleiten
vermag. In der genannten Periode standen über 800 Theaterstücke auf dem
Repertoire, von denen Bellomo von 1784—1791 schon über 100 nach einmaliger,
über 40 nach zweimaliger Aufführung absetzte. Goethe brachte von den ab¬
gesetzten Stücken keines wieder zur Aufführung, sondern ging während seiner
Leitung noch um ein gutes Stück weiter, indem er noch über 100 andre Stücke
als ungenügend alsbald absetzte und von Bellomos Repertoire kaum 100 bei¬
behielt, während aus Goethes Leitung sich nachweisen läßt, daß er über 500
Novitäten einführte, d. h. er ließ jährlich im Durchschnitt mehr als 20 neue
Stücke geben, was heutzutage ein Theater von dem Goethischen Umfange schwer¬
lich mehr ermöglichen würde.
Auch nach einer andern Seite hin sind die statistischen Erhebungen nicht
ohne Bedeutung. Kann man behaupten, ^daß in Weimar und auf den Filial¬
bühnen von 1784 bis 1817 5) im ganzen etwa 5500 Aufführungen gegeben wurden,
so fanden durchschnittlich in dieser Zeit mir 6 Wiederholungen eines Stückes
statt. Noch interessanter ist es, das Verhältnis der Wiederholung von Stücken
der vorzüglichsten Theaterdichter kennen zu lernen. Goethes Freund Klinger
hat hiernach die geringste Beachtmig gesunde». Goethe gab überhaupt kein Stück
von demselben, nachdem Bellomo zwei Klingersche Stücke nur einmal aufgeführt
hatte. Besser stand es schon um Körner, der mehr als 40, Shakespeare, der
mehr als 60, Lessing, der mehr als 70 mal während Goethes Leitung über
die weimarischen Bühnen ging. Daran reihen sich die Goethischen Stücke selbst,
die über 270, die Schillerschen, die über 340, .die Ifflandschen, die über 380 mal
zur Aufführung gelangten, während dem fruchtbarsten aller Theaterdichter,
Kotzebue, der Preis der Wiederholung zuerkannt werden muß, da von ihm über
640 Wiederholungen zu verzeichnen sind.
Was die Gattung der Stücke anlangt, die von 1784 bis 1817 auf der
Bühne vertreten war, so wurde die Posse am wenigsten gepflegt (etwa 20 Stücke),
während das Trauerspiel und das Schauspiel mit je 100 Stücken vertreten
waren. Dagegen erforderte die Pflege des Singspiels und der Oper eine große
Zahl auf dem Repertoire (über 160); die Zahl der gegebenen Lustspiele betrug
über 350.
Sind diese statistischen Verhältnisse, die ich andern Orts eingehender be¬
handeln werde, schon an sich lehrreich, so drängt sich uns die Frage auf, warum
sie so waren. Viele Gründe wirkten hierbei mit, am meisten die theatra¬
lische Finanzwirtschaft Goethes, die bisher wenig beachtet, noch viel weniger
ergründet worden ist.
Näher betrachtet, war es ein geniales und kühnes Unternehmen Goethes,
in Weimar ein Hoftheater ins Dasein rufen zu wollen. Eine ständige Truppe
für eine Residenz von damals kaum 6000 Einwohnern für eigne Rechnung
unterhalten zu wollen, war an sich schon ein äußerst gefährliches Wagnis.
Weimar war damals nicht dazu angethan, das Unternehmen allein stützen zu
können; teils war es zu klein, teils nicht reich und in seinem Publikum nicht
nachhaltig genug, um unausgesetzt sich dem Genusse des Theaters hingeben zu
können. Dazu kam, daß Goethe auf die breiten Massen zunächst garnicht rech¬
nete, sein Theater war für die geistige Aristokratie berechnet. Fehlte es ihm
an genügenden Mitteln, so trat der Hof für diese ein. Für Weimar wollte er
ja quantitativ nicht mehr leisten, als was sein Vorgänger Bellomo angestrebt
hatte. Aber in künstlerischer Beziehung sollte das Theater intensiver wirken,
und er stellte die Haupterfordernisse gleich in seinem Prologe vor das Publikum,
das nun sah, daß es sich um die Erfüllung wesentlich andrer Vorbedingungen
handelte, wenn er systematische Schulung und Durchbildung der Schauspieler
als unerläßlich hinstellte.
Im wesentlichen baute er auf den gegebenen Fundamenten weiter, d. h. er
wollte zunächst dem Hofe keine größern Opfer ansinnen, als dieser bisher dem
Theater gebracht hatte. Gerade darin zeigt sich auch die Größe des ganzen
Unternehmens. Ein äußerst vorsichtiger Voranschlag über die Kosten und die Er¬
tragsfähigkeit wurde dem Plane zu Grunde gelegt, und es bleibt ein äußerst
bescheidener Zug, daß Goethe die Fortsetzung des Hoftheaters von dem Erfolge
eines einzigen Jahres abhängig machen wollte. Erfolg und Mißerfolg lagen
also für ihn sehr eng neben einander.
War nun vor allem weise Sparsamkeit notwendig, so konnte er am
wenigsten daran denken, daß die kleine Residenz sein Theater ganz allein stützen
und die Fortführung ermöglichen sollte. Nach den Theaterfreuden des Winters
zeigte sich, wie schon unter Bellomo, eine gewisse Abspannung des Publikums,
dessen Säckel man schonend behandeln mußte. Wenn das Entree verhältnis¬
mäßig billig war, so stand dasselbe ja doch zum Werte des Geldes in
Verhältnis. So nahm Goethe sofort seine Zuflucht zu dem auswärtigen
Spiel, teils um den Ausfall, den Weimars Publikum nicht decken konnte, aus¬
zugleichen, teils um die Kräfte nicht unbeschäftigt zu lassen und sie finanziell
auszunutzen. Goethe kannte Ferien für Schauspieler überhaupt nicht. Die jetzt
üblichen drei Monate Vakanz hätten nach dem Zuschnitt seines Theaters uner¬
hörte Müßigkeit bewirkt. Nach Schluß der achtmonatlichen Vorstellungen wurde
die ganze Gesellschaft mit den hauptsächlichsten Requisiten auf etwa neun Wagen
geladen und nach Lauchstädt spedirt, wo sie sofort wieder in Thätigkeit trat.
War dort die Badesaison zu Ende, so kehrte die Gesellschaft unverweilt zurück
und begann ihre Vorstellungen wieder in Weimar, Alsbald beschickte Goethe
von dem Standorte Lauchstädt aus auch Erfurt und Rudolstadt, einmal ver¬
suchte > er es auch mit Naumburg zur Meßzeit, 1807 ließ er in Leipzig
und seit 1811 in Halle längere Zeit Vorstellungen geben; ja zu Zeiten
trennte er die Gesellschaft und ließ an zwei Orten zugleich Oper und Schau¬
spiel aufführen. Es war eben die höchste Anspannung der Kräfte, die er
widerspruchslos voraussetzte. Daher schreibt sich die enorme äußerliche Thätig¬
keit des Weimarischen Hoftheaters, die ich oben wenigstens in einigen Zahlen
anzudeuten versucht habe.
Für die spätere Beurteilung der qualitativen Leistungen des Goethischen
Theaters ist es von besondern: Werte, die hauptsächlichsten finanziellen Funda¬
mente kennen zu lernen, auf denen das eminente Werk Goethes ruhte. Auch
da will ich meine statistischen Erhebungen teilweise zur Geltung bringen. Einige
Zahlen sollen uns erkennen lassen, mit wie geringen Mitteln Goethe Großes
erstrebte, Vollendetes erreichte.
Mehrere Jahre hindurch kostete das Weimarische Hoftheater einschließlich der
Erhaltung an den auswärtigen Stellen eine Kleinigkeit mehr als 10 000 Thaler,
und das höchste, was Goethe jährlich in der Blütezeit seines Instituts bedürfte,
überstieg die Summe von 20 000 Thalern nur um ein ganz geringes. Letztere
höchste Summe ist nur im Jahre 1814 nötig gewesen, aber mit dieser Summe
wurden uicht allein alle Bedürfnisse gedeckt, sondern man arbeitete sogar mit
Überschüssen, die im Jahre 1813 bei einem halbjährigen Rechnungsschluß über
4000 Thaler betrugen. Während die Beiträge des Hofes, später auch die der
Kammerkasse, höchst schwankend waren und halbjährlich von 8000 bis auf
1000 Thaler herabstiegen, erbrachte das Theater stets soviel, daß ein Defizit
so gut wie nicht vorhanden war. In der Regel glichen sich Einnahme und
Ausgabe völlig aus. Wenn Weber in seinen Beiträgen zur Geschichte des
Weimarischen Theaters die Behauptung aufstellt, Goethe sei bei Karl August
bezüglich der Bewilligung von Mitteln auf Widerstand gestoßen, so ist das
ein bedeutender Irrtum, der den finanziellen Standpunkt Goethes völlig verrückt.
Er ist nie mit exorbitanten Forderungen an den Weimarer Hof herangetreten;
arbeitete er mit Überschüssen, so reduzirten sich die Beiträge des Hofes von
selbst, und sie wurden planmäßig erhöht, wenn die Erträge des Theaters sich
nicht günstig gestellt hatten.
Für die Beurteilung der Wirksamkeit und des theatralischen Finanzwesens
ist es wesentlich, die Eigentümlichkeit der Orte festzustellen, wo Goethe seine
Hofbühne aufschlug.
Heute kann man von Weimar behaupten, daß in den verschiedensten Schichten
der Bevölkerung der Besuch des Theaters als unabweisbares Bedürfnis sich
herausgestellt hat. Zu verdanken ist dieser Umstand der stetigen Wirksamkeit
des Theaters, seinen hervorragenden Leistungen. Als Goethe mit seiner Thätig¬
keit einsetzte, war das völlig anders. Der Zudrang im Gründungsjahre war
nicht maßgebend. Schon im nächsten Jahre verhielt sich das Publikum kühler:
Weimar allein konnte die Existenz des Theaters nicht ermöglichen. Dagegen
zeigte sich alsbald, daß ein ständiges Publikum sich durch das Abonnement an
den Besuch des Theaters fesseln ließ, ein Umstand, der für die Belebung des
Interesses an der Schöpfung Goethes wie finanziell von Bedeutung war.
Wenn aber auch die Theaterverwaltnng hierdurch sehr früh einen festen Boden
gewann und mit dem wichtigen Faktor rechnen konnte, daß dnrch die Abonnenten
in der Regel die Einnahmen des Theaters mehr als durch die Tagcsein-
nahmen gestützt wurden, so war zwar etwas, aber nicht soviel erzielt, daß das
Theater ausschließlich auf Weimar beschränkt werden konnte. Denn in den
achtmonatlichen Vorstellungen der Wintersaison brachte die Residenz, namentlich
was die ersten zehn Jahre anlangt, nicht mehr an Gesamteintrittsgcldern auf,
als was die Gagen des Theaterpersonals ausmachten, d. h. beide Faktoren
bezifferten sich auf kaum 4000 Thaler.
So war Goethe genötigt, den Fußtapfen der früheren Theaterdirektoren
zu folgen, die im Beginn des Frühjahrs dem theatermüden Publikum den
Rücken kehrten. Wie sie, so dirigirte anch er seine Truppe nach Lauchstädt.
Der jetzt unbedeutende Ort war, seitdem eine Kurfürstin von Sachsen
Heilung dort gefunden, alsbald ein berühmter Kurort und ein Luxus- und
Modebad zugleich geworden. Gleichzeitige Zeitungsberichte können nicht genug
betonen, wie hoch aristokratisch der Zuschnitt des Ganzen, wie ein armer Nicht¬
adliger in jeder Beziehung eine traurige Rolle zu spielen verurteilt war. Das
lag zum guten Teil an der örtlichen Beschaffenheit Lauchstcidts, einem lang¬
gestreckten Orte, in langweiliger, baumloser Ebene. Aber draußen vor dem Thor
des Städtchens hatte kurfürstliche Munificenz ein Stück Erde zu einem Para¬
diese umgewandelt. Noch heute lohnt es, von Halle oder Merseburg aus sich
einige Stunden aus gepflasterter Chaussee im Postwagen von einer Ecke zur
andern schleudern zu lassen, um dann unter prachtvollen Lindenalleen der wohl¬
verdienten Ruhe sich hingeben zu können.
Dort hatte Goethe mit herzogliche Genehmigung das bretterne Schauspiel»
Haus angekauft und die Erlaubnis erhalten, auf eine Reihe von Jahren gegen
die üblichen Abgaben Vorstellungen zu geben. Beide kontrahirende Teile hatten
alle Ursache, mit dem Abschluß des Geschäftes zufrieden zu sein. Am meisten
Goethe, dem das Publikum in hohem Maße zusagte. Er wußte seine Schau¬
spieler in guter Gesellschaft, und ihnen ging der Ruhm tüchtiger Leistung schon
um des Goethischen Namens willen voraus. Wenn wir hier und da der Be¬
hauptung begegnen, daß die Lauchstädter beim Anzug der Goethischen Truppe
ausgerufen haben sollen: „Thut die Wäsche weg, die Baude kommt!" so mögen
früher solche weise Vorsichtsmaßregeln Berechtigung gehabt haben, für die
Goethische Periode jedenfalls nicht.
Finanziell war Lauchstädt für das Weimarische Theater von hoher Bedeu¬
tung. In der Regel trafen die Schauspieler gegen die Mitte des Juni dort
ein, und zwar genau so, wie Goethe es vorgeschrieben hatte. Es wäre ein un-
gemessenes Betragen gewesen, wenn die Reisegesellschaft nach eignem Ermessen
in dem oder jenem Wagen Platz genommen hätte, jedes Mitglied mußte sich
gefallen lassen, an einen ganz bestimmten Sitz gebannt zu sein. Der Gang
der Vorstellungen war schon in Weimar bestimmt. Man brachte in der Regel
schon die gedruckten Theaterzettel für eine ganze Woche mit, weil man Rcper-
toireänderungcn durch unleidliche Capricen, erdichtete oder faktisch bestehende Un¬
päßlichkeiten damals noch nicht kannte; und ich darf nach den auch in dieser
Beziehung erhobenen statistischen Aufstellungen versichern, daß Repertoirestörungen
sich damals um 50 Prozent niedriger als in der heutigen Theatcrverwaltmig
stellten.
Lange Zeit war man gewohnt, in Lauchstädt einige 30 bis 40 Vorstel¬
lungen zu geben, welche bis in den August hineinreichten, und es ergiebt sich
hieraus, daß man verhältnismäßig mit 40 Spieltagen in Lauchstcidt ebensoviel
als in Weimar mit 100 an Erträgen des Theaters erzielte. Dieser Umstand
war jedenfalls maßgebend, daß Goethe das bretterne Schauspielhaus schon nach
10 jähriger Thätigkeit abbrechen und ein neues, größeres auf Regiekosten er¬
bauen ließ. War es, wie man heute sich noch überzeugen kann, von bewun-
dernswerter Einfachheit, so war die ungleich größere Anlage, dem Weimarischen
nachgebildet, hauptsächlich für größern Besuch und Komfort und zur Erzielung
noch größerer Erträge berechnet. Leider schlug die Rechnung fehl. Alsbald
bewirkten die kriegerischen Ereignisse einen Rückgang des Bades, und die Differ¬
enzen, welche Goethe in mehrfacher Beziehung mit der Merseburger Stiftsregieruug
gehabt hatte, ließen es geraten erscheinen, den Kontrakt nicht zu erneuern und
sobald als möglich dem früher ergiebigen Lauchästdt den Rücken zuzuwenden.
Wie angedeutet, versuchte es Goethe 1807, wo Lauchstädt, nur um kon¬
traktlichen Bestimmungen nachzukommen, besucht wurde, mit 25 und 19 Vor¬
stellungen in zwei Abteilungen in Leipzig. War der Ertrag für diese 44 Vor¬
stellungen ein ganz enormer — er betrug über 8500 Thaler, eine Summe, die
Weimar bei 100 Vorstellungen kaum zur Hälfte erreicht hat —, so wurde Leipzig
mit diesem Besuche doch definitiv aufgegeben. Die Gründe sind mannichfacher
Natur, teils liegen sie klar zu Tage, teils entziehen sie sich noch unsrer Kenntnis.
Vielleicht spielte der Aufwand eine Rolle mit, da trotz der hohen Erträge für
die Saison ein Reingewinn von kaum 100 Thalern übrig blieb.
Es war nicht schwer, alsbald den in Aussicht stehenden beständigen Aus¬
fall durch anderweitige Maßnahmen zu decken. Denn Lauchstädt hatte bereits
gezeigt, daß in dem nahen Halle ein ergiebiger Ersatz gefunden werden müsse.
Die nahen Ortschaften einer an sich reichen Gegend waren im Grunde genommen
für das Go ethische Theater bedeutsamer als Lauchstädt selbst, da die Badegäste
nur nach wenigen Hunderten zu zählen pflegten. Denn während man bei uns
das Theater mehr bei schlechtem Wetter aufsucht, war es in Lauchstädt der
umgekehrte Fall. Die Bewohner umliegender Ortschaften suchten in Lauchstädt
Erholung und Vergnügen, und besonders war es die Masse Hallischer Musen-
söhne, deren Ankunft lange vorher staubige Wolken zu verkünden pflegten. Wer
freilich wollte behaupten, daß die fürsorgliche Universität den zeitraubenden, ver-
führerischen Besuch Lauchstädts gern gesehen hätte, wenn auch nicht mehr Ver¬
hältnisse wie unter Friedrich dem Großen maßgebend sein konnten, der der An¬
sicht war, daß der Student überhaupt kein Recht habe, das verderbliche Theater
aufzusuchen. Im Gegenteil war in Halle jetzt eine Strömung bemerkbar, welche
für die Übersiedlung des Goethischen Theaters von Lcmchstädt sich thätig zeigte.
So kam die Zeit, wo Goethe dem ergiebigen Halle selbst zusteuerte. Hinzu
kam, daß die alte, fast sprichwörtlich gewordene schmutzige Stadt wie rin einem
Zauberschlage sich den Ruf eines Bades erworben hatte, das Goethe von
Lauchstädt aus zuerst ganz nebensächlich behandelte, bis er dann 1812 Halle
ausschließlich besuchen und sein eignes Schauspielhaus in Lauchstädt einer unter¬
geordneten Truppe überlassen konnte. Nur 1814 ließ er sich auf dringliche
Vorstellungen erweichen, ab und zu die Truppe nach Lauchstädt zu entsenden.
Dann kehrte er dem Städtchen für immer den Rücken.
Mußte Goethe auf die Ertragsfähigkeit seines Theaters Gewicht lege», so
fand er diese in Halle doppelt so hoch als in Lauchstädt, wenn auch die Kosten
der Aufführung den Reinertrag vielfach beeinträchtigten. Die Hauptsache war
aber, daß in der Universität ein gebildetes Publikum seine Absichten zu wür¬
digen und seine Schauspieler zu ehren verstand. Zwar hat Halle finanziell nie
das erzielt, waS Leipzig brachte, aber andrerseits muß mau auch bedenken, wie
mit den Jahren die Ansprüche Goethes und die Forderungen des Publikums
sich steigerten, welche gewaltige Entwicklung des ganzen kunstvollen Apparates
vorlag, den Weimar allein nicht ermöglichen konnte.
Wenn wir heute auf die Fortentwicklung unsers Theaters in Weimar stolz
sein können, so dürfte man nach diesen Ausführungen schwerlich mehr daran
zweifeln, daß die Wiege des Weimarer Theaters nicht ausschließlich in Weimar,
sondern auch in Lauchstädt und Halle zu suchen ist.
Vor allem lag die gewaltige Arbeit Goethes in dem äußerst schwierige»
Erwerb der nötige» Mittel, welche zur Erhaltung des großen Ganzen unum¬
gänglich nötig waren. Er wie die seit 1797 bestehende Theaterkommission hat
in wahrhaft umfassender Weise gearbeitet, um den tausendfachen Hindernissen
mit Erfolg begegnen zu können. Man war weit entfernt, die Stätten thea¬
tralischen Wirkens sozusagen schablonenmäßig zu behandeln; im Gegenteil, man
studirte die charakteristischen Eigentümlichkeiten, huldigte bis zu einem gewissen
Grade dem Geschmack des großen Publikums, ohne daß man das große Ziel
Goethes nur einen Angenblick ans dem Auge verlor, fördernd und läuternd zu
wirken.
Wenn man in Ansehung äußerer Mittel erwägt, daß Goethe 1791 sein
Theater mit 16 „Akteurs" in Weimar eröffnete und Raum für 26 allseitig
gebildete Künstler geschaffen hat, wenn man erwägt, daß er in Weimar wieder¬
holt den Ausbau des Theaters mit ausschließlich erworbenen Mitteln bestritten,
in Lauchstädt das alte Schauspielhaus angekauft und ein neues, den Anforde-
ringen der Zeit entsprechendes an seine Stelle gesetzt hat, so beweisen diese
Schöpfungen schon, daß in finanzieller Beziehung das Hoftheater Weimars
mit großer Umsicht geleitet war, zumal da es bei sich stets steigernden An¬
sprüchen mit im ganzen mäßigen Unterstützungen des Hofes sich selbst zu
erhalten imstande war. Allerdings darf man nicht an die Befriedigung der außer-
ordentlichen Ansprüche denken, welche heute das Publikum an eine Theatcrvcr-
waltung erhebt. Die Goethische Einrichtung stand weit hinter der zurück, welche
selbst vor mehr als fünfzig Jahren schon dem Weimarischen Theater eigen war.
Der Typus des klassischen Theaters hat sich uns annähernd nur in Lanchstädt er¬
halten. Noch zeigt das Parterre die alten unbequemen Holzbänke, deren vordere
Reihen höchstens sich durch ein mangelhaftes Polster auszeichnen. Während
das feinere Publikum in Seitenlogen gedrängt war, die bezüglich ihrer Ursprüng¬
lichkeit nichts zu wünschen übrigen lassen, war der vierte Platz, den man für
den bescheidenen Preis von zwei Groschen einnehmen konnte, in Form der heutigen
weit zurücktretenden Galerie über dem Parterre aufgebaut. Immerhin war sie
noch besser als in dem von Goethe unterhaltenen Hoftheater in Rudolstadt,
wo die Zuschauer des letzten Platzes den Vorstellungen hinter einem Latten-
verschlage stehend beiwohnten, dem der Volkswitz alsbald in treffendem Vergleich
den Namen „Gänsestall" beilegte.^)
Analog dieser Einrichtung war auch die Beleuchtung auf der Bühne und
im Zuschauerraum. Mehr als siebzig gezogene Lichter erhellten das gesamte
Theater nicht, der wandelnde Lichtputzer hatte vollauf zu thun, um eine freund-
liche Begrüßung des nicht allzufernen Nachbars zu ermöglichen. Ein Kron¬
leuchter galt umsomehr als Luxus, als er im Beginn des Lauchstädter Theaters
-nicht einmal in der Idee vorhanden war. Sieht man sich im iibrigen die
Ziffern für die Aufwande des ersten Jahres an, so bezeichnen sie die rührende
Einfachheit der Ansprüche eines Publikums, das eben in das Theater ging, um
sich dem geistigen Genuß in vollem Maße hinzugeben. Zahlen sprechen in dieser
Beziehung deutlicher, ihrer Wucht vermag sich auch die glänzendste Darstellung
der Verhältnisse nicht zur Seite zu stellen. Als die wandelnde Hofbühne 1791
vom 7. Mai bis zum 25. September in Weimar, Lanchstädt und Erfurt thätig
gewesen war, hatte man 73 Spieltage hinter sich. Man muß staunen, daß in
der halbjährigen angestrengten Thätigkeit das Theater nicht mehr als 4113 Thaler
gekostet hatte. Hatte man für Dekorationen Is, für Garderobe 34, für Musi-
kalien 2, für Rolleyschreiber 10, für Beleuchtung 68, für Orchester 162, für
Wache und Statisten 28, für Regie 86, für Miete, Abgaben und Erhaltung
des Schauspielhauses 156 Thaler aufgewandt, so waren auf Reisediäten nicht
mehr als 43 Thaler und auf die Gagen der Gesellschaft genau 2924 Thaler
gefallen. In den glänzendsten, von reichen Einnahmen gestützten Jahren ist man
über fünffache Kostenbeträge nicht hinausgekommen.
Es ist nicht möglich, heute von der großartigen Entwicklung des Goethischen
Theaters in all den Beziehungen zu sprechen, die bei einem so komplizirten
Apparate Beachtung finden müssen. Nur in einer Beziehung will ich es zum
Schluß versuchen, indem ich der materiellen Lage der Träger Goethischcr Ideen,
der der Schauspieler selbst, wenn auch in nicht erschöpfender Weise, näher trete.
Für Goethe war es nicht schwer gewesen, die Kräfte aus allen Teilen
Deutschlands für das Theater zu gewinnen. Schauspieler und Sänger mit sehr
bescheidenen Existenzen hatte Deutschland genug; Weimar zog bereits wegen
seines Namens an, noch mehr versprechend war für den Künstler die Direktion
eines Goethe, der ja am besten wußte, daß er den zu gewinnenden Kräften
goldene Berge nicht versprechen konnte. Die Schauspieler kamen meist in mittel¬
loser, ja dürftiger Lage in Weimar an. Vorschüsse zu entnehmen war an der
Tagesordnung. Die wöchentliche Ablohnnng der „Meurs" konnte die beständige
Finanzkalamität nicht beseitigen, die Direktion sich auf ausgedehntere Zahlungs¬
fristen aber auch nicht einlassen, da die Existenz des Theaters überhaupt fraglich
war. Ein Schauspieler war kein gut situirter Mann, eine wöchentliche Gage
von 5 bis 8 Thalern mußte für alles ausreichen. Garderobegelder kannte man
noch nicht, und wie schon bemerkt, gab es keine Ferien, in denen man zum Gast¬
spiel des Verdienstes wegen hätte auswandern können. Wer die Reise nach
Lauchstädt antrat, erhielt als „Akteur" 19^ Groschen Diäten für die Dauer der
Fahrt, um von den untergeordneten Offizicmten garnicht zu spreche». Zuschüsse
für den Aufenthalt an fremden Orten gab es kaum; einige Bevorzugte werden
auf eine wöchentliche Entschädigung im Betrage von einem Thaler kein besonderes
Gewicht gelegt haben. Freilich hatte Goethe im Anfang eine Reihe problema¬
tischer Existenzen geschaffen; aber man sei auch gerecht, er arbeitete unablässig
an der Besserung der sozialen Stellung aller, welche seiner Kunst dienten. Er
ist es ja, welcher die Schauspielkunst zu Ehren gebracht und dem, der sich ihr
widmet, die Mißachtung von den Schultern genommen hat.
Allerdings nützte er alles aus, was für die Entfaltung des Theaters sich
in irgend einer Beziehung nützlich erwies. Seine Komparserie bestand lange
Zeit im wesentlichen deshalb aus Seminaristen, weil er für die Ausbildung der
Chöre wohl Mittel genug, aber nicht so billige Wege zu der Erreichung seines
Zieles fand, die ihm die Schule gewährte. Der Konflikt, der zwischen Herder
und Goethe dadurch entstand, daß ein Seminarist in Gestalt eines Teufelchcns
in einer Versenkung hängen blieb und sich zum Gaudium des Publikums unter
furchtbaren Kraftanstrengungen seines Schwänzchens entledigte, glich sich als¬
bald aus, nachdem Goethe das Unhaltbare seiner Maßnahmen eingesehen hatte.
Nach dieser Seite hin wurde so vieles in der Goethischen Verwaltung gebessert,
und eines der bedeutendsten Momente in der äußern Geschichte des Theaters
ist es, daß er für seine Künstler unablässig sorgte. Zwar blieb noch lange die
wöchentliche Ablohnung, die sich als großer Fehler bezeichnen läßt, bestehe».
Dagegen gewährte er bald sich gleichbleibende, von den Erträgen unabhängige
vierteljährliche Zuschüsse; er führte die Garderobcgcldcr ein und sonderte einen
Fonds zu den geheimen Unterstützungen ab, die dem Strebenden wie dem In¬
stitute, das in vieler Beziehung sich von erhobenen Ansprüchen befreit sah, in
hohem Maße zu Gute kamen.
Hier will ich stehen bleiben. Es kann sich nicht dumm handeln, alle Grund¬
züge der Goethischen Verwaltung zu vergegenwärtigen. Denn die Eigenartigkeit
des Materials, welches für diese Darstellung ausschließlich benutzt ist, verlangt
ein noch tieferes Eingehen auf das reiche Detail. Mir kam es hauptsächlich
darauf an, einmal einen Einblick in die praktische Thätigkeit Goethes zu gewähren,
die, was die theatralische betrifft, noch unerforscht vor uns liegt. Will man
für diese allseitiges Verständnis gewinnen, so wird man wohl nicht umhin
können, alle die Fragen zu rekonstruiren, vor die Goethe bei der Gründung und
weitern Entwicklung seines Institutes sich gestellt sah. Die Antwort ans die¬
selben liegt aber nicht in rein ältlichen, sondern auch in rein rechnerischem Ma¬
terial und in den leider nicht mehr vollständigen Theaterzetteln, woraus ich aus¬
schließlich die Unterlage zu den vorstehenden Betrachtungen gewonnen habe.
Und da muß ich denn gestehen, daß an der Hand solcher, wenn auch lückenhaften,
Quellen die Bewunderung der praktischen Thätigkeit Goethes ihr Recht fordert,
daß aber auch ein Wort des Dankes unserm weimarischen Fürstenhause ge¬
bührt, welches in nachhaltiger Weise gefördert hat, was Goethe für die fernliegende
. Zukunft und somit auch für uns geschaffen hat.
em gegenwärtig lagerten preußischen Landtage wird, wie es heißt,
von der königlichen Staatsregierung ein Gesetzentwurf vorgelegt
werden über Erhaltung und Wiederherstellung der älteren Ban-
und Kunstdenkmäler. Es wird damit eine Frage in den Vorder¬
grund des Tagesinteresses treten, die schon seit geraumer Zeit
Kunstkenner wie Vaterlandsfreunde überhaupt aufs eifrigste beschäftigt hat, die
aber bisher noch immer nicht zu cndgiltigcr Lösung zu bringen war. Auch der zu
erwartende Gesetzentwurf wird nur als ein Schritt auf der eingeschlagenen Bahn
bezeichnet werden können, aber mit Freude, mit lebhafter, dankbarer Freude ist
er darum doch zu begrüßen. Es ist wieder eine jener rühmenswerten Thaten,
mit welchen die preußische Regierung in den letzten Jahren Schlag auf Schlag
die Meinung zu widerlegen gewußt hat, Preußen sei nur ein Militärstaat und
habe für Kulturzwecke, für künstlerische und wissenschaftliche Zwecke weder Inter¬
esse noch — Geld. Aus dem Wirrwarr älterer Verordnungen, die zum Teil
veraltet siud, zum Teil einander widersprechen, sollen wir nun heraustreten
auf den klaren Boden des Gesetzes, und der Staat soll endlich ein Macht¬
mittel gewinnen, um widerwillige Provinzen, Gemeinden und Private zur Aus¬
übung einer ihnen weniger nach streng juristischen, als vielmehr nach ideellen
und sittliche» Begriffen obliegenden Pflicht anzuhalten und so sür unser Bater¬
land die schönen, altehrwürdigen Reste seiner großen Vergangenheit zu erhalte»
und zu sichern.
Zwar hat es seit dem Ende der napoleonischen Kriege nicht an Versuchen
gefehlt, dieses Ziel zu erreichen. Aber Mangel an kunstgeschichtlichen Kenntnissen,
falscher Pnritanismns, ungenügende Geldmittel und, wie schon erwähnt, ein un¬
sicherer Rechtsboden ließen es nie zu einer durchgreifenden, einheitlichen Thätigkeit
kommen. Unvergessen sind die hohen Verdienste des verstorbenen Konservators der
preußischen Kunstdenkmäler, des Herrn von Quast, rühmend gedenken wir seines
Nachfolgers, des geheimen Baurath von Dehn-Rothfclser, wir erinnern uns der
eifrigen Bemühungen König Friedrich Wilhelms IV. und des kunstenthusinstischen.
Ludwig I. von Baiern. Aber was vermögen einzelne Männer, und wenn sie
noch so hoch gestellt siud? Der Verlauf hat gezeigt, daß die hingcbendste Liebe,
die größte Opferfreudigst einzelner ohne eine umfassende Organisation nur
wenig leisten kann, daß sie an einzelnen Punkten mit dem schönsten und herr¬
lichsten Erfolg einzusetzen, aber ganz Deutschland unmöglich vor Schaden und
Verlust zu bewahren vermag.
Darum ist zur richtigen Ausnutzung der nach Erlaß des zu erwartende»
Gesetzes geschaffenen günstigen Lage die Organisation über das ganze Land das
nächste, was anzustreben ist. Hierzu müssen wir aber uns über die Fehler, die
bisher gemacht worden sind, und über die Mittel, wie sie vermiede» werden
können, klar werden.
Kunstwerke sind zu allen Zeiten zerstört und vernichtet worden, und be¬
sonders die Architektur weiß hiervon ein Lied zu singen. Als noch wahres
Kunstleben in Deutschland pulsirte, als die Künstler noch innerhalb des gerade
herrschenden Stiles in freier Geistesregung erfanden und schufen, war das
Kuustbewußtseiu, die Kunstanschauung eine so kräftige, daß in jeder Stilperiode
die Zeugnisse der vorangegangenen Epoche als veraltet, als nicht mehr zeitgemäß
betrachtet und behandelt wurden. Wir müssen es der Naivität unsrer Vorfahren
zugute halten, wenn sie z, B. eine romanische Apsis abbrachen, um einen neu¬
modischen, spitzbogigen Chor an deren Stelle zu setzen; verdanken wir doch
gerade dieser Naivität die köstliche, reine Entfaltung der Kunst, das eifrige,
frische Treiben ihrer Jünger in der Vorzeit, Anders steht es heute. Die
ganze Entwicklung, die Deutschlands Kunst während eines Jahrtausends durch¬
gemacht hat, hat sich innerhalb der letzten sechzig Jahre wiederholt. Noch
unter der vollen Herrschaft der Schinkelschen hellenisirenden Richtung begann
die romantische Strömung, die auf das Mittelalter zurückging. Dem roma¬
nischen Stil folgte der gothische, und während wir noch vor wenigen Jahren
überall das Lob der Renmssanee verkünden hörten und es fast schien, als ob
diese dauernd ins Leben zurückgerufen werden sollte, treiben wir jetzt, dank
den Bestrebungen der Münchner und Berliner, im Fahrwasser des ausgepräg¬
testen Barock und Rokoko. Dieser böse, schnelle Wechsel, der durch die Rasch-
lcbigkeit unsrer Zeit, die gesteigerte Kultur und besonders durch die Pflege der
Kunstgeschichte bewirkt worden ist, hat aber wenigstens das eine gute gehabt,
uns die rechte Pietät gegen alles vergangene zu lehren, uns zu lehren, daß
wir nicht aus Liebhaberei für den einen oder andern Stil die übrigen bei Seite
zu werfen und für nichts zu achten, sondern alle gleichmäßig zu erforschen und
unsern Nachkommen als ein teures Vermächtnis der Vorzeit nach Möglichkeit
zu erhalten haben. Indem wir während dieses Jahrhunderts in kurzem die
ganze bisherige kunstgeschichtliche Entwicklung praktisch noch einmal durchgemacht
haben, haben wir jede einzelne Periode umso besser verstehen und schätzen lernen.
Wir sind eigentlich erst jetzt in der Lage, mit einiger Berechtigung und mit
einiger Aussicht auf Erfolg an unsre Frage heranzutreten.
In dem ersten, größeren Teil unsers Jahrhunderts, in welchem bereits
mit großem Eifer und reger Begeisterung restaurirt wurde, ist vielfach, fast
gerade so wie früher, alles, was der Anschauung der leitenden Kreise nicht
gefiel, beiseite geschoben oder gar vernichtet worden. Ja es ist neuerdings die
Behauptung aufgestellt worden, daß die früheren Jahrhunderte sich bei weitem
nicht so zerstörungswütig und so erfolgreich im Vernichten erwiesen hätten als
das hochgebildete neunzehnte. Es hat das viel für sich, eine Menge von Be¬
legen spricht dafür. Mit puritanistischem Eifer hat man häufig ans Kirchen alles,
was nicht in ihrem Stil erbaut war, entfernt, in einen Winkel geworfen oder
gar zerhackt, verbrannt, verkauft. Manches schöne Glasfenster, manches pracht¬
volle Schnitzwerk, mancher herrliche Grabstein ist ans diese Weise verloren ge¬
gangen. Wie kahl und wie nüchtern sieht der Bamberger Dom, einer der
glänzendsten Bauten, der mit großem Kostenaufwand wiederhergestellt ist, jetzt
im Innern aus! So manche nicht restaurirte Kirche, in der die alten Denk¬
mäler, sowie sie historisch geworden und aufgestellt sind, noch unverändert am
alten Platze stehen, ist viel behaglicher, gemütlicher und gefälliger. Selbst der Würz¬
burger Dom , der in seiner jetzigen, vorzugsweise dem achtzehnten Jahrhundert
entstammenden Gestalt unendlich weit hinter dem Bamberger an Bedeutung
zurücksteht, heimelt mehr an als jener.
Anders als durch den Umstand, daß man früher viel zu rücksichtslos und
radikal bei Wiederherstellungsarbeiten Verfahren ist, läßt sich die auffallende That-
sache garnicht erklären, daß erst seit den allerletzten Jahren so häufig mittel¬
alterliche Wandmalereien gefunden werden und gefunden worden sind. Indem
man die häßliche weiße Tünche beseitigte und abklopfte, unterließ mau es wohl,
genauere Untersuchungen anzustellen, und mit der weißen Tünche mag auch
der darunter befindliche alte Kalkaufwurf herabgeschlagen worden sein. Fast
jede Woche melden uns die Zeitungen von einem neuen derartigen Funde. I»
Augsburg, Regensburg, Mainz, selbst an kleinen, sonst ganz unbekannten Orten
tauchen mittelalterliche Wandgemälde auf — ich vermeide absichtlich den Aus¬
druck Fresken, da in Deutschland die Temperamanicr vorgeherrscht zu haben
scheint. Einem Vortrage, den der Landeskonservator Professor Dr. Paulus
etwa vor Jahresfrist im Verein der Altertumsfreunde zu Stuttgart gehalten
hat, entnehme ich, daß sich für Württemberg in jüngster Zeit die Zahl der be-
kannten alten Wandgemälde verdoppelt hat und jetzt schon über sechzig beträgt.
Allein in den letzten drei Jahren sind folgende Wandgemälde gefunden worden:
aus dem dreizehnten Jahrhundert im Turmgewölbe der Kirche zu Eheband bei
Gaildorf, aus dem vierzehnten im Turm der Kirche zu Gemmrigheim, in der
östlichen Kapelle der Kreuzkirche zu Gmünd, in der Stadtkirche zu Mengen, im
Sommerrefektorium des Klosters Bebenhausen bei Tübingen, der ausgedehnte
Cyklus von Wand- und Deckenmalereien im Chor der Kirche zu Schützingen
bei Maulbronn u. v. a. Und mit diesen Ergebnissen ist nicht etwa die Hoff¬
nung auf weitere Funde erschöpft; die Forschungen werden aufs eifrigste fort¬
gesetzt, und sicher versprechen Erfolg die Kirchen zu Bronnweilcr, Oferdingen
und Mühlhausen a. N., ferner die zu Trnchtclfingcn, Oberstenfeld, Pflaumloch,
Thnlheim u. a. Dies gilt von einem einzigen deutschen Landesteil! Wie
viel läßt sich da nicht bei einer planmäßigen Durchforschung von Gesamtdeutsch¬
land erwarten, zumal da Würtemberg mit diesen Untersuchungen bis jetzt ziemlich
vereinzelt dasteht!
Auch die Bekanntschaft mit den ältesten aller deutschen Wandgemälde ist
ganz jung. Vor drei Jahren wurden von dem verdienstvollen Pfarrer Feederlc
in der Kirche zu Oberzell auf der Insel Reicheren Spuren von Gemälden ent¬
deckt, und bei näherer Untersuchung ergab sich, daß die ganze Kirche mit szenischen
und ornamentalen Darstellungen bemalt sei. Bis jetzt sind dieselben im Mittel¬
schiff freigelegt; sie sind im wesentlichen unversehrt, entstammen dem zehnten
Jahrhundert und sind von geradezu überraschender Schönheit. Eine Ausdehnung
der Arbeiten auf die Nebenschiffe hinderte bis jetzt der Mangel an Geld.
Soviel steht aber bereits fest, daß wir es mit einem der allerwichtigsten Funde
zu thun haben. Er ist nicht bloß ein großartiges Zeugnis für deutsche Kunst-
Übung in einer Zeit, aus der wir bisher derartiges garnicht zu hoffen wagten,
auch geschichtlich ist er von großer Bedeutung, indem er ein weiterer, durch¬
schlagender Beweis für die von unserm bedeutendsten Kunsthistoriker Anton
Springer schon lange und mit immer siegreicherem Erfolg vertretene Ansicht
ist, daß die deutsche Kunst nichts oder sogut wie nichts mit der byzantinischen
zu thun habe, sondern sich unter Anlehnung an gewisse römische Elemente
völlig selbständig entwickelt habe. Da binnen kurzem eine größere Veröffent¬
lichung der badischen Regierung über diese Gemälde zu erwarten steht, so wird
sich Gelegenheit bieten, in diesen Blättern ausführlicher auf sie zurückzukommen.
Für heute galt es nur, zu zeigen, wie durch sorgsame Beachtung und sachver¬
ständige Behandlung uns ein Schatz von der größten Wichtigkeit gehoben worden
ist. Mögen auch unter den andern erwähnten Funden manche sein, die unser
Schönheitsgefühl nicht befriedigen, so gewähren uns doch viele einen überraschenden
Einblick in die reizende, anmutige Naivität und den nicht gering anzu¬
schlagenden Kunstsinn unsrer Altvordern. Auch wirft gerade die große Zahl
der schnell hintereinander gemachten Entdeckungen ein neues Licht auf die Kunst¬
entwicklung in Deutschland während des Mittelalters. Während wir bisher
für diese Zeit nur die Architektur und Skulptur besonders beachten, die Malerei
aber dem Umfange ihrer Ausübung sowohl wie ihrer Bedeutung nach niedriger
schätzen zu müssen glaubten, bemerken wir jetzt, daß auch in der Wandmalerei
unsre Vorfahren sich eifrig bethätigt und Werke geschaffen haben, die der sorg¬
lichen Bewahrung wohl wert erscheinen.
Wir sehen also, daß die radikalen, puritanistischen Restaurationen in der ersten
Hälfte unsers Jahrhunderts uns neben großem Nutzen auch viel Schaden ge¬
bracht haben. Sie haben uns manches Kunstwerks unwiderbringlich beraubt.
Während man im achtzehnten Jahrhundert die alten Gemälde (auf die ich absichtlich
etwas näher eingegangen bin, da an ihnen sich die Sache am deutlichsten er¬
läutern läßt) nur mit Tünche zu überstreichen beliebte, hat man sie in unserm
Jahrhundert vielfach heruntergeschlagen. Während man im vorigen schöne
Lettner, wie den berühmten romanischen am Ostchor des Naumburger Domes,
mit einer Hvlzempore überbaute, hat man in unserm aus Stilfanatismus ein
stilistisch etwas abweichendes, technisch und historisch aber hochbedeutendes Werk,
den spätgothischen Lettner im Münsterer Dom, gänzlich zerstört. Während man
im vorigen Jahrhundert schöne, buntfarbige Renaissancekanzeln, Altäre u. dergl.
nach dem eignen Geschmack überpinselte, hat man sie im neunzehnten ganz aus
der Kirche entfernt und womöglich als altes Holz verkauft. Dagegen verdanken
wir das schöne Ergebnis der letzten Jahre, das jeden Patrioten erfreuen muß,
allein der erhöhten Sorgfalt, dem allgemeiner sich regenden Interesse, den tiefer
eindringenden historischen Forschungen, und dies glückliche Ergebnis mahnt uns,
den gewonnenen Standpunkt ja nicht aufzugeben, sondern ihn überall mit vollstem
Nachdruck zur Geltung zu bringen.
Leider ist für diese Frage das Reich nicht zuständig; es ist daher Sache
der Einzelstaaten, bezüglich der Provinzen, sie in die Hand zu nehmen. Unter
den zu lösenden Aufgaben ist eine der dringendsten die Feststellung des gegen¬
wärtigen Bestandes, die Jnventarisation. Wie leicht kann ein Krieg oder ein
elementares Ereignis unsern gegenwärtig noch so stolzen und schönen Besitz zer¬
stören oder vermindern! Da gilt es Vorsorge zu treffen, daß unsre Nachkommen
später auf alle Fälle wissen, was wir gehabt haben und wie es ausgesehen hat.
Vor allem müssen wir das selbst genau erfahren. Diese Jnventarisation ist jetzt
fast überall in mehr oder weniger gutem Gange. Den preußischen Provinzen*)
ist durch das Dotationsgesetz von 1874 zwar nicht ein Zwang, aber eine Art
sittlicher Verpflichtung auferlegt worden, für die in ihrem Gebiete gelegenen
Kunstdenkmäler zu sorgen. Die meisten haben das auch in ihrem wohlver¬
standenen Interesse gethan, und Posen und Schlesien, die bisher sehr zurück¬
haltend waren, scheinen jetzt auch willfähriger werden zu wollen. Bereits fertig
find die Arbeiten über Hannover und Hessen-Nassau. Mitten in tüchtiger Aus¬
führung begriffen sind die Provinzen Sachsen und Westfalen. Bei den übrigen
sind mit Ausnahme von Posen und Schlesien die Vorarbeiten im Gange. Von
Staatswegen waren für die Provinz Preußen die Arbeiten bereits früher be¬
gonnen, und Privatunternehmungen liegen mehrere vor. Von den übrigen
Staaten haben sich kürzlich die thüringischen Staaten, mit alleiniger Ausnahme
von Schwarzburg-Sondershausen, zu einem gemeinsamen Vorgehen zusammen-
gethan; das Königreich Sachsen hat bereits ein zweites Heft herausgegeben, in
Baden, Württemberg, Baiern ist die Sache beschlossen, Elsaß-Lothringen ist bei
voller Arbeit. Über die andern deutschen Staaten bin ich im Augenblick nicht
genau unterrichtet. Die Veröffentlichungen, die bisher erschienen sind, betreffen
zwar nur zum Teil Gegenden, die kunstgeschichtlich wichtig sind, aber trotzdem
läßt sich bereits jetzt erkennen, ein wie ungeheures Material bisher uoch großen¬
teils unbekannt war, wie viel noch gefunden werden, und wie sich dann erst
ein richtiger Überblick gewinnen lassen wird.
Dieses Einzelvorgehen der deutschen Landschaften hat vielleicht das Gute,
daß die Arbeiten schneller zum Abschluß gelangen werden. Aber einen Nach¬
teil hat es bisher doch im Gefolge gehobt, nämlich den großer Ungleichheit.
Die erschienenen Hefte weichen in der äußern Erscheinung wie in der innern
Gestaltung so sehr von einander ab, daß eine gemeinsame Besprechung der
Herausgeber zur Hebung dieses Übelstandes dringend wünschenswert erscheint,
zumal da eine Einigung garnicht so schwer fallen dürfte. Die vornehmlichsten
Punkte möchte ich hier kurz berühren. Als Format wird sich am besten Quart
empfehlen, es hält die richtige Mitte zwischen dem unförmlichen, kaum zu hand-
habenden Folianten und dem Oktavband, vor dem es den Vorzug hat, daß
größere Tafeln leicht beigefügt werden können. Wichtiger als diese äußerliche
Frage ist die nach der Zeit, die das Werk umspannen soll. Nach der oben
gegebenen Auseinandersetzung über die kunstgeschichtliche Entwicklung in Deutsch¬
land kann als Zeitpunkt, bis zu welchem Denkmäler aufgenommen werden, rund
gerechnet nur das Jahr 1800 gewählt werden. Denn am Ende des vorigen Jahr¬
hunderts versiechte allmählich die freie, selbstschöpferische, künstlerische Thätigkeit,
es erstarb die bisherige Entwicklung, und es erstand eine Zeit, deren Knnst-
streben sich vorzugsweise auf Reflexion und geschichtlicher Forschung aufbaute.
In dieser Zeit stehen wir noch mitten inne, sie ist im vollen Sinn des Wortes
modern und wird daher nicht in dieses Werk gehören. Die von der Kommission
der Provinz Sachsen getroffene Grenzbestimmung, das Jahr 1700, erklärt sich
wohl- nur aus der ästhetischen Abneigung, die man beim Beginn der Arbeiten
vielfach gegen den Barock- und Rokokostil hegte, schneidet aber mitten in die
künstlerische Entwicklung ein und hat bisher auch schon zweimal überschritten
werden müssen. Auf der andern Seite werden die prähistorischen Funde, die
Landwehren u. s. w., die von. der Provinz Hessen mit aufgenommen sind, im
allgemeinen auszuschließen sein. Die Anschauungen über die sogenannten vor¬
geschichtlichen Altertümer schwanken noch sehr hin und her. Das Material ist
ein sehr umfangreiches und eintöniges; der gegenwärtige Bestand bietet durchaus
keinen sichern Anhaltepunkt, er wird und muß sich noch bedeutend vervollständigen;
die Arbeiten aber, die dazu nötig sind, verursachen übermäßigen Aufwand, denn
die meisten hierher gehörigen Gegenstände liegen im Schoße der Erde verborgen,
ihre Entdeckung kann immer nur eine zufällige fein, eine planmäßige Erforschung
lrißt sich garnicht durchführen. Allerdings sind unter den Funden mitunter
Arbeiten, die kunstgeschichtlich wichtig und von Bedeutung sind. Aber man wird
sie in den Jnventarisationen deshalb missen können, weil sie nicht an Ort und
Stelle bleiben, sondern den Museen einverleibt werden. Alles Prähistorische
wird also, dem Vorbilde der Provinz Sachsen entsprechend, besondern Arbeiten
vorzubehalten sein. Im übrigen aber hat sich die Aufnahme über alles zu er¬
strecken, was nur einigermaßen Streben nach künstlerischer Vollendung zeigt oder
was historisch von greifbarer Bedeutung ist, also über die sämtlichen Erzeug¬
nisse der Kunst und des Kunstgewerbes, ferner über die Stadtbefestigungen,
Warttürme u. dergl. Das Kunstgewerbe läßt sich so wenig ausscheiden, daß es
vielmehr als eine Hauptaufgabe der Jnventarisation bezeichnet werden muß, die
alten Teppiche, Gewänder, Gerätschaften u. f. w. ans Licht zu bringen; gerade
von diesen Sachen wird sich am ehesten unbekanntes finden. Auszuschließen
wiederum dürften diejenigen Gegenstände sein, welche in Museen verwahrt werden;
dafür ist es ein dringendes Bedürfnis, daß alle deutschen Sammlungen dem
Beispiel, welches u. a. die königlichen Museen zu Berlin gegeben haben, nachfolgen
und baldmöglichst genaue wissenschaftliche Verzeichnisse herstellen.
Ob nach Kreisen oder nach Landschaften vorgegangen werden soll, läßt
sich nur im Einzelfall entscheiden; genaue und zuverlässige Register werden der¬
artige Ungleichheiten aufheben. Für die Herstellung des Textes sind Historiker
von Fach zuzuziehen; erst dadurch wird es ermöglicht, die Inschriften, welche
mitgeteilt werden, richtig aufzulösen, die mittelalterliche Datirungsweise nach
Tagen der Heiligen in die moderne »ach Monatstagen umzuwandeln, eine ge¬
naue chronologische Bestimmung aller Gegenstände herbeizuführen, überhaupt
dem Ganzen den richtigen verfasfungs- und kulturgeschichtlichen Untergrund zu
geben. Bisher sind in dieser Beziehung noch viele Fehler gemacht worden.
Die Anfertigung der Abbildungen wird am besten gebildeten und bewährten
Architekten zu übertragen sein; ans ihre Zahl und die Art ihrer Wiedergabe
werden selbstverständlich die verfügbaren Gelder den größten Einfluß ausüben.
Durch Schenkungen und Stiftungen landcseingcsessener Privaten werden sich
dieselben vielleicht vermehren lassen; auch wird sich durch vorherige Ausschrei¬
bung und dadurch gewonnene sichrere finanzielle Grundlage mehr leisten
lassen. Bei geringen Mitteln empfiehlt es sich, die Zeichnungen in Zinkographie
in den Text drucken zu lassen; keinesfalls sind sie ganz zu entbehren. Gerade
durch sie soll mit die Grundlage geschaffen werden zu einer Geschichte der Ent¬
wicklung des Ornaments, die uns so sehr notthut, und sür die Karl Lamprecht
kürzlich eine bahnbrechende und von dem glücklichsten Erfolg begleitete Studie
veröffentlicht hat.
Sind endlich durch diese Jnventarisationsarbeiten, deren Ausführung Jahre
und Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird, alle Bau- und Kunstdenkmäler, die
uns geblieben, bekannt geworden, so wird die nächste Aufgabe die Sichtung des
Materials sein. Nach dem Vorbilde Frankreichs wird durch gemeinsamen Be¬
schluß von Abgeordneten aller deutschen Landesteile, wenn möglich mit Hilfe
der Gesetzgebung, festzustellen sein, welche Denkmäler unbedingt vor Untergang
zu sichern sind. Unter diese nationalen Heiligtümer, wie ich sie nennen möchte,
würden natürlich bloß Werke von allerersten historischen oder künstlerischen
Range aufzunehmen sein. Über die Behandlung und Erhaltung der andern
wird, unter Regelung durch Landesgesetze, vor allem die Bedürfnisfrage und
das vorhandene Geld entscheiden. Alles wird sich ja auf die Dauer nicht er¬
halten lassen, manches wird den Anforderungen des modernen Verkehrs geopfert
werden müssen, andres wird schon zu morsch und baufällig sein, als daß es
noch einmal geflickt werden könnte. Das Bessere ist auch hier der Feind des
Guten, und das Gesetz, das rundweg die sorgfältigste Erhaltung sämtlicher alten
Mauern anbefehlen wollte, würde nur allzubald einen Rückschlag in der für
die vorliegende Frage gegenwärtig sehr günstigen öffentlichen Meinung (soweit
man hier überhaupt von einer öffentlichen Meinung sprechen kann) hervorrufen.
So war die Beseitigung der Beischläge in der Langgasse zu Danzig, so be¬
trübend sie war, doch eine unabweisbare, im Interesse der menschlichen Sicher-
heit begründete Notwendigkeit, die Niederreißung der Nürnberger Stadtmauern
dagegen fast durchweg ein Akt ärgster Barbarei,
Die durchgreifende Restauration einzelner der klassifizirten oder uichtklassi-
fizirten Denkmäler wird sich wiederum nach den vorhandenen Mitteln richten,
nach dem speziellen Interesse, das ein Staat, eine Gemeinde oder eine Privat¬
person gerade daran nimmt. Im Falle der Gefahr wird der Staat einzuschreiten,
widerwillig«: Besitzer zu zwingen und im Unvermögensfalle ihnen aus den jähr¬
lich zur Verfügung gestellten Mitteln beizuspringen haben. Vor jeder Restau¬
ration aber sind die Pläne von einer höheren, sachverständigen Behörde zu
prüfen und zu genehmigen, damit in Zukunft so arge Verstöße und so stilwidrige
Arbeiten, wie sie hie und da vorgekommen sind, nach Möglichkeit vermieden
werden. Gut wäre es, wenn von jetzt an an möglichst vielen Orten weniger
ans völligen Ausbau einzelner Denkmäler, als auf Sauberkeit und Ordnung,
ans Fernhaltung allen Gerllmpels, auf Beseitigung der Überpinselung u. dergl.
Gewicht gelegt würde. Dadurch wird der allgemeine Geschmack und die Freude
an guter Arbeit viel eher gehoben werden, und zu völligen Restaurationen ist
es später immer noch Zeit. Mehr als bisher verdienen auch die weltlichen
Bauten Berücksichtigung. Die zahlreichen Renaissaneeschlösser und -Häuser sind
zum Teil in unglaublich schlechtem Zustande, und gerade aus ihren Dekvrations-
mvtiven werden unsre Handwerker viel lernen können. Die schönen Sandstein¬
skulpturen am Torgauer Schloß hat man erst vor einigen Jahren noch mit
dicker Ölfarbe überpinselt!
Von den kunstgewerblichen Gegenständen gehören diejenigen, welche von
einzigem Werte sind, in die Museen zu Berlin, München, Dresden; dafür können
me bisherigen Besitzer außer dem etwaigen Kaufpreis galvanoplastische Nach¬
bildungen erhalten — ein Verfahren, das z. B. schon bei dem Verkauf des
Lüneburger Ratssilberzeugs angewandt worden ist. Beiläufig bemerkt, würde
eine Änderung unsers Museumswesens nichts schaden, insofern auch hierbei eine
größere Planmäßigkeit und gegenseitige Vereinbarung innerhalb Deutschlands sehr
Vonnöten wäre. Nach französischem Vorbilde sollten alle Erzeugnisse, die einzig
in ihrer Art oder von ganz besondrer Wichtigkeit sind, an die Zentralstelle ab¬
geliefert werden, genaue Nachahmungen davon, sowie alle doppelt vorhandenen
oder weniger wertvollen Sachen hätten den — zum Teil erst noch zu grün¬
denden — Provinzialmuseen zu verbleiben.
Die dringendste Frage wird aber nach wie vor die Aufsicht über die im
Lande verstreuten Denkmäler sein, und sie muß zugleich mit der Jnventarisation
je eher je lieber in Angriff genommen werden. Was nützt es, ein Gotteshaus,
ein Schloß in einem abgelegnen Orte mit großen Kosten neu herzustellen und
zu schmücken, wenn demselben fortwährend doch wieder Unverstand und Leicht¬
sinn Schaden bringen können? Folgendes Beispiel aus meiner persönlichen
Erfahrung möge das erläutern. Am Ostabhange des Harzes liegt auf einem
mäßigen Hügel, unweit der durch ihre Zuckerfabriken berühmten Stadt Erms-
leben, die Konradsburg, ehemals ein Kloster, jetzt das Vorwerk einer Domäne.
Vou der alten Kirche ist vorzugsweise die Krypta bemerkenswert, die aus roma¬
nischer Zeit stammt, in allen kunstgeschichtlichen Büchern rühmend hervorgehoben
wird und vor geraumer Zeit stilgerecht erneuert worden ist. Bei einem Besuche,
den ich ihr vor wenigen Jahren abstattete, fand ich sie in völlig verwahrlostem
Zustande. Die obere Kirche, ein unbedeutender gothischer Ban, war in einen
Getreidespeicher umgewandelt worden, der Eingang zur Krypta war zerfalle»,
ein Abstieg nur mit Gefahr möglich, die Fenster zerbrochen, Feuchtigkeit war
in Menge eingedrungen, und die kostbaren Sandsteinskulpturen hatten bereits
arg von der Nässe und dem Schwamm gelitten. Das Ganze bot ein Bild
traurigster Verwüstung. Auf meine Anzeige an zuständiger Stelle erfolgte
natürlich sofortige Abhilfe; aber wäre nicht ein interessirter Besucher zufällig
noch zur rechten Zeit dahin gekommen, so wären wir heute vielleicht um ein
schönes altes Denkmal ärmer. Und ein derartiger Vorgang war in der dicht¬
bevölkerten, hochkultivirten Provinz Sachsen möglich!
Es beweist das aufs deutlichste, wie man vor allem auf die Organisation
der Beaufsichtigung sein Augenmerk richten muß. Herr von Quast, der Sohn
des obenerwähnten Konservators, hat vor einigen Jahren im preußischen Abge-
ordnetenhause, unter allgemeinem Beifall, einen sehr geeigneten Vorschlag gemacht,
und es wäre hocherfreulich, wenn derselbe in Preußen und mit den entsprechenden
Änderungen auch anderswo zur Durchführung gelaugte. Der Vorschlag ging
dahin: Unter dem Generalkonservator, der zugleich die Stelle eines vortragenden
Rates im Ministerium bekleidet, ist für jede Provinz ein besondrer Bau- und
Regierungsrat einzusetzen, der in der Provinzialverwaltung etwa dieselbe Stelle
einnimmt, wie sein Vorgesetzter im Ministerium, und der sich ausschließlich der
Sache zu widmen hat. Da aber auch er nicht zu jeder Zeit überall zugegen
sein kann, so hat er sich mit den historischen Vereinen der Provinz und mit
sonstigen kenntnisreichen Persönlichkeiten in derselben in Verbindung zu setzen,
die als Mitarbeiter ihm zur Seite stehen, deren Aufgabe jedoch als ein Ehrenamt,
höchstens ein besoldetes Nebenamt, jedenfalls ohne autoritative Gewalt, zu
denken ist. Eine derartige Verwaltung ist wirksam und — kostet nicht viel.
Deutschland wird kaum jemals in der Lage sein, soviel aufzuwenden wie Frank¬
reich, dessen Oonunission as« monuirnWt« nistoriguös jährlich drei Millionen
Franks ausgiebt und dessen glänzende Leistungen auf der letzten internationalen
Kunstausstellung zu München die größte Bewunderung erregten und die wohl¬
verdiente goldne Medaille erhielten. Deutschlands natürlicher Wohlstand ist
an und für sich nicht geringer, aber die vielen Kriege, die innern Streitigkeiten,
die verkehrte, durch den Zwiespalt bewirkte extreme Schutzzollpolitik und später
der extreme Freihandel haben den Wohlstand bei uns bisher nicht in gleichem
Maße sich entwickeln lassen wie bei unsern westlichen Nachbarn. Und für
die nächste Zukunft sind wir durch Frankreich und Rußland noch in die Zwangs¬
lage versetzt, ein großes Heer zu halten, das trotz seiner gewichtigen, leider
vielfach unterschätzten wirtschaftlichen Vorteile und Segnungen doch zuviel
Mittel beansprucht, als daß noch ebensoviel für Kunstzwecke übrig bleiben könnte
wie in Frankreich.
Allerdings dürfte zu befürchten sein, daß wirklich sachverständige Männer,
die zur Übernahme des obengenannten Ehrenamtes eines Korrespondenten sich
bereit finden würden, vorerst nicht in der genügenden Zahl zu haben sein werden.
Trifft man doch in unsern gebildeten Kreisen oft eine wunderbare Unkenntnis
in kunstgeschichtlichen, besonders baugeschichtlicher Sachen. Selbst unsre Archi¬
tekten, die am ehesten in Frage kommen würden, erfreuen sich vielfach der ge¬
diegensten Unkenntnis in der Geschichte ihres Faches, während z. B. unsre
Gymnasiallehrer viel zu ausschließlich mit der antiken Kunst beschäftigt sind
jnicht einmal mit der! D. Red. j, als daß sie für die eignen heimatlichen Alter¬
tümer Zeit und Interesse übrig hätten. Erst kürzlich wurde in einem der her¬
vorragendsten philologischen Fachblätter in einem sonst sehr verständigen Aufsätze
alles Ernstes und nachdrücklichst erörtert, daß für den Unterricht in der
Schule lediglich die griechische und römische Kunst heranzuziehen sei. Und hier¬
mit komme ich auf einen sehr wesentlichen Punkt. Ich bin ganz im Gegensatz
zu dem Verfasser jenes Artikels der Meinung, daß unsre Jugend vornehmlich
mit der vaterländischen Kunst vertraut zu machen sei, damit so für die Zu¬
kunft ein tüchtiger Stamm von Mitarbeitern an der Erhaltung der Denkmäler,
andrerseits überhaupt ein größeres Interesse, ein besserer Sinn und ein leben¬
digeres Verständnis für unsre Vergangenheit und für unsre Kunst großge¬
zogen werde.
Man wird mir einwerfen, es sei verfehlt, in einer Zeit, wo überall wegen
Überbürdung der Schüler Klagen, und zum großen Teil sehr berechtigte Klagen,
erschallen, gar noch einen neuen Unterrichtsgegenstand einführen zu wollen. Aber
nichts liegt mir ferner als eine Steigerung dieser Überbürdung; ich glaube vielmehr
mit meinem Vorschlage dazu beizutragen, daß unser Gymnasialuuterrichtswesen
von der falschen Bahn, auf der es gegenwärtig unstreitig wandelt, wieder auf
eine richtigere gelenkt werde, vom Buchstaben zurück zum Geist. Unterricht in
der Kunstgeschichte darf auf den Schulen, wie auch in dem erwähnten philo¬
logischen Aufsatze betont ist, nie und nimmer systematisch erteilt werden, keines¬
falls an bestimmten Stunden der Woche. Es müßten vielmehr gemeinschaftliche
Spaziergänge unter Leitung eines fachmännisch gebildeten Lehrers unternommen
werden, auf welchen von diesem in freier Unterhaltung den Schülern vor der
Kirche oder vor dem Profanbau selbst, in einem Museum oder dergleichen die
Bedeutung eines Kunstwerkes in verständlicher Weise dargelegt und sein Zu¬
sammenhang mit der allgemeinen kunstgeschichtlichen oder überhaupt geschichtlichen
Entwicklung gezeigt würde. Auf diesen Ausflügen dürften mich vorgeschichtliche
Funde, Pfahlbauten, sogenannte Teufelsmauern und dergl. zu berücksichtige,!
sein.
Ich habe den Wert solcher gemeinsamen Ausflüge in der Landesschule
Pforte kennen und schätzen gelernt. Jährlich wurde dort unter Führung deS
nunmehr verstorbenen geistlichen Inspektors Dr. Büßler eine der schönen Kirchen
der Umgegend besucht, und ich erinnere mich deutlich, wie anregend diese Besuche
wirkten; wurde doch vornehmlich durch sie mein Interesse an diesen Dingen
geweckt und gestärkt. Auch noch ein späteres Erlebnis möchte ich als Beleg für die
Richtigkeit meiner Ansicht anführen. Als ich in Zürich die Sammlungen der anti¬
quarischen Gesellschaft besuchte, die sich besonders durch ihre reichen und schönen
Pfahlbautenfunde auszeichnen, trat eine Klasse der Mittelschule ein, die unter
Aufsicht ihres Lehrers die Sammlung besichtigte. In trefflicher Weise erläuterte
der Kustos den Buben und Mädchen die Sachen, praktisch führte er ihnen die alte
Steinbohrung vor und zeigte den Gebrauch der urtümlichen Geräte. Es war eine
Freude, die Begeisterung der Kleinen zu beobachten, zu sehen, wie andächtig
und aufmerksam sie den Worten folgten, und wie sie durch Frage und Antwort
ihr Interesse und Verständnis bezeugten. Aus dem Munde des Lehrers wurde
mir bestätigt, daß diese in der Schweiz allgemein üblichen Museumsbesuche von
großem Erfolge begleitet seien. Die Kinder sammeln in ihren freien Stunden
am Ufer des Sees die Reste der alten Kultur, die der See jedes Jahr von
neuem zu Tage fördert, sehr eifrig, und schon viel und wichtiges Material ist
dadurch eingekommen, sodaß auch die Schulen sich kleine Altertumsmuseen haben
anlegen können, während früher, als jene Einrichtung noch nicht bestand, un¬
zählige von den alten Stein-, Bronze- und Thongerütcn weggeworfen worden,
verloren gegangen, vernichtet worden oder in die Hände von Ausländern ge¬
raten sind.
In gleicher Weise wird sich auch bei unsrer Jugend ein lebendigerer Sinn
sür die historische Vergangenheit und deren Denkmale wecken lassen, und der Staat
— oder seine Abzweigungen — dadurch ohne weitere Kosten seine Sammlungen
bedeutend vermehren können. Selbstverständlich müßte an den Universitäten für
eine Vermehrung der Lehrkräfte für mittelalterliche und neuere Kunstgeschichte
Sorge getragen und dem Lehrer, der an der Schule den kunstgeschichtlichen
Unterricht übernimmt, dieser trotz seiner abweichenden Art als Dienststunde an¬
gerechnet werden. Das Interesse, das auf die geschilderte Weise bei den Schülern
erzeugt werden würde, würde bei der Mehrzahl kein äußerliches bleiben, es
würde sogar von hervorragender Bedeutung für die Ausbildung des Charakters
werden. Es würde dadurch eine regere Liebe zur Heimat und ein cmsgcbildeterer
Sinn für ihre Eigentümlichkeiten und Vorzüge großgezogen, es würde den jugend¬
lichen Gemütern Pietät und Patriotismus eingepflanzt, eine größere Seßhaftig¬
keit erzielt und damit vielleicht ein Gegengewicht gegen die durch die Freizügigkeit
hervorgerufenen Nachteile geschaffen werden.
Überhaupt wolle man den praktischen, reellen Gewinn nicht unterschätzen,
den Staat und Volk aus einer erhöhten Fürsorge für die alten Bau- und
Kunstdenkmäler ziehen würden. In einer Zeit, wo vor jeder Unternehmung
zuerst nach den Prozenten, die davon zu erwarten sind, gefragt wird, in einer
Zeit, die fast in all ihrem Thun und Treiben von materiellen Interessen, von
dem Jagen nach finanziellem Gewinn beherrscht erscheint, ist es vielleicht an¬
gemessen, auch hierauf die Aufmerksamkeit zu lenken. Eine große Reihe von
Techniken, deren Kenntnis unserm Volke im Verlauf der Zeit gänzlich verloren
gegangen war, ist ihm allein durch die gelehrte Forschung wieder bekannt ge¬
worden. In dem Kampfe der Renaissance gegen die Gothik hatte man z. B. in
vornehmer Geringschätzung der veralteten und verwilderten Weise auch deren
große Vorzüge, z. B. ihre ausgebildete Kunst des Gewölbebaues, vergessen, und
speziell die nordostdentsche Niederung, die von der Natur nicht durch Gebirge,
nicht durch große Lager von Kalk- und Sandstein ausgezeichnet, sondern allein
auf den Backstein angewiesen ist, hat den größten Gewinn aus den bekannten
Veröffentlichungen von Quast, Adler u. a. gezogen. Durch ihre Bücher, durch
ihre Forschungen und Beschreibungen der alten Werke hat man bei uns erst
wieder bauen gelernt. Ebenso steht es mit verschiedenen Arten der Goldschmiede¬
kunst, mit der Leinenstickerei, der Glasmalerei und Brennerei, der Thonbildnerei,
kurz den mannichfachsten Zweigen des Kunstgewerbes. Es ist erstaunlich, wie
schnell unsre Kunsthandwerker in den letzten Jahren durch das eifrige Studium
der alten Vorbilder und Techniken, auf die sie von den Gelehrten fast mit Ge¬
walt getrieben werden mußten, vorwärts gekommen sind, wie viel sie gelernt
haben. Aber noch gar vieles ist verborgen, noch manche Schätze müssen gehoben,
die vorhandenen noch allgemeiner zugänglich gemacht werden. Wenn erst auch
in kleinen Orten durchgängig die alten Denkmäler von ihrem Schmutz und ihrer
Tünche befreit sein werden, wenn die Schönheit ihrer Profilirungen, die Sorg¬
falt ihrer Ausführung u. a. erst wieder überall an das Tageslicht gebracht
sein wird, so wird das unfehlbar von anspornendem Einfluß auf unsre Bau-
gewerke sein.
Es ist ferner zu berücksichtigen, daß jetzt die Kunstaltertümer infolge der
hohen Preise, welche die Liebhaber dafür zahle», bedeutende Kapitalien und
geradezu einen Teil unsers Nationalvermögens darstellen. Und schließlich, welch
großartige Einnahmequelle sür eine Stadt, für ein ganzes Land schöne Samm¬
lungen zu bedeuten haben, davon wissen München, Dresden und neuerdings
auch Berlin zu erzählen, die durch den starken Zufluß von Fremden nicht bloß
direkte finanzielle Einkünfte, sondern auch den indirekten Vorteil haben, in den
Vordergrund des europäischen Interesses gerückt zu sein.
Aber hoch über diesen materiellen Vorteilen soll uns doch der ideelle Nutzen
stehen und stehen bleiben. Durch die Beschäftigung mit der Geschichte und der
Kunst seiner Vorzeit wird in jedem Volke der Patriotismus gefördert und die
Liebe und Anhänglichkeit zum Vaterlande gestärkt. Den neuesten Aufschwung
und Zusammenschluß des Polentums hat nicht zum mindesten die unermüdliche
Thätigkeit seiner Gelehrten, seiner Historiker bewirkt. Möchte doch auch den
Deutschen endlich die Einsicht kommen, daß in ihrer Vergangenheit ein reicher,
unerschöpflicher Born für Unterrichtung und Anregung liegt, und daß ihnen
nichts so sehr nützen kann, als eifrige, hingebende Beschäftigung mit der in
Vorzügen und Fehlern gleich großen und lehrreichen Vergangenheit.
oziale und politische Interessen, zu lebhaften? Kampfe erregt, pflegen
in unsern Tagen eine Fülle packender Gegensätze und stark ge¬
spannter Leidenschaften zu entwickeln, in die ein Dichtertalent nur
hineinzugreifen braucht, um Stoffe von lebendiger „Aktualität"
und nachhaltigster Bedeutung zu gewinnen. Umso wunderlicher
nimmt sich die in den letzten beiden Jahrzehnten aufgetretene Manier aus, bei
Darstellungen romanhafter Begebenheiten nicht sowohl auf historische Stoffe im
allgemeinen, als vielmehr auf jene entlegenen Zeiträume zurückzugreifen, die einer
hellen geschichtlichen Beleuchtung entbehren. An und für sich wäre dabei ja
nicht viel zu erinnern. Der Dichter nimmt seinen Stoff, wo er ihn findet, und
hat, wenn er selbst einmal von ihm begeistert ist, nur noch zu fragen, ob es
technisch möglich sei, aus. dem vorliegenden Rohmaterial ein Kunstwerk zu
gestalten. Im allgemeinen haben Stoffe aus der Vergangenheit gerade gewisse
technische Vorzüge, die zur Ausarbeitung verlocken. Die Fabel ist in ihren
größern Zügen gegeben und besitzt, als wirklich geschehen, diejenige Folgerichtig¬
keit und innere Wahrheit, die freierfundenen Stoffen nur ein großes Talent
zu geben vermag. Charaktere finden sich vor, die, so wie sie waren, nur nach¬
gezeichnet zu werden brauchen. Der ganze seelische Inhalt der handelnden
Personen läßt sich mehr oder weniger deutlich aus den Überlieferungen rekon-
struiren. Der Verlauf der Handlung braucht nicht erst künstlich mit der Zeit
derselben in Einklang gesetzt zu werden, sondern ergiebt sich von selbst. Rechnet
man noch das etwas phantastische Interesse hinzu, mit dem die Leser von vorn¬
herein Gestalten aus der Vergangenheit betrachten, so könnte das alles wohl
einen einleuchtenden Grund für den Verzicht auf den großen Vorteil lebendiger
„Aktualität" abgeben. Aber das alles — bis auf das letzte, phantastische
Moment — hört mit der vollen kulturgeschichtlichen Durchsichtigkeit eines Stoffes
auf. Von der Handlung stehen, wenn es hoch kommt, einzelne nackte That¬
sachen ohne organischen Zusammenhang fest, von den Handelnden eben nur die
Bezeichnungen der Handlungen, die sich an ihre Namen Köpfen, vom innern
Leben der Persönlichkeiten allenfalls soviel, als man aus den Resten der zeit¬
genössischen Literatur über Empfindung und Weltanschauung der betreffenden
Generationen erschließen kann, ohne jeden Bezug auf die Individualität Einzelner
und auf die Motivirung ihres Handelns. Was kann nun ein Stoff, der aus
dem Gebiete des Thatsächlichen so ungemein wenig nimmt, für einen irgend
denkbaren Vorzug haben vor einer freierfundenen Handlung aus der Gegenwart,
die sich mit dem großen Vorteil voller Anschaulichkeit und innerer, seelischer
Erfahrung des Dichters darstellen läßt? Welch ungeheure Aufgabe, eine psycho¬
logisch detaillirte Handlung und innerlich lebendige Menschen, die volle Indivi¬
dualität besitzen, zu formen aus den spärlichen Brocken, die sich aus einem
Dutzend verstümmelt und unvollständig auf uns gekommener gleichaltriger
Literaturwerke zusammenlesen lassen! Wo sie nicht gelang, weil sie nicht gelingen
konnte, ist dann mit Mühe und Not ein Werk entstanden, dem man beim besten
Willen Existenzberechtigung nicht zusprechen kann. Ein Recht zu leben hat
nur das Lebendige. Und im Interesse des Lebendigen gehört es sich, daß allem,
was künstlich galvanisirt, durch ein paar krampfhafte und widerspruchsvolle
Zuckungen den Schein des Lebens vortäuschen will, die Maske vom Gesicht ge¬
nommen werde. Und nun sei es geradezu gesagt: Werke der oben skizzirten
Art haben nicht einmal den gewöhnlichen indirekten Nutzen schlechter Bücher,
den guten als Folie zu dienen. Sie sind nicht allein mißlungen, sie sind un¬
wahr und verstecken diese innere Unwahrheit hinter dem die Menge bethörenden
Aushängeschild historischer Charaktere und thatsächlicher Begebenheiten.
Oder ist es zu streng, derartige pseudo-historische Romane mit wirklich
historischen zu vergleichen? Aber welchen Grund zu milderer Beurteilung könnten
sie für sich in Anspruch nehmen? Und giebt es für die Beurteilung von Kunst¬
werken nicht immer nur ein Maß? Kann man je etwas andres verlangen, als
die Jnnehaltung der jedem Genre eigentümlichen ästhetischen Gesetze? Nun, alle
jene Romane, die es unter anderthalb Jahrtausenden der Vergangenheit nicht
thun, sie suchen ja Nutzen zu ziehen aus enger Anlehnung an die Geschichte.
Noblssss «Misss: mögen sie auch den Anforderungen historischer Romane gerecht
werden.
Der Mensch ist stets derselbe und ist immer ein andrer. Die einzelnen
Bestandteile des Gefühls- und Geisteslebens ändern sich nicht. Aber als Trieb¬
federn für die Handlungen und infolge davon vielleicht auch hinsichtlich ihrer
Bedeutung für den einzelnen Menschen und ihrer Wertschätzung bei der Gesamt¬
heit finden doch Verschiebungen unter ihnen statt, je nachdem im Laufe der
Generationen das Menschenideal sich ändert und je nachdem durch die Gestal¬
tung des politischen und sozialen Lebens bald diese, bald jene Saiten im Menschen
stärker berührt werden. Das historische Kunstwerk, das uns nicht blutlose
Schemen, sondern Menschen vorführen will, hat sich deshalb vor nichts so sehr
zu hüten, als vor einer gewissen konventionellen Psychologie, die für jedes Zeit¬
alter gleich schlecht paßt. Wir wollen wissen, wie die Menschen einer bestimmten
Zeit dazu kamen, so und nicht anders zu sein. Es muß uns deshalb gezeigt
werden, in welchem Maße die einzelnen Elemente des menschlichen Seelenlebens
bei der Mischung typischer Charaktere in Betracht kamen und durch welche äußern,
aus dem Stadium der jeweiligen Kulturentwicklung entspringenden Bedingungen
sie an Bedeutung gewannen oder verloren. Und das nicht in s-bstrs-oto, sondern
durch die Gestaltung und den Verlauf der Handlung selbst, die deshalb eben¬
falls für ihre Zeit typisch sein muß. Wir sind ferner nicht gewillt, auf Treu
und Glauben hinzunehmen, was der Dichter uns als Inhalt zeitgenössischer
Charaktere schildert. Wir wollen selbst beurteilen, und fordern deshalv, daß
alle jene großen Bezüge, die in ihrer Eigenart jeder Zeit ihr Gepräge geben,
im Verlaufe der Handlung zur Geltung kommen.
Das sind Erfordernisse des historischen Romans als solchen; daß darüber
die an den Roman als Kunstform in: allgemeinen zu stellenden ästhetischen
Anforderungen zu Recht bestehen bleiben, versteht sich von selbst.
Und nun aus dem Weiten ins Enge, aus der Beleuchtung des archäolo¬
gischen Romans zum vorliegenden neuesten sxc-irivlum Zönörl8. Dahns neue
Dichtung*) bezeichnet sich selbst als „historischen Roman," macht also wohl von
vornherein keinen Anspruch auf die Schonung, die mancher weichherzige Leser
in dankbarer Erinnerung an Ebers' rührselig-pyramidale Kunst den ehrwürdigen
uralten Stoffen entgegenzubringen bereit ist. Er spielt im vierten Jahrhundert.
Zu dieser Zeit hatte das Römerreich ein Jahrtausend glänzender Entwicklung
hinter sich; längst hatte seine Kultur eine feste, reich gegliederte, eigenartige
Gestaltung gewonnen; längst bestand ein Grundtypus römischer Charaktere, in
dessen Rahmen Individualität und Zeitverhältnisse eine unendliche Zahl inter¬
essanter und hochbedeutender Persönlichkeiten sich entwickeln ließen. Aber bereits
hatten in dem festen Gefüge römischer Zivilisation jene beiden Elemente Wurzel
gefaßt, die bestimmt waren, sie einst zu vernichten. Das Christentum war un¬
längst zur offiziellen Anerkennung gelangt; kein Charakter konnte sich mehr
bilden, ohne von ihm positiv oder negativ beeinflußt zu werde». Daneben war
auch das Eindringen der germanischen Welt zu einer geradezu verhängnisvollen
Bedeutung gediehen, war zu einem schwerwiegenden Faktor des öffentlichen Lebens
geworden und spielte seine Rolle im Leben des Einzelnen und des Staates. Von
allen diesen Sachen, sowie von den Elementen römischen Wesens überhaupt ist
uns vollkommen genug überliefert, um einer dichterischen Phantasie die Dar-
Stellung lebensvoller und für ihre Zeit charakteristischer Individualitäten zu er¬
möglichen. Ungeheure Gegensätze, gewaltige Aktionen wichtigster und für das
Jahrhundert bezeichnendster Art waren da und wurden erlebt; auch spannende
und typische Handlung konnte mit Leichtigkeit für ein Kunstwerk zusammen¬
gestellt und erfunden werden,
Dahn hat darauf verzichtet, die Vorgänge seines Romans im Mittelpunkte
der Weltbegebenheiten sich abspielen zu lassen. Und darin hat er Recht. Der
römische Kaiser und sein Hof, die Schwankungen der großen Politik waren besser
als Hintergrund zu verwerten, durch den das Geschick eines kleiner» Kreises
von Personen an Intimität und Eindruck gewinnen konnte. Aber nicht eben
so Recht hat er mit der starken Hervorhebung des Germanentums, dessen sieg¬
reichem Vorschreiten sein Roman fast ausschließlich gewidmet ist. Konsequenter
und umsichtiger wäre es gewesen, lieber ganz und gar auf die direkte Benutzung
der Zeitereignisse zu verzichten und sie gewissermaßen im reflektirten Lichte, in
ihrer Wirkung auf die Lebenslose seiner Hauptpersonen zu zeigen. So hätte
er allem gerecht werden können, und viel mehr, als nnn geschehen ist, Raum
gewonnen, um die mangelnde Extensivität der Fabel durch umso größere Ver¬
tiefung zu ersetzen. Aber abgesehen von dieser sehr einseitigen Hervorhebung
eines willkürlich herausgegriffenen Elements der Weltlage: einen unglücklicheren
Griff hätte er nicht wohl thun können, als diesen sehr zuversichtlichen in urger¬
manisches Volksleben. Es ist ja sehr zu bedauern, aber es ist doch nun so:
wir wissen von dem innern Leben unsrer Vorfahren im vierten Jahrhundert
im Grunde weniger als von dem der Griechen zur Zeit Homers. Täusche sich
doch niemand darüber! Etwas Mythologie, eine ungefähre Vorstellung vou
,der Form der zeitgenössischen Dichtung und eine oberflächliche Kenntnis der
äußern Lebensgewohnheiten: wer ist der Zauberer, welcher ans diesem kümmer¬
lichen Material Menschen zu bilden vermag, die uns in Zeiten schwerer Not
und Gefahr ihr innerstes Denken und Fühlen offenbaren, deren seelischen Zustand
wir in den heterogensten Stimmungen, unter den denkbar verschiedensten Um¬
ständen begreifen sollen? Und nun obendrein Menschen eines bestimmten Jahr¬
hunderts, die in ihrer Art zu sein den Einfluß desselben erkennen lassen? Da
das unmöglich ist, hat sich denn auch Dahn darauf beschränkt, uns seine Ger¬
manen in Kampf und kriegerischer Beratung zu zeigen, also gerade von einer
Seite, in der der Empfindungsinhalt, der Kreis des seelischen Lebens fast gar¬
nicht zum Ausdruck kommt. Und so ist denn natürlich von jenen feinern Ein¬
flüssen des Zeitalters und seiner treibenden Motive noch weniger die Rede.
Nimmt man einige wenige Andeutungen hinweg, so kann der Roman ganz
ebensogut vierhundert Jahre früher in Gallien oder Britannien spielen. Nun
stelle man sich einmal einen historischen Roman aus dem 18. Jahrhundert und
aus Frankreich vor, der beinahe ebensogut auf das 14. und auf Deutschland
Paßte! Würde es einen einzigen Menschen geben, der nicht überzeugt wäre,
eine Karikatur vor sich zu haben? Wenn es aber bestimmten Zeiten und Lebens¬
kreisen so sehr an darstellbarem charakteristischen Inhalt gebricht, sei es aus
welchem Grunde man will, so ist das doch für jeden Unbefangnen ein deutlicher
Beweis, daß es ihnen eben an allem fehlt, was ihre künstlerische Wiedergabe
gestattet.
Und nun denke man sich unter Menschen, von deren Jnnern wir nichts
wissen, die Entwicklung einer Handlung verteilt. Natürlich kann es nur ein
rein äußerliches Handeln sein: Krieg und wieder Krieg. Und so finden wir
denn in der That wahrhaft nichtssagende Vorgänge von erschreckender Armut
an innerer Gliederung und Entwicklung, eine Begebenheit, für deren völlige Be»
ziehungslosigkeit zu den weltbewegenden Ereignissen keine psychologische Vertiefung,
keine anmutige Kleinmalerei, ja nicht einmal eine schlichte Natürlichkeit der Dar¬
stellung entschädigt. Bei einem römischen Streifzuge gegen die Alamannen am
Bodensee gerät Bissula, die Geliebte eines jungen germanischen Edeln, in rö¬
mische Gefangenschaft. Die Alamannen unter Führung eines erwählten Herzogs
stürmen das feste Römerlager z Bissula, die unterdes den üblichen Anfechtungen
ausgesetzt war, wird frei und nach einigen weitern Umständen mit dem Geliebten
vereinigt. Das ist eine Episode? Nein, das ist der Roman! Und in dieser
entsetzlich dürftigen Handlung, die ihre Armut eben dem Hervorheben des
germanischen Elements verdankt, kommen nicht einmal die römischen Charaktere
zu ein wenig intimerer Entwicklung. Auch sie sind Krieger, weiter nichts. Ja
selbst das, was über andre Knlturbeziehungen unter ihnen geredet wird — denn
dargestellt ist absolut nichts —, beschränkt sich auf ein paar Phrasen. Dabei
hat der Dichter wohl gefühlt, daß er uns etwas mehr schuldig sei. Er hat
an der Seite der Tribunen und Soldaten den Dichter Ausonius eingeführt.
Wir müssen ihm glauben, daß er ein Dichter sei. Er sagt es ja und zitirt
ein paar Verse aus seiner „Mosella." Im übrigen unterscheidet sich sein Seelen¬
leben von dem seiner kriegerischen Freunde kaum anders als durch einen größern
Hang zur Bequemlichkeit. Weshalb in aller Welt ist nicht wenigstens die eine
sich bietende Gelegenheit ausgenutzt, die Typen der römischen Kulturwelt in
einiger Vollständigkeit vorzuführen? Es ist soviel Raum an ganz Neben¬
sächliches verschwendet, daß wenigstens Mangel an Platz nicht zur Entschuldigung
dienen kann. Weshalb z. B. die sogar durch eine Abbildung oder besser durch
ein Schema verdeutlichte Schilderung des Rvmerlagers? Kam für die Handlung
irgend etwas darauf an, ob dies und jenes Ereignis an der poids. prAstoria oder
der xortÄ äkvuw-urg. vor sich geht? Der Dichter hat offenbar seine Leser
orientiren wollen über den Bau eines Römerlagers. Ist ihm denn aber dabei
garnicht in den Sinn gekommen, daß ein poetischer Stoff, der zu seinem Ver¬
ständnis schematicher Zeichnungen bedarf, doch wohl recht mißlich ist? Daß
alle diese Einschränkungen auf der einen und Notwendigkeiten auf der andern
Seite, die den freien Flug des dichterischen Talents aller Orten hemmen, doch
nur daher kommen, weil etwas poetisch dargestellt werden soll, was dieser Dar¬
stellung absolut unzugänglich ist?
Damit soll nicht gesagt sein, daß alle Ursachen für das Mißlingen des
Werkes in dem stofflichen Fehlgriff enthalten wären. Selbst aus Personen und
Begebenheiten, wie sie der Entwurf dieses Romans nun einmal enthielt, hätte
sich denn doch noch etwas andres machen lassen. Aber der Dichter hat es
sich leicht, unverantwortlich leicht gemacht. Je weniger ihm seine germanischen
Charaktere die Möglichkeit reicherer, individueller Ausgestaltung boten, umso
mehr hätte er sich in die römischen vertiefen sollen. Und nun machen die erstem
trotz aller Einseitigkeit noch einen frischeren Eindruck als die letztern! Ein
ähnliches Arbeiten nach der Schablone, wie es hier stattgefunden, war sonst nur
bei der fabrikmäßigen Anfertigung von Leihbibliothekswaare erhört. Wer das
zu hart findet, der sehe sie doch genau an, diese Satnrninus und Herkulanus!
Menschen mit zwei oder drei Gedanken im Kopfe, Leute, die uns von ihrem
Denken und Fühlen schlechterdings nichts weiter verraten als eine maschinen¬
mäßige Reaktion auf die von außen herantretenden Störungen. Alles ist für
den Bedarf des Augenblicks zugeschnitten. Ist es nötig, daß jemand auf diesen
und jenen Anreiz in bestimmter Weise reagirt, so taucht aus der Dunkelheit
seines Charakters plötzlich die entsprechende Eigenschaft auf, um sofort wieder
zu verschwinden, ohne die leiseste Hindeutung auf einen Mittelpunkt, einen
seelischen Kern, von dem aus Gefühl und Leidenschaft als Zusammengehöriges,
in dieser eigenartigen Kombination nicht zum zweitenmal Vorhandenes verständ¬
lich wird. Natürlich kann unter diesen Umständen von einer Herleitung der
Handlung aus den Charakteren nicht die Rede sein. Das, was geschieht, ist
mit dem Wesen derer, durch die es geschieht, fast ausnahmslos so locker ver¬
bunden, daß man sich alle Charaktere ganz gut in ihr Gegenteil umgewandelt
denken könnte, ohne daß die Handlung im wesentlichen eine andre werden müßte.
Höchstens der hervorstechende Charakterzug der Germanen, ihre ungestüme Kriegs¬
lust, ist davon auszunehmen.
Ein einziges mal hat der Dichter sich an einer detaillirten Charakterzeich¬
nung versucht, und sie ist ihm — mißglückt. Das ist umsomehr zu bedauern,
als die erste Anlage in der That viel versprach. Bissnla, die Heldin, ist eine
pikante Schönheit voll Temperament und ausgeprägter Selbständigkeit des
Willens. Allein in dem Bestreben, dies an Vorgängen aufzuzeigen, die inner¬
halb des Lebens- und Bildungskreises dieses Barbarenkindes lagen, ist ihm die
ursprünglich anziehende Figur zum Zerrbilde geworden. Sie „faucht wie eine
Otter" und beißt um sich, als man sie aus Lebensgefahr retten will. Sie
klettert, die erwachsene Jungfrau, auf Bäumen herum und rutscht, mit ihren
Mädchenkleidern angethan, angesichts ihres Liebhabers am Stamme herab. Und
dies Wesen, das doch stark an die Lehre der Abstammung vom Affen ge¬
mahnt, ist dann wiederum der zartesten Empfindung und reinsten Mädchen-
haftigkeit fähig.
Wir wollen zu des Dichters Entschuldigung annehmen, daß ihn die Art
und Weise, wie er das Wesen der Alamannen schildert und wie er sie sprechen
läßt, zu diesen speziellen Geschmacklosigkeiten geführt hat. Aber dann muß sich
unser Tadel umso schärfer gegen Schilderung und Sprache richten. Sie sind
in der That von unglaublicher Gespreiztheit und Unnatur. Daß die Leute,
wenn sie von Butter und Käse sprechen, in Stabreimen reden, ist etwas ganz
gewöhnliches. Hübsche Mädchen haben „reizend schnuppernde Näslein," das
Fieber ist eine „heißkaltc Katze, die unsichtbar den Leib schüttelt wie eine Maus."
Woher dann auch der Leib „heißkalt" wird, ist bei dieser Metapher rätselhaft.
Wir wissen nicht, wie die Germanen zu jener Zeit gesprochen haben, denn die
Sprachweise ist von der Anschauung über das Ideal des Menschen und sein
Verhältnis zu den andern abhängig. Aber gesucht und geziert haben sie im
gewöhnlichen Gespräch nicht gesprochen; das dürfte zweifellos sein. Und am aller¬
wenigste» werden sie ihre Phantasie gemartert haben, um so vertrackte Aus¬
drucksweisen zu finden, wie Adalo: „Sie ist Dämlich die Spottrede^ ein stumpfer
kleiner Bolz, mit dem man das herzige Rotkehlchen trifft, Donars ethischen
Liebling, nicht, es zu wunden, nein, ungesehrt es zu sahen, und in das Gehöft
zu tragen, an unsern Herd, auf daß es uns lieblich finge, Jahr für Jahr." Es
ist möglich, daß die Wörter „wunden," „sahen" und „ungesehrt" geheime und
große Vorzüge vor „verwunden," „fangen" und „unversehrt" besitzen; sicher ist
es, daß die Tage damals länger gewesen sein müssen, um diese entsetzliche Weit¬
schweifigkeit der Rede bei den geringfügigsten Anlässen zu gestatten. Denn auch
die Knechte erzählen nicht: „Er nannte mich einen Ochsen," sondern: „Er schrie
ein Wort in eurer Sprache ... es bedeutet ein horntragend Tier." Das
ist ebenfalls mit einem Worte zu kritisiren, es bedeutet Mangel an Geschmack
und Natürlichkeit.
Ein Autor, der etwas auf sich hält, sollte endlich im Dialog nicht zu den
verbrauchtesten Kunstgriffen seine Zuflucht nehmen. Wendungen wie die: „Du
mußt deinem Herrn solgen, und der —" „Bin ich," sprach eine tiefe Stimme —
erinnern doch allzusehr an den Stil der Kolportageromane, die vom Küchen-
und Stallvertrieb leben. Vollends unleidlich werden sie, wenn ihrem wohlfeilen
Effekt zu Liebe der Satzbau und die Wortstellung eine gekünstelte Zuspitzung
erfahren müssen: „Ich brächte sicher heim unsers Volkes —" „Unterwerfung,"
schloß der Herzog."
In Summa: Dahns „Bissula ist ein unerfreuliches Buch, dessen buch¬
händlerischer Erfolg den Verfasser eigentlich beschämen müßte. Denn er, der
soviel besseres kann, weiß doch sehr wohl, daß er ihn nur der Beschränktheit
und Kurzsichtigkeit des Publikums verdankt, das eben alles, was ihm im phan¬
tastischen Gewände ferner Vergangenheit geboten wird, auf Treu und Glauben
annimmt. Diese einfältige Leichtgläubigkeit auszunutzen, überläßt ja ein jeder
ernsthafte Mann den Industrierittern von der Feder. Aber man sollte ihr
auch nicht entgegenkommen dadurch, daß man Unreifes und Gehaltloses auf
den Markt wirft, weil man vielleicht ein Produkt müßiger Stunden gedruckt
sehen möchte, oder weil der Verleger, wohl wissend warum, auch einmal mit
leichter Waare zufrieden ist.
Und noch etwas andres gilt es hier. Das deutsche Professorentum erfreut
sich überall in der Welt, wo Bildung herrscht, hoher Achtung und Ehre. Nun
kaun ja sicherlich ein tüchtiger Professor zugleich ein guter Dichter sein, und
wo ein Stoff ihm die Phantasie erregt, ist nicht abzusehen, warum er ihn nicht
poetisch darstellen sollte. Nur sollte er immer bedenken, daß unser Volk gewöhnt
ist, seine Professoren an der Spitze der Bildung marschiren zu sehen, und nur
Gutes, Gediegenes von ihnen zu erwarten. Es wäre schlimm, wenn in unsern
Tagen des Materialismus die Menge in dieser Überzeugung erschüttert würde.
Und doch wird selbst der geduldigste Leser Bücher, wie das vorliegende, nicht
zur Seite legen, ohne ein xarwriunt inorckss zu murmeln.
in andres mal war der Politiker von Waltershausen nicht gegen
Frau Anna, sondern gegen den Fabrikanten selbst auf ein ver¬
wandtes Thema zu sprechen gekommen.
Ich kenne jetzt Ihre loyalen politischen Prinzipien, hatte er gesagt,
aber wozu demonstriren Sie immer noch mit dem leeren Knopfloch?
Das hatte seinen Sinn, als wir noch junge Tollköpfe waren. Jeder junge Mensch
ist zu drei Vierteilen Republikaner. Da will man nicht für einen Fürstendiener ge¬
halten werden. Aber in unserm Alter? Jeder Besitzende hat doch die Pflicht,
auch durch seine Haltung ans die Menge zu wirken. Ein Orden ist heutzu¬
tage, was Anno 48 die schwarzweiße oder die schcirzgelbe Kokarde am Hute
war, ein Zeichen, daß man sich nicht schämt, für einen Gutköniglichen, Gut¬
kaiserlichen zu gelten. Sie haben bei der letzten Überschwemmung in ihrer
Provinz an der Spitze eines sehr verdienstlichen Komitees gestanden. Ich werde
Sie auf die Liste der Ordenskandidaten bringen lassen. Erheben Sie keine
Einrede. Wir haben hier sämtlich das nämliche Schicksal über uns ergehen
lassen. Bttrgcrstolz und Adelsstolz wachsen aus der nämlichen Hochmutswurzcl.
Was wollen Sie den Cato spielen? Auf die Länge müßten wir andern es
wahrlich als eine Beleidigung/ betrachten. Wozu sich solchen Mißdeutungen
aussetzen?
Als der Fabrikant seiner Frau davon erzählte, sagte sie: Du bist solcher
Auszeichnung nicht minder wert als irgend einer. Daß man sich nicht dazu
gedrängt hat, muß einen beruhigen. Wir sind einmal nicht mehr in unsrer
entlegenen Provinz. Unsre ganze Einrichtung hat uns zum Gegenstande all¬
seitiger Beobachtung gemacht. Lassen wir werden, was werden muß. Umso
weniger können uns die Leute beschreien.
Es ist zum Lachen, stimmte der Fabrikant in ungemütlicher Schärfe bei,
aber du sprichst ganz meine Gedanken aus: wir sind nicht mehr unsre eignen
Herren! Es ist zum Lachen.
Als die Zeitung mit den Ordensverleihungen eintraf, zeigte sichs, daß
Herrn von Waltershausens Einfluß von ihm nicht, überschätzt worden war;
der Fabrikant K. B. Hartig stand richtig auf der Liste.
Wenige Tage darauf langte die Dekoration selbst an. Kaspar Benedikt
mußte sie, seiner Gattin zu Liebe, anlegen und dann Arm in Arm mit ihr die
schönsten Räume der Villa durchschreiten.
Es ist der Anfang, sagte sie, als beide Gatten vor einem Spiegel Halt
gemacht hatten, man kann nicht wissen, was noch werden will.
Doch! man kann es wissen, widersprach der Fabrikant. Es war das erste
mal in seinem Leben, daß er in solchem Tone widersprach.
Wieso kann mans wissen? fragte sie verwundert.
Er zog sie von dem Spiegel fort.
Folgendes wird werden, sagte er, wenn man nämlich nicht mehr seinem
eignen Kopfe folgt. Man wird seine linke Rockseite von Jahr zu Jahr immer
bunter werden sehen und sie doch bald nicht mehr bunt genug finden. Man
wird sich dann überlegen, ob es überhaupt nicht schicklich sei, daß man es auch
mit dem Von-Titel versuche, und es werden sich gute Menschen finden, die einem
dazu verhelfen. Man wird dann merken, daß andre ihrem Namen nicht nur
etwas vorsetzen, sondern auch noch etwas anhängen ließen. Und auch dafür
wird Rat geschafft werden. Mit einem Wort —
Mit einem Wort, ergänzte Frau Anna, es wird einem ergehen wie der
Frau Jlsebill in dem abscheulichen Märchen. Du hast Recht, Kaspar Benedikt.
Ich glaubte wahrlich, du wärst mir böse. Wir sind hoffentlich beide schuld,
daß es soweit gekommen ist, und nicht etwa ich allein?
Ich allein bin schuld, antwortete der Fabrikant.
Nein, ich nicht minder, widersprach sie.
So ist es ja überhaupt nicht gemeint, beruhigte er sie; man wird uns
heute und morgen Glück wünschen, und wir werden kein saures Gesicht dazu
ziehen. Im Gegenteil, wir werden uns die Freude nicht vergällen und jedem
sagen, daß wir uns geehrt fühlen.
Also wir freuen uns nun dennoch?
Warum nicht? Wenn wir nur darüber einig sind, daß nicht werden soll,
was werden will.
Sondern daß wir genügsam sind und nicht immer nach mehr verlangen.
So ist es.
Etwas mußte geschehen, sagte sie; du hast gehört, wie der Herr von
Waltershausen schon von beleidigenden Bürgcrstolz zu reden begann. Jetzt
haben wir gethan, was schicklich war.
Nicht mehr und nicht weniger.
Und dabei bleibt es.
Dabei bleibt es.
Das heißt: um eine Audienz wirst dn jetzt einkommen müssen.
Um mich zu bedanken? Hin.
Das ist nun einmal nicht anders, Kaspar Benedikt.
Ich habe lange keinen Frack angelegt.
Wir werden einen neuen beim Schneider bestellen.
Wohl gar beim Hofschneider! El, el.
Natürlich! Nur keine altmodischen Fracks!
Es ist zum Lachen! brummte der Fabrikant, aber er lachte keineswegs.
Es war ein entzückendes Frühjahr, aber nirgends hatte der Mai eine solche
Fülle von Duft und Farbenschmelz dem Boden entlockt als in dem Garten der
berühmten Villa.
In der That, wenn die Villa für ihre Besitzer auch gar eigenartige Fesseln
mit sich brachte, ihr Erbauer hatte alles aufgeboten, um sie so vollkommen wie
möglich herzustellen; an ihm lag es nicht, wenn noch etwas zu wünschen übrig
bleiben sollte.
Dies Etwas wäre, wenn es überhaupt zur Sprache hätte kommen dürfen,
wohl gerade gegen das Übermaß desjenigen gerichtet gewesen, wofür der Architekt
.prämiirt worden war: gegen die Vollkommenheit seiner Schöpfung. Den Winter
über hatte man diese Vollkommenheit im Innern des Hauses als etwas die
Persönlichkeit einigermaßen Bevormundendes empfunden oder doch dunkel geahnt.
Jetzt kam im Garten etwas Verwandtes zur Geltung. Das kleinste Fleckchen
war mit unübertrefflichem Geschick einem bestimmten Zwecke dienstbar gemacht.
Dort durften die Bäume nur eine gewisse Höhe erreichen, damit auf die Sonnen¬
uhr kein Schatten falle. Hier mußte ihr Blätterschmuck in solcher Weise ge¬
bändigt werden, daß die kleine Kanone Mittags dnrch den Strahl des Brenn¬
glases an sonnenhellen Tagen unfehlbar abgebrannt werde. Die Boskets hatte
aus Gefälligkeit gegen den Erbauer der Hofgärtner des regierenden Herrn
eigenhändig gepflanzt. Die Farbe derselben, wie sie im Laufe des Jahres wechselt,
war bei der Auswahl der Laubhölzer mit einer Feinheit der Berechnung abge¬
stimmt worden, daß von einer musikalischen Durchlaucht, die den Garten mit
ihrem Besuch beehrt hatte, die Wirkung in ihrer hellen Heiterkeit einer Haydnschen
Symphonie verglichen worden war. Der Boden erfreute sich allerorten genau
derjenigen Mischung, in welcher die für ihn vorgeschriebenen Pflanzen sich zu
ihrer höchsten Schönheit entwickeln sollten, und auch hier war wie in eineni
Orchester alles aufs feinste abgestimmt, sodaß jede wirkliche Änderung einen
grellen Mißton hervorgerufen haben würde.
Es kamen wiederum zahlreiche von dem Architekten, dem Hofgärtner, dem
Lieferanten der Sonnenuhr und dem Verfertiger der Mittagskanone auf die
Hartigsche Villa aufmerksam gemachte Besucher, und das Ehepaar erlebte von
neuem die Freude — soweit es eine war —, das Besitztum für die gelungenste
Lösung der in dem Worte Villa liegenden Aufgabe erklärt zu sehen. Der junge
Prinz Ottokar selbst ließ um die Erlaubnis bitten, deu Garten und die Treib¬
häuser besehen zu dürfen, und so wenig das Hartigsche Paar auch in klein¬
städtischen Begriffen über die Größe der ihm dadurch zugedachten Ehre be¬
fangen war, und so schicklich einfach es sich auch für den Empfang des Prinzen
kostümirte, das Geschäft des Herumführens, Zeigers und Erklürens gestaltete
sich doch für Kaspar Benedikt zu einem nicht unbefriedigender Exerzitium im
Umgang mit Menschen höherer Gattung, für Frau Anna aber gar zu einem
wirklichen Vergnügen, das ihr noch Wochen lang Stoff zu allerhand kleinen
Bemerkungen über die beneidenswerte Tournllre vornehmer Leute bot.
Beim Weggehen sagte der Prinz übrigens ein Wort, das den Nagel auf
den Kopf traf. Lieber Herr Hartig, sagte er, ich danke Ihnen, und wenn Sie
erlauben, spreche ich einmal in andrer Jahreszeit in der Villa LÄns-xaieU
wieder vor. Ich hätte Sie anfangs fast beneidet; aber soweit soll es denn
doch nicht kommen. Sie haben das Glück, sich an fertigen Dingen freuen zu
können. Ich bin leider von jeher nur im fortwährenden Ungestalten, Einreißen
und Neuschaffen zu einiger Befriedigung gelangt. Gäbe der Herrgott mir das
Paradies selber in Hut, mit der Bedingung, daß ich zur Rolle eines bloßen
Custode darin verurteilt wäre, ich fürchte, ich müßte depreziren.
Custode — ein fatales Wort! Glücklicherweise hatte niemand als der
Flügeladjutant das Wort gehört, nicht einmal Frau Anna.
Aber dem Fabrikanten war es im Ohre Hunger geblieben. Custode ...
es hatte einen sehr empfindlichen Nerv getroffen, das so harmlos hingesprochene
Wort.
Custode in dem eignen Besitztum! Man konnte sich nicht beißender aus¬
drücken. In der That, wem gehörte denn die Mustervilla? Die ganze gebildete
Welt hatte hier ein Recht, gegen ein Ungestalten, Einreißen, Neuschaffen, wie
der Prinz dergleichen liebte, Protest zu erheben. Der Prinz selbst war unter
den leidenschaftlichen Bewunderern der unübertrefflichen Schöpfung gewesen. Er
wollte wiederkommen. Es war unmöglich, daran zu rühren. Man hatte in
der Mustervilla etwas erworben, das mit dem Hildesheimer Silberfund, mit
der Venus von Milo, mit der Pyramide des Cheops auf gleicher Stufe stand.
Wie unglaublich die Sache auch war, antasten ließ sich die Villa nicht. Eigent¬
lich hätte sie Staatseigentum werden und solcherart für alle Zeit gegen Bar-
barenhünde geschlitzt werden sollen.
Diese Reflexionen stellte Kaspar Benedikt nach seiner Weise im stillen an.
Wozu Frau Anna damit plagen? Im Grunde konnte man sichs ja auch Wohl
auf andre Weise im Paradiese wohl sein lassen, als auf die Fayon des Prinzen
Ottokar.
Liebe Frau, sagte er, ich denke mir, dies merkwürdige Besitztum wird deu
Leuten zeitlebens zu spintisiren geben, und das allein schon wäre für uns ein
Grund, uns daran herzlich zu gaudireu. Ich spreche nicht von denen, die es
uns nicht gönnen. Deren giebt es hoffentlich nicht gar viele. Neid und Mi߬
gunst sind so üble Seeleukrankheiteu, daß unsre gegen alle Krankheiten mit immer
wachsendem Erfolge zu Felde ziehende Zeit gewiß auch für die Verminderung
jener Krankheiten Sorge getragen hat. Nein, ich spreche von unruhigen Köpfen,
wie unser glücklicherweise nicht successionsfähiger Prinz Ottokar.
Er gefiel mir ausnehmend, begütigte Frau Anna.
Auch mir, stimmte der Fabrikant bei.
Aber du sagtest doch —
Daß ihm bei seiner Jugend und seinem ungestümen Temperament im
Grunde des Herzens doch kaum ganz verständlich sein mag, wie man jemals
über die Lust am Ungestalten, Einreiben und Neuschaffen hinaus gelangen kann.
Und solcher Leute giebt es gewiß viele.
Nun, hie und da ein Nelkenstöckchcn zu setzen —
Aber als ob uns jemand daran hinderte! fiel der Gemahl ihr ins Wort. Ist
unser Eichenwäldchen nicht ein Sammelplatz, auf dem sich unsre Grillen nach
Belieben austoben können? Ich hoffe, du willst nicht, den unruhigen Köpfen
zuliebe, dir einzureden beginnen, es sei wirkliche Befriedigung dabei, wenn man
eme Gesneria pflanze, wo eine Crassula steht, oder ein Zygophyllum, wo sich
eine Centaurea wohl fühlt, oder ein Hedysarum, wo eine Lantana gedeiht,
oder eine —
Kaspar!
Oder eine Lachenalia, wo sich ein Draco —
Kaspar Benedikt!
Wo sich ein Dracocepha —
Aber bester Hartig!
Wo sich ein Dracocephalnm, zu deutsch ein Drachenkopf, wohl fühlt.
Frau Anna mußte sich setzen. Dn bist über Nacht ein Lateiner geworden?
rief sie.
Wenigstens ein angehender Botaniker, lachte der Fabrikant. Was ich sagen
wollte, fuhr er fort, ist nur folgendes. Diejenigen, die sich den Kopf darüber zer¬
brechen, wie wir nur nicht einfältig genug sind, uns ihrem Spotte auszusetzen, also
entweder uns hier nicht ganz und gar behaglich zu fühlen oder dreiuzupfuscheu
nach Art von bornirten Krautköpfen, die müssen wir, wie sich verdienen, ab¬
führen. Wie können wir das am besten? Ich denke, indem wir uns die
Mühe nicht verdrießen lassen, unser schönes Besitztum so lange und so gründ¬
lich zu studiren, bis es in Wirklichkeit ein Teil von uns geworden ist und uus
ganz auf den Leib paßt. Mit der innern Ausstattung sind wir schon ziemlich
im Reinen. Wir wissen, warum nicht Mahagonimöbel in unser sogenanntes
Herrenzimmer taugten, sondern Nußbaum in Verbindung mit Ebenholz und
knappen Jntarsiaschmnck; wir haben es jetzt schon im bloßen Gefühl, daß zwischen
de» Nußbcmmlambris, der Balkendecke aus lichtem, genäherten Holz, dem hohen
und breiten Serpentinkcimin, der Stutzuhr aus Ebenholz mit dem Zifferblatt
ans mattem Silber und Schmelz, daß zwischen dieser ganzen, den venetianischen
Palästen so gut abgelauschten Ausstattung nicht das nüchterne und gemein ge¬
wordene Mahagoni seinen Platz finden konnte; wir wissen, daß —
Du weißt es, mußt du sagen, oder vielmehr ich, der ewig fleißig studirende
Kaspar Benedikt, weiß es, fiel ihm Frau Anna in die Rede, denn bei mir im
Kopfe sieht es noch erstaunlich dunkel aus, und mein guter Mann muß sich
noch auf manche Geduldsprobe gefaßt machen. Aber Recht hast du wie immer,
und mir ist plötzlich in der Villa Anna noch einmal so leicht ums Herz. Zu
meiner Entschuldigung mag etwas dienen, was nun auch heraus soll — mich
drückte der Gedanke: wie wird sich unser Berthold und mit wem wird er sich
hier einrichten? Nun, Gott sei Dank! Ich habe für ihn jetzt auch eine
Braut — rate!
Daher also in letzter Zeit deine Zerstreutheit? lachte Kaspar Benedikt; wenn
ihr Weiber nur Heiratsprojekte schmieden könnt!
Rate! Ich habe meine Zeit hoffentlich auch nicht schlecht angewendet.
Was soll das Raten helfen? Unser Berthold steckt wer weiß wo im Ur-
walde. Wenn er sich in eine kupferfarbige Indianerin verliebt hat, müssen wir
es uns gefallen lassen.
Schäme dich.
Wir sind doch keine regierenden Herren, die, ohne ihre Kinder zu fragen,
über deren Hand und Herz verfügen. Dir ist wohl die Verlobungsgeschichte
von dem spätern Erbauer des Meißener Schlosses, von der wir neulich lasen,
zu Kopfe gestiegen. Wie alt oder wie jung vielmehr war die kleine Tedeua
noch, als man sie für ihn auf die Seite stellte? Neun Jahre, denke ich, und
ihr Verlobter siebzehn. Nein, Alte, der Berthold soll sich im Punkte des Hei-
ratens nicht von uns bevormunden lassen.
So behalt ich meine Weisheit auch für mich, schmollte Frau Anna.
Es ist übrigens ein Brief von ihm da. Er kommt nächstens heim.
Und das sagst du mir erst jetzt?
Der Brief mußte heraus, und Frau Anna war wieder ganz Glück und
Sonnenschein. Er wird mit seiner Braut zufrieden sein, rief sie, dafür über¬
nehme ich die Bürgschaft.
Sie würde im Besitz der Brille des Köhlers in dem Däumlings marcher
diese Bürgschaft nicht übernommen haben, denn während sie so redete, war Her-
mione in einem sehr ausgelassenen Zwiegespräch mit dem Prinzen Ottokar be¬
griffen, sie, über die verschlossene Pforte des großen buschigen Hintergrundes
der Villa Mockritz hinweg dem prinzlichen Pferde ans der Fläche ihrer zierlichen
Hand kleine Zuckerstückchen reichend, er, vom Sattel herab mit eingekniffenen
Augenglase, während er muntre Geschichten auftischte, sich an dem reizvollen
Bau ihrer maßvoll entwickelten Gestalt mit Kennermiene weidend. In einiger
Entfernung hielt der Flügeladjutant mit dem Blick nach der Richtung, wo etwa
Störungen zu befürchten waren, und erst als er durch ein Räuspern zur Vor¬
sicht mahnte, brach der Prinz das Plauderstündchen ab und sprengte mit jenem
davon.
So oft über die Ehe tiefe Spekulationen angestellt werden, pflegt man
bis auf Sokrates zurückzugreifen, wobei die doch ohne Zweifel nach vielen Rich¬
tungen musterhafte Gattin desselben in eine möglichst unvorteilhafte Beleuchtung
gerückt wird. Oder geschieht ihr damit kein Unrecht? Läßt sich nachweisen,
daß sie sich anders betrug, als die meisten aufbrausend gearteten Naturen sich
betragen würden — gleichviel, ob männliche oder weibliche —, wenn nämlich
das Schicksal sie mit einem völlig entgegengesetzten Wesen zusammenschmiedete?
Frau Sokrates war, wie es scheint, haushälterisch und tren, möglicherweise auch
angenehm von Gestalt und Gesicht, denn alle Äußerungen des großen Welt¬
weisen wenden sich in Betreff seiner Xanthippe einzig gegen die Heftigkeit ihrer
Impulse und die Zügellosigkeit ihrer Zunge. Daß ich dein streitsüchtiges Tem¬
perament, sagte er zu einem Freunde, sogut ertrage, dankst du meiner Xanthippe.
Meine Henne gakelt viel, aber sie bringt mir Hühnchen, belehrte er einen andern.
Wer auf einem schwer regierbarcn Pferde das Reiten lernte, der hat den Vor¬
teil, auch mit einem fügsamern fertig zu werden, so äußerte er gegen einen
dritten. Immer ist es einzig ihr hitziges Temperament, von dem er zu er¬
zählen weiß. Wie verglich er den Lärm in seinem Hause mit dem Straßen¬
geräusch und den Vorteilen desselben? Wer in einer lärmenden Geschäftsstraße
wohnt, sagte er einmal, der hört nicht mehr das Wagenrasseln. Daß er so
über die Mutter seiner Kinder redete, läßt freilich vermuten, daß die Häus¬
lichkeit des Sokrates auch für die Nachbarn störend war. Er brauchte die
Kunde von den daheim bestandenen Scharmützeln nicht erst unter die Leute zu
bringen. Aber wenn er solcher Art für den großen Erfahrungssatz eintrat, daß
stürmische Naturen vor allem in der Ehe ans Nachsicht Anspruch haben, und
daß die Ehe überhaupt in den meisten Fällen die wichtige Nebenaufgabe lösen
soll, eine Schule der Geduld zu sein, so thut man umsomehr Unrecht, Frau
Xanthippe, wie es zumeist geschieht, sich als etwas Abschreckendes und einzig in
seiner Art Dastehendes vorzustellen. Im Gegenteil empfiehlt es sich, um dem
Beispiel des Sokrates wirklich nacheifern zu können, die Gattin desselben sich
ganz so aufbrausend und wieder auch ganz so herzensgut auszumalen, wie Tem¬
peramente dieser gemischten Art uns selbst so häufig im Leben begegnet sind.
Denn an dem Beispiel des Ausharrens mit und neben einer Furie könne» wir
nichts lernen. Das liegt außerhalb unsers Vergleichungsvermögens. Dagegen
lernen wir viel eigne Selbstbeherrschung an dem Beispiel der die Grenze nicht
maßlos überschreitenden Selbstbeherrschung eines andern. Nach dem Ausspruch
eines englischen Denkers ist die Ehe, je nachdem wir sie mit Liebe oder mit
Haß zu sättigen beflissen sind, das vollkommenste Bild des Himmels oder der —
Hölle. Daß sie dem letztern Bilde entsprechen kann, dafür liefert die Geschichte
zahlreiche Belege. Der Begriff des Himmels ist ein minder bestimmter, und
wie am wirklichen Himmel Regen und Sonnenschein sich ablösen, wird die mit
ähnlichem Wechsel ausgestattete Ehe noch immer dem Himmel verglichen werden
dürfen. Man muß dabei nur vor allem an dem Glauben festhalten, daß sich
die Wolken zerstreuen lassen. Und guter Wille vermag dabei gerade soviel, wie
er wenig oder nichts vermag, um am wirklichen Himmel auf Regen oder Sonnen¬
schein Einfluß zu üben.
Dies waren so etwa die Auseinandersetzungen, mit denen Kaspar Bettedikt
— denn er hatte den Winter über erstaunlich viel in der Bibliothek der Muster¬
villa umhergestöbert — seine Gattin belehrte, eine Ehe könne auch ohne die
vorgängige Einmischung erfahrener Leute recht wohl eine glückliche werden, und
eine Braut für Berthold, den Adoptivsohn, aufzusuchen, sei daher ein müßiges
Beginnen.
Was heißt überhaupt eine glückliche Ehe? sagte er,, die Leiter des Glücks,
so las ich irgendwo, hat für den Ungenügsamen unzählige Sprossen, der Ge¬
nügsame richtet sich gleich auf der untersten Sprosse ein und befindet sich dort
ganz behaglich; versteht sich unser Sohn ans solche Genügsamkeit, so mag er in
Gottes Namen lediglich sein Herz und nicht erst lange unsre grämliche Klug¬
heit zu Rate ziehen.
Im übrigen gefiel ihm die junge Person, auf welche Frau Anna ihr Augen¬
merk gerichtet hatte — man errät, daß es Fräulein Hermione von Mockritz
war —, ganz so gut, wie sie jedem, der nicht in Vorurteilen befangen war,
gefallen mußte.
Natürlich ahnt Hermione nichts davon, sagte Frau Anna, sie ist nie, wenn
ich mit Frau von Mockritz von solcher Möglichkeit sprach, in der Nähe gewesen.
Woran mir nur lag, war ein allmähliches Vorbereiten des Bodens, auf den
man zu treten hat. Es hieß, wie du weißt, Prinz Ottokar habe sich für sie
interessirt. Das, versichert die Mutter, ist bloßes Gerede gewesen. Fran von
Mockritz hat mit Hermione, wie früher auch mit ihren älteren Töchtern, die
Hofbülle besucht. Da hat Prinz Ottokar sie etwas auffallend ausgezeichnet.
Die verständige Mutter ist daher in letzter Zeit ganz vom Hofe ferngeblieben.
Weiter hat die Sache nichts auf sich gehabt.
Liebe Frau, erwiederte der Fabrikant, ich habe nichts dagegen, wenn sich
Berthold in sie verliebt. Sie ist munter, hübsch, gut erzogen, man sieht sich
an ihr nicht satt, auch höre ich sie nie gegen ihre Mutter ein unkindliches Wort
reden. Aber völlig sreie Wahl soll er haben. Und dann — die Mockritz sind
von Adel. Wir wollen doch womöglich in unsrer Sphäre bleiben.
Frau von Mockritz hat schon zwei ihrer Töchter an Bürgerliche verheiratet.
Ich weiß es; aber wenn sie für gut befunden hat, aus ihrer Sphäre herab¬
zusteigen, finde ich noch keinen Grund darin, umgekehrt aus unsrer Sphäre
uns höher hinauszudrängen.
Als ob du uicht den Adel haben könntest! Major von Stobbe mag manche
Dinge anders ansehen, als sie in Wirklichkeit sind, aber —
Aber wenn ich dem Militärsiskns den bewußten Schießplatz zum Geschenk
machen will —
So heißest dn Tags darauf Herr von Hartig.
Wie ich eben durchaus nicht zu heißen wünsche, gerade so wenig hoffent¬
lich wie du Frau von Hartig.
Du weißt, ich habe keinen Wunsch, als daß dirs wohl geht und du mit
deiner Frau zufrieden bist.
Also, nichts mehr davon. Vielleicht hat Berthold nicht einmal Neigung
zum Heiraten.
Das kaun nicht dein Ernst sein, protestirte Frau Anna.
Auf mich kommt es ja garnicht an.
Mit unsern so vorsorglich eingerichteten Kinder- oder Enkelzimmern! jam¬
merte Frau Anna. Berthold nicht heiraten!
Man heiratet doch nicht einem Baumeister zu Gefallen.
Frau Anna ließ sich nicht irre machen. Sie kannte ihren Kaspar Benedikt.
Er wollte Zeit haben, eine Sache im stillen zu überlegen. Es galt, nichts zu
überstürzen.
So ging der Frühling hin. Die Villa empfing vielen Besuch, hin und
wieder auch den der Frau von Mockritz, in deren Garten auf ihre Bitten einige
Partien unter Anleitung des jetzt schou hinreichend gartenkundigen Nachbars
neu eingerichtet worden waren, sodaß der Fabrikant drüben oft stundenlang Ge¬
legenheit hatte, die Auserwählte seiner Gattin im Hauskleide und bei häuslichen
Arbeiten zu beobachten, nicht minder Frau von Mockritz selbst, gegen die er
bisher ein Vorurteil gehabt hatte.
Im Grunde habe ich ihr Unrecht gethan, sagte er zu Frau Anna; ich
gebe nichts darauf, daß Hermione selbst allen Spargel sticht, der bei den Mockritz
auf den Tisch kommt, so wenig die Finger dabei geschont werden. Spargel ist
ein aristokratisches Gewächs. Das giebt man ungeschickten Händen ungern Preis.
Auch die jungen Schoten hat sie heute ausgekernt; aber mit denen ist der Markt
noch ebenso knapp versorgt. Ich lege keinen Wert darauf. Was mich gefreut
hat, ist die Sicherheit, mit der ihr dergleichen kleine Verrichtungen von der
Hand gehen. Sie ist gut angeleitet. Das hätte ich nicht gedacht.
Ein andresmal sagte er: Ich habe mich immer gewundert, daß unsrer
Villa eins doch sehlt: eine Spieluhr. Hätte ich mir nicht das Wort gegeben,
die Einrichtung auch nicht in der kleinsten Kleinigkeit zu alteriren, so wärest dn
vor einer Überraschung nicht sicher gewesen — an deinem Geburtstagsmorgen
hätte dich so etwas wie ein Choral oder eine unsrer Lieblingsarien aus dem
„Titus" wecken müssen. Damit ist es nichts; wir wissen, wie wir uns gegenseitig
verpflichtet haben, uns in den hier einmal waltenden Hausgeist hineinzuleben
und nicht umgekehrt mit ihm in Fehde zu geraten. Daran darf nicht ein
Titelchen geändert werden. Aber das muß ich sagen: immer eine lebendige
Spieluhr um sich zu haben, das muß ein Genuß sein. Da steht nun im Musik¬
zimmer der schöne Flügel und daneben das prächtige Harmonium. Wann
werden sie einmal benutzt? Wir haben beide nicht Musik gelernt, und nach¬
holen wie das bischen Gürtnerlatein läßt sich dergleichen nicht; die Finger sind
nicht mehr geschmeidig genug.
Frau Anna teilte das Bedauern ihres Gatten. Eine lebendige Spieluhr
wäre freilich, was auch mir mehr Freude machen würde als alles Gezirpe und
Gepfeife in unsrer Voliöre, sagte sie. Weiter äußerte sie sich nicht.
Tags darauf jedoch bat Hermione um die Erlaubnis, wenn Herr und
Frau Hartig nicht zu Hause seien, den Flügel hin und wieder benutzen zu
dürfen; die Mama habe jetzt so oft Migräne, daß der Doktor verboten habe,
in ihrem Hörbereich auch nur eine Taste anzuschlagen.
Kommen Sie, so oft Sie wollen, sagte Kaspar Benedikt, selbst wenn die
Migräne Ihrer Mama nur ein Vorwand sein sollte, um uns eine Freude zu
machen.
Sind Sie ein Argwöhnischer! lachte Hermione mit ihrem hellsten Lachen,
aber Sie sehen, flunkern ist meine schwache Seite. Also gut: die Mama hat
zwar Migräne, aber ist es Ihnen recht, daß ich auch an Tagen komme, wo
sie keine Migräne hat? Unser Flügel geht entsetzlich schwer, und der Ihre spielt
sich wie von selbst.
Flausen! dachte der Fabrikant, aber man kann ihr nicht böse sein.
Welch ein liebes Mädchen! sagte Frau Anna, als das erste Konzert der
lebendigen Spieluhr zu Ende war, und alles aus dem Kopfe! Ich werde sie
bitten, das nächstemal Noten mitzubringen. Alles aus dem Gedächtnis zu
spielen, muß ja furchtbar angreifen.
Als Kaspar Benedikt allein war, summte es ihm noch eine gute Weile im
Kopfe. So konnte ich, redete er vor sich hin, ganze Tage sitzen und zuhören.
Und es heißt, nichts vererbt sich mehr als Anlage zur Musik. Freilich, wenn
der alte Jagdhund seine Kunst vererbt und der Trüffeleber in Perigord die
seine, wie ich neulich gelesen habe, warum sollten die Haydns und die Bachs
nichts von ihrer Kunst vererben? Es wäre doch schade, wenn Berthold uns
eine kupferfarbige Squaw als Schwiegertochter ins Haus brächte!
Natürlich hatte die merkwürdige Villa einen Billardsaal. Den Winter
über war er manchmal für ein Stelldichein auch derjenigen Herren der Nach¬
barschaft benutzt worden, mit denen der Fabrikant sonst nur durch den Kegel¬
klub in Berührung stand. Hin und wieder hatte der Höchstkommandirende, der
an der schlichten Art des Fabrikanten Gefallen fand, vielleicht auch den vom
Major von Stobbe aufgedeckten Gedanken der Schießplatzschenkung uicht ganz
einschlafen lassen wollte, mit Kaspar Benedikt eine Carambolepartie gemacht.
Jetzt trank der martialische Herr aber Karlsbader Sprudel, und auch mit den
übrigen Bekannten war nicht recht in Zug zu kommen. Was Frau Anna be¬
trifft, so hatte sie kein Geschick zum Billardspiel. Sie war öfter mit der Queue
so unvorsichtig dreingefcchren, daß ein minder vollkommenes grünes Tuch als
das der Mustervilla durchlöchert worden wäre. Wir dürfen es nicht nochmals
mit dir wagen, hatte Kaspar Benedikt gesagt, ganz so läßt sich der Bezug viel¬
leicht nicht wieder anschaffen, und hernach hieße es allemal: Aber, mein Gott,
wo ist Ihr schönes Billardtuch geblieben!
Frau Anna, welche kurz von Wuchs und etwas korpulent war, freute sich,
dispensirt zu sein, doch betrübte es sie zugleich, daß ihr Gatte der trefflichen Be¬
wegung und der heiter stimmenden Kräftcanspannung entbehren sollte.
So fügte sichs denn einst ganz zufällig, daß der Schlüssel zum Flügel
verlegt worden war und der Fabrikant dem dadurch am Über verhinderten
Fräulein von Mockritz eine Billardlektion zu geben veranlaßt wurde.
Sie versicherte, auf dem grünen Tuche ein geborner Tolpatsch zu sein, und
was sie an Stößen zu leisten begann, brachte in der That so Kugeln wie Tuch
und Bande in die ernstlichste Gefahr.
Aber den Ellbogen halten Sie bei alledem ganz nach Vorschrift, sagte der
Fabrikant, und mit etwas Geduld kämen Sie auch wohl über die Fahrigkeit
hinaus. Die Hauptsache ist: Augenmaß. Daran scheint es Ihnen nicht zu
fehlen. Beim nächstenmal suchen wir unter den Queues eine leichtere für Sie
aus. Rom ward auch nicht in einem Tage erbaut.
Das nächste Mal ließ auf sich warten.
Es ist schade, sagte Kaspar Benedikt.
Was ist schade? fragte Frau Anna, als denke sie an irgend ein unerreich¬
bares Leibgericht ihres Gatten.
Nun, daß die Geschichte nicht in bessern Zug kommt, ergänzte der Fa¬
brikant.
Welche Geschichte?
Du hast ihr vielleicht wegen des kostbaren Tuchs zuviel Angst gemacht.
Ich habe in der Stadt Nachfrage gehalten. Es ist zu ersetzen. Unser regie¬
render Herr läßt alljährlich einige tausend Meter für die Billards seiner Schlösser
anfertigen, und davon ist immer einiges durch Rekommandation zu haben.
Am selben Nachmittag sprach Hermione wieder einmal vor. Sie hatte
einen bösen Finger gehabt und konnte noch nicht zu üben wagen.
Und unsre Lektionen? fragte der Fabrikant.
Kann man mit der Rechten allein spielen? fragte sie.
?3r pistolkt; kommen Sie, ich zeige es Ihnen.
Sie hatte noch einige Bedenken. Die Wahrheit zu gestehe»: Mama hat
das Spiel nicht gern; man hält es für unweiblich.
Man?
Nun ja, man, d. h. die Tante Soundso und die Kousine Soundso. Mama
selbst ist ganz tolerant.
Und wird bei Hofe nur vou den Herren gespielt? fragte Frau Anna.
Im Gegenteil.
Nun denn?
Gut, auf Ihre Verantwortung, Frau Hartig.
Die steht zu Ihrer Verfügung, lachte Frau Anna, ich selbst habe mich ja
oft genug an dem edeln Spiel versucht, aber mir sind alle Billards zu hoch.
(Fortsetzung folgt.)
Der wirtschaftliche Niedergang Bremens ist der Gegenstand des ersten
Teiles einer lesenswerten Schrift, die soeben unter dem Titel „Bremen und seine
Sonderstellung" von Dr. D. Lcchnscn im Verlage der Kühtmannschen Buchhandlung
in Bremen erschienen ist, und die in ihrer zweiten Hälfte nackzuweisen sucht, daß
die Fortdauer dieses Niederganges nur durch Beschleunigung des ins Stocken ge¬
ratenen Anschlusses der genannten Hansestadt an das Zollgebiet des deutschen Reiches
abzuwenden sei. Der pathetische Ton des Verfassers berührt uns nicht sympathisch,
seine Zahlen und statistischen Mitteilungen aber sprechen überzeugend für die
Forderungen, mit denen er schließt, und so beeilen wir uns, in einem Auszüge
aus diesem Abschnitte der Broschüre zu zeigen, daß es in der That während der
letzten Jahrzehnte mit den bremischen Zuständen rasch bergab gegangen ist, und
daß schleunige Hilfe in der angedeuteten Richtung als ein dringendes Bedürfnis
erscheint.
Die finanzielle Bedrängnis des Staates ist groß und wird allem Anscheine nach
stetig fortwachsen und weiterhin lähmend auf Handel und Wandel wirken. Die
Staatsschuld betrug 1347 nur 14 581414, im Jahre 1882 aber 80 702 300 Mark,
Dem gegenüber war das Anwachsen der Bevölkerung gering z denn die Ziffer hob
sich von 76 109 im Jahre 1845 bis zum Jahre 1382 mir auf 159 418. Während
die Schuld in vierthalb Jahrzehnten von 100 auf mehr als 553 anschwoll, wuchs
in etwa demselben Zeitraume die Bevölkerung nur von 100 auf ungefähr 209,
Während die Schuld 1847 für deu Kopf 219 Mark betrug, steigerte sie sich bis
1382 auf 513 Mark, Die Stcucrkraft der bremischcu Staatsangehörige» hat ab¬
genommen, „Seit 1877 ist die Minimalgrenze des steuerpflichtigen Einkommens ,.,
ans 600 Mark normirt. Seit dieser Zeit mußte die Meuge der Steuerzahler bei
normaler Entwicklung entsprechend der Zunahme der Bevölkerungsziffer wachse»,
zum mindesten aber stationär bleiben. Das ist nicht der Fall; denn der Staat besaß
1374 an Steuerzahlern 33 695, im Jahre 1880 aber nnr noch 27 530 Personen."
Die Anzahl der sich selbst Ernährenden ging in den Jahren 1875 bis 1830 von
etwa 45 Prozent der Bevölkerung auf etwa 43 Prozent herab, und das Einkommen
für den Kopf der Bevölkerung, welches im Durchschnitt der Jahre 1372 bis 1376
ungefähr 724 Mark betrug, ist im Durchschnitt der Jahre 1377 bis 1880 auf
etwa 632 herabgesunken — ein^ Thatsache, die umso schwerer ins Gewicht fällt,
als die Kaufkraft des Geldes sich seit 1367 vermindert hat.
Der Rückschritt, der sich in dem Anwachsen der Staatsschuld, in der geringeren
Höhe des Einkommens, in der ungünstigeren Arider Verteilung und in der herab-
gehenden Zahl der Steuerzahler kundgiebt, wird durch die steigende Ariuenlast
und die schwindende Berbrauchsfähigkeit noch scharfer beleuchtet. Die Ausgaben der
städtischen Armenpflege sind in den Jahren 1830 bis 1882 von 3,23 auf 3,52
Mark gestiegen, die gesamten Ausgaben für öffentliche Armenpflege in der Stadt
Bremen von 8,27 auf 8,76 für deu Kopf der Bevölkerung, Diese wenigen Jahre
haben also genügt, jene um mehr als 11, diese um beinahe 3 Prozent in die Höhe
zu treiben. Der Verbrauch vou Fleisch ging in der Periode von 1872 bis 1381
von 53,36 auf 53,56 Kilogramm für den Kopf der Bevölkerung herunter, der
von Brot und Mehl sank in derselben Zeit vou 114,67 auf 101,26 Kilogramm.
Weitere Züge zu dem düstern Gemälde, das der Verfasser entrollt, liefert die Sta¬
tistik der exekntivischen Jmmvbilmrverkäufc und der Konkurse. Von den 1282
Verknusen, welche im Durchschnitt der Jahre 1377 bis 1331 stattfanden, waren
nicht weniger als 7S4, d. h. 59 Prozent, öffentliche Zwnugsvcrkciufe, während
der Zeitraum von 1872 bis 1376 durchschnittlich nur 6, der von 1867 bis 1871
nur 9 Prozent ausweist. „Diese starke Verschiebung ist nicht die alleinige Folge
der maßlose» Bauspekulatiou, welche Bremen heimgesucht but, sondern zugleich ein
Symptom der wnchsendcn wirtschnftlichen Bcdrängms des Gemeinwesens."
Bremen ist fast ausschließlich ein Handel und Schifffahrt treibender Staat,
Gewerbe und Landwirtschaft treten weit zurück. In Handel und Schifffahrt sind
die meisten Kapitalien Bremens angelegt, Humbel und Schifffahrt nähren den be¬
deutendsten Bruchteil der bremische» Bevölkerung, sie bilden daher das große Wetter¬
glas, welches Gedeihen und Verfall des gemeinen Wesens anzeigt. Auch hier aber
lehrt die Statistik, daß Bremen nicht mehr das ist, was es war. Die Gesamt¬
einfuhr nach Bremen hatte 1880 eiuen Wert von 553 484 567, im Jahre 1832
aber nur noch einen solchen von 500 351 392 Mark. Die Durchfuhr ging in dieser
Periode nach ihrem Werte von 278 589 734 auf 274 648 092 Mark, die Einfuhr
im Eigen- und Kommissionshandel von 279 894 783 auf 225 703 300 Mark zurück.
Darnach hat sich die Gesamteinfuhr in der gedachten Zeit um 6,52, der Eigen-
und Kommissionshandel um 3,75 Prozent vermindert. Es ergiebt sich daraus, daß
der letztere im Verhältnis zur Gesamteinfuhr, namentlich aber zur Durchfuhr, um
schnellsten und tiefsten gesunken ist, „Gerade das Eigengeschäft aber verleiht einer
Stadt ihren Rang und Namen im Verkehr unter den Völkern der Erde. Was
Bremen hier verliert, kann der Transit nicht ersetzen. Je mehr es in jenem ver¬
liert, desto tiefer das Niveau, auf das es herabfällt. In einzelnen Artikeln er¬
freute es sich noch immer eines weitverbreiteten, festbegrüudcten, wohlverdienten
Rufes, Es war stolz auf seinen Bnumwollenmarkt, sonne darauf, der erste Tabaks¬
markt der Welt zu heißen. Aber Baumwoll- und Tnbakshcmdel gehen zurück, und
im erstem übernimmt es täglich mehr die Rolle eines bloßen Speditionsplntzes."
Was der Waarenhandel Bremens lehrt, bestätigt der Schiffsverkehr. See- und
Flußschifffahrt sind mit jenem dieselben Bahnen gewandelt. Wir treffen auch hier
dieselben Zeichen traurigen Niederganges. Die Zahl der ankommenden und ab¬
gehenden Schiffe verminderte sich in den Jahren 1830 bis 1382 um 7,80 und
um 9, die Zahl der Registertons an 3,40 und um 5,60 Prozent. Die Schiffe
haben in den letzten Jahren etwas reichlichere Anbrachten gefunden. „Im übrigen
weist die verhältnismäßig ganz außerordentliche Zahl derer, welche unbeladen den
Hafen verlassen mußten, sehr bestimmt darauf hin, woran es in erster Linie fehlt:
eben am Ausfrachten." Die einzige Lichtseite auf diesem Gebiete zeigt das Wachsen
der bremischen Handelsflotte, die 1330 324 Schiffe mit zusammen 270 209 Re¬
gistertons, 1382 aber 344 Schiffe mit 299 397 Registcrtons zählte. Darin abe,
läßt sich noch kein Symptom wirklichen wirtschaftlichen Gedeihens erkennen. Dem
„bei normaler Entwicklung hätte die größere Zahl und die wachsende Tragfähig¬
keit der Schiffe von einem größeren Wnarcnhandel und Schiffsverkehr, von eine',,
Erweiterung der Handelsbeziehungen im ganzen genommen begleitet sein müssen.
Die Ausdehnung der Flotte vermochte aber dem Schwinden des Verkehrs keiner
Einhalt zu thun. Dieselbe erweist nur, daß die Lage des bremischen Kapitals
an sich eine gesunde und kräftige ist. Und zu gleicher Zeit dient sie dein Volks«
wirtschaftlichen Gesetze, daß der Handel eines Volkes desto direkter Wird, je höhlt
die Kulturstufe ist, die es erklimmt, zu neuer Bestätigung. Ein Land, welches im
Begriffe steht, sich mehr denn zuvor der Vermittlungsthätigkeit und Vormundschaft
seiner mächtigeren Konkurrenten zu entziehen, vermag dieses Ziel naturgemäß am
ersten durch Ausbildung seiner Schifffahrtslinien zu erreichen. Deutschland aber
befindet sich in solcher Lage. Die erhöhte Leistungsfähigkeit der bremischen Handels¬
flotte charakterisirt sich daher mehr als ein allgemeiner deutscher Kulturfortschritt,
weniger als ein Zeichen speziell bremischen Aufschwungs."
Die hier angeführten Thatsachen sind niederschlagender Natur, sie betrüben
umsomehr, als es in Bremen Momente genug giebt, die ein fröhliches Gedeihen
fördern könnten. Die Kapitalbildnng hat einen erfreulichen Stand erreicht, aber
das Kapital steht vielfach am Markt ohne Verwendung. Der Kaufmann bewahrt
in sich den Unternehmungsgeist der Vorfahren, aber seine Kraft ist gelähmt Es
wäre ein Irrtum, wenn man die geschilderten Zustände auf eine einzige Quelle
zurückführen wollte. Der wirtschaftliche Niedergang der alten Hansestadt an der
Weser schreibt sich von verschiednen Ursachen her. Falsch aber würde es sein, wollte
man in der Krisis der Schwindel- und Gründerperiode die Hauptursache erblicken.
Deutschland hat diese Krisis bereits hinter sich, Handel und Wandel blühen wieder,
nur in Bremen nicht. Wäre es ein lebendiges Glied des deutschen Wirtschafts-
organismns gewesen, so hätte es auch ihm an Gedeihen nicht fehlen können. Hätte
es mit Deutschland gemeinsam gelebt und gelitten, so wäre es auch mit ihm wieder
emporgestiegen. Seine Absperrung von Deutschland ist der Hauptgrund seines
Wirtschaftlichen Sinkens. Der deutsche Export hat riesenhafte Dimensionen erreicht
und wird sicherlich noch größere annehmen. Aber an Bremens Thoren geht er
meistenteils vorüber. Es ist hohe Zeit, hier Wandel zu schaffen durch Eintritt in
den nationalen Zollverband — es ist Gefahr im Verzüge, große Gefahr.
Das vorliegende Buch — gleichzeitig das erste Heft des dritten Bandes der
von Conrad in Halle herausgegebenen Sammlung nationalökonomischer und statistischer
Abhandlungen — erscheint zu einer sehr gelegenen Zeit. Es liegt der bereits in
diesen Blättern so eingehend besprochene Entwurf eines Aktienreformgesetzes dem
Bundesrate zur Beschlußfassung vor und nimmt die öffentliche Anfmerksamkeit in
hohem Grade in Anspruch. Der Entwurf des Reichsjustizamts enthält gleichfalls
statistische Beilagen, wie sie in dem preußischen statistischen Bureau vorbereitet
wurden; allein es werden in diesen Tabellen, wie jene Besprechung in den Grenz-
boten hervorhob, nur die Gruppen der Gesellschaften behandelt und die einzelnen
Gesellschaften selbst nicht erwähnt. Die Rücksicht, welche der Entwurf der Reichs-
regieruug zu nehmen hatte, braucht von den: Verfasser des hier vorliegenden Buches
nicht beobachtet zu werden. Er hat mit einem höchst anerkennenswerten Fleiße
das überall zerstreute Material nicht nur für das deutsche Reich, sondern auch
für Österreich zusammengetragen, und seine Arbeit bildet nicht nur eine wertvolle
Ergänzung des mehrerwähnten Entwurfs, sondern sie ist zur Zeit das einzige Buch,
welches in möglichst vollständiger und erschöpfender Weise die Statistik der Aktien¬
gesellschaften darstellt. Für einen Zeitraum von nahezu zwanzig Jahren werden
die Dividenden, Kurse und Bilanzauszüge der gedachten Gesellschaften übersichtlich
für jede einzelne zusammengestellt. Wie schon der Titel des Buches angiebt, will
der Verfasser ein diesen statistischen Ergebnissen prüfen, inwieweit sich die Aktien¬
gesellschaften bewährt haben. Er thut dies in sehr ruhiger und objektiver Weise,
indem er namentlich Vergleiche mit dem Privatgcwerbebctriebe anstellt. Die Re¬
sultate, zu denen der Verfasser auf diesem empirischen Wege gelangt, stimmen im
großen und ganzen mit denen überein, zu welchen der Entwurf der Reichsrcgie-
ruug in seinen allgemeinen Grundzügen gelangt ist. Die Vorteile des Aktien¬
wesens und seiue Nachteile werden in gleicher Weise geschildert. Es ist selbst¬
verständlich, daß sich bestimmt formulirte Sätze dafür, welche Betriebsarten
sich für die Form der Aktiengesellschaften eignen und welche nicht, auch aus einer
noch so umfangreichen und genanen Statistik nicht ergeben lassen. Denn die
allgemeinen Handelskonjnnktnren bilden doch anch für diesen Gewerbebetrieb die
Grundlagen und beeinflussen denselben in derselben Weise wie den Privatbetrieb.
Nichtsdestoweniger siud diese Zahlen sehr beredte Zeugen für den Entwicklungs¬
gang der Aktiengesellschaften, und wer eine neue Gesellschaft gründen oder sich
bei einer solchen beteiligen will, der wird ans dem Borghtschen Buche sehr viel
lernen können. Nicht minder werden alle diejenigen, welche mit dem Aktienwesen
in Verbindung stehen, an diesem Buch eine reiche Fundgrube treffender Gedanken
haben, und bei der bevorstehenden Reformgesetzgebung wird dasselbe einen will¬
kommenen Ratgeber für die maßgebenden Kreise abgeben.
Der auf dem Felde der Shakespearcforschnng bereits bewährte Verfasser hat
ans österreichischen Archiven eine Anzahl von Nachrichten zutage gefördert, durch
welche, zunächst die Anwesenheit englischer Komödianten an dem erzherzoglichen
Hofe zu Graz in den Jahren 1607 und 1603 beglaubigt wird, und die ihn luden
Stand setzten, einerseits das Repertoire dieser Truppe festzustellen, andrerseits das
Verhältnis derselben zu den in andern Gegenden nachgewiesenen Gesellschaften ins
klare zu bringen. Überzeugend legt er dar, daß die Religionsspaltung auch auf
die Wanderungen der Komödianten Einfluß genommen hat, indem der katholische
John Green sich nach dein Süden wandte, während seine protestantischen Genossen
die nordischen Städte heimsuchten. Er ist ferner so glücklich gewesen, ein voll¬
ständiges Thcaterreferat aus der Feder einer Prinzessin und ein Exemplar der
Bearbeitung des „Kaufmann von Venedig," welche damals in Deutschland unter
verschiedenen Titeln aufgeführt wurde, aufzufinden. Ferner ergiebt seine kritische
Untersuchung, daß die bisher vielbeuutzten Mitteilungen Schlagers (in seineu Wiener
Skizzen und in den Berichten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften) über
das älteste Wiener Schauspiel im höchsten Grade unzuverlässig, zum Teil auf
leichtfertigen Schlüssen, zum Teil auf wirklichen Entstellungen basirt sind. Die
Arbeit Mcißncrs ist also eine sehr wertvolle. Auch Leser, welche nicht eigentlich
zur Shakespearegemcinde gehören, werden mit Vergnügen den Brief lesen, in
welchem die Erzherzogin Magdalena (damals achtzehnjährig und Braut des Erb-
großherzogs Cosimo Medici von Florenz) in naivem und heiterm Tone ihrem in
Regensburg weilenden Bruder, dem nachmaligen Kaiser Ferdinand II.,- Bericht
über ihre Faschiugsbelustigungen erstattet. Da giebt sie getreulich Tag für Tag an,
was „die Engellendcr," und was „die Patres (Jesuiten) für Comcdi gehabt haben,"
bezeichnet auch die Stücke als „erschröckhlich," „gar sein und züchtig" n. tgi. in.
„Am unsinigen Montag" führten die Engländer eine Komödie „von ein Khünig
von Khipern und von ein Herzog von Venedig" auf, die „auch gar schön gewest
ist." Dies ist eben der „Kaufmann von Venedig." Das in der Wiener Hof¬
bibliothek erhaltene Exemplar, welches Meißner wortgetreu zum Abdruck bringt,
heißt „Das wohl gesprochene Urtheil eines weiblichen Studenten oder der Jud von
Venedig." Jener andre Titel aber ist dadurch gerechtfertigt, daß an die Stelle
Antonios und zugleich Basscmivs ein Prinz von Cypern getreten ist, den wir im
ersten Akt als obersten Ratgeber seines königlichen Vaters bei der Austreibung
der wuchernden Juden aus Cypern kennen lernen. Einer von den Vertriebenen,
Barrabas, schwört Rache, begleitet verkleidet den Prinzen nach Venedig, wird dort
in neuer Verkleidung Gläubiger des Prinzen und spielt nnn im wesentlichen die
Rolle Shylocks. Wie Meißner ohne Zweifel mit Recht annimmt, ist das Stück
aus dem Gedächtnis niedergeschrieben und für den damaligen Geschmack in Deutsch¬
land zugestutzt worden. Graziano und Lancelot Gobbo sind in dem „Pickclhäring,
des Printzen Diener" noch wiederzuerkennen, der in der Gcrichtsszene den Juden
auch mit dem Ausruf „Ein weiser Daniel!" Parodirt, übrigens Späße derbster
Natur macht.
Das Buch bildet das vierte Heft der „Beiträge zur Geschichte der deutschen
Literatur und des geistigen Lebens in Österreich."
as vergangene Jahr ist für uns Deutsche ein Jahr tiefen Friedens
und infolge dessen ein Jahr gedeihlicher Entwicklung gewesen.
Wird sich das nach zwölf Monaten auch von dem sagen lassen,
in welches wir in diesen Tagen eingetreten sind? Niemand, und
wäre er der scharfblickendste Politiker, sieht vollkommen klar in die
Zukunft, aber die Zeichen der Zeit sind so verheißungsvoll, daß wir wohl nicht
irregehen, wenn wir annehmen, Europa werde auch in dein neuen Jahre vor
einem großen Kriege bewahrt bleiben. Es ist wahr, in Frankreich haben sich die
Revanchebedürftigcn immer noch nicht beruhigt, und in einem Teile der Presse er¬
heben sie von Zeit zu Zeit recht laut und dreist ihre Stimme, aber sie bilden
nicht die Mehrheit, und selbst wenn sie diese bildeten, wäre Frankreich nicht wohl
imstande, einen Angriff auf seine östlichen Nachbarn zu unternehmen, falls es
ihn allein wagen müßte. Es ist ferner wahr, daß wir in Rußland in weiten
Kreisen bittere Feinde haben, daß Mißgunst über unsre Erfolge und panslavistische
Velleitäten dort noch jetzt bis in hohe Schichten der Gesellschaft hinaufreichen,
aber ebenso wahr ist, daß der Kaiser diese Gefühle nicht teilt, und daß der
Minister des Auswärtigen von Anfang seiner Thätigkeit als oberster Rat des
Zaren der Verständigung mit den beiden Mächten Mitteleuropas das Wort
geredet hat, und daß das Verhältnis der russischen Regierung zum deutschen
Reiche und zu Österreich-Ungarn gegenwärtig ein erheblich besseres ist als 1879
und bis in das verflossene Jahr hinein. Kaiser und Minister regieren aber in Peters¬
burg noch und werden aller Wahrscheinlichkeit zufolge noch lange nicht in die
Lage versetzt sein, den uns feindlichen Parteien ihren Willen zu thun. Ernster
Anlaß zu Befürchtungen ist also weder im Westen noch im Osten vorhanden,
.und daß jenen Mächten von deutscher Seite keinerlei Anlaß gegeben werden
Wird, mit Grund unzufrieden über uns zu sein, ist unter Verständigen wohl
allgemeine Überzeugung,
Die Hauptbürgschaft für die fernere Erhaltung des Friedens liegt darin,
daß Fürst Bismnrck ihn aufrichtig wünscht; denn Berlin wurde 1871 das Zentrum
des politischen Systems Europas und ist es seitdem mit jedem Jahre mehr ge¬
worden, und zwar nicht sowohl wegen der Macht, die der Kaiser vertritt, als
infolge der immer weiter sich ausbreitenden Befriedigung über den maßvollen,
allen Nachbarn wohlwollenden, allen unmittelbar oder mittelbar zum Segen ge¬
reichenden Gebrauch dieser Macht. Eine andre Bürgschaft haben wir in der
Furcht aller Regierungen und Völker vor großen Kriegen. Zwar sind alle ge¬
rüstet wie nie zuvor, und der Engel des Friedens, der eine preußische Pickelhaube
trägt und ein Mausergewehr schüttert, mag den Franzosen als sehr groteske
Figur erscheinen. Aber in ver Legende tragen auch andre Engel Waffen, und
das Paradies sogar wird nach dem Sündenfalle von einem Engel bewacht, der ein
flammendes Schwert führt. Wir sind eben noch nicht in dem goldnen Zeitalter
der Dichter und Propheten, wo der Pardel sich neben das Lamm lagert, um
es zu liebkosen, wo es nicht mehr vorkommt, daß „grimme Krieger sich mit
Augen voll Haß begegnen, daß die Gefilde sich mit blinkendem Stahl bedecken
und die ehernen Posaunen Wut entzünden," wo alle Lanzen zu Sensen umge¬
schmiedet werden. Der Friede Europas war im letzten Jahrzehnt etwas wesentlich
andres. Allerdings trafen in dieser Zeit hier keine grimmen Kriegsleute mit
Blicken voll Haß aufeinander, und keine ehernen Posaunen — höchstens die eine
oder die andre holzpapierne Zeitung mit chauvinistischen Leitartikeln — versuchte,
Wut zu entzünden. Aber jeder Herbst bedeckt die Stoppelfelder mit dem Stahl
manöverirender Truppen, und wir haben noch nicht gehört, daß Lanzen sich in
friedliche Sensen verwandelt hätten. Der Friede, dessen wir uns erfreuen, ist die
von der Notwendigkeit gebotene Ruhe von Völkern, welche, von der Erfahrung
belehrt, sich scheuen, von neuem die furchtbare Tragödie des Krieges aufzuführen.
In alter Zeit waren Feldzüge in vielen ihrer Zustände und Ereignisse schreck¬
licher als heutzutage. Man tötete die Verwundeten und Gefangenen mit kaltem
Blute, man vernachlässigte die eignen Kameraden, wenn sie verwundet waren, die
Dörfer, welche das Heer durchzog, wurden verbrannt, die erstürmten Städte geplün¬
dert. In allen diesen Beziehungen ist es in den letzten Jahrzehnten wesentlich besser
geworden. Aber wenn die heutigen Kriege einen viel humaneren Charakter trage»
als die frühern, so sind sie in ihren Folgen weit ernstere Ereignisse als jene.
Die Heere waren ehedem verhältnismäßig klein — selbst in den größten Schlachten
des spanischen Erbfolgekrieges und des siebenjährigen fochten selten viel mehr als
hunderttausend Mann mit einander — und ihre Kosten waren dementsprechend
leicht zu tragen; eine geringe Minderheit der erwachsene» Bevölkerung allein
war den Gefahren des Lagers und der Gefechte ausgesetzt, und diese Minderheit
bestand zum guten Teil aus Elementen, mit deren Untergang das bürgerliche
Leben und der Nationalwohlstand nicht viel verloren. Heutzutage sind die Massen,
welche wehrpflichtig sind, so ungeheuer, daß man nicht übertreibt, wenn man
sagt, die Aufgabe, als Soldat zu dienen, sei im größten Teile Europas das Loos
mindestens der Hälfte aller wehrfähigen Männer. So tritt der Krieg in jede
Werkstatt, an jeden Herd, in Hütte und Palast, so stört er mit seinen Forderungen
jede Arbeit lind jedes Geschäft, so verschont er keinen Stand und keinen Erwerb.
Neben den geringen Elementen der Bevölkerung nimmt er auch die besten und
für das wirtschaftliche Gedeihen der betreffenden Nationen wichtigsten rücksichts¬
los in Anspruch. Ebenso wird er in andrer Beziehung allgemeiner empfunden
als früher. Die heutigen Heere kosten wegen ihrer besseren Ausrüstung und
Versorgung in einer Woche mehr, als die Armeen, mit denen Prinz Eugen,
Marlborough und die Generale Ludwigs des Vierzehnten ins Feld rückten, in
einem ganzen Jahre an Geld verschlangen, und die Folge ist, obwohl unsre
Kriege meist einen kürzeren Verlauf haben als die in unsrer Großväter Tagen,
daß jeder Staat eine schwere Steuerlast zu tragen hat. In der That, man
mochte behaupten, daß es jetzt kostspieliger sei, den Frieden zu erhalten, als es
im vorigen Jahrhundert war, Krieg zu führen.
Die einzige Hoffnung bei diesem unerfreulichen Zustande liegt darin, daß
die hier angeführten Thatsachen sich seit 1871 den Regierungen nud Völkern
zum Bewußtsein gebracht haben. Eine solche Herausforderung, wie sie 1870
Napoleon der Dritte wagte, als er, von Ehrgeiz, Selbsterhaltungstrieb und
— nicht am wenigsten — von seiner jesuitischen Umgebung bewogen. dem König
Wilhelm und mit ihm der deutschen Nation den Fehdehandschuh hinwarf, wird
sicherlich eine lange Zeit nicht wieder in die Bücher der Geschichte zu verzeichnen
ssin. Man kann einwerfen, daß das Vorgehen Rußlands im Jahre 1877
gezeigt habe, daß die Lektion von Sedan in ihrer Wirkung nicht lange vorge¬
halten habe. Dabei würde man aber vergessen, daß dies ein Krieg war, den
nicht sowohl ein Kabinet, das aus eignem Entschlüsse handelte, als ein Herrscher
unternahm, welcher mehr oder minder von der unruhigen nationalen und reli¬
giösen Eroberungssucht seines Volkes dazu gedrängt wurde. Der Zar trug
übrigens dabei Sorge, sich die Flanken durch ein Bündnis oder wenigstens eine
Verständigung mit Österreich- Ungarn und Deutschland zu decken, er hielt ferner
die Türkei für eine Macht dritten Ranges, und er meinte endlich, dieselbe werde
bis zu Ende ohne Hilfe von auswärts bleiben. Halb machte damals Nußland
den Krieg, halb wurde es hineingetrieben, und es erscheint mindestens sehr un-
wahrscheinlich, daß eine Großmacht heute oder morgen wagen werde, einer andern
in so hitziger und schlecht überlegter Weise eine Herausforderung zuzuschleuderu
wie die vom Juli 1870.
Wäre ein solches Vorgehen wahrscheinlich, so könnte man es am ersten
von Berlin her erwarten — d. h. wenn man mit der dort herrschenden Gesinnung
unbekannt wäre und nur auf die dort zu Gebote stehenden Machtmittel sähe.
In der deutschen Reichshauptstadt begegnen wir dem Prestige gewaltiger Siege,
dort befindet sich das Hauptquartier der riesigen Streitmacht, mit welcher das
mächtige Frankreich von seiner Stelle als Gebieter und Schiedsrichter der euro¬
päischen Staatcngruppc hinweggcstoßen wurde.
Aber in Berlin denkt und waltet kein Napoleon. Wenn der erste Kaiser
dieses Namens von siegreichen Feldzügen in seine Hauptstadt zurückkehrte, ließ
er in jeder Depesche und in jeder Äußerung seiner Gesandten an fremden Höfen
das Gewicht seines Degens fühlen. Sein Ton und seine Haltung waren durch¬
weg Anmaßung und Überhebung. Jedes Zugeständnis, das er gewann, führte
ihn zu neuen Ansprüchen und neuen gebieterischen Forderungen. Er war, von
jedem Erfolge mehr geschwellt, unersättlich in dem Verlangen nach neuen Ehren,
neuen Huldigungen und neuem Ländergewinn. Kaum hatte er bei Austerlitz
Rußland und Österreich gedemütigt, als er Streit mit Preußen vom Zaune
brach, und nicht lange nach dessen Niederwerfung entthronte er den König von
Spanien, um dann Kehrt zu machen zur Erdrückung des Papstes. Bevor der
spanische Aufstand gedämpft und der heilige Vater zu voller Unterwerfung
gezwungen war, zog er zur Bekämpfung Rußlands aus. Vor keinem Unter¬
nehmen schreckte er zurück, keine Ausdehnung seiner Grenzen und seines Einflusses
stillte seinen Durst nach Macht. Er war der verkörperte Länderraub auf einem
Throne. Napoleon der Dritte war maßvoller und vorsichtiger, er war kein
Soldat, und er lebte unter andern Verhältnissen als der erste Kaiser der
Franzosen, er konnte nicht, was er sonst wohl gewollt und gewagt hätte. Aber
der Grundzug seines Charakters glich dem seines Oheims, und wenn er nicht
so viele Länder eroberte als dieser, so strebte er wie dieser nach gebietendem
Einfluß, und jeder Erfolg steigerte sein Begehren nach mehr davon. Er fühlte
sich zum Schulmeister und Schiedsrichter nicht bloß der alten, sondern — man
denke an Mexiko — auch der neuen Welt berufen.
Es ist interessant, mit dem Charakter der Napoleons das Wesen und Ver¬
halten Bismarcks zu vergleichen. Er war Sieger in zwei große» Kriegen, er
hat Österreich geschlagen, Deutschland geeinigt und Frankreich erdrückt, und jetzt
steht das Heer, das für seine Ideen und Zwecke kämpfte, vermehrt hinter einem
Netzwerke der stärksten Festungslinien der Welt. Und doch hat das von ihm
geschaffene und geleitete Deutschland, statt den Empvrkömmlingsdünkel an den Tag
legen, der jedes Wort und jedes Thun des ersten Napoleon bezeichnete und auch dem
dritten nicht fremd war, die letzten dreizehn Jahre sich in allen Äußerungen seiner
Politik maßvoll, billig und bescheiden verhalten. Es hat selbst Frankreich immer
mit außerordentlichem Entgegenkommen behandelt und ist jeder Einmischung bei
der Erwerbung von Tunis und Tonkin ferngeblieben. Es hat sich niemals
anders als auf Einladung und dann stets nur als „ehrlicher Makler" an der
Entscheidung der großen politischen Tagcsfrngen beteiligt. Die Besuche der
kaiserlichen Familie in Wien, Madrid und Rom galten immer nur friedlichen,
nie kriegerischen Zielen. In der That, Fürst Bismarck verschanzte seine Stellung
und sicherte sich Verbündete, als ob nicht Frankreich, sondern Deutschland bei
sedem besiegt worden wäre. Das anmaßende und rücksichtslose Auftreten der
Franzosen nach Jena entsprang ohne Zweifel zum guten Teile der leidenschaft¬
lich selbstsüchtigen, nach Ruhm dürstenden und in Angelegenheiten fremder Leute
erstaunlich unwissenden Denkart dieses Volkes, und die im Vergleiche hiermit
auffällige Bescheidenheit und Billigkeit, sowie die weitblickende Vorsicht der
Deutschen nach sedem ist ebenso sicher großenteils auf entgegengesetzte Charakter¬
züge unsrer Nation zurückzuführen. Aber andrerseits haben mit dem Verhalten
Deutschlands auch die Bedingungen der heutigen Kriegführung zu thun. Eine
nationale Niederlage legt heutzutage furchtbare Bußen auf, während ein natio¬
naler Sieg nicht ohne gewaltige Opfer und Kosten an Blut und Geld errungen
wird. Die Kriegsentschädigung, die Frankreich uus zahlte, ist in unsern Truhen
zusammengeschmolzen und verschwunden wie dnrch Zauber erworbenes Gold im
Märchen. Statt daß sich die Schwere unsrer Rüstung seit 1871 vermindert
hätte, sind wir seitdem stärker belastet. Wir müssen gut Wache halten und
dürfen nicht auf dem Posten einschlafen, wenn uns bewahrt bleiben soll, was
wir damals erwarben. Das Augenmerk des Fürsten Bismarck ist daher stetig
darauf gerichtet, vor den Blicken des rachsüchtigen Frankreich soviel militärische,
moralische und finanzielle Hindernisse aufzuschichten, daß dort ein Angriffskrieg
gegen die östlichen Nachbarn selbst der träumenden und schwärmenden Unwissen¬
heit so wahnsinnig erscheinen muß wie der Versuch der Titanen, die Himmels¬
burg der Götter zu stürmen. Ganz Mitteleuropa von der Haderslebener Föhrde
bis zur Südecke Siziliens hinab und vom Wasgenwalde bis zur Weichsel und
.bis ans Eiserne Thor steht, durch Bündnisse geeint, zur Verteidigung des Friedens
gegen jede Störung gerüstet, die von Westen her droht. Frankreich würde dabei
ohne Alliirte sein, Deutschland würde Österreich und Italien zu Mitstreitern
bei seinem Widerstande haben. Dies neutralisirt Rußland; denn ein Zar, welcher
gegen das mit zwei Großstaaten alliirte Haus Hohenzollern ein Bündnis mit
den Eintagsfliegen schließen wollte, die man in Paris Minister titulirt, würde
so wahnsinnig sein wie Kaiser Paul. Das Ziel des Fürsten Bismarck war und
ist nicht, Deutschland in einem neuen Kriege Erfolge zu sichern, sondern alles,
was in seiner Macht steht, zu thun, um einen neuen Krieg unmöglich zu machen.
Es liegt etwas satirisches darin, wenn fast zweitausend Jahre nach der Geburt
Christi, des Friedenbringers, drei große Monarchien, die über drei Millionen
Krieger gebieten, zusammentreten mußten, um Europa den Frieden wahren zu
können. Aber besser ein bewachter Frieden als gar keiner.
Vergleichen wir zum Schlüsse den jetzigen Zustand mit den früheren Verhält¬
nissen. Das vorige Jahrhundert suchte, was man den Stein der Weisen in der Politik
nennen kann: das Gleichgewicht der Mächte. Als die Tories den Frieden von Utrecht
vermittelten, verteidigten sie ihn gegen Tadler daheim damit, daß bei weiterer De-
mütigmig Frankreichs Deutschland der Diktator Europas werden würde. Ähnliche
Rücksichten diltirten 1814 das schonende Verhalten englischer und andrer Staats¬
männer, als Frankreichs Macht eingeschränkt werden sollte. Was man bei
diesen Gelegenheiten umsonst erstrebte, ist in den letzten Jahrzehnten großenteils
erreicht worden. Vor etwa drei Jahrhunderten gab es auf politischem Gebiete
nur drei Mächte von Bedeutung, den Kaiser, den König von Spanien und den
König von Frankreich. Später waren Frankreich, Österreich und Rußland dort
die drei großen Faktoren. Von 1815 bis 1830 beherrschten die Höfe von
Petersburg, Wien und Berlin die Politik des europäischen Festlandes, auf dem
sie bis 1848 bis zu einem gewissen Maße weiter den Ausschlag gaben. Jetzt
haben wir hier fünf Großmächte, von denen keine der andern sehr überlegen ist.
Rußland gebietet über mehr Menschen, aber es fehlt ihm an Bildung und Wissen¬
schaft, auch hat es weitgedehnte Grenzen zu bewachen. Deutschland besitzt in
militärischer Hinsicht ein trefflich geschultes Heer lind geniale Führer, aber nicht
den Reichtum wie Frankreich. Endlich könnten von einem Politiker, der an
Änderung der Landkarte dächte, auch Österreich-Ungarn und Italien nicht un¬
beachtet gelassen werden, da sie eine gute Stellung und ein wohlorganisirtes
Heer haben. Wird dieses neue Gleichgewicht der Mächte besser den Frieden
sichern als das alte? Wir glauben dies bejahen zu dürfen.
n Ur. 546 der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung wurde die
am 17. November zum Abschluß gebrachte Schwurgerichtsver¬
handlung gegen den Kommissionär Dickhoff einer kurzen Be¬
trachtung unterzogen und dabei u. a. hervorgehoben, das Schwnr-
gerichtsverfahreu verdiene die Anerkennung, „daß es die Möglich¬
keit gegeben habe, den unzweifelhaft Schuldigen auf bloße Indizien hiu zu treffe»,
welche andernfalls vielleicht der strafenden Gerechtigkeit entgangen wären."
Ähnliches und noch eifrigeres Lob ist von andern Seiten bei dieser Gelegenheit
dem Institut des Schwurgerichts gespendet worden, und doch dürfte gerade
diese Gelegenheit hierzu ganz besonders ungeeignet sein. Namentlich der letzte
Teil des obigen Satzes kann schlechterdings nur als eine Redensart bezeichnet
werden; denn „andernfalls" kann in diesem Zusammenhange doch uur bedeuten
„im nichtschwurgcrichtlichcu Verfahren," und daß ein schuldiger Angeklagter
unter irgend welchen Umständen in dem letztern Verfahren, namentlich also in
dem landgerichtlichen, mehr Chancen hätte, „der strafenden Gerechtigkeit zu
entgehen," wie in jenem, ist wohl nach von niemand behauptet worden. Sollte
indessen dem Verfasser des obigen Ausspruches wirklich diese Möglichkeit vor¬
schweben, so hätte er zu ihrer Illustrirung wenigstens nicht den Dickhoffschen
Fall wählen sollen.
Zunächst nämlich sind in dieser Sache 165 Zeugen vernommen worden,
und jeder Unparteiische wird einräumen, daß ein Jurist befähigter sei, die Fülle
des dabei produzirten Beweismaterials zu fixiren und in ihrem Ergebnis fest¬
zustellen, als ein Nichtjurist, Denn der erstere faßt die einzelne Zeugenaussage
von vornherein in juristischer Färbung auf, d. h. er unterscheidet das Wesent¬
liche von dem Unwesentlichen; sein Gedächtnis ist geschult, dergleichen aufzu¬
nehmen und zu vcrarbreiten; er ist gewöhnt, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu
taxiren; er besitzt mit einem Wort Routine in diesen Dingen. Der Geschworene
dagegen ist um solche Geistesthätigkeit durchaus nicht gewöhnt, und seinem Ge¬
dächtnis ist, seit er die — meist nicht sehr hohe — Schule verlassen hat, nie
eine auch nur ähnliche Aufgabe zugemutet worden, wie es eine solche Beweis-
würdignng ist; er steht dieser Anforderung genau so gerüstet gegenüber wie
der Jurist einer in des Geschworenen Fach einschlagenden Aufgabe, z. B. aus
dem Gebiete der Landwirtschaft oder eines speziellen Handwerkes; der Unterschied
ist nur der, daß der Jurist in diesen Fächern auf eigne Kosten dilettiren würde,
während der Geschworene das juristische Fach auf Kosten der Rechtspflege
traktirt!^
Unter diesen Umständen hätte man für die Zuverlässigkeit des Schwur-
gerichtsverfahreus nicht gerade den Dickhoffschen Fall mit seinen 165 Zeugen
^heranziehen sollen, sondern einen möglichst einfachen Fall mit möglichst geringen!
und durchsichtigem Beweismaterial, oder womöglich mit einem geständigen An¬
geklagten! Fühlte man sich aber durchaus in seinem Herzen gedrängt, die
Gelegenheit des Dickhoffschen Falles zu einem Lobe des Schwurgerichtsver¬
fahrens zu benutzen, so hätte dasselbe umgekehrt so lauten müssen: „Obwohl bei
der umfangreichen Beweisaufnahme mit 165 Zeugen ein Schwurgericht nicht
die Garantie bot, ein befriedigendes Urteil zu erzielen, so ist es doch in diesem
Falle gelungen, und es ist damit gezeigt worden, daß auch bei diesem Verfahren
die Möglichkeit vorhanden ist, den Schuldigen zu treffen." Diese Anerkennung, so¬
weit sie als solche acceptirt wird, wird jedermann gern zollen, ganz besonders
gern, wer die tausend Klippen, durch die das schwanke Schifflei» des schwurge-
richtlicheu Urteils in jedem Falle hindurchgcsteuert werden muß und an denen
es nur zu oft Schiffbruch leidet, aus eigner Erfahrung kennt.
Die norddeutsche Allgemeine Zeitung fährt aber in dem oben zitirtcu
Artikel mit der Behauptung fort, daß bei dem Schwurgerichtsverfahren „der
juristische Formalismus durch das lebende Rechtsbewußtsein des Volkes vermehrt"
(soll Wohl heißen „ersetzt") werde. Wir wollen hier davon absehen, daß jeden¬
falls eine Schwurgcrichtsverhaudlung mehr „juristischen Formalismus" auf¬
bietet als alle andern Arten der Gerichtsverhandlungen zusammengenommen,
und wollen nur einen Blick auf das „lebende Rechtsbewußtsein des Volkes"
werfen.
Zunächst: Wer ist dieses „Volk." dessen „Rechtsbewußtsein" den Richter-
spruch fällen soll? Wie in der Politik, so ist auch hier dieser Begriff etwas
so allgemeines, nndefinirbares, man möchte fast sagen metaphysisches oder
transcendentales, daß es niemand kennt, und in der That existirt es auch
nirgends. Wenn es aber in irgend einer vorstellbareu Form existirt, so gehört
doch der Jurist ebenso gut dazu, wie Gevatter Schneider und Handschuhmacher.
Aber dieses unsichtbare „Volk" hat obenein ein „Rechtsbewußtsein" und ent¬
scheidet damit einen konkreten Rechtsfall viel besser als ein juristischer Verstand!
Man könnte es daher in philosophischer Ausdrucksweise ein „metajuristisches"
nennen, indem es über die Grenzen des juristischen Verstandes hinausgeht und
jenseits desselben liegt; woher es denn wohl auch kommen mag, daß seine
Manifestationen dem letztern so oft unbegreiflich erscheinen. Um jedoch die
Bedeutung dieses „RechtSbewußtscins" für die Schwurgerichtsverhandlung voll¬
auf würdigen zu können, muß man sich klar machen, um was es sich bei der letzteren
für die Geschworenen eigentlich handelt. Der Angeklagte ist beschuldigt, eine
bestimmte Handlung vollbracht zu haben; die von der Staatsanwaltschaft und
dem Gericht herbeigeschafften Beweise werden den Geschworenen vorgeführt, und
die Pflicht der letzteren beschränkt sich darauf, aus diesen Beweisen die Frage
zu beantworten, ob der Angeklagte jene Handlung vollbracht habe oder nicht.
Was hat diese bloße thatsächliche Feststellung mit dem „Rechtsbewußtsein" zu
thun? Es ist eine reine Verstandesthätigkeit, eine Gedankenarbeit, welche umso
besser verrichtet werden wird, je klarer, schärfer, geschulter der dazu berufene
Verstand ist. Ob und wie die von den Geschworenen festgestellte Handlung
strafbar ist, entscheidet ja das Gesetz, beziehentlich der das Gesetz anwendende
Juristengerichtshof, und dieser allerdings nicht nach einem dunkeln Rechtsbe-
wußtsein, sondern nach dem Strafgesetzbuch. Da einerseits nur auf Grund
des geschriebenen Strafgesetzes eine Strafe verhängt werden kann (unUa xosng,
sah IsM), andrerseits das geltende Strafgesetz absolute Geltung hat, unter allen
Umständen angewandt werden will, so kann ein bloßes Rechtsbewnßtjein weder
zu Ungunsten noch zu Gunsten des Angeklagten in Betracht kommen, denn es
würde hier nicht weit genug, dort zu weit reichen, während es nur genau in
dem Umfange Bedeutung haben könnte, als es sich mit der lox serixta, deckt.
Daß es Schwurgerichte giebt, welche sich über diese ebenso wichtigen wie
einfachen Grundsätze entweder vollständig im Unklaren befinden oder dieselben
absichtlich ignoriren, und so, das Gesetz korrigirend, die Rolle des Gesetzgebers
sich anmaßen, ist bekannt. Besonders interessant ist hierfür folgendes Beispiel
aus der neuesten Schwurgerichtspraxis. Es liegt eine Anklage wegen Abtrei¬
bung vor; die Angeklagte ist geständig, die Geschworenen sprechen dieselbe je¬
doch frei, weil — der Verfasser hat diese „Urteilsgrnnde" aus dem Munde
eines beteiligten Geschworenen — diese ärmlichen Geburten, wie die von der
Angeklagten vereitelte gewesen wäre, nur geeignet seien, das soziale Elend zu
vermehren, die Zahl der Verbrecher zu erhöhen und die Armenbudgets der Ge¬
meinden zu belasten! Die Angeklagte habe daher die menschliche Gesellschaft
und den Nasciturus selbst nur vor einem Unglück beschützt und beiden einen
Dienst erwiesen; deshalb könne sie nicht bestraft, sondern müsse freigesprochen
werden, sei also der Abtreibung nicht schuldig. Man sieht, die Geschworenen
treiben Juristerei im großen Stil, sie begnügen sich nicht mit dem „juristischen
Formalismus," sondern treiben in einem simpeln strafgerichtlichen Urteil zu¬
gleich Gesetzgebung, Philosophie und Nationalökonomie. Statt zu erklären:
„Die Angeklagte ist der Abtreibung schuldig," beschließen sie: „Paragraph 218
des Strafgesetzbuches wird aus philosophischen und nationalökonomischen Er¬
wägungen aufgehoben"! Vor diesem „Rechtsbewußtsein des Volkes" streckt die
Waffen, ihr Herren Juristen! Hirte nicht auf dem Klepper euers Gesetzbuches
hinter dem Renner dieser Geschworcnenweisheit her, ihr könnt unmöglich kon-
kurriren! Schließt eure Hörsäle, ihr Professoren, und eure Manuskripte,
ihr Schriftsteller der Rechtswissenschaft! Überläßt diese, wie die Rechtspflege,
dem „lebenden Rechtsbewußtsein des Volkes"!
Wer bei so radikalen Maßregeln eine Gänsehaut bekommen sollte, der werfe
wenigstens die entsetzliche Phrase vom „Rechtsbewußtsein des Volkes" über Bord
und räume ein, daß man überhaupt nur von einem „Rechtsunbewußtsein des
Volkes" sprechen kann. Man sage ehrlich: In gewissen Fällen wollen wir keine
juristische Entscheidung, sondern eine solche nach dem unbewußten, dunkeln, in¬
stinktiven Rechtsgefühl, welches von jedem unbescholtenen Staatsbürger im Alter
von über dreißig Jahren erwartet werden kann.
Der Dickhoffschc Fall ist aber noch aus einem andern Grunde ungeeignet,
um als Fundament der aus seiner Veranlassung dem Schwurgerichtsverfahren
gespendeten Anerkennung zu dienen, nämlich negativ, indem er ein Hauptargument
gegen das Schwurgericht nicht berührt und daher nicht zu widerlegen vermag.
Man macht den Geschworenen den Vorwurf, daß das Mitleid ihre Ent¬
scheidungen in einer ungehörigen Weise beeinflusse, und ohne Zweifel ist dieser
Vorwurf sehr begründet. Bald geschieht dies unbewußt, indem das Mitgefühl
mit dem Unglück des Angeklagten die reine Verstandesthütigkeit hemmt und das
Urteil verdunkelt, denn Denken und Empfinden schließen einander derart aus,
daß beides nicht gleichzeitig stattfinden kann, ohne daß das eine auf Kosten des
andern stattfindet; bald geschieht es bewußt, d> h. die Geschworenen fällen
absichtlich ein falsches Urteil, weil sie den Angeklagten für nicht strafbar genug
halten, um ihn mit den Folgen des richtigen Urteils zu treffen, oder auch
weil der Mut hierzu fehlt, sie zu wenig Vertrauen zu ihrem eignen Urteil
haben, einen Irrtum für möglich halten und, um in jedem Falle ihr Gewissen
zu salviren, lieber eine falsche Freisprechung herbeiführen. Es ist bekannt, wie
erfolgreich die Verteidiger mit diesen Thatsachen operiren, und klar, wie erfolg¬
los dies vor einem Juristengericht sein würde, weshalb es hier garnicht versucht
wird. Natürlich giebt es Fälle, in denen sich Schwurgerichte dieses Vergehens
nicht schuldig machen, und die Freunde des Schwurgerichtsverfahrens sollten sie
sorgfältig sammeln. Aber gerade der Dickhoffschc Fall kann hierbei offenbar
nicht verwertet werden, weil für diesen Angeklagten doch selbst bei den senti¬
mentalsten Geschworenen Mitleid nicht in Frage kommen konnte, sondern eine
reine Lächerlichkeit gewesen wäre. Es war daher weder zu erwarten, daß das
schwurgerichtliche Urteil durch eine unbewußte Sympathie getrübt, noch daß den
Geschworenen der Mut fehlen würde, ihrer Überzeugung gemäß für den An¬
geklagten die Konsequenzen seiner Thaten zu ziehen, und dieser Fall läßt das
wohlbegründete Argument, daß die schwurgerichtlichen Urteile dem schädlichen
Einflüsse eines falschen Mitleids unterliegen, völlig unberührt und unwider-
leglich.
Aber nicht immer liegt die Sache so günstig, und es ist interessant, wieviel
ungünstiger die Geschworenen in einigen Untersuchungssachen daran gewesen zu
sein scheinen, welche mit der Dickhoffschen in dem zufälligen Zusammenhange
stehen, daß sie zu gleicher Zeit und in demselben Gerichtsgebäude mit jenem
verhandelt wurden. Man höre:
1. Am 14. Juli vorigen Jahres früh fünf Uhr hörte man aus der Wohnung
des Rentiers Lange in Berlin laute Hilferufe. Als man die verschlossene Thür
erbrach, fand man den 62 Jahre alten Lange im Kampfe mit dem Arbeits¬
burschen Gustav Hartner und am Hinterkopfe stark blutend. Hartner hatte ihm
mit einem schweren Hammer mehrere Schläge gegen den Hinterkopf versetzt und
räumte bei seiner Festnahme ein, daß er ihn habe töten wollen, um sich seines
Geldes zu bemächtigen, da er durch den bekannten Sobbeschen Fall auf diesen
Plan gebracht worden sei. Lange erholte sich von seinen Wunden. Die An¬
klage gegen Hartner lautete auf versuchten Mord und schweren Raub. Das
Schwurgericht erblickte jedoch hierin nur versuchten Totschlag, und der Ange¬
klagte kam mit einer verhältnismäßig gelinden Strafe davon, obwohl er die
„Überlegung," deren Vorhandensein den Mord vom Totschlag unterscheidet,
selbst eingeräumt hatte.
2. Die Frau des Schlächtermeisters Naumann in Berlin stieß ihrem Ehe¬
manne bei einem ehelichen Zwiste am 3. März vorigen Jahres ein Messer in
die Brust, an welcher Verletzung Neumann nach wenigen Tagen starb. Die An¬
klage lautete auf Totschlag; das Schwurgericht sprach die Angeklagte frei.
3. Die unverehelichte Bertha Ernestine H. hatte ein Liebesverhältnis mit
dem Architekten Hummel in Berlin unterhalten. Nachdem dieses Verhältnis
gelöst worden war und Hummel sich verheiratet hatte, drohte die unverehelichte
H. demselben mündlich und brieflich, daß sie sich rächen, insbesondere „daß sie
ihm und seiner Frau die Augen mit Oleum verbrennen werde." Am 23. Mai
1882 abends zehn Uhr ging Hummel über die Belleallicmce-Brücke in Berlin;
plötzlich trat die unverehelichte H. auf ihn zu und goß ihm den Inhalt einer
Flasche ins Gesicht; Hummel verschied an den erlittenen Brandwunden nach
anderthalb Tagen. Die H. erklärte bei ihrer ersten Vernehmung, daß sie seit
Jahren diese Rache geplant und die Handlung zu diesem Zwecke verübt habe.
Die Anklage lautete auf vorsätzliche Körperverletzung mit tötlichen Ausgange.
Die Geschworenen sprachen die Angeklagte frei.
Man wird, namentlich als Jurist, kein definitives Urteil über diese Ent¬
scheidungen fällen, ohne den Verhandlungen beigewohnt zu haben; indessen hat
man dazu genau soviel Recht wie bezüglich des Dickhoffscheu Falles, und wer
sich gestattet, diesen zu Gunsten der schwurgerichtiichen „Rechtspflege" ins Feld
zu führen, wird sich gefallen lassen müssen, daß ihm jene Fälle zu Ungunsten
derselben entgegengehalten werden, ohne daß man hier, wie dort, seine Ansicht
auf Grund der Verhandlung selbst geschöpft hat. Übrigens wäre der Verfasser
auch in der Lage, unter Berufung auf letztern Umstand, und insofern mit besserer
Fachlegitimation, eine große Anzahl zweifelloser Fehlsprüche der Schwurgerichte
aus eigner Praxis nachzuweisen; doch verzichtet er sür jetzt hierauf. Überhaupt
wäre ein Angriff auf das Institut der Schwurgerichte einer vielbändigen Be¬
gründung fähig und würdig, denn der Schaden, den diese „unbewußte" Recht¬
sprechung auf Grund des „lebenden Rechtsbewußtseins des Volkes" fortwährend
anrichtet, ist unberechenbar. Hier sollte darauf nicht weiter eingegangen, es sollte
nur gezeigt werden, daß es nach verschiednen Richtungen hin verfehlt und höchst
ungeschickt war, gerade den Dickhvffschen Fall zu einer Verherrlichung des
Schwurgerichtsverfayrens verwenden zu wollen, wozu derselbe schlechterdings
nicht geeignet ist.
n der Grenze des Mittelalters und der Neuzeit tritt uns ein
erhabner Fürst entgegen, der, von dem zaubervollen Schmuck der
Poesie bekleidet, noch heute für alle einen eigentümlichen Reiz
hat. Der letzte Ritter tummelt sich noch in ihm aus, aber er
begrüßt dabei schon mit Jubel die Morgenröte der neuen Zeit.
Er sieht das Alte dahinsterben und das Neue emporblühen und ist selbst eine
wunderbare Mischung von Altem und Neuem, von Phantasie und Verstand,
von Poesie und Prosa. Dieser Fürst ist Kaiser Maximilian I.
Am 22. März 14S9 als der Sohn des schwachen Kaisers Friedrich III.
geboren, verlebt er seine Jugend unter trüben Verhältnissen. Sein Vater genießt
im Reiche wenig Ansehen und wird von allen Seiten beunruhigt. Trotzdem
wächst der Prinz zu einem prächtigen Jüngling heran. Seine Naturanlagen
entwickeln sich schön, auf der Jagd und im Turnier kommt keiner ihm gleich.
Der alte Kaiser will solche Vorzüge zur Vergrößerung seiner Hausmacht
benutzen. Was ihm auf dem Wege der Politik nicht gelingt, will er durch
Heiratspläne durchsetzen. Sein Augenmerk richtet sich auf den reichen Karl
von Burgund, dessen schöne Tochter Maria die einzige Erbin des burgundischen
Landes ist. Herzog Karl, der nach dem Glänze einer Königskrone strebt, kommt
den Wünschen des Kaisers entgegen. Auf der Zusammenkunft in Trier 1473
soll die Verlobung Maximilians und Marias zum Abschluß kommen; aber die
Sache scheitert, und Karl verliert 1477 in der Schlacht vor Nancy sein Leben.
Was die Politik nicht vollbracht hat, fügt das Schicksal selbst. Karls Tod
führt in Burgund schwere Verwirrungen herbei. Die Unterthanen empören sich,
und Ludwig XI. von Frankreich fällt ins Land ein. Die arme Maria sucht
einen männlichen Schutz, und ihr Auge richtet sich auf Maximilian. Max
unternimmt seine Brautfahrt, zieht in prangender Jugendschönheit in Gent ein
und wird am 20. August 1477 mit Maria getraut. Außer einer herrlichen
Braut hat er die reichen und blühenden Besitzungen des burgundischen Staates
sür Österreich erworben. Aber Glück erregt Neid. Ludwig XI. vou Frankreich
hat die Vermählung Marias mit dem Dauphin gewünscht und macht seinem
Ingrimm durch einen Krieg Luft. Maximilian muß ihm 1479 in der Schlacht
bei Guinegate zeigen, daß er als zwanzigjähriger Jüngling schon wie ein Alter
zu fechten versteht. Außer dem Neide der Menschen erregt aber allzugroßes
Glück auch den Neid der Götter. Schon 1482 stirbt infolge eines unglücklichen
Sturzes auf der Falkenjagd die Erzherzogin Maria, die belgische Venus, wie
man sie wegen ihrer Schönheit, die burgundische Diana, wie man sie wegen
ihrer Jagdlust nannte, nachdem sie ihrem Gatten zwei Kinder, Philipp und
Margaret«, geschenkt hat. Daran schließen sich für Max, der als Vormund
seines Sohnes Regent der Niederlande ist, unsägliche Wirren. Die Städte,
die ihm schon bei Lebzeiten Marias Sorge und Not gemacht haben, lassen ihn
nicht mehr zur Ruhe kommen. Flandern empört sich; Karl VIII., Ludwigs XI.
Nachfolger, unterstützt die Aufrührerischen. Maximilian, damals 26 Jahre alt,
kann nur einen Augenblick der Ruhe benutzen, um nach Deutschland zu reisen
und sich in Frankfurt 1486 zum römischen König erwählen, in Aachen krönen
zu lassen. Kaum ist er in seine Lande zurückgekehrt, als die Unruhen von
neuem beginnen. Man nimmt ihn in Brügge gefangen und läßt ihn nur
unter demütigender Bedingungen frei. Er verläßt, nachdem Friede geschlossen,
freudig die Niederlande und wendet sein Hauptaugenmerk auf seine Erdtaube
Österreich. Sämtliche Ungewitter, welche sich über seinem Haupte zusammenziehen,
werden glücklich von ihm zerstreut, Frankreich, Ungarn und die Niederlande zur
Ruhe gebracht. Während seine Angelegenheiten sich auf diese Weise entwickeln,
wird sein alter Vater 1493 aus dem Leben abgerufen. Maximilian tritt als
römischer König die Regierung an und ruft die größten Hoffnungen in ganz
Deutschland wach. Da er in allen Stücken ein schroffer Gegensatz zu seinem Vater
ist, sieht man in ihm die Bürgschaft für eine bessere Zukunft. Eine tüchtige
Persönlichkeit thut aber auch Not. Es müssen durchgreifende Maßregeln
ergriffen werden, um Deutschland aus der abschüssigen Bahn des Verderbens,
in die es geraten ist, herauszureißen. Mit dem Jahre 1494 beginnt Maxi¬
milians Thätigkeit als Reichsvberhcmpt. Sein erstes Bestreben geht dahin,
dem Reiche eine Kaiserin zu geben. Er wählt die ihm von Lodovico Sforza
mit einer reichen Mitgift angetragene Maria Bianca, mit der er dann 17 Jahre
lang, freilich kinderlos und wenig glücklich, verheiratet ist. Nun wendet er
sich den deutschen Angelegenheiten zu. Er gründet ans dem Reichstage zu
Worms 1495 den ewigen Landfrieden, der dem bisherigen Fehdewesen steuern
soll, und setzt das Reichskammergericht ein. Während er so für das Reich
sorgt, wird seine Aufmerksamkeit nach Italien gelenkt, das von seinem Vater
unbeachtet gelassen worden ist. Es beginnen die italienischen Wirren. Lodovico
Moro von Mailand hat, um sich Neapel vom Halse zu schaffen, Karl VIII.
ins Land gerufen. Dieser hat im Siegestaumel 1494 ganz Italien durchzogen
und bedroht den Moro selbst, der nur durch sein Bündnis mit dem Papste und
Max vom Untergange gerettet wird. So steht Maximilian mit einemmale
mitten in der Löwengrube, in die schon so viele deutsche Kaiser ihre Füße gesetzt
hatten, und macht 1496 einen Zug nach Italien. Unterdessen naht wieder von
einer andern Seite eine Verwicklung. Die Eidgenossen versagen dem Reichs-
kammergericht die Anerkennung und verweigern die ihnen als Reichsgliedern
abverlangte Dienstmannschaft, Max will sie mit Waffengewalt zwingen, muß
aber, in der Schlacht bei Dvrnach überwunden, im Baseler Frieden von 1499
von seinen Forderungen abstehen. Noch während des Friedensschlusses eröffnet
sich das Kriegsschauspiel in Italien wieder. Ludwig XII., Karls VIII. Nach¬
folger, erneuert seine Ansprüche auf Mailand, besiegt 1499 Lodovico Moro
und schleppt ihn in die Gefangenschaft. Max kann trotz eifriger Bemühungen
von den deutschen Ständen keine Mittel erhalten, um in die Wirren einzugreifen.
Nachdem diese Angelegenheiten entschieden, findet er einen Augenblick Zeit, seiner
Lieblingsidee, einem Kriege gegen die Türken, nachzuhängen. Aber kaum hat
er den Plan entworfen und die Se. Georgengesellschaft gegründet, als er schon
wieder durch den bairischen Erbfolgcstreit beschäftigt wird. Bald darauf wird
sein Vaterherz von dem schwersten Schlage getroffen. Sein Sohn Philipp,
als Schwiegersohn der vor kurzem verschiedenen Königin Isabella soeben König
von Kastilien geworden, stirbt 1596 zu Burgos, und mit ihm werden tausend
herrliche Hoffnungen zu Grabe getragen. Nachdem Maximilian seine Tochter
Margareta zur Statthalterin der Niederlande ernannt hat, denkt er daran,
endlich einen Römerzug zu unternehmen, um sich von Julius II. zum römischen
Kaiser krönen zu lassen. Es ist vergeblich, Venedig versperrt ihm den Durch-
zug, und Max nimmt nur den Titel eines erwählten römischen Kaisers an.
Rache an Venedig ist jetzt sein Ziel. Und er greift, um dieses zu erreichen,
zur äußersten Maßregel. Er vereinigt sich 1S98 durch den unseligen Bund
von Cambray mit Ludwig XII., Ferdinand dem Katholischen und Julius II.
zur Teilung des venetianischen Gebietes. Es folgt der unglückliche italienische
Krieg. Das unnatürliche, ans lauter Gegnern zusammengesetzte Bündnis schlägt
binnen kurzem in sein Gegenteil um. Der ursprünglich gegen Venedig gerichtete
Krieg richtet sich gegen den gemeinsamen Feind Italiens, Ludwig XII. Auf
das Schlagwort: „Rache an Venedig" folgt das andre: „Hinaus mit den
Franzosen aus Italien." Durch die heilige Liga wird Venedig gerettet und
verliert Frankreich seine Eroberungen in Italien. Und nicht genug damit:
England, Spanien und der Kaiser fallen gleichzeitig in Frankreich ein, und
Maximilian schlägt die Franzosen 1613 in der neuen Schlacht von Guiuegate.
Aber die Rechnung ist ohne den Wirt gemacht. Auf Ludwig XII. folgte 1518
der feurige Franz I., der nichts eiligeres zu thun hat als über die Alpen zu
ziehen und Mailand von neuem zu unterwerfen. Der 1516 geschlossene Friede
von Nohon spricht ihm die Stadt endgiltig zu, und so endet der langwierige
Krieg ohne irgendwelchen Nutzen sür den Kaiser. Nachdem diese leidige Ange¬
legenheit erledigt ist, wendet sich Max sofort andern Aufgaben zu. Er teilt das
deutsche Reich in zehn Kreise, ordnet die ungarische Erbfrage, nimmt seinen
Lieblingsgedanken, einen allgemeinen Krieg gegen die Türken, von neuem auf
und verfolgt mit reger Aufmerksamkeit die Anfänge der Reformation. Da befällt
ihn mitten in dieser angespannten Thätigkeit auf der Jagd in Oberösterreich ein
Fieber. Er stirbt in Wels am 12. Januar 1619, im 26. Jahre seiner Regierung,
im 59. seines Lebens.
Maximilians Leben ist eins der thätigsten, die man sich denken kann, und
es wäre nicht zu verwundern, wenn es ganz in diesen politischen Arbeiten auf¬
gegangen wäre. Das ist jedoch durchaus nicht der Fall. Nicht nur den po¬
litischen Tageswirren widmete er sich. Sein Leben gehörte auch der Dichtung,
der Wissenschaft und der Kunst. Nicht nur der Geschichtschreiber, auch der
Literarhistoriker, Kulturhistvriker und Kunsthistoriker hat auf Kaiser Maximilian
Anspruch. „Gleich wie unter dem günstigsten Gestirne, wanderten unter Max
alle schonen Künste, alle edeln Wissenschaften, alle Studien nach Deutschland,
welches ihrer in Roheit und Dürftigkeit lange entbehrte." In diesen Worten
hat Cuspinian den Kaiser gefeiert. Und noch bestimmter führt Zasius in einer
ähnlichen Stelle die Vertreibung der Barbarei aus Deutschland und die Blüte
der Wissenschaft und Kunst auf Maximilians Einfluß zurück. Alles, was mit
der Wissenschaft zu thun hatte, war Max gleich lieb. Alles, was Deutschland
an geistigen Großen besaß, in seinen Dienst zu ziehen oder in Beziehung zu sich
zu setzen, galt ihm als eine der wichtigsten Aufgaben. Er berief den Konrad
Celtes, Cuspinian wurde sein Sekretär, Hütten sein gekrönter Poet, Erasmus
sein Rat, Trithemius sein theologischer Beistand, Gener von Kaisersperg sein
Beichtvater. Auch jeder Kunstzweig war dem Schutze und der Förderung des
Kaisers sicher. Er trat in regen Verkehr mit allen kunstsinnigen Männern
Deutschlands, fragte sie um ihren Rat und benutzte sie bei seinen künstlerischen
Unternehmungen. Er hatte zum ersten künstlerischen Beirat den gelehrten
Dr. Konrad Peutinger in Augsburg, der, patrizischen Geschlecht entsprossen und
in Italien zu einer Zeit gebildet, wo gerade Wissenschaft und Kunst sich zu
prachtvoller Blüte entfaltet hatten, seit 1493 als Stadtschreiber in Augsburgischen
Diensten stand und der Stolz seiner Vaterstadt als Gelehrter wie als Staats¬
mann war. Er benutzte als Vertrauensmann bei seinen künstlerischen Unter¬
nehmungen den lustigen Weltweisen Willibald Pirkhehmer in Nürnberg sowie
den vielseitig gebildeten Probst Melchior Pfinzing. Er umgab sich mit den
nicht mir gelehrten, sondern auch künstlerisch angelegten Männern Marx Treiz-
sauerwein und Johannes Stadius. Und er war den Künstlern seiner Zeit
August und Mäcen in einer Person.
Diese Kunstliebe des Kaisers ist für die deutsche Kunst nicht hoch genug
anzuschlagen.
Das fürstliche Mäzenatentum hat in frühern Jahrhunderten eine viel größere
Rolle gespielt als heutzutage, wo die Kunst eine mehr private geworden ist
oder, wenn sie öffentlich ist, mehr von den Städten gepflegt wird. Die griechische
Kunst würde sich trotz Phidias und den Seinen nie zu ihrer erhabenen Höhe
emporgeschwungen haben, wenn nicht Perikles die Künstler in die richtigen Bahnen
gewiesen hätte, ihnen durch die Aufgaben, die er ihnen stellte, Gelegenheit ge-
geben hätte, ihre Kräfte zu gebrauchen. Und auch die italienische Kunst des
sechzehnten Jahrhunderts würde sich nie zu ihrer vollen Blüte entfaltet haben,
wenn nicht damals gerade Julius II. und Leo X. auf dem Stuhle Petri ge¬
sessen hätten. Ausschließlich der Thatkraft Julius' II. verdanken Bramantes
Se. Petersbau, Michelangelos Decke der Sixtina, Raffaels Fresken in den
Stanzen des Vatikans ihr Dasein. Julius II. war es, der den Geist dieser
Männer erkannte, sie davon abhielt, ihre Kräfte zu zersplittern, immer größere
und erhabenere Aufgaben an sie stellte. Sein Nachfolger Leo X. war es, der
dann mit dem reichen Kunsterbe seines Vorgängers wucherte.
Was sür die italienische Kunst Julius II. und Leo X. sind, das ist für
die deutsche Kaiser Maximilian I.
Freilich hat fast alles fürstliche Mäenatentum jener Zeit einen erdigen
Beigeschmack. Die Kunst ist nur selten die hohe, unverwelkliche Göttin, zu welcher
der Fürst betet, sie ist in sehr vielen Fällen nur die Dienerin, welche der
Majestät die Schleppe nachzutragen hat. Julius II. würde aus bloßer Lieb¬
haberei die Kunst schwerlich so gepflegt haben, sie erscheint bei ihm als eine dem
Papsttum und der Kirche dargebrachte Huldigung; er pflegte sie, weil sie dazu
beitrug, dem Papsttum einen goldigen Nimbus zu verleihen. Leo X. gar schätzte
sie nur deshalb, weil sie imstande war, seine eigne Person zu verherrlichen
und seinen Lebensgenuß zu erhöhe».
Ähnlich wie Leo X. hat auch Kaiser Maximilian — das läßt sich nicht
leugnen — die Kunst hauptsächlich persönlicher Interessen wegen gepflegt. Es
war nicht die Freude am schönen Kunstwerk als solchen, die ihn dazu veran¬
laßte; auch ihm diente die Kunst in den meisten Fällen nur dazu, sein Haus
und seine Person zu verherrlichen. Maximilian war wie jeder echte Renaissance¬
mensch von dem Gedanken durchdrungen, daß von allen Lebensgütern der Ruhm
das höchste sei. Durch sein ganzes Dasein zieht sich das Streben, für die
Sicherung des eignen Nachruhms in der nachhaltigsten Weise selbst zu sorgen.
„Wer sich in seinem Leben kein Gedächtnis macht, schreibt er in einem seiner
Werke, im »Weißkunig,« der hat nach seinem Tode kein Gedächtnis, und des¬
selben Menschen wird mit dem Glockenton vergessen. Darum ist das Geld, das
ich für mein Gedächtnis ausgebe, nicht verloren, sondern das Geld, das erspart
wird an meinem Gedächtnis, das ist eine Unterdrückung meines künftigen Ge¬
dächtnisses, und was ich im Leben zu meinem Gedächtnisse nicht vollbringe,
das wird nach meinem Tode weder durch dich noch durch andre dazu gethan
werden." Zur Aufrichtung eines „Gedächtnisses," zur Erlangung unsterblichen
Nachruhmes sollte ihm die Kunst behilflich sein.
Dazu kommt ein zweites, was für die Kunstpflege Kaiser Maximilians
bezeichnend ist. Die Kunst dient nicht nur der Person des Kaisers, sie ist in
vielen Fällen auch nicht eine freie Schwester der Wissenschaft, sondern deren
Dienerin. Da der Kaiser eine ganze Reihe gelehrter Ratgeber zu seinen kunst-
lerischen Unternehmungen heranzog, so feierte darin mehr und mehr die Gelehr¬
samkeit ihre Triumphe. Die Künstler, welche der Kaiser beschäftigte, hatten nur
selten freie Hand, in vielen Fällen hatten sie nur weitschweifige, von den einzelnen
Gelehrten ersonnene Programme auszuführen. Dies beides, daß die Kunst die
Dienerin der kaiserlichen Majestät und die Dienerin der Gelehrsamkeit war,
müssen wir in den Kauf nehmen, wenn wir die Kunstbestrebungen des Kaisers
Maximilian würdigen wollen. Und wir können es leicht, da seine Kunstliebe
trotz alledem Herrliches und unvergänglich Schönes hat erstehen lassen. Freilich
sind fast alle diese Werke vom Kaiser nur vorbereitet worden. Sein frühzeitiger
Tod im Jahre 1519 hinderte die Ausführung, und erst der begeisterten Hingabe
nachfolgender Geschlechter blieb die Vollendung der meisten Werke Kaiser Maxi¬
milians vorbehalten.
Wer das rastlose Leben Maximilians kennt, wird sich nicht darüber Wundern,
daß er keine großen monumentalen Bauten ins Leben rief. Über seine Beziehungen
zur Architektur läßt sich am wenigsten sagen. Daß er aber ein tiefes Ver¬
ständnis dafür hatte, beweist der Umstand, daß er über Baukunst geschrieben hat.
Weit mehr wurde die Plastik durch ihn gefördert, und zwar in erster Linie
durch sein prächtiges Grabmal in Innsbruck.
Daß gerade Maximilian auf den Gedanken zu einem Prachtgrabmal ver¬
fiel, darf nicht wunderbar erscheinen. Für das Leben hatte der rastlose Kaiser
nie einen festen Wohnsitz. Er war immer unterwegs von Pfalz zu Pfalz, von
Stadt zu Stadt; seine Heimat war der Steigbügel, seine Residenz der Sattel.
Da ist es natürlich, daß er sich sehnte, wenigstens nach dem Tode eine dauernde
Wohnung zu haben, wie er denn in seinen letzten Lebensjahren immer einen
prächtigen Sarg bei sich zu führen und darüber zu außer» pflegte: „Ich führe
diese Lade bei mir zum Gebrauch eines Dinges, das mir eins von den
liebsten ist."
Aber auch die allgemeine Zeitrichtung kam dem Wunsche, in einem Pracht¬
grabe beigesetzt zu werden, entgegen. Der Gräberluxus spielt in der italienischen
wie in der deutschen Renaissance eine große Rolle. Jeder vornehme Italiener
ließ schon bei seinen Lebzeiten sein Grabmal anfertigen und selbst aufstellen,
nach dem bekannten Ratschläge, den man am Grabe eines römischen Prä¬
laten liest:
LsrtÄ äiss nulli sse, mors osrw; mosria ssauentum
Lüi's,; looot tnmlllum, sMt, arrts sibi.
Es gab Leute, die das kümmerlichste Leben führten, nur um einst ein Grab¬
denkmal zu haben, die frühmorgens schon mit Architekten und Marmorarbeitern
bei allen antiken Ruinen herumzogen, nachmittags todmüde nach Hause kamen
und nachts von weiter nichts als von Gesimsen, Friesen und Säulen ihres Grab¬
mals träumten. Ähnlich wie in Italien, war auch in Deutschland der Gräber-
luxus verbreitet. Eine der glänzendsten derartigen Leistungen ist ohne Zweifel
Kaiser Maximilians Denkmal in der Hofkirche zu Innsbruck.
Der Plan des Werkes wurde um 1508 vom Kaiser selbst gefaßt und mit
dem gelehrten Konrad Peutinger in Augsburg festgestellt. Der Beginn der
eigentlichen Arbeiten fällt in das Jahr 1509. Maximilian berief in diesem
Jahre den Bildhauer Jörg Muschgat aus Augsburg an seinen Hof, um mit
ihm das nötige zu besprechen. Dieser hatte in Augsburg die Modelle zu den
Statuen anzufertigen- In Augsburg sollte dann noch in demselben Jahre rin
dem Guß der einzelnen Standbilder begonnen werden, welcher Hans und Lanx
Zotman, sowie Lorenz sartor übertragen wurde. Gleichzeitig wurde auch in
Innsbruck eine Gußhütte unterhalten und mit der Oberaufsicht über sie des
Kaisers früherer Hofmaler Gilg Sesselschreiber von Augsburg betraut. Aber
man verfuhr in Innsbruck sehr saumselig. Noch 1511 fehlte es dem Künstler
an den nötigen Einrichtungen, und 1513 hatte man erst ein Bild gegossen und
sechs entworfen. Da man bei diesem langsamen Betriebe nicht rasch genug
vorwärts kam, so wurde im Jahre 1513 noch an einem dritten Orte, in Nürn¬
berg, gearbeitet. Peter Bischer wurde mit Aufträgen für das Grabmal beschäftigt.
Er war eifrig bei der Arbeit und hatte schon im Juli desselben Jahres eine
Statue beinahe vollendet. Mit der Bezahlung mußte er freilich lange warten.
Erst im Juli 1517 unterhandelte der Nürnberger Gesandte mit dem Kaiser
wegen Bezahlung Peter Wischers. Bei der Geldverlegenheit, in welche Maximilian
gerade um 1512 infolge des unglücklichen italienischen Krieges geraten war,
darf man sich über nachlässige Bezahlung der Künstler nicht wundern. Ebenso
ist es klar, daß diese vielfache Geldverlegenheit den Fortgang der Sache
hemmen mußte. 1516 nahm man einen neuen Anlauf. In Innsbruck wurde
der mit der Leitung des Unternehmens betraute Gilg Sesselschreiber von neuem
mit großen Aufträgen bedacht, da er sich aber als unzuverlässig erwies, 1518
der Arbeit enthoben. Außer in Innsbruck ließ man anch in Augsburg weiter
arbeiten, wo Muschgat die Modelle herzustellen hatte. Freilich kam auch hier
die Geldnot des Kaisers störend dazwischen, und Muschgat sah sich schließlich
genötigt, Bilder zu versetzen. Trotzdem war man noch in der regsten Thätigkeit,
als im Januar 1519 Kaiser Maximilian starb. Durch dieses Ereignis war
die Arbeit am Grabmal bis auf weiteres unterbrochen. Max konnte nicht,
wie er gewünscht hatte, in demselben beigesetzt werden, sondern wurde in der
Wiener Neustadt begraben. Erst Kaiser Ferdinand hat das Grabmal seines
Großvaters beendet. Auch jetzt noch, obwohl es nicht in der von Kaiser
Maximilian beabsichtigten Form auf uns gekommen ist, macht es einen feier¬
lichen, glänzenden Eindruck. Ein gewaltiger Marmorsarg erhebt sich inmitten
der Kirche, umgeben von 28 überlebensgroßen ehernen Standbildern berühmter
Helden, Ahnen und Verwandten des österreichischen Hauses. Diese Statuen
sind nach der Zeit, in der sie entstanden, und nach den Künstlern, von denen
sie gefertigt wurden, von sehr verschiedenem künstlerischen Werte. Bei weitem
am höchsten stehen zwei Statuen von Jahre 1513, die aller Wahrscheinlichkeit
nach von Peter Bischer herrühren: die Statue des Königs Arthur vou England
und des Königs Theodorich. Trefflich sind auch die Arbeiten des Meisters
Gilg Sesselschreiber: König Philipp, Kaiser Rudolf, Erzherzog Ernst, Thco-
bertus, Margaret«, Ferdinand von Kastilien, Kunigunde. Eleonore, Maria von
Burgund, Kaiser Friedrich III., König Ladislaus, Elisabeth, Karl der Kühne,
Philipp der Gute. Namentlich Margareta kann als vortrefflich gelten,
wie auch Kunigunde und Eleonore durch schlanke Formen und prachtvolle
Damastgewändcr sich auszeichne». Die spätern Statuen, namentlich die nach
1540 unter italienischen Einflüssen entstandenen, sind nicht so gut und fallen
schon teilweise ins Theatralische. Haben wir so zwar ein Werk erhalten, das
nur teilweise den duftigen Reiz der deutscheu Frühreuaisscince rein wiederspiegelt,
teilweise schon der sinkenden Zeit angehört, so kann dasselbe doch in jeder Be¬
ziehung als eine großartige Schöpfung gelten, es hat auch auf die Entwicklung
der deutschen Plastik nachhaltigen Einfluß geübt.
Noch ein andres Zweiggebict der Plastik hat dnrch Maximilians Kunst¬
liebe eine hohe Ausbildung erhalte»: die Kunst, in Eise» und Silber zu arbeiten
und mit Gold kunstreich zu zieren. Diesem Kunstzweige kam hauptsächlich
Maximilians Vorliebe für kunstreiche Rüstungen zu statten. Auch hier warm
es hauptsächlich die Augsburger Helmschmiede, Plattner und Goldarbeiter, die
Maximilian mit seinen Auftrügen bedachte und von denen er namentlich die
für ihn selbst bestimmten Rüstungen fertigen ließ. Am schönsten muß diejenige
gewesen sein, die er 1516 bei dem berühmten Helmschmied Collmann bestellte.
Ebenso groß wie Maximilians Vorliebe für die Plastik war aber seine
Liebe zu den zeichnenden Künsten. Zwar hat er der Malerei keine monumen¬
talen Aufgaben gebracht wie sein großer Zeitgenosse Julius II. Er hat keine
großen Freskeneyklcn ins Leben gerufen — in welchen: seiner Schlösser hätte
der rastlos umherziehende Kaiser sie ausführe» lassen sollen? —, er hat nicht
einmal den Künstlern Aufträge zu großen Tafelbildern gegeben — wo hätte
der unermüdliche Herr sie ungestört betrachten können? Aber er hat durch
einen kleinen Zug bewiesen, wie sehr er auch den zeichnenden Künsten hold war.
Gerade damals hatte die deutsche Malerei ihre schönsten Blüten getrieben. In
Franken hatte der Altmeister Dürer seine großen Werke geschaffen, in Sachsen
war der unermüdliche Lukas Cranach thätig, im Elsaß waren neue leuchtende
Sterne aufgegangen. Es drängte den Kaiser, wenigstens einzelne Proben von
der Hand aller dieser großen Künstler immer vor sich zu haben, und zwar in
einem Buche, das er tagtäglich in der Hand führte und das zu seinem intimsten
Gebrauche bestimmt war, in seinem Gebetbuche. Kaiser Maximilian hatte eigens
für sich ein lateinisches Gebetbuch entweder selbst abgefaßt oder abfassen lassen.
Johann Schönsperger in Augsburg hatte die Herstellung der prächtigen großen
Lettern und den Druck auf Pergament zu besorgen. Dieser wendete allen Fleiß
auf die Arbeit und erhielt von des Kaisers Bankier Hans Baumgartner in
Augsburg zwanzig Gulden für Pergament und andre Auslage» vorgestreckt. Schon
am 24. August 1513 glaubte der Kaiser, daß der Druck vollendet sei, und
schrieb an Peutinger, er möge ihm zehn Exemplare zuschicken. Peutinger hörte
jedoch auf seine Erkundigung von Schönsperger, daß dieser an Pressen Mangel
habe und noch in sechs Wochen kaum imstande sein werde, den Druck zu vollenden.
Doch konnte der Gelehrte am 3. Oktober 1513 dem Kaiser bereits einen Probe¬
trunk auf Pergament zuschicken. Der endgiltige Druck verzögerte sich noch
bis zum Januar 1514, denn das Gebetbuch trägt am Schlüsse des Textes
die Angabe: ^os-nnks ZollosnsxsrAör Oivis L.ng'N8eg,in>8 imprimsbat. L.rav
sMtis NVXIIH. III. Xalönclas ^iurus-rii. Da das Buch heute sehr selten ge¬
worden ist, muß man schließen, daß auf den Wunsch des Kaisers nur sehr
wenige Exemplare gedruckt worden sind. Ein gut erhaltenes, vollständiges,
aus der Fuggerschen Sammlung stammendes Exemplar befindet sich in der
kaiserlichen Hofbibliothek zu Wien, ein zweites, ans der Sammlung Johes in
Linz stammendes in der Bibliothek des britischen Museums. Des Kaisers
Handexemplar endlich, das leider in verhältnismäßig schlecht erhaltenem Zustande
ist, befindet sich heute an zwei Orten verteilt: die eine, erste Hälfte wird in der
königlichen Staatsbibliothek zu München, die andre, erst ganz kürzlich bekannt
gewordene in der Bibliothek zu Bescmyon bewahrt. Über die Zugehörigkeit
des Bescmyoner Bruchstückes zu dem Münchener Schatze kann nicht der geringste
Zweifel sein, da es mit der Seite beginnt, wo das Münchener Exemplar auf¬
hört. Nur dieses zur Hälfte in München, zur Hälfte in BesaneM bewahrte
Handexemplar des Kaisers ist für uns wichtig. In diesem seinein Handexemplare
wollte der Kaiser nämlich ein künstlerisches Schatzkästlein besitzen und überant¬
wortete es den bedeutendsten Künstlern des deutsche» Vaterlandes, um sich die
einzelnen, den Text umgebenden breiten Pergamentränder mit Randzeichnungcn
schmücken zu lassen. Zuerst erhielt es der Altmeister Dürer, der 45 Blätter
des Buches in der launigsten Weise mit grüner, roter und violetter Dinte
illustrirte. Alles schwirrt und sprießt von Ornamenten und Figuren, es ist die
lieblichste Textumrahmuug, die man sich denken kann. Nachdem Albrecht Dürer
seine Arbeit geliefert hatte, ging das Buch weiter an Lukas Cranach. Ihm
gehören die letzten acht Randzeichnungen des Münchener Bruchstückes, sowie
die erste Hälfte im Bescmyoner Fragmente an. Auch Meister Cranach liefert
sein bestes. Auf der Höhe Dürers weiß er sich freilich nicht zu halten. Er
faßt namentlich seine Aufgabe nur als Ornamentirung, nicht als geistreiche
Illustration auf. Hirsche, Rehe, Elenntierc und andre jagdbare Tiere, Storchen-
und Affenfamilien, auf Böcken fahrende Hexen, endlich auch Evangelisten und
Kirchenväter sind in braunroter Dinte am Rande angebracht. Von Sachsen
wanderte das Büchlein nach dem Elsaß und wurde einem dortigen bis jetzt
unbekannten Meister übergeben, dem oder dessen Schule die letzte Hälfte der
Randzeichnungen des Bescmyoner Bruchstückes angehört. Man sieht, der Kaiser
wollte von der zeichnenden Kunst aus jedem Gaue des deutschen Vaterlandes
eine Probe haben. Nicht Meister Dürer allein sollte an dem Schmucke des
Buches thätig sein, sondern eine Reihe deutscher Künstler wurde dazu heran¬
gezogen. Thansings Annahme, daß der Kaiser die ganze Arbeit Dürer über¬
tragen habe, und daß dieser sie, nachdem er 45 Blätter vollendet hatte, beiseite
gelegt und seinem Schüler Springinklce überlassen habe, erweist sich also als
hinfällig. Nur durch das Bestreben, das ganze Buch im Kreise Dürers ent¬
stehen zu lassen, ist Thausing zu dieser Angabe geführt worden.
Die Randzeichnungen im Gebetbuche Kaiser Maximilians sind die vati¬
kanischen Loggien der deutschen Kunst. Das deutsche Volk hat die Pflicht, das
Schatzkästlein, welches sein kunstsinnigster Kaiser entstehen ließ, in Ehren und
im Andenken zu halten. Und jeder kann sich noch heute des allerliebsten Werkes
freuen, kann noch heute die Randzeichnungen als Umrahmungen seines Stamm¬
buches, seiner Familienchronik, seines Tagebuches verwenden, da Georg Hirth
in München davon eine vortreffliche Facsimileausgabe veranstaltet hat. Leider
kannte auch Hirth nur das in München bewahrte Fragment mit den Dürerschen
Zeichnungen. Vielleicht wird er aber gelegentlich auch das Behar?oner Bruch-
stück veröffentlichen, dann könnte das deutsche Volk sich rühmen, den künstlerischen
Schmuck aus dem Gebetbuche des ersten deutschen Kaisers der neuen Zeit voll¬
ständig zu besitzen.
Das Gebetbuch Maximilians führt uns auf ein drittes Kunstgebiet hin,
welchem die eifrigste Pflege des Kaisers zuteil wurde. Es war noch nicht
viel mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, seitdem Johann Gutenberg
in Mainz die Buchdruckerkunst erfunden hatte. Der Buchdruck hatte dann in
der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts bereits die schönsten Blüten
getrieben und einen Kunstzweig zur Entwicklung gebracht, der ohne ihn heute
dahingesiecht wäre, den deutschen Holzschnitt. Da die Bilder für den Ungebildeten
die Stelle der Schrift zu vertreten hatten, wurden nämlich fast alle Bücher des
fünfzehnten Jahrhunderts reich mit Holzschnitten geziert, die anfangs freilich
recht roh waren, aber allmählich immer wertvoller wurden.*) Schon der alte
Briefdrucker Albrecht Pfister von Bamberg hatte ums Jahr 1460 seine volks¬
tümlichen Bücher mit Holzschnitten versehen; seit dem Jahre 1470 hatten Augs¬
burg, Ulm und Köln sich durch ihre illustrirten Prachtwerke ausgezeichnet. Mit
den neunziger Jahren war Nürnberg in die Schranken getreten, wo der große
Verleger Anton Koburger seine Wirksamkeit entfaltete und zu seinen Unterneh¬
mungen den Maler Michel Wohlgemut!) heranzog. Ebenso großen Eifer wandte
man dem Illustrationswesen in Lübeck, Basel und Straßburg zu, wo Johann
Grüninger thätig war. Es waren auf diese Weise Prachtwerke wie die kölnische
Bibel, die Schedelsche Chronik, Brants Narrenschiff, Grüningers Virgil ent¬
standen. Das Buch war ganz im Gegensatze zu der heutigen Fabrikwaare ein
Kunstwerk, welchem Typen, Einband und Bilder einen herrlichen Schmuck ver¬
liehen. Der Holzschnitt seinerseits hatte infolge des weit umfangreicheren
Wirkungskreises, in den er gezogen war, mit unglaublicher Schnelligkeit die
größten technischen Fortschritte gemacht. Während man anfangs Mühe gehabt
hatte, in roher Weise Einzelblätter anzufertigen, war man jetzt imstande, große
künstlerische Hvlzschnittfolgen zu liefern. Ju Nürnberg hatte Albrecht Dürer
seine Apokalypse, sein Marienleben, seine Passion geschaffen; in Augsburg war
der große Hans Burgkmair unermüdlich als Zeichner für den Holzschnitt thätig.
Kein Wunder, daß der kunstsinnige Maximilian, wenn er ein illustrirtes Pracht-
Werk wie die Schedelsche Chronik betrachtete oder eine Holzschnittfolge wie die
Dürersche Apokalypse durchblätterte, sofort zu großen Planen angeregt wurde.
„Wer sich in seinem Leben kein Gedächtnis setzt, der hat nach seinem Tode kein
Gedächtnis und desselben Menschen wird mit dem Glockenton vergessen." Wodurch
konnte er sich aber eher ein „Gedächtnis errichten" als dnrch Bücher, die seine
Thaten in Wort und Bild dem späten Enkel vorführten, oder durch Hvlzschnitt¬
folgen, die Zeitgenossen und nachfolgenden Geschlechtern zur Freude und Be¬
lehrung dienten? So wurde durch die Kunstliebe Kaiser Maximilians eine ganze
Reihe prächtiger Holzschuittfolgen ins Leben gerufen, die noch heute zu dem
Herrlichste» gehören, was dieser Kunstzweig geleistet hat. Es entstanden ferner
illustrirte Prachtwerke, die, soweit sie nach des Kaisers Absichten vollendet
wurden, für alle Zeiten als typographische und künstlerische Meisterwerke da¬
stehen werden.
Für den Anfang waren die Pläne des Kaisers verhältnismäßig bescheiden.
Er wollte seine „Genealogie," die Vorfahren des Hauses Habsburg, als Holz¬
schnittfolge dargestellt haben und wandte sich deshalb im Jahre 1S10 an Hans
Burgkmair in Augsburg. Dieser war eifrig bei der Arbeit, sodaß schon im
Jahre 1610 die größte Anzahl der Bilder von zwei ebenfalls in Augsburg in
den Dienst genommenen Formschneidern geschnitten werden konnte. Bei der
Eile, mit welcher der Kaiser die Angelegenheit betrieb, war es umso unan¬
genehmer, daß der eine Formschneider, dem man den Schnitt der Zeichnungen
übertragen hatte, plötzlich aus Augsburg verschwand. Er setzte dadurch sowohl
den Leiter der Arbeit, Peutinger, als den Kaiser selbst in Verlegenheit, und
Peutingcr wußte den Kaiser in einem Briefe vom 17. November 1S10 nicht
anders zu trösten, als daß er ihm sagte, es könnte sich im Notfalle Burgkmair
selbst, der sich auf den Schnitt ganz wohl verstehe, der Sache annehmen und
die Arbeit zu Ende bringen — eine bekannte Briefstelle, die früher oft heran¬
gezogen wurde, wenn man den Beweis führen wollte, daß Maler auch als
Holzschneider thätig waren. Wieviel Blätter Burgkmair geschnitten hat, wissen
wir nicht. Sicher ist mir, daß er alle Blätter der Folge zeichnete, da jedes
derselben mit seinem Monogramm versehen ist, und daß im Jahre 1511 die
ganze Folge vollendet war, Sie besteht aus 37 Blättern. Sehr erquicklich
war die Aufgabe für den Künstler nicht. Die einzelnen Fürsten, gewöhnlich
von schweren Ritterrüstungen bedeckt, in der einen Hand das Schwert, in der
andern das Szepter haltend, sind stehend oder sitzend dargestellt, daneben lehnt
ihr Wappen, oben ist immer ein Tier angebracht, das auf den Charakter des
betreffenden hinweisen soll. Es muß unsäglich schwer gewesen sein, in die Reihe
dieser Könige Abwechslung und Leben zu bringen. Burgkmair jedoch hat es
verstanden und führt uns Gestalten von markiger Kraft vor. Da sehen wir
einen jugendlichen Fürsten mit langem blonden Haar, in enganliegender Ritter¬
rüstung, den Hermelinmnntcl keck um die Schultern geschlagen, wie er seinen
Falken betrachtet, eine wunderbar schöne Gestalt. Wir sehen einen urwüchsigen
Ritter in Küraß, in dem Hans Burgkmair das zum Erstaunen ähnliche Porträt
unsers Reichskanzlers gegeben hat. Wir sehen Kaiser Maximilian selbst, wie er
in schwerem Brokatmantel, die hohe Kaiserkrone auf dem Haupte, nach links
gewendet auf dem Throne sitzt. Immer findet der Künstler eine neue Bewegung,
immer gelingt es ihm, ein sprechend durchgeführtes Porträt zu geben, nur
manchmal greift er zu der Aushilfe, das ganze Gesicht des Fürsten mit dem
Visire zu bedecken.
Kein Wunder, daß der Kaiser, als er diese Holzschnittfolge so schön voll¬
endet sah, großes Wohlgefallen am Holzschnitte fand und sofort noch größere
Unternehmungen plante. Nicht nur die Geschichte seines Hauses, auch sein
eignes Leben sollte in illustrirten Prachtwerken verherrlicht werden.
Die Vorbereitungen wurden mit der größten Sorgfalt getroffen. Zunächst
galt es, für die Bücher einen passenden Drucker zu finden. Man schwankte
anfangs zwischen zwei Augsburger Meistern. Der eine war Erhard Oeglin,
der sich durch die Erfindung des Notendruckes mit beweglichen Lettern bekannt
gemacht hatte, der andre Hans Schönspergcr der Ältere, der durch viele große
Druckwerke bereits weithin berühmt war. Oeglin, der auch Schriftgießer war, goß
für den Kaiser unter Peutingers Leitung eine neue Schrift, war jedoch, als er
sie gefertigt hatte, genötigt, seiner Armut wegen sie zu versetzen und erlag bald
seinem Elend. So war von den beiden in Aussicht genommenen Druckern nur
Schönspergcr übrig. Dieser wurde bereits im Jahre 1508 von Maximilian
zum kaiserlichen Buchdrucker auf Lebenszeit bestellt. Es wurde in seiner Be¬
stallung ausdrücklich auf die Fähigkeit hingewiesen, mit der er jede Schrift „ab-
kvnterfcyen" und gießen könne, und ihm geboten, nnr für den Kaiser selbst von
dieser Kunst Gebrauch zu machen, sonst niemand darin zu unterweisen, sondern
das Geheimnis bis zu seinem Tode zu bewahren. Hierfür versprach ihm der
Kaiser einen Jahresgehalt von 100 Gulden, und für den Fall, daß er an
den Hof berufen würde, für ihn und seine Genossen Unterhalt und eine be¬
sondre Vergütung für seine Arbeiten.
Über die Wahl der Illustratoren konnte man ebenfalls nicht zweifelhaft
sein. Hans Burglinair, der schon 1510 die „Genealogie" zur größten Zufrieden¬
heit des Kaisers gefertigt hatte, kam natürlich auch für die neuen Unterneh¬
mungen in erster Linie in Betracht. Ein andres aufkeimendes, dem schwabischen
Kunstkreise angehöriges Talent war der junge Hans Schäufelein, der in Nörd-
lingen bei Augsburg seinen Stammsitz, in Augsburg Verwandte hatte und auf
den Ruf des Kaisers in die Stadt übersiedelte. Neben diesen beiden Meistern
wurde noch ein Augsburger Künstler L. B., dessen Name uns unbekannt ist,
herangezogen. Außer Augsburg kam aber auch Nürnberg in Betracht. Es
war selbstverständlich, daß auch der große Albrecht Dürer zu den Unterneh¬
mungen des Kaisers seine Kräfte leihen mußte. Neben dein Altmeister wurde
in Nürnberg besonders Hans Springinklee, der bei Dürer im Hause lebte, be¬
schäftigt.
Um die Zeichnungen dieser Künstler in Holz zu übertragen, war die Grün¬
dung eigner Formschneiderschulen nötig, da man mit den zwei Formschneidern,
die man im Jahre 1510 an der „Genealogie" beschäftigt hatte, nicht weit kommen
konnte. In Augsburg wie in Nürnberg wurden daher Formschneiderschulcn
gegründet.
Bei der Wahl des Mannes, welcher die Augsburger Formschneiderschule
leiten sollte, war Peutinger besonders glücklich. Er berief den vortrefflichen
Jost Dienecker aus Antwerpen. Derselbe kam im Jahre 1510 in Augsburg
an und wurde als „Jost, kaiserlicher Majestät Formschneider" in die Steuer¬
bücher eingetragen. Im Laufe der nächsten Jahre wurden nicht weniger als
zehn Formschneider berufen, die unter Dienecker zu arbeiten hatten: Jan de
Bonn, Cornelius und Wilhelm Liefrink, Alexius Linde, Jakob Rupp, Klaus
Seemann, Hans und Wilhelm Taberith — also, wie Dienecker selbst, größten¬
teils Niederländer. Dienecker hatte die Oberleitung des Ganzen und die Auf¬
gabe, jede von den einzelnen Holzschneidern gelieferte Arbeit eigenhändig zu
übergehen, damit alle Holzstöcke im Schnitte gleich wurden.
Unabhängig von dieser Augsburger Formschneiderschule war die Rum-.
berger. Die hier beschäftigten Künstler waren Hans Frank, Wolfgang Resch
und Hieronhmus Andree. Wie die Augsburger Formschneider die Arbeiten
Burgkmairs und Schäufeleins zu schneiden hatten, so fiel diesen Nürnbergern
der Schnitt der Dürerschcn und Springinkleeschen Kunstwerke zu. Naturgemäß
war gegenseitige Unterstützung nicht ausgeschlossen. So hat man im Jahre 1516,
als in Nürnberg viel gefertigt worden war, fünf Augsburger Formschneider mit
dem Schnitte Nürnbergischer Zeichnungen beschäftigt.
Das erste der Werke, welche auf diese Weise entstanden, ist der berühmte
„Theuerdank," ein Buch, zu dem der Kaiser schon in den Jahren 1505—1508
den ersten Plan gefaßt hatte und in dem in allegorischer Form die Abenteurer
vorgeführt werden sollten, die Max zu bestehen hatte, ehe er in den Besitz seiner
geliebten ersten Gemahlin, der schönen Maria von Burgund, gelangte. Nicht
nur die Festlichkeiten des Brautzuges, auch die Gefahren, welche der stets auf
Abenteuer denkende junge Held während des Zuges zu bestehen hatte, sollten
in dichterischer Ausschmückung dem Leser vorgeführt werden. Der Stoff war
ein sehr einfacher. Herzog Karl von Burgund stirbt, die jugendliche Maria
trägt Max ihre Hand an und bittet ihn, ins Land zu kommen. Max bricht
auf, und da es der erste Zug ist, den er unternimmt, kann es nicht fehlen,
daß er sich während desselben durch seineu jugendlichen Vorwitz zu allerlei
Leichtsinnigkeiten verleiten läßt, auch allerlei unvorhergesehene Unfälle ihm Ge¬
fahren bereiten. Der Dichter bearbeitet dies allegorisch. Er berichtet, drei
burgundische Hauptleute, Fürwittich (Vorwitz), Unfalo (Unfall) und Neidclhart
hätten gefürchtet, wenn Theuerdank ins Land komme, ihre alte Macht zu ver¬
lieren, und deshalb sich verschworen, dem jungen Helden auf seinem Zuge den
Untergang zu bereiten. Demgemäß handelt der erste Teil des Gedichtes von
den Ränken des Fürwittich, der dem jungen Helden an dem ersten Engpaß,
welchen dieser zu durchreiten hat, entgegentritt, ihn zu Gaste lädt und ihn zu
unzähligen gefährlichen Gcmsjagden anstachelt. Erst spät durchschaut Theuer¬
dank die böse Absicht des Verführers und verläßt ihn. Aber er ist kaum am
zweiten Engpasse angelangt, als ihm Unfalo entgegentritt. Dieser geht noch
weiter als Fürwittich, versucht den Prinzen zu ertränken und in die Luft zu
sprengen, von Löwen zerreißen und von bestochenen Ärzten vergiften zu lassen.
Nachdem Unfalo durchschaut ist, tritt dem Prinzen am dritten Engpässe Neidel¬
hart entgegen, der ihn in gefährliche Kriege lockt. So kommt Theuerdank erst
»ach unsäglichen Irrfahrten am Hofe Marias an. Nachdem er auch hier noch
in einer Reihe von Turnieren seine glänzende Tapferkeit gezeigt hat, verspricht
ihm Maria ihre Hand, fordert ihn aber auf, vor der Vermählung noch einen
Kreuzzug gegen die Türken zu unternehmen. Der Held willfahrt ihrer Bitte
und zieht ins Feld.
Dieser Stoff also sollte zu einem illustrirten Prachtwerke verarbeitet werden.
Schon im Jahre 1512 waren große Teile des Gedichtes vom Kaiser verfaßt, und
Melchior Pfinzing in Nürnberg erhielt den Auftrag, deu Versbau zu ordnen und das
Ganze zu überarbeiten. Den Druck leitete Schönsperger, der in diesem Buche zum
erstenmale Gelegenheit hatte, seine neu erfundnen Typen zu verwenden. Die Zeich¬
nungen lieferte Haus Schäufelein; der Schnitt wurde von der Augsburger Form-
schnciderschule unter Leitung Dieneckers besorgt. Schönsperger vollendete das
Buch im Jahre 1517 in Nürnberg, wohin er sich kurz vor Abschluß der Ausgabe
geflüchtet hatte, um seinen zahlreichen Augsburger Gläubigern zu entgehen.
Es ist ein Prachtwerk im eigentlichen Sinne des Wortes, das uns im
„Theuerdank" entgegentritt. Fast alle Exemplare der ersten Ausgabe wurden
auf Pergament gedruckt, und es ist noch heute eine Freude, das Buch durch¬
blättern zu können. Vor allen Dingen erregen die Typen unsre Bewun¬
derung. Wir glauben eine künstlerische Handschrift vor uns zu haben; jedes
einzelne Wort erscheint wie geschrieben, jeder Anfangsbuchstabe ist ein kleines
Kunstwerk. Wie ganz anders dachte man doch damals als heute! In den
Büchern der damaligen Zeit war der Druck mir ein Ersatz für die Handschrift,
heute ist bei einem gedruckten Buche von Handschrift nichts mehr zu sehen.
Damals sagte man: „er druckt wie geschrieben"; heute sagt man: „er schreibt
wie gedruckt." Der eine schreibt, der andre druckt ohne Kunst, ohne Charakter!
Ebenso anheimelnd sind die schlichten, in anspruchslosein Linienholzschnitt wieder¬
gegebenen Bilder. Freilich hatte der Zeichner mit gar mnnnichfachen Schwierig¬
keiten zu kämpfen. Der verhältnismäßig ode Stoff war nicht zu lebendiger,
geistreicher Illustration angethan. Die Darstellung der vielen Gefahren, die
Theuerdank zu bestehen hat, die eintönigen Figuren Fürwittichs, Unfalos oder
Neidelharts, die auf jedem Holzschnitt unthätig, ohne wahre Beziehung zur
Handlung im Vordergrunde stehen, ermüden. Wir werden gleich im Anfange
überdrüssig, den Theuerdank immer arglos in die Falle des Gegners gehen
zu sehen, obschon er dessen Tücke schon beim zweitenmale hätte durchschauen -
können. Trotzdem sichren die Bilder in das rastlose, gefahrvolle Leben und
Treiben des Helden zu Wasser und zu Lande sehr lebendig ein. Darüber, daß
die Mehrzahl der Holzschnitte von Schäufelein herrührt, kann kein Zweifel sein,
wenn auch nur acht mit seinem Monogramme bezeichnet sind; doch mögen
außer ihm auch noch einige unbedeutendere Künstler am Theuerdank gearbeitet
haben.
Die Exemplare der ersten Ausgabe waren ausschließlich für den Kaiser
bestimmt, welcher beabsichtigte, sie als besondre Zeichen seiner Huld nach seinem
Tode an den Adel austeilen zu lassen. Die erste, für die Öffentlichkeit be¬
stimmte Aufgabe des Buches druckte Schönsperger kurz nach Maximilians
Tode im Jahre 1519. Die Illustrationen und Typen sind dieselben wie die
der ersten Ausgabe; statt auf Pergament ist sie jedoch auf Papier gedruckt
und hat nur 115 Holzschnitte, also drei weniger. Die dritte Ausgabe mit
gleichem Text und gleichen Figuren veranstaltete der Augsburger Buchdrucker
Heinrich Steicr 1537. Der Unterschied von den früheren Ausgaben ist nur,
daß die Typen gewöhnliche und die Holzschnitte bis zur Unerkennbarkeit abge¬
nutzt sind. Seitdem wurde der Theuerdank noch oft, teils mit den Holzschnitten,
teils ohne dieselben, abgedruckt.
Das zweite illustrirte Prachtwerk, welches der Kaiser in Augsburg vor¬
bereiten ließ, ist der herrliche „Weißkunig." War im „Theuerdank" die Braut¬
fahrt Maximilians zu Maria vou Burgund mit poetischer Freiheit dargestellt
gewesen, so wollte er im „Wcißkunig" in mehr historischer Weise seine ganze
Lebens- und Regiernngsgeschichte erzählen. Im Jahre 1512 hatte der Kaiser
bereits die Hälfte des Werkes seinem Geheimschreiber Trcizsanerwein diktirt; in
der Zeit von Johanni bis Weihnachten 1514 stellte dieser das bis dahin an¬
gesammelte Material vorläufig zusammen. Gleichzeitig schritt man an die Holz-
schnittausstattuug des Werkes, die in noch umfassenderer und prächtigerer Weise
vorbereitet wurde als die des „Theuerdank". Da, mit dem Jahre 1514 blieb
die Arbeit für den Text des „Weißkunig" liegen. Über mancherlei Einzelheiten
waren dem Kaiser Fragen vorgelegt worden, und die von ihm erteilte Auskunft
ward neben sonstigen Erläuterungen den Manuskripten beigeschrieben. Vieles
aber blieb unerledigt, und in Betreff einzelner Punkte erklärte sich der Kaiser
sogar selbst von seiner Erinnerung im Stich gelassen. So war, als Maxi¬
milian im Jahre 1519 starb, der „Weißkunig" ein Torso. Im Jahre 1526 dachte
König Ferdinand an die Herausgabe des Buches. Aber auch sein Unternehmen
geriet ins Stocken. Die Handschriften kamen nach Ambras, die Holzplatten
verschwanden lange Zeit gänzlich. Es hat dann in der folgenden Zeit zwar
nicht an einzelnen Bemühungen um die Arbeit des Kaisers gefehlt, aber mehr
als zwei Jahrhunderte gingen darüber hin, ehe sie endlich aus ihrer Verborgen¬
heit ans Licht gebracht ward. Die Handschriften waren mittlerweile nach Wien
gekommen. Die Holzstöcke hatten sich zu Graz im Herzogtum Steyr wieder
gefunden und waren durch den glücklichen Umstand, daß ein verständiges Auge
sie entdeckte, vor dem Untergänge gerettet worden. So konnte der unverdiente
Bann, der solange ans dem Werke gelastet hatte, endlich noch gelöst werden,
und es erschien in einer sorgfältigen und würdigen Folioausgabe in Wien auf
Kosten Joseph Kurzboeckcns 1775. Durch die Bemühungen des fleißigen Heraus¬
gebers sind dem Texte die Bilder eingeordnet, soweit er ihren Platz aus dem
Inhalt oder aus den darüber vorhandenen, von des Kaisers eigner Hand her-
stammenden Notizen erkennen konnte; nur wenige, die er nicht zu bestimmen
wußte, folgen am Schlüsse des Werkes. Für das Jahr 1884 bereitet mau
in Wien eine zweite Ausgabe vor, und die seitherigen, im Holzhansenschen
Verlage erschienenen Bücher geben uns schon heute die Gewißheit, daß wir auch
im „Weißkuuig" eine Musterpublikation erhalten werden.
Der „Weißkuuig" zerfällt in drei Teile. Der erste Teil ist nur ein vor¬
bereitender. Es wird uns gewissermaßen als Vorgeschichte Maximilians I. erzählt,
wie sein Vater, Kaiser Friedrich III., sich verheiratete und mit seiner jungen
Gemahlin nach Rom zog, um vom Papste die Kaiserkrone zu empfangen. Wir
sehen, wie König Friedrich eine glänzende Gesandtschaft abschickt, damit sie in
seinem Auftrage um die Hand der jugendlichen Prinzessin Eleonora von Portugal
werbe, wie Eleonora ihr Jawort giebt und die Reise nach Italien antritt, um
dort mit Friedrich zusammen zu treffen. Wir beobachten die Zusammenkunft
des Brautpaares in Siena und begleiten beide nach Rom, wo sie an den Stufen
des Se. Peter vom Papste bewillkommnet werden. Wir wohnen den Krönungs¬
feierlichkeiten bei und geleiten den Kaiser und die Kaiserin zurück in ihre Residenz,
die Wiener Neustadt.
Der zweite und dritte Teil ist dein Leben Maximilians gewidmet, und zwar
behandelt der zweite seine Jugendjahre bis zu seiner Vermählung mit Maria
von Burgund. Hier sehen wir, wie bei der Geburt des Kindes ein großer
Komet am Himmel erscheint, und wie das Kind unter großen Feierlichkeiten getauft
wird. Edelknaben werden bestellt, um ihm als Gespielen zu dienen, und die
größte Sorgfalt wird auf seine wissenschaftliche und ritterliche Ausbildung ver¬
wendet. Mit der Grammatik und Logik anfangend, lernt der Prinz in kurzer
Zeit die sieben freien Künste, befaßt sich mit Astrologie und Arzneiwissenschaft
und pflegt die Geschichtsforschung, lernt malen und musiziren, Hirsche und
Gemsen jagen, welsch und deutsch fechten. So ist er ein vollendeter ritterlicher
Jüngling geworden, als der Ruf von seinen Tugenden an den Hof des Her¬
zogs Karl von Burgund dringt. Es erfolgt die Zusammenkunft Friedrichs I.it.
mit Herzog Karl in Trier, ihr feindliches Auseinandergehen, der Einfall Lud¬
wigs XI. in Burgund, die Botschaft Marias an Maximilian. Max bricht auf,
wird überall mit Freuden empfangen und von einem hohen Geistlichen mit
Maria getraut. Dann führt der Held seine junge Gemahlin ihrer neuen Hei¬
mat zu, und es beginnt die schöne Zeit der Flitterwochen. In zartem Liebes¬
gespräch sitzen sie auf einer Bank im Garten, „jedes des andern Sprache lernend."
Gewissermaßen als Abschluß der Bildungsgeschichte Maximilians werden dann
noch Nachrichten von allerlei Sprachstudien gegeben, zu denen dem immer wi߬
begierigen Prinzen seine neuen Verbindungen mit Burgundern, Flamändern,
Engländern, Spaniern und Italienern Anlaß boten.
Hierauf folgt der dritte Teil der Erzählung, welcher die Kriege Maxi¬
milians von 1478 bis 1513 darstellt. Es ist der ganzen Anlage nach der
Hauptteil des Werkes, dem das Vorhergehende nur als Einleitung dient. Aber
gerade dieser Teil wurde von Treizsaurwein in der heillosesten Verwirrung ge¬
lassen, und der Herausgeber von 1775 wußte die Dunkelheit nicht zu lichten.
Sowohl Text wie Holzschnitte sind noch in Unordnung, wir sehen nur, daß
immer Scharmützel, Schlachten und Kriegszüge dargestellt sind, und können uns
an den Bildern, da wir ihren geschichtlichen Zusammenhang nicht mehr kennen,
nicht erwärmen. Doch dürfen wir hoffen, daß der neue Herausgeber des „Weiß-
kunig" die Dunkelheit lichten werde, und daß wir dann auch an den dritten Teil
des Werkes mit größerm Verständnis herantreten werden.
So einheitlich wie die künstlerische Ausstattung des „Theuerdank" ist die
des „Weißkunig" nicht. Wir ersehen schon aus den Monogrammen, welche die
einzelnen Holzschnitte tragen, daß mindestens vier Künstler für das Werk Zeich¬
nungen lieferten. Von den 237 Blättern der Ausgabe von 1775 tragen 98
das Monogramm Hans Burgkmcnrs, eines das Hans Schäufelems, eines das
Hans Spriuginklecs und eines das des unbekannten Meisters L, B. Im ganzen
dürfte Burgkmair etwa 160. Schäufelein 70, Springinklee 5 und der Meister
L, B, ebenfalls nur eine kleine Anzahl geliefert haben, Burgkmair und Schäufe¬
lein sind am leichtesten auseinanderzuhalten. Burgkmair liebte hohe schlanke
Gestalten; die Schäufeleins sind untersetzt, ihre Köpfe sind im Vergleich zu den
Körpern zu groß. Auch die Frauenideale beider stehen in schroffem Gegensatze.
Die Frauen Burgkmairs sind schlank gewachsen und üppig, mit einem sinnlichen
Zuge um den Mund, der uns an die Frauen Lionardo da Vineis erinnert.
Die Schäufeleins sind klein, bnsenlos, mit stark hervortretendem Leibe, für uns
eher abstoßend als angenehm; ihr Auge ist zwar groß, aber nichtssagend, die
Stirn zurückliegend, die Nase stumpf und dick. Schwerer sind Springinklee und
der Meister L. B. zu unterscheiden.
Wie in die Ausgabe des „Theuerdank" von 1517 nicht alle Holzstöcke,
welche ursprünglich dafür gearbeitet waren, aufgenommen worden, so enthält
auch die Ausgabe des „Weißkunig" von 1775 durchaus nicht alles, was eigent¬
lich in dieselbe gehört. Schon zur Zeit des Kaisers Maximilian wurden von
den Holzstöcken einige Abdrücke genommen. Drei solche Bücher, welche die
Holzschnitte ohne Text enthalten, sind erhalten. Zwei werden in Wien, eins
in Dresden aufbewahrt. In ihnen befinden sich 26V Holzschnitte, also 13 mehr
als in der Ausgabe von 1775, zu denen die Stöcke 1775 nicht mehr aufge¬
funden werden konnten. Ein weiterer sehr schöner Burgkmairscher Holzschnitt,
der ursprünglich für den „Weißkunig" bestimmt war, hat sich in verschiedne
andre Augsburger Drucke verirrt. Es ist ein Entwurf von dem in der Aus¬
gabe von 1775 befindlichen Schäufeleinschen Blatt „Wie der Jung Weißkunig
und die Jung Kunigin jedes des andern sein sprach lernt." Der Kaiser sitzt
in Unterredung mit der Kaiserin im Garten an einem Springbrunnen; in:
Hintergrunde lustwandeln zwei Paare. An der Thüre der Mauer steht das
Zeichen H. B. (Schluß folgt.)
u einer Bibliothek, für welche man demnächst einen eignen Saal
brauchen wird, ist die Literatur über unsre klassische Dichtung und
alle Kultnrcrscheinungen der klassischen Periode angeschwollen
nach allen Richtungen sind die Nachwirkungen dieser Periode er--
örtert, nur ein Buch ist noch ungeschrieben: das, welches von
den schädlichen Einflüssen der klassischen Tradition handelt, Wir denken damit
nicht etwa ein die vermeinte schlimme Wirkung der klassischen Dichtung selbst,
an den angeblichen Druck, den die (wahrhaftig nicht übergroße) Pietät für die
Meisterwerke der Vergangenheit ausübt, sondern an jenen schädlichen Einfluß
gewisser Erinnerungen aus den Tagen Goethes und Schillers, welchen wir auf
Schritt und Tritt verspüren. Weil unter dem Drange besondrer Umstände die
poetischen Dioskuren „Genien" geschrieben und ihren Zeitgenossen neben nütz¬
lichen Wahrheiten und goldnen Sprüchen auch einige subjektive Ungerechtigkeiten
gesagt haben, spricht sich jeder unverschämte Bursche das Recht zu, seine will¬
kürlichen Einfälle und Bosheiten den besten Männern unsrer Zeit an den Kopf
zu schleudern. Weil andrerseits sich die zeitgenössische Kritik den Werken der
Gewaltigen gegenüber oft unzulänglich, kleinlich und kümmerlich gezeigt, aus
berechtigten Einwänden falsche Konsequenzen gezogen hat, liegt die Erinnerung
um solche Vorkommnisse wie ein Alp auf der ernsten Kritik. Sie ruft sich un¬
willkürlich ins Gedächtnis zurück, wie kläglich die schlimmen Prophezeiungen
zu Schanden geworden find, welche seiner Zeit die Beurteiler an Goethes
„Werther" und „Götz," an Schillers „Räuber" und „Fiesko" geknüpft haben.
Sie ist besorgt, durch die künftige Entwicklung eines Talents Lügen gestraft zu
werdeu, und vergißt, daß gerade diese Entwicklung aufs äußerste gefährdet werden
muß, wenn man sich allem „Sturm und Drang" gegenüber auf den Boden
des ruhigen Zuwartens stellt. Es herrscht eine Vorstellung, als ob durch ein
späteres Meisterwerk eines Schriftstellers der Kritiker, welcher die Mängel des
Jugendwerkes offen bespricht, nachträglich gebrandmarkt werden könne. Die
journalistische Reklamekritik geht allem, was zu gut ist, um dem Publikum
mit den üblichen Trompetenstößen als „aktuell" und „zeitgemäß" em¬
pfohlen, und zu unfertig und problematisch, um als „Meisterwerk" zu den
Sternen gehoben zu werden, still aus dem Wege. Sie scheut es, wo sie nicht
geradezu von Grünschnäbeln oder frechen Buben ausgeübt wird, sich mit An¬
lagen, Bestrebungen und Erscheinungen zu befassen, die ihrer Unfehlbarkeit so
oder so ein schlimmes Zeugnis ausstellen könnten. Inzwischen geht manches
Talent, welches die Kritik nötig hätte wie Licht und Luft, feinen Weg im
Dunkeln, setzt sich in schlimmen Eigentümlichkeiten gleichsam fest und bringt sich
und die Literatur um die möglichen Früchte. Daß die Kritik dem produktiven
Talent nur helfen kann, sofern sie zur Selbstkritik wird, ist freilich ein Gemein¬
platz, daß sie aber manchmal heilsame Anstöße zur Selbstkritik giebt, hat auch
noch niemand geleugnet. Etwas weniger Scheu, den neuesten „Sturm und
Drang" auf seinen Kern zu prüfen, und etwas weniger klassische Reminiszenzen,
die in diesem Falle garnicht am Platze sind, würden der Produktion des Tages
zu Gute kommen.
Unter den in den letzten Jahren aufgetauchten jungen Dichtern hat der uns
persönlich völlig unbekannte Dichter der Tragödie „Die Patrizierin," Richard
Voß, jene aus Teilnahme und Widerwillen seltsam gemischte Empfindung, die
uns gegenüber so vielen modernen Leistungen beschleicht, in stärkerem Maße
erweckt als mancher andre, Richard Voß ist unzweifelhaft ein Talent, er besitzt
Geist und Phantasie und die seltene Fähigkeit, seine Phantasie lebendig zu ge¬
stalten, er vermag den Hörer und Leser wenigstens in einzelne seiner Stimmungen
hineinzuziehen, er ist von einer großen Kunstanschauung beseelt und offenbar
noch von der Überzeugung durchdrungen, daß die Dichtung eine Welt nicht
bloß wiederspiegeln, sondern in gewissem Sinne neu schaffen könne. Dennoch ist
die Wirkung aller dieser Vorzüge durch eine verhängnisvolle Richtung auf das
Krankhafte, Bizarre und schlechthin Häßliche in empfindlicher Weise beeinträchtigt.
Daß der Dichter von der pessimistischen Philosophie und vom alten Weltschmerz
des Bhronismus zugleich angehaucht ist, würde eine so entschiedene Ablenkung
von aller Naturwahrheit, eine so falsche Schätzung menschlicher Größe und eine
so peinliche Gemütlosigkeit, wie sie bei allem Bemühen, sich den Anschein von
Gcfühlsticfe zu geben, durch seine Dichtungen hindurchgeht, noch nicht erklären.
Möchte er immerhin die Welt in den schwärzesten Farben malen und, wie es
in „Regula Brandt" geschieht, den Henker als den Mann betrachten, der den
Leidenden Erlösung bringt und die Müden zur Ruhe bettet, möchte er die
Gemeinheit des Alltags mit noch stärkeren Worten brandmarken als es ihm
gefällt, damit wären mögliche und innerlich wahre Gestalten noch nicht aus¬
geschlossen. Allein der Dichter hat außer dem Pessimismus den Zug zu jener
krankhaften Originalität, welcher an normalen Menschengestalten ein für allemal
nichts Poetisches und Darstellenswertes entdecken kann. Die pessimistische Dar¬
stellung gewisser Menschlichkeiten nach unten hin wirkt bei Voß bei weitem nicht
so abstoßend als das, was wir für Idealität, für sittliches Pathos und hohen
Flug der Gedanken nehmen sollen. Es ist schwer zu verstehen, daß dem hoch¬
begabten Dichter die Siuuwidrigkeit einer Weltdarstellung nicht klar wird, welche
die einfachsten Tugenden der Menschenseele, die Wahrheit unmittelbarer Gefühle
leugnet und derselben Menschennatur, die sie nicht verächtlich genug schildern
kann, auf der andern Seite ein ungeheures Vermögen selbstloser Empfindung
und höchsten Opfermutes zutraut. Die Übergänge sind bei Voß grell, schroff
und gewaltsam, der Ausdruck des innern Lebens seiner Gestalten ergreift uns
selten und überzeugt noch seltner. Der Dichter scheint in allen seinen Produk¬
tionen dramatischer wie epischer Gattung von der Furcht beherrscht zu werden,
mit dem ersten Schritt zum Einfachen, menschlich Warmen und Gewinnenden der
Trivialität anheimzufallen. Indes ist es nicht bloß diese Künstlermarotte, die
ihn auf so wunderliche Irrwege treibt und eine weltmttde Phantastik in ihm
nährt. Er scheint in der That an die Art Titanen zu glauben, von welchen
er eine Probe in dem Roman „Nolla" giebt und ans welche die armseligen,
vom „Brauch" beherrschten Naturen in Trauerspiel „Regula Brandt" brünstig
hoffen, Titanen, welche angeblich die Welt umwälzen, aber unter allen Um¬
ständen ihre nächste Pflicht nicht thun können.
Es sind dieselben oder verwandte Mängel, die uns an frühern Dichtungen
von Richard Voß „Die Patrizierin," „Luigia Scmfelice" und dem Roman
„Bergasyl" entgegengetreten sind. Wenn jetzt eine ganze Gruppe neuerer Werke
wiederum unter ihnen leidet, so flößt dies ernste Sorge für die Entwicklung
des Verfassers ein. Ein zweibändiger Roman Rolla, aus dem Leben einer
Schauspielerin (Frankfurt a. M, Könitzer, 1883), eine Tragödie in Prosa
Regula Brandt (ebendaselbst, 1883) und ein Schauspiel in Versen Der
Mohr des Zaren (ebendaselbst, 1883) liegen uns als neueste Produktionen
des Dichters vor. Wir können leider nicht behaupten, daß sie einen Fortschritt
zum — sagen wir — Glücklicheren ausweisen. Die kranke Geistreichigkeit, die merk¬
würdige Überreizung des Gefühls, die dicht neben völliger Stumpfheit für ge¬
wisse Gefühlsansprüche steht, die schlecht verhüllte Lust am Widrigen, die innere
Unwahrheit vieler tragischen Situationen — sie begegnen uns gleichmäßig in
diesen so grundverschiednen Schöpfungen. Handelte es sich um einfache Fratzen
oder um künstlich aufgeblähte Scheingebilde der poetischen Ohnmacht, so wäre
kein Wort darum zu verlieren. Aber in jedem dieser Werke, im Roman, im
Trauerspiel, im Schauspiel finden sich Episoden, finden sich einzelne Züge, die
Bürgschaft für ein Talent sind, dem man um seiner selbst wie um unsertwillen eine
freudige, und wenn das nicht sein kann, wenigstens eine natürlich wahre Ent¬
wicklung wünschen möchte. Am entschiedensten macht sich die unerfreuliche
Weltanschauung des Verfassers und seine geheime Bewunderung des Scheins
in dem Roman „Rolla" geltend. Die Vorrede sucht zwar die Verantwortlich¬
keit für die Erfindung abzulehnen und will die tragische Lebensgeschichte Rollas
als Memoiren Z. 1a Karoline Bauer erscheinen lassen. Wir denken, daß das
Verhältnis des Dichters zu dem Stoff der hier gebotenen Erzählung ein ganz
gleiches wie das Goethes zu dem Stoff des „Werther" ist, und daß Voß die
volle Verantwortung für die spätere Wendung der Geschichte, für die Liebe zu
dem titanischen Frank, für die so unerquicklichen als unmöglichen Szenen, welche
den zweiten Teil größtenteils anfüllen, und für das falsche Pathos des Schlusses
trägt. Handelte es sich in der That um eine zu Grunde liegende Autobiographie,
so hätte der Dichter erkennen müssen, daß dergleichen Erlebnisse allenfalls psycho¬
logisch zu erklären, nicht aber poetisch zu verklären sind. Gleichwohl, so peinlich
der Ausgang, so innerlich zerfahren der Geist des Ganzen ist, so schwankend
der Verfasser bezüglich der an die Dinge zu legenden Maßstäbe erscheint, so
braucht man doch nur das Idyll des ersten Bandes, die farbenvollen Szenen
in der Villa des Prinzen, dessen Gemahlin die Titelheldin in morgcmatischer
Ehe für kurze Zeit wird, zu lesen, um zu wissen, daß hier ein eigentümliches
Talent an seiner Selbstzerstörung arbeitet.
"
Die Tragödie „Regula Brandt interessirt durch die Selbständigkeit der
Erfindung, durch den unleugbaren Zug dramatischer Leidenschaft, durch die
Unerschöpflichkeit der Phantasie, wo es durch immer neue Einzelheiten die un¬
heimliche Stimmung zu verstärken gilt, die über dem Ganzen schwebt. An den
Menschengestalten, mit alleiniger Ausnahme der Braut des jungen Patriziers
und vielleicht des etwas schattenhaften treuen Spiclmcmns Placidus, läßt sich
kein wahrer und warmer Anteil gewinnen, die Sprache schwankt in eigentüm¬
licher Weise zwischen einer epigrammatischen Kürze und einer theatralisch-dekla¬
matorischen Haltung. Das Ganze zeigt wiederum, wie wenig gefestigt die An¬
schauungen des Verfassers sind, die Unwahrscheinlichkeit aller Voraussetzungen
des tragischen Konflikts wird durch eine Reihe von UnWahrscheinlichkeiten der
Handlung selbst verstärkt, in den Charakteren sind fast in Viktor Hugoscher Weise
d,e schneidigsten Gegensatze gemischt, an die plötzliche Bekehrung und Wendung
des alten Ratsherrn im letzten Moment der Tagödie läßt sich so wenig Glauben
gewinnen, als vorher an die wilde, jähe Wut, mit welcher der lebensgeprüfte
Henker Brandt seine Tochter aus dem Hause stößt. Die wilde Bewegung, in
welcher das Drama verläuft, läßt vielleicht auf der Bühne alle diese Bedenken
acht aufkommen. Gewiß ist, daß Richard Voß echte poetische und äußerlich
theatralische Spannung, Wirkung der Gestalten nud bloße Kolorit- und Kostüm-
Wirkung noch miteinander verquickt, und daß er über die Momente seiner Erfin¬
dung, seiner Gestaltcnanlage, in welchen er es in der Hand hätte, Phantasie
und Empfindung der Leser zwingend mit sich zu führen, in besondrer Weise
hinweghastet.
Das kapriziöse Schauspiel „Der Mohr des Zaren" ist nach einem Frag¬
ment von Puschkin ausgeführt. Die Helden sind hier Ibrahim, der Mohr Peters
des Großen, und eine junge Hofdame Natalia Gawrilowna, welche sich schließlich
mit einander vermählen, nachdem diese russische Desdemona erkannt hat, daß
die innern Vorzüge des idealen Ibrahim die „schattige Livrei der lichten Sonne"
Wohl wett machen können. Das Ganze spielt teils in Se. Petersburg, teils auf
einer Insel des baltischen Meeres, wohin Peter die empfindsamen Leute, welche
ihm seinen Willen nicht sofort thun wollen, allergnädigst verbannt hat. Dort
thun sie dann wirklich, was von vornherein in ihrer Empfindung lag, sie finden
sich, die Fürstin Wem Lykoff, die Vertreterin der guten alten Zeit, lernt den
Mohren, dem man im Chevalier Se. Lambert eine abgeschmackte Puppe zur
Folie gegeben hat, über alle Männer schätzen. Natalia Gawrilowna entsetzt
sich nicht ferner vor der Aussicht, Mama von „solchen kleinen süßen, herzigen
Möhrchen" zu werden, und vermählt sich dem Mohren. Schiffer Este Jurkos
Kuh aber, die von Haus aus nur gedörrten Fisch fressen wollte und das vom
Zaren für sie geschenkte Gras schnöde verschmähte, bekehrt sich gleichfalls. Mit
Estes begeistertem Ausruf:
Denk, Väterchen, die Kuh — die Kuh frißt Gras!
der zu allem Überfluß noch gesperrt gedruckt ist, schließt das Stück.
Die Neigung zum geistreich Pointirten, welche im „Mohr des Zaren" her¬
vortritt, fehlt auch in den andern Dichtungen von Richard Voß nicht, aber sie
tritt hier der Natur des Stoffs gemäß stärker hervor und hat hier (sofern Stoffe
wie dieser ein Recht haben) ein Recht zu dominiren. Eine Gefahr für den
Dichter, gelegentlich das Zeichen für die Sache zu setzen, schließt sie immerhin
ein; verglichen mit den Bedenken, die uns die besprochenen Werke sonst einflößen,
erscheint das jedoch untergeordnet. Es mag Richard Voß am ehesten gelingen,
ein dargestelltes Stück Leben und den Hang für pointirte Wendungen in innern
Einklang zu bringen. Weit schwieriger ist jedenfalls der Sprung von der über¬
reizten und mannichfach unreinen zur echten Empfindung. Für den in der Wüste
pessimistischer Lebensanschauung schmachtenden Dichter mag es verzeihlich sein,
wenn er eiuer Fata Morgana denselben Wert beimißt wie einer Oase. Für
diejenigen, die Anteil an dem Dichter nehmen, sind aber die sarbige Luftspiege¬
lung und die quellfrische und schattenspendende Wirklichkeit nicht von gleichem
Werte, und sie können ihm daher nur wünschen, zu dieser glücklich durchzudringen
und neben dem lebendigen Interesse, das sein Talent unzweifelhaft fordert, endlich
auch eine Befriedigung zu wecken.
iesmal machte Hermione staunenswerte Fortschritte. Der Fa¬
brikant konnte nicht glauben, daß sie erst jetzt Billard lerne.
Sie haben mich neulich zum Besten gehabt, drohte er mit er¬
hobenem Finger.
Wie käme ich dazu? wich Hermione lachend aus.
Wie Sie dazu kämen? Um mir das Vergnügen zu bereiten, daß ich Ihre
Fortschritte auf Rechnung meiner unübertrefflichen Lehrmethode brächte.
Würden Sie das für einen bedenklichen Scherz halten, Herr Hartig?
Nicht, wenn Sie ihn eingestehen.
So geschieht es hiermit.
Kaspar Benedikt machte ein süßsaures Gesicht. Sie sind eine Lose, sagte er.
Hätte es Ihnen denn nicht Spaß gemacht, auf mich als auf Ihre Schülerin
stolz zu sein? Jetzt haben Sie sich darum gebracht. Man soll nicht jedem
Dinge auf den Grund gehen wollen. Etwas behält Eleusis für sich.
Sagt Livius, ergänzte der Fabrikant.
Nein, Seneca, berichtigte ihn Hermione.
Liebes Männchen, mischte sich Frau Anna ein, du scheinst mir über das
Gärtnerlatein schon ein gutes Stück hinaus zu sein.
Der Fabrikant setzte die Bälle schweigend auf; hier haben Sie Kreide, sagte
er dann, die Queue suchen Sie sich wohl selbst ans. Ich merke, Sie wissen mehr,
als Sie uns simpeln Leuten gegenüber gleich anfangs verraten mochten.
Herr Hartig, Sie sind mit Ihrer Rute sehr rasch bei der Hand, schloß
Hermione.
Sie war nicht mit sich zufrieden und blieb während des Spiels zwar bei
der Sache, gab aber nur kurze Antworten, sodaß der Fabrikant mit sich selbst
noch unzufriedener wurde und die spitzig gekränkte Bemerkung von den simpel»
Leuten ernstlich bereute.
Sie ließ ihn gewinnen — ob absichtlich, wußte er nicht —, und als sie
sich zu guterletzt verabschiedete, glaubte er so vieles bei ihr verschüttet zu haben,
daß er mit den Worten: Sie haben mir doch nichts übelgenommen? förmliche
Abbitte that.
Wie könnte ich? war ihre Antwort; Sie hatten mich durch Ihre Güte zu
lange verwöhnt, Sie thaten Recht, mir endlich auch einmal auf die Finger zu
klopfen.
Auf diese schönen Finger! hätte hier die Antwort der in ähnlichen Rede¬
scharmützeln etwa unterliegenden Standesgenossen des Fräuleins von Mockritz
gelautet, und man hätte sich der schönen Finger zu einem Mittenden Kusse be¬
mächtigt.
Kaspar Benedikt fand sich nicht gemüßigt, seine Abbitte noch zu verstärken.
Wir kennen einander jetzt, sagte er; nichts für ungut, und morgen, wenn
es Ihnen paßt, zur gewöhnlichen Stunde auf dem Posten.
Der Herbst war ins Land gekommen. Unzählige Billardpartien hatten die
kleine Verdrießlichkeit ins Meer der Vergessenheit hinabgeschwemmt. Mama
Mockritz weilte im Seebade. Hermine — das o war allmählich dem Wider¬
willen des Fabrikanten gegen hochtönende Namen zum Opfer gefallen — Her¬
mine also hatte einer kranken Freundin zuliebe auf das Vergnügen, mit ins
Seebad zu reisen, verzichtet. Die Freundin war dann in Herminens Armen
oder wenigstens, was besser verbürgt war, in der Mockritzschen Villa gestorben,
jedenfalls von Fräulein von Mockritz nach dem Maß ihres Verständnisses für
solche Aufgaben verpflegt, wenn auch nicht eigenhändig. Nun ging Fräulein
von Mockritz in sehr kleidsamer Trauer, und nicht alle Welt, aber immerhin
viele der Nachbarn sanden, daß sie sich recht brav benommen habe.
Die Krankheit ist nicht geradezu ansteckend gewesen, sagte Frau Anna, aber
der Arzt besteht doch darauf, daß die ganze Villa eine Zeitlang gründlich aus¬
geräuchert und gelüftet werde. Wollen wir das Fräulein nicht bitten, während
dessen unser Logirgast zu sein?
Kaspar Benedikt meinte, sie werde gewiß lieber ins Seebad reisen.
Das ist ihr gestern erst ausdrücklich verboten worden, widersprach Frau
Anna; sie hat in dem Punkte meine Natur: Seebäder bringen ihr Blutwallungen.
Ohnehin — Mama Mockritz soll schon ihr siebzehntes Bad genommen haben —
Also gut, fügte sich der Fabrikant.
Da ist es aber an dir, sie einzuladen, häkelte Frau Anna ihren Faden
weiter.
Wozu solche Formalitäten?
Weil du ihr zuweilen eine krause Stirn gezeigt hast.
Meinetwegen! Unser Berthold wird ja nicht gerade mich eintreffe!,.
Du wirst ihr also deinen Besuch machen —
Nicht doch! Sie möchte wunder glauben, was wir im Schilde führen.
Und sie in unser beider Namen bitten, während des Lüfteus der Villa sichs
bei uns wohl sein zu lassen.
Ich denke nicht daran, sie zu besuchen. Wenn sie in diesen Tagen vor¬
spricht, macht sich das Ganze viel einfacher.
Sie wird aber nicht vorsprechen.
Und warum nicht?
Weil ich auf ihre Bemerkung, sie müsse sich ausquartieren, nichts erwiedert
habe. Wie konnte ich?
Dies war nicht ganz korrekt, aber wenigstens hatte Frau Anna nur durch
Blicke zu verstehen gegeben, sie werde schon Rat schaffen.
Man beleuchtete die Sachlage noch eine Weile pro und ooutrs.
Gut, es sei darum! sagte der Fabrikant endlich und verfügte sich in die
Villa Mockritz.
Hermine hatte, wie sie ihm in ihrer franken Weise gestand, schon daran
gedacht, ihn und Frau Anna um ein Obdach zu bitten. Sie zierte sich nicht
im allermindesten und hatte nur ein Bedenken: ihre neue Kammerjungfer. Die¬
selbe war eigentlich eine Art Diakonissin und hatte in dieser Eigenschaft die
verstorbene Freundin gepflegt. Aus Attachement an letztere, wie Hermine sagte,
mehr noch aus Fürsorge für die bisweilen einer kundigen Pflegerin bedürftige
Mama Mockritz, hatte Hermine dem Mädchen vorgeschlagen, bei ihr zu bleiben
und sich nach Kräften durch weibliche Handarbeiten und andre Dienstleistung^
nützlich zu machen, auf welchen Vorschlag die Pflegerin nach einigem Zögern
eingegangen war. Einstehen für dieselbe, so schloß Fräulein von Mockritz diese
ihre Relation, könne sie aber durchaus nicht. Und doch bekenne sie, daß ohne
Kammerjungfer zu leben und auszukommen ihr nicht leicht werden würde.
Dies Geständnis gefiel dem Fabrikanten ungemein gut, denn er fürchtete
nichts so sehr, als nach der Seite einfacher Lebensgewöhnungen hinters Licht
geführt zu werden, und lebte längst nicht mehr in der Vorstellung, daß sich
jede junge Dame selbst frisiren und sich auch alle Nadeln selbst anstecken
müsse, zumal da sogar Frau Anna zu Handreichungen letzterer Art ihn immer
fleißig anzuhalten wußte.
Wenn die Person Ihre Freundin treu verpflegte, sägte der Fabrikant, so
bringen Sie sie in Gottes Namen mit.
Sie ist ein gutes Geschöpf, fügte Hermine hinzu, wenn auch etwas barock
und möglicherweise sentimentaler, als für ihre Stellung paßt. Jedenfalls ist sie
sauber, soweit diese Art Leute sauber sind, und ich meine daher, wir Werdens
schon mit ihr wagen können.
In der That wurde mit Lore abends von Villa Mvckritz nach Villa Anna
übergesiedelt. Lore hießen in jener Gegend so ziemlich alle Kammerjungfern
und Papageien, und Fräulein von Mockritz hatte im Umläufen der jungen
Person umsoweniger von der Regel abweichen wollen, als der eigentliche Name
Lores, nämlich Elise, auch der Name der Verstorbenen gewesen war. Über ihr
Äußeres ließ sich wenig sagen. Lore war neben Fräulein von Mockritz für den
oberflächlichen Beobachter etwa wie der Mond neben der Sonne, und zwar das
verblaßte letzte Viertel, nach welchem man nicht aufschaut. Aber dieser Eindruck
wurde vorwiegend durch Nebensächliches hervorgebracht, durch ihre fast hcrrn-
hutische Kleidung, durch ihre schlichte, enganschließende Haube und durch Verab¬
säumung alles schmückenden Beiwerks. Sie trug weder Ringe an den Ohren
noch am Finger, noch eine Brosche oder eine Schleife am Busen, sodaß Fräu¬
lein von Mockritz ihr schon vorgeworfen hatte, sie gehe noch schmuckloser als
es für eine Dienende nötig sei, und Frau von Mockritz werde bei ihrem An¬
blick vielleicht hypochondrischer Laune verfallen. Für ein herzlicher teilnahm¬
volles Auge hätten die Blässe Lores und die Art, wie sie bemüht war, nie¬
mandes Aufmerksamkeit zu erregen, wohl die Vermutung erregen können, sie sei
durch die Schule schwerer Heimsuchungen gegangen, habe einst, wie ihre Sprache,
ihre Haltung und ihre Bewegungen auch verrieten, bessere Tage gekannt, und
sei, obschon noch jung, mit ihren eigentlichen Lcbensansprüchen schon zum Ab¬
schluß gekommen. Der Denkweise Herminens lag es näher, an etwas wie einen
eaux Ms zu denken, für welchen die junge Person Buße thun zu müssen glaube.
Sie hoffte, im Laufe der Zeit sie heiterer werden zu sehen und ließ sich, aus
der guten Absicht, die allzu rigorosem Grillen der armen Person zu zerstreuen,
zuweilen im Gespräch mit ihr mehr gehen, als im Grunde ihr selbst recht schien;
doch war Lore noch nie auf den solcherart von ihrer Herrin angeschlagenen
leichtlebigen Ton eingegangen, wie sie auch nur ausweichend antwortete, wenn
Hermine fragte, wie lange Lore mit der Verstorbenen bekannt gewesen, und auf
welche Veranlassung — ob etwa ans eine konfessionelle Sitte? — das freund¬
schaftliche Du zwischen beiden zurückzuführen gewesen sei?
So war die Pflegerin Lore beschaffen. Sie wäre, wenn Fräulein von
Mockritz ihr erlaubt hätte, Trauer zu tragen, eine geradezu nonnenhcifte Er¬
scheinung gewesen. Aber aus Rücksichten auf Frau von Mockritz, die gern helle
Farben liebte, hatte Hermine selbst nur für wenige Wochen schwarze Kleider
angelegt, und Lore trauern zu lassen, hatte daher, nach Herminens Meinung,
keinen Sinn.
In den beiden nun folgenden Kapiteln werden, wie ich voraussehe, zwei
junge Frauenzimmer geküßt werden. Ich teile das schon hier mit, damit die
beiden Kapitel überschlagen werden können — damit aber auch im Gegenteil
diejenigen meiner liebenswürdigen Leserinnen, die, nach der in manchen beliebten
Büchern getroffenen Einrichtung, mit solchen Vorkommnissen bereits das erste
Kapitel geschmückt zu sehen gewohnt sind, die Geduld nicht eben in dem Augen¬
blicke verlieren, wo die Erzählung in etwas rosiger anmutende Bahnen einzu¬
lenken gedenkt.
Man hat sich in der Villa Anna also nicht wie bisher nur einigemal in
der Woche zu sehen bekommen, sondern täglich, ja stündlich. Hermine ist in
dem sogenannten Damenzimmer einquartiert worden: Möbel aus Ebenholz¬
imitation mit rotem Seiden- und Atlasbezug, tief blau-graue Tapete, mattgelber
Kaminofen mit buntstaffirten Cartouchen, Renaissancestil 8M8 Mass, wie Kaspar
Benedikt seinen bewundernden Logirgast freundlich belehrt hat, nicht ohne Her-
minens Sorge um die schönen, noch nie benutzten Möbel durch die Versicherung
zu beschwichtigen, er besitze die Nachweise der Bezugsquellen für jeden dieser
Stoffe, und sein Grundsatz sei: alles lassen, aber auch alles benutzen.
Dennoch hatte Frau Anna ihm versprechen müssen, von Zeit zu Zeit un¬
vorbereitet zu revidiren, denn, hatte er gesagt, wie ein junges Mädchen, wenn
sie sich unbeachtet weiß, ihr Zimmer hält, darin liegt ein wesentliches Stück
ihres künftigen Hausstandes, und er hatte Frau Anna daran erinnert, daß
seine Mutter erst ihre Bedenken gegen ihre Schwiegertochter überwunden habe,
nachdem sie der letztern ein paarmal unversehens in das Gehege ihrer Kleider¬
und Wäscheschränke gekommen sei.
Frau Anna ihrerseits hatte sich im stillen erinnert, daß ohne die ihr als
Kind von ihrer eignen Mutter gewordene Anleitung sie wohl kaum jene
Probe sogut bestanden haben würde, und wo Herminens Zimmer nicht ganz so
ordentlich gehalten worden war, wie Kaspar Benedikt es von seiner Schwieger¬
tochter in, sxs erhoffte, da hatte Frau Anna ein wenig nachgeholfen, nie ohne
zu ihrer Freude wahrzunehmen, daß Fräulein von Mockritz auch in dieser
Beziehung sich als ein Muster von Gelehrigkeit bezeige.
Sie läßt sich gut an, lautete denn auch Frau Annas Bericht, und ich
wünsche nichts sehnlicher, als daß unser Berthold endlich eintrifft. Wie leicht
geht ein junger Mann in seiner Wahl fehl! Hier haben wir Zeit und Ge¬
legenheit gehabt, uns mußevoll zu orientiren. Sage selbst, Kaspar, hätten wir
besser für ihn wählen können?
Sachte, sachte.
Ist sie uns nicht schon so lieb wie eine Tochter?
Nicht zu rasch, wenn ich bitten darf.
Wie eine rechte Tochter, Kaspar Benedikt.
Der Fabrikant schwieg. Das Wort rechte Tochter klang zu wehmütig. Ihm
fielen zwei kleine Schwarzäugelchen ein, die sich einst mit Thränen gefüllt hatten,
als zwei kleine frostig gerodete Hände von ihm zu derb gerieben worden waren.
Worüber die Gatten sich schließlich verständigten, war, daß man zwar
niemandem ins Herz sehen könne, daß Hermine von Mockritz jedoch, wie sie
schon das o in ihrem Taufnamen verschmerzt habe, vermutlich auch den Verlust
des „von" gleich ihren Schwestern verschmerzen werde, und daß man denn also
in Gottes Namen — so kapitulirte Kaspar Benedikt — es für eine Fügung
des Himmels ansehen wolle, wenn der Adoptivsohn sich sür Hermine entscheide,
und — setzte Frau Anna hinzu — das Fräulein von Mockritz für ihn.
Bei einer andern Gelegenheit wurde der mögliche Fall ins Auge gefaßt,
daß Bertholds Geschmack durch das lange Leben in der Wildnis — lange war
er übrigens eigentlich nicht fort gewesen und am wenigsten lange in der Wildnis —,
daß also sein Geschmack verwildert sei, mithin alle die schönen Luftschlösser des
Ehepaares in Duft zerflossen. Für diesen Fall müssen wir wissen, was uns
obliegt, sagte Frau Anna; unsre ganze Einrichtung hier legt uns Pflichten auf.
Wir dürfen uns nicht lächerlich machen. Unter unserm Stande heiraten darf
Verthold nicht. Darüber wenigstens muß er klar sein.
Sobald die Einrichtung der merkwürdigen Villa in eine der Wagschalen
geworfen wurde, in denen das Ehepaar seine Gründe für oder gegen eine Frage
abwog, da ging das Zünglein immer stark nach der Seite der so belasteten
Schale.
Aber der Fabrikant glaubte betonen zu müssen, daß junge Leute junge
Leute seien, und daß man nur in Güte dem Pflegesohne zu verstehen geben
könne —
Dies sei unser wohlerwogener Standpunkt, vervollständigte Frau Anna den
von ihrem Gatten in der Schwebe gelassenen Satz, aber dabei setzen wir hinzu!
unser unerschütterlicher Standpunkt. Darin wenigstens wollen wir feststehen
wie die Berge. Du kommst nur immer so rasch ins Wanken, Alter! Fest wie
die Berge Tirols.
Oder der Schweiz.
Oder der Schweiz — aber du spottest wohl?
Nicht doch! Der Zuschnitt unsers Lebens zwingt in der That dazu, ge¬
wisse Rücksichten zu nehmen, stimmte Kaspar Benedikt bei.
Wir wollen ja nicht hoch hinaus, erwärmte sich Frau Anna mehr und
mehr; wie lange schon könntest du Freiherr sein —
Nun, nun!
Wenn du den Schießplatz hergabst?
Vielleicht Herr von, aber —
Aber nicht Freiherr von?
Vielleicht auch Freiherr von, was geht es uns an? Daß wir nicht über
unsern Stand hinaus wollen, darüber brauchen wir ja nicht erst Worte zu ver¬
lieren.
Aber was ist unser Stand?
Mittelstand.
Doch wohl wenigstens gebildeter Mittelstand.
Hin! Davon wollen wir lieber schweigen. Sagen wir schlichtweg: unser
Stand ist der Stand der Industriellen, also der fleißigen Leute im Staate,
und zwar der mit Erfolg fleißig gewesenen Leute, meinetwegen: der reich ge¬
wordenen fleißig gewesenen ehrlichen Leute. Seien wir mit diesem Range zu¬
frieden. Und wir sind es ja, was streiten wir denn?
Frau Anna hatte nie im Leben mit ihrem Kaspar Benedikt gestritten.
Alter, sagte sie begütigend, wenn wir das Glück und die Zukunft unsers Bert¬
hold besprechen, dürfen wir schon etwas warm werden. Verzeih mir.
Verzeih du mir, fügte sich auch der Gatte, im Grunde sind wir ja derselben
Meinung. Nein, das darf uns der Junge nicht zu Leide thun; auf der Stufe,
wohin wir gelangt sind, muß auch er Posto fassen. Und er wird es. Bisher
war er immer die Folgsamkeit selbst.
Wir hoben nie jemanden wegen seiner Armut oder seines Mangels an
Erziehung geringgeschätzt, erläuterte Frau Anna ihren und ihres Gatten
Standpunkt.
Nie; die Lose des Lebens fallen eben verschieden.
Aber man arbeitet sich nicht mühsam aus dem Wasser, um ini nächsten
Augenblicke wieder hineinzuspringe».
Und mühsam genug herausgearbeitet haben wir uns.
Also ob Hermine von Mockritz oder nicht — auf keinen Fall eine Mcs-
allianz.
Kaspar Benedikt fand das Wort etwas gewagt vornehm, aber was sich
ungefähr dabei denken ließ, drückte freilich aus, was Frau Anna und er selbst
meinten.
Der Postbote ist da, rief Fräulein von Mockritz zum Fenster hinauf, denn
sie saß auf der Gartenbank unter dem Balkon, neben welchem die Gatten, ohne
an Herminens Nähe zu denken, disputirt hatten.
Frau Anna -wurde rot. Die wird alles gehört haben, flüsterte sie zu
Kaspar Benedikt.
Und warum sollte sich nicht?
Ich schäme mich unaussprechlich.
Ich nicht im allermindesten. Was bringt er? rief der Fabrikant hinab.
Wenn es ein Brief Ihrer Frau Mutter ist, sagte Frau Anna, so Prote¬
stire ich von vornherein. Sie bleiben jedenfalls noch bei uns. Ihre Mutter
mag eine Weile am Seestrande Nachkur halten.
Aber es ist ja gar kein Postbote, rief wiederum der Fabrikant. Her mit
dem Telegramm, guter Freund!
Von unserm Berthold? ergänzte Frau Anna mit strahlendem Gesicht.
Beide Gatten eilten, so rasch ihre Füße sie tragen wollten, treppab.
Auf halbem Wege begegnete ihnen Hermine mit dem blauen Briefe.
Hier ist mein Ausweisungsdekret, sagte sie.
Thorheit! rief Frau Anna, wenn er kommt, bedürfen wir Ihrer erst recht.
Der Fabrikant hatte das Kouvert aufgerissen. Er kann jeden Augenblick
da sein, sagte er mit bewegter Stimme. Gott sei Dank, das Meer liegt hinter ihm.
Frau Anna fiel ihrem Gatten um den Hals. Sie war eine gottesfürch-
tige Frau. Ja, Gott sei Dank! sagte sie; wir wollen ihn nicht wieder soweit
in die Fremde ziehen lassen. Man soll den Himmel nicht versuchen.
Fräulein von Mockritz stand in Gedanken.
Sie bleiben bei uns, sagte Frau Anna und drückte Herminens Hand.
Auch ich bitte Sie darum, stimmte der Fabrikant bei; er war ganz aus
den Fugen.
Soll ich nicht wenigstens um Mamas Meinung telcgraphiren? fragte Hermine.
Wenn Sie es für nötig halten, fügte sich der Fabrikant, aber sorgen Sie
für eine deutlicher geschriebene Adresse; dieses Telegramm sollte schon gestern
in unsern Händen sein.
Hermine eilte auf ihr Zimmer. Sie hatte Eile, wenn auch nicht wegen
des Telegraphircns.
Lore, sagte sie zu ihrer Jungfer, ich brauche um doch alle meine Kleider;
geschwind! hier sind die Schlüssel zu meinen Schränken drüben in der Villa
Mockritz. Aber über die Moorwiese. Verstehen Sie mich, Lore? Da begegnet
Ihnen niemand.
Lore schürzte sich zum Gehen. Gnädiges Fräulein wollen alle Ihre Kleider
hier haben? wagte sie schüchtern zu fragen, denn es gab deren unzählige.
Natürlich nur alle, die man in dieser Saison anzieht, drängte Hermine.
Also gut: das rehbraune mit den Penseekarreaus, dann das graue Albatroß mit
den bordeauxroten Funken, dann das dunkelgrundige tlsur as dir6, oder nein,
bringen Sie das olivenbraune Kazaröd; und nun sputen Sie sich — was suchen
Sie? Ihren Sonnenschirm? Mein liebes Kind, Sie vergessen, daß Ihr Teint
in diesem Augenblicke nicht die Hauptsache ist; zuerst nur meine Kleider herbei!
Lore ging. So ungeduldig hatte Fräulein von Mockritz sich noch nie
gegen sie benommen. Ich war wohl zu herrisch, Lore? rief Hermine ihr denn
auch »ach; ja ja, es ist nicht leicht, mit mir umzugehen. Nun, Lore, das
llsur as rll6 sollen Sie haben. So. Ich mag niemandem wehgethan haben.
Und lassen Sie sich meinetwegen auch Zeit, fügte Hermine hinzu, denn plötzlich
fiel ihr ein, daß ihr ja wichtigeres obliege, als sich umzukleiden.
Noch deutlicher hätte es sogar heißen müssen: Kommen Sie nicht eher
wieder, als bis ich selbst zurück sein werde.
In der That hatte Fräulein von Mockritz keinen Augenblick zu verlieren.
Prinz Ottokar pflegte um diese Stunde die Gegend unsicher zu mache», und
wie es, ganz gegen die strenge Weisung ihrer weltklugen Mutter, schon zu jenem
Zwiegespräch an der Gartenbeete gekommen war, so hatte Hermine dem Prinzen
seit einigen Tagen regelmäßig spät nachmittags Gelegenheit gegeben, auf seinen
Spazierritten in einiger Entfernung von der Villa Mockritz ihr einsam zu be¬
gegnen und ihr ohne die immer doch störende Nähe seines Adjutanten den Hof
zu machen. Das sollte jetzt nicht wieder geschehen. Sie mußte dem Prinzen
sagen, daß sie sich sehr böse sei, den Befehlen ihrer Mutter so wenig gehorcht
zu haben, und er mußte ihr versprechen, nie wieder die Richtung seiner Ritte
hierher zu nehmen.
Sobald Lore daher fort war, griff Hermine nach Strohhut und Sonnen¬
schirm und enteilte in entgegengesetzter Richtung.
Die Mvorwiese war ein anmutiges Nixentanzplätzchen, das fast immer von
Vergißmeinnicht bläulich schimmerte. Aber wer nicht reichliches Fußzeug zu
Hause hatte, vermied doch die Moorwiese, so oft es fraglich war, ob am Ende
des schmalen Wiesenpfades nicht unversehens ein oder der andre Schuh sich im
Moorgrunde festgeankert hatte. Und diese Gefahr bedrohte jetzt, da es acht
Tage lang feuchte Witterung gewesen war, so ziemlich jeden Passante».
Dennoch hatte Fräulein von Mockritz Recht gehabt: nur auf jenem hinter
den Gärten der Chaussee zwischen Weidengebüschen und mannshohem Schilf
sich hinschlängelnden Pfade konnte der wichtige Montirungsbefehl ohne Auf¬
sehen zu erregen zur Ausführung gelangen, und da an den meisten, besonders
elastischen Terrain stellen große Feldsteine ans dem Moor herausragten, so mußte
zur Not das Wagnis bestanden werden.
Auch gelangte Lore glücklich nach der Villa Mockritz hinüber, wennschon
ihr an einigen mit Warnungsstrohwischen versehenen Stellen angst und bange
wurde. Als sie jedoch, mit den vielen Kleidern beladen, sich auf den Rückweg
begeben hatte, wäre es ihr bald schlecht ergangen, und daß es anders kam, ver¬
dankte sie nur dem Umstände, daß ein junger Mann von der Chaussee her ihre
Not bemerkte, rasch herbeieilte und ihr über die gefährlichsten Stellen hinweg¬
half, indem er die vor Angst schon halb Verwirrte fest umfaßte, gemeinsam mit
ihr von Stein zu Stein sprang und dabei sich ebenso wegkundig wie frohgemut
bezeigte, weshalb er schließlich mich, ehe Lore sich dessen versah, sich ohne viele
Umstände mit einem Kuß bezahlt machte.
Dies war kein andrer als — Berthold, der Amerikaner, der dann ebenso
rasch, wie er gekommen war, wieder die Chaussee gewann, woselbst sein schwarzer
Diener mit dem Reisekoffer geduldig des Zurückkehrenden harrte. Daß beide
ihren Weg darauf fortsetzten, als sei nichts geschehen, glaubte Lore, der die
Wangen sehr glühten, noch zwischen den Weidenbüschen erkennen zu können,
allerdings ohne zu ahnen, daß sie von demjenigen geküßt worden sei, von dein
ihre junge Herrin beim Frisiren einmal in einer weitgehenden Vertraulichkeits¬
anwandlung gesagt hatte: Fran Anna, seine Pflegemutter, sei in ihn so ver¬
narrt, daß sie wohl nächstens sich ihm zu Liebe tätowiren lassen werde.
Dies war der eine Kuß, wenn auch nicht ganz im Sinne des Sprüchleins:
Ein Küschen in Ehren
Kann niemand verwehren —
denn zum Verwehren hatte durchaus die Zeit gefehlt. Ich wäre freilich nicht
ohne seine Hilfe durchgekommen, sagte Lore vor sich hin, indem sie, unter ihrem
Kleiderbündel fast erliegend, inmitten der Vergißmeinnichte ihren Weg fortsetzte.
Sie warf ein paarmal während des Gehens die Lippe auf, als ziehe eine Ver¬
stimmung durch ihre Seele, aber der resignirte Ausdruck ihres Gesichts gewann
bald wieder die Oberhand.
Etwas minder in Ehren und etwas leidenschaftlicher ging es bei dem
zweiten Kusse zu. Nach der entgegengesetzten Seite der Movrwiese gab es hinter
den Gärten der Chaussee einen sehr sandigen Kiefernbestand, die sogenannte
van der Eisclsche Schonung, herrenloses Gut, solange ein darüber schwebender
uralter Prozeß nicht zur Erledigung gelangt war. Von Zeit zu Zeit hatten
Phantasten wie Major von Stobbe die van der Eiselsche Schonung in einen
Park umzugestalten unternommen. Man war indessen nie über einige Berbe¬
ritzen- und Hollundcrbvskets hinausgelangt, bis eines Tages die zahlreichen
Nußhäher der Umgegend einen Strauß mit den Dohlen der Nachbarschaft ge¬
rade hier auszufechten unternahmen, einen Strauß, bei welchem die Dohle» den
kürzern zogen. Seitdem — so wird wenigstens erzählt — hat man dort im Laufe
der Jahre Hasclnußgcbüsche in großer Üppigkeit aufschießen sehen, wie man
annimmt, eine natürliche Folge der Neigung des Nußhähers, Früchte zu ver¬
scharren, und zugleich ein Zeichen, daß die Niederlage der Dohlen das Schlacht¬
feld definitiv den Siegern überliefert hatte. Genug, niedriges Buschwerk und
lauschige Verstecke gab es in der van der Eiselschen Schonung jetzt in großer
Menge, und da liebeskranke Herzen nach dem Beispiel der Vögel solchen freund¬
lichen Asylen hold sind, so hatte Prinz Ottokar hier so häufig sein Roß ge¬
tummelt, bis Fräulein von Mockritz darin, wie erwähnt, eine immer dringender
werdende Aufforderung erblickte, mit einem Buche oder einer Arbeit in der
Hand auch ihrerseits dort Luft zu schöpfen.
Dies hätte Frau von Mockritz füglich voraussehen können, wäre sie nicht
über die Jahre hinaus gewesen, wo man von den lebhaften Empfindungen des
Jugendalters sich klare Vorstellungen zu macheu weiß; denn Prinz Ottokar
war schön, blühend, geistreich und der Abgott so ziemlich aller jungen Mädchen,
welche dem periodisch ja immer wieder auftauchenden Wahne von dem bereits
allseitigen Verschwinden der Staudcsvorurteile zuneigten. Hermione — hier
hieß sie ganz so wie im Taufregister — mußte aber für den Prinzen, der
unendlich vieler Eindrücke fähig war, zunächst den ihm freilich schon oft be-
gegneten Reiz einer verbotenen Frucht haben — über die zwei bürgerlichen
Schwäger Hermiones wäre bei Hofe ja nie hinwegzukommen gewesen —, sie
war überdies hübscher, munterer und geistig beweglicher als irgend eine der
Prinzessinnen, unter deren Photographien ihm hin und wieder zugemutet wurde,
die Wahl zu treffen, sie war endlich in dem interessanten Stadium, wo um ihre
junge Person das Würfeln schon begonnen hatte; morgen, vielleicht heute schon
konnte sie in die Lage kommen, ja oder nein sagen zu müssen, und es war für
Prinz Ottokar, dessen Blut tiefblau war, ein Gedanke entsetzlicher Art, daß sie
sich gleich ihren Schwestern mit einem Thalersack verheiraten werde.
Hoheit, sagte Hermione, als der Prinz wieder wie gestern und vorgestern
vom Sattel herab, trotz dem Sonnenschirm, der ihm Hermiones Gesicht ver¬
barg, un> die Erlaubnis gebeten hatte, absteigen und ihr ein wenig Gesellschaft
leisten zu dürfen, ich bin lediglich hier, um Sie dringend zu bitten, mich nicht
weiter zu Unvorsichtigkeiten zu verleiten.
So ist er angekommen? rief Prinz Ottokar aufbrausend und schwang sich
aus dem Sattel. Hermione, Sie machen mich rasend; ich gönne Sie keinem.
Sie dürfen mir das nicht anthun.
Ich habe Ihnen gesagt, Hoheit, antwortete Hermione, daß ich sehr unglücklich
bin — ihre Stimme zitterte, sie stand wirklich unter dem Bann des schönen Jüng¬
lings, der ihre Hand leidenschaftlich ergriffen hatte — grenzenlos unglücklich,
Hoheit!
Eher wage ich alles, ehe ich Sie einem andern gönne! rief er mit heftiger
Geberde; Sie dürfen nicht. Ich verbiete es Ihnen. Ich will doch sehen, ob
ich ganz, ganz machtlos bin.
Und was soll denn werden? fragte Hermione.
Ich weiß es nicht! Er zerbrach vor Zorn seine Reitgerte. Es stand ihm
der Zorn nicht minder gut wie der Leichtsinn.
(Fortsetzung folgt.)
Der zweite Teil von dem das Bildungswesen umfassenden Abschnitt des in
neuer Auflage erscheinenden großen Stcinschcn Werkes ist dem ersten in dieser
Zeitschrift besprochenen Teile schnell gefolgt. Es ist in der That ein kühnes Unter-
nehmen, die Geschichte des Bildungswesens als einen Teil des Verwaltungsrechts
darzustellen, und einem andern Manne als einem philosophisch und geschichtlich so
durchbildeten Forschergeist, wie Lorenz von Stein es ist, wäre ein derartiges Vor¬
haben gewiß uicht zu raten. Freilich wer da glaubt, daß es zur Kenntnis des
staatlichen Bildungswesens genüge, zu wissen, wie viele Schulrcgulative auf ein¬
ander gefolgt sind und welche Instanzen bei der Schulaufsicht innezuhalten seien,
der mag das Buch nicht in die Hand nehmen. Er würde es nur entweihen, denn
für Leute solchen Schlages ist es nicht geschrieben. Aber wer, um zu einem Ver¬
ständnis des Bildungswesens und der Kultur unsrer Zeit zu gelangen, den geschicht¬
lichen Entwicklungsgang kennen lernen will, als dessen Schlußglied — wenn auch
hoffentlich nicht als letztes der Kette — das Bildungswescn unsrer Epoche sich
ergiebt, wer dieses letztere geistig durchdringen will, der wird das Steinsche Werk
uicht ohne hohe Befriedigung und hohen Genuß studiren. Der erste Band hatte
die Geschichte des geistigen Lebens im Altertume gegeben und schloß mit der Be¬
wegung, welche das Bildungswesen auf Grundlage der ersten Epoche des Christen¬
tums erhalten hat. Der vorliegende zweite umfaßt das erste Jahrtausend der
germanischen Welt. In glänzende», saftigen Farben entrollt uns der Verfasser in
der ihm eignen geistvollen Weise das Bildungsweseu des Mittelalters, anknüpfend
an das Urchristentum der germanischen Welt von dem Bildungsweseu als Staats-
gedanken in der karolingischen Monarchie durch die ganze philosophisch-theologische
Scholastik des Mittelalters bis zu dem Humanismus des fünfzehnten Jahrhunderts.
Der reiche Inhalt des Buches umfaßt nicht nur eine Geschichte der Philosophie
und der Universitäten, sondern verfolgt die einzelnen Zweige des Bildungswesens,
wie es in den einzelnen Ständen, in der Poesie, in den verschiedensten Gebieten
der Wissenschaft und Kunst zur Erscheinung gelangt. Die große Reformation ist
noch uicht in den Kreis der Betrachtung gezogen.
Diese kurze Anzeige muß leider genügen; eine der großen Gelehrtenarbeit,
die sich, wie bereits bei Besprechung des ersten Bandes erwähnt worden ist, nicht
bloß an den Fachmann, sondern an die wahrhaft gebildeten Kreise des ganzen
Volkes wendet, würdige Besprechung würde bei weitem den Rahmen dieser Zeit¬
schrift überschreiten und doch uicht das geben, was der Leser selbst zu schöpfen in
der Lage ist. Stein erinnert in seiner Vorrede daran, daß dieser Teil in eiuer
Zeit erscheint, wo die Wiener Universität ihren neuen Palast bezieht; als ihr Wahr¬
zeichen stellt der Verfasser hin, daß sie die Trägerin der deutschen Gestalt und
Arbeit in der europäischen Kultur bleiben müsse. Wir schließen uns diesem Wunsche
in der Hoffnung an, daß die Erfüllung nicht ausbleiben werde, wenn an dieser
Universität auch fernerhin Männer wie Stein lehren und wirken werden.
Die neuerdings oft erhobene Klage, daß unser Publikum eigentlich nur noch
für wertlose Tageserscheinungen der Literatur Sinn habe und sich hinsichtlich aller
älteren Literatur mit derjenigen Kenntnis begnüge, die sich aus irgend einem
Leitfaden der Literaturgeschichte schöpfen läßt, >rird eigentlich schon Lügen gestraft
durch die zahlreichen Neudrucke älterer Literaturwerke, die fort und fort daneben
erscheinen und Käufer und — Leser finden. Das lesende Publikum ist sich wohl
im ganzen immer gleich geblieben und wird sich immer gleich bleiben. Es hat
zu allen Zeiten einen großen Haufen gegeben, der begierig alles verschlang, was
neu war, und daneben eine kleine Schar, die immer nur nach dem fragte, was
gut war. Freilich handelt es sich bei jenen Neudrucken oft nur um literarische
Seltenheiten und Kuriositäten; aber welche Fülle der besten Erzeugnisse früherer
Perioden unsrer Literatur ist doch auch durch die Sammlungen von Brockhaus,
Niemeyer, Gebrüder Henninger, Spemann nud — laÄ, not least — durch die
bescheidenen Reclamschen Zwanzigpfennig-Heftchen in der jetzigen Generation ver¬
breitet worden!
In der letzten Zeit haben sich an die Neudrucke von älteren Werken unsrer
poetischen Literatur auch solche von andern merkwürdigen und selten gewordenen
Büchern angeschlossen. Das „Bibliographisch-artistische Institut" in München z, B, hat
unter anderen die wichtigen „Memoiren des Ritters von Lang" neu herausgegeben, und
eine ähnliche Sammlung scheint die Verlagshandlung von Scheible in Stuttgart,
welche bekanntlich mit einem der bedeutendsten und auserlesensten Antiquariate ver¬
bunden ist, mit dem vorliegenden Buche eröffnen zu wollen.
Die „Russischen Günstlinge" sind eine Sammlung von 110 größer» und kleinern
biographischen Aufsätzen zur russische» Hof- und Regierungsgeschichte, welche ein
Herr von Helbig (f 1813 in Dresden), der verschiedne höhere Beamtenstellungen
in Preußen bekleidet und im vorigen Jahrhundert lange Jahre in Rußland, ins¬
besondre in Petersburg, gelebt hatte, 1309 bei Cotta herausgegeben hat. Das
Buch enthält, wie der Verfasser selbst in seinem damals geschriebenen Vorworte
sagt, „zwar keine zusammenhängende russische Geschichte, aber in einem Zeitraume
von mehr als hundert Jahren, nämlich vom Anfange der Regierung Peters I,
an bis zum Schlüsse der Regierung Pauls I,, giebt es kein merkwürdiges Er¬
eignis in Rußlands Jahrbüchern aufgezeichnet, von welchem nicht in diesem Buche
etwas vollständiges gesagt wäre, weil, mehr oder weniger, immer ein Günstling
daran Teil genommen hatte," Die Form des Buches ist sehr seltsam, denn sie nötigt den
Verfasser zu fortwährenden Wiederholungen und Verweisungen, und da der Anteil
an den Ereignissen, der den einzelnen Personen zugefallen war, ein sehr ver-
schiedner war, so bilden die einzelnen Aufsätze bald nur kurze, lexikonartige No¬
tizen, bald ausgeführte Biographien mit reichem Detail. Um seines Inhaltes willen
aber, der nur zum Teil aus ältern gedruckten Quellen, zum Teil aus mündlichen
Mitteilungen und handschriftlichen Aufzeichnungen geschöpft ist, und der, da der
Verfasser von einem offnen Ignoramus fast auf jeder Seite Gebrauch macht, durch¬
aus den Eindruck vorsichtiger und ehrlicher Arbeit macht, hat das Buch immer
bei Geschichtsfreunden in Ansehen gestanden und ist schließlich im antiquarischen
Verkehr teuer bezahlt worden.
Hoffentlich wird die Verlagshandlung mit diesem ersten Bande ihrer geplanten
Kollektion — den sie übrigens in gediegenster und geschmackvollster Weise ausgestattet
hat — einen Erfolg haben, der sie zur Fortsetzung ihres Unternehmens ermuntert.
Nachdem uns Braun mit den beiden umfangreichen, mit bewundernswürdigen!
Fleiße erarbeiteten Sammlungen zeitgenössischer Stimmen über Schiller und Goethe
beschenkt hat, überrascht er uns nun noch mit einer ähnlichen Sammlung über
Lessing, Man muß wirklich sagen: er überrascht uns damit, denn von dem Um¬
fange seiner Sammclarbeit erhält man eigentlich erst jetzt eine genügende Vorstellung,
Die schriftstellerische Thätigkeit Schillers, soweit sie in der gleichzeitigen periodischen
Literatur sich spiegelt, begann 1782, die Goethes zehn Jahre früher, die Lessings
aber reicht bis in das Ende der vierziger Jahre zurück: welchen Wust von Zei¬
tungen und Zeitschriften jener Zeit mag der Herausgeber durchstöbert haben, um
die Goldkörner zusammenzutragen, die in dem vorliegenden Bande vereinigt sind!
Derselbe umfaßt die Erwähnungen, Berichte und Urteile de, Zeitgenossen über die
Schriften Lessings bis zum Jahre 1772, also über seine Jugenddraincn bis zur
Miß Sara Sampson und zum Philotas, über die Beiträge zur Aufnahme und
Historie des Theaters, über die theatralische Bibliothek, über die Literaturbriefe,
über die Fabeln, über den Laokoon, die Hamburgische Dramaturgie und die anti¬
quarischen Briefe, endlich über Minna von Barnhelm und Emilia Galotti,
Mit diesem ersten Bande über Lessing hat der Herausgeber nun schon zum
zweitenmale während der Veröffentlichung seines Sammelwerkes den Verleger ge¬
wechselt. Eine Äußerung am Schlüsse des Vorwortes scheint darauf zu deuten, daß dieser
Wechsel mit dein geringen buchhändlerischen Erfolg der frühern Bände zusammenhängt,
womit anch der elegische, nicht sehr zuversichtlich klingende Wunsch stimmen würde,
daß es ihm vergönnt sein möchte, nach Schluß des Werkes das Ganze von An¬
fang bis zu Ende noch einmal zu überarbeiten. Sollte dieser Wunsch sich erfüllen
— und wir hoffen, daß das verdienstvolle Unternehmen mit der Zeit immer mehr
Verbreitung und Anerkennung finden werde —, so möchten wir ein Scherflein zur
Vervollständigung desselben beitragen mit dem Hinweis ans die „Notiz poetischer
Neuigkeiten," mit denen Chr. H. Schmidt jeden Jahrgang des von ihm heraus-
gegebenen Leipziger Musenalmanachs begleitete. Im ersten und dritten Jahrgange
(1770 und 1772) finden sich auch Kritiken über Lessingsche Werke, die wir in
dem vorliegenden Bande vermißt haben.
Daß anch diese Lessingsammlung wieder den Beweis liefert, daß es jederzeit
neben albernen, lumpigen, terrenis-, erfnhrnngs- und urteilslosen Rezensenten auch
verständige, gediegene, kenntnisreiche, erfahrene und urteilsfähige Kritiker gegeben
hat, brauchen wir wohl nicht hervorzuheben. Wer doch voraussagen könnte, wie
in fünfzig oder hundert Jahren die Rollen verteilt sein würden, wenn ein Sammler
der Zukunft aus unfern jetzigen Wochen- und Monatsschriften die Urteile über
Georg Ebers, Felix Dahn, Julius Wolff und andre Modegrößen zusammenstellen
wollte!
Ein Buch, welches innerhalb eines Jahrzehntes drei Auflagen erlebt, hat
damit den Beweis geführt, daß es mindestens einem Bedürfnisse des Publikums
entspricht. Der neuen Auflage des obigen Werkes liegt eine neue Bearbeitung zu
Grunde, bei welcher vielfach Zusätze, aber auch im Juteresse der Sache manche
Kürzungen vorgenommen worden sind. Den „ungeheuern, weitsichtigen Stoff,"
welchen die Musikgeschichte darbietet, hat der Verfasser in einem Bande von
524 Seiten bewältigt; und nicht ohne Grund bezeichnet er deshalb sein Werk nur
als eine Geschichte „im Umriß." Innerhalb dieses Raumes ist aber eine reich¬
haltige Zusammenstellung alles Wissenswürdigen gegeben.
Die Geschichte der Musik, wie überhaupt jeder Kunst, läßt sich in eine äußere
und innere einteilen. Die äußere beschäftigt sich mit den greifbaren Thatsachen
und Erscheinungen, in welchen die Kunst fortschreitet. Die innere hat die Auf¬
gabe, diese Erscheinungen ihrem innern Wesen nach zu charakterisiren. Der Wert
der erstem wird bedingt durch die Treue der geschichtlichen Forschung, der der
zweiten durch die Tiefe des musikalischen Verständnisses. Die Musik ist aber die¬
jenige Kunst, deren inneres Wesen sich am schwersten in Worte umsetzen läßt.
So wenig wie der Inhalt eines Musikstückes, läßt sich anch der Charakter eines
Komponisten oder einer ganzen Musikperiode mit Worten beschreiben, die auf ab¬
solute Geltung Anspruch machen könnten. Stets wird der Besprechende etwas
von seiner Subjektivität hinzuthun; und was in einer solchen Beschreibung den
einen anspricht, wird dem andern vielleicht mir als Phrase erscheinen. Im allge¬
meinen können wir anerkennen, daß der Verfasser des vorliegenden Werkes über
Personen und Sachen recht anmutend zu schreiben versteht, und daß seine musika¬
lischen Urteile wohl bei vielen Anklang finden werden. Es wird vielleicht am
meisten interessiren, wenn wir hier hervorheben, wie er über die große musikalische
Frage der Gegenwart, über den Wagnerknltns, sich ausspricht. Bei aller Aner¬
kennung der künstlerischen Begabung Wagners und der Verdienste, die sich derselbe
um das „Musikdrama" erworben habe, hält er es doch für verhängnisvoll, an die
Stelle der musikalisch-künstlerischen Wirkung des architektonisch abgeschlossenen Ton¬
bildes die rein pathologische Wirkung, den sinnlichen Reiz des Klangwechsels, der
Klangfarben und der energischen rhythmischen Figuren setzen zu wollen. Auch er
glaubt sonach, daß die Wagnersche Theorie schließlich nur als eine genial durch¬
geführte Verirrung werde erkannt werden. Alles in allem können wir das Werk
denen, welche, ohne tiefere Studien machen zu wollen, sich für die Entstehung unsrer
heutigen musikalischen Zustände interessiren, nnr bestens empfehlen.
Diese bereits in zweiter Auflage erschienene neue Novelle des schweizerischen
Dichters reiht sich in jedem Betracht an die vortrefflichen „Kleinen Novellen" des¬
selben an, denen die Grenzboten vor einiger Zeit eine eingehende Besprechung
gewidmet haben. Die Novelle hat einen historischen Hintergrund und spielt in
den Altcrstagcn Ludwigs XIV. Der Leibarzt des Königs, Fagon, erzählt dieselbe
in einer länger» Plauderstunde bei Frau vou Maintenon dem Könige und seiner
Gemahlin und will Se. Majestät mit der Erzählung vor ihrem neuen Beichtvater,
dem Jesuiten Le Tellier, warnen. Diese Art der Einkleidung droht bei K. F. Meyer
einigermaßen zur Manier zu werden. Hier dient sie freilich dazu, den Hintergrund
farbenreicher hinzustellen. Die Schicksale des Helden der Geschichte, des jungen
Julian Boufflers, eines Sohnes des Marschalls, welcher an den Folgen seiner
Nichtbegabung, eines heimlichen Hasses der Jesuiten, in deren großem Kolleg er
sich befindet, und einer schließlichen brutalen Mißhandlung durch Pere Tellier zu
Grunde geht, sind in Fagons Munde mit ergreifender Wahrheit dargestellt, ein
poetischer Beleg zu dem Satze, daß auch ein Kind schon die Fülle der Leiden em¬
pfinden kann. Die künstlerische Durchführung des eigentümlichen Vorwurfes und
die Verbindung der Einkleidung mit der eigentlichen Erzählung zeugen von reifer
Meisterschaft. "
le Grundzüge eines Gesetzes über Unfallversicherung sind von der
Reichsregierung neu ausgearbeitet, den Bundesregierungen mit¬
geteilt und auch durch die Presse veröffentlicht worden. Als
wir im 30. Heft der vorjährigen Grenzboten die „soziale Gesetz¬
gebung" besprachen, erlaubten wir uns einige Andeutungen zu
geben über die nach Lage der Dinge wünschenswerte Neugestaltung des frag¬
lichen Gesetzes. Wir freuen uns, konstatiren zu können, daß in den wesentlichsten
Punkten der neue Entwurf mit unsern damals geäußerten Wünschen überein¬
stimmt. Der Reichszuschuß ist fallen gelassen. Die Ausschließung der Privat¬
versicherung aber ist aufrecht erhalten. Was die Organisationsfrage betrifft,
so ist die eigentliche verwaltende Thätigkeit den Organen der zu bildenden Berufs¬
genossenschaften gelassen worden. Zugleich aber soll ein Reichsversicherungsamt
als zentrale Behörde geschaffen werden, welche die Beaufsichtigung des ganzen
Betriebes übernimmt und dadurch dessen Einheit und Gesetzmäßigkeit sichert.
Auf diese Weise gewinnt die Institution, welche nach den Organisationsvor-
schlägen des letzten Entwurfs eine etwas molluskenartige Natur angenommen
hatte, gleichsam einen Rückgrat, durch welchen der weit sich ausdehnende Körper
einen festen Halt bekommt.
In einer Beziehung haben wir bei unsrer damaligen Besprechung uns
getäuscht. Wir drückten die Hoffnung aus, daß einem solchen neuen EntWurfe
gegenüber die liberalen Parteien den bis dahin von ihnen begünstigten Gedanken
einer Aufrechthaltung der Privatversichernngsgesellschaften nicht weiter festhalten
würden. Kaum ist aber der neue Entwurf erschienen, so tritt die National¬
zeitung in einem — wir hoffen, nicht aus nationalliberaler, sondern nur aus
sezessionistischer Feder herrührenden — Artikel mit Lebhaftigkeit auch ihm wieder
entgegen, indem sie wieder das alte Lied von der „Erweiterung des Haftpflicht¬
gesetzes" anstimme und die Erhaltung der Privatgesellschaften als das „einfache
und bewährte Mittel," allen Schwierigkeiten der Organisation zu entgehen,
anpreist. Die Beharrlichkeit, mit welcher die Regierung an der Ausschließung
der privaten Versicherung festhalte, soll sich nnr aus der beabsichtigten „Ver¬
staatlichung alles Versicherungswesens" erklären lassen. Ach nein! so liegt die
Sache doch nicht. Unsrer Überzeugung nach kann die Regierung eine In¬
stitution, a» welche sie einen Zwang zur Versicherung knüpft, nicht auf eine
so unsichere Grundlage bauen, wie die privaten Versicherungsgesellschaften unter
allen Umstünden sein würden. Wer kann eine Garantie dafür leisten, daß jede
dieser Gesellschaften die von ihr auf eine weitere Zukunft hinaus übernommenen
Verbindlichkeiten andauernd werde erfüllen können? Man spricht von sichernden
„Normativbestimmungen." Daß diese aber nicht in zureichender Weise geschaffen
werden können, dafür liegt der Beweis bereits vor. In dein von den liberalen
Parteien mit Aufwendung ihrer besten Kräfte ausgearbeiteten, zu Anfang des
Jahres 1882 eingebrachten Gesetzentwürfe waren solche Nvrmativbcstimmungen
versucht worden. Es lag aber auf der Hand, daß sie unzureichend waren.
Das erkannte der Entwurf selbst an, indem er vorschrieb, ein künftiges Reichs¬
gesetz solle erst die rechten Normativbcstimmuugen schaffen. In diesem auf die
Zukunft gezogenen Wechsel lag das Geständnis der eignen Unfähigkeit. Diese
durch die Thatsachen bewiesene Unmöglichkeit, die Privatgesellschaften zu ge¬
sicherten Anstalten zu machen, bildet ohne Zweifel den erste» und gewichtigsten
Grund für jene Beharrlichkeit der Regierung. Fragen wir aber nach dem
Grunde der Beharrlichkeit, mit welcher man von andrer Seite für die Auf¬
rechthaltung der Privatgesellschaften kämpft, so sind es die egoistischen Interessen
einer kleinen, aber immerhin einflußreichen Anzahl von Personen ini deutschen
Reiche. Es sind die Interesse» aller derer, welche aus dem Bestände jener
Gesellschaften Vorteile ziehen. Diesen Vorteilen entsprechen ebensoviel Opfer,
welche die Industrie bringen muß. Und wenn die Absicht, die Industrie diesen
Opfern zu entziehen, einen weiteren Grund für die Reichsregierung abgeben
sollte, mit den bestehenden Zuständen zu brechen, so würde sicherlich auch dagegen
nichts zu sagen sein. Da man nun aber mit jenen Interessen selbst nicht offen
hervortreten kann, so sucht man Steine aller Art auf, um sie den Regiernngs-
vvrschlägen, wie sie auch gestaltet sei» mögen, in den Weg zu legen. Man
sucht die jetzt noch fraglichen Unfälle, weil sie nach Abzug der geringeren,
unter das Krankenkassengesetz fallenden nur noch etwa fünf Prozent aller Fülle
begreifen, als eine Bagatelle hinzustellen, für welche es sich nicht lohne, eine
neue Organisation zu schaffen, während doch gerade diese schwereren Unfälle es
sind, welche mit erdrückender Last auf dem Arbeiterstande und der Industrie
haften. Man bauscht den Grundsatz von der Unzulässigkeit eines Wirtschafts¬
betriebes des Staates künstlich auf; ein Grundsatz, der in gewissem Sinne ja
Völlig richtig ist, hier aber ganz und gar nicht paßt. Man preist das Hast¬
pflichtgesetz als ein höchst wertvolles Gesetz an, während es doch von allen
denen, welche von einem unbefangenen Staudpunkte aus damit zu thun gehabt
haben, als ein durchaus unbefriedigendes erkannt ist; unbefriedigend und un¬
gerecht nach beiden Seiten hin, sowohl für die Arbeiter als für die Arbeitgeber,
und in seiner Gefolgschaft eine Unsumme der häßlichsten Prozesse nach sich
ziehend. Wahrlich, wenn an jenen kleinlichen Interessen der große Gedanke
unsers Reichskanzlers, den verunglückten Arbeitern eine umfassende Hilfe zu
gewähren, scheitern sollte, es wäre eine tiefe Demütigung für unser deut¬
sches Volk.
Während wir hiernach dem aus der Existenz der Privatversicherungsgesell-
schafteu entnommenen'Einwände jede innere Berechtigung absprechen müssen, bietet
der neue Entwurf dagegen manche andre Zweifel dar, die wir hier von unserm
freien Standpunkte aus besprechen wollen.
Der neue Entwurf beschränkt die Verhinderungspflicht im wesentlichen auf
diejenigen Arbeiter, auf welche auch der § 2 des Haftpflichtgesetzes gestellt ist.
Es ist aber bereits vielfach empfunden worden, daß dieser Paragraph zu enge
Schranken zieht. Deswegen wollten auch die früheren Entwürfe weiter gehen
und namentlich mich die Bauarbeiter in den Kreis der Versicherung ziehen. Wenn
der gegenwärtige Entwurf hiervon wieder zurückgeht, so nehmen wir an, daß
er dies nur aus Vorsicht thue; um nämlich nicht der neuen Organisation durch
eine größere Ausdehnung eine noch schwerere Aufgabe zu stellen, als sie an sich
schon zu lösen übernimmt. Ist dies richtig, so würde die Ausdehnung der In¬
stitution auf weitere Klassen von Arbeitern nur eine Frage der Zeit sein. Sie
würde sich, sobald die Organisation innerhalb des jetzt ihr gegebenen Rahmens
sich bewährt haben wird, ohne Schwierigkeit bewirken lassen. Wenn man sich
hierüber verständigte, läge kein Grund vor, der Vorsicht des gegenwärtigen Ent¬
wurfes entgegenzutreten und auf einer Ausdehnung der Versicherung auf weitere
Arbeiterklassen zu bestehen.
Wir haben bereits oben bemerkt, daß der neue Entwurf den früher ge¬
planten Reichszuschuß zu der Versicherung nicht wieder aufgenommen hat. Die
wvrtführenden Gegner finden aber, daß dies nur scheinbar sei, einesteils, weil
der Entwurf (Ur. 6, Abs. 2) vorschreibe, daß wenn eine Genossenschaft dauernd
leistungsunfähig werde, ihre Verpflichtungen auf das Reich übergehen; andern-
teils, weil nach Nummer 37 des Entwurfs die PostVerwaltung im voraus die
Entschädigungen auszahlen und erst nach Ablauf des Rechnungsjahres die aus¬
gezahlten Beträge wieder erheben soll, hiernach aber die Reichskasse den Betriebs¬
fonds für die Versicherung stelle, während bei den Versicherungsgesellschaften
das Aktienkapital den Betriebsfonds bilde. Hiernach, wird gesagt, „trete die
Reichskasse in der Hauptsache an die Stelle des Aktienkapitals." Der erste
Punkt hängt genau zusammen mit den Grundsätzen, nach welchen die Aufbringung
der Entschädigungsgelder überhaupt erfolgen soll, und wir werden davon unten
noch weiter zu reden haben. Was die zweite vom Reiche gewährte Beihilfe be¬
trifft, so hängt deren pekuniärer Wert davon ab, in welchem Maße die Post¬
Verwaltung die bei ihr verfügbar werdenden Gelder verzinslich anlegen würde,
wenn sie nicht zur Auszahlung an die Entschädigungsberechtigten verwendet
werden müßten. Auf diese Frage vermögen wir unsrerseits leine Antwort zu
geben. Aber selbst angenommen, die Postverwaltung sei imstande, alle diese
Gelder sofort verzinslich anzulegen, so würde ihr Zinsverlust doch nur etwa
in dem halbjährigen Zinsbeträge der durchschnittlich im Laufe des Jahres zur
Auszahlung gelangenden Gelder bestehen. Schlagen wir diesen Betrag nach
der Schätzung der Regierung zu dreizehn Millionen Mark an, und berechnen
wir die Zinsen zu vier Prozent, so würde also das Opfer, welches das Reich
brächte, in 260 000 Mark bestehen. Das würde doch im Verhältnis zu einer
Institution von dieser Bedeutung eine wahre Bagatelle sein, von der man in
der That nicht reden sollte. Wenn übrigens gesagt wird, daß bei den Privat¬
gesellschaften das Aktienkapital den „Betriebsfonds" bilde, so ist dies durchaus
unrichtig. Da die Versicherungsgesellschaften durchweg die Prämien voraus
erheben, so haben sie, solange sie nicht etwa mit Verlust arbeite», ein besondres
Betriebskapital garnicht nötig. Vielmehr steckt ihr Betriebskapital schon in den
vorausgezahlten Prämien; zumal wenn die zu zahlenden Entschädigungen, wie
bei der Unfallversicherung, erst in weiter Zukunft fällig werden. Das Aktien¬
kapital wird deswegen auch in der Regel nur zum geringsten Teile baar ein¬
gezahlt; und auch dieser eingezahlte Teil bildet regelmäßig nicht einen Betriebs¬
fonds, sondern nur einen Reservefonds, dessen Zinsen den Aktionären in den
Dividenden wieder zu Gute kommen.
Die schwierigste Frage ist ohne Zweifel die der Organisation. Hat letztere
auch durch die Schaffung eines Reichsversichcrungsamtes einen wesentlichen Fort¬
schritt gemacht, so bietet sie doch in ihrer weiteren Gestaltung noch immer Stoff
zu erheblichen Zweifeln. Unterhalb des Reichsversicherungsamtes soll alles auf
die Selbstverwaltung der Genosseuschaftsorgcme gestellt werden. Die Genossen¬
schaften aber sollen, soweit sie nicht selbst in Sektionen sich auseinanderlegen,
die beteiligten Kreise des ganzen Reiches umfassen. Wir können nicht umhin,
dem Zweifel Ausdruck zu geben, ob diese Organisation für einen gedeihlichen
Geschäftsbetrieb genügende Gewähr biete. Denken wir uns, daß sämtliche In¬
haber gewisser über ganz Deutschland verbreiteten Fabriken nach irgend einem
zentralen Orte, sagen wir Berlin, Leipzig oder Frankfurt a. M., zusammen-
berufen würden. Sie fänden allerdings dort den „Vertreter des Reichsversiche¬
rungsamtes," welcher nach Nummer 10 des Entwurfs die formale Geschäfts¬
leitung bis zur Wahl des Vorstandes übernehmen und auch noch weiter, jedoch,
wenn wir es recht verstehen, nur bis zur Konstituirung der Genossenschaft,
„gehört werden soll." Nun sollen die Zusammenberufenen ein Statut anfertigen
von dem Umfange und der Schwierigkeit des in Nummer 13 des Entwurfs
beschriebenen. Wir zweifeln, daß dabei stets etwas Gedeihliches herauskommen
würde. Und weiter soll nun die ganze Verwaltung von einem aus den Ge-
»ossenschaftsgliedern gewählten Vorstande geführt werden. Wie soll man sich
nun wohl einen solchen Vorstand zusammengesetzt denken? Etwa ans Mit¬
gliedern, die allen weit auseinander liegenden Teilen Deutschlands angehören?
Aber ein solches Organ würde zu einer laufenden Geschäftsführung garnicht
fähig sein, Oder nur aus Mitgliedern, die in der nächsten Nähe eines be¬
stimmten Ortes zusainmenwohne»? Dann würde damit gewissermaßen ein ge-
schäftsführcnder Vorort geschaffen. Ob aber bei der großen Verschiedenheit
mancher obwaltenden Interessen ein solcher Vorort stets das allgemeine Ver¬
trauen genießen würde, das ist die Frage. Wir glauben, daß sowohl der Sache
wie den Personen eine Wohlthat erwiese» werden würde, wenn man von letz¬
teren nicht soviel in Anspruch nähme als der Entwurf es thut; und ferner, daß
für die Entwicklung des Ganzen es förderlicher wäre, wenn man als nächstes
Substrat der Organisation nicht das ganze deutsche Reich, sondern die einzelne
Provinz (wir verstehen darunter eine Gliederung des Reiches, etwa nach Art
der gegenwärtigen Oberlandesgerichtsbezirke) wählte. Dies würde dadurch er¬
reicht werden, daß man den „Vertreter des Reichsversicherungsamtes" nicht zu
einer bloß ephemeren Erscheinung, sondern zu einem ständigen, je in einer Pro¬
vinz seßhaften Beamten machte, welcher die formale Geschäftsleitung in die
Hand nähme, für die materielle Erledigung der Geschäfte aber sich mit Organen
der Selbstverwaltung, zunächst aus der Provinz, umgäbe. Haben wir oben
das Reichsversichernngsamt mit einem dem ganzen Organismus verliehenen
Rückgrat vergliche», so würde in diesen Beamten der Organismus anch für
seine einzelnen Glieder ein festes Knochengerüste gewinnen. Durch Vermittlung
des Reichsversicherungsamtes könnten dann die Provinzialverbände, behufs ge¬
meinsamer Tragung der Gefahr, zu höheren, das ganze Reich umfassenden Ver¬
bänden wieder vereinigt, und es könnten nach Befinden auch für diese höhern
Verbände besondre genossenschaftliche Organe geschaffen werden. Wir glauben,
daß auf diese Weise die Sache eine natürlichere und die praktische Durchführ¬
barkeit in höherm Maße sichernde Gestalt annehme,: würde.
Eine zweifelhafte Frage ist ferner die, nach welchem Grundsätze die Er¬
hebung der Beiträge zur Deckung der Entschädigungen stattfinden soll. Es
lassen sich hier zwei Systeme einander gegenüberstellen. Entweder man erhebt
die Beiträge nur im Umfange der jeweilig zu deckenden Ausgaben, oder man
erhebt die Beiträge im Umfange der jeweilig entstandenen, zum Teil in die Zu¬
kunft hinausreichenden Verpflichtungen, wobei dann der Umfang der letztern
durch eine Wahrscheinlichkeitsberechnung festgestellt werden muß. Der praktische
Unterschied ist der, daß nach dem ersten System in den ersten Jahren nach
Einführung der Institution nur ganz geringe Beiträge erhoben werden, die-
selbe» aber allmählich anwachsen, bis sie — man nimmt an, nach etwa
fünfzehn Jahren — bis zurvvllcn Höhe des Beharrungszustandes gelangt sind.
Nach dem zweiten System müssen von Anfang an höhere Beiträge gezahlt
werden. Der Überschuß derselben über die laufenden Ausgaben sammelt sich
dann zu einem Kapital an, dessen Zinsen der spätern Zeit zu Gute kommen
und es bewirken, daß die nach eingetretenen! Beharrungszustande zu zahlenden
Beiträge sich erheblich niedriger stellen, als bei Anwendung des ersten Systems,
Der gegenwärtige Entwurf adoptirt (abweichend von dem Entwürfe von 1881,
dagegen übereinstimmend mit dem von 1882) das erste System, Es sollen
am Schluße jedes Jahres die in diesem erwachsenen Ausgaben auf die be¬
teiligten Kreise umgelegt und erhoben werden. Unzweifelhaft ist dieses System
das einfachere. Man braucht sich nicht mit Wahrscheiulichkeitsrechuuugeu zu
befassen. Man braucht auch kein Kapital anzusammeln und zu verwalten.
Auch würde nach diesem System die Industrie nach und nach in die
ihr ungewohnte Last hineinwachsen. Das sind unverkennbare Vorteile, Den¬
selben steht aber der Nachteil gegenüber, daß dieses System zu Gunsten der
Gegenwart der gesamten Zukunft eine schwerere Last auferlegt, als sie an
sich zu tragen verpflichtet wäre. Der Unterschied ist kein ganz unerheblicher.
Nach einer uns vorliegenden Berechnung würde» die innerhalb der ersten
fünfzehn Jahre angesammelten Beiträge bei vierprvzentigcr Verzinsung, und wenn
nur alljährlich die Zinsen zu dem Kapital geschlagen würden, es bewirke», daß bei
dem nach fünfzehn Jahren eintretenden Beharrungszustande die zu leistenden Bei¬
träge andauernd nur etwa sieben Neuntel desjenigen betragen würden, was nach
dem ersten System zu zahlen wäre. Bei noch höherer Verzinsung und bei noch
öftrer Kapitalisirung der Zinsen würde sich der Unterschied noch größer heraus-
stellen. Auch würde uach diesem zweiten System der oben berührte Vorwurf,
den man dem neue» Entwürfe daraus macht, daß für eine leisen»gsunfähig ge¬
wordene Genossenschaft das Reich die Verpflichtungen übernehmen soll, so gut
wie gegenstandslos werden. Denn die Leistungsunfähigkeit würde regelmäßig
doch nur daraus hervorgehe», daß jeder Verband leiste» müßte nicht nach dem
Maße der zur Zeit bei ihm eintretenden Unfälle, sondern nach dem Maße der
in der Vergangenheit eingetretenen Unfälle, Infolge hiervon wäre es aller¬
dings denkbar, daß eine Industrie im Laufe der Zeit dergestalt zurückginge,
daß ihr die Lasten der Vergangenheit zu schwer würden. Nach dem allen
würden wir es vorziehen, wenn das Gesetz das zweite System wählte, da es
das gerechtere ist. Allerdings aber würde dadurch die Institution auch noch
mit der Aufgabe belastet werde», eine Art Arbeiter-Jnvalidenfonds von vielleicht
hundert Millionen Mark andauernd zu verwalte». Wir nehmen an, daß dafür
nur eine einzige zentrale Verwaltung hergestellt würde.
Noch einen andern Punkt möchten wir hier zur Anregung bringen. Nach
Ur, 29 des Entwurfs soll die Erhebung der Thatsachen, welche der Feststellung
der Entschädigung zur Grundlage dienen, durch die Polizeibehörde erfolgen.
Nun wird aber regelmäßig in Fällen der fraglichen Art auch Veranlassung zu
strafrechtlichen Einschreiten gegeben und zu diesem Zwecke eine Feststellung fast
genau der nämlichen Thatsachen dnrch den Staatsanwalt geboten sein. Bei
dieser Sachlage ließe sich wohl fragen, ob man nicht die hier in Betracht
kommenden Erhebungen dem Staatsanwalte übertragen sollte, wo sie dann
ohne Zweifel, wo nicht ganz, doch zum größten Teile mit den strafrechtlichen
Erhebungen zusammenfallen würden. Dadurch würden Mühe und Kosten
erspart werden. Überdies würde die Erhebung, für welche doch auch rechtliche
Gesichtspunkte ins Auge zu fassen sind, in der Hand eines juristisch gebildeten
Beamten mutmaßlich besser liegen, als in den Händen eines gewöhnlichen Polizei¬
beamten. Für die Währung der Interessen der Beteiligten, welche Ur. 29,
Abs. 2 des Entwurfs sehr sorgsam ordnet, ließen sich wohl auch Formen her¬
stellen, welche mit den Interessen der kombinirten strafrechtlichen Feststellung
vereinbar wären. Wir möchten diese Gedanken im Interesse der Vereinfachung
der Sache zur Erwägung stelle».
Das Haftpflichtgesetz hat in seiner Umwendung zu einer Menge von Einzel¬
fragen geführt, welche der Praxis oft Schwierigkeiten bereitet haben. Es
darf wohl angenommen werden, daß bei der Ausarbeitung des förmlichen Ge¬
setzes die gemachten Erfahrungen werden benutzt und die Zweifel, welche auch
hier wiederkehren könnten, möglichst werden abgeschnitten werden. Zum Schlüsse
wollen wir nur noch den Wunsch aussprechen, daß es auf Grund des vor¬
liegenden Werkes, welches vor seinen Vorgängern große Vorzüge besitzt, gelingen
möge, das so dringend erforderliche Gesetz endlich zustande zu bringen.
Jahre wurdes ist eine weitverbreitete Ansicht, daß die sozialistische Bewegung
in Deutschland erst seit Lassalles Auftreten datire.*) Wie oft
man aber auch diese Ansicht aussprechen hört, so stellt sie sich doch
bei eingehendeni Studium der politischen Geschichte unsers Vater¬
landes als unrichtig heraus. Schon seit Beginn der vierziger
iir den Kommunismus lebhaft agitirt. Die „Triersche Zeitung"
stand ganz auf dem Boden der neuen Lehre. Sie vertrat speziell die Fouriersche
Richtung. Andre sozialistische Zeitschriften waren der „Hilferuf an die deutsche
Jugend" und die „Junge Generation" (beide redigirt von Weitling), die „Rhei¬
nischen Jahrbücher" (herausgegeben von Püttmann), die „Deutsch-Französischen
Jahrbücher" (herausgegeben von Rüge und dem erst jüngst verstorbenen Marx)
nud der „Gesellschaftsspiegel" (herausgegeben von Heß).
Nebenher lief eine nicht geringe kommunistische Bücherliteratur; ich erinnere
nur an Stromeyers „Organisation der Arbeit," an Karl Grüns „Soziale Be¬
wegung in Frankreich und Belgien," an Griebs „Populäre Gesellschaftsöko-
nomie," an Fröbels „System der sozialen Politik," an das Pseudonyme Werk
„Abbruch und Neubau," und vor allem an die zahlreichen Broschüren Weit¬
lings und seiner Anhänger.
Da der französische Sozialismus zu jener Zeit sehr ausgebildet war, so
war nichts natürlicher, als daß seine Schriften in Deutschland in Übersetzungen
verbreitet wurden. So ward Louis Blancs „Organisation der Arbeit" ins
Deutsche übertragen (von Bitzer), ebenso wie seine „Geschichte der zehn Jahre"
(von Fink) und seine „Geschichte der französischen Revolution" (von Buhl und
Köppen), ferner Cadets „Reise nach Jkarien" (von Hippler), Proudhons „Was
ist das Eigentum?" (von Meyer). Die „Widersprüche der Nationalökonomie"
von demselben Verfasser erschienen gleichzeitig in drei deutschen Übersetzungen
(von K. Grün, W. Jordan und M. Stirner.)
Das Mittel der Agitation durch das mündliche Wort konnte bei der
scharfen Handhabung der damaligen strengen Vereins- und Versammlungsgesetze
umsoweniger in Anwendung kommen, als naturgemäß die Veranstalter geheimer
Versammlungen viel leichter entdeckt werden als die Verbreiter verbotener Druck¬
schriften. Nichtsdestoweniger wurden auch Versammlungen abgehalten, z. B. ini
Wupperthale, in denen Friedrich Engels, M. Heß und andre Kommunisten
sprachen.
Wenn trotz alledem der Sozialismus in Deutschland keine große Ver¬
breitung fand, so ist das — abgesehen von der Erschwerung der Agitation —
dem Umstände zuzuschreiben, daß die erst in der Entwicklung begriffene In¬
dustrie noch kein massenhaftes städtisches Proletariat erzeugt hatte. Dieses ist
es ja, welches bisher in allen Ländern den Stamm der sozialdemokratischen
Scharen gebildet hat.
Immerhin darf man die sozialistische Bewegung der damaligen Zeit nicht
unterschätzen. Im Jahre 1848 entstanden aller Orten Arbeitervereine, und es
kam sogar zu einem Arbeiterkongreß in Berlin, der vom 23. August bis zum
3. September tagte und eine Reihe radikaler Beschlüsse faßte.
Die Reaktion der fünfziger Jahre hielt es für eine ihrer Hauptaufgaben,
die Arbeitervereine zu unterdrücken. Es wurde dies durch Bundestagsbeschluß
den einzelnen Regierungen ausdrücklich eingeschärft. Und es gelang ihnen umso
vollkommener, ihr Ziel zu erreichen, als sämtliche Leiter der bisherigen sozia¬
listischen Agitation ausnahmslos verbannt waren. Der Versuch, den inter¬
nationalen Kommnnistenbund auch nach Deutschland zu verpflanzen, mißlang
gänzlich. Er führte zu dem bekannten Kölner Kommuuistenprozeß, der mit der
Verurteilung der dabei beteiligten Hauptpersonen endigte.
Aber trotz cilledem glomm der sozialistische Funke fort. Von Weitlings
Schriften zur neuen Lehre bekehrte Arbeiter sind es gewesen, welche die Idee
faßten — wie Anno 1843 —, einen Arbeiterkongreß zu berufen, und im Ver¬
folg dieser Idee sich an Lassalle wandten. Und nicht nur in dieser Hinsicht
ist die Arbeiterbewegung der vierziger Jahre von Einfluß auf diejenige >der
neuesten Zeit gewesen. Zum Teil haben auch die Führer der ältern Be¬
wegung in die neuere direkt eingegriffen; ich erinnere nur an 5)eß, Engels und
Marx.
So interessant nun die Geschichte des Sozialismus in Deutschland vor
Lassalles Auftreten wäre, so würde sie uns hier doch zu weit führen. Es
genügt auch zu ihrer Kenntnis eine Skizze von dem Leben und den Lehren
Weitlings, des anerkannten kommunistischen Hauptagitators jener Zeit.
Wilhelm Weitling wurde im Jahre 1810 zu Magdeburg geboren. Über
seine Kindheit erzählt er selbst: „Ich wurde als Knabe im bittersten Elend
aufgezogen.... Mein Dasein vergrößerte das mich umgebende Elend, ohne daß
ich es Physisch mitfühlen durfte." Er erlernte das Schneiderhandwerk, und so
finden wir ihn zu Anfang der dreißiger Jahre als Schneidergesellen in Leipzig.
Später begab er sich nach London und von dort nach Paris, wo er wahr¬
scheinlich die kommunistischen Lehren in sich aufgenommen hat. In Paris ver¬
faßte er 1838 seine Erstlingsschrift „Die Menschheit, wie sie ist und sein sollte,"
welche von der dortigen deutsch-republikanischen Partei in 2000 Exemplaren
verbreitet wurde. Die Broschüre erlebte 1840 die zweite Auflage, nachdem sie
schon 1840 ins Ungarische übersetzt worden war. Nach der von Barbes in-
szenirten mißglückter kommunistischen Erneute (vom 12. Mai 1839) ging Weit¬
ling nach der Schweiz, wo er die deutschen Arbeiter zum Kommunismus zu
bekehren suchte. Dort gab er 1841 die erste sozialistische Zeitschrift in deutscher
Sprache heraus, den „Hilferuf an die deutsche Jugend," eine Monatsschrift,
seit 1842 unter dem Titel: „Die junge Generation." Sie mußte wegen der
fortwährenden, ihr von feiten der Schweizer Kantvnsregierungen in den Weg
gelegten Hindernisse öfters den Druckort wechseln und wurde nach einander in
Genf, Bern, Veveh und Langenthal hergestellt. Im ganzen sind von der Zeit¬
schrift (die in 1000 Exemplaren gedruckt wurde) 21 Nummern erschienen. 1842
gab Weitling zu Vevey sein Hauptwerk, die „Garantien der Harmonie und
Freiheit," heraus (in einer Auflage von 2000 Exemplaren. Die dritte Anf¬
löge erschien 184ö in Hamburg).
Weitlings Agitation beschränkte sich aber nicht auf schriftstellerische Thätig¬
keit. Er gründete an mehreren Orten kommunistische Vereine und leitete über¬
haupt die Arbeiterbewegung durch Korrespondenzen mit allen irgendwie be¬
deutenderen Persönlichkeiten, die der neuen Lehre zugethan waren. Bald hatte
er eine ganze Anzahl von Leuten gefunden, die sich zu Agitatoren seiner Sache
brauchen ließen. Vor allem ist August Becker zu nennen, der die beiden Bro¬
schüren „Vollsphilosvphic" und „Was wollen die Kommunisten?" verfaßte.
Ferner Sebastian Seiler, der „Geheime Mitteilungen aus Zürich" schrieb;
Dr. Kulmann, welcher das „System der neuen Welt" dem Volke enthüllte;
August Dietsch, der das „Tausendjährige Reich" schilderte; endlich Albrecht „der
Prophet," wie er sich selbst gern nannte. Dieser letztere gute Mann, welcher
schon von vornherein einem sclbstkonstrnirtcn religiösen Mhstizismns zugethan
war, wurde dnrch die neue Lehre gänzlich verrückt. Schon die Titel seiner
Broschüren deuten zum Teil darauf hin. Sie lauten: „Herausforderung der
Priesterwclt," „Das Ziel im Rosamunde, eine Mahnung an die Wilhelm Teils
unsrer Zeit," „Das baldige Wiedersehe» am Altare der Freiheit," „Die Wieder¬
herstellung des Reiches Zion," „Der Aufruf an die Frauenwelt" n. s. w.
Übrigens erschien Albrecht selbst seinen kommunistischen Parteigenossen als voll¬
kommener Narr, wie ein Brief Beckers an Weitling beweist.
Auch Karl Gutzkow wurde von Weitling für den Kommunismus zu ge¬
winnen gesucht. So große Teilnahme indes der berühmte Literat dem Arbeiter¬
führer entgegenbrachte, so konnte er sich doch nicht entschließen, seiner Lehre
beizutreten.
Die extreme Agitation Weitlings sollte aber nicht ungestört verlaufen. Als
er 1843, um den Druck einer ncnvcrfaßten Schrift, des „Evangeliums des armen
Sünders," zu betreiben, nach Zürich reiste, wurde er dort verhaftet und die
ganze Auflage noch vor ihrer Ausgabe mit Beschlag belegt. Er selbst wurde
dann zu sechs Monaten verurteilt und an Preußen ausgeliefert, das ihn jedoch auf
freien Fuß setzte. In den folgenden Jahren, in welchen er sich bald in Hamburg,
bald in Amerika, bald in Frankreich aufhielt, ließ er eine Anzahl kommunistischer
Schriften erscheinen, vor allem (1843) eben jenes „Evangelium" (zweite
Auflage 1846, schon 1843 ins Französische übersetzt), ferner den „Notruf an
die Männer der Arbeit und der Sorge." Im März 1848 kam er nach Dentsch-
land zurück, wo er die letztere Broschüre (in zweiter Auflage) in Massen verbreitete.
'Im Sommer 1848 erschien er in Berlin, wo er eine Wochenschrift „Der Ur-
wühlcr" herausgab, die aber schon mit der fünften Nummer an Abonnenten-
schwindsncht starb.
Am 21. November 1848 ans Berlin ausgewiesen, begab er sich nach
Hamburg, wo er für den ursprünglich in Amerika gegründeten „Kommunistischen
Bcfreiungsbnnd" thätig war und die Flugblätter: „Propaganda des Befreiungs¬
bundes" und „Notwendige Maßregeln in der nächsten sozialen Revolution"
veröffentlichte. Im August 1849 kam die Polizei seiner extremen agitatorischen
Thätigkeit auf die Spur, doch gelang es ihm, zu entwischen. Er ging über
England nach Newyork, wo er zunächst die Zeitung „Republik der Arbeiter"
herausgab. Als auch diese ihr Erscheinen einstellen mußte, zog er sich ganz
vom öffentlichen Leben zurück und ergab sich dem alten Handwerk und — astro¬
nomischen Studien. In jenem erfand er angeblich eine Knopflochnühmaschine,
um deren Nutzen er jedoch von einem Kapitalisten betrogen worden sein will.
Das Resultat seiner astronomischen Arbeiten war ein Buch, welches jedoch nicht
veröffentlicht wurde, weil es keinen Verleger finden konnte. „Ich brauchte
schrieb er einem alte» Jugendfreunde von der Leipziger Zeit her — sehr not¬
wendig einen Verleger für meine Astronomie, das wertvollste Buch, das je in
der Welt erschienen ist und erscheinen wird. Aber die Verleger solcher wert¬
vollen Arbeiten könnte man nur finden, wenn man sie vom Werte wirklich über¬
zeugte. Wie das vor der Veröffentlichung anzustellen, weiß ich nicht.... Es
würde mir gelingen, Hütte ich nicht eine starke Familie und nur allein für mich
zu forgen; ich habe schon schwereres durchgesetzt. Da ich übrigens gegen meine
Erwartung wieder genesen bin, so glaube ich, es liegt in der uns noch unbe¬
kannten Weltordnung, daß meine Arbeit in die Öffentlichkeit dringt. Die ge¬
samte Geschichte der Menschheit weiß nichts Wichtigeres auszuweisen." Dieser
Brief (datirt vom 22. Juli 1869) beweist, daß Weitling damals geistig gestört
gewesen ist. Wenige Jahre später ist er gestorben.*)
Die Lehre Weitlings, das „System der Harmonie und Freiheit," wie er
es nannte, zerfällt feiner inneren Anlage nach in drei Teile: in eine Kritik der
heutigen Gesellschaftsordnung, in eine Schilderung des harmonisch-freien Staats-
wesens und in einen Plan zur Überführung der so herbe kritisirten Gesellschaft
in den idealen Zustand.
Weitling erklärt das Entstehen der heutigen Gesellschaftsordnung in speku-
lativer Weise. Er geht direkt von dem biblischen, paradiesischen Urzustande aus.
den er als die Zeit seligen Glückes für die Menschheit schildert. Das Glück
jener Menschen, welche doch die Annehmlichkeiten des Lebens, wie sie die Zivili¬
sation gewährt, nicht kannten, bestand in der Freiheit und Unabhängigkeit, in
der sie alle lebten. Jeder konnte seine Begierden nach Belieben befriedigen.
Auf die Jagd gehen, esse» und trinken, lieben und spielen waren die Lieblings¬
beschäftigungen des Menschen.
Nach und nach ward die Milch der Tiere eine Nahrung für die Menschen.
Um sie ohne viel Mühe haben zu können, zähmte man die friedlichsten von
ihnen. So entstand das Hirtenleben und die Teilung der Gesellschaft in Bernfs-
klcisscn. Bald fing der Schäfer an, die Herde zu zählen, und der Jäger die
Häute; so entstand, ohne daß man es merkte, der Begriff des beweglichen Eigen¬
tums. „Das Schaf ist von meiner Heerde, sagte jetzt ein Schäfer zu dem
andern mit ernster Miene, die diesen lachen machte. Das Wort „meiner" hatte
er nicht verstanden, wohl aber die Miene, die ihm soviel sagen wollte als:
minus nicht."
Allmählich gewöhnte man sich an das Recht des Eigentums. Dasselbe
war damals wirklich eine zeitgemäße und nützliche Institution; denn an zahmen
und wilden Tieren war kein Mangel.
Dann ward der Ackerbau erfunden. Aber da stellte sich der Übelstand ein,
daß, wo der eine gesäet hatte, andre ernten wollten. Um dem vorzubeugen,
verbanden sich die Ackerbauer zu gegenseitiger Sicherung des Genusses ihrer
Arbeit. Da kam im nächsten Jahre ein neuer Adept der Arbeit. Er säete
aber, anstatt sich ein Stück Land urbar zu machen, auf das bereits urbar ge¬
machte Land. „Was, hieß es, ich habe das Land im Schweiße meines Ange¬
sichts urbar gemacht, und du kommst, darauf zu säen? Das Land ist mein!
fügte er hinzu, drehte sich aber schamrot um, vor seinein eignen Ausspruch er¬
schreckend. Das Land ist mein! hallte das Echo nach. Ist sein? fragte der
bestürzte Säemann. Mein, sein und unser, wiederholten die horchenden Nachbarn."
Damit war das Eigentum auch an Grund und Boden anerkannt. Es
fand keinen Widerspruch; denn das Land war damals im Überfluß vorhanden.
Das Gesetz paßte also ganz für jene Zeiten.
Aber seitdem hat sich das Menschengeschlecht bedeutend vermehrt. Der
Boden dagegen ist immer derselbe geblieben. Er ist ganz und gar verteilt
worden, und es giebt heute kein Stück Land mehr, das nicht einen Herrn hätte,
während es eine große Menge von Menschen giebt, die kein Eigentum haben.
Damit ist das Eigentum gerichtet. Es ist ein gegen die Gesellschaft verübtes
Unrecht geworden, ein unverzeihlicher, schändlicher Diebstahl. Zugleich aber ist
es seitdem die Ursache aller Übel, alles Mangels, aller Not.
Zunächst zwang das Eigentum die Gesellschaft, die Erbschaft einzuführen,
um den bei dem Tode eines Besitzers um sein Eigentum drohenden Streitig¬
keiten vorzubeugen. Damit kamen manche ohne irgend welche Arbeit in den
Besitz von Produkten, und so wurde der Müßiggang eine Wirkung des Eigentums.
Die gemeinsamen Interessen aber, vor allem die Furcht vor Beraubung,
bewogen die Eigentümer, sich zusammenzuschließen und ihre persönlichen Inter¬
essen in den Tagen der Gefahr beiseite zu setzen. Je länger diese Gefahr nun
mehreren Stämmen drohte, desto mehr blieben sie miteinander verbunden, und
so gewöhnten sie sich durch eine genauere Bekanntschaft miteinander und durch
die daraus entstehende Gemeinschaft der Sprache und Sitte, sich als eine besondre
Gesellschaft zu betrachten. Auf diese Weise entstanden die Völker. Durch die
beständigen Feindseligkeiten der Völker gegeneinander bildete sich aber allmählich
eine Kluft zwischen ihnen. Um dieselbe besser zu bezeichnen, nahm man die
Natur zu Hilfe und erfand die Grenzen. Auch diese wurden sodann Eigentum
je eines Volkes. So hat denn das Eigentum den schrecklichsten der Schrecken,
den Krieg, hervorgerufen.
Der Krieg machte seinerseits die Sklaverei möglich. Da die Arbeit dem
Menschen beschwerlich war und vom Krieger verachtet wurde, so kam derselbe
auf den Gedanken, die in den Kriegen gemachten Gefangenen, anstatt sie zu
töten, zur Arbeit für die Sieger zu zwingen. Dafür wurde» sie genährt, hatten
jedoch keinen Willen als den ihrer Herren.
Inzwischen hatte sich der Ackerbau immermehr vervollkommnet, hatten sich
die Genüsse des Menschen immermehr vervielfältigt. Da nun ein jeder zu einer
andern Arbeit vorzüglich geeignet war, so fertigte auch jeder eine andre Gattung
von Produkten und tauschte dieselben gegen die Produkte andrer aus. Da aber
die Arbeit nicht geregelt war, so speicherten die einen die besten Materialien zur
Produktion auf, um dadurch die andern zu zwingen, dieselben von den Auf¬
speicheren, mit Verlust einzutauschen. So gelangten durch den Tauschhandel
manche Unternehmer in den Besitz ungemessener Güter, was ihnen großen Ein¬
fluß auf die weniger Begüterten verschaffte. Immer höher stieg damit die Achtung
vor dem Reichen, immer tiefer sank darin der Arme. Daher ward „immermehr
Reichtum" das Losungswort jedes Einzelnen, und der Eigennutz breitete sich
immer weiter aus.
Die Unbequemlichkeit beim Austausch der Produkte führte zur Erfindung
des Geldes. Stücke Metalls dienten zur Bestimmung der Werte der umzu¬
tauschenden Waaren. Auf diese Weise erhielten diese Stücke einen Wert, den
sie an sich nicht hatten und den die Launen und Listen des Besitzes vermehrte»
oder verminderten. Nun konnte man ruhig die Sklaverei abschaffen. Durch das
Geld wurden doch die alten Zustände beibehalten, ja verschlimmert. Den» während
der Herr dafür sorgte, daß der Sklave sich nicht überarbeitete, um ihn nicht
vorzeitig sich abnutzen zu lassen, preßte der Unternehmer soviel als möglich ans
dem Arbeiter heraus, um ih» dann, wenn er schwach war, auf das Pflaster zu
werfen und, ohne sich weiter um sein Schicksal zu kümmern, dnrch einen andern,
noch kräftigen Arbeiter zu ersetzen. Das Geld hat also das Elend bis auf die
Spitze getrieben. Es hat den Eigennutz aller entfesselt, alles Schamgefühl ver¬
nichtet. Früher raubte man junge Mädchen und Weiber, tauschte und ver¬
tauschte sie wie das Vieh, entriß sie mit Gewalt den Armen ihrer Eltern, Brüder
und Gatten; das Gcldsystcm hat es soweit gebracht, daß sie sich selber an die
Geldmänner verkaufen und Schönheit und Reize, Tugend und Unschuld gegen
Geld umtauschen.
Die Minderschätzung des wahren Wertes der Arbeit war früher nicht so
leicht möglich wie unter dem Geldsystcm; denn der jedesmalige Vergleich der
anszutanschcnden Produkte verhinderte meistens, daß dieselben zu gering an¬
geschlagen wurden.
Durch das Geld werden aber auch die Begierden und Genusse der bevor¬
zugten Klassen immer häufiger und unersättlicher, und mit ihnen wird die Last
der Arbeit und die Verringerung und Verschlechterung der Lebensmittel der
untersten arbeitenden Klassen immer fühlbarer.
Das Geld bewirkt die Korruption, den Betrug, die Fälschung, den Dieb¬
stahl. Die, welche das Geld haben, laden und richten die Batterien der Gesetze
und Strafen gegen die, welche es nicht haben. Der Starke beraubt den Schwachen
öffentlich und giebt der Beraubung einen nicht vom Gesetz strafbaren Namen,
wie: Kontribution, Steuer, Eigentum, Spekulation, Zins, Pfändung, Prozeß-
kvsten, Lvhnverkürzung, Wucher u. s. w.
So hat man nach und nach dem arbeitenden Volke aus dem Paradiese
dieser Welt ein Jammerthal geschaffen „voll bitterer Elendskräuter und heißer
Thränenqucllen,"
So Weitling in seiner Kritik der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Sie
ist vom extrem-sozialistischen Standpunkte aus vielleicht so gelungen, als es ohne
wissenschaftliche Einsicht in das Wesen der Volkswirtschaft überhaupt möglich
ist. Weitling Übersicht zwar einen hochwichtigen Punkt: die Absatzkriseu. Aber
er verwertet alles andre, was sich nur irgend dem Eigentum vorwerfen läßt,
ans eine solche Weise, daß es, wenn seine Kritik richtig wäre, wahrlich nicht
des Hinweises auf die Krisen bedürfte, um zur Verdammung des Eigentums
zu gelangen.
. Doch macht sich auf Schritt und Tritt jener Mangel an theoretischer
Bildung fühlbar. Schon sein Ausgangspunkt — die Auffassung des Zustandes
des Jägervolkcs als eines paradiesischen — ist ein grundfalscher. Selbst vom
biblischen Staudpunkte aus. Denn weder das alte noch das neue Testament
sagen uns, daß der Mensch im Paradiese als Jäger gelebt habe, wie Weitling
annimmt. Andrerseits ist die Ansicht, daß die Jügervölkcr so überaus glücklich
gelebt hätten, durch nichts gerechtfertigt. Im Gegenteil dürfen wir Wohl
glauben, daß damals eine Zeit fortwährender Mühsal und Entbehrung für alle
gewesen ist.
Auch Weitlings Theorie der Entstehung des Eigentums trifft für die
Wirklichkeit nicht zu. Indeß ist dies ja auch nnr Beiwerk. Das xunowm Lg.1lors
ist der Angriff auf das Eigentum selber.
Hier hat er zunächst genau auf dieselbe Weise wie Proudhon das Recht
der ersten Besitzergreifung bestritten. Dasselbe soll nur so lange gelten, als
jedermann okkupiren kann. Mit diesem Einwände ist aber nur bewiesen, daß
die Okkupation nicht das Eigentum begründen könne, nicht aber, daß das
Eigentum an sich selbst unbegründet sei. Hierauf hat schon mit Recht Stahl
in seiner „Philosophie des Rechts" (3. Auflage, Bd. II. S. 37) hingewiesen.
„Okkupation, Bearbeitung, Erhitzung u. s. w. — sagt der berühmte Theoretiker
der Autorität —, alles dies sind Erwerbtitcl nur uuter der Voraussetzung und
aus dem Gründe, daß ohne dies und an sich die Notwendigkeit und Gerechtig¬
keit des Eigentums feststeht." Daß diese Notwendigkeit und Gerechtigkeit des
Eigentums besonders begründet werden müsse, dazu die Wissenschaft ge¬
zwungen zu haben, ist das große Verdienst jener sozialistischen Kritik, die mir
übrigens nicht konsequent erscheint. Denn wenn alle das gleiche Recht haben
sollen, so dürfte das Recht der Okkupation nicht anerkannt werden, wenn noch
Boden überhaupt in Überfluß vorhanden ist, sondern nur, wenn Boden von
genau der gleichen Qualität und der gleichen Lage in Bezug auf den Absatzort,
den gemeinsamen Versammlungsort u. s. w. wie das bereits bebaute Land ohne
Schwierigkeit zu erlangen ist. Da dies aber eine Unmöglichkeit ist, so müßte
das Okkupationsrccht vom sozialistischen Standpunkte aus ganz und gar ge¬
leugnet werden.
Aber Weitling sucht mich das Eigentum durch den Hinweis ans seine
schrecklichen Folgen für das Wohl und Wehe der Menschheit zu vernichten.
Selbst wenn wir nun aber anerkennten, daß alles das, was er dem Eigentum
in die Schuhe schiebt, für heute zuträfe, so wäre damit doch noch nicht die
Verwerflichkeit des Eigentums überhaupt bewiesen. Denn sollte auch der von
Weitling ersonnene Sozialstaat wirklich besser sein als der heutige Zustand
— was wir auf das entschiedenste bestreiten so kann jene Gemeinschaftsfilm
doch immer noch hinter einen reformirten Privateigentumszustande zurückstehen,
welcher überdies noch den Vorzug haben würde, weit rascher und leichter durch¬
geführt werden zu können.
Weitlings Polemik gegen das Privateigentum kennzeichnet sich schon dadurch
als eine unwissenschaftliche, daß sie nie und nirgends zwischen den verschiednen
Eigentumsarten, vor allem nie zwischen dem Eigentum an Produktivmitteln und
demjenigen an Gebrauchsmiiteln unterscheidet. Wenn seine Deduktion einen Sinn
haben soll, so kann sie sich nur gegen jene Eigcntumskategorie richten; denn
da der Genuß individuell ist, so muß immer und ewig auch ein individuelles
Eigentum an den Mitteln zur Befriedigung dieses Genusses, d. h. an den Ge¬
brauchsmitteln koustituirt werden. Das hätte Weitling hervorheben müssen.
Sehen wir indeß — um alle nnr erdenkliche Objektivität zu üben — bei
unsrer Kritik seine Angriffe als nur gegen das Eigentum an Produktivmitteln
gerichtet an. Da ergiebt sich denn seine gänzliche Verkennung der Rolle, welche
dasselbe in der Geschichte der Zivilisation gespielt hat und großenteils heute
noch spielt. Jeder, meint unser Sozialist, verwaltet sein Eigentum „zu seinem
eignen Vorteile und also zum Nachteil der Gesellschaft." Er stellt also genau
die entgegengesetzte These auf wie der extreme Individualist. Dieser verschließt
sich den offenkundiger Übeln des Privateigentums, jener seinen ebenso offen¬
kundiger Vorzügen, Also genau dieselbe Einseitigkeit, Wäre unsre heutige
Kultur, die weitgehende Organisation der Naturkräfte zum Dienste der Mensch¬
heit möglich gewesen ohne das Privateigentum an Produktionsmitteln? Wären
die Erfindungen möglich gewesen ohne die bisherige Wirtschaftsordnung? Denn
darüber darf man sich auch nicht dem geringsten Zweifel hingeben: bis zur
Blüte des individualistischen Staates wäre ein dauernder und zugleich nützlicher
Sozialstaat ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. In diesem Falle mußte man
aber die Mängel, welche die bestehende Gesellschaft hatte, mit in den Kauf
nehmen, durfte mau sich über den Müßiggang, den die Institution der Erb¬
schaft manchmal mit sich brachte, nicht beschweren. Weitlings Auffassung ist
eine ganz unhistorische.
Das zeigt sich auch in seiner Kritik der vermeintlichen Thatsache, die Kriege
hätten ihren Entstehungsgrund in dem Umstände, daß die Völker Stücke Landes
zu ihrem Eigentum gemacht hätten. Weitling glaubte also wirklich, daß in der
grauen Vorzeit, wo der Mensch erst anfing, den Boden seinen Zwecken dienstbar
zu machen, eine Weltgemeinschaft möglich gewesen wäre! Nichts zeigt klarer,
bis zu welchen Lächerlichkeiten seine unwissenschaftlich-abstrakte Theorie führt.
Ähnlich wie der Krieg, findet auch die Sklaverei noch nachträglich durch eine
geschichtsphilosophische Betrachtung ihre Rechtfertigung für vergangene Zeiten.
Ganz ungenügend ist die Beurteilung des Tauschhandels. Eine wissen¬
schaftliche Untersuchung desselben lehrt uns, daß derselbe in ganz besondern:
Maße das Prinzip der bestehenden Wirtschaftsordnung, das private Sonder¬
interesse, zum Ausdruck bringt und daher anch dessen schlimmste wie dessen beste
Blüten aufzeigen muß. Faktisch sehen wir, daß der Handel der kunstvollste Teil
im Organismus der heutigen Gesellschaft ist, während er andrerseits eine Reihe
der verwerflichsten Auswüchse zeigt. Eine Kritik, die nur die schlechten Seite»
des Handels berücksichtigt, ohne für die guten auch nur ein Wort zu haben
— und Weitlings Kritik ist eine solche —, muß daher als im höchsten Grade
einseitig gelten.
Am mißlungensten sind Weitlings Angriffe auf das Geld. Hier zeigt sich
sein Mangel an wirklich wissenschaftlicher Einsicht in das Wesen der Volkswirt¬
schaft im hellsten Lichte. Die Hauptrolle spielt darin ein — ich möchte sagen —
instinktiver Haß gegen das Geld, wie er so vielen Kommunisten eigentümlich ist.
Anstatt in dem Gelde ein Mittel zur Vervollkommnung des Verkehrs, des
Tauschhandels zu sehen, betrachtet Weitling dasselbe als das großartigste, was
von den besitzenden Klassen zur Ausbeutung der Nichtbesitzenden erfunden worden
sei. Wenn — muß man unserm Kommunisten entgegenhalten — eine solche
wirklich stattfindet, dann geschieht sie ohne Dazwischenkunft des Geldes ebensogut
wie mit demselben. Und wenn gar das Geld als die Ursache der Korruption,
des Betrugs u. s. w. angesehen wird, so ist das nicht minder unwissenschaftlich.
Wenn jemand falsches Gewicht anwendet, so thut er es, um ein größeres Äqui¬
valent zu bekommen, während es für seine Entschließungen ganz gleichgiltig ist,
ob das Äquivalent in Produkten oder in Geld, d. h. in der Anweisung auf
Produkte besteht. Daß die bedeutenden Vorteile, die das Geld mit sich bringt, von
Weitling gänzlich unberücksichtigt gelassen werden, ist nach dem Gesagten ziemlich
selbstverständlich.
Es ist einleuchtend, daß unsre Kritik den Weitlingschen Satz, daß allmählich
aus dem Paradiese der Erde ein Jammerthal geschaffen worden sei, vollständig
verwirft. Im Gegenteil, sie erkennt an, daß die Menschheit auf dem besten
Wege ist, aus dem irdischen Jammerthale zum Paradiese zu gelangen, wenn sie
auch auf ihrem Marsche sehr oft stehen bleibt und sich wehmütig nach der
zurückgelegten Strecke umsieht.
(Schluß folgt.)
VN Alters her haben die Erlebnisse kaum irgend einer andern
Nation einen so großen Einfluß auf die Schicksale der ganzen
Menschheit ausgeübt wie die der griechischen, ist die Geschichte
keines Volkes so mannichfachen und gründlichen Studien unter¬
worfen worden wie die Geschichte des griechischen Volkes. Eine
»ur natürliche Folge davon war, daß, als in neuerer Zeit das übrige zivilisirte
Europa dem furchtbaren Schauspiele des fast übermenschlichen Kampfes bei¬
wohnte, den die Griechen für die Erlangung ihrer Freiheit ins Werk gesetzt,
viele seiner Söhne voll Begeisterung jenem erwachten und aufgestandenen kleinen
Volke zu Hilfe eilten, zum Kampfe für die Zivilisation gegen die Barbarei, für
die geistige Erhebung gegen die finstere Macht der Sklaverei, zum Kampfe endlich
für das Kreuz gegen den Halbmond. Ganz Europa hat mit Staunen und
immer wachsendem Interesse dem Werke jener Helden zugeschaut, die Muse seiner
Dichter hat ihre Thaten besungen, durch ihr begeisterungsvolles Lied die Herzen
anfeuernd, den Kämpfenden Mut einflößend und ihnen eine spätere Belohnung
für ihre Aufopferung und Vaterlandsliebe zusichernd. Niemals vielleicht ist der
Freiheitsbaum mit so viel heiligem Blute begossen worden wie bei der Erhebung
Griechenlands. Als er aber nach langjährigen Kämpfen, welche die gänzliche
Verwüstung des Landes zur Folge hatten, nach allerlei Qualen und Greuel¬
thaten der Türken, die das Mitleid der ganzen christlichen Welt erregten, in
dem neugegründeten griechischen Königreiche endlich zu grünen begann, ward
letzteres leider nur sehr eng begrenzt, sodaß viele von den mit in den Kampf
gezogenen Söhnen von Hellas noch heute unter dem frühern Joche schmachten
müssen.
Die Frage, ob und inwieweit der junge Staat der Unterstützung und den
Gunstbezeugungen, welche ihm von allen Seiten zur Zeit seines Befreiungs¬
kampfes zuteil geworden siud, entsprochen hat, und ob er die Erwartungen
derer, welche a» seine große Zukunft im Oriente glauben, überhaupt zu erfüllen
geeignet ist, liegt sehr nahe.
Ein großer Teil der Gelehrten, welche über das neue Griechenland geschrieben
haben, haben dem jungen Staate, nachdem sie mit Bewunderung das Wieder¬
aufleben des neuen Griechenlands verfolgt hatten, rückhaltlos ihr Lob gespendet,
da es ihm gelungen sei in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraume selbst die
höchsten Erwartungen, die größten Hoffnungen zu erfüllen. Es gab aber andre,
welche von einem allzu großen Eifer und einer unbeschränkten Verehrung für
das Altertum getrieben, in dem seit kaum fünfzig Jahren bestehenden freien
Griechenland das Zeitalter des Perikles und Alexanders des Großen wieder¬
finden zu müssen glaubten, und infolge dessen nicht gezögert haben, alles, was
von den Griechen unsers Jahrhunderts geleistet wurde, streng zu tadeln und
zu verurteile».
Wir wollen im folgenden uns von jeder Übertreibung fernzuhalten
suchen, uns nach Kräften befleißigen, der Wahrheit zu dienen, um so genau als
möglich die sozialen Verhältnisse eines Landes zu schildern, welches seiner Lage,
seines Strebens und seiner Zukunft wegen fort und fort die Aufmerksamkeit der
zivilisirten Welt auf sich zieht, da es in der herannahenden' Lösung der orien¬
talischen Frage eine der bedeutendsten Rollen zu spielen berufen sein wird.
Das neue Hellas ist mit der zwar ruhmvollen, aber auch gefährlichen Erbschaft
einer großen Vergangenheit entstanden, welche einen jungen, kleinen Staat, der
eben erst von einem langjährigen drückenden Joche befreit ist, leicht niederschmettern
könnte. Statt dessen sieht man nach Ablauf von kaum fünfzig Jahren seit
seiner Entstehung an Stelle von Schutt und Trümmern wachsende und blühende
Städte sich erheben. Als die Hauptstadt des hellenischen Reiches von Nauplia
nach Athen verlegt ward, zählte die letztgenannte Stadt nicht mehr als drei¬
hundert erbärmliche Hütten, während jetzt Athen als die erste kosmopolitische
Stadt im Orient betrachtet werden kann, hervorragend durch seine geschmackvollen
und prächtigen Gebäude, seine schönen breiten Straßen, und seine Einwohnerzahl
(beinahe 80 000). Mit Recht darf Athen auch als die schönste Stadt des
Orients betrachtet werden, und obwohl es in vielen Punkten den größeren euro¬
päischen Städten gegenüber zurücksteht, so besitzt doch keine unter ihnen sein
wonnig süßes Klima, keine vielleicht auch seine wunderbar schöne Lage. Alle
Schilderungen von dem fast ununterbrochen heitern und tiefblauen Himmel
Attikas, von der Feinheit lind Klarheit seiner Luft, von seinen prachtvollen
Kunstwerken aus dem Altertume, ewig bewunderungswürdig und nie wieder er¬
reichbar, können uns doch kaum den Schatten eines Begriffs geben von den
Schönheiten dieses zauberischen Landes. Ein unverlöschliches Bild bietet sich
demjenigen, der bei Sonnenuntergang die Akropolis in Athen besteigt. Da
liegt zu unsrer Linken der felsige Hymettos in purpurnem Violett, hinter uns
im tiefsten Blau der wie ein königliches Zelt aufgespannte Pentelikon, rechts
die Schluchten des Parnes in smaragdgrünem Lichte schimmernd; unter uns aber
erglänzt das Meer bei der rasch wechselnden Beleuchtung der zu Rüste gehenden
Sonne. Dann wendet sich der Blick auf die vor dem Beschauer sich erhebenden
herrlichen Gebäude, die den Boden der heiligen Burg decken, die Propyläen,
den Parthenon, das Erechtheion. Und nnn zurück zu der unter weit ausge¬
breiteten schönen, jugendlichen Stadt Athen! Überall buntes, reges Leben; allent¬
halben um sie herum Thäler, Berge, Hügel und Ane» unter der Herrschaft
eines ewigen Frühlings, einem herrlichen Lustgarten gleich, alles angebaut und
bewässert, alles blühend und fruchtbar!
Die Vcrkehrsfrage war es, welche den jungen Staat zuerst beschäftigte,
und welche noch heute viel des zu verbessernden bietet, obgleich sie einen großen
Teil seiner Einnahmen aufsaugt. Nichtsdestoweniger sieht man dort, wo der
Handeltreibende in früheren Zeiten enge Pfade schaudernd begehen oder felsige
und steile Anhöhen hinaufklettern mußte, um seine Waaren von Ort zu Ort
zu schaffen, in Gefahr, jede Minute gegen einen Stein zu stoßen, in einem
Felsenriß oder tief in einem Abgrunde den Tod zu finden, jetzt mit ungeheuern
Kosten des Staates und der Gemeinden breite Landwege gebaut, und in zwei
Jahren werden verschiedene Eisenbahnlinien, von denen einige schon vollendet
sind, die weitesten Pnnkte des kleinen, felsigen Landes verbinden, den öffent¬
lichen Verkehr erleichtern, dem Handel und der Industrie die größten Dienste
leisten. Vor kurzem, vor ungefähr acht Monaten, hat das Parlament be¬
schlossen eine Anleihe von zwanzig Millionen Drachmen aufzunehmen, welche
bestimmt ist, speziell zum Bau neuer Landstraßen verwendet zu werden.
Griechenland bedarf wegen seiner geographischen Lage aber auch einer
beträchtlichen Anzahl von Dampfschiffen, welche die Verbindung und den kom¬
merziellen Verkehr seiner zahlreichen Hafenstädte und Inseln vermitteln. Es
existiren gegenwärtig drei griechische Dampfschifffahrtsgesellschaften, von denen
die erste, als „Griechische Dampfschiffsahrtsgesellschaft" bekannt, seit 18S6, wo
sie in Syra gegründet wurde, ein jährliches Honorar von 600 000 Drachmen
erhält, damit sie normal die ihr vom Staate auferlegten Pflichten erfülle. Sie
zählt jetzt zwölf Dampfer mit 9400 Tonnen und ist über sechs Millionen Drachmen
wert. Die zweite, die den Namen ihres Begründers D. Gondi führt, besteht
seit 1878 und zählt fünf große, sehr komfortabel eingerichtete Dampfer, die
dritte, die //ave^/vtoc,' ^r^o?r>>.otx^ 'Ara^t«, im Jahre 1882 ins Leben
getreten, besitzt sechs große Dampfer. Einen größeren Aufschwung wird der
allgemeine Verkehr des Landes erhalten nach Vollendung der Durchstechung
des korinthischen Isthmus, die Dank den Bestrebungen der Gesellschaft, welche
unter Leitung des Generals Thr dieselbe übernommen hat, in nicht allzulanger
Zeit zu erwarten ist.
In zweiter Linie hat die Regierung jeder Zeit ihr Augenmerk auf das
PostWesen gerichtet, wovon der jetzt bestehende regelmäßige und gewissenhafte
Postbetrieb ein lebendiges Zeugnis ablegt. Wenn man sich erinnert in
welch elendem Zustande dieser Verkehrszweig vor fünfzig Jahren sich befand,
so wird man den Fortschritten seine Achtung nicht versagen, welche das junge
Hellas in diesem Zeiträume gemacht hat, um in diesem den allgemeinen Interessen
der Menschheit dienenden Verkehrsmittel den andern europäischen Staaten
gegenüber nicht zu weit zurückzustehen. Als Beleg dazu, wie groß diese Fort¬
schritte sind, möge eine kleine Notiz dienen. Zu der Zeit, da der erste König
von Griechenland, Htto, nach Athen kam, war anstatt des verwickelten und so
viele Beamten in Anspruch nehmenden heutigen Postsysteins folgendes im
Gange. Ein einziger Beauftragter, eine Art Herold, rief an bestimmten Tagen
und auf dem bekanntesten Platze die Adressen der eingegangenen Briefe laut
aus, und wenn der betreffende Abnehmer sich innerhalb von drei Tagen nicht
vorstellte oder meldete, so wurden die Briefe ins Feuer geworfen.
Vor allem aber müssen wir die unermüdliche Sorge, mit welcher zu jeder
Zeit die griechische Regierung die Erziehung und geistige Entwicklung des helle¬
nischen Volkes befördert hat, rühmend erwähnen. Auf die Ergebnisse, die hier
erzielt worden sind, darf der junge Staat mit Recht stolz sein.
Im Jahre 1834 ward der Grundstein gelegt zu dem heute fast vollendeten
Bau, indem der Unterricht obligatorisch und unentgeltlich, dabei aber auch von
der Kirche getrennt wurde. Der Staat konnte natürlicherweise nur allmählich
dem Bedürfnisse nach neu zu errichtenden Bildungsanstalten entsprechen, da zu
viele andre und dringendere Ansprüche des von einem siebenjährigen Kriege ver¬
wüsteten Landes an ihn herantraten. Von der Liebe zum Vaterlande begeistert,
nahmen jedoch viele im Auslande lebende reiche Patrioten thätigen Anteil an
diesem segensreichen Werke. Die meisten der großen Bildungsanstalten in Hellas
sind errichtet und werden unterhalten auf Kosten solcher Patrioten. In gleicher
Weise standen aber auch die im Inlande vorhandenen Vereine — Syllogen — dem
Staate in diesem Werke der geistige» Wiederbelebung der Nation erfolgreich
bei. Ich beschränke mich hier darauf, nur die folgenden sieben Vereine zu er¬
wähnen: den „Verein zur Verbreitung der griechischen Bildung," die „Archäo-
logische Gesellschaft," die „Gesellschaft der Volksfreunde." die philologischen
Vereine „Parnassos" und „Byron," den Musikalischen und dramatischen Verein
und den Nationalverein.
Der erste der eben erwähnten Vereine, der Ä/^»^ /r^x 6t«äoo^ rcZv
"M^vtxc^ 7^t/t«re,^> setzt sich zum Zweck die Verteidigung hellenischer Inter¬
essen in den noch unter dem verhaßten Joche seufzenden Provinzen. Er errichtet
und unterhält Schulen; gute und erprobte Lehrer, Lehr- und Schulbücher werden
zugeschickt, und überhaupt die Wiederbelebung des Nativnalgcfühlcs bei den
verlassenen und von allerlei fremden Eindringlingen bedrängten Brüdern ange¬
strebt. Während panslavistischc Missionäre unermüdlich und ununterbrochen alle
Provinzen der europäischen Türkei durchwandern und durch ihre Lehren und
das unerschöpflich zufließende russische Gold ihre panslavistischen Ideen und Ge¬
fühle den auf der Balkanhalbinsel lebenden Christen einzuflößen suchen, leistet
der Verein zur Verbreitung griechischer Bildung dem Staate unschätzbare Dienste,
indem er allem es ist, der die Fackel hoch hält, welche die in der Finsternis
lebenden Brüder zu der Mutter Hellas führe» soll.
Der zweite Verein, die ^/«es/^/ex// ^Ä«^/«, seit 1837 bestehend, zählt
über 2000 Mitglieder, erhält drei Sammlungen, die mhkenische, die ägyptische
und noch eine dritte, deren eigne archäologische Berichte über die ans ihre Kosten
durchgeführten Ausgrabungen öfters das Lob und die Anerkennung der bedeu¬
tendsten ausländischen Archäologen errungen haben.
Der philologische Verein //«^«»soL, begründet im Jahre 1865 und über
lvvv Mitglieder zählend, umfaßt die gebildeten Stände der Nation in ihren
verschiedensten Richtungen und kann als die Verkörperung der geistigen Bewegung
Griechenlands betrachtet werden. In deu von ihm errichteten und dotirter sieben
Schulen der „obdachlosen Kinder" wird armen Verlassenen abends unentgeltlicher
Unterricht gewährt, überdies aber alles das, was sie tagtäglich zu ihrem Lebens¬
unterhalte brauchen. In den Sälen dieses Vereins werden die meisten Fragen
aufgeworfen und gelöst, welche unmittelbar mit der vollkommeneren Ausbildung
des Volkes zusammenhängen und durch welche die Verbesserung der teilweise
"och mangelhaften Verhältnisse angestrebt wird, die natürlich des kurzen poli¬
tischen Lebens halber nicht auf einmal zu Stande zu bringen ist. Wiederholt
fand günstige Aufnahme, was von feiten dieses Vereins infolge seiner Be¬
ttungen als Aufruf um Unterstützung an die Regierung oder an die Nation
erging. Als unlängst die öffentliche Meinung sich erhob und die Verbesserung
der Gefängnisse verlangte, welche sich in einem elenden Zustande befanden, war
es der Verein //«^«<?<7v-,>, der aus Mitleid für die unglücklichen Geschöpfe,
welche wer weiß unter welchen Umständen ein Verbrechen begangen haben, neue
Gefängnisse zu errichten und die vorhandenen zu verbessern unternahm, und
zwar nach den Vorschriften des eigens zu diesem Zwecke von der Regierung
aus Belgien berufenen Spezialisten für Organisation der Gefängnisse. Die zu
diesem Berufe dem Budget des Staates entnommene große Summe, die be¬
deutende» Beitrage, welche von allen Teilen Griechenlands und den im Auslande
lebende» Hellenen zuflössen, geben uns Anlaß zu hoffen, daß auch in dieser
Richtung der Verein baldmöglichst zu einem guten Ziele gelangen werde.
Nicht zu unterschätze» ist auch die Wirksamkeit der „Gesellschaft der Volks-
freunde," der ^«t^t« pit^v rov ^.«vo, welche durch ihre unermüdliche
Thätigkeit und ihre Veröffentlichungen an der weitern Volksausbildung mit¬
gewirkt haben. Der Verein „Byron" unterhält seine eigne Volksschule und eine
gleichnamige Zeitschrift, in welcher seine Mitglieder ihre literarischen Beiträge
veröffentlichen können.
Der „Musikalische und dramatische Verein," im Jahre 1871 ins Leben
gerufen, hat lediglich dnrch seine Mittel ein Konservatorium errichtet und dotirt,
in welchem gegen zweihundert Zöglinge geistige Erhebung und Vervollkommnung
finden.
Endlich der Nativnalverein, der 'LAvtxog Ä^o/oc.-, welcher zu seinen
Mitgliedern viele Politiker und junge Vertreter der Wissenschaft zählt und erst
vor einem Jahre ins Leben gerufen wurde. Er hat seine volle Aufmerksam¬
keit auf die Ausbildung des Nationaltheaters gelenkt, in welchem der griechische
Geist vergangener Zeiten seine bewunderungswürdige, schwungvolle Kraft ent¬
faltet hat. Wir hoffen, daß die Bemühungen auch dieses Vereins von dem
besten Erfolge gekrönt und einer der empfindlichsten Mängel des klassischen
Landes dadurch beseitigt werden wird.
Die größte Aufmerksamkeit verdienen natürlich die Volksschulen, welche
sich immer mehr nach den gleichen europäischen Schulen verbessern. Griechen¬
land besitzt jetzt in jeder seiner 450 Gemeinden mindestens zwei Volksschulen,
welche gemeinsam von Staat und Gemeinde unterhalten werden. Die größern
lind reichern Gemeinden weisen natürlich mehr solche Schulen auf, und wenn
man zu ihnen noch die andern unter der Aufsicht der Regierung stehenden
Privatvvlksschuleu rechnet, so ergiebt sich der ungemein günstige Schluß, daß
auf eine zwei Millionen zählende Bevölkerung im ganzen 2000 Volksschulen
mit über 150 000 Schülern kommen. Außerdem müssen wir noch die Schüler
jener andern sehr zahlreichen und von Vereinen gegründeten und unterhaltenen
Wohlthätigkeitsanstalten in Betracht ziehen, welche samt den den häuslichen Unter¬
richt erhaltenden Zöglingen eine große Anzahl ausmachen. Athen selbst mit
beinahe 80 000 Einwohnern kann sich jetzt rühmen, zehn Volksschulen, vier
Prvgymnasien (Mittelschulen), vier Gymnasien, ein Polytechnikum, eine Lehrer¬
bildungsanstalt und eine ausgezeichnete ekklesiastische Schule zu besitzen, außer¬
dem noch zwölf höhere Schulen und zweiunddreißig Privatanstalten, in welchen
Kinder aus den besseren Ständen Unterricht genießen.
Auch für die Hebung des geistlichen Standes, der einer Reformation
dringend bedürftig war, hat man Sorge getragen; fünf Schulen sind dazu be-
stimmt, tüchtige Geistliche heranzubilden. Endlich sei noch erwähnt, daß auch
für die Waisen sich barmherzige Seelen gefunden haben, welche die Heran¬
bildung einer möglichst großen Anzahl derselben sich zum Ziele ihres auf¬
opferungsvollen Strebens gesetzt haben. Abgesehen von den schon oben er¬
wähnten Schulen des philologischen Vereins, zeigt uns allein Athen zwei solcher
segensreichen Bildungsanstalten, das Nationalwaisenhaus für Mädchen, „Ama-
liion" genannt, zu Ehren der verstorbenen Königin von Griechenland Amalie,
und das „Waisenhaus Georg und Katharina Hadzi Kosta," welche beide sehr
zufriedenstellende Resultate erreicht haben.
Die Universität Athens, die einzige im Orient, wurde im Jahre 1839 von
reichen Griechen erbaut und zählte damals nur gegen fünfzig Studenten, während
sie gegenwärtig in ihren vier Fakultäten fast von 3000 Studenten besucht wird,
von denen die meisten aus den unterjochten Provinzen stammen. Ihre vielen
und reichhaltigen Sammlungen, ihre große Bibliothek, das Krankenhaus und
ihre Kliniken, die Entbindungsanstalt, die Augenheilanstalt und das städtische
Krankenhaus unter der Direktion der medizinischen Fakultät, der große botanische
Garten und die von dem in Wien verstorbenen reichen Griechen Baron Sina
(welchem Griechenland auch das prachtvolle Gebäude der Akademie verdankt)
errichtete Sternwarte gewähren den Studirenden ein reiches und unentgeldliches
Material zu ihren Studien. Obwohl aber der Zustand der Athemlöcher Uni¬
versität ein in hohem Grade befriedigender ist, wandern doch ihre jungen Bürger
nach Vollendung ihrer akademischen Studien noch nach den verschiednen Kultur¬
ländern Europas, vorzugsweise nach Deutschland und Frankreich, um dort ihre
Kenntnisse zum Wohl und Gedeihen ihres Landes zu vermehren. So kommt
es, daß viele der bedeutendsten Gelehrten des neuen Hellas ihr reiches
Wissen dem Auslande entnommen haben und durch die im Allslande erworbenen
Kenntnisse glänzen. Wer die jahraus jahrein veröffentlichten Personalverzeich-
nisse der deutschen Universitäten durchblättert, wird sich überzeugen, daß die
Zahl der aus Griechenland kommenden Studenten weit über der der andern
Ausländer steht.
Was die Erziehung der Frauen betrifft, so hat man auch auf diesem Ge¬
biete viel gesorgt und gethan, weil man gleich von Anfang an einsah, daß
durch die Heranbildung von guten Müttern die Entwicklung und Veredlung
des ganzen Volkskörpers schneller und sicherer von statten gehen werde. Dies
beweisen die zahlreichen öffentlichen und Privatlehranstalten, von denen das
„Arsakion" in Athen, nach dem Begründer Arsatis genannt, besondre Erwähnung
verdient, weil in demselben über 2000 Mädchen aus dem Volke meistens un¬
entgeltlichen Unterricht erhalten.
Die Militürschule in Piräus, in welcher auch die Söhne des Königs ihre
militärische Erziehung erhalten, und die Marineschnle, ebenfalls in Piräus,
leisten dem jungen Staate vortreffliche Dienste.
Wollten Wir alle Unterrichtsmistalten Griechenlands hier aufzählen, so
würde uns das zu weit und von dem ursprünglichen Zwecke dieses Aufsatzes
abführen. Wir beschränken uns darauf, zuletzt noch die Gesamtsumme der Aus¬
gaben zu nennen, welche jährlich auf den Unterricht verwendet werden. Es
sind dies zuvörderst drei Millionen Drachmen, die alljährlich im Budget des
Staates für Unterrichtszwecke ausgeworfen sind, sodann der Aufwand der Ge¬
meinden mit 1 600 00V Drachmen, endlich jene großen Summen, kaum nie¬
driger anzuschlagen als 2 500 000 Drachmen, welche von Vereinen und den im
Auslande lebenden reichen Gnechen gespendet werden. Der unentgeltliche Unter¬
richt bei einer Bevölkerung von zwei Millionen Köpfen nimmt somit die Summe
von über sieben Millionen Drachmen in Anspruch. Dieses Kapital trägt aber schon
jetzt reiche Zinsen; die statistischen Angaben der letzten Zeit weisen aus, daß
unter hundert Männern vierzig schreiben und lesen können, ein für die Kürze
der Zeit gewiß überraschend günstiges Resultat. Dem entsprechen die schnellen
und fast unglaublichen Fortschritte, welche im Buchhandel und in der Heraus¬
gabe von Zeitungen und Zeitschriften gemacht worden sind.
Vor dem Jahre 1821, also ehe der Freiheitskampf ausgebrochen war, gab
es überhaupt in Griechenland noch keine Zeitung, denn die erste Buchdruckerei,
welche im Jahre 1815 errichtet worden war, war nicht imstande, eine solche zu
drucken. Welche große Veränderung hat seit jener Zeit stattgefunden! Statt
jener einzigen kleinen und erbärmlichen Buchdruckerei arbeiten gegenwärtig in
Griechenland 122 Druckereien, welche jährlich 800 bis 1000 Bücher des ver¬
schiedensten Inhalts Produziren. Die ebenso zahlreich erscheinenden Zeitschriften
sind meistenteils zweckentsprechend, da sie von geschickten Federn redigirt werden.
Erwähnenswert sind das „Athenäum" und die „Archäologische Zeitung" der
archäologischen Gesellschaft, das Bulletin der historisch-ethnologischen Gesellschaft,
die juristische „Themis" und die „Gerichtszeitung," die medizinische Wochen¬
schrift „Galenus" und die Zeitung der bygieinischen Gesellschaft, die philologische
Zeitschrift 'Ahr/a, das „Attische Museum," der „Apollo," die Berichte des
Lehrervereins, und sodann die von den gleichnamigen Vereinen herausgegebenen
Zeitschriften „Parnassos," „Byron" und „Sokrates." nennenswert ist anch
noch der „Attische Kalender" von Jrinäns Asvpius und die italienisch von
Fravasile herausgegebene Wochenschrift.
In keinem andern Lande aber erscheinen Wohl so viel politische Zeitungen
wie in Griechenland, wo nur allein in Athen 54 (!) politische Blätter die
Tagesneuigkeiten verbreiten. Bedauerlich freilich ist es, daß die meisten der¬
selben weit entfernt von der Höhe und Vollkommenheit der bedeutenderen euro¬
päischen Blätter siud, noch bedauerlicher, daß es etliche giebt, welche das, was
sie zu sein vorgeben, Berater und Stimme des Volkes zu sein, nicht im min¬
desten sind. Aber es sind auch andre vorhanden, und zum Glücke nicht allzu
wenige, denen die Nation in vieler Hinsicht Dank schuldig ist. (Schluß folgt.)
atte der Kaiser im „Theuerdank" seine Jagdabenteuer zusammen¬
gestellt, im „Weißkunig" seine zahlreichen Kriegszüge erzählt, so
beabsichtigte er nun noch in einem dritten Bande die Turniere
und Mummereien, die er zu verschiednen Zeiten und an ver-
schiednen Orten gehalten, zu einem poetischen Ganzen zusammen¬
zufassen. Das Buch, welches dieselben enthalten sollte, war der „Freydal."*)
Schon im Jahre 1502 hatte Maximilian den ersten Plan zu dem Werke ge¬
faßt, im Jahre 1S12 ging man daran, den Text in Ordnung zu bringen und
Zeichnungen anzufertigen. Aber es erging dem „Freydal" beinahe noch schlimmer
als dem „Weißkunig." Als der Kaiser starb, hatte man erst weniges geschnitten
und nur von fünf Holzstöcken Abdrücke genommen; als im Jahre 1526 König
Ferdinand an die Herausgabe der Schriften Maximilians dachte, war der
„Freydal" vollständig vergessen. Die Zeichnungen kamen in die Ambraser¬
sammlung und mit dieser später nach Wien. Seitdem finden sich seltene Er¬
wähnungen davon. Erst im Jahre 1881 veranstaltete Quirin von Leidner mit
Genehmigung des Kaisers von Osterreich eine große Prachtausgabe.
Das Bilderwerk besteht in 255 Abbildungen, die vierundsechzigmal in der¬
selben Weise geordnet sind, sodaß stets ein Rennen, ein Stechen, el» Kampf und
eine Mummerei aufeinanderfolgen. Bei den Rennen, Stechen und Kämpfen
sind immer nur die beiden in Handlung befindlichen Hauptpersonen dargestellt.
Die Mummereien find reicher an Figuren. Es läßt sich denken, daß, wie die
Beschreibung der Handlung an den vierundzwanzig Turnierhösen ziemlich scha¬
blonenhaft gehalten ist, so auch in den Bildern nicht allzuviel Abwechslung
möglich war. Der Mann, dessen Kunst der Kaiser bei diesem Buche haupt¬
sächlich in Anspruch nahm, war sein Hofschneider Martin Trummer, der schon
im Jahre 1502 beauftragt wurde, alle Kostüme, die der Kaiser jemals bei seinen
Mummereien gebraucht hatte, in ein Buch malen zu lassen. Daß Trummer
mit dieser Aufgabe betraut wurde, ist uicht seltsam, da hauptsächlich Kostüm¬
bilder nötig waren, und diese wird derjenige, der die Kostüme verfertigte, auch
am besten haben zeichnen können. Außerdem will Leidner bei diesem Werke aus
dem Stil sechsundzwanzig Künstler unterscheiden. Ob sich darunter einer der
bekannten Augsburger oder Nürnberger Zeichner verbirgt, muß unentschieden
bleiben. Künstlerisch sind die Bilder von sehr verschiedenem Werte. Am an¬
ziehendsten sind die Mummereien, bei denen Luxus und Pracht in Kostümen
und Geräten verschwenderisch gezeigt werden konnte.
Die drei bisher genannten illustrirten Prachtwerke waren sämtlich historisch
angelegt gewesen, hatten sämtlich das Lebe» Maximilians verherrlicht; der
„Theuerdank" hatte seine Brautfahrt um Maria von Burgund, der „Weißkunig"
seine Lebens- und Regierungsgeschichte, der „Freydal" seine Turniere und ritter¬
lichen Kämpfe behandelt. Außer diesen Prachtwerken bereitete der Kaiser aber
ferner zwei Holzschnittfolgen vor, die ohne jeden historischen Hintergrund nur
seiner Verherrlichung dienen sollten.
Er hatte vou den antiken Triumphbogen gehört, den „^rann tnniuxlralö«,
so vor alten Zeiten den römischen Kaisern in der Stadt Rom aufgerichtet waren,
deren etliche zerbrochen sind und etliche noch gesehen werden." Er hatte serner
von den Triumphzügen der alten römischen Imperatoren gelesen, vielleicht mit
Bewunderung Kupferstiche nach Mantegnas Triumph des Cäsar und des Scipio
betrachtet. Sofort war er für Triumphbogen und Triumphzüge Feuer und
Flamme. Auch er wollte sich einen Triumphbogen errichten, auch er wollte
seinen Triumph darstellen lassen. Auf diese Weise entstanden zwei große Holz¬
schnittfolgen: der Triumphbogen des Kaisers, die sogenannte „Ehrenpforte," und
sein „Triumphzug."
Der Gelehrte, welcher um 1512 mit der Anfertigung des wissenschaftlichen
Entwurfes zur „Ehrenpforte" betraut wurde, war Johannes Stadius, der Künstler,
der diesen Entwurf auszuführen hatte, Albrecht Dürer. Wieweit Stadius eine
richtige Vorstellung von einem römischen Triumphbogen hatte, läßt sich nicht
bestimmen. Sicher ist, daß derselbe unter Dürers Händen eine recht phantastische
Gestalt annahm, sodaß er nur wenig einem wirklichen Triumphbogen ähnelt.
Das Ganze hat die hohe, steile Giebclform des deutschen Renaissaneehauses; an
den Seiten stehen zwei Rundtürme, die an Treppentürme französischer Schlösser
erinnern; abgeschlossen und gekrönt wird das Ganze von Kuppeln, die vene¬
zianische Kirchenkuppeln nachahmen. Im untern Stockwerk sind drei Thore
angebracht. Das große mittlere Hauptthor ist die „Pforte der Ehre und Macht,"
daneben sind zwei kleinere Scitenthore, die „Pforte des Lobes" und die „Pforte
des Adels." Zwischen und über ihnen ist dann Raum für allen möglichen ge¬
lehrten und künstlerischen Zierrat. Das hohe Wandfeld über dem unteren Thore
ist mit dem Stammbäume des Hauses Osterreich geschmückt, zu oberst thront der
Kaiser, von Siegesgöttinnen umschwebt, und darunter seine Nachkommen; ringsum
sieht man die Wappen der ihm untergebenen Provinzen. Über den beiden
kleineren Seitenthoren sind auf vierundzwanzig Feldern Darstellungen aus den
Geschichte Maximilians mit erklärenden Versen von Stadius sichtbar. Es ist
eine Fülle von Figuren und Ornamenten, die fast unübersehbar ist. Das ganze
ist von großer kulturgeschichtlicher Wichtigkeit, deshalb weil es uns zeigt, wie
naive Vorstellungen das sechzehnte Jahrhundert von antiken römischen Triumph¬
bogen hatte. Bis zum Jahre 1515 war das ganze großartige Werk von Dürer
niedergezeichnet. Natürlich hatte er das ganze zehneinhalb Schuh hohe und
neun Schuh breite Riesengebüude nicht auf einen Holzstock gezeichnet, sondern
es in zweiundnennzig Hvlzstöcke zerlegt, die dann Hieronhmus Andree einzeln
schnitt, und die beim Drucke wieder zusammengesetzt werden sollte». Bei Maxi¬
milians Tode war der Schnitt noch nicht ganz vollendet, nur von einzelnen
Stöcken waren Abdrücke genommen, die heute sehr selten geworden sind. Eine
neue Ausgabe veranstaltete erst Adam Bartsch 1799. Dieselbe enthält die zwei¬
uudneunzig Holzstöcke einzeln in Buchform, bietet also keine Gelegenheit, das
Riesenblatt in seinem ganzen Umfange zu überblicken.
Nachdem die „Ehrenpforte" vollendet war, galt es nun noch die Voll¬
endung des „Triumphzuges"*) zu bewerkstelligen. Wie der „Theuerdank/ der
„Weißkunig" und der „Freydal," ist auch der „Triumphzug" oder, wie er in
den gleichzeitigen Quellen oft uneigentlich nach dem Mittelpunkte der Folge
genannt ward, der „Triumphwagen" vollständig in allen Einzelheiten vom Kaiser
selbst erfunden. Nur die endgiltige Bearbeitung des Entwurfes wurde im Jahre
1512 dem Geheimschreiber Marx Treizsaurwein übertragen und hat sich, 1513
vollendet und von der eignen Hand Treizsaurweins niedergeschrieben, in der
Wiener Hofbibliothek erhalten.
Als die Gedanken des Kaisers niedergeschrieben waren, schritt man zur
künstlerischen Ausführung. In erster Linie war ein großes, prächtiges Miniatur¬
werk beabsichtigt. Johann Stadius wurde im Januar 1513 brieflich beauf¬
tragt, für einzelne Teile des Triumphzuges Skizzen anfertigen zu lassen, die
dann den Jllumimsten als Vorlage dienen sollten. Stadius wandte sich zu
diesem Zwecke an Dürer, der seine Arbeit damit begann, daß er eine Skizze
für den Triumphwagen des Kaisers fertigte. Sie ist mit der Feder entworfen
und befindet sich gegenwärtig in der Albertina in Wien. An der Seite des
Kaisers sitzt Maria von Burgund, vor ihnen König Philipp der Schöne zwischen
Schwester und Gattin, vor diesem seine Söhne, die Erzherzöge und nachmaligen
Kaiser Karl und Ferdinand, und ganz vorn deren vier Schwestern. Weitere
Skizzen Dürers sind nicht vorhanden. Doch läßt das freundschaftliche Ver¬
hältnis, in welchem Stadius zu Dürer stand, annehmen, daß Dürer auch mit
dem Entwürfe für den Triumphwagen der Kaiserin betraut wurde und über¬
haupt noch eine größere Anzahl von Skizzen für den Triumph fertigte. Daß
»och andre Meister mit Skizzen betraut worden wären, ist nicht nachzuweisen
und auch nicht wahrscheinlich.
Die Hauptarbeit kam vielmehr in die Hände eines Jlluministen. Das
Ergebnis seiner Mühen war ein Miniaturwerk von 109 Pergamentblättern in
Großquerfolio. Vom Originalwerk, das früher Eigentum des Stiftes Se. Florian
war und jetzt eine Zierde der k. k. Hofbibliothek bildet, hat sich leider nur die
zweite, größere Hälfte, von Blatt 50 an, erhalten. Glücklicherweise wurde aber
diese Originalarbeit schon im sechzehnten Jahrhundert, als sie noch vollständig
war, kopirt; und diese jetzt ebenfalls in der Wiener Hofbibliothek bewahrte
Kopie setzt uns in den Stand, uns auch von der Ausführung des verloren ge¬
gangenen ersten Teiles des Originalentwurfes ein deutliches Bild zu machen.
Aus beiden Miniaturwerken, dem Originalentwurf, soweit er vorhanden ist. und
aus der Kopie ersehen wir, daß sich der Künstler bei der Komposition der Dar¬
stellungen fast sklavisch an den vorliegenden Text gehalten hat. Er hat, um
sich dieseni möglichst eng anschließen zu können, selbst Dürers freiere Skizzen
für die Miniaturen wieder bedeutend verändert. Der Kaiserwagen strotzt von
Gold und Edelsteinen; Maximilian sitzt allein unter dem reichen Thronhimmel,
und vor ihm sitzen auf einer hinzugefügten Bank seine Gemahlin und seine
Tochter Margarete. Die Ausführung des ganzen Miniaturwerkes ist sehr un¬
gleich. Es macht den Eindruck einer in der Werkstätte eines der bedeutendsten
Meister jener Zeit ausgeführten Arbeit, an welcher verschiedne Hände thätig
waren. Besonders gelungen ist der ornamentale Teil, ferner der Triumphwagen
des Kaisers und der Kaiserin, sowie einige Schlachtenbilder mit landschaftlichen
Hintergrunde. Wer der Meister war, welcher die Anfertigung des großen
Miniaturwerkes leitete, darüber fehlen alle Vermutungen. Die Ausführung der
gewaltigen Arbeit muß jedoch mehrere Jahre gedauert habe» und wird nicht
vor 1516 beendet gewesen sein.
Als die Miniatur fertig war, galt es nun, dieselbe durch den Holzschnitt
zu vervielfältigen. Um die Arbeit möglichst zu beschleunigen, wurde das Werk
in Gruppen geteilt und jede einzelne Gruppe einem besondern Künstler über¬
tragen, um die Zeichnung auf den Holzstock zu bringen. Tafel 1 —56 hatte
Hans Burgkmair zu zeichnen, Tafel 57 — 88 ein minder bedeutender unbekannter
Meister, Tafel 89 — 104 Albrecht Dürer, Tafel 105 wieder ein unbekannter
Meister, Tafel 106 —110 Dürer, Tafel 111 — 114 Burgkmair, Tafel 116 - 120
eir Unbekannter, Tafel 121 und 122 Dürer. Tafel 123 — 125 Burgkmair,
Tafel 126 — 123 ein Unbekannter, Tafel 129 — 131 Burgkmair, Tafel 132—137
ein unbekannter Meister. Den Löwenanteil an dem Triumphzuge hat also Burgk¬
mair, dem nicht weniger als 66 Zeichnungen angehören; dann kommt Dürer
mit 24, und die übrigen 47 verteilen sich auf unbekannte kleinere Künstler.
Es ist selbstverständlich, daß Meister wie Dürer und Burgkmair sich nicht
streng an die gegebene Miniaturvorlage hielten, sondern ihrem Geiste freien
Spielraum ließen. Die kleinern Meister schlössen sich eng an die Vorlage an.
Auch Hans Burgkmairs Arbeiten stehen derselben noch nahe und entfernen sich
nur soweit davon, als es die Umkvmponirung für den Holzschnitt und die
künstlerische Schaffenskraft des Meisters verlangten. Dagegen wich Albrecht
Dürer vollständig vom Programm und von der Miniatur ab und ging ganz
frei zu Werke. Äußerlich schon unterscheiden sich seine Zeichnungen im „Triumph¬
zuge" von allen übrigen durch die breite Behandlung des Bodens. Während
sich die übrigen Meister ängstlich an das Programm und die Miniatur hielten,
litt es Dürer nicht in dieser Beschränkung, er komponirte alles neu. Hat er so
auf der einen Seite in seinen Zeichnungen bedeutende Kunstwerke geschaffen, so
läßt sich auf der andern Seite nicht leugnen, daß dadurch der einheitliche Gesamtein¬
druck des „Triumphzugcs" zerstört wurde. Während durch die Miniatur ein streng
epischer Hauch weht und die Einheitlichkeit der Komposition trotz der verschiednen
Hände bis zum Ende anhält, leidet das Holzschnittwerk infolge der Freiheiten,
die sich Dürer gestattete, an innerer Ungleichmäßigkeit. Gleich in seinen ersten
Blättern springt Dürer plötzlich aus dem epischen Ton in den dramatischen
über, baut Wagen, auf denen niemand sitzen kann, führt die Allegorie auf den
Schauplatz und verfährt so frei, daß man bei einigen Blättern erst nach langem
Studium den Inhalt der Darstellung entziffern kann.
Die Vorliebe für die Allegorie griff überhaupt, so lange an dem Werke
gearbeitet wurde, mehr und mehr um sich. Hans von Kulmbach, der unter
Dürers Aufsicht mit am „Triumphzug" zeichnete, entwarf die jetzt im königlichen
Kupferstichkabinet in Berlin bewahrte sogenannte Laurea, ein Musterstück spitz¬
findiger allegorischer Spielerei, das sämtliche Tugenden Maximilians von der
Abstinentia an durch das ganze Alphabet hindurch zu einem Lorberkranz ver¬
flochten zeigt, der von zwei Reitern emporgehalten wird. Dürer selbst mußte
auf Anraten Pirkheimers einen neuen Triumphwagen zeichnen, neben und vor
dem zahlreiche weißgekleidete Frauengestalten, alle möglichen Tugenden vorstellend,
einherschreiten und auf dem als Wagenlenkerin Ratio sitzt.
Ohne die Aufzeichnung des Ganzen abzuwarten, übergab man jede Tafel,
sobald sie gezeichnet war, dem Formschneider zum Schneiden. Burgkmairs
Zeichnungen zu Tafel 1 — 56 wurden vom 12. November 1516 bis zum
8. Mai 1518 in Augsburg von der dortigen Fvrmschneiderschule unter Leitung
Dieneckers geschnitten, gleichzeitig (August 1517 bis Juli 1518) war mau dort
am Schnitt der dem unbekannten Künstler angehörigen Tafeln 57 — 88 thätig.
Nur die in Nürnberg gezeichneten Holzstöcke Dürers wurden fast sämtlich in
der Nürnberger Formschneiderwerkstatt geschnitten. Auf diese Weise hatte man
bei Maximilians Tode wenigstens den Schnitt des „Triumphzuges" ziemlich
beendet. Nur sechs in der Albertina bewahrte Reiterskizzen Dürers aus dem
Jahre 1518, die Laurea Hansens von Kulmbach und Dürers 1518 entworfene
Federzeichnung des „Triumphwagens" waren nicht geschnitten und blieben unbe¬
nutzt. Freilich der Druck der Hvlzstöckc war noch rückständig, und dieser geriet
durch den Tod des Kaisers ins Stocken. Erst nach sieben Jahren dachte König
Ferdinand an die Herausgabe und gab seinem Kanzler Marx Treizsauerwein
den Auftrag, die fertigen Stöcke abdrucken zu lassen. Wieviel Exemplare da¬
mals abgezogen wurden, wissen wir nicht; eins der wenigen vollständigen, die
man heute noch antrifft, befindet sich im Wiener Kupferstichknbiuet. Ein Teil
der Stöcke, 40 Stück, gelangte hierauf nach Schloß Ambras, ein andrer Teil,
95 Stück, in den Besitz des Jesuitenkollegiums zu Graz, Zwei gingen verloren.
Sowohl die in Ambras wie die in Graz befindlichen wurde» 1777 zum zweiten-
male in wenigen Exemplaren abgedruckt. 1779 gelangten sämtliche erhaltene
Stöcke, 135 an der Zahl, in die Wiener Hofbibliothek, und 1796 veranstaltete
Adam Bartsch die erste wissenschaftliche Ausgabe in Querfvliv. Eine vierte
Prachtausgabe wird gegenwärtig in Wien bei A. Holzhausen gedruckt. Sie ist
die erste vollständige, da sie auch die bei Bartsch fehlende» Tafeln 90 und 130
enthält, deren Platte» durch phvtvzinkographische Hochätzung nach den Origi¬
nalen der im Wiener Kupferstichkabinet befindliche» ersten Ausgabe angefertigt
wurden.
Der „Triumph Maximilians" kan» trotz aller allegorische» Spielereien als
eins der großartigsten Prachtwerke gelte». Der pomphaft geschmückte Triumph¬
wagen, auf dem der Kaiser mit seiner Familie sitzt, die Herolde, Träger von
Trophäen und Ehrenkranze», Vertreter mannichfacher Nationen, die in langem
Zuge cinherschreite», daz» die zahlreiche» Schilderunge» ans des Kaisers ereignis-
vollci» Leben geben dem Ganzen eine Lebendigkeit und Pracht, wie sie selbst
Mantegnas berühmter „Triumph Cäsars" nicht auszuweisen hat.
Hatte der Kaiser somit in fünf großen Werken sei» eignes Leben ver¬
herrlichen lassen, so reifte in ihm gegen das Ende seiner Laufbahn noch der
Plan zu einer zweiten großen Holzschnittfolge, welche der Geschichte des
Hauses Österreich gewidmet sein sollte, den „Österreichischen Heiligen." Schon im
Beginne seiner Beziehungen zu Dürer hatte er diesen beauftragt, eine Reihe öster¬
reichischer Heiligen, nebeneinanderstehend, in Holzschnitt zu fertigen. In dem ersten
seltenen Drucke sind es deren sechs: Quirinus, Maximilian, Florian, Severin,
Koloman und Leopold der Markgraf. Für die zweite Ausgabe von Is 17 fügte
Dürer noch auf einem besondern Holz Stocke zwei andre dazu: Se. Poppo und
Otto von Freising. Johannes Stadius begleitete sie mit einem Gebete in
Versen: H.et s-modos ^ustrms x»trono8. Durch dieses Dürersche Blatt min
wurde der Kaiser zu einem zweiten, weit umfangreichere» Unternehmen angeregt.
Alle Verwandten des Hanfes Habsburg, welche von den ältesten Zeiten an zu
Heiligen gemacht worden waren, sollten in Bildern dargestellt werden. Der
Mann, an welchen diesmal Kaiser Maximilian sich wendete, damit er das ge¬
schichtliche Material zusammensuche, war der gelehrte Sebastian Braut in
Straßburg, der Verfasser des „Narrenschiffes." Dieser stellte im Jahre 1516
die Legenden der einzelnen Heiligen zusammen, machte genaue Angabe über das
Wappen jedes einzelnen, sowie darüber, wegen welcher That jeder zum Heiligen
gemacht worden war. In einem Briefe klagt er über die Mühe, die ihm das
gekostet habe, und wenn wir heute das Holzschnittwerk betrachten, müssen wir
ihm beistimmen. Da treten uns zwar auch eine Reihe bekannter Gestalten ent¬
gegen. Wir sehen den heiligen Bonifacius, den Apostel der Deutschen, als
Bischof mit der Friedenspalme unter einem Baldachin in einer reichen Säulen¬
halle sitzen — Karl den Großen, wie er in Ritterrüstung mit Schwert und
Reichsapfel in einer phantastische» Landschaft steht — Chlodwig I., wie ihm
ein Engel erscheint und ihm die französische Flagge mit den drei Lilien über¬
reicht — die heilige Kunigunde, die Gemahlin Kaiser Heinrichs, wie sie durch
das Gottesurteil ihre verdächtigte Jungfrauschaft beweist und auf glühendem
Eisen dahinschreitet wie auf kühlem Thau — die heilige Elisabeth von Thüringen,
wie sie vor ihrer Burg Brot und Wein unter die Armen und Krüppel verteilt,
und manche andre. Die meiste» Heiligen aber sind recht unbekannt. Se. Adelard,
Abt von Corbie in der Pienrdie, Se. Adelbert, Bischof von Cambray, die heilige
Otilie, Äbtissin von Orp in Brabant, die heilige Agnes, Äbtissin von Santa
Clara in Prag, und manche andre werden nur mit großer Mühe von Braut
aufgefunden worden sein. Allznstreng hat er es auch mit der geschichtlichen
Genauigkeit nicht genommen. Es ist eine ganze Reihe von Heiligen in das
Werk aufgenommen, die sicher mit der Familie Maximilians nichts zu thun
haben, und auch manche Verwandte des Hauses Österreich als Heilige behandelt,
die in Wirklichkeit keine waren. Als der Meister, der Brants Angaben nieder-
zuzeichnen hatte, wird gewöhnlich ausschließlich Hans Bnrgkmair genannt. Schon
ein flüchtiges Durchblättern des Buches zeigt aber, daß wir es wie bei allen
übrigen Werke» des Kaisers Maximilian mit der Arbeit mehrerer Künstler
zu thun haben. Darüber, daß Bnrgkmair der Hauptanteil zufällt, kaun, obwohl
sich auf keinem der Blätter sein Monogramm findet, kein Zweifel sein. Neben
ihm aber waren noch wenigstens zwei andre Künstler thätig. Blatt 43 — der
heilige Georg — trägt rechts unten das Monogramm Springinklees. Ihm
möchte ich auch Ur. 16, den heiligen Bonifacius — Ur. 22, Se. Konrad. Bischof
von Konstanz — Ur. 46, Se. Goericus, Bischof von Metz — Ur. 57, Graf
Hugbald, wie er als Pilger durch eine Landschaft schreitet, — Ur. 79, König
Oswald von England, und mehrere andre Nummern zuschreiben. Unbezweiselbar
ist serner der Anteil Schäuseleins. Ihm gehören mit Sicherheit die Nummern 21,
Se. Colmar — 47, Se. Goudran, König von Frankreich — 63, Ladislaus 1.
von Ungarn — 64, die heilige Landrade, Äbtissin von Münster — 88, der
heilige Rhatvn, Gründer des Klosters Werden in Baiern — 108, die heilige
Walpurgis, Äbtissin von Heidenheim am Meeresufer u. a. Im ganzen dürfte»
von den Blättern des Buches höchstens 70 Burgkmair, die übrigen Springinklee,
Schäufelein und andern unbekannten Künstlern angehören. Burgkmairs Blätter
sind freilich bei weitem die bedeutendsten des Buches. Solche hochragende Ge¬
stalten, die sich mit majestätischer Ruhe in weiten, echt italienischen Säulenbanten
bewegen, konnten nur von ihm mit solcher Vorzüglichkeit dargestellt werden.
Vortrefflich gelungen sind ihm auch die Wappen, die bei ihm in reinem Renaissance¬
stil gehalten sind und oft von herrlichen Pudel getragen werden, während sie
aus den Blättern der andern Meister gewöhnlich noch gothisirende Umrahmungen
haben. Gestalten wie die dem heiligen Emmerich erscheinende Madonna, die
heilige Ermelinde, die heilige Reinette vor dem Altar gehören zum Keuschesten
und Lieblichsten, was die Kunst des sechzehnten Jahrhunderts geschaffen hat.
Springinklee ist unruhiger als Burgkmair; die Körper seiner Figuren würden
oft nicht ganz in Ordnung sein, wenn man sie der schweren Gewänder entledigen
konnte, die sie wie eine feste Masse umgeben. Schäufeleins Figuren endlich sind
klein und gedrungen und bewegen sich mit Vorliebe in Landschaften, die über¬
reich mit Laubwald bewachsen sind. Der Schnitt der von diesen Künstlern
gelieferten Zeichnungen wurde in den Jahren 1517 und 1513 von der Augs¬
burger Formschneiderschule ausgeführt. Und zwar haben sich daran acht Meister,
Hans Frank, Hans Liefrink, Alexius Linde, Jost de Regler, Wolfgang Resch,
Hans Taberith, Wilhelm Taberith und Nikolaus Seemann beteiligt, deren
Namen neben den Jahrzahlen 1617 und 1518 mit Tinte auf die Rückseite der
Hvlzstöcke geschrieben sind. Schon zu Lebzeiten des Kaisers wurden einige Ab¬
drücke genommen. Ein solches Exemplar, 124 Tafeln enthaltend, besitzt die
Wiener Bibliothek. Auch die Holzstöcke kamen größtenteils nach Wien. Nur
für zwei Blätter, Se. Wandra, Äbtissin von Monz, die in einem Hospital einen
Fallsüchtigen segnet, und Se. Aldedrude, ihre Tochter, die einem jungen Mädchen
den Teufel austreibt, gingen die Stöcke verloren. Eine Ausgabe der „Heiligen"
veranstaltete Bartsch 1799. Er brachte jedoch von den 122 Tafeln der Wiener
Bibliothek nur 119 zum Abdruck, da 3 zu schadhaft geworden waren. Wenn
wir heutzutage die „Heiligen" durchblättern, müssen wir uns namentlich wundern,
mit welcher Meisterschaft die Künstler es verstanden haben, den ewig gleich¬
bleibenden Situationen immer neue Motive abzugewinnen. Die Darstellung,
wie die einzelnen Heiligen ihre Wunderthaten verrichten, Kranke heilen, Geister
austreiben, zum Heiland beten, in ihrer Kapelle knieen, war im Grunde eine
recht einförmige und unerquickliche. Trotzdem hat jede Gestalt ein individuelles
Gepräge, und namentlich das Beiwerk und die Landschaft sind musterhaft be¬
handelt.
Dies sind die hauptsächlichsten Werke, welche die Kunstliebe Kaiser Maxi¬
milians ins Leben rief.
Bei allen diesen Unternehmungen stand nun Maximilian keineswegs als
hoher, unnahbarer Herrscher den Künstlern gegenüber. Er trat vielmehr zu jedem
einzelnen in persönliche Beziehungen.
Am erquickendsten ist sein Verhältnis zu Dürer. Seine Beziehungen zu
diesem beginnen während seines Aufenthaltes in Nürnberg vom 4. bis zuni
15. Februar 1512, zu der Zeit, als er Dürer mit der Aufzeichnung der Ehren-
Pforte betraute. Bald nachdem Dürer an die Arbeit gegangen war, wollte er
ihn zur Belohnung dafür steuerfrei machen und erließ deshalb aus Landau am
12. Dezember 1512 ein Schreiben an den Nürnberger Rat, der freilich darauf
nicht einging. Dürer hat dann drei Jahre lang umsonst für den Kaiser an
der „Ehrenpforte" gearbeitet. Aber als er 1516 sich das Herz genommen und
sich an Stadius mit der Bitte gewendet hatte, er möge den Kaiser um eine
jährliche Leibrente für ihn bitten, war diese Fürsprache sofort vom besten Erfolge
begleitet. Noch von demselben Jahre, vom 6. September 1515, datirt das
kaiserliche Privilegium für Dürer. Maximilian verleiht ihm ein Gehalt von
100 Gulden Rheinisch, das ihm sein Leben lang alljährlich von der gewöhnlichen
Stadtstcuer von Nürnberg in seinem Namen ausgezahlt werden soll. Und diesmal
behielt das kaiserliche Wort seine Geltung. Dürer selbst bestätigt 1520 in einem
Briefe an Spalatin, daß er die 100 Gulden jährlich bei Seiner kaiserlichen Majestät
Lebzeiten erhoben habe. Eine weitere Annäherung der beiden wahlverwandten
Geister brachte dann das Jahr 1513, als Dürer mit den beiden Vertretern
der Stadt Nürnberg zum Augsburger Reichstage gesandt wurde. Schon am
28. Juni ließ sich Max von Dürer Porträtiren. Es entstand die geistreiche,
etwas unterlebensgroße Kohlenzeichnung in der Albertina, die den stolzen, edeln
Kopf Maximilians mit dem gewaltigen Nasenrücken, seine lachenden, etwas nach
abwärts blickenden Augen für alle Zeiten erhalten hat. Dürer selbst schrieb
rechts oben mit Tinte hin: „Das ist Keiser Maximilian, den hab ich Albrecht
Dürer zu Awgsburg hoch oben awff der pfaltz in seinem kleinen Stühle kunter-
fett, do man tzalt 1518 am montag nach Johannes tawffer." Auch diesmal
wollte Maximilian seinen Maler nicht mit leeren Händen abziehen lassen, er
wollte ihm 200 Gulden, die er aus der Nürnberger Stadtsteuer in Aussicht
hatte, zuwenden. Aber auch diesmal erhielt Dürer nichts, da der Rat wieder
Schwierigkeiten machte, und so blieb es bei der guten Absicht des freigebigen
Herrschers.
Ebenso erquickend wie sein Verhältnis zu Dürer waren seine Beziehungen
zu den übrigen von ihm beschäftigten Künstlern. Über sein Verhältnis zu Hans
Vurgkmair fehlen zwar bei dem Dunkel, das überhaupt noch über dem Leben
dieses Künstlers liegt, alle Nachrichten. Umsomehr wissen wir von seinen Be¬
ziehungen zu deu von ihm beschäftigten Druckern und Formschneidern.
Hans Schönsperger ist durch Kaiser Maximilian geradezu vom Untergänge
gerettet worden; zu wiederholten malen mußte sich der Kaiser seines Hofdruckers
annehmen. Nachdem Schönsperger im fünfzehnten Jahrhundert große Druck¬
werke herausgegeben hatte, mußte er im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts
seine regelmäßige Thätigkeit aufgeben, weil er in seinen Vermögensverhältnissen
zurückgegangen, in Prozesse verwickelt und verurteilt worden war, und im
Jahre 1509 war man nahe daran, ihn aus Augsburg auszuweisen. Da hat
der Kaiser in nicht weniger als drei Schreiben für diesen seinen „lieben Diener"
beim Rate der Stadt Fürsprache eingelegt. Nur dem Drucke des „Theuerdank"
hatte es Schönsperger zu verdanken, daß er wieder allmählich emporkam.
Sogar zu den Formschneidern, die er an seinen Werken beschäftigte, stand
Maximilian in persönlichen Beziehungen. Immer war er selbst mit thätig. Alle
neu angefertigten Zeichnungen und Holzstöcke mußten ihm eingeschickt werden,
damit er sich überzeugen konnte, ob durch den Schnitt die Feinheiten der Zeich¬
nungen nicht gelitten hatten. Verdrießlich wurde er nur, wenn die Formschneider
nicht ausschließlich für ihn arbeiteten, sondern Privatauftrage annahmen. Als
Dienccker einmal das Porträt Hans Baumgartners geschnitten hatte, mußte er
sich deswegen ausführlich in einem Briefe verteidigen. Und ganz erzürnt konnte
der Kaiser werden, wenn, wie es im Jahre 1518 einmal in Nürnberg vorkam,
von den für ihn gefertigten Holzstöcken vorzeitig Abdrücke gemacht und unter
die Leute gebracht wurden. Auf die Bezahlung hatten die Formschneider freilich
oft lauge zu warten. Im Jahre 1516 hatte Peutinger in Augsburg Mühe,
sie mit guten Worten weiter hinzuhalten. Immerhin sind sie zum größte» Teil
befriedigt worden. Wir ersehen aus einem Briefe Dieueckers, daß jeder Fvrm-
schncider jährlich ein Gehalt von 190 Gulden bezog, und wir erfahren ferner
aus einem Schreiben des Baseler Rates an den Kaiser,daß der Formschneidcr
Kupfcrwurm, welcher am „Theuerdank" gearbeitet hatte, im Jahre 1517 nur
noch 22 Gulden vom Kaiser zu bekommen hatte.
Unter den Gemälden, auf denen uns das Bild des Kaisers entgegentritt,
sieht Dürers 1506 gemaltes, im Prämoustrateuserstift Strahow in Prag be¬
wahrtes Rosenkranzfest obenan. In der Mitte sitzt Maria mit dein Christus
linde; dieses krönt den links knienden Julius II., Maria selbst den rechts
knienden jugendlichen Maximilian. Der Kaiser ist barhäuptig. Das lockige
Haar fällt lang auf Stirn und Schultern herab, er trägt den Orden des
goldenen Vließes, ein lauger Mantel bedeckt seine Gestalt, die Hände sind
gefaltet.
Auch ein Porträt Maximilians hat Dürer gemalt. Wir wissen von ihm
selbst, daß er, als er am 7. Juni 1521 ans seiner Reise durch die Niederlande
die Regentin Margarete besuchte, ihr ein von ihm gemaltes Bildnis ihres kaiser¬
lichen Vaters schenken wollte, es aber, da es ihr nicht gefiel, wieder mitnahm.
Dieses Bild ist uns aller Wahrscheinlichkeit nach in dem heute in der kaiserlichen
Galerie zu Wien aufbewahrten Ölbildnis des Kaisers erhalten. Es ist im
Jahre 1519 entstanden und nach der oben erwähnten Kohlenzeichnung gemalt.
Nur erscheint der Kaiser hier in halber Figur, die Haare sind ergraut, in der
linken Hand hält er den Granatapfel, das von ihm erkorene Symbol des
Überflusses. Der Mantel ist lackrot, der Kragen von Zobelpelz, der Hut von
schwarzem Sammet, das Medaillon auf der Krempe enthält ein Marienbild.
Auf dem tiefgrünen Grunde ist eine lange Inschrift, in Dürers Renaissance¬
kapitalen angebracht: ^otentissiwus maximus le inviotisÄums Laesar Ug,xi-
nulianus ani ounoto8 8ni tsmxoris rössss et xrinvix<Z8 iustioia xruÄöotiÄ IN^MÄ-
nimit^es udei-Alle^eg xrg.öoixnö vsro dsllio^ l^nah se animi kortiwäins super-
avit inen8 Mus salutis nuinMÄö UlüOLlü^IX als NMÜ IX vixit Mirv8
IlIX IX Üiö8 XXV asa?ö88it Vöro Äiwo NVXIX insnsi8 ^ÄNug-rii als
XII <Ma äkU8 oxt. ins-x. in numsrum vivsntium rskerrs vslit. Darunter
steht die Jahreszahl 1519 und Dürers Monogramm, Das Gemälde ist ziem¬
lich gut erhalten. Eine Kopie mit rotem Gewände in Wasserfarben befindet
sich im Germanischen Museum zu Nürnberg, eine andre in ö)l auf dem Rat¬
hause daselbst.
Unter den Zeichnungen nimmt Dürers 1518 in Augsburg entstandene, jetzt
in der Albertina in Wien bewahrte Kohlenzeichnung die erste Stelle ein.
Weiterhin tritt uns die Gestalt des Hcldenkaisers entgegen, wenn wir die
Augsburger Skizzenbücher des alten Vaters Holbein durchblättern. Eins der
besten Blätter ist „der groß tapfer Maximilian." Zu Pferd, beinahe ganz von
vorn, erblicken wir ihn, in langem Nock, mit Eisensande und großem Schwert,
einen Stab in der Rechten. So hat ihn der Künstler von weitem durch Augs¬
burgs Straßen cinherreiten sehen, die Gesichtszüge mir flüchtig angegeben und
mehr die Erscheinung im allgemeinen mit rascher Hand zu Papier gebracht.
Es ist nicht mehr der kühne ritterliche Abenteurer der Jugendzeit, sondern die
Haltung verrät bereits das Alter. So hat ihn die Reichsstadt Augsburg während
seiner letzten Lebensjahre gekannt. So sah er aus, als er im Jahre 1518 den
Augsburger Reichstag verließ und betrübt ausrief: „So leb denn Wohl, du
liebes Augsburg, wir habe» manchen frohen Mut in dir gehabt, nun werden
wir dich nicht mehr sehen!"
Sehr groß ist die Zahl der Holzschnitte. Da haben wir zunächst zwei
Dürerschc Blätter, die nach der Zeichnung von 1518 entworfen sind. Der eine
zeigt bloß zu Häupten des Bildnisses einen Schriftzettel mit den zwei Zeilen:
ImM'ator OavWr I)lor>8 Ng,ximiliimn8. Der andre giebt das Bildnis in reicher
Einfassung, zwischen zwei verzierten Säulen, auf deren Knäufen Greifen das
kaiserliche Wappen und die Abzeichen aus der Kette des goldene» Vließes halten.
Es ist eine Verherrlichung des Kaisers nach seinem Tode, daher unten die
Schrift: „Der Teur Fürst Kcchser Maximilicmus ist auf deu XII. tag des
Jeuuers Seins alters im llX. Jar seligklich von dyser zehe gescheuten ^uno
clomini 1S19."
Ähnliche Erinncrnngsblätter hatte auch Hans Burgkmcur zu liefern. Eins
stellt den Kaiser dar, wie er die Messe Hort. Im Vordergrunde steht der
Priester, im Hintergründe kniet Maximilian vor einem Kruzifix, oben sind
mehrere Wappen angebracht. Außer der Unterschrift, welche die Lebens- und
Regierungszeit Maximilians angiebt, enthalten einige Abdrücke noch ein acht-
zchnzeiliges Gedicht, das mit den Worten anhebt:
O Kaiser Maximilian
Dein lob ich nicht aussprechen kann.
Waa sindt man tems geleichen
Als die mit jr werhaftcn Hand
Bezwungen Hand viel lent und land
Die müssen dir all weichen —
und mit der Versicherung schließt:
Nach gottes car hat dich gedurft
Die is dir gctz behalte.
Ein zweites von Burgkmair entworfenes Gedenkblatt zerfällt in drei Abteilungen,
Auf der ersten sehen wir Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes,
auf der zweiten Maximilian, wie er krank auf dem Throne sitzt und sich von
einem Sekretär bei Kerzenlicht aus einem Buche vorlesen läßt, auf der dritten,
wie er in ein prächtiges Leichengewand gehüllt auf dem Totenbette liegt, wäh¬
rend Kanoniker Sterbelieder singen.
Noch um viele Nummern ließe sich die Zahl dieser Holzschnitte vermehren.
Nahm doch, wenn irgendwo auf einem Bilde oder einer Zeichnung ein Kaiser
darzustellen war, er immer unwillkürlich die Züge des alten Künstlcrfrenndes
Maximilian an. Als Ambrosius Holbein im Jahre 1517 den „Nollhard," eine
Komödie des Pamphilns Gengenbach, zu illustriren hatte, worin die Mächtigen
der Erde den Bruder Nollhard um die Zukunft befragen, gab er dem Kaiser
die Züge Maximilians, Als er 1519 Mnrners „Geuchmatt" illustrirte, worin
die Vertreter aller Stände, an der Spitze Papst und Kaiser, als Anbeter der
Venus einherziehen, mußte ebenfalls Maximilian mit seinem Narren Kurz von
der Rosen seine Dienste thun. Und selbst als der Kaiser längst tot war, lebte
er noch in der Phantasie der Künstler fort. Ich erinnere nur an das herrliche
Blatt aus Hans Holbeins Totentanz, wo der Tod dem Kaiser naht, der von
seinen Räten umgeben auf dem Throne sitzt und einen Armen vor seinein vor¬
nehmen Unterdrücker schützt. Der Kaiser mit der vom Alter gebeugten Haltung,
dem Schwert, dessen Spitze abgebrochen ist, und dem goldnen Vließ ist kein
beliebiger Märchenkaiser, nein, noch damals hat der vaterländische Sinn Hol¬
beins der Gestalt die Züge Maximilians verliehen.
Die Künstler dachten eben alle mit Liebe und Wehmut an Maximilian
zurück; sie stimmten alle mit Dürer überein, der beim Tode Maximilians in
sein Tagebuch einschrieb, daß „Kaiserliche Majestät ihm viel zu früh verschieden
sei." Sie fanden keinen Herrscher wieder, der so wie Kaiser Maximilian ihnen
günstig war. Auch die folgenden deutscheu Fürsten waren zwar nicht der Kunst
abhold, bewiesen im Gegenteil oft eine warme Kunstliebe. Es kamen die bairischen
Herzöge Albrecht V,, Wilhelm V. und Maximilian I., sowie die österreichischen
Fürsten Ferdinand, der zweite Sohn Kaiser Ferdinands I,, und Kaiser Rudolf.
Ihre Kunstliebe offenbarte sich aber weniger in der Förderung einer großen
schöpferischen Thätigkeit der Künstler, als in eifriger Sammellust, in der Anlage
von Kunstbiichern und Kunstkammern, bei deren Zusammenstellung gewöhnlich
auf den Erwerb von Seltenheiten mehr Gewicht gelegt wurde als auf künst¬
lerischen Wert. So konnten zwar Knnstkammern wie die des Herzogs Albrecht
von Baiern und die Ambraser Sammlung entstehen, aber der eigentliche!? freien
Kunst kam die Kunstliebe dieser Fürsten wenig zu Gute. Maximilian I. war der
einzige deutsche Kaiser, der die Kunst der Renaissance mit Teilnahme pflegte,
nicht nur Sammeleifer entwickelte, sondern wirklich thatkräftig in den Entwick¬
lungsgang der deutschen Kunst eingriff. Deshalb wird ihm mich die Kunst¬
geschichte stets eine dankbare Erinnerung bewahren.
le wichtigste politische Frage für England und Frankreich ist
augenblicklich wieder Ägypten. Seit den letzten Tagen des ver¬
flossenen Jahres hat sich die Lage dort zu einer Krisis entwickelt,
die bis auf die neuesten Nachrichten schwere Bedenken erweckte.
Der Aufstand im Sudan und die Erfolge des Mcchdi hatten die
ganze Schwäche der Regierung Tewfiks gezeigt, England befolgte als Protektor
derselben eine Politik der Halbheiten und des Zcmderns, Frankreich begann
zu intriguiren, um seine frühere Stellung am Nil wieder zu gewinnen. Vom
französischen Generalkonsul angeregt, faßte sich das ägyptische Ministerium am
2. Januar ein Herz und richtete an das englische Kabinet eine Note, in welcher
mit Nachdruck die Forderung ausgesprochen wurde, die Engländer möchten ohne
Verzug die Verteidigung des Sudan gegen das Heer des falschen Propheten
übernehmen, oder dem Chedive die Erlaubnis geben, das östliche Sudan, d. h. den
Landesteil zwischen Suakin und Massaua einerseits und dem obern Nil andrer¬
seits, der Pforte abzutreten. Dann werde Ägypten, so fuhr das Schriftstück
fort, imstande sein, sich im Bereiche seiner alten Grenzen auch ohne englischen
Beistand zu verteidigen. Zum Schlüsse wurde für den Fall einer Ablehnung
des Verlangens gedroht, der Chedive und seine Räte würden die Regierung
niederlegen und sie den Engländern überlassen. Nachdem sich der Ministerrat in
London zwei Tage hindurch mit der Sache beschäftigt hatte, erhielt der britische
Generalkonsul in Kairo die Weisung, dort zu erklären, England habe nichts
gegen die beabsichtigte Gebietsabtretung einzuwenden, falls die Pforte die Wieder-
eroberung der betreffenden Provinzen auf eigne Kosten übernähme und sie,
ohne Ägypten zu betreten, von der Küste des Roten Meeres aus versuchte. Damit
verband der Vertreter Gladstones den Rat, die ägyptischen Soldaten aus dem
Sudan zunickzuziehen und das Nilthal nur bis Wadi Halfa (in Nubien, an der
zweiten Stromschnelle des Nil) festzuhalten. Dieser „Rat" erregte in Kairo
große Bestürzung und lebhaften Widerspruch. Er war natürlich ein Befehl,
aber wenn er Ersparnis von Menschenleben und Geld für eine Regierung mit
einer enthusiastischen Armee und einem leeren Schatze bedeutete, so hatte er doch
auch eine sehr beachtenswerte andre Seite, nicht bloß für den Chedive und seine
Minister, sondern auch für England und Frankreich, desgleichen für die Türkei.
Der Sudan enthält Elemente, die einer reichen Entwicklung fähig sind. Die
wandernden Araber, welche die größere Hälfte seiner Bevölkerung bilden, sind
nur aus Not, nicht aus Liebhaberei Nomaden. Sie würden, wenn das Land
besser bewässert wäre, seßhaft werden und Ackerbau treiben. Wenige Gegenden
eignen sich für den Anbau von Baumwolle so gut wie diese Provinzen. Der
Boden ist überaus fett und fruchtbar, das Klima vortrefflich geeignet, weil es
durch die Trockenheit der Luft das Reifen und Einsammeln der Wolle begünstigt.
Dieselbe kann ohne Gefahr irgendwelcher Störung durch Regen getrocknet, ge¬
reinigt und verpackt werden, und gäbe es eine Eisenbahn von Berber nach
Snakin, so könnte sie in drei Wochen nach der Ernte auf die europäischen
Märkte befördert werden. Das Land eignet sich ferner für Weizen. Was
werden die Folgen einer Preisgebung des Sudan sein? Die ganze weite Fläche,
die von so vielen verschiednen Stämmen bewohnt ist, wird in vollständige Barbarei
zurückvcrsiukeu, ein unaufhörlicher Bürgerkrieg wird wüten, der Anbau des Bodens
wird unterbrochen, der Handel dein Untergange entgegengeführt werden, nnr der
Kauf und Verkauf von Sklaven wird blühen. Die eintretende Anarchie muß
auf Ägypten zurückwirken, moralisch und Physisch. Es giebt in Chartum einen
Nilmesser und eine Telegraphcnstativn, die jeden Tag die Höhe des Nil nach
Kairo meldet und so während der Überschwemmnngspcriode die Regierung
über die herannahende Flut rechtzeitig in Kenntnis setzt, sodaß man in Mittcl-
uud Unterägypten durch Erhöhung und Verstärkung der Dämme die nötigen
Vorkehrungen treffen kann, um einem Einbrüche Halt zu gebieten, der früher
die fruchtbarsten Provinzen des Landes verwüstete. Den Sudan aufgeben, heißt
Ägypten dieses augenfälligsten Beistandes berauben, den die moderne Wissenschaft
der alten Bevölkerung im Kampfe mit der Natur leistet. Dazu kommen aber
noch moralische Schädigungen. Wenn Ägypten die ihm von England angeratene
Nückzugspolitik verfolgt, so muß es im Innern und nach außen hin erheblich
an Ansehen verlieren. Zunächst wird jedermann wissen, daß es von England
dazu genötigt worden ist. Sodann mag man dem Vorrücken des Mahdi dnrch
Befestigung der Pässe bei Wadi Halsa ein Ziel setzen; das Vordringen des
religiösen Fanatismus aus dem Lager des siegreichen Propheten über diese
Grenzstadt hinaus bis nach Unterägypten wird man nicht hindern können.
Diese Rücksichten bewogen das Ministerium Scherif Pascha, lieber zurück¬
zutreten, als die Verantwortlichkeit für die Räumung des Sudan zu übernehmen.
Der Chedive konnte sagen, vermutlich hätte über kurz oder lang ein Zufall ihm
aus der Verlegenheit geholfen. Die mvrgenlündischen Regierungen huldigen
in ihren Noten immer dem Grundsätze: „Es wird sich schon ein Ausweg finden,
also warten wir." Und in der That konnte der Mahdi eines Tages in der
geheimnisvollen und plötzlichen Weise verschwinden, welche die persönliche Politik
des Orients charakterisirt. Er ist kein Volk und keine Negierung, sondern ein
einzelner Mann, der eine Idee vertritt, die mit seinem Tode untergehen könnte.
Es wäre möglich, daß er von einem Muslim, der nicht an seine Sendung
glaubte, getötet würde, ein Preis auf seinem Kopf gesetzt, könnte ihm einen
verräterischen Dolchstoß oder eine Tasse Kaffee zuziehen, die ihm nicht bekäme.
Alle diese Möglichkeiten konnten einem muhamedanischen Fürsten vor Augen
stehen, der mit einem religiösen Prätendenten zu thun hatte. Verwirklicht sich
keine davon, so muß England, das ihm den Säbel aus der Hand genommen
hat, für ihn eintreten: die Londoner Negierung ist mit andern Worten ver¬
pflichtet, dein Chedive, den sie durch ihren Befehl zum Aufgeben von drei
Vierteln seines Reiches gezwungen hat, den Besitz des letzten Viertels sicher¬
zustellen. Das Gegenteil hiervon, ein ungeschütztes und unkontrolirtes Ägypten,
wäre eine unerhörte und durch nichts zu verteidigende Thatsache.
Erfüllt also England nur seine Pflicht, wenn es Ägypten aus der schweren
Verlegenheit heraushilft, in die es Arabi, die britische Einmischung und Tel
El Kabir, der Mahdi und das Verbot, ihn im Sudan weiter zu bekämpfen,
gebracht haben, so wird das politische Chaos, das jetzt dort herrscht, wenigstens
eine gute Folge haben. Das eigentliche Ägypten wird in kurzer Zeit von der
Unterdrückung, die seit unvordenklichen Zeiten auf seiner Bevölkerung lastet,
befreit werden, wenn England dort gebietet. Mittlerweile ist die Entfernung
aller Behörden aus dem Sudan eine sehr ernste Sache. Chartum, das auf¬
gegeben werden soll, ist ein wichtiger Punkt für den Handel, dessen Einfuhr
und Ausfuhr fortwährend gewachsen ist. Gäbe es zwischen Suakin und Berber
eine Eisenbahn, so hätte es selbst ein ägyptisches Heer leicht halten können.
Natürlich begreift sich die Versuchung, die Gladstone empfand, den Chedive zum
Aufgeben der abgelegenen und gegenwärtig kostspieligen Provinz zu nötigen,
vom rein englischen Standpunkte sehr wohl. Will England Ägypten nehmen,
so kann es ihm ohne den Sudan angenehmer erscheinen. Zwischen dem eigent¬
lichen Ägypten und dem Sudan erstreckt sich eine Wüste, welche das von Trans¬
portmitteln entblößte Heer des Mahdi nicht rasch durchschreiten kann, und die
englischen Minister glauben ohne Zweifel, daß ein fünfzig Meilen breiter Sand¬
streifen einen guten Sanitätskordon abgeben wird, wenn es gilt, die Ansteckung
der religiösen Schwärmerei aufzuhalten. Vom internationalen Standpunkte
aus betrachtet, sieht die Sache aber doch etwas anders aus. Die französischen
Staatsmänner können nicht ohne Grund behaupten, daß England kein Recht
habe, seinen Einfluß in Kairo zur Schädigung der Interessen Frankreichs in
Nordafrika zu benutzen. Der Mcchdi ist, weil seine Macht sich auf die Religion
gründet, eine ernste Gefahr für Tunis. Vou jeder Befürchtung eines Angriffs
vonseiten Ägyptens befreit, kaun er oder ein Nachahmer feines Auftretens
die neue Provinz für die Franzosen recht unbequem machen, und diese könnten
dann sagen: „Wenn ihr Engländer den Ägyptern erlaubt hättet, den fälschen
Propheten niederzuwerfen, so würde uns diese Gefahr und diese Ausgabe erspart
geblieben sein." Auch die Pforte muß mit starken Befürchtungen auf den nun
unbehelligt bleibenden Mcchdi blicken. England will eine vttomauische Ein¬
mischung auf ottomcmische Kosten gestatten, aber der Sultan kaun hiergegen
geltend machen, daß, wenn sein Vasall im Sudan sich nach Englands Willen
zurückziehen muß, der Islam dort mit auf den Rücken gebundener rechter Hand
kämpfen wird. Die türkischen Politiker können behaupten, das sei nur ein neues
Glied in der Kette christlicher und besonders englischer Manöver, deren Ägypten
alle seine jetzigen Plagen verdanke. Es waren die Westmächte, welche die
Pforte zwangen, Ismail abzusetzen, eiuen starken Herrscher, der Arabi und den
Mcchdi unschädlich gemacht hätte, ehe sie gefährlich geworden wären. England
trat der Türkei drohend entgegen, als der Sultan Arabi einzuschränken ver¬
suchte. Lord Dufferin wollte 1882 keinen türkischen Soldaten in Ägypten
landen lassen, bevor nicht die englischen Bedingungen angenommen seien. Hätte
man den Einfluß des Kalifen vou Anfang an Ägypten und den Sudan durch-
dringen lassen, so hätte mau Ismail nicht abzusetzen brauchen, Arabi würde
sich nicht empört haben, und der Mcchdi wäre mühelos niedergeschlagen worden.
Diese Anschauung der Türken ist wahr, wenn anch nicht die ganze Wahrheit.
England entschloß sich aus Gründen, die in der Hauptsache auf Gladstones
Vorurteil gegen die Pforte hinausliefen, Ägypten nicht zu erlauben, wieder
türkische Provinz zu werden. Seine Weigerung gegenüber der Absicht des
Sultans, Ägypten zu retten, schließt Pflichten ein. Nachdem es der Pforte
den Weg vertreten, muß es die Verantwortlichkeit selbst übernehmen und Ägypten
schützen, das es so eifersüchtig sich selbst gewahrt hat. Und die Schwierigkeiten
für die Pforte haben hiermit noch kein Ende. Abgesehen davon, daß es an
dem für einen Feldzug nach dem Sudan erforderlichen Gelde fehlt, erhebt sich
die Frage, ob Frankreich ein solches Umsichgreifen der Türken in diesem Teile
Afrikas dulden würde. Seit 1840 war es dessen Bestreben, den Sultan, den
Kalifen von allen durch ihre geographische Lage oder durch die Religion mit
Algerien verknüpften Ländern fernzuhalten, und die halbe Unabhängigkeit
Ägyptens war ursprünglich eine Pariser Erfindung. Würde Frankreich es gern
sehen, wenn die Türkei jetzt einen Teil ihrer früheren Gewalt über das Nil¬
thal wiedererlangte?
Einige Tage lang herrschte infolge dieser Betrachtungen in England viel
Beunruhigung und Beklommenheit. Da kam aus Kairo angenehme Kunde.
Nubar Pascha, einer der geschicktesten Staatsmänner des Orients, hatte die
Bildung eines neuen Ministeriums übernommen, und damit war in Kairo ein
entschiedener Umschwung eingetreten. Nubar, von Geburt ein Armenier, ist
ein Vertreter der Interessen Englands, dem er durch seine Erziehung und seine
Neigungen angehört, er sieht das Heil Ägyptens im Anschluß an ein britisches
Protektorat. In Frankreich wird seine Ernennung zum Premierminister übel
empfunden worden sein. Die Franzosen sind ferner entrüstet über den jetzt
sicheren und bereits angeordneten Rückzug der Ägypter aus den Südprovinzen
des Reiches des Chedive. Wenn sich das begreift, so ist es ein Irrtum, wenn
die französische Presse behauptet, dieses Aufgeben des Sudan sei Folge der
Beseitigung der gemeinschaftlichen Kontrole Frankreichs und Englands über
Ägypten. Im Gegenteil, die dualistische Kontrole war die Wurzel der jetzigen
Krisis. Arabis Erhebung fand unter den Augen der französischen und britischen
Beamten statt, die zu jener Zeit das Land mit weitreichenden finanziellen und
administrativen Befugnissen regierten, aber, gelähmt durch gegenseitige Eifersucht
und durch die in Paris damals herrschende Ängstlichkeit, nichts gegen den
Rebellen zu thun wagten. Bekannt ist ferner, daß Arabi durch französische
Intriguen ermutigt wurde, und daß Lesseps mit ihm kokettirte und ihm so
lange französischen Beistand versprach, bis die englischen Kriegsschiffe vor
Jsmailia erschienen. Auch die Thatsache gehört hierher, daß die französischen
Dampfer die Rhede von Alexandrien verließen, als der britische Admiral sich
zur Beschießung der Stadt anschickte. Das waren die Ergebnisse der Doppel-
kontrole, welche die Pariser Presse jetzt wiederkehren zu sehen hofft, auf deren
Wiederaufrichtung aber kein englisches Ministerium eingehen kann, das am
Staatsruder bleiben will. Eine europäische Einmischung, ein Feldzug der
Türken nach dem Sudan, ein unabhängiges Ägypten, wenn ein solches möglich
wäre — alles würde die öffentliche Meinung in England einer Wiederzulassung
der Franzosen zur Mitregierung am Nile vorziehen.
Eine neue Verlegenheit würde entstehen, wenn Frankreich auf den Ge¬
danken käme, sich Snakins zu bemächtigen und es zum Ausgangspunkte von
Operationen gegen den Mahdi zu machen. Das ließe sich nicht wohl ohne
eine Verständigung mit der Pforte bewerkstelligen, und diese würde sich schwerlich
dazu verstehen, sich christlicher Truppen zur Bekämpfung einer ausländischen
Bevölkerung zu bedienen. Das Zögern des Sultans, sich mit England gegen
Arabi zu verbinden, war zum großen Teil auf das natürliche Gefühl eines
weltlichen Herrschers zurückzuführen, der zugleich Kauf, geistliches Haupt der
Gläubigen war. Überwände Frankreich dieses Hindernis und bemächtigte es
sich Snakins, nachdem England es fallen gelassen, so würde das für England
ernste Folgen haben. Die nächste Straße nach Indien würde durch einen fran-
zösischen Hafen am Roten Meere gefährdet sein, und es ist nicht anzunehmen,
daß Gladstone so thöricht sein wird, die Seepforte Oberäghptens aufzugeben.
Es steht vielmehr zu erwarten, daß britische Kriegsdampfer trotz der Räumung
des Sudan dort fortfahren werden, Wache zu halten. Schon die Interessen
der Menschlichkeit fordern das; denn in Chartum befinden sich Tausende von
Europäern, und der Weg von Berber nach Suakin ist der kürzeste für ihren
Abzug. Es ist ferner möglich, daß England als Schutzmacht Ägyptens einmal
imstande sein wird, mit dem Mahdi in Verhandlungen zu treten. Entwickelt
er Stärke und zeigt er sich menschlich, so wird seine Herrschaft über Darfur
und die Wüste besser sein als die Anarchie, welche nach Entfernung der ägyp¬
tischen Behörden eintreten und das Land verwüsten würde. Besitzt er ebenso¬
wohl politischen als religiösen Ehrgeiz, so kann er es in seinem Interesse finden,
sich mit den Engländern über den Frieden zu verständigen und dann eine
neue Herrschaft und Dynastie in Nordafrikas Hinterkante gründen. Das würde
verdrießlich für den Sultan und eine Bedrohung der französischen Kolonien
Tunis und Algerien sein. Aber England hat darauf nicht Rücksicht zu nehmen,
und Frankreich wird nicht leicht daran denken, seine Regimenter und sein Geld
zur Eroberung eines schwer zugänglichen Landes zu verwende», wo ein Schwarm
eingeborner Krieger, ähnlich dem Flugsande seiner Wüsten, heute vordringt,
Halt macht und kämpft und morgen sich verflüchtigt und verschwindet. Frank¬
reich hat in Algerien diese Art Arbeit genügend kennen gelernt und wird sich
hüten. Die Türkei aber kann alleinstehend noch viel weniger an die Bewältigung
der Aufgabe denken, den Mahdi niederzuwerfen.
Diese Hilflosigkeit angesichts des letzten Entschlusses der englische» Regierung
trägt natürlich dazu bei, den in Paris herrschenden Unmut über die Sache zu seel^
gern. Man schilt die britischen Minister dort selbstsüchtige Politiker, gleichgiltig
gegen das Interesse Europas, unbekümmert um den Fortschritt der Zivilisation.
Der witzige Charmes sagt: „England ist mir ein langer, dürrer, knochiger, alter
Hagestolz, der sich beim Annähen eines Knopfes an seine Hosen eines Fadens
bedient, der um den ganzen Erdball gewickelt ist. Er schneidet den Zwirn,
wenn er mit seiner Arbeit fertig ist, gelassen ab und läßt die Welt in den
Abgrund fallen." Es liegt gewiß etwas wahres in diesen Anschuldigungen,
aber wenn nicht die ernsten Fragen wegen Chartums und Suakins wären, könnte
man sie in London mit Gleichmut anhören. Andre Völker sind, so könnte
man damit antworten, auch nicht gewohnt, wenn sie Eroberungen gemacht
haben, sich als Vorkämpfer der Zivilisation aufzuspielen. Wenn z. B. die
Franzosen Tonkin und Stücke von Madagaskar erwerben, so werden sie Zölle
einrichten und den Handel sich zu sichern versuchen. Am Kongo sind sie darüber
her, ein internationales Unternehmen in ein französisches Projekt zu verwandeln.
Der Suezkanal ist in allen Zweigen seiner Verwaltung französisch geblieben.
Verständige Leute tadeln Frankreich nicht, wenn es sich weigert, den Interessen
der Zivilisation auf Kosten seiner eignen zu dienen, andrerseits ist es aber auch
abgeschmackt, wenn dessen Presse Gladstone verhöhnt, weil er sich nicht herbei¬
lassen will, in philanthropischen Eifer den Sudan wiederzuerobern und so
zugleich Frankreich vor Gefahren in Tunis und Algerien zu bewahren.
Gegen deu Entschluß Englands. den Sudan aufzugeben, ist also vom
Standpunkte der politischen Moral mit Fug nichts einzuwenden. An der
Grenze bei Wadi Half« und Succkin, sowie in Kairo erfordert die Lage das
Eingreife» und deu Beistand Englands entschieden. Eine große Anzahl Ein-
geborner zögert, den Engländern Hilfe zu leisten, weil sie fürchten, dieselben
könnten bald ganz Ägypten räumen und sie dem Hasse ihrer Landsleute über¬
lassen. „Je mehr wir von Abzug sprechen, bemerkt mit Recht der van^
?6logrg,M, desto mehr verewigen wir dieselbe Anarchie, welche aus Einmengung
ohne Befugnis und amtlichen Auftreten ohne Macht entsteht. Wenn je die
Zeit kommen sollte, wo man Ägypten ans die eignen Füße stellen kann, so
muß sie jetzt durch furchtlosen- Beginn einer festbestimmten Periode britischer
Herrschaft kommen, welche die obern Klassen an ihre Pflichten und die unterm
an ihre Rechte gewöhnt. Wir müssen hinfort das Land viele Jahre lang fest¬
halten und können es erst dann sich selbst überlassen, wenn wir das Volk zu
ehrlichem und selbständigem Leben herangebildet haben. ... Der Amtsantritt
Nubar Paschas ist ein Zeichen, daß man dies endlich begriffen hat; denn er
ist ein Mann, der sich nicht leicht täuschen läßt, und er würde die schwierige
Aufgabe der Verwaltung nicht übernommen haben, wenn er nicht überzeugt
wäre, daß die Zeit der halben Maßregeln auf feiten des Kabinets Gladstone
in Betreff Ägyptens zu Ende ist.... Nubar Pascha darf übrigens nicht als
bloßer britischer Agent angesehen werden.... Er wird die englischen Ideen ge¬
treulich unterstützen, weil er weiß, daß die Hoffnung auf ein gedeihlich sich ent¬
wickelndes und unabhängiges Ägypten auf ihnen beruht. Nachdem er indeß
durch eine verzweifelte Operation politischer Chirurgie die größere Hälfte
des Gebietes Tewfiks abgeschnitten hat und ihm passende Mitarbeiter ge¬
geben sind, ist es die erste Pflicht unsrer Regierung, dem Chedivc und dem
neuen Premier bereitwilligst Unterstützung zu gewähren----Es war ein be¬
dauernswerter Irrtum, daß Lord Dufferins Reformen sich in einem halben
Jahre durch etliche leichtherzige Kairener würden ausführen lassen, die nicht an
sie glaubten. Der falsche Prophet hat uns den vortrefflichen Dienst geleistet,
die rosenfarbenen Hoffnungen in Betreff dieses Kapitels hinwegzufegen, und jetzt
kann das Kabinet ohne Illusionen von frischem anfangen und sich vor Europa
an die vollkommen mögliche und nur uns und keinem andern zukommende
Aufgabe machen, gründlich Ordnung in Ägypten zu schaffen und es für eine
Zukunft glücklicher und starker Selbständigkeit vorzubereiten. In unsre Pflicht
gegenüber dem Chedive darf sich fortan kein Streben nach Ausflickuug eines
zerrissenen politischen Systems und keine Furcht vor Frankreich mischen----
Die Wohlthaten, die wir ihm und seinem Lande erweisen, werden Europa und
der Zivilisation zu Gute kommen. Einverleibung ist ebenso unmöglich als
Rückzug.... Die Hälfte der Schwierigkeiten der Lage ist mit der einfachen That¬
sache verschwunden, daß man in London das System der Halbheiten fallen
lassen und ebenso wie unsre Rechte am Nil auch die Verantwortlichkeit über¬
nommen hat."
Die andre Hälfte jener Schwierigkeiten ist indes so beträchtlich, daß es
viel Verstand und Glück erfordern wird, sie zu überwinden. Man hat den
Sudan aufgegeben, aber wie wird man herauskommen? Ein Verwandter des
Mahdi, der zu Esneh verhaftet wurde, berichtet, daß er die Austreibung aller
Fremden aus dem Nilthale beabsichtige. Wird er sich mit der Räumung Chartums
zufriedeugebeu, wo jetzt sei» Ansehen durch die von England befohlene Aufgebung
des Sudan so ungeheuer gestiegen ist? Seine Vortruppen stehen gegenwärtig
schon in Duem. Wie, wenn sie zur Belagerung Chartnms schreiten? Und wenn
vorher der Rückzug über das Nilthal oder über Suakin angeordnet wird, wird der
Prophet ihn den ägyptischen Truppen gestatten, und was wird aus den friedlichen
Bewohnern der Stadt mit ihren 35000 Seelen, was wird aus ihrem
unter Konsulatsflaggen stehenden Eigentum«, aus den Frauen und Kindern
werden? Chartum enthält Waren und Vorräte genug, um den Mahdi auf zwei
Jahre mit allem Erforderlichen auszustatten — will man ihm diese überlassen?
Was soll ferner mit den Garnisonen von Sinkat und Tockar geschehen? Will
man sie preisgeben und niedermetzeln lassen, wenn sie, vom Hunger gezwungen,
die Waffen strecken? In allen diesen Fragen ist man, wie es scheint,
auf die Barmherzigkeit des prophetischen Zimmermanns aus Dongola
angewiesen, dem man ein großes afrikanisches Reich zugeworfen hat. Zu
den Schwierigkeiten eines höchst gefährlichen Rückzuges nilabwärts oder nach
dem Roten Meere hin tritt die bedenkliche und sich stets rasch weiter aus¬
breitende Wirkung, welche die Veröffentlichung des Verzichts auf den Sudan
auf dessen arabische und Negerbevölkernng und auf die ganze Welt des Islam
üben muß. Der Mahdi kann sich jetzt still verhalten, sein Ruhm wird nach
Norden, Süden, Osten und Westen dringen und alle mißvergnügten Elemente
im Orient und in Afrika in Aufregung und Gährung versetzen. In den Kaffee¬
häusern Syriens und Arabiens und in den indischen Bazaren, überall, wohin
Karawanen gehen, wo Kaufleute plaudern und Wanderderwische betteln, breitet
sich die Kunde aus, daß „ein englischer General" mit seiner Armee bei El Obeid
von rechtgläubigen Wüstcnkriegern zusammengchauen worden ist, und daß die
christlichen Schutzherren des Chedive sich sofort entschlossen haben, das Nilthal
von Gondokoro bis zum „steinernen Bauche" zu räumen. England wird sich
auf die vielen und verhängnisvollen Echos dieser Unhcilskunde gefaßt machen,
die im Morgenlande herumgehen werden, und es kann sich wohl die Frage vor¬
legen, ob es nicht praktischer gewesen wäre, mit Ägypten vereint dem falschen
Propheten entgegenzutreten und ihn zu vernichten, als seine Bedeutung in so
bedenklicher Weise anzuerkennen und verkünden zu lassen. Indes läßt sich
Geschehenes nicht ungeschehen machen, und es ist zu spät, bei solchen Be¬
trachtungen zu verweile». Das nächste, was zu thun sein wird, ist, sobald als
möglich mit dem Eroberer aus Dongola zu verhandeln, den man aus einem
fanatischen Prätendenten in einen Potentaten verwandelt hat. Er könnte sich
zu dankenswerten Bedingungen hinsichtlich des Rückzugs der Truppen aus Sinkat,
Tvckar und Chartum verstehen und den Engländern und Ägyptern die kost¬
spielige Anlage voll Befestigungen in Wadi Halfa oder Assuan ersparen, die
sich überdies wahrscheinlich umgehen lassen würden. Es heißt, daß eine Militär-
kommissivn unter dem Vorsitze des englischen Generals Wood über die beste
Art und Weise der Räumung des Sudan beraten soll, und man nimmt an,
daß der Abzug aller ägyptischen Truppe« aus den äqnatorischen Provinzen
etwa ein Jahr in Anspruch nehmen werde. Dies zeigt, daß man gut gethan
hätte, den Entschluß der Räumung Chartums nicht so laut werde» zu lassen,
daß er dem Mahdi zu Ohren komme» und auf die ganze muyamedcmische
Welt wirken mußte. Wenn die Ägypter ein ganzes Jahr lang sich aus dem
Sudan herausdampfen müssen, so hätte man mit der Veröffentlichung des
Verzichts bis zum Ausgange des Kampfes warten können. Aber es giebt in
der Geschichte Mißgriffe, die man ihrer glücklichen Folgen wegen verzeiht, »ut
so wird die Zurückstoßung von Darfur, Kordofan und den übrigen Gebieten
des Süden in die Barbarei Herrn Gladstone vom englischen Standpunkte aus
verziehen werden, weil der „Rat," zu deutsch: der Befehl, dazu der erste Akt
eines nunmehr eingestandenen, nicht mehr verhüllten Protektorats Englands über
Ägypten war.
le Wissen es nicht? rief Hermione. Und doch wollen Sie sich
über den Willen meiner Mutter stellen! Wenn man erfährt,
daß wir uns heimlich hier getroffen, ist mein Ruf kompromit-
tirt, Ihnen verschlägt es wenig, ob man Ihnen nachsagt, Sie
gingen auf Abenteuer aus. Sie dürfen ja nicht nach Ihrer
Neigung wählen. Aber ein Mädchen mit kompromittirtem Rufe ist wie ein
schadhaft gewordenes Glas. Für wen ist es noch gut genug?
Sie haben Recht, erwiederte der Prinz, und doch kann ich Sie nicht loslassen;
ich laenis nicht. El was, richtete er sich plötzlich auf und griff nach dem Bügel
seines neben ihm stehenden Rosses, kommen Sie! Die Sonne ist hinab. Von
hier aus haben wir unabsehbaren Wald. Mein Hengst trägt uns in drei Stunden
über die Grenze. Ich reiße einen breiten Graben zwischen mir und den Meinigen
auf. Man wird mich in die Acht erklären. Gleichviel, wir haben uns, wir
haben uns fürs Leben! Und mit kräftigem Arm zog er die vergebens angstvoll
Widerstrebende zu sich in den Sattel empor. Fort ging es.
Gott! Gott! rief Hermione, fast betäubt vor Verwirrung, Schreck und
leidenschaftlicher Erregung, denn das anfangs wild gewordene Roß begann seinem
Herrn zu gehorche», der tolle Ritt ging sausend über Stock und Stein, die
Funken sprühten, der weiße Schaum flog in Flocken umher, vom Wiehern des
lustig dahinjagenden Hengstes hallte der dichter und immer dichter werdende
Wald unheimlich wieder, und die Bäume wichen in immer sich steigernder Ge¬
schwindigkeit zurück. Und nochmals rief sie: Gott! Gott! Sie fühlte sich einer
Ohnmacht nahe. Erbarmen, Hoheit! Gnade! O wie Sie schlecht sind!
Damit schwanden ihr die Sinne.
Prinz Ottokar, zuerst mit dem Tiere vollauf beschäftigt, hatte nicht beachtet,
was sie rief; aber nun das Pferd fügsamer geworden war, verkürzte er den
Zügel, denn die Worte der Genngstigten kamen seinem Bewußtsein zurück. Wie
ich schlecht bin? fragte er, und erst jetzt bemerkend, daß die in seinem Arm
Ruhende die Besinnung verloren hatte, verkürzte er den Zügel noch mehr und
brachte das Pferd allmählich in ein minder ungestümes Tempo.
Sein Blut begann sich abzukühlen. Wie ich schlecht bin? wiederholte er.
Hermione, wachen Sie auf! Bin ich schlecht? Will ich nicht im Gegenteil Ihnen
zu Liebe alles opfern? Er zog die Regungslose an seine Brust und beugte sich
über ihre bleichen Lippen. Wachen Sie auf, wache auf, Geliebte! rief er; nimm
das böse Wort zurück! Sage mir, daß auch du fürs ganze Leben mir, einzig
mir gehören willst. Sieh, mein Pferd geht jetzt fast im Schritt. Ich entführe
dich nicht mit Gewalt. Ich küsse dich, damit du erwachest. Ich bin dein Arzt,
dein Freund, dein Beschützer. Schlage die lieben, himmlischen Augen auf! Sage
mir, daß du in meinen Armen gern und frohen Herzens ruhst! Laß mich um
deinetwillen die ganze Welt vergessen, und vergiß mir zu Liebe auch du sie!
Es dauerte lange, ehe die Ohnmächtige nur erst wieder mit den Wimpern
zuckte, und das Pferd hatte das flüchtige Paar tief in den Wald hineingetragen,
bevor dem Prinzen auf seine Fragen Antwort wurde. Besorgt um den unheim¬
lichen Zustand, in den sein Ungestüm das junge Mädchen versetzt hatte, hielt
der Prinz an einer Quelle an, hob die schöne Bewußtlose behutsam vom Pferde,
legte sie in einer nahen Lichtung auf den Rasen nieder und trug dann in hohler
Hand solange Wasser herbei und netzte damit die Stirn Hermionens, bis endlich
ihre Besinnung zurückkehrte.
Was haben Sie gethan? waren ihre ersten Worte. Hoheit, Sie sind ent¬
setzlich! Wo ist meine Mutter? Wo ist mein Haus? Sie haben kein Recht, mich
gefangen zu halten. Ich will fort. Lassen Sie mich! Zu Hilfe! Zu Hilfe!
Mit Mühe brachte der Prinz sie dahin, ihn ruhig anzuhören. Hermionens
Thränen flössen. Sie wurde sanfter. Sie nahm zurück, was sie über ihn gesagt
hatte. An seinem Arm richtete sie sich auf. Haben Sie mich geküßt? fragte sie
ihn vorwurfsvoll. Sie hatte es noch gestern zu verhindern gewußt. Räuber!
zürnte sie, als er mit neuen Küssen ihr antwortete; Räuber! wiederholte sie,
arger Räuber! Was machen Sie aus mir! Aber es klang schon wie die süßeste
Schmeichelrede.
In Wahrheit: wer Hütte dem Prinzen Ottokar widerstehen können? Selbst
wenn er minder schön gewesen wäre, hätte die sein ganzes Wesen erfüllende
Mischung von Treuherzigkeit und Empfiiidungsüberschwang ihm jedes Herz öffnen
müssen. Er war kein berechnender Don Inca. Alle seine Impulse waren echt,
überwältigten ihn selbst, hatten etwas tropisch Elementares, waren mit der
nämlichen Glut, wie hier auf erotischem Gebiete, oft schon in politischen Krisen
glänzend zum Durchbruch gekommen, hatten ihn längst zum Liebling des ganzen
Landes gemacht. Ihn,, dem Abgott aller, wurde jede Thorheit willig verziehen.
War er nicht die Herzensgüte selbst? Hatte er jemals ein menschliches Wesen
geflissentlich gekränkt? Wcir je ein Bittender von ihm abgewiesen worden?
War er nicht freisinnig, unzeremoniös, herablassend? War er nicht so brav
und tapfer wie je einer seines erlauchten Geschlechtes gewesen sein konnte?
Freilich, was änderte das an der Aussichtslosigkeit des Abenteuers, in
welches sein heißes Blut Fräulein von Mockritz verstrickt hatte?
Während sie an seinem Arm auf dem weichen, duftigen Nadelteppich im
kühlen Schatten der flüsternden Kiefern und Fichten auf und abwandelte, seine
Vertraulichkeiten mit Worten abwehrend und doch ihnen immer von neuem Ver¬
zeihung angedeihen lassend, seinen romantischen Plänen mit Kopsschütteln be¬
gegnend und ihnen doch bei jedem Blicke, den er von ihr erhaschte, durch das
aufblitzende Feuer ihrer Augen immer neue, reizvolle Beleuchtung gebend, wäh¬
rend dessen ging dennoch allmählich das, was auch bei ihr leidenschaftliche Er¬
regung gewesen war, in eine gedämpftere Gemütsverfassung über, und sie begann
sich darüber klar zu werden, daß sie auf dem Punkte gewesen war, eine große
Thorheit zu begehen.
Hoheit, sagte sie endlich, indem sie ihren Arm sanft dem seinen entzog,
lassen wir es nun der Luftschlösser genug sein. Sie sind und bleiben Prinz,
ich bin nichts als tout donnemsnt Fräulein von Mockritz. Was Ihre prinz¬
lichen Lippen meinen beschämter Ohren an Liebesschwüren zu kosten gaben, kam,
ich weiß es, aus ritterlichem Herzen. Sie glaubten und Sie glauben gewiß
noch in diesem Augenblicke an die Haltbarkeit Ihrer Schwüre — aber —
Aus voller Seele! beteuerte der Prinz und bemächtigte sich mit Innigkeit
ihrer beiden Hände. Kommen Sie! Wir haben schon kostbare Minuten ver¬
loren! Die Waldwege sind nur noch eine Stunde hell genug, daß wir nicht irre
reiten.
Und er pfiff seinem Pferde, das mit verwöhnt leckeren Zahn in geringer
Ferne zwischen dem niedrigen Gezweige des Laubholzes umherstöberte, ohne etwas
ihm schmackhaft Dünkendes gefunden zu haben.
In zwei Stunden, fuhr der Prinz fort, sind wir am Ziele! Kommen Sie,
Teuerste! Ein Mann, ein Wort! Noch heute werden Sie die Meine.
Das Pferd trabte heran.
Hoheit, widersprach Hermione, als der Prinz in demselben Augenblicke so
mühelos, als sei sie ein Kind, sie vom Boden hob und sich ihr im Sattel nach¬
schwang, Hoheit, keine abermalige Überrumpeln» g, wenn ich bitten darf!
Allons, Mustapha! spornte der Prinz sein Pferd. Was sagten Sie von
Überrumpelung, teures Fräulein? Hierher, Mustapha, mehr rechts, wo die
Sonne untergeht. ?i äouv! Ein so edles Tier zu sein und seinen Herrn nicht
besser zu verstehen! Maäo iMNsIkb^!*)
Hermione griff ablenkend in die Zügel. Nicht dahin, Hoheit! rief sie, nicht
dahin!
Gerade dahin müssen wir ja, meine Teuerste, gab der Prinz zurück. Aber
so lassen Sie doch los, gnädiges Fräulein! Mustapha wird uns noch in den
Sand setzen. Da! da! Er steigt! Jetzt steht er schon auf den Hinterfüßen!
Aufgepaßt! Da haben sich. Wir rutschen oder wir überschlagen uns mit ihm!
Wenig fehlte daran. Aber der Prinz war ein Centaur, und Mustapha
wurde noch zur rechten Zeit zu Raison gebracht.
Hermione hatte vor Schreck die Hände von den Zügeln gelassen. Sie
glaubte schon am Boden zu liegen.
Der Prinz klopfte dem schnaubend ihm gehorchenden Pferde den Hals.
Ruhig Blut, Mustapha! sprach er ihm in begütigenden Tone zu. Und auch
Sie, gnädiges Fräulein, überlassen Sie dem Prinzen Ottokar das weitere. Wir
wollen doch beide ohne Aufsehen und Unfall ans Ziel. Also bitte: Bin ich jetzt
Herr aus meinem Pferde! Wir haben wahrlich Ursache, uns zu beeilen!
Hoheit, bat Hermione, hören Sie erst, was ich zu sagen habe.
Ich höre.
Wenden Sie das Pferd um.
Wohin?
Nach Osten.
Wo wir herkamen? Hermione!
Sie werden mirs danken!
Grausame!
Also nach Hause, Hoheit.
So war alles nur ein Spiel? Sie hatten doch Thränen in den Augen!
Sie haben doch meine Küsse erwiedert! O die Weiber! Nur wir Männer
wissen in Wahrheit, was Liebe ist.
Nun sind Sie der Grausame, Hoheit.
Ich, der alles, alles für Sie hingeben will?
Um es später bitter zu bereuen.
Nie, nie!
Schon in Jahresfrist! Was sage ich? Schon ehe der Mond wechselt!
Wie kann ich Ihnen Vater, Mutter, Geschwister ersetzen? Wie vor allem Ihre
ganze Stellung im Reiche! Angewendet, Hoheit. Sie setzen meine guten Vor¬
sätze ans eine zu lange Probe.
Es sind keine guten Vorsätze, rief der Prinz, ließ die Zügel fallen und
schloß Hermione mit Inbrunst in seine Arme. Liebes, einziges Mädchen, stam¬
melte er, denn Wonne und Schmerz erstickten gleichzeitig seine Worte, wie könnte
ich dich je wieder von mir lassen! Was sollte aus mir werden?
Hoheit, sagte Hermione, indem sie sich .seiner Umarmung entrang, was aus
Ihnen werden soll, ist sicherlich leichter zu beantworten, als was aus Hermione
von Mockritz werden wird, nachdem sie den perlenden Schaumwein dieser Stunde
gekostet. Aber wozu solche Fragen auswerfen? Es darf und es soll nicht sein —
bastci. Nun denn, ich hasse alle Kopfhänger«. Lassen Sie uns den Heiniritt
nicht um seinen heitern Reiz bringen. Ich bin Ihnen nicht mehr böse, ich bin
auch mir nicht böse. Was der Wald hier gesehen und gehört hat, können wir
zwei zur Not verantworten. Und es bleibt ja überdies unser Geheimnis. Sie
sind ein Schwärmer, aber edel, durch und durch, deß bin ich gewiß. Hier, sie
wendete ihm ihre Lippen zu, besiegeln wir mit einem festen letzten Kusse, daß
wir einander nie, auch nur mit einem Blicke, an den wonnigen Traum erinnern
wollen, den wir miteinander träumten. Und dann — rechtsum kehrt, Hoheit!
Besiegelt wurde das Geheimnis und nicht nur mit einem Kusse, auch eine
Thräne floß darein; Hermione wischte sie fast unwillig ab. Eine Bäuerin
könnte sich nicht schlechter in der Gewalt haben! schalt sie sich. Nach Hanse
jetzt, Hoheit! Man möchte mich daheim vermissen.
Ein toter Ast fiel neben dem Rosse zu Boden.
Es prallte auf die Seite.
Ein böses Omen, sagte der Prinz finster.
Thorheit! lachte Hermione mit tropfender Wimper.
Wer so mit allem Leben abgeschlossen haben könnte!
Aber er hatte das Pferd umgelenkt, und es setzte sich in raschen Trab.
Gen Osten! sagte der Prinz unmutig. Der Zug der Menschheit geht gen Westen.
Die Gelehrten wollen ein Naturgesetz darin finden. Aber Ihr Wille geschehe,
Hermione.
Sie gab keine Antwort.
Wieder flogen die Bäume rückwärts. Es war, als seien sie alle auf dem
Wege nach der Waldlichtung, wo die Liebenden geweilt hatten.
Die Blicke Ottokars und Hermionens begegneten sich, wie um sich das zu
sagen.
Sie gehen zur Kur, versuchte Hermione zu lächeln.
Der Prinz nickte schwermütig.
Es wurde kein weiteres Wort gesprochen. Hermionens Besonnenheit hatte
ihn beschämt. Nicht alle Abenteuer, in welche sein leicht entzündliches Blut ihn
und mit ihm zugleich auch minder Besonnene gestürzt hatte, waren wie ein
Champagucrrausch vorübergegangen. Das diesmalige schien so verlaufen zu
wollen, fast sagte er sichs selbst schon. Aber vor ihm im Sattel lehnte noch
die liebliche Gestalt, die ihn so bezaubert hatte, und ihm war, während ihre
Nähe noch ihren bestrickenden Bann übte, doch auch zu Sinn, als sei er diesmal
wirklich auf der Spur nach der Insel der Seligen gewesen, und als habe er
mit dem heutigen Tage die Fähigkeit eingebüßt, je wieder zu lieben.
Die Sonne war schon verschwunden, als die van der Eisclsche Schonung
erreicht wurde.
Sie waren nie so wortkarg, Hoheit, sagte Hermione, während sie behende
aus dem Sattel auf die Erde glitt. Lassen Sie uns heiter scheiden; ich mag
niemand um seine gute Laune gebracht haben. Es braucht ja nicht einzig in
der Tragödie zu heißen: 8070us g,uns, viam.
Sie sind ein Engel, sagte der Prinz, mit einem schmerzlichen Lächeln ihre
Hand festhaltend, hätten Sie doch fürs Leben mein guter Engel sein dürfen!
Morgen, fuhr er fort und gab ihre sich ihm entziehende Hand frei, muß unser
regierender Herr mir endlich den längst erbetenen Urlaub zu einer Weltumsege¬
lung bewilligen.
Beneidenswerter! rief Hermione, indem sie mit der Hand auf dem Herzen
von dannen eilte.
Beklagenswerter! hallte es ihr nach.
So schieden sie. —
Frau Anna stand bleich vor Angst in der Gartenpforte des Fasanen-
Wäldchens. Endlich! rief sie, als sie im Dämmerdunkel Hermione von der Seite
der van der Eiselschen Schonung herüberkommen sah. Wo blieben Sie? Wir
sind alle auf der Suche gewesen, der Vater, ich, unser Berthold, denn er ist
da, denken Sie, unser Berthold ist da! Aber wo blieben Sie, bestes Fräulein?
Hatten Sie sich verirrt?
Sehr verirrt! sagte Hermione, seien Sie nachsichtig und lassen Sie mich
heute Abend ruhig auf meinem Zimmer bleiben.
Was ist da von Nachsicht zu reden, versetzte Frau Anna, indem sie die
Wiedergefundene umarmte, Gott sei Dank, daß Sie wieder heil und ganz zur
Stelle sind. Aber der abscheuliche Wald! Es ist zwar wahr, er soll für Leute,
die sich ans die Banmabzeichen der Forstverwaltung verstehen, garnicht so schlimm
sein. Mein guter Alter hat sogar eine Art Landkarte, die bis an die Grenze
reicht, und auf der ist jede Lichtung und jede Schneuse deutlich eingetragen.
Ich meinesteils bin aber nie vor dem Verirren sicher. Nun, da sind wir ja
schon am Hause. Das Abendbrot soll Ihnen aufs Zimmer geschickt werden.
Zerzaust sehen Sie ohnehin ans. Die bösen Büsche und Brombeerstanden!
Nein, so hätte mein Berthold Sie auch garnicht sehen dürfen. Ein Glück noch,
daß es kein Gewitter gab! Es drohte, nicht wahr? es drohte. Nachher verzog
sichs, und der Abend ward noch ganz schön.
Ich habe nie einen schönern erlebt, sagte Hermione fast elegisch; gute Nacht!
Nun, nun, versetzte Frau Anna, für uns andern ist es noch nicht Schla¬
fenszeit.
Sie blickte der trcppnnf gehenden mit besorgter Miene nach. Dann aber
rieb sie sich die Hände. Er müßte ein Eisbär sein, wenn er an ihr nicht zum
Narren würde, redete sie schmunzelnd vor sich hin; selbst die verknitterte Krause
und das Haargcwirre auf der Stirn vermochten nicht, sie zu entstellen. Das
arme Schäfchen! Wie die Angst es zugerichtet hat! Aber immer behält sie
den Kopf oben! Einen schönern Abend habe ich nie erlebt! Da sollte man
einmal hören, was die Zierpüppchen, die für unsern Berthold sich herausputzen
werden, in ähnlicher Lage für ein Zedern anrichten.
Horaz sagt in einer seiner Satiren: Fehlerlos ist keiner. Wer die wenigsten
Fehler hat, ist der beste, Boileau läßt die Menschheit ohne Ausnahme Narren
sein. Der ganze Unterschied zwischen dir und mir, zwischen diesem und jenem
besteht nach ihm einzig in dem verschiednen Grade der Narrheit, Ein altgrie¬
chischer Pessimist endlich meint: Wenn ma» von Glücklichen spreche, so müsse es
eigentlich heißen: von den am wenigsten Unglücklichen,
Also keine absolute Fehlerfreihcit, keine absolute Weisheit, kein absolutes
Glück,
So etwa dozirtc Kaspar Benedikt am nächsten Morgen seiner Frau und
seinem Berthold vor, als nach beendeten Frühstück Fräulein von Mockritz, um
ein Bouquet für die Salonvase zu pflücken, früher als die andern vom Tische
aufgestanden war und Berthold einen Bericht seiner Fahrten und Erlebnisse
mit dem Bekenntnis geschlossen hatte, daß, wenn er heute von neuem ins Weite
ziehen müßte, er zwar viele Dummheiten lind Irrwege vermeiden, ebenso gewiß
aber auch auf neue geraten werde, denn schloß er, man lernt nie aus, ich we¬
nigstens nicht, und sollte ich hundert Jahre alt werden.
An jene Betrachtungen, zu denen die Bibliothek der merkwürdigen Villa
wieder den Stoff hergclichen hatte, wollte nun der Fabrikant dasjenige an¬
knüpfen, was nach Abrede mit seiner Gattin über die Pläne des Paares, soweit
sie Hermine betrafen, allmählich aufs Tapet zu bringen war.
Aber ehe er dazu kam, bat Berthold noch um die Erlaubnis, eine Zwischen-
frage thun zu dürfen. Ich wüßte nämlich gern, sagte er, wer die schweigsame
Frauensperson ist, die mir vorhin auf der Treppe begegnete?
Außer unsrer Hermine und uns dreien, gab Frau Anna Bescheid, ist ja
niemand im Hause.
Sie trug eine Art Methodisten- oder Quäkerkostüm, sagte Berthold.
O, du sprichst von Dienstboten.
Er meint Herminens Kammerjungfer, bestätigte Kaspar Benedikt.
Berthold rciusperte sich; also doch! sagte er.
Was ist mit ihr? fragte Frau Anna,
Wo willst du hinaus? selundirtc Kaspar Benedikt.
Die Sache ist von keinem Belang, dämpfte Berthold ab.
Aber was geht dich denn die Kammerjungfer Herminens an? fragte Frau
Anna nicht ohne Schärfe.
Die Sache ist —
Nun? riefen beide Alten aus einem Tone, da er nicht gleich das rechte
Wort fand.
Die Sache ist — ich habe sie nämlich — geküßt.
Hermine?
Nein, die andre.
Die Kammerjungfer?
Wenn sie das ist, also gut: ich habe die Kammerjungfer geküßt.
Frau Anna stieg das Blut in die rundlichen Backen.
Kaspar Benedikt lachte. Das ist alles? sagte er; ich dachte Wunder, du
hättest in ihr eine Spitzbübin erkannt, von der du drüben in Amerika beschwin¬
delt worden wärest. Es kommt auch schon aus Amerika Gesindel nach Europa,
nicht bloß umgekehrt.
(Fortsetzung folgt.)
Zur Charakteristik unsrer Preßzustände. Der Artikel „Ein Wort
<in die Presse" an der Spitze der ersten diesjährigen Grenzbotennnmmer ist allen
ernsthaften, ihre Aufgabe gewissenhaft erfüllenden Journalisten aus der Seele ge¬
schrieben. Nichts erniedrigt den Journalisten mehr als das Bewußtsein, im Dienste
eines Geschäftsmannes zu stehen, der kein andres Interesse kennt, als Geld zu¬
sammenzuschlagen, und dem jedes Mittel dazu recht ist. Es giebt in Deutsch¬
land mir wenige große Zeitungen, welche daran festhalten, ihren Lesern „das
Beste, Durchdachteste, am meisten von patriotischem Geiste Erfüllte" zu bieten. Sehr
viele Zeitungsverleger haben, durch den scheinbaren Erfolg von Blättern wie
..Börsenkourier" und „Berliner Tageblatt" geblendet, sich der atemloser Jagd
„nachdem Neuesten, Überraschendsten,Unglaublichsten und Geheimsten" angeschlossen.
Die konservativen Zeitungen — zu ihrem Ruhme sei es gesagt — haben sich von
dieser undeutschen Art bis jetzt möglichst freizuhalten gewußt, während von den
liberalen Blättern nur ein geringer Bruchteil es verschmäht, der Mosseschen Spur
Zu folgen.
Man mustere die Berliner Zeitungen. Mit Ausnahme der konservativen haben
fast alle ihre Spalten geöffnet den pikanten Lokalnachrichten der politischen Sen-
sationsmacherei, den falschen Originaltelegrammen. Man vergleiche z. B. die
„Nationalzeitung" unter der heutigen Redaktion mit der, welche Friedrich Zabel
redigirte. Damals war alles Gemachte, künstlich Aufgebauschte, die vulgäre Phrase
grundsätzlich ausgeschlossen, heute überwuchern in der „Nationalzcitung" die Ber¬
liner Nachrichten, die pikant sein sollenden Lokalnotizen, die Privatdepeschen mit
richtigen Inhalt. Unter Zabel erließ die „Nationalzeitung" kaum eine Abvnnc-
mentscinladung, heute wird sie „in einem Stil angepriesen, als ob es sich um
einen Ausverkauf handelte." In der Geschichte der Berliner Presse wird die
„Nationalzeitung" immer einen hervorragenden Platz einnehmen; an keinem andern
Blatte kann man so genau verfolgen, wie der christlichlibcrale Geist allmählich
dnrch den jüdischen verdrängt worden ist.
Es sind weniger die kleinen Blätter als gewisse große, die sich einen „vornehmen"
Anstrich zu geben wissen, welche unsre Preßzustände illustriren und eine gründliche
Reform notwendig machen. Niemand kann eine solche mehr herbeisehnen als der
Journalist, der seinen Beruf ernst nimmt und sich der schweren Verantwortung
bewußt geblieben ist, die er übernommen, als er sich dem „höchsten politischen Lehr¬
amt" widmete. Niemand hat mehr unter der „unwürdigen Abhängigkeit der Publi¬
zistik von dem Ankündigungswesen" zu leiden als er, der leider nur in den seltensten
Fällen in der Lage ist, seiner wahren Herzensmeinung offnen Ausdruck zu geben.
Sein Interesse wird thatsächlich nur von Nichtjourualisten vertreten, welche von
Zeit zu Zeit ein offnes Wort über unsre Prcßzustäude in einem wirklich unab¬
hängigen Organe verlauten lassen.'") Die sogenannten Chefredakteure, welche am
ersten berufen sein sollten, das Interesse ihrer Kollegen wahrzunehmen, sind nur
allzuhäufig dem Besitzer der Zeitung geradezu unterthan — bei jedem ehrlichen
Wort, das sie zu sprechen wagen, laufen sie Gefahr, daß ihnen gekündigt wird.
Zu allem, was der Verleger befiehlt, sagen sie Ja und Amen; haben sie doch nur
dann Aussicht, im Besitz ihrer gut bezahlten Stelle und der mit derselben ver¬
bundenen nicht selten erheblichen Bcnefizien zu bleiben.
Dem Zeitungseigentümer nach der Mode ist es in den meisten Fällen darum
zu thun, ein kollegiales Verhältnis zwischen dem „Chef" und den Redakteuren uicht
aufkommen zu lassen, da er in dem Zusammenhalten der Mitarbeiter untereinander
eine Gefahr für seine Autorität erblickt. sein Interesse und das des „Chefs" scheint
ihm am besten gewahrt, wenn unter den Redakteuren immer eine gewisse Spannung
obwaltet; dann darf er umso sicherer darauf rechnen, daß seine Ukasc, ohne all¬
gemeinen Widerspruch zu finden, befolgt werden. An journalistischen Strebern ist
ja kein Mangel, sie schwänzeln um die „Chefs" herum und sind jederzeit bereit,
zum Zeiche» ihrer „Wohlgcsinutheit" das Opfer des Intellekts zu bringen.
Dein gänzlichen Mangel an Zusammenhalt unter den Berussjonrnalisten, welche
ein ernstes Pflichtbewußtsein haben, ist es allermeist zuzuschreiben, daß der Zeitungs¬
verlag immer mehr in die Hände von Jnseratenspekulanten gekommen ist, daß soviel
unwürdige Elemente sich in die Zeitungsredaktionen gedrängt haben und dort zu
überwuchert! drohen, endlich daß die Zeitungsschreiber immer mehr aufhören, ge¬
wissenhafte Chronisten und wohlbefähigte Beurteiler der Zeitbegebenheiten zu sein,
und statt dessen Sensationsmacher, Lügenschmiedc und Dcpeschcufabrikanten werden,
deren Ideal Georg Beunett, der Begründer des „Newport Herald," ist, welcher
aus jeder wegen begangener Unverschämtheit ihm applizirten Ohrfeige ein neues
Zugmittel für seine Zeitung zu machen verstand.
Die Hebung des Jonrnalistenstandes zu der sozialen Höhe andrer akademisch
gebildeten Bernfsstände ist eine Aufgabe, welche noch lange ihrer Lösung harren wird.
Die Reform sollte naturgemäß von den Mitglieder» des Standes selbst aus¬
gehen; aber wie ist das möglich in einer Zeit, wo namhafte Vertreter der Literatur,
Publizistik und Politik sich herbeilassen, auf Anregung des Herrn Davidson vom
„Börseukourier" im Verein mit Herrn Engen Landau, dem bekannten jüdischen
Bankier, einen „literarischen Klub" zu gründen, dessen Mitglieder vorwiegend
sich aus den Kreisen der Börse rekrntiren? Wer solche literarische Gründungen
miterlebt, dem muß es bange werden um die Reinigung und Hebung des Jour¬
nalismus. Was verstehen so viele Journalisten unter Hebung ihres Standes?
Viele glauben zur sozialen Würdigung ihres Berufes außerordentlich beizutragen,
wenn es ihnen gelingt, eine Reporterkarte für Hoffestlichkeiten und Prinzenreisen
zu erlangen. Aber gerade das Reportcrtum untergrabt die Stellung der Journalist«»!
der schriftstellernde Figaro, der heute hier und morgen da mit unermüdlicher
Fingerfertigkeit seinen Schaum schlägt über Kunst und Wissenschaft, über Staat
n»d Politik, über Gerichtsverhandlungen und pikante Stadtbegebenheiten, er kann
niemals dazu beitragen, dem Jonrnalistenstaude in der Gesellschaft eine seiner
Bedeutung würdige Stellung zu erringen. Wie sehr aber das Reportertum im
heutigen Zcilnngswese» überwuchert, dafür liefert die „Nntioualzeitung" den ent¬
sprechenden Beleg. Während andre große Zeitungen sich begnügen, unpolitische
Personen zur Berichterstattung auf Reisen zu schicken, übernimmt der Chefrcdaktenr
dieses Blattes in eigner Person diesen Zweig des Reporterdienstes, was er doch
schwerlich thun würde, wenn er nicht in der „Reportage" den wahren Kern der
Zeitung erblickte und sonnt den Reporter über den Redakteur stellte.
Die Reform des Zeituugswcsens wird nach dem oben Gesagten Wohl niemals
aus den Kreisen der Journalisten hervorgehen. Sie muß nach unserm Dafür¬
halten von den: Publikum selbst angebahnt werden. Wenn alle Leute von
Charakter und nationaler Gesinnung grundsätzlich eine»! Blatte undeutscher Mache
jeden Eingang in ihr Hans versagten, auf dasselbe weder abonnirten noch es
zu Ankündigungen benutzten, dann wäre der erste und schwerste Schritt zur Be¬
seitigung des heutigen Preßunfugs gethan.
Die gute Aufnahme, welche der erste Jahrgang dieses kleinen Buches ge¬
funden hat, ist Veranlassung gewesen, es für 1384 in verdoppeltem Umfange
herauszugeben. Wir nennen es ein kleines Buch, seinem Titel entsprechend; in
Wahrheit ist es nur dem Format nach klein, dem Inhalte nach dagegen groß.
Es ist erstaunlich, wie viel und wie vieles das Buch enthält. Die Praktische,
raumsparende und doch klare und übersichtliche Anordnung bei kleinem, scharfem
und gut leserlichen Druck hat es ermöglicht, eine Fülle von Namen und Zahlen
zusammenzubringen, welche ein großes Werk zu füllen geeignet wäre». Das ist
um großes Verdienst des Buches. Jedermann kann es in der Tasche tragen, und
es wird auf dem Schreibtische nicht viel Platz wegnehmen. Dabei wird es für
jeden, der sich für Politik interessirt und im praktischen Leben steht, von großem
Nutzen sein. Es enthält zunächst eine Übersicht über die höheren Behörden in:
deutschen Reiche und in den Einzelstaaten, und zwar mit Angabe der Namen
der betreffenden Beamten und der Höhe ihrer Gehalte. Es sind die obersten
Landesbehörden aufgeführt, und ihr Wirkungskreis ist klar gemacht, die Referenten
der verschiedenen Ressorts sind verzeichnet, sodaß hiermit für alle Arten von Ge¬
suchen und Antrügen Aufschluß gegeben wird. Ebenso ist hinsichtlich der geist¬
lichen Behörden verfahren, und hinsichtlich der Justizbehörden ist das Buch so
vollständig, daß sämtliche Richter an ihren Amtssitzen samt Rcchtscmwälten und
Notaren genannt werden. Ferner siud sämtliche Volksvertreter namentlich auf¬
geführt, und zwar mit Angabe ihrer Wohnorte und ihrer Partei. Die Kriegs¬
macht nud die Flotte find ausführlich dargestellt und hier wie überall Budgets
und Gehalte angegeben. Bei den Universitäten, den technischen Hochschulen und
höhern Kunstschulen finden sich die Namen der Lehrer, und ebenso sind die Di¬
rektoren der höhern Schulen einschließlich der Seminarien aufgenommen.
Dazu kommt endlich ein Verzeichnis, welches außerordentliche Mühe bei seiner
Aufstellung gemacht haben muß, aber auch einzig in seiner Art ist. Es ist dies
ein Verzeichnis sämtlicher Städte im deutschen Reiche, mit Angabe der Einwohner¬
zahl, der Bürgermeister, der Vorsteher der Stadtverordneten u. s, w. Auch hier
find die Gehalte angegeben. Man sieht, daß die Redaktion direkt mit jeder Stadt
korrespondirt hat. Dieses so reichhaltige Buch, 442 Seiten umfassend, kostet nur
2 Mark. Wir zweifeln nicht, daß es sich brauchbar erweisen und große Verbreitung
gewinnen wird.
Ein herzlich wohlgemeintes, aber auch herzlich unbedeutendes Büchlein. Es
sind Erinnerungen aus dem Leben Kaiser Wilhelms und der Seinen, die eine
beliebige Anekdote, einen kleinen Zug aus dem Leben fcnilletonistisch-novellistisch
in Szene setzen. „Die Kornblume," „Die Kaiscreiche," „Prinzessin August» und
Goethe," „Ein fürstlicher Buchdrucker," „Des Volkes Stolz und Zier" u. s. w.,
lauter Kleinigkeiten, die an ihrem ursprünglichen Platze, im Feuilleton einer Moden¬
zeitung und dergleichen, sich gewiß besser aufnahmen als vieles andre. Denn der
Sinn des Verfassers ist offenbar rein, und er besitzt wirkliche Pietät. Was ihm
abgeht, ist poetische Stimmung, die über derartige unproduktive Mosaikarbeit ein
Licht werfen und wenigstens den Schein eines Bildes hervorbringen könnte.
Ein historischer Roman von so starker Thatsächlichkeit und mit so entschiedner
Betonung des phantastisch Wirksamen, daß er auf der Grenze zwischen dem Les¬
baren und dem Ungenießbaren steht. Einzelne Szenen und Erfindungen sind frisch
und im Grunde lebendiger als zahlreiche Episoden unsrer neuesten Prätentiösen archäo¬
logischen Romane. Andre Partien der in Halberstadt und den Harzgegenden ver¬
laufenden Geschichte sind aber nnr aufgeputzter Ritter- und Räuberroman und ge¬
mahnen fast an Spieß und Kramer. Ob der Verfasser bei größerer Geschmacksbildung
besseres hervorbringen könnte, wagen wir nicht zu entscheiden.
le Katastrophe, die das ägyptische Heer unter Hicks Pascha ereilte,
wirkt in ihren Folgen sowohl im Sudan als in Kairo und den
Hauptstädten der Westmächte fort. Der Aufstand breitet sich
immer weiter aus, und schon ist es fraglich geworden, ob die
.. Besatzung von Chartum und die vielen Fremden, die sich dort
im Laufe der Jahre niedergelassen haben, sich noch ohne Gefährdung ihres
Lebens nach Norden zurückzuziehen imstande sein werden. Andrerseits macht
infolge des Verhaltens Englands in der Sache die Mißstimmung der öffentlichen
Meinung in Paris gegen die Nachbarn über den Kanal sichtlich Fortschritte,
und alle möglichen Vorschläge zur Benutzung der angeblichen Mißgriffe der
britischen Politik werden in der französischen Presse laut. Schon fallen An¬
deutungen, nach denen man dem Wiederaufleben des Kvndominiums bereits
ziemlich nahe wäre, wobei man sich an den Spruch erinnert, daß der Wunsch
der Vater der Hoffnung ist. Ja es giebt an der Seine Politiker, denen eine
Rückkehr zur Doppelkontrole nicht genügt. Die Herren meinen, wenn der
Mahdi seinen siegreichen Marsch das Nilthal abwärts fortsetze, so würden die
Engländer eines Tages genötigt sein, Ägypten zu räumen; denn sie könnten
nicht auf die Unterstützung der eingeborenen Truppen zählen, und ihre eignen
würden einen langwierigen Feldzug am Nile nicht aushalten. England sei
dort sehr unbeliebt, wogegen Frankreich neuerdings in der Gunst der Ägypter
gestiegen sei. „Man hat, so bemerkt der Mtiorml, in den französischen
Kolonien früher bedauert, daß die Regierung der Republik nicht mit den Eng¬
ländern Hand in Hand gegangen ist, um das Kondominium zu erhalten. Jetzt
aber sind Anhänger und Gegner der Einmischung insoweit einer Meinung, als
sie glauben, England müsse in seiner eignen Brühe schmoren. Die ägyptische
Politik Englands geht mit Sicherheit einer Niederlage entgegen, wenn die
französische Regierung bei ihrer zuwartenden Haltung verharrt. Sehr ernst
würde in der That die Verantwortlichkeit sein, die ein Kabinet übernähme, welches
sich bereit erklärte, zum Danke sür die guten Dienste, die uns die Engländer
in Peking geleistet haben, ihnen in Afrika die Kastanien aus dem Feuer zu
holen. Hilft Frankreich den Engländern den falschen Propheten niederwerfen,
so opfert es seine letzte Aussicht auf Wiedererwcrbung seines Einflusses in
Ägypten."
Das ist eine sehr bezeichnende Sprache. Frankreich braucht sich nicht so¬
fort einzumischen, denn wenn es Zeit und Gelegenheit abwartet, werden sich
die Dinge schon zu seiner Befriedigung gestalten. Die Ägypter haben in ihren
Erfahrungen mit der britischen Herrschaft ein Haar gefunden, sie werden sich
naturgemäß den Franzosen zuwenden, und Frankreich wird dann, nicht mehr
gehemmt durch das Mitherrschen Englands, frei handeln können. Das ist der
Gedankengang, den die letzten Ereignisse am Nil einer starken Partei in Paris
eingegeben haben, und man kann wohl annehmen, daß, wenn Gladstone wieder
in unpraktische Anwandlungen zurückfällt, die französische Regierung wenigstens
versuchen wird, sich einzumischen.
Soweit sind die Sachen indes bis jetzt noch nicht gediehen, und auch die
Befürchtungen, welche die Einwirkung des französischen Generalkonsnls in Kairo
bei den Engländern wachgerufen haben, können als unbegründet bezeichnet werden.
Wenn Sir Evelyn Baring den Franzosen bei der Zusammensetzung des neuen
Kabinets des Chedive einige Zugeständnisse gemacht hat, so will das politisch
nicht viel bedeuten. Mit ziemlicher Bestimmtheit darf vermutet werden, daß
Gladstone gegenwärtig durchaus nicht mehr daran denkt, seine Verantwortlich¬
keit und Englands Macht und Ansehen in Ägypten mit Frankreich zu teilen.
Die englische Regierung hat thatsächlich die Schutzherrschaft über das Reich des
Chedive in die Hand genommen und wird jedenfalls solange dort regieren, bis
ein dauerndes System der Verwaltung und Verteidigung hergestellt ist. Das
ist das mindeste, was von einer Macht beansprucht werden kann, die bei Tel
El Kebir nicht bloß das nationale Heer Ägyptens zertrümmert, sondern das
Gleichgewicht der Kräfte zerstört hat, welches das Land ein halbes Jahrhundert
hindurch zu einem Tummelplatze internationaler Ränke machte. England steht
jetzt allein in Ägypten und ist allein verantwortlich für den zukünftige!, Ver¬
lauf der Dinge. Europa erkennt das an. Frankreichs Rolle in der Angelegen¬
heit ist ihm deutlich vorgezeichnet. Es hat Ägypten aufgegeben, als es ihm
nicht schwer fiel, sich dort zu behaupten, und es kann England kaum daran
hindern, hier ein wirksames Protektorat aufzurichten oder das Land in mehr
oder minder erkennbarer Form der großen Kette seiner Kolonien einzuverleiben.
Einen andern Nebenbuhler als Frankreich hat England in Nordafrika nicht.
Was den Umstand betrifft, daß in der neuen Verwaltung ein paar unter¬
geordnete Stellen mit Franzosen besetzt worden sind, so kann das nicht über¬
raschen. Die französische Kolonie in Kairo und Alexandrien ist groß, sie kann
eine bedeutende Zahl geeigneter Kandidaten für verschiedene Zweige des öffent¬
lichen Dienstes liefern, und sie hat an der Administration zu allen Zeiten den
Löwenanteil gehabt. Wenn wir uns erinnern, daß die Europäer in Ägypten
aus vielen Nationalitäten, aus Italienern, Griechen, Franzosen, Österreichern,
Engländern und Angehörigen des deutschen Reiches bestehen, und daß die
französische Sprache sie alle verbindet, so darf jene Vertretung der Nation in
der Verwaltung nicht Wunder nehmen. Es giebt aber noch eine andre Er¬
klärung der Thatsache, daß so viele von den Fleischtöpfen Ägyptens gerade den
dortigen Franzosen vorgesetzt worden sind. Stets gebrauchte Frankreich hier
seinen diplomatischen Einfluß zur Versorgung seiner Angehörigen. Dagegen ist
es bei den Vertretern Englands in Ägypten niemals üblich gewesen, sich mit
den Privatinteressen der dort lebenden britischen Unterthanen zu identifiziren,
soweit es nicht die Pflicht, den Einzelnen zu schützen, erforderte. „Sowohl
Scherif Pascha als Riaz Pascha," sagt Malortie, ein gründlicher und zuver¬
lässiger Kenner ägyptischer Verhältnisse, „gaben mir die Versicherung, sich auf
keinen Fall zu besinnen, wo Sir Edward Makel sich für einen britischen
Unterthan um eine Anstellung oder eine Konzession beworben oder ein
derartiges Gesuch befürwortet hätte, und Herr de Blignieres bestätigte diese
Angabe."
Das Bestreben, durch doppelte Besetzung jedes amtlichen Postens am Nil
dort eine Art Gleichgewicht der Kräfte zwischen England und Frankreich herzu¬
stellen, führte zu einer Wirtschaft, die sehr große Ausgaben veranlaßte und den
Gang der Geschichte in verhängnisvoller Weise lähmte. In manchen Depar¬
tements gab es sogar drei Chefs zur Bewältigung von Arbeiten, die besser von
einem einzigen besorgt worden wären: einen ägyptischen, der den Glauben zu
erwecken und zu erhalten bestimmt war, die Verwaltung sei eine nationale, einen
englischen, der ihm auf die Finger sehen sollte, und einen französischen, der
seinen westlichen Kollege» und Nebenbuhler zu überwachen hatte. Drei Gehalte
also statt eines einzigen wurden dem armen, geduldigen Fallens aufgeladen, der
schließlich mit seiner Steuerkraft für diese unerhörte Mißwirtschaft auszukommen
hatte. Dies erklärt das fortwährende Anwachsen der Zahl der europäischen
Beamten in Diensten des Chedive, als die beiden Westmächte gemeinschaftlich
hier ihren Einfluß ausübten. Im Jahre 1879 gab es hier ungefähr 750 Beamte
dieser Art, aber im März 1882 war deren Zahl beinahe auf das doppelte
gestiegen, und die Staatsausgaben für sie beliefen sich jährlich auf mehr als
eine Million Mark. Sobald ein Engländer auf einen hohen und gutdotirten
Posten gelangte, machte sichs der französische Generalkonsul unverweilt zur
Ehrenpflicht, an die Minister das Verlangen zu richten, daß ihm für einen
seiner Schutzbefohlenen eine Stelle von gleichem Werte überlassen werde. Das
war indes nicht der gefährlichste Mangel der doppelten Kontrole; denn obwohl
weit mehr Europäer an dem ägyptischen Budget für die Verwaltungsbeamten
zehrten als notwendig war, und obwohl die Gehalte derselben oft zu reichlich
bemessen waren, so arbeiteten dieselben doch mit gutem Erfolg an der Ver¬
besserung der Administration, Der Hauptschade bei der Sache war, daß England
durch sein Hand in Hand gehen mit Frankreich in die Interessensphäre der privaten
Gläubiger des ägyptischen Staates hineingezogen wurde.
Der lölöMaxli sagt hierüber: „Die Hauptmasse der ägyptischen
Schulden war zu dieser Zeit in den Händen Frankreichs konzentrirt, und die
französische Regierung machte sich stets zur Vertreterin und Vermittlerin ihrer
Geld verleihenden Unterthanen. Die Franzosen sind sparsame Leute, die ihre
Ersparnisse gut anzulegen verstehen. Die Inhaber von Staatspapieren sind
bei uns in England in der Regel reiche Kapitalisten, in Frankreich trifft man
sie in allen Klassen der Gesellschaft, und so spricht ein französischer Diplomat,
der zu pünktlicher Zahlung der Koupons fremdländischer Anleihen drängt,
zuweilen für eine Million seiner Landsleute. Ein englischer Agent würde unter
gleichen Umständen nur das Interesse einer Gruppe von Finanzgrößen oder
höchstens dasjenige von einigen Tausenden aus der Mittelklasse vertreten.
Dies erklärt teilweise die Verschiedenheit des diplomatischen Tones, dessen sich
die beiden Kabinette im Verkehr mit der ägyptischen Regierung bedienten. Es
ist in unserm Auswärtigen Amte ehrenvolle Überlieferung, sich auswärts nicht
für unvorsichtige Staatsgläubiger zu verwenden. (Die Affäre des Juden
Pacifico und Palmerston?) Anfangs gewährte unser Generalkonsul in Kairo
den verschiednen aufeinanderfolgenden Agenten der Bondholders lediglich nicht
offiziellen Beistand, und es ist zu bedauern, daß im April 1878, wo die ägyp¬
tischen Bauern schwer bedrückt waren, Lord Salisbury auf sofortige Zahlung
der halbjährigen Zinsen bestand, die damals fällig wurden. Dies war
eine einseitige Einmischung, die Schaden zur Folge hatte und überdies praktisch
zu spät kam. Wir hätten den Gang der Dinge, welche zur Überschuldung
Ägyptens führten, im Jahre 1868 aufhalten können, wo die Pforte für einige
Zeit weitere Anleihen verhinderte und Ägypten noch nicht den fünften Teil
dessen schuldete, was es heutzutage schuldet. Wir standen aber dabei und er¬
laubten Ismail riesenhafte Schulden zu kontrahiren, wir weigerten uns, dem
Sultan bei seinem ursprünglichen Einsprüche zur Seite zu treten, und schritten
erst volle zehn Jahre später ein, als die Last dem Lande zu schwer wurde und
der Chedive den Versuch machte, sie von demselben abzuwälzen. Für diese
Abweichung von der finanziellen Reinheit unsrer auswärtigen Politik ist die
doppelte Kontrole verantwortlich zu machen. Um mit unsern: großen Nachbar
auf freundlichem Fuße zu bleiben und Schritt für Schritt mit ihm zu gehen,
mengten wir uns in morgenländische Finanzangelegenheiten, und jetzt haben wir
dafür zu büßen. Wir haben uns Ägyptens bemächtigt, aber es ist ein Land,
das mit einer schweren, wenn mich nicht unerträglichen Staatsschuld be¬
laden ist."
Leroy Beaulieu, welcher zwar für Frankreich das Wort nimmt, aber das
Recht Englands, Ägypten zu anncktiren anerkennt, fügt hinzu: „Es müssen in
Betreff der Gläubiger Ägyptens Vorkehrungen getroffen werden. England wird
dabei vielleicht Abänderungen des Bisherigen verlangen. Dies muß Frankreich
zurückweisen. Wenn England die Übereinkünfte über die ägyptischen Schulden
irgendwie anders gestaltet zu sehen wünscht, so möge es thun, was Frankreich
in Tunis zu thun im Begriffe steht, so möge es die Schulden zurückkaufen
»ut die Verwaltung derselben übernehmen. Hinausgedrängt aus jenem reichen
Lande, darf Frankreich nicht auch noch gestatten, daß die Rechte von Franzosen
dort geschmälert werden."
Diese Gleichstellung Ägyptens mit Tunis sieht wie ein Scherz aus. Die
Schuld vou Tunis ist unbedeutend, die von Ägypten ungeheuer. Der Grund¬
gedanke des französischen Publizisten aber ist richtig. England befindet sich im
Besitz Ägyptens und ist für den Gang vou dessen Verwaltung verantwortlich.
Es kaun nicht einerseits die letztere überwachen und bestimmen und andrerseits
die Verantwortlichkeit für das Thun und Lassen der nominell am Staatsruder
stehenden eingebornen Minister von sich weisen. Diese Minister sind ja in
Wirklichkeit an der Lenkung des Staatsschiffes so wenig beteiligt wie bei einem
gewöhnlichen Schiffe Kapitän und Steuermann, wenn der Lotse an Bord ist.
England ist verpflichtet, die ägyptischen Finanzen so zu regeln, daß die gerechten
und billigen Ansprüche der ausländischen Staatsgläubiger nicht geschädigt und
geschmälert werden, und was in diesem Falle gerecht und billig ist, werden die
Herren Edgar Vincent und Blum Pascha zu entscheiden haben.
Die geschilderten Sünden waren nicht die einzigen, deren sich die dualistische
Kontrole schuldig machte. Dieselbe war auch Ursache der gemeinschaftlichen
Note, die im Januar 1882 so viel Aufregung hervorrief und, weil man ihr
nicht ohne Vorzug Folge gab, bald der Mißachtung verfiel. Dies führte zu
jenen Verzögerungen des Einschreitens, die Arabi erlaubten, seine Stellung zu
befestigen, und lähmte den Westen, wo vereintes und entschlossenes Handeln die
Notwendigkeit, Krieg zu führen, abgewendet haben würde. Der Aufstand der
Nationalpartei lind alles, was ihm folgte, waren die unmittelbaren Ergebnisse
der schlecht gefügten Vereinigung Englands und Frankreichs. Glücklicherweise
erwachte noch zu rechter Zeit in Frankreich die Furcht vor weiteren Schritten
in der Sache (eine, beiläufig gesagt, ganz unbegründete Furcht vor argen Ab¬
sichten der deutschen Politik), sonst würden wir jetzt in Ägypten ein Schauspiel
vor uns haben, ähnlich demjenigen, welches in den Jahren 1864 bis 1866 sich
in Schleswig-Holstein abspielte: ein Land besetzt von zwei Garnisonen, über
welches zwei Ministerien des Auswärtigen verhandelten und sich über jede er-
förderlich gewordene Maßregel hin- und herstritten, bis daran sich ein großer
Krieg entzündete.
Selbst die jetzige Verlegenheit im Sudan läßt sich auf die Einmischung
der Westmächte, besonders Frankreichs, zurückführen. Hätte man Ismail Pascha
die Vollendung der Eisenbahn nach dem Sudan gestattet, so würde jetzt eine
bequeme Straße aus Ägypten nach jenem weiten Gebiete vorhanden sei». Jetzt
machen Waaren auf ihrem Wege von Chartum nach Kairo nicht weniger als
fünf Umladungen durch: zuerst gehen sie von Chartum bis Ahnt Hammed auf
Nilbooten, dann auf den Rücken von Kamelen nach Korosko, darauf wieder zu
Wasser bis zum zweiten Katarakt, von da wieder auf Kamelen nach Assuan
und zuletzt nilabwärts nach Bulak, dem Hafen Kairos. Die beabsichtigte Eisen¬
bahn von Wady Halfa am zweiten Katarakt nach Chartum würde viel Mühe
und viel Aufwand an Zeit und Geld erspart haben; aber der Druck der Staats¬
gläubiger, hinter denen die westmächtliche Diplomatie stand, verhinderte die
Ausführung des Planes Ismails und zwang ihn, ein Werk liegen zu lassen,
welches die Hilfsquellen des Sudan erschlossen, das Land fest an Ägypten ge¬
knüpft und es ihm zehn Tagereisen näher gerückt hätte. Vor kurzem hat Lord
Dufferin in einer Depesche die kürzere Route von Suakin nach Berber em¬
pfohlen, aber für jetzt ruhen alle solche Unternehmungen, und wir wollen hoffen,
daß daraus nicht eine große Niedermetzelung der im Sudan noch befindlichen
Europäer hervorgeht. Eine solche Katastrophe würde einen starken Ausbruch
der Entrüstung über frühere Mißgriffe des Ministeriums Gladstone zur Folge
haben und dessen Dauerhaftigkeit auf eine harte Probe stellen.
„Europa und das ägyptische Volk haben," so schrieb etwa vor Jahresfrist
Lord Dufferin, „das Recht zu verlangen, daß unsre Einmischung eine wohl¬
thätige sei und ihre Ergebnisse Dauer haben, daß sie aller Gefahr zukünftiger
Störungen vorbeuge, und daß sie die Grundsätze der Gerechtigkeit, der Freiheit
und des öffentlichen Wohlergehens festgegründet zurücklasse."
Schöne Gedanken! Aber nun lasse man die Ägypter und die, welche
ihnen in Europa wohlwollen, bald auch dementsprechende Thaten sehen. Es
ging damit bisher recht langsam, auf alle Fälle viel langsamer mit dem Neu¬
bauer, als es mit dem Niederreißen gegangen war.
in Jahr und wenige Monate sind verflossen, seit wir in diesen
Blättern*) den dritten Band von Carl von Noordens groß an¬
gelegter „Europäischen Geschichte im achtzehnten Jahrhundert"
anzeigen konnten. Frohen Blickes in die Zukunft kündete damals
der Verfasser das baldige Erscheinen eines vierten Bandes an.
Heute stehen wir an dem Grabe dieses Mannes, der mitten in der Fülle eines
reichen Schaffens kaum fünfzig Jahre alt am 26. Dezember 1383 aus der
Reihe der Lebenden abgerufen wurde.
Was die Wissenschaft an Noorden verloren hat, in seinem ganzen Umfange
und mit Berücksichtigung alles einzelnen darzulegen, sei Älteren und Berufeneren
überlassen; einen kurzen Überblick darüber hat schon ein warm empfundener
Nekrolog aus der Feder Georg Voigts gegeben,**) und wir dürfen hoffen, daß
uns des Verstorbenen langjähriger Freund, Wilhelm Maurenbrecher in Bonn,
sein Leben und Wirken in eingehenderer Weise zu schildern unternehmen wird.***)
Die Worte, die hier gesprochen werden sollen, kommen aus dem Munde eines
ehemaligen Schülers, der das Glück hatte, fünf Semester hindurch — zuerst in
Bonn, dann in Leipzig — unter der Einwirkung dieses seltenen Mannes zu
stehen. Nur der Lehrer daher, wie auf dem Katheder und in dem Seminar
so im persönlichen Verkehr mit seinen Schülern, soll hier gezeichnet werden.
Zuvor aber mag, unter Benutzung von Voigts Nekrolog, ein kurzer Abriß
seines Lebensganges gegeben werden.
Carl von Noorden war am 11. September 1833 in Bonn geboren. Als
ein Achtzehnjähriger bezog er die Universität seiner Vaterstadt und ward als
Jurist immatrikulirt. Aber ein Fachstudium vermochte seinen Geist nicht aus¬
zufüllen. Bald hier, bald dort suchte er seinen Anker zu werfen, und nach
mannichfachen Ausflügen auf das Gebiet der Musik, der Kunstgeschichte, der
Philosophie, der Sprachen und Literaturen landete er endlich auf der ehrwür¬
digen Spracheninsel des Sanskrit. Es galt ihm, auf dem Wege vergleichender
Mythologie die Entwicklung des Gottesbegriffes bei den Indogermanen zu ver¬
folgen, und in seiner Dissertation (1855) legte er die erste Frucht dieser Studien
nieder,*) Aber auch auf diesem Gebiete hielt es ihn nicht für immer, erst die
mächtige Persönlichkeit Rankes war es (18ö6), die seinem ungemessenen For-
schnngstrieb die Bahnen anwies, denen er von da ab mit nimmer müden: Eifer
tren blieb. Nun folgten, nachdem er im Jahre 1857 sich ein eignes Heim ge¬
gründet, lange Jahre des stillen und gesammelten historischen Studiums, des
innern Ausreifens, bis der Dreißigjährige mit seiner ersten größern historischen
Schrift über den Erzbischof Hinkinar von Rheims^) an die Öffentlichkeit trat
und sich gleichzeitig an der Bonner Universität habilitirte. Er war auf der
Höhe seines Lebens und seines Schaffens angelangt, Reiche Erfolge fielen ihm
von da an ungesucht in den Schoß, Die deutschen Universitäten warben um
seinen Besitz, Zuerst berief ihn Greifswald im Jahre 1868 als ordentlichen
Professor der Geschichte, dann Marburg im Jahre 1870, An beiden Universi¬
täten blieb er nicht länger als zweiundeinhalbes Jahr. Schon im April 1873
folgte er einem Rufe nach Tübingen; einen weitern Ruf nach Breslau lehnte
er ab, um sich nicht aus liebgewordenen Verhältnissen losreißen zu müssen.
Als dann aber in Bonn durch Sybels Berufung nach Berlin dessen Stelle
frei wurde, vermochte er dem an ihn gerichteten Rufe nicht zu widerstehen, er
kehrte (Ostern 1876) in seine Vaterstadt zurück, wo damals seine Mutter noch
lebte, der er stets ein treuer, aufopfernder Sohn gewesen. Aber nur zwei Se¬
mester blieb er dort. Schon im Sommer 1876 erging an ihn nach WuttteS
Tode der Ruf nach Leipzig. Hier hat er von Ostern 1877 an eine reiche Wirk¬
samkeit entfaltet, hier glaubte er sein bleibendes Heim gefunden zu haben. Seine
Vorlesungen gehörten zu den besuchtesten, sein Seminar war stets überfüllt, der
Kreis seiner Schüler wuchs von Jahr zu Jahr. Daneben arbeitete er rüstig
an seiner „Europäischen Geschichte im achtzehnten Jahrhundert" fort. Aber fein
starker Geist wohnte in einem schwachen Körper. Sorge für seine Person, für
seine Gesundheit hatte er, wo sein Beruf in Frage kam, nie gekannt. Auf die
Dauer jedoch hielt sein Körper den Anstrengungen, die er ihm zumutete, nicht
Stand. Nur ein einziger ordentlicher Professor der Geschichte war neben ihm
angestellt, auf den Schultern beider Kollegen ruhte die ganze Last aller histo¬
rischen Examina einer großen Studentenschaft. Dabei arbeitete der rastlose
Mann immer neue Vorlesungen aus und widmete dem historischen Seminar,
das er begründet hatte, die angespannteste Arbeitskraft. Im Frühjahr 188L
brach er zuerst zusammen, ein örtliches Leiden warf ihn nieder. Das Urteil
der Ärzte zwang ihm einen Urlaub sür das ganze Sommcrsemester auf. Bitter
war ihm der Entschluß dazu, aber er hoffte seine erschlaffte Arbeitskraft wieder¬
zugewinnen. Noch zwei Semester hat er dann gelehrt und gearbeitet, aber
seine „miserable Leiblichkeit" — wie er selbst spottend klagte — hemmte ihn
auf Schritt und Tritt. Ohne wesentliche Unterbrechung, aber häufig unter den
heftigsten Schmerzen führte er sein letztes Kolleg, die „Geschichte des deutschen
Kaisertums im Mittelalter." bis in die Zeit der Seeufer. Am 13. Juli 1883
las er zum letztenmale. Dann warf ihn ein unheilbares Brustleiden auf ein
schmerzenreiches Krankenlager. In der Nacht vom ersten zum zweiten Weih-
»achtstage des verflossenen Jahres ist er entschlafen.
Die Bedeutung, welche Noorden als akademischer Lehrer erlangt hat, lag
in der Tiefe seiner Persönlichkeit begründet. Er gab vor allem sich selbst,
seinen ganzen inneren Menschen. Nicht darum war es ihm hauptsächlich zu
thun, seinen Schülern positives Wissen zu vermitteln, sondern ihnen eine Fülle
persönlicher und darum lebendiger Anregungen zu bieten. Er war sich dieses
Grnndzuges seiner Lehrmethode sehr wohl bewußt. „Meine Stärke, schrieb er
einmal, liegt nicht in dein Positiven, dem sachlichen, was ich als zu Er¬
lernendes gebe, sondern in der Anregung, die ich aus eigner Erregung heraus
z» erteilen vermag." Wer daher in seine Vorlesungen kam in der Erwartung
in ihnen eine Reihe neuer und neuester Forschungen über diese und jene Kon-
trvversfrcige erwähnt oder polemisch erörtert zu sehen, wem es vorwiegend um
ein „gutes Heft" zu thun war, der mußte sich in diesen Vorlesungen enttäuscht
fühlen. Nicht als ob Noorden das Interesse an den Fortschritten der Wissen¬
schaft im einzelnen gefehlt, nicht als ob es ihm an Beherrschung des geschicht¬
lichen Stoffes und seiner gewaltigen Literatur gemangelt hätte — unermüdlich ar¬
beitete er bis zuletzt, immer von neuem nach dieser Richtung an seinen Vorlesungen —,
aber er hob das Neue nicht als Neues besonders hervor, er fügte es unver¬
merkt dem Ganzen ein, denn nicht ein historisches Kompendium und noch viel
weniger ein Resümee über den gegenwärtigen Stand der Forschung wollte er
geben; worauf es ihm ankam, war einerseits, klar den politischen Gedanken
darzulegen, andrerseits seine Zuhörer in das Verständnis der menschlichen
Persönlichkeiten einzuführen. Mit sicherer Hand und in gedrungenen Zügen ent¬
warf er das Charakterbild einer historischen Epoche. Weit ausgreifend pflegte
er rückwärts und vorwärts die Verbindungsfäden zu schlagen, stets bemüht,
den werdenden Gestaltungen bis auf ihre ersten Keimtriebe, bis auf ihre letzten
Verästelungen nachzugehen. Seine Geschichte des Reformationszeitaltcrs setzte
mit 1378, dem Jahre des großen Papstschismas, ein und endete mit dem
Frieden von Münster und Osnabrück. Eine Reihe einleitender Kapitel dieser
Vorlesung widmete er der kaiserlichen und päpstlichen Theokratie im Mittel¬
alter, der Ausbildung des päpstlichen Absolutismus auf kirchlichem Lebens-
gebiete, den kirchlichen Häresien und den kirchenreformatorischen Ansätzen im
12, und 13. Jahrhundert, weiter dem Emporkommen der Staatsgewalten in
den verschiedenen europäischen Ländern und endlich der literarwissenschaftlicheu
wie der religiös-kirchlichen Geistesbeweguug des vierzehnten Jahrhunderts. Auf
solchem Unterbau erst begann er den konziliaren Gedanken und seine Geschichte
aufzubauen, um sich dann nach einer umfassenden Ansicht des abendländischen
Staatenshstems in der Epoche des Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit
seiner engeren Aufgabe zuzuwenden. Der Kreis seiner Vorlesungen umfaßte
ursprünglich die gesamte mittlere und neuere Geschichte. Erst in Bonn und
Leipzig mußte er sich als Professor für neuere Geschichte auf letzteres Gebiet
beschränken. In einem Cyklus von vier Vorlesungen pflegte er dasselbe vor¬
zutragen. An das Reformationszeitalter schloß sich die Geschichte des sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhunderts, welche er bis 1763 führte. Dann
folgte die französische Revolution, genauer bezeichnet die Geschichte Europas
von 1763 bis 1814. Den Schluß machte die begreiflicherweise besonders stark
besuchte Vorlesung über die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Aber
auch jetzt war der Kreis seiner Vorlesungen darum kein abgeschlossener: wo
sich das Bedürfnis fühlbar machte, griff er auch auf andre Gebiete hinüber.
So arbeitete er erst in den letzten Jahren die Geschichte des deutschen Kaiser¬
tums und des Papsttums im Mittelalter wieder ans, ein Gebiet, welches er
— die Zeit des spanischen Erbfolgckrieges abgerechnet — wie kaum ein andres
sonst von Grund aus beherrschte.
Noordens Vorlesungen waren in Aufbau und Darstellung in sich
abgeschlossene Kunstwerke. Und gerade darum wirkten sie auch so mächtig,
zogen sie fortwährend sowohl Studenten aller Fakultäten wie auch außerhalb
des Universitätsverbandes stehende Hospitanten an. Die durchschnittliche Zahl
seiner Zuhörer in Leipzig betrug ungefähr 206. Und wenn ein besonders
interessanter Gegenstand in Aussicht stand, vermehrte sich diese Zahl so, daß
die Sitzplätze nicht ausreichten und sich an Wänden und Fenstern Gruppen
von Stehenden bildeten. Wenn Noorden dann in diesen gefüllten Saal ein¬
trat und in seinem eiligen Schritt aufs Katheder zustürmte, erhob sich ein
donnerndes Beifallsgetrampel, das die ersten Worte des beginnenden Vortrages
noch verschlang. Die gleiche stanbanfwirbelnde Ovation wiederholte sich am
Schlüsse jeder Vorlesung. Erst mehrfache Bitten und ernsthafte Vorstellungen
des bescheidenen Mannes bewogen die Leipziger Studenten, auf dieses ihr er¬
erbtes Recht, Beifall und Zustimmung auszudrücken, in Noordenschcn Kollegien
fernerhin zu verzichten. Von da ab vernahm man nur uoch am Anfang und
am Schluß des Semesters diese Kundgebung.
Noordens Vortrag war frei. Auf dem Papiere vor sich hatte er nur die reiche
Literatur, die er am Anfang jedes Kapitels kurz angab, die wesentlichsten Daten und
Zahlen und das Gerippe dieses oder jenes Hauptgedankens verzeichnet. Nicht als ob
das Übrige die Frucht einer augenblicklichen Eingebung gewesen wäre. Es gründete
sich auf eine sorgsame Vorbereitung, auf eine energische Gedankenarbeit, Nicht in
behaglicher Breite floß darum der Strom seiner Erzählung dahin, gedrungen
vielmehr und zielbewußt arbeitete die Darstellung stets einem bestimmten End¬
punkte zu. Die Rede selbst war eilig und erschwerte dem Ungeübten das
Nachschreiben ungemein. In einen Satz womöglich sollte ein ganzer Gedanken-
gang zusammengepreßt werden. Lange Perioden bildeten darum ein Haupt¬
merkmal des Noordenschen Vortrage?. „Aus innerer Erregung heraus,"
selbst von seinem Gegenstände gepackt, mit gehobener Stimme und in getragenem
Stil sprach er — alles unnütze rhetorische Beiwerk verschmähend — mit jener
eindringlichen Energie, mit jener überzeugungsvollen Wucht, die ihre Wirkung
ans die empfängliche» Gemüter seiner Hörer nicht verfehlte.
Einen Hauptreiz der Noordenschen Vorlesungen für die Mehrzahl seiner
Zuhörer bildeten die Charakteristiken, Er selbst legte gerade ans sie einen
besonderen Nachdruck. Seiner Natur war von jeher eine kräftige Beimischung
künstlerischen Hanges und Sinnes eigen. Wie er einst im Ernst hatte daran
denken können, sich ganz der Musik zu widmen, wie er in einer freischöpferischcu
Nachdichtung der Eddasage von Helgi seine poetische Ader erprobt hatte, so
blieb auch in späteren Jahren dem Gelehrten die Künstlernatur vermählt.
Wesentlich ein künstlerisches Versenken war es, aus dem seine vielbewunderten
Charakterschilderungen hervorgingen. Jedem Leser seiner „Europäischen Geschichte"
sind die Bilder eines Wilhelm von Oranien und Auto» Heinsius, eines Marl-
borough und Boliugbroke, eines Ludwig XIV. und einer Maintenou unvergeßlich.
Kann man sie als wahre Kabinetsstücke des historischen Porträts bezeichnen,
so gaben ihnen die Charakterschilderungen der Vorlesungen an plastischer Gegen¬
ständlichkeit nichts nach. Natürlich fehlte diesen das feinere Detail, jenen aus¬
geführten Gemälden treten sie als bloß skizzirte Umrißzcichnungen gegenüber.
Diese» wie jenen aber war in gleicher Weise die Wahrheit und die Lebendigkeit
des Ausdrucks, die Tiefe der Auffassung und die Meisterschaft der Darstellung eigen.
Die Vorlesungen umfaßten nur einen Teil von Noordens akademischer
Wirksamkeit, Der Kreis, der sich im historischen Seminar um ihn versammelte,
war naturgemäß kleiner, umso intensiver aber war die Arbeit des Lrhrers wie
der Schüler, Hier war die Stätte, wo die künftigen Historiker gebildet werden
sollten. Mit welcher Hingabe, ja mit welcher Aufopferung seiner Kräfte und
Hintansetzung seiner eigensten Bequemlichkeit — der Bequemlichkeit des Hauses —
Noorden sich der Leitung dieses Instituts widmete, das wird lange im dank¬
baren Gedächtnis seiner Schüler fortleben. Um die Förderung der historischen
Seminare auf den deutschen Universitäten hat sich Noorden auch über den
engern Kreis seiner persönlichen Wirksamkeit hinaus dauernd verdient gemacht.
Historische Übungen, in denen ein Professor seine Studenten methodisch mit den
Aufgaben der Geschichtsforschung, den Quellen und ihrer kritischen Benutzung
bekannt machte, gab es längst bei uns. Sie reiche» in ihrer Entstehung in die
Zeit des Erwachens der kritischen Geschichtsforschung in Deutschland, in die¬
jenigen Jahrzehnte unsers Jahrhunderts zurück, in denen Pertz die ersten Bände
der NonumWtg, 6örra3iuas Iiistorio^ in die Welt schickte. Das Seminar Rankes,
aus dem unsre bedeutendsten jetzt lebenden Historiker hervorgegangen sind, ist
berühmt geworden. Nicht minder das von Waitz, über das in diesen Blättern
kürzlich ein „Wer'tzianer" berichtet hat. Aber die äußeren Formen, unter denen
diese Institute an den Universitäten bestanden, waren ihrem Gedeihen häufig
nicht förderlich. Was ihnen fehlte, war eine eigne Lokalität, in der die Übungen
hätten abgehalten werden können, die zugleich eine gemeinsame Bibliothek der
wichtigsten Quellensammlungen, Handbücher und Zeitschriften zu beherberge» ge¬
habt und endlich den Mitgliedern als Arbeitszimmer ununterbrochen Hütte offen¬
stehen müssen. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich das Verdienst, diese Ein¬
richtungen zuerst an unsern Universitäten eingeführt zu haben, Noorden zuschreibe.
In Tübingen, Bonn und Leipzig ist er der Begründer solcher historischen Se¬
minare geworden, an andern Orten ist man ihm nachgefolgt, und es erscheint
zweifellos, daß diese Einrichtung sich mit der Zeit überall Eingang verschaffen
wird. Noorden hielt sie so sehr für die unerläßliche Vorbedingung einer er¬
folgreichen Arbeit in den historischen Übungen, daß er da, wo ihrer Einführung
von feiten der Universität Hindernisse entgegenstanden, auf eigne Hand in seiner
Privaiwohnung ein Zimmer für diese Übungen herrichtete, mit den nötigen
Büchern ans seiner eignen Bibliothek ausstattete und den Mitgliedern seines
Seminars zu freier Benutzung zum Zweck ihrer Vorbereitungen überwies. So
hatte er es in Marburg gehalten, so hielt er es anderthalb Semester lang in
Bonn, bis die Einrichtung im Universitätsgebäude fertig war. Da kam es
denn in seinem zweiten Bonner Semester vor, daß bei größerm Andrange das
ursprünglich für das Seminar bestimmte Zimmer nicht mehr ausreichen wollte.
Was sollte geschehen? Das Seminar durfte nicht Not leiden, und wenn es
die eigne Bequemlichkeit kostete. So ward ohne Umstände das größte Zimmer
des Noordcnschen Hauses geräumt, und das Seminar rückte an langen Tischen
für einige Monate in die Räume ein, in denen die Familie sonst gewohnt war,
ihre Freunde zu empfangen. „Erst kommt bei mir der Professor," pflegte der
eifrige Mann zu sagen, und er hat dies Wort redlich wahr gemacht.
Wie segensreich aber die Einrichtung eines Seminararbcitszimmcrs mit
Bibliothek sein, und wieviel Wert Norden selbst auf sie legen mochte, das
Wesentliche lag doch mich hier in seiner Persönlichkeit selbst. Er besaß eine
unvergleichliche pädagogische Begabung, und seinein Talent entsprach die Lust
und Liebe, ja beinahe die Begeisterung, mit der er um diesem Teile seiner
Thätigkeit hing. Hier hat er seine beste Kraft eingesetzt, hier hat er ohne
Zweifel auch sein Bedeutendstes geleistet. Der wesentliche Vorzug seiner histo¬
rischen Übungen bestand darin, daß in ihnen alle Teilnehmer gleichmäßig zu
den gemeinsamen Arbeiten herangezogen wurden. Die Sitte der von Stunde
zu Stunde wechselnden Referate, bei denen immer nnr ein Teilnehmer direkt
beteiligt ist, kannte er nicht, er stellte allen dieselbe Aufgabe und ging mit seinen
Fragen von einem zum ander». Vorbedingung einer solchen Handhabung war
freilich auch die Möglichkeit einer für alle gleichmüßigen Vorbereitung, und
man sieht nun, weshalb es ihm so am Herzen liegen mußte, ein gemeinsames
Arbeitszimmer mit Bibliothek für seine Schüler zu haben. Eine weitere Folge
dieser Methode war die größte Anspannung jedes einzelnen. Arbeitslustig und
arbeitskräftig, wie er selbst war, nicht gewohnt, seinem Körper wie seinem Geiste
Mühe und Anstrengung zu sparen, pflegte er auch an seine Schüler die stärksten
Anforderungen zu stellen. Wer in sein Seminar ging, hatte eine arbeitsreiche
Zeit vor sich. Nachdem am ersten Abend die Aufgabe des Semesters besprochen,
die Quellen und Hilfsmittel aufgezählt und charakterisirt waren, pflegte Noorden
sofort als Einzelausgaben eine Reihe kritischer Fragen zu diktiren, deren jeder
er ein Verzeichnis der zugehörigen Qucllenstellcn und in gedrängtester Fassung
eine Anzahl von kritischen Nebenfragen beifügte, welche den Zweck hatten, ans
die wesentlichsten Punkte, auf die es bei Beantwortung der Hauptfragen ankam,
hinzuweisen. In der nächsten Zusammenkunft ward dann zuerst die Analyse
der einzelnen Quelleuberichte verlangt: der eine referirte über diese, der andre
über jene Quelle. In welchem Verhältnis die Quellen zu einander stünden,
wie jede für diesen oder jenen Punkt zu verwerten sei, wie die verschiedenen
Nachrichten sich ergänzten, welchem Berichte, wo die Aussagen sich entgegen¬
standen, zu folgen sei, das ward an der Hand jeuer kritischen Unterfragen im
einzelnen zu beantworten versucht. Zum Schluß ward die Summe gezogen,
Richtiges von Falschen und Tendenziösem geschieden und auf dem Grunde der
für wahr erkannten Quellcnaussagen der Aufbau des betreffenden Ereignisses,
seine kritische Herstellung unternommen. Das Lieblingsthema Novrdens in
diesen Übungen war die Zeit des Investiturstreites, die er von dem ersten Be¬
ginn dieses Kampfes unter Heinrich IV. und Gregor VII. bis zu seiner endlichen
formellen Beilegung unter Heinrich V. und Calixt in einer Folge von mehreren
Semestern zu behandeln pflegte. Aber auch Partien aus der Geschichte Friedrich
Barbarossas und ausgewählte Fragen aus der deutschen Verfassungsgeschichte
machte er zum Gegenstand seiner Seminarübungcn, und in Leipzig unternahm
er sogar das Wagnis, Stücke aus der neueren Geschichte (die französisch-euro¬
päische Politik der Jahre 166S bis 1668 und Friedrichs II. Listoirs as mon
tvinxs) auf diese Weise kritisch zu verwerten. Mit ruhiger Sicherheit wußte
er dabei die oft verwickelten kritischen Fragen, die sich aufthaten, und die an
sie geknüpfte lebhafte Debatte zu beherrschen. Bei allem Verfolgen sich um
eröffnender Nebcnpfade, bei allem Eingehen auf fremde Anschauungen oder auf
etwaige Einwürfe seiner Schüler verlor er nie den Faden, behielt er stets die
Leitung in der Hand. Dankte er diesen Umstand in erster Linie der eignen
intensiven Vorbereitung und der zielbewußter Energie seines Charakters, so
liegt das Geheimnis seiner pädagogischen Virtuosität doch auf einem andern
Gebiete, Der künstlerische Sinn war es, der ihn auch da beherrschte, wo er
die strenge Methode kritischer Quellenbenutznng lehrte. Nach eignem Geständnis
war er weit entfernt davon, im sachlichen, in der quelleukritischen Untersuchung
selbst aufzugehen. Mit dem Auge des Künstlers ruhte er auf dem spröde»
Stoffe, „In den seminaristischen Arbeiten — dies sind seine eignen Worte —
reizt mich weniger das kritische Ergebnis als die abgerundete Vollkommenheit
der gehandhabten Methode,"
Noorden selbst war der letzte, sich dieses Vorwalten künstlerischen Hanges
auch in gelehrter Arbeit zum Ruhme anzurechnen. In seiner Bescheidenheit
glaubte er in dem Übergewichte von Anregung über das positive Wissen, welches
er zu vermitteln pflegte, einen Fehler zu entdecken. Wir unsrerseits möchten
gerade in diesem Zuge seines Wesens eine» seltenen Vorzug erblicken, der seiner
Lehrthätigkeit zu ihren schönsten Erfolgen verhalf. Daß er die Richtung auf
Fach und Brot — für die überwiegende Mehrheit der Studenten ja der natur¬
wüchsige Hang — durch seine Art zu lehren nicht begünstigte, wird niemand
tadeln wollen. Das Gleichgewicht zwischen Anregung und Wissen stellt sich
bei den meisten von selbst her, Noorden selbst erkannte das und sprach sich
auch in diesem Sinne aus.
Eine andre Gefahr aber lag allerdings nahe, Novrdcns Persönlichkeit
war so mächtig, die Anregung, welche er ausübte, war so nachhaltig, die Energie
seines Wesens wirkte so bestimmend, daß es einem jungen Manne, der sich ihm
als Schüler in Kolleg und Seminar hingegeben hatte, schwer werden mußte,
ihm gegenüber seine Selbständigkeit zu wahren. Ihm selbst blieb dieser Umstand
am wenigsten verborgen, und er beklagte es, daß er seinen Schülern fast regel-
mäßig mit dem fertigen Ergebnis der Forschung entgegentrete und die natür¬
liche Entwicklung ihrer Eigenheit dadurch vielleicht hemme. In treuer Sorge
suchte er die Gefahr, die in diesem Verhältnis lag, abzuwenden, und mit einer
Selbstverleugnung, die wir als den adlichstcn Zug seines Charakters verehren,
entließ er darum gerade die liebsten seiner Schüler, wenn sie einige Semester
bei ihm gewesen waren, aus dem Bereich seines persönlichen Einflusses, damit
sie in andrer Schule — „bei sachlich tüchtigeren Meistern," wie er zu sagen
pflegte — Selbständigkeit und Schaffensfähigkcit bewahrten. Einige sind dann
später zu ihm zurückgekehrt, viele blieben in der fremde» Schule und sind eine
Zierde derselben geworden, alle aber bewahren dem Manne, dem sie so viel
verdanke», ein unvergängliches Gedächtnis.
Was Noorden seinen Schülern war, läßt sich nicht mit dem Worte „Lehrer"
erschöpfen. Freund und Berater war er ihnen allen, einige haben einen zweiten
Vater an ihm verloren. Mit diesem und jenem blieb er auch nach seinen,
Abgang von der Universität in brieflichem Verkehr, stand ihm anspornend und
beratend zur Seite. Und wie viele danken seinem empfehlenden Wort ihr äußeres
Fortkommen. Alles aber, was er in dieser Richtung that, geschah aus rein
menschlichen Antrieben. Jeden Dank wehrte er ab. „Sie wissen, daß die an¬
gemessene Sorge für mir liebgewordene Menschen mir Selbstbefriedigung ist,"
sagte er einfach. Ein Schulhaupt, der Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Partei
ist er daher nie gewesen, für eine solche Rolle war seine Natur zu vornehm.
Die Aufopferung für andre war ihm zur zweiten Natur geworden, die Für¬
sorge für seine Studenten aber erschien ihm geradezu als ein wesentlicher Teil
seiner Amtspflicht. Wie mancher hat aus seiner Sprechstunde fruchtbringenden
Rat, dauernde persönliche Anregung heimgetragen. Mit einer weitherzigen
Liberalität stellte er seine Bibliothek auch ungebeten zur Verfügung; reiste er
in die Ferien, so schickte er wohl diesem oder jenem, den er bei seiner Disser¬
tation beschäftigt wußte, ganze Körbe mit Büchern ins Haus, darunter die
zum Teil unersetzlichen Nommrönw <Zsrmg.uns. Ein oder mehrere male im
Semester versammelte er einen großen Kreis von Studenten in seinem Hause
um sich, und kaum vergingen mehrere Wochen, daß er nicht wenigstens einige
Schüler in engstem Kreise bei sich gesehen hätte. Dann pflegte sich seine reiche
Gabe der Unterhaltung frei zu entfalten: auch hier wie im Seminar beherrschte
er stets die Debatte. Nicht als ob ein ungezwungener Ton in diesem Kreise
gefehlt hätte — das heitere Temperament des Rheinländers verleugnete Noorden
bei solchen Gelegenheiten am wenigsten —, aber es lag um einmal in seiner
Natur, daß er die Unterhaltung stets über das gewöhnliche Niveau hinaushob,
daß er ein zufällig angeregtes Thema mit Feuer aufgriff und in seiner an¬
regenden Weise — über die ganze Tafel hin dozirend — verfolgte. Eine hohe
Idealität lag überhaupt über seinem ganzen Wesen ausgebreitet, zu einer
familiären Vertraulichkeit ließ er sich auch seinen nächsten Schülern gegenüber
nicht herab. Nur umso intensiver wirkte darum sein persönlicher Verkehr. Er
hatte selbst in seiner Jugend den nachhaltigen Einfluß, den der Umgang älterer
Männer auf Jüngere ausübt, an sich erfahren. Kein geringerer als Karl
Josias von Bunsen war es, dem er sich in dieser Weise verpflichtet fühlte. Ihm
widmete er die Frucht seiner Muse, die Sage von Helgi. Ich setze einige
Worte aus der Widmung hierher, weil sie auf ihn selbst eine schlagende An¬
wendung finden. „Kein Mittel geistiger Anregung — sagt er an dieser Stelle —
wüßte ich zu nennen, welches auf gleiche Weise die Seelenkräfte junger
Männer zu den höchsten und edelsten Zielen zu lenken und die Energie des
Strebens so sehr anzufeuern imstande wäre, wie es das liebevolle Eingehen,
die verständnisvolle Teilnahme eines solchen Mannes auf unser geistiges Ringen
und Wollen vermag." In diesen Worten ist die Summe dessen ausgedrückt,
was auch deu persönlichen Verkehr mit Noorden so nachhaltig befruchtend
machte. Was er als Jüngling empfangen hatte, er hat es als reifer Mann
mit Wucherzinsen an seine Schüler zurückgezahlt.
cum man nach dem Grunde fragt, weshalb sich gerade inmitten
einer Bevölkerung, welche um alle Bedingungen des menschlichen
Daseins die schwersten nud hartnäckigsten Kämpfe zu bestehen
hatte, die Kunst und insbesondere die Malerei so reich und üppig
entfalten konnten wie in keinem zweiten Lande der Welt, Italien
nicht ausgenommen, so wird die Wissenschaft der Völkerpsychologie schwerlich
eine befriedigende Antwort auf diese Frage geben können. Die klimatischen
Verhältnisse und die des Bodens haben dieses Wunder allein nicht zuwege
gebracht. Denn dieselben Verhältnisse finden sich auch i» andern Ländern, in
welchen gleichwohl die Kunst niemals Wurzel geschlagen hat. Die Feuchtigkeit
der Atmosphäre und der durch sie erzeugte silberne Glanz der Luft, welche der
farbigen Oberfläche eine große Frische und einen satten, leuchtenden Ton ver¬
leihen, haben unzweifelhaft einen starken Einfluß auf die Entwicklung des Farben¬
sinnes unter den niederländischen Malern geübt. Das lehrt uns eine Analogie
auf italienischem Boden, die Kunststadt Venedig, zu welcher auf nordischem
Boden Amsterdam das Seitenstück bildet. Der Wasserdunst, welcher ans den
Lagunen nud den Kanälen emporsteigt und die Luft beständig mit Feuchtigkeit
sättigt, hat den Grund gelegt zu der intensiven Farbenglut und der sonoren
Harmonie der Töne, durch welche sich die venezianische Malerschule vor allen
übrigen Kunstschulen Italiens auszeichnet. Aber gerade das Beispiel Venedigs
zeigt uns auch, daß gleiche klimatische Voraussetzungen nicht zu gleichen Ergeb¬
nissen führen. Wohl offenbart sich in der venezianischen Malerei ein stärkerer
realistischer Zug, als wir ihn in den übrigen Malerschulen Italiens finden.
Aber im Vergleich zur holländischen Malerei hat die venezianische ein durchaus
idealistisches Gepräge. Es müssen also andre Momente hinzugetreten sein, um
der ersteren denjenigen Charakter zu geben, welchen sie, vorübergehende Schwan¬
kungen abgerechnet, immer bewahrt hat. Diese und andre Momente können aber
nur wirksam gewesen sein, wo eine gewisse Empfänglichkeit, eine natürliche Be-
gabung von vornherein vorhanden war. Weder das Material der Farbe noch
die Fähigkeit, Farben zu erkennen, machen allein den Maler aus. Wie die
Normannen in erster Linie für den Krieg angelegt waren, so hatte die Natur
den Leuten, welche sich an den Ufern der Maas, der Scheide und an den Aus¬
flüssen des Rheins auf dem beweglichen Dünensande ansiedelten, die Gabe der
Kunst mit auf den Weg gegeben. Die Niederländer sind ein spezifisches Kunst¬
volk. Die Organe für die Kunst waren ihr natürliches Besitztum, und nur
die Ausbildung derselben war äußeren Einflüssen unterworfen. Wir müssen
diese Thatsache g, priori als vorhanden einnehmen, da sich auf dem Wege der
Analhse nicht mehr feststellen läßt, weshalb gerade die Niederländer im Besitz
dieser Organe waren. Diese Thatsache ist aber umso wunderbarer, als die
Bevölkerung jenes Länderkomplexcs, welcher heute das Königreich der Nieder¬
lande und das Königreich Belgien bildet, eigentlich ein Mischvolk ist. Schon
die Belger selbst, welche dem letzteren den Namen gegeben haben, waren kein
rein gallischer Stamm, sondern aus Kelten und Germanen gemischt; dagegen waren
die nördlicher wohnenden Bataver und Friesen reine Germanen. Während die
Bevölkerung dieses nördlichen Teils der Niederlande sich bis auf den heutigen
Tag rein erhalten hat, spiegeln sich in Belgien die alten Verhältnisse noch hente
wieder, indem die autochthone Einwohnerschaft zur einen Hälfte vlämisch, also
germanischer Herkunft, zur andern Hülste wallonisch, also keltischen Ursprungs
ist. Trotzdem daß der Boden, auf welchem diese Bevölkerung ansässig war, im
großen und ganzen eine gleiche Physiognomie trug, machte sich der Riß, welcher
dnrch die nördlichen und südlichen Landschaften ging, schon frühzeitig in der
Kunst, in der Religion und im Staatswesen geltend. Die Lostrennnng der
sieben nördlichen Provinzen von den südlichen im Jahre 1ö81 gab diesem
Zwiespalt nur den politischen Ausdruck.
Von vornherein war die Bevölkerung der südlichen Niederlande lebhafter,
feuriger, temperamentvoller. Der Sinn für äußere Pracht und festlichen Glanz
war hier bei weitem mehr entwickelt als im Norden. Man braucht nur eine
vlämische Kirmes mit einer holländischen zu vergleichen, um auf die Verschieden¬
artigkeit des Volkscharakters bei aller scheinbaren Einheit in den Gebräuchen
aufmerksam zu werden. Im Süden die Freude an glänzenden Aufzügen, das
Aufgehen des Individuums in der Masse, im Norden, wo sich der Charakter
im beständigen Kampfe mit den Elementen mehr schärft und festigt, das Hervor¬
treten des Individuums, die Freude am Bewähren der persönlichen Tüchtigkeit
und, darnach auf die Kunst angewendet, die Freude am Bildnis des Einzelnen
und an größern Pvrträtgruppen, die aber auch nur auserwählte Individuen
umfassen. Die Schützen- und Regentenstücke, welche in der holländischen Portrait-
malerei eine so bedeutsame Rolle spielen, sind ans diesen Charakterzug zurück¬
zuführen. Der Süden kennt solche Porträtgruppen von Leuten aus dem mittlern
Bürgerstande nicht. Die größere Prachtliebe brachte den Südländer auch dazu,
sich nach einem leichtern Erwerbe umzusehen, als ihn der Ackerbau gewähren
konnte. So wurde ihm der Handel zu einer Quelle des Reichtums, und daneben
die Fabrikation von Gebrauchs- und Luxuswaareu, welche dem erstem einen
Teil seiner Unterlage lieferten. Brügge, Gent, Mecheln, Lüttich, Apern,, Brüssel
und Antwerpen waren neben- und nacheinander die mächtigen Metropolen des
Handels und des Gewerbfleißes, während die Bewohner der nördlichen Pro¬
vinzen in erster Linie ans die Produkte des Meeres und des Landes angewiesen
waren und diese zur Grundlage ihres Handelsverkehrs machten. Im Norte»
behielt das Leben auch in den Zeiten höchster Machtcntfciltung immer einen
ärmlichen, kärglichen, nüchternen Anstrich. Wenn auch die Leute in den hollän¬
dischen Provinzen ebenso gut aßen und tranken wie in den belgischen, so wurde
doch dort ein bei weitem geringerer Wert auf die Ausstattung des Hauses und
der Wohnung und auf die Kleidung gelegt. Den Südländern gab ihre eigne
Fabrikation die kostbarsten Sammet- und Seidenstoffe in die Hand, während
sich die Nordländer mit geringem, selbstgefertigten Tuch begnügen oder jenen
für schweres Geld ihre Erzeugnisse abkaufen mußten. Was ursprünglich viel¬
leicht nur durch die Notwendigkeit hervorgerufen war, wurde später zur Sitte,
und diese notgedrungene Einfachheit in der Tracht wurde gewissermaßen zu
einer bürgerlichen Institution, als der Protestantismus in die nördlichen Pro¬
vinzen seinen Einzug hielt und die Kluft zwischen beiden Teilen noch vergrößerte.
Nur in einem Punkte gab es eine gewisse Verwandtschaft, die auch später
trotz aller Spaltungen bestehen blieb. Die kärgliche Beschaffenheit des
Bodens zwang die Bevölkerung, alle ihre Kräfte im Kampfe um die Er¬
haltung des Lebens anzuspannen. Hier streckte das Meer unablässig seine
gierigen Arme aus und bedrohte das Land, dort war es der sandige oder
sumpfige Grund, welcher dem Ackerbauer die Früchte feiner Bemühungen weigerte.
Immer war also ein Kampf mit realen Mächten zu bestehen, und gewisser¬
maßen Auge in Auge standen sich die beiden Parteien gegenüber. Dieser Boden
war nicht wie der Italiens, der ungezwungen aus dem Vollen spendete, zum
behaglichen Genusse des Daseins geeignet, und deshalb konnte sich in denen,
welche mit dem Boden ringen mußten, die Phantasie, die Tochter der Be¬
schaulichkeit, nicht zu jener Kraft, zu jenem Schwunge entfalten, welche den
italienischen Künstlern zu Gebote gestanden haben. Immer den Blick auf die
Außenseite der Dinge richtend, erprobten die niederländischen Künstler auch an
ihnen zuerst ihren Nachahmungstrieb, und die ersten Erfolge, die verhältnis¬
mäßig schnell auf diesem Wege erzielt wurden, waren so nachhaltig und grund¬
legend, daß die Einflüsse der italienischen Kunst während des sechzehnten und
siebzehnten Jahrhunderts auf die niederländische den realistischen Charakter der
letztern nur vorübergehend alteriren konnten.
Das Niederland ist die Wiege der realistischen Kunst, und deshalb ent¬
wickelte sich in seinen Grenzen die Landschaftsmalerei, welche die äußere Physio-
gnomie des Landes festzuhalten sucht, und die Malerei des Sittenbildes, welche
das tägliche Leben zum Gegenstände hat, zu einer in andern Ländern bei
weitem nicht erreichten Blüte, Selbst die religiöse Malerei nimmt in ihren
reifsten Schöpfungen, welche wir dem größten Meister des Realismus, Rem-
brandt, verdanken, den Charakter des Sittenbildes an, und Andachtsbilder
waren es, auf welchen der Genius der niederländischen Landschaftsmalerei zuerst
seine Schwingen geregt hat. Demselben realistischen Zuge folgt die Porträt¬
malerei, deren Produkte nicht selten durch ihre Komposition — wir erinnern z, B.
an die Schützenmahlzeit des van der Helft und an die Nachtwache Rembrandts —
in das Gebiet des Sittenbildes fallen.
Länger als ein Jahrhundert hat es gedauert, ehe sich Landschaft und Sittenbild
auf die Dauer von den religiösen Darstellungen lösten und selbständig auftraten.
Es ist aber bezeichnend für die Tiefe, in welcher die realistische Anschauung der
niederländischen Kunst wurzelte, daß wir die Anfänge der Landschaft, des Por¬
träts und des Sittenbildes schon ans jenem großen Werke nachweisen können,
welches an der Schwelle der niederländischen Kunst steht, an dem Genter Altar
der Brüder van Esel, dessen einzelne Teile sich in Berlin, Brüssel und Gent
befinden. Diese merkwürdige Schöpfung ist ein Phänomen, welches uns als
etwas wunderbares und ganz unvermitteltes entgegentritt, da keine Tafelgemälde
auf uns gekommen sind, welche dem Genter?lltar vorausgegangen sein können.
Die Vollendung desselben fällt in das Jahr 1432, und fünfzehn Jahre früher
muß er mindestens begonnen worden sein, da Hubert van Eyck, der ältere der
Brüder, welcher den Gedanken der Komposition ersann, im Jahre 1426 starb
und nach der Inschrift ans dem Gemälde bis zu seinem Tode doch schon einen
Teil vor sich gebracht haben mußte, da sein Bruder Johann als der „Voll¬
ender" genannt wird. Wenn man von einigen rohen Fresken absieht, ist dieses
Werk für uns wenigstens, geschichtlich betrachtet, eine völlig neue Erscheinung,
und mit ihm muß man daher die Geschichte der niederländischen Malerei be¬
ginnen. Wie aber nichts Vollendetes oder Neues auf der Welt ohne Vor- oder
Entwicklungsstufe zu denken ist, so müssen auch dem Genter Altar eine Reihe
andrer Gemälde vorausgegangen sein, die sich unsrer Kenntnis entziehen. Das
einzige Kunstmaterial, welches für uns den Zusammenhang mit ihm und der
frühern Malerei vermittelt, sind die Miniaturen der Meßbücher, der Breviere,
der Kalendarien, der Manuskripte der klassischen und der gleichzeitigen schönen
Literatur. Sie befanden sich ebensowohl in der Händen der Geistlichen und
Gelehrten wie im Besitze der Laien. Das beweist uns u. a. das Doppelbildnis
des Gvldwügerpcmres von Quintin Massijs im Louvre, auf welchem die Fran
in einem Gebetbuche blättert, dessen aufgeschlagene Blätter das Miniaturbild
einer Madonna und einen kunstvollen Initial zeigen. Wenn wir uns die Kultur¬
zustände des Mittelalters und der Renaissancezeit im weitesten Sinne vergegen¬
wärtigen wollen, müssen wir stets die gleichzeitigen Kunstwerke befragen, da es
noch niemand gewagt hat, eine Kulturgeschichte dieser Epochen auf Grund der
literarischen und artistischen Denkmäler zu schreibend)
Die Miniaturen sind es also, welche uns einige Aufschlüsse über den Stand
der Malerei in den Niederlanden während des vierzehnten Jahrhunderts geben,
und in ihnen regt sich bereits jene realistische Auffassung der Natur und der
Menschen, die sich auf dem Genter Altar rin vollkommener Freiheit entfalten
sollte. Hier erwacht zum erstenmale die Freude des nordischen Menschen an
der Natur. Mit liebevoller Sorgfalt werden die landschaftlichen Hintergründe
für die Szenen aus der heiligen Geschichte ausgemalt. Die Landschaften werden
mit Burgen besetzt, wie sie die Künstler vor ihren Augen sahen, und der stolze
Bürgersinn spiegelt sich auch in diesen Malereien, indem nicht selten ganze
Städte mit ihren Mauern und Thürmen noch völlig naiv zwar, aber doch in
der klaren Absicht, etwas wirklich Vorhandenes nachzubilden, dargestellt werden.
Derselbe Anschluß an die Wirklichkeit offenbart sich in der Tracht der Figuren.
Der historische Sinn war unter diesen Künstlern so wenig entwickelt, daß es
keinem von ihnen einfiel, die Menschen könnten sich jemals anders getragen
haben, als sie es täglich mit eignen Augen sahen. Und warum auch? Konnte
es jemals etwas prächtigeres gegeben haben, als diese schweren, pelzverbrämtcn
Sammet-, Seiden- und Brvkatgewänder, diese kostbaren, von Juwelen funkelnden
Gürtclketten, diese blinkenden Rüstungen und Waffen? Und diese Herrlichkeiten
waren es wirklich wert, mit feinem Pinsel auf das subtilste nachgebildet zu werden.
Die farbige Welt der Erscheinungen war so mächtig in ihrer Wirkung ans das
Auge des Malers, daß die Phantasie garnicht nötig hatte, aus sich heraus zu
schaffen. Die Wirklichkeit bot dem Künstler soviel, daß er vollauf zu thun hatte,
um den Glanz, den Reichtum und das bewegte Leben seiner Umgebung nach¬
zubilden. Die Tafelmaler, welche vor den van Eycks thätig waren, werden der¬
selben Naturauffassung, und wahrscheinlich noch in verstärktem Maße, gehuldigt
haben, und da ihnen überdies in der Ölfarbe ein glänzenderes Ausdrucksmittel
zu Gebote stand, als den mit Gummi- und Leimfarben arbeitenden Miniatur¬
malern, wird die Wirkung, die sie erreichten, unzweifelhaft eine noch mächtigere
gewesen sein. Denn die Brüder van Eyck haben keineswegs, wie es früher hieß,
die Ölmalerei erfunden. Die Forschung hat ergeben, daß die Kunst, Öl als
Bindemittel für mineralische und vegetabilische Farbstoffe anzuwenden, schon im
dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert bekannt war. Nur vervollkommnet
haben die Eycks diese Technik, wie es noch heute große Künstler thun, denen
die Ausdrucksmittel ihrer Vorgänger nicht mehr genügen. Ebensowenig haben
die Schöpfer des Genter Altars den nordische» Realismus „erfunden," sondern
denselben nur zu einer Vollkommenheit entwickelt, welche für alle Zeiten ver¬
ständlich ist. Die Bildnisse der Stifter des Altars, des Patriziers Jodokus
Vhd und seiner Gattin Lisbeth Bnrlnt, sind wahre Wunderwerke der Natur-
nachahmung, welche die Kunst der späteren Jahrhunderte nicht mehr übertreffen
konnte. Wohl vermochte sie das Bildnis einer Person mit einem stärkeren
Nimbus von Vornehmheit zu umgeben, wohl vermochte sie dem Porträt durch
die malerische Behandlung ganz andre, unendlich vielseitige Reize zu verleihen,
aber der Ausdruck unmittelbaren Lebens innerhalb einer schlichten bürgerlichen
Existenz ist niemals mit gleich einfachen Mitteln schlagender wiedergegeben worden
als in dem Bildnisse des Jvdokns Vyd und seiner Ehefrau.
Auf der Hauptdarstellung des aus achtzehn Tafeln bestehenden Altarwerkes
ist es vornehmlich die Landschaft, die uns fesselt, weil sich in ihr wiederum die
treueste Beobachtung der Natur offenbart. In ihrer ganzen Anordnung wird
diese Landschaft schwerlich ein Vorbild in der Natur gehabt haben; aber dafür
ist jedes Detail getreu der Natur nachgebildet worden, die Pflanzen, Gräser
und Blumen im Vordergrunde, die blühenden Rosensträucher, die Gebüsche, das
Weinlaub und die einsame Palme, welche den Horizont weit überragt. Jan
van Eyck war im Süden, in Portugal, gewesen und hatte dort eine herrlichere
Natur mit Orangen-, Mhrthen- und Lorberbäumen kennen gelernt, die ihm
würdig zu sein schien, den Hintergrund für die bedeutungsvolle Anbetung des
heiligen Lammes abzugeben. Auf den vier Seitenflügeln, welche diese Dar¬
stellung fortsetzen, sind die Produkte eines glücklicheren Klimas noch reicher ver¬
wertet. Aber die Bauwerke, welche in diese südliche Landschaft versetzt sind,
die hohen, spitzen Kirchthürme und die viereckigen, grnndgewaltigen, mit zier¬
lichen, spitzen Eckthürmen besetzten Besfrois, die Wacht-, Thor- und Mauerthürme,
diese Bauten haben ein echt flandrisches Gepräge. Und wenn man das üppige
Thal mit seinen nackten, schroff emporsteigenden, aber oben von Buschwerk ge¬
krönten Felsenwänden, durch welches die Streiter Christi und die gerechten Richter
cinherreiten, näher ins Auge faßt, so wird schon der flüchtige Tourist, welcher
einmal mit der Eisenbahn von der deutschen Grenze über Verviers nach Lüttich
und Maestricht gefahren ist, auf die Verwandtschaft aufmerksam, welche zwischen
dieser den Schienenweg auf beiden Seiten begleitenden Thal- und Flnßland-
schaft und den Hintergründen der Eyckschen Gemälde besteht. Das ist nichts
auffallendes. Denn das Maasthal war die Wiege der Ehckschen Kunst und
somit auch die Wiege der nationalen Landschnftsmalerei. In Dinant an der
Maas, wo die malerischen Felsbildungen sich in besonders ausgeprägter Form
zeigen, wo die Häuser der einzigen Straße nur mit Mühe einen Platz zwischen
den schroffen Fclswcmdungen und dem Flußbette gefunden haben, ist auch Joachim
de Patinir geboren, der erste in den Niederlanden, welcher die Landschaftsmalern
als eine selbständige Kunst betrieb. Maasehck, der Geburtsort der Brüder
van Eyck, liegt viel weiter nördlich als Dinant, am untern Laufe der Maas,
hart an der heutigen Grenze zwischen Belgien und Holland. Aber der Cha¬
rakter der Landschaft bleibt auf der ganzen Strecke ziemlich derselbe: aus dem
saftigen Grün der Wiesen und dem dunkler gefärbten der Gebüsche blicken die
Schieferdächer der mit Zinnen gekrönten Schlösser und Landhäuser hervor, rasch
strömt der Fluß zwischen den grünen, mit Erlen bewachsenen Ufern dahin,
überall ein Bild von heiterm Wechsel zwischen reichem Pflanzenwuchs und ma¬
lerischer Bodengestaltung. So bot wenigstens auf diesem bevorzugten Land¬
striche auch die unbelebte Natur dem Künstler auf Schritt und Tritt darstel-
lnngswürdige Objekte.
Haben schon die von dem religiösen Mittelbilde des Genter Altars räumlich
abgetrennten Züge der Streiter Chisti, der gerechten Richter, der heiligen Ein¬
siedler und Pilger ein genrehaftes Gepräge, so dürfen zwei Tafeln der obern
Reihe, die singenden und die musizirenden Engel, ans ihrem symbolischen Zu¬
sammenhange gelöst, als vollkommene Genrebilder gelten. Denn da ist nichts,
das auf den himmlischen Charakter dieser jugendlichen Wesen deutete. Sie haben
weder Flügel, noch sind sie in die ätherischen, der Antike nachgeahmten Gewänder
gehüllt, welche die Engel auf den Schildereien der gleichzeitigen Italiener tragen.
Diese jungen Sänger und Musiker sind vielmehr in die prächtigen, schweren,
breite Falten werfenden Brokat- und Sammetstoffe gekleidet, die ans den Web¬
stühlen von Gent und Brügge entstanden. Aus diesen Stoffen machte man auch
die Meßgewänder für die vornehme, reiche Geistlichkeit, und deshalb wußte der
Maler den Bewohnern des Himmels kein köstlicheres Kleid anzulegen, als es
die sichtbaren Vertreter und Großsicgelbewcchrer der himmlischen Gnade und
Seligkeit auf Erden trugen. Auf der Tafel neben der Madonna führt ein
Doppelanartett von also gekleideten Engeln vor einem Chorpulte, auf welchem
das aufgeschlagene Ccmzionale liegt, den Lobgesang zu Ehren der heiligen Drei¬
faltigkeit ans, und auf der entsprechende» Tafel der andern Seite ist das himm¬
lische Orchester in Thätigkeit: ein Engel sitzt in einem durch besondre Pracht
ausgezeichneten Gewände auf einem Faltstuhl vor einer Orgel und schlägt die
Tasten, ein Genosse begleitet ihn auf der Viola und ein andrer auf der Harfe.
Alle Geräte und Instrumente, Kleider und Schmucksachen sind mit einer so
peinlichen Sorgfalt der Natur nachgebildet, daß Kunsttischler, Juweliere und
Gewandschneider gleich darnach arbeiten könnten. So zeigt uns also der Genter
Altar in der minutiösen Schilderung der Erzeugnisse des Handwerkes und der
Kunst die Keime, aus welchen sich die niederländische Stilllebenmalerei nach¬
mals zu dem bekannten Glänze entwickelte. Und damit noch nicht genug.
Wenn wir die Außenseite dieses wahrhaft universellen Kunstwerkes betrachten,
blicken wir in ein niedriges, durch rnndbogige Fenster geöffnetes Zimmer mit
schwerer Balkendecke, in welchem Maria, vor einem Bctpulte kniend, die Botschaft
des Engels empfängt, daß von ihr das Heil der Welt kommen soll. In einer
gothischen Nische an der Fensterwand steht ein flaches Waschbecken und darüber
hängt an einer Kette ein kupfernes, ampelartigcs Gerät, vielleicht eine ewige
Lampe. In einer zweiten, durch wagerechte Bretter eingekeilten Nische ist einiges
HauSgerät aufbewahrt, eine Kanne, ein Becher, ein Leuchter und zwei Bücher.
Sonst ist es leer in dem sauber getäfelten Raume. Aber durch die offenen
Fenster, vor welchen der sonst übliche schützende Vorhang fehlt, fällt das volle
Sonnenlicht in das Gemach und erzeugt bereits jenes dämmerige Halbdunkel,
dessen wunderbares Spiel im Innenraum zwei Jahrhunderte später Pieter de
Hooch mit so großartiger Virtuosität zu behandeln wußte. Auf einem kleinen
Gemälde der Berliner Galerie, welches, wenn es nicht von Jan van Esel selbst
herrührt, so doch in seiner Werkstatt oder nach einem (verloren gegangenen)
Originale von ihm gemalt worden ist, sieht man noch deutlicher, welche Voll¬
kommenheit die Eycksche Schule bereits in der feinfühligen Wiedergabe der Licht¬
effekte und in der Durchbildung des Helldunkels erreicht hatte.
Der Realismus der Brüder van Esel, d. h. das von ihnen mit vollem Be¬
wußtsein in die niederländische Kunst eingeführte Streben nach höchster Natur¬
wahrheit, fand aber zunächst über den Genter Altar hinaus im Porträt seine
weitere Ausbildung. Der Mann mit den Nelken in der Hand und dem
Se. Antoniuskrenze auf der Brust (in der Berliner Galerie) ist wohl die voll¬
endetste Leistung Jan van Eycks auf diesem Gebiete, ein Bild, welches mit der
Lupe betrachtet werden muß, damit die sorgfältige Detaillirung desselben nach
Gebühr gewürdigt werden kann. Es ist bezeichnend für die ganze Anschauungs¬
weise Jan van Eycks, daß er diesem Bildnisse ursprünglich ein genreartigcs
Gepräge aufdrücken wollte; man sieht nämlich ganz deutlich, daß der Künstler
unten noch eine Tischplatte gemalt hatte, auf welcher die Hände des Darge¬
stellten auflagen. Das war bereits angelegt, als es dem Künstler später in
den Sinn kam, die Anlage wieder zu übermalen. Ganz hat er dagegen den
Charakter eines Genrebildes bei dem Doppelporträt eines Braut- oder Ehe-
Paares in der Londoner Nationalgalerie festgehalten. Wenn wir nicht aus
Urkunden wüßten, daß die Dargestellten der Brügger Tuchhändler Arnolfini
und sein Eheweib sind, so würden wir beim ersten Anblick auf ein Genrebild
raten. Die beiden Personen halten einander bei der Hand gefaßt, als wollten
sie sich noch einmal Treue schwören. Der Hochzeitsstaat, welchen beide tragen,
deutet darauf hin, daß sie entweder eben aus der Kirche gekommen sind
oder sich nach derselben begeben wollen. Wohl das erstere. Denn das Ge¬
mach, in welchem sie sich befinden, ist offenbar die gemeinschaftliche Wohnung
des Paares. Die Ausstattung des Raumes, in welchem die Perspektive und
die Luft- und Lichtstimmung besonders meisterlich behandelt sind, ist immer noch
ganz einfach: ein Bett, ein paar Stühle, ein von der Decke herabhängender
Kronleuchter, ein Teppich und der Fußboden mit sauberen Fliesen ausgelegt.
Der einzige Luxusgegenstand ist ein Hohlspiegel, dessen runde Einfassung mit
zehn Bildchen aus der Passion geschmückt ist. Dieser Spiegel reflektirt das
Gemach selbst und eine Thür, durch welche zwei Personen eintreten. Dieses
feine, mau möchte sogar sagen raffinirte Kunststück setzt bereits ein großes
technisches Können, eine lange Übung voraus und ebenso eine ziemlich hohe
Stufe der Kultur. Denn andre Gemälde, die wir sogleich erwähnen werden,
bringe» uns auf die Vermutung, daß man diese Spiegel anwendete, um sich
auf kommenden Besuch vorzubereiten, ähnlich wie noch heute in kleinen Städten
an den Kreuzen der Parterrefenster außerhalb derselben Doppelspicgel angebracht
werden, damit die in der Stube Sitzenden die Vorübergehenden bequem be¬
obachten können.
Das Kunststück mit der Spiegelung, welches Jan van Esel vermutlich
zuerst versuchte — das erwähnte Bild ist 1434 gemalt —, fand nämlich großen
Beifall, da es noch häufig nachgeahmt wurde. Die nächste Wiederholung des¬
selben finden wir auf einer Tafel im Museo bei Prado in Madrid, welche die
Jahreszahl 1438 trägt und einen knienden Geistlichen und hinter ihm Johannes
den Täufer zeigt. An der Wand des Zimmers hängt der konvexe Spiegel,
und durch das geöffnete Fenster blickt man in eine Landschaft. Man ist geneigt,
dieses Bild dem Petrus Christus, vermutlich einem Schüler Jan van Eycks,
zuzuschreiben, da es große Ähnlichkeit mit einem bezeugten Bilde dieses Meisters
im Besitze des Barons Albert Oppenheim in Köln hat, welches den heiligen
Eligins als Goldschmied darstellt und ebenfalls der Gruppe vou Bilder», die
uns hier aus verschleimen Gründen interessiren, angehört. Es ist im Jahre 1449
gemalt. Der Heilige sitzt in seinem Verkaufsladen an: Tische und ist beschäftigt, das
Gewicht eines goldnen Ringes mit einer kleinen Wage festzustellen. Die Gewichte,
deren er sich bedient, liegen in einer messingnen Kapsel, und zwar hat dieselbe genau
die Form und Einrichtung, welche sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben.
Die Gewichte sind in Gestalt von kleinen sehnlicher so ineinandergefügt, daß
sie, nach oben immer kleiner werdend, die metallene Büchse vollständig füllen.
Neben diesem Gewichtbehälter steht ein runder Spiegel, in welchem ein freier
Platz mit hohen Häusern und zwei vorübergehende Personen zu sehen sind.
Der Heilige wendet sich zu einem reich gekleideten Paare um, welches zu ihm
gekommen ist, um seine Eheringe zu kaufen. Rechts vom Beschauer sind auf
zwei Bordbrettern über einander kunstvolle Arbeiten des Goldschmieds auf¬
gestellt: ein gebuckelter Deckelpokal, zwei hohe Kannen, ein Becher, eine Laterne,
ein Halsgeschmeide, ein Kästchen mit Ringen, ein Korallenzweig und dergleichen
mehr. Wenn der Heilige nicht durch seine Aureole als solcher bezeichnet wäre,
würden wir bereits in dieser verhältnismäßig frühen Zeit ein reines Genrebild
vor uns haben. Jedenfalls ist ein solches Gemälde von hoher Bedeutung für
den sittenbildlichen Charakter, welchen die niederländische Malerei frühzeitig
annahm.
Aus einer nur wenig späteren Zeit stammt auch das erste wirkliche Genre¬
bild im modernen Sinne, welches, soweit unsre Kenntnis reicht, auf uns
gekommen ist. Es befindet sich im städtischen Museum zu Leipzig und stellt
einen Liebeszauber dar, welchen ein junges Mädchen mit Bezug auf einen
jungen Mann ausübt, der hinter dem Rücken der Liebebedürftigen durch die
Thür in das Zimmer tritt. Dieses Zimmer giebt uns zugleich eine voll¬
kommene Vorstellung von der inneren Ausstattung bürgerlicher Wohnräume in
der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Da das Gemach an den
beiden auf die Thürwand ausstoßenden Seitenwänden mit Fenstern versehen
ist, muß man annehmen, daß es in einem erkerartigen Vorbau lag. Neben
der Thür befindet sich ein Wandschrank, dessen mit eisernen Bändern beschlagene
Thür halbgeöffnet ist, sodaß man auf seinen Inhalt, auf metallne Kannen,
Schüsseln und Pokale, blickt. Auf einem über diesem Schranke angebrachten
Bordbrcttc sind noch andre Gefäße aus Glas und Steingut aufgestellt. Unter
dem Wandschranke läuft eine niedrige Bank um die Ecke des Zimmers herum
bis zu dem mächtigen, von einem Mantel überdachten Kamine, in welchem
auf schmiedeeisernen Feuerböcken große Holzscheite brennen. Auf der andern
Seite des Zimmers steht ein niedriger Schrank mit gothischem Zierat, welcher
nur bis an die untere Kante der Fensterbrüstung reicht und zugleich als Tisch
dient. Solche „Stollenschränke" aus dem 15. Jahrhundert haben sich noch
erhalten. Im untern Teile war zwischen den vier hohen Füßen ein Brett
angebracht, auf welchem man Hausgerät bewahrte. Auf unserm Bilde steht
auf diesem Brett ein metallenes Waschbecken mit Kanne. Der obere Teil wurde
durch eine Thür in der Mitte geöffnet. Auf der oberen Platte des Schrankes
liegt ein halb zusammengerolltes, mit Fransen besetztes Handtuch, welches man
wölikl und ävÄö, später locis nannte.*) Daneben steht eine Büchse, eine
Schale, auf welcher ein Papagei sitzt, und an dem Pfosten, welcher die beiden
Fenster trennt, ist ein Wedel aus Pfauenfedern und darüber ein Hohlspiegel
in viereckigem Rahmen angebracht. Unter dem zweiten Fenster dieser rechten
Wand steht wieder eine niedrige, hölzerne Bank, welche wie die andre ihr
gegenüber mit einem Kissen belegt ist. Das Mädchen in der Mitte des Zim¬
mers übt seinen Liebeszauber dadurch, daß sie mit einem Stahlstäbchen Funken
aus einem Feuerstein lockt, die auf ein wächsernes Herz in einem Kästchen
fallen. Dies letztere steht auf einem dreibeinigen Schemel ohne Lehne, einem
Sitzmöbel, welches sich in dieser Gestalt bis auf den heutigen Tag erhalten
hat, auch in den Dorfschenken von Brouwer und Teniers eine wichtige Rolle
spielt, wo es bisweilen auch als Waffe benutzt wird. H. Lücke, der dieses
kulturgeschichtlich äußerst merkwürdige Bild zuerst weiteren Kreisen bekannt
gemacht hat, läßt es um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden sein.
Das vierte Beispiel, welches wir anführen wollten, ist jenes schon er¬
wähnte Bild im Louvre von Quintin Massijs „Der Gvldwäger und seine Frau."
Es ist ebenfalls eines der frühesten niederländischen Genrebilder, führt uns aber
bereits, da es 1518 gemalt ist, in das sechzehnte Jahrhundert. Hier ist der
Mann beschäftigt, auf seiner Wage das Vollgewicht von Goldstücken zu prüfen,
und die Frau blickt über ihr Gebetbuch hinweg seiner Hantierung zu. Auf dem
Tische steht dem Wäger zunächst jene messingne Kapsel mit den kleinen Gewicht¬
stücken, und nicht weit davon ein Hohlspiegel, in welchem ein ganzes Fenster
und ein lesender Mann, offenbar der Bewohner des gegenüberliegenden Hauses,
widergespiegelt werden. Auf dem Tische befinden sich ferner ein hoher Krystall-
Pokal mit goldnem Deckel und ein kleiner Stab, auf welchem Ringe aufgezogen
sind. So werden noch heute die Ringe bei unsern Juweliern aufbewahrt.
Hinter dem Paare sind an der Wand zwei Bretter über einander angebracht,
auf welchen allerlei Gerät, ein Leuchter, eine Wasserflasche, eine Schüssel, eine
Wage, ferner eine Orange und eine Anzahl Bücher liegen. Man darf wohl
annehmen, daß wir hier das Komptor eines Geldwechslers vor uns haben,
welcher zugleich Pfandleiher war. Der Tisch ist mit grünem Tuch bedeckt,
welches an der Kante mit Nägeln befestigt ist.
In den kleinen Spiegelbildern haben wir die Vorläufer jener bewunderungs¬
würdigen Meisterstücke der Feinmalerei zu sehen, mit welchen später Davidsz
de Heem und andre Stilllebenmaler ihren Frühstücksbildern noch einen be¬
sondern Reiz verliehen, indem sie in dem grünen Glase und dem goldnen Weine
der Römer ganze Zimmer und Straßen wiederspiegelten.
Besitzen wir auch von Jan van Eyck kein eigentliches Genrebild, so ist
uns doch durch literarische Überlieferung bezeugt, daß er wenigstens drei solche
gemalt hat. Ein italienischer Humanist des fünfzehnten Jahrhunderts, Bartho-
lomäus Facius aus Spezzia, welcher lange Zeit am Hofe des Königs Alfons
von Neapel lebte, verfaßte im Jahre 1456 ein Buch „Von berühmten Männern"
(De viris illuLtribus). Neben Dichtern, Rednern, Humanisten, Ärzten und Rechts¬
gelehrten mußten in einem Lande wie Italien auch die Künstler berücksichtigt
werden. Da ist es nun bezeichnend für die Wertschätzung, deren sich damals
die flandrischen Künstler in Italien erfreuten, daß neben zwei italienischen Maler»
auch zwei niederländische, Jan van Eyck und Roger van der Weyden, genannt
werden. Von beiden Meistern waren Gemälde bis in den Süden Italiens
gelangt, und eines derselben, eben jenes Genrebild Jan van Eycks, befand sich
bei einem Kardinal Octavianus, wo es Facius sah. Es stellte nach der Be¬
schreibung desselben das Innere einer Badestube dar. Mau sah Frauen von
schöner Gestalt, nur an gewissen Körperteilen mit einem dünnen Schleier ver¬
hüllt, aus dem Bade steigen. Eine derselben war von vorn gesehen; aber
hinter ihr war ein Spiegel aufgestellt, welcher auch ihren Rücken wiederspiegelte,
sodaß man ihre ganze Gestalt würdigen konnte. „Auf demselben Gemälde ist
zu sehen im Bade eine Lampe, welche zu brennen scheint, ein schwitzendes altes
Weib, ein Hund, der Wasser schlürft, und Pferde und Menschen von ganz kleiner
Gestalt, Berge, Wälder, Dörfer und Schlösser mit solcher Kunst wiedergegeben,
daß die einen Gegenstände von den andern um fünfzigtausend Schritt entfernt
zu sein scheinen." Vermutlich war diese Landschaft und Figuren durch das
offene Fenster der Badestube zu sehen. „Aber nichts war in diesem Werke
bewunderungswürdiger, schreibt Facius weiter, als der auf dem Gemälde dar¬
gestellte Spiegel, in welchen alles so hineingemalt worden ist, als ob man es
in einem wirklichen Spiegel erblickte." Wir haben also auch auf diesem ältesten
Genrebilde der niederländischen Schule, von welchem wir Kenntnis besitzen, das
oben mehrfach erwähnte Kunststück mit dem Hohlspiegel und können demnach
kaum noch zweifeln, daß die Einführung dieses Kunststückes Jan van Eyck zum
Urheber hat. Facius macht bei der Beschreibung dieses Gemäldes auch auf
die perspektivischen Kenntnisse Jan van Eycks aufmerksam. In der Einleitung
zu seiner Charakteristik des Malers hatte er schon auf sein gelehrtes Wissen,
besonders in der Geometrie, hingewiesen. An einem andern Gemälde, welches
die Verkündigung Marias und auf den Seitenflügeln den heiligen Johannes
den Täufer und Hieronymus zeigte, rühmt Facius, daß das Studirzimmer des
letzteren mit einem Bücherschranke ausgestattet gewesen sei, welcher so natürlich
dargestellt war, daß er, wenn man etwas von dem Bilde zurücktrat, in den
Hintergrund hineinzugehen, und die Bücher, von denen man aus der Nähe nur
die Rücken sehen konnte, sich ganz auszubreiten schienen. Auf den Außenseiten
der Flügel sah man den Stifter des Altars, Battista Lomellino, und seine
Geliebte, vermutlich in einem Zimmer. Denn Facius bemerkt, daß ein Sonnen¬
strahl zwischen ihnen wie durch eine Ritze hindurchglitt, sodaß man ihn für
einen wirklichen hielt.
Wir sehen selbst aus den knappen Andeutungen des italienischen Humanisten,
daß er mit scharfem Blick drei Eigentümlichkeiten der Kunstfertigkeit Jan van
Eycks, welche augenscheinlich zugleich Neuerungen desselben gewesen sind, heraus¬
gefunden hatte, seine Kenntnis der Perspektive und die sich aus ihr ergebenden
Wirkungen, seine Verwertung des Lichts in Innenräumen und das Kunststück
mit dem Hohlspiegel.
Von der Existenz der beiden andern Genrebilder Jan van Eycks erfahren
wir durch die Aufzeichnungen eines unbekannten Reisenden aus der ersten Hälfte
des sechzehnten Jahrhunderts, dessen Manuskript der Bibliothekar Morelli in
Venedig 1800 herausgegeben hat, weshalb man seinen Verfasser den „Anonymus
des Morelli" nennt. Die Notizen dieses Reisenden beziehen sich auf Gemälde,
welche er in verschiedenen Städten Oberitaliens kennen gelernt hatte. So sah
er in Padua ein Bild von Jan van Eyck, „auf welchem eine Landschaft gemalt
ist mit einigen Fischern, welche eine Fischotter gefangen haben, und zwei Figuren,
die zusehen." In Mailand befand sich ein Bild von Jan van Eyck, auf welchem
ein Kaufmann in halber Figur dargestellt war, der mit seinem Faktor Ab¬
rechnung hält. Dieses Bild trug die Jahreszahl 1440.
Wir können demnach mit Hilfe von literarischen Zeugnissen die Anfänge
der Genre- und Landschaftsmalerei in den Niederlanden auf das Haupt der
niederländischen Malerei, auf Jan van Eyck, zurückführe», wenn auch die Zahl
der eigentlichen Genrebilder, welche aus dem fünfzehnten Jahrhunderte auf uns
gekommen sind, eine sehr beschränkte ist. Häufiger sind die Kupferstiche mit
sittcnbildlichen Darstellungen, was sich zum Teil daraus erklären mag, daß
dieselben den Verwüstungen durch die Religionskriege und dem Bildersturm
leichter entgangen sind als die Gemälde, welche zu jener Zeit meist auf Eichen¬
holz gemalt waren.
enden wir uns zu Weitlings Sozialstaat. Der Zweck des Staates
ist das Wohl aller. Dieses kann, nach Weitlings Prinzip, nur
verwirklicht werden, wenn jeder dieselben Genüsse haben kann wie
der andre, wenn jeder seine Fähigkeiten ebenso entwickeln kann
wie der andre. Daher muß eine wahrhaft gute Gesellschafts¬
organisation die Freiheit der Begierde jedes Einzelnen und die Harmonie der
Begierden aller verbürgen. Die Garantien hierfür ebenso wie für die fort¬
währende Vervollkommnung der Gemeinschaft soll sein Sozialstaat bieten,
welcher, so wie er vorgeschlagen wird, bereits heute durchgeführt werden könne.
Von den Begierden geht Weitling aus. Er teilt dieselben in drei Haupt¬
klassen: 1. Begierden des Erwerbs. Die Befriedigung derselben heißt: Erwerb,
Lohn. Besitz u. s. w. 2. Begierden des Genusses. Ihre Befriedigung heißt:
Gesundheit. Wohlstand, Ehre u. s. w. 3. Begierden des Wissens. Ihre Be¬
friedigung heißt: Verstand, Gelehrsamkeit, Talent u. s. w. Von diesen drei
Arten von Begierden entspringt eine aus der andern. Denn der Mensch kann
nichts genießen, was er nicht schon hat, und nichts haben, ohne zu wissen, wo
und wie er es bekommt. Demnach ist die Begierde des Wissens die Haupt-
triebfeder des gesellschaftlichen Organismus, dnrch welche alle übrigen geleitet
werden sollen, was bisher nicht in genügendem Maße geschah.
Die von allen zur Befriedigung der Erwerbsbegierden angewandten Fähig¬
keiten machen — nach Weitling — die Produktion aus, die von allen zur Be¬
friedigung der Genußbegierden angewandten Fähigkeiten die Konsumtion. Das
zur Kenntnis, Veredlung und Vervollkommnung der Begierden und Fähigkeiten
aller Angewandte ist das Wissen, und die durch dasselbe geführte Leitung der
Befriedigung der Begierden und des Austausches der Fähigkeiten aller ist die
Verwaltung. Damit nun die letztere wirklich von der Wissenschaft und nicht
von Individuen geleitet werde, stellt Weitling die Trennung des persönlichen
Interesses von der Wissenschaft und die Trennung dieser von den Individuen
als oberstes Prinzip auf. Auf Grund desselben darf die Verwaltung weder
an einen Fürsten noch an einen Diktator noch an eine republikanische Wahl¬
mehrheit übergehen. Denn alle diese Regierungsformen verwalten das persön¬
liche Interesse.
Die Aufgabe der Verwaltung ist die gleiche Verteilung der Arbeiten und
Genüsse nach denselben Gesetzen und die Vertilgung und Heilung der menschlichen
Schwächen und Krankheiten, welche die natürliche Richtung" stören. Deshalb
darf das Berwaltungspersonal nicht den mindesten Vorzug vor andern Indi¬
viduen haben. Zur Erreichung des Zweckes der Verwaltung muß ferner ihr
Personal aus den größten Genies der nützlichsten Wissenschaften bestehen. Diese
Wissenschaften sind aber: 1. die philosophische Heilkunde, die wichtigste Wissen¬
schaft, welche die ganze Physische und geistige Natur des Menschen, seine körper¬
lichen und geistigen Schwächen und Krankheiten und die Kenntnis der Vertilgung
"ud Ausrottung derselben umfaßt. In dieser Wissenschaft konzentrirt sich also
alles nützliche Wissen der heutigen Theologen, Rechtsgelehrten, Mediziner und
Philosophen. 2. Die Physik, d. h. die Kenntnis der Kräfte der Natur und
ihrer Anwendung zum Wohle der Menschheit. 3. Die Mechanik, d. h. die
vollkommene Kenntnis der Theorie und Praxis der verschiednen Hand- und
Maschinenarbeiten.
Es handelt sich nun darum, die größten Genies ausfindig zu machen, um
ihnen die Sozialverwaltung zu übertragen. Die Anwendung aller bisher be¬
stehenden oder vorgeschlagenen Wahlsysteme hierzu lehnt Weitling ab, da sie
alle das persönliche Interesse bestehen lassen. Er schlägt vielmehr vor, man
solle jene Genies durch Prüfung ihrer Fähigkeiten an schriftlichen Fixirungen
zu erkennen suchen. Dabei ist nicht die Gegenwart der Person, welche geprüft
wird, notwendig. Auf diese Weise kann man bei den Wahlen die Fähigkeiten
von den Individuen trennen. Gelehrtenkongresse aller Fächer mögen wichtige,
das Wohl der Gesellschaft bezweckende Fragen aufwerfen. Über diese reichen
dann diejenigen, welche sich um das denselben korrespondirmde Verwaltungsamt
bewerben wollen, ihre Ideen schriftlich ein. Der Verfasser der besten Lösung
erhält den betreffenden Verwaltungszweig zugewiesen. Die Richter über die
eingelaufenen Arbeiten dürfen aber nur solche sein, die selber schon eine derartige
Prüfung bestanden haben und daher Mitglieder des Verwaltungspcrsonals ge¬
worden sind. An der Spitze des letztern steht das „Trio" oder der Drei¬
männerrat, aus den vorzüglichsten Genies in der philosophischen Heilkunde, der
Physik und der Mechanik bestehend. Darnach kommt die „Zentralmeister¬
kompagnie," durch welche jene Dreimänner gewählt und die wichtigsten Ämter
verwaltet werden. Dann kommen die „Meisterkompagnien," welche die Ver¬
waltung der Distrikte leiten. Zur Vereinfachung der Verwaltung wählt jede
Meisterkompagnie aus ihrer Mitte den „Werksvvrstand," der aus den obersten
Führern jedes Geschäfts besteht. Die Zentralmeisterkompagnie wählt den „großen
Werksvorstand," welcher dem Trio als ausübendes Verwaltungspersonal zur
Seite steht. Alles dies gilt für die „notwendigen und nützlichen" Arbeiten.
Für die Leitung der bloß „angenehmen" Arbeiten, die nicht allgemein geworden
sind, sollen den Meisterkompagnien „Akademien" beigegeben sein. Dieselben bilden
wie die Meisterkompagnien einen Ausschuß aus ihrer Mitte, welchen man den
„akademischen Rat" nennt. Allen diesen die Verwaltung leitenden Körpern
stehen Gesundheitskommissionen zur Seite, welche wieder alle unter der besondern
Leitung des Gesundheitsratcs stehen. Der letztere unterstützt zusammen mit
dem großen Werksvorstand das Trio in der Leitung der Verwaltung des
Ganzen.
Alle Verwaltungsämter, welche Talent erfordern und doch nicht mit den
Mitgliedern der genannten Komitees besetzt werden können, weil deren Zahl
dazu nicht ausreicht, werden von denselben den jeweiligen Fähigsten über¬
tragen. Nur diejenigen Ämter, bei denen die Befähigung keine Rolle spielt,
werden von den Arbeitern jedes Geschäftszweiges auf die von ihnen beliebte Art
gewählt.
Zu den Mitgliedern aller der vorbezeichneten Verwaltungskomitees werden
die Verfasser der besten Lösungen der von den bisherigen Mitgliedern gestellten
Fragen ernannt. Wird eine hei der Prüfung durchgefallene Wahlprobe von so-
vielen Leuten bestellt, daß die Errichtung eines Ateliers für das betreffende
Produkt nötig wird, so findet die Aufnahme des Erfinders desselben in die
Akademie statt.
Die Amtsdauer des Verwaltungspersonals ist unbestimmt. Die Mitglieder
desselben räumen, sobald sie von einem Kandidaten an Fähigkeit und Kenntnis
übertroffen werden, diesem den Platz.
Die eigentliche Arbeitsorganisation, deren Leitung sich auf diese Weise in
den Händen der höchsten Intelligenz befindet, ist nun folgende.
Jeder kann nur in die Gesellschaft eintreten, nachdem er auf der für alle
Arbeiten vorbereitenden Schule ein Examen in der Praxis irgend einer nützlichen
mechanischen Arbeit bestanden hat.
Weitling unterscheidet nun, wie schon oben angedeutet, in der Gesellschaft
drei Arten von Arbeiten: 1. Die notwendigen Arbeiten, d. h, alle Arbeiten für
das Gedeihen und den Fortschritt der nützlichen Wissenschaften, für den Unter¬
halt und die Vervollkommnung der Heilanstalten, für die allgemeine Erziehung
der Jugend und den gegenseitigen Austausch der Produkte, sowie die für
Nahrung. Wohnung, Kleidung und Erholung der Glieder der Gesellschaft
nötigen Arbeite». 2. Die nützlichen Arbeiten, d, h, alle die, welche die not¬
wendigen vervollkommnen, z. B. für Bau von Maschinen, Eisenbahnen. 3. Die
angenehmen Arbeiten d. h. alle die, welche zur Verfeinerung der sinnlichen
Genüsse dienen, z. B. für Theater, Bier- und Kaffeehäuser.
Das Trio stellt nun fest, wieviel Produkte des notwendigen und Nütz¬
lichen für das ganze Volk nötig sind. Die zu ihrer Hervorbringung notwendige
Arbeitszeit wird unter alle Arbeitsfähigen gleichmäßig verteilt. Dieselben ar¬
beiten demgemäß auch für die Verwaltungsbeamten, die Kranken, die Greise
und Kinder. Die Wahl der Arbeit bleibt jedem Individuum überlassen. Auch
wird nach Möglichkeit dafür Sorge getragen, daß jeder in den Arbeiten öfters
abwechseln kann.
Mit der Pflicht aller zu einem gleichen Anteil an den Arbeiten für das
Notwendige und Nützliche steht in Verbindung das Recht aller auf einen gleichen
Anteil an den zum notwendigen und Nützlichen gehörigen Produkten. Die
Durchführung hiervon ist die Aufgabe der Werksvorstände.
Anders wird die Produktion und der Verbrauch der Güter des Angenehmen
geregelt. Da zu deren Genuß niemand von der Natur gezwungen ist, so muß es im
Belieben eines jeden stehen, davon zu genießen und dem entsprechend zu arbeiten.
Und zwar wird diese Arbeit in der Produktion des notwendigen geleistet, um
damit diejenigen zu lohnen, welche in der Produktion des Angenehmen beschäftigt
sind. Damit sich Leistung und Lohn decken, müsse» die Produkte des Ange¬
nehmen den zu ihrer Erlangung geleistete» Produkte» des notwendigen genau
wertgleich sein. Dies will Weitling dadurch erreichen, daß 1. jeder angeben
muß. welche Genüsse des Angenehmen er sich zu verschaffen gedächte, wodurch
das Angebot genau der Nachfrage gleichgesetzt werden könne; 2. dadurch, daß
»Kommerzstunden" eingeführt werden. Diese sollen zunächst dazu dienen, de»
Austausch der Produkte des Angenehmen gegen die Arbeitsstunden des not¬
wendigen zu regeln. Kommerzstunden nennt aber Weitling alle Arbeitsstunden,
welche außerhalb der von der Verwaltung bestimmten Arbeitszeit geleistet
werden. Die geleisteten Kommerzstunden erhält jeder in ein „Kommerzbuch"
eingetragen. Auf Prüsentirung desselben erhält er dann in jedem beliebigen
Etablissement die gewünschten Genüsse des Angenehmen, was durch Stemveluug
im Kvmmerzbuche bescheinigt wird. Der Wert der Produkte des Angenehmen
wird genau nach den zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeitsstunden bemessen
und ist also auch immer gleich der entsprechenden Zahl von Kommerzstunden. Auf
diese Weise würden sich stets die in der Produktion des notwendigen geleisteten
Arbeitsstunden mit den zur Herstellung des Angenehmen geleisteten decken. Ja
es könnte sogar noch ein Überschuß an notwendigen Gütern eintreten, insofern
der Wert der Güter des Angenehmen mit ihrer Seltenheit steigen soll. Wäre
also das Verlangen nach köstlichen Weinen, Juwelen u. dergl. größer, als durch
den Vorrat an diesen Waaren befriedigt werden kann, so wird der Wert der¬
selben solange gesteigert, bis Angebot und Nachfrage in vollkommenem Gleich¬
gewichte miteinander stehen. Übrigens muß der Wert aller Genußprodukte schon
deshalb um etwas erhöht werden, um zu ermöglichen, daß, nach Weitlings Plan,
allen durch Mhigkeitswahlcn zu einem Amte Berufenen eine gewisse Summe
Kommerzstunden ausgesetzt werden, entsprechend dem Nutzen, der aus der Ver¬
wirklichung der neuen Ideen für die Gesellschaft hervorgeht.
Jenes Kommerzbuch, in das die geleisteten Kommerzstunden ein¬
getragen werden, ist aber nur für die Dauer eines Jahres giltig. Nach Ab¬
lauf desselben werden alle Kvmmcrzstunden ungiltig, welche nicht abgestempelt
sind, d. h. für welche noch keine Genüsse eingetauscht sind. Mit dieser Ma߬
regel wird beabsichtigt, die Aufhäufung von Gütern in einer Hand zu ver¬
hindern. In derselben Absicht hat Weitling die Bestimmung erlassen, daß
nichts solle vererbt werden können. Vielmehr sollen alle Produkte sofort den
Gesnndheitskommissionen zur Verfügung gestellt werden, welche nach Lage der
Dinge ihnen eine allgemein nützliche Bestimmung geben oder sie zerstören können.
Um zu erreichen, daß nichts verschenkt, verspielt oder gestohlen werden
könne, enthält das Kommerzbuch das Porträt und das genaue Signalement
seines Inhabers. Nur diesem persönlich werden die Genüsse des Angenehmen
verabfolgt.
Die Kommerzstnnden können in jedem beliebigen Geschäft geleistet werden.
Wird ein solches mit freiwilligen Arbeitern überfüllt, so wird die „Geschäfts¬
sperre" erlassen, d. h. es wird die Abhaltung von Kommerzstunden darin unter¬
sagt. Dadurch wird es möglich, im Zustande der Gemeinschaft jedem die freie
Wahl einer angenehmen oder unangenehmen Arbeit zu lassen, ohne daß dadurch
bei letzterer Mangel an Arbeitern eintritt. Ist der Zudrang von ständigen
Arbeitern zu einem Arbeitszweige zu groß, so wird das Zulassungsexamen
immer schwerer gemacht, bis schließlich nur ein normaler Zufluß stattfindet.
Die Leitung der Produktion des Angenehmen geschieht in mancher Hinsicht
anders wie die des notwendigen und Nützlichen. Alle neuen Produkte des An¬
genehmen oder Zeichnungen und Proben desselben werden von den Akademien
geprüft und dann in den Kunstsäleii aufgestellt, um die Begierden der Lüsternen
zu erregen. Alsdann werden je nach den Bestellungen, welche diese machen,
von der Akademie die Ateliers für das neue Kunstprodukt eingerichtet. Alle
schönen, literarischen Arbeiten jedoch, die bei der Prüfung der akademischen
Wahlkommission durchfielen, werden ebenso wie alle übrigen eingereichten Proben
in den dazu bestimmten Sälen zur Durchsicht aufgelegt. Unterschreibt sich
dennoch für den Druck eines solchen Werkes eine gewisse Anzahl von Kommerz-
stundcn, so läßt die Akademie das Werk drucken. Dem Verfasser desselben
wird eine Anzahl Kommerzstunden ausgesetzt, die jedoch nicht größer sein darf
als die Summe, die ein Arbeiter im Laufe eines Jahres zu leisten imstande ist.
Das weibliche Geschlecht ist hinsichtlich der Arbeiten ebenso organisirt wie
das männliche. Es hat also genau so gut wie dieses seine Werkvorstände,
Meisterkompagnien, Akademien, Kommerzstunden und Geschäftssperren. Nur
können die Frauen nicht Mitglieder des Trio und der Zentralmeisterkompagnie
werden, solange sie nicht dem männlichen Geschlecht an Talent gleichkommen.
Hingegen haben die Frauen bei der Wahl der von allen zu verrichtenden Ar¬
beiten vor den Männern den Vorrang, sodaß sie sich also die leichtesten Ar¬
beiten wählen können, wenn sie darin an Geschick den Männern gleichkommen.
Die Mütter kleiner Kinder haben noch darin einen Vorzug, daß ihnen kein Ge¬
schäft gesperrt werden kann; auch sollen für dieselben in allen Geschäftszweigen
Plätze offen bleiben, damit sie sich die leichtesten Arbeiten sowie solche aus¬
wählen können, welche sie bequem zu Hause neben ihren Kindern verrichten
können.
Diese letztern treten mit einem gewissen Alter, von etwa drei bis sechs
Jahren, in die „Schularmee" ein. Zu dieser gehören sie dann bis zu den
Jahren, wo sie durch ein Examen bewiesen haben, daß sie die zum Eintritt in
die Gesellschaft erforderlichen Geschicklichkeiten und Kenntnisse in den Arbeiten und
Wissenschaften erworben haben.
Wir wollen uns nicht weiter auf das Erziehungssystem Weitlings ein¬
lassen, sondern uns mit der Bemerkung begnügen, daß den Fähigsten, die sich
bei ihrem Eintritt in die mündige Gesellschaft der Ausbildung in den Wissen¬
schaften auf den Universitäten widmen wollen, der Besuch derselben als Arbeits¬
zeit angerechnet wird.
Die Kinder, deren Eltern erkranken, sterben oder sich trennen — Weitling
ist, wie alle deutschen Sozialisten des 19. Jahrhunderts ohne Ausnahme, für
Beibehaltung der Einehe —, nimmt der Staat ohne Rücksicht auf ihr Alter
M sich.
Der Weitlingsche Sozialstaat kennt weder Verbrechen noch Gesetze und
Strafen. Alles, was man heute Verbrechen nennt, ist nur Folge der gesell¬
schaftlichen Unordnung. Nachdem diese weggeräumt ist, bleibt nur ein natürlicher
Rest menschlicher Krankheiten und Schwächen, den man aber nicht durch Strafen,
sondern durch Heilmittel beseitigt. Hierüber gelten folgende Bestimmungen.
Alle Kranken stehen als Unmündige während der Dauer ihrer Krankheit unter
der Vormundschaft der Ärzte. Aus derselben wird niemand entlassen und der
Gesellschaft zurückgegeben, der nicht für vollkommen geheilt erachtet wird. Als
Kranke werden aber nicht nur diejenigen betrachtet, die wir heute dafür an-
sehen, sondern auch die „Seelen-" und „Begierde"-Kranken, sowie jeder, welcher
die zum Wohle aller festgesetzten Regeln zu umgehen sucht und dadurch die
Harmonie des Ganzen stört.
Man sieht, Weitling hält, was er uns versprochen. Er giebt wirklich die
Garantien der Harmonie und der Freiheit, wie er dieselben aufgefaßt hat, d. h. so,
daß jeder sich dieselben Genüsse verschaffen kann wie der andre. Es darf uns
nur nicht am guten Willen fehlen. Eher schon an Verstand! Wir arbeiten nur
darauf los und bekommen dann alle in der Mehrzahl der Produkte die gleichen
Rationen zugeteilt. In den übrigen Artikeln haben wir die freie Wahl je nach
der Zeit, die wir uns in den Arbeitsräumen aufgehalten haben, ohne daß es
auf das Arbeitswerk irgendwie ankäme. Zwar verdrießt es uns, daß die Genies
und Erfinder eine kleine Extravergütung erhalten; indes, weil dies die einzige
Ausnahme von dem Prinzip der absoluten Gleichheit aller ist, mag es noch so
hingehen. Doch — g,noto <zMsrs.ro.u8 öhrig, luäo! Wir haben im vorher¬
gehenden schon den wundesten Punkt der Wcitlingschen Harmonie aufgedeckt, der
für sich allein genügen würde, dieselbe in eine häßliche Dissonanz ausklingen zu
lassen. Die nach „Sonnenzeit" vollbrachte Arbeit genügt, um eine anständige
Portion Lebensmittel jeder Art zu erhalten. Die »ach Sonnenzeit vollbrachte
Arbeit genügt auch zum Anteil an den Lnxnsprodukten. Ich behaupte aber:
Wenn ihr nach Sonnenzeit meßt, so habt ihr garnichts zu verteilen. Denn euer
System ist eine Prämie auf die Faulheit. Wenn es garnicht darauf ankommt,
wieviel ich innerhalb einer Zeit arbeite, so werde ich möglichst wenig darin leisten.
Eure Gemeinschaft ist nur die Ausbeutung des Fleißigen durch den Faulen,
l'kxvIoitÄticm an kort M- 1k ksMö, wie der geistreiche Proudho» gesagt hat.
Aber der Fleißige wird sich nicht ausbeuten lassen, denn ihr habt ja kein Zwangs¬
mittel, und so wird auch er nichts thun. Also das Ende vom Liede wäre ein
gewaltiger Rückgang der Produktion.
Das ist aber nicht das Einzige, was an Weitlings System auszu¬
setzen ist. In der Verwaltung ist unser Kommunist bestrebt, das persönliche
Interesse ganz bei der Besetzung der Stellen auszuschließen, damit nur die
Fähigkeit, die Wissenschaft regiere. Wir vermögen nicht anzuerkennen, daß ihm
dies gelungen sei, obwohl seine Gedanken hierüber nicht ohne Geist und Scharf¬
sinn sind und möglicherweise etwas Brauchbares sür die Konstruktion des Sozial¬
staates ergeben.
Die Aufnahme in die Verwaltung soll durch Lösung von Preisaufgaben
erfolgen, wodurch der Name des Verfassers erst nach der Prüfung seiner Fähigkeiten
bekannt wird. Das Preisrichterkollegium soll aus dem bisherigen Verwaltnngs-
personal bestehen, welches seinerseits selbst einen derartigen Fähigkeitsnachweis
erbracht haben muß. Wer aber soll das erstemal Richter sein? Weitling
gestattet, da es doch nicht anders geht, eine Ausnahme. Hier soll der Diktator
— derjenige, welcher sich am meisten um die Einführung des Sozialstaates
verdient gemacht hat — die Beamtenstellen unter die Intelligentesten verteilen.
Ein persönliches Interesse glaubt Weitling bei ihm nicht annehmen zu dürfen,
da er sein ganzes Vermögen vor Annahme der Diktatorwürdc der Gesamtheit
übergeben haben muß. Indes — so kann man unserm sozialistischen Apostel
einwenden — giebt es nicht Leute, die zwar nicht den Einflüssen des Geldes,
recht wohl aber andern, z. B. denen schöner Augen, zugänglich sind? Giebt es
nicht Ehrgeizige, deren hauptsächliches Bestreben bei der Auswahl des Ver¬
waltungspersonals darauf hinauslaufen würde, ihre Macht über die Geschicke
des Volkes möglichst lange zu behalten? Aber es ist garnicht nötig, an die
bösen Dämonen des menschlichen Herzens zu erinnern. Giebt es nicht Fanatiker
der Partei, welche nur auf die Zugehörigkeit zu dieser achten würden? Giebt
es überhaupt auch nur einen Menschen, der in jeder einzelnen von sovielen
Wissenschaften kompetent genug wäre, um die Fähigsten einigermaßen richtig
auszuwählen? Und doch soll ein Einziger diese Wahl treffen, einer, der nicht
einmal ein Mann der Wissenschaft zu sein braucht, da von ihm nur feststeht,
daß er ein Mann der That ist. Da auf diese Weise keine Garantie gegeben
ist, daß das erste Verwaltungspersonal den gestellten Anforderungen entspricht,
so hat dies natürlich für die Neubesetzung von Ämtern seine schlimmen Folgen.
Denn nun sind sie Richter über die Fähigkeiten andrer Leute, die zum Teil
jedenfalls dazu unfähig sind. Auch ist bei der Prüfung nicht jedes Interesse
getrennt, wie Weitling meint. Denn, wie gesagt, es giebt außer Bestechung
durch Geld auch andre Mittel und Wege, das Urteil zu trüben. Aber woher
weiß denn der Prüfende, wer der Verfasser der eingegangenen Arbeiten sei,
könnte man einwenden. Es ist aber doch nicht zu schwer, jemandem zuzuraunen,
wer der Urheber der Arbeit mit dem und dem Motto sei. Wir wollen damit
durchaus nicht leugnen, daß der hier vorgeschlagene Modus der Prüfung der
Fähigkeiten gar manche Vorzüge vor demjenigen habe, bei dem der Name jedes
Kandidaten immer im voraus bekannt ist. Aber wir bestreiten. daß jene Art
der Wahl die Reinheit derselben sicher verbürge, wir bestreiten, daß eine voll¬
ständige Ausscheidung des persönlichen Interesses stattfinde, wie wir überhaupt
glauben, daß dieselbe in ihrem vollen Umfange unter jedem System unmöglich sei.
Weitling hat seine Sache noch dadurch verschlimmert, daß er die Amts¬
dauer der Gewählten nicht bestimmt hat, sondern ihnen gestattet, solange im
Amte zu bleiben, bis sie Leute gefunden, die fähiger sind als sie. Abgesehen
davon, daß das hiermit in der Abdankung liegende Geständnis vielen Leuten
recht schwer fallen dürfte, soll also das Verwaltungspersonal sich selbst der
Stellen entsetzen, die ihm Vorzüge vor andern Arbeitern sichern! Das heißt
den Selbstmord verlangen. Jene Bestimmung Weitlings würde nur zur
schlimmsten Kliquenregierung führen. Wer einmal in jenem Amte ist, würde
lebenslänglich darin bleiben und seinen Anverwandten, Freunden und Partei¬
genossen ebenfalls den Eintritt in dasselbe zu ermöglichen suchen. Wir bekämen
also eine Art von erblicher Verwaltung, Und das soll eine Garantie der Har¬
monie und Freiheit sein? Das soll bewirken, daß die Wissenschaft im unge¬
störten Vollbesitz der Leitung der Gesellschaft sei?
Noch mehr ist an der Arbeitsorganisation Weitlings auszusetzen. Ein
Element derselben, die Betrachtung der bloßen Zeitarbeitsstunde als Einheit,
ist schon oben als äußerst schädlich und als Prämie auf die Faulheit be¬
zeichnet worden. Die von Weitling vorgeschlagene Organisation hat aber noch
andre bedeutende Mängel. Zwar die allgemeine Arbeitspflicht können wir nicht
dazu rechnen. Denn unser Kommunist hat Vorkehrungen getroffen, daß, soweit
überhaupt die Produktion es gestattet, die Arbeit in denjenigen Zeiten geleistet wird,
welche jedem einzelnen am genehmsten sind; er hat dafür gesorgt, daß jeder,
der einmal einen Arbeitstag ausfallen lassen will, dies thun kann und bloß ver¬
pflichtet ist, ein andres mal destomehr zu arbeiten. Um so ausfallender ist
es — und es kann dies auch nur aus dem extremen Gleichheitsprinzip Weit¬
lings erklärt werden —, daß derselbe von allen notwendigen und nützlichen
Genüssen, d. h. von allen, die irgendwie allgemein sind, jedem die gleiche
Ration zugeteilt wissen will. Zwar meint er nicht damit, daß nun jeder im
ganzen Weltreiche — denn sein Sozialstaat soll schließlich die ganze Welt um¬
fassen — das gleiche Quantum an Brot, Fleisch, wollenen Strümpfen, Nacht¬
jacken u. s. w, erhalten soll, sondern er will, daß auf die Bedürfnisse und Ge¬
wohnheiten der einzelnen Distrikte Rücksicht genommen werde. So soll der
Ostpreuße mehr Fettwaren erhalten als der Nordafrikaner. Weitling will also
eine Verteilung der allgemein gebrauchten Produkte nach den „vernunftge¬
mäßen" Bedürfnissen, wie es das Gothaer Programm der deutschen Sozial¬
demokratie formulirt. Im Prinzip wird dadurch wenig gemildert. Die Haupt¬
sache ist und bleibt: Ich soll mir im Sozialstaate nicht meine Lebensmittel nach
Belieben aussuchen dürfen, sondern ich erhalte sie von der Obrigkeit zugeteilt.
Damit wird die ärgste Beschränkung der Hauswirtschaft, die schlimmste Tyrannei
über mich verhängt. Nein, solange der Sozialismus nicht die Freiheit des
Individuums mit der Gemeinschaft auszusöhnen vermag, solange kann er nicht
als ein Fortschritt gegen die heutige Gesellschaftsordnung gelten. Gewiß, an¬
gesichts des unsäglichen Elends, in dem sich heute ein großer Teil der Mensch¬
heit befindet, mag die gegenteilige Ansicht entschuldbar, erklärlich sein; an¬
nehmbarer wird sie deshalb nicht.
Seinem abstrakten Gleichheitsprinzip zu Liebe führt Weitling im Sozial¬
staat auch die Institution der Kommerzbücher ein, wodurch wiederum ein jeder
in der Freiheit beschränkt und außerdem sehr belästigt wird. Jeder muß stets
bei Erlangung irgend eines Genusses, sei derselbe auch uoch so klein (etwa
i/go Arbeitsstunde), sein Porträt und Signalement vorzeigen, damit der
über die betreffenden Genußmittel verfügende Beamte den Inhaber als mit der
vor ihm stehenden Person identisch erkennen könne. Diese arge Belästigung
geschieht, um eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, nämlich das Verbot
des Verschenkens, Verspielens und Vererbens, besser durchführen zu können.
Damit ist aber wieder eine arge Beschränkung des rechtmäßig Erworbenen, des
Arbeitseigcntums ausgesprochen. Ans welchem Prinzip heraus soll sie ge¬
rechtfertigt werden? Etwa aus dem des größten Glückes der größten Zahl?
Das einzig mögliche Moment, auf das sich Weitling hierbei stützen könnte,
wäre die Erwägung, daß bei Freiheit der Vererbung die Gleichheit der Ein¬
kommen der Einzelnen gestört würde, was die Abhängigkeit der Ärmeren von
den Reicheren zur Folge haben könnte. Aber wer sieht nicht, daß die Un¬
gleichheit in den Einkommen keine zu große im Sozialstaate sei« kann, da die
„Produktive" Verwendung des Vermögens der Bürger infolge des staatlichen
Besitzes der Produktivmittel ausgeschlossen ist? Und kann jemand leicht andre
von sich in Abhängigkeit bringen, wenn diese allein beim Staate oder bei der
Assoziativ» Arbeit finden können? Und welche niedrige Meinung verrät jene
kommunistische Ansicht von den Menschen im Svzialstaate, die — nach der Über¬
zeugung der Kommunisten — eine so gute Erziehung erhalten haben und mit
ihrer Hände Arbeit sich jederzeit ein behäbiges Auskommen verschaffen können?
Und ist es kein Widerspruch, wenn die Kommunisten glauben, daß der Mensch
in ihrem Idealstaate ein Wesen voll männlicher Charakterfestigkeit sei und doch
zugleich dem allerleisesten Verführnugsversuch zum Opfer salle? Oder wollen
sie die Aufhebung des Erbrechts aus irgend einem extremen Gleichheitsprinzip
rechtfertigen? Dann sage ich: Ihr habt zwar die Konsequenz ans eurer Seite,
aber ihr erstickt das Menschengeschlecht mit eurer Gleichheit! Und woher
leitet ihr denn euer Gleichheitsprinzip ab? Aus welche Thatsachen stützt ihr
es? Etwa darauf, daß die Menschen mit ungleichen Kräften und Fähigkeiten
geboren sind? Ihr sagt, es habe für euch das Prinzip der Gleichheit dogma¬
tische Bedeutung. Mit demselben Rechte könnt ihr die Luft oder das Feuer
oder das Wasser als alles beherrschendes Prinzip auffassen!
Aus demselben Gleichheitsprinzip werden bei Weitling alle Kommerzbücher
»ach Verlauf eines Jahres für ungiltig erklärt, und damit werden die alsdann
noch vorrätigen Anweisungen auf „angenehme" Genüsse nngiltig. Weitling
hat diese Maßregel vorgeschlagen, obwohl er einsieht, daß infolge dessen die
letzte Woche vor Ablauf des Jahres eine „reine Karnevalswoche" sein würde,
w der alles dem Genuß nachjagen würde.
Und wieviel unschuldige Genüsse würden durch jene Maßregel zur Un¬
möglichkeit gemacht werden! Nehmen wir an, ich wollte eine Erholungsreise
machen. In einem Jahre kann ich mir die dazu erforderlichen „Anweisungen"
schwerlich erarbeiten, ohne so ziemlich auf alle andern Genüsse verzichten zu
müssen. Mehrere Jahre darf ich wieder nicht zur Sammlung von An¬
weisungen verwenden. Also unterbleiben alle größeren Reisen. Aber das ist
unserm Weitling sehr gleichgiltig. Das Prinzip der Gleichheit ist doch gerettet!
Dieselbe Gleichheitstcndenz hat noch andre Verkehrtheiten zur Folge. Da
für jede Stunde Arbeitszeit, gleichviel in welchem Fache sie geleistet wird, gleich¬
viel Lohn gezahlt wird, so ist es natürlich, daß alles sich zu den leichten und
angenehmen Geschäften drängen wird, Ani dem vorzubeugen, bestimmt Weitling,
daß, je größer der Andrang zu einem Gewerbszweige werde, desto schwerer
das Zulassungsexamen gemacht werden solle. Die Folge davon würde aber
die sein, daß die Fähigsten in den leichtesten Fächern und die Dümmsten in
den schwierigsten untergebracht würden, während doch das Umgekehrte stattfinden
sollte: daß nämlich, je schwerer ein Geschüft, desto befähigter der Geschäftsmann
sein müsse. Allerdings würde das eben nur dadurch durchzuführen sein, daß
die Arbeiten, welche größere Ansprüche an den Arbeiter stellen, auch entsprechend
besser gelohnt werden. Und das muß ja bei Weitling, der Gleichheit zu Liebe,
schlechterdings vermiede» werden!
Unser Kommunist thut sich endlich viel darauf zu Gute, daß es in seinem
Staate keine Verbrechen und Strafen gebe; diese seien nur eine Folge der
heutige» gesellschaftlichen Unordnung. Sein Staat kenne nur Krankheiten und
Heilmittel. Sollten diese Worte einen Sinn haben, so muß doch das Wort
„Krankheit" im Sozialstaat dasselbe bezeichnen wie in der heutigen Gesellschaft.
Weitling aber hat diese Bedeutung des Wortes nicht festgehalten, sondern es
einer unnatürlichen Erweiterung unterworfen. Als „Kranke" sieht er nicht nur
alle diejenigen an, die heute als solche bezeichnet werden, sondern auch die
„Seelen"- und „Begierde"-Kranken, sowie jeden, welcher die zum Wohle aller
festgesetzten Regeln zu umgehen sucht und dadurch die Harmonie des Ganzen
stört. Also das, was heute „Verbrechen" ist, heißt im Sozialstaate „Krank¬
heit"; und was heute „Strafe" ist, wird im Zukunftsstaate „Behandlung
des Kranken" sein, und diese ist sehr streng. Man sieht, Weitling hat nnr
den Namen geändert, nicht die Sache. Übrigens — welch prächtiges Mittel
für die herrschende Partei des Sozialstaats, einfach die Opponenten, als gegen
die auf das Wohl aller hinzielenden Rechte handelnd, als „Kranke" in die
Spitäler stecken zu lassen!
Wir glauben übrigens, daß in einem Svzialstaate wirklich die Verbrechen
gegen das Eigentum aufhören werde», einfach deshalb, weil jeder Einzelne
durch seine Arbeit sich seinen Lebensunterhalt verdienen kann und im Grunde
ein irgend bedeutenderes Vermögen sich bei keinem Menschen vorfinden würde.
Indessen ist dies aus der in diesem Punkte geradezu konfusen Darstellung
Weitlings nicht recht ersichtlich.
Die Bevölkerungsfrage, welche für jeden Sozialstaat so wichtig ist, wird
von Weitling kaum erwogen. Wenn die Übervölkerung da ist, meint unser
Kommunist, ist es immer noch Zeit, ihr abzuhelfen.
Wir betrachten endlich noch Weitlings Vorschläge zum Übergang in den
Sozialstaat. Damit Sozialreformer im Wcitlingschen Sinne die Regierung in
ihre Hand bekommen, würde, unserm Sozialisten zufolge, die Anwendung zweier
Mittel notwendig sein, 1, Belehrung und Aufklärung des Volkes. Hierzu
bedarf es außer dem persönlichen Eifer der Anhänger noch der Freiheit der
Presse und der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen. Auf diese Weise wird
»geraten." 2. Möglichste Sorge dafür, daß die schon bestehende Unordnung
schnell auf den höchsten Gipfel getrieben werde. Auf diese Weise wird „geholfen."
Denn dann wird dem Volke der Geduldsfaden reißen, und es wird die Macht
denjenigen Leuten anvertrauen, die seine Lage wirklich verbessern wollen.
Alsdann wird die Gesellschaft aus dem heutigen Zustande in den Svzialstaat
etwa auf folgende Weise überzuführen sein.
1. Alle unsaubern und stark beschädigten Gebrauchsmittel, die ja nur den
Armen gehören, werden vernichtet, und die letztern einstweilen in die öffentlichen
Gebäude und bei den Reichen einquartiert. 2. Alle Schuldscheine werden ebenso
wie alle Erb- und Adelsrcchte für null und nichtig erklärt. 3. Die Organisation
der Arbeit beginnt durch die Wahlen in jedem Geschäftszweige. Jeder an die
Spitze der Verwaltung Berufene muß sein ganzes Vermögen der Gemeinschaft
übergeben oder auf die Wahl verzichten. 4. Alle Leute, welche der Staat er¬
hält, also besonders die Mitglieder der Verwaltungsbehörden und der Armee,
leben mit einander in Gemeinschaft. Sie erhalten alle — ohne Unterschied des
Ranges — die gleichen Lebensmittel. 5. Die Steuern werden in rohen Natur-
Produkten eingeliefert, aus denen die Angestellten erhalte» werden. Keiner von thuen
wird besoldet. 6. Die Güter aller Auswanderer werden konfiszirt, ebenso jeder
Acker, der unbenutzt liegen bleibt, obwohl er recht gut zur Bebauung herangezogen
werden könnte. 7. Alle Staats- und Kirchengüter werden zum Besten der
Gemeinschaft eingezogen. 8. Jeder, der will, kann in die Gemeinschaft ein¬
treten, und zwar zu gleichen Bedingungen wie alle übrigen. Unter denselben
Bedingungen wird jeder darin aufgenommen, der nicht mehr zur Arbeit fähig
ist- 10. Die Verwaltung muß ihre Thätigkeit möglichst auf Verbesserung des
Ackerbaues und der Schulen richte». 11. In jedem Dorfe, jeder Stadt, jedem
Distrikt, wo drei Viertel der Einwohner dafür stimme», ihre Güter in Ge¬
meinschaft zu geben, muß sich das letzte Viertel fügen.
Durch diese und ähnliche Maßregeln kommt dann der Sozialstaat von
selbst. Sollte es aber nicht gelingen, die Verwaltung in die Hände von Wcit-
liugianern zu bringen, so soll man den Besitzern ihr Eigentum selbst zum Ekel
wachen durch einen furchtbaren Krieg gegen dasselbe. Dann müsse eine Moral
gepredigt werden, die noch Niemand zu predigen gewagt habe.
Möglich wäre es übrigens nach Weitling, daß der Umsturz des Bestehenden
auch durch einen Monarchen vor sich ginge. Das wäre kein Übel, meint unser
Kommunist. Wenn er nebst Krone und Szepter die Vorurteile des Egoismus
in den Staub würfe, so möchte er immerhin bis zur völlige» Organisation der
Gesellschaft ein Diktator sein. Ja den Schluß des Werkes über die „Garan-
lieu der Harmonie und Freiheit" bildet der Appell an die Könige, das Werk
der Erlösung der Menschheit zu übernehmen.
Die Kritik steht einen Augenblick ratlos: sie weiß nicht, wo sie zuerst
anfangen soll. Die Vorschläge Weitlings zur Überführung der heutigen Gesell¬
schaft in den Sozialstaat sind wohl mit das Verrückteste, was überhaupt in
dieser Hinsicht auf deutschem Boden gediehen ist. Die deutsche Sozialdemokratie
hat nicht entfernt ähnliches geleistet. In diesen Plänen Weitlings geht „Fixig¬
keit" über alles. Wie dürre Blätter vom Wirbelwind, so werden die bestehenden
Institutionen von der Weitlingschen „Reform" hinweggefegt. An ihre Stelle
tritt ein tolles Durcheinander, die denkbar wüsteste Anarchie. Fast alle wohl¬
erworbenen Rechte werden auf einmal vernichtet, die kümmerlichen Reste der¬
selben können jederzeit mit einem Schlage demselben Schicksale anheimfallen.
Die radikalste Umgestaltung, welche die Weltgeschichte sehen würde, soll in einem
Augenblicke vorgenommen werden, und zwar noch dazu in der denkbar unge¬
schicktesten Art, nämlich nach Gemeinden. Da es diesen eventuell freisteht, die
Gemeinschaft abzulehnen, so würde man die Privat- und die Gemeinschafts¬
produktion in demselben Zweige nebeneinander haben können. Alle Beamten
der Gemeinschaft sollen gleichen Lohn erhalten. Aber wie wird man dann für
die Ämter Mitglieder der besitzenden Klassen gewinnen können, die heute doch
unbestritten allein zur Leitung der Produktion fähig sind? Diese werden jeden¬
falls lieber ins Ausland gehen, wo sie sich mit ihren Fähigkeiten und ihrer
Bildung immerhin eine bessere Lebenslage werden erwerben können als im In¬
lands. Dadurch würde die Gemeinschaft vollständig unmöglich werden. Auf
welche Weise wäre es denn durchzuführen, daß die bisher nur mit mechanischen
Arbeiten beschäftigten Personen mit einemmale die Funktionen der Buchhalter,
Ingenieure, Baumeister, Techniker u. s. w. versahen? Schon aus diesem Grunde
ist die Gemeinschaft absolut unmöglich. Da sie daneben noch alle die großen
Mängel hat, die wir bei der Betrachtung des Weitlingschen Svzialstaates fanden,
so ist sie auch aus diesem zweiten Grunde unmöglich. Da sie ferner noch den
Fehler hat, nicht das ganze Staatsgebiet zu umfassen, sondern nur Teile des¬
selben, während andre privatwirtschaftlich organisirt sind, so giebt das einen
dritten durchschlagenden Grund gegen den Reformplan Weitlings. Da außer¬
dem die Umwälzung eine gewaltige und außerordentliche rapide wäre, so müßte
sie in der nächsten Zeit fortwährend Verschwörungen und Revolutionen der früher
bevorzugten Klassen und ihres Anhanges erzeugen; also ein vierter vernichtender
Einwand gegen das vorgeschlagene Projekt.
Unser Kommunist hat wirklich mit seltenem Ungeschick in seinen Vorschlägen
zur Überleitung des heutigen Staates in den Svzialstaat alles vereinigt, was
denselben nur irgend zur Utopie machen kann. Aber der ärgste ist der, daß,
falls der Plan nicht zur Ausführung gelangen sollte, der Krieg gegen das
Eigentum, d. h. der rote Hahn und der Diebstahl, gepredigt werden soll. Aus
dieser Ansicht spricht der Wahnwitz des Fanatikers. Wahrlich, wenn die Ge¬
sellschaft dagegen in Empörung aufwallt und ihre verbrecherischen Angreifer
niederschlägt, so ist sie in ihrem Recht.
Daß Mittel solcher Art nicht zum Ziele führen, ist zu offenbar. Es ist
daher nicht zu verwundern, daß die spätere deutsche Sozialdemokratie derartige
Vorschläge von der Hand gewiesen hat.
er jüngst verstorbene Turgenjew giebt in seinem Romane ..Neu¬
land" eine getreue Schilderung der Zustände und Bewegungen
des heutigen Rußlands, der neuen Generation in ihren Gegen¬
sätzen zu dem streng nationalen Charakter der früheren Zeiten
und Geschlechter. Ein Werk dieser Art, eine Schilderung des
modernen Frankreichs, ist unter dein „Neu-Frankreich" unsrer Überschrift nicht
zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um ein neues Frankreich, das fern vom
Mutterlande als eine Rivalin desselben erstehen sollte, das aber die Hoffnungen,
welche auf seine Entwicklung von verschiednen Seiten gesetzt wurden, schmählich
getäuscht hat.
„Neu-Frankreich" ist nichts als eine Gründung in der Weise der Gründungen
unsrer Schwindelperiode, und es unterscheidet sich von diesen allein dadurch, daß
die Reklamen nur noch phantastischer, die Wertlosigkeit des in Betracht kommenden
Gegenstandes noch größer war als bei den Gründungen gewöhnlichen Schlages.
Daß trotzdem der Erfolg der Spekulation ein bedeutender gewesen ist, wenn auch nur
für den Unternehmer, erklärt sich daraus, daß bei der großen Entfernung „Neu-
Frankreichs" eine Prüfung der thatsächlichen Verhältnisse nicht möglich war, und
daß jedwede Kolouialunternehmung zu allen Zeiten etwas besonders verlockendes
gehabt hat. Es mag sein, daß für Frankreich, das thatsächlich im Besitze wert¬
voller Kolonien ist. eine Handelsgesellschaft für Ausbeutung und Kolonisirung
überseeischer Ländereien bei richtiger Anlage und geschickter Leitung wirklich großen
Erfolg haben könnte, es mag auch sein, daß dem sanguinischen Volkscharakter
der Franzose» eine solche romantische oder phantastische Unternehmung besonders
zusagt. Thatsache ist es jedoch, daß auch in Deutschland für Kolonialpolitik außer-
ordentlich viel Interesse und Sympathie vorhanden ist, wie sich bei verschiednen
Gelegenheiten gezeigt hat.
Als Ausgangspunkt für die große Unternehmung, die unter dem Namen
„Neu-Frankreich" geplant wurde und durch ein eignes zu Marseille erscheinendes
Journal dieses Namens gefördert werden sollte, diente Port-Breton im Süden
von Neuirland, der östlichsten Insel des Archipels von Neubritcinnien im
Stillen Ozean, der im Nordosten von Neuguinea liegt und den Raum zwischen
2 —Grad südlicher Breite und 148 — 165 Grad östlicher Länge von
Greenwich einnimmt. Von diesem Zentrum aus sollte sich „Neu-Frankreich"
nach allen Seiten hin ausbreiten durch Erwerbung aller der Inseln, die rings
um dasselbe in weiterem Umkreise herumliegen. Freilich gehören diese Inseln
verschiednen Mächten an, aber das kam nicht in Betracht; selbst Port-Breton
gehörte von Anfang an nicht dem kühnen Unternehmer eigentümlich. Es war
ein Ort, der deshalb keinen bestimmten Herrn hatte, weil er völlig öde und von
den Eingebornen sogar als unbewohnbar verlassen war.
Aber das ist ja eben ein Kennzeichen der „Gründungen," daß weniger der
eigentliche Wert des Gegenstandes der Spekulation und die mutmaßliche Renta¬
bilität der Unternehmung für die Unternehmer in Betracht kommen, als die
Aussicht auf eignen Gewinn. So war es auch hier der Fall, wie ein flüchtiger
Blick auf die Entstehung des Unternehmens und seine bisherigen Erfolge beweist.
Die Idee, eine neue Kolonie zu gründen und sie zur Grundlage einer
kühnen Finanzoperation zu machen, ging von dem Marquis de Raps aus.
Dieser ließ im Juli 1877 im ?kM ^ournÄ eine Annonce erscheinen, in welcher
er in der „freien Kolonie zu Port-Breton" Ländereien zu fünf Franks den
Hektar offerirte und jedem, der sich in dieser Angelegenheit an ihn werden
würde, in der üblichen Weise verhieß, daß er einen schnellen und sichern Gewinn
machen könne, ohne sein Land zu verlassen. Nun wurden Bons ausgegeben
und unterschrieben, ein eignes Journal gegründet, um durch Reklamen aller Art
das Unternehmen zu fördern, und schließlich ging am 14. September 1879 ein
erstes Schiff mit Kolonisten nach der neuen Kolonie ab.
Die Enttäuschung für diese armen Opfer ihrer Vertrauensseligkeit war
sehr bitter. Schon der Eindruck, den die Bucht von Port-Breton macht, ist
ein sehr trauriger; aber das Innere der Insel ist noch weniger einladend. Das
Land der Bucht ist angeschwemmter Boden, über den zwei nackte Bergrücken
emporragen. Auf dem felsigen Grunde, der aus Korallenriffen besteht, gedeiht
weder Getreide noch Gemüse. Heftige Regengüsse machen den Ort völlig unwohnlich.
Weshalb man diesen so ganz ungeeigneten Platz für die Kolonie aus-
ersehen hatte, ist leicht zu sagen. Augenscheinlich deshalb, weil man überzeugt sein
konnte, daß niemand seinen Besitz streitig machen würde. Man nahm eben den
Platz in Besitz mit dem Rechte dessen, der zuerst kommt. Erst später zeigte
sich ein eingeborner Häuptling, namens Maragano, der eine kleine Insel am
Eingänge der Bucht von Port-Breton besetzte und behauptete, ein Anrecht ans
den Besitz der ganzen Insel zu haben; aber um den Preis von 1550 Franks
trat er seine Ansprüche auf Port-Breton an die Gesellschaft „Neu-Frankreich" ab.
Das Schicksal der unglücklichen Auswanderer, welche zuerst nach dem neuen
Eldorado kamen, läßt sich leicht denken. Als das Schiff der dritten Expedition
in Port-Breton ankam, waren von den ISO Kolonisten, die das erste Schiff
gebracht hatte, nur noch zwei Mann am Platze, die bald darauf auch starben.
Die übrigen 148 waren nämlich teils dem Elende oder verheerenden Krank¬
heiten erlegen, teils hatten sie sich nach den benachbarten Inseln zerstreut und
waren dort eine Beute der umsehe»fressenden Eingeborenen geworden, teils
war es ihnen unter großen Mühseligkeiten gelungen. Australien, nunca, die
Hauptstadt der französischen Insel Neukaledonien, oder Frankreich zu erreichen.
Das Schiff aber, welches diese ersten Kolonisten brachte, war sogleich nach
Ausschiffung derselben bei Nacht heimlich davongefahren, mit ihm der Gouver¬
neur der Kolonie und Stellvertreter des Generalunternehmers, der dann später
behauptet hat, er habe das gethan, um die Auswanderer wegen ihrer Insub¬
ordination zu bestrafen.
Das zweite Schiff, welches im März 1880 von Barcelona auslief, ward
unterwegs von einem großen Teile der Mannschaft und der Passagiere wegen
der Gewaltthätigkeiten des Kapitäns verlassen, sodaß dieser nach seiner Ankunft
in Port-Breton nichts thun konnte als neuen Nachschub aus Frankreich ab¬
warten. Diesen brachte bald das dritte Schiff, welches aber gleich dem ersten
die Station bald wieder verließ, unter dein Vorwande, sich neu verproviantiren
und mit dem Festlande Australiens nachbarliche Beziehungen anknüpfen zu
wollen. Von Sydney aus schickte der Kapitän das zweite Schiff nach Port-
Breton zurück, und dieses fand die Kolonie verödet. Abermals war etwa die
Hälfte der Kolonisten durch Krankheit verloren gegangen, und der Rest war zu
der Überzeugung gelangt, „daß sich in Port-Breton nichts machen lasse," wie
ein Mitglied der Kolonie erklärte, da alle Kultur in diesem Lande nichts fruchte.
So entschloß man sich, Port-Breton wieder zu verlassen und sich nach nunca
zu begeben; aber die stürmische Überfahrt auf dem Schiffe der zweiten Expe¬
dition kostete wieder elf Auswanderern das Leben.
Die vierte Expedition hatte zwar keine günstigeren Erfolge aufzuweisen
als die erste, denn auch diesmal kamen drei Vierteile der Auswanderer elend
um; aber sie hatte insofern segensreiche Folgen, als der Doktor Baudouin,
welcher die Expedition begleitete, nicht nur den Rest der Kolonisten mit Hilfe
des Kapitäns Henry aus dem mörderischen Klima von Port-Breton befreite,
indem er ihnen dazu verhalf, daß sie die Kolonie verlassen konnten, sondern auch
dadurch, daß er öffentlich die traurigen Verhältnisse aufdeckte und so weitere
Expeditionen unmöglich machte. Das Werk, in welchem Dr. Baudouin seine
Erlebnisse auf dieser vierten Expedition beschrieben hat, trägt den Titel „Das
Abenteuer von Port-Breton und die freie Kolonie genannt Neufrankreich"
(Verlag von Maurice Dreyfous) und giebt, auch durch seine Illustrationen,
einen interessanten Einblick in die wahren Verhältnisse der unglücklichen Kolonie,
die freilich von den pomphaften Verheißungen des Marquis de Raps himmel¬
weit verschieden sind.
Eine weitere Folge dieser Schrift, welche ganz den Charakter einer öffent¬
lichen Anklage trügt, war das Einschreiten des Staates grgcn den Marquis de
Raps. Freilich der Tod und die getäuschten Hoffnungen vieler Auswanderer,
die er durch seine Unvorsichtigkeit, durch seine Unklugheit und Unfähigkeit ins
Unglück gestürzt hatte, konnten nicht zum Ausgangspunkte der Anklage gemacht
werden. Wohl aber gab das Schwindelhafte der ganze» Gründung hinreichenden
Anhalt, um den Marquis de Rahs in Anklagezustand zu versetzen. Die Anklage
lautete auf Gaunerei und Prellerei, indem sie sich auf die Thatsachen stützte,
daß de Raps einen öffentlichen Aufruf erließ, daß er Bons ausgab über
tausende vou Hektaren Landes zu einer Zeit, als er von diesem Lande noch
keinen Meter besaß, daß er nachher dieses Land für die lächerliche Summe von
1550 Franks ankaufte von einem Wilden, der weder das Recht hatte, es ihm
zu verkaufen, noch die Macht, es ihm zu überlassen, daß er endlich über die
erhaltenen Gelder verfügte, ohne darüber Rechenschaft abzulegen.
Das ganze Unternehmen erinnert so sehr in jeder Beziehung an die be¬
rüchtigten Spekulationen Jean Linos und seiner Handelsgesellschaften für Kolo-
nisirung überseeischer Länder, daß auch die Banknoten nicht fehlen, die de Raps
gleich jenem in Masse emittirte, und daß diese Besitztitel auf Ländereien, die
er nicht besaß, bald von 5 auf 10, auf 20 und mehr Franks stiegen. Sie
tragen die Aufschrift: I,a nouvslls ?rg.nos. Loloms lldrs as ?ort-1Zrst,oil
(Oesams). ?itrs ä'oriAiruz ä'un dsotars as toll'M ä3of 1k ooloius livrs as
?on-Lrston iusorit, an röMstrs oolonml sou8 is tiers of-äitstiÄl, Uo____ und
sind unterschrieben von dem virsstöur-?onäÄtöur Marquis de Raps. Außer
einer Abbildung eines solchen Bons enthält das erwähnte Buch von Dr. Bandouin
auch das Faksimile von Stempelpapier für „Neu-Frankreich," welches man unter
der Schiffsladung des Schiffes der vierten Expedition fand. Als dieses Schiff
wegen einer geringfügigen Summe, welche der Marquis de Raps zu zahlen
sich weigerte, mit Beschlag belegt worden war und verkauft werden sollte, hoffte
man, durch den Verkauf der Schiffsladung, die in 400 Kisten bestand, die
schuldige Summe bequem decke» zu können. Aber was fand man bei Öffnung
der Kisten? Weiße und rote Stiefelchen, Hampelmänner, Hanswurste, Firlefanz
von Ausschnßwaaren, und haufenweise Stempelpapier mit dem Wappen des
Marquis. Dieser Papierkram, der allein 22 Kisten füllte und einen angeblichen
Wert von 100 000 Franks reprcisentirtc, ward für einen Duro die Kiste verkauft.
Zu erwähnen ist nur noch, daß der Marquis seinem Unternehmen von
Anfang an einen religiösen Anstrich gab, indem er auf eiuer von ihm berufenen
Konferenz zu Marseille am 4. April 1879, auf welcher er sein System dar¬
legte, die Erklärung abgab, seine Kolonie werde katholisch sein; er werde der
oberste Leiter sein und sie „den sterblichen Fallstricken einer industriellen oder
kommerziellen Organisation, deren eifersüchtige Umarmungen bald den geheiligten
Charakter seiner eignen religiösen und sozialen Taufe zerstören würden,"
entziehen. Die Ausführung des Unternehmens nach seinem Gedanken werde,
so fügte er hinzu, für alle Anhänger die Verwirklichung eines wahrhaftigen
Glückes nach sich ziehen. Gleichzeitig erklärte er aber, daß die emittieren Bons
für ihn nur einen vorläufig angenommenen Wert hätten, da sie den Käufern
nur eventuelle Rechte auf die künftigen Dividenden der Kolonie gewähren sollten.
Auf diesen wohlerwogenen Vorbehalt stützt sich der Direktor-Gründer jetzt zu
seiner Verteidigung.
erthold erzählte sein Abenteuer von der Moorwiese.
Nun sie meine Hausgenossin geworden ist, schloß er seinen
von den beiden Alten, auch sogar von Frau Anna mit guter Laune
aufgenommenen Bericht, wünschte ich freilich, die Geschichte wäre
nicht passirt, so unerheblich sie ist. Aber euch mußte ichs doch
>post beichten. Ich werde thun, als kannte ich die Person nicht wieder. Sie scheint
es für schicklich zu halten, mich, ihren Mvvrwiesenrittcr, auch nicht zu erkennen,
^ut so bitte ich nur noch um Entschuldigung, daß ich den guten Papa im
besten Redefluß unterbrach.
Jawohl, Alterchen, rief Frau Anna, wo warst du stehen geblieben? Aber
dieser Berthold! Sie drohte mit dem Finger. Dieser Ausbund!
Gehen wir ins Rauchzimmer hinüber, sagte der Fabrikant; deine gestrige
Cigarre schmeckt mir noch in der Erinnerung, Sohn. Ich nehme zurück, was
ich von der Wertgleichheit abgelagerter Weisheitssprüche und abgelagerter Ci¬
garren gesagt habe, alle Achtung vor den ersteren, aber die letzteren gebe ich
preis. Künftig wird von mir nur noch frisches Gewächs in der Villa Anna
geduldet. Und so redend ließ er sich von Berthold aus dessen Vorrat neuester
Ernte etwas besonders sorglich Gewickeltes heraussuchen, rekapitulirte auf dem
Wege nach dem Rauchkabinet vor seinem ihm folgenden vieräugigen Auditonum
das bereits Vorgetragene, richtete sich und seine gespannte Hörerin dann auf
einer der Causeusen des behaglichen Raumes möglichst bequem ein und sum-
uu'rde endlich, während er mit Wonne das Aroma des feinen Havannablattes
sich heranfächelte, das Gesagte mit den Worten auf: Also keine absolute
Fehlerfreiheit, keine absolute Weisheit, kein absolutes Glück. Nach einer Pause,
während welcher Frau Anna möglichst harmlos vor sich niederblickte, fuhr er
dann fort: Wir haben nun, deine Mutter und ich, wie du wohl begreiflich
finden wirst, uns während deiner Abwesenheit auch mit deiner Zukunft beschäf¬
tigt, ich meine mit der Frage, ob wir wohl noch das Glück erleben werden,
dich verheiratet und unsre Enkelzimmer im ersten Stock etwas bevölkert zu sehen.
Hast du irgend etwas darüber auf dem herzen? Ist dir jemand, ich meine
ein Mädchen aus gutem Hanse, näher bekannt geworden?
Wir würden, ergänzte Frau Anna, natürlich auch eine Fremde nicht zurück¬
weisen, aber du kannst denken, daß uns eine gute Deutsche tausendmal — ach,
was sage ich denn? millionenmal lieber wäre.
Liebe Eltern, sagte Berthold, ich hätte wohl hie und da gern eure Mei¬
nung über ein Mädchen, das mir gefiel, hören mögen. Aber was war zu thun?
Viele hundert Meilen lagen zumeist zwischen euch und ihr. Da habe ich mir
denn ernstere Gedanken möglichst rasch aus dem Kopfe geschlagen und war auch
hinterdrein allemal froh, daß ichs gethan hatte. Denn es giebt wahrlich so
viele angenehme und wünschenswerte Mädchen in der Welt, daß mir in jeder
neuen Stadt, die ich betrat, auch eine neue Liebe anflog. Was hätte da werden
sollen? Ich hoffe, ich werde mit der Zeit kritischer werden. Aber jetzt tauge
ich noch nicht zum Heiraten. Ich könnte für nichts einstehen. Die Mädchen
gefallen mir aller Orten zu gut.
Frau Anna leuchtete vor Freuden. Du wälzest mir einen Stein vom
Herzen, sagte sie. Ich hatte in dem Buche mit den Abbildungen der ameri¬
kanischen Urbevölkerung so manche ganz hübsche Squaw gesehen, daß ich wirk¬
lich schon in Angst war, du würdest uns eine solche Wilde ins Haus führen.
Es giebt sehr hübsche drunter, stimmte Berthold bei.
Jetzt setze du ihm noch was in den Kopf, brummte Kaspar Benedikt.
I, er ist ja vernünftig, korrigirte ihren Fehler Frau Anna.
Er ist vierundzwanzig Jahre alt, fuhr der Fabrikant fort, das ist das
Alter, in welchem solche Grillen und fixe Ideen, wie er sie uns eben vor¬
getragen hat, den jungen Leuten am meisten zu schaffen machen. Sehr natür¬
lich! Es ist eben Zeit, zu Neste zu tragen. Also gut. wendete er sich zu
Berthold, du bist frei, ganz frei, das ist die Hauptsache. Jetzt laß uns einmal
hören: was denkst du über Fräulein von Mockritz?
Über wen?
Über unsre Hermine, kommentirte Frau Anna; wir nennen sie ja nicht
anders. Ist sie nicht prächtig munter und alert? Und wie sie gut angeleitet
ist! Sage selbst, Kaspar — denn dein Vater, Berthold, hat für so etwas einen
Blick, nun ich darf ihn nicht eitel machen —, aber sage selbst, Kaspar Benedikt,
ist sie gut angeleitet oder nicht? Diese Geschwindigkeit bei häuslichen Arbeiten,
eine Bürgerliche muß sich vor ihr verstecken, und dabei immer sauber und schmuck,
und ein Auge — wenn ein Maler die Unschuld malen wollte, das Auge müßte
ihm —
Aber Sapperment, Anna, fiel ihr hier der Fabrikant ins Wort, willst du
oder soll unser Sohn sie heiraten? Man heizt einen neuen Ofen doch nicht
mit einem ganzen Fuder Kohlen an,
Liebe Eltern, sagte Berthold, ihr vergeht, fürchte ich. daß ich weder ein
Adonis noch sonst etwas bin. Wie kann ich so hoch hinauswollen? Damit
will ich mich nicht etwa zu tief gebückt haben. Ich mache mir aus unsern
europäischen Standesgliederungen herzlich wenig. Vater Hartig mit seiner vierzig¬
jährigen unermüdlichen Thätigkeit und seiner redlichen Sorge für Hunderte und
aber Hunderte von Arbeiterfamilien steht mir höher als der reichstbesternte Titel¬
matador, und Mama Hartigs Küchenschürze ist mir lieber als die längste Atlas¬
und Spitzenbalyeuse einer Prinzessin. Aber wie käme ich dazu, um ein Fräulein
„von" zu freien? Nein, so hoch möchte ich nicht hinaus. Im übrigen wüßte
ich nicht, wie man hübscher und netter und umgänglicher und was weiß ich
sein könnte, als Fräulein Hermine.
Hier fiel Frau Anna ihrem Sohne um den Hals.
Sachte, sachte, suchte Kaspar Benedikt einem neuen Ausbruche vorzubeugen,
aber Frau Annas freudige Erregung mußte über die Lippen. Was sie alles
über die zwei bürgerlichen Schwäger Herminens hervorholte, grenzte ans Un¬
glaubliche und konnte nur dadurch, daß Frau Anna soviel mit Fräulein von
Mockritz zusammengesteckt hatte, trotz Kaspar Benedikts Kopfschütteln, sich einiger,
maßen Kredit verschaffen. Daß Prinz Ottokar zweimal vergebens um Fräu¬
lein von Mockritz angehalten, und daß die Fürstinmutter selbst sich umsonst im
Interesse ihres Neffen bemüht habe, war eine weitere Phantasmagorie Frau
Annas, aber sie konnte nichts dafür, sie meinte wirklich nur Thatsachen zu er¬
zählen. Die nahe Aussicht auf Verwirklichung ihres liebsten Wunsches war ihr
wie junger Wein zu Kopf gestiegen.
Zuletzt mußte Kaspar Benedikt seine Frau darauf aufmerksam machen, daß
Berthold ja gerade um solcher dem Fräulein gewordenen Auszeichnungen willen
nur noch mehr bezweifeln werde, daß er um sie werben dürfe.
So? rief Frau Anna, dann muß ich wortbrüchig werden, d. h. versprochen
habe ichs Hermine nicht, aber geheim halten wollte ichs dennoch. Lieber Sohn,
hast du auf der Rückseite deiner Photographie den mit Bleistift überkritzelten
Vers bemerkt? den hatte sie darauf geschrieben. Er fällt mir schon noch wieder
ein. Dann die gesprungene Fensterscheibe auf dem Vorplatz. Ein B und em H
sind mit Diamant darauf eingeritzt gewesen. Ich weiß von wem. Dann im
Garten unterhalb der Feigenmauer die drei Zierkürbisse. Sieh nur nach, was
mit der Brustnadel eines gewissen Fräuleins darauf zusammengeschnirtelt worden
ist. O. ich weiß, wie es junge Mädchen treiben, wenn ihr Herz zum Zerspringen
voll ist! Reden dürfen wir armen Dinger ja nicht.
Daß du nicht reden darfst, ist mir neu, versetzte der Fabrikant im Tone
seines trockensten Humors.
Frau Anna tappte ihm strafend auf die Schulter.
Berthold blickte sinnend vor sich nieder. Davon hatte ich keine Ahnung,
sagte er, halb geschmeichelt, halb verlegen.
In Wirklichkeit verhielt sich die Sache übrigens etwas anders.
Der Vers bestand aus einer Zeile aus Shakespeares Sommernachtstraum
und hieß:
Zorns Luxiä Knif ivitli »roof, soins nÄü trg.ps.
Fräulein von Mockritz hatte ihn zitirt, als sie einen kleinen, im Palmenhause
stehenden Amor bewundern mußte, und da Frau Anna das Zitat ihrem Kaspar
Benedikt mitteilen wollte, hatte das Fräulein es auf die Rückseite der nächst¬
besten Photographie für ihn aufgeschrieben, es aber überkritzelt, als sich dieselbe
als Vertholds Bild auswies. Die mit dem Diamant eingeschnittenen Initialen
waren nicht B und H, sondern O und H gewesen, eine durch das Zerspringen
der Scheibe noch zur rechten Zeit unschädlich gemachte Unbedachtsamkeit. Die
Faxen auf dem Kürbis endlich waren die herkömmlichen gewesen: ein Sonne,
ein Halbmond, ein paar Sterne, ein Haus, ein Herz — für Frau Annas immer
alles auf ihren Berthold znrückbeziehende Phantasie die Illustration zu ihrem
Lieblingsliede:
Eine Hütte und ein Herz,
Andres wünsch' ich nicht hinieden,
Maid und Stern und Sonne hört's!
Andres nicht sei mir beschicken,
Als ein Hüttchen und ein Herz!
Nein, davon hatte ich keine Ahnung! wiederholte Berthold, ich bin doch
wahrlich das Gegenteil von hübsch!
Das ist Geschmacksache, lächelte Frau Anna, denn seine Bescheidenheit ver¬
schönerte ihn freilich bis zur Anmut.
Und dann — sie kennt mich ja kaum!
Wovon denkst dn denn, daß wir zwei Frauenzimmer uns so manche Stunde
unterhielten, während dein Papa im Garten Raupeujagd trieb?
Ich war schon so glücklich, euch, liebe Eltern, nur wieder nahe zu sein.
Jetzt soll mich auch noch ein drittes lieb haben?
Unglaublich, aber wahr!
Genug jetzt, schloß der Fabrikant, sonst bethörst du mir den Jungen, bis
er auf der Stelle dem Fräulein einen Antrag macht. Die Ehe ist kein Logir-
haus, das man heute betritt und von dem man morgen wieder loskommen kann.
Fürs Leben! Das ist ein furchtbar ernstes Wort. Lernt einander erst gründ¬
lich kennen. Gesteht einander offen eure Schwächen. Ernüchtert euch. Laufe
einander nicht im Rausch in die Arme. Wir haben für dich gewählt, aber du
bist ganz frei, Sohn, und jedes Mädchen aus gutem Hause, notabene aus
gutem Hause — denn soweit laß dich nur getrost bevormunden — soll uns
als deine Braut willkommen sein.
Zwei Dinge wären noch ein gut Teil merkwürdiger gewesen als die merk¬
würdige Villa selbst: wenn nämlich der Amerikaner sich nicht schon beim
nächsten Abendrot mit der Bitte an das scheidende Tagesgestirn gewendet
haben sollte, es möge morgen einem glücklich erhörten Bräutigam leuchten;
und wenn weiter Fräulein von Mockritz der Meinung gewesen wäre, weil ein
Prinz ihretwegen zum Weltumsegler werden wollte, müsse sie nun ins Kloster
gehen. Nicht daß sie eine Wetterfahne war. Sie hatte zwar anfangs an ihren
Halbvetter Botho von Falkenberg mit mehr Freundlichkeit als seit langem
gedacht und hatte sich gesagt, sein beharrliches Werben um ihr Herz sei doch im
Grunde von ihr mit cillzngroßer Härte belohnt worden. Aber vor dem Ein¬
schlafen wurde sein nicht unschönes, wenn auch etwas zu ernstes Bild wieder
durch das siegreich kecke Antlitz des Prinzen Ottokar verdrängt. Sehnsucht
»ach ihm überflutete jedes andre Gefühl in ihrer Brust, sie sagte sich bei einem
Blick auf ihre Uhr, jetzt könne sie ihm angetraut worden sein, jetzt könne sie
in seinen Armen ruhen, und ihre Thränen flössen.
Aber dann war mit dem Morgengrauen die Ernüchterung gekommen.
Wenige» nur war der Ehebund mit einem Prinzen so gut bekommen wie der
Philippine Weiser! War die Bernauerin nicht grausam ersäuft worden, ersäuft
von Henkershand? N äono! Und hatten sich die Formen auch geändert,
griffen die hohen Herren nicht mehr so grob zu, wenn irgendwo im Versteck
des Laubes ohne ihre Erlaubnis ein Nest gebaut worden war, die Gesellschaft
urteilte heute doch nicht anders als zu jenen Zeiten, und immer noch war das
Frauenzimmer der schuldige Teil, zumal wo es sich um die „Verführung"
eines beliebten Prinzen handelte. Ich eine Verführerin, ich! seufzte sie.
Vater Hurtig würde sagen: es ist zum Lachen!
Und damit hatte sie ihre gute Laune schon teilweise wieder. Den Rest
gab ihr der Spiegel zurück, als sie unter Lores Händen demselben ein halbes
Stündchen gegenüber saß und allmählich, während sie frisirt wurde, sich zu der
Ansicht bekehrte, im Blütenalter des Lebens den Kopf hängen zu lasse» sei
eine unvergeßliche Thorheit.
So war sie am Frühstückstisch erschienen, in einfacher, aber kleidsamer
Morgentoilette, herzlich gegen das alte Ehepaar, freundlich gegen den ver¬
götterten Augapfel desselben, den stattlich svnngebräuuten Berthold, und so
hatte sie, indem sie sich gab wie sie war, erreicht, daß der Adoptivsohn des
Hauses von ihr den Eindruck empfing, man könne nicht „hübscher und netter
und umgänglicher sein als Fräulein von Mockritz."
'
Sie ihrerseits hatte bei alledem den „schönsten Abend ihres Lebens" noch
nicht so völlig vergessen, daß ihr die guten Seiten Bertholds ebenso rasch ins
Auge gesprungen wären wie sein Mangel an gesellschaftlichein Schliff.
Aber schon ini Verlaufe desselben Tages und noch mehr im Verlaufe der
folgenden gewann sie an manchen seiner Derbheiten Geschmack, ja sie stand ihm
gegen Frau Anna bei, so oft diese Schnalle, er benehme sich wirklich wie ein
Buschmensch; und da die schöne Jahreszeit Spiele im Freien gestattete, so wußte
Hermione, bei ihrer sehr entwickelten Virtuosität auf diesem Gebiete, sich ihm
bald als Lehrmeisterin zu empfehlen, immer der kürzeste Weg zur Anbahnung
eines harmlos unbeengten Verkehrs unter jungen Leuten.
Er kam dennoch nicht so rasch zu einer Gelegenheit, ihr einen förmlichen
Antrag zu machen, wie er gehofft hatte, wenigstens war Kaspar Benedikts Wort,
so oft der Verliebte zum Sturm vorgehe» wollte, immer von neuem „Zeit
lassen und sich kennen lernen." Meine Anna, sagte er, hat schon als kleines
Kind mit meiner kleinen Schwester in meines guten Vaters zerbrochener Geige
Sand gefahren, und ich bin der Töpfer gewesen, der aus dem Sande Teller
und Tassen but. So lauge kannten wir einander schon und doch setzte mein
guter Vater es durch, daß wir uns ein halbes Jahr aus dem Wege gingen,
als das Verlieben uns endlich angeflogen war. Zeit lassen und sich kennen
lernen! Kennst du dich denn selbst nur? Du wolltest ja in jeden, neuen Städtchen
dich von neuem verliebt haben. Nun, du bist doch i» acht Tagen unmöglich
ein ganz andrer geworden.
Doch, doch! widersprach Berthold, das war damals ja gar keine rechte
Liebe, das waren flüchtige Augenweiden. Wie viel Zeit durfte ich mir denn
lassen? Die Hauptsache blieb ja doch immer mein Ingenieur-Beruf; Tunnels,
Viadukte, Brücken, Kanäle, Eisenbahnen — das füllte mir den Kopf. Hier
hast du meine Hand, Papa — nie bin ich ernstlich verschossen gewesen, ver¬
liebt nun schon garnicht. Fräulein von Mockritz ist meine erste und einzige
wahre Liebe.
Zeit lassen! war Kaspar Benedikts letztes Wort.
Frau Anna liebte ihren Mann zu innig, um nicht ihm zu Gefallen
ihrer Ungeduld Zügel anzulegen, aber es wurde ihr unsäglich schwer.
Jeden Tag kann Herminens Mutter aus dem Seebade zurückkehren,
sagte sie, und dann nimmt Frau von Mockritz das liebe Mädchen wieder fort.
Wo soll sich da eine Gelegenheit für Berthold finden, um Hermine unter vier
Augen zu sprechen? Und du weißt: einzig fo kann zwischen beiden etwas
werden. Vermittler sind ihm unausstehlich.
Zeit lassen! — Kaspar Benedikt wünschte die Partie reichlich so sehr
wie seine Frau. Aber die Hast der letztern wettzumachen, schien ihm heilige
Gewissenspflicht.
Freilich, wenn Frau Anna plötzlich sich erinnerte, eine wichtige Anordnung
für den Mittagstisch noch ausrichten zu müssen, und wenn sie deshalb Hermine
mit dem Amerikaner, dessen Lippen immer schon wie zu einer Liebeserklärung
geöffnet waren, an der Feigenwand allein ließ, gerade angesichts der bekritzelten
und punktirten Zierkürbisse, da war es fast unmöglich, daß die Hieroglyphen¬
schrift auf letztern nicht zu einem Frage- und Antwortspiel führte.
Und so kam es denn auch, und unversehens geriet man weiter, nämlich
weiblicherseits bis zum Stottern und Erröten und männlicherseits bis zum
kühnen Ergreifen einer widerstrebenden Hand und zum noch kühnerem festen
Umschlingen des lieben Mädchens, dem Bertholds volles Herz in diesem Augen¬
blicke mit der ganzen Glut einer überströmenden Empfindung entgcgenschlug.
Und so fand das alte Ehepaar denn beide Hand in Hand, Hermine zwar
in Thränen gebadet, aber nur umso reizender, Berthold strahlend vor Sieger-
bewußtsein und Wonne, wenn auch Übergossen von jenem bittersüßen Verlegen¬
heitsausdruck, der sich jedes mit trocknen Augen dastehenden Mannes bemächtigt,
an dessen Seite ein geliebtes Wesen sich in Thränen Luft macht.
An diesem Tage öffnete Kaspar Benedikt zwei Flaschen Johannisberger
und zwei Flaschen Lafitte, mit denen er, als dem besten, was sein reicher Wein¬
keller enthielt, lange geliebäugelt hatte, und vorbehaltlich der Zustimmung der
— wie Kaspar Benedikts Trinkspruch es ausdrückte — „schanmentstiegenen Mama
Mockritz" wurde auf die Verlobten so lange angestoßen, bis Papa Hartigs
Augen ganz gläsern aussahen und Mama Hartigs Haube auf dem linken
Ohre saß.
Als man sich vom Tische erhob, mußte Berthold seine Braut noch überdies an
den Flügel führen, damit sie das Lieblingsstück der Mama Hartig, den Hochzeits¬
marsch aus dem „Sommernachtstraum/' als Nachtisch zum besten gebe, und während
der letzten Takte nickten die beiden Alten in ihren Renaissance-Sorgenstühlen ein,
worauf Hermine ihren Bräutigam in das orangenblütenduftige Oktogon zog und
dort in sehr ausgelassener Stimmung — denn Botho von Falkenberg und Prinz
Ottokar tanzten ihr wild vor den Augen — mit ihm eine Beichtsitzung vor¬
nahm, in der alle die schönen Mädchen, die ihm je gefährlich geworden seien,
wie sie verlangte. Revue passiren sollten.
Der berühmte Verfasser des Pantagruel sagt einmal etwa folgendes — wört¬
lich ist er nicht immer zu zitiren —: Pannrge hatte die Schäferdirnen mit
fliegendem Haar und einem beim Sitzen auf freiem Wiesenboden ihnen angeflo¬
genen Quendelduft lieber als die bisamriechenden Damen. Kurzum: sein Pa¬
nnrge liebte das Natürliche.
Es passirt zuweilen, daß dies Natürliche um seiner Natürlichkeit willen
noch nicht das Gute und einem reinen Gemüte sympathische ist.
Und gerade so ermangelte die Nachtischnatürlichkeit des Fräulein von
Mockritz, wenn der überglückliche Bräntigcnn sich dessen auch nicht klar bewußt
war, schon einigermaßen jenes sympathischen Zaubers, ohne den die erquickende
Frische des Brautstandes rasch in die trockne Glut eines Sommertages, dem
der Morgenthau fehlte, umschlägt.
Übrigens hatte Fräulein von Mockritz Sorge getragen, daß dem Dekorum
schuldige Rücksichten gezollt wurden. Schon an ihren: Verlobungsabend war
ihrerseits ihre Wiederübersiedeluug in die Villa Mockritz angeregt und bald
darauf ins Werk gesetzt worden.
Tags darauf bat Berthold seine künftige Schwiegermutter brieflich um die
Hand ihrer Tochter, und der Fabrikant fügte seinerseits dasjenige hinzu, was
Frau von Mockritz über die sehr erfreulichen Vermögensverhültuisse ihres
Schwiegersohnes zu erfahren berechtigt war.
(Fortsetzung folgt.)
Aus Schwaben. Das neue Jahr hat in Schwaben mit einigen Be¬
wegungen im Parteileben begannen, die mit Recht ein gewisses Aufsehen gemacht
haben. Seit bald zwei Jahrzehnten steht die politische Bewegung des Landes
unter dem beherrschenden Gegensatz der Volkspartei und der deutschen Partei,
der sowohl durch die Thatsache der Schöpfung des Reichs als durch die mittler¬
weile sich vollziehenden Verschiebungen des Parteiwesens außerhalb Schwabens
bisher nur wenig berührt wurde, mit andern Worten, der Kampf hat sich fast
ausschließlich um die nationale Frage gedreht. Nun hat beinahe gleichzeitig eine
Schwenkung der deutschen Partei nach links stattgefunden, scheinbar also ein Ent¬
gegenkommen der feindlichen Brüder, die sich bis dahin leidenschaftlich bekämpft
hatten. Der „Beobachter", das Organ der Demokratie, ist in die Hände jüngerer
Parteigenossen übergegangen und wird seitdem in einem verständigeren, dem Reiche
ungleich freundlicheren Sinne geleitet. Bon dem früheren exzentrischen Programm
ist keine Rede mehr; die Föderativrepublik, die Miliz- und Neutralitntsschwärmcrei
ist ein überwundener Standpunkt, man möchte die früheren Zeiten am liebsten
aus den, Gedächtnis auslöschen und verbittet sich empfindlich jede Erinnerung an
die Vergangenheit. Statt des landsmannschaftlichen Krieges gegen Preußen ist
loyale Mitwirkung an den Reichsaufgaben zur Losung geworden.
Die nächste Veranlassung zu dieser Wendung darf wohl in dem Ausfall der
letzten Landtagswählcn gesucht werden, bei welchen fast alle Führer der Volks¬
partei unterlagen. Dieses Schicksal führte zu einer heilsamen Selbstbesinnung.
Durch die Fortsetzung ihrer herkömmlichen Art von Polemik und Agitation sah
sich die Partei den Boden unter den Füßen weggezogen. Jetzt gilt es das ver¬
lorene Vertrauen wicderzucrobcrn, und sie glaubt dies durch das Einlenken in
gemäßigtere Bahnen zu erreichen. Dennoch wäre es ungerecht, in dieser ver¬
änderten Haltung bloß eine Spekulation auf die Wahlstimmen zu erblicken, Auch
dann, wenn sie nur so gemeint wäre, enthielte sie das bezeichnende Eingeständnis,
daß das schwäbische Volk, allen Versetzungen zum Trotz, der Sache des Reiches
gewonnen ist. Allein man hat in der That keinen Grund, an der Aufrichtigkeit
der jetzige» Wortführer zu zweifeln. Die älteren, unbelehrbarer Häupter, welche
sich zur Anerkennung des Reiches nicht entschließen konnten und welche in den
Großthaten von 1870 nur mit Bitterkeit den Mißerfolg ihrer Partei erblickten,
sehen sich von einer jüngere» Generation überholt, die im neuen Reiche heran¬
wächst, die mindestens das Gewordene ehrlich annimmt, die selbst patriotischer Em¬
pfindung fähig und die entschlossen ist, den Ruhm der Schwaben uicht fürder in
unfruchtbarer, öder Negation zu suchen. Das Geschrei über den Militarismus
findet geringen Anklang mehr, seitdem die neuen Heereseinrichtuugcn sich eingelebt
haben und ein Netz von Kriegervcreinen sich über das Land ausbreitet, die sich
den Stolz ihrer Erinnerungen nicht runden lassen. Doch mehr als alles andre
hat die Wirtschaftspolitik des Kanzlers gewirkt. Unwiderstehlich von dieser er¬
griffen, kam ein praktischer Sinn zum Durchbruch, und die leidenschaftliche Ab¬
neigung gegen den Kanzler war genötigt, sich in Anerkennung zu verwandeln.
Schon bei der Zollreform war das abstrakt freiheitliche und folglich frcihändlerische
Programm des „Beobachters" nicht durchzuführen. Theoretisch bekannten sich die
Parteigenossen zu diesem Programm; sobald sie aber als Kandidaten vor dem
Volke standen und um dessen Stimmen warben, fanden sie es rätlich, ihr Interesse
für den Schutz der einheimischen Industrie zu beteuern. So kam es, daß bereits
damals im Reichstage vereinzelte Übertritte ins Bismarcksche Lager vorkamen; noch
bedeutsamer war, daß beim Unfallversicherungsgesetz die Gruppe der süddeutsche»
Demokraten sich vou den Liberalen trennte und für die Regierung stimmte. Auch
neuestens ist das Verhalten ihrer Presse zum Krankenkassengesetz ein freuttdliches
"ut anerkennendes. So ist es den» der Bismarcksche» Politik, und zwar wesentlich
seiner innern Politik (die man sonst ebenso verfehlt, wie seine auswärtige tadellos
z» finden Pflegte), gelungen, den Trotz der schwäbischen Catone zu brechen. Den
Vorwurf der „Reichsfeindschaft" können sich diese jüngern Wortführer mit Recht
verbitten. Im ganze» sind sie in die Linie der Fortschrittspartei eingerückt, von
der sie eben nur jene Sympathie mit der wirtschaftlichen Reformpolitik unter¬
scheidet. I» den Militär- und in den sogenannten Freiheitsfragen haben sie sich
limiz unter die Fahne Eugen Richters gestellt, und der Führer der Fortschritts¬
partei wird den» auch im „Beobachter" »euerdings ungemein gefeiert, als der
'"ächtigsten Redner einer, ja als ein „Trost des Volkes." Das Recht einer eigne»
Existenz besitzt die Gruppe im Grunde nur durch ihre Anhänglichkeit an die
würtenbergische Postmarke und an die andern Reservatrechte, die allerdings neuestens
>"it ganz besonderm Nachdruck von ihr bekräftigt wird, gleichsam als wolle sie
dann ihr Gewissen beschwichtigen für so bedeutende Zugeständnisse an das Reich.
Also eine Art Fortschrittspartei rin partikularistischem Anstrich. Immerhin
e>n wirklicher Fortschritt gegen früher, aber freilich zugleich ein Beweis dafür, wie
notwendig auch fernerhin die Wirksamkeit der deutschen Partei im Lande ist. Es
wird g„t sein, den Häntungsprozeß, in welchem unsre Demokratie begriffen ist,
^nz ungestört sich vollziehen zu lassen und vor allem abzuwarten, wie sich ihre
guten Vorsätze in der Praxis, d. h. in den WalMmPfen, bewähren werden. Es
gehört ein starker Optimismus dazu, sich vorzustellen, daß die nächsten Reichstags¬
wahlen ein erheblich andres Gesicht und eine andre GruPPirung der Gegensätze
zeigen werden als bisher. Bekanntlich hat die Volkspartei bei den Wahlen zum
Reichstag stets bessere Aussichten als bei den Landtags- und Gemeindewahlen.
Dieselbe Wählerschaft, die zum Reiche mit kühnem Stolze „oppositionell" wählt,
ist ungleich vorsichtiger, wenn es die Wahl ihrer Vertreter für Land und Stadt
gilt. Das schwäbische Volk hat an den demokratischen Führern einen Akt deS
Ostrazismus geübt, indem es ihnen bei den letzten Landtagswahlen sein Vertrauen
verweigerte, hatte sie aber im voraus dadurch entschädigt, daß sie dieselben nach
Berlin schickte und mit Führung der schwäbischen Interessen im Reiche betraute.
Darin liegt Methode, aber es zeigt doch einen Stand der politischen Reife im
Volke, der noch zu wünschen läßt. Eben dieser Gedanke an die nächsten Wahlen
hat etwas Beruhigendes, wenn man die gegenwärtige Unsicherheit im Lager der
deutschen Partei bemerkt. Ähnliche Schwankungen sind immer dagewesen, sind aber
auch noch immer im Augenblick der praktischen Bewährung verschwunden.
Auf einigen Lokalversammlungen der deutschen Partei, und zwar von Per¬
sönlichkeiten, die zu den Leitern gehören, ist in auffälliger Weise der liberale
Charakter der Partei stark betont, ja sogar die Möglichkeit eines künftigen Zusammen¬
wirkens mit der gemäßigten Demokratie angedeutet worden. Das war nicht bloß
durch den Redaktionswechsel am „Beobachter" veranlaßt und als zuwinkende Er¬
wiederung ans diesen zu verstehen. Es kam vielmehr aus eiuer Stimmung, die
sich schon seit längerer Zeit in einem Teile der Partei aufgesammelt hat und in
der Stadt Stuttgart namentlich durch die jüngsten Gemeinderatswahlen wieder be¬
kräftigt wurde, wo die deutsche Partei mit den Konservativen vereinigt siegte, aber
Gründe hat, eben diese Allianz nicht zu einer dauernden und allzu engen werden
zu lassen. Das sind aber lokale Dinge, die ohne Einfluß auf die Haltung der
Partei ini ganzen sind. Diese hat sich bis dahin wesentlich in derselben Zusammen-,
Setzung und in derselben Richtung bewegt, die ihr bei ihrer Gründung im Jahre
1866 vorgeschrieben waren. Damals entstand sie als eine Vereinigung aller national¬
gesinnten Elemente ohne Unterschied der sonstigen Parteistellung: Freischärler vom
Jahre 1848 so gut wie der teutschgesinnte Adel, Liberale und Konservative sind
auf ihrem Boden zusammengetreten und haben sich bis jetzt im Zusammenwirken
für die gemeinsame Sache leidlich vertragen. Die Leitung der Partei befand sich
im wesentlichen bei den Nationalliberalen, aber es versteht sich, daß die Manns¬
zucht keine allzustrengc sein konnte. Es war ja weniger eine Partei im politischen
Sinne, als vielmehr ein Verein zur Pflege des nationalen Gedankens, der im
übrigen den politischen Neigungen freies Spiel ließ. Daß dieser Verein auch jetzt
noch ein Wirkungsfeld in Würtemberg hat und noch nicht am Ende seiner Auf¬
gabe ist, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. Der Umstand freilich, daß der
Verein zugleich im wesentlichen sich mit der liberalen Mittelpartci des Landes
deckt, bringt eine gewisse Zwiespältigkeit in seine Aufgabe, die ihm aber noch nicht
zu ernstlichem Schaden gereicht hat. Zumal seitdem die Deutschkonservativen sich
losgesagt und eine eigne Partei gebildet haben und nicht mehr die Angehörigen,
sondern uur die Verbündeten der deutschen Partei sind, ist für die letztere öfters
die Versuchung herangetreten, in innern Landesangelegenheiten sich als eine eigent¬
lich liberale Partei abzugrenzen, wobei freilich die Gefahr war, daß sie dadurch der
gemäßigt konservativen Elemente, die ihr anhängen, verlustig ginge. Möglich, daß
in einer künftigen Zeit einmal eine solche Scheidung unvermeidlich wird, wenn
nämlich der Minister Hölder, der ehemalige Führer der deutschen Partei, mit seinen
liberalen Organisationsentwürfen hervortritt, die er in Arbeit hat. Allem An¬
scheine nach aber hat es noch gute Weile, bis diese Arbeiten das Licht der Welt
erblicken, und so lange ist auch jene Scheidung mindestens kein Bedürfnis. Bisher
hat sich in der deutscheu Partei noch immer der Entschluß, in der bisherigen Weise
u»d zu denselben Zwecken verbunden zu bleiben, starker erwiesen als die Versuche,
sie auf ein striktes Politisches Programm zu verpflichten und einzuengen. Und waS
die Reichstagswahlen betrifft, so müßte es sehr sonderbar zugehen, wenn wir nicht
auch künftig ganz dieselbe Parteistellnng hätten wie bisher, nämlich ans der einen
Seite die deutsche Partei und die Konservativen, auf der andern die Volkspartei
und die Ultramontanen.
Es ist unter Fachleuten bekannt, wie vortreflich es der Herausgeber dieses
^»schenbnches versteht, die allgemein giltigen und notwendigen Gesundheitsregeln
^übt verständlich dem niederen ärztlichen Personal darzustellen. Mit dem
^aschenbuche wendet er sich an Ärzte, Heildiener, Krankenpflegerinnen, Diako¬
nissinnen u. f. w. Im Verein mit einer Anzahl tüchtiger Aerzte, welche nicht
mir ihre Namen für das Titelblatt hergegeben, sondern fleißig mitgearbeitet
Mben, hat er hier ein Lehrbuch der Krankenpflege geschaffen, von kompendiöser
uvrm und doch von so reichem und gediegenem Inhalte, daß Referent mit Ver¬
gnügen und Nutzen bald dieses, bald jenes Kapitel studirt hat.
Besonders erwähnen wollen wir, daß Pfeiffer mit Recht die Kosten dieser
"der jener Behandlungsmethode, dieses oder jenes Kindernahruugsmittels betont,
"in der Pflegerin es zu ermöglichen, bei armen Leuten das billigste und relativ
beste zu treffen. Von großen Interesse sind unter anderm die Angaben über die
Kosten, welche ein junger Weltbürger durch seine Ankunft dem Hause macht, und
si,,d diese Kosten berechnet für die ersten zwanzig Wochen bei verschiednen
^ohlhabenheitsgrad und verschiedner Ernährungsweise. Wir erfahren aus diesen der
Wirklichkeit entnommenen Aufzeichnungen, wie einer wohlsituirtcu Familie mit
..7^6 WO Mark Einkommen das Kindchen bei Ernährung durch Muttermilch
^9.20 Mark, also für den Tag 2.85 Mark kostete, während bei Knhmilcher-
"»hrung die Ausgaben auf 3,48 Mark, bei Gebrauch des Resele'schen Mehles
°uf 3,68 Mark und bei Ammencrnährung auf 4,50 Mark stiegen. In der Fa¬
milie eines Kaufmanns mit 2000 Mark Einkommen (Resele's Mehl) wurden
^4.30 also 0,96 Mark für den Tag ausgegeben, während ein Schuh¬
macher mit 1000 Mark Einkommen, dessen Fran das Kind selbst nähren konnte,
"ur 15 Mark für sein Kind anlegte, also 0,11 für den Tag, und schließlich ist
^ne Proletariarfamilie in der Tabelle erwähnt, die keine Anschaffungen von
Nlnderwcische machte und in zwanzig Wochen nichts ausgab als zwanzig Pfennige
sur Seife, damit die Windeln gewaschen wurden, und 1 Mark der Hebamme,
Maß auf den Tag 0,01 Mark Ausgaben kamen.
Das kleine Schriftchen (128 S.) schildert uns kurz den Lebenslauf eines
unsrer liebenswürdigsten neueren Schriftsteller, den man wohl den „Vater des
Feuilletons" genannt hat. Wir erfahren, wie Ernst Kossak, nachdem er als Student
vergeblich auf dem Gebiete des Dramas sich versucht hatte, durch die Stellung
eines Musiklehrers, dann eines Musikkritikers hindurch zu einem geistreichen Hu¬
moristen und scharfen Satiriker sich ausbildete, Seine zahlreichen Arbeiten, welche
in den mittleren Jahrzehnten dieses Jahrhunderts teils in den Feuilletons der
besten Blätter, teils in selbständigen Schriften erschienen, rühmen damals das
Interesse der gesamten gebildeten Welt und vor allem der Berliner Kreise lebhaft
in Anspruch, Es wird uns der Gang seiner literarischen Entwicklung, es werden
uns seiue zahlreichen Beziehungen zu andern literarischen Notabilitäten vorgeführt.
Zur Charakterisirung seiner Werke werden uns mehrfache Proben daraus mit¬
geteilt, Sem letztes, vielleicht am weitesten verbreitetes Werk ist Hildebrandts
„Reise um die Erde," zu welchem der gefeierte Maler zwar den Stoss, Kossak
aber die überaus anmutige und fesselnde Darstellung gegeben hat. Leider ver¬
fiel nach Vollendung dieses Werkes Kossak in ein schweres Siechtum, welches die
letzte» zwölf Jahre seines Lebens hindurch seine schriftstellerische Kraft lähmte, bis
ihn im Jahre 138V der Tod erlöste. Wer aber seinerzeit an den Schriften dieses
Mannes Frende gehabt hat, wird auch mit Interesse dieses ansprechend gezeichnete
Lebensbild hinnehmen.
Dieser kleine Roman spielt auf Kos in der Zeit des Kaisers Julianus Apostata
und stellt die wunderlichen Familienkonflikte dar, welche infolge des langen Kampfes
zwischen Christentum und Heidentum in der griechisch-römischen Welt tausendfach
wiedergekehrt sein müssen. Das Ganze endet mit der glücklichen Rettung eiues
jungen christlichen Ehepaares, Felix und Olympia, aus einem gefährlichen Schiff¬
bruche und der späten Bekehrung des braven Bildhauers Kallias zum neuen Glauben,
welche durch sein künstlerisches Schwanken, das ihn, den Schöpfer einer Aphroditen¬
statue, auch ein Bildwerk des guten Hirten mit den Lamm versuchen heißt, schon
vorbereitet erscheint. Der Ton der Erzählung ist ansprechend, die Handlung und
Charakteristik anziehend, und die Zeit ist zwanglos und ohne großen Aufwand
gelehrten Apparates dargestellt. Nach ein paar frühern Proben zu urteilen, scheine»
übrigens dem Erzähler mittelalterliche Stoffe näher zu liegen als antike,
Eine Erzählung, welche über das Niveau der gangbaren und beliebten Jonr-
nalnvvellen entschieden hinausragt. Der Name des Autors begegnet uns zum
erstenmal, doch ist nicht nur viel Poesie im einzelnen, sondern leider auch eine
gewisse Überreife, ein gelegentliches Raffinement der Vortragsweise in der Ge¬
schichte, welches darauf hindeutet, daß wir es mit einem Dichter zu thun haben, der
nicht mehr in erster Frische steht, weit» er je darin gestanden. Die Erzählung
ist reicher an farbeuvollen Bildern und lyrischem Stimmungen als an geschlossener
Handlung; interessiren und fesseln wird das Ganze dennoch.
er Entwurf des neuen Aktiengesetzes, liber dessen Inhalt diese
Blätter schon vor einigen Wochen berichtet haben, hat bereits
vielfache Besprechungen erfahren. Einige derselben gehen von
juristischer Seite aus. So die uns vorliegenden Schriften der
Reichsgerichtsräte Wiener und Bahr. Beide erkennen das Re-
svrmbcdttrfnis entschieden an, glauben jedoch zu einzelnen Punkten des Entwurfs
eine abweichende Gestaltung empfehlen zu sollen. Andre Besprechungen ent¬
stammen den Handelskreisen und sind namentlich von den Handelskammern er¬
stattet infolge eines Rundschreibens des Präsidiums des deutschen Handelstages,
welches eine große Anzahl gegen den Entwurf gerichteter Suggestivfragen zur
Beantwortung gestellt hat. Unterzeichnet ist dieses Rundschreiben von dem gegen¬
wärtigen Präsidenten des Handelstags. Kommerzienrat Adelbert Delbrück
zu Berlin. Derselbe hat es aber bei dieser Thätigkeit nicht bewenden lasse»,
sondern ist auch persönlich mit einem „Bemerkungen zu dem Entwurf ze." be¬
titelten Schriftchen aufgetreten, welches er als 39. Heft der vom Kongresse
deutscher Volkswirte herausgegebenen „Volkswirtschaftlichen Zeitfragen" hat er¬
scheinen lassen. Eine hervorragende Stellung nimmt diese Schrift ein durch die
Kühnheit, mit welcher sie es unternimmt, dem neuen EntWurfe als einem nichts¬
nutzigen Machwerk ins Gesicht zu schlagen und die Ansicht zu vertreten, daß
ein Reformbedürfnis eigentlich garnicht vorhanden sei. Liest man diese Schrift,
so sollte man glauben, es sei in den Jahren 1871 bis 1875 auf dem Gebiete
des Aktienwesens alles in bester Ordnung hergegangen; die zahlreichen Grün¬
dungen hätten durchaus wohlthätig für die Menschheit gewirkt; die berühmten
Reden, welche der Abgeordnete Laster am 7. Februar und 4. April 1873 in
Landtag und Reichstag gehalten, hätten von Dingen gehandelt, die im Monde
vorgekommen seien; und die öffentliche Meinung Deutschlands habe niemals
über das Gründertum eine moralische Vehme geübt. Und doch hat Delbrück
während dieser ganzen Zeit in der Reichshauptstadt gelebt, und es kann ihm
das Treiben jener Zeit nicht ganz unbekannt geblieben sein. Es sind ihm auch
wohl die seitdem vorgekommenen zahlreichen Gründerprozesse nicht entgangen,
welche die öffentliche Meinung umsomehr aufregten, als sie meist mit Frei¬
sprechung endigten; ein Beweis, daß unsre Gesetze unzureichend sind, Handlungen
zu sühnen, welche den Zusammenbruch vieler Existenzen zur Folge gehabt haben.
Aber er brauchte auch nur, um die Wirksamkeit jener Zeit zu erkennen, einen
Blick auf den täglichen Kurszettel, insonderheit die Rubrik „Jndustriepapiere,"
zu werfen, die einem Schlachtfelde voll Schwerverwundeter gleicht; nicht zu
gedenken der großen Zahl der Toten, die man bereits hinweggetragen und be¬
graben hat, sowie derer, die mit Hilfe der bekannten Reduktionen zu Krüppeln
kurirt worden sind.
Delbrück findet, daß die Verfasser des -neuen Entwurfs „die realen Ver¬
hältnisse, ans welche das Gesetz Anwendung finden soll," nicht genügend gekannt
haben, „Nicht ans der Fülle des unendlich verschieden gestalteten Lebens haben
sie die Erkenntnis geschöpft, und nicht die Anschauung von dem, was wahr,
gut und erhaltcnswert ist, hat sie geleitet, sondern das Bestreben, das, was sich
schmarotzerhaft angesetzt hat, zu beseitigen, hat sie verführt, den Baum nicht
zu schonen, an den die Schmarotzerpflanze sich gehängt hat." Diese „akade-
demische Arbeit" könne auch eine wesentliche Änderung nicht vertragen. Jede
Änderung würde das Werk nur verschlechtern, (Also fort damit ins Feuer!)
Auf einer ganz andern Basis müsse das Gesetz aufgebaut werden, „Ob es
jetzt an der Zeit ist, unabhängig von der großen Revision der bürgerlichen Ge¬
setzgebung, unter dem Eindrucke noch ungeklärter Zustände, die Lösung einer
solchen Aufgabe zu versuchen, mag dahingestellt bleiben. Aber eine unrichtige
Lösung gerade in der jetzigen Zeit widerstreitender Interessen würde schwer¬
wiegende Nachteile bringen." (Also nach allem, was wir erlebt, sind wir über
die Sache noch nicht klar geworden; nur etwa die umfassende Weisheit der
Zivilgesetzkommission könnte die Aufgabe lösen,)
Treten wir nun den Gründen näher, aus welchen Delbrück ein so ver¬
nichtendes Urteil über den Entwurf ausspricht, so finden sie ihren Ausdruck in
folgenden prinzipiellen Sätzen: „Diejenigen, welche die Mühe und Arbeit, die
Gedanken und die volle juristische und moralische Verantwortlichkeit haben,
werden preisgegeben, um diejenigen zu schützen, welche, ohne anders eine Hand
zu rühren als zum Kouponsabschneiden, mühelos und ohne andre Sorge als
um ihr eignes Wohl höhern Gewinn suchen, als die depositalmäßigen Papiere
gewähren. Volkswirtschaftlich ist das nicht gedacht..., Nicht der wirtschaftliche
Gedanke, zu dessen Nealisirmig Kapitalien zusammengeschossen werden, nicht die
produktive Thätigkeit, die sich in den Anlagen knndthut, nicht die geistigen Kräfte,
Welche dem zu wirtschaftlichen Schöpfungen verwendeten Gelde erst das Leben
einhauchen, nicht die Erkenntnis von der großen Bedeutung, welche für unsre
wirtschaftliche Entwicklung und ebenso für die Ordnung unsrer sozialen Zustände
die Kapitalassoziation hat, nicht solche Gesichtspunkte haben die Verfasser des
Entwurfs geleitet. Den Kapitalisten wollten sie schützen, sein Geld, das er,
wenn er ohne Prüfung öffentlichen Angeboten nachläuft, bei solchen Schöpfungen
verlieren könnte, ihm retten und ihn vor den Täuschungen gewinnsüchtiger Unter¬
nehmer bewahren. Dem toten Kapital ist eine ungebührliche Bedeutung ge¬
geben und ihm ein Einfluß zu sicher» versucht, den es der Natur der Sache
nach nicht haben kann."
Diese Tendenz, meint Delbrück, habe zu der „schiefen Vorstellung" ge¬
führt, daß die Generalversammlung der Aktionäre das eigentliche Willensorgan,
der Vorstand dagegen nur Ausführungsorgan und der Aufsichtsrat Kontrol-
organ der Gesellschaft sei. Eine solche Berücksichtigung der nur mit ihrem
Kapital beteiligte» Aktionäre, der Schutz, welchen das Gesetz denselben gegen
die Machtvollkommenheit des Vorstandes erteilen wolle, erwecke bei dem arbeit¬
samen, mit den geschäftlichen Verhältnissen vertrauten Geschäftsmanne großes
Erstaunen und rufe den Eindruck hervor, als ob die natürlichen Verhältnisse
geradezu auf den Kopf gestellt werden sollten. Durch jene Auffassung des
Verhältnisses trete der Entwurf in Widerspruch mit allen bisherigen Grund¬
sätzen des Handelsrechts, wonach der bloß mit Kapital Beteiligte keinen Anspruch
auf Leitung des Geschäfts habe. Zwischen der Aktiengesellschaft, der Kommandite
und der stillen Gesellschaft sei kein prinzipieller Unterschied: vom kaufmännischen
Standpunkte seien alle drei der Sache nach dasselbe. Bei der stillen und
Kommanditgesellschaft sei nun der Gedanke mit voller Schärfe durchgeführt, daß
die stillen Gesellschafter und Kommanditisten bei der Leitung des Geschäftes
"indes hineinzusprechen haben. Warum denn nun bei Aktiengesellschaften etwas
andres gelten solle? Nach dem Entwürfe sollen „Vorstand und Aufsichtsrat als
vom Willen der Gesamtheit der Aktionäre abhängige Organe sich fühlen." Sie
sollen zu einer umsichtigen Erfüllung ihrer Pflichten dadurch angehalten werden,
daß ihre Verantwortlichkeit für Unterlassungen oder begangene Versehen ver¬
schärft wird. Sie sollen ans Erfordern beweisen, daß sie die Sorgfalt eines
ordentlichen Geschäftsmanns angewendet haben. Ja es sollen sogar auch einer
gewissen Minderheit der Generalversammlung bestimmte, auf Verantwortlich-
machung des Vorstandes gerichtete Rechte eingeräumt werde».
An dieser Ausführung ist zunächst das interessant, daß sie ein beredtes
Zeugnis dafür giebt, wie unsre kaufmännischen Notabilitäten, selbst so hoch
stehende wie Herr Delbrück, bisher die Stellung des Vorstandes und Aufsichts¬
rates einer Aktiengesellschaft aufgefaßt, wie sie sich als die souveränen Herren
derselben betrachtet und auf die blöde Masse der Aktionäre, welche nur ihr
lumpiges Kapital zu der Sache gegeben, mit Geringschätzung herabgeblickt haben.
Kann es da Wunder nehmen, wenn oft Dinge vorgekommen sind, welche nur
aus dem Maugel alles Bewußtseins, der Gesellschaft mit Pflichten gegenüber¬
zustehen, sich erklären lassen? Man findet es entsetzlich, daß die Vorstände der
Gesellschaft die Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes
beweisen sollen. Als ob nicht jeder, welcher fremde Geschäfte führt, der Vor¬
mund, der Beamte, der Bevollmächtigte u, s, w,, darlegen müßte, was er in
Ausführung dieser Geschäfte gethan habe!
Was nun den Grundsatz betrifft, daß den mir mit Kapital bei einem
Geschäfte Beteiligten die Leitung des Geschäftes nichts angehe, so übersieht
Delbrück den wesentlichen Unterschied, der zwischen einer stillen Gesellschaft und
Kommanditgesellschaft einerseits und einer Aktiengesellschaft andrerseits besteht.
Bei jenen haftet der geschäftsleitende Inhaber des Geschäfts für alle Schulden
der Gesellschaft mit seinem gesamten Vermögen. Bei dieser haftet der geschäfts--
leitende Vorstand nur in dem Umfange seines Aktienbesitzes. Durch jene Haft¬
barkeit wird aber das Interesse des Geschäftsleiters an dem Wohlergehen der
Gesellschaft ganz anders angespannt, als durch diese. Geht eine Gesellschaft der
ersten Art zu Grunde, so geht der Geschäftsinhaber selbst zu Grunde, da er
bis zu seinem letzten Pfennig die Schulden der Gesellschaft bezahlen muß. Geht
aber eine Aktiengesellschaft zu Grunde, so kann der Vorstand trotz des Verlustes
seines Aktienkapitals als ein sehr wohlhabender Mann daraus hervorgehen. Ist
er z. B. an der Aktiengesellschaft mit 10 000 Mark beteiligt und kann er ein
Geschäft eingehen, welches zwar die Gesellschaft benachteiligt, ihm selbst aber
100 000 Mark Gewinn einbringt, so kann er beruhigt den Nachteil über die
Gesellschaft ergehen lassen, da, wenn er auch sein ganzes Aktienkapital dadurch
verlöre, er den zehnfachen Ersatz dafür in der Tasche hätte. In dieser möglichen
Kollision der persönlichen Interessen der leitenden Organe mit den Interessen
der Gesellschaft, welche bei der stillen Gesellschaft und der Kommanditgesellschaft
nicht in gleichem Maße droht, liegt die Hauptgefahr des Aktienwesens.
Es ist ja möglich, daß die begeisterte Schilderung, welche Delbrück von den
geistigen Kräften macht, die dem toten Kapital erst Leben einflößen, wirklich auf
ein Gründerkonsortium oder einen von den Aktionären gewählten Vorstand paßt.
Es ist auch möglich, daß, eine Generalversammlung der Aktionäre die ihr durch
das Gesetz vorbehaltenen Befugnisse in der Art übt, daß sie unvernünftige und
dem Wohle des Ganzen nachteilige Beschlüsse faßt. Es ist möglich, daß z. B.
„ein weggejagter Kommis" durch die Enthüllungen, die er in der General¬
versammlung macht, einen sehr nachteiligen Einfluß übt. Aber wenn die General¬
versammlung eine so unberechenbare Größe ist, welche Garantie liegt denn dafür
vor, daß die erste Generalversammlung, welcher die Vorstandswahl obliegt, dazu
stets die einsichtsvollsten und redlichsten Männer wähle, jede folgende General¬
versammlung aber nur als eine gedankenlose, leicht bethörbare Masse zu be¬
trachten sei? Und vor allem muß doch die Frage gestellt werden: Hat denn
die Erfahrung der letzten dreizehn Jahre die Gründer, Vorstände und Aufsichts¬
rate der Gesellschaften durchweg als so ganz vortreffliche Menschen ausgewiesen,
daß man ihnen unmöglich Beschränkungen auferlegen könne? Ist es wirklich
gerechtfertigt, zu behaupte», das von den simpeln Aktionären vertretene Kapital
sei nichts besseres wert, als für das Feldherrntalent der Gründer und Vorstände
als Kanonenfutter zu dienen?
Es giebt überhaupt kein Gebiet der Gesetzgebung, auf welchem sich Vor¬
schriften von absolutem Werte schaffen ließen. Was man auch bestimmen mag,
so läßt sich in der Regel der Sache auch eine Kehrseite abgewinnen, bei welcher
die Vorschrift minder günstig wirkt. Die Gesetzgebung kann immer nur das
relativ Beste schaffen.*) Über die Frage des relativ Besten muß aber vor
allem die Erfahrung entscheiden. Deshalb kann es uns nicht rühren, wenn
Delbrück uns einzelne Fälle vorführt, in welchen die Vorschriften des Entwurfs
auch zu Unzuträglichkeiten führen könnten. Man wird die große Mehrzahl der
Fälle in Betracht zu ziehen haben. Es kann uns auch nicht rühren, wenn er
uns ausmalt, wie durch die Beschränkungen des Entwurfs der hohe Flug,
welchen Handel und Industrie mittelst der Kapitalassoziativn nehmen können,
gelähmt werde, nachdem wir erlebt haben, daß durch den hohen Flug, welchen
dieselben vor einem Jahrzehnt in der That genommen hatten, dem deutscheu
Volke Milliarden verloren gegangen sind. Daß man bei der Wahl desjenigen,
was man an die Stelle des Bestehenden setzen solle, verschiedener Meinung
sein kann, liegt in der Natur menschlicher Verhältnisse. In dieser Beziehung
haben die obengedachten unterweilen Besprechungen manches wohl Beachtens¬
werte gebracht. Auch Delbrück hätte sich ein Verdienst erwerben können, wenn
er aus seinen gewiß reichen Erfahrungen im Sinne des Grundgedankens des
Entwurfs bessernde Einzelvorschläge gemacht hätte. Das aber, was er am Schlüsse
seiner Schrift Positives bringt, ist so nichtssagend, daß man in Verlegenheit
wäre, sollte man danach einen Gesetzentwurf anfertigen. Auch bei dieser Ge¬
legenheit wiederholt er überdies, daß „bis zur Umarbeitung des Handelsgesetz¬
buches" sehr wohl jede Reform unterbleiben könne. Jeder Leser wird hiernach
aus der Schrift Delbrücks den Eindruck gewinnen, daß derselbe eigentlich
garnichts will. Daß aber, nachdem seit langen Jahren die öffentliche Meinung
von ganz Deutschland laut eine Reform des Aktienwesens verlangt hat, ein
Mann von der Stellung Delbrücks öffentlich auftritt mit einer Erklärung,
welche frei übersetzt etwa dahin lautet: „Das alles ist dummes Zeug! Im
Interesse des Handels muß alles beim Alten bleiben. Oder man darf höchstens
ein Gesetz erlassen nach dem Satze: Wäsche mir den Pelz, aber macht mich
nicht naß!" — das ist auch ein Zeichen der Zeit.
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c^.MGn einem seiner Aufsätze über die Judenfrage hatte Treitschke be¬
hauptet, daß jährlich eine „große Schar strebsamer hosen-
verkaufcnder Jünglinge" über unsre Ostgrenze aus der uner¬
schöpflichen polnischen Wiege hereinströme. Die jüdische Presse
bewies darauf mit einem großen Aufwand an Worten und
moralischer Entrüstung, daß jene Masseneinwanderung garnicht stattfinde, wobei
sie verschwieg, daß sich thatsächlich eine sehr bedeutende Verschiebung des jü¬
dischen Elementes aus den deutsch-polnischen Provinzen nach Mitteldeutschland
und besonders nach Berlin nachweisen läßt. Aber Treitschkes Behauptung war
keineswegs eine irrige. Die Beweise für dieselbe, welche die soeben erschienene
Schrift: „Zur Geschichte der Entwicklung deutscher, polnischer und jüdischer
Bevölkerung in der Provinz Posen von Eugen v, Bergmann"^) beibringt, sind
unanfechtbar und werden hinfort bei Beurteilung der Sache Beachtung finden
müssen.
Untersuchen wir an der Hand des Verfassers zunächst die Zeit und die
Ursachen, welchen die Provinz Posen ihre starke jüdische Bevölkerung zu ver-
danken hat. Seit Polen im zehnten Jahrhunderte der Verkehr mit den west¬
licher gelegnen Ländern eröffnet worden war, fingen ungefähr gleichzeitig mit
den Deutschen auch Juden an, hierher auszuwandern, da Polen bei seinen:
Mangel an einem Mittelstande von Handwerkern und Kaufleuten ihrem Unter¬
nehmungsgeist«! ein reich lohnendes Feld der Thätigkeit darbot. Der Hauptmasse
nach aber zogen sie erst im dreizehnten Jahrhunderte und den nächstfolgenden
in diese Gegenden, indem sie in dieser Periode in den meisten Staaten West-
nnd Mitteleuropas arger Bedrückung und Verfolgung ausgesetzt, in Polen aber
vielfach begünstigt waren, wie sie denn den Kontusch der polnischen Edelleute,
d.h. den langen Rock mit Schlitzärmeln, und den Säbel an der Seite tragen
durften und, wenn sie sich taufen ließen, sofort zum Adel zählten. Schon im
Jahre 1264 hatte Boleslaus Pius, Herzog von Kalisch und Großpolen, ihnen
durch ein besondres Statut, welches der 1244 erlassenen Judenverordnung des
Erzherzogs Friedrichs des streitbaren von Österreich nachgebildet war, Rechts¬
schutz und Handelsfreiheit verliehen, und diese Privilegien waren von Kasimir
dem Großen 1334 bestätigt und auf ganz Polen ausgedehnt und von späteren
Königen zwar wiederholt aufgehoben, aber ebenso oft auch wieder anerkannt
worden. Diese für die Juden sehr vorteilhaften Bestimmungen gewährten ihnen
einen besondern Gerichtsstand und stellten sie unter den Schutz und die Juris¬
diktion des Woiwoden und des Königs. Der Jude konnte sich darnach von
einer gegen ihn erhobnen Klage durch einen Eid reinigen. Den Mörder eines
Juden richtete der König selbst und bestrafte ihn mit Einziehung seines Ver¬
mögens. Die Entweihung eines jüdischen Bethauses oder Begräbnisplatzes
wurde wie Kirchenraub gebüßt. Nicht nur Handel und Verleihung von Geld
gegen Zinsen, sondern auch das Pfaudnchmen war dem Juden gestattet; ja er
durfte sogar christliche Heiligtümer in Pfand nehmen, wenn er sie einem Geist¬
lichen dann zur Aufbewahrung übergab. Nur der Erwerb von Grundbesitz war
ihm nicht erlaubt. Übrigens „bildete sich," wie Rönne berichtet, „nirgends so
vollständig wie in Polen ein organisirter jüdischer Staat im christlichen. Der¬
selbe war in Provinzen geteilt, welche ihre Landtage hatten und einen Deputirten
wählten. Diese Abgeordneten kamen in Warschau zu einer »Generalität« zu¬
sammen. An der Spitze der polnischen Jsraeliten stand ein von der Regierung
bestätigter Marschall, der alle sechs Jahre von neuem gewählt wurde und ihre
Angelegenheiten nach innen ordnete und dem Staate gegeuüber vertrat. Die
Rabbiner hatten die Jurisdiktion sowohl in Streitigkeiten ihrer Leute unter sich
als in einzelnen Sachen, die zwischen Juden und Christen schwebten. Erst unter
dem letzten polnischen Könige, Stanislaus, wurden jene jüdischen Landtage sowie
viele andre jüdische Privilegien aufgehoben."
Infolge dieser Begünstigungen kamen in der gedachten Zeit namentlich
viele oberdeutsche Juden nach Polen, wo sie zwar nicht, wie man gewünscht
und gehofft hatte, einen Mittelstand begründeten, wohl aber sich dermaßen ver¬
mehrten, daß Polen nicht mit Unrecht als die zweite Wiege des Judentums
bezeichnet werden konnte. Während die polnischen Könige die Juden im Genusse
der ihnen verliehenen Rechte zu schützen bemüht waren und der Adel dieselben,
da sie ihm als Bankiers, Kommissionäre und Pächter unentbehrlich waren, im
allgemeinen begünstigte, verfolgte besonders die städtische Bevölkerung die ge¬
fährlichen Konkurrenten auf den Gebieten des Handels und der leichteren Hand-
Werke mit Mißgunst und Haß. Wenn man dem Vordringen der Juden nicht
Grenzen setzte und diese stetig aufrecht erhielte — heißt es in einer Vorstellung,
Welche der Posener Magistrat 1619 an König Siegmund den Dritten richtete —,
so würden die Juden, die sich fortwährend mehrten und von allen Seiten herbei¬
strömten, immer mehr städtischen Boden an sich reißen; je mehr sie sich an¬
häuften, desto schwerer lasteten Druck und Teuerung auf den Christen, und
insbesondre den Handeltreibenden und den Handwerkern erwüchsen Schwierig¬
keiten und Hindernisse. Da es in Polen an einer festen und einheitlichen
Staatsgewalt fehlte, mußte sich die Lage der Juden dort sehr verschieden ge¬
stalten und häufigen! Wechsel unterworfen sein. In Posen hatten sie namentlich
Viel zu leiden, seit die Jesuiten im Lande festen Fuß gefaßt hatten. Bezeichnend
ist, daß noch im 18. Jahrhunderte die verarmte jüdische Gemeinde in Posen
verschiednen Kirchen und Klöstern, besonders aber der Gesellschaft Jesu große
Summen schuldete. Mit dem Wegsalle der alten Privilegien verschwanden auch
der .Kontusch und der Säbel, und die Juden mußten fortan zur Unterscheidung
von den Christen gelbe Hüte und auf dem Rücken einen roten Tuchfleck tragen,
auch in besonderen Quartieren wohnen und außerordentliche Steuern zahle».
Eine schwere Heimsuchung kam über sie in den Kriegen, welche auf den großen
Kosakeucmfstand folgten und von 1648 bis 1658 währten. Nach Grütz sind ihrer
in dieser Zeit wenigstens eine halbe Million umgekommen.
Da man die Juden ans dem platten Lande ursprünglich nicht duldete, so
wohnten sie vorzüglich in den Städten, und zwar weniger in den königlichen
als in den adlichen. In den polnischen Städten waren sie gegen das Ende
des vorigen Jahrhunderts so zahlreich, daß z. B. im Durchschnitte der ganzen
städtischen Bevölkerung Südpreußens im Jahre 1797 etwa der fünfte, in der
Stadt Posen sogar der dritte Einwohner ein Jude war. In Stadt und Land
zusammen aber kam im Posener Kammerbezirk auf 2V, im Bromberger auf 17,
im Warschauer auf 13 gezählte Einwohner ein Jude. Und thatsächlich ist die
Zahl der Kinder Israels gewiß im preußischen Polen damaliger Zeit (zwischen
der zweiten und dritten Teilung) erheblich größer gewesen, als die Zählung
ergab. Denn neben den zum Aufenthalt berechtigten Juden gab es in den
Provinzen Süd- und Westpreußen noch „unvergeleitete," die, aus Galizien und
Russisch-Polen herübergekommen, ein Interesse hatten, sich den: Zensus zu ent¬
ziehen, und deren Menge unter Friedrich dem Großen so zugenommen hatte,
daß der König Befehl geben mußte, viertausend derselben aufzugreifen und über
die Grenze zurückzuschaffen. Bei dieser großen Zahl der Juden war es ihnen
natürlich in vielen Städten, z. B. in Posen, nicht möglich, sich allein vom
Handel zu nähren, und so kam es, daß sie sich in jenen Gegenden in ziemlich
vielen Fällen technischen Gewerben widmeten und in einer Reihe von Hand¬
werken die christlichen Mitglieder an Zahl übertrafen, v. Bergmann berichtet
darüber: „So zählte man z. B. 1797 in den Städten der Posener Kammer
jüdische und christliche Gewerbtreibende: bei den Goldschmieden 22 und 19,
bei den Buchbindern 31 und 20, bei den Posamentirern 50 und 22, bei den
Mützenmachern 51 und 24, bei den Knopfmachern 52 und 6 und bei den
Schneidern 923 und 676. Sodann aber gab es jüdische Gewerbtreibende anch
sonst in erheblicher Menge: es fanden sich deren bei den Kürschnern neben 480
christlichen 251, bei den Schlächtern neben 638 christlichen 238, bei den Bäckern
neben 607 christlichen 151 ... sodaß von allen Handwerkern einschließlich der
aufgeführten Gewerbtreibenden in jenen Städten etwa der neunte und in den
Städten ganz Südpreußens schon etwa der siebente ein Jude war.... Relativ
groß war daneben auch die Zahl der jüdischen Musikanten (26 gegen 123 christ-
liebe) sowie die der jüdischen Chirurgen, Bader und Barbiere (47 gegen 163
christliche). Dagegen fehlten jüdische Doktoren der Medizin, wenn auch natürlich
nicht jüdische Medizinalpfuscher. Ein Bericht der Preußischen Jahrbücher vom
Jahre 1798, der südpreußische Verhältnisse und Zustände schildert, sagt über
jene: „Der Jsraelit pfuschert in der Medizin, und der gemeine Pole bedient
sich seiner in Krankheitsfällen gern. Selbst vornehme Polen geben dem nach
einer berühmten Handelsstadt reisenden Juden den Auftrag, Medizin für sie
mitzubringen. Der Jude entwirft nur eine ungefähre Beschreibung der Krank¬
heit und läßt sich vom Apotheker Arznei dagegen mitgeben oder komponirt
auch wohl selber dergleichen." Wie sehr aber trotzdem der Handelsbetrieb unter
den Jsraeliten auch damals im Vordergrunde stand, ersehen wir daraus, daß
— trotz der großen vorzugsweise von Handel und Handwerk lebenden deutschen
Bevölkerung der polnischen Städte — die Juden, die im Jahre 1797 in Süd-
Preußen nur den achtzehnten Teil der Bevölkerung ausmachten, dort zwischen
elf- und zwölfhundert Handelsleute zählten, während unter dem gesamten Reste
der Bevölkerung nicht viel mehr als siebzehnhundert Handeltreibende zu finden
waren. Schon damals begannen denn auch die Bemühungen der Behörden,
die Juden durch Prämien und ähnliche Mittel in größerer Zahl zum Betreiben
andrer Gewerbe, insbesondre der Landwirtschaft, zu bestimmen.
In den Städten der Provinz Südpreußen zählte man im Jahre 1797
im ganzen 29118 Handwerker, von denen 4164 Juden waren, und allein in
den Städten des Posener Kammerbezirks gab es 17 573 Handwerker, unter
welchen sich 1930 Juden befanden. Zu ungünstig also erscheint diesen Daten
gegenüber das Urteil von Lukaseewiez-. „Faulheit war unter den Posener Juden
von Alters her allgemein. Anstrengung und Ausdauer erfordernde Handwerke,
wie z. B. das Schmiede-, Zimmer-, Schuhmacher- und Kupferschmiedegewerbe,
erfüllten die Juden mit Abscheu, dieselben hielten sich lieber an die leichteren,
mehr Vorteil bringenden, wie Kürschnerei, Schneiderei und Posamentierarbeit.
Allein auch diesen widmeten sie sich in sehr geringer Zahl, da fast die ganze
männliche Bevölkerung derselben lieber auf den Straßen Schacher trieb."
Zu den Eigentümlichkeiten der jüdischen Bevölkerung in der Provinz Posen
gehören noch jetzt ihre große Zahl auf relativ kleinem Raume und ihre geringe
Verbreitung ans dem Lande. So zählte man im Jahre 1862 deren
dagegen z. B.:
Aus dieser starken Anhäufung jüdischer Elemente, namentlich in den klei¬
nern Städten der Provinz Posen, erklären sich auch die im Vergleich mit
Charakteristisch für diese Vorgänge ist das Heruntergehe» der Zahl der¬
jenigen, die sich entschließen mußten, ein Handwerk zu treiben. Deren gab es
innerhalb der jüdischen Bevölkerung des Regierungsbezirks Bromberg im Jahre
1343 noch 1422, dagegen im Jahre 1861 mir noch 1036, während die Zahl
der Juden überhaupt in beiden Jahren dort ungefähr die gleiche war, die Zahl
der Rentiers unter ihnen aber in dieser Periode von 25 auf 33, die der
Bankiers von 2 auf 12, die der Großhändler von 28 auf 33, die der Kauf¬
leute mit offenen Läden von 441 auf 605 stieg. Ähnlich war die Entwicklung
im Regierungsbezirke Posen. Nach deu Tabellen, die unsre Schrift enthält,
hat sich die jüdische Bevölkerung innerhalb der alte» Provinzen der preußische»
Monarchie i» dem Zeitraume von 1871 bis 1380 nur in Pose» noch mehr
verringert, in Westpreußen behauptete sie im letztgenannten Jahre ungefähr die
gleiche Höhe wie im erstgenannten, sonst stieg sie mit dem Wachstnme der Be¬
völkerung überhaupt. Dasselbe gilt vom Königreiche Baiern, wo es 1871
51335 und 1880 53 526. von Baden, wo es 1871 26492 und neun Jahre
später 27278, von Hessen, wo es 1871 25 652 und 1880 26 740 Juden gab,
ferner von Würtemberg, wo man deren 1871 12 881 und 1380 13 331, von
Hamburg, wo man deren 1871 13 796 und 1880 16 024, endlich von Sachsen,
wo man deren 1871 5360 und 1880 6516 zählte. Das gesamte Preußen
mit Einschluß der neuerworbenen Provinzen hatte im ersterwähnten Jahre
339 790, im letzterwähnte» 363 790, das deutsche Reich im Jahre 1871 529 211,
im Jahre 1880 562 751 Juden. Nur Elsaß-Lothringen behielt unter deu
nußcrpreußischeu größeren Gebieten ungefähr die gleiche Zahl jüdischer Bewohner,
nämlich rund 39 000.
Von großem Interesse für die an der Spitze unsrer Auszüge gestellten
Fragen ist das, was der Verfasser unsrer Schrift in zwei Anmerkungen mitteilt.
Darnach habe» einen Mehrzuzug von Juden, d. h. eine» Überschuß der zuziehende»
über die Wegziehenden, in der Zeit vo» 1824 bis 1871 zunächst die beiden
Regierungsbezirke der Provinz Ostpreußen aufzuweisen gehabt, und zwar ver¬
mutlich infolge des Überwiegens der Einwanderung polnischer und russischer
Juden über die gleichzeitigen Abzüge von einheimischen oder in der Provinz
seßhaft gewordenen Juden nach Westen, dann Pommern, namentlich der Re¬
gierungsbezirk Stettin, wo mehr Juden aus Westpreußen und Posen ein¬
gewandert sein werden als wegzogen, ferner die Regierungsbezirke Breslau und
Liegnitz, ersterer durch starke Zuwanderung polnischer Juden wie Ostpreußen,
vor allem aber Berlin, wo in der genannte» Periode etwa 26100 Juden mehr
zu- als weggezogen sind. Dagegen verloren in derselben Zeit durch Überwiegen
indischer Wegzuge über die Zuzüge die Provinzen Posen 46 640, Westpreußen
7670, Schlesien 2100, Brandenburg ohne Berlin 1499 und Sachsen 230 Juden.
Im ganze« haben hiernach die östlichen Provinzen der preußischen Monarchie
M den Jahren von 1824 bis 1871 etwa 27 850 Juden mehr abgegeben als
erhalten. Was die Zeit jener Ab- und Zuzüge betrifft, so haben die ersteren
für jenes Gebiet der östlichen Provinzen sich namentlich seit den vierziger
Jahren fühlbar gemacht. Wir sehen insbesondre seit den fünfziger Jahren die
jüdische Bevölkerung Berlins vorzüglich im Mehrzuzug die Christen weit über-
flügeln, und diese zugezogenen Juden dürften größtenteils den früher polnischen
Landschaften der Provinzen Posen und Westpreußen angehört haben, also
polnische Juden gewesen sein. Zugleich machen es die ununterbrochen fort¬
dauernden Mehrzuzüge der Juden in die östlichsten Gebiete der preußischen
Monarchie im hohen Grade wahrscheinlich, daß auch die jenseits der östlichen
Grenzen des deutschen Reiches lebenden und durch ihre große Zahl dort noch
mehr als diesseits bedrängten Juden dem Zuge ihrer Stammgenossen nach
Westen gefolgt sind und sich in erheblicher Menge bei uns niedergelassen haben
und noch heute niederlassen. Wer einzelnes über die Herkunft der semitischen
Bevölkerung in den Städten Memel, Königsberg, Danzig und Thorn kennt,
wird diese Annahme bestätigen müssen. Auch ist es ja statistisch festgestellt,
daß in mehreren Städten, z. B. in Memel, die Zahl der hier ansässigen, nicht
in Deutschland geborenen Juden eine sehr beträchtliche ist. Im letztgenannten
Orte befanden sich im Jahre 1871 neben 412 in Preußen geborenen 630 ans
Rußland oder Galizien stammende, und ähnliches ist von Leipzig zu sagen,
wo man (nach Hasse, Stadt Leipzig 1878, S. 149) neben 587 am Orte ge¬
borenen Juden 570 zählte, die aus Galizien, Rußland, Schlesien, Böhmen
und Posen eingewandert waren. „Bei Ermessung des Umfangs dieser jüdischen
Zuzüge darf übrigens nicht außer Acht gelassen werden, daß jene z, B. für
Ostpreußen und den Regierungsbezirk Breslau gegebenen Zahlen eben nur den
Mehrzuzug, genauer den Überschuß der Zuzüge über die Wegzuge charakterisiren,
und letztere gewiß nicht unbedeutend gewesen sind, wenn z. B. die benachbarten
Gebiete von Posen, Liegnitz und Oppeln gerade so starke Abzüge von Juden
aufzuweisen hatten." Die „Fabel von der jüdischen Masseneinwanderung" ist
also wenigstens nicht in dem Maße Fabel, als dies Herr Professor Mommsen,
jüdischen Behauptungen folgend, Treitschke gegenüber wissen wollte.
Noch entschiedener und schlagender werden Mommsen und sein Gewährs¬
mann, der Sanitätsrat Salomon Neumann, widerlegt, Treitschke und Wagner
(Tübinger Zeitschrift 1880, S. 776) gerechtfertigt durch die im 66. Bande der
Preußischen Statistik von 1883 enthaltenen definitiven Ergebnisse der Volkszäh¬
lung von 1880. Darnach befanden sich, was insbesondre 1. den Zuzug vou
Juden aus Rußland und Osterreich nach dem deutschen Reiche betrifft,
in Königsberg z. B. im Jahre 1880 unter tausend Christen nnr drei bis vier
in Rußland geborne, dagegen unter tausend Juden über dreihundert, die aus
Rußland stammten. Desgleichen waren nach diesen statistischen Nachweisungen
in Rußland geboren:
Fassen wir aber statt einzelner Städte ganze Regierungsbezirke ins Auge, so
tritt das Eindringen der polnischen Juden über die russische und galizische
Grenze noch weit mehr zu Tage. Denn von der 1880 gezählten Bevölkerung
waren in russischen Provinzen geboren:
In den letztgenannten schlesischen Bezirken war ferner ebenso wie in Berlin,
Danzig und verschiednen andern preußischen Städten neben den russisch-polnischen
Juden auch die Zahl der österreichischen, vermutlich der Mehrzahl nach gali-
zischen, eine sehr bedeutende. So stammten z. B. von der 1880 gezählten Be¬
völkerung aus Österreich:
Wenn also Herr Dr. Salomon Neumann in seiner Broschüre über die Massen¬
einwanderung der Juden ausrief: „Wo in der ganzen preußischen Statistik ist
ein russisch-polnischer oder ein österreichisch-ungarischer Jude anzutreffen? Die
jüdische Masseneinwanderung über die Ostgrenze des Staates ist nichts als eine
Fabel, das wird durch die thatsächlichen Ergebnisse der amtlichen preußischen
Statistik bezeugt," so ist dieser Trumpf jetzt nicht mehr auszuspielen. Das Gegen¬
teil wird mit jenen Ergebnissen bezeugt: die Masseneinwanderung von
Juden aus Russisch-Polen und Galizien ist Thatsache, unleugbar und
unbestreitbar. Herr Neumann hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und
Herr Mommsen hat den Irrtum, der sich bei solchem Verfahren ergab, in vor¬
schnellen und unvorsichtigem Eifer, der einem Geschichtschreiber doppelt übel zu
Gesichte steht, adoptirt und benutzt.
Was endlich 2. den Zuzug „polnischer Juden" aus polnischen
Gebieten, die zum deutschen Reiche gehöre«, aus den Provinzen Posen
und Westpreußen angeht, so wird derselbe nach den in der Preußischen Sta¬
tistik von 1880 angegebene» Zahlen u. n, durch die Thatsache beleuchtet, daß
in Berlin von den dort im letztgedachten Jahre gezählten 28 Is 1 Juden männ¬
lichen Geschlechts nur 9407 (!) in Berlin selbst geboren, dagegen 10 320 aus
den östlichen Teilen der preußischen Monarchie, aus deu Provinzen Posen
(5251). Schlesien (2568) und Westpreußen (2501) gebürtig waren. Des¬
gleichen stammten damals in Breslau von 8780 männlichen Juden nur
2020 aus dieser Stadt selbst, dagegen aus andern schlesischen Orten, sowie ans
Westpreußen und der Provinz Posen 5912, in Görlitz von 375 männlichen
Juden aus dieser Stadt nur 118, dagegen aus dem Posensche» allein 101, in
Liegnitz von 503 männlichen Juden aus Liegnitz selbst nur 130, aus der Pro¬
vinz Posen 126 und aus andern Orten Schlesiens 149, und in Stolp in Pom¬
mern waren von 477 männlichen Juden aus dieser Stadt selbst nur 189, da¬
gegen aus Westpreußen 103.
Die Moral dieser Zahlen lautet: Treitschke hatte mit seinem Hinweis auf
das Hcrüberflutcn der Juden aus dem ehemaligen Polen nach Deutschland,
ans diesen neuen Exodus ganz Recht, und die ihn widerlegen wollten, haben
jetzt alle Ursache, die Unüberlegtheit und Oberflächlichkeit, deren sie sich dabei
schuldig gemacht, zu bedauern, und sie sollten das bei passender Gelegenheit
ehrlich eingestehen.
ach der Niederlage des byzantinischen Reiches und während der
vier volle Jahrhunderte hindurch in allen Ländern, wo Griechen¬
tum einheimisch war, durch die Eiustürmung und Herrschaft der
Türken herbeigeführten Zerstörung und Vernichtung der ihnen
im Wege stehenden Schöpfungen und Monumente des alten
griechischen Geistes, war dort alles still und stumm geworden, kein geistiges
Leben regte sich, und vor allem die Sprache hat zu leide» gehabt. Es wurden
viele fremde Ausdrücke i» sie aufgenommen, unzählige Vermischungen und Ver-
änderungen fanden zu ihrem Verderben statt, mit einem Worte: die alte grie¬
chische Sprache wurde den Griechen selbst entfremdet.
So verhielte» sich die Dinge bis um den Anfang dieses Jahrhunderts.
Aber wenige Jahre vor dem Ausbruche des Befreiungskampfes fing ein neuer,
frischer, belebender Geist an zu wehen, die Schriften der alten Griechen wurden
eifrigst studirt, die Jünglinge wetteiferten in dem Lerntriebe und der Nach¬
ahmung der großen Thaten, welche in den hinterlassenen Schätzen des Alter¬
tums geschildert sind. Aus diesen Jünglingen bildeten sich die Freiheitskämpfer
und die Begründer des neuen geistigen Lebens aus. Diese gaben einen wohl¬
thätigen Anlaß zur Reinigung und Reform der Sprache, indem sie zuerst die
Werke der alten Schriftsteller mit großem Eifer der neu aufblühenden Jugend
lehrten und sich für Verbreitung der griechischen Bildung emsig und unernrüd-
lich bemühten. Das letztere suchten sie zu erreichen, indem sie wissenschaftliche
und politische Zeitungen Heransgaben, in denen sie das Wesen nud die Form der
Sprache verbesserten. Ihre jetzige Reinheit und Echtheit hat die Sprache
meistens den verschiednen Zeitungen zu verdanken, welche ununterbrochen nicht
nur ans die Ausbildung des Stils und der Ausdrucksweise, sondern auch auf
die allgemeine Entwicklung des geistigen Lebens großen Einfluß ausgeübt haben.
Dieses Streben ist noch überall wahrzunehmen, man sieht überall, daß man
noch nicht zu Ende ist, und man darf die Hoffnung hegen, daß zukünftig die
Sprache noch vollkommener, ihrer Mutter noch ähnlicher werden wird.
Unter den Zeitungen, welche sich am meisten in diesen Bestrebungen aus¬
gezeichnet haben, verdienen vor allem genannt zu werden: ^«^> Sav^ >ro5
"SAvovx, //?ti/ur, "^et, //«>le)^t'?eaia, 'F^jUk^s, 5/x?«5?roäls, M« Ä^pWL^/j.',
^««S, 2,'ro«, 'TSvtxov ^«?r«?/a, /t,'«^«/ u. s. W., und unter den sati¬
rischen ^c?,w6«ttiL> ^et^5«7«L n. s. w. Eine gute Zeitung ist auch der fran¬
zösisch erscheinende NWsgMr Ä'^tdsuW. Hervorzuheben ist schließlich, daß auch
außerhalb des Königreiches griechische Zeitungen erscheinen, und zwar in
Trieft die /^et^ und die ^« die in Leipzig hergestellte
Austritte Zeitschrift "Z-r^vt.-, deren Redakteur Herr Dr. Pervcmoglos das
Lob verdient, daß er einem lebhaften Bedürfnisse seines Landes abgeholfen
hat, endlich die Zeitungen ^Veo^/os, ^>«?> F^'«^ und die Wochenschriften
Ä'<w>los und ^xx/^t?t«artx^ ^/l^et«, die sämtlich in Konstantinopel heraus¬
gegeben werden.
Drängt sich uns da nicht unwillkürlich die Frage auf, ob dies wirklich
jener Staat sei, jenes Volk, dem Falmerayer jede Fähigkeit zur geistigen Er¬
hebung abgesprochen, und dessen Abstammung von den alten Griechen der her¬
vorragende Ethnologe Viktor Hehn so entschieden abgeleugnet hat?
Ihre größte Thätigkeit jedoch entwickeln die Griechen im Seehandel, wie
zur Genüge hervorgeht aus der großen Verbreitung, welche derselbe in letzter
Zeit erfahren hat. Im Jahre 1832 besaß Griechenland 1000 Handelsschiffe,
1840 stieg diese Zahl auf 3000. 1876 auf 6000 und im vorigen Jahre bis
auf 10 400, und wenn man die unter der türkischen Flagge stehenden und
Griechen angehörenden zahlreichen Handelsschiffe mit jenen zusammenfaßt, so sieht
man, daß Griechenland im Seehandel einen bedeutenden Platz einnimmt. Schon das
Altertum zeigt uns den Hellenen als erprobten Seefahrer, den die vielgestal¬
tigen Küsten feines Vaterlandes begünstigen; jetzt aber, da die Hauptprodukte
desselben, Wein, Oliven, Korinthen ?c., welche jährlich viele Millionen Drachmen
dem Lande zufließen lassen, fast ausschließlich im Auslande verbraucht werden,
ist ein ausgebreiteter Seehandel fast zur Naturnotwendigkeit geworden.
Die Industrie dagegen, in welcher sich die Vorfahren ausgezeichnet haben,
hat leider allzuwenig oder gar nicht die Aufmerksamkeit der jeweiligen Re¬
gierungen auf sich gezogen, und so mußten auch hier wiederum die Privatleute
ihr Bestes thun und auf die Gefahr hin, alles zu verlieren, oder zum mindesten
ohne Aussicht auf Gewinn ihr Vermögen aufs Spiel setzen und Fabriken den
Bedürfnissen des Landes entsprechend errichten.
In letzter Zeit hat man eingesehen, von welchem Nutzen die Unterstützung
der Industrie für das Land werden kann, und die von dem vortrefflichen kauf¬
männischen und industriellen Verein Athens und von denen der anderen Städte
der Regierung gemachten Vorschläge haben eine günstige Aufnahme gefunden,
welche uns auf eine erfreulichere industrielle Zukunft Griechenlands hoffen läßt,
umsomehr als das griechische Volk unleugbare Geschicklichkeit auch auf diesem
Gebiete besitzt.
Die Finanzen Griechenlands befinden sich, wie bekannt, in keinem
blühenden Zustande. Nach den vor zwei Monaten von dem Finanzministerium
veröffentlichten Berichten sind die Gesamtschulden des Staates auf 472 Mil¬
lionen Drachmen gestiegen. Ein Teil dieser Schulden datirt aus der Zeit
des Freiheitskampses, wo das aufgestandene Land, um den Krieg gegen den
verhaßten Feind weiterführen zu können, sich gezwungen sah, Schulden unter
den ungünstigsten Bedingungen zu machen. Später hat es diese Schulden an¬
erkannt und einen großen Teil davon bezahlt, was das vorher wankende Ver¬
trauen der Fremden wieder herbeigezogen und aufgerichtet hat. Andre dieser
Anleihen wurden für das Verkehrswesen im Innern des Landes verwendet,
die meisten jedoch waren veranlaßt durch äußere Beziehungen, welche dem jungen
Staate Ausrüstungen und Vorbereitungen auferlegten, damit er seinen moralischen
Einfluß auf die auswärtigen Griechen nicht verliere. Wiederholte Aufstände
des unter türkischem Joche seufzenden vielgemarterten Kreta, und spätere Un¬
ruhen in Thessalien und Epirus haben natürlicherweise einen großen Einfluß
auf den benachbarten und verwandten Staat ausgeübt und ihm keine Möglich¬
keit geboten, seine schlechten Finanzen zu verbessern. Hätte er aber etwa ver¬
gessen dürfen, daß seine Unabhängigkeit einst durch das in Strömen dahingeflossene
Blut aller seiner Kinder, auch jener noch von ihm getrennten, erkauft wurde,
und daß er infolge dessen die heilige Pflicht hatte, gegenüber den Leiden der
übrigen unterjochten griechischen Provinzen sich nicht taub zu zeigen? Oder
wäre es gerechter gewesen, wenn der junge Staat die in den türkischen Pro¬
vinzen kämpfenden Griechen ihrem Schicksal überlasse» hätte, und zwar zu einer
Zeit, wo die Vertreter des Panslavismus jenen den Schutz des russische»
Adlers versprachen, wenn sie ihren einzigen Traum, ihren heißen Wunsch, die
Vereinigung mit der Mutter Hellas, aufgeben wollten? Man hat freilich
Griechenland einen Vorwurf daraus gemacht, daß es entweder aus phhletischeu
oder aus politischen Gründen oder endlich wegen der Gemeinsamkeit der Ge¬
schichte, der Wünsche und Meinungen die für Erlangung der Freiheit aufgestan¬
denen Brüder ermunterte, und selbst Drohungen blieben ihm nicht erspart,
wenn man sür die Störung des europäischen Friedens besorgt war.
Und doch hat Griechenland, als es vor dein Beginn des russisch-türkischen
Krieges aufgefordert wurde, Unruhen in den unter der Herrschaft der Türkei
stehenden griechischen Ländern zu veranlassen, damit der Sturz des nieder¬
sinkenden türkischen Reiches vollständiger werde, sich geweigert, diesem Ansinnen
nachzugeben, da es klar eingesehen hat, daß eine solche vorzeitige Zerteilung des
türkischen Reiches und zwar unter der Obhut und den Vorschriften Rußlands
ebensowenig den griechischen Hoffnungen wie den allgemeinen europäischen
Interessen entsprechen würde. Der Lohn dafür war — der Vertrag von
San Stefano. Da allerdings war es ein Ding der Unmöglichkeit, daß die helle¬
nische Nation noch länger in Geduld verharrte, nachdem sie gesehen, wie alle ihre
Ansprüche durch diese» Vertrag in den Hintergrund gedrängt wurden. Ein Sturm
der Entrüstung erhob sich. Und in diesem Sturme mußten die Worte des damaligen
englischen Premierministers Beaeonsfield wie eine bittere Ironie erklingen, der,
nachdem Europa die Hoffnungen der Griechen genährt hatte, sie plötzlich zur Ruhe,
zur Geduld ermahnte und auf bessere künftige Zeiten verwies. Obwohl ganz
unvorbereitet, entschloß sich die griechische Regierung alles aufs Spiel zu setzen.
Nicht ein einziger von all den Deputaten der verschiedenen Parteien erhob
sich dagegen, als sie vor der Volksvertretung erschien, um den nötigen Kredit
zur allgemeinen Ausrüstung zu verlangen. Die politischen Leidenschaften, welche
gewöhnlich in Griechenland die Patrioten auseinanderhalten, waren damals
gänzlich unterdrückt, und die ganze Nation beeilte sich einstimmig, die Regierung
in ihrem Werke zu unterstützen. Haufenweise eilten alle zu den Reihen des
Heeres, alle bereit, dahin zu schreiten, wohin sie die Ehre und das Vaterland
rief, alle entschlossen, wenn nichts andres, so wenigstens der zivilistrteu
Welt nochmals zu zeigen, daß sie in dem Kampfe für die Freiheit zu sterben
wüßte». Das Budget der Ausgaben, welches beinahe 40 Millionen im Frieden
betrug, stieg auf 122 Millionen Drachmen, eine Summe, welche gegenüber den
bescheidenen Einnahme» des kleinen Staates ungeheuer war. Kurz, es herrschte
damals eine solche Gährung, ein so leidenschaftlicher Aufschwung aller Ge-
unter, daß man jede Beschäftigung bei Seite schob, die Schickn schloß, den
Handel und die Industrie vernachlässigte.
Die Explosion, welche daraus zu entstehen drohte, hielt der gerade zu
jeuer Zeit abgehaltene Berliner Kongreß zurück, in welchem der griechische Re¬
präsentant die Jmeressen seines Landes mit Geschick und Schürfe verteidigte. Die
Landstriche mit etwa 250 000 Einwohnern, welche man in diesem Kongresse
Griechenland zusagte, entsprachen freilich kaum den Wünschen und Erwartungen
des Gesamtkörpers der Nation, und so geschah es, daß das damalige Ministerium
seine Popularität einbüßte und sein Portefeuille niederlegen mußte.
Es ist begreiflich, daß unter solchen Umständen, wie sie seit den letzten
Jahren über Griechenland walteten, jedes Ergreifen von geeigneten Maßregeln
zur Herstellung eines normalen finanziellen Zustandes sehr schwer, wenn nicht
unmöglich wurde.
So liegt es denn gegenwärtig mehr als in irgend einer andern Zeit der
Regierung und dem Parlamente ob, für die Verbesserung und Aufrichtung des
elenden finanziellen Zustandes ernste Sorge zu tragen. Das jetzt versammelte
griechische Parlament soll vor allem seine volle Aufmerksamkeit auf die Verein¬
barung der griechischen Anleihen richten, damit die Geisel des Landes, der
Zwangskurs der Banknoten, aufgehoben, viele im Budget stehenden überflüssigen
Ausgaben weggeschafft und die Bildung neuer Ämter, welche nur persönlichen
Ansprüchen zu dienen geeignet sind, vermieden werde. Dagegen gilt es, die
Staatseinnahmen durch Besteuerung des Kapitals und der Bankgeschäfte zu
vermehren, die Einkommenlisten einer allgemeinen Revision zu unterziehen und
zuletzt einige Steuern, die niedern Volksklassen betreffend, Steuern, die auch
von der Wissenschaft streng verurteilt werden, ganz oder teilweise aufzuheben.
Die Staatsmänner Griechenlands sollten stets den Ausspruch, den Gortschakoff
nach dem Krimkriege that: 1^ Kussis hö rsousills, im Gedächtnis tragen und
ihr hauptsächlichstes Streben dahin richten, die finanzielle Wirtschaft ihres kleinen
Vaterlandes aufzubessern.
Darf man nun nicht nach alledem, nach all den Bestrebungen, welche das
junge Reich fort und fort an den Tag legt, an eine bessere Zukunft des¬
selben glauben? Ist sein Anspruch auf diejenigen Provinzen des immer mehr
niedersinkenden türkischen Reiches, welche ihm dreitausend Jahre lang angehörten
und noch jetzt meistenteils von Griechen bewohnt sind, ein so durchaus unbe¬
gründeter?. Die den Orient zivilisirende Macht des jungen Staates ist nicht so
ungenügend, als daß er nicht mit Zuversicht der sich ihm weit öffnenden Zukunft
entgegensehen könnte. Es darf nicht übersehen werden, welche Menge von öffent¬
lichen und privaten Unterrichtsanstalten in den letzten fünfzehn Jahren in den
unter türkischer Herrschaft stehenden griechischen Ländern errichtet worden sind,
daß alle diese Länder nicht einen Augenblick aufgehört haben, das kleine Stück
griechischer Freiheit als den Leuchtturm zu betrachten, von welchem sie rede»
dem Lichte der Zivilisation und Entwicklung auch ihre Befreiung aus der
finstern Nacht, worin sie nach so vielen Thaten Kämpfen und zu leben noch
verurteilt sind, erwarten,
Franz von Löser sagt in seinen „Griechischen Küstenfahrten": „Vielleicht
haben Wenige soviele Küsten und Inseln, an und auf denen Neugriechen
wohnen, im ganzen Bereich des griechischen Meeres besucht als der Ver¬
fasser dieser Zeilen. Überall traf er ans das eine gleichartige Nationalgefühl,
überall lebte in den Bewohnern nur der Gedanke, daß sie lebendige Teile
des Vvlkskörpers der Neugriechen seien, daß in diesem das edelste Blut
des Morgenlandes fließe, daß ihm die Zukunft des Orients gehöre." Die
Größe und die Lebenskraft der Nationen ist weder nach der Zahl ihrer Glieder,
noch »ach der Ausdehnung ihrer Länder zu ermessen. Hat sich aber in der
Geschichte der Völker diese Ansicht als zutreffend erwiesen, wie vielmehr leuchtet
sie uns ein, wenn man die verschiednen Perioden der griechischen Geschichte
durchmustert! Unzählige Barbarenhorden, Slaven, Bulgaren, Avaren, Albanesen
haben fast das ganze Hellas überschwemmt. Dabei hat freilich im Laufe der
Jahrhunderte das hellenische Volk nicht unbeträchtliche Mischungen mit fremdem
Blute erfahren, aber doch immer nur in so geringen Portionen, daß es sich
die fremden Bestandteile vermöge seiner Geisteskraft fast völlig assimilirt hat
>ab in keiner Weise von ihnen absorbirt worden ist. Schon seit sechs Jahr¬
hunderten spricht und denkt in Hellas alles, was vordem slavisch war, griechisch.
Mit Zuversicht also darf man an der Vergrößerung und Kräftigung des
jetzt noch kleinen Hellas arbeiten und nicht vor vorübergehenden Hindernissen und
Schwierigkeiten zurückschrecken. Noch viele dunkle Stnrmwvlkcn werden sich viel¬
leicht über jene schönen Gefilde wälzen, schwere, unabsehbare Verwicklungen
können sich noch einstellen; doch die Griechen werden ausdauern und wachse».
Und auch wer in den heutigen Griechen nicht die legitimen Erben des alten
hellenischen Geistes erblickt, wird nicht bezweifeln, daß sie noch zu einer poli¬
tischen Rolle im Orient berufen sind.
urz vor Weihnachten vorigen Jahres erschien, von den Besitzern
der übrigen Lieferungen sehnsüchtig erwartet, die neunte, d. h. die
Schlußlicferung von Wilhelm Scherers „Geschichte der deutschen
Literatur" (Berlin, Weidmann). Fast vier Jahre sind also ver¬
flossen, seitdem die erste Lieferung dieses Werkes zur Ausgabe
gelangte. Allgemein hatte man einen schnelleren Fortgang erwartet, und sicher
wird die große Verzögerung für die Verbreitung des Werkes nicht ohne nach¬
teilige Folgen sein. Wir beklagen es, daß ein Manu wie Scherer nicht einer
derartigen Aufforderung des Verlegers, sein Manuskript stückweise in die Druckerei
zu schicken, widerstanden hat, glauben aber doch um der Bedeutung des Buches
willen hier noch einmal auf dasselbe zurückkommen zu müssen, um dadurch das
möglicherweise erlahmte Interesse an demselben aufs neue zu beleben. Da jedoch
in diesen Müttern bereits bei der Anzeige der ersten Lieferung die Methode
des Verfassers im einzelnen an der damals vorliegende» Probe dargethan wurde,*)
so sehen wir davon ab, wie es dort geschehen, dem Verfasser Schritt für Schritt
auf seinem Wege zu folgen, und begnügen uns damit, die Stellung anzudeuten,
die sein Buch in der Zahl unsrer bekanntesten Darstellungen der deutschen Lite¬
raturgeschichte voraussichtlich einnehmen wird.
Scherer hat es unterlassen, seinem Werke eine Vorrede vorauszuschicken,
welche uns über Zweck und Absicht desselben aufklären könnte; wir sind also
auf die auf den Umschlägen der ersten Hefte abgedruckte Ankündigung angewiesen,
„Der deutsche Büchermarkt, heißt es da, ist seit einiger Zeit mit Literatur¬
geschichten überschwemmt. Und doch mangelt es durchaus an einem Werke,
welches nicht aus zweiter und dritter Hand, sondern ans den Quellen selbst
schöpfte, auf der Höhe der heutigen Wissenschaft stünde und in künstlerisch freier
Anordnung, aber auf das Wesentliche beschränkt, ein umfassendes lind anschau¬
liches Bild der geistigen Entwicklung unsrer Nation zu geben versuchte," Das
Bedürfnis einer solcher Darstellung wird dann als „oft empfunden und vielfach
kundgegeben" bezeichnet; ihm abzuhelfen, ist Scherers Buch bestimmt.
Wir geben zunächst dieses Bedürfnis zu, und wollen zusehen, inwieweit
das von Scherer Geleistete den eben angeführten Forderungen entspricht.
Vielfach, sowohl von Freunden als von Gegner» des Verfassers, konnte
man die Ansicht aussprechen hören, daß sein Buch bestimmt sei, die so außer¬
ordentlich verbreitete Darstellung Vilmars beim großen Publikum zu verdrängen,
eine Ansicht, die, beiläufig gesagt, fast jedesmal beim Erscheinen einer neue»
populären Geschichte der deutschen Literatur auftaucht. Mag nun Scherer diese
Absicht vorgeschwebt haben oder nicht, jedenfalls sind wir der Meinung, daß
dieselbe, falls sie bestanden hat, nicht erreicht werden wird.
Scherer, ein durchaus moderner Geist, der im Gegensatz zu dem ortho¬
doxen Vilmar der Überzeugung lebt, „daß das Heil der deutschen Kultur nur
dort zu finden ist, wo es unsere Klassiker zu finden glaubten," d. h. doch wohl
in dem andauernden Erstreben „reiner Menschlichkeit," vermeidet zwar alle die
Fehler, die aus Vilmars einseitigem theologischen Standpunkte entsprangen,
aber er erreicht nicht die vielen Vorzüge, die trotz alledem Vilmars Buche eigen
sind und die dasselbe mit Recht beliebt gemacht haben. Es fehlt Scherer vor
allem die klare, auf den ersten Blick zu erfassende Disposition des Stoffes,
die weise Beschränkung auf das Hauptsächlichste, das liebevolle Eingehen auf
das Bedürfnis des wißbegierigen, aber nicht schon wissenden Lesers, alles Dinge,
auf die sich Vilmar vortrefflich verstand. Beweise für diese Behauptung ließen
sich leicht in großer Zahl beibringen. Wie gelungen sind bei Vilmar diejenigen
Partien, in denen er den Inhalt eines dichterischen Kunstwerkes seinen Lesern
vorführt! Seine Darstellung des Nibelungenliedes, der Gudrun, des Parzival
sind bis heute noch unübertroffen. Mau wird von diesen Stücken gewiß nicht
sagen können, daß durch sie „in dem Leser das täuschende Gefühl erweckt würde,
als ob er die Kenntnis der Literaturdenkmäler selbst entbehren könnte." Viel¬
mehr erregen sie durch ihre Trefflichkeit in dem Leser den Wunsch, nun selbst
an das Werk des Dichters hinanzugehen und ans der Quelle zu schöpfen, wie
ein wohlgelungenes Gemälde einer schönen Gegend in dem Betrachtenden die
Sehnsucht erweckt, sie mit eignen Augen zu schauen. Gerade auf diesem Ge¬
biete verfährt Scherer oft nnr andeutend, indem er dafür ästhetisch-kritische
Betrachtungen einsticht oder sich damit begnügt, auf einzelne Schönheiten eines
Werkes hinzuweisen. Was aber soll der in den Werken unsrer Dichter weniger
Bewanderte mit diesen Bemerkungen anfangen, wenn er nicht vorher mit dem
bekannt gemacht worden ist, worauf dieselben abzielen? Man vergleiche einmal
die Darstellung des Nibelungenliedes bei Scherer und bei Vilmar: beide sind
Anhänger der Lachmannschen Liedertheorie, aber das hindert Vilmar nicht, eine
zusammenhängende Darstellung des Ganzen zu geben, während Scherer in oft
recht subjektiver Weise die Einzellieder bespricht und manche derselben fast ganz
übergeht. Mit unleugbaren poetischen Geschick erzählt Scherer, wie Berchtung
sich des Knaben Wolfdietrich erbarmt und ihm, ein zweiter Waffenmeister
Hildebrand, bis zu seinem Tode und darüber hinaus treu bleibt, aber wer
vermöchte aus seiner Darstellung sich eine richtige Vorstellung von der Geschichte
Wolfdietrichs zu machen?
Trotz aller sprachlichen Gewandtheit, trotz einzelner wahrhaft glänzend
geschriebenen Partien vermag aber Scherer auch den warmen, überzeugungstreuen
Ton nicht zu treffen, der allenthalben in Vilmars Sprache so wohlthuend berührt.
Mag immer des letztern Standpunkt ein einseitiger, zu verwerfender sein — er
ist gewiß um letzten der unsrige —, solches Einsetzen der ganzen Persönlich¬
keit, solche Begeisterung sür sein Ideal, wie sie Vilmar eigen war, gewinnt
immer die Menge und nicht mit Unrecht: auch dem prinzipiellen Gegner wird
Achtung dadurch abgenötigt.
Die religiöse Engherzigkeit hat übrigens Vilmars Buch wenig geschadet;
das beweist die große Anzahl von Auflagen, die seit Jahren ins Land gegangen
sind. Sie schadet aber auch einem andern Buche nicht, daß — Gott seis ge¬
klagt — trotz seiner Unselbständigkeit jetzt zu den verbreitetsten deutschen Literatur¬
geschichten gehört und Vilmar viel eher verdrängen wird, als dies von Scherer
zu erwarten steht. Wir meine» die bekannte „Deutsche Literaturgeschichte" von
Robert König, welche durch ihre Ausstattung dem Prunk- und Schaubedürfnis
unsrer Tage entgegengekommen ist. Schon heute kann man finden, daß in
Kreisen, unter denen man nach ihrer sonstigen Lebensanschauung Vilmars
Werk zu finden erwarten sollte, König sich eingebürgert hat, während der Name
Vilmars unbekannt ist oder unverdienterweise erst in zweiter Linie genannt
wird. Einem solchen Konkurrenten gegenüber hat selbst ein so liebenswürdiges
Buch wie Otto Rvquettes „Geschichte der deutschen Dichtung," dessen wissen¬
schaftlicher Wert allerdings kein hervorragender ist, einen schweren Stand, obwohl
es unter den für Laien bestimmten Werken dieser Art gewiß einen ehrenvollen
Platz beanspruchen darf.
Ziehen wir die Summe aus dem Gesagten, so glauben wir gezeigt zu
haben, daß Scherers Buch keine Aussicht hat, als populäres Wert ähnliche
Erfolge zu erringen wie die drei daneben angeführten Bücher, Wir sind jedoch
garnicht der Ansicht, daß in ihnen der Maßstab zu finden sei, mit dem diese
neueste Geschichte der deutschen Literatur zu messe» ist.
Freilich ist sie auch keine für ausschließlich gelehrte Zwecke bestimmte Arbeit.
Dazu machen sie auch nicht die am Schlüsse angefügten Anmerkungen, so dankbar
wir dem Verfasser für dieselben sind. Dienen sie auch nicht dazu, eine aus¬
führliche Rechtfertigung, deren so manche Ansicht Schcrers bedürftig ist, zu
bieten, so zeigen sie doch den Weg, den er bei seiner Forschung genommen hat,
und erläutern mancherlei Dinge, über welche der Text uns unaufgeklärt läßt.
Gleich im Eingänge der Anmerkungen lesen wir die ausdrückliche Erklärung
des Verfassers, die den Kundigen nur durch ihre Form überraschen wird, daß
für den das Mittelalter behandelnden Teil die Ansichten Müllenhoffs, des
Lehrers Scherers, von weitgehendsten Einflüsse gewesen sind, so sehr, daß für
Scherer sich „Eigenes und Fremdes unauflöslich vermischte," wir also hier ein
Werk des vereinigten Müllenhoff-Schererschen Geistes vor uns haben. Gewiß
wird es für den Forscher von großem Interesse sein, hier einmal eine voll¬
ständige Literaturgeschichte von diesem Gesichtspunkte aus vor sich zu haben;
dennoch wird er bei seinen Arbeiten lieber zu dem trefflichen Werke Wilhelm
Wackernagels greifen, das ihn in knappester Form über den Stand der Forschung
orientirt und den verschiedenen Ansichten ihr Recht vollkommen angedeihen läßt.
Leider fehlt uns noch immer der zweite Band des vielen unentbehrlich ge¬
wordenen Werkes, der hoffentlich nicht mehr zu lange auf sich warten läßt.
Allen den genannten Werken also können wir Scherers Geschichte der
deutschen Literatur nicht an die Seite stellen. Welcher andern Darstellung ist
sie un» zu vergleichen? Hat sie überhaupt ihresgleichen? Scherer selbst giebt
uns die Antwort auf diese Frage. In seiner „Geschichte der deutschen Dich¬
tung im 11. und 12. Jahrhundert," einem Hefte jener trefflichen Sammlung
von Abhandlungen, die unter dem Titel „Quellen und Forschungen zur Sprach-
»ut Kulturgeschichte der germanischen Völker" erscheinen (Straßburg, Trübner),
hat er selbst de» Wunsch ausgesprochen, seine Arbeit an dem dieselbe Zeit be¬
handelnden Abschnitt von Gervinus' Geschichte der deutscheu Dichtung gemessen
zu sehen,*) Scherer, der wiederholt die hohe Bedeutung von Gewinns' Werk
hervorgehoben hat und auch in dem hier behandelten Werke bekennt, gar viel
von Gervinus gelernt zu haben, war sich wohl bewußt, welchen hohen Maßstab
er durch diese Aufforderung an seine Arbeit gelegt zu sehen wünscht. Ist doch
die „Geschichte der poetischen Natioualliteratur der Deutschen," trotz ihrer
große» Mängel, an denen vor allem der politische Standpunkt des Verfassers
die Schuld trägt, immer noch das erste und beste unsrer literaturgeschichtlichen
Werke, eine wirkliche Geschichte der Literatur von eminent wissenschaftlichem
Werte und zugleich ein Kunstwerk ersten Ranges, dem unter den Darstellungen
der politischen Geschichte Deutschlands, welche das ganze Gebiet derselben um¬
fassen, nichts auch «ur annähernd Wertvolles an die Seite zu stellen ist.
Nun, mit Recht darf Scherer verlangen, daß sein Werk mit diesem hohen Ma߬
stabe gemessen werde; daß er Gervinus gleichkomme, sagt er ja selber keineswegs.
Schon darin besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen ihm und Gervinus,
daß, als dieser sich an die Arbeit machte, das ganze große Feld noch spärlich
angebaut war und er an nicht wenigen Stelle» überhaupt zum erstenmale Hand
anlegen mußte, während Scherer über eine solche Fülle von Vorarbeiten zu ver¬
fügen hatte, daß eher die Gefahr nahe lag, etwas zu übersehe», als die Not¬
wendigkeit, ganz unberücksichtigt gelassene Strecken gleichsam als erster Pfadfinder
zu durchmessen. Gleichwohl gab es auch noch für Scherer Perioden, die in,
gewissen Sinne als jungfräulicher Boden anzusehen sind: die Zeit des 16, und
17. Jahrhunderts, namentlich das letztere, in denen es immer noch sehr an
der nötigen Vorarbeit fehlt, und hier hat er auf kleinerem Gebiete für unsre
Zeit auch im Erforschen unbekannterer Regionen ähnliches geleistet wie Gervinus
für die seine.
Ein andrer Unterschied ergiebt einen wesentlichen Vorzug Scherers vor
Gervinus. Wenn dieser als die Quintessenz seines Werkes die Lehre aufstellte,
daß es für uns Deutsche vorbei sei mit der Zeit großer Leistungen auf poetischen,
Gebiete, und daß die Zeit politischen Handelns angebrochen sei, welche unsre
besten Kräfte beanspruchen müsse, so kann Scherer heute, wo die Wünsche, die
einst Gervinus im Herzen hegte, freilich ganz anders als er meinte in Erfüllung
gegangen sind, ohne allen Rückhalt zum Genuß unsrer Dichter auffordern und
auf ihre Schöpfungen als auf die Quelle hinweisen, ans der uns nach der
Mühe und Arbeit des politischen und geschäftlichen Lebens sicher Erquickung
und Erhebung eutgegeuströmen wird.
Gleich ist dagegen bei beide» Männern die ästhetische Wertschätzung, Nicht
im Mittelalter, wie Vilmar dies überall durchblicken läßt, liegt ihnen der Höhe¬
punkt unsrer nationalen Literaturentwicklung, sondern in der Zeit unsrer Klas¬
siker, bei Goethe und Schiller, die ihnen als wahrhaft harmonische, in sich fer-
tige Idealgestalten erscheinen, deren Verhältnis zum Christentum in keiner Weise
als störender Schatten in demi lichten Bilde ihres Wesens zu empfinden ist.
Das Wort, welches die Engel verkünden, die Faustens Seele emportragen:
„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen," gereicht ihnen zum
Troste ini Kampfe des Lebens, nnr daß Scherer mit vollstem Rechte dieses
Wort auch für diejenigen in Anspruch nimmt, „die nach Goethes Beispiel leben
und Poesie für eine heilige Angelegenheit unsers Volkes halten,"
Gleich wird auch das Publikum sein, das Geschmack an dem Werke von
Gervinus wie an dem Scherers findet. Populär ist Gervinus trotz der fünf
Auflagen seines Werkes auch heute »och nicht geworden. Dazu stellt er viel
zu große Anforderungen an das Denkvermögen seiner Leser, dazu bietet er im
allgemeinen viel zu wenig Wiedererzählnng, mit einem Worte, dazu setzt er
viel zu viel beim Leser voraus. Umso wertvoller ist die Lektüre seines Werkes
für den mit dem Gegenstande Vertranten, der, bereits gefeit gegen seine para¬
doxe» Ansichten, mit wachsenden: Genusse seine» glänzenden Ausführungen folgen
und, mag er durch den Widerspruch, der sich in ihm regt, zum Nachdenken
genötigt, oder mag er durch seine Beweisführung überzeugt werden, sicherlich
»le ohne Nutzen das Buch von Gervinus aus der Hand lege» wird. Ganz
dasselbe gilt vo» Scherers „Geschichte der deutschen Literatur," Ohne literar-
geschichtliche Vorkenntnisse sollte niemand an dieses Werk gehen, wer sie aber
mitbringt, wird aus ihm in reichen: Maße Genuß und Förderung und Klä¬
rung seiner eignen Anschauungen schöpfen.
Scherer gebührt als Literarhistoriker ein Ehrenplatz we»» nicht in einer
Linie mit, so doch dicht hinter Gervinus, das ist unsre Meinung. Indem wir
diese aber abgeben, glauben wir damit ein so hohes Lob auszusprechen, daß
die Ausstellungen, die wir im einzelne» an Scherers Werk zu machen hätten,
selbst solche, die gegen Grnndgedaiiken desselben wie gegen die von ihm nn-
genommcncn sechshundertjährigen Perioden in der deutschen Literatur, gegen
seine übertriebene Neigung, Erscheinungen der alten Zeit mit moderne»
Erscheinungen zu vergleichen, gegen zahlreiche journalistische Wendungen und
gegen das Haschen nach Pointen sich richten müßten, nicht viel zu bedeuten habe».
Wir hoffen und wünschen vielmehr, daß Scherer auch darin mit Gervinus möge
verglichen werden können, daß von Jahr zu Jahr die Zahl der Verehrer seiner
Literaturgeschichte wachse, wie Gervinus, einst heftig bekämpft, sich doch
schließlich die höchste Anerkennung errungen hat.
n den letzten Tagen des Jahres 1882 erschoß ein Berliner Journalist
seine Frau und dann sich selbst, weil er den Mut verloren hatte,
den Kampf um das tägliche Brot fortzusetzen. Der Fall wurde
der Anlaß zu mancherlei Äußerungen über die Stellung des
Schriftstellers, besonders des Tngesschriftstellers in Deutschland,
Wahrend aber die meisten Zeitungen nur allgemeine, mehr oder minder resignirte
Betrachtungen anstellten, forderte der „Düsseldorfer Anzeiger" energisch zur
Selbsthilfe auf und bezeichnete als einziges Rettungsmittel „die enge Verbindung
Wer Zettungsverlcger und Redakteure zur gemeinsamen Wahrung ihrer be¬
rechtigten Interessen zum eignen Vorteil und zum Vorteil von vielen tausend
Schriftstellern, sowie von Millionen Lesern, für die das Beste als geistige
Wahrung acht zu gut ist," Der Verfasser dieses Artikels. Redakteur Gustav
^Piethoff. hat es auch bei jener Anregung, auf welche nichts gefolgt zu sein
abeime als hie und da eine halbe Zustimmung, nicht wollen bewenden lassen.
^">e von ihm unter dem Titel Die Großmacht Presse und das deutsche
^chriftstellerelend. Ein Wort an alle Zeitungsverleger und Literaten
Deutschlands (Düsseldorf, Felix Vagel. 1883), herausgegebene (uns erst jetzt
die Hände gefallene) Schrift beschäftigt sich mit demselben Thema. Seine
"«"schlage enthält das „Zur Einleitung" überschriebene Kapitel; daran reihen
M) als Belegstücke und Exkurse mehr als zwanzig Artikel, die zum Teil
^er zum erstenmal gedruckt zu sein scheinen, zum größern Teile dem eignen
Platte des Verfassers oder andern entnommen sind. Erschöpfung des ganzen
Stoffes lag, wie er ausdrücklich bemerkt, nicht in seiner Absicht: er wollte „zur
ofnng einer brennenden Frage anreizen, und andeuten, daß auch etwas ge¬
schehe» wird"; auch bittet er, die kleine Schrift, „welche neben den laufenden
und bekanntlich störenden Berufsgeschäften zusammengestellt wurde, nicht auf
'dren schriftstellerischen Wert zu prüfen." Diese Rücksicht wollen wir gern
nehmen, wir wissen, wie wenig die zersplitternde und aufreibende Thätigkeit eines
Zeitungsredakteurs einer Arbeit förderlich ist, die Sammlung erheischt. Dabei
würm wir aber nicht verschweigen, daß etwas wie ein „verbindender Text"
Mischen den Artikeln, Andeutungen, wie er selbst sich zu den Aufsätzen aus
fremder Feder stellt, für die Sache nützlich gewesen sein würden, und daß dafür
unsrer Meinung nach mancherlei hätte wegbleiben können. Das Kapitel über
Ichnftstellernde F^nen z, B, enthält zwar sehr viel Wahres und Treffendes,
°>e Charakteristik der Frau von Hillern und ihrer abgeschmackten Romane und
Dramen ist ganz ergötzlich; aber eine Note unter dem Texte zeigt, daß der
Verfasser selbst gefühlt hat, in dieser Verbindung könne der Aufsatz aufgefaßt
werden wie ein Hilferuf gegen
die Schncidcrmamscllen,
Die das Brot verkürzen uns SchneidergeseUen.
Ein ungenannter Korrespondent des Verfassers (offenbar G, Freytag) hat auch
etwas derartiges befürchtet, und die Klage, daß „die Presse sich gegenwärtig
wie die Theaterdirektvren und Schauspieler zu sehr durch Leute bedienen lassen,
die nicht zum Metier gehören," die „vielfach die Fettaugen von der Suppe
schöpfen," klingt mindestens zweideutig. Aber sei dem, wie ihm wolle: der
Anteil der Blaustrümpfe an der Schuld des „deutschen Schriftstellerelends" kann
schwerlich so groß sein, daß die ohnehin sehr komplizirte Frage durch Herbei¬
ziehung der „Schriftstellerinne»" noch schwieriger gemacht werden müßte. Was
sollen ferner die fünfviertel Druckbogen füllenden Auseinandersetzungen über eine
überflüssige Broschüre eines halbgebildeter, aber ganz erbosten Malers? — ab¬
gesehen davon, daß jemand, der den Satz niederschreiben kann: „Auch hat mich
die Anmaßung von Gelehrten, die besser als unsre ersten Maler wissen wollen,
ob ein Rubenssches Bild echt oder nachgemacht ist, wahrhaft in Erstannen ge¬
setzt," und der ganz nach Malerart Knnstforschuug und Tageskritik durch¬
einanderwirft, in diesem Falle kein kompetenter Richter ist. In Beziehung auf
die angebliche Unterdrückung der inländischen dramatischen Produktion durch die
Theaterdirektvren hat der oben erwähnte Korrespondent den Verfasser schon
berichtigt.
Wir haben diese Ausstellungen vorangeschickt und wollen auch noch unser
Bedauern über den — Geschmack des Verlegers aussprechen (welcher, wahr¬
scheinlich um die „schiefe Stellung" der Schriftsteller zu versinnlichen, die Titel¬
worte der Schrift in diagonaler Richtung setzen ließ), um nun rückhaltlos an¬
zuerkennen, daß wir es in dem Verfasser mit einem Manne von redlichsten
Willen, nationaler Gesinnung und Freimut zu thun haben. Wie sehr er sich
bemüht, den wahren Ursachen der herrschenden Übelstände nachzuspüren und, wo
er sie erkannt zu haben glaubt, sie ohne Rücksicht ans Licht zu ziehen, auch
wenn er dabei Vorurteilen seiner Standesgenossen entgegentreten muß, das
zeigen gleich seine, leider nur flüchtigen, Bemerkungen über das Verhältnis zwi¬
schen Schriftstellern und Verlegern und über die bornirte Gleichgiltigkeit so vieler
Mitglieder der erster» Zunft gegen die geschäftlichen Bedingungen, unter welchen
ihre Erzeugnisse den Weg in die Öffentlichkeit finden. Gerade dieser Punkt
Hütte freilich verdient, nicht nur gestreift zu werden. Wenn Schriftsteller sich
ein wenig mehr darum bekümmern wollten, was die Herstellung eines Buches
kostet, welche Mittel für den Vertrieb in Bewegung gesetzt werden müssen, und
wie wenige Bücher sich auch nur bezahlt machen, geschweige denn Gewinn
bringen, dann würde die Einbildung, daß der Verleger sein Geld noch extra
riskire, um größere Auflagen zu machen, als kontraktlich bedungen war, daß
seine Unthcitigkeit den geringen Absatz verschulde u. tgi. in,, nicht so häufig sein,
und mancher hoffnungsvolle Jüngling würde es sich länger überlegen, bevor
er den Entschluß ausführt, „von der Feder zu leben."
Über die Mitverantwortlichkeit des Publikums für den Zustund der Presse,
über die Schäden einer einseitigen Entwicklung der Journalistik unter der Herr¬
schaft der politischen Parteien, über den bald albernen, bald perfiden Mißbrauch,
der mit dem Wort „offiziös" getrieben wird, über das Unrecht der Regierungen,
ihre prinzipiellen Gegner in der Publizistik »och zu begünstigen, über Sen-
sationssucht, über das Annoneenwesen n. a. in. bekommen wir sehr verständige
Bemerkungen zu lesen, und man kann nur wünschen, daß die vorgetragenen
Ansichten von der ganzen Gemeinde geteilt würden, dann brauchte man sich
weniger den Kopf zu zerbreche», wie dem Schriftstellerelend abzuhelfen sei.
Doch es ist Zeit, daß wir uns die Reformvorschläge des Verfassers an¬
sehen. Er wünscht die Bildung von „fünf bis sechs Schriftstellervereinen zur
Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen Interessen." Diese Ver¬
eine sollen dahin wirken, daß die durch eine schrankenlose Konkurrenz zu tief
gedrückten Zeitungspreisc wieder auf eine angemessene Höhe gebracht und damit
der Verdienst des Redakteurs und Mitarbeiters gesteigert werde, daß die deutsche
Arbeit vor der Übersetzung aus fremden Sprachen den Vorzug erhalte, daß die
Provision für telegraphische Korrespondenzen ermäßigt werde u. a. in.; eine
Hilfskasse und ein Altersversorgnngsfonds sollen der Wiederholung von Fällen,
wie der eingangs erwähnte, vorbeugen.
Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Allerdings muß der Verfasser
am Schlüsse selbst melden, daß eben jener Fall nicht so tragisch sei, wie er zu¬
erst aufgefaßt worden: nicht der Hunger hat den unglücklichen Mann in den
Tod getrieben, er hätte noch reichlich verdienen können. Und das wird jeder
Kenner der Verhältnisse zugeben, daß in den allermeisten Fällen von Schrift-
stcllerelend eignes Verschulden mit im Spiele ist, sei es auch nur, daß in den
Jahren körperlicher Rüstigkeit, Arbeitskraft und guter Einnahmen nicht an andre
Zeiten gedacht und Vorsorge für solche getroffen wurde. Dessenungeachtet wün¬
schen auch wir, die Vorschläge Spiethoffs recht bald verwirklicht zu sehen. Man
muß das Sparen gerade dem erleichtern, der keine Anlage dazu hat, und man
>muß dem Erwerbsunfähigen die Möglichkeit eröffnen, Unterstützung zu erhalten,
ohne zum Bettler zu werde». Und gewiß wird eine mehr gesicherte Existenz
auch zur moralischen Kräftigung des Standes beitragen. Nur erwarte man in
diesem Punkte nicht zuviel. So oft auf solche Verhältnisse die Rede kommt,
wird die Wiener „Kvnkordia" und die Anekdote zitirt, daß Graf Beust einmal
mit einer Redakteursfrau getanzt habe. Wenn die Geschichte wahr ist, so be¬
weist sie doch nichts. Ehe Graf Beust von der Popularitätssucht ergriffen war,
störte es ihn durchaus nicht, daß Schriftsteller in Waldheim Wolle spinnen
mußten, und ob er nachher unter seinesgleichen ebenso hochachtungsvoll von
Journalen und Journalisten gesprochen haben mag wie in seinen Tischreden,
das bleibt sehr fraglich. Und irren wir nicht, so hat man gerade in Wien
nötig gefunden, für eine besondre Gattung von Zeitungen einen eignen Namen
zu schaffen: „Revolverpresse" — trotz der reichen und einflußreichen „Konkordia"!
Man übersieht eben mehr als einen wichtigen Umstand, wenn man Schriftsteller-
Verbänden eine ähnliche Wirksamkeit zutraut wie den Ehrengerichten der Anwälte,
der Ärzte u. s. w.
Stellen wir uns einen konkreten Fall vor, der sich sehr leicht ereignen kann,
auch wenn ein solcher Verein sich von gewerbsmäßigen Erpressern lind sonstigen
offenkundiger Gaunern freizuhalten weiß. Jemand hat eine Thatsache erlauscht,
deren Bekanntwerden der Staatsregierung in ihren Beziehungen zum Auslande
Verlegenheiten schaffen und auf alle Fälle nichts nützen kann. Redakteur A.
wird sich mit Begier auf die Mitteilung werfen, weil es bei ihm Prinzip ist,
jede oder wenigstens diese Regierung zu ärgern und zu schädigen, ohne Rück¬
sicht ans höhere Gebote. Redakteur B. ist nicht von solchem Parteihab erfüllt,
aber eine so pikante Neuigkeit glaubt er sich nicht entgehen lassen zu dürfen,
und er beschwichtigt sein Gewissen mit dem Sophismen Bringe ich die Geschichte
nicht, andre thun es doch, und ich habe nur den Schaden davon. Ein Ehrcn-
rcit würde nicht umhin können, die unpatriotische Handlung zu verurteilen; aber
mit welchem Erfolge? B. fügte sich vielleicht, A. sicherlich nicht, lieber erklärte
er seinen Austritt aus dem Vereine, schlüge wohl noch Kapital aus dem „Ver¬
suche, die Presse zu demoralisiren"; und das Urteil des Publikums? „Er ist
ein . . ., aber ein verfluchter Kerl, der seine Leser gut bedient!" Welche in-
famirenden Anschuldigungen haben in den Jahren 1875 und 1876 manche Zei¬
tungen einander ins Gesicht geschleudert! und doch ist alles beim alten geblieben.
Nein, die Vereine allein können da nicht Wandel schaffen, das Publikum will
es nicht. Und der Verfasser sieht doch ebensogut wie irgend jemand ein, daß
mit einer Versorgungskasse allein den Schäden nicht abgeholfen werden könnte.
Einmal ist er allerdings sehr bescheiden in seinen Ansprüchen. Er erwähnt
einen 1881 in den Grenzboten erschienenen Aufsatz über den deutschen Schrift¬
stellerverband und meint, der Jahresbericht von 1882 lasse doch „manches
Gute und Schöne" von diesem Verbände erwarten. Und dann wird aufgezählt,
daß der Vorstand emsig jeden Tag arbeite, daß durch eine Schenkung und eine
Goethefeier 1542 Mark 41 Pf. eingegangen seien, daß der Verband mehrere
Lorberkränze gestiftet habe, daß verschiedne schwungvolle Reden gehalten worden
seien, und „ein energisches Manifest gegen den unbefugten Nachdruck publizirt
werden solle." Wenn Spiethoff sagt, das sei „doch etwas," so weiß man wahr¬
lich nicht, ob das für Ernst oder Spott gehalten sein will.
Daß dergleichen Hilfsvereine auch eine bedenkliche Seite haben, wurde schou
im Jahre 1859 von Jacob Grimm in der überzeugendsten Weise dargethan.
Wir wolle» seine Argumente gegen die Schillerstiftung hier nicht wiederholen;
wer sich derselben nicht erinnert, möge die Rede nachlesen, das ist unter allen
Umständen eine nützliche Beschäftigung,
Die Vereine und Verbände allein können nicht helfen, das Publikum will
nicht helfen — so bleibt uns nur der Staat übrig. Wenn die Presse Ansprüche
erhebt, so beruft sie sich auf ihr öffentliches Amt, wenn Ansprüche an sie ge¬
macht werden, erklärt sie sich bescheiden als Gewerbe. Beides ist richtig, und
auf beiden Punkten muß der Hebel angesetzt werden. Wer ein Amt bekleiden
will, muß seine Fähigkeiten und Kenntnisse nachweisen und darf nicht industrielle
Geschäfte betreiben, welche Einfluß auf die Verwaltung seines Amtes haben
können. Den ersten dieser beiden Punkte berührt der Verfasser nicht oder doch
nicht direkt, das Jnscratenunwesen bespricht er mehrfach. Der Verfasser dieser
Zeilen hat vor fünf bis sechs Jahren durch eine Besprechung dieser, auch
brennenden, Frage (in den „Preußischen Jahrbüchern") einen kleinen Sturm
heraufbeschworen. Von alle» Seiten wurden seine Vorschläge für gänzlich
unausführbar erklärt, ohne Ankündigungen könnten die Zeitungen, wie sie sich
nun einmal entwickelt haben, nicht bestehen. Das ist richtig, wir wünschen auch
garnicht, daß sie „so" fortbestehen. Eine 1879 von Robert Schmölder heraus¬
gegebene Schrift spricht sich für einen Mittelweg aus: Inserate geschäftlicher
Natur sollen ausschließlich den amtlichen Anzeigeblättern zugewiesen werden.
Spiethvff seinerseits erkennt den Schaden an, welchen „Frivolität und Scham¬
losigkeit im Bunde mit schmutziger Geldsucht" ans diesem Felde anrichten, würdigt
aber nicht, wie oft und in wie wichtigen Fragen der Inserent die Haltung
eines Blattes beeinflussen kann. Redaktionen, welche am geräuschvollsten auf
ihre Unabhängigkeit pochen, unterwerfen sich manchmal ohne Widerstand der
Zensur oder Korrektur eines ständigen Mitarbeiters — der letzten Seite. Vor
allem haben die geschäftlichen Anzeigen garnichts mit einer politischen Zeitung
zu schaffen. Aber bei der jetzigen Gewöhnung der Leser wären selbständige
und nur selbständig vertriebene Jutclligenzblätter kein genügender Ersatz, weder
für die Ankündigenden, noch für deren Publikum. Deshalb halten wir unsern
Gedanken aufrecht, daß die amtlichen Anzeigeblätter gar keinen redaktionellen
Text enthalten dürfen, hingegen jeder Zeitung ohne Unterschied der Farbe bei¬
gelegt werden können. Eine wie viel größere Verbreitung erhielte dadurch die
Ankündigung, um wie viel wohlfeiler käme sie — absolut und vollends relativ! —
zu stehen, und welche Einnahme könnte in die Staatskasse fließen, die sich
niemand fühlbar machte! Ja so, den Zeitungsunternehmungen. Aber Spiethvff
kommt nach allen Einwendungen doch zu dem Schlüsse, daß die Verstaatlichung
des Jnscratcnwescns, die nicht ohne Entschädigung einzuführen wäre, immer
noch der schrankenlosen Konkurrenz der Privatspekulation vorzuziehen sei. Man
sieht, die Sache wird heute schon etwas kühler aufgefaßt.
Wenn nicht mehr jeder „unter die Journalisten gehen" kann, welcher
ehemals „unter die Komödianten" oder in eine Fremdenlegion gegangen wäre,
oder welcher das Zeug hat, als Börsengalopin „Karriere" zu machen; wenn
nicht mehr der politische und literarische Inhalt einer Zeitung sozusagen das
Schaufenster sein kann, hinter welchem das — reinliche oder schmutzige —
Jnseratengeschäft betrieben wird; wenn einmal die Erkenntnis sich allgemeiner
Bahn gebrochen hat, daß eine gemeinschädliche Thätigkeit nicht deshalb geduldet
werden muß, weil sie sich der Buchdruckerkunst bedient, und wenn man sich
auch nicht mehr scheut, solcher Erkenntnis überall Ausdruck zu geben; wenn
dann die korporativ geeinigten Zeitungseigentümer und Redakteure einerseits
und die Behörden anderseits sich in dem Bemühen, den Stand ehrenhaft und
angesehen zu erhalten, gegenseitig unterstützein dann wird die ungeheure Über¬
produktion und in deren Gefolge die gemeine, kein Mittel verschmähende Kon-
kurrenz aufhören, das Schriftstellerproletariat geringer werden, und es wird
keiner großen Anstrengungen bedürfen, um wirklich vorhandenes Elend zu be¬
seitigen oder zu lindern.
er Umschwung der Dinge, dnrch welchen in Spanien die Konser¬
vative» wieder ans Ruder gekommen sind, hat das Land — wir
wollen hoffen, für lange Zeit — vor zwei Übeln bewahrt, vor
dem Rückfall in demokratisch-republikanische Zustände und vor
der Abhängigkeit von Frankreich, dem republikanischen Nachbar¬
staate. Man war auf dem besten Wege zu diesen beiden Übeln, als der König
Alfonso die Gefahr erkannte und auf den Staatsmann zurückgriff, welcher bei
der Restauration des Jahres 1875 die Rolle eines Monk in Zivil gespielt
hatte. Der Ministerpräsident Canovas ist ein kluger, erfahrener und sehr
energischer Politiker, welcher in den ersten Regierungsjahren des jungen
Monarchen das spanische Staatsschiff rin vielem Geschick durch die hochgehenden
Wellen des Parteitreibens steuerte. Er hat etwas Herdes und Rauhes in
seinem Wesen, das sich mit der Hofluft nicht wohl verträgt, ist aber ein
Charakter ohne Ehrbegier und Eigennutz — in Spanien eine Seltenheit —,
und so bewahrte ihm der König sein Vertrauen auch dann noch, als er ihn
vor dem Andrange der liberalen Elemente entlassen mußte. Vermutlich werden
diese im Hinblick auf das frühere feste Auftreten des jetzigen Premiers sichs
zweimal überlegen, ehe sie versuchen, durch Aufstände das Heft wieder in die
Hand zu bekommen, und wagen sie einen Aufstand, so ist vielleicht kein spanischer
Politiker geeigneter dazu, ihn zu vereiteln, als Canovas. Auch die übrigen
Mitglieder des neuen Kabinets flößen Vertrauen ein, und es ist einheitlicher
zusammengesetzt als das frühere. Der Kriegsminister Qnesada ist ein strammer
Soldat, der Marineminister Polo ein tüchtiger Seemann, der Leiter der aus¬
wärtigen Angelegenheiten, Elduayen, der schon milder dem König Amadeo mit
einem Portefeuille betraut und zuletzt Gouverneur von Madrid war, erfreut sich
gleichfalls eiues guten Namens in seinem Fache, und dasselbe gilt von seinen
Kollegen Cosgayon (Finanzen), Silvela (Justiz), Valdoscra (Kolonien) und Pidal
(Unterricht und öffentliche Arbeiten). Alle diese Herren sind streng monarchisch
gesinnt. Robledo, der Minister des Innern, hat sich zwar 1868 am Sturze
der Königin Jsabelln beteiligt, gehört aber, seitdem er sich von der Partei
Sagastas losgesagt hat, zu den eifrigsten Anhängern Don Alfonsos.
Auf den ersten Blick sieht es aus, als ob dieses Zurückgreifen ans die
Konservativen etwas von der Natur einer Reaktion an sich hätte. Englische
Blätter haben es einen gelinden Staatsstreich nach Art dessen genannt, was
1835 bei der Entlassung der Whigs durch König William stattfand. Wir finden
in diesen Vorgängen mehr Ähnlichkeit mit der Berufung Bismarcks zur obersten
Leitung der Staatsgeschäfte, als die Ministerien der „neuen Ära" sich unfähig
gezeigt hatten, den gefährlichen Forderungen der Liberalen mit Erfolg entgegen¬
zutreten und die reformatorischen Ideen des Königs zu verwirkliche». Der
Vergleich mit dem Verfahren König Williams trifft weniger zu. Damals ge¬
boten zwar die englischen Liberalen wie jetzt die spanischen in der Gesetzgebung
über eine Mehrheit, welche Zeichen des Zerfalls kundgab. Aber das Verfahren
des englischen Souveräns war ein vorzeitiges; denn der Umschwung zu den
Tories fand erst 1841, also sechs Jahre später, statt. Auch ist Spanien nicht
Wohl mit England zu vergleichen, und der Herrscher des ersteren hat viele gute
Gründe, der Linken zu mißtrauen, auch wenn die verschiednen, sich aneinander
reibenden Bruchteile derselben sich für die Dauer vereinigen könnten, und zwar
">ehe so sehr, weil einige sich Republikaner nennen, als weil viele sich demo¬
kratischer Anschauungen und Forderungen als Deckmantels zur Verhüllung eines
Parteigeistes bedienen, der stets bereit ist, sich zu illoyalen Handeln zu ent¬
wickeln. Die englischen Liberalen von 183S dachten der Krone gegenüber ganz
ebenso loyal wie ihre konservativen Gegner; von den spanische» Fortschrittlern
»nsrer Tage läßt sich »icht das gleiche behaupte». Selbst die sogenannte
dynastische Linke würde, obwohl sie der Monarchie mit den Lippen zu huldigen
gewöhnt ist. den König sehr bald in eine Null verwandelt haben, wenn sie am
Ruder geblieben wäre. Dieses Element politischer Unzuverlässigkeit ist kein
Wunders ist vielmehr sehr erklärlich und begreiflich in einem Lande, wo seit der
Thronbesteigung Jsabellas der Zweiten das staatliche Leben fast nichts als ein
Wechsel zwischen kurzlebigen Erfolgen von Palastintriguen und Militärementen
mit politischer Färbung und selbstsüchtigen Tendenzen der Führer gewesen ist.
Jeder spanische General ist von persönlichem Ehrgeiz erfüllt und strebt darnach,
dadurch, daß er sich für einige Zeit zum Agenten oder zum Herrn seines Souveräns
macht, Vorteile zu erringen. Prim, dessen Befähigung und Thatkraft unbestritten
war, machte durch Jmportirung eines Königs aus dem Hause Savoyen die
Republik zur Möglichkeit in Spanien. Wo aber der Grund und Boden auf
solche Weise unterwühlt ist, wo tolle politische Träume und unehrliche Selbst¬
sucht als Haupttriebfedern in der staatlichen Maschinerie wirken, darf es nicht
Erstaunen erwecken, daß Alfonso der Zwölfte sich endlich zu dem Entschlüsse
bewogen fand, feine Geschicke und dasjenige seiner Dynastie den Freunden seiner
Jugend, der konservativen Partei, anzuvertrauen, deren Interessen eng mit den
seinigen verknüpft sind.
Hierbei ist Wohl zu beachten, daß die Konservativen Spaniens nur geringe
Ähnlichkeit mit denen Frankreichs haben. Diesseits der Pyrenäen besteht die
Hauptmasse der konservativen Partei aus Royalisten und Bonapartisten, sowie
ans Klerikalen, die sich der einen oder der andern dynastischen Fraktion an¬
geschlossen haben. Spanien dagegen hat das Glück gehabt, seit einem halben
Jahrhundert, d. h. seit der Thronbesteigung der Königin Christine, seine poli¬
tischen Freiheiten unter dem Schutze eines legitimen und eingeborenen Königs¬
geschlechtes sich entwickeln zu sehen. In Frankreich wurde der Liberalismus
seit 1830 ebenfalls von einem Könige aus dem Hause Bourbon gefördert, aber
Ludwig Philipp vertrat eine jüngere und weniger direkte Linie desselben, die
nach der Vertreibung des legitime», aber unbeliebten Königs durch Wahl auf
den Thron gelangt war. Damals machten es die Franzosen wie die Engländer
nach dem Tode der Königin Anna. Sie suchten am Stammbäume der Königs¬
familie nach einem Seitenerben, wogegen in Spanien Jsabella die Zweite (für
welche eine Zeit lang deren Mutter, Christine, als Regentin eintrat) direkt die
ältere Linie des Königshauses repräsentirte, und der einzige EinWurf gegen
ihre Thronbesteigung bestand in der Behauptung, daß die Bourbonen das
salische Gesetz mitgebracht hätten, nach welchem eine Frau nicht regieren dürfe.
Die Mehrzahl der Spanier verwarf diesen Verstoß gegen die Geschichte des
Landes; denn Jsabella die Katholische gehört zu deu Gestalten derselben, auf
welche es am stolzesten ist. Überdies verband sich mit Don Karlos in der
Vorstellung jener Mehrzahl das Bild eines bigotten und despotischen Fürsten,
und während der langjährigen Unmündigkeit der jungen Königin hatte der
Konstitutionalismus Zeit, Wurzel im Lande zu schlagen. So steht der Kon¬
servatismus in Spanien einerseits den Karlisten und andrerseits den Parteien
gegenüber, welche die Krone aller Rechte zu berauben bemüht sind.
Ferner kommt in Betracht, daß ein konservatives Ministerium in Madrid
keineswegs die Bedeutung einer unbeschränkten Herrschaft der Konservativen in
ganz Spanien hat. Ein solcher Wechsel in der Verwaltung würde in Frank¬
reich das Land einer allgemeinen Reaktion unterwerfen, in dem lateinischen
Schwesterstaate aber verhält es sich wesentlich anders. Hier begegnen wir von
alten Zeiten her einer weitverbreiteten und stark ausgebildeten Selbstregierung
der verschiedenen Landesteile. Die Lokalparlamente — viputsolonk« ?rovm-
eialss — haben beinahe so viel Rechte und Vollmachten wie die Landtage in
den Einzelstaaten des deutschen Reiches. Sie besteuern sich selbst, bewahren
lokale Einrichtungen und Gewohnheiten, verwalten ihre Polizei selbst und sind
überhaupt in großem Maße unabhängig von der Zentralverwaltung. Unter
ihnen erfreuen sich endlich die Gemeinden, welche die Lokalparlamente wählen,
einer ausgedehnten munizipalen Gewalt und Berechtigung, die in manchen Be¬
ziehungen sogar weiter geht als die der englischen städtischen Korporationen.
So unterscheidet sich Spanien ganz erheblich von Frankreich, wo alle politische
Gewalt sich in Paris konzentrirt. Spanien gleicht hierin mehr Italien, nur
daß hier der Patriotismus die altherkömmlichen Eigentümlichkeiten zu verwischen
strebt, während dort der Provinzialgeist mit Erfolg bemüht ist. sie zu erhalten.
Die Spanier sind stolz auf ihre Provinzen, auf ihre lokalen Statuten und
Gesetze, Sitten und Bräuche, sogar auf ihre verschiedenen Dialekte, und das ist
>" manchen Beziehungen von Vorteil, aber es hat auch seine Nachteile,
vor allen den, daß es das Entstehen einer nationalen Politik hindert. Es ist
für Fernstehende oft erstaunlich, zu sehen, wie ein stolzes und edles Volk sich
ohne Widerstand dem zufälligen Emporkommen eines Günstlings des Hofes
oder eines Diktators aus der Kaserne unterwirft. Die Sache erklärt sich aber
ziemlich leicht, wenn man weiß, daß die Vorgänge in Madrid die Freiheiten
und den Wohlstand der Provinzen nicht sehr beeinflussen. Die letzteren setzen
dabei gelassen ihren Weg fort und widmen dem König und den Cortes nur
vorübergehend Beachtung. Dieses kräftige lokale Leben und diese Schwäche
des Zentrums erklärt es zum Teile, wenn Spanien während der letzten hundert
Jahre die bedeutsame Stelle, die es in der europäischen Politik früher einnahm,
"»gebüßt hat. Nachdem es sein amerikanisches Kolonialreich bis auf Cuba
verloren, besaßen seine Herrscher nicht mehr die zur Führung großer Kriege
erforderlichen Mittel, und die Lotalparlamcnte verhinderten mit ihren Befug¬
nissen eine Erhöhung der Steuer», welche diesen Ausfall in den Finanzen ersetzt
hatte. In der That, Madrid ist in wichtigen Beziehungen nicht so sehr die
Hauptstadt eines Staates als die Zentralstadt einer Anzahl von Provinzen,
die so eng miteinander verbunden sind, daß der Fremde nicht bemerkt, wie
wesentlich sie sich von einander unterscheiden. Die Geschichte aber zeigt uns,
daß Föderalstaaten stärker in der Verteidigung als im Angriffe sind, und daß
sie deshalb keinen aggressiven Charakter tragen. Die Vereinigten Staaten und
die schweizerische Eidgenossenschaft haben praktisch genommen so gut wie gar
keine auswärtige Politik, Österreich-Ungarn, eine Föderation unter einem Kaiser,
ist ein inoffensiver Staat, und das deutsche Reich ist bei seiner Zusammensetzung
ebenfalls eine friedliche Schöpfung.
Eine Ursache des Mißtrauens, welches der König gegen die Liberalen
hegte, die jetzt vom Ruder getreten sind, lag darin, daß sie den Versuch be¬
absichtigten, die Verfassung abzuändern und sich jenem allgemeinen Stimmrechte
zu nähern, das in Spanien bereits so viel Unheil angerichtet hat. Kein Land
in Europa ist Frankreich darin gefolgt, daß es bei den Wahlen seiner Ver¬
treter jedermann anstimmen ließ, als Deutschland, und hier ist die Gabe dadurch
neutralisirt, daß der Reichstag nicht das Recht besitzt, durch seine Mehrheit
Minister zu macheu und zu stürzen. In Spanien und Italien ist jetzt jedoch
das Stimmrecht an die Zahlung direkter Steuern in gewisser Höhe geknüpft.
Ferner ist der spanische Senat mit dem Kongreß gleichberechtigt und wird
teilweise von den Steuerzahlern der obersten Klassen gewählt. Der konservative
Charakter dieser Verfassung scheint dem Volke zuzusagen, und die Agitation
gegen dieselbe ging offenbar aus dem Wunsche hervor, zu den Fleischtöpfen der
oberen amtlichen Stellungen zu gelangen. Der König ist von seiner Thron¬
besteigung an stets streng nach den Regeln parlamentarischer Regierung Ver¬
fahren: er hat allen Parteien nach einander reichlich Gelegenheit gegeben, es
mit dem Regieren zu versuchen. Er wird jetzt des Erfolges sicher sein, da er
sich durch Solderhöhung bei den Gemeinen und Beförderungen bei den Offi¬
zieren die Armee gewonnen hat. Seit fünfzig Jahren waren alle Revolutionen
in Spanien prätoricmischer Natur, und so lange die Truppen treu bleiben, ist
die Linke machtlos. Jedes Ministerium war anfangs imstande, sich in deu
Cortes eine Mehrheit zu schaffen, aber nach einer Weile löste dieselbe sich auf
und zerfloß. So auch jetzt, und Ccmovas hat den Vorteil, daß seine Gegner
schon uneinig waren, als sie noch die Gewalt hatten. Der Ministerpräsident
wollte Auslösung der Cortes, der Minister des Innern war dagegen, und
schließlich riet letzterer dem Könige zur Berufung der Konservativen.
Den Pariser Republikanern ist diese Wendung der Dinge natürlich sehr
verdrießlich. Sie hatten sich bemüht, Spanien wieder zur Republik zu machen
und es so an die Seite Frankreichs zu bringen. Das Erstarken des Königtums
ging Hand in Hand mit einer Steigerung und Vertiefung des Nationalgefühls
der Spanier, und da dieses sie von den Nachbarn jenseits der Pyrenäen trennte,
mußte jenes unterwühlt und schließlich niedergeworfen und beseitigt werden. Als
Zorilla und Salmeron sich an die Franzosen um Unterstützung einer dazu
bestimmten Revolution wandten, wurde ihnen dieselbe bereitwillig gewährt. Als
aber daraufhin die Militärputsche in Badajoz und Seo de Argei ausbrachen,
zeigte es sich sofort, daß die Anschürer und obersten Führer der Emeute sich
verrechnet hatten, und daß die Regierung des Königs Alfonso fester im Lande
und Volke wurzelte, als sie vermutet hatten. Später hoffte man in Paris
seine Absichten in Betreff Spaniens aus parlamentarischem Wege zu erreichen.
An die Stelle Sagastas war Posada Herrera von der dynastischen Linken ge¬
treten, dessen Programm die Wiederherstellung der Republik im Keime enthielt,
weshalb sein Ministerium sich des Wohlwollens Castelars erfreute, der von
der Einführung des allgemeinen Stimmrechts nicht ohne guten Grund die
Wiederaufrichtung der Republik hoffte. Aber die von Sagasta geführten Kon¬
stitutionellen leisteten Widerstand und verharrten dabei, und ihr Adreßentwurf
fand Annahme. Posada Herrera beantragte beim Könige vergebens Auflösung
der Cortes, und so traten er und seine Kollegen von der dynastischen Linken
zurück, um einem konservativen Kabinette Raum zu machen. Frankreich hatte
zuni zweiten male die Partie verloren, und der Einfluß der ihm günstig ge¬
sinnten Partei war für die nächste Zeit gebrochen.
Es geht den französischen Politikern von der republikanischen Farbe hier
wie in Italien. Auf beiden lateinischen Halbinseln herrscht gegenwärtig eine
konservative Tendenz, die nicht ohne Zusammenhang mit der Unbeliebtheit ist,
welche sich das republikanische Frankreich dort zugezogen hat. Dasselbe belei¬
digte Italien in Tunis, Spanien in der Person seines Königs, und so dürfen
sich die Pariser nicht verwundern und beklagen, wenn ihr Typus des Libera¬
lismus in beiden Ländern zu etwas Unwillkommenem geworden ist.
Die Redaktion der Grenzboten erklärt hiermit, daß sie bei Abdruck des
Artikels in Ur. 34 der Grenzboten vom 16. August 1883 über Rietschcls
Lutherkopf nicht gewußt hat. daß die Person des Herrn Rechtsanwalt
Dr. Baehr in Dresden in Mitleidenschaft kommen könne ^ daß sie also diesen
nicht hat beleidigen, noch in irgend etwas seinen guten Glauben hat anzweifeln
wollen.
Wäre der Redaktion die Sachlage bekannt gewesen, so würde sie Anstand
genommen haben, den Artikel in der Form, wie es geschehen ist, abzudrucken.
le Antwort der Frau von Mvckritz war eine wehr witzig hei¬
tere als prcizis zustimmende und behielt der Schreiberin bis zur
Beendigung der Kur das weitere vor.
Hiergegen ließ sich wenig einwenden.
Der Arzt wird ihr jede Aufregung mit Recht verboten haben,
begütigte Frau Anna das Stirnrunzeln ihres Gatten.
Ich liebe keine halboffnen Thüren, murrte Kaspar Benedikt.
Hermine entschuldigte ihre Mutter, war indessen in nicht geringer Unruhe,
denn sie sah voraus, Frau von Mockritz werde, mit dem Antrage Bertholds in
der Hand, in dem Kreise ihrer vornehmern Bekanntschaften Umschau halten nach
einer «nasi glänzenderen Versorgung ihrer Tochter, und gerade in diesem Kreise
konnte dabei das Abenteuer mit dem Prinzen — denn wo waren Liebende je
gegen Lauscher ganz gesichert — an die große Glocke kommen.
Einigermaßen verstimmt war auch Berthold, obschon nicht ans demselben
Grunde wie Papa Hartig. Er machte zwar im Lause der nächsten Wochen
fleißig von der Erlaubnis Gebrauch, seine Braut, wenn auch nur auf dem ver¬
schwiegenen Moorwiesenwege, alle Vormittage besuchen zu dürfen, und Mutter
Anna schwelgte in Vorfreuden künftigen Glückes. Aber er kam nie leichten
Herzens heim.
Das deutsche Mädchen ist oft besungen worden. Was schon Tacitus den Wei¬
bern Germaniens ein Tugenden nachrühmte, das haben Deutschlands bessere Dichter
immer wieder als das vor allem dem deutschen Mädchen Eigene gefeiert, und der in
die Fremde gewanderte Jüngling verwebt unwillkürlich das Bild einer so gearteten
Landsmännin in seine Sehnsucht nach den deutschen Bergen, Wäldern, Seen und
Flüssen. Auch Berthold hatte es gethan, und wenn er sich seinen Pflegeeltern als
einen Wnndcrsmann geschildert hatte, dem in jedem neuen Städtchen eine ncucLiebe
angeflogen sei, so war er ungerecht gegen sich selbst gewesen. Ans dem Grnnde
seiner Seele wohnte jenes Urbild eines echt deutschen Mädchens, und alle
Schönheiten andrer Nationen waren in Wirklichkeit nur auf Augenblicke imstande
gewesen, ihm den Kopf zu verrücken.
Jetzt hatte sichs gefügt, daß jenes schlichte, unscheinbare Wesen, mit dem
er auf der Moorwiesc so burschikos umgesprungen war, ihm allemal, wenn er
die Billa Mockritz betrat, die Thüre öffnen mußte. Sie ließ ihn mit einer
schweigenden Verneigung ins Haus, führte ihn über den Korridor nach der
Thüre des Zimmers, wo Hermione bald darauf zu erscheinen pflegte, und zog
sich lautlos zurück.
Nie geschah es, ohne daß er eine Weile wie verwirrt in dem Zimmer
stehen blieb, so eigentümlich war ihni zu Mute. Wie sie aussehen mochte, wenn
nicht durch ihren schmucklosen Anzug entstellt war, hatte er sich anfangs zum öftern
gefragt, und es fehlte auch nicht ganz an Wahrnehmungen, die ihr, selbst neben
ihrer Herrin, das Recht zu gebe» schienen, einem verwöhnten Auge in hohem
Grade wohlzuthun. Aber je länger, je weniger beschäftigte ihn bloß das Äußere des
eigentümlichen Wesens. Warum sie nicht gleich andern beherzt auf die Sonnen¬
seite des Lebens trat, was ihre Wimpern senkte, ihren Sprechton dämpfte, ihre
innern Regungen unter dichten Schleiern barg, darüber grübelte er, zumeist wider
Willen und ohne sich von irgend einer der Erklärungen, die er fand, befriedigen
zu lassen; sogar die Nächstliegende Erklärung, daß ihre nonneuhaftc Haltung der
Ausfluß pietistischer Erziehung sei, wollte ihm nicht als die richtige erscheinen.
Mit solchen Gedanken verbrachte er manche der in dem Vorzimmer ver¬
streichenden Viertelstunde».
Kam Fränkel» von Mockritz da»» herein, bezaubernd in ihrer Lebendigkeit,
mit den reizenden Wangengrübchen, mit dem entzückenden Augenaufschlag, immer
sprühend von ergötzlichen Einfällen, voll Geistes- und Körperelastizität, sorglos
wie ein Kind, leichtblütig, leichtsinnig, leichtlebig, leichtnmgänglich wie eine Fran¬
zösin, mit stolzen Allüren wie eine Spanierin, melodisch wie eine Italienerin,
belesen wie eine Britin, schlangenähnlich wie eine Squaw, da berauschte ihn
wieder diese kaleidoskopartige Fülle von verschiedenartigen Eindrücken, die sie
zur rechten Zeit auch zu mäßigen wußte, und er hatte ein Gefühl wie in seiner
Kindheit an manchem Weihnachtsabend, wo der für ihn allein mit Geschenken
überreich gedeckte Tisch samt den vielen Lichtern an dem für ihn allein geputzten
Tannenbaum ihm Angst und Freude in demselben Augenblick bereiteten.
Wie sie gekommen, verschwand sie wieder, die holde Fee Hermione, und
der von jener sinnliche» und geistige» Narkose Umnebelte fand dann draußen
auf dein Gange abermals die durch das Klingeln ihrer Herrin benachrichtigte
Dienerin bei der Thüre stehen, um ihn mit stummem Verneigen ins Freie zu
entlassen. Er wünschte ihr verlegenen Tones — warum verlegen? er wußte es
selbst nicht — einen guten Tag, sie wünschte ihm höflich einen guten Weg.
Und Heini schritt er, den Kopf voll einander widersprechende» Gedanken.
Weder das alte Ehepaar, noch Hermione, noch auch Frau von Mockritz
hatten eine Ahnung von den sympathischen Fäden, die hier hinüber und herüber
zu streben begannen, und Berthold selbst, dessen Dankbarkeit für seine Pflege¬
eltern eine unbegrenzte war, gestattete sich nicht, der Möglichkeit nachzusinnen,
die in Stunden des Alleinseins vor seiner Einbildungskraft auftauchten, und er
bemühte sich redlich, ganz so glücklich zu sein, wie vor allem Frau Anna ihn
glaubte.
Doch man soll nie über dem Goldfasan auf dem Zweige die Taube, die
mau schon in der Hand hält, entschlüpfen lassen. Frau von Mockritz hatte aus
dem Zufall ihrer Abwesenheit zuviel Vorteil ziehen wollen, und darüber trat,
wenn auch ohne ihre Schuld, eine Wendung ein, die von verhängnisvollen Folgen
begleitet war.
Da die Villa Mockritz ziemlich abseits vom Wege lag und sich nach der
Seite der Moorwiese nur des Schutzes einer lebendigen Hecke als Einzäunung
erfreute, so hatten zwei große Leonberger Hunde nachts für die Sicherheit des
Besitztums einzustehen. Der alte Gärtner der Frau von Mockritz behauptete
zwar, solange er im Hause sei, werde sich kein Dieb an die Villa heranwagen,
und als ehemals tüchtiger Schütze genoß er vor Zeiten in der That des Rufes,
daß man ihm nicht ins Gehege kommen dürfe. Aber darüber war er allmählich
gichtisch und harthörig geworden, und so mochten die Hunde denn freilich nicht über¬
flüssig sein. Gorge, ein nichtsnutziger Enkel des Alten, hatte als Hundejunge das
weitere zu besorgen, d. h. er ließ sie nach Sonnenuntergang von der Kette los,
legte sie morgens wieder fest, fütterte sie, zerrte sie, übertrug seine widerbelfrigen
Gewöhnungen auf die beiden von ihm abhängigen Kreaturen, benutzte auch jeden
Zornesausbruch, bei dem sich Schaum am Munde der Bestien zeigte, um Frau
und Fräulein von Mockritz mit Tollwutsymptomen zu ängstigen, dokterte dann
aber mit allerhand Schwefelmixturcn solange an den Patienten herum, bis sie
wieder für hergestellt galten und er für seine Kunst Lob und klingenden Dank
erntete.
Eines Abends nun, oder eigentlich war es kurz vor Mitternacht, schaute
Berthold, wie schon oft, von seinem innern Zwiespalte gemartert, nach dem
fernen, jenseits der Moorwiese gelegenen Landhause hinüber. In demselben Augen¬
blicke sah er die zugezogenen weißen Fenstervorhänge eines hochgelegenen Ge¬
machs sich von dem roten Widerscheine eines gierig drinnen aufflackernden Feuers
färben, dem unzweifelhaften Zeichen, wie er glaubte, eines plötzlich ausgebrochenen
Zimmerbrandes. Unter dem Eindrucke der Nacht und der Erregung malte seine
Phantasie ihm ein Glutmeer vor, das, von niemand in der schlafenden Villa
Mockritz bemerkt, die Bewohner derselben im Traume überraschen und hilflosen
Untergange preisgeben werde. Gewohnt, seine Kräfte rasch einzusetzen, eilte er
daher, ohne die Eltern zu wecken, ins Freie, tappte im Finstern über die heute
endlos lange und fast nirgends gangbare Moorwiese, gelangte atemlos an die
wohlbekannte lebendige Hecke, überkletterte hastig die verschlossene Gartenpforte
und rannte nun klopfende» Herzens den Kiespfad hinan, der zu dem bedrohten
Hause führte.
Doch ehe er dasselbe erreichte, fielen ihn die beiden Leonberger mit jenem
wütenden Henlen an, das selbst, wenn sie an der Kette lagen, kein Mensch ohne
Grausen hörte, und gleichzeitig spürte er in Wange und Schulter den scharfen
Biß ihrer Zähne. Er war nicht ohne Waffe. Seinen alten Prairiebegleiter,
einen lederumflochteuen Totschläger, hatte er gewohnheitsmäßig zur Hand, und
ein glücklich treffender Schlag desselben streckte das eine der argen Untiere
regungslos in den Sand. Das andre biß sich aber mit doppelter Wut in den
die Waffe führenden Arm Bertholds fest, und ohne die Dazwischenkunft Görges
und Lores würde der nun Vertcidigungslose und endlich gar auch zu Fall Ge¬
kommene wohl kaum am Leben geblieben sein. Nachdem Gorge sich des un¬
bändigen Tieres mit Mühe bemächtigt hatte, schafften Lore und der alte Gärtner
den anscheinend völlig Bewußtlosen ins Haus.
Hermione erschien in demselben Augenblicke oben auf der Treppe, die zu
ihrem Zimmer führte. Sie war im Nachtgewande. Um Gotteswillen, was
giebt es? rief sie entsetzt hinab.
Es soll oben brennen, gnädiges Fräulein! gab Lore Bescheid; um den seiner
Sinne halb Beraubten bemüht, hatte sie nnr diese eine aus dem Wirrwarr
seiner Äußerungen verstanden.
Thorheit! rief Hermione hinab. Sie hatte in der That nur allerlei
Briefchen, die schon längst besser aus der Welt geschafft worden wären, heute
endlich im Kamin verbrannt. Aber, was sehe ich — Berthold, Sie sind es?
Ihre Stimme versagte, es ward ihr grün und blau vor den Augen. Ehe sie
irgend etwas verfügen konnte, schwanden ihr die Sinne, und jetzt war auch
Beistand für sie erforderlich. Eine der Mägde lief treppauf und schaffte die
Ohnmächtige auf ihr Zimmer.
Ich habe es immer gesagt, brummte der alte Gärtner, die Racker werden noch
einmal Schaden anrichten. Ganze Tage lang bei der größten Hitze ohne Wasser,
und dabei immer geneckt und gezerrt, kein Mensch hielte das aus, ohne toll zu
werden.
Lore erblaßte.
Wo ist ein Messer? rief sie. Im nächsten Augenblicke hatte sie den rechten
Rockärmel des Besinnungslosen aufgeschnitten und streifte jetzt auch seinen blut¬
überströmten rechten Hemdärmel in die Höhe.
Ein Schauder schüttelte sie, aber sie überwand ihn und bedeutete dem ver¬
blüfft dastehenden Gorge, er möge herantreten und die Wunde aussaugen.
Das paßte dem Nichtsnutz jedoch keineswegs, und auch der alte Gärtner
hatte so viele Ausreden, daß die als vormalige Krankenpflegerin an alle mög¬
lichen Hilfsleistungen gewöhnte Lore sich endlich selbst dem unaufschiebbaren
Geschäfte unterzog.
Als dies Notwendigste geschehen war, eilte sie auf ihr Zimmer, holte ans
ihrer Hausapotheke Karbolsäure zum Auswaschen der Wunden und blieb, nach¬
dem auch das verrichtet war, »eben dem Kanapee des langsam zum Bewußt¬
sein Zurückkehrenden schweigend stehen, bis die inzwischen unter den Händen
des Stubenmädchens von ihrer Ohnmacht genehme Braut des Patienten sie ab¬
löste.
Hermione war leicht gewandet, aber nicht mehr im Nachtkleide, ihr halb
gelöstes Haar ringelte sich um Schulter und Nacken. Lassen Sie uns allein,
bat sie die Pflegerin. Und Lore zog sich zurück.
Hermione kniete neben dem regungslos Daliegenden. Sie hatte etwas wie
einen Weinkrampf gehabt. Noch jetzt fehlten ihr die Worte; es grauste sie,
nicht aus Kälte des Herzens, sondern aus unüberwindlicher Scheu vor Gebissenen;
Lore fortzuschicken, hatte ihr eine große Überwindung gekostet.
Wie ist dir? stotterte sie, ohne daß sie ihn anzusehen wagte. Die entsetz¬
lichen Untiere! Morgen lasse ich sie erschießen. Wie lange habe ich der Mama
schon prophezeit, es werde noch ein Unglück geben! Wie ist dir, Lieber?
Berthold blickte starren Auges vor sich hin.
Verzeih mir nur, daß ich so hasenherzig in Ohnmacht fiel, begann sie von
neuem, ich bin nicht schwach von Kräften, in der Pension hat sich alles vor
mir in Acht nehmen müssen. Aber wurde einer Kollegin nur ein Zahn aus¬
gezogen, da lag ich bei dem ersten Ruck sicher schon in Ohnmacht. Wie ist dir,
Lieber?
Ihr Mitleid besiegte doch ihre Scheu. Sie beugte sich über ihn und küßte
seine Stirn.
Küsse auch du mich, sagte sie; wie ist dir?
Besser, gab er zur Antwort.
Wirst du morgen noch nach einem Doktor schicken müssen? Ich meine nur,
weil er fragen wird: mit welchem Cerberus banden Sie denn an? Das könnte
schönes Gerede geben.
Ich werde die zottigen Wächter der Villa Mockritz nicht erwähnen. Er
erhob sich langsam von dem Kanapee.
Du giebst mir die Hand darauf?
Hier ist sie. Gute Nacht.
Schon gute Nacht? Wirst du den Heimweg schon jetzt wagen können?
Sie vermißte etwas in seinen Worten.
Der Mond ist aufgegangen. Befürchte nichts. Er machte sich aus ihrer
Umarmung los.
Du züruest mir?
Ich zürne dir nicht, ich bin etwas müde.
Doch! Du verzeihst mir nicht, daß ich durch mein dummes Briefeverbrennen
all dies Unheil heraufbeschwur.
Wie hätte das kommen sollen? Mich selbst trifft ja alle Schuld.
Berthold! Du liebst mich nicht mehr!
Ich verstehe nicht, was du redest.
So ging er. Erst spät kam sie heute zur Ruhe.
Der Arme! sagte sie. Es überlief sie doch eiskalt. Ich hätte ihn nicht
küssen sollen. Und diese Lore saugt ihm die Wunden aus! Und wäre es meine
Mutter gewesen, ich hätte es nicht vermocht! Diese Mädchen aus den niedern
Ständen haben Nerven wie Schiffstaue! Aber es war brav von ihr, magh
nun helfen oder nicht. Ich werde ihr morgen ein abgelegtes Kleid schenke»
oder was andres, denn sie nimmt ja keine Kleider von mir; mein tlsur as tus
liegt ja noch, wo ichs für sie hinlegte. Einerlei! Sie erwies mir wirklich
einen großen Dienst. Himmel, wenn wir bei Nacht und Nebel hätten zum
Doktor schicken müssen! Das Gerede morgen in der ganzen Nachbarschaft!
Wie lautet doch die Antwort des „Erfahrenen" in dem Goethischen „Ge¬
sellschaftlichen Fragespiel" über die Art, wie das zarte Geschlecht genommen
sein will?
Geh den Weibern zart entgegen,
Du gewinnst sie auf mein Wort,
Und wer rasch ist und verwegen,
Kommt vielleicht iwch besser fort.
Doch wem wenig dran gelegen
Schemel, ob er reizt und rührt,
Der beleidigt, der verführt.
Ohne es zu wollen, hatte Berthold durch sein kühl ablehnendes Verhalten
die letztere Wirkung auf Hermione hervorgebracht. Sie war bis dahin ihn, gut
gewesen, nicht mehr, nicht weniger. Jetzt erst begann sie wirklich mit dem Herzen
warm für ihn zu fühlen.
Die nächste Folge war, daß sie, in Sorge um ihn, den noch am Leben
befindlichen Leonberger nicht kurzweg erschießen, sondern Tag und Nacht sorg¬
fältig beobachten ließ. Sie hatte unter dem Eindruck der Katastrophe nur Mit¬
leid empfunden, hatte nicht zu denken vermocht, was weiter werden solle. Jetzt
sagte sie sich, sie werde die Scheu vor Berthold mit der Zeit überwinden, und
sie ersehnte eine solche Wendung mit weit mehr Innigkeit, als sie selbst bisher
sür möglich gehalten hatte.
Und so schloß sie denn ihren Brief an Iran von Mockritz nach ausführ-
licher Schilderung der leidigen Affäre mit den Worten: Mama, ich liebe ihn
jetzt wirklich, ich liebe ihn, glaube ich, von Herzen.
Sie hatte, um in der Villa täglich nachfragen zu lassen, immer Lore schicken
wolle», aber so ernst nahm sie plötzlich ihr Verhältnis zu Berthold, daß sie,
die nie früher von eifersüchtigen Regungen berührt worden war, doch nachträg-
lich Gegenordre gab und statt Lore den Gärtner hinüberschicktc. Jeden Tag
brachte er dem Kranken ein Bouquet „eigenhändig von Fräulein von Mockritz ge¬
pflückter Rosen" und kam dafür mit Nachrichten zurück, welche zwar täglich
beruhigender lauteten, ihr jedoch nur zu geringer Befriedigung gereichten.
Da Papa Hartig aber bis zum Eintreffen der Frau von Mockritz nicht
erlauben wollte, daß Frau Anna hinüberging, und da andrerseits Hermione die
Hartigsche Villa nicht besuchen durfte — Frau von Mockritz hatte „aus Eti¬
ketterücksichten" es streng verboten —, so beschwor Hermione endlich ihre
Mutter, heimzukommen, wobei ihr Brief wieder leidenschaftlich genug mit dem
Vorwürfe schloß: Du weißt wohl gar nicht mehr, Mama, wie sehr einem seh¬
nenden Mädchenherzen die Tage zu Jahren werden!
(Fortsetzung folgt.)
In Mailand hat im Dezember v. I.
Gaetano Negri ein Buch über Bismarck veröffentlicht, in welchem er das historische
Bild von Europa während der letzten zwanzig Jahre entwirft, und in welchem
die mächtige Gestalt des deutschen Kanzlers selbstverständlich eine hervorragende
Stelle einnimmt. Bismarck wird dort wie folgt zu charakterisiren versucht:
„Dieser Mann ist eine der interessanteste» und überraschendsten Erscheinungen,
die je die Weltbühne betreten haben. Denken wir uns einen Ostgothen, auf den
die ausgesuchtesten Verfeinerungen der modernen Gesittung gepfropft sind. Vou
der einen Seite betrachtet, kommt er uns wie ein Geist, der nur den Kultus der
Kraft kennt, gewaltthätig, rauh, unbarmherzig vor, von anderen Gesichtspunkte ge¬
sehen, offenbart er sich uns als begabt mit einer außerordentlichen Feinheit des
Geistes und zugänglich den Einflüssen der reinsten und erhabensten Empfindungen.
Die Gegensätze, die sich in ihm begegnen, sind sehr stark und auffällig, weil der
Reichtum seines Geistes wundervoll groß und seine Befähigung, den verschiedensten
Eingebungen zu entsprechen, einzig ist. Wer ihn als Staatsmann betrachtet und
sein Verfahren beurteilt, kann vielleicht glauben, er sei ein Mann aus einen, Stücke,
sein Denken gehe zwar in die Tiefe, aber nicht sehr in die Breite, sein Geist sei
ein Instrument, das wenig Saite» habe und wenig Töne gebe. Ein derartiges
Urteil würde ganz ungenau sein; denn die Fülle und Beweglichkeit seines Geistes
und die Behendigkeit und Empfänglichkeit seines Empfindens sind wunderbar.
Er ist in seinen intimsten und offenherzigsten Äußerungen ein Mensch des
Nordens. Wir begegnen in ihm dem poetischen Hauche der nördlichen Rassen,
dem Geiste Shakespeares, trüb und heiter, kräftig und anmutig, einer tiefen
Religiosität und Gewissenhaftigkeit, wie sie die lateinischen Völker nicht kennen.
Bismarck ist einer der mächtigsten Redner, welche jemals die parlamentarische
Tribüne bestiegen haben. . . Aber am anziehendsten und menschlich schönsten enthüllt
sich uns der Mann in dem kleinen Buche seiner vertrauten Briefe an Frau und
Schwester. . . Er nennt sich einen Christen und glaubt einer zu sein, und doch,
wenn es jemand giebt, der dies wenig ist, so ist es Bismarck. Seine Religion
ist nicht diejenige des milden Nazareners. es ist die Religion des Gottes der
Schlachten, die Religion Odins und Thors l!> Es ist nicht die Religion der Liebe
und Verzeihung, sondern die Religion der Stärke. Der Starke ist ganz wie in
den barbarischen Zeiten der Erwählte Gottes. Seine Aufgabe ist, dessen Willen
zu verwirkliche». Er rückt unerschrocken vor, verwüstet, tötet, zerstört ohne Zögern,
ohne Erbarmen, ohne Gewissensbisse. Je zahlreicher die Franzosen sein werden,
welche weinen, desto lebhafter wird sich die Sehnsucht nach Frieden unter allen
Bedingungen regen. Die Bibel sieht die Vernichtung der Franzosen voraus, wenn
sie sagt: Die Gottlosen sollen ausgerottet werden. Darum vorwärts, drauf auf
diese modernen Amalekiter! Vorwärts mit Feuer und Schwert! Der Starke ist
das Werkzeug der Gerechtigkeit und der Rache Gottes.
Bismarck hat keinerlei Respekt vor Formen und Hierarchien, die ihm im Wege
stehen. Gott im Bimmel, der Starke auf Erden, das sind die beiden Pole seines
Glaubens. Alles andre ist ein Werkzeug, das er je nach Gelegenheit gebraucht
oder beiseite legt, schont oder zerstört. Der Priester, welcher vor dem das Schwert
führenden Könige die Stirne beugt, ist sein Verbündeter, der Priester, welcher
Widerstand leistet, ist, möge er sich Kalchas oder Pio Nouv nennen, sein Feind.
'
Man bemerke jedoch — und hierin findet sich die Erklärung seines Ver¬
haltens —. daß er die moralische und religiöse Obmacht nicht im Namen und zur
Verteidigung der individuellen Gedankenfreiheit bekämpft, sondern im Namen einer
andern Macht, des Staates, und weil er will, daß alles sich unter das Gebot des
Staates beuge, weil er in der materiellen Kraft das Zeichen und die Quelle des
Rechtes erblickt (?). , , ^
Sein Egoismus — wenn ich mich so ausdrücken darf - - ist nicht persönlich,
sondern dhuastisch und national. Das Ziel, dem er zustrebt, ist die Macht Preußens
und des Hauses der Hohenzollern. Seine vollständige Hingabe an diesen Zweck
ist sein schönster Anspruch auf Ruhm, aber wir sehen nicht, daß die Menschheit
ihm deshalb Dank wissen könnte für das, was er geleistet hat. Wirklich nicht?
Er hat ihr durch die Schöpfung eines starken und geachteten Deutschlands die
Erhaltung des Friedens gesichert, und dafür könnte sie ihm doch wohl dankbar sein.)
Die Welt hat sich bis jetzt nicht überzeugt, daß die Politik Bismarcks und
jener Idee der Vorherrschaft Preußens und seiner Dynastie ein wahres und hohes
Ideal der Zivilisation verbände. Und das ist eben der Grund, weshalb er mir
in der Gewalt das ihm zur Erreichung seiner Absicht notwendige Werkzeug zu
finden vermochte.
Er hat dieses Werkzeug ohne irgendwelches Zögern und Bedenken und mit
der ganzen Überlegenheit angewendet, welche ihm die Schärfe und Sicherheit seines
politischen Urteils verleiht. Aber schon die Natur seines Grundgedankens, die mehr
dem Mittelalter als den modernen Zeiten angehört, und die Art und Weise, auf
welche er denselben verwirklichen konnte, haben seinem Werke einen Keim der
Schwäche gegeben, welche die Zukunft desselben unsicher macht, haben die moralische
Lage Europas gestört und werden vielleicht einmal Ursache werden, daß der Ruhm
des gewaltigen Ministers in Zukunft einen Teil des Glanzes verliert, von welchen:
seine Zeitgenossen, die Zeugen seiner Triumphe, sich blenden lassen konnten"
Dieses Urteil Negris über Bismarck ist in manchen Punkten geistreich und
zum Teil auch wohl begründet, aber nichts weniger als in allen Stücken zutreffend,
vielmehr in mehr als einer Hinsicht oberflächlich, in einigen Behauptungen schief
und in andern, z. B. in dem, wo das Christentum Bismarcks besprochen wird,
ganz unrichtig. Man vergleiche damit die Mitteilungen, welche das neue Buch vou
Moritz Busch enthält, das in diesen Tagen'") die Presse verlassen wird („Unser
Reichskanzler," 2 Bände, Leipzig, Grnnow), eine gründliche und aus deu besten
Quellen geschöpfte Darstellung der Hauptseiten von Bismarcks Charakter und der wich¬
tigsten Ziele, Arbeiten und Erfolge seiner Politik. Man wird darin einige Behauptungen
unsers Jtalieners vollkommen bestätigt finden, und eine reiche Auswahl von Bei¬
spielen wird das Urteil illustriren, andrerseits aber wird die Schrift auch zeigen, daß
Negri der hinreichenden Kenntnis seines Gegenstandes ermangelte und nicht Tief¬
blick genug besaß, um das Wesen des Reichskanzlers vollständig zu verstehen und
zu würdigen.
Die meisten Menschen haben wenigstens
je einen guten Freund. Ich habe auch einen, und zwar einen, mit welchem ich
mehr über Lessing gesprochen habe, als ihm — dem guten Freunde — angenehm
war. Wenn ich von Nathan dem Weisen mit ihm redete, so störte ihn das zu¬
weilen in seinem tiefen Nachdenken über irgend etwas andres. Der Gute hat sich
in malitiöser Weise an mir gerächt; er hat mir zu Weihnachten eine prachtvolle,
dickleibige Lessingausgabe geschickt mit dem verbindlichen Wunsche, mir sie wohl
bekommen zu lassen. Als das umfangreiche Werk seinen Einzug bei mir hielt, wurde
es von mir mit Freuden begrüßt; ich hatte keine Kassandra im Hause und kounte
daher nicht ahnen, daß ich eine Abart des trojanischen Pferdes in meine schuldlosen
Räume aufgenommen hatte. Die Aufklärung ließ aber nicht lange auf sich warten.
Am Weihnachtsabend bewunderte ich nur, wie die Trojaner an dein hölzernen Gaul,
die äußern Schönheiten, das gute Papier, den korrekten, saubern Druck. Am
folgenden Tage fiel es mir ein, in den Anmerkungen, die so tren und demütig
in breiten Haufen Seite für Seite unter dem Text hinliefen, über eine Stelle des
Nathan Aufschluß zu suchen. Ich fand sie uicht sogleich, zumal da ich durch andres
festgehalten wurde. Aus dem Bauche der dickleibigen Ausgabe stiegen zwar keine
geharnischten Männer, aber eine noch schlimmere Sippschaft, eben diese Anmerkungen
heraus, eine unabsehbare Reihe zum Teil recht sonderbarer Geschöpfe. Sie nahmen
alle den Mund sehr voll; die unangenehmsten waren die, welche mich auschnanzten:
„Vergleiche!" Ich lasse einige Textstellen samt dem, was der Herausgeber dazu
anzumerken für gut befunden, hier folgen.
Die Liebe — womit
Der Schöpfer Mann und Männin ausgestattet.
Anm. Anklang an biblischen Sprachgebrauch. Vgl. 1. Mas. 2, 23 f.
Ich nahm dein Herrn Erklärer zu Gefallen die Bibel zur Hand und verglich
1, Mas, 2. 23 f. Allda stand, was ich freilich schau wußte: „Man wird sie
Männin heißen, darum daß sie vom Mann genommen ist."
Den albern Mönch.
Anm. Vgl. zu der Form oben I, 2 die Bemerkung aber ledern Gurt.
I, 2 wurde gesucht und nach längerm Suchen gefunden, die Bemerkung
lautete: „Lebern Gurt eine Verkürzung wie den albern Mönch II, l." Das
hatte ich also wieder gelernt: I, 2 ledern Gurt, II, 1 albern Mönch - Ver¬
kürzungen! Groß war der Zuwachs an Wissen nicht.
Was irrte dich denn sonst?
Anm. Die ältere Sprachstufc unterschied das jetzt gewöhnlichere Jntrausitivum »ut
das Transitivum (stören, verwirren) durch besvuvre Formen.
Dn hätten wir eine Erklärung, die an UnVerständlichkeit nichts zu wünschen
übrig laßt. Aber wo bekommen wir die Erklärung der Erklärung her?
Ich war ans Libanon.
Anm. Über den Wegfall des Artikels vgl. oben zu I, 5.
Ich verglich oben und fand: „Auf Sinai würde ganz korrekt sein, wenn
Lessing unter Sinai die wüste Halbinsel verstanden hätte, was indes wenig wahr¬
scheinlich ist; er braucht vielmehr, dem heutigen Sprachgebrauch entgegen, den
Bergnamen ohne Artikel." Ganz richtig — er braucht den Bergnamen ohne
Artikel, hatte ich doch wahrhaftig mit dem Herrn Erklärer genau denselben Ge¬
danken — merkwürdig, sehr merkwürdig!
Was sonst, als was ich kaum zu nennen würd'ge?
An in. Ein von der Konstruktion des französischen clkiMvr abhängiger Gallizismus.
(Vgl. Brandstäter „Gallizismen." Leipzig 1874, S. 120.)
Schade! Jammerschade! Die Schränke habe ich voll Bücher stehen, aber Brand¬
stäters „Gallizismen" habe ich nicht, und was nützen mir nun Lessing und Kor^
Sorten ohne die Gallizismen? Ich will mir das Buch doch anschaffen, vielleicht
gelingt es diesem, mir alles andre zu verekeln, Lessing, Goethe, Schiller:c. und mich
dadurch auf den Weg zur Vollkommenheit zu führen, mich von allem unabhängig
M machen. Brandstäters Gallizismen von 1874, S. 120 — weiter nichts mehr.
Sitta (dem Al Hafi winkend)!
Bök! Hast! Bök!
Anm. Bök — hier Interjektion des Schweigens, nicht des mit leisem Laut Heran¬
lockens wie im „Jungen Gelehrten," Ausz. I, Unser. 8 zu Anfang.
Bravo! das ist doch einmal ein Wort! Wie klar, wie deutlich! Gar keine
überflüssige Gelehrsamkeit, einfach auf deu jungen Gelehrten verweisen, wo auch
jemand Bök ruft — keinerlei tiefsinnige Hindeutung darauf, daß die Interjektion
ohne jeden Vokal zur Welt gekommen, daß sie noch glückliche Schwestern hat, z. B.
„Hin," und noch unglückliche, die auch gesprochen, aber leider nicht geschrieben werden
können, weil bis jetzt kein Zeichen für diese Laute geschaffen worden. Hin, Ver¬
ehrter, die Paar Seiten hätten Sie zum Nathan noch hinzuschreiben können, sie
wären jedenfalls für das Verständnis des Dramas sehr zweckmäßig gewesen! Unter
uns gesagt: Was Sie über das Bök beigebracht, ist nicht mehr ganz neu; soviel ich
mich aus meinem und andrer Leute Leben erinnere, wird das „Bök" als Inter¬
jektion des Heranlockens anßer im „Jungen Gelehrten" auch anderweitig ziemlich
häufig gebraucht.
Al Hafi sieht sich den Stand des Schachspiels zwischen Saladin und Sittah
an und sagt zu Sittah:
Die Weißen waren Euer?
Ihr bietet Schach?
Anm> Al Hafi versinkt in die Betrachtung der Möglichkeiten, welche die abgebrochene
Partie zur Weitcrspicl läßt. Er erscheint hier als eine Kopie des jüdischen Rechners
Abram im Mendelssohnschcn Hause, auf welchen eine Anekdote von dem Schachspieler
Michel übertragen wird, der sich ähnlich in ein Spiel verlor. Vgl. noch unten II, 9,
Al-Hafis Erregtheit.
Diese orakelhafte Dunkelheit! Der Rechner Abraum und die Anekdote des
Schachspielers Michel, wie geheimnisvoll! Was ist mit den Herren? Wie viele
Müller, Meier, Schulze sind schon in die Betrachtung solcher Möglichkeiten ver¬
sunken und haben sich ähnlich in ein Spiel verloren — warum wird ihrer mit
keiner Silbe in dieser Anmerkung gedacht? Das ist ungerecht, denn das Verdienst
aller dieser Leute um Lessings Nathan ist gewiß ebenso groß wie das des Schach¬
spielers Michel. Die Anmerkung hat uoch einen Haken. Hier in der zweiten Szene
soll schon Al Hafis Erregtheit in der neunten Szene nachgesehen, es soll, statt wie
bisher rückwärts, nun vorwärts geblättert werden. Kindern pflegt man derartige
unzeitige Wißbegier zu verweisen. Eine dunkle Ahnung begann in mir aufzu¬
dämmern.
Noch bin ich auf dem Trocknen völlig nicht.
Anm. Das Trockne kaum, je nachdem man das Nasse als ein Notwendiges, Nütz¬
liches, oder als ein Nachteiliges, Unbequemes auffaßt, eine zwiefache Übertragung er¬
fahren. Im erster» Falle ist auf dem Trocknen soviel als in größter Verlegenheit,
Hilflosigkeit (wie das Schiff, das aus den Sand geraten ist); so hier. Im zweiten Falle
bedeutet „auf oder im Trocknen sein" geborgen, aus aller Verlegenheit sein, vgl. XII, M
Lachmann-Mentz. (Brief vom 27. Juli 1770: „auf dem Trocknen" schuldenfrei), vgl.
Schillers Räuber 1,2 (11,31 Goat. „ins Trockne kommen" in geordnete, sichere Zu-
stände kommen).
Diese lichtvolle Darlegung, welche endlich einmal feststellt, daß ein Häring
ganz anders über das Trockne denkt als ein Kamel, muß den dümmsten Nathcm-
leser befriedigen. Nun wären Schillers Räuber I, 2 noch zu vergleichen. Was
steht da? „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säculum. ... Feuchtohrige Buben
fischen Phrasen aus der Schlacht bei Cannä. . . . Pfui! Pfui über das schlappe
Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Helden des Altertums mit Koiu-
meutationen zu schinden!" Es steht noch mehr da, z. B vom Herkules; aber
vergleichen Sie gefälligst selbst Schillers Räuber I, 2.
Daß unter den Anmerkungen auch solche s. is, Mühlbach s„ historisch") nicht
fehlen, versteht sich von selbst.
Viel Zeit war über dem Vergleichen vergangen und der ganze Nathan ein¬
schließlich der Stelle, die ich hatte suchen wollen, beinahe in Vergessenheit gekommen.
Wirklich nur durch Zufall erinnerte ich mich, weshalb ich eigentlich das Buch in
die Hemd genommen hatte, und blätterte weiter. Nun trat mir zuerst eine schöne,
runde, zehnzeilige Anmerkung entgegen, ein wahres Muster von — doch ich will
nicht vorgreifen.
Nun freilich, dieses Abschach hab' ich nicht
Gesehn, das meine Königin zugleich
Mit niederwirft.
Anm. Die Zusammensetzungen mit „ub", welche bei Hauptwörtern selten (in Be¬
tracht kommen hier außer „Abschach" wohl nur „Abart, Abbild, Abdach, Abdrucken IM.
Abform, Abgeschmack, Abglanz, Abgott, Abgunst, Abkraft, Abort, Abraum, Abweg"
und andre erkennbar nicht von den? bereits zusammengesetzten Verbum abgeleitete
Bildungen), häufig bei Zeitwörter» sind, haben die Bedeutung räumlicher oder begriff¬
licher (Eigentümlichkeit, Wert u, s, w, berührender) Entfernung von Etwas, somit auch
des Abschliefzeus, der Auflösung nahezu in den Gegensatz, „Abschach" bedeutet daher
an und für sich nur den abschließenden Eudverlauf'des Spiels, dann erst bestimmter
(wie ein unerwarteter, gefährlicher Abweg) das Schnchlneten mit notwendigen Verlust
der feindlichen Königin,
Daß die Zusammensetzungen mit „ab" die Bedeutung der Auflösung nahezu
in den Gegensatz heben, ist ja an und für sich ganz hübsch, könnte man um der obigen
Ans- oder Jneinandersetzung nur einen Anhalt finden dafür, wie die Bedeutung
es anstellt, um sich „nahezu in den Gegensatz aufzulösen." Das Beachtenswerteste
der ganzen Anmerkung ist die geschmackvolle Fürsorge, welche den Leser aus der
Lektüre des Nathan heraus ans den „Abort" verweist. Was Lessing mit dem Ab¬
schach wollte, sagte er doch selbst in tadelloser Deutlichkeit. Also wozu der Lärm,
die Abkraft und der Abgeschmack!
Aber — da ist ja die gesuchte Stelle:
Wer giebt uns deun die glatten Steine
Beständig? die an nichts erinnern, nichts
Bezeichnen. Hab ich mit dem Iman denn
Gespiele?
Der Blick fliegt in fieberhafter Eile nach der Anmerkung, die über allen Jammer
hinweghelfen soll, und liest die inhaltschweren Worte: „Die ganze Stelle ist dunkel"
Gott der Gerechte! Die einzige Stelle auf den sechzehn Seiten, welche dunkel ist, ist
wirklich — dunkel! Böser Lessing! Die einzige Stelle unter den siebenunddreißig
mit Anmerkungen versehenen, die einer Erklärung bedurft hätte, hat keine finden
können. Die übrigen sechsunddreißig sind jedem Leser verständlich, daher auch dem
Erklärer, nur diese böse eine ....*)
Ganz ohne Trost entläßt uns jedoch der eifrige Kommentator nicht; er fährt
fort: ,,Man weiß nicht, wie die glatten (ungeformten) Steine zu dem Imam — die
Form der Originaldrnckc „Iman" mit u ist falsch (Aha, etwas erfahren wir
doch) —, dem Vorsteher des muhanunedauischcn Kultus oder der einzelnen religiös¬
juridischen Sekten, kommen. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch ist der Innen uicht
mehr als der Vorbeter um Freitag (Kli-iM), vgl, Lane, rio tlwusimä gu<Z vns
nixkt, Bd, I, (London 1L41) S. 530," Wie gelehrt das klingt: und welches
herrliche Licht dieser, diese oder dieses KI^M über Lessing, den Nathan und be¬
sonders den Erklärer verbreitet! lind nochmals sollte ich vergleichen S. 530, Bd. 1,
Ins tnnnsMci -mal cap . . . Hätte mich der auf den Rücken des Buches ausgedruckte
Name „Lessing" nicht abgehalten, es wäre direkt in den Ofen gewandert.
Nachdem der erste Ärger verraucht war, erinnerte ich mich wieder meines gute«
Freundes und erkannte nun auch seine boshafte Absicht — er hatte mir meinen
Lessing verleiden wollen. Den Zweck soll er nun bei mir nicht erreichen, aber
wer bürgt dafür, daß diese Ausgabe diesen Erfolg nicht bei vielen andern Lesern
habe? Sie, die mit einem Troß der überflüssigsten und ungeschicktesten Anmerkungen
den Geist des Dichters systematisch dolerite, auf deren breitem Felde unter dem
Texte der fadeste Quartanerkohl gebaut wird! Armer Lessing!
Oder haben wir es wirklich nur mit einem Schülerversuch zu thun? Hatte
der Papa, unter dessen Namen die Anmerkungen gehen, keine Zeit und ließ die
Arbeit von seinem Söhnchen besorgen? Möchte er doch dann künftighin dem
armen Kinde weniger schwere Aufgaben stellen, als es Lessing-Jnterpretatiunen
sind. Lessing ist doch wohl mich zu gut, als daß ein Kinderverstand mit seiner
Erklärung betraut werde.
Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn von Fr, Liszt, In das Deutsche über¬
tragen von L, Nnmcinu, Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1883, 396 S,
Franz Liszt war seinerzeit der erste Klaviervirtuose der Welt, Er hat das
Klnvierspiel zu einer bis dahin ungeahnten Bedeutung erhoben. Hierdurch hat
er sich einen dauernden Platz in der Kunstgeschichte erworben. Er hat dann der
Richtung von Richard Wagner sich angeschlossen, für diesen eine Schule zu bilden
gesucht und in dessen Sinne Kompositionen, „symphonische Dichtungen," Ora¬
torien ?c, geschaffen. Sein Verdienst ans diesem Gebiete ist minder unzweifel¬
hafter Nntnr. Wir erinnern uns noch einer Äußerung von Moritz Hauptmann,
welcher, als einstmals die von Liszt für die Stadt Gran komponirte Messe in
Leipzig aufgeführt worden war, von dort einem Freunde schrieb: Die Graner Messe
scheine ihm noch schlechter ausgefallen zu sein als die letzte Leipziger. Endlich
hat Liszt auch zum Schriftstellertum sich gewendet, und das vorliegende Werk bildet
bereits den sechsten Band der von der Verlagsbuchhandlung reich ausgestatteten
„Gesammelten Schriften" Liszts, Ein Interesse für das Buch knüpft sich natur¬
gemäß schon an den Namen des Verfassers. Das Buch schildert das Leben und
Treiben eines interessanten Volksstammes, welcher vorzugsweise in Liszts Heimats-
lande seine Stätte gefunden hat. Es wird auch eine Vergleichung desselben ge¬
zogen mit einem andern bei uns eingewandert»! Volksstamme, den Juden. Von
der Musik der Zigeuner, über welche mau gerade von Liszt interessante Aufschlüsse
erwartet, ist erst im letzten Drittel des Buches die Rede. Dabei ist uns wieder
lebhaft in den Sinn gekommen, wie wenig das Wort dazu geeignet ist, das innere
Wesen der Musik zu schildern. Hätte der Verfasser seinen Darlegungen nur einige
wringe auf Noten gesetzte zigeunerische Musikstücke zu Grunde gelegt, so würde er
dadurch, mindestens für Mnsikverständige, ein weit klareres Bild von den Eigen¬
tümlichkeiten der Zigeunermusik erweckt haben, als mit all seinen Worten. Aber
vielleicht ist es dem Verfasser garnicht um die Musikverständigen zu thun gewesen,
sondern mehr um solche Leute, die ein liebenswürdiges Geplauder an sich vorüber¬
gehen lassen wollen. Von diesem Standpunkte aus hat das Buch gewiß sein Ziel
erreicht.
n den Tagen vom 24, bis zum 29. Januar lieferten sich die
beiden großen Parteien im österreichischen Reichsrate eine Rede¬
schlacht, welche für el» Handbuch der politischen Redekunst aller¬
dings nicht viel Material geliefert hätte — denn mit Mustern,
um stundenlang einzig mit dem Zweck der Verdunkelung des Ver¬
handlungsgegenstandes zu sprechen, hat ja die parlamentarische und die foren¬
sische Beredsamkeit uns schon übergenug versorgt —, welche aber gerade darum
von hervorragender politischer Bedeutung ist. Dieses sorgfältige Umgehen des
Kernes der Sache, dieses Herbeiziehen von Streitpunkten, welche mit jener we¬
nigstens keine unmittelbare Berührung haben, illustrirt die gegenwärtigen innern
Zustände Österreichs derart, daß man sich über diese keiner Täuschung mehr
überlassen kann.
Der „Wurmbrandsche Antrag" nennt sich das Objekt des Streites, und
auch dieser Name dient mit zur Signatur. Graf Wurmbrand gehört zu jener
Gruppe steirischer Abgeordneten, welche stets einem bedeutenden Maße von
Selbstverwaltung das Wort geredet und sich den Ansprüchen der interessanten
Nationalitäten geneigt erwiesen haben; persönlich ist er der wohlwollendste, billig¬
denkendste Politiker, den man sich vorstelle» kann, er hält sich mehr als viel¬
leicht irgend einer seiner Kollegen frei von Fraktionsvornrteilen und Fraktivns-
lcidenschaften, Man darf es ihm daher aufs Wort glauben, daß er i» der
besten Absicht vor vier Jahren den Antrag formulirt hat, die Regierung zur
Vorlage eines Gesetzentwurfs nufzufvrdern, durch welchen die Sprachenfrage
unter Wahrung der deutschen Staatssprache geregelt würde. Auch hieß mau
anfangs gerade im Lager der Rechten den Antrag, als vom Gerechtigkeitsge¬
fühle diktirt, willkommen, während von der Linken Bedenken geäußert wurden-
Mittlerweile brachte das allmähliche Zurückweichen der Regierung vor dem An¬
dringen der Slaven eine immer größere Verwirrung zuwege. Der unglückliche
Ausdruck „landesüblich" in dem Sprachcncrlaß des Ministers Stremeyr gab der
Auslegungskunst und dem Gezänk freien Raum; vom Ministerium gingen Ver¬
ordnungen und Weisungen aus, welche von den Gerichten für ungesetzlich erklärt
wurden; die nationalen Landesbehörden nötigten der deutschen Bevölkerung
tschechische Schulen auf, vom Staate erhaltene deutsche Unterrichtsanstalten
wurden tschechisirt, dagegen dem Wirken des deutsche» Schulvereins alle erdenk¬
lichen Hindernisse in den Weg gelegt u. s. w. Diese Entwicklung der Dinge
bekehrte nach und nach die Gegner des Antrages, machte aber die anfänglichen
Freunde zu Gegnern. Ihr Appetit war bei dem Schmause gewachsen, und sie
fürchtete» nun, daß eine gesetzliche Ordnung für sie ein Hindernis werden könne,
während sie von dem Ministerium alles zu erreichen hofften, was sie jetzt for¬
dern und künftig fordern werden. Deshalb beschloß die Mehrheit der Kom¬
mission, über den Antrag zur Tagesordnung zu gehen; und trotzdem wurde
die Verhandlung im Plenum beharrlich hinausgeschoben, in der augenfälligen
Absicht, diese Verhandlung überhaupt zu hintertreiben. Und die Mehrheit ver¬
hehlte ihr Mißvergnügen nicht, als sich der Präsident des Abgeordnetenhauses
durch eine energische Mahnung endlich nötigen ließ, den Gegenstand auf die Tages-
ordnung nach den Weihnachtsferien zu setzen. Die Herren fühlten sich zum ersten¬
male nicht sicher. Die Mehrheit haben die Slaven ja nur, weil die deutsche»
Klerikalen zu ihnen halten; wie leicht konnte bei diesen die deutsche Gesinnung
in einer Frage zum Durchbruch kommen, welche mit Glauben und Kirche nichts
zu thun hat!
Daß diese Sorge nicht grundlos war, bewies das Auftreten des Salz¬
burger Abgeordneten Lienbacher. Um so rühriger bearbeitete man die übrigen
Bundesgenosse». Tag für Tag verkündete die von der Rechten oder der
Regierung abhängige Presse, der Wurmbrandsche Antrag sei erstens überflüssig
und zweitens höchst gefährlich; überflüssig, weil sich ja ohnehin alles in der
schönsten Ordnung befinde und der deutschen Sprache die Eigenschaft als
Staatssprache von niemand bestritten werde, gefährlich, weil die Zumutung,
die „freiwillige" Anerkennung in eine gesetzliche umzuwandeln, die andern
Nationalitäten verletzen müsse. Ob dieser Nonsens die gewünschte Wirkung
gethan habe, ist nicht zu ermitteln; unglaublicherweise wurde er auch mehrmals
in Parlamentsreden vorgebracht und wird nun Wohl weitere Anwendung finden.
Warum sollen nicht gewisse Gesellschaftsklassen sagen: Freiwillig würden wir die
Heiligkeit des Eigentums anerkennen, aber gesetzlicher Schutz desselben ist eine
Provokation für uns?
Diesem Vorspiel schloß sich die Hauptaktion nur zu würdig an. Ob mit
Absicht oder nicht, zum größten Teil wurde» Abgeordnete mit deutschen Namen
ins Feuer geschickt: der Slovencnführer Graf Hvhenwart, Chef des „Faschings-
Ministeriums" vom Jahre 1871, welcher für den unlängst in der Schweiz
verstorbenen Julius Freese ein eignes Organ zur Verunglimpfung des Deutsch¬
tums schuf und bei der tschechischen pstition ok riMs als Pate fungirte;
Hausner, dem seine Fraktionsgeuvssen wohl endlich den Makel der Geburt von
deutschen Eltern verzeihen werden, da er nicht polnischer reden könnte, wenn
seine Vorfahren schon dabeigewesen wären, als Mieeyslav sein Land von Otto
dem Großen zu Lehen nahm; Rieger, der leider zu rechter Zeit versäumt hat,
die beiden „e" aus seinem Namen zu streichen; Gregr, der wenigstens den
einen entbehrlichen Buchstaben getilgt hat. Der zuletztgenannte Führer der
Jungtschechen und Redakteur des Hauptorgans der Partei, Mroäiü I^dy, ist
nämlich ein geborner Oberösterreicher, heißt wahrscheinlich richtig Gröger, und
wütet gegen seine Muttersprache in der eigentlichen und der abgeleiteten Be¬
deutung dieses Wortes. Und da er in der .Hitze des Kampfes schon oft aus
der Schule geschwatzt und den Diplomaten der Rechten damit schweren Kummer
bereitet hat, hatten diese zuerst gar keine Lust, ihn zu Worte kommen zu lassen.
Wenn er von der Tribüne mit derselben Offenherzigkeit wie in der Presse die
Verjagung der Deutschen aus Böhmen proklamirt hätte, wären ja die ohnehin
schwierigen Bundesgenossen kaum bei der Fahne zu halten gewesen. Er hat
die Befürchtungen zerstreut, er hat mit vielem Talent und auffallender Mäßigung
gesprochen, aus jeden Fall von den letzten Zielen nicht mehr verraten als
Fürst Georg Czartvrhski, der sich nach und nach zu einem für seine Partei
gefährlichen Fanatiker entwickelt hat.
Willkommener wäre es allerdings gewesen, wenn nicht bloß Slaven mit
deutschen Namen, sondern Abgeordnete ans deutschen Bezirken noch anders als
durch ihre Abstimmung bekundet hätten, daß sie in dem „Steigen der slavischen
Flut" das Heil Österreichs erblicken und daher keinen Damm dagegen auf¬
führen lassen wollen. Soweit ging indessen die Freundschaft doch nicht. Die
Herren fürchteten sich vor ihren Wählern, sagen die Zeitungen. Kann sein,
vielleicht sind sie auch in Verlegenheit gewesen, was sie vorbringen sollten,
ohne sich selbst ins Gesicht zu schlagen. Die Argumente der Polen und
Tscheschen konnten sie sich unmöglich aneignen.
Einen weitern Leserkreis würde es nicht interessiren, alle einzelne Figuren
des von den Rednern der Majorität aufgeführten Eiertanzes zu verfolgen. Bis
auf den Fürsten Czartoryski vermieden sie alle, die Konsequenzen ihrer politischen
Haltung zu ziehen. Dieser eine erklärte sich offen für den nackten Föderalismus.
Er hat „für Staatsnationalität keinen Sinn"; das Reich hat nichts in die
Angelegenheiten der „Länder" hineinzureden; die ruthenischen Angelegenheiten
sollen in Lemberg. die böhmischen in Prag entschieden werden. Das hat nichts
überraschendes. Die Herren von der in Galizien herrschenden Nationalität haben
schon längst nicht mehr verhehlt, daß sie sich als „Delegation" des Landes
Galizien betrachten. Sie fingiren ein Verhältnis dieses Landes zu den übrigen,
etwa so wie das Ungarns zur deutschslavifcheu Reichshälfte, aber nicht ganz so;
denn Galizien, auf sich selbst angewiesen, könnte nicht bestehen. Und eben jener
phantasievolle fürstliche Redner hat früher entdeckt, daß das übrigens so un¬
bequeme Reich die Verpflichtung habe, Galizien zu erhalten, weil die dortigen
wirtschaftlichen Zustände nicht etwa durch die genugsam bekannte polnische Wirt¬
schaft, sondern durch deu österreichischen Staat verschuldet seien! Er und Gregr
wiesen direkt auf Ungarn hin und ließen durchblicken, daß die polnisch-tschechische
Allianz geschlossen sei, um gemeinschaftlich für ihre beiden Länder das zu er¬
ringen, was Ungarn erreicht hat. Die kleinen Verschiedenheiten in deu staats¬
rechtlichen Beziehungen einerseits Ungarns und andrerseits Böhmens und Ga-
liziens zu Krone und Reich geniren sie selbstverständlich nicht.
Die übrigen Redner möchten, wie gesagt, nicht so offen Farbe bekennen,
und schleppten deswegen alle möglichen Argumente herbei, welche nicht herge¬
hören, zum Teil sich gegenseitig aufheben. Bald wollten sie nicht wissen, was
Staatssprache bedeute — der alte Herr von Grvcholsti war naiv genug, zu be¬
kennen, er habe nach einer Erklärung dieses Wortes vergeblich in — Adelungs
Wörterbuch gesucht —, zogen wiederholt die Schweiz und Belgien zum Vergleich
heran, dachten aber wohlweislich nicht an Amerika, und fanden es ganz selbst¬
verständlich, daß in Galizien das Polnische „Landessprache" ist, obgleich der
größte Teil der ländlichen Bevölkerung ruthcnisch spricht. Bald bestritten sie
die Kompetenz des Rcichsrates in der Frage und bezeichneten in demselben Atem
ein Gesetz, wie das verlangte, als Verfassungsänderung; eine solche aber könne
nur vom Reichsrate beschlossen werden. Bald erhoben sie die alten Klagen
über Germanisation, Unterdrückung der slavischen Idiome, und verweigerten doch,
die Hand zur Herstellung eines festen Rechtsbodens zu bieten. Das historische
Recht und die Staatsräson bestanden abwechselnd zu Recht oder waren keiner
Berücksichtigung wert, je nachdem sie zu Gunsten der Slaven oder der Deut¬
schen zu sprechen schienen. Sie führten bittere Klage darüber, daß eine Woche
mit solchen zwecklosen Debatten verloren worden. Der Berichterstatter Sturm
entgegnete darauf, daß dem Hause augenblicklich kein wichtigerer Verhandlungs¬
gegenstand vorliege; er hätte aber der Mehrheit vor allem zu Gemüte führen
können, daß es ja in ihrer Macht gelegen hat, die Vorlage in wenige» Minuten
zu erledigen: sie brauchte nur der Vernunft und der Billigkeit Gehör zu geben.
Die Linke wurde natürlich mit Vorwürfen und Anklagen überschüttet. Sie hat
viel auf dem Kerbholz, aber wenn sie in dieser Sache ein Verschulden trifft, so
ist es, daß sie die Zeit ihrer Macht nicht verständig ausgenutzt, uicht eingesehen
hat, daß ihr doktrinärer Liberalismus die zentrifugalen Elemente großgezogen
hat. Wer ihr jetzt vorwirft, sie Hetze die Bevölkerung der Alpenländer und
Deutschböhmens, der kennt die wirklichen Verhältnisse nicht oder will sie nicht
kennen. Deutsch fühlen von jeher die Kärntner, Steirer, Oberösterreicher, ob ste
übrigens zur liberale» oder zur klerikalen Partei halten mögen, und der Ge-
danke einer administrativen Zweiteilung Böhmens ist dortzulande schon seit zehn
Jahren populär gewesen, die Abgeordneten haben diesem wie dem der Ab-
stinenzpvlitik bisher wicdcrstcmden.
Besondre Kennzeichnung verdient die Art, wie die Redner der Majorität
sich mit der Frage der Rückwirkung der Sprachwirren auf das Heer abfand.
Daß die Armeesprache deutsch ist — unbeschadet des Verkehrs der untern Vor¬
gesetzten mit der Mannschaft —, konnten sie nicht leugnen, und ebensowenig,
daß die Nationalisirung des Schulwesens bald eine» Mangel an deutschsprechenden
Unteroffizieren zur Folge haben muß; so thaten sie denn, als ob das Auf¬
werfen dieser Frage eine Einmischung in die innern Angelegenheiten der Armee,
ein Eingriff in die Prärogative des obersten Kriegsherrn sei. Wie hinfällig
muß es um eine Sache stehen, die mit solchen Kunststücken verteidigt wird!
In der That entsinnen wir uns keiner bedeutenderen Debatte im österreichischen
Parlamente, die von der Rechten auf einem so niedrigen Niveau gehalten
worden wäre.
Die Redner der Minorität fehlten zum Teil darin, daß sie sich durch die
Gegner von dem eigentlichen Felde weglocken ließen. Das Ereignis der ganze»
Verhandlung war eine Rede des Hofrath Licnbacher. Alles vereinigte sich, um
sein Eintreten für die deutsche Sache im höchsten Grade wertvoll zu machen.
Eine anerkannte Autorität in juristischen und politischen Fragen, Mitglied des
obersten Gerichtshofes, durch und durch konservativ, bisher Verbündeter der
Majorität, erklärte er sich, ohne von seinen Überzeugungen das mindeste zu
opfern, mit einer Entschiedenheit gegen den Majoritätsantrag, welche umso ein¬
schneidender wirkte, als er sich streng an die Sache hielt und sie mit voller
Ruhe erörterte. Die Gegner im Hanse wußten auch soviel wie nichts auf seine
Vorhaltungen zu erwiedern, und die Parteipresse glaubt genug gethan zu haben.
Wenn sie ihn einen unverbesserlichen Zentralisier, heißt. Sichtlich unangenehm
war es auch, daß ein Rnmäne aus der Bukowina, Professor Tomaszuk, vom
österreichischen und vom Standpunkte seiner Nationalität aus mit soviel Wärme
die Staatssprache verteidigte, welche in seiner Heimat gegen die Polonisirung
ichützt. Glänzende Reden hielten noch Pierer und Sturm.
Zum Schlusse wurden alle Anträge abgelehnt, der Wurmbrandsche, aber
auch die einfache und die verschiednen motivirten Tagesordnungen. Die Rechte
ist mit diesem Ergebnisse sehr unzufrieden; sie hat mit aller Anstrengung kein
Votum gegen die Staatssprache zuwege bringen können, sie sieht die Bundes¬
genossenschaft gelockert, da ein Teil der Klerikalen mit der Linken stimmte, ein
andrer sich wenigstens der Abstimmung enthielt; sie fürchtet über kurz oder lang
die Mehrheit zu verlieren. Aus denselben Gründen ist die Linke befriedigt.
Dergleichen Betrachtungen und Berechnungen werden meistens nur vom parla¬
mentarischen Gesichtspunkt aus angestellt. Darüber hinaus ist es von unschätz¬
barer Bedeutung, daß aus den noch so gewundenen und umwundenen Reden
der Polen und Tschechen doch eines deutlich hervortritt: sie hassen das Deutsche,
weil sie in demselben eine der stärksten Klammern, welche das österreichische
Staatsgebäude zusammenhalten, erkennen. Rieger nannte die Kaiserin Maria
Theresia eine achtungswerte Dame: das Wort Kaiserin wollte nicht über seine
Lippen. Das ist es! Der Kaiser von Österreich soll sich wieder in den König
von Ungarn und Böhmen (wozu vorläufig noch Galizien kommen würde) ver¬
wandeln und in einem Kriegsfalle von den getreuen Stände» der verschiednen
Länder Hilfe erbitten.
as Reskript des Reichskanzlers an die Oberpräsidenten vom 19.
März vorigen Jahres betreffs der Feuerversicherungsgesellschaften
hat die Kreise derselben in eine hochgradige Aufregung versetzt,
welche lebhaft an die der Drohnen im Bienenstock kurz vor dem
Tage der ihnen bevorstehenden Schlacht erinnert. Aber auch im
Volke ist das Bewußtsein der eminenten Bedeutung des Versicherungswesens
durch das Reskript geweckt worden, es hat den Sinn des Volkes auf Änderung
und Besserung der in diesem Geschäfte herrschenden Zustände hingelenkt.
Fast alle Gesellschaften haben teils einzeln für sich, teils im Verbände mit
Kolleginnen Repliken auf das Reskript erlassen und versucht, die ihnen darin
gemachten Vorwürfe der zu hohen Prämien und uicht koulanter Schadenregu-
liruug und des aus beiden Ursachen entspringenden hohen Gewinnes zu wider¬
legen. Mit wenig Glück, wie uns scheint. Der vom Reichskanzler be¬
tonte hohe Gewinn soll nach diesen Repliken ein schwerer Irrtum sein, und um
den geringen Nutzen zu beweisen, mit dem die Gesellschaften angeblich arbeiten,
suchen die Repliken die unlohnende» Resultate und die Verluste der kleinen Ge¬
sellschaften, anch die Kapitalverluste der bankerotten oder in Liquidation ge¬
gangenen Kompagnien mit den Gewinnen der großen Anstalten in einen Topf
zu werfen, um so den möglichst kleinen Durchschnitt zu erhalten. Ferner wird
mit ängstlicher Genauigkeit der Überschuß der Prämieneinnahmen und der Zinsen
der Reservefonds auseinander geklaubt, um die niedrigen Prämien und das un-
lohnende Geschäft aä youlos zu demonstriren. Letzteres ist ihnen nicht gelungen,
beide Methoden der Beweisführung sind falsch. Durch unrichtige Spekulationen
kann der mit dem lukrativsten Handelsartikel arbeitende Kcmfman» zu Grunde
gerichtet werden, während seine Konkurrenten mit derselben Ware Reich¬
tümer erwerben. Was würden wohl die letztern zu dem Ansinnen sagen, aus
ihrem Verdienste den Verlust des ersteren zu decken? Eine Handelsbilanz wird
auch nicht nach dem Überschuß der baaren Einnahmen aufgestellt, sondern nach
der Verzinsung und Vermehrung des im Geschäfte steckenden Betriebskapitals,
Die vierzehn vereinigten Feuerversichernngsaktiengesellschaften geben in ihrer
Replik eine Zusammenstellung der Resultate sämtlicher deutschen Feuerversichc-
rungsaktiengesellschaften für die Jahre 1879—1880—1881. aus welcher — ohne
Berücksichtigung des in dieser Aufstellung angeführten Kapitalverlusts der „Ber¬
lin-Kölnischen" — das hübsche Resultat hervorgeht, daß sie mit einer Baar-
einzahlung von zusammen 38745219 Mark einen Durchschnittsverdienst von
7004533 Mark oder 18 Prozent des Anlagekapitals erzielten.
Der Verdienst der älteren Gesellschaften in den beiden letzten Jahren, für
welche die Rechnungsabschlusse uns vorliegen, stellt den Aktionären folgende
Dividenden zur Verteilung (die vordere Zahl bedeutet das Jahr der Gründung):
Diese bis auf die kleinen Resultate zweier Gesellschaften sehr stattlichen
Zahlen sprechen für sich selber. Die schwache Rolle, die wir in diesem Reigen
die sonst allgewaltige Magdeburgerin spielen sehen, geht nach ihrem eignen Ge¬
ständnis aus den schlechten Erfolgen des außerdeutschen Geschäfts hervor. Auch die
Nationalvcrsicherungsgesellschaft in Stettin sagt trotz ihrer 12 und 18 Prozent
Dividende in ihrer Replik vom 10. Mai an den Handelsminister, daß ihre hoch
erscheinenden Prämien nur durch die Verluste des ausländische», namentlich
des transatlantischen Geschäfts, zu erklären seien, die „Union" in Berlin giebt
ihre drei letzten verlustbringenden Jahre ebenfalls England Schuld. Jedenfalls
wird es der deutsche Michel seinen Versicherern wenig Dank wissen, daß für sein
schönes in zu hohen Prämien weggeworfenes Geld John Bull und Bruder
Jonathan ruhig schlafen könne».
Wenn in den Repliken die Verluste einzelner Gesellschaften als Warnung
vor allen etwaigen VerstaatlichungSgedankcn angeführt werden, so wissen wir,
daß diese Verluste — mit Ausnahme der kosmopolitischen Magdeburgerin, welche
in der Sucht, an Ausbreitung des Geschäfts die größten englischen Gesellschaften
zu übertreffen, lebhaft an den Wettkampf des Frosches mit dem Stier er¬
innert - nur die jüngeren Gesellschaften betroffen haben. Diese müssen bei der
strammen Konkurrenz der fest im Sattel sitzenden ältern Schwestern ihr Ver¬
sicherungsgebiet auf minder ausgiebigen Feldern suchen. In dem Streben nach
einer möglichst hohen Versicherungssumme — um durch ein relativ großes
Geschäft ihre Tüchtigkeit zu beweisen — sind sie in der Annahme von Risiken
und in der Normirung der Prämien weniger heilet, und doch kosten ihnen diese
gefährlichen Risiken, für welche sie in minder gefährlichen guten Objekten kein
Äquivalent haben, bedeutende Acquisitionskostcn; auch verlangt die Organisation bei
dem thatsächlichen Mangel an guten, leistungsfähigen Agenten stets neue Opfer.
Von 28 deutschen Feuerversicherungs-Aktiengesellschaften arbeiteten ältere
dings 1880 elf, im Jahre 1881 fünfzehn mit Verlust. Muß aber da nicht
die Erwägung Platz greifen, ob bei dauernden Verlusten nicht die Lebens¬
unfähigkeit dieser nicht prosperirenden Gesellschaften bewiesen wird, und ob das
Interesse des verhindernden Publikums durch Verheimlichung dieser Thatsache
bewahrt bleibt?
Die Resultate der prosperirenden Gesellschaften, sowie die der öffentlichen
Sozietäten, welche wesentlich niedrigere Prämien ausschreiben, beweisen, daß das
Versicheruugsgeschäft dem Publikum zu teuer zu stehen kommt. Der Einwand,
daß die Sozietäten das ungefährlichere Geschäft betreiben und deswegen mit
billigern Prämien arbeiten können, ist nicht stichhaltig. Wenn sie auch bis jetzt
die hoch tarifirten Fabriken und Warenlager der Handelsplätze nicht in ihren
Geschäftskreis schließen, so entgeht ihnen dafür das verhältnismäßig sichere
Mobiliarversicherungsgeschäft der mit Wasserleitungen und gut organisirten
Berufsfeuerwehren versehenen großen Städte. Andrerseits sind sie gezwungen,
alle an sie herantretenden Risiken unter der weichen Dachung des platten Landes
und der kleinen Städte in Deckung zu nehmen.
Mit welcher verhältnismüßig geringen Prämie sogar als feuergefähr¬
lich bekannte Risiken bei sparsamer Verwaltung den Zweck der Versicherung
erreichen, beweist der letzte Abschluß des Vockwindmühlen-Versicherungs¬
vereins zu Neumarkt sür die Regierungsbezirke Breslau, Liegnitz, Oppeln
und Posen. Windmühlen werden von den Aktiengesellschaften stets ungern und
auch nur als Anhang zu einer größern Versicherung andrer, minder ge¬
fährlicher Objekte angenommen und bedingen allein für die Entschädigung
des durch Feuer entstehenden Schadens eine Prämie von 10 bis 8 Promille mit
einem Viertel Selbstversicherung, d, h, die Gesellschaft nimmt nur drei Viertel
von dem Werte des Objekts zur Versicherung an und überläßt dem Versicherten
gleichsam als Präventivmaßregel gegen Unvorsichtigkeit, Bosheit oder Fahrlässig¬
keit die Tragung des vierten Viertels auf eigne Gefahr. Der genannte Verein,
welcher seit 1863 besteht, seine Kinderkrankheiten also schon überstanden hat,
versichert seinen Mitgliedern die Windmühlen — jedes andre Objekt hat er
statutengemäß aus seinem Geschäfte ausgeschlossen — gegen Feuerschaden, sowie
gegen durch Umsturz, durch Sturm oder durch nicht zündenden Blitz entstan¬
denen Schaden. Als Selbstversicherung fordert er 600 Mark für die Mühle,
einen Betrag, der durchschnittlich etwa einem Achtel des Wertes entspricht. Der
Verein arbeitet also mit einem bedeutend erweiterten Gefahrenkreis und erhob
trotzdem nur 3^ Promille Prämie. Er schließt seinen 21. Geschäftsbericht mit
einem Reservefonds von 44076 Mark. Allerdings betragen sämtliche Verwal¬
tungskosten des letzten Geschäftsjahres nnr 3007 Mark 84 Pfennige.
Wenn die Magdeburger Fcnerversicheruugsgesellschaft in der Einleitung
ihrer aus Anlaß der Hhgieineausstellung herausgegebenen Denkschrift behauptet,
daß jede Versicherung, in welcher Form sie auch auftrete, eine Schutzgcnossenschaft
sei zu dem Zwecke, von dem Beschädigte» den wirtschaftlichen Untergang oder
doch tief einschneidende Störungen abzuwenden, so mag sie diesen ihren Aus-
spruch bei den Aktionären vertreten; uns erinnert dieses Deckmäntelchen der
Humanität an die Frömmigkeit gewisser alten Damen, welche durch Beten
ihre Jugendsünden austilgen wollen. Wir bezweifeln, daß diese humane Absicht
bei ihrer Gründung obwaltete und sie später veranlaßte, die Segnungen dieser
Menschenliebe zu Amerikanern und Australiern, nach China, Japan und zu den
Hindus zu tragen, und behaupten, daß der hohe Dividendengenuß von 40 bis
60 Prozent, der unter der Knoblochschen Ägide thatsächlich gewährt wurde, den
alleinigen Antrieb für ihre Operationen abgab.
Die Aktienversicherungsgesellschaften bleiben immer ein spekulatives Unter¬
nehmen zum Besten der Aktionäre, ihrer Direktoren und Verwaltuugsräte.
Auch die meisten Privat-Gegenscitigkeitsgesellschaften sind nicht frei von dem
spekulirenden Motiv, zu welchem sie durch das Interesse ihrer auf Tantiemen
angewiesenen Leiter gedrängt werden. So manches Mitglied einer Gegenseitig¬
keitsgesellschaft hat diese Erfahrung namentlich dann gemacht, wenn es aus einem
zahlenden ein empfangendes Mitglied wurde. Er steht in diesem Falle der
Gesellschaft als Fremder gegenüber, gegen den sie sich bei allen Verhandlungen
der Künste und Kniffe geschäftlicher Überlegenheit bedient, ohne zu bedenken, daß
auch er ein Glied der Gesellschaft ist, von dessen Wohlergehen das Gedeihen des
Ganzen abhängt. Durch den in jüngster Zeit — nach dem bekannten Erlasse
des Reichskanzlers — erfolgten Beitritt der Gothaer zu dem Verband der (14)
Feuerversicherungs-Aktiengesellschaften ist die Solidarität der Interessen der
Privat-Gegenseitigkeitsgesellschaften mit denen der Aktiengesellschaften, soweit sie
sie dem Publikum und dem Staat als Oberanfsichtsbehördc gegenüber verfolgen,
bewiesen. Im Lager der Verbündeten herrscht mich großer Jubel über den
Beitritt der stolzen und vornehmen Gvthcmerin,
Als Spekulationsgeschäfte stehen beide Kategorien von Versicherungsgesell¬
schaften im Gegensatze zu der dritten, den öffentlichen Sozietäten, Diese haben
das Prinzip, durch Beiträge, die von ihren Mitgliedern bis zur Höhe des
Bedarfs herbeigeschafft werden, die in ihrem Kreise entstandenen Brandschäden
zu vergüten, und vertreten damit das System der reinen Gegenseitigkeit. Sie
werden vom Staate verwaltet, und ihre Verfassungen sowie ihre geschäftliche»
Grundsätze beruhen auf staatlichen Verordnungen. Die früher zu ihren Gunsten
erlassenen Privilegien sind größtenteils aufgehoben. Sie sind stets nur für eine
Provinz, einen Regierungsbezirk oder eine Landschaft konzessionirt, eine Be¬
schränkung ihrer Gcschüftsthätigkcit, in welcher der Grund liegt, daß sie den
thätigen, hierin keiner Beschränkung unterworfenen Privat- oder Aktiengesell¬
schaften gegenüber nicht reussiren. Sie leiden an einer schlechten Verteilung
der Gefahr. Eine Verschmelzung aller dieser Sozietäten zu einer einzigen
großen Landesfeuerversichcrungs-Anstalt könnte diesem Übel abhelfen.
Die Magdeburger Feuerversicherungsgefellschaft sagt in ihrer schon oben
zitirten Denkschrift über „ihre Bestrebungen und Erfolge," daß es sich für den
Verhinderer unausgesetzt darum handle, zu sinnen und zu trachten, daß und wie
das Risiko weiter vermindert werde. Soweit dieses Ziel durch „fleißige, ratio¬
nelle und vorsichtige Geschüftsführnng. durch Maßregeln zur Verhütung, Be¬
grenzung und Bekämpfung der Gefahren, um diese selbst auf das geringste Maß
zurückzuführen," herbeigeführt weiden kann, muß dieses Bestreben den Beifall
aller vorurteilsfreien Leser finden, ein andres ist es schon mit den weiter an¬
geführten Mitteln der „geschickten Verteilung der Gefahren" und „des Studiums
der Gefahrsmvmente." Der Fall tritt häufig ein, daß bei einer Praxis, die
auf diesen Mitteln beruht, ein Versicherungsuchender trotz größter Mühe die
gewünschte Versicherung entweder garnicht oder doch nur unter den größten
Opfern und rigoroser einschränkenden Bedingungen erreichen kann, weil ent¬
weder alle Gesellschaften das für den Versicheruugsort bestimmte Maximum
bereits erreicht oder diesen Platz überhaupt der leichten Bauart seiner Gebäude
oder der subjektiven Eigenschaften seiner Einwohner wegen aus ihrem Geschäfts¬
gebiete ausgeschlossen haben. Sie können auch Veranlassung haben, den Antrag¬
steller selbst zu meiden, weil er das Unglück gehabt hat, bereits von einem
Brandschäden getroffen zu werden, oder die Versicherung abzulehnen, weil das
Objekt uicht zu deu „wünschenswerten Risiken" gehört. Gehört dasselbe zu
denjenigen Ausnahmen, zu deren Versicherung auch die öffentliche Sozietät
nicht verpflichtet ist, so muß der Verstchernngsuchende, wenn er nicht un¬
verhindert und damit der Chance des größten Verlustes unterworfen bleiben will,
sich einer Privatversicherungsgesellschaft mit gebundenen Händen überliefern,
Welche die Police so verklausulirt, daß er im Schadenfalle rechtlich nichts zu
verlangen hat, sondern ganz von der „Koulanz" der Gesellschaft abhängig ist.
Diejenigen, welche schon das Unglück eines Brandes erlitten haben, dessen Ent¬
stehungsursache entweder unaufgeklärt geblieben oder in der Böswilligkeit von
Gesinde und Nachbarn oder in der Fahrlässigkeit dieser oder der eignen Familien¬
angehörigen nachgewiesen worden ist, ferner die Bewohner unsrer armen, leicht
gebauten Gebirgsstädte und die unsrer östlichen Grenzdistrikte, aber auch die
Besitzer chemischer Fabriken und Warenlager, von Mahl-, Öl- und Schneide¬
mühle», Tuchfabriken und Spinnereien, Färber, Lackirer, Tischler und Möbelfabri¬
kanten und viele andre werden die Wahrheit des hier Gesagten bestätigen. Es ist
jedoch in dergleichen Risiken ein bedeutender Teil des Volksvermögens angelegt,
und zehntausende von Arbeitern und Arbeitgebern gründen auf die Sicherstellung
und Unterhaltung desselben ihre Existenz. Auch nicht der kleinste Teil dieses
Vermögens darf in einem geordneten Staate dem blinden Zufall oder der
Willkür überlassen bleiben. Zu zwingen ist niemand, also auch keine Versiche¬
rungsgesellschaft, zur Annahme eines ihm nicht gutdünkendcn Geschäfts. Durch¬
aus notwendig ist daher die Einrichtung einer großen LandeSfenerversicherung,
welche ohne Ausnahme alle an sie herantretenden Objekte nach einer vorurteils¬
freien, sachgemäßen Tarifirung der Gefahrenklassen annimmt. In der staat¬
lichen Leitung liegt die Gewähr für die Geschäftsführung «ins ira se swäio
dem Publikum gegenüber. In der Ausdehnung ihres geschäftlichen Gebietes, in
welchem alle Objekte der industriellen und landwirtschaftlichen Bezirke mit denen
der großen Städte vereint sind, hat sie die vollkommenste Gefahrenverteilung
und Ausgleichung des eingegangenen Risikos. Infolge dessen bietet sie allen
ihren Versicherten die Garantie, gegen eine billige Prämie, befreit von allen sie
rechtlos machenden Klauseln und Zusätzen, ihren Schaden vollständig ersetzt zu be¬
kommen, ohne Rücksichten auf die Interessen der Aktionäre und die Tantiemen.
Den Vorwurf, dnrch Anwendung ungerechtfertigter Mittel bei der Re-
gulirung von Brandschäden wesentlich die Erzielung eines hohen Gewinnes
zu beabsichtigen, wird von allen Gesellschaften mit Entrüstung abgewiesen. Sie
verlangen für diese Behauptung positive Beweise und erklären sich bereit, zur
Entkräftigung dieses Verdachts alle ihre Schadenregulirnngsakten zur Durch-
sicht vorzulegen. Die vierzehn vereinigten Gesellschaften haben deren jährlich
etwa 30000 Nummern, die Magdeburger hatte in den letzten zehn Jahren
23 651 Brände. Mit Erfüllung dieses, freilich schwer durchführbaren Wunsches
dürfte jedoch den Gesellschaften kein Gefallen erwiesen werden, denn in jenen
Akten findet sich gar mancher Fall vor, der, analog den weiter unten angeführtem,
zum Besten der Gesellschaft lieber verschwiegen bleibt. In keinem Falle bewährt
sich die Wahrheit des Sprichworts vox poxuli vox asi so, wie in der Meinung
des Publikums über die Art und Weise der ihm eventuell bevorstehenden Schaden-
regnlirnng. Nicht nur der weniger einsichtsvolle Teil des Publikums ist dnrch
das Studium der Präklusivnsklauseln und durch die praktische Erfahrung ihrer
wirklichen Anwendung so pessimistischer Anschauung geworden, daß er sich durch
sie von der Versicherung überhaupt ganz abhalten läßt. Zum Beweise der rechts¬
widrig verzögerten, verkürzten oder ganz verweigerten Entschädigungen berufen
wir uns für jetzt auf die beiden vor dem Reichsgericht ausgetragenen Prozesse
gegen eine Berliner Gesellschaft, wie sie vorm Jahre in Nummer 277 der
Norddeutschen Allgemeinen Zeitung dem Publikum mitgeteilt worden sind, und
fügen diesen beiden Fällen folgende, aus Schadenregulirungsakten einer andern
Gesellschaft entnommene Korrespondenz bei. Der darin seine Ratschläge der
Gesellschaft unterbreitende Regulirungsbeamte fungirt bei ihr bereits zehn Jahre
als solcher, er ist demnach mit ihrem Intentionen gemein vertraut.
Das einemal schreibt er, nachdem er den Beschädigtem als unbescholtenen,
sich des besten Leumunds erfreuenden Mann geschildert hat, auf dem kein Ver¬
dacht der Brandstiftung ruhen könne:
Die Liquidation des Beschädigtem beträgt 2375 Mark. Leider ist ihm nicht
nachzuweisen, daß er unterlassen hätte, nach Kräften zu retten. Ich schätzte den
Schaden, um einen billigen Vergleich herbeizuführen, auf 1250 Mark, bis zu
welchem Betrage ich auch meine Offerte ausdehnte. Haben Sie die Güte, zu
prüfen, ob in erster Linie die Präklusion -in Paragraph 10 der Bersichcrungsbc-
dingnngen durchschlagend ist, denn der Beschädigte hat seine versicherten Sachen
seiner Fran verkauft. Im andern Falle müßte ich mit ihm in weitere Verhand¬
lung treten, um den Schaden nach Ihrer Meinung abzumachen. Nachdem die
Leute gesehen, daß ich mit der Abreise Ernst gemacht, werden sie entschieden jetzt
bei Ihnen petitioniren, denn dazu drängt sie schon die Not, in die sie durch den
Brand ohne Entschädigung vollends geraten sind.
Ohne nur ein Wort der Rüge für dos Ansinnen zu habe», sich aus der Not
des Mannes einen Vorteil zu schaffen, ermächtigte die Gesellschaft ihre» Be¬
amten zur weitern Verhandlung mit dem Beschädigtem, worauf der Beamte fol¬
genden Brief an denselben richtet:
... Die für das Mobiliar, die Kleider, Wäsche, Betten u. s. w. angegebenen
Preise sind mit Rücksicht auf deren Qualität viel zu hoch angegeben. Wenn ich bedenke,
daß die in demselben Grundstücke Abgebrannten über die Hälfte ihres Mobiliars
gerettet haben, so komme ich zu dem natürlichen Schlich, daß Sie sich das Retten,
zu dem sie nach § 7 der Versicherungsbedingungen verpflichtet waren, nicht an-
gelegen sein ließen. Schließlich haben Sie unterlassen, der Polizeibehörde ein Ver¬
zeichnis der angeblich gestohlenen Gegenstände (§ 8 der Versicheruugsbedingungen)
einzureichen und auf Verfolgung des Diebstahls anzutragen. Nach allen diesen
Vorgängen würde Ihr Anspruch an die Gesellschaft ans dem !z 15 Abschnitt IV
der Policebcdingungen schon abzuweisen sein. Es hat sich aber noch herausgestellt,
daß Ihre Versicherung zur Zeit des Brandes überhaupt ruhte. Bei der Ver¬
sicherungsnahme gaben Sie an, daß Sie Eigentümer der versicherten Gegenstände
wären, das ist auch der Fall gewesen, Sie haben die Sachen dann jedoch an ihre
Ehefrau abgetreten. Letztere ist dadurch Eigentümerin derselben geworden und mit
diesem Augenblick erlosch die Entschädigungsverpflichtung der Gesellschaft Ihnen
gegenüber Es ist sonach ganz zweifellos, daß Sie rechtlich an die Gesellschaft
einen Anspruch nicht erheben können, dennoch erklärte ich mich bereit, der Direktion
zu empfehlen, Ihnen eine Entschädigung bis 1250 Mark zu gewähren, da ich Ihren
Schaden nach meiner Kalknlativn so hoch veranschlagte. Und daß danach von einer
Verpflichtung der Gesellschaft keine Rede sein kann, sondern nur im Wege der
Liberalität in Form eines Geschenks Ihnen eine Zuwendung gemacht werden kann,
müssen Sie wohl erklärlich finden.
Wenn ich auch nicht geneigt war, Ihnen bald die Offerte in dieser Höhe zu
machen, so nehme ich doch Rücksicht auf Ihre keineswegs zu bereitende Situation
und wiederhole, ohne Verzug Ihnen die 1250 Mark bei der Direktion auszuwirken,
wenn Sie sich damit einverstanden erklären. Die Zahlung kann dann in wenigen
Tagen erfolgen. Im andern Falle sieht die Gesellschaft mit der größten Ruhe
Ihrer Klage entgegen. Bevor Sie einen, nach dem jetzigen Gerichtsverfahren sehr
kostspieligen und für Sie sehr zweifelhaften Prozeß anstrengen, sehen Sie nnr mit
aller Ruhe nochmals die angezogenen Paragraphen der Versicherungsbedingungcn
durch und weisen Sie meine Offerte nicht zurück. Sie würden ja uach verlorenem
Prozesse, der drei bis vier Jahre dauern kann, total ruinirt sein.
Ma» sieht, keine Drohungen und Versprechungen bleiben unversucht, um den
Mann zu bewegen, fünfzig Prozent des ihm zustehenden Betrages zu Gunsten
der Gesellschaft fallen zu lassen. Aber noch ist er nicht mürbe genug gemacht;
fußend auf seinem guten Recht, weist er mit Entrüstung jedes Geschenk ab und
verlangt die volle ihm zustehende Summe. Darauf klagt die Gesellschaft ihrem
Beamten:
Daß Sie zu einem Resultate nicht gekommen, ist für die Sache keineswegs
günstig und uns sehr unangenehm. Die von Ihnen augeführten Präklusiousgründc
sind so außerordentlich schwach, daß wir schwerlich im Prozeßfälle ein für uns
günstiges Resultat zu erwarten haben dürften. Wenn der Beschädigte die von Ihnen
ermittelte Entschädigung von 1250 Mark nicht anerkennen wollte, so hätte er sich
vielleicht mit 1500 Mark zufrieden erklärt. Wir hätten dann wenigstens ein
Maximum erhalten, welches anzuerkennen uns freistand. Jetzt wird aber C. einfach
seine Liquidation aufrechterhalten und uns daraufhin verklagen.
Der Beamte kannte jedoch den Beschädigtem und seine bedrängten Verhält¬
nisse besser. Er ließ ihn noch acht Wochen warten, worauf dieser, durch Not
und Elend gezwungen und ohne Mittel, sich sein Recht zu erstreiten, die
1250 Mark annahm und die Schadenregnlirung quittiren.
In einen, andern Falle war der Schaden eines Gutsbesitzers vom Re-
gulirungsbeamten auf 3600 Mark festgestellt worden. Darauf schreibt die Ge¬
sellschaft an ihren Beamten:
Wir bitten Sie um Ihre Ansicht, ob es erforderlich sein wird, den Schaden in
der von Ihnen ermittelten Höhe anzuerkennen, oder ob Aussicht vorhanden ist, mit
einem Vergleich von 1500 Mark, nötigenfalls 1800 Mark abzukommen. Da Ihnen
die einschlägigen Verhältnisse bekannt sind, so wird es Ihnen leichter möglich sein,
hierüber sich ein Urteil zu bilden.
Nach sechswöchentlichen Schächern, bei welchem der Beamte nach und nach
300 Mark zugelegt hat, entschließt sich der Beschädigte endlich, müde des un¬
würdigen Handels, und schreibt:
Ew. Wohlgeboren Ansichten kann ich nicht teilen, da ich aber ein Feind von
Prozessen bin, so will ich mich mit dem Entschädignngsbetragc von 1800 Mark
zufrieden erklären.
In einem dritten Falle berichtet der Beamte:
Der Verlust der Leute beläuft sich auf 1600 Mark. Ich offerirte ihnen
800 Mark, ein Verfahren, das bei diesen Leuten — es siud Juden polnischer
Herkunft — allein angebracht ist und schloß vorbehaltlich Ihrer Genehmigung dann
mit 950 Mark ab. '
Wir wissen nicht, ob der Direktor der betreffenden Gesellschaft jüdischer
Herkunft ist, soviel sehen wir aber aus den Akte», daß er sich nicht besann,
das polnisch-jüdische Verfahren, die Hälfte zu bieten, dnrch Sanktionirung dieses
„Geschäftchens" gutzuheißen.
(Schluß folgt.)
>it Goethe war im Zeitalter des formalen Verstandes und der
mechanischen Weltansicht ein Auserwählter der Phantasie auf¬
getreten, dieser Gabe, die vor allem den Dichter macht. Goethes
Phantasie umfaßte zwar zunächst das Menschenleben, dieses so¬
wohl in der Sphäre seiner objektiven Allgemeinheit als in den
Tiefen des subjektiven Gemütes, aber mit gleicher Kraft wandte sie sich den
Gestalten und Erscheinungen der Natur zu, in deren großem Reiche auch der
Mensch begriffen ist. Der Himmel und die Erde, die Elemente in ihrer Größe,
der Tag und das Jahr im Laufe ihrer Zeiten und Verwandlungen, alles, was
uns in der Natur umgiebt und unser Dasein freundlich und feindlich bestimmt —
der Dichter weiß es in seinem Wesen zu ergreifen, vor unsern Augen zauberisch
zu beleben, dem Stummen, dem Unbewußten Sprache und Gefühl zu leihen.
Er war ja nicht, wie die bisherigen Poeten, in der Gefangenschaft des Hauses,
im Staube des Museums und der Bücher groß geworden und von der Schule
genährt; er streifte ruhelos, bald ahnnngs-, bald reuevoll. in Wald und Feld,
ans weiten Wegen umher, verkehrte mit den Geistern des Gebirges, des Wassers,
der Nacht, genoß die Pracht und Gewalt der Sonne und den kühlenden Hauch
des Mondes und verwandelte überall die Anschauung in Andacht. Sein Ge¬
nius hatte ihm die herrliche Natur zum Königreich gegeben, Kraft, sie zu
fühlen, zu genießen. Nicht bloß kalt staunenden Besuch erlaubte sie ihm, sie
vergönnte ihm in ihre tiefe Brust wie in den Busen eines Freunds zu schauen,
und ini Wechseltausch mit ihr öffneten sich seiner eigne» Brust geheime, tiefe
Wunder. Ihre Einsamkeit heilte, läuterte, stärkte ihn: verstehst du, fragt
Faust, d. h. der Dichter selbst,
Verstehst du, was für neue Lebenskraft
Mir dieser Wandel in der Öde schafft?
Noch in Weimar lebte der Novize des Hofes, der leichtsinnige Führer der
Gesellschaft, abseits der Stadt, unfern der rieselnden oder rauschende» Ilm,
unter Bäumen, die er selbst gepflanzt und gepflegt, in einem Bauerhause, das
er selbst ein wenig wohnlich gemacht und auf dessen Altan er, in den Mantel
gehüllt, durch ein vorspringendes Dach vor dem Regen notdürftig geschützt,
unter Donner und Blitz die Frühlingsnacht schlummernd verbrachte oder ein
andermal, wenn er dazwischen erwachte und die Augen aufschlug, immer neue
Herrlichkeit des Himmels um sich und über sich hatte. In seinen Dichtungen
legt er oft das Naturbild nur an, oft malt er es in reicherer Fülle schildernd
aus, oft genügt ihm ein kurzes Wort, eine einzelne Bezeichnung, um wie durch
ein Streiflicht die jedesmalige Gestalt mit augenblicklichen, unwiderstehlichen
Umrissen vor uns aufzurichten.
Indem wir im folgenden einige Belege dazu sammeln, gehen wir diesmal
nicht der Entwicklung des Dichters nach, sondern halten uns an die eigne
Ordnung und die großen Züge der Natur selbst, wie sie sich den Sinnen des
in sie gestellten Menschen zu erkennen giebt.
Über uns wölbt sich der Himmel, und durch seine Weite zu schweben, in
den unendlichen Raum sich zu verlieren, den Vögeln, den Wolken nachzuziehen —
dieser Wunsch erfüllt jeden, der aus den Schranken des endlichen, einzelnen
Daseins in eine Welt der Freiheit dort oben aufzublicken glaubt. So ruft
Faust:
Doch ist es jedem eingeboren,
Dasz sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uus, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,
Wenn über schroffen Fichtenhvhcn
Der Adler ausgebreitet schwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.
Dieselbe unbestimmte Sehnsucht trägt Ganhmcd hinauf, aus dem Reiche der
Schwere in das leichte Reich des Äthers, dorthin, wo der ewige Vater wohnt:
Hinauf, hinauf strebts!
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnende» Liebe!
Mir, mir!
In eurem Schoße
Aufwärts!
Auch Werther schreibt in den Briefen ans der Schweiz: „Welche Begierde fühl
ich, mich in den unendlichen Raum zu stürzen, über den schauerliche» Abgründen
zu schweben — Mit welchem Verlangen hol ich tiefer und tiefer Atem, wenn
der Adler in dunkler, blauer Tiefe, unter mir, über Felsen und Wäldern schwebt
und große Kreise zieht" u. s, w.
Am Himmel wandeln Sonne und Mond, folgen einen innern, umbauten
lichen Gebote, begleite» unser Leben und richten den Lauf seiner Stunden. Was
ist die Bestimmung des Menschen? so wurde der Philosoph Anaxagoras gefragt,
und er erwiederte: Den Himmel anzuschauen und der ewigen Ordnung sich be
wußt zu werden. So betet Iphigenie zu Apollo und Artemis:
Geschwister, die ihr an dem weiten Himmel
Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf
Den Menschen bringet, rettet uns Geschwister!
Ach aber, beide Gestirne sind ihrem eignen strengen Gesetz Unterthan, und unser
Leid, unsre Verzweiflung kümmert sie nicht:
Die Welt, wie sie so leicht
Uns hilflos, einsam läßt und ihren Weg
Wie Sonn und Mond und andre Götter geht! (Tnsso.)
Besonders aber herrscht droben die Sonne — rufus armati se tömxsrator,
über uns und über allem. Schon die alten Dichter, vor allen Homer, wenn
sie „leben" sagen wollen, brauchen die Wendung: der Sonne Licht schauen. So
ist auch in mittelhochdeutschen Gedichten, z. B. im „Parcival" (Lachmann 247, 26),
alii SUMM im?i vain so viel als asu gotss Im2 und bei Goethe die Sonne
soviel als Glück und Leben überhaupt. Der Gräfin Bernstorff meldet er im
letzten seiner Briefe an sie, er sei von einer tötlichen Krankheit genesen, und der
Allwaltendc gönne ihm noch „das schöne Licht seiner Sonne zu schauen"; denn,
wie es in der Achilleis heißt:
Oft begrub schon der Kranke den Arzt, der das Leben ihm kürzlich
Abgesprochen, genesen und froh der beleuchtenden Sonne,
oder wie Iphigenie sagt:
Die Unsterblichen lieben der Menschen
Weitverbreitete gute Geschlechter
Und sie fristen das flüchtige Leben
Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne
Ihres eigenen ewigen Himmels
Mitgenicßcndes fröhliches Anschaun
Eine Weile gönnen und lassen.
So fragt Wilhelm Meister hoffnungslos und entmutigt (8, 7): „Werde ich
künftig der Sonne und der Welt, der Gesellschaft oder irgend eines Glücks-
gntes genießen?" und Orest spricht zu Iphigenien:
und laß dir raten, habe
Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne,
Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab —
und Antiope zu Elpenor:
So lang ich weiß, du wandelst auf der Erde,
Dein Auge schaut der Sonne teures Licht,
--bist du
Mir gleich entfernt, so fehlt mir nichts zum Glück,
Iphigenie:
nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne
Zuerst den Himmel vor ihm ausschloß —
d, h. wo er sich zuerst seines Lebens bewußt wurde. Nausikaa, da sie am
Meeresgestade ihre Gewänder getrocknet sieht, preist „die hohe Sonne, die allen
hilft." Den Schiffer ruft die Sonne zur Fahrt ins Meer hinaus (Seefahrt):
Und die Segel blühen in dem Hauche,
Und die Sonne lockt mit Feuerlicbc —
und dieselbe Liebe hat Prometheus erfahren:
Was der Sonne Liebe jemals Frühlingswonne,
Des Meeres laue Welle
Jemals Zärtlichkeit an meinen Busen angeschmiegt.
Die Sonne, wenn sie aufgeht und untergeht oder am Himmel glüht, bringt
die Tageszeiten, den Morgen und den Abend und den Mittag. Der Morgen
erfüllt mit Hoffnung. Kraft, Lebensmut; die Mutter in „Hermann und Doro¬
thea":
Da war beklemmt mein Herz, allem die Sonne ging wieder
Herrlicher auf als je und flößte mir Mut in die Seele.
An Frau von Stein (24. März 1776): „Hinter Naumburg ging mir
die Sonne entgegen auf! Liebe Frau, ein Blick voll Hoffnung, Erfüllung
und Verheißung — die Morgenluft so erquickend, der Duft zwischen den Felsen
so schauerlich, die Sonne so golden blickend als je! Nicht diesen Augen nur,
auch diesem Herzen! Nein, es ist Her Born, der nie versiegt, das Feuer, das
nie verlischt, keine Ewigkeit nicht! Beste Frau, auch in dir nicht, die du manch¬
mal wähnst, der heilige Geist des Lebens habe dich verlassen." Ähnlich an
den Herzog tags darauf: „Ich habe die Nacht durch manches Kranichen Ge¬
dankenzwirn auf- und abgewickelt; diesen Morgen ging mir die göttliche Sonne
hinter Naumburg auf." Der Morgen im Frühling, vom Berge, wenn der
Nebel noch im Thale liegt und die Nachtigall noch nicht verstummt ist, leuchtet
und blüht im „Ganymed":
Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind —
„Mir wars frei in der Seele, rein wie ein Frühlingsmorgen" (Stella), „Süßer
Morgenkühle Kinderstammeln" (Elpenor) —
Mit dem tauscndfarbigen Morgen
Lachse du ins Herz ihm. (Harzreisc im Winter)
Früh am Novembertage rollen am Steine der Geliebten die Thautropfen nieder,
„die schönen Thränen des Himmels" (an Frau von Stein, 17. November 1782*).
Wie die aufgehende Sonne uns mit der Kraft und Freude des Lebens erfüllt,
so ist die untergehende ein Bild jähen Abschiedes, frühen Todes:
Trunkncn vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich geblendeten Taumelnden,
In der Holle nächtliches Thor. (An Schwager Kronos)
Auch wenn die Dunkelheit eingebrochen, brennt das Licht der Sonne noch in
der Seele, und bald kündigt sich der neue Tag im Osten wieder an.
Wie der süße Dllmmerschein
Der weggcschiedncn Sonne
Dort hinaufschwimmt
Vom finstern Kaukasus
Und meine Seel umgiebt mit Wonncruh,
Abwesend auch mir immer gegenwärtig. (Prometheus)
Anders ist die Stimmung in dem Liede „Bergschloß": der Dichter steht mit
der Geliebten oben in den Trümmern der alten Burg, denkt sich als Knappen
des Schloßherrn, sie als Kellnerin:
Und als sich gegen den Abend
Im stillen alles verlor,
Da blickte die glühende Sonne
Zum schroffen Gipfel empor.
Und Knapp und Kellnerin glänzen
Als Herren weit und breit.
Die eigentlich klassische Stelle aber für die Abendcmpfindung bleibt für immer
Fausts Nachruf an die scheidende Sonne:
Betrachte, wie in Abendsonueglut
Die grünnmgcbnen Hütten schimmern u. s. w.
Er möchte schwebend die Sonne begleiten und so eines immerwährenden Abends
genießen, sähe ewig die Höhen entzündet, die Thäler beruhigt, die Silberbande
in den goldnen Strom sich ergießend; flöge über das rauhe Gebirge weg, das
Meer mit erwärmten Buchten thäte sich vor seine» Blicken auf; so eilt er der
Sonne nach, vor sich den Tag und hinter sich die Nacht. Doch da wir an
die Erde, den Boden, auf dem wir stehen, gebunden sind, so senkt sich die
Nacht, die Finsternis auf uns herab und wir können uns ihrer nicht erwehren.
Die Nacht ist dem Naturmenschen, wie dem Kinde, die Mutter der
Schrecken, in ihrem Dunkel streifen die bösen Geister umher, und sie leiht ihnen
ihren Schutz zu schadenfrohem Thun. Da werden die Nebelstreifen an den
grauen Weiden zu Gestalten und der in dürren Blättern raschelnde Wind zu
verderblicher Rede. Dem Kinde in des heimeilenden Vaters Arme flüstert der
Elfenkönig verlockende Worte zu und erstickt es, da es nicht folgen will. Wenn
„der Abend die Erde wiegt" und „an den Bergen schon die Nacht hängt"
(Willkommen und Abschied), dann reitet der Dichter über Land, hinaus zu der
Geliebte«: die Winde sausen schauerlich, die Nacht schafft tausend Ungeheuer,
wie ein aufgetürmter Riese steht im Nebelkleide der Eichbaum da. und aus
dem Gesträuche blickt die Finsternis mit hundert schwarzen Augen. „Wenn ich
abends auf dem Altan, der zwischen den Giebeln des Hauses angebracht ist,
spazierte, über die Gegend hinsah und von der herabgewichenen Sonne ein
zitternder Schein herausdämmerte, die Sterne hervortraten, aus allen Winkeln
und Tiefen die Nacht hervordrang" u. s. w. (Wilhelm Meister 1, 7). In den
Zigeunerszenen des „Götz" (erster Bearbeitung) fehlt nichts, was die Winter¬
nacht fürchterlich macht: die Wcrwölfe, der wilde Jäger, die krächzenden Ge¬
spenster, das Geheul der Hunde und der Wölfe, die Irrlichter im Sumpfgebüsch,
der Schnecstrom in der Schlucht, der dem kletternden Buben um die Beine
schießt u. s. w. Unthaten jeder Art verbergen sich im Schoße der Nacht
(Iphigenie 1, 3):
Und viel unseliges Geschick der Männer,
Viel Thaten des verworrnen Sinnes deckt
Die Nacht mit schweren Fittigen und läßt
Uns nur die grauenvolle Dämmrung sehn.
Die Nacht ist endlos, denn der Blick durchdringt sie nicht: „Den der Fluch wie
eine breite Nacht verfolgt und deckt" (Iphigenie 2,1). — „Nicht die Nacht, diebreit
sich bedeckt mit sinkenden Wolken" (Hermann und Dorothea). Wenn Erwin
unter Elmircns Fenster sang und seine Zither rührte, dann „wölbte die Nacht
sich hoch und höher über seinen Klagen"; in der Nacht, mitten im Hochgebirge,
erscheint dem Dichter der Schatten Euphrosyneus und redet zu ihm: nachdem
die Lichterscheinung zergangen, ist das Dunkel nur noch tiefer, das Herz nur
noch trostloser:
Tiefer liegt die Nacht um mich her, die stürzenden Wasser
Brause» gewaltiger nnn neben dem schlüpfrigen Pfad. —
Wehmut reißt durch die Saite» der Brust; die nächtlichen Thränen
Fließen, und über dem Wald kündet der Morgen sich an.
Aber die Nacht ist vielgestaltig, sie ist nicht immer schauervoll und düster, sondern
auch heinilich und den Liebenden günstig. Philine widmet ihr ein Lied und
Scapine singt:
Nacht, v holde, halbes Leben,
Jedes Tages schöne Freundin!*)
Laß deu Schleier mich umgeben,
Der von deinen Schultern fällt.
Stella spricht mit sich: „Fülle der Nacht, umgieb mich, fasse mich, leite mich!"
Wilhelm schreibt an seine Mariane „unter der lieben Hülle der Nacht, die ihn
sonst in ihren Armen bedeckte"; der Liebende, auf dem Lager liegend und die
Geliebte erwartend, segnet die nächtlichen Finsternisse, „die so ruhig alles über¬
deckten" (Morgcnklagen). Und auch helle, durchsichtige, krystallene, ambrosische
Nächte giebt es, in denen der Mond leuchtet und die Sterne schimmern.
*) Ein Vers in „Hermann und Dorothea," der dem Dichter oft übelgenommen worden,
wiederholt nur denselben Gedanken. Der Tag gehört dem Kampfe, der Arbeit, dem Ve»
druß und jeder Art Anstrengung; das gemeinsame Lager bei Nacht bringt Austausch des
Erlebten, das Gefühl unauflöslichen Bundes, Mitteilung und Sammlung und süße Ruhe
(Rom. Eleg. 5):
, Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen,
Überfälle sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
Zu dem trauernden Achilleus in der Ilias spricht seine Mutter Thetis (also gleichfalls die
Mutter): Wie lange willst du der Nahrung dich enthalten, wie lange des Lagers? Ist es
doch schön, des Weibes in Liebe zu genießen!
Wie die Sonne, der der Dichter in der ersten Weimarer Zeit einen fast
begeisterten Kultus widmete,*) ist auch der Mond, das andre große Himmels¬
licht, in seinen Gedichten und Bekenntnissen Gegenstand schwärmerischer Verehrung.
Schon in einem Jugendliebe „Die schöne Nacht" heißt es:
Wandle mit verhülltem Schritte
Durch den öden finstern Wald:
Luna bricht durch Busch und Eichen,
Zephyr meldet ihren Lauf
Und die Birken streuu mit Neigen
Ihr den süszten Weihrauch auf.
An Frau vou Stein schreibt er 1777:
Tanche mich in die Sonue früh,
Bad ad im Monde des Tages Mils —
und an die Gräfin Auguste Stolberg vom Juli desselben Jahres:
„Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz —
so sang ich neulich, als ich tief in einer herrlichen Mondnacht ans dem Flusse
stieg, der vor meinem Garten dnrch die Wiesen fließt." An Finn v. Stein,
16. Okt. 1780: „der Mond ist unendlich schon, ich bin durch die neuen Wege
gelaufen, da sieht die Nacht himmlisch drein. Die Elfen sangen" u. s. w. Bei
der Harzreise im Winter hatte er den heißen Wunsch nach dem Vollmond,
und er dankt den Göttern, die sein Gebet erhörten; Friederike und Lili be>
suchte er beide zur Zeit des Vollmondes, wie er nicht unterläßt anzumerken,'
aus Rom schreibt er 2. Februar 1737: „und so haben Sonne und Mond,
eben wie der Menschengeist, hier ein ganz anderes Geschäft als andrer
Orten, hier wo ihrem Blick ungeheure und doch gebildete Massen entgegen¬
stehn"; sein Abschied von der geweihten Stätte, wo er so lange geweilt hatte,
ward besonders feierlich durch deu Mond, der am Himmel stand und der ja
auch dem verbannten, in die Wildniß ausgestoßenen Dichter Ovid in der letzten
Nacht in Rom geleuchtet hatte: „ein Zauber, der sich dadurch über die unge¬
heure Stadt verbreitet, so oft empfunden, ward nnn aufs eindringlichste fühlbar.
Die großen Lichtmassen, klar wie von einem milden Tage beleuchtet, mit
ihren Gegensätzen von tiefen Schatten, durch Reflexe manchmal erhellt, zur
Ahnung des Einzelnen, setzen uns in einen Zustand wie von einer andern,
einfachern, größern Welt." Diese Eigenschaft des Mondlichtes, die im Raum zer¬
streuten Dinge zu großen Massen zu sammeln, die auch Schiller empfunden hatte:
Der Mond erhebt sein strahlend Angesicht,
Die Welt zerschmilzt in ruhig große Massen —
bewährte sich auch an jenem Abend, als Hermann lind Dorothea unter dem
Birnbaum rasteten:
Herrlich glänzte der Mond, der volle, vom Himmel herunter,
Nacht wurf, völlig bedeckt der letzte Schimmer der Sonne;
Und so lagen vor ihnen in Massen gegen einander
Lichter, hell wie der Tag, und Schatten dunkeler Nächte.
In andern Momenten erscheint das Licht des Mondes als ein der bewegten
Seele verwandtes, gleichgestimmtes Element, wie die sichtbar gewordene,
träumerische Empfindung selbst. Es wird bald als das traurige, verschleierte
angeschaut, wie ein verweintes Menschencmgesicht:
Der Mond von einem Wvlkeuhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor — (Willkommen und Abschied)
Dann über Büchern nud Papier,
Trübselgcr Freund, erschienst du mir — (Faust)
bald als silberner Nebclglanz, der auf Wiesen, am Saume des Waldes dämmert
und vor dem Blicke des Einsamen in Geister der Vergangenheit sich ver¬
wandelt:
Ach könnt ich doch auf Bergeshöhn
In deinem lieben Lichte gehn,
Um Bergcshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben,
Von allen Wisseusauälm entladen
In deinem Thau gesund mich baden — (Faust)
Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber, schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf
Und lindern der Betrachtung strenge Lust — (Edda.)
bald als reiner, ruhiger Herrscherblick:
Wie dem Licht, das Leben der Nächte,
Über der Erde ruhet und waltet, — (Iphigenie)
der die Dinge in ihren harten, verworrenen Umrissen so klar sondert, so milde
vereinigt, wie das kühlere Urteil des besonnenen Freundes unsre Schicksale
und Leidenschaften entwirrt und erkennt:
Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick —
und so kommt Von ihm eine sanfte Beruhigung über die stürmende Seele, über
das in Sehnsucht vergehende Herz:
Mir ist es, denk ich nur an dich,
Als in den Mond zu sehn,
Ein stiller Friede kommt auf mich,
Weiß nicht, lvie mir geschehn — (Jcigers Abendlied)
daher ihm auch der Anruf „heilig" zusteht: „wo du, Heilger Mond, auf den
Wipfeln meiner Bäume dämmerst" (Stella) —
Dich ehr ich, heiliges Licht,
Reiner, hoher Gefühle Freund! (Triumph der Empfindsamkeit)
Zwei lyrische Gedichte sind ganz eigens an den Mond gerichtet; in dem ersten,
„An Luna," verschmilzt die Mondhelle mit zärtlicher, ja wollüstiger Liebes¬
phantasie: der schwimmende Nebel, der Silberschauer um das Antlitz des
Mondes, Lunas leiser Lauf, der die Nachtvögel und die Geister der Abgeschie¬
denen aus ihren Höhlen weckt, der weite Blick, mit dem der Mond über alle
Fernen sieht und durch das Fenstergitter bis zu den unverhüllten Gliedern des
geliebten Mädchens in die Kammer dringt — diese ganze Malerei ist mit
leichter Kunst in lyrischen Sang und Klang verwandelt. Fehlt es gleichwohl
diesem frühen Jugendliebe noch an tieferer Resonanz, so ist das zweite, „An
den Mond" (vom Jahre 1778, nachher wesentlich umgestaltet und erhöht), ganz
eine weiche, dunkle Musik der Seele: die Mondnacht hat des Dichters Gemüt
bis in seine Tiefen gelöst, sodaß Vergangenheit und Umgebung, Worm und Weh
des Lebens, Verlornes Glück und stille Entsagung, alle Eindrücke früherer Tage,
alle Bilder der gegenwärtigen Stunde in eine wehmütige Stimmung zusammen¬
fließen, die dann in schmelzendem Zauber der Melodie und des Rhythmus
ausströmt.
Goethes Phantasie war eine zu echte und wirkliche, als daß sie sich in
der anschauungslosen Unendlichkeit des astronomischen Himmels oder wie Klopstock
unter den altjüdischen Cherubim und Seraphim hätte ergehen können — nur
einmal, im Prolog zum „Faust," läßt er die drei Erzengel singen, den ersten
von der Sonne, den andern von dem Umschwung der Erde, den dritten von
Sturm, Ungewitter und sanften Lüften — aber zu den freundlichen Sternen
über unsern Häuptern blickt er gern auf, redet sie an und verfolgt den Weg,
den sie langsam wandeln. An den Herzog (24. Dezember 1775): „Der
herrliche Morgenstern, den ich mir von nun an zum Wappen nehme,
steht hoch am Himmel." Er nahm ihn sich zum Wappen, denn er war um
jene Zeit immer frühe auf und erwartete im Freien die allbelebende Sonne.
Noch dreizehn oder fünfzehn Jahre später bestätigt dies das schöne venetianische
Epigramm (97):
In der Dttmmmng des Morgens den höchsten Gipfel erklimmen,
Frühe den Voden des Tags grüßen, dich, freundlichen Stern,
Ungeduldig die Blicke der Himmclsfürstin erwarten,
Wonne des Jünglings, wie oft locktest du rundes mich heraus!
Nun erscheint ihr mir, Boten des Tags, ihr himmlischen Augen
Meiner Geliebten, und stets kommt mir die Sonue zu früh.
An Fran von Stein (19. Januar 1778): „Orion stand so schön am
Himmel, als wir von Tiefurt fröhlich herausritten," und (8. Juli 1781): „Jeden
Abend grüß ich das rötliche Gestirn des Mars, das über die Fichtenberge vor
meinem Fenster aufgeht." In dem herzlichen, betrachtenden Gedicht „Ilmenau
1783" freut er sich des frischen Balsams der Nadclwalduug und hat in deren
Finsternis „beim Liebesblick der Sterne" den Pfad verloren, und sagt dann
von sich selbst:
Indessen ich hier still und atmend kaum
Die Augen zu den freien Steinen kehre.
„Wilhelm Meister" 1, 17: „Unter den holden Sternen hingestreckt war ihm
sein Dasein wie ein goldner Traum." Die Sterne dienen dem Dichter, um
seine ideale Liebe wie mit einer Strahlenkrone zu umgeben, dann um der
nächsten Wirklichkeit der Liebe durch die Vorstellung der kalten Himmelsweiten
sich noch wärmer zu versichern, endlich auch zum Bilde eines Jenseitigen und
ewig Fernen und Versagten. „Meine Liebe ist mir wie der Morgen- und
Abendstern, er geht nach der Sonne unter und vor der Sonne wieder auf, ja
wie ein Gestirn des Pols, das nie untergehend über unserm Haupt einen ewig
lebendigen Kranz flicht. Ich bete, daß es mir auf der Bahn des Lebens die
Götter nie verdunkeln mögen." (An Frau von Stein, 22. März 1781.) Mitten
in der gemeinen Bewegung des Lebens sieht er überall wie durch einen Flor
die Gestalt der Geliebten; sie leuchtet ihm
freundlich und treu,
Wie durch des Nordlichts bewegliche Strahlen
Ewige Sterne schimmern. (An Lida)
Aber wie in der zehnten Römischen Elegie die Erinnerung ein den finstern
Todesschlaf der Helden im Grabe das Glück der „lieberwcirmeten Stätte" er¬
höht, so in den „Nachtgedanken" der Gegensatz der Sterne, die nach strengem
Gesetz durch die unermeßliche Leere geführt werden:
Euch bcdcmr ich, unglücksclge Sterne,
Die ihr schön seid und so herrlich scheinet
Dem bedrängten Schiffer gerne leuchtet,
Unbelohnt von Göttern und von Menschen,
Denn ihr liebt nicht, kanntet nie die LiebeI
Unaufhaltsam führen co'ge Stunden
Eure Reihen durch den weiten Himmel.
Welche Reise habt ihr schon vollendet,
Seit ich weilend in dem Arm der Liebsten
Euer und der Mitternacht vergessen!
Derselben Geliebten hatte er einige Jahre vorher, als sie seiner Glut immer
wieder ausgewichen war, entsagend schreiben Müssen (Schöll I, S. 23, Fielitz
Ur. 89): „Ich sehe dich eben künftig, wie man Sterne sieht! Denke das durch!"
Ich kann es nie erwerben, klagt der Liebende in „Trost in Thränen":
— es steht mir gar zu fern,
Es weilt so hoch, es blinkt so schön,
Wie droben jener Stern —
worauf die Freunde erwiedern:
Die Sterne, die begehrt man nicht,
Man freut sich ihrer Pracht,
Und mit Entzücken blickt man auf
In jeder heitern Nacht —
ganz wie Alexis sich selbst anklagt, nicht früher von Doras Schönheit betroffen
worden zu sein, sondern sie angesehen zu haben, wie man Mond und Sterne
sieht, ohne a» ihren Besitz zu denken. Aber in dem Liede „Sehnsucht" geht
das Mädchen sinnend am Bache hin, die Wiesen entlang, der Abend dämmert,
die Nacht bricht ein; plötzlich blitzt ein schöner Stern ans und verwandelt sich
in den wirklichen Geliebten zu ihren Füßen:
Auf einmal erschein ich,
Ein blinkender Stern.
Was glänzet da droben
So nah und so fern?
Und hast du mit Staunen
Das Leuchten erblickt -
Ich lieg' dir zu Füßen,
Da bin ich beglückt I
Noch spät, als die betrachtende Zeit schon gekommen war, findet sich in der
Novelle „Der Mann von fünfzig Jahren" (vom Jahre 1807) die prächtige
Schilderung des auf der blanken gefrorenen Fläche sich spiegelnden Mond- und
Sternenhimmels und der dadurch erregten Winterluft der Menschen — weit
Phantasievoller, obgleich in Prosa, als Klopstocks rhetorisch figurirte, aber dem
Gehalte nach prosaische und dürftige Schrittschuhode „Der Eislauf." Einige
Bruchstücke mögen hier stehen: „Die schöne Kunst, welche die ersten raschen
Wintertage zu verherrlichen und neues Leben in das Erstarrte zu bringen im
hohen Norden erfunden worden." — „Das hat die Eislnst vor allen andern
körperlichen Bewegungen voraus, daß die Anstrengung nicht erhitzt und die
Dauer nicht ermüdet," — „Der volle Mond stieg zu dem glühenden Stern¬
himmel herauf und vollendete das Magische der Umgebung." — „Die Sterne
flammten, die Kälte war gewachsen, sie fühlten nichts davon und fuhren dem
laug daher glitzernden Wiedersehen! des Mondes, unmittelbar dem himmlischen
Gestirn selbst entgegen." Ein ähnlicher Ausdruck noch im „Sankt Rochusfest
zu Bingen": Der Dichter und seine Freunde, nachdem die heitere Abendtafel
im Gasthause zur Krone in Rüdesheim aufgehoben worden, traten hinaus „unter
den brennend gestirnten Himmel" und verweilten lange daselbst — und die
Gläser und der Rüdesheimer selbst werden Wohl auch mit hinausgetragen
worden sein. (Schluß folgt.)
u den zahlreichen Briefsammlungen aus der klassischen und romaw
lischen Periode unsrer Literatur hat sich im verflossenen Jahre
der Anfang einer neuen Reihe von Veröffentlichungen gesellt:
Briefe von I. P. Hebel, herausgegeben von I)r. Otto
Vehagel, Professor an der Universität Basel (Karlsruhe,
H. Reuther, 1883). Es ist nicht vorauszuwissen, wie ausgiebig die Briefschätze
sein werden, die der Herausgeber durch die Bezeichnung „erste Sammlung" in
Aussicht stellt; es muß genügen, zu sagen, daß diese erste Sammlung der Briefe
des Dichters der „Allemanischen Lieder" und der „Erzählungen des rhein-
ländischen Hausfreundes" an Gmelin, an die Straßburger Familie Haufe und
an Justinus Keruer umfaßt. Die Bedeutung dieser Briefe charakterisirt
BeHagel in seinem Vorwort dahin: „Die Briefe an Gmelin zeigen uns den
Dichter in seinen naturwissenschaftlichen Studien; von großem Interesse ist die
Art, wie sich Hebel in den Briefen an Justinus Kerner über die Aufgabe des
Vvlksschriftstellers ausspricht. Nirgends können wir seinem gemütvollen Herzen
so tief auf den Grund sehen, als in seinen Briefen an die Familie Haufe.
Wie innig nimmt er Anteil an ihrem Schicksal, wie herzlich freut er sich mit
den Freunden, wie warm versteht er die Bekümmerten zu trösten, wie zart und
sein, kaum vernehmbar dem stumpfen Ohr, ist seine Mißbilligung."
Gern kann der Leser diese Lobsprüche unterschreiben und seinerseits hin¬
zufügen, daß die Herausgabe der Briefe eine sehr sorgfältige ist. In seinen
Anmerkungen hat sich BeHagel auf wirklich Wissenswertes und Ergänzendes
beschränkt, hat am Fuße der Seiten nur gegeben, was zum Wortverständnis
notwendig ist und ohne was man nicht weiter lesen kann, und hat seine fleißigen
biographischen, historischen, geographischen u, s, w, Erläuterungen zu den Briefen
in einen Anhang verwiesen. Dieser ist von mäßigem Umfange und verschont
den Leser mit den üblich gewordenen Auseinandersetzungen über alles und noch
einiges. Kurz, wenn man sich überhaupt mit der modischen Materialpublikation
einverstanden erklärt und es für notwendig und ersprießlich erachtet, daß ohne
Gnade und Barmherzigkeit alles gedruckt werde, was die Schriftsteller früherer
Tage hinterlassen haben, so kann man an der hier gegebenen Briefsammlung
und an den Aussichten, die sich für die Zukunft eröffnen, seine Freude haben.
Wir gestehen aber offen, daß unsre Frende dieser wie beinahe allen ähn¬
lichen Veröffentlichungen gegenüber eine sehr geteilte ist. Die Literaturgeschichte
droht sich mehr und mehr in eine bloße Materialanhciufnng zu verwandeln,
und die Zahl der noch zu edirenden Korrespondenzen läßt sich garnicht ab¬
schätzen, wenn kein andrer Maßstab an bisher ungedruckte Briefe gelegt wird
als der, daß der Name der Briefsteller der Litcmtnrgeschichtc angehört. Nie¬
mand wird einem Schriftsteller wie Hebel das Prädikat des Klassikers streitig
machen, und war etwa die allemanischcn Gedichte und das Schatzkästlein nur
vom Hörensagen kennt, der hat alle Ursache, sich einen bisher entbehrten hohen
Genuß alsbald zu verschaffen. Nun vergegenwärtige man sich aber, wie viele
Schriftsteller vom Rang und Wert des prächtigen Hebel unsre große und reiche
Literatur zählt, vergegenwärtige sich, daß die Lust an neuen Funden unfehlbar
gar manchen tief unter Hebel stehenden Autor zu der Bedeutung emporschrauben
wird, welche die Voraussetzung für Ausgrabung, Sammlung und Herausgabe
aller bei seinen Lebzeiten geschriebenen Briefe bilden soll. Je mehr es für
„wissenschaftlich" gilt, ohne Auswahl und jeden andern Gesichtspunkt als den
der Treue und Vollständigkeit mißachtend, alles „Material" zu publiziren,
welches „neu" ist, je mehr man sich in die Vorstellung hineinredet, daß jedes
Blatt, das für den Forscher, den Biographen, den Herausgeber der Werte
eines Schriftstellers von Wichtigkeit ist, eine Wichtigkeit anch für das größere
Publikum oder wenigstens für die Fachgenossen habe, deren Begriff dann im
weitesten Sinne genommen wird, eine umso bedenklichere Perspektive eröffnet
sich. Unsre Bibliotheken füllen sich schon jetzt mit ganzen Reihen von Werken,
die ungefähr die Bedeutung und Wirkung wohlaufbewahrter Manuskripte
haben; wie soll es in Zukunft werden, wenn sich die Heransgaben in ent¬
sprechender Progression steigern? Es klingt ganz leidlich, wenn uns gesagt
wird, der Einzelne habe hier lediglich zu thun, was seines Amtes sei, und sich
um die Folgen im ganzen nicht zu kümmern. Der Mann der Wissenschaft
ist aber doch kein Handlanger, der Stein ans Stein herzuschleppt, ohne Ver¬
antwortung dafür, wozu die Steine im Ban endlich verwendet werden. Und
die notwendige Schranke hat sich hier die Wissenschaft selbst zu errichte». Es ist
ja richtig, daß der Buchhandel dem zu weit getriebenen Eifer eine Art Dämpfer
aufsetzt und von Zeit zu Zeit einmal den Druck bloßen unverarbeiteten Ma¬
terials ablehnt. Man vergißt aber, daß diese Schranke noch auf Jahrzehnte
hinaus eine unzulängliche bleiben muß und daß sie eine Willkür in sich ein¬
schließt, die keineswegs zu loben ist. Der eine Verleger verweigert seine Mit¬
wirkung zur Veröffentlichung wirklich wichtiger, an und in sich wertvoller Briefe
und Dokumente, welche ausnahmsweise entschieden gedruckt werden müßten,
zehn andre seiner Kollegen bieten urteilslos die Hand zu völlig unwesentlichen
und im Grunde unverantwortlichen Herausgaben^ Das Bessere wäre jedenfalls,
daß von feiten der Historiker selbst innegehalten und die Forderung der Aus¬
schmelzung des Erzes aus dem Gestein wieder schärfer erhoben würde.
Mehr die Aussicht auf eine ganze Reihe von Sammlungen Hebelschcr
Briefe, welche durch den Titel der Behagelschcn Publikation eröffnet wird, als
die eben vorliegende erste Sammlung selbst, hat uus diesen Stoßseufzer erpreßt.
Denn gerade die Briefe Hebels an die Straßburger Familie Haufe haben einen
Wert, der über den bloßen biographisch-literarischen Materials weit hinausgeht.
Die Anschauung des Herausgebers, „wenn wir auch garnicht wüßten, wer diese
Briefe geschrieben, wenn uns ihr Verfasser ganz gleichgiltig wäre, müßten sie
doch dauernden Wert behalten," ist zwar ein wenig zu enthusiastisch, sie birgt
aber einen richtigen Kern. „Es ist ein köstliches Idyll voll Frieden und
heiterer Ruhe, das Hebel mit den Straßburger Freunden gelebt hat. Allent¬
halben sprudelt in übermütigen Geplätscher der Born seines unvergleichlichen
Humors, vielleicht reiner als in irgend einer andern seiner Schöpfungen, denn
kein lehrhaftes Bestreben mischt hier störend sich ein. Da ist nichts Gemachtes,
nichts Gezwungenes; es ist die unbefangene lebendige Rede, die jedem Anstoß
des Augenblicks nachgiebt, ohne viel nach akademischer Korrektheit zu fragen.
So sind diese Briefe zugleich dem Sprachforscher ein nicht unwichtiges Denkmal
für die volkstümliche Sprache des oberdeutschen Landes."
Alles dies sei zugestanden, und den Freunden Hebels, allen sinnigen
Naturen, welche sich gern ein vergangnes Dasein in allen seinen Einzelheiten
und mit allen seinen Stimmungen vor die Seele rufen, sei dieses besondre „Schatz-
kästlein" herzlich empfohlen. Besser wäre es aber doch, auch dieses Idyll hätte
seine Stelle in einem größern Zusammenhange, sei es einer breit ausgeführten
Biographie Hebels, wozu ja der Herr Herausgeber vor allen berufen und womit
er auch beschäftigt scheint, sei es einer Sammlung von oberdeutschen Charakter-
und Lebensbildern, gefunden. Wie unbedeutend und wirkungslos würden die
Dokumente und Materialien, welche die Basis von G- Freytags reizvollsten
Bildern aus der deutschen Vergangenheit abgeben, vielfach erscheinen, wenn sie
alle für sich gedruckt worden wären, wie glücklich und eindringlich wirken sie
als Teile eines größern, weithin sichtbaren Ganzen!
le ausgesuchte Pöbelhaftigkeit, zu welcher sich die französische
Höflichkeit neuerdings wieder gegen Deutschland und ganz be¬
sonders gegen die deutschen Frauen aufgeschwungen hat, ist
mehrfach zum Anlaß genommen worden, den Frauen über ihre
freiwillige Unterwerfung unter die französische Mode Vorhal¬
tungen zu machen. Mit Beziehung hierauf setzt nun in eiuer Berliner Zeitung
jemand im Anschluß an einen Aufsatz von Friedrich List auseinander, daß
das Abschütteln der Herrschaft der französischen Mode kein so einfaches Ding
sei, daß es der Zukunft überlassen werden müsse, ob diese Befreiung überhaupt
und in welcher Weise sie vvrsichgehcn werde, „in der Gegenwart aber Verstand
und Ritterlichkeit gleichermaßen gebieten, die deutsche Frau nicht mit unver¬
dienten Vorwürfen zu kränken."
Der Artikel enthält unverkennbar viel wahres, aber auch wir erlauben
uns dem Verfasser zu entgegnen: so einfach ist die Sache nicht abgethan.
Wen» der in den vierziger Jahren von einem deutschen Schriftsteller unter¬
nommene Versuch, die Deutschen für eine deutsche Mode zu gewinnen, mißglückt
ist, so haben wir in viel späterer Zeit mit angesehen, wie andre Nationen sich
wirklich von der Kleidermode emanzipirt haben. In dem einen Falle täuschte
sich der Erfinder der neuen Tracht über den Einfluß seiner Person und seines
Blattes, aber auch über die Stimmung seiner Nation: irren wir nicht, so fiel
jene Episode in das Jahr 1844, eine Zeit schönster Blüte des Kosmopolitismus.
In dem andern Falle, bei Polen, Magyaren u. s. w., war die Agitation gegen
alles Fremde, mithin auch die fremde Kleidung, zugleich Ausfluß der nationalen
Bewegung und Mittel zu deren Ausbreitung. Diese Völker griffen zurück zu
einer Nationaltracht, deren Echtheit nicht außer allem Zweifel steht (wenigstens
behaupten die Kroaten, die sogenannte ungarische Nationaltracht sei eigentlich
ihr Eigentum), die jedoch für längere Zeit ihren Dienst leistete. Sogar für
überraschend lange Zeit. Denn daß man eine fertige, in allen Einzelheiten
ausgebildete Tracht zur Verfügung hatte, erleichterte zwar ungemein die Ver¬
drängung der französischen (oder, wie man sich einredete, deutschen) Tracht,
sicherte aber auch dieser die baldige Wiedereinführung. Die Tonangeber hatten
übersehen oder absichtlich ignorirt, daß die Mode nur durch die Mode dauernd
überwunden werden kann, die Industrie und die Frauen verlangten Abwechslung,
die aber eine solche wieder ausgegrabene Nationaltracht nicht zuläßt. Und da
außerdem nach einer Reihe von Jahren es nicht mehr notwendig war, den
„engeren" Patriotismus durch derartige Mittel zu schüren und zu stärken,
kehrte man allmählich zur europäisch«! Tracht zurück. Gleichwohl scheint die
Bewegung nicht ohne Nachwirkung geblieben zu sein. Wenigstens hören wir,
daß bei allen festlichen Anlässen, auch am Wiener Hofe, Magyaren und gali-
zische Polen nur in ihren malerischen Kostümen erscheinen, und daß der Mittel¬
stand im Innern des Landes nicht selten seinem einfacheren treu bleibt.
Die Möglichkeit eines nachhaltigen Widerstandes ist mithin nicht zu be-
streiten. Und haben wir denn nicht in Deutschland selbst das Beispiel? Von
der Männerwelt kann man nur mit einer gewissen Einschränkung behaupten,
daß sie sich ihre Kleidermode noch von Paris vorschreiben lasse. Das Jahr
1848 hat in dieser Beziehung einen großen Umschwung zuwege gebracht, dessen
wir uns für gewöhnlich ebensowenig bewußt werden wie andrer Wandlungen
im soziale» Leben. Die Zahl der Männer, welche sich in ihrem Anzüge nach
dem Pariser Modejournal richten, ist im Vergleich mit der Zeit vor dreißig bis
vierzig Jahren sehr gering, die meisten lassen sich mir noch den „Gesellschafts-
anzug" aufnötigen und tragen sonst anstatt des anliegenden Rockes und des
Cylinders die Joppe und den breitkrempigen Hut, die beiden Attribute, an
welchen der Pariser den Deutschen erkennt. Zu dieser Umwälzung ist kein
Kongreß, keine Koalition der Vertreter der beteiligten Industriezweige notwendig
gewesen, der „Konsument" hat sich gegen die Diktatur des Schneiders und des
Hutmachers aufgelehnt und die Mode gezwungen, ans die Bequemlichkeit und
den Geschmack derer, welche die Kleider tragen sollen, Rücksicht zu nehmen. Nicht
mehr, ja nicht einmal soviel wird nun auch von den Frauen verlangt, und wir
vermögen hierin nicht eine unbillige Zumutung zu erkennen. Sie sollen sich weder
eine stabile Nationaltracht auferlegen, noch sich mit Absicht altfränkisch tragen,
was ja keine Befreiung, sondern nur ein Nachsinken hinter der Mode wäre. Sie
sollen nur aufhören, jede unsinnige, ungesunde oder unanständige Neuerung, die
von Paris kommt, mitzumachen und womöglich noch zu übertreiben; sie sollen
den bescheidnen Mut aufbringen, sich dem Naserümpfen einiger Närrinnen aus¬
zusetzen und die heimische Industrie zu fördern, anstatt sich zu rühmen: „Wir
beziehen alles aus Paris!"
Es ist bekannt, daß die Kaiserin Eugenie als Königin der Mode sich keineswegs
ausschließlich vou der Sorge um ihre persönliche Erscheinung leiten ließ, sondern
häufig auch von der Absicht, französischen Industriezweigen emporzuhelfen, wie
ihr das z. B. seinerzeit mit der Handwebcrei aufs glänzendste gelungen ist.
Wenn man uns nun sagt, solche und ähnliche Bemühungen können nur Erfolg
haben, wenn sie von dem Hauptquartier der Mode ausgehen, so begiebt man
sich in einen oireulns vitioMs. Denn ist es unbestreitbar, daß Frankreich seine
Führerrolle den Kriegen und der Politik Ludwigs XIV. zu verdanken hat, so
gehörten eben zu dieser Politik auch die mannichfaltigen Maßnahmen zur
Hebung und Kräftigung des französischen Gewerbfleißes. Als am Hofe die
points as ?rMvs in die Mode gebracht wurden, war an eine Ausfuhr frau-
zösischer Spitzen noch nicht zu denken, man sorgte zunächst für ihren Absatz im
Lande selbst, schloß fremdes Fabrikat aus n»d gelangte erst allmählich dahin,
den Kampf mit den belgischen Kanten auch im Auslande aufnehmen zu können.
Heute sind die militärischen und diplomatischen Erfolge auf deutscher Seite, auch
eine nationale wirtschaftliche Politik wird eingeschlagen; die aber erfordert frei¬
willige, auf die großen Gedanken verständnisvoll eingehende Mitwirkung. Zu
solcher die Frauen aufzurufen, heißt nicht sie kränken, sondern sie ehren.
Und wer bringt denn gegenwärtig die neuen Moden auf und verbreitet
sie? Kourtiscmen, namentlich solche, welche außerdem Theaterprinzessinnen sind.
Wenn es einer solchen Person einfällt, eine Änderung am Kleiderschnitt vorzu¬
nehmen, welche ihre Reize erhöht oder ein Gebrechen maskirt, oder wenn
sie — für gutes Honorar — einen neuen Stoff, eine neue Farbennüance auf
die Bretter bringt, so bemächtigt sich der eleganten Damenwelt des zivilistrten
Europa ein brennendes Verlangen, jener Person so ähnlich als möglich zu
werden — äußerlich, wie sich von selbst versteht. Ist das notwendig? Ist das
würdig? Und dabei begegnet Deutschen und Engländerinnen noch so häufig
mehr als ein besondres Malheur. Wir haben höchst respektable Damen in
Kostümen gesehen, welche die anständige Pariserin ihren Erfinderinnen nicht
nachmacht; viel häufiger freilich werden die Moden acceptirt ohne Prüfung, für
welchen Zweck sie ersonnen wurden, zu welchem Wuchs, welcher Haut- und
Haarfarbe sie passen. Die Südländerinnen, das läßt sich nun einmal nicht
ändern, haben mehr angebornen Schick und treffen viel sicherer, was ihnen
steht — trotz der Vorliebe für „schreiende Farben," welche von Misses und
ältern Fräuleins gerügt zu werden pflegt. Umso dringender ist für unsre
Frauen die Ausforderung, neuen Moden gegenüber bedächtig zu sein. Wenn
sie sich felbst scheu könnten: natürlich nicht während der Herrschaft einer Mode,
sondern nach deren Verdrängung! Wenn sie an sich selbst vorüberzogen, einmal
im Reifrock (der von der Scmitäts- und der Sittenpolizei gemeinschaftlich ver¬
boten werden sollte, aber, wie man sagt, nächstens wieder anrücken wird, obgleich
keine junge Fürstin so närrisch ist, sich ihrer Hoffnungen zu schämen), dann mit
zusammengeschnürten Knien, bald mit der Schleppe den Staub zusammenkehrend,
bald kurzgeschürzt wie eine Bajadere, heute ein winziges Hütchen auf einem
Haarturme balancirend, morgen im Nacken und übermorgen auf der Nase, drei¬
zollhohe Absätze, nicht einmal unter der Ferse, sondern unter dem Fußblatte,
den Leib zusammengepreßt zum schwersten Nachteil der eignen und der Ge¬
sundheit künftiger Generationen — doch wo fände man ein Ende des Unsinns!
Wir erwarten gegen diese Ausführungen Protest von zwei Seiten. Hier
wird man rufen: Wir machen ja nicht jede Narrheit auf Kommando von Paris
mit, nur mit Auswahl und auch dann nur mit Maß. Darauf antworten wir,
daß die Bemerkungen nur auf diejenigen Frauen gehen, auf welche sie passen,
und daß wir bereit sind, Generalabbitte zu leisten, sobald man uns beweist,
solche Frauen gebe es nicht. Dort niber wird man uns belehren, daß es Mode¬
thorheiten gegeben habe, solange Menschen in Gesellschaft leben, daß gegen die
Thorheiten immer gepredigt worden sei und immer erfolglos. Das alles ist
richtig, aber nicht entscheidend. Vor allem ist ein Unterschied zwischen einst und
jetzt augenfällig. Die Trachten der Vergangenheit lassen sich in Beziehung setzen
zum Gesamtcharakter der Zeit; wenn jedoch die Gegenwart wirklich so beschaffen
wäre, daß sie dem Kaleidoskop entspräche, welches, aus Kostümbestandteilen
aller Zeiten, Nationen, Klimate znsanimengewürfclt, jährlich einmal oder mehr¬
mals geschüttelt wird, dann müßte mau wohl an ihr verzweifeln. Und was
das Predigen betrifft, so sind durch dasselbe überhaupt noch niemals Ver¬
brechen oder Thorheiten völlig ausgerottet worden, ohne daß ein vernünftiger
Mensch damit die Entbehrlichkeit des Predigtamtes beweisen möchte. Außerdem
haben die Sittenrichter oft das Kind mit demi Bade ausgeschüttet. In diesen
Fehler möchten wir nicht verfallen. Nicht gegen die Mode, den Wechsel, die
Freude am Neuen ziehen wir ins Feld; wir bilden uns nicht ein, daß wieder
ein langsameres Tempo im Wechsel angenommen werden könne, denn Stoffe
und Farben dauern ja heutzutage kaum solange wie die Moden, und Dank dem
nimmer ermüdenden Eifer der Chemie werden beide noch immer schlechter. Allein
wir sehen nicht ein, weshalb die Deutschen sich auf diesem Gebiete fort und fort
von derselben Nation gängeln lassen und derselben Nation tributpflichtig bleiben
sollen, deren Feindseligkeit, anstatt sich abzuschwächen, sich noch steigert; sehen
nicht ein, weshalb die deutschen Frauen durch ihre Ausgaben für ihren Putz
den Kriegsschatz des Feindes direkt oder indirekt stärken sollen. Bordeaux
wächst leider in Deutschland nicht, und Chianti würde den Ausfall nicht decken,
wenn wir auf französischen Wein absolut verzichten wollten. Aber die Kostüm-
und Musterzeichner und Fabrikanten, Schneider und Putzmacherinnen, welche
imstande wären, ohne Pariser Modelle neue, kleidsame, zweckmüßige nud an¬
ständige Trachten herzustellen, wird Deutschland doch wohl aufbringen, und an
entschlossenem Patriotismus werden die deutschen Frauen nach 1870 nicht gegen
Mogyarinnen von 1859 zurückstehen!
cum Frankreich sich zufrieden fühlt, so ist die Welt ruhig, sagte
einst der Kaiser Louis Napoleon, der nach Tocquevilles Ausspruch
ein Meister im „monumentalen Französisch" war, und es leidet
keinen Zweifel, daß jenes Diktum insoweit richtig ist, als, wenn
Paris, welches Frankreich bedeutet, zu murren beginnt, ganz
Europa die Ohren spitzt. Das ist gegenwärtig der Fall. Es herrscht seit einiger
Zeit in der Hauptstadt der Republik eine Krisis, die bis jetzt zwar nur wirt¬
schaftlicher Natur ist, nur auf gewerblichen Gebiete sich entwickelt hat; aber die
betreffenden ökonomischen und sozialen Fragen gehen in einer Stadt, wo an
hundert Stellen vulkanische Gluten glimmen, leicht in politische über. Die Suche
ist wohl noch nicht so schlimm, wie manche Artikel in deutschen Blättern sie
darstellen, dennoch verdient sie Beachtung, zumal da die Herren Gesetzgeber im
Palais Bourbon es sür geboten hielten, eine ganze Woche über sie zu ver¬
handeln. Der Notstand, über den sie debattirten, existirt unzweifelhaft, aber
wohl nicht in viel größerm Maße, als in jedem Winter der letzten Jahre. Die
Industrie liegt in vielen ihrer Zweige darnieder, und infolge dessen herrscht in
den Kreisen der arbeitenden Bevölkerung viel Elend. Aber niemand weiß recht,
wie dem Übel zu steuern wäre. Auch die Kammer wußte es nicht, obwohl
Vorschlüge zur Abhilfe genug laut wurden. Einer der Redner riet zur Erhöhung
der Schutzzölle, die in Frankreich schon sehr hoch sind, ein bonapartistischer
Abgeordneter erblickte das einzige Heilmittel in der Wiederaufrichtung des
Kaisertums, ein Parteigeuosse desselben meinte, die Wurzel des Übels sei in
der Genußsucht der arbeitenden Klassen zu suchen, ein Ultramontaner wies auf
die Kirche hin, die hier am besten Hilfe spenden könne, und wollte nebenbei die
Frage einem europäischen Kongresse zu internationaler Regelung vorgelegt sehen.
Tory Revillon, der radikale Deputirte der Vorstadt Belleville, verlangte Ein¬
schreiten des Staates, die Regierung sollte nach seiner Meinung eine Reihe
öffentlicher Arbeiten, z. B. die Pariser Stadtbahn, in Angriff nehmen und das
Marsfeld zur Bebauung mit wohlfeilen Wohnungen verkaufen. Der Minister
Ferry zeigte in längerer Rede, daß der Notstand nicht so schwer sei, wie man
ihn darstelle, und daß ihm mit den Vorschlägen, die gemacht worden, nicht ab¬
geholfen werden könne.
Sehen wir uns die Sache näher an. Der Notstand in Paris ist zum
großen Teile eine Folge der Politik Napoleons des Dritten und des Barons
Haußmcmn. Es gehörte zu dieser Politik, die Arbeiter von Paris bei guter
Laune zu erhalten, indem man eine große Bauthätigkeit entfaltete, und durch
dieses Verfahren wurde die Stadt im weitesten Umfange fast gänzlich umgestaltet,
indem ein Netz neuer Straßen und Plätze entstand. Infolge dessen gingen die
Löhne für alle Bauarbeiter wesentlich in die Höhe, und dies hatte wieder zur
Folge, daß Massen von Menschen sich vom Lande der Metropole zuwendeten.
Vor den Palästen der Reichen und den großen eleganten Zinshünsern der
Mittelklassen verschwanden aber eine Menge von Arbeiterwohnungen. Die Mieter
im Mittelpunkte der Stadt stiegen rasch bis zur llucrschwinglichkeit für den
kleinen Mann, und als mit dem Sturze des Kaisertums die Gelegenheit zur
Arbeit zu mangeln begann und bald beinahe ganz verschwand, sahen Tausende
sich brotlos. Eine Zeit lang lebten sie davon, daß sie als Nationalgardisten
Sold bezogen, und dann kam die Zeit der Kommune. Die Ereignisse während
dieser Periode zeigten, daß zwischen dem Bürgertum und den Arbeitern eine
tiefe Kluft bestand. Obwohl noch immer eine fremde Armee vor Paris stand,
haßten die Kommunarden die Versailler mehr als die Preußen, und in dem Ge¬
danken daran, daß sie Radikale und Sozialisten waren, vergaßen sie ganz ihre
Eigenschaft als Franzosen. Es ist nicht zu verwundern, daß die jetzige Wiederkehr
des Notstandes Erinnerungen an jene Zeit voll Schrecken wachruft. Tausende
von Pariser Arbeitern sind ohne Beschäftigung. Namentlich das Baugewerbe
liegt darnieder. Deutsche, Belgier und Italiener, bereit zu harter Arbeit, über¬
schwemmen Frankreich und sind zufrieden, für weniger Lohn mehr Stunden zu
arbeiten als der französische Maurer und Zimmermann. Sie von der Bewerbung
auszuschließen, ist unmöglich, weil man in solchen Fällen im Auslande Ver¬
geltung üben und die dort beschäftigten Frnuzoseu fortschicken würde. Ferner
wirkt der rege Unternehmungsgeist in Verbindung mit dem gewachsenen Geschick
in der Produktion in Deutschland und Italien beschränkend auf die französische
Ausfuhr. Die Statistik zeigt eine stetig sich steigernde Abnahme im Export nach
Deutschland; selbst 1882 wurden weniger Fabrikate dahin versandt als je in den
letzten zwanzig Jahren, und 1883 war es noch schlimmer. Auch der Handel
mit Italien, den Niederlanden, Österreich und Spanien zeigt einen Niedergang,
der zum Teil sich durch erhöhte Zolltarife erklärt, aber in der Hauptsache darauf
zurückzuführen ist, daß die Industrie in diesen Ländern große Fortschritte und
so die französische Zufuhr entbehrlich gemacht hat. Natürlich ist nun beim
Pariser der erste Gedanke, bitter über die Reichen zu klagen und nach Staats-
hilfc zu verlangen.
Ferrh antwortete darauf: Wenn Privatunternehmer ihre Geschäfte schließen,
so ist das nicht die rechte Zeit für den Staat, Werkstätten zu eröffnen. Die
Leihhäuser, diese Barometer des Notstandes, bestätigen, sagte er, die Klage, daß
das Elend allgemein sei, nicht. Paris ist im Zimmergewerke nicht bloß durch
das Zuströmen fremder Arbeiter gedrückt, sondern auch durch das Angebot
billiger Arbeitskräfte, die ans der Normandie und dem Jura käme». Dagegen
hat ein Pariser Fabrikant es fertig gebracht, in der Herstellung wohlfeiler
Spielsachen selbst Deutschland zu übertreffen, gewiß eine bemerkenswerte Lei¬
stung, wenn man bedenkt, was Nürnberg und das sächsische Erzgebirge auf
diesem Gebiete für ein paar Groschen dem Markte zu liefern vermögen. Die
Not unter den Maurern nud Zimmerleuten ist, wie der Minister weiter be¬
hauptete, der Bauwut der letzten sechs Jahre zuzuschreiben: man hat in dieser
Zeit zuviel kostspielige Hänser gebaut. Die Regierung war bereit, die Her¬
stellung wohlfeiler Wohnungen für Arbeiter zu sanktioniren, aber der Gemeinde-
rat wollte nicht. Um die Lage der Dinge zu mildern, wird man die Zahl der
an Landstraßen beschäftigten Arbeiter vermehren und überhaupt mit öffentlichen
Arbeiten energischer als bisher vorgehen.
Wir fürchten, daß weder Herr Ferry noch die Redner von der Farbe
Tory Revillons sich die Wirkung der von ihnen ins Auge gefaßten wirtschaft¬
lichen Maßregeln recht klar gemacht haben. Gewiß ist es eine ganz berechtigte
Verwendung der Staatskraft, wenn man ungesunde Häuser, die Herde ansteckender
Krankheiten, abreißt und durch gesunde ersetzt, aber die Herstellung billiger
Wohnungen für die Pariser Arbeiterbevölkerung könnte die Lage nur ver¬
schlimmern. Wenn hier Tausende ohne Arbeit sind, so liegt es doch aus der
Hand, daß die einzige Abhilfe darin besteht, daß dieselben Paris verlassen und
sich anderwärts Beschäftigung suchen. Statt dessen mischt sich die Regierung
ein und veranlaßt sie zu bleiben, indem sie ihnen billigere Mieter verschafft.
Die Arbeiter in der Provinz hören ferner, daß in Paris für Leute ihrer Klasse
mis Staatskosten wohlfeile Wohnungen hergestellt werden sollen, und natürlich
drängen sie sich auf diese Kunde nach dem Paradiese, das ihnen i» Aussicht
gestellt wird. Aber das Lebe» verlangt mehr als Wohnung, und selbst eine
umsonst zu habende Stube für den Arbeiter löst das Problem uoch keineswegs,
sie macht die Not nur ärger, da sie deu Blutandrang nach dem Gehirn, das
Zuströmen der Bevölkerung nach der Großstadt, vermehrt, und mehr Angebot
von Arbeit den Preis derselben, die Löhne, herabdrückt. Ein Arbeiter, der mit
einem Unternehmer unterhandelte, konnte sagen: „Ich kann mit dem oder jenem
Lohne nicht auskommen; denn ich muß so und so viel Franks wöchentlich für
eine Stube bezahle»." Thut aber jetzt der Staat Schritte, ihm für die Hälfte
der früheren Miete Unterkunft zu verschaffen, so fällt die Berechtigung des
Arbeiters zu höheren Lohne weg, und der Unternehmer kann den Lohn daraufhin
getrost herabsetzen, da die Veränderung der Mietpreise einen Andrang aus¬
wärtiger Arbeitskräfte zur Wettbewerbung um Beschäftigung veranlaßt hat, der
ihm doppelt so viel Hände zur Verfügung stellt, als sich ihm vorher boten.
Statt billiger Wohnungen im Zentrum der Großstädte sollte der Arbeiterfrcuud
vielmehr wünschen, daß sie teuer wären. Denn was würde die Folge sein?
Die Löhne in Berlin, Wien, London, Paris u. s. w. würden fortwährend in
die Höhe gehen, und die Arbeitgeber wurden genötigt sein, sie zu zahlen oder
ihre Fabriken anderswohin zu verlegen. Die Zustünde in London sind fast
mit jedcni Jahre unerfreulicher geworden, weil der Staat der städtischen Be¬
völkerung erlaubt hat, großenteils in elenden, ungesunden Häusern und Hinter¬
höfen zu wohnen, für die man verhältnismäßig geringe Mieter zahlte. Trotz
allem, was die Regierung thun mag, werden Großstädte wie London, Paris
und Berlin immer zu viele Einwohner von auswärts an sich ziehen, aber es
ist entschieden unklug, wenn man die unvermeidliche Vermehrung der Bevölkerung
solcher Städte noch dadurch beschleunigt, daß man den Zuzug durch die Lock¬
speise billiger Mietpreise verstärkt. In diesem Punkte sollte sich die Aktion des
Staates auf folgendes beschränken: die Behörde sollte den Besitzern ungesunder
Wohnungen nicht gestatten, sie zu vermieten, sie sollte die Hauswirte zwingen,
solche Wohnungen nach den Anordnungen der Gesundheitspolizei umzubauen
oder zu beseitigen, und sie sollte alle Hausbesitzer bestrafen, welche sich weigern,
dieser Pflicht nachzukommen, und welche darüber betroffen werden, daß sie un¬
gesunde Stuben, Kammern oder sonstige Räume dieser Art vermietet haben.
Mischt dagegen die Regierung sich in den Gang der Dinge in der Weise, daß
sie im Mittelpunkte großer Städte billige Wohnungen für Arbeiter herstellen
läßt, so wird sie die vorhandene» Übel nur schlimmer und die Aufgabe einer
Beseitigung derselben unlösbar machen. In den Landbezirken, in Städten von
Mittelgröße, selbst in den Vororten und Vorstädten der großen Metropolen
läßt sich die Unterbringung der Armen ohne erhebliche Schwierigkeit bewerk¬
stelligen. In Paris ist dies jetzt schon eine fast unmögliche Sache, und die
Unmöglichkeit muß eine absolute werden, wenn man dnrch Darbietung billiger
Unterkunft unter Dach und Fach noch mehr Arme, noch mehr Proletarier
dahin lockt, als die Stadt bereits in ihren Mauern beherbergt. Man sollte
sich deshalb dort lieber bemühen, zu zerstreuen, statt zu sammeln, Abzug zu
schaffen, statt das Zentrum des Landes weiter mit Elementen zu füllen, die
unter Umständen sehr gefährlich werden können.
Natürlich würde Frankreich nicht Frankreich sein, wenn die wirtschaftliche
Krisis nicht politische Quacksalber erzeugte. „Man bedecke das Marsfeld mit
Häusern und vermiete sie an unsre Proletarier" riet, wie erwähnt, der Ver¬
treter Bellevilles. „Man setze die Religion wieder in ihre Rechte ein und
stelle die alten Zünfte wieder her," perorirte de Mur, der klerikale Kreuz¬
fahrer. „Der Individualismus richtet uns zu Grunde, der christliche Kom¬
munismus wird uns retten." Das letztere ist eine alte Behauptung, die wir
auch bei uns, z. B. von Bischof Ketteler, gehört haben, und die man kurz
mit den Worten ausdrücken kann: Klöster sind besser als Armenhäuser. Indes
steht dem Glauben der Klerikalen an gute Werke der Fanatismus des Parisers
gegen alle Religion und allen Zwang gegenüber. Leute, welche die „Bourgeois"
nicht als Herren über sich anerkennen, werden schwerlich Mönche oder Zunft-
obermeister zu Diktatoren über sich wähle». Die wahre Gefahr liegt darin,
daß die äußerste Linke eines schönen Tages den Einfall haben kann, die Krisis
zu Parteizwecken zu benutzen und den Arbeitern die Flinte in die Hand zu
geben. Es hat etwas Komisches, zu sehen, wie Ferry den Blick von Tonkin
weg und den Straßen von Paris zuwendet, wo es jeden Tag eine Revolution
geben kann. Auch die Ausdehnung des französischen Kolonialgebietes verheißt
dem französischen Gewerbe keine Hilfe in der Not. Der Handel mit Algerien,
einer alten Kolonie, hat sich in den letzten zehn Jahren thatsächlich um
25 Prozent vermindert, ein deutlicher Beweis für den Umstand, daß bei unser»
Nachbarn nicht wie bei den Engländern der Handel der Fahne folge» muß.
Wen» das mit einer Besitzung der Fall ist, die Frankreich seit länger als einem
halben Jahrhundert gehört, so ist von der neuen Eroberung in Hinterindien
gewiß noch weniger zu hoffen. Im Hinblick auf jedwede Zunahme der Un¬
zufriedenheit in Paris werden alle Beobachter der französischen Politik sich
erinnern müssen, daß eine Revolte dort jetzt mehr Aussicht auf Erfolg hätte
als 1871. Alle Mittelpunkte der staatlichen Autorität liegen jetzt innerhalb
des Griffes des Pöbels, und Frankreich hätte jetzt, wenn die bösen Geister
von der roten Fahne sich gegen die besitzende Klasse erhöben, keine Regierung
und Gesetzgebung in Versailles, um die es sich sammeln könnte. Andererseits
freilich existirt in Paris auch keine Nationalgarde mehr, welche dem Volke der
Straße Mut einflößte und die Soldaten verführte. Die Revolution steht
sicher noch nicht vor der Thür, aber immerhin am Gesichtskreise, und schon
eines der nächsten Jahre kann sie bringen, und wer sich entsinne, was für
grimmige Leidenschaften vor dreizehn Jahren plötzlich erwachten, und wie bitter
die Überlebenden von den Kommunarden die Erschießungen und Deportationen
ihrer Genosse» empfanden, dem wird schon das erste Murren der Pariser
Unzufriedenheit unheimlich und Unheil bedeutend genug vorkommen.
ehe Tage später kehrte Frau von Mockritz aus dem Seebade zurück.
Sie gehörte zu jenen distinguirten Erscheinungen, bei denen so¬
viel schöner Anstand und soviel wohlthuender Weltschliff das erste
Wort haben, daß mir sehr anspruchsvolle Gemüter die Frage
auswerfen: Hat diese liebenswürdige Person auch Herz?
Solcher Superiorität gegenüber hätten weder Frau Anna noch der Fa¬
brikant, wenn sie wegen des lange vorenthaltenen Konsenses etwa zu Schmölle»
geneigt gewesen wären, sich zu behaupten vermocht. Möglich, daß dies Bewußt¬
sein keinem von beiden deutlich wurde. Jedenfalls betrat Frau von Mockritz
an der Seite ihrer rosigen und wie immer herzgewinnend zutraulichen Tochter
die Villa Anna nicht sobald, als auch schon eitel Freude und Befriedigung sich
des alten Ehepaares bemächtigten und das letzte nnßmntigc Wölkchen in Dunst
aufging.
Daß Berthold nicht zu Hause war, um seinen Antrag endlich mündlich
wiederholen zu können, that jetzt nichts zur Sache. Im Gegenteil. Wenn das
Herkommen beobachtet werden sollte, so war ja das Haus der Frau von Mockritz
der Ort, wo er „im Geleit seines lieben Herrn Baders" seine Werbung anzu¬
bringen hatte. Das konnte nun am nächsten Vormittage geschehen — etwa um
die Zeit des zweiten Frühstücks, prcizisirte Frau von Mockritz die Audienzstunde.
In einem Nebcnzimmergespräch streifte Frau von Mockritz dann noch flüchtig
den „verdrießlichen Vorfall mit den Hunden," eine Geschichte, die bis in das
Winkelblättchen des Seebades gedrungen sei, und über die Frau von Mockritz
ihrer Hermione deun auch den Text gelesen habe. Schon die Vormittags¬
visiten, sagte sie, wären ohne Zweifel besser unterblieben. Aber, mon äisu!
es ist freilich einem natürlich empfindenden Mädchen zu verzeihe», wenn sie
dem Wunsche ihres Verlobten, sie sehen und sprechen zu dürfen, nicht die Rück¬
sichten auf die Gesellschaft in schroffer Weise entgegensetzt. Nun, geschehen ist
geschehen. Sie haben beide, der verehrte Herr Papa wie die liebe gute Frau
Mama, ohne Zweifel alles aufgeboten, um diese heimlichen Stelldicheins zu
hintertreiben. Es ist Ihnen nicht gelungen. Bisons domus mirs an marons
jöu! Apropos, wann hatten Sie gedacht, daß die Hochzeit sein soll? Mein
Töchterchen spricht mir von einem unglaublich nahen Termin; Ihr Berthold
sei als Ingenieur eben kein Freund des alten ehrbaren Postkutschenteinpos.
Nun, kommt Zeit, kommt Rat.
Und man empfahl sich, ohne daß dem Ehepaare Zeit gelassen war, sich
wegen des Geschehenlassens jener Vormittagsstelldichcins zu rechtfertigen, was
ihm freilich schwer geworden wäre, denn Frau Anna hatte selbst mit dazu ge¬
than, und Kaspar Benedikt war der Meinung gewesen, er dürfe dem vornehm
erzogenen Fräulein nicht seine eignen spießbürgerlichen Ansichten und Grund¬
sätze aufdrängen, ebensowenig wie es ihm zustehe, seinen Sohn zu gängeln.
Am Abend dieses Tages gab es zwischen dem Ehepaar und dem Adoptiv-
sohn ein kleines Scharmützel.
Wir haben den Rücken herhalten müssen, begann Frau Anna, nachdem
über das Eintreffen und den sonst sehr freundlichen Besuch der Frau von Mockritz
einige Worte gewechselt worden waren; sie hätte gewünscht, daß diese heimlichen
Mvvrwiesenvisiteu unterblieben wären. Was sollten wir sagen? Sie hat Recht,
über dergleichen wird leicht gelästert. Wir haben die Strafpredigt über uns
ergehen lassen. Aber, lieber Sohn, mache dich darauf gefaßt, daß sie noch zur
nider Schule gehört. Widersprich ihr nicht, wenn sie morgen etwas darüber
fallen läßt.
Da Berthold keine Antwort gab, nahm anch Kaspar Benedikt das Wort.
Wenn es eine wirkliche Strafpredigt gewesen wäre, schränkte er Frau Annas
Bemerkungen ein, so Hütte ich schon nicht dazu geschwiegen, denn die Briefe
der Frau von Mockritz umgingen immer so sehr die Hauptsache, daß wir an¬
nehmen mußten, die gute Hermine wisse schon selbst genau, was sie zu thun
und zu lassen habe. Wie konnten wir ihr da Vorschriften machen wollen?
Ich habe in viele vornehme Häuser hineingeguckt, aber was sich nach adlichen
Begriffen ziemt oder nicht ziemt, das ist mir in den meisten Fällen durchaus
unklar geblieben. Morgen sollst du, mein Sohn, mit mir eine förmliche An-
tragsvisite machen. Es versteht sich, daß wir zu der von Frau von Mockritz
bestimmten Stunde hinüberfahren. Aber darf uns deine Mutter begleiten oder
nicht? Gehen wir in Frack und weißer Binde oder nicht? Stecke ich meinen
Orden an oder nicht? Hast du überhaupt einen Frack, und wird man andern¬
falls die brave Frau nicht verletzen, wenn man im Gehrock kommt? Sie ist
Witwe und, ihre Verhältnisse sind nicht brillant. Das ist ein Grund mehr,
ihr jede Rücksicht zu erweisen, auf die sie Anspruch hat. Ich habe Lust, morgen
früh bei dem Major von Stobbe etwas auf den Busch zu klopfen. Ich mag
niemand weh thun, und die Umgebung, in der wir uns nun einmal befinden,
legt uns auch die Verpflichtung einer gewissen standesgemäßen Haltung auf.
Wieder die merkwürdige Villa und ihre Fesseln!
Liebe Eltern, sagte Berthold, ohne aufzublicken, wenn Ihr auf meine
Wünsche einiges Gewicht legen wollt, so unterbleibt jene Visite, bis ich ganz
wiederhergestellt bin.
Du meinst wegen des Pflasters ans deiner Backe, rief Frau Anna; aber
das steht dir ja garnicht übel, und dann, was hat eine Narbe, selbst im Ge¬
sicht, bei einem Manne zu bedeuten? So sehr auf das Äußere ist Frau von
Mockritz überhaupt nicht erpicht. Wißt Ihr was, Kinder? Ich gehe gleich noch
auf einen Sprung hinüber und bespreche alles mit meiner kleinen Hermine.
Den Major mit seinen ewigen Aktienprospekten brauchen wir garnicht erst zu
konsultiren.
Liebe Mutter, sagte Berthold wieder, ich bin seit jenem Abend meiner
Braut nicht zu Gesicht gekommen, und ich hatte meine Gründe dafür. Sie ist
sehr nervös und fiel damals in Ohnmacht, sobald man mich ins Haus schaffte.
Bis ich ganz wieder der Alte bin, möchte ich weder ihr noch ihrer Frau Mutter
unter die Augen kommen.
Das kann aber noch Wochen dauern, meinte der Fabrikant.
Umso besser!
Wieso umso besser? rief das Ehepaar.
Berthold schwieg.
Dahinter steckt etwas, forschte Kaspar Benedikt.
Kind! rief die Mutter, du fürchtest doch nicht etwa, dir könne wirklich ein
Unglück drohen? Das wäre ja entsetzlich! Und über ihre Wangen strömten
die Thränen.
Wasserscheu! entfuhrs nun auch dem Munde des Fabrikanten; du fürchtest,
der Hund sei oder werde noch toll? Schon die bloße Furcht soll ja die übelsten
Folgen haben können. Sei doch kein Kopfhänger. Ich habe gestern eine ganze
Stunde lang vom Zaune aus dem Treiben des Übclthäters zugesehen. Gott
sei Dank, er steckt in ganz heiler Haut. Wir fahren morgen, wie wir gehen
und stehen, zur Villa Mockritz. Man muß euch nur mit Bedenken kommen!
Aus einer Mücke wird gleich ein ganzer Schwarm.
Aber am nächsten Vormittage hatte sich der Mückenschwarm schon in eine
Wolke verwandelt, in der es blitzte und donnerte.
Vater, sagte der Amerikaner, zwingt mich nicht, diesen mir widerwärtigen
Weg zu machen. Es möchte übel ablaufen.
Du scheucht dich also wirklich vor dem Hunde? fragte der Fabrikant, und
seine Lippe zitterte; ihm hatte die ganze Nacht von Wasserscheu geträumt.
Ich wäre ein schlechter Mensch, wenn ich euch in der Sorge lassen wollte,
mich verfolgten Tvllwutsbcfürchtnngen, sagte Berthold; ich bin nach dieser Seite
ganz ohne Sorge.
Du hast ja auch selbst, bestärkte ihn darin der Fabrikant und atmete auf,
»uscrm Arzte gesagt, dir sei gleich auf der Stelle — ich meine von Herminens
Jungfer — alles an Maßnahmen nnr Denkbare zu Teil geworden; wir wollen
sie heute noch frage», ob ihr ein Geldgeschenk oder el» neues Kleid lieber sei,
ich hätte das gleich am ersten Tage thun sollen. Aber du willst ja nicht mit
i» die Villa. Was ist dir denn? Heraus mit der Sprache!
Berthold ließ sich noch ein paarmal zurede», ehe er den Mut faßte, zu
sprechen.
Endlich sagte er: Vater Hartig, mache dich auf das schlimmste gefaßt. Ich
liebe Hermine nicht. Es war ein Irrtum.
Junge! brauste der Fabrikant zornig auf nud ballte die Faust. Er mußte
sich setzen. Rufe deine Mutter. Aber nein. Ein Glück, daß sie nicht da ist.
Das ist ja der helle Wahnsinn. Gott sei Dank, daß uns niemand gehört hat.
Du liebst das Mädchen nicht und bringst sie dennoch in so dreister Weise um
ihren guten Ruf!
Ich war wie verzaubert.
Unsinn!
Es war doch nicht anders.
Schäme dich. Nur Feige reden solches Zeug. Verzaubert! Und du kommst
aus Amerika, aus dem Lande des Skeptizismus und der starken und selbstän¬
dige» Persönlichkeiten! Verzaubert! Da steht ein Buch i» der Bibliothek. I»
den, schiebt ein Ritter Iwein alle Thorheiten, die er begeht, ans Frau Minne.
Aber ein halbes Jahrtausend ist seitdem verstrichen. Heute kommt man mit
solchen Ausreden nicht mehr durch. Verzaubert oder uicht! Was ließest du
dich verzaubern? Hast du mir nicht Tag für Tag in den Ohren gelegen, ich
solle dir erlaube«, um sie anzuhalten? Habe ich nicht wieder und wieder ge¬
sagt: Zeit lassen, Zeit lassen, Zeit lassen! Jetzt ist in allen Häusern bekannt,
daß Fräulein von Mockritz deine Braut ist. Jetzt heißt es: Wort halten!
Berthold, wie haben wir uns in dir getäuscht!
Frau Anna hatte in der Küche mit Besorgnis die Ohren gespitzt. So
lant war in der merkwürdige» Villa noch »le geredet worden. Sie faßte sich
in ihren Küchenmwrdnungen deshalb ganz kurz und eilte dann treppauf.
Kaspar, wo bist du? was giebt es? rief sie. Aber der Fabrikant hatte
schon den Kampfplatz geräumt. Nur Berthold stand noch händeringend da.
Nie war es ihm vorgekommen, mit mehr Kopflosigkeit an eine Unternehmung
gegangen zu sein. Alle Schuld traf ihn, einzig ihn, und der Vater hatte
Recht; nichts ließ sich gegen das, was der Vater sagte, einwenden. Welch
ein Wirrnis!
Frau Anna zog den wortlos ihren Fragen gegenüber Stehenden auf eine
Chaiselongue und brachte ihn durch Zureden und Streicheln endlich zum Aus-
sprechen.
Was sie erfuhr, war zunächst das Nämliche, was ihre» Gatten schon um
seine Fassung gebracht hatte, und ohne ihre Eau de Cologne-Flasche wäre sie
wohl kaum ihrer Sinne mächtig geblieben.
Aber eine Mutter muß sich in jeden Herzenswinkel ihres Kindes hinein¬
denken können, beherrschte sie sich endlich; las; mich alles erfahren, lieber Sohn.
Dn warst doch so glücklich! Wir hatten so gut für dich zu sorgen geglaubt!
Hermine ist so ganz, was in diese Räume hineinpaßt! Wie hätte sichs besser
treffen können!
So redete Frau Anna, und da der Sohn auf alles, was sie sagte, nur
die eine Antwort hatte: Ich habe mich dennoch getäuscht. Macht mich und sie
nicht fürs ganze Leben unglücklich! so belehrte ihr weiblicher Scharfsinn sie
endlich, daß sich eine andre Neigung des verzweifelnden Bräutigam? bemächtigt
haben müsse.
Nicht, daß ich wüßte, war die Antwort.
Doch, doch, bestand darauf Frau Anna.
Ich bin mir wirklich keines andern solchen Gefühls bewußt, beteuerte
Berthold, und er glaubte, nicht die Unwahrheit zu sagen.
Dann machst du mich erst recht traurig, rief Frau Anna; nichts Entsetz¬
licheres als ein Hagestolz! Wenn du diese Partie nicht willst, so sehe ich klar,
wie es werden wird. Du hast schon die Zeit des rechten Verliebens verpaßt.
Dein Kopf ist mit Rädern und Turbinen und Schrauben angefüllt. Wenn du
doch nie in die Fremde gezogen wärest, vor allem nicht nach Amerika!
Ich weiß ja, wie es da hergeht. Erst neulich hat mir dein Vater von einem
Staat vorgelesen, in welchem Tausende von Männern seit Jahr und Tag an¬
gesiedelt sind und wo noch kein einziges Ehepaar zu finden ist. — Und ohne
daß sie es aussprach, gab es ihr bei dem Gedanken an das nun wieder hoff¬
nungslos öde „Enkelzimmer" einen solchen Stich ins Herz, daß sich ihre Augen
mit Thränen füllten.
Berthold reichte ihr die Hand.
Liebe Mutter, sagte er, du sorgst dich ohne Not. Ich habe nie früher
eine solche inbrünstige Sehnsucht mich einer recht stillen, einfachen, mich selbst
beruhigenden und abklärenden Hausfrau empfunden wie in den letzten Tagen.
Es wird sich eine solche finden, wenn ihr mir nur Zeit lassen wollt, mich selbst
erst wieder von dem Sturm, in dessen Wirbel ich hineingeraten war, zu erholen.
Sonderbar, sagte Frau Anna.
Es kam alles zu plötzlich.
Aber wie oft hat dein Vater gesagt: Zeit lasse», Zeit lassen! Du warst
ja nicht zu halten.
Wenn euch auch gewiß nicht die Schuld trifft, mir die Wege zu sehr
gebahnt zu haben, so bahnten sie sich doch vielleicht zu rasch.
Welch eine Lehre für die weibliche Jngend! sagte Frau Anna kopfschüttelnd.
O nein! Ich allein muß mich anklagen. Warum bildete ich mir ein,
ein schönes Mädchen habe auch vor allem ein Herz!
Welch eine bittere Lehre! wiederholte Frau Anna, ohne den Zusatz zu be¬
achten; und niemand ist da, um sie zu hören!
Liebe Mutter, sagte Berthold, hilf mir nur vor allem jetzt einen Weg aus¬
findig machen, um Fräulein von Mockritz nicht an ihrem Rufe zu schädige».
Finde einen! Ich glaube, du wirst vergebens suchen, gab Frau Anna
ratlos zur Antwort.
Die Verlobung ist noch nicht dcklnrirt, versetzte Berthold, Frau von Mockritz
hat meinen Antrag erst nach persönlicher Bekanntschaft annehmen wollen. Sie
muß jetzt diejenige sein, welche mich zurückweist.
Du siehst, wohin wir gelangen! rief Frau Anna schmerzlich; wie vielen
haben wir von dir erzählt! wie oft haben wir dein Bild gezeigt, aus deinen
Briefen vorgelesen! Jetzt können wir die Villa nnr wieder verkaufen. Alles
wurde hier bewundert. Auf einmal soll es heißen: aber von dem Sohne darf
man nicht sprechen; in jedem Hause giebt es irgend eine düstre Ecke, auf die
der Besucher nicht achten darf. — Dein Vater wirds nicht überleben. — Und
deine heimlichen Besuche!
Die müssen geleugnet werden.
Nach dem Auftritte mit den Hunden?
Die, müßt ihr sagen, hatte das Fräulein von der Kette lösen lassen, um
sich vor meinen Zudringlichkeiten zu schützen.
Frau Anna ergriff die Hände ihres Sohnes: Mein ehrlicher, mein guter
Berthold! rief sie.
Ich kann euch, liebe Eltern, sagte Berthold, das Leid nicht ersparen, daß
man mich eine Zeit lang für einen leichten Vogel ansieht. Aber wird der
Vater mir noch böse sein, wenn ich ans diese Weise wenigstens das Fräulein
rette?
Ob er dir böse ist, weiß ich ja gar nicht, sagte Fran Anna, vielleicht ist
^ nur traurig. Traurig aber bin auch ich. Wir haben uns das Wort ge¬
geben, dich uicht durch eine unebenbürtige Heirat unter unseru Stand hinab¬
steigen zu lassen. Welches Mädchen ans gutem Hause wird aber einen Menschen
wollen, gegen den eine andre sich in jener eklatanten Weise schützen mußte!
Bildung macht in der That frei, sagte Kaspar Benedikt am folgenden
Morgen zu seiner Frau, es ist etwas Wunderbares um gute Bücher. Ich war
gestern in einer jener gehässigen Gemütsverfassungen, in denen man Kinder ent¬
erbe. Heute bin ich, um unserm armen Jungen nicht zu begegnen, in unsre
Bibliothek gegangen, und siehe da: mir ist die gestern eingetretene Wendung
fast lieb.
Du bist immer die Herzensgüte selbst gewesen, antwortete Frau Anna,
ohne die Miene zu erheitern.
So mußt du, was ich meine, nicht auffassen, protestirte der Fabrikant.
Wenn ich heute auf dies und das, was mir früher an Fräulein von Mockritz
nicht gefallen wollte, zurückgeführt worden bin, so danke ich das der Schilderung,
die ein gewisser Plinius, ein Römer, von seiner jungen Frau entworfen hat.
Wie du nur alle die fremde» Sprachen so rasch erlernst!
Ich halte mich ja an das Bücherfach, wo die Übersetzungen stehen. Aber
daneben fand ich noch ein weit lehrreicheres Buch, und bei dem sind mir schier
die Haare zu Berge gestiegen.
Doch nicht mit Beziehung auf Hundebisse?
Nein, sagte der Fabrikant, mit Beziehung auf die Mittel, deren sich junge
Damen in der Zeit, wo jenes Buch geschrieben wurde, bedienten, um junge
Herren um ihre fünf Sinne zu bringen.
Laß hören, rief Fran Anna; ich bin doch neugierig, ob deine Frau nicht
selbst dabei ans schwarze Brett kommt. Es ist abscheulich, was die Männer
uns alles nachreden.
Was dich, meine liebe Alte, betrifft, beschwichtigte sie Kaspar Benedikt, so
bist du mir einzig bei jenem bewundernden Briefe des alten Römers gegenwärtig
gewesen, und ich gedachte unsrer ersten glücklichen Jahre, über die ich freilich
damals an deine gute Mutter nicht in so zierlicher Weise zu referiren verstand,
wie Plinius an die Tante Hispulla. Aber über die kleinen Kniffe und Schliffe
der jungen Damen schrieb jene andern Beobachtungen nicht ein Mann nieder,
sondern ein junges hübsches Mädchen, das trotz ihrer Hübschheit um ihres an¬
ständigern Verhaltens willen von den jungen anderweit verzauberten Herren
sogut wie nicht beachtet wurde.
Also aus Neid macht sie andre schlecht.
Vielleicht lief etwas Neid mit unter. Aber Neid schärft die Augen, und
ist auch, was sie beobachtet haben will, gewiß nicht die Art aller jongen
Damen —
Gewesen —
Gewesen — meinetwegen! — so frappirte mich doch manches, als hätte
ich dergleichen selbst —
Kaspar Benedikt!
Vor Zeiten, wo ich noch öfter junges Volk Verkehren sah, wahrgenommen,
ohne freilich zu ahnen, daß sich hinter den Eigentümlichkeiten im Benehmen der
einen und der andern nur Berechnung verbarg.
Unsinn, Alter.
Je nun, wir sind beide nach dieser Seite hin die Unschuld selbst —
Gewesen, denn du wenigstens scheinst jetzt den armen Mädchen tief in die
Karten geguckt zu haben.
Sa hast du also nie darauf geachtet, daß es junge Damen giebt, die
immer ins Zimmer gelaufen, statt gegangen kommen, und über deren Atcm-
lvsigkcit — denn sie spielen immer noch die lieben Kinder — die Mutter alle-
mal von neuem schilt, indem sie doch nichts lieber sieht, als wenn jetzt auch die
jungen Herren sich, tadelnd oder für die lose Kleine Partei ergreifend, ein¬
mische, worüber denn alle ruhig eintretenden jungen Damen unbemerkt bleiben?
Nein, sagte Frau Anna, so etwas habe ich mein Lebtag nicht wahr¬
genommen.
Auch nicht, daß ein junger Herr plötzlich errötet, weil er, unversehens sich
uniblickend, eine junge Dame, die ihn seit längerm mit Interesse beobachtet haben
mußte, rasch in andrer Richtung blicken und dabei sehr verlegen werden sieht,
worauf er natürlich nun die nächste Gelegenheit benutzt, um sich ihr zu nähern?
Was doch die Mißgunst alles ersinnt!
Auch nicht, daß einige junge Damen immer irgendwo ihren Florshawl
liegen ließen und nun auf besonders graziös cinstudirte Weise mit den Schul¬
tern zusammenschaudern, bis die sofort auf die Suche gegangenen Herren mit
allerhand Tüchern anlangen, wo es nnn an ein Ein- und Wiederauswickeln
und ein überaus heiteres Lachen geht, worauf besagte Schultern doch lieber
unbedeckt bleiben möchten, was den jungen Herren nnn erst recht lustig dünkt?
Geh, man kann aus jeder Blume Gift saugen.
Und die Liebhaberei einiger Dämchen für ganz niedrige Stühle? Die
verschiednen Methoden, um das Wiegen in Schaukeln und in Hängematten aufs
Tapet zu bringen? Nicht zu reden von dem Übermaß an Zärtlichkeiten und
um Küssen, deren sich einige junge Mädchen untereinander hingeben, aber Nota¬
bene nur in Gegenwart —
Von Herren! Natürlich! Geh, geh, ich werde unsre Bibliothek vernageln lassen.
Aber Kaspar Veucdikt war nicht der Mann, der zum bloßen Zeitvertreibe
las. Mochten, wie die Schreiberin jener Beobachtungen behauptete, neben den
unscheinbar und still sich bcnchmcndcn jun.gar Damen immer einige, und zwar
die von den Herren bevorzugtesten, sein, die dergleichen Kunstgriffe förmlich vor
dem Spiegel, ja unter Anleitung ihrer Mutter einübten, oder mochte, was sie
an Allotria trieben, bloße Eingebung des Augenblicks sein, Kaspar Benedikts
altes Mißtrauen gegen Fran von Mvckritz und ihre schöne Tochter war wieder
wach geworden.
Daß Berthold es über sich gewinnen kann, einer so bestechend ausgestat¬
teten jungen Person zu entsagen, summirte er seine Reflexionen auf, ist immer
aller Ehre« wert, und wir dürfen uns nicht vermessen, ihn zu meistern,
Frau Anna widersprach nicht, und so blieb nur noch die Form zu erwägen,
in welcher der Rückzug angetreten werden sollte.
Berthold wurde also in das Herrenzimmer beschieden, das mit seiner licht
genäherten Balkendecke, mit seinem aus Wappen, Sprüchen und Früchten be¬
stehenden Fries, mit seinen Mosaiktrnhen, Krüger, Kannen, Degen und Ge¬
wehren, mit seinen von kostbaren Applikationsarbeiten bedeckten Fenstcrsitzen und
seinem breiten, stattlichen Scrpentinkamin allerdings besonders gut geeignet war,
um dem Advptivsvhnc dieses Hanfes vor allem ins Gedächtnis zu rufen, daß,
wenn man ihm gestatte, dem schönen Fräulein von Mockritz zu entsagen, man
doch nie Willens sein werde, eine wesentlich tiefer stehende Schwiegertochter „in
diesen Räumen" willkommen zu heißen.
Dies wurde ihm, als er, um den Beschluß der Eltern zu vernehmen, er¬
schien, denn auch durch den Fabrikanten zu allernächst auseinandergesetzt, worauf,
nachdem er warm und innig gedankt hatte, das der Braut und der Braut¬
mutter gegenüber zu beobachtende Verhalten beraten wurde.
Am liebsten hätte sich Frau Anna selbst dem peinlichen Geschäfte unter¬
zogen. Sie war dem Weinen wieder fortwährend nahe und glaubte vorans-
zucmpfindcn, wie sehr es ihr und gewiß auch den andern beteiligten Frauen
gut thun würde, wenn sie sich alle drei recht herzlich ausweinen könnten.
Aber der Fabrikant hielt die Sache nicht für darnach angethan, um unter
Frauen abgemacht zu werden.
Ich bin der einzige, dessen Gemüt verhältnismäßig unbeteiligt ist, sagte er,
und es kommt darauf an, daß jedes in dieser Angelegenheit zu sprechende Wort
unter der Kontrole des Verstandes steht. Ich nehme keinerlei Verhaltuugsvor>
schriften mit. Als Anno zweiundfünfzig meine Arbeiter rebellirten und als ich Anno
siebenundfünfzig, zur Zeit der großen Krise, mein Schiff zwischen den Klippen
allseitiger Insolvenzen durchsteuern mußte, da glaube ich mich größern Schwierig¬
keiten gegenüber befunden zu haben, als sie hier sich mir in den Weg stellen.
Dornenvoll ist der Pfad, der vor mir liegt, aber gehen darf nur ich ihn.
Schreibe du, mein Sohn, fügte er hinzu, deine Entschuldigungen, so der
Mutter wie der Tochter. Deine Botschaft überbringen werde ich.
(Fortsetzung folgt.)
Es muß jeden Vaterlandsfreund mit Freude und den besten Hoffnungen für
die Zukunft erfüllen, aus diesem Buche zu sehen, wie kräftig das deutsche Volkslied
im Elsaß noch blüht. Mehrere hundert Lieder werden uns hier vorgelegt, die auf
Wanderungen durch das Land unmittelbar aus dem Volke geschöpft, also kein totes
Gut, sondern noch lebensvoll sind. Der Herausgeber versichert deren treue Wieder¬
gabe. Oft genug allerdings fühlt man sich aufgefordert, die Verse einzurenken, die
Verlornen Reime herzustellen u. s. w. Auch wundert es uns, daß nicht mehr Mund¬
artliches durchblickt. Natürlich begegnen unter den Liedern viele schon anderswoher
bekannte, aber doch mit häufig interessanten Abweichungen. Lieder, die zwar im
Elsaß gesungen werden, die aber durch ganz Deutschland verbreitet sich fast in
jeder Liedersammlung finden, sind ausgeschlossen, werden jedoch in einem besondern
Verzeichnis aufgeführt. Wie die alten Lieder auch den neuesten politischen Ver¬
hältnissen schon in neuen Versionen Rechnung tragen, zeigt uns ein Soldatenlied
aus Dracheubronn (Kreis Weißenburg), worin die letzte Strophe lautet:
Und unser Kaiser Wilhelm
Hat auch schon gesagt,
Daß alle junge!« Biirschelei»
Müssen werden Soldat.Die hübschen und die feinen,
Die sucht er sich heraus.
Die Kammer und die Lahmen
Die schicket er nach Haus.
Eine chronologisch geordnete Znsanunenstellung aller Stellen ans den 22 Bände»
von Heines sämtlichen Werken, worin über Goethe geurteilt, Goethe zitirt oder
Parodirt, ja überhaupt Goethes Name nur genannt wird. Wenn erst die fabel¬
haften Heinescheu Memoiren ans Licht getreten sein werden, können wir noch einen
Nachtrag erleben. Der Himmel bewahre uns vor mehr solchen Büchern! Das
im Laufe der Zeit schwankende Verhältnis Heines zu Goethe ließ sich — wenn
denn dies Thema gesondert behandelt werden sollte — auf wenigen. Seiten beleuchten.
Aber aus der Materialiensammlnng zu solch einem Aufsatz ein besondres Buch
gemacht zu sehen, ist wenig erfreulich.
Die erste Frage, die beim Aufschlagen dieses Buches auftaucht, ist natürlich die:
Wie verhält es sich zu Büchmann? Die Vermutung, die der Titel erweckt, daß
i's — außer den Sprichwörtern — nur Zitate im engern Sinne, d. h. wörtlich ange¬
führte Schriftsteller bringe, trifft nicht zu. Denn es finden sich auch genng jener frei-
Zügigen Wendungen darin, die nicht sowohl wörtliches Zitat sind, als die Summe
eiuer Erzählung, einer Anekdote ziehen, oder ans der ans einem Charakter ent¬
wickelten Vorstellung beruhen („Ein keuscher Joseph") oder nur auf mündliche
^ geschichtliche oder ungeschichtliche — Äußerungen zurückgehen. Merkwürdig
sagt Zeuschner: „Daß ein Teil der in G. Büchmanns »Geflügelten Worten« ge¬
gebenen Zitate auch von mir aufgenommen werden mußte, liegt auf der Hand:
wie hätte ich ihrer entraten können, wenn ich relative Vollständigkeit anstreben
wollte!" Nicht „ein Teil," sondern die Mehrzahl der Zitate im Büchmann, der
überhaupt stark benutzt ist, sind aufgenommen. Auch das Wort „international"
im Titel ist irreleitend. Zitate aus fremden Schriftstellern und in fremden Sprachen
sind doch auch nur aufgeführt, insofern sie in Deutschland zitirt zu werden pflegen,
sodnß anch Zenschner nnr einen „Zitatenschatz des deutschen Volkes" — wie Büch¬
manns Nebentitel lautet — liefert. Ja er vernachlässigt gegenüber Büchmann die
fremdländischen Zitate sogar in auffälliger Weise; eine große Reihe der allerbe-
kanntesten vermißt man, wie. beispielsweise: II n'x s, plus ä'sMnts, I,s se>M cose
i'Iwnuinz, Soliumzu missris ete., Homo suo; IiuMMi nilül a, no alismiiu xutv,
0äMllt,, aum rmzw-we. Andre finden sich nur in deutscher Übersetzung oder doch
bloß bei derselben, sodaß sie, da ein Hinweis im Register fehlt, schwer aufzu-
finden sind. In allen diesen Dingen, wie mich in der Auswahl der Sprichwörter
und ihrer Varianten in andern Sprachen sucht man vergebens nach maßgebenden
Gesichtspunkten.
Nach ungefähren Überschlag bringt Zenschner etwa doppelt soviel Zitate wie
Büchmann. Die große Masse dieses Überschusses sind nun die „Lesefrüchte/' Sen-
tenzen aus bekaiiuteru deutscheu Schriftstellern, von denen viele nur insofern Zitate
zu nennen sind, als sie sich dazu eignen, auch gelegentlich einmal zitirt zu werden.
Da ist natürlich ein sehr weites Feld eröffnet, und man wird manchmal dem Heraus¬
geber dankbar sein, wenn man auf die quälende Frage: Von wem ist das nur?
die erlösende Autwort erhält. Die Einrichtung des Buches, die am stärksten von
Büchmann abweicht, erleichtert dies. Sämtliche Zitate sind nach den Anfangs-
worten streng in einem Alphabet geordnet; für das wankende Gedächtnis sorgt ein
alphabetisches Register der Hauptstichwörter. Unter jedem Zitat ist kurz (oft zu
kurz!) sein Ursprung angegeben; auf irgend eine Erörterung läßt sich Zenschner
nicht ein, er acceptirt dankbar Büchmanus Resultate und verweist häufig auf diesen
zu weiterer Belehrung. Es hätte noch öfter geschehen können, wie beispielsweise
bei Vstsrum evnMv, wo die Unterschrift lig,to major? wenig belehrend ist. Ein
andermal wundert man sich, bloß einen Hinweis ans Büchmann zu finden, wo es
sich um ein zweifelloses Zitat aus einem ganz bestimmten Schriftsteller handelt,
wie bei ?u I'as voulu, Kooi'M vimäin. Man sieht aus allem, daß es an einer
sichern, zielbewußter Hand gefehlt hat. Zcuschuer wollte ein Werk schaffen, das
neben Büchiimnn einen selbständigen Wert hätte, konnte aber die Abhängigkeit von
diesem nicht abschütteln und sich über seine leitenden Grnndsütze, nicht klar werden.
Die Ausstattung des Buches ist ganz hübsch, der Druck in den fremdsprach¬
lichen Zitaten aber bisweilen inkorrekt; namentlich stört in den französischen der
stets an Stelle des ^rsut et'union gesetzte Gedankenstrich.
Es sind das drei Novellen, von dem in der geschichtlichen Wissenschaft wohl¬
bekannten Braunschweiger Stadtarchivar L. Hänsclmann verfaßt. Sie spielen sämtlich
in der Stadt Braunschweig, die erste und kürzeste, der „Nickerknlk," in frühgeschicht¬
licher Zeit (um 1000), „Hans Dillem der Türmer" in der zweiten Hälfte des
14. Jahrhunderts, die letzte, am ausführlichsten behandelte, „Amt Porners Weih-
nachtsgespcnst," etwa hundert Jahre später. Aus der jetzt sehr hochgehenden Flut der
historischen Novellistik möchten wir diese Erzählungen besonders deshalb hervorheben,
weil in ihnen der Hauptfehler derartiger Erzeugnisse, moderne Menschen in alten
Trachten zu schildern, uns glücklich vermieden zu sein scheint. Sie sind wirklich
ans dem Geiste der Vergangenheit, die sie lebensvoll wiedergeben, erfunden und
geschrieben. Die Handlung geht naturwahr aus der Anschauungsweise der jedes¬
maligen Zeit hervor; auch die Schilderung der Nebenumstände, Zeitverhältnisse,c.
erregt nirgends Anstoß. Wir werden wirklich hineingeführt in das Leben und
Treiben einer mittelalterlichen Stadt. Dem Inhalte aber entspricht auch die Dar¬
stellung und die Sprache. Letztere bildet einen eigenartigen, aber, wie uns dünkt,
durchaus geglückten Versuch, das niederdeutsch der damaligen Zeit in nenhoch-
dentsche Form umzugießen. Der Ausdruck gewinnt dadurch deu treuherzigen Ton
der alten Sprache, durch den die tiefe Empfindung, welche besonders die zweite
Erzählung beseelt, und in welche der oft derbe Humor der Zeit seine Schlaglichter
wirft, zu schönster Wirkung kommt.
Wer also Herz und Sinn besitzt für unsre deutsche Vergangenheit, dem seien
diese Novellen bestens empfohlen. Die Ausstattung ist sehr ansprechend; die von
E. Retemeyer im Geiste der Dichtungen entworfenen Kopf- und Randleisten ge¬
reichen dem Buche zur Zierde.
v darf man im Hinblick auf die letzte Nachricht ausnifen, welche
in der verflossenen Woche aus dem östlichen Sudan eintraf.
Auch Baker Pascha, der von Trinkitat am Roten Meer aus der
bedrängten Besatzung von Tokar zu Hilfe zu kommen versuchte,
ist von den Truppen des Mahdi in einem Treffen bei den
Brunnen von Teb, das am 4. Februar stattfand, aufs Haupt geschlagen worden,
und wenn infolge dieser Hiobspost die ersten Reden in dem soeben eröffneten
englischen Parlamente viel Niedergeschlagenheit und Beklemmung verrieten, so
ist das begreiflich. Es war hinsichtlich der erwarteten Debatte über die ägyp¬
tische Frage viel auf den Inhalt der Telegramme angekommen, die man aus
Sualin zu hoffen oder zu fürchten hatte, Sie trafen ein, und die Kunde, die
sie brachte», war düsterer, trauriger, unheilvoller und bedrohlicher, als selbst die
Schwarzseher sie sich gedacht hatten.
Das kleine von Baker und Sartorius geführte Entsatzheer, das die schwer
gefährdete Garnison von Tokar freimachen sollte, ist ans seinem Marsche von
den Aufständischen aufgehalten, mit Ungestüm angegriffen, geschlagen und in
vollständiger Auflösung, sowie mit einem Verluste vou 2000 Mann, d. h. mehr
als der Hälfte seines Truppenbestandes, nach der Seeküste bei Trinkitat zurück¬
getrieben worden. Die vier Kruppsche» Geschütze und die beiden Gatling-
kaiionen, die es mit sich führte, sind samt dem größten Teile der Munition, des
Proviants, der Bagage und den Lastkamelen der Armee in die Hände der
Feinde gefalle», welche die Flüchtlinge mehrere Meilen weit hitzig verfolgten.
Baker und Sartorius haben sich nach vergeblichen Versuchen, die wankenden
Reihen vom Auscinanderlaufeu abzuhalten, wie durch Wunder nach Trinkitat
gerettet und sind darauf uach Suakin zurückgekehrt, von wo ersterer sein Un-
glück nach Kairo und London telegraphirt hat. Die Schlacht hat zehn eng¬
lische Meilen von Trinkitat, wo Baker mit seinen Leuten sich ausgeschifft hatte,
stattgefunden. Brav gehalten haben sich während derselben mir die englischen Offi¬
ziere, von denen die meisten gefallen zu sein scheinen, die ans Europa rcknitirtcn
Polizcisoldate» und die türkische» Truppen, die Mann für Mann znsammcn-
gehauen wurde». Die Überlebenden bestehen fast mir aus Ägypter», dere» Un-
geübtheit und Feigheit man das schwierige Unternehmen im wesentliche» anver¬
traut hatte. Ein kläglicher Anfang für das n»u zur Wirklichkeit gewordene
Protektorat Englands über Ägypten.
Fürwahr, wenn Gladstones Politik in den ägyptischen Angelegenheiten nicht
eine sehr tiefe und hinterhältige ist, so ist sie unbegreiflich zu nennen. Am
4. November vorigen Jahres wurde der Engländer Hicks Pascha mit einem
Heere von 11000 Maun bei El Obeid vom Mahdi geschlagen, und zwar so
gründlich, daß fast niemand von seinen Leuten entkam. Der Chcdive wollte
darauf sofort alle ihm noch zu Gebote stehenden Truppen nach dem Sudan
schicken, um dem weitern Vordringen des siegreichen Propheten Einhalt zu thun.
Der Sultan war bereit, ihn dabei zu unterstützen, und man mußte glauben,
England werde es in seinem Interesse finden, desgleichen zu thun. War doch
die Eroberung, die man mit der Schlacht bei Tel El Kabir gemacht, durch jeden
Fortschritt der Revolution am obern Nil, ebenso Englands Ansehen in der ge¬
samten Welt des Islam sichtlich und unstreitig bedroht. Aber nichts davon.
Vielmehr faßte die britische Regierung den Beschluß, den Sudan aufzugeben,
selbst die Hauptstadt, Chartum, zu räumen und mir Nubien mit den Städte»
Berber und Suakin festzuhalten. Dem Sultan stellte man für seine Mitwir¬
kung die völlig unannehmbare Bedingung, die Kosten derselben zu tragen und
die betreffenden Truppen nicht über Ägypten, sondern über Suakiu mich dein
Kriegsschauplatze abzusenden. Natürlich lehnte er ab. und die Dinge gingen
ihren Gang. Der Chedivc fiigte sich dein Willen der englischen Regierung, sein
Premier Scherif Pascha, der dafür die Verantwortung nicht übernehmen zu
können glaubte, trat vom Amte zurück, und Nubar Pascha, ein Werkzeug Eng¬
lands, gelangte ans Ruder. Unter ihm geschah geraume Zeit sogut wie nichts.
Erst als Gefahr vorhanden war, der Mahdi werde nächstens vor Chartum er¬
scheinen und dessen europäische Bewohner — etwa 11000 Köpfe — niedermetzeln
oder in die Sklaverei abführen lassen, traf man in Kairo Anstalten, der letzter»
Eventualität vorzubeugen. Jene Europäer sollten unter dem Beistande des ägyp¬
tischen Kriegsministers Abd el Kader nach Norden befördert und in Sicherheit
gebracht werden. Wie das zu machen, blieb fraglich, wenigstens hörte man nichts
von andern dahin zielenden Maßregel» als der Abreise Abd et Katers nach
Korosko in Nubien.
Inzwischen war Gladstone auf einen andern seltsamen Einfall gekommen.
Der englische General Gordon, ein Kenner des Orients und erfolgreich gewesen
bei Behandlung der dortigen Völkerschaften, sollte sich zu Unterhandlungen mit
dem Mahdi nach Chartum begeben, um den Streit zwischen diesem und Ägypten
auf friedlichem Wege beizulegen. Derselbe erklärte sich hierzu bereit und reiste
ab. Dies erfolgte in der dritten Woche des Januar, und nach den letzten
Nachrichten war der General in Berber eingetroffen, von wo er in etwa
drei Tagen in Chartum sein konnte, wenn ihn die Scharen des Propheten,
welche sich der Stadt bereits bis anf wenige Meilen genähert hatten, nicht
aufhielten oder niedermachten. In der Zwischenzeit sollte Baker Pascha, nach¬
dem er sich mit Zubcihr Pascha in Sürlin vereinigt, von dem benachbarten
Hafenplatze Trinkitat aus die von den Insurgenten eingeschlossenen und fast
bereits ausgehungerten Festungen Tokar und Sinkat (ersteres nicht ganz ö,
letzteres ungefähr 10 deutsche Meilen von der Küste des Roten Meeres gelegen,
jedes mit etwa 500 Mann besetzt) entsetzen.
Sowohl die Mission Gordvns als das Unternehmen Bakers hatte von
vornherein wenig Aussicht auf Gelingen. Es gehörte ein starker Glaube dazu,
wenn Gladstone hoffte, ein englischer General werde imstande sein, mit Geld
und guten Worten einen Fanatiker zum Stillstande zu bewegen, der sich für
einen gottgesandten Befreier der Gläubigen von der Herrschaft der Giaurs und
Knfirs hielt, der von einem großen Siege berauscht war, und der an der Spitze
von fünfzigtausend und mehr wilden Kriegern stand, welche gleich ihm sieges¬
trunkene Schwärmer waren. Es war offenbar Verblendung, anzunehmen, der
Mahdi und seine Anhänger würden sich irgendwelcher Beschränkung ihrer An¬
sprüche fügen, nachdem das mächtige England durch seine Bevollmächtigten in
Kairo mittelbar anerkannt hatte, der Sudan sei unwiderbringlich verloren. Auch
die Niederlage Bakers war vorauszusagen. Wir brauchen nicht erst anf genauere
Nachrichten über dieselbe zu warten und die Urteile militärischer Fachmänner
über die Katastrophe zu hören. Schon jetzt wissen wir mit voller Bestimmtheit,
daß man die englischen Offiziere zur Erfüllung ihrer Aufgabe, zur Bekämpfung
der gewaltige» Scharen des Propheten gleichsam mit hölzernen Schwertern
abgesandt hat. Sie wurden von einer Regierung mit zwei Seelen, einer ägyp¬
tischen und einer englischen, abgeschickt, und die Streitmacht, die man ihnen
zur Verfügung stellte, als sie dem wütenden Fanatismus der sudanischen Wüstcu-
stümmc gegenübertreten sollten, bestand aus einem Haufen kairenischcr Konstabler
und in den Bazaren und Kaffeeschenken zusammengelesener Neger und Fellahiu,
die schlecht geübt und spärlich mit den Bedürfnisse,, für einen Feldzug aus¬
gestattet waren, und zu denen nur eine kleine Anzahl wirklicher Soldaten kamen.
Kein Wunder also, daß sich das furchtbare Schauspiel von El Obeid hier im
östlichen Sudan annähernd wiederholt hat. Noch im vorigen November hätten
6000 angloindische Truppen alle Garnisonen im Sudan retten können, ja ein
angesehener englischer Militär behauptet, daß Baker gesiegt haben würde, wenn
ihm auch nur eine Batterie englischer Artillerie mitgegeben worden wäre. Mit
den Truppen, die er in Wirklichkeit unter sich hatte, mußte er unterliegen. Auf
alleu Seite» umringt von Schwärmen sudanischer Araber (es sind vorzüglich
Leute vom Stamme der Hadendoa), feuerten die widerwillig ins Feld geführten
Fcllahiu und Bazarbummler der beiden ägyptischen Bataillone Bakers ein paar
Salven ab, dann brach die vierte Seite des Vierecks, das man gebildet hatte, vor
dem Ansturme der durch den Pulverdampf herzueilenden wilden Krieger zu-
sammen, nach einer Weile lösten sich auch die andern Seiten auf, und zehn
Minuten nach Beginn des Gefechtes war das Heer Bakers nur noch eine
wirre Masse, die sich um jeden Preis aus dem jetzt beginnenden Gemetzel zu
retten suchte. Was stehen blieb, fiel bald vor der Übermacht. Auch von den
Flüchtigen wurden viele niedergemacht; denn die Sieger kannten kein Erbarmen.
Was jetzt die Folge sein wird, ist trauriger als diese Abschlachtung armer
untauglicher Fellahin. Es kann kaum anders kommen, als daß die tapfern
und treuen Besatzungen von Tokar und Sinkat jetzt dem Untergänge verfallen,
gegen den sie sich lange Wochen standhaft gewehrt haben. (Nach einem Tele¬
gramm aus Suakin, welches indes noch der Bestätigung bedarf, hätte Tewsik
Pascha, der Kommandant von Sinkat, den Versuch gemacht, sich mit 400 Manu
durchzuschlagen, wäre aber von den Hndendva umzingelt und mit allen seinen
Leuten zusammengehalten worden.) Wenn die Verteidiger Tvkars während der
Schlacht bei Teb nicht imstande waren, den Truppen Bakers durch einen
Ausfall zu Hilfe zu kommen, so werden sie nicht lange zu warten haben, bis
die Aufständischen sie ernstlich angreifen, und dann wird ihr Widerstand nur
ein kurzer sein. Nach den letzten Berichten hatten sie der Mann nur noch
vierzehn Patronen, und jetzt sind sie wohl schon allesamt unter den zweischneidigen
Speeren und Schwertern der Gegner gefallen. So wird unter den Augen
Europas, welches das Thun der Engländer in diesen Gegenden sorgfältig
beobachtete und kritisirte, eine Festung nur deshalb verloren gehen, weil Herr
Gladstone die Politik des Zögerns und der Unentschlossenheit in diesen An¬
gelegenheiten sür die beste hielt und sich weigerte, zu rechter Stunde zur Rettung
einzuschreiten. Dasselbe gilt von Sinkat. Auch hier ging man nach deu letzten
sichern Nachrichten rasch der Vernichtung entgegen. Die Vorräte waren ziemlich
aufgezehrt, der letzte Sack mit Gerstenmehl geöffnet, das letzte Schaf, das letzte
Kamel geschlachtet, und die Araberschechs, die man mit reichen Geschenken ge¬
wonnen zu haben glaubte, der Garnison Lebensmittel zuzuführen, haben ent¬
weder ihre Aufgabe zu schwierig gefunden oder einfach ihren Kontrakt gebrochen,
nachdem sie ihr Geld eingestrichen. Die Hoffnungen Sinkats beruhten einzig
und allein auf einem siegreichen Vordringen Bakers, und nach seiner Nieder¬
lage ist die Vernichtung der dort stehenden ägyptischen Truppen, wenn sie nicht
schon erfolgt ist, nur noch eine Frage der Zeit. Denn es ist kaum zu erwarten,
daß die so schimpflich von den Protektoren Ägyptens im Stiche gelassenen Leute
Tewfiks in der Lage sein werden, sich dnrch Niederlegung der Waffen bei dem
Feinde das Leben zu erkaufen. Der Haß gegen die Ägypter ist unter den
aufständischen Stämmen viel zu heiß, als daß daran zu denken wäre. Die
'.'»glücklichen Verteidiger Sinkats müssen entweder in verzweifeltem Ausfalle
unterliegen, wo sie keine Hvffmmg auf Entkommen haben, da Suakin für ent¬
kräftete Menschen viel zu weit von dort entfernt ist, oder sich ans Gnade und
Ungnade Feinden ergeben, die sie ohne Erbarmen abschlachten werden. Bei
ihnen befinden sich gegen tausend Weiber und Kinder, die hilflosen und un¬
schuldigen Opfer derselben zaubernden und schwankenden Politik, welche dein
Chedivc das Aufgeben von ganzen Provinzen anbefahl und nicht genug Ent¬
schlossenheit hatte, um zur Rettung einer Festung Beistand zu leisten. Was
mit diesen Weibern und Kindern geschehen wird, kann man sich vorstellen, wenn
man sich erinnert, wie der Führer der dortigen Aufständischen, Osman Digna,
als er die Wnsteustämmc Ostsudaus sür den Mahdi aufrief, ihnen sagte, sie
"wehten sich den Lohn für ihre Mühen während des Feldzuges durch Raub
Erschaffen.
Nach dem Falle der beiden Festungen ist selbst Suatiu schwer gefährdet
Denn die Flüchtlinge vom Heere Bakers, die jetzt dorthin gebracht worden sind
werden bei einer Verteidigung dieses Platzes nicht viel leisten, und es ist sehr
wahrscheinlich, daß die siegreichen Stämme sich jetzt in Massen hier versammeln
>>"d eine» Sturm versuchen werden, wo dann das Geschwader Sir William
Hcwetts mit seinen Kanonen die Verteidigung übernehmen müßte. Wenn das
der Schluß des traurigen Kapitels sein sollte, werden die Anhänger der jetzigen
englischen Regierung schwerlich noch behaupten können: „das Ziel unsrer Be¬
satzung Ägyptens bleibt unabänderlich dasselbe, und der Chedive, nicht das
niglischc Ministerium hat deu Beschluß gefaßt, sich aus dem Innern des Sudan
^rückzuziehen."
Eine weitere Folge der Niederlage, welche die englische Politik bei Teb
erlitten hat, ist die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, daß Gvrdonö Mission
mißglücken wird. Man reitet auf einen: schucllgehenden Kamele in uur neun
Tagen von Tolar nach Berber, und so wird gerade zu der Zeit, wo Gladstones
Emissär mit seinen Gcldsückcn um letzter» Orte angelangt sein wird, auch die Nachricht
von dem Siege des Mahdi dort eingetroffen sein. Gordon wird viel Glück und Geschick
bedürfen, wenn er mit heiler Haut nach Chartum gelangen und die Stadt in
guten Vertcidigungszustand setzen will, nachdem so verhängnisvolle Kunde durch
Ac Bazare gegangen ist und dann bei den Stämmen draußen Zelt für Zelt
freudig bewegt hat. Die Idee, die bürgerliche Bevölkerung der Stadt, 11- bis
12 000 Seelen, durch ein Land voll von Jubel und Frohlocken über die neue
Niederlage der Gicmrs und voll Siegeszuversicht in Sicherheit zu bringen, wird
aufzugeben sein, wenigstens für die nächsten Monate. Wird sie aber aufgegeben,
so tritt im Mai die heiße Jahreszeit ein, und der Nil wird hier zu seicht für
die Schifffahrt, man wird ihn also nicht zur Evakuation und ebenso nicht zur
Verprvviantirung mit Verteidigung Ehartmns benutzen können, wenn der Mahdi
soweit ist, daß er die Stadt einschließen kann.
Das ist die Sachlage, die, wie jetzt in der Londoner Presse offen erklärt,,
wird, nicht durch Hicks, nicht durch Vater, auch nicht durch den Chedivc, sondern
einzig und allein durch „die verhängnisvolle Leidenschaft, jede der verschiednen
aufeinanderfolgenden Prophezeiungen Lord Hartingtons zu erfüllen," herbei¬
geführt worden ist, „welche England vkkupircn und nicht protegiren ließ." Unter
dem Eindrucke so schwerer Mißgriffe und Unfälle begann die ägyptische Debatte
im Parlamente. „Man sah in den Gesichtern, man horte im Tone sowohl der
offizielle» als der nichtoffiziellen Redner die Wichtigkeit der trüben Kunde aus-
gedrückt, und obwohl mir wenige der bei Teb Gefallenen britischen Blutes sind
und Sinkat und Tokar fern von Birmingham und Leeds liegen, so würden
wir irren, wenn wir annehmen wollten, der großherzige Sinn sbloß der?^ der
Nation werde nicht sofort verlangen, daß die Regierung der Königin entweder
die Okkupation aufgebe oder sie in wirksame Protektion verwandle, d. h. der
ägyptischen Regierung materiell zu Hilfe komme."
Die konservative Partei hat sich sowohl im Ober- als im Unterhause
energisch geregt. Im letzteren stellte der Abgeordnete Bvurke den Antrag, der
Adresse, mit welcher die Thronrede beantwortet werden sollte, einen Zusatz'
beizugeben, der mit den Sätzen begann: „Wir lenken die Aufmerksamkeit der
Königin auf den Mißerfolg, welchen bis jetzt alle Versuche des Kabinets hatte»,
die ägyptischen Angelegenheiten auf eine gesunde Grundlage zu stelle», »»d
zwar sowohl hinsichtlich der Umgestaltung der Gerechtigkeitspflege als der zu-
friedenstellender Losung der Finanzfrage und der Wiederherstellung von Ruhe
und Sicherheit in den Grenzvroviuzcn. Die bisherige Politik hat lediglich
Schwächung des Ansehens der Regierung zur Folge gehabt, ohne daß sie dafür
einen genügenden Ersatz geboten hätte." Weiter hieß es in dem Antrage: „Ein
solches Verfahren trägt Gefahren für Ägypten im Schoße und steigert die
Verantwortlichkeit Englands Ägypten und den europäischen Mächten gegenüber."
Die Regierung wußte darauf nichts zu erwiedern, sie schwieg selbst, als der
Redner fortfuhr: „Es hilft Ihnen nichts, wenn Sie sage», Ägypten hat dies
und jenes gethan. Ägypten befindet sich durchaus in unsrer Hand. Ans »»ser
Gebot werden dort Heere ausgesandt und zurückgezogen, Minister entlasse»
und angestellt und große Gebiete aufgegeben. Eine englische Armee hält die
Hauptstadt besetzt und läßt sich ans den Einkünften des Landes besolden, und
diese Armee wird nicht gebraucht, um Ägypten zu verteidigen, sonder» um den^
Nizekönig zur Zerstückelung seines Reiches zu zwingen." Die Negierung half
sich damit aus der Verlegenheit, daß sie die Verhandlung über den Bourkesche»
Antrag hintertrieb und die Abstimmung über denselben unter Umstände» vor¬
nehmen ließ, die ihr günstig waren. Von den 636 Mitgliedern des Hanfes
waren in diesem Augenblicke nur 97 auf ihrem Platze (die übrigen waren zu
Tisch gegangen), und von diesen erklärte» sich 77 gegen den Antrag. Man
kann sagen, das Thema war damit mehr beiseite gelegt als beurteilt worden.
Zwei Tage nachher schon kündigten Northcote im Unterhause und Salisbury
im Hause der Peers an, daß man konscrvativerseits el» Mißtrauensvotum
gegen die Regierung beantragen werde, und wenn die? zur Sprache kommen
wird, werden die Vertreter des Landes nicht mehr bei Tische sitzen, sondern
auf ihren Bänken sein.
Die Regierung scheint jetzt gut machen zu wollen, was versäumt worden
ist. Der Telegraph befördert »»ausgesetzt Befehle nach Kairo und Suatiu.
Der Transportdauipfer E»phrntes, der mit indischen Truppen in Suez ange-
kommen ist, hat die Ordre erhalten, dort auf weitere Bestimmungen zu warten.
Mann sollen in nächster Woche nach Nubien abgehen, nud 500 Matrosen
"ud Mariuesoldaten befinden sich schon ans dem Wege nach dem Schauplätze
des Aufstandes. Aber man fragt sich, weshalb das alles nicht schon geschehen
ist, als das englische Ansehen im Orient im November den ersten Stoß erhielt.
n der Mitte und gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hatte
die gebildete Gesellschaft einer jener merkwürdigen Ji»P»ihn er¬
griffen, wie sie in der Geschichte der geistigen Revolutionen der
Menschheit sich nicht selten finden; hervorgegangen ans dem tiefen
ÄWiderwillen gegen die mannichfachen Entartungen des sittlichen
n»d religiösen Lebens jener Zeit, wandte sich diese Richtung grundsätzlich von
allen historisch entstandenen Normen ab und somit besonders' solchen Erschei-
U">>gar z», in denen sie noch die reine, dnrch keine menschliche Willkür entstellte
^um eines ursprünglichen, unverfälschten Naturzustandes zu erblicken glaubte.
Diese pathologische Verirrung. politisch schon in den amerikanischen Freiheits-
mege» und in der französischen Revolution, wissenschaftlich besonders scharf i»
Aussen» „ud künstlerisch in den Erstlingswerken unsrer Dichterherocn nuper-
«»iibar ausgeprägt, steigerte sich zu der völlig unhaltbaren Schwärmerei, in
dem Naturmenschen als solchen das Ideal der menschlichen Rasse überhaupt
"chen zu wollen, eine Ansicht, die es sich nicht entgehen ließ, als oaptMo
»snvvolöntmo dies Gemälde mit allen denjenigen ehrwürdigen Zügen ans-
z»statten, welche schon die Sagen von, Paradiese bei vielen Gemütern ein-
schmeichelten. Es bedürfte kaum der genaueren geographischen und ethnogra¬
phischen Entdeckungen unsers Jahrhunderts, um dies anmutige Bild einer
phantastischen Sentimentalität in sich selbst zerfließen zu lasse»; schon die viel¬
fachen UnUvälznngen und Kämpfe, welche dem Besitz der eigenen Zivilisation
galten, zerstörten jene philanthropischen Träumereien gründlich. Der früheren
pessimistischen Stimmung folgte eine ebenso einseitig optimistische, die von der
Höhe ihrer weltgeschichtlichen Stellung aus die seltsam verschlungenen Verhält¬
nisse der Naturvölker kaum eines Blickes würdigte und sie höchstens zu den
unschuldigen Anregungen einer gestaltuugsbedürftigen Einbildungskraft verwandt
wissen wollte. Auch noch jetzt, nachdem Männer wie Lubbock und Thlor oder
Peschel, Bastian, Fr. Müller und andre unzählige mehr jenes bunte Raritäten-
kabinet zu einem systematisch geordneten Museum umgeschaffen haben, schwanken
die Meinungen haltlos zwischen den Extremen hin und her; daher dürfte eine
kritische Übersicht und Würdigung der wesentlichsten Momente dieses Problems
wohl am Platze sein.
Wenn wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge unbefangen von Kultur sprechen,
so haben wir durchschnittlich, dank der einseitig klassisch-historischen Erziehung,
das reiche Leben der Völker vor Augen, die am Mittelmeere heimisch, allmählich
andre Stämme in ihre Ideenkreise hineinzogen; wenig kümmert es uns, w»
diese griechisch-römische Gesittung ihren Ursprung gefunden und in welchem Zu¬
sammenhange sie mit andern Mittelpunkten der Bildung stand. Und glaubt die
moderne Forschung vielfältige Beziehungen zu ägyptischen Mustern nachgewiesen
zu haben, und hat auch die vergleichende Sprachwissenschaft einen leidlich soli¬
darischen Konnex in der indogermanischen Welt hergestellt, so lassen wir uns
mir ungern an die Existenz andrer Kulturzentren erinnern. Die Lehre von der
Einheit des Menschengeschlechtes im physischen und selbst im psychischen Sinne
läßt sich nur schwer, oder besser gesagt garnicht, mit dem historischen Entwick¬
lungsgange in Einklang setzen, dem die einzelnen Glieder jener Urfcunilie etwa
gefolgt sind. Die Worte Alexanders von Humboldt gelten noch heute: „Die
Geschichte, soweit sie durch menschliche Zeugnisse begründet ist, kennt kein Ur-
volk, keinen einigen ersten Sitz der Kultur, keine Urphysik oder Naturweisheit,
deren Glanz durch die sündige Barbarei späterer Jahrhunderte verdunkelt worden
wäre. Der Geschichtsforscher durchbricht die vielen übereinander gelagerten
Nebelschichten symbolisirender Mythen, um auf den festen Boden zu gelange»,
wo sich die ersten Keime menschlicher Gesittung nach natürlichen Gesetzen ent¬
wickelt haben. Im grauen Altertume, gleichsam am äußersten Horizont de?
wahrhaft historischen Wissens, erblicken wir schon gleichzeitig mehrere leuchtende
Punkte, Zentren der Kultur, die gegeneinander erstrahlen: so Ägypten, ans das
wenigste fünftausend Jahre vor unsrer Zeitrechnung; Babylon, Ninive, Kaschmir,
Iran und China." (Kosmos II, 146.) Erst unsre moderne europäische Kultur
beginnt immer mehr und mehr einen internationalen Charakter anzunehmen
und die spezifische» nationalen Unterschiede abzulegen; aber daß auch sie, wem
schon prüvalirend, so doch nicht unbestritten herrscht, zeigt der wohlgcfiigte Be¬
stand der komplizirten und uralten chinesischen Zivilisation. So weist schon
diese flüchtige Erwägung mit Entschiedenheit ans die territorialen Grenzen hin,
welche eine volkstümliche Bildung umschließen, und da diese ihrerseits das Pro¬
dukt der einzelnen Stämme ist, so würde es sich für ihre Herleitung aus der
Natur um die Eigenart dieses letzten erreichbaren Faktoren der Eutwickluugs-
Mschichte handeln.
Was lehrt uns nun die vorurteilsfreie Wissenschaft über den gesamten
Typus dieser sogenannten Naturvölker? Auch hier ist es gleichgiltig, ob, wie
Humboldt sich ausdrückt, die Volksstämme, die wir gegenwärtig Wilde nennen,
alle im Zustande ursprünglich natürlicher Rohheit sind, oder ob nicht viele unter
unter ihnen, wie der Bau ihrer Sprachen es oft vermuten läßt, verwilderte
Stämme, gleichsam zerstreute Trümmer aus den Schiffbrüchen einer früh unter¬
gegangenen Kultur sind (n. a. O, S. l47). Bekanntlich ist der zweite Fall von
dem Dogmatismus der bibclglüubigen Forschung, unter Anlehnung an anderweitige
kosmvlogische Traditionen, als prinzipieller Ausgangspunkt'statuirt worden.
Die Ethnologie hat ihrerseits auf induktiven Wege festgestellt, daß trotz des
klaffenden Unterschiedes zwischen unsern Anschauungen und denen der Urzeit sich
nicht nur relevante, freilich häufig überwucherte Beziehungen zwischen beiden
nachweisen lassen, sondern daß ein Urmensch, dem völlig jegliche Gesittung ab¬
ginge,, der gleichsam als es-but^ ra^ anzusehen sei, thatsächlich nicht existirt hat
noch auch jetzt irgendwo vorkommt. Zunächst figurirt sür die wissenschaftliche
Forschung der Mensch nicht (wie ihn verzückt die poetische Schwärmerei des
v»ngen Jahrhunderts ausmalte) als isolirtes Individuum, sondern immer nur
als soziales Wesen, sei es in einer auch noch so dürftigen Organisntionsform.
Andrerseits vertragen sich alle jene Meinungen nicht mit der Wirklichkeit, welche
diesen Anfänger» der Menschheit (8it venin vsrbo!) jegliche psychische An¬
lage absprechen, sie ohne religiöse Kenntnis, ohne die Kunst der Feuerbereitung
ein allerdings recht dürftiges Leben führen lassen. Diese Anschauung kann heute
für überwunden gelten- gerade so wenig wie ein sprachloses Volk giebt es ein
religionsloses; nur muß mau nicht in völlig ungerechter Weise die primitiven
Regungen dieses Gefühles (die sich vielleicht für uns sehr abschreckend mani-
festiren) mit den geläuterten Begriffen unsrer Bildung zusammenstellen. Das,
was wir als krassen Aberglauben verlachen, als blöden Fetischismus bemitleiden,
erscheint dem Wilden als Fundament unerschütterlichen und (subjektiv gemessen)
reinen Glaubens. Deshalb bemerkt Hcllmald richtig: „Wo ist überhaupt die
Grenze zu ziehen zwischen Glauben nud Aberglauben? Wurzeln doch beide in
dem nämlichen Boden, beide haben ja als gemeinsames Grundmerkmal die Be¬
ziehung auf ein Übersinnliches." (Natnrgesch. d. Menschen I, SS.) Dasselbe gilt
vom Besitz des Feuers, wie ausführlich von Kühn und Tylor erwiesen. Mithin
stellt sich unser Problem so, daß wir durch die Natur der Sache gedrängt
werden, von einer freilich immerhin geringfiigigen Entwicklung als einer gegebenen
auszugehen, und daß wir, ebenso wenig wie die Darwinsche Theorie über die
Existenz des Individuums hinaus ein Konglomerat von bildungsfähigen Ele¬
menten zunehmen kann, jenen ersten Anhaltspunkt eines geschichtlichen Pro¬
zesses nie erreichen werden. Man hat daher schon öfter, um falsche Erwartungen
von vornherein abzuschneiden, die üblichen Bezeichnungen Wilde, Naturvölker?e.
aufgegeben und nur von Stämmen niederer Zivilisation gesprochen.
Selbstverständlich kann es auch nach dieser Beschränkung der Aufgabe nicht
unsre Absicht sein, mit voller Ausführlichkeit ein Gemälde von den Anschauungen
und Gewohnheiten dieser cui ininorum Mutina zu versuchen, sondern mir die¬
jenigen hervorstechenden Züge herauszuheben, welche eine richtige Deutung der
an die Spitze der Untersuchung gestellten Gegensätze ermöglichen. Wir wählen
zu diesem Zwecke dasjenige Gebiet, welches mehr als z. B, die religiösen Ideen
der subjektiven Willkür entzogen ist, die Sitte, sofern sie sich differenzirt einer-
seits nach der Moral, andrerseits nach dem Recht.
Noch vielfach schreibt eine einseitige idealistische Richtung (begründet
durch die deutsche spekulative Philosophie im vorigen Jahrhundert) die Bildung
und Entwicklung des Rechtes gewissen apriorischen Faktoren zu, die in der
Brust jedes Mensche» liegend mit immer wachsender Klarheit gleichsam ein
immanentes System von allgemein menschlichen Regungen intuitio entfalten.
Dieses letzte ideale Residuum, ein Erbteil göttlicher Herkunft, schrumpft freilich
bei nüchterner Betrachtung zu einer imaginären Kleinheit zusammen, und es
zeigt sich vielmehr, daß derartige Axiome des menschlichen Handelns, universale
Prinzipien von unbestrittener Giltigkeit rv vvra. nicht existiren. Das Recht ist
nicht etwa eine spontane Kundgebung des menschlichen Geistes, unabhängig
von seiner Umgebung, lediglich folgend der lex innlM, sondern wie alles andre
ein Entwicklungsprodnkt höchst komplizirter, durchaus nicht einfacher Art, Zu¬
nächst und ursprünglich sind Sitte und Recht identisch, so auf den Stufen der
friedcusgeuossenschaftlicheu Organisation; ja bei ganz schwächlich konstituirten
Stämme» vollzieht sich nicht der gewöhnliche Hergang, daß im Laufe der Zeit
(durch äußere und innere Gründe) sich ein bestimmter Komplex von Ansprüchen
und Verbindlichkeiten aus der Volkssitte ablöst, oder wenigstens wirkt dieser
Faktor stärker als jene Kodifizirung. Nun ist es der vergleichende» Rechts¬
wissenschaft gelungen, durch eine umfassende komparative Methode eine leidlich
zusammenhängende Entwicklung dieser Formen von ihrer ursprünglichen Gestalt
bis zu ihrer gegenwärtigen zu entwerfen, und zwar wesentlich unter Anwendung
jenes bekannten biologischen Gesetzes, daß die Geschichte der einzelnen organischen
Gebilde sich in ihrer Struktur auffinden und rückwärts verfolgen läßt,'Diesen
höchst bedeutsame» Punkt erörtert ein moderner Forscher in folgeiider Weise:
„Übersetzen wir dies ganze bunte Gewühl organischer Formen, welches uns
das Leben der menschlichen Rasse, soweit wir dasselbe haben kennen lernen
können, entgegenbringt, so überzeugen wir uns bald, daß jedes Gebilde seine
eigne wohlgeordnete Geschichte hat, und vergleichen wir diese Geschichte mit
derjenigen irgend eines andern Gebildes von gleicher Höhe, mag dasselbe wo
immer und wann immer auf der Erde existirt haben, so sehen wir, daß es
in den Grundzügen dieselbe Geschichte ist; es wird das organische Wachstum
beider von denselben Grundzügen beherrscht. Überall treten uns die gleichen
Entwicklungsstufen mit eiserner Konsequenz entgegen, überall erscheint dasselbe
Bild, mir bald glänzender, wenn eine Völkerschaft glücklicher beanlagt ist oder
unter günstigeren Existenzbedingungen ihr Gattungslebcn entfaltet, bald matter
bei minder begnadeten Stämmen." (Post, Ursprung des Rechtes, S, 7.) Die
Sitte mithin (ihrerseits wiederum in ein unbewußt Pfhchisches, als kosmische
Urkmft oder dergl, gedacht, auslaufend) bildet die eigentliche Basis für die
Entwicklung des Rechts, das sich dann nach inneren und äußeren Gründe»
(intellektuelle Begabung des Stammes, Autorität der Häuptlinge, allgemeine
ethnographische, klimatische und generelle tellurische Momente) verschiedenartig
weiter differenzirt, bis es zu einem wesentlichen KrystallisationSpuukt gelaugt,
der Kodifizirnng in der staatlichen Periode. Hand in Hand geht mit diesem
Prozeß die Entfaltung der Moral, gleichsam der inneren Kehrseite dieser äußeren
Organisation. Diese begreift in sich die Summe derjenigen Anschauungen (konzen-
trirt in dem sogenannten Zentralorgan des Gewissens), welche für eine bestimmte
Entwicklungsstufe irgend einer ethnischen Bildung als lobenswert oder tadelns¬
wert gelten, also das jeweilige Ideal derselben darstellen. Da mithin das
Kriterium in der sozialen Organisation liegt, so kann es so ixso hier keinen
absoluten, sondern nur einen relativen Maßstab der Beurteilung geben; ist
die Blutrache z. B. auf der geschlechtsgenossenschaftlichen Stufe ein Akt höchsten
Ruhmes, so wird sie umgekehrt in der staatlichen Periode als grobes Verbrechen
geahndet; oder gilt bei den wilden Völkerschaften der Mörder und Räuber
(sofern er sich nur nicht am eignen Stamme vergreift) als gefeierter Held,
so wird er in europäischer Anschauung lediglich zum Verbrecher. Andrerseits
sind wir geneigt, es für Barbarei oder Verrücktheit zu halten, wenn Manns
Gesetzbuch befiehlt, daß dem Cudra, der einen Bmhminen getötet hat, glühendes
Ol in Mund und Ohren gegossen werden soll, oder der Ägypter, der einen
Ibis beseitigt hatte, rettungslos dem Tode verfiel. Der leitende Grundsatz ist
für alle diese Maßnahmen nicht irgend welches (selbst irriges) apriorisches
Moment, sondern, wie längst erwiesen, die unmittelbare Rücksicht auf Erhaltung
und Förderung der bezüglichen ethnischen Bildung; mit andern Worten das Nütz¬
liche erzeugt (und zwar in sehr langsamem Fortgang) das Gute. Hiermit
hängt es zusammen, wenn in jenen prähistorischen Zeiten ganz unsern Ge¬
fühlen entgegen der Wert des Individuums als solchen sich auf Null reduziren;
wie es keine monogamische Ehe in unserm Sinne gab, sondern einen krassen
Weiberkommnnismus, so auch keine individuelle Schuld und kein individuelles
Recht. Jedes individuelle Recht, sagt mit Recht Post, ist vom vergleichend
ethnologischen Standpunkte ans erst ein Produkt einer unendlich langen Ent¬
wicklung, während die Urzeit lediglich Kolleltivrechte und Kollektivpflichten kennt.
Es giebt auf primitiven Stufen leine Verwandtschaft zwischen Individuum und
Individuum, kein eheliches Verhältnis zwischen zwei Individuen, leine individuelle
Vater- und Mutterschaft, kein individuelles Eigentum, keine individuelle For¬
derung, keine individuelle Schuld, (Bausteine f, e, allg, Rechtswiss. II, 232,)
Erst ganz allmählich rang sich ans diesen Elementen, je mehr die allgemeinen
Organisationsformen ans die Bedeutung des Einzelnen hinarbeiteten, der uns
jetzt geläufige Begriff einer freien, wenn auch durch bestimmte Verpflichtungen
eingeschränkten Persönlichkeit hervor, bis dann in dem (von Spencer so ge¬
nannten) Kampfe des Egoismus mit dem Altruismus dem letzteren Prinzip ein
immer steigendes Übergewicht zu teil wurde.
Welches Resultat gewinnen wir nun aus dieser Skizze für unsre Frage?
Dasselbe, welches wir schon oben andeuteten, nämlich daß trotz aller scheinbar
unversöhnlichen Gegensätze dieser gesamte Prozeß nur verständlich wird nnter der
Perspektive einer historisch-genetischen Entwicklung der Kultur aus dem Natur-
leben. Auch hier erweist sich unsre Gesittung nicht als ein plötzlich aus dem
Nichts hervortauchcndcs Wunder, sondern bis in das kleinste Detail hinein als
eine Frucht früherer Bildungen; auch hier setzt nicht ox M-uxtv ein sogenanntes
höheres Prinzip ein, »in so den organischen Fortgang des Werdens zu unter¬
brechen, sondern ohne feste Grenzbczcichnungcn verfließen die Epochen, bisweilen
selbst dem geschärften Blick nicht erkennbar, ineinander. Nur die willkürliche
Auslassung der verbindenden und stützenden Mittelglieder läßt die Pole dieser
Reihe als völlig unvereinbare Größen erscheinen. Eben lediglich deshalb, weil
die spekulative Philosophie in der Ethik und Rechtslehre von der als kalt
«.ovowxli hingenommenen und nicht weiter psychologisch genetisch untersuchten
Höhe ihres Bewußtseins ausging, mußte sich die unendlich reiche Fülle der
ethnologischen Thatsachen als seltsame Geburten einer ausgelassenen Phantasie
aufnehmen, vielleicht wie alle Wunder von einigem psychologischen Interesse,
jedenfalls aber nicht wissenschaftlich verwendbar. Nur durch den immensen
Aufschwung, welchen alle modernen Disziplinen wesentlich unter Veranlassung
der Naturwissenschaft in der Gegenwart genommen haben, gelang es den sonst
überall schon maßgebenden entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkt auch auf die
Forschungen zu übertragen, welche gestützt auf ein umfassendes Material und
eine dem entsprechende Synthese es versuchten, die bisherigen Fragmente der¬
jenigen, was man als Weltgeschichte gläubig verehrte, in ihrem gegenseitigen
Zusammenhange zu erfassen, mit einem Worte eine Entwicklungsgeschichte des
menschlichen Bewußtseins auf streng empirischer Basis anzubahnen.
Aus dieser genetische» Perspektive ergiebt sich wu selbst die Zurückweisung
der sittlichen Ideen in dem Rousseauschen Sinne, als ans bestimmter Verab¬
redung, A-<?6t, wie Aristoteles sagen würde, hervorgegangen; diese rationalistische
Verflachung eines jeglicher berechnenden Willkür entzogenen universalhistorischen
Prozesses kann ebenso wenig auf wissenschaftliche Anerkennung heutzutage mehr
Anspruch machen, wie die umgekehrte idealistische Hypothese, die, mich hierin
antiken Vorbildern folgend, die Fülle der Wirklichkeit in Religion. Kunst, Sitte
»> s, f, aus apriorischen Ideen ableitete, als ob sie häufig nur durch eine vorüber¬
gehende Störung verdunkelt, durch sorgfältige Pflege ihre alte Frische und Kraft
wieder erhalten könnte», (Offenbar ist hier, wie gesagt, die platonische Ansicht von
der wirksam.) Der Mensch lebt sich vielmehr nur voll »ut ganz aus
als Aov ?r»^t7/t/vo. wie Aristoteles sagt, und das gilt von den Primitivsien
Anfängen sowohl wie von den leuchtenden Höhen der Kultur; nur in dem
Sinne ist der Mensch nach Leibnitzens Wort ein Spiegel der Menschheit, als
er alle Phasen der Gattnngsentwicklung in seine,» eigne» beschränkte» Ich re-
kopit»lire. sodaß wir, wie Bastion sich ausspricht, unser eignes Geistesleben und
sein organisches Wachstum in den Reflexen ethnologischer Spiegelung erschaue»,
"in in einem klar zurückgeworfenen Bilde das zu erkennen, was unmöglich sein
würde, an sich selbst abzusehn», (Beitr, z. vgl. Psych., Vorrede S. XI.). Ursprüng¬
lich existirt uicht, wie eine glaubeusselige Meinung uns gern berede» möchte,
n»c unbewegte Welt stiller Seligkeit und erhabenen Friedens, die erst durch
el"c ganz unerklärliche Bosheit oder Thorheit in eine Stätte der Sünde und
des Todes verwandelt ist, sonder» am Anfange der Dinge (um diesen in¬
korrekten Ausdruck zu gebrauchen) sah es auf Erden nach alle» zuverlässigen
Zeugnissen uicht besser, sonder» »»eiidlich viel schlechter aus als jetzt; that¬
sächlich herrschte der schon den alten Dichtern bekannte Krieg aller gegen alle
(wenn mich in der durch jede Organisation bedingten Grenzen), anfänglich war
Gut und Nützlich, wie Spinoza es ehrlich nusspricht, durchaus ununterscheidbar,
und alle frommen und sittlich schönen Regungen, die wir heute als nnvcrcmßcr-
liches Erbgut des Genus uomo «MM« ansehen, existirten nicht. Der roheste
Sir», eine Bestialität in der Auffassung und im Handeln sind vielmehr die
Kennzeichen jeuer primitiven Epoche, wohl verträglich mit allerlei sozial liebens¬
würdigen Zügen des äußern Betragens, die uns vielfach nur als ein Produkt
höherer Bildung möglich erscheinen. Die Aufopferung des eignen Selbst für
M'dre, die nachgebende Liebe und alles ertragende Geduld, die Bereitwilligkeit
der Versöhnung mit den Feinden, kurz die Überwindung des Egoismus durch
rein ideale Prinzipien suchen wir in der Natur und in dem Leben der Wilden
vergebens; erst die Kultur, d. h. i» diesem Sinne die ä'vnenlange soziale und
Politische Züchtung und Veredelung der naturalistischen Triebe und Instinkte,
schuf die höher» Ziele einer geläuterten Humanität; nur eine krankhafte Ver¬
stimmung, mit moralischer Schlaffheit verbunden, konnte diese Wahrheit ver-
kennen »ut sich in einen Rausch des Naturknltlls stürzen, dem das unangenehme
Erwache» nicht erspart wurde,
Schul mitunter waren wir genötigt, wenn wir die allgemeine Weltanschauung
in ihrer Beziehung zu den Urzuständen der Menschheit zu schildern versuchten,
diejenigen verschwiegenen Stimmungen zu erwähnen, welche im geheimen oder
auch bisweilen unverblümt die angeblich objektive Haltung der Wissenschaft
beeinflußten. Diese Ingredienzien des Gefühls- und Gemütslebens treten selbst¬
verständlich ganz offen zu Tage, sobald sie sich in den Kanon einer wvhl-
fundirteu ästhetischen Lehrmeinung hiueinfügcn, Wie für unsre vorige Be¬
trachtung, so bietet auch für diese» Punkt das an Gegensätze» so reiche
18, Jahrhundert und im besondern Schiller die naheliegende Anknüpfung, Ohne
uns in das Detail seiner kunsthistorischen Untersuchungen zu vertiefe», möge es
uns erlaubt sein, den Hauptsatz seiner Doktrin hier voranzustellen. Die Alten
empfanden natürlich, wir empfinden das Natürliche; unser Gefühl für die
Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit; nicht unsre
größere Naturmäßigkeit, ganz im Gegenteil die Naturwidrigkeit unsrer Verhält¬
nisse, Zustände nud Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach Wahrheit
und Simplizität in der Physischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen, die
in der moralischen nicht zu hoffen ist. Deswegen ist das Gefühl, womit wir
an der Natur hangen, dem Gefühle so nahe verwandt, womit wir das ent¬
flohene Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld beklage», (Über naive
und sentimentale Dichtung,) Es ist bekannt, wie Schiller geschickt dies Dilemma
auch nach andern Seiten zu behandeln wußte; war ihm die Welt auch voll¬
kommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual, so nahm er
doch keinen Anstand, die Befreiung aus dem paradiesischen Schlummer, die
Trennung von dem Gängelbande des bloß tierischen Instinktes für die „glück¬
lichste und größte Begebenheit in der Weltgeschichte" zu erklären, weil hier zu
seiner Moralität der erste entfernte Grundstein gelegt wurde. Uns interessirt
zunächst mir die Haltbarkeit seines dichterischen Standpunktes; unzweifelhaft
richtig und durch keine auch uoch so ausgedehnte Stellensammlung aus dem
hellenischen Altertum (und auf dies zielt Schiller) zu widerlegen ist die Be-
hauptung, daß die moderne Dichtung sich mit ungleich heftigerer Leidenschaft
in die Natur versenkt hat, und ebenso unanfechtbar (was unser Philosoph Über¬
gängen), daß die Alten die Naturdichtung nicht als abgesonderten Litcratnrzweig
behandelten, sondern immer nur als unmittelbaren Resonanzboden für die
Schilderung psychischer Affekte. Aber es möchte sehr diskutabel sein, wenn
hierfür als Grund die größere Harmonie ihrer Verhältnisse mit der Natur
angegeben wird, oder die Begründung „ihres gesellschaftlichen Lebens auf
Empfindungen, nicht ans einem Machwerk der Kunst," Schon Humboldt sucht
eine andre Erklcirnng: „Was wir im Gefühl unsrer modernen Sinnesart in
jenen Regionen der antiken Welt nur zu sparsam auffinden, bezeugt in seiner
negativ» weniger den Mangel der Empfänglichkeit als den eines regen Be¬
dürfnisses, das Gefühl des Naturschönen durch Worte zu offenbaren. Minder
der unbelebten Erscheinungswelt als dein handelnden Leben und der innern,
spontanen Anregung der Gefühle zugewandt, waren die frühesten und auch
edelsten Richtungen des dichterischen Geistes episch und lyrisch. Ju diesen
Knnsifonncn aber können Naturschilderungen sich nur wie zufällig beigemischt
finden." (Kosmos II, 9.) Unter vielen Belegen zitirt er anch Pindars Frühiings-
dithyrambvs, der nach der allgemeinen Schilderung der wieder auflebenden Natur
sich bald einem höhern Ziele zuwendet, nämlich „Hieron von Shrakns zu
feiern und die siegreichen Kämpfe der Hellenen gegen das mächtige Volk der
Perser." Schärfer noch hat dies Moment Lotze betont, der von dem Ideal
der griechischen Ethik als einer Zusammenfassung der politischen Pflichten des
Individuums ausgeht. Hat je ein Volk, sagt er mit Recht, nicht naturwüchsig
hingelebt, sonder» seine persönliche, gesellige und staatliche Ausbildung mit Be¬
wußtsein nud Absichtlichkeit nicht nach naturlänfigen Empfindungen, vielmehr
uach Grundsätzen gelenkt, die nnr gebildetes Nachsinnen lehren konnte, so waren
dies eben die Griechen; fast nichts ist Natur in ihnen, fast alles Erziehung.
Zucht, Disziplin oder Machwerk der Kunst, wie Schiller es tadelnd, wir im
Gegenteil lobend nennen. Hätten die Griechen nun auf diesem Wege der Selbst-
erziehung das Glück gehabt, immer in Übereinstimmung mit der Natur zu bleiben,
fo würde doch schon diese Gewohnheit, natürliche Verhältnisse mit selbstbewußter
Absicht wieder zu erzeugen, ihnen Grund genng gegeben haben, der außer» Natur
eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Aber sie hatten sogar allen Grund
zu sentimentaler und leidenschaftlicher Teilnahme für sie: denn die beständige
Ruhelosigkeit ihrer geselligen und politischen Zustünde zeigt, daß ihre künstliche
Bildung jene feste Ordnung und Harmonie allgemeiner Befriedigung nicht schaffe»
konnte, deren Bild ihnen die äußere Natur ebenso wie uns jetzt darbot. steigerte
sich »u» dennoch ihre Empfänglichkeit für Naturschönheit bis zu dieser Leiden¬
schaftlichkeit nicht, so lag der Grund »ur darin, daß ihr ganzes Streben sich im
öffentlichen Lebe» »»d in der Erziehung des Mannes zum Bürger erschöpfte.
Deswegen hatten sie, wenig Sinn für die Natur, die kein politisches Lebe»
keimt, deswegen ruhte der Blick nicht, wie Schiller von unsrer Zeit sagen kann,
mit Ehrfurcht a»f dem Kinde, daS noch eine Unendlichkeit ahnungsvoll ver¬
spricht; es kam vielmehr in ihren Gesichtskreis fast erst dann, wenn es zur
öffentlichen Gemeinschaft in Beziehung trat; deswegen beklagen ihre Dichter
zwar die vergangnen Jahre der Kraft, die sich geltend machen kann, aber nicht
den entschwundenen unvergleichliche» Zauber der phantasiewarmen Jugend, deshalb
endlich reizte anch das Naive des Benehmens ihre Aufmerksamkeit fast nur zum
Spott; denn wie natürlich es auch immer war, so lag in ihren Augen darin
nur ein Fehler: es war mnnsisch, ungebildet, nur Natur, nicht Erziehung."
(Gesch. d. Ästhetik, S. 358.) Das wesentliche Argument dieser ganzen Deduktion
ist unsers Erachtens unbestreitbar, die Vollendung der antiken Humanität im
Staate und Staatsleben und damit so ipso die kommunistische Absorbirung der
einzelnen sittlichen Persönlichkeit dnrch diese politische Organisation. Damit
fallen alle beunruhigenden Zweifel weg, welche die moderne Welt über die
Kollision dieser beiden Welten hegt, umsomehr da eine eventuelle Fortsetzung
einer transmundaneu Existenz aus denselben einleuchtenden Gründen eine
ziemlich indifferente Frage für die Antike bildete. Dieselbe gründliche Ver-
kennung des wahren Wertes tritt offen zu Tage, sobald es galt, den (freilich
politisch sehr farblosen) Charakter der Frau zu erfassen. So widerfährt denn
Schiller das seltsame Mißgeschick, daß er zufolge der deu Alten eingerünmten
größern Naivetät die ganze Epigonenzeit als eine schwächliche, durch Sentimen¬
talität angekränkelte Treibhauspflanze auffaßt, daß ihm aber andrerseits die
paradoxe Zusammenstellung von Homer und Shakespeare als naiver Dichter
nicht auffällt. Offenbar ist die letztere Bestimmung eine unbewußte Reaktion
gegen den aus seiner Beweisführung sich ergebenden Machtspruch über die
Nichtigkeit der modernen Literatur; aber gleichwohl kann doch niemand daran
zweifeln, daß der große Britte, was die gesamte Weltanschauung anlangt, Ver¬
treter der sentimentalen Richtung ist. Freilich muß man nicht, wie Lotze sich
ausdrückt, die Stimmung der Phantasie, welche der Weltbetrachtung zu Grunde
liegt, mit dem künstlerischen Vortrage ihrer Erlebnisse verwechseln. Was die
formelle Darstellung rein als solche anlangt, hat ganz nnfraglich Schiller Recht,
wenn er Shakespeare mit folgenden Worten als naiven Dichter zeichnet: „Als
ich in einem sehr frühen Alter den letztern Dichter zuerst kennen lernte, empörte
mich seine Kälte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im höchsten Pathos
zu scherzen, die herzzerschneidenden Auftritte im Hamlet, im König Lear, im
Macbeth u. s. f. durch einen Narren zu stören, die ihn bald da festhielt, wo
meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fortriß, wo das Herz so gern
stillgestanden wäre." Und dieses anfängliche Mißbehagen war umso erklär¬
licher, als die damalige Zeit gerade in der Schilderung der Gefühle und sehn¬
süchtigen Empfindungen ihre Hauptaufgabe fand. Aber hinsichtlich des Charakters
der entwickelten Weltanschauung, bezüglich der Auffassung des Tragischen oder
des Dramatischen, überhaupt desjenigen, was mit dem Aufbau und der Lösung
der Konflikte zusammenhängt, gehört Shakespeare der modernen, sentimentalen
Betrachtung an, allerdings mit der schon angedeuteten Beschränkung und der
weiter» Bestimmung, nicht von vornherein und absolut dieser modernen Per
spettive jegliche dichterische Berechtigung abzusprechen. Dann freilich füllt auch
die ganze neuere Kultur und Poesie zusammen, dann thut man gut, zu den Au-
schauungen der Antike auch praktisch zurückzukehren und die Errungenschaften
unsrer Bildung abzuschwören, statt des persönlich zurechnungsfähigen und deshalb
seinen Untergang sich selbst bereitenden Helden wieder das Gespenst des Schick¬
sals aus der wohlverdienten Vergessenheit heraufzuholen und den Bürger als
das letzte erreichbare Ideal der Sittlichkeit zu betrachten. Gerade aber diese
Umwälzung der Ideen, die Fülle von Konflikten und Rätseln, welche der antiken
Welt erspart blieb, die Vertiefung unsers Ichs zu einem weltumspannenden
Makrokosmos und andrerseits die Anerkennung unerschütterlicher kosmischer Ge¬
setze (ein Gedanke wesentlich modernen Inhalts) bildet den spezifischen Charakter
unsrer nicht mehr völlig einfachen, nicht von Zweifeln unberührten, sondern vielfach
skeptisch durchlöcherten, dennoch aber sittlich erhabnen Weltanschauung. Liegen
nun diese Gründe rein objektiver Natur vor, so versteht es sich fast von selbst,
daß alle die Geister niedern Ranges, die an und in sich selbst den Halt ver¬
loren haben, mit einer gewissen Schwärmerei sich den Eindrücken der großen
elementaren Erscheinungen rücksichtslos überlassen, sei es um so einen gewissen
Ausgleich für ihre eigue Zerfahrenheit zu finden, sei es (was nicht minder häufig)
um in jene Vorgänge mit peinlicher Genauigkeit alle ihre eignen Erregungen
"»d Spannungen hincinzndichten. Wie gesagt, gerade diese kränkliche Stimmung
der Mondscheinlandschaft, diese ungesunde Verzärtelung der Gefühle, die schließlich
auf e^,n ziemlich öden Kultus des lieben Ich hinauslief, florirte besonders
üppig in der Mitte und am Ende des vorigen Jahrhunderts; es ist daher be¬
greiflich, daß Schiller der Sentimentalität xar x^o^ den Krieg erklärte.
Mittlerweile sind wiederum zwei volle Menschenalter vergangen. Der gei¬
stige Horizont hat sich unendlich erweitert und damit auch im einzelnen ver¬
dichtet; namentlich die Naturwissenschaft hat mit ihren Hilfsdisziplinen die Auf¬
fassung der Natur berichtigt und geklärt, Kräfte entdeckt, von denen die frühern
Zeiten nichts wußten, und Wege gezeigt, auf denen sie sich dem Geheimnis des
Lebens zu nähern hofft. Mit ihr im Bunde ist es der vergleichenden Mytho¬
logie gelungen, die scheinbar regellose und phantastische Welt der mythischen
Gestalten, früherer Betrachtung höchstens anmutige Initialen einer beginnenden
Kultur, als gesetzmüßige Produkte eines großartigen Naturkultus nachzuweisen,
der, vielfach unsrer Empfindung anstößig und roh, dennoch die ungebrochene
Einheit des plastischen Naturmenschen mit lapidaren Zügen uns veranschaulicht.
Immer mehr wird das Gebiet der Natur eingeschränkt und umgestaltet durch
die alles nivellirende Kultur; jeder moderne Mensch durchfliegt in seinen Kinder¬
jahren die Jahrhunderte niederer Gesittung, welche vor ihm die Menschheit
bot zwar durchaus nicht immer in ununterbrochenem Fortschritt) durchmaß, er
wird widerstandslos in das ganze weitverzweigte Gewebe der Zivilisation hinein¬
geboren, die ihn trügt und nährt wie die Physische Atmosphäre, und jeder,
ausnahmslos, nimmt bewußt oder unbewußt an dieser Vernichtung der Natur
einen abgestuften Anteil; alle Fortschritte, seien sie intellektuell oder moralisch,
bezeugen den unaufhaltsamen Sieg dieser wundersamen Macht über den in der
Urzeit allmächtigen Gegner, ja selbst physiologisch ist der Mensch im Laufe
dieses Prozesses ein andrer geworden. Welche Perspektive eröffnet sich dem er¬
schreckten Blick? Wir verzichten gern darauf, diese Schilderung in düstern
Farben weiter auszuführen, und gestehen lieber ein, daß, wie schon früher, so
auch in der Zukunft schwerlich wcltcrschüttcrude Krise» ausbleiben werden, welche
den Bau und den Zusammenhang der Gesellschaft zu zersprengen drohen, daß
schwächliche Gemüter, mit sich und ihrer Umgebung zerfallen, gleichsam aus Ekel
vor sich selbst die ganze Kultur, die sie gehöre», zu verfluchen und sich einem
wilden Naturalismus in die Arme zu werfen bereit sind. Sollte das aber der
Weisheit letzter Schluß sein? Wir glauben nicht, und zwar möchte» wir uns
erkühne», diese Verneinung ans einem einfache» Rückblick auf unsre Betrachtung
zu rechtfertigen. Schlossen wir uns zuerst der gewöhnlichen Kontrastiruug von
Natur und Kultur an, so zeigte sich bald, wie mit wachsender Entwicklung diese
scheinbar polaren Gegensätze sich näherten, wie also die Deutung der Natur
und ihrer Erscheinungen genau bedingt war durch das geistige Niveau des
Mensche» selbst, und andrerseits stellte sich die Kultur als der konkrete Nieder-
schlag dieser Naturauffassung dar. Dem kundigen Auge wurden die verborgenen
Beziehungen klar, welche beide Welten miteinander vereinigen, und der Wissen
schaft gelang es bald, aus unscheinbaren, häufig misMrstandcnc>i'>.NMneu
früherer Entwicklungsstudien die ganze Kette der Zwischenglieder aufzufinden,
welche die tiefe Kluft zwischen den beide» Endpunkten dieses Prozesses ausfüllten.
Ist nun dieser Vorgang, wie doch unleugbar, ein aufwärtssteigender, so enthält
diese Vergeistigung des Materielle» eine unendliche Tragweite in kosmischer Be¬
ziehung; denn in dieser Genesis ist die Entwicklung des sich selbst findenden
und das Universum in sich umspannenden Bewußtseins im Menschen gegeben.
Die Morphologie und Struktur des menschlichen Geistes ist empirisch i» dieser
seiner eigenen Geschichte dargelegt, und es kommt nur auf den Wissenden an,
ob er die vielfach noch dunkeln Hieroglyphen zu deute» versteht. Daß aber
endlich diese Idealisirung des Seiende», diese psychische Dnrchdring»»g des
Körperlichen, und sei es selbst dnrch Red»zirung der Erscheinungen ans mathe¬
matische Formeln, die Schwingen der Phantasie nicht lahmt und Sinn und
Wert des Geschehenen nur in einer sogenannte» Mechanik der Atome suche»
läßt, dafür können wir unbekümmerten Herzens die Dichter sorge» lasse».
aber und vertrauter als der Himmel, in dem die Götter wohnen,
sind uns Erde »ut Wasser, die beiden Elemente, auf und an
denen wir leben. Der Erdboden ist zunächst der nach allen Seiten
grenzenlos sich ausdehnende, auf dem alles ruht, aus dem alles
hervorgeht. Der Guben alle, ruft Prometheus,
die ergötzlich sind
Unter dein weiten Himmel,
Auf der unendlichen Erde —,
"As trägt (Iphigenie)
der gottbesnten Erde schöner Boden —,
Mensch,
Von der Erde sich nährend, die weit und breit sich aufthut — (Hermann und Dorothea*),
die breit und weit am Gemeinen sich freuet (Achilleis) —, besitzt die Gabe der
Phantasie vor allen andern Geschlechtern
der kinderreichen
Lebendigen Erde,
die zugleich „die wohlgegrnndete, dauernde" ist (Grenzen der Menschheit) -
Prädikate, von denen manche an griechische anklingen: ^v<7^oc>s «onerov
/rx^^ z/et?et, 7«t« «^x^t^, k^ete, s^i^se^, ^o^,)/^-
ut?« u, s, w. Die Erde ist angebaut und dem Menschen freundlich, sie kann
auch öde sein: Egmont sehnt sich aus dem Kerker hinaus „ins Feld, wo aus
der Erde dampfend jede nächste Wohlthat der Natur nud durch die Himmel
wehend alle Segen der Gestirne uns umwittern" — aber auf der „Harzreise im
Winter" kann das Bild der Wildnis, der Verlassenheit sich nicht mächtiger,
»»mittelbarer uns eindrücken, als durch die Zeilen:
Aber abseits wer ists?
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche znsannncn,
Das Gras steht wieder ans,
Die Öde verschlingt ihn.
Die Erde trägt Wälder und Berge, ihre Oberfläche liegt stumm und er¬
starrt vor nus da, aber im Zuge ihrer Umrisse, in der Lagerung ihrer Schichte«?
offenbart sie uns dennoch die ungeheure Geschichte, durch die sie geworden.
„Wir sind auf die hohen Gipfel gestiegen, schreibt der Dichter am 7. Sep¬
tember 1780 seiner Freundin, und in die Tiefen der Erde eingekrochen und
möchten gar zu gern der großen formenden Hand nächste Spuren entdecken."
Auf derselben Reise küßt er die Wand der Hcrmannstcincr Höhle, in die er
früher de» Namen der Geliebten eingegraben — sodaß „der Porphyr, setzt er
hinzu, seineu ganzen Erdgeruch aufatmete, um mir, auf seine Art wenigstens,
zu antworten." „Es ist ein erhabnes, wundervolles Schauspiel, heißt es in dem
Briefe vom 12. April 1782, wenn ich nun über Berge und Felder reite, da
mir die Entstehung und Bildung der Oberfläche unsrer Erde und die Nahrung,
welche Menschen draus ziehen, zu gleicher Zeit deutlich und anschaulich wird.
Erlaube, wenn ich zurückkomme, daß ich dich nach meiner Art auf den Gipfel
des Felsens führe und dir die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeige."
Er habe Freundschaft mit der Erde geschlossen, sagt er von sich aus und
wünscht, die Geliebte möge dies Gefühl mit ihm teilen (12. September 1780):
„Sie müssen noch eine Erdfreundin werden, es ist gar zu schön — Sie haben
sich ja schon mir zu Gefallen über mehreres gefreut." In jeder Jahreszeit,
bei jedem Wetter streift er durch das Thüringer Waldgebirge, im dichten Dunkel
der Fichten hängt er seinen Träumen nach, durchwühlt „der Erde Mark mit
Ahnungsdrang" und schlürft seine Nahrung „ans dumpfem Moos und triefendem
Gestein." An Frau v. Stein, aus Ilmenau (22. Juli 1776): „Hoch auf einem
weitrings sehenden Berge. Im Regen sitz ich hinter einen» Schirm von Tanneu-
reiseu. Die Thäler dampfen alle an den Fichtcnwäudcn herauf." An Herder
vou demselben Orte zu derselben Zeit: „Ich führe mein Leben in Klüften, Höhlen,
Wäldern, in Teichen, unter Wasserfällen, bei den Unterirdischen, und weide mich
aus in Gottes Welt." Wiederum aus Ilmenau (September 1780): „Auf dem
höchsten Berg des Reviers — hab ich mich gebettet, um dem Wüste des Städtchens,
den Klagen, den Verlangen, der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen
auszuweichen," und im Oktober 1784: „wenn wir schön Wetter beHallen sollten,
da will ich meine Freunde, die Berge, noch recht durchsiunen und durchsuchen,
damit ich im Glauben gestärkt werde."
Gewaltiger als Brocken und Gickclhahn sind die Eispaläste des Berner
Oberlandes und die Gletscher des Chamonix-Thales, und auch über diese enthält
die Schweizerreise von 1779 flüchtige Aufzeichnungen voll dichterischer Erhaben-
heit. Wir begnügen uns uns dem Bericht von 27. Oktober zwei die Kette der
Berner Alpen betreffende Stellen wiederzugeben: „Ihre ganze reine Reihe stieg
ostwärts auf, ohne Unterschied der Namen der Völker und Fürsten, die sie zu
besitzen glauben, nur einem großen Herrn und dem Blick der Sonne unter¬
worfen, der sie schön rötete" — und: „sie sind wie eine heilige Reihe von
Jungfrauen, die der Geist des Himmels in unzugänglichen Gegenden, vor unsern
Augen, für sich allein, in ewiger Reinheit aufbewahrt."
In den Gebirgslandschaften sind die Nebel häufig, sie wallen auf nud
ab, gestaltlos, die Ferne wie die Nähe verhüllend, darum aber der Dichter-
Phantasie nicht unerwünscht: sie erbaut sich hinter diesem Vorhang eine andre
wunderbare Welt. Der Nebel gleicht der „Dumpfheit," d. h. der ahnungsvollen
Dämmerung, in welcher das Gemüt seine tiefsten Eingebungen erfährt; zerreißt
der Nebelschleier, dann werden die realen Dinge sichtbar, deren Bestimmtheit
dem Glücke wie der Angst deS Traumes ein Ende macht. An Frau v. Stein
(3. Mai 1781): „Empfange mich mit deiner Liebe und hilf nur anch über den
dürren Boden der Klarheit, da du mich durch das Laud der Nebel begleitet
hast." In Schaffhausen. in der Nähe des Rheinfalls, dessen Dampf sich mit
dem Nebel vermischte, gedenkt der Dichter Ossians und fügt die bedeutsamen
Worte hinzu: „Liebe zum Nebel bei heftigen innern Empfindungen" — welche
letzteren dann durch die festgestaltctcu Naturdinge nicht gehindert werden, ihrem
eignen Zuge zu folgen, sich selbst anzugehören. In „Amor als Landschafts¬
maler" sitzt der Dichter auf einer Felsenspitze, und der Nebel ist wie ein grcm-
grundirtes Tuch vor ihm ausgespannt; der schöne Knabe Amor tritt ihm zur
Seite und malt die herrlichste Landschaft und in diese das reizendste Mädchen
hinein, und da der Nebel mit deu Gestatte-,, die er trug, sich ihm wogend cnl-
gegenbewcgte, hätte er wohl auf seinem Felsen steinern sitzen bleiben können? —
eine ähnliche Phantasie, wie in der Zueignung, aber mit den Farben einer ganz
andern Stimmung: das Gedicht entstand in Italien, und es ist, als wäre selbst
der Nebel dort ein andrer als in Thüringen. Als er im September 1777
einsame Tage auf der Wartburg verlebte, kommt unter den warmen Natur-
schilderungen, die er in seinen Briefen niederlegte und die wie eine Erinnerung
an Werther klingen, auch die Stelle vor: „Es lagen unten alle Thaler im
gleichen Nebel, und er war völlig See, wo die vielen Gebirge als Ufer hervor¬
sahen" — und, um dies Schauspiel zu sehen, hatte ihn seiner Diener Philipp,
der seinen Herrn kannte, frühmorgens aus dem Schlafe geweckt und ans Fenster
geführt! Ans der soeben erwähnten Schweizerreise, die er mit dem Herzog
unternahm, sahen beide von dein höchsten Gipfel des Jura, der Dole, in dem
»ngehenren Umkreise, den der Blick von dorther beherrscht, das Licht mit dem
Nebel kämpfen: die Städte und Berge rundum versanken bald, bald blitzten sie
empor — es war, wie der Dichter sagt, „eine taumelnde Erkenntnis" — und
als um die Sonne sich zum Untergang neigte und der Nebel über den Genfersee
seinen Alicndhauch breitete, da schienen die entfernteren Eisgebirge „in einen
leichten Fcuerdamvf aufzuschmelzen" und „wie ein gewaltiger Körper von außen
gegen das Herz zu abstirbt, so verblaßten alle langsam gegen den Montblanc
zu, dessen weiter Busen noch immer rot herüberglänzte" (Bericht aus Genf vom
27, Oktober), Die Nebel steige» auf und werden Wolken, die Wollen senke»
sich zur Erde und liegen dann „dem Geiste schwer auf" (13. November 1780),
Ilmenau:
Die Wolke sinkt, der Nebel drückt ins Thal —
aber die „Töchter des Himmels, die wcitschweifenden Wolken" (scholl 1, S. 330,
Ficlitz Ur, 698) können mich wie ein Thronhimmel droben schweben und die
Wanderung zum Fest machen (ans Emmendingen, 28, September 1779),
?iber der Nebel und seine Schwester, die Wolke, sind ja nnr Gestalten des
Wassers, und so kommen wir zu diesem Element, das in seinen tausend Wa»d-
luugeu und Übergängen dem Gemüt und der Anschauung des Dichters, wie
das Licht des Mondes, immer nahe und innig befreundet war. Es gleicht ja
des Menschen Seele, ist beweglich und zum Himmel aufstrebend und zur Erde
niedergezogen, wie diese, und, wie das Mondlicht, ein Sinnbild des Geistes,
gleichsam sinnlich und sichtbar gewordener Geist, Es offenbart sich bald als
„allrciuigende Welle" (Elpenor), bald als unaufhörlicher Sturz aus bewölkter
Kluft:
Felsen stehen gegründet, es stürzt sich das ewige Wasser
(Euphrosyne — wo das einzelne Adjektiv „ewig" ein ganzes Gedicht und eine
lange Schilderung aufwiegt), bald als Quell aus der Höhe in Absätze» niedcr-
spriugend (Iphigenie):
es quittee Heller
Nicht wen Parnaß die co'ge Quelle sprudelnd
Von Fels zu Fels ins goldne Thal hinab —
oder in den „Geheimnisse»":
— daß eine Quelle
Bor seinem Schwert aus trocknem Felsen sprang,
Stark wie ein Bach sich mit bewegter Welle
Den Berg hinab bis in die Tiefe schlang;
Noch grille sie fort, so rasch, so silberhelle,
Als sie zuerst sich ihn, entgegendrang —
bald als zischender Strahl die glatte Felswand hinab oder als spiegelllarcr
See (Gesang der Geister über den Wassern):
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne —
oder als laue Meereswelle dem Badenden sich zärtlich anschmiegend (Prometheus)
oder als Fläche der unendlichen See, über der der Sturm leise wandelnd naht,
bis er in furchtbarer Wut die Welle» aufregt und mit dem angsterfüllter Schiffe
wie mit einem Balle spielt (Seefahrt) n, s, w. Der Dichter, in klingender
Wehmut durch die Mondnacht wandelnd, ruft das Flüßchen an, seiner Stim¬
mung zu begegnen:
Wenn du in der Winternacht
Wütend nberschwillst,
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.
Aber auf den, Zürchersce am Morgen saugt der von träumerischer Erinnerung,
von widersprechenden Gefühlen bewegte junge Dichter aus der herrlichen Welt
ringsum neues Leben, neuen Mut:
Aus der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne:
Weiche Nebel trinken
Ring'o die türmende Ferne;
Morgenwind umfliigelt
Die beschattete Bucht
Und im See bespiegelt
Sich die reisende Frucht.
Die herrliche Ode „Mcchvmets Gesang" begleitet den Lebenslauf eines orien¬
talische, Stromes, der im hohen Gebirge geboren, dann immer anschwellend,
dnrch Paradiese und Wüsten zum Ozean fortrollt — ein Bruchstück physika¬
lischer Geographie in gewaltigen dichterischen Gesichten, ein Wunderwerk der
Phantasie, zugleich Symbol der wachsenden Bedeutung eines großen Menschen
oder der Phasen einer weltgeschichtlichen Begebenheit. In der Romanze „Der
Fischer" dagegen (Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll) sollte „das Gefühl
des Wassers" überhaupt ausgedrückt werden, „das Anmutige, was uns im
Sommer lockt zu baden" — wie der Dichter selbst gegen Eckermann äußerte.
Das Rinnen und Murmeln, das Herankommen und Zurücksinken des feucht-
verklärten Elementes umschmeichelt die Seele: sie ahnt in den verborgenen
Tiefen, über denen der Himmel, das eigne Angesicht wicderscheineud schwimmt,
eine unbekannte Herrlichkeit, Kühlung jeder brennenden Wunde; der dunkle Zug
darnach wird zur Person, zur Nixe, die nun mit süßer, bestrickender Rede den
Fischer hinabzieht. An Frau von Stein (19. Januar 1778): „Diese einladende
Trauer hat was gefährlich Anziehendes, wie das Wasser selbst, und der Ab¬
glanz der Sterne des Himmels, der aus beiden leuchtet, lockt uns," und in
„Wahrheit und Dichtung" (19. Buch) von der Schweizerreise: „Beim Anblick
und Feuchtgefühl des rinnenden, laufenden, stürzenden, in der Flache sich sam-
meinten, nach und nach zum See sich ausbreitenden Gewässers war der Ver¬
suchung (des Badens) nicht zu widerstehen."
Wie die Achsendrehung der Erde in den Werken des Dichters als Morgen
und Abend, als Tag und Nacht erscheint, so konnte anch ihr jährlicher Umlauf
um die Sonne oder der Wechsel der Jahreszeiten in den Schöpfungen seiner
Phantasie nicht fehlen. Er war ja mit seinem ganzen Dasein an das Schicksal
des Planeten gebunden und gehörte ihm so innig an wie alle übrigen Orga¬
nismen, z. B. die Zugvögel, die im Frühling kommen und im Herbste fort¬
ziehen, oder die Bäume, die ihr Laub jetzt hervortreiben, jetzt abwerfen. Zu¬
nächst der Frühling — er ist ja die Jahreszeit der Dichter und lebt, wie
die Liebe, in der Poesie aller Völker, besonders der nordischen. Kann die
Wiederkehr der Sonne, das erste Nahen und Erwachen des neuen Lebens, der
Vorfrühling, noch ohne Blumen, noch im Kampfe mit dem Winter, doch schon
mit hoffnungsvollen Grün im Grunde der Thäler, die Zeit um das Osterfest —
kann sie in ergreifenderen Tönen verkündigt werden als am Anfang der
Spaziergängerszene im Faust:
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche — ?
Vergleicht man mit dieser Frühlingsszene Schillers Klage der Ceres:
Ist der holde Lenz erschienen?
Hat die Erde sich verjüngt —
so wird man recht inne, wie sehr sich eine ans allgemeinen, hergebrachten
Zügen zusammengesetzte Rhetorik von lebensvoller, konkreter Wirklichkeit unter¬
scheidet.*) In voller Pracht aber umgiebt uns der Frühling in der Ode „Ganymed,"
auf die wir uns schon im obigen bezogen haben: er wird als der „Geliebte"
angerufen und lacht und klingt in dem Gedicht mit all seiner Sehnsuchtswonne,
seinem unergründlichen Himmelsblau, dem allseitigen Glanz seiner Blumen,
Gräser und Lichter (vor rubsus, oavMuw vor, ^evxöi' b'a?, ?co^too ö'a^ bei
den antiken Dichtern). Ach aber, er vergeht so bald, er ist so flüchtig (19. April
1779):
Bleib, ruf ich oft, Frühling, man küsset dich kaum,
Engel, so fliehst dn, wie ein schwankender Traum!
Er neigt sich dem Sommer zu, das erste Gewitter zieht auf (Wilhelm Meister, An¬
fang des 7. Buches): „Der Frühling war in seiner völligen Herrlichkeit erschienen;
ein frühzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedroht hatte, ging stürmisch
an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder
in ihreni Glänze hervor und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche
Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. Ach, sagte
er zu sich selbst, erscheinen uns denn eben die schönsten Farben des Lebens nur
aus dunkelm Grunde? und müssen Tropfen fallen, wenn wir entzückt werden
sollen?" n, s. w. Ein Jugcndgcdicht, das „Maillet" (Wie herrlich leuchtet
mir die Natur) übergehen wir, weil es nur aus den seit Hagedorn geläufigen
Ausrufen besteht und auch von Gleim, Uz oder I. G. Jacobi hätte gedichtet
sein können, ebenso das nicht bedeutende Lied „Frühzeitiger Frühling" (vom
Anfang des neuen Jahrhunderts), und wenden uns zu dem von einer sommer¬
lichen, lichtvollen Phantasie eingegebenen Weltbilde, das sich „Hermann und
Dorothea" nennt. Wie Faust am Osterfest sich mit der ganzen Natur wieder
auferstanden fühlt und „der Frühlingsfeier freies Glück" genießt, wie Werther
mit einer Art Maitrnnkenheit beginnt, dann gegen den Schluß, unmittelbar vor
der schrecklichen That, dnrch die finstere, feuchte Winternacht irrt: „es stiebte
zwischen Regen und Schnee" und naß und verstört und ohne Hut nach Hause
kehrt, wie es Herbst geworden war, als in den Wahlverwandtschaften die beiden
Liebenden, für die auf Erden kein Bleibens mehr war, zur ewigen Ruhe ein¬
gingen und auf Ottiliens Haupt ein Kranz von Astern gesetzt wurde, „die wie
traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten," so waltet in dem griechisch gedachte»
Epos der Hochsommer, die Zeit, wo für eine Weile mich im Norden, wie
unter dem Himmel Ioniens, das Leben der Menschen an die freie Natur tritt,
die Hüllen fallen, die Farben sich hervorwagen und unter Bäumen, auf Wege»,
in Garten, vor den Thüren der Häuser Gestalten und Gruppen sich bilden.
Wir durchleben in „Hermann und Dorothea" einen Sommertag vom Mittag bis
zum Abend. Glühend brennt die Sonne, der Wind weht sanft von Osten, kein
Wölkchen schwebt am Himmel, das Heu ist schon herein, auch das Korn ist reif,
die Ernte steht für morgen, Montag, bevor. Die Fliegen umstimmen die Gläser
und wer kann, zieht sich ins Innere des Hauses, in das kühlere Gemach, zurück.
Draußen quillt der Staub unter den Hufen der Pferde, und Hermann ersieht
sich, um mit ihnen zu halten, den schattigen Platz unter den Linden. Alles
begehrt nach Wasser, nach einem frischen Trunk, und so kommt Dorothea mit
ihren Krügen zum Brunnen und findet ihren jungen Freund daselbst. Gegen
Abend steigt der klare Vollmond auf, mit ihm ein schweres Gewitter; schon die
Sonne hat beim Untergehen mit getürmten Wolken gekämpft und bald hier,
bald dort hervorbrechend, ein glühendes Streiflicht über die Gegend geworfen:
spater, als es völlig Nacht geworden, blickt der Mond mit schwankenden Lich¬
tern durch das Laub des Weinbergs, durch den die Liebenden schreiten, bis ihn
die schwarzen Wetterwolken gänzlich umhüllen. Und während im Hause das
reinste Glück sich vollendet, hat sich die Nacht immer tiefer gesenkt, der Sturm
saust, der Donner grollt und Regengüsse schlagen gewaltsam herab. Hoffen
wir, daß, wenn die Hausgenossen am nächsten Morgen sich aufs Feld begeben,
das Unwetter nichts verdorben hat und das Geschäft fröhlich vollbracht werde.
Dann werden am heißen Mittag die Schnitter sich des Mahles unter dem
Birnbaum erfreuen, und das junge Paar wird ihnen in dem eignen Weine fröh¬
lich Bescheid thun müssen.
Auf die Ernte der Halmfrucht folgt die der andern Früchte, aus dem
Garten und von den Bäumen, bis zur Weinlese, es folgt der reichliche
Herbst (Euphrosyne). Auch für diese Zeit besitze» wir in dem Gedicht „Herbst¬
gefühl" einen wundervollen, auf immer klassischen Ausdruck. Das strotzende
Fruchtleben, die schwellende Reife, der sich drängende Reichtum, die letzte Wärme
der scheidenden Mutter Sonne, der zauberische Hauch des Mondes, das süße
Wehen des milden Himmels — diese Gesamtempfindung hat in den wenigen
Zeilen des kurzen Gedichts, wie die Seele sich den Leib baut, ein unmittelbares
Dasein gewonnen.*)
Ist die Weinlese vorüber, dann stellt sich mit blendendem Schnee und
blinkendem Eise der Winter ein, die Bäume haben sich entlaubt, auf der Tenne
fallen die Schläge der Drescher, und es häuft sich das Korn, der eingesammelte
Segen. Aus Ottiliens Tagebuche (II, 3): „Das Jahr klingt ab; der Wind
geht über die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur die roten
Beeren jeuer schlanken Bäume scheinen uns uoch an etwas Muntres erinnern
zu wollen, so wie uus der Taktschlag des Dreschers den Gedanken erweckt, daß-
in der abgesichelten Ähre soviel Nährendes und Lebendiges verborgen liegt."
Und (II, 9): „Man glaubt sich freier auszubreiten, wenn die Bäume so
geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen. Sie sind nichts, aber sie decken anch
nichts zu. Wie aber einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man
ungeduldig, bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert
und der Baum sich als eine Gestalt uns eutgegcndrängt." Ein ähnlicher Ge¬
danke schon 1781. an Frau von Stein (15. November): „Das abgefallene Laub
gewährt nur nichts Gutes, — als daß ich deine Wohnung sehen kann," und
ganz spät, in den „Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten," aus dem Jahre
^-327, vom Sommer:
Auch mir hat er tels leichte Land
An jenein Baum verdichtet,
Durch das ich sonst zu schönstem iüaub
Den Liebesblick gerichtet.
Aber es giebt Länder, wo die Bäume im Herbst ihr Laub uicht abwerfen;
es sind die hesperischen Gegenden der immergrünen Flora, in denen der Winter
nicht kahl ist. Auch diesen Süden jenseits des Alpengebirges hat der Dichter
>n der Jugend geahnt, dann dichterisch erraten, dann in der Gegenwart mit
allen Sinnen in sich aufgenommen. Dort leuchtet ein andrer Himmel:
Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer,
Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken.
Der Luftton färbt die Uferfelsen blau, und so sieht sie der Schiffer aus der Ferne:
Sieht die Berge schon blau, die scheidenden — (Alexis und Dom),
Des väterlichen Hafens blaue Berge — (Iphigenie),
der Tag ist dort farbiger, die Nacht durchsichtiger:
Nun nmlenchtet der Glanz des heiteren ÄthetS die Seine,
Phöbus rufet, der Gott, Formen und Farben hervor.
Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gefangen
lind mir leuchtet der Mond Heller als nordischer Tag.
Eine südliche Ruiucnszenc in Abendstimmung malt uns der „Wandrer," die
Garde» in Italien die erste Strophe von Mignons berühmtem Liede und das
schöne Fragment der Nausikaa, die Villa des Reichen im Frühling mit den
Bildern der epischen Dichter die erste Szene des Tasso:
schwankend wiegen
Im Morgenwinde sich die jungen Zweige;
Die Blumen von den Beeten schauen uus
Mit ihren Kinderaugen freundlich ein;
Der Gärtner deckt getrost das Winterhaus
Schon der Zitronen und Orangen ab,
Der blaue Himmel ruhet über uns
Und um dem Horizonte löst der Schnee
Der fernen Berge sich in leisen Dust.
Zwar wurde in Rom nur der „gebildete" Stein, nicht der natürliche, an¬
gesehen; „die Form hatte allen Anteil an der Materie verdrängt" (an Knebel,
aus Mailand, 24, Mai 1788): dennoch aber ist die „Italienische Reise" reich an
Blicken auch auf die Landschaft und deren wechselnde Gestalt; wir begangen
uns eine Stelle herzusetzen, die in allgemeinen Zügen zusammenfaßt, wie sie ihm
erschienen (Rom, 24. November 1787): „Es ist ein Glanz und zugleich eine
Harmonie, eine Abstufung im ganzen, wovon man nordwärts gar keinen Begriff
hat: bei euch ist alles entweder hart oder trüb, bunt oder eintönig." Und doch
mochte er, der fleißige Zeichner, der mit seiner Mappe soviel Aussichtspunkte
gesucht, der Geolog und Mineralog, der mit seinem Hammer soviel Klüfte durch¬
klettert, der Jahre laug i» Wäldern und Bergen, auf Wanderungen und in seinem
Garten, in den öden Flächen des nordwestlichen Deutschlands wie in der Schweiz
und am Rhein und Main, mit Himmel und Erde gelebt hatte — er mochte
wohl wissen, was er sagte, und sich ohne Überhebung ein vergleichendes Urteil
erlauben. Von Jugend ans war ihm ja, um seine eignen Worte zu brauchen,
„die Natur in ihrer Herrlichkeit erschienen" und „er gehörte ihr an, wie sie ihm,"
und seine Abhängigkeit vom Wetter, vom Boden, von der Jahreszeit, sein An¬
schluß an das Leben der allgemeinen Natur war nnr, wie Adolf scholl so schön
sagt, „die physische Seite seiner Genialität."
cum Wir die Entwicklung der niederländischen Malerei nach dem
Tode Jans van Esel von rein technischen Gesichtspunkten be¬
trachten, können wir »us der Wahrnehmung nicht verschließen, daß
diese Entwicklung mehr abwärts als aufwärts führt. Die Thätig¬
keit der Maler, welche in Tonrnah, Brüssel, Löwen und Brügge
wirkten, konzentrirt sich mehr ans die Darstellung des Seelenlebens, auf deu Aus¬
druck der Gemütsaffekte. Wir begegnen also der ganz natürlichen Erscheinung,
daß die ideale Auffassung gegen die realistische reagirt, ohne dieselbe jedoch ganz
aufheben zu wollen. Roger van der Westen, das Haupt dieser Richtung, liebte
Kleiderpracht und prunkenden Apparat ebenso sehr wie Jan van Esel. Aber
über dem Bestreben, seine Gestalten zu Trägern von erregten, aus der Tiefe
des Gemüts emporquellenden Stimmungen zu machen, vernachlässigte er das
Körperliche. Seine Figuren sind ohne Rücksicht auf ebenmüßige Verhältnisse
gebaut; ihre Glieder sind zu dünn oder zu lang, ihre Köpfe meist zu groß und
ihre Bewegungen eckig und unbeholfen. Bei seinem Nachfolger und Schüler
Memling werden diese Mängel durch ein unverkennbares Streben nach Anmut
und Lieblichkeit, durch die schüchterne Holdseligkeit der Frauen, durch eine große
Innigkeit der Empfindung verdeckt. Indessen haben beide Künstler aus der
Schultradition immer noch ein ausgeprägtes Naturgefühl und dabei auch einen
lebhaften Sinn für die Landschaft bewahrt. Roger van der Wcyden liebt es
sogar, auf seinen Altarbildern die landschaftlichen Fernsichten möglichst weit
auszudehnen, damit er auf ihnen noch Szenen mit kleinen Figuren darstellen
kann, welche den Hanptvorgang im Vordergründe episch ergänzen und er¬
läutern. Flußthäler, die von zackigen Bergen und Felsen eingeschlossen sind,
in saftigen, Grün prangende Wiesen und vereinzelte Bäume, welche offenbar
auf direkten Naturstudien beruhen, sind die Hauptelemente dieser Landschaft.
Eine gleichmäßig klare Luft ist über dieselbe ausgebreitet: im Vorder¬
gründe liegt ein Heller grüner Schimmer auf den Flächen, der allmählich
gegen den Hintergrund in einen blauen Duft übergeht. Auch bei Memling
findet sich noch diese feine Abstufung der Töne, während ein älterer Meister,
der aus Harlem stammt, Dierick Bouts, in den reichen landschaftlichen Hinter¬
gründen seiner Gemälde schon viel derber vorgeht und mehr nach energischen
Kontrasten strebt. Es ist auffallend und nicht anders als aus lokalen Ein¬
flüssen zu erklären, daß dieser Künstler, welcher unter allen Nachfolgern van
Eycks den stärkste» realistischen Zug auszuweisen hat, aus jenem nördlichen Teile
der Niederlande stammt, in welchem zwei Jahrhunderte später die realistische
Kunst zur höchsten Entfaltung kommen sollte. Bouts war schon um 1448 in
Löwen, wo er vermutlich den Einfluß Rogers van der Weydcn erfuhr. Auch
er liebt es, die landschaftlichen Hintergründe möglichst weit auszudehnen und
sie, wie Memling, mit stattlichen Bauwerken, mit Schlössern, Türmen, Kathe¬
dralen, ja mit ganzen Städten zu besetzen, welche so eingehend dctaillirt sind,
daß man noch jetzt manches Bauwerk identifiziren kann. Seine Landschaften
haben meist einen hügligen Charakter. Auf den Kuppen der Hügel stehen ver¬
einzelte Bäume, seltener in Gruppen zusammen, und wenn man auf den Vorder¬
grund blickt, kau» mau jede Pflanze, jede Blume botanisch bestimmen, so
charaktervoll und sorgsam ist eine jede Staude, ein jedes Blatt, eine jede Blüte
ausgeführt, und selbst die Tiere, welche ini Grünen kriechen. Dierick Bouts
hat weder eigentliche Landschaften noch Genrebilder gemalt; aber er hat beide
Elemente, das gcnrehaftc wie das landschaftliche, auf seinen Gemälden so stark
betont, daß man einen Teil seines Hauptwerkes, des Altars für die Brüder¬
schaft des Sakraments in der Peterskirche zu Löwen, für ein Genrebild halten
könnte, wenn seine Zugehörigkeit zu dem Mittelbilde, dem noch an Ort und
Stelle befindlichen heiligen Abendmahl, und damit seine symbolische Bedeutung
nicht unzweifelhaft wäre. Jener Altar hatte nämlich vier Flügelbilder, die
Zusammenkunft Abrahams mit Melchisedek, die Mannahlese, den Propheten Elias
in der Wüste und das Passahfcst der Israeliten, Die beiden ersten sind in die
Münchener Pinakothek, die beiden andern in das Berliner Museum gekommen.
Dem Gegenstände der Darstellung entsprechend bildet eine reiche Landschaft den
Hintergrund der drei ersten Tafeln. Auf der vierten blicken wir in ein Gemach
mit getäfelter Decke, dessen Fußboden sauber mit farbige» Steinfliesen ausgelegt
ist. In der Mitte ist ein viereckiger Tisch aufgestellt, welchen sechs Personen
umstehen. Auf einer großen Zinnschüssel liegt das gebratene Passahlamm. Ein
Mann ist beschäftigt, dasselbe mit einem Messer zu zerlegen. Messer bilden auch
das einzige Handgerät der andern Tischgenossen. Gabeln waren also damals in
bürgerlichen Kreisen noch unbekannt; sie kamen wohl erst im Laufe des 16. Jahr¬
hunderts in allgemeinen Gebrauch. Auf dem Tische stehen ferner dunkelgrüne,
mit Buckeln verzierte Trinkgläser und andre aus goldig schillerndem Glase. An
der linken Wand des Zimmers steht ein Kredenzschrank mit einer zinnernen Kanne
und grünen Gläsern, unter dem Fenster, welches von innen durch Läden ge¬
schlossen werden kann und dessen unterer Teil mit Vorsetzen, versehen ist, eine
hölzerne Bank. Ganz vorn zur Linken blickt man durch eine Thür in einen
Borhof, der durch eine Mauer mit Thor von der Straße abgeschlossen ist. Die
runden Brote auf dem Tische haben dieselbe Form, welche sich bis heute in
Belgien und Holland erhalten hat. Im Gegensatz zu dieser Familicumahlzcit
geht das Abendmahl des Herrn auf dem Mittel bilde des Löweuer Altars in
einem großen Saale vor sich, dessen Fußboden noch zierlicher mit buntem
Marmormosaik ausgelegt ist. Christus und seine Jünger sitzen ans Bänken und
Schemel» um deu Tisch herum, auf welchem sich neben Messern, Gläsern, Broden
und der großen Zinnschüssel auch zwei kunstvoll gearbeitete Pokale befinden.
Merkwürdig ist, daß an der Schmalseite des Saales neben dem hohen Kamine
eine durch eine Klappe zu verschließende Öffnung angebracht ist, durch welche
offenbar die Speisen von dem aufwartenden Diener dargereicht wurden. Denn
auf der Klappe stehen noch zwei Schüsseln, und zwei Männer blicken von
draußen durch die Öffnung in den Saal herein.
In der Absicht, energische Farbcnkontraste hervorzubringen, verzichtet Dicrick
Bvuts darauf, in seinen Landschaften die Übergänge so fein zu vermitteln wie
es Roger van der Westen und Meinung lieben. Die Nähe erscheint ihm grün
und die Ferne von einen: blauen Schleier umwoben. Mittcltöne sieht er nicht,
und darum läßt er den Hintergrund wie eine blaue Koulisse in die grüne
Landschaft des Vorder- und Mittelgrundes einschneiden. Auf die Linearperspektive
verstand er sich wohl, wie seine Ansichten von Jnnenröumen beweisen; aber
das Geheimnis der Luftperspektive war ihm noch verschlossen, weil seine Augen
noch nicht gebildet genug waren, um die Luft zu sehen und ihre wunderbare
Wirksamkeit in Bezug auf die Auseiuauderschiebuug der Pläne und die Ver¬
kleinerung der Gegenstünde zu erkennen.
Bei dem gegenwärtigen Stande unsrer Kenntnisse von dem Entwicklungs¬
gange der altniederländischen Malerei vermögen wir nicht zu sagen, in welchem
Zusammenhange die ältesten Landschaftsmaler im eigentlichen Sinne, Joachim
de Patiuir und Hcrri de Bles, mit den Nachfolgern Jans van Esel gestanden
haben. Wir wissen nur, daß beide in derselben Gegend, im oberen Maasthale,
geboren sind, der eine in Dinant, der andre in dem gegenüberliegenden
Bvuvignes. Es ist möglich, daß beide aus einer lokalen Malerschule hervor¬
gegangen sind, möglich auch, daß sie ihre Ausbildung erst in Brügge erhalten
haben, welches in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts den Mittel-
Punkt der niederländischen Malerei bildete. Es wird vermutet, daß Gerard
David, ein Schüler Memliugs, auf Patiuir vou Einfluß gewesen ist, und an
den letztem soll sich wieder Herri de Bles angeschlossen haben. Patinir tritt
erst mit dem Jahre 1515, wo er als Freimeister in die Lukasgilde von Ant¬
werpen aufgenommen wurde, in das Licht der Geschichte, und in demselben Jahre
ließ sich auch Gerard David in die Gilde einschreiben, um einen allerdings nur
vorübergehenden Aufenthalt in Antwerpen zu nehmen. Man hat daher Grund,
zu vermuten, daß beide aus demselben Orte, also aus Brügge, nach Antwerpen
übersiedelte», weil vielleicht in der blühenden und reichen Handelsstadt, welche
allmählich an die Stelle von Gent und Brügge trat, ein besseres Brot zu
verdienen war. Während aber David nicht lange in Antwerpen blieb — er
starb 1623 in Brügge —, ließ sich Patinir dauernd in der Schcldestadt nieder.
Er verheiratete sich und gelaugte bald zu solchem Wohlstande, daß er sich im
März 1520 ein Haus kaufen konnte. Und nicht bloß Wohlstand, sondern auch
Achtung muß er sich durch seine Kunst erworben haben, da Dürer während
seines Aufenthalts in Antwerpen im Jahre 1521 einen lebhaften Verkehr mit
»Maister Joachim" unterhielt. Er erwähnt ihn häufig in seinem Tagebuche
von der niederländischen Reise, und einmal nennt er ihn ausdrücklich den „guten
landschafftmahler," soviel wir wissen, das erstemal, daß dieser Ausdruck in
einem Schriftstücke gebraucht wird, da eine Trennung der Maler nach Fächern
bis dahin nicht üblich war. In demselben Jahre verheiratete sich Patinir zum
zweitenmale und lud Dürer zu seiner Hochzeit. Er muß aber schon im Jahre
1524 nicht mehr gelebt haben, da seine Frau in einer Urkunde aus diesem
Jahre Witwe genannt wird. Ein hohes Alter hat Patinir demnach nicht
^'reicht, und dem entspricht auch die geringe Zahl von Werken seiner Hand,
die sich noch nachweisen lassen.
Vier davon tragen seinen Namen, und auf Grund dieser vier kann man
"och etwa ein Dutzend andrer ihm mit einiger Sicherheit zuschreiben. Patinir
galt bereits seinen Zeitgenossen als ein Landschaftsmaler, weil er die heiligen
Figuren, welche sonst räumlich und geistig den Mittelpunkt der Komposition
bildeten, auf ein ganz bescheidenes Maß rcduzirte und dafür die Landschaft zu
weiterer Perspektive ausdehnte und alle Einzelheiten derselben auf das liebevollste
und eingehendste behandelte. Patinir war noch weit davon entfernt, eine Land¬
schaft als ein Ganzes zu sehen, sondern er verfuhr durchaus synthetisch, indem
er einen jeden Gegenstand, nachdem er ihn getreulich kopirt hatte, an den andern
reihte. Die Grundzüge für seine Landschaften, das Flußthal mit den hohen,
zackigen, hart an das Ufer herantretenden Felsen, hatte ihm seine Heimat ge¬
liefert. Aber diese Grundzüge waren ihm noch zu einfach, die Felsen nicht
pittoresk und phantastisch genug. Er griff daher in seine eigne Phantasie und
pfropfte seine Landschaften mit Bäumen, Sträuchern und namentlich mit den
abenteuerlichsten Felsbildungen voll. Da sieht man z.B. ans der „Taufe Christi"
im Wiener Belvedere im Mittelgrunde am Ufer des sich in unzähligen Krüm¬
mungen durch die Gebirgslandschaft Hinzichenden Flusses einen mehrfach ab¬
gestuften Felsen bis in die Wollen hineinragen, welche seine Spitzen verhüllen.
Weiterhin ist ein Felsen am Ufer mit den Trümmern einer alten Burg gekrönt,
welche ersichtlich nach der Natur gemalt ist, da man ihre einzelnen Teile genau
unterscheiden kann, und aus der Mitte des Flusses ragt ein dritter Felsen
empor. Ein ähnlicher, in das Gewölk hineinreichender Felsen nimmt den Mittel¬
grund der „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten" im Berliner Museum ein. Dieser
Felsen ist in der Mitte eingebuchtet, und in diese Höhlung ist ein phantastischer
Rundbau hineingesetzt. Auch hier sieht mau spitze Felsen mit Burgen am Ufer
eines Flusses, der in zahlreichen Windungen dnrch ein bergiges Land dem Meere
zuströmt, welches sich im äußersten Hintergrunde ausdehnt. Hier sind die Details
ebenso eingehend behandelt wie im Vordergründe, wo man jedes Blatt an den
Bäumen, jeden Grashalm auf der Wiese zählen kann. Luftperspcktivc kennt
aber auch Patinir nicht. Er vertieft die Landschaft nicht durch Anordnung
der verschiedenen Pläne hinter einander, also auf horizontaler Basis, sondern
er läßt sie terrassenförmig über einander emporsteigen. Auch hat er kein Gefühl
für die Verschmelzung der Töne des Vordergrundes mit denen des Hinter¬
grundes. Die vordere grüne Hälfte ist von der hintern blauen scharf getrennt,
was dadurch noch auffälliger wird, daß das Laub der Bäume dunkelgrün, fast
schwarzgrün gehalten ist. In dieser dunkleren Haltung des Vordergrundes ist
vielleicht schon der erste Versuch zu dem Streben zu sehen, welches von den
Landschaftsmalern des 17. Jahrhunderts zu hoher Vollkommenheit entwickelt
wurde, nämlich auf diese Weise die Mittel- und Hintergründe zum Zurückweiche»
zu bringen. Die konventionelle Scheidung der grünen und blauen Pläne erhielt
sich als stehender Gebrauch länger als ein Jahrhundert in der niederländischen
Landschaftsmalerei. Erst die großen Holländer des 17. Jahrhunderts brachen
mit demselben, während der Antwerpens Brueghel und seine Schule noch an
ihm festhielten.
In seiner unersättlichen Liebe für Reichtum an Details ist Patinir nicht
damit zufrieden, das landschaftliche Bild so mannichfaltig und wechselvoll aus¬
gestattet zu haben; er füllt die Landschaft auch mit zahlreichen Figuren, um sie
lebendig zu machen, weil er das individuelle Leben, die Seele der Landschaft
noch nicht entdeckt hat. Neben dem Vorgange, welcher die Hauptstaffage bildet,
spielt sich immer noch ein andrer ab. So wird z. B. auf dem Vordergrunde
des Wiener Bildes Christus von Johannes getauft, zwei ziemlich große Figuren.
In einiger Entfernung predigt der Täufer vor einer Schaar von Männern und
Frauen, uuter welcher man auch einen Landsknecht mit seiner Hellebarde be¬
merkt. Die Gehölze und Wiesen des Mittelgrundes sind von ahmten Hirschen
belebt, und am Flußufer sitzt ein Angler. Vorn tummeln sich ein paar Sala¬
mander an den Wurzeln eines Burnes herum, und etwas weiter hinten sitzt
ein Häschen. Wir finden also hier schon die Vorbilder jener reichen Tier¬
staffage, mit welcher Jan Brueghel seine Landschaften anfüllte. Auf dem
Berliner Bilde, der Ruhe auf der Flucht, sitzt Maria mit dem Kinde im
Vordergründe an einem Feuer, über welchem ein eiserner Topf hängt. Aus
einem Dorfe zur Linken kommt Joseph mit seinem Esel herbei, und unten im
Thal liegt ein andres Dorf, in welchem der Bethlehemitische Kindermord dar¬
gestellt ist. Ans einem Walde tritt ein Hirsch heraus.
Wenn man die Entwicklung der niederländische» Genre- und Landschafts¬
malerei nach kulturhistorischen Gesichtspunkten schildern will, darf man die per¬
sönlichen Verhältnisse der Künstler nicht außer Acht lassen. Es ist bekannt,
daß die frühern Geschichtschreiber der niederländischen Malerei von Karel van
Mander bis ans Desmmps ein dichtes Gewebe von Anekdoten um die Helden
ihrer Darstellung gesponnen haben, und daß sie namentlich in der Erzählung
von Geschichten nicht sparsam gewesen sind, welche von Vollere! jeglicher Art
zu reden wußten. Die dilettantische Geschichtschreibung während der ersten sechs
Jahrzehnte unsers Jahrhunderts hat diese Anekdoten, die angenehmen wie die
nachteiligen, getreulich wiedererzählt und dieselben so fest in das Gedächtnis
unsrer Zeitgenossen eingepflanzt, daß es ungemein schwer hält, den Kunstfreunden
wieder auszureden, daß Quintin Massijs erst aus Liebe ein Maler geworden,
Gerard Don drei Tage an einem Besenstiel gemalt und daß alle Maler, welche
Wirtshansprügeleicn darstellten, selbst Trunkenbolde gewesen seien. In den
meisten Füllen konnten die Anekdoten dnrch archivalische Entdeckungen wider¬
legt werden, und daraus schloß man, daß auch alle andern Fülle, über welche
vorläufig aus den Archiven keine Mitteilungen beigebracht werden konnten, mit
Zweifel aufzunehmen oder definitiv als Mythen zu betrachte»? wären. In einem
bestimmten Falle, der den Genremaler Adrian Brouwer betrifft, haben die
neuesten Forschungen indessen ergeben, daß die alten Überlieferungen über seinen
ungeregelten Lebenswandel und über sein frühzeitiges, damit im Zusammenhange
stehendes Ende durchaus auf Wahrheit beruhen. Dieser Fall mahnt zur Vor¬
sicht, und man wird daher gut thun, die Überlieferung der Geschichtschreiber
nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, wenn ihre Wahrscheinlichkeit durch
die Akten der Archive nicht direkt ausgeschlossen ist.
Joachim de Patinir ist der erste unter den niederländischen Malern, an
welchen die Geschichtschreiber eine üble Nachrede geknüpft haben, Karel van
Marder erzählt in seinem 1604 in Amsterdam erschienenen Malerbuche i „Die
Lebensweise von Patinir war ungemein roh, und er gab sich so sehr dem Trunke
hin, daß man ihn alle Tage, statt vor der Staffelei, in der Schenke fand, wo
er seinen Verdienst solange verzehrte, bis die Not ihn zwang, wieder den Pinsel
in die Hand zu nehmen." Man hat diese wenig schmeichelhafte Charakteristik
mit dem Hinweis darauf zu entkräften versucht, daß der ehrbare Dürer schwer¬
lich mit einem Trunkenbolde so lebhaft verkehrt haben würde, wie es der Fall
gewesen war, und daß der angesehene Quintin Massijs nach Patinirs Tode als
Vormund seiner Kinder auftrat. Indessen führte Dürer in den Niederlanden
ein so lustiges, von Gastereien erfülltes Leben, daß er schwerlich an einem lu¬
stigen Kumpan Anstoß genommen haben wird, besonders da er ja in Patinir den
Künstler achten konnte. Auch brachte Dürer aus den Niederlanden den Keim
zu einem tötlichen Leiden heim, welches vielleicht auf die veränderte, seiner
Natur wenig zuträgliche Lebensweise zurückzuführen ist. Ebenso werden Pati¬
nirs Beziehungen zu Massijs unter diesem Gesichtspunkte aufzufassen sein, zumal
da des letzteren urkundliche Erwähnung als Vormund der Kinder Patinirs sehr
dafür spricht, daß dieser kein guter Haushalter gewesen ist. Am 5. Oktober
1524 erschienen nämlich Quintin Massijs und zwei andre Maler als Vormünder
der Kinder Patinirs mit seiner Witwe vor dem Magistrat, um das von Patinir
hinterlassene Haus zu verkaufe». Endlich starb Patinir anch in frühem Alter.
Da er 1515 in die Antwerpener Lnkasgilde eintrat, wird er um 1490 gehöre»
fein, und demnach hatte er nur die Mitte der dreißiger Jahre erreicht. Daraus
erklärt sich auch, weshalb die Zahl seiner hinterlassenen Bilder nur eine geringe
ist. Zum Schluß müssen wir, wenn anch mit Widerstreben, einen Punkt be¬
rühren, welcher ebenfalls dafür spricht, daß Patinir ein ausgelassener, zu derben
Späßen aufgelegter Geselle war. Karel van Mander erzählt, daß der erste
niederländische Landschaftsmaler die Gewohnheit hatte, auf seinen Gemälden
einen Mann anzubringen, welcher sich einer Verrichtung widmet, deren Dar¬
stellung eigentlich außerhalb der Domäne der Kunst liegt. Das ist leider keine
Verleumdung, sondern wir finden diesen echt „vlämischen" Zug wirklich ans
einigen Bilder» Patinirs. Selbst auf der Taufe Christi in Wien finden wir
einen solchen Mann, der hinter einem Busche hervorguckt. Wir sehen also, daß
der niederländische Realismus sich schon in seinen Anfänge» gehörig gehen ließ,
und daß mau an solchen Derbheiten in einer Zeit wenig Anstoß nahm, wo
man kein Bedenken trug, beim Empfange von Fürsten ehrbare Jungfrauen, nur
mit einem dünnen Schleier bekleidet, ans Triumphbögen zur Schau zu stelle».
Während wir über Patinirs Leben wenigstens einige dürftige Andentniigen
besitzen, können wir in Betreff des mit ihm verwandten Landschaftsmalers
Herr! met de Bles nicht einmal das Feld seiner Thätigkeit bestimmen. Wir
wissen nur, daß er aus Bouvignes stammte und daß sich seine Gemälde in
Italien eines besondern Beifalls erfreuten. Sonst lauten die Nachrichten über
ihn sehr verworren: er soll in Antwerpen, in Mecheln, in Venedig und an
andern Orten Italiens thätig gewesen und schließlich in Lüttich gestorben sein.
Für Italien spricht nur der Umstand, daß seine Bilder auch heute noch in
italienischen Sammlungen häufig zu finden sind, für Antwerpen dagegen seine
e»ge Verwandtschaft mit Patinir, als dessen Nachfolger ihn Karel van Mander
»cunt, und die Mitteilung desselben Schriftstellers, daß der Landschaftsmaler
Frans Mostaert, welcher 1555 in die Antwerpens Gilde aufgenommen wurde,
sein Schüler gewesen ist. Den Beinamen „met de Bles" soll er von einem
weißen Haarbüschel über der Stirn erhalten haben, während ihn die Italiener
„Civetta," d.h. Käuzchen, nannten, weil er, höflicher als Patinir, ein solches
Tierchen statt eines Handzeichens auf seine» Gemälde» anzubringen pflegte. Er
versteckte es gern so in dem Laub der Bäume, daß die Beschauer Mühe hatten,
es herauszufinden. In seinen Landschaften ist die nahe Verwandtschaft mit
Patinir unverkennbar: dieselbe getupfte Behandlung der Blätter, das schwarz¬
grüne Laub, die blauen Fernsichten, nur ist die Anordnung und Erfindung noch
um vieles phantastischer und bizarrer. Auch liegen seinen Landschaften nicht so
eingehende Naturstudien zu Grunde wie denen Patinirs. Die interessantesten
unter ihnen sind eine Landschaft mit ganz kleinen, die Flucht uach Ägypten an¬
deutenden Figuren in den Ufsizien in Florenz, wo im Vordergründe eine Schmiede
mit Arbeitern dargestellt ist, und eine Landschaft in der Dresdner Galerie, wo
die Waren eines schlafenden Krämers von Affen ausgepackt und an Bäumen
aufgehängt werden. Karel van Mander, welcher dieses Bildes Erwähnung thut,
sagt, daß es eine Satire ans den Papst sei. Die Affe» sollten die Lutherisch¬
gesinnten sein, welche die „Krämerei" der päpstlichen Lehre aufdeckten. Dem
Maler hat aber eine solche satirische Tendenz sicherlich ferngelegen. Auch seine
Figurenbilder, welche meist vor seinen Landschaften den Vorzug verdienen und in
denen der Stil der Ehckschen Schule ein letztes, schwaches Echo findet, stattet Herri
met de Bles gern mit reichen architektonische» Hintergründen aus. In denselben
treten neben phantastischen Bauten gothischen Stils bereits die Formen der
italienischen Renaissance in so reichlicher Anwendung auf, daß man dieselben,
wenn Herri nicht selbst in Italien gewesen sein sollte, nur durch eine Einwirkung
Mabuses erklären kann. Sein Schüler, Franz Mostaert, betonte das phanta¬
stische Element in seinen Landschaften so stark, daß ihn Vasari als einen Maler
bezeichnet, „der ziemlich tüchtig war, Landschafte» in Öl zu malen, Phantastereien,
Bizarrerien, Träume und Einbildungen." Das phantastische Element bestand vor¬
nehmlich darin, daß Mostaert der erste war, welcher Mondscheinlandschaften malte
Eine solche findet sich noch im Wiener Belvedere, wo Fischer bei Mondschein
ihre Netze ans Ufer ziehen.
Mit diesem Namen verliert sich bald nach der Mitte des 16. Jahrhunderts
die Geschichte der niederländischen Landschaftsmalerei wieder in das Dunkel. Sie
nahm erst, wie wir später sehen werden, einen neuen Aufschwung dnrch den Einfluß
Italiens. Neben den ersten Landschaftsmalern Patinir nud Herri met de Vieh
stehen am Anfange des Jahrhunderts aber auch die ersten Meister, von welchen
uns wirkliche Genrebilder im modernen Sinne erhalten sind, Quinten Massijs
und Lukas von Leyden. Der Name des erstern als Genremaler ist an jene
schon erwähnten Goldwüger- oder Wechslerbilder geknüpft, von denen sich ein
mit seinem Namen und der Jahreszahl 1518 oder 1519 bezeichnetes im Louvre
befindet, während andre Museen Wiederholungen und Variationen dieses Themas
besitzen, welche auf seinen Sohn, Jan Massijs (1510—1575), zurückgeführt
werden. Das Bild im Louvre führt uns in die schon geschilderte Stube des
Wechslers, welcher hinter seinem Ladentische sitzt und Dukaten abzählt und
wiegt. Seine Frau, welche in einem Gebetbuchs gelesen hat, unterbricht diese
Beschäftigung, weil die Handlung des Mannes sie mehr interessirt. Ihre Augen
leuchten vor Vergnügen, während der Mann beim Zählen seine Lippen zu be¬
wegen scheint und keinen Blick von seinen Schätzen abwendet. Alles ist auf
diesem Bilde im Sinne des Realismus bereits zu höchster Virtuosität aus¬
gebildet: neben dem ausdrucksvollen Mienenspiel die im wesentlichen richtigen
Körperverhältnisse, die perspektivische Vertiefung des Raums, die sorgsame
Wiedergabe der Tracht, der Kopfbedeckung, Pelzkragen und Tuchgewäuder, wil¬
des Geräth, die leuchtenden, emailartig vertriebenen Farben, daß man keinen
Strich des Pinsels bemerken kann, die gleichmäßige Verteilung des Lichts. Das
Helldunkel und alle feineren koloristischen Experimente waren diesem Maler noch
unbekannt, weil er die Natur noch mit völlig naiven Augen ansah. Seite Ver¬
hältnis zu derselbe» war ein so außerordentlich inniges, daß er kaum einen
Gegenstand malte, welchen er nicht im Modell vor sich hatte. Das interessanteste,
in der Kunstgeschichte vielleicht einzig dastehende Beispiel dafür bietet der Flügel
eines im Brüsseler Museum befindlichen Altarbildes, auf welchem die heilige
Anna dargestellt ist, welche dem Hohenpriester im Tempel ihre Opfergaben dar¬
bringt. Neben dem Hohenpriester steht ein Mann, welcher aus einem Perga¬
mente etwas vorliest. Die ersten Zeilen dieser Urkunde sind noch lesbar, und sie
kommen wörtlich überein mit einem noch erhaltenen Dokumente, in welchem die
Vormünder der Kinder des Meisters — seine Frau war gestorben und hatte
ihm nur den Nießbrauch ihres Vermögens gelassen — erklären, daß Quintin
Massijs thuen Rechenschaft über das den Kindern zustehende Vermögen der
Verstorbenen abgelegt habe. Dieses Dokument hat der Maler also auf dem
Flügel des Altarbildes zum Teil getreulich reprvduzirt.
Von einem zweiten Genrebilde des Antwerpener Meisters sind uus nur
spätere Nachbildungen in verschiedenen Sammlungen, in Windsorcastle, in
Berlin, in München, in Petersburg, in Antwerpen, erhalten. Auch dieses
Bild führt uns in die Kreise des Kaufmannsstandcs, welcher damals in
Antwerpen eines sei hohen Ansehens genoß, daß es nnr natürlich ist, wenn
sich der erste Genremaler Antwerpens seine Stoffe aus diesem Stande wählte.
Hier sind zwei Männer hinter dem Tische dargestellt. Der eine sitzt vor
einem Buche, in welches er mit der Rechten etwas eintragen will, während
ce in der Linken ein Goldstück hält. Der Mann neben ihm legt die Rechte
lUif seine Schulter und umspannt mit der Linken einen auf dem Tische
stehenden Geldbeutel. Auf dem Tische liegen Goldstücke, Schreibgerät, Klei¬
nodien u. s. w., und der Hintergrund des Gemaches mit seinem Bvrdbrette
ist ebenso ausgestattet wie auf dem schon beschriebenen Bilde des Ehepaares.
Rechts blickt man auch durch die halbgeöffnete Thür ans die Straße. Der
Meister, dessen Kunst darin gipfelt, den Menschen wiederum zum vor¬
nehmsten Gegenstände der Komposition zu machen, suchte sein Prinzip durch
energische Charakterisirung und durch Wiederspiegelung mannichfaltiger Empfin¬
dungen im Angesichte zur Anschauung zu bringen. In diesem Bestreben ar¬
beitete er die Hauptlinien einer menschlichen Phhsiognomie möglichst scharf und
schneidig heraus und, da seine Modellirnng des Fleisches in einem lichtbräun-
lichem Tone den Köpfen auch eine gewisse Härte gab. machte eine spätere Zeit
aus diesen Kaufleute» in ihren Komptoirs hartherzige Wucherer, Pfandleihcr
und Steuereinnehmer, während der Künstler garnicht daran dachte, eine mora¬
lische Tendenz mit diesen der Natur abgelauschten Genrebildern zu verbinden.
Die starke Verbreitung derselben spricht am besten gegen eine solche Tendenz.
Es waren die ersten künstlerischen Darstellungen des Kaufmannsstandes, und
deshalb bestellten die reichen Kaufherren von Antwerpen und Amsterdam gern
diese Bilder, auf welchen ihnen ihr eignes Ich in voller Behäbigkeit und in
realistischer Greifbarkeit vor Augen trat. Dazu kam noch, daß Quintin Massijs
zu einer Zeit, als der italienische Einfluß immer mächtiger zu werden begann,
an dein nationalen Charakter seiner Kunst unerschütterlich festhielt.
Obwohl Antwerpen im ersten Viertel des 16. Jcchrhnnderts der Vorort
der niederländischen Malerei war, regten sich doch auch in den nördlichen
Städten, also im späteren Holland, die ersten Keime der realistischen Kunst.
Einer der ältesten Meister, von welchen uns die Geschichte zu melden weiß.
>se Hieronymus von Aker (geb. um 1460, geht. 1516). Man nennt ihn nach
seinem Wohnsitze Herzogenbusch gewöhnlich Hieronymus Bosch. Seine Er¬
scheinung ist eine völlig unvermittelte. Man weiß nicht, wer sein Lehrer gewesen,
noch aus welche» Anfängen er sich entwickelt hat. Wenn man nach analogen
Erscheinungen Umschau hält, steht er Gerard David von Brügge (etwa 1450
bis 1523), den wir schon oben in Verbindung mit Patinir erwähnt haben, in
gewisser Beziehung nahe. Diesem David wird nämlich ein in Wiener Privat¬
besitz befindliches Gemälde Angeschrieben, ans welchem der heilige Michael mit
sieben Teufeln dargestellt ist. Diese Höllengeister sind vollkommen phantastische
Gebilde: menschliche Kopfe mit tierischen Nasen, Mäulern und Schnäbeln, ein
riesiger Kopf, aus dessen Stirn ein Arm herauswächst, ein menschlicher Rumpf
mit einem Schwänze statt des Kopfes und mit Pferdefüßen statt der Arm?
u, dergl, grauenerregende Verbindungen mehr. Hieronymus Bosch bevölkert seine
Darstellungen des jüngsten Gerichts und der Versuchung des heiligen Antonins
mit ähnlichen Teufelsfratzen, in deren Erfindung er eine unerschöpfliche Phan¬
tasie entfaltet. Aber seine Teufelsgestalten sind nicht schlechthin unheimlich,
sondern das Grauen ist bereits dnrch einen grotesk-humoristischen Zug gemildert.
Seine Genrebilder machen es noch deutlicher, daß Hieronymus Bosch ein
Freund des Humors war. Leider ist keines von ihnen mehr im Originale
erhalten , sondern ihre Kompositionen sind uns nur durch Stiche aufbewahrt,
welche der Kunstverleger Hieronymus Cock in Antwerpen während der Jahre
1550 bis 1570 anfertigen ließ, als das Genre der phantastischen Höllen-
strafen und der drastischen Szenen mit dem Bauernleben dnrch Pieter Brueghel
den Älteren populär geworden war. Der letztere scheint auch den verschollen
gewesenen Hieronymus Bosch, nach welchem er sich augenscheinlich gebildet
hat, wieder aus der Vergessenheit gezogen zu haben. Wenn auch diese
Genrebilder meist einen allegorischen Inhalt haben und die Figuren auf den¬
selben die Träger moralischer Grundsätze sind, so geben sie doch trotz ihrer
lebhaften Tendenz unmittelbare Abbilder des Lebens. Die Gestalten sind
zwar in den Bewegungen noch unbeholfen, plump und eckig; aber in der Cha¬
rakteristik kommt die realistische Strömung der Zeit doch schon sehr energisch
zum Ausdruck. Mit Vorliebe greift Bosch seine Figuren aus den niedrigsten
Schichten des Volkes heraus, weil er an ihnen seine Neigung zum Grotesken und
Humoristischen am besten befriedigen kann. Zerlumpte Bettler, Krüppel, Narren,
Trunkenbolde, Mönche werden in komischen und possenhaften Situationen vor¬
geführt. Da stürzen zwei Blinde, von denen der eine den andern führen will,
in einen Wassergraben. Ein Narr schneidet dem andern die Haare ab. Ein
Quacksalber versammelt einige Leute um sich, deren einem hinterrücks der Geld-
beutel gestohlen wird. Auf einem vierten Bilde wird die Völlerei und der
unsittliche Lebenswandel der Mönche gegeißelt. Ein fünftes Bild führt uns
in einen mit zahlreichen Figuren belebten Wohnraum, in welchem eine alte Fra»
auf dem Herde Waffeln bäckt. Neben ihr thut ein Mönch einen herzhaften
Zug aus seinem Bierkruge, ein zweiter Mönch bläst die Sackpfeife und ein
dritter Mann spielt die Guitarre. Einer tanzenden Frau genügt diese Musik
noch nicht, denn sie schlüge noch mit einer Zange den Takt auf einem Roste.
Ein Hund tanzt auf den Hinterbeinen, und durch die Thür kommt noch ein
grotesker Zug von mehreren Personen herein, welche einen Spinnrocken, einen
Bratspieß und einen Blasebalg tragen, um den Faschingslärm zu vermehren.
Ein dicker Mann läßt sich durch denselben in seinem Schlafe nicht stören, und
einem andern wird der Bart von einer Frau eingeseift. Die einzelnen Figuren
und Handlungen werden auch hier nicht ohne allegorische Bedeutung sein. Aber
>>n ganzen haben wir doch ein aus dem wirklichen Volksleben geschöpftes Bild
vor uns, welches als ein Prototyp der Wirtshausbilder des lustigen Jan Steen
aFten kauu. Wir finden hier bereits, also etwa hundertundfunfzig Jahre vor
dem Auftreten des Leidener Meisters, das Bestreben, eine Reihe von ver-
schiednen Hnntirungeu zu einer Komposition zu vereinigen und den Beschauer
durch die Überfülle der Motive zu fesseln. Über den Stil und die Ausdrucks¬
weise des Hieronymus Bosch können wir nur nach einigen Bilder» in Wien
und Madrid urteilen, welche das jüngste Gericht und die Hölle, die Anbetung
der Könige und die Versuchung des heiligen Antonius darstellen, da uns seine
Genrebilder, wie gesagt, nur in späteren Stichen ihrer Komposition nach er¬
halten sind. Aus diesen drei Bildern, von denen das erste und dritte dem
phantastischen Genre angehören, lernen wir Bosch als einen ausgezeichneten
Koloristen kennen. Er liebt helle, leuchtende Farben, welche er sauber und glatt
"»ter einem vollen, warmen Lichte aufträgt. Im wesentlichen bleibt die technische
Prozedur auch bei ihm dieselbe, auf eine emailartige Behandlung der farbigen
Oberfläche ausgehende, wie bei allen nationalen niederländischen Malern der
von Jan van Eyck inaugurirten Epoche.
Am Ende dieser Epoche steht als der letzte Realist vor dem italienischen
Interregnum Lukas von Leyden (1494—1533), eine geniale, frühreife Natur,
welche große Verwandtschaft mit Dürer hatte. In seinen zahlreichen Kupfer¬
stichen, deren frühester mit einer Jahreszahl bezeichnete von 1508 datirt ist,
hat er sich sogar nach Dürer gebildet. Sind seine Gemälde religiösen Inhalts
schon reich an genrchaften Zügen — fo besonders die Heilung des Blinden in
der Petersburger Eremitage — und hervorragend durch die zarte und sorgsam
°n Natur abgelauschte Behandlung der landschaftlichen Hintergründe, fo fehlt
es auch unter der Reihe der uns erhaltenen Werke seiner Hand nicht an eigent¬
lichen Genrebildern. In Wiltonhouse bei Salisburh befindet sich eine Gesell¬
schaft von Herren und Damen um zwei Schachspieler gruppirt, und ein ähnliches
Bild vesitzt die Berliner Galerie. Auf dem letzter» sieht man zwölf Personen:
den Spieler und seine Partnerin, neun Herren und eine Dame, welche dem
Gange des Spieles mit lebhafter Spnnnnng folgen. Die Charakteristik dieser
Figuren ist von seiten des Künstlers mit einem so heiligen Ernste durchgeführt,
d"ß sich von diesem Ernste vieles auf den Ausdruck der Köpfe übertragen hat.
Aber der feierliche Ernst steht nicht nur passionirten Schachspielern sehr gut,
sondern er ist auch eine Eigentümlichkeit des holländischen Charakters. Vielleicht
'"ag auch des Künstlers eignes Temperament in dieser Darstellung etwas re-
flektiren; ein gemessenes, feierliches Wesen, die Folge seiner frühen Reife, ist
allen seinen Werken, den Gemälden wie den Kupferstichen, eigen. Lukas war ein
deiner, kränklicher Manu, der niemals feines Lebens recht froh wurde und
frühzeitig starb, nachdem er eine ziemlich umfangreiche Thätigkeit, namentlich
in Kupferstichen, entfaltet hatte. Auch diese tragen mit Ausnahme einer kleinen,
bereits von der italienischen Manier beeinflußten Gruppe ein entschieden realistisches
Gepräge, und besonders fällt auch auf ihnen die Vorliebe und das feine Gefühl
für landschaftliche Reize ans. Wir finden aber bei dem Zeitgenossen PatinirS>
der rin dem ersten Landschaftsmaler der Schule sogar um 1521 zusammen in
Antwerpen lebte, dessen Glanz auch den holländischen Meister angelockt hatte,
keine Neigung zu phantastischen Bildungen, sondern eine treue Beobachtung der
wirklichen Natur, wie wir sie bei den ältern Meistern der Schule gesehen haben.
Auch unter den Kupferstichen sind einige, welche Genreszenen behandeln. Es ist
wohl nicht zufällig, daß dieselben sich ihrem Inhalte »ach in der Richtung des
Hieronymus Bosch bewegen. Da ist zunächst el» Quacksalber, welcher einem
Bauern einen Zahn ausreißt. Eine Frau benutzt diese Gelegenheit, um einen
Griff in die Geldtasche des Bauern zu thun. Auf einem zweiten Blatte ist
gleichfalls eine chirurgische Operation dargestellt, die an einem auf der Erde
kauernden Manne vorgenommen wird. Es sind die ersten Schritte ans dein
Wege, den ein Jahrhundert später Adriaen Brouwer und David Teniers der
Jüngere mit größtem Erfolge betraten. An ein Lieblingsgebiet des Hieronymus
Bosch erinnert auch ein Hauptblatt unter den Kupferstichen des Lukas, die
uuter dem Namen der „Eulenspiegel" bekannte wandernde Bettlcrfamilie, deren
Haupt die Sackpfeife bläst, während der älteste Sprößling mit einer Enle auis
der Schulter deu Zug eröffnet. Aber nur in den Stoffe» erinnert Lukas an
Bosch. In der Charakteristik der Figuren und in der Formengebung hält er
sich vou jeder grotesken Übertreibung fern. Er giebt die Natur mit voll¬
kommener Unbefangenheit und mit jener Naivetät wieder, welche das Kenn¬
zeichen des echten Realismus ist.
as musikalische Publikum hat sich allmählich gewöhnt, die An¬
zeigen neuer Klassilcransgaben mit gelindem Gleichmut hinzu-
nehmen. Wir möchten im vorliegende» Fall um eine freundliche
Ansnahme bitten, da eS sich um ein Werk handelt, welches die
musikalisch Fertigen sehr interessiren wird, »ud aus welchem die,
welche das erst noch werden wollen, ungemein viel lernen können. VielleW
knüpft sich an die eben erschienene „PhrasirnngsanSgabe" der Mozartschen So¬
nate»*) eine neue Phase in der Geschichte des Klavierspiels.
Was der Herausgeber mit der Bezeichnung „Phrasirungsausgabe" meint
und bietet, werden alle diejenigen ahnen, welche so glücklich gewesen sind, ihren
Klavierunterricht durch einen gründlich gebildeten Musiker zu erhalten. Unter
„Phrasiruug" versteht mau die Kunst des Vortrags in Rücksicht auf die gram¬
matischen und formellen Verhältnisse eines Tonwerth. Die Phrasirnng ist das¬
selbe in der Musik, was die richtige Deklamation in der Rhetorik, Ein Musik¬
stück einfach richtig zu deklamiren ist aber deshalb ungleich schwieriger, weil
der Apparat der Interpunktionen in der Tonschrift sich in einem sehr unent¬
wickelten und mangelhaften Zustande befindet. Wir lesen aus deu Noten ganz
sicher die Höhe und Tiefe der Töne, auch das Wesentlichste über ihre Kürze
und Länge, aber äußerst wenig über ihre Sahstellung, In einem englischen,
französischen, italienischen Vnche kann jeder, auch wer der betreffenden Sprache
unkundig ist, sehen, wo ein Gedanke anfängt und wo er schließt. Die Punkte
zeige» es ihm, und auch über die Grenzen untergeordneter Redeteile erhält er
durch Kommata und andre Schriftzeichen Auskunft, Anders in der Musik,
Die bescheidne Fähigkeit, einen Tonsatz richtig ableiten zu können, setzt eine
weitgedieheue allgemeine Fachbildung, in vielen Fällen sogar Vertrautheit mit
dem speziellen Stücke voraus, und das Malheur, daß ein Tongcdanke verdreht
und ganz falsch verstanden wird, passirt ziemlich häufig, und nicht bloß Schülern,
Ja anch die Fälle, wo selbst fertige Meister über die formelle Interpretation
einer Reihe von Noten uneinig find, gehören nicht zu den Seltenheiten, und
als höchste Stufe der Verwirrung steht die Thatsache vor uns, daß zuweilen
auch gründlich gebildete und bedeutende Komponisten ihre eignen Gedanken
falsch aufgeschrieben haben. Außerdem giebt es noch eine vollständige und
zahlreiche Klasse bernfsmüßiger Musiker: Orchesterspieler und Klavierlehrer, in
keiner oder nur schlechter Schule gebildet, denen Begriff, Wesen und Notwendig¬
keit der Phrasiruug überhaupt gänzlich fremd ist.
Man könnte versucht sein, das Bild dieses Notstandes drastisch auszuführen.
Indes sind mildernde Umstände von Belang vorhanden. Sie liegen eben in
dem Mangel ausreichender musikalischer Interpunktionszeichen.
Zur Abteilung und Gruppirung von Tonreihen haben wir in der Haupt¬
sache nur zwei schriftliche Mittel: die Taktstriche und die sogenannten Binde¬
bogen. Was die Taktstriche betrifft, so sind diese von Hans aus mir Organe
einer arithmetischen Ordnung der Töne. Sie zerlegen eine längere Tvnkctte in
kleinere Abschnitte von gleicher Quantität, Aber die Taktgrnppen entsprechen
durchaus nicht immer, nicht einmal in der Mehrzahl der Fälle den logischen
Abschnitten. Die Glieder ein und desselben Taktes gehören sehr oft zwei, ja mehr
verschiednen Ideen an, und andrerseits bildet zuweilen der Inhalt eines voll¬
ständigen Taktes nur einen unselbständigen, für sich allein nnverstündlichen Teil
eines Satzgliedes. Man hat darnach allen Grund, die Bedeutung der Tcckt-
einteilnng nicht zu überschätzen. Ist es auch zuviel gesagt, wenn man dem
Takt nur den Wert des Ellenmaßes zugesteht, so bedeutet es auf der ander»
Seite den Anfang der Barbarei, wenn man den freien, lebendigen Fvrmen-
orgauismus eines Tonsatzes an allen Stellen mit dem starren Taltmnß decken
zu können meint. Dieser Verfall des musikalischen Formengefühls stand wirklich
bevor. Als ein starkes Symptom davon führen wir das Faktum um, daß in
einem vielgebrauchten theoretischen Lehrbuche vier Auflagen hindurch die heil¬
lose Definition zu lesen war: „Motiv ist der Fignreninhalt eines Taktes/'
Derartigem Verirrungen gegenüber zeigen neuere Theoretiker unter Führung
und Auregung des genialen und vielseitigen Metrikers N, Westphal eine
Verstimmung gegen die Taktantvrität, welcher man ein gesundes Element nicht
absprechen kann.
Die Bindebogen <>—die wir an zweiter Stelle als Mittel zur Ein¬
teilung von Tonrcihen angeführt haben, sind an sich zu dieser Aufgabe wohl
geeignet. Es liegt aber auch bei ihnen der Übelstand vor, daß sie nach lange
feststehender Tradition noch einem andern Zwecke dienen: der Bezeichnung eines
rein klavicrtechnischen Momentes, nämlich der sogenannten gebnndnen Spielart,
Ähnlich wie bei den Taktstrichen begegnen wir hier sehr hünfig der Erscheinung,
daß ein Legatobogen entweder eine Mehrzahl selbständiger Gednnleneinheiten
umfaßt oder aber, daß er sich nur über einen Teil einer solchen Gedanken-
einheit erstreckt.
Was unsre Touschrift außer Taktstrichen und Legatobogen noch an Mitteln
zur Bezeichnung des Satzbaues und des formalen Organismus enthält, ist
äußerst wenig. Neben der in ihrer Verwendung sehr beschränkten Fermate ist
hauptsächlich noch der Brauch anzuführen, im schnellen Figurenwerk (Achtel
und bewegteren Rhythmen) die Schlnßnvten selbständiger Motive aus dem ge¬
meinsamen Balken abzulösen und mit einem eignen zu versehen. Er erscheint
bei den Alten, namentlich bei Bach, sorgfältiger durchgeführt als bei de» Neuern,
Sobald man die Alten erwähnt hat, läßt sich der Frage nicht mehr aus¬
weichen : Wie kommt es, daß die hier nachgewiesene Lücke in der Tonschrift so
lange offen bleiben konnte?
Zum nicht geringen Teile kommt das daher, daß die Komponisten der
früheren Zeit, die des 18, Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 17,, ein
— wie wir uns heute ausdrücken - musikalisch distinguirtes Publikum vor
Augen hatten. Die Kreise, für welche Händel und Bach ihre Suiten, Haydn
und Mozart ihre Sonaten schrieben, brauchten keine Angaben für die Phra-
sirung und kannten die Gesetze, nach welche» sich diese richtet, ans Grund einer ^
tieferen musikalischen Bildung, gerade wie sie noch heute jeder gute Musiker
von selber weiß. Indes muß aber doch auf den Zuwachs von Unmündigen,
welchen die klavierspielende Welt im 19. Jahrhundert erfahren hat. Rücksicht
genommen werden. Auch darf mau nicht übersehen, daß bei einigen neueren
Komponisten, Beethoven z, B, die Phrasiruug zuweilen doch nicht so einfach
ist mit daß, wie wir eingangs andeuteten, Meinungsverschiedenheiten und Irr¬
tümer sogar uuter den Kundigen möglich sind, daß endlich das Dnrchschnitts-
verständnis für die Phrasirnng innerhalb der musikalischen Fachkreise selbst
gesunken ist. Die Versuche, die musikalische Interpunktion zu vervollkommnen,
reichen daher schon weiter zurück. Riemann nennt in einem längeren Aufsätze
im „Musikalischen Wochenblatt" D. G, Türk als den ersten Vertreter der
hierauf gerichteten Bestrebungen, (Türk starb 1813 als Universitätsmusik¬
direktor in Halle, wo er sich um die Leitung der „Wöchentlichen Konzerte"
große Verdienste erworben hatte. In ganz Deutschland galt er als Autorität
in Geueralbaßsacheu, und seine zahlreichen theoretischen Werke sind noch heute
kennenswert.) Ich bin jedoch in der Lage, die Existenz eines Jnterpnnktions-
shstems lange vor Türk nachzuweisen und werde weiter unten darauf zurück-
kommen.
In neuerer Zeit haben sich die Herren Lebert und Stark um die Phrasirung
bedeutende Verdienste erworben. Ihre Klassikcrausgaben veranschaulichen den
Satzbau in seinen größeren und kleineren Verhältnissen ganz trefflich, wo nicht
durch Zeichen, so durch textliche Erklärungen.
Riemann geht aber weiter als sie, und zwar nach zwei Richtungen. Einmal
sind seine Analysen noch detcnllirter, sodann stellt er neue Schriftzeichen auf.
Der letztere Schritt wird, wie wir hoffen, von bleibender Bedeutung sein.
Werden die Riemcmnscheu Zeichen acceptirt und allgemein eingeführt, dann
wird die musikalische Deklamation eine sehr einfache Sache sein und den Nimbus
einer Geheimkundc der oberen Fachleute vollständig verlieren. An den Kom-
pmnstcn liegt es vor allem, sich derselben zu bedienen, denn das Schlimmste
sind die Fälle von Unklarheit, die durch die Autoren selbst veranlaßt
werden.
Zu einer Auseinandersetzung des Riemannschen Zeichcusystems selbst ist
der Ort eine musikalische Fachschrift. Hier sei nur angegeben, daß das Wich¬
tigste der von Riemann angewendeten schriftlichen Jntcrpunktionsmittel das
„Lesezeichen" ist. Es erscheint in der Form eines einfachen / oder //. Dieses
Lesezeichen hat Türk schon vorgeschlagen. Es kommt aber — und damit löse
ich mein oben gegebenes Versprechen ein — lange vor Türk schon vor, und
zwar bei PH. Rcimeau, dem großen französischen Zeitgenossen von Bach und
Händel. Er bedient sich desselben in den Justrumentalstücken seiner Opern
(nicht bloß gelegentlich) zur Abgrenzung der Perioden, des / für kleinere, des
// für größere. Außerdem bezeichnet Ramean die logische Hauptnote der kleinen
Melvdieabschnitte immer durch ein ein Zeichen, das in dem modernen mu¬
sikalischen Jnterpunktionsshstem wohl auch ganz gut zu verwenden wäre. Das
Lesezeichen selbst, wie Riemann es genannt hat (französisch Auicis), eignet sich
zu vielerlei Varianten durch kurze und lange, dünne und dicke Form, durch
Anbringung von Häkchen :e. Es könnte mit ihm allein der ganze Phrasirnngs-
bedarf bestritten und der nlle Bogen ganz ausschließlich seinem ursprünglichen
Zwecke der Bezeichnung der gebundncn Spieluvt zunickgegcben werden, Doch
das sind unmaßgebliche Borschläge,
Thatsächlich hat Riemann mit den von ihm gewählten Zeichen seinen Zweck
vollständig erreicht und die Sonaten Mozarts so eingehend und ausführlich
interpungirt, wie es bis jetzt noch in keinem Drucke geschehen ist. Mit Recht
darf er seine Bezeichnungswcisc für eine fortlaufende Erläuterung und genaue
thematische Analyse der Werke erklären. Ein Vorwort giebt über die Bedeutung
der Zeichen genügende Auskunft. Es würde nichts geschadet haben, wenn es
länger ausgefallen wäre und die sehr nützlichen Auseinandersetzungen kurz zu¬
sammengefaßt hätte, welche der Herausgeber in dem oben zitirten Aufsätze über
die dynamischen Beziehungen seiner Phrasirnngsmethode niedergelegt hat. Soviel
wir wissen, soll ein spezieller Kommentar dies nachholen. Das materielle Re¬
sultat seiner in der Phrasirnngslehre inbegriffenen Theorie der Dynamik hat Rie¬
mann in den allbekannten Vvrtragszeichen x., 5., u. s. w. zum
Ausdruck gebracht.
Da die Ausgaben von Mozarts Sonate» fast alle in Betreff der Zahl der
mitgeteilten Stücke und in der Wahl der angelassenen abweichen, so bemerken
wir, daß Riemann 18 giebt. Ausgelassen ist die kleine ?-cor-Sonate (drei¬
viertel Takt), welche in der Brcitkopfschen Volksausgabe als Ur. 16 mit einem
Satze vertreten ist. Köchel bringt sie in seinem thematischen Katalog nnter
547 als Violinsonatc. Über den einzelnen Sonaten ist die Entstehungszeit
angegeben, Wenn doch endlich ein einheitliches Prinzip über die Aufeinander¬
folge der Mozartsonatcn zur Herrschaft käme!
Endlich sei nicht unbemerkt, daß der Verleger ans dem Titelblatte das Jahr
der Publikation (1883) angegeben hat — ein lobenswerter Vranch, der früher
auch bei Musikalien allgemein war, und zu dem allseitig zurückgekehrt werden
sollte. *)
an hat zu alle» Zeiten die Leistungen eines Diplomaten besonders
dann bewundert, wenn sie mit einer Überraschung zusammen¬
hingen. Der Massenauflauf der Aktien des Suezkanals, die An-
uektirung Cyperns haben dem englischen Premier das lautlose
Staunen ganz Europas eingetragen. Welch ein Meister! rief
man, welch eine Überlegenheit! Niemand ahnte etwas! Das soll ihm einmal
einer nachmachen!
Man vergißt, daß chiffrirte Depeschen zwischen dem Premier und seinem
Botschafter oder Gesandten für die komplizirtesten Verhandlungen und Ab¬
machungen genüge», und daß zwischen Stambul und Downing Street laufende
von Schwalben auf deu Telegraphendrähte» Rast machen können, ohne daß,
was »meer ihren Füßchen an wichtigen Dingen hin- und hergeschnellt wird
irgend einem Lauscher verständlich wird.
Wieviel schwerer es ist, auf nur wenige hundert Schritt Entfernung einen
Vorgang geheim zu halten, der in den Beobachtungskreis der Dienstboten fällt,
das sollte der Fabrikant erfahre», als er „um die Stunde des zweiten Früh¬
stücks" seine Aufwartung in der Villa Mockritz machte.
Zunächst erfuhr er freilich nur die Wirkung, ohne die Ursache zu ahne»,
und so geriet er in eine» Zustand sprachlosen Staunens. Er hatte, trotz seiner
Annahme, mit dem Gemüt nicht beteiligt z» sein, nur beklommenen Schrittes
den „dornenvollen Pfad" betreten, und er wartete in dein Empfangszimmer der
Frau von Mockritz mit dem Herzklopfen, das auch deu Mutigsten kurz vor den
ersten Kanonenschüssen eines heißen Schlachttages um seinen ruhigen Atem bringt.
Dann aber, als Fran von Mockritz hcrangerciuscht war und nach wenigen, noch
nichts verratenden Worten des Besuchers die für sie und ihre Tochter bestimmten
Briefe Bertholds empfangen und gelesen hatte, erfolgte zu seiner Verwnndenmg
keinerlei Ausbruch.
Lieber Herr Hartig, sagte die, nach des Fabrikanten Meinung heute geradezll
fürstliche Finn, ich freue mich, daß Sie die Briefe selbst überbracht haben. Es
war etwas ähnliches von unsrer Seite in Vorbereitung — hier liegen unsre für
Sie und Ihren Herrn Sohn bestimmt gewesenen Absageschreiben, und ich muß
dem Zufall, der meinen Lakaien das rechtzeitige Forttragen derselben verab-
säumen ließ, jetzt dankbar sei», denn es ist immer erfreulich, wenn die Auf¬
lösung eines Verhältnisses aus gegenseitiger Erkenntnis der Zweckmäßigkeit eines
solchen Schrittes geschieht. Sowohl die mir überbrachten Briefe wie auch Ihr
Besuch, der ohne Zweifel mir mündliche Erläuterungen zu bieten beabsichtigte,
sind mir deshalb von hohem Werte,
Wie schon erwähnt, der Fabrikant war sprachlos vor Staunen,
Die Briefe wurden ihm nun übergeben. Er öffnete den für ihn bestimmten.
Lesen Sie nur anch gleich den andern, bat Fran von Mockritz und schnitt das
Kvuvcrt auf; es steht nichts darin, was der Vater nicht ebensogut ein Recht
hätte zu erfahren wie der Sohn.
Kaspar Benedikt las also.
Über den Inhalt zu staunen, war weiter nicht nötig. Mit den kürzesten
n»d doch alles aufs vortrefflichste sägenden Worten hatte vor allem die Mutter
ihre Absage verfaßt, Sie habe, hieß es in dem duftigen und goldsandbestrentcn
Briefchen, nach dem gestrigen in der Villa Anna gemachten Besuche doch noch
einmal alles aufs reiflichste erwogen und nach eingehendem Znrateziehcn des
unbefriedigender Gemütszustandes ihrer Tochter den Entschluß gefaßt, auf die
geplant gewesene Verbindung lieber zu verzichten, nähere Auseinandersetzungen
für geneigte persönliche Begegnung versparend.
Der Fabrikant hatte die Nacht über von Duelle» getrimmt; einer, wenn
nicht gar beide Schwiegersöhne der fürstliche» Frau würden sichs nicht nehmen
lassen, so hatte er im Traum gemeint, den zurücktretenden Bräutigam zu for¬
dern, und in den Morgenstunden hatte er sogar eiuen Schuß falle» höre» und
hatte im Geiste Berthold als das Opfer eines amerikanischen Duells i» seinem
Blute schwimmen sehen. Die Lektüre in der Bibliothek der merkwürdigen Villa
war beschwichtigend gefolgt. Nun endlich hatte auch die von der ander» Seite
produzirte Absage den Boden noch vollständiger um seine vulkanische Natur
gebracht. Kaspar Benedikt konnte wieder lächeln.
Die Wahrheit zu gestehen, gnädige Fran, sagte er, ich atme auf. Bei
jeder Brautschaft hofft man ja das beste. Warum anch nicht? Aber „gleich
und gleich" bleibt doch ein schwerwiegendes Wort.
Ihr Nichtadlichen macht immer weit mehr Wesen von u»ser» Standesvvr-
rcchten, als nötig und als in der Ordnung ist, gab Frau von Mockritz in gü¬
tigem Tone zur Antwort. Nein, lieber Herr Hartig, ich hätte mich aufrichtig
gefreut, wenn die jungen Leute ein Pciar geworden wären. Aber —, und sie
erging sich in so liebenswürdig das Benehmen des nur etwas zu ungeduldig
gewesenen Bräutigams entschuldigenden Mitteilungen über die, wie sie betonte,
»ach dieser Seite allerdings übertrieben empfindliche und allzu leicht kopfscheu
zu machende Braut, daß der Fabrikant schier in der Seele seines Adoptivsohns
verlegen wurde.
Er versuchte ihn in Schutz zu nehmen, die Nachsicht der Frau 0on Mockritz
kam seinen Worten jedoch in so urbnner und doch zugleich so herzlicher Weise
entgegen, daß der Fabrikant sich zu schämen begann, für den Bräutigam ein¬
getreten zu sein, statt die Braut zu beklagen.
Ich bitte mich überhaupt nicht mißzuverstehen, milderte Frau von Mockritz
nun noch teilnahmsvoll das Gesagte; wie sehr der junge Mann sein Unrecht
einsieht — aber ich nenne es garnicht so, es waren eben kleine Freiheiten aus
dem Musterkarte der Freiheit —, wie sehr er seine Raschheit bereut, das be¬
weist er ja am besten durch sein hochherziges Anerbieten, der Abgewiesene zu
sein, während er noch der Meinung sein durfte, er sei der Abweisende. Gewiß
macht dies Betragen vieles, alles gut. Ich schätze ihn schon allein deshalb.
Man braucht kein Wappenschild zu haben, um adlich zu denken. Er trügt eS
meiner Tochter nicht nach, daß sie nach dem übel» Ende jenes mitternächtlichen
Sturmlanfs auf ihr schlecht behütetes.Heim die Rückkunft ihrer Mutter ab¬
wartete, ehe sie sich wieder in der Villa Anna sehen ließ; ein junges Mädchen
kommt so leicht ins Gerede. Also gute Freundschaft, lieber Herr Hartig, und
ihnn auch Sie und Ihre treffliche Frau dazu, daß die von meiner armen Her-
mione begangene kleine Übereilung ihr in der Meinung unsrer medisanten Nach¬
barschaft nicht schadet. Doch was rede ich? Ihnen brauche ich ja nicht erst
Diskretion zu empfehlen. Sie sind samt und sonders Ehrcnlente; ich habe
schon am ersten Tage unsrer Bekanntschaft gesagt: Das sind Menschen echt
wie Gold, man suche in unserm Staude nur ähnlich biedere Herzen; also gute
Freundschaft nach wie vor, nach wie vor!
Sie hatte ihn an die Treppe gebracht, drückte ihm wieder und wieder die
Hand, und wenig fehlte, daß er ihr die Hand küßte, was ihm freilich wegen
Mangels an Übung wohl nicht gelungen wäre.
Mit den beiden Absagebriefen in der Tasche stapfte er heim. Sehr unwirsch
n> Bezug ans seinen Berthold, sehr erfüllt von dem feinen Takt und dem wohl¬
wollenden Herzen der Frau von Mockritz, sehr wehmütig bei dem Gedanken an
'die nun doch nicht allein als Billardpartnerin und als lebendige Spieldose,
sondern anch als Schwiegertochter gewiß nur schwer zu ersetzende, reizende,
sittsame Hermine. Es kamen ihm, wie er mit den Briefen mißmutig dahin-
schritt, lauter verhagelte Kornfelder in den Sinn, dann wieder eingestürzte
Häuser, endlich Schiffstrümmer, die das von einem Sturm sich langsam erholende
Meer auf den Strand warf.
Zu poltern war nicht seine Art. Wie er sich seiner guten Anna gegen¬
über gewöhnt hatte, trübe Dinge im stillen bei sich abzumachen und ihr ein
heiteres oder doch ruhiges Gesicht zu zeigen, so war er zeitlebens mich seine»
Untergebenen gegenüber immer der personifizirte Gleichmut gewesen, und dem
gut temperirten Klima, das er um sich verbreitet hatte, war ein gut Teil des
Wohlbehagens zu verdanken gewesen, dessen seine Arbeiter froh geworden waren.
Ich will mich nicht weiter in die Sache mischen, sagte er endlich zu sich
selbst; mein armer Junge ist bestraft genug. Wie kann man einen Menschen
in seinem Alter über das, was Herzensangelegenheiten sind, examiniren wollen?
Meine Alte und ich, wir stammen aus einer andern Zeit, haben uns auch schon
von Kindesbeinen um gern gehabt. Da ging alles wie in einer gntgeölten Ma¬
schine. Er hingegen ist kopfüber in diese Bekanntschaft hineingewirbelt worden.
Kaspar Benedikt schwieg; selbst im stillen mit seiner guten Anna rechten
mochte er nicht. Auch sie hatte es gut gemeint, schloß er, kein Wort mehr
davon, und jetzt wieder klaren Himmel.
Um die wunderbare Kunst, die Stürme seines Innern nicht zu verraten!
Soll man sie zu erlernen suchen? Soll man sich vor ihr hüten? Ich habe
in einem kleinen Provinztheater eine Schauspielerin gesehen, die ihr dankbares
Auditorium einen ganzen Abend lang nicht aus dem Lachen kommen ließ, und
beim Nachhausegehen hörte ich einen Kollegen der Schauspielerin einem der
Lacher erzählen, bei einer Kirchtnnnreparatur in der Nachbarschaft habe der
Gatte der Schauspielerin, ein Schieferdecker, heute früh den Tod gefunden und
die Trauerpost sei der »»glücklichen Frau gerade in dem Augenblicke zugekommen,
als sie habe auftreten müssen — müssen, denn in solchen Dingen verstehe ihr
Direktor keinen Spaß.
Ganz ohne jene Kunst im Leben durchzukommen, ist schwer, ist anch gleich¬
bedeutend mit einem Verzicht ans Schonung andrer, und solche Schonung ist
denn doch keine bloß eingebildete Pflicht. Aber unheimlich mutet es bei alledem
an, wenn jene Kunst bis zur Meisterschaft jemandem zur Verfügung steht. Es
ist etwas wie die Fertigkeit im Verstellen der eignen Handschrift oder gar im täu¬
schenden Nachahmen der Handschriften andrer.
Weder Kaspar Benedikt, noch seine Gattin, noch auch der weitgereist«.
Adoptivsohn hatten je in ihrem geschäftigen Leben Muße gehabt, um über diese
Kunst und ihre Erlernung auch nur nachzudenken, obschon sie ans allseitiger
Herzensgüte einander zu schonen pflegten. Keines von ihnen blickte daher hinter
die Koulissen der Villa Mockritz, und was der Fabrikant an Eröffnungen und
Briefen von seinem Absagebesnche heimbrachte, empfingen Mutter und Sohn in
demselben guten Glauben, wie dies vonseiten Kaspar Benedikts der Fall ge¬
wesen war.
In Wirklichkeit verhielt sich die Sache aber wie folgt. Greifen wir um
vierundzwanzig Stunden zurück.
Was Hermione der Frau von Mockritz über das lange Fernbleiben und
Schweigen Bertholds mitgeteilt hatte, war der letztern nicht unbedenklich er¬
schienen. Befremdender noch kam es ihr und auch ihrer Tochter vor, daß die
Vormittagsvisite von Vater und Sohn unterblieb. Frau von Mockritz begann
für nötig zu halten, sich auf eine Überraschung vorzubereiten. Sie pflegte,
wenn sie nicht mit ihrer Kammerjungfer Sabine auf Reisen war, durch diese
gewandte Vertrauensperson Fühlung zu unterhalten mit den innern Vorgängen
der ihr befreundeten Häuser, sandte dieselbe denn nun auch schleunigst ans Kund¬
schaft aus und erfuhr bald nach jenem ungewöhnlich erregt endenden Auf¬
tritte zwischen dem Fabrikanten und seinem Sohne, daß der Ingenieur von
Fräulein von Mockritz nichts mehr wissen wolle.
Diese Nachricht brachte Frau von Mockritz doch einigermaßen außer Fassung.
Sie hätte, sagte sie sich, gleich uach Bertholds Antrag aus dem Seebade heim¬
kommen und alles unwiderruflich festmachen sollen. Jetzt hieß es das Prävenire
spielen.
Als welterfahrene Frau überlegte sie, was zu thun sei, lange und sorg¬
fältig, ehe sie mit der Tochter sprach. Ganz ohne Auskunftsmittel war sie
nicht zurückgekehrt, wennschon sie ihrer Tochter noch nichts davon mitgeteilt
hatte. Denn Hermionens Umworbenwerden Vonseiten eines Bürgerlichen war in
dem Seebade wochenlang das Thema mancher Stranduuterhaltung gewesen,
und mehrere junge und ältere adliche Herren hatten der Mutter vorgeworfen,
sie lege es darauf an, sich mit ihren Standesgenossen gründlich zu broullircn.
Sie hatte das geleugnet, und ihre Gewandtheit im Behandeln solcher Gesprächs¬
stoffe war aus den mannichfach darüber geführten Scharmützeln endlich in
solchem Grade als Siegerin hervorgegangen, daß ihr in der That von zwei
Seiten der Wunsch ausgedrückt wurde, sie möge das Herz ihrer Tochter wo¬
möglich in andrer Richtung empfänglich zu stimmen suchen; man wolle sich
nicht gern einen Korb holen, aber auf einen Wink der Mutter werde man zu
den Füßen der Tochter liegen. Brillant freilich waren diese Partien keines¬
wegs, wenn auch finanziell ein gut Teil besser als eine Verbindung mit dem
Professor in sxs Botho von Falckenberg, bei welchem Frau von Mockritz sich
>»um einmal nichts andres als endlose Lehrermisere zu denken vermochte.
Das Zurücktreten des Ingenieurs konnte nach Annahme der Frau von
Mockritz nur zwei Ursachen haben: entweder hatte ihm jemand etwas über die
prinzlichen Aufmerksamkeiten ins Ohr geflüstert, von denen dies und das hie und
da verlautete, Aufmerksamkeiten, die früher allerdings durch Frau von Mockritz selbst
zuweilen begünstigt worden wrren — sie bereute es längst. Oder Hermionens
Verhalten bei und nach der Affäre mit den beiden Leonbergern hatte den In¬
genieur verstimmt und abgekühlt. Auch hier war Frau von Mockritz nicht ganz
ohne Verschulden, da sie Hermione verboten hatte, sich persönlich nach dem Be¬
finden Bertholds umzuthun.
Mit großer Selbstbeherrschung kämpfte Frau von Mockritz nun ihren Ärger
über sich selbst und ihren Verdruß über Berthold nieder und beschloß zu retten,
was noch zu retten war.
Zunächst galt es, Hermione der Verzweiflung zu überantworten. Die
Mutter teilte ihr daher die unter der Hand erkundete Absicht des Ingenieurs,
seinen Antrag zurückzuziehen, trocken mit. Hermione war einer Ohnmacht nahe.
Sie hatte eine Ahnung gehabt, daß er durch ihre Passivität in der Stunde
seiner Lebensgefahr ihr entfremdet worden war, aber die Mutter allein hatte
alles weitere verschuldet, und Hermione überhäufte sie mit leidenschaftlichen
Vorwürfen.
Frau von Mockritz ließ den Sturm sich ausrasen. Dann kam sie auf jene
andre, wahrscheinlichere Vermutung zu sprechen.
Auch hier hätte die Tochter mit Vorwürfen antworten können, denn es
gab eine Zeit, wo der Prinz von Hermione noch keine Notiz zu nehmen pflegte,
und ohne die von Frau von Mockritz veranlaßte Verschiebung eines Quadrille-
vis-K-vis hätte Hermione vielleicht nie Gelegenheit gehabt, einen prinzlichen
Hündcdruck zu erwiedern.
Aber Hermione machte diesmal der Mutter keine Vorwürfe, und Frau von
Mockritz konnte mit den Gründen herausrücken, welche in solchen Lebenslagen
das Prävenirespielen gerade so notwendig erscheinen ließen, wie im Kriege nach
Rekognoszirung der Attackepläne des Feindes das Zuvorkommen derselben durch
beherztes Angreifen.
Soweit war die Verzweifelnde aber noch keineswegs. Was soll denn aus
mir werden? rief sie; gut, angenommen, ich schreibe den Brief, angenommen,
ich weise meinen Geliebten ab; was dann?
Meinen Geliebten! Meinen Geliebten! rügte die Mutter; welche unpassende»
Ausdrücke! Es hat sich um eine xroxosition as MMg.As gehandelt. Frau von
Mockritz hat von >der Sache nichts wissen wollen, und Fräulein von Mockritz
schreibt dem Bewerber daher höflich ab. Basta! Kommt so etwas in der Ge¬
sellschaft nicht alle Tage vor?
Es ist entsetzlich! rief Hermione, ich werde es nicht überleben!
Du wirst deine Thorheiten gut machen, indem du nicht wie ein Kind weinst
und rasche, sondern rasch den Brief schreibst und dann zwei andre Anträge i»
ruhige Erwägung ziehst, sagte die Mutter.
Also richtig! Und nicht wahr, unter Beilegung der Photographien, ans
denen sogar die Perrücken niemand entstellen? Nie heirate ich einen andern.
Ich gehe ins Kloster.
Wir sind Protestanten.
So werde ich katholisch.
Du bist eine Närrin.
Frau von Mockritz kümmerte sich nicht darum, daß Hermione das Fenster
aufriß, als wollte sie hinausspringen. Sie kannte ihre Tochter.
Man bricht ein Bein und geht nachher zeitlebens an Krücken, sagte sie
kühl und setzte sich an ihre» Schreibtisch. Aus ihrem Papieretui holte sie zwei
Kabinctphotvgraphien und warf sie hinter sich auf den Tisch. Der eine hat
>n der That eine Perrücke, sagte sie, du hattest leicht raten; Graf Brander war
schon früher einmal auf dem Punkte, sich für dich zu interessiren. Aber du
zähltest damals zwölf oder dreizehn Jahre, und seine Gläubiger vertrieben ihm
mich die Heiratsgedanken, sofern er nicht ein paar Rittergüter erheiraten konnte.
Jetzt hat sein Bruder die Augen zugedrückt. Mittenwalde ist zwar kein Fürsten¬
tum, aber sickin, —
Und wer ist der andre, schmollte Hermione am Fenster, ohne sich nach
dem Tisch umzugucken.
Rate.
Ich mag nicht.
So störe mich nicht. Ich schreibe. (Fortsetzung folgt.)
In der 39. Sitzung des preußischen
Abgeordnetenhauses bei Beratung des Kultusetats wurde von einigen Rednern die
Unterhaltung auf die Universitätsstudien gelenkt und dabei beklagt, daß insbesondre
unter den Juristen der Fleiß nicht der Art sei, wie ihn der Ernst und die Viel¬
seitigkeit der juristischen Disziplin erfordern. Die Hauptschuld dieser angeblichen
Mangelhaftigkeit im Fleiße wurde den, Duellwesen und dem übermäßigen Genuß
geistiger Getränke, insbesondre dem „Frühschoppen," zugeschrieben. Von andrer
Seite wurde — unsers Trachtens mit Recht — die gewöhnliche Schlägcrmensur als
eine das Studium nicht beeinträchtigende Waffenübuug in Schutz genommen, für
welche es sich empfehlen würde, im Wege der Gesetzgebung Bestimmungen zu
Neffen, die deren, nach den Entscheidungen des Reichsgerichts jetzt nicht mehr
fragliche Subsumtion unter die Vorschriften des Strafgesetzbuches ausschließen
.würden. Die Gründe für diese Ansicht sind schon mehrfach, auch bei der fraglichen
Berhandluug im preußischen Abgeordnetenhause, zutreffend entwickelt worden. Was
aber den übermäßigen Genuß geistiger Getränke, insbesondre die angeblich über¬
trieben stark geübte Sitte des „Frühschoppens" betrifft, so wurde in dieser Richtung
den erhobenen Vorwürfen nicht genügend begegnet, und es haben denn auch diese
Vorwürfe bereits die entsprechenden Früchte getragen.
Zunächst soll hier vorausgeschickt werden, daß dem übermäßigen Trinken in
keiner Weise das Wort geredet werden soll, und daß der sogenannte Frühschoppen
füglich als vollständig entbehrlich bezeichnet werden darf. Andrerseits mag aber
darauf hingewiesen werden, daß es durchaus nicht bloß und hauptsächlich die
Studenten sind, welche diese Sitte üben, sondern daß die letztern, wenn sie diese
Gewohnheit annehmen, nnr einem Beispiele folgen, das ihnen von einem großen
Teile ihrer Mitbürger und zwar in hervorragender Weise keineswegs von dem¬
jenigen Teile derselben gegeben wird, welchem sie im spätern Leben selbst an¬
gehören werden. In welcher Weise nun aber die in der betreffenden Sitzung
vorgebrachten Klagen durch Blätter vom Schlage der „Volkszeitung" zur Diskre-
ditirnng des ganzen Richterstcmdcs ausgebeutet werden, ergiebt ein Artikel der
ebengenannten Zeitung über ,,die Vorbildung der Richter nud die Preß- und
politischen Prozesse." Es wird in demselben dargelegt, daß nach den Schilderungen
der in der Praxis ergrauten Herren der Jurist während der Jahre, welche der
Vorbereitung für seinen ernsten Beruf dienen sollen, sein Leben auf der Kneipe
oder dem Fechtboden zubringe. Wenn das Examen herankomme, begebe er sich in
ein sogenanntes Rcpetitorium, wo er eingepaukt werde, um nach bestandenen
Examen das Leben des Praktikers zu beginnen. Nunmehr trete der Frühschoppen
in seine Rechte, welcher denjenigen, der ihm huldige, mit absoluter Sicherheit für
den Rest des Tages unbrauchbar nud arbeitsunfähig mache. Erst wenn des
Abends kühle Schatten die erhitzte Stirne erfrischt haben, sei er wieder soweit
Mensch geworden, um je nach seinen: Geschmack entweder aus Bällen und Abend¬
gesellschaften oder mich in weniger einwandsfreien Lokalen dem ewig Weiblichen
die verdienten Huldigungen zu bringen, oder es ziehe ihn wieder in die Kneipe,
wo die schon in Amt und Brot befindlichen Kollegen den jungen Nachwuchs mit
den interessantesten Jagdgeschichten aus der Praxis in die verwickelten Geheimnisse
seines Berufs in zwangloser Form einzuführen bedacht feien. Mit dem Heran¬
nahen der zweiten Prüfung trete das Rcpetitorium und das Einpauker wieder in
seine Rechte, welches denn auch in der Regel mit soviel Erfolg betrieben werde,
daß bald das glücklich absolvirte Staatsexamen jeden Zweifel an der Befähigung
des jungen Mannes, nunmehr über seine Mitbürger zu Gericht zu sitzen, be¬
seitige.
An diese Darstellung der Vorbereitung auf seinen Beruf wird sodann die
Folgerung geknüpft, daß ein solcher Mann nicht geeignet sei, Recht zu sprechen-
Im Gefühle des Volkes liege es, daß nur derjenige über andre zu Gericht fitzen
solle, dessen Sentenzen von dem Vertrauen seiner Mitbürger getragen seien. Nur
Lebenserfahrung und Lebensweisheit zelligem jene Parteilosigkeit des Urteils, ohne
welche kein weiser und gerechter Richter denkbar sei, und jenes Wohlwollen, welches
im Menschen nur den Menschen sehe. Wie anders sehe es aber in unsern Gerichts¬
sälen aus! Die Art, in welcher bei uns die Rechtspflege gehandhabt werde, sei
eine der schlimmsten Erbschaften aus der Zeit des absolutistischen Bürenukrateu-
stcmtes. An Stelle der Volksanschauung, daß der Weiseste zum Richter berufen
sei, sei der Satz getreten: mit dem Amte kommt auch der Verstand. Statt daß
die Richter ans dem Volke herauswachsen, daß die Richterwürde Männern znerteA
werde, von denen das Volk überzeugt sei, daß sie Verständnis haben für sui'
Fühlen und Denken, entwickle sich unser Richterstand immermehr zu einer hierarchischen
Bürenukratie. Die ganze Art der Laufbahn mache das „Gewerbe" zu einem Privi¬
legium der besitzenden Klassen, welche längst alle Fühlung mit der Masse des
Volkes verloren haben. Was solle unter solchen Verhältnisse» aus dem öffentlichen
Rechtsbewußtsein, der Quelle alles Rechtes, werden? Freilich sei man ja bereits
zu dem Versuche gelangt, das öffentliche Rechtsbewußtsein durch ein sogenanntes
Juristenrecht als Quelle des Rechts zu ersetzen. Die Juristen hätten das Recht geschaffen
und handhabten es, das Volk stehe der Justiz wie einer geheimnisvollen feindlichen
Gewalt gegenüber. In dieser Beziehung sei auf eine Änderung freilich sobald nicht
zu hoffen, aber angesichts der grellen Schlaglichter, wie sie die eingangs bezeichnete
Verhandlung des preußischen Abgeordnetenhauses auf das Vorleben der Richter
geworfen, wonach sich dasselbe in der Hauptsache um die Pflege des bekannten
8 11 drehe, sei doch die Frage berechtigt, ob es nicht in der That an der Zeit
sei, wenigstens die Preß- und politischen Prozesse der Aburteilung durch die ordent¬
lichen Gerichte zu entziehen.
Darauf folgt die bekannte Lobpreisung dieses Instituts mit den üblichen
Phrasen über die Vorzüge des „dnrch keine juridischen Theorien, durch keine
Gewvhnheitspraxis abgestumpften Urteils der Männer aus dem Volke," welche, den
Kern der Sache richtiger erfassen, als es beamtete Richter vermögen. Es sei ein
Hohn auf den hohen Wert, den freie Nationen auf ihre Geschwornengerichte
als eine der kostbarsten Politischen Errungenschaften legen, daß es den Geschwornen
lediglich überlassen bleibe, über Diebstahl, Raub, Brandstiftung :c. abzuurteilen,
während dem unbescholtenen Patrioten, der wegen freimütiger, der Regierung mi߬
fälliger Äußerungen durch das Organ seiner politischen Feinde auf die Anklage¬
bank gesetzt worden, die Wohlthat versagt sei, von seinen Mitbürgern gerichtet zu
werden. Mit der Abschaffung der Geschwornengerichte für Preßvergehen, d. h.
mit der Unterdrückung der freien Presse durch die Erkenntnisse der ordentlichen
Gerichte, konsolidire sich der reaktionäre Gang aller verfassungsfeindlichcn Re¬
gierungen.
Es ist schon an verschiedenen Stellen, insbesondre auch in dem in diesen
Blättern erschienenen ausgezeichneten Aufsatze vou R. Keßler in letzter Zeit die
absolute Unbrauchbarkeit des Instituts der Geschwornengerichte so schlagend nach¬
gewiesen worden, daß es einer Wiederholung der in dieser Frage erörterten Gründe
nicht bedarf. Dagegen muß die Frivolität ins Licht gestellt werden, mit welcher
die in der betreffenden Sitzung des Abgeordnetenhauses vorgebrachten Klagen über
einzelne Ausschreitungen der Studenten und die daran geknüpften Wünsche nach
Beseitigung der ans denselben hervorgehenden Übelstände von der Demagogenpresse
in ihrem systematischen Bestreben, die Autorität der Staatsorgane wo nur immer
möglich zu untergraben, dazu benutzt werden, den ganzen Richterstand zu verdäch¬
tigen, wie diese Äußerungen in einer Weise vorgetragen werden, als ob unwiderleglich
konstatirt wäre, daß die beamteten Richter samt und sonders ans Leuten bestünden,
welche die Vorbereitung ans ihr Amt im Raufen und Saufen sehen und deshalb
zu ihren: Amte unfähig und des Vertrauens ihrer Mitbürger unwürdig seien.
Diesem abschreckenden Bilde des beamteten Richters wird dann das reine Bild
des Geschwornen gegenübergestellt (dein natürlich von allen diesen Schäden keiner
anhaftet), um auf diese Weise recht deutlich zu zeigen, wie viel besser in jeder
Beziehung der letztere sein Richteramt ausübe.
Wer das gegenwärtige Leben auf deu Universitäten kennt, der weiß, daß die
Klagen über unmäßigen Genuß geistiger Getränke mir in sehr beschränktem Um¬
fange noch ihre Berechtigung haben, daß der junge Student, und zwar der Jurist
so gut wie sein Kommilitone in einer andern Disziplin, wenn er anch die neu
errungene Freiheit kurze Zeit in vollen Zügen genießt, doch bald von der Not¬
wendigkeit geordneter und anhaltender Arbeit und von der Unmöglichkeit der
letzteren in Verbindung mit fortgesetztem übermäßigen Trinken sich überzeugt und
hiernach handelt. Wer das Leben eines Richters kennt, der weiß, daß es voll
ernster und strenger Arbeit ist, daß er seine Kenntnisse für die Prüfungen so
wenig wie für seine spätere Aufgabe durch ein „Repetitorium" erlangen kann,
oder daß sie ihm gar im Schlafe zufallen, wie das bei dem Geschwornen der
Fall sein müßte, wenn er seiner Aufgabe gewachsen sein sollte, sondern daß es
eines gründlichen und fortgesetzten Studiums bedarf, um seinem Berufe zu ge¬
nügen, und daß dies bei unmäßigem Trinken nicht möglich wäre. Das Zeugnis,
daß er sein Amt gewissenhaft versieht, wird der richterliche Staatsbeamte von den
Demagogen nie erhalten, solange er „durch seine Erkenntnisse zur Unterdrückung
der freien Presse" mitwirkt, d, h, solange er nicht dazu mithilft, durch seine Er¬
kenntnisse eben dieser Presse und ihren „unbescholtenen Patrioten" Straflosigkeit
für alle Verbrechen zu sichern; er wird aber auch, gerade weil er sich bewußt ist,
seine Pflicht zu erfüllen, eine Anerkennung seiner Thätigkeit von dieser Seite gar¬
nicht erwarten. Der Wunsch dieser „Patrioten," von Geschwornen abgeurteilt
zu werden, ist ja erklärlich, weil sie viel eher hoffen dürfen, mit Hilfe nrteils-
schwachcr, übertölpelter oder gleichgesinnter, jeder Verantwortung lediger „Männer
aus dem Volke" der verdienten Strafe zu entgehen, als ihnen dies vor einem
Kollegium von staatlichen Richtern möglich ist; aber immer von neuem muß gezeigt
werden, daß dieser Wunsch die Triebfeder ihres Verlangens und die Veranlassung
zu der jedes Grundes baren Verdächtigung des staatlichen Richterstandes ist.
Hoffen wir, daß diese Erkenntnis in immer weiteren Kreisen sich Bahn brechen
und dcizn dienen wird, zur Aufhebung des ganzen, ebenso unbrauchbaren wie
gefährlichen Geschworneninstituts zu führen.
Diese Frage hat Professor
Georg Treu, der neue Direktor der Antikensammlung und des Museums der
Gypsabgüsse in Dresden, auch in weitern Kreisen bekannt dnrch seine hervorragende
Beteiligung an den olympischen Ausgrabungsarbeiten, vor kurzem in einen: Vortrage
in Dresden behandelt, den er dann in Leipzig wiederholt hat, und der soeben auch
im Druck erschienen ist (Berlin, R, Oppenheim), Die Frage ist merkwürdigerweise
falsch gestellt, Sie scheint auf eine verneinende oder mindestens auf eine zweifelhafte
Antwort zu deuten. Da aber durch die. ganze Broschüre von der ersten bis zur
letzten Seite ein lautes und vielfältiges In! erklingt, so hätte die Frage doch
lauten sollen: Wollen wir nicht unsre Statuen bemalen? Wir heben dies hervor,
da uns auch sonst die Broschüre in ihrer Form nicht recht befriedigt hat: der
Stoff ist unglücklich angeordnet, der Verfasser schweift mehrfach ab, kehrt wieder
zurück, weist auf Kommendes hin, wiederholt sich, lauter Dinge, die in einem
Schriftchen vou so geringem Umfange (40 Seiten!) schlechterdings vermieden sein
müßten, abgesehen davon, daß mich die Sprache nicht durchweg auf der Höhe eines
gewählten schriftgemäßen Ausdrucks steht/") Inhaltlich ist die Schrift jedenfalls
von großer Wichtigkeit und wird entschiednes Aufsehen machen.
Der Verfasser weist eingehend nach, daß das ganze Altertum und Mittelalter
nur die bunte Plastik gekannt hat, und daß erst seit der Renaissance, als man die
Statuen des Altertums farblos wieder auffand, die Einbildung aufgekommen ist,
daß Fcirblosigkeit zum Wesen der Skulptur gehöre. Er zeigt dann, wie diese
Ansicht, nachdem sie geradezu ästhetischer Glaubenssatz geworden war, in unserm
Jahrhundert durch die archäologische Wissenschaft, anfangs schüchtern, später immer
zuversichtlicher als Mißverständnis nachgewiesen worden ist, stellt die Beweise zu¬
sammen, aus denen hervorgeht, daß selbst die griechisch-römische Kunst, die doch
für uns das klassische Ideal in der Plastik darstellt, von den frühesten Zeiten
ihrer Entwicklung an durch ihre Blütezeit hindurch bis zum Verfall nur bunte
Skulpturen gekannt hat, und bespricht endlich die Versuche, die neuerdings von
verschiednen Seiten gemacht worden sind, plastische Werke der antiken Kunst ebenso
wie moderne Schöpfungen wieder mit Bemalung zu versehen.
Der Verfasser verwendet sich lebhaft — natürlich innerhalb gewisser Grenzen —
für die Rückkehr zur polychromen Plastik. Er ist sich wohlbewußt, daß er damit
zunächst auf heftigen Widerspruch stoßen werde. Schaubude, Wachssignrenkabinet,
Panoptiknm — dergleichen Schlagwörter scheint man ihm vielfach zugerufen zu
haben, wo er seine Ideen bis jetzt entwickelt hat. Dem gegenüber betont er mit
Recht, „daß nicht jede bunte Statue nach der Schaubude auszusehen brauche. Wenn
wir den Erinnerungen an die letztere so besonders zugänglich sind, so beruht das
lediglich auf dein Zufall, daß zu unsrer Zeit eine handwerksmäßige Produktion die
Farbe für ihre Wachspuppen zu widerwärtigen Schaustellungen zu mißbrauchen
pflegt. Und diese werden doch hoffentlich gegen eine künstlerische Verwendung der
Farbe bei plastischen Werken nicht mehr beweisen sollen als ein beliebiges Wirts¬
hausschild gegen die Ölmalerei.. .. Man denke sich, unsre Tage hätten die Kunst
der Plastik neu zu erfinden: wurden wir selbst auf eine so blasse Abstraktion von
Natur und Leben als ausschließliches Gesetz für eine lebendige und reiche Kunst
geraten, die doch eben das Leben nachahmen soll? . . . Die meisten vou uns sind
auf dem Gebiete der Plastik nicht anders als jemand, der sein ganzes Leben lang
nichts als Kartons und Kupferstiche gesehen und uun Plötzlich in seinem sechzigsten
Jahre zum erstenmal ein Ölgemälde erblickt, vor dessen frevelhafter Naturwahrheit
er erschrickt und Zeter schreit."
Wie der Verfasser am Schlüsse seines Schriftchens mitteilt, ist er, als er den
Inhalt desselben im Leipziger Kunstverein vorlegte, von Prof. Fechner darauf
aufmerksam gemacht worden, daß dieser in seiner „Vorschule der Ästhetik" bereits
1876 für eine naturwahre Bemalung der Plastik eingetreten ist. Über die Stelle,
in der dies geschehen, bemerkt Treu, augenscheinlich hoch erfreut über deu uner¬
wartet gewonnenen Bundesgenossen: „Man kann die Gründe, welche für diese
Forderung der Natur und gegen unsre Gewöhnung sprechen, nicht schlagender zu¬
sammenfassen, als dies Fechner an der angeführten Stelle gethan. Es ist bei
weitem das scharfsinnigste, klarste und gesündeste, was vom philosophischen Stand-
Punkt aus über diese Frage geschrieben wordeu ist, und eine wahre Seelenerquickung
für jeden, dem diese Dinge am Herzen liegen. Alle übrigen Ästhetiker haben sich
damit herumgcquält, zu erweisen, daß das wirkliche Vorurteil auch vernünftig sein
müsse, anstatt von dem schönen Vorrecht der Philosophie Gebrauch zu machen und
dergleichen Nebel, die sich in geschichtlich übersehbarer Zeit zusammengeballt haben,
durch eine prinzipielle Besinnung zu zerteilen."
Auch nach unsrer festen Überzeugung ist die Rückkehr zur farbigen Plastik
nur eine Frage der Zeit, und zwar einer sehr nahe bevorstehenden, ja vielleicht schon
angebrochenen Zeit. Denn demselben Ziele, welches die archäologische Wissenschaft
im Bunde mit einer vorurteilsloser Ästhetik aufstellt, treibt thatsächlich die kunst-
gewerbliche Bewegung der Gegenwart mit jedem Jahre kräftiger zu. Mein ver¬
gleiche das Schaufenster einer Gypsabgußhandluug von heute mit einem vor zehn
Jahren: damals ein Fenster voll lauter weißer Figuren, heute ein Fenster, in dem
die weißen Figuren zwar nicht ganz fehlen, daneben aber brouzirte Köpfe und
Statuetten, rote und bunte Terrakotten, zartgetöntc Porzellan- und farbenprächtige
Majolikafiguren das Auge des Beschauers auf sich ziehen. Diese Thatsache berührt
natürlich auch Treu, wenn er in der Einleitung sagt: „Wir thun alles mögliche,
um uns mit Teppichen und Geräten, Pflanzen und Gemälden eine koloristisch ge¬
stimmte Umgebung zu schaffen: wir haben den weißen Decken nud Öfen den Krieg
erklärt jMd den Kupferstichen an der Wand, fügen wir hinzuj — merken wir denn
gar nicht, wie die zuckrige Weiße unsrer Marmorstatuen, die kreidige Oberfläche
unsrer Gypsbüsten in grellem Mißton aus der farbigen Stimmung unsrer Jnnen-
rciume herausschreit?"
Die Proben von bemalten antiken Skulpturen, die der Verfasser zur Unter¬
stützung seines Vortrags vou Dresdener Künstlern hatte anfertigen lassen, haben
wir in Leipzig mit lebhaftester Freude betrachtet, und mit Spannung sehen wir
der Erfüllung seines Versprechens entgegen, nnn zunächst bunte Exemplare von
dem Hermes des Praxiteles und von der milonischen Venus herstellen zu lassen.
Inzwischen empfehlen wir allen Kunstfreunden aufs angelegentlichste die vorliegende
Schrift und gratuliren der Verlagshandlung zu dieser ihrer neuesten , „ästhetischen
Ketzerei"; die frühere» stehen uns noch in guter Erinnerung,
Sommerblumen, Von Carus Sterne, Mit 77 Abbildungen in Farbendruck nach der
Natur gemalt von Jenny Schermaul, nebst viele» Holzstichen, Verlag von F, TempÄ»
in Prag und <B, Freytag in Leipzig, 1883,
Die „Sommerblumen" bilden wie die in demselben Verlage in gleicher Aus¬
stattung erschienenen „Frühlingsblumen" von Aglaja Enderes ein Prachtwerk, wie
es bisher noch nicht existirt hat. Der durch sein Buch „Werde» und Vergehen"
auch in weitere» Kreise» rühmlichst bekannte Verfasser versteht es wie wenige,
seinen Darstellungen eine anmutige Form zu geben und das Interesse des Lesers
dauernd zu fesseln. Er schildert zunächst die kulturgeschichtliche Bedeutung der
Pflanzen und betrachtet dann ihre shstematische Stellung und ihre verwandtschaft¬
lichem Beziehungen. Noch mehr als in deu „Frühlingsblumen" wird hier auf
das Verhältnis der Pflanzen zu den Tieren hingewiesen und die Bedeutung der
Jusekten für die Blütcnbestänbnng hervorgehoben. Die in den Text eingedruckte»
Holzschnitte geben nicht mir Abbildungen ganzer Pflanzen, sondern auch vollstän¬
dige Diagnosen der Blüten, Die Abbildungen in Farbendruck gehöre» zu dem
Reizendsten, was je i» dieser Art hergestellt worden ist. Alle» Blumenfreunden
und Blumenfreundinnen sei das schöne Werk nachdrücklich empfohlen.
n England hat die Mißbilligung, welche die ägyptische Politik
Gladstones beim Publikum erfährt, in der letzten Woche einen
Grad erreicht, der vielen die längere Existenz des gegenwärtigen
Ministeriums ernstlich gefährdet erscheinen läßt. Die Sache hat
zunächst für die Engländer Interesse, indem es sich in erster
Reihe um ein klareres und kräftigeres Auftreten in auswärtige» Fragen und
sodann um die von Glcidstone den Liberalen versprochene Erweiterung des
Wahlrechts handelt — eine sehr bedenkliche Maßregel beiläufig, die über kurz
oder lang den Demokraten, den Radikalen, den Republikanern im Unterhause
die Mehrheit verschaffen wird. Das letztere aber geht mittelbar auch uns Deutsche
an, da es das Gewicht der demokratisch eingerichteten Staaten Europas steigern
muß, und wir deshalb nicht wünschen können, daß diese „Reform" sich
vollziehe; und da außerdem bekannt ist, daß Gladstone und seine Kollegen uns
und unserm Verbündeten an der Donau im stillen nicht wohlwollen, so liegt
um Sturz des liberalen Kcibinets und die Rückkehr der uns mehr geneigten
Gegenpartei ans Ruder in unserm Interesse.
Dürfen wir aber hoffen, was wir wünschen müssen? Die Antwort ist
nicht leicht. Die Entrüstung über das Verhalten, welches das Kabinet der
Königin Viktoria bisher in Ägypten beobachtet hat, ist in alle Kreise des eng¬
lischen Volkes gedrungen, alle Parteien klagen, alle schämen sich. Volks¬
versammlungen bekunden dies fast einstimmig und fordern Umkehr und Abhilfe.
Das Haus der Lords hat mit der großen Stimmenmehrheit von 181 gegen
81 sein Tadelsvotum über die schwächliche und widerspruchsvolle Politik der
Regierung ausgesprochen, und die Debatte, die über denselben Gegenstand im
Hause der Gemeinen begonnen hat, könnte denselben Ausgang nehmen. Gewiß
ist das aber keineswegs. Sir Stafford Northcote, der Führer der Opposition
im Unterhause, welcher das Tadelsvotum begründete und empfahl, erwies sich
nicht völlig als seiner Aufgabe gewachsen. Er ist ein begabter Manu, aber
zu voll von der Milch frommer Denkart, und seine Rede mit ihren studirten
Beweisen und ihren kunstgerecht gefeilten Klagen ließ zu wünschen übrig. Ein
weniger feiner Redner, entflammt vom Zorn über die rasch aufeinander ge-
folgten Niederlagen der Politik Gladstones im Sudan, würde ohne Zweifel
mehr Eindruck gemacht haben. Insofern befand sich das Kabinet in der Nacht,
wo die Debatte eröffnet wurde, von vornherein im Vorteil, obwohl es, soeben
von der Tragödie von Sinkat unterrichtet, sicherlich mit schwerem Herzen in
der Sitzung erschien. Am Morgen des vorhergcgangneu Tages, als die Minister
sich noch der Nachricht freuten, daß Gordon wohlbehalten in Berber ein¬
getroffen sei, und ihn durch den Telegraphen befragten, was er von der Mög¬
lichkeit eines Versuchs, Sinkat zu retten, denke, bereitete sich die unglückliche
Besatzung dieses Platzes auf den Untergang vor. In die äußerste Not ge¬
raten, hatten die tapfer» Leute noch den Mut, die überflüssigen Munitions-
vorrüte der Festung zu zerstören, die Werke der letzter» in die Luft zu sprengen
und, samt den Weiber» und Kinder», vvrzubrcchen und den Versuch zu ,
machen, den Durchzug durch die sie einschließenden Feindesscharen sich zu er¬
zwingen. Der Versuch mußte den Halbverhungerten mißlingen, mutig kämpfend
fielen sie eiuer nach dem andern, und während Herr Gladswnc noch telegraphisch
mit Gordon kvnferirtc, lagen sämtliche Offiziere und Soldaten der Garnison,
vier Mann ausgenommen, die krank zurückgeblieben waren, als Leichen auf
dem Sande der Wahlstatt, während die Weiber und Kinder als Sklaven in
die Harems des Sudan abgeführt wurden. So fielen jener Politik, welche
sich dem Marsche Hicks Paschas weder widersetzt noch ihn unterstützt hatte,
weitere sechshundert Menschen zum Opfer. Zählen wir die Verluste vou dessen
Armee mit denen zusammen, die im östlichen Sudan unter Moncrieff, Baker
und Tewfik Bey den Tod in der Schlacht fanden, so hat die britische Politik
in diesen Gegenden bereits dreizehntausend Menschen das Leben gekostet.
Gladstone ist ein huiuau gesinnter Mann, und so ist anzunehmen, daß ihm
dies nahe gehen wird. Er kann bei seiner gemeinen Kenntnis der Thatsache»
und Ereignisse nicht vergessen haben, wie jene heldenmütigen Ägypter seit der
Mitte des November in Sinkat eingeschlossen blieben, obwohl sie sich nicht
weiter von den Kanonen und Bajonetten einer britischen Streitkraft befanden
als Magdeburg vou Berlin. Umsomehr aber muß man über die Rede er¬
staunen, mit der er die Last dieser Betrachtungen ans sich nahm, und in der
er angesichts der Thatsachen, die Klage, daß „die Politik, die Ihrer Majestät
Verwaltung in den ägyptischen Angelegenheiten befolgt habe, eine schwankende
und inkonsequente gewesen sei," mit einem „kategorischen Nein" beantwortete.
Diese Rede war sonst ein Meisterstück parlamentarischer Eloquenz. Das er-
kennen selbst Blätter der ihm feindlichen Partei bereitwillig und mit Wärme
mi, „Nach unserm Urteile, sagt der Dach? tete^M, hat Herr Gladstone
niemals mit mehr Erfolg die trefflichen Eigenschaften entwickelt, die ihn berühmt
und mächtig werden ließen. Er hat in vergangnen Tagen bessere Gelegenheiten
zur Bekundung seines rednerischen Talentes gehabt, eine mehr überzeugte Zu¬
hörerschaft in und außer dem Hanse, und Thatsachen und Ereignisse, die sich
leichter zu Belegen und Beweisen verwenden ließen. Aber niemals vorher sah
>nan deutlicher ausgeprägt, wie eine reiche Erfahrung sich mit großer geistiger
Begabung vereinigen kann, sodaß der Akt des Sprechens und der feine leise
Gang der Gedanken sich wie die Doppelflöte eines altgriechischen Musikers zu
einer einzigen stannenerweckenden und rührenden Weise verschmelzen, die von
einer Befähigung modulirt wird, für welche wir keine Regel und leine Erklärung
wissen. Ehrwürdig unter der Wucht seiner vierundsiebzig Jahre, die er doch
mit dem Mut und Selbstvertrauen des mittlern Mannesalters trägt, trat der
Premier seinen Anklägern als die einflußreiche Gestalt der Ära der Königin
Viktoria entgegen, von der er inmitten politischer Arbeit jede Session und jedes
historisch wichtige Ereignis gesehen hat. Der beredte Greis vom letzten Dienstag,
dessen wohltönende Rede, kaum jemals in ihrem Klang und Einfluß von der
unaufhörlichen parlamentarischen Arbeit während eines halben Jahrhunderts
berührt, seine Zuhörer so tief bewegte, zeigt dem Hause und dem Lande eine
solche Verbindung gereifter Weisheit mit dem noch nnerloschenen Feuer des
Genies, daß wir bei nüchternster Betrachtung uns in der britischen Geschichte
vergeblich nach einem majestätischem Beispiele einer Fülle geistiger Kräfte um¬
sehen, wie sie das Alter dem Charakter und der intellektuellen Befähigung hier
hinzufügte."
Überzeugt freilich wurde kein Zuhörer; denn der große Redner war viel¬
leicht selbst nicht zu andrer Meinung bekehrt, und was zum Herzen gehen soll,
muß vom Herzen kommen. Die Verteidigung würde, wenn stärkere Gegner ihn
bekämpft hätten, ihn ernsteren Anklagen ausgesetzt haben als denen, welche das
Tadelsvotum enthält. Man kann den Gang der Politik Gladstones nicht ver¬
folgen, ohne gewahr zu werden, daß Ägypten für ihn von Anfang an bis jetzt
eine Verdrießlichkeit und eine Last gewesen ist. Ungeduldig von Natur und
gewohnt, alles als Störung zu betrachten und zu behandeln, was ihn von der
innern Politik abzieht, hat er immer eine besondre Abneigung vor den orien¬
talischen Angelegenheiten und der fremdländischen Atmosphäre, welche dieselbe
umgiebt, empfunden. So tadelte er denn auch in seiner Rede, daß die Regierung
Beaconsfields seinem Ministerium die Erbschaft des ägyptischen Problems hinter¬
lassen habe, wogegen ein Staatsmann vom Gepräge Bismarcks oder Palmerstons
sich vielmehr gefreut haben würde, im Besitz der beherrschenden Stellung zu
sein, die in dem Ankauf des größten Teils der Suezkanal-Aktien und der
Aussicht auf Beseitigung der Doppclkontrole von seinem Vorgänger geschaffen
worden war. In diesem Geiste ärgerlicher und verlegner Unzufriedenheit sehen
wir ihn den Gedanken an ein Protektorat über die Nilländer von sich weisen,
während er doch genötigt ist, die Pflichten eines Protektors zu erfüllen, und
schier leidenschaftlich dem Hause der Gemeinen erklären, daß er „nicht einen Zoll
weit" über das notwendige Erfordernis der Lage hinausgegangen sei und hinaus¬
zugehen beabsichtige. Hierin liegt die Erklärung von vielem, was sich ans diesem
Gebiete ereignet hat. Wenn Ägypten, das große Thor auf dem Wege nach
Indien, die Brücke zwischen Occident und Orient, eine Frage Wege» des Stimm¬
rechts oder eine mit der Kirche oder Theologie in Verbindung stehende Reform
gewesen wäre, so würde Herr Gladstone sicher nichts vernachlässigt haben, er
würde alles nötige vorausgesehen und sür alles gesorgt haben; da Ägypten aber
zu den auswärtigen und militärischen Angelegenheiten gehört, so ist es immer für
ihn mehr oder minder gleichgiltig gewesen, obwohl es für das englische Interesse
von der höchsten Wichtigkeit ist. Die Folge hiervon liegt jetzt deutlich vor.-
England ist von den Ereignissen überrascht und von ihnen von Niederlage zu
Niederlage fortgeschleppt worden, indem es das Rechte niemals zu rechter Zeit
gethan hat. Man begreift es, wenn Gladstone und seine Kollegen entschlossen
sind, ihre Politik des Zcmderns und der halben Maßregeln soviel wie irgend
möglich fortzusetzen. Ägypten ist ihnen nur eine Plage, nur ein Hemmschuh
ihrer liberalen Politik im Innern, nicht eine vortreffliche Gelegenheit gewesen,
Englands Interessen im Orient wahrzunehmen und zu fördern. Solche ver¬
blendete Ungeduld könnte begreiflich erscheinen: die liberalen Herren haben Eile
mit der Verwirklichung ihrer Reformpläne im Pnnkte des Wahlrechts. Es soll
ihnen die Herrschaft für immer sichern. Aber wenn diese Politik in Afrika zu
so schrecklichem Verluste an Leben, zu allen den schweren Gefahren, welche die
Fortschritte der Revolution im Sudan sür das gesamte Morgenland herauf¬
beschworen haben, und zu den kostspieligen Schritten, die England hierdurch
zuletzt aufgenötigt worden sind, geführt hat, so zeigt die Thatkraft und das
Talent, welche der englische Premier jetzt entwickelt, nur, was man hätte erreichen
können, wenn er von Anfang an für Englands Interessen und Aussichten im
Nilthale auch nur etwa so viel Auge und Herz gehabt hätte wie für die Gesetz¬
vorlage wegen Verunreinigung der Flüsse daheim. Das sind die Betrach¬
tungen, welche die sonst so geistvolle und wirksame Rede Gladstones erweckt,
die unsrer Ansicht nach den Vorwurf, die Regierung habe sich einer schwan¬
kenden und nicht folgerichtigen Politik schuldig gemacht, nur soweit widerlegt,
als sie deutlich und unbestreitbar darthut, daß die Regierung niemals in dem
Wunsche geschwankt hat, von der Verantwortlichkeit für Ägypten freizukommen, und
niemals darin inkonsequent gewesen ist, daß sie den Ereignissen folgte, statt sie
vorauszusehen und ihnen vorzubauen.
Gladstones Verteidigungsrede war, wie gesagt, formell ein Meisterstück.
Sie hatte in dieser Beziehung fast alle Merkmale und Eigenschaften, welche die
Redekunst zu einer unwiderstehlichen und beneidenswerten Gabe machen. Liest
man sie aber durch, so drängt sich sofort eine andre Betrachtung auf. Was
hätte der Redner leisten können, wenn er auf der andern Seite gestanden hätte?
Setzen wir einmal den Fall, der beredte Premierminister der Königin Viktoria
wäre Führer der allergetreuestcn Opposition Ihrer Majestät gewesen, er hätte
die Pflicht gehabt, anzugreifen statt zu verteidigen — wie würde er ungefähr
gesprochen haben? Herr Minister, würde er gesagt haben, das Haus hat so¬
eben die Rede gehört, mit welcher Ihrer Majestät Regierung ihre ägyptische
Politik verteidigt. Die beste und überzeugendste Antwort auf dieselbe wird von
der ergreifenden Trauerkunde erteilt, die soeben aus der Wüstenfestung Sinken
eingetroffen ist, wo das Blut von sechshundert tapfern ägyptischen Soldaten
und vielleicht ebensovielen Frauen und Kindern laut gegen die Kniffe und Winkel¬
züge eines Kabinets aufschreit, welches die öffentliche Entrüstung nicht zu be¬
achten scheint. Die lange Kette der verderblichen Folgen dieser Politik der
Schwäche und Verblendung ist um ein neues Glied vermehrt worden. Sie ist
schuld, wenn dreizehntausend Ägypter niedergemacht wurden, wenn dreißigtausend
mehr in höchster Lebensgefahr schweben, wenn der Sudan von den Horden eines
wilden Fanatikers überschwemmt wird, dessen Siege in Mekka und Benares
widerhallen und, wie wir soeben aus dem Munde des Herrn Ministers selbst
vernahmen, die ägyptische Regierung mit Auflösung bedrohen. Das sind die
unbestreitbaren Folgen des Verfahrens des Staatsmannes, der an der Spitze
der Regierung Ihrer Majestät steht. Soll das britische Volk demselben weiter
Vertrauen schenken, ihm, in dessen Händen die volle Gewalt lag, die Ereignisse
zu beherrschen, und der uns jetzt sagt, er sei für jene Wendung der Dinge nicht
verantwortlich, sie sei unvermeidlich gewesen? Welche Armee, welcher Staat
würde sicher sein, wenn Minister mit so weitgreifenden Vollmachten für ihre
Niederlagen Straflosigkeit beanspruchen und sich weigern dürften, eine Verant¬
wortung zu übernehmen, auf Grund deren sie ins Amt gelangt sind! Hat der
sehr ehrenwerte Herr selbst etwa in vergangenen Tagen irrenden Staatsmänner»
solche Nachsicht gewährt? Nahm er während des letzten russisch-türkischen Kriegs
irgendwelche Rücksicht auf die Verlegenheiten des patriotischen Lords Beaeons-
field? Nein, er beurteilte seine Gegner nach ihren Früchten, und darnach muß
er selbst jetzt beurteilt werden. Ich bin erstaunt, daß der Herr Minister sich
auf seine frühere Verurteilung unsrer Intervention am Nil beruft, da dieselben
gebieterischen Grüude, die uns dorthin führten, ihn seinerseits gezwungen haben,
Alexandrien zu bombardiren, aus dem Chedive einen Schattenkönig zu machen und
Schiffe und Regimenter nach den Küsten des Rothen MeereL zu entsenden. Diese
Gründe, die er jetzt in seiner Rede ignorirt, sind einfach die Interessen des
britischen Weltreichs. Und was soll man dazu sagen, wenn er uns auf eine
Reihe kleiner Verbesserungen hinweist, die in Ägypten von seinen Beauftragten
vorgenommen worden sind? Ist es, wenn jemandes Haus in Flammen steht,
ein Trost, daß es vor kurzem neu angestrichen oder mit ein paar neuen Thür¬
klinke» nud Fensterkrenzcu versehen worden ist? Wenn hundertmal wichtigere
Dinge vernachlässigt worden sind, sollen wir uns mit solchen Kleinigkeiten
darüber beruhigen lassen? Ich für meinen Teil finde in de» letzter» nur die
stärkste n»d deutlichste Ausprägung der Unfähigkeit, Blindheit und Unaufrichtig-
keit der jetzigen Regierung Ihrer Majestät, und es kommt mir wie Hohn vor,
wenn der Herr Minister uns von der Befriedigung spricht, mit der ihn die bis
zum November vorigen Jahres in Ägypten gemachten Fortschritte erfüllen. Die
liberalen Herren können nichts in der auswärtigen Politik, sie ordnen sie der
innern, der Förderung ihrer angeblichen Reformen unter, sie haben kein Herz
für die Interessen Englands außerhalb seiner Grenzen, es geht ihnen wie ihren
Gesinnungsgenossen in andern Ministerien und Parlamenten, z, B. in den Mi¬
nisterien der neuen Ära und in dem Landtage der Konfliktszeit in Preußen.
Es wird ihnen immer so gehen, und so sind unsre wichtigsten Interessen bei
ihnen schlecht aufgehoben, und es ist unsre Pflicht, hier Wandel zu schaffen und
Männer ans Ruder zu stellen, welche diese Interesse» erkennen und ohne Wanken
wahrnehmen.
So etwa würde Herr Gladstone gesprochen haben, wenn er auf den Bänken
der Opposition gesessen hätte, als die ägyptische Frage im Unterhause zur
Sprache kam. Es ist ein Glück für die liberale Seite, daß sie zur Führer
einen solchen Redner hat, während die Gegenpartei zu Wortführern schwächere
Charaktere hat, die mehr mit akademischen als praktischen Reden kämpfen. Das
Kabinet, welches von Gladstone in jener Frage angegriffen worden wäre, würde
unausbleiblich zum Rücktritte genötigt worden sein. Nehmen wir an, daß
dieselbe Reihe von unglücklichen Ereignissen, die Aufeinanderfolge von Nieder¬
lagen, die mit den Namen Hicks, Moncrieff, Baker und Tewfik Bey bezeichnet
ist, und dieselbe Situation wie die heutige vorlagen, so würde eine einzige
feurige und schonungslose Rede von den Lippen jenes Meisters in der Dialektik
hingereicht haben, das angeschuldigte Kabinet zum Falle zu bringen, weil das
politische Gewissen des ganzen Landes seiner Beredsamkeit Beifall gezollt haben,
und die Wahrheit, die jetzt halb verhüllt bleibt, unwiderlegbar zu Tage getreten
sein würde. Wie die Dinge jedoch thatsächlich liegen, wird die Redekunst Glad-
stones wahrscheinlich zu einem Siege de? Ministeriums führen.
Dabei ist aber eins zu beachten. Nicht allein die Eigenschaft des großen Rhe-
tors ist es, welche Gladstone wahrscheinlich im Amte erhalten wird, sondern der
Umstand, daß im Unterhause viele Liberale sitzen, denen die Verwirklichung der
vom Premier beabsichtigten Wahlreform mehr wert ist als die Interessen, welche
für England in Ägypten auf dem Spiele stehen. Würden Gladstone und seine
Amtsgenossen vom Staatsruder verdrängt, so würde die liberale Partei, die in
der Osterwoche des Jahres 1880 durch Neuwahlen die Oberhand im Parlament
erlangte, für die nächste Zeit alle Aussicht darauf verlieren, jene Reform, die
im wesentlichen in der Ausdehnung des Haushaltcrstimmrcchts auf die ländlichen
Wahlkreise besteht, und die den Liberalen für lauge Jahre das Übergewicht in
der Gesetzgebung und damit verbunden die Regierung sichern soll, ins Leben
treten zu sehen. Vor dieser Gefahr wird der Patriotismus der Partei zurück¬
schrecken, mau wird also aller Wahrscheinlichkeit nach auf dieser Seite des Unter¬
hauses das Tadclsvotum der Konservativen nicht unterstützen, wie sehr man
auch überzeugt sein mag, daß es reichlich verdient worden ist.
le zwischen der Pforte und dem ökumenischen Patriarchat kürzlich
ausgebrochenen Streitigkeiten haben die Aufmerksamkeit der po¬
litischen Kreise Europas wieder mehr auf die Stellung der christ¬
lichen Kongregationen des Orients gelenkt. Es ist bei dieser
Gelegenheit auch der Lage der Armenier gedacht worden, ni:d
die „armenische Frage," welche die europäische Diplomatie ohne Bedauern
zeitweilig von der Tagesordnung hatte verschwinden sehen, taucht wieder am
Horizont auf. Die Bedeutung dieser Frage wird gewöhnlich im Abendlande
unterschätzt. Es ist unbequem, sich mit den Wünschen und Bedürfnissen eines
Volksstammes zu beschäftigen, der ein entlegenes, unzugängliches Gebiet bewohnt
und weder durch konfessionelle Bande noch durch materielle Interessen mit den
Bewohnern der europäischen Knlturstaciten verknüpft ist. Dennoch wird den
Kabinetten das Eingehen auf diese Frage nicht erspart bleiben. Je länger man
die Regelung der armenischen Verhältnisse hinausschiebt, desto schwieriger und
verwickelter wird die Arbeit werden. Augenblicklich liegen die Wünsche der Be¬
völkerung noch auf dein sozialen Gebiete; bleiben sie unbefriedigt, fo werden
sie sich auf das politische und nationale Gebiet übertragen. Schon jetzt sind
unter einer an und für sich friedlichen Bevölkerung die Anfänge einer Bewegung
erkennbar, welche dereinst für den Bestand des türkischen Reiches ebenso ver¬
hängnisvoll werden kann als die slavische und hellenische Agitation in den
europäischen Provinzen. Allein für eine Gefahr von dieser Seite sind die
türkischen Staatsmänner völlig blind. Sie halten eine Auflehnung der Armenier
für ebenso unmöglich wie einen Abfall der arabischen Stämme vom Sultanat.
Und doch fehlen nicht die Anzeichen dafür, daß die Osmanenherrschaft anch in
den asiatischen und afrikanischen Provinzen stark erschüttert ist.
Allerdings konnte die Pforte durch die bisherige Haltung der Kabinette
in der Meinung bestärkt werden, daß man für die Lage der armenischen Christen
in Europa nur ein geringes Interesse habe. Der Artikel 61 des Berliner Ver¬
trages wurde gewöhnlich nur dann hervorgesucht, wenn es galt, dem Sultan
eine schmerzliche Empfindung zu bereiten und damit seine Nachgiebigkeit auf
andern Gebieten der Politik zu erwirken. Die armenische Frage existirt also
nur dann, wenn ein Kabinet oder eine politische Gruppe ein Interesse haben,
eine „Frage" ins Leben zu rufen. Sie verschwindet vom Schauplatz, sobald
der gewünschte Zweck erreicht ist.
Eigentlich sind es — wenn wir von allgemeinen, gewiß sehr ehrenwerten
Humanitären Bestrebungen absehen, welche auf die Wohlfahrt christlicher Volks¬
stämme im Orient gerichtet sind — nur zwei Mächte: England und Rußland,
welche ein politisches Interesse an der Gestaltung der Dinge auf dem armenischen
Hochplateau haben können. Alle andern Signatarmächte des Berliner Vertrags
sind bei der armenischen Frage nur soweit interessirt, als ihr Wohlwollen sür
die Armenier in den? Text des obgedachten Artikels seinen bestimmten Ausdruck
erhalten hat, und administrative Veränderungen auf jenem östlichen Grenzgebiet
auf die allgemeinen Zustände des türkischen Reiches eine Rückwirkung ausüben
können. Als vor zwei Jahren die armenische Frage auf Wunsch Englands
Gegenstand der Besprechungen einer Votschafterkonferenz war und Lord Dufferin
das unter Billigung seiner Kollegen ausgearbeitete Memorandum der Pforte
überreichte, hatten sich die andern Mächte allerdings den Vorstellungen des bri¬
tischen Vertreters angeschlossen, sich dabei aber auf die Sprache freundschaftlich
gehaltener Ratschläge beschränkt. England blieb bei seiner weitergehenden, drän¬
genden und sast drohenden Haltung isolirt. Wir halten es daher auch jetzt
für keineswegs unwahrscheinlich, daß die deutsche und die österreichisch-ungarische
Regierung auf einen durch Mukhtar Pascha übermittelten Wunsch des Sultans:
man möge ihm für die Reformen in Kleinasien Zeit lassen, ohne große Be¬
denken eingegangen sind, und da England infolge der ägyptischen Krisis zur Zeit
nicht die Absicht haben kann, neue Schwierigkeiten mit der Pforte heraufzu¬
beschwören, so wird die armenische Frage aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so
bald wieder zum Thema diplomatischer Erörterungen werden. Wie aber wird
dieser zeitweilige Jndifferentismus der christlichen Staaten auf die armenische
Bevölkerung wirken, welche seit fünf Jahren vergeblich auf eine Milderung ihres
drückenden Zustandes hofft? Wird dieses Gefühl der Verlassenheit sie in eine
verzweifelte Stimmung und damit zu leidenschaftlichen Ausbrüchen treiben?
Werden nicht vielleicht diejenigen Bezirke, welche vor allem von dem religiösen
Fanatismus der islamitischen Beamtenwelt zu leiden haben, ihre Blicke nach
dem Haupte des mächtigen christlichen Nachbarstaates richten und Vergleiche an¬
stellen zwischen ihrer Lage und zwischen der ihrer unter russischer Herrschaft
stehenden Religionsgenossen?
Daß die russische Regierung die Zustände im türkischen Armenien auf¬
merksam überwacht, ist wohl selbstverständlich; ebenso daß sie kein Mittel un-
benutzt laßt, um, namentlich mit Hilfe der russischen Armenier, die Stimmung
unter der christlichen Bevölkerung des türkischen Grenzgebiets zu bearbeiten.
Wahrend man aber durch geheime und offene Agitation die nationalen und
religiösen Regungen dieses Stammes unterstützt, nimmt das Petersburger Ka-
binet bei den gemeinschaftlichen Schritten in Konstantinopel eine reservirte Hal¬
tung an. Seine Sprache ist, soweit es die armenischen Verhältnisse betrifft,
maßvoll, fast lau. Rußland, das für die slavischen Christen den Kreuzzug gegen
Stambul unternahm, zeigt in seinen offiziellen Kundgebungen für die arme¬
nischen mir ein sehr bedingtes Mitgefühl. Eine Pression in diesem Sinne ist
von Petersburg niemals ausgegangen. Der Grund dieser nicht ungewöhnlichen
Enthaltsamkeit ist leicht erkennbar: je schlechter es den türkischen Armeniern
ergeht, je mehr sie von der Willkür und Mißwirtschaft der osmanischen Be¬
amten zu leiden haben, je häufiger die kurdischen und tartarischen Nomaden¬
stämme von den Bergen herabsteigen und die schutzlosen Thäler durch räube¬
rische Streifzüge heimsuchen, desto sehnsüchtiger richten sich die Augen der
Bedrückten nach den Niederlassungen ihrer Brüder jenseits der Grenze. Aller¬
dings ist auch das Loos der russischen Armenier kein glänzendes: die russische
Beamtcnwirtschaft ist in vielen Punkten kaum bester als die türkische, aber es
besteht doch dort die bürgerliche Gleichheit aller Konfessionen. In dem tür¬
kischen Armenien ist der Christ dem Mohamedaner gegenüber sast rechtlos.
Das Ausbleiben der verheißenen Reformen, die Wühlereien russischer g-Mui«
provoeÄtöurs und die Drangsale eines immer unerträglicher werdenden Zustandes
werden also die armenischen Unterthanen des Sultans mit der Zeit notwendig
in die Arme Rußlands treiben, und wenn dies geschieht, hat sich die Pforten¬
regierung den Verlust dieser Provinz lediglich selbst zuzuschreiben. Die Armenier
wünschen einen solchen Wechsel der Herrschaft keineswegs. Sie waren Jahr¬
hunderte lang und sind noch heute die treuesten, demütigster, bis zur Willenlosigkeit
ergebenen Unterthanen der Sultane. Von allen Rcijahstcimmen waren sie am leich¬
testen zu bezwingen und zu regieren. Duldung und Unterwürfigkeit, Unterwürfig¬
keit, verbunden mit großer Schlauheit, waren von jeher die charakteristischen
Merkmale dieser Rasse, welche noch heute in der orientalischen Handelswelt so
ziemlich dieselbe Stellung einnimmt, wie die jüdische in Europa. Das nationale
Bewußtsein ist lange eingeschlafen und auch neuerdings uur durch Anregungen
von außen künstlich geweckt. Zu einer autonomen Staatsform fehlt es den
Armeniern an den unerläßlichsten Vorbedingungen. Die jahrhundertelange Knecht¬
schaft hat alle Spuren eines politischen Bewußtseins vertilgt, und die religiösen
Überlieferungen bilden allein das Band der Zusammengehörigkeit eines weit
über die Grenzen seines ursprünglichen Wohnsitzes hinaus versprengten Stammes.
Ihre Kolonien erstrecken sich über alle Handelsplätze der Levante, über viele
Häfen des westlichen Mittelmeeres; zahlreiche Niederlassungen befinden sich in
Ungarn, Siebenbürgen, Polen, in Turkestan, selbst in China. Und für alle
diese zerstreuten Glieder eines Stammes giebt es keinen nationalen Mittelpunkt.
Denn das Mutterland ist unter drei fremde Herrscher verteilt. Rußland,
Persien und die Türkei haben in unaufhörlichen Kämpfen wechselweise um den
partiellen und vollständigen Besitz des armenischen Hochlandes gerungen, ein
Streit, der auch heute uoch nicht endgiltig ausgesuchten ist. Würde man die
Stimmen aller türkischen Armenier hören, so würden sie mit einer fast ver¬
schwindenden Minorität in ihrem gegenwärtigen Zustande als Unterthanen der
Pforte zu verbleiben wünschen. Nicht nur die Macht der Gewohnheit, einge¬
wurzelter Knechtssinn und politische Unselbständigkeit veranlassen sie zu einem
solchen Wunsch, sondern weit mehr das materielle Interesse. Denn wenn einer¬
seits die türkischen Malis und Kaimnkams das Land aussaugen, so werden doch
wiederum die trägen und unwissende» Türken von den betriebsamen, gewandten
Armeniern in allen den Handelsverkehr betreffenden Fragen überlistet und aus¬
genutzt. Unter Russen und Persern würde ihnen dies nicht so gut gelingen.
Wer in Konstantinopel, Smhrna, Alexandrien und andern levantinischen
Handelsemporien die glänzenden Paläste der reichen Armenier, ihre ausgedehnten
Gärten, zahlreichen Landgüter, ihre reich dotirter Kirchen und Klöster gesehen
hat, wer die Mittel und Wege kennt, durch welche solche Reichtümer in einem
von endlosen Finanzkrisen heimgesuchten Staate leicht und schnell erworben
werden, der wird begreifen, daß ihre Besitzer ein für jede Art von Ausbeutung
zugängliches Terrain ungern verlassen und in einer immerhin doch beschränkten,
nur durch lange, mühevolle Arbeit zu verwertenden politischen Selbständigkeit
vorläufig keinen genügenden Ersatz erblicken würden. Es fehlt den Armeniern
der patriotische Gemeinsinn, jene Opferfreudigkeit und begeisterte Hingebung für
nationale Güter, welche die Griechen in so hohem Grade auszeichnet, und welche
allein es möglich machte, daß das kleine Königreich in dem kurzen Zeitraume
von fünfzig Jahren sich zu einem lebensfähigen, zukunftsvollen Staatsorganismus
zu gestalten vermochte. Die griechischen Kolonisten, die, gleich den armenischen,
über alle bedeutenden Handelsplätze des Orients zerstreut sind und sogar an
den abendländischen Börsen mit den großen dort einheimischen Handelshäuser»
erfolgreich konkurriren, streben immer wieder der Heimat zu, sie vergessen in
der Fremde niemals der Bedürfnisse und politischen Ziele des Mutterlandes.
Sie sammeln Schätze im Auslande, um ihre Hauptstadt mit Prachtbauten zu
schmücken, und die freiwilligen Beiträge der griechischen xrinoss marelmnäs in
Genua, Trieft, Wien und Odessa sind so bedeutend, daß der Staat seit langer
Zeit der Sorge für öffentliche Institute und Verschönerungen in Athen über¬
hoben ist. Die Universität, die Akademie, die Sternwarte, zwei große Schulen:
das Barbakion und Arsakion, sind so entstanden und nicht nur gebaut, sondern
mit reichen Fonds dotirt worden. Wenn in Athen ein Bürger stirbt, so ist
gewöhnlich die erste Frage: xo-r^t/rx, was hat er (dem Staate nämlich)
hinterlassen?
Ganz anders die Armenier. Sie verlassen die Thäler ihres Geburtslandes
nicht mit dem stillen Wunsche einer dereinstige» Heimkehr, drängen sich um die
Kvuaks der türkischen Würdenträger, nisten sich in alle, den Christen nur
irgendwie zugänglichen Verwaltungszweige ein, buhlen um die Gunst der Großen,
und das alles nur um persönlicher Vorteile willen. Wo immer innerhalb der
weiten Grenzen des türkischen Reiches ihnen solche Vorteile gewährt werden, da
bleiben sie, gründen Niederlassungen, saugen sich fest an dem schwächlichen
Staatskörper, dessen Zersetzungsprozeß der Gewinnsucht und dem Wucher reiche
Ausbeute gewährt. Viele von ihnen kaufen auch wohl mit dem in der Fremde
gewonnenen Gelde Ländereien im Heimatlande, aber sie gehen nie oder selten
dorthin. Ihre Verwalter suchen sich mit den türkischen Behörden gut zu stellen
und in der landesüblichen Weise abzufinden. Ihren ärmern Neligionsgenosscn
gewähren sie weder Schutz noch Vertretung. Die in Konstantinopel lebenden
armenischen Börsenfürsten und höhern Staatsbeamten haben für die Klagen
ans der heimischen Provinz kein Gehör. Es fällt ihnen nicht ein, die Sache
der Bedrückten zu der ihrigen zu machen. Sie fürchten an der Zentralstelle,
bei ihren Brodherrn, ihren Chefs, oder wenn sie Bankiers sind, bei ihren ein¬
flußreichen Schuldnern Mißtrauen zu erwecken. Man kann ihnen dies in ge¬
wissem Sinne nicht verargen. Ein solcher Argwohn allein genügt oft, sie mit
einem Schlage aller Früchte eines langen, mühevollen Lebens zu berauben.
Schon ein großer Besitz und der damit verbundene Einfluß macht sie verdächtig.
Verleumdung, Intrigue und Rachsucht spielen mit hinein. Eine Anklage ist
leicht gestellt. Die Konfiskation der Güter eines verdächtigen Armeniers hat
in der Türkei niemals große Schwierigkeiten bereitet. Früher bildete sie das
beliebte Mittel, in Zeiten finanzieller Erschöpfung den Staatssäckel und damit
auch die Taschen der Minister zu füllen. Das Terrain in Jenikiöi, welches
der Sultan unlängst der österreichischen Regierung zur Errichtung eines Sommer-
Palais der Botschaft geschenkt hat, ist einst einem reichen Armenier abgenommen
worden. Die Ruine des prächtigen Palastes, die eingestürzten Terrassen und
verwilderten Gärten boten ein trauriges Bild der Verwahrlosung inmitten der
glänzenden Villen und herrlichen Anlagen, welche diesen schönsten Teil des
Bosporusufers bedecken.
Die armenischen Spekulanten konnten sich den ungestörten Besitz ihrer
Schätze nur damit sichern, daß sie dieselben vor dem gierigen Blick schlecht be¬
zahlter Beamten möglichst verbargen oder diesen an dem Gewinn einen ent¬
sprechenden Anteil gewährten. Auch heute noch ist solche Vorsicht geboten;
denn die Rechtszustände für die Rajahs sind trotz aller kaiserlichen Halts und
scheinbaren Jnstizrcformen um nichts gebessert. Die am Bosporus residirenden
reichen Armenier unterlassen es daher nicht, einen Teil ihrer Kapitalien in den
Baute» des Auslandes in Sicherheit zu bringen, und kargen nicht mit Geschenken
on einflußreiche Beamte oder an den Großherrn selbst.
Von ihren zu Reichtum und Ansehen gelangten Mitgliedern haben daher
die bedrückten Gemeinden des armenischen Hochlandes wenig oder nichts zu hoffen,
Auch der berufene Vertreter ihrer Wünsche, der in Stambul refidirende Patriarch,
ist nicht in der Lage, durch seiue Stellung allein und ohne fremde Mitwirkung
Reformen anzuregen. Bekanntlich fällt in der Türkei der Begriff der Natio¬
nalität mit dem der Religionsgenossenschaft zusammen. ES haben daher seit
der türkischen Eroberung die kirchlichen Oberhäupter eine weit über die Grenzen
der nach abendländischen Begriffen mit dem geistlichen Amte verbundenen Funk¬
tionen hinausgehende Befugnis erhalten. Die christlichen Patriarchen und der
jüdische Großrabbiner sind die offiziellen Organe, durch welche Petitionen der
Rajahs an die Pforte gelangen. Ebenso werden Verfügungen der letzter», welche
die eine oder die andre Religionsgenvsseuschaft betreffen, durch das Kirchenober¬
haupt publizirt, welches seinerseits in der Ausübung seiner auf das privatrecht¬
liche Gebiet übergreifenden Gewalten durch eine Notabelnversnmmlung unterstützt,
bez. überwacht wird. Da wir in dieser letzter» diejenigen Elemente der arme¬
nischen Bevölkerung wiederfinden, deren Lauheit in nationalen Angelegenheiten
wir soeben beleuchteten, so ist es verständlich, wenn der armenische Patriarch-in
Konstantinopel, unter dem Druck dieser Einwirkungen stehend, nicht bloß die
Sache der fernen Neligionsgenossen, sondern auch die Interessen der in seiner
nächsten Umgebung weilenden wohlhabenden und einflußreichen Clique zu ver¬
treten genötigt ist. Andre Rücksichten erheischt sein Verhältnis zur Pforte, welche
täglich Gelegenheit hat, ihm in der Erledigung laufender Geschäftsfmgcn das
Leben sauer zu machen. Die Notwendigkeit, sich mit den Staatsleitern ans
guten Fuß zu setzen, zwingt thu, Konflikte zu vermeiden, bei denen der ganze
Nachteil auf feiten seiner Gemeinde sein würde. Es bedarf großer Vorsicht
und diplomatischer Geschicklichkeit, um sich auf diesem schwierigen Posten zu er¬
halten, und die orientalischen Kirchenfürsten geben in dieser Hinsicht den ge¬
wandten Prälaten des römischen Stuhls nichts nach. Ihre Lage ist umso
schwieriger, als sie von einem ehrgeizigen und stelleusüchtigeu Klerus umgeben
sind, dessen Ziele ebenfalls weitab von denen der Nationalpartei liegen, ja
deren Bestrebungen sogar dem Ringen nach politischer Selbständigkeit geradezu
entgegenstehen. Im ganzen Orient ist der niedere Klerus, der orthodoxen wie
der armenischen Kirche, arm und unwissend. Was ihm in den Augen der Ge¬
meindemitglieder noch einiges Ansehen verleiht, ist eben der Umstand, daß die
politische und nationale Vertretung der Stammesgenossen im kirchlichen Ober¬
haupte liegt. Er würde diesen Einfluß notwendigerweise verlieren, wenn den
armenischen Gemeindevorständen größere Rechte in der Administration eingeräumt
würden. In einem autonomen Staate müßte daher sein Ansehen bald dem der
Behörden weichen; aber auch schon die durch den Berliner Frieden angeregten
Reformen würden der armenischen Laienwelt mit der Zeit ein naturgemäßes
Übergewicht über den ungebildeten niedern Klerus geben. Bei der höhern Geist-
lichkeit der armenischen Kirche treten derartige Erwägungen natürlich noch weit
mehr in den Vordergrund, So kommt es, daß dieselbe und mit ihr der Pa¬
triarch kein reges Verlangen trägt, die armenischen Rajahs aus dem türkischen
Unterthanenverbande ausscheiden zu sehen. Der armenische Klerus war bisher
mit der Türkenherrschaft nicht unzufrieden, welche in allen geistlichen Angelegen¬
heiten der nichtmohamcdanischen Unterthanen bekanntlich die größte Toleranz zu
üben Pflegte, sich nie in die kirchlichen Händel der verschiednen Kongregationen
einmischte und so dem Patriarchat in allen diesen Fragen eine Unabhängigkeit
gewährte, welche es weder in einem Nationalstaat noch unter dem russischen
Zepter genießen würde.
Es scheint freilich, daß neuerdings von der Pforte Versuche gemacht werden,
die Funktionen der geistlichen Oberhäupter zu beschränken und einzelne ihrer
alten Privilegien aufzuheben. Der zwischen der türkischen Regierung und dem
ökumenische» Patriarchat kürzlich ausgebrochene Konflikt läßt erkennen, daß die
erstere bestrebt ist, die Autorität des Staates in einzelnen, bisher ausschließlich
der geistlichen Jurisdiktion unterstehenden Angelegenheiten mehr zur Geltung zu
bringen. Es liegt aber auf der Hand, daß die Spitze dieser Bestrebungen nicht
sowohl gegen das geistliche Oberhaupt als gegen die auf das letztere einwirkenden
fremden — in diesem Spezialfall russischen — Einflüsse gerichtet ist. Freilich
verläßt die Pfortenrcgierung damit die Bahnen ihrer alten Politik, und es ist
mehr als fraglich, ob eine solche Neuerung thatsächlich zum gewünschten Ziele
führen wird. Das System, die christlichen Unterthanen durch ihre Kircheu-
häupter regieren zu lassen, hat sich bisher bewährt; es entsprach dem Prinzip
der Türkciiherrschaft, welche die unterjochten Volksstümme nicht zu einem Ein-
heitsstaate zusammenschmelzen, sondern nnr beherrschen wollte. Die Eigentümlich¬
keiten der Rassen, die Verschiedenheiten des Glaubens waren den Eroberern
gleichgiltig gewesen, sie verfolgten keine nationalen oder idealen Ziele. Die
kriegerischen Sultane früherer Jahrhunderte kümmerte es wenig, was ihre christ¬
lichen Unterthanen glaubten, wenn sie nur gehorchten und zahlten. Von dem
Militärdienst, der Justiz und Verwaltung waren die Christen ausgeschlossen.
Mochten sie also immerhin ihre innern Angelegenheiten unter sich regeln. Der
allgemeine Begriff ottomanischer Unterthanschaft war unbekannt; es gab nur
Sieger und Besiegte, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse. Obwohl
die Halts von 1839 und 1856 die Gleichberechtigung aller Unterthanen pro-
klamirten und unter den letzten Sultanen Christen zu höhern Staatsämtern
gelangen konnten, so blieben doch die Kirchenverfassuugeu der christlichen Kon¬
gregationen durch diese Neuerungen thatsächlich unberührt. Es war für die
Pforte viel bequemer, diesen Teil ihrer Unterthanen durch die Kirchenoberhcinptcr
zu regieren. Mit den Patriarchen wurde man leicht fertig. Diese hatten selbst
kein Interesse an der Abänderung vou Einrichtungen, denen sie gerade Ansehen
und Einfluß verdankten. Wenn die Pforte sich jetzt in die internen Angelegen-
selten der Rcligivnsgenossenschafte» einmischt, so kann sie des heftigsten Wider¬
standes der kirchlichen Organe gewärtig sein und macht natürliche Verbündete
zu Feinden. Ob das Sultanat noch stark genug ist, solchen Widerstand zu
brechen, ist sehr die Frage. Kenner der orientalischen Verhältnisse erblicken
daher in dem Vorgehen der Regierung gegen den ökumenischen Patriarchen
einen politischen Fehler, der für die Pforte verhängnisvoll werden kann.
Der armenische Patriarch ist weit mehr noch als der Vertreter der orthodoxen
Kirche ein Feind der Neuerungen. Er ist, weil ihm auswärtige Unterstützung
fehlt, mehr als jener abhängig von der Pforte, aber eben deshalb auch mit
allen seinen Interessen an die Pforte gekettet. Eine Stellung wie die, welche
er jetzt einnimmt, kann ihm nur eine mohamedanische Regierung gewähren.
Würde Armenien dem Zarenreich einverleibt, so schwante der größte Teil seines
Einflusses, seiner Befugnisse und Privilegien dahin. Der heilige Shnvd in Moskau
ist nicht so tolerant wie der Scheich ni Islam.
Schon jetzt besteht eine gewisse Rivalität zwischen den Patriarchen in
Konstantinopel und Jerusalem und dem Katholikos in Etschmiadzin, der
nominell als geistliches Oberhaupt aller gregoriauischcu Armenier gilt, dessen
Einfluß aber thatsächlich nicht über die Grenzen des russischen Armenien hinauf-
reicht. Das berühmte Kloster Etschmiadzin, unweit Eriwan gelegen, der Hauptstadt
des einstigen persischen, jetzt russischen Armeniens, ist noch heute die Bildungs¬
stätte für die höhere Geistlichkeit. Die russische Regierung sucht diesen Umstand
in derselben Weise für ihre Pläne auszunutzen wie durch die russischen Mönche
der Klöster vom Berge Athos. Aber die russische Propaganda unter den orthodoxen
Stämmen der Balkanhalbinsel ist leichter als die unter den Armeniern. Griechen
und Bulgaren, Rumänen, Serben und Montenegriner sind durch das natürliche
Band eines gemeinsamen Bekenntnisses mit der russischen Staatskirche verknüpft.
Der letztern aber steht die armenische Kirche noch ablehnender, ja feindlicher
gegenüber als dem römischen Stuhl. Die Versuche der Kurie, die armenische
Kirche wieder mit dem römischen Stuhl zu vereinigen, sind bekanntlich hier und
da gelungen und haben bereits ein Schisma unter den Armeniern bewirkt. Den
Werbungen des Moskaner heiligen Synods gegenüber blieben dieselben stets kalt,
alle Unionsbestrebungen in diesem Sinne scheiterten an der alten, tiefgewurzelten
Abneigung gegen die morgenländische Schwcsterkirche. Eine weit größere An¬
näherung besteht höchst merkwürdigerweise zwischen der armenischen Kirche und
einzelnen Gruppen des abendländischen Protestantismus. Namentlich mit der
anglikanischen Hochkirche teilt die armenische eine gewisse Verwandtschaft der
Lehrmeinungen, welche bereits zu verschiednen malen den Gedanken einer Union
hat auftauchen lassen. Ein hoher englischer Prälat, der Erzbischof von Canterbury,
hat mit dem Patriarchen Narses in Kor flau tinvpcl lange und eingehend darüber
korrespondirt, und noch vor zwei Jahren bereiste ein angesehenes Parlaments¬
mitglied den Orient lediglich zu dem Zwecke, eine Vereinigung dieser beiden
Religionsgruppen anzubahnen. Es giebt in England eine große Anzahl von
Männern, welche dieses Projekt keineswegs für unausführbar halten. Wir
maßen uns hierüber ein Urteil nicht an, glauben aber doch, daß bei näherer
Prüfung sehr erhebliche Meinungsverschiedenheiten an die Oberfläche gelangen
würden. Die armenische Kirche ist zu sehr in dem alten Dogmatismus erstarrt
und verknöchert, um freieren Religivnsanschcwungen so unbedenklich Eingang zu
verstatte». Bisher ist denn auch die Uuiousidee weit mehr in England, und
zwar vorwiegend unter der Laienwelt und in den einem gewissen religiösen
Sport obliegenden Kreisen, aufgetreten, die Armenier selbst verhalten sich den
englischen Aposteln gegenüber noch kühl und ablehnend. Für politische Zwecke
wird daher, falls man sich in England derartigen Hoffnungen hingebe» sollte,
auf diesem Gebiete vorläufig nichts zu erreichen sein.
(Schluß folgt.)
u Deutschland arbeiten außer 6 ausländischen Aktiengesellschaften
30 einheimische Fcnerversichernngs-Aktiengesellschaften, einige hun¬
dert kleine und 15 größere private GegenseitigkeitSgesellschaftcn
und 61 öffentliche Sozietäten. Vou den deutschen Aktiengesell¬
schaften betreiben mehrere noch andre Geschäfte, wie Transport-,
Lebens- und Glasvcrsichernng, eine hat daneben noch Hhpothelen- und Wechsel-
gcschnfte. Soweit die Gesellschaften in ihren Abschlüssen die Resultate des
reinen Fcuerversicheruugsgeschäftes gesondert veröffentlichen, haben wir mit Hin-
weglassung der weniger bekannte» Gegenseitigkeitsgesellschaften und zweier, ans
das reichsländische Geschäft französischer Gesellschaften 1881 im Elsaß gegrün¬
deten Aktiengesellschaften die umstehende Tabelle der 1882 er Abschlüsse zu¬
sammengestellt.
Wir ersehen aus dieser Übersicht der Geschäftsabschlüsse vou dreißig
deutschen Gesellschaften, daß die Verluste einzelner derselben nicht ans Brand¬
schäden und zu niedrigen Prämien, sondern nur aus zu hohen Verwaltungskosten
hervorgehen. Der Durchschnittsgcwinn sämtlicher Gesellschaften, mit Einschluß derer,
Welche Verlust gehabt haben, beträgt 2 7 I/z Prozent der gemachten Einzahlungen.
Hätte die Magdeburger statt 64 Pfennigen Verwaltungskosten auf tausend Mark
Versicherungssumme gleich Aachen-München nur 32 Pfennige verbraucht, so würde
sie bei 4224000 000 M. für eigne Rechnung behaltenen Versicherungen
1361680 M, weniger Unkosten und damit das Vergnügen gehabt haben, ihren
Aktionären statt 463000 M. Verlust 21^ Prozent Dividende berechnen zu können.
Ebenso hätte verständiges Arbeiten oder Sparen der „Union" in Berlin bei etwa
600 000 000 M. für eignes Risiko behaltenen Objekten statt 147146 M. Ver¬
Verlust eine Dividende von 20^ Prozent eingebracht und die Scharten des aus¬
wärtigen Geschäfts vollständig ausgewetzt. Die Gothaer, welche bei ihrer gut
befestigten Organisation und bei ihrer ausgesuchten, treuen Kundschaft Kosten für
Organisation und Requisition garnicht nötig hat, wäre bei gleicher Sparsam¬
keit mit 0,47 Promille Prämie durchgekommen und hätte ihren Mitgliedern
284 940 M. mehr an Dividende verteilen können. Die Gewinne der Aktionäre
und der Verwaltungsaufwand aller 30 Gesellschaften kostet dem deutschen Volke
ungefähr 24000 000 M, ein in der That so stattliches Budget, daß es den
Gedanken an Verminderung der Last wohl aufkommen lassen kann.
Die Sicherheitsfonds, welche die Gesellschaften in Reserven und Aktienkapital
den Versicherte» bieten, stehen zu dem Umfange des Geschäfts und zu den damit
eingegangenen Verbindlichkeiten in einem solchen Mißverhältnis, daß nicht nur
das Beispiel der Gothaer, welche ohne Betriebs- und Reservefonds arbeitet,
uns das Unnötige derselben vor Augen führt. Die baaren Fonds einschließlich
der im Tresor liegenden Solawechsel der Aktionäre betragen bei der Aachen-
Münchener 0,39 Prozent der bei ihr versicherten Werte oder den vierfachen Betrag
der Jahresprämie, bei der Magdeburger nur 0,23 Prozent des Versicheruugskapi-
tals oder die l'/z fache Jahrcsprämie. Mit dem Verbrauch dieser Fonds und der
Jahreseinnahmen ist die Zahlungsvcrbindlichkeit der Aktiengesellschaften zu Ende.
Die Sicherheit der in Gotha Versicherten (die Verfassung der Gothaer haben
sich alle andern Gegenseitigkeitsgesellschaften zum Muster genommen) beruht auf
der Nachschußverbindlichkeit der Mitglieder bis zum vierfachen Betrage einer
Jahresprämie, eine Verpflichtung, welche bei der Höhe der Vorprämie wohl
nie an die Versicherten herantreten wird. Die beste Garantie der Versicherten
liegt in der Reellität und Sparsamkeit der Verwaltung. Durch Verringerung
der Verwaltungskosten und durch Wegfall der Dividenden und Zinsen kaun dem
Publikum die Wohlthat der Versicherung wesentlich billiger erwiesen werden.
Wir ersehen ferner aus der Tabelle die Unwahrheit der Behauptung, daß
infolge der Konkurrenz die Prämien bereits auf der niedrigsten Stufe angelangt
seien. Wie die nachfolgende zweite Tabelle zeigt, sind die Prämien noch heute
trotz ihrer angeblichen Niedrigkeit imstande, den Aktionären erkleckliche Dividenden
einzubringen.
Diese Gewinnaufstellung widerlegt aufs bestimmteste die Klagen der Ge¬
sellschaften über zu niedrige Prämien, auch ihre und ihrer Preßorgane Behaup¬
tung, daß die hohen Dividenden einzelner Gesellschaften nur aus den Zinsen
der Überschüsse früherer Jahre erzielt würden- Sehen wir nun auch, in welchem
Verhältnis sich diese Überschüsse zu dem eingezahlten Aktienkapital verhalten.
Diese Überschusse, welche in den Abrechnungen unter den Titeln „Reserve-
fonds," „Sparfonds," „Kapitalreserve" u, ni. in. erscheinen, machen bei einzelnen
Gesellschaften das zwei- bis fünfundeinhalbfache des eingezahlten Aktienkapitals
aus. Nicht aus den Zinsen des riskirten Kapitals der Aktionäre kommen
die Dividenden, wohl aber ermöglichten die seit Dezennien dem Publikum zu
viel abgenommenen Prämien den Aktionären neben reicher Verzinsung des An¬
lagekapitals noch dessen Verdopplung und Verfüuffachung.
Gesetzt, die Verwaltungskosten der Aachen-Münchener wären die denkbar
billigsten — obgleich sie beim Wegfall der hohen Tantiemen und Provisionen
und bei Vereinfachung des Vorstandes sich noch wesentlich geringer gestalten
würden —, so würden durch allgemeine Reduzirung der Verwaltungskosten ans daS
Niveau der Aachen-Münchener bei den obigen 36 640 Millionen Versicherungs¬
summe 16 615 200 M. gespart werden, an Zinsen und Dividenden könnten
9143149 M. in Wegfall kommen; das macht in Summa 25 758 349 M,
eine Ersparnis, welche eine Durchschnittsprämie von 1,46 Promille oder eine
Prämienverminderung von 30 Prozent gestatten würde.
Der Entrüstungsschrei der Gesellschaften in ihren auf das Reskript des
Fürsten Bismcirck erlassenen Repliken und in der ihnen ergebenen Presse ist
aber auch ungerechtfertigt dem nichts weniger als kollegialischer Verfahren gegen¬
über, welches sie gegen sich auf dem Felde der Konkurrenz treiben. Dieses
Verfahren führt zu Schlüssen, die zu der Geschäftsführung der meisten Anstalten
kein Vertrauen erwecken können. Ein Abjagen der Geschäfte — „ausspannen"
ist der isrwirms tövdiüLus im Assekuranzjargon — durch Vorspiegelung von
Thatsachen, welche die Solvenz und Koulanz des Konkurrenten verdächtigen
sollen, und dnrch Unterbieten der Prämien ist das alltägliche Verfahren der
Organe der Gesellschaften, ihrer Acquisitionsbeamten und Agenten, Das Ma¬
növer des Acquirirens bewegt sich nur selten in den Formen des geschäftlichen
Anstandes oder der Kollegialität; oft greift es zu den niedrigen Mitteln der
Verleumdung und Bestechung, Eine vom Glück durch gute Abschlüsse minder
begünstigte Gesellschaft wird ihren Kunden durch versteckte Redensarten, durch
vielsagendes Achselzucken und durch Zusendungen anonymer Flugschriften als
wenigstens nicht mehr zweifellos sicher hingestellt. Wir erinnern uns noch des
widerlichen Gebcchrens der Schwestern während der Agonie der „Berlin-Köl¬
nischen," um soviel als möglich von dem Geschäfte der noch Lebenden zu erben,
sowie des auffälligen Treibens einiger Gesellschaften bei der Teilung des Kunden¬
kreises des in Liquidation gegangenen „Adlers." Falscher Vorspiegelungen
wegen muß mancher Versicherte noch auf Jahre hinaus doppelte Prämien zahlen,
denn er ließ sich bewegen, trotz seiner noch nicht abgelaufenen Poliee einen
neuen Versicherungsvertrag bei einer andern Gesellschaft zu schließen. Treulose
Beamte und wortbrüchige Agenten im Besitze der Abschriften der Versichernngs-
und Ablcinfsregister der Konkurrenz sind gesuchte Personen, Der Vorfall, der
unlängst zwischen der Deutschen Transportversicheruugsgcsellschaft in Berlin
und dem Rheinisch-Westfälischen Lloyd in Gladbach sich ereignete und das
Eingreifen der Staatsanwaltschaft veranlaßte, steht auch bei andern Zweigen
des Versicherungsgeschäftes nicht vereinzelt da.
Nicht unerwähnt darf auch der Mangel an Anstandsgefühl bleiben, womit
viele Gesellschaften zu den von Gehcimmittelschwindlern und Wurmdoktoren als
probat erfundenen Mitteln der Reklame greifen. Gleichwie jene über erfolgte
Heilungen, lassen sie sich für „prompt und koulant" regulirte Brandschäden
Danksagungen von den Beschädigtem ausstellen und geben diese, in Broschüren
vereinigt, den Agenten und Beamten als schätzbares Material zur Heranziehung
des bereits mißtrauisch gewordenen Publikums.
Die Anzahl der bestehenden Doppelversicherungen, zu deren Eingehung der
betreffende Versicherte durch übergroße Provisionsjägerei gewissenloser Agenten
veranlaßt worden ist, deren Unrecht den betreffenden Gesellschaften mit zur Last
sällt, wenn sie trotz Einsicht in die Verhältnisse auf ihrem Schein bestehen und
eventuell die Prämien einklagen, zeigt auch die Unzulänglichkeit der polizeilichen
Prcivcntivkontrolc, wie diese laut Gesetz vom 22. Mai 1837 sür Preußen be¬
steht. Diese Kontrole ist vollständig unwirksam, daher überflüssig, sie kann
sogar insofern dem Publikum schädlich werden, als sie durch Verschleppung der
Polizeilicher Versicherungsgcnehmigung die Wirkung der Versicherung verzögert.
Baiern, wo eine ähnliche Kontrole bestand, hat die Unzulänglichkeit derselben
und die mit ihr verbundenen Übelstände erkannt und das Gesetz im Jahre 1872
aufgehoben.
Durch die vielfachen zweifelhaften Manipulationen bei Requisition und
Schadmrcgulirung und durch den Zusammenbruch mancher Gesellschaften, wo¬
durch die innern Schäden des Geschäfts ooulos demonstrirt worden sind,
hat sich das Vertrauen des großen Publikums zum Versicherungsgeschäft sehr
gelockert. Eine Befestigung desselben ist angesichts der hohen Bedeutung der
Assekuranz für das Wohlergehen des Volkes und die Sicherheit des Volks-
vcrmögens durchaus notwendig. Sind doch bei den obengenannten Gesellschaften
allein für vierzig Milliarden Werte gegen den elementaren Schaden des Feuers
versichert. Das höchste Interesse des Staates muß sich auf diesen Zweig der
Volkswirtschaft hinlenken, er darf nicht länger die gleichgiltige Rolle spielen,
zu der ihn die Anhänger der manchesterlichen Is-isss^-ks-ire-Theorie verurteilen
wollen. Wo einzelne oder vereinigte Privatpersonen mit ihren Kräften nicht
mehr helfen können, hat der Staat das Recht und die Pflicht, mit seineu
Mitteln einzutreten; das Geschäft der Feuerversicherung in seiner heutigen Ver¬
fassung kann nicht mehr allen an dasselbe herantretenden Ansprüchen genügen.
Eine Verstaatlichung des Versicherungsgeschüsts durch Ankauf der Gesell¬
schaften dürfte sich vermeiden lassen; die Besserung der Zustände ließe sich schon
herbeiführen durch Erlaß eines allgemeinen deutschen Versicherungsgesetzes und
durch Verschmelzung der schon bestehenden 61 deutschen örtlich beschränkten
Fenerversicherungssozietäten der Provinzen, Landschaften und Gemeinden in eine
allgemeine deutsche Landesfeuerkasse,
Mit Rücksicht auf seinen Charakter, welcher wesentlich von dem andrer
Geschäfte abweicht, erfordert das Versicherungsgeschäft auch eine besondre sach¬
gemäße Gesetzgebung. Alle bis jetzt wegen des Versicherungswesens erlassenen
gesetzlichen Bestimmungen entsprechen weder den Bedürfnissen des Publikums
noch denen der Gesellschaften. Das uns schon seit Jahren in Aussicht gestellte
Rcichsvcrsicherungsgesetz muß alle Verordnungen der Einzelstaaten beseitigen und
in Geschäftsführung und Rechnungslegung, Besteuerung der Gesellschaften,
Agentenwesen, Schadcnregulirung und staatliche Aufsicht Einheit bringen. Das
staatliche Aufsichtsrecht muß streng gewahrt und im wahren Sinne des Wortes
ausgeführt werden. Es darf nicht darauf beschränkt sein, daß irgend ein des
Geschäfts unkundiger Regierungskommissar durch Anwesenheit bei den General¬
versammlungen den spekulativen Beschlüssen derselben die behördliche Sanktion
erteilt. Strenge Kontrole der Geschäftslage durch außerordentliche Durchsicht
der Bücher und Prüfung der Abschlüsse sind allein imstande, das Publikum vor
Verlusten zu schützen. Mehrere Gesellschaften halten die Veröffentlichung ihrer
Bilanzen zurück oder bringen sie so dunkel und verschleiert, daß sie selbst dem
Fachmanne erst nach gründlicher Sezirung der einzelnen Posten und Zahlen
verständlich sind. Sie haben sogar die Versicherungspresse zu dem Ausspruche
veranlaßt, daß sie Grund zu dieser Lichtscheu haben müssen. Die mit Erteilung
der Konzession verbundene Bedingung des staatlichen Aufsichtsrechts, wie solches
bisher geübt wurde, vermochte nicht deu plötzlichen Bankerott von Gesellschaften
zu verhüten,*) sie vermehrte dadurch noch die Verluste des Publikums, weil
dieses die staatliche Aufsicht als staatliche Garantie verstand und daher umso
vertrauensseliger seine Ersparnisse den unsolider Instituten übergab. Auch muß
die Kritik der bei uns arbeitenden Gesellschaften nicht, wie bisher, nur in der
den engsten Kreisen zugehenden Fachpresse, sondern auch von politischen Zeitungen
ausgeübt und dadurch dem Publikum bekannt gemacht werden.
Die Schadenrcgnlirungcn dürfen nicht ohne Zuziehung eines staatlichen
Kommissars erfolgen, welcher einerseits die Gesellschaft vor ungerechtfertigten
Ansprüchen durch die Autorität der ihm zur Seite stehende» Gewalt schützt,
aber auch andrerseits den schuldlos Beschädigtem vor Ausnutzung seiner Notlage
bewahrt. Die Regulirung muß spätestens acht Tage nach dem Brande erfolgen,
sie hat durch einen von der Gesellschaft Bevollmächtigten zu geschehen, dessen
Abmachungen uicht erst der Genehmigung der Gesellschaft bedürfen. Nach
heutigem Gebrauch sind wohl die Erklärungen des Beschädigtem für diesen bindend,
die des mit der Schadenermittelung betrauten Gesellschaftsbeamten sind es jedoch
nicht für seine Auftraggeberin, Die Folgen dieses Verfahrens sind stets nach¬
teilig für den Versicherten. Die Auszahlung des festgestellten Schadens muß
innerhalb acht Tagen nach erfolgter Schlußverhandlung geschehen. Der Agent
der Gesellschaft darf von dieser nicht nur als Geschäftszuschlepper betrachtet
werden, sondern muß als deren Bevollmächtigter dem Publikum gegenüber¬
stehen. Für alle durch den Agenten eingegangenen auf das einzelne Geschäft
Bezug habenden Verbindlichkeiten muß die Gesellschaft verantwortlich bleiben.
Eine für das ganze Versicherungsgeschäft heilsame Purifikation des Agenten¬
standes würden die Folge dieser Verordnung sein.
Für eine sachgemäße Besteuerung werden die Gesellschaften durch ihre
Organe selbst Plaidiren; hier genüge es, auf die Ungerechtigkeit, welche in dem
jetzigen Modus liegt, hinzuweisen.
Die Aufhebung der jetzt in den Policen ihr Unwesen treibenden rigoroser
Versicherungsbedingungen, deren Durchführung den Versicherten rechtlos macheu
und der „Koulanz" der Gesellschaften überliefern, und die Einführung eines
allgemeinen Versicherungsrechts, welches im ganzen Reiche gilt und die Rechte
und Pflichten beider Kontrahenten genau präzisirt, sowie die einheitliche Regelung
der Verordnungen in Bezug auf Errichtung neuer und Zulassung auswärtiger
Gesellschaften gehören zu dem Gesetze über die Geschäftsführung. Die Prämien
müssen auf Grund der Erfahrungen der jetzt bestehenden Gesellschaften und
Sozietäten nach Maßgabe der Bauart und Lage des Ristkos, der Art des in
ihm betriebenen Gewerbes und der Verhältnisse seiner Provinz oder seiner
Landschaft tarifirt werden. Eine Abweichung von den normirten Prämien
darf nicht gestattet sein. Die fortschreitende Statistik giebt uns die Mittel,
auch für die besonders feuergefährlichen Gewerbe den richtigen Prämieusatz zu
finden, und hiermit die Möglichkeit, dem in diesen Unternehmungen angelegten
Volksvermögen die Versicherung zugänglich zu machen. Bis jetzt haben sie sie
dort nur unter unbilligen, erschwerenden Umständen, wenn sie ihnen nicht gänzlich
verweigert wird. Der Segen der Versicherung darf auch nicht den kleinen „nicht
lohnenden" Objekten entzogen werden. 10 000 Mark in zehn kleinen Ver¬
sicherungen machen allerdings den Gesellschaften und Agenten mehr Mühe und
Arbeit als ein einziges Objekt von 10 000 Mark; für den Volkswirt hat aber
die Erhaltung des Bestandes beider Kategorien dieselbe Bedeutung. Da eine
allgemeine Annahmepflicht aller an sie herantretenden Risiken den Gesellschaften
uicht aufgenötigt werden kann, so find die jetzt in Deutschland zerstrent
und auf beschränkte Geschäftsgebiete angewiesenen Sozietäten zu einer all¬
gemeinen deutschen Landesfeuerkasse mit obligatorischer Versichcrungsannahme
aller sich ihr anbietenden versicherungsfähigcn Objekte zu vereinigen. Durch
diese Umformung der Sozietäten in eine große, ganz Deutschland umfassende
Landesfeuerkasse wird der bisherige Hemmschuh an der segensreichen Entwicklung
dieses dritten Systems der Feuerversicherung beseitigt werden: die Einengung
des Geschäftsbetriebs aus beschränktem Gebiete, wodurch das Risiko unverhältnis¬
mäßig hoher Brandschäden ermöglicht wird. Die damit verbundene Gefahr zu
hoher Beiträge hat bisher viele Versicherungsnehmer vom Beitritt zu den
Sozietäten abgehalten. Je mehr die Geschäfte der Versicherung gegen elementare
Schäden örtlich ausgedehnt sind, umsomehr verringert sich die Höhe der
Gesamtschäden durch gleichmäßige Verteilung der Verluste, und in demselben
Maße reduziren sich die zur Deckung der Schäden notwendigen Prämien.
Mit dieser Landesfeuerkasse, wie sie schon den preußischen Gesetzgebern des
vorigen Jahrhunderts vorschwebte, wird auch nichts neues geschaffen, sondern
nur die schon bestehenden alten, notwendigen Institute durch eine zeitgemäße
Reform verbessert und zur Erfüllung ihrer Aufgabe fähiger gemacht. Sie tritt
frei von allen Konzessionen in freie Konkurrenz mit den schon bestehenden Gesell¬
schaften, deren Versicheruugsbediugungen mit den ihren ans gleichen Norme»
beruhen, und welche wie sie von der Öffentlichkeit und dem Staate kontrolirt
werden. Von ihrem Zentralsitze aus leitet sie die Direktionen in den Landes¬
oder Provinzial-Hauptstädten. Aus den Amtsstuben der Bürgermeister und Orts¬
vorsteher müssen die Geschäfte der Landesfeuerkasse in spezielle Reichsversicherungs-
ümter verlegt und von jeder büreaukratischen Schablone befreit werden. In diese
darf auch kein büreaukratischer Zopfgeist einziehen, sondern in ihnen soll eine
frische, freie, individualisirende Verwaltung unter fachmännisch geschulten Beamten
herrschen, gleich denen der Post oder der Reichsbank. Der freie Wettkampf
wird zeigen, auf welcher Seite die Gunst des Publikums steht und welchem
von den jetzt herrschenden drei Systemen des Versichernugsgeschäftes die Zu¬
kunft gehört.
on dem vielgenannten französischen Nationalökonomen Paul Leroy-
Beanlieu rührt die Behauptung her, daß die Berufe, welche
Universitäts- oder höhere Schulbildung voraussetzen, die Tendenz
zeigen, immer niedriger bezahlt zu werden, eine Erscheinung, welche
er auf die große Konkurrenz infolge der Verallgemeinerung der
Bildung zurückführt. So sonderbar das klingt, so ist man gegenüber der An¬
nahme des Universitätsstudiums in Deutschland während der letzten fünfzig Jahre
in der That geneigt, zu glauben, daß eine Überproduktion mit den erwähnten
Folgen auch bei uns im Anzüge sei. Daß die gewerblichen und kommerziellen
Berufsarten überfüllt sind, ist keine neue Klage — daß die liberalen Profes¬
sionen ebenfalls davon bedroht seien, nahm man bisher nicht allgemein an,
und doch scheint gleichwohl Anlaß genug zu solcher Befürchtung vorhanden.
Von Professor Conrad in Halle, einem als Nationalökonomen und Statistiker
gleich angesehenen Universitätsgelehrten, ist diese Gefahr neuerdings zum Gegen¬
stande eingehendster Untersuchungen*) gemacht worden, deren Hauptergebnisse
wegen des allgemeinen Interesses, das sich an sie knüpft, wohl verdienen, in
weiteren Kreisen bekannt zu werden.
Auf sämtlichen deutscheu Universitäten hat im Laufe von hundert Semestern,
von 1833/34 bis 1883. die Zahl der Studenten von 13097 bis auf 25084
zugenommen, oder, um Mittelzahlen zu geben, von 11784 im Durchschnitte der
zehn Semester 1833/34 bis 1838 auf 22003 im Durchschnitte der zehn Se¬
mester 1878/79 bis 1883. Besonders seit 1860 hat die Steigerung der Fre¬
quenz begonnen, und nach 1870 einen solchen Geschwindschritt angeschlagen, daß
in 22 Jahren, von 1860 bis 1883, sich die Zahl verdoppelte. In jedem Se¬
mester vermehrten sich die Studenten um einige hundert Köpfe, und namentlich
seit 1877/78 ging die Zunahme so stark vor sich, daß sie den Eindruck hervor¬
ruft, „als ob in jedem Semester eine Universität wie Straßburg neu begründet
worden wäre." Eine ähnliche Hochflut wurde vor mehr als fünfzig Jahren
beobachtet — im Wintersemester 1830/31. Während unmittelbar nach den Frei¬
heitskriege» der Besuch der Universitäten änßerst schwach gewesen war, drängten
sich in den zwanziger Jahren so viele Lernbegierige heran, daß ihre Zahl bis
zum genannten Semester auf 15751 stieg, freilich um sich schon in den nächsten
Jahren wieder merklich zu verringern. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung
waren im Wintersemester 1830/31 ebensoviele Studenten wie im Wintersemester
1882/83 immatrikulirt — 52,5 auf 100000 Einwohner. Faßt man aber die
Durchschnittszahlen ins Auge, so gab es in den letzten zehn Semestern durch¬
schnittlich 49 Studenten unter 100000 Einwohnern gegenüber 38 vor fünfzig
Jahren.^)
Diese Zunahme ist natürlich nicht in allen Fakultäten gleichmäßig gewesen.
Im Gegenteil nimmt man wahr, daß im Laufe der Zeit die einzelnen Wissens¬
zweige an der Gesamtzahl aller Studirenden sich sehr verschieden beteiligt zeigen.
Während vor fünfzig Jahren unter 100 Studenten 27 Juristen, 21 Mediziner,
23 evangelische und 9 katholische Theologen und 20 sogenannte Philosophen
waren, setzt sich gegenwärtig die glas, rrmtsr aus 24 Prozent Juristen, 21 Pro¬
zent Medizinern, 12 Prozent evangelischen, 3 Prozent katholischen Theologen
und 40 Prozent Philosophen zusammen. Demnach hat sich die Zahl der Theo¬
logen und Juristen verringert, die Zahl der Mediziner ist gleich geblieben und
die der Philosophen gestiegen. Übrigens ist dieses Ergebnis nicht die Folge
eines regelmäßigen Steigens oder Fallens, sondern es treten in den einzelnen
Fakultäten beträchtliche Schwankungen auf. Die Juristen betrugen zuweilen
schon 34 Prozent aller Studirenden, und die Zahl der Theologen zeigt bald
Zunahme, bald Abnahme.
Eine Fakultät hat an der geistigen Überproduktion keinen Teil — die theo¬
logische. Die Zahl der evangelischen Theologen hat sich von 2674 auf 2569,
die der katholischen von 1031 auf 696 gemindert, ja es gab sogar Perioden,
wo die Zahl der ersteren wenig über 1600 im Semester hinausging, so 1850
bis 1853/54 und 1874/76 bis 1878. Während vor fünfzig Jahren auf 100000
Einwohner 9 evangelische und 3 katholische Theologen kamen, sind es jetzt deren
nur 6 und 1^/z, und diese Zahlen würden noch niedriger ausfallen, wenn nicht
in den letzten Semestern ein bemerkenswerter Aufschwung eingetreten wäre.
Nachdem nämlich im Wintersemester 1876/77 die Zahl der evangelischen Theo¬
logen auf 1539 gesunken war, sodaß statt der 16 Theologie Studirenden auf
100000 protestantische Einwohner am Anfang der dreißiger Jahre nur 7 am
Ende der siebziger Jahre kamen, vollzog sich eine erfreuliche Wendung. „Es
ist, wie Professor Conrad sich ausdrückt, als ob die Jugend plötzlich erschrocken
wäre über den exorbitanten Rückschritt und mit einemmale versucht hätte, den
Ausfall auszugleichen." Vorübergehend war durch diese Erscheinung ein Mangel
an Geistlichen, wenn auch nicht in allen Teilen Deutschlands, hervorgerufen.
Gegenwärtig ist indes der Bedarf gedeckt, die frühere Sorge um den Nachwuchs
ist gegenstandslos geworden, ja es ist sogar ans diesem Gebiete in nächster Zeit
eher eine Überfüllung zu vermuten.
Die zeitweilige Verminderung der Theologen beruhte auf verschiednen Ur¬
sachen. Die große Rolle, welche in früheren Jahrhunderten die theologische
Fakultät an den Universitäten spielte, spielt sie heute nicht mehr. Galt es früher
als eine besondre Ehre, dieser Fakultät anzugehören — ließen sich doch Philo¬
sophen und Philologen bei ihr einschreiben —, so hat sich diese Tradition mit
der Zeit verloren. Weiter schreckte der unzulängliche Gehalt an den meisten
Pfarren, „von denen eine große Zahl wahre Hungerlöhne gewährte," viele ab,
sowie auch uach der Auffassung der deutsch-evangelischen Kirchenkonferenz in
Eisenach vom Jahre 1874 „die Unzulänglichkeit der vorhandnen Unterstützungs¬
mittel für die Gymnasialvvrbildung und die Subsistenz der Theologie Studi¬
renden auf den Universitäten" von Einfluß war. In der That weist Conrad
wenigstens für Halle nach, daß Söhne.von Handwerkern und Bauern relativ
seltener als früher sich dem Studium der Theologie widmen. Neben diesen
äußern Gründe» haben der allgemein weniger rege kirchliche Sinn der gebil¬
deten sowohl als der innern Klassen, der sich schon auf den Schulen breit¬
machende skeptische Zeitgeist, in Preußen auch die intolerante Haltung der obersten
Kirchcnbehörde, welche die Geistlichen für jede Abweichung vom Dogma mit
rigoroser Strenge zur Verantwortung zog, zu der Verminderung beigetragen.
Daß dann in den letzten Jahren sich wieder ein lebhafter Andrang zum theo¬
logischen Studium gezeigt hat, erklärt sich aus dem „konservativen Zuge, der
unzweifelhaft über unser Vaterland hingeht, aus der Reaktion gegen die Un-
kirchlichkeit der letzten Dezennien, in der man die Hauptquelle der sozialdemo¬
kratischen, roh materialistischen Rcvolutionsbewegung unsrer Zeit in den untern
Klassen sieht."
In der Juristenfatnltüt hat die Zahl der Studenten sich von 3235 auf
5245 gehoben, d. h. während früher auf 100 000 Einwohner 10,4 Studirende
kamen, werden gegenwärtig 11,6 gerechnet. Von der gesamten Universität machten
die Juristen vor fünfzig Jahren 27 Prozent, jetzt 24 Prozent aus. Gerade
in diesem Wissenszweige sind sehr erhebliche Schwankungen zu registriren. Wenn
anch die Maximalziffer von 5426 Juristen im Sommersemestcr 1883 noch nie
vorher erreicht war, so kommt, abgesehen vom letzten Jahrzehnt, wo die Fre¬
quenz eben im Steigen begriffen ist, schon in den dreißiger Jahren ein ähn¬
licher Andrang vor. Im Wintersemester 1830/31 studirten 4581 Juristen, d. h.
etwa 15 auf 10V 000 Einwohner, ein Verhältnis, hinter welchem die Gegen¬
wart glücklicherweise zurückbleibt. Das heutige Verhältnis ist dasselbe, wie es
sich im Durchschnitt der Semester 1846/47 bis 1856 zeigt. Dann sank die
Zahl der Juristen bis ans 4000—4100, d. h. 7,4 ans 100000 Einwohner,
hatte im Kriegsjahre 1870/71 einen sehr niedrigen Stand mit 2536, und ging
dann schnell bis zu der namhaft gemachten Höhe empor.
Exakte Untersuchungen über die Zahl der Studenten, welche ihre Examina
absolviren und es bis zu einer ihren juristischen Kenntnissen entsprechenden
Stellung bringen, sowie über den Bedarf des Staates an juristisch gebildeten
Persönlichkeiten lassen sich für das deutsche Reich nicht anstellen. Für Preußen
gelangt Professor Conrad dazu, eine „kaum dagewesene Überfülle" anzunehmen,
denn seit 1876/80 stehen einem jährlichen Angebote von etwa 300 erledigten Plätzen
354 Aspiranten, seit 1880 mehr als 500 gegenüber. Diesem Übelstande könnte
natürlich eine Verschärfung der Prüfungsbedingungeu am zweckmäßigsten abhelfen.
Es müßte das Qnadriennium eingeführt und auf diese Weise z. B. dem Stu¬
dium der Nationalökonomie und Statistik ein breiterer Raum gegönnt werden,
als es bisher wenigstens in Preußen der Fall war.
Die Zahl der Mediziner stieg in fünfzig Jahren von 2508 ans 4563, d. h.
von 8 Studenten unter 100000 Einwohnern uns 10, eine Zunahme, die wohl
als eine mäßige bezeichnet werden darf. Die Nachfrage nach ärztlicher Für-
sorge ist jetzt eine größere als vor Jahrzehnten. Dazu kommt, daß der Ruf
unsrer Gelehrten gerade unter den Medizinern eine wachsende Zahl von Aus¬
ländern anlockt, die nach Absolvirung ihrer Studien in Deutschland in die
Heimat zurückkehren. Gegenwärtig stammen 7 Prozent aller Mediziner aus
dem Auslande. Während der letzte» Semester hat übrigens auch die medizi¬
nische Fakultät einen lebhaftem Zuspruch erfahren. Im Sommersemester 1882
studirten 5280, dann 5539, im Sommersemcster 1883 sogar 6172 Mediziner,
d. h. 11—11,5 ans 100 000 Einwohner. Die Bedarfsfrage stellt sich infolge
dessen so, daß während in den letzten zehn Jahren auf die 13144 Ärzte im
deutschen Reiche (im Jahre 1879) durchschnittlich 3360 Studenten der Me¬
dizin kamen, d. h. aus 100 Ärzte 25 Studirende (nach Abzug der Aus¬
länder), in der Zeit von 1881/82 diese Zahl auf 35 gestiegen ist. Da es indes
fraglich ist, inwieweit die vorhandene Zahl von Ärzten dem Bedürfnis ent¬
spricht, so brauchen Besorgnisse wegen Überfüllung bis jetzt kaum gehegt zu
werden.
Die stärkste Zunahme der studirenden Jugend weist die philosophische Fa¬
kultät auf, denn die Zahl ihrer Mitglieder stieg von 2336 auf 8930, oder von
8 Studenten unter 100000 Einwohnern auf 20. Sie umfaßt gegenwärtig
40 Prozent aller Studirenden, während sie vor fünfzig Jahren nur 20 Prozent
derselben einschloß. Wie man weiß, birgt diese Fakultät sehr heterogene Wissens¬
zweige, deren Zunahme keine gleichmäßige war. Der Stand des Jahres 1841
— weiter zurückzugehen gestatten die Quellen nicht — zeigt 68,2 Pro¬
zent Philosophen, Philologen, Historiker, Naturwissenschafter und Mathematiker,
10,5 Prozent Kamemlistcn und Landwirte, 6,3 Prozent Forstwirte, 10 Prozent
Pharmazeuten und 5 Prozent Technologen. Im Jahre 1881 dagegen ist die
erste Gruppe mit 84,4 Prozent vertreten; auf die Kameralisten und Landwirte
fallen 5,9, auf die Forstwirte 1,9, auf die Pharmazeuten 7,4, auf die Techno¬
logen 0,14 Prozent. Die gewaltige Steigerung der Frequenz der philosophischen
Fakultät ist also auf. die Hauptfächer derselben zurückzuführen. Bei weiterer
Trennung dieser in die beiden Gruppen der Philosophen, Philologen und Historiker
einerseits, sowie der Naturwissenschafter, Mathematiker und Geographen andrer¬
seits fällt der Löwenanteil der Zunahme auf die letztere. Setzt man die durch¬
schnittliche Zahl der Studirenden in den Semestern 1836 bis 1845 gleich 100,
so wuchs bis 1881/1882 die Zahl der Philologen und Historiker auf 275, die
der Naturwissenschafter und Mathematiker auf 1007, die der Studenten in den
übrigen Fächern auf 151, die aller Mitglieder der philosophischen Fakultät auf
305. Die enorme Bedeutung, welche die Naturwissenschaften in der modernen
Kulturentwicklung gewonnen haben, erhellt hieraus,zur Genüge. Namentlich
solche, die sich einst dem Lehrfache widmen wollen, sind in diese Fakultät ein¬
getreten, und eben deswegen beklagt man gerade bei diesem in neuerer Zeit
eine gewisse Überfüllung.
Hinter der zunehmenden Frequenz der Universitäten ist der Besuch der
technischen Hochschulen in seinem Wachstum nicht zurückgeblieben. Von 3588
in der Periode 1868/72 ist die Zahl der Studirenden an sämtlichen deutschen
Hochschulen auf 5062 in der Periode 1877/78 bis 1881/82 gestiegen. Die
Grttndcrperiode insbesondre trug zur Steigerung bei, denn in der Periode
1872/73 bis 1876/77 gab eS durchschnittlich 6039 Studirende. Dagegen
betrug der Durchschnitt der Semester 1881/82 nur 4226. Eine Vergleichung
der Frequenz beider Institute, der Universitäten und der technischen Hochschulen,
lehrt, daß die der erstern stärker zugenommen hat. Setzt man die Frequenz
der Semester 1868/69 gleich 100, so stieg dieselbe bis 1881/82 bei den Uni¬
versitäten ans 169, bei den technischen Hochschulen auf 126. Allerdings wies
der Durchschnitt der Jahre 1876/77 bei den letztem bereits eine Steigerung
auf 196 nach, während bei den Universitäten ein Rückschlag zu Tage trat.
Es versteht sich von selbst, daß neben den Lernenden die Zahl der
Lehrenden an den Universitäten sich ebenfalls erheblich vergrößern mußte. So
ist denn auch die Zahl derselben, die im Jahre 1835 sich auf 1186 bezifferte,
bis zum Jahre 1880 auf 1809 gewachsen, d. h. während in der ersten Periode
auf einen Dozenten noch nicht ganz 10 Studenten kamen, hatte in der letzten
ein Dozent 12 Zuhörer im Durchschnitt. Conrad hält diese Zunahme für eine
der Studenteufreqncnz entsprechende, indes scheint, sofern es überhaupt möglich
ist. aus dieser Durchschnittsziffer Schlüsse zu ziehen, much eine andre Auffassung
gestattet. Hütte man die Möglichkeit, die Lehr- oder Lernmasse zu überblicken,
d. h. die Zahl der Vorlesungen, Übungen ?e., die gehalten werden, worauf der
Verfasser wegen den entgegenstehenden Schwicngkciten nicht hat eingehen können,
so würde sich vielleicht ein Mißverhältnis zwischen der Zahl der Dozenten und
ihren Leistungen herausstelle». Auf die Übungen, Seminarien, Kollegien u. tgi. in.
pflegt der moderne Universitätsunterricht mit Recht großes Gewicht zu legen,
und bei diesen muß ein größerer Zudrang notwendigerweise die Wirksamkeit des
Unterrichts beeinträchtigen. Dazu kommt, daß der Durchschnitt von 12 Studenten
auf einen Dozenten die bei den einzelnen Fakultäten oder Wissenschaften vor¬
handenen Differenzen nicht andeuten kann.
So kam in der philosophischen Fakultät im Jahre 1835 ein Dozent auf
4.53, im Jahre 1880 auf 8,72 Zuhörer, in der juristischen Fakultät auf 18,73,
dann auf 26.25 Zuhörer. Oder nennen wir, was eigentlich richtiger ist, nur
die Zahl der ordentlichen Professoren, da die außerordentlichen und die Privat-
dozenten in der Regel zu festen Leistungen nicht verpflichtet sind, so kommt in
der philosophischen Fccknltät im Jahre 1835 ein ordentlicher Professor ans 8.67.
im Jahre 1880 auf 17 Studenten, in der juristischen Fakultät früher auf 33,38,
jetzt auf 36,60, in der medizinischen Fakultät früher auf 18,04, jetzt auf 19,25,
in der theologischen (evangelischen) endlich im Jahre 1835 auf 37,38, im Jahre
1880 auf 20,43 Studenten. Der relativ günstige Durchschnitt entspringt somit
aus dem Überschuß von Professoren in der theologischen und dein Mangel der¬
selben in andern Fakultäten. Scheint in der medizinischen Fakultät die Er¬
richtung neuer Lehrstühle mit der Entwicklung der Wissenschaften und der Zu¬
nahme der Studenten Schritt gehalten zu haben, kommt es ferner bei den
juristischen Vorlesungen im allgemeinen, da Übungen in dieser Fakultät zu den
seltenern Vorkommnissen gehören, auf eine Erhöhung der Durchschnittszahl der
Studenten nicht an, so lassen die Zahlen der philosophischen Fakultät doch auf
ein Mißverhältnis schließen. Bei ihr ist augenscheinlich die Fürsorge für
Beschaffung neuer Katheder, dem Entwicklungsstande der betreffenden Wissen¬
schaften gemäß, weniger lebhaft gewesen. In der That zeigen gerade die zu
ihr gerechneten Wissensgebiete trotz der nicht zu leugnenden Entwicklung manche
Lücken. Die Zahl der Professoren für Kunstgeschichte, romanische Philologie,
Geographie, Nationalökonomie und Statistik in. könnte größer sein. Vielleicht
erklärt es sich aus diesen Verhältnissen, daß die Zahl der Privatdozenten relativ
gleich geblieben ist. Sie betrug im Jahre 1835 24,79, im Jahre 1840 26,9,
im Jahre 1865 24,57. im Jahre 1875 26,9, im Jahre 1880 25,37 Prozent
aller Universitätslehrer.
Es fragt sich nun, inwieweit die nachgewiesene Zunahme des Universitäts¬
studiums als erfreuliches Zeichen eines erweiterten Bildungsstrebens anzusehen
sei. Conrad führt den Aufschwung zum kleinsten Teile auf den Idealismus der
Jugend zurück; vielmehr sieht er ihn begründet in der bevorzugten sozialen
Stellung der Studirten bei uns, der zu Liebe mancher auf pekuniäre Vorteile
verzichtet; in der Verallgemeinerung der klassischen Bildung und Verbreitung
der höheren Bildungsnnstalten; endlich in der wirtschaftlichen Depression, die in
letzter Zeit den Landwirt, den Kaufmann, den Handwerker u. s. w. darauf be¬
dacht sein ließ, seine Söhne dem eignen ungewissen Erwerbszweige zu entziehen
und dem Studium zuzuführen. Demgemäß erwartet er eine Abhilfe namentlich
von einer Reorganisation des Schulwesens, welche die Zahl der Gymnasien und
gelehrten Schulen reduziren, die der lateinlosen Real- und Mittelschulen ver¬
mehren soll; von einer Erhöhung des Schulgeldes in den Gymnasien, um den
Strom von diesen abzuleiten und mit den Einnahmen die Kosten derselben decken
zu können, damit die gegenwärtig denselben gewährten hohen Unterstützungen
für andre Schulen frei werden; endlich von einer Änderung der Bedingungen
der Vorbildung, wie sie für die Berechtigung zum einjährigen Dienst und für
die Staatsämter aufgestellt sind. Da für viele Zweige erst das Reifezeugnis
der höhern Schule den Zugang eröffnet, da man ferner mit dem Maturitäts¬
zeugnis einer Bürgerschule oder dem Primanerzeugnis einer Realschule dasselbe
erreicht wie durch den Bestich der Sekunda eines Gymnasiums oder Realgym¬
nasiums, so ziehen es die Eltern jetzt vor, ihre Kinder den höchsten Schulen
zu übergeben, um ihnen alle Wege für die Zukunft offen zu halten.
Ohne Zweifel treten uns in diesen Ansichten höchst beachtenswerte Vor¬
schläge entgegen, die viel für sich haben und in ernste Diskussion gezogen werden
sollten. Gleichwohl scheint die Begründung der Zunahme des Universitäts¬
studiums nicht durchgängig einleuchtend, und namentlich der Einfluß der wirt¬
schaftlichen Depression fraglich. Conrad sagt freilich selbst von dieser, daß sie
nicht so durchgreifend wirke wie die andern, und legt ihr somit kein großes Ge¬
wicht bei, wir sind aber geneigt, eine Wirkung derselben ganz zu leugnen. Wenn
dieselbe am Ende der siebziger Jahre vorhanden gewesen ist und sich vielleicht
bis in den Anfang dieses Jahrzehnts hinein erstreckt hat, seit 1881/82 kann
man von ihr nicht mehr reden, gerade die letzten vier bis fünf Semester weisen die
kolossale Steigerung in der Zahl der Studenten auf. Sollte nicht aus dieser
Zunahme vielmehr gefolgert werden dürfen, daß dem größern Teile der Be¬
völkerung die Mittel zum Unterhalt der Söhne auf den Universitäten in reich¬
lichem Maße zur Verfügung stehen, von einer Notlage der Eltern also kaum
gesprochen werden kann? Die auf den Universitäten vorhandenen Stipendien
sind ja nicht so zahlreich, daß sie die jungen Leute geradezu anlocken. Es ist
sehr zu bedauern, daß nicht auch der Beruf der Väter unsrer studirenden Jugend
hat ermittelt werden können. Sollten die Hallischen Erfahrungen, daß in neuerer
Zeit der Zuzug aus den untern Klassen gestiegen sei, für die andern Universi¬
täten gleichfalls zutreffen, so spräche das mehr für unsre Auffassung als gegen
dieselbe. Die untern Älassen beginnen ein Interesse für höhere Bildung erst
dann zu bekunden, wenn sie ein gewisses wirtschaftliches Niveau erreicht haben
und nicht mehr in hartem Kampfe die Mittel für das Alltäglichste erwerben
müssen. Sind sie in der Lage, bei leidlichem Auskommen die Unterhaltungs¬
kosten für die Söhne auf den Universitäten mit bestreikn zu können, und unter¬
ziehen sie sich dem gern, so ist das gewiß ein Symptom idealistischer Gesinnung,
das man nicht geringschätzen darf.
Wenn wir so die Idee bekämpfen, als ob ungünstige Aussichten in Bezug
auf unsre Wirtschaftsverhältnisse die jungen Männer dem Studium in die Arme
trieben, so erscheint es uns auch fraglich, ob mit aller Macht auf eine Ver¬
minderung des Zudranges zu den Universitäten hingearbeitet werden müsse.
Deutschlands Export von Gelehrten ist seit Jahrzehnten vorhanden — sollte
es nicht möglich sein, denselben noch mehr zu steigern? Wir erleben es täglich,
daß überseeische Länder sich Professoren, Beamte und Lehrer aus dem deutschen
Reiche holen, weil unser Sprachen- und Lehrtalent ein größeres zu sein scheint
als das andrer Nationen. Und wenn nun der Deutsche an dem zwar nicht
gewinnreichen, aber immerhin sein Auskommen und seine Lvrberen bietenden
Berufe, der Schulmeister für jedermann zu sein, Genüge findet, warum ihn
daran hindern? Auch nationalökonomisch wirkt ein Absatz von Lehrkräften an
das Ausland vorteilhaft. Fremde werden infolge dessen stets zahlreicher zu
längerm oder kürzeren Besuche ins deutsche Reiche strömen, der Export von Lehr-
Mitteln, die wir so gut fabriziren, wird sich verstärken — kurz, mau wird diese
„Arbeitsteilung in geistiger Hinsicht" kaum zu beklagen haben.
Bei alledem bleiben natürlich Conrads Verbesserungsvorschlage zu Recht
bestehen. Eine gewisse Beschränkung der Stndentenzahl, deren Anwachsen dnrch
die Richtung des unteren Schulwesens begünstigt wurde, dürfte immerhin am
Platze sein. Die Perspektive, die wir eröffnet habe», kann natürlich nicht nach
allen Seiten Abhilfe schaffen. So möchte auch die schon oft verlangte, vom
Verfasser wieder aufs neue betonte gesetzliche Nvrmiruug einer verlängerten
Studienzeit sehr zweckmäßig sein, denn sie würde die Leistungen der Uni¬
versitäten zu vollkommeneren gestalten. In dieser Richtung wäre die Nicht-
anrcchnung des Militärdienstjahres zum Trieunium gleichfalls eine der will¬
kommensten Maßregeln.
le seit Jahren immer von neuem laut gewordene Klage über die
Fruchtlosigkeit der parlamentarischen Debatten erhält neue Be¬
kräftigung durch den Verlauf der Verhandlungen der gegenwärtigen
Session des preußischen Landtages. Am 20. November v. I.
wurde dieselbe eröffnet, und bis heute hat das Abgeordnetenhaus
fünfzig Sitzungen abgehalten. Fragen wir »ach dem positiven Ergebnis dieses
halben Hunderts von Arbeitstagen, so erhalten wir ein überaus geringes Maß
an wirklich fruchtbarer Thätigkeit.
Die Redner der Opposition kommen selten über eine kleinliche Nörgelei
gegenüber den Vorlagen und Maßnahmen der Regierung hinaus und berechnen
ihre oratorischen Leistungen vorwiegend für ihren Anhang außerhalb der parla¬
mentarischen Körperschaften; es sind zumeist Wahlreden, die wir im Abgeordneten-
Hause zu hören bekommen, und derartige Reden zeichnen sich bekanntlich mehr
durch ihre Länge als durch ihren sachlichen Inhalt aus. Der Reigen dieser
agitatorischen Thätigkeit der Opposition wurde eröffnet durch deu von Fort¬
schrittlern und Sezcssionisten unterstützten Antrag des Frankfurter Demokraten
Stern, betreffend die Einführung der geheimen Abstimmung bei den Wahlen
zum Abgeordnetenhause und zu den Kommnnalvertretungen. Das war ein
Antrag so recht geeignet, nur zu dem „Volke" zu reden und ihm zu zeigen,
welche „freihcitsfeiudliche" Regierung über Preußen gebiete. Da waren nicht
nur die Fortschrittler mit ihrem Freunde, dem „guten" Republikaner Stern, im
richtigen Fahrwasser, sondern noch mehr die Mitglieder der „verschämten"
Fortschrittspartei, die sich die „freie Vereinigung" nennt. Mit welcher Lust
setzte sich der Reichsfinanzminister in sxs Herr Rickert in Fechterstellung gegen
Herrn von Puttkamer, den Vizepräsidenten des Staatsministeriums, welcher
mis Antwort auf die Deklamationen des Herrn Stern die Erklärung abgegeben
hatte, „daß es Sache der ernsten Erwägung der Staatsregierung sein werde,
ob sie nicht darauf Bedacht werde nehmen müssen, daß Initiativanträge in Er¬
wägung gezogen werden, welche auf die Abschaffung der geheimen Abstimmung
für den Reichstag abzielen." Diese Erklärung brachte, wie könnte es ander?
sein, die profcssionsmäßigen Verteidiger der „Volksfreiheit," der „Beamten¬
freiheit" und wie die verschiednen Abarten der Freiheit heißen, in den Harnisch.
Daß „Excellenz" Windthorst inmitten dieser Phalanx kämpfte, ist selbstverständlich,
aber wie immer ließ er sich auch hier einen Ausweg offen: „Ich schließe mich
den hier gegen Herrn von Puttkamer gerichteten Äußerungen nicht an," er¬
klärte er bei Beginn seiner Rede, deren Schluß natürlich den Fuchsschwanz
zeigte: „Für uns ist die Vertretung im Parlament die einzige Garantie, und
wenn wir diese Garantie den Katholiken nicht durch geheime Wahlen unan¬
getastet lassen, so verletzen wir eines unsrer vitalsten Interessen, und darum
werden wir für den Antrag Stern stimmen." Der Antrag fiel in namentlicher
Abstimmung mit 202 gegen 163 Stimmen. Für denselben stimmten geschlossen
die Fortschrittspartei, die liberale Vereinigung, die Polen und das Zentrum,
gegen denselben die Nationalliberalen und die Konservativen und Frcikonser-
vativen, mit Ausnahme der Abgeordneten Cremer und Stöcker, die dafür
stimmten.
Wie immer, wenn ein Minister seine Position in entschlossener und schneidiger
Weise verteidigt, die Herren von der linken Seite im Gespräch und durch die
Presse das Gerücht in Umlauf zu setzen wissen, Fürst Bismarck sei mit dem
Verhalten des betreffenden Ministers unzufrieden — so wurde auch diesmal
mit großer Genugthuung als sicher angenommen, daß Herr von Puttkamer
aus Varziu eine abfällige Zensur erhalten habe. Die Konservativen hielten es
daher für geraten, sich in feierlicher Weise gegen eine Aufhebung der geheimen
Abstimmung zu verwahren. Aber der Reichskanzler war mit Nichten unzu¬
frieden über das Auftreten seines Stellvertreters im preußische,? Staatsministerium,
er hat denselben vielmehr über seine Rede beglückwünscht; Herr von Puttkamer
hatte bei Abgabe jener Erklärung sich vornehmlich an die ihm aus Friedrichsruhe
erteilte Instruktion gehalten, welche dahin ging, die geheime Abstimmung nach¬
drücklichst zu bekämpfen, sich aber zu Gunsten des allgemeinen Stimmrechts bei
Landtags- und Gemeindewahlen uuter Beibehaltung der Öffentlichkeit zu erkläre».
Die Hauptaufgabe, welche dem Landtage in dieser Session obliegt, die Er¬
ledigung der Steuerrcformvorlagen, war bis zum Beginn der Weihnachtsferien
(19. Dezember) kaum in Erwägung gezogen worden; der Finanzminister von
Scholz konnte dieselben erst am 18. Dezember in das Haus einbringen. Es
sind zwei tiefeinschneidende Gesetzentwürfe, deren einer die Reform der Ein¬
kommensteuer, der andre die Einführung einer Kapitalrentensteuer betrifft. Die
Einkonnnensteuervorlage will die gesetzlichen Bestimmungen über die Klassensteuer
und die klassifizirte Einkommensteuer unter grundsätzlicher Heranziehung der
Aktien- und Kommanditgesellschaften auf Aktien ersetzen durch eine einfachere und
gleichartigere Besteuerung der Einkommen von über 1200 Mark. Der Steuersatz
soll mit einem Prozent beginnen und aufsteigend in einer allmählichen Stufenfolge
erst bei dem Einkommen von 10 000 Mark den bisherigen Satz von drei Prozent
erreichen. Das Gesetz ist, wie auch der Finanzminister in seiner Einführnngs-
rcde betonte, im wesentlichen dem bisherigen Einkommensteuergesetz nachgebildet;
es führt aber bei verbesserter Veranlagung eine summarische Deklarationspflicht
bezüglich des Nentcnbcsitzes und dadurch eine gerechtere und gleichmäßigere Be¬
steuerung ein. Bei einem Einkommen von nicht über 1800 Mark soll eine Er¬
mäßigung bis zum vollen Erlaß, bei einem Einkommen von nicht über 9000 Mark
bis zum halben Erlaß eintreten dürfen, ferner soll generell bei Notständen die Re¬
gierung ermächtigt werden, die Steuer zu erlassen, und zwar besonders da, wo eine
erzwungene Eintreibung den Nahrungsstand des Steuerpflichtigen zu gefährden
geeignet sei, die Steuerschuld niederzuschlagen. Die dritte und vierte Klassen¬
steuerstufe, ein Einkommen bis zu 1200 Mark umfassend, sollen steuerfrei werdem
in der dem Gesetzentwurfe beigefügten eingehenden Begründung finden sich die
ausführlichen Nachweise für die Notwendigkeit der Befreiung dieser zwei Steuer¬
klassen.
Die Kapitalrentcnsteuervorlage will das bisher von der Besteuerung frei¬
gebliebene Kapitalvermögen treffen, und zwar mit einer progressiven Steuer von
einhalb bis zwei Prozent der Rente. Der Ertrag der Kapitalrente von 000 Mark
bleibt frei, ebenso falls das Gesamteinkommen einschließlich der Kapitalrente
2000 Mark nicht übersteigt. Auch die Kapitalrente von Witwen, Waisen und
Gebrechlichen bis zu 4000 Mark soll der Steuer nicht unterworfen sein. Von
600 bis zu 10 000 Mark Kapitalrente erhöht sich die Steuer stufenweise von
einhalb bis zu zwei Prozent.
Die Erträge beider Gesetze sind dazu bestimmt, die bei der Veränderung
der bisherigen Steuererhebung sich ergebenden Ausfälle zu decken. Die Regierung
berechnet den durch die Einführung des vorgelegten Einkommensteuergesetzes sich
ergebenden Ausfall auf ungefähr 6 267 000 Mark, der gedeckt wird dnrch den
Ertrag aus der Kapitalrentensteuer, welcher sich auf ungefähr 6380 000 Mark
beläuft. Der Finanzminister verwahrte die Regierung bei Einbringung dieser
Gesetze gegen die von den Liberalen verbreitete Annahme, daß die Vorlagen
den Rückzug von der bisher verfolgten Finanzpolitik bedeuteten. Die Gesetze seien
notwendig geworden dadurch, daß die Neichssteucrrcform ins Stocken geraten
sei und die Mindereinnahmen ans den Steuern Deckung erfordern.
Am 15. Januar begann die erste Lesung der beiden Gesetzentwürfe.
22 Redner hatten sich gegen und nur neun für dieselbe einschreiben lassen. An
der Spitze der Gegner stand, wie immer in Finanzsachen, Eugen Richter, der
„blutige Eugen" wie ihn seine Bewunderer in demokratischen Bczirksvereinen
jetzt nennen. Dieser fortschrittliche Zahlenherkules zeigte sich auch diesmal wieder
in seiner ganzen Größe. Wie mußte dem Leser der fortschrittlichen und sezessio-
nistischen Blätter das Herz höher schlagen, wenn er die Rede des „grimmen
Hagen," las, in welcher an der Regierung und ihren Vorlagen auch nicht ein
gutes Haar gelassen wurde. Denn die Gesetze bezwecken ja nach Herrn Richters
Auslassungen nichts andres, als den „armen Mann" noch mehr zu belasten
und ihm dabei das „Wahlrecht" zu eskamotiren. In den Motiven der Regierung
zu den Gesetzentwürfen wird zwar ausdrücklich hervorgehoben, daß „eine
Alterirung des Wahlrechts" vermieden werden solle, aber was kümmert das
Herrn Richter! Nach ihm sind die Motive geschrieben, um die Wahrheit zu
verbergen; kann er doch nun seinen beliebten Ausruf wiederholen: „So macht
man heute Gesetze!" Die ganze dreitägige Debatte bewegte sich mehr in per¬
sönlichen Ausfällen und schroffer Betonung der Parteitendenzen, als in sachlicher
Prüfung der Vorlagen, sodaß selbst der Abgeordnete Windthorst sein Bedauern
darüber auszusprechen für nötig erachtete, daß sich die Diskussion so ver¬
schiedentlich auf das persönliche Gebiet ausgedehnt habe. Die Frage der Steuer¬
reform lasse sich doch recht eigentlich sachlich und ohne Verquickung mit
Persönlichkeiten und Parteirücksichten behandeln. Was an sachlichen Einwen¬
dungen und Vorschlägen namentlich von konservativer Seite behufs einer Ver¬
besserung der Vorlagen zu Tage kam, beschränkte sich darauf, Bestimmungen in
die Gesetze aufzunehmen, welche einmal Sicherheit gewähren gegen mißbräuchliche
Verwendung der Steuereinkünfte, andrerseits der Volksvertretung das Recht
geben, je meh Ermessen den Steuersatz zu erhöhen oder zu ermäßigen. Gegen
diese Forderungen machte der Finanzminister geltend, daß das Verwcndnngs-
gesetz von 1880 gegeben worden sei, um alles Mißtrauen der preußischen Mit¬
glieder des Reichstages, das aus der Zweiteilung in Reich und Staat hervorging,
zu beseitigen. „Soll denn nun, fuhr er fort, die Regierung anfangen, in ihren
Vorlagen der eignen Volksvertretung Verwendungsgcsetze gegen sich in die Hand
zu geben? Auf einen solchen Zustand werden wir niemals eingehen." Mit
Bezug auf die Quotisizirung bemerkte Herr von Scholz: „Durch ein solches Ver¬
fahren würde die Einheit unsers staatswirtschaftlichen Organismus zerrissen und
eine Verzettelung der Einkünfte herbeigeführt werden, wie sie vor 1828 in
Preußen existirte, als noch bei jeder Einnahme zugleich die Ausgabe spezialisirt
wurde. Jetzt würden wir mit diesem System in ein paar Jahren dahin kommen,
daß kein Kalkulator mehr aus der Geschichte sich herausfinden würde. Erwarten
Sie doch von solchen Mitteln, die aus übertriebener Neigung zum Mißtrauen
gegen die Regierung herrühren, keine praktische Wirkung auf das Budget. Wir
brauchen nach meilier Überzeugung keine Verwendnngsgesctze; leider sind wir
aber durch Ihre Überzeugung gezwungen worden, diesen unnatürlichen, künstlichen
Weg einzuschlagen. Wenn Sie statt des Mißtrauens gegen die eigne Regierung
Vertrauen hätten, so würden wir weiter kommen und uns über die Verwendung
sehr bald einigen." Die Regierung stelle es ja, bemerkte Herr von Scholz weiter,
dem Landtage frei, in das Gesetz alle die Kautelen einzufügen, welche den ein¬
zelnen Censiten vor zu starker Anziehung der Steuerschraube schütze». In diesem
Bestreben werde er sich stets als Bundesgenosse zeigen. Die Regierung wolle
nichts weniger als dem Volke neue Lasten auferlegen und ihm neuen Grund
zur Unzufriedenheit geben, sondern es liege in ihrer Absicht, die Steuerlast
für jeden erträglich zu machen. Der schlimmste Druck der Steuerschraube würde
aber durch die Quotifizirung herbeigeführt werden. Es würde dann einfach
jedes Jahr die Steuerschraube so weit herumgedreht werden, bis die Balancirnng
erreicht sei.
Beide Vorlagen wurden am 17. Januar an eine Kommission von 28 Mit¬
gliedern überwiesen. Wie verlautet, ist wenig Aussicht auf das Zustandekommen
dieser Gesetze in der gegenwärtigen Session vorhanden, deun die Mehrheit der
Kommissiousmitglieder ist nicht geneigt, die beiden untersten Stufen der Klassen¬
steuer bis 1200 Mark Einkommen zu beseitigen; das ist aber der Kern der
ganzen Vorlage. Die „Provinzialkorrcspondcnz" hat bereits darauf hingewiesen,
daß, wenn die Kommission durch Verwerfung des Paragraphen 4 des Einkvmmen-
stcucrgesctzcutwurfs darthue, daß sie von der Förderung des Wohls der ärmern
Klassen absehe, nach der Anschauung der Staatsregierung die in den Gesetz¬
entwürfen zum Ausdruck gebrachten Reformvorschläge die Grundlage einbüßen,
auf welche sie gebaut sind.
Die Beratung des Staatshaushalts, der Voranschläge für das Bedürfnis
der einzelnen Ministerien nahm, wie seit Jahren, auch in dieser Session einen
mehr als schleppenden Gang. Bei einer solchen Beratung erscheinen auch die
sonst Schweigsamen ans dem Plan, um ihren Wählern zu beweisen, daß sie mich
vor dem „hohen Hause" den Mund aufzuthun verstehen und nicht bloß in den
heimatlichen Volksvcrsauuuluugen das große Wort zu führen wissen. Da werden
Anträge gestellt und Amendements eingebracht, deren Urheber selbst davon über¬
zeugt sind, daß sich eine Mehrheit dafür nicht finden wird, aber darum ist es
ihnen auch nicht zu thun, sie trachten nur darnach, ihr Licht leuchten zu lassen,
Beschwerden vorzutragen, die selten vor das Haus gehören, und sind stolz
darauf, dein Minister die „Wahrheit" zu sagen. Von den gegenwärtigen Mi¬
nistern sind es namentlich die Herren von Puttkamer und von Scholz, denen
die Mitglieder der liberalen Opposition gern die „Wahrheit" sagen; denn beide,
der Minister des Innern wie der Finanzminister, vertreten ihre Ressorts mit
einer Schneidigkeit, welche die Herren Abgeordneten der Linken an einem Ver¬
treter der Regierung sehr pcrhorresziren. Am glattesten ging die Beratung
des Etats des Arbeitsministeriums von statten, Herrn Mahbach ward die Eiscn-
bahnvcrstaatlichungsvvrlage ohne erhebliche Einrede bewilligt. Der Minister
der Landwirtschaft und der Fürsten, Dr. Lucius, hatte wegen der JagdordnungS-
vvrlage ein scharfes Redegefecht zu bestehen. Deu schwersten Stand hatte jedoch
Herr von Goßler, der Minister des Unterrichts, des Kultus und der Medizinal¬
angelegenheiten, Er hatte Tage lang den schweren Geschossen des Zentrums
Stand zu hüllen. Zuerst kam der Abgeordnete Reichensperger mit seinem An¬
trage auf Wiederherstellung der aufgehobenen kirchenpolitischen Verfassnngs-
Paragraphen. Dieser Antrag sollte bereits vor Weihnachten eingebracht werden
und sollte nach den Auslassungen der klerikalen Presse als eine Kundgebung des
Unmuts über die „diplvmatisirende Ära" gelten. Da kam aber die Ankündigung
Won dem bevorstehenden Besuche des Kronprinzen beim Papste, und zu gleicher
Zeit erfolgte die Begnadigung des Bischofs von Limburg. Man gab sich nun
i» den klerikalen Kreisen der Hoffnung hin, daß die Entrevue zwischen Leo XIII.
»ud dem Thronerben des deutsche» Reiches zu einer Verständigung zwischen dem
Vatikan und der Negierung führen könnte, und nahm infolge dessen eine ab¬
wartende Stellung ein. Der Antrag Reichensperger wurde vertagt. Die Ent¬
täuschung der Herren Windthorst, Reichensperger, Schorlemer-Alse und Genossen
war groß, als sie von dem wahren Verlauf der Unterredung zwischen dem
Papste und dem Kronprinzen Kunde erhielten. Sie hatten schon ans ein
»Konkordat" spekulirt, und nun hieß es: „Nichts von Verträgen, nichts von
Übergabe!" Der Antrag Reichensperger (Olpe) betreffend die Wiederherstellung
der Artikel 15, 16 und 18 der Verfassung wurde am 18. Januar, dem Jahres¬
tage der Kaiserproklamation, zur Beratung gestellt. Die Konservativen hatten
einen Gegenantrag, Übergang zur Tagesordnung, unter Motivirung desselben
eingebracht. Fünfzehn Redner hatten sich gegen Reichenspergers Antrag, und
sieben, alles Mitglieder des Zentrums, für denselben gemeldet. Die zweitägige
Debatte förderte durchaus keine neuen Gesichtspunkte zu Tage, es war ein
vollkommen nutzloses Hin- und Herschießen derselben Gründe und Gegengründe,
die wir seit Beginn des Kulturkampfes zum Überdruß gehört haben. Herr von
Goßler vertrat den Standpunkt der Regierung mit ebenso großer Entschieden¬
heit wie Mäßigung. Die ablehnende Haltung der Staatsregierung beruhe nicht
sehr in dem Wortlaut der Bcrfassungsartikel, als in der Anwendung und
Auslegung, die die katholische Kirche zur Zeit der Geltung der drei Artikel
denselben gab, und in der Auslegung und Anwendung, welche die Antragsteller
diesen Artikeln geben wollen. Den wichtigsten Teil der Rede des Kultusministers
bildete die Erklärung desselben, daß an die von dem Zentrum so eifrig be¬
triebene Begnadigung und Zurückberufung der beiden Erzbischöfe, Melchers von
Köln und Ledochvwsky von Posen und Gnesen, nicht zu denken sei. „Die
königliche Staatsregierung ist sich klar darüber geworden — sagte Herr von
Goßler —, daß die Rückkehr dieser Bischöfe nicht im Interesse des Staates liegen
würde, und nicht dazu dienen würde, dem Frieden, den wir nicht von einem Jahre
zum andern haben wallen, sondern von dem wir uns eine längere Dauer versprechen,
förderlich zu sein. Der päpstliche Stuhl ist absolut frei, weil weder bei der Ablehnung
ein Nachteil, noch bei der Zusage ein Vorteil versprochen worden ist. Der preu¬
ßische Staat hat seine Stellung eingenommen, und von den gegenwärtigen Minister»
wird keiner, wenn an ihn die Frage herantreten sollte, eine Begnadiguugsordre
der beiden Bischöfe unterschreiben." Ein Begnadigungsgesuch des Erzbischofs
Melchers vom Jahre 1882 ist bereits abgewiesen worden. Der Minister er¬
klärte weiter, daß Verhandlungen in der Absicht, ein Konkordat oder ein formal
giltiges Übereinkommen zustande zu bringen, von der Staatsregierung niemals
würden geführt werden. Die Negierung habe durch Wiedererrichtung der Ge¬
sandtschaft beim Papste den Beweis geliefert, daß sie gern in Fühlung mit dein
Oberhaupte der katholischen Kirche bleiben wolle, aber sie habe niemals Kon¬
zessionen verlangt, im Gegenteil stets erklärt, entschlossen zu sein, auf dem
Gebiete der Verwaltung der katholischen Kirche alles das zu gewähren, was
ohne Schädigung staatlicher Interessen gegeben werden könne. Diese entschiedene
Sprache hat die Klerikalen aus allen ihren Illusionen gerissen; sie glaubten
sich so nahe am Ziele und frohlockten schon im Geiste, von der Regierung
rühmen zu können: is-näMlitsr Sö subjöoit, und nun mußten sie vernehmen,
daß die beiden stolzesten Vertreter der kämpfenden Kirche, denen nach klerikaler
Anschauung in erster Linie das Verdienst gebührt, den Kulturkampf auf die
Spitze getrieben und die Gemüter bis zum Fanatismus erregt zu habe», von
dem Frieden ausgeschlossen werden. Die klaren Worte des Herrn von Goßler,
an denen kein Disteln und Deuteln etwas abzuschwächen vermag, haben auf
die Herren Windthorst und Genossen mächtig gewirkt, sie waren ganz „dc-
evntenaneirt," und die „Germania" ließ sich voller Bestürzung vernehmen, daß
die „Ära Falk" wieder in die Erscheinung trete. Die Erklärung des Herrn
Windthorst, daß er und seine Freunde bereit seien, eher alles zu dulden, als
auch nur ein Jota von den Forderungen bezüglich der kirchlichen Freiheiten
abzulassen, hat vollkommen des beabsichtigten Eindrucks verfehlt; das Zentrum
wird sich wohl oder übel darein finden müssen, daß über die von der Negierung
gezogenen Linien hinaus eine Verständigung nicht zu haben ist, und daß es
seine Positiv» untergräbt, wenn es ernstlich daran denken sollte, die „demo¬
kratische Fahne" aufzupflanzen, wie ein klerikales Blatt gedroht hat. Die Be¬
hauptung, welche der Abgeordnete für Meppen wieder aufgestellt hat, daß
Kirche und Staat gleichmäßig souverän seien, wird vom Staate niemals an¬
erkannt werden. Solange der Papst souveräner Herr des Kirchenstaates war,
konnte man in ihm einen Souverän anerkennen, mit dem Verschwinden des
clomwium töinxoiÄö hat aber auch die Souveränctüt des Nachfolgers Petri
aufgehört; die Kirche als solche ist niemals von den staatlichen Gewalten als
souveräne Macht betrachtet worden.
Der Verlauf der Debatte über den Reichenspergerschen Antrag konnte den
Kultusminister keinen Augenblick darüber in Zweifel lassen, daß das Zentrum
die Gelegenheit der Beratung des Kultusetats wahrnehmen werde, um ihm von
neuem hart zu Leibe zu gehen. Herr von Goßler ist aber ein so redegewandter
und schlagfertiger Minister, daß ihm die Angriffe der Herren aus der Mitte
wenig anhaben konnten. Nichtsdestoweniger erlitt er eine „Niederlage," welche
bei rigoroser Parlamentsrcgierung seinen Rücktritt zur Folge gehabt haben
würde; sie wurde ihm aber nicht von den Klerikalen, sondern von deren Bundes¬
genossen, den Konservativen, beigebracht, welche wieder einmal die Sonntags-
hciligung zum Gegenstande langwieriger Erörterungen machten und für einen
Antrag des Abgeordneten von Zedlitz, die Beseitigung der Unterrichtsstunden
in den Fortbildungsschulen während des Hauptgottesdienstes betreffend, stimmten,
obwohl der Minister sich im Prinzip mit den von den Befürwortern des An¬
trages vertretenen Anschauungen einverstanden erklärt und nur gegen die Un¬
zweckmäßigst des Antrages seine Bedenke» geäußert hatte, die darin gipfelten,
daß man die jungen Leute, welche jetzt Sonntags vormittags die Fortbildungs¬
schule besuchten, nach Beseitigung dieser Schulstunden nicht zum Besuch der
Kirche nötigen könne, daß sie vielmehr die ihnen so aufgezwungene freie Zeit
zu Zerstreuungen benutzen würden, welche für Geist und Leib gleich nachteilig
wären. Natürlich war das Ergebnis der Abstimmung über den Zedlitzschcn
Antrag für die liberale Opposition ein großes Gaudium; konnte sie doch ans die
Zerfahrenheit innerhalb der konservativen Parteien hinweisen, die es möglich
machte, einem konservativen, in jeder Beziehung verdienstvollen Minister in
einer so untergeordneten Frage eine Schlappe beizubringen.
Einen besondern Angriffspunkt bot dem Zentrum in dem Kultusetat die
Forderung von zwei Millionen Mark für Kunstzwecke. Da agirte Herr Windthorst
wieder einmal in der Rolle des Volksfreundes, des Verfechters der Ansprüche
des „armen Mannes"; er könne es nicht über sein Gewissen bringen, für
Knnstzwecke eine solche Summe zu bewilligen, solange es noch Leute im Staate
gebe, die Hunger litten.
Die Forderung wurde unter dem Beifall der Liberalen bewilligt, denen jn
bekanntlich „in der Förderung von Kunst und Wissenschaft kein Opfer zu groß"
ist. Wer auch auf diesem Gebiete den von ihnen sonst so nachdrücklich ge¬
predigten Grundsätzen der reiflicher Erwägung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit
der Steuerkraft des Volkes huldigt und auch hier daran erinnert: IZst moan8
in rsbus, sunt osrti äMi^us dass — der wird als ein „Dunkelmann" und Erz¬
reaktionär verschrieen. Aber es giebt Leute genug, die in Bezug auf „Auf¬
klärung" und als „Lichtfreunde" den Herren von der Linken so nahe als möglich
stehen und doch die Ansicht vertreten, daß auch auf dem Gebiete von „Kunst
und Wissenschaft" ein Zuviel gethan werden könne und wir in Berlin nicht
mehr weit von diesem Punkte entfernt seien. Die „Kunstsimpclei" grassirt
in der Berliner Gesellschaft in erschrecklichem Maße, und die „Wiedergeburts-
tümelei," das Renaissancefieber hat schon manchen und manche um ihr bischen
Verstand gebracht. Wenn man die verschwenderische Ausstattung betrachtet,
mit der jetzt Staats- und Gemcindebanten bedacht werden, so sollte man glauben,
daß wir „heldenmäßig viel Geld" hätten, was doch, wie nicht nur der Finanz¬
minister weiß, keineswegs der Fall ist. Der fortwährende Hinweis auf Paris
und London hat etwas Krankhaftes; den Vorsprung der Jahrhunderte, den die
beiden Hauptstädte vor Berlin voraus haben, kann die kaiserliche Residenzstadt
niemals einholen, und es liegt auch nicht der geringste Grund vor, sie dazu
anzuspornen. Berlin soll sich als deutsche Hauptstadt entwickeln und braucht
weder der Metropole an der Themse noch dem Seincbabel, dem Victor Hugosche»
„Hirn der Welt," nachzueifern. Diese Anfeuerung zum Wettstreit mit London
und Paris geht, das verdient nachdrücklichst hervorgehoben zu werden, auch nnr
in geringem Grade von den eingebornen Berlinern und den in der Hauptstadt
ansässigen Deutschen, sondern vorwiegend von den Mitgliedern der goldnen
Internationale und der ihr dienstbaren Presse aus.
Der Landtag ist noch weit davon entfernt,, sein Pensum aufgearbeitet zu
haben, und schon ertönen die Klagen wegen Überanstrengung; schon werden
Abendsitznngen abgehalten; die Kommissionen führen Beschwerde darüber, daß
ihnen zu wenig freie Zeit für ihre Arbeiten gelassen werde. Fünfzig Sitzungen
sind vorwiegend mit Redenhalten draufgcgangen, jetzt kommt die Beratung der
wichtigsten Vorlagen, der Steucrreformgesetze — wo das Land berechtigt ist,
an den Ernst, die Gewissenhaftigkeit und frische Arbeitskraft der Volksvertretung
die höchsten Anforderungen zu stellen —, und aus dem Abgeordnetenhause dringt
Stöhnen und Klagen zu uns über Arbcitsüberbürdung und Abspannung! An
wem liegt die Schuld dieser alljährlich wiederkehrenden Erscheinung? Die
Opposition ist natürlich mit der Antwort rasch bei der Hand: An der Regierung!
Woran wäre eine konservative Regierung in den Angen der Liberalen nicht schuld!
Alle Leute von unbefangenem Blick, deren gesundes Urteil noch nicht in dem
Parteitreuen untergegangen ist, stimmen jedoch darin überein, daß die Haupt¬
schuld an dem schleppenden Gange unsrer Parlamentsverhandlungen in der un¬
stillbaren Redelnst der Abgeordneten liegt, die es nicht Unterlasten können, einen
kleinen Kern von Thatsächlichen mit einem ungeheuer« Wortschwall zu umgeben.
Parlament kommt allerdings her von pg,rlg,rs, aber es ist doch ein großer Unter¬
schied, ob jemand sein Urteil über eine Vorlage kurz sachlich begründet, oder ob
er, so oft er sich zum Worte meldet, eine mehrstündige Rede hält. Die Führer
unsrer parlamentarischen Parteien halten das letztere für ihre unabänderliche
Pflicht und ihr unveräußerliches Recht. Kommt aber über dem ewigen Nede-
hnlten nichts zustande, müssen die geplagten Volksvertreter bis in den Juni
hinein tagen und Tag für Tag ihre fünfzehn Mark Diäten einstreichen — dann
wird in den Volksversammlungen der Regierung alle Schuld i» die Schuhe
geschoben, und kein Engel ist dann so rein, als die Mitglieder der Partei des
Herrn Abgeordneten, der gerade zu dem „Volke" spricht.
Am 4. März soll der Reichstag zusammentreten; wen» beide Körperschaften,
die Vertretung des Reichs und die Preußens, wie es unter den jetzigen Ver¬
hältnisse» unausbleiblich ist, zusammen tagen, dann ist nur der Rentier, der
den ganzen Tag über nichts zu thun hat, aber auch uicht einmal die Koupou-
scheere in die Hand zu nehmen braucht, noch in der glücklichen Lage, die Par¬
lamentsverhandlungen von Anfang bis zu Ende verfolgen zu können.
crmione rang die Hände. Sie hatte sich die Angen sehr rot
geweint. Im Spiegel der Scheibe gewahrte sich und fand sich
unleidlich entstellt.
Bin ich schon im Verblühen, Mann? sagte sie.
Störe mich nicht.
Das wenigstens mußt du mir erst sagen, rief Hermione wieder.
Meinetwegen, ja!
Du hast mich nie lieb gehabt.
Setze dich, sieh dir die beiden Photographien einmal ohne prHuAe ein, triff
deine Wahl und laß mich während der Zeit unsre beiden Absagebriefe entwerfen.
Wer ist der andre, Mama?
Sieh selbst nach.
Ich will nicht.
Welch ein gehorsames Kind! Wer uns hörte! So schlagen die Kinder
von Witwen aus der Art! O mein guter Mvckritz! Warum konnte ich nicht
statt deiner sterben!
Mama, sagte Hermione, so etwas kann ich, weißt du, nicht anhören.
Frau von Mockritz vergoß einige Thränen oder hielt wenigstens ihr Taschen¬
tuch vor die Augen, und die Tochter trat hinter den Stuhl der Mutter, um
un't einem Kusse Abbitte zu thun und nebenbei einen Blick auf die Photo¬
graphien zu werfen.
Abscheulich! rief sie, Burgstadt! Aber Burgstadt hat ja knapp fünf Fuß!
Du denkst doch nicht, ich werde einen Zwerg zum Manne nehmen?
Er ist der beste Reiter seiner Schwadron.
Mag er! Fünf Fuß!
Fünf Fuß vier Zoll. Zu Pferde fehlt ihm nichts.
Aber man sitzt doch nicht immer im Sattel, Wie kann man sich zu Fuß
neben einem Zwerge sehen lassen! Vurgstadt müßte auf den Schemel steigen,
um mir etwas ins Ohr zu sagen. Und nun dagegen der Amerikaner! Sie
blickte in die Höhe und setzte mit unbewußter Komik hinzu: Berthold reichte mit
seinem Kopfwirbel bis an die Prismen unsers Kronleuchters!
So geh ins Kloster. Ich muß schreiben.
Wie unglücklich ich bin! Und Hermione trat wieder ans Fenster, nicht
ohne im Spiegel desselben ihre in Unordnung gekommene Frisur mit einer
Wichtigkeit zu schlichten, als solle sie sich ihre beiden neuen Freier im nächsten
Augenblicke vorstellen lassen.
Auf jeden Fall muß ich aus Bertholds eignem Munde hören, was er
gegen mich hat, rief sie dann wieder, er hat mich mißverstanden, ich werde mich
rechtfertigen.
Auch in Betreff des Prinzen? warf Frau von Mockritz mit einem Achsel¬
zucken hin, ohne ihr Schreiben zu unterbrechen; es war ihr nicht entgangen,
daß Hermione für diese delikate Seite kein Ohr hatte.
Ich werde schon etwas ersinnen. Er ist die Offenheit selbst. Auch ich
werde ganz offen gegen ihn sein. Laß mich nur machen. Ich habe mir nichts
vorzuwerfen, oder zum wenigsten — Sie nahm die Photographien in die Hand.
Denn ich bitte dich, Mama, fuhr sie fort, was soll ich mit jenen beiden? Der
eine will nur mit mir Staat machen, und der andre ist eifersüchtig, wie dn
mir selbst früher sagtest — bei fünf Fuß vier Zoll noch eifersüchtig zu sein! —,
ich begreife nicht, Mama, daß du nach so langer Kurzen mir keine bessern An¬
trage bringen konntest!
Es muß wohl seine Gründe haben, liebes Kind. Frau von Mockritz er¬
hob sich. Hier, setze dich, sagte sie; du brauchst das Brouillon nur ins Reine
zu schreiben.
Also ehe wir auch nur sicher sind, daß nicht alles ein leeres Dienstboten¬
gerede war?
Ist es das gewesen, so hat dein Bräutigam morgen natürlich nichts Eili¬
geres zu thun, als hierher zu eilen, um dich fußfällig um Zurücknahme deines
Entschlusses zu bitten. Der Brief ist so abgefaßt, daß nicht alle Brücken ab¬
gebrochen werden.
So gieb mir das Brouillon, sagte Hermione, ich weiß mir ja nicht zu
raten, Mama. Bedenke doch meine Lage!
Sie versuchte zu schreiben, aber es ging nicht. Ihre Thränen tropften aus
jedes neue Blatt, das sie zu beschreiben begann. Er war so gut gegen mich!
rief sie dazwischen.
Werde nur erst wieder ruhig, sagte die Mutter; bedenke das Wort: ab¬
gewiesen! Man würde ihm irgend einen unsrer militärischen Vettern auf den
Hals schicken müssen.
Nein, nein, nein, kein Duell, Mama, um Himmelswillen kein Duell!
Freilich, sagte Frau von Mockritz, dergleichen kommt in die Zeitungen, und
dann kannst du nur getrost in die Wüste fliehen.
Das ist es nicht! schluchzte Hermione, du vergißt, daß ich Berthold liebe.
Aber zum Schreiben brachte Frau von Mockritz sie dennoch nicht. Der
ganze Abend ging unter Wechselreden dieser Art hin. Spät noch wurde die
kundschaftcrnde Sabine zur Ermittlung der weiter in Villa Anna vorbereiteten
Schritte auf ein Stündchen beurlaubt. Sie kam indessen ohne Nachrichten heim.
Nur daß es zwischen Vater, Mutter und Sohn in der Villa Anna sogut wie
keinen Verkehr mehr gebe, und daß der Sohn an einem Briefe schreibe — das
hatte sie herausgebracht.
Frau von Mockritz überlegte, ob sie nun im eignen Namen schreiben solle,
sie kam aber davon zurück; daß die Absage von Hermione selbst ausging, war
doch das wesentliche.
Es folgte eine von Mutter und Tochter schlaflos verbrachte Nacht. Als
Hermione im Morgengrauen etwas eingeschlummert war, kam der Mutter eine
Erleuchtung. Sie warf ihr Neglige über und begab sich auf die Bodenkammer,
wo George, der Hundejnngc, schlief. Sie rüttelte ihn wach, drückte ihm ein
Stück Geld in die Hand und sagte: Nicht wahr, George, du kannst nicht dafür
einstehen, daß Pluto — der überlebende Leonberger — nicht toll ist?
Der Bursche glotzte seine Herrin groß an.
Sie gab ihm ein zweites Stück Geld. Du hörtest ihn gestern heiserer als
gewöhnlich bellen, und er schnappte nach dir. Nicht wahr, so sagtest du?
Er rieb sich die Augen und gähnte.
Steh auf, sagte sie, nimm die gelcidne Büchse, die hinter dem Rauchfang
des Treibhauses steht, ziele gut und mache keinen weitern Lärm. An einem
Unglücklichen haben wir mehr als genug. Wo wirst du Pluto finden?
Er ist ja um diese Zeit schon wieder bei der Hundehütte.
Umso besser. Wenn du ihn so triffst, daß er auf der Stelle tot ist, so
kannst du dir hier dies noch holen.
George begriff, daß ihm im Schlafe das Glück gekommen war. Er tummelte
sich diensteifrigst, den ihm gewordnen Auftrag zu vollziehen, und Frau von
Mockritz begab sich wieder auf ihr Zimmer.
Bald darauf fiel der Schuß, und Hermione erwachte. Es war der nämliche
Schuß, den Vater Hartig im Morgenschlummer vernommen und mit dem
amerikanischen Duell in Zusammenhang gebracht hatte.
Es ist nichts, beruhigte die Mutter ihre erschrockene Tochter; Pluto hatte
gestern Symptome von Tollwut gezeigt, ich habe ihn erschießen lassen.
Also doch Tollwut! rief Hermione; und Berthold, den er gebissen hat!
Sie pflegt sich ganz nach und nach zu entwickeln, sagte Frau von Mockritz;
die Ärzte wollen Fälle beobachtet haben, wo sechs, acht, zehn Wochen ins Land
gingen, ehe der Gebissene für seine Umgebung gefährlich ward.
Und du meinst?
Ich habe von vornherein sein verändertes Benehmen gegen dich für ein
nicht unbedenkliches Symptom angesehen, versetzte Fran von Mockritz, Daß es
dir die Möglichkeit bot, dich in Ehren zurückzuziehen, ehe sich das Schlimmste
ereignet, darin sah ich eine Fürsorge des Himmels, für die wir, sagte ich mir,
nicht dankbar genug sein konnten. Aber andrerseits hat mich dein gestriges
Eintreten für ihn beschämt, so sehr beschämt, daß ich an jene schreckliche Mög¬
lichkeit nicht einmal zu erinnern wagte. Denn du liebst Berthold in Wirklichkeit,
und die Liebe muß schließlich alles überwinden. Vielleicht hat meine Sorge um
deine Zukunft mich gestern schon engherziger gemacht, als eine Christin sein darf.
Warten wir also in Ruhe ab, was seine nächsten Schritte gegen dich sein werden.
Hermione gab lange Zeit keine Antwort. Zuletzt, als sie aufgestanden war
und nach Lore rufen wollte, sagte sie: Ich kann mich noch garnicht fassen, Mama;
hast du das Brouillon noch bei der Hand? Die Sache ist ja entsetzlich! Der
Arme! Aber du weißt, Mama, wenn ich von Wasserscheu nur reden höre, da
perlt mir schon der Angstschweiß auf der Stirn. O der arme Berthold! Was
bleibt mir da übrig, als zurückzutreten! Denn angenommen sogar, wir wären
falsch berichtet, daß er selbst diesen Schritt vorhabe, angenommen auch, es habe
vor der Hand mit den Folgen des Bisses noch keine Gefahr, kann ich bei
meiner Furcht vor Tollwut und dergleichen je in seine Nähe kommen, ohne
ihn durch meine Hasenherzigkeit an die Gefahr, die ihn bedroht, zu erinnern!
Und das ist ja, was er vor allem meiden muß! Mama, ich sehe ein, du hast
Recht gehabt. Ich will den Brief schreiben.
Auf diese Weise kamen die beiden Absagebriefe zustande, welche Frau von
Mockritz für den Besuch ihres lieben Nachbars aus der merkwürdigen Villa in
Bereitschaft halten wollte, und welche sie dann auch, wie schon berichtet, mit Glück
und Geschick in seine Hände legte.
Was Frau von Mockritz sonst aufs Tapet gebracht hatte, wurde einst¬
weilen als nicht gesprochen betrachtet. Hermione, dnrch die Stürme, die sie
zu bestehen gehabt hatte, tiefer aufgeregt, als sie selbst ihrer leichtblütigen Natur
zugetraut hatte, bedürfte eiuer Luftveränderung, für welche durch eine ihrer
gutsituirten Schwestern unter Anleitung der Mama Rat geschafft wurde. Die
Photographien des kleinen Husaren und des Grafen mit der Perrücke wanderten
in die Schublade, welche bereits öfter sich ähnliche Einquartierung hatte ge¬
fallen lassen müssen, und für die nächsten zwölf Monate waren die Läden und
die Sonnenbrecher der Villa jenseits der Moorwiesen geschlossen.
Ein finnisches Volkslied klagt:
Solches Pferd wird nicht gefunden,
Welches zöge meine Sorgen!
Die Sorgen, gegen welche das alte Ehepaar in der merkwürdigen Villa in den
nächsten Wochen und Monden anzukämpfen hatte, würden — um in dem Bilde
des finnischen Sängers zu bleiben — über die Zugkraft eines ganzen Rudels
Pferde hinausgegangen sein.
Wo war doch das Behagen geblieben, das Kaspar Benedikts gutes altes
Gesicht mit freundlichem Schimmer so manchmal übergössen hatte? Der Orden
war es ja nicht gewesen, was ihm, auch inmitten der Mu ins eg.nMrs-Prä-
tentionen der Mustervilla, das Leben doch immer noch freundlich und lieblich
hatte erscheinen lassen. Auch die lebendige Spieluhr nicht, so gern er ihr zu¬
gehört hatte. Aber wenn er zwischen den Pflanzen seines Gartens spaziert war
und ihre botanischen Namen sich wie das Vaterunser absagen konnte, oder wenn
er, durch seine schön und stilvoll ausgestatteten Räume schlendernd, sich hier
der Dinge erinnerte, die er über das Treiben, Schweifen, Hämmern, Ziseliren
der Flächen gelesen hatte, dort der Übergänge, die von einer Stilart in die
andre führt; wenn er sich Rechenschaft zu geben vermochte, warum an dieser
Stelle ein durch Bouletechnik geschmücktes Schränkchen stand, ja notwendig stehen
mußte, während an jener andern Stelle einzig und allein Schnitzereien im Ge¬
schmack des Sansovino dem Auge wohlthaten; wenn er dann wieder, in dem
grünledernen Polsterstuhl seiner Bibliothek sitzend, der Zeiten gedachte, wo er
sich vor Büchern schier gefürchtet hatte, während er jetzt durch treffliche Über¬
setzungen wie durch ein Guckloch bis in die Häuslichkeit, ja bis in die geistigen
Werkstätten der alten Griechen, Römer, Ägypter zu blicken imstande war —
da hatte Kaspar Benedikts Züge Wohl ein behagliches Etwas umflossen, das sich
dann freundlich in dem Gedanken an seinen fernen Berthold zu ruhiger Be¬
friedigung verdichtete und die so lange beengend gewesene Fessel der merkwür¬
digen Villa kaum noch fühlbar sein ließ.
Das war jetzt alles anders geworden. In der Villa Mockritz hatte man
den bösartigen Hund, von welchem Berthold zerfleischt worden war, als toll
erschießen müssen, und als Kaspar Benedikt bestürzt persönliche Nachfrage bei
Frau von Mockritz gehalten hatte, war die treffliche Frau nicht imstande ge¬
wesen, dem besorgten Vater zu verschweigen, daß seines Sohnes unerklärliche
Sinneswandlung ihr die tiefste Teilnahme einflöße.
Frau Anna schwamm in Thränen. Mit Berthold über die jetzt allseitig
laut werdenden Besorgnisse zu reden, war unmöglich. Die bloße Einbildung
hatte ja schon oft einen gesunden Organismus krank gemacht. Ärzte wurden
im geheimen konsultirt. Dieselben sprachen sich zumeist dahin aus, daß die
gleich anfangs ins Werk gesetzten Vorsichtsmaßregeln alle Befürchtungen zu
entkräften geeignet seien, daß man den Vorfall möglichst in Vergessenheit zu
begraben habe.
Aber wer kann in der Lage des Damokles das über seinem Haupte
hängende Schwert und die leichte Zerreißbarkeit eines Pferdehaars vergessen?
Endlich — der Winter hatte schon begonnen brach der Fabrikant das
lange vorsichtig beobachtete Schweigen. Einstweilen allerdings nur gegenüber
seiner Frau.
Liebe Anna, sagte er, heute sind zwölf Wochen verstrichen, seit wir unter
dem Druck jener schrecklichen Besorgnis leben. Wir sind bemüht gewesen, uns
heiter und sorglos zu stellen. Aber ich fürchte, unser armer Berthold hat uns
doch angemerkt, daß noch andres auf uns lastete als die Verstimmung über
seine Entlobung. Fräulein von Mockritz ist jetzt Fron Professorin von Falcken-
berg, hat sich zur Sternkunde bekehrt und schreibt ihrer Mama, sie lebe wie im
Himmel; wie wäre es, wenn wir dies frohe Ereignis vorschöben, um unsre Er¬
lösung von jener andern qualvollen Sorge dahinter zu verbergen? Die letztere
dürfen wir nachgerade als eine bloße Chimäre bekämpfen. Wie haben aus
Vorsicht sie gegen unsern Berthold verschwiegen, ja kaum uns untereinander
darüber ein Wort gestattet. Laß uns jetzt dem Himmel danken, daß alles vor¬
über ist, und wundre dich nicht, wenn ich heute bei Tisch dich und Berthold zum
fröhlichen Anstoßen auf die Neuvermählten auffordere. Unser Amerikaner hätte
dem guten Mädchen durch sein ungestümes Sturmlaufen und alles, was drum
und dran hing, leicht den ganzen Lebensweg gründlich verschütten können. Es
ist glücklicherweise anders gekommen. Mag er sich darüber mit uns freuen, und
ziehen wir gemeinsam einen breiten Strich über jene ganze, nunmehr ab¬
geschlossene Lebensphase.
Wie der Fabrikant sichs im stillen ausgeklügelt hatte, so wurde die Sache
denn auch in Szene gesetzt. Zwar war kurz vor Tisch der gichtische Major
von Stobbe mit einer Menge Papieren und architektonischen Aufrissen dem Fa¬
brikanten aufs Zimmer gerückt — es handelte sich um ein von dem Major seit
Jahr und Tag eingeleitetes Projekt zur Gründung eines Asyls für kränkliche
Lehrerinnen —, und er mußte mit zur Tafel gezogen werden; aber wenn der
allenthalben bekannte Major etwa in der Nachbarschaft erzählte, mit welchen
unverbitterten Worten in der Villa Anna auf ein glückliches Eheleben der vor¬
maligen Braut des Adoptivsohns angestoßen worden war, so konnte das den
Beteiligten nur zur Ehre gereichen.
Der gute Wein des Fabrikanten war einst der soeben als Frau Professorin
durch Segenswünsche Gefeierten zu Kopfe gestiegen, damals, als sie nach der
kleinen Verlobungsfete ihren Bräutigam im Oktogon über seine bisherigen Er¬
oberungen examinirt hatte, heute machte er dem gichtischen Major die Wohl-
rednerische Zunge nur noch wohlrednerischer, und bei dem Dessert erhob der
Major denn sein Glas, um zum Entsetzen des alten Ehepaares von allerlei
vulkanischen und Plutonischen Dingen Plötzlich auf den Leonberger Pluto über¬
zuspringen, dann aber von Wasserscheu auf den Weinkultus zu sprechen zu
kommen, indem er zu guterletzt denjenigen leben ließ, der durch die Fügung
gnädiger Götter vor jenem Übel bewahrt worden sei, und dagegen hoffentlich
im Kreise heiterer Menschen noch oft dem Gotte der Reben Opfer und Liba-
tionen darbringen werde.
Damit waren die Siegel geschmolzen, unter denen das verfängliche Thema
solange in der merkwürdigen Villa sekretirt gelegen hatte. Und min kam na¬
türlich auch endlich die Retterin Bertholds wieder aufs Tapet.
Es war dies ein kaum minder heikles Thema als die Sache selbst, denn
der Fabrikant hatte über dem Zerwürfnis zwischen Berthold und Hermione an¬
fangs die beabsichtigt gewesene Anfrage, ob Loren ein Geldgeschenk oder ein
Kleid als Dankesbezeigung lieber sei, zu thun versäumt, und als die Tollwut¬
befürchtungen dann die Leistung Lorens auf einmal in eine viel bedeutendere
Beleuchtung rückten, kam er mit der nun für das arme Mädchen eingesiegclten,
sehr belangreichen Dotation zu spät — Lore war entlassen worden, und ihr
jetziger Aufenthalt ließ sich nicht ermitteln. In dem Maße, wie damals die Sorge
um Bertholds Befinden wuchs, hatte der Fabrikant im Eingeständnis mit Frau
Anna die Summe verdoppelt — vorausgesetzt, daß das gefürchtete Ereignis
nicht eintrete —, darauf verdreifacht und endlich vervierfacht, es war dem alten
Paare, als erkauften sie von dem Himmel Ablaß, aber sie hätten, wenn sie
allen Ernstes der Meinung gewesen wären, mit der Vorsehung einen solchen
Handel machen zu dürfen, die ganze Villa Anna daran gegeben und wohl auch
alles, was sie sonst besaßen.
Dies und andres kam zu Tage, nun der Retterin Bertholds doch einmal
Vonseiten des Majors laut und anerkennend gedacht war, und es wurde von letz-
term dann auch der Vorschlag gemacht, man solle sie öffentlich auffordern, sich
in der Villa Anna oder, wenn man Aussehen vermeiden wolle, an einem dritten
Orte zu melden, damit ein ihr zugedachtes, nicht unbedeutendes Geschenk ihr
ausgezahlt werden könne.
Hiergegen erhob aber Berthold, der sich ziemlich schweigend verhalten hatte,
Einspruch. Man fand das nicht auffallend, da die Vorgänge in der Villa
Mockritz leicht von neuem dadurch in den Mund der Leute kommen konnten,
und die Möglichkeit ja auch nicht abgeschnitten war, Lorens Aufenthalt bei all¬
seitigen Bemühungen auf minder öffentliche Weise zu ermitteln.
Forschen wir denn im stillen weiter, sagte der Fabrikant, einstweilen werde
ich ihr den kleinen Notpfennig, als habe sie ihn mir anvertraut, mit fünf, nein,
mit sechs Prozent jährlich verzinsen, Zins auf Zins. Verstanden? Zins auf Zins.
Eine ansehnliche Reihe abnehmender und zunehmender, trüber und sonniger,
gleichgiltig einförmiger und munter anregender Tage war seit dem eben beschrie¬
benen Mittagsmahl über dem schönen bläulichen Schieferdache und dem Fasanen¬
wäldchen wie über dem tadellos gepflegten Garten der merkwürdigen Villa
dahingezogen, und immer noch pflegten Spaziergänger vor der epheudurchwach-
senen Umgitterung stillzustehen und sich an dem anmutigen Besitztum zu erlaben.
Fast ein Jahr lang hatten die Besitzer desselben Zeit gehabt, sich von den aus¬
gestandenen Ängsten zu erholen. Frau Anna war ein gut Teil korpulenter ge¬
worden und durfte nur noch Mohren-, nicht mehr wirklichen Kaffee trinken,
hatte auch eine Brille zugelegt, um ferner wie ehemals im Tageblatt die Ge-
burth-, Heirath- und Todesanzeigen selbst lesen zu können. Kaspar Benedikt
hatte sich, nach Art alternder Leute, den Spazierstock abgewöhnt, um uicht für
hinfällig angesehen zu werden, und sein Barbier mußte ihm alle Morgen aus
den langen Haaren seines Hinterkopfs eine Locke zusammenzwirnen, welche über
der Stirne die Stelle eines Toupets. vertrat und in ihrer Silberweiße garnicht
übel aussah. (Fortsetzung folgt.)
Diesem Thema verleihen
die Fortschritte des Mcihdi und die Preisgebung des ägyptischen Sudan gegen¬
wärtig ein ungewöhnliches Interesse, und so wird es den Lesern willkommen sei»,
wenn wir ihnen auszugsweise die neuesten Nachrichten darüber mitteilen. Die¬
selben finden sich in der soeben erschienenen Schrift Professor Dotters: Über die
Capverden nach dem Rio Grande und Futah-Djallon (Leipzig, P. Froh¬
berg), die auch sonst viel interessante Belehrung, namentlich über die Portugiesen
und Franzosen in Nordwestafrika und über die dortigen Ncgervölkerschaften, die
roten und schwarzen Fnllahs, die Mandingas, die Pavels, Batautah und Fluvs ent¬
hält, und die wir deshalb Freunden der Ethnographie angelegentlichst empfehlen.
Man hört häufig vom Niedergange des Islam wie von etwas bekanntem und
unbestreitbarem reden. Das gilt aber in Wahrheit nur dann, wenn man ihn mit
der Türkenherrschaft identifizirt, und leidet keine Anwendung auf die wenig zivi-
lisirten, weil wenig oder garnicht mit den hochentwickelten Nationen Europas in Be¬
rührung gekommenen Stämme, welche die Binnenländer Asiens und Afrikas bewohnen.
Der Kreis, den die Lehre Muhameds beherrscht, hat sich hier und vorzüglich im Sudan
und in Senegambien in unserm Jahrhundert rasch und stetig erweitert. Überall
im letztgenannten Landstriche des schwarzen Erdteils zeigt sich dieser Fortschritt
in auffälligster Weise, und zwar wird er keineswegs allein durch das Schwert,
sondern auch durch die Predigt bewirkt. Ein hervorragendes Beispiel sind die
Futah-Fullahs, die eifrigsten Anhänger und Verbreiter des Islam im westlichen
Sudan. Selbst schon seit Jahrhunderten Muslime, suchen sie ihre Religion mit
Gewalt und auf friedlichem Wege allen den heidnischen Nigritiern ihrer Nachbar¬
schaft beizubringen, und bei den meisten derselben, namentlich bei den Mandingas,
haben sie sich in dieser Beziehung bedeutender Erfolge zu rühmen. Die Bekehrten
nahmen den Islam nicht nur willig an, sondern bildeten sich auch zu Stütze»
und Gehilfen der Bekehrer aus. Die Mandingas, von denen ehedem nur die im
alten Melinque-Reiche, jenseits der Niger-Gaudi-Wasserscheide, Muslime waren,
sind jetzt beinahe ohne Ausnahme dem muhamedanischen Glauben zugethan und ent¬
senden ganz ebenso wie die Fullahs zahlreiche Apostel oder Marabuts, von welchen
viele in einer eigenen Schule im Hinterkante von Frcetown herangebildet werden.
Die Gelehrsamkeit derselben ist natürlich von sehr mäßigem Umfange, sie beschränkt
sich ans Kenntnis der Elemente ihrer Religion, Lesen und Hersagen des Korans
und dergleichen. Trotzdem haben diese den Heidenvölkern an Bildung und Klugheit
immerhin überlegenen Glaubensboten große Erfolge erzielt, und zwar umsomehr,
als sie, ungleich unsern Missionären, niemals sofort offen als solche auftreten,
sondern sich anfangs als Kaufleute mit den Leuten, auf deren Seelen sie es ab¬
gesehen haben, bekannt machen. Erst wenn sie sich als Händler in einem Dorfe
festgesetzt haben, beginnen sie ihren Proselytenfang zu betreiben. Dies gelingt
ihnen aber deshalb ziemlich leicht, weil die Negerstämme Nordwestafrikas, wenn
sie überhaupt eine Religion haben, keine starke Anhänglichkeit an dieselbe besitzen,
sondern sich gegen ihre Fetische meist gleichgiltig Verhalten. Ist es einem jener
Marabuts gelungen, irgendwo eine Gemeinde von Muslimen zu gründen, so zieht
er nach dem nächsten Dorfe, um hier, mit jenen ersten Bekehrten ini Verkehr
bleibend, in gleicher Weise wie dort vorzugehen, und so bildet sich allmählich eine
Kette von Gemeinden, deren Glieder dann ihrerseits Apostel aussenden, sodnß
zuletzt ein ganzer großer Bezirk für die Lehre des Propheten von Mekka erobert
wird. Was auf diese Art nicht erreicht wird, müssen Kriegszüge gegen die Heiden,
Zwang und Gewalt zustande bringen. Auch die Marabuts verschmähen bei ihrer
Bekehrungsarbeit Gewaltthätigkeit nicht, wenn sie Erfolg verheißt. „Anfangs be¬
scheiden und duldsam gegen die Ungläubigen, sagt der Verfasser, treten sie später,
wenn sie eine genügende Anzahl von Anhängern gewonnen haben, mit der größten
Arroganz und Intoleranz auf, und nicht selten wird dann mit Gewalt das so mild
begonnene Glaubenswerk vollendet. Findet ihr Vorhaben unüberwindliche Schwierig¬
keiten, so ziehen sie weiter, um ein günstigeres Feld für ihre Thätigkeit aufzu¬
suchen. Bei den Fullahs haben übrigens die Bekehrungsbestrebungen auch einen
politischen Hintergrund, indem sie fortdauernd die nächstliegenden Distrikte, wenn
sie darin eine hinreichende Anzahl von Religionsgenossen herangebildet haben,
ihrer Herrschaft unterwerfen. Ich selbst habe während meines kurzen Aufenthalts
hinlänglich Gelegenheit gehabt, das Treiben dieser Marabuts zu beobachten, und
die Berichte älterer Reisender zeigen uns, daß ihre Arbeit durchaus nicht fruchtlos
gewesen ist; deun wenn Hecquard noch im Jahre 1851 berichtete, die muhame-
danischen Proselytenmacher seien noch nicht bis zur Küste vorgedrungen, so kann
ich jetzt das Gegenteil behaupten."
Wie erscheinen nun die christlichen Missionäre neben jenen Aposteln des Islam?
Welche Erfolge haben sie hier zu verzeichnen? Der Verfasser erwiedert darauf:
Trotz mehrhundertjähriger Berührung mit den Heiden der westafrikanischen See-
küste hat das Christentum hier kaum Wurzel gefaßt und Fortschritte gemacht.
Allerdings sind nur wenige katholische Missionäre ins Innere des Landes vor¬
gedrungen, aber wie diese nichts ausgerichtet haben, so ist es den christlichen Na¬
tionen auch in der Nachbarschaft ihrer Kolonien nnr in geringem Maße gelungen,
ihrer Religion bei den Eingebornen Eingang zu verschaffen. Die Zahl der zum
Christentum bekehrten Neger in den Niederlassungen der Portugiesen ist sehr un¬
bedeutend, und überdies sind diese Leute nur dem Namen nach Christen. Sogar
auf den Inseln des grünen Vorgebirges haben die Schwarzen nur ganz oberflächlich
den christlichen Glauben angenommen, in Wirklichkeit sind sie mehr Heiden als
Bekenner der Lehre Jesu. Die Protestantischen Missionäre, welche die Engländer
nach Nordwestafrika sandten, haben übrigens mit ihren Bekehrungsversuchen ebenso¬
wenig Glück gehabt wie die katholischen. Daß sich in Se. Louis, der Hauptstadt
des französischen Senegambien, eine Moschee befindet, ist ebenfalls recht bezeichnend.
Fragen wir nach den Ursachen aller dieser Erscheinungen, so liegen sie auf der
Hand. Diese Nigritier sind rohe und wenig bildungsfähige Naturen, denen das
Verständnis für die Erhabenheit, Reinheit und Uneigennützigkeit der christlichen
Lehre und Moral schwer fällt oder ganz abgeht, während ihr sinnliches Wesen sie
recht wohl für den Islam eignet, der ja die Freuden der Welt in potenzirtein
Maße in den Himmel verpflanzt. So ist es nicht überraschend, daß die katho¬
lischen und protestantischen Missionäre unter den Negern im Becken des Rio Grande
keine Geschäfte von Belang machen, während die Apostel des Islam bereits den
größten Teil des bekannten westlichen Sudan für ihren Glauben erobert haben.
„Vielleicht ist, sagt der Verfasser unsers Riesenwerkes, die Zeit nicht mehr fern,
in welcher nicht nur Nordafrika, sondern mich die größere Hälfte des Südens dieses
Erdteils die Lehre Muhameds angenommen haben wird."
Sollen wir diesen Prozeß beklagen? Wir meinen nicht. Der Islam ist keine
so hehre und tiefe Religion wie das Christentum, aber immerhin ist nicht in Ab¬
rede zu stellen, daß er veredelnd auf die Negerstämme wirkt, die ihn annehmen,
und daß mit den muslimischen Glaubensboten eine höhere Bildung, menschlicheres
Empfinden und sittlicher Geist neben Industrie, Handel und besserer Regierungs¬
weise bei den heidnischen Völkerschaften ihren Einzug halten. „Wir sehen, wie
Stämme, die auf dem tiefsten Niveau der Kultur stehen, dadurch allmählich zu sitt¬
samen, aufgeklärten und wohlhabenden Menschen werden. Der Aberglaube und die
scheußlichen Gewohnheiten ihrer Tyrannen, welche nicht selten Hekatomben von
Leichen der Laune eines Moments zum Opfer brachten, verschwinden, und mehr ge¬
setzliche, gerechtere Sitten und Bräuche greifen Platz. Wie würdig stehen die Fullahs
mit ihrer ernsten, strengen Lebensanschauung den vergnügungssüchtigen, halb tie¬
rischen Nigritiern gegenüber!"
Nur für die Europäer, namentlich für die Erforscher Afrikas, hat sich die
Situation infolge des Umsichgreifens des Islam im Sudan weniger erfreulich ge¬
staltet als früher; denn der mnhamcdcinische Neger ist dem in sein Land eindrin¬
genden Christen gegenüber unstreitig fanatischer und mißtrauischer als der durch
Geschenke leicht freundlich zu stimmende heidnische, und nur ganz ausnahmsweise
werden Europäer in solchen streng islamitischen Ländern von der Bevölkerung wohl
aufgenommen werden.
Die folgenden Mitteilungen werden willkommen
sein, da sie die Situation im Sudan und die letzten dortigen Vorfälle, die Reise
Gordons, die Modalitäten der Wegschaffung der in Chartum wohnenden Europäer
n. dergl. beleuchte». Die genannte Stadt ist das Zentrum des gesamten Handels
und Verkehrs auf den beiden großen Zwillingsstrvmen des Sudan, dem Bachr el
Abiad oder weißen Nil und dem Bachr el Azrak oder blauen Nil. Von diesem
Zentrum aus gehen zwei Hauptstraßen aus Jnnerafrika nach der Außenwelt- eine
stromabwärts nach Berber und von da nach Sncikin am Roten Meere, und eine,
welche zunächst dem Flusse weiter bis nach Abu Hamed folgt, dann die Atmnr-
Wüste durchschneidet und zuletzt von Korosko wieder am Nile hinführt. Die letztere
vermeidet die vier Katarakte und die nach Westen gehende große Windung des
Stromes zwischen Korosko und Berber.
Korosko, ungefähr in der Mitte zwischen Assuan, am ersten, und Wadi
Halfa, am zweiten Katarakt des Nil, gelegen, ist nur eine Gruppe ärmlicher Lehm¬
hütten auf einem weitgedehnten Sand- und Staubfelde, der lediglich das unablässige
Ankommen und Abgehen von Karawanen einiges Leben verleiht. Doch ist es
keineswegs ohne malerische Reize, denn am Wasser befinden sich üppige Palmen¬
haine und im Süden besäumt ein Felsenwall die Wüste, der namentlich des Abends
in wundervollen Farben gliche. Hochgetürmte Sandhügel schließen es auf drei
Seiten ein, und dahinter streckt sich nach Süden hin, den Wellen eines versteinerten
Ozeans vergleichbar, mit ihren felsigen Kämmen und Senkungen voll Sand die
Atmur-Wüste, durch welche die Karawanenstraße nach Chartum sich windet. Eine
sengende Sonne brütet über der schrecklichen Einöde, und niemals fällt hier Regen.
Da und dort stößt der Reisende in den tieferen Thälern auf ein paar kränkelnde
Dumpalmen oder auf eine Gruppe von Mimosen, die um ihr Dasein ringen, auch
wächst an einigen Stellen das grobe Halfi-Gras in hinreichender Menge, um Berg¬
hasen und Rudel von Gazellen zu nähren. Doch flieht im allgemeinen das or¬
ganische Leben diese dürre Wildnis, und Tagereisen weit herrschen nur Sand und
Gestein, Glut und Durst. Der Durchzug durch die Wüste erfordert zehn Tage,
während welcher Zeit die Karawanen ihr Wasser in Schläuchen mit sich führen
müssen, da die wenigen Brunnen, denen man auf der Strecke begegnet, ein Naß
bieten, welches für Menschen untrinkbar ist. Auch das Wasser in den Schläuchen
würde, da es nach Leder schmeckt und warm ist, niemand genießen wollen, wenn
er besseres haben könnte. Bisweilen stößt man ans Lager von Ababdeh-Arabern,
deren Gewohnheit, stets bis an die Zähne bewaffnet einherzugehen und ihr langes,
reichlich mit Hammeltalg pomadisirtes Haar mit Kämmen ans Ebenholz oder
Elfenbein aufzustecken, ihnen ein unheimliches Aussehen verleiht. Ihnen ist die
Bewachung der Route und das Geleit der Reisenden anvertraut. Der Weg ist
mit zahllosen Gerippen hier verendeter Kamele und hier und da mit einem Stein¬
haufen, unter dem ein verdursteter oder am Sonnenstich gestorbener Wanderer ruht,
bezeichnet. Fast ohne Unterbrechung zeigt sich über der Wüste die Fata Morgana,
bald in Gestalt von blauen Landseen, bald in der von Felshügeln, die auf ihren
Gipfeln stehen, zuweilen auch in andern phantastischen Formen. Man erzählt, daß
vor einigen Jahren ein ägyptisches Regiment dnrch diese täuschende Luftspiegelung
fast die Hälfte seiner Leute verlor, indem dieselben, wahnsinnig vor Durst, in der
Ferne ein klares Gewässer zu sehen glaubten und trotz des Einspruchs ihrer Führer
ihre Reihen verließen und auf die Erscheinung zueilten, um endlich zu entdecken,
daß dieselbe eine Augentäuschung war.
Mit Entzücken atmet der von Glut und Durst gequälte Reisende auf, wenn
er am Horizont die Palmen von Abu Hauad gewahr wird. Er verläßt hier das
„Schiff der Wüste," um zur Weiterreise die „Nugga," das Nilboot der Eingebornen,
zu besteigen. Es ist ein elendes, schmutziges, gebrechliches Fahrzeug, gewöhnlich
nur mit vier Matrosen bemannt; aber es hat ein Oberdeck, das einigermaßen gegen
den Sonnenbrand schützt, und der Aufenthalt auf ihm erscheint neben der Erinnerung
an das lästige Schaukeln auf dem Rücken des Kamels ziemlich behaglich. Die
wichtigste Station oberhalb Abu Hameds ist Berber, auf dem rechten Ufer. Vier
Meilen südlich von hier nimmt der Nil den aus Habesch kommenden Atbara, den
nördlichsten seiner Zuflüsse, auf. Weiterhin nach Norden strömt ihm much nicht
das kleinste Bächlein zu. Berber nimmt sich, vom Flusse aus gesehen, nicht vor¬
teilhaft aus, dagegen bietet es, wenn man sich ihm von der Landseite her nähert,
mit seinen weißen Häusern und seinen grünen Gärten einen recht freundlichen
Anblick inmitten seiner dürren und öden Umgebung. Südlich von der Stadt
werden die Ufer des Flusses flach und uninteressant, und er selbst teilt sich in viele
Arme, welche Sandbänke und Schlammeilande umfließen. Schwärme buntgefiederter
Wasservögel, weiße Pelikane und Ibisse, rosenrote Flamingos u. dergl. unterbrechen
bei der Annäherung der Nugga ihre schweigsame Beschaulichkeit und fliegen kreischend
auf. Häufig erscheinen in der Flut Krokodile und Nilpferde, die bis hierher selten
waren. So geht es etwa zwanzig Meilen weit fort dnrch ein grünes Flachland,
bis unser Boot vor der Bank von Schendy Halt macht, wo alle Karawanen aus
Sennaar, Darfur und Kordofan ans der Straße nach Snakin durchpassiren. Schendi
war 1321 der Schauplatz eines Ereignisses, welches für die damalige Zeit charakteristisch
ist, Mehemed Ali hatte seinen Sohn Ismail hierher gesandt, um von dem wilden
Häuptlinge, der sich durch seine Grausamkeit den Namen des „Tigers von Schendy"
erworben hatte, rückständigen Tribut einzutreiben, Ismail schlug seine Zelte vor der
Stadt auf, ließ den „Tiger" vorfordern und verlangte zunächst eine starke Lieferung
von Proviant für seine Truppen vou ihm. Als jener, auf sein Unvermögen hin¬
weisend, die Forderung ablehnte, schlug ihn Ismail mit der Pfeife, die er rauchte,
über den Kopf, Der Tiger verbeugte sich demütig und versprach Gehorsam, und
bald, nachdem er sich entfernt, erschienen Leute, die rings um das Zelt Ismails
ungeheure Massen von Getreide und Stroh aufhäuften. Das ging fort bis in
die Nacht, und der Ägypter freute sich seines Erfolgs, Aber vor Tagesanbruch
erwachte er von lautem Knistern und Prasseln, und als er hinaustrat, sah er sich
und sein Gefolge von einem Flammenringe umgeben. Der Tiger hatte die Vorräte
anzünden lassen, und Ismail wurde auf diese Weise mit den Seinigen bei lebendigem
Leibe geröstet. Mehemed Ali ließ darauf durch seinen Schwiegersohn, den schreck¬
lichen Defterdar, Schendy dem Erdboden gleich machen, aber der Tiger entkam ins
Innere und konnte niemals zur Strafe gezogen werden.
Acht Meilen südlich von Schendy beginnen die sechsten Stromschnellen des
Nil, die indes den Handelsverkehr auf dem Flusse nur wenig beeinträchtigen, sodaß
Fahrzeuge von geringem Tiefgang das ganze Jahr hindurch von Berber nach
Chartum gehen können. Noch einmal bietet sich dem Reisenden ein interessantes
Landschaftsbild an der Stelle, wo der Nil sich seinen Weg durch die schroffe Berg¬
kette des Gebet Gerri gebahnt hat, aber bald werden die Ufer wieder flach, und die
Szenerie verändert sich nun nicht mehr, bis am Horizonte des einförmigen Gefildes
die Minarets und Palmen von Chartum auftauchen. Wenn wir uns demselben
nähern, breitet sich die glänzende Fläche des weißen Nil wie ein Landsee vor der
Nugga aus, dann treibt mit plötzlicher Wendung das Boot in die Gewässer des
blauen Nil hinein, an dessen Gestade, etwa eine Wegstunde weiter aufwärts,
Chnrtum, die Hauptstadt des Sudan, das Ziel der jetzigen Reise Gordons, liegt.
Die Namen jener beiden Flüsse sind beiläufig nicht besonders glücklich gewählt;
denn die wirkliche Farbe des „weißen" Nil ist ein blasses, nndnrchsichtigcs Blau,
während der andre, östliche Fluß vou der Erde, die er aus Habesch herabführt,
tief rot gefärbt ist.
Chartums Wichtigkeit für den Handel ist zu bekannt, als daß wir auf sie hier
einzugehen nötig hätten. Der größere Teil der Stadt ist ständig und schmutzig
wie die ärmeren Quartiere der ägyptischen Städte. Die übrigen Viertel nehmen
sich mit ihren großen weißgetünchten Häusern, ihren Moscheen und Minarets und
ihren Gärten und Palmengruppen meist recht stattlich ans. Die Straßen freilich
lassen viel zu wünschen übrig. Es sind meist schmale Gäßchen, voll Unrat und
Kehricht und so schlecht drainirt, daß die Pfützen, welche die Regenzeit zurückläßt,
wochenlang stehen bleiben und dann sehr gefährliche Fieber erzeugen. Die Bevölkerung
ist bunt zusammengewürfelt. Sie besteht ans Türken, Griechen, Ägyptern, Nubiern
und verschleimen Arten der Negerrasse, sowie ausgewanderten Europäern, die sich
meist mit dem Verkaufe von geistigen Getränken und Materialwaaren beschäftigen.
Die hier wohnenden Dongoleseu liefern Elemente für die Armee und stellen das
Hauptkoutiugent zu den Scharen von Elfenbeinjägern, welche gewisse große Firmen
für das Innere Afrikas ausrüsten. Nach ihrer Lage ist die Stadt sicher, unter
allen Umständen kommerzielle Bedeutung zu behalten. Sie ist das große Thor,
durch welches aller Verkehr Jnnerafrikcis, soweit es zum Stromgebiete des Nil
gehört, nach Ägypten und Europa Passiren muß. Unaufhörlich gehen von hier
Karawanen, beladen mit seltsam geformten Ballen, Straußenfedern, Häute, Droguen,
Kupfer, Ebenholz und Elfenbein, nach der großen nubischen Wüste und nach Snakin
ab, und die Geschäfte, die hier in Getreide und Harzen abgeschlossen werden, be¬
kunden einen Wohlstand, der uoch beträchtlicher Steigerung fähig wäre, und bei
dem man nicht begreift, wie Gladstone dazu gekommen ist, ihn leichten Herzens
dem Mahdi ans Gnade und Ungnade ausliefern zu wollen.
Gegenüber dem Jndiauergeheul der Börseupresse, dem sich leider eine große
Anzahl frondirender preußischer Handelskammern und Großkanflente angeschlossen
haben, deuen die Unbefangenheit in dem allgemeinen Strom der Anschauungen,
welche durch die Börse beeinflußt werden, verloren gegangen ist — gegenüber den
in blinder Wut geschleuderten Angriffen werden die beiden erwähnten sachlichen
Kritiken einen bleibenden Wert beanspruchen dürfen, wie es nicht anders bei den
angesehenen und in dem Aktienrecht bewährten Verfassern zu erwarten steht. Die
Grenzboten haben bereits die Delbrücksche Kritik oder vielmehr das Pamphlet des
Geh. Kommerzienrath Delbrück gebührend zurückgewiesen, dessen Hauvtschwerpuukt
— das wichtigste Argument der Gegner — darin liegt, daß den Verfassern des
Entwurfs die Kenntnis des praktischen Lebens gefehlt habe. Einen solchen Vorwurf
werden sie jedenfalls gegen die Verfasser der vorliegenden Kritiken nicht erheben
können. Wiener war während der großen Gründungszeit in Berlin einer der
beschäftigtsten Anwälte und Notare und hatte sowohl ans dieser Periode als in
seiner spätern Thätigkeit beim Reichsoberhnndelsgericht und Reichsgericht die beste
Gelegenheit, das Aktienwesen in seiner ganzen Nacktheit zu erkennen. Nicht minder
hat Bähr in seiner Eigenschaft als Mitglied verschiedener obersten Gerichte und
Parlamente eine reiche Erfahrung sammeln können, die jedenfalls die Praxis von
Aufsichtsräten und Gründern überwiegt. Beide Kritiken erkennen den Standpunkt
des Entwurfs als einen durchaus berechtigten an und übertreffen denselben sogar
in ihren strengern Vorschlägen. Hauptsächlich sind ihre Ausstellungen gegen den
Entwurf juristischer Art und viele von solcher Bedeutung, daß der Gesetzgeber
nur dankbar anerkennen kann, wenn ihm von so bewährter Seite Hilfe gebracht
wird. Wirtschaftlich interessant ist es, daß Wiener die Prospekttheorie, wie bisher,
vertritt, die Leitung der konstituirendeu Generalversammlung für zweckwidrig er¬
achtet und gegen die Zulassung einer Unterpari-Emissicm spricht. Ju Bahrs Kritik
ist namentlich die Ausführung hervorzuheben, in welcher er nachweist, wie die
quantitative Bezeichnung des Nominalbetrages der Aktie nur zu Täuschungen und
Unredlichkeiten fuhrt. Ob sich durch die von Bähr empfohlene qualitative Be¬
zeichnung die Sache ändern würde, dürfte zu bezweifeln sein,
Die bisher erschienenen kommentirteu Ausgaben der deutschen Gewerbeordnung
gehen sämtlich mehr oder weniger vom Standpunkte der Partikularrcchte der Einzel-
staaten ans, Sie kommen somit einem praktischen Bedürfnisse derjenigen entgegen,
die unter Berücksichtigung des Partikularrechts die Gewerbeordnung, welche bis zu
einem gewissen Grade der Anwendung des letztem Spielraum läßt, zu benutzen
haben. Ob dadurch das Verständnis des gemeinen Gcwerbcrechts, d, h. der Grund¬
sätze, welche die Gewerbeordnung zum Ausdrucke bringen will, immer gefördert
wird, erscheint mindestens zweifelhaft, und daher ist der Wert dieser Ausgabe»
kein besonders hoher. Umsomehr ist eine Ausgabe der Gewerbeordnung wie die vor¬
liegende willkommen zu heißen, welche das Gewerbcrecht in erster Linie vont Stand¬
punkte des Reichsrechts erläutert. Freilich ausschließlich ist dies aus dem vorgednchteu
Grunde nicht möglich, und demgemäß nimmt das preußische Recht in den benutzten
Entscheidungen eine hervorragende Stellung ein. Doch ist das kein Fehler, da
zugleich die Praxis der übrigen höheren deutschen Gerichtshöfe berücksichtigt und
somit Einseitigkeit geschickt vermieden worden ist.
Nach einer Einleitung über Entstehung, Abänderungen und Geltungsgebiet
der Gewerbeordnung giebt der Verfasser die einzelnen Paragraphen des Gesetzes
nebst den dazu gehörigen Erläuterungen, in denen die von Reichswegen erfolgten
Ergänzungen und Ausführungsvorschriften wörtlich abgedruckt sind. Hierin liegt
ein Vorzug des Werkes vor allen ähnlichen Ausgaben, Die Erläuterungen selbst
sind vom Verfasser, der sich bereits als gewissenhafter Herausgeber von kommentirteu
Reichsgesetzen genügend bewährt hat, mit außerordentlicher Gründlichkeit und Be-
lesenheit verfaßt. Infolge der Präzision des Ausdrucks und zweckmäßiger An¬
ordnung des Stoffes hat das Werk ein handliches Äußere bekommen, wodurch sein
Wert für den öftern Gebrauch, ebenso wie dnrch das ausführliche Sachregister,
die Marginaltitel zu den einzelnen Erläuternngsabschuitteu und die solide äußere
Ausstattung, «och bedeutend erhöht wird.
Die praktische Sprachcrlernung — im Gegensatz zum linguistischen Sprach¬
studium — hat nach dem Verfasser zum Ziel, den fremden Sprachmechanismus so
in die Seele aufzunehmen, daß er das Denken ebenso unbewußt begleitet wie die
Muttersprache, daß er Form des Denkens wird. Um dieses Ziel mit möglichst ge¬
ringem Zeit- und Kraftaufwand zu erreichen, hält der Verfasser eine völlige Umkehr
von der bisherigen Art der Spracherlernuug für geboten. Die von ihm vor¬
geschlagene Methode gipfelt darin, den Weg, ans dem das Kind seine Muttersprache
erlerne, möglichst nachzuahmen. Von (phonetisch geschriebenen) einfachen Texten
soll ausgegangen, aus ihnen die grammatischen Regeln zunächst unbewußt abstrahirt
und die Sprache möglichst an der Sprache selbst gelernt werden. Ganz ohne Spöte-
matischen Ausbau geht es freilich auch uicht ab. Aber um die unbewußte Repro¬
duktion des fremden Wortes durch die entsprechende Vorstellung zu erzielen, um
dem trübenden Dazwischentreten der mnttcrsprachlichen Denkformen zu entgehen,
schlägt der Verfasser alles Ernstes für das Vokabular Bilder — nach der Art der
Fibeln — vor, neben die nur der fremde Name gesetzt werden soll. Natürlich
ist dies nur bei sinnfälligen Objekten möglich; bei den andern tritt ein kompli-
zirtercs Verfahren ein, bei dem es sich im wesentlichen um eine umschreibende
Erklärung — ja nicht Übersetzung — des fremden Ausdrucks handelt.
Wir glauben, daß der Verfasser in einer Täuschung befangen ist, wenn er
glaubt, einen solchen unbewußten psychische» Vorgang, wie die natürliche Sprach¬
erwerbung, wie die gleichzeitige Entstehung und innige Verknüpfung des Wortes
mit der Vorstellung beim Kinde, künstlich erzeugen zu können. Wir sind überzeugt,
daß das von ihm gezeichnete Bild eines Hutes stets unbewußt mir das mit dem
reproduzirten Begriff aufs engste cissoziirtc Wort „Hut" — obwohl es nicht
dasteht — zunächst ins Gedächtnis rufen wird und das Wort olmveg.« erst durch
eine besondre Denkoperation als damit gleichwertiger Name hervorgerufen werden
wird. Und wie soll überhaupt ein einzelnes Bild imstande sein, einen einigermaßen
richtig umgrenzten Begriff Herborzurufen? es wären in unserm Falle doch Dutzende
von verschiednen Hntgestalten zu diesem Zwecke nötig. Da bleibt es doch das ein¬
fachste und sicherste, sich der nun einmal schon vorhandenen Denkformen zu bedienen.
Es ist ein eitles Bemühen, sich des außerordentlich wichtigen Hilfsmittels, das der
Besitz einer Sprache dem, der eine zweite erlernen will, gegenüber dem noch sprach¬
losen Kinde bietet, gewaltsam entschlagen zu wollen, um den ja unleugbaren Hemm¬
nissen von feiten der muttersprachlichen Gewöhnung zu entgehen, da diese eben
doch unvermeidlich sind. Wir halten also den vorgeschlagenen Weg für einen
zwecklosen Umweg, umsomehr als wir außerdem uicht zugeben können, daß die
phonetischen Wortbilder neben den orthographischen keine neue Belastung des Ge¬
dächtnisses seien. Der Verfasser steckt sich das Ziel entschieden zu hoch, ein Denken
in der fremden Sprache ist — selbst bei jahrelangem Aufenthalt in der Fremde —
nur in den allerseltensten Fällen zu erreichen.
Wenn wir somit dein Verfasser in seinem Grundgedanken glauben entgegen¬
treten zu müssen, so wollen wir doch nicht unterlassen, das Schriftchen, das auch
viel des Nichtigen und Beherzigenswerten enthält, was wir hier nicht andeuten
können, allen denkenden Sprachlehrern als anregende Lektüre zu empfehlen.
Ein Werk wie Overbecks Pompeji bedarf keiner Empfehlung mehr. Zuerst
im Jahre 1856 erschienen und damals wegen mancher Schwächen, die der ersten
zusammenfassenden Bearbeitung des reichen Stoffes anhafteten, vielfach angefochten,
ist das Buch mit jeder neuen Auflage immer vollkommener geworden, ist immer
bemüht gewesen, nicht nur mit den Ausgrabungsarbeiten, sondern auch mit den
Fortschritten der archäologischen Wissenschaft gleichen Schritt zu halten und gehört
hente unstreitig zu deu Zierden unsrer populärwissenschaftlichen Literatur. Seit
dem Erscheine» der dritten Auflage (1875) haben freilich die pompejanischen Studien
durch hervorragende fachwissenschaftliche Spezialarbeiten eine derartige Vertiefung
erfahren, daß der Verfasser es für geboten erachtete, bei der Bearbeitung der neuen
Auflage sich mit einer jüngeren, den Stoff besser als er selbst beherrschenden
Kraft zu verbinden. Es gelang, Herrn t)r. Mnu zur Mitwirkung zu gewinnen,
den man, wie der Verfasser selbst sagt, „wohl ohne Widerspruch zu finden, als
den besten Kenner Pompejis, wenigstens unter uns Deutschen, bezeichnen kaun,"
und so konnte denn die Arbeit in der Weise geteilt werden, daß dem Genannten
die völlige Neubearbeitung des einleitenden Teiles und der meisten Kapitel des
antiquarischen Hanptteils (im ganzen etwa zwei Drittel des Buches), dem Ver¬
fasser selbst die Umarbeitung der übrigen Kapitel des antiquarischen Teiles und des
ganzen artistischen Teiles zufiel. Ehre und Anerkennung dem Gelehrten, der die
Entsagung übt, seine eigenste Schöpfung im Interesse der Sache zur rechten Zeit
andern, geeigneteren Händen zu überlassen! Da anch die Verlagshandlung durch
Vermehrung der Abbildungen, durch Ersetzung veralteter Illustrationen und durch
die Vervollständigung und Bereicherung des großen Stadtplans dazu beigetragen
hat, daS schöne Werk auf eiuer deu Anforderungen der heutigen Wissenschaft ent¬
sprechenden Stufe zu erhalten, so siud ihm für eine Reihe von Jahren die Wege
wieder aufs beste geebnet.
Overbecks Buch werden sich wohl wenige Jtalienreisende in den Koffer packen.
Es will vor oder nach der Reise ruhig und gründlich studirt sein. Wir freuen
uns aber doch, daß es in seiner neuen Gestalt gerade jetzt wieder vollendet vor¬
liegt, wo die Glücklichen sich rüsten, denen es vergönnt ist, demnächst dem Süden
zuzusteuern. Möge es sich zu deu alten Freunden recht viele neue erwerben!
Mit der vorliegenden fünften Lieferung ist dieses vortreffliche Nachschlagewerk,
ans das wir schou beim Erscheinen der ersten Lieferung aufmerksam gemacht haben,
vollständig geworden. Das Buch füllt wirklich eine Lücke aus, die bisher bestanden.
Läufe auch bei dem kunstgewerblichen Aufschwung, den wir im Laufe eines Jahr¬
zehnts erlebt haben, viel Mode, Sport, Eitelkeit, Prunksucht, Fabrikationshast mit
unter, der Aufschwung selbst ist nicht zu leugnen, er ist im großen und ganzen
hocherfreulich, und in allen Schichten des Volkes ist die Freude an künstlerischer Ge¬
staltung und Ausschmückung der gewerblichen Erzeugnisse und das Bedürfnis, sich
über kunstgewerbliche Fragen aller Art zu orientiren, wieder lebendig geworden.
Buchers „Reallexikon" kommt diesem Bedürfnis entgegen. Mag sichs um ein
Fabrikat oder ein Instrument handeln, um ein Material oder eine Manipulation,
um einen berühmten Fabrikationsort oder eine» namhaften Kunsthandwerker, um einen
technischen Ausdruck oder eine gewerbcgeschichtliche Frage, um die Bedeutung eines
Zierates oder deu Inhalt einer mythologischen oder allegorischen Szene — in
allen Fällen wird das Werk — gleichviel ans welchem Gebiete des Kunst-
gewerbes — die gewünschte Auskunft bieten, und zwar so erschöpfend und in so
knapper und klarer Fassung, wie sie nur derjenige geben kann, der den Gegenstand
in vollstem Maße beherrscht. Reiche Literaturnachweise (über 25 Seiten!) sind in
übersichtlicher Anordnung um Schlüsse des Buches beigegeben für den, der über
eine Einzelheit genanere Belehrung sucht. Schade, daß das Buch keine Abbildungen
hat. Bei eiuer zweitem Auflage, die sich gewiß bald notwendig macheu wird, sollte
die Verlagshandlung ernstlich darauf bedacht sein, diesem Maugel abzuhelfen.
Megen Ende der sechziger oder zu Anfang der siebziger Jahre ver¬
öffentlichte der tschechische Gelehrte Pnrkyn > eine Broschüre unter
dem Titel ^.ustrig, xol^glott^ Die s. Z. wenig beachtete Schrift
behandelte das Thema, welches kürzlich im österreichischen Reichs¬
rate soviel Staub aufwirbelte. Ich besprach damals die Flug¬
schrift in einem Feuilleton der Neuen freien Presse. Pnrkynö bestrebte sich,
die vollkommene Gleichberechtigung aller österreichischen Nationalitäten und ihrer
Sprachen bis in die letzten Konsequenzen darzuthun. Er erkannte in der „Liebe
und gegenseitigen Achtung aller Volksstämme" des vielsprachigen Reiches das
einzige Mittel, den Hader endgiltig zu schlichten. Zu diesem Zwecke sollte jeder
Österreicher sämtliche Sprachen der Monarchie erlernen, um mit jedem Staats¬
genossen in dessen Muttersprache verkehren zu können. Zum Schlüsse konnte
Purkynö freilich nicht umhin, zu gestehen, daß über der allgemeinen Sprachen-
lernerei denn doch viel kostbare Zeit verloren gehen dürfte. Reiche mit ein¬
heitlicher Sprache würden daher das vielsprachige Österreich im Kulturfortschritte
bald überholen, und schließlich müßte sich das Gefüge des Staates lösen, um
neuen politischen Gebilden Platz zu machen.
Die lange Reichsratsdebatte über die österreichische Staatssprache hat mir
die verschollene Schrift wieder ins Gedächtnis gerufen. Wenn der Staat keine
„Staatssprache" haben soll und darf, so bliebe, falls jedem Österreicher ohne
Unterschied der Nationalität auch in Zukunft in jedem Kronlande die öffentlichen
Ämter zugänglich sein sollen, in der That nichts übrig, als zu dem von Purkynö
empfohlenen Rezepte zu greifen. Da dieses Rezept jedoch materiell nicht zur
Anwendung gebracht werden kann, so komplizirt sich die Frage, wie ein Poly¬
glotter Staat ohne Staatssprache verwaltet werden könne, falls man ihn
nicht in eine lockere Föderation auflösen will, ins Unendliche, und schließlich
müßte mit Naturnotwendigkeit ein allgemeines Tohuwabohu herauskommen,
wobei in der That das Gefüge des Staates, wie Purkynö meinte, in ernstliche
Gefahr geraten könnte.
Man sieht, daß bei dem Sprachenstreite in Österreich, obwohl die Wort¬
führer der Rechten der Sache nur die Bedeutung einer Art von nationaler
Etikettenfrage zu geben suchten, doch sehr gewichtige Interessen auf dem Spiele
stehen. Es sind dies in erster Reihe staatliche Interessen. Diese will ich jedoch
hier nicht näher berühren, sondern dafür die Sache von einer Seite betrachten,
die bei der Debatte nur ganz flüchtig gestreift wurde. Ich meine die Interessen
der nichtdeutschen Nationalitäten in Österreich.
Wer aus eigner Anschauung die Verhältnisse des Kaiserstaates vor der glor¬
reichen Nationalitätenära kennt, der weiß, daß trotz des Vorherrschens der
deutschen Sprache von „Deutschtum" in Österreich sehr wenig die Rede sein
konnte. Die deutsche Sprache war damals wie jetzt das allgemeine Verstündi-
gungsmittel nicht nur zwischen den Deutschösterreichcrn und den nichtdeutschen
Nationalitäten, sondern auch zwischen diesen untereinander; da es wohl slavische
Sprachen, aber keine slavische Sprache giebt, so mußten Polen, Tschechen, Slo-
venen, Kroaten, Serben :c., deren einzelne Sprachen von einander abweichen
wie etwa das Deutsche vom Holländischen, oder das Französische vom Pro-
venzalischen, notgedrungen zu der ihnen zunächst liegenden deutschen Sprache
greifen. Ähnlich verhält es sich mit den Magyaren. Der gebildete Teil dieser
verschiednen Nationalitäten war des Deutschen in Wort und Schrift, vielfach
sogar besser als des eignen Idioms mächtig. Mit Ausnahme der italienischen
Provinzen bediente sich die Verwaltung der deutschen Sprache, und in Ungarn
behalf man sich sowohl im Verkehr mit den Nationalitäten der xartes aänsx^s
als mit der Zentrale in Wien, falls man nicht Deutsch sprechen wollte, mit
jener seltsamen unter dem Namen „Husarenlatcin" bekannten Latinität. An
„Germanisirung" dachte keine Seele, und in der That verfolgte die österreichische
Regierung vor 1848 eher alles andre als germanisatorische Zwecke. Den deutsch-
österreichischen Schriftstellern war man in Wien bekanntlich durchaus nicht hold.
Entweder beteiligten sie sich an der geistigen Strömung in Deutschland und
mußten dann sehr bald den schwarzgelben Grenzpfählen den Rücken kehren,
oder sie standen völlig abseits wie Grillparzer oder K. E. Ebert, der sich selbst
als „böhmisch-deutscheu" Schriftsteller bezeichnete. Wenn die kaiserliche Regierung
von ihren Beamten die Kenntnis des Deutschen (d. h. des k. k. Beamtendeutsch)
als etwas Selbstverständliches verlangte, so that sie damit nur, was sie nicht
lassen konnte. Eine Bevorzugung des deutschen Elements als solches kann ihr
mich der grimmigste Feind nicht zum Vorwurfe machen.
Seit der Nationalitätenära ist das alles anders geworden. Während vor
1848 z. B. in Böhmen die Vorkämpfer der freiheitlichen Richtung ohne Unter-
schied der Nationalität Hand in Hand gingen und deutsche Dichter, wie A. Meißner,
tschechische Helden feierten, brachte das Bewegungsjahr sehr bald eine Scheidung nach
antionalen Lagern. Die gestern noch Schulter an Schulter kämpften, standen
heute als nationale Gegner einander gegenüber. Seitdem ist der Riß immer
klaffender geworden. Man sprach von „unterdrückten Nationalitäten" und be¬
zeichnete, als ob sich solches von selbst verstünde, kurzweg die Deutschen in
Österreich als die Unterdrücker, obwohl diese an der Unterdrückung so un¬
schuldig waren wie der Mann im Monde, denn die österreichische Regierung
vor 1848 machte, gleich der Reaktion der fünfziger Jahre, nicht den geringsten
Unterschied zwischen Deutschen und nichtdeutschen. Aber die Regierung sprach
deutsch, mithin waren die Deutschen die „Unterdrücker," und dabei hatte es
sein Bewenden.
Sobald sich die nationalen Parteien nach 1859 wieder ein wenig regen
konnten, suchten sie vor allem die „lieben Kleinen," d. h. die Schule, in die
Hand zu bekommen. Es entstanden nationale Kindergärten, Volksschulen, Mittel¬
schulen, Fachschulen und schließlich auch Hochschulen. Der Ausgleich mit Ungarn
gab diesem Lande die nationale Selbständigkeit zurück. Der erste Gebrauch, den
die Magyaren davon machten, war bekanntlich die Vertreibung der unter Bach
nach Ungarn geschickten Deutschen, richtiger gesagt, der nicht magyarisch sprechenden
Beamten, Lehrer und Professoren (zum größten Teile Tschechen, Mähren und
Schlesier). Seitdem geht Ungarn seine eignen Wege, und die Vorgänge jenseit
der Leitha kommen für Österreich erst in zweiter Reihe in Betracht.
Daß jedes Volk und jeder Volksstamm bestrebt ist, seine Eigenart, zunächst
seine Sprache, zu Pflegen, ist nur in der Ordnung. Mit welchem Rechte wollen
wir andern verweigern, was wir für uns selbst beanspruchen? Überdies haben
die Nationalitäten in Österreich auch den klaren Wortlaut des Gesetzes für sich.
Somit wäre also alles gut. Die Tschechen besitzen ihre tschechischen, die
Deutschen deutsche, die Polen polnische, die Slovenen slovenische :c> Unterrichts-
anstalten, und dem edeln Wettkampfe auf dem Gebiete des geistigen Lebens
sind die Schranken geöffnet.
Nur schade, daß es, wie mit so mancher andern schönen Sache in dieser
unvollkommenen Welt, auch mit der durch den famosen §19 verbrieften „Gleich¬
berechtigung in Schule, Amt und öffentlichem Leben" in Österreich einen garstigen
Haken hat, und dieser Haken ist gerade dasjenige, um was seit mehr als dreißig
Jahren so heftig gezankt wird, nämlich die Sprache, oder vielmehr es sind die
Sprachen.
Sehen wir einmal, wie es um die sprachliche Gleichberechtigung, aus der
Theorie ins Praktische übertragen, aussieht.
Bekanntlich besitzt unser geliebtes Deutsch die schlimme Eigenschaft, eine sehr
schwere Sprache zu sein, und dasselbe gilt von den verschiednen slavischen wie
von der magyarischen Sprache. Nun bestimmt zwar das Gesetz, daß das Deutsche
in den polnischen, tschechischen !c, Volks- und Mittelschulen obligatorischer Lehr¬
gegenstand zu sein habe, obgleich der gloriose Z 19 zugleich besagt, daß „kein
Zwang zur Erlernung einer zweiten Landessprache angewendet werden dürfe."
Wie diese beiden Bestimmungen in Einklang zu bringen sind, wissen die Götter.
Ich habe keine Lust, mir deshalb den Kopf zu zerbrechen und halte mich an die
Sache, wie sie vorliegt. Also in den nichtdeutschen Schulen soll deutsch gelernt
werden. Nun weiß aber jeder praktische Schulmann, welche Resultate in den
Schulen mit der Erlernung fremder Sprachen erzielt werden, namentlich wenn
die Unterrichtsanstalten, wie in Österreich, meist überfüllt sind. Welche Schule
vermag ihren Zöglingen eine vollkommene, gründliche Kenntnis des Französischen,
Englischen, Italienischen mit auf den Lebensweg zu geben? Höchstens kann
sie einen guten Grund legen. Und dabei sind diese Sprachen noch verhältnis¬
mäßig leichte Sprachen. Hierzu kommt aber noch, daß die national fanatisirte
Jugend nur mit Widerwillen das verhaßte Deutsch lernt. Welche Resultate
sich so erzielen lassen, liegt auf der Hand. Die Folge ist, daß die nichtdeutsche
Jugend beim Austritte aus der Schule nur höchst unvollkommen, zuweilen selbst
garnicht Deutsch kann. Außerdem fällt durch die sich immer schroffer gestaltende
Absonderung der Nationalitäten von einander auch die Gelegenheit weg, durch
den Umgang mit Deutschen die Sprache praktisch zu erlernen. So schließt jede
Nationalität sich wie mit einer chinesischen Mauer gegen das Deutsche ab, und
ehe zehn bis zwanzig Jahre ins Land gehen, wird es Hunderttausende von jungen
Polen, Tschechen, Slovenen !c. geben, die der unentbehrlichen deutschen Sprache
nur in sehr geringem Maße, vielleicht garnicht mächtig sind. Was soll
mit diesen Leuten geschehen? Wie sind sie beim Handel, bei der Industrie, bei
den Verkehrsanstalten, im Staatsdienste, im Heere, kurz in jedem Kreise des
öffentlichen Lebens, wo die genaue Kenntnis der doch zunächst in Betracht
kommenden Weltsprache, der deutschen, uuumgünglich notwendig ist, zu ver¬
wenden? Wo nimmt der Staat, der nichts von einer Staatssprache wissen
will, am Ende seine Beamten her, falls er nicht Lust hat, seine Ämter in baby¬
lonische Türme zu verwandeln oder jedem Beamten einen Dolmetsch zur Seite
zu stellen? Und wird, um nur noch eins zu erwähnen, nicht der Zutritt zu
jeder bedeutenderen und somit auch lukrativeren Stellung geradezu zu einem
Monopol für jene glücklich situirte Minderheit gemacht werden, welche die
Mittel besitzt, durch ausgiebigen Privatunterricht nachhelfen zu lassen, oder für
jene, welche klug genug sind, ihre Kinder in deutsche Schulen zu schicken, wäre
es auch auf die Gefahr hin, daß das nationale Lüstre dabei möglicherweise
einige Einbuße erlitten hätte?
Schon jetzt zeigen sich vielfach die Folgen des nationalen Separatismus,
und sie werden immer deutlicher und bedenklicher zu Tage treten. Ungarn im-
portirt derzeit tausende von deutschen Gouvernanten, vor allem für jüdische
Familien, die trotz ihres affektirren Magyarentums sehr gut wissen, wie unent-
behrlich die Kenntnis des Deutschen ist. In Böhmen giebt es eine Menge
Handlungsgehilfen, welche keine Stellung finden können, weil ihnen die Kenntnis
der deutschen Sprache ganz oder zum großen Teile abgeht. Das schönste dabei
ist, daß tschechische Koryphäen von reinstem Wasser, wie z. B. der Großindu¬
strielle Herr O. in Prag, keinen jungen Maun ins Geschäft nehmen, wenn er
nicht des Deutschen in Wort und Schrift vollkommen mächtig ist. Daß Ähn¬
liches auch anderswo geschieht, begreift sich, denn wo die persönlichen Interessen
ins Spiel kommen, muß der nationale Chauvinismus zurücktreten. Wenn je¬
mals das alte Wort cMäauiä Äölirant röZss seine volle Anwendung findet,
so ist es bei dem Sprachenstreitc in Österreich. Leider erkennen diejenigen, welche
schließlich die Rechnung bezahlen müssen, den wahren Stand der Dinge erst
dann, wenn es zu spät ist, das Versäumte nachzuholen.
Daß es auch für den Deutschen in Österreich sehr wünschenswert ist, we¬
nigstens eine slavische Sprache — oder falls er sein Augenmerk auf Ungarn
richtet, das Magyarische — gründlich zu kennen, steht außer Frage, denn ab¬
gesehen von der praktischen Verwendbarkeit des Slavischen für Österreich, er¬
wirbt er sich mit der Kenntnis desselben zugleich den Schlüssel zu der ebenso
wichtigen wie schwierigen russischen Sprache. Trotzdem steht die Bedeutung der
Kenntnis einer slavischen Sprache für die Dentschösterreicher in keinem Verhält¬
nisse zu der Wichtigkeit des Deutschen für die nichtdeutschen, denn während
erstere, gleich den Paarmalhuuderttausend bei Österreich gebliebenen Italienern
schlimmstenfalls für ihre geistige oder materielle Thätigkeit auch außerhalb des
Kaiserstaates noch eine lohnende Verwendung finden können, befinden sich die
andern in einer ungleich ungünstigeren Lage. Im Inlande werden sie, der
mangelnden Sprachkenntnis wegen, stets nur auf untergeordnete Stellungen be¬
schränkt bleiben, und im „slavischen Auslande" ist nicht viel zu machen, denn
was es mit dem seinerzeit so gerühmten Export „slavischer Intelligenz" nach
Rußland für eine Bewandtnis hat, weiß man in Prag am besten. Wohl haben
einige begabte nationale Streber in letzter Zeit auch in Österreich Karriere ge¬
macht, aber wäre dies den betreffenden Herren ohne ihre gründliche Kenntnis des
Deutschen überhaupt möglich gewesen? Für den nationalen Nachwuchs dagegen
wird sich die Sache, falls es so fortgeht, gewiß ganz anders gestalten, und
wenn auch einzelne aus dem heillosen Sprachenstreite Vorteile zu ziehen wissen,
so sind doch für die Massen die Nachteile handgreiflich. Die, welche unter
allen Umständen dabei Profitiren, sind, wie immer, die gescheiten Juden. In
Polen, in Böhmen, in Ungarn, kurz überall, wo sie ihre Heimstätte haben,
lassen sie ihre Kinder, oft mit großen Opfern, Deutsch lernen, und finden ihre
Rechnung dabei. Ich denke, die Herren, welche im Reichsrate so nachdrücklich
gegen die deutsche Staatssprache protestirten, dürften Wohl daran thun, diese
Erscheinung nicht außer Acht zu lassen, denn sie zeigt am deutlichsten, wie weit
die Dinge bereits gediehen sind und wohin wir treiben.
M^öoch weniger glücklich sind natürlich auch die von russischer
Seite gemachten Annäherungsversuche. Die jungen Theologen
von Etschmiadzin vermöchten nicht, auch wenn sie selbst von
den Segnungen des russischen Staatslebens vollauf überzeugt
wären, unter ihren geistlichen Brüdern in der Türkei Proselyten
für die russische Sache zu machen. Letztere glauben bei dem Tausch nicht zu ge¬
winnen, und so ist denn auch ihr Streben dahin gerichtet, die Bande, welche
die armenische Provinz an die Osmanenherrschaft knüpfen, nicht zu lockern, son¬
dern zu befestigen. Natürlich sucht der Patriarch die Leiden der armenischen
Stammesgenossen zu mildern, und er macht sich bei der Pforte sowohl als auch
bei den Vertretern der Kongreßmächte zum beredten Organ der berechtigten
Wünsche und Beschwerden, zu denen die Übergriffe der türkischen Beamten und
die räuberischen Einfälle der Kurden seit Jahren hinreichenden Stoff bieten.
Das Patriarchat überreicht zu diesem Zwecke alle paar Monate eine Liste, in
welcher die Zahl und die Namen der erschlagenen und beraubten Männer, der
gemißhandelten Mädchen auf Grund „zuverlässiger Erhebungen" eingetragen,
die Stückzahl des geraubten Viehes angegeben und der Schaden bezeichnet ist,
welchen die Streifzüge der Kurden durch Zerstörung und Brandstiftung in den
armenischen Orten verursacht haben. Diese Listen gewähren einen traurigen
Einblick in die Unsicherheit der dortigen Zustände. Allein derartige Aufzeich¬
nungen ließen sich noch in vielen andern Teilen des türkischen Reiches vor¬
nehmen. In der Umgegend von Smyrna, von Salonik, im Rhodopegebirge,
ja in der Nähe der Hauptstadt selbst sind Leben und Besitz der friedlichen Be¬
wohner keineswegs gesichert. Namentlich überall da, wo tscherkessische Ansiedlungen
stattgefunden haben, kommen unaufhörlich Gewaltakte gegen die christliche Be¬
völkerung vor. In Armenien sind sie größtenteils in dem Nomadentum der
kurdischen Bergbewohner begründet. Diese überlassen die Feldarbeit den christ¬
lichen Ansiedlern. Was sie zu ihrem kärglichen Lebensunterhalte brauchen, muß
ihnen, soweit es das Weideland der Berghänge nicht liefert, von den Thal¬
bewohnern abgelassen werden. Einst waren die kriegerischen Bergstämme den
friedlichen Bauern durch Abwehr feindlicher Einfälle nützlich. Gern wurde ihr
Schutz durch Lieferungen von Brot und Salz erkauft. Die Klcphthen Griechen¬
lands und die Freiheitshelden der schwarzen Berge standen und stehen noch
heute in einem ähnlichen Verhältnis zu der arbeitenden Bevölkerungsklasse. Die
kurdischen Hammcldicbe verfahren nicht anders wie die mvntenegrinischen. Auch
sind die Armenier an diese unbequemen Nachbarn seit Jahrhunderten so sehr
gewöhnt, daß das Zusammenleben mit ihnen viel erträglicher wäre als die Er¬
pressungen und Bedrückungen der türkischen Beamten, die von der Zentralstelle
aus nicht kontrolirt werden können. Die Wünsche der Armenier sind daher
hauptsächlich darauf gerichtet, daß für ihre entlegene Provinz ein mit besondrer
Vollmacht ausgerüsteter Gouverneur ernannt werde, welcher Übergriffen der Be¬
amten steuert und im Lande Gerechtigkeit übt. So bescheiden dieser Wunsch
klingt, ist er bisher unerfüllt geblieben. Die Pforte hat mehrmals Kommissare
nach Armenien entsendet, welche das Land bereisen, die Notstände prüfen, Aus¬
schreitungen der Beamten bestrafen sollten. Diese Kommissare haben sich einige
Monate in den größeren Städten aufgehalten; die dortigen Malis haben dafür
gesorgt, daß sie nur das erfuhren, was ihren persönlichen Zwecken nützlich war.
Einige Beamten, welche es zu arg getrieben, wurden entlassen oder versetzt:
die meisten aber wußten sich das Verbleiben in ihren Stellen mit den in der
ganzen türkischen Hierarchie üblichen Mitteln zu erkaufen. Die Kommissare
kehrten dann mit einem umfangreichen Reformpläne zurück, der dem Sultan vor¬
gelegt und einer Spezialkommission zur Begutachtung überwiesen wurde. Diese
seind den Plan so vorzüglich, daß sie die Anwendung des Reformwerkes auch
für alle andern Teile des Reiches empfahl, und der Sultan eignete sich diese
Auffassung umso lieber an, als damit die „armenische Frage" in dem Meer der
allgemeinen Tagesfragen versank und so Ausnahmemaßregeln nicht nötig wurden,
welche immerhin als die Folge eines auswärtigen Druckes hätten erscheinen
müssen.
Eine solche Verallgemeinerung der Reformpläne fand auch stets die
freundliche Unterstützung der alttürkischen Partei; denn je umfangreicher das
Projekt auftrat, desto schwieriger und unwahrscheinlicher wurde seine Ausführung.
Die graubärtigen Kaftanträger im Palais wissen recht wohl, daß jede größere
administrative Reform an der Unbildung und Unzuverlässigkeit des türkischen
Beamtentums scheitern muß, daß es vor allem geordneter Finanzen bedürfte,
um eine Regelmäßigkeit der Gehaltszahlungen herzustellen. Man kann nicht er¬
warten, daß das Bakschischunwesen und die Erpressungen aufhören, wenn die
kleinen Beamten der Provinz, die doch auch für ihre Familie zu sorgen haben,
oft Monate lang anf ihre Besoldung warten müssen und häufig dieselbe gar¬
nicht erlangen.
So verblieben denn die Berichte und Entwürfe der nach Armenien ent¬
sendeten Kommissare als „schätzbares Material" bei den Akten der Reform-
tommissivn. Nirgends so sehr als hier zeigt es sich, daß das Bessere oft der
Feind des Guten ist. Weil man die Verwaltung aller Provinzen reformiren
wollte, geschah einstweilen nichts in Armenien; die wohlmeinende Absicht, die
Lage aller Christen im Reiche zu verbessern, verhinderte, daß einige ganz prae-
lische Vorschläge der Kommissare der armenischen Bevölkerung zu Gute kamen.
Dort blieb daher alles beim Alten. Wenn die Klagen über die Räubereien
der Kurden sich allzulaut erhoben, schickte man einige Bataillone Nizams zum
Schutz der entlegenen Thäler aus. Aber die armenischen Bauern waren über
diese Einquartierung nicht immer erfreut; anstatt mit den verhältnismäßig genüg¬
samen Räubern, mußten sie ihre Vorräte jetzt mit den Truppen teilen. Der
militärische Schutz, der nicht einmal immer wirksam war, kam ihnen teurer zu
stehen als die Beutelust der Bergbewohner.
Ein rationelleres Mittel als die Aufbietung türkischer Streitkräfte lag in
der von der Pforte häufig mit Erfolg angewendeten Maßregel, die Häupter
unbotmäßiger Stämme nach Konstantinopel zu berufen und dort festzuhalten.
Dies System war beim letzten albanesischen Aufstande mit Erfolg in Anwendung
gekommen. Die Chefs der Liga wurden unter schönen Versprechungen nach
der Hauptstadt gelockt und dort bewacht. Einige hielt der Sultan als Führer
seiner Leibwache in seiner unmittelbarsten Umgebung fest. Jeder ihrer Schritte
konnte auf diese Weise leicht kontrolirt werden. Andre lebten in glänzender
Gefangenschaft. Die, welche für solche freundschaftliche Werbungen nicht genug
Verständnis zeigten, verschwanden überhaupt vom Schauplatze.
Aus ähnlichen politischen Gründen wird auch der junge Miriditenfürst
Prenk Bib Doda in Konstantinopel zurückgehalten und den Umtrieben seiner
Parteigenossen entzogen. Auch bei der letzten ägyptischen Krisis versuchte der
Sultan bekanntlich den Leiter der Bewegung, Arabi Pascha, zur Reise nach der
Hauptstadt zu bewegen; allein der schlaue Oberst wußte zu gut, welches Loos
ihm dort bevorstand, und traute den verlockenden Zusicherungen nicht. Dagegen
hatte der kurdische Häuptling Obeidullah die Einladung nach Konstantinopel
angenommen und die Abwesenheit ihres Anführers die Kurden zeitweilig von
Raubzügen abgehalten. Obeidullah wurde auf der ganzen Reise nach der Haupt¬
stadt voll den türkischen Provinzialbehörden aufs zuvorkommendste behandelt
und glänzend bewirtet. In Konstantinopel angelangt, überhäufte ihn der
Sultan mit Auszeichnungen und Geschenken. Er war Gast des Großherrn und
bewohnte einen eignen Palast, der ihm und seinen Begleitern für die Dauer
ihrer Anwesenheit überlassen war. Natürlich sollte diese glänzende Gefangen¬
schaft möglichst ausgedehnt und der Scheikh, wenn irgend thunlich, für
immer von der Heimat ferngehalten werden. Dies war wenig nach dem
Geschmack des freigeborenen Sohnes der Berge, mit Würde nahm er alle
ihm erwiesenen Ehrenbezeigungen entgegen und ging scheinbar auf alle Vor¬
schläge einer Übersiedelung ein. Regelmäßig am Freitag erschien er beim
Selamlik, der Sultan hatte dann oft ein freundliches Wort für den mäch¬
tigen Häuptling, dessen Stimme allein genügte, um die Leidenschaft seines Volks¬
stammes zu entfesseln oder zu beschwichtigen, und dessen Einfluß auch durch
die scharfe Überwachung keineswegs gebrochen oder geschmälert war. Aber schon
noch wenigen Monaten stand bei dem fast achtzigjähriger SchM) der Plan fest,
nach der Heimat zurückzukehren. Dn der Sultan einer offnen Bitte jedenfalls
widerstrebt und eine Entscheidung mindestens lange hinausgezogen hätte, so
blieb dem Kurden nnr das Mittel der Flucht, und er bewerkstelligte dieselbe im
Sommer 1882 in einer Weise, welche bewies, daß er seinen schlauen Gegnern
an List noch überlegen war. Er erklärte laut seiue Absicht, eine Wallfahrt zum
Grabe des Propheten vornehmen und seine Tage in Mekka beschließen zu wollen.
Ein vierzigtügiges Fasten während des Namasau sollte die würdige Einleitung
seiner religiösen Übungen bilden. Die Sache hatte an und für sich nichts Auf¬
fallendes, auch wunderte man sich im Palais keineswegs, daß der fromme Greis
die letzten vierzehn Tage der Fastenzeit in strenger Klausur verbrachte und jeden
Verkehr mit der Außenwelt vermied. Die geringe Nahrung, die er zu sich
nehmen durste, brachte ihm sein knrdischer Diener in das Gemach, in welchem
er den vorgeschriebenen geistlichen Übungen oblag. Aufsehen und Argwohn
erregte es indessen, daß der Scheikh nach Ablauf der Fastenzeit nicht bei der
großen Beiramszercmonie erschien, an welcher alle Würdenträger des Reiches
teilzunehmen haben. Man forschte nun in seinem Konak nach und fand das
Nest leer. Der Vorsprung von vierzehn Tagen hatte dem verschlagnen Häupt¬
ling genügt, um von Trapezunt aus mit Hilfe seiner kurdischen Begleiter auf
geheimen Pfaden die heimischen Berge zu erreichen. Daß die Überfahrt von
Konstantinopel nach Trapezunt auf einem russischen Dampfer erfolgte, ließ die
Koniveuz gewisser russischen Kreise vermuten und erhöhte nicht wenig die Ver¬
stimmung des Sultaus über das Gelingen der Flucht. Ob eine russische Hilfe
thatsächlich stattgefunden hat, läßt sich natürlich nicht beweisen; daß Rußland ein
Interesse daran hat, die türkischen Armenier nicht zur Ruhe kommen zu lassen,
und daß ihm die störenden Einfälle der Kurden und ihre Auflehnung gegen die
Autorität des Sultans aus diesen wie aus andern politischen Gründen erwünscht
sind, ist in Stambul kein Geheimnis.
Wir haben eben die Umstände erörtert, welche einer Zunahme russischen
Einflusses in Armenien noch entgegenstehen, aber auch gleichzeitig darauf hin¬
gewiesen, daß die Armenier, d. h. die Bewohner der Provinz Armenien selbst,
mit der Zeit notgedrungen ins russische Lager getrieben werden, wenn
man ihre Beschwerden noch länger unberücksichtigt läßt. Rußland arbeitet
daher auf jenem Gebiete mit einer Emsigkeit, welche ihm den schließlichen Erfolg
sichert. Eine Einverleibung des türkischen Armeniens aber würde die russischen
Grenzen dem Bosporus beträchtlich näher rücken. Wenn die Festungen des
türkischen Armeniens in den Besitz Rußlands gelangen, so liegt die Marsch¬
route auf Skutari offen und unbeschützt da. Was auf der europäischen Seite
nicht erreicht werden kann — die Besetzung der Wasserstraße — ist dann auf
der asiatischen mit Leichtigkeit zu bewirken. Seitdem sich die Balkanstaaten von
der russischen Vormundschaft mehr und mehr freimachen, die rumänisch!' und
serbische Armee nicht mehr bloß als Vortrupp einer russischen, gegen Konstan-
tinopel marschirenden Angriffskolonne betrachtet sein wollen, seitdem sogar
Bulgarien eine selbständige Politik zu treiben beginnt, richtet sich das
Augenmerk der russische» Strategen mehr auf das asiatische Kriegstheater und
die Etappenstraße, die von Ardcchan nach der Bosporusmüudung führt. Wer
die Meerenge besitzt, beherrscht auch die Hauptstadt. Gegen einen Angriff zu
Lande aber sind die Bosporusbefestigungcn des asiatischen Ufers ungedeckt. Auf
der europäischen Seite ist während des letzten russisch-türkischen Krieges ein
Verteidiguugsabschnitt durch Errichtung von achtundvierzig Feldschauzeu herzu¬
stellen versucht worden. Diese Anlage, welche von dem am Schwarzen Meere
gelegnen Orte Darkos bis zu dem kleinen Hafen des Marmaramceres Kütschuk-
Tschekmekdsche reicht, würde bei ausreichender Armirnug und Besatzung den
Vormarsch einer feindlichen Armee auf die Hauptstadt immerhin einige Zeit
aufzuhalten vermöge». Im Januar 1878 wurde freilich ein solcher Versuch
garnicht gemacht, weniger wegen Mangels an Vcrteidigungsmitteln, als infolge
der mit der Eroberung von Adrianopel eingetretenen allgemeinen Mutlosigkeit.
Während die Strandbatterien des Bosporus gegen einen westlichen Augriff
wenigstens einigermaßen geschützt sind, liegt das Terrain für einen Angreifer
von Osten völlig frei. Die Strandbatterieu der Meerenge sind nur gegen einen
maritimen Angriff angelegt. Sie liegen dicht über dem Wasserspiegel und können
überall von dem hinter ihnen aufsteigenden Terrain eingesehen werden. Ein von
Armenien vordringendes russisches Korps würde an dem zeruirtcu Erzerum
vorüber seinen Marsch gegen den Bosporus fortsetzen können, ohne an irgend
einer Stelle durch andre als natürliche Verteidigungsabschnitte aufgehalten zu
werde». Wenn es also dazu kommen sollte, daß das christliche Krenz auf der
Hagia Sophia durch russische Hände wieder aufgerichtet wird, so werden diese
es voraussichtlich von Skutari hinübertragen.
Wir haben, ohne uns in solche Kombinatioiie» verlieren zu wollen, hier
nur anzudeuten versucht, welche Bedeutung der Besitz des armenischen Hoch¬
plateaus als militärische Operationsbasis für Rußland haben kann, nud wie
sehr der russischen Regierung demnach daran liegen muß, die Stimmung der
armenischen Unterthanen des Sultans auf und für diesen Fall vorzubereiten.
In den militärischen und politische» Kreisen des übrigen Europas nimmt
man an diesen Vorgängen meist nur ein geringes Interesse, schon deshalb, weil
es überaus schwierig ist, zuverlässige, ungefärbte Mitteilungen aus jenem ent¬
legnen Gebiet zu erhalten. Die Zahl fremder Konsulate ist dort sehr beschränkt.
England allein unterhält einige politische Agenten, deren Jnformationsgebiet
sich auch auf die von Europäer» sonst wenig besuchten Gegenden erstreckt. Die
englische Regierung ist daher mich die einzige, welche die russischen Agitationen
mit Aufmerksamkeit und Mißtrauen verfolgt. Sie allein hat tara» el» positives
Interesse; denn Großbritannien ist überhaupt die einzige Macht, welche uns diesem
Kriegstheater allenfalls aktiv auftreten und eine Besitznahme des Bosporus mit
den Waffen zu verhindern suchen würde. Die meisten englischen Konsulats-
Pvsten in Armeinen und Kleinasien werden denn auch mit höhern Offizieren,
meist solchen besetzt, welche in der indischen Armee gedient haben und mit den
Verhältnissen des Orients einigermaßen vertraut sind. Die britische Botschaft
in Konstantinopel erhält von diesen Offizieren sehr regelmäßige und eingehende
Berichte über die Zustände in Armenien und die Stimmung der christlichen
Bevölkerung. Diese Berichte bildeten die Unterlage für die Vorstellungen,
weiche das britische Knbinet bei der Pforte erhoben hat.
Es ist begreiflich, daß man in London nicht ohne Besorgnis dem An¬
wachsen des russischen Einflusses in Armenien zusieht und erzürnt ist über die
Indifferenz des Sultans, welche die Bevölkerung einer ganzen, dnrch leicht er¬
füllbare Zugeständnisse zu befriedigenden Provinz in die Arme Rußlands treibt.
Lord Dufferin hat wiederholt den Sultan persönlich darauf aufmerksam gemacht,
daß er Armenien verlieren werde, wenn nicht etwas für die Verbesserung der
dortigen Zustände geschehe. Abdul Hamid ist auch für seine Person nicht ab¬
geneigt, auf solche Reformvorschläge einzugehen. Abendländische Kulturzustände
imponiren ihm, und er würde sie gern auf orientalischen Boden verpflanzen.
Er ist kein Feind der Fremden, wie sein Oheim. Er hat die Unzulänglichkeit
der alttürkischen Staatseinrichtungen recht wohl erkannt. Am liebsten würde er
alles reformiren: Armee, Justiz, Verwaltung. Aber gerade diese Neigung, jede
Reformfrage zu verallgemeinern, das, was für eine Provinz vorgeschlagen ist,
ans alle Teile des Reiches ausdehnen zu wollen, seine Scheu vor langsamem,
stetigem Fortschritt, der Mangel an Sorge im Kleinen, an Verständnis für die
Bedürfnisse des Augenblicks — alles das hat verhindert, daß irgend eine prak¬
tische Verbesserung in der Provinzialverwaltnng durchgeführt, ja nur ernsthaft
in Angriff genommen worden ist. Weil man alles reformiren wollte, hat man
nichts verbessert. Immer sind es großartige Pläne, durchgreifende Änderungen,
welche von der Regierung aufgestellt worden und deren Durchführung ein ganz
andres Material an Beamten als das thatsächlich vorhandne erheischen würde,
Projekte, welche nicht nur bei diesen einen höhern Grad der Bildung, sondern
auch guten Willen und Eingehen auf die neuen Intentionen voraussetzen. An
diesen beiden Faktoren aber fehlt es vollständig. Der türkische Beamte ist na¬
mentlich in den niedern Graden der geschworne Gegner jeder Neuerung. Bei
dem alten Schlendrian kann er sich halten, unter geschickter Benutzung der Um¬
stände sogar zu den höchsten Stellen gelangen. Eine Verwaltung aber, die
Kenntnisse, Pflichttreue und Ehrlichkeit voraussetzt, drängt ihn aus dem Amte.
Freilich kann sie ohne seine Mitwirkung auch nicht eingeführt werden. In diesem
viroulus vitiosus haben sich seither alle administrativen Reformpläne bewegt.
Die armenische Frage ist noch keine brennende, aber sie enthält Zündstoff
genug, um zu einer solchen zu werden. Sie verdient eine größere Beachtung,
als ihr thatsächlich in den politischen Kreisen Europas zuteil wird. Diejenigen
Mächte wenigstens, welche eine weitere Schwächung der Türkei verhindern »der
aufhalten wollen, müssen die Agitationen nicht außer Acht lassen oder unter¬
schätzen, welche unter den Christen der asiatischen Provinzen Platz greifen. Seit
fünf Jahren hat der Sultan in alleu drei Weltteilen große Läudergebietc ab¬
treten müssen. Auf der Balkanhalbinsel schreitet der Abbröckclungsprvzcß langsam,
aber stetig vorwärts; auch in Afrika ist die Herrschaft des Sultanats durch
das Auftauche» der arabischen Nationalidce tief erschüttert. In Asien war der
Besitzstand der Monarchie bisher durch innere Zersetzung nicht geschwächt. Jetzt
tritt auch hier eine neue Gefahr ans. Wenn die türkischen Staatsmänner Ver¬
ständnis dafür hätten, so würden sie dieselbe durch Befriedigung der Armenier
leicht beseitigen und die Machtstellung der Pforte dort neu begründen können.
Dauert die dilatorische Behandlung aber fort, so ist der Abfall Armeniens mir
noch eine Frage der Zeit.
in Buch, welches eine noch lebende Persönlichkeit zum Gegenstande
hat, macht ans den Leser zunächst einen eigentümlichen, ich möchte
sagen befremdenden Eindrnck. Denn während sonst durch Lektüre
die reine Betrachtung angeregt wird und eben das Objekt, welches
der Schriftsteller behandelt hat, die Aufmerksamkeit auf sich lenkt,
entsteht hier unwillkürlich die Frage nach dem Zweck und nach der Wirkung des
Buches. Wir haben zunächst wohl die Empfindung, es sei nicht sehr diskret,
einem unsrer Mitmenschen, der noch dazu in der höchsten Stellung des Staates
wirkt und schafft, gewissermaßen mit der Laterne ins Gesicht zu leuchten, ihm
in die Karten zu gucken und alles, was sich in seinem öffentlichen und privaten
Leben erforschen laßt, ans dem Markte auszuschreien. Dazu gesellt sich dann
wohl noch der Argwohn, es sei eine politische Demonstration oder ein diplo¬
matischer Schachzuch mit der Veröffentlichung verbunden, und endlich fragen
wir, wie sich der betreffende abkonterfeite Herr zu dein Konterfei stellen möge,
ob er zufrieden oder unzufrieden mit dein Bilde sei, und wie er zu dem Schrift¬
steller stehe, der dies Bild verfertigt. Alle solche Erwägungen haben natur¬
gemäß, mit noch ander» Gedanken und Vermutungen verbunden, schon bei der
Herausgabe des Buches „Graf Bismarck und seine Leute" in der Presse wie im
Privatverkehr vielen Tadel und viele Verdächtigungen auf das Haupt des Bio-
graphen Moritz Busch gehäuft, welcher soeben mit einem Buche über dasselbe
Thema, aber unter dem Titel Unser Reichskanzler (Leipzig, Fr. Wilh.
Grunow, 1884) hervorgetreten ist.
Der unparteiische Leser möchte sich indessen wohl bald bei dem Gedanken
beruhigen, daß das Genie sich in einer Ausnahmestellung befindet, indem es,
vom Ruhme, der doch nur wenigen zu teil wird, hinausgehoben über deu Kreis
der gewöhnlichen Sterblichen, dazu bestimmt ist, gesehen zu werden, und auch
die Kraft hat, sich selbst über eine falsche oder gar feindliche Beurteilung ver¬
achtungsvoll so leicht hinwegzusetzen, wie die Götter im Liede der Parzen von
Bergen zu Bergen hinüberschreitcn. Der wohlwollende Leser aber wird dem
Biographen vollen Glauben schenken, der nicht allein mit Worten, sondern mehr
noch durch das zwischen den Zeilen atmende Gefühl versichert, er halte es für
seine Pflicht, das Seinige zu dem Bilde beizutragen, welches die Geschichte
dereinst von dem großen Kanzler entwerfen werde. Die Bücher von Moritz Busch
siud voller Pietät, und man könnte sagen: dieser Schriftsteller bringt sich selbst
zum Opfer für sein Ideal. Mehr kann man aber von keinem Menschen
verlangen.
Höchst anspruchslos heißt es in dem Titel: Studien zu einem Charakter¬
bilde, und bescheiden sagt der Verfasser in der Vorrede, er sei zu wenig Künstler,
um das Charakterbild selbst zu entwerfen, er biete daher nur Skizzen, Beiträge.
Sehen wir uns in diesen Beiträgen um, damit wir deutlicher erkennen, um was
es sich handelt.
Der Verfasser hat sein Buch in zwölf Kapitel geteilt. Der erste Band
hat deren fünf, und zwar: 1. Das politische Glaubensbekenntnis und der staats¬
männische Sittenkodex des Kanzlers, 2. Sein Verhältnis zu deu göttlichen
Dingen, 3. Die Junkerlegcnde, 4. Diplomatische Indiskretionen, und ü. Bismarck
und Österreich. Der zweite Band hat siehe» Kapitel: 1. Bismarck und die Fran¬
zosen, 2. Der Reichskanzler und Rußland, 3. Bismarcks Stellung zu den
Ansprüchen der Polen, 4. Bismarck und die Presse, 6. Der Kanzler als Staats¬
sozialist, 6. Bismarck als Redner und der Humorist in ihm, und 7. Der Fürst
als Privatmann.
Hören wir einige der bemerkenswertesten Stellen aus diesen Kapiteln,
welche deu Reichskanzler in so verschiedenartigen Eigenschaften vorführen. Im
ersten Kapitel (Seite 90 ff.) heißt es:
Wir kommen nun zu den Hauptmaximen des staatsmännischen Sittenkodex
unsers Reichskanzlers, von denen sich einige schon in den bisher zitirten Äußerungen
desselben spiegelten. Staatsmännisch, politisch denken und handeln, heißt zweck-
bewußt, dein geschichtlichen Leben und der Natur der Dinge entsprechend, also
sachgemäß, weitschaucnd und billig denken und handeln, nur das Notwendige wollen
und nur das Erreichbare erstreben, das Gute nicht verschmähen, weil das Beste
noch nicht zu gewinnen ist. Das gilt von den äußern nicht minder wie von den
innern Angelegenheiten. Die Politik kennt keine Gefühle, oder richtiger, sie haf
selbst keine, weiß aber die von andern für ihre Zwecke zu benutzen, noch weniger
giebt sie Leidenschaften Raum, Sie richtet sich ein, bequemt sich den Umständen
an, verfährt nach dein Schillerschen Worte:
Gradaus geht des Blitzes,
Geht des K.mmccnballcs fürchterlicher Pfad,
---Die Straße, die der Mensch bcsnhrt,
Worauf der Segen wandelt, diese folgt
Der Flüsse Lauf, der THKlcr freien Krumme».
Der Staatsmann weiß von keiner Rache. Er führt Krieg, nur um den Frieden
zu sichern, er vermeidet ihn, solange es ohne Schaden möglich, er beschleunigt
ihn, sobald er unvermeidlich geworden ist, da rechtzeitige Offensive die beste
Defensive ist. Unser Reichskanzler ist immer in erster Linie durch sein undefinir-
bares Genie, durch seinen Politischen Instinkt in der Auffindung von Mitteln und
Maßregeln angesichts neuer historischer Situationen ein Staatsmann höchsten
Ranges, in zweiter Reihe aber dadurch, daß er die vbi'geu Regeln staatsmännischer
Kunst sich allezeit zur Richtschnur dienen läßt. Er riet 1866, von den eroberten
Landstrichen mir Hannover, Hessen und Nassau mit Frankfurt zu behalten, weil
dadurch eine Kluft zwischen der östlichen und westlichen Hälfte Preußens aus¬
gefüllt wurde und die Bevölkerung der preußischen im großen und ganzen homogen
war. Er schonte Österreich, um sich die Möglichkeit einer einstigen Verständigung
nicht durch Erweckung von bleibender Rauküne abzuschneiden; er beschleunigte deu
Friedensschluß nach Möglichkeit, um der Beteiligung Frankreichs bei Fortsetzung
des Krieges vorzubeugen, da eine geringe französische Streitmacht ausgereicht
hätte, um die inzwischen numerisch sehr stark gewordnen süddeutschen Truppen
einig und unternehmend zu machen; er schonte im Frieden die besiegten süd¬
deutschen Gegner und gewann dafür wertvolle Bündnisse für die Zukunft. Er
nahm das Elsaß und einen Teil Lothringens nicht, weil sie einmal deutsch gewesen
waren — „das ist Professorenidce," sagte er zu uns während des Krieges mit
Frankreich —, sondern weil die dominirende Stellung von Straßburg und der
einspringende Winkel von Weißenburg Süddeutschland vom Norden militärisch
abschnitt und plötzlichen Überfällen aussetzte. Er ließ diese Lande nicht zur
preußischen Provinz macheu, wie mancher wohlmeinende Patriot wünschte, sondern
bewirkte, daß sie Reichsland wurden, weil durch das gemeinsame Eigentum des
Südens und des Nordens Deutschlands an dieser Eroberung ein gemeinsames
Interesse und ein starkes Bindemittel zwischen deu Staaten nördlich und denen
südlich vom Main geschaffen wurde. Bei jeder Verhandlung über diese und
später auftauchende Fragen bekundete er die Selbstbeherrschung, die Vorsicht, den
Weitblick des echten Staatsmannes und den mit diesen Eigenschaften verwandten
billigen Sinn, bei keiner ließ er sich durch Gefühle von den Entschlüssen, die ihm
such- und zweckmäßig erschienen, ablenken.
Für diese Sätze finden sich Belege in mündlichen Äußerungen des Kanzlers,
welche in dem weitern Verlaufe des Kapitels folgen. Doch wir gehen zu einem
andern Abschnitt über, nachdem wir zuvor nur noch den Schlußsatz des ersten
Kapitels angeführt haben, welcher lautet:
Man hat dem Kanzler einmal vorgeworfen, er meine, daß Gewalt vor Recht
gehe, und er habe dies rund heraus öffentlich erklärt. Er hat dies geleugnet,
aber das Echo wiederholt den Vorwurf unbelehrbar noch heute. Er hat die
Sentenz in der That nicht gebraucht, aber wie, wenn dies geschehen wäre? Wäre
sie denn so falsch? Ist Gewalt, Durchbruch durch veraltete oder gleich naturwidrig
geschaffene Rechte nicht oft notwendig, nicht oft viel wohlthätiger als das Recht,
und wer bestimmt in gewissen Fällen, was Recht ist? Der eine urteilt darüber
so, der andre anders, beide urteilen nach ihren Vorstellungen, ihren Verhältnissen,
ihren Interessen, und eine Instanz über ihnen, die das nicht thäte, giebt es nicht.
Jener andre Abschnitt ist das Kapitel „Bismarck und Osterreich," und
die min folgende Stelle beleuchtet ebenso sehr die allgemeinen staatsmännischen
Maximen wie die besondre Politik des Kanzlers Österreich gegenüber. Es heißt
auf Seite 421 ff.:
In Wien war von solcher Verständigung ses handelt sich um die Verhaus
lungen vor dem .Kriege 1366^ nicht die Rede, und die Möglichkeit eines Krieges,
für den sich Bismarck inzwischen an Italien einen Bundesgenossen gewonnen hatte,
wurde von Woche zu Woche mehr zur Wahrscheinlichkeit. Die Liberalen in
Preußen und im übrigen Deutschland thaten dagegen, was sich mit hochtrabenden
Erklärungen und Verwahrungen thun ließ, verdummten den drohenden Krieg als
einen uur dynastischen Zwecken dienenden, drohten mit dem Fluche der Nation
und der Strafe des Landesverrats und gefielen sich in ähnlichen pathetischen Possen.
Wichtiger war, daß es in Berlin einen zu Österreich hinneigenden nud mit ihm
liebäugelnden Minister gab, und noch wichtiger, daß um Hofe an hoher Stelle
ans den König gewirkt wurde, und daß fürstliche Verwandte außerhalb Preußens
in ähnlicher Weise thätig waren. Von größter Bedeutung aber war, daß der
Monarch uach eignem Gefühle sich lange Zeit nicht entschließen konnte, definitiv
mit Österreich zu brechen und sich mit einer Macht wie Italien zu verbünden,
und daß seine Bedenken erst schwanden und einem Entschlüsse Raum gaben, als
Bismarck ihn mit bündigen Beweisen überzeugte, daß er deu Degen ziehen müsse,
wenn neben dein Interesse Preußens nicht auch dessen Ehre Schaden leiden sollte.
So erfolgte die Mobilmachung der Armee, erst eines Teils derselben, dann aller
Korps. Bismarck hegte Vertrauen auf den Ausgang des Kampfes, und wenn
derselbe ihm trotzdem als ein Wagnis erscheinen mußte, bei dem für Preußen
und Deutschland die höchsten Güter auf dem Spiele standen, so gebot ihm der
Gewinn, der für beide mit einem Siege der preußischen Fahnen verbunden war,
entschlossenes Vorwärtsschreiten auf dem betretenen Wege. Vorher aber machte er
noch einen Versuch, sich mit Österreich zu verständigen und zwar auf völlig neuer
Basis. Eine Anspielung darauf findet sich in seiner Zirkülardepesche vom 4. Juni 1366,
wo es heißt: „Auslassungen einflußreicher österreichischer Staatsmänner und Rat¬
geber des Kaisers sind dem Könige aus einer authentischen Quelle mitgeteilt worden,
welche keinen Zweifel lassen, daß die kaiserlichen Minister Krieg um jeden Preis
wünschen, teils in der Hoffnung auf Erfolg im Felde, teils um über innere
Schwierigkeiten hinwegzukommen — ja selbst mit der ausgesprochenen Absicht, den
österreichischen Finanzen durch preußische Kontributionen oder durch einen ehren¬
vollen Bankerott Hilfe zu verschaffen." Später, 1369, teilte er dem sächsischen
Minister von Friesen in einer Unterredung näheres darüber mit. Noch Genaueres
bin ich in der Lage zu berichten, beiläufig uach einem Gespräche, das ich am
23. Januar 1333 hatte. Mein Gewährsmann erzählte: j^Das nur folgende ist
„aus der denkbar besten Quelle" geschöpft und „in allen seineu Teilen durchweg
historisch," wie verschiednen Anfechtungen gegenüber vom Verfasser erklärt und von
dem Organe deS Reichskanzlers, der Nordd. Allgem. Zeitung, bestätigt worden ist.^
„Kurz bevor die ersten Schüsse fielen j>s muß nach dein Obigen etwa vierzehn Tage vor
Ausbruch des Krieges gewesen scinj, schickte Bismarck einen Sachsen, den damals in
Berlin lebenden Bruder des österreichischen Generals von Gablcnz, nach Wien zum
Kaiser mit Vorschlägen zum Frieden ans Grund des Dualismus und gemeinschaftlicher
Wendung gegen Frankreich, Er ließ ihn, vorstellen, wir hätten 6- bis 700 000
Mann auf den Beinen, sie auch eine Menge Leute. Da sollten wir uns lieber
vertragen und eine Schwenkung, eine große Frontveränderung vornehmen, nach
Westen, beide zusammen, wir im Norden, sie im Süden, gegen Frankreich, und
das Elsaß wiedernehmen, Straßburg zur Bnndcsfestung machen, Frankreich wäre
jetzt schwach gegen uns. Es würde kein gerechter Grund zum Kriege mit den
Franzosen vorhanden sein, aber wir könnten uns damit entschuldigen, vor uns,
daß es auch kein gerechtes Verfahren gewesen sei, als Frankreich uns das Elsaß
und mitten im Frieden Straßburg genommen habe. Wenn wir den Deutschen
die Morgcugabe brächten, so würden sie sich unsern Dualismus gefallen lassen.
Der Dualismus ist uralt in Deutschland, Jngcivoncn und Jstävonen, Welsen und
Ghibellinen, Hochdeutsche und Plattdeutsche, Nun denn, Gablenz kam mit seinem
Auftrage vor den Kaiser, welcher der Sache nicht ungeneigt schien, aber erst den
Minister des Auswärtigen hören zu müssen erklärte, Mensdorff, Der war nicht
für solche Gedanken geschaffen, aber der Sache auch nicht gerade entgegen; er
meinte, er müsse mit den andern Ministern reden. Die waren aber für den
Krieg gegen uns. Der Finanzminister sagte — er dachte, sie würden uns
schlagen —, erst müßte er fünfhundert Millionen Kricgskontributiou haben von
uns oder eine gute Gelegenheit, den Staatsbankerott zu erkläre». Der Kriegs¬
minister war mit Bismnrcks Gedanken eigentlich nicht unzufrieden; erst müsse aber
gerauft werden, meinte er, dann könnten wir uns miteinander vertragen nud zu¬
sammen gegen die Franzosen losgehen. So kam denn Gablenz unverrichteter
Sache zurück, und einige Tage nachher reisten der König und sein Minister ans
den böhmischen Kriegsschauplatz ab. Es war schade, die alte Einheit oder vielmehr
Uneinigkeit, der Frankfurter Bund wäre aufgelöst worden, aber es wäre nach
anßen hin keine Zerreißung gewesen. Der Nordbund und der Südbuud sollten
gegen das Ausland in ein enges Bündnis treten mit gegenseitiger Garantie ihres
Besitzes an Gebiet.
Ganz besonders interessant erscheint dann noch eine Stelle im zweiten
Bande (S. 53), wo es heißt:
1370 war dieses Bedenken gehoben, Dentschland hinreichend gerüstet, und
andrerseits hatte sich der Kanzler überzeugt, daß die konstitutionelle Ära in Frank¬
reich den Krieg nicht verhindern, ja nicht einmal lange mehr verzögern würde.
Die Arkndier wünschten ihn, die Ultramontanen, die Kaiserin an der Spitze, be¬
trieben ihn mit Eifer. Frankreich wurde zusehends militärisch stärker, es bereitete
Bündnisse vor. War im Verzüge bisher Hoffnung gewesen, so war jetzt Gefahr
darin, und daraus ergab sich für den Staatsmann die Pflicht, die Politik des Auf-
Haltens der Entscheidung mit einer Politik der Beschleunigung des absolut Unver¬
meidlichen zu vertauschen. Es mußte im Interesse Deutschlands und nicht minder
im Interesse Europas ein Weg gefunden werden, die noch nicht vollständig kampf¬
bereiten Franzosen so zu fcisftn, daß sie ans ihrer Reserve heraustraten, es war
hohe Zeit dazu, einem Überfall von seiten derselben zu begegnen und die von ihrer
Mißgunst und Begehrlichkeit drohende Gefahr für deu Nachbar im Osten, womög-
lich für immer, zu beseitigen. Ihre Reizbarkeit bot in erster Linie das Mittel dazu,
ihr überstarkes Selbstgefühl, ihre geringe Kenntnis des Gegners und ihre daraus
resultirende Zuversichtlichkeit halfen weiter.
Man darf hier Wohl zwischen den Zeilen lesen/
Ich kann nicht leugnen, daß mich bei solchen Stellen von Buschs Buche
ein eigentümliches Gefühl überkam, welches ich oft bei Lektüre von historischen
und andern mit der hohen Politik beschäftigten Schriften gehabt habe: nämlich
eine Art von Frömmigkeit, die sich mit der Bewunderung vor dem großen
Mann der Geschichte vermischt. Denn, sagte ich mir, wie dankbar mußt dn
gegen Gott sein, daß du von ihm gerade in ein Land gesetzt worden bist, das
auf der siegreichen Seite ist, und wie gnädig wird es von Gott sein, wenn er
dich auch ferner auf der Seite des Stärkeren wohnen läßt. Verhält es sich
doch offenbar mit den politischen Ereignissen geradeso wie mit den Elementen.
Hier ist ein Gewitter, dort ein Erdbeben, hier eine Überschwemmung, dort ein
feuerspeiender Berg, und in der Politik ist „von dem Rechte, das mit uns ge¬
boren wird," ebensowenig die Rede wie in der Natur. So sagt auch Bismarck
(Bd 1, S. 114): „Wie Gott will! Es ist hier alles doch nur eine Zeitfrage,
Völker und Menschen, Thorheit und Weisheit, Krieg und Frieden, sie kommen
und gehen wie Wasserwogen, und das Meer bleibt." Deshalb kommt mir auch,
was manche Historiker von einer Entwicklung der Kultur und vom Einfluß des
Christentums auf die europäischen Nationen reden, zwar wohlgemeint, aber nicht
recht überlegt vor. Denn was soll man daraus schließen, wenn der hervor¬
ragendste Staatsmann selbst in der christlichen Kirche, die doch die Verkörperung
des vom Christentum durchwehten und durchwehten Kulturfvrtgangs darstellt,
keine andern Grundsätze des Staatsgedankens findet, als sie schon zur Heidenzeit
giltig waren? „Auch privatim — heißt es Bd. 1, S. 139 — sprach Bis¬
marck sich wiederholt und noch im November 1883 dahin aus, daß im Kampfe
zwischen Königtum und Priestertum viel mehr ein Streit um weltliche Macht
borliege als ein Streit um Dogmen, und daß er in der römischen Kurie mehr
eine politische als eine christliche Institution erblicke, in dem Streite zwischen
Königtum und Priestertum aber das letztere nicht bloß heute und in Rom, son¬
dern schon zur Zeit von Agamemnon und Kalchas, in derjenigen der ägyptischen
Priester unter deu Pharaonen nud in derjenigen der Priesterkaste der alten
Perser, kurz in: Heidentums wie in: Christentums seine wirksamste Waffe in dem
Glauben besessen habe, daß der Priester deu Willen Gottes besser kenne als
der Laie, und also auch der König."
Aber noch eine andre Betrachtung drängte sich mir bei Lektüre dieses
Buches auf. Immer habe ich Geschichtsbücher mit einem instinktiven Mißtrauen
gelesen und mir auch bei den Werken unsrer hervorragendsten Historiker, eines
Macaulah, Ranke u. a. gesagt, es sei zwar möglich, daß hier ein Teil der
Wahrheit geboten werde, aber durchaus gewiß sei es nicht. Buschs Buch
mit seinen demi Fürsten abgelauschten Ansichten über den Wert der Staats---
archive befestigt in mir die Befürchtung, daß neunzig Prozent der sogenannten
Weltgeschichte nichts als Vermutung der Geschichtschreiber seien, und daß ein
verständiger Mann vielleicht besser thue, die Werke der Dichter als die Geschichts¬
bücher zu lesen. Denn in jenen findet er doch wenigstens die belehrende Dar¬
stellung allgemein menschlicher Eigenschaften und Beziehungen — was aber
findet er in diesen? Die besten und sichersten Quellen des Historikers sind die
aktenmäßigen Berichte der Gesandten und Minister und die Aufzeichnungen der¬
jenigen Personen, welche einflußreichen politischen Persönlichkeiten sehr nahe
standen. Wie verhält es sich aber mit diesen hochgestellte!! Leuten? Busch
sagt (Bd. 2, S. 433): „Ich konnte nach eigner Beobachtung und aus sicherster
Quelle Dutzende von Belegen beibringen, wen» ich sage: nirgends unter der
Sonne vielleicht giebt es mehr Gleisner, Ränkespinner und Lügenschmiedc,
nirgends zwischen den beiden Polen der Erdachse mehr Eitelkeit, Verstellung
und Tücke, Scheinwesen und Strebertum als in der Sphäre der diplomatischen
Welt und auf dem Parkett, darauf das höhere Hofgesinde sich bewegt." Über
die Bundestagsgesandter, die doch in ihrer Art gerade so vernünftige und ein¬
sichtsvolle Männer waren, wie überhaupt Minister und Gesandte zu sein Pflegen,
schreibt Bismcirck im Mai 1851 (Bd. 1, S. 256): „Ich habe nie daran ge¬
zweifelt, daß sie alle mit Wasser kochen, aber eine solche nüchterne, einfältige
Wassersuppe, in der auch nicht ein einziges Fettange zu spüren ist, überrascht
mich. Schickt den Schulzen X. oder Herrn von ?arky aus dem Chausseehause
her, wenn sie gewaschen und gekämmt sind, so will ich in der Diplomatie Staat
mit ihnen machen. Jeder von uns stellt sich, als glaubte er vom andern, daß
er voller Gedanken und Entwürfe stecke, wenn ers nur aussprechen wollte, und
dabei wisse» wir alle zusammen nicht um ein Haar besser, was aus Deutschland
werden wird als Ducker Sommer. Kein Mensch, selbst der böswilligste Zweifler
von Demokrat, glaubt es, was für Charlatanerie und Wichtigthuerei in dieser
Diplomatie steckt." (Bd. 1, S. 266:) „Die Ruhe und Leichtigkeit, mit welcher er
fProkeW falsche Thatsachen aufstellt und wahre bestreitet, übertrifft meine in dieser
Beziehung ziemlich hochgespannter Erwartungen und findet ihre Ergänzung in
einem überraschenden Grade von Kaltblütigkeit im Fallenlassen eines Gegen¬
standes oder Veränderung der Front, sobald das Falsum, von dem er ausgeht,
nnausweichbar zur Anerkennung gebracht wird." Von demselben Herrn später
(Bd. 1, S. 260): „Die Wahrheit war ihm ganz gleichgiltig. Ich entsinne
mich, einmal, in einer großen Gesellschaft, wurde von einer österreichischen Be¬
hauptung gesprochen, die nicht mit der Wahrheit stimmte. Da sagte er, daß
ichs hören sollte, mit erhobener Stimme: Wenn das nicht wahr wäre, da
hätte ich ja im Namen der kaiserlich-königlichen Regierung gelogen! Dabei
sah er mich an. Ich sah ihn wiederum an und sagte gelassen: Allerdings, Ex¬
cellenz." Aber vielleicht ist Prokesch eine Abnormität? Hören wir Bismarck
über preußische Diplomaten. S. 278 des ersten Bandes heißt es vom Grafen
Goltz: „Gesehen, ja in gewissem Sinne, ein rascher Arbeiter, unterrichtet, aber
unbeständig in seinen Auffassungen von Personen und Verhältnissen, heute für
diesen Mann, diesen Plan eingenommen, morgen für einen andern, mitunter fürs
Gegenteil. Und dann war er immer in die Fürstinnen verliebt, an deren Hofe
er beglaubigt war, erst in Amalien von Griechenland, dann in Eugenien." Von
Arnim auf der folgenden Seite: „Aber der — heute so, morgen so. Wenn
ich in Varzin war und die Berichte zusammenlas, da hatte er seine Meinung
über die Leute doch jede Woche ein paarmal total gewechselt, je nachdem sie
ihn freundlich angesehen hatten oder nicht. Ja, er hatte eigentlich mit jeder
Post, manchmal mit einer und derselben Post, andre Ansichten." Von Graf
Bernstorff heißt es (S. 280): „Dahin habe ichs doch noch nicht gebracht, mit
behäbiger Breite Seiten und Bogen über die unbedeutendsten Dinge vollzu¬
schreiben wie der." Was über Bunsen, über Savigny und viele andre Männer
von Ansehen, Ruf und hoher Stellung im Staate mitgeteilt wird, möge der
Leser selber in dem Buche nachsehen.
Sicher ist, daß die Gestalt Bismarcks, als eines Mannes, wie er im Laufe
vieler Jahrhunderte nur einmal geboren wird, aus allen Kleinlichkeiten, Ränken,
Mißgriffen, Frevelthaten und Unglttcksfällen der Politik nur umso reiner und
höher emporragt. Sein Blick ist immer auf das Wirkliche und auf das That¬
sächliche gerichtet, und sein Streben enthält immer wahre Handlung und ist,
im Gegensatze zu der Spielerei, dem Prunken und dem egoistischen Klügeln
andrer ein solches, das wahrhafte Notwendigkeit in sich trägt, gleich dem Walten
eines Naturgesetzes. S. 219 und 220 des ersten Bandes heißt es:
Der Reichskanzler ist als Junker geboren und hat eine Zeit lang als solcher
gelebt und teilweise die Ansichten seiner Stnndesgenossen vertreten. . . . Wenn
man statt Junker Soldat sagen, wenn man statt über das Junkertum Bismarcks
über seinen „Militarismus" klagen wollte, so hätte das eher Sinn, wenn auch
darin keine Berechtigung zum Tadeln läge. Das, was man als Militarismus
bezeichnet, ist im letzten Grunde die preußische Zucht, die Disziplin, kraft deren
alle staatlichen Kräfte, alle Glieder des Regierungsorganismus in seineu ver¬
schiednen Abteilungen auf ein einziges Ziel hinarbeiten, das System, wo allen
von unten hinauf bis zur obersten Stufe mit Einschluß des Souveräns Gehorsam,
Unterordnung seiner Neigungen und Meinungen unter das nächsthöhere, zuhöchst
unter das Staatsinteresse die erste Tugend ist. Alles klappt bei diesem System,
alles greift in einander, alles geht ohne Aufenthalt von statten, wie in der Armee,
die nur der deutlichste Ausdruck des Geistes, vou welchem alle Einrichtungen und
Angehörigen des Staates durchdrungen sind, und die Haupt- und Zentralschule ist,
welche diesen Geist der Bevölkerung mitteilt. Ein solches System, von dem Bismarck
selbst einmal geäußert hat: „Ich habe den Ehrgeiz, persönlich einmal das Lob zu
verdienen, welches die Geschichte der preußischen Disziplin erteilt hat," verträgt
sich sehr wohl mit einem reichlichen Maße politischer Freiheit, . , , Bismarck ver¬
körpert das Ideal des preußischen Offiziers, des preußischen Beamten, nicht das
Ideal des preußischen Junkers, das ist die Moral unsrer Betrachtung,
An einer andern Stelle spricht Busch davon, daß es die Pflicht, daß es
Kants kategorischer Imperativ sei, der im Kanzler gleichsam verkörpert erscheine.
Ich möchte meine Meinung dahin aussprechen, daß wohl noch mehr und höheres
im Kanzler zu finden sei. Ich denke, er würde ein ebenso großer Franzose
oder Engländer, oder Grieche oder Römer wie Preuße geworden fein, denn
er ist durch das groß, was ganz allgemein menschlich groß ist. Das Genie
trägt die Souverünetcit selbst in sich und handelt leicht, frei und stark aus der
Machtvollkommenheit der eignen überragenden Persönlichkeit heraus.
Ich komme nnn auf einen eigentümlichen und für die Beurteilung des
Kanzlers höchst wichtigen Punkt, auf etwas, das vielleicht von manchem Leser
als eine Schwäche an dem gewaltigen Manne aufgefaßt werden könnte, manchen
andern aber, zu denen auch ich mich zähle, wohl ebenfalls als ein Beweis
seiner Genialität erscheint. Busch schreibt (Bd. 1, S. 11ö ff.):
Der Kanzler hat sich mit unvergänglichen Ruhme bedeckt und seinem Volke
im Kreise der Nationen eine Stellung errungen, die alles überragt, was ihm in
frühern Jahrhunderten geboten war. Mancher wird meinen, er müsse auf die Reihe
seiner Thaten und Schöpfungen zurückblicken, wie Gott Vater am siebenten Tage
auf die von ihm erschaffene Welt. „Und Gott sahe an alles, was er gemacht hatte,
und siehe da, es war sehr gut." Aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein:
noch jetzt giebt es bei ihm trübe Augenblicke, Stimmungen voll Mißmut und Un¬
zufriedenheit mit seinen Leistungen und seinem Schicksale, die förmlich betroffen
machen. ... Es war in Vcirzin, und er saß, wie das seine Gewohnheit nach dem
Essen, in der Abenddämmerung am Kaminofen im großen Hinterzimmer, wo Rauchs
kranzwerfcnde Viktoria steht. Nachdem er eine Weile schweigend vor sich hingesehen
und von Zeit zu Zeit das Feuer mit einigen Kienäpfeln genährt hatte, begann er
zu klagen, daß er von seiner politischen Thätigkeit wenig Freude und Befriedigung
gehabt habe. Niemand liebe ihn deshalb. Er habe niemand damit glücklich ge¬
macht, sagte er, sich selbst nicht, seine Familie nicht, und auch andre nicht. Einige
von der Gesellschaft wollten das nicht gelten lassen und erwiederten, eine ganze
große Nation, Er aber fuhr fort: „Wohl aber viele unglücklich, Ohne mich hätte
es drei große Kriege nicht gegeben, wären achtzigtausend Mann nicht umgekommen,
und Eltern, Brüder, Schwestern, Witwen trauerten nicht, , , . Das habe ich indes
mit Gott abzumachen. Aber Freude habe ich wenig oder gar keine gehabt von
allem, was ich gethan habe, dagegen viel Verdruß, Sorge und Mühe," was er
dann noch weiter ausführte. . . . Gewiß ist nur, daß er sich in den letzte» Jahren
wiederholt in beinahe denselben Worten und Wendungen ausgesprochen hat und
niemals durch Einrede zu beschwichtigen gewesen ist.
Busch meint, daß körperliche Zustände, Überreiztheit durch Denken und
Sorgen, ein unbewußter Durchbruch seines christlichen Empfindens derartige
Äußerungen veranlasse. Aber diese Erklärung genügt mir nicht. Um zu ver¬
stehen, wie es möglich ist, daß ein so gewaltiger Charakter, ein Mann, der
gleichsam die verkörperte Thatkraft ist, sich Stimmungen hingeben kann, die an
den Weltschmerz der elegischen Seele gemahnen, müssen wir von einer andern
Stelle ans in die Tiefe seines Geistes hinabzusteigen versuchen. Wir müssen
den Fürsten, welcher Fürst nicht nur dem Titel nach, sondern als Mensch unter
seines gleichen ist, in dem Punkte beobachten, welcher der wichtigste, weil all¬
gemein menschliche ist, nämlich hinsichtlich seiner Anschauung der eignen Natur
und des Verhältnisses derselben zur Gottheit. Wie steht es bei dem Fürsten
um das „Erkenne dich selbst"? Hier scheint mir das rechte Mittel zum Ver¬
ständnis seiner Persönlichkeit gegeben zu sein.
Aus den Mitteilungen, welche uns über die religiöse Anschauung des
Reichskanzlers gemacht werden, erhellt, daß er nicht zu den Männern gerechnet
werden kann, welche gleich einem heiligen Bernhard oder heiligen Borromeo den
Schwerpunkt ihres Lebens und Wirkens in das Gebet verlegen und daß er
auch nicht eigentlich einer bestimmten Konfession zugezählt werden kann. Aber
der Fürst gehört auch uicht zu den Männern, welche gleich einem Friedrich dem
Großen oder Napoleon der Ansicht sind, daß Gott den Sieg immer demjenigen
Heere verleihe, welches die stärksten Bataillone in den Kampf führt. Er hat
selbst gesagt (Bd. 1, S. 130): „Wenn ich nicht ein strammgläubiger Christ
wäre, wenn ich die wundervolle Basis der Religion nicht hätte, so würden Sie
einen solchen Bundeskanzler garnicht erlebt haben." Er gebraucht die Heils¬
mittel der Kirche, wie z. B. das heilige Abendmahl, und sicherlich, bei der Größe
seines Charakters, nicht nur zum Schein und in Rücksicht auf seine Umgebung,
sondern in der aufrichtigen Überzeugung, damit seiner Seele zu nützen.
Durchaus in logischem Zusammenhang mit dieser Behandlung seiner Seele
steht die Behandlung seines Körpers. Der Fürst gehört weder zu den Männern,
welche ihren Leib dem Leibarzt oder Hausarzt übergeben, damit dieser für seine
Wohlfahrt sorge, noch anch gehört er zu denen, welche überhaupt keinen Arzt
nehmen und selbst die Wächter ihrer Gesundheit sind. Er steht der medizinischen
Wissenschaft etwa ebenso gegenüber wie der theologischen, das heißt, er glaubt,
es könnte möglicherweise doch wohl Heilmittel gegen die Krankheiten geben, aber
er bindet sich nicht an eine bestimmte Schule. Es wird berichtet, daß der Fürst
mit freiem Schritt aus der allopathischen in die homöopathische Richtung und
dann wieder zu Spezialkuren übergeht.
Nun ist es aber eine bemerkenswerte Thatsache, daß gerade diejenigen Männer,
welche wir als unerbittliche Denker zu bezeichnen pflegen, in diesen Punkten eine
große Schärfe und Klarheit der Auffassung gezeigt haben. Diese haben mit der Er¬
forschung der eignen Natur, sowohl des Leibes als der Seele, angefangen, eine solche
Erkenntnis für das wichtigste gehalten und die Beschäftigung mit allen andern
Dingen, namentlich der Politik, erst auf das Studium des ihnen zunächst liegenden
folgen lassen. Denn am nächsten liegt jedem Menschen offenbar die eigne Beschaffen¬
heit, und ernste Denker haben wohl darauf hingewiesen, daß erst aus der Selbst-
erkenntnis heraus die Erkenntnis der umgebenden Welt zu erwachsen habe.
Denn die Gesetze, mittelst welcher die Völker regiert werden — so sagen sie —,
werden der Moral und Naturphilosophie gleichsam aus dem innersten Leibe
herausgeschält, diese aber erblühen aus der Kenntnis der menschlichen Natur.
Jene unerbittlichen und ernsten Denker nun sind immer der Überzeugung gewesen,
daß die theologische Wissenschaft zwar insofern Wert habe, als sie aufzeichne
und mitteile, was die frömmsten Geister über Gott und dessen Verhältnis zum
Menschen geäußert, daß sie aber keine Heilsmittel der Seele zu verordnen habe,
sondern daß hinsichtlich der Seelenbeschaffenheit jeder Mensch seinem Gott un¬
mittelbar gegenüberstehe. Und so haben sie mich der medizinischen Wissenschaft
zwar den Wert zugestanden, daß sie die Ansichten der berühmtesten Ärzte über
die Beschaffenheit des Körpers und seine Krankheiten mitteilen könne, aber sie
haben ihr nicht die Fähigkeit beigemessen, Heilmittel verordnen zu können, son¬
dern erkannt, daß hinsichtlich der Beschaffenheit seines Körpers jeder Mensch
unmittelbar mit der Natur zu verkehren habe.
Wenn wir nun sehen, daß der Fürst in diesen fundamentalen Stücken der Selbst¬
erkenntnis noch nicht zu den unerbittlichen Denkern gehört, sondern zum Glauben
neigt, so finden wir darin auch die Erklärung, warum er noch zu Zeiten an der
segensreichen Wirkung seiner eignen eminenten Leistungen zweifelt. Diese Zweifel
und Bedenken sind darin begründet, daß im Haupte des Fürsten noch keine völlige
Klarheit über seine eigne Natur und deren Wirkungskreis herrscht. Wäre er be¬
reits vollständig von der wahren Bedeutung eines Helden der That und von der
weltgeschichtlichen Bedeutung der eigenen Persönlichkeit durchdrungen und über¬
zeugt, so würden ihm derartige Stimmungen wohl nicht kommen. Er würde
sich alsdann sagen, daß er ein mächtiges Werkzeug in der Hand des Gottes
sei, der die Geschicke der Volker leitet, daß er sich aber über die Folgen seiner
Handlungen deshalb nicht zu grämen brauche, weil überhaupt kein Mensch wissen
und sagen kann, welcher Art die Folgen so großer politischer Eingriffe sein
werden. Denn diese Folgen sind nicht heute oder morgen, auch nicht in hun¬
dert oder tausend Jahren abgeschlossen, sondern sie sind unendlich. Aus eben
diesem Grunde aber, nämlich der Unabsehbarkeit der Folgen wegen, wird der
Held des Gedankens sich nicht mit Politik befassen, wenn er es irgend ver¬
meiden kann. Er wird schwer den Mut finden, das Leben seiner Mitmenschen
aufs Spiel zu setzen wegen einer Unternehmung, über deren unendlichen Ver¬
lauf er keine Kenntnis besitzt. Denn gesetzt auch, es wäre jemand so scharf¬
sichtig, den Verlauf eines Krieges vorher beurteilen zu können, so würden ihm
doch Bedenken kommen, ob für sein Volk der Sieg oder die Niederlage heil¬
samer wäre. Er würde sich sagen, daß für den Menschen nichts so schwer zu
ertragen sei, als eine Reihe von guten Tagen, und daß ein siegreiches, mäch¬
tiges und reiches Volt unfehlbar übermütig werden und vielen Lastern nachgehen
werde. Auf der andern Seite aber würde er die traurigen Folgen einer Nieder-
läge seines Volkes erwägen, und so würde er, wenn man ihn nötigen wollte,
Politik zu treiben, von des Gedankens Blässe angekränkelt, schwer zum Handeln
kommen. Derartige Gedanken erkennen wir z. B. aus dem verlegenen Ton,
mit welchem Friedrich der Große Voltaire mitteilt (23. März 1742). wie es
um seinen siegreichen Krieg mit Maria Theresia stehe. Nov cluzr Voltaire,
schreibt er, ,js ors-ins as vouZ sorirs, og.r ,js n'g.i ä'^nerfs nouvöllvs a vous
Mimäsr, Mg Ä'uns esxöes aoud vous us vous soueis^ Zusrö, on a.us vous
ÄvnorrW. Das war das große Leiden im Leben des Königs, daß er sich
mit Politik befassen mußte, während er von Natur ein Philosoph war.
Der wahrhaft große Denker wird unter den Menschen immer wie unter einer
Herde von Wölfen umhergehen, ohne Lust, mit ihnen zu heulen, ohne Kraft,
sie niederzuschlagen, und ohne Hoffnung, sie zu vernünftigen Wesen machen zu
können. Er wird froh sein, wenn er, gleich dem vom Gewitter überraschten Wan¬
derer, irgendwo ein schützendes Dach findet, wo er sich unangefochten der Ausbil¬
dung seines Geistes widmen und der Menschheit einen Dienst von sicherm Wert
für die Zukunft leisten, endlich aber, frei von Ungerechtigkeit und Frevel, heitern
Mutes sterben kann. Ihm werden in der Einsamkeit und Verborgenheit Welt
und Leben immer Heller und klarer werden, je älter er wird.
Der Held der That ist ganz anders beschaffen, und er ist von dem Helden
des Gedankens wohl zu unterscheiden. Er ist vor allem mit einer gewissen
Fähigkeit ausgestattet, welche man wohl den Sinn für Thatsachen nennen könnte.
Wer das Leben eines Peter des Großen, einer Katharina II., eines Napoleon I.
oder auch das Leben eines Bismarck studirt, wird durch ein gewisses politisches
Hellsehen bei diesen Größen überrascht, welches einen fast übernatürlich zu
nennenden Eindruck macht. Während hundert Millionen ihrer Mitmenschen
und Hunderte von hochgestellten Personen in derselben Welt mit ihnen leben,
ist es ihnen vor allen gegeben, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.
Sie sind Propheten der Gegenwart, indem sie die Zustände und Absichten
fremder Länder, Höfe und Armeen trotz des trennenden Raumes so klar er¬
kennen, wie der Prophet die Zukunft trotz der trennenden Zeit. Sie sehen, was
andern Leuten unsichtbar ist, und sie berechnen nicht etwa, kalkuliren nicht, ab-
strahiren nicht, denn zu allen solchen Dingen fehlt im Sturm der Ereignisse
schon die Zeit, sondern sie greifen mittelst ihres Sinnes für Thatsachen intuitio
zu. Diese Fähigkeit ist es, welche man bei ihnen Glück nennt. Solch ein Glück
war es, welches Napoleon vom Leutnant zum Kaiser machte, inmitten vieler
tausende von andern ehrgeizigen Männern. Solch ein Glück ist auch das,
durch welches Bismarck alle schlauen und berechnenden Diplomaten in Schrecken
setzt und an der Nase führt. Aber noch eine andre Eigenschaft kommt hinzu:
die Festigkeit des Charakters. Sie überlegen nicht, ob sie die von ihnen klar
erkannten Umstände benutzen sollen, sondern sie benutzen sie mit derselben un¬
fehlbaren Sicherheit, mit welcher die Magnetnadel sich immer nach Norden dreht.
Es ist daher für den objektiven Beobachter, das heißt, für jemand, der keiner
Partei angehört, ein höchst ergötzliches und zugleich erhabenes Schauspiel, Vis-
marcks Politik, seinen Kampf mit äußern und innern Feinden zu betrachten.
ES ist ein noch schönerer Anblick, als ihn die Dramen Shakespeares gewähren
können, denn diese haben nur einen Menschen, jenes die Gottheit selber zum
Verfasser, und unser Held steht noch viel folgerichtiger, natürlicher und an¬
schaulicher unter den Personen zweiten Ranges, als die Helden im Drama der
Bühne.
Die auf das Leben, auf das Wirken gerichteten Eigenschaften beherrschen
das Dasein des Helden der That durchaus und machen ihn in der Hauptsache
zum eigentlichen Gegensatz des Gcdcmkenhelden. Als ein Beispiel hierfür möchte
ich die Anekdote von dem Freiherr» vom Stein anführen, welche Busch S. 427
des zweiten Bandes erzählt. Dieser große Staatsmann ließ sich durch vieles
Recke» und Scherzen dahin bringen, Goethes Faust zu lesen. Er erhielt
das Buch am Vormittage um zehn Uhr, sandte es nachmittags um vier Uhr
gelesen zurück und verlangte den zweiten Teil, machte am Abend Konversation
darüber und erklärte, der Faust sei ein unanständiges Buch, von dem man in
guter Gesellschaft nicht reden dürfte. Dem Reichskanzler, der übrigens mit dem
Herrn vom Stein etwa so zu vergleichen ist wie der Löwe mit einer Katze, ist
die beständige Thätigkeit ebenso notwendig, wie dem Denker die Ruhe ist. Hat
der Sturm nachgelassen, ist das augenblickliche Ziel erreicht, kommt eine Zeit,
wie sie dem Philosophen erwünscht und wahrhaft beseligend sein würde, so
wird der Reichskanzler vor Unmut und Langeweile krank. Die in ihm thätigen
Kräfte finden keinen würdigen Gegenstand mehr, das Gezänk mit den Kleinen
in den Kammern ekelt ihn an, er säugt an nachzudenken, und die nun not¬
wendige Vermutung, daß der Gewinn das Spiel nicht wert sei, macht ihn so
mißmutig, daß auch der Körper darunter leidet. Er selber denkt, daß sein
Leiden von Überarbeitung herrühre, und gewiß hat diese ihr Teil dazu bei¬
getragen, aber ich möchte in aller Bescheidenheit die Vermutung aussprechen,
daß ein plötzlich ausgeführter Überfall von feiten Frankreichs und Rußlands
— den Gott in Gnaden verhüten möge —, daß wichtige ministerielle Beratungen,
die Eile der Botschafter, der Sturm der Depeschen, das Wiehern der Schlacht¬
rosse, der Dampf der von Kolonnen durchpflügten Erde und das Brüllen der
Kanonen die Nerven des Helden schneller kuriren würden, als alle Vertreter
aller Zweige der medizinischen Wissenschaft mit dem Inhalt aller Apotheke».
Es ist aber das Loos aller Helde» der That, die nicht etwa früh schon vom
Schicksal zu Boden geworfen werden und auf dem Schlachtfelde oder durch
Meuchelmord fallen, daß ihnen das Lebe» und die Welt immer trüber und
wirrer erscheinen, je älter sie werden. Sie lernen durch die Erfahrung, was
der Philosoph seinerseits intuitio erkannte: daß die Folgen der menschlichen
Handlungen unberechenbar sind und daß das Unternehme», die Menschen besser
zu machen, über die Macht des Politikers hinausgeht. Einen Staat mächtig
machen kann der Politiker wohl, aber dabei leitet ihn doch immer die heimliche
Hoffnung, den Menschen eine Wohlthat zu erweisen. Er würde nie zur Macht-
Vergrößerung seines Volkes auch mir den Finger rühren, wenn er nicht voraus¬
setzte, daß dieselbe veredelnd und beglückend wirken müsse. Sieht er aber ein,
daß das Glück der Menschen auf einem andern Gebiete liegt, als auf dem der
Politik, nämlich auf dem von ihm vernachlässigten und ihm deshalb unbekannten
Gebiete der körperlichen und seelischen Gesundheit, sieht er ein, daß die Politik
nur indirekt auf dieses Gebiet einwirken kann, so findet er, daß sein mühe¬
volles politisches Streben überhaupt nutzlos gewesen sei, und wird des ganzen
Treibens überdrüssig. Ich bin der Überzeugung, daß die Gedanken des Kanz¬
lers diesen Weg gegangen sind, und als äußerer Beweis hierfür gilt mir seine
Sozialpolitik. Hier ist schon nicht mehr von der Größe, sondern direkt von
dem Glücke des Volkes die Rede, und es werden Maßregeln getroffen, welche
sich in ihrer Wirkung nicht auf Deutschland beschränken, sondern auf die Ent¬
wicklung der ganzen zivilisirten Welt von erheblichem Einfluß sein werden. Der
Kanzler nähert sich der Wahrheit auf einem Umwege, aber er nähert sich ihr,
wie auch schon ans der Abnahme seiner Popularität deutlich zu erkennen ist.
Viel Feind', viel Ehr'! Was aber seine jetzigen Zweifel an der Bedeutung
seiner Mission betrifft, so möge er bedenken, daß die Gottheit, welche nicht
willkürlich und launisch handelt, eine so wundervolle Vereinigung seltener und
großer Eigenschaften, wie sie zu einem Helden nötig sind, nicht ohne Zweck und
Ziel geordnet hat und sicherlich nicht ohne segensreiche Wirkung lassen wird.
Das Bewußtsein, immer selbstlos für eine große Sache, hohen Zielen hingegeben,
seine beste Kraft eingesetzt zu haben, wird ihm ein Trost sein bei dem Anblick
der menschlichen Erbärmlichkeit, die er nicht zu seiner eignen Hoheit ini Handeln
oder auch nur zu gerechter Beurteilung einer sie überragenden Persönlichkeit
hat erheben können.
Wir aber werden uns, wenn wir Einsicht besitzen, daran erfreuen, daß
unsre Nation im Reichskanzler einen jener seltnen Männer hervorgebracht hat,
deren Gestalt für Jahrhunderte und Jahrtausende bewundernswert für die Völker
dastehen wird, und werden uns damit beschäftigen, die Spuren seines macht¬
vollen Wirkens in unsrer nationalen Entwicklung zu verfolgen und seinen epoche¬
machenden Fußschritten nachzugehen. Er hat einen neuen Geist in das staat¬
liche Leben gebracht, und diesen Geist recht zu erkennen und nicht nur in seiner
zwingenden Gewalt über uns ergehen zu lassen, muß jedem Deutschen eine
Freude sein. Dazu hat Moritz Busch mit seinem reichen, echten, wahrhaftigen
Buche erheblich beigetragen, und wir wollen ihm seine Mühe danken.
^v.
cis hältst du von den neuen Stencrgesehentwürfen?
L. Da wendest du dich ein keine richtige Adresse, denn ich
verstehe wenig von Finanzwissenschaft, Freilich kommen bei Steuer-
fragcn noch andre Dinge in Betracht, Geschichte, Politik, soziale
Zustände, überhaupt die Macht der Thatsachen, auch Vorurteile,
L., Nun, eben deshalb mußt dn ja vielleicht besser imstande sein, ein ver¬
nünftiges Urteil zu fällen als mancher andre.
L. Vielleicht, vielleicht auch nicht.
^. Heraus mit der Sprache also! Was denkst du über Aufhebung der vier
untersten Stufen der Klassensteuer?
IZ. Ich billige sie durchaus, den» ich finde es weder gerecht noch klug, daß
von Leuten, die kaum des Lebens Notdurft befriedige» können, direkt die Heraus¬
gabe eines Teiles ihres absolut unentbehrlichen Einkommens verlangt wird. Dies
muß auf feiten der Pflichtigen Erbitterung erregen, uns feiten des Staats zu
massenhaften, kostspieligen und im ganzen fruchtlosen Exekutionen führen und bringt
schließlich nichts oder nnr wenig ein. Ob nun gerade 1200 Mark die richtige
Grenze bildet, ist kaum grundsätzlich zu entscheiden. Man wird sich darüber ver¬
ständigen müssen und wird dies ohne Zweifel auch können, denn nnr praktische
Rücksichten können in diesem Punkte entscheiden; der Wert des Geldes, d. h. die
Anzahl der Dinge, welche man für eine Mark kaufen kann, in Stadt und Land,
sowie in den einzelnen Provinzen des Reichs ist ja sehr verschieden.
^. Nun, in allen Fällen werden die Leute dieser Steuerklassen sehr zufrieden
sein können, wenn sie künftig ganz von Steuern befreit bleiben.
Z. Gewiß. Aber wir wollen nicht vergessen, daß diese selben Leute fortfahren
werde», alle indirekte:: Steuern zu bezahle«. Auch weißt du ja, daß die Regierung
bestrebt ist, das System der indirekten Steuern noch weiter auszudehnen.
Ja freilich weiß ich das. Aber es ist doch ein wesentlicher Unterschied,
ob man dem Stenererheber baares Geld abliefern muß, oder ob man in kleinen,
unmerklichen Beträgen zum allgemeinen Säckel beiträgt, gewissermaßen ohne es
selbst zu wissen. Denn kein Mensch denkt ja an eine Steuer, wenn er Brot oder
Fleisch oder Cigarren oder sonst eine mit Accise belegte Ware kauft.
L. Leider ist es so! Daß man die Steuer auf diesen: Wege unbewußt zahlt,
wie du sagst, ist gewiß richtig. Aber das wesentliche ist doch, daß man in kleine»,
unmerklichen Beträgen zahlt. Ein Mann, der 30 Mark monatlich verdient, ist
zu keiner Zeit imstande, 15 Mark auf einen: Brette zu zahlen. Aber es wird
ihn: gelingen, jeden Tag einen halben Pfennig zu zahlen.
^V. Das ist sehr wahr, und es wird diese Schlauheit ja auch in: Privat¬
verkehr täglich geübt, wenn man einem schwachen Schuldner Teilzählungen gewährt.
lZ. Dn sagst Schlauheit, dn könntest ebensogut, vielleicht besser sagen Mensch¬
lichkeit, wenn mau davou ausgeht, daß auch der arme Mann unter nlleu Umständen
zu den Staatsbedürfnissen beisteuern muß.
^, Freilich, wenn der Staat die Beiträge des armen Mannes unter keinen
Umständen entbehren kann, so bleibt nichts übrig, als ihn dnrch Verbrauchsabgaben
zu besteuern, und insofern müßte man dem Fürsten Bismarck zustimmen.
L. Mit dieser Zustimmung wird aber Fürst Bismarck keineswegs befriedigt
sein, denu dn machst sie von einer Voraussetzung abhängig, die dir noch nicht
erwiesen scheint: davon, daß der Staat die Steuer des armen Mannes schlechter¬
dings nicht entbehren könne,
L., Das ist eben die große Frage, Sie ist noch nirgends und zu keiner Zeit
zu Gunsten des armen Mannes entschieden worden. Man mag wohl auch zu¬
geben, daß die ungeheuern Summen, welche der Staat von den Massen der weniger
Bemittelten erhebt, von der geringen Zahl der Wohlhabenden nicht aufgebracht
werden können.
L. Dies wird gewiß für jeden Staatsmann entscheidend sein. Ist er aber
human, oder wie man heutzutage sagt, ist er ein Sozinlpolitiker, so wird er bestrebt
sein, die Lasten mehr und mehr auf die Schultern der Starken zu wälzen, und
die Schwachen zu erleichtern.
L.. Wahrhaftig, wer könnte einem solchen Bestreben seine Billigung versagen?
Es ist ja nichts als Gerechtigkeit; und Gerechtigkeit ist und bleibt doch immer das
Höchste und Wichtigste,
L. Schon gut, so im allgemeinen; aber im besondern, im Steuerwesen, muß
ich Vorbehalte machen. Denn mag im Staatsleben die Gerechtigkeit noch so
hoch gehalten werden, ja mögen sie einige als den eigentlichen Staatszweck be¬
zeichnen, so ist der Zweck einer Steuer doch eben kein andrer, als den Säckel des
Staates zu füllen, Geld zu erhalten.
Das lautet freilich sehr nüchtern und ist geeignet, den Freund der Ge¬
rechtigkeit sehr zu entmutigen.
L. Aber doch nnr scheinbar, denn wir stehen ja nicht mehr ans der Stufe
asiatischer Despotien, wo der Fürst das Geld da nimmt, wo er es findet: durch
Konfiskation bei den Reichen, dnrch Kopfgelder bei allen, ohne darnach zu fragen,
wie weh es thut, wie nachteilig es wirkt. Wir machen, soweit der Hauptzweck
der Steuer dadurch nicht beeinträchtigt wird, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit
große Zugeständnisse. Es giebt wohl keinen Staatsmann, der nicht anerkennte,
daß die Zahluugskraft und Fähigkeit des Bürgers bei der Anlage einer Steuer
vollauf berücksichtigt werden nasse. Dies ist freilich nur ein theoretischer Satz,
nur ein Leitfaden für die Steuerpolitik; aber es ist doch wichtig genug, daß ein
solcher Satz und Leitfaden überhaupt existirt und allgemein anerkannt wird,
^. Ist die Sache denu aber wirklich so schwierig, ist nicht das Einkommen
des Bürgers der sicherste und gerechteste Maßstab, ja ist er nicht der einzig gerechte
für seine Leistung zur Steuer?
L. Das sagen viele, und viele glauben es auch und ziehen daraus den Schluß,
daß es nur eine einzige Steuer, die Einkommensteuer, geben sollte. Und damit
diese Steuer uoch besser der Gerechtigkeit entspreche, soll sie progressiv sein. Denn
so sagen sie: Je größer der Überschuß eines Einkommens ist, umso leichter kann
davon etwas für den Staat abgegeben werden.
Nun, von dieser Theorie scheint man in der Praxis ja garnicht soweit
entfernt zu sein. Haben doch, soviel ich weiß, fast alle Staaten Einkommensteuer,
und teilweise sogar progressive, bis zu einer gewissen Höhe des Einkommens, bei
der dann die Progression für die Reichsten allerdings aufhört. Es würde sich also
nur uoch darum handeln, die Einkommensteuer zur einzigen zu machen und die
Progression konsequent durchzuführen.
IZ. Die Praktiker werden dir darauf antworten, daß die Deckung des Staats¬
bedarfs auf diesem Wege eine reine Unmöglichkeit sei. Es ist nicht schwer, dies
init Zahlen zu beweisen, ich will es aber nicht versuchen, weil diese Forderung
der Ausschließlichkeit der Einkommensteuer ja in unsern Parlamenten von keiner
ernstlich zu nehmenden Partei gestellt wird. Auch haben wir uns ja vorhin scholl
verständigt, daß die Vcrzehrungsstcncrn nicht zu entbehren siud. Dagegen wollen
wir die Gerechtigkeit der Einkommensteuer an und für sich einer Prüfung unter¬
werfen.
Das Einkommen soll der gerechte Maßstab für die Steuer sein. Nun fragt
es sich zunächst: ist ein Einkommen von 5000 Mark unter allen Umständen von
gleichem objektiven Werte?
^, Gewiß nicht! Denn die 5000 Mark, die ich als Arzt oder Advokat, als
Kaufmann oder Beamter, kurz, die ich durch persönliche Thätigkeit verdiene, sind,
weil unsicher und in ihrer Dauer beschränkt, viel weniger wert als 5000 Mark,
die ich aus Grundbesitz und Kapitalien beziehe.
L. Gut! Darum müssen wir das Einkommen zergliedern und jede Art des¬
selben nach verschiednen Grundsätzen besteuern, oder neben der allgemeinen Ein¬
kommensteuer besondre Ergänznngseinkommensteuern für die einzelnen Gattungen
des Einkommens erheben.
^. Nun, das ist ja unser System in Deutschland, indem wir durch die Grund¬
steuer und die Gewerbesteuer die Einkommensteuer ergänzen und korrigiren. lind
in demselben Sinne wird jetzt in Preußen die Kcipitalstener vorgeschlagen. Da
wären wir also ans gutem Wege.
L. So scheint es. Aber alles hat seine zwei Seiten.
Ich bin begierig zu hören.
L. Das Kapital, das man mit der neuen Steuer treffen will, ist das so¬
genannte bewegliche, welches um Private, an Gemeinden, an den Staat, an die
Industrie gegen Zinsen oder Gewinnanteil ausgeliehen ist. Die Leute, welche solche
Kapitalien besitzen, die Kapitalisten, hält man für eine vom Schicksal bevorzugte
Klasse, und deshalb verlangt die öffentliche Stimme (denn dieser giebt die Negie¬
rung mit diesem Entwürfe nach) eine besondre Besteuerung der Kapitalrente.
Allein verdient denn das Kapital eine solche Mißgunst? Ist es nicht eine
höchst achtbare und dem Gemeinwesen überaus nützliche Klasse von Menschen, die
ihr Erbe zusammenhalten und durch Ersparnisse zu mehren suchen, die vou den
Überschüssen über ihre Ausgaben Kapital ansammeln? Verdienen diejenigen Fa¬
milienväter nicht Schonung, die ihre Kapitalien angreifen, wenn die Söhne den
Einjährigcndieust thun, die Universität beziehen, jahrelang als Auskultatoreu und
Referendare dem Staate nützliche, aber unentgeltliche Dienste leisten?
L.. Ganz gewiß! Deswegen befreit auch der Entwurf ein Kapitaleinkommen
von weniger als 2000 Mark von der Nentenstencr.
L. Ja, das thut er. Aber ist diese Rücksicht denn genügend? Ist ein Fa¬
milienvater des höhern oder anch nur des mittlern Bürgerstandes, der auf eine
Rente von 5000 oder 6000 Mark angewiesen ist, unter die bösen Kapitalisten zu
rechnen, oder kann er nicht vielmehr in Berlin, in Köln, in Frankfurt nur in
großer Beschrcinknng leben?
L.. Das läßt sich allerdings nicht leugnen. Und man kann much nicht sagen,
der Mann möge an einen Ort übersiedeln, wo es billiger zu leben ist. Er müßte
von der sozialen Stufe, in welcher er geboren und seine Familie groß geworden
ist, herabsteigen, um anständig auskommen zu können.
L> Mit dieser Bemerkung berührst du einen Kardinalpunkt, von welchem fast nie¬
mals gesprochen wird. Es giebt absolut keinen äußern Maßstab, um ein be¬
stimmtes Einkommen groß oder klein zu nennen. 5000 Mark jährlichen Ein¬
kommens wären für eine Arbeiterfamilie entschiedener Reichtum, Für eine andre
Familie, die in der sozialen Pyramide soundsoviel Stufen höher steht, genügen
5000 Mark kaum, um die allernötigsteu Bedürfnisse zu decken. Selbst 10 000 und
15 000 Mark genügen in vielen Verhältnissen nicht, um eine Familie mit mehreren
erwachsenen Kindern standesgemäß zu unterhalten.
L.. Das kann jeder ans seiner Erfahrung nur bestätigen.
ü, Nun so verdienen denn diese Leute gewiß auch keine besondre Ungunst,
L,. Wie kommt es denn aber, daß die öffentliche Meinung so sehr auf einer
besondern Besteuerung der Kapitalreute besteht, daß die Regierung nachgeben zu
indessen glaubt?
L, Diese Frage trifft den Kern der Sache. Die öffentliche Meinung ver¬
wechselt eben deu Kapitalisten mit dem Kapitalismus. Es ist gewiß, der Kapi¬
talismus ist die eigentliche Krankheit unsrer Zeit. Wenige finanzielle Genies sind
es, die, selbst im Besitz großer Reichtümer durch ihre Operationen und Spekula¬
tionen, sowie dnrch Koalitionen untereinander, durch sogenannte Konsortien, welche,
keine Nationalität und keine Landesgrenze kennen, sich die Herrschaft über das
gesamte Privatkapital zu verschaffen wissen und dasselbe mehr und mehr auffangen,
die uuter allen Umständen im Krieg und im Frieden und bei jeder Konjunktur
Geld verdienen und die so mächtig sind, daß kein Staat, keine große Unternehmung
sich ihrem Einfluß entziehen kann.
In den letzten Jahren ist der Zinsfuß von fünf ans vier Prozent zurück¬
gegangen; ich habe dabei ein Fünftel meines Kapitals sowohl als meiner Rente
verloren. Die Bankfürsten aber haben bei dem vorteilhaften Geschäfte der Kon¬
version der Staats-, der Kommunal- und sonstiger Anleihen wohl ebensoviel
gewonnen. Wenn der Zinsfuß wieder auf fünf Prozent steigt, so fallen meine
Papiere, und ich werde wieder um ein Fünftel an Kapital und Rente ärmer, während
die Bankfürstcn abermals gewinnen. Solcher Wechsel des Zinsfußes kann sich in
einem Menschenalter mehrmals wiederholen. Dann steht es mit dem fcstangelegten
Privatkapital wahrhaftig schlecht genug. Du wirst also zugeben, daß man zwischen
Kapitalisten und Kapitalismus wohl unterscheiden muß. Ungunst verdient nicht
das fcstangelegte, mir auf Reute abzielende Kapital, sondern jenes mobile, allezeit
bewegliche, immer nur auf kurze Zeit engagirte, jeder Konjunktur folgende, die
Gegenwart ausnützende, die Zukunft oiskontirendc, dnrch Größe und Koalitionen
'nächtige und jeden Lebensnerv des Volkes durchdringende Kapital, dessen Herrschaft
man den Kapitalismus nennt.
Das scheint mir so klar wie die Sonne. Der Staat sollte sich gegen
diesen Kapitalismus mit allen Kräften wehren.
L. Allerdings sollte er das. Vor allem sollte er diese unheilvolle Thätigkeit,
die übrigens in unserm Zeitalter wahrscheinlich nicht zu beseitigen, vielleicht nicht
einmal zu entbehren ist, nicht auch noch als eine besonders ehrenvolle aus¬
zeichnen, durch Adels-, Orden- und Titelvcrlcihnngcn, Nun, man muß anerkenne»,
daß der Staat dem Kapitalismus wenigstens ein garnicht unbedeutendes Stück Boden
genommen hat durch die Verstaatlichung so vieler Eisenbahnen, deren ungeheurer
Geldwert dadurch der Börsenspekulation entzogen worden ist, Im übrigen muß
man Gott walten lassen.
^. Nach alledem scheinst du die Rentenstener ganz zu verwerfen?
L. Das thue ich keineswegs. Vielmehr erkenne ich an, daß ein Einkommen
ans Kapitalien im Werte höher steht als ein gleichgroßes Einkommen, das dnrch
Arbeit gewonnen wird, ich gebe also zu, daß es der Gerechtigkeit entspricht, eine
Rente höher zu besteuern, als ein Einkommen aus Arbeit, das von der Kraft
und Gesundheit des Erwerbenden und von tausend Zufälligkeiten abhängig ist,
Was ich aber entschieden nicht anerkennen kann, ist das, daß zwei
gleichgroße Einkommen anch immer gleichwertig seien,
L,. Wie meinst du das?
L, Ich will versuchen, mich deutlicher zu erklären. Ich habe schon vorhin
bemerkt, das der Wert eines Einkommens dnrch die soziale Stufe bedingt sei, in
welcher der Mensch lebt, weil in jeder höhern Stufe die Dinge, welche zum not¬
wendigen Lebensunterhalt gehören, zahlreicher und kostspieliger sind. Aber ich gebe
zu, daß ein Eiukoinmeusteuergcsetz hierauf keine Rücksicht nehmen kann, weil die
erforderlichen Bestimmungen praktisch unausführbar sind. Die Gerechtigkeit kommt
also in diesem Punkte zu kurz, und wer sich beschwert fühlt, uun, dem muß es
eben anheimgestellt bleiben, in eine tiefere Stufe hinabzusteigen. Wenn ich dies
den qualitativen Wert des Einkommens nenne, so setze ich ihm den quantitativen
entgegen. Ich frage: wieviele Menschen sind von einem bestimmten Einkommen
zu ernähren, d, h. wie groß ist die Familie des Besteuerten? Niemand kann be-
streiten, daß ein Einkommen von 5000 Mark, welches ein Junggeselle bezieht,
einen weit höhern Wert hat als 5000 Mark, von denen eine Familie von sechs
oder zehn Köpfen zu ernähren ist. Wo bleibt da anch nnr ein Schatten
von Gerechtigkeit, wenn man beide gleich hoch besteuert?
^. Du hast Recht, und dabei kann man hier nicht sagen, wie bei der sozialen
Stufe des Steuerpflichtigen, daß ihm freistehe, sich dieser Ungerechtigkeit zu ent¬
ziehen. Denn er kann doch seine Familie nicht willkürlich vermindern. Freilich
kaun er sie willkürlich vermehren.
L. Ja, das kaun er. Aber er wird das doch niemals im Hinblick ans eine
Steuerermäßigung thun. Ich begreife in der That nicht, warum sich keine Gesetz¬
gebung ans diesen Gesichtspunkt einläßt. Sind es Detailschivierigreiten bei der
Anlage? Es scheint mir, daß unsre Stcuerkünstler noch ganz andre Schwierig¬
keiten zu überwinden wissen, z. B. bei der Besteuerung des Zuckers, des Alkohols,
der Spielkarte» :c., Schwierigkeiten, die offenbar viel größer sind, als die Mäuler
zu zahlen, welche um einen Familientisch hcrnmsitzen und aus einem Einkommen zu
befriedigen sind. Solange eine Einkommensteuer blind unter die Menge
tappt, ohne die Zahl der Personen zu berücksichtigen, die von dem
steuerpflichtigen Einkommen zu ernähren sind, ist sie nicht viel
besser als eine Kopfsteuer und meines Trachtens unbedingt zu verwerfen.
Ja vielleicht ist jede Art vou Einkommensteuer mit den einfachsten Forderungen der
Gerechtigkeit unvereinbar, oder doch weniger vereinbar als irgend eine andre Steuer.
Ich sprach heute einen Diener von 25 bis 26 Jahren. Er war mehrere Jahre
als Kutscher bei der Tram-Gesellschaft in X. mit einem Gehalte von 95 Mark
monatlich angestellt und begleitete dann einen Herrn ans Reisen, wofür er
monatlich noch 5 Mark mehr erhielt. Dieser ledige Mann, der für niemand zu
sorgen hat, bliebe also nach dem Gesetzentwurf von direkter Steuer frei. Wenn
er aber in einigen Jahren Frau und Kinder bei einem um 100 Mark erhöhten
Einkommen hätte, so müßte er 12 Mark Steuer zahlen!
Es ist unvernünftig zu sagen, wie neulich ein Abgeordneter that, daß die
Berücksichtigung starker Familien zu den Pallicitivmitteln gehöre, oder gar zu de-
haupteu, daß solche Rücksichtncihmc eine Prämie auf die Kindererzeugung sei. Viel
wahrer ist das Gegenteil, daß die Nichtberücksichtigung der Familie das Jung-
gesellenleben begünstigt, die Zahl der Ehen vermindert und die der unehelichen
Kinder, und was damit zusammenhängt, vermehrt.
^. Und was wäre denn nun aus alledem zu schließen?
L. Daß im Steuerwesen einfach der bekannte mephistophelische Spruch umzukehren
ist, weil da die Theorie zuweilen grün und golden, die Praxis aber allezeit gran
ist, und daß unter allen Umständen die Einkommensteuer das Lob nicht verdient,
das ihr solche Personen zollen, auf welche Doktrin und Politische Schlagwörter all¬
mächtigen Einfluß haben.
ährend das Ministerium Glcidstone sich noch abmühte, die von seiner
Verblendung und Schwachmntigkeit in Ägypten begangnen Ver¬
säumnisse und Mißgriffe nach Möglichkeit wieder gutzumachen,
traf aus Mittelasien die Kunde von einem Ereignisse ein, welches
von vielen als eine neue Niederlage jener Politik betrachtet wird,
die Kandahar und den Sudan räumte. Maro, die Oasenstadt der
Turkmenen, die wichtigste Etappe auf dem Wege nach Herat und von da nach
Afghanistan, ist dem russischen Reiche einverleibt worden. Die Nachricht war
zuerst im Mrä zu lesen, der die Annexion des Schlüssels von Britisch-Judien von
feiten Rußlands mit den Worten meldete: „Die Turkmenen vou Maro haben
soeben deu Kaiser von Rußland eingeladen, die Regierung ihres Landes zu über¬
nehmen." Nach weitern Berichten ans Taschkend», die in Petersburg eintrafen,
begann sich am 20. Dezember v. I. ein russisches Heer zum Vormarsche uach
Merw in Bewegung zu setze». Bevor die Expedition aufbrach, hielt der bekannte
General Tfcheruajeff, begleitet vou einem höheren französischen Offizier, über die
Truppen, die aus sechs Infanterieregimentern, acht Schwadronen Dragonern, sieben
Sotnien Kosaken und vier Batterien Artillerie bestanden, eine große Parade ub.
Am nächsten Tage rückten diese Streitkräfte nach ihrem Bestimmungsorte ab, und
mis die Nachricht hiervon Taschkend verließ, hatten ein Kosakenregiment, zwei Jn-
fanteriebatailloue und eine Batterie bereits die Grenzen des Chanats Bocharn hinter
sich. Die Expedition hatte auf ihrem Wege keinerlei Widerstand gefunden, vielmehr
war sie von der Bevölkerung allenthalben, willkommen geheißen worden. Am
11. Februar konnte Tschernajeff dein Kaiser melden, daß die Häuptlinge von vier
Turkmcnenstämmen und vierundzwanzig Bevollmächtigte, die etwa zweitausend
Kibitken (Zelte) vertraten, ihren Wunsch, russische Unterthanen zu werden, erklärt
und ihre Unterwerfung eidlich bekräftigt hätten. Dieselben hätten sich zu diesem
Akte freiwillig entschlossen, indem sie begriffen, daß sie sich nicht selbst regieren
und mir unter Rußlands Ägide in Friede» leben könnten. Am 12. Februar
pnssirte Tschernajeff Orenburg, um nach Petersburg zu gehen und dem Kaiser
Bericht über den Verlauf der EMditivn zu erstatten. Er wird, wie man ferner
erfährt, einem Kriegsrat unter dein Vorsitze des Zaren beiwohnen, welcher über
die zukünftige Verwaltung von Merw Beschluß fassen soll.
Soweit bis jetzt die Nachrichten aus Petersburg. Die russische amtliche Presse
drückt die Hoffnung aus, in England werde man begreifen, daß der Besitz Merws
für Rußland eine Notwendigkeit gewesen sei, dn es nur so seine zentralasiatische
Grenze wirksam zu verteidigen imstande sei, sonst habe derselbe keinerlei Bedeutung,
Indes liegt eine andre Betrachtung der Erwerbung jeuer Oase durch die Russen
ziemlich nahe; auf den ersten Blick sieht man die großen Vorteile derselben: bessere
Verkehrsmittel zwischen Turkestan und dem transkaspischen Gebiete, Erleichterung
des Handels mit Afghanistan und, für den Fall eines Vorrückens gegen Herat,
die Bürgschaft, daß Nußland in der Flanke und im Rücken keinen Feind haben
wird. Dieses Vorrücken wird Wohl noch geraume Zeit auf sich warten lassen.
Indes würde es zu denken geben, wenn die Meldung sich bestätigte, daß Ejub
Chan, der die Engländer bei Kandnhar schlug, denn aber seinerseits eine Nieder¬
lage erlitt und jetzt als Flüchtling in Bochara lebt, in dem persischen Blatte
Scheins (Sonne) eine Proklamation an die Bewohner Herats erlassen habe, in der
er denselben, augenscheinlich im Hinblick ans die Besitznahme Merws durch die Russen,
verkündet, er gedenke demnächst uuter dem Beistände seines Beschützers, des Zaren,
an der Spitze eines Heeres in Afghanistan einzubrechen und das Reich seiner
Väter wieder zu erobern.
Gladstone und seine Kollegen werden sich vermutlich die obenerwähnte Meinung
der russischen Blätter aneignen, was ihnen bei ihrer Art zu denken und zu
empfinden nicht besonders schwer fallen kaun. Die Mehrzahl der zeitgenössischen
Politiker, namentlich der französischen, wird die Sache anders auffassen, und schon
liegen Belege hierfür vor. Das .lournal ach Dölmts bemerkt, daß in der Zeit,
wo in England die Konservativen im Amte gewesen, dieses neue Vorrücken der
Russen in Zentralasien zu ernsten Meinungsverschiedenheiten zwischen deu Kabinetten
von London und Petersburg geführt haben würde. Jetzt sei Englands Aufmerk¬
samkeit ganz von den ägyptischen Angelegenheiten in Anspruch genommen, und
Rußland habe sicher keine günstigere Gelegenheit wählen können, in Mittelasien
neue Eroberungen zu machen, als die, welche sich ihm hier geboten habe. Das
Blatt der Gambettistcn, ?Aris, lenkt die Aufmerksamkeit darauf, daß Lord Granville
auch 1873 Staatssekretär für die auswärtigen Angelegenheiten war, als der britischen
Regierung von russischer Seite die bestimmte Versicherung erteilt wurde, die Be¬
setzung des Chanats von Chiwa solle nur eine zeitweilige sein, und fährt dann
fort: „Jetzt, wo die Russen Merw in ihren Händen haben, stehen sie um Fuße
des Hindukusch, und in wenigen Wochen können sie von hier ans, wenn sie
Englands Aufmerksamkeit abzulenken wissen, ein Heer nach Kabul senden. Gro߬
britannien scheint, in Ägypten beschäftigt, nicht imstande zu sein, sich dagegen zu
regen. Lord Bcaconsfield ist tot, und mit ihm sind die Überlieferungen der Welt¬
reichspolitik verschwunden." Ähnliche Betrachtungen stellen deutsche Blätter an: sie
erwarten, daß Rußland alsbald mich Herat besetzen und sich einverleiben werde,
und daß es allem Ernstes darauf ausgehe, England aus seiner Stellung in Asien
zu verdrängen.
Betrachten wir die thatsächlichen Verhältnisse. Merw ist zunächst der all¬
gemeine Name für die große Steppe zwischen Persien und Turkestan, zwischen
dem Kaspischen Meere und dem Aralsee; sodann aber wird damit eine Oase am
südöstlichen Saume dieser Steppe bezeichnet, die ehedem sehr fruchtbar und Wohl
bevölkert war, und in der zur Zeit Alexanders des Großen die Städte Merw,
die „Königin der Welt," und Bates, die „Mutter der Städte," lagen. Jetzt sind
von diesen einst blühenden Orten nur geringe Reste übrig. Namentlich Merw,
unter dem 62. Grad östlicher Lauge und dein 37. Grad nördlicher Breite, etwa
70 deutsche Meilen von Chiwa und 35 von Herat gelegen, ist fast ganz ver¬
ödet, da die Perser das Bewässerungssystem, welches die Oase befruchtete, zerstört
haben. Es ist eine weitausgedehnte Ruinenstätte, bedeckt mit verfallenen Moscheen
und den Trümmern andrer öffentlichen Gebäude, zwischen denen Zelte und
Hütten der hier hausenden seßhaften Usbeken und nomadisirenden Teke-Turkmenen
stehen, und besitzt weder Mauern noch sonstige Festungswerke, sodaß es immer
leicht die Beute derjenigen wurde, die es angriffen, 1795 fiel es in die Hände
des persischen Schäds Murad, der den Damm abtragen ließ, welcher die Ge¬
wässer des Murgab in ein großes Bassin bei der Stadt lenkte. Der Fluß breitete
sich seitdem in vielen Armen nach der Wüste Karakum ans, in der er sich jetzt
verliert. 1315 wurde die Oase von den Chiwinzcn erobert, deren Chanen sie
einige Jahrzehnte hindurch Tribut zahlen mußte. Später versuchten die Perser
wieder, sie zu unterwerfen, erlitten aber im Jahre 1860 eine schwere Nieder¬
lage, und ein neuer Feldzug, der 1376 von der Wallfährtsstadt Masched aus
unternommen werden sollte, unterblieb, obwohl die Bewohner der Oase ihren
Nachbarn durch Raubzüge oft sehr unbequem wurden. Ein andrer Fluß der Gegend
von Merw ist der Hcrirnd, der zuletzt gleichfalls im Sande der Wüste verdunstet,
eine andre Stadt Kuschid Chan Kakeh, welches gegenwärtig als Hauptort der Oase
anzusehen ist. Dasselbe liegt am Ostufer des Murgab und ist ein langgestrecktes
Viereck von ungefähr anderthalb deutschen Meilen Länge und einer Viertelmeile
Breite und gewährt mit seinen 40 Fuß hohen Lehmwällcn seinen Einwohnern
und den mit ihren Herden in der Nachbarschaft herumziehenden Turkmenen bei
Überfällen eine genügende Zuflucht. Zwischen ihm und dein Flusse lag einst
vermutlich Alexandria, wo Alexander der Große 328 v. Chr. ans der Rückkehr
ans Sogdiana einige Zeit Halt machte, und wo sich in Strabos Tagen Griechen
angesiedelt hatten. Jetzt nehmen mir einige hundert Hütten die Stelle ein. Das
ganze Land ringsnm befindet sich im Zustande äußerster Verkommenheit, Von
einer geordneten Regierung, von Sicherheit des Eigentums, vou Wohlstand der
Bevölkerung ist nicht die Rede. Die Stämme leben fast nur von ihren Herden
und von Ranbzügen, die sie nicht bloß gegen die Perser und Chiwinzen, sondern
auch gegen einander selbst unternehmen. Unaufhörlich finden Unruhen statt, und
überall außerhalb der Städte herrscht das Faustrecht.
Mau sollte meinen, das Ereignis müsse in England bedeutendes Aufsehen
erregt und schwere, Befürchtungen erweckt haben. Indes ist das, soviel wir sehen,
nicht der Fall, und das erklärt sich anch sehr leicht. Erstens nehmen Ägypten und
der Sudan die Gemüter in Anspruch, zu den Niederlagen der Gladstoneschen Po¬
litik bei El Obeid, Suakin, Teb ist der Fall von Sinkat gekommen und diesem
ist die Übergabe Tokars an Osman Digna, den Feldherrn des Mahdi im östlichen
Sudan, gefolgt. Man hat also wenig Interesse für die Dinge, die sich im ferne»
Zcntralasien begeben und Englands Macht und Ansehen nicht so unmittelbar be¬
drohen und gefährden wie die Bewegung, die am Nil und am Roten Meer immer
weitere Kreise ergreift. Dazu kommt aber noch ein andres Moment. Jedermann,
der über die Nachrichten ans Merw ernsthaft nachdachte und sich die jüngste Ver¬
gangenheit in Mittelasien vergegenwärtigte, mußte wissen, daß Merw eigentlich
schon mit dem Falle von Geol-Tepe und der Einverleibung der Oase der Achal-
Teke-Turkmenen in das rilssische Reich erobert war. Von jener Zeit an war es
für die Russen lediglich uoch eine Frage der Opportunität, wann auch die viel¬
genannten Niederlassungen der Turkmenen an den Ufern des Murgab unter die Bot¬
mäßigkeit Rußlands zu bringen seien. Daß die freigebliebenen Stämme dem ans
sie geübten Drucke nicht lange mehr Widerstand leisten würden, zumal da ihre
Freiheit mit Unruhe und Unsicherheit zusammenfiel, lag auf der Hand, und man
konnte höchstens darüber streiten, ob sie in diesem Jahre schon oder in einem etwas
späteren sich in ihr Schicksal, Unterthanen des weißen Zaren zu werden, fügen
würden. Zu Geol-Tepe von Skobeleff geschlagen und unbarmherzig zusammen-
gehalten, ans der Seite von Chiwa und ebenso nach Persien hin isolirt, waren
sie genötigt, sich zu unterwerfen und entweder der russischen Diplomatie oder der
russischen Militärmacht nachzugeben. Schwerlich wird jemand bezweifeln wollen,
daß die Häuptlinge und Bevollmächtigten von Merw, wenn sie ihre Unterwerfung
nicht angeboten hätten, sich die Nachteile einer russische« Expedition gegen ihr Land
ans den Hals gezogen und vielleicht die blutige Züchtigung erfahren haben würden,
welche nach der Einnahme von Chiwa über die Jomnden verhängt wurde. Wir
können daher behaupten, daß die Erwerbung Mcrws die unmittelbare und unaus¬
bleibliche Folge des Sieges Skvbcleffs und der grausam harten Repressalien ge¬
wesen ist, die der General ergriff. Die russische Regierung beabsichtigte schon
längst, sich Merws zu bemächtigen, gerade so wie sie jetzt, trotz ihrer Proteste
gegen diesen Verdacht, darauf ausgeht, sich in den Besitz von Sarachs zu setzen,
wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu bietet. Aus diesen guten Gründen kann
man sich in England nicht verwundern, daß Rußland sich die wertvolle Stellung
von Merw verschafft hat. Die Gewinnung derselben gehörte als Glied zu einem
großen Plane, der auf die Eroberung Herats und die Befestigung der russischen
Macht in Chorassan gerichtet ist. Wirkliche Ursache zum Erstaunen können die
Engländer nur in der Art und Weise finden, wie Gladstone von diesen Vorgängen
überrascht worden ist; er scheint nach seinen Äußerungen im Parlamente keine
Ahnung davon gehabt zu haben. Freilich ist das anch andern englischen Politikern
so ergangen, die jahrelang nicht sahen, warum Rußland mit solcher Stetigkeit
Schritt vor Schritt weiter nach Süden vordrang, und wie weit es vorzurücken
beabsichtigte. Systematisch hat man die Möglichkeit jedes einzelnen von jenen
Schritten vom untern Jaxartes und den Ufern des Kaspischen Meeres bestritten
und lächerlich gemacht. Wer auf die Beweggründe und die Glieder des russischen
Planes hinwies und die Möglichkeit seiner Ausführung behauptete, wurde als
Schwarzseher und Lärmmacher verspottet. Bei der Bewegung der Russen nach
Sarmarkand hin, bei den Zügen gegen Buchara, gegen Chiwa, gegen die Achal-
vase wurden alle Befürchtungen der Weitblickenden mit dem Hinweise auf brennende
Wüsten, wasserlose Steppen und dergleichen mehr niedergeschrien und als eine Art
Geisteskrankheit, als „Mervosität" belächelt. Trotzdem hat jeder Teil des gro߬
artigen russischen Planes bisher besten Erfolg gehabt, und wenn Merw jetzt dazu
gekommen ist, nachdem der Apfel reif zum Fall geworden, so ist das nur eine
weitere Entwicklung der Sache.
Wir können nicht recht daran glauben, daß der russische Plan die Eroberung
Britisch-Jndiens zum letzten Ziele habe. Als Rußland vor etwa dreißig Jahren
seine Augriffsbcwegung südwärts begann, erstrebte es zunächst eine Stellung um
den Grenzen von Persien und Afghanistan, die es in den Stand setzen sollte, falls
es wünschenswert erschiene, die britische Herrschaft in Indien zu bedrohen. Die
Absicht war aber dabei nicht sowohl die Besitznahme dieses Landes als die, den
Engländern dort schwere Verlegenheiten bereiten zu können, welche sie beim Wider¬
stand gegen die Projekte Rußlands am Bosporus und den Dardanellen hindern
und lahmen sollten. Konstantinopels Besitz war auch bei der zentralasiatischen
Politik der Russen das eigentliche Ziel. Als unter ganz besonders günstiger Lage
der Dinge nicht völlig unpraktisch mag dabei ein Versuch betrachtet worden sein,
mit den Völkern zwischen dem Kaspischen Meere und dem Indus einen kühnen
Vorstoß nach Lahore und Delhi zu machen. Aber die Hauptsache war immer nicht
die Hauptstadt des Reiches des Großmoguls, sondern die Hauptstadt des Groß-
türkeu, und schwerlich wird jemand leugnen, daß eine Entfaltung bedeutender
Streitkräfte nach der Gegend des Indus hin den Marsch einer russischen Armee
von Armenien aus nach dem Bosporus wesentlich erleichtern würde, da er England
zwänge, einen erheblichen Teil seines Heeres und seiner Flotte nach Indien zu
schicken. Ist die englische Politik der Meinung, daß man am goldnen Horne
keine wesentlichen Interessen zu verteidigen habe, und blickt man deshalb auf die
dortigen Bestrebungen Rußlands mit Gleichgiltigkeit, so kaun mau erwarten, daß
die Russen England an der Nordwestgrenze seiner indischen Besitzungen unbehelligt
lassen werden. Entgegengcsetzteufalles hat man sich darauf gefaßt zu machen, dort
bald ernster Bedrohung und Belästigung zu begegnen. Der Besitz von Merw
erhöht die Befähigung der Russen zu derartigen Manövern ganz erheblich. Die
neue Erwerbung vervollständigt die Operationslinie vom Kaspi-See bis zum Oxus,
sie stellt eine direkte Verbindung zwischen Krasnowodsk und Askabad einerseits und
Chiwa, Bochara und Scnnarkand andrerseits her und giebt dem russischen Turkestan
eine Grenze, die an der Grenze Afghanistans, wie sie Granvillc und Gladstone
1872 zogen, nicht nur von Chodscha Sala bis zu den Oxnsauellcn, sondern auch
im Westen bis nicht sehr weit von Maimcua und Bates hinläuft. So stehen denn
die Grenzsteine Rußlands jetzt ohne Unterbrechung vou der Mündung des Atrck
längs der neuen Greuze, die Persien aufgenötigt wurde, durch die Oase von Merw
bis zu der von Gladstone und Granvillc gezognen afghanischen Grenze. Dem
Zaren und seinen Generalen ist die Verfügung über alle Hilfsquellen an Menschen,
Pferden und Kamelen, welche die Länder zwischeu dem Kaspischen Meere und Sibirien
bieten, gesichert. Die neuen Gebiete werdeu zum Teil von einer Eisenbahn durch'
schnitten, die mau weiter nach Osten auszubauen vorhat, und die, da Unter¬
suchungen von Fachleuten gezeigt haben, daß das gefürchtete Hindernis von Ge¬
birgsketten in Wirklichkeit nicht besteht, unzweifelhaft einmal bis nach Herat
fortgeführt werden wird.
„Vor ziemlich zwanzig Jahren, als General Tschernajeff Chemkcnd einnahm,
sagt der van^ IsIoAraxb, erließ Fürst Gortschakoff eine Zirkulardepcsche, welche
die Beweggründe, die seine Regierung dabei geleitet, auseinandersetzte und sich über
die Grundsätze, denen sie dabei gefolgt, verbreitete. Das Ziel der Politik seines
Gebieters bestand, wie er sagte, nicht darin, »die seinem Szepter unterworfenen
Gebiete über alle vernünftigen Grenzen auszudehnen,« aber trotz aller »Abgeneigt-
heit vor solcher Ausbreitung« war er gezwungen gewesen, sich Chcmkends zu be¬
mächtige». Dann gab er die Gründe an, die ihn bei der Wahl einer Grenze
bestimmt, und fügte hinzu! »Es war dringend notwendig, diese Linie endgiltig
abzustecken, um so der fast unvermeidlichen Gefahr zu entgehen, von Annexion zu
Annexion weiter gedrängt zu werdeu.« Rußland hatte eine Schränke aufgestellt,
Wo es Halt machen mußte, weil jede weitere Ausdehnung »unvorhergesehene Ver¬
wicklungen hervorzurufen geeignet war.« Viele Leute nahmen diese Worte in gutem
Glauben hin, als ob sie wirklich genau die Absichten der russischen Staatsmänner
ausdrückten, aber diejenigen kamen der Wahrheit näher, welche sie nur für bestimmt
ansahen, »die britische Erregtheit zu beschwichtigen,«.,. Vier Jahre nach Erlaß
jenes Rundschreibens war Nußland schon in Samarkand, nach zehn Jahren hatte
es sich zum Herrn von Chiwa gemacht, und nach kaum zwanzig Jahren hatte es
die Teke-Turkmenen erdrückt, eine Eisenbahn dnrch ihre Oase gebaut, von Persien
Gebictsabtretuugen erzwungen und schließlich seinen Eroberungen Merw hinzu¬
gefügt, ,,. Der innerste Grund des russischen Vordringens gegen Nordpersien und
Afghanistan ist der, daß dieser Vormarsch eine Operationsbasis gegen Lahore und
Delhi schafft, um die Eroberung Stambuls zu erleichtern,,,. Die Sache ist deshalb
nicht weniger ernst, weil Deutschland und Österreich in Betreff der Zukunft Kon-
stantinopels empfindlich sind, Unser Anteil an den Noten, welche aus dem großen,
jetzt durch die Erwerbung Merws von neuem beleuchteten Plane Rußlands ent¬
springen können, wird dndnrch, daß Rnszlcmd von der Straße nach dem Bosporus
abgelenkt und weiter uach Osten hingewiesen worden ist, nicht im mindeste» ge¬
schmälert worden. Auch darf man die moralische Wirkung der letzten russischen
Feldzüge und der Einverleibung von Merw uicht übersehen. Die letztere wird
sicherlich Aufregung in Indien verursachen, sie versetzt Persien in größere Ab¬
hängigkeit von Rußland, die Afghanen werden, gleich andern Leuten, geneigt sein,
die aufgehende Sonne anzubeten. Der einzige Akt zur Vereitelung der Projekte
Rußlands, der unsrerseits geschehen ist, bestand darin, daß man ans der Landkarte
eine Linie zog, welche die Grenze angab, über welche man Rußland nicht hinaus-
zugehen erlauben wollte. Jetzt wird sich zeigen, was damit gewonnen wurde. Es
handelt sich nicht um die Scheidelinie, die ein großer Strom bildet, sondern um
Steppen, wo Grenzmarken nicht so sichtbar sind."
Wir schließen mit der Bemerkung, daß uus Deutsche die Sache nur sehr
mittelbar angeht, England ist nicht unser Bundesgenosse, und Gladstone ist niemals
unser Freund gewesen, er steht uns mit Mißgunst und liberalem Vorurteil gegenüber.
as Berthold betraf, so hatte er jenes gesetzte Wesen gewonnen,
das die jungen Mädchen für etwas grenzenlos Langweiliges er¬
klären, während ihre Mütter darin die Garantie für die besten
Ehemannstngenden erblicken. Er trug sich möglichst wenig auf¬
fallend, war etwas streng von Zügen, bewarb sich nicht um den
Beifall der Gesellschaftskreise, in denen er Verkehren mußte, verletzte nie¬
mand, trat aber auch niemand außer seinen Adoptiveltern wirklich nahe.
Selbst diese jedoch wußten nur bis zu einem gewissen Grade, wie sie mit ihm
dran waren.
Er ist in seinem Fache anerkanntermaßen der erste, sagte der Fabrikant;
der Minister soll neulich geradezu eingestanden haben, ohne unsern Berthold
sei er eine Windmühle ohne Wind; damit müssen wir uns begnügen.
Wenn unser Berthold statt dessen ein simpler Windmüller wäre nud die
ganze Mühle voll kleiner Windmüller hätte, da gefiele er mir ein gut Teil
besser, seufzte Frau Anna.
Seien wir froh, daß er uns erhalten worden ist; denke an jenen schreck¬
lichen Sommer und Herbst!
Frau Anna überlief ein Schauder.
Wie herrlich unsre 8g,Iisvnrm diesmal gedeiht! lenkte Kaspar Benedikt ab.
Du hast Recht, Mann, fügte sich Frau Anna; man soll sich an Gottes
Gaben freuen, mögen es Kinder sein oder Blumen, oder was immer.
Der Fabrikant blickte vor sich hin. Beide schwiegen. Sie wußten, in welche
entlegene Zeit ihre Gedanken schweiften.
Jetzt könntest du Großvater sein, sagte Frau Anna halblaut.
Urgroßvater!
Warum nicht gar!
Rechne selbst.
Wie die Zeit dahingeht! seufzte sie.
Es hat nicht sein sollen! sagte er.
Diese Schar von Enkeln und Urenkeln! — die Augen Frau Annas strahlten,
aber sie füllten sich mit Thränen — denn das sage ich dir, es wären gewiß sehr
viele geworden.
Gewiß.
Und nicht wahr, wenn sie anch hie und da in der Villa etwas vom rechten
Flecke gebracht hätten —
Was wäre dabei gewesen!
Drüben zum Beispiel; ich sehe die Stelle nie an, ohne zu deuteln warum
treibe» dort die nichtsnutzigen Schoteudicbe, die Spatzen, ihr Wesen und nicht
ein halbes Dutzend krausköpfiger, rotbäckiger Knaben und Mädchen? Sieh,
wie das ausgelassene Gesindel sich jetzt eben in den gelben Wegsaud einwühlt.
Kinder spielen so gern init Sand! Wie viele Backofen würden dort gebaut
werden!
Kaspar Benedikt seufzte: Ja, ja! gab aber weiter keinen Beitrag zu dem
Thema.
Frau Anna hütete sich, ihren Gefühlen noch mehr freien Lauf zu gönnen.
Sie wußte, daß ihr Mann der Aufheiterung bedurfte und nicht der Er¬
innerung an versagte Sonnenblicke des Geschicks.
Aber tags darauf kam er selbst ans die seit langem nur von fern berührte
Frage zurück, ob denn Berthold den Gedanken, sich ein Weib zu wähle», völlig
aufgegeben habe? Es war die Gewohnheit, einander jede denkbare Verstim¬
mung zu ersparen, aus dem gegenseitigen Verkehr der beiden Alten nach und
nach auch auf ihr Verhalten zu dem Sohne übergegangen, und selbst Fran
Anna hatte es über sich gewonnen, jeden Versuch, ihren lieben Berthold zu
beeinflussen, sich streng zu versagen.
Es ist mir unser gestriges Gespräch die ganze Nacht nicht aus dem Kopfe
gekommen, sagte der Fabrikant. Wenn mit dem Heiratsprojekt dazumal nur
nicht ein so abscheulicher Hornissenschwarm aufgescheucht worden wäre! Ich meine,
die Stiche jucken mich noch heute. Was mag erst unser Berthold damals aus¬
gestanden haben! Kein Wunder, daß ihm die Sache für alle Zeit verleidet
worden ist.
Frau Anna hatte lange auf eine Gelegenheit gewartet, um wenigstens die
Frage auszuwerfen, ob diesmal nicht Kaspar Benedikt selbst nach einer passenden
Partie für den Sohn ausblicken wolle.
Ich habe mit Hermione kein Glück gehabt, sagte sie, aber wie wäre es, wenn
du einmal auf die Suche gingest? Er ist jetzt lange genug den Leuten nur von
der solidesten Seite vor Augen gewesen. Selbst in den besten Häusern wird
man nicht mehr auf Grund jener alten vergessenen Geschichte ihm ein unfreuud-
liebes Gesicht machen. Zweifelst du aber daran, daß er dir gern zu Willen
sein würde? Er sieht uns doch sonst alles an den Augen ab. Wie sollte er
denn unserm Lieblingswünsche sich hartnäckig widersetzen?
Kaspar Benedikt schüttelte bedenklich den Kopf. Das will wenigstens sehr
ernstlich überlegt sein, sagte er.
Nach einer Weile begann Fran Anna von neuem. Wir waren damals
hier kaum erst warm geworden, sagte sie, und ich hatte daher einen viel un-
günstigern Stand, als du jetzt hast. Aufrichtig gesagt, wir gehörten nicht ganz
hierher. Ich weiß, du verstehst mich nicht falsch. Für meinen Geschmack warst
du mir ohne Orden und ohne Vou-Titel ganz so lieb wie mit diesen Auszeich¬
nungen. Aber schlechtweg Herr Hartig — du warst selbst der Meinung, es
gehe nicht länger. Jetzt hat dir deine splendide Schenkung für das bewußte
Lehrerinnen-Asyl den Adel eingetragen, und die Leute haben überdies gesehen,
daß du nach wie vor derselbe einfache Mann geblieben bist — sage selbst, hast
dn durch alles dies nicht das Recht erworben, von einem höhern Hügel Um¬
schau zu halten als damals ich?
Wir wollen die Sache im stillen weiter überlegen, sagte der Fabrikant,
denn das immer noch ziemlich sanguinische Temperament seiner Frau brauchte,
wie er wußte, einige Dämpfer, wenn es nicht zu Übereilungen verführen sollte.
Schon am nächsten Tage hatte aber Frau Anna, nachdem sie hie und da
auf Visiten umhergefahren war, eine Liste von zwölf jungen Personen ans der
näheren wie aus der ferneren Nachbarschaft zusammengestellt, und ehe noch
Kaspar Benedikt die Brille zum Lesen des Registers hervorholen konnte, war
schon ihr Bleistift geschäftig, um durch allerlei Kreuze, Nullen und Fragezeichen
ihre Ansichten über die vorgeschlagenen Brautschaftskandidatinnen noch deut¬
licher, als dies schon gleichzeitig mündlich geschah, zu präzisiren.
Du bist doch eine wahre Dampfbarkasse! suchte sich Kaspar Benedikt zur
Wehr zu setzen.
Es sind ja nur kleine Winke, um dir die Sache leichter zu machen, be¬
gütigte Frau Anna.
Es waren nicht lauter adliche Fräulein auf der Wahlliste zu lesen; aber
bei den nichtadlichen vermißte man die Kreuze.
Dies ist reiner Zufall, erläuterte Frau Anna, und überhaupt du weißt,
was dir gefällt, gefällt mir auch; nur vergiß nicht, daß wir keine Jünglinge
mehr sind. Sollen wir von unsern Enkelzimmern endlich etwas Lärm und
Tribulatiou haben, so müssen wir uns sputen.
Immer mit Hochdruck! lächelte Kaspar Benedikt, und begab sich zum ruhige»
Überdenken der ihm so plötzlich überkommenen Kommission ans sein Zimmer.
Unter den litauischen Volksliedern — sie können sich neben den finnischen
schon hören lassen — ist eins, das die Art, wie Mädchen zu Zeiten ihren
Zweck zu erreichen wissen, in folgender Weise zum dichterischen Vorwurf nimmt.
Ein Bursche hat einem Mädchen, das ihm einen Kuß verweigerte und
sich beim Wasserschöpfen nicht stören ließ, ihren Krug zerschlagen. Darüber
bricht sie in bitteres Weinen aus, und er will sie beruhigen, indem er ihr ein
seidnes Band verspricht. — Sie macht sich nichts aus einem Bande und fährt
fort zu weinen. — So schenke ich dir ein seidnes Mieder, tröstet er. — Sie
macht sich nichts aus einem seidnen Mieder und weint weiter. — So schenke
ich dir den Wert meines halben Gehöfts, überbietet er sich. — Sie macht sich
nichts aus dem Werte eines halbe» Gehöfts und läßt nicht ab vom Weinen. —-
So schenke ich dir mein ganzes Gehöft und mich darin, ruft er endlich. Und
sie baun, plötzlich ihre Thränen stillend:
Wenn du selber wirst mein eigen,
An den Galgen mit dem Krug dann.
Mit Lore hätte es, wenn die Welt in der Lage gewesen wäre, sich über
Lore und den reichen Adoptivsohn eine Mutmaßung zu gestatten, füglich nicht
viel anders zu gehen brauchen, vorausgesetzt, daß Lore nicht nur zu den
Kammerjungfern gehörte, sondern auch zu der pfiffigen Mehrheit derselben.
Im Grunde that sie aber nicht einmal das Erstere, wennschon sie bei
Fräulein von Meeringen, der in Villa Mockritz verstorbenen Freundin Hcrmionens,
in jener Eigenschaft eine Stelle bekleidet und dabei auch Krankenpflegerdicnste
geleistet hatte. Lore stammte aus einem entlegnen Teile des Landes und ans
einem bis über die Zeit ihrer Müdchenjahre hinaus sehr angesehen gewesenen
Hanse. Ursachen, die hier noch nicht zur Sprache kommen können, hatten den
Glanz dieses Hauses plötzlich so arg verfinstert, daß die zwei in Fülle und
Wohlleben aufgewachsenen Kinder desselben, sie und ihr Bruder, nicht nur dem
Mangel preisgegeben, sondern auch der Nötigung ausgesetzt worden waren, durch
Amiahme eines andern Vaternamens sich der Welt gegenüber jedes Zusammen¬
hanges mit jenem ihrem Hcimatshause zu entäußern. Lores oder vielmehr Elisens
Bruder — denn so hieß sie, wie schon erwähnt — hatte kurz darauf als Schiffs¬
junge auf See seinen Tod gefunden. Elise war, mit vielen, aber zum Ver¬
werten im Lehrberuf allzu lückenhaften Kenntnissen ausgerüstet, aus einer
dienstlichen Stellung in die andre übergegangen, hatte dann in einem Kinder¬
krankenhause längere Zeit sich als Pflegerin ausgebildet, war dort von einer
ihrer Schulfreundinnen, die zu dem Vorstände des Krankenhauses gehörte, eben
jenem Fräulein von Meeringen, eines Tages erkannt worden und hatte, als
dieselbe später zu kränkeln begann, gegen das von Elisen geforderte Ver-
spreche» völligen Veiseitelcissens aller Rücksichten auf jene einstmalige Schul¬
genossenschaft, sich dazu verstanden, bis zum voraussichtlich nicht fernen Tode
der Freundin ihr, <Mg.si als Kammerjungfer, zur Seite zu bleiben. Die
Sterbende, voll Sympathie für ihre Pflegerin und Vertraute, war kurz vor
ihrem Ende auf eine Versorgung der letztern ernstlich bedacht gewesen; die von
ihr getroffene Verfügung entbehrte aber der gesetzlich vorgeschriebenen Form und
wurde auch durch den Umstand wertlos, daß über die Namensänderung vor
Gericht Aufklärungen hätten gegeben werden müssen, die für die Pflegerin
schmerzlicher gewesen wären als selbst Not und Mangel. Gegen Aufklärungen
dieser Art auch ferner geschützt zu sein, bot ihr damals, wie sie glaubte, der
Übertritt in die Dienste des Fräuleins von Mockritz einige Gewähr, und so
suchte sie, in der Hoffnung auf eine gelegentliche bessere Verwertung ihrer
Kräfte und ihres guten Willens, in Geduld ihres Amtes zu warten.
Es folgte die Verlobung Hermionens mit dem Adoptivsohne des Hartigfchen
Ehepaares; es folgte die nächtliche Schreckensszene, in welcher es ihr vergönnt
gewesen war, vielleicht ein schweres Verhängnis von dem Haupte Bertholds
abzuwenden; es folgte seine Entfremdung vou ihrer jungen Herrin, es folgte
die Zurücknahme des Verlöbnisses.
Und da glcinbte, zu ihrer Bestürzung, die trotz ihrer Jugend doch fast schon
zu einem dienstlichen Uhrwerk Gewordue plötzlich heißblutige Wünsche und
Hoffnungen in ihrem Busen zu entdecken, die — sie wußte es — »le und
nimmer zu Worte kommen durften.
(Fortsetzung folgt.)
Wer das
wunderbare Schicksal der brandenburg-Preußischen Monarchie betrachtet, wie sie sich
von der kleinen Mark im Havellcmde bis zu dem großen, den Hauptkern ccht-
dcntscher Bevölkerung umfassenden Staate entwickelt hat, der muß begierig sein,
die Gründe zu ermitteln, welche diesem Staate einen solchen Aufschwung gegeben
haben. Nun ist es schon jetzt unbestritten, daß die preußische Monarchie ihre
Macht und Stärke, das Preußische Volk seine Wohlfahrt, Rechtssicherheit und Kultur
vor allen andern Dingen der Thntkraft des hohenzollcrnschen Königshauses, dein
Eifer und der opfervoller Hingebung seiner Fürsten verdankt. Und daß unter
diesen Fürsten, gerade was den innern Ausbau des Landes und die ganze große
Organisation der bewegenden und leitenden Kräfte betrifft, Friedrich Wilhelm I.
in der vordersten Reihe zu nennen ist, das ist schon längst klar geworden, seit
die circhivalischen Arbeiten Rankes, Droysens n. a. den Mann unserm Herzen und
unserm Verstände naher gebracht haben, den Mann, dessen große und ideale Eigen¬
schaften die undankbare Nachwelt nur zu leicht über den Traditionen despotischer
Kleinlichkeiten und freilich auch über der noch bedeutenderen Größe des Sohnes
vergessen hat. Noch schmückt kein Denkmal dieses Fürsten seine Residenzstadt.
Aber es ist kein Zweifel, daß nicht die Fürsten allein es waren, welche die
Größe von Staat und Volk herbeiführten, sondern daß sie, abgesehen von dem
Walten einer höhern Macht, unterstützt wurden von einem Beamtentume, dessen
Größe und dessen Verdienste unzertrennbar sind von den Ruhmesblättern der hohen-
zollernschen Geschichte. Es ist gewiß eine lohnende und würdige Aufgabe, das Ent¬
stehen dieses Beamtentums von dem Beginn der Hohenzollernherrschaft in der
Mark bis auf die Gegenwart zu schildern, und es ist schwer zu beklagen, daß ein
strebsamer Gelehrter, der dieser Arbeit sich unterzogen hatte, die Vollendung der¬
selben nicht hat erleben dürfend) In seinem Nachlaß fand sich aber das im ganzen
geordnete, wenn auch nicht überall durchgeführte und gesellte Manuskript desjenigen
Bandes, welcher die Zeit Friedrich Wilhelms I. und die Anfänge Friedrichs des
Großen umfaßt. Es kann nicht die Absicht dieser Zeilen sein, eine Besprechung
der ganzen Arbeit zu geben, vielmehr liegt es uns nur am Herzen, die Aufmerk¬
samkeit des Leserkreises dieser Zeitschrift auf das Werk zu lenken und dabei namentlich
ans das 13. Jahrhundert hinzuweisen, in welchem die große Ernte von den Früchten
unsrer Zeit vorbereitet wurde, unsrer Zeit, die freilich bei dem leeren Gewäsche
unsrer politischen Tagesfragen nur allzuleicht die nähere wie die entferntere Ver¬
gangenheit vergißt.
Friedrich Wilhelm I. fand die Staatsverwaltung trotz des äußern Glanzes,
den die Errichtung des Königtums mit sich brachte, in einer wenig erfreulichen
Lage. Die Verschwendungssucht des Prachtliebenden Hofes und die Günstlings¬
herrschaft hatten kein gutes Beispiel gegeben und gerade bei den besten Elementen
die Schaffenskraft und den Thätigkeitstrieb gelähmt. Auch die politischen Ereignisse
der letzten Jahre hatten gezeigt, daß Preußens Zukunft nur soweit gesichert war,
als seine Physische Kraft reichte. Deshalb war das vornehmste Augenmerk des
Königs auf die Schaffung eines Heeres gerichtet, wie es im Abendlande nicht zum
zweiten mal von der Welt gesehen wurde. Es war eine glückliche Fügung, daß
dieser hehre und einsichtige Staatszweck mit den persönlichen Neigungen des Königs
zusammentraf, und so kam es denn, daß der militärische Geist die gesamte Staats¬
verwaltung durchdrang und der Monarchie den Namen eines Militärstaats verschaffte,
der heute wie damals von den Neidern und Verkleinerern Preußens mit verhaltenem
Ingrimm und lautem Hohne ausgesprochen wurde. Dieser Geist aber hatte zur
Folge, daß Schlagfestigkeit und Pünktlichkeit, Hingebung und Treue, blinder Ge¬
horsam und harte Zucht vou deu obersten Behörden an alle Zweige der Verwaltung
durchdrang und daß im 18. Jahrhundert, riugsnmgeben von den frivolen Nach¬
ahmern des französischen sittenlosen Hofes, in Preußen ein Beamtentum erwuchs,
dessen Leistungen und Integrität bald zu den angestauntestcn Wundern des ane-im
i'6ssimo gehörten und noch in unsrer Zeit den Mangel einer Volksvertretung wenig
fühlbar machten. Der König war es, der selbst alles in die Hand^nahm; die weit-
gehcndstcn Instruktionen, die uns oft ein wahres Abbild der Vcrwaltuugs- und
Kameralwisscnschaft jener Zeit gewähren, sind zum größten Teile des Königs aller-
eigenstes Werk; er geht dabei bis in die kleinsten Details ein, ohne die großen
Züge des Ganzen zu vergessen. Und seine Anforderungen waren nicht gering; wie
er selbst schon mit Tagesgrauen bei der Arbeit war und sich erst abends in seinem
Tabaskollegium die Muße freier Unterhaltung gönnte — obwohl auch hier die
wichtigsten Fragen der Zeit eingehend besprochen wurden —, so verlangte er auch
von seinen Beamten den gleichen Eifer und die gleiche Rastlosigkeit. So konnte
auch der Paragraph 23 seiner großen Instruktion an das Generaldirektorium fol¬
genden charakteristischen Satz enthaltein „Die Herren werden sagen, es wäre nicht
möglich, aber sie sollen die Köpfe dran stecken, und befehlen Wir ihnen hiemit
ernstlich, es sonder Misonuiren möglich zu machen," Dieses Generaldirektorium,
welches die verschiednen früher ganz von einander unabhängigen und nnverbundnen
Zentralbehörden vereinigte, bildete den ersten Grundstein zu einer gemeinsamen
Staatsverfassung, die weitere Bestimmung, daß die höheren Beamten niemals in
ihrer Heimatsprovinz angestellt wurden, schuf ein allgemeines preußisches Staats¬
bewußtsein und machte den Beamtenstand von den Schranken eines engen Horizonts
frei. Überall ist des Königs Auge wachsam; er selbst nimmt persönlich Visitationen
vor oder läßt solche durch seine vertrauten Gehilfen abhalten, sodaß er nicht bloß
sein eigner Finanz- und Kriegsminister ist, sondern auch in den untern Instanzen
scharf aufpaßt, daß alles „in Orärs" sei, „Wo was gebauet worden, heißt es in
einer Kabinetsordre von 1717, was innen und überflüssig, werde mich an den
Präsident halten, als ob er es mir gestohlen hätte," Jedermann wußte, daß dies
keine leeren Drohungen waren; wie der Soldat so war auch der Zivilbeamte für
seine Handlung „responsable," und streng wurde jedes Versehen mit Ersatz des
Schadens und Strafe geahndet. Mußte doch der Fiskal auch einschreite», wenn
die Minister zu spät in die gemeinsamen Sitzungen käme» oder gar unentschuldigt
eine solche Sitzung versäumten. Aber der König ging noch weiter in der Selbst¬
verleugnung, die er von dem Bcamtentume erwartete. So geschult und gestählt
war bereits durch das große Beispiel und die harte Zucht der Stand geworden,
daß der Monarch selbst den letzten Schritt thun und verlangen konnte, daß der
Beamte auch das Odium der Maßregel nicht ans den König schieben, sondern ans
sich selbst nehmen mußte. Diesen Gedanken spricht die vorerwähnte Instruktion
aus, wenn es heißt! „So wird das Geueraldirektorium die Sachen dergestalt zu
tonrnieren wissen, damit das daher etwa entstehende wiewohl ganz unverdiente
Odium nicht auf Uns, weil Wir die Liebe und Affektion Unsrer Unterthauen und
die Freundschaft Unsrer Nachbarn zu menagiren verlangen, sondern auf das General¬
direktorium oder ein und andre von denselben msmdris, wofern es nicht anders
ist, noch denen Leuten eine bessere Oviniou beigebracht werden kann, fallen möge,"
Mit Männern, von denen eine solche Opferwilligkeit verlangt werden konnte,
vermochte in der That der König großes zu unternehmen. Abgesehen von der
schlagfertigen Armee und dem Kriegsschatze, die er seinem Sohne zur Aufrecht¬
erhaltung und Mehrung des preußischen Königtums hinterlassen konnte, ist die
ganze Organisation der Staatsverwaltung ans neue Grundlagen zurückgeführt
worden, die sich noch heute, ungeachtet der durch die veränderten Verhältnisse
»öligen Umwälzungen, als maßgebend erhalten haben. Friedrich Wilhelm I. ist es
gewesen, der die erste Basis zur allgemeinen Wehrpflicht legte; er spricht es zum
erstenmale aus (in dem Mandat vom 9. Mai 1714), daß „jedermann im Staate
seinem Souverän und Landesherrn nach seiner natürlichen Geburt und des höchsten
Gottes eigner Ordnung und Befehl mit Gut und Blut zu dienen schuldig ist."
Friedrich Wilhelm I. ist es gewesen, der bereits im Jahre 1717 die allgemeine
Schulpflicht einführte und bestimmte, daß bei mangelndem Vermögen das Schul¬
geld aus der Ortsarmenkasse entrichtet werden sollte. Friedrich Wilhelm I. hat
nicht nnr die Leibeigenschaft auf den eignen und Dvmanialgütern abgeschafft, sondern
auch die Lage der Unterthanen nach Möglichkeit erleichtert und die „Banern-
plackercien und Schindereien" sowohl von seiten der Beamten wie der Gntsherr-
schaften aufs nachdrücklichste niedergehalten. Aber — wir sehen, daß wir fast
im Begriffe sind, unsre Aufgabe zu überschreiten und in eine Geschichte des Königs
selbst überzugehen. Es mag daher noch hervorgehoben werden, daß nicht zum
geringsten Teile die Rechtspflege diesem Herrscher eine vollständige Reformation
verdankt, die freilich erst unter dessen großem Sohne zu Ende geführt werden konnte.
Selbstverständlich fehlen in einem solchen Lichtbilde auch die Schattenseiten
nicht. Die große Vorliebe des Königs für das Militär hatte zur Folge, daß das
militärische Element namentlich durch die Versorgung in den subalternen Posten
überwucherte und infolge dessen eine größere Rücksichtslosigkeit und Rauheit eintrat,
als sie der Dienst an sich nötig gemacht hätte, eine aus der strengsten Pflicht¬
erfüllung hervorgehende Schroffheit, die noch heute in deu neueren Provinzen und
in Elsaß-Lothringen den preußischen Beamten nicht immer die Liebe der Regierten
erwirbt. Auch verschmähte es der König nicht, die Tüchtigkeit des Bewerbers
vorausgesetzt, unter gleichen Petenten demjenigen den Vorzug zu geben, der das
Meiste für die „Rekrutenkasse" zahlte. Aber diese dunkeln Flecke werden von dem
Glänze des Gesamtbildes überstrahlt. Das Beamtentum, welches Friedrich
Wilhelm I. geschaffen hat, verstand es, jeden persönlichen Wunsch, jede Bequemlich¬
keit, jede private Neigung und Überzeugung dem in der Person des Königs sich
verkörpernden Staate unterzuordnen und setzte mit erhebenden Bewußtsein und
mit Begeisterung für König und Vaterland seine besten Kräfte ein. Aus dieser
Pflanzschule erprobter Männer nahm auch König Friedrich seine Paladine und seine
Minister, und es ist das schönste Zeugnis für den Vater, daß auch sein Sohn,
den Mit- und Nachwelt als den Großen und Einzigen bewundert, mit denselben
Gehilfen auf den vorgezeichneten Bahnen des Vaters wciterschritt.
Wir haben bereits unser Bedauern ausgesprochen, daß der Tod den Verfasser
ereilte, ehe er sein Werk bis in die Gegenwart fortsetzen konnte. Freilich würde
seine Forschung gerade an der nächsten Gegenwart ihre Grenze gefunden haben.
Denn es kann sich nicht darum handeln, bloß eine Darstellung der Ämtcrorganisation
zu geben, sondern auch im ganzen wie im einzelnen die Thätigkeit und den Charakter
des gesamten Beamtentums zu schildern. Hier bildet aber die Einführung des
konstitutionellen Regiments einen tiefen Einschnitt, und eine Schilderung, welche
bis in diese Gegenwart reicht, würde nicht mehr der Geschichte, sondern dem
Staatsrecht und der Politik angehören müssen. Vermöge der Eigenartigkeit unsers
Staatsrechts sind wir Gott sei Dank davor bewahrt geblieben, daß die Beamten
— wie in den Parlamentarischen Ländern —, anstatt Diener des Königs und
Staats zu bleiben, zu Kreaturen der wechselnden Parlainentsmehrhcit geworden
sind. Nichtsdestoweniger ist das Beamtcntnm von dem Einfluß des Parlamen¬
tarismus und des öffentlichen Lebens nicht ganz verschont geblieben — aber diese
Wirkungen darzulegen, liegt heute abseits von unserm Wege. Uns genügt die
Hoffnung, daß auch die heutigen Hohenzollern noch in den Fußtapfen ihrer großen
Ahnen wandeln, und diese Hoffnung birgt eine kostbare Garantie für das preußische
Beamtentum der Gegenwart und der Zukunft in sich.
Lange, vielleicht zu lange hat die Fortschritts¬
presse gegen den Reichskanzler Schonung walte» lassen, aber endlich ist ihr die
Geduld gerissen. Das Maß seiner Sünden war schon voll und übervoll, nun
hat die blutige Beleidigung der jüdischen Nation dein Faß den Boden ciusgeschlageu,
und jetzt keine Nachsicht, keine Gnade mehr! Und da wagt noch jemand der Partei
das nationale Gefühl abzusprechen! Wer „einem Laster" das anthun konnte, dem
muß der Standpunkt klar gemacht, der muß nrdi ot orvi in seiner ganzen Ab-
scheulichkeit gezeigt werden. Das erstere Geschäft hat — soweit unsre Kenntnis
der wahren Organe der wahren öffentlichen Meinung reicht — am entschlossensten
das „Berliner Tageblatt," das andre die Wiener „Neue freie Presse" übernommen.
Wer ist denn dieser Kanzler? fragt Herr Mosse. Der Vertrauensmann einer
einzigen Person! Und wenn diese eine Person wenigstens noch Journalist oder
Advokat oder Inhaber eines schwunghaften Konfektionsgeschäfts wäre; aber nein,
sie ist nichts als Kaiser. Wie der Mann nur wagen darf, sich auf gleiche Linie
mit einem Abgeordneten zu stellen, hinter welchem soundsoviel Wähler, oder mit
andern Worten „das Volk" steht, das Volk mit Gänsefüßen (oft auch mit Gänse-
Hirn)! In übelaugebrachter Bescheidenheit unterläßt das gute „Tageblatt" noch
ein andres Moment in die Wagschnle zu werfen und die so naheliegende Konsequenz
zu ziehen. Dort ein ganz gewöhnlicher christlicher Germane, hier ein Angehöriger
des auserwählten Volkes, welcher sich der hilflosen deutscheu Nation aus purer
Barmherzigkeit annahm. Und wenn schon ein Abgeordneter so hoch über dem
Kanzler steht, »in wieviel höher erst der Erwählte vou 72 000 Abonnenten und
zahllosen Inserenten, Herr Rudolf (!) Mosse. Wenn irgendjemcmd, so hat er
vollgiltigen Anspruch auf die Würde eines Mahdi. Nun, einmal wird doch die
Menschheit zur Erkenntnis der großen Wahrheit gelangen, welche soeben wieder
Plonplon verkündigt hat, daß dem Volk allein das Recht gehört, seine Regierung
zu konstituiren und denjenigen zu wählen, den es für fähig hält, es anzuführen.
Dann wird Napoleon der Dicke jenseits und Rudolf der Große diesseits der Vogesen
herrschen und Freiheit, Recht, Tugend und Handel zur Blüte bringen.
Etwas Geduld müssen wir freilich noch haben, denn Herr von Bismarck ge¬
braucht seine usurpirte Gewalt in der rücksichtslosesten Weise, um ganz Osteuropa
zu knechten. Er ist Metternich reäivivus. Die „Neue freie Presse" hat die Anklage
gegen ihn erhoben und ihn überwiesen, er kann nicht mehr leugnen. Die Zeit der
dreißiger Jahre bricht wieder an, sagt das Wiener Weltblatt; und die Ähnlichkeit
ist in Wahrheit frappant. Links auf der Landkarte ist alles hell und heiter, rechts
aber Nacht und Grauen. „In Frankreich sind die Traditionen von 1789 mächtig
geblieben, die republikanische Staatseinrichtung ist zum drittenmal wiedergekehrt,
und sie erhält sich und wird sich erhalten." Aber nicht etwa, weil die Prätendenten
einander ebenbürtige Ritter von der traurigen Gestalt sind, ihre werte Person
keiner Gefahr aussetzen wollen, und weil das Volk (ohne Anführungszeichen),
welchem die Geschichte eines Jahrhunderts den Boden unter den Füßen weggezogen
hat, in der Republik das geringere Übel erblickt, sondern weil — el, weil die
Republik die Republik ist; was bedarf es da noch weiterer Gründe? Daher walten
in Frankreich eine Harmonie, eine Zufriedenheit, ein Gefühl der Sicherheit, vou
denen die Kammerverhandluna.er, die Zeitungen, die wirtschaftliche Krisis, das
Geschrei gegen die Fremden u. s. w. beredtes Zeugnis ablegen. England ist zwar
leider noch keine Republik, aber doch ein freier Staat, welcher sich den Luxus des
Fenicrtnms, der ägyptischen Expedition, der Sanktionirung des Sklavenhandels er¬
lauben darf. Wer auch so glücklich wäre! Doch im Osten gebietet der neue
Metternich, welcher sich in erster Linie vom „Haß gegen den Liberalismus" leiten
läßt, gegen „die Partei, welche Deutschland einig gemacht hat." Daran, daß sie.
dies gethan hat, wird doch niemand zu zweifeln wagen? Sie hat allerdings das
Heer, welches Österreich und Frankreich überwand, nicht so haben wollen, sie hat
sich aufs äußerste angestrengt, um deu Leiter der preußische» Politik zu stürzen.
Allein, hätte man sie nur gewähren lassen, so würde sie Bencdek und Mac Mahon
in Grund und Boden geredet und durch Männcrgescmg die deutscheu Partikularisteu
bekehrt haben. Diese Triumphe wollte Bismarck dem verhaßten Liberalismus nicht
gönnen, das ist das ganze Geheimnis. Und nun will er „keine Majoritäts¬
regierung" — es ist himmelschreiend, nicht einmal dieses unschuldige Vergnügen,
das doch überall goldne, begehrenswerte Früchte trägt, will er die Lage der Ent¬
erbten verbessern, obgleich gewisse Erben jene Lage ganz erträglich finden, zeigt
er der Presse, „den Äußerungen des Volkes (mit Gänsefüßen) in Wort und Schrift
Geringschätzung"; daß dieser Verächter aller Freiheit uns sogar verhindert, uns
mit amerikanischen Trichinen zu mästen, hat die „Neue freie Presse" uicht einmal
erwähnt. Übrigens ist es nicht ausschließlich das Mitgefühl mit der deutschen
Nation, was die Zeitung zur Aufzählung aller dieser Schändlichkeiten bestimmt: was
Bismarck thut, macht Taasfe nach, sogar „die Bismarcksche Sozialreform." Es
muß also wohl Verleumdung sein, daß die Linke im österreichischen Parlament
selbst eine Sozialreform beantragt habe, welche das Bismarcksche Vorbild nicht
verleugnen könne.
Kurzum, für die Reciktiou in Österreich ist Bismarck verantwortlich. Er hat
die dortigen Liberalen bewogen, kurzsichtig und übermütig das Heft aus den Händen
zu geben u. s. w. Und da es unter dein Ausnahmezustände „nicht gestattet ist,
von Österreichs Wandlungen unumwunden zu sprechen," so spricht mau lieber von
Preußen. Und hierin, das wird jeder zugeben müssen, liegt wirklich eine Remi¬
niscenz an Zeiten der Reaktion, namentlich an jene nach 1848, denn auch damals
griff man die Zustände andrer Länder an, um die eignen indirekt zu kritisiren,
machten österreichische Blätter tapfer dem Herrn von Manteuffel Opposition und
preußische dem Herrn von Bach. Darüber erhitzten sie sich mitunter so sehr, wie
Soldaten bei einem Manöver oder Statisten bei einem Gefecht auf dem Theater,
sodaß sie nur mit Mühe ausciuauderzubringen waren.
Alles würde indessen dein Reichskanzler verziehen werden können, mir nicht,
daß der Haß gegen den Liberalismus „sich selbst an einem Grabe so rücksichtslos
geäußert" hat, und uoch dazu am Grabe „eines Laster"! Es ist richtig, daß am
Grabe ebendesselben Laster der Haß gegen den Reichskanzler, der Größenwahn,
die Eitelkeit der Rasse sich rücksichtslos geäußert haben; es ist wahr, daß Herr
Sargcnt auch bei dieser Jnszcnirnng seinen bewährten Mangel an Takt bewiesen
hat; und es ist nicht wahr, daß der Kanzler sich „als den einzigen Mann hin¬
gestellt habe, der kompetent, ja einzig und allein unfehlbar ist zur Beurteilung
eines Mannes wie Laster." Aber so genau darf man es in der Begeisterung
uicht nehmen. Hat er doch behauptet, die deutschen Verhältnisse besser zu kennen,
als eine Anzahl von Mitgliedern des Kongresses zu Washington. Welche Ver-
messenheit gegenüber „Gewählten," die bekanntlich kraft ihrer Wahl alles kenne»
und alles wissen! Es ist wahrhaftig Zeit, daß Mosse Kanzler und Bamberger
Vizekanzler wird.
Mittlerweile könnte die Gefahr eines Krieges zwischen den Vereinigte» Staaten
und Deutschland vielleicht »och abgcwc»det werde«, we»u die „liberale Vereinigung"
einen feierlichen Salamander auf den Antragsteller im amerikanischen Repräsen-
tanteuhause riede, und an Herrn Freelinghuyscn zur Bestellung telegraphirte. Der
würde ohne Zweifel den Botendienst versagen, und damit wäre die Beleidigung
kompcnsirt.
Wenn sonst auf Kongressen Gegenstände zur Beratung gestellt werden, so
scheint der Zweck der zu sein, daß sich aus der Darlegung und Verteidigung der
entgegenstehenden Ansichten die Meinungen klären und zu einem möglichst objektiven
Urteil gelangen. Dieser Zweck ist dem Kongresse deutscher Volkswirte fremd, in
ihm ist nnr eine Richtung vertreten, nämlich die manchesterliche, und seine Ver¬
sammlungen haben nicht sowohl den Zweck, zu beraten, als durch Deklamationen
und agitatorische Reden die alleinseligmachenden Theorien des Manchestertnms zu
verbreiten und den Kanzler bei allen wohlgesinnten Philistern als den großen Um¬
stürzler zu denunziren. Nach den phrasenreichen Reden des Herrn Barth und
des — unbeteiligten (?) — Leiters einer Lebensversicherungsgesellschaft, Amelung,
konnte der zweite Koreferent von Schirmeister bemerken, „daß die Frage für den
Kongreß bereits liquid" sei. Es mag dies genügen, um den Kongreß zu charakte-
risiren, im übrigen ist ein Einstich der Kritik der reinen Vernunft, ungeachtet der
historische» Umgebung, auf die Verhandlungen nicht ersichtlich geworden. Die Dekla¬
mationen werden Deklamationen bleiben, geradeso wie die Verstaatlichung der
Eisenbahnen in Preußen sich bereits zu einer segensreichen That entwickelt hat,
obwohl Fortschritt und Sezession vergebens ihre Warnerrnfe durch das Land er¬
schallen ließen,
Diese Schrift zerfällt in drei Teile, Im ersten wird Lessings Verhältnis
zum Hcrrnhutertum und zu Zinzendorf erörtert, wobei der Verfasser dahin gelangt,
Lessings „Gedanken über die Herrnhuter" in das Jahr 17ö0 zu setzen; im zweiten
wird ein interessanter Vergleich zwischen Lessings und Tertullians Christentum an«
gestellt, im dritten endlich Lessings Trinitcitslehre entwickelt. In der Annahme
von Parallelen und direkten Einwirkungen ist der Verfasser etwas kühn, sodaß man
ihm da nicht immer folgen kann. Aber wohlthuend berührt die liebevolle Art,
wie er, obgleich er augenscheinlich ans sehr positivem christlichen Boden steht, sich
in den Lessingschen Geist versenkt und ihm in unbefangener Weise gerecht zu
werden sucht.
Imeus er mein lueemlo galt bisher als Musterbeispiel abgeschmackten Etymolo-
gisirens, erscheint aber um durch die vorliegende interessante Schrift in etwas
andern. Lichte, Der Verfasser sieht in der Erscheinung, daß bisweilen gleich oder
ähnlich lautende Wortstamme derselben oder verwandter Sprachen einen geradezu
entgegengesetzten Sinn haben, uicht die Thatsache zufälliger Homonymie, sondern
die Reste eines allgemeinen Vorkommnisses aus der Zeit der allerältesten Sprach¬
bildung, wo die Begriffe nur dnrch Vergleichung entstehen, nur im Gegensatz zu
ihrem Gegensatz errungen werden konnten. Hell kann nur im Gegensatz zu dunkel
überhaupt gedacht werden. Wenn es keine Unterschiede in der Lichtstärke gäbe, so
wären hell und dunkel unbekannte Vorstellungen und Vokabeln. Bei dieser Rela¬
tivität der Begriffe enthielt das Wort für hell zugleich eine Erinnerung an dunkel,
oder vielmehr es bezeichnete ursprünglich nur das Verhältnis zwischen beiden, den
Unterschied beider, also etwa: anders lichtstark. Erst später entstanden durch Diffe-
renzirung die getrennten Wörter für die getrennten Begriffe, aber Spuren des ur¬
sprünglichen Gegensinnes bilden sich in allen Sprachen bis ans die neueste Zeit
erhalten.
Diese Beobachtung ist nichts durchaus neues, aber sie wird hier zuerst syste¬
matisch dargelegt und für die Etymologie ausgebeutet. Sie ist auch an sich ganz
einleuchtend, aber freilich weder in der Ausdehnung als erwiesen anzusehen, die
ihr der Verfasser giebt, indem er allen UrWorten einen Gegensinn als notwendig
vindizirt, noch in der praktischen Anwendung einwurfsfrei, die das angehängte Ver¬
zeichnis von Beispielen des Gegensinns bietet. Der Verfasser hat dabei der Be-
dcutungscutwicklung nicht genügend Rechnung getragen. Es giebt, historisch nach¬
weisbar, genug Wörter, deren Sinn im Laufe der Zeit in ihr Gegenteil umgeschlagen
ist, oder die neben ihrer ursprünglichen Bedeutung einen andre, fast entgegen¬
gesetzte entwickelt haben. Auch mit diesen erst spät abgeleiteten Bedeutungen operirt
der Verfasser mehrfach. Es hat also im einzelnen noch eine sorgfältige Nachprü¬
fung einzutreten.
Diese „Flucht des Hirsches" ist ein Ritt ins alte romantische Land, voll
märchenhafter Wunder, die man aber gern mit in den Kauf nimmt, da sie glücklich
erfunden und in überaus anmutigen und farbenreichen Gemälden uns vorgeführt
werden. Christian Winther (geht. 1876) ist entschieden ein hervorragender Lyriker
und als solcher von seinen Landsleuten auch voll anerkannt, in Deutschland aber,
obgleich von seinem bedeutendsten Gedicht, dem vorliegenden, gleich nach seinem
Erscheinen (1856) eine Übersetzung (von Ryuo Quedl) herauskam, wenig gewürdigt,
was vielleicht an jener uns nicht bekannt gewordenen Übersetzung gelegen hat.
Leider ist auch die gegenwärtige nicht geeignet, den Zauber des Originals wiedcr-
znspiegeln, da ihre Sprache steif und hölzern ist. Namentlich in der Wortstellung
thut sich der Übersetzer zu viel Zwang an; obwohl das Versmaß das denkbar
bequemste ist, kommt er aus den ungelenken Inversionen garnicht heraus. Auch
Sprachfehler begegnen, wie:
Und ihnen wie zwei Kinder
Der Tag verging in Scherz.
Gegen den Schluß wird die Behandlung etwas lebendiger und freier. Der Über¬
setzer hätte daher gut gethan, wenn er, nach erlangter größerer Fertigkeit wieder
rückwärts schreitend an den vordern Partien die Feile erneut angelegt hätte.
o könnte mau den ersten Teil der Schrift des bekannten Geheimen
Ncgieruugsrates Wagener nennen, die unter dem Titel: „Er¬
lebtes. Meine Memoiren ans der Zeit von 1848 bis 1866
und von 1873 bis jetzt" (Berlin, Pohl) zu erscheinen begonnen
hat. Der Verfasser hat als langjähriger Redakteur der Kreuz-
zeitung die Partei derselben gründlich kennen gelernt, und seine Mitteilungen
über dieselbe beanspruchen ein umso größeres Interesse, als sie auch die Stel¬
lung Vismarcks zu der Partei und ihrem Preßorgcmc beleuchten. Auch sonst
enthält die Schrift, soweit sie vorliegt, manches Wertvolle, namentlich kurzgefaßte,
aber meist treffende Charakterbilder von konservativen und liberalen Persönlich¬
keiten der Jahre kurz vor und nach 1848, z. B. Hansemann, dem ältern Camp-
Hausen und dem Grafen Schwerin. Aber der rote Faden, der durch das Ganze
geht, ist doch ein Rückblick auf die Entstehung und das Leben des genannten
Blattes. Dasselbe wurde im April 1843 von der royalistischen Partei (eine
konservative im heutigen Sinne gab es damals noch nicht) gegründet. Haupt¬
beteiligter war der General von Gerlach, andre Begründer waren Graf Voß,
der Herr von Bethmann-Hollweg, der Baron von Senfft-Pilsach und der spä¬
tere preußische Gesandte in Paris, Graf von der Goltz. Aus dem wört¬
lich abgedruckten Programm ergiebt sich, daß man schon in dieser Zeit die
sozialen Fragen als gleich wichtig wie die politischen ansah und weit davon ent¬
fernt war, seine Aufgabe in einer mechanischen Reaktion zu erblicken. „Wir
wollen, so heißt es dort, kein prinziploses Repristiniren eines frühern Zu¬
standes. . . . Wir wollen aber auch nicht, daß die Revolution, die als That¬
sache nicht ungeschehen zu machen ist, sich als Prinzip unsers öffentlichen Lebens
festsetze, und daß dem deutschen Volke im Namen der Freiheit und des Fort-
Schrittes fremde Institutionen aufgedrungen werden. . , . Diesen Tendenzen und
dem zerstörenden Nivellirungstriebe der Zeit gegenüber werden wir die wahren
und geschichtlichen Grundlagen unsers Staats- und Rechtslebens geltend machen.
Wir werden das Recht von oben gegen die willkürliche Rechtsbildung von unten
nach einem nirgend dargethanen, bloß vorgeschützten Rechtswillen, die Obrigkeit
von Gottes Gnaden gegen selbstzusetzende und selbstzuentsetzende Machthaber ver¬
treten, die geltende Rechtsordnung und die dadurch geschützten Interessen gegen
offene und versteckte Gewalt, gegen das Andrängen eines alle Ungleichheit nicht
aufhebenden, sondern umkehrenden Radikalismus verteidigen. Zugleich werden
wir aber in der neuen Ordnung der Dinge, die wir mit ihren Verheißungen
ernst beim Worte nehmen, diejenigen Elemente aufweisen, welche wahre Realität
und Inhalt haben, die lebensfähigen Triebe unter organischer Anknüpfung an
das geschichtlich Gegebene sdie ständische Verfassung^ zu positiven Bildungen und
wirklichen Lebensmächten zu entwickeln und so zu zeigen suchen, wo wahre Frei¬
heit und wahrer Fortschritt liegt,"
Verschiedne Konservative hegten Zweifel ein^ der Zeitgemäßheit und
dem Gelingen des Unternehmens; als aber Mitte Juni die ersten Probe¬
nummern ausgegeben wurden, war der Erfolg sofort gesichert, und man konnte
mit einem Stamme von 3000 Abonnenten beginnen. Die ersten stehenden Mit¬
arbeiter waren die Herren Hermes, Langbein, Hesetiel, Gödsche, Adami und in
gewissem Sinne auch der Präsident von Gerlach. Gelegentlich lieferten Pro¬
fessor Stahl, Dr. Permce und der Herr von Bismarck-Schönhausen Beiträge.
Letzterer war periodisch sehr fleißig, „Während der parlamentarischen Verhand¬
lungen erschien kaum eine Nummer der Kreuzzeitung, welche nicht einen längern
oder kürzern Artikel des Herrn von Bismarck gebracht hätte." Auch der Vor¬
steher der Berliner Sternwarte, Geheimrat Ente, gehörte zu den Freunden des
Blattes und fand nur zu tadeln, daß die Redaktion noch zu höflich sei und die
Menschen für zu klug halte. „Halten Sie die Masse der Menschen, sagte er,
für so dumm, als es Ihnen irgend möglich ist, und Sie werden selbige immer
noch überschätzen."
Inzwischen ging die revolutionäre Zersetzung ihren Lauf und drang sogar
in die obern Kreise ein. Vou gewisser Seite wurde, wie Wagener behauptet,
sehr ernsthaft auf eine Thronentsagung des Königs hingearbeitet, indem man
Leute in die Provinzen schickte, welche Petitionen in diesem Sinne zustande zu
bringen beauftragt waren. Dabei schössen allerlei Vereine und Verbindungen
wie Pilze aus der Erde, darunter auch der Treubund, mit dessen Bestehen und
Tendenz man die Partei der Kreuzzeitung bisher zusammenzubringen gewohnt
war, wogegen unsre Schrift erklärt, dieselbe habe sich zu ihm mehr beobachtend
verhalten und ihn „als einen kleinen Absenker des Freimaurerordens vou Haus
aus mit entschiednen Mißtrauen behandelt." Dagegen unterstützte die Partei
die Bewegung der „zünftlerischen" Handwerker, welche damals vorzüglich in
Frankfurt ni. M. viel Energie und Sachkunde entwickelte und in dem Schuh¬
machermeister Pause einen sehr begabten Führer gefunden hatte, von Anbeginn
mit größtem Eifer. „Wer sich die Mühe geben will, die Verhandlungen der
Handwerkerversammlungen aus jener Zeit nachzulesen, der wird sich überzeugen,
daß in der heutigen Handwerkerbewegung kaum etwas neues zu Tage gefördert
wird, sondern die Postulate und Motive von damals einfach wiederholt werden.
Leicht begreiflicher Weise hielten indes diese Bestrebungen in den maßgebenden
Kreisen der Bourgeoisie nur solange vor, als man sich noch vor den Basser-
mcmnschen Gestalten fürchtete, dann schlugen sie alsbald auch bei uns in die
Etablirung der Geldherrschaft und des Regimes der Bourgeoisie um." Daß
das Verhältnis der Kreuzzeitungspartei zu den rasch aufeinanderfolgenden libe¬
ralen Ministerien — „Minister wurde (unter David Hansemann), wer eine
größere oder kleinere Herde Stimmvieh hinter sich hatte" — nicht gerade ein
freundschaftliches war, wird man begreiflich finden; „doch wurden wir, sagt
Wagener, durch dieselben auch nicht gerade übermäßig genirt, da sie anfangs
uns und unsre Bestrebungen unterschätzten und bereits abgenutzt waren, wenn
sie erst anzufangen glaubten. Außerdem war die Staatskunst der meisten über
die Arithmetik nicht hinaus. Man zählte die Häupter seiner Lieben, und dar¬
nach wurde gewirtschaftet: ein Spielen großer Kinder mit der konstitutionellen
Theorie."
Von Interesse für die Beurteilung der Kreuzzeitung und der Partei
derselben in der Zeit, wo Wagener erstere leitete, find die mitgeteilten brief¬
lichen Äußerungen des Präsidenten von Gerlach, mit denen der Verfasser
unsrer Memoiren Wort für Wort übereinstimmt. Mau hat oft behauptet,
jene Partei und ihr Organ habe dem Absolutismus Vorschub geleistet
und die Rückkehr Preußens zu diesem Regierungssystem angestrebt, und
ebenso sollen dieselben den Zaren Nikolaus als ihr Ideal und ihren Schutzpatron
angesehen haben. Das ist eine grundlose, wenigstens eine zu weitgehende
Meinung. Gerlach sagt zwar in dem einen Schreiben: „Die Masse der konser¬
vativen Partei besteht aus Regierungsmännern, Absolutisten, wenn Sie wollen,
welche die Regierung durchaus unterstützen und kräftigen wollen... Diese Masse
schließt viele höchst ehrenwerte Glieder ein, die nicht über den Wunsch hinaus¬
kommen, den König und die Regierung zu stärken, und die das Geheimnis der
Bosheit, welches im Absolutismus und Bonapartismus enthalten ist, nicht
verstehen. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß wir den Kampf gegen Absolutismus,
Vonapartismus, Bureaukratie und gegen Manteuffel-Quedl-Franz je aufgeben
dürfen. Das sei ferne! Wir müssen ihn aber in dem Bewußtsein führen, daß
wir die Masse unsrer Partei dabei nicht für uns haben, sondern auf diese selbst
einwirken, sie belehren und leiten müssen. Auf dem gemeinsamen Hintergrunde,
König und Regierung zu stärken, der seine Wahrheit hat, wird der viel zartere
Kampf gegen den Absolutismus sich erst recht verständlich und je feiner, desto
eindringlicher gestalten," Und in dem andern Schreiben heißt es: „Das Gegenteil
der silbenstecherischen Auslegung öder Verfassung?) ist nicht das Resultat, daß
jeder in der Auslegung soviel Recht hat als sein Gegner, auch nicht das Auf¬
lösen der Frage in große Interessen u. dergl. Sondern das Gegenteil der
silbenstecherischen Auslegung sans liberaler Seite) ist rechte staatsrechtliche Aus¬
legung, auf welche wir uns allerdings einlassen müssen, was auch die Kosaken
dazu sagen mögen. Wir dürfen nie am Recht — i, s, am konkreten Willen
Gottes — verzweifeln, weder daran, ihn zuerkennen, noch daran, ihn geltend
zu machen. Seien Sie nicht allzu russisch, vermeiden Sie auch den Schein
davon. Wir müssen freie Männer bleiben auf unserm ewigen Fundamente.
Mit dem Absolutismus des Zaren können wir nicht shmpathisiren. Wir haben
noch ganz andre Gegner und Leser als das vuIZus der liberalen Zeitungen."
Nicht ohne eine gewisse Berechtigung rühmt Wagener daraufhin die Leiter der
Partei als Männer, welche die Rückkehr zu dem früheren, unhaltbar gewordnen
patriarchalischen Absolutismus verhindert und die rechten Wege angegeben haben,
um die Machtfülle der Krone Preußen auch unter den veränderten Verhältnissen
und nach dem Wechsel der Szenerie nicht bloß aufrecht zu erhalten, sondern
sogar zu steigern" — ein Verdienst, welches vor allem Bismarck zukommt, wie
man in der neuen Schrift von Moritz Busch „Unser Reichskanzler" ausführlich
und nahezu erschöpfend nachgewiesen findet. „Daß wir, fügt Wagener hinzu,
im Anbeginn hier und dort eine etwas extreme Haltung einnahmen, beruhte
auf der Lehre vom Hebel. Um das gegenüberstehende Extrem zu heben,
mußten wir uns anfangs auf das äußerste Ende setzen, doch war es niemals
unsre Absicht, dort zu verbleiben." Die Opposition der Kreuzzeitung bei der
Frage des Schulaufsichtsgesetzes und später gehört nicht hierher, da Wagener
in dieser Zeit fich längst von der Leitung des Blattes zurückgezogen hatte.
Bald nach dem Austritt des Herrn von Manteuffel und der Verlegung
der Landtagssitzungeu nach Brandenburg wurde Wagener aufgefordert, die
Kreuzzeitung hinfort in der Richtung zu leiten, daß der Konstitutionalismus
wieder beseitigt und die Rückkehr zum früheren patriarchalischen Regimente an¬
gebahnt würde. Führer der Partei, von welcher dies ausging, war ein früherer
sehr namhafter preußischer Minister. Wagener aber wies dieses Verlangen „auf
der Stelle" zurück, indem er „entscheidenden Wert darauf legte, das Vertrauen
in das Wort des Königs nicht zu erschüttern," und indem er sich überzeugt hatte,
„daß die wurmstichige preußische Bureaukratie kein zuverlässiges Piedestnl sür
die preußische Königskrone mehr bilde, und daß die innere Heilkraft des könig¬
lichen Preußen das beste zur Genesung thun werde." Je unbequemer die
Kreuzzeitung ihren demokratischen Gegnern wurde, desto mehr bestrebten diese
sich, sie zu verdächtigen und lahmzulegen: „Zahlreiche Denunziationen und
Untersuchungen, deren Zahl einmal gleichzeitig dreißig betrug, Travestien und
Nachäffungen, die aus Frankfurt a. M. importirt wurden, falsche Extra-
blanker und dergleichen, welche die Glaubwürdigkeit schwächen sollten, und
die schmutzigsten persönlichen Verdächtigungen und Verleumdungen," Mng und
geht andern Leuten, besonders von sezessionistischer und fortschrittlicher Seite,
ebenso,)
Über seine und seiner Partei Stellung zur deutschen Frage berichtet der
Verfasser: „Man hat später der Kreuzzeitung oft den Vorwurf gemacht,
daß sie der deutschen Einheitsbewegung nicht gerecht geworden sei, doch war es
bei der damaligen Konfiguration der Parteien in Preußen und bei dem Ver¬
laufe der parlamentarischen Verhandlungen in Frankfurt für nüchterne, auf dem
Boden der Wirklichkeit stehende Männer in der That unmöglich, eine mit demo¬
kratischen Öle durchtränkte papierne Kaiserkrone ernsthaft zu nehmen und der
Illusion Vorschub zu leisten, als ob man Österreich aus Deutschland hinaus¬
reden und die deutschen Fürsten mit einer Stimme Majorität medicitisiren könne.
Außerdem war die nationale Bewegung und die schwarz-rot-goldne Kokarde
durch die vorangegangnen Exzesse gerade bei denjenigen Elementen des preußischen
Volkes, auf welche wir uns stützen mußten, so mißliebig und verdächtig geworden,
daß das Anlegen jener Kokarde als Parteidemonstrativn galt," Später fügt
der Verfasser dem hinzu: „Die Kreuzzeitung und deren Partei ist niemals ^er
meint, immer) weder österreichisch noch russisch, sondern preußisch und deutsch
gewesen, doch hat selbige sich allerdings von dem damals herrschenden Schwindel
frei erhalten und stets mit benannten Zahlen gerechnet. Wir waren von An¬
beginn überzeugt, daß bei der tiefen Zerrissenheit Deutschlands, wo eines jeden
Hand wider den andern war, Rußland den Ausschlag geben, und daß die
Rückkehr zum alten Bundestage einstweilen das einzig Mögliche sein würde,
falls man nicht verblendet genug war swäre), die Uneinigkeit zu einem Bürger¬
kriege zu steigern und den Einfluß Rußlands in Deutschland ins Ungemessene
zu vermehren. Dieser unsrer demnächst durch die Thatsachen sin Warschau und
Olmütz) bestätigten Auffassung haben wir stets unverhohlen Ausdruck gegeben."
„Sehr intim" war in der ersten Zeit der Verkehr der Kreuzzeitung mit
Manteuffel, von dem Wagener sagt, er sei zwar kein schöpferischer Staatsmann,
doch durchaus der Mann gewesen, dessen es damals bedurft habe, um das etwas
aus deu Fugen gegangne Preußen wieder einzurenken. „Geschäftskundig als
früherer Direktor im Ministerium des Innern, geachtet bei der Büreaukratie,
von zweifelloser Treue, eisernem Fleiße und hervorragender Arbeitskraft, zu jeder
Tageszeit zugänglich, sich über alles, soweit möglich, durch eigne Anschauung in-
formirend, wußte er bald alle Fäden in seiner Hand zu vereinigen und nach allen
Seiten das Gefühl zu verbreiten, daß in Preußen wieder ernsthaft regiert werde."
Weiterhin aber bemerkt unsre Schrift: „Mit der allmählichen Befestigung
der innern Zustände traten leicht begreiflicher Weise und, wie wir hinzufügen,
leider! die früheren preußischen Regierungsmittel, die Büreaukratie und die
Polizei, wieder mehr in den Vordergrund, und glauben wir p. wir glauben) es als
den Hauptfehler des Herrn von Manteuffel bezeichnen zu müssen, daß er sich
alsbald durch den Polizeipräsidenten von Hinkeldey überflügeln ließ. . . .
Niemals hat die Kreuzzeitung der Pvlizeiwirtschaft dieses Mannes, der ebenso
ehrgeizig und rücksichtslos als begabt und energisch war, das Wort geredet,
vielmehr haben wir dem Herrn von Hinkeldey nicht bloß in der Presse, sondern
anch persönlich den entschiedensten Widerstand geleistet, und sind diese Kon¬
flikte si. diese Konflikte sindj .... der eigentliche Grund meines Rücktrittes
von der Redaktion der Kreuzzeitung gewesen. Wir wollten schon damals, was
ich auch heute noch will, Wiederherstellung einer organischen Gliederung des
Volksleibes und eine darauf basirte, mit den Lebensbedingungen der preußischen
Monarchie in Harmonie zu Setzende Selbstregierung."
Der Schrift sind einige Briefe Bismarcks an Wagener eingefügt, die aus
den Jahren 1850 und 1851 stammen und eine wertvolle Ergänzung dessen bilden,
was Busch im dritten Kapitel des ersten und im sechsten Kapitel des zweiten
Bandes seines Buches „Unser Reichskanzler" mitgeteilt hat.
WA
WA-
MVationeller Betrieb der Landwirtschaft ist ein Schlagwort unsrer
Tage. Nicht ohne Grund hören wir es tausendfach wiederholen.
Immer nutzbringender gestaltet sich die Ausbeutung des Landes.
Kraftersparnis verbindet sich in erfreulichster Weise mit Steigerung
des Ertrages. Schon zwingen wir in tausend Maschinen das
Sonnenlicht vergangner Jahrtausende, thätig mit uns zu sein, um die Zeugungs¬
kraft der Erde in den Strom des Lebendigen zu lenken, der „Mensch" genannt
ist und bestimmt zu sein scheint, alle die zahllosen andern in seinem Laufe zu
vereinen.
So werden wir des Landes Herren. Aber vor uns liegt sie, die Urmutter
alles Lebens, die unerschöpfliche Gcbcirerin, die weite See! Hier kann kein
Pflug seine knechtenden Furchen ziehen, und doch auch die Myriaden von Wesen,
die Bewohner ihrer Triften, schon fühlen sie des Gewaltige» Macht. Denn,
wie der alte Tragiker sagt:
Auch die wimmelnde Brut der See
Fangt er listig umstellend ein
Mit netzgeflochtenen Garnen.
Die a^^x^o^ Homers zu einem fruchtbaren Weideplatze ihm gehöriger
Geschöpfe zu macheu, das ist die Aufgabe, die er sich gestellt hat und die er
mit der Zeit durch emsige Bemühung auch zu lösen imstande sein wird.
Freilich, daß wir jemals, auch bei der vorläufig denkbar besten Bewirt-
schaftung und Ausnutzung der Gewässer soweit gelangen sollte» wie bei einer
vollendeten Kultur unsers mütterlichen Landes, das liegt, wenn es überhaupt
möglich ist, in graucster Zukunft. Alle die überschwänglichen Lobgesänge auf
die unsagbare Fruchtbarkeit des Meeres und — worauf es uns zunächst an¬
kommt — auf ihre Nutzbarkeit für den Menschen sind eher geeignet, eine augen¬
blickliche Begeisterung für die Hebung der verborgnen Schätze der See wie
Strohfeuer aufflackern und wieder zusammensinken zu lassen, als zu einer
Thätigkeit anzuspornen. Da soll nach der unglaublich übertriebenen Angabe
einer Kommission des englischen Parlaments ein Acre See in der Woche
30V Zentner Fischfleisch liefern können, was derselbe Raum gut bebauten Landes
erst in einem Jahre an Rindfleisch zu liefern imstande ist. Das Land ist unsre
Mutter, ist unser bestes Ackerfeld und wird es mich wohl bleiben. Was die
Triften der See anlangt, so ist das höchste, was wir anstreben können, eine
möglichst vollendete „Viehzucht"; Viehzucht ist aber von dem Ideal der Nutzbar¬
machung der Naturerzeugnisse für den Menschen sehr weit entfernt. Jede Existenz,
die sich einschiebt zwischen die erste Erzeugung organischen Lebens und den
Menschen, macht Ansprüche sür sich selbst. Im Interesse der Vermenschlichung
der Substanz aber, wenn ich so sagen darf, liegt es offenbar, diese Zwischen¬
existenzen aus dem Kreislaufe des Lebens thunlichst auszuschalten. Reinster
Vegetariauismus ist das letzte Endziel aller Volkswirtschaft, sofern sie mit
Nahrungsfragcn sich beschäftigt; ja in letzter Instanz, wenn wir vielleicht un¬
gezählte Jahrtausende der Zukunft im Gedanken zu überfliegen uns nicht scheuen,
sogar die Ausschaltung auch des pflanzliche» Lebens aus dem Stvffnmlaufe
der Natur. Daß wir diesem Ideale aber auf dem mütterlichen festen Lande
viel eher nachstreben können als auf den Triften des Ozeans, liegt klar zu Tage.
So sollten schon Erwägungen dieser Art genügen, um uns vor allzu über-
schwcinglichen Hoffnungen und Behauptungen zu wahren. Und vornehmlich der
letztern bedürfen wir nicht einmal. Denn was der Boden der See der intensiven
Ausnutzung durch den Menschen vorenthält, das giebt er reichlich wieder oder
wird es doch geben durch die ungeheure Ausdehnung seiner Fläche. Hensen
berechnet den Ertrag der Ostsee auf ein Fünftel des fruchtbarsten Landes, und
dabei sind es sieben Millionen Quadratmeilen Weidetriften des Meeres und,
wenn an Ausdehnung dagegen auch verschwindend gering, so doch durch gleich-
müßigere Fruchtbarkeit und die Möglichkeit vollständiger Ausnutzung wichtig,
weit ausgedehnte Flächen unsrer Ströme, Flüsse, Seen, Teiche und Tümpel,
in welche wir unsre Zuchtfische als Fouragicre der menschlichen Gesellschaft
senden können, und es ist ein erhebender Gedanke, wenn wir uns vorstellen,
daß sie beladen mit den lebenspendenden Schätzen unzugänglicher Tiefen in unsre
Hände zurückkehren.
Erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit hat man wieder angefangen, auch in
Deutschland der ungeheuern volkswirtschaftlichen Bedeutung einer rationellen
Fischerei, ja der Fischerei überhaupt Beachtung zu schenken. stetig sich mehrende
Klagen über den Rückgang der Fischerträge, vornehmlich der Binnenfischerei,
gaben wohl den ersten Anlaß dazu und haben dadurch einen in mancher Be¬
ziehung vielleicht zu konstatirenden Mangel in ihrer Berechtigung reichlich auf¬
gewogen.
In frühern Zeiten, so hört man klagen, hatten die Fischer überreichlicher
Gewinn. Zum Beweise wird angeführt, daß man vordem oft den Ertrag eines
einzigen glücklichen Fischzuges nicht habe verwerten können. Noch vor einigen
Jahrzehnten seien Lachse z. B. in so ungeheurer Menge gefangen worden, daß
man sie geradezu habe vergraben müssen, und was dergleichen mehr ist. Die
Klagenden bedenken aber nicht, wie ungeheuer sich gerade in der neuesten Zeit
alle Verhältnisse geändert haben, und daß dies naturgemäß auch bei denen der
Fall ist, die sich auf die Fischerei beziehen.
Vor noch nicht langer Zeit blieb bei der vielfach noch mangelhaften
Technik in der Konservirung, bei den so äußerst unzulänglichen Verkehrs- und
Transportmitteln die Konsumtion des meist frisch genossenen Fischfleisches vor¬
wiegend auf die Bewohner der nächstumliegeudcn Distrikte beschränkt, und es
stellte sich einem großen Angebote eine verhältnismäßig geringe Nachfrage ent¬
gegen. Wie sehr ist jetzt die Sachlage geändert! Die Fischereibevölkerung, damals
von ihrem Gewerbe reichlich sich nährend, hat sich wie jede andre im Laufe der
Zeit vermehrt, stellenweise ist sie auf das Doppelte gestiegen, und eine im übrigen
gleichgebliebene Ausbeute muß sich auf mehrere Partizipienten verteilen. Ver¬
besserte PostVerbindungen, Dampfer und Eisenbahnen machen auch der Binncn-
bcvölkerung den Genuß frischen Fischfleisches möglich; gehen doch die Lachse
unsrer nördlichsten Gewässer bis nach Paris! So hat sich die Nachfrage
wesentlich erhöht, und es ist leicht erklärlich, wem» dieser gesteigerten Nachfrage
gegenüber auch ein in der That sich gleichgebliebenes Angebot als vermindert
erscheint.
Die Klagen über den Rückgang der Fischerei sind auch keineswegs neu.
Schon im sechzehnten Jahrhundert kann man ihnen begegnen, und 1784 sagt
Bock in seiner Naturgeschichte: „Daß der Segen von Fischen allhier abnehme,
bestätigen alle, welche eine fünfzigjährige Erfahrung hinter sich haben." Es
dürfte somit die „gute alte Zeit" bei diesen Klagen wohl auch die Hand im
Spiele haben. Ferne jedoch sei es mir, deshalb die große Berechtigung der¬
selben etwa in Abrede stellen zu wollen. Das vertrüge sich mit den That¬
sachen schlecht.
Infolge einer unsinnigen Raubsischerei, mit welcher die Fischer zum Teil
in ihr eignes Fleisch wüten, haben sich einzelne Fischgattungen in erschreckender
Weise vermindert, was kaum zu verwundern ist. Mußte doch nach einer Notiz
Veneckes schon im Jahre Joachim II. die Beuiltzuug der Fischbrut zur
Schweiuefütteruug verbiete»! Große Flundern werden an den deutschen Kttstcu
auch uach dem Urteil völlig Unbefangner täglich seltner; Dorsche, Schnäpel und
Pcrpel vermindern sich zusehends, und bei dem stetigen Rückgänge des Stör¬
sanges muß es uns geradezu erschrecke», wenn wir hören, daß noch im sech¬
zehnten und siebzehnten Jahrhundert allein von Pillau (!) aus jährlich 1ö00
bis 6000 Achteltonnen marinirter Störs nach England gingen!
Wenn wir so schon im Mischbestände der als unerschöpflich angesehenen
See einen partiellen Rückgang bestätigen müssen, so kann es uns kaum Wunder
nehmen, daß wir denselben in den Gewässern des Binnenlandes noch in er¬
höhtem Maße antreffen, bei denen fördernde wie schädigende Einflüsse der mensch¬
lichen Thätigkeit in viel einschneidenderer Weise zur Geltung kommen können.
Die in neuester Zeit in großartigem Maßstabe betriebene Regulirung ganzer
Stromgebiete und die damit verbundene Verminderung der zum Laichen der
Fische geeigneten geschützten, nnhrungsreichen Uferstellen, wie sie besonders auch
durch die Abdämmung der Altwässer entsteht, wirkten in hohem Grade nach¬
teilig ans das Fortkommen der Fischbrut ein. Zahlreiche Wehre hemmen den
Zug der zum Laichen stromaufwärts steigenden Fische, so vornehmlich des
Lachses, Turbinen in großer Zahl vernichten die zu demselben Geschäfte seewärts
eilenden Aale oft in ungeheurer Menge, um sie so der Nutzung des Meuscheu
zu entziehen. Dazu kommt die verderbliche Wirkung, welche zahlreiche Fabriken
aller Art hervorrufen, indem sie die giftigen Abfallprodukte ihrer Thätigkeit
nnr allzuhäufig in die vorüberfließenden Gewässer leiten und dadurch oft massen¬
haftes Sterben ihrer Bewohner verursachen. Raddampfer verscheuchen die Fische
durch ihren Lärm, und die ihnen nachfolgende Flutwelle spült den zarten, in
der Entwicklung begriffenen Laich ans Ufer. Baggermaschinen, die den Grund
aufwühlen, zerstören den Nährboden der Gewässer — was Wunder, wenn bei
all diesen zahlreichen verderblichen Einflüssen ein wirklicher Rückgang im Fisch¬
bestande nicht ausbleibt! Und doch sind diese schädlichen Einwirkungen vielleicht
nicht so bedeutsam als diejenigen, welche eine irrationelle Ausbeutung der Ge¬
wässer durch den Menschen hervorgerufen haben mag.
Die Zahl der in Deutschlands Binnengewässern Fischereibcrechtigten ist
Legion. Dazu kommen die stellenweise übermäßig hochgeschraubten Pachtpreise
bei nnr kurzer Dauer der Pacht. Die Folge davon ist selbstverständlich eine
Raubfischcrei, die keine Rücksicht auf Nachbar und Zukunft kennt und uns zu
der verwunderten Frage berechtigt, wie ein solches System, an manchen Orten
Jahrzehnte, ja Jahrhunderte hindurch fortgesetzt, uns überhaupt noch von einem
Ertrag sprechen lassen kann. Die Verarmung geht hie und da soweit, daß,
wie von Seidlitz berichtet, auf manchen Seen, namentlich auf solchen, die lange
Zeit an polnische Juden verpachtet waren, die Fischerei ganz eingestellt worden
ist, weil es nichts mehr zu fangen giebt.
In unsrer Zeit, welche einer rationellen Bewirtschaftung des Landes in
Ackerbau und Viehzucht mit so großem Erfolge sich angenommen hat, konnte es
nicht ausbleiben, daß, nachdem man einmal Ursachen und Bereich der Schädigung
des Fischbestandes zu erkennen angefangen hatte, von vielen Seiten auf energische
Besserung der Verhältnisse gedrungen ward. Mehr und mehr erwachte im
Volke das Bewußtsein, daß es einer erheblichen Schädigung des nationalen
Wohlstandes bisher ruhig zugesehen habe, und die Gegenwirkung zeigte sich in
dem hohen Interesse, welches sich mit einemmale der Fischfrcigc zuwandte.
Zahlreiche Fischereivereine wetteifern bereits miteinander — allen voran der
deutsche Fischereiverein, der seinen Sitz in Berlin hat —, um Theorie und
Praxis der Fischkultur zu fördern und das Interesse dafür im deutschen Volke
wach zu halten. Leider, aber in unserm Lande nicht zu verwundern, ist es vor¬
nehmlich die Theorie, an welcher der Fortschritt zunächst zu spüren ist. Es ist
eben wieder der bedauerliche Mangel an Unternehmungsgeist und der dadurch
verursachte chronische Mangel an Geld, der die Vereine hindert, ihre segensreiche
Thätigkeit in ausgedehnterem Maße zu entfalten. So klagt Scidlitz, als Schrift¬
führer des Fischereivereins für Ost- und Westpreußen, daß die zur Bevölkerung
der dortigen Gewässer jährlich nötigen 15 Millionen Brutsischchcn sich mit einem
Anlagekapital von 30 000 Mark und einer jährlichen Betricbssumme von
20 000 Mark beschaffen ließen, und rechnet sich des weiter» müde, wie sich
diese Summe aufbringen lassen würde — bei einem Unternehmen, bei welchem
Tausende als Reingewinn alljährlich sich ergeben würden!
Wie wir gesehen haben, waren an dem Niedergange der Fischerei manche
Übelstände schuld, denen eine private Thätigkeit nicht steuern konnte, und so sah
sich denn auch der Staat veranlaßt, das Seine zu thun. Eine Revision der be¬
stehenden Gesetze machte sich unabweisbar notwendig. Das Gesetz vom 30. Mai
1874, zu dem im Jahre 1877 und 1880 Ausführungsbcstimmungen für die ein¬
zelnen Provinzen erlassen wurden und am 30. März 1880 noch ein Abände-
rungsgcsetz hinzukam, hat sich dieser schwierigen Aufgabe unterzogen.
Die segensreichen Wirkungen vieler seiner Bestimmungen würden umso
eher zu Tage treten, wenn sie nicht leider durch mancherlei Unzulänglichkeiten
und Verkehrtheiten daran behindert würden. So kann man dem Verbote schäd¬
licher Fanggeräte, namentlich dem der giftigen, ins Wasser zu streuenden Be¬
täubungsmittel, nur seine Zustimmung geben. Die Festsetzung von Minimal-
maßen für die Maschenweite der Netze ist geeignet, dem unsinnigen Fange der
Fischbrut zu steuern und so den Fischreichtum zu heben; freilich dürften die¬
selben nicht für die ganze Monarchie gleich festgesetzt sein, sondern sich den
Verhältnissen anpassen. Den Schädigungen, die Turbinen, Mühlenwehre, chemische
Fabriken u. s. w. anrichten, sucht mau thunlichst zu begegnen, die Übeln Wirkungen
der übermüßigen Verteilung der Fischereiberechtigung durch Begünstigung von
Genossenschaftsbildung der Beteiligten zu mildern, und was dergleichen billigcns-
werte Bestimmungen mehr sind.
Auch des Schutzes der laichenden Fische hat man sich verständigerweise
angenommen, aber gerade hier ist ein Punkt, der — und vielleicht mit Recht —
den zahlreichsten Angriffen ausgesetzt gewesen ist und noch ist. Um den Fisch¬
bestand auf die alte Höhe zu bringen oder darüber hinaus zu heben, hat man
Schourevierc, an denen garnicht gefischt werden darf, und nach Analogie der
Jagdbestimmnngen auch Schonzeiten festgesetzt. Wenn diese Schonreviere nicht
allzugroß genommen und durch wirklich sorgfältige Untersuchung und Beobachtung
richtig ausgewählt werden — was leider nicht überall der Fall ist —, so kann
man sie sich schon gefallen lassen. Anders ist dies mit den allgemeinen Schon¬
zeiten. Zur Festsetzung derselben hat man die artenreiche Klasse der Fische ein¬
geteilt in Winter- und Soinmerlaicher. Die ersteren müssen (nach Erlaß vom
30. Mai 1874) vom 15. April bis zum 14. Juni, die andern vom 15. Oktober
bis zum 14, Dezember laichen, wenn sie gedeihen wollen. Dies liegt nun wohl
in der Absicht der Fische, die Bestimmungen des Gesetzes aber nicht in ihrer
Einsicht, und so ist es denn nicht zu verwundern, wenn vielfach Verstöße ihrer¬
seits dagegen vorkommen. So laichen z. B die einen, wenn die Sonne schön
scheint oder es sonst ihrer Gewohnheit gemäß ist, schon vor dem 15. April,
die andern schon vor dem 15. Oktober. Dann aber gehen die Fische nach wie
bor zu Grunde, und die Fischer haben zwei Monate umsonst gehungert, da ja
der Fischfang so lange geruht hat. Eine Einteilung der Fische in Sommer-
nnd Wintertaucher nach Kalendertagen ist offenbar ohne Sinn und geradezu
unhaltbar. Man kann nicht genug dagegen protestiren, schon aus naturhistorischen
Gründen, ganz abgesehen davon, daß durch diese Einteilung eine ganze große
Klasse von Menschen in ihrem Erwerbe aufs empfindlichste beeinträchtigt wird.
Warum in aller Welt hob das Gesetz die Bestimmung der Fischerciverordnung
von 1845 auf, wonach es den Aufsichtsbeamten überlassen blieb, in jeder Pro¬
vinz je nach den Umständen die Schonzeiten festzusetzen? Warum wird nicht
noch viel zweckentsprechender bestimmt, daß von den betreffenden Beamten nach
sachverständigen Urteil für die einzelnen Fischarten je nach den Witterungs-
verhältnissen oder sonstigen Anzeichen die Schonzeit bekannt gemacht werden
solle? Durch eine solche Bestimmung und eine dementsprechende einfache Markt-
koutrole konnte die Schonung wirklich erreicht werden, und die Fischer erlitten,
da stets nur wenige Fische in Schonung waren, keine nennenswerte Unter¬
brechung in ihrem Verdienste. Jetzt hat man sich genötigt gesehen, die Fischerei
wenigstens an drei Tagen der Woche auch während der Schonzeit freizugeben,
eine Marttkontrole ist so gut wie unmöglich, die Fischer werden systematisch zu
Kontraventionen angehalten, und die erstrebte Schonung des Fisches bleibt
mindestens fraglich.
Und endlich, ganz abgesehen davon, daß gerade in den betreffenden Monaten
der Frühjahrsschonzcit an vielen Orten der Fischfang am besten ist und nach einem
Ausdrucke von Seidlitz der Fisch darin „komisch ist," daß er nur nützt, wenn
er gefangen wird, welchen erdenklichen Nutzen kann es gewähren, wenn wir zu¬
gleich mit den laichenden Fischen auch die nicht im Laichgeschäfte begriffenen
sorgsam schonen? Im Gegenteil, bei der bekannten Vorliebe fast aller Fische
für den Laich der andern zwingen wir geradezu eine Menge derselben, denen bei
ven plötzlich unterbrochenen Fange ihrer Kameraden und der dadurch gesteigerten
Konkurrenz ihr sonstiges Futter zu knapp wird, sich mit der willkommenen leckern
Nachkommenschaft ihrer hochzeitlich gestimmten Verwandten zu mästen, ein Re¬
sultat, das denn doch kaum in der Absicht des Gesetzgebers gelegen haben dürfte.
So sind es denn gewichtige Bedenken, die man gegen diesen Punkt der
neuen Fischereigesetzgebung geltend machen kann und auch schon häufig geltend
gemacht hat. Die Regierung will wohl erst einige Zeit vergehen lassen, damit
sich die Meinungen klären und die Stimmen sammeln können. Möge denn
später wenigstens bei einer erneuten Revision des einschlagenden Gesetzes die
ersehnte Remedur nicht ausbleiben!
Sehr verdient würde sich der Staat auch machen, wenn es ihm gelänge,
auf internationalem Wege Maßregeln gegen eine verderbliche Raubfischerei zu¬
stande zu bringen. So wäre dies vor allem dringend wünschenswert gegenüber
der unerhörten Rücksichtslosigkeit, mit welcher die Holländer unsern Nheinlachs
schädigen. Versuche zur Abhilfe sind schon mehrfach gemacht worden, leider bis
jetzt vergeblich.
Aber ist denn wirklich die Hebung unsrer Binnenfischerei von solcher Be¬
deutung, daß energische Aktionen, wie die geforderten, sich lohnen würden?
Nach Metzgers statistischen Untersuchungen und Bcneckes Berechnungen dürfte
der Ertrag der Binnenfischerei in unsern wasserreichsten Provinzen, den Provinzen
Ost- und Westpreußen, etwa auf 1^ Millionen Mark anzuschlagen sein. In
Frankreich, wo Volk und Regierung sich in höherm Grade einer wirtschaftlichen
Ausbeutung der Gewässer zugewandt haben, betrug schon 1857 der Reingewinn
der Binnenfischerei etwa 20 Millionen! Wie hoch mag er zur Zeit sich ge¬
steigert haben, wie hoch könnten wir, bei größerm Wasserreichtum, den Ertrag
unsrer Fischerei noch steigern, jetzt, wo die Theorie der Bewirtschaftung so weit
gediehen ist! Aber Unternehmungsgeist müssen wir freilich besitzen, Unterneh¬
mungsgeist, der zugreift und nicht erwartet, daß ihm die gebratenen Tauben in
den Mund fliegen!
Wo Wasser ist, da ist auch Leben. In jedem Teiche, in jedem Tümpel
wimmelt es von Organismen aller Art, tausende und abertauscnde von Orga¬
nismen vollenden hier den Kreislauf ihres Daseins — nutzlos für den Menschen.
Und doch lassen sie sich alle überleiten in den Strom der menschlichen Existenz,
wenn wir es nur verstehen, das Ungenießbare in genießbare Form zu verwan¬
deln. Das faulende Wasser ftagnirender Tümpel, die »us die Luft verpesten,
selbst dieses können wir uns nutzbar machen. Der Jrländer Walton verwan¬
delte schon vor Jahrhunderten in Frankreich sumpfige Strecken von Gewässern
in einträgliche Muschelfarms, die alljährlich etwa eine Viertelmillion Franken
an Reingewinn ergeben sollen. Wieviel können wir durch Krebszucht, wieviel
durch die Zucht zahlreicher Fischarten auch aus den schlechtesten Gewässern noch
herauswirtschaften, wenn erst einmal die Wasserkultur sich aus den Anfängen,
in denen sie bei uns noch steckt, emporgearbeitet haben wird.
Schmerzlich ist es, zu erkennen, wieweit wir in der Pflege unsrer Gewässer
hinter andern Nationen zurückgeblieben sind, doppelt schmerzlich, wenn wir sehen,
daß die Entdeckung, auf welcher in erster Linie der kolossale Aufschwung, den
die rationelle Wasserkultur anderwärts genommen hat, von einem Deutschen ge¬
macht worden ist. Ich komme auf die künstliche Befruchtung des Fischlaichs
und damit auf die künstliche Fischzucht. Es war der Landwirt und Leutnant
Stephan Ludwig Jacobi, der schou im Jahre 1725 zuerst die künstliche Be¬
fruchtung des Forellenlaichs vornahm, und dessen Entdeckung in erster Linie
Amerikaner, Engländer und Franzosen sich zu Nutze gemacht haben. Endlich
haben anch wir, dank dem Eifer der unermüdlichen, leider nur viel zu wenig
materiell unterstützten Fischereivcreine, angefangen, sie zu verwerten. Die in
Hüningen im Elsaß gelegene, von Napoleon III. gegründete, nunmehr kaiserlich
deutsche Fischbrutanstalt und zahlreiche Privatunternehmen arbeiten daran, zu
der so wünschenswerten Bevölkerung unsrer Gewässer das Ihre zu thun.
Ohne Wirkung sind diese Bestrebungen auch bei uns nicht geblieben, doch
ist sie noch gering. Wie weit ist dagegen in Amerika die künstliche Fischzucht
gediehen! Seth Green, so berichtet Beta, ließ vor einigen Jahren hundert
Millionen befruchtete Aloseneier in den einzigen Conneeticutfluß säen. Der ähn¬
lich bestellte Lorenzostrom lieferte in einem Jahre für 600000, der Hudson für
eine Million Dollars dieser beliebten snaäs. Im Adirondackson züchtet man
Lachsforellen und erntet sie bis vierzig Pfund schwer. Forcllcnzuchtciustalten
erblühten in wahrhaft amerikanischer Fülle. Ainsworth wurde der Anreger für
mehr als hundert Forellenteiche allein im Staate Newhork. Dabei hat sich
ergeben, daß jedes Quellflttßchen mit nur einem Zoll Wasser für je hundert
Geviertzoll Raum, daß es nur immer fließt, jährlich bis 600000 Forellen¬
eier ausbrüten kann. Das Tausend kostet aber oft schon 100 Dollars, und so
zog Ainsworth aus einem vorher verachteten Flüßchen wirklich in einem Jahre
60000 Dollars!
Ließe sich ein ähnlicher Erfolg nicht auch in Deutschland erzielen? Was
ist der Grund, daß bei uns dergleichen nie gehen soll? In Irland legte man
l8S6 im Ballisodareflusse drei Lachslcitern an, Einrichtungen, welche dazu
dienen, den zum Laichen stromaufwärts steigenden Lachsen über zu hohe Gefälle,
die sie nicht zu überspringen vermögen, hinwegzuhelfen, während man ihn
gleichzeitig mit Lachsbrut besetzte. Im Jahre 1870 wurden bereits 9750 Lachse
im Werte von 300 Pfund Sterling gefangen. Die Anlage der Leitern kostete
etwa 1000 Pfd. Se., und heute bringt allein die Angelzucht 5- bis 6000 Pfd. Se.
ein. Der kleine Fluß Mond in Irland — ich zitire Benecke — wurde, da er
mit einem tiefen Falle ins Meer stürzt, den Lachsen ebenfalls durch Anlegung
einer Leiter zugänglich gemacht. Fünf Jahre nach dem Aussetzen von 200 000
jungen, eben ausgeschlüpften Lachsen lieferte die Lachsfischerei in demselben schon
einen Ertrag von 26 700 Pfd. Se., also etwa ein Drittel soviel als der gesamte
Jischertrcig Ost- und Westpreußens. Sind das nicht Zahlen, welche mit Gewalt zu
einer vernünftigen Bewirtschaftung unsrer Gewässer herausfordern? Sollten sie
wirklich nicht imstande sein, das deutsche Kapital ans seiner Lethargie aufzurütteln
und zur Erschließung einer so überaus ergiebigen Quelle des nationalen Wohl¬
standes zu veranlassen? Aber das Kapital ist nicht einmal notwendig, um hier
einen schon erfreulichen Fortschritt zu bewerkstelligen. Wäre nur erst im Volke
das Bewußtsein von der hohen Ertragsmöglichkeit der Gewässer erwacht, wäre
dem Einzelnen durch den Schutz zweckmäßiger Gesetze die Nutznießung seiner
Bemühung garantirt, dann würden tausende von Brutanstalten im kleinen Ma߬
stabe in Bächen und Teichen vielleicht ebensoviel leisten wie jene größeren Be¬
triebe. Wem nun auch jene Initiative zufallen wird, hoffen wir, daß auch in
Deutschland die Zeit nicht mehr allzufern sei, wo ein Kapital von 30 000 Mark
für ein so gemeinnütziges Unternehmen, wie das obenberührte, der Bevölkerung
der Haffe aufzubringen nicht mehr zu den Unmöglichkeiten gehört.
Wir haben bisher von der Binnenfischerei gesprochen, ihren volkswirtschaft¬
lichen Wert geprüft und ihre weittragende Bedeutung nachgewiesen. Aber was
will diese sagen im Vergleich zu einer rationellen Ausbeutung der unabsehbaren
Nahrungsflächen der See? Hier ist von einer Verminderung der Erzeugnisse
nur in einem sehr beschränkten Maße die Rede, noch spenden die ozeanischen
Tiefen unermeßliche Massen von Nahrung. Und fast alle seefahrenden Nationen
haben sich diesen Reichtum in ausgedehntem Maße zu Nutze gemacht, wiederum,
leider muß es gesagt sein, mit alleiniger Ansnahme unsers Volkes. Wir haben
es bis jetzt vorgezogen, über ein internationales Übereinkommen zum Schutze der
Gewässer u. dergl. nachzudenken, zu reden und zu schreiben, als thatkräftig für
jetzt wenigstens teilzunehmen an dem, was die freigebige Natur uus bietet.
Das Kapitel der Hochseefischerei ist, vom deutschnationalen Standpunkte
aus betrachtet, ein sehr trauriges. Lassen wir einmal alle theoretischen Be¬
trachtungen beiseite, lassen wir Zahlen sprechen. Ich folge den Daten, wie sie
Benecke in dem Handbuch der politischen Ökonomie von Schönberg giebt.
In Schottland waren 1878 nicht weniger als 107126 Fahrzeuge mit der
Seefischerei beschäftigt, in Norwegen dienten (1876 bis 1833) 16 067 Schiffe
und Boote zur Dvrschfischerei, 8165 betrieben den Heringsfang, 951 fischten
nach Makrelen. In Frankreich waren 1869 bis 1877 durchschnittlich 19 700
Fahrzeuge zur Fischerei ausgerüstet und mit 92 200 Fischern besetzt, von denen
sich 68 000 mit Küstenfischerei, 11 000 allein mit der Kabliaufischerei bei Neu¬
fundland beschäftigten. In den Niederlanden zählte man in den letzten Jahren
etwa 2500 Fahrzeuge mit 10 000 Fischern, ebenso hoch belief sich etwa die
Zahl der Fischer in Dänemark. In Italien gab es im Jahre 1870 1566 Sec-
fischercifahrzeuge, und von den etwa 31 000 Fischern betrieben 22 320 nur die
Küstenfischerei. Im Jahre 1878 war in Schottland in etwa 14 500 Fische»
booten und den dazu gehörigen Netzen ein Kapital von 24 242 280 Mark an¬
gelegt, und 7000 zum Heringsfang ausgerüstete Boote besaßen etwa 20 000 Kilo¬
meter Netze, die durchschnittlich jährlich 600 000 bis 1 Million Barrels Heringe
(1 Barret ^- 800 Stück) lieferten, abgesehen von den etwa 200 000 Barrels,
die zum Konsum in frischem Zustande kamen. In derselben Zeit lieferte der
Hmnmerfcmg an den schottischen Küsten einen jährlichen Ertrag von etwa
6 Millionen Mark. Der Bruttoertrag einer der wichtigsten Austernlompagnicn
Von Whistable betrug in den Jahren 1869 bis 1875 jährlich 700000 bis
1009 600 Mark. Im Jahre 1876 betrug die gesamte englische Einfuhr an Fischen
705 872 Zentner im Werte von 23 800 040 Mark, die Ausfuhr 547 196
Zentner im Werte von 21 277 460 Mark. Die norwegischen Fischereien lieferten
in den Jahren 1868 bis 1879 im ganzen 50 000 000 Mark, also jährlich über
4 000 000. Allein bei der Dorschfischerei ans den Lafoten waren 1376 bis
1878 jährlich im Durchschnitt 28 000 Fischer mit über 6500 Booten beschäftigt
und ernteten im Mittel jährlich 25 500 000 Dorsche im Werte von mehr als
8 000 000 Mark. Der durchschnittliche Ertrag der französischen Fischereien
betrug in den Jahren 1867 bis 1877 jährlich etwa 60 Millionen Mark, im
Jahre 1876 gewannen französische Fischer bei Neufundland 16 Millionen Kilo
Dorsche im Werte von über 7 Millionen Mark, 1868 wurden allein im Quartier
la Rochelle Mießmuscheln für etwa 600 000 Mark gewonnen. Die niederländische
Heringsfischerei repräsentirt jährlich im Durchschnitt 1800 000 bis 3 900 000
Mark: von den gefangnen 150 Millionen Heringen gehen allein 54 Millionen
nach Deutschland. Die Kablianfischerei hatte 1874 bis 1878 einen Wert von
1 bis 1^ Millionen Mark, die Küstenfischerei 1869 bis 1878 einen solchen
von 4- bis 600 000. Die italienische Seefischerei lieferte 1869 etwa 30 Mil¬
lionen Mark, davon allein 5 bis 6 Millionen für Thunfischerei, 8 Millionen
für Korallen. Nach Baers Untersuchungen im Jahre 1826 betrug damals der
Fischereiertrag des Kaspischen Meeres ungefähr 468 Millionen Fischprodukte im
Werte von ungefähr 50 Millionen Mark, davon kamen ans die Störarten
14 600 000 Mark, Kaviar 4 200 000 Mark, Karpfen 4 000 000 Mark, Hechte
und Zander 7 850 000 Mark, Bressen 4 000 000 Mark, verschiedne Herings¬
arten 3 400 000 Mark, Hausenblase 1 950 000 Mark, Kaviar von Bressen und
Zauber etwa 1 Million. In Britisch-Nordamerika werden durchschnittlich jährlich
70 Millionen Kilogramm Kabliau gefangen, und Hind schlägt die Produkte der
Seefischereien im Jahre 1875 für die Vereinigten Staaten auf 44^ Millionen
Mark an, ebenso hoch die von Kanada, die von Neufundland auf 33 Mil
livrer Mark. Vou den großen amerikanischen Binnenseen wurden 1872 etwa
17 Millionen Kilogramm Fische im Werte von 6 800 000 Mark geliefert und
den Austernkonsum der bedeutendsten Städte der Union schätzt UerollÄirt's NagÄ-
2lo,s g,na <üommsr<M Ksvisv im Jahre 18S9 auf 4000 Millionen Stück.
Das sind Zahlen, die mehr als Worte sprechen. Was kann Deutschland
den andern Nationen darin entgegensetzen? Vor kurzem noch ergab eine Ge-
wcrbezählung in Deutschland im ganzen, also einschließlich der Binnenfischer —-
19623 Fischer! 19623 Fischer bei einem Volke von 46 Millionen, einem
Volke, das in tausend Meilen seine Küste vom Meere bespült sieht lind das sich
mit Vorliebe von seiner „germanischen" Tüchtigkeit zur See vvrerzählt! In
den letzten dreißig Jahren betrug die Einfuhr in die Zollvercinslande etwa
2S0 Millionen Mark! Zur Zeit der Blüte der Hanse war der Walfischfaiig
Hamburgs allein bedeutender als der Englands und Schottlands zusammen¬
genommen! Das ist längst vorbei; aber können sich denn die Verhältnisse nicht
wieder besser gestalten? Vor fünfzig Jahren sorgten für Londons Bedarf an
Fischfleisch etwa fünfzig Boote von Grnndnetzsischern, jetzt hat sich ihre Zahl
um das zwanzigfache vermehrt. Hull zieht allein aus seiner Grundnetzfischerci
eine Million Thaler Reingewinn, und zwar zumeist aus der Doggerbank, die
uns viel näher liegt als den Engländern. Wir beschränken uns auf die ver¬
hältnismäßig fischarme Ostsee! Warum thun wir es, warum lassen wir alle
beliebigen Völker die Schätze des „deutschen Meeres," wie die Engländer, nicht
wir, die Nordsee benennen, uns vor der Nase wegfangen? Sollen wir denn
immer Hans im Traume spielen, behaglich in dem Gedanken, daß wir im ir¬
dischen Besitz um einmal zu kurz gekommen seien? Wir wiederholen tausend-
fach das Dogma von der natürlichen Armut des deutschen Landes gegenüber
den gesegneten Fluren des reichen Frankreichs, wir finden es selbstverständlich
und ganz naturgemäß, daß England Geld hat und wir nicht. Freilich, wenn
wir die natürlichen Hilfsmittel, die uns zu Gebote stehen, in so unverantwort¬
licher Weise außer Acht lassen, dann mit Recht. So wird es uns schließlich
mit der Hochseefischerei wohl gehen wie mit den Kolonien. Wir sollten doch
bedenken, daß andre Völker auch einmal angefangen haben, und sollten deshalb
nur einmal beginnen zu handeln! Statt dessen lassen wir uns wohlgefällig das
Volk der Dichter und Denker nennen und meinen damit genug gethan zu haben.
Ganz abgesehen davon, daß andre Leute auch gedacht haben, in letzter Instanz
nähren sich doch auch Dichter und Denker von Fleisch und Rüben, und wenn
das einmal ausgeht, so hats mit dem Denken und Dichten ein Ende. Mit
andern Worten, dem Geisteswohlstande muß ein materieller Wohlstand zur Seite
gehen, wenn die vorhandenen Blüten ausreifen sollen. Uns steckt viel zu sehr
die Hamletnatur im Leibe.
Das eine Gute ist im vorliegenden Falle: daß wir bisher nur zurückge¬
blieben sind. Noch ist das Meer internationales Eigentum, und noch können
wir nachholen, was wir versäumt haben. Schon haben wir eine Wissenschaft-
liebe Kommission zur Untersuchung der deutschen Meere, schon bildet sich der
Deutsche ein Urteil, und schließlich wird vielleicht auch das Kapital sich der
Sache annehmen, und statt in rumänischen Eisenbahnen zu arbeiten, die Aus¬
beutung der natürlichen Hilfsquellen seines Landes unterstützen. Denn Kapital
muß freilich helfen; die mittellosen Bewohner unsrer Fischerdörfer können einen
großartigen Aufschwung der deutschen Hochseefischerei selbstverständlich nicht be¬
wirken, zumal da es gerade ihr in auffallender Weise auch an Intelligenz und
Unternehmungsgeist gebricht.
Will man gerecht sein, so darf man es dem deutschen Kapital freilich nicht
allzusehr verdenke», wenn es, unkundig der Verhältnisse und allein, was See
und Seewesen betrifft, fernerstehend als das damit eng verknüpfte englische
oder norwegische, bisher keine Lust zu größerer Bethätigung in dieser Richtung
gezeigt hat. Zahlreiche Umstünde haben das mit sich gebracht, aber diese Um¬
stände haben sich zum großen Teile geändert, und eine längere Nichtbeteiligung
unsers Kapitals an dem wahrhaft nationalen Unternehmen einer Hebung der
deutschen Fischerei würde unverzeihlich sein. Schon ist der Staat durch direkte
Unterstützung der Hochseefischerei fördernd entgegengekommen, aber so lobens¬
wert dies an sich und so sehr es zu wünschen wäre, daß er in seiner Hilfe-
leistung nicht ermatte, die Hauptsache soll mit niuß doch der privaten Bethä¬
tigung überlassen bleiben. Auch die Secsischereigesellschasten in unsern größern
Küstenstädten vermögen allein nur wenig, wenn nicht das Kapital des Binnen¬
landes sich in größeren Maße beteiligt.
Mancherlei Faktoren freilich sind es, die bei einem Aufschwünge der deutschen
Hochseefischerei mitzuwirken haben würden, aber alles, was dabei in Betracht
kommt, läßt sich doch beschaffen, und einem energischen Wollen gegenüber sind
die Schwierigkeiten nur gering. Da gilt es, eine nach Hunderten zählende
Flotte seetüchtiger, mit allem Erforderlichen wohl versehener Boote auszurüsten,
da gilt es, dieselben mit erprobten, bei anfänglichem Mangel an heimischen,
auch ausländischen, vielleicht den billig arbeitenden norwegischen Seeleuten und
Fischern zu bemannen. Schnellfahrende Dampfer mit den nötigen geräumigen
Eisbehültern versehen müßten den fischenden Booten die gewonnene Beute ab¬
nehmen und so unersetzlichen Zeitverlust ersparen, denn auch die schnellsegclndsten
Fischerewer haben jetzt oft einen Verlust von 30 Tagen und mehr, um ihren
Fang ans Land zu bringen, und das in der günstigsten Zeit, der Zeit des besten
Fanges! Gar häufig geht ferner auf der sturmbewcgten See das notwendige
Gezeug verloren; es müßte also den Leuten Ersatz geboten werden, und das
schnell. Dazu könnten wiederum jene Dampfer dienen. Auch zur See gilt
das Wort: Zeit ist Geld!
Eine im großen betriebene Hochseefischerei wird selbstverständlich die über¬
wiegende Menge ihrer Konsumenten weit drinnen im deutschen Binnenlande zu
suchen haben. Deshalb bedarf sie einer prompter, schnellen Versendung der
Ware, in deren Eigentümlichkeit es liegt, daß sie meist eine lange Aufspeicherung
nicht verträgt. Also feste Abschlüsse mit den Direktionen der Eisenbahnen, damit
Landung der Ware, Verpackung und Versendung Schlag auf Schlag einander
folgen! Im Jahre 1878 sind allein in Ost- und Westpreußen, also einem
Gebiete, dessen Ertrag um Fischfleisch gegen den zu erzielenden einer energisch
gehobenen Hochseefischerei bedeutend zurücksteht, 2 38S 926 Kilo Fische durch die
Eisenbahn verschickt worden. Solche Zahlen sind wohl geeignet, auch die Her¬
stellung besondrer, mit Kühlungsvorrichtungen versehener Wagen als lohnend
erscheinen zu lassen. In Amerika bedient man sich ihrer bereits seit Jahren in
ausgedehnter Weise, und sie kommen dort auch dem Transporte andrer Artikel,
welche kühle Versendung verlangen, wie Fleisch, Milch, Butter 7c., zu statten.
In den Städten des Binnenlandes endlich würden zahlreiche feste Verkaufs¬
stellen sür die Seefische zu errichten sein. In vorzüglich eingerichteten Eis¬
schränken — deren Konstruktion man angegeben finden wird — ließe sich die
Ware tagelang frisch und schmackhaft erhalten und das Vorurteil der großen
Menge gegen tote Fische, das schon zu schwinden beginnt, würde sich bald
gänzlich verlieren, um einer lebhaften Nachfrage Platz zu machen. Auch Her¬
stellung von Fischkonserven, nach Analogie der Behandlung der Hummer z. B.,
würde sich empfehlen, ebenso wie-auch eine Verfeinerung und weitere Ausbildung
der übrigen Konservativnsmethoden, wie Salzen, Räuchern, Trocknen und Mari¬
niren, sich notwendigerweise ergeben würde. Endlich würde sich auch das An¬
legen großer Behälter an den Orten des Fanges zur Aufbewahrung lebender
Fische, die Errichtung großer Eishäuser nach amerikanischem Muster reichlich
lohnen, da sie den, je nach den Fängen stark schwankenden Preis der Fischware,
der auf den Absatz nicht günstig wirkt, stabiler machen könnten. Das alles
klingt freilich, als ob es schier uubeschasfbar sei, aber für andre ist es doch
auch beschaffbar gewesen, wir brauche« ja nicht vorzumachen, wir sollen nur
nachahmen, was andre Nationen uns gezeigt haben!
Wenn man bedenkt, wie zahllose Mengen guter und bester Nahrungsmittel
oder doch Verbrauchsgegenstände täglich den Fluten der See entrissen und ihr
zurückgegeben oder doch in unerhört verschwenderischer Weise vergeudet werden
und zu deren zweckentsprechender Verwendung eine verhältnismäßig nur kleine
Kapitalanlage genügen würde, so begreift man kaum, daß sie bis heute noch
nicht gemacht ist.
So kann die Qnappenleber an vielen Orten (z. B. Ruß und Laiblein) im
Winter zentnerweise gewonnen und zu kostbaren Delikatessen verarbeitet werden.
Jetzt geht sie nutzlos zu Grunde. Findet sich niemand, der sie nutzbar macht?
Bei Eckernförde werfen die Fischer die Flundern, Platen und Dorsche in Massen
weg, weil sie aus Mangel an Transportmitteln nicht verwertet werden können,
und behalten nur die Goldbutten (Schollen). Sollte es ganz unmöglich sein,
den so vergeudeten kostbaren Nahrungsstoff nützlich zu verwenden? Die geradezu
massenhaft gefangenen Seesterne, die verderblichsten Feinde der Fischbrut und
der eßbaren Muscheln, werden ins Wasser zurückgeworfen, während sie bei bessern
Transportmitteln ans Land geschafft und an geeigneten! Orte mit den übrigen
zahllosen Abfüllen der Fischerei zu Dung verarbeitet jedenfalls etwas nützen
würden.
Schon bei dem jetzigen Bestände unsrer Gewässer würde das deutsche Kapital
reichlich seine Zinsen finden, aber was könnte es noch thun für eine künstliche
Hebung des Ertrages der See! Auf das vier- und fünffache ließe er sich
steigern. Noch verzehren tausende von Delphinen und Seehunden allein bei
Sylt und an unsrer Ostseeküste alljährlich gegen 32 Millionen Kilo Fische, die
doch eine energische Fischerei, unterstützt von emsiger Jagd auf die schädlichen
Tiere, zum großen Teile dem Menschen selbst gewinnen könnte. Jetzt lassen
wir Delphine und Seehunde gewähren, lassen ihnen Schonzeit angedeihen, ernten
dafür ein wenig Thran und befolgen so die Praxis von Leuten, welche etwa
auf Kosten ihrer Rinderherden Bärenzucht betreiben wollten!
Vernichtung also den zahllosen Räubern, aber sorgsame Pflege den kost¬
baren Geschöpfen, die uns die ungenießbaren Nahrungsmittel der Tiefen in
genießbare Form verwandeln! Wie lohnend würde die Einbürgerung gar mancher
vorteilhaften Muschelarten sein! Die mähr- und schmackhaften Kamm- und Herz¬
muscheln, die Seeschnecken, Scegcmielen und andre mehr bieten dem englischen
Volke in ungeheuern Massen gute und billige Nahrung. Warum können wir
uns uicht desselben Vorteils versichern, da auch an unsern Küsten zweifelsohne
die Tiere massenhaft ihr Fortkommen finden würde»? Frankreich allein hat
7000 künstliche Austernfcmus — sollte die deutsche Küste, die doch die Auster
gleichfalls gedeihen läßt, der Anlegung solcher künstlichen Bänke sich spröde
entgegenstellen? Aller Anfang ist schwer, und wie eS scheint, bei uns ungeheuer
schwer. Hoffen wir, daß das deutsche Volk die pessimistische Ansicht, die ihm
die Kraft zu einem energischen Handeln ganz absprechen möchte, baldigst Lügen
strafe. Seit unser Kanzler uns gezeigt hat, daß man handeln kann, auch wenn
man in deutschen Landen geboren ist, statt bloß zu denken, ist die Aussicht
vorhanden, daß ihm, wie auf andern Gebieten des vielgestaltigen Lebens, so
auch auf dem der deutschen Hochseefischerei aus ihrem derzeitig erbärmlichen
Zustande thatkräftige Nachfolger erstehen werden. Und wie sehr wäre dies zu
wünschen! Kommt doch bei einer Hebung der Seefischerei nicht nur der gewerb¬
liche Nutzen einzelner, nicht einmal lediglich der materielle Gewinn, der der
ganzen Nation daraus erwachsen würde, in Betracht. Sie ist auch eine militärische
Frage. Die Abnahme unsrer seetüchtigen Bevölkerung, die leider keine bloße
Redensart mehr ist, und ihre Bedeutung für unsre Wehrkraft zur See zu er¬
örtern, ist hier nicht der Ort — es genüge der Hinweis darauf; daß ihr aber
wirksam durch Hebung unsrer Fischerei gesteuert werden dürfte, ließe sich leicht
beweisen. Lohnende, ihren Mann ernährende Thätigkeit als Fischer ist der Port,
in den nach langen Irrfahrten der Seemann einzulaufen pflegt und der ihn
und seine Nachkommen der Heimat erhält. Was aber die Wehrkraft zur See
anlangt, so sollten wir ihre Bedeutung immer ermessen an dem meerbeherrschenden
England. Die Wehrkraft gebar den Wohlstand, und der Wohlstand verdoppelte
die Kraft; beide aber im Vereine gaben jenem Volke die Herrschaft, mit der
es seine Sprache und damit ein gut Teil seines Geistes Millionen aufzudrängen
vermag. Damit aber hat es sich einem Ziele genähert, um das doch einzig aller
Kampf sich dreht; deun Geltendmachen der Eigenart ist die Triebfeder der sicht¬
baren Welt.
So kommen wir denn zum Ende auf den Anfang zurück. Geltendmachen
der Eigenart, Vermenschlichn»g der Substanz, zunächst der organischen, das ist
es, was immer und immer wieder aller Völker Blicke hinlenken muß auf Bäche,
Flüsse, Ströme und See — denn hier harrt der Eroberung noch ein weites
Feld. Es gilt die unzugänglichen Tiefen, die Reiche Neptuns zu gewinnen,
sie umzugestalten zu einer Domäne der Menschheit.
GW
Ä?er die erste Ausgabe von Sebastian Brants „Narrenschiff" auf¬
schlägt, der findet gleich auf einer der ersten Seiten einen ergötz¬
lichen Holzschnitt. Ein Gelehrter, mit einer großen Brille be¬
waffnet und eine Schlafmütze auf dem Kopfe, von der eine
Narrenkappe zurückgestreift ist, sitzt vor einem mit mächtigen Fo¬
lianten belegten Doppelpulte und scheucht mit einem ungeheuern Wedel die
Fliegen von einem vor ihm aufgeschlagenen Buche hinweg. Darüber sind fol¬
gende Worte zu lesen:
Den vordantz hat man nur getan,
dann jeh on nutz vit bücher han,
die jeh nit lyß vnd nyt verstan.
Dieser Spott, mit welchem Sebastian Braut die Aufzählung seiner zahlreichen
Narren beginnt, findet auch heute noch seine Anwendung auf alle diejenigen,
die das hauptsächlichste Mittel geistiger Bildung, die Bücher, zum Gegenstande
einer albernen Spielerei machen und zur Befriedigung ihrer Eitelkeit benutzen,
d. h. auf alle Büchernarren. Solche Büchernarren oder, manierlicher ausgedrückt,
Bibliophilen finden sich Wohl am zahlreichsten in England. England, die Heimat
unsers ganzen modernen Klubwesens, ist auch die Heimat der Bibliophilengesell-
schaften und des Sports in literarischer Beziehung.
Zweierlei Momente erklären diese allbekannte Thatsache leicht. Einmal
liest der Engländer mit besondrer Vorliebe und Ausdauer und wünscht als ein
Mann, der die Unabhängigkeit liebt, auch das zu besitzen, was er liest. Dann
über liegt ihm nichts so nahe, als sich bei möglichst großer Freiheit der Be¬
wegung, die ihm über alles geht, doch streng in einem geschlossenen Kreise von
gleichartigen Individuen abzusondern,*) Diesem nationalen Charakterzüge des
Engländers entstammt seine Vorliebe und Befähigung zum Klublebcn, das sich
gar bald vom politischen Gebiete auch auf das literarische ausdehnte. So ent¬
standen jene zahlreichen englischen Bibliophilengcsellschaften, deren Grundzug
immer der ist, die von ihnen veranstalteten Veröffentlichungen auf die Zahl der
Mitglieder zu beschränken und damit ein Buch zu einer Seltenheit zu stempeln.
Je geringer die Zahl der Mitglieder eines solchen literarischen Vereins ist, desto
größer die Seltenheit der von ihm ausgehenden Publikationen. So zählte z, B.
der Roxburghe Klub, der im Jahre 1812 zu London ins Leben trat, statuten¬
gemäß anfänglich nur 31 Mitglieder und nahm noch im Jahre 1864 nicht mehr
als 40 auf. Eine größere Mitgliederzahl ließ der Baunatyne Klub, 1823 in
Edinburgh gegründet, zu, aber auch hier darf die Zahl von hundert Mitgliedern
nicht überschritten werden. Dasselbe gilt fast von allen derartigen englischen
Gesellschaften.
Es liegt auf der Hand, wie sehr eine solche Beschränkung ans eine be¬
stimmte Anzahl von Mitgliedern den Charakter des Sportmäßigen trägt, mit
dem die Wissenschaft nichts zu thun hat. Dennoch kann der Nutzen, welchen
diese englischen Bibliophilengesellschaften gebracht haben, nicht hoch genug an¬
geschlagen werden, Ist doch unter allen Narrheiten die Narrheit für Bücher
gewiß die edelste, da sie in irgendeiner Weise doch dnrch ihren Gegenstand dem
Großen und Ganzen zu Gute kommt. Auch haben selbst jene englischen Sonder¬
linge gelegentlich sich bewogen gefühlt, einzelne ihrer Veröffentlichungen durch den
Buchhandel jedem Kauflustigen zugänglich zu machen, während andre Gesell¬
schaften, namentlich in neuerer Zeit, es sich angelegen sein lassen, den Kreis ihrer
Mitglieder möglichst auszudehnen.
Es konnte nicht fehlen, daß man auch in Deutschland die trotz ihrer
Schrullenhastigkeit so verdienstvollen englischen Bibliophilengcsellschaften heimisch
M machen suchte. Sie empfehlen sich ja in allen denjenigen Fällen, wo die
Mittel und die Wagelust der Buchhändler für ein großartiges literarisches
Unternehmen, das nur mit pekuniären Opfern durchzuführen ist, nicht ausreichen
wollen, und mehr noch als in England vielleicht in Deutschland, wo bekanntlich
selbst der Reiche und Hochgestellte seine literarischen Bedürfnisse lieber mit Hilfe
von Leihbibliotheken befriedigt, als daß er sich selbst für einen mäßigen Preis
in den dauernden Besitz von Büchern setzte.
Der erste derartige deutsche Bibliophilenverein und noch heute der größte
und bedeutendste unter den Vereinen ähnlicher Tendenz in Deutschland ist der
Literarische Verein in Stuttgart. Im Jahre 1839 nach dem Vorbilde der
englischen und französischen Bibliophilenvcreine gegründet, besteht er noch jetzt
und erfreut sich der wachsenden Gunst und Anerkennung unter allen, die an der
Entwicklung unsrer literargeschichtlichen Studien Anteil nehmen. Trotz alledem
ist selbst in den Kreisen der Gebildeten nicht nur das Interesse an dem Vereine,
sondern auch die Kenntnis von seinen Bestrebungen verhältnismäßig gering. Begeg¬
nete es doch dem Verfasser dieser Zeilen vor kurzem, daß er einem Gymnasiallehrer
gegenüber, der noch dazu germanistische Studien getrieben und die Prüfung in
denselben nicht unrühmlich bestanden hatte, von dem Literarischen Vereine als
von etwas ganz Unbekannten sprach. Es mag deshalb wohl verlohnen, auch
an dieser Stelle einmal die Bedeutung desselben hervorzuheben und einen Über¬
blick über seine hauptsächlichsten Leistungen zu versuchen. Wesentlich erleichtert
wird uns diese Aufgabe durch ein Schriftchen, welches Adalbert von Keller,
der kürzlich verstorbene langjährige Präsident des Vereins, über „die Ent¬
stehung und den Fortgang des Literarischen Vereins" herausgegeben hat
(Tübingen, 1832).*)
Wie seine ausländischen Vorbilder, wurde der Literarische Verein gegründet,
um ältere Geschichtswerke und Dichtungen in der Weise herauszugeben, daß die
gedruckten Exemplare nicht in den Buchhandel gebracht, sondern lediglich zur
Verteilung an'die Mitglieder des Vereins bestimmt werden sollten. Man faßte zu
diesem Zwecke in erster Linie „teils handschriftliche, teils ältere, schon gedruckte,
aber bereits aus dem Buchhandel verschwundene und sehr selten gewordene
Werke ins Auge, welche dem germanischen oder romanischen Sprachgebiete an¬
gehören und ein allgemeines Interesse darbieten, also vorzugsweise Schriften
geschichtlichen und poetischen Inhalts."
Diese Ausdehnung auf überaus umfangreiche Gebiete schien schon darum
geboten, um den einzelnen Mitgliedern, deren Interessenkreis natürlich ein sehr
verschiedner sein muß, die Aussicht zu gewähren, unter vielen für sie wenig
wertvollen Gaben auch mancherlei Begehrenswertes zu erlangen. In der That
aber hat es sich so gefügt, daß Werke aus dem Gebiete der deutschen Sprache
bis jetzt am meisten Berücksichtigung gefunden haben, und deshalb die lange
Reihe der Vcreiuspublikationen eine wertvolle Fundgrube für jeden bildet, der
sich quellenmäßig mit dem Studium der deutschen Literatur zu befassen hat.
Der Verein erfreute sich schon in seinen Anfängen königlichen Schutzes.
Zuerst übernahm König Wilhelm von Würtemberg das Protektorat, das
seit 1864 auf König Karl übergegangen ist. Das Präsidium des Vereins
führte zuerst der geheime Legationsrat von Lehr. Die Gründer aber, zu denen
Männer wie der Freiherr Georg von Cotta, Christof Friedrich von stallr,
Karl Georg von Wächter, Wolfgang Menzel gehörten, traten zu einem
leitenden Ausschusse zusammen. Spätere Ausschußmitglieder, unter denen sich
Namen von bestem Klang befinden, waren Jakob Grimm, G. von Karajan,
Fr. I. Mone, R. Pauli, I. A. Schmeller, K. Simrock, Wilhelm
Wackernagel. Heute besteht der Ausschuß aus zwölf Vereinsmitgliedern.
Diesem Ausschuß steht die wichtige Befugnis zu, auf Antrag der Verwaltung
über die Wahl der abzudruckenden Schriften zu entscheiden. Derselbe wird
jährlich neu gewählt; jedes Mitglied hat die Berechtigung, sich an dieser für
die Interessen des Vereins so wichtigen Wahl zu beteiligen. Unter den Männern
endlich, die im Anfange sich besonders um das Emporkommen des Vereins ver¬
dient machten, nennt Keller Franz Pfeiffer, der später an der Universität in
Wien eine ausgebreitete Thätigkeit entfaltete, und Albert Schott, Professor
der deutschen Sprache am Gymnasium zu Stuttgart.
Wie natürlich, ging die Veröffentlichung der Vereinspublikatiouen im An¬
fange langsamer von statten als heute. Bis zum Jahre 1848, also in den
ersten neun Jahren, wurden nur 17 Bände publizirt, während nach der
gegenwärtig eingehaltenen Praxis, nach der jährlich etwa 6 Bände erscheinen,
"le Zahl eine viel höhere sein müßte. Schuld an diesem langsamen Fortgange
waren die politischen Unruhen der Zeit, die ihre Wirkungen auch auf deu so
friedlichen Verein erstreckten. „Die Verwaltung, erzählt Keller, war allmäh¬
lich der Hauptsache nach in die Hände eines Buchhändlers geraten, der das
Ganze wie ein bnchhändlerisches Unternehmen betrachtete und die Publikationen
als buchhündlerischen Kommissionsartikel behandelte. Viele Mitglieder des
leitenden Ausschusses hatten Zeit und Stimmung verloren, den Zwecken des
Vereins nachhaltige Thätigkeit zu widmen, und es wurde sogar die Frage der
Auflösung des Vereins angeregt."
Da trat im Herbste des Jahres 1849, einer Einladung des Ausschusses
folgend, Adalbert Keller an die Spitze des Vorstandes und übernahm die Leitung
der Geschäfte, die er bis zu feinem Tode mit ungewöhnlichem Geschick und mit
geradezu musterhafter Ordnung und Pünktlichkeit fortführte. „Erst von dem
Präsidium Kellers an, so urteilt Karl Bartsch,*) datirt die feste und sichere
Begründung des Vereins. Mit seinem Ordnungssinn, seiner Geschüftsgewcmdt-
heit, seiner Uneigennützigkeit hat er die materiellen wie die geistigen Interessen
des Vereins in rühmenswertester Weise gefördert." Für immer wird daher der
Name Keller mit dem Litcrarischcn Verein unauflöslich verbunden bleiben.
Keller vereinfachte zuerst die Verwaltung und befreite sie aus ihrer Ab¬
hängigkeit vom Buchhandel. Gleichzeitig aber wußte er zu den bisherigen
Mitgliedern des Ausschusses noch andre hervorragende Männer aus dem Kreise
der deutschen Geschichts- und Altertumsforscher heranzuziehen, unter deren Bei¬
hilfe es gelang, die Teilnahme für den Verein so zu heben, daß ihm im
Jahre 1882 mehr als 400 Mitglieder angehörten.
Die wertvollste Unterstützung erfuhr Keller in seinen Bemühungen für das
Wohl des seiner Leitung anvertraute» Vereines durch W. L. Holland, jetzt
Professor in Tübingen. Früher ein Schüler Kellers, dann sein treuester Freund,
eine Zeit lang (bis 1857) auch Sekretär des Vereins, war er daher auch gewiß
am meisten befähigt, nunmehr in die durch Kellers Tod erledigte Stelle eines
Präsidenten einzurücken. Mit Befriedigung haben wir daher vernommen, daß
die Wahl des Ausschusses auf ihn gefallen ist. Ihm wird es in erster Linie
obliegen, alle die Pläne zur Ausführung zu bringen, von deren Vorhandensein
Keller am Schlüsse seines Schriftchens spricht. Noch ist nichts von diesen, der
Ankündigung nach, zum Teil umfangreichen Unternehmungen bekannt geworden;
umso begieriger dürfen die Mitglieder und Freunde des Vereins auf die Ar¬
beiten des letzten Verwaltungsjahres sein, welche wohl Ausschluß über das bis
jetzt verborgen Gehaltene geben werden.
Ein Blick in die von dem Literarischeu Verein veranstalteten Ausgaben zeigt,
daß dieselben in erster Linie dazu dienen sollen, Werke durch den Druck be¬
kannt und zugänglich zu machen; erst in zweiter Linie kommt bei ihnen die kri¬
tische Behandlung in Betracht, sodaß bereits wiederholt edirte Denkmäler, welche
jedoch noch einer erneuten kritischen Bearbeitung bedürfen, weniger beachtet worden
sind. Damit soll nicht gesagt sein, daß diese Ausgaben unkritisch gefertigt würden
und des wissenschaftlichen Wertes entbehrten; im Gegenteil kann ein wahrhaft
wissenschaftliches Verfahren an den meisten Publikationen gerühmt werden, nur
daß dieses hier bescheiden in den Hintergrund tritt und Anmerkungen und ge¬
lehrte Beigaben nicht wie sonst so oft mehr Raum als das edirte Werk selbst
beanspruchen dürfen.
Indem wir nun versuchen, einen Überblick über die Werke, welche von dem
Literarischen Verein herausgegeben wurden, zu entwerfen, müssen wir von vorn¬
herein darauf verzichten, auch nur den größern Teil derselben hier vorzuführen.
Wer wäre auch imstande, die ganze Reihe der 164 Bände, die bis jetzt erschienen
sind, in gebührender Weise zu würdigen? Wir wollen uns vielmehr angelegen
sein lassen, aus dieser Zahl dasjenige herauszugreifen, was auch in weiteren
Kreisen Anspruch auf Beachtung erheben kann.
Wir beginnen mit den Werken, welche dem Gebiete der deutschen Poesie
angehören, die, wie schon oben bemerkt wurde, am eifrigsten von dem Verein
gefördert worden ist,
Es ist bekannt, daß die Lieder unsrer deutschen Minnesinger in der Weise,
wie sie von den Dichtern oder ihren Schreibern aufgezeichnet wurden, uns nicht
erhalten sind. Sie wurden zunächst auf Wachstafeln niedergeschrieben und von
diesen auf Pergamentrollen übertragen, von denen uns aber keine erhalten ist.
Von ihrer Verwendung haben wir jedoch viele Spuren. In der Gestalt von
Pergamentrollen übergab der Dichter seine Lieder einem Boten oder auch einem
als Boten dienenden Fahrenden, der sie der Geliebten überbrachte. Aus den
einzelnen Rollen wurden dann kleine Liederbücher zusammengestellt. Solche soll,
wie uns der schweizerische Minnesinger Hadlaub erzählt, der Züricher Ratsherr
Rüdiger von Manche gesammelt haben. Jedenfalls beruhen auf ihnen die drei
auf uns gekommenen größeren Liederhandschriften der Minnesinger. Die
berühmteste derselben ist bekanntlich die Pariser Handschrift, welche früher den
Namen der Manessischen führte. Zwei andre befinden sich in Deutschland, die
Weingärtner, früher dem Kloster Weingarten gehörig, jetzt in Stuttgart, und
die Heidelberger, an der wir die kleinen Liederbücher noch am besten erkennen
können. Die beiden letztgenannten Handschriften gab nun Franz Pfeiffer
für den Verein mit musterhafter Sorgfalt heraus, während F. Fellner die bei¬
gegebenen Reproduktionen in kolorirten Holzschnitten besorgte.
Dem Fleiße Kellers verdanken wir die Herausgabe von Konrads von
Würzburg Trojanischen Kriege, jenem umfangreichen, an 50000 Verse
umfassenden Gedichte, mit dem noch einmal der vergebliche Versuch einer mittel¬
alterlichen Ilias gemacht wurde. Bechstein stellt diese Arbeit Kellers an die
Spitze der unter den Arbeiten des Vereins vertretenen kritischen Leistungen.
Die auf französischem Boden heimische Sage von Karl dem Großen und
seinen Helden, die das Rolandslied des Pfaffen Konrad in Deutschland bekannt
machte, wurde um das Jahr 1300 mit andern Werken aus demselben Sagen¬
kreise zu einem großen Karlsepos zusammengeschmolzen. Es führt den Titel
Karlmeinet und wurde gleichfalls durch Keller der wissenschaftlichen Be¬
nutzung zugänglich gemacht.
Ein besondres Verdienst hat sich der Literarische Verein um die Novellistik
und die Schwankliteratur des 16. und 16. Jahrhunderts erworben. Auch hier
ist Keller in erster Linie mit seiner Ausgabe von Steinhöwels Decameron
M nennen, der ersten Verdeutschung von Boccaccios bekannter Novellensammlung,
sowie mit den von Augustin Tünger für Eberhard den Bärtigen von Würtem-
berg bestimmten 1?g.Lötias, die inhaltlich allerdings von wenig Interesse sind,
literargeschichtlich aber große Bedeutung haben, insofern sie zeigen, daß derartige
Geschichten auch in fürstlichen Kreisen Beifall fanden. Neben Keller ist auf
diesem Gebiete vor allen Oesterley, Bibliothekar in Breslau, zu nennen. Ihm
verdanken wir außer einer Ausgabe von Steinhöwels Äsop einen Wieder¬
abdruck der köstlichen Schwanksammlung des Franziskaners Johannes Pauli,
welche unter dem Titel Schimpf und Ernst bekannt ist. Noch umfangreicher ist
Hans Wilhelm Kirchhofs Wendunmuth, eine Sammlung, in der gewisser¬
maßen die ganze umlaufende Masse von Fabeln, Schwanken und Geschichten eine
endgiltige Kodifizirung erfuhr. Oesterley besorgte auch von diesem Werke einen
vier Bände umfassenden kritischen Neudruck und fügte in einem fünften Bande,
nicht ohne Karl Goedekes wesentliche Beihilfe, einen sorgsam gearbeiteten
Nachweis über die Quellen Kirchhofs und seiner Genossen hinzu. Leider fehlen
uns die Mittelglieder zwischen Pauli und Kirchhof, so Heinrich Bebel, der
Tübinger Humanist, dessen drei Bücher Mestms trotz der großen Anzahl alter
Drucke, die auf uns gekommen sind, doch einmal eine mit allen Mitteln philo¬
logischer Kunst ins Werk gesetzte Ausgabe verdienten. Auch an das italienische
Vorbild Bebels, an Poggio, sollte eine derartige Arbeit über kurz oder lang
einmal gewendet werden. Zu den größten literarischen Seltenheiten gehören die
„Gartengesellschaft" des Stadtschreibers zu Maursmünster, Jakob Frey, der
„Wegkürzer" des Martinus Montanus von Straßburg und des Leipzigers
Valentin Schumann „Nachtbüchlein." Wer wird den Verein und dadurch alle
in diesen Dingen Forschenden mit der Herausgabe dieser Schwanksammlungen er¬
freuen? Daß Michael Lind(e)mers „Katzipori," schon längst in Aussicht gestellt,
unter den demnächst zu erwartenden Bänden sich befinde, wollen wir wünschen.
Nahe verwandt mit den ebengenannten Werken ist die Zimmerische
Chronik, die Keller unter den geschichtlichen Werken ausführt, die aber wegen
einer Fülle launiger und ernster Erzählungen auch im Zusammenhang mit den
Novellen und Schwanksammlungen genannt werden kann. Sie wurde von
K. A. Barack, dem verdienten Oberbibliothekar an der Universitätsbibliothek
zu Straßburg, zuerst für den Literarischeu Verein herausgegeben, ist dann aber
auch in zweiter, höchst splendid ausgestatteter Auflage durch den Buchhandel zur
Verbreitung gelangt.
Unter den von dem Literarischen Verein publizirten dramatischen Dichtungen
verdienen die Fastnachtsspiele aus dem 15. Jahrhundert eine besonders
lobende Hervorhebung. Mit ihrer Herausgabe hat Keller für die deutsche
Literaturgeschichte ein fast noch unbetreteues Gebiet zum erstenmale eröffnet.
Mit Recht erfreuen sich gerade diese Bände einer überaus fleißigen Benutzung
von feiten des Publikums: die auf Bibliotheken darnach Verlangenden müssen
in der Regel geraume Zeit warten, bis sie ihnen zur Verfügung gestellt werden
können.*) Der treffliche Humor und die bei aller Derbheit doch nie sich ver-
leugnende Treuherzigkeit, welche sich in diesen poetischen Erzeugnissen des deutschen
Bürgertums ausspricht, haben auch heute noch ein mehr als literarhistorisches
Interesse. Für die weitverbreitete Vorliebe unsrer Zeit sür alles sittengeschicht¬
liche bilden gerade die Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts eine unerschöpfliche
Fundgrube. Eine wie wertvolle Sprachquclle endlich in diesen Fastnachts¬
spielen erschlossen ist, hat schon Jakob Grimm fast auf jedem Blatte des deutschen
Wörterbuchs dargethan.
Das eben Gesagte gilt aber in gleichem, wenn nicht in noch höherm Maße
von den Dichtungen des Hans Sachs, von denen uns der Literarische Verein
nun schon vierzehn Bände gebracht hat. „In Froschpfuhl all das Volk ver¬
bannt, das seineu Meister je verkannt," dieses strafende Wort, mit dem einst
Goethe sein Gedicht „Hans Sachsens poetische Sendung" schloß, hat seine
gute Wirkung gethan und verliert immer mehr an Geltung. Die hauptsäch¬
lichsten Dichtungen des poetischen Schuhmachers von Nürnberg sind uns ja in
verschiednen Ausgaben bekannt gemacht worden. Die umfassendste derselben ist
aber doch die, welche von Keller für den Literarischen Verein begonnen wurde
und jetzt von Edmund Goetze in Dresden weitergeführt wird. Keller beab¬
sichtigte zuerst nur einen Wiederabdruck der noch zu Hans Sachsens Lebzeiten
veranstalteten Nürnberger Quartausgnbc. Goetze jedoch, der bereits beim
zwölften Bande eine Reihe wertvoller Anmerkungen geliefert hatte, übernahm es seit
dem dreizehnten Bande, die erhaltenen Handschriften zum Vergleich heranzuziehen,
sodaß seitdem die Ausgabe wesentlich an wissenschaftlichem Wert gewonnen hat.*)
Etwa sechs Bände werden noch nötig sein, um alles das aufzunehmen, was in
der Nürnberger Quartausgabe enthalten ist. Es ist jedoch beabsichtigt, weiter¬
zugehen, indem noch eine Reihe von Bänden in Aussicht genommen ist, welche
das Gedruckte, aber in der Nürnberger Ausgabe nicht Enthaltene, sowie alles
bisher noch Ungedruckte umfassen sollen. Den Schluß dieser wahrhaft monu¬
mentalen Ausgabe wird eine aufs sorgfältigste vorbereitete Hans Sachs-Biblio-
graphie bilden, von der wir hoffen dürfen, daß sie das von Weller auf diesem
Gebiete Geleistete bei weitem übertreffen wird. Auf diese Weise wird das Bild
eines Dichters im hellsten Lichte wieder erstehen, den beschränkte Voreingenommen¬
heit lange Zeit über die Achsel ansehen zu dürfen glaubte. Freilich werden
bis zur Erreichung dieses Zieles noch Jahre angestrengten Fleißes und auf¬
opfernder Hingabe an den Gegenstand nötig sein.**)
Die Dramen des Hans Sachs und seiner Zeitgenossen und Vorgänger
wurden von Dilettanten aufgeführt. Die zünftigen Schauspieler stammen ja
aus England. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kamen solche zünftige eng¬
lische Schauspieler nach Deutschland, wo Herzog Heinrich Julius von
Braunschweig und der Landgraf Moritz von Hessen zuerst sich derartige
Truppen hielten. Der erstere begnügte sich jedoch nicht mit der Rolle eines
Gönners der dramatischen Poesie, sondern ließ sich durch die Stücke seiner
Schauspieler zu eignem Schaffen anregen und versuchte sich in dramatischen
Schwanken und in der Tragödie. Ebenso wirkten die Engländer auf Jakob
Ayrer, einen Nürnberger, der, wenn auch mit wenig Erfolg, die ausländischen
Künste mit dem von Hans Sachs Überkommenen zu verbinden suchte. Die
Kenntnis dieser Werke als wichtiger Glieder in der Entwicklung der dramatischen
Poesie ist für den Literarhistoriker unentbehrlich, und so ist es höchst dankens¬
wert, daß Keller und Holland auch die Dramen der genannten beiden Dichter
in die Vereinspublikativnen mit aufgenommen haben.
Unter den deutschen Dramatikern des siebzehnten Jahrhunderts nimmt
Andreas Grhvhius, namentlich durch seine Lustspiele, eine hervorragende
Stellung ein; für den Literarischen Verein gab Hermann Palm in Breslau die
ganze Sammlung derselben heraus.
Von den Zuständen Deutschlands während des dreißigjährigen Krieges ge¬
winnen wir nirgends ein treueres Bild als aus dem Abenteuerlichen Sim-
plicissimus des Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, welchen
wiederum Keller in vier Bänden zum Abdruck gebracht hat. Nehmen wir
dazu noch Paul Flemmings deutsche Gedichte, Friedrich von Logaus
sämtliche Sinngedichte und endlich Fausts Leben von Georg Rudolf
Widmann, fo glauben wir alles aufgezählt zu haben, was von den Publika¬
tionen des Literarischen Vereins ans dem Gebiete der deutschen Poesie auch auf
die Teilnahme nichtfachmännischer Literaturfreuude Anspruch erheben kann.
Viel kleiner ist die Anzahl derjenigen Bände, welche der lateinischen Poesie
gewidmet sind. Jedoch befindet sich darunter ein Band, der zu den wichtigsten
und wertvollsten Gaben unter den Vereinsschriften gerechnet werden muß. Es
sind dies die durch Joh. Andr. Schmeller, den einstigen hochverdienten Di¬
rektor der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, publizirten L!s.riuiiiÄ dur^na,
lateinische und deutsche Lieder und Gedichte, so genannt nach einer Handschrift
des dreizehnten Jahrhunderts, welche im Kloster zu Benediktbeuren aufgefunden
wurde. Längst vergriffen, ist dieser Band im vorigen Jahre wieder abgedruckt
»ut durch den Buchhandel jedermann zugänglich gemacht worden. Heiliges und
Unheiliges findet sich in der der Ausgabe Schmellers zu Grunde liegenden
Handschrift, die zu den größten Schätzen der an Handschriften so reichen Münchener
Hof- und Staatsbibliothek gehört, in buntem Durcheinander. Minnelieder bilden
die größte Zahl, daneben aber finden sich Stücke sowohl moralischen und reli¬
giösen als mythischen und geschichtlichen Inhalts, während ein dritter Teil einen
durchaus komischen Charakter trägt. Hier begegnen wir Zechliedern und possen¬
haften Gesängen, wie sie die wandernden Geistlichen und Schüler im Mittel¬
alter bei ihren Gelagen anzustimmen liebten. Manche köstliche Perle hat sich
unter ihnen erhalten und klingt noch heute, wenn auch im Laufe der Jahrhun¬
derte mannichfach umgewandelt, in unsern frohen Studentenliedern wieder.
Wertlos aber ist nichts in dieser köstlichen Sammlung. „Wie sehr verschieden
diese Blumen seien, sagt Schmeller, an Farbe und innerm Wert, ein eigentüm¬
licher Reiz, der ihnen unverkümmert bleibt, liegt darin, daß sie lebendiges Zeugnis
geben von der Weise, in der man vor einem halben Jahrtausend klagend oder
jubelnd sich ausgesprochen hat über Gefühle, Freuden und Leiden, die ein altes
Herkommen sind und ein ewiges Dableiben unter den Kindern der Menschen.
Schon dieses Reizes wegen wird sich, glauben wir, mancher Leser gern ergehen
in solchem altertümlichen Gärtlein; und je weniger kritische Dornen und Disteln er
sich in den Weg gelegt findet, umso lieber wird es ihm sein." Schmeller hat
seiner Ausgabe nur wenig kritische Zuthaten beigefügt, da er sich „bei der an¬
spruchslose» Art dieser Vereinspublikationen von vornherein einer Verbindlich¬
keit, über alles Unklare Rede zu stehen, überhoben erachtete." Die in vielen
Stücken durch Accentnoten oder nennen angedeutete Vortragsweise ließ er
ganz auf sich beruhen, sodaß hier dem Kundigen noch ein lohnender Ausflug
in das Gebiet der älteren Sing- und Licderkunst vorbehalten ist. Zudem hat man
in neuerer Zeit bemerkt, daß die Handschrift noch schlimmer verbunden ist als
Schmeller annahm, und daß auch in metrischer Beziehung noch mancherlei nach¬
zubessern ist; mau kann daher von einer erneuten Untersuchung der Handschrift,
die, wie wir hören, beabsichtigt wird, noch manche neue Resultate erwarten.
Die übrigen Publikationen aus dem Gebiete der lateinischen Poesie, wie
überhaupt alles sonstige Poetische, das der Verein zur Veröffentlichung gebracht
hat, übergehen wir, um unser Augenmerk nun auf die geschichtlichen Denkmäler
zu richten. Gleich der erste Band brachte ein solches: Closeners Stra߬
burgische Chronik, von Strobel und Schott herausgegeben. Sie wurde
später von Hegel in seinen Straßburger Städtechroniken noch einmal edirt.
Closener benutzte für seine Arbeit die „Weltchronik" Eckes von Repgow, und
zwar in einer Gestalt, welche bereits mit Fortsetzungen versehen war. Maß-
manu hat diese selbst unter dem Titel Das Zeitbuch des Eile von Repgow
für den Literarischen Verein herausgegeben, leider in so wenig kritischer Weise,
daß eine neue Ausgabe dringend geboten erschien, die denn auch von L. Weiland
für die neue Serie der Nonuinentg, Llörwaniitö niswrioa, welche unter dem
Titel „Deutsche Chroniken" erscheint, in mustergiltiger Weise besorgt worden ist.
Der heute mit unheimlichem Eifer gepflegte Gegensatz deutschen und
tschechischen Wesens, welcher sich selbst bis auf das scheinbar neutrale Gebiet
der Wissenschaft erstreckt, hat seine Anfänge bereits in der Zeit, wo König
Ottokar in Böhmen einen gewaltigen politischen Aufschwung herbeigeführt hatte.
Seine dominirende Stellung diente jedoch nur dazu, die innern Gegensätze zu
verschärfen, und ganz natürlich übertrug sich der Widerstreit der deutschen und
national böhmischen Interessen auch auf die Geschichtschreibung. Am auf¬
fallendsten zeigt diese Erscheinung das Nennwert eines tschechischen Ritters, das
uuter dem Namen Dalimils bekannt ist, von dem Hanka eine alte gereimte
deutsche Übersetzung für den Literarischen Verein veröffentlichte. Während aber
das böhmische Reimwerk als ein Vorläufer der hussitischen Bewegung nach ihrer
nationalen Seite hin erscheint, unterdrückt der deutsche „Dalimil" die Invektiven,
welche der böhmische gegen die deutsche Nation häuft, und stellt der tendenziösen
böhmischen Bearbeitung eine ebenso entschieden deutsch gefärbte entgegen.
Ähnliches läßt sich von einer andern Reimchronik sagen, welche gleichfalls
energisch den deutschen Standpunkt hervorkehrt und eben deshalb neben ihrem
historischen Werte auch ein in hohem Grade politisches Interesse besitzt. Wir
meinen die Livländische Reimchronik, welche Pfeiffer nach Bergmanns
sehr selten gewordner Ausgabe und unter Benutzung der Heidelberger Hand¬
schrift wieder abdrucken ließ. Pfeiffer beabsichtigte keine kritische Ausgabe, ihm
war es zunächst nur darum zu thun, das fast unerreichbare Werk wieder zu¬
gänglich zu machen. Später hat Leo Meyer nochmals eine neue, allen An¬
forderungen entsprechende Ausgabe desselben veranstaltet.
Die bisher besprochenen geschichtlichen Publikationen gehören dem 14. Jahr¬
hundert an. Aus dem 16. Jahrhundert begnügen wir uns damit, die von Franz
Ludwig Baumann veröffentlichten Quellen zur Geschichte des Bauern¬
krieges in Oberschwaben zu erwähnen. Demselben sorgsamen Forscher,
einem Schüler des Professors Cornelius in München, dessen Lehrthätigkeit
gerade für die Bearbeitung der Reformationszeit manche fruchtbringende An¬
regung gegeben hat, verdanken wir auch noch die Sammlung der Quellen zur
Geschichte des Bauernkrieges aus Rotenburg an der Tauber. Wer
da weiß, mit welcher Schwierigkeit der Historiker der deutschen Bauernunruhen
bei der Zerstreutheit des massenhaft noch vorhandnen Materials zu kämpfen
hat, und zugleich die Gefahr im Auge hat, die demselben bei den mangelhaften
Zuständen der meisten städtischen Archive noch hentzutage droht, wird Bau¬
mann für seine mühevolle und sorgsame Arbeit gewiß volle Anerkennung
spenden, die ihm denn auch von der fachmännischer Kritik wiederholt ausge¬
sprochen worden ist.
Unter der Rubrik „Sittengeschichte" sührt Keller mehrere Publikationen
auf, welche besser als alle sogenannten kulturhistorischen Schilderungen einen
wirklichen Einblick in das Leben und Treiben des Mittelalters gewähren. Dahin
gehört z. B. Ein Buch von guter Speise, d. h. eine Sammlung von
Küchenrezepten, welche einer jetzt auf der Universitätsbibliothek zu München be¬
findlichen Würzburger Pergameuthcmdschrift entnommen ist. Wenn auch unsre
Hausfrauen jetzt nicht mehr in der Lage sein dürften, diese Küchenrezepte, so
wie sie vorliegen, zur Ausführung zu bringen, so gewährt es doch ein eignes
Interesse, zu wissen, wie der Mönch und der Ritter des Mittelalters, ja sogar
der Sarazene aßen. „Daher, so meint der Herausgeber, nimmt vielleicht auch
manche Hausfrau den Band in die Hand, der diese Bogen enthält, und wird
dadurch mit der Herausgabe so längst veralteter Sachen, oder, was noch wichtiger
ist, damit versöhnt, daß Solcherlei Bücher von dem Eheherrn als öArkg'in suxeälöx
betrachtet und daher zur Vermehrung seiner Liberey angeschafft werden, welches
Anschaffen nicht immer von beiden Parteien ratifizirt zu werden pflegt."
Unter den deutschen Reichsstädten hat neben Augsburg entschieden Nürn¬
berg die reichste Entwicklung gehabt, sodaß diese Stadt als Repräsentantin des
deutschen Städtewesens und der sozialen Zustände derselben überhaupt gelten
kann. Unter diesem Gesichtspunkte gewinnen die von Joseph Baader ver¬
öffentlichten Nürnberger Polizeiordnnngen aus dem 13., 14. und 15.
Jahrhundert besondre Bedeutung. Das gleiche gilt von Endres Tuchers
Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464—1475), dessen Herausgabe
wir Matthias Lexer verdanken und das Friedrich von Weech mit einer
gehaltvollen Einleitung und sachlichen Anmerkungen versehen hat. „Das Bau¬
meisterbuch von Endres Tucher," heißt es hier, „im Jahre 1464 begonnen,
1470 abgeschlossen, mit Nachträgen bis 1475 bereichert, ist eine wichtige Quelle
zur Kenntnis der bis in das kleinste Detail ausgebildeten Organisation, deren
sich schon im 15. Jahrhundert das Gemeinwesen Nürnbergs erfreute, umso
wichtiger, als die Beziehungen des Baumeisters zu hundert Dingen, deren Zu¬
sammenhang mit dem Baumeisteramte unser bureaukratisch geschulter Sinn kaum
einsieht, einen Einblick in die verschiedensten Verhältnisse der alten Reichsstadt
gewähren." Endres Tucher verfolgte jedoch bei seinen Aufzeichnungen gleich¬
zeitig eine praktische Tendenz, nämlich die, seinen Nachfolgern damit eine An¬
leitung zu geben, nach der sie sich künstig richten könnten. Er hat daher mitten
unter die trockene, weitschweifige Aufzählung der verschiednen Funktionen des
Baumeisters zahlreiche Ratschläge eingeflochten zu Nutz und Frommen des
späteren Geschlechts, und gerade das ist es, wie Weech hervorhebt, was der
Aufzeichnung einen eigentümlichen Reiz verleiht: außer dem pflichtgetreuen Be¬
amten lernt man auch auf jeder Seite des Buches den kernhaften Menschen kennen
Derselben Familie der Tücher, die noch heute in Nürnberg blüht, entstammte
auch Anton Tucher, dessen Haushaltbuch aus den Jahren 1507 bis 1517
Wilhelm Loose nach einer der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden ge¬
hörigen Handschrift bekannt machte. Diese Publikation hangt überdies mit zwei
andern aufs engste zusammen, mit dem Handlungsbuche des Ott Ruland und
dem Einnahmen- und Ausgaben-Register des Rcichserbkämmerers Conrad
von Weinsberg. Ott Ruland, der Chef eines bedeutenden Handlungshauses der
Reichsstadt Ulm, gewährt uns in seinem Handlungsbuche mannichfache Aufschlüsse
über den Verkehr eines süddeutschen Großhändlers des 15. Jahrhunderts; aus
des Herrn von Weinsberg Register lernen wir sowohl den Haushalt eines hoch¬
stehende» adlichen Herrn als auch seine amtlichen Angelegenheiten und die damit
in Beziehung stehenden finanziellen Verhältnisse kennen; Anton Tuchcrs Haus¬
haltbuch endlich ermöglicht uns einen Einblick in die vielen Bedürfnisse eines
vornehmen und reichen Bürgerhauses am Anfange des 16. Jahrhunderts. Alle
drei Bände aber belehren uns über sozialpolitische Verhältnisse, von denen uns
ja die Blätter der politischen Geschichte so wenig zu berichten wissen, und zwar
mit unmittelbarer Treue, da die in ihnen mitgeteilten Aufzeichnungen nie für
die Öffentlichkeit, sondern nur zu privatem Gebrauche bestimmt waren.
Ziemlich abweichend von dem sonst bei den Ausgaben des Literarischen
Vereins festgehaltenen Grundsätze ist der Band, welchen Emil Weller ver¬
öffentlichte: Die ersten deutschen Zeitungen. Derjenige Teil, welcher dem
Abdruck der ersten sechs Zeitungen und solcher, die Lcinderentdecknngen und
Kriegsvorfälle bis zum Jahre 1535 beschreiben, gewidmet ist, ist bei weitem
kürzer als der zweite, welcher eine Bibliographie der Zeitungen aus den Jahren
1505 bis 1599 enthält. Selbstverständlich konnte ein erster Versuch, diese wichtigen
literarischen Erzeugnisse zu verzeichnen, nicht erschöpfend ausfallen; Weller hat
selbst eine Nachlese veranstaltet (Germania, N. F., Jahrg. 14, Heft 1), und da
er im wesentlichen nur die Bestände süddeutscher Bibliotheken, die auf diesem
Gebiete allerdings am reichsten sind, in seine Sammlung aufnahm, werden sich
dieselben gewiß noch durch eine Reihe wertvoller Ergänzungen erweitern lassen.
Auch wird es gut sein, sich nicht ausschließlich, wie Weller that, auf das Stich¬
wort „Zeitung" zu beschränken; man wird vielmehr auch die zeitungsartigen
Erscheinungen ins Auge zu sassen haben, die sich als „Anzeigen," „Berichte,"
„Historien," „Relationen" u, s. w. geben.
Mit Übergehung alles dessen, was Keller unter den Rubriken „Natur¬
wissenschaftliches," „Reisen," „Spanische, provenzalische, französische und nieder¬
ländische Poesie" zusammenstellt, wollen wir schließlich nur noch auf zwei Pu¬
blikationen aufmerksam machen, die unter der Rubrik „Briefe" aufgeführt sind.
Die erste derselben, Johann Reuchlins Briefwechsel, gesammelt und
herausgegeben von Ludwig Geiger, trägt einen durchaus gelehrten Charakter.
Sie bildet eine dankenswerte Ergänzung zu Geigers trefflicher Reuchliubiographie.
Leider enthält sie nicht den ganzen Briefwechsel Reuchlins, da Geiger es vorzog,
nur die bisher bloß handschriftlich vorhandnen und durch ihren Inhalt besonders
wichtigen Briefe zum Abdruck zu bringen, von den übrigen aber nnr Druckort,
Inhalt und einzelne merkwürdige Stellen mitzuteilen. Wir können uns mit
dieser Art,, Humanistenbriefe zu ediren, nicht befreunden, weil es immer eine
subjektive Schätzung bleiben wird, bestimmen zu wollen, was in ihnen nur
konventionelle Phrase und was auch für die Charakteristik des Briefschreibers
von Wert ist. Immerhin Wollen wir uns der Geigerschen Arbeit, die zugleich
eine Fülle sachlicher und biographischer Bemerkungen enthält, freuen, umsomehr,
da uns wohl nicht sobald ein Oorpus Rönonlmianum dargeboten werden dürfte.
Die zweite der hier zu nennenden Publikationen gehört zu den beliebtesten
und am meisten bekannten und benutzten aus der ganzen Sammlung. Wir
meinen die Briefe der Prinzessin Elisabeth Charlotte, Herzogin von
Orleans, Schon im ersten Verwaltungsjahre zog Wolfgang Menzel eine
Auswahl von Briefen der Prinzessin an ihre Halbschwester Louise aus dem
Degenfeldschen Familienarchiv an das Licht, Noch immer empfiehlt sich dieser
eine Band am meisten für diejenigen, welche einen Eindruck von dem kernigen
Wesen der deutschen Fürstentochter gewinnen wollen. Für die wissenschaftliche Be¬
nutzung kommen nur die von Holland herausgegebenen sechs Bände in Betracht,
welche eine vollständige Sammlung aller von Elisabeth Charlotte an ihre Halb¬
geschwister gerichteten Briefe enthalten, Holland hat dieselben durch zahlreiche
den gleichzeitigen französischen Memoiren entnommene Notizen erläutert und fast
alles, was einer ergänzenden Bemerkung bedarf, durch wertvolle Angaben be¬
leuchtet, sodaß die Briefe nun mit größtem Nutzen für die Kenntnis der französischen
Geschichte unter Ludwig XIV, und der Regentschaft zu verwerten sind. Zu be¬
dauern ist nnr, daß der Herausgeber nicht allen Bänden die gleiche liebevolle
Sorgfalt zugewendet hat, die einige derselben geradezu zu einem Muster von
Briefeditionen gemacht hat.*)
Die Literatur über Elisabeth Charlotte wird von Jahr zu Jahr größer,
ihr Charakterbild zu zeichnen ist schon in vielen populären Vorträgen versucht
worden; nichts aber, auch nicht die beiden glänzenden Darstellungen, die Ludwig
Häußer von der ihm so überaus sympathischen Landsmännin gegeben hat,*)
kann die Lektüre ihrer Briefe selbst ersetzen. Es ist ein wahrhaft wohlthuendes
Bild, das wir aus ihnen gewinnen. Wie die Herzogin in ihrem einfach aus¬
gestatteten Gemache sitzt, zumeist mit Schreiben beschäftigt, fast immer im Geiste
bei den Ihren verweilend, das Wohl ihrer Angehörigen und Freunde sorgsam
erwägend, das Herz offen für das Heil und Unheil des Vaterlandes, dabei
allem Guten und Schönen, das sich ihr bietet, bereitwillig sich hingebend, gleich
stark an männlichem Mute wie an weiblichem Zartgefühl, ist sie recht eigentlich
Typus und Abbild einer edeln deutscheu Frau. Dank daher dem Literarischen
Verein, daß auch er dazu beigetragen, die Gestalt dieser deutschen Fürstin unserm
Volke in ungetrübter Klarheit vor Augen zu stellen!
Aber Dank nicht allein für diese Bände! Dank und Anerkennung verdient
das ganze Streben des Literarischen Vereins, von dem wir hier nur einen flüch¬
tigen Überblick geben konnten, bei dem vieles unerwähnt bleiben mußte. In¬
dessen Wollen wir unsre Darstellung nicht schließen, ohne noch einem Wunsche
Ausdruck zu geben, der, wie wir annehmen, gewiß auch bei andern sich geregt
hat, und dessen Erfüllung uns auch im Interesse des Vereins selbst zu liegen
scheint.
Überblickt man das von Keller mitgeteilte Verzeichnis der gegenwärtigen
Mitglieder des Vereins, so nimmt man bald wahr, ein wie großer Teil der¬
selben aus öffentlichen, Vereins- und Schulbibliotheken besteht, wie gering die
Zahl von Privaten ist, die zu den Mitgliedern zählen. Und unter den letztern
befinden sich meist Gelehrte, die nach der Organisation des Vereins genötigt (!)
sind,**) während der Zeit, da ihre für denselben bestimmten Arbeiten gedruckt
werden, Mitglied desselben zu werden. Diese in der That wenig erfreuliche
Erscheinung, welche nur dazu beiträgt, die Veröffentlichungen des Vereins zu
literarischen Seltenheiten zu stempeln, hat freilich ihren sehr natürlichen Grund.
Wieviel Privatleute und Gelehrte sind denn bei uns in der Lage, sich eine
große Reihe von Werken anzuschaffen, die für sie ohne Interesse sind, nur um
die zu erhalten, deren Besitz ihnen wünschenswert erscheint? Noch geringer aber
ist die Zahl derjenigen, die, obwohl thatsächlich ohne alles Interesse, bloß um
damit zu prunken, sich Bücher zulegen, die sie doch nicht lesen. Der Bücher¬
sport ist nun einmal in Deutschland nicht heimisch zu machen, und alles, was
mit ihm zusammenhängt, scheint uns deshalb doppelt verkehrt. Keller rühmt
sich, die Vereinsangelegenheiten der buchhändlerischen Spekulation entzogen zu
haben, und das war gewiß ein Verdienst. Aber ließe sich nicht ein Ausweg
finden, der, ohne den buchhändlerischen Geschäftsinteressen Raum zu geben, doch
die Publikationen des Vereins durch den Buchhandel jedermann zugänglich
machte? Das Vorbild dürfte in den von unsern Akademien ausgehenden Veröffent¬
lichungen zu suchen sein, bei denen ja auch die Leitung allein in den Händen der
gelehrten Körperschaften liegt, deren Vertrieb aber trotzdem der Buchhandel über¬
nommen hat. Dann würden die Schriften des Literarischen Vereins ihre Selten¬
heit verlieren und die Finanzen desselben eine wesentliche Aufbesserung erfahren,
welche wieder den Mitarbeitern zu Gute käme, die sich bis jetzt mit einer wahr¬
haft dürftigen Entschädigung für ihren Aufwand an Kraft und Zeit haben be¬
gnügen müssen. Einzelne Bände der Publikationen sind allerdings auf anti¬
quarischen Wege zu beschaffen; aber ganz abgesehen davon, daß eine nicht
unbeträchtliche Zahl gerade der wertvollsten Bände total vergriffen und ihr
Erwerb immer, vom Zufall abhängig ist, widerspricht nicht diese beschränkte Art
von Öffentlichkeit demi Zweck, der doch durch die Herausgabe eines unbekannten
oder selten gewordenen Werkes erreicht werden soll? Dieser kann und soll doch
logischer Weise nur die Zugänglichkeit für jedermann, die möglichst weite Ver¬
breitung sein.
Wir haben den Leistungen des Vereins die wärmste Anerkennung gezollt;
hoffen wir, daß auch unser Wunsch an maßgebender Stelle einer freundlichen
Erwägung nicht für unwürdig befunden werden möge.
n der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 11. Februar
äußerte der Abgeordnete Reichensperger in seiner langen Oppo-
sitionsredc gegen die außerordentliche Forderung des Kultusetats
von zwei Millionen Mark für Knnstzwecke nach dem stenographischen
Berichte folgendes: „Ein Russe stellt soeben hier pu Berlins ein
gewaltiges Bild aus.. . (Zurufe: Ein Ungar!) Also es ist ein Ungar, es
kommt so ziemlich auf eins hinaus." Mit diesem „Russen, der auch ein Ungar
sein kann," meinte Herr Reichensperger den in Paris lebenden Ungarn Mnnkacsy,
dessen großes Gemälde „Christus vor Pilcitus" auf seiner Wanderung durch
die Welt gerade in Berlin angekommen ist, Munkacsy gehört, wie man ohne
Übertreibung sagen kann, gegenwärtig zu den gefeiertsten Malern der Welt,
und er hat sich, was noch mehr sagen will, diesen Ruhm aus bescheidnen An¬
fängen durch eigne Kraft erworben, ohne die Reklame zu Hilfe zu nehmen.
Wenn sein Gemälde „Christus vor Pilatus" jetzt mit einem gewissen Apparat
von überflüssigen und verwerflichen Dingen in Szene gesetzt wird, so hat er
mit diesem Arrangement nichts zu thun, da er sein Bild an einen spekulativen
Kunsthändler verkauft hat, welcher mit demselben in der Welt umherzieht.
Munkacsy hat im Jahre 1878 die Ehrenmedaille, also die höchste Auszeichnung
der Pariser Weltausstellung, und das Offizierkreuz des Ordens der Ehrenlegion
und später auch die große goldne Medaille der Berliner Kunstausstellung er¬
halten. Er ist vom Kaiser von Österreich in den Adelsstand erhoben worden.
Außer Makart hat kaum ein zweiter Künstler Europas einen so weit verbreiteten
Ruf wie Munkacsy, und der fleißige Künstler in der Avenue Villiers in Paris
darf sich dessen mit Recht freuen.
Zu den Ohren des Herrn Reichensperger ist nichts davon gedrungen: er
hält Munkacsy für einen Russen. Gleichwohl gilt Herr Reichensperger im
preußischen Abgeordnetenhause für eine unantastbare Autorität in Kunstsachen
— er hat auch kunstgeschichtliche und ästhetische Aufsätze geschrieben —, der
man nur widerspricht, wenn die Regierung, wie bei jenen zwei Millionen,
das ganze Gewicht ihres Ansehens gegen Herrn Reichensperger in die Wag¬
schale legt. Vielleicht ist seine Autorität durch seine jüngste Kunstrede, die auch
noch andre schwache Punkte hatte,*) etwas erschüttert worden. Durch einen
Zuruf hat man ihn sofort rektifizirt: Munkacsy ist in Ungarn geboren, und die
Ungarn sind nicht wenig stolz auf den berühmten Landsmann, der die Kunst
Ungarns vor der ganzen Welt handgreiflich zu Ehren gebracht hat. Deshalb
sind die Ungarn aber immer noch kein Kunstvolk, obwohl sie sich alle erdenkliche
Mühe geben, durch eine reiche Dotation ihrer Museen und Kunstschulen den
Kunsttrieb in ihrem Lande zu wecken.
Munkacsy ist seiner äußeren Erscheinung nach ein Vollblutmagyar, obwohl
er einen deutschen Namen trägt. Er heißt eigentlich Lieb und hat den Namen
Munkacsy von der ungarischen Stadt Munkacs angenommen, wo er am
1V, Oktober 1844 zur Welt kam. Sein Vater, ein Beamter, verlor während
der ungarischen Revolution das Leben, und seine Mutter starb ebenfalls so früh,
daß der kleine Michael auf die Fürsorge seines Oheims, des Advokaten Hoeck,
angewiesen war. Als dieser aber sein Vermögen verlor, trat Munkacsy bei einem
Tischler in die Lehre. Sechs Jahre lang blieb er bei diesem Handwerk. Dann
besserte sich die Lage seines Onkels wieder, und Mnnkacsy durfte seiner Neigung
zur Kunst folgen. Er begann seine künstlerische Laufbahn bei einem Maler
namens Szamozy in Gyula und ging dann, nachdem er durch einige Proben
seine Begabung bewiesen hatte, nach Pest, >vo er zwar nicht die Akademie be¬
suchte, aber doch von den damals maßgebenden Künstlern Thau und Ligeti
unterwiesen wurde. Zu einem systematischen Akademiestudinm kam Munkacsy in
Pest nicht. Er malte auf eigne Hand Bilder, und als er sich dadurch eine
kleine Summe erworben hatte, ging er nach Wien zu Rahl, der damals viele
Schüler um sich versammelte und der auch Thans Lehrer gewesen war. Bald
nach Munkacsys Ankunft in Wien starb Rahl, und da kein andrer Meister den
jungen Ungarn an Wien fesselte und er auch keine Aufnahme in die Akademie
fand, so setzte er seinen Wanderstab weiter und ging nach München. Hier
gelang es ihm nicht nur, in die Malklasse der Akademie aufgenommen zu werden,
sondern er fand auch bei dem Kriegsmaler Franz Adam wirksame Förderung.
Für sein erstes Bild, eine Überschwemmung, welche noch in dem idealen Stile
der altern Münchener Schule komponirt war, erhielt er einen von der ungarischen
Regierung ausgesetzten Preis, und dieselbe Auszeichnung wurde ihm noch zwei¬
mal für zwei aus dem ungarischen Volksleben herausgegriffene Genrebilder, die
,,Schmückung einer Braut" und die „Einladung zur Hochzeit," zu teil. Dadurch
gewann er die Mittel, sich in Düsseldorf weiterzubilden, wohin ihn besonders
der Ruf von Kraus und Vautier zog. Nach ihrem Vorbilde wollte er das
wenig gekannte Volksleben seiner Heimat schildern, und nach einigen Versuchen
fand er auch ein sehr dankbares Motiv. Das ungarische Gesetz gestattet es,
daß ein zum Tode Verurteilter vor seiner Hinrichtung von Angehörigen, Ver¬
wandten und Bekannten besucht werden darf. Einen solchen Moment stellte
Munkacsy dar. In dem elenden Kerker eines ungarischen Städtchens sitzt der
Verurteilte an einem Tische, auf welchem seine Mahlzeit, vielleicht seine letzte,
und zwei brennende Kerzen stehen. Er starrt in finsterm Brüten vor sich hin,
während sein Weib und seine Kinder hinter ihm wehklagen. Von der Gasse
sind Männer und Frauen in den halbdunkeln Raum geströmt und mustern den
armen Sünder mit neugierige» oder ängstlichen Blicken. Munkacsy war erst
fünfundzwanzig Jahre alt, als er diese „Letzten Tage eines Verurteilten" vollendete.
Und doch legte er damit bereits den Beweis ab, daß seine Lehrzeit trotz der
Verlornen Jahre seiner Jugend beendigt war. Wir meinen die Lehrzeit im
eigentlichen Sinne des Wortes als die Zeit des Strebens nach technischer Ge-
wcmdtheit und nach originalen, Ausdruck Der wahre Künstler lernt, wenn er
nicht frühzeitig zum Manieristen werden will, bekanntlich niemals aus, und auch
Munkacsy hat in den anderthalb Jahrzehnten, welche seit der Vollendung jenes
Bildes verflossen sind, noch mehrere Wandlungen durchgemacht.
Was jene Szene aus dem Kerker auszeichnete, war vor allen Dingen die
ergreifende Charakteristik, die sich bei aller Energie in den Grenzen der Wahr¬
heit und Natürlichkeit hielt. Keine falsche Sentimentalität, kein unwahres Pathos,
nichts Komödiantenhaftes. Dazu kamen der tiefe Ernst der Empfindung, welcher
die ganze Komposition durchdrang, und der ungewöhnliche, fremdartige Stoff, und
so fehlte es dem Bilde schon in Düsseldorf nicht an einem großen Erfolge. Be¬
einträchtigt wurde derselbe nur durch den übertrieben schwarzen Gesamtton, der
nur zum kleinen Teil durch das Dämmerlicht des Kerkers motivirt war. Diese
eigentümliche, wohl aus seiner Gemütsstimmung hercmsklingeudc, koloristische
Ausdrucksweise blieb eine ganze Reihe von Jahren hindurch für Munkacsy
charakteristisch; sie drohte bereits zu einer verhängnisvollen Manier zu werden,
als er sich endlich von ihr lossagte.
Auf den Rat von Kraus stellte Munkacsy die „Letzten Tage eines Ver¬
urteilten" im Pariser Salon von 1870 aus. Er erhielt nicht nur eine Medaille
dritter Klasse, sondern das Bild fand auch einen Käufer, der es nach Amerika
entführte. Zehn Jahre später hat es Munkacsy noch einmal gemalt, aber,
seiner veränderten koloristischen Anschauung entsprechend, in einer ungleich
farbigeren Haltung. Der Erfolg seines Bildes brachte in ihm den Entschluß
zur Reife, nach Paris überzusiedeln, und er schlug deshalb, als ob er instinktiv
fühlte, daß ihm sein Glück in Paris blühe, einen 1871 an ihn ergangenen Ruf
als Professor an die Kunstschule in Weimar aus. Im Jahre 1872 finden wir
ihn bereits in Paris und zwar in vollster Thätigkeit, da er 1873 nicht nur
den Pariser Salon, sondern auch die Wiener Weltausstellung, und zwar letztere
mit fünf Gemälden, beschicken konnte. Unter diesen waren die „Nachtschwärmer"
das Hauptbild. Beim Morgengrauen werden vier des Nachts aufgegriffene
Strolche von zwei Soldaten durch die Gassen eines ungarischen Städtchens
transportirt. In einer Mauerecke haben Hökerinnen, um einen Tisch gruppirt,
ihren Kram aufgethan und blicken mit Verachtung und Schadenfreude auf die
Verhafteten. Einer von ihnen, ein junger Mann mit dem Schurzfelle des
Handwerkers, welcher sich aus Scham den Hut tief ins Gesicht gedrückt hat,
wendet seinen Kopf zur Seite, weil ihm eine junge Dirne begegnet, die ihn mit
einer Geberde des Entsetzens erkennt. Ans dem Hintergründe folgt ein Trupp
von Kindern dem Zuge. Auch auf diesem Bilde fesselte die breite, energische Cha¬
rakteristik, die geschickte, mit großen Flächen operirende Mache. Aber der schwarz¬
graue Gesamtton und das sichtliche Streben nach dem Häßlichen und Gemeinen
bestimmte doch so sehr die Physiognomie des ganzen Bildes, daß die Freude an
den technischen Vorzüge» keine ungetrübte war. Man konnte dem Maler mit
Recht zum Vorwürfe machen, daß er nur für die Nachtseiten des menschlichen
Daseins ein Auge habe und daß feine übermäßige Neigung für das Beinschwarz
krankhaft sei. Wenn man von dem jungen Mädchen mit dem Marktkorbe ab¬
sah, führte das Gemälde eine wahre Musterkarte von abschreckend häßlichen
Volkstypen vor, stumpfsinnige Kretins und ungeschlachte Weiber, die gleichwohl
mit einer fast inbrünstigen Liebe charakterisirt waren. Noch krasser trat die
Gemeinheit auf der „Wartenden Heimkehr" zu Tage, wo ein Betrunkener von
einem Zechgenossen in sein elendes Heim zu Weib und Kind geführt wird, die
halb im Schmutze verkommen sind, Munkacsy wollte offenbar für die moralische
Versumpftheit einen entsprechenden koloristischen Ausdruck finden, und deshalb
legte er über alle Lokalfarben einen schwarzen Schleier, um damit seine Ver¬
achtung dieser Verkommenheit zu dokumentiren. Aber diese finstere Ausdrucks¬
weise gewann bald eine solche Macht über ihn, daß er sie auch da anwendete,
wo sie garnicht am Platze war, wie in harmlosen Kücheuszenen, wo eine alte
Frau Butter macht oder Mädchen Geflügel rupfen, oder auf Porträts und
Landschaften, Angemessener war die düstere koloristische Stimmung für das
im Salon von 1873 ausgestellte Bild „Episode aus dem ungarischen Kriege
von 1848," wo ein verwundeter Ungar, der in einem Bauernhause Zuflucht
gefunden hat, den Charpie zupfenden und bewegt zuhörenden Frauen und Mädchen
seine Erlebnisse erzählt. Jene „Nachtschwärmer," welche im Verein mit einer
Szene „Aus dem Leihhause" im Salon von 1874 erschienen, brachten dem
Künstler bereits eine Medaille zweiter Klasse. Der „Dorfheld," welcher im
nächsten Jahre ausgestellt wurde, war ebenfalls noch so dunkel gehalten, daß
ein französischer Kritiker schreiben konnte, er sei in einem Keller gemalt worden.
Ein Athlet, welcher auf deu Jahrmärkten herumzieht, hat in einem Wirtshause
den stärksten Burschen des Dorfes zum Ringkampfe herausgefordert. Alles drängt
sich in gespannter Erwartung um die beiden Ringer, und selbst die Kinder sind
auf die Tische geklettert, um vou den Einzelheiten des Kampfes nichts zu
verlieren.
Um diese Zeit vollzog sich eine Wandlung in den äußern Verhältnissen
Munkacsys, welche auch auf seine künstlerische Entwicklung nicht ohne Einfluß
blieb. Er gewann die Liebe einer reichen, jungen Witwe, der Gräfin Marsch,
und die Vermählung mit ihr setzte ihn in den Stand, ohne Rücksicht auf Brot¬
erwerb seinen Idealen nachzustreben. Weit entfernt aber, sein Leben unthätig
zu verträumen, entfaltete er nunmehr eine verdoppelte Thätigkeit. Er öffnete
seine Augen dem Luxus des Daseins, der Kunst in seiner Umgebung, und suchte
sein düsteres Naturell abzustreifen. Er löste allmählich die Lokalfarbe aus der
schwarze» Grundstimmung ab und erweiterte auch seinen Stoffkreis, indem er
uicht mehr ausschließlich ungarische Motive bearbeitete. Die Darstellung seines
Ateliers, welche im Jahre 1876 vollendet wurde, war der erste Schritt auf
dieser Bahn. Vor einer Staffelei sitzt die junge Frau des Malers, welche auf-
merksam ein auf derselbe» stehendes Gemälde prüft. MnnkaesyS Blicke Hunger
erwartungsvoll an den Lippen der Kuustrichterin, und im Hintergrunde halt
sich bescheiden ein ärmlich gekleidetes Kind zurück, welches dem Künstler als
Modell gedient hat. Von schwarzen und grauen Tönen war, namentlich im
Fond zwar immer noch ein übertriebener Gebrauch gemacht worden. Aber in
dem ganzen Arrangement war das Streben nach Eleganz und Vornehmheit
unverkennbar. Im nächsten Jnhre griff er wieder in das ungarische Volksleben
mit einer „Jagdgeschichte" hinein — ein Nimrod erzählt sie in einem Wirtshause
seinen aufmerksamen Zechgenossen —, wobei er einen neuen Schritt vorwärts
ins Farbige machte. Zum letztenmcile bearbeitete er dann noch ein nationales
Motiv in seiner „Ungarischen Rekrutirung," einer Werbeszene, die ebenfalls in
einem Wirtshause spielt. Nach Vollendung dieses Gemäldes zog er aber den
Magyaren aus. Er hatte sich so vollständig in das Pariser Leben eingewöhnt,
daß ihn das niedere Genre nicht mehr reizte. Einerseits strebte er danach, mit
den Koryphäen der Pariser Kunst in der Malerei großen Stils zu wetteifern,
andrerseits beschäftigten ihn koloristische Probleme, auf welche er im Strome
der Pariser Kunstbewegung aufmerksam geworden war.
Auf der Weltausstellung von 1878 figurirte bereits neben jenem Atclier-
interieur und der „Ungarischen Rekrutirung" die erste Frucht seiner neuen Be¬
strebungen: „Milton, seinen Töchtern das verlorene Paradies diktirend." Mit
einem Schlage war die trübe Atmosphäre rauchiger Wirtshäuser, rußiger Küchen
und schmutziger Straßen verschwunden. Ein behaglich ausgestattetes Gemach,
in welches durch die kleinen, runden Scheiben des Fensters ein sanftes Licht
fällt, auf dem Lehnstuhle am Fenster der blinde Dichter, von einem silbergrauen
Lichte umflossen und gesenkten Hauptes über den Versen nachsinnend, um den
Tisch herum die drei Töchter gruppirt, die eine in ihrer Strickarbeit innehal¬
tend, die andre hinter einem Stuhle stehend und, wie die dritte, die Schreiberin,
den Worten des Vaters lauschend — das alles war mit einer Kunst geschil¬
dert, deren charakteristische Eigentümlichkeiten in erster Linie Vornehmheit und
Ruhe waren. Die geistige Arbeit des Dichters kam auf seinen Zügen zu klarem
Ausdruck, und die gespannte, auf den Vater gerichtete Aufmerksamkeit der drei
Töchter gab der Gruppe auch eine innere Einheit. Jeder theatralische Zug, der
namentlich in der Charakteristik des schaffenden Dichters in gefährlicher Nähe
lag, war glücklich vermieden. Ein natürliches, einfaches Empfinden beherrschte
gleichmäßig die vier Figuren. Zu einer vollen farbigen Wirkung hatte sich
Munkacsy indessen auch auf diesem Gebiete noch nicht durchgearbeitet. Auf dem
Teppich, dem roten Sammet des Lehnsessels, der Tischdecke lag es immer noch
wie ein grauer Florschleier. Aber die schweren, schwarzen Töne waren doch
ziemlich unterdrückt worden, und es ließ sich nicht leugnen, daß der Künstler
durch die graue Grundstimmung zum Teil die vornehme Gesamtwirkung erzielt
hatte. Sah mau jedoch von dieser koloristischen Voreingenommenheit ab, so
mußte man der Freiheit und Sicherheit der Technik unbedingte Anerkennung
zollen. Auf der größern Fläche war Mnnkacsys breite Behandlungsweise, welche
den kleinern Genrebildern etwas unfertiges und skizzenhaftes gab, besser am
Platze, zumal da sich dieselbe meist auf das Beiwerk, die Stoffe, Möbel und
Geräte beschränkte und sich in den Köpfen und Händen zu einer sorgfältigern,
mehr abgerundeten Durchbildung erhob. In allen Teilen lieferte das Gemälde
aber den Beweis, daß der ungarische Maler durch die eingehendsten Natur¬
studien nicht nur sein technisches Können bedeutend vertieft, sondern auch seinen
geistigen Horizont erweitert hatte. Dabei hatte er auch in dem neuen Stoff¬
gebiete seine Originalität so vollkommen bewahrt, daß sich in den Gemäldesälen
der Weltausstellung nur wenige Arbeiten finden ließen, welche eine so persön¬
liche und individuelle Sprache führten wie diejenige Munkacsys. Seine eigen¬
tümliche Ausdrucksweise fand zwar immer noch ebensoviele Gegner wie Bewun¬
derer, aber beide waren darin einig, daß man es mit den Äußerungen eines
durchaus originellen, auf sich selbst gestellten Talentes zu thun habe. Etwas
national-magyarisches war jedenfalls in diesem Gemälde nicht zu entdecken. Am
ehesten wirkte in der geistigen Beseelung der Köpfe noch die Düsseldorfer Er¬
ziehung nach. In der Technik mußte jedoch eine vollkommene Unabhängigkeit
von jeder Schultraditiou konstatirt werden.
Das Miltonbild brachte dem Künstler die Ehrenmedaille der Weltaus¬
stellung und das Offizierskreuz der Ehrenlegion und verschaffte ihm aus seineu
Wanderungen durch Österreich, Deutschland u. s. w. und durch Reproduktionen
in Radirung und Photographie auch auswärts Ehre und Anerkennung.
Da Munkacsy einmal entschlossen war, mit seiner Vergangenheit zu brechen,
gab er sich willig dem Einfluß der kecksten französischen Farbenkünstler hi». Er
war nicht der einzige und erste, welcher einsah, daß in der scheinbar so ver¬
kehrten und extravaganten Lehre der Impressionisten ein Korn von Wahrheit
vorhanden sei. Man sagt, daß er auch im Glücke seine Herkunft nicht vergessen
habe und für die armen Sansculotten der Malerei offene Hand und offenes
Herz besitze. Dabei mag er sich auch mit Ernst und Eifer in die Theorie der
Impressionisten von Licht und Luft versenkt haben, und eine reichere Lichtfülle
konnte niemandem von größerm Vorteile sein als ihm. Wenn die Impressio¬
nisten behaupten, daß die Gewohnheit der Maler, ihre in der freien Natur auf¬
genommenen Skizzen im Atelier, also bei geschlossenem, künstlich arrangirten
Licht auszuführen, das Auge allmählich stumpf und unempfänglich für die
wirklich im Freien vorhandene Lichtfülle gemacht habe, so haben Sie mit dieser
Behauptung nicht Unrecht, wohl aber, wenn sie sagen, daß diese Lichtfülle die
Luft so vollständig absorbire, daß man sie überhaupt nicht mehr sehe und dem¬
gemäß auch nicht malen dürfe. Eine große Gruppe von französischen Malern hat
beide Punkte dieser Theorie mit Begeisterung aufgenommen, und zu ihnen gehört
auch Munkacsy, welcher lange Zeit ein abgesagter Feind des Lichts gewesen war.
Seine neugewonnenen Anschauungen erprobte er zunächst an einer Reihe
von Genrebildern, deren Motive er aus seiner nächsten Umgebung, aus seiner
eignen Häuslichkeit wählte. Kann es etwas farbigeres geben als einen Pariser
Salon mit seinen hundert Kuriositäten und Capricen, mit seinen bunten Stoffen
an Wänden, Fußböden, Möbeln, mit seinen Bronzen, Porzellanen und Fayencen,
mit seiner nicht minder capriziösen Staffage von Frauen und Kindern, welche
allen Extravaganzen der Mode folgen? Diesen Farbentumult auf der Lein¬
wand festzuhalten, ohne ihm etwas von seinem prickelnden Reize dnrch „Har-
monisirung" zu nehmen, war Munkacsys eifrigstes Bestreben. Die außerordent¬
liche Leichtigkeit seiner Mache ermöglichte ihm wirklich die Lösung dieser Aufgabe.
Freilich streifte er dabei nach der Weise der Impressionisten nur die Oberfläche
der Dinge. Er gab gewissermaßen nur formlose, unartikulirte Farbenempfin¬
dungen wieder. Die Zeichnung wurde mit wenigen Strichen abgemacht, und die
ganze Wirkung nur auf die natürliche Frische und Wahrheit des Tons gelegt.
Unter solchen Gesichtspunkten betrachtet, sind Genrebilder wie die „Beiden
Familien," der „Geburtstag Papas," der „Besuch beim Neugebornen" koloristische
Meisterwerke, deren Vorzüge freilich nach der technischen Seite hin liegen. Man
glaubt, Arbeiten eines Mosaicisten vor sich zu haben, der seine bunten Steine
zu einem gefälligen Ensemble gruppirt hat. Genrebilder im Stile von Krams
sind diese Gemälde nicht, weil der Künstler die Staffage nicht über die Um¬
gebung hinaus zu einer höheren Bedeutung entwickelt, nicht genügend durch¬
geistigt hat. Am Ende kann man auf diesen eleganten Salonszcnen auch nicht
die Darstellung eines tiefen, geistigen Lebens erwarten. Der Zweck ist erreicht,
wenn der Beschauer das Gefühl hat, daß er vor einer glücklichen Häuslichkeit
stehe, in welcher der äußere Luxus die unbefangenen Äußerungen unverdorbener
Herzen noch nicht zurückgedrängt hat. Auf einer gleichzeitig mit diesen Genre¬
bildern gemalten Landschaft und einem Blumenstück kommen ähnliche koloristische
Tendenzen zum Ausdruck. Wenn man aber dicht vor diese Gemälde tritt, fühlt
man sich durch das Getümmel von farbigen Flecken abgestoßen. Alles trägt
den Charakter einer wenn mich geistreichen Improvisation, und man ist wirklich
versucht, zu glauben, daß Mnnkacsy mit diesen Farbenkunststücken nur Experi¬
mente gemacht, nur die Fühler ausgestreckt habe, um zu sehen, wie weit er auf
diesem gefährlichen Wege gehen könne.
Während diese Bilder nämlich entstanden, näherte sich in seinem Atelier
das kolossale Gemälde „Christus vor Pilatus" der Vollendung, welches nun
schon seit drei Jahren auf der Wanderung dnrch ganz Europa begriffen ist
und überdies, durch eine vortreffliche Radirung vervielfältigt, den Ruhm des
Meisters in alle Winde getragen hat. Man möchte annehmen, daß jene
Exkursionen in das Gebiet des reinen Kolorismus für den Maler gleichsam
gymnastische Übungen, wurf as tores gewesen seien, mit welchen er den Reichtum
seiner Palette erproben, zugleich aber auch einen Grerizpfahl aufrichten wollte,
von dem aus er sich in gemessener Entfernung zu bewegen hatte. Denn die
Würde eines Historienbildes im großen Stil verträgt nicht ein solches Gaukel¬
spiel durcheinanderschwirrender Farben.
Auch wenn man die übertriebene Reklame, welche mit dem Bilde vom
Kunsthändler gemacht worden ist, und die auf Blendung berechnete Jnszenirung
des Gemäldes in abgeschlossenen, halb verdunkelten Räumen abzieht, bleiben
noch genug Eigenschaften übrig, welche dem Werke eine hervorragende Stellung
in der zeitgenössischen Kunstproduktion sichern. Freilich darf man auch bei
diesem Bilde nicht zuerst nach seinem geistigen Inhalte fragen. Gerade darin
liegt seine Schwäche, welche es übrigens mit den meisten Historienbildern aus
der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts teilt. Auf dem Boden des
Rationalismus stehend, hat sich Munkacsy die Szene historisch zurecht gelegt.
Für die Typen aus dem Volke, welche in die Halle des Gerichtshauses ein¬
gedrungen sind, für die Rabbiner und die Mitglieder des Hohen Rates, welche
um die Exedra des Landpflegers herumsitzen, hat Munkacsy charakteristische
Modelle aus der jüdischen Bevölkerung von Paris gewählt. Auch sein Christus
erhebt sich in keinem Zuge über die niedrige Sphäre des Modellstudiums,
welches nur zu deutlich in dieser Figur wie in allen übrigen nachklingt. Dieser
Christus ist nicht der begeisterte Verkünder der neuen, erhabenen Lehre, welche
den Armen und Unterdrückten das Reich Gottes, die Herrlichkeit jener Well
verheißt, sondern ein spitzfindiger Dialektiker, welcher Spinozas Schriften studirt
hat. Dieser Christus hat durchaus das geistige Rüstzeug, um auf die Frage,
welche auf den Lippen des Pilatus zu schweben scheint: „Was ist Wahrheit?"
eine geistreiche, wohldurchdachte Antwort zu geben. Es läßt sich nicht ver¬
hehlen, daß der auf seinem Throne sitzende Prokonsul eine ungleich interessantere
Figur ist als der gefesselte Christus, und auch unter den Rabbis befinden sich
einige, deren blaue, dunkelrote und in andern Farben schillernde Gewänder dem
Maler sichtlich mehr Frende gemacht haben als die nüchterne Gestalt und die
leere Physiognomie Christi. Das weiße Gewand des letztern und die weiße Toga
des Landpflegers bilden die Lichtpunkte i» der Kombination der Lokalfarben, welche
wenigstens in der ersten Figurenreihe ziemlich ungebrochen hingesetzt sind, weil
durch die obere Öffnung des Atriunis ein volles Licht auf die Gestalten sällt.
Im Hintergründe lagert sich freilich ein massiges Dunkel über den Figuren.
Da treibt der alte Munkacsy mit seinen schwarzen, undurchsichtigen Schatten
sein Wesen, und da überdies nach impressionistischen Lehrsätzen die vermittelnde,
die nötigen Distanzen herstellende Luft fehlt, drängt sich hinten alles zusammen,
sodaß man garnicht den Eindruck empfängt, als ob eine aufgeregte Volksmenge
den Gefangenen umtobte. Ruhige Empfindungen weiß Munkacsy rin ausge¬
suchter Feinheit zu schildern; aber er ist nicht der Maler dramatischer Konflikte
und leidenschaftlicher Affekte. Das Gemälde „Christus vor Pilatus" hat nichts
von der geheimnisvollen Intuition des Genies; es ist ein Produkt kühler Be¬
rechnung und fleißiger Nachempfindung, welche allerdings durch ein immenses
technisches Können unterstützt werden. Die malerische Begabung überragt bei
Munkacsy bei weitem die geistigen Mittel. Wenn man ihm also auch nicht den
Ruhm eines großen Künstlers zuerkennen darf, so ist er doch auf dem Wege,
ein großer Maler zu werden, wenn er sich zur Ablegung einiger Irrtümer ent¬
schließen kann.
n der Besorgnis, sich durch ihre Unruhe zu verraten und sich
in eine Leidenschaft hineinzuträumen, die im Keime zu ersticken
ihr Pflicht schien, zog sich Lore eines Tages auf ihr Zimmer
zurück, erleichterte ihr armes Herz in unendlichen Thränen, bat
ihre Herrin darauf um die Erlaubnis, ihren Dienst in möglichster
Kürze verlassen zu dürfen, erhielt unbedenklich ihren Abschied noch an demselben
Tage und zog in die Ferne.
Warum diese Thränen, warum dieses fluchtartige Verschwinde»? fragte
damals Frau von Mockritz, die nicht begriff, was in dem Mädchen vorgegangen
sein konnte.
Als Berthold nach langem, vergeblichem Suchen die Spur der Verschwun¬
denen in einem der entlegensten Gebiete des Landes ausfindig gemacht hatte
in einer Art von Diakonissenanstalt für kranke Kinder —, fragte er nicht:
warum diese Thränen? denn er wußte nichts von ihnen — aber wohl: warum
dieses fluchtartige Verschwinden? Wollten Sie uns durchaus nicht die Freude
gönnen, Fräulein Lore, unsre Schuld gegen Sie abzutragen?
Elise wahrte zunächst in bescheidner Weise das wiedererlangte Recht ihres
Taufnamens. Dann stellte sie in Abrede, daß irgend wer in ihrer Schuld sei;
aber ihre Verlegenheit machte sie unfähig, dem Besuche in eingehenderer Weise
Rede zu stehen, und er selbst fühlte sich ihr gegenüber in so unklarer Gemüts¬
verfassung, daß es ihm nicht leid war, als die Oberin dem armen Mädchen
zu Hilfe kam, indem sie ihr ein dringendes Geschäft auftrug.
Er bat die Oberin dann, ihm alles zu sagen, was sie von Elise wisse,
und er gab gleichzeitig seinerseits Auskunft über die traurige Veranlassung, die
ihn zu ihrem Schuldner gemacht habe. Mein Vater, sagte er, hat ihr infolge¬
dessen seit langem eine Schenkung zugedacht, deren Betrag sie für alle Zukunft
Über die Alltagssorgen des Daseins hinaussehen soll. Sie können denken, wie
sehr ihm und mir daran liegen mußte, sie ausfindig zu machen.
Die Oberin bedauerte, nicht viel mehr zu wissen, als daß Elise in ihre»
Papieren den Namen Elise Müller führe, in verschiednen dienstlichen Stellungen
gewesen sei und ihren Berufspflichten mit Hingebung obliege. Sie fand es
verwunderlich, daß Elise durch einen Besuch, der ihr jedenfalls doch nur Er¬
freuliches bedeuten könne, in Verlegenheit gesetzt worden sei. Als die Vorgesetzte
Eliscns hielt sie sich für berechtigt, zu fragen, ob etwa andre Beziehungen als
die erwähnten zwischen ihm und der jungen Person stattgefunden hätten und
ob er entgegengesetzten Falles nicht für richtig halte, die Schenkung einem zu¬
verlässigen Geschäftsmanne zu weiterer Überweisung anzuvertrauen?
Berthold gab zur Antwort, daß er nur sagen könne, er habe die ehrbarsten
Absichten. Da Elise nur eine dienende Stellung bei seiner ehemaligen Braut
eingenommen habe, so könne er natürlich weder Gelegenheit gehabt noch gesucht
haben, sie anders als von fern zu sehen. Ihre damalige Hilfeleistung könne
er aber selbst dann nicht niedrig anschlagen, wenn keine wirkliche Gefahr im
Verzüge gewesen sein sollte, und vollends sei die Art, wie sie sich seinem und
seines Vaters Danke entzogen habe, ein so lant redender Beweis für ihre Be¬
scheidenheit und Uneigennützigst, daß er wohl bekenne» müsse, der Gedanke an
seine Retterin habe ihn seitdem oft beschäftigt.
Die Oberin erwiederte ans diesen offnen Bescheid, sie könne für diesen Fall
wohl annehmen, daß er bei einem nochmaligen Besuche das ja keineswegs un¬
gebildete junge Mädchen zu bestimmen wissen werde, die Schenkung als eine
wohlverdiente anzunehmen, wenn nicht für sich, so doch, was ihr ja zu statten
kommen würde, für die Anstalt.
Am andern Tage hatte Elise denn auch ihre Fassung vollständig wieder¬
gefunden. Sie schüttelte zwar den Kopf und errötete ein paar mal heftig, als
in Gegenwart Bertholds die Oberin ihr auseinandersetzte, sie dürfe die Schenkung
nicht abweisen; aber daß dieselbe der Anstalt zugewendet werde, darein willigte
sie endlich, wenn auch nur mit Widerstreben.
Ich danke dir, und ich danke Ihnen, sagte die Oberin, als das Geschäft¬
liche zwischen ihr und Berthold dann in guter Form erledigt war, und sie ent¬
fernte sich, um ihren Schatz zu verschließen.
Elise wollte ihr folgen.
Was treibt Sie schon wieder fort? sagte Berthold; wollen Sie mir, nach¬
dem ich Sie so lange gesucht, nicht einiges Vertrauen schenken und einigen Auf¬
schluß über Ihre Herkunft, Ihre Schicksale, Ihre Zukunftspläne geben?
Die Diakonissin blickte nieder. Wozu? sagte sie.
Wozu? Weil ich es Ihnen ja doch zu danken habe, daß ich heute noch
an Leben bin, jedenfalls daß ich unwürdige Fesseln abgestreift habe.
Sie blickte ihn mit einem raschen Seitenblick an.
Von mir, fuhr er fort, ist Ihnen nur zu viel bekannt. Unsre erste Be¬
gegnung gleich hat Sie belehrt, daß ich auf meinen Reisen nicht vorzugsweise
Sitte und Austand studirt hatte. Haben Sie mir den geraubten Kuß verziehen,
Fräulein Elise?
Wer denkt noch daran? gab sie, ohne ihn anzusehen, zur Antwort.
Auch was weiter unter Ihren Augen an richtigen Getändel getrieben
wurde, fuhr er wieder fort, lassen Sie es begraben und vergessen sein. Ich habe
ein schweres Jahr des Grübelns und Nachdenkens hinter mir, bin ein ganz
andrer geworden, atme erst seit gestern wieder auf. Setzen Sie sich, fuhr er
uach einer Pause in noch herzlicherem Tone fort, reden wir als alte Nachbars¬
leute. Wir waren es doch einmal. Ich möchte Ihnen von meinen guten Eltern
erzählen, Sie sagen mir dann etwas von den Ihren.
Niemals! rief sie, aber sie setzte sich.
Er verstummte und sah sie fragend an. Sie hatte die Stirn in die Hand
gestützt. Das weiße Kopftuch der Diakonissin bedeckte fast die ganze ihm zu¬
gekehrte Seite ihres Gesichts. Aber ob sie auf Schönheit Anspruch hatte oder
ob sie auch jetzt noch zu jenen Unscheinbaren gehörte, die mehr nur durch ihr
ganzes Wesen interessiren und rühren — fern lag es ihm, daran zu denken.
Daß sie voll Herzensgüte war, von diesem Gefühl hatte seine Sehnsucht nach
Wiederauffinden ihrer Spur unablässig gezehrt. Er war von demselben auch in
diesem Augenblicke erfüllt.
Fräulein Elise, begann er »ach einer Weile von neuem, Sie haben also
keine freundlichen Kindheitserinnerungen, keine liebe Heimat. Das erklärt mir
vieles. Aber umso minder recht handeln Sie, wenn Sie auch eine Teilnahme
zurückstoße», wie ich sie Ihnen entgegenbringe.
Ich stoße Ihre Teilnahme nicht zurück, sagte sie mit gepreßter Stimme;
aber ich frage: wozu das alles?
Um — um — ja, wozu? Sie trafen das rechte Wort.
Um mich zu beunruhigen! rief sie; eben hatte ich mein Gleichgewicht wieder¬
gefunden.
Er reichte ihr die Hand hinüber. O nein, nicht um Sie zu beunruhigen
— aber sie nahm die Hand nicht —, um Ihnen offen zu sagen, wie es mit mir steht.
Als ob ichs nicht wüßte!
Sie?
Ich-
Und da lassen Sie mich Ihnen die Hand vergebens entgegenstrecken?
Eben deshalb thu ichs.
Rätselhaftes Wesen! Und wenn ich nun nicht länger, was in mir vor¬
geht, hinter halben Andeutungen Versteckens spielen ließe? Wenn ich dir sagte —
Wozu? Ich weiß es ja! Sie siud ja gut, Sie würden ja nicht so zu
einem armen Mädchen reden, wenn Sie nicht Balsam für jede Wunde, die Sie
schlagen, in Bereitschaft hätten. Aber was soll denn werden, wenn Sie mir
bis zu dem Punkte die Seele beunruhigen, daß ich Ihre Hand fasse —
Thu es.
Ich darf nicht.
Du darfst es. Ich bin Herr meines Willens. Sei mein, und es solls
niemand wagen, sich zwischen uns zu drängen.
Niemand? Denken Sie nach.
Niemand.
Und Ihre Eltern?
Berthold verstummte. Ihre Hand zuckte in der seinen. Sie wußte nicht,
wie es gekommen war. Aber in der seinen ruhte ihre Hand, und Thränen ent-
stürzten den Augen der von ihrem Vorsatz abtrünnig Gewordenen.
Auch nicht meine Eltern, sagte Berthold, und zog die ihm anvertraute
Hand an seine Lippen.
Sie weinte still vor sich hin, und er, ohne ihre Hand ans der seinen zu
lassen, öffnete ihr sein ganzes Herz, indem er alle Schleier lüftete, die auch
seinen Pflegeeltern schonend die mancherlei tiefgehenden Wandlungen seines Innern
verborgen hatten.
Wie diese Stunde beiden als das Tagen eines neuen, selig eingefriedeten
Daseins erschien! Wie das Zagen auf der Schwelle eines unglaublichen Glückes
die Züge des Mädchens bis zur Schönheit verklärte! Welche Freudigkeit
auch aus seinen so lange matt und verdüstert gewesenen Blicken leuchtete!
Und doch war die Kluft zwischen ihnen nicht auszufüllen. Und doch ist
alles hoffnungslose Selbsttäuschung — so rief endlich Elise sich selbst und ihn zur
Besinnung zurück. Sie vergessen Ihre Eltern!
Er wollte von keinen Hindernissen hören. Meine Eltern werden, müssen
nachgeben! rief er, du kennst sie nicht, ihre Vorurteile sind nur flüchtiges Wellen-
gekräusel der Oberfläche, die untere Strömung ist eine uns — vor allem dir —
günstige, gerade du bist, was sie brauchen.
Gerade ich? antwortete sie mit einem bittern Lächeln. Wie Sie sich und
mich betrügen!
Er widersprach, aber seine Einreden wurde» unsicherer in dem Maße, wie
anch sie mehr und mehr den Empfindungen, die sie zu ihrem fluchtartigen Ver¬
schwinden veranlaßt hatten, Worte lieh. Vergessen Sie doch nicht, schloß sie
schmerzlich, daß ich zu den Dienenden gehörte, und daß in dieser Menschenklasse
alle die Neuigkeiten, die über die Äußerungen dieser oder jener Herrschaft er¬
mittelt werden, Gemeingut sind. Ich habe vieles über die Staudesansprüche
Ihrer Eltern gehört.
Sie hatte in der That, seit jene Katastrophe für ihre Ruhe so verhängnis¬
voll gewesen war, sich keinen Täuschungen über die völlige Undenkbarkeit einer
günstigen Wandlung hingegeben.
Gut! rief Berthold, endlich aufspringend, so wird zur Not auch der Wider¬
spruch meiner Eltern unserm Glück nicht entgegenstehe» dürfen. Willst du mich
als Enterbten, als einen einzig auf die eigne Kraft Angewiesenen, so gieb mir
dein Jawort. Ich hänge nicht am Mammon. Das Brot, das ich selbst für
unsern Tisch erarbeite, wird uns besser als alles andre schmecken.
Als ob man so treuer Pfleger, sagte Elise ablehnend, je wieder anders
los und ledig würde als durch den Tod! Können Sie mit Ihrem Verzicht
auf Geld und Gut ungeschehen machen, was Ihnen an Liebe, Hut und Förde¬
rung in so langen, langen Jahren zuteil geworden ist? Können Sie die Dankes¬
schuld, die Sie eingegangen sind, anders abtragen, als indem Sie noch weit
mehr als ein leiblicher Sohn jenen Hütern Ihrer Kindheit die Stirn glätten
und den Lebensabend erheitern? Wir dürfe» von heute nu Freunde sein. Das
ist für mich ein unaussprechlich reiches Geschenk des Himmels. Lasse» anch
Sie sich daran genügen. Kämpfen Sie nieder, was sich an weitergehenden
Forderungen an das Schicksal in Ihnen geregt hat. Sehen Sie, ich thue es
auch. Sehen Sie, es gelingt mir —
Es gelang ihr nicht. Ihre Stimme hatte versagt. Aber ihre Kraft reichte
aus, sich feiner leidenschaftlichen Umarmung zu entziehen und, wenn auch nnr
schwankend, die Thür zu gewinnen.
Er wollte sie nicht fortlassen, aber die in demselben Augenblicke zurück¬
kehrende Oberin hemmte seinen Schritt.
Unfähig, eine andre Stimme als die der Geliebten zu hören, verzichtete
er für heute auf jeden weitern Versuch, über seine Zukunft ins Klare zu kommen,
und eilte ins Freie.
Am nächsten Tage erhielt er einen Brief, worin Elise ihn beschwor, ihre
Standhaftigkeit nicht nochmals ans die Probe zu stellen. Die Zeit kann manches
ändern, so lauteten die letzten Zeilen, täuschen wir uns mit diesem Troste über
die Versagung weg, die wahrlich nicht Ihnen allein, teurer Freund, eine grau¬
same dünkt. Denken Sie auch ein klein wenig an die Qualen, die Sie mir
hochherzig ersparen, wenn Sie sich daran genügen lassen, von Zeit zu Zeit
mir ein Lebenszeichen zu geben, von mir eins zu erhalten. Ihnen gegenüber
stehe ich jetzt auf festbegründetcm Boden. Sie glauben an mich. Andre
würden den Schutt, über welchem endlich ein freundliches Grün emporzuwachsen
beginnt, neu aufrühren und durchstöbern wollen. Sie glauben an mich. Reisen
Sie ab. Ich bleibe hier. So lauge Ihnen der Zusammenhang mit der armen
Diakonissin kein lästiger sein wird, können Sie darauf rechnen, daß ich nicht
wieder verschwinde.
Das war ein halbes Jahr nach der Auflösung des Verlöbnisses die Sach¬
lage gewesen. Was seitdem die Züge Bertholds schärfer und strenger gemacht
hatte, war wohl hin und wieder durch ein Wiedersehen der Freundin gemildert
worden, aber wie auch selbst ein Schmerz so sehr zur Gewohnheit werden kann,
daß er, der Wolke in der gemalten Landschaft ähnlich, fast zu etwas Unent¬
behrlichem wird, so hatte, was die Vereinigung der Liebende» hinderte, je länger
je mehr Gewalt über ihre beiderseitigen Auffassungen gewonnen, und selbst der
einst so resolut gewesene Weltfahrer rüttelte uur noch selten an dem Gitter,
das die Entsagungsmntige zwischen sich und ihm aufgerichtet hatte.
Lange war seine Sorge gewesen, die Eltern würden die ihm bisher be¬
wiesene Geduld verlieren, würden in ihn dringen, unter den jungen Damen,
die nach Fräulein von Mockritz als Schwiegertochter für sie erwünscht sein
könnten, eine zu wählen. Daß sie es nicht thaten, rührte ihn, aber diese Ent¬
haltung ihrerseits dadurch zu lohne», daß er eine ehemals als Dienende unter
ihrem Dach Gewesene als das Mädchen seiner Wahl bezeichnete — wie oft das
alles verratende Wort auch auf seinen Lippen schwebte, ausgesprochen wurde es nicht.
Nun Frau Anna ihrem Gatten, wie schon früher erwähnt, die Liste der
Brautschaftskandidatinnen aufgenötigt hatte, begann freilich der so lange schonend
zurückgehaltene elterliche Wunsch die Flügel zu regen. Von Zeit zu Zeit lagen
Photographie!, auf dem Frühstückstische des geadelten Ehepaares, Porträts
junger hübscher Mädchen, und Frau Anna wußte bald ihren Gatten, bald Bert¬
hold zum Abgeben seiner Meinung zu bewegen. Der erstere lobte, der letztere
verhielt sich schweigend. Diese da ist mit dem Grafen verschwägert, warf Finn
Anna dazwischen; die andre hier soll der Baron heiraten, aber ich hoffe,
sie giebt ihm einen Korb; am besten gefällt mir immer doch die drüben mit
dem schiefen Scheitel, Marie von Droppclsdorf — du bist ihr wohl neulich
vorgestellt worden, Berthold? Ein liebes, anspruchsloses Mädchen mit sehr
angesehenen Verwandten.
Kaspar Benedikt war schon wieder im Hintertreffen. Frau Anna ging allein
im Sturmschritt vor. Aber mit welchem herzensguter Ausdruck in Miene und
Blick! Berthold litt und fühlte doch zugleich, wieviel mütterliche Liebe hier das
Wort führte.
Als die Wünsche des elterlichen Paares immer dringender zutage traten,
nahm Berthold eines Tages Frau Anna auf die Seite und bat sie, sich an ihm,
wie er sei, genügen zu lassen, auch den Vater zu bestimmen, daß er nicht an
Saiten rühren möge, die leicht einen mißtönenden Klang geben könnten.
Frau Anna wurde sehr kleinlaut. Mein guter, mein lieber Sohn, sagte
sie, habe ichs schon wieder wie das thörichte Kind getrieben, das nach Mond
und Sternen schreit? Wir sind alle drei ja so glücklich! Möchte dein guter
Vater uns nur keinen Streich spiele», suchte sie abzulenken, sein Atem wird
so kurz. Ach, du hast ja tausendmal Recht. Wie leicht giebt es Verstimmungen!
In unserm Alter ist Frieden und Ruhe, was man vor allen: braucht. Sei
mir uicht böse — wie sollten wir denn an dir uns nicht genügen lassen!
Aber Berthold hatte sich oft das traurige Wort Elisens wiederholt, so
treuer Pfleger werde man nur durch den Tod los und ledig, und der Gedanke,
nach dem Tode dieser lieben, treuen Pfleger einen Schritt zu thun, den sie,
wenn darüber befragt, nicht gebilligt haben würden, oder gar jenen Schritt aus
solchem Grunde dann nicht thun zu dürfen, dieser Gedanke verfolgte ihn jetzt
mit peinigender Gewalt.
Endlich ertrug er es nicht länger, zu schweigen, und eines Tages teilte
er dem Vater — wenigstens als Vorläufer von weiterem — auf einer Garten¬
promenade als etwas neues mit, daß er seine Retterin ausfindig gemacht und
seine Schuld, soweit dies möglich, alsbald nach des Vaters früherer Verfügung
berichtigt habe. Die Freude Kaspar Benedikts war groß. Sofort mußte
Frau Anna herbei. Aber ihre Neugier brachte den Sohn bald in die Klemme,
und er hatte nun kaum noch zu bereuen, daß er, um sein Herz nicht zu verraten,
so lange Zeit das Geheimnis der Ermittlung seiner Retterin verschwiegen hatte.
Ach, es war eine nur zu nötige Vorsicht gewesen, denn nun die Fragen nach
der braven Lore immer mehr ins einzelne gingen, kam er so lebhaft ins Schil¬
dern hinein, und das Bild der Gefundenen gewann eine so warme Beleuchtung,
daß mit dem Scharfblick des Weibes Frau Anna plötzlich alles durchschaute,
und daß Berthold selbst auf dem Punkte stand, alles zu bekennen.
Hier nahm Frau Anna geschickt ein kühl durch den Garten wehendes
Lüftchen zum Vorwand, um Kaspar Benedikt unter Dach zu bringen, und dann,
zu Berthold zurückgekehrt, schlug sie besorgt und doch auch jubelnd die Hände
über den Kopf zusammen und rief: Welch eine Überraschung, mein Sohn! Ich
bin fast zur Salzsäule geworden! Aber eine ehemalige Kammerjungfer! Soll
ich weinen oder lachen?
Acht Tage später hatte sie sich durch die Nesseln und Kletten, deren sich
beim Erwägen dieser Angelegenheit und beim tiefern Eindringen in deren ver¬
schlungene Jrrgänge immer zahlreichere fanden, wenigstens soweit durchgearbeitet,
daß sie für sich selbst der Meinung zuneigte, Villa Anna müsse zur Not auch
eine ehemalige Kammerjungfer — dies Wort wiederhallten von nun an alle Wände
der merkwürdigen Villa — als Schwiegertochter über sich ergehen lassen.
Acht weitere Tage wurden von Frau Anna auf das allmähliche Vor¬
bereiten Kaspar Benedikts verwendet, doch waren dann noch ganze acht Wochen
nötig, ehe der Alte über den ihn empörenden Gedanken wegkam, daß nicht
schlechtweg eine Kammerjungfer, sondern eine Kammerjungfer des Fräuleins von
Mockritz in die von der letztern geräumte Stelle treten solle! Er hörte die
bösen Zungen zischeln und quälte sich und die Seinen mit allen schlimmen Mut¬
maßungen, die in ähnlichen Fällen gäng und gäbe sind.
Zu guterletzt, als er für die doch auch zahlreichen erfreulichen Seiten der
Angelegenheit fast schon gewonnen worden war, kam Frau von Mockritz noch
mit einem Billet dazwischen, das den verwirrenden und betäubenden Charakter
einer platzenden Bombe hatte und das die beiden alten Eheleute völlig aus der
Fassung brachte. Denn von den immer mehr oder weniger humanen Phrasen
entkleidet, die der Ausdrucksweise der Frau von Mockritz längst zur andern
Natur geworden waren, besagte das Billet der „guten Nachbarin" etwa fol¬
gendes: Ihre aus alter Freundschaft sür Herrn von Hartig eingezogenen Er¬
kundigungen hätten leider zu der Ermittlung geführt, daß die gewesene Kammer¬
jungfer Lore, rsetius Elise Müller, die Tochter des vor einer Reihe von Jahren
in zum Zuchthaus verurteilten Fälschers und Bankrotteurs sei, der durch
seine Selbstentleibung sich wohl dem Arme des Gesetzes entzogen habe, nicht
aber den ihm ins Jenseits gefolgten Thränen und Verwünschungen der durch
ihn an den Bettelstab gebrachten Witwen und Waisen. Ein beigelegter Zettel
enthielt den Namen des Missethäters, des geheimen Kommerzienrath Gebhardi,
und Kaspar Benedikts Herz wollte sich schier umwenden. Für welche Nach¬
kommenschaft öffneten sich die berühmte», von so zahllosen Besuchern bewunderten
Kinder- und Enkclzimmer der merkwürdigen Villa!
Es war Herbst geworden, ehe Kaspar Benedikt sich von diesem Schlage
erholte. Er hatte seine Einwilligung nicht zurückgezogen, aber wie fühllos hätte
Berthold sein müssen, um angesichts der vergebens durch Lächeln und herzliche
Worte verschleierten Traurigkeit des gütigen Greises die Braut ihm ins Haus
führen zu wollen! Immer wurden neue Gründe von Berthold ausgesonnen,
warum ein Aufschub nötig sei. Frau Anna mußte mit dazu thun, ob ihr auch
das Herz dabei brechen wollte.
Dann blieb Kaspar Benedikts Auge eines Tages in seiner Bibliothek an
einem Ausspruche Senccas haften, an den Worten: „Kleine Schmerzen find beredt,
großer Kummer ist stumm." Lange schritt er in seiner Bibliothek auf und ab, die
Hände auf dem Rücken, den Zeigefinger in dem Buche. Er war in tiefernsten
Gedanken.
Was ihm fast noch mehr als der für alle Zeit gebrandmarkte Name, dessen
Elise sich entledigt hatte, ein immer gleich empfindlich schmerzender Stachel ge¬
wesen war, eben dieses Verschweigen einer so befleckten Abstammung — der
Philosophirende Greis begann milder darüber zu denken. „Großer Kummer ist
stumm." In der That, der Kummer des armen Mädchens durfte ein großer genannt
werden, und daß sie den Leuten die Möglichkeit entzog, sie auf die Berechtigung
jenes Kummers anzusprechen, daß sie wie in eine verschlossene Urne alles bestattet
hatte, was sonst dem Menschenherzen teuer ist: Kindheitserinnerungen, Heimat,
Elterngcdenken — durfte Kaspar Benedikt ihr daraus ein Verbrechen machen?
„Großer Kummer ist stumm."
Ich will nichts länger von Aufschub wissen, rief der Fabrikant, sobald er
seiner Frau ansichtig wurde. Mutter Anna, thue dazu, daß über vierzehn Tage
in unserm grünen Speisesaale die Hochzeit hergerichtet wird. Es soll ein wirk¬
liches Festessen werden. Wir wollen den Leuten zeigen, daß wir unsrer Schwieger¬
tochter uns bei Leibe nicht zu schämen brauchen. Ihren Brautführer mache
ich selbst.
Und ungefähr fo ist es denn auch ins Werk gesetzt worden, nachdem frei¬
lich zunächst der Polterabend ausfiel, obschon Kaspar Benedikt aus seiner
Bibliothek ein Buch, das Polterabendscherze enthielt, hervorgesucht und darin
durch einige Dutzend Eselsohren die gereimten Ansprachen bezeichnet hatte, für
welche Frau Anna durchaus die nötigen Sprecherinnen auftreiben sollte. Wenn
dieser Teil des Festes dennoch ausfiel, so war vor allem eine Kunde daran
schuld, eine zugleich frohe und unsäglich schmerzliche, die Major von Stobbe
von einem Ausfluge in die Hauptstadt derjenigen Provinz mitbrachte, welche
den Vater Elisens als den Verschulder zahlloser Verarmungen in Hütte und
Haus ansah. Ganz neuerlich hatten nämlich die Widerrufe eines als Haupt¬
zeuge dabei vornehmlich beteiligt Gewesenen zu einer Revision des Prozesses
geführt, und worauf lief das ensgiltige Ergebnis derselben hinaus? Auf Geb-
hardis völlige Schuldlosigkeit! Schon Tags darauf ging die Kunde von dieser
sensationellen Wendung durch die Zeitungen. Sie mußte in der Villa Anna
zunächst geradezu erschütternd wirken. Dann konnte Frau Anna endlich sich
soweit fassen, daß sie für die Mängel der irdischen Richter, unter Hinweis auf
den Richter über den Sternen, erbaulich beschwichtigende Worte fand; daß sie
ferner von diesem Thema auf die so beklagenswert gewesenen Kinder Gebhardis
und auf das Wiederehrbarwerden des fo lange nur mit Verwünschungen aus¬
gesprochenen Namens derselben überlenkte; ja daß sie zu guterletzt sogar Elise
Gebhardi als diejenige bezeichnete, aus welche ebenso Frau Anna wie Kaspar Bene¬
dikt im Grunde bei der Wahl einer standesgemäßen Schwiegertochter hätte ver¬
fallen müssen, wären sie allwissender gewesen als die Richter des Unglücklichen.
Jedenfalls stand soviel fest: die letzten Flecken, die unter der wohlwollenden
Auffassung auch des alten Ehepaares von dem Bilde der vielgeprüften Braut
im Verschwinden gewesen waren, jetzt hatte» sie sich aufs vollständigste verflüch¬
tigt, und als die künftige Tochter den beiden Alten nnter die Augen trat, glaubte
selbst Kaspar Benedikt kaum Worte genng finden zu können, um sie nach Ge¬
bühr zu ehren und willkommen zu heißen. Man hatte zu dem festlichen Hoch¬
zeitsmahle noch keine Einladungen ergehen lassen, glücklicherweise, denn welche
ernsten Schatten blieben doch über diesem Bunde gelagert! Mutter Anna,
sagte Kaspar Benedikt denn auch, wie wäre es, wenn wir die jungen Leute
mit den neugierigen Gesichtern verschonten, die wir um sie zu versammeln be¬
absichtigt hatten? Sollte die Mustervilla nicht endlich einmal uns und den
lieben Unsern ganz allein gehören? Alle Achtung vor der Mustergiltigkeit dieses
Weltwunders, aber wenn eine junge Frau ins Haus kommt, muß sie ein
wenig nach Gefallen schalten und walten können. Morgen früh siehst du mich
in Hemdsärmeln einen Spielplatz abstecken.
Nur nicht in Hemdsärmeln, Kaspar Benedikt, lächelte Frau Anna.
Gut, in einer leinenen Jacke.
In deiner seidnen, Kaspar Benedikt.
Auch gut, aber mit der Schaufel in den Händen. Da werden lästige Be¬
wundrer unsers Eldorados schon hübsch draußen bleiben. Gute Freunde aber
werden umso lieber bei uns einsprechen.
Und so ist man der Villa Lans-M-eil denn in der That Herr geworden,
gleichviel auf welcher Sprosse der Leiter des Glücks sich dieser Sieg vollzog —
das einzige nämlich, worüber die Gatten nicht einig waren; denn mir graut
vor dem Abschätzen des Glücks, pflegte Kaspar Benedikt zu sagen, und säßen
wir in der Meinung der Leute auch auf der obersten Sprosse, wir brauchte»
mir der vielen Unglückliche» ringsum zu gedenken, um von allen jenen Sprossen
nichts wissen z» wolle».
Frau Anna hatte oft den Kopf zu solchen Freudedämpfern geschüttelt.
Am Tage nach der Hochzeit konnte sich nicht lassen, ihrem philosophischen Gatten
die Zumutung zu stellen, er möge seine Theorie von der untersten Sprosse
nunmehr endlich aufgeben.
Nein, Frau, gab er zur Antwort, bei dieser Theorie laß uns bis ans Ende
unsrer Tage bleiben, und wäre es auch nur, um nicht von Schwindelanfällen
behelligt zu werden.
Schwindelanfälle! Frau Anna machte ein besorgtes Gesicht. Aber Kaspar
Benedikt blickte so schwindelfrei und heiter, daß sie schon im nächsten Augen¬
blicke die Sache mutig vou einer andern Seite wieder aufnahm.
Also gut! Hier meine Hand, Alter, sagte sie, ich will nie wieder gegen
die unterste Sprosse Einspruch erheben. Eins wirst dn mir aber einräumen,
Kaspar Benedikt — angenommen, über Jahr und Tag kommt eine Zeit, wo
wir zwei alten Glückspilze Hand in Hand von früh bis spät in unserm Enkel¬
zimmer sitzen —
Gieb mir die Jacke und die Schaufel, sagte Kaspar Benedikt; zunächst soll
alle Welt erfahren, daß Villa Anna künftig ohne Kustoden fertig werden muß.
Wie die Schlingpflanzen mit farben¬
reichen Blüten im tropischen Urwalde üppig aufschießen, so entspringen aus dem
Chaos unsrer heutigen Philosophie wunderbare Sumpfgewächse, voll Saft und
Farbenschmelz, aber giftig und sinnbetäubend. Zu ihnen gehört auch eine vor kurzen:
erschienene „Philosophie der Erlösung."*) Man kann sich nicht ganz dem Zauber
entziehen, den ein eleganter Stil, eine selbstbewußte Sprache und ein brillantes
Feuerwerk von Zitaten aus den größten Geisteswcrken aller Jahrhunderte auf den
Leser ausübt. Man kann auch nicht leugnen, daß der Verfasser dieser Schrift sich
treu an die berühmtesten Muster unter den neuesten Philosophen und Professoren
der Philosophie angeschlossen hat. Ganz im Sinne der heutigen Ausleger Kants
hält er diesen für einen Idealisten, der die reale Welt nicht habe erklären können,
und das Ding an sich, welches Kant für unerklärbar gehalten habe, ist in völliger
Übereinstimmung mit den modernsten Heroen, wie Kuno Fischer, das hauptsächlichste
Objekt seiner Forschung gewesen.
Unsern berühmten Denkern muß das Herz im Leibe wackeln, wenn sie von
diesem rätselhaften Ding an sich, dessen Eigenschaften sie erst so nach und nach durch
strebsames Forschen zu enthüllen hofften, nun mit einemmale soviel unerwartete
Neuigkeiten klar und deutlich auseinandergesetzt finden. Der Verfasser hat mit
großer Mühe herausgebracht, daß „das Ding an sich Ausdehnung habe, die mit dem
Raum nicht identisch ist," daß „das Ding an sich Bewegung habe, die mit der
Zeit nicht identisch ist," daß „das Ding an sich eine bewegende, individuelle reine
Kraft" sei, in Übereinstimmung mit Schopenhauer: daß „das Ding an sich der
erkenntnislose Wille zum Leben" sei, und über Schopenhauer hinaus: daß „das
Ding an sich der individuelle Wille zum Leben sei, der ein einziges Produkt habe:
die Bewegung."
So großartige Fortschritte in der Enthüllung der schwierigsten Probleme der
Menscheuvernunft sind gewiß lange nicht gemacht worden, und der Segen
dieser wunderbaren Erkenntnis läßt denn auch nicht ans sich warten. Die Welt
wird durch diese Philosophie kurzerhand von allem Übel erlöst, und darum
nennt sie sich die Philosophie der Erlösung. Eine beneidenswerte Siegeszuversicht
begleitet den Verfasser, nachdem er alle Feinde, die er in die Flucht schlagen will,
aufgezählt hat. Die Gegner sind so ziemlich alle bestehenden theoretischen und
praktischen Autoritäten, als Wissenschaft in der bisherigen Form, Ästhetik,
Ethik, Staatsverfassung und Religion. Aber nachdem er sie mit Feldherrnblick
ins Auge gefaßt hat, leistet er folgenden eleganten Satz: „Alle diese Gegner sind
Riesen; einige derselben sind Jahrtausende alt, und ihre Kraft ist durch die Ge¬
wohnheit fast zur Allmacht gestiegen. Ich stehe noch allein da, aber hinter mir
steht die crlösungsbedürftigc Menschheit, die sich an mich klammern wird, und vor
mir liegt der helle flammende Osten der Zukunft. Ich blicke trunken in die
Morgenröte und in die ersten Strahlen des aufgehenden Gestirns einer neuen Zeit,
und mich erfüllt die Siegesgewißheit."
Die flammende Morgenröte erinnert ein wenig an die Blutfarbe, die Lassalle,
der vergötterte Heros des Verfassers, seinen Aussichten in die Zukunft verlieh,
wenn er im Geiste die Arbciterbataillone marschiren hörte, um alle Feinde ihres
Wohlseins zu erschlagen. An der Verherrlichung Lassalles, dieses „echten Deutschen
jüdischer Konfession," erkennt mau, daß der Verfasser auch ein Jude sein muß, obgleich
er mancherlei Lob auch von Christus zu sagen weiß. Jedenfalls ist es sehr vor-
sichtig von ihm gehandelt, beiß er vor der Schilderung von Lassalles Lebensbild,
welches er in rhetorischer Form den deutschen Arbeitern entwerfen will, erklärt,
daß der Privatcharakter desselben ihn nichts angehe; ob er lüderlich oder geldgierig,
oder ein Spieler, oder feig oder schlecht gewesen sei, das sei ganz einerlei; nur „wie
der Mann im Priestergewande der Wahrheit aussah, und wie er die heilige Flamme
der Wahrheit hütete," das allein sei interessant. Ans diese Weise kam er am leichtesten
über den Verdacht hinweg, den wir andern, nüchternen Beobachter nun einmal nicht
abweisen können, daß das letzte Motiv Lnssalles in allen Agitationen der reine
Egoismus gewesen sei. „Es giebt — sagt der Verfasser — zwei Arten von Bolks-
helden: Volkstribunen und Erlöser der Menschheit. Die einen wurzeln im Leben;
sie stehen mitten in der Menschheit und überragen ihre Nebenmänner um eine
volle Kopfeslänge; die andern schweben über der Menschheit. Jene suchen noch
etwas in der Welt, sie wollen die Befriedigung irgend einer Begierde; die letztern
dagegen sind völlig begierdclos; sie haben abgeschlossen mit dem Leben und wollen
die Welt garnicht mehr." Zu der ersten Art der Volkstribunen rechnet er Moses
und Lassalle, die beide neben dein Interesse des Volkes auch ihr weltliches Interesse
wahrnahmen. Zu der zweiten Art gehören nur zwei, Buddha und Christus, deren
Lehren er durchaus nicht von einander unterscheiden kann. Davon, daß die Er¬
lösung im christliche» Sinne zur Seligkeit und zum ewigen Leben etwas andres
ist als die Erlösung zum Nirwana, zum absoluten Nichts, zum Aufhören des
Lebens, hat er keine Ahnung. Er hat vielmehr für die elende Menschheit, mit
der er das tiefste Mitleid in wiederholten Pathetischen Phrasen empfindet, ganz
originelle, über das Christentum weit hinausgehende Erlösungspläne, die freilich
zum Teil bereits in den Sitten des Orients und des Buddhismus angedeutet sind,
nämlich Gemeinschaft des Eigentums und Gemeinschaft der Weiber. Wie seiner
weitumfassenden Gelehrsamkeit, deren er sich öfter rühmt, nichts entgangen ist, was
einen Einfluß auf unsre Kulturentwicklung gehabt hat, so hat er sich auch in das
Dogma der Dreieinigkeit nach der Formel des Athanasius vertieft und hat dieselbe
besser begriffen als irgend ein andrer je zuvor. Er hat hernusgerechnct, daß
Gott der Bater etwa dreitausend Jahre regiert hat bis zu Christi Geburt; dann
hat er aufgehört und das Reich dem Sohne überlassen, welcher nun anch bald
zweitausend Jahre regiert haben wird; dann kommt die Herrschaft des heiligen
Geistes, die nur etwa tausend Jahre dauern wird; endlich geht alles in Nirwana
über. Aber diese letzte Herrschaft wird sich durch ein ganz besondres Glück der
erlösten Menschheit auszeichnen, welches der Verfasser schon im voraus empfindet
und verkündet. Es wird die Sorge um das Eigentum, die nur so oft das Leben
verbittert, mit einemmale gründlich beseitigt werden, indem alles Eigentum dem
Staat übertragen wird, der jedem das wieder zukommen läßt, was er gewohnheits¬
mäßig bedarf, und es wird die Sorge um die Erziehung der Kinder und um die
Führung einer guten Ehe allen abgenommen werden, indem jeder soviel Weiber
nehmen und sich wieder von ihnen trennen kann, wie er will, und der Staat die
Erziehung aller Kinder übernimmt. Dadurch werden eine Menge Verbrechen, z. B.
alle gegen das Eigentum und die Heiligkeit der Ehe gerichteten, aufhören, und
die Gefängnisse werden zum großen Teil abgeschafft werden können.
Das einzige, was an diesem Vorschlage zur Erlösung der Menschheit von
allem Übel zu bedauern ist, ist der in der That bedeutende Aufwand von wissen¬
schaftlicher und poetischer Kraft, der darauf verwandt ist. Träte die Sache nicht
in so bestechenden Gewände auf, so würde es nicht der Mühe lohnen, ihrer über¬
haupt Erwähnung zu thun.
Der Glaube an den Mahdi oder Muhdi beruht
auf alten Überlieferungen, die zwar nicht klar und offen im „deutlichen Buche"
(d, h. dem Koran) zu lesen, wohl aber durch das sogenannte Abged daraus zu
gewinnen sind. Jeder Buchstabe des alten arabischen Alphabets, das mit den
Zeichen ^LKV anfängt, entspricht einer bestimmten Zahl, sodaß z, B. das Wort
bläun die Zahl 2463 bedeuten kann. Damit wird allerlei für die Zukunft heraus¬
gerechnet, wobei die Astrologie helfen muß. Nach den Regeln dieser Kunst giebt
es zwölf Gestirne für die Männer und zwölf für die Fromm. Will man die
Sterne wegen eines Menschen befragen, so muß man die Abgcdznhl seines Namens
und desjenigen seiner Mutter berechnen. Von dieser zieht man 1212 ab, und
bleibt dann als Rest 1, so ist das Sternbild des Betreffenden der Widder, sein
Planet der Mars und sein Temperament sanguinisch, bleibt 2, so ist sein Stern¬
bild der Stier, sein Planet die Venus, und sein Temperament phlegmatisch. Durch
die Kunst des Abged erfährt mau auch, ob ein Kranker sterben, ob ein Abwesender
zurückkehren, wie das nächste Jahr sich gestalten wird n. dergl. Daraus hat man
auch die Zukunft des Islam und der Welt herauskalkulirt — oder Wohl richtiger
aus alten Sagen und neueren Gebräuchen in die Zahlen hineingelegt. Der Islam
wird tausend, nicht tausende von Jahren ssl gli u Is. si ulul), nach andrer Meinung
nicht zwölf Jahrhunderte bestehen. Jetzt schreibt man 1300 nach der Flucht. Die
Welt muß also bald ein Ende nehmen, und die Zeichen davon mehren sich in der
That. Man hat Eisenbahnen, Telegraphen, Luftballons, und die Macht der
Franken sowie die Verbreitung fränkischer Sitte und Denkart greift alljährlich
weiter um sich. Bald wird es übel um die Menschen stehen, die Könige bekriegen
sich, es herrschen Unglaube, Zuchtlosigkeit und Teuerung. Die Horden des Königs
von Habesch steigen von ihren Bergen und erobern Ägypten und Arabien. Der
Padischa wird aus Stambul vertrieben und flieht nach dem Nillande. Dann tritt
der Mahdi auf, der beiläufig nach seiner Abgedzahl, 1253, bereits geboren wäre.
Er ist der Reneg des Koran, der Messias. Einer geringen Familie in Uemen,
also nicht im Sudan, entsprossen, erhebt er sich durch seine trefflichen Eigenschaften,
aber erst in seinem vierzigsten Lebensjahre, und gelangt binnen kurzem zur Herr¬
schaft über die ganze Welt. Unter seinem Regiment« versöhnen sich die Christen
und die Muslime, und alle Menschen teilen brüderlich kommunistisch ihre Habe
unter einander. Nach einiger Zeit aber erscheint ein Antichrist und bemüht sich,
Mißtrauen zu säen und Unfrieden zu stiften. Indes kommt Christus und tötet
den Bösewicht. Die Muslime sterben darauf allesamt durch die Pest und andre
Seuchen, und es bleibe» uur Christen übrig. Endlich aber sterben auch diese aus,
und es giebt keine Menschen mehr auf Erden. Wir bemerken noch, daß vor etwa
zwanzig Jahren zu Gau in Oberägypten in der Person eines gewissen Hag Thejib
ein falscher Mahdi auftrat, der viel Anhang fand und nahe daran war, das ganze
Land in Aufruhr zu versetzen, nach einigen Monaten aber gefangen genommen
und hingerichtet wurde, während man zu gleicher Zeit die Ortschaft, wo er sich
aufgehalten hatte, dem Erdboden gleich machte.
Zur gefälligen Beachtung. Um die neue Novell« mit dem ersten Hefte des neuen (Quartals (Heft ^) beginnen
zu können, werden die beiden nächsten Hefte (52. und iz.) ausnahmsweise ohne erzäh¬
lende Beigabe sein.
«zcum ein Mann, der sich lediglich durch seine persönlichen Eigen¬
schaften eine Stellung erworben hat, kraft deren er lauge Zeit
hindurch Einfluß auf die Geschicke unsers Vaterlandes geübt,
plötzlich noch in kräftigem Mannesalter aus dem Leben scheidet,
so muß das auf jeden, der ihn gekannt, einen ernsten Eindruck
machen. Dieses Gefühl wird bei der unerwarteten Nachricht von dem Tode
Eduard Lasters vielleicht auch diejenigen ergriffen haben, welche während seines
Lebens nicht zu seinen unbedingten Bewunderern gehörten. Wer öffentlich gewirkt
hat, fällt mit seinem Tode der Geschichte anheim. Das of morwis M visi
tems mag noch für die Bestattungsreden gelten. Von da ab hat die Geschichte
die Aufgabe, ein in jeder Beziehung gerechtes Urteil über ihn zu fällen.
Unzweifelhaft war Laster mit großer Wärme deutsch-patriotisch gesinnt.
Nicht in Widerspruch treten wir damit, wenn wir sagen, daß Laster ein Jude
war, ein Jude nicht allein nach seiner Geburt und seiner äußern Erscheinung,
sondern auch seinem ganzen Wesen nach. Es sind viele deutsche Juden patriotisch
gesinnt, da sie in Deutschland, wo es ihrem Stamme besser ergeht als irgendwo
in der Welt, sich wohl und heimisch fühlen. Laster war ein wohldenkender,
in seiner Art liebenswürdiger Jude. Von den Eigenschaften, die man meist
den Juden beimißt, nehmen wir nur eine bei ihm aus: er war frei von
niedrigem Eigennutz. Es hat unsers Wissens nie verlautet, daß er seine Stellung
in dieser Richtung mißbraucht hätte. Er lebte in bescheidnen Verhältnissen.
Er übte seine Ncchtsanwaltschast, durch die er bei seiner Redebegabuug
Hunderttausende hätte verdienen können, nicht aus, um nicht dadurch Kollisionen
mit seiner öffentlichen Thätigkeit herbeizuführen. Im übrigen besaß Laster ganz
die Eigentümlichkeiten seines Stammes. Vor allem die guten. Er war
mäßig. Nie sah man ihn auf der Fraktionskneipe. Er rauchte auch nicht und
war stets bemüht, das übertriebene Rauchen in den Fraktionsversammlungen
zu beschränke». Er war über die Maßen fleißig und betriebsam. Er hatte stets
alles gelesen und studirt. Er fehlte nie in einer Sitzung, weder des Plenums,
uoch der Fraktion oder einer Kommission. Er war stets auf seinem Platze und
lieh der Sache unausgesetzt sein Ohr. So stand er gewissermaßen auf der
Warte der Partei, stets auslugeud, ob nicht Veranlassung gegeben sei, in die
Verhandlung einzugreifen. Er war längere Zeit hindurch der häufigste Redner.
Kam es zur Abstimmung, so gab er durch sein Aufstehen oder Sitzenbleiben
den Unschlüssigen der Fraktion das Zeichen, wie sie stimmen sollten. Neben
diesen vorzüglichen Eigenschaften besaß er aber auch die Schwächen, die mau
gewöhnlich mit dem jüdischen Naturell verbunden findet.
Fragen wir, wodurch Laster seinen bedeutenden Einfluß gewonnen und
lange Zeit hindurch bewahrt habe, so war es, neben den bereits hervorgehobnen
Eigenschaften, vor allem eine außerordentliche Beweglichkeit des Geistes, die
ihm zu Gebote stand. Laster war weder ein tiefer Denker, noch ein bedeutender
Jurist. Er nahm auch garnicht in Anspruch, die Gedanken, die er vertrat,
durchweg selbst zu erzeugen. Er hörte gern andre und assimilirte sich deren
Gedanken. Seine Kunst bestand in der unglaublichen Geschicklichkeit, jeden
Gedanken sofort in Worte einzukleiden und mit großer dialektischer Schürfe zu
vertreten. Seine Begabung zur Improvisation war so groß, daß meist seine
Repliken uoch besser ausfielen als seine ersten Augriffsreden.
Kam eine wichtige Frage zuerst in der Fraktion zur Beratung, so trat in
der Regel Laster als erster Redner auf und sprach mit der größten Ent¬
schiedenheit seine Ansicht aus. Damit war die Fraktion präokkupirt. Es gab
ja oft manche darin, welche gegen die Ansicht Lasters Bedenken hegten. Aber
wer vermochte mit gleicher Entschiedenheit wie er aufzutreten? Wer konnte es
an Sprachgewandtheit mit ihm aufnehmen? Wagte jemand einen Widerspruch,
so wurde er mit einer Flut dialektischer Wendungen überschüttet, gegen welche
nicht auszukommen war. Es ist ja Wohl zu vermuten, daß Laster bei solchem
Auftreten meist schon im voraus mit den übrigen leitenden Persönlichkeiten der
Fraktion ins Einvernehmen getreten war. Der äußern Erscheinung nach aber
war es oft wunderlich, daß diese, denen man doch in erster Linie die Leitung
beimaß, sie thatsächlich Laster überließen. Mit der Fraktion, die er hinter sich
Herzog, leitete er dann aber auch das ganze Parlament.
Unbestreitbar hat Laster im Laufe seiner parlamentarischen Thätigkeit sich
Verdienste erworben. Es war schon von großem Wert, daß er bei dem Schei¬
dungsprozeß, der im Herbste des Jahres 1866 zwischen Fortschritt und National¬
liberalen sich vollzog, auf die Seite der letztern trat und seine bedeutende
Kraft in den Dienst einer Partei stellte, die um der nationalen Sache willen
jede prinzipielle Opposition gegen Herrn von Bismarck aufgab und noch Ver-
ständigung und ihm suchte. Er hat in diesem Sinne lange Jahre hindurch im
großen Ganzen wohlthätig gewirkt. Er hat namentlich keine Scheu getragen,
mit der Schärfe seiner Zunge auch seine frühern Freunde, die Fortschritts¬
männer, in ihrer hohlen Priuzipienreitcrei zu geißeln. Ihnen gegenüber war er
namentlich bemüht, die Bundesverfassung zum endgiltigen Abschluß zu bringen.
Als der Abgeordnete Virchow im November 1869 seinen vielgenannten Antrag
auf „Abrüstung" stellte, war es Laster, der in vortrefflicher Rede ihm entgegen¬
trat. Auch bei der deutschen Gewerbeordnung und dem Strafgesetzbuch entfaltete
Laster die eifrigste Thätigkeit und hat in vielen Beziehungen Nützliches geschaffen.
Überhaupt müssen wir hervorheben, daß Laster nicht bloß, wie wohl andre
hochstehende Parlamentarier, für große Fragen Interesse hatte, sondern auch
dem, was man den kleinen Dienst bei der Gesetzgebung nennen kann, seine volle
Aufmerksamkeit widmete. Sein rastloser Fleiß und seine vorzügliche Gestaltungs¬
kraft setzten ihn dazu in den Stand.
Auf der Höhe seiner Wirksamkeit stand Laster, als er am 7. Februar 1873
im Abgeordnetenhaus« seine berühmte Rede gegen das Gründertum hielt, auf
die dann im Reichstage am 4. April 1873 seine große Rede über die not¬
wendige Reform des Akticnwesens folgte. Nicht ohne Grund hat man bemerkt,
daß mit diesen Reden Laster — freilich ohne es zu ahnen — den ersten An¬
stoß zu der rückläufigen Bewegung unsrer Wirtschaftspolitik gegeben habe. Und
jedenfalls ist es fast komisch, daß jetzt, wo die Reform des Aktienwesens endlich
in Angriff genommen werden soll, die Gesinnungsgenossen Lasters ihn gänzlich
verleugnen und von der Reform nichts wissen wollen. Wir glauben auch nicht,
daß Laster, wie man wohl behauptet hat, jene Schritte nur gethan habe, um
einen verhaßten politischen Gegner zu stürzen. Es war ihm aufrichtig um die
Sache zu thun. Hatte er doch schou vorher vergeblich versucht, den preußischen
Justizminister zu einem Einschreiten gegen den Unfug der Gründerei zu veran¬
lassen. Auch müssen wir noch hervorheben, daß damals bereits, und zwar so
viel wir wissen zu allererst, Laster den Gedanken aussprach, es sei eine Not¬
wendigkeit, daß das Eisenbahnwesen im Laufe der Zeit in die Hemd des Staates
übergehe. Ohne Zweifel hat er durch diese seiner Partei angewiesene Richtung
dazu beigetragen, daß die spätere Verstaatlichung der Eisenbahnen im Abge¬
ordnetenhause eine Mehrheit fand.
Aber schon damals war die Wirksamkeit Lasters auch nicht ohne Fehler.
Hatte Virchow im Herbst 1869 einen thörichten Antrag auf Abrüstung gestellt,
so stellte Laster im Frühjahr 1870 einen Antrag auf „Aufnahme Badens in
den norddeutschen Bund," einen Antrag, welcher kaum minder unzeitgemäß war,
den Kanzler in große Verlegenheit brachte und der Partei eine arge Schlappe
eintrug. Und ferner: wenn das Strafgesetzbuch zustande kam, so war es nicht
das Verdienst Lasters, da dieser dasselbe an der Frage der Todesstrafe scheitern
lassen wollte, auch die Mehrzahl seiner Partei, einschließlich sämtlicher Führer,
mit sich riß, sodaß das Werk nur durch wenige ihm abfallende Stimmen ge¬
rettet wurde. Hierbei, sowie noch bei manchen andern Gelegenheiten, zeigte sich
i» der Thätigkeit Lasters ein gewisser Idealismus, der ja persönlich liebens¬
würdig ist, sür den praktischen Staatsmann aber leicht verhängnisvoll werden
kann. Auch als im Laufe der weitern Jahre sich fühlbar machte, daß man in
der Gewerbeordnung und dem Strafgesetzbuch mit den freiheitlichen und Huma¬
nitären Grundsätzen etwas zu weit gegangen sei, und die Reichsregierung deshalb
neue Vorlagen machte, war es Laster, der vor allen diesen Vorlagen sich
widersetzte und ihren Erfolg auf das geringste Maß zurückführte. Damit schuf
er die Grundlagen des endlichen Umschwungs.
Dieser Umschwung in den Geschicken der Partei und zugleich die Wen¬
dung in der öffentlichen Stellung Lasters erfolgte mit Beginn des Jahres 1878.
Der Reichskanzler wollte, um die Partei enger an sich zu ketten, Herrn von
Bennigsen ein Ministerium übertragen. Dieser stellte die bekannten Bedingungen
des Miteintritts zweier weitem Parteimitglieder und gewisser „konstitutioneller
Garantien." Man hat wohl Vennigsen getadelt, daß er nicht unbedingt an¬
genommen habe. Sicherlich handelte er aber nicht auf eigne Hand; die von
ihm gestellten Bedingungen waren die nämlichen, welche ihm von den zunächst
hinter ihm Stehenden für ihre fernere Gefolgschaft gestellt waren. Es ist nicht
unwahrscheinlich, daß hierbei Laster, wenn er auch nicht zu denen gehörte, deren
Mitcintritt verlangt wurde, eine hervorragende Rolle gespielt habe. Die Partei
hatte — so war ungefähr die Anschauung — seit langen Jahren die seltene
Resignation geübt, daß sie die Regierung stützte, ohne in ihr vertreten zu sei».
Jetzt, wo endlich das Eis zu brechen schien, glaubte man, auch mit vollen An¬
sprüchen hervortreten zu dürfen. Waren erst drei Männer der Partei in der
Regierung, dann fand sich leicht das übrige. Die Fraktion selbst wurde in
solchen Dingen nicht gefragt. Sie wurde Wohl nachträglich zusammenberufen;
es wurde ihr einiges mitgeteilt und von ihr ein „billigender Fraktionsbeschluß"
extrahirt — eine leere Formalität. Der Reichskanzler ging auf die gestellten
Bedingungen nicht ein, wenn er auch anfangs die Sache dilatorisch behandelte.
Daraus erwuchs nun, wie dies in der Natur der Dinge liegt, eine gewisse Ver¬
stimmung, vielleicht auf beiden Seiten. Zunächst folgten im Februar 1878 die
Verhandlungen über das Tabakssteucrgesetz, bei welchen Fürst Bismarck zuerst
mit dem Gedanken des Tabaksmonopols hervortrat. Dabei wurde der früher
von den liberalen Parteien gestützte Minister Camphausen durch die Reden der
Abgeordneten Laster und Bamberger so zugerichtet, daß er seiue Entlassung
nahm. Und wenn Herr Camphausen, wie die Zeitungen berichtet haben, jüngst
bei der Leichenfeier Lasters sich beteiligte, so hat er damit jedenfalls dem Toten
mehr Pietät erwiesen, als sechs Jahre früher der Lebende ihm. Dann kam die
Verhandlung im Abgeordnetenhause vom März 1878, bei welcher Fürst Bis¬
marck mit der von ihm persönlich vertretenen, dringend geforderten Änderung
in der Zuständigkeit der preußischen Ministerien unter Führung der National-
liberalen, namentlich auch Lasters, angebrachtermaßen abgewiesen wurde. Dann
erfolgte das erste unglückselige Attentat, und nach ihm die erste Vorlage des
Sozialistengesetzes, Auch hier war Laster die Seele des Widerstandes, welchen
die nationalliberalc Partei entgegensetzte. Er fand, daß auch gegen die Sozia-
listen nur im Wege des „gemeinen Rechts" vorgeschritten werden dürfe, ein
Satz, welchen ein Berliner Rechtslehrer mit der Bemerkung kritisirte, daß mau
doch auch gegen den Koloradokäfer nicht im Wege des gemeinen Rechts vor¬
schreiten könne. Das Gesetz fiel. Das zweite Attentat erfolgte. Der Reichs¬
tag wurde aufgelöst, und dem neuberufenen das zweite Sozialistengesetz vor¬
gelegt. Nun beugte sich allerdings Laster den Thatsachen; er stimmte für das
Gesetz, Aber bereits bei der ersten Frage der Verlängerung desselben, int
März 1880, ward Laster rückfällig. Er stimmte gegen die Verlängerung, diesmal
freilich von seinen Parteigenossen verlassen. Und auch jetzt wieder, wenn von
der abermaligen Verlängerung des fraglichen Gesetzes die Rede ist, spukt in den
liberalen Blättern jener Laskcrsche Satz, daß eine Rückkehr zum „gemeinen Rechte"
notwendig sei!
Seit dem Verlauf der Dinge des Jahres 1878 gab Fürst Bismarck bei
wiederholten Gelegenheiten kund, daß er Laster als denjenigen ansehe, „dessen
Thätigkeit mehr als die irgend eines andern Parlamentsgliedes ihm das Re¬
gieren erschwere." Im Jahre 1879 kam es zweimal zu sehr gereizten Aus¬
einandersetzungen zwischen beiden, zuerst bei der Vorlage, betreffend das Zensur-
recht des Reichstages über seine Mitglieder, sodann bei der ersten Beratung
des neuen Zolltarifs. Und ähnliche Vorgänge wiederholten sich im Laufe der
weitern Jahre noch öfters.
Die Ereignisse der Jahre 1878 und 1879 waren nicht ohne tiefe Erschüt¬
terungen in dem Bestände der natioualliberaleu Partei vorübergegangen. Der
Zusammenbruch der Partei erfolgte durch die „Sezession." Schon vorher war
Laster aus der Fraktion ausgetreten. Jetzt trat er zu den Sezessionisten über
und bekannte sich damit offen zur Opposition. Gleichwohl stand Laster den
sozialpolitischen Plänen des Fürsten Bismarck weniger schroff gegenüber als
wohl die meisten seiner Parteigenossen. Sein idealer Sinn war nicht unzu¬
gänglich für den Wert dieser Pläne. Er hat namentlich noch getreulich mit¬
gewirkt für das Zustandekommen des Krankenversicherungsgesetzes.
Im Jahre 1880 war Laster in seinem Wahlbezirk sür das Abgeordneten¬
haus nicht wiedergewählt worden. Er hatte auch keinen andern Bezirk für sich
zu gewinnen vermocht. Zum erstenmale seit langen Jahren war das Ab¬
geordnetenhaus ohne Laster, was man sich früher kaum hatte denken können.
Ohne Zweifel fühlte Laster dies als eine tiefe Kränkung, Noch etwas andres
mußte ihn schmerzlich ergreifen. Es begann die antisemitische Bewegung. Der
darin liegende Gegensatz zu einer noch nicht fernen Vergangenheit tritt vielleicht
am schärfsten hervor, wenn wir uns folgenden Vorgangs erinnern, bei welchem
ebenfalls Laster die Hauptrolle spielte. Im Mai 1878 hatte die Reichsregierung
dem Reichstage einen mit Rumänien abgeschlossenen Handelsvertrag vorgelegt.
Nach diesem Vertrage sollten die Deutschen in Rumänien „für ihre Person und
ihr Vermögen denselben Schutz und dieselbe Sicherheit genießen wie die In¬
länder." Nun ist Rumänien ein Land, welches unter seiner Bevölkerung 7^/z Pro¬
zent (nach einer neuern Nachricht sogar 13 Prozent) Juden besitzt und von
diesen fast aufgefressen wird. Man konnte es deswegen den Rumänen wohl
kaum verargen, daß sie diesen Teil ihrer Bevölkerung noch nicht emanzipirt,
vielmehr manchen Rechtsbeschränkungen unterworfen hatten. Die obengedachte
Klausel des Vertrags würde hiernach die Folge gehabt haben, daß auch die
deutschen Juden in Rumänien nicht die vollen Rechte der übrigen deutschen
Staatsbürger erlangt hätten. Da trat Laster gegen diesen Vertrag auf und
erklärte es für unwürdig, daß Deutschland einen solchen Vertrag abschließe.
Und in der That setzte er es durch, daß der Vertrag an eine Kommission ver¬
wiesen und dort begraben wurde. Deutschland verzichtete noch jahrelang auf
alle die Vorteile, die seinen Angehörigen aus dem Vertrage erwachsen wären,
weil seine Juden nach den rumänischen Gesetzen dieser Vorteile nicht in vollem
Maße teilhaftig geworden sein würden. In der That ein großer Edelmut! Erst
im Jahre 1881 wurde der Vertrag von neuem dem Reichstage vorgelegt, und
nun konnte Laster konstatiren, daß der Abschließung desselben nichts mehr im
Wege stehe, da inzwischen der europäische Areopag, der 1878 in Berlin getagt,
die Rumänen verurteilt hatte, ihre Juden zu emanzipiren. Die Übertreibung,
mit welcher bei dieser und andern Gelegenheiten die Ansprüche der Juden in
Deutschland auftraten, mußten naturgemäß im deutschen Volke endlich zu einer
Reaktion führen, welche in der antisemitischen Bewegung sich Luft machte. Aber
gerade Laster in seiner ideal angelegten Natur wird diese Reaktion besonders
schwer empfunden haben. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß er in den
letzten Jahren weit seltener als Redner auftrat.
Die Gesundheit Lasters war nicht die festeste. Er war schon im Jahre
1875 in eine schwere Krankheit verfallen, die ihn fast ein Halbjahr hindurch
von den Geschäften fernhielt. Er schien sich indessen völlig davon erholt zu
haben. „Um neue Eindrücke zu gewinnen," unternahm er eine Reise nach
Amerika. Ob die große kontinentale Tour, der er sich dort anschloß, für seinen
Gesundheitszustand förderlich war, läßt sich wohl fragen. Nach deren Vollen¬
dung, kurz vor seiner geplanten Rückkehr, ereilte ihn ein jäher Tod.
Wer das Leben Lasters im ganzen betrachtet, wird sich eines gewissen
tragischen Eindrucks kaum erwehren können. Freilich war es kein einzelnes
tragisches Moment, welches die Peripetie in diesem Leben gebildet hätte. Laster
ist im Gange seiner Wirksamkeit ziemlich derselbe geblieben. Aber der natürliche
Lauf der Dinge steigerte anfangs seine Bedeutung bis zu einer gewissen Höhe,
und ließ sie dann wieder sinken. Ihn selbst trifft dabei kaum eine andre Schuld
als die, daß er dem Laufe der Dinge nicht richtig zu folgen vermochte, und
daß er vielleicht auch in der Periode seines Steigens zuviel an Selbstvertrauen ge¬
wonnen hatte. Seine Verdienste um das Emporkommen der nationalliberalcn Partei
und um alles Gute, was aus dieser Partei hervorgegangen ist, haben wir oben
anerkannt. Aber wir dürfen auch nicht verschweigen, daß er nicht minder an
dem Niedergange dieser Partei und der daraus hervorgegangnen Zerrüttung
unsrer gegenwärtigen parlamentarischen Verhältnisse einen wesentlichen Anteil
hat. Es ist undenkbar, daß Fürst Bismarck sich in so herben Äußerungen gegen
ihn ergangen hätte, wenn nicht bestimmte Thatsachen vorlagen, durch die er sich
dazu für berechtigt gehalten hätte.
Wenige Tage nach dem eingetretenen Todesfalle hat das amerikanische
Repräsentantenhaus beschlossen, dem deutschen Reichstage sein Bedauern über
das Ableben Lasters auszudrücken. Es hat diesen Beschluß seiner Regierung
mitgeteilt, und diese hat denselben durch den amerikanischen Gesandten an den
Reichskanzler zur Übermittlung an den Reichstag übersandt. Der Reichskanzler
hat diese Übermittlung abgelehnt, weil er sich das in dem Beschlusse aus¬
gesprochene Urteil über die Wirksamkeit Lasters nicht aneignen könne.
Es ist unzweifelhaft, daß ein Beschluß dieser Art außer aller parlamen¬
tarischen Üblichkeit liegt. Das richtige Gefühl für die Sachlage hatte sich das
Repräsentantenhaus allerdings insoweit bewahrt, daß es nicht etwa seinen Beschluß
demi deutschen Reichstage unmittelbar zusandte, daß es vielmehr für denselben
die Übermittlung von Negierung zu Regierung in Anspruch nahm. Denn
wohin sollte es wohl führen, wenn die Parlamente der verschiednen Staaten
sich untereinander bei dieser und jener Gelegenheit mit Beschlüssen begrüßten?
Aber selbst bei Wahrung dieser Form gelangt man unwillkürlich zu der Frage:
Wie kam denn überhaupt das Repräsentantenhaus dazu, einen Beschluß dieser
Art zu fassen? Ohne Zweifel lag die Veranlassung in dem Umstände, daß
Laster auf amerikanischem Boden gestorben war, und daß sein plötzlicher Tod
auch dort die Gemüter lebhaft erregt hatte. Indessen war in dem Beschlusse
selbst diese Veranlassung garnicht zum Ausdrucke gebracht. Statt dessen war
eine Charakterisirung der politischen Thätigkeit Lasters gegeben, welche nach
Lage der deutschen Verhältnisse eine gewisse Zweideutigkeit in sich trug. Es
war gesagt, daß seine feste und beständige Vertretung freier und liberaler Ideen
die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse Deutschlands wesentlich
gefördert habe. Was sollte damit gesagt sein? Galt dieses Lob dem frühern
Helfer des Reichskanzlers, oder galt es dem gegenwärtigen Gegner und
Oppositionsmanne? Wir halten es für höchst wahrscheinlich, daß die große
Mehrzahl des Repräsentantenhauses sich dieser Frage garnicht bewußt war. Man
kannte Laster als einen „hervorragenden Mann" und acceptirte ohne große
Überlegung die vielleicht von bewußter Seite vorgeschlagene Phrase seines
Lobes. Daß man unserm Reichskanzler, vor dem die praktischen Amerikaner
einen so ungeheuern Respekt haben — wir erinnern nur daran, daß schon
mehrere amerikanische Städte nach Bismarck genannt sind, aber noch keine nach
Laster —, daß man dem Reichskanzler, sagen wir, hier gelegentlich einen
Rippenstoß habe versetzen wollen, ist schwer zu denken. Und noch weniger zu
denken ist, daß die amerikanische Regierung sich zu einer Mitwirkung dabei
hätte bereit finden lassen. So aufgefaßt, ist die Kundgebung des Repräsen¬
tantenhauses eine völlig harmlose, konnte dann aber auch nicht von den Freunden
Lasters in ihrem Parteiinteresse verwertet werden.
Faßte man die Sache anders auf, nahm man an, das amerikanische Re¬
präsentantenhaus habe bei dieser Gelegenheit für Laster im Gegensatze zum
Fürsten Bismarck Partei ergreifen und letzterm die guten Eigenschaften und die
Bedeutung des Verstorbenen zu Gemüte führen wollen, dann mußte sich doch
bei jedem deutschen Manne in erster Linie die Frage regen: Was gehen denn
die Amerikaner unsre innern Parteistreitigkciten an? Mögen sie für Laster
oder für Bismarck, für Bebel oder für Windthorst Partei nehmen: sie haben
mit ihren Erklärungen zu Hause zu bleiben und nicht in unsre Verhältnisse
hineinzupfuschen!
Die deutsche liberale Presse zeigte aber hierfür wenig Empfindung — eine
Bestätigung des vom Reichskanzler mitunter ausgesprochenen Satzes, daß dem
Deutschen die Fraktionspolitik oft näher stehe als das Gefühl für das ganze
Vaterland. Den Freunden Lasters war jene Kundgebung in ihrer lobpreisenden
Fassung gerade Wasser auf ihre Mühle, und sie waren eben im Begriff, das
Klapperwerk gegen den Reichskanzler losgehen zu lassen. Da schnitt letzterer
ihnen durch seine ablehnende Erklärung diesen Zufluß ab. Darüber natürlich
großer Zorn. Wer aber die Sache sich recht überlegen will, wird finden,
daß auch in diesem Falle wiederum der Reichskanzler es gewesen ist, welcher
die Selbständigkeit und Würde Deutschlands dem Auslande gegenüber gebüh¬
rend gewahrt hat. Indem er seine Ablehnung nicht, wie ihm wohl zugestanden
hätte, formell, sondern materiell motivirte, ist er gegen die Amerikaner fehr
höflich verfahren. Immerhin liegt aber für das Repräsentantenhaus in diesem
Vorgange die Lehre, welche ein altes deutsches Sprüchwort giebt: „Was deines
Amts nicht ist, da laß deinen Fürwitz."*)
Parire den!
Warum denn nicht?
s bedarf keines Fechtmeisters von erstem Range, wie Mephisto-
pheles es ist, um diese Broschüre abzuwehren. Der jüngste Fuchs
reicht dazu vollständig aus. Der Leser möge Nachsicht haben,
wenn besagter Fuchs noch etwas „flachmeiert." Es kommt wirk¬
lich nicht darauf an, bei einem Gegner, der selber keinen scharfen
Hieb zu schlagen versteht.
Übrigens ist es gut, daß sie endlich da ist, die Broschüre. Sechs Wochen
vorher mindestens hat man gewußt, daß Drillingscier gelegt werden sollten.
Was sonst in der Natur Eier legt, begnügt sich mit ebensoviel Minuten, um
das große Werk geräuschvoll zu cmnoneiren. Sechs Wochen vorher war grau¬
samer Weise dem Staatssozialismus die Publikation seines Todesurteils in
sichere Aussicht gestellt. Nun kam der große Tag. Zagend macht man sich an
die Lektüre und — genießt am Schlüsse das angenehme Gefühl: Gottlob, das
lief noch gut ab. Also drei Abhandlungen auf einmal für eine deutsche Reichs¬
mark! Vielleicht eine Trilogie? Nicht ganz: sie packen denselben Gegenstand
von verschiedenen Seiten. Wenn man sie auch nacheinander liest, sollen sie doch
gleichzeitig wirken. Richard Wagner würde gesagt haben: es ist ein polyphoner
Satz, in dem jede Einzelstimme ihren individuell bestimmten Anteil am Gefühls¬
ausdrucke hat. Der Meister duldet polyphone Sätze bekanntlich nur da, wo
sich das Drama zum lyrischen Erguß zusammendrängt. Und lyrisch ist denn
auch der Charakter unsrer Broschüre. Sie betrifft die bösen, bösen Zeiten — oder
eigentlich auch nicht die bösen Zeiten. Die könnten ja wundernett sein, wenn
nur nicht diese bösen Störenfriede da wären und aus der Welt einen feurigen
Ofen machten. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß ich die Herren Ver¬
fasser mit den drei Männern im feurigen Ofen vergleichen will. Diese sangen
in ihrer brenzlichten Situation doch wenigstens ein neues Lied, aber was wir
in der Broschüre finden, das ist nichts als „die alte Weise wieder, die, fürcht'
ich, weder stimmt noch tönt." Eher könnte man, wenigstens von der die Me¬
lodie führenden Oberstimme, sagen: Jeremias läßt auf den Trümmern Jerusalems
Wieder einmal seinen nationalen Klageruf erschallen! Diesmal freilich — und
das ist das einzig Neue an ihm — mit einer Intensität, als käme es ihm
wirklich vom „Herzen"! Nach seinen Ausführungen ist nämlich dem Staats¬
sozialismus bereits so viel gelungen, insbesondre sind den Herren Geldwechslern
bereits die Fänge so wirksam beschnitten, daß man sich freudig staunend fragt:
Sollten wir wirklich schon so weit sein, in ein paar lumpigen Jahren schon
so Großes erreicht haben? Leider ist nur dem Handelsmanne gerade dann am
wenigsten Glanben zu schenken, wenn er über schlechte Zeiten klagt. Der Staats¬
sozialismus ist noch längst kein Heiland, der die Wechsler aus dem Tempel
werfen könnte. Aber er wird's vielleicht noch einmal, trotz des allgemeinen
Deutschen Geldsackvereins unter Herrn Broemcls Präsidium. Dieser ist die
Pointe der ganzen Broschüre. Alle drei Verfasser streben auf ihn hin, aber
Herrn Broemel ist die Aufgabe geworden, recht eigentlich dem großen praktisch-
politischen Plane die entsprechenden Worte zu verleihen. Leider hat diese Auf¬
gabe so sehr sein ganzes Denken in Beschlag genommen, daß alles übrige in
seiner langen Abhandlung steril ist wie ein Programm der Fortschrittspartei.
Kein lichtvoller Gedanke, leine pikante Auffassung, keine drastische Darstellung.
Das Ganze liest sich fast wie ein Wahlredenformnlar. Der Jdeengang ist un¬
gefähr folgender.
Der Staatssozialismus stelle die Lage der untern Klassen zu pessimistisch
dar. Sie sei nicht so schlimm. Die Statistik (das versteht sich, immer die
Statistik!) beweise, daß der Kapitalgewinn ab- und der Arbeitslohn zunehme.
Eine Kontrole des wirtschaftlichen Erwerbes durch den Staat sei darum nicht
notwendig. Der Staat kontrolire die Künstler nicht, wenn sie ihre Kunstwerke
schaffen (ja ja, das steht darin, S. 51!) also brauche er sich auch bei der
Füllung der Geldsücke nicht einzumischen. Die Staatssozialisten verursachten
nur aber in der wirtschaftlichen Entwicklung eine enorme Störung. Niemand
könne mehr einen Rebbes machen. Und ihr Einfluß würde bereits so stark,
daß die Herren Manchestermänner im Reichstage vollständig brachgelegt wären-
Die besten legislatorischen Absichten, die sie fürs Volkswohl Hütten, würden
ihnen durchkreuzt. Sie säßen da „mit's Talent" und könntens nicht verwerten.
Man dürfe aber ganz sicher sein, daß alle Wohlthaten, die die Regierung dem
Volke erweisen wolle, von ihnen weit überboten worden wären, wenn man ihnen
nach 1876 weiter freie Hand gelassen hätte. So wie die Sachen jetzt stünden,
bliebe nichts übrig, als sich in Defensive zu halten. Und zu diesem Zwecke
wird dann schließlich der indolente deutsche Philister energisch aus seiner Lethargie
aufgerüttelt, und aufgefordert, sich baldmöglichst zu einem Vereine, der die „private
Erwerbsthätigkeit" verteidigen soll, zusammenzuthun. Die verschiedenartigsten
Parteinüanecn könnten sich in diesem Verein zusammenfinden, sogar der Kultur¬
kampf müsse hier aufhören. Mit Recht! Denn wenn irgend etwas, so ist der
Geldsack den Weg nach Canossa wert. Das Ganze soll wohl so eine Art
„Reichsverein" mumienhaften Angedenkens werden, wie wir ihn eine Zeit lang
in Bremen genossen haben, dirigirt von Tabak, Manchester und Langerweile.
Wie man sieht, bietet der Aufsatz des Neuen nicht gar viel. Das hindert
indes nicht, daß man einige wenige Ausführungen mit großer Ergötzung liest.
Ich übergehe die Stelle, in der die Statistik als Bundesgenossin herangezogen
wird. Verständigerweise bringt Herr Broemcl keine Zahlen. Gegen jemand,
der mir mit statistischen Ziffern kommt, habe ich immer dasselbe Gefühl wie
gegen meinen Tischnachbar, der mir Jagdgeschichten erzählen will. Ich sage
ihm dann gewöhnlich: „Bitte, wenden Sie sich an Ihren Nachbar auf der andern
Seite. Ich lüge selbst." Ganz in konventioneller Manier gehalten ist die Schil¬
derung, wie der Mensch es — durch Dampfmaschinen und Elektrizität natürlich —
bereits so herrlich weit gebracht habe, und das ohne den Racker von Staat!
Ein Optimismus wie bei Reuters klassischem Dorfschulmeister, der die Welt so
schön findet, daß er sie selbst nicht hätte besser machen können. Dann ist noch
die schon vorher angedeutete Stelle (S. 51), die ich wörtlich zitiren will, außer¬
ordentlich bezeichnend sür Manchester: „Wir haben gelernt, uns zu bescheiden den
großen Äußerungen menschlichen Kulturlebens gegenüber, als Religion, Sitte,
Wissenschaft, Kunst, Literatur. . . . Keiner Regierung kann heute der Gedanke
kommen, der Kunst ihre Richtung mittelst Gesetz und Verordnung vorzuschreiben
oder die Literatur eines Volks zu »verstaatlichen.«" Folglich — und nun
kommt der reizende Schluß — darf auch der Geldsack nicht verstaatlicht oder
vom Staat kontrolirt werden! Ist das nicht ungefähr, als ob sich ein eingekochter
Spitzbube über das Gericht beschwerte: „Alle ehrlichen Leute laufen doch frei
herum, und bloß ich soll brummen?" Wissenschaft, Kunst, Literatur und Geld¬
sack, das ist für diese Herren alles eins. Wirklich amüsirt hat mich schließlich
die Stelle, welche den Vorwurf der UnProduktivität von der Manchesterpartei
abwehrt (S. 72—74). Herr Broemel will das Is-isss? tairs nicht als laisse^
mcmrir verstanden haben. Für absolute Passivität des Staates ist er nicht. Im
Gegenteil hätten seine Leute, solange sie das Heft in der Hand gehabt, durch
Thaten bewiesen, daß sie für soziale Mißstände und wirtschaftliche Bedrängnisse
Wohl gesetzgeberische Arznei gewußt hätten. Als solche wird denn um die
Reichsgesetzgebung von 1867 bis 1876 hingestellt, mit ihrer Preßfreiheit, Gewerbe¬
freiheit, Freizügigkeit, den heillosen Genossenschaften u. f. w. Derartige Gesetze
nennt Herr Broemel Positives Eingreifen des Staates in die wirtschaftliche Ent¬
wicklung — ich nenne es positives Hinausgeworfenwcrden aus derselben. Was
aber für die Vergangenheit gelte, würde noch mehr für die Zukunft gegolten
haben, erklärt der Verfasser. Arbeiterfrage, Besteuerung, Zollpolitik und Ver¬
kehrswesen, alle hätten die schönsten Beförderungsmaßregeln von Manchester zu
erwarten gehabt. Jetzt natürlich sei alles Essig. Mir füllt dabei eine pracht¬
volle Geschichte aus den Fliegenden Blättern ein: Jtzig sieht auf einem Baume
einen Apfel, der schwer zu erlangen ist. „Ich geb' zehn Mark, wenn ich ihn
krieg" ruft er und klettert hinauf. Halb ist er oben. „Jetzt geb' ich nur noch
fünf!" Endlich braucht er nur noch die Hand auszustrecken: „Jetzt geb' ich
nischt mehr!" triumphirt der Treulose, In demselben Augenblicke bricht der Ast,
und Jtzig plumpst ohne Apfel auf die Erde herab. „Haißt e Voreiligkeit vom
Herrgott, meint er stöhnend, vielleicht hätt'ich doch gegeben!" Ja, unser Herr¬
gott ist leider zuweilen recht voreilig, das hat er „so an sich."
Herr Broemel sührt uns die Schlachtordnung vor, in welcher er seine
Truppen aufzustellen gedenkt. Herr or. Barth dagegen repräsentirt die kühne
Rekognvszirungspatrouille, die den Gegner scharf ins Auge faßt und seine
Schwächen ausforsche. Er giebt uns die charakteristischen Eigentümlichkeiten
des Staatssozialismus. Zunächst setzt er uns auseinander, wer die Vertreter
dieser Richtung seien, nämlich teils Philanthropen, teils Doktrinäre, teils Politiker,
die den Sozialismus als Mittel zum Machterwcrb benutzen. Dann schildert
er die Hilfstruppen des Feindes: 1. Schutzzöllner und Agrarier, die eigentlich
nur irrtümlicherweise in sein Lager geraten seien. Diese warnt er: der los¬
gelassene Sozialismus würde vor dem Grundeigentum nicht Halt machen. 2. Die
Arbeiter. Diese warnt er auch: der Staatssozialismus beabsichtige ihnen jede
Disposition über ihre Einkünfte zu nehmen und sie völlig zu Unfreien, sslsoas
-Mserixtis, zu machen. Endlich hebt er als hervorragende Eigentümlichkeit des
Sozialismus seinen Haß gegen den Handel hervor. Damit ist's „alle," ein
bißchen früh.
Es sind nicht eben viel Charakteristica, die uns mitgeteilt werden. Auch
dienen sie eigentlich kaum weiter zur Kennzeichnung, als wenn man von einen,
Menschen sagt: „Er hat die Nase mitten im Gesicht." Aber an und für sich
ist, was er sagt, klar, präzis und auch — oum g'i'Mo hö-Ah — zum großen
Teil richtig. Barth hat Esprit, ein in den Reihen Manchesters sonst un¬
bekannter Artikel, und er wird recht gut wissen, wie seine beiden Broschüren-
kollegcn in der Beziehung allerliebst Folie zu ihm bilden. Man verzeihe, wenn
ich für meinen engern Landsmann über Gebühr schwärmen sollte. Wir Bremer
sind allerdings fabelhafte Lokalpatrioten. Ich kenne Barth als Idealisten von
jeher. Er ist vom Semitismus irregeführt, wie wir es alle wurden, und jetzt
zu stolz, die einmal erfaßte Meinung zu ändern. Aber „diesen Butter geb' ich
noch nicht auf."
Gleich die Formel, in der er die wissenschaftliche Begründung des Staats¬
sozialismus zusammenfaßt: „Hervorrufen eines Maximums wirtschaftlicher
Wirkung mit einem Minimum von wirtschaftlicher Kraft" ist freilich nicht tief
gehend und nicht allumfassend, aber sie ist drastisch und größtenteils richtig.
Diese Formel liege der Verstaatlichungspolitik des Staatssozialismus zu Grunde.
Was nun diese betrifft, so leugnet er in seinen Deduktionen durchaus nicht,
daß das Zusammenfassen wirtschaftlicher Kräfte in einer mächtigen Hand die
Leistungsfähigkeit erhöhen könnte. Er meint nur, es gebe sehr bald eine Grenze,
um der die Zentralisation wegen eintretender Unübersichtlichkeit zu größerer
UnWirtschaftlichkeit führe. Eine konsequent durchgeführte Verstaatlichung in
allen Erwerbszweigen müsse wirtschaftlichen Schiffbruch leiden, weil die mensch¬
lichen Kräfte sich auf die Dauer nicht anspannen ließen ohne die Triebfeder
des Egoismus. Das wolle der Staatssozialismus auch garnicht, er suche sich
vielmehr die zur Verstaatlichung geeigneten Erwerbszweige aus. Logisch sei das
freilich nicht, denn aus demselben Grunde, wie ein Erwerbszweig verstaatlicht
würde, müßten es much alle andern werden. Aber die praktische Welt baue
sich auch nicht allein ans der Logik auf.
Ja, in diesen Ausführungen ist kein Wort, das man nicht gern unter¬
schriebe. Der Staatssozialismus ist zur Zeit wirklich weiter nichts — und
zwar nicht allein in seinen Verstaatlichungsideeu. sondern auch in seinen
Kontrolemaßregeln —, als eine Politik von Fall zu Fall. Man lese die
Schriften seiner Koryphäen und überzeuge sich, mit welcher ängstlichen Vorsicht
nur sie sich entschließen, Schritt vor Schritt weiter zu gehen. Verstaatlichung
aller Gewerbe und Kollektiveigentum mögen höchstens in dem Sinne Ideale des
Staatssozialismus sein, wie die Durchführung des Prinzips allgemeiner Brüder¬
lichkeit nnter den Menschen. In späterer Zeit soll auch einmal, wie unsre
Naturforscher sagen, die Sonne erlöschen. Aber wem fällt es ein, sich mit
derartigen fernliegenden Eventnalitüten zu befassen?
Der Fehler des Verfassers besteht darin, daß seine Darstellung Lücken hat.
Das Ziel, dem der Staatssozialismus zur Zeit nachstrebt, ist weniger eine
Verstaatlichung, als eine Kontrole des Erwerbes. Es handelt sich in erster
Linie darum, die Konkurrenzanarchie zu beseitigen oder zu mildern. Diese
Richtung des Staatssozialismus erwähnt Barth nirgends, obwohl sie eigentlich
allein für die Gegenwart von Interesse ist. Denn eine allgemeine Verstaat¬
lichung des Eigentums ist zur Zeit nichts als ein Hirngespinnst, eine qMsstio
A<M6inicÄ ohne praktischen Wert.
Aus den übrigen Ausführungen Barths möchte ich noch den interessanten
Abschnitt, der die Stellung des Staatssozialismus zum Handel bespricht, hervor¬
heben. Barth zeigt hier auch hübsche historische Kenntnisse und legt endlich den
wahren Grund des Abfalls der Niederlande von Spanien bloß. Dieser soll
nämlich die „Alkavala" sein, eine von Albci auferlegte ziemlich hohe Umsatzsteuer.
Wenns ihm nur die Holländer nicht übel nehmen! Übrigens geht er zu weit, wenn
er sagt, der Staatssozialismus sei ein Feind jedes Handels. Der wirtschaftlich
berechtigte Handel, welcher Produzent und Konsument zusammenführt, wird wahr¬
lich von uns nicht verachtet, fondern nur der, der sich unnötigerweise zwischen
beide schiebt. Zum Schluß danke ich dem Verfasser für sein offnes Anerkenntnis,
daß die Jugend Deutschlands bereits größtenteils staatssozialistisch sei. Ein
Geschichtskenner wie Barth weiß, daß die großen Jdeenumwälznngen im Kultur¬
leben stets von der Jugend getragen werden. Instinkt und Divination ersetzen
bei ihr die Verstandesthätigkeit, zu der uns Ältere die Erfahrung anleitet. Und
nur das Unbewußte siegt, im Leben wie in der Kunst.
In einem erstaunlichen Kontrast zu dem präzisen Stile Barths und den
freilich oberflächlichen, aber von seinem Standpunkte aus nicht unverständigen
Ausführungen Broemels steht nun die erste Abhandlung. Sie ist schwer wieder¬
zugeben wegen ihres ganz molluskenhaften Charakters. Ein Thema hat sie
nicht, wenigstens ist die Überschrift: „Invasion des Staatssozialismus" kein
Thema, sondern nur eine Phrase. Gedankengänge kennt sie auch nicht. Man
ist zu Anfang gerade so weit wie am Schluß, und dreht sich in einem Zirkel
trotz der vier Kapitel, in die sie eingeteilt ist. Man könnte sie eine Ouvertüre
nennen, in welche die Leitmotive des Dramas durch- und übereinander gebrockt
sind. Die Tonart ist ein sehr entschiedenes Moll. Der Inhalt wimmelt von
Vorwürfen gegen die Feinde, den Staat, die eignen Anhänger, von Zetergeschrei
über alles, was schon ruinirt sei, von Beschwörungen, man möge doch um
Gotteswillen Frieden halten, sonst ginge alles zu Grunde, von Insinuationen
und Verdächtigungen; ja selbst Beleidigungen fehlen nicht. Ich muß darauf
verzichten, die zahlreichen logischen Kraftleistungen der Schrift hier einzeln zu
würdigen. Hochergötzlich ist, wie Bamberger den Staatssozialismus im einzelnen
charakterisirt. Kapitalistisch heiße bei ihm soviel wie sündhaft. Bei den Debatten
über Besteuerung des Kapitals frage man immer nur: Wie faßt man den
Dieb? Die Gegenpartei bestehe aus Raubrittern, die „Pfeffersäcke niederwerfen"
wollen. Der Staatssozialist erkenne im Diesseits nichts als die Materie an,
das geistige Element verlege er ins Jenseits. Human sei er nur gegen Kaninchen,
die vivisezirt werden sollten, Menschen gönne er die Prügelstrafe. Wer sich
nicht für Hauen und Köpfen begeistere, gelte für schwächlich n. s. w. Man
sieht, es ist Stimmung in dieser Schilderung. Humanität ist das dritte Wort.
Und vom Standpunkt der Humanität aus erschallen denn auch sicherlich
die wohlgemeinten Warnrufe an das deutsche Volk, daß sein ganzes bißchen
Hab und Gut jetzt aus dem Spiele stehe, wenn es nicht umkehre in das gelobte
Land Manchester.
Nun, mit solchen Warnrufen ist es eine eigne Sache. Manchmal hofft
der Warner von seiner Warnung mehr für sich als für den Gewarnten. Um
irgend ein hier gar nicht hergehöriges Beispiel zu nehmen: Niemand warnt
seine Opfer mehr vor Leichtsinn und Verschwendung als der Wucherer, und
niemand sucht eifriger vom Hasardspiel abzuraten als der glückliche Spieler,
der kalte Füße bekommen hat. Von so etwas kann hier natürlich nicht die Rede
sein. Herrn Bambergers Warnungen sind ja von der Humanität diktirt! Und
materiell mag er Recht haben. Es wird eine bittere und langwierige Kur
werden, der sich unser Volk unterziehen muß. Garnicht unmöglich, daß, wie
Herr Bamberger S. 16 in Aussicht stellt, das angegriffene Kapital ganz flüchtet
aus dem Bereiche einer so unangenehmen Gesetzgebung. Darüber wäre nun
Vielleicht noch hinwegzukommen, aber wenn dann auch diejenige sxseiös ßsneris
IwmMi mitflüchten sollte, die jetzt das Kapital ungefähr allein in den Händen
hat, dann wäre es aus mit Deutschland. Von einem solchen Verluste würden
wir uns allerdings nie wieder erholen.
s ist bezeichnend für die heute über den Begriff „Strafe" herr¬
schenden Anschauungen, daß ein Verfechter der Ansicht, daß un¬
verbesserliche Verbrecher und überhaupt solche Delinquenten, welche
der Gesellschaft zur Plage werden, lebenslang einzusperren und
angemessen zu beschäftigen seien, diese seine Ansicht mit den Worten
begleitet, er sei sich „vollkommen bewußt, daß ihn von gewissen Seiten der
Tadel der Grausamkeit oder wenigstens der Inhumanität treffen" werde. (Vgl.
Ur. 43 des Jahrgangs 1883 dieser Zeitschrift.)
Diese „gewissen Seiten" sind leider nicht nur eine geringe Zahl besonders
empfindsam angelegter Laien, sondern auch eine nicht unbeträchtliche Zahl Sach¬
verständiger. Insbesondre begegnet jedes Wort, womit eine Lanze sür schärfere
Handhabung derjenigen Mittel gebrochen wird, welche dem Staate zur Aufrecht¬
erhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gegeben sind, in den Kreisen,
die sich um die Banner der liberalen Presse scharen, teils heftiger Opposition,
teils mitleidigem oder höhnischem Lächeln. Diese Thatsache, von deren Vor¬
handensein sich jeder leicht überzeugen kann, der in größerem Kreise obige An¬
sicht versieht, muß umsomehr auffallen, als man unsrer Zeit, in der die Sonder-
intcressen so rückhaltlos einander bekämpfen und der Einzelne seine Ziele oft in
so brutaler Weise verfolgt, nicht gerade das Zeugnis ausstellen kann, sie trage
den Stempel der christlichen Liebe. Wird einmal ein Wort laut, welches uur
einen annähernd inhumanen Beigeschmack hat, so brennt's an allen Ecken, und
in dem Lager, wo die wahre Humanität nie gekannt ist, am allermeisten.
Der Begriff „Humanität" ist in unsrer Zeit zu einem wahren Übel ge¬
worden. In den meisten Fällen wird er von Leuten im Munde geführt, die,
ohne sich über den Begriff im klaren zu sein, darthun wollen, daß sie jeder
Härte und Grausamkeit der guten alten Zeit abhold sind und den Übelthäter
nur durch Belehrung und Güte auf den Pfad der Tugend zurückführen wollen —
sofern er nur ihnen selbst nichts zu Leide gethan hat; denn das ist der wunde
Punkt. Die eifrigen Humanitätsverfechter sind zugleich eifrige Verfechter des Grund¬
satzes UM no tÄNAörs! Ist einem der Schönredner nur der geringste Schaden
zugefügt worden, dann wird Polizei, Staatsanwaltschaft u. s. w. in Bewegung
gesetzt zur energischen Bestrafung des Missethäters; keine Strafe im Kodex ist
für den schweren Fall scharf genug. Ist dagegen einem Mitmenschen ein Leid
zugefügt worden, so wird zwar in dem bekannten Entrüstungston die That be¬
sprochen und verurteilt: nach kurzer Zeit aber ist die Entrüstung verflogen, die
„humane" Anschauung greift wieder Platz, und der Verbrecher wird entweder
für einen unzurechnungsfähigen oder doch für einen bemitleidenswerten, ver¬
irrten Menschen angesehen, dem janicht zu nahe getreten werden darf. Die
Sonderinteressen sind ja durch die That nicht berührt, und es macht den guten
Eindruck eines „gebildeten Mannes," sich über die „augenblickliche Leidenschaft"
zu stellen und eine „humane Denkart" an den Tag zu legen: man ist sür
möglichst „humane" Bestrafung des Übelthäters.
Was heißt nun eigentlich human im Strafen sein? Die Antwort hierauf
kaun doch mir lauten: so strafen, daß der Thäter in der Strafe ein Übel er¬
blickt, dabei aber unnötige Grausamkeit und Härte ferngehalten wird. Nun
kann aber jede Grausamkeit und Härte nicht ausgeschlossen werden, es ist das
mit menschlichen Mitteln nicht zu erreichen. Es wird z. B. nach allgemeinen
Begriffen immer eine grausame Handlung bleiben, einem Mörder das Todes¬
urteil vierundzwanzig Stunden vor der Hinrichtung zu verkünden, ihn also
stundenlang in eine furchtbare seelische Aufregung zu versetzen und dann unter
gewissen Zeremonien zu töten, auch wenn es kraft des Gesetzes geschieht. Ebenso
bleibt es eine Härte, daß eine arme Witwe, die, um sich und ihre Kinder vor Hunger
zu schütze», letztere, anstatt den richtigen Weg zur Armenbehörde einzuschlagen,
aus falscher Scham zum Vetteln ausschickt, deshalb mit Hast bestraft wird.
Aber diese Erkenntnis darf nicht dazu verleiten, Strafen festzusetzen, welche den
Übelthäter nicht empfindlich zu treffen imstande sind; für ihn muß die ausge¬
sprochene Strafe in jedem Falle ein Übel sein, ein Übel, das er nicht ans sich
geladen haben würde, wenn er nicht gefehlt hätte. Es darf daher die ausge¬
sprochene Strafe nichts andres als ein wirkliches Übel, jedenfalls aber keine
Wohlthat oder wenigstens kein Etwas sein, was dem Bestraften gleichgiltig ist;
dem: letzternfalls hat sie ihren Zweck gänzlich verfehlt.
Unsre Humanitätsbestrebungen haben uns glücklich dahin gebracht, daß in
vielen Fällen der Bestrafte die ihm auferlegte Strafe garnicht als solche em¬
pfindet, daß er vielmehr, sofern die Strafe in Freiheitsentziehung besteht, eine
Art Versorgung darin erblickt, sofern sie in Erlegung einer Geldsumme besteht,
gleichgiltig darüber Hinwegsicht. Man halte nicht ein, daß Fälle der ersten Art
vereinzelt dastehen. Abgesehen davon, daß leider nur zu häufig Verbrechen,
insbesondre Brandstiftung, Rückfallsdiebstahl :c., begangen werden in der Absicht,
im Zuchthause eingesperrt zu werden, spricht die erschreckend hohe Zahl der ge-
wohnheitsmäßigen Bettler und Landstreicher, die nach statistischen Erhebungen
die Höhe von etwa 200 000 in Deutschland erreicht hat, für unsre Ansicht. Wer
mit dieser Sorte von Menschen zu thun hat, wird bestätigen können, wie scharen¬
weise diese Schmarotzer der menschlichen Gesellschaft im Herbste der Polizei
geradezu in die Arme laufen, um im Korrektionshause Winterquartier zu er¬
langen. Kommt der Sommer, so suchen sie ebenso wieder aus diesen Anstalten
freigelassen zu werden, was, salls sie nicht nur überhaupt auf kurze Zeit ein¬
geliefert worden sind, sobald sie nur gute Führung gezeigt haben, verhältnis¬
mäßig leicht wird. Dann bevölkert sich Wald und Feld und bietet allen denen,
die gern „ein freies Leben" führen, gastlich Quartier. Im Spätherbst beginnt
die Misere von neuem.
Die Haftstrafe kann für diese unverbesserlichen Vagabunden, von denen
mancher hundert und mehr Strafen aufzuweisen hat, unmöglich ein wahres
Übel, also eine Strafe sein, sonst würde eine Wiederholung der Voraus¬
setzung dazu möglichst vermieden werden. Aber auch das Kontingent der rück¬
fälligen Verbrecher, sowie die erschreckend große Zahl derjenigen, welche immer
und immer wieder Bestrafungen wegen Sachbeschädigung, VerÜbung groben
Unfugs. Körperverletzung, Trunkenheit:c. auf sich laden, ohne sich in ihrem
rechtswidrigen Treiben stören zu lassen, erblickt in der ihnen auferlegten Strafe
kein Übel, oder wenigstens kein solches, welches ihnen im Vergleich zu ihrer
Lust am Bethätigen ihres bösen Willens oder der daraus zu erwartenden
Vorteile abschreckend erschiene. Die zur Zeit gebotenen Strafmittel sind meistens
zu schwachwirkend, um den rechtswidrigen Willen unter das Gesetz zu beugen:
sie sind zu „human" geworden.
Es ist wahrlich an der Zeit, hierin eine Änderung eintreten zu lassen,
denn die Humanität, welche in übertriebener Weise dem Delinquenten gegenüber
gezeigt wird, ist die krasseste Inhumanität allen denen gegenüber, welche darunter
zu dulden haben, d. h. den Staatsbürgern gegenüber, welche durch redliche Arbeit
die Kosten für die Unterhaltung jener Schmarotzer, sowie für die sich immer
wiederholenden Untersuchungen und Aburteilungen aufzubringen haben und
obendrein Schaden an Leib und Gut durch sie erleiden.
Damit soll nicht gesagt sein, daß es wünschenswert sei, zu mittelalterlicher
Strenge zurückzukehren. Ein solcher Rückschritt würde das Übel ebensowenig
heilen, wie unsre heutige Humanität. Der einzige Weg, auf dem dazu zu
gelangen ist, dem zu Bestrafenden ein wahres Übel mit der Strafe zuzufügen
und gleichwohl den Forderungen wahrer Humanität gerecht zu werden, ist der,
der strafenden Gewalt sowohl hinsichtlich der Strafarten wie der Strafhöhe
möglichst weiten Spielraum zu lasse».
Solange der Richter nur in engen Grenzen sich bewegen kann, ist er außer
Stande, die Strafe für den Delinquenten der Individualität desselben anzu¬
passen, und dies ist unbedingt ebenso nötig wie die Berücksichtigung der Um-
stände, welche den verbrecherischen Entschluß herbeigeführt haben, wenn der eigent¬
liche Zweck des Strafausspruches erreicht werden soll. Eine an sich gelinde Strafe
kann inhuman werden, wenn der Richter bei Fällung des Urteils zu sehr durch
ein festgesetztes Strafminimuin gebunden ist und nicht vermag, unter dasselbe
herunterzugehen, auch wenn er gegebenenfalls dasselbe noch für zu hart findet.
Andrerseits kaun der Richter den Übelthätern keine den Umständen angemessene
hohe oder harte Strafe aussprechen, wenn er durch ein gewisses Strafmaximnm
gehindert ist und dasselbe nicht überschreiten darf, auch wenn er es noch für
zu niedrig hält. Man denke an gewisse Geldstrafen, deren Höchstbetrng z. Z.
3000 Mark nicht übersteigt, während z. B. in Frankreich und England für ge¬
wisse Übertretungen (Annahme falscher Titel ze.), welche bei uns mit 160 Mark
oder entsprechender Haft bedroht sind, Geldstrafen im Betrage von Tausenden
zulässig sind. Unsre Richter haben eine so lange Vorschule durchzumachen, ehe
sie selbständig urteilen können, und sind dann einer so vielseitigen Kontrole
unterworfen, daß man schon erwarten kann, sie werden ein ihnen gebotenes wei¬
teres Ermessen in befriedigender Weise zu benutzen verstehen.
Eine andre Frage, bei der die Humanität eine große Rolle spielt, ist die
nach der Beschäftigung der Gefangenen. Unzweifelhaft ist eine geordnete Be¬
schäftigung das beste Mittel, aus dem Verbrecher wieder ein nützliches Mitglied
der menschlichen Gesellschaft zu machen. Es fragt sich nur, ob diese geordnete
Beschäftigung eine derartige sein darf, daß sie freien Menschen, die durch ehr¬
liche Arbeit sich und die Ihrigen zu erhalte» streben, schadet. Über die Kon¬
kurrenz der Zuchthausarbeit mit der freien ist schon genug gesprochen und ge¬
schrieben worden, eine Wiederholung würde überflüssig sein. Nur auf folgendes
soll hier aufmerksam gemacht werden. Es giebt eine große Zahl von Menschen,
die ihr Leben bei einer Arbeit verbringen müssen, welche ihre Lebenskraft nur
allzuschnell aufreibt; eine Menge Familienväter sind durch das Schicksal ge¬
zwungen, das tägliche Brot für die Ihrigen durch eine Arbeit zu schaffen, die
frühzeitigen Tod oder wenigstens Siechtum notwendig herbeiführen muß (Han¬
tiren mit giftigen Substanzen, Kloakenräumung :c.). Ihre Kräfte werden dadurch
umso früher aufgebraucht, als der kärgliche Verdienst nur für elende Nahrung,
Wohnung und Kleidung ausreicht. Abgesehen von der Freiheit, befinden sich diese
Menschen weit weniger wohl als ein im Zuchthause eingesperrter Verbrecher,
welcher immer nur eine seiner Körperkonstitution angepaßte Arbeit zu verrichten
hat, bei welcher Gesundheit und Leben nie Gefahr läuft, dessen Aufenthalt wohl-
ventilirt, dessen Kost kräftig ist, für den ärztliche Hilfe, geistlicher Zuspruch :c.
jederzeit bereit steht. Sollte hier uicht eine Änderung möglich sein? Was meint
die „Humanität" zu diesem Vergleiche? Die für Lebenszeit eingesperrten Ver¬
brecher wenigstens sollten doch zu Arbeiten verwendet werden, die einem freien
Manne, welcher zur Erhaltung und Unterstützung der Seinigen unentbehrlich,
dem Staate aber ein nützlicher Bürger ist, auf die Dauer die Arbeitskraft rauben.
Die Strafgefangenen sollen sich nicht „Wohlbefinden." sonst wäre es über¬
flüssig, ihnen das Übel einer Freiheitsstrafe zuzufügen. Andrerseits sollen aber
auch ehrliche freie Arbeiter nicht geschädigt werden dadurch, daß ihnen Straf-
arbeitcr den Verdienst schmälern und sie gezwungen sind, zu Beschäftigungen
ihre Zuflucht zu nehmen, bei denen sie zu Grunde gehen.
Man sieht: was heutzutage mit dem Namen „Humanität" im Strafrecht be¬
zeichnet wird, ist teils ein Mittel, durch welches der Egoismus mit einem schönen
Firnis überzogen werden soll, teils ein Mitleid, welches aus geistiger Kurz¬
sichtigkeit am unrechten Platze zum Ausdruck gelangt und daher nur schädlich
wirkt. Mitleid in diesem Sinne ist der Feind der wahren Humanität.
mer Bnchkritik stehen zwei Wege offen. Sie kann den Leser auf
die Lektüre des Werkes vorbereiten, ihn in Stimmung versetzen,
sein Urteil klären, sein ästhetisches Gewissen wachrufen, oder sie
kann ihm nachträglich zu Hilfe kommen, ihm die Orientirung
über das bereits Gelesene erleichtern, den konkreten Einzelfall an
der abstrakten Theorie messend, die Grundlagen zu einer sichern und bleibenden
Beurteilung errichten. Der Autor wird an beiden gleichviel auszusetzen haben;
er wird am ersten die Erweckung von Vorurteilen, am zweiten die Störung
des unbefangenen Genusses, die Beeinträchtigung der unmittelbaren und leben¬
digen Wirkung tadeln, die er zu beiderseitigen Gewinn auf das Publikum aus¬
zuüben strebt. Dem Kritiker ist es immer nur um eines zu thun: wie er dem
ästhetischen Ideal, dessen Anwalt er ist, und wie er dem Dichter, der dasselbe
in einer Nachbildung wirklichen Lebens in oonorsto darzustellen suchte, gleicher¬
maßen gerecht werden möge. Freilich, einem Autor gegenüber, dessen Bedeutung
anerkannt und dessen Talent ein ungewöhnlich hervorragendes ist, wird er sich
gern bescheiden, wird die Betonung allgemeiner Theoreme vor der Würdigung
des Individuellen, Gegebenen zurücktreten lassen, seine Kritik zu einer Ausdeutung
des vorliegenden Kunstwerks gestalten und dann erst untersuchen, ob das Ge¬
fundene sich vor den ewig giltigen Regeln poetischen Schaffens rechtfertigen
lasse. Darin liegt nicht eine indirekte Rücksichtslosigkeit gegen andre, jüngere
und kleinere Talente, sondern das ehrliche Geständnis, daß ein Meister poetischen
Schaffens jenen Regeln praktisch ans mannichfachere Weise und tiefsinniger gerecht
zu werden versteht, als der Kritiker theoretisch ermessen kann.
Spielhagcns neuer Roman soll sicherlich, nach seines Autors Forderung
in den „Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans," ein Abbild der
modernen Welt oder wenigstens eines abgeschlossenen Stückes derselben ent¬
halten, und dieser Inhalt erhebt den Anspruch, bedeutend zu sein. Nun
tritt wirklich in den gegenseitigen Bezügen der handelnden Personen, in ihren
Interessen, sowie in dem Inhalte der Handlung selbst übereinstimmend und vor¬
herrschend ein Motiv auf, zu dem nicht bloß jedermann im Roman bewußt oder
unbewußt Stellung nimmt, sondern das gerade die Charaktere, durch welche
die Handlung in Fluß kommt und Richtung wie Ziel erhält, vollständig aus¬
füllt und beherrscht. Es ist die Sorge um Stellung und Ansehen in der mensch¬
lichen Gesellschaft, das Streben, sich zur Geltung zu bringen und sich darin
zu behaupten. In der That ein ebenso bedeutendes, als in mehrfacher Hinsicht
modernes Motiv. Bedeutend, d. h. sowohl im Kreise individueller Empfindungen
und Strebungen als auch unter den Faktoren des allgemeinen Weltlaufs, von
hervorragendem Werte schon deshalb, weil es eine der Bedingungen enthält,
unter denen eine menschliche Gesellschaft im sozialen Sinne des Wortes möglich
ist; modern besonders im Zeitalter des Darwinismus, dessen Halbwahrheit von
dem Kampfe ums Dasein es von einer neuen und interessanten Seite beleuchtet.
Zudem in hohem Grade dankbar und ergiebig, weil es nicht nur die Entfaltung
individueller menschlicher Empfindungen und Leidenschaften in den Bestrebungen
aller gegen alle gestattet, sondern auch, im Kampfe des Einzelnen mit vielleicht
berechtigten Interessen gegen allgemeine und notwendige Verhältnisse, rein tra¬
gische Motive voll Tiefe und Kraft zu entwickeln erlaubt. Eine interessante
Vielfältigkeit der Charaktere, fesselnde Gegensätze, energische Licht- und Schatten-
Partien in der Handlung scheinen also gewährleistet. Haben wir den Dichter
recht interpretirt, so müssen wir rühmen, daß er einen meisterhaften Griff in
das lebendige Getriebe der Zeit gethan.
Wie hat er ihn entfaltet, wie jenes Grundmotiv ausgeführt? Da das
Leben eine Fülle von Beziehungen und Strebungen neben, gegen und durch
einander enthält, so kann es auch für den Dichter, der einen Abschnitt des Welt¬
bildes geben will, nicht genug sein, auf verschiedne Personen ein Grundmotiv
seinen einzelnen Richtungen nach zu verteilen und in einer passend erfundenen
Handlung zum Ausdruck zu bringen. „Abschnitt" ist ja nicht so zu verstehen,
als sollte von der Vielseitigkeit des wirklichen Lebens alles abgeschnitten werden,
worin sich jenes Grundmotiv nicht lebendig zeigt. Vielmehr muß gerade zur
Charakteristik der Rolle, die es im wirklichen Leben spielt, eine vergleichende
Schätzung neben andern Motiven menschlichen Handelns ermöglicht werden. Es
ist deshalb notwendig, eine Handlung nicht lediglich ack roe, zur Illustrirung
dieser speziellen Verhältnisse, zu erfinden, sondern eine reichere, vielseitigere
Handlung so zu kombiniren, daß unter allen in Fluß kommenden Motiven dies
eine systematisch nach allen seinen Beziehungen zum Ausdruck und durch den
Verlauf der Handlung zum Austrag, zur kritischen Lösung gelangt. Diese
Forderung wird durch eine der wichtigsten Aufgaben künstlerischen Schaffens,
die der Menschendarstellung, unterstützt. Wie in Wirklichkeit die seelischen Ele¬
mente des Individuums nicht ein Bündel zusammengeschnürter, sondern eine
Einheit organisch verschlungener Teile darstellen, derart, daß keines derselben in
Aktion treten kann, ohne durch den Zustand der andern dazu veranlaßt, min¬
destens disponirt zu sein, so darf sich auch der Dichter nicht darauf beschränken
wollen, ein oder das andre seelische Motiv isolirt in Aktion treten zu lassen,
weil es vielleicht dem dem Kunstwerke zu Grunde liegenden allgemeinen Motiv
entspricht. Nur wo wir den vollen und ganzen Menschen kennen gelernt haben,
können wir seine Handlungen in Bezug auf ihre treibenden Ursachen wie auf
ihren moralischen Wert beurteilen, als psychologisch stichhaltig und wahrscheinlich
anerkennen. Das aber ist doch unbedingt notwendig, wenn wir dem Dichter
glauben sollen, sein Kunstwerk sei wirklich ein Weltbild. Wissen wir, wie ein
Mensch bei andern, wichtigen Interessen seines Lebens und wie er im Laufe
des Augenblicks, rein der momentanen innern Stimmung folgend, zu handeln
pflegt, so können wir uns allenfalls, auch ohne Zuthun des Dichters, Rechen¬
schaft davon geben, wie das Grundmotiv des Kunstwerks etwa auf ihn wirken
wird; umgekehrt vermag uns der Dichter auch bei sorgfältiger psychologischer
Analyse der diesem Grundmotiv entspringenden Handlungen nie vollkommen zu
überzeugen, daß dieselben innerlich notwendig waren und daß dementsprechend
der Verlauf seiner Handlung korrekt ist. Sucht das Kunstwerk eine über den
Augenblick hinausreichende Bedeutung darin, daß es in der Form des Schönen
die an Individuen aufgezeigte, aber für die Gesamtheit verbindliche Lösung eines
ethischen Problems giebt, so geht ihm diese Bedeutung völlig verloren, wenn
irgendwo statt psychologischer Folgerichtigkeit ein persönliches Belieben ersichtlich
wird. Überdies ist es kaum möglich, eine Monotonie in Stimmung und Hand¬
lung zu vermeiden, wenn alles immer nnr von derselben Seite und in demselben
Lichte erscheint.
Ein Autor von Spielhagens Talent und Erfahrung hat sich das alles
sicher längst selber gesagt. Aber dann sinnen wir vergeblich darüber nach,
weshalb er dennoch die Handlung seines Romans so unglaublich einseitig ge¬
staltet hat, daß wir von dem innern Leben seiner Personen kaum etwas erfahren,
das nicht zu jenem obenerwähnten Grundmotiv in Beziehung stünde. Ihr Thun
nicht allein, anch ihr Denken, soweit es sich in Dialog und Schilderung ent¬
hüllt, wird von jenem gemeinsamen Grundzug vollständig absorbirt; die Art,
sich zu geben, miteinander zu verkehren, die Regelung ihres Lebens, ihrer Zu¬
kunft — alles erfolgt so, als ob es in der ganzen Welt kein andres Interesse
gäbe, als die Erlangung oder Wahrung einer gesellschaftlichen Stellung. Nun
kann ja gewiß nicht bloß der einzelne, sondern auch eine Mehrheit untereinander
in Beziehung stehender Personen einmal von einer Idee, einem Gedankenkreise
so lebhaft ergriffen werden, dich diesem Interesse gegenüber kein andres in Be¬
tracht kommt. Aber dies Ergriffensein von einer Idee ist dann doch im Leben
der Beteiligten nichts andres als eine Episode, bedeutet für ihren Charakter
viel eher eine interessante Abweichung von der regelmäßigen Bethätigung, als
eine Bereicherung und Erweiterung derselben. Es hätte dem feinfühligen Ästhe¬
tiker Spiclhagen nicht entgehen dürfen, daß ein so episodenhaftes Motiv nicht
die breite Ausführung des Romans, sondern höchstens die genrehafte der Novelle
verträgt, eben weil die letztere darauf ausgeht, aus dem vielgestaltigen Getriebe
des psychischen Lebens einzelne Momente, absonderliche Gestaltungen zu fixiren.
Dies seltsame Zusammengeraten der verschiedensten Menschen auf demselben
Wege des Denkens und Handelns sieht viel zu sehr einer, wodurch auch immer
hervorgerufenen seelischen Abnormität ähnlich, als daß es, auch mit dem größten
künstlerischen Geschick, sich zu einem Weltbilde verarbeiten ließe.
Dazu kommt noch eins. Seinem alten Hange zu problematischen Naturen
getreu, hat der Dichter uns zumeist Charaktere vorgeführt, denen zur besonnenen
oder nur überhaupt geschickten Gestaltung ihres Lebens und Ausführung ihrer
Pläne bald dies bald jenes wichtige Charakterelcment fehlt. Getäuschte Hoffnungen,
verfehlte Lebenspläne, vernichtete Existenzen breiten deshalb an sich schon eine
Wolke von Schmerz und Traurigkeit über den Roman. Weil aber nun alles
ohne Umsehen und Stillstehen nur einem Ziele nachstrebt, wird diese trübe
Atmosphäre nirgends durch einen Lichtblick unterbrochen. Trübes folgt auf
Trübes, Frevelthat auf Mißgeschick, Bosheit und Gemeinheit auf Einfalt und
Leichtgläubigkeit. Ein ununterbrochener Strom des Schmerzlichen und Hä߬
lichen ergießt sich in die Seele des Lesers, bedrückt seine Stimmung, beschwert
sein Empfinden, und wenn er das Buch schließt, ruft er aus: „Wie peinlich
war das, wie unerquicklich!" Ist das ein Weltbild, so stammt es sicher nicht
aus der Welt, die wir kennen, in der wir atmen, sondern aus einer, die sich
in dem Hirn des Dichters in Stunden pessimistischen Grübelns gestaltete.
Zum mindesten ist es keine unverfälschte Wiedergabe des Laufes der Dinge.
Fallen in unsrer Welt hin und wieder edle, schlichte Menschen, denen es an
Umsicht und Widerstandsfähigkeit fehlt, gemeinen Anschlägen wehrlos zum Opfer,
so hat doch noch niemand — es sei denn ein grilliger Sonderling — darin
den Ausdruck des gewöhnlichen Geschehens gefunden. So etwas kaun vor¬
kommen, allein in der unerbittlichen, förmlich fatalistischen Strenge und Anbauer,
in der Spielhagen es vorführt, ist es in der Welt stets nur das Resultat ganz
ausnahmsweise eintretender Kombinationen und eben darum nicht Objekt
künstlerischer Wiedergabe.
Es hieße in das eigenste Recht des Dichters eingreifen, wollte man ihm
über die Art und Weise der Ausgestaltung seines Grundmotivs selbst Vor¬
schriften machen. Nur daß er innerhalb der einmal eingeschlagnen Richtung
konsequent bleibe, müssen wir umso lebhafter fordern, als durch willkürliche
und einseitige Abschweifungen nicht bloß der ästhetische, sondern auch der ethische
Wert des Kunstwerks herabgedrückt wird. Jedes Motiv der erzählenden Kunst
enthält, weil es die Triebfedern menschlichen Handelns für einen bedeutenden
Kreis der Lebensinteressen bloßlegt, in seiner Ausführung zugleich auch die
ethische Kritik des Dichters über dies Motiv, Denn er mag wollen oder nicht:
in der Bedeutung, die er sein Motiv für das Leben seiner Personen gewinnen,
in dem Aufwand seelischer Erregungen, den er im Kampfe für oder gegen
dasselbe entfalten läßt, kurz, in der Art, wie er sich zu ihm stellt, drückt sich
notwendig seine sittliche Wertschätzung desselben aus. Im Kunstwerke aber ist
uns der Dichter die Vorsehung; sein Urteil tritt als absoluter sittlicher Maßstab
für die Welt auf, die er schildert, und deshalb berührt uns ein falsches ethisches
Prinzip oder auch nur eine willkürliche Einseitigkeit in der Gestaltung des ethischen
Grundmotivs unmittelbar wie eine Verletzung der sittlichen Weltordnung.
Im vorliegenden Falle ist der Dichter von seiner Absicht, die tiefe Be¬
deutung seines Motivs negativ, d, h. durch das Scheitern des Lebensglücks
derer aufzuzeigen, die es nicht korrekt zu handhaben wissen, nur ein einziges
mal abgegangen, aber dieses eine mal gestaltet sich in unsern Augen zu einer
peinlichen Ironie, zu einer Verhöhnung aller derer, denen es um die Lösung
der in jenem Motiv ausgesprochenen sittlichen Aufgabe tiefer Ernst ist. Eine
Abenteurerin, deren Charakter im übrigen ein Meisterstück Spielhagenscher Kunst
ist, erreicht durch allerlei verwerfliche Mittel — Koketterie, Betrug, Wort¬
bruch u. s. w, — das, was die edelsten Charaktere durch ehrenwertes Handeln
nicht erreichen: eine Stellung in der Gesellschaft, Reichtum, äußeres Glück, Sie
ist die einzige, an der das Motiv in positivem Sinne zum Austrag kommt.
Das verletzt, das beleidigt alles gesunde sittliche Empfinden. Sieht das nicht
aus, als hielte der Dichter wirklich Schwindelei und moralische Prinziplosigkeit
für das einzige Mittel, jener Aufgabe gerecht zu werden? Mußte er uus nicht,
in Parallele zu dieser Lösung, eine andre auf sittlicher Grundlage zeigen oder
uns auch mit jener verschonen? Glaubte er, es genüge, um ein korrektes
Weltbild zu liefern, die nackte thatsächliche Wiedergabe dessen, was in der Welt
zu geschehen pflegt, ohne den moralischen Reflex, den in eben dieser Welt un¬
moralische Handlungen hervorzurufen pflegen? Gewiß läuft, speziell in der
gesellschaftlichen Stufenreihe, in der Mehrzahl der Fälle gewandte Spiegel¬
fechterei einem ehrlichen Streben den Rang ab. Aber mit dieser brutalen
Wirklichkeit ist doch die Sache nicht erledigt. Die Gesellschaft im ganzen setzt
der thatsächlichen Gutheißung dieses Verhältnisses wenigstens ein theoretisches
Desaveu entgegen, und dementsprechend können wir nur dasjenige ein zutreffendes,
nicht einseitig willkürliches Weltbild nennen, worin die moralische Verurteilung
unehrenhafter Handlungen stark und eindrucksvoll erscheint. Statt dessen bringt
uns Spielhagen nur das sentimentale Bedauern eines um seine Hoffnungen
betrognen alten Mannes (des Fürsten Prora), und stellt im übrigen den auf-
gehenden Glücksstern seiner Abenteurerin dicht rede» den jämmerlich trüb¬
seligen Zusammenbruch des Lebensglückes seiner anständigen Leute. Die
Neigung zu der den Meister fordernden Schilderung wurmstichiger Existenzen
hat hier dem schönen sittlichen Berufe des Dichters einen bösen, sehr bösen
Streich gespielt.
Nach dieser Besprechung der Handlung im allgemeinen wenden wir uns
zu der besondern ihrer Träger, der Charaktere. Hier wollen wir bereitwillig
anerkennen, was oben angedeutet war: die Gestalt der Abenteurerin Jsäa ist ein
wahres Kabinctstück romancskcr Charakterschilderung. Ein tolles, übermütiges,
gänzlich unerzogenes und moralisch von ihren Launen lebendes Kind, tritt sie
auf den Schauplatz, Mitwisserin von ihres Gatten betrügerischen Plänen, die
ihr, in voller Naivität, wie ein kostbarer Spaß, ein Faschingsscherz, erscheinen.
Bald wird sie sich der Macht ihrer Schönheit und ihres Wesens auf die um¬
gebenden Menschen bewußt; eine klarere Einsicht in ihres Mannes selbstsüchtiges
und liebeleercs Herz entfremdet sie ihm und zeigt ihr die Notwendigkeit, sich
auf eigne Faust Existenz und Karriere zu suchen. Nun verwandelt sich vor
unsern Augen Schritt für Schritt dies kokette Kind in eine gewandte, berech¬
nende, die Situation ganz im stillen beherrschende Schauspielerin, die sich aus
dem Zusammenbruch ihrer Umgebung zu einer glänzenden und sichern Existenz
hinüberrettet. Dies Erwachen des Selbstbewußtseins, das erste leise, prüfende
Regen der Schwingen, bis zu dem zielbewußter, aber stets vorsichtigen und
nach zwei Seiten sich sichernden Manöver ist mit einer ruhigen Sicherheit, ge¬
winnenden Feinheit und psychologischer Korrektheit entwickelt, wie sie mir einem
großen Talent, und auch diesem erst nach langer, übender Erfahrung zu Ge¬
bote steht. Das Interesse, welches uns der Dichter für diese Figur einflößt,
ist umso bewundernswerter, als sie von vornherein ans dem Boden eines sehr
ordinären und plump ersonnenen Betruges steht, also eher Widerwillen als In¬
teresse erweckt. Allein der Dichter trifft das geschickte Arrangement, sie fast bis
zum Schluß diesem Betrug äußerlich passiv gegenüberzustellen. Sie deckt ihr Spiel
mit ihm, sie zieht Nutzen von ihm, allein sie verfährt im übrigen vollkommen
so, als wäre er ihr gänzlich fremd. Damit sie das kann, hat der Dichter ihr
eine hervorragende Schönheit gegeben: wer fragt bei einer bezaubernd schönen
und anmutigen jungen Frau darnach, ob ihr Reisepaß in Ordnung sei? Der
sicher am wenigsten, der sich in sie verliebt, und sie verlieben sich alle in sie.
Und wiederum tritt diese äußere Schönheit, die wohl absichtlich wiederholt als
eine taubenhafte, reine, kindliche bezeichnet wird, in schroffen Gegensatz zu der
immer schlimmern Entwicklung des Innern, so den Gesamteindruck der Figur
stets eigenartiger und lebhafter gestaltend. Gerade in Rücksicht hierauf ist es
sehr bedauerlich, daß nun nicht auch ihre Bedeutung für das Motiv des Ro¬
mans in entsprechender Weise interessant und korrekt hinzukommt, um den Ein¬
druck einer dichterischen Mcisterleistung zu vervollständigen.
Neben Jsäa stehen als hauptsächliche Träger der Handlung ihr Gatte
Gustav und dessen Bruder, der .Held des Romans, Uhlenhans, Beide die denkbar
frappantesten Gegensätze in ihren Lebenszielen und in der Art, sie zu erreichen,
in ihrer Empfindung, in ihrer Wertschätzung der menschliche» Natur und in
der daraus sich ergebenden Achtung vor den Rechten andrer. Gustav ist der
Schuft, Uhleuhans der Biedermann xar exoe-llWLö. Die systematische Gegen¬
sätzlichkeit beider erstreckt sich bis auf ihr Äußeres: jener hübsch, gewandt,
elegant, dieser einäugig, ungeschlacht, einfach, selbst ein wenig salopp. Aber eben
diese systematische Gegensätzlichkeit scheint den Dichter verführt zu haben, über
das Ziel hinauszuschrciten und nach beiden Seiten hin schärfer zu accentuireu,
als im Interesse voller Wahrscheinlichkeit der Figuren wünschenswert war.
Gustav verfolgt sein Ziel, sich in der aristokratischen Gesellschaft seiner Heimat
eine Stellung zu schaffen, vom ersten bis zum letzten Augenblick mit einem
nackten Cynismus, einer selbstbewußten, aller menschlichen Empfindung baren
Verhöhnung von Treu und Glaube». Er nutzt alles aus: die Schönheit seiner
Frau, die Ehrlichkeit und Treuherzigkeit seines Bruders, die Unentschlossenheit
seiner früher» Geliebte». Er ist so ganz Berechnung und Lüge, daß auch nicht
der kleinste menschlich - versöhnende Zug übrig bleibt. Das ist falsch, das ist
häßlich. Selbst Richard III., selbst Jago sind, obschon böse, fürchterliche Men¬
schen, doch immerhin Menschen. Und das müssen sie sein, wen» unser Interesse
nicht in einfachem Widerwillen untergehen soll. Gewiß wird ein Charakter,
der sich einmal über moralische Bedenken hinweggesetzt hat, eine» Genuß darin
finden können, mehr als gerade zur Erreichung eines bestimmten Zweckes not¬
wendig, mit seiner Umgebung zu spielen, sich einen Luxus im Schlechten zu ge¬
statten. Ja dies Überschäumen unsittlicher Kraft wird sogar vorzugsweise als
Kraftfülle schlechtweg empfunden werden, wird uns deshalb den betreffende»
Charakter ästhetisch erträglich, weil in einem gewissen Sinne kongenial machen.
Nur muß dann dies selbstbewußte Spielen mit allen Schwierigkeiten, die Freude
am eigne» Können, entschiede» betont und als eine wesentliche Seite des Cha¬
rakters dargestellt werden. Andernfalls wirkt, wie in unserm Roman, das nun
ganz grünt- und zwecklos erscheinende Böse umso widerwärtiger, als gleichzeitig
in dem Charakter des Handelnden el» Z»g von weltverachteuder Ironie durch
Egoismus und kleinliche Motive verdrängt erscheint. Zugleich wird derselbe
trotz aller dialektischen Auseinandersetzung seines Gemütszustandes sehr monoton.
Das ist es ja, was Jsäas Figur so reizvoll macht, daß sich i» ihr verschiedne
anscheinend unvereinbare Ziige zur volle» Individualität verbinden. Kein Mensch
ist nur einfach schlecht; jeder ist es ans bestimmten Motive» und unter be¬
stimmten Voraussetzungen. Und vollends hier, wo wir erfahren, daß Gustavs
Schurkerei sich aus einer energielosen und in der Wahl der Mittel nie bedenk¬
lichen Sucht zu herrschen, sich bemerklich zu macheu, entwickelte, hier hätte
wohl ab und zu ein reinerer Zug, eine edlere Auffassung der Verhältnisse, wie
''^
ein Anklang an die Vergangenheit, hervorbrechen müssen. Wäre es auch nur
so geschehen, daß in einem Moment leidenschaftlicher Spannung der Drang, der
erste, tonangebende der Gesellschaft zu sein, als Ausdruck verzehrenden Ehrgeizes,
ungestümen Selbstgefühls rein menschlich, aus dem Innern einer starken, stolzen
Natur sich kundgab. Im Unwetter einer ruhe- und fruchtlosen Existenz haben
häßliche Schlacken die ursprüngliche, an sich schöne Glut bedeckt. Noch einmal
blitzt sie hervor — und jedermann weiß, daß er einen halb Unglücklichen, also
nur halb Schlechten vor sich hat. So wie er im Roman erscheint, ist der
Charakter nicht bloß ohne nachhaltige Entwicklung, sondern auch, trotz allen
Aufgebots von List und Betrug, ohne Leben; ja die kümmerlichen und ohne
bedeutende Erregung verlaufenden Selbsterinnerungen an die Vergangenheit
machen wegen dieses Mangels an lebendiger Wirkung nur den Eindruck, daß
hier edle und bedeutende Anlagen in einem Meere von Gemeinheit unter¬
gegangen sind.
Ähnlich, iliutMs MutÄiiÄis, verhält es sich mit Uhlenhans. Er steht als
Held im Brennpunkt der Handlung, sein Schicksal ist zumeist das Ergebnis der
Handlungen aller Figuren des Romans, nur in geringem Grade trägt er selbst
aktiv zur Gestaltung desselben bei. Vielleicht hat der Dichter diese unentschlossene
Passivität als ein wesentliches moralisches Gebrechen im Kampfe um die gesell¬
schaftliche Existenz aufzeigen wollen; dann darf ihm aus dieser negativen Be¬
deutung seines Helden kein Vorwurf erwachsen. Ebenso soll wohl der schlichte,
biedre Sinn, die Leichtgläubigkeit, die unendliche Gutmütigkeit in ihrer ver¬
hängnisvollen Bedeutung für einen inmitten schwieriger Verhältnisse und schlechter
Menschen Stehenden charakterisirt werden. Allein moralische Schwächen und
Eigenheiten gewinnen einen tragischen Wert doch nur dann, wenn sie, verderblich
für den Einzelnen als Glied und im Getriebe der menschlichen Gesellschaft, zugleich
ehrend, Teilnahme und Bewunderung weckend für das Individuum an und für
sich sind. Nur so springt der ewige unversöhnbare, aller Tragik zu Grunde
liegende Kampf individueller Rechte mit denen der sittlichen Weltordnung klar
heraus. Wo aber eine Eigenschaft, sei es durch ihre Eigenart oder ihre Intensität,
bereits für den Charakter selbst einen Makel bedeutet, da stehen doch unbedingt
die Sympathien des ruhig und gesund Urteilenden auf feiten desjenigen Laufes
von Begebenheiten und Handlungen, der jenen Charakter beeinträchtigt und
unterdrückt. Ungefähr so geht es uns mit Uhlenhans: der Dichter hat zu starke
Farben aufgetragen und damit das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte.
Es wäre zuviel gesagt, wollte man Uhlenhans einfältig, träge und plump nennen;
seine Lebensführung entspringt zu sehr bestimmten Grundsätzen, sein Handeln ist zu
rücksichtsvoll, sein Empfinden zu zart, als daß man an der innern Bedeutsamkeit
dieser Natur zweifeln könnte. Gleichwohl muß jedem, der ihm fremd ist, sein
Auftreten einfältig n. s. w. erscheinen, lind folgerichtig gilt er allen andern Per¬
sonen des Romans dafür. Allen ist er der Schemel, um sich höher zu stellen,
das oorxus vns ihrer Spekulationen, der Mann, auf den nie jemand Rücksicht
nimmt und von dem jeder ein Opfer verlangt. Nach hundertfachen Ent¬
täuschungen ist er immer wieder bereit dazu. Dies wehrlose Sichpreisgeben
erinnert mit häßlicher Konsequenz an das Lamm, das zur Schlachtbank geführt
wird. Und wie hat der Dichter, geflissentlich, muß man sagen, alles gethan,
diesen Eindruck zu verstärken! Nichts des Trüben und Traurigen, das sich allenfalls
ereignen, aber ohne Beeinträchtigung der Folgerichtigkeit, ebenso gut ungeschehen
bleiben konnte, wird uns erspart. Von allen Möglichkeiten trifft immer die
ungünstigste ein, ununterbrochen wird der unglückliche Mann von Mißgeschick
aller Art heimgesucht, ununterbrochen in seinen besten Absichten gehemmt, in
seinem tiefsten Empfinden gekränkt. Wo die natürliche Folgerichtigkeit der
Handlung nicht ausreicht, treten Mißverständnisse, Zufälle, raffinirt mißliche
Kombinationen von Umständen hinzu, um nur ja den alles duldenden Helden
tiefer und tiefer ins Elend hineinzuführen. Das ist unter allen Umständen
unschön, aber es ließe sich, unter einem gewissen Vorbehalt, wenigstens im
Prinzip rechtfertigen. Hätte der Autor ein ursprünglich weiches und nach¬
giebiges Innere unter den Hammerschlägen des Lebens hart und spröde werden
lassen, so mußte jedermann diese Häufung des Traurigen als Mittel zum Zweck
anerkennen. Aber das ist hier nicht der Fall. Uhlenhans bleibt derselbe, eine
passive, sensitive Natur, die aus Zartgefühl nie zum Handeln kommt und in
dieser fortwährenden That- und Hilflosigkeit gegenüber den ihn in Anspruch
nehmenden Ereignissen den Leser ungeduldig und nervös macht. Ja selbst zuletzt,
wo er durch einen brutalen, empörenden Zufall sein Leben einbüßt, giebt er sich
höchstens in etwas gehobener Stimmung. Die kindlich reine, ideale Natur des
Mannes kommt vor seiner wirklich abstoßenden Unbehilflichkeit nicht zur Geltung.
Eben darum ist die Anlage dieser Figur fehlerhaft, und die Handlung erscheint
nicht als Läuterungsprobe, sondern als Marternngsprozeß.
Wenn man das Buch aus der Hemd legt, so fragt man sich unwillkürlich:
Warum nun das alles? Wozu ein Roman, der wirklich nur ein sehr subjektiv
angeschautes und obenein trübes, düsteres, unerquickliches Weltbild liefert? Die
wirkliche Welt hat soviel des Jammers, des Schmerzes, daß nicht auch noch die
Kunst zu kommen braucht, um uns das Herz schwer zu machen. Und wie
kommt sie, die uns aus den Schranken der Endlichkeit heben, uns einen Blick
in den ewigen Werdegang der Dinge lehren, das Irdische mit dem Maße des
Ewigen messen soll, wie kommt sie dazu, sich und uns in eine Bahn des Ge¬
schehens einzuengen, in der der freie Flug der Empfindung Schritt für Schritt
an tückischen Zufällen hängen bleibt? Statt daß uns das scheinbar Unendliche
als winziger Durchgangspunkt für eine ewige Entwicklung gezeigt wird, ist hier
dem Momentanen, Willkürlichen bleibende Bedeutung verliehen. Weshalb?
Spielhagcn macht das Sprichwort wahr, daß man immer wieder auf seine
alten Neigungen zurückkommt. Problematische Naturen spielten schon in „Angela"
ihre Rolle; sie sind auch hier wieder Träger des Werkes. Nun kann sich eine
virtuose Kraft ja sicher in verzwickten Aufgaben am glänzendsten bethätigen,
allein das höchste Ziel des Künstlers ist es doch wohl nicht, Virtuose zu sein.
Das tiefe und reine germanische Gemüt verlangt andre Nahrung als die, deren
Ils-utZont durch starke Pfefferung maskirt ist. Ihm hat Spielhagen früher ge¬
recht werden können, ihm soll er wieder gerecht werden. Wir wünschen von
.Herzen, daß der Dichter unsre oft absprechende» Worte nicht als Ausfluß wohl¬
feiler Tadelsucht ansehen möge. Vieles wäre noch zu sagen über Schilderung,
Ökonomie der Handlung u. s. w., Anerkennendes, Bewunderndes und Tadelndes.
Wir wollten nur das hervorheben, was uns das Bedenklichste, was uns ungesund
schien. Ein Roman von Spielhagcn ist immer ein bedeutendes Buch, das auf
die Achtung der' Nation Anspruch machen kann. Aber eben weit der Dichter
nationale Bedeutung besitzt, sollte er seinen höchsten Ruhm darin finden, national
zu sein. Den tiefsten und reinsten Ausdruck germanischer Empfindung und
Weltanschauung sollte er suchen. Nicht der Beifall der Kenner über technische
Meisterschaft, nicht das Behagen des literarischen Gourmands über interessante
und geistreich behandelte Stoffe kann dem Dichter den warmen Herzschlag er¬
setzen, welchen ihm das Volk entgegenbringt, dessen innerstem Fühlen, dessen
stummem Streben er Ausdruck verlieh. Das Volk macht ihn groß, dem Volke
soll er dienen.
le schreibseligcn Maler, die zu glauben scheinen, daß die Drucker¬
schwärze ihnen zu den Lorbern verhelfen werde, welche die Ölfarbe
versagt hat, können sich eines Erfolges bereits rühmen: alle
lebenden Künstler stehen jetzt in dem Verdacht, von Brotneid
gegen die toten verzehrt zu werden. Diejenigen, welche der
Vorwurf nicht trifft, mögen sich dafür bei den in jedem Sinne unberufenen
Wortführern bedanken, welche bald direkt, bald durch irgend ein unschuldiges
Mundstück die Lehre verkünden, daß das Geld, welches jetzt zur Erwerbung
alter Kunstschätze aufgewandt wird, von Gottes und Rechtswegen der Heran¬
bildung junger Künstler in den Akademien und Unterstützung älterer durch
Ankauf ihrer Werke gewidmet werden müsse. Mitgefangen, angehangen!
Künstler von wirklicher Bedeutung sind gewöhnlich friedfertige Leute und lassen
lieber ihre Werke sprechen, als daß sie sich in Zeitungspolemik mischen, ihr
Schweigen wird von den Condottiercn als Zustimmung gedeutet, und hinter
diesen zieht der Troß jubelnd einher. Um gerecht zu sein, muß man aber nicht
bloß zwischen den Besonnenen und den Schreiern unterscheiden, sondern — wie
bei jeder Volksbewegung — zwischen den Demagogen und ihrem Anhange.
Die große Masse der Maler, Bildhauer u, s. w, ist wirklich in übler Lage.
Mit mittelmäßigem Talent und mittelmäßigem Können kämpfen sie vergebens
gegen die Teilnahmlosigkeit des Publikums an, ringen oft mit bittrer Not,
während sie die wenigen Höhcrbegabteu oder vom Glücke Getragnen Gunst und
Geld in Überfluß gewinnen sehen. In solcher Stimmung ist man nicht zum
unparteiischen Überlegen und Untersuchen aufgelegt, ist vielleicht mit sich selbst
und gewiß mit aller Welt unzufrieden und sehr empfänglich für Weltvcrbcsscruugs-
theorien. Und da fehlen nie die uneigennützigen Biedermänner, die zwar keine
Not leiden, aber die Not der andern so tief empfinden, daß sie diesen andern
gern nützliche Beschäftigung als Stimmvieh und Kanonenfutter verschaffen.
Die Forderung wird verschieden eingekleidet, bald drohend: Du Staat hast die
Verpflichtung, mich in mir zusagender Weise zu beschäftigen und zu ernähren!
bald resignirt: Weshalb hast du, Staat, mich ausgebildet, wenn dn mich nicht
auch erhalten willst?
Ein solches Räsonnement kann bei Personen entschuldigt werden, in welchen
die Phantasie stärker und mehr gepflegt ist als der Intellekt; einer Wider¬
legung bedarf es selbstverständlich nicht. Und doch enthält es einen Fingerzeig,
welcher nicht unbeachtet bleiben sollte. Es ist wahr, was in diesen Diskussionen
öfter angeführt worden ist: der Staat übernimmt damit, daß er Anstalten für
die Ausbildung in den verschiedensten Berufszweigen gründet und unterhält,
zwar nicht die Verpflichtung, den Ärzten Kranke, den Advokaten Prozesse und
den Offizieren Kriege zu liefern, damit die einen gute Einnahmen haben und
die andern avcmciren können; aber bei Unterrichtsanstalten, welche ausdrücklich
und ausschließlich für einen bestimmten Lebensberuf vorbereiten, muß doch die
Frage des Bedarfs in Erwägung kommen. Wenn in irgend einem Zweige
des Staatsdienstes Aspiranten in Überzahl vorhanden sind, so pflegt die Unter-
richtsverwaltung bekannt zu macheu, daß an jener Stelle die Aussichten zum
Fortkommen ungünstig feien, damit junge Leute, welche noch nicht genötigt
waren, über ihre Zukunft zu entscheiden, eine andre Laufbahn einschlagen.
Mehr zu thun, ist in-solchem Falle nicht die Sache des Staates. Doch gesetzt
den Fall, der Andrang zu den Militärbildnngsanstaltcu wäre größer als der
voraussichtliche Bedarf an Offizieren, so würde gewiß die Aufnahme von neuen
Zöglingen beschränkt werden. Oder nehmen wir ein dem Ausgangspunkte dieser
Betrachtung näherstehendes Beispiel. Alle Staaten richten jetzt Schulen für
die gewerblichen Künste ein. Sie thun dies, weil die Werkstatt heutzutage aus
verschiednen Gründen nicht mehr die rechte Schule sein kann, nämlich weil die
größeren Geschäfte zu sehr auf den Maßstab der Fabrik organisirt sind und
die kleinern Gewerb treibenden zu häufig selbst das nicht ordentlich gelernt haben,
was sie lehren sollen. Nun muß aber, wenn die kunstgewerblichen Fachschulen
das leisten, was man von ihnen fordert und erwartet, wenigstens die Möglich¬
keit zugelassen werden, daß sie mit Hilfe einer angemessenen Organisation des
Gewerbestandes wieder normale Verhältnisse herbeiführen, d. h. Werkstätten, die
von wirklichen Meistern mit wirklichen Gesellen betrieben werden, und in denen
der Lehrling wirklich unterwiesen wird. Wäre dieses Ziel erreicht, so würde
der Staat die Aufgabe jener Schulen als erfüllt ansehen und sie umso lieber
aufheben, als sie immer nur Notbehelf sein können und auch ihre bedenkliche
Seite haben, Jenes Ziel liegt allerdings vorläufig noch in weiter Ferne.
Indessen kann ein andrer Fall sehr bald eintreten. Die Schulen erziehen nicht
nur praktische Handwerker, sondern auch, oft sogar vorzugsweise, Musterzeichner
und Modelleure, von denen schon jetzt an manchem Punkte der Vorrat viel
größer als die Nachfrage ist. Wo man sich von diesem Verhältnis überzeugt,
wird mau sich schwerlich begnügen, junge Leute vom Betreten dieser speziellen
Laufbahn abzumahnen, sondern zuvörderst durch die größte Strenge in den
Anforderungen an Talent und Fleiß das Mittelgut fernhalten und endlich
fragen müssen, ob die Züchtung einer solchen Spezialität auf Staatskosten
überhaupt noch gerechtfertigt sei.
Ob dieser Fall überhaupt oder ob er früher oder später eintreten werde,
das hängt zum großen Teil von der Einsicht, Gewissenhaftigkeit und Energie
der Schulleiter ab. Sie werden unnachsichtig diejenigen Elemente abwehren
müssen, welche ohne Beruf und Liebe zur Sache sich gegenwärtig an die neuen
Anstalten herandrängen, weil sie meinen, dort sei leichter als anderswo eine
Versorgung zu erhitzen; und sie werden in den Schülern das Bewußtsein wach
erhalten müssen, daß sie bestimmt sind, Gewerbsleute zu werden. Denn der
deutsche Tic, sich, sobald man ein wenig mehr gelernt hat als Vater und Gro߬
vater, auch gleich zu gut für die Sphäre zu halten, in welcher Vater und
Großvater zufrieden gewesen sind, lieber der letzte in einer höheren als der
erste in einer niederen Gesellschaftsklasse sein zu wollen, welcher überall soviel
Unheil anstiftet, kann in Anstalten der gedachten Art üppigste Nahrung finden,
wenn nicht wachsam und entschieden vorgebaut wird. Der Lehrling tritt wohl
noch mit dem guten Willen in die Schule ein, sich Kenntnisse anzueignen, welche
ihm dereinst in seinem Gewerbe förderlich sein können; hat er aber erst einige
Jahre hinter dem Reißbret und vor einem Katheder gesessen, von dem aus
allerlei schwer faßliche Dinge vorgetragen werden, so kommt ihm leicht die
Rückkehr in die Werkstatt wie ein Herabsteigen vor, er fühlt sich als Künstler
und halber Gelehrter. Einzelnen glückt es in der „höheren" Laufbahn, andre
vermehren das Künstlerproletariat, und das Gewerbe empfängt nicht nur nicht,
was es braucht, besser gebildete Meister, es büßt noch vielfältig gerade die besten
Elemente ein.
Damit ist Klarblickenden nichts neues gesagt, und wir wissen, daß an vielen
Orten mit vollem Ernste der wichtige Gesichtspunkt festgehalten wird, Hand¬
werker zu erziehen, welche fähig sind, ihr Handwerk zur Kunst zu erheben, nicht
halbe Künstler, die sich des Handwerks schämen; und das ist nur möglich, wenn
die Schule das Ideal einer Werkstatt ist.
Aber liegen denn in der hohen Kunst die Dinge anders? Einer von den
Schreibmalern glaubte neulich einen großen Trumpf auszuspielen, als er die
Neuigkeit verkündete: die Kunstsammlungen hätten nicht den Niedergang der
Kunst aufzuhalten vermocht. Der Unvorsichtige vergaß, daß dies ebensowenig
die Kunstakademien geleistet haben, die doch zu dem Zweck erfunden wurden —
was bei den Museen nicht der Fall ist. Waren die Bedingungen sür Kunst¬
blüte vorhanden, dann brauchte man keine Schulen und Akademien zu gründen.
Schulen waren da die Werkstätten der Meister; der anstellige Lehrling und der
geschickte Geselle nahmen je nach ihrer Befähigung und dem Grade ihrer Aus¬
bildung an der Arbeit des Meisters teil, bis sie sich endlich auf eigne Füße
stellen konnten. Erst als dem großen Aufschwünge im fünfzehnten und sech¬
zehnten Jahrhundert die Erschöpfung folgte, auf die Genien die Talente, auf
die großen Anschauungen in der Welt der Künstler und der Mäcenaten die
Jagd nach starken Effekten, erst da glaubten wohlmeinende Leute, durch die
Schule helfen zu können. Aber weder die Carracci noch Sandrart haben die
völlige Verflachung aufgehalten, nicht einmal die Technik haben ihre Akademien
den späteren überliefert. Und wenn die Kunst am Ende des vorigen und An¬
fang unsers Jahrhunderts sich wieder emporraffte, so waren überall die Aka¬
demien nicht Förderer, sondern Hindernis, Rebellen gegen akademischen Zwang
die Führer, welche Begeisterung in den Galerien und Museen eingesogen hatten.
Ein weniger glückliches Argument hätte also jener „Altebilderstürmer" nicht
wählen können.
Es gehört überhaupt ein starker Grad von Kurzsichtigkeit zu der Annahme,
daß durch Schulen und Aufträge eine große Kunst geschaffen werden könne,
und daß der Zweck des staatlichem Kunstaufwandes die Heranbildung von Malern
und Bildhauern sei. Umgekehrt fragt man sich heute überall und mit Recht,
ob die Erhaltung von Kunstakademien in ihrer jetzigen Gestalt länger zu ver¬
antworten sei. Und zwar steht nicht die finanzielle Frage im Vordergrunde,
sondern die Rücksicht auf die Kunst und die Künstler. Der Unterricht im
Zeichnen soll so allgemein zugänglich gemacht werden als möglich, und kaum
jemand wird widersprechen, wenn die Befriedigung dieses Bedürfnisses bedeutende
Mittel in Anspruch nimmt. Denn es giebt beinahe keinen Beruf, in welchem
eine gewisse Schulung des Auges und der Hand nicht von mannichfachen Vorteil
sein würde. Aber dabei handelt es sich um allgemeine Bildung. Große Anstalten,
in welchen Jahr für Jahr unübersehbare Scharen von jungen Leuten für irgend
einen Zweig der Kunstübung abgerichtet werden, wo der gänzlich Unberufene
und die aussichtslose Mittelmäßigkeit solange mitgeschleppt werden, bis sie die
Jugend und die Lust, noch etwas andres zu ergreifen, eingebüßt haben, wo
unter den breitkrämpigen Hüten der Künstlerstolz ohne Können, das Verachten
von Vernunft und Wissenschaft so fröhlich gedeihen und nur zu oft noch gehegt
und gepflegt werden, die Treibhäuser, aus denen fort und fort so viele Un¬
zufriedne und Unglückliche hervorgehen, die draußen in Feld und Wald sich
vielleicht ganz gesund entwickelt haben würden: dergleichen Anstalten zu gründen
und zu erhalten ist in der That nicht Sache des Staates. Man gebe tüchtigen
Künstlern Ateliers — das ist eine nicht unbedeutende, aber gerechtfertige Unter¬
stützung. Sie werden aus denen, welche ihre Schüler werden wollen, die talent¬
vollen und fleißigen auswählen, sie an ihren Arbeiten teilnehmen lassen, ihnen
endlich gewisse Dinge zur halbstündigen Durchführung anvertrauen, ganz so, wie
es die großen Maler und Bildhauer und Goldschmiede und Kupferstecher u, s, w.
vergangner Zeit gemacht haben. Und aus solchen Ateliers werden freilich nicht
lauter große Künstler hervorgehen, aber brauchbare Menschen, welche arbeiten
und mitarbeiten, sich ein- und unterordnen gelernt haben. Denn den Unbrauch¬
baren wird der Meister bei Zeiten fortschicken, während der Professor ihn
vielleicht anL falsch angewandter Gutmütigkeit oder Gleichgiltigkeit immer weiter
stümpern lassen würde. Darin liegt der eine große Unterschied. Ein andrer
liegt darin, daß in der Werkstatt der Lehrling und der Gehilfe zuerst nach
fremden Gedanken und Plau arbeiten muß, nicht die Einbildung in sich auf¬
kommen lassen darf, er als — angehender! — Künstler könne nur uach eignen
Eingebungen thätig sein. Es ist möglich, daß jemand gerade darin einen
Vorzug des akademischen Unterrichts erblicken will; er sollte jedoch bedenken,
daß uur höchst selten ein Künstler mit stark ausgeprägter Individualität es über
sich gewinnen wird, seine Schüler gänzlich unbeirrt ihre eignen Wege suchen zu
lassen. Und wir halten es für viel nachteiliger, wenn ein Kniistjttngcr angeblich
frei schafft, thatsächlich aber das zu machen sucht, was der Lehrer an seiner Stelle
gemacht haben würde. Daher kommt es ja, daß schwächere Naturell ihr Leben
lang nicht nur Äußerlichkeiten, Manieren, Eigentümlichkeiten des Vortrages,
sondern auch Anschauung und Auffassung der Schule nicht loswerden, kräftigere
aber bald ausbrechen. In diesem Punkte haben also beide Methoden des Unter¬
richts einander nichts vorzuwerfen. Hingegen befördert die akademische die früh¬
zeitige Entwicklung jenes Dünkels, der so manchem Talent verderblich wird,
die andre aber die technische Tüchtigkeit, die Grundbedingung jeder künstlerischen
Leistung. Wimmelt es nicht allerorten von Genies, deren großartige oder geist¬
reiche Kompositionen von Mitschülern, auch wohl vou Professoren, bewundert
werden, die es jedoch nie dahin bringen, etwas auszuführen, weil sie immer zu
genial und geistreich waren, um ordentlich malen oder modelliren zu lernen?
Und wie groß ist vollends die Zahl derer, welche gewissenhaft alles gelernt
haben, was in einer Akademie gelehrt werden kann, und dann erst des Mangels
jener Gaben innewerden, welche sich nicht durch Lernen erwerben lassen? Wohl
ihnen, wenn sie Resignation genug besitzen, Zeichenlehrer oder Photographen
zu werden und nur in den Freistunden der göttlichen Kunst zu stöhnen! Das
Eine wird niemand in Abrede stellen können, daß die Akademien Pflanzstätten
des Künstlerproletariats sind — und es braucht hier nicht von neuem hervor¬
gehoben zu werden, ein wie gefährliches Ferment in der heutigen Gesellschaft
die Menschen bilden, welche nicht etwa durch ihre Leistungen, sondern durch
ihre „Bildung" sich zu unerfüllbaren Ansprüchen an das Leben berechtigt
glauben.
Fragen wir uns nur, was die Welt dazu sagen würde, wenn jemand die
Gründung von Staatsschulen für Dichter, wenn er Staatsaufträge forderte,
damit Epiker und Dramatiker zu leben hätten. Und die Poesie gehört doch
nicht minder zu unsern höchsten Gütern, dient ebenso zu unsrer Erhebung und
Erbauung wie die bildende Kunst. Der förmlichen Züchtung bedürfen aber
beide nicht.
encral Graham hat die ihm an Zahl weit überlegenen Scharen
Osman Dignas bei demselben El Teb geschlagen, wo zwei Wochen
vorher Baker Paschas Ägypter dem Ansturme der arabischen
Wüstenkricger schmachvoll unterlagen und zum großen Teile nieder¬
gehauen wurden. Den Rebellen des Sudan ist damit eine Lektion
erteilt worden, und England hat seine Prestige wiederhergestellt. Wie weit, muß
die Zukunft lehren. Für jetzt hat der Sieger nicht wagen können, weiter als
bis Tokar vorzurücken, und nach den letzten Telegrammen hat er sich wieder
nach Trinkitat und von da zur See nach Suakim zurückgezogen, in dessen Nähe
Osman Digna feine Leute zu sammeln bemüht ist.
Auf der Ebene von Teb haben Gegner ihre Kräfte miteinander gemessen,
die so ziemlich in allen Stücken von einander verschieden waren. Auf der einen
Seite focht eine verhältnismäßig kleine Schar britischer Soldaten, die aber
wohlgeübt und mit den besten Waffen versehen waren, und denen auch der
Dampf und die Elektrizität als Kriegswerkzeuge zur Verfügung standen. Ans
der andern Seite sah man einen Schwarm von Halbwilden sich tummeln, mus¬
limische Fanatiker, Leute ohne militärische Zucht und Übung, großenteils nur
mit dem historischen Speer und Schild ihrer Rasse ausgerüstet, die sich in der
Hoffnung auf Beute unter der Fahne eines siegreichen Rebellen gesammelt
hatten und dort von der ansteckenden Begeisterung religiöser Schwärmerei fest¬
gehalten wurden. Jene Schaar war eine Armee im vollen Sinne des Wortes,
zwar gering an Zahl, aber in allen Stücken gut ausgestattet, sie bewegte sich,
ordnete sich, gliederte sich durchaus uach den Grundsätzen der militärischen
Wissenschaft und focht genau nach den Vorschriften derselben. Der Schwarm
der Gegner aber war keine Armee, sondern ein Zusammenlauf wandernder
Araber und herumziehender Neger in ein gemeinsames Lager, den die irrlicht¬
artige Erscheinung eines Abenteurers und dessen Erfolge hervorgerufen hatten,
und der sich bei der ersten bedeutenden Schlappe wieder in die kleinen Gruppen
von Nomaden auflöse» mußte, aus denen er bestand. Daß die wilde Glaubens¬
glut dieser Menschenmasse und ihre Begier nach Beute sie bisher zu furchtbaren
Gegnern für solche Truppen machte, wie sie die ägyptische Regierung zur Ver¬
fügung hatte, ist bei El Obeid, Kaschgil und im ersten Treffen bei Teb fest¬
gestellt worden, aber das zweite hat mit nicht geringerer Klarheit gezeigt, daß
alle persönliche Todesverachtung jener Wüstensohne, all ihr ritterlicher Mut
nichts ausrichtet, wenn ihnen die stramme Entschlossenheit und Geschlossenheit
wohldisziplinirter Truppen, geführt von tüchtigen Offizieren, gegenübertritt und
die modernen Schußwaffen in geschickten Händen ihre Wirkung thun.
Immerhin eignen sich diese Araber, gleichviel, ob sie Beduinen oder Städte¬
bewohner sind, durch ihren nationalen Charakter, durch ihre physische Anlage
und durch ihre Lebensgewohnheiten vorzüglich zum Waffen Handwerke und geben,
wenn sie gut eingeübt sind, ausgezeichnete Soldaten ab. Als Plänkler und
leichte Reiter stehen sie in Asien und Afrika kaum andern Stämmen nach, und
als Hilfstruppen einer regelmäßigen Streitmacht, bestimmt, die Verbindungen
des Gegners zu bedrohen und zu stören, dem Feinde durch plötzlich erscheinende
und rasch wieder verschwindende Reiterzüge Abbruch zu thu», Nachzügler ab¬
zuschneiden und das gegnerische Lager fortwährend in Spannung und Aufregung
zu erhalten, sind sie unbedingt ohne Rivalen. Sieht man sie in ihrem Heimats-
lande, so fällt einem die außerordentliche Monotonie ihrer Gesichtszüge auf.
Der Weiße kennt im Ausdruck der Gesichter nur wenige Unterschiede. Bisweilen
begegnet uns ein Typus, der halb Stumpfheit, halb Wildheit ausprägt, aber
in der Regel herrscht in den Zügen der Beduinen der Ton grimmer Selbst¬
genügsamkeit vor, an dessen Stelle im Alter oder in hoher Stellung ein sehr
würdevoller Blick tritt. Die Gewohnheit, draußen im Freien die Augen halb
geschlossen zu halten, eine Gewohnheit, die teils gegen Flugsand und grellen
Sonnenschein schützen soll, teils von der steten Wachsamkeit herrührt, mit welcher
der mißtrauische Beduine nach dem Horizonte hinspäht, giebt dem Gesicht einen
unheimliche!, Ausdruck, während die stets gerunzelte Stirn, die sich auf dieselben
Ursachen zurückführen läßt, das Antlitz des Wüstcnbewvhners vor der Zeit mit
Falten furcht. Abgesehen hiervon ist der echte Wüstenarabcr genau das, was
seine Erscheinung verrät: ein wilder, abgehärteter und an Strapazen und Ent¬
behrungen gewöhnter Räuber. Die Stämme haben unter sich keine Zwerge
und Trottel, andrerseits aber auch leine Leute von ungewöhnlich hohem Wuchse.
Ein wohlbeleibter Beduine ist etwas unerhörtes. Auch alte Leute trifft man
in ihren Zelten nur selten an; denn das Schwert, das erste und oberste Be¬
weismittel des Volkes der Wüsten, ist einem langen Leben nicht günstig. Wäre
es hier nicht wie unter Löwen, d. h. gewänne nicht in jeder Gemeinschaft der
wildeste und stärkste die Obergewalt, übte er nicht seine Macht mit unparteiischer
Härte aus, und hielten nicht die Schrecken der erblichen Blutfehden in gewissem
Maße die Speere von den Hälsen und die Stämme von wechselseitigen Blut¬
vergießen zurück, so würde die Nation schon lange zu einem kleinen Häuflein
zusammengeschmolzen sein und, statt innerhalb ihrer Grenzmarken die stärkste
Rasse zu sein, sich in bloße Schakals der Einöde verwandelt haben. Ihre Vor¬
stellungen von der Tapferkeit stehen nicht im Einklang mit den westlichen Ideen
in Betreff dieser Tugend; denn der Araber hält es für ehrenwerte Kriegführung,
aus dem Hinterhalt auf arglose Reisende zu schießen. Als Held gilt bei ihnen
auch der, welcher nur ein Meuchelmörder ist. Die Kriege der Araber unter
sich sind, wie schon die Urgeschichte des Islam und die Heldenlieder von Antar
zeigen, nur eine Aufeinanderfolge von Scharmützeln, in welchen etliche hundert
Mann die Flucht ergreifen, nachdem sie ein Dutzend ihrer Leute verloren haben.
Der erste Ansturm sichert gewöhnlich den Sieg, und die Geschlagenen fliehen
dann, bis die Schatten der Nacht sie bedecken. Dann giebts Geschrei und Spott
von seiten der Weiber, schwere Gelübde und Eide, Rachelieder, wilde Aufregung
und schließlich Repressalien, die leicht zur Flucht des frühern Siegers führen.
Wenn Friede geschlossen wird, zählen beide Parteien ihre Toten, und wenn die
eine Seite deren mehr hat, so zahlt die andre das herkömmliche Blutgeld.
Gewöhnlich aber währt die Fehde fort, bis, nachdem alle ihrer überdrüssig ge¬
worden, irgend ein vornehmer Mann, etwa der Scherif von Mekka, ersucht
wird, ein Abkommen zu vermitteln, das aber nichts als ein Waffenstillstand zu
sein pflegt. Nach einem Frieden von einigen Monaten fordert ein Blick oder
ein Wort von neuem Blut; denn der gegenseitige Haß rührt von Alters her
und erzeugt unaufhörlich neuen Zank und Hader.
Das sieht neben unsern Ideen vom Wesen des Krieges ziemlich erbärmlich
aus. Aber Burton, vielleicht der beste Kenner des Charakters der arabischen
Stämme, sagt, daß die Beduinen keineswegs Feiglinge seien, und die Schlachten
der sudanischen Revolution bestätigen seine Behauptung. Die Gewöhnung an
die Gefahr, die sie sich bei ihren Raubzügen gegen einander und gegen be¬
waffnete Karawanen sowie bei Verfolgung von Blutschuld erwerben, die stete
Unsicherheit der Existenz, das Wüstenleben mit seinen Entbehrungen, die Jagd
stählen das Nervensystem, während ihr unablässiger Gebrauch der Waffen in
Spiel und Ernst und ihre große Neigung zu kriegerischen Übungen sie gewöhnen,
dem Tode wie Männer ins Gesicht zu blicken. Unter dem Einfluß mächtiger
Antriebe erheben sie sich leicht zu absolutem Heldensinn, namentlich unter der
Wirkung religiöser Motive. Ein gewisser ritterlicher Sinn gegenüber deu
Frauen läßt sie deren Meinung über ihre kriegerische Tüchtigkeit sehr hoch stellen,
und ihre Dichter regen zu Thaten an, wie sie die fahrenden Ritter der Sagen¬
welt verrichten, beides aber, das Urteil der Frauen und das der Dichter, macht
ein friedliches und harmloses Hinleben des Einzelnen zum Gegenstande des
Tadels und Spottes. „Der Name eines Harmni (Räuber) ist »och heute eine
Ehre unter ihnen." Bei einem Beutezug oder Überfall fallen, heißt als
Gandur sterben. Wer dagegen in seinem Bette stirbt, ist Falls (Aas), seine
weinende Mutter ruft klagend aus: „O daß doch mein Sohn als Räuber
gefallen wäre," und ihre Mägde äußern demütig die Vermutung, daß dieses
Unglück der Ratschluß Allahs gewesen sein möge. Wo solche Auffassung vor-
herrscht, muß der Zustand der Gesellschaft eine fast unaufhörliche Aufregung
und Verwirrung sein und der Pegel des persönlichen Mutes einen ungewöhnlich
hohen Grad anzeigen. Und in der That hält der asiatische und der afrikanische
Beduine nichts für manneswürdig als die Gewaltthat und nichts für so ehrenvoll
als den Krieg. Nur zu Rosse, den Speer in der Hand, erscheint er sich als
ganzer Mann, und die einzigen einem solchen ziemenden Beschäftigungen sind
Waffenübungen und Reiterkünste. In der Regel sind die Beduinen schlechte
Schützen, aber treffliche Reiter. Ihre Waffen sind die langläufige Luntenflinte,
die dem Jizail des Afghanen gleicht, ein sehr weit gebohrtes Pistol mit Stein¬
schloß, Wurfspieße, Lanzen, Schwerter und Dolche. Neuerdings haben sie sich
auch gezogene Gewehre verschafft, und die Araber, mit denen Grccham zu thun
hatte, waren teilweise mit Remingtons ausgerüstet, welche Bakers Ägypter bei
El Teb weggeworfen oder welche die Aufständischen in den Zeughäusern von
Sinkat und Tokar erbeutet hatten. Aber die Lieblingswaffe des Arabers, mit
der er sich jeden Tag übt, ist der Kant, eine zwölf Fuß lange Lanze, die oben
in eine sehr dünne und scharfe Stahlspitze ausläuft und mit Büscheln von
Straußenfedern oder Pferdehaaren verziert ist. Andre tragen eine kurze
Partisane mit breiter Klinge, und mit dieser thut der Uuberittene im Kampfe
die beste Arbeit. Der Schild gleicht dem der Beludschen, er besteht aus Leder,
das mit Messing eingefaßt ist. Ihr Schwert ist lang und nur leicht gekrümmt.
Manche führen auch das breite und völlig gerade zweischneidige Schlachtschwert
der Abessinier. Ihre Pferde sind klein, aber schnell. Wie die Orientalen überhaupt,
reiten sie mit sehr kurzgeschnallten Steigbügeln und auf ungewöhnlich hohen
Sätteln, sodaß sie ihre Tiere stark in der Gewalt haben und sie mit der größten
Plötzlichkeit zum Haltmachen nötigen können. „Fliehen macht bei ihnen keine
Schande." Im Gegenteil, es gehört zu ihren Hauptmanövern, und wenn sie
dann, wie das oft geschieht, nicht in dichter Masse, sondern in einem zerstreuten
Schwarm sich wieder auf ihre Verfolger werfen, endigt die Scheinslncht nicht
selten mit einem thatsächlichen Siege.
Natürlich sind diese Wüstenkrieger mit ihren unvollkommenen Waffen und
ihrer elementarischen Kriegführung für Truppen zivilisirter Völker, wenn die
betreffende Gegend sich nicht zu Hinterhalten und Überfällen eignet, trotz ihrer
Todesverachtung nicht sehr gefährliche Gegner. Ihr wildes Äußere und ihr
furchtbares Geschrei beim Angriffe jagte wohl die kaum gedrillten und gründlich
feigen Ägypter Bakers ins Bockshorn, aber nicht die „schwarze Wache" und
die Fünfundsechziger Gradaus. Mit unglaublicher Schnelligkeit und, wie es
schien, mit verzweifelter Entschlossenheit stürmten sie gegen die englischen Hoch¬
länder und Rotröcke heran, aber rasch aufeinanderfolgende Salven hemmten
bald ihren Lauf, und vor dem Anblicke eines wohlgeformten Karrees prallten
sie zurück, um sich zur Flucht zu wenden. Ähnlich erging es bei andern Zu¬
sammenstößen orientalischer Krieger mit modernen Truppe». In Afghanistan
stürzten sich muslimische Fanatiker, angetrieben von ihren Heiligen und Der¬
wischen, mit erstaunlicher Begeisterung in die Schlacht, aber ein kräftiger Em¬
pfang mit Infanterie- und Artilleriefeucr verwandelte gewöhnlich den Sturm in
Flucht und die religiöse Glut in panischen Schrecken. In Algerien ferner
schlugen die Franzosen den Aufstand der Araber, da sie besser bewaffnet als
diese und etwa gleichstark an Zahl waren, zuletzt nieder. Aber die Niederlage
der Engländer bei Kandahar ist noch unvergessen, und in Algerien währte der
Kampf, allerdings auch infolge der Natur und des Klimas des Landes, Jahr'
zehnte hindurch. Wenige Heere haben eine so große Unerschrockenheit und Aus¬
dauer an den Tag gelegt als die Scharen Abd el Katers gegenüber den Fran¬
zosen, und die Lektion, die damals den Europäern erteilt wurde, sollte in
England auch nach Gradaus Sieg unvergessen bleiben. Osman Digna mag
kein so energischer Charakter sein wie andre Feldherrn der muslimischen Welt,
aber die Leute, die er befehligt, gleichen doch in vielen ihrer Zügen denen,
welche wiederholt die tapfersten französischen Truppen bis an die Sceküste zurück¬
trieben, und sie scheinen von derselben Glaubensschwärmerei beseelt zu sein,
welche die grüne Fahne des Propheten triumphirend von Land zu Land, bis
nach Spanien und Indien trug und Europa zwei Jahrhunderte mit Furcht und
Schrecken erfüllte.
>5F«W 4
5 "iH/-^
WO
?5<luser unter dieser Überschrift veröffentlichter Artikel hat sich eines An¬
griffs der „Berliner Börsenzeitung" zu erfreuen gehabt, auf den wir,
unter strengster Beschränkung auf die Sache, eine kurze Erwiederung
für nötig halten,") Vor allem danken wir der „Börsenzeitnng" für
die reiche Zitirung ganzer Abschnitte unsers Artikels. Es ist dadurch
die Kenntnis desselben auch zu einem Teile des Publikums gedrungen
und hat diesen zum Nachdenken und Vergleichen über den behandelten Gegenstand an¬
geregt, zu dem er dnrch die grünen Hefte allein nicht gekommen wäre. Den Vorwurf,
nicht sachverständig zu sein, sowie alle Persönlichen Verdächtigungen können wir
getrost der Beurteilung der Leser überlassen, Sie beweisen jedenfalls, daß der
Hieb gesessen, und er kann auch durch eine Handbewegung nicht weggewischt werden.
Oclerint, aum mötuMt,
Der Saltomortale von den „Drohnen" auf die „Arbeitsbienen," um als
letztere die Sozietätsdirektoren hinzustellen, war eine unnütze Kraftanstrengung, denn
es genügt ein einfacher Schritt in das geschäftliche Treiben des Volks, um die
Arbeitsbienen bei den die fetten Dividenden produzirenden Prcimicnzahlern zu finden.
Wir verwahren uns auch gegen die uns untergeschobene Absicht, mit unsrer
Arbeit das Reskript des Reichskanzlers vom 19, März v, Is, rechtfertigen zu
wollen. Dieser Versuch hieße von unserm Standpunkte aus Eulen nach Athen
tragen. Der Behauptung des unverhältnismäßig hohen Gewinns, der zu hohen
Prämiensätze und vorkommender ungerechtfertigter Mittel bei den Regulirungen von
Brandschäden ist der Ausschuß des Verbandes deutscher Privatfeuerversichcrnngs-
gesellschaften in einer an die Oberpräsidenten des preußischen Staates gerichteten
Eingabe entgegengetreten. Die in dieser Eingabe durch unrichtige Gruppirung
gewonnenen Zahlen haben wir durch andre Zahlen widerlegt, welche den eignen
Abschlüssen der Gesellschaften entnommen sind. Ferner haben wir durch Beispiele
unredlicher Schadeuregulirungen, die aus der Praxis entnommen waren, bewiesen,
daß solche nicht nur auf Mißgriffen der Regulirungsbeamten beruhen, sondern mit
Wissen und Willen der Gesellschaften zum Vorteil ihrer Aktionäre systematisch be¬
trieben werden. Daß nur vier konstcitirte Fälle als Beispiele angeführt wurden,
beruhte nicht auf Mangel an Material, sondern lediglich auf dem Umfange des
uns zur Verfügung gestellten Raumes.
Den Gegenbeweis durch Zahlen ist die Erwiederung der Börsenzeitung ihren
Lesern schuldig geblieben. Wenn sie sich in ein vornehmes Gewand hüllt und sich
stolz hinter dem Vorwurfe des „Klatsches" zurückzieht, so erinnert sie nur an den
Ausspruch jener Gesellschaft, welche dem Prinzip des mittelheiligenden Zweckes
huldigt: 8i tseisti, us^. Vor uns liegt der Bericht eines Gcsellschaftsvorstandes
an seine Aktionäre, in dem es heißt: „Es haben auch zahlreiche Konkurrenzorgane
die Situation durch Verdächtigung der jüngern Kompagnien mit sehr großem, aber
wenig rühmenswertem Eifer ausgenützt. Wir hatten sehr oft um die Erhaltung
unsers alten Bestandes zu kämpfen," Wir können nicht annehmen, daß diese
Beschuldigung der schwesterlichen Konkurrenz nicht auf Thatsachen begründet sei.
Um die Erinnerung an die Verheimlichung ungünstiger Geschäftsresultate aufzu¬
frischen, lenken wir die Aufmerksamkeit auf No. 32 des vorigen Jahrgangs der
„Allgemeinen Versicherungspresse," wo es heißt! „Von verschiednen Seiten sind
wir daran erinnert worden, daß wir über die letzten Rechnungsabschlusse mehrerer
lAktien-Z Gesellschaften noch keine Referate gebracht haben. Die Mehrzahl dieser
Gesellschaften sind allerdings solche, die wir am liebsten mit Stillschweigen über¬
gehen möchten. . . . Einige wenige Gesellschaften behalten jenthalten?^ uns regel¬
mäßig den Geschäftsbetrieb bor, wozu sie vielleicht, als lichtscheu, Grund genug
haben mögen."
Die bewiesenen Unredlichkeiten in den ausgewiesenen vier Schadenfällen
werden durch die Behauptung zu entkräften gesucht, daß sich derselben keine
der großen „Prima"-Kompagnien, auch keine Verbandsgesellschaft schuldig gemacht
habe. Woher diese Wissenschaft? Etwa aus den Paragraphen-Nummern der Ver¬
sicherungsbedingungen? Dann genüge der Hinweis, daß diese Fährte falsch ist.
Und kann es ein Trost für den Übervorteilten sein, nicht von der CrSme der
Assekuranz, sondern nur von den alis imnoruin sseutium übers Ohr gehauen
worden zu sein? Und wäre es nicht eine Pflicht derjenigen, welche die „Primas-
Kompagnien kennen, diese zu nennen, um das unwissende Publikum vor fernerem
„Reinfall" zu bewahren?
Die gegnerische Durchschnittsberechnuug in der erwähnten, für die preußischen
Oberpräsidenten bestimmten Eingabe geht von unrichtigen, die vertuschende Absicht
der Eingabesteller befördernden Prämissen aus. Wenn der für diese Behandlung
erbrachte Beweis unverständlich sein soll, so liegt das Nichtfassungsvermögen nur
an dem bösen Willen, welcher sich sogar gegen das Verständnis beweisender Zahlen
hartnäckig verschließt. Von den aufgeführten dreißig Gesellschaften sind ihrem
Kundenkreise 24000 000 Mark an Dividenden, Zinsen und zuviel verwendeten
Verwaltungskosten abgenommen worden. Um diese 24000000 Mark würden die
36 Milliarden Werte billiger versichert worden sein, wenn die Verwaltungskosten
der Gesellschaften das Niveau der Aachen-Münchener nicht überschritten und ihren
Aktionären keine Dividenden und Zinsen zu zahlen gehabt hätten.
Die Schäden und Verwaltungskosten sind für die Prämiensätze der Aktien¬
gesellschaften, trotz der wiederholten Behauptung des Gegenteils, nicht einflußlos,
denn diese Prämiensätze müssen stets so normirt werden, daß sie außer der Deckung
der Schäden und den Bedürfnissen der Regie noch die Dividende der Aktionäre
abwerfen. Bei der Normirung der Beiträge der reinen Gegenseitigkeitsgesellschaften
sind keine schonenden Rücksichten ans das Wohlwollen leicht verstimmter dividenden¬
berechtigter Aktionäre maßgebend. Unsre Tabelle zeigt auch, daß der Durchschnitts¬
prämiensatz der Aachen-Münchener, deren Aktionäre 70 Prozent Dividende erhielten,
1,43 Prozent, der der gegenseitigen Gothaer, deren Geschäft und Bonnae von gleicher
Beschaffenheit ist, nur 0,S7 Prozent betrug.
Eine Gesellschaft, deren ausländisches Geschüft verlustbringend war, wird den
Ausfall auf die Schultern ihrer inländischen Kunden abzuwälzen und durch erhöhte
Prämien für das inländische Geschäft zu einem möglichst konvenabeln Durchschnitt
zu gelangen suchen. Vor uns liegt, der Geschäftsbericht einer deutschen Aktien-
gesellschnft über das Jahr 1882, in welchem es heißt: „Das deutsche Geschäft ist
auch im verflossenen Jahre in zufriedenstellender Weise verlaufen. . . . Dagegen hat
unser außerdeutsches Geschäft uns im vergangenen Jahre besonders schwere Verluste
zugefügt, ... daß sie den aus unserm sonstigen Geschäfte erzielten Nutzen total
nbsorbirten. Wir teilen in Bezug auf diese Geschäfte das Schicksal andrer deutschen
Kompagnien." Wenn trotz dieses Schicksals aus den reinen Prämien eine Durch-
schnittsdividendc von 27 Prozent gegeben werden konnte, so ist es evident, daß
dieses schöne Geld nicht vom Auslande verdient, sondern vom Inlande in zu hohen
Prämien gesteuert wurde.
In der Behauptung, es sei unwahr, daß eine große Anzahl von feuergefähr¬
lichen Risiken überhaupt keine oder doch nur eine unvollständige Versicherung
fänden, liegt eine Dreistigkeit, für welche wir in Deutschland gar keinen passenden
Ausdruck haben. Unsre Mitbürger semitischer Abstammung bezeichnen sie mit dem
Worte VImiPö. Die Behauptung wird durchaus aufrecht erhalten, und gerade aus
dem ihr zu Grunde liegenden Übelstande leitet sich die Notwendigkeit einer großen
Reichsversicherungsaustalt mit her.
Es ist ein trauriges Zeichen für unsre gesellschaftlichen und geschäftlichen Zu¬
stände, wenn jedem zu ihrer Besserung oder Umgestaltung gemachten Versuche
persönliche Motive und selbstische Zwecke von der Gegenseite uuterschobeu werden.
Den Organen, die für eine Reform des heutigen Versicherungswesens eintreten,
wird entweder das Verständnis der Sache abgesprochen oder, um das Urteil der
Menge zu verwirren, die Parteinahme aus dem Interesse eines Sozietätsbeamteu
untergeschoben. Die Pflicht der Selbsterhaltung gebietet es daher, die kaptatorische
Behandlung dieser Angelegenheit durch die Fachpresse und einige sich um die Fahne
der Versicherungsgesellschaften scharenden Tagesblätter, ans welche vielleicht der
Gewinn aus den umfangreichen Annoncen nud Reklamen der Gesellschaften nicht
ohne Einfluß ist, nicht unerwähnt zu lassen.
Wir sind uus bewußt, in unserm Artikel weder für die Feuerversicheruugs-
sozictätcn in ihrer heutigen Verfassung und Gestalt eingetreten zu sein, noch in
schneidigen Polizeibeamten das Muster eines Regnliruugsbcamteu hingestellt zu haben.
Unsre oratio xro sono bezog sich auf die Abschaffung von Mißverhältnissen, welche
ini gesamten deutschen Fcucrversicheruugsgcschäft bestehen, und damit auf die Möglich¬
keit, dasselbe in regenerirtcr Gestalt dein deutscheu Volke billiger und besser zu
gewähren. Die frühere Zerrissenheit unsers Vaterlandes spiegelt sich noch heute in
der Buntschcckigkeit seines Feuervcrsichcrungswcscns ab. Reiche, große, sicher
fundirte Kompagnien haben schwache Kolleginnen zur Seite, welche nur mit Mühe
und Not den Kampf mit den mächtigen Rivalinnen bestehen und zur Aufrecht¬
erhaltung ihres Umfanges zur unverhältnismäßig starken Aufnahme solcher Risiken
gedrängt werden, welche die stolzen Schwestern als nicht annehmbar abgewiesen
haben. Die durch diese Geschäftsführung verursachte pekuniäre Lage bietet ihren
Klienten nur eine zweifelhafte Sicherheit. Doch keine von allen diesen Gesell-
schaften hat das Prinzip, den dnrch elementare Unfälle Betroffenen vom wirtschaft¬
lichen Untergang zu retten oder von ihm tiefeinschneidende wirtschaftliche Störungen
abzuwenden, sondern das Alpha und Omega ihrer Bestrebungen ist der Erwerb
einer möglichst hohen Dividende. Neben ihnen arbeiten die Gegenseitigkeits-
gesellschafteu, welche zwar die Aufgabe der Schutzgenosseuschast zum Vorwande
ihrer Existenz genommen, jedoch zum Besten einer begünstigten Minorität das
Prinzip der Aktiengesellschaften adoptirt haben. Trotzdem sind sie das Band, welches
zu den Stadt- und Landfenerversichernngssozietäten führt. Alle drei Systeme
haben neben sich die Zerrbilder des Versicherungswesens, jene zahllosen kleinen, in
engster örtlicher Ausdehnung beschränkten lokalen Brandkassen und Vereine, deren
Mitglieder durch einen verirrten, vom Sturme angefachten Funken an den Bettelstab
gebracht werden können. In einem gewissen Grade leiden an dein Übel der ört¬
lichen Beschränkung sämtliche öffentliche Sozietäten. Diese haben auch in ihrer
Leitung und in ihren Verfassungen noch viele, mit den Anfangsgründen des Ver¬
sicherungswesens zusammenhängende Zöpfe und einen krassen Schematismus, der
ihre Entwicklung hindert.
Eine Korrektur dieser Mißstände suchen wir in der Bildung einer allgemeinen,
unter staatlicher Leitung stehenden Reichsseuerversichernngsanstalt. Durch deren
Bildung sollen weder dem Staate Kosten verursacht werden, noch einer seiner
Unterthanen Einbuße am Vermögen erleiden. Der Staat braucht zur Übernahme
des Versichcrungsgeschäfts weder noch im Gange befindliches Bctriebsmciterial, noch
altes Eisen, das als Betriebsmaterial gilt, anzukaufen. Die Gesellschaften werden bald
von der Nutzlosigkeit des Wettkampfes überzeugt sein und an ihre Auflösung schreiten.
Die Aktionäre der „Prima"-Gesellschaften werden in diesem Falle den drei- bis
fünffachen Betrag ihrer eingezahlten Gelder und ihre Depotwechscl aus den
Tresors der Kompagnien zurückerhalten, die der minder gut situirter Gesell¬
schaften werden froh fein, dnrch eine ans anständige Weise herbeigeführte Liqui¬
dation der auf den Leib einiger versorgungsbedürftigen Vettern gegründeten
Institute der Angst vor Nachzahlungen enthoben zu werden.
In der ganzen deutschen Presse giebt es kein Blatt, das in der Bekämpfung der
Meinung andrer einen so hochmütigen Ton anschlüge wie die Nationalzeitung, und doch
hat in Rücksicht ans innern Wert kein Blatt so wenig Grund, eine herausfordernde Hal¬
tung anzunehmen wie das sezessionistische Finanzblatt. War es nach Zabels Versicherung
die Aufgabe der Nationalzeitung, „den demokratischen Ariadnefaden" in dein Labyrinth
der Tagesereignisse festzuhalten, unter der ausdrücklichen Betonung, daß bei dem
Unternehmen stets auf den Beruf der Presse, nicht ans den finanziellen Gewinn
Bedacht genommen werde, so befleißigt sie sich gegenwärtig vornehmlich den „finan¬
ziellen Ariadnefaden" nicht zu verlieren, was zur Genüge erklärt, weshalb sie
gestern konservativ-nationallibcral und heute sezessionistisch-fortschrittlich-radikal schil¬
lert, je nach dem Ergebnis der Abonnentenjagd. Kein deutsches Blatt illustrirt besser
Feuerbachs Worte: „Schein ist unsre Politik, Schein unsre Sittlichkeit, Schein unsre
Religion, Schein unsre Wissenschaft" als die Nationalzeitung, nach deren Lektüre
man seit Jahren immer die Empfindung hat, welche der ebengenannte Philosoph
dahin zusammenfaßt: „Kurz, sittlich ist nur die Lüge, weil sie das Übel der
Wahrheit oder — was jetzt eins ist — die Wahrheit des Übels umgeht, ver¬
heimlicht."
Wir hatten in dem Rückblick aus die Thätigkeit des preußischen Landtags
auch ans die Bewilligung von zwei Millionen Mark zu Kunstzwcckcn Bezug ge¬
nommen und dabei bemerkt:
Die Forderung wurde unter dein Beifall der Liberale» bewilligt, denen ja bekanntlich „in der
Förderung von Kunst und Wissenschaft kein Opfer zu groß" ist. Wer auch auf diesem Gebiete
den von ihnen sonst so nachdrücklich gepredigten Grundsätzen der reiflicher Erwägung hinsicht¬
lich der Leistuugsslihigleit.der Stencrkraft des Volkes huldigt und auch hier daran erinnert:
Lst woäus in robus, 8unt eorti äsnigus Lnos — der wird als ein „Dunkelmann" und Erz¬
reaktionär verschrieen. Aber es giebt Leute genug, die in Bezug aus „Ausklärung" und als
„Lichtfreunde" den Herren von der Linken so nahe als möglich stehen und doch die Ansicht
vertreten, daß mich auf dem Gebiete von „Kunst und Wissenschaft" ein Zuviel gethan werden
könne und wir in Berlin nicht mehr weit von diesem Punkte entfernt seien. Die „Kunst-
simpclei" grassirt in der Berliner Gesellschaft in erschrecklichem Maße, und die „Wiedcrgeburts-
tiimelei," das Rcnaissancefieber hat schon manchen und manche um ihr bißchen Verstand ge¬
bracht. Wenn man die verschwenderische Ausstattung betrachtet, mit der jetzt Staats- und
Gemeindebanten bedacht werden, so sollte man glauben, daß wir „heldenmäßig viel Geld"
hätten, was doch, wie nicht nur der Finanzminister weiß, keineswegs der Fall ist. Der fort¬
währende Hinweis ans Paris und London hat etwas Krankhaftes; den Vorsprung der Jahr¬
hunderte, den die beiden Hauptstädte vor Berlin voraus haben, kann die kaiserliche Residenz¬
stadt niemals einholen, nud es liegt auch nicht der Grund vor, sie dazu anzuspornen. Berlin
soll sich als deutsche Hauptstadt entwickeln und braucht weder der Metropole an der Themse
noch dein Sciuebabcl, dem Victor Hugvschen „Hirn der Welt," nachzueifern. Diese Anfeue-
rung zum Wettstreit mit London und Paris geht, das verdient nachdrücklichst hervorgehoben
zu werden, auch nur in geringem Grade von den eingebornen Berlinern und den in der
Hauptstadt ansässigen Deutschen, sondern vorwiegend von den Mitgliedern der goldnen Inter¬
nationale und der ihr dienstbaren Presse aus.
Die Nationalzeitimg hat Anweisung bekommen, gegen diese unsre Bemerkung
loszugehen, und entledigt sich dieses Auftrags in folgender geschmackvollen, den ver¬
edelnden Einfluß der Kunst in jeder Silbe verratenden Weise:
Zur Orientirung darüber, nach welcher Richtung die Hunde, die bellen wollen, eben los¬
gelassen werden, dient die folgende Bemerkung der Grenzboten über die Bewilligungen des
Abgeordnetenhauses zu Kunstzwecken. sHierauf folgt unsre Auslassung, natürlich, wie es bei
der punischen Fcchtweise des Blattes üblich ist, unter Weglassung der für den rich¬
tigen Sinn unsrer Bemerkung entscheidende» Worte des Eingangs- und Schlu߬
satzes. Dann fährt sie forUs Daß die Schule, welcher die Grenzboten angehören, sich in
direktem Gegensatz gegen die Pflege der Kunst fühlt, ist begreiflich; die Kunst hat die Ver¬
feinerung der Gesinnung im Auge, der Grundzug der Grenzboten und verwandter Geister ist
die Tappigkeit und Rohheit, welche sie mit Genie und Kraft verwechseln. Daher auch dieser
Ausbruch von Abgunst gegen die Kunst als eine Macht, in der sich der Widerstand gegen diese
Brntalisirung aller Lebensverhältnisse immer von neuem sammelt, von welcher die Reaktion
gegen die jetzt herrschenden Tendenzen ausgehen wird.
In der That, ein unvergleichliches Beispiel von „Verfeinerung der Gesinnung"!
Wie konnten wir aber auch auf die „goldne Internationale und ihre Presse" hin¬
weisen, das ist ja in den Augen gewisser Leute ein nnsühnbares Verbrechen! Die
Nationalzeitung und ihre Souffleure fühlten sich schwer getroffen, es war die
Stelle, wo sie sterblich sind. „Hunde, Tappigkeit, Rohheit, Brntalisirnng" — welch
herrlicher Wortschatz „verfeinerter Gesinnung"!
Also wer behauptet, daß es auch in dem Aufwand für Kunst und Wissen¬
schaft ein Zuviel geben könne, der geht nach der Ansicht der Souffleure der Na¬
tionalzeitung auf nichts geringeres aus, als auf „die Brutalisirung aller Lebens-
verhältnisse." Prächtiges Schlagwort! Wenn die Herren Direktoren und Assistenten
der Berliner Museen nicht Millionen bewilligt bekommen, um leere Wandstellen
mit zweifelhaften Rubensbildern 5, 200000 Mark füllen oder alte Handzeichnungen,
über deren Wert und Ursprung die Lermolieffs sehr verschiedner Ansicht sind, auf¬
speichern zu können, wenn die Orientalisten in den Museumsverwaltungcn verhindert
werden, für persische Lumpen, die erst für schweres Geld in Paris notdürftig auf¬
gebügelt werden müssen, unerhörte Preise zu zahlen, wenn dem albernen Sport, den
man mit Chinoiscrien und japanesischen Lackarbeiten treibt, ein Riegel vorgeschoben
wird, dann werden „alle Lebensverhältnisse brutalisirt," dann hängen wir uns
wieder die Bärenfelle unsrer Vorfahren um oder fangen gar an, auf allen Vieren
zu laufen! Das wäre freilich schrecklich. Dann könnten die Herren Museums¬
beamten, von denen übrigens der und jener die „Verfeinerung der Gesinnung"
schwer erkennen läßt, keine Reisen mehr auf Staatskosten nach Italien, Frankreich
und England machen, dann müßte der arme Finanzbaron sein koscheres Mahl
wieder in der Lehmhütte wie seine über unsre Ostgrenze eingewanderten Vorfahren
einnehmen; aus wäre es mit den „antiken" Stühlen, der „antiken" Tischwäsche und
den massiv goldnen Prunkgefäßen aus dem „Familienschatz." Ja, die „Brutalisi-
ruug aller Lebensverhältnisse" — es ist unglaublich, was die „Reaktion" nicht
alles anstrebt, sogar den Antiquitäten- und Raritätenhändlern will sie das Geschäft
verderben.
Die Grenzboten der „Abgunst gegen die Kunst" zu beschuldigen, ist gerade so
abgeschmackt, als wenn jemand der Nativnalzeitung „Abgunst" gegen die fort¬
schreitende Verjudung unsers öffentlichen Lebens oder „Abgunst" gegen die intimen
Beziehungen einer Zeitung zu Börsenmatadoren oder „Abgunst" gegen die „Tätig¬
keit und Rohheit" semitischer Literaten nachrühmen wollte. Weit entfernt, den
Aufwand einiger Millionen für Kunstzwecke abgünstig zu beurteilen, gewährt es
uns vielmehr die höchste Befriedigung, zu sehen, wenn dem Staate zur Förderung
idealer Zwecke ausreichende Mittel zur Verfügung stehen. Aber die Grenzboten
werden sich durch die „Rohheit und Tappigkeit" der Natioualzeitung nicht davon
abhalten lassen, ihre Stimme zu erheben gegen die Verwendung von Staatsgeldern
im Interesse einseitiger Liebhabereien und zur Begünstigung herrschender Mode¬
thorheiten.
Die Natioualzeitung hat in Verbindung
mit ihren eignen Auslassungen eine Notiz der „Germania" abgedruckt, worin
wieder einmal angenommen wird, daß unser Mitarbeiter, Herr Dr. Moritz Busch,
Redakteur dieser Blätter oder gar Verfasser des Artikels „Aus dem Preußischen
Landtage" sei; auch der „Kladderadatsch" sagt über diesen Artikel: Herr Busch
„nlle" in den Grenzboten :c. Dem „Kladderadatsch," bei dem ja schon längst die
„Gesinnungstüchtigkeit" den Witz bedeutend überwiegt, nehmen wir das nicht übel.
Die Nationalzeitung aber weiß, daß sie damit einem Irrtum Vorschub geleistet
hat, denn sie hat schon vor einiger Zeit einmal die Behauptung widerrufen müssen,
daß Herr Dr. Busch Redakteur der Grenzboten sei. In dem ganzen Angriff der
Nationalzeitung macht sich wohl nur der versetzte Grimm über die Zurechtweisung
etwas Luft, welche sie jüngst wegen Bnschs Buch „Unser Reichskanzler" hat hin¬
nehmen müssen. Da wurde man plötzlich ganz still, nachdem man vorher den
Mund gewaltig weit aufgerissen hatte.
Es mag wohl sein, daß unsre Zeit
schnelllebiger geworden ist, als es noch die unsrer Großväter war; jedenfalls ist
sie selbstbewußter, kühner und — oberflächlicher geworden. Wer die alljährlichen
dickleibigen Bände des ReichsgcsetMattes und der preußischen Gesetzsammlung be¬
trachtet, der wird den Standpunkt Savignys, daß unsre Zeit keinen Beruf für die
Gesetzgebung habe, für einen überwundnen halten. Und doch wäre zu wünschen,
daß nur eines unsrer modernen Gesetze die Stetigkeit und den Einfluß besäße,
wie jene alten, lange durchdachten und wohlerwogenen Verordnungen des viel-
geschmähten Absolutismus. Wer die zahllosen Bücher und Broschüren über¬
schaut — Leser aller kann mir ein Rentier von dein Alter Methusalems sein —-,
mit denen fast täglich der Büchertisch über die soziale Frage, über die Lage der
Landwirtschaft und sonstige zeitbewegcnde Fragen überschüttet wird — der sollte
glauben, daß die Lösung des Problems garnicht so schwer sein und unter den
unzähligen Versuchen doch ein gelungener sein würde. Aber wieviele lohnen
nicht einmal den Blick, der hineingeworfen wird; einseitige, flüchtige Beobachtungen,
vielleicht auch geistreiche Einfälle, aus verschleimen Ackern Zusammcngepflügtes —
das ist der Inhalt der Mehrzahl, ganz abgesehen von den Anpreisungen der
Charlatans und Wunderdoktoren, wie sie sich in den berufsmäßigen Leitartikel»
Schreibern der Tagespresse darstellen.
Gegenüber diesen Erscheinungen der Gegenwart ist es eine wahrhafte Er-
guickung des Geistes wie des Herzens, in der Biographie Johann Heinrichs
von Thüren ein Forscherlcbcn vor sich aufgerollt zu sehen, das aus dem engen
Berufskreise nach jahrelangen, sorgfältigsten und peinlichsten Untersuchungen zu
bahnbrechenden Ergebnissen gelangte, und doch daneben ein harmonisches, fest in sich
abgeschlossenes Gesamtbild bietet. Zum erstenmale hat im Jahre 1863 Schumacher,
ein Hausgenosse und Schüler Thurms, dessen Leben beschrieben und eine Reihe
seiner Briefe herausgegeben. Vou dieser Lebensbeschreibung ist zur Erinnerung
an seinen hundertjährigen Geburtstag — Thüren ist am 24. Juni 1733 im
Jeverlande geboren — jetzt eine zweite mit dem Bilde Thurms geschmückte Auf¬
lage erschienen (Rostock und Ludwigslust, Verlag von Hinstorff). Die Biographie
an sich nimmt nnr einen kurzen Raum ein; es ist das Leben eines einfachen
Gutsbesitzers und Forschers, der wacker arbeiten und sich quälen muß, um sich
seine Existenz zu erringen, der aber nicht müde wird, einen aus seinen Er¬
fahrungen gewonnenen Gedanken bis in den letzten Ursprung mit unerschöpflicher
Genauigkeit und mathematischer Schärfe — Thüren war von Jugend ans mit
Vorliebe der Mathematik ergeben — zu verfolgen. Dabei ein liebevoller Gatte,
ein sorgsamer, zärtlicher Vater, ein hingebender Freund, ein Mann von Herz für
die Leiden der kleinen Leute, ihr Berater und Wohlthäter. Die Briefe, haupt¬
sächlich an Mitglieder der Familie, namentlich den Bruder und Schwiegersohn
Christian von Büttel, gerichtet, zeigen uns nicht nur alle Seiten dieses herrliche»
Charakters, sondern führen uns auch in die Werkstatt seines Gedankens und geben
uus einen Aufschluß über seine Werke.
Die großen Verdienste Thurms aus dem ökonomischen Gebiete bediirfeu kaum
einer Erwähnung mehr; er hat in seinem berühmten Buche vom isolirten Staat
den Einfluß der^Lage des Grundstücks zum Marktgebiet und zu den Wirtschafts¬
gebäuden auf die Bildung der Grundrente mit solcher Schärfe dargelegt, daß erst
durch ihn die Ricardosche Theorie ergänzt und gegen alle Zweifel sichergestellt
erscheint. Er hat ferner eine Formel für den naturgemäßen Arbeitslohn gefunden,
wonach sich dieser als die mittlere Proportionalzahl zwischen dem Bedürfnis des
Arbeiters und seinem Arbeitsprodukt darstellt, d. h. der Lohn muß das Bedürfnis
in demselben Maße übersteigen, wie das Erzeugnis den Lohn. Es ist dies die
berühmte, auch in das Grabmal des Forschers eingegrabene Formel „der natur¬
gemäße Arbeitslohn ----- wobei ^ das Arbeitsprodukt eines mit einem ge¬
wissen Kapital arbeitenden Arbeiters, « die Größe des Unterhaltes einer Arbeiter¬
familie mit zwei Kindern bezeichnet. Die Richtigkeit dieser Formel ist zwar heute
mit sehr gewichtige» Gründen angefochten, weil die Voraussetzungen, von denen
Thüren ausgegangen ist, nicht zutreffend erscheinen. Die Anteile der verschiedenen
Produktionsfaktoren gehen so sehr in einander über, daß es unmöglich gelingen
kann, diese Anteile, so oft sie besonders und entsprechend vergütet werden könne»,
auszuscheiden. Der größere und eine immerdcinernde Geltung beanspruchende Wert
der Thüncnschcn Untersuchung liegt aber darin, daß Thüren zuerst die laufenden
Theorien über den Arbeitslohn durch seine Kritik vernichtet und ausgesprochen hat,
daß der naturgemäße Arbeitslohn auch der Gerechtigkeit entsprechen muß. Er stellt
sich nicht als etwas von dem Erzeugnis Unabhängiges, als die Befriedigung des
notwendigsten Bedürfnisses des Arbeiters dar, sondern ist zu dem Produkt der
Arbeit in Beziehung zu bringen. Thüren hat nicht bloß theoretisch diesen Satz
ausgesprochen, er hat ihn auch auf seinem durch ihn berühmt gewordenen Muster-
gute Teltow verwirklicht. Nicht ohne persönliche Opfer, wie ein Brief an seinen
Sohn Heinrich beweist, hat Thüren im Jahre 1843 seine Arbeiter an seinem
Gutsertrag beteiligt, indem er jedem derselben jährlich etwa 10 Thaler zuschrieb,
sodciß der Betrag zu 4^ Prozent unkündbar bis zum 60. Jahre des Arbeiters
stehen blieb Mit geringfügigen, im Laufe der Zeit notwendig gewordenen
Änderungen besteht diese Anordnung seit 35 Jahren noch fort. Jeder Dorfbe¬
wohner hat, wie der Biograph bemerkt, durchschnittlich einen jährlichen Anteil von
66,30 Mark erhalten, und der höchste Anteil beläuft sich bei einem über 60 Jahre
alten Arbeiter, der sich bereits Aufzählungen machen ließ, auf 2193,13 Mark.
So hat Thüren bereits dasjenige für sich ins Werk gesetzt, was erst heute unter
schweren Kämpfen gegen kleinlichen Parteigeist Deutschlands größter Staatsmann
zu unternehmen im Begriffe steht. Der berühmte Tünensche Satz: „Der Mensch,
welcher sein Leben rechtlich und in angestrengter Thätigkeit bis zum Greisenalter
verbracht hat, soll in seinem Alter weder von der Gnade seiner Kinder noch der
bürgerlichen Gesellschaft leben. Ein unabhängiges, sorgenfreies und müheloses
Alter ist der naturgemäße Lohn für die unausgesetzte Anstrengung in den
Tagen der Kraft und Gesundheit" — dieser Satz ist heute zum Programm
der kaiserlichen Botschaft, zur Richtschnur des Entwurfs des Kanzlers geworden.
Mag auch der Einzelne, wenn er ein Thüren ist, diesen Satz in seinem kleinen
Kreise zur Wahrheit gestalten können, um ihn der Allgemeinheit nutzbar zu machen,
bedarf es auch eiues Einschreitens der Allgemeinheit, d. i. des Staates, und wir
sind sicher, daß es Thurms höchster Lohn gewesen wäre, wenn er es noch hätte
erleben können, wie von dem Fürsten Bismarck seiner theoretischen Formel voll¬
saftiges Leben eingeflößt wird. Auch in vielen andern wesentlichen Punkten be¬
gegnen sich die Anschauungen dieses Forschers mit denen unsers praktisch wirkenden
Staatsmannes. Wir wollen nnr berühren, daß Thuner die Verwirklichung seines
politischen Ideals in dem preußischen Erbkaisertum sah, aber nicht in der in Frank¬
furt beschlossenen Fassung, sondern in Unterstützung eines Fürstenrats, dessen von
Thüren skizzirte Grundzüge dem heutigen Bundesrate sich nähern, wobei er schon
damals den jetzt in die Reichsverfassung aufgenommenen Satz aufstellt, daß die
Gesandten stimmen müssen, ob sie Instruktionen erhalten haben oder nicht. Und
ahnungsvoll spricht er aus, daß 33 Millionen Deutsche mit preußischer Militär¬
verfassung genügend sind, um jedem andern Volke zu widerstehen. Thüren ist es
auch, der sür den Schutzzoll eintritt, um die inländischen Erzeuger vor dem Ver¬
lust ihres Wohlstandes zu schützen und sie mit dem Auslande konkurrenzfähig zu
machen.
Es erfüllt uus mit Genugthuung, daß es Thüren an der Liebe und Ver-
ehrung der Seinigen, an der Dankbarkeit seiner Arbeiter, an der Erkenntlichkeit
seiner Mitbürger und an der Anerkennung der Besten nicht gefehlt hat. Die Brief-
sammlung giebt Hierbon reichliches Zeugnis; sie wird auch denjenigen angenehm
berühren, dem die ökonomischen Fragen der Zeit ferner stehen. Denn es ist immer
interessant, zu sehen, wie ein redlicher nud geistig hervorragender Mensch hohe
Probleme in sich verarbeitet und zur Reife bringt.
Erst heute gelangen die Nummern 33 und 39
des vorigen Jahrganges dieser Zeitschrift in meine Hände, und das mag es
entschuldigen, wenn ich erst jetzt mir gestatte, zu dem dort abgedruckten sehr schätz¬
baren Aufsatze über die Höhe der Prozeßkosten einige kurze Bemerkungen zu machen,
zu denen ich mich für kompetent halte, da ich selbst sechzehn Jahre lang die Rcchts-
cmwaltschaft unter der Herrschaft der verschiedensten Gebührenordnungen aus¬
geübt habe.
Daß eine Revision der Auwaltsgebühren im Interesse des rechtsuchenden
Publikums notwendig ist, bedarf keines Wortes; sie liegt aber auch im Interesse
der Rechtsanwälte selbst, da die jetzige Höhe der Prozeßkosten und insbesondre der
Auwaltsgebühren für die Thätigkeit der Rechtsanwälte thatsächlich in wahrnehm¬
barer Weise immer engere Schranken zieht.
Mit Recht wird darauf aufmerksam gemacht, daß die Gebühren für die
Bagatellsachen und die für die wertvolleren Streitgegenstände zu hoch sind, im
Bagatellverfahren namentlich in gar keinem Verhältnis zum Streitgegenstände stehen,
aber es wird regelmäßig übersehen, wie nachteilig die Veränderung der Wertklassen,
nach welchen die Gebühren zu berechnen sind, gewirkt hat. Nach dem Preußischen
Anwaltsgebührentarif stiegen die Gebühren für die Bagatellsachen (bis zu ISO M.)
von 3 zu 3 M ursprünglich um 1 M-, später um 1,25 M; jetzt hat man nur
die vier Klassen bis 20 M, 20—60 M, 60-120 M. und 120—200 M. Von
da an steigen die Wertklassen alsbald von 300—450, 450—650, 650—900,
900—1200, 1200—1600 M., während der preußische Tarif zwischen 150 und
450 M. Klassen von 30 zu 30 M. und zwischen 450 und 1500 M. solche von
150 zu 150 M. hatte nud dadurch die Kosten bei weitem mehr dem jedesmaligen
Streitgegenstände anpaßte, als dies jetzt der Fall ist. Nicht also allein eine Re¬
vision der Gebühren bezüglich deren Höhe, sondern die Umarbeitung des gesamten
Tarifs nach andern, dem preußischen Tarife nachgebildeten Wertklassen, die der
jetzigen Währung besser angepaßt werden könnten, als es der für die Thalerwährung
bestimmte preußische Tarif war, ist zu verlangen, wenn wirklich geholfen wer¬
den soll.
Eine Herabsetzung der Gebühren ist für Bagatellsachen, für die wertvolleren
Streitgegenstände, für die Strafsachen und namentlich für die Erteilung eines Rates
zu verlangen; auch mir ist kein Anwalt bekannt geworden, der — abgesehen von
den geringsten Sätzen — für einen Rat die volle Gebühr erhoben hätte. In deu
mittlern Wertklassen ist dagegen bei einer Revision sehr vorsichtig zu verfahren,
da dieselben in vielen Fällen den preußischen fast gleich kommen, wenn der Prozeß
glatt verläuft. Allerdings hat die Reichsgebührenordnung eine Menge von Voraus¬
setzungen geschaffen, unter welchen neben den regelmäßigen Gebühren (für Proze߬
führung, mündliche Verhandlung und Bcweisvcrfcihren) besondre Gebühren erhoben
werden können (wiederholte mündliche Verhandlung u. s. w.). Dies verteuert den
Prozeß unendlich, und gerade auch in dieser Richtung ist eine strenge Revision
und sehr bestimmte Definition dessen, was als besonders zu vergütende Anwalts¬
thätigkeit anzusehen sei, erforderlich.
Nicht zu vergessen sind ferner die Nebenkosten. Da sind zunächst die Schreib¬
gebühren, welche nach der Seite bemessen werden und für die Seite 10 Pfg. be¬
tragen, während in Preußen der Bogen mit 25 Pf., also 15 Pf. billiger
als jetzt, bezahlt wurde. Es wird behauptet, man könne die Seite nicht nnter
10 Pf. herstellen, allein das trifft nicht immer zu, zumal wenn Formulare oder
mit der Kopirpresse hergestellte Abzüge verwandt werden. Auch läuft jetzt erweislich
manches Blatt Abschrift mit nnter, welches früher nie das Dasein erblickt hätte,
ohne daß damit etwas verloren gewesen wäre; aber da es ja bezahlt wird, so hat
ein vorsichtiger Anwalt keinen Grund, solche Schriftstücke zurückzuhalten, z. B. eine
für den Gegner vollständig gleichgiltige Abschrift seiner Vollmacht und dergleichen.
Man kann es auch dem Bürecmpersonal nicht verdenken, wenn es im Interesse
seiner Prinzipale nicht allzu eng schreibt, verschiedne Anlagen nicht zu einer ge¬
meinsamen Abschrift vereinigt. Ist es nicht möglich, diese Schreibgebühr ganz zu
beseitigen, so setze man sie wenigstens herab und schließe ausdrücklich alle über¬
flüssigen Abschriften von der Honorirung aus.
Weitere bedenkliche Nebenkosten verursacht der Gerichtsvollzieher, dessen Zu¬
stellungsgebühren, wenn man mehrere Miterben, mehrere Mitbesitzer oder bei einer
Wechselklage mehrere Verpflichtete gleichzeitig in Anspruch nimmt, leicht zu bedenk¬
lichen Höhen anwachsen. Ich habe einen Wechsel einer Vorschußkasse über etwa
20 M. ausklagen müssen, wobei der Gerichtsvollzieher allein 3,60 M. Zustellungs¬
gebühr (einschließlich seiner Schreibgebühren) nur für die Zustellung der Klage
erhielt. Geradezu exorbitant sind die Gebühren der Gerichtsvollzieher für die
Exekution. Nun weiß ich sehr wohl, daß man gegen eine Ermäßigung der Ge¬
bühren der Gerichtsvollzieher einwenden wird, daß diese eine solche Herabsetzung
nicht vertragen könnten, ohne in ihrer Existenz gefährdet zu werden. Darauf er¬
wiedere ich: Wie die Gerichtsdiener bis zum 1. Oktober 1379 die Zustellungen
und Exekutionen besorgt haben und jetzt als Hilfsgerichtsvollzieher in manchen
Fällen besorgen müssen, können sie es Wohl auch jetzt noch. Wo sich also in einem
Gerichtsbezirke ein Gerichtsvollzieher nicht halten kann, stelle man statt dessen einen
neuen Gerichtsdiener an, lasse diesen als Hilfsgerichtsvollzieher die Geschäfte des
Vollziehers besorgen und erhebe die (ermäßigten) Gebühren für die Staatskasse;
Fiskus und Parteien werden dabei ein gutes Geschäft machen. Auf diese Weise
wird an der jetzigen Prozeßgesetzgebung nichts geändert.
Endlich entsteht eine ungemeine Verteuerung der Prozesse durch die zu zahlenden
Zengengcbührcn, welche bei den beliebten großen Gerichtssprengeln, da das er¬
kennende Gericht womöglich die Zeugen selbst vernehmen soll, oft sehr hoch sind.
Kleine Landgerichte in Anlehnung an die frühern Preußischen Kreisgerichte ein¬
zuführen, wird nicht wohl thunlich sein; Wohl aber läßt sich auf zwei andern Wegen
eine Verminderung der Zeugengebühren herbeiführen. In Strafsachen sollte die
Justizverwaltung mehr ans die Einführung detachirter Strafkammern bedacht sein,
und in Zivilsachen müßte die ausschließliche Zuständigkeit der Landgerichte für
Sachen über 300 Mark beseitigt werden. Weshalb in juristisch einfachen Sachen
bei Gegenständen über 300 Mark unbedingt drei Richter urteilen sollen, ist nicht
abzusehen, ich verweise auf Wechselklagen, Hypothekensachen und dergleichen. Aber
auch in manchen Sachen, bei denen viele Zeugen vernommen werden müssen, z. B.
bezüglich einer Fahrgcrechtigkeit, ist das Urteil eines Einzclrichters vollkommen ge¬
nügend, wenn nicht besser, da ein Amtsrichter seinem Bezirke näher steht als der
entfernt wohnende Landrichter. Nun gestattet zwar der dritte Titel des ersten
Buches der Zivilprozeßordnung eine Prorogation des Amtsgerichts, eine ausdrückliche
oder stillschweigende; die letztere ist aber nicht im Falle der Kontumaz vorhanden.
Wie erstaunt nun der einfache Mann, der von einer unter Voraussetzung der Ein¬
willigung in die Prorogation alsbald am Amtsgerichte angebrachten Klage am
besten dadurch loszukommen glaubt, daß er garnicht erscheint, wenn er hierauf
vor das Landgericht geladen und aufgefordert wird, nunmehr einen Rechtsanwalt
zu bestellen! Muß ihm das nicht unwillkürlich den Gedanken wachrufen, daß ihm
doch, wenn auch zur Zeit noch unbekannte, Einreden gegen den Anspruch des
Klägers zur Seite stehen, und ihn zum Prozessiren herausfordern? In dieser
Richtung hatte die 1869 zu Gunsten der Ausgleichung der preußischen Rechtspflege
beseitigte kurhessische Zivilprozeßordnung vom 28. Oktober 1863 eine bessere Be¬
stimmung. Zur Aburteilung jeder Zivilsache war das Amtsgericht zuständig; es
konnte jedoch sowohl der Kläger in der Klage, als auch der Beklagte bei der
Klagebeantwortung die Entscheidung des Kollegialgerichts provoziren. Hierdurch
blieben alle einfachen Sachen beim Einzelrichter, verwickelte, namentlich juristisch
schwierigere Sachen kamen gleich an das Kollegialgericht; doch ist von dieser Be¬
fugnis zur Prorogation nur ein mäßiger Gebrauch gemacht worden. In dieser
Richtung bedarf die Zivilprozeßordnung einer baldigen Änderung; es würde damit
für viele Sachen die Verteuerung durch den Anwaltszwang fallen, es ermäßigte
sich in vielen Fällen die Höhe der Zengengebühren, der am Sitze des Amtsgerichts
wohnhafte Rechtsanwalt — ein sehr »sichtiges Glied der Justizorganisation — be¬
käme mehr und lohnendere Thätigkeit und, was auch uicht gering anzuschlagen
ist, es würde die jetzt etwas gedrückte Stellung des Einzelrichters entschieden gehoben.
in 27. Februar dieses Jahres hat das Reichsgericht zu Christiania
ein Urteil verkündet, das von der demokratischen Presse Deutsch¬
lands ebenso einstimmig mit Jubel begrüßt wird, wie es die
Organe der konservativen und gemäßigten Parteien verurteilen.
Das Urteil des Reichsgerichts lautet: „Der Staatsminister
seiner soll sein Amt als Staatsminister und Mitglied des königlichen Rates
verwirkt haben. An Prozcßtosten hat derselbe 18225^ Kronen zu bezahlen,
wovon 15000 Kronen für die drei Ankläger bestimmt sind." Dieses Urteil
wurde gegen ihn gefällt, weil er dem Könige geraten hatte, 1. den Beschluß
des Storthings vom I ^. März 1880 über den Zutritt der Staatsräte zu den
Verhandlungen des Storthings nicht zu genehmigen und in Kraft treten zu
lassen; 2. den Beschluß des Storthings vom 14. Juni 1882 über eine Be¬
willigung für die Volksbewaffnungsvereine und den Zentralverein für die Ver¬
breitung von Körperübungen und Waffengebrauch nicht zu vollziehen; 3. teil¬
weise den Beschluß des Storthings vom 16. und 17. Juni 1832 betreffend das
Gehaltsregulativ für die Anordnung einer Zentralverwaltung für die in Betrieb
befindlichen Eisenbahnen anzunehmen (d. h. die Aufnahme zweier vom Storthing
gewählten Mitglieder in die zentrale Eisenbahnadministration zu verweigern).
Den Hauptpunkt des Urteils bildet der unter Nummer 1 aufgeführte Ent¬
scheidungsgrund, mit welchem dem Könige das absolute Veto in Fragen des
Grundgesetzes und, rechtlich verstanden, jedes Veto abgesprochen ist, und es soll
nun erörtert werden, was von dem Urteile des norwegischen Reichsgerichts in
dieser Beziehung und damit von dem ganzen Urteile zu halten ist. Die nähern
thatsächlichen Grundlagen bietet ein im sechsten Bande der kritischen Viertel-
jahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft erschienener Aufsatz von
Konrad Maurer, dem hervorragenden Kenner skandinavischen Rechtes.
Nach dem norwegischen Grundgesetze (Verfassungsurkunde) können die Mit¬
glieder des Staatsrates, d> h, die Minister, nicht in das Storthing gewählt
werden, und sie haben infolge dessen zu den Verhandlungen desselben keinen
Zutritt, soweit nicht das Storthiug von der ihm zustehenden Befugnis, sie zum
Erscheinen in einer Sitzung vorzuforderu, Gebrauch macht. Die Minister sind
dadurch von den Verhandlungen der Volksvertretung grundsätzlich ausgeschlossen
und einerseits an der persönlichen Vertretung ihres Standpunkte? gegenüber der
Volksvertretung gehindert, andrerseits in einen umso schärferen Gegensatz zu
derselben gebracht. Diese den Einrichtungen andrer parlamentarischen Länder
widersprechende Institution führte bald zu Versuchen zu Änderung dieses Zu¬
standes, welche anfänglich von der konservativen Partei ausgingen und von deren
Gegnern bekämpft wurden, später von der Opposition befürwortet und von der
Regierung und ihren Anhängern abgewiesen wurden. Der jetzige Führer der
Storthingsmajorität, Bankdirektor I. Sverdrup, setzte im Jahre 1872 den Be¬
schluß auf Zulassung der Staatsräte zu den Storthingsverhandlungen durch,
während er vorher Jahre lang die entgegengesetzte Ansicht vertreten hatte. Die
Änderung dieser Bestrebungen erklärt sich aus der seit der Einführung der Ver¬
fassung erfolgten Verschiebung der Machtverhältnisse der Parteien, indem der
inzwischen erstarkten Opposition die Anwesenheit der Staatsräte in den Sitzungen
des Storthings nicht mehr als eine gefährliche Verstärkung der konservativen
Partei, sondern als ein geeignetes Mittel erschien, um durch fortgesetzte Angriffe
auf die Regierung den Widerstand derselben zu brechen und zu einer rein par¬
lamentarischen Regierung zu gelangen. Die Regierung verlangte als Ersatz für
die von der Storthingsmajorität geforderte Zulassung der Staatsräte zu den
Sitzungen gewisse andre, ihre Macht verstärkende Verfassungsänderungen, darunter
als die erheblichsten die Gewährung einer bestimmten Pension für die abtretenden
Staatsräte, und das Recht des Königs, das Storthing aufzulösen und Neu¬
wahlen anzuordnen, welches Ansinnen von der Storthingsmajorität verworfen
wurde. Im Jahre 1874 und ebenso im Jahre 1877 wiederholte das Storthing
seinen frühern Beschluß, und nach einer inzwischen erfolgten Neuwahl wurde
derselbe Beschluß im Jahre 1880 aufs neue gefaßt. Auch diesem Beschlusse
verweigerte der König seine Sanktion und ließ durch die Regierung einen dem
frühern Vorschlage ziemlich gleichartigen einbringen, welcher verfassungsmäßig
nach einer vorgenommenen Neuwahl am Storthing des Jahres 1883 zur Ver¬
handlung kommen sollte. Inzwischen brachte am 2. Juni 1380 Sverdrup einen
Antrag beim Storthing dahin ein, daß der gefaßte Beschluß von diesem als
geltendes Grundgesetz Norwegens betrachtet und der Regierung mit der Auf¬
forderung zu dessen vorschriftsmäßiger Publikation übermittelt werde. Dieser
Antrag wurde am 9. Juni vom Storthing angenommen; unter dem 17. Juni
aber wurde dem Storthing von der Regierung eröffnet, daß der Beschluß als
vom Könige nicht sanktionirt nicht publizirt werden könne, Um den hiermit
ausgebrochenen Streit über die Existenz eines Vetorechts des Königs bei Ab¬
änderungen des Grundgesetzes womöglich zu einem friedlichen Austrage zu bringen,
wandte sich die Regierung auf Grund einer königlichen Resolution vom 30. August
unter dem 6. September 1880 an die juristische Fakultät der Landesuniversität
zu Christiania mit dem Ansuchen, daß sich dieselbe darüber aussprechen möge,
„wie weit und in welcher Ausdehnung dem Könige nach der Verfassung ein
Sanktionsrecht in Bezug auf Veränderungen des Grundgesetzes zukomme." An,
23. März 1881 wurde dieses Gutachten erstattet, und die Fakultät (bestehend
aus sechs Mitgliedern) sprach sich einstimmig für die Existenz eines absoluten
königlichen Vetos bei Verfassungsänderungen aus.
Die nähere Motivirung dieses Gutachtens hier darzulegen würde zu weit
führen, sie ist in dem oben angeführten Aufsatze Maurers zu finden. Nur
folgendes soll hier hervorgehoben werden. Eine ausdrückliche Bestimmung
darüber, ob und in wieweit dem Könige gegenüber Storthingsbeschlüssen, welche
auf eine Verfassungsänderung abzielen, ein Veto zustehe, ist im norwegischen
Grundgesetze nicht enthalten, und zwar weder in dessen ursprünglicher Fassung
vom 17. Mai 1814 noch in dessen veränderter Gestalt vom 4. November 1814.
Dagegen finden sich verschiedne Bestimmungen, welche festsetzen, daß zu einem
vom Storthiug gefaßten Beschlusse des Königs Sanktion einzuholen ist und erst
durch diese der Beschluß Gesetz wird; ferner daß der König bei der Schließung
des Storthiugs zugleich auf alle nicht bereits zuvor von ihm erledigten Be¬
schlüsse desselben seine Entschließung mitzuteilen habe, indem er sie entweder
bestätige oder verwerfe, und daß alle von ihm nicht ausdrücklich bestätigten als
von ihm verworfen gelten sollen. Weiter sind als Storthingsbeschlüsse, welche
der königlichen Sanktion nicht bedürfen, folgende und zwar nur diese bezeichnet:
1. diejenigen, durch welche sich das Storthing verfassungsmäßig für versammelt
erklärt, oder 2. seine Geschäftsordnung bestimmt, oder 3. die Vollmachten seiner
Mitglieder erledigt, oder 4. Urteile über Wahlstreitigkeitcn bestätigt oder ver¬
wirft, oder 5. Fremde naturalisirt, oder 6. eine Anklage gegen Staatsräte
oder andre Personen erhebt. Endlich wird bezüglich der Gesetzesvorschläge
ausdrücklich bestimmt, daß der König den ihm vorgelegten Störchin gsbcschluß.
falls er ihn nicht billigt, dem Odelsthinge (der aus drei Vierteilen des Storthings
bestehenden Abteilung des letztern) mit der Erklärung zurückzuschicken hat, daß
er es zur Zeit nicht angemessen finde, ihn zu sanktioniren, und daß ihm solchen¬
falls der Beschluß von dem eben versammelten Storthinge nicht nochmals vor¬
gelegt werden dürfe, daß dagegen ein Beschluß, der von drei ordentlichen
Storthingen, welche nach drei verschiednen auf einander folgenden Wahlen zu¬
sammengesetzt und überdies durch mindestens zwei dazwischen liegende ordentliche
Storthinge getrennt sind, unverändert angenommen wurde, ohne daß in der
Zwischenzeit ein entgegengesetzter Storthingsbeschluß ergangen wäre, und der nun
dem Könige nochmals mit dem Begehren vorgelegt wird, daß er demselben
seine Sanktion nicht verweigern möge, sofort Gesetz werden solle, wenn auch
dessen Sanktion nicht erfolgt sei, ehe das Storthing auseinandergeht.
Aus dieser Bestimmung ergiebt sich, daß dem Könige legislativen Beschlüssen
des Storthings gegenüber ein Veto zusteht, daß aber dieses Veto nur ein
suspensives ist und durch beharrliches Festhalten des Storthings an seinen
Beschlüssen beseitigt werden kann, und auf diese Bestimmung des Grundgesetzes
stützt sich der obengenannte, unter dein 9. Juni 1880 vom Storthing an¬
genommene Sverdrupschc Antrag sowie in der Folge das jetzt ergangene Urteil
des Reichsgerichts.
Daß diese Bestimmung des Grundgesetzes jedoch nur auf legislative Be¬
schlüsse des Storthings, nicht aber auf Stvrthingsbeschlüsse andrer Art und
insbesondre nicht auf Beschlüsse, welche Verfassungsänderungen involviren,
Anwendung findet, ergiebt sich aus folgenden Erwägungen. Die Thätigkeit des
Storthings ist keine bloß legislative, da dasselbe nicht nur Gesetze zu geben,
sondern auch Steuern, Abgaben, Zölle und andre öffentliche Lasten aufzulegen,
Staatsanlehen zu eröffnen, die Geldmittel für die Staatsausgaben zu bewilligen
und in mehrfachen Beziehungen die Regierung zu koutroliren hat. Auch diese
Thätigkeit macht Beschlüsse notwendig. Die eben ausgeführten, ausdrücklich nur
auf das Zustandebringen von Gesetzen beschränkten Bestimmungen über das
suspensive Veto des Königs können somit nicht ohne weiteres auch auf derartige
andre Beschlüsse Anwendung finden. Durch Beschluß der Reichsversammlung
vom 11. Mai 1874 ist deren ausschließliche Beziehung auf die Gesetzgebung
im engern Sinne des Wortes festgestellt worden. Die oben aufgeführten, aus¬
nahmsweise der königlichen Sanktion nicht bedürfenden Beschlüsse sind lauter
solche nicht legislativen Charakters. Damit ist von selbst gesagt, daß prinzipiell
allen und jeden Stvrthingsbeschlüssen gegenüber ein königliches Sanktionsrecht
besteht, nicht bloß Beschlüssen, welche auf die Einführung oder Aushebung von
Gesetzen abzielen. Dieses stillschweigend vorausgesetzte allgemeine Sanktionsrecht
des Königs ist aber noch ausdrücklich durch die oben aufgeführte Bestimmung
ausgesprochen, nach welcher alle beim Schlüsse des Storthings vom Könige nicht
ausdrücklich bestätigten Storthingsbeschlüsse als von ihm verworfen gelten. Dem
Könige steht also gegenüber allen und jeden Stvrthingsbeschlüssen (mit Ausnahme
der oben angeführten sechs Fälle) ein Sanktionsrecht zu; nur bezüglich der
legislativen Beschlüsse des Storthiugs ist das königliche Veto als ein suspensives
bezeichnet, es muß deshalb allen andern Stvrthingsbeschlüssen gegenüber als ein
absolutes anerkannt werden. Daß dieser Grundsatz nicht nur auch bei Ver¬
fassungsänderungen , sondern ganz besonders und hauptsächlich bei diesen gelten
muß, liegt in der Natur der Sache, denn wo immer zwischen Verfassungs¬
änderungen und andern Akten der Gesetzgebmig unterschieden wird, geschieht
dies in der Art, daß man die erstern den letztern gegenüber zu erschweren sucht
und zwar mit vollem Recht und aus dem guten Grunde, weil die Staats¬
verfassung eines erhöhten Schutzes gegen unbedachte Neuerungsvorschläge bedarf.
Der Paragraph 112 des Grundgesetzes, welcher die betreffende Bestimmung
enthält, setzt fest, daß ein etwaiger VemnderuugSvorschlag einem ordentlichen
Storthing vorgelegt und zugleich durch den Druck veröffentlicht werden soll.
Doch soll erst das nächste ordentliche Storthing bestimmen, ob die vorgeschlagene
Veränderung einzutreten habe oder nicht, und die Annahme setzt einen von
mindestens zwei Dritteln der Stimmen vom Storthing gefaßten Beschluß voraus.
Endlich darf die Veränderung niemals den Prinzipien des Grundgesetzes wider¬
sprechen, vielmehr lediglich Modifikationen betreffen, welche den Geist der Ver¬
fassung nicht verändern. Von dem Sanktionsrechte des Königs ist hier nicht
besonders oder wiederholt die Rede, es ist aber ganz selbstverständlich, daß diese
Bestimmung nicht aus allem Zusammenhange mit den übrigen Bestimmungen
des Grundgesetzes gerissen werden darf, sondern daß diese mit zur Auslegung
des den Schluß des Gesetzes bildenden Paragraphen 112 herangezogen werden
müssen, und ans diesen ergiebt sich die Existenz eines Sanktionsrcchts des Königs
gegenüber beantragten Verfassungsänderungen. Wäre das Gegenteil der Fall,
so würde eine Verfassungsänderung, wie die obigen Darlegungen nachweisen,
ungleich leichter als die Erlassung eines gewöhnlichen Gesetzes vom Storthing
durchzusetzen und auf dem Wege der erstern die Erzwingung eines vom Könige
verweigerten Gesetzes viel rascher und sicherer zu bewirken sein. Aus den Ver¬
handlungen der Reichsversammlung ergiebt sich, daß man die Paragraphen
76 und 79 (über die Behandlung der Gesetzesvorschlüge) nicht auf die Vor¬
schläge von Verfassungsänderungen bezogen wissen wollte. Hat eine solche
Absicht aber nicht bestanden, so ist man auch nicht berechtigt, das in diesen
Paragraphen behandelte suspensive Veto auf die letzteren zu beziehen; es kann
vielmehr nur auf die im Paragraph 80 ausgesprochene und im Paragraph 82
vorausgesetzte Regel zurückgegriffen werden, daß alle vom König nicht längstens
bis zum Schlüsse des betreffenden Storthings sanktivnirten Beschlüsse des letztern
als von ihm verworfen zu gelten haben, daß also dem Könige hinsichtlich der
Verfassungsänderungen so gut wie hinsichtlich aller andern nicht legislativen
Beschlüsse im engern Sinne ein absolutes Veto zusteht.
Diese Ansicht hat übrigens nicht erst neuerdings die Juristenfakultät zu
Christiania aufgestellt, sondern dieselbe ist mehrfach in Kundgebungen der Volks¬
vertretung zu unumwundenem Ausdrucke gelangt; so hat insbesondre das Storthing
in einer Adresse vom 29. Mai 1824 ausdrücklich mit allen gegen zwei Stimmen
anerkannt, daß der König „zufolge der Natur der Sache bereits im Besitze des
absoluten Vetos sei, soviel die Änderungen des Grundgesetzes anlange," und
zwar erfolgte dieses Anerkenntnis aus Anlaß einer königlichen Prvposition, welche
die Aufhebung des Paragraphen 79 des Grundgesetzes und somit die Verwand-
lung des suspensiveu Vetos des Königs bei gewöhnliche» Gesetzesvorschlägen in
ein absolutes bezweckte, also bei einem Anlaß, welcher die Aufmerksamkeit des
Storthings ganz besonders auf die hohe Bedeutung einer derartigen Erklärung
lenken mußte. Auch später hat das Stvrthing offiziell nie eine andre als die
soeben erwähnte Ansicht ausgesprochen. Einzelne, die entgegengesetzte Auffassung
vertretende Stimmen im Storthing stieße» stets auf den entschiedensten Wider¬
spruch bis zum Jahre 1877; erst im Jahre 1880 gelang es dem Oppositions¬
führer, den oben aufgeführten, den gegenwärtigen Vcrfassungskonflikt veranlassen¬
den Beschluß durchzusetzen.
Weil nun der Minister seiner die die Rechte des Königs gegenüber den
Anmaßungen der Storthingsmajorität wahrende Ansicht ohne Furcht seiner Über¬
zeugung gemäß vertreten hat, ist er (samt seinen Kollegen) vor das Reichsgericht
gestellt und von diesem zur Amtsentsetzung und zu einer hohen Geldstrafe ver¬
urteilt worden, welche zum größten Teile (15000 Kronen) die Beute seiner,
aus der Storthingsmajoritüt genommenen Ankläger bildet, verurteilt von dem
Reichsgericht, einen: Gericht, welches zur großen Mehrzahl nicht aus unbeteiligten
staatlichen Richtern, sondern ans Mitgliedern gerade der Partei im Storthing
besteht, deren Ansprüche gegenüber den Rechten des Königs geprüft werden solle»;
von einem Gericht, welches der Mehrzahl nach nicht aus gebildeten Juristen,
sondern aus Bauern, Kirchensängem und Lehensleuten zusammengesetzt worden ist;
von einem Gericht, welches auf diesen Namen gar keinen Anspruch hat, weil eine
Partei nicht zugleich Richter sein kann; verurteilt, nicht etwa weil ihm eine die
Rechte der Storthingsmajorität verletzende That nachgewiesen werden konnte,
sondern weil seine Ansicht eine andre als diejenige dieser Majorität war, weil
er seinem Könige den Rat erteilte, einen, — seiner Überzeugung gemäß eine
Verfassuugsverletzung bildenden — Ansinnen dieser Majorität nicht zu entsprechen,
weil er seine Pflicht gethan, weil er die Rechte seines Königs, die Verfassung
und gesetzliche Ordnung des Landes gewissenhaft und ehrenhaft gewahrt hat.
Wer mit diesem Urteile in Norwegen einverstanden ist, das ist nicht, wie die
demokratischen Blätter glauben machen möchten, die große Mehrzahl der ganzen
Bevölkerung, sondern es ist nur die radikale Storthiugspartei und ihr Anhang,
während die ganze gebildete Bevölkerung, wie aus den allseitigen Kundgebungen
hervorgeht, dieses Urteil aufs tiefste beklagt. Der König hat inzwischen, um
den Konflikt nicht zu verschärfen, den Minister seiner seines Amtes enthoben;
man wird aber zuversichtlich erwarte» dürfen, daß er eine Auslegung der Ver-
fassung durch einen solchen einseitigen Parteispuch nicht zuläßt, und daß er sich
durch eine derartige nichtswürdige Posse wie dieses Reichsgerichtsurteil nicht
zwingen lassen wird, seine Minister nach der Anweisung der Radikalen zu wählen.
eine unsrer vielumstritteneu Hecreseinrichtuugeu zählt wohl so-
viele Gegner als die dreijährige Dienstzeit, Zu ihnen gehört
neben den wenigen, welche aufrichtig an die Möglichkeit einer
allgemeinen Abrüstung glauben, und denjenigen, deren politischem
Ideal unsre festgefügte Armee mit ihrem der Person des Kriegs¬
herrn geleisteten Eide im Wege steht, die große Menge derer, denen jede Ab¬
sicht, die Kriegstüchtigkeit der Armee zu schmälern, fernliegt, die aber gerade
in der Verkürzung der Dienstzeit ein Mittel gefunden zu haben glauben, ohne
eine solche Gefahr die von allen ersehnte Erleichterung der Hecreslasten herbei¬
zuführen.
Für die Agitation bietet sich hier das beste Feld der Thätigkeit. Nichts ist
ja leichter, als einem Laieupublikum plausibel zu machen, daß der gemeine In¬
fanterist keine drei Jahre zu seiner Ausbildung für den Krieg brauche: merkt
man denn einen Unterschied zwischen den Mannschaften der verschiednen Jahr¬
gänge, wenn man einem Manöver oder einer Parade zusieht? Werden nicht
auch jetzt schon eine Menge nach zwei Jahren entlassen? Werden nicht neuer¬
dings die Ersatzreservisten in wenig Wochen ganz leidlich geschult? Da ist
doch augenscheinlich nur eine etwas größere Anspannung des Ansbildungsper-
sonals und vor allem der Wegfall alles „nicht auf den Krieg bezüglichen"
nötig. Hierzu wird dann das gesamte Exerziren im Tritt, der Garnisonwacht-
dienst, manche Übungen im Turnen und Fechten, ja auch die Ausbildung im
feinen Schießen gerechnet, denn „im Kriege wird ja doch nicht lange gezielt."
Giebt es denn aber überhaupt ein Laienpublikum im Lande der allgemeinen
Wehrpflicht? Manche betrachten die Bezeichnung als Laien in militärischen
Dingen fast wie eine Beleidigung, namentlich wenn sie selbst jener Pflicht genügt
haben; während es ihnen garnicht einfällt, sich als Sachverständige in juristischen
Dingen auszugeben, wenn sie auch noch so oft als Geschworene, Schöffen und
Schiedsmcinner fungirt haben. Geht doch eine kürzlich erschienene und — wenn
man dem betreffenden Vermerk auf dem Titelblatt Glauben schenken darf —
viel gelesene Broschüre (Die Vorrechte der Offiziere im Staate und in der
Gesellschaft) soweit, die Kenntnis der ja „so durchaus einfachen" militä¬
rischen Verhältnisse auch allen denen zuzuschreiben, die zwar nicht selbst ge¬
dient, aber doch — Verwandte in der Armee haben oder — gehabt haben!
Allen Respekt vor solchen Kennern, die denn auch, derselben Broschüre zufolge,
wenn sie nur allgemeine Bildung und gesunden Menschenverstand besitzen, ohne
weiteres zur Führung einer Kompagnie und eines Bataillons „im Frieden aus¬
reichend und im Kriege sogar sehr gut" befähigt sind! Solchen noch etwas
von militärischen Dingen auseinandersetzen zu wolle», wäre geradezu vermessen.
Die folgenden Zeilen sind daher auch nur für solche Nichtmilitärs bestimmt,
die sich trotz alledem in militärischer Hinsicht als Laien oder Dilettanten fühlen.
Es liegt zunächst in der Forderung der zweijährigen Präsenzzeit und der
Behauptung, daß die Armee dadurch keine Einbuße erleiden würde, weil ja an
der Kriegsstärke sich nichts ändere, eine Überschätzung der Zahl auf Kosten der
Güte der Truppen. Nicht die Übermacht hat uns gegen die Heere der fran¬
zösischen Republik den Sieg verschafft, auch nicht die bessere Bewaffnung
— beides war auf Seiten der Gegner, und leicht kann es wieder so kommen —,
sondern, neben der überlegenen Führung, die bessere Ausbildung unsrer Truppen,
Wieviel Zeit und Mühe es nun aber kostet, unserm Landmann oder Hand¬
werker den geschickten Gebrauch aller seiner Gliedmaßen und diejenige zweck¬
mäßige Verwendung seiner Kräfte zu lehren, welche allein zur dauernden Er¬
tragung der Strapazen des Felddienftes befähigt, das vermag nur der Berufssoldat
vermöge langjähriger Erfahrungen zu beurteilen. Ähnlich verhält es sich mit
der Ausbildung im Schießen; daß aber nicht nur in der Theorie, sondern in
Wirklichkeit auch heute noch gute Schützen den schlechten überlegen sind, selbst
wenn die letztern die besten und am schnellsten feuernder Gewehre führen, das
haben die Engländer den Boers gegenüber erfahren.
Eine gute, im Ernstfall nicht versagende Disziplin ferner läßt sich nur
durch dauernde Gewöhnung an unbedingten Gehorsam, peinlichste Ordnung und
Pünktlichkeit erzielen; hierzu sind aber min einmal noch keine bessern Mittel
erfunden als der sogenannte „Drill" auf dem Exerzierplatze und der Wacht-
dienst. Endlich genügt es nicht, die Leute dahin zu bringen, daß sie dem
Kommando oder der Signalpfeife folgen, sondern ihr Verständnis für das
Gefecht muß soweit gefördert werden, daß sie jeden Wink richtig verstehen und
deuten, daß sie schließlich selbst ohne Führer — diese werden im letzten Moment
oft genug fehlen — gewohnheitsmäßig, instinktiv dem einmal gegebenen Im¬
pulse in richtiger Weise folgen. Jeder einzelne soll dabei verstehen, das Terrain
zur eignen Deckung gehörig auszunutzen, und außerdem müssen sich in jeder
Kompagnie eine ganze Anzahl von Leuten finden, die zu Patrouillen- und
Gruppenführern geeignet sind. In dieser Notwendigkeit, die Leute einerseits zur
straffster Disziplin, andrerseits zu großer Selbständigkeit zu erziehen, liegt
augenscheinlich eine enorme Schwierigkeit,
Gerade an den Jnfanteristen werden heutzutage in beiden Beziehungen
ungemein große Ansprüche gemacht: seine Disziplin wird auf die härtesten
Proben gestellt, von seiner Findigkeit und Gewandtheit das höchste verlangt;
es charakterisirt daher recht den Laienstandpunkt, wenn gerade für diese Waffe
die kürzere Dienstzeit als besonders leicht einsührbar bezeichnet wird.
Für die große Masse bleiben drei Jahre das knappste Maß, wenn obige
Anforderungen erreicht und die erworbenen Eigenschaften und Fertigkeiten für
die ganze Dauer des Reserve- und Landwehrverhältnisses nur einigermaßen
vorhalten sollen. Einzelne befähigte und besonders eifrige Leute, die den An¬
forderungen rascher genügen, werden ja auch jetzt schon nach zwei Jahren be¬
urlaubt, und die Aussicht auf diese Vergünstigung ist ein vortrefflicher Sporn
zur Anstrengung aller Kräfte. Das Ausbildungspersonal ist schon jetzt fast
überlastet — man denke nur an die nebenbei noch zu bewältigenden Übungen
der Wehrmänner, Reservisten und Ersatzreservisten der verschiedenen Jahrgänge.
Was diese letztern betrifft, deren rasche Ausbildung oft als Beweismittel
gegen die Notwendigkeit längerer Dienstzeit angeführt wird, so sind sie bekanntlich
garnicht bestimmt, sogleich bei einer Mobilmachung ins Feld zu rücken, noch
weniger kann man daran denken, aus lauter solchen Leuten brauchbare Truppen¬
körper zu bilden, sondern sie sollen zunächst nur in die Ersatzbataillone ein¬
gestellt, dort weiter ausgebildet und dann, auf die verschiednen Kompagnien
ihrer Regimenter verteilt, als erster Ersatz für eingetretene Verluste ins Feld
nachgesandt werden. Für diesen Zweck mag ihre flüchtige Ausbildung, in Er¬
mangelung einer bessern, genügen; es hat sich jedoch längst herausgestellt, daß
den häufig überraschend günstigen Erfolgen bei der ersten Übung die Leistungen
bei den folgenden nicht entsprachen, da die Leute das meiste wieder verlernt
hatten.
Die Frage der zweijährigen Dienstzeit hat aber noch eine ganz andre Seite,
welche weniger mit der Ausbildung als mit der Organisation zusammenhängt.
Hier liegt die Unzweckmäßigkeit derselben auch sür den Laien auf der Hand,
und infolge dessen wird man sie in Agitationsschriften und -Reden stets mit
Stillschweigen übergangen finden. Sind nämlich nur zwei Jahrgänge der dienst¬
tauglichen Mannschaften im Frieden unter den Waffen, so ist natürlich die
Friedenspräsenzstärke um etwa ein Drittel geringer als jetzt. Man hat also
nur die Wahl, alle bestehenden Truppenkörper auf zwei Drittel ihrer jetzigen
Stärke zu setzen oder ein Drittel dieser Truppenkörper selbst sür den Frieden
aufzulösen. Die erstere Maßregel würde die Truppenteile fast zu Kadres Herab¬
drücken. Schon jetzt besteht ein großer Unterschied zwischen einer Friedens¬
kompagnie von 134 und einer Kriegskompagnie von 250 Köpfen. Bei einer
Stärke von nur 90 Mann, von denen noch dazu, nach Abrechnung der Unter¬
offiziere, die Hälfte Rekruten wären, hörte aber überhaupt die Möglichkeit einer
kriegsgemäßen Ausführung von Felddienstübungen auf. Bei einer Mobilmachung
würden alsdann die Reserven nicht als eine hinzutretende Verstärkung zu be¬
trachten sein, sondern die wenigen Stammmannschaften würden sich unter der
Menge der Reservisten verlieren.
Für die Artillerie liegen die Verhältnisse ähnlich; am schlimmsten aber
würde die Kavallerie betroffen werden, welche bei unsrer jetzigen Organisation
durch Auflösung der fünften Schwadronen wenige Tage nach Erlaß der Mobil-
machungsordre fähig ist, auszurücken. Für ihre Kriegsbereitschaft wäre jene
Maßregel geradezu der Todesstoß. Durch Verwirklichung der zweiten der oben¬
erwähnten Möglichkeiten andrerseits würde unsre gesamte Mobilmachung, auf
deren Schnelligkeit wir bekanntlich große Hoffnungen bauen, ungemein erschwert
und verlangsamt werden. Etwa ein Drittteil der Feldarmee erster Linie würde
dabei aus Regimentern bestehen, die durchweg aus Reservisten zusammengesetzt
wären. Mit einem Wort: Die Reorganisation von 1860 würde zum großen
Teile rückgängig gemacht und annähernd wieder die Zustände herbeigeführt
werden, deren UnHaltbarkeit die Mobilmachungen der fünfziger Jahre, wenn
nicht aller Welt, so doch jedem einsichtigen Militär, deutlich gemacht haben,
und aus denen uns der klare Blick und die feste Hand unsers jetzigen kaiserlichen
Herrn noch zur rechten Zeit erlöst hat.
o nennt sich eine kürzlich erschienene Schrift von L. Neubanr,
welche den interessanten Gegenstand gründlich und mit Einschluß
der über denselben vorhandnen ältern und neuern Literatur be¬
handelt. Die Sage ist bekanntlich viel und mehr als irgend eine
andre von deutschen Dichtern bearbeitet worden. Wir erinnern
an Schubarts wilde Rhapsodie, an Goethe, der sie in ein Epos umbilden wollte,
es aber bei einem Fragmente ließ, an die Dichtungen Lenaus, Mosers und
Hamerlings, und an Klingemanns Trauerspiel „Ahasver," in welchem Ludwig
Devrient mit Vorliebe die Titelrolle spielte. Desgleichen haben Literarhistoriker
die Legende bereits behandelt, u. a. Görres und in den letzten Jahren Helbig,
doch kann man sagen, daß ihr Ursprung und ihre Fortbildung erst durch die
Untersuchung Neubaurs vollkommen aufgehellt worden sind, nur möchten wir
den Resultaten desselben hinzufügen, daß auch der Elias der mittelalterlichen
und der heutigen orthodoxen Juden und der arabische Chidr bei ihrer Ent¬
stehung mitgewirkt haben müssen.
Die Sage von dem fluchbeladenen und zu ewiger Wanderung verdammten
Juden Ahasver hat sich zunächst aus alten Traditionen gebildet, die sich um
zwei Bibelstellen gruppirten. Die erste ist das Wort Christi Matth. 16, 28:
„Wahrlich, ich sage euch, es stehen hier etliche, die werden den Tod nicht schmecken,
bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in sein Reich." Die andre,
Joh. 21, 20 ff„ lautet: „Petrus wandte sich um und sah den Jünger folgen,
welchen Jesus lieb hatte, der auch beim Abendmahl an seiner Brust gelegen
»ut gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich verrät? Da Petrus diesen sah,
spricht er zu Jesus: Herr, was soll aber dieser? Jesus spricht zu ihm: So ich
will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach.
Da ging eine Rede aus unter den Brüdern: Dieser Jünger stirbt nicht." Daraus
hauptsächlich entstand in späterer Zeit das Legcndenbild eines ewigen Wanderers.
Derselbe war anfangs der Apostel Johannes. Schon Tertullian fand sich be¬
wogen, die Ansicht, daß der Licblingsjünger Jesu noch fortlebe, zu bestreikn.
Um das Jahr 400 berichtet der Kirchenlehrer Sulpicius Severus von einem
Menschen, der sich im Orient für den Apostel Johannes ausgegeben habe. Etwa
siebenhundert Jahre nachher meldet der bulgarische Erzbischof Theophylaktus,
es herrsche die Meinung, daß Johannes nicht gestorben sei, sondern zugleich mit
Elias erst durch den Antichrist seinen Tod finden werde. Wieder dreihundert
Jahre später verfaßte der byzantinische Philolog Georg von Trapezunt eine
Schrift, in welcher er nachzuweisen suchte, daß Johannes noch am Leben sei.
Gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts wurde in Frankreich ein Be¬
trüger verbrannt, welcher behauptet hatte, er sei dieser unsterbliche Apostel, und
in England existirte hundert Jahre später eine Sekte, welche von der Wieder¬
kunft des Johannes eine kirchliche Neugestaltung hoffte.
In der Passionsgeschichte des vierten Evangeliums wird ferner berichtet,
daß ein Diener des Hohenpriesters Kaiphas Christo einen Backenstreich versetzt
habe. Die spätere Tradition identifizirt diesen Mann mit jenem Malchus, dem
Petrus im Garten von Gethsemane ein Ohr abgehauen hatte. Nach einer alten
italienischen Legende, in welcher derselbe Markus heißt, traf den Verbrecher die
Strafe, unter der Erde fortzuleben und unaufhörlich um die Säule zu laufen,
an der Jesus vor seiner Kreuzigung gegeißelt wurde. Nach einer im siebzehnten
Jahrhunderte verfaßten „Relation" eines Danzigers heißt der Verurteilte weder
Mnlchus noch Markus, sondern Josef, und man hat ihn einem venetianischen Pa¬
trizier aus dem Geschlechte der Bianchi zu Jerusalem „in einem verborgenen
gepflasterten Saale" gezeigt, „woselbst er von den Türken als etwas besondres
in steter Verwahrung gehalten worden. . . . Alldar der Gefangene in seinem
alten römischen Habit ... in dem Saal aus- und niedergangen und ohne Wort
sprechen sonst nichts gethan, als mit der Hand zuweilen an die Wand, zuweilen
an die Brust geschlagen, zum Zeugnis, daß er Christum unverschuldet in sein
heiliges Angesicht geschlagen."
Aus diesen Überlieferungen über den zur Belohnung im Leben gelassenen
Johannes und den zur Strafe der Ruhe im Grabe entzogenen Malchus ent¬
stand nach der Ansicht des Verfassers unsrer Schrift die Figur, in der wir das
Urbild des „ewigen Juden" erblicken dürfen. Wahrscheinlich wirkten dabei
apologetische Tendenzen mit, indem man während des Mittelalters die evan-
gelische Geschichte häufig nicht bloß gegen Juden und Sarazenen, sondern auch
gegen Zweifler im christlichen Lager zu verteidigen hatte. „Konnten die bi¬
blischen Berichte eine glänzendere Bestätigung finden als durch Aussagen eines
noch lebenden Zeitgenossen Christi?"
Den ältesten Bericht über das Vorbild des ewigen Juden enthalten die
Norss HistoriMum Rogers von Wendower, eines Mönches der englischen
Abtei Se. Albans, der 1237 starb. Derselbe meldet aus dem Jahre' 1228,
daß in letzterem ein Erzbischof aus Großarmenien auf einer Wallfahrt nach
den heiligen Stätten des Abendlandes auch in jene Abtei gekommen und, da
er Empfehlungsschreiben vom Papste mitgebracht, mit allen Ehrenbezeugungen
empfangen worden sei. Zum Danke für die Auskunft, die mau ihm auf seine
Erkundigungen nach dem englischen Ritus und Brauch erteilt, habe er allerlei
von den Eigentümlichkeiten seines Heimatlandes erzählt. „Man fragte ihn n. a.
nach jenem berühmten Josef, heißt es im gedachten Berichte weiter, der bei
dem Leiden des Herrn zugegen war, mit ihm gesprochen hatte und zum Beweise
der Wahrheit des christlichen Glaubens noch lebt. Als man sich erkundigte,
ob er ihn nicht gesehen oder etwas über ihn gehört hätte, erzählte der Erz¬
bischof die näher» Umstände. Ein Ritter aus seinem Gefolge antwortete, indem
er dessen Rede übersetzte, auf französisch: »Mein Herr kennt den Mann sehr
gut, kurz vor seiner Abreise hat er jenen Josef zur Tafel gezogen.« Weiter
gefragt, was sich zwischen Christus und diesem Josef zugetragen, erwiederte er:
»Zu der Zeit, als Christus von den Juden als Gefangener nach seinem Ver¬
höre vor Pilatus aus dem Richthause zur Kreuzigung abgeführt wurde, ver¬
setzte ihm an der Pforte der Thürhüter, Cartaphilus, verächtlich mit der Faust
einen Schlag in den Nacken und sagte spöttisch zu ihm: Geh doch schneller,
Jesus, was zögerst du? Darauf sah Christus ihn traurig an und sprach: Ich
gehe, und du wirft warten, bis ich komme. ... Und so wartet er nach dem
Worte des Herrn. Er war damals ungefähr dreißig Jahre alt; so oft er das
hundertste Jahr erreicht hat, kommt er ^ungefähr wie der ewig zu gewissen Perioden
sich neu verjüngende Chidr) wieder in das Alter, in dem er bei dein Leiden
des Herrn stand. Als nach der Kreuzigung der katholische Glaube sich
immermehr ausbreitete, wurde Cartaphilus von Ananias, der auch den Apostel
Paulus taufte, zum Christentum bekehrt und erhielt den Namen Josef. Er
wohnt gewöhnlich in dem einen oder dem andern Armenien und andern Gegenden
des Morgenlandes, lebt unter Bischöfen und Prälaten als ein Mann von hie¬
siger Sitte und Rede und spricht wenig oder überhaupt uicht, außer wenn
Bischöfe und andre fromme Männer ihn fragen. Dann erzählt er von der
Vergangenheit und den nähern Umständen der Kreuzigung und Auferstehung. . ..
Er berichtet auch über das apostolische Symbolum und die Einteilung desselben,
sowie über die Predigt der Apostel, und dieses alles ohne Lachen und irgend
welche Leichtfertigkeit in den Worten und Zeichen von Widerspruch und Tadel,
Wie einer, der mehr in Thränen und in der Furcht des Herrn wandelt, indem
er sich vor der Wiederkunft Christi ängstigt, der im Feuer erscheinen und die
Sünder strafen werde. , .. Aus entlegenen Gegenden kommen viele zu ihm, die
sich an feinem Anblick und seinen Gesprächen ergötze». Alle ihm angebotenen
Geschenke weist er zurück und begnügt sich mit mäßiger Kost und Kleidung.«"
Diese Erzählung Rogers hat der 1259 gestorbene Matthäus Parisiensis,
gleichfalls ein Mönch von Se. Albans, mit einigen Zusätzen in seine Chronik
aufgenommen, wobei er bemerkt, die Richtigkeit derselben habe „ein vornehmer
Ritter, Richard von Argentan, der mit vielen andern eine Pilgerfahrt nach
dem Morgenlande unternommen, und später der Bischof Gualercmus von Beirut
bestätigt." Gleichfalls auf Grund der Mitteilungen des armenischen Erz-
bischofs, der aus seiner Reise auch nach Tournay kam, schildert das Ereignis
der dortige Erzbischof Philipp Mouskes um das Jahr 1243, nur schlägt hier
der Übelthäter nicht, sondern wünscht nur den „falschen Propheten" kreuzige»
zu sehen. Wieder ein wenig anders erzählt der von Dante im Inferno erwähnte
Astrolog Guido Bonatti die Sache, indem er in einem seiner Werke sagt:
„Einige Menschen haben ein sehr hohes Alter erreicht; von ihnen sah ich zu
meiner Zeit nur einen gewissen Ricardus, der am Hofe Karls des Großen
gewesen und vierhundert Jahre alt sein wollte. Auch behauptete man damals,
daß es einen andern gebe, welcher schon zur Zeit Jesu Christi gelebt habe, und
der Johannes Vuttadeus >vom italienischen vutlMö, also Gottesschläger^ heiße.
Weil er den Herrn, als er zur Kreuzigung geführt worden, fortgetrieben habe,
habe dieser ihm erklärt: »Du wirst mich erwarten, bis ich wiederkomme.« Den
Ricardus sah ich zu Ravenna im Jahre 1223, jener Johannes aber zog, auf
einer Wallfahrt zum heiligen Jakobus ^von Compostella^ begriffen, im Jahre
1267 durch Forli." Diese drei von einander unabhängigen Berichte zeigen
bereits eine Verschmelzung der Traditionen über Johannes und Malchus. Zu
Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ist dieselbe weiter fortgeschritten und tritt
uns in einem neuen Gewände entgegen. Der Novellist, der den Ahasverus
aus dem vorhandenen Material schuf, hat eine Erzählung geliefert, die in
Deutschland und dem westlichen Europa sehr populär wurde. Im Jahre 1599
ging durch die katholische und protestantische Christenheit die Schreckenskunde,
der Antichrist sei von Babylon her, wo er geboren, gegen das Abendland im
Anzüge, und gleichzeitig verbreitete sich das Gerücht, der Untergang der Welt
stehe nahe bevor. Mit Hinweis auf „diesen zunehmenden jüngsten Tag" erschien
nun im Jahre 1602 von einem nichtgenannten Verfasser die „Kurtze Beschreibung
und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus," gedruckt zu „Leyden
bey Christoff Creutzer." Hierin berichtet der Autor, daß er und andre Studenten
von dem spätern Bischöfe von Schleswig, Paul von Eitzen, wiederholt ver¬
nommen, daß er 1542 auf einer Reife von Wittenberg, wo er studirt, nach
Hamburg am letzteren Orte in der Kirche einen Mann von etwa fünfzig
Jahren getroffen habe, der ihm durch sein seltsames Benehmen aufgefallen sei.
Es sei eine große Gestalt gewesen, mit langen, über die Schultern herab¬
hängenden Haaren, bekleidet mit zerlumpten Hosen und einem Rocke, über den
er einen bis an die Füße reichenden Mantel getragen habe. Trotz des harten
Winters sei er in der Kirche barfuß erschiene!,. Auf Befragen habe er sich
für einen Schuhmacher aus Jerusalem, Namens Ahasverus, ausgegeben, welcher
von Christus, dem er auf seinem Wege nach Golgatha eine kurze Rast vor
seinem Hause verweigert, zu ewiger Wanderschaft verurteilt worden sei.
Nachdem die Schrift mehrfach nachgedruckt worden war, erschien, aus
Danzig vom 9. Juli 1602 datirt, ein etwas ausführlicherer Bericht über die
Begegnung Eitzens mit den Juden, der von einem Westfalen, Chrhsostomus
Duduläus, verfaßt sein sollte, und in welchem das lange Fortleben Ahasvers
mit den Worten erklärt wurde- „Vielleicht hat es also müssen damit herlcmffen,
auff daß etliche unter den verstockten, verblendeten Juden, die hin und her in
der Welt noch itzt zcrstrewet sind, von diesem Ahasvero, der bis dato das
Ils in orbsin Universum langwierig praetieiret, die großen Wunder Gottes in
allerley Sprachen anhören möchten, ob sie noch könnten bekehret werden,"
Nachdem durch schnell aufeinander folgende Ausgaben die Erzählung vom
„ewigen Juden" populär geworden, wußten auch andre über sein Auftreten in
der oder jener Stadt zu berichten. Daß er 1603 in Lübeck gewesen, trug der
dortige Bürgermeister Colcrus als der Überlieferung wert in sein Tagebuch ein;
daß er in Sachsen erschienen sei, meldet der Theolog und Historiker Clüver.
In Naumburg wurde er während des Gottesdienstes in der Kirche gesehen, wie
er sich wiederholt an die Brust schlug und den Kopf zur rechten Seite neigte,
aber nicht lange auf einer Stelle stehen konnte, sondern bald vorwärts, bald
rückwärts schritt, wobei er häufig in Thränen ausbrach. In Leipzig erschien
er nach Vogels Annalen 1642 als ein „abgelebter und eisgrauer Mann vor
den Thüren," der die Leute um Brot ausprcich und vorgab, er sei ein geborner
Jude, und mit bei des Herrn Christi Leiden gewesen lind müsse bis an den
jüngsten Tag also herumgehen. Nach Anton kam er hundert Jahre darauf ein
zweites mal durch Leipzig.
Noch in unserm Jahrhundert ist der Glaube, daß es einen ewigen Juden
gebe, vielfach verbreitet. In Holstein und im westliche« Deutschland sieht man ihn
dann und wann in kleinen Orten, zuweilen schläft er auf einem Steine vor der
Stadt oder ans einem Pfluge oder unter einer Egge, deren Zinken man zu
diesem Zwecke abends gegen einander gerichtet hat. Zu Ertingen in Schwaben
kehrte er bei einem Bauer ein. Beharrlich ging er um den Tisch herum, den
er in die Mitte der Stube gestellt hatte, und nur zwischen zwölf und ein Uhr
legte er sich zu kurzer Ruhe hin. In Hohenstatt erschien er um die Mittags¬
stunde im Bettlerhause, wo er sich ganz still verhielt, und von wo er nach dem
Zwölfelcinten weiter zog. Auch in Waldeck wurde er gesehen, desgleichen zu
Wulsten in Hannover, wo er alle sieben Jahre ans demselben Wege zu bemerken
ist. Rock und Bart reichen ihm bis zur Erde. Jeden Tag erhält er achtzehn
Pfennige zu seiner Zehrung. Julius Mosen berichtet aus dem voigtläudischcu
Dorfe Marieney: „Ich war fast noch ein Kind, als sich in meinem Geburtsorte
das wunderliche Gerücht verbreitete, daß der ewige Jude durch das Dorf ge¬
gangen wäre. Er wurde geschildert als ein Maun von mittlere» Jahren, von
rüstiger Gestalt und nachdenklich entschlossenem Ansehen. Er soll mit einem
Reisemantel bekleidet und sein Haupt mit einem breitkrämpigen grauen Hute
bedeckt gewesen sein. Ein abergläubiger Schäfer wollte mit ihm gesprochen
haben. Aus der Verwunderung des Reisenden, daß auf der Stelle, wo er vor
tausend Jahren nichts als Wald gefunden habe, jetzt ein großes Dorf mit
Feldern und Wiesen liege, machte jener den Schluß, daß dieser Fremde kein
andrer als eben der ewige Jude gewesen sein müsse." Wir aber schließen
daraus weiter, daß in demi ewigen Juden jener dem Gros der Leser aus
Rückerts Gedicht bekannte mythische Chidr der Araber steht, der in der Zeit
der Kreuzzüge ins Frankenland gelangt fein wird. In der Schweiz ist der
Jude gleichfalls bekannt. Wenn er das Frickthal und die angrenzende Basel-
landschaft bereist, übernachtet er stets in demselben Wirtshause, wobei er aber
nicht zu Bett geht, sondern bis zum Morgen unablässig in seiner Stube
herumläuft. Er erzählt, als er das erstemal in diesen Rheinwinkel gekommen,
habe er da, wo jetzt Basel steht, nur einen schwarzen Tannenwald vorgefunden,
das zweitemal sei hier ein breites Dorngestrüpp, das drittemal eine vom Erd¬
beben zerstörte Stadt gewesen. Wenn er zum letztenmale dieses Weges kommen
werde, werde man stundenweit gehen müssen, um Reiser zu einem Besen zu¬
sammenzubringen. Man sieht, wieder starke Ähnlichkeit mit Chidr, die sich
auch in einer andern Schweizersage ausdrückt, in der erzählt wird: Einst kam
der ewige Jude durch die auf dem Matterberg unter dem Matterhorn im
Wcilliserland gelegne, jetzt verschwundne Stadt und erklärte: „Wenn ich zum
zweitenmale hier durchwandre, werden da, wo jetzt Häuser und Gassen sind,
Burne wachsen und Steine liegen. Und wenn mich zum drittenmale der Weg
daherführt, wird nichts dasein als Schnee und Eis." Letzteres ist jetzt ein¬
getreten.
Von Deutschland aus verbreitete sich die Sage in ihrer letzten Gestalt nach
Frankreich, wo im siebzehnten Jahrhundert aus ihr das Volksbuch Hiswirs
aäwirMs ein ^nit Lrrant entstand. Im Jahre 1604 sah ihn der Advokat
Louvet, der Chronist der Stadt Beauvois, dort im Hause des Sachwalters Raoul
Adrian um Almosen bitten. Zehn Jahre später erschien Ahasverus in der
Nachbarschaft von Fontainebleau und bald nachher in Chalons sur Marne,
auch traf er in Jsle de France mit Soldaten des Prinzen von Conde zusammen,
der ihn vor sich führen ließ und von ihm Vorwürfe hören mußte, daß er die
Waffen gegen den König, seinen Herrn, und die Königin, seine Mutter, ergriffen
habe. Wie bretonische Volkslieder von dem wandernden Juden, der nicht sterben
kann, erzählen, so auch vlümische. Eins der letztern berichtet, daß er eines
Tages in Dünkirchen gesehen worden sei. Einem Bürger, der ihn in sein Haus
einlud, erklärte er, 1800 Jahre alt und von Gott verurteilt zu sein, solange
Erde und Wolken auf ihrem Platze stehen würden, durch alle Völker zu wan¬
dern bis zum letzten Trauertage. Keine Gefahr hat ihm etwas an. Seine
ganze Baarschaft besteht aus fünf stöbern, die sich erneuern, so oft er sie aus¬
giebt. In Belgien weiß man ebenfalls mancherlei von dem berühmten Juden
zu erzählen. Er heißt hier Jsaak Laqnedem Mdem, hebräisch Osten, dann Vor-
welH und die Bauern behaupten, er besitze das Geheimnis, alte Weiber wieder
jung zu machen. Um das Jahr 1640 begegnete er zwei Bürgern aus der
Gerberstraße zu Brüssel im Sonienwalde. Es war ein alter, grauer Mann mit
Kleidern von urzeitlichem Schnitte. Er trat mit den Leuten auf deren Ein¬
ladung in eine Schenke, setzte sich dort aber nicht, sondern trank sein Glas
stehend ans. Vor der Thür erzählte er ihnen Geschichten, die sich vor vielen
hundert Jahren zugetragen hatten, woraus sie merkten, daß ihr Gefährte der
ewige Jude war. In Dänemark wurde der Bericht des Dudulcius bereits 1621
übersetzt, und die Geschichte vom Schuhmacher aus Jerusalem fand bis gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts besonders in Jütland viele Gläubige. Ähn¬
liche Beliebtheit hat sie sich nach unsrer Schrift in Schweden, in Italien bis
nach Sizilien hinab und in Spanien erworben, wo gewisse Bilder den Juden
mit einem brennenden Kreuze auf der Stirn darstellen, welches sein Gehirn be¬
ständig verzehrt, ohne es vernichten zu können, da es immer wieder wächst.
Die Neubaursche Darstellung der Entstehung der Sage beweist, daß sie
kirchlichen Ursprungs ist und eine bestimmte Tendenz hatte. Verschmolzen ist
mit ihr die Figur Chidrs, und hie und da klingt sie auch an andre Mythenbilder,
z. B. an Wotan an. Eine Allegorie, nach welcher Ahasver die Personifikation
des über die ganze Welt zerstreuten Judenvolkes wäre, „der sinnbildliche Aus¬
druck der Strafgerichte, welche auf diesem Volke lasten," darf nicht angenommen
werden, und ebensowenig begründet ist die Behauptung, Ahasver sei der Ver¬
treter der „ewig ringenden, ewig sich neu gebärenden Menschheit." Poesie und
Malerei freilich werden sich daran nicht kehren, und was letztere aus der Sage
machen kann, sehen wir an Kaulbachs von der Trümmerstätte Jerusalems hinweg-
flüchtendein ewigen Juden.
äst zwei Jahre sind seit dem Tode Hermann Hettners verstrichen,
ehe die angekündigte Sammlung der Kleinen Schriften aus
seinem Nachlasse erschienen ist (Braunschweig, Friedrich Vieweg
lind Sohn). In einem stattlichen Bande hat die Pietät der
Witwe des hochverdienten Literar- und Kunsthistorikers eine um¬
fassende Auswahl, nicht (wie das am Schlüsse stehende sorgfältige Verzeichnis
der sämtlichen Schriften Hettners bezeugt) eine vollständige Sammlung der ästhe¬
tischen, historischen und kritischen Aufsätze, sowie der Gelegenheitsredcn ihres
verstorbenen Gatten veranstaltet. Es haben vermutlich einige kleine Abhand¬
lungen und Rezensionen mehr Aufnahme gefunden, als Hettner, der mild gegen
andre und streng gegen sich selbst war, einer von ihm selbst veranstalteten
Sammlung seiner in weit auseinanderliegenden Zeiten und an sehr verschiednen
Orten gedruckten kleinen Schriften einverleibt haben würde, aber man darf nicht
sagen, daß hier nach dem falschen Prinzip der Vollständigkeit um jeden Preis
verfahren worden sei. Die älteste der in den „Kleinen Schriften" vereinigten
Abhandlungen reicht in das Jahr 1844 zurück und ist in Wigcmds Viertel-
jahrsschrift, einem der vielen Nachfolgevcrsuchc der unterdrückten Hallischen,
bez. Deutschen Jahrbücher, die letzte, „Die Franziskaner in der Kunstgeschichte"
(die, nebenbei gesagt, wohl einer neuen Auflage von Hettners „Italienischen
Studien" einzuverleiben sein wird), Ende 1881 in der Monatsschrift „Nord
und Süd" veröffentlicht worden. Der Band gewährt also einen Überblick über
die Gesamtentwicklung Hettners und die allmähliche Ausbildung jener Eigenart,
welche sich am eindringlichsten in den großen Werken des Ästhetikers, der „Li¬
teraturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" und den „Italienischen Studien"
geltend macht, aber auch aus den besten der hier vereinigten Aufsätze und Reden
lebendig hervortritt. Für die Einflüsse, welche die gerade herrschende Zeit-
strömung auch auf eine so geistvoll selbständige Natur wie Hettner immerhin
hat, sind diese über ein Menschenalter hinwegrcichcnden Aufsätze gleichfalls sehr
lehrreich. Während in den Arbeiten der vierziger Jahre die Nachwirkungen
des Junghegelianismus und die Einwirkungen der politisch-religiösen Gährung
deutlich erkennbar sind und der jugendliche Kunst- und Literarhistoriker dar¬
nach ringt, seine eignen sachlichen Einsichten und die tendenziösen Neigungen des
Tages miteinander zu versöhnen, läßt sich in den Arbeiten der letzten Zeit der
geheime Zwang, den die inzwischen herrschend gewordene Methode der Detail¬
forschung und Detaildarstellung auch auf einen Gegner wie Hettner ausübte,
leicht nachweisen,
Wenige Aufsätze ausgenommen, in denen sich der Archäolog und Kunst¬
historiker ausschließlich an seine Fachgenossen wandte, hatte Hettner bei allen
seinen historischen und ästhetischen Bestrebungen jederzeit die größern Kreise der
allgemeinen Bildung im Auge. Nur daß er den Begriff der allgemeinen Bil¬
dung anders faßte, als die große Mehrzahl der Schriftsteller, welche angeblich
dieser Bildung diente und sich auf sie berief. Für den wissenschaftlich geschulten,
ebenso ernsten wie geistvollen Ästhetiker galten ein ununterbrochener Anteil und
eine tiefere Hingabe an die Erscheinungen der Literatur und Kunst, ein leben¬
diges und jederzeit reges Interesse am historischen Werden der Dinge, eine ge¬
wisse Vielseitigkeit des Blicks als Voraussetzungen der eignen Thätigkeit und
Wirkung. Wenn bei Hettncrs Abneigung gegen alle Pedanterie, gegen falsche
Feierlichkeit wie gegen geistlose und unkritische Materialanhäufuug, bei seiner
unleugbaren Gleichgültigkeit in Fragen philologischer Mikrologie die Gegner
sich bis zu der Beschuldigung verstiegen, er habe mehr wie ein Belletrist
oder Journalist denn wie ein Gelehrter geschrieben, so hat doch auch der bit¬
terste Feind nie gewagt, ihm Flachheit und arbeitsscheue Schnellfertigkeit vor¬
zuwerfen, die den Schriftsteller nur allzuleicht bedrohen, welcher die Resultate
seiner Forschung und seiner Kritik einem großen Kreise zugänglich machen will.
Auch die Sammlung der „Kleinen Schriften," so verschieden sie ihrem Zwecke
und Werte nach sind, legt im ganzen für die umfassende Bildung, den Ernst,
die geistvolle Schärfe und die Vornehmheit der literarischen und künstlerischen
Anschauungen Hettncrs vollgiltiges Zeugnis ab.
Die ältesten Aufsätze interessiren uns hauptsächlich als Merksteine an dein
Wege, auf welchem Hettner zu den Grundanschauungen gediehen ist, die
uns aus den besten und innerlich reichhaltigsten Gaben dieses Buches im Einklang
mit den Anschauungen der größern Werke ansprechen. Die Abhandlung „Gegen
die spekulative Ästhetik" (aus Wigcmds Vierteljahrsschrift von 1845) erscheint
hierfür besonders wichtig. Überall verrät sich hier noch der Ausgang Hettners
von der Hegelschen Philosophie, und wenn sich der Autor auch von den An¬
schauungen der Schule losgerungen hat, so bewegt er sich doch noch mehr als
billig in der abstrakten Schulsprache. Die Hauptsätze der Abhandlung laufen
auf die Forderung einer neuen Theorie des Stiles hinaus. Es wird aus¬
gesprochen, daß eine Formeuemteilung, die durch alle Künste gleichmäßig hindurch¬
geht, der Kunst Gewalt anthue, nichts sei und bleibe als logischer Schematismus,
daß die Betrachtung der einzelnen Künste sich daher um ein solches durch¬
gehendes Einteilungsprinzip nicht ferner zu kümmern habe, „selbst ans die Gefahr
hin,, daß sie als bloße Empirie erscheinen werde." Da aber die Formen, die
unmittelbar durch den Begriff der Kunst und die Natur des Materials vor¬
gezeichnet sind, ihrer Natur »ach äußerlich, abstrakt und unlebendig erscheinen,
Leben erst durch den Inhalt, den lebendigen Hauch des Individuums bekommen,
der in ihnen schöpferisch wirkt, so ist dies ein tieferer Grund, warum notwendig
jede Kunsttheorie in die Geschichte hinüberführt. Die spekulative Ästhetik muß
daher in die Kunstgeschichte, in die Geschichte der Künste in ihrer ganzen Breite,
in ihrer äußerlichen Abhängigkeit von Religion und Nationalsitte münden.
„Dadurch hört die Trennung einer philosophischen und empirischen Kunstwissen¬
schaft auf. Auf der einen Seite steht nicht die Philosophie, auf der andern
die Empirie, technische, historische, positive Kunstgelehrsamkeit, die sich feind¬
selig ausschließe», sondern beide sind wesentlich eins, wie ihr Gegenstand nur
einer lind ein- und derselbe ist." Auf dem Boden dieser Anschauung bewegen
sich nun schou die ältesten kunst- und literarhistorische» Versuche Hettners: „Die
neapolitanische Mnlerschule" und die „Drangsale und Hoffnungen der modernen
Plastik" (Schweglers Jahrbücher 1846) und die Abhandlung über „Die alt-
frnnzösischc Tragödie" (Blätter für literarische Unterhaltung, 1850). Besonders
interessant ist der in Rom geschriebene Aufsatz über die moderne Plastik. Er
spricht aus, daß die moderne Plastik seit Thorwnldsen wieder Stil habe, wenn
man das Wort „Stil" ausschließlich auf das Sichfügen in die Forderungen
des Materials beschränke. Allein Stil bedeute auch das in Formen verkörperte
Empfindungsvermögen einer bestimmten Zeit. Und hier müsse der modernen
Plastik der Stil ganz und gar abgesprochen werden. „Auffassung und Be¬
handlung ist in ihr nicht unsre eigenste unmittelbarste Denk- und Gefühlsweise,
die wir rückhaltlos verkörpern, sondern eine durch Reflexion erzeugte, durch viel¬
fache Bildung künstlich erlernte, gewaltsam aufgedrungene." Die Plastik dürfe
nicht länger in ihrer vornehm isolirten Stellung, ihrer kaltabweisenden Idealität,
in der abstrakten Reproduktion einer vergangnen Weltanschauung verharren.
Namentlich für die Monnmentalplnstik wendet sich Hettner gegen alles falsche
Gräzisiren und fordert „die individuellere, detaillirtere, wenn man will im
Verhältnis zu den Griechen mehr porträtartige naturalistische Darstellung." Der
junge Ästhetiker kannte damals weder die Entwürfe zu Rauchs Friedrichs¬
denkmal, noch wußte er, unter welchen innern und äußern Kämpfen Rietschel
soeben seinen Lessing schuf. Man wird ihm also einen entschiednen Instinkt
für das, was Not that und sich vorbereitete, nicht absprechen.
Seit den ersten fünfziger Jahren, um die Zeit der Berufung nach Jena, war
für Hettner die Zeit der vollen Reife gekommen. Wie glücklich er mich später im
einzelnen erkennen und urteilen mochte, und obschon in seiner „Geschichte der
Literatur des achtzehnten Jahrhunderts" eine gewisse Vertiefung der spätern
gegenüber den zuerstgezeichneten Charakterbildern erkennbar ist, und die „Italie¬
nischen Studien" eine Annäherung an die strengere Methode der neuern Spe-
zialforschung verraten, so hat sich doch die Gesäme- und Grundanschauung Hettners
seit der angegebenen Zeit weder erweitert noch im wesentlichen verändert. Sei»
Anteil an den Einzelerscheinungen und Einzelschöpfungen war im höchsten Grade
frisch »ut lebendig, wenn diese Naturen und Schöpfungen den Maßstäben ge¬
wachsen erschienen, die ihm unerläßlich dünkten. Dies tritt deutlich aus den
besten seiner „Kleinen Schriften" hervor. Unter den „Biographien", welche den
Band einleiten, möchten wir dem Aufsatz über „Ernst Rietschel" (aus den Grenz¬
boten von 1861) den Vorzug geben und dann die zuerst in verschiedenen Jahr¬
gängen der Allgemeinen Zeitung gedruckten Lebensskizzen von „Alfred Rethel"
und „Ludwig Schmorr vou Carolsfeld" anreihen. Auch die kleine Biographie
„Wolf Graf Baudissin" (aus der Deutschen Rundschau 1880) ist ein sehr feines
und anschauliches Charakterbild. Unter den nicht schon genannten Aufsätzen
„Zur Kunst," die den zweiten Abschnitt des Buches bilden, heben wir die sinnig
eingehende Beschreibung „Das neue Museum in Dresden" und die geistvolle
Abhandlung „Der Zwinger in Dresden" besonders hervor. In den Abhandlungen
„Zur Literatur" interessiren vor allem der bereits erwähnte Aufsatz „Die alt¬
französische Tragödie" und zwei Studien über „Goethes Iphigenia" und „Goethes
Stellung zur bildenden Kunst seiner Zeit," letztere beiden allerdings in der Haupt¬
sache in Kapiteln des letzten Teiles der Literaturgeschichte des achtzehnten Jahr¬
hunderts bereits aufgenommen, aber auch in ihrer ursprünglichen Fassung von
Wert. Unter den Gelegenheitsreden steht die „Festrede bei der Säkularfeier
der Dresdner Kunstakademie" insofern obenan, als sie die besondern Anschauungen
und Überzeugungen Hettners in schärfster Weise wiedergiebt. Auch die Rede
bei der Enthüllung des Gellertdcnkmnls in Hainichen und die bei der Ent¬
hüllung des Winckclmanndenkmals im Treppenhnuse des japanischen Palais
zu Dresden legen von der Einheit und Konsequenz dieser Anschauungen Zeugnis
ab. Freilich mußte ein Ästhetiker, der so unbedingt nicht nur vou künstlerischem
Wert, sondern auch von der Mnstergiltigkcit der historischen Kunst der römisch¬
deutschen und Münchener Schule vom Anfange dieses Jahrhundert durchdrungen
war, lebendiger Einwirkung auf die jüngeren, größtenteils andern Wegen fol¬
genden Künstlertalente entbehren. Gleichwohl war Hettner von der Einseitigkeit
der strengen Corneliauer (welche Paul Heyse mit so köstlichem Humor in der
Figur des Philipp Emanuel Kohle poetisch verewigt hat) weit entfernt. Aber
er meinte doch, daß der Begriff der künstlerischen Monumentalität nicht nur
vorübergehend wiedererobert sein dürfe. „Alle wirklich lebensfähigen Kunstrich¬
tungen der Gegenwart stehen unter dem Segen dieses belebenden Einflusses.
Der Architekt sowohl wie der Bildhauer; nicht nur der Historienmaler, sondern
auch der Genremaler und der Landschaftsmaler. Im Zeichen dieses Idealismus
wollen wir siegen; im Zeichen des echten und wahren Idealismus, der uicht,
wie die platten Naturalisten meinen, die Verneinung und Verleugnung, sondern
die Vertiefung und Verklärung der Natur ist." Für Hettner waren Künstler wie
Rietschel und Preller in diesem Zeichen inbegriffen. Immerhin aber ergab sich
hier ein Zwiespalt nicht nur mit ganzen Gruppen lebendig schaffender Künstler,
sondern auch mit jenen jungen Ästhetikern, welche das Recht der Lebenden zu
einem unbedingten Recht auch allen großen Toten gegenüber erheben.
Die ganze Sammlung der „Kleine» Schriften" verdient es in hohem Grade,
gelesen zu werden. Überall eröffnen sich von dem gerade in Rede stehenden
Thema Ausblicke ans größere Perioden, überall bekundet sich die reiche historische
Bildung, das feine Form» und Stilgefühl, die lebendige Anregungskraft des Ver¬
fassers. Sie ruft das Bild desselben anschaulich für alle zurück, die ihn gekannt
haben. Sie gemahnt noch lebcnviger als die größern und kunstvvllcru literarischen
Werke an jene Persönlichkeit, welche dnrch die Kraft und Eigentümlichkeit ihres
Wesens und ihrer Bildung eine so unmittelbare Wirkung auf einen großen
Lebenskreis übte. Sie bestätigt, wenn man die Beziehungen der meisten dieser
Reden, Aufsätze und Kritiken zu den Verhältnissen, in denen Hettner in Dresden
beinahe ein Menschenalter hindurch lebte, ins Auge faßt, durchaus was Adolf Stern
seiner kleinen Biographie Hettners (in Westermanns Monatsheften, Februar
1883) vorausschickte- „Es giebt leichter Ersatz für ein rein literarisches Talent,
und wäre dasselbe auch von seltener Tiefe und Reichhaltigkeit, als für eine
bedeutende Persönlichkeit, welche Lehr- und Thatkraft, Anregungsfähigkeit und
reiche Erfahrung, vielseitigste Bildung mit einer großen literarischen Begabung
verbindet. In diesem Sinne mag man, ohne sich einer Übertreibung schuldig
zu machen, Wohl sagen, daß der Verlust Hermann Hettners für die Lebens¬
kreise, in denen er gewirkt, schlechthin ein unersetzlicher sei. Seine literarischen
Leistungen werden ihn überleben, seine energische Organisativnskraft, seine Lehr¬
kraft, seine geistig geselligen Vorzüge sind mit ihm in die Gruft gesunken." Ein
Abglanz alles dessen, was hier gerühmt ward, liegt allerdings ans den frischesten
und lebendigsten der „Kleinen Schriften" und verbürgt ihnen bleibende Geltung
und Nachwirkung.
ukas von Leyden war nicht der einzige niederländische Künstler aus
den nördlichen Provinzen, welcher durch den aufblühenden Wohl¬
stand Antwerpens nach der glänzenden, prachtliebenden und volk¬
reichen Scheldestadt gezogen wurde. Pieter Aertsen aus Amsterdam
(1508 — 1573), der „lange Peer" (lange Peter) genannt, war
länger als ein Menschenalter hindurch in Antwerpen thätig und hat einen Ein-
fluß auf die Antwerpener Schule gewonnen, welcher für eine gewisse Richtung
der Genre- und Stilllebenmalerei, die Kucheninterieurs mit Gerätschaften und
Eßwaren, sogar sehr nachhaltig gewesen ist. Karel van Mander erzählt, daß
Aertseus Vater, ein armer Strumpfwirker, den Sohn für sein Handwerk bestimmt
hatte, obwohl dieser bereits eine Neigung zur Malerei zeigte. Aber seiue Mutter
erklärte: „Und sollte ich das Geld dazu durch Spinnen verdienen müssen, er soll
malen lernen!", und so wurde der kleine Peter zu einem Amsterdamer Maler
namens Allart Claasz in die Lehre gegeben, welcher noch der mittelalterlichen
Richtung folgte. Als er siebzehn Jahre alt geworden war, begab er sich mit
einem Empfehlungsbriefe des Schultheißen von Amsterdam nach dem Haus
te Bossu im Hennegau, welches eine kostbare Gemäldesammlung besaß, um dort
weitere Studien zu machen, und von da wandte er sich nach Antwerpen, wo er
sich an seinen Landsmann Jan Mandijn (1502—1560) anschloß. Dieser Mandijn,
aus Harlem gebürtig, war ein Schüler oder Nachahmer des Hieronymus Bosch.
In dessen Geschmack malte er wenigstens phantastische Darstellungen und Szenen
aus dem Volksleben, und dieser realistischen Seite seiner Kunst folgte auch Pieter
Aertscu, welcher im Jahre 1635 unter dem Namen „Lcmghe Peter" als Frei-
meister in die Lukasgilde von Antwerpen aufgenommen wurde. Seine auf die
Schilderung des Volkslebens gerichtete Thätigkeit ist eine doppelte: einmal nahm
er nach dem Vorgänge von Lukas von Leyden und Hieronymus Bosch Momente
aus der heiligen Geschichte zum Vorwande, um das Treiben des Volkes zum
Gegenstände einer figurenreichen Darstellung zu machen; auf der andern Seite
stellte er lebensgroße Figuren in Küchen und auf Marktplätzen dar, umgeben
von Körben mit Gemüse und Früchten. Damit bringt er ein neues Element
in die niederländische Genremalerei, welches von seinen Zeitgenossen auch schnell
anerkannt und geschätzt wurde. Lebensgröße Halbfiguren in Jnnenrciumen hatte
schon Quinten Massijs dargestellt. Pieter Aertsen eröffnete aber einen neuen
Stoffkreis und ging noch energischer ans die Wiedergabe des täglichen Lebens
los. Wie Massijs, bevorzugte er in seiner Malweise vollwirkende Lokaltöne,
besonders rot, dann auch blau und weiß bei einem bräunlichen Fleischton. Die
Auffassung seiner Figuren ist eine derb naturalistische, als ob es ihm nur um
die Abschrift des Lebens zu thun gewesen wäre. Ein Hauptwerk dieser Art be¬
sitzt das Brüsseler Museum: eine holländische Küche, in welcher die Köchin mit
einem Kohlkopfe unter dem Arme an dem mächtigen Herde steht, auf welchem
eine Ende am Spieß bratet. El» Knabe mit einem Hunde auf dem Schoß,
welcher auf der Erde hockt, dreht den Spieß. Im Mittelgrunde sehen wir eine
Magd, welche ein Gefäß aus rotem Thon auf einen Schrank stellt. Der Kvhl-
kopf sowohl wie die Ente und die Küchengerätschaften verraten in ihrer sorg¬
fältigen Behandlung ein genaues Modellstudium. Damit ist wiederum ein wei¬
terer Schritt zum Stillleben gethan. Eine Marktszcne, ebenfalls mit lebensgroßen
Figuren, befindet sich in Privatbesitz in Antwerpen. Zwei kräftige Bauern halten
Hähne und Hennen zum Verkauf, und hinter ihnen steht eine Bäuerin mit einem
Korbe voll Feldfrüchten. Auf der Erde stehen noch andre Körbe und ein Käfig
mit einem Hahn, einem Küken und einer Ente, Eine Magd nähert sich dieser
Gruppe, um ihre Einkäufe zu machen. Von einem dritten Küchenbildc haben
wir nur durch Karel van Mander Kunde, welcher berichtet, daß Pieter Acrtscn
in dieser Küche seineu zweiten Sohn, einen kleinen Knaben, dargestellt habe und
daneben unter andern einen abgehäuteten Ochsenkopf, wie ihn die Schlächter zu¬
zurichten Pflegen, Der holländische Schriftsteller setzt höchst naiv hinzu, daß
dieses Bild so gefallen habe, daß der Maler infolge dessen den Auftrag erhielt,
das Hochaltarbild für die Liebfrauenkirche in Amsterdam, den Tod der Jung¬
frau Maria, zu male».
Dieses und andre große Kirchenbilder des Meisters sind zu Grunde ge¬
gangen. Doch haben sich einige der Szenen aus der heiligen Geschichte erhalten,
so ein Kalvarienberg im Antwerpener Museum, auf welchem in die tragische
Haupthandlung gcnrchafte Züge eingeflochten sind, und eine Kreuztragung
Christi in der Berliner Galerie, welche mit deu Anfangsbuchstaben des Künstler¬
namens, dem Datum „22, Dezember 1SS2" und dem Dreizack des Neptun,
der auch sonst vorkommenden Marke des Malers, auf einer Mulde ans Flecht¬
werk bezeichnet ist. Auf dem letztern Bilde ist der biblische Vorgang schon so
sehr in den Hintergrund gedrängt worden, daß man die Schilderung eines
niederländischen Volksfestes vor sich zu haben glaubt. Weit mehr als das
Drama auf Golgatha fesselt der Volkshaufe im Vordergründe, Hier haben sich
Verkäufer und Bauern mit beladnen Wagen eingefunden, welche die Gelegenheit
benutzen, um ihre Produkte loszuschlagen. An der saubern Durchführung der
Körbe und der in flachen Schalen liegenden Früchte erkennt man deu feinen
Beobachter und Nachahmer der Natur. Zugleich macht man aber eine andre,
weit merkwürdigere Beobachtung. Die Figuren sind durchweg in kleinem Ma߬
stabe gehalten. In ihren Bewegungen, in ihrer Haltung, in dem Arrangement
der Gewänder, in den ungebührlich langgestreckten Körperverhältnissen giebt sich
aber das Streben nach einem feierlichen, idealen Ausdrucke kund, welches sonderbar
genug mit dem genrcbildlichen Charakter der ganzen Komposition kontrastirt.
Die Erklärung dieses Zwiespaltes zwischen Inhalt und Form ist nicht schwer.
Am Ende konnte auch ein so spezifisch nationaler Künstler wie Pieter Acrtsen
dem Einflüsse Italiens nicht widerstehen, umsoweniger, als ihm nicht ver¬
borgen bleiben konnte, daß seine Bilder jenseits der Alpen geschätzt wurden.
Wir erfahren durch Vasari, daß man ihn in Italien unter dein Namen
Bistro luuZo kannte, und so glaubte auch der „lange Peer" es seinem in Italien
gewonnenen Rufe schuldig zu sein, daß er sich der italienischen Manier anschloß,
welche damals, als er jene Kreuztragung malte, schon ein halbes Jahrhundert
lang einen großen Teil der niederländischen Künstler zur Heeresfolge gezwungen
hatte. Wir haben schon früher gesehen, daß selbst Lukas von Leyden, vermutlich
durch Jan Gossaert, genannt Mabuse, und Bernhard van Orley veranlaßt, noch
in den letzten Jahren seiner Thätigkeit den nationalen Stil des Realismus dem
Streben nach italienischer Formenschönheit opferte. Uns erscheinen diese Künstler,
denen noch Jan van Scorel, Martin van Heemskerk, Frans Floris, Jan Massijs,
Quintins Sohn, Martin de Vos, Cornelius van Harlem und die Familie
Franeker anzureihen sind, in ihren historischen Kompositionen mnnicrirt, schwülstig,
gespreizt und unerfreulich, und nur in ihren Bildnissen und dem landschaftlichen
Teil ihrer Gemälde hat sich der realistische Zug noch ziemlich frisch erhalte».
Die Zeitgenossen feierten dagegen in dem Anschluß an die italienischen Meister,
welcher mit der Aufnahme der klassischen Studien und der Wiederbelebung der
Wissenschaften parallel lief, einen ruhmvolle» Aufschwung der heimischen Kunst.
Im Wetteifer mit Michelangelo, Raffael und Giulio Romano sah man damals
das höchste Ziel der Kunst, und besonders war es der erstere, welcher in den
Niederlanden eines großen Ansehens genoß. Mau sah nicht ein, daß das
nordische Kunstnaturell in vollstem Widerspruch zu dein Formenidealismus der
Italiener stand. Man wollte auch nackte Figuren in idealem, großem Stile
malen, obwohl man weder die dazu nötigen Modelle vor Augen hatte, noch
die Schulung besaß, um des spröden Stoffes Herr zu werden. Länger als ein
Jahrhundert dauerte dieser Kampf zwischen dem widerstrebenden Naturell und
dem heiß ersehnten Ideal, ohne daß es einem der Künstler, die nach Italien
zogen, glücken wollte, aus diesem Kampfe als Sieger hervorzugehen. Erst dem
größten Kunstgenius des siebzehnten Jahrhunderts, dem Haupte der Antwerpen«'
Malerschule, gelang es, den italienischen Idealismus mit dem niederländischen
Geiste so innig zu verschmelze», daß ein neuer, selbständiger Stil daraus erwuchs.
Nach Rubens und van Dhck folgte aber wieder ein Absturz von der mühsam
erkämpften Hohe. Die Mauieristen der Spätzeit des siebzehnten Jahrhunderts
sind nicht viel erfreulicher als die des sechzehnten, unter denen wohl Cornelius
van Harlem mit seinen riesengroßen mythologischen Stücken die widerwärtigste
Figur bildet.
Zu solchen Verirrungen scheint sich Pieter Aertsen nicht haben hinreiße»
zu lasse», obwohl auch er gelegentlich Gemälde mit lebensgroßen Figuren malte.
Das Bruchstück eines solchen besitzt das Berliner Museum: von einer Frau,
welche ein nacktes Kind auf der Schulter trägt, ist nur die obere Körperhälfte
zu sehen. Das Bosscigeuwerk der Mauer hinter ihr, mehr noch die ausdrucks¬
volle, ins Mässige und Muskulöse gehende Formengebung zeigen deutlich deu
Einfluß der Italiener, besonders Michelangelos. Die Art, wie die Lokalfarben
gedämpft und matt gehalten find und wie die Mvdellirung der nackten Körper¬
teile in breiten Flüchen behandelt ist, erinnert an die Freskomalerei des Südens,
welche auf die Niederländer einen besonders mächtigen Eindruck machte, weil
ihnen die monumentale Kunst fremd war.
Die Bilderstürmer haben unter den Werken Pieter Aertsens so gründlich
aufgeräumt, daß wir diese Seite seiner Kunst nicht weiter beurteilen können.
Das Amsterdamer Museum besitzt noch ein Genrebild von seiner Hand, einen
„Eiertanz" mit sehr lebendig charakterisirten Figuren, und von einigen andern
Bildern hat F. Jos. van den Brander in seiner gehaltreichen Geschichte der
Antwerpens Malerschule aus den Jnventaren alter Kunstsammlungen wenigstens
die Titel ermitteln können: eine Küchenmagd, ein Fruchtmarkt, ein Neujahr
und — s<zu LorässIKsn ox Mirsel. Mit letzteren Bilde berühren wir eine
Seite des niederländischen Lebens, welche in der Malerei eine so umfassende
Berücksichtigung gefunden hat, daß wir über diesen heikeln Gegenstand nicht
hinweggehen dürfen. Es ist dabei zu bemerken, daß die ältern Sittenmaler das
Treiben in öffentlichen Häusern mit so strengem Ernst behandelt haben, daß
ein naiver Beschauer garnicht auf den bedenklichen Charakter der Darstellung
aufmerksam wird. Die spätern, Terborch, Metsu, Pieter Codde, I. A. Duck,
van Lamm und andre, wußten den Genrebildern dieser Art wiederum den
Stempel äußerer Eleganz aufzuprägen, sodaß dieselben oft unter den un¬
schuldigsten Bezeichnungen in den Galerien populär geworden sind. Es scheint,
daß es im siebzehnten Jahrhundert für gewisse Gesellschaftsklassen, welche sich
zu vornehm dünkten, um in den niedrigen Wirtshäusern zwischen Bauern,
Marktweibern und Handwerkern Platz zu nehmen, keine andern öffentlichen
Vereinigungspunkte gegeben hat als diese Häuser, welche etwa die Stelle unsrer
feinern Restaurants vertraten. Einen allzustrengen moralischen Maßstab darf
man daher an diese Darstellungen nicht anlegen und nicht etwa aus dem häufigen
Vorkommen solcher Bilder schließen, daß die Sittenverderbnis in den Nieder¬
landen größer gewesen sei als anderswo. Man sagt gewöhnlich, daß das wüste
Söldnerleben des dreißigjährigen Krieges, dessen Wogen auch Holland über¬
fluteten, erst eine allgemeine Verwilderung der Sitten bewirkt habe, und in der
That sind anch Offiziere und Soldaten die Hauptfiguren in der bedenklichen
Gesellschaft, welche uns mit den raffinirtesten Virtuosenkunststücken des Pinsels
vorgeführt wird. Diese allerdings auffallende Erscheinung erklärt sich aber
daraus, daß uns aus dem siebzehnten Jahrhundert eine unübersehbare Masse
von Genrebildern erhalten ist, während Genrebilder des sechzehnten Jahrhunderts
nur sehr vereinzelt vorkommen, weil die Religionskriege dem Familienbesitz
äußerst verhängnisvoll gewesen sind.
Umso wertvoller sind die übrig gebliebenen Sittenbilder des sechzehnten
Jahrhunderts, und zu ihnen gehören auch einige der angedeuteten Schilderungen
aus Häusern. Der Name des Urhebers derselben ist bis jetzt noch unbekannt.
W. Bode, welcher sich mit seinen Bildern eingehend beschäftigt hat, konnte bisher
nur soviel ermitteln, daß sich auf einem im Braunschweiger Museum befindlichen
Bilde, einer „Speisung der Armen," ein aus I. v. N. und andern Buchstaben
gebildetes Monogramm befindet, weshalb er diesen Maler bis auf weiteres
den „Braunschweiger Monogrammisten" nennt. Dieser anonyme Maler ist
für die Entwicklungsgeschichte der niederländischen Genremalerei insofern von
besondrer Wichtigkeit, als er unmittelbar an Lukas von Leyden anknüpft und
gewiß auf Pieter Aertsen, mit dem er mancherlei Verwandtschaft hat, von Einfluß
gewesen ist. Man wird den Höhepunkt seiner Thätigkeit etwa in die Zeit von
1S30—1540 zu setzen haben. Das Städelsche Institut in Frankfurt a. M.
besitzt eines der Bilder, welche den oben angedeuteten Gegenstand behandeln.
In dem Gesellschaftsräume des Hauses sitzen Landsknechte und Dirnen um einen
Tisch gruppirt beim Trunk. An einem Kamine zur Rechten bäckt die Wirtin
Waffeln, und im Mittelgrunde steigt ein Mädchen mit ihrem Galan eine
Treppe hinauf. Noch figureureicher und drastischer ist ein ähnliches Bild der
Berliner Galerie. Der Raum ist großer und durch Verschlüge in ver¬
schiedene Abteilungen getrennt. Die Gesellschaft am Tische in der Mitte des
Raumes hat sich den Freuden der Tafel gewidmet, und dazu hat ein junger
Mann die Flöte geblasen. Auf dem Tische stehen Zinnkannen, Teller und
dunkelgrüne, mit Buckeln verzierte Gläser. Einige Pärchen drücken bereits die
Harmonie ihrer Seelen durch Umarmungen aus, während dagegen im Vorraum
an der offnen Thür nichts weniger als Harmonie herrscht. Dort wälzen sich
zwei Weiber, zwischen denen eine Rauferei ausgebrochen ist, auf dem Boden,
und ein Mann sucht sie zu trennen, indem er ein Gesäß mit Wasser über sie
ausgießt. Rechts von der Thür hängt an der Wand das gewöhnliche Gerät
einer niederländischen Wohnstube aus dieser Zeit, runde Hohlspiegel in acht¬
eckigen Rahmen. In der offnen Thür hängt ein Vogelbauer, welcher wohl eine
Art Aushängeschild des Hauses bildet. Auf der andern Seite des Bildes heben
wir nur, indem wir über intimere Details hinweggehen, einen Tabuletkrämer
hervor, dem ein junger Mann für seine Dirne etwas abkauft. Der Schöpfer
dieses Bildes ist als Kolorist sowohl wie in der Zeichnung und in der Kunst
zu charakterisiren dem Pieter Aertsen bedeutend überlegen. Er liebt klare und
leuchtende Lokaltöne, wie rot, grün und gelb, sucht aber bereits durch einen
bräunlichen Gcjamtton eine gewisse Harmonie herzustellen. Auf seinen biblischen
Bildern, die im Freien vor sich gehen, erweist er sich auch als einen tüchtigen
Landschaftsmaler. Ein Gemälde wie die „Speisung der Armen" ist natürlich
trotz des neutestamentlichen Motivs ganz vom Standpunkte eines Genremalers
behandelt.
In welchen Beziehungen Pieter Aertsen zu diesem, jedenfalls holländischen
Meister gestanden hat, wissen wir nicht; wohl aber hinterließ Aertsen in Ant¬
werpen einen Erben seiner Kunst in Joachim Bueckelaer (etwa 1535 bis 1575),
dessen Tante jener geheiratet hatte. Es war daher natürlich, daß Bueckelaer
zu ihm in die Lehre trat. Nach van Manders Bericht hielt ihn Aertsen zu ge¬
wissenhaften Naturstudien an. Er mußte Feld- und Gartenfrüchte, Fleisch,
Vögel, Fische u. dergl. kopiren und eignete sich dadurch eine große Gewandtheit
i» der Pinselführung an. Sein Stoffgebiet ist daher auch dasselbe wie das¬
jenige seines Oheims: Kücheninterieurs, Märkte und biblische Szenen, auf welchen
das Volksgetümmel die biblische Staffage ganz in den Hintergrund drängt. So
sind z, B, ans einer „Schaustellung Christi durch Pilatus" in der Münchener
Pinakothek die Gemüsefrauen, welche mit ihren Körben auf dem Markte sitzen,
und die Käufer in ihrer Umgebung die Hauptsache, während die Halle mit dem
ausgestellten Christus daneben kaum in Betracht kommt. Die Architektur der
Renaissancepaläste, welche den Hintergrund bildet, zeigt uns, daß auch Bueckelacr
sich dem italienischen Einflüsse nicht entziehen konnte. Es scheint sogar, daß die
wohlhabenden Kunstliebhaber alles, was italienischen Anstrich hatte, bevorzugten
und die nationale Kunst darüber vernachlässigten. Nach dem Berichte van
Manders ist es den, armen Bncckelaer nämlich recht schlecht gegangen. Ab¬
gesehen, davon daß er für seine an Details ungemein reichen Bilder nur geringe
Preise erhielt, kam es gelegentlich auch vor, daß seine Auftraggeber, namentlich
bei Kücheninterieurs, eine Menge von Gegenständen in das Bild hineingepfropft
wissen wollten, sodaß er nach seinem eignen Geständnis „nicht seinen Käse und
sein Brot dabei verdiente." Und noch kurz vor seinem Tode klagte er darüber,
daß er sein Leben lang für einen zu geringen Lohn gearbeitet habe. Nichts¬
destoweniger muß Bueckelaer sich eines hohen Ansehens unter seinen Landsleuten
erfreut haben, sodaß selbst der Jesuit Carolus Scribcmus in seiner 1610 er¬
schienenen Beschreibung Antwerpens unsers Malers in ehrenvollen Ausdrücken
Erwähnung thut. „Varro erzählt, so schreibt er, daß er einen gewissen Pohls (?)
gekannt habe, von dem in Rom Trauben und Fische existirten, die so gemalt
seien, daß sie beim bloßen Sehen nicht von wirklichen unterschieden werden
konnten. Was würde er erst gesagt haben, wenn er eine Küche von Joachim
Bueckelaer gesehen hätte, in welcher Äpfel und andre Gartenfrüchte, Geflügel,
Fleisch, Fische so treu der Wirklichkeit nachgebildet sind, daß sie nicht bloß die
Köchin täuschen?" Von diesen Kllchenstücken ist uns nur eines vom Jahre
1562 in Antwerpener Privatbesitz erhalten, welches uns zugleich zeigt, in
welcher Weise Bueckelaer über seinen Lehrmeister hinausgekommen ist. Die
Küche ist hier nämlich so geräumig, daß sie der Familie als Speisezimmer dient.
Rechts sitzen an der gedeckten Tafel Mann und Frau, wie die andern lebens-
gwße Figuren, und ihnen gegenüber eine Magd mit einem Kinde auf dem Arm,
das mit erhabnen Armen nach der Bierkanne schreit, welche die Magd an den
Mund setzt. Hinter dem Tische steht noch eine zweite Magd, welche ein gefülltes
Weinglas über die Tafel reicht. Auf einem dreibeinigen Schemel zur Linken
steht man ein Stück rohes Fleisch, ein paar Würste und einige Gurken liegen.
Am. Herde steht die Köchin, welche ein Huhu am Spieße bratet. Zahlreiches
Küchengerät und Geschirr füllt die Wände und einen Schrank. An der Hinter¬
hand stehen zwei Thüren offen. Durch die eine blickt man in eine Kammer,
in welcher ein alter Mann am Tische eingeschlafen ist. In der andern erscheint
ein Knabe, welcher in die Küche blickt. Van den Brander, welcher uns von
diesem Bilde Kenntnis gegeben hat, hebt hervor, daß die Perspektive besonders
wohlgelungen sei. Ein andres Genrebild von Bueckelaer, die Fachverkäufer,
besitzt die Münchener Pinakothek. Hier sind auf einem Tische Fässer und
andre Gefäße mit Fischen aufgestellt, und dahinter stehen zwei Frauen und ein
Manu, welcher sich mit der einen einen Scherz erlaubt. Max Rooses hat in
seiner „Geschichte der Antwerpener Malerschule" diesen Zug mit Recht betont,
weil er ein neues Element in diese Darstellungen bringt, den Humor, freilich
von jener derben Art, welche man als „vlämisch" zu bezeichnen sich gewöhnt
hat. Die groben Späße der Bauern und Marktleute treten auf den Schilderungen
des Volkslebens immermehr in den Vordergrund, und um die Mitte des Jahr¬
hunderts blühte jener Meister, welcher wegen seiner komischen Schilderungen
des Lebens der Landleute „Bcmcrnbrueghel" oder „Viezen-Brueghel," d. h. der
närrische Brueghel, genannt worden ist.
Pieter Brueghel der ältere (etwa 1525—1569) ist das Haupt einer
Künstlerfamilie, welche in drei Generationen thätig war. Nächst Rubens und
Teniers ist kein andrer niederländischer Künstlername in öffentlichen und Privat¬
versammlungen so häufig vertreten wie derjenige der Brueghel, und man wird
schwerlich eine öffentliche Galerie namhaft machen können, in welcher nicht
wenigstens ein Bild auf den Namen Brueghel getauft wäre. Um die ver-
schiednen Glieder dieser Familie von einander zu unterscheiden, hat man ihnen
Beinamen gegeben, welche ihre Hauptthätigkeit charakterisiren sollen. Man hat
einen Bauern-, einen Höllen- und einen Sammetbrueghel; aber daneben giebt
es noch drei Brueghel, von welchen uns Werke erhalten sind, Jan den jüngern,
Pieter den dritten und Ambrosius, und von drei andern wird wenigstens be¬
richtet, daß sie Maler gewesen. Sie malten alle Genrebilder aus dem Bauern-
leben, Landschaften, Blumen und Früchte, und es ist daher in vielen Fällen
nicht leicht, die Werke des einen von denen des andern zu unterscheiden; be¬
sonders bei Jan Brueghel dem ältern und dem jüngern begegnet es großen
Schwierigkeiten.
Pieter Brueghel der ältere war kein Pfadfinder, kein bahnbrechender
Künstler, sondern nur ein Talent, welches eine große Aneignungsfähigkeit mit
einer ebenso großen Leichtigkeit des Schaffens vereinigte. Er machte sich alles
zu nutze, was originelle Meister vor ihm geleistet hatten, und unter ihnen
war es vornehmlich Hieronhmus Bosch, dessen zwiespältige Neigung zu phan¬
tastischen und realistischen Stoffen ihn am meisten anzog. Dann muß aber
auch Cornelis Massijs, der zweite Sohn von Quintin, auf ihn von Einfluß
gewesen sein. Des letztern Bilder sind außerordentlich selten, oder wenigstens
noch nicht aus dem Dunkel der Anonymität hervorgezogen. Ein mit seinem
Monogramm versehenes, welches die Jahreszahl 1543 trägt, besitzt die Berliner
Galerie. Auf einer Dorfstraße fährt ein Fuhrmann mit seinem Planwagen.
Von hinten steigen drei Frauen, welche den Fuhrmann vermutlich bestohlen
haben, heimlich aus dem Wagen aus, während vorn eine vierte Frau mit dem
Fuhrmann schön thut, um seine Aufmerksamkeit abzulenken. Die Häuser des
Dorfes, Hügel mit Obstbäumen und im Hintergrunde blaue Berge füllen die
Landschaft, welche den Eindruck macht, als wäre aus einem Gemälde Joachims
de Patinir ein Stück herausgeschnitten und vergrößert worden. Die Figuren
zeigen deutlich, daß sich Brueghel nach ihnen gebildet hat. Karel van Mander,
unser Gewährsmann für die Jugendgeschichte unsers Malers, weiß freilich von
den Lehrmeistern nichts, welche wir auf Grund stilistischer und stofflicher Ver¬
wandtschaft annehmen zu müssen glauben. Er berichtet vielmehr, daß Brueghel,
welcher in dem Dorfe Bruegel bei Breda das Licht der Welt erblickt und davon
auch seinen Namen angenommen habe, bei einem Maler Pieter Koek von
Aalst und dann bei Hieronymus Koek gelernt habe. Wahrscheinlich ist die
Annahme des letzteren Lehrmeisters daraus entstanden, daß Brueghel später
einen Teil seiner Zeichnungen bei dem Stecher und Kunstverleger Hieronymus
Cock herausgab. Im Jahre 1S51 wurde er als Freimeister in die Lukasgilde
von Antwerpen aufgenommen, und bald darauf muß er sich, dem Zuge der
Zeit folgend, nach Italien begeben haben, da zwei radirte Landschaften von ihm
existiren, welche seinen Namen und die Bezeichnung Roinas 1553 tragen. Einen
großen Einfluß übte jedoch das Studium der italienischen Kunst nicht auf ihn
aus. Seine Figuren tragen wenigstens in jedem Zuge einen nationalen Cha¬
rakter, und nur in seinen Landschaften klingt hie und da die Erinnerung an
die südliche Natur hindurch.
Nach seiner Rückkehr in die Heimat ließ er sich in Antwerpen nieder, und
hier scheint er bald mit Hieronymus Cock, der nicht bloß Kunstverleger, sondern
anch selbst Stecher war, in Verbindung getreten zu sein. Er lieferte für ihn
meist Zeichnungen, welche Cock durch andre, namentlich durch Petrus Myricenus,
in Kupfer stechen ließ. Anfangs ging er in seinen Arbeiten von Hieronymus
Bosch aus, dessen Kompositionen er entweder getreu kopirte oder umarbeitete.
Dann entlehnte er nur einige Motive von ihm, und schließlich komponirte er
selbständig in demi Geiste des ältern Meisters. Die Sammlung der Albertina
in Wien besitzt eine mit seinem Namen versehene Zeichnung, auf welcher jene
Waffelbäckerei dargestellt ist, die wir bei der Charakteristik von Hieronymus
Bosch kennen gelernt haben. In dem von Cock herausgegebenen Stiche nach
dieser Zeichnung ist noch der Name des Bosch als des Erfinders hinzugesetzt,
ein Beweis, daß Brueghel jenem zum mindesten das Motiv, wenn nicht gar
die ganze Komposition entlehnt hatte. In derselben Sammlung befindet sich
auch eine Darstellung des jüngsten Gerichts, welche sich eng an die phantastische,
dem Bosch geläufige Anschauung anschließt. Wie dieser, verfolgte auch Brueghel
mit seinen Genrebildern eine lehrhafte, moralisirende Tendenz. Unter seinen
burlesken Darstellungen aus dem Volksleben verbirgt sich meist eine ernste
Wahrheit, und selbst wenn er eine Bauernprügelei schilderte, war es ihm nicht
so sehr um den komischen Moment, als um eine ernste Warnung vor solchen
Ausschreitungen zu thun.
Brueghel war aber keineswegs ein bloßer Kopist, der fremde Ideen »er¬
arbeitete und in ein modernes Gewand kleidete. Auch ihm ging das Studium
der Natur über alles, und das Streben »ach Wahrheit bot ihm einen Ersatz
für das, was ihm new.i an Phantasie und eigner schöpferischer Kraft abging.
Karel van Mander berichtet, daß er in Gesellschaft eines befreundeten Kauf¬
manns oft als Bauer verkleidet die Stadt verlassen habe und aufs Land ge¬
gangen sei, um bei Kirmesse» und Bauernhochzeiten seine Studien zu machen.
Sie hätten, um Zulaß zu finden, vorgegeben, Verwandte des Bräutigams oder
der Braut zu sein, und hätten es sich gelegentlich auch ein Geschenk kosten
lassen. Man ist geneigt, diese Erzählung für eine nachträglich zurechtgemachte
Anekdote zu halten, durch welche Brueghels realistische, für die damalige Zeit
überaus naturwahre Darstellung des Bancrnlcbens eine Erklärung finde» soll.
Wir haben indessen noch zwei Zeugnisse, welche uns den Beweis tiefer»,
daß der alte Brueghel wirklich solche Naturstudien trieb, und daß er auch einen
besondern Wert darauf legte. Im Berliner Kupferstichkabinet befinden sich
nämlich zwei mit der Feder gezeichnete, sehr lebendig behandelte Stndienblätter
mit Bauernfiguren von seiner Hand. Auf dem einen sieht man einen Bauern
im Gespräch mit einer Bäuerin, und auf der Rückseite des Blattes oben eine
sitzendes Bauersfrau mit einem Tragkorb auf dem Rücken, welche Geld
aus einem Beutel in ihren Schoß schüttet, und unten eine Verkäuferin, welche
vor einem Korbe mit Eiern sitzt. Das zweite Blatt zeigt zwei auf einem
Baumstumpf sitzende Bauern. Bei jeder Figur ist bemerkt, welche Farbe die
einzelnen Kleidungsstücke u. f. w. haben, und unter jeder Zeichnung steht der
Zusatz: iure leveir, d. h. „nach dem Leben." Diese Blätter sind zwar, wie es
die Gelegenheit wohl nicht anders gestattete, sehr flüchtig gezeichnet. Andre
Federzeichnungen aber, wie z. B. ein Blatt mit Bienenzüchtern in derselben
Sammlung, rechtfertigen vollkommen das Lob Karel van Manders: „Er hand¬
habte die Feder sehr sauber und hübsch im Zeichnen von Gesichtern nach dem
Leben." Über Brneghcls Lebensumstände berichtet derselbe Gewährsmann
weiter, daß ein junges Mädchen ihm in Antwerpen die Wirtschaft geführt
habe, welche er wohl mich geheiratet hätte, wenn sie dem Laster des Lügens
nicht zu sehr ergeben gewesen wäre. Er hatte mit ihr, so erzählt van Mander
wörtlich, eine Abmachung dahin getroffen, daß jede ihrer Lügen auf einem Kerb¬
stock, wozu er einen recht langen nahm, vermerkt werden sollte und daß, wenn
der Stock bis zu einem gewissen Zeitpunkt voll würde, aus der Heirat nichts
werden sollte, was denu auch am Ende eintraf. Schließlich verliebte er sich
in die Tochter der Witwe des Pieter Koek (seines Lehrmeisters), die mit ihrer
Mutter in Brüssel wohnte und die er einst ans dem Arme getragen hatte, und
verheiratete sich mit ihr, doch unter der Bedingung, daß er Antwerpen ver¬
lassen und seinen Wohnsitz in Brüssel nehmen sollte, um sich das andre Mädchen
desto schneller aus dem Sinne zu schlagen, was er auch that." Es ist anzu¬
nehmen, daß der moralisirende Zug, welcher die Kunst Brueghels erfüllte, nicht
ohne Einfluß auf die Ausschmückung dieser Geschichte gewesen ist. Thatsache
ist jedenfalls, daß Brueghel im Jahre 1563 nach Brüssel übersiedelte, daß ihm
dort seine beiden Sohne Pieter (1564) und Jan (1568) geboren wurden, und
daß er im Jahre 1569 daselbst starb, nachdem er zu solchem Ansehen gelangt
war, daß ihm die Regierung der Stadt Brüssel den Auftrag erteilt hatte, ein
Erinnerungsbild an die feierliche Eröffnung des Kanals zwischen Antwerpen
und Brüssel zu male». Der Tod verhinderte ihn an der Ausführung dieses
Unternehmens. Nach der Erzählung Karels van Mander ließ er das Mora-
lisiren selbst auf dem Totenbette nicht. In seinem Testamente vermachte er
seiner Frau ein Bild, auf welchem eine auf einem Galgen sitzende Elster dar¬
gestellt war. Er wollte damit andeuten, daß Geschwätzigkeit und Klatschsucht
an den Galgen bringen. Dieses Gemälde ist uns zufällig in der Darmstädter
Galerie erhalten, und wir können daraus konstatiren, daß Brueghel in seinen
letzte» Lebensjahren seine Bilder farbiger und weicher behandelte als früher,
wo er noch mehr unter dem Einflüsse von Hieronymus Bosch stand. Wir
sehen aber auch zugleich, daß er bis zuletzt seinen Kompositionen immer eine
moralische Nutzanwendung mitgab und das stoffliche Element nicht allein wirken
ließ. Ein Genremaler im modernen Sinne ist er daher trotz seiner volkstüm¬
lichen Richtung nicht gewesen. Die gleichzeitige Literatur mit ihren Schwulst
von Allegorien und Sentenzen war so mächtig, daß sich ihr selbst ein so
realistisch angelegter Geist wie derjenige Brneghels nicht entziehen konnte. Auf
dem Bilde mit der geschwätzigen Elster ist übrigens die Landschaft sehr reich aus¬
gebildet: ein Fluß, welcher sich durch Felsen hindurchschlängelt, eine Mühle,
sehr sorgfältig durchgeführte Baumgruppen und dazu eine Gesellschaft tanzender
Bauern. Es siud also schon dieselben Elemente, aus welchen sein Sohn Jan
später seine Landschaften mit Bauernstaffage zusammensetzte.
Der Kunstcharakter des ältern Brueghel läßt sich nur in großen Zügen
schildern, weil mir ein geringer Teil von den Bildern, welche unter seinem
Namen gehen, ihm mit Sicherheit zugeschrieben werden kann, und weil andrer¬
seits unter den Stichen, deren Komposition auf ihn zurückgeführt wird, eine
große Verworrenheit herrscht. Wir haben eine ganze Reihe von Stichen, welche
bald seinen Namen, bald denjenigen des Hieronymus Bosch tragen. Man möchte
demnach annehmen, daß er anfangs, wie schon oben gesagt, Zeichnungen von
Bosch modernisirte und später, als sein Name bekannt und beliebt wurde, für
seine eignen ausgab, und daß nach seinem Tode die Kunstverleger sich kein
Gewissen daraus machten, alle Zeichnungen im Geschmacke von Bosch und
Brueghel unter dem Namen des letztern in die Welt zu schicken.
Brucghels Werke lassen sich in drei Gruppen scheiden. Die erste umfaßt
Gemälde aus der heiligen Geschichte wie den „Turmbau zu Babel," den
„Bethlehemitischer Kindermord," die „Predigt Johannis des Täufers in der
Wüste," die „Kreuztragung," eine „Schlacht zwischen Jsraeliten und Philistern,"
In der Weise des Pieter Aertsen ist hier das Hauptgewicht auf das Getümmel
der Figuren gelegt, wobei aber der nationale Charakter strenger betont ist. So
wird z. B. der Mord der unschuldigen Kinder in einen vlämischen Dorfe voll¬
zogen, welches dicht mit Schnee bedeckt ist, wie es sich für den nordischen
Winter geziemt. Die zweite Gruppe umfaßt phantastische Darstellungen zum
Teil spukhaften Inhalts, wie das „Jüngste Gericht," den „Sturz der Verdammten"
und die mannichfachen Schilderungen der Höllenqualen, welche seinem Sohne
Pieter (1564—1638), weil er sie häufig kopirte, den Namen Höllenbrueghel
eingetragen haben. Dieser selbst bewegte sich vornehmlich im Baucrngenre und
in figurenreichen Szenen aus der biblischen Geschichte, ohne jedoch zu einer
besondern Originalität zu gelangen. Die dritte Gruppe wird von den Genre¬
bildern aus dem täglichen Leben gebildet, in welchen Brueghel, von biblischer
und klassischer Weisheit erfüllt, als der Sittenprediger seines Volkes auftritt.
Um die Moral seiner Darstellungen recht eindringlich zu machen, beschränkt er
sich bisweilen nicht auf einen Vorgang, den die einheitliche Komposition des
Bildes doch verlangt hätte, sondern er erzählt auf derselben Tasel eine Geschichte
in verschiednen Stadien ihrer Entwicklung. Er will z. B. darauf hinweisen,
daß die unglückliche Manier, den Stein der Weisen zu suchen, schon manches
Hauswesen zerrüttet, schon manche Familie an den Bettelstab gebracht habe.
Dazu braucht er vier Szenen. Auf der rechten Seite des Bildes sitzt der
Alchymist an seinem Studierpulte und glaubt, wie man an seiner freudigen
Miene sehen kann, endlich das Geheimnis der Mischung gefunden zu haben.
Seine Frau setzt, bereits mit verdrossener Miene, den Blasebalg in Bewegung,
um das Feuer unter einem Schmelztiegel anzufachen. Links sitzt der Gold¬
macher, total zerlumpt und mit abgemagertem Gesicht, an dem mit seinen Ge¬
räten voll besetzten Herde, während seine Frau den Geldbeutel umkehrt, um zu
zeigen, daß kein Heller mehr darin vorhanden ist. Im Hintergrunde sind die
Kinder in den leeren Speiseschrank geklettert. Durch ein großes Fenster blickt
man ins Freie, wo sich der letzte Akt dieser Tragikomödie menschlicher Narrheit
abspielt: der Goldmacher und seine Familie suchen in Armenhause ihre Zuflucht.
Fastnachtsaufzüge, Bauernhochzeiten, Schlägereien und Trinkgelage bilden meist
die Motive von Brueghels Genrebildern, soduß sie im großen und ganzen schon
den Kreis beschreiben, in welchem sich auch die vollentwickelte Genrekunst des
siebzehnten Jahrhunderts bewegt.
>el dem Aufsehen, welches die Verbindung der bisherigen Sezes-
sionisten mit den Fortschrittlern hervorgerufen hat, dürfte es sich
lohnen, einmal einen etwas tiefern Blick in das innere Getriebe der
parlamentarischen Fraktionen zu werfen. Wir werden dadurch
I vielleicht auch über die Bedeutung jenes überraschenden Ereig¬
nisses größere Klarheit gewinnen.
Die Fraktionen der Parlamente haben ihre natürliche Grundlage in dem
von den meisten Parlamentsmitgliedern gefühlten Bedürfnisse, nicht völlig un¬
vorbereitet in die allgemeine Verhandlung wichtiger und schwieriger Angelegen¬
heiten einzutreten; vielmehr mit demjenigen Teil der Kollegen, mit welchen sie
in ihrer Gesamtrichtung sich eins wissen, über solche Angelegenheiten im voraus
die Ansichten auszutauschen, um dadurch sich gegenseitig zu belehren und, wenn
möglich, ein übereinstimmendes Verhalten zu erzielen. Führt dieser Zweck zu
regelmäßigen Versammlungen, so ist es auch natürlich, daß die Parteigenossen
sich eine gewisse Organisation geben, daß sie einen Vorstand wählen, welcher die
Versammlungen anordnet, die Geschäfte darin leitet u. s. w. Beschränkte sich
nun hierauf das Wesen der Fraktionen, so wäre alles ganz gut. Man käme
zusammen, spräche vorläufig über die Sache und erwartete dann die allgemeine
Verhandlung, bei welcher jeder nach seiner aus allem Verhandelten gewonnenen
Überzeugung seine Stimme abgeben könnte. Das ganze parlamentarische Leben
ist aber nicht zu verstehen, wenn man das Parlament lediglich als einen Kampf¬
platz ansieht, auf welchem öffentliche Interessen den Gegenstand des Streites
bilden. Es ist zugleich die Arena, in welcher der persönliche Ehrgeiz einer
gewissen Anzahl von Männern gegen einander ringt. Dieses Element unsers
parlamentarischen Lebens hat sich auch des Fraktionswesens bemächtigt. Die
Fraktion ist das Podium, auf welchem der strebsame Parlamentarier seine Stel¬
lung nimmt; und je höher und fester er dieses Podium unter sich aufzubauen
vermag, umso höher und fester ist auch seine Stellung. Demgemäß gilt die
Fraktion nicht bloß als eine Institution, um sich gegenseitig zu unterrichten,
sondern sie ist auch ausgebildet als das Mittel der Beherrschung der großen
Masse der Parlamentarier durch eine kleine Anzahl derselben. Es giebt ohne
Zweifel eine Menge Parlamentarier, welche gern auf jedes selbständige Denken
verzichten und sich ganz behaglich fühlen, wenn sie vertrauensvoll fremder Füh¬
rung sich überlassen können, Diese Masse zu gewinnen und als sichern Schweif
hinter sich herzuziehen, dazu bietet die Fraktion das geeignete Mittel. Nun
finden sich wohl in allen Fraktionen auch solche, die, wenn sie auch nicht das
Talent oder nicht den Ehrgeiz besitzen, als Führer sich aufzuspielen, doch nicht
auf jedes selbständige Denken verzichtet haben, und welche deshalb nicht unbe¬
dingt von den Führern sich imponiren lassen. Hier gilt es nun, eine Art
Fraktionsdisziplin zu üben, welche auch diese disparaten Elemente zusammen¬
hält. Deshalb wird in den Fraktionsversammlnngen nicht bloß diskutirt,
soudern es wird auch am Schluß der Diskussion ein „Fraktivnsbeschluß"
gefaßt, welcher den „Willen der Fraktion" zum Ausdruck bringt. Aller¬
dings gilt nicht jeder dieser Fraktionsbeschlüsse für absolut bindend. Nur
in einzelnen Fällen pflegt ausgemacht zu werden, daß jedes Fraktionsmitglied
bei seiner Abstimmung im Plenum sich dem Fraktionsbcschlusse zu unter¬
werfen habe. Indessen auch bei den nicht bindenden Beschlüssen Pflegt doch
gegen die Abfallenden eine gewisse Disziplin geübt zu werden, wenn diese auch
bei den verschiednen Fraktionen nicht in gleichem Maße ausgebildet sein mag.
Die geschlossene Art und Weise, wie z. B. Zentrum und Fortschrittspartei
meistens bisher gestimmt haben, deutet darauf hin, daß bei ihnen die Fraktions¬
disziplin sehr stark gehandhabt worden ist. Die geringste Zensur ist das stille
Mißfallen der Fraktion, welches bei dieser oder jener Gelegenheit sich kundgiebt.
Dann kommt es auch wohl zu lauten tadelnden Bemerkungen, wenn auch diese
öfters nur von untergeordneten Größen ausgehen, welche bemüht sind, bei deu
Führern der Fraktion das „liebe Kind" zu spielen. Denn auch solche Persön¬
lichkeiten giebt es in den Fraktionen, und sie werden dann für ihre „Fraktions¬
treue" bei dieser oder jener Gelegenheit durch eine kleine Auszeichnung belohnt.
Ist aber einer der Fraktionsgenossen der Führerschaft ernstlich in die Quere
gekommen, dann kommt es mitunter zu erschütternden Szenen, bei welchen viel¬
leicht ein hochachtbarer Mann in einer für ein unbefangenes sittliches Gefühl
tief verletzenden Weise mißhandelt wird. Nach außen hin pflegt ein solcher
Vorgang meist nur durch den Austritt des Betroffenen aus der Fraktion sich
kundzugeben.
Man wird um vielleicht fragen, weshalb denn bei diesen oft nichts
weniger als anmutigen Verhältnissen des innern Fraktivnslcbens gleichwohl
fast alle Parlamentarier sich irgend einer Fraktion anschließen? Der Grund
dafür liegt darin, daß die Fraktionen das ganze parlamentarische Leben be¬
herrschen. Sie haben große Ähnlichkeit mit den Korpsverbinduugen der
Studenten; und nichr ohne Grund hat man — nach einem treffenden Witz von
Windthorst — den Zusammentritt der Fraktivnsvorstände „den Seniorenkonvent"
genannt. Namentlich werden auch alle für die Vorberatung der Gesetze be¬
stimmten Kommissionen von den Fraktionen, natürlich nur mit Fraktions¬
mitgliedern, besetzt; und wer daher nicht ganz darauf verzichten will, innerhalb
dieser oder jener Kommission seine Kräfte zu verwerten, ist genötigt, einer
Fraktion beizutreten. Der „Wilde" im Parlament ist ein fast Verlorner Mann,
selbst wenn es ihm gelingt, noch hie und da für seine Person im Plenum zum
Worte zu gelangen.
Die schlimmste Seite des Fraktivusweseus liegt ohne Zweisel darin, daß
dadurch die Verhandlung im Plenum oft zu einer bloßen Formalität herabsinkt.
Die Fraktion hat ihren Beschluß gefaßt, und dabei muß es bleiben, was auch
die öffentliche Verhandlung ergeben mag. Diejenigen, welche innerhalb des
parlamentarischen Parteigetriebes sich den Sinn dafür bewahrt haben, daß auch
in politischen Dingen der Satz: ^uclig,or se »lters, x^rs! eine gewisse Be¬
rechtigung habe, müssen sich öfters schmerzlich dadurch berührt fühlen, daß,
welche Gründe auch, bisher vielleicht ganz unerörtert, von andrer Seite, namentlich
vom Regierungstische aus, für die Sache gebracht werden, doch der Fraktions-
beschluß unerschütterlich feststeht und darnach abgestimmt werden muß. Freilich
für den Fraktionsführer ist es weit angenehmer, wenn er an der Spitze von
so und soviel Mann, die bereits festgemacht sind, aufmarschirt; und er kann
ganz anders ins Zeug gehen, wenn er seine Rede mit den Worten beginnen
kann: „Meine Freunde und ich werden so und so stimmen." Aber dem Interesse
der Sache ist damit nicht immer gedient.
Sehr verwickelt pflegt sich das Getriebe im Innern einer Fraktion zu ge¬
stalten, wenn darin mehrere Führer sich befinden, welche in dem Ansehen, das
sie genießen, sich die Wage halten und in ihrer Richtung nicht ganz überein¬
stimmen. In diesem Falle spielen sich dann wohl manche Intriguen ab, mittelst
deren der eine den andern aus dem Sattel zu heben sucht. Gelingt das nicht,
so tritt öfters die Erscheinung ans, daß die Fraktion in „zwei Flügel" sich
teilt, welche unter Umständen nicht mehr zusammengehen. Ein solcher Dualismus
hatte sich bereits seit längerer Zeit in der nationalliberalcn Partei gebildet, als
er bei den Zollverhandlungen des Jahres 1879 zum vollen Ausdruck kam.
Schon beim Schluß dieser Verhandlungen war es klar, daß die Partei nicht
mehr zusammenhalten könne, und es handelte sich in der That nur noch um
die Frage, wer die Firma fortführen solle. Aus Widerwillen an den Vor¬
gängen, welche im Innern der Fraktion sich abgespielt hatten, schied bereits
damals die Gruppe Schauß-Volk aus. Der eigentliche Bruch an der natürlichen
Stelle vollzog sich aber erst einige Zeit später durch die „Sezession." Man
hat öfters geglaubt, daß auch in der Fortschrittspartei ein ähnlicher Dualismus
bestehe zwischen den Fortschrittlern Richterscher und denen Hänelscher Observanz.
Indessen hat diese Fraktion, nachdem die kleine Gruppe Löwe-Berger aus¬
geschieden war, wieder zusammengehalten; und Herr Hänel hat durch seine famose
ReichstagSrede vom 30. August vorigen Jahres gezeigt, daß auch er vom echt
fortschrittlichen Standpunkt aus zu rede» verstehe.
Neuerdings ist nun an die Stelle der bisherigen Trennungen eine neue
Vereinigung getreten zwischen Sezession und Fortschritt. Wie wir durch eine
Rede Rickerts erfahren haben, ist der Antrag auf diese Verbindung — wir
hätten beinahe gesagt der Heiratsantrag — von den Fortschrittlern, namentlich
von den Herren Richter und Hänel, ausgegangen. Wochenlang hat man
verhandelt und endlich ein Programm zusammengedrechselt, auf welches
man sich geeinigt hat. Verlorne Liebesmühe! Als ob im wirklichen Leben
die Fragen sich nach einem im voraus festgestellten Programm beantworten
ließen! Um die Zukunft der neuen Fraktion zu bestimmen, wird man ebenso,
wie Äsop dem Wandrer zurief, der ihn nach der Länge des von ihm noch
zurückzulegenden Weges fragte, auch dieser Fraktion vorerst zurufen müssen:
„Gehe!" Wer wird die Ausführung des Programms diktiren? Das ist die
Frage. Ohne Zweifel ist Herr Eugen Richter derjenige Mann, welcher in den
Eigenschaften, die den einflußreichen extremen Parteiführer machen — wohin
wir namentlich auch Rücksichtslosigkeit rechnen —, die bisherigen Führer beider
Parteien erheblich überragt. Auch wird wohl niemand glauben, daß Herr
Richter die Verbindung gesucht habe, weil er etwas von Reue fühle und sich
den sanftem Anschauungen und Formen seiner neuen Freunde anschließen wolle.
Er wird sicherlich auch in Zukunft sein Licht nicht unter den Scheffel stellen.
Das eigentliche Programm Richters ist nicht das, welches er jetzt unterschrieb.
Es ist ein weit kürzeres und lautet einfach: „Fort mit Bismarck!" Sind nun
die neuen Freunde Richters auch auf dieses Programm mit ihm einverstanden?
Können sie den Augenblick nicht erwarten, wo das deutsche Reich einer Epigonen-
Herrschaft anheimfällt? Was ist denn so entsetzliches geschehen, daß man den
Mann, welcher das deutsche Reich geschaffen hat, verfolgen zu müssen glaubt,
mit einem Hasse ohne gleichen?
Unter den Führer der Sczessivnisten, welche der Vereinigung zugestimmt
haben, sind auch Männer, die man bisher nicht anders denn als warme
Patrioten gekannt hat. Freiherr Schenk von Stauffenberg gehört einem alten
ruhmwürdigen süddeutschen Geschlechte an und genießt in seinem Heimatlande
Baiern das größte Ansehen. Herr von Forckenbeck bekleidet die ehrenvolle
Stelle an der Spitze der Bürgerschaft der Reichshauptstadt und hat lange
Jahre das Amt des ersten Präsidenten im Abgeordnetenhaus? und Reichstage
ruhmvoll verwaltet. Beide Männer waren es, welche Herr von Bennigsen dem
Reichskanzler zum Miteintritt in das preußische Ministerium vorschlagen zu
müssen glaubte. Wußten denn diese Männer im deutschen Parlamente keine
andre Stellung sür sich zu gewinnen als in der Gefolgschaft Eugen Richters?
Wollten sie damit etwa den Beweis führen, daß sie unverdient eine Zurück¬
weisung vom Reichskanzler erfahren haben? Und wenn sie vielleicht für ihre
Person nicht in jene Gefolgschaft eintreten wollten, war es dann weise von
ihnen gehandelt, diejenigen, welche bisher zu ihnen gehalten, den demagogischen
Redekünsten des Fortschrittlertums zuzuführen?
In der That, wir sind wieder weit in Deutschland gekommen. Ein halbes
Jahrhundert laug hat unser Vaterland schwer gelitten unter dem Zwiespalt
seiner Regierungen. Österreich, Preußen und die Kleinstaaten, so hießen die
drei Gruppen, welche die Zerrissenheit Deutschlands darstellten und ein Ge¬
deihen im deutschen'Volke nicht aufkommen ließen. Der deutsche Bundestag
war das Emblem deutscher Jämmerlichkeit. Heute, wo die Regierungen geeinigt
sind, ist das deutsche Volk selbst in seinen Vertretern wieder der alten Zer¬
rissenheit verfallen. Extreme Parteien rechts und links und die Zentrumspartei
in der Mitte, diese sind es, welche um die Herrschaft ringen und jede in ihrer
Art unser Land beglücken wollen. Und der deutsche Reichstag droht zu werden,
was der deutsche Bundestag war. Solange ein mächtiger einheitlicher Wille
die Dinge in Deutschland noch zusammenhält, ist dieser Zustand vielleicht zu
ertragen. Wie aber später? Armes Deutschland!
In England beschäftigen sich die Zeitungen noch
immer lebhaft mit der Erwerbung der Oase Merw von feiten Rußlands, und
diese Frage, die auch im Parlamente wiederholt erörtert worden ist, hat in der
That für die Stellung der Engländer in Ostasien nicht gewöhnliche Bedeutung.
Ein Blick auf eine gute Karte Afghanistans und feiner Nachbarländer zeigt, wie
nahe jene neueste Erwerbung des „weißen Chans" die unablässig weiter nach
Süden vordringende russische Flut dem Kreise des britische» Einflusses im südlichen
Zentralasien gebracht hat, d. h. wie wenig diese Flut noch vom Lande der Afghanen
entfernt ist, dessen Emir von England Subsidien empfängt, und dessen Grenzen
vor anderthalb Jahrzehnten von Gladstone und Granville abgesteckt wurden. Man
sieht auf einer solchen Karte, daß die afghanische Grenze, von Chodscha Sala am
Oxus ausgehend, zuerst durch Wüsten- und Steppenland, dann durch das Thal des
Mnrgab und über diesen Fluß hinweg bis Sarachs im Westen läuft, wo sie die
Grenze Persiens berührt und von wo sie sich nach Süden wendet, um etwa 14
deutsche Meilen westlich von Herat und ungefähr 4 Meilen westlich von Gurian
bis zum Helmaud weiter hinabzugehen. Merw ist etwa 15 Meilen nördlich von
dieser Linie entfernt, da aber das ganze Land auf der linken Seite des Oxus
unterhalb der Stadt Chodscha Sala als zu Rußland gehörig betrachtet wird, so
folgt, daß seit der Unterwerfung Merws das gesamte Gebiet im Westen der
afghanischen Grenze unter die Obmacht Rußlands geraten wird. Man wird
ferner bemerken, daß die wichtigen Städte Bates und Maimnua, von denen jene
am Oxus, diese in dem wohlcmgebautcn Hügellande an der großen Straße nach
Herat liegt, durch die Einverleibung Merws ebenfalls der Region beträchtlich näher
gebracht worden sind, wo die Russen gebieten. Sie sind deshalb weit weniger
sicher, als vor dem Feldzuge gegen die Achaltekes, der den letzteren Merw ver-
schaffte. Die Snrik- und Salor-Turkmenen, die innerhalb der afghanischen Grenzen
wohnen, sind nicht leicht zurückzuhalten, und da Badghis in gewissem Sinne
streitiges Land ist, obwohl es auf dem Papiere gleichfalls zu Afghanistan gehört,
so ist leicht zu sehen, daß sich bald Ereignisse begeben können, aus denen sich ernste
Schwierigkeiten entwickeln.
Rußland hat aber mit seiner neuesten zentralasiatischen Eroberung noch mehr
gewonnen. Indem es Merw in seine Gewalt brachte, welches es 1881 nicht
besetzen zu »vollen schien, hat Rußland die Verbindung zwischen seinen
tnrkestanischen und seinen transkaspischen Provinzen vervollständigt; mit andern
Worten: es hat Samarkand, Buchara und Chiwa durch Merw mit Askabad und
Krasnvwodsk vereinigt. Er hat infolge dessen jetzt nichts mehr von den berittenen
Wüstenrändern zu befürchten und wird sich wahrscheinlich seine besser gewordene
Lage zu nutze machen und mit dem Bau einer Eisenbahn nach Osten gegen Sarachs
vorgehen, das es natürlich auch nicht eher wegnehmen wird, als bis sich eine
passende Gelegenheit findet. Dann hat es den großen zentralasiatischen Schienenweg
wieder um eine Station näher nach Herat hin vorgeschoben. Man muß dabei in
Betracht ziehen, daß das russische Gebiet, wie es in dem Greuzvertrage mit Persien
festgestellt worden ist, nnr bis zu einem gewissen Punkte genau bestimmt ist, dann
aber als je nach den Umständen dem einen oder dem andern Nachbar gehörig be¬
trachtet werden kann. Infolgedessen ist kaum zu bezweifeln, daß alles, was nicht
spezifizirt worden ist, für herrenloses Land angesehen werden wird, und daß die
Russen sich bis dicht vor Sarachs ausbreite» werden. Darf man von der Ver¬
gangenheit auf die Zukunft schließen, so ist man berechtigt, anzunehmen, daß all¬
mählich und bei passender Gelegenheit die natürliche Festung von Kalat, das Deregez
und Sarachs für notwendig zu den großen Zivilisirnngswerke werden erachtet werden.
Man wird sich mit ihnen der Beherrschung der besten Operationslinien gegen Herat und
der geeignetsten und vorteilhaftester Straßen nach Kandahar bemächtigen. Die Karte zeigt,
daß die Russen jetzt viel weniger weit bis nach Herat haben als die Engländer. Man
weiß ferner, daß das Land zwischen Sarachs und jener berühmten alten Stadt am
Herirnd deu Ingenieuren keinerlei Schwierigkeiten entgegenstellt, daß die einst hier
vermuteten massiven Gebirgsketten in der Wirklichkeit nur 800 bis 900 Fuß hohe
Sandhügel sind, und daß zwischen den Truppen des Zaren und Herat, Maimnn
und Bates kein andres Bollwerk steht, als die papierne Grenze, die Gladstone
und Grenville einmal sanktionirt haben. In sibi (südlich von Kandahar) stehen
die Engländer 100, in Quelen 120 deutsche Meilen von Herat, wogegen die
letztere Stadt von Merw nur etwa 60 und von Askabad ungefähr 30 Meilen
entfernt liegt. Das wichtigste aber ist bei der Sache, daß Rußland jetzt mit einer
Eisenbahn rasch nach der afghanischen Grenze vorrückt, daß es mit der Einver¬
leibung Merws seiue weitgestrcckten Grenzen südlich und nördlich von Oxus abge¬
rundet, daß es die Herrschaft über Stämme, die stets zu Borstößen und Raubzügen
bereit sind, erlangt, daß es sich einen neuen Ausgangspunkt zu einem weitern Sprunge
nach zwei Nachbarreichen verschafft, und daß es sich endlich eine Stellung gesichert
hat, von wo es mit Leichtigkeit von drei Punkten, von Bochara, Merw und As¬
kabad aus, Minen uach Afghanisten hineintreiben kann. Dazu kommt schließlich,
daß es sein Ansehen im ganzen Osten beträchtlich gehoben hat. Es ist eben anders
vorgegangen als England unter Glndstones Leitung. Es hat moralische Kraft an
den Tag gelegt, Konsequenz und Beharrlichkeit, es hat eine kluge Politik verfolgt
und im Felde zu siegen verstanden. Das Resultat ist gestiegncr Kredit und Einfluß
an den asiatischen Höfen.
Von der in diesen
Blättern (1833. Heft 45 n. 46) besprochenen Bundcsratsvorlage weicht die dem Reichs¬
tage gemachte Vorlage in verschiednen Punkten ab. Der Bundesrat hatte sich
ganz auf den Boden der von der Reichsregierung ausgearbeiteten Vorlage gestellt;
die von ihm beschlossenen Veränderungen berühren nicht das Prinzip, sondern
Einzelheiten, von denen einige freilich von weittragender Bedeutung sind. Der
erste Entwurf hatte für Inhaberaktien als Nominalbetrag mindestens 5000 Mark,
für Namensaktien 1000 Mark in Vorschlag gebracht; die jetzige Vorlage hat den
ersten Betrag auf 2000 Mark herabgesetzt. Man kann im Zweifel sein, ob darin
eine Verbesserung liege. Das eine ist jedenfalls richtig, daß auch der höchste No¬
minalbetrag den kleinen Mann nicht vom spekuliren abhält, solange der Ausbeu¬
tung durch Ratengeschäfte freier Spielraum bleibt. Wie aber diese einzuschränken
sei, das läßt sich mit einigen Worten kaum sagen; jeder sollte in seinem Kreise
wenigstens nicht aufhören, vor den marktschreierischen Annoncen und Zirkularen
der Ratenbankiers zu warnen. Der erste Entwurf hatte den Fall, daß gleich bei
der Gründung die Aktien zu einem höhern als dein Preiskurse ausgegeben würde»,
uicht weiter ins Auge gefaßt. Es würde demnach der dadurch erzielte Gewinn
lediglich den Gründern anheimgefallen sein. Die jetzige Vorlage hat die Frage
einer Übervari-Emission bei der Gründung sehr eingehend geregelt, und darin liegt
eine dankenswerte Verbesserung. Eine ganze Reihe solider Gesellschaften hat ihre
Aktien mit einem Agio aufgelegt und sich dadurch von vornherein einen Reserve¬
fonds geschaffen. Ein solcher Vorgang verdient Begünstigung, die ihm in dem
gegenwärtigen Entwürfe umsomehr zuteil wurde, als ausdrücklich angeordnet ist,
daß der Agiogewinn dein Reservefonds zugeführt werden muß. Von den so¬
genannten Jndividualrechten hat die Reichstagsvorlage das Recht der Minorität,
auf Auflösung zu klagen, beseitigt. Hier hatte die erste Vorlage allzuviel in das
richterliche Ermessen gestellt. Die Frage, ob eine Aktiengesellschaft noch geeignet
sei, ihre gesellschaftlichen Zwecke zu erfüllen, ist in der That keine solche, die auf
dem Wege des Zivilprozesses geregelt werden kann. Hierbei kann nur der Wille
der Mehrheit entscheidend sein, und der Entwurf hat genügende Vorsorge dafür
getroffen, daß der Wille dieser Mehrheit zum gesetzlichen Ausdruck gelangt. Die
erste Vorlage endlich hatte den Fall wohl erwogen, daß die der Minorität ge¬
währten Rechte leicht zu einer faktiöseu Baissespekulation benutzt werden könnten,
aber in der Bestimmung des Strafgesetzbuchs einen genügenden Schutz gegen eine
etwaige absichtliche Kreditgefährdung der Gesellschaft zu haben geglaubt. Die gegen¬
wärtige Vorlage geht noch weiter, indem sie der letztern auch einen zivilrechtlichen
Anspruch gegen diejenigen gewährt, welche höflicher Weise von dem Minoritäts-
rechtc Gebrauch gemacht haben. Das sind die wichtigsten Abweichungen der neuen
Vorlage. Die übrigen sind weniger wirtschaftlichen als juristischen Charakters.
Angesichts des aus den Reihen der „Frei¬
sinnigen" hervorgegangnen Antrages, den in der neuesten Gewerbenovelle enthaltenen
Kolportageparagraphen wieder zu beseitigen, scheint es uns angemessen, eine sehr
hübsche Darstellung über die Wirksamkeit des Kolportagewesens in der Reichshaupt-
stadt hier zu reproduziren. Dieselbe lautet:
„Berlin ist seit dem ersten Tage dieses Jahres um eine Spezies ärmer; eine
der typischen Persönlichkeiten wurde an demselben Tage, um welchem das geaichte
Maß in allen Restaurants und Wirtsstuben eingeführt wurde, aus denselben ver¬
wiesen. Weniger allerdings ans densjenigen^ Restaurants, hinter deren Spiegelscheiben
befrackte Kellner den Fremdling bedienen, als vielmehr aus jenen Schänkstätten, in
denen die Weiße noch ein beschauliches Dasein neben dem Kartoffelsalat und dem
Kuhkäse führt, und wo kalte Bonletteu noch den Inbegriff der kulinarischen Herr¬
lichkeit bilden. In Butiken und Schnapsläden, auf den Drvschkenhalteplätzen und
in Fabrikräumen, auf Hausfluren und Hintertreppen befand sich das überaus
ertragsreiche Arbeitsfeld des »fliegenden Verkäufers der Schauerliteratur.« Der
Kolporteur, jene durchaus existeuzberechtigte Erscheinung, bleibt nach wie vor; aber
er muß jetzt ein Verzeichnis seiner Verkaufsartikel mit sich führen und der Behörde
jederzeit Einblick in seine Mappen und Taschen gestatten — und dadurch, sowie
durch den Ausschluß gewisser Werke vom Kvlportagevertriebe ist dem »Hinter¬
treppler« der Lebensfaden durchschnitten worden. Daß fliegende Buchhändler sich
ganz ausschließlich dem Vertriebe der Schauerromane widmeten, kam aber nur in
der Hauptstadt vor, und die große Zahl der Abnehmer machte das Geschäft zu
einem höchst einträglichen. Es war ein ganz eigenartiger Anblick, und die Szene
hätte wohl verdient, von einem Zeichner, der sich dein Studium des Volkslebens
gewidmet, aufgenommen zu werden: der Mann mit der schwarzen Mappe und
dem Bilderkasten, wie er, umgeben von den Rosselenkern, den Inhalt seiner
Romane und die Prachtbilder, die man gegen geringe Nachzahlung beim letzten
Heft erhielt, als »von einem feinen Maler« herrührend, anpries. »Die Kinder
des Gehenkten, oder Der Fürst vom Rabenstein,« »Der Tvtenvogel, oder Die
Genossen des schwarzen Bundes,« »Die schöne Bianca, oder Die Geheimnisse des
Serails« — so und ähnlich lauteten die verlockenden Artikel. Wenn der harm¬
lose Fabrikarbeiter, der biedre Droschkenkutscher, die romantische Nähmamsell und
die gebildete Köchin nun gar deu Prospektus durchlas, die Bilder sah, und auch
noch hörte, daß zum Schluß sieben Uhren von fast echtem Golde, zwölf Näh¬
maschinen, zwanzig halbwollene Roben und ein Dutzend Regenschirme unter den
Abonnenten verlost werden sollten, das Los bekam man gratis, und die »Ein¬
schreibegebühr« betrug nur eine Mark — ja, wer konnte dann noch widerstehen?
Allwöchentlich erschien ein Heft, und trotzdem jdaU sein Inhalt so hübsch spannend
war, und es bei der Lektüre einen so recht gruselte, kostete es nnr dreißig Pfennige!
Eine Bagatelle! Schade wars nur, daß immer gerade dann, wenn die Geschichte
am spannendsten oder am gruseligsten wurde, das Heft zu Ende war. Man
konnte kaum die Fortsetzung erwarten, und der »Hintertreppler«, der gewöhnlich
am Sonnabend Abend kam, wenn der Arbeiter und kleine Handwerker seinen
Lohn in der Tasche hatte, war der ersehnteste Mann. So las man den
Roman bis zum Schluß, so kaufte man achtzig, wohl auch hundert Hefte,
so zahlte der unbemittelte Arbeiter, die Nähmamsell oft vierundzwanzig Mark für
einen einzigen, elenden Roman. Nun ist die Herrlichkeit zu Ende, und da der
»Hintertreppler« von andrer Literatur nichts wissen wollte, so ist auch er auf
den Austerbeetat gesetzt. Die gefühlvollen Nähmamsells und die Köchinnen, die
Kutscher und Fabrikarbeiter werden ihn schmerzlich entbehren und weidlich auf das
Gesetz räsouniren, durch welches ihnen ihre geistige Kost entzogen wird; denn in
Buchhandlungen kauft man solche Werke nicht, man kauft sie lieferungsweise auf
Hintertreppen, in Budiker und auf offenen Plätzen oder garnicht."
Woher stammt Wohl diese Darstellung? Sie ist entnommen der National¬
zeitung (Ur. 9, vom 6. Januar d. I.), einem Blatte, welches zwar in seinem
vorderen politischen Teile über die neue Kolportagebeschränkung, in welcher es
eine Wiederherstellung der Zensur erblickt, stets in höchster Entrüstung sich ergeht,
nebenbei aber auch unter der Rubrik „Lokales" Mitarbeitern Raum gewährt, welche
der Wahrheit die Ehre geben und die Dinge zeichnen, wie sie wirklich sind. Einem
solchen verdanken wir auch das vorstehende klassische Zeugnis über den sittlichen
Wert des Kolportagehandels — die beste Kritik des neugestellten Antrages.
Das Allgemeine Landrecht
(Teil II, Tit. 12) bezeichnet die Schulen als Veranstaltungen des Staates. Den
Unterhalt der gemeinen Schulen (d. h. der Volksschulen, welche der Erfüllung der
allgemeinen Schulpflicht dienen) überträgt das Landrecht, soweit es sich um die
eigentlichen Schulbeiträge handelt, den „Hausvätern" (in Neuvorpommern hat man
dafür den bezeichnender» Ausdruck „Familienvorstände" gewählt), soweit Schul¬
bänken in Betracht kommen, den zu der betreffenden Schule gewiesenen „Ein¬
wohnern" ohne jeden Unterschied, auch des Religionsbekenntnisses. Im allgemeinen
kann man sagen, daß die Unterhaltung der landrechtlichen Schule auf dem
Kommunalpriuzip beruht, jedoch ist auch die Zusammenlegung mehrerer Gemeinden
zu einem Schulsystem vorgesehen, woraus sich dann das Schulsozictätsprinzip ent¬
wickelt hat. Diesen Vorschriften gegenüber hat die preußische Verfassungsurkunde
vom 31. Januar 1850 in den Artikeln 21—26 ein Programm für ein zu er¬
lassendes Unterrichtsgesctz aufgestellt. Dies Programm ist bis heute nur teilweise
ausgeführt, und soweit dies noch nicht geschehen ist, bewertet es vorläufig bei
den, in den Rahmen des jetzigen Staatsrechts vielfach nicht mehr Passenden, land-
rechtlichcn Vorschriften (Art. 112 der Verfassung).
Die Verfassung wollte alle öffentlichen und Privatunterrichts- und Erziehungs¬
anstalten der Aussicht des Staates unterstellen, und es ist dieser Teil des Programms
in dem Gesetze betreffend die Beaufsichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens
vom 11. März 1372 (Gesetzsammlung S. 133) bereits in Erfüllung gegangen.
Im übrigen wollte die Verfassung die öffentliche Schule (wie dies auch das einzig
richtige ist) verstaatlichen. Demgemäß sollten die öffentlichen Lehrer die Rechte
und Pflichte» der Staatsdiener haben, dem Staate sollte nnter gesetzlich geordneter
Mitwirkung der Gemeinden das Recht der Anstellung der Lehrer an den öffent¬
lichen Volksschulen zustehen, der Staat gewährleistete den Volksschullehrern ein festes,
den Lokalverhältnisscn angemessenes Einkommen.
Die richtige Konsequenz dieses Vcrstaatlichungsgcdankens wäre nnn wohl die
gewesen, daß der Staat gegen Übernahme des vorhandnen Schulvermögens und
der Schuleinkünfte (z. B. der Schulversäumnisstrafen) die Hergabe der Mittel zur
Errichtung, Unterhaltung und Erweiterung der öffentlichen Volksschule in Aussicht
gestellt hätte; das ist aber nicht geschehen, vielmehr hat die Verfassung Prinzipiell
an dein Kommunalprinzip festgehalten und nur eine subsidiäre Verpflichtung des
Staates im Falle des nachgewiesenen Unvermögens anerkannt.
Nun ist es ja richtig, daß die öffentliche Volksschule, soweit dieselbe der Er¬
füllung der allgemeinen Schulpflicht dient, von jeher als Gemeindeanstalt angesehen
worden ist. Denn als mit der Einführung der Reformation die damals allein
bestehenden Kloster- und Kirchschulen in dem Protestantischen Deutschland aufhörten,
fand die öffentliche Volksschule zunächst eine Zuflucht in den großen Städten. Die
Anregung hierzu hatte Luther gegeben in seiner epochemachenden Schrift: „An
die Ratsherren aller Städte Deutschlands: daß sie christliche Schulen aufrichten
und halten sollen (1524)." Die in dieser Schrift enthaltenen, wertvollen Grund¬
sätze gelten im großen und ganzen noch heute und sind später auch auf dem
Lande und unbewußt selbst in katholischen Teilen Deutschlands zur Geltung
gelangt. Allein es ist zu erwägen, daß Luther staatlichen Verhältnissen gegenüber-
stand, welche heute nicht mehr zutreffen. Die Städte, an welche Luthers Mahnruf
erging, waren selbst in der überwiegenden Mehrzahl kleine, mit der ausgedehntesten
Autonomie und Selbstverwaltung ausgestattete Staaten, welche sich in dem Be¬
wußtsein ihrer Selbständigkeit viel lieber von dem volkstümlichen Reformator
Vorschriften machen ließen, als von den Territvrialfürsten oder wohl gar von
dem katholischen Kaiser. Hiernach war das lutherische Kommunalprinzip hinsichtlich
der öffentlichen Volksschulen im Grunde genommen auch nichts weiter, als das
jetzt von der Verfassung in den Vordergrund gestellte Staatsprinzip.
Wenn das Kommunalprinzip hinsichtlich der Unterhaltung der öffentlichen Volks¬
schule auch nach dem Untergange der städtischen Selbständigkeit aufrechterhalten wurde,
so liegt deshalb kein zwingender Grund zu der Annahme vor, daß die Landesherren
von der Vortrefflichkeit dieser Einrichtung oder von der Unentbehrlichkeit derselben
überzeugt gewesen wären, vielmehr dürfte hier wohl die Scheu vor dem Übernehmen
von Lasten, welche von den Gemeinden ohne Widerspruch getragen wurden, ans die
Kasse des Staates, welche damals mit der des Landesfürsten identisch war, als der
eigentliche Beweggrund zum Festhalten an dem Bestehenden anzusehen sein. Heute
liegeu diese Verhältnisse, staatsrechtlich betrachtet, ganz anders, denn dem Lehrer muß
es lieber sein, wenn er sein auskömmliches Gehalt prompt und ohne Rücksicht auf die jetzigen
Verpflichteten aus der Staatskasse erhalt, als wenn er bei der Normirung seines Ein¬
kommens von dem Wohlwollen der Kommunalbehörden abhängig gemacht ist. Andrerseits
würden aber auch die Schulbänken, wenn sie von Staatsbeamten und auf Staats¬
kosten ausgeführt würden, im Interesse der Schule schneller, besser und im Ver¬
hältnis billiger ausgeführt werden als jetzt. Man muß nur in der Praxis gesehen
haben, mit wievielen Umständen es in den meisten Fällen verbunden ist, wenn
es sich darum handelt, an einem Schulhause einige unbedeutende Reparaturen, Ver¬
besserungen oder Erweiterungen vorzunehmen.
Hätte der Staat das gesamte Schnleinrichtnngswesen in der Hand, könnte er
bei der jetzt bereits gesetzlich bestehenden Befugnis, die geeigneten Schulbezirke (auf
dem Lande) zu bilden, vorgehen, ohne durch die Einsprüche der Schulunterhaltungs-
pflichtigen eingeschränkt zu werden, so würde das für die Schule zu verwendende
Geld viel nützlicher angelegt werden, und die Schule würde dabei zum Besten des
Allgemeinen viel kräftiger gedeihen als jetzt. Dies wäre im Interesse der Volks¬
erziehung wohl zu wünschen und würde den Anfang der Mittel bilden, um den
immer mehr umsichgreifenden destruktiven Tendenzen entgegentreten zu können.
Mit der in diesem Sinne durchgeführten Verstaatlichung der Schule würde
mit einemmale gewissen verrotteten Zuständen ein Ende gemacht werden, namentlich
der ganz unwirtschaftlichen Verpflichtung der Gutsherren zur Hergabe von Bau¬
materialien und zur Unterstützung ihrer sogenannten „Unterthanen" (A. L.-R.
Teil it, Tit. 12, Z 33); alle Zweifel über die oft garnicht festzustellende oder nur
zu Willkürlichkeiten führende Leistungsfähigkeit der Schulbezirke würden aufhören,
der für den Laien durchaus unbegreifliche Unterschied zwischen Gemeinde und So¬
zietät würde entbehrlich werden. Den widerwärtigen, kulturkämpferischen Streitig¬
keiten über die Berücksichtigung der konfessionellen Verhältnisse bei der Einrichtung
der öffentlichen Volksschulen (Art. 24 der Verfassung), der intoleranten Unterdrückung
der Minoritäten würde mit einem Schlage ein Ende gemacht und es würde damit
eine — Fundgrube — für unfruchtbare juristische oder administrative Difteleien
für immer geschlossen werden.
Durchaus unzulässig erscheint es, zwischen dem Kommunalprinzip und dem
Staatsprinzip ein schwächliches Msts-wilisu hinstellen zu wollen, etwa in der Art,
daß die Gemeinden die eine Hälfte und der Staat die andre Hälfte der Schul-
unterhaltnngskosten zu tragen hätten. Das würde erst recht eine unerschöpfliche
Quelle für Streitigkeiten abgeben und der Schule sicherlich nicht zum Segen ge¬
reichen.
Also: Entweder — Oder. Will man den gewaltige» Schritt der vollständigen
Verstaatlichung der Schule nicht wagen, so lasse man es wenigstens beim alten;
wir werden dann ans Grund der jetzt so beliebten „konstanten Judikatur" schon
weiter kommen. Könnten wir aber diese „kostbare Perle der Wissenschaft" (wie
neulich ein eingefleischter Jurist sagte) loswerden, so wäre das ein großes Glück
für das Vaterland.
Über die Aufbringung der Mittel für die verstaatlichte Schule soll später
einmal gesprochen werden. Die Frage dürfte sich leichter erledigen, als mancher
meint. Dabei wird dann auch über die vollständige Aufhebung des Schulgeldes
noch ein Wort zu sagen sein.
Die Entlarvung eines sehr bekannten
„Mediums" durch zwei junge Erzherzoge hat allgemeine Heiterkeit hervorgerufen.
Wer aber glaubt, daß damit dem Schwindel der Spiritisten der Todesstoß gegeben
worden sei, kennt die Menschen nicht. Schon vor Jahren hatten Münchener
Künstler denselben Herrn Bastian oder einen seiner Kollegen in ähnlicher Weise
behandelt, aber der Erfolg bestand höchstens darin, daß der Ertappte den Platz
mied, wo ihm die Unannehmlichkeit begegnet war. Man erinnert sich dabei un¬
willkürlich der schönen Zeit, wo die Banken in Westdeutschland florirten: wurde
einem Industrieritter der Boden unter den Füßen in Homburg zu heiß, so ver¬
schwand er und tauchte in Baden-Baden oder Wiesbaden wieder auf oder im
Notfall in Wildlingen oder Spaa; bis er den Kreislauf vollendet hatte, waren
seine frühern Abenteuer vergessen und andre Vögel bereit, sich rupfen zu lassen.
Ohne Zweifel geht es ebenso in den „Cercles" und ist es ebenso gegangen im
goldnen Zeitalter der Grecs und Geisterbanner. Wenn Missionäre ein Götzenbild
umstürzen, so zerstören sie damit den Glauben der alten Weiber noch nicht. Es
ist denn auch durch Bastians Mißgeschick das Vertrauen der Gemeinde nicht er¬
schüttert worden. Personen, welche ihm am nächsten stehen (man lege sich diesen
Ausdruck nach Belieben aus!), geben ihn preis, um die Sache zu retten. Tief
betrübt verzeichnen sie den Fall als abermaligen Beweis, daß Medien, welche ihre
Kräfte schwinden fühlen, sich auf Taschenspielerkünste verlegen und die heilige Sache
kompromittiren. Andre, nämlich Betrogene, lassen sich von dem ganzen Vorfall
garnicht anfechten. Nach ihrer Ansicht war es illoyal, das Vertrauen ihres Bastian
so zu täuschen, und wenn wirklich er in der Falle zurückblieb und kein Bewohner
der vierten Dimension — was beweist das? Solchen standhaften Bekennern, welche den
von einem Herrn von Hellenbach in dicken Büchern vorgctragncn Unsinn nachbeten,
ist schon früher die Frage vorgelegt worden, wie sie sich die „Materialisation" der
Kleidungsstücke vorstellen, in welchen die Geister auftreten; ob die Hemden und Röcke
der Verstorbenen uns blöden Sterblichen unsichtbar aufbewahrt werden, um gelegentlich
den Seelen als Garderobe zu dienen, oder ob in der vierten Dimension gewebt
und genäht wird, ganz wie auf der Erde? Man hat ihnen zugesetzt, die Geister
doch zu etwas mehr Aufwand an Geist zu bestimmen, da am Ende kein Geist von
jenseits zu kommen brauche, um Schnüre zu verknüpfen, Harmonika zu spielen und
Papiermesser zu schleudern. Allein auf dergleichen Spitzfindigkeiten lassen sich die
Wackern nicht ein; ersänne., aria. g,08uräuin ost.
Immerhin ist die Niederlage der Herren Spiritisten unter ungewöhnlichen
Umständen erfolgt und könnte deshalb längere Zeit gcschäftsstörend nachwirken, und
ein gewiegter Industrieller muß bedacht sein, mit heiler Haut über die Krisis hin¬
wegzukommen und die Wiederkehr „günstigerer Konjunkturen" abzuwarten. Ist der
Spiritismus augenblicklich nicht „gefragt," nun so wirft man Antispiritismus auf
den Markt. Auf der eiuen Seite verschwand Mr. Bastian, und wie in einen:
Wetterhäuschen erschien auf der andern Mr. Stuart Cumberland mit der Ankün¬
digung, allen spiritistischen Schwindel aufdecken zu wollen. Er ist ein wirklicher
Engländer, also eine ungewöhnliche Erscheinung auf einem Arbeitsfclde, welches
sonst Domäne der polnischen Juden mit französischen, italienischen oder englischen
Namen ist, dem Felde der „Geschwindigkeit ohne Hexerei." Er ist ebenso geschickt
wie jene und macht auch so geistreiche Scherze, wie man sie von dergleichen Herren
gewohnt ist. Wort hält er insofern, als der Hokuspokus der Spiritisten ziemlich
vollständig ohne Mitwirkung viertdimensionaler Kräfte aufgeführt wird. Aber in
der Erklärung der „natürlichen Magie" leistet er weniger als die während der
letzten Jahre in populärwissenschaftlichen Zeitschriften erschienenen Aufsätze über
dieses Thema. Und das darf nicht Wunder nehmen. Denn so sehr es Mr. Cumber-
land darum zu thun sein mag, die Menschheit aufzuklären, etwas anders liegt ihm
noch mehr am Herzen: Geld einzunehmen, und wenn er das Publikum völlig in
die Karten blicken ließe, würden die Einnahmen bald sehr dünn ausfallen. Des¬
halb behauptet er bei seinem größten Kunststücke, dem Erraten der Gedanken andrer,
selbst nicht zu wissen, wie er es mache, er könne das Gelingen nicht garantiren,
die andre Person müsse ihre Gedanken ganz und ausschließlich auf einen Punkt
richten, seine eigne Disposition komme ebenfalls mit in Frage, das „Gedankenlesen"
greife ihn sehr an u. s. Jo. Genug, der alte Hokuspokus unter neuer Etikette!
Und wie seinerzeit beim Tischrücken und Tischklopfen, haben wir auch sofort eine
wissenschaftliche Begründung der merkwürdigen Erscheinung erhalten. Ein Pro¬
fessor der Mathematik erklärte es als wohl denkbar, daß ein Gedankenprozeß von
den Kopfncrven des einen Menschen auf die Hautnerven eines andern übertragen
werden könne; gegen diese Hypothese Protestiren aufs lebhafteste allerlei Ärzte, die
in popnlarisirter Medizin machen, erklären aber zugleich vornehm, die Wissenschaft
habe mit derlei Spielereien nichts zu schaffen.
In diesem Punkte erlauben wir uns andrer Ansicht zu sein. Der weitern
Verbreitung einer Volkskrankheit entgegenzuwirken wäre eine Aufgabe, welche nicht
unter der Würde der Wissenschaft läge, und welcher sich zu unterziehen die Natur-
wissenschaft umsomehr Grund hätte, als sie — indirekt und unabsichtlich — gewiß
am meisten dazu beigetragen hat, die Gemüter für den neuen Aberglauben em¬
pfänglich zu machen. Durch hunderttausend Kanäle ist die materialistische Welt¬
anschauung in alle Volksschichten geleitet worden und hat den alten Glauben hinaus¬
getrieben. Allein die letzten Rätsel bleiben ungelöst (einige Herren scheinen die
Lösung zwar gefunden zu haben, doch behalten sie dieselbe mißgünstig für sich!),
und da der Mensch, wie er einmal beschaffen ist, von der Physik nicht satt wird,
sondern nach Metaphysik Verlangen trägt, anderseits aber nichts so sehr fürchtet,
als ans Gläubigkeit ertappt zu werden, so verfällt er umso leichter einem Aber¬
glauben, der unter der Maske einer neuen Wahrheit auftritt. Eine Übersinnlichkeit,
die sich herabläßt, unsern Sinnen wahrnehmbar zu werden, kann man sich schon
gefallen lassen! Vergessen wir nicht, daß die Blütezeit der „Aufklärung" im vorigen
Jahrhundert auch den Humbng der Cagliostro, Gaßner und Konsorten üppig ins
Kraut schießen ließ. Die Hauptsache wäre wohl, daß die Herren Materialisten es
über sich gewinnen würden, einzugestehen, es gebe zwischen Himmel und Erde
wirklich Dinge, welche sie noch nicht ergründet haben, und daß sie sich die Untugend
abgewöhnen, die Existenz alles dessen zu leugnen, was sich nicht mit Wage und
Mikroskop konstatiren läßt. Sie verurteilen oder verspotten jeden Glauben, welcher
dem Gemüte des Menschen entsproßt ist, und verlangen zugleich unbedingten
Glauben für ihre Theorien. Wenn aber zwei Propheten mit einander in Streit
geraten, so wird gewiß derjenige den Sieg behalten, welcher sichtbare Wunder thut.
Die Wissenschaft war es nicht, die den Spiritisten Bastian zu Falle gebracht hat,
jetzt lehnt sie sich gegen den Antispiritisten Cumberland auf und meint, ihn mit
einer wegwerfenden Handbewegung abfertigen zu können, doch dafür ist der Mann
augenscheinlich zu stark — im Geschäfte. Das sensationsbedürftige Publikum findet
dabei ebenso seine Rechnung wie er selbst. Denn, ob Spiritismus oder Antispiri-
tismus, das bedeutet so viel wie Staatsanwalt und Verteidiger, Redner von der
Rechten und von der Linken; ein aufregendes Schauspiel will man haben.
In der zuerst von den Grenzboten gebrachten
und jetzt auch in der „Grenzbotensammlung" erschienenen Novelle „Francesca von
Rimini" Wird auch der rührenden Episode der göttlichen Komödie Dantes gedacht,
wo die schöne Tochter von Rimini dem Dichter die Ursache ihres frühen grau¬
samen Todes erzählt. Die Heldin der erwähnten Novelle sucht, wie viele andre,
dafür eine Erklärung, daß Dante jenes rührende Liebespaar in die Hölle versetzt,
und findet den Grund in der religiösen Anschauung, wie sie der Dichter vielfach
in jenem großen Werke äußert. Der Tod durch die Hand des Gatten und Bruders
hat die Liebenden überrascht, bevor fie imstande waren, ihre Sünden zu bereuen.
Wer aber ohne Reue vom Tode hingerafft wurde, der mußte nach der auch von:
Dichter geteilten Ansicht des Mittelalters an den Ort des „ewigen Schmerzes."
Gegen diese von vielen Danteerklärern vertretene Deutung wendet sich eine
Studie von Luigi Morandi.*) Sie ist zunächst ein Beweis, wie hoch in Italien
noch immer die Verehrung der „Göttlichen Komödie" steht. Jene Studie war
eine Jugendarbeit, die der Verfasser auf Dringen des Redakteurs wider Willen und
in Ermangelung andrer Aufsätze einem Journal überließ. Kaum aber war die
neue Deutung veröffentlicht, so ergossen sich wie in einer Sturmflut unzählige
Briefe, Karten, Artikel, Schriften über diesen Gegenstand und drohten durch ihre
Menge den Redaktionstisch zu erdrücken. Es war, als ob in ein Wespennest ge¬
stochen worden wäre.
Wir hoffen, daß ein kurzer Bericht über diese neue Deutung den Lesern der
Grenzboten nicht unwillkommen sein wird. Die Erklärung Morandis ist eine rein
ästhetische und deshalb besonders anmutend. Morandi weist nach, daß der Dichter
viel größere Sünder in das Fegefeuer und in das Paradies versetzt habe, und daß
es nach seiner Meinung, um dieser göttlichen Gnade teilhaftig zu werden, nur eines
einzigen frommen Aufrufes im letzten Augenblicke bedürfte (vergl. z. B. ?ni-hö. III.
113—123). Es wäre also dem Dichter ein leichtes gewesen, auch der sterbenden
Francesca und ihrem Geliebten ein solches Wort in den Mund zu legen, um sie
von dem Höllenbanne zu erlösen. Dante wurde von rein künstlerischen Beweg¬
gründen geleitet. Das Fegefeuer und das Paradies sind in sich selbst so gro߬
artig, daß gegenüber diesen Orten der einzelne, der darinnen Weilt, viel weniger
unser Interesse in Anspruch nimmt als der Verdammte in der Hölle, Auch
wollte der Dichter, welcher die Schuld der Liebenden nicht beseitigen konnte, das
Mitleiden der Leser umsomehr rühren, je größer er das Mißverhältnis der Strafe
zur Schuld hinstellte. Endlich sollte es als ein Zeichen unbegrenzter Liebe gelten,
daß diese Liebe selbst die Höllenqualen überdauert.
Auf dem ganzen Gebiete der europäischen Kultur steht die Regelung der aus
dem Unfall hervorgehenden Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern
schon seit einer Reihe von Jahren ans der Tagesordnung, Die Frage ist in
dauernder Bewegung; selbst da, wo die Gesetzgebung dazu gelaugte, die Haftpflicht
der Arbeitgeber uach ihrer privatrechtlichen Seite zu erweitern, wie dies u. a. auch
in Deutschland durch das Haftpflichtgesetz vom 7, Juni 1371 geschehen, ist weder
Befriedigung noch Ruhe eingetreten. Im Gegenteil, wenn früher das Wohlwollen
der Arbeitgeber den verunglückten Arbeiter nach Kräften zu unterstützen suchte, ist
jetzt das Schwergewicht aus dem Gebiete der Humanität auf das des Prozessirens
gefallen, wodurch die Gegensätze und die Verbitterung zwischen den beteiligten
Klassen uur gewachsen sind. Die Unfallseutschädigung ist ein Alpdruck, der das
Völkergewissen beschwert, und es ist deshalb ein neues, charakteristisches Merkmal
des genialen Reichskanzlers, daß er mit der ganzen Macht seiner Persönlichkeit und
mit der Begeisterung, welche die sittliche Kraft und die Überzeugung des Guten
einflößt, dem immer drohender werdenden Gespenst der Frage kühn ins Gesicht
sah und den Weg zur Lösung nicht auf dem Gebiete des privaten, sondern des
öffentlichen Rechts suchte. Mit dem Jahre 1381 beginnen, eingeleitet durch die
t'aisertiche Botschaft vom 17, November 1831, die Reformversuche des Reichskanzlers,
durch eine allgemeine Unfallversicherung mit staatlichem Charakter eine befriedigende
Lösung zu finden. Es ist bekannt, wie wenig Entgegenkommen der Reichskanzler
im Parlament für seine Pläne gefunden hat. Vergebens hat er selbst von seinen
Ideen soviel als möglich geopfert, um eine Annäherung mit den Gegnern herbei¬
zuführen. Gegenwärtig ist der dritte Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes an
den Reichstag gelangt. Es gehört zu den beliebtesten Manövern der Gegner, mit
denen alle furchtsamen Philisterherzen im deutschen Reiche bange gemacht werden,
daß alle die Entwürfe unreife Produkte einer kühnen Phantasie seien und jedes
sichern Bodens entbehrten; parlamentarisch wagte sogar der Abgeordnete Bcimberger
diese Entwürfe als „Schrullen" zu bezeichnen. Besser als durch das vorliegende
Buch kann dieser schwere Vorwurf nicht widerlegt werden. Bödiker gehört zu
deu berufensten Mitarbeitern des Kanzlers; er ist kein Neuling auf dem wirtschaft¬
lichen Gebiete, sondern hat sich bereits, abgesehen von früher» theoretischen Arbeiten,
durch seine Thätigkeit in der Richtung der Gewerbeordnung bewährt. Er ist der
Verfasser der letzten Gewerbeordnungsnovelle, er hat sie allein gegen die Masse der
Gegner im Reichstage vertreten und durchgebracht, und wenn das deutsche Volk
aus den gesünder gewordenen Grundsätzen der Gewerbeordnung die unausbleiblichen
Segnungen schöpfen wird, dann wird auch der Name Bödikers unvergessen sein.
Neben diesen großen Arbeiten hat aber der Verfasser mit einem bewnndernngs-
werten Fleiß die Unfallstatistik des deutschen Reiches bearbeitet und sich dadurch
einerseits eine Grundlage, andrerseits seine eigne Qualifikation für die Reform
der Unfallversicherung geschaffen. In ihm hat der Kanzler einen wackern
Gehilfen für die Vertretung des gegenwärtigen Entwurfes gefunden. Da?
vorliegende Buch Bödikers kann man gleichsam als die Unterlagen zu den Mo¬
tiven jenes Gesetzentwurfes bezeichnen. Es enthält eine objektive Darstellung
der rechtsgeschichtlichen Entwicklung der Haftpflicht in Enropa, es deckt die ver
schiedncn Stadien, welche die europäische Gesetzgebung in dieser Frage durch¬
laufen hat, mit Gründlichkeit und Sachkunde nach allen Seiten hin auf und zeigt,
wie allmählich die Wandlung aus einer reinen Frage des PrivntrechtS mit einem
Übergang (Italien) sich zu einer Frage des öffentlichen Rechts (Deutschland, Öster¬
reich) vollzogen hat. Mit ganz besondrer Schärfe und Klarheit giebt Bödiker die
Entwicklung in Deutschland, die Unterschiede der verschiednen Entwürfe von einander
und die Vorzüge des gegenwärtigen. Bescheiden sagt der Verfasser, seine Schrift sei
„nach wenigen Jahren nur noch ein Merkstein an dem Wege der sozialpolitischen
Entwicklung, heute noch em Wegweiser." Sie ist es viel mehr als dieses; sie bildet
die wissenschaftliche Grundlage des Unfallversichernngsrechtcs, welche maßgebend sein
wird, welches Schicksal auch der Vorlage der Regierung von verblendeter Gegner¬
schaft bereitet werden mag. Mag sie zu Falle gebracht werdeu, die Frage wird
vor ihrer endgiltigen Lösung im Sinne des Reichskanzlers von der Tagesordnung
der europäischen Parlamente nicht verschwinden, und jeder, der sie weiter zu fördern
oder zu bekämpfen haben wird, wird seinen Ausgangspunkt immer wieder von der
lichtvollen Darstellung Bödikers zu nehmen haben.
Die in der ersten Abteilung des Werkes begonnene geschichtliche Entwicklung
des Bauernstandes wird zunächst in dieser zweiten Abteilung fortgesetzt. Imi 16.,
17. und 13. Jahrhundert verschlimmert sich die Lage des Bauernstandes durch den
Sieg des fürstlichen Absolutismus, welcher dem Adel zum Ersatz seines politischen
Freiheitsverlustes den Bauern ausliefert, der leibeigen und rechtlos wird. Die Kirche
selbst, die berufene Fürsorgerin der mühselig Beladenen, vergißt ganz ihre hohe
Aufgabe und stellt sich vollständig in den Dienst der absoluten Gewaltherrschaft.
Freilich giebt es auch rühmliche Ausnahmen; uuter deu deutschen Fürsten waren
es besonders die Hohenzollern, die rois clss Asux, welche schon frühzeitig begannen,
für das Interesse ihrer Bauern zu sorgen und dieselben von der Hörigkeit zu be¬
freien. Auch der Schleswig-holsteinische Adel giebt ein rühmliches Beispiel. Die
französische Revolution bewirkt sodann auch in Deutschland die völlige Aufhebung
der Hörigkeit. Wieder ist es Preußen, welches mit seinen Befreiungsedikten allen
andern deutschen Staaten vorangeht, allein die Ablösung der gutsherrlichen Rechte
ist eine ungenügende. Der Bauer, welchem die Baarmittel fehlen, ist nicht imstande,
sich die volle Unabhängigkeit zu erringen. Dieselbe wird erst durch die liberale
Bewegung des Jahres 1843 vollendet. So sehr auch diese Unabhängigkeit und
diese Aufhebung der Hörigkeit als M der Gerechtigkeit und Zivilisation anerkannt
»'erden muß, so wenig erreicht sie ihr Ziel, Denn gleichzeitig mit ihr tritt die
soziale Gesetzgebung des Liberalismus mit allen ihren egoistischen und kapitalistischen
Konsequenzen ein. Der Grundbesitz wird lediglich zum Kapital erklärt, und wie
bezüglich der Mobilien, so tritt auch hinsichtlich der Immobilien die römisch-recht¬
liche Verschuldung und Vererbung ein. Gerade diese Vererbung ist es, welche den
Grundbesitzer zu steigender Verschuldung zwingt, denn er soll Zinsen geben, die ihm
die Rente seines Grundstückes nicht einträgt. Soweit aus der noch unzureichenden
Statistik es ermittelt werden kann, zeigt sich in allen Ländern des Kontinents eine
steigende Verschuldung des Bauernstandes, nicht zum wenigsten im deutschen Reiche,
wo jährlich an Zins für die hypothekarischen Forderungen von der Landwirtschaft
allein etwa 500 Millionen Mark gezahlt werden. Die weitern Folgen sind
Latifundienherrschaft oder Zwcrgbcm, welche beide zur Vernichtung des ge¬
sunden mittleren Bauernstandes sichren. Gegenüber dieser privatrechtlichen Behand¬
lung des Grund und Bodens gilt es, denselben wieder mit den Grundsätzen des
öffentlichen Rechts zu beleben und von diesem aus den Bauernstand und dessen
Grundeigentum neu zu gestalten. Der Hauptmangel liegt in der Verschuldung;
dieselbe muß anders als bei dem mobilen Kapital geregelt werden, Grund und
Boden ist kein Kapital, er kann daher keine Zinsen, sondern nur Grundrenten geben.
Die Grundrente ist daher das Prinzip der Verschuldung des bäuerlichen Besitzes.
Dies ungefähr ist die dürftige Skizze des reichhaltigen Buches. Der Ver¬
fasser verfügt über ein so tiefes Wissen und ein so umfangreiches Material, daß
die einzelnen von ihm behandelten Fragen vielleicht über Gebühr belastet und
zuweilen der logische Faden des Ganzen nur mit Mühe wieder aufgesunden
werden kann. So tritt z. B. mitten in die geschichtliche Darstellung ein Exkurs
über die Stellung des Adels namentlich in seinen Beziehungen zum Bauernstand.
Auch hat der Wunsch des Verfassers, zum Volke zu sprechen, infolge dessen er glaubt, nicht
deutlich genug sein zu können, ihn unwillkürlich zu einer gewissen Breite veranlaßt und
zuweilen auch zu Wiederholungen desselben Gedankens, wenn auch in andrer Form,
geführt. Nichtsdestoweniger bekennen wir gern und frei, daß wir es mit einem
hochbedeutenden Werke zu thun haben, aus dem nicht bloß jeder, dem das Wohl
der staatserhaltenden Landwirtschaft am Herzen liegt, Belehrung schöpfen kann,
sondern durch das der Leser auch von der hohen Begeisterung ergriffen wird, die
den Verfasser durchglüht. Wir stehen aber auch inhaltlich den Vorschlägen des
Verfassers, der an die Rodbertnssche Rententheorie anlehnt, durchaus sympathisch
gegenüber und stimmen namentlich mit ihm in der ebenso gründlichen wie scharfen
Kritik der bestehenden Zustände überein. Abhilfe ist notwendig. Wir wollen nicht
die gleiche Erfahrung mit dem Bauernstande wie mit dem Arbeiterstande machen.
Die rein kapitalistische Gesetzgebung des Manchestertums, welche auch die be¬
rechtigtsten Forderungen des Arbeit:rstandes lediglich mit der bloßen Nachtwächter¬
thätigkeit des Staates abspeiste un ' weder auf Krankheit noch auf Unfälle, noch
auf Altersversorgung der ArbeKsiuvaliden Rücksicht nahm, hat die Arbeiter zu
Sozialdemokraten ausgebildet. Wir sehen auch, daß in andern Ländern, so
namentlich in Italien, die gleichgiltige Haltung der Gesetzgebung der Bauern¬
bevölkerung gegenüber diese in das gleiche Lager getrieben hat. Eben deshalb
erscheint es un^ auch vou Bedeutung, daß der Verfasser nicht bloß die materielle
Lage des Grundbesitzes ins Auge faßt, sondern mit eben solcher Entschiedenheit
für die ethische Belebung desselben eintritt und seine Vorschläge mit den Grund¬
sätzen des Christentums durchdringt. Aber bedenklich ist es, wenn der Verfasser die
Bauern zur Verbesserung ihrer Lage auf das Zentrum und die deutschkonservative
Partei »erweist und sie nicht bloß vor den Liberalen, sondern auch vor dem
Fürsten Bismarck warnt. Der Nutzen, den sein Buch stiften könnte, wird durch
diese Weisung nicht bloß paralysirt, sondern in daS Gegenteil verwandelt. Wenn
der Verfasser nicht geradezu ultramontane Propaganda treibt — was seine sonstige
Haltung eigentlich ausschließt —, so müssen wir seine Verblendung tief beklagen.
Sind an ihm die letzten Jahre deutscher Geschichte so spurlos vorübergegangen,
daß er glaubt, das Zentrum verfolge andre Grundsätze als lediglich die Wieder-
aufrichtung der päpstlichen Herrschaft nach außen und innen? Wie kann er einer
Partei vertrauen, welche lediglich ihre Maßregeln und ihre Abstimmung von
welfisch-jesuitischen Eingebungen abhängig macht? Was aber die deutschkonservative
Partei betrifft, so übersieht der Verfasser, daß sie uoch vielfach an denjenigen
Velleitäten klebt, die er selbst an verschiednen Stellen so heftig tadelt. Eben aus
diesen: Grnnde vermag diese Partei nicht den Einfluß im Volke zu gewinnen, der
den Vertretern echt konservativer Ideen eigentlich zukommen sollte. Die deutsch-
konservative Partei mit ihren Anklängen an Stahl, Senfft-Pilsach, Waldow und die
andern Heißsporne der Reaktion hat selbständig und ohne die Unterstützung der
Regierung noch nichts geleistet, worauf sie stolz sein könnte. Im Gegenteil, sie
vergißt nur zu hänfig, daß es ihre erste und heiligste Aufgabe ist, in jeder
Hinsicht die Politik des Reichskanzlers zu unterstützen. Was bisher im deutschen
Reiche und in Preußen — abgesehen von den sonstigen Großthaten der letzten Jahre,
die hier nicht in Frage stehen — geschehen ist an der Lösung der sozialen Frage,
verdankt lediglich der Initiative unsers großen Staatsmannes den Erfolg. Speziell
die Hebung des Bauernstandes, die Erleichterung der untern Klassen, die Be¬
förderung der Landwirtschaft hat in dem Fürsten den eifrigsten Förderer gefunden,
und es würde ermüdend sein, hier alle die Wohlthaten aufzuführen, die gerade in
diesen Richtungen das deutsche Volk und der deutsche Bauer dem Reichskanzler
verdanken. Aber der Fürst treibt praktische Politik; wollte der Bauernstand dem
Zentrum und der deutschkonservativcn Partei blindlings Heeresfolge leisten, so
würden sicherlich die von dem Verfasser erstrebten Ziele nicht erreicht werden, und
es wäre sehr die Frage, ob uicht wieder ein. Zustand einträte wie im achtzehnten
Jahrhundert, den der Verfasser mit so düstern Farben geschildert hat. Radikale
Reformen können bei unsern heutigen Verhältnissen nicht plötzlich eingeführt
werden; es bedarf hierzu eines sichern Vorgehens, ohne die Kontinuität mit der
Vergangenheit auf einmal zu zerstöre». Fürst Bismarck weiß dies wohl, er rechnet
nicht mit utopischen Faktoren, sondern mit der Wirklichkeit, und er bedarf daher
der Unterstützung aller, denen das Wohl des Vaterlandes wie des Bauernstandes
am Herzen liegt.
Diese neue Zeitschrift, die jährlich in zwölf Monatsheften erscheinen soll, will
die gebildeten und nach Erweiterung ihrer Kenntnisse strebenden Kreise des deutschen
Volkes mit den Ergebnissen der Forschung und mit allen hervorragenden Er¬
scheinungen auf dem Gebiete der historischen Literatur in leichtverständlicher Fassung
und anregender Form vertraut machen. Sie wendet sich also an dasselbe Publikum
wie Raumers Historisches Taschenbuch, nur daß es sich hier um häufigere und
kürzere Anregungen und weniger weit ausgesponnene Darstellungen handelt. Ein
solches nicht bloß für den Fachmann bestimmtes orientirendes Journal fehlte bisher
allerdings, und da geschichtlicher Sinn in immer weiteren Kreisen lebendig wird, so
wird es ihm auch ein einem Leserkreise nicht fehlen, wenn es tüchtig geleitet wird
und die namhaft gemachten hervorragenden Mitarbeiter sich nicht damit begnügen,
im Prospekt zu Paradiren. Ein Herausgeber hat sich merkwürdigerweise nicht
genannt.
Das vorliegende erste Heft enthält außer kürzern Mitteilungen (worunter ein
Nekrolog ^ Noordens): Das alte Syrakus von Ad. Holm. Ein Bild aus dem
Klosterleben Österreichs von Adalbert Horawitz. Ein Gesandtcnmvrd im siebzehnten
Jahrhundert von Moritz Brosch. Die Pest in Rußland 1634 von A. Bruckner.
Die Staatsmänner Amerikas von Anton E. Schönbnch.
Unter dem Titel „Unser Wissen von der Erde" bietet der rührige Verleger
des „Wissens der Gegenwart" den Freunden der Erdkunde ein Werk dar, das in
„wissenschaftlicher und doch populärer Weise, streng sachlich und doch fesselnd, das
beredte Wort mit der veranschaulichenden graphischen Darstellung vereinend, uns
die Kenntnis unsers Planeten nach allen seinen vielfachen Beziehungen und doch
nicht in allzugroßem Umfang vermitteln soll." Das ganze Werk, dessen Redaktion
dem ausgezeichneten Geographen Kirchhofs in Halle übertragen ist, wird fünf Bände
umfassen, von denen der erste die allgemeine Erdkunde oder die astronomische und
physikalische Geographie, die Geologie und Biologie in drei Abteilungen enthält.
Die erste Abteilung, welche die Erde als Weltkörper betrachtet, hat den namhaften
Meteorologen Hann in Wien zum Verfasser, die zweite, welche die feste Erdrinde
nach ihrer Zusammensetzung, ihrem Bau und ihrer Bildung zum Gegenstande hat,
wird von dem hochverdienten Reisenden und Geologen F. von Hochstetter in Wien
bearbeitet, und die dritte, welche die Erde als Wohnplatz der Pflanzen, Tiere und
Menschen betrachtet, ist aus der Feder des bekannten Wiener Botanikers A. Pokorny.
Aus den bis jetzt vorliegenden zehn Lieferungen (5, 90 Pf.) des ersten Bandes
können wir schon ersehen, daß unsre geographische Literatur hier um ein Werk
bereichert werden wird, das hinsichtlich seiner prachtvollen Ausstattung wie seines
gediegenen Inhalts sich mit Gusse Rheins' 1^ lorrs und KövArÄpniv UnivsrsvUo
wird messen können. ^Wirklich auch hinsichtlich der Ausstattung? Die Red.^j „Unser
Wissen von der Erde" kann daher allen Freunden der Erdkunde aufs angelegent¬
lichste empfohlen werden. Wir glauben übrigens unsrer Empfehlung noch grö¬
ßern Nachdruck zu verleihen, wenn wir bemerken, daß der vorliegende erste
Band zugleich eine wesentlich erweiterte und reich illustrirte Auflage der bei,
Tempsky in Prag erschienenen, aber jetzt vergriffenen „Allgemeinen Erdkunde" von
Hann, v. Hochstetter und Pokorny ist, eines Werkes, das als eines der vorzüg¬
lichsten geographischen Handbücher längst bekannt ist.
Zur Beachtung.
Mit dem nächsten beste beginnt diese Zeitschrift das «Quartal ihres 4Z. Jahr¬
gangs, welches durch alle Buchhandlungen und postanstalten des und Auslandes zu
beziehen ist.
preis für das Guartal g Mark. Wir bitten um schleunige Aufgabe des neuen
Abonnements.
Leipzig, im März M4. Die Verlagshandlung.