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]]> Zur Grundsteinlegung des Reichstagsge-
bttudes. S. 603.
Realpolitische Glossen zur römischen Frage.
S. 180. 201.
achten in der Angelegenheit Lasters und des amerikanischen Re¬
präsentantenhauses sich die Ansichten bereits dahin geklärt haben,
daß der Reichskanzler in dein Verhältnis zwischen dem Repräsen¬
tantenhause und dem deutschen Reichstage doch nicht als bloßer
Briefträger in Betracht komme, und daß er deshalb jedenfalls in
seinem Rechte gewesen sei, wenn er aus Gründen die Weiterbeförderung der an
ihn gesandten Resolution abgelehnt habe, glaubt man doch noch immer wenigstens
einen Vorwurf gegen ihn aufrechthalten zu müssen. Man sagt, es sei doch
„kleinlich" gewesen, daß er nicht über den Inhalt der Resolution hinweggesehen
habe. Dieser Vorwurf der Kleinlichkeit ist dem. Fürsten Bismarck schon öfter
gemacht worden. Es soll kleinlich sein, wenn er gegen dieses oder jenes ihn
verletzende vorgeht, wenn er namentlich öffentliche Beleidigungen, die gegen ihn
geübt werden, vor Gericht verfolgen läßt. Man sagt dann, ein so „großer
Mann" müsse dergleichen ganz unbeachtet lassen. Dabei verkennt man aber
die ganze Sachlage. Wären die Dinge, gegen welche Fürst Bismarck sich zur
Wehr setzt, nur ganz vereinzelte Erscheinungen, so würden auch wir der Ansicht
sein, daß er besser thäte, sie zu mißachten. Ein nicht geringer Teil unsrer
Politiker und unsrer Presse ist aber unausgesetzt bemüht, den Fürsten Bismarck
öffentlich vor allem Volke herabzuwürdigen. Vielfach geschieht das in Formen,
welche sich jeder Gegenwirkung entziehen. Kann man bei dieser Sachlage
es dem Reichskanzler verdenken, wenn er wenigstens da, wo ihm gegen solche
hämische Angriffe Mittel der Gegenwirkung zu Gebote stehen, diese ergreift?
Es ist ja traurig, wenn z. B. ein namhafter Gelehrter, der in öffentlicher
Rede von der „Schwindelpolitik" der Regierung gesprochen, deshalb ans die
Anklageblank gesetzt wird. Auch ist es ja möglich, daß das Gericht der Ver-
Sicherung desselben, damit garnicht den Fürsten Bismarck gemeint zu haben,
Glauben schenkt und ihn freispricht. Aber könnten denn nicht gerade Männer,
welche die Sprache vollkommen beherrschen, es vermeiden, sich in Äußerungen
zu ergehen, die alle Welt auf den Fürsten Bismarck beziehen und für Herab¬
würdigungen desselben halten wird?
Kommen wir noch einmal auf die Angelegenheit Laster zurück Weshalb
geschah es denn, daß die Leiche Lasters von Amerika nach Enropa und nach
Berlin zurückgeführt wurde? Wir finden es völlig begreiflich, daß, wenn ein
auswärts verstorbener nahe Angehörige hinterläßt, diese den Wunsch hegen,
den Toten bei sich in der Heimat bestattet zu sehen. Laster hinterließ aber
weder Weib noch Nind. Der nächste Verwandte, sein Bruder, lebt in Amerika.
Berlin ist auch nicht einmal seine Heimat; er stammt aus einer kleinen
Provinzialstadt. Wenn nun gleichwohl die Bestattung der Leiche in Berlin
bewirkt wurde, so geschah dies ohne Zweifel um politischer Zwecke willen. Das
ist auch garnichts neues; es ist schon öfter vorgekommen, daß man Leichen¬
begängnisse für politische Zwecke verwertet hat. Die Beerdigungsfeier selbst wurde
zwar zu keiner auffälligen Demonstration benutzt. Über das, was die beiden
Rabbiner gesprochen, verlieren wir kein Wort; sie thaten, was ihres Amtes ist.
Im Namen der politischen Freunde des Verblichenen redete der Abgeordnete
Friedrich Kapp. In richtigem Takte äußerte er gleich bei Beginn seiner Rede,
daß der Parteihader an einem offenen Grabe schweigen müsse, und daß es
nicht seine Aufgabe sein könne, den Streit des Tages zu berühren. Diese
Grenze hielt auch seine Rede ein. Sie war einfach und würdig. Sie hob die
Verdienste des Toten hervor, aber ohne Bombast und Übertreibung, ohne
Schärfen und Bitterkeiten. So ging das Begräbnis, mit so großem Pomp es
auch in einzelnen Zeitungen beschrieben wurde, doch verhältnismäßig einfach
von statten. Aber für einen gewissen Teil des Berliner Publikums war dies
lange noch nicht genug. Es mußte noch einmal die Pauke Mirjams geschlagen
werden. Es ward eine Abendfeier veranstaltet in der Singakademie, bei welcher
der Stammesgenosse Lasters, Dr. Bamberger, die Rede hielt. Diese Rede war
das Avr xlus ultrg. jüdischer Selbstvergötterung. Laster wurde darin dargestellt
als ein unvergleichlicher Held deutscher Nation, neben welchem alle andern
Namen erbleichen, und nur etwa noch der Name des Redners in seiner be¬
scheidenen Persönlichkeit eine Stelle finde. „So wie er — so glorreich, so
immer von glänzenden Thaten überfließend, so, möchteich sagen, tritt mir auch
bei allem Besinnen keine Figur aus unserm öffentliche» Leben entgegen. Er
stand am höchsten in der Reihe der Kämpfer und Arbeiter in der Zeit, da
Deutschlands höchste und heiligste Wünsche ihre Erfüllung fanden. Wenn
irgend einer, so war er es, der die Fahne hinübertrug aus der halbhundert¬
jährigen Zeit, da Deutschland nach der Verwirklichung seiner Ideale strebte;
er trug die Fahne, die alle diese Ideale vertrat, hinüber in die neue Zeit des
neuen Reichs." Allerdings, wird dann gesagt, habe es in den letzten Jahren
geschienen, „als ob der Rnhmeskranz, der so glänzend und blühend Jahre lang
auf seinem Haupte geprangt, ihm entrissen werden solle." Auch habe heute an
der Bahre jede amtliche Vertretung des Staates gefehlt. Aber keine Ver¬
leugnung von oben werde dem deutschen Volke das Bewußtsein rauben, daß
Laster einen großen, unvergeßlichen und wohlverdienten Platz im schönsten Teil
seiner Geschichte einnehme. „Und wenn wir es hätten vergessen können, haben
wir nicht eben durch den Ruf, der von jenseits des Ozeans zu uns hcrüber-
drang, schon von selbst gewahrt, was die Geschichte einst urteilen wird? Ganz
ähnlich, wie die Trennung der Zeit, wirkt die Trennung des Raumes. Wie
wir sicher sein können, daß entfernte Geschlechter, frei vom Dunste der Vor¬
urteile, der sich gesammelt über diesem ruhmvollen Haupte, das Verdienst richtig
zumessen werden, so haben wir schon in der Entfernung gewahrt, wie die Welt
urteilt. Männer, die Deutschland ehren und lieben und die es aus eigener
Erfahrung auf das beste kennen, Männer wie Karl Schurz und Andrew
White haben zuerst Zeugnis gegeben von Lasters Universalruhm, und der
Kongreß der amerikanischen Repräsentanten hat in seinem ehrenvollen Votum
ein Vorbild gegeben, wie die nicht räumlich, sondern auch zeitlich entfernte
Welt, die Nachwelt über ihn urteilen wird."
Wir übergehen den weitern dithyrambischen Verlauf dieser Rede, die dann
auch zum ewigen Gedächtnis der Sache gedruckt bei Brockhaus in Leipzig erscheinen
mußte. Wir konstatiren nur, daß hier also die Erklärung des amerikanischen
Repräsentantenhauses als ein den Ruhm Lasters feststellendes wonninönturo
s-ors xm-mulus für die fernsten Zeiten hingestellt werden sollte.
Berechnet war diese ganze Angelegenheit darauf, daß der Reichskanzler aus
Devotion vor dem Toten und aus Respekt vor Amerika die Erklärung des
Repräsentantenhauses mit seinem Vial versehen dem Reichstage zustellen werde.
Dann hatte man ein vom Reichskanzler selbst anerkanntes Zeugnis über die
wahre Bedeutung Lasters, dessen Klassizität bereits dnrch die Rede Bambergers
festgestellt war. Diese Berechnung ging fehl, und da geriet man ganz außer
sich. Die Nationalzeitung sagte: „Das Verfahren erscheint als ein Ausfluß
persönlicher Empfindungen, für welche die öffentliche Meinung die angemessene
Bezeichnung leicht finden wird. Über die Beurteilung, welche dieselbe voraus¬
sichtlich in den Vereinigten Staaten erfahren wird, wollen wir lieber kein Wort
sagen: die Aufgabe wäre zu unerfreulich."
Die letztere Berechnung ging aber wieder fehl. Die großen amerikanischen
Blätter äußerten sich allerdings sehr entrüstet, aber nicht über das Verfahren
des deutschen Reichskanzlers, sondern über die „Tölpelei" ihres eigenen
Repräsentantenhauses, welches dem Reichskanzler eine für diesen beleidigende
Resolution zu kolportiren zugemutet habe. Der Uf-U Hgralä verglich
den Staatsmann Ochiltree, welcher durch seinen Antrag dieses Kunststück zu-
Wege gebracht hatte, mit einem Ochsen, der in einen Porzellanladen geraten.
Ähnliche Urteile fällten auch noch andre Blätter. Dies alles wurde in
Deutschland durch eine Zusammenstellung, welche die Kölnische Zeitung brachte,
bekannt. Beeilten sich nun etwa die „freisinnigen" Blätter, ihren Lesern mit¬
zuteilen, daß das früher so schmerzlich vorausgesehene doch nicht ganz einge¬
treten sei? Nein! sie schwiegen fein still, weil das nicht in ihren Kram
paßte.
Nun kam der Reichstag. Die erste Verhandlung über die Sache gipfelte
in dem Vorwurf „unbefugter Einmischung," welchen Herr Richter dem Reichs¬
kanzler an den Kopf warf. „Unbefugt" war die Einmischung des Reichskanzlers,
wenn er in der That nur die Rolle eines Briefträgers in der Sache hatte, welchen
der Inhalt der von ihm abzuliefernden Postkarte nichts anging. Dies setzt
aber voraus, daß die Parlamente der verschiedenen Länder in unmittelbare
Beziehung zu einander zu treten befugt seien; und daß, wenn sie dies thun, das
die Regierungen nichts angehe. In der zweitfolgenden Sitzung trat der
Reichskanzler auf und legte mit schlagenden Gründen die UnHaltbarkeit dieser
Ansicht und seine volle Berechtigung zu dieser „Einmischung" dar. Ihm gegen¬
über trat der Abgeordnete Hänel auf. Wohlweislich hütete er sich aber, noch
ferner dem Reichskanzler die Rolle eines bloßen Briefträgers zuweisen zu
wollen. Das zog nicht mehr. Im Gegenteil, er erklärte die Annahme, man
könne diplomatische Angelegenheiten von Parlament zu Parlament ordnen, für
eine „Verrücktheit"! Natürlich trat er damit zu dem Richterschen Vorwurfe
„unbefugter Einmischung" in entschiedenen Gegensatz. Er selbst folgerte dann
aber daraus, daß es sich hier um eine „ganz uuoffiziellc, wirklich persönliche
Beileidsbezeugung" gehandelt habe, die man zu einem unbefugten Einmischen
in die innere Politik aufgebauscht habe. Noch interessanter war das, was er
über die materielle Bedeutung der amerikanischen Resolution sagte. „Der Herr
Reichskanzler hat ja selbst ausdrücklich anerkannt, es könnte von selten einer
solchen Versammlung garnicht die Absicht obwalten, ein endgiltiges Urteil über
die Verdienste, über die Politik des Abgeordneten Laster auszusprechen. Kein
Mensch im Repräsentantenhaus^ hat diesen Sinn mit der Resolution verbunden;
es war eine Motivirung wie jede andre, die vielleicht im Sinne des Herrn
Reichskanzlers etwas mehr oder weniger ungeschickt sein mochte. Darum allein
handelte es sich. Die letzte Absicht des Repräsentantenhauses war nicht etwa,
irgend welches Urteil über die Politik des Herrn Reichskanzlers oder über die
definitiven Verdienste des Herrn Laster auszusprechen; das ist sonnenklar, das
unterliegt gar keinem Zweifel. Wenn dies richtig ist, warum nun mäkeln an
dem einzelnen Wort, warum nicht die Sache aufnehmen, wie sie gemeint war,
eben als einfache Beileidsbezeugung, warum sich nicht an das einfach mensch¬
liche Gefühl halten, das jeder andre sonst hat: über einen Toten kann man
auch wohl etwas zu viel sagen?"
Nun vergleiche man einmal diese Darstellung mit der Darstellung, welche
der neue Freund Häuels, Herr Bamberger, sechs Wochen früher über die Be¬
deutung der amerikanischen Resolution bei der Leichenfeier gegeben hatte! Ein
größerer Gegensatz läßt sich garnicht denken. In dem Munde Bambergers
war dieselbe ein klassisches Zeugnis, welches für alle Zukunft die Bedeutung
Lasters feststelle. In dem Munde Hänels ist sie eine ganz unschuldige Bei¬
leidsfloskel, welche auf materiellen Wert gar keinen Anspruch mache, und welche
man deshalb auch nicht so genau zu nehmen brauche. Betrachtet man diese
Act des Kampfes durch Ausweichen mittelst Vorschiebung eines neuen Redners,
der alles Frühere ignorirt, so wird man unwillkürlich erinnert an die Geschichte
vom Wettlauf des Hafen mit dem Swinegel. Der unglückliche Hase, so oft
er den Acker durchläuft, trifft jedesmal wieder auf einen andern Swinegel,
welcher thut, als wäre er derselbe und ihm höhnend zuruft: „Ick bün all hier!"
Gegen solche taktische Künste ist allerdings schwer auszukommen. Und wer nun
diese letzte Hänelsche Version über die Bedeutung der amerikanischen Resolution
sich aneignet, der kann damit freilich leicht den Vorwurf begründen, es sei doch
„kleinlich" vom Reichskanzler gewesen, daß er sich dagegen zur Wehr gesetzt
habe. Wäre dieser aber anders verfahren, so würde die Bambergersche Version
in Hellem Lichte gestrahlt haben, und das Urteil der Geschichte über Laster
wäre unabänderlich festgestellt.
Vielleicht hat unser Reichskanzler schon früher einmal einen taktischen
Fehler begangen, indem er erklärte, er werde durch keine parlamentarische
Opposition sich bestimmen lassen, von seinem Posten zu weichen. Unartige
Kinder Pflegen ein Spielzeug, von dem sie wissen, daß es nicht entzwei geht,
noch unbarmherziger zu behandeln als jedes andre. Wollte aber der Reichs¬
kanzler auch erklären, er werde fortan fo großartig sein, alles über sich ergehen
zu lassen, so könnte man sicher sein, daß er binnen vier Wochen so mit
Schmutz zugedeckt wäre, daß er kaum noch zu atmen vermöchte. Was für
ein Charakterzuges ist, der einen Teil des deutschen Volkes veranlaßt, in dieser
Weise einem Manne gegenüberzutreten, welcher Deutschland aus seinem Nichts
erhoben hat, wollen wir hier nicht erörtern. Edelmut ist es aber nicht.
u Anfang dieses Jahres brachte das Militär-Wochenblatt eine»
Artikel über die Ausbildung der Reserveoffiziere, der zwar in
mancher Hinsicht über das Ziel hinausschoß, in der Hauptsache
aber die in Fachkreisen schon längst anerkannte Notwendigkeit
einer Änderung des jetzigen Ansbildungsmodus richtig zum Aus¬
druck brachte. Das Institut der Reserve- (Landwehr-) Offiziere bedarf ohne
Zweifel einer Reorganisation, Je höhere Anforderungen an die Leistungen der
aktiven Offiziere gestellt werden, desto höher muß der Maßstab sein, mit welchem
die Leistungen der Offiziere des Beurlaubtenstandcs gemessen werden. Das „Was"
steht fest, nur das „Wie" der Änderung ist fraglich; d. h. es läßt sich darüber
streiten, ob es zweckmäßig sei, erst oben, im Stande der Reserveoffiziere, oder
schon unten, bei der Grundlage desselben, im Institut der Einjährig-Freiwilligen,
die Reorganisation zu beginnen. Das letztere scheint den Vorzug zu verdienen.
Der aktive Offizier hat, ehe er die Epauletten erlangt, einen allgemeinen
Bildungsgang durchzumachen, welcher demjenigen zur Vorbereitung eines aka¬
demischen Studiums ungefähr gleichsteht. Er bleibt jedoch dabei nicht stehen,
er kann sich nicht nur mit Hilfe seiner freien Zeit weiterbilden, sondern er
muß es thun, er hat nach gestellten Aufgaben, und zwar auch uichtmilitärischen,
bei seinem Kommandeur Arbeiten einzureichen, er ist gezwungen, sich in fremden
Sprachen zu vervollkommnen, eventuell im Kreise des Offizierkorps Vortrüge
zu halten, und wenn er „weiterkommen" will, muß er darnach streben, das
Examen für die Kriegsakademie abzulegen.
Der Reserveoffizier hat jetzt nur nötig, die Befähigung zum Dienen als
Einjährig-Freiwilliger zu erwerben und sich einer höchst einfachen, militärisch-
praktischen Prüfung zu unterziehen. Sofern er durch feinen zivilem Beruf nicht
dazu gezwungen ist, sich weiterzubilden, bleibt er ans diesem Bildungsgrade
stehen. Es ist auch garnicht zu verlangen, daß z. B. ein Gewerbetreibender
sich in seinen wenigen Mußestunden hinsetze und Geschichte, Geographie, Sprachen,
Literatur :e. treibe. Es mag dies hie und da einmal vorkommen, doch sind
solche Fälle gewiß seltne Ausnahmen von der Regel.
Diese Vergleichung der verschiednen an die beiden Kategorien der Offiziere
gestellten Anforderungen zeigt sofort die Unbilligkeit, welche in dieser Verschieden¬
heit liegt, sie weist aber auch auf einen Übelstand hin, welchen die niedrig bemessenen
Anforderungen zur Erlangung der Qualifikation zum Reserveoffizier im Gefolge
haben. Dieser Übelstand besteht darin, daß eine Menge Elemente zum Dienen
als Einjährig-Freiwillige gedrängt werden, welche das Institut überfüllen, für
sich aber ebensowenig Nutzen daraus ziehen, als sie dem Heere Nutzen bringen.
Diese Thatsache ist sowohl von militärischem wie von sozialem Gesichtspunkte
sehr beachtlich.
Das Institut der Einjährig-Freiwilligen ist geschaffen, einerseits, um deu
Nachteilen, welche aus der allgemeinen Wehrpflicht für junge Leute erwachsen
müßten, die, wenn sie aus ihren Studien auf längere Zeit herausgerissen würden,
unersetzlichen Schaden leiden müßten, möglichst zu begegnen, andrerseits, um
einen Staunn vorzüglich gebildeter Männer im Heere zu haben, welcher leicht
einen Ersatz für aktive Offiziere und Unteroffiziere ermöglicht. Der Einjährig-
Freiwillige soll daher von vornherein, abgesehen vom praktischen Dienste, eine
eximirte Stellung einnehmen. Er soll vermöge seines Beispiels fördernd auf
die mit ihm dienenden Mannschaften wirken, soll ihnen ein Helfer, eventuell
auch ein Vorgesetzter sein. Dazu ist aber nötig, daß er sich moralisch, durch
seine Bildung, wesentlich über seine dreijährig dienenden Kameraden erhebe, daß
diese in ihm nicht nur einen pekuniär besser situirter Mann erblicken, dem es
ein leichtes gewesen ist, die Berechtigung zum einjährigen Dienst zu erlangen,
sondern daß sie auch deu geistig über ihnen stehenden sehen und seine Autorität,
wo es notwendig ist, ebenso anerkennen wie die des Offiziers Letzterer wieder
soll in ihm einen gesellschaftlich gleichstehenden erblicken können.
Die thatsächlichen Verhältnisse tragen jedoch diesen Forderungen nicht ge¬
nügend Rechnung. Die allgemeine Volksbildung hat in den letzten Jahrzehnten
entschieden große Fortschritte gemacht; die Leistungen der Schüler der bessern Volks¬
schulen sind beim Austritt aus der Schule nicht allzuweit entfernt vou denen,
welche zur Erlangung des Berechtigungsscheius zum Dienst als Einjahrig-
Freiwilliger gefordert werden. Schon für einen mittelmäßig angelegten Kopf
ist es daher keine unüberwindliche Schwierigkeit, sich das Fehlende noch anzu¬
eignen. Außerdem ist heutzutage jedes Lehrinstitut nach Kräften bestrebt, die
Befugnis zur Erteilung des Berechtigungsscheins zu erlangen, auch haben sich
allerorten eine Menge „Pressen" etablirt, welche den zukünftigen Vaterlands¬
verteidigern das Wissensnötige mit Hochdruck beibringen. Alle diese Umstünde
erklären die Erscheinung leicht, daß zahlreiche junge Leute, z. B. Gewerbtreibeude,
sich den Zwang anthun, viel länger, als sie es sonst thun würden, auf der
Schulbank zu schwitzen und sich mit Schulwissenschaften abzugeben. Da sie nun
einmal zum Dienen gezwungen sind, halten sie es für ganz unerläßlich, ihrer
Militärpflicht als Einjährig-Freiwillige zu genügen, ihre „Bildung" erlaubt es
ja garnicht mehr, Königs Rock ohne die „Schnuren" zu tragen. Schwache
Eltern tragen zur Bestärkung dieses Aberglaubens auch nicht wenig bei, und
die Fälle stehen nicht vereinzelt da, wo die Eltern sich und den Geschwistern
des Auserwählten die nötigen Mittel abdarben, mir um den Sprößling als
^Einjährigen" einherstolziren zu sehen.
Fragt man: wozu nützt das alles? so sieht man sich vergeblich nach einer
irgendwie befriedigenden Antwort um. Die über das Maß der Volksschnl-
bildung hinaus eingepfropften Kenntnisse sind an sich höchst unbedeutend, sie
befähigen nicht einmal dazu, einen französischen oder englischen Geschäftsbrief
zu schreiben, spätestens nach Ableistung des Dienstjahres aber sind sie verflogen,
und wenn von ihnen ausnahmsweise noch etwas hängen geblieben ist, so sind
sie für den Beruf der hier gemeinten jungen Leute (Gewerbtrcibende) völlig
unnütz. Zeit ist durch das Dienen als Einjährig-Freiwilliger auch nicht erspart
worden; denn, um die Berechtigung dazu zu erhalten, wurde vielleicht um zwei
oder mehr Jahre die Schule länger besucht oder wenigstens die Ausbildung
im Geschäft oder in der Profession vernachlässigt, während, wenn der junge
Mann als „Dreijähriger" gedient hätte, er mit hoher Wahrscheinlichkeit nach
zwei Jahren zur Disposition beurlaubt worden wäre, jedenfalls aber vom vier¬
zehnten bis zum zwanzigsten Lebensjahre sich in seinem Berufe hätte ausbilden
können und keine Zeit an Dinge verloren haben würde, die ihm nur Geld kosten,
aber nichts einbringen konnten.
Infolge solcher verkehrten Anschauungen werden leider dem Gewerbestande
oft die besten Kräfte entzogen. Die jungen Leute nehmen zwar etwas mehr
theoretische Kenntnisse in sich auf, dafür aber geht ihnen der für ihren
Beruf so nötige praktische Sinn verloren. Sie werden in jene Halbbildung,
an der unsre Zeit ohnehin genug zu leiden hat, hineingedrängt, durch welche
sie vielleicht etwas äußeren Schliff bekommen, dabei aber oberflächlich und dünkel¬
haft werden, sich Gott weiß was auf ihre „Bildung" einbilden und sich wo¬
möglich gar als „zukünftiger Leutnant" für zu gut halten, hinter der Ladentafel
zu stehen oder tüchtig im Handwerk zu arbeiten. Wird aber ihr Wunsch, als
Reserveoffizier zu glänzen, infolge ihres geringen Maßes an wahrer Bildung,
ihres mangelnden Taktes oder aus andern Gründen später nicht erfüllt, sehen
sie ein, daß der Liebe Müh vergebens war, daß sie vom Dienen als Einjährig-
Freiwillige durch Zeit- und Geldkosten nur Nachteile, aber keinerlei Vorteile ge¬
habt haben, so verwandelt sich die frühere Liebe zum Militär, der Stolz auf die
„Schnuren," in Unzufriedenheit, Erbitterung und Haß, und der ehemalige „Ein¬
jährige" zählt nun zu denen, die nicht am wenigsten gegen den „Militarismus"
eifern. Natürlich, er hat ja als „gebildeter Mann" einen tiefen Einblick ge¬
than in die Schattenseiten unsers Heerwesens ?c. Die Halbbildung säet hier
wieder einmal mehr Unkraut, als andre auszujäten imstande sind.
Eine andre Kategorie nicht in das Einjahrig-Freiwilligen-Institut gehöriger
Elemente bilden diejenigen, welche wohl die pekuniären Mittel im Überfluß, aber
nicht die nötigen geistigen dazu haben. Sie hocken jahrelang auf den Schul¬
bänken, bis es ihnen endlich mit Mühe und Not gelingt, in Seknnda den Be¬
rechtigungsschein zu erlangen. Ihr ganzes Streben geht nur dahin, dereinst mit
dem Zusätze „Leutnant der Reserve im xten Regiment" auf ihrer Visitenkarte
im Salon, auf der Rennbahn :c. zu glänzen, mit den aktiven „Kameraden" der
jüngsten Jahrgänge um die Wette „schneidig" aufzutreten, einen Titel zu haben,
sich stets „Herr Leutnant" von den Dienstboten nennen zu lassen, kurzum, etwas
in der Welt zu sein. Das sind diejenigen, welchen es vermöge ihrer günstigen
pekuniären Lage, ihres gesellschaftlichen Schliffes ziemlich häufig gelingt, über
ihren inneren Gehalt zu täuschen und die Epauletten als Reserveoffizier zu er¬
langen, um dann auf ihren Lorbereu auszuruhen. Brauchbare, tüchtige Sol¬
daten, wirklich schneidige, intelligente Offiziere können sie nie werden. Jeder
Soldat, der mit ihnen in Reih und Glied gestanden hat und nur einigermaßen
gescheit ist, macht sich über sie lustig.
Man unterschätze letzteren Umstand, sowie überhaupt die Thatsache nicht,
daß beide vorgedachte Kategorien von Einjährig-Freiwilligen von der übrigen
Mannschaft oft weit übersehen werden. Es ist daher wahrlich keinem Kom¬
pagniechef in Regimentern, die mit Freiwilligen reich gesegnet sind, zu verdenken,
daß er nicht vor Freuden erglänzt, wenn ihm halbjährlich ein Dutzend oder
mehr Aspiranten auf eine Reserve-Feldherrnstelle zugeteilt werdeu.
So große Vorteile ein tüchtiges Kontingent Einjährig-Freiwilliger der
Truppe bietet, so große Nachteile kann ein untaugliches bringen, welches von den
Mannschaften wie von den Offizieren über die Achsel angesehen wird. Tüchtig
kann aber nur ein wirklich gebildetes, den Offizieren geistig ebenbürtiges Ein-
jährig-Freiwilligenkorps sein; daher sollte dieses Institut nicht, wie es jetzt
geschieht, durch gar zu geringe Anforderungen herabgedrückt werden.
Gleiche Anforderungen an die Vorbildung der Offiziere wie der Ein¬
jährig-Freiwilligen stellen, d. h. Ablegung der Maturitätsprüfung auf einem
Gymnasium oder einer Realschule höherer Ordnung zu verlangen, das ist unsers
Erachtens der Weg, auf dem allein das Institut der Einjährig-Freiwilligen sich
in Zukunft gedeihlich weiter entwickeln kann. Wer als Offizier an dem Ruhme
der Armee teilnehmen will, der kann, wie in dem eingangs erwähnten Artikel
ganz richtig gesagt ist, sichs auch etwas kosten lassen; wir meinen aber nicht
bloß Geld, sondern vor allem auch geistige Anstrengung.
le Angelegenheit der Überbürdnngsfrage ist vorläufig und an¬
scheinend zu einem friedlichen Abschluß gebracht worden. Sie
hat bedenklich viel Staub aufgewirbelt; auch hat mitunter mancher
Unberufene gemeint, mit seiner Weisheit zu Hilfe kommen zu
müssen. Aber andrerseits ist darüber doch auch in Wort und
Schrift, in Ständekammern, an grünen Tischen und in Zeitschriften mit sovielMAW
Umsicht, Billigkeit und Sachkunde verhandelt worden, daß Eltern, Erzieher und
Lehrer in der Mehrzahl ohne Zweifel sich beruhigt fühlen werden. So mag,
dank den Gutachten von Fachmännern und den. Anordnungen der Oberbehörden,
hie und da ein leidliches Abkommen getroffen sein und auf Grund desselben
bei Ausführung der verfügten Maßregeln ein den verschiednen Ansprüchen der
Schule und der Gesundheitspflege entsprechender Zustand in Aussicht stehen.
Dessenungeachtet können tieferblickende in der dermaligen Sachlage nur einen
Waffenstillstand und bewaffneten Frieden erkennen, und wer noch schwärzer
sieht, glaubt das Prophetenwort zu vernehmen: „Sie sagen: Friede, Friede!
und ist doch kein Friede." Denn gerade bei jenen Verhandlungen in Druck¬
schriften und in Versammlungen sind vieler geheime Gedanken offenbar geworden
und ist eine Reihe ungelöster Fragen, Wünsche und Ansprüche, und vor¬
nehmlich die Thatsache wiederum ans Licht getreten, daß der mehr als ein
Jahrhundert alte Streit zwischen Humanismus und Realismus fort und fort
unter der Asche glimmt. Demzufolge haben sich in den Urteilen der Presse
und deu Äußerungen mancher Sprecher nicht wenige Bedenken und Streitpunkte
herausgestellt, welche garnicht so kurzer Hand geschlichtet und erledigt werden
können und an deren Lösung sich die Gegenwart bis jetzt vergeblich abgearbeitet
hat. Darum ist schließlich der Eindruck von den gewonnenen Übereinkünften
doch kein andrer als der, daß trotz der gegenseitigen Ermäßigungen und Zu¬
geständnisse der Vorwurf der Überbürdung nicht zum Schweigen gebracht sei
und sich immer wieder und wieder werde vernehmen lassen. Und zwar werden
sicherlich das humanistische Gymnasium und in erster Linie die Lateinschulen
und die Anstalten, welche auf eine Konkursprüfung vorzubereiten haben,
fort und fort den „Prügeljungen" abgeben müssen. Und wenn wir ehrlich sein
wollen, läßt sich nicht leugnen, daß dazu, wenn auch nicht überall, aber doch
in vielen Fällen eine nicht unbegründete Berechtigung vorliegt. Denn eine
Menge tieferliegender Übelstände, von denen jener Vorwurf nur der greifbarste
Ausdruck ist, haften allerdings dem Unterrichtswesen gerade auf diesem Gebiete
an und nagen an dessen Herzblättern- Fassen wir sie der Kürze halber nur
in einer Anzahl Fragen zusammen, welche teils das Leben, teils die Schulen
untereinander und gegeneinander stellen, und welche, so wie die Dinge stehen,
allen einsichtigen Pädagogen und Schulmännern schwer auf dem Herzen liegen
und welche sie, aufs Gewissen gefragt, doch leider insgesamt einräumen und
bejahend beantworten müssen.
Ist es nicht mißlich und in hohem Grade zu bedauern, daß eine große
Zahl von Eltern und Erziehern gezwungen ist, bei ihren Söhnen bereits im
neunten, wo nicht schon im achten Lebensjahre die Entscheidung zu treffen, ob
sie dieselben einer Schule, die für einen sogenannten gelehrten Beruf vorbe¬
reitet, übergeben sollen, oder aber einer andern, durch welche ihnen das Er¬
greifen jenes andern Lebensberufes und das Anrecht auf Universitätsbildung
möglicherweise für immer abgeschnitten ist? — Hat es nicht als ein wider¬
natürlicher Mißstand zu gelten, daß Knaben, welche für eine gelehrte Laufbahn
bestimmt werden, schon von den ersten Schuljahren an durch den Unterricht in
den alten Sprachen in einer Weise in Anspruch genommen werden, welche in
den meisten Fällen die für das Leben so notwendige Anschauungs- und Be¬
obachtungskraft nicht gewinnen und üben läßt und welche verhindert, den Sinn
für Naturgenuß und Natnrkenntnis rechtzeitig aufzuschließen? — Leidet ein solcher
Knabe nicht für das ganze Leben an seiner Geistesnahrung und Ausbildung
eine Einbuße, die er auch als künftiger Naturforscher, Mediziner, Soldat, Forst¬
mann und Verwaltungsbeamter schmerzlich empfinden wird und die in unsern
Tagen selbst dem Philologen und Theologe» besser erspart bliebe? — Wäre
es nach gewöhnlichem Hausverstand nicht weitaus der Vernunft und Natur an¬
gemessener, wenn die Grammatik nicht an einer fernliegenden alten Sprache,
sondern zu allererst und gründlich an der Muttersprache eingeübt und eine
sichere Handhabung derselben angestrebt würde, desgleichen wenn die Schule
vor dem verstandesmäßigen Denken in erster Linie das im Knabenalter so über¬
aus kräftige Gedächtnis und den Sinn für Konkretes, für Natur- und Lebens¬
anschauung in Anspruch nähme und allseitig ausbildete? — Wenn nun aber,
statt solchen naturgemäßen Unterrichtsganges, von unsern Knaben beim Übertritt
in die Sekunda des Gymnasiums oder z, B. in ein würtembergisches theologisch¬
philologisches Seminar ein Verständnis und eine korrekte Handhabung der
beiden alten Sprachen, selbst ihrer feinern Grammatikalien, verlangt wird, welche
ein nur einzelnen besonders begabten Schülern mögliches Mannesdenken und
eine vorzeitige Verstandesarbeit voraussetzt, ist dies nicht der natürlichen Geistes-
entwicklung völlig zuwider? — Wird daher nicht an solchen Schülern seiner
Zeit der Universitätslehrer ganz notwendig eine unglaubliche Teilnahmlosigkeit
und Unfähigkeit für Auffassung der Dinge des wirklichen Lebens, der Geschichte
und Natur, wahrzunehmen haben? Darf nicht vielmehr die Hochschule mit Fug
und Grund erwarten, daß die Studenten der Medizin, der Natur- und Staats-
wissenschaften einen ganz andern, einen für die Gegenstände ihrer Vorträge
offnen Sinn, eine bereits geweckte, frische und lebendige Teilnahme mit¬
bringen? — Ist es ferner nicht ein offenkundiges Geheimnis, daß bei den
Gymnafialschülern die unerläßliche Selbstthätigkeit, ein selbständiges Denken und
diejenige Lust und Liebe zu den klassischen Studien, welche Privatlektüre zum
Bedürfnis macht und bis ins Amtsleben nachwirkt, mehr und mehr zu den
Ausnahmen gehört? — Hat nicht sowohl im Gymnasium als auf der Hoch¬
schule ein geistloses Stofflernen, ein banausischer Betrieb der Wissenschaft, eine
Überschätzung der bloßen Kenntnisse statt der Erkenntnis, ein Mangel an idealem
Schwung und Streben breitesten Raum gewonnen? — Haben nicht die Real¬
gymnasien, auf Grund dieser Thatsachen und der auffallenden Erscheinung, daß
die Überbürdungsklagen vorherrschend nur gegenüber den humanistischen An-
statten erhoben worden sind, begründetes Recht zu der Behauptung, sie ent¬
sprechen weit mehr als diese den Anforderungen der Gegenwart? Und dürfen
sie nicht mit gerechter Zuversicht erwarten, daß das bis jetzt fast ausschließlich
noch bestehende Privilegium des humanistischen Gymnasiums, die nachwachsende
Jugend auf die Universitätsstudien vorzubereiten, unmöglich mehr lange Be¬
stand haben werde? — Sind es nicht wirklich nnr äußerliche Gründe, welche
bis heute noch die Gymnasien bevölkern und überVölkern, nämlich eben die
Meinung, daß nur deren Unterricht in den klassischen Sprachen allein das Recht
habe, den Zutritt zu den Hochschulen zu vermitteln, und den Vorzug verleihe,
späterhin als gebildeter Mann zu gelten? — Ist es endlich nicht wahr, daß
weitaus die Mehrzahl der Gebildeten die Anschauung teilt und offen ausspricht,
wer heute noch dem Vorurteil huldige, als ob der Grund höherer Bildung
unbedingt nur in humanistischen Anstalten gelegt werden könne, der verstehe
den Pulsschlag der jetzigen Zeit nicht, sofern dieser entschieden ein andrer ge¬
worden sei als vor fünfzig Jahren?
Angesichts aller dieser nicht bloß fragwürdigen, sondern wohl höchst be¬
achtenswerten Bedenken und Thatsachen lauten die Gutachten gewiegter Sach¬
kenner auch aus dem Lager der humanistischen Gymnasien, wie z. B. das im
Frankfurter Journal 1883, Beil. Ur. 308, 311, 319 niedergelegte, dahin: Um
der in Ziel und Weg vielfach unklaren, aber mit Recht tief aufgeregten öffent¬
lichen Meinung in betreff unsrer dermaligen Zustünde in den Gymnasien ge¬
recht zu werden, ist durchaus eine Radikalkur notwendig. Abgesehen von dem
Urteil über die Existenzberechtigung der Realgymnasien, sind in der That die
in dem genannten Schriftstück, das in der Schulwelt gerechte Anerkennung ge¬
funden hat, vorgetragenen Gedanken, Änderungen und Vorschläge so durchdacht
und wohlbegründet, daß man wünschen möchte, sie vorerst sämtlich in unsern
Anstalten verwirklicht zu sehen.
Dennoch läßt sich fragen, ob damit das dem Verfasser und mit ihm so
vielen seiner Gesinnungs- und Arbeitsgenossen vorschwebende Ideal völlig und
bleibend erreicht, ob es nicht vielmehr geratener wäre, noch tiefer ins Fleisch
zu schneiden, will sagen, noch radikaler drein- und durchzuführen, die unleug¬
baren Übelstände ganz und gar mit der Wurzel auszurotten und ein völlig
„neues zu pflügen." Was demgemäß zu thun und zu lassen sei und worin
dieses neue bestehe, möchte ich versuchen, im nachfolgenden so klar und über¬
zeugend darzulegen, daß es wenigstens der Prüfung von feiten sachkundiger Schul¬
männer und Schulbehörden wert geachtet würde.
Zu lassen haben wir vor allen Dingen ein abschätzendes Urteil und Ver¬
fahren gegenüber den in den obigen Fragen angedeuteten Forderungen, welche
unsre Gegenwart mit ihrem allerdings anders gewordenen Pulsschlag stellt.
Die Ansprüche, welche in allen diesen Rücksichten nicht bloß die Hochschule,
nein, das Leben an die vorbereitenden Unterrichtsanstalten, die Lateinschulen und
Gymnasien, macht, dürfen nicht überhört werden und unbeachtet bleiben. Bei
dem Wettstreit der humanistischen und Realgymnasien darf nicht Lust und Licht
ungleich verteilt, dem letztern der Platz nicht verengt, das nicht ohne Grund
angefochtene Monopol den andern Anstalten nicht immer vorenthalten bleiben.
Andrerseits darf ebensowenig das Endziel verrückt oder gar beiseite geschoben
werden, welches das deutsche Gymnasium nicht etwa nur von einer einseitigen
Buchgelehrsamkeit, nein, durch die Arbeit und den Stand der Kultur des gebil¬
deten Europa seit Jahrhunderten sich gesteckt weiß. Dieses Ziel und die wesent¬
liche Aufgabe des Gymnasiums ist aber: die Schüler so vorzubilden, daß sie
geistig reif seien, an dem Betrieb der Wissenschaften auf der Hochschule mit der
erforderlichen Selbstthätigkeit sich zu beteiligen. Dieser Betrieb hat bekanntlich
eine doppelte Grundlage, eine philosophische und eine historische. Die erstere er¬
fordert eine gehörig geschulte Kraft, geordnet und systematisch zu denken, die
letztere die Befähigung, je in seinem Fachstudium auf die letzten Quellen, welche
in der Kulturgeschichte der frühern Jahrhunderte sowie der Gegenwart vorliegen,
entweder selbständig zurückzugehen oder wenigstens dem Nachweis aus diesen
Quellen mit vollem Verständnis zu folgen.
Nun aber ruht unsre Kultur, Kunst und Wissenschaft dermaßen auf der
des griechischen und römischen Altertums und seiner Schriftdenkmals, daß der
zuletzt genannten Forderung nie und nimmermehr entsprochen werden kann, ohne
Kenntnis und Einsicht in dessen Sprachen, Anschauungen und Begriffswelt.
Selbst unsre eignen Klassiker in Poesie und Wissenschaft bleiben für jeden, der
mit den Schriften, mit der Mythologie, Philosophie, Geschichte, den sittlichen
und staatlichen Verhältnissen jenes Altertums unbekannt ist, teilweise ein un¬
verständliches, verschlossenes Buch. Wer dies in Abrede stellt und thatsächlich
bekämpft, sägt einen der Hauptäste ab, auf denen die geistige Kultur des mo¬
dernen Volks- und Staatslebens beruht.
Sonach hat mit derselben Notwendigkeit, welche die Gegenwart uns auferlegt,
bei der Vorbildung der höhern Gesellschaftsklassen die Rücksicht auf deren reali¬
stische Studien nicht außer Augen zu lassen, das Gymnasium, dessen Lehrer,
Vorstände und Aufsichtsbehörden die Pflicht, alles zu lassen, zu meiden und
zurückzuweisen, was einer gründlichen humanistischen Schulung irgendwelchen
Eintrag thut. Jede weitere Schmälerung des altklassischer Sprach- und Sach¬
unterrichts wäre ein Verrat an den unveräußerlichen Prinzipien des deutschen
Gymnasiums. Dies gilt insbesondre auch von demjenigen Fache, das der ober¬
flächlichen Bildung am meisten ein Dorn im Auge ist, dein Betrieb der grie¬
chischen Sprache und Literatur. Die großen griechischen Philosophen, Geschicht¬
schreiber, Redner und Dichter sind eine unerschöpfliche Quelle der Jugendbildung.
In sie lebt man sich aber völlig nur ein lind empfängt ihren nachhaltigen Ein¬
fluß nur dann, wenn man eine Anschauung von ihrer „Kunst gewinnt, im ein¬
fachsten, allgemein verständlichsten el» Höchstes zu geben." Dies und vieles
andre ist aber kaum erreichbar, wenn man die Originalsprache nicht gründlich
versteht, wäre es anch nur, weil ein mühsam errungenes Gut weit höher ge¬
schätzt wird und fester haftet als leichter Erwerb.
Nein, das Gymnasium darf von diesem Unterricht kein Jota aufgeben, es
hat vielmehr nach dem früher besprochenen alles zu thun, um de» unleugbar
vorliegenden Mißstand, daß seine Schüler lernmüde, ohne idealen Schwung,
namentlich ohne jegliche Begeisterung, Lust und Liebe zu altklassischer Studien die
Hochschule beziehen, zu beseitigen und bessere Ergebnisse ihrer Schulung zu er¬
zielen.
Sollte das ebengenannte in unsern Zeiten nicht mehr erreichbar, sollte
der altklassischc Lehrstoff selbst, weil überragt von dem zeitgemäßeren und für
viele anziehenderer Inhalt der realistischen Wissenschaften, nicht mehr imstande
sein, diesem die Stange zu halten und die Geister zu gewinnen? Wer das be¬
haupten, glauben und glaublich machen wollte, würde ebendamit die Thatsache
der Kulturgeschichte leugnen, daß gerade dieser Stoff und sein Studium Jahr¬
hunderte lang die gewaltigste Macht geübt und in den edelsten Geistcscrzeug-
nisscn sich kundgegeben hat. Und gleichfalls dient eine Reihe der bedeutendsten
Männer und Frauen früherer Zeiten zum Zeugnis, daß auch das andre gar
wohl möglich, ja wirklich gewesen ist: die Aussöhnung der zwei Gegensätze rea¬
listischer und humanistischer Bildung in einer und derselben Persönlichkeit. Diese
zweite Thatsache dürfte denn doch ein noch mehr ermutigender Beweis sein, daß
auch in unsern Tagen ermöglicht werden könnte, beiden einander entgegengesetzten
Stimmungen und Strömungen ihr Recht angedeihen zu lassen. Und den Glauben
an diese Möglichkeit können wir umso zuversichtlicher hegen und bekenne», wenn,
wie sich Heransstellen wird, ein Weg zu diesem Aussöhnungswerk aufgezeigt
werden kaun, welchen eben jene frühern, in beiderlei Wissenschaft gleich starken
Geisteshelden gegangen sind.
Soweit darf weder der Lehrstoff des humanistischen Gymnasiums geschmälert,
noch sein Ziel bemängelt und verrückt, im Gegenteil, soweit es irgend möglich,
dasselbe Bilduugsziel auch dem Realgymnasium gesteckt werden.
Wenn dennoch von dein letztern ein gewisses Zugeständnis und Entgegen¬
kommen gefordert wird, so ist andrerseits umsomehr zu verlangen, daß nicht
etwa der Ausgleichung zuliebe, sondern wahrlich zum Frommen der Sache und
um die Erreichung des Zieles möglich zu machen, der Betrieb der klassischen
Vorstudien im deutschen humanistischen Gymnasium in einem Pnnkte sich eine
Änderung und Reform gefallen lasse.
Welches dieser Punkt sei, ist, wie von dem preußischen und sächsischen
Kultusminister, so namentlich in den Verhandlungen der würtembergischen Stände¬
kammer von gewichtigen Stimmen entschieden und überzeugend ausgesprochen
worden- Nicht sowohl extensiv, nicht dem Umfange nach haben sich die For¬
derungen in Latein und Griechisch vermehrt, Wohl aber intensiv, der Schwierig-
keit nach. Es werden jetzt Feinheiten in der Grammatik verlangt und auf
diesem Felde Zumutungen an die Schüler gestellt, welche ein logisches Mannes-
deuken und eine Verstnndesarbeit voraussetzen, die erst mit den Jahren kommt
und der Hochschule vorbehalten bleiben sollte. Ja es ist, wenigstens in Würtem-
berg, bereits das Knabenalter, welchem diese höhere Last auferlegt wird. Dank
den trefflichen Arbeiten auf dem Gebiete der lateinischen und griechischen Gram¬
matik und Stilistik und dem gründlichen Betrieb der sprachvergleichenden und
kritischen Philologie sind die Ansprüche, welche die Unterrichtsbücher und Prü¬
fungen hinsichtlich der Schärfe und Genauigkeit an wissenschaftliches Denken
stellen, den Latein- ja auch deu Ghmnasialschülern über den Kopf gewachsen.
Wir sind weit entfernt, zu sagen, daß die Ergebnisse dieser Arbeiten verloren
sein sollen, selbst der Schule dürfen sie nicht für immer vorenthalten werden.
Umso gewisser aber ist das andre: wir sind beim Sprachunterricht, vornehmlich
bei dem in den alten, doch hie und da anch bei dem in den modernen Sprachen,
in ein falsches Fahrwasser geraten hinsichtlich der Lehrmethode, besser gesagt,
des Lehrganges, sofern die Sprachen in unsern Mittelschulen viel zu früh und
vornehmlich allzu gelehrt gelernt werden. Hier ist der Hebel der Reform an¬
zusetzen, hier muß Abhilfe geschafft werden, und dies nicht nur durch halbe
Maßregeln und Kompromisse, durch welche kein Teil völlig befriedigt wird,
sondern radikaler, durch Ausrollen abgestorbener Wurzeln, dadurch, daß wir,
wie gesagt, „neues pflügen." Prinzipiell muß geholfen und statt des Weges
der Reform gewissermaßen der der Revolution eingeschlagen werden. Wie
Luther seiner Zeit aus bloßem Reformator zu einem — wie es der große katho¬
lische Kirchenmann unlängst unverholen ausgesprochen hat — neuen Religions¬
stifter herangewachsen ist, das gleiche hat — si xarva liest oomxonörs irmZnis —
im Sprachunterricht des deutschen Gymnasiums zu geschehen.
Von einem äußerst ansprechenden Buche neuesten Datums — Max Eyes,
Wanderbuch, sechster Band — habe ich mir sagen lassen, die Franzosen fänden
deshalb unsre deutschen Schriftsteller so langweilig, weil sie die Gegenstände
immer erschöpfend behandeln wollen. Dieser Wink soll mir nicht umsonst
gegeben sein, wenn ich nun darzulegen versuche, was positiv zu geschehen habe,
um die berechtigten Bedenken und die zahlreichen Mißstände zu beseitigen, von
denen die Rede war, sowie das bereits angedeutete hohe Ziel im gymnasialen
Sprachunterricht zu erreichen. Hinwiederum lasse ich mir gleichfalls von einem
neuesten Schriftstück, das noch unmittelbarer einem schreibenden Schulmann
zum Muster dienen kann — Aus der Praxis, ein pädagogisches Testament
von O. Jäger —, die Form und Fassung augeben, in der ein weitschichtiger
Inhalt der Lesewelt unsrer Tage vorzutragen ist. Durch diese zwei Schriften
sehe ich mir den Weg gezeigt, auf dem es wohl gelingen könnte, Gedanken, die
seit Jahren mich bewegen, denkenden Zeit- und Fachgenossen zur Erwägung
vorzulegen. Und da ohnehin an diesem Orte entfernt nichts erschöpfendes gegeben,
sondern mehr nur andeutend und anregend gesprochen werden kann, möge unsers
Herzens Meinung ebenfalls wie eine Art Vermächtnis in abgerissenen Sätzen
sich vernehmen lassen.
Nach welcher Lehrart und auf welcher Altersstufe die Römer ihrer-
zeit das ohne Zweifel vollständige Verständnis der griechische» Sprache und
die Gewandtheit, dieselbe zu sprechen, teilweise auch zu schreibe», sich angeeignet
haben, ist leider nicht sicher auszumitteln. Gewiß ist nur soviel, daß es nicht
an der Hand von Grammatiker unsrer jetzigen deutschen Art, sondern um ein
gutes mehr gedächtnismäßig, Wohl fast einzig per sxsmM, nicht aber per
xig-sesptg. geschehen ist.
Ganz dasselbe ist nachweisbar der Fall gewesen bei allen Gelehrten des
Mittelalters bis in das vorige Jahrhundert herein. Die Meister philologischer,
philosophischer und theologischer Wissenschaft, Männer und Frauen, welche seit
dem Wiederaufleben des Studiunis alter Sprachen in romanischen wie germanischen
Ländern das Lateinische, mitunter selbst das Griechische mit größerer Sicherheit
und Gewandtheit handhabte» als die eignen Muttersprachen, sind insgesamt
auf a»deren Wege an dieses Ziel gelangt als die Lehrenden und Lernenden
unsrer Tage. Und wie vielseitig waren die Begabteren unter ihnen gebildet,
theoretisch und praktisch wohlgeschult für das Leben, für Kunst und die Dinge
der Außenwelt überhaupt! Selbst die großen Latinisten, die wir noch erleben
durften, haben fast durchweg diesen ihren Sprachschatz erworben, ohne daß ihnen
jemals die lateinische und griechische Formenlehre und Syntax auf dem langen
Wege grammatischer Schulung und mittelst vieljähriger Übersetzungsübungen an
deutschen Aufgaben beigebracht worden wäre. Ja einzelne von ihnen, z. B.
Fr. Aug. Wolf, haben gerade gegen diese Übungen offene Einsprache erhoben.
Ganz ebenso lautet die Kunde aus England. Die dortigen Sprachlehren der
alten Sprachen standen wenigstens bis vor wenigen Jahren noch auf einer,
wissenschaftlich betrachtet, äußerst niedrigen, naiven Stufe, die Lehrart seiner
Schulen erscheint einem deutschen Pädagogen und Philologen noch immer mehr
mechanisch als rationell, und wir meinen, es solchem alten Schlendrian gegen¬
über wer weiß wie herrlich weit gebracht zu haben.
Und doch, wie viel wird dort erreicht, und an einem wie viel höhern Ziel
als bei uns langt man an und ist im Mittelalter angelangt! Nicht bloß
Philologen oder Historiker, sondern auch eine namhafte Zahl von Staats- und
Geschäftsmännern in England nehmen Lust und Liebe, Kenntnis und Verständnis
der alten Sprache» mit ins praktische Leben hinüber und lassen die Anschauungen
und Lehren der altklassischer Welt lebenslang nachklingen und nachwirken. Unter
tausend, die, in unsern Gymnasien gründlich geschult, es vom achten bis zum
achtzehnten Jahre dahin gebracht haben, lateinische und griechische Schriftsteller
notdürftig vom Blatte lesen und noch notdürftiger lateinisch und griechisch schreiben
zu können, sind doch keine zehn, von denen sich dieselbe Nachwirkung rühmen
ließe. Geschweige daß auch nur einer in irgend einem Fache des realen Wissens
und Könnens gründlich bewandert wäre, ja daß auch nur einer selbst in den
alten Sprachen sich in Wort und Schrift so leicht und gewandt auszudrücken
vermöchte wie die Schriftsteller und Redner der Reformationszeit, nein, auch
wie ein F. A. Wolf, G. Hermann, Köchly und — Schliemann.
Durch den zuletzt erwähnten Namen lassen wir uns noch deutlicher sagen,
was man positiv zu thun hat, um in kurzer Zeit alte und neue Sprachen zu
lernen, und zwar so, daß man mit vollem Verständnis Prosaiker und Dichter
lesen, ja die gelernten Sprachen auch schreiben und sprechen kann. Im Hinblick
auf Schliemann, der aber keineswegs alleinsteht und als besondres Sprach¬
genie zu betrachten ist, läßt sich als entschiedene Thatsache behaupten: Wer in
reifern Jahren, mit einem festen Zweck im Auge und fähig, Inhalt und Form
von Gelesenen mit Interesse und Verstand sich anzueignen, die erforderliche
Energie, Konzentration, Beharrlichkeit und tägliche Übung mehrerer Stunden
aufwendet, um eine fremde Sprache, alte oder neue, zu erlernen, vermag das
vorhin bezeichnete Ziel in höchstens zwei Jahren zu erreichen.
Einen unwiderlegbaren Beweis dafür liefern außer vielen Hunderten, die,
sei es für einen gelehrten oder einen praktischen Beruf, sich erst im Mannes¬
alter in kürzester Frist ungewöhnliche Sprachkenntnisse erworben haben, gerade
in neuerer Zeit die Erfahrungen, welche strebsame junge Leute, ohne für Sprach¬
erlernung besonders begabt zu sein, glaubwürdig versichern mit den Toussaint-
Langenscheidtschcn Unterrichtsbriefen gemacht zu haben.
Man meine jedoch nicht, solches lasse sich nur erzielen, wenn man zwanzig
oder vierzig Jahre alt sei. Die ebengenannten Bedingungen, Befähigung,
Interesse, Energie, Beharrlichkeit und konzentrirte Übung vorausgesetzt, ist
annähernd dasselbe Ziel auch bei Knaben und Mädchen von zehn und elf Jahren
zu erreichen. Immerhin mag in der Art und Weise und in dem Umfange, wie
es Goethe von sich berichtet, nicht vielen gelingen, drei bis vier fremde Sprachen
im Knabenalter sich anzueignen. Eher kann man einen allgemeinern und nach¬
ahmenswerten Maßstab einem Beispiele aus älterer Zeit entnehmen. Montaigne
(geboren 1533) erzählt, wie ihm sein Vater Latein lehren ließ mit dem Erfolge,
daß er mit sieben Jahren fast alle lateinischen und griechischen Schriftsteller (letztere
in lateinischer Übersetzung) gelesen hatte und mit dreizehn Jahren für die Uni¬
versität reif war. Ein gelehrter Deutscher, der noch kein Wort französisch
konnte, war ins Haus genommen worden und mußte, wie selbst die Dienstboten,
mit dem Jungen solange nur lateinisch reden, bis ihm Latein zur Mutter¬
sprache wurde.
Doch das schwerste Gewicht legt wiederum eine thatsächliche Erfahrung in
die Wagschale. In einem nahezu funfzigjährigen Lehramt ist mir selbst und
nach fremden Mitteilungen auch andern mehr als einmal begegnet, daß Schüler,
welche erst im elften oder gar zwölften Jahre anfingen, Latein und Griechisch
zu lernen, dennoch bereits nach Verlauf von drei bis vier Jahren ihre Kameraden,
mit denen fast um ein Lustrum früher der Unterricht in den alten Sprachen
begonnen worden war, nicht nur eingeholt, sondern überholt, und im vierzehnten
Jahre schwierige Prüfungen gerade in diesen Fächern mit Ehren bestanden haben.
Und zwar waren diese Schüler keineswegs durch besondre Begabung den andern
überlegen, aber sie hatten zuvor in guten Volks- oder Elementarschulen in den
gewöhnlichen Schulfächern gründlichen Unterricht genossen, waren für ihr Alter
in sicherem Besitze ihrer Muttersprache, hatten das Lernen gelernt und brachten
dem neuen Lehrstoff, seinem Inhalt wie seiner sprachlichen Form ein frisches
und lerndurstiges Interesse, die Fähigkeit, alles denkend an- und aufzufassen,
und ebenso verständigen als beharrlichen Fleiß entgegen.
Als wohlbegründete Folgerung aus dem Gesagten und als Frucht langer
Lehrcrcrfahrung muß daher mein Wahrspruch in dieser Sache folgendermaßen
lauten.
Obgleich, oder vielleicht richtiger gesagt, weil im Laufe dieses Jahrhunderts
die Sprachwissenschaft, sowie Lehrbücher in deutschen Landen entschieden in mehr
als einer Hinsicht sich gehoben und gebessert haben, ist der Unterricht in den
alten Sprachen im deutschen Gymnasium Jahr für Jahr minder fruchtbar für
wahre Geistesbildung und unerquicklicher für Lehrende und Lernende geworden.
Dies deshalb, weil er einem dreifachen Fehler verfallen ist. Zur Erlernung
sowohl der alten als der neuen Sprachen, wie dieselben meist nach dem jetzigen
Stande der Sprachwissenschaft betrieben werden, wird eine beträchtlich zu frühe
Altersstufe in Anspruch genommen. Sodann besteht in betreff der Zeit des
Sprachunterrichts ein zweiter Fehler darin, daß derselbe viel zu sehr verzettelt,
die Unterweisung in je einer Sprache nicht auf eine erheblich kürzere Frist
konzentrirt, sondern auf eine lange Reihe von Jahren verteilt oder gar
mehreren fremden Sprachen zugleich gewidmet wird. Nicht weniger schädlich
wirkt ein dritter Fehler: unsre deutsche Lehrart hat den einzig richtigen, sach-
und naturgemäßen, in alten und mittleren Zeiten bewährten Weg verlassen und
Sprachunterricht statt per öxsraxlg, vorzugsweise xsr xiÄöesxtg. betrieben. Wenn
irgendwo, hat sich hier das Sprichwort bewährt: Allznfeine Arbeit wird nicht
bezahlt. Die Folge ist: die Lernenden sind durch die Schuld dieser dreifachen
Verfehlung seit Jahrzehnten immer weniger zu einem freudigen Besitz und zu
sicherer Handhabung der erlernten Sprachen gekommen.
Darum ist nun auch unsre unerläßliche positive Forderung eine dreifache.
Statt im neunten oder gar im siebenten oder auch achten Lebensjahre hat bei
Knaben und Mädchen der Unterricht in jeglicher fremden Sprache erst mit
dem zehnten Jahre zu beginnen. Und zwar wäre für alle, womöglich auch für
die weiblichen Schüler, welche höhere Bildung anstreben, in hohem Grade
wünschenswert, daß sie der Wohlthat teilhaftig würden, den Grund für alles
weitere mit derjenigen Sprache zu legen, welche vermöge sowohl ihres festge-
schlossenen Charakters als ihrer geschichtlichen Stellung im Leben der romanischen
und germanischen Völker dazu am geeignetsten und berechtigtsten ist. Zwei
Jahre lang stehe von diesem Zeitpunkt an das Latein dermaßen im Mittelpunkte
alles Unterrichts, daß ihm von den verfügbaren Schulstunden zwei Drittel zu¬
fallen. Und zwar mögen täglich mindestens zwei Stunden dem Unterricht,
eine bis zwei der Selbstbeschäftigung zugewiesen werden. Der Unterricht ent¬
äußere sich im ersten Jahr völlig unsrer derzeit üblichen Lehrart und befolge
die der alten und englischen Schule, lasse die Grammatik fast ganz aus dem
Spiel, lehre die Sprache vorzugsweise gedächtnismäßig und so, daß der Schüler
sie bis auf einen gewissen Grad sich wie eine zweite Muttersprache zu eigen
mache. Erst mit dem zweiten Jahr trete die Grammatik, und zwar nach und
nach und cum A-ano salis, in der rationellen Fassung der deutschen Sprach¬
wissenschaft in ihre Rechte, jedoch so, daß dessenungeachtet die Aneignung der
Sprache mittelst des Gedächtnisses auch jetzt noch das überwiegende bleibt.
Demgemäß hat anch die Selbstbeschäftigung im ersten Jahre lediglich das Ge¬
dächtnis in Anspruch zu nehmen, d. h. der Schüler hat täglich von dem vorge¬
kommenen Pensum ein gutes Stück auswendig zu lernen, sodaß er z. B. am
Schlüsse des ersten Jahres, wir wollen sagen, seinen halben Cornelius Nepos
und ein oder zwei Bücher von Cäsar im Urtext als sichern Sprachschatz besitzt.
Während so bis dahin für Unterricht und Selbstthätigkeit schriftliche Übungen
nur in geringem Maße vorzunehmen sind, treten diese im zweiten Jahre in
den Vordergrund. Neben fortgesetztem Auswendiglernen haben die Schüler dann
das Gelesene und Gelernte in Auszügen und Nachbildungen schriftlich darzu¬
stellen und dabei ihre nunmehr eingetretene grammatische Schulung durch fehler¬
freie sprachliche Korrektheit zu erweisen. Aufgaben dieser Art werden nach und
nach täglich zu stellen und der jedesmaligen Prüfung des Lehrers zu unter¬
werfen sein, die ja gar wohl mitunter durch Vorlesen des Geschriebenen voll¬
zogen werden kann und nur ein- oder zweimal in der Woche eine förmliche
Korrektur erfordert.
Gerade so wie für das zehnte und elfte Lebensjahr sämtlicher Schüler
der Unterricht im Lateinischen zwei Dritteile der Schularbeit in Anspruch
nimmt, hat man es im zwölften (bei künftigen Realschülern und Mädchen
auch noch im dreizehnten) Jahre mit dem Französischen, und sodann bei denen,
die nunmehr für ein gelehrtes Studium sich entscheiden, in ihrem vierzehnten
und fünfzehnten Jahre mit dem Griechischen zu halten. Auch diese zwei
Sprachen haben auf den genannten zwei weiteren Altersstufen jedesmal ent¬
schieden den Mittelpunkt zu bilden und zwei Drittel von Zeit und Arbeit ganz
in der beim Lateinischen angewandten Lehrweise zu beanspruchen. Auf der
zweiten Stufe wird sodann das Latein, auf der dritten Latein und Französisch
in der Weise fortbetrieben, daß die bisher für dieses Alter vorgeschriebenen
Schriftsteller, wo nicht mehr, in etwa zwei bis drei Wochenstunden gelesen und
die feinern Grammatikalien angeeignet, auch die schriftlichen Übungen zweckmäßig
fortgesetzt werden.
Ein deutsches Gymnasium mit einem dergestalt reformirten Sprachunterricht
wird seine fünfzehnjährigen Schüler — dafür möchte ich mit meinem grauen
Haupte einstehen — in den drei genannten Sprachen nicht etwa nur auf der¬
selben Stufe, wie die nach der bisherigen Weise geschulten gleichen Alters, ange¬
kommen sehen, sondern sicher darauf rechnen dürfen, daß seine Scholaren, im
Vergleich mit jenen um ein gutes reicher ein Sprachschatz, gewandter im Aus¬
druck, namentlich aber auch freudiger zu weiteren Studien und zudem gleich¬
mäßiger in ihrem Wissen und Können sich erweisen werden. Mehr oder
minder werden voraussichtlich alle halbwegs begabten je einen Schliemann
im kleinen vorzustellen, mit derselben Sicherheit wie er drei fremde Sprachen
zu verstehen, zu lesen und zu schreiben imstande sein.
Noch höher als der ebengenannte Gewinn ist nun aber ein zweiter und
dritter anzuschlagen. In Anbetracht, daß angenommenermaßen bei solchem
Betriebe des Sprachunterrichts sämtliche Schüler bis zum Ende ihres dreizehnte!?
Jahres ganz und gar denselben Unterricht genießen, ist fürs erste der große
Vorteil erreicht, daß nicht, wie bisher, schon im achten oder neunten, sondern
erst im vierzehnten Lebensjahre die wichtige Entscheidung über die Wahl des
künftigen Lebensberufs und Studiengangs getroffen zu werden braucht. So gewiß
es etwas ungemein peinliches ist, sich vor diese Wahl bei einem Sohn, der
noch dem Kindesalter angehört, gestellt zu sehen, so leicht und sicher ist dieselbe
beim Eintritt der Pubertät zu bestimmen. Das erwünschteste aber ist fürs
andre, daß nunmehr, wenn vor dem zehnten Jahre keinerlei Unterricht in fremden
Sprachen erteilt wird, ein völlig ausreichender Zcitrcunn von vier Jahren zur
Verfügung steht, um die Elementarfächer so anschaulich, gründlich und um¬
fassend zu treiben, wie sie der Natur und Fassungskraft des betreffenden Alters
angemessen sind und sozusagen auf den Leib passen. Damit kann man zu¬
gleich den Ansprüchen gerecht werden, welche unsre Zeit in betreff des realen
Wissens an jeden Gebildeten zu stellen befugt ist und welche nicht etwa nur
der künftige Lehrherr im gewerblichen Leben und der Universitätslehrer der
Staats-, Natur- und Kriegswissenschaft, sondern, wie schon gesagt, dermalen
alle Fakultäten der Elementar- und Mittelschule gegenüber erheben dürfen.
Worin diese bestehen, ist im ersten Abschnitt genügend angedeutet. Es sei darum
nur noch auf eines hingewiesen. Unter den teilweise wohlberechtigten Klagen
über die mangelhafte Schulausstattuug unsrer Gymnasialschüler steht, wie früher
bemerkt, in erster Linie die über den bedauerlichen Mangel an Anschauungs¬
und Veobachtungskraft und an Sinn und Interesse für das wirkliche Natur-
und Menschenleben. Es ist aber einleuchtend, daß diese Klage verstummen wird,
wenn der Gedanke verwirklicht wird, daß vier volle Jahre für Einführung der
Schüler in die Bekanntschaft mit dem Naturleben, in die Anschauungen von
Land und Leuten, in das Wissen und Können von realen Dingen und Ver¬
hältnissen verwendet werden.
Wie dieser Unterricht auf der vierjährigen ersten Lernstufe sich im
einzelnen zu gestalten habe, kann natürlich an diesem Orte entfernt nicht
vollständig auseinandergesetzt werden. Nur im allgemeinen möge gesagt sein,
wie es gehalten werden soll. Es wird zwar der Normalplan und die Gesammt¬
heit der Lehrfächer, sowie es in einer der dermaligen guten Elementarklasse ge¬
schieht, auch hier zu Grunde zu legen sein; allein der Unterrichtskreis kann
deshalb um vieles erweitert und vertieft werden, weil für alle Realfächer ein
so langer Zeitraum und sämtliche Lehrstunden zur Verfügung stehen. Vor¬
nehmlich aber soll die bisher übliche Lehrart nach zwei Richtungen verbessert
und überboten werden. Der Weckung und Schärfung der Anschauung werde in
allen Fächern eine weit größere Rücksicht und Sorgfalt zugewandt und daher
vor allem der Sinn für Natur und Außenwelt überhaupt weit gesunder genährt
und ausgestattet, als notorisch seither in den gelehrten Schulen der Fall war.
Sodann werde, und zwar lediglich an der Muttersprache (nicht wie bisher
mühselig genug an einer fremden), der acht- und neunjährige Schüler angeleitet,
Schritt für Schritt Einsicht zu gewinnen in die Bedeutung, die jedes Wort
im Satze hat, und die verschiedenen Wortarten mit ihren Bildungen und
Beugungen kennen zu lernen. Wie derselbe so, und zwar ohne den gelehrten
Ballast von unverstandenen grammatischen Termini, sicher jeden deutschen Satz
konstruiren und überhaupt die Sprachen denkend erfassen lernt, so hat er nunmehr
bereits vor dem beginnenden Unterricht in den fremden Sprachen ein sicheres
und ungetrübtes deutsches Sprachgefühl und Sprachgewissen sich zu eigen gemacht.
Somit ist nun in einem reichlich zugemessenen Zeitraum auch für den jetzt erst
beginnenden Unterricht in den fremden Sprachen ein fester Grund gelegt, sodaß
der Schüler unfehlbar, weil viel freudiger und zielbewußter, bis zum fünfzehnten
Jahre in je zweijährigen Kursen für die drei Sprachen das bezeichnete Ziel
wird erreichen können.
Wir müssen es uns, wie gesagt, leider versagen, im besonderen vorzuführen,
wie in diesen vier Jahren die einzelnen Realfächer (die Naturgeschichte und
Naturbeschreibung als Ausgangs- und Mittelpunkt) der Reihe nach insgesamt
dem Schüler zum sinnlichen und geistigen Verständnis gebracht und unverlierbar
seinem Gedächnis und Verstand eingeprägt werden sollen. Gewißlich wird es aber
keinen Erzieher und Schulmann gereuen, sich darüber durch eine Einzelausführung
belehren und sich zeigen zu lassen, wie ein nach diesen Grundsätzen eingerichteter
Elementarunterricht ganz anders, als es bisher in den Unterklassen eines deutschen
Gymnasiums möglich war, d. h. naturgemäßer, gründlicher und reichhaltiger,
alle Geisteskräfte des Schülers weckt und hebt und namentlich versteht, wie
den innern Sinn und Trieb überhaupt durch stetes Wachrufen der Selbst¬
thätigkeit, so auch das Auge und die Hand durch Zeichnen und Schaffen zu
bilden und zu üben. Eine solche Belehrung ist geboten durch einen ebenso
warm und eindringend als sachkundig geschriebenen Aufsatz von Professor Dr.
von Soden im Würtembergischen Korrcspondenzblatt 1883, Heft 5 u. 6, S. 177
bis 220, und dnrch den dort gegebenen Bericht über die bereits ganz auf
diesem Grunde ruhende blühende Schule des Direktors Beust in Hottingm bei
Zürich. Aus diesem mir in elfter Stunde zugekommenen Aufsatz durfte ich zu
großer Befriedigung entnehmen, daß auch anderwärts ein dem von mir vorge¬
schlagenen ganz ähnlicher Weg gut befunden und sogar schon mit bestem Erfolg
begangen worden ist.
Komm und siehe, möchte ich daher jedem Mitarbeiter in unsern deutschen
Gymnasien zurufen, und jedenfalls besinne dich und gieb dir selbst unbefangene
und redliche Antwort auf die Frage, ob nicht auf diesem Wege mit solcher
Grundlegung in den ersten Schuljahren und der entsprechenden weitern Fort¬
bildung im Kennen und Können sämtlicher sprachlichen und realistischen Fächer,
wie sie nunmehr in den höhern Klassen geboten werden muß, alles das erreicht
und verwirklicht werden könnte, was der erste Abschnitt als gerechte und un¬
erläßliche Forderungen der Zeit an unsre humanistischen und höhern Real¬
anstalten bezeichnet hat. Und wohlgemerkt: dieses Ziel wäre dann erreicht ohne
irgend welche Einbuße an Sprachwissen und humanistischer Vorbildung, zugleich
aber so, daß nicht allein sämtliche Fakultäten der Hochschule, sondern auch
die praktischen Gebiete des Lebens, selbst die der Kunst und dem Kriegswesen
gewidmeten Akademien, an den ihnen von den Mittelschulen überkommenen
Schülern nichts wesentliches würden zu vermissen haben.
Zum Schlüsse noch, um Mißverständnisse abzuschneiden, eine Bemerkung.
Es versteht sich, daß der hier vorgelegte Versuch einer so tief eingreifenden
Reform entfernt nicht darauf rechnet, sofort in öffentlichen Schulen eingeführt
zu werden. Dazu ist es vielleicht erst nach einem Jahrzehnt Zeit. Denn wenn
er sich auch schmeicheln dürfte, selbst bei einer notwendig konservativ gestimmten
Oberstudienbehörde Beifall zu finden, könnte dieselbe, ob sie auch wollte, un¬
möglich schon in kurzer Frist mit allgemeiner Einführung vorgehen. Abgesehen
davon, daß eine solche amtliche Maßnahme nicht getroffen werden darf, bevor
ein neues sich unbedingt bewährt hat, fehlt es der Behörde vorerst an dem not¬
wendigsten Erfordernis, am Lehrermaterial, jedenfalls für den gewünschten
vierjährigen Elcmentarkurs. Diesem wären die bisherigen Unterlehrer, Colla-
bomtoren, oder wie sie sonst heißen, weder nach ihrem Bildungsgange noch nach
den bisher von ihnen bei Prüfungen geforderten Befähigung gewachsen. Sie
hätten in Zukunft bei ihrem Dienstexamen viel umfassendere Kenntnisse, vor¬
nehmlich in der Naturkunde, und ein ganz sicheres deutsches Sprachgefühl, sowie
auch ein stärkeres Maß von Gewandtheit für anschaulichen und anregenden
Unterricht in den Realien aufzuweisen und zu bethätigen. In betreff der
Bekanntschaft mit fremden Sprachen dagegen wäre die Prüfung zu ermäßigen
und auf Kenntnis entweder des Französischen oder Lateinischen und gut deutsche
Übersetzung eines leichten Stückes in einer dieser zwei Sprachen zu beschränken.
Denn ohne irgendwelche Bekanntschaft mit der einen oder der andern fremden
Sprache ist bekanntlich volles Verständnis der Muttersprache, wie es der Lehrer
auch nur der letztern braucht, kaum denkbar. Umso sicherer dagegen nehmen
wir, im Vertrauen auf die gute Sache und deren Begründung, in bestmimte
Aussicht, daß in wenigen Jahren Deutschland mehr als einer Privatanstalt und
Vorschule für das Gymnasium sich werde erfreuen dürfen, in der diese Unterrichts¬
weise jeder andern vorzogen wird und die mit der genannten Schule von
Beust in Hottinger in Gestaltung und Erfolgen wetteifert. Jedenfalls werden
ohne Zweifel bemittelte Eltern auf dem Lande (Edelleute, Landwirte, Fabrikanten,
auch sachkundige Geistliche) eine Reform willkommen heißen, die sie einer Last
von Erziehungs- und Uuterrichtssorgen zu entheben vermag und es ihnen er¬
möglicht, ihren Söhnen und Töchtern mittelst eines tüchtigen, allseitig gebildeten
Hauslehrers innerhalb der eigenen Familie eine völlig ausreichende Grundlage
alles nötigen Wissens bis zu ihrem Eintritt in eine höhere Mittelschule im
fünfzehnten Lebensjahre angedeihen zu lassen.
me genaue, des Namens und des Ruhmes Turgeniews vollkommen
angemessene Biographie und eine kritische Würdigung seiner Werke
wird in mehr oder weniger naher Zukunft eine Hauptaufgabe für
den Geschichtschreiber der russischen Literatur bilden; als Vor¬
bereitung dazu bedarf es noch der Sammlung und Durcharbeitung
des gesamten Materials, welches der ausgebreitete Briefwechsel des Verstorbenen
und die Erinnerungen derjenigen bieten, welche mit ihm während seiner viel¬
jährigen Thätigkeit näher bekannt waren, einer Thätigkeit, die in der Mitte der
vierziger Jahre begann und bis auf die Gegenwart fortdauerte. In der Er¬
wartung einer solchen gründlichen und umfassenden Lebensbeschreibung des großen
Schriftstellers müssen wir uns wohl noch längere Zeit mit biographischen
Skizzen begnügen, deren Aufgabe einstweilen darin bestehen wird, die wichtigsten
Thatsachen aus dem Leben und der Wirksamkeit Turgeniews zu ordnen und
ins Gedächtnis zurückzurufen.*)
Iwan Ssergejewitsch Turgeniew wurde am 28. Oktober (9. November
n. Se.) 1818 in Orel geboren, wo damals gerade das Regiment stand, in
dem sein Vater diente. Seiner Abstammung nach gehörte er einem alten adlichen
Geschlechte an, welches einst ans der goldnen Horde hervorgegangen war. Unter
den geschichtlichen Vertretern dieser Familie sind besonders zu erwähnen: Peter
Turgeniew, welcher den falschen Demetrius entlarvte und hierfür an demselben
Tage auf dem Lobnoje-Platze*) in Moskau hingerichtet wurde, und Jakob
Turgeniew, der unter Peter dem Großen, um Neujahr 1700, auf Befehl des
Zaren seinen Bojarenbart abscheren mußte. In entfernter Verwandtschaft mit
dem Großvater von Iwan Ssergejewitsch stand der seinerzeit als treibendes Ele¬
ment des Nowikowschen „Freundschaftlichen Vereins" und als eifriger Frei¬
maurer angesehene Iwan Petrowitsch Turgeniew, dessen Kinder einen ehrenvollen
Ruf in der Geschichte der russischen Literatur haben: Alexander, Mitglied des
„Arsamas,"**) der Freund Karamsins, Shukowskis und Puschkins, einer der
Sympathischsten Vertreter der gebildeten russischen Kreise aus dem ersten Viertel
unsers Jahrhunderts, und Nikolaus, der Verfasser der damals Aufsehen erregenden
Flugschrift „Über die Steuern" (1818), welche gegen die Leibeigenschaft gerichtet
war, und des Buches I^s, Russis et Iss IwWW, welches zum erstenmale Europa
eingehend mit unserm Vaterlande bekannt machte; der letztgenannte ließ sich seit
dem Jahre 1825 im Auslande nieder, wo er mich 1871 starb, während seine
Familie noch jetzt in Paris lebt.
Der Vater Turgeniews, Ssergei Nikolajewitsch, diente im Elisabeth-Garde-
kürassierregimente und verheiratete sich in Orel mit der Tochter eines dortigen
reichen Grundbesitzers, Barbara Petrowna Lutowinow. Bald nach der Geburt
des Iwan Ssergejewitsch, welcher der Zweitgeborne war, nahm sein Vater mit
dem Range eines Obersten den Abschied und ließ sich auf dem Gute seiner Frau,
in dem Dorfe Spaßkoje-Lutowinow, zehn Werst von der Stadt Mschensk, im Gou¬
vernement Orel nieder. Dort verbrachte Iwan die ersten Jahre seiner Kind¬
heit zusammen mit seinem zwei Jahre ältern Bruder Nikolaus. In« Jahre
1822 begaben sich die Eltern mit der ganzen Familie und einer Menge leib¬
eigener Diener mit eigenen Pferden in zwei Kutschen und einem verdeckten
Packwagen ins Ausland, nach Deutschland, der Schweiz und Frankreich. Diese
Reise, welche für jene Zeit und bei den damaligen Wegen in ihrer Art eine
große That war, kostete unserm Turgeniew beinahe das Leben: in Bern, wo
er den berühmten Zwinger besah, in dem auch noch jetzt die städtischen Bären
gehalten werden, ließ er das Geländer los und wäre um ein Haar zu den
Raubtieren hinuntergestürzt; zum Glück gelang es dem Vater noch rechtzeitig,
das unvorsichtige Kind zu ergreifen. Und dieser Vorfall war nicht der einzige,
welcher Turgeniew in seiner Kindheit dem Tode nahe brachte: in demselben
vierten Jahre seines Alters erkrankte er so hoffnungslos, daß man ihm schon
das Maß zum Sarge nahm.
Aus dem Auslande heimgekehrt, ließ sich die Familie auf lange Zeit in
Spaßkoje nieder und führte das gewöhnliche ländliche Leben, jenes aristokra¬
tische, saumselige, uneingeschränkte und seichte Leben, welches heute kaum noch in
der Erinnerung besteht. Der künftige große Schriftsteller wuchs auf und wurde
erzogen, wie es sich für deu Sohn eines reichen Gutsbesitzers ziemt, unter Auf¬
sicht von Gouverneuren und Lehrern, Schweizern und Deutschen, im Hause er¬
wachsenen Wärtern und leibeigenen Wärterinnen. Bei der Erziehung spielten
die französische und die deutsche Sprache eine Hauptrolle, welche Turgeniew in
früher Kindheit erlernte; auf die russische Sprache wurde wenig Aufmerksam¬
keit verwandt. Die Mutter Iwans war, nach seinen eignen Worten, eine Frau,
die „ganz nach der Form des achtzehnten Jahrhunderts und des ersten Jahr¬
zehnts des neunzehnten gegossen" war; da sie ihre Erziehung nach „französischem
Muster" erhalten hatte, welches in Rußland üblich war, erkannte sie nur
Puschkin, und auch diesen kaum, als bemerkenswerten Schriftsteller an, lehnte
es aber entschieden ab, eine russische Literatur nach ihm zuzugestehen. Der
Gouverneure gab es im Turgenicwschen Hause sehr viele; der Lehrer, welcher
den Knaben zuerst für die Werke der russischen Literatur interessirte,' war der
leibeigene Kammerdiener seiner Mutter, welcher ihm heimlich, irgendwo im
Garten oder in einem abgelegenen Zimmer die „Rossiade" Cherciskows vorlas.
Er las mit Gründlichkeit, wie einer der Helden in der Erzählung „Pumm und
Baburiu," indem er jeden Vers erst „im EntWurfe" schnell hersprach, aber dann
„im Reinen" mit lauter Stimme und ungewöhnlicher Feierlichkeit wiederholte.
Etwas später, als Turgeniew bereits in Moskau war, machte einer der Gou¬
verneure der Pension, in welcher er erzogen wurde, ein Ruffe, tiefen Eindruck
auf ihn, und zwar dadurch, daß er ihm aus dem Gedächtnisse den ganzen
„Jurij Miloslawskij"*) hererzählte, wie man zu sagen pflegt „Zeile für Zeile."
Gewöhnlich setzte er den Knaben auf seine Kniee, und dieser lauschte mit großer
Spannung auf den Vortrag und war später imstande, denselben beinahe Wort
für Wort zu wiederholen. Mit der deutschen Literatur machte Iwan ein Deut¬
scher bekannt, welcher sehr wenig Russisch verstand, Schiller nicht ohne Thränen
lesen konnte und sich bald darauf als ein einfacher Sattler, ohne jede päda¬
gogische Vorbildung, auswies.
Die innere Lebensweise in der Turgenicwschen Familie unterschied sich durch
nichts von der andrer Familien. Die Eltern Turgeniews, die reichen Guts-
besitzer, verkehrten nicht nur mit ihren Leibeigenen, sondern überhaupt mit allen
Hausgenossen in streng despotischer Weise, sodaß alles im Hause, einschließlich
der Kinder, unaufhörlich zitterte. Durch besondre Strenge zeichnete sich der
Vater aus, welcher eine athletische Gestalt und große Kraft besaß. Einst kam
er hinauf in das „Klassenzimmer" der Kinder, als gerade der deutsche Gou¬
verneur, dem infolge der dummen Streiche und der Unaufmerksamkeit des ältern
Knaben die Geduld gerissen war, diesen an den Haaren schüttelte. Als der
Vater dies sah, ergriff er den unglücklichen Pädagogen beim Kragen, hob ihn
in die Luft, und nachdem er ihn aus der zweiten Etage die Treppe hinunter¬
geworfen hatte, befahl er den Dienern, sofort die Sachen desselben zusammen¬
zupacken und ihn vom Gute fortzuschaffen. Diese häusliche Urteilsvollstreckung
machte auf den kindlichen Turgeniew einen so tiefen, unauslöschlichen Eindruck,
daß er sich noch viele Jahre später, wenn er davon erzählte, der kleinsten Einzel¬
heiten erinnerte. Bei dem aufbrausenden, unbezähmbaren Temperament des
Vaters war es Turgeniew wahrscheinlich oft beschieden, Zeuge ähnlicher Vor¬
fälle zu sein; in einem seiner letzten Briefe sagt er, daß er unter „Prügeln und
Foltern" aufgewachsen sei. So konnte er, als er später in den „Aufzeichnungen
eines Jägers" die Beziehungen der Gutsbesitzer zu ihren schweigsamen „Unter¬
thanen" schilderte, auf Grund eigner Erinnerungen an Menschen, die ihm nahe
gestanden, schreiben.
Im Anfange des Jahres 1827 siedelten die Turgeniews nach Moskau
über, wo sie sich ein Haus am „Bache" kauften. Die Veranlassung zur Über¬
siedelung war die, daß die Kinder heranwuchsen und es nötig war, sie in einer
Lehranstalt unterzubringen. Iwan wurde anfangs in die Weidenhammersche
Privatpension gegeben, hielt sich dann aber, gleichfalls als Pensionär, bei dem
Direktor der Krauseschen Anstalt, Lasarew, auf, der ihm die englische Sprache
lehrte. Von seinen ersten Lehrern erwähnte er später mit Dankbarkeit Din.
Nil. Dubenskij, welcher in der russischen Sprache unterrichtete (f 1863). Er
war seinerzeit ein namhafter Gelehrter, welcher u. a. eine für die damalige Zeit
bemerkenswerte Untersuchung über „Das Lied vom Heereszuge Igors" drucken
ließ. Dubenskij liebte Pnschkin nicht, erzog aber seine Schüler im Geiste Ka-
ramsins, Shukowslijs, Batiuschkows. Von seinen andern Lehrern nannte Tur¬
geniew noch P. N. Pogoriälskij, der Mathematik vortrug, und Jo. Petr.
Kliuschnikow, welcher sich in der Folge dem berühmten Moskaner Kreise von
Stankewitsch anschloß und Gedichte schrieb, die er mit dem Buchstaben -S-
unterzeichnete. Damals war Kliuschnikow noch ein sehr junger Student und
bereitete Turgeniew auf das Univcrsitätsexamen vor.
Im Jahre 1833, erst fünfzehn Jahre alt, trat Turgeniew in die „lite¬
rarische" Fakultät der Moskaner Universität. Von den Professoren, welche er
hier hörte, zeichneten sich besonders aus: der junge Pogodin, welcher nicht lange
zuvor aus dem Auslande zurückgekehrt war und sich nun eifrig mit der kri-
lischen Durcharbeitung der russischen Geschichte beschäftigte, und M, G. Pawlow.
Der letztere trug seit dem Jahre 1826, wo der Lehrstuhl der Philosophie für
unnütz erklärt und geschlossen wurde, Physik und Landwirtschaft vor. Nach
dem Zeugnisse eines seiner Zuhörer war es schwierig, nach seineu Vorträgen
Physik zu erlernen, Landwirtschaft ganz unmöglich; dennoch waren seine Lehr¬
kurse außerordentlich nützlich. Ein leidenschaftlicher Anhänger der Philosophie
Schellings und Okens, erläuterte er deren Lehre mit so plastischer Klarheit,
wie sie niemals einer der Naturphilosophen erreicht hat, und erweckte dadurch
in seinen Zuhörern die Lust zu ernsthafter geistiger Arbeit. Neben diesen beiden
neuen Professoren stand Pobcdonoszew, der russische Literatur lehrte, ein Ver¬
treter sowohl der alten Generation als auch der alten literarischen Schule des
achtzehnten Jahrhunderts.
Turgeniew blieb nicht lange auf der Moskaner Universität, im ganzen ein
Jahr. Sein älterer Bruder trat in den Dienst bei der Gardeartillerie in Pe¬
tersburg, und ebendahin zog nun auch die Familie, sodaß auch Iwan im Jahre
1834 die Petersburger Universität beziehen mußte. In demselben Jahre, am
30. Oktober (a. Se.), starb der Vater Turgeniews.
Die Petersburger Universität konnte sich damals noch weniger als die
Moskaner eine Pflegerin der Wissenschaften nennen. Die ungeheure Mehrzahl
der Studenten kam mit ungenügender Ausbildung und einem geringen Vorrat
gediegener Kenntnisse. Auf drei, vier begabte und unterrichtete Lehrer kamen
nicht wenige solcher, die sich darauf beschränkten, nach „eigenen Aufzeichnungen"
oder nach gedruckten Leitfäden zu lesen; von den Studenten verlangte man in
dem einen wie in dem andern Falle wörtliches Auswendiglernen, weiter erstreckte
sich die Grenze des Studiums eines Gegenstandes nicht. Professoren, welche
einen einigermaßen merklichen Einfluß auf ihre Zuhörer ausübten und in ihnen
die Liebe zur Wissenschaft weckten, waren hier, wie in Moskau, seltene Aus¬
nahmen, in der literarischen Fakultät z. B. M S. Kutorg, Professor der all¬
gemeinen Geschichte, der damals gerade aus dem Auslande zurückgekehrt war,
und P. A. Pletnew, welcher russische Literatur vortrug. Im letzten Jahre des
Aufenthalts Turgeniews auf der Universität begann ein junger Dozent der
russischen Literatur seine Vorlesungen, der schnell eine große Beliebtheit erlangte,
A. W. Nikitenko. Im übrigen zeichnete sich die Petersburger Universität da¬
durch vorteilhaft von der Moskaner aus, daß hier ein Lehrstuhl für Philo¬
sophie vorhanden war, welchen damals A. A. Fischer einnahm; er war von
Österreich herübergekommen, und da er die russische Sprache noch nicht beherrschte,
las er seine Kollegien lateinisch. Aber der Nutzen derselben war sehr zweifel¬
haft. Der Landsmann und Gefährte Turgeniews, Granowsky, der später Hegel
in Berlin studirte, schrieb in der Erinnerung an seinen philosophischen Kursus
in Petersburg darüber folgendes: „Ich wußte nicht, was Philosophie ist, bis
ich hierher kam. Fischer las uns irgend eine andre Wissenschaft, deren Nutzen
ich jetzt durchaus nicht einsehe." Mit einem Worte, in der ersten Hälfte der
dreißiger Jahre, zu Turgeniews Zeiten, blühte auch in Petersburg die Uni¬
versitätswissenschaft nicht sonderlich. Daher strebten diejenigen jungen Leute,
welche das Bedürfnis nach Wissen empfanden und die Mittel besaßen, dasselbe
zu befriedigen, zur Vollendung ihrer Ausbildung naturgemäß dem Auslande
als der wahren Quelle der Wissenschaft und vorzugsweise Berlin zu, das damals
wegen seiner Professoren berühmt war.
Turgeniew nahm während seines Aufenthalts in Petersburg und während
er die Kollegien besuchte, gleichzeitig auch Privatstunden in den alten Sprachen
bei einem deutschen Lehrer der Petropawlowskischen Schule, Walter, einem
bekannten Latmisten (jetzt bei der kaiserl. öffentl. Bibliothek angestellt), welcher
im Laufe von zwei Jahren (1835—1837, mit ihm Horaz, Tacitus, Thukydides,
Sophokles und andre Klassiker las. Nach dem Zeugnisse Walters war der
junge Turgeniew ein ungewöhnlich fleißiger Schüler. Er schrieb die ihm auf¬
gegebenen Aufsätze mit Eifer und arbeitete mit der Sorgfalt eines deutschen
Studenten. Die Stunden wurden mit großer Regelmäßigkeit abgehalten; nur
eins konnte dieselben unterbrechen — die Jagd, für welche Turgeniew von
Jugend auf eine Leidenschaft hegte und welche ihm viele Jahrzehnte lang eine
angenehme Zerstreuung war.
Im Jahre 1836 beendigte Turgeniew den Universitätskursus mit der
Ernennung zum wirklichen Studenten (der Kursus war damals dreijährig) und
erhielt im Jahre 1837, nachdem er wieder eine Prüfung bestanden hatte, den
Grad eines Kandidaten. Bereits in diesem früher Zeitabschnitte erschien von
ihm im Drucke (im Journale des Ministeriums der Volksaufllänmg von 1836)
eine Kritik des bekannten Buches von A. N. Murawiew „Reise nach den heiligen
Stätten Rußlands," welche der junge Turgeniew im Auftrage des Redakteurs
des Journals Sscrbinowitsch verfaßt hatte.*) Iwan selbst begann sich schon
als Student im dritten Kursus mit der „schönen" Literatur zu beschäftigen
und begann damit, wie fast alle jungen Leute, vor allem seine Kräfte im
Versemachen zu versuchen. Der erste Versuch seiner jugendlichen Kunst war
ein phantastisches Drama in fünffüßigen Jamben unter dem Titel „Sthenio,"
nach Turgeniews eigener Äußerung ein abgeschmacktes Erzeugnis, in welchem
eine sklavische Nachahmung des Byronschen „Manfred" zum Ausdruck kam,
und vielleicht auch noch Kukolnik's, der damals wegen seiner ähnlichen über¬
spannten Dramen für ein Genie erklärt wurde. Turgeniew legte sein Stück
Pletnew zur Durchsicht vor; der Professor ließ sich nicht beirren, sondern schalt
den Studenten, daß er mit solchen Possen seine Zeit vergeude, bemerkte aber
dabei doch, daß „in ihm etwas stecke," war freundlich gegen ihn und lud ihn
zu seinen literarischen Abenden ein. Der ermutigte Jüngling übergab Pletnew
einige seiner Gedichte, von denen dieser zwei auswählte und ein Jahr nachher
(1838) ohne Unterschrift des Verfassers in Puschkins „Zeitgenossen" abdruckte.
In dem ersten derselben wurde „Dub der Alte" besungen — „es ist dies das
erste, was von mir im Drucke erschien," sagt Turgeniew in seinen „Erinne¬
rungen."
Als Turgeniew seinen Universitätskursus beendigt hatte und einsah,
daß die Universität zu wenig Wissen bot, begab er sich im Frühjahr 1838 nach
Berlin, um „auszulernen" oder richtiger, um sich mit der echten Wissenschaft
bekannt zu machen, an die man damals in Rußland noch nicht einmal dachte.
Er reiste, wie in jener Zeit alle, zu Wasser nach Stettin, mit dem Dampfer
„Nikolaus I," welcher angesichts Travemünde verbrannte, wobei das Leben
Turgeniews wiederum in Gefahr geriet. In Berlin horte er, zusammen mit
Granowskij und N. W. Stankewitsch (der bald darauf starb), zwei Semester
lang Vorlesungen; gleichzeitig befanden sich auch I. M. Newiärow und die
Familie Frolow dort. Diese Personen bildeten einen engen Freundeskreis, dem
Turgeniew sich anschloß. Auf der Berliner Universität studirte Turgeniew vor¬
zugsweise Hegelsche Philosophie, welche damals einen entschiedenen Einfluß auf
die jungen Geister, auf die klassische Philologie wie auf die Geschichte ausübte;
ferner hörte er Werber (Schüler und strenger Nachfolger Hegels), Böckh, Zumpt,
Ranke, Ritter u. a.
Nach einem kurzen Aufenthalte in Rußland und einer Reise nach Italien
begab sich Turgeniew im Jahre 1840 noch einmal nach Berlin und blieb dort
noch ungefähr ein Jahr auf der Universität. Er war damals bereits soweit
entwickelt und ausgebildet, daß er die dunkeln Seiten des russischen Lebens klar
erkannte, besonders jener Gesellschaftsschicht, der er selbst durch Geburt und
Erziehung angehörte, des Kreises der Gutsbesitzer und Leibeignen, deren
typischer Vertreter seine eigne Familie war. „Fast alles, was ich um mich her
sah — sagt er in seinen „Erinnerungen" —, weckte in mir das Gefühl der
Unruhe, des Unwillens und schließlich des Abscheus. Es war nötig, entweder
sich zu fügen und ruhig das allgemeine Gleis, den aufgefahrenen Weg weiter
zu benutzen, oder mit einem Schlage davon abzugehen, „alle und alles"
von sich abzustoßen, auf die Gefahr hin, vieles zu verlieren, was meinem
Herzen teuer und vertraut war."
Mit solchen Gedanken kehrte Turgeniew im Jahre 1841 aus dem Aus¬
lande heim. Zuerst reiste er nach Moskau, wo damals seine Mutter lebte und
wo er die Prüfung als Magister der Philosophie zu machen beabsichtigte. Dies
erwies sich aber aus dem einfachen Grunde als unmöglich, weil niemand da
war, von dem Turgeniew sich hätte prüfen lassen können, da schon lange kein
Professor der Philosophie mehr an der Moskaner Universität war. Der
Uuiversitätsrat ergriff diese Gelegenheit, um die Wiederherstellung des auf-
gehobnen Lehrstuhls zu befürworten; diese Befürwortung wurde jedoch als nicht
zeitgemäß bezeichnet.
Bei diesem Aufenthalte in Moskau wurde Turgeniew mit den Slawophilen
Aksakvw, Kiriewskij, Chominkow bekannt. Das Slawophilentum >var damals
eben erst aufgekommen, hatte soeben begonnen, von seinem Dasein Kunde zu
geben, aber Turgeuiew verhielt sich auch schon damals gegen dasselbe ablehnend.
Der Aufenthalt im Auslande hatte entscheidend aus seine Denkweise eingewirkt:
„Ich hatte mich kopfüber ins »Deutsche Meer« gestürzt, welches mich läutern
und nengebären sollte — sagt er selbst —, und als ich zuletzt ans seinen
Wogen wieder auftauchte, stand ich plötzlich als ein »Westlicher« da, der ich
auch immer blieb." Diese „Verwestlichung," welche für Turgeniew wie für
viele seiner begabten Zeitgenossen eine Folge des Bestrebens war, irgend einen
Ausweg aus jener düstern, äußerst drückenden Lage zu finden, in welcher sich
damals Rußland befand, rettete den jungen Schriftsteller vor dem Schlamme
des Lebens und erhielt in seinem Herzen für alle Zeit die glühende Liebe zur
Heimat, zu ihren besten Kräften und Bestrebungen. Dank diesem „westlichen"
Geiste, stimmte er nach seiner Rückkehr aus dem Auslande vollkommen mit dem
bekannten Moskaner Kreise der „Idealisten der vierziger Jahre," seinen Alters¬
genossen, überein, welchem Granowskij, Bielinskij, Herzen u. a. angehörten. Die
enge geistige Verbindung mit diesen Männern, welche in der Geschichte der all¬
gemeinen Entwicklung Rußlands zweifellose Spuren hinterlassen haben, bewirkte,
daß Turgeniew, ungeachtet der höchst ungünstigen Bedingungen, welche damals
für die russische Literatur bestanden, sich bald mit ganzer Seele der literarischen
Thätigkeit zuwandte, der damals einzig möglichen für einen gebildeten Mann,
welcher seine Kräfte zu nützlicher Arbeit zu verwerten wünschte.
Unterdessen ließ Turgeniew seine Absichten aus die Laufbahn eines Pä¬
dagogen, Professors oder Gelehrten nicht fallen und reiste nach Petersburg.
Hier war er, nach Rücksprache mit seiner Mutter, welche seine Existenzmittel
sehr beschränkte, genötigt, ins „allgemeine Geleise" einzulenken und trat 1842
in den Dienst als Beamter für besondre Aufträge in der Kanzlei des Ministers
des Innern L. A. Perowskij. Vielleicht that er dies auch deshalb, weil, wie
das Beispiel Puschkins beweist, die Abneigung eines Edelmanns gegen den
Dienst als ein Zeichen.von übler Gesinnung augesehen wurde, während dieser
Dienst, nicht nur der militärische, sondern anch der zivile, mitunter für eine
Art Besserungsmittel galt. Der Berliner Hegelianerstudent erwies sich übrigens
als ein nachlässiger und unpünktlicher Beamter; mit dem Dienste beschäftigte
er sich überhaupt nicht, sondern verbrachte die Zeit gewöhnlich mit dem Lesen
von französischen Romanen (George Sand), welche sich in der Kanzlei auf
seinem Tische umhertrieben. Auch schrieb er Verse und erzählte seinen Amts¬
genossen, A. W. Golownin und W. I. Dahl. unermüdlich Anekdoten.
Etwa zwei Jahre und etwas darüber blieb Turgeniew im Dienst (1842 bis
1845); dann verließ er ihn (mit dem Range eines Kollegiensekretärs), um nie
wieder zu ihm zurückzukehren. Nach dem Zeugnisse P, W. Auuenkows zeichnete
sich Turgeniew damals besonders durch verschiedne Scherze aus, welche die
Gesellschaft mit Gerüchten von seiner Überspanntheit erfüllten. Diese Eigen¬
schaft war freilich unter der damaligen fähigen Jugend mehr oder weniger
allgemein; es genügt, an das zu erinnern, waA_in dieser Beziehung von Herzen,
K. Aksakow und ihren Freunden, und später vom Grafen A. K. Tolstoy, den
Gebrüdern Shemtschushuikvw u. a. bekannt geworden ist. Die ungewöhnlich
entwickelte Einbildungskraft Turgeniews spielte dabei eine wichtige Rolle, und
die Erziehung, welche er auf den russischen Universitäten wie auf der Berliner
empfangen hatte, gestattete ihm außerdem, Gegenstände von höchstem Ansehen
zu berühren und über sie mit einer für jene Zeit staunenswerten Kühnheit zu
sprechen. Je ärmlicher und drückender das Leben sich für den jungen Turgeniew
gestaltete, umso freier wurde seine Sprache; je stärker die Schicksalsschläge fielen,
umsomehr wuchs sein Trachten, in seiner Person die romantischen Typen
Manfreds, Childe Harolds ?c., mit denen weder er noch sonst jemand i» Ru߬
land irgend etwas gemein hatte, zu verwirklichen. Herzen, welcher sechs Jahre
älter war als Turgeniew und die stürmische Jugendperiode schon hinter sich
hatte, nannte ihn damals einen xc>8sur und behauptete, daß er ohne Geziert¬
heit nicht einmal essen könne. Aber es verging nur kurze Zeit, und all dieser
jugendliche Übermut legte sich bei ihm unerwartet. Keiner von Turgeniews
Freunden hat bis jetzt mit Bestimmtheit sagen können, wann und wodurch eine
solche Umwandlung vor sich ging; auch er selbst kannte den Zeitpunkt nicht,
von dem an er von der Jugendkrankheit geheilt war. Gewiß ist nur das: zur
Zeit seines Arrestes, im Jahre 1852, war er schon längst ein andrer Mensch.
Als Tnrgeniew noch hinter französischen Romanen in der Kanzlei des Mi¬
nisters des Innern saß, war es ihm schon gelungen, sich als Dichter bekannt
zu machen. In den „Vaterländischen Annalen," welche seit dem Herbst 1841
begannen, erschienen kleinere Gedichte von ihm, von denen viele die Aufmerksam¬
keit des Publikums, soweit es Bildung und Geschmack besaß, auf sich zogen.
Gleich zu Anfang des Jahres 1843 hatte er in besondrer Ausgabe die kleine
Dichtung „Parascha" im Druck erscheinen lassen; sie war mit den Buchstaben
T. L. (Turgeniew-Lutvwinow) gezeichnet. Bielinskij widmete dieser Arbeit des
jungen Dichters einen ziemlich umfassenden Artikel, in welchem er sich über
„Parascha" sehr beifällig aussprach. Bis dahin waren Turgeniew und Bielinskij
einander noch garnicht begegnet. Der Name Bielinskijs war Turgeniew be¬
reits zur Zeit des „Teleskopen" bekannt geworden; Bielinskij war damals selbst
ein großer Romantiker und hatte auf ihn zuerst einen höchst unangenehmen
Eindruck gemacht durch die Kritik der Gedichte Benediktows (die Bielinskij nie¬
mals ausstehen konnte). Turgeniew war durch diese Kritik erregt, weil er selbst
von Bmediktow entzückt war; aber bald darauf hatte er schon seine Meinung
geändert. Seit dieser Zeit interessirte er sich für Bielinskij; er hörte viel von
ihm (u, a, noch von Stankewitsch, mit dem er im letzten Lebensjahre desselben
im Auslande bekannt geworden war, und wünschte sehr, ihm näherzutreten, ob¬
wohl ihm auch wieder die bekannten Aufsätze konservativ-idealer Richtung, welche
Bielinskij um 1840 schrieb, Bedenken machten.
Bald nach dem Erscheinen der „Parascha" führte ein gemeinschaftlicher Be¬
kannter Turgeniew mit Bielinskij zusammen; der junge Schriftsteller und der
Kritiker befreundeten sich und entwarfen in den nun folgenden belebten Unter¬
haltungen gemeinschaftlich die Grundzüge zu einer vernünftigen Weltanschauung,
Turgeniew überraschte Bielinskij angenehm durch die Eigenartigkeit und Selb¬
ständigkeit seiner Ansichten, und half ihm, da er soeben noch an der wahren
Quelle der Hegelschen Philosophie geweilt hatte, wesentlich zur Klärung der
Grundbestimmungen und Folgerungen derselben; andrerseits kann man sagen,
daß der Einfluß Bielinskijs, für welchen Turgeniew bis zum Tode ein dank¬
bares, freundschaftliches Andenken hegte, die fernere Richtung der literarischen
Thätigkeit des Verfassers der „Parascha" entscheidend bestimmte. Von diesem
Gedichte sagte Turgeniew 1868 in seinen „Literarischen und Lebenserinnerungen":
„Mit diesem Gedichte betrat ich (im Jahre 1843) die literarische Laufbahn";
diese währte sonach gerade vierzig Jahre (1843—1883).
„Turgeniew ist ein sehr guter Mensch, und ich habe mich ihm leicht ge¬
nähert" — schrieb Bielinskij damals einem seiner Moskaner Freunde. „Er ist
ein ungewöhnlich verständiger Mensch; die Gespräche und Meinungswcchsel mit
ihm erfreuten mein Herz. ... Es erquickt, einem Menschen zu begegnen, dessen
selbständige und eigenartige Meinung, wenn sie mit der unsrigen zusammenprallt,
Funken sprüht. Turgeniew hat viel Humor. Einmal sagte er bei einem Streite
über die Deutschen zu mir: »Was ist denn euer Russe, der nicht nur seine
Mütze, sondern auch sein Gehirn auf einem Ohre trägt!« Überhaupt, Rußland
hat er begriffen. In allen seinen Urteilen ist Eigenart und Wesen. Er ist ein
Feind alles Unbestimmten."
Turgeniew schloß sich auch rasch und eng an den Kreis der jungen Lite-
raten an, welcher sich um Bielinskij bildete. Zu diesem Kreise gehörten Panajew,
M. A. Jasykow, Knltschitzkij, P. W. Annenkow, früher Bakunin und Katkow,
eine Zeit lang Herzen; etwas später vereinigten sich mit demselben K. D. Kawelin,
Nekrassow, I. A. Gontscharow. D. W. Grigorvwitsch u. a. Die „Vaterlän¬
dischen Annalen," an denen alle diese Schriftsteller lebhaften Anteil nahmen,
erhielten in der Person Turgeniews einen beachtenswerten Mitarbeiter. Er
begann die literarische Thätigkeit als ein vielseitig gebildeter Mann, welcher sich
mit den besten europäischen Schriftstellern im Originale bekannt und sich an der
Quelle die Resultate philosophischen Wissens jener Zeit zu eigen gemacht hatte.
Man kann ohne Übertreibung sagen, daß er im Anfang der vierziger Jahre
einer der gebildetsten russischen Literaten war, und da er den ersten Männern
seiner Zeit nahe stand, damals durch seine vielseitige Bekanntschaft mit der
Wissenschaft und Literatur des Westens auch seinen Einfluß auf dieselben gel¬
tend machte.
Im Frühling des Jahres 1844 reiste Turgeniew einige Zeit auf sein Gut
und traf nach der Rückkehr wiederum mit Bielinskij auf einer Villa in Liäsnoje
zusammen. Hier schlössen sie sich dauernd aneinander und sahen sich fast täglich.
Während ihrer Spaziergänge in den Fichtenhainen, welche die Liäsnojer Anstalt
umgaben, führten die beiden Freunde ausgedehnte Gespräche, wobei ernste Ur¬
teile mit Scherzen wechselten und sie, wie es scheint, gemeinschaftlich das Scherz¬
gedicht „Der Pfaffe" verfaßten, welches nur handschriftlich mit dem Namen
Turgenjews vorhanden ist.
Von allen seinen Gedichten aus den vierziger Jahren*) veröffentlichte Tnr-
geniew, außer „Parascha," nur ein kleines Gedicht „Das Gespräch" in besondrer
Ausgabe, welches 1845 (Se. Petersburg) erschien, und welches zwei kritische
Besprechungen in den „Vaterländischen Annalen" (von Bielinskij) und im „Fin¬
nischen Boten" hervorrief. Obgleich diese ersten Anläufe jugendlicher Begeiste¬
rung, welche Turgeniew selbst später nicht anerkannte, und welche er bei Leb¬
zeiten in eine Gesamtausgabe seiner Werke aufzunehmen sich hartnäckig weigerte,
nichts zu den Lorberen beitragen konnten, welche ihn als ersten Belletristen der
Gegenwart schmücken, zeichnen sich doch viele derselben durch großen dichterischen
Wert aus.
Die erste Prosaarbeit Turgeniews, welche vor vierzig Jahren im Druck
erschien, war eine dramatische Skizze in einem Aufzuge, nach einem spanischen
Stoffe, unter dem Titel „Unvorsichtigkeit," welche in die „Vaterländischen An¬
nalen" von 1843 (Ur. 10) aufgenommen wurde. Dann wurde im folgenden
Jahre, 1344, in demselben Journale seine erste Erzählung „Andreas Kolossow"
abgedruckt; in dem von Nekrassow herausgegebenen „Petersburger Sammler"
(1846) ein ziemlich großes humoristisches Gedicht „Der Gutsbesitzer," illustrirt
von dem Künstler Aginij, und die Erzählung „Drei Porträts"; im ersten Hefte
der „Vaterländischen Annalen" von 1847 die Erzählung „Der Raufbold." Die
erste dieser Erzählungen hatte beim Publikum keinen großen Erfolg und ging,
kann man sagen, fast unbemerkt vorüber; dagegen erregten die beiden andern
allgemeine Aufmerksamkeit. Schließlich erschien im ersten Hefte des von Ne¬
krassow und Panajew neuaufgelegten „Zeitgenossen," 1847, an sehr bescheidner
Stelle, in der Abteilung „Vermischtes," neben der kleinen Erzählung Dostojewskis
„Ein Roman in zehn Briefen" und den gereimten Parodien eines Neupoeten:
„Chor und Kalinitsch," die erste Erzählung aus den „Aufzeichnungen eines
Jägers." Mit dieser Erzählung, welche von tiefem Mitgefühl für das Dasein
der Bauern durchdrungen ist, nimmt das Talent Turgeniews sozusagen eine
neue Richtung. Er wendet sich vollständig von der gebundenen Rede ab und
wählt zum Gegenstande die bäuerliche Lebensweise mit ihren Nöten und Kümmer¬
nissen.
Nach der ersten Erzählung aus den „Aufzeichnungen eines Jägers" erschien
eine lange Reihe andrer, welche ebenfalls im „Zeitgenossen" (1847—1861) ge¬
druckt wurden und den einmütiger, begeisterten Beifall der Kritik und des Pu¬
blikums fanden. Alles unterhielt sich über die neuen Erzeugnisse des unbekannten
Verfassers; jeder wollte den Namen des Schriftstellers wissen, der sich hinter
den geheimnisvollen Buchstaben T. L. verbarg. Es versteht sich von selbst,
daß diese bescheidne Unterschrift nicht lange ein Geheimnis bleiben konnte; sie
wurde bald enträtselt, und der Name I. S. Turgeniew wurde jedem russischen
Leser wert. Seit dieser Zeit beginnt der außerordentliche Erfolg der Schriften
Turgeniews, welcher ihm rasch den ersten Platz unter den berühmten russischen
Schriftstellern der vierziger und der fünfziger Jahre einräumte.
Als „Chor und Kalinitsch" gedruckt wurde, befand sich Turgeniew schon
im Auslande. Von seiner frühern schriftstellerischen Thätigkeit nicht befriedigt,
hatte er bei der Abreise aus Rußland daran gedacht, die Schriftstellerei ganz
aufzugeben; aber der unerwartete Erfolg dieser Skizze aus den „Aufzeichnungen
eines Jägers" gab ihn der Literatur zurück und trieb ihn an, die „Aufzeich¬
nungen" fortzusetzen. Der große Ruf, den der junge Schriftsteller erlangt hatte,
konnte ihn indes nicht mit dem Rußland aus dem Ende der vierziger Jahre
aussöhnen; wenn er nur an das Leben in der Heimat dachte, wurde ihm so
beklommen ums Herz, daß er im Jahre 1848, nachdem Bielinskij gestorben war,
den er ein Jahr vorher auf einer Auslandsreise begleitet hatte, völlig entschlossen
war, Rußland zu verlassen und sich für immer im Auslande niederzulassen.
Das kummervolle Gefühl, welches ihn bei dem Gedanken an diesen Entschluß
unwillkürlich beherrschte, drückt sich auch in einem großen Teile der „Aufzeich¬
nungen eines Jägers" aus (welche hauptsächlich in Paris geschrieben sind);
besonders auffällig ist diese Stimmung in den Beschreibungen und Bildern der
heimischen Natur, welche Turgeniew nicht mehr wiederzusehen glaubte. Er be¬
merkt auch selbst in seinen Erinnerungen: „Ich würde wohl die »Aufzeich¬
nungen eines Jägers« nicht geschrieben haben, wenn ich in Rußland geblieben
wäre," und er hat in dieser Beziehung eine auffällige Ähnlichkeit mit Gogol,
welcher fast zu derselben Zeit die besten Seiten seiner „Toten Seelen" — gleich¬
falls „aus schöner Ferne" — schrieb.
Gegen Ende des Jahres 1860 war Turgeniew durch die Nachricht von
dem Tode seiner Mutter, welche damals in schon vorgerücktem Alter starb (sie
war etwa siebzig Jahre alt), genötigt, zur Regelung seiner Angelegenheiten nach
Rußland zurückzukehren. Als er auf dem väterlichen Gute, welches ihm gemein¬
schaftlich mit seinem Bruder Nikolaus zugefallen war, anlangte, schenkte er so¬
fort allen seinen Hofleuten die Freiheit, setzte diejenigen Bauern, welche es
wünschten, auf Zins und trug auf alle mögliche Weise zu dem Erfolge einer
allgemeinen Befreiung bei. Und später, im Jahre 1861, bei der Ablösung, er¬
ließ er überall den fünften Teil und nahm auf dem Hauptgute für die Län¬
dereien abgesonderter Höfe nichts, was ein ziemlich beträchtliches Opfer für ihn
bildete.
Im Jahre 1851 lebte Turgeniew auf feinem Gute, dann in Moskau, dann
in Petersburg, wobei er die „Aufzeichnungen eines Jägers" fortsetzte. Im
Anfange des Jahres 1852 sammelte er alle diese einzelnen Skizzen, welche im
Laufe von fünf Jahren gedruckt worden waren, und gab sie in Moskau in zwei
Teilen heraus. Diese Ausgabe, welche bedeutenden Erfolg hatte, befestigte
einerseits den literarischen Ruf Turgeniews und verschaffte ihm neue Leser und
Verehrer, erregte aber andrerseits in der amtlichen Welt eine heftige Unzufrieden¬
heit gegen ihn. Die damals öffentlich verkündigte amtliche „Volkstümlichkeit,"
worunter bekanntlich das Lcibeignenrecht verstanden wurde, welches als einer
der Grundpfeiler der russischen Staats- und sozialen Ordnung angesehen wurde,
mußte in Turgeniew ihren mächtigen Feind erblicken. In literarischen Kreisen
ging damals das Gerücht, daß der Moskaner Zensor, Fürst Lwow, namentlich
deshalb aus seinem Amte entlassen würde, weil er die besondre Ausgabe der
„Aufzeichnungen eines Jägers" zugelassen hätte. Hierzu kam als erschwerender
Umstand der lange Aufenthalt Turgeniews im Auslande, besonders in Paris,
und noch dazu im Jahre 1848, sowie auch seine engen Beziehungen zu Per¬
sönlichkeiten, welche schon lange in „schlechten Kredit" standen. Ein an und
für sich bedeutungsloser Umstand diente sozusagen als Tropfen, um das Gefäß
amtlicher Gereiztheit zum Überlaufen zu bringen. Im März des Jahres 1852
wurde Turgeniew nach dem bekannten Briefe bei dem Tode Gogols, welcher
in den Moskaner Nachrichten mit Genehmigung der Zensur abgedruckt wurde,
nachdem er von dem Vorsitzenden des Petersburger Zeusuramts, Mussin-Puschkin,
der Gogol persönlich nicht leiden konnte, verboten worden war, für einen Monat
in „Polizeigewahrsam" festgesetzt. Hier würde er die ganze, zu seiner „Recht¬
fertigung" bestimmte Zeit haben aushalten müssen, wenn ihm nicht das Schicksal
in der Person der beiden Töchter des ihn beaufsichtigenden Distriktsbeamten
Retterinnen geschickt hätte. Diese beiden Mädchen erwiesen sich als Ver¬
ehrerinnen seines Talents, und nachdem sie erfahren, daß dieser anziehende
Schriftsteller im Distrikte in Haft sei, freuten sie sich über die Gelegenheit,
mit ihm bekannt zu werden und baten ihren Vater, ihm Unterkunft in ihrer
Wohnung zu gewähren. Hier verlebte Turgeniew denn auch zwei, drei Wochen;
seine Muße benutzend schrieb er während seiner Haft die Erzählung „Mumu."
Der Vorfall mit Turgeniew machte in der damaligen Petersburger Welt
durchaus keinen besondern Eindruck. Sogar der Ort der Einsperrung des
Literaten — der „Polizeigewahrsam" — erschien vielen nur spaßhaft, und
viele scherzten und witzelten darüber. Die Petersburger Gesellschaft verhielt
sich damals der Mehrzahl nach vollkommen gleichgiltig gegen die russische
Literatur überhaupt. Nach den Unannehmlichkeiten, welche Turgeniew persönlich
in der Angelegenheit Gogol erfahren hatte, scheute man sich lange Zeit, ihn
in der Presse auch nur zu nennen und gebrauchte statt dessen den Ausdruck:
„der bekannte Schriftsteller."
Nach seiner Befreiung aus der Haft wurde Turgeniew im Verwaltungs¬
wege zum Aufenthalte auf seinem Landgute Spaßkoje verbannt, „ohne das
Recht zu Reisen," was ihn übrigens nicht hinderte, sich während seiner Ver¬
bannung einigemale nach Moskau zu begeben. Diese Verbannung zog sich bis
an das Ende des Jahres 18S4 hin. Zur Befreiung Turgenjews trugen be¬
sonders Graf A. K. Tolstoy (der bekannte Dichter), welcher sich für ihn beim
Thronfolger verwandte, und Frau A. O. Ssmirnvw (geb. Rossctte) bei, welche
von Puschkin und vom Fürsten Wiäsemskij besungen worden war und von
letzterem Mtrs-Ilaws su onst as 1a littsrawrö rü8hö genannt wurde. Durch
die Bemühungen dieser Personen wurde Turgeniew volle Freiheit der Bewegung
wiedergegeben, welche er auch sofort dazu benutzte, ins Ausland zu reisen.
Während seiner Verbannung ans dem Gute ließ Turgeniew seine literarische
Thätigkeit nicht ruhen; im Gegenteil, die unfreiwillige Einsamkeit nötigte ihn,
sich zu geistiger Arbeit zu sammeln. Abgesehen von der Jagd, auf der er
Zerstreuung suchte, beschäftigte er sich in seiner reichhaltigen Bibliothek, welche
eine kostbare Sammlung von Büchern über Geschichte, Philosophie und Literatur
der alten und neuen Sprachen darstellte. In den Bestand dieser Sammlung
war u. a. die ganze Bibliothek Bielinskijs übergegangen, welche Turgeniew nach
dem Tode des berühmten Kritikers gekauft hatte. Der Aufenthalt in der Haft
und auf dem Gute gereichte Turgeniew nach eignem Geständnisse zum Nutzen,
weil er ihn mit Seiten des russischen Lebens vertraut machte, welche im gewöhn¬
lichen Laufe der Dinge wahrscheinlich seiner Aufmerksamkeit entgangen wären;
es ist kein Zweifel, daß sich sein Talent in dieser Zeit kräftigte und entwickelte.
Turgeniew schrieb auf seinem Gute die Erzählungen „Die beiden Freunde" und
„Stillleben"; kritische Aufsätze über S. T. Msakows „Aufzeichnungen eines
Waffenliebhabers" und über die Gedichte Tiutschews; ferner den Anfang der
Komödie „Ein Monat auf dem Lande," deren Ende er später, im Dezember
1854, kurz nach seiner Rückkehr nach Petersburg verfaßte. Alle diese Arbeiten
erschienen im „Zeitgenossen" (1854—1855). Dann brachte das vierte Heft der
„Vaterländischen Annalen" von 1855 eine neue Erzählung von ihm: „Jakob
Passinkow"; in S. T, Aksakvws „Erzählungen und Erinnerungen eines-Jägers"
wurde der Artikel „Über die Nachtigallen" in Form einer Beilage aufgenommen;
im elften Hefte des „Zeitgenossen" die Erzählung „Der Gasthof" und „Zwei
Worte über Granowskij." (Schluß folgt.)
'>5?<^s giebt bekanntlich offene Kunstverächter, nüchterne Köpfe, die
Izwar an ihrem Platze brav und redlich das ihrige thun, denen
'aber die Natur das spezifische Organ vorenthalten hat, ver¬
mittelst dessen es allein möglich ist, die Werke der reinen Schön-
heit zu verstehen und aus ihnen geistigen Nutzen zu ziehe».
Gelegentlich rekrutiren sich aus ihren Kreisen die tollen Gesellen, welche in
Tempel und Bibliotheken die Brandfackel werfen und einen Bildersturm arran-
giren; in ruhigen Zeiten sind sie jedoch ungefährlich. Viel mehr als durch sie
wird Wirkung und Entwicklung der Kunst durch ihre falschen Freunde gehemmt
und geschädigt, durch einen Troß von Spekulanten und Narren, die sich in der
Öffentlichkeit lärmend als Priester der Kunst geriren.
In der Musik, als der zur Zeit verbreiterten Kunst, ist auch die Zahl
dieser falschen Freunde am größten. Sie lärmen vordringlich um sie herum
und sind in erster Reihe daran schuld, wenn Mißbräuche und Vorurteile, von
denen wir die Pflege der edeln Tonkunst begleitet sehen, nicht als solche erkannt
werden. Wir können hier nur vor einem Teil des gemeinschädlichem Musik¬
unfuges warnen. Um aber dabei der gründlichen Methode doch wenigstens
unsern Respekt zu erweisen, beginnen wir ad ovo, d. i. mit der musikalischen
Erziehung.
In den Jnseratenspalten unsrer großen und mittlern Lokalblätter findet
sich eine in der Regel gutbesetzte Rubrik, in der gebrauchte Klaviere angeboten
oder „gefragt" werden. Wer sich einmal die Mühe nimmt, eine solche zer¬
streute Ausstellung in Augenschein zu nehmen, wird darüber erstaunen, wie
groß unter der Menge der angebotenen Instrumente die Zahl der wirklich ausge¬
dienter ist. Längst erloschene Firmen (Wiener), aufgegebene Formen tauchen
auf, und unter den modernen Pianinos erscheinen Exemplare von mitleidswerter
Altersschwäche. Ihre Tasten hinken und sinken, kein Stimmstock steht mehr fest
genug, um Saite und Ton zu halten. Und doch werden viele dieser ehrwürdigen
Kandidaten für musikalische Altertumsmuseen immer noch einmal im Dienst
gestellt. Für wen wohl? „Nur für Mariechen, Karlchen ze." „Es" — oder
auch „man" drängt die lieben Kleinen zur Musik. Da lautet nun eine alte
Tradition: „Für Anfänger braucht man kein so gutes Instrument." Das soll
vernünftigerweise heißen: keins von der Sorte zu tausend und fünfzehnhundert
Thalern, wie sie für den Gebrauch in großen Konzertsälen verwendet werden.
Aber leider machen viele Eltern daraus: ein schlechtes Instrument genügt.
Damit Wird das junge Tontalent ruinirt, wenn es nur schwach ist, und das
starke mindestens gefährdet; das Geld aber ist hinausgeworfen. Dem gegen¬
über machen wir darauf aufmerksam, daß die Anschaffung eines brauchbaren,
neuen Instruments in neuerer Zeit sehr erleichtert ist, indem viele Fabrikanten
und Händler gegen kleine und bequeme Ratenzahlungen verkaufen. Auch wäre
für die reinen Fingerzwecke die allgemeine Einführung stummer Klaviaturen zu
empfehlen. Das würde eine Wohlthat für die väterliche Kasse und auch für die
Hausgenossen der angehenden Kunstjünger sein. Wir würden noch an die
kleinen tragbaren Klaviere erinnern, welche im 17. und 18. Jahrhundert für
den Privatgebrauch gebaut und benutzt wurden, wenn wir für derartige Vor¬
schläge bei den Jnstrumentenbauern ein geneigtes Gehör voraussetzen dürften.
Bei diesen aber steht zur Zeit nichts fester als die Idee, daß ein rechtschaffenes
Klavier unter sieben Oktaven nicht zu denken sei. Unser Pianofortebau hat
im letzten Jahrhundert in Bezug auf Größe und Modulationsfähigkeit des
Baues erstaunliche Fortschritte gemacht, die ausschließliche Verfolgung dieses
Zieles hat aber auch eine Kalamität hervorgerufen, unter welcher das Publikum
stark anleitet. Auf keinem Gebiete der Industrie kann der „Kampf ums
Dasein" stärker wüten als in der gegenwärtigen Pianofortefabrikation. Da
alle dieselbe Straße ziehen, so ist der Platz sehr schmal geworden. Wer vor¬
wärts kommen will, braucht eine Unterstützung von der Seite her; auch die
tüchtigsten und genialsten Klavicrfabrikanten können der Reklame und der Agi¬
tation der Presse nicht entraten. Daß deren Gunst aber immer auf den
würdigsten fiele, kann man nicht verlangen.
Vor einigen Jahren that sich in einer sächsischen Residenzstadt eine neue
Pianofortefabrik mit größtem Pomp auf. Bis in die kleinsten Winkelstädtchen
des musikalischen Deutschlands waren die Prospekte des neuen Etablissements
verbreitet worden, am Orte selbst führte Herr Levysohn — wie wir ihn nennen
wollen — einen Hauptkoup dadurch aus, daß er einen eignen und schönen
Konzertsaal einrichten ließ, der den Klaviervirtuosen gratis zur Verfügung ge¬
stellt wurde, natürlich mit dem Vorbehalt, daß sie Instrumente von Levysohn
spielten. Die Zeitungen der Residenz brachten wenn nicht tägliche, so doch wenigstens
wöchentliche, die auswärtigen Journale und Lokalblätter monatliche Bülletins
über die glänzende Entwicklung der Firma Levysohn. Der Erfolg blieb auch
nicht aus. In jeder Stadt bemühte sich ein oder der andre Pianofortehändler
um die Vertretung von Levysohn; war in einem Hause Bedarf nach einem
neuen Klavier, so wurde der Musiklehrer über die phänomenalen Erzeugnisse des
Hauses L, interpellirt, L. würde heute unter den „Spitzen der Klavierfabri¬
kation" der Unsterblichkeit sicher sein, wenn er neben seinen großen geschäftlichen
Fähigkeiten noch das kleine Talent besessen hätte, auf die Haltbarkeit seiner
Instrumente zu sehen. Dem war aber nicht so, und darum endete die junge
Herrlichkeit schnell mit einem eklatanten Bankrott.
Wer auch die soliden Pianofortebauer greifen zu exorbitanten Mitteln.
Kleine Anzapfungen der Konkurrenten in der Presse wollen wir nicht anrechnen;
sie sind vielleicht wenig kostspielig. Die üblichen Schenkungen von Pracht¬
instrumenten an berühmte Künstler und ganzer Garnituren von Flügeln an
Konservatorien und Musikschulen geben schon eine bessere Perspektive auf den
Geschäftsaufwand der Firmen, welche der Rubrik der „renommirten" zustreben.
Von dem Leiter einer endlich und auch verdientermaßen hochberühmt gewordnen
Pianofortefabrik geht die verbürgte Sage, daß er, um seine Instrumente bekannt
zu machen, die Administration eines notleidenden Konzertinstituts und die Deckung
des von diesem alljährlich produzirten nicht unbeträchtlichen Defizits auf sich
genommen habe. Die befreundeten Reporter haben nicht versäumt, den Fabri¬
kanten ob dieser Uneigennützigkeit nach Gebühr zu preisen und als einen edeln,
wahren Mäcen der Kunst zu feiern.
Einzelne Fabrikanten hat die Sehnsucht, das Interesse des Publikums auf
sich zu ziehen, auf gute Erfindungen gebracht, aber auch auf barocke Einfälle.
Der Ausstattungsteil der Instrumente ist im Durchschnitte ein viel zu luxuriöser,
und nicht mit Unrecht werden die Pianinos von manchen Spöttern als Möbel
und nicht als Musikinstrumente kritisirt.
Wenn es so fortgeht wie bisher, wird in dreißig bis fünfzig Jahren die
gesamte Pianofortefabrikation einem Dutzend Weltfirmen zugefallen sein, die sich
dann untereinander aufzehren mögen. Mit Bedauern haben wir im letzten
Jahrzehnt die Beobachtung gemacht, daß eine alte, solide Firma um die andre
den Betrieb eingestellt hat, weil sie um der großen Matadore willen von den
laufenden Kreisen vernachlässigt wurden. „Internationale Bedeutung" ist das
stille Losungswort in den Kreisen der Fabrikanten, und durch Medaillen und
Ausstellungsprämien nähert man sich am kräftigsten der Erfüllung dieses Herzens¬
wunsches. Musikalische Preisrichter haben einen schweren Stand gegenüber den
versuchten Freundschaftsbezeugungen der Klavierfabrikanten, die je nach Bildung
bald feiner, bald plumper zu Werke gehen. Ich will nicht sagen, daß man den
Diplomen, welche Fabrikanten von Ausstellungen heimbringen, prinzipiell mit
Mißtrauen begegnen solle. Man lege aber auch nicht unbedingten Wert darauf.
Bei einer großen internationalen Ausstellung im Jahre 187? waren sür Klaviere
drei erste Preise festgesetzt. Um diese drei Diplome stritt die vielköpfige Jury
so hartnäckig nach dem Grundsatze „Haust du meinen Juden, hau' ich deinen
Juden," daß, um zu einem Ende zu gelangen, der Ausstellungskommission
nichts übrig blieb als die Zahl der ersten Preise zu vermehren und sie der
Ziffer der Preisrichter gleichzumachen. In der Pianofortefabrikation wird
auf Leben und Tod um den Vortritt gekämpft — das scheint ausgemacht. Wer
aber bezahlt die Kriegskosten? Das verehrte Publikum. Kaum ist es über¬
trieben, wenn man annimmt, daß der Privatmann sein Klavier durchschnittlich
um 2Y0 Mark zu teuer kauft. Diese Summe scheint eher zu niedrig gegriffen.
Sie repräsentirt den Reingewinn, welchen die Besitzer der Pianofortemagazine
und andre Zwischenhändler pro Instrument einheimsen. Ein schönes Geschäft —
also! Zuweilen zahlen die Fabrikanten auch die nämliche Summe an Musik¬
lehrer und andre Fachleute von Einfluß für die bloße Rekommandation! Auf
diese Weise erklärt es sich, daß, obgleich die Herstellungskosten im Laufe der
letzten 150 Jahre sich bedeutend verringert haben, der Preis der Klavier¬
instrumente noch genau so hoch ist wie in der Zeit Gottfried Silbermanns!
Wie sich das Publikum gegen diese Übervorteilung schützen soll, wissen wir nicht
anzugeben. Gut ist es, wenn es Kenntnis von der Lage der Dinge erhält.
Kehren wir inzwischen zu unserm Thema von der ersten musikalischen
Erziehung zurück. Ebenso wie mit den Instrumenten vergreift sich ein beträcht¬
licher Teil den Eltern in der Wahl der ersten Lehrer. Insonderheit gehört der
Klavierunterricht für Anfänger unter diejenigen Leistungen, welche an die Mindest¬
fordernden vergeben werden. Vor vierzig, fünfzig Jahren zahlte man für eine
solche Stunde fünfundzwanzig Pfennige, in kleinen Städten einen Sechser oder
einen Schilling. Mit der Zeit ist dieser Honorarsatz vorwärts geschritten und
schwankt augenblicklich nach unsern Ermittelungen zwischen einer halben und
anderthalber Mark. Wer den genannten Maximalbetrag anlegen will, findet
geschulte Klavierlehrer zu seinen Diensten, da viele Konservatorien in neuerer
Zeit eigne Kurse eingerichtet haben, in welchen den Zöglingen die für den
Unterricht von Anfängern nötige Methodik gelehrt wird. Wer durch sein
Budget auf billigere Kräfte verwiesen wird, halte unter Orchestermnsikern und
Konservatoristen Umschau nach geeigneten Kräften. In Orten, wo Seminarien
und Schülcrchöre bestehen, giebt es unter den gereiftern Angehörigen dieser
Institute manches musikalische Lumer, dem man den ersten Unterricht getrost
anvertrauen darf. Große Vorsicht hingegen empfehlen wir bei der Bestellung
von Damen. Das ist sehr ungalant und anscheinend auch ungerecht. Gewiß
ist der Prozentsatz guter Musiklehrcrinnen in der neuen Zeit erfreulich gewachsen,
aber immer noch ein großer Rest von Pfuscherinnen schlimmster Art übrig.
Unmusikalische Eltern greifen mit Vorliebe nach ihnen. Sie haben soviel ge¬
winnendes und verstehen es, den Unterricht anfangs so „angenehm" zu machen!
Keine Spur von Skalen, Fingerübungen und andern pedantischen Plagereicn!
Nur schöne Stückchen, namentlich die so beliebten Transskriptionen, Fantasien
und Potpourris, aus einer sentimentalen Melodie mit fadem Figurenputz bestehend.
Gewöhnlich werden im Laufe des Jahres zwei solcher Meisterwerke bewältigt,
eine „Überraschung" für Mama und Papa zum Geburtstage. Dann und wann
haben auch die Mütter die Ehre, ihre Töchterchen in einem „Schülerkonzert"
bewundert zu sehen. Fatal ist nur bei diesem Unterricht, daß das Interesse der
Schülerinnen abnimmt, statt zu wachsen. Bei Beginn der Tanzzeit hängen sie
das Klavierspiel völlig an den Nagel und wollen von Musik nichts mehr wissen.
Höchstens gehen sie unter die Kritiker, besuchen die Konzerte nicht aus innerem
Kunstbedürfnis, sondern weil es so Brauch ist und einen ausgiebigen Stoff zur
Unterhaltung für die Thee- und Kaffeegesellschaften abgiebt.
Unter zehn jungen Damen, die scheinbar ein musikalisches Gespräch führen,
wird mau kaum eine vergeblich nach dem augenblicklichen Aufenthalte von
Teresina Tua fragen, aber wahrscheinlich alle vergeblich nach dem Anfang von
Schuberts „Wandrer" oder „Erlkönig," dem Anfang der „Don Juan"-
Ouvertüre u, s, w. Diese Thatsache ist ziemlich charakteristisch. Sie wirft ein
Licht auf die ungeheuerliche Position, welche der Kunstklatsch im gesellschaftlichen
Leben einnimmt. Die Zeitungen füllen ihr „Vermischtes" Woche für Woche mit
Anekdoten und winzigen Notizen über allerhand Virtuosen. Heute lesen wir
einen Kalauer des berühmten Klavierspielers und Konzertredners v. B., morgen
einen kleinen Aufsatz über das „Leiblied" der Frau Luccci. Es ist darnach! Wie
kann man dem Publikum solche Nichtigkeiten bieten, und wie kommen verständige
Redakteure dazu, dieser demoralisirenden Unsitte fortwährend Vorschub zu leisten?
Sie muß dahin führen, daß die Grenzlinie zwischen Künstlern und Gauklern
verwischt wird. Schiller ruft den Künstlern zu: „Der Menschheit Würde ist in
eure Hand gegeben — bewahret sie!" Die Künstler vom Theater und von
der Musik scheine» aber vielfach Not damit zu haben, daß sie nur die eigne
Würde bewahren. Es ist keine Seltenheit mehr, daß (jüdische) Konzert¬
agentinnen junge Sängerinnen und Pianistinnen mit Berufung auf die äußere
Erscheinung der Damen empfehlen, dem Rezensionshefte ist die Photographie
vorgedruckt. Ein Herr Jujußz hat die Geschichte des Neumannschen „Waguer-
theaters" geschrieben. Sie besteht aus einer Reihe von Berichten über das
Auftreten der Gesellschaft in den einzelnen Städten, die im gemeinsten Rezen-
sentcnjargon verfaßt sind. Dieser noble Geschichtschreiber, welcher inzwischen
auch Theaterdirektor geworden ist, hat sich entblödet, eine größere Anzahl seiner
Kuustberichte damit einzuleiten, wie die Reicher-Kindermann „ausgesehen," was
sie für Stoffe getragen habe ze. Wir haben bis jetzt aber nur Lobenswertes
über das schamlose Machwerk gelesen — wohl möglich, daß es im Publikum
starken Absatz gefunden hat. Denn das Publikum scheint das Gefühl für dieses
unwürdige Treiben verloren zu haben. Es bevorzugt entschieden die sentimen¬
tale, sensationelle und phrasenhafte Kunstliteratur. Diejenigen Musikzeituugen,
welche den Notizenkram am ärgsten treiben, sind die gelesensten. Eine vor wenig
Jahren erst gegründete macht das Novellen- und Anekdotengenre zu ihrer
Spezialität. Die Parole ist hierbei: Romantisch um jeden Preis. Eine Nummer
dieses Blattes teilte neulich „Züge aus dem Leben" eines berühmten Tenoristen
mit. Der betreffende Sänger war Mediziner, ehe er zur Bühne überging; es
macht sich aber effektvoller, wenn er Schneider gewesen wäre, und so macht
ihn jener Aufsatz zum Schneider. Als ständige Wohnung wird dem Künstler
das Schuldgefäugnis angedichtet, und der regelmäßige Bezug seines Kleingeldes
erfolgt durch Gewaltstreiche. Der Sänger lebt noch, kann also jeden Tag
dieser Karikatur seines Künstlerlebens ein Dementi entgegensetzen. Wenn nun
mit dem grünen Holze so umgegangen wird, kann man sich einen Begriff davon
machen, wie die Darstellungen der Personen und Ereignisse ausfallen, welche
ältern Perioden angehören. Nach dieser Auffassung sind die großen Tonwerke
alle die Resultate von Lebenskatastrophen ihrer Schöpfer; keine Mondschcinsonate
ohne eine tüchtige Liebschaft, kein Ltabat »Mehr ohne einen politischen
Mord. Die Phantasie der guten Elise Polko hat die Musikgeschichte mit
Astorgagestalten und Faustinen reichlich bevölkert. Wir hätten aber doch
im Leben nicht erwartet, daß diese kindliche Geschichtsverfälschung noch
heute lebensfähig sein und gar noch Schule machen könnte. Und doch
ist es so. Eben ergeht ein Preisausschreiben für eine musikalische Novelle
im Polkostile (unter den Preisrichtern ist Felix Dahn!), und die betreffende
Musikzeitung hat in der kurzen Zeit ihres Bestehens 40000 Abonnenten
gefunden. Das Gegenstück dazu: in derselben Zeit ging die gediegne „All¬
gemeine Musikalische Zeitung," welche von F. Chrysander redigirt und zur Hälfte
selbst geschrieben wurde, ein. Wie viele unter jenen vierzigtausend mögen zum
schönen Geschlechte zählen? Damen sollen gerne lesen, was von Damen ge¬
schrieben ist. Daraus erklären sich wohl auch die mehrfachen Auflagen gewisser
Leipziger „Musikalischen Studienköpfe," die einander über Gebühr ähneln. Frau
Essipoff und Frau Schumann sind kaum von einander zu unterscheiden. Liszt
erhält das übergerüttclte Maß von Bewunderung wie S. Bach. Aber man
findet sie „schön geschrieben." Was der schöne Stil doch alles bemäntelt! Er
hat etwas Fascinirendes. Es giebt Musterkritiker, die seit zwanzig Jahren kein
vernünftiges Urteil mehr produzirt haben, aber die „Schönheit" ihrer Sprache
scheint sie unsterblich zu machen. Sie füllen ganze Provinzen mit den Ab¬
legern ihrer Eloquenz — weit in Hinterpommern lasen wir in einem Konzert¬
bericht von dem gepanzerten Rüstzeug eines Tenoristen — das soll heißen von
der starken Stimme — getreu nach dem Berliner Muster. Ein gutes Drittel
sämtlicher musikalischen Lokalreferenten schreibt: „Fast unmöglich will es uns
dünken" statt: „Es will uns fast unmöglich dünken" — getreu nach dem Ber¬
liner Muster.
Auf die xg-reif Iiontsuss des musikalischen Referententums hat im Sommer
dieses Jahres der Prozeß Hartmann in Dresden ein grelles Licht geworfen.
Welches Maß sittlicher Niedrigkeit auf beiden Seiten, auf der des Bestechlichen
und der der Bestecher! Es ist sehr wahrscheinlich, daß jener Ehrenmann sich
mit dem Gefühle trösten kann: „Andre sind nicht besser als ich." Andre bringen
ja zu dem gleichen Defekt an Charakter noch ein ebenso großes Manko an Bil¬
dung und Kenntnissen mit. Vor uus liegt eine kleine Blütenlese von Ausbrüchen
der Unwissenheit aus Musikberichten, in verschiednen Städten Deutschlands aus
den Spalten der Tagesblätter gesammelt. Da wird Bachs Weihnachtsora¬
torium für melodielos erklärt, an einer andern Stelle wünscht der Radamanthus
statt der Ouvertüre Beethovens „Zur Weihe des Hauses" lieber eins von den
letztern Werken dieses Meisters zu hören — und jene ist doch oxus 124. Ein
andrer konstatirt, daß ein Sänger fortwährend um ^ Ton detonirt habe —
beneidenswertes Ohr! Aus allerhand Büchern gestohlene Sätze mit eignen
Redensarten verbunden, aus denen die Blöße hervorsieht. Und namentlich ein
Lokalpatriotismus von erstaunlicher Macht! Wie viele Tonkünstler, Sänger,
Klavierspieler ersten und allerersten Ranges müßten in Deutschland leben, wenn
alle diejenigen in die Kategorie der Ausgezeichneten gehörten, die am Orte ihres
Wirkens von den befreundeten Referenten dafür erklärt werden. Wir wollen
uicht das Kind mit dem Bade ausschütten und den Anschein erwecken, als sei
von der musikalischen Lokalkritik prinzipiell nichts zu halten. Nur an die Re¬
daktionen der Tagesblütter möchten wir die Bitte richten, sich ihre Leute
nach Charakter und Intelligenz, allgemeiner und Fachintelligenz, einmal etwas
näher anzusehen. Bäckermeister, Milchhändler, Studenten, aktive Musikalien¬
händler, stellenlose Kaufmannsgehilfen u. s. w. scheinen uns doch nicht die ge¬
eigneten und berufenen Kräfte zu sein.
n den Tagesbefehlen über die Einreihung der Herren Sezessio-
nisten in das Regiment Richter-Mameluken fand ich auch den
Namen des Herrn Wigard, von dem ich geglaubt hatte, er er¬
teile längst den lieben Engelein Unterricht in der Stenographie;
und er lebt nicht nur, er hat auch nach seiner feierlichen Erklärung
seit 1848 nichts gelernt und nichts vergessen. Wie doch ein Name plötzlich
eine ganze Zeit vor uns lebendig machen kann! Und als in langer Reihe die
bunten Gestalten aus den Flitterwochen des Frankfurter Parlaments an mir
vorüberzogen, da seufzte ich, wie schon so häufig: „O, daß in dem Drange der
Ereignisse der würdige Abgeordnete Piepmayer so schnell unverdienter Ver¬
gessenheit überantwortet worden ist, dessen in lustigen Zeichnungen dargestellte
Leben und Thaten doch alles Reelle waren, was mancher zur Rettung Deutsch¬
lands ausgezogene mit heimbrachte!" schwermütig las ich weiter, und die
Zeitung versagte mir nicht den Trost. Ja ja, er lebt noch — oder wenn nicht
er selbst, eine zahlreiche, des Ahnherrn würdige Nachkommenschaft. Piepmayer
ist unsterblich. Die Jnterpellation des Abgeordneten Zelle und die Rede seines
Kollegen Hänel scheinen wörtlich aus Piepmayers hinterlassenen Papieren ab-
geschrieben zu sein; denn nie war der Unvergeßliche größer, als wenn er den
Reichsministern ohne Reich die Frage zudonnerte, ob ihnen bekannt sei, daß
in Krähwinkel ein angesehener Staatsbürger und Demokrat von einem ver¬
tierten Söldling ein Esel geheißen worden sei, und wenn diese Greuelthat ihnen
bekannt, was sie angeordnet hätten, damit der Verbrecher der verdienten Strafe
zugeführt und in Zukunft dergleichen Verletzungen ver Menschenrechte unmöglich
gemacht würden? Daß Piepmaher es nicht für nötig hielt, die Konfession des
also mißhandelten zu erwähnen, wollen wir ihm nicht anrechnen, denn der
Paragraph von der Verweigerung der den Juden schuldigen Ehrfurcht fehlte
damals noch im liberalen Strafgesetzbuche. Und diesen Paragraphen scheine»
diejenigen zu übersehen, welche die Befürchtung aussprechen, fortan werde jede
Schlägerei, bei welcher ein Zeitungsreporter jemand ohnmächtig werden läßt,
Verhandlungsstoff für die gesetzgebende Versammlung bieten. So ist es ja
nicht gemeint, es kommt immer darauf an, wer die Schläge bekomme» hat.
Weil ein Jude in Neustettin dreihundert Prozent genommen hat, müßten doch
nicht alle Neustettiner Juden geHaue» werden, hat ein Redner gesagt, dessen
Name mir leider entfallen ist; aber weil ein Jude in Neustettin gehauen worden
ist, muß der Landrat abgesetzt und über die Stadt der Belagerungszustand
verhängt werden, „denn — Christ — das ist ganz was andres!"
So ist denn gegen das Jahr 1848 eine ungeheurer Fortschritt in der
Humanität zu konstatiren, die Logik aber und die staatsmämusche Weisheit von
damals haben sich gut konservirt. Und wenn die Bildung der neuen Partei
wenig Anstrengung gekostet hat, destomehr dagegen die Erfindung eines Namens
für dieselbe, so begreife ich das erstere leichter als das letztere. Ist doch der
Inhalt des Manifestes, in welchen: den Bewohnern der zivilisirten Welt die
Geburt notifizirt wird, derart, daß ein Zirkular von Piepmayers sel. Erben,
betreffend die Fortsetzung des alten Geschäfts unter der neuen Firma, aber mit
ungeschwächten Fonds, genau denselben Zweck erreicht haben würde. Falls
den Schönrednern und Poeten der Partei eine solche Anzeige zu kaufmännisch
trocken vorgekommen wäre, Hütten sie ja irgend ein Motto als Aufputz an¬
bringen können, z. B.:
Alles was entsteht,
Ist wert, daß es wird'zu Grund' geredt.
Das wäre freilich nicht schön, aber für die Sache immer noch gut genug,
und würde, wie ich mir schmeichle, das ganze Programm in die denkbar knappste
Form zusammendrängen. Überdies dürfte es sich leicht dem Gedächtnis einprägen
und auch irgend einem Gassenhauer unterlegen lassen. Nur nicht dem „Ich hab'
sie ja nur auf die Schulter geküßt," denn diese schöne Melodie muß für Herrn
Bambergers: „Wecken Sie das Ehrgefühl der deutschen Nation!" aufgespart
bleiben.
In gehobener Stimmung waren sie beisammen, um Geburt und Taufe des
Wunderkindes zu feiern, in dessen Brust zwar vorläufig noch zwei Seelen
wohnen, das jedoch bald nur noch einen Willen haben wird (natürlich nicht
den eignen). Und die Stimmung scheint die höchste Gehobenheit erreicht zu
haben, als der Tyrtäus der Fortschrittler seinen Hymnus auf die gesinnungs¬
verwandte Presse anhob. Die Berichte eben dieser Presse lassen durchschimmern,
daß der Kalauer in dieser Rede sich in jener Üppigkeit entwickelt habe, welche
dem Zuhörer den Schmerzenslaut An! zu entreißen Pflegt, und daß die Auguren
einander bedenklich angeblickt haben, ob denn dieser Ton zu der Bedeutung eines
Tages passe, welcher in der Weltgeschichte einst neben dem 1. September 1774
in Philadelphia und dem 4, August 1789 in Versailles glänzen wird? Zum
Schluß soll der muntre Volksvertreter allerdings ernsthaft geworden sein: wahr¬
scheinlich hat er die Blätter seiner Parteifärbung darauf aufmerksam gemacht,
daß sie am meisten zur Ausbreitung des Antisemitismus beitragen, weil sie sich
stets in erster Linie als Organe des einen und unteilbaren Judentums betrachten.
Allein so konnte doch das große Konzert nicht ausklingen, und so erhob sich
Dr. Ludwig Bamberger zum Vortrage der Schlußnummer mit der oben zitirten
Pointe. Die Mahnung soll einen großen Eindruck gemacht haben — und das
ist wohl von dem Ehrgefühl der Anwesenden zu hoffen. Ja, die Wirkung der
Phrase kann und muß eine gewaltige sein, wenn sie hinausgetragen wird, soweit
die deutsche Zunge klingt. Denn wenn etwas geeignet ist, den Deutschen zum
Bewußtsein zu bringen, wie weit die Dinge gediehen sind, so ist es wohl die
edle Dreistigkeit eines ehemaligen Pariser Bankiers! Wecken Sie das Ehrgefühl
der deutschen Nation! Was heißt das in jenem Munde? Wodurch sollen die
Deutschen bekunden, daß sie noch Ehrgefühl besitzen? Durch das Eintreten
für die bekannten Glaubenssätze: Der Staat ist des Parlaments wegen da. Daß
die Natur, die allwaltende, das so gewollt hat, beweist der mythische Vorgang
bei den Parlamentswahlen, demzufolge mit den Stimmen der Wähler sich auch
deren Wissen, Einsicht, Erfahrung u. s. w. auf die Person des Gewühlten über¬
trägt. (Geht aus der Wahl ein Anhänger der Negierung hervor, so kann eine
solche Transfusion nicht erfolgen, weil die Wähler ja eben durch ihre Stimmen¬
abgabe gänzlichen Mangel an Wissen, Einsicht, Erfahrung u. s. w. dargethan
haben.) Dennoch weiß und kennt und versteht der oppositionelle Abgeordnete
alles, während Personen, welche auf gewöhnlichem Wege Kenntnisse erworben
haben, notwendigerweise einseitig und befangen sind. (So erklärt es sich, daß
der nächstbeste Advokat, sobald er gewählt ist, von der Politik mehr als Bismarck,
vom Kriegswesen mehr als Moltke versteht u, s. f.) Selbstverständlich ist daher
niemand berufen zu regieren, als das Parlament, vorausgesetzt, daß es „frei¬
sinnig" ist. Sollte unglücklicherweise die Mehrheit nicht freisinnig sein, so
entscheidet nicht die Mehrheit, sondern die Minderheit. Wie das durchzuführen
sei, lehrt das Studium der französischen Revolution und der Nachahmungen
derselben. Man nennt dies Parlamentarismus. Aufgabe des Parlaments ist
es u, a., die Volksfreiheit zu wahren. Die Volksfreiheit besteht darin, daß der
Stärkere nicht gehindert werden darf, den Schwächern auszubeuten. Ein ähn¬
liches Verhältnis bestand allerdings im alten Staate, aber damals lag die
Gewalt in den Händen alter Geschlechter, die von den Vorfahren nebst der
Macht auch die Verpflichtung geerbt hatten, den Unterthan zu schützen und zu
erhalten; das war Unfreiheit. Die neuen Geschlechter erkennen dergleichen Ver¬
pflichtungen nicht an, und das ist Freiheit. Sie bedürfen vielmehr selbst des
Schutzes, und zu diesem Zwecke sind das stehende Heer und die Polizei da. Das
Parlament hat jährlich zu bestimmen, wieviel Mannschaft für diesen freiheitlichen
Dienst erforderlich ist, und mehr darf nicht unter den Waffen gehalten werden.
Allen diesen billigen Forderungen steht Bismarck im Wege, deshalb vor allem:
„Fort mit Bismarck!" Sowie er beseitigt ist, wird der Konvent — nicht doch,
das Parlament das Dekret erlassen: „Die soziale Frage hat aufgehört zu existiren,"
damit die höchst lästigen Erörterungen einmal aufhören, und der Besitzer von
Aktien einer Versicherungsgesellschaft nicht vor der Möglichkeit zu zittern braucht,
die Dividende könnte einmal weniger als fünfzig Prozent betragen. Dem be¬
drängten Aktionär wieder ruhige Nächte zu verschaffen, ist Ehrensache des deut¬
schen Volkes. Darum: Wecken Sie das Ehrgefühl der deutschen Nation!
Und noch einen Grund giebt es, welcher den Sturz Bismarcks zur Ehren¬
sache macht. Je länger der Mann am Staatsruder bleibt, desto schwierigeren
Stand werden seine Nachfolger haben. Alles niederzureißen, was er geschaffen
hat, das wäre wohl schon eine ausgiebige Beschäftigung für kleine Leute. Aber
was dann? Er hat die Welt an große Thaten gewöhnt und ruht noch immer
nicht; es ist zu befürchten, daß die Welt auch von seinen Erben Thaten ver¬
langen werde, und woher nehmen, ohne zu stehle»? Ihm ist für die Sache
kein persönliches Opfer zu schwer, hat er doch sogar einmal Herrn Bamberger
mit in seinen Wagen genommen. Je länger dies böse Beispiel andauert, desto
demoralisirender wirkt es. Darum fort, fort! Junge Leute wollen auch —
regieren.
O Piepmayer, daß dir nicht vergönnt war, diese glorreichen Tage zu er¬
le Büder von X. liegen in einer der schönsten Gegenden Italiens.
Ein anmutigeres Landschaftsbild als das frische, schattige, lachende
Thal, in welchem das Vate-Etablissement errichtet ist, wird sich
die Phantasie des Malers oder des Dichters schwerlich vorstellen
können.
Vor unsern Augen erheben in nächster Nähe die Apenninen ihre stolzen,
von hundertjährigen Wäldern gekrönten Gipfel und senken sich in sanften, mit
Weingeländen, schmucken Landhäusern und Olivenhainen gezierten Abhängen herab;
ein Flüßchen und ein Gießbach begegnen sich lustig plätschernd und polternd am
Fuße eines Hügels und vereinigen ihre frischen, klaren, schäumenden Gewässer,
und über die ganze Landschaft wölbt sich der schönste blaue, beinahe immer
klare Himmel.
An jenem Hügel angelehnt, vor den kalten Winden des Nordens geschützt
und von der heitern Sonne des Morgens und des Mittags beleuchtet und er¬
wärmt, auf jener Landzunge, wo sich Fluß und Gießbach begegnen, ist das
Bade-Etablissement aufgeführt; es ist ein hohes, massives Gebäude, mit einer
Unmasse von Fenstern, welche ihre Scheiben in den Strahlen der Sonne er¬
glänzen lassen. Weiter abwärts, am Ufer des Wasserstroms, zu welchem sich
jene beiden Gewässer nunmehr vereinigt haben, liegt der Ort, welcher dem Thale
den Namen gegeben hat, ein bescheidnes, reinliches, anmutiges Dörfchen, mit
seinen buntbemalten Häusern, seinen Terrassen, welche von Oleandern beschattet,
seinen Lauben, welche mit Weinreben bekleidet sind. Etwas abgesondert vom
Dorfe, als letztes Haus auf der Straße, welche nach den Bädern führt, steht
ein kleines zweistöckiges, rings von der Mauer eines Gartens umgebenes Haus.
Man braucht beim Vorbeigehen das Haus nur von außen anzusehen, um
die Kennzeichen eines stillen, häuslichen Friedens und einer bescheidnen Wohl¬
habenheit gewahr zu werden. Und wenn man bor dem Eisengitter, durch welches
man in den Garten eintritt, stehen bleibt, einen Blick in das Innere wirft und
dort eine Fran bemerkt, welche nicht mehr in der ersten Jugendblüte steht, aber
heitern und zufriedenen Aussehens ist, wenn man sie an ihrer Arbeit mitten
unter vier Knaben sieht, von denen der älteste zwölf, der jüngste fünf Jahre
zählt, sieht, wie diese scherzen und springen und einen heldenmäßigen Lärm voll¬
führen, so muß jeder, der vorübergeht, gestehen, daß er ein anmutiges Bild
von Familienglück vor sich habe.
Haus und Garten gehören dem Badearzte, dem Herrn Doktor Johann
Maria Cerci, jene Frau ist seine Gattin, jene Knaben sind seine Söhne. Und
gerade dies Haus ist es, in welches ich meine freundlichen Leser einzuführen habe.
Aber in diesem Augenblicke sitzt Frau Adele — so heißt die Gattin des
Doktors — trotz des prachtvollen Sommertages und des klarsten Himmels
nicht im Garten, wo sie sonst immer Tag für Tag ihren Kindern Unterricht
erteilt oder ihren Spielen mit dem Lächeln der Mutterliebe und des Mutter¬
stolzes zusieht.
Von ungewöhnlicher Lebhaftigkeit erfaßt, ist Adele beständig in Bewegung,
sozusagen in einer mehr vergnüglichen als sorgenvollen Art von Unruhe der
Erwartung und des Verlangens, welche sie auch nicht einen Augenblick stillsitzen
läßt. Aus dem Eßzimmer im Erdgeschoß, wo sie selbst den Tisch dicht an das
Fenster gesetzt hat, damit sich jeder an den Blumen des Gartens ergötzen kann,
läuft sie emsig nach der Küche, wo die Köchin mit einem Gesichte so rot wie
das Kohlenfeuer ihrer Bratofen sich vor der Schmorpfanne abängstigt, um mit
allem Aufgebot ihrer Kunst ein üppigeres Mittagsmahl als das gewöhnliche zu
bereiten; von einem Stübchen im obern Geschoß, in welchem sie selbst das Bett
mit frischer Wäsche überzogen und alles in schönster Ordnung und Sauberkeit
zum Empfange eines Gastes vorbereitet hat, fliegt sie an die Gartenthür und
schaut durch das Gitter auf die Landstraße.
Der Gatte ist nicht zu Hause, aber sicherlich ist er nicht der einzige, welchen
die Frau mit solcher Sehnsucht erwartet, denn auf dem Tische befinden sich
noch zwei Gedecke mehr als sonst, und jenes nette, in Bereitschaft gesetzte
Stübchen ist nicht des Doktors Stübchen. Überdies hat sich der Doktor schon
seit langen Jahren nicht weiter von der Familie entfernt, als um seine täglichen
Gänge nach dem Bilde-Etablissement zu machen und seine Kranken zu besuchen.
Und heute ist er sogar noch vor der gewöhnlichen Stunde zurückgekehrt, hat
uur noch einen flüchtigen Blick auf die von der Gattin getroffenen Vorberei¬
tungen geworfen, hat alles gebilligt, wie er das immer bei allem, woran die gute
Hausfrau ihre Hand anlegt, zu thun Pflegt, und hat dann sofort den ältesten
seiner Söhne bei der Hand gefaßt und ihm gesagt: Komm, Paulchen, wir wollen
deinem Paten entgegengehen.
Es war also der Pate des Erstgebornen, welchen die Ccrcis erwarteten.
Nun wußte aber das ganze Dorf, daß dieser Pate der einzige Bruder der Frau
Adele war, welchen sie mit mehr als schwesterlicher, man konnte beinahe sagen,
mit mütterlicher Liebe liebte,
Frau Adele zählte siebenunddreißig Jahre. Keinem, der sie sah, kam es
auch nur im entferntesten in den Sinn, sich die Frage vorzulegen, ob sie schön
sei oder schön gewesen sei oder nicht. Mau merkte, daß sie selbst garnicht darauf
achtete und auch nie darauf geachtet hatte. Aber ans allen ihren Gesichts¬
zügen, aus ihren Blicken, ihrem Lächeln und mehr noch ans ihrer Stimme,
ihren Manieren, ihren Bewegungen strömte eine solche Herzensgüte, ein so
inniges und allumfassendes natürliches Wohlwollen, daß man auf der Stelle
die wärmste Sympathie für sie empfinden mußte.
Und man konnte auch wahrlich nicht sagen, daß der Schein getrogen hätte.
Adele gehörte zu jenen hochbegnadeten Wesen, denen es ein notwendiges Be¬
dürfnis ist, der ganzen Welt wohlzuwollen, die sich eine Lust daraus machen,
sich für andre aufzuopfern, denen die bescheidne, sich selbst verleugnende Ent¬
sagung und Großherzigkeit angeboren ist. In ihrem Mitleid für das Leiden
ihres Nächste», ihrem brennenden Eifer, ihm Trost und Hilfe zu bringen, war
sie einer Heiligen zu vergleichen. Von der Überzeugung durchdrungen, daß ein
geteiltes Leid von deu Bedrängten leichter zu tragen sei, suchte sie jede Gelegen¬
heit ans, wo es einen Schmerz, einen Kummer zu teilen gab, mit demselben
Eifer, welchen eine Kokette den Vergnügungen und Triumphen der großen Welt
gegenüber an den Tag legt; nur mit dem Unterschiede, daß es ohne die geringste
Eitelkeit und Prahlerei, vielmehr mit jener natürlichen Bescheidenheit geschah,
die das eigne Verdienst verkennt, denn sie war überzeugt, daß sie nur notdürftig
ihrer Pflicht Genüge leiste. Kurz, Adele war mit jener Vollkommenheit der
Herzensgüte und der Tugend ausgestattet, zu welcher nur die feinfühlenden
Seelen der Frauen, vorausgesetzt, daß sie gutmütig sind, gelangen können.
So groß nun aber auch die Zahl der Unglücklichen war, auf welche sie
das Füllhorn ihrer Liebe ausschüttete, so behielt sie doch noch einen unerme߬
lichen Reichtum von Liebe für diejenigen Personen, welche ihr näher standen,
und insbesondre für alle, welche ihr dnrch die Bande des Blutes verknüpft waren.
Da waren zunächst die Eltern, welche sie über alle Beschreibung geliebt
hatte. Und doch waren dies keineswegs die besten Eltern gewesen, die man sich
hätte wünschen können. Versetzen wir uns nur im Geiste zurück in die Kind¬
heit Adelens und vergegenwärtigen wir uns ihren bisherigen Lebenslauf.
Der Vater kümmerte sich fast garnicht um seine Familie. Er zog ein
freies, ungebundenes Leben auf dem Lande vor und hatte einen Abschen vor
der Stadt. Die schöne und kokette Mutter dagegen sehnte sich nur nach Luxus
und Vergnügungen, dachte an nichts als Feste und elegante Toiletten. So kam
es, daß der Vater sast immer fern von der Fran auf seinem Landgute lebte,
sich wie ein zweiter Nimrod dem Vergnügen der Jagd hingab und sich kaum
einmal im Jahre daran erinnerte, daß er einen Sohn und eine Tochter besaß.
Beide hatte das gleichgiltige Elternpaar, um sichs bequemer zu machen, damals
in Erziehungsinstituten untergebracht. Ja die Mutter hätte ihrerseits die Kinder
am liebsten ganz und gar vergessen mögen, denn das Heranwachsen derselben
bewies zu ihrem größten Leidwesen nur allzu deutlich, daß ihre eignen Jahre
sich mehrten, ihre Jugend und damit auch ihre Schönheit verschwand. Unter
keiner Bedingung hätte sie sich öffentlich mit Adelen an ihrer Seite zeigen
mögen, denn diese würde mit ihren vierzehn Jahren das herannahende vierzigste
der Mutter verraten haben.
Die beiden Kinder lebten getrennt von einander, getrennt von den Eltern,
und sahen sich nur einmal im Jahre während der Schulferie», die aber immer
nur wenige Tage dauerten und auf dem Landgute des Vaters schnell wie der
Blitz vorüberflogen. Das waren für Adele die glücklichsten Tage, ein fort¬
währendes Fest, nach welchem sie sich die ganze übrige Zeit des Jahres sehnte,
und welches dann in der Erinnerung ihr die traurigen Tage ihres Aufenthalts
im Institut versüßte.
Adelens Vater ging immer schon frühmorgens auf die Jagd und ließ sich
erst zur Mittagszeit wieder sehen; blieb er länger als gewöhnlich aus, so wurde
seine Frau ungeduldig, und man setzte sich ohne ihn zu Tische. Aber Tag für
Tag, mochte er noch so früh sich erheben und zum Waidwerke sich anschicken,
war auch schou das liebe Mädchen auf und wartete seiner auf der Schwelle
des Hauses, um ihm ihr freundliches Lächeln, ihre besten Wünsche und ihren
zärtlichsten Kuß mit auf den Weg zu geben.
Die Mutter dagegen erhob sich immer erst spät von ihrem Lager, brachte
den ganzen Vormittag bei ihrer Toilette zu und sah ihre Kinder nur beim
Frühstück; dann streckte sie sich in ihrem Salon auf dem Sofa aus, nahm
den neuesten französischen Roman oder das Modejournal in die Hand, gähnte
und erwartete diesen oder jenen Besuch aus der Nachbarschaft, aber noch lieber
war es ihr, wenn irgend ein eleganter Herr aus der Stadt eintraf, um die
Eintönigkeit und Einsamkeit ihrer Lebensweise zu unterbrechen.
Adele, welche mit sechzehn, siebzehn und achtzehn Jahren noch so un¬
befangen wie ein kleines Mädchen von zehn Jahren erschien, und der um sechs
Jahre jüngere Paul waren ganz und gar sich selbst überlassen, sie liefen vom
Morgen bis zum Abend im Garten umher und fühlten sich so frei wie die
Vögel, die über ihre» Köpfen auf den Zweigen saßen und sangen und ebenso
glücklich waren wie sie.
So kam es denn, daß Adele ihren kleinen Gefährten, den anmutigen und
zarten Jungen, noch mehr als ihre Eltern, welche sie immer so fern von sich
hielten, ins Herz geschlossen hatte. Er war jn den ganzen Tag bei ihr, hatte
jeden Augenblick ihren Beistand nötig und rief sie bald mit Thränen, bald
mit Lächeln an; kurz, die beiden Geschwister waren einander alles auf der
Welt.
Der erste Affekt, man könnte sagen der erste Instinkt, der sich im weib¬
lichen Herzen entwickelt — und je besser dasselbe ist, je mehr ist das der
Fall — ist die Mutterliebe. Man braucht nur dem Spiele des Mädchens
zuzuschauen, und man wird sofort wahrnehmen, daß es mit seiner Puppe Mutter
und Kind spielt; man sehe dann die heranwachsende Jungfrau, wenn sie die
Bebes, die ihr begegnen, in den Arm nimmt und herze und küßt, und man
wird unwillkürlich an die Zärtlichkeiten einer Mutter erinnert. Dies mütter¬
liche Gefühl, welches das Weib beseelt und antreibt, sich heldenmütig für ein
schwächeres Wesen aufzuopfern, war in Adele schon in frühester Jugend wach
geworden. Sie wurde dem Bruder nicht nur Gefährtin, sondern auch Erzieherin,
ihre jugendliche und unerfahrene Seele erlangte ihm gegenüber bald eine Reife
des Verstandes, eine alle Rätsel lösende Klugheit, deren sie niemand für fähig
gehalten hatte. Adele setzte ihren ganzen Stolz darein, den kleinen Bruder
nicht nur zu lieben, sondern auch aus ihm einen anständigen Menschen von
ausgesuchten Kenntnissen und edelm Herzen zu macheu.
Aber der Spitzbube zeigte sich, als er auf dem Gymnasium war, zu allem
andern als zum Studieren aufgelegt. Überdies war seine Gesundheit schon von
früher Jugend an nicht die beste, und das eingeschlossene Leben in dem Er-
ziehungsinstitute bekam ihm ganz und gar nicht. Er war schmächtig, blaß und
schwächlich und für sein Alter ungewöhnlich klein, und doch ließ sein ganzes
Naturell eine große Lebenskraft erblicken, und aus seinen hellen und kristall¬
gleichen Augen schimmerte eine durchaus nicht alltägliche Seele. Das Studiren
war ihm langweilig, es war ihm viel zu mühsam, seine Gleichgiltigkeit gegen
das Lernen zu überwinden. Wozu nützt das? fragte er sich, wenn er über die
seinem Alter nicht entsprechende Unwissenheit gleichsam instinktmäßig verzagen
wollte; und er schützte gern seine schwache Gesundheit vor, um sich in diese
geistige Trägheit, in der er sich gefiel, zu flüchten.
Aber der guten Schwester wollte dies garnicht behagen. Sie glaubte unter
dieser sorglosen Gleichgiltigkeit und dieser vorzeitigen Blasirtheit die Spuren
eines Genies zu entdecken, welches nur angespornt und ausgebildet werden müsse,
um es zu etwas bringen zu können. Sie benutzte daher die kurze Zeit, welche
sie während der Schulferien des Bruders mit ihm verbrachte, um ihn mit allen
ihren Kräften zur Thätigkeit und zum Lernen zu drängen.
Du solltest dich schämen! so sagte sie im liebevollen Tone des scherzenden
Vorwurfs. Willst du es denn zum Ignoranten bringen? Die Ignoranten
taugen zu nichts in der Welt als höchstens zu Tagelöhnern, die sich mit ihrer
Hände Arbeit abquälen. Aber arbeiten müssen wir alle, sei es mit dem Kopfe
oder mit den Händen; und du solltest zu nichts fähig sein?
Und nun unterrichtete sie ihn in allem, was sie selbst mit jenem Eifer ge¬
lernt hatte, wodurch sich Mädchen von den Knaben in der Schule in der Regel
auszeichnen, und nach und nach brachte sie es wirklich dahin, ihm Lust zum
Lernen einzuflößen. Und nachdem einmal seine gute Fassungskraft aus ihrem
Schlummer aufgerüttelt war, so ging er aus eignem Antrieb weiter und erwarb
von selbst eine Menge von Kenntnissen, welche ihm die gelehrte Schwester nicht
hatte verschaffen können; es hatte nur jenes Anstoßes bedurft, so konnte er sich
schon von der Führerin, die ihn bei der Hand genommen hatte, losmachen und
mit kräftigeren Beinen entfernteren Gegenden zueilen.
Und nun ergriff ihn eine förmliche Wild zu lernen; er wollte alles wissen,
alles erfassen, er verschlang alle Bücher, die ihm in die Hände fielen, und setzte
durch die Kühnheit, mit welcher er die ernsthaftesten Fragen angriff, die schwie¬
rigsten Aufgaben bekämpfte, die gute Adele in nicht geringes Erstaunen. O, du
wirst einmal ein bedeutender Mann werden! rief die Schwester aus. In ihrer
Unerfahrenheit hielt sie diese Geistesblitze für die Lichtstrahlen des wahren Genies.
Unglücklicherweise war Paul aber in diesen plötzlichen Aufwallungen und
diesem brennenden Lerneifer durchaus nicht beständig. Ab und zu bedürfte es
eines neuen Antriebes, sonst ließ er sich, wenn anch nicht von der Mutlosigkeit,
so doch vom Überdrusse überwinden und fiel in seine geistige Trägheit zurück.
Waren die wenigen Tage der Ferien verflogen, so wurden die Geschwister
auf ein Jahr von einander getrennt, bewahrten aber die süßesten Erinnerungen,
die innigste Liebe in ihrem Herzen. Auch schrieben sie sich nicht selten, und
jeder Brief, den sie mit einander wechselten, diente dazu, jene glückliche Zeit
zurückzurufen und ihre Geschwisterliebe immer mehr zu kräftigen. Anfangs hatte
Paul Adelen seine kleine Strnfprcdigerin, dann seine Lehrerin genannt, schließlich
nannte er sie nicht anders als sein Mütterchen.
Als Adele in ihrem neunzehnten Jahre stand und Paul etwa dreizehn
Jahre zählte, starb ihre Mutter. Die Geschwister, welche in größter Eile herbei¬
gerufen wurden waren, kamen kaum noch zeitig genug an, um das letzte Lebe¬
wohl und den letzten Segen der sterbenden Mutter zu empfangen. Gatte und
Kinder weinten über den Verlust, aber am betrübtesten weinte die gute Adele,
obgleich sie an der Verlorenen weder eine sorgsame noch eine liebevolle Mutter
gehabt hatte. Der Vater fühlte gewissermaßen die Vereinsamung und entsetzte
sich vor dem Gedanken, daß er eines Tages fern von den Kindern sterben könnte.
Er nahm sie daher zu sich aufs Land und ging dann, soweit es sein vorgerücktes
Alter erlaubte, wie vorher seinem Jagdvergnügen nach. Adele aber wurde
immer mehr nicht nur die intime Freundin, sondern die Erzieherin ihres Bru¬
ders, ja sie war ihm gleichsam eine zweite Mutter und gab ihm sowohl in gei¬
stiger wie in sittlicher Hinsicht eine ausgezeichnete Erziehung.
So verging ein Jahr nach dem andern, der Vater wurde älter, Paul
wuchs heran, Adele erfüllte alle Pflichten einer vorzüglichen Hausfrau. Der
Vater hatte sich an dies eintönige und ruhige Leben so gewöhnt, daß er nicht
daran zu denken wagte, sich auch nur auf kurze Zeit von seinen Kindern zu
trennen. Es war daher weder von einer Heiratspartie für Adele noch von
der Wahl eines Berufs für Paul die Rede° Überdies lebte das Mädchen so
eingezogen, daß sich nur wenige Heiratsknndidaten einstellten, und diesen wenigen
pflegte der Vater in barschem Tone den Bescheid zu erteilen: Meine Adele
habe ich selbst nötig, darüber brauche ich mir den Kopf nicht zu zerbrechen.
Wenn ich sie euch gäbe, wer sollte mir dann den Haushalt führen?
Das gute Mädchen war weit entfernt davon, sich hierüber zu bekümmern
oder sich Gedanken zu machen. Warum sollte sie überhaupt den Wunsch hegen,
dieses so friedliche und angenehme Leben mit einem andern zu vertauschen?
Unter keiner Bedingung mochte sie ein Haus verlassen, in welchem die einzigen
Personen lebten, an denen ihr Herz hing, ihr Vater und ihr Bruder. Nur
eines bekümmerte sie: der Müßiggang, zu welchem Paul gezwungen war; wie
gern hätte sie gesehen, wenn er seine Universitätsstudien begonnen hätte, und
hätte sie sich auch einen guten Teil des Jahres von ihn: trennen müssen.
Schon mehrere male hatte sie bei ihrem Vater hierauf angespielt, aber
dieser war ihr gleich bei den ersten Worten in die Rede gefallen und hatte g»
sagt: In meinem Alter kann man seine Gewohnheiten nicht mehr ändern. Laßt
mich doch hier in eurer Mitte leben. Wir wollen einmal annehmen, Paul
wäre ein Advokat ohne Prozeß, oder ein Arzt ohne Kraute, würde er es dann
besser haben als jetzt? Ich hinterlasse ihm einmal ein hübsches Vermögen,
womit er ruhig und gemächlich leben kann, ohne sich viel Sorgen zu macheu.
Was will er mehr?
Man kann nicht sagen, daß Paul mit den Verhältnissen, in denen er lebte,
sehr unzufrieden gewesen wäre. Allerdings sehnte sich sein jugendliches Herz
zuweilen nach dem Leben der großen Welt und war der Einsamkeit überdrüssig;
manchmal ärgerte ihn das Gefühl seines Nichts, und er dachte mit neidischem
Sinn an die großstädtischen Freuden. Aber sein sanftes und nachgiebiges Ge¬
müt, sein Hang zu allerhand Hirngespinsten und stillen, innerlichen Freuden,
und vor allem die Gleichgiltigkeit seines Charakters ließen es doch nie zu einem
wirklichen Kampfe kommen, er hatte sich nach und nach an diese Lebensweise
gewöhnt, und die Liebe seiner Schwester ersetzte ihm alles übrige. Stunden¬
lang konnten die Geschwister in traulichen Plaudereien bei einander sitzen, um
auf den goldenen Wolken ihrer jugendlichen Phantasie die glänzendsten Luft¬
schlösser zu bauen.
Der Vater hätte es am liebsten gesehen, wenn ihn Paul auf die Jagd be¬
gleitet hätte, aber dieses energische Vergnügen war nicht nach des Jünglings
Geschmack, er sagte, ihm fehle das Herz, um solche liebe, unschuldige kleine Ge¬
schöpfe wie die Vögel zu töten, denn unser Herrgott habe sie doch nur zu dem
Zwecke erschaffen, um die Natur mit ihrer süßen Stimme zu erfreuen; über-
dies schützte er seine Kurzsichtigkeit vor. Dafür streifte er lieber in dem be¬
nachbarten Walde umher, hatte ein Buch in der Tasche, um nach Gefallen darin
blättern zu können, streckte sich im Grase unter den Kastanienbäumen aus und
ließ recht oft das Buch aus der Hand fallen, um starr in die Luft zu sehen
und sich seinen in die Ferne schweifenden Träumereien zu überlassen.
Adele war vierundzwanzig, Paul achtzehn Jahre alt, als auch der Vater
mich langer und schwerer Krankheit den Kindern entrissen wurde. Es braucht
wohl nicht gesagt zu werden, mit welcher Liebe, mit welchem unermüdlichen
Eifer Adele ihrem Vater während der ganzen Krankheit zur Seite gestanden
hatte. Der Dorfarzt, welcher den Kranken behandelte, ein Mann in den besten
Jahren, sehr geschickt in seiner Kunst und wegen seines vortrefflichen Charakters
in der ganzen Umgegend hochgeachtet, Doktor Johann Maria Cerei, lernte bei
dieser Gelegenheit die vorzüglichen Eigenschuften der Tochter des Kranken kennen
und faßte, ohne es zu bemerken, eine tiefe Neigung zu ihr.
Nach dem Tode des Vaters wartete der Doktor noch so lange, bis seine
Werbung nicht unzeitig und beleidigend erschien, und bot nach Ablauf dieser
Zeit Adelen Herz und Hand. Paul, welcher für Cerei die allerlebhafteste Sym¬
pathie empfand, begünstigte diese Heiratspartie umsomehr, da sie seiner Schwester
eine sichere Stellung und eine neue Familie verschaffte. Indessen ging er, nach¬
dem die Hochzeit vollzogen war, auf das Anerbieten des Schwagers, mit den
Eheleuten zusammenzuwohnen, nicht ein, sondern überließ sie den Freuden der
Flitterwochen, denn er hatte unter dem Vorwande, seinen Studien obliegen zu
müssen, nichts eiligeres zu thun, als seine Wohnung in der Hauptstadt auf¬
zuschlagen.
Die Eheleute Cerei lebten nun in bescheidnen, aber glücklichen Verhält¬
nissen. Es waren zwei ausgezeichnete Charaktere, denen es weder an Herz noch
an Geist fehlte. Ihr Haus war ein Muster von Tugenden, häuslichem Frieden
und sanften Familienfreuden.
Noch ehe ein Jahr vergangen, wurde Paul eingeladen, den ersten Sproß
dieser Vereinigung über die Taufe zu halten. Er folgte dieser Einladung. Seit
seiner Trennung von der Schwester hatte er sie nicht wieder gesehen, und das
beim Abschiede und in seinen Briefen gegebene Versprechen trotz dringender Auf¬
forderungen unerfüllt gelassen. Er gehörte zu denen, welche sich von dem gro߬
städtischen Leben ergreifen und unvermerkt in jene verschlungenen Kreise ziehen
lassen, in denen von einer Freiheit der Handlungen, der Lebensweise, ja selbst
der Gedanken nicht mehr die Rede ist.
Er war ja noch sehr jung, mit Glücksgütern ausgestattet und hatte bis
dahin in der Einsamkeit gelebt. Der unerfahrene Jüngling wurde gar bald ein
geeignetes Opfer der Verführungen der großen Welt. Glücklicherweise ließen
sein guter Verstand und die sittliche Anlage, welche er aus dem väterlichen
Hause mitgebracht hatte, nicht zu, daß er zugrunde ging. Allerdings wollte
er von allem kosten, an jeden Kelch, den ihm das Vergnügen reichte, die Lippen
setzen; aber er empfand gar oft darüber Ekel und Bitterkeit und nicht selten
Ärger und Scham, und so ließ er es niemals dahin kommen, daß die Trunkenheit
ihm den Verstand benahm und das Gift dieser sündhaften Vergnügungen ihm
den Geschmack an allem Schönen und Edeln verdarb, seine Fassungskraft ver¬
finsterte, sein Herz austrocknete.
Und doch fand Adele ihren Bruder, als sie ihn bei der Taufe ihres Erst¬
gebornen wiedersah, zu ihrer Betrübnis sehr verändert. Sie fragte ihn nach
seinen Lebensplänen und Absichten. Ach! liebe Schwester, antwortete Paul mit
bitterm Tone, ich will ja gern etwas werden, aber wenn du wüßtest, wie schwer
das hält! Die Straßen sind alle so voll, und wer die Menge durchdringen
will, der muß stärkere Schultern und Hüften haben als ich. Ein gewisser Durst
nach Ruhm treibt mich, aber die Liebe zum Frieden hält mich zurück. Ich
müßte dich immer bei mir haben, liebe Adele, dn solltest der Schutzengel meiner
Seele sein. (Fortsetzung folgt.)
Das Leben und Treiben in verschiednen Kreisen der Pariser Gesellschaft in
und außerhalb Paris mit ihren Licht- und Schattenseiten zu schildern, war kein
übler Gedanke, und ohne Zweifel ist dein Verfasser, der eine nicht gewöhnliche
Begabung für Schilderungen des täglichen Lebens besitzt, die Lösung der Aufgabe,
die er sich gestellt, glücklich gelungen. In sechs Abteilungen „Aus der Gesellschaft,"
„Ans der Koulissemvelt," „Bildende Künste," „Unter Lampions und Fahnen,"
„Paris im Freien," „Paris auf Reisen" führt er dem Leser teils neue, teils bekannte
Züge des Pariser Gesellschaftslebens in höchst anmutiger Weise vor. Einzelne
Kapitel wie „Republikanisches Highlife," „Sport und Volksvergnügen," „Im
Konservatorium," „Die Gattenkarawane" sind kleine Kabinetstücke. Am Ende legt
man das Buch ungern aus der Hand.
Aber was in aller Welt soll der Titel „Revanche!"? Der Verfasser versucht
im Vorwort diesen Titel zu rechtfertigen: er weist auf das seit nunmehr dreizehn
Jahren erschallende Nevanchegeschrei unsrer westlichen Nachbarn hin und meint, die
beste Revanche dagegen sei die Anerkennung der Verdienste des Gegners. Wir
haben die Vorrede uach der Lektüre des Buches nochmals gelesen, in der Meinung,
unsre Augen könnten uns getäuscht haben, denn nicht auf einer einzigen Seite des
Buches findet sich eine Bestätigung des in der Vorrede angedeuteten Zwecks. Der
Titel „Revanche!" entpuppt sich also lediglich als Aushängeschild. Schade; die
„Bilder aus Paris" würden auch ohne dieses Schaufensterzugmittclchen Liebhaber
genng gefunden haben.
Der 18. Band der Brockhausschen Sammlung „Deutsche Dichter des 16. Jahr¬
hunderts," welcher hiermit geboten wird, truü zugleich als eine der wertvolleren
Gaben zu dem vor kurzem gefeierte« Lutherjubiläum gelten. Luthers Kirchen¬
lieder sowie seine kleinern Sprüche und Lieder sind hier mit der Treue und
Sorgfalt. die wir an Goedeke gewohnt sind, nach den Quellen abgedruckt. Das
bibliographische Verzeichnis der Quellen hat auch neben Phil. Wackernagel einen
selbständigen Wert. Zu deu Dichtungen ist, um einen Band zu füllen, noch manches
hinzugekommen, was man dem Titel nach nicht sucht, wie die Fabeln, die drei
Briefe aus Coburg, Luthers Äußerungen über Musik, die beiden Martyrgeschichten,
der bekannte gleichzeitige Bericht über Luthers letzte Lebenstage u. a. Doch ist
dies alles, samt dem vorausgehenden kurzen Lebensbilde Luthers von Wagenmann,
in seiner Zusammenstellung sehr dankenswert, da dadurch das Buch erst recht zu
einer Jubiläumsgabe wird, geeignet, dem deutschen Volke seinen Reformator nach
einer bestimmten Richtung hin näherzubringen. Auch die polemische Tendenz
der beiden zuletzt genannten Beigaben und das kräftige Wort Goedekes gegen eine
gewisse katholisirende Geschichtsfälschung sieht man sich leider genötigt lediglich zu
billigen.
Diese Sammlung hat ein eigenartiges Gepräge, da sie wirklich, im Gegensatz
zu andern, ein treues Abbild unsrer deutschen Lyrik seit 1350 zu bieten sucht,
wobei sie von vornherein auf Charakterisirung der einzelnen Dichter nach allen
ihren Richtungen hin natürlich Verzicht leistet. Nur das politische und patriotische
Zeitgedicht finden wir in auffallender Weise vernachlässigt. Unter etwa vierhundert
Gedichten sind kaum drei dahin zu rechnen. Keiner von Gcibels „Heroldsrnfen"
hat Aufnahme gefunden. Diese Enthaltsamkeit befremdet umsomehr, als der Heraus¬
geber, der das Kraftvolle entschieden bevorzugt, alles Weichlichschmachtende ge¬
flissentlich ferngehalten hat und die Gedankcnlyrik ausdrücklich als berechtigt aner¬
kennt. Abgesehen von dieser einen Ausstellung ist die Absicht des Herausgebers
im wesentlichen glücklich erreicht; es findet sich hier ans verhältnismäßig engem
Raume eine rin großem Geschmack zusammengetragene Auswahl des vorzüglichsten
und charakteristischsten vereinigt, was die deutsche Lyrik der drei letzten Dezennien
hervorgebracht hat. Mau kaun mit gutem Recht sagen, daß keines der aufge¬
nommenen Gedichte unbedeutend sei, und man ist erfreut zu sehen, wie, reich unsre
vielgeschmähte Epigonenzeit doch an hervorragenden Talenten und Erzeugnissen ist.
Auch sind die Dichter wenigstens quantitativ so ziemlich ihrer Bedeutung nach
berücksichtigt; nur Gottfried Keller ist weder genügend noch gut vertreten. Dies wäre
sicherlich anders gewesen, wenn seine jüngste Gedichtsammlung dem Herausgeber
schon vorgelegen hätte. Von den ältern Dichtern des Zeitraums wird man, anßer
etwa Dingelstedt, kaum eiuen hervorragenden vergeblich suchen. Eher wird man
von den neuesten Lyrikern den einen oder den andern vermissen. Doch hier mit
dem Herausgeber über die Auswahl rechten zu wollen, wäre wenig angebracht.
Die Ausstattung ist, bis auf den weißen, uns immer unwillkürlich an den Wäsche¬
schrank erinnernden Leinwandband, sehr geschmackvoll. Das stattliche Großoktav
hat der Verleger wohl gewühlt, um das Buch auch äußerlich von den gewöhnlichen
Dntzendanthologien zu unterscheiden.
le Mehrheit des Reichstags hat die Frage über die Giltigkeits-
dauer des Sozialistcngesetzes an eine Kommission verwiesen, nicht
weil irgend jemand das Bedürfnis gefühlt hätte, sich über diese
Frage noch zu unterrichten, sondern weil man die Entscheidung
hinausschieben wollte. Für letzteres lassen sich ja verschiedne
Gründe denken. Über die Sachlage aber, welche für die Beantwortung der
Frage selbst maßgebend ist, kann niemand im Zweifel sein; auch nicht der Ab¬
geordnete Windthorst, der dies von sich versicherte, selbst wenn er der unwissendste
im ganzen Reichstage wäre.
Als zuerst im Mai 1878 die Frage des Sozialistengesetzes auftauchte, war
der Grund, weshalb die liberale Mehrheit dasselbe ablehnte, der, daß es nicht
in die liberale Schablone paßte. Preßfreiheit und freies Vereins- und Ver¬
sammlungsrecht gehörten zu den unbedingten Forderungen des liberalen Glau¬
bensbekenntnisses. Nun sollte auf einmal mitten in diese Dinge hinein ein tiefer
Schnitt gemacht werden? Unmöglich! Aber das liberale Glaubensbekenntnis,
wie alle vom einseitigen Parteistandpunkte aufgestellten Schablonen dieser Art,
beruht auf dem verfehlten Gedanken, daß das, was für den Staat heilsam ist,
sich nach abstrakten Prinzipien bemessen lasse. Es verhält sich in dieser Be¬
ziehung mit dem Leben der Völker ganz ähnlich wie mit dem Leben der In¬
dividuen.
Wohl wird sich eine Anzahl allgemeiner Lebensregeln aufstellen lassen für
dasjenige, was dem Normalmenschen zur Erhaltung der Gesundheit dienlich ist.
Aber jeder einzelne wird doch diese allgemeinen Regeln wieder seiner Individua¬
lität anzupassen und darnach an denselben ab- und zuzuthun haben. Ebenso ist
es bei den Völkern. Dieselbe Regierungsweise, dasselbe Maß der Freiheit, die¬
selben Einrichtungen wirken bei dem einen Volke ganz anders wie bei dem
andern. Als neuestes sprechendes Beispiel hierfür kann die Thatsache gelten,
daß der einjährige Freiwilligendienst, den man in Frankreich nach dem Beispiele
Deutschlands eingeführt hatte, dort so wenig sich bewährt hat, daß man ihn
wieder abzuschaffen im Begriffe ist.
Sowie aber das nämliche nicht paßt für alle Orte, so paßt es auch nicht
für alle Zeiten. Im Körper des lebenden Menschen gehen mitunter Ver¬
änderungen vor, welche ihn, wenn er anders vernünftig verfährt, ver¬
anlassen werden, seine Lebensweise in dieser oder jener Beziehung zu ändern.
Dies wird vor allem nötig, wenn er von einer chronischen Krankheit befallen
wird. Die erste Regel, wenn jemand erkrankt, ist die, daß er fortan diejenigen
Einflüsse von sich fernhält, welche die Krankheit erzeugt haben. Möglich, daß
dadurch allein die Krankheit noch nicht gehoben wird, daß er noch zu ernstern
Kuren greifen muß. Mitunter wird aber auch, sobald nur die schädlichen Ein¬
flüsse abgehalten werden, die gesunde Natur ausreichen, um den Krankheitsstoff
auszustoßen. Dazu wird übrigens umso längere Zeit erforderlich sein, je lang¬
samer die Krankheit im Körper herangewachsen ist. Sowie mit dem Körper
des lebenden Menschen, verhält es sich nun auch mit dem Staatskörper. Auch
in ihm gehen im Laufe der Zeiten Veränderungen vor; auch in ihm können
Krankheiten auftreten, die eine besondre Behandlung erheischen. Die Sozial¬
demokratie ist eine solche Krankheit. Sie besteht in dem in die großen Massen
hineingetragenen Irrwahn, daß durch eine Umwandlung der Gesellschaftsord¬
nung ein größeres Wohlleben für alle erzielt werden könne. Solange solche
Anschauungen nur vereinzelt bestehen, sind sie ohne erhebliche Gefahr. Das ge¬
fährliche liegt in der Erfüllung der Massen mit diesem Gedanken. Da eine
solche Umwandlung der Gesellschaftsordnung der Natur der Sache nach nur ge¬
waltsam erfolgen konnte, so zielen alle Sozialdemokraten auf einen gewaltsamen
Umsturz hin, mögen sie sich Anarchisten nennen oder nicht. Lange Zeit hat
man diese Krankheit für nicht so schlimm gehalten. Erst die krampfhaften Zuckungen
des Jahres 1878 haben an den Tag gebracht, welch hohen Grad sie bereits
erreicht hat. Und die jüngsten Vorgänge in Wien zeigen nicht minder, was
aus der Sache werden kann.
Wie diese Krankheit entstanden ist, wissen wir ganz genau. Von Lassalle
an, der die Reihe eröffnete, sind es demagogische Agitatoren gewesen, welche
unser Volk mit dem Krankheitsstoffe infizirt haben. Das Mittel dazu bot ihnen
die freie Presse und das freie Vereins- und Versammlungsrecht; darüber kaun
gar kein Zweifel sein. Das erste, unbedingt notwendige Mittel, um der Krankheit
entgegenzuwirken, war hiernach die Beseitigung der durch Presse, Vereine und
Versammlungen geübten sozialdemokratischen Agitation. Dieses einfache Mittel
hat das Sozialistengesetz ergriffen.
Nun sagt man, das Mittel habe nicht gewirkt, denn die Sozialdemokratie
bestehe noch fort. Gewiß besteht sie noch fort. Kein vernünftiger Mensch konnte
auch denken, daß diese Krankheit, welche in zwei Jahrzehnten langsam heran¬
gewachsen war, in sechs Jahren wieder verschwunden sein würde. Aber wie
würde es wohl jetzt bei uns aussehen, wenn das Sozialisteugesetz nicht erlassen,
wenn die sozialistische Agitation ungehindert fortbetricbeu worden wäre? Diese
Frage muß man sich beantworten, wenn man die Wirksamkeit des Gesetzes be¬
messen will. Wir haben auch für diese Wirksamkeit noch ein untrügliches
Zeugnis — das Zeugnis der sozialdemokratischen Agitatoren selbst. Würden
diese wohl so, wie sie es im Reichstage thun, gegen die Verlängerung ankämpfen
und toben, wenn ihnen das Gesetz keinen Abbruch thäte? Nein! sie wissen
recht gut, daß dasselbe ihnen den Atem zusammenschnürt.
Gerade aber weil die Sozialdemokratie noch fortbesteht, muß der durch
das Gesetz geübte Gegendruck bleiben. Denken wir uns, daß jemand, der einen
Leibesschaden erlitten und längere Zeit ein schützendes Band getragen hätte,
plötzlich erklärte: „Dieses Schutzband darf doch nicht zu einer dauernden In¬
stitution meines Gesundheitszustandes werden, und deshalb werde ich es jetzt,
trotzdem daß mein Schaden noch fortbesteht, beiseite legen." Jeder Arzt und
jeder verständige Mensch würde sagen: „Das ist ja Unsinn!" Und wenn jener
es wirklich thäte, so würde sich wahrscheinlich die Natur sehr bitter an ihm
rächen. In Beziehung auf den Staatskörper kann aber ein Professor des
Staatsrechts ganz das nämliche reden, und es giebt doch noch Menschen, die
das für Weisheit halten. Zu „normalen Zuständen" wollen wir zurückkehren,
wenn die Zustände unsers Volkes wieder normal geworden sind. Solange aber
große Massen in unserm Volke gleichsam auf dem Sprunge stehen, über die
übrigen herzufallen und die ganze Gesellschaftsordnung umzustürzen, sind unsre
Zustände nicht normal; und solchen Zuständen gegenüber sind auch nicht nor¬
male Gesetze am Platze.
Eine der unglücklichsten Phrasen, mit denen man dem fraglichen Gesetze
begegnet ist und auch jetzt wieder gegenübertritt, ist die leider von dem ver¬
storbnen Laster erfundene: man dürfe auch gegen die Sozialdemokratie nur im
Wege gemeinen Rechtes vorschreiten. Fragen wir uns, was das eigentlich heißt,
so kann es doch nur bedeuten: es müssen Gesetzesvorschriften erfunden werden,
welche in ihrer Form garnicht so aussehen, als ob sie besonders auf die
Sozialdemokratie gemünzt seien, vielmehr so klingen, als ob sie sich gegen alle
richteten. Dann, meint man, wäre die „Gleichheit von dem Gesetze" hergestellt.
Über den Wert dieses Einwandes kann schon ein geschichtlicher Vorgang be¬
lehren. Bei Vorlage der Strafgesetznovelle am Schlüsse des Jahres 1875
hatte die Reichsregierung Paragraphen, welche gegen das Fortschreiten der Sozial¬
demokratie helfen sollten, in der Form „gemeinrechtlicher Vorschriften" formulirt.
Aber da ist sie schön angekommen! Das seien ja Kautschukparagraphen, wurde
gesagt, welche gegen alles mögliche angewendet werden könnten. Graf zu
Eulenburg der ältere, welcher diese Paragraphen verteidigte, mußte sich von
den Abgeordneten Laster und Bamberger die größten Unarten sagen lassen.
Darin sollten doch diejenigen, welche jetzt wieder von der Notwendigkeit reden,
zu „Vorschriften des gemeinen Rechts" zurückzukehren, sich abspiegeln. Entweder
werden diese Vorschriften so schwächlich ausfallen, daß sie gegen die Sozial¬
demokratie nichts nützen; oder sie werden, wenn sie gegen dieselben ausreichen,
auch für alle übrigen Parteien eine Gefahr der Unterdrückung in sich tragen.
Gerade dadurch, daß die Reichsregierung im Jahre 1878 erklärte: „Wir wollen
nur die gemeingefährlicheil Bestrebungen der Sozialdemokratie unterdrücken, alles
übrige aber unberührt lassen," und in der anerkanntermaßen dieser Erklärung
entsprechenden Ausführung des Gesetzes zeigte sie sich als eine wahrhaft frei¬
sinnige, welche, soweit das politische Leben noch auf einigermaßen gesunder
Grundlage sich bewegt, den Volksfreihciteu nicht zunahe treten wollte. Kann
man ihr daraus nun einen Vorwurf macheu? Dem Vernehmen nach wird jetzt
im Zentrum beabsichtigt, „gemeinschaftliche Vorschriften" gegen die Sozial¬
demokratie zu formuliren. Das Zentrum weiß ohne Zweifel sehr gut, was es
damit erreichen würde.
Der ganze Widerstand gegen die Verlängerung des fraglichen Gesetzes
ist nur zu verstehen, wenn man sich erinnert, daß es bei uns Politiker giebt,
die ständig bemüht siud, um jeden Preis und ohne Rücksicht auf die Gefahr
des Vaterlandes der Neichsregieruug Verlegenheiten zu bereiten. Aber sie
sollten sich doch hüten. Der Stoß, den sie hier gegen den Fürsten Bismarck
fuhren wollen, könnte sehr häßlich auf sie zurückprallen. Die Hauptfrage,
welche jetzt in aller Munde lebt, ist die: Wie werden die neuen Verbündeten
der Fortschrittspartei, die bisherigen Sezessionisten, stimmen? Am 4. Mai 1880
haben sie, mit Ausnahme Lasters, durchweg für die Verlängerung gestimmt.
Damals hießen sie freilich noch „Natioualliberale." Und selbst in der Fort¬
schrittspartei war damals eine Anzahl Männer verständig genug, für die Ver¬
längerung zu stimmen. Werden alle diese Männer wieder in gleicher Weise
stimmen? Oder haben jetzt Richter und Hänel sie ins Schlepptau genommen?
So lange dieser Zweifel besteht, ist das Zentrum Herr der Lage. Alle
Welt nimmt an, daß Herr Windthorst, wenn er für die Verlängerung sich
erklärt, dies nicht umsonst thun, daß er vielmehr „neue Opfer" fordern werde.
Die zweifelhafte Haltung der freisinnigen Partei ist es also, welche ihm even¬
tuell diese Opfer in die Hand spielt.
Aber gesetzt, auch mit Windthorst käme der Handel nicht zustande und
das Gesetz fiele, was dann? Es ist ja leicht, nein zu etwas zu sagen, wenn
man sicher ist, in der Minderheit zu sein. Dann kann man mit seiner „Über¬
zeugungstreue" sich brüsten, hat aber doch im stillen den Trost, daß man
damit nicht geschadet hat. Ganz anders dagegen, wenn man mit seinem Nein die
Mehrheit erlangt; dann trägt man die volle Verantwortung dasür. Gesetzt
NUN, die Reichsregierung beruhigte sich bei dein abweisender Beschlusse und ließe
die Sozialdemokratie wieder aufleben: glauben unsre „Freisinnigen" für das, was
dann kommt, die Verantwortung tragen zu können? Man denke sich doch, daß
die sozialdemokratischen Agitatoren in hellen Haufen zu den Zentren ihrer
frühern Thätigkeit zurückkehren und in den, triumphirenden Bewußtsein des
errungenen Sieges das ganze Getriebe ihrer Agitation von neuem spielen lassen!
Zu was wird das führen? Wir möchten namentlich an Herrn von Forckenbeck,
den Oberbürgermeister von Berlin, dem doch das Wohlergehen dieses Gemein¬
wesens sicherlich am Herzen liegt, die Frage richten, ob er darin keine Gefahr
für diese Stadt erkennt? Wir fürchten, an die Stelle des kleinen Belagerungs¬
zustandes könnte leicht der große treten.
Freilich nimmt alle Welt an, daß die Reichsregierung bei einem ablehnenden
Beschlusse sich nicht beruhigen, vielmehr den Reichstag auflösen und einen neuen
berufen werde. Sind denn aber, wenn dieses geschähe, unsre „Freisinnigen"
sicher, daß sie in dem neue» Reichstage eine Mehrheit gewinnen würden? Wir
unsrerseits wünschen aufrichtig, daß es nicht zu einem reaktionären Regiment
in Deutschland kommen möge. Aber gerade deshalb weisen wir darauf hin,
daß unzählige, durchaus freiheitlich gesinnte Männer doch, wenn sie nur vor
die Wahl gestellt sein sollten, zeitweise ein reaktionäres Regiment über sich ergehen
zu lassen, oder den ganzen sozialdemokratischen Skandal von Anno 1878 wieder
aufleben zu sehen, unbedenklich nach dem erstem greifen würden. Käme wirklich
ein solches reaktionäres Regiment zustande, so würde nicht allein das Sozialistcn-
gesetz bewilligt, sondern es würde auch gar manches, was uns die letzten fünf¬
zehn Jahre gebracht haben, hinweggeschwemmt werden. Darauf kann man sich
verlassen. Mit der Ablehnung des Gesetzes spielen deshalb die „Freisinnigen"
ein sehr gefährliches Spiel. Möchten doch diejenigen unter ihnen, welche über¬
haupt noch zur Überlegung geneigt sind, sich die Sache wohl überlegen.
er Angriff der Franzosen auf Tongking (richtiger Tong Hirn)
hat namentlich englischen Journalen Veranlassung gegeben, die
Verhältnisse und die Kriegstüchtigkeit des chinesischen Reiches
näher zu erörtern. Soweit die Meinung der Sachverständigen
„in den betreffenden Journalen ihren Ausdruck findet, scheint man
in Europa zu glauben, daß ein Krieg zwischen Frankreich und China ein für
ersteres Reich sehr gefährliches Wagstück sei. Der Straßenaufruhr in Canton
wird als ein bedenkliches Symptom der Stimmung der breiten Volksmasse hin¬
gestellt, und es wird darauf hingewiesen, daß das Leben der Fremden bei aus-
brechendem Kriege sehr gefährdet sei. Da Deutschland nach England in China
die wichtigste Nation ist, die deutsche Reichsregierung an dem Wohlergehen
ihrer Unterthanen und an der Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen
mit China großes Interesse hat, so möge es einem seit Jahren in China
lebenden Deutschen gestattet sein, seine Ansicht in betreff der Volksstimmung
und der Kriegsbereitschaft Chinas hier auseinanderzusetzen.
Durch zwei Kriege, von denen der erste von Großbritannien allein, der
zweite im Bündnis mit Frankreich geführt wurde (in Deutschland gewöhnlich
„Opiumkriege" genannt), wurde China gezwungen, dem Fremdhandel eine Anzahl
Häfen — anfangs fünf, jetzt bereits neunzehn — zu öffnen. In diesen Häfen
kommen die Europäer natürlich mit allen Klassen der chinesischen Bevölkerung
in mannichfache Berührung. Die Klassen der Beamten (Mandarinen), Gelehrten
und Soldaten haben sich durchgängig feindlich gegen Fremde und alles Fremd¬
ländische benommen, von den Soldaten jedoch nur die Regularen, nicht die
Miliz. Die andern Volksklassen dagegen vom reichsten Kaufmann bis zum
ärmsten Kuli (Arbeiter) haben nie auch nur im geringsten Haß oder gar
Verachtung gegen die „rotharigen Teufel," wie der Haß der andern Klassen die
Europäer gern nennt, gezeigt. Im Gegenteil, in allen offnen Häfen, die ich
besuchte, war der gemeine Chinese freundlich und höflich, man könnte ihn sogar
liebenswürdig nennen, wenn er sich waschen wollte und weniger stark nach
Knoblauch röche.
Wo immer in China Fremde beleidigt, in ihren Rechten gekränkt oder in
ihrem Eigentum geschädigt worden sind, findet man bei genauer Untersuchung
stets dasselbe: die Mandarinen haben Befehle erlassen oder die Gelehrten haben
an den Straßenecken Plakate angeschlagen, in denen das Volk „ob der Schand¬
thaten der Fremden" zur Selbsthilfe aufgefordert wird. Müßiggänger, die so¬
zusagen die Klientel jedes Mandarinen bilden, einen bettelhafter Sold (10 bis
20 Pfennige täglich) empfangen und oft zu Hunderten seinen Tragsessel bei
offiziellen Besuchen umgeben, Leute, die nichts zu verlieren haben und wie ihr
Herr und Meister alles fremde bitter Haffen, sind die „Macher" bei jedem
Aufruhr. Nimmt die Bewegung größere Dimensionen an, so wird auch wohl
der respektable arbeitende Chinese mit in den Strudel gezogen. Zuschauer treibt
die Neugierde in hellen Haufen herbei, denn neugierig ist der Chinese sogut
wie der Ber— wollte sagen Bewohner jeder großen Stadt.
Die widersinnigsten Beschuldigungen werden durch die mit überraschender
Schnelligkeit an den Straßenecken angeklebten Hetzplakate gegen die Fremden
vorgebracht. So beschuldigte man z. B. bei den Masscckren in Tientzin die
katholischen Priester, daß sie in ihren Missionsschüler kleine Kinder schlachteten,
um deren Augen als Medizin zu gebrauchen. Dieser Glaube an den uedl-
zwischen Wert menschlicher Augen ist in China merkwürdigerweise weit ver¬
breitet.
Der Haß der Mandarinen und der Gelehrten gegen die Fremden ist übrigens
leicht erklärbar. Der oberste Mandarin in den Seestädten sieht ein paar Fremde
in seinem Distrikte sich niederlassen und oft in kurzer Zeit Reichtümer erwerben.
Er, der vorher allein mit seinem Reichtum zu glänzen wagte, sieht sich in den
Hintergrund gedrängt; die Fremden sind seiner Jurisdiktion entzogen, Er¬
pressungen unter irgend einer Form sind unmöglich. Verschmerzt er dies, so
ist dem armen Exgvtt damit wenig genützt, denn chinesische Kaufleute, die sich
Reichtümer erworben haben, verlassen sein väterliches Regiment und begeben sich
oft nur nominell in den Dienst der Fremden, um seiner Steuerschraube zu ent¬
gehen. Man sieht oft notorisch wohlhabende Chinesen fast wie Kukis gekleidet,
nur daß sie an einer Strippe eine schöne goldne Remontoiruhr in der Hosen¬
tasche tragen. Sie stehen noch unter chinesischer Gerichtsbarkeit und fürchten
sich, ihre Wohlhabenheit zu verraten.
Nun der Gelehrte! Mit welchen Gefühlen muß er die Fremden betrachten,
wenn er täglich sieht und sehen muß, daß sie sein sauer erworbenes Wissen
absolut nicht respektiren und seine Kenntnisse, die der großen Volksmasse sonst
der Urquell aller Weisheit erschienen, gering achten! Sollte er den Missionaren
freundliche Gefühle entgegenbringen, welche der Menge erklären, daß der an¬
gebetete Konfutse nur veraltete, ja lächerliche Moralphilosophie enthält, und daß
die Zeit, welche der gelehrte Chinese mit dem Studium desselben zubringt, in
den allermeisten Fällen zu etwas besserem hätte verwendet werden können?
Seine halbamtliche Stellung, welche oft die des Pastoren, Schulmeisters,
Advokaten, Notars und Stadtvorstehers in sich begreift, ist in Gefahr, wenn
der Missionar die Menge überzeugt, und damit geht seine an sich ja sehr
geringe, aber für seine außerordentlich einfachen Lebensbedürfnisse hinreichende
Einnahme verloren.
Seitdem die Chefro-Konvention abgeschlossen ist, ist den Chinesen der Kamm
gewaltig geschwollen. Die Einrichtung einer Zollbehörde unter Aufsicht von
Fremden versteht die Zentralregierung mit Geld; von 0,7 Millionen (1858)
haben sich die Einnahmen auf 21 Millionen Dollars gehoben. Der General¬
zollinspektor Sir Robert Hart, ein Jrländer, ist ein ausgezeichneter Beamter, und
von Kennern wird behauptet, daß das Zolldcpartement die einzige gut verwaltete
Behörde in ganz China sei. Also etwa 80 Millionen Mark baarer Geldzufluß
bei einer Gesamteinnahme, die von einzelnen auf 500 Millionen Mark angegeben,
von andern dagegen mit 300 Millionen Mark für zu hoch geschätzt erklärt wird.
Wie viel von diesem Gelde auch in den weiten Taschen der Vizekönige und
Generalgouverneure hängen bleibt, immer ist noch ein schöner Rest vorhanden,
der zum Ankauf von Kriegsmaterial benutzt wird. Das wissen die Mandarinen
und Gelehrten und glauben i>n ihrem fabelhaften Hochmut, China sei jetzt den
„rotharigcn Teufeln" an Kriegstüchtigkeit überlegen. Deshalb haben sie
Greuelthaten angestiftet, deshalb hat man Fremde ermordet, deren Blut noch
jetzt zum Himmel schreit. Bei der Tientzin-Affäre wurden siebzig Christen, fast
nur Mönche und Nonnen, erschlagen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten,
die von ihren armen, herzlosen Eltern ausgesetzten Kinder (Mädchen werden in
China nicht selten zum Verhungern ausgesetzt) in ihrem Konvent zu erziehen.
Diese Schandthat ist fast ungerächt geblieben. 1874 wurde Mr. Margary, ein
hoffnungsvoller junger Mann, der im britischen Konsulate angestellt war, er¬
mordet. Hier mußte China zwar 30 000 Dollars Strafe zahlen, der wirkliche
Urheber des Mordes aber wurde Vizekönig von Foochow, wo er noch jetzt
regiert. Man schlug allerdings zwei Chinesen die Köpfe ab, aber auf einige
Köpfe kommt es in China nicht an; es heißt auch hier: HuiäcMÄ c1s1irg.vt
rsAk8 :e., was Seume bekanntlich übersetzte. „Wenn die Könige sich raufen,
müssen die Bauern Haare lassen." Wer die Zerstörung der Kolonie in Canton
zu bezahlen hat, wo dadurch, daß ein Hafenarbeiter über Bord fiel und ertrank,
der Pöbel aufgehetzt wurde, ist noch nicht bekannt; ein Faktum ist, daß der
englische Konsul den „Unterthanen Ihrer Majestät" verbot, Feuerwaffen zu
gebrauchen. Unglückliche Familienväter mußten mit ansehen, wie Weib und
Kind sich unter Lebensgefahr auf die Schiffe flüchteten, während das Haus
hinter ihnen in Flammen aufging. Die Männer durften sich nicht wehren,
wahrscheinlich um den Satz zu illustriren: Do<zrzs LuMstiing-n'« lions« is dis vWtlk.
Daß die eigentlichen Urheber des Straßenaufruhrs in Canton die obersten
chinesischen Behörden mit ihrem Appendix von Gelehrten?c. waren, erhellt wohl
deutlich aus dem Betragen des Vizekönigs von Canton, der, als ihm das Urteil
über den Zollbeamten Logan (der wegen Mordes eines Knaben zu sieben Jahren
Zuchthaus von der Jury verurteilt worden war) bekannt wurde, kalt bemerkte,
ein so gelindes Urteil (notabene von rechtmäßigen Richtern rechtmäßig gefällt)
würde die Cantonesen so erbittern, daß er für die Sicherheit der Fremden nicht
mehr verantwortlich sein könne. Keine Nation antwortete, daß sie sich dann
selbst beschützen würde, keine bemächtigte sich der Person des Vizekönigs, um
ein Pfand in den Händen zu haben. Die Diplomatie bedenkt nicht, daß von
solchen hochmütigen Ignoranten, wie die Mandarinen von der ersten bis zur
achten Rangklasse sind, zauberndes Zurückhalten immer für Schwäche gehalten
wird, und daß es lächerlich ist, Leute diplomatisch behandeln zu wollen, die
überhaupt nicht nach europäischem Maßstabe gemessen werden können.
Meine Erfahrungen im Verkehr mit guten und arbeitsamen Chinesen sind kurz
diese: Nie habe ich Haß oder Verachtung gegen Europäer bemerkt, dagegen ist
ihr Haß gegen Mandarinen:c. nur durch die Furcht vor denselben im Zaume
gehalten. Ist die Furcht beseitigt, so bricht der Chinese gegen die Beamten
gleich einem rasenden Dämon los, wie in der Taipingrebellion. Durch die
Rebellen wurden die schönsten Provinzen zur Einöde gemacht, besser schien es,
den Taipings alles zu ruiniren, als eine Existenz wie die bisherige fortzu¬
führen, Reisende, welche zu jener Zeit die Rebellenprovinzen besuchten, haben
Szenen ansehen müssen, die zu dem schaurigsten gehören, was die Geschichte
verzeichnet. Auch jetzt ist die Stimmung des Volkes noch erregt, Aufstände
im Innern Chinas sind nicht selten, doch kommen dabei keine feindseligen Ge¬
fühle gegen Fremde vor. Der gemeine Chinese hat von Frankreich natürlich
nie etwas gehört; nur Selterswasser nennt er Iio In,utsui (Franzosenwasser),
weil die erste Sodawasserfabrik in China von Franzosen angelegt wurde. Seine
geographischen Kenntnisse erstrecken sich vielleicht eine gute Tagereise weit über
seine Wohnung hinaus, wenn die Wege nicht zu schlecht sind; von Tongking
weiß er gerade soviel wie ein echter deutscher Bauer vom innern Afrika;
Interesse für jenes Land existirt natürlich nicht.
China ist bekanntlich ein sehr geldarmes Land, da seine natürlichen Reich¬
tümer zum großen Teil unaufgeschlossen sind. Durch die Einrichtung der
europäisch organisirten Zollbehörde gewann die Zentralregierung baares Geld
und Kredit, denn trotzdem, daß die Abgaben in China sehr drückend waren
und es noch sind, war der Geldmangel so groß, daß z. B. der Gehalt eines
Tsungtu (Vizekönigs) offiziell ganze 1000, sage tausend Mark jährlich betrug.
Dabei muß der Vizekönig, der als oberste Zivil- und Militärbehörde fungirt,
einen angemessenen Aufwand machen, wie es die Repräsentation einer Provinz
erfordert, die halb so groß wie Deutschland ist und vielleicht mehr Einwohner
als ganz Deutschland zählt. Bei solchen Verhältnissen ist es nicht zu ver¬
wundern, daß jeder Beamte alles nimmt, was irgend zu erreichen ist, und die
erpreßten Steuern in tausend Kannten verschwinden. Die europäische Zoll¬
behörde publizirt natürlich jährlich auf Heller und Pfennig ihre Einnahmen
und liefert den Überschuß nach Abzug der Leuchtfeuer-Unterhaltungskosten?e.
vollständig an die höchsten Behörden ab. Der nsrvus rsruin ist also vor¬
handen, und wie Kinder, die zum erstenmal eine Kleinigkeit Geld zur freien
Verfügung erhalten, kauften die bezopften Würdenträger des Reiches der Mitte
dasjenige, was ihnen am meisten gefallen und imponirt hatte. Kriegsschiffe
und mächtige Hinterlader wurden von den sonst verachteten Barbaren in großer
Anzahl erstanden. Die Reorganisation der Landarmee und der Marine wurde
begonnen und auf dem Papiere auch ausgeführt.
Nachstehend gebe ich einige Beobachtungen über die Land- und Seemacht
Chinas, wie sie der unbefangene Fremde in einer chinesischen Hafenstadt
machen kann.
Die kaiserliche Armee besteht aus Regularen und Miliz. Die letztern
können mit ein paar Worten abgethan werden: es ist der ärmste, schmutzigste
und zerlumpteste Janhagel, der aufgetrieben werden kann. Exerzieren habe ich
die Leute nie gesehen, es wird ihnen ein Soldatenkittel umgehängt, sie erhalten
eine rostige Muskete oder auch einen Spieß, dann wird ihr Name verlesen, und
nachdem, wie bei uns auf der Kontrolversammlung, jeder seinem Namensaufruf
entsprochen hat, werden sie entlassen. Mit Aussatz behaftete und Halbblinde
sind unter dieser Truppe; hier könnte der selige Sir John Falstaff seine glor¬
reiche Nobelgarde, die er gegen Hotspur zu Felde führte, übertroffen sehen.
Die regulären Soldaten sind bedeutend besser; ja es ist nicht zu leugnen,
daß diese Leute physisch ganz gute Soldaten abgeben könnten. Hier in Süd¬
china bestehen die Garnisonen aus Nordchiuesen, meistens aus der Provinz
Honan gebürtig. Es sollen auch ewige zwanzigtausend Mandschu-Tartaren und
Mongolen (in etwas geringerer Anzahl) formirt sein, diese sind jedoch wohl nur
als „Prätorianer" zu rechnen. Als die chinesische Regierung die Taipingrebellen
nicht allein bezwingen konnte, beauftragte sie den bekannten Mr. Gordon (jetzt
General im Sudan), ein Bataillon europäischer Soldaten zu bilden, und dieses,
obwohl nur fünfhundert Mann stark, leistete, von Shanghai den Jcmgtsekian
hinaufmarschirend, vor Ranking die ausgezeichnetsten Dienste. Mehr als alle
Siege der Franzosen und Engländer überzeugte Gordons InvmeMs -uur^
viele hochstehende Chinesen davon, daß europäische Disziplin und Kriegführung
mit der ihrigen schlechterdings nicht zu vergleichen sei. Nun sind aber die Chi¬
nesen bekanntermaßen das konservativste Volk der Erde, d. h. es ist fast unmög¬
lich, irgendeinen Übelstand oder eine Absurdität zu beseitigen, wenn er ihnen
durch langen Abusus geheiligt erscheint. Es mag sein, daß irgendwelche auf¬
geklärte Mandarinen wirklich eine Radikalreform der Armee beabsichtigten, und
dazu wäre wohl der richtigste Weg gewesen, durch fremde Offiziere und Unter¬
offiziere ein Lehrbataillon bilden zu lasten. Statt dessen engagirte jeder reform¬
lustige General irgend einen Europäer, der sich für kompetent ausgab. Aben¬
teurer, die sich oft durch die niedrigsten Mittel bei den betreffenden Behörden
einzuschmeicheln wußten, erhielten derartige Stellungen und bezogen hohe Gagen.
Es mögen einzelne Bataillone auf europäische Art gedrillt sein, von wirklicher
Verbesserung der Armee ist nicht die Rede. So erzählt Dr. Finsch, der 1876
auf einer Reise nach Westsibirien die chinesische Grenzstadt Tschugutschak be¬
suchte: „Die Soldaten, Grenzwächter gegen Rußland, machten einen armseligen
und lächerlichen Eindruck. Ihre einzigen militärischen Abzeichen bestanden in
einem runden Mützenknopf aus Krystallglas, von welchem ein oder zwei Streifen
rotgefüttertes Marderfell herabhingen, und in einem großen Ringe, der am
Daumen der rechten Hand getragen wurde, um den Rückschlag der Bogensehne
zu Pariren." Also Bogenschützen als Bewachung der exponirten russischen Grenze!
Englische illustrirte Journale geben ihren Lesern schöne Bilder chinesischer
Truppen mit Hinterladergewehren und Kruppsche» Kanonen, aber derartige
Bilder werden die Franzosen wenig schrecken. England will natürlich keinen
Krieg, sowohl der Handelsstörungen als seiner eignen Ländergier wegen. Wenn
China wirklich disziplinirte Soldaten hat, die etwas leisten können, weshalb
sendet es dieselben nicht nach Formosa oder Haman? Die Ureinwohner von
Formosa führen einen Grenzkrieg gegen die Chinesen mit gutem Erfolge, und
während die Japanesen, welche mit der Armeereform wirklich Ernst gemacht
haben, mit Leichtigkeit die Bergstämme in Südformosa züchtigten (1873), richten
die Chinesen garnichts aus. Die Kriegführung ist die althergebrachte, beide
Parteien halten sich in respektvoller Entfernung voneinander und feuern aus
alten, verrosteten Musketen; wagt sich ein Soldat oder ein Wilder zuweit vor,
wird er niedergeknallt und sein Kopf als Trophäe ins Lager gebracht. 1878
schickte die Foochowregierung einen berühmten General mit 1500 Soldaten zur
ernsthaften Betreibung des Krieges nach Formosa. Was dieser Held für Er¬
wartungen bei den Chinesen erregte, weiß ich nicht; Thatsache ist, daß der Ge¬
neral unter mancherlei Versprechungen zwölf Wilde zum Schmaus einlud und
seine Einladung aeceptabel zu machen wußte. Zum Dessert wurden dann den
armen wilden Tölpeln die Köpfe abgeschlagen. Ländlich, sittlich — der Grenz¬
krieg dauert fort.
Als ich in Port Said die halbverhungerter ägyptischen Soldaten sah, die
als Schildwache, das Gewehr im Schilderhaus, in die nützliche Beschäftigung
des Strumpfstrickens versunken waren, dachte ich, daß miserablere Kerle als die
künftigen Helden Arabis wohl kaum auf Erden Soldaten hießen. Jetzt bin ich
andrer Ansicht, ich glaube fest, daß der chinesische Reguläre sich zum ägyptischen
Soldaten verhält wie der ägyptische zum preußischen Grenadier. Schon die
Kleidung eines chinesischen Soldaten, wie ich sie in Südchina sah, ist lächerlich:
ein kurzer Mantel mit sehr weiten Ärmeln, auf dessen Vorder- und Rückseite
große, runde Weiße Lappen aufgenäht sind. Auf der Vorderseite stehen chine¬
sische Charaktere, die den Inhaber des Mantels den Feinden gegenüber furchtbar
erscheinen lassen sollen, Mut, Tapferkeit ze. bedeutend, auf dem Rückenlappen:
Soldat. Ein Turban von grobem Tuch, kurze, weite Beinkleider und Stroh¬
sandalen vollenden die Uniform, doch werden an Galatagcn Strümpfe und
Schuhe getragen. Die weitere Ausrüstung besteht aus dem unvermeidlichen
großen grünen Sonnenschirm und den Waffen, die verschiedner Art sind. Eine
Lanze mit ungeheuer großer Fahne oder eine verrostete Muskete, oft ohne
Bajonnet, zuweilen noch ein Gurt mit Seitengewehr. Die Gewehre sind sehr
schlecht gehalten, von Rost zerfressen, da der Soldat sie nie blank putzt. Mit
dem Bajonnet voran steckt er von Zeit zu Zeit das Gewehr in den Sand,
darin besteht das Putzen. Ich habe oft gedacht, was mein alter cholerischer
Feldwebel wohl zu dieser Art des Putzens gesagt haben würde, oder wieviel
Mittelarrest wohl derjenige bekommen hätte, dessen Gewehr sich in gleichem Zu¬
stande befunden hätte, wie das des fleißigsten Putzers in der chinesischen Armee.
Übrigens waren die Gewehre, die ich gesehen habe, sämtlich Vorderlader; wo
die Tausende von Hinterladern geblieben sind, welche die Chinesen in Amerika
und bei uns gekauft haben sollen, kann ich nicht sagen.
Kanonen habe ich genug gesehen, von vielerlei Systemen, die feinsten Krupp-
und Armstronggeschütze, Mitrailleusen ?e. Die Behörden haben große Energie
gezeigt, Batterien und Festungen an allen Plätzen zu errichten, wo eine Landung
der Barbaren zu befürchten steht. Häufig genug gleichen jedoch diese Be¬
festigungen denjenigen, die artige Knaben für ihre Bleisoldaten zu Weihnachten
erhalten. Die Pläne der Anlagen sind entweder der ungeschulten Phantasie
chinesischer Vaubans entsprungen, oder die Anlagen wurden unter Leitung
Fremder erbaut. Häufig waren diese kaiserlich chinesischen Kriegsbaumeister
Ignoranten, welche als frühere Matrosen, Soldaten, Kaufleute keine Ahnung
vom Festungsbau hatten. Die Bauten haben China enorme Summen gekostet,
die Mandarinen haben sich dabei großartige Veruntreuungen von Staatsgeldern
erlaubt. Mir ist ein Fall bekannt, wo die Negierung dem beaufsichtigenden
Mandarinen für Bastionen einer Küstenbefestignng achthundert Dollars für jede
Bastion (3200 Mary bezahlte. Der Mandarin verkaufte seinen Kontrakt an
kleinere Schwindler, welche sich verpflichteten, die Bastionen für je siebzig Dollar
zu erbauen. Je siebenhundertdreißig Dollars sielen also in die Tasche des
Beamten. Natürlich war die Bauart entsprechend schlecht; das Innere der
Mauern war mit Erde gefüllt, statt massiv von Sandstein aufgeführt zu sein.
Beim ersten heftigen Negensturm stürzte der größte Teil der Bastionen zu¬
sammen. In Europa wäre sicher hierauf eine Untersuchungskommission ernannt
worden, hier wurden die eingestürzten Mauern in derselben schlechten Weise
wieder aufgebaut und kein Mensch kümmerte sich um die Sache. Es ist kaum
glaublich, daß von Soldaten wie den chinesischen hinter solchen Befestigungen
energischer Widerstand geleistet werden wird!
Alle Forts und Festungen, welche ich gesehen, haben große, selbst dem
Laienauge sich nicht verbergende Fehler. Als ich einst den chinesischen Kapitän
eines Kanonenbootes fragte, ob er Fehler an einem in Canton gelegenen Fort
fände, sagte der Seeheld: „Oh ja, das Fort ist schlecht, wird es angegriffen und
mit Sturm genommen, können die Verteidiger nicht weglaufen, sondern müssen
alle umkommen." Der Seemann hatte nicht bemerkt, daß die Kanonen infolge
der verfehlten Bauart der Batterie unmöglich den Fluß bestreichen konnten, der
doch die Hauptangriffslinie bildet.
Im offnen Felde wird eine chinesische Armee sich wohl schwerlich mit einer
europäischen messen, selbst wenn sie an Zahl derselben weit überlegen wäre.
Es fehlt den chinesischen Soldaten eben alles, was den gedienten Soldaten vom
Rekruten unterscheidet. Jeder, der Soldat gewesen, weiß, wieviel Wert ein
ordentlicher Drillmeister auf das sogenannte Tuchfühlen giebt, d. h. auf die leise
Berührung der Nebenmänner vermittelst des Ellenbogens. Es mag dies in¬
different erscheinen, doch giebt es den Leuten ein Gefühl der Sicherheit und
Unüberwindlichkeit, die ganze Linie gleicht einer elektrischen Kette, jeder einzelne
weiß, daß, was auch immer das Kommando sein mag, alle Glieder der Kette
dieselbe Bewegung machen. Die chinesischen Soldaten, die beim Marschiren wie
eine Gänseherde einer hinter dem andern herlaufen, beim Exerzieren dagegen um-
hertanzen, als ob Feinde von allen Seiten andrängen, kennen dies Gefühl gar¬
nicht. Auf mich machten die Exerzierübungen immer einen lächerlichen Eindruck,
Die Armee Chinas hat überhaupt weder Generale noch Ober- oder Unter¬
offiziere, welche diesen Namen verdienen. Absoluter Gehorsam existirt nicht.
Als ein höherer Offizier mir einst ein neues Geschütz zeigen wollte, befahl er
den neugierig umherstehenden Soldaten die Bedeckung desselben abzunehmen.
Die Soldaten lachten den Offizier buchstäblich aus, da es nach sechs Uhr und
der Dienst beendet sei. Der Offizier nahm die Bedeckung selbst ab, ohne ein
Wort zu sagen. Es herrscht eben kein Respekt, und dies ist nicht wunderbar,
da die Offiziersstelleu, soweit sie nicht durch hoher Herren Gunst vergeben werden,
durch Examina zu erlangen sind, in denen natürlich Kenntnis der chinesischen
Schriftzeichen und der Lehren des Konfuzius die Hauptrolle spielen. Man
denke sich unsre Armee auf Schönschreiben und Theologie geprüft! Übrigens
sind, soweit ich chinesische Offiziere kennen lernte, dieselben geldgierige und ge¬
wissenlose Ignoranten.
Train, Sauitätswesen fehlen in China, und wenn von Einführung euro¬
päischer Wundarznei bei der chinesischen Armee geredet wurde, so beruht dies
auf Täuschung. Ist ein armer Soldat verwundet worden oder ist er erkrankt,
so überläßt man ihn seinem Schicksal. Die chinesische Armee kennt Blessirte :c.
so wenig wie seiner Zeit die russische unter Potemkiu. Kein chinesischer Arzt,
er sei denn von europäischen unterrichtet, ist imstande, die leichteste Operation zu
machen, herzlos, ohne Mitgefühl verrichten sie etwaige Amputationen in der
barbarischsten und rohesten Weise. Übrigens geht im Kriege kein Arzt oder
Wärter mit den Truppen, um dieselben eventuell zu pflegen. Die armen, zu
Soldaten gepreßte», von ihren Vorgesetzten mißhandelten und von den Gelehrten
verachteten Kerle wissen dies sehr gut; es ist daher kein Wunder, daß ihnen
das vuios se clsoorum sse xro Mrig, niori durchaus nicht in den Kopf will
und sie ausreißen, soweit sie nicht hinter sichern Wällen verschanzt sind.
Ich habe schon bemerkt, daß die Regularen der chinesischen Armee kräftige
Leute sind und unter andrer militärischer Erziehung wohl kein schlechtes Kriegs¬
material abgeben würden. Dies gilt jedoch nur für die neueingetretenen; ältere
Soldaten sind oft wahre Jammergestalten. Schmutz und Krankheiten, Infektion
mit Syphilis und Opiumraucher verrichten hier ein fürchterliches Werk. Mit
Syphilis sind meiner Ansicht nach fast sämtliche chinesischen Krieger infizirt, und
obgleich Opiumraucher verboten ist, sind doch wohl neun Zehntel diesem Laster
ergeben, Offiziere mehr noch als Gemeine. Ich glaube, daß ein Regiment,
welches unmittelbar nach dem Verlassen der Garnisonstadt harten Strapazen
ausgesetzt wäre, bald zu einem miserabeln Haufen von Marodeuren herab¬
sinken würde.
Was von der Armee gesagt ist, gilt fast in demselben Maße von der Marine
des Kaiserreichs. Ungeheure Summen sind für Seearsenale, Docks, Schiffe
und deren Armatur ausgegeben worden, und damit glaubten die Behörden ihre
Pflicht gethan und China zu einer Seemacht ersten Ranges erhoben zu haben.
Obgleich der Küstenchinese ein ganz tüchtiger, in gewisser Hinsicht sogar kühner
Seemann ist, so blieb doch die Entwicklung der Marine hinter berechtigten Er¬
wartungen zurück, weil sie eben eine Pflanze ist, die von dem kranken Organismus
des chinesischen Reiches ernährt wird. Europäische Schiffe hier an der Küste
entlassen oft ihre Mannschaft und heuern chinesische Matrosen, weil dieselben
billiger und bei heißem Wetter auch ausdauernder sind als Europäer. Noch
nie hat man es aber gewagt, Chinesen zu Offizieren oder gar zu Kommandeuren
europäischer Schiffe zu machen, weil ihnen die dazu nötigen nautischen Kenntnisse
fehlen. Auch sind die chinesischen Seeleute eigentlich nur passiv mutig, bei ent¬
schiedener Gefahr verlieren sie die ruhige Überlegung und erwarten das äußerste
entweder vollständig apathisch oder sind nur auf eigne Rettung bedacht. Bis
zum letzten Augenblick furchtlos und hoffnungsvoll zu arbeiten wie ein euro¬
päischer Seemann, um Schiff und Mannschaft zu retten, ist nicht Sache des
Chinesen.
Die kaiserliche Marine hat jetzt gar keine Fremden mehr an Bord, die
Kommandeure der Schiffe sind entweder alte chinesische Küstenlotsen oder junge
Leute, die ihre Lehrzeit von wenig Jahren in hiesigen von Fremden geleiteten
Arsenälen oder in der englischen Flotte absolvirt haben. Die erste Klasse, die
der alten Lotsen, sind entschieden die bessern Schiffsführer; ihre genaue Kenntnis
der Küste macht es ihnen möglich, bei schwerem Wetter einen sichern Platz zum
Ankern zu finden. Von den jungen, im Auslande oder von Fremden vor¬
gebildeten Herren gilt das Wort des Jägers in Wallensteins Lager: „Wie er
räuspert und wie er spuckt" u. s. w. Geht es aber in ernste Gefahr, so ist auf
sie kein Verlaß. Ähnlich ist es mit den Maschinisten; geht alles gut, so sind
sie zu gebrauchen, nur verbrauchen sie mehr Kohlen und fahren langsamer als
ein europäischer tüchtiger Maschinist, der seine Maschine sozusagen lieb hat und
dieselbe ordentlich pflegt. Ich hatte einmal das zweifelhafte Vergnügen, auf
einem chinesischen Kriegsschiffe zu reisen. Der Kapitän, ein Zivilmandarin,
wurde seekrank, sowie das Schiff den Hafen verließ, der erste Offizier, ein
falliter Kaufmann, der die Stelle mit dem Reste seiner Gelder erkauft hatte,
verstand absolut nichts von der Navigation. Da die Stellen in der Marine
gut bezahlt werden und die Offiziere xsr räh se iistas nebenbei tüchtig
Geld zu machen verstehen, so sind dieselben sehr gesucht. Der zweite Offizier
war der einzige Mann an Bord, der etwas von der Leitung eines Schiffes
verstand. Was aus uns geworden wäre, wenn ihn ein Unfall betroffen hätte,
weiß ich nicht; ich war jedenfalls herzlich froh, als wir unsern Bestimmungsort
erreicht hatten.
Solange die Marine nur zu Friedensarbeit Verwendung findet, wird alles
ganz leidlich gehen. Die Schiffe werden notdürftig sauber gehalten, zuweilen,
aber selten, Geschützübungen angestellt. Die Disziplin ist lax, jeder amüsirt sich,
sogut er kann. Die Langeweile einer Küstenfahrt (die Kommandeure verlieren
die Landmarken nicht gern aus dem Fernrohre) wird durch die beiden perni¬
ziösen Leidenschaften der Chinesen ertötet, durch Opiumraucher und durch Hazard-
spiele. Wenn eine feindliche europäische Flotte erscheinen sollte, so wird das
Phantom einer chinesischen widerstandsfähigen Seemacht bald verschwinden.
Wenn das Urteil des Verfassers dieser Arbeit ein zu hartes scheinen sollte,
so findet dies seine Erklärung darin, daß er während seines langjährigen Auf¬
enthalts in China mit Mißmut den stetig wachsenden Dünkel der sogenannten
Kriegspartei gesehen und durch besonders günstige Umstände Gelegenheit gehabt
hat, die ganze Hohlheit der chinesischen Kriegsrüstungen zu erkennen. Eben
mit demselben, ja vielleicht mit noch günstigern Erfolge wie England 1842,
würde jetzt eine europäische Großmacht China angreifen. Wenn dadurch die
Mandarinenoligarchie, unter welcher das Volk seufzt, zerstört würde, so wäre
dies sicher ein Gewinn. Einsichtige Chinesen würden sogar den Sturz der jetzt
regierenden Mandschu-Tataren oder Tsingdynastie, welche 1644 durch Eroberung
zur Herrschaft gelangte, nicht allzusehr bedauern, da China unter dieser Herr¬
schaft bisher nur Rückschritte gemacht hat, während andre Völker vorwärts eilten.
Die herrschenden Klassen Chinas verachten die Fremden und wollen nichts von
europäischer Kultur wissen, also n^beWt sibi. Die Imitation der fremden Ein¬
richtungen nützt nichts, solange der Geist der herrschenden Klassen sich nicht
ändert. Ohne Ehrgefühl und ohne wahre Vaterlandsliebe ist Chinas Armee
und seine Marinemannschaft nicht viel mehr als ein waffentragender Pöbelhaufe,
und Ausgabe» für Flotte, Festungen und Geschütze nutzlos vergeudet.
in Jahre 1855 reiste Turgeniew, begleitet von dem bekannten
Scheidegrnß Nekrassows: „Lebe wohl! Ich beneide dich!" ins
Ausland, wohin ihn auch eine alte Freundschaft zog. Im Jahre
1846 war er in Petersburg mit der schon damals berühmten
Künstlerin Pauline Viardot-Garcia bekannt geworden und blieb
von da an bis zu seinem Tode in den engsten freundschaftlichen Beziehungen
zu ihrer Familie. Die zeitige Verbannung hatte ihn von den ausländischen
Freunden getrennt, aber bei der ersten Möglichkeit eilte er wieder zu ihnen.
Er war, wie er selbst sagt, an diese Fremden „gefesselt," und da er immer
Junggeselle blieb, verlebte er die Hälfte seines Lebens mit ihnen und für sie.
Seine Mutter sagte ihm mit Recht, er sei einer von den „Einliebigen," d. h.
von denen, welche nur einmal im Leben wahr, tief, selbstverleugnend lieben
können und während ihres ganzen Lebens ihrer ersten Neigung treu bleiben.
Mit der Familie Viardot bereiste Turgeniew später ganz Europa, wobei er
vorzugsweise in Paris und Baden-Baden lebte und nur zeitweise, aber nicht
auf lange, Petersburg und sein Orelsches Landgut besuchte.
Genau mit dem Leben der verschiednen Schichten der russischen Gesellschaft
und der größten Städte und Kulturstätte» Europas bekannt, war er nun im
Laufe der nächsten Jahre außerordentlich fruchtbar. In der zweiten Hälfte der
fünfziger Jahre erschienen die Perlen seines Schaffens: 1856 „Rudin" und
„Faust." 1858 „Aßja," 1859 „Das adliche Nest," endlich 1860 „Am Vor¬
abend" und „Erste Liebe," letzteres eine Erzählung, die Turgeniew selbst höher
schätzte als alle seine übrigen. Alle diese Erzeugnisse verschafften Turgeniew
unter den russischen Schriftstellern einen Platz, den vor ihm nur wenige er¬
reicht hatten. Die Kritik erörterte dnrch ihre hervorragendsten Vertreter die
literarische und soziale Bedeutung dieser Werke, von denen jedes einzelne in
seiner Art ein Ereignis war, die lebhaftesten Auseinandersetzungen hervorrief,
die Aufklärung der leitenden Elemente der sozialen Entwicklung förderte.
Den Winter von 18S7 auf 1858 verlebte Turgeniew in Rom, wo sich
damals viele Russen aufhielten, unter ihnen Fürst Tscherkaßkij, W. P. Botkin
und Rostowzow. Bei den ersten Nachrichten von der Absicht der russischen
Negierung, die Bauern zu befreien, veranstaltete diese russische Kolonie Ver¬
sammlungen, auf denen alle Seiten dieser Lebensfrage beraten, Reden gehalten
wurden (durch besondre Beredsamkeit zeichnete sich Fürst Tscherkaßkij aus) und
schließlich der Gedanke entstand, ein Journal zu gründen, welches ausschließlich
und eigentlich der Durcharbeitung aller, die Regelung des bäuerlichen Daseins
betreffenden Fragen gewidmet sein sollte. Das Programm dieses Journals er¬
örterte Turgeniew ausführlich in einer besondern Abhandlung, in der er mit
Wärme nachwies, daß die Regierung sich bei Entscheidung einer so wichtigen,
tief einschneidenden Frage notwendigerweise an die Mitwirkung der Presse und
der Öffentlichkeit wenden müsse. Der Fürst Tscherkaßkij nahm diese Abhand¬
lung mit nach Petersburg, in der Absicht, sie höchstenorts zur Durchsicht vor¬
zulegen. Aber alle diese Pläne erwiesen sich als verfrüht, wie denn auch das
Programm der in Vorschlag gebrachten Zeitschrift nicht vollständig verwirklicht
wurde.
Zu Anfange der sechziger Jahre brachte Turgeniew den Winter gewöhnlich
in Paris und den Sommer zum Teil im Gouvernement Orel, zum Teil in
Baden-Baden zu. Hier beschäftigte er sich gemeinschaftlich mit Louis Viardot,
dem bekannten Schriftsteller (er starb 1883 kurz vor Turgeniew), mit ästhe¬
tischen und kulturhistorischen Gegenständen und mit der Übersetzung Puschkinscher
Bühnenstücke ins Französische. Diese Übersetzung wurde 1862 in Paris gedruckt.
In demselben Jahre erschien im Februarhefte des „Russischen Boten" ein neuer
Roman Turgeniews „Väter und Söhne," welcher nicht mir in der russischen
Literatur, sondern auch im Leben des Verfassers ein wichtiges Ereignis bildet.
Der Erfolg dieses Romans übertraf bei weitem alles, was sich bis dahin in
der literarischen Welt Rußlands, die doch schon manchen Erfolg gesehen, voll¬
zogen hatte, während sein unmittelbar gegen das „Übel des Tages" gerichteter
Inhalt die Veranlassung zu anhaltenden und leidenschaftlichen Streitigkeiten
und mehr noch zu erbitterten persönlichen Vorwürfen wurde. Man fiel von
allen Seiten über Turgeniew her, sowohl wegen des Wortes „Nihilist," mit
dem Nadeschdin seinerzeit, im Jahre 1829, Puschkin, Polewvi und andre Ver¬
treter der literarischen Romantik bezeichnet hatte, und das Turgeniew benutzte,
um damit einen neuen sozialen Typus zu kennzeichnen, als anch wegen der an¬
geblich spöttisch verzerrten Schilderung der handelnden Personen und wegen der
vermeintlichen Absicht des Romans. Die „Väter" äußerten Unzufriedenheit über
ihre Porträts und zeigten sich geneigt, den Verfasser selbst als Anhänger der
„nihilistischen" Lehren Basarows anzusehen; der Redakteur des „Russischen
Voden" versicherte, daß Turgeniew auf seinen Rat „in die Gestalt BasarowS
kleine Züge hineingezeichnet hätte, ohne welche dieselbe vielleicht ganz zu gunsten
des Nihilismus ausgefallen wäre und der leere, verbitterte, rohe swcllosus
nuzclioiuÄiz als erhabenes Ideal für die junge Nachkommenschaft hervorgetreten
fein würde." Die Jugend ihrerseits überschüttete Turgeniew mit heftigen Vor¬
würfen und nannte den Mann, der noch kürzlich für den Zerstörer des Leib¬
eigenenrechts gegolten hatte, „Verräter an der Sache der Freiheit." Die rus¬
sischen Studenten in Heidelberg, deren es damals dort sehr viele gab, beschlossen
- sogar, über Turgeniew eine eigne Art von Gericht zu halten, sie forderten von
ihm eine Aufklärung über den Sinn und die Ziele seines Romans. Turgeniew
nahm die Aufforderung an, reiste eigens von Baden-Baden nach Heidelberg
und gab vor einem Haufen seiner Ankläger die Aufklärung — annähernd die,
welche er später drucken ließ. Derselbe Roman Turgeniews gab — teilweise
wenigstens — die Veranlassung zum Abbruch der frühern freundschaftlichen Be¬
ziehungen zwischen ihm und Herzen, welcher Turgeniew durch eine äußerst scharfe
Äußerung gekränkt hatte. Das gegenseitige Mißvergnügen erreichte den Grad,
daß Turgeniew den Photographen S. L. Lawitzkij dringend ersuchte, die Platten
zu vernichten, auf denen er neben dem Herausgeber des „Kökökök" dargestellt
war. Und zu derselben Zeit wäre fast infolge mangelhaften Verständnisses im
Senat eine Verhandlung „über die verbrecherischen Beziehungen Turgeniews
zu Herzen" angeregt worden. Als Verteidiger Turgeniews traten seine Peters-
burger Freunde auf, und unter diesen wieder der Graf A. K. Tolstoy. In den
Briefen an diese Freunde erklärte Turgeniew, daß er zu Anfange des Winters
1862 mit Herzen einige Briefe gewechselt habe, welche zu ihrem endgiltigen
Bruche geführt hätten.
Bereits früher hatte sich Turgeniew beinahe fürs ganze Leben von Ne¬
krassow, dem er vorher so nahe stand, getrennt. Über die Ursache dieser Un¬
einigkeit können wir nur mitteilen, was darüber in der Presse bekannt geworden
ist. Der Aufsatz Turgeniews „Hamlet und Don Quixote" stand noch im ersten
Hefte des „Zeitgenossen" von 1860, während schon die Erzählung „Am Vor¬
abend" in den beiden ersten Heften des „Russischen Boten" von 1860 erschien.
Nun schrieb Dobroliubow im Märzhefte des „Zeitgenossen" desselben Jahres,
diese Erzählung habe auf das Publikum einen schwachen, zum Teil unangenehmen
Eindruck gemacht. In der blassen Zeichnung Jassarows fand die Kritik den
hauptsächlichsten künstlerischen Mangel der Erzählung. Dann geriet der Name
Turgeniews im ersten Hefte des „Zeitgenossen" von 1861, in der „Pfeife," in
dem Gedichte „Gedanken eines Journalisten" gar in Spottgedichte.
Der „Zeitgenosse" wurde damals von vielen verurteilt, daß er Turgeniew
nur so lange gerühmt habe, als dieser darin seine Geisteserzeugnisse habe er¬
scheinen lassen. Hierauf antwortete der „Zeitgenosse" im sechsten Hefte von
1861, daß der Bruch zwischen Turgeniew und ihm auf folgende Weise ent¬
standen sei: „Unsre Denkungsweise wurde Herrn Turgeniew so klar, daß er auf¬
hörte, sie zu billigen. Wir mußten zeigen, daß die letzten Erzählungen Herrn
Turgeniews nicht so vollständig unsrer Ansicht der Dinge entsprachen wie früher,
als weder seine Richtung so klar für uns war, noch unsre Auffassung für ihn.
Wir trennten uns. Ob es so war? Wir beziehen uns auf Herrn Turgeniew
selbst." Schließlich erschien in Veranlassung von „Väter und Söhne" im
dritten Hefte des „Zeitgenossen" von 1862 ein großer kritischer Aufsatz von
Antonowitsch: „Der Asmodi unsrer Zeiten," worin Turgeniew eine Tendenz
von wenig anziehender Art zugeschrieben wurde,*)
Alle diese und viele andre Unannehmlichkeiten wirkten so drückend auf
Turgeniew, daß er ernstlich daran dachte, seine literarische Thätigkeit aufzugeben,
und vielen Freunden und Bekannten dies auch aussprach. Aus diesem Wunsche,
von der Literatur Abschied zu nehmen — welcher sich bekümmert in dem lyrischen
Fragmente „Genug!" (1864) äußerte —, war Kränkung, Betrübnis und die
Erkenntnis herauszufühlen, daß das neue Rußland den Schriftsteller, welcher
immer für dasselbe nach Idealen und Vorbildern gesucht hatte, nicht mehr
begriff. Aber der unbesiegliche Schaffensdrang war viel zu lebhaft in ihm,
als daß Turgeniew ihm lange hätte widerstehen können, und so griff er nach
kurzer Unterbrechung wieder zur Feder.
Im Jahre 1863 siedelte Turgeniew mit der Familie Viardot ganz von
Paris nach Baden-Baden über. Der politische und moralische Dunstkreis des
napoleonischen Cäsarismus wurde damals schon sehr drückend. In Baden lag
in einem der geschütztesten Thäler, dem Tiergartenthale, die Villa Viardot, in¬
mitten eines parkähnlichen Gartens, auf der einen Seite von dem mit Fichten
bewachsenen Höhenrücken des Sadorberg umgeben, auf der andern von saftigen
Wiesen. Eine dieser Wiesen, welche an den Viardotschen Park stieß, kaufte sich
Turgeniew 1865 und begann darauf ein Haus zu bauen, im Stile Ludwigs XIII.,
mit einem hohen Dache, welches mit Mansarden und Schornsteinen besäet war.
Innen war das Haus in demselben Stile ausgeschmückt, und um dasselbe
herum wurde ein kleiner Garten mit Obstbäumen und verschiednen Verzierungen
angelegt, Lauben, Rasenplätzen, Kiosken und Fontainen. Dieser Garten wurde
durch einen Bach bewässert, der in der Nähe entsprang, und durch eine lebendige
Hecke von dem Viardotschen Parke getrennt. Turgeniew bezog dies Haus im
Jahre 1866 und bewohnte es bis Mitte 1870. Hier besuchten ihn seine
Berliner Freunde: Bodenstedt, Ad. Menzel, Paul Heyse, Ernst Dohm, Paul
Lindau, Julian Schmidt (welcher von der ersten Bekanntschaft an ein warmer
Verehrer des russischen Romanschriftstellers geworden war und ihn in seinen
literarischen Studien mehrfach die größte dichterische Kraft unsrer Zeit genannt
hat), und Ludwig Pietsch, der bekannte Illustrator und Kritiker, welcher damals
interessante Mitteilungen über Turgeniew veröffentlichte.
Das Haus der Madame Viardot war damals eine höhere Schule des
Gesanges; von allen Seiten kamen junge, begabte Sängerinnen, um den Unterricht
der berühmten Künstlerin zu genießen. Die bewährte Lehrerin gab ihren
Schülerinnen häufig Gelegenheit, ihre Kräfte in der Ausführung leichter dra¬
matischer Partien zu versuchen. Dazu war es nötig, solche Stücke auszusuchen,
in denen alle Rollen mit geringen Ausnahmen mit den jungen Schülerinnen besetzt
werden konnten. Für diesen Zweck verfaßte Turgeniew, welcher die Musik immer
sehr liebte, anfangs ein kleines Singspiel I^ÄuberAs on 1s Zremä «Mglisr, und
dann drei heitere, phantastische Märchen voll lebendigen Humors: I/OZrö, eontiz
as los, ()rÄ(ZHUöm,le,do, 1s elsrnisr clss soreiers und 1'rox as tsmmss, Madame
Viardot setzte sie in Musik und gab zuweilen selbst darin die Kontrealtpartic.
Turgeniew übernahm die Rolle des Menschenfressers, des Zauberers oder
Paschas, welchen reizende Elfen oder Haremsbewohnerinnen trotz seiner un¬
geheuern Stärke verlocken, besiegen und quälen- An der Aufführung dieser
Operetten nahmen mich die Kinder der Madame Viardot teil und ihre junge,
talentvolle Schülerin, Fräulein Beilotz. Regisseur war gewöhnlich der Stutt¬
garter Kapellmeister Eckert, welcher auch auf dem Klavier begleitete. Die untere
Etage des Turgeniewschen Landhauses war für die Theatervorstellungen her¬
gerichtet und mit dem notwendigsten Zubehör versehen worden. Zu diesen
Vorstellungen sand sich ein auserwähltes kosmopolitisches Publikum aus Baden
zusammen. ZuWeile» waren auch die gewöhnlichen jährlichen Gäste von Baden
anwesend, König Wilhelm von Preußen, jetzt deutscher Kaiser, und seiue Gemahlin.
Turgeniew zeigte damals nach den Mitteilungen von Pietsch, wie absichtlich,
eine ungewöhnliche Trägheit zu geistiger Thätigkeit. Er widmete anscheinend
seine ganze Zeit der freundschaftlichen Unterhaltung mit der ihm teuern Familie
und dem Genusse der Musik, welche eines der Hauptbedürfnifse seines Lebens
bildete, und von Mitte August um — der Jagd, welche ununterbrochen seine
größte Leidenschaft war. Dennoch erwiesen sich die Jahre, welche Turgeniew
in Baden verlebte, trotz seiner Trägheit nicht als unfruchtbar. Jedes Jahr
zwang er sich, wenn auch mit ersichtlicher Anstrengung, entweder im Winter
oder im Frühjahr nach Rußland zu reisen und sammelte während dieser kurzen
Berührung des heimatlichen Bodens neue Kräfte und neue Eindrücke für die
Arbeit. Baden war damals (1866—1867) der Sammelpunkt der allerver-
schiedensten Klassen der gebildeten russischen Gesellschaft, und diese diente
Turgeniew zu Urbildern für einen neuen Roman „Rauch." Einen Abriß aus
diesem Roman las er im Februar 1867 in Petersburg auf einem literarischen
Abende vor, welcher eine Masse Menschen angelockt hatte; der Empfang, welcher
ihm bei diesem ersten Erscheinen vor dem russischen Publikum zu teil wurde, war
ungleich: zwischen Händeklatschen ließen sich, wenn auch unterdrückt, Pfiffe
hören von Leuten, welche dem Romanschriftsteller den „Basarow" noch nicht
verziehen hatten.
„Rauch" erschien im Märzhefte des „Russischen Boten" von 1867 und
rief wie „Väter und Söhne" lebhafte Auseinandersetzungen in der Literatur
hervor, wobei es wieder nicht ohne Angriffe auf den Verfasser, nicht ohne Vor-
würfe, er sei zurückgeblieben, er verstehe das russische Leben nicht mehr n. s. w,,
abging. Diesmal aber verhielt sich Turgeniew gegen diese Anschuldigungen
weit ruhiger als nach dem Roman „Väter und Söhne," er äußerte nicht einmal
den Wunsch, seine literarische Thätigkeit aufzugeben, sondern arbeitete im Gegenteil
sehr eifrig.
Nach der Veröffentlichung des „Rauch" im „Russischen Boten" verließ
Turgeniew bald dies Journal, weil er sein Schaffen nicht Bedingungen unter¬
ordnen wollte, die ihm von der Redaktion gestellt wurden, und ging zu dem
damals noch neuen „Europäischen Boten" über, dem er auch bis zum Lebensende
treu blieb, von 1868 bis 1833. Zu Ende der sechziger Jahre schrieb er einige
Erzählungen „Der Brigadier," „Die Unglückliche," „Sonderbare Geschichten,"
„Der König Lear der Steppe," „Erinnerungen an Bielinskij" und eine künstlerische
Wiedergabe der letzten Minuten eines zum Tode verurteilten Verbrechers, „Die
Hinrichtung Traupmanns." Nach der Mitteilung Pietschs war Turgeniew
eigens nach Paris gereist, um dieser Hinrichtung beizuwohnen.
Im Jahre 1870, gerade im Anfange des französisch-preußischen (sie) Krieges,
verkauften die Familie Viardot und Turgeniew, welche sich den „Preußen" nicht
zu überlassen wünschten, ihre Badener Landhäuser und ließen sich zu dauerndem
Aufenthalte in Paris nieder. Bis dahin war Turgeniew nicht besonders für
die Franzosen eingenommen, im Gegenteil er nannte sich einen „Halbdeutschen"
und Deutschland sein zweites Vaterland, stellte die deutsche Literatur über alle
andern, stand in freundschaftlichen Beziehungen zu einer Menge deutscher Schrift¬
steller; aber die Vaterlandsliebe der Familie Viardot, der Sturz des zweiten
Kaiserreichs infolge des französisch-„preußischen" Krieges und viele lebhafte Ver¬
bindungen mit Schriftstellern und Staatsmännern Frankreichs, die Sympathie
und der Instinkt der Franzosen, besonders der Pariser, für alles, was nach
Turgeniews Ausdruck das Leben verschönt und hebt, brachten es dahin, daß
schon zu Ende der siebziger Jahre niemand von Turgeniew mehr hätte behaupten
können, er liebe die Franzosen nicht und lebe nur gefaßten Herzens in Paris.
Zu Beginn des französisch-,,preußischen" Krieges stand aber Turgeniew entschieden
auf Seiten der Deutschen, was er auch in verschiednen Korrespondenzen, welche
die damalige „Se. Petersburger Zeitung" brachte, aussprach. Die französische
Literatur, besonders den Roman und seine Hauptvertreter — Hugo, Dumas,
Balzac —, sah er noch in den sechziger Jahren mit nicht sehr günstigen Augen
an; aber zehn Jahre später erwies er sich schon als Freund Flauberts, Augiers,
Dandets und Goncourts, als Gönner Zolas und Maupasscmts, eines Mannes,
der doch die französische Belletristik höher als alle ausländische Romcmliteratnr
stellte. Er fand sogar Zeit und Lust, trotz häufiger Anfälle von Podagra und
trotz seiner Liebe zur Unthätigkeit, zwei Erzählungen Flauberts (1877) zu über¬
setzen. Diese Wendung in den Ansichten Tnrgeniews über die französische
Literatur ist wohl dadurch zu erklären, daß seit dem Ende der sechziger Jahre
in derselben eine neue, naturalistische Richtung zu herrschen begann, welche ihn
als etwas gewohntes, eignes, heimatliches ansprach und für deren Verbreitung
in Frankreich durch Wort und Beispiel er selbst sehr viel gethan hatte. Die
französischen Schriftsteller der neuen Schule gestehen selbst ein, daß die gesunden
Ideen des russischen Romandichters einen großen Einfluß auf sie gehabt haben,
und daß seine vorgeschrittenen Ansichten über die Aufgabe der schönen Literatur
für sie eine Art von Offenbarung gewesen sei. Diese Ansichten mußten einen
umso größeren Wert haben, als Turgeniew nicht von einem exklusiven und
engherzigen Gesichtspunkte aus urteilte, sondern Vergleiche unter den Literaturen
aller Völker, welche er gründlich kannte, anstellte und auf diese Weise den
geistigen Gesichtskreis seiner jungen Freunde erweiterte, indem er lehrreiche
Parallelen zwischen Büchern zog, welche an zwei entgegengesetzten Enden der
Welt, in verschiednen Sprachen erschienen waren. Im Gespräche mit den Ver¬
tretern des neuesten Naturalismus wies er ihnen die Notwendigkeit nach, sich
von den veralteten romantischen Formen, von den Romanen mit erdichteten
dramatischen und gelehrten Verknüpfungen und Verwicklungen, mit Glieder¬
puppen statt lebender Menschen loszusagen, und verlangte, daß die Schriftsteller
das Leben wiedergeben sollten, nichts als das Leben. Der Roman, sagte er,
ist die allerneuste Form der künstlerische» Literatur, und heute, wo der literarische
Geschmack sich zu reinigen beginnt, muß man alle frühern unreellen Kunstgriffe
wegwerfen und diese Kunst, welche eine Geschichte des Lebens sein soll, verein¬
fachen und heben. Nicht ohne Grund waren Goethes Worte „Greift nur
hinein ins volle Menschenleben! Ein jeder lebts, nicht vielen ists bekannt, und
wo ihrs packt, da ists interessant" ein Lieblingsspruch Turgeniews. Die Lüge,
Heuchelei, Empfindsamkeit und schwülstige Redekunst, diese Todsünden der alten
französischen Literatur, hatten an ihm einen entschiednen Gegner; aber indem
er den Naturalismus verkündigte, überschritt er niemals die bestimmte Grenze,
hinter welcher schon die Übertreibungen dieser Richtung beginnen, und verurteilte
solche Verirrungen streng.
Auch in Paris lebte Turgeniew in der Familie Viardot und war höchst
bescheiden eingerichtet, bewohnte nur zwei kleine Zimmer des obern Stockwerks
und fragte fast garnicht nach Bequemlichkeiten. Den Sommer verbrachte er ge¬
wöhnlich auf seinem eignen Landhause neben der Viardotschen Villa I-hö Z?rßu68
in Bougival bei Paris. Eine quälende Krankheit (das Podagra), deren An¬
fälle bereits am Ende der sechziger Jahre begonnen hatten und sich immer häu¬
figer wiederholten, hielt ihn von Reisen nach dem entfernten Rußland zurück,
hinderte ihn aber nicht, zu arbeiten wie früher und das russische Publikum
pünktlich jedes Jahr wenigstens mit einer kleinen Erzählung zu beschenken. Die
neuen Erscheinungen des russischen Lebens, denen er immer aufmerksam folgte,
der im Anfang der siebziger Jahre in unsrer Jugend hervortretende Zug „ins
Volk zu gehen" und die sozialistische Werbung erregten Turgeniews Teilnahme
außerordentlich und flößten ihm die Idee zu einem großen Romane ein, welcher
der Darstellung der „neuen Menschen" gewidmet war. Die Materialien dazu
sammelte er eifrig in Rußland und im Auslande noch während des Jahres
1874, indem er lebende Personen und die ihm von verschiednen Seiten ver¬
schafften Schriftstücke studierte. Neben dieser Arbeit fand er auch noch die Zeit
zu kleinen Erzählungen. Endlich war der Roman im Jahre 1876 fertig und
erschien 1877 unter dem Titel „Neuland."
Wie „Väter und Söhne" und wie „Rauch," so rief auch „Neuland" so¬
fort nach seinem Erscheinen in der Literatur und noch mehr im Publikum Deu¬
tungen hervor, welche lange kein Ende nahmen und deren Gegenstand, wie
früher, die Beziehungen des Verfassers zu dem „Übel des Tages" bildeten.
Viele dieser Beurteilungen waren feindselig gegen Turgeniew, sodaß er von
neuem, wie dreizehn bis vierzehn Jahre früher, den bestimmten Wunsch auszu-
sprechen begann, seine schriftstellerische Thätigkeit zu beendigen. Im Februar
1878 antwortete er auf die Bitte der Redaktion der neuen Odessaer Zeitung
„Die Wahrheit," ihr etwas zur Aufnahme in die Zeitung zu schicken, entschieden
ablehnend und setzte dabei hinzu: „Mir scheint, daß das Publikum von Ihnen
nichts verlangen wird. Auch wird ein solches Verlangen schwerlich ernstlich
gemeint sein, wenn man nach dem Empfange urteilt, der meinen sämtlichen
letzten Erzeugnissen zu teil geworden ist. Aber wie dem auch sei, ich lege die
Feder nieder und werde sie nicht wieder ergreifen." Auf diese Zeit bezieht sich
wahrscheinlich eines seiner „Gedichte in Prosa," welches mit den Worten Pusch¬
kins: „Vernimmst du das Urteil des Thoren" beginnt und die Stimmung
seines schmerzerfüllter Gemüts vortrefflich wiedergiebt.
Wirklich schrieb Turgeniew drei Jahre lang nichts oder ließ wenigstens
nichts drucken. Aber in diesen drei Jahren gingen in seinem persönlichen Da¬
sein Ereignisse vor, welche ihn von neuem mit der Literatur versöhnten und be¬
wiesen, daß das gebildete Publikum, sowohl Europas als insbesondre Rußlands,
seine Verdienste vollkommen begriff und zu schätzen verstand. Im Jahre 1878,
auf dem literarischen Kongresse während der Pariser Weltausstellung, wählten
die Vertreter aller europäischen Literaturen durch Akklamation Turgeniew ein¬
stimmig zum Präsidenten einer der Abteilungen des Kongresses; zu Anfang
des Jahres 187S, als er London besuchte, empfing er von der Universität
Oxford das Ehrendiplom eines vovtor ok ooinmon Ig,^, als ein Schriftsteller,
welcher durch seine Werke, insbesondre durch die „Aufzeichnungen eines Jägers,"
eine vollständige Kenntnis der Sitten und Gewohnheiten des russischen Volkes
bewiesen habe. Ende Februar 1879 reiste Turgeniew nach Rußland, um sich,
wie er selbst scherzend sagte, mit dem russischen Publikum und insbesondre mit
der russischen Jugend zu versöhnen. Der feierliche Empfang, welcher dem be¬
jahrten Romanschriftsteller, ihm selbst ganz unerwartet, zu teil wurde, erst in
Moskau, wo er, der sich im Verlaufe ganzer zwölf Jahre vor dem russischen
Publikum öffentlich hatte blicken lassen, an der Sitzung der „Liebhaber russischer
Literatur" teilnahm, dann in Petersburg, wo er an einigen literarischen Abenden
vorzugsweise Bruchstücke aus den „Aufzeichnungen eines Jägers" vorlas, ferner
eine ganze Reihe festlicher Veranstaltungen und herzlicher Begrüßungen, an
denen die Jugend besonders lebhaften Anteil nahm — alles dies bewies, bis
zu welchem Grade die russische Gesellschaft ihrem Lieblingsschriftsteller geneigt
war. Sie waren ein deutliches Zeugnis, daß alle alten Mißverständnisse, welche
nur immer zwischen dem Publikum und einem Schriftsteller möglich sind, der
seine Geisteserzeugnisse dem „Tagesübel" widmet, endgiltig abgethan und ver¬
gessen waren.
Der Triumph Turgeniews rief eine heftige Aufregung in demjenigen Teile
der Presse hervor, welche ihn eifersüchtig im Auge behielt, seit er sich von dem
„Russischen Boten" losgesagt hatte, und die Gelegenheit, einen Schatten auf
die Richtung seines literarischen Schaffens zu werfen, fand sich bald. Im Ok¬
tober 1879 erschien im Feuilleton der Pariser Zeitung Isrnps eine kleine Skizze
mit der Überschrift Im oslluls, imxresswns ä'un nilMsw, mit einem Briefe
Turgeniews an die Redaktion des leirixs. In diesem Briefe bemerkte Tur¬
geniew, daß, wenn er auch die Überzeugungen des Verfassers durchaus nicht
billige, er doch glaube, daß diese einfache, aufrichtige Erzählung als Beweis
dienen könne, wie wenig die vorläufige Einzelhaft vom Gesichtspunkte einer ver¬
nünftigen Gesetzgebung aus zu rechtfertigen sei. Dieser Brief gab nun die Ver¬
anlassung zu einem hämischen Ausfalle gegen Turgeniew, er wurde geradezu
beschuldigt, er „Schande seine grauen Haare" und „schlage Purzelbäume vor den
Nihilisten, um seiner Popularität und ihrer Unterhaltung willen." Auf diesen
Ausfall antwortete Turgeniew öffentlich in einem umfangreichen Briefe, der als
ein bemerkenswerter Beitrag seiner Selbstbiographie gelten kann. Der Brief
schloß mit den Worten, zu denen Turgeniew volles Recht hatte: „Das Pu¬
blikum kennt ihn öden Verfasser des Angriffs^ auch ohnehin sehr wohl. . . und,
wage ich hinzuzufügen, kennt auch mich."
Und das Publikum bewies bald, daß es Turgeniew kannte und ihn ent¬
gegen allen Verleumdungen zu schätze» wußte. In Moskau, während der denk¬
würdigen „Puschkinschen Tage" (6. bis 8. Juni 1880), fielen auf den Anteil
des berühmten Romandichters Ehrenbezeugungen und Huldigungen, welche die
ihm ein Jahr vorher in den beiden Hauptstädten erwiesenen Auszeichnungen
weit hinter sich ließen. Die Moskaner Universität nahm ihn in einer feierlichen
Sitzung am Tage der Enthüllung des Denkmals Puschkins unter die Zahl ihrer
Ehrenmitglieder auf und vereinigte auf diese Weise die Namen zweier bedeutenden
Vertreter der russischen Literatur aus der Vergangenheit und Gegenwart;*) in
der Versammlung der „Gesellschaft der Liebhaber russischer Literatur" und bei
literarischen Vorlesungen kam man Turgenjew mit stürmischen, anhaltenden Bei-
fallsbezeugungen entgegen; die allgemeine Zuneigung stand auf seiner Seite.
In seiner Rede auf Puschkin erwähnte Turgeniew unter anderen, wie die Zeit¬
genossen den Dichter geschätzt hätten und wie die Gesellschaft der sechziger Jahre
gegen seine Poesie erkaltet sei, und sagte: „Wenige Geschlechter waren nach Puschkin
vergangen, und sein Name war für sie nur noch ein Name; aber jetzt wendet
sich sowohl die nicht durch Mißerfolge enttäuschte Jugend als auch das reifere
Alter dem Dichter wieder zu. Eine Zeit lang verhüllte Staub das Banner seiner
Poesie, jetzt aber erglänzt es wieder als Siegespanier." Diese Worte konnte
man mit Recht auch auf Turgeniew anwenden, welcher an sich persönlich eine
ähnliche Abkühlung erfahren hatte, aber zuletzt zu einer einstimmigen, begeisterten
Anerkennung seiner Verdienste durchdrang. Es ist kein Zweifel, daß diese Tage
die schönsten seines Lebens waren. Er selbst gestand dies dadurch zu, daß er
zur Vorlesung am literarischen Abend die Gedichte „Wieder in der Heimat" und
„Die letzte Wolke des zerteilten Sturmes" auswählte.
Der Besuch Turgeniews in Rußland 1881 war der letzte; dem russischen
Publikum war es nicht beschieden, seinen geliebten Dichter wiederzusehen; nur
seine Asche sollte es begrüßen. Seit Ende 1881 tauchten in der russischen Presse
schlechte Nachrichten über die Gesundheit Tnrgeniews auf. Diese Gerüchte waren
höchst unbestimmt und mitunter sogar widersprechend. Die Zeitungen teilten
dann mit, es gehe dem Kranken besser, dann brachten sie die Kunde von einer
Verschlimmerung; darnach wieder vergingen fast ganze Monate, in denen jede
Nachricht ausblieb, und die schweren Bedenken machten im Publikum der wieder¬
auflebenden Hoffnung Raum, umsomehr, als gerade damals im „Europäischen
Boten" neue Arbeiten Tnrgeniews erschienen: „Das Lied der triumphirenden
Liebe" (1881), „Alte Porträts"*) und „Der Verzweifelte" (1882). Die Krank¬
heit, welche sich seiner bemächtigt hatte und welche sich der Kunst der ersten
Berühmtheiten der Pariser medizinischen Welt nicht unterwarf, entwickelte sich
langsam, aber ununterbrochen und verursachte ihm solche Leiden, daß er sie nur
dank seiner athletischen Körperbeschaffenheit und durch narkotische Mittel, die
immer häufiger angewandt werden mußten, ertragen konnte. Dennoch verlor
Turgeniew den Mut nicht und fuhr fort zu arbeiten, soweit es seine Kräfte
gestatteten. So schrieb er im Sommer 1882 die Erzählung „Klara Militsch"
(ursprünglich lag es in der Absicht, sie „Nach dem Tode" zu nennen, später
aber änderte er den Titel, weil er fürchtete, daß ihn die Kritik des Spiritismus
zeihen würde) und bereitete die von ihm früher niedergesehriebenen „Gedichte in
Prosa" zum Drucke vor. Die letztem erschienen im Dezemberhefte des „Euro-
päischen Boten" und „Klara Militsch" im Januarhefte 1883 — das letzte
Werk Turgenjews i» der Presse.
Unterdes ging die Krankheit ihren Gang. „Sie hat sich so festgesetzt, ist
so normal geworden, schrieb er im Oktober 1882 nach Petersburg, daß ich
mich schließlich mit ihr ausgesöhnt habe, indem ich jede Möglichkeit aufgebe,
wieder gesund zu werden, mich bestrebe zu leben, zu arbeiten und nicht an sie
zu denken, obwohl ich gleichzeitig gestehe, daß, so lange sie mich nicht verläßt,
der Gedanke an eine Reise, an eine Fahrt nach Nußland ein unausführbares
Trugbild ist. Im .übrigen söhne ich mich auch damit aus; ich werde leben,
deriveil es Gott gefällt, wie die russischen Bauern sagen, bald in Bongival,
bald in Paris, und damit basta!" „Über ein kleines, heißt es in einem andern
Briefe, und ich werde selbst nicht mehr wünschen, aus dieser Unbeweglichkeit
herauszukommen, welche mich weder hindert zu arbeiten, noch zu schlafen u. s. w.
Während ich von vierundzwanzig Stunden 23^ sitze oder liege, fürchte ich
geradezu die Bewegung, welche als unvermeidlichen Begleiter die Schmerzen
mit^sich bringt. Und wozu sich auch bewegen?" Dasselbe wiederholt er in
einem dritten Briefe vom Dezember jenes Jahres: „Ich befinde mich in der
Lage eines Menschen, der rettungslos taub oder blind geworden ist und dem
es weit leichter ist, sich mit seinem Zustande auszusöhnen, als sich mit leeren
Hoffnungen zu trösten und nach verschiednen Mitteln zu greifen, von deren
Nutzlosigkeit er überzeugt ist. Auch ich insbesondre habe mich mit meiner Lage
ausgesöhnt. Folglich, fragt ihr mich, hegst du gar keine Hoffnung mehr, in die
Heimat zurückzukehren? Gar keine, nicht die geringste, so wenig wie auf Ge¬
nesung; aber allerdings, ich würde nicht eine Minute unnötig hier bleiben. Doch
mir kommt es nicht zu, darauf zu rechnen, noch auch nur daran zu denken...
Aber, ich wiederhole es, ich verzage durchaus nicht. Solange ich noch nicht auf
jede Hoffnung verzichtet hatte, war es schlimmer; aber jetzt — nicht der Rede
wert. Ich bin vierundsechzig Jahre alt, habe nach meinem Gefallen gelebt, man
muß nicht unverschämt sein. Auch kann ich jetzt arbeiten, nämlich seit ich alle
Gedanken an die Zukunft aufgegeben habe."
Zu Anfang des Jahres 1883 wurde die Krankheit Turgeniews heftiger und
verband sich mit quälenden Schmerzen im Unterleibe, welche durch eine kleine
Nervenentzündung entstanden, die auch von französischen Wundärzten operirt
wurde. Die Operation verlief günstig; Turgeniew lebte für einige Zeit wieder
etwas auf und beschäftigte sich mit der schon früher begonnenen Durchsicht seiner
Werke für eine neue Ausgabe derselben. Die Arbeit ging ziemlich rasch von
statten, soweit es die finkenden Kräfte des Kranken erlaubten, der im Frühling
schon garnicht mehr schreiben konnte und seine Briefe und Bemerkungen diktiren
mußte. Damals diktirte er täglich morgens in französischer Sprache seine neue
Erzählung „Die Feuersbrunst auf dem Meere," ein Bruchstück aus seinen Erinne¬
rungen, das er erst im Juni, zwei Monate vor seinem Tode, beendigte, das aber
noch, solange er lebte, ins Russische übersetzt wurde. Im August wurde es für
die Personen, welche ihn umgaben, unzweifelhaft, daß von Tage zu Tage sei»
Ende zu erwarten war. Erschöpft von übermenschlichen Leiden lag der Kranke
ganze Tage unbeweglich, in Ohnmacht, und das Bewußtsein kehrte ihm nur
selten und auf kurze Zeit zurück. Montag den 22, August (3. September)
um zwei Uhr nachmittags verschied Turgeniew. Die Krankheit, welche ihn
solange gequält hatte und bis zu seinem Tode rätselhaft geblieben war, wurde
erst nach Öffnung seines Körpers erkannt. Es war ein Krebs des Rückgrats,
welcher drei Wirbel vollständig zerstört hatte; dieselbe Sektion ergab das un¬
gewöhnliche Gewicht des Gehirns des Verstorbenen, welches 2000 Gramm
überstieg. Zwei Tage nach dem Tode wurde die Leiche Turgeniews von
Bougival nach Paris übergeführt, wo am 26. August a. Se. in der russischen
Kirche das Totenamt abgehalten wurde, dem die Mehrzahl der damals in Paris
anwesenden Russen beiwohnte — der Gesandte Fürst N. A. Orlow, die Mit¬
glieder der Gesandtschaft, Literaten, Künstler, russische wie andrer Nationen, und
die in Paris studirende russische Jugend.
In Rußland machte die Kunde vom Tode Turgeniews einen tiefen Ein¬
druck, obgleich die Nachricht schon lange erwartet worden war. Die ganze gebildete
Welt hatte das Gefühl, als ob plötzlich irgendein unsichtbarer Faden abge¬
rissen sei, einer der letzten Fäden, welche unsre Zeit mit jener Epoche des
Glaubens an die allgemein-menschlichen Ideale der Aufklärung verknüpften,
deren Vertreter Turgeniew gewesen war, als ob in der Literatur an jener
Stelle, an welcher alle das helle Antlitz ihres geliebten Dichters zu sehen ge¬
wohnt waren, sich auf einmal eine düstere, unausfüllbare Leere zeigte. Ohne
Übertreibung kann man sagen, daß die russische Gesellschaft erst nach dem Tode
Turgeniews vollständig erkannte, wie sehr sie ihm verpflichtet war. Alle, denen
die Entfaltung der heimischen Literatur teuer war, alle, welche das Mitgefühl
für Licht, Recht und Wahrheit nicht eingebüßt hatten, beeilten sich auf die
Trauerkunde zu antworten und auf eine oder die andre Weise ihre Liebe und
Dankbarkeit für den entschlafenen Dichter auszudrücken. Fast in allen russischen
Städten wurden für ihn Seelenmessen gelesen, überall bestrebte man sich
irgendwie sein Andenken zu ehren, von überallher hörte man die Äußerungen
aufrichtiger Treue. Und nicht nur die russische Gesellschaft, sondern die ganze
gebildete Welt sprach diese Gefühle aus, erklärte den Tod Turgeniews als
schweren Verlust für die Literatur überhaupt. Die Äußerungen der euro¬
päischen und amerikanischen Presse über die Thätigkeit des russischen Roman¬
schriftstellers bewiesen, wie hoch man allenthalben da die Verdienste Turgeniews
schätzte, wohin seine Geisteserzeugnisse gedrungen waren. Erwähnten doch
deutsche Kritiker, aus Anlaß seines Todes, sogar den Namen Goethes!
Nicht lange vor seinem Tode sagte Tnrgeniew, er wünsche im Himmelfahrts¬
kloster des heiligen Berges in Moskau zu Füßen Puschkins, den er immer seinen
Lehrer genannt, beerdigt zu werden, halte sich aber dieser Ehre nicht für würdig,
und bestimmte daher in seinem letzten Willen, ihn in Petersburg auf dem
Wolkow-Kirchhofe neben seinem Freunde Bielinskij zu bestatten. Ans einer
buchstäblichen Ausführung seines Willens bestand er jedoch nicht, und zwar mit
Rücksicht darauf, daß neben dem Grabe Bielinskijs längst kein Platz mehr für
ein andres Grab war, und so wurde denn beschlossen, ihn auf demselben Kirch¬
hofe mit Bielinskij, neben der Domkirche, auf deren linker (nördlicher) Seite
in der Nähe des Einganges zu beerdigen.
Die Leiche Turgeniews wurde drei Wochen nach seinem Tode, am 19. Sep¬
tember a, Se., von Paris nach Petersburg abgesandt. Die Trauerzeremonie
des Abschieds von der Asche des großen Schriftstellers, welcher so lange unter
der französischen Nation gelebt hatte, zog ein zahlreiches Publikum sowie die
Vertreter der Wissenschaft, Literatur und Kunst nach der Haupthalle des Nord¬
bahnhofes ; Renan, Eben. About, Herr Whrubow und der Künstler Bogoliubow
hielten am Sarge Reden. Am 23. September traf die Leiche in Wirballen
an der russischen Grenze und am 27. auf dem Warschauer Bahnhofe in Peters¬
burg ein; sie wurde noch an demselben Tage der Erde übergeben, und zwar
auf Kosten der Stadt, nach einem Beschlusse des Stadtrats, welcher außerdem
gleich vielen andern Städten bestimmte, zum Gedächtnisse des Entschlafenen
zwei Volksschulen unter seinem Namen zu eröffnen und ein Kapital für ein
Stipendium, gleichfalls mit seinem Namen, an der Petersburger Universität,
auf welcher er seineu Kursus beendigt hatte, auszusetzen. In dem Trauerzuge,
welcher sich von der Warschauer Bahnhalle nach dem Friedhofe durch eine un¬
zählbare Menschenmenge, die zu beiden Seiten der Straßen stand, bewegte,
nahmen 179 Deputationen mit Kränzen teil von verschiedenen gelehrten In¬
stituten und Gesellschaften, vou höhern und mittlern Lehranstalten, von den
Organen der hauptstädtischen und Provinzialpresse Rußlands, von vielen
russischen Städten u. s. w. Eine Menge von Kränzen war auch zugleich mit
der Leiche angekommen, aus Paris und Berlin, aus Kownv, Wilna, Dünaburg,
Ostrow, Pskow, Luga und Gatschina, den Städten am Wege, deren Bewohner
am Tage oder bei nächtlicher Zeit ausgezogen waren, um die irdische Hülle
Turgeniews zu empfangen. Das Auge vermochte kaum diese Reihe sich über
der Menschenmenge, auf einer Strecke von mehr als zwei Werst dahinbe-
wegender Kränze zu überschaue». Die Reden am Grabe hielten A. N. Beketow,
der Rektor der Petersburger Universität, S. N. Muromzew, Professor der Mos¬
kaner Universität, und D. W. Grigorowitsch; ein Gedicht las A. N. Pleschtschejew.
So schieden die Vertreter der gebildeten Gesellschaft von ihrem geliebten
Dichter, dem während eines Zeitraumes von vierzig Jahren die leitende Rolle
in der russischen Literatur zugefallen war, der mit fo wunderbarem Instinkt
sich zu allen Erscheinungen des russischen sozialen Lebens in Beziehung gesetzt
und Lebensgestalten geschaffen hatte, welche voll tiefer Belehrung sind.
le Politik des Ministeriums Gladstone in den Angelegenheiten
Ägyptens und des Sudan wird immer widerspruchsvoller und
schwerer verständlich, die Lage Gordons, ihres Vermittlers in
Chartum, von Woche zu Woche mehr gefährdet. Im östlichen
Sudan zwar hat der Sieg, den die bessere Übung und Be¬
waffnung der Truppen Gradaus über die fanatisch wilde Tapferkeit der Wüsten¬
krieger Osman Digmas errungen, diesen Feldherrn des Propheten zur Flucht
uach Westen hin genötigt und die Zahl seiner Gefolgschaft, wie es scheint, er¬
heblich geschwächt, aber das kleine englische Heer ist, nachdem es nur wenige
Meilen ins Innere vorgedrungen, an die Küste zurückgekehrt, und von einer
Eröffnung der Straße von Suakin nach Berber, von der man bisher viel sprach
und hörte, ist kaum mehr die Rede. Gordons Lage in Chartum aber hat sich
nach den letzten zuverlässigen Nachrichten bedenklich gestaltet. Die Revolution,
an deren Spitze der- Mahdi steht, breitet sich zweifellos täglich weiter aus und
hat bereits Gebiete nördlich von Chartum ergriffen, sodaß der direkte Verkehr
zwischen dieser Stadt und Kairo abgeschnitten ist. Telegramme aus Berber
melden, daß beide Ufer des Nil am letzten Katarakte des Flusses bei Schelloka,
wo dieser, soweit er schiffbar ist, nnr 36 Fuß Breite hat, in den Händen der Insur¬
genten sind. Die Post muß deshalb Umwege einschlagen, und die Nilboote, welche
bisher zur Fortschaffung der Weiber und Kinder nach dem Norden dienten, kommen
in Berber nicht mehr an. Der Dampfer, der am 23. März von Shendy nach
Chartum abging, wurde von den Aufständischen mit Flintenschüssen zur Umkehr
genötigt, und so war es unmöglich, Gordon weitere Geldmittel zu senden, die
er dringend bedürfte, und deren Ausbleiben ohne Zweifel seinen bisherigen Er¬
folgen bei dein Versuche, sich mit den Anhängern der Propheten auf leidlich
guten Fuß zu stellen, ein Ende machen wird.
Alles, was jetzt von Nachrichten aus Chartum eintrifft, ist infolge dieser
Lage der Dinge Gerücht, Nebel und Unsicherheit. So die Nachricht, Gordon
habe in Kairo militärische Hilfe verlangt. Er hat derartiges niemals empfohlen
und hat es also anch schwerlich erwartet. Alles, was er wünschte, war die
Absendung einiger Schwadronen englischer Reiter von Suakin nach Berber,
die Zubehr Pascha begleiten sollten, welcher im nördlichen Sudan die Ordnung
herzustellen bestimmt war, ein Wunsch, der jetzt kaum noch Erfüllung zu hoffen
hat. Es wird jetzt offiziell eingestanden, daß eine Krisis eingetreten ist, die
einen raschen Entschluß in betreff der Alternative verlangt, ob Gordon und
sein Adlcitus Stewart, die Garnisonen, die ägyptischen Zivilpersonen und die
Europäer im Sudan ihrem Schicksal überlassen werden, oder ob jetzt oder im
Oktober britische Truppen abgehen sollen, um deren Wegzug zu ermöglichen.
Ein drittes giebt es anscheinend nicht, und jeder Tag Verzug muß die Lage
verschlimmern. Schickte man jetzt Hilfe, so würde man weniger zu kämpfen
aber wegen der Hitze mehr Krankheitsfälle zu fürchten haben als im Oktober.
Eine mäßige Streitkraft würde jetzt vermutlich noch genügen, aber man hätte
auf einen Verlust von dreißig Prozent durch Sonnenstich und ähnliches sich
gefaßt zu machen. Oberst Cortlogon, der am 25. März von Chartum in
Kairo anlangte, ist der Meinung, daß ein Entsatz der erstgenannten Stadt durch
englische Soldaten ohne sehr große Opfer unmöglich sei. Er hält die Stadt
für leicht einnehmbar, aber noch nicht unmittelbar gefährdet. Gordons Plan
war nach ihm Übergabe derselben an die erste beste Autorität, die zu haben
sein würde, und Rückzug mit der Garnison nach Norden. Er glaubte ferner,
sich bis zum Mai halten und dann den Versuch unternehmen zu können, auf
dem dann steigenden Nil Sennaar zu erreichen. Die ägyptischen Besatzungen weiter
im Süden sollten sich nach Befehlen, die stallr Bey erteilt worden waren, be¬
mühen, irgendwo die Küste des Roten Meeres zu gewinnen, was indes für die
meisten nur unter ungeheuern Schwierigkeiten zu erreichen sein wird. Gleich¬
falls sehr zweifelhaft erscheint uns die Nachricht, mit welcher der IZosMors
D^Msll zu Ende der vorigen Woche die Welt überraschte. Nach derselben
hätte ein religiöser Scheich an Gordon geschrieben und ihm das Anerbieten
gemacht, er wollte Chartum im Namen des Mahdi übernehmen und den Ein¬
wohnern Leben, Hab und Gut und Handelsfreiheit verbürgen, Gordon hätte
das angenommen, der Scheich wäre in die Stadt eingezogen und hätte den
Mahdi unter dem Jubel des Volkes als Herrscher ausgerufen, jede Gewaltthat
sei dabei unterblieben. Die Sache paßte recht wohl zu Gvrdons Plänen,
wenn sie auch ein neuer eklatanter Beleg für das widerspruchsvolle Wesen
der Gladstoneschen Politik sein würde, die dann im östlichen Sudan den Mahdi
bekämpfte, während sie ihm im Westen eine wichtige Stadt schenkte. Aber die
Nachricht wurde offiziell dementirt, was freilich nicht ausschließt, daß sie sich
am Ende wenigstens teilweise als richtig herausstellen könnte.
Fast gänzlich im ungewissen sind wir darüber, wo jetzt der Mahdi sich auf¬
hält und was er treibt. Obwohl die Revolution offenbar fortdauert und rasch
weitere Gebiete ergreift, scheint eins ziemlich sicher zu sein: der Prophet hat
an Popularität verloren, und zwar zum Teil durch eigne Schuld. Der wahre
Mahdi soll nach dem Volksglauben Segen und Fülle über seine Anhänger aus¬
strömen, dieser aber leistete bisher nichts der Art, im Gegenteil, das Volk der
Gläubigen wird von ihm besteuert, und seine Krieger sind schlecht besoldet und
genährt. Auch muß die Niederlage des bisher siegreichen Osman Digma in
El Obeid bekannt geworden sein und Bedenken und Zweifel hervorgerufen haben.
Dazu kommt aber noch ein wichtigeres Moment, wenn gewisse nicht unglaub¬
würdige Berichte englischer Korrespondenten aus Kairo sich bewahrheiten. Der
Prophet ist nach dem Siege über Hicks Pascha, von dessen Armee, wie man
jetzt weiß, nur anderthalbhundert Mann mit dem Leben davongekommen sind,
ein wesentlich andrer geworden als er früher war: er hat sich aus einem Heiligen
in ein recht weltliches Menschenkind verwandelt, und das hat seinem Ansehen
wesentlich Eintrag gethan.
Der Sohn des Zimmermanns von Dongola begann seine religiöse Lauf¬
bahn wie die meisten großen kirchlichen Reformatoren als Asket, und man muß
nach jenen Quellen jetzt annehmen, daß er bereits im Begriffe ist, zur Rolle
eines gewöhnlichen, mit dem Erreichten zufriedenen Emirs herabzusinken, der nicht
erheblich besser ist als seine Nachbarn. Er war am Anfang seiner Thätigkeit
als Mahdi ein vorgeschrittener Radikaler, ein strenger Muslim ohne Eigennutz,
und jetzt wäre er, immer vorausgesetzt, daß die Berichte nicht zu schwarz malen,
fast so schlimm wie der „unaussprechlich verderbte Türke" in seinem Durste
nach Besitz und seiner Mißachtung der Rechte andrer. Wir bezweifeln, daß es
in vollem Umfange wahr ist, wenn die Berichterstatter sagen: „Dieser Mohamed
Achmed, der 1880 Grundsätze wie allgemeine Gleichheit und Brüderlichkeit, ein'
Gesetz und ein Glaube für alle Menschen und Gütergemeinschaft verkündete,
ist 1884 ein Autokrat in El Obeid geworden, der in seinem persönlichen Inter¬
esse Schätze zusammenrafft, Vorsichtsmaßregeln für deren Sicherstellung trifft
und sich so in Familiensorgen verstrickt und versenkt, daß er das große Ziel
seiner Existenz als geistlicher Würdenträger vergessen zu haben scheint." Das
heißt offenbar den Mund zu voll nehmen. Wo aber ein Rauch ist, da ist auch
ein Feuer, und der Mensch ist schwach und gebrechlich, und so dürfen wir wenigstens
die Hälfte von diesen Anklagen glaube», und das ist immer noch genug.
Es scheint, daß die Neigung zum Heiraten einer der Hauptgründe ist, wenn
es mit dem innern Menschen des Mahdi bergab gegangen ist, und wenn er an
Anhängern verloren hat. Er begann in dieser Beziehung nicht übel, d. h. er
verfuhr zunächst politisch. Nachdem er Jahre hindurch auf der Insel Abba,
südlich von Chartum, als frommer Einsiedler gelebt und eine Schule von
Derwischen um sich gesammelt, die ihn als Heiligen verehrten, und die er mit
seinem Fanatismus entflammte, erkannte er, daß es klug sein würde, sich in
dieser irdischen Welt so sicherzustellen wie für die himmlische, und so heiratete
er die Töchter der großen Scheichs des mächtigen Stammes der Bagara, der
am obern Nil seine Herden weidet. Nachdem er sich auf diesem Wege eine
gute Anzahl einflußreicher Schwiegervater verschafft hatte, machte sich Achmed,
der nun geistliche Ansprüche höherer Art erhob, mit Eifer daran, den ge¬
wonnenen Einfluß zur Stiftung von Verschwägerungen zwischen den verschieden
arabischen Stämmen des Sudan zu verwerten, um so den Streitigkeiten, welche
dieselben bis dahin getrennt und geschwächt hatten, ein Ende zu macheu, was
gleichfalls eine löbliche und seinen letzten Zwecken förderliche Politik war. So
war es durchaus nicht bloßer geistlicher Einfluß, wenn Mohamed Achmed, als
er im August 1881 in der Rolle des Mahdi, des „Bekehrers," des von
Mohamed verheißenen Propheten, der dem Islam seine ursprüngliche Reinheit
wiedergeben sollte, auftrat, sofort eine gewisse Macht entfalten konnte. Es
stand vielmehr ein Teil der eingebornen Aristokratie des Sudan hinter ihm.
Sein Unternehmen mißlang ihm in Sennaar, als er sich aber nach Kordofan
zurückzog, wo die Häuptlinge der Bagara ihm beistanden, hatte er mehr Glück,
und jetzt, nach der Hinschlachtung der Hicksschen Armee, ist er Alleinherrscher
in dieser ehemaligen Provinz des Chcdivereichs.
„Aber, so fährt die eine unsrer Quellen fort, der Mahdi setzte sein
Heiraten in verstärktem Maße fort. Erst hatte er eine Frau, dann zwei, drei,
vier. Hätte er sich mit der letztern Zahl begnügt, so würde er ein Beispiel
strengen Festhaltens am Buchstaben des Koran gegeben haben, wie es im Orient
recht notwendig ist. Aber nein, Achmeds Hausstand wuchs mit seinem Glücke,
und jetzt soll er nicht weniger als achtzehn, nach andern Mitteilungen aus El
Obeid sogar zwanzig Weiber sein eigen nennen und einen dementsprechenden
Haushalt führen. Ist es unter diesen Umständen zu verwundern, wenn der
schöne fromme Enthusiasmus des Derwisches von Abba einer gewissen welt¬
lichen Gesinnung gewichen ist, und wenn er, statt stracks nach Chartum zu
marschiren und dann seine Anhänger nach Kairo zu führen, wie er in jenen
Tagen voll Feuereifer verhieß, träge in El Obeid verharrt und sich mit
Prophezeiungen und der Absendung von Aposteln begnügt? Ich will durchaus
nicht behaupten, daß ein Harem von zwanzig Weibern hierzulande etwas
unerhörtes wäre. Wir haben in Kairo einen Pascha, der vierzig besitzt, und
der junge Emir, dem der Chedive vor kurzem Darfur zurückerstattet hat, und
der, wenn er sein Land je erreicht, der nächste Nachbar des Mahdi sein wird,
erfreut sich einer doppelt so starken Zahl, obwohl er kaum halb so alt als der
Prophet von El Obeid ist. Nirgends in der Welt sah man einen auffälligeren
Kontrast als da, wo Gordon diesen vielversprechenden jungen Sultan mit sich
in den Zug nahm. »Darf ich meine Frau mitnehmen?« hatte der Emir am
Abend vorher schüchtern gefragt. »Gewiß,« erwiederte der General, dann setzte
er, sich der besondrer Eheverhältnisse seines Reisebegleiters erinnernd, hinzu,
»zwei bis drei, wenn es Ihnen beliebt.« Nun denke man sich die Überraschung
des guten Herrn, als er, am nächsten Tage auf der Station Bulak-Dakrom
anlangend, den ganzen langen Eisenbahnzug mit den Frauen des Emirs an¬
gefüllt fand, sodaß er und Oberst Stewart kaum ein Koupee für sich bekommen
konnten. Als sie in Assiut eintrafen, mußte man dieses unbequeme Gefolge in
eine besondre Dahabie verladen, und Gordon hielt den verblüfften Gebieter der
Weiber nur dadurch von weiterem Lamento ab, daß er ihn zurückzulassen drohte,
wenn er nicht schwiege. Als man zuletzt von ihm hörte, winselte er in Assuan
um Geld zur Weiterreise und um Nachsendung des »Restes seiner Frauen.« Kann
etwas typischer sein für die beiden Rassen, zu denen Gordon und dieser Sprö߬
ling Darfnrs gehören? Der eine energisch, selbstverlengnend, für andre lebend,
seine Bequemlichkeit, seine Gesundheit opfernd, sein Leben wagend für »seine
armen Lämmer im Sudan,« der andre trag, üppig, selbstsüchtig, moralisch und
intellektuell nichtsnutzig, nicht einmal der Anstrengung für den Gewinn eines
Königreichs fähig?"
Es ist ferner sehr denkbar, daß der Mahdi, bevor er weiter nach Norden
hinstrebt, sich in Sachen der Geographie etwas mehr aufklärt, in denen er bis
jetzt wohl nicht besonders zu Hause war. Wenn er bis nach Stambul vorzu¬
dringen versprach, so scheint er dabei vou der Annahme ausgegangen zu sein,
daß der Sitz der heutigen Kalifen etwa in der Gegend des Suezkanals sich be¬
finde, was zeigen würde, daß Kunde der Landkarte nicht in den Vereich der
prophetischen Offenbarung fällt. Alles in allem genommen, hat Mohamed
Achmed die Gläubigen im Sudan auch dann enttcinscht, wenn mau nur einen
Teil der Berichte über ihn für begründet hält, die uns von Engländern in
Kairo zukamen. Seine Anhänger haben in ihm einen gebieterischen und streit¬
süchtigen Maun kennen gelernt, der den Verdacht erweckt, sein Interesse dem
der Allgemeinheit voranzustellen. Er weist auf das Paradies hin, aber seine
Leute möchten auch gern ein wenig mehr von den guten Dingen dieser Welt
sehen und genießen, als er ihnen zugestehen will. Es ist nicht unwahrscheinlich,
daß er jetzt da am meisten gilt und am mächtigsten ist, wo man am wenigsten
in unmittelbare Berührung mit ihm kommt. Auf jenem geheimnisvollen zauber¬
haften Wege, auf welchem Nachrichten und Glaubensmeinungen sich im Orient
fast mit Blitzesschnelle ausbreiten, ist sein Name und Ruf über das Rote Meer
und die arabischen Wüsten geflogen und bildet gegenwärtig das Hauptgespräch
von Marokko bis an die Ufer des Ganges. Diese Kunde kann in der ganzen
muslimischen Welt örtliche Aufstände zur Folge haben. Aber zu Hause, un¬
mittelbar vor seiner Thür, stößt der Mahdi auf den mächtigen Stamm der
Kababisch, die Blume der arabischen Bevölkerung des Sudan, und diese zeigten
sich bisher seinen Ansprüchen nicht günstig. Vor einigen Wochen sandte er ein
etwa tausend Mann starkes Heer gegen sie aus, und dieses wurde in die
Flucht geschlagen. Nichts kann also falscher sein als die Vorstellung, der ganze
Sudan folge bereits den Fahnen des neuen Propheten, Gordon schätzte die
Streitkräfte desselben in den Telegrammen, die er nach London sandte, offenbar
im wesentliche» genau. Er behauptete, der Mahdi sei in El Obeid geblieben
und werde wahrscheinlich ferner dort bleiben und anderwärts nur lokale Er¬
hebungen ohne unmittelbaren Zusammenhang hervorzurufen imstande sein. Das
dürfte sich bestätigen und sollte bis auf weiteres niemals aus den Augen ver¬
loren werden, wenn die Frage wegen des Sudan geprüft wird. Die dortigen
Aufstünde waren bisher durchaus örtlicher Natur und hatten nur eine allgemeine
Hauptursache: den Haß der Sudanesen gegen die sie knechtenden und aufsaugenden
Ägypter oder, wie man sie hier bezeichnet, die Türken. Während dieses Auf¬
standes sind etwa 20000 ägyptische Araber umgekommen, wobei die 11000
Mann des Hicksschen Heeres eingerechnet, die in Kassala an der Grenze von
Habesch, in Gondokoro, Sennaar und am Bcichr Es Gazel eingeschlossenen Gar¬
nisonen dagegen nicht mitgezählt sind. Aber in jedem einzelnen Falle haben
die Truppen des Khedive mit Aufständischen einer bestimmten Gegend zu kämpfen
gehabt. Die Armee des Mahdi rekrutirte sich an Ort und Stelle, in Kordofan,
und Hicks Pascha suchte den Propheten, nicht der Prophet den englisch-ägyp¬
tischen General auf. Ebenso war es in Sennaar und im östlichen Sudan.
Der Mahdi hat, abgesehen von dem erfolglosen Zuge, den er zu Anfang seiner
kriegerischen Thätigkeit nach Sennaar unternahm, sich niemals weiter als zwanzig
deutsche Meilen von El Obeid weggewagt, und ebenso ist Osman Digma schwer¬
lich weiter als halb soweit von seiner starken Stellung bei Suakin vorgerückt.
Es ist daher geradezu komisch, wenn vor kurzem im ?say8 die Prophezeiung
zu lesen war, der Mahdi werde im nächsten Herbste mit 200000 Kriegern auf¬
brechen, um Ägypten zu erobern. Seit dem September 1882 ist der große
„Bekehrer" in El Obeid, und niemals fand er Mittel, mit einem wirklichen
Heere gegen Chartum vorzugehen, das nur fünfzig Meilen von da entfernt ist.
Um das zu wagen, muß er erst die Stämme um sich herum mit einander zu
einem kompakten Ganzen verschmelzen, und dahin scheint er noch ziemlich weit
zu haben. Er wird vermutlich eines Tages Chartum einnehmen und viel¬
leicht auch Berber, Shendy und Dongola in seine Gewalt bringen. Daß er aber
eine Streitmacht sammelt, mit der er 350 Meilen weiter nach Norden, bis
nach Kairo marschiren und siegen könnte, ist beinahe unglaublich, da er dabei
die sechzig Meilen quer durch die fast wasserlose Koroskowüste zu passiren hätte.
Man hört von dieser Wüste sprechen, als ob sie ein pfadloser Sandozean wäre,
den man auf beliebigen Wegen durchziehen könnte. Nichts ist aber eine größere
Täuschung. Die Natur hat nur eine Straße gelassen, da wo Brunnen sind,
und so ist die Wüste ein Wall für Ägypten, den nur kleine Scharen über¬
schreiten können, nicht aber ein großes Heer, der Mahdi müßte denn den Stab
Mosis von Allah empfangen haben, der für das ganze Volk Israel aus dürren
Wüstenfelsen Wasser hervorsprudeln ließ.
Zuletzt noch ein paar Worte über die seltsamen Konsequenzen des Gor-
donschen Manifestes wegen Wiedergestaltung der Sklaverei im Sudan. England
hat dieselbe länger als ein halbes Jahrhundert allerorten mit Eifer bekämpft,
was, da es nicht aus purer Menschenfreundlichkeit geschah, nicht hinderte, daß
man den amerikanischen Sklavenbaronen 1861 den Sieg wünschte. Jetzt lieb¬
äugelt man mit der Institution auch im Sudan, während man an der Sttdost-
und an der Westküste Afrikas noch immer auf Schiffe mit schwarzem Sklaven-
fleische fahnden läßt. Das hat im östlichen Sudan zu wunderlichen Vorgängen
geführt. Grcihmn und Hewett hatten dort abessinische Kundschafter geworben,
die vorzügliche Dienste leisteten. Jetzt hat man dieselben entwaffnet und ent¬
lassen wegen Meuterei, d. h. weil sie eine aus Kassala stammende Frau ihres
Volkes, die in ägyptischer Sklaverei gehalten wurde, zu befreien versucht haben.
Auch andre Sklaven, die ihren Herren entlaufen waren, weil sie frei zu sein
glaubten, wo die britische Fahne wehte, sind von den englischen Militärbehörden
in Suakiu gefaßt und wieder in die Knechtschaft zurückgeliefert worden, dar¬
unter einer, welcher bei einem englischen Korrespondenten Zuflucht gesucht hatte.
Admiral Hewett, der das verfügte, scheint sich entweder durch Befehle Glad-
stones oder durch die Bekanntmachung General Gordvns in Chartum verpflichtet
zu halten, nicht nur seine abessinischen Gehilfen für Befreiung ihrer Lands¬
männin zu bestrafen, sondern anch auf eigne Rechnung entwischte Sklaven ihren
Herren wiederzuverschaffen. Die „Habschin," die während der Schlachten von
Teb und Tamai sich so nützlich erwiesen, sind eingesperrt worden, weil sie es
nicht mit ansehen konnten, daß eine Abessinierin bei einem Nichtchristen ge¬
zwungen Dienste that und überhaupt sein Eigentum, also seinem Willen unter¬
worfen war, und andre Knechte dortiger Türken und Araber wurden aus dem
Schatten der britischen Banner, den sie in verzeihlichen Irrtum für befreiend
gehalten hatten, wieder in ihr altes Verhältnis zurückgeschleppt.
Man darf für sicher halten, daß der tapfere Admiral und seine Beamten
dies nicht aus eignem Antriebe gethan haben. Es ist wieder ein häßliches
Beispiel der widerspruchsvollen Politik der jetzigen englischen Regierung, die nur
zu Hause die Freiheit fördert. Der Admiral muß tief die Abgeschmacktheit
empfinden, die darin liegt, daß England bei Zanzibar arabische Dhows, die
Sklavcnfracht am Bord haben, in den Grund bohrt und in Suakin seine
Soldaten Sklaventreiberdieuste verrichten läßt. Wie sich dies mit dem Rufe des
„großherzigen" Albion vereinigen läßt, ist schwerer zu sagen, als wie es zu
demjenigen des „treulosen" stimmt. Die Meinung der Völker des Festlandes
wird leicht darüber ins reine kommen. Es ist gewiß zweierlei, wenn Gordon
sich unter dem Drange der Umstände genötigt sieht, in Chartum und im Herzen
des Sudan die Haussklaverei als eingewurzelte Sitte zu dulden, die er nicht
abschaffen kann, und wenn die Vertreter Großbritanniens in Ostsudan und am
Saume des Roten Meeres sich zu positiver Umkehr der Gewohnheit Englands,
alle Sklaven zu befreien, wie durch ein Gesetz und Recht genötigt glauben.
Liegt in dieser Meinung und diesem Verfahren irgendwelche Logik, so ist zu
erwarten, daß wir nächstens erfahren, Admiral Hewett habe den besagten eng¬
lischen Zeitungskorrespondentcn vor ein Kriegsgericht gestellt, weil er einen ent-
laufener Sklaven in seiner Wohnung ein Versteck gewährt. In der That,
nicht leicht konnte dem englischen Publikum ein überraschenderer und beun¬
ruhigenderer Widerspruch mit seiner Überzeugung von der Pflicht Englands ge¬
meldet werden als mit diesen Vorfällen.
wei Jahre später kehrte Paul zu seiner Schwester noch mehr
verändert als früher zurück. Er war darauf verfallen, als Jour¬
nalist aufzutreten. Eine ernsthafte Polemik hatte zu einem Duell
geführt, in welchem er so unglücklich gewesen war, seinen Gegner
schwer zu verwunden. Mit jener verdammungswürdiger Nach¬
sicht, welche die Obrigkeit bei solchen Gelegenheiten an den Tag legt, hatte man
ihn trotz seines unglücklich abgelaufenen Sieges unbehelligt gelassen, er selbst
hatte es vorgezogen, der geschmacklosen Ovation, welche die Welt ihm zollte,
aus dem Wege zu gehen. Verdruß und Reue hatten ihn in sein Heimats-
dörfchen, in die reine und ruhige Luft des schwesterlichen Hauses getrieben.
Auch diesmal fragte ihn Adele in der liebevollsten Weise über sein Thun
und Treiben, seine Pläne und Hoffnungen für die Zukunft aus. Weiß ichs?
antwortete Paul mit jener Verdrossenheit, welche nun schon etwas herkömmliches
und beinahe eine Lieblingsgewohnheit an ihm geworden war. Ich möchte recht
gern, ab und zu, namentlich wenn mein Gehirn von Ideen vollgepfropft ist,
möchte lieber gern ein großer Mann werden, und sollte es auch, wie das bei
so vielen der Fall ist, auf Kosten der Stelzen geschehen, auf die ich mich
stellen müßte, wenn ich Kopf und Mut hätte. Aber Tag für Tag überzeuge
ich mich mehr — und ich möchte, du könntest das auch glaube», meine liebe
Adele —, daß es viel weniger kostet und viel mehr zu unserm Glücke beiträgt,
wenn man eine unwissende Null ist. Ach, selig sind die geistig Armen! Denn
ihnen ist das Himmelreich und die Freude auf Erden. Wer, wer schenkt mir
eine glückliche geistige Armut, die so recht einherstolzirt, recht hochmütig ist, so
eine, wie sie sich für einen reich gewordenen Pächter oder einen Adlichen von
altem Schrot und Korn geziemt? Damit ist nicht gesagt, daß ich es nicht ver-
schmähen würde, ein Muster von Weisheit zu werden, und zwar nur, um dir
eine Freude zu macheu. Aber, aber das Können — da liegt das Unglück!
Gieb acht! Meiner Ansicht nach giebt es keine Mittelstraße, entweder muß man
in der Glückseligkeit der Unwissenheit schmoren oder sich von dein Geier des
unersättlichen Wissens die Leber fressen lassen, ein zweiter Prometheus, der an
dem steilen Felsen des unablässigen Studiums angeschmiedet ist. Die Wissen¬
schaft ist ein großes Ganze, dessen Teile wie die Ringe einer Kette zusammen¬
halten. Legst du an einen dieser Ringe die Hand, so bist du ohne Gnade ge¬
zwungen, auch die andern zu erfassen, wenn du nicht willst, daß dir die Pforten
des Weisheitstempels vor der Nase zugeschlagen werden; und bei jedem Ringe,
den du besitzest, entdeckst du eine immer größere Menge von solchen, die du noch
zu erfassen hast. Ich bin nun einmal so angelegt, daß ich entweder alles wissen
oder mich mit der Wissenschaft des Sokrates begnügen möchte, der nur das eine
wußte, daß er nichts wußte. Aus diesem Grunde bin ich unter die Schrift¬
steller gegangen, welche sich mit dem Zeitungsklatsch des modernen Lebens be¬
fassen. Weißt du auch, daß nach der Klassifikation von Ampere — und der ist
in seiner Berechnung noch sehr bescheiden — das menschliche Wissen in hundert-
achtuudzwauzig Wissenschaften zerfällt? Das muß ja jeden Biedermann betäuben!
Ach! rümpfe doch nicht so die Nase, meine gute Adele, du brauchst dich darob
nicht zu entsetzen. Glaube nicht, daß ich ganz darauf verzichte» wollte, mir
ein gutes Teil in der Welt zu nehmen und soviel als möglich davon fest¬
zuhalten. Nein, wenn ich ein Nichtsnutz werde, der zu weiter nichts taugt als
nach seinem Tode die Würmer zu mästen, so werde ich das nur durch die Not¬
wendigkeit der Umstände, nicht aus eignem bösen Willen. Ich habe im Sinne,
diese andre kleine Welt, welche man den Menschen nennt, zu studiren, ich kenne
davon noch so gut wie garnichts. Wenn ich erst weiß, welchen rechten Namen
man diesem langweiligen und gelangweilten Zweifüßler geben muß, so werde ich
vielleicht ein großer Romanschriftsteller oder ein großer Philosoph oder ein
großer Politiker werden — das sind drei Sorten von Leuten, welche sich ein
Gewerbe daraus machen, dem menschlichen Geschlechte als Ärzte oder Wundärzte
zu dienen — und kurz und gut, ich will die Welt durchstreifen und mich
amüsiren.
Und er brachte diesen Entschluß auch sofort zur Ausführung. In den
Jahren, welche nun folgten, streifte er durch die halbe Welt. Er besuchte die
vornehmsten Städte von Deutschland, Frankreich und England; Paris und
London kosteten ihm mehr Zeit und Geld als alle übrigen Städte zusammen.
Nach seiner Rückkehr nach Italien hielt er sich lange in Mailand, Florenz,
Rom und Neapel auf. Er legte sich auf das Komödicnschreiben und erfreute
sich auch manches rauschenden Erfolges. In Florenz feierte er seine größten
Triumphe. Es schien, als würde er dort seinen bleibenden Wohnsitz nehmen,
er teilte dies seiner Schwester nicht nur in seinen Briefen, sondern auch mund-
lich bei einem gelegentlichen Besuche mit. Dann reiste er auf einmal wieder
ab, und wollte nie wieder dahin zurückkehren. Zwei Jahre hindurch führte er
dann das Nomadenleben des Komikers und begleitete eine Schauspielergesell¬
schaft, da ihn eine Circe vom Theater mit ihrer blendenden Anziehungskraft in
ihre Netze verstrickte.
Die Nachrichten, welche er seiner Schwester zukommen ließ, wurden immer
seltner. Einige male kam er unversehens zu ihr ins Haus, verweilte dort ein
paar Tage, um sich gewissermaßen in der reinen Luft ihres häuslichen Friedens
zu erholen, dann reiste er wieder ab, um sich von neuem in den Strudel der
Welt zu stürzen. Jedesmal war sein Aussehen ein andres; ein einzigesmal
— und das war nach seinem Triumphe in Florenz — sah er heiter und ver¬
gnügt aus, wie einer, der mit sich und seinen Lebensverhältnissen zufrieden ist;
am häufigsten erschien er abgespannt und verdrossen, bald von entsetzlich schlechter
Laune, bald von einer erzwungenen, zur beißenden Ironie neigenden Lustigkeit
beherrscht, und zu guterletzt sah er ganz und gar erschöpft aus, man konnte
ihm anmerken, daß er in einem großen Kampfe unterlegen war und unter der
Herrschaft eines tiefen, bittern Kummers stand.
Bisher hatte ihm der Aufenthalt im Hause seines Schwagers immer gut
gethan, hatte ihn entweder aus seiner Gleichgiltigkeit aufgeschüttelt oder seine
reizbare Verdrießlichkeit beruhigt. Aber das letztemal war er dem wohlthätigen
Einflüsse dieser sanften Atmosphäre nicht zugänglich gewesen. Sein Herz war
aber auch zu grausam von einer Enttäuschung getroffen worden. Er hatte mit
einemmale wahrgenommen, daß er eine Sirene, die nicht in einen Fisch, sondern
in einer Schlange endigte, geliebt hatte, und von ihr nicht einmal mit der bei
jenen Geschöpfen üblichen Liebe wieder geliebt worden war, sondern ihr nur als
Spielzeug zu ihren Lastern, Launen und Erbärmlichkeiten gedient hatte. Es kam
ihm beinahe so vor, als wäre durch jene Berührung sein ganzes Wesen herab¬
gewürdigt, sein ganzer Charakter wie durch die Berührung mit verdorbenen
Früchten angefault; die Verdorbenheit, in welche ihn seine unglückliche Leiden¬
schaft gestürzt hatte, war nahe daran gewesen, seine Rechtschaffenheit zu be¬
sudeln.
Endlich empörte er sich gegen diese Tyrannei des Schlechten, welche eine
erkaufte Wollust zu ihrer Komplizin machte. Er zerbrach die unwürdigen Fesseln,
und er war nahe daran, das ganze weibliche Geschlecht zu verfluchen, doch er¬
innerte er sich an seine Schwester und that es nicht. Aber in seinem Ärger
und seinem Kummer sah er jetzt alles schwarz, den Menschen, die Gesellschaft,
die ganze Natur und die boshafte Verkettung der Umstände, welche man mit
dem Worte Zufall bezeichnet. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, seine Eigen¬
schaft als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft aufzugeben und sich mit seinem
Spleen sein Leben lang in eine Einöde zu flüchten, um wenigstens den Trost
zu haben, zu jeder Minute des Tages die Menschheit und das irdische Leben
Verfluchen zu können. Bevor er diesen Entschluß ausführte, wollte er sich zu
den Cercis begeben, um durch den Anblick ihrer Tugenden den Mut zu schöpfen,
daß er sich nicht zu schämen brauchte, derjenigen Spezies von Tieren anzu¬
gehören, welche, einerlei ob Mann oder Weib, wie er selbst gesehen, selbst das
All erheiligste kaufen und verkaufen.
Er eilte zu seinen Verwandten, blieb bei ihnen zwei Monate, ohne seiner
Schwester, bei der er doch das geneigteste Ohr für seine Bekenntnisse gefunden
Hütte, das geringste anzuvertrauen, und langweilte sich fürchterlich. Diese sechzig
Tage der Einsamkeit, wenngleich sie von der Gegenwart der einzigen Personen
auf der Welt, die er überhaupt noch liebte, versüßt wurden, erschienen ihm eine
Ewigkeit, ihm, der sich doch eingebildet hatte, er könnte sich in eine Einöde ver¬
graben!
Er mußte sich Bewegung machen, sein lebhaftes Naturell verlangte neue
Eindrücke, neue Anregungen. Seine bekümmerte Seele litt immer mehr, da sie
fortwährend nur auf sich selbst angewiesen war. Das einzige Mittel, um zur
Vergessenheit zu gelangen, schien ihm die Zerstreuung. Eines schönen Tages
faßte er den Entschluß, seinen Trübsinn, seine Übeln Launen und seine eigne
Person in jenen Strudel zu stürzen, welcher in der neuen Welt aus den alten,
von dem lasterhaften Europa ausgeworfenen Elementen zusammengesetzt wird.
Adele vergoß die bittersten Thränen und hielt es für ihre Pflicht, ihm
davon abzuraten. Laß mich nur machen, antwortete Paul. Es ist so am besten
für mich und auch für dich. Mein egoistischer Kummer würde auf die Länge
für den Frieden deines Hauses von der schädlichsten Wirkung sein. Laß mich
dieses moralische Gift weit in die Ferne tragen; wenn ich wiederkomme, habe
ich es vielleicht unterwegs verloren.
Er reiste ab. Vier Jahre lang schrieb er dann nur zweimal, und zwar
mit einem unbefangenen Lakonismus, aus welchem über seine Seelenstimmung
nicht das geringste zu entnehmen war. Wer war denn außer Schwester und
Schwager im Lande, der sich seiner noch erinnert hätte?
Zwei Tage nun vor dem Tage, an welchem wir den Leser in das Haus
des Doktors Cerci eingeführt haben, hatte Adele folgenden Brief erhalten.
Turin, den 26. Juli 186 ...
Ich kehre zurück, oder besser gesagt, ich bin zurückgekehrt, und werde über¬
morgen gegen fünf Uhr nachmittags in X. eintreffen, um dich zu umarmen,
dem braven Cerci die Hand zu drücken und deine Jungen in die Backen zu
kneipen. Wie viele habt Ihr denn? In deinem Hause bleibe ich entweder einen
Tag oder mein ganzes Leben lang, das weiß ich selbst noch nicht.
Von meiner langen Reise kehre ich mit zwei Kostbarkeiten heim: einem
Neufundländer und einem Freunde — echt und erprobt alle beide, zwei große
Seltenheiten! Ich werde dir den einen wie den andern vorstellen. Der Freund
wird sich in das Kurhaus, der Hund in die Nische im Garten begeben.
Bereite mir mein gewohntes Zimmer und ein homerisches Mittagsessen,
wie es nur die Provinz kennt. Mein Freund — ein ehrbarer Abenteurer und
ein Original von wegen seines Leberleidens, von welchen, ihn dein Mann ku-
riren soll — liebt leidenschaftlich die Erdäpfel und die Schweiuspfötchen und
den alten Barbsra.
Er ist ein Italiener und nennt sich Josef Devannis.
Ich umarme dich im voraus, meine Jnniggeliebte, und bin
Die Freude, deu Bruder nach vierjähriger Abwesenheit wiederzusehen, hatte
die brave Frau außer sich gebracht. Die achtundvierzig Stunden, welche zwischen
dem Empfange des Briefes und dem Augenblicke der Ankunft verliefen, erschienen
ihr endlos zu sein. Nun aber, da dieser Augenblick heranrückte, konnte sie sich
vor Angst kaum uoch bezwingen.
Sie kehrte jetzt langsamen Schrittes nach den? Hause zurück, nachdem sie
zuni hundertsten male am Gartengitter gestanden hatte, um auf die Straße zu
schauen. Bei ihr waren drei ihrer Knaben, von denen sie den kleinsten an der
Hand hielt; der größte war, wie schon erzählt, mit dem Vater dem Onkel ent¬
gegengegangen. Als sie eben im Begriffe war, die Schwelle des Hauses zu
betreten, hörte sie das laute Bellen eines Hundes. Sie blieb stehen. Gleich
darauf erklang die Stimme ihres ältesten Sohnes, welcher herbeigelaufen kam
und am Gitter nach ihr rief. Also er war angekommen! Das Blut starrte
ihr in den Adern, sie wurde ganz blaß und dann wieder feuerrot. Nun nahm
sie eiligst den jüngsten ihrer Söhne auf den Arm und lief nach der Gartenthür.
Kommt, lauft! rief sie zu den beiden andern Knaben, der Onkel ist da!
Mama, Mama! rief nun auch der kleine Paul ganz vergnügt jenseits des
Gitters, hier ist der Pate!
Und ein großer weißer, schwarzgefleckter Hund tanzte vor dem Knaben und
bellte lustig, als ob er seine Freude bezeugen wollte.
Adele setzte, um schneller laufen zu können, den Kleinsten nieder, den sie
auf den Arm genommen hatte. Eine kleine Gruppe von Männern erschien an
der Gartenthür; zwei von ihnen blieben zurück, der dritte stürzte der Frau ent¬
gegen und streckte seine Arme nach ihr aus. Er war ziemlich schmächtig von
Gestalt und hatte den Kneifer auf die Nase geklemmt.
Paul, Paul! rief die Frau des Doktors und warf sich in seine Arme.
Und der Bruder drückte sie gerührt an seine Brust und küßte sie leiden¬
schaftlich.
Das Eßzimmer lag zu ebener Erde, die Fenster gingen nach den Rosen¬
hecken des Gartens. Eine heitere Sonne, vor welcher die grünen Vorhänge
Schutz gewähren sollten, hatte es doch durchgesetzt, mit ihren Lichtstrahlen ein¬
zudringen und spiegelte sich in dem aufgelegten Silberzeug und dem reinsten
Kristall der Flaschen und Gläser. Das schneeweiße Tischzeug verbreitete jenen
angenehmen Geruch der frischen Wäsche, welcher von der Sorgfalt der guten
Hausfrau zeugt. Die helle Farbe der Wandtapeten, die Blumen in den Vasen,
das üppige Grün des Gartens, die strahlenden, lebhaften Augen der Knaben,
das glückliche und liebevolle Lächeln Adelens und das offne, ehrliche Gesicht
des Doktors — alles atmete eine häusliche Heiterkeit, um auch der bekümmertsten
Seele Trost zu spenden.
Die Seele Pauls, welcher seit langer, langer Zeit von solchen Freuden
entfernt und getrennt gewesen war, empfand darob ein unsäglich süßes Gefühl.
Mit einer Stimme, die von wahrhaft väterlicher Liebe erfüllt war, sprach er
zu den Neffen, welche ihn zwar mit einer gewissen Unterwürfigkeit, aber doch
mit aufrichtiger Liebe anblickten. Die Mutter hatte ihnen ja so oft und soviel
von dem fernen Oheim erzählt! Und mit welchem Behagen erteilte er ihnen
jene kleinen Verweise, welche im Munde desjenigen, der sie erteilt, als eine,
von einer gewissen Autorität begleitete Zärtlichkeit erklingen! Und wie oft hatte
er seiue Rede, sein Nachdenken, sein Essen unterbrochen, um die Hände seiner
guten Adele zu ergreifen und recht herzlich zu drücken, als ob er hierdurch für
alle diese süßen Aufregungen, die ihn beseelten, seinen Dank abstatten wollte!
Inzwischen beobachtete Adele mit der gespanntesten Aufmerksamkeit ihren
Bruder und verfolgte und las auf seinem Gesichte beinahe alle Eindrücke seiner
Seele. Man hätte sagen können, daß sie, wie schon früher mit ihrer Umarmung,
nun auch mit ihren Blicken und Worten den in den Schoß der Familie heim¬
gekehrten liebkoste. Und wie fand sie diesen heißgeliebten Bruder verändert!
Blässe und Magerkeit bekämpften auf seinem Gesichte die letzten Spuren der nun
verflossenen, vor der Zeit verwelkte» Jugend. Eine Falte durchfurchtete seine
Stirn und zeugte von unablässigem Nachdenken, vielleicht von einem unauslösch¬
lichen Schmerze. Diese Stirn, welche schon etwas von ihrem Haarschmucke ein¬
gebüßt hatte, schien höher und breiter geworden zu sein. Es war etwas krank¬
haftes in diesem brennenden und unruhigen Blicke, in diesem ironischen Lächeln,
in dieser zurückgebogenen Haltung des Kopfes, in der sich eine Versunkenheit
in sich selbst, eine Verachtung aller irdischen Dinge, sogar die Verachtung seiner
selbst kundgab.
Und wie oft sagte sich Paul während dieses Mittagsmahls, wenn er seinen
Ellenbogen auf das weiße, duftende Tischzeug stützte, wenn er in das ruhige
und ehrliche Gesicht des ihm zur Linken sitzenden Schwagers blickte, wenn er
seine Augen auf den lockigen Köpfen der Knaben ruhen ließ und deren lebhaftes
Geplauder hörte, wie oft sagte er sich, um wieviel glücklicher er jetzt sein würde,
wenn er, statt durch die Welt einem geheimnisvollen Schicksale nachzulaufen,
sich begnügt hätte, in irgend einem Winkel seiner Heimat Gatte und Vater zu werden.'
Während er sich aber darauf beschränkte, solches zu denken, setzte sein Freund
Josef Devannis diese ganz gewöhnliche, alltägliche und doch bei so vielen in
Vergessenheit geratene Wahrheit mit lauter Stimme auseinander.
Sieh, Paul! Ein braves Weib und zwei Paar gesunde Buben, das ist
alles, was ein vernünftiger Kerl, wenn er ein Herz in der Brust hat, sich zum
Ziele setzen soll.
Es war eine absonderliche, originelle Figur, dieser Josef Devannis.
Lang und hager, und doch dabei kräftig und robust, erhielt er durch eine
dichte Masse fahlgelber, graugesprenkelter Haare und einen borstigen Bart von
gleicher Farbe ein wahrhaft wildes Aussehen; und mit diesem Aussehen standen
wieder der sanfte, beinahe schüchterne Blick aus seinen schönen, blauen Augen
und die angenehme, sympathische Stimme, welche trotz ihrer männlichen Klang¬
farbe einen beinahe kindlichen Ton behielt, im wunderlichsten Gegensatz. Wer
ihm am Abend mit seiner großen Leibesgestalt, seinem riesigen Knochengestell
und seinem ungepflegte» Barte begegnete, hätte sich beinahe vor ihm fürchten
können; hätte er dann aber seine Stimme gehört, so würde er sofort vertrauens¬
voll geworden sein.
Dies war denn mich der Eindruck, welchen Adelens Söhne von ihm be¬
kommen hatten. Zunächst hatten sie dies lange, unmanierliche, nachlässig ge¬
kleidete Wesen mit einem gewissen Mißtrauen angesehen und sich scheu und blöde
von ihm ferngehalten. Als er aber geredet und seine klaren und lachenden
Augen in ihre Augen versenkt hatte, da waren sie nach und nach zutraulicher
geworden; und als das Mittagsessen zu Ende war und die Gesellschaft im
schattigen Garten unter dem Kiosk Kaffee trank, da war der Spitzbube von
jüngsten unter den Buben der erste gewesen, der auf seine Kniee geklettert war,
ihm war der zweitjüngste gefolgt, und bald hatte auch der dritte sich ihm bei¬
gesellt; der älteste aber, welcher sich schon zu den großen zählte, hatte dem
Fremden gegenüber auf einem Sessel Platz genommen und neugierig auf dessen
Plauderei mit den Kleinen gehorcht.
Ja, gnädige Frau, fuhr Devannis in seiner Rede fort, indem er sich mit
einer leichten Verbeugung an Adele wandte, ich sehe nur in der Familie die
menschliche Glückseligkeit. Gott hat Adam irdische Engel beigesellt, um ihm
Tugend und die heiligen Gefühle, welche das Gemüt veredeln, einzuflößen. Das
Weib und die Kinder sind die Engel auf Erden. Und diese findet man doch
nur im Kreise der Familie. Ich sehe an Ihrem Lächeln einen Einwurf, der
sich auf meine Wenigkeit bezieht. Ich widerspreche der Theorie meiner Worte
durch meine Thaten. Das ist leider wahr, und deshalb muß mich eine so gute
Seele wie die Ihrige bedauern. Ein lateinischer Dichter hat einmal einen
Satz ausgesprochen, welcher leider die Sittenregel eines großen Teils der un¬
bedachtsamer Menschheit geworden ist: „Ich sehe das beste, billige es und greife
nach dem schlechtesten." Es ist die Geschichte aller der Menschen, welche ihren
Beruf, ihr Glück und ihre Pflicht verfehlt haben. Es ist meine eigne. Es
wird auch Pauls Geschichte sein, wenn ihn nicht ein glücklicher Zufall aus dem
Ozean des Irrtums, in welchem er sich, wie ich selbst weiß, abgequält hat und
noch immer abquält, an das Ufer der Wahrheit führt. Für mich ist es jetzt
zu spät. Ich bin mitten in der bürgerlichen Gesellschaft meiner Zeitgenossen
zum Nomaden geworden und leide an dem chronischen Übel des Vagabunden¬
tums, von welchem auch des Doktors ganze Kunst mich nicht kuriren kann.
Die meinige nicht, sagte Cerci lachend, aber die eines der Engel, welche
Ihr eben nanntet.
Devcmnis schüttelte den Kopf und erwiederte halb betrübt, halb ungeduldig:
Ich bin jetzt nahe an die fünfzig, und meine Seele ist dürrer als das Bett des
Gießbachs da unten, der so trocken ist wie das Herz eines Geizhalses.
Du verleumdest dich, rief Paul aus, und es gefällt dir, dich mit einer
Hartnäckigkeit zu verleumden, die ich schließlich dem Stolze zuschreiben muß.
Stolz? — Auf Josefs Gesicht stieg eine brennende Röte auf, die ebenso¬
gut von Ärger wie von Scham zeugen konnte; seine Stirnadern schwollen
unter dem plötzlichen Andrange einer heftigen Aufregung. Es war nichts weiter
als ein Blitz, der ebenso schnell vorüberging, aber in diesem Blitze offenbarte
sich klar und deutlich der Charakter dieses Mannes, der im ganzen gutmütig
und sanft war, aber durch plötzliche Aufwallungen so heftig werden konnte, daß
er, wenn er die Herrschaft über den Willen verlor, sich zu allen Exzessen hin¬
reißen ließ.
Stolz! antwortete er; meinetwegen! Man mag sich drehen und wenden,
suchen und forschen, im Grunde ist doch immer, wenn wir die Wahrheit sagen
wollen, ein gewisser Stolz in allen unsern Irrtümern, und dieser Stolz ist noch
lächerlicher und verächtlicher, wenn er es zu weiter nichts als zu den Erbärm¬
lichkeiten der Eitelkeit bringt. Mein lieber Paul, trachte danach, daß dies der
letzte — oder wenn du es lieber willst, der erste — Grund deiner Verirrungen,
deiner Thorheiten, deiner Schmerzen sei. Du hast in deinem Blute auch etwas
von jenem zigeunermäßigcn Sprudel, der mich seit meiner frühesten Jugend
gegen die ruhigen Verhältnisse des gewöhnlichen Lebens empört hat. Wir
Abenteurer sind doch eigentlich weiter nichts als große Wichtigthuer, die sich
einbilden, weit über dem rechtschaffnen Manne mit seinem Familienkreise und
seiner bürgerlichen Existenz zu stehen. Wir armen Thoren! Ja, in der
Seele eines jeden, dem das Schicksal die Wohlthat der Stumpfsinnigkeit des
Geistesarmcn versagt hat, in der Seele eines jeden Menschen erhebt sich mehr
oder weniger ein Sehnen und Trachten nach dem neuen, dem erhabenen, dem
unbekannte». Von der empfindsamen Dame, die von ihrem Fenster den Sonnen¬
untergang an einem schönen Frühlingstage seufzend bewundert, bis zu dem
Abenteurer, der das endlose Meer betrachtet und mit einer unbestimmten
Sehnsucht das ferne, sich am Horizonte verlierende Segel verfolgt, wir alle
haben ein geheimnisvolles, unerklärliches Trachten, welches die Analysen der
Psychologen noch nie haben enträtseln können, das ist die Unzufriedenheit mit
der Gegenwart, das eitle Trachten nach einer großem Befriedigung unsers
eignen Ichs, ein unbedachtsamer und thörichter Durst nach der Zukunft. Und
das ist dein Übel, ist mein Übel, ist das Übel der ganzen Menschheit von Evas
Apfel bis zu den Orgien der Verführten; und an diesem Übel scheint unser
ungläubiges Jahrhundert weit mehr als die vvrhergegangnen zu leiden, denn es
fing mit dem wahnwitzigen Weltschmerz ü. In. Byron an, erzeugte eine Unzahl
von Parodien des Manfred und des Werther und bringt jetzt zugleich mit dem
hitzigen Verlangen nach Geld und Glücksgütern die moralischen, politischen,
sozialen Ungeheuer hervor, welche Familie, Staat und Gesellschaft erschüttern.
Er hat Recht, sagte Cerci, indem er den Kaffee einschenkte.
Plötzlich wandte sich Devamns zu ihm und sagte mit demselben Tone, in
welchem er bis dcchiu gesprochen hatte, als ob er seinen Vortrag fortsetzen
wollte: Seid so gut, und gebt mir einen Rum, oder Kirsch, oder Cognac, aber
trof viöux!
Der Doktor stand mit seiner Tasse in der Hand erstaunt da, wie ein Dis-
putirender, welcher mitten in einer ernsten Erörterung anhören muß, daß sein
Geguer die Rede plötzlich auf Tänzerinnen und verliebte Abenteuer bringt
Dann lachte er und beeilte sich zu antworten: Ihr sollt echten Jamaika-Rum
haben, ich habe ihn soeben von einer Dame, die hier im Bade ist, zum Geschenk
erhalten, es ist die Witwe eines jener Männer, welche Ihr soeben moralische
und soziale Ungeheuer titulirtet, er ist mit seinen alten Sünden nach der neuen
Welt ausgewandert und hat seiner Frau von dort als einziges Andenken einen
Gruß und Ruin geschickt.
Aber Johann! sagte Adele in einem halb scherzhaften, halb ernsten Tone
des Vorwurfs. Du kannst ja garnicht in dieser Weise darüber verfügen. Die
gute Frau Nina hat ihn dir ja nicht zu diesem Gebrauche gegeben, sondern für
die armen Kranken unsers Sprengels.
Das ist wahr, bestätigte Cerei ernsthaft. Und Ihr seid weder arm noch
krank.
Rina? rief Paul aus; diese Frau heißt Rina?
So ist es.
Das ist ein sonderbarer Name, der mir wohlgefällt.
Es ist eine Abkürzung, bemerkte der Doktor, vielleicht sogar die poetische
Abkürzung eines alltäglichen Namens. Vielleicht von Katharina.
Wie dem auch sei, er hat etwas gentiles, elegantes, was mir sehr sym¬
pathisch ist. Rina! Der Name verspricht eine liebe, schöne Frauengestalt.
Und du irrst dich auch nicht, sagte Adele mit einer gewissen Wärme. Es
ist das süßeste, gutherzigste und anmutigste Geschöpf, das ich je im Leben ge¬
sehen habe.
El, el! unterbrach sie ihr Gatte lachend. Du bist ja ordentlich von ihr
bezaubert, meine liebe Adele, und kannst dir in dem Enthusiasmus eines Affekts,
welcher einer wirklichen Liebe gleicht, garnichts vollkommeneres denken als sie.
Habe ich vielleicht Unrecht?
Das glaube ich nicht. Aber wir Männer — in einem gewissen Alter —
haben diese instinktmäßiger Hingebungen, diese plötzlichen Affekte nicht mehr, die
ihr Frauen mit eurer überaus gefühlvollen Seele euch als ein lebenslängliches
Privilegium bewahrt; wir wollen erst untersuchen und daran lernen, und um
die Wahrheit zu sagen, ich habe in der That den ganzen Inbegriff dieses sonder¬
baren Geschöpfes noch nicht erfassen können.
(Fortsetzung folgt.)
Aus voriger Woche ist ein literarisches
Ereignis von großer Bedeutung zu melden: der Katalog von Salomon Hirzels
Goethe-Bibliothek, der bisher nur als Manuskript gedruckt und zur Verteilung an
die Freunde des Sammlers bestimmt war, ist von der Hirzelschen Verlagshandlung
in neuer Ausgabe hergestellt und in den Handel gebracht worden.*)
Hirzels Bedeutung als Goethesammler hat vor kurzem Anton Springer in
beredten Worten geschildert in der „Vorrede" zu einem höchst liebenswürdigen Buche,
welches er der Familie Hirzel lind ihren und seinen Freunden im verflossenen
Jahre als Weihnachtsgabe dargebracht hat."'*) Wir brechen wohl kein Geheimnis,
wenn wir die betreffende Stelle bei dieser Gelegenheit mitteilen.
„Die Ausdehnung und die Vertiefung — schreibt Springer —, welche die
Goethestudien im Laufe des letzten Menschennlters erfahren haben, gehen großen¬
teils auf Hirzel, seine Anregungen und seine Arbeiten zurück; an den wichtigsten
und inhaltreichsten Schriften über Goethe nahm er mittelbar oder unmittelbar her¬
vorragendsten Anteil. In Kunstkreisen ist längst der Grundsatz eingebürgert, daß
der Sammler den Kenner am besten vorbereite, die natürliche Borstufe zu diesem
bilde. Auch an Hirzel hat sich diese Erfahrung bewährt. Als Goethesammler
begann er, als einer der feinsten Goethekenner schloß er seine dem Dichter gewid¬
mete Thätigkeit. Ihn unterstützte bei dieser glänzenden Wandlung die glückliche
Doppelnatur seiner Persönlichkeit. Hirzel besaß alle Eigenschaften eines erfolg¬
reichen Sammlers in reichstem Maße: den feinen Spürsinn, welchem auch die ent¬
legensten Winkel nicht entgehen, die geduldige Beharrlichkeit, welche den entdeckten
Schatz nicht mehr aus den Augen läßt, und die rasche Entschlossenheit, welche im
richtigen Zeitpunkte die Hand an jenen legt. Oft vergingen zwischen Entdeckung
und Erwerb viele Jahre. Die Möglichkeit des letztem däuchte den Freunden voll¬
kommen ausgeschlossen. Umso größer war ihre Überraschung, wenn nach langer
Zeit Hirzel mit behaglichem Lächeln sie in sein Goethezimmer führte und den
neuen Zuwachs der Goethebibliothek ihnen wies. Er hatte doch Mittel und Wege
gefunden, sich den Schatz zu sichern, auch wenn derselbe vorher scheinbar in festesten
Händen sich befunden hatte. Hirzel war aber kein grimmiger Schatzhüter, welcher
eifersüchtig seine Reichtümer vor den Augen der Fremden verbarg. Nichts lag
ihm ferner als die selbstsüchtige Geheimniskrämerei gewöhnlicher Sammler. Das
Motto des »Verzeichnisses einer Goethebibliothek« lautet: »Jeder Mensch treibt seine
Liebhabereien sehr ernsthaft.« Hirzel gab dem Motto die Deutung, daß seine un¬
vergleichliche Sammlung der Wissenschaft nützen, einer künftigen kritischen Ausgabe
der Werke Goethes als Leitfaden und philologische Grundlage dienen solle. In
diesem Sinne hat er bis an sein Lebensende die Gvethebibliothek fortgeführt und
fruchtbar gemacht. Ging auch der heißeste Wunsch, eine solche Ausgabe selbst in
die Hand zu nehmen, nicht in Erfüllung, so zeigt doch der »Junge Goethe,« wie
klar Hirzel die große Aufgabe erfaßt und wie reiche Mittel ihm zu ihrer Lösung
zu Gebote standen. Zu Hirzels Goethebibliothek pilgerten, seinen Rat und seine
Unterstützung nahmen alle in Anspruch, welche Goethestudien oblagen. Aber frei¬
lich: wissenschaftlichen Ernst mußten sie mitbringen, als »Gleichgesinnte« sich be¬
währen. Dem gemeinen Troß gegenüber, welchem Goethes Schneider und Köchin
eine wichtigere Quelle der Erkenntnis war als die Werke des Dichters, blieben
seine Sammlungen unerbittlich verschlossen. Die Kunst, zudringliche literarische
Kleinkrämer in der höflichsten Weise zur Thüre hiuauszukomplimentiren, verstand
niemand besser als Hirzel."
Das Verzeichnis seiner Goethe-Bibliothek hat Hirzel dreimal drucken lassen,
zuletzt im Jahre 1874. (neuestes Verzeichnis einer Goethe-Bibliothek. 1767—1874.
August 1874.) Exemplare desselben, vor allem der dritten Ausgabe, bildeten in
den letzten Jahren begehrte und teuer bezahlte Nummern antiquarischer Kataloge.
Erst vor kurzem noch haben wir ein Exemplar der Ausgabe von 1874 mit dreißig
Mark (!) angezeigt gefunden. Man kann es freilich den Antiquaren nicht verdenken,
daß sie diesen enormen Preis dafür forderten; sie bekamen ihn, denn kein Goethe-
forscher konnte den Katalog entbehren. Gut ist es aber doch, daß durch den Entschluß
der Hirzelschen Verlagshandlung, das Verzeichnis in den regulären Handel zu
bringen, dem garstigen Schacher ein Ende gemacht worden ist. Nun ist, was vor
acht Tagen noch dreißig Mark kostete, mit einemmale für drei zu haben! Und
mehr, viel mehr als das: der Herausgeber hat das Verzeichnis in seinen bisherigen
Teilen vielfach berichtigt und vervollständigt und überdies bis zum Ende des Jahres
1883 fortgeführt; so manche Nummer des früheren Verzeichnisses ist auf Grund
neuerer Forschungen erweitert worden — man vergleiche z. B. die aus den Jahren
1772—1775, welche den Anteil Goethes an den Frankfurter Gelehrten Anzeigen
und an Lavaters Physiognomik verzeichnen —, siebzig Nummern sind in den Jahren
1767—1874 neu hinzugekommen, über zweihundert Nummern endlich aus den
Jahren 1374—1883 verzeichnet worden, immer natürlich in dem allen Goethe-
freunden bekannten Sinne, wonach nur solche Drucke Aufnahme finden, in denen
ein, wenn auch noch so geringfügiges, Geistesprodukt Goethes selbst veröffentlicht ist.
Das neue Verzeichnis hat uns aber noch eine weitere Überraschung bereitet.
Bekanntlich ist die Hirzelsche Goethesammlung durch letztwillige Verfügung des
Sammlers (Salomon Hirzel geb. den 13. Februar 1304, geht. den 3. Februar 1877)
der Leipziger Universitätsbibliothek übergeben und damit der allgemeinen Benutzung
zugänglich gemacht worden. Alle Welt war wohl der Meinung, daß die glückliche
Erbin mit der Annahme dieses kostbaren und in seiner Art einzig dastehenden
Vermächtnisses stillschweigend zugleich die ehrenvolle Verpflichtung übernommen
habe, für die fortlaufende Ergänzung der Sammlung Sorge zu tragen, denn es
liegt ja auf der Hand, daß die Sammlung, sowie ihre Ergänzung unterbleibt, von
Jahr zu Jahr mehr den Charakter eines Torso annehmen und einen immer größeren
Teil ihres bisherigen Wertes einbüßen muß. Freilich ist die hier gestellte Aufgabe
für einen Bibliotheksbeamten, wenn er nicht zufällig aus persönlicher Liebhaberei
für die Sache sich interessirt, keine ganz leichte, aber doch, namentlich seit Freiherr
von Biedermann im „Archiv für Literaturgeschichte" von Zeit zu Zeit Nachträge
zu dem Hirzelschen Verzeichnis giebt und vor allem seit das Goethejahrbuch all¬
jährlich eine nahezu vollständige Goethe-Bibliographie veröffentlicht, eine wenigstens
annähernd zu lösende. Die dazu «öligen Geldmittel können, im Vergleich zu der
Wichtigkeit der Sache, kaum in Frage kommen, sind auch wirklich verhältnismäßig
unbedeutend. Mit Bedauern mußte daher alle Goethefreunde die Kunde erfüllen,
daß bei der gegenwärtigen Besitzerin die Fortführung der Hirzelschen Sammlung
doch auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen sein müsse, da sie seit Hirzels Tode
thatsächlich in ihrem Bestände im wesentlichen unverändert geblieben sei. Nun
überrascht uns der Herausgeber des neuen Verzeichnisses durch die erfreuliche
Nachricht, daß die Familie Hirzel nicht nur unausgesetzt bemüht gewesen ist, die
in dem vorliegenden Verzeichnis neu aufgeführte Literatur in ihren Besitz zu
bringen, sondern daß sie auch die Absicht hat, diese Ergänzungen „bei geeignetem
Anlaß und in nicht allzuferner Zeit" gleichfalls der Leipziger Universitätsbibliothek
zur Vervollständigung der Hirzelschen Sammlung zuzuführen. Aber was dann?
Soll die Besorgnis, daß aus dem Hirzelschen Vermächtnis ein Fragment werde,
uns dann aufs neue beunruhigen? Läge es nicht nahe, durch einen öffentlichen
Aufruf die deutschen Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsverleger zur regelmäßigen
freiwilligen Einsendung aller neu erscheinenden und in den Rahmen der Hirzelschen
Sammlung gehörigen Veröffentlichungen zu veranlassen? Würde wohl ein einziger
von ihnen seine Mitwirkung versagen, wo es die Erfüllung einer im wahrsten
Sinne des Wortes nationalen Aufgabe gilt? Nur Hand ans Werk! Der schöne
Hertzberg hat die alte wie die neuere Geschichte Griechenlands bereits mehrfach
bearbeitet, unter andern: für Ersch und Grubers Realencyklopädie, für die Heerensche
und die Grotesche Sammlung. Es ist daher selbstverständlich, daß wir in der vor¬
liegenden populären Darstellung der altgriechischen Geschichte zahlreichen Anklängen
an des Verfassers frühere Arbeiten begegnen; an vielen Stellen ist deutlich das
Bestreben sichtbar, andre Wendungen zu gebrauchen, um die vorher gebotene Er¬
zählung nicht Wort für Wort zu wiederholen.
Das Buch beschränkt sich nicht auf die Bewohner des eigentlichen Griechen¬
lands, auch die kleinasiatischen und sizilischen Griechen sind in den Rahmen der
Darstellung eingefügt worden, auch ist nicht mit der Schlacht vou Chäroueia ab¬
geschlossen, sondern der Leser wird weitergeführt durch die Zeiten der Römerherr-
schaft bis zum Anbruch des Mittelalters, der für die gesamte antike Welt doch am
besten durch die Schließung der athenischen Universität bezeichnet wird,
Hertzberg versteht es vortrefflich, durch moderne Färbung die Geschichte dem
allgemeinen Verständnis näherzurückeu; uur in einzelnen Wendungen, wie „unter
korinthischer Flagge," „Trinkgeld von zehn Talenten," scheint er uns das rechte Maß
darin etwas überschritten zu haben. Vom 9. Kapitel ab macht sich eine gewisse
Verschwendung vou Kraftausdrückeu bemerkbar („schmutziger Bluthund," „bornirte
Demagogie"), durch deren Beseitigung spätere Auflagen des Buches gewinnen würden.
Dasselbe gilt von einigen allzu häufig wiederkehrende» Lieblingswendungen — der
alte Sirenenruf vou der Freiheit und der Autonomie der Hellenen ertönt wohl Vier¬
oder fünfmal — und von mehreren stilistischen und grammatischen Flüchtigkeiten.
Die neuen Forschungen sind, wie es scheint, sorgfältig benutzt, hie und da sind
mit glücklichem Griff Beispiele aus der der griechischen so nahe verwandten deutschen
Geschichte herbeigezogen. Die Höhe der Athenestatue auf der Akropolis von Athen
ist übrigens mit 10 oder 12 Metern anzugeben, nicht mit 36! Der Band ist für
den geringen Preis sehr gut ausgestattet.
Jägers wohlbekannte Geschichte der Römer erscheint in fünfter Auflage, und
zwar, wie die Verlcigshcmdluug sagt, „durch einen eben so schönen und zahlreichen
als instruktiven Bilderschmuck vervollständigt." Wir können dieses Urteil der Ver¬
lagshandlung leider nicht unterschreiben. Wenn Geschichtswerke illustrirt werden
sollen, so kann das uur »ach echten, d. h. gleichzeitigen Bildern, Statuen u. s. w.
geschehen. Von den im vorliegenden Hefte enthaltenen 58 Holzschnitten bestehen
sieben aus Landschaftsbildern kleinen und kleinsten Formates (darunter ^ „Thal der
Cremera mit der Fabierschlacht" und „Gran Sasso d'Italia, höchster Berg des
Apennins"), die zum Verständnis des Textes nicht das geringste beitragen. Andre
Abbildungen, so „die Borghesische Vase als Beispiel griechischer Plastik," der Altarban
und die Athenegruppe von Pergcimon gehören garnicht in eine römische Geschichte.
Die Porträts des Regulus und des Masinissa sind von höchst zweifelhafter Echt¬
heit. Oft sind ferner die geschichtlichen Perioden beim Jllustriren nicht gehörig
auseinandergehalten worden; unbedenklich sind z. B zahlreiche Reliefdarstellungen
und Münzen aus der Kaiserzeit zur Illustration der Verhältnisse unter der Re¬
publik verwandt. Was soll ein Votivschild aus der Kaiserzeit, der in kaum er¬
kennbaren Figuren die angebliche Vertreibung des Brennus durch Camillus darstellt?
Vielen Abbildungen fehlt auch die Angabe des Ursprungs. Die technische Herstellung
der Holzschnitte endlich erfüllt die heutigen Ansprüche nicht im geringsten. Die
Verlagshandlung hat offenbar nur Klischees zusammengekauft, von denen einige sogar
in Frankreich schon ihre Dienste geleistet haben. Es ist kaum zu erwarten, daß
das Buch in dieser Gestalt, wie es die Verlagshandlung hofft, viel neue Freunde
gewinnen werde.
er Feldzug der Engländer an der Küste des Roten Meeres ist
beendigt, nicht ohne Erfolge, aber ohne bleibende Ergebnisse.
General Graham hat Osman Digma, den Unterfeldherrn des
Mcchoi, zweimal geschlagen, und damit ist das bei Obeid und
Teb geschädigte Prestige Großbritanniens wiederhergestellt, aber
der Weg nach dem Nil, die nächste und bequemste Rückzugslinie für die
Garnison Chartums und die andern noch im Sudan stehenden Truppen des
Chedive ist nicht geöffnet, Osman Digma wird sich von den empfangenen
Schlägen vermutlich bald erholen, und wenn die Hauptmacht der Engländer
Suakin geräumt haben wird, wird er vor den Mauern dieser Hafenstadt ungefähr
wie vor Grcihams Ankunft stehen. Nuou aäo alone uotuinA wird sich infolge
dessen als Motto für dieses Kapitel der Geschichte des Ministeriums Gladstone
empfehlen. Man hat ein paar tausend Araber umgebracht, man hat etliche
hundert englische Soldaten geopfert und den Halbwilden der Wüste gezeigt, was
man mit europäischer Mannszucht und Bewaffnung über sie vermag. Das ist
alles, was sich von der Sache sagen läßt, und niemand wird behaupten, daß
es viel sei. Ein Rückblick auf die Ereignisse wird dies erkennen lassen.
Vor etwa zwei Monaten versuchte Baker Pascha von Trinkitat aus mit
einigen tausend zusammengerafften Ägyptern die Festung Tokar zu entsetzen. Er
erlitt bei den Brunnen von Teb eine blutige und schmachvolle Niederlage, und
die Besatzung von Tokar mußte vor den Aufständischen kapituliren. Um die
letztern, die nunmehr Suakin bedrohten, zu zerstreuen, sammelte sich auf Befehl
von London an diesem Punkte ein kleines britisches Heer, das aus Truppen
bestand, welche von Kairo, Malta, Aden und Indien kamen, und seine Artillerie
von dem vor Suakin ankernden Geschwader Admiral Hewetts erhielt, und mit
dem der General Sir Gerald Graham von Trinkitat einen Vorstoß gegen
die bei Teb leicht verschanzten Insurgenten unternahm. Bevor er zum Angriff
verschritt, forderte er sie nach einer von seiner Regierung erhaltenen Anweisung
zum Auseinandergehen auf, was sie mit Schüssen erwiderte». Er griff sie
darauf auf ihrer linken Flanke an, sie aber antworteten mit einem kühnen
Ansturm gegen seine Front und versuchten seine Reihen zu durchbrechen. Ihre
Tapferkeit war bewundernswert, aber ohne Erfolg, langsam zogen sie sich endlich
zurück, und als der Kampf beendigt war, lagen über zweitausend von ihnen tot
auf der Wahlstatt. Graham zog dann weiter nach Tokar, wo er Halt machte
und einige hundert Remingtongewehre und viel Munition zerstörte, dann aber
den Rückzug nach Trinkitat und Sucikiu antrat. Sein Verlust an Mannschaften
bei diesem Marsch und Gefecht hatte etwas mehr als drei Prozent der dabei
beteiligten Streitkräfte betragen, die sich auf fünftausend Mann belaufen hatten.
Die Lektion, die Osman Digma bei dieser Gelegenheit erhalten hatte,
änderte feinen Sinn nicht. Er nahm mit dem Reste seiner Krieger bei den
Brunnen von Tamai, am Fuße der westlich von Suakin sich hinziehenden
Berge Stellung und erwiderte auf eine, zweite Aufforderung, seine Leute zu
entlassen und Frieden zu halten, er werde die Engländer ins Rote Meer jagen.
Da hierdurch Suakin weiter bedroht war, da man fernerhin nicht hoffen durfte,
die sogenannten „wohlgesinnten Stämme" der Gegend würden sich, solange Osman
das Feld behauptete, den Engländern nähern, und da infolge dessen die
Karawanenstraße noch Berber und Chartum versperrt blieb, so marschirte
Graham, nachdem der unbeugsame Osman eine dritte Aufforderung, sich zu
unterwerfen, mit Hohn zurückgewiesen, von neuem, diesmal durch eine Batterie
von der Flotte verstärkt, gegen die Insurgenten, die ihn hinter Büschen und
auf der innern Seite einer Felsenschlucht standhaft erwarteten. Er rückte in
der Formirung eines Oblongs vor. General Davis zog mit seiner Brigade
voran und hätte dabei leicht eine Niederlage des ganzen Heeres herbeiführen
können. Seine vordersten Bataillone waren rascher vorgedrungen als die an
den Flanken, das Feuer der Truppen hatte die Luft mit dichtem Pulverdampf
erfüllt, und an dem Winkel, wo die englischen Blaujacken ihre Geschütze spielen
ließen, war eine Lücke entstanden, die rasch von den Feinden erspäht und benutzt
wurde. Mit größter Unerschrockenheit stürzten sie sich hinein, weder Kugelhagel
noch Bajonnetstöße vermochte ihren Andrang zu hemmen, und so sahen sich
die vordem Bataillone der Engländer nach wenigen Augenblicken gezwungen,
sich auf die hintern zurückzuziehen, und eine Weile befand sich ein erheblicher
Teil des ganzen Vierecks in arger Verwirrung, sodaß selbst die Kanonen der
Matrosen verloren gingen. Bald indes wendete sich das Blatt. Die zweite
Brigade der britischen Infanterie hielt mannhaft Stand, ihre Salven räumten
furchtbar unter den in die Lücke gedrungenen arabischen Schwert- und Speer¬
trägern auf, die Brigade Davis' ordnete allmählich ihre Reihen wieder und
ging von neuem zum Angriffe über. Die Verlornen Geschütze wurden zurück¬
erobert, und endlich wichen Osmans Scharen langsam von Senkung zu Senkung,
bis zuletzt die Stelle, wo dieser sein Hauptquartier gehabt, im Besitze der
Verfolger war. Dieselben hatten bei dieser Gelegenheit allein an Toten über
hundert Mann auf dem Platze gelassen, den schließlichen Sieg also ziemlich
teuer erkauft und doch nicht viel mehr gewonnen als einige Meilen wüsten
Bodens.
Osman zog sich, aus seinem Lager vertrieben, in die Berge zurück, wo er
sich bei Tamanieb festsetzte, während Grccham, unfähig, seinen Sieg weiter zu
verfolgen, nach Snakin zurückkehrte. Von hier entsandte er später einige In¬
fanterie nach Handuk, bei dessen Brunnen dieselben ein Lager mit Schanzen
von Stachelgebüsch (Zereba) bezog, während die Kavallerie einige Meilen weit
auf der Straße nach Berber vorging, wobei sie keinem Widerstand begegnete.
Admiral Hewett setzte einen Preis auf Osman Digmas Kopf, mußte die be¬
treffende Bekanntmachung aber auf Befehl der Regierung zurücknehmen. Ver-
schiedne Expeditionen von Kundschaftern zeigten, daß die Straße nach Berber
jetzt auf eine Strecke hin frei war, doch ließ sie sich nicht benutzen, solange
Osman in den benachbarten Bergen verweilte. Deshalb marschirte Graham
nochmals gegen ihn und vertrieb ihn, nachdem die Kavallerie seine Stellung
herausgefunden hatte. Ein endgiltiger Erfolg aber war damit nicht gewonnen,
und als die Engländer die weitere Verfolgung ihres hartnäckigen und schwer
zu fassenden Gegners wegen der eingetretenen Hitze aufgaben, nach Suakin zurück¬
kehrten und zuletzt auch dieses mit Zurücklassung weniger Truppen räumten,
näherten sich die Leute Osman Digmas sofort wieder der Stadt und bestraften
die Araberstämme, die inzwischen mit den Engländern in freundliche Beziehung
getreten waren, mit Wegnahme ihres Viehes.
Blicken wir nur auf Suakin und seine nächste Nachbarschaft, so hat nach
dem Gesagten England hier allerdings nichts Dauerndes erreicht. Sieht man sich
aber in weiterem Kreise um, so nimmt sich die Sache, wenn sie auch noch genug
schwarze Stellen erkennen läßt, einigermaßen anders aus. In derselben Zeit,
wo die Armee Hicks Paschas von den Kriegern des Mahdi zusammengehauen
wurde, stand England auf dem Punkte, Ägypten zu räumen. Jetzt beginnt es
eine Art Schutzherrschaft über die Teile des Reiches des Chedive einzurichten,
die für seine Zwecke passen. Auf den ersten Blick unbequeme Ereignisse ver¬
wandeln sich in Gelegenheiten, vorteilhafte Stellungen zu gewinnen. Arabis
Aufstand brachte Ägypten faktisch in englische Hände, die Empörung des Mahdi
machte sie zu Herren am Küstensaume des Roten Meeres. So sehen es auch
hervorragende französische Politiker an. Gabriel Charmes z. B. sagt im ^ouriuü
Ass v6v!Z.t>8: „Ich rate denjenigen von meinen Landsleuten, welche aus Furcht
vor der ägyptischen Armee sich weigerten, in Gemeinschaft mit den Engländern
bei Tel El Kebir leicht zu gewinnende Lorberen zu pflücken, und welche noch vor
kurzem glaubten, General Gradaus Truppen würden so rasch wie Ägypter vor
den Speeren der Aufständischen im Sudan davonlaufen, doch über die Folgen
einer Politik nachzudenken, die sie in wenigen Monaten aus Ägypten und vom
Roten Meere vertrieben hat. Wir verlieren allen unsern Einfluß in Ländern,
welche das Zentrum und das Herz des Welthandels sind, und zwar in dem¬
selben Augenblicke, wo wir uns mit Aufwendung vou soviel Blut und Geld
abmühen, in Asien ein Kolonialreich zu begründen und unsern Rechten in
Madagaskar Achtung zu verschaffen. Welche Vorteile wir auch in den indischen
und chinesischen Meeren erringen mögen, unsre neuen Besitzungen werden immer
von dem guten Willen Englands abhängen, das in Gestalt Ägyptens und des
Roten Meeres den Schlüssel zu ihnen in der Hand haben wird. England hat
niemals die Thatsache aus den Augen verloren, daß durch Ägypten und über
das Rote Meer die nächste Straße nach Indien führt. Mögen wir, bevor es
zu spät ist, zu der Erkenntnis kommen, daß sie auch die nächste Straße nach
Kochinchina und Arran, nach Tonking und Madagaskar sind. Was hat Frankreich
zu thun, wenn es die verhängnisvollen Folgen seines Mißgriffs vermindern will?
Wenn seine Minister der Aufgabe gewachsen sind, so müssen sie ohne Verzug
Kriegsschiffe nach Massaua, dem natürlichen Hafen Habeschs, absenden, dessen
Herrscher Frankreich um seine Unterstützung und Schutzherrschaft gebeten hat.
Ginge das nicht an, so sollten sofort einige Kreuzer nach dem Roten Meere
aufbrechen und die dreifarbige Fahne an Orten aufpflanzen, die, wie Obock,
Frankreich gehören. Das Land der Bogos und der Barka Hamazan Ed Adulis,
desgleichen die Inseln Uta und Dessi sind allesamt verschiedne male in regel¬
mäßigster Form von abessinischen Königen an Frankreich abgetreten worden."
Charmes empfiehlt darauf besonders angelegentlich die augenblickliche Besetzung
Dessis, welches die Bucht von Adulis beherrscht. Er meint, dies werde nicht
als ein Akt der Feindseligkeit gegen England ausgelegt werden können, werde
demselben aber zeigen, daß Frankreich, obwohl es England in Verfolgung feiner
berechtigten Absichten in keiner Weise stören wolle, doch nicht zulassen könne,
daß man es gerade in dem Augenblicke, wo es seine Eroberungen in Asien aus¬
dehne, gänzlich vom Roten Meere ausschlösse. Man sieht hieraus, daß Frank¬
reich bereits eifersüchtig auf die noch nicht einmal gesicherte neue Stellung der
Engländer am Roten Meere ist, und zweitens zeigen solche und ähnliche Äuße¬
rungen der Presse unwiderlegbar die hohe Wichtigkeit dieser von England fast
gegen den Wunsch und Willen Gladstones gewonnenen Stellung und die Un¬
vernunft derer, die das Aufgeben von Vorteilen anraten, deren außerordentliche
Bedeutung in Paris von niemand, der über die Verhältnisse unterrichtet ist,
verkannt wird.
Mittlerweile hat sich die Lage Gordons noch ungünstiger gestaltet, als sie
nach den letztvorhergegangcnen Nachrichten aus Chartum war, und Gladstone
hat mit seiner halbschürigen und inkonsequenten Politik diesem General gegen-
über schon jetzt vor dem englischen Publikum einen schweren Stand. Gordon
ist von den Aufständischen bis auf eine kleine Lücke im Kreise eingeschlossen,
ein Ausfall seiner Truppen endigte mit einer Niederlage, unter den ägyptischen
Offizieren, die unter ihm befehligen, befinden sich Verräter. Erliegt er den ihn
bedrohenden Gefahren, so kann das leicht einen Fall der liberalen Minister in
London zur Folge haben. Die Frage über Ägypten und Gordon, deren Be¬
antwortung Sir Stafford Northcote vorige Woche im Unterhause verlangte,
war kein Parteimanöver, sondern der Ausdruck einer tiefen Beängstigung, die
nicht bloß die Volksvertretung Englands, sondern mehr oder minder die ganze
Nation ergriffen hat. Dieselbe erwartete keine halbe, keine gewundene Antwort,
sondern endlich eine deutliche, ehrliche Erklärung, welche die Absichten der Ne¬
gierung in betreff Suakins, Massauas, des östlichen Sudan, die Pläne derselben
in bezug auf die zukünftige Beruhigung Ägyptens und dessen Gedeihen, beson¬
ders in finanzieller Hinsicht, vor allem und in erster Reihe dasjenige darlegt,
was man zur Unterstützung und Rettung jenes hingebungsvollen Dieners seines
Staates, des unerschrockenen Gordon, zu thun gedenkt, auf dessen vereinsamte
Wirksamkeit gegenwärtig die Blicke der gesamten zivilisirten Welt mit teilnahm¬
voller Spannung gerichtet sind. Jedermann ist beunruhigt über seine Lage,
und es wird daran nichts geändert, wenn Lord Hartington dem Unterhause die
Versicherung giebt, der General „fühle sich ganz ungefährdet." Diese Lage ist
nichts weniger als unklar, und somit kann man es auch der englischen Presse
nicht verübeln, wenn sie täglich ungestümer verlangt, daß auch die Politik der
Minister in dieser Angelegenheit endlich klar werde. Klarheit ist aber hier Ehr¬
lichkeit. Gordon wurde nach Chartum geschickt als britischer Geschäftsträger oder
Gesandter, er hatte vollkommene Freiheit, zu thun, was er für nützlich und
notwendig hielt, mit der einzigen Bedingung, daß sein Verfahren sich auf mo¬
ralischen und persönlichen Einfluß und nicht ans den Beistand englischer Waffen
stütze. Das ist unbestritten, und Gordon nahm dieses Programm an und em¬
pfahl es sogar. In jeder andern Beziehung hatte er freie Hand, und seine
Thätigkeit sollte ehrlich von der Regierung unterstützt werden, was seine Hin¬
gebung in der That verdiente. Er dachte in der That so selbstlos, daß er bei
seiner Abreise von England äußerte: „Einerlei, was mir persönlich passirt.
Keine Angst, keinen Lärm deshalb. Werde ich abgesperrt, so werde ich doch noch
mein bestes thun, und komme ich um, je nun, so bin ich umgekommen. Be¬
trachtet es als einen Zufall, als eine weise Fügung des Himmels, und rächt
mich nicht. Meine Aufgabe ist, die Garnisonen heraufzuführen, eure, mir dabei
zu helfen."
Gordon hat seine Rolle bei diesem Abkommen, wie man weiß, getreulich
und mit gutem Erfolge gespielt, dagegen hat das Kabinet Gladstone es an der
Erfüllung seiner Verpflichtungen gegen ihn in beklagenswerten Maße fehlen
lassen. Als der britische Kommissär am Ende seiner Wüsten- und Stromreise
in Chartum eintraf, wurde er von der dortigen Einwohnerschaft mit einer Be¬
geisterung empfangen, die alle Erwartungen übertraf. Sein Einfluß, der sich
auf frühere Leistungen seines Verstandes und seiner Energie gründete, bewirkte
Wunder. Chartum wurde für,die nächste Zeit in Wahrheit gerettet, und die
Scheichs und Emire der Nachbarschaft gingen freudig auf die Botschaft der
Befreiung vom Drucke der Ägypter und der gerechten und billigen Regierung
ein, die er ihnen überbrachte. Der neue Generalgouvemeur Englands machte
indes bald die Entdeckung, daß alles vergeblich sein würde, wenn nicht Chartum
selbst zum Sitz eines starken und bleibenden Herrschers erhoben werden sollte.
Gerade die Häuptlinge der Sudanesen, die ihm die wärmste Anhänglichkeit ent¬
gegengebracht hatten, wurden kälter und kälter, als man inne zu werden begann,
daß Gordon sie unmittelbar nach dem Abzüge der Garnisonen des Sudan in
der Verlegenheit sitzen zu lassen beauftragt war. Sie begriffen sofort, daß sie
dann in einem von Parteien zerrissenen Lande voll Not und Wirrsal in die
Lage versetzt sein würden, Auge in Auge den rebellischen Stämmen und
deren Führern gegenübertreten zu müssen, und daß sie, wenn die Losung
„Rettung der Garnisonen und Preisgebung des übrigen" lautete, klüger thun
würden, sich mit dieser Aussicht abzufinden, ihren Frieden mit der Bewegung
zu machen und Gordon ohne Beistand zu lassen. Der General seinerseits wurde
diese Wandlung rasch gewahr, und indem er fühlte, daß nichts zu erreichen
sein würde, wenn man Chartum dem Zufall überließe, verlangte er ebenso klug
als großherzig, daß man ihm Zibehr Pascha zum Nachfolger gebe. Gordon
hatte damit vollkommen Recht; denn er hatte in Erfahrung gebracht, daß dieser
afrikanische Häuptling hinsichtlich der Sklavereifrage nicht schlimmer als andre
Leute in Sudan dachte, während er durch seine Herrschertugenden, seinen weit¬
reichenden Einfluß, sein Verwaltungstalent und eine gewisse Vornehmheit der
Sprache und des Verfahrens, welche letztere bei den Sudanesen viel gilt, sich
außerordentlich gut für den Posten eignete, den Gordon ihm zugedacht hatte. Zibehr
würde in Chartum die starke Regierung gebildet haben, welche die Araber
wünschten und verlangten, und welche die erste Bedingung war, wenn Ordnung
wieder in das Land einziehen sollte. Gordon versprach deshalb im Vertrauen
auf die unbedingte Vollmacht, die er hatte, dem Volke Zibehr als zukünftigen
Gebieter und erbat sich von Downingstreet Einwilligung in seine Wahl. Das
wurde jedoch abgeschlagen, obwohl die Regierung anfangs verständiger dachte.
Man folgte bei seiner Weigerung den Einsprüchen Forsters und der Anti-
sklavereigesellschaften und lehnte die Unterstützung des Planes seines Bevoll¬
mächtigten rundweg ab — ein durchaus unpolitisches, weil völlig der Lage der
Dinge widersprechendes Verfahren, das freilich im Hinblick auf Gladstones Denk¬
art und seine frühern Maßregeln nicht wundernehmen konnte. Der rechte
Weg war, Zibehr mit passenden Beschränkungen seiner Thätigkeit und den
nötigen Geldmitteln nach dem Sudan zu schicken und ihn nach orientalischem
Brauche zu nötigen, einen Teil seiner Familie als Geiseln für gebührliches
Verhalten in Kairo zurückzulassen.
Als Gordon in seiner Vereinsamung zu Chartum erfuhr, daß sein großer
Entschluß auf diese Weise ängstlich beiseite gelegt worden war, und daß man
Zibehr nicht absenden wollte, sah er, daß ihm nur ein einziges Mittel übrig¬
geblieben. Er mußte sich jetzt selbst vermittelst der militärischen Aktion der
britischen Regierung im östlichen Sudan stärken, d. h. er mußte im westlichen
weit und breit den Glauben verbreiten, daß hinter seiner Macht, obwohl sie
nur eine vorübergehende, die gewaltige Macht Großbritanniens und die Kraft
von dessen siegreicher Armee stehe. Da benutzte er in einer Proklamation die
Erfolge, die Graham bei Teb und Tamai über den Unterfeldherrn des Mahdi er¬
fochten hatte, und bat zu gleicher Zeit in London, zum Zeichen der Billigung
seiner Haltung ein paar Schwadronen Husaren von Suakin nach Berber und
ein englisches Infanterieregiment nach Wadi Halfah (am zweiten Nilkatarakte)
abgehen zu lassen. Man kann darauf erwiedern, daß seine Telegramme an Lord
Hartington kein derartiges Verlangen enthalten. Englische Blätter aber, und
zwar solche, denen Glauben beigemessen werden darf, versichern mit aller Be¬
stimmtheit, daß ihm zwar seine Unerschrockenst und sein Stolz verboten, offi¬
ziell um solche Unterstützung zu bitten, daß aber in den Depeschen, die eins
derselben von einem Berichterstatter erhalten, welcher an Gordons Seite lebt und
nach dessen Mitteilungen telegraphirt, das Verlangen nach einem Erscheinen
englischer Truppen in oder bei Berber ausgesprochen, und zwar wiederholt aus¬
gesprochen worden ist, und daß die Regierung nicht die Miene annehmen darf,
als kennte sie die Quelle dieser Mitteilung nicht, da Gordon auf die be¬
treffenden Depeschen ausdrücklich aufmerksam gemacht hat.
Die letzte dieser Botschaften zeigt, daß Gordon glaubt, es sei nunmehr
britische Hilfe zur Unterstützung seiner Proklamation und zur Rettung seiner
Mission und seines Lebens auf dem Wege. Dies ist aber nicht der Fall;
es ist bis jetzt kein Schritt gethan worden, seiner Bedrängnis abzuhelfen.
Die Negierung hat wichtigeres zu thun: sie hat das neue Gladstonesche
Wahlgesetz durchzubringen, die Aristokratie zu schwächen und mit ihr
deren Spitze, die Krone. Jedenfalls ist man noch unschlüssig, dem Manne
die Hände zu stärken, der bereit ist, für sein Land und seine Pflicht unter¬
zugehen, und vermutlich wird man solange unschlüssig bleiben, bis es zu
spät ist, zu helfen. Nach Lord Hcirtingtons Erklärung fühlt der verlassene
Mann sich nach seiner eignen Aussage sicher, während Chartum von dem Kriegs¬
volke des Propheten Mohamed Achmed eingeschlossen, Berber vom südlichen
Nilthal abgeschnitten und Suakin wieder von Osman Digma bedroht ist und
in der Besatzung und Bevölkerung Chartums Verschwörung gährt.
Dem allen gegenüber kann man nicht umhin, den konservativen Londoner
Blättern beizupflichten, wenn sie ungeduldig werden und gegen die Regierung
starke Worte brauchen, wie der vint^ Islsg'raxn, der sich in letzter Woche wie
folgt äußerte: „Wir sagen der Regierung Ihrer Majestät mit allem Nachdrucke,
daß sie Gordon nicht auf diese Weise diskreditier lassen darf, daß sie ihm Wort
halten muß, daß ihre Behauptung, er befinde sich uicht unmittelbar in Gefahr,
eine bloße offizielle Vorspiegelung ist. Sie verfolgen eine ebenso zum Ruin
führende als unwürdige Bahn, wenn sie Tag für Tag von Gordons gutem
Stern leben und Tag für Tag die Politik kühnen Beistandes verschieben, die
sie ihrem beste» und treuesten Freunde schulden. . . Wenn sie nicht begreifen,
daß Gesetze über innere Fragen später verhandelt werden können, Krisen der
auswärtigen Angelegenheiten dagegen keinen Aufschub leiden, so ist von ihnen
nichts zu erwarten als rascher Fortschritt von schlimmem zu schlimmeren. Nicht
lange wird es dann währen, bis eine schreckliche Katastrophe den Sturm all¬
gemeiner Entrüstung gegen ihre Häupter entfesselt, der sich in dieser ägyptischen
Angelegenheit vorbereitet, wo Heldensinn sich vergebens hingiebt, wo Ströme
von Menschenblut nutzlos fließen, wo Europa verachtungsvoll auf Entschlüsse
wartet und England ungeduldig harrt, weil in den obern amtlichen Kreisen
Verstocktheit und Blindheit vorherrschen.. . Besser, das Ministerium verliert
fünf Millionen Staatsgelder, als daß es Gordon zu gründe gehen sieht. Wenn
man ihn retten will, so liegt der Weg klar vor Augen. Wir haben es ihnen
wiederholt gesagt, als sie »die Wüste dezimirten,« daß Suakin Berber und
Berber Chartum bedeutet. Wir sagen es ihnen nochmals und legen ihnen von
neuem ans Herz, daß sie die blutige Arbeit von Teb und Tamai nicht unvollendet
lassen dürfen. Die Straße vom Roten Meere nach dem Nil muß geöffnet
werden, selbst wenn indische und englische Truppen dazu erforderlich sind. Gordon
muß in der Weise, die er angedeutet hat, durch den deutlichen Beweis, daß
Englands Macht hinter ihm steht, gestärkt werden. Wenn Zibehr Pascha nicht
nach Chartum gehen soll, so muß man Gordon einladen, mit genügenden
Mitteln und gesteigerten Kräften, sowie mit der Erlaubnis dort zu verbleiben,
es zur Hauptstadt eines geordneten sudanischen Staates mit Berber als Flußthor
und Suakin als Hafenplatz zu gestalten. Vor allem aber muß man sich zu
dem Schritte entschließen, der alle diese Dinge leicht machen und fast jede
Schwierigkeit in Ägypten, die finanziellen wie die politischen, beseitigen
würde: die Regierung Ihrer Majestät muß ihre alten Vorurteile hinter¬
schlucken und unerschrocken die Erklärung abgeben, daß sie für eine unbe¬
schränkte Zeit die ungelenke Verantwortlichkeit für die Regierung am Nil
übernehme. Der Mut und der gesunde Menschenverstand, der in einem solchen
Manifest läge, würde für Gordon mehr bedeuten und thun als ein Heer
von allen Waffengattungen, er würde ihn, Ägypten und — das Ministerium
retten."
Wir brauchen wohl nicht zu sagen, daß wir nicht das Vertrauen hegen,
Gladstone und seine Kollegen werden dieser patriotischen Ansprache in letzter
Stunde Folge geben. Diese liberalen Herren sind und bleiben (wie ihre Ge¬
sinnungsverwandten bei uns) in auswärtigen Angelegenheiten beschränkte und
zu großen Entschlüssen unfähige Kleinmeister.
s ist eine allgemein anerkannte Thatsache, daß der staatlichen
Organisation des Rechts eine Zeit vorausging, in der statt aller
Gesetzgebung der Brauch, die Sitte, ein ungeschriebenes Ge¬
wohnheitsrecht die Verhältnisse der Menschen zu einander regelte.
Solange die Kultur eines Volkes in einfachen und leicht über¬
sehbaren Beziehungen aufging, mochte ein solcher Zustand den gesellschaftlichen Be¬
dürfnissen der Gemeinschaft Wohl genügen. Mit höherer Entwicklung, namentlich
mit Ausbildung eines lebhafteren Handelsverkehrs ward er unhaltbar, und ge¬
schriebene Gesetze mußten die Normen geben, nach denen das Verhalten des
einzelnen sich zu richten hatte. So war ein großer Schritt in der Entwicklung
des Menschen zum ^c5vo ?ro^rtxov vorwärts gethan, und während früher bei
den unsicheren Schranken des Gewohnheitsrechts die Privatwillkiir, zumal wenn
ihr eine gewisse Macht zur Seite stand, sich häufig in friedcnstörender, gewalt¬
thätiger Weise regen konnte, war jetzt die feste Grundlage gesellschaftlichen
Friedens und einer stetigen ruhigen Weiterentwicklung geschaffen.
Keineswegs aber mit der schriftlichen Gesetzgebung zugleich, sondern erst
viel später entstand eine staatlich geordnete Justiz. Zunächst bestimmte der Staat
nur, zu welchen Ansprüchen der einzelne im gegebenen Falle einem andern
gegenüber berechtigt sei. Diese Ansprüche durchzusetzen, überließ er dem einzelnen
selbst. Sein Gesetz war im Grunde nur bestimmt, der privaten Aktion des
einzelnen den gehörigen Nachdruck und die erforderliche Rechtfertigung vor der
öffentlichen Meinung zu geben. So gewährten beispielsweise die zwölf Tafeln
in Rom demjenigen, dem ein Glied gebrochen worden, das Recht, dem Übel¬
thäter dasselbe Glied seinerseits zu brechen, dem Gatten, der seine Frau im
Ehebruch antraf, stand gesetzlich die Befugnis zu, den Ehebrecher zu töten, und
insolvente Schuldner waren nach derselben Gesetzgebung dem Belieben des
Gläubigers ausgesetzt, sie in Stücke zu schneiden. „Selbsthilfe" war also — und
nicht etwa nur beim römischen Volke — das exekutorische Prinzip der ältern
Rechte, die That des verletzten einzelnen das Mittel, die materiellen Bestimmungen
des objektiven Rechts zu verwirklichen.
So erstaunlich aber uns Kindern einer fortgeschritteneren Kultur die Über¬
lassung eines so wichtigen öffentlichen Interesses an die Thatkraft des Individuums
erscheinen mag, man glaube ja nicht, daß jene Zeit eine Periode allgemeiner
und abnormer Rechtsunsicherheit gewesen sei. Dem Übelthäter war es damals
nicht leichter als jetzt, im einzelnen Falle sich der verdienten Bestrafung zu
widersetzen. Denn vorausgesetzt nur die völlige Klarheit des Thatbestandes, so
mußte die öffentliche Meinung mit ihrer ganzen erdrückenden Wucht dem Ver¬
letzten in Ausübung seiner Befugnis zur Seite stehen. Anders freilich lag die
Sache, als das Rechtsleben des Volkes verwickelter wurde, als die immer
wachsende Mannichfaltigkeit der Verkehrsbeziehungen auch die Zahl der Streit¬
fälle ins unendliche vermehrte und namentlich auch solche hervortrieb, bei denen
die öffentliche Meinung nicht immer wissen konnte, wie sie dieselben beurteilen
und zu wessen Gunsten sie sich entscheiden sollte. So erwuchs allmählich die
Notwendigkeit einer geordneten Justiz, die dem einzelnen mehr und mehr die
rechtsverwirklichende Thätigkeit beschränkte und in Gestalt unparteiischer Gerichts¬
höfe und eines sorgfältigen prozessualer Verfahrens eine staatliche Garantie bot,
daß jeder, Beschuldiger sowohl als Beschuldigter, sein gutes Recht von höherer
Autorität zuerteilt erhielt.
Das wesentlichste an dieser Entwicklung ist also, daß ein Gebiet, das
bisher der individuellen Bethätigung überlassen war, vom Staate als gesellschafts-
ordnender Macht ergriffen wurde, daß an Stelle des Einzelbcliebens eine feste
gesellschaftliche Ordnung trat.
Und hier sind wir an dem Punkte angelangt, auf den wir von Anfang an
Hinauswollren, an einem Punkte, der wohl geeignet ist, um von ihm aus den
gegenwärtigen Kampf sozialpolitischer Meinungen mit unbefangener Würdigung
zu überschauen. In der That muß sich jedem, der die allmähliche Ausbildung
eines staatlichen Rechts und einer staatlichen Justiz kennt, bei der Betrachtung
der heutigen Verhältnisse des Arbeitsmarktes die Parallele aufdrängen, die wir
in der Überschrift angedeutet haben: die Parallele zwischen Recht und Arbeit.
Wer freilich grundsätzlich seine Augen geschlossen hält, wer noch immer mit
forcirten Optimismus die große Lüge wiederholt, daß, wer ernstlich Arbeit
nahe, unter allen Umständen auch Arbeit finde, der wird nicht zugeben, daß
wir heute bezüglich der Arbeit einen ähnlich fragwürdigen Zustand haben, wie
weiland die Völker ohne geordnete Justiz bezüglich des Rechts. Wer aber die
Verhältnisse kennt, wird nicht umhinkönnen, die ungeduldige Frage auszuwerfen:
Warum in aller Welt sollte der Staat, nachdem er zum Heil der Menschheit
die ehemals freie Justiz organisirt hat, nicht auch die Arbeit organisiren, da
doch die Zustände sich so entwickelt haben, daß selbst die größte persönliche
Energie und der beste Wille in den Versuchen, Arbeit zu finden, unter
Umständen ebenso scheitert, wie mit fortschreitender Kultur der römische Bürger in
der Sclbstexekutive nicht mehr die nötige Garantie hatte, sein Recht zu finden?
Wenn für frühere Jahrhunderte allgemein anerkannt ist, daß sich der Fortschritt
der Kultur in einer Ausdehnung der staatlichen Gewalt auf früher nach dem
Prinzip des laisser-Mgr behandelte Gebiete offenbart, wer will dekretiren,
daß wir gegenwärtig an dem unzweifelhaft endgiltigen Haltepunkt in dieser Ent¬
wicklung angelangt seien? Und ist etwa die Arbeit weniger wichtig als das
Recht? Die Arbeit ist die Grundlage der Existenz, und zu leben ist doch
Wohl das erste und wichtigste aller Interessen. Freilich, eine Unsicherheit des
Rechts macht sich in allen Kreisen gleichmäßig fühlbar, jeder einzelne empfindet
bei dem Schaden seines Nächsten den zukünftigen eignen voraus. Kein Wunder
also, daß einem so gearteten Mißstände gegenüber der allgemeine Wille sehr
bald die Abhilfe erzwungen hat. Mit der Unsicherheit der Arbeit verhält es
sich anders. Große Kreise des Volkes werden von ihr garnicht, andre relativ
wenig berührt. Mit brutaler Schärfe macht sie sich einzig der untersten Klasse,
dem Proletariat, fühlbar, n»d bei diesem hat ja auch der Gedanke einer staat¬
lichen Organisation der Arbeit seit lange und unausrottbar Wurzel gefaßt. Aber
will sich die reiche Klasse dauernd den Vorwurf machen lassen, daß ein Interesse,
welches sie nicht direkt berührt, überhaupt keinen Zutritt zu ihrem Herzen habe?
Fürst Bismarck hat das hohe Verdienst, unter allen Staatsmännern Europas
zuerst von der bevorzugten Stelle herab, auf die ein glückliches Schicksal ihn
erhoben, sein Augenmerk auf die bedrängte Lage der untere» Volksschichten
gerichtet und eine Gesetzgebung inaugurirt zu haben, die wesentlich bestimmt ist,
der Existenzunsicherheit innerhalb der arbeitenden Bevölkerung ein Ende zu
machen. Unter Billigung unsers alten, aber für die Leiden des Volkes jugendlich
warm empfindenden Kaisers hat er seine großen Versichernngsprojekte in die
öffentliche Diskussion geworfen, die darauf ausgehen, dem Arbeiter für solche
Fälle, in denen er garnicht mehr in der Lage ist, Arbeit zu erhalten, wenigstens
die notdürftigsten Existenzmittel zu gewähren. Gelingen ihm seine Pläne, so
wird in nicht allzuferner Zeit kein Arbeiter, dem Krankheit, Unfall oder Alter
den Wettbewerb um Verdienst unmöglich machen, turnen als verbrauchtes und
nunmehr nutzloses Glied der Gesellschaft abgestoßen und dem Untergang über¬
lassen werden. Das Herz des Menschenfreundes muß frohlocken, wenn er bedenkt,
was schon damit erreicht ist. Aber wäre damit alles erreicht? Das Wesen der
Kranken-, Unfall- und Altersversicherung liegt in der Sicherstellung des Arbeiters
gegen den aus Krankheit, Unfalls Alter entspringenden Zustand der Arbeits¬
und Erwerbslosigkeit. Giebt es nun aber keine andre Arbeitslosigkeit als aus
den genannten Ursachen? Hat der Arbeiter, den die Konjunktur des innern
oder des Weltmarktes von der Erwerbsthätigkeit ausgeschlossen hat, einen weniger
gerechtfertigten Anspruch an die Gesellschaft als der erkrankte, der verunglückte,
der altersschwache? Man preist es — und mit Recht — als einen besondern
Vorzug der Unfallversicherungsvorlage, daß die Frage, ob den verunglückten
Arbeiter eine Schuld treffe oder nicht, als irrelevant behandelt und die Rechts-
folge nicht von ihrer Beantwortung abhängig gemacht werde. Nun wohl, wenn
man hier für den Arbeiter, gleichviel ob schuldig oder nicht, Sorge trägt,
so möge man ihn doch in dem Falle, in welchem eine Schuld auf seiner
Seite so ixso ausgeschlossen ist, im Falle der Arbeitslosigkeit aus Konjunktur,
nicht ganz im Stich lassen! Wenn in Oberitalien die Knospen der Maulbeer¬
bäume erfrieren, soll der Krefelder Seidenweber mit seiner Familie hungern?
Uns dünkt, eine solche Konsequenz schlägt der Logik wie der Humanität zu sehr
ins Gesicht, als daß sie dauernd aufrecht erhalten werden könnte. Auch ist
es ja keine neue Forderung, die wir stellen. Männer wie Schäffle haben sie
von jeher vertreten und gegenüber dem Einwand der Unausführbarkeit mit Recht
darauf hingewiesen, daß die englischen Irkäss-unioiiZ die „Erwerblosenvcrsichcrung"
bereits im großartigsten Maßstabe verwirklicht haben. In den Jahren 1876 bis
1880 sind von den englischen Gewerkschaftskassen über sechzehn Millionen Mark
an Arbeitslose ausgezahlt worden, und nach wie vor stehen die Kassen in un¬
geschwächter Leistungsfähigkeit da. Was aber die englische Arbeiterschaft aus
sich heraus selbständig hat organisiren können, das wird einer energischen
Staatsinitiative bei uns in Deutschland auch nicht zu schwer sein. Glücklicher¬
weise ist ja auch die berufsgenossenschastliche Gliederung, wie sie die Unfall¬
versicherungsvorlage vorgesehen hat, eine Basis, die neben der unmittelbar
geplanten noch manche andre Institution wird tragen können.
Wenn aber einst die gesamte Masse der bei der nationalen Produktion beteiligten
gegen jede Art von Arbeitslosigkeit, mag sie aus Unfall, Krankheit, Alter oder
Konjunktur herstammen, versichert ist, dann haben wir einen ähnlichen Fortschritt
der Kultur zu verzeichnen wie jenes Zeitalter, das an Stelle einer anarchischen
Selbstexekntive die staatlich geordnete Justiz gesetzt hat. Zwar wird auch dann
nicht jeder, der Arbeit sucht, Arbeit finden — so konnte ja die Parallele nicht
gemeint sein —, allein die verhängnisvollen Folgen des Nichtfindens werden
doch abgewendet durch eine Organisation, die auf den humanen Grundsatz basirt
ist, daß jeder Staatsbürger, auch der geringste, ein unanfechtbares Recht auf
Existenz habe. Ob spätere Jahrhunderte an die Stelle einer solchen Versicherung
gegen Arbeitslosigkeit eine Organisation der Arbeit in dem Sinne setzen werden,
daß die vorhandene Arbeit innerhalb der einzelnen Berufsgenossenschaften gleich¬
mäßig unter alle Mitglieder verteilt werde — wer wäre so vermessen, von
unserm zwerghaften Standpunkte das mit Sicherheit bejahen oder verneinen
zu wollen? Uns genügt das eine, daß hohe und erreichbare Ziele in unmittel¬
barer Nähe vor uns liegen. Streben wir unverdrossen nach ihnen hin! Was
dahinter liegt und unserm Auge unerfaßbar im Nebel einer fernen Zukunft
verschwimmt, mögen spätere Generationen, wenn ihre Überzeugung sie drängt,
zum Ziel ihrer Sehnsucht und ihres Strebens machen.
Goethes „Moralisch-politischem Puppenspiel" war 1774 zugleich
""t andern Farcen „Kiinstlers Erdcwallen," ein „Drama in zwei
Akten" erschienen. Das Wort „Drama" ist in dem Sinne zu
verstehen, in welchem Goethe die dinlv^isirten Farcen seiner ober-
rheinischen Geniezeit alle so benennt. Mit wenigen kurzen, derben
Strichen wird hier ein Bild des Künstlerlebens und des Künstlerelends entworfen.
Am Schlüsse erscheint die Muse und weist ihren Sohn tröstend auf die hohe
Befriedigung hin, welche er, aller Erdennot ungeachtet, im Genusse seiner
Schöpfungen finde. Im übrigen hat sie ihm freilich nur ein bescheidenes irdisches
Glück zu bieten, das sie ungefähr mit den Worten Gretchens bezeichnet: „Doch
schmeckt dafür das Essen, schmeckt die Ruh!" wozu noch das Bewußtsein innerer
Tüchtigkeit kommt, mit welchem Valentin stirbt: „Und bist nicht reich, so bist
du brav!" Das Ganze in Knittelversen und im Tone des „Faust."
Eine Fortsetzung dieser Dichtung, sozusagen ein zweiter Teil, war schon
damals in Goethes Freundeskreise bekannt. Neuerdings hat Lveper in den
Briefen Goethes an Sophie La Noche und Bettina Brentano (Berlin, W. Hertz,
1879) einen Dialog mitgeteilt, in welchem uns ein Bruchstück dieses zweiten
Teiles erhalten ist. Er ist „Des Künstlers Vergötterung. Drama" überschrieben
und einen Tag nach dem „Erdewallen" auf der mit Lavater und Basedow
unternommenen Rheinreise zu Papier gebracht. Ein Kunstjünger steht von der
Größe des Vorbildes, welches er nachzubilden unternommen hat, niedergeschlagen
vor dem Bilde und wirft den Pinsel weg. Er fühlt sich außer stände, diese
Fülle, dieses unendliche Leben mit dürftigen Strichen wiederzugeben. Der Meister
preist ihn wegen dieses Gefühles glücklich. Damit, daß er empfinden könne, wie
sein Vorbild größer sei als er, habe er auch schon gezeigt, daß er es erreichen,
selber Meister werden könne. Die Macht des Vorbildes, die Hingebung an
dasselbe ist alles. So verehrten die Stürmer und Dränger in Shakespeare
das Ideal der Kunst; und wie der Meister dem Kunstjünger, so ruft auch Goethe
in der Shakespeare-Rede seinen in Verehrung des britischen Dichters erglühenden
Genossen zu: „Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim
in uns." So legt der Komponist Kayser, der Goethes Dichtung kannte, vor
Gluck feierlich seinen Pinsel nieder. Ein von Empfindung volles Herz macht
den Künstler, wie es nach Franzens Worten im „Götz" den Dichter macht. Das
ist nicht bloß das Glaubensbekenntnis des Jüngers, sondern auch das des Dichters.
Das Fragment der „Vergötterung" ist den 18. Juli 1774 unterzeichnet.
Damals und im Winter 1774 auf 1775 malte Goethe in Öl und portrcitirte ins
große. Aus derselben Zeit ist eine Reihe kleinerer Dichtungen erhalten, welche
zum Teil 1776 in dem „Anhang aus Goethes Brieftasche" zu H. L. Wagners
Übersetzung des „Neuen Versuches über die Schauspielkunst" von Mercier, zum
Teil Ende 1775 und Anfang 1776 in Musenalmanachen und Zeitschriften er¬
schienen sind. Ich irre Wohl nicht, wenn ich einige derselben direkt zur „Ver¬
götterung" in Beziehung bringe und sie als Bruchstücke der Verlornen Fortsetzung
bezeichne. Jedenfalls werden wir hier authentische Nachrichten über die Art und
Weise finden, wie Goethe sich die Fortsetzung des Fragmentes gedacht hat. Es
sind die durchgängig auf die bildende Kunst bezüglichen Gedichte: Künstlers
Morgenlied (bei Hempel II, 184, Der junge Goethe III, 166); Künstlers Abendlied
(Hempel it, 188 f.); Kenner und Künstler (Hemvel II, 189, Der junge Goethe
III, 168); Kenner und Enthusiast (Hemvel II, 190, Der junge Goethe III, 171);
Monolog des Liebhabers (Hemvel II, 191, Der junge Goethe III, 173); Guter
Rat (Hemvel II, 191, Der junge Goethe III, 156); Sendschreiben (Hempelll,
192, Der junge Goethe III, 169).
In allen diesen Gedichten wird das alte Naturevangelium verkündet. Der
Künstler schöpft aus dem Urquell der Natur; er ringt damit, sie zu kennen,
sie zu fassen. Die Begeisterung ist das erste: früh morgens liest er „Andacht
liturg'scher Lektion im heiligen Homer," und wenn er der Gestalten voll ist und
sich ihrer zu erwehren suchen muß, greift er zur Kohle. Die Gestalten müssen
in dem Künstler lebendig, zur Natur werden. Umgekehrt erwacht ihm anch das
vollendete Kunstwerk selbst zum Leben: er will das Bild des Mädchens als
Geliebte in den Arm schließen können, sie soll ihm Liebe und allbedeutend Ideal
zugleich sein. Innere Wärme, die der Künstler beim Weine, am Menschenfleisch
entzünden darf, ist das erste, Schöpfungskraft das zweite. Es muß in die
Fingerspitzen quellen und treiben. So fleht der Künstler in seinem „Abend¬
lied" :
Ach, daß die innre Schöpfungskraft
Durch meinen Sinn erschölle!
Daß eine Bildung voller Saft
Ans meinen Fingern quölle!
Ein Verzagen, ein Entmutigen giebt es hier höchstens auf Augenblicke; der
Künstler fühlt sich auf dem rechten und sichern Wege:
Ich zittre nur, ich stottre nur
Und kann es doch nicht lassen;
Ich fühl', ich kenne dich, Natur,
Und so muß ich dich fassen.Bedenk' ich dann, wie manches Jahr
Sich schon mein Sinn erschließet,
Wie er, wo dürre Haide war,
Nun Freudenguell genießet;Wie sehn' ich mich, Natur, nach dir,
Dich treu und lieb zu fühlen!
Ein lust'ger Springbrunn, wirst du nur
Aus tausend Röhren spielen.Wirst alle meine Kräfte mir
In meinem Sinn erheitern,
Und dieses enge Dasein hier
Zur Ewigkeit erweitern.
Zwar kommen auch hier Stunden des Überdrusses und der Unlust an der künst¬
lerischen Arbeit; aber diese dürfen nicht durch Zwang, sie müssen durch Ruhe
überwunden werden.
Geschieht wohl, daß man einen Tag
Weder sich noch andre leiden mag,
Will nichts dir nach dem Herzen ein.
Sollt's in der Kunst wohl anders sein?
Drum Hetze dich nicht zur schlimmen Zeit,
Denn Füll' und Kraft sind nimmer weit!
Hast in der bösen Stund' geruht,
Ist dir die gute doppelt gut.
Bei der künstlerischen Arbeit, welche sich fern von allem Urteil und Raisonne-
ment hält, herrscht durchaus Behagen, die fleißige Arbeit wird durch Genuß
gekrönt und stimmt zu Lust und Vergnügen:
Und wer nicht richtet, sondern fleißig ist,
Wie ich bin und wie du bist,
Deu belohnt auch die Arbeit mit Genuß;
Nichts wird auf der Welt ihm Überdruß.
Deal er dientet nicht mit stumpfem Zahn
Lang' Gesottnes und Gebratncs an,
Das er, wenn er noch so sittlich kaut,
Endlich doch nicht sonderlich verdaut,
Sondern fast ein tüchtig schirkendem,
Haut da gut taglöhnermäßig drein,
Füllt bis oben gierig den Pokal,
Trinkt, und wischt das Maul wohl nicht einmal.
Mit dem Künstler stimmt in der Auffassung der Kunst der Liebhaber oder
Enthusiast überein, der sich nur durch die mangelnde Schöpfungskraft von ihm
unterscheidet und den Gegensatz zu dem Kenner bildet. Der Kenner sieht
überall nur die Fehler: an der Natur, dem frischen, jungen, warmen Leben,
welches ihm der Enthusiast mit übergehenden Sinnen in Gestalt eines Mädchens
zu genießen geben will, gewahrt er mit prüfendem Blick die Sonnenflecken, in
der Galerie registrirt er die Namen der Musensöhne im Kataloge, während dem
Enthusiasten die Eingeweide brennen (vergl. auch in der „Apotheose" den Ausruf
des Schülers: „Die Eingeweide brennen mir!").
Es ist nun nach der spätern Ausführung in der „Apotheose" gar kein
Zweifel, daß der junge Künstler in der Galerie zunächst mit solchen Typen,
Liebhabern und Kennern, schon in der ersten Bearbeitung zusammengeführt worden
wäre. Dem Liebhaber hätten dann Gesinnungen angestanden, wie sie das später
„Kenner und Enthusiast" überschriebene Gedicht ausdrückt:
Mir wird's da fin der GalerieZ gleich, ich weiß nicht wie,
Mein ganzes Herz zerreißt es.
O Maler, Maler! rief ich laut,
Belohn' dir Gott dem Malen!
Und nur die allerschönste Braut
Kann dich für uns bezahlen.
Man sieht: das stimmt mit dem Enthusiasmus des Jüngers am Beginn der
„Vergötterung" ganz überein, und eine Disharmonie besteht zwischen dem Lieb¬
haber und dem Kunstjünger nirgends. Nur daß der erstere wie der Kenner
der Schöpfungskraft ermangelt, und an beide mochten deshalb die Verse ge¬
richtet sein, welche Goethe „An Kenner und Liebhaber," später „Monolog des
Liebhabers" überschrieben hat, um die Situation deutlich zu machen, in welcher
sie ursprünglich gedacht waren:
Was frommt die glühende Natur
An deinem Busen dir,
Was hilft dich das Gebildete
Der Kunst rings um dich her?
Wenn liebevolle Schöpfungskraft
Nicht deine Seele füllt
Und in den Fingerspitzen dir
Nicht wieder bildend wird?
Die Unterredung mit dem Kenner hätte den Gegensatz zum Künstler scharf
herausgehoben. Der Enthusiast schildert ihn in der Galerie folgendermaßen:
Und sieh, da ging mein Herr herum
Und stochert sich die Zähne,
Registrirt in Katalogum
Mir meine Göttersöhne.Mein Busen war so voll und bang,
Von hundert Welten trächtig;
Ihm war bald was zu kurz, zu lang,
Wage' alles gar bedächtig.Da warf ich in ein Eckchen mich,
Die Eingeweide brannten.
Um ihn versammelten Männer sich,
Die ihn einen Kenner nannten.
Ja das Gespräch zwischen dem Kenner und Kunstjünger ist uns vielleicht unter
der Überschrift „Kenner und Künstler" noch erhalten:
Kenner. Gut, brav, mein Herr! Allein
Die linke Seite
Nicht ganz gleich der rechten;
Hier scheint es mir zu lang >
Und hier zu breit;
Hier zuckt's ein wenig,
Und die Lippe
Nicht ganz Natur,
So tot noch alles!Künstler. O ratet, helft mir,
Daß ich mich vollende!
Wo ist der Urquell der Natur,
Daraus ich schöpfend
Himmel fühl' und Leben
In die Fingerspitzen hervor?
Daß ich mit Göttersinn
Und Menschenhand
Vermöge zu bilden,
Was bei meinem Weib
Ich animalisch kann und muß.Kenner. Da sehen Sie zu!
Künstler. So!
Mau sieht aber, daß auch hier von einem Widerspruch verschiedner Kunst¬
richtungen keine Spur ist. Auch der Kenner sucht die Natur, weiß aber über
den Weg, wie man zu ihr gelangen kann, dem drangreichen Künstler keine
Auskunft zu geben. Es giebt hier nur Leute, welche die Kunst fühlen (Künstler
und Enthusiasten), und solche, welche sie nicht fühlen und daher auch nicht verstehen
(Kenner); solche, welche die Kunst ausüben können (Künstler), und solche, welche
sie nicht ausüben können (Liebhaber und Kenner). Ein weiterer prinzipieller
und theoretischer Unterschied besteht nicht.
In diesem Sinne war die „Vergötterung" des Künstlers gehalten. Kunst¬
jünger, Liebhaber und der Meister, welcher den erstem am Anfange vor dem
Bilde des verstorbenen Künstlers einweiht, waren Kunstbegeisterte, welche der
Kenner in ihrem Enthusiasmus nicht hätte irremachen können. Wenn nun,
wie es sowohl die Korrespondenz mit dem Schlüsse des „Erdewallens" als auch
die spätere Ausführung in der „Apotheose" verlangt, am Schlüsse der verstorbene
Künstler an der Hand der Muse erschienen wäre, hätte er in der begeisterten
und vergötternden Hingebung dieser allerdings seine Vergötterung erblicken können.
Ganz anders liegt die Sache in der spätern (nicht ohne Grund griechisch
benannten) „Apotheose des Künstlers," welche Goethe nach seiner Rückkehr aus
Italien als Seitenstück zum „Erdewallen" dichtete. Schon in der äußern Form
fühlen wir hier etwas fremdartiges. „Künstlers Erdewallen" und die „Ver¬
götterung" waren in Knittelversen geschrieben. Goethe hatte in Italien die
Absicht, auch das erste neu auszuführen, das heißt es in Jamben umzuschreiben.
Das ist unterblieben; auf ein so keck hingeworfenes realistisches Genrebild
waren die Anforderungen des idealen Kunststils, welchen Goethe in Italien sich
angeeignet hatte, nicht Wohl anzuwenden. Es mußte daher auch die neue Fort¬
setzung „Künstlers Apotheose" in dem alten Tone und in Knittelversen ausgeführt
werden. Aber wie zahm schleichen diese Verse als fast durchgehends regelrechte,
vier- bis sechsfüßige Jamben dahin! Schon in der Weimarer Zeit stellt sich
in dem prosaischen Dialoge Goethischer Gelegenheitsstücke, sogar in den Masken¬
zügen, unwillkürlich iambischer Rhythmus ein. „Proserpina," „Elpenor," „Iphi-
genie" und „Tasso" wurden um diese Zeit in rhythmischer Prosa aufgezeichnet; im
„Egmont" unterscheidet man nach diesem Kennzeichen ziemlich leicht und sicher
die spätern Partien von den frühern. In Italien hatte Goethe später an der
„Iphigenie" klassische Jamben machen gelernt; im „Tasso" übt er die Kunst
mit Meisterschaft aus. In gereimten Jamben, statt in Knittelversen, ist auch
die einzige Szene des „Faust" geschrieben, welche Goethe in Italien gelungen
ist: die Hexenszene. Das alles liegt zwischen den Knittelversen der „Ver¬
götterung" und den Jamben der „Apotheose." Am Schlüsse unsers Gedichts
erheben sich Sprache und Vers fast bis zu dem Pathos des klassischen Dramas,
und nur der Reim gemahnt noch an den alten deutschen Knittelvers, wenn
es heißt:
Denn was ein guter Mensch erreichen kann,
Ist nicht im engen Raum des Lebens zu erreichen.
Drum lebt er auch nach seinem Tode fort
Und ist so wirksam, als er lebte;
Die gute That, das schöne Wort,
Es strebt unsterblich, wie er sterblich strebte.
So lebst auch du durch ungcmess'ne Zeit;
Genieße der Unsterblichkeit'
Die geänderte Form ist aber nur der Ausdruck eines ebenso verschiednen
Inhalts. Zwar finden wir auch hier anfangs den „Jünger," der hier be¬
zeichnenderweise „Schüler" heißt, vor dem Bilde wieder; er legt den Pinsel
weg, denn er fühlt sich unfähig, das freie Leben des Originals zu erreichen.
Aber er wirft ihn nicht wie der erste in Aufwallen von Scham und Unwillen
fort, sondern nachdem er infolge langer Mühe und Anstrengung wie ein
Schwefelpfuhl über dem Kopiren geschwitzt hat. Es fehlt ihm an allem, nur nicht
am guten Willen, und daß er die Mängel erkennt, quält ihn nur eben mehr.
Das ist nicht mehr derselbe, wie in der „Vergötterung."
Nun tritt ein Meister hinzu und lobt seinen Fleiß. Ihm liegt die Kunst
in der Technik, der Praktik, der Kunstverstand in der Hand. Er redet wohl¬
meinend und nachsichtig im Tone des Handwerkers. Man fühlt die Ironie des
Dichters aus den Versen:
Je mehr als sich ein Künstler plagt,
Je mehr er sich zum Fleiße zwingt,
Um desto mehr es ihm gelingt.
Auch der Goethe von 1774 wußte den Fleiß zu schätzen, aber den Zwang, die
Plage hätte er mit den oben zitirten Worten abgewiesen. Auf der italienischen
Reise lernte Goethe diese Richtung höher schätzen. Er konnte von sich selbst ab¬
nehmen, wieviel die Technik in der bildenden Kunst bedeute, und wieviel er in
dieser Hinsicht bei Oeser versäumt hatte, der zwar in die Seelen der Schüler
gedrungen, dem aber die Hand der Schüler nur „Nebenaugenmerk" gewesen war
Um der Kunst und des Handwerks willen, schreibt er nach Weimar, habe er
sich entschlossen, die „Iphigenie" umzuarbeiten. Bei dem Meister mag etwa
Hackert vorschweben, der zu ihm sagte: „Sie haben Anlage, aber Sie können
nichts machen. Bleiben Sie achtzehn Monate bei mir, und Sie sollen etwas
hervorbringen, was Ihnen und andern Freude macht." Goethe fügt diesen
Worten in der „Italienischen Reise" die Bemerkung bei: „Ist das nicht ein
Text, über den man allen Dilettanten eine ewige Predigt halten sollte?"
Darauf tritt ein Liebhaber zu dem Schüler. Der Ruf nach Natur, der
im verfeinerten Tone des Weltmannes an den Schüler ergeht, erscheint hier
gleichfalls in ironischer Übertreibung. Nicht bloß daß der Liebhaber den Schüler
ebenso stehen läßt wie in dem oben zitirten Gedicht der Kenner den Künstler,
weil er ihm nicht den Weg weisen kann, die kolossalen Blätter der Natur zu
entziffern; auch die prinzipielle Forderung ist satirisch zu verstehen, wie zur
Genüge der übertreibende Ton zeigt, mit welchem der Liebhaber den Schüler
angeht:
Mein Herr, nur ist verwunderlich,
Daß Sie hier Ihre Zeit verschwenden
Und auf dem rechten Wege sich
schnurstracks an die Natur nicht wenden;
Denn die Natur ist aller Meister Meister!
Sie zeigt uns erst den Geist der Geister,
Lehrt jedes Geheimnis uns verstehn. . . .
Sie sind nicht auf der rechten Spur;
Natur, mein Herr! Natur! Natur!
Auch an Goethe erging damals noch mitunter der mißverstandene Ruf nach
Natur. Als er dem Kreise der deutschen Künstler in Rom seine „Iphigenie"
vorlas, machte er damit nicht den gewünschten Eindruck; man erwartete und
verlangte etwas im Geschmacke des „Götz."
Ein zweiter Meister geht vorüber und sieht die Arbeit des Schülers halb
bewundernd und halb mit Mitleid an. Fleiß, Natur und Instinkt sind nach
ihm nicht genug: der Kunstverstand, die Einsicht, die Theorie muß hinzukommen.
Davon konnte 1774 nicht die Rede gewesen sein: Dreingreifen, Packen war in
der Sturm- und Drangzeit Goethes Lieblingswort für das Erfassen der Kunst,
für die Meisterschaft, die Virtuosität. Herder hatte ihm gesagt: „Es ist alles
so Blick bei Euch" — Goethe glaubte den Wink zu verstehe», that die Angen
zu und tappte. Unser Meister aber sagt, in der Kunst helfe das Tappen nicht.
Kunst bleibe Kunst; man müsse erst durchgedacht haben, ehe man ans Machen
gehe. Die Empfindung allein mache nicht den Künstler aus, Liebe und Haß
seien nicht alles. Man dürfe das Muster nicht mit der Kunst verwechseln und
müsse die Kunst mehr als das Muster lieben. Es sei etwas Höheres, was
ein Künstler hätte leisten sollen, als was er geleistet hat. Fast wörtlich mit
dem Meister übereinstimmend hatte Goethe nach Absendung seiner „Iphigenie"
geschrieben: „Freilich steht nicht auf dem Papiere, was ich gesollt, wohl aber
kann man erraten, was ich gewollt habe," und über „Egmont": „O, wir wissen
genug, daß wir eine solche Komposition schwer ganz rein stimmen können, es
hat doch im Grunde niemand einen rechten Begriff von der Schwierigkeit der
Kunst als der Künstler selbst." Diese Richtung der Kunst konnte Goethe sich
durch Karl Philipp Moritz und durch Heinrich Meyer repräsentirt denken, mit
denen er in Rom ästhetisirte. Der Ton dieses zweiten Meisters ist auch der
würdigste; er redet wie ein Mann von Verstand, mit Selbstgefühl und einer
deutlichen Gereiztheit gegenüber seiner Zeit, von der er sich unverstanden glaubt:
Man hat's bequemer heutzutag,
Als unter meine Zucht sich zu bequemen;
Das Lied, das ich so gerne singen mag,
Das mag nicht jeder gern vernehmen.
So fühlte sich Goethe nach seiner Rückkunft aus Italien von den Produkten
der Zeit angewidert, als deren typische Vertreter er die „Räuber" und den
„Ardinghellv" namhaft macht, weil er den Kunstverstand in ihnen beleidigt fand.
Damit ist auch die Lehre des Ganzen gegeben, welche über die Gedanken
von 1774 freilich weit hinausgeht und deutlich einen höhern Standpunkt in
Goethes Kunstauffassung markirt. Die Wärme der Empfindung, die Begeiste¬
rung für ein großes Vorbild genügen nicht mehr wie ehemals zur Meister¬
schaft; es muß die Technik und die künstlerische Weisheit hinzukommen.
Aber so sehr durch diesen Gedanken der ideelle Gehalt der Dichtung ge¬
wonnen hat, so wenig steht derselbe mit dem folgenden in Übereinstimmung,
wo Goethe offenbar den Plan von 1774 ausführt. Es folgt zunächst eine
Satire gegen das Treiben in den Gemäldegalerien, welches auch Freund Merck
in einem Aufsatze beißend durchgehechelt hat. Der Galerieinspektor, der das
Bild nach dem Preise und dem goldnen Rahmen taxirt, der Gemäldehändler,
der das Gold einsteckt, welches dem Künstler gebührt, der Prinz, der den Wert
des Bildes bestätigt und die Zahlung anweist — alles typische Figuren, Jede
der anwesenden Personen sieht in dem hereingebrachten Gemälde nur soviel,
als sie zu schätzen weiß.
Erster Meister. Welche eine Praktik zeigt sich hier!
Zweiter Meister. Das Bild, wie ist es überdacht!
Schüler. Die Eingeweide brennen mirl
Liebhaber. Wie göttlich ist das Bild gemacht!
In seiner trefflichsten Manier!
Händler.
Prinz. Das Bild hat einen großen Wert;
Empfanget hier, was Ihr begehrt.
Wenn dann die Muse mit dem Künstler erscheint und ihn auf den Eindruck
verweist, den sein Werk gemacht habe, so paßt das so gut wie garnicht mehr.
Die Meister lernen, trotz der gegenteiligen Behauptung der Muse, garnichts
von dem Bilde, sondern jeder besteht eigensinnig auf seiner Art. Und wenn
sie auf den Schüler verweist:
Sieh diesen Jüngling, wie er glüht,
Da er ans deine Tafel sieht!
In seinein Auge glänzt das herzliche Verlangen,
Von deinem Geist den Einfluß zu empfangen —
so ist auch das abgeschwächt, indem an die Stelle des begeisterten Jüngers der
„Vergötterung" ein schüchterner, unselbständiger getreten ist, welchen die drei Be¬
rater, besonders der zweite Meister, von dem Vorbilde eher abgebracht als ihm
näher gebracht haben. Von einer Vergötterung ist also in „Des Künstlers
Apotheose" nicht mehr die Rede, und wenn der Künstler am Schlüsse des
Ganzen sür diesen zaghaften, von seinem Vorbilde ängstlich nach rechts und links
blickenden Famulus bittet, daß ihm die Not des Irdischen erspart werde, so ist
das gleichfalls ein Rest der alten Intention, nach welcher an seiner Stelle ein
beherzterer und entschiedenerer Anhänger gestanden hätte. Ein weiter vor¬
geschrittener Kunststandpunkt hat Goethe über die Absicht des alten Planes
hinausgeführt, und wie er am Schlüsse zu diesem zurückkehren muß, macht sich
eine Disharmonie mit der neuen Ausführung geltend.
cum eine größere Sammlung rein religiöser, meist lyrischer Gedichte
von ein und demselben Verfasser, welcher zudem der Sohn eines
namhaften Dichters ist, nach wenigen Jahren in zweiter, um
vierundvierzig Stücke vermehrter Auflage*) erscheint, so liegt
darin ein Antrieb, nicht allein das vorliegende Buch daraufhin
anzusehen, ob es verdiene, daß es so rasch und in solchem Umfange Boden
gewonnen habe, sondern auch sich über die allgemeine Frage zu besinnen, wie
religiöse Dichtung überhaupt beschaffen sein müsse, um mit vollem Recht Poesie
heißen zu können und insbesondre den Ansprüchen der Gegenwart zu genügen.
Versuchen wir zuerst über die zweite Frage Rechenschaft zu geben.
Hoffentlich brauchen wir dermalen kein Wort mehr darüber zu verlieren,
daß und warum auch die religiöse Dichtung volles Anrecht auf das Bürgerrecht
im Reiche der Musen habe. Wer heutigentags dies noch leugnet, weiß weder,
was Poesie, noch was Religion ist, weiß nicht, daß religiöse Empfindung, wo
sie wirklich und wahr vorhanden ist, nahezu am tiefsten im Menschenherzen
wurzelt und die lieblichsten Blüten und Früchte zu treiben vermag, weiß nicht,
daß — wie der junge Goethe sagt — ein von Empfindung volles Herz es
ist, was den Dichter macht. Und wer dürfte dem Psalter mit seinen zum Teil
kostbaren Perlen der Lyrik, wer vollends dem Hiob jenes Bürgerrecht absprechen?
Dagegen haben sich in unsrer Mitte, als man in den dreißiger Jahren
Hand anlegte, die mitunter verballhornten Gesangbücher unsrer evangelischen
Kirche durch bessere zu ersetzen, hie und da manche von der Gesangbuchsnot
aufgeregte Leute ernstliche Bedenken gegen eine gewisse Gattung geistlicher
Lieder vernehmen lassen. Mit einigem Schein von Wahrheit sagte man vom
Standpunkte strenger Ästhetik aus, Gesänge, welche trockene Glaubens- und
Sittenlehren in gereimter Prosa, ob auch in tadelloser Form, abhandeln, könnten
nimmermehr Poesie heißen. Indes gewannen diese Einwände gegen eine Art
von Liedern, als deren würdigster Vertreter Gellert anzusehen ist, bei den ent¬
scheidenden Verhandlungen mit Recht nirgends die Oberhand. Gewiß nicht
bloß, weil man fürchtete, bei der Gemeinde Anstoß zu erregen, wenn man vielen
seit Jahrhunderten eingebürgerten und in Segen wirkenden Liedern wegen ihres
minder poetischen Gepräges die Aufnahme in die neuen kirchlichen Gesangbücher
verweigerte. Nein, man erkannte, es sei eine pedantische und ungeschichtliche
Einseitigkeit, wenn man eine in edler Sprache auftretende Spruchdichtung nicht
mehr als Poesie gelten lassen wolle, eine Einseitigkeit, in ihrer Art ebenso
ungerechtfertigt, wie die puritanische Strenge einer andern Partei, welche Karten-
und Kegelspiel oder Theaterbesuch als unverträglich mit christlicher Frömmigkeit
erklärte.
Allein andrerseits ist nicht in Abrede zu stellen, daß auf keinem andern
Gebiete der Poesie die Gefahr, in fast- und kraftlose Reimerei und selbst in Ge¬
schmacklosigkeit zu verfallen, näher liegt und thatsächlich bis in unser Jahrhundert
herein weniger vermieden worden ist als in der religiösen Dichtung. Zumal
unsre Zeit, deren gebildete Sprache das Versemachen so leicht erscheinen läßt,
hat ein volles Recht, ja im Interesse der Religion selbst die Pflicht, an geistliche
Lieder so gut wie an andre Erzeugnisse der Dichtkunst hinsichtlich der ästhetischen
Reinheit und Schönheit strenge Forderungen zu stellen. So ist es gewiß am Platze,
sich noch näher über die Frage zu verständigen, welche Eigenschaften religiöse
Dichtung haben müsse, um allen jetzigen Ansprüchen zu genügen, und welche
Fehler zu vermeiden seien, um des Anspruchs auf poetisches Bürgerrecht nicht
verlustig zu werden.
Vor Aufstellung der betreffenden Gebote und Verbote muß jedoch an
zweierlei erinnert werden. Wie in jeder Kunst und Wissenschaft, so hat man
fürs erste auch bei der Dichtkunst Geister ersten und zweiten Ranges zu unter¬
scheiden. Neben den völlig originellen und bahnbrechenden Dichtern hat es zu
allen Zeiten auch solche gegeben, die, als Jünger und Trabanten der ersten
Meister auf den von diesen eröffneten Bahnen einhergehend, dennoch als würdige
Priester des Heiligtums dem Reiche des Schönen ersprießliche Dienste geleistet
haben. Denn es ist fürs andre ebenso wahr, daß auch in betreff der Empfänglich¬
keit gerade für Poesie verschiedne Stufen vorhanden sind und sich nicht alles
für alle schickt. Ja es ist unbestreitbare Thatsache, daß die Zahl derer, welche
den Meistern ersten Ranges volles Verständnis entgegenbringen, jederzeit bei
weitem geringer gewesen ist als die große Gemeinde, für welche die minder
hochfliegenden, das edelste Metall für den Hausbrauch ausmünzenden Geister
die höchst erwünschte Aufgabe der Mittelsmänner und Handreicher übernommen
und gelöst haben. Auch legirtes Gold ist für manche Bedürfnisse und Zwecke
der Welt mitunter unentbehrlich.
Und diesen vermittelnden Pflegern der Dichtkunst eben zu Gunst und
Rechtfertigung wie zur Warnung und Nachachtung mögen nun in aller Kürze
die Grenzen bezeichnet werden, innerhalb deren sie sich zu bewegen und zu halten
haben, wenn ihre poetischen Erzeugnisse noch als dankenswerte Gaben der
Dichtkunst gelten sollen.
Was ist es also, was solche zu thun und zu lassen haben, wenn sie in
unsrer Zeit mit religiösen Dichtungen öffentlich auftreten und wenigstens als
Dichter zweiten Ranges anerkannt sein wollen? Der Zettel ihrer Lieder muß
den Welt- und Lebensanschauungen, wie sie der einfach fromme Sinn der
Gegenwart aus der Bibel schöpft, entnommen, der Einschlag in einer der
Durchschnittsbildung entsprechenden, jedoch glatten und durchsichtigen Sprache
aus Gefühlen und Gedanken gewoben sein, die weder zu hoch noch zu tief sind,
um von jedermann verstanden und nachempfunden werden zu können. Das
tägliche Leben mit feinen Freuden und Leiden, die Vorkommnisse in Haus,
Gemeinde und Kirche, die Natur mit dem Horizont des eignen Landes, die
Regungen des innern Menschen, alles dies in seinen Beziehungen zur Frömmigkeit
hat den Gegenstand der Dichtungen zu bilden, diese Beziehungen selbst aber sind
nach den herkömmlichen Wahrheiten der Glaubens- und Sittenlehre festzustellen
und zu regeln. Hier ist nun aber die Achillesferse der religiösen Dichtung. Nur
wenigen Meistern dieser Gattung (wir erinnern an Angelus Silesius, Novalis,
Spitta, Zeller, Puchta, Gerok, Vater Knapp in einzelnen Liedern) ist es ver¬
gönnt, die genannten Glaubenssätze selbst auch poetisch zu verklären, das Gold
dieser Wahrheiten, die Wunder und Geheimnisse in Gottes Gesetz, flüssig zu
macheu und ästhetisch schön zu gestalten. Weitaus die Mehrzahl der geistlichen
Sänger, auch derer, die wirklichen Dichterberuf haben, selbst ein Luther, Gerhard,
Schmölle u. «., begnügt sich, jenes Gold xurs nuäe seinen Liedern einzuver¬
leiben und die der Schule und den Bekenntnisschriften ungehörigen Formeln,
Schlag- und Stichwörter in den lyrischen Ergüssen geradeso wie in wissenschaft¬
lichen Abhandlungen, zu Beweismitteln und zur Motivirung zu verwenden. Daß
das nicht mehr echte Poesie heißen kann, unterliegt keinem Zweifel, daß eben
zugleich damit der Belehrung und sittlichen Anregung gedient werden soll, erklärt
zwar die Sache, rechtfertigt sie aber nicht. Abstrakt gefaßte dunkle Sprüche
über des Glaubens Geheimnisse sind und bleiben stets sür die Poesie unbrauchbare
Elemente. In einem Gedicht nehmen sie sich wie rohe Bruchsteine aus, die
man einem schön gearbeiteten Tempelbau einfügt. Dennoch können mitunter
solche Gedichte, obsckwn durch derlei Überbeine entstellt, wenn sich sonst keine
Hauptmangel und Verstöße gegen die Gesetze echter Dichtkunst an ihnen finden,
und sie dabei nicht bloß durch reines und warmes Gefühl, sondern auch durch
wirklich poetischen Ausdruck desselben sich kennzeichnen, nach dieser Seite vor
dem Richterstuhl der Ästhetik als vollwertige Dichtergaben anerkannt werden.
Sonst müßten wir über manche Perlen religiöser Poesie ein Verwerfungsnrteil
sprechen.
Als solche, allerdings der geistigen Dichtung besonders häufig anhaftende
Hauptmangel und Gebrechen, welche ihr oftmals nicht unverdiente Mißachtung
zugezogen und sie um das Bürgerrecht auf dem Parnaß gebracht haben, werden
unbestreitbar vornehmlich folgende anzusehen sein: platter, abgedroschener Ge-
dankeninhalt, sogenannte Binsenwahrheiten, geschmacklose, unwahre Bilder und
noch mehr unwahre, weil übertriebene, unnatürliche Empfindungen, Mangel an
Maßhalten, Eintönigkeit und Breite durch die ermüdende Wiederkehr derselben
Motive, Stichwörter und Beweisgründe, auffallende Verstöße gegen Grammatik
oder Logik, einzelne Ausdrücke oder ganze Verse, welche nicht verleugnen können,
daß sie lediglich dem Reim zuliebe angeflickt sind.
Begleiten wir diese Warnungstafel nur mit etlichen Randbemerkungen.
Wenn etwa in dem Abschiedskarmen für einen Pfarrherrn die zwölfte, dreizehnte
und sechzehnte Strophe also lautet:
Laßt dem Pfarrhaus auch erklingen
Aller unsrer Gläser Klang,
Denn ein Loblied ihm zu singen
Ist mir wahrlich garnicht bang;
Denn ein Ideal ist es
Eines deutschen Pfarrhauses.
Hiemit nämlich wird gesungen
Lob auch der Fran Pfarrerin,
Und zugleich ist einbedungen
Das der Pfarrmagd auch darin;
Beide sind zu preisen ja
Nie genug. Halleluja!
In der Küche sind die Löffel
Jeder am besondern. Ort,
Doch die schmutzigen Pantoffel
Weist natürlich man hier fort;
Denn es herrscht nur Reinlichkeit,
Ordnung und Zufriedenheit—
so wird jeder urteilsfähige Mensch sagen, daß hier die Poesie aufhört, daß auch
die weitest gezogenen Grenzen des Erlaubten in dichterischer Rede überschritten
sind. Und doch ließen sich Beispiele ähnlicher Plattheiten aus Abschiedskreisen
geistlicher Herren, die sich auch noch Gedichte nennen lassen, anführen oder auch
salbungsweise Ergüsse wohlgemeinter Gesinnung, die aber auch mit solchen Tri¬
vialitäten geschmückt sind, und die man dennoch selbst des Drucks wert gehalten
hat. Ebenso wird selbst ein Knabe, wenn er halbwegs naturkundig ist, die Unwahr¬
heit der Anschauung erkennen und geradezu lächerlich finden, wenn in einem
der neuesten Osterlieder von einem vielgerühmten Prediger von „Klüften" ge¬
redet wird, in denen „Lerchen" weilen. Und man muß es für höchst bedauerlich
und als groben Verstoß erkennen, daß manche schwungvolle Gedichte vom Vater
Knapp an poetischem Wert und Gehalt wie an Wirkung nicht verlieren, son¬
dern gewinnen, wenn man drei bis fünf Schlußstrophen wegstreicht. Oder wenn
bei diesem oder andern Dichtern mitunter, selbst bei großer Duldsamkeit gegen¬
über der anders gestalteten Logik der Phantasie, schlechterdings sich kein klarer
Zusammenhang der ausgesprochenen Gedanken und Empfindungen erkennen läßt,
oder auch wenn Sätze sich finden, bei denen allen herkömmlichen Sprachgesetzen
der Gehorsam aufgekündigt ist — in diesen und ähnlichen Fällen wird man
mit Fug und Recht von völlig unzulässigen Hauptmängeln eines Schriftstücks
in gebundener oder ungebundener Rede sprechen müssen. Gedichte, denen derlei
Untugenden habituell anhaften, sind unsers sprachlichen Kulturstandes unwürdig
und müßten, wenn sie auch vielleicht durch edle und hohe Gedanken sich em¬
pfehlen, als, für Geschmack und für Aares Denken verderblich, auf den Inäsx
xrollivitornm gesetzt werden.
Legen wir nun diesen Maßstab an die Gedichtsammlung, welche uns hier
zu der wohl manchen Lesern erwünschten Besprechung dieser allgemeinen Ge¬
sichtspunkte Anlaß gegeben hat, eingedenk zugleich einerseits der im bisherigen
der religiösen Dichtungsart zugestandenen Eigentümlichkeiten, andrerseits aber
auch der Grenzen des Erlaubten, welche in unsrer Zeit für jedes poetische Er¬
zeugnis gezogen werden müssen, so wird ein unparteiisches Urteil im ganzen zu
ihren Gunsten ausfallen. Zwar wird der Sohn durch die dichterische Persön¬
lichkeit des Vaters, welche unleugbar eine reicher begabte, gewaltigere und um¬
fassendere gewesen ist, einigermaßen in Schatten gestellt, wie dies schon die Ver-
gleichung der zwei lieblichen Gedichte an denselben (S. 3—7) mit dem Prachtstück
vom Vater Albert (S. 1—3) zeigt. Auch leidet — wir sollen ja „Wahrheit in Liebe
reden" — eine Anzahl dieser Lieder an den oben gerügten Fehlern, nicht bloß
an dem allgemeinen Mißstände in betreff jener nicht selten eingestreuten abstrakten
Sätze aus Glaubens- und Sittenlehre, wodurch die ganze Sammlung eine etwas
eintönige und schulmäßige Färbung erhält, sondern auch an einigen der ge¬
nannten besondern Mängel und Verstöße gegen reinen Geschmack. So wird in
dem sonst so warm und ideal gehaltenen Gedicht „Unter dem Nußbaum" (S. 157)
manchem Leser die Erwähnung des Straßenbaues in Strophe 6 und 7 als
platt und allzu realistisch erscheinen. Und wenn es S. 137 heißt:
Wird ewiglich dein Frühling dauern,
Drein Gott einst seine Sieger hüllt.
oder S. 88:
Ist jemals vor dem menschlich Hohen,
Vor dein, was diese Welt vermag,
Das tiefe Sehnen dir geflohen,
Das mächtig dir im Herzen lag?
oder wenn S. 32 vom „Goldpanier warmer Liebe," S. 51 von „Abels
Blut" geredet wird, so darf man mit Recht das Unnatürliche, für die Vor¬
stellung Unvollziehbare und Unklare des Ausdrucks rügen. Den zwei Versen
S.213:
Wird heut vom Lande scheiden müssen
Ein frommer Unterthanensinn?
oder S. 45:
Was dieser Mund, der stille, blasse,
Aus welchem keine Flüche gehn?
oder S. 46:
Kommt, laßt uns frisch und freudig ziehen
Hinaus als Jünger vor das Thor;
wird der Vorwurf nicht erspart werden können, daß hier nicht sowohl ein neuer,
guter und klarer Gedanke als vielmehr das Reimbedürfnis Gevatter gestanden hat.
Bei dem Gedicht S. 219 wird die Logik fragen, warum es ein Brautlied heiße,
das Gedicht S. 274 wird sie geschraubt finden, S. 158 wird sie bei der Strophe
in der Mitte statt „und" ein „doch" vorschlagen. Allein diese Flecken und
Runzeln verschwinden neben dem vielen Schönen und Erhebenden, das uns diese
einem liebewarmen, offenen und begeisterten Herzen entströmte Gedichtsammlung
bietet. Was in Natur, Offenbarung und Menschenleben von oben stammt und
nach oben weist, findet auch an dem Sohne Josef Knapp einen beredten Mund, dem
für jegliche Regung und Empfindung einer gesunden Frömmigkeit der treffende und
anmutige Ausdruck zu Gebote steht. Daß dieser Ausdruck sich so oft an das Bibel¬
wort anschließt, ist besonders dankenswert. Allerdings verleugnet der Sohn sowenig
wie der Vater in seinen Poesien den Kanzelredner, sofern die reich sprudelnde
Phantasie hie und da einer gewissen Redseligkeit Nahrung giebt. Ist auch dies
in betracht des Leserkreises solcher Lieder, der oft gelesenes und gehörtes immer
wieder gerne sich sagen läßt, wenn es in guter Form geschieht, nicht ohne wei¬
teres als Fehler zu betrachten, zumal bei einer Persönlichkeit, die wie Ovid
von sich sagen kann: Huiäauiä oonÄds-r diosre, vsrsus srg-t, so ist doch
Pflege der Selbstkritik auch solchen wohlbegabter Verskünstlern fort und
fort zu empfehlen, und eine ernstliche Übung derselben wäre, wie schon an¬
gedeutet, auch bei dieser zweiten Auflage hie und da am Platze gewesen. Dessen¬
ungeachtet soll sie uns in ihrem schönen Gewände willkommen und weiten Kreisen
warm empfohlen sein. Die „Festklänge" (S 13 — 73) werden gewiß bei Alt
und Jung die rechte Feststimmung hervorrufen oder begleiten. Die „Lieder
aus dem innern Leben" (S. 77-137) wie die „Aus Welt und Zeit" (S. 143—219)
werden nicht verfehlen, eine milde und gesunde Betrachtung des eignen und
fremden Lebens, sowie der Zeitereignisse im Lichte des göttlichen Wortes zu
pflanzen und zu nähren. Die „Grüße und Sprüche" endlich (S. 223—331),
welche unverkennbar zeigen, in welch reichem Maße dem Verfasser das Charisma
der Anerkennung geschenkt ist, liefern zugleich einen thatsächlichen Beweis, daß
es heilsam und wohlgethan ist, wenn zu Zeiten auch poetische Erzeugnisse zweiten
Ranges und vorübergehenden Wertes zur Geltung und weitern Verbreitung
gelangen. So gewiß man unsrer Zeit mit Recht Übung von Hausmusik em¬
pfiehlt, so darf man mit demselben Recht es gutheißen, wenn durch solche silberne
Schalen für goldne Äpfel einer Hauspoesie Anregungen zur Pflege und Nach¬
ahmung geboten werden.
»-.»^»M-M
^
^^/^^nsre Kinder, deren Geburt schon auswärtigen Freunden durch
Telegramm gemeldet wurde, die schon im frühesten Alter ansehn¬
liche Reisen mit der Eisenbahn machten, die gewohnt sind, jeden
Augenblick in einen Fiaker zu steigen, auf gutem Trottoir zu
gehen, für zehn Pfennige bis an die Grenzen der Türkei und für
zwanzig fast in die ganze Welt zu korrespondiren, die nur ein Maß, ein Ge¬
wicht und eine Münze kennen, die geneigt sind, die Nase zu rümpfen, wenn
das Gas zögert, dem elektrischen Lichte zu weichen — diese unsre Kinder staunen,
wenn wir ihnen von den Zuständen zur Zeit unsrer Jugend erzählen.
Als mein Vater von Frankfurt nach Bremen in die Fremde ging (wie
man das nannte), reiste er zu Pferd mit aufgeschnalltem Mantelsacke; ein ver¬
storbener älterer Bruder erhielt 1833 zur Reise nach Darmstadt einen Paß auf
einen Tag giltig, den ich noch besitze; ich selbst zog 1842 auf die Universität
nach Tübingen mit dem Hauderer und sonstigen abenteuerlichen Gelegenheiten;
1343 reiste ich mit dem Eilwagen nach Leipzig und 184S mit der Mallepost
nach Paris. Dort mußte ich vierzehn Tage vorher einen Platz in der Malle¬
post nach Straßburg belegen, denn es ging dorthin täglich nur ein zweisitziger
Wagen! Bis zum Jahre 1833 wurden die Thore der Stadt im Sommer um
acht Uhr, im Winter um sieben Uhr geschlossen. Es bedürfte eines Auf¬
standes, der mehrere Menschenleben kostete, um der Thorsperre ein Ende zu
machen.
Als ich Primaner war, gab es noch keine Gasbeleuchtung in Frankfurt.
Zu derselben Zeit (1842) wurden dort fünfundzwanzig Fiaker konzesstonirt; aber
das Publikum benutzte sie nicht, und sie standen den ganzen Tag über müßig
auf dem Römerberg. Das Briefporto war sehr hoch und wurde nach jedem
Orte hin anders berechnet. Das Frankiren war nicht allgemein üblich, und in
den bessern Ständen galt es für unschicklich. Nach Rußland mußte man franko
Grenze schreiben. Es gab weder Papiergeld noch Banknoten, die allgemeinen
Kurs hatten. Die preußischen Thalerscheine wurden außer Landes nur ungern
und unter pari genommen; die mitteldeutschen sogenannten wilden Scheine waren
der Schrecken von jedermann. Von Gold waren preußische, braunschweigische,
hannoverische, holländische, französische und österreichische Stücke im Umlauf,
und jedes hatte einen besondern Kurs. Das eigentliche Umlaufsgeld war Silber,
und zwar von der größten Mannichfaltigkeit. Es gab preußische und sonstige
norddeutsche ^, '/g, ^, ^z, -/^ und ^„ Thaler, Silbergroschen und gute
Groschen, Konventionsthaler, Brabanter Thaler und davon wieder ^ und ^
Stücke, ferner Sechsbätzner und Dreibätzner, Gulden und Kreuzer; daneben
hatten sich holländische 2>/z- und Einguldenstücke fast das Bürgerrecht in Süd¬
deutschland erworben. Ich erinnere mich, daß die Heimzahlung eines Kapitals
(1846) von 20000 Gulden fast einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Bei
der Zeichnung der Aktien der Frankfurter Bank (ich glaube 1855) mußten zehn
Prozent baar hinterlegt werden. Bei dem Mangel an Papiergeldzeichen mußte
dies in Metall geschehen, und da das Kapital soundsovielmal überzeichnet
wurde, so sah man so endlose Züge von Karren mit Geld beladen nach dem
Banklokale ziehen, daß das Komitee in Schrecken geriet und eine Geldklemme
entstand.
Solches und ähnliches, was ich selbst erlebte, habe ich meinen Kindern oft
erzählt, und sie haben sich gewundert, daß sich die Zustände in so kurzer Zeit
in solchem Maße ändern konnten. Aber wie sah es denn zur Zeit unsrer Gro߬
eltern und Urgroßeltern aus? Dies zu erforschen, gehört schon der Wissen¬
schaft, der Kulturgeschichte an, die heute ein Lieblingsstudium ist, und zu der
die Bausteine mühsam zusammengetragen werden. Auch die nachfolgenden Zeilen
sollen einen solchen Baustein liefern, echt und unverfälscht.
Meine Urgroßmutter und eine Urgroßtante, beide verheiratete Kaufmanns¬
frauen, unternahmen in Gemeinschaft mit einem Fräulein M. aus einer an¬
gesehenen Familie, die heute noch in Frankfurt blüht, im Jahre 1765 eine Reise
nach Holland, über welche die Urgroßtante ein Tagebuch hinterlassen hat. Der
Stil des Buches ist sehr flüchtig, was der Mangel an Ruhe auf der Reise ent¬
schuldigen mag, die Orthographie sehr unsicher. In beiden Beziehungen werde
ich bei meinen Auszügen vermeiden, was allzu störend ist. Französische Wörter
werden dem Geschmacke der Zeit gemäß mit Vorliebe gebraucht, und sie werden,
weil es für besonders elegant galt, durch französische Buchstaben besonders augen¬
fällig gemacht. Im übrigen zeigt sich die Chronistin als eine Frau von Ver¬
stand und Charakter, auch scheinen alle drei Damen noch jung und von an¬
genehmem Äußern gewesen zu sein.
Das Tagebuch beginnt:
Beim Anbruch einer schönen Morgenröthe »in 1.2. Juni 176S^j sind wir
drei Frauenzimmer, von unsern Liebsten und Freunden bis ans Wasser begleitet,
in einen schlechten, mit Tuch gedeckten Maintzcr Reisenachen eingestiegen. Unsre
Liesse bestand in 3 voSrss, so den halben Theil des Schiffs einnahmen; in
die übrige Hälfte des Schiffs setzten wir ein Feldtischchen zu unserer Bequämlich-.
keit. Unsere Bedeckung waren die beiden Schiffsleute Caspar Wabeler, so nur
ein Aug hatte, und sein Steuermann, der taub war. Wir fuhren ab von unserm
Vatterland; aber wir waren kaum 6 Stunden x^ssirt, so kam ein schweres
Donnerwetter mit heftigem Regen, so daß wir genötigt waren, eine halbe
Stunde am Ufer zu verweilen. Um 12 Uhr langten wir zu Manch an,
wo wir von den Zollherrn über zwei Stunden aufgehalten wurden. Endlich
fuhren wir weiter. Abends um halb 3 Uhr vor der Stadt Bingen erhub sich
auf einmal ein entsetzlicher Sturm, der uns in keine geringe Angst versetzte, er
verursachte, daß wir eine Stunde später in Bingen ankamen.
Da wir zuvor im Schiff zu Nacht gespeiset, nahmen wir unser I^is im
goldenen Lamm. Wir trafen in dem uns angewiesenen Zimmer zwei Betten an;
in das eine legte sich Uaclmoisel N .,,,n und Raa^in U...2; das andere war vor
mich ctsstinirt. Ich schüttelte den Kopf, denn es sahe zu gefährlich aus, und ich
fürchtete fremd Vieh zu erben; ich rssolvirts mich kurz, legte mein Reiseküssen
auf einen langen Biertisch, welcher so lahm war, daß ich Stühle mußte davor
stellen, um uicht herunter zu fallen; ohne mich zu entkleiden, legte ich mich auf mein
hartes Lager nieder. Die Nacht wurde mir sehr lang, da auch der Wind noch
immer stürmte.
Andern Morgens um 6 Uhr nach gehaltenem Frühstück eontinuirtsn wir unsere
Reise. Wir xassirwn das Binger Loch glücklich; aber kaum waren wir zwei Stunden
weiter kommen, so drohte uns ein schrecklich Unglück, welchem wir durch unsere
schlechten Schiffleute ausgesetzt waren. Es kam nämlich ein großes Jagdschiff mit
vollen Segeln auf das unsere angestürmt, daß es schien, unser elender Nachen sollte
überfahren werden. Wir schrien zu Gott um Hülfe, der Herr erhörete unser
Geschrei und stieß das Schiff an unserm Schifflein vorbei; doch barsten zwei Reife,
und die andern alle krachte», ich glaubte mein Grab im Rhein zu finden. Unsere
Schiffleute fluchten denen Andern: Ihr seht doch, daß wir Menschen fahren, Ihr
hättet Eure Segel sollen fallen lassen n. s. w. Die Herren ans dem großen Schiff
waren sehr erschrocken, als sie uns 3 Frauenzimmer erblickten. Gottlob, die zweite
Gefahr war vorüber.
Um 8 Uhr kamen wir zu of.ub an. Meine Reisegesellschaft blieb im Schiff
und belustigte sich mit Füttern der Erdteil, so am Ufer schwammen. Ich aber ging
in die Stadt und besuchte einen unserer Uatanäs Münden^, welcher ein böser Zahler
war. Ich sagte ihm, ich wäre noch etwas Geld zur Reise benöthigt; er speiste mich
aber mit Oomplimsutsn ab und wollte mir ein Frühstück aufwarten, was ich verbat.
Er versicherte, wenn bessere Zeiten kämen, uns zu oontsutiren. Ich fand bei ihm
einen wohlbestellten Laden und ordentliche Haushaltung, nahm von ihm Abschied,
da ich es meiner Reisegesellschaft bald zu lang gemacht hätte. Diese hatten unter
der Zeit die Mittagssuppe angefertigt. Wir fuhren ab und speisten im Schiff zu
Mittag. Um 3 Uhr kamen wir zu OoblonK glücklich an. Wir stiegen alle drei aus,
besahen die Stadt, welche schön groß, voller Handelsleute und Handwerker ist; wir
kauften allda, was wir von Nöthen hatten, füllten unsere leeren Krüge mit Mosel¬
wein und gingen wieder in das Schiff, nachdem wir vorher die steinerne Mosel¬
brücke, so 11 große Bogen lang, die schöne Festung Ehrenbreitstein und das Schloß
im Thal in Augenschein genommen hatten.
Als die S Uhr herbeigekommen, und wir in der Mitte des Rheins ruderten,
wo er am breitesten ist, drohte uns eine neue Angst. Unser Ruderknecht, den wir
in Taglohn genommen hatten, warnte unsere Schiffsleute bei Zeiten, sie sollten ans
Land fahren; sie achteten aber nicht auf ihn. Ehe man sichs versah, überzog sich
der Himmel; es entstund ein heftiger Sturm, mit großem Platzregen vermischt;
der schmiß die Wellen ins Schifflein, so daß unsere Unterkleider von den Wellen
und die Oberkleider vom Regen naß wurden. Wir rüsten heftig den Schiffsleuten
zu: Ans Land, ans Land! Da aber der Steuermann taub war, ließ ihn der
Wind das Wort nicht hören, und da der Schiffmann nur ein Auge hatte, so ging
es uns wie den Jüngern vnristi; wir rüsten, wie sie: Herr hilf uns, wir ver-
derben! Denn der Sturm war so heftig, daß die Schiffleute alle Kräfte anwenden
mußten, das Land zu erreichen, da wir dann durch Kottss Barmherzigkeit endlich
die Weidenbäume am Ufer ergreifen und selbige durch Anhalten unserer Hunde
zum Anker machen konnten. Als er vorbei war, bewunderten die Schiffsleute
unsere Herzhciftigkeit und sagten, daß sie schon Herren gehabt, welche um 2 Hüte
voll I^ouisä'vis nicht einen solchen Sturm mitgemacht hätten.
. . . Wir xassiitsn Rsuvivä vorbei, welches ein nobölss Städtchen am Rhein
sich recht schön xressutirt. Ich hätte schier Lust gehabt, über Nacht da zu bleiben.
Wir mußten aber unserm scheelen jnnäugigen^ Schiffer folgen. Wir x^hirten
noch diesen Abend ^.iMi-naon vorbei und blieben zu Leistersdorf Heisterbach?)
über Nacht, wo wir uns in das Gasthaus zum goldenen L^ebus zur Ruhe
begaben.
Den 14. Juni Morgens um 4 Uhr nach eingenommenem Frühstück druckten
wir vom Lande ab und stachen abermals in den fürchterlichen Rhein, xassirtvu
das Kloster Nonnenwerth, so auf einer Ane mitten im Rhein gelegen. Wir sahen
die 7 großen Berge, so sich gegeneinander xressntirön, da auf jedem ein Schloß
gebauet ist, darinnen 6 Brüder und eine Schwester vor Zeiten rssicliröt, daher sie
den Namen die sieben Geschwister haben, welche Schlösser aber durch die Kriegs¬
zeiten verhöret und verstöret sind.
Um 12 Uhr kamen wir zu Lonu an; da es aber entsetzlich regnete, so war
es ohnmöglich auszusteigen und die Stadt und das Schloß zu besehen; wir ver¬
schoben es daher bis auf die Rückreise.
Es stand am Ufer des Rheins ein junger vÄnomvus im dicken Regen; er
sprach unsern Schiffer an, wir möchten ihm erlauben, ihn bis nach Köln mitzu¬
nehmen. Wir willfahrten ihm aus Barmherzigkeit. Er war so naß vom Regen
und zitterte vor Frost, daß wir ihm einen Rocklor nmhängten. Wir labten ihn
mit etlichen Tassen votko und glaubten von seiner Gesellschaft Vieles zu xroütirsn,
in Hoffnung, er würde uns dagegen in Köln seine Dienste otkrirsn, erfuhren aber
das Gegenteil, bedauerten seine schlechte Aufführung und ließen ihn gehen. Nun
kamen wir zu Köln an; wer war froher als ich! Wir stiegen aus in starkem
Regen und «.ovorclirtsu unsere IZ^ÄAE für se. 1. 20 Kr. in das Posthaus zu
ti'kM8xort>iron. Der Weg bis dahin wurde uus ziemlich lang; das Pflaster ist so
schlecht in dieser Stadt, daß wir eine halbe Stunde brauchten bis in unser I^oKis
zur rothen (Zi-aus genannt, allwo wir von Herrn und Frau Postmeisterin wegen
guter LEeoillwÄuclgÄon freundlich und höflich aufgenommen wurden. Nach der
Abendmahlzeit legten wir uns zur Ruhe und schliefen das erste Mal nach ge¬
habten Schrecken auf dem Rhein recht ruhig und wohl.
Ich unterbreche die Erzählung hier durch einige Bemerkungen. Daß drei
Damen überhaupt eine solche Reise und überdies zum Vergnügen, vielleicht auch
zur Befestigung alter Handelsverbindungen ihrer Ehemänner unternahmen, ist
an sich schon höchst auffallend in einer Zeit, wo die Frauen ihre Wohnungen
selten verließen, wo sie spinnend im Erker saßen und mit Hilfe eines vor dem
Fenster angebrachten Spiegels den geringen Verkehr auf der Straße beobach¬
teten. Diese Reise ist umsomehr zu bewundern, als sie sehr anstrengend, ja
gefahrvoll war. Wir dürfen voraussetzen, daß die Eheherren alles gethan hatten,
um die Reise möglichst bequem einzurichten. Trotzdem haben die Reisenden nur
einen schlechten, von einem Einäugigen und einem Tauben geführten Nachen
zur Fahrt bis Köln, in welchem sie sogar öfters ihre Mahlzeiten, ihre Suppe,
ihren Kaffee bereiten müssen. Aus alledem ist wohl zu schließen, daß es im
Jahre 176ö keine bessere Gelegenheit zur Reise auf dem Rhein nach Köln ge¬
geben hat, was auch daraus hervorgeht, daß unsre Damen wiederholt einen
ratlosem Reisenden in ihr Boot aufnahmen. Auch mit Gasthäusern muß es
sehr schlecht bestellt gewesen sein. Das Goldne Lamm in Bingen war nur eine
elende Herberge, und der Goldne Bachus in Leistersdorf wird nicht viel besser
gewesen sein, da die Damen genötigt waren oder doch vorzogen, sich ihre Mahl¬
zeit im Schiffe zu bereiten. In Köln selbst war die Goldne Gans wohl kein
eigentliches Gasthaus, da unsre Chronistin die „gute Rekommandation" an den
Herrn Postmeister besonders hervorhebt.
Die Damen hielten sich einige Tage in Köln auf. Es zeigt sich schon
hier, wie später in noch höherm Grade in Holland, was damals kaufmännische
Verbindungen bedeuteten. Zugleich ersieht man aus der Art, wie man den
Reisenden die Kirchenschätze zeigte, wie selten damals solche Dinge von Fremden
in Augenschein genommen wurden. Die Chronistin schreibt:
Am 15den morgens 8 Uhr gingen wir zu einem Kaufmann, an welchen
ich rseommMäirst war. Er setzte uns sogleich ein Frühstück vor und führte uns
dann in den Dom. Dort zeigte man uns den Schatz der Heiligen drei Könige,
welche in einem silbernen Kasten nebeneinander lagen. Auf jedem Todtenkopf dieser
Könige liegt eine al^MÄntens Krone und über diesen der kostbare, mit vielen Lrillantsn
besetzte große Stern, wovon der mittelste so groß als ein Dreibätzner ist. Um
diesen silbernen Kasten herum stehen die zwölf Apostel in gegossenem Gold.
Unsertwegen wurden sehr viele Wachslichter angezündet und so viel Weihrauch,
daß wir beinahe erstickt wären. Der Domherr, so diesen Schatz in Verwahrung
hat, nennt sich Herr von chaud^en, zweiter Minister der Kurfürsten. Er redete
uns freundlich an, wo wir herkämen? Wir antworteten: Von Frankfurt. Da
fragte er, ob es wahr wäre, daß man die Gelder abgesetzet und den 20 si. Fuß
eingeführt hätte? Wir sagten: Ja! Ey, Ey, sprach er, das ist unser großer
Schaden, befahl seinem Verwalter, uns Alles recht zu zeigen, machte uns ein
Kompliment und verließ uns. Man führte uns nun in die Neben-Kapellen, allwo
die Kleider, so die Priester ans große Festtage anlegen, aufbewahrt werden. Sie
öffneten uns viele Schränke, darinnen kostbare Meßgewande lagen, von ärav ä'or
und Ä!Ap ä'Al'AsM; ganze lange sammele Priester-Röcke mit in Gold gestickten
Blumen, auch einen, den aller kostbarsten, mit lauter Zahlperlen in Innren ^ar-
nirst, sammt der großen Bischofskappe, schwer und dicht mit Zahlperlen besetzt,
was der Kurfürst alle Jahr nur Einmal anlegt und darin eine Messe liest, wofür
er si. 1000 bekommt.
Uns wurde ferner gezeigt der kostbare Geschmuck, welchen sie der Jungfrau
Uf,ris, an großen Festtagen anlegen. Von hier gingen wir in die Jesuiter Kirche,
die sehr prächtig ist, mit kostbaren ?ilarsn von Narmor mit goldenen Zierrathen;
vortreffliche Malereien nach dem Leben geschildert; auf dem großen Altar stund
eine kostbare UonstrM?, rings mit Diamanten besetzt, auf jeder Seite 6 silberne
Kuei'iäons mit brennenden Wachslichtern.
Nun kamen wir in eine andere Kirch; hier sahen wir auf das lebhafteste
abgemalt eine verstorbene Frau; die Überschrift, die darüber stand, belehrte uns,
daß sie im Grab einen kostbaren pig.eng.lit Ring am Finger gehabt. Dies ver¬
leitete den Todtengräber, sie bei Nacht auszugraben. Er nahm seine Laterne und
Hund mit sich und öffnete den Sarg. Als er aber im Begriff war, den Ring
der Leiche vom Finger zu nehmen, richtete sich die Todte auf und sagte: Was
willt du? Der Todtengräber lief halbtodt vor Schrecken davon, ließ Laterne und
Hund im Stich; die erstandene Frau aber ging nach Hause. Als sie an die Thür
Pochte, rief ihr Mann: Werdci! Sie antwortete: Die Frau vom Haus! Da es der Maun
nicht glauben wollte, Pochte sie noch einmal und sprach: Ich bins, so wahr unsere
zwei Schimmel zum Gaubloch herausguckeu werden. Da rissen sich die Pferde im
Stalle los, liefen die Treppe hinauf und überzeugten den Mann, daß es seine Frau
war. Die Frau aber soll nach dieser Begebenheit noch 7 Jahre gelebt und drei
Söhne gezeugt haben.
Es folgt nun die Beschreibung des Mittagessens bei einem vornehmen
Kaufmann, der sie auch in seiner Equipage spazieren fährt, dann zeigt man ihnen
in der Se. Ursulakirche die Reliquien, ein Stück Holz vom Kreuze, zwei Dörner
aus der Krone Christi, ein Stück von der Geisel, einen Lappen vom Rock der
Maria Magdalena, einen Krug von der Hochzeit zu Cana, etliche Knochen von
Aposteln und dergleichen mehr. Klöster und Bettelleute, heißt es, seien genug
vorhanden. „Letztere laufen einem truppweise nach, und so man nichts giebt,
rufen sie: Lauf nur hin, du Calvinus, du hast doch nur den Himmel auf
Erden! Andre sagten: Ja ja, du Stolze, gehe nur hin und bezahle erst die
Holländer. Giebt man aber etwas, so ist man gleich von einem ganzen Haufen
umringt."
Am 17. Juni — erzählt das Tagebuch weiter — nahmen wir von unserm
Herrn und Frau Postmeister Abschied, allwo wir sehr gut loZisrt waren. Wir
baten sie, uns auf der Rückreise wieder aufzunehmen, was sie uns auch versprachen.
Von Köln aus reisten die Damen mit der Post.
„Zu Dörmagen verzehrten wir zum Frühstück etliche Butterrahmen, welche uns
vortrefflich schmeckten. Ein Herr Pastor war unsere Gesellschaft. Um 12 Uhr kamen
wir in RsuW an im Posthaus bei einer sehr schmutzigen Wirthen. Die Person zahlte
sür die Mittagsmahlzeit 1 Gulden mit dem Wein, der xs-ssMö war. Um 4 Uhr
tranken wir zu Ilräinss den Thee, für den wir 4 Stüber die Person zahlen mußten.
Zu Rheinheim Mheinburg?) verließ uns der Herr ?Wtor und sandte uns aus seinem
Kloster einen Krug Bier, das wir uns wohl schmecken ließen. Seine Bitte, ihn
auf der Rückreise in dem Kloster zu besuchen, konnten wir nicht erfüllen.
Es waren hier so viele Reisenden, die nach Holland wollten, daß wir noch
zwei Beiwagen bekamen. Mir war vor der Nacht, in der wir fahren mußten,
nicht bange. Unser Wagen machte die L,vaut Zs-räh.
17. Juni. Es ging oNÄrmAnt; bald äiscnrrirtsn wir, bald sung ich ein
Abendlied, bald schlief eines nach dem andern ein Stück Weges. Auf einmal hörten
wir etwas. Aber erst im nächsten PostHause erfuhren wir, was vorgefallen. Der
dritte Beiwagen, dessen Postillion eingeschlafen war, fiel um; gleichzeitig sprangen
drei Kerle mit Gewehre und Hunden aus dem Gebüsch. Die Herren im Wagen
hatten die Geistesgegenwart, ihnen Geld für ihre Hülfeleistung anzubieten. So
kamen sie mit dem Schrecken davon. Ich aber dankte Gott, daß ich nicht dabei war.
Es war 3 Uhr Morgens, als wir in Sanders IMntenj ankamen. Nach einem
guten Volks setzten wir die Reise mit frischen Pferden fort. Der Tag begann an¬
zubrechen; ich sang ein Morgenlied und erfreute mich, daß ich in meinem Leben
zum ersten Mal eine ganze Nacht gereiset war. Die schöne Morgenröte brach
Herfür; ihr Glanz vergnügte mich so sehr!
In Kleve erhielten die Reisenden einen andern Postwagen, der aber sehr
„krachend" war. Zur Entschädigung dafür hatten sie ein kleines Abenteuer.
Zur Gesellschaft hatten wir ein sehr Ka>ig,ut aussehendes Frauenzimmer mit
ihrer Magd. Sie machte große I'i^ur und spielte, um uns zu imponiren, mit
ihrer goldnen Uhr. Sie machte uns das vomvlimont und erzählte uns, daß sie
in L-mstsräanl wohne und dort ihre Gelder an Schiffscapitäne, so Waaren von
Ostindien brächten, gegen billige Zinsen darleihe, dagegen aber den zehnten Teil
des Gewinnes bezöge und so eine sehr vorteilhafte Handlung treibe.
Ihr Gesicht war uns viel zu bekannt, als daß unsre Neugierde, wer sie sei,
nicht erregt worden wäre. Wir brachten ihre Magd auf unsre Seite und er¬
fuhren, daß sie eine Landsmännin von uns sei, die ihrer Aufführung halber nicht
ostiwirst ist. Sie war die Uf-itrssss des Herrn 0. V. Nun hatten wir genug.
Es war 10 Uhr ^am 13. Juni), als wir zu Mtsrto ankamen. Wir ließen
uns im Gasthaus speisen für 1 Gulden die Person. Es schmeckte uns sehr gut.
Die Dame aber blieb im Wagen und mochte bersten über unser langes Aus¬
bleiben. Um sie recht zu schehren, ließen wir dem Postillion eine Flasche Wein
geben, damit er ja nicht eilte. Als wir nun wieder einstiegen, knurrte sie und
war ihr der Wagen in allen Ecken zu eng, und doch hatten wir nichts mehr mit¬
gebracht als was wir im Bauch hatten. Sie mochte aber inzwischen von ihrer
Magd erfahren haben, daß wir wüßten, wer sie sei. Sie sah sich gezwungen, nun
selbst zu sagen, wer sie sei, und stahl sich weg, als wir in Arnheim ankamen.
Allda bekamen wir zum Nachtessen Lallaäo und (ÄrmMtsser und am Morgen
Kaffee, wofür wir si. 5 bezahlen mußten. Da wir unserer Wirthin zu früh auf¬
gestanden waren, so machte sie uns die Rechnung danach. Beim Kaffee ward ich
sehr betrübt; ich dachte: du lieber Gott, nun ist meine Reise soweit gediehen; wie
wird es aber in ^.inswräÄM um ein Logis aussehen? Meine Reisegefährtinnen
wollten mich zwar mit zu ihren Freunden nehmen; aber da bin ich sssnirt und
lieber will ich für mein Geld wohnen. Aber wo? Da kommt eine liebenswürdige
Frau ins Gastzimmer, um auch Kaffee zu trinken. Als sie von meiner Ver¬
legenheit hörte, daß ich ein honnete Bürgerhaus in Amsterdam suchte, bot sie mir
sogleich ihr Haus an. Wir wurden bald über das Nähere einig, sie schrieb mir
ihre Adresse in meine Schreibtafel und befahl ihrem Mann und ihrer Tochter,
mir das beste Zimmer anzuweisen und mich wohl zu bedienen. Sie versprach
bald nach ^nöt>ol'<Zs,in zurückzukehren und mich dann selbst zu begrüßen. Wer war
vergnügter als ich! Von ^rnnsira nach ^instsrä^in zahlten wir für die Post si. 5,
außerdem aber mußte für Übergewicht meines Gepäcks noch si. 3 entrichten, da
nur 25 Pfund frei waren.
Von Arnheim ging die Reise über Amersfoort und Naarden. Für
alles hat unsre Freundin offne Augen, ganz besonders aber entzückt sie die
holländische xroxrstö. I» Muiden gerät sie darüber ganz besonders in Ver-
wunderung. „Ich wollte gern ein wenig Wasser lassen. Sie führten mich in
einen Stall, darin stand ein schön Bett mit grünem Vorhang. Auf der Erde
war es so sauber, daß man hätte davon essen können; ringsumher war unten
eine Einfassung von weißen korosIlM-Blcittchen und keine Spinne und kein
Ständchen zu sehen. Da dachte ich: sieht es so in einem Stall aus, wie wird
es erst in einem Zimmer sein!" (Schluß folgt.)
le leidige Zersplitterung der Kräfte' Das „Deutsche Theater"
in Berlin droht in die Brüche zu gehen, weil die sogenannten
ersten Kräfte sich mit dem Rufe „Alles verloren, nur das Ver¬
mögen nicht!" vom Schlachtfelde zurückziehen, und anstatt sofort
für die scheidenden Heldenspieler und Intriganten einzutreten,
ziehen die Berufensten als wandernde Komödianten im Lande umher. Wer
könnte den Triarchen, welche jetzt die italienischen Pentarchen in deutscher
Bearbeitung spielen, den verantwortlichen Ministern des unverantwortlichen
Parteihauptes Stauffenberg Talent und Routine absprechen? Auch die be¬
geistertsten Verehrer des Herrn Barnay werden eingestehen müssen, daß ihm an
hohlem Pathos Herr Hänel über ist. Und was will vollends Haase bedeuten
neben Eugen Richter, dem dieser Tage ein Schüler Rückerts (nicht Rickerts)
einen Hymnus geweiht hat, dessen Anfang ich ohne Indiskretion glaube mit¬
teilen zu dürfen:
Dies ist der große Richter,
Der Tyranneivernichter!
Von allem, was er nicht versteht,
Von früh bis abends spricht er,
Und wenn er grad' nicht Reden hält,
So schweiget dennoch nicht er.
Er duldet fremde Meinung nicht,
Doch stets für Freiheit ficht er,
Für England und Amerikas
Interessen Lanzen bricht er.
Immune Insolenzen sagt
Kühn jedem ins Gesicht er u. s. w,
(Da das Thema durch das ganze Alphabet variirt wird, kommen natürlich auch
Reime wie. „Trichter," „Gelichter" und „Wicht der" vor.)
Sterne erster Größe also find die drei Könige zu Heimsen ohne Frage.
Aber das Beispiel andrer großer Sterne hätte sie belehren können, daß das
Publikum bald müde wird, immer dieselben Zelebritäten immer in denselben
Rollen zu sehen. Wenn sie wenigstens im Sinne des Bäuerleins bei Uhland
das Kartenspiel voll machten, so könnten sie als die Haimonskinder (meinetwegen
auch Heymannskinder) auftreten, welche bekanntlich sechzehn Jahre lang gegen
den großen Kaiser Karl Krieg führten — wegen seiner Sozialpolitik. Für den
Herrn Windthorst würde ja wohl auf dem Roß Bayard noch Platz sein. So
aber, heute in Hamburg, morgen in Frankfurt, übermorgen in Kaiserslautern,
und dann noch in Segringen und Lalenburg nichts als die Konjugation: Ich
bin der wahre Jakob, du bist, er ist, wir sind, sind wir nicht die wahren Kö-
besse? — das wird selbst den Lalenbürgern zuviel.
Und in einem Punkte haben sich die berühmten Künstler noch verrechnet. Sie
mögen viel von den sieben Schwaben gehört und mögen gemeint haben, ganz Süd¬
deutschland sei von solchen Schwaben bewohnt. Allerdings ist diese Gattung
nicht ganz ausgestorben, aber viel zahlreicher ist sie heute noch nicht, obwohl
einzelne Exemplare auch außerhalb Schwabens sich finden. Aber sie wenden
erst recht den Aposteln aus Berlin, Kiel u. s. w. schnöde den Rücken. Unrecht
geben kann man ihnen eigentlich nicht, wenn sie sagen: „Was gehen uns die
Sachsen und Westfalen und gar die verhaßten Preußen an!" Ihr Deutschland
reicht vom schwäbischen Meere bis Sachsenhauser und nicht weiter, und das soll
in lauter Republiken zerlegt werden, damit die Nagolder den Böblingern und
die Dinglinger den Gundelfingern nichts in ihre vaterländischen Angelegenheiten
dreinreden dürfen. Sollte sich ja einer beikommen lassen, die Vereinigten Staaten
von Schwaben anzugreifen, nun so mag er kommen, die große Stange, mit
welcher einst die sieben Ahnen gegen das fürchterliche langohrige Ungethüm aus¬
zogen, wird sich wohl noch in einer Rüstkammer vorfinden! Die Nachkommen
der Sieben brauchen gar kein Heer und lachen daher mitleidig über Herrn Richter
mit seiner jährlichen Bewilligung, sie brauchen gar keine Minister mit oder ohne
Verantwortlichkeit, und Reden halten können sie selber — Gsegott!
Wen die Triarchen für einfältiger halten werden, die Schwaben oder die
andern Süddeutschen, das wissen wir freilich nicht; umso gewisser, daß sie mit
geringer Meinung von uns allen wieder gen Norden gefahren sein werden.
Und es ist ja nicht zu leugnen: mancher von uns war vor Zeiten auch so klug
wie gewisse Kieler Professoren, welche sich wohl hin und wieder erinnern,
häufiger jedoch es vergessen, wem sie es zu danken haben, daß sie noch in
deutscher Sprache vortragen dürfen. Bei dem Anblick der Ruinen von Heidel¬
berg und Worms und Speyer sagten sich solche fortgeschrittene Leute, das könne
uns nicht wieder geschehen unter „des durchlauchtigsten deutschen Bundes" und
soundsovieler Volksversammlungen Schutze. Als aber der durchlauchtigste Bund
sich von dem kleinen Dänemark ins Bockshorn jagen ließ, mußte sich die Nutz¬
anwendung aufdrängen, was denn geschehen werde, wenn das mächtige Frankreich
doch wieder auf die alten Völkerbeglückungstheorien verfallen sollte. Der Ruck-
sichtslosigkeit der Franzosen hätte man zutrauen können, daß sie über den ganzen
Bundestag und sogar über die Resolutionen von Abgcordnetentagen, Volks¬
versammlungen und Friedenskongressen gleichgiltig hinweggegangen wären. Die
ganz Gescheiten fanden freilich auch an dem, was später geschah, nimmer etwas
großes. Ein schöner Ruhm: zwei Großmächte haben das kleine Dänemark
überwältigt! hieß es das einemal; und das andremal wars wieder nicht recht,
Republiken wie Frankfurt und Frankreich niederzuwerfen. Besonders wer sich
genügend weit vom Schusse halten konnte, sah die Gefahren nicht für so ernst
an und mochte deshalb auch die Rettung nicht so hoch anschlagen; in der Nähe
sah sich die Sache etwas anders an. Und andre Gesichter machten unsre
Jungen, als sie aus Frankreich heimkehrten, als nach dem traurigen Feldzuge
der traurigen Reichsarmee von 1866. Auch manchem harten Schädel ging es
damals ein, daß ein solches Reich wohl Opfer wert sei. Später fuhr uns
allerdings wieder ein kalter Schauer bis unter die Schlafkappen hinauf, als
uns bei Heller und Batzen vorgerechnet wurde, wie hoch uns künftig der
Bissen Fleisch und die Pfälzer Zigarre zu stehen kommen müsse, und daß man
aus Sägespänen Brot backen werde, weil kein fremdes Getreide mehr ins Land
dürfe, und daß wir nichts mehr ausführen könnten, weil alle Länder rund¬
umher Repressalien gegen die hohen Zölle nehmen würden, und daß wir sämtlich
an den Bettelstab kommen sollten um einiger reichen Grundbesitzer und faulen
Gewerbsleute willen. Doch da die grausigen Prophezeiungen nicht in Erfüllung
gegangen sind, haben wir uns nicht nur von diesem Schrecken wieder erholt,
sondern sind gegen die Propheten sehr mißtrauisch geworden. Was die Herren
Rickert und Richter und Hänel dazu beigetragen haben mögen, daß ein Deutsch¬
land existirt und so mächtig und geachtet dasteht, wie seit den großen Sachsen¬
kaisern nicht mehr, darüber fehlen uns die Nachrichten. Von andern Personen
wissen wir es. Diesen sind wir dankbar, zu diesen hegen wir Vertrauen, vor
diesen hat das Ausland Respekt. Das Ausland würde vielleicht mit Vergnügen
Herrn Richter als Reichskanzler sehen, allein wir sind eigensüchtige Menschen
und meinen, daß unsre Zufriedenheit uns näher angehe, als die unsrer links¬
rheinischen und sonstigen guten Nachbarn. Dann und wann kommt auch ein
kleiner Verdruß im Hause vor, aber den trägt ein rechtschaffener Mann nicht
gleich auf die Gasse hinaus — das ist so unsre dumme Meinung, „halten zu
Gnaden!" wie der Musikus Miller sagte, der auch ein Schwabe war. Wir
sind eben beschränkte Leute, noch nicht reif für die höhere politische Bildung,
die alles aufs Spiel setzen möchte, um die Eitelkeit zu befriedigen oder um
einer Schulmeinung zur Anerkennung zu verhelfen. Darum ist die „süddeutsche
Tournee" der drei Könige zu Heimsen so unergiebig ausgefallen. Hie und
da Beifall der Claque, aber den hätten die Herren mit geringerer Anstrengung
und geringeren Kosten haben können. Ein Glück, daß der Wahlfonds den
Ausfall verschmerzen kann!
as ist doch garnicht so schwer, erwiederte Adele. Rina ist ein
unbefangenes, in vieler Beziehung noch ganz kindliches Gemüt,
sie ist vom Unglücke und von Widerwärtigkeiten verfolgt worden
und hat sich auf sich selbst zurückgezogen, ist schwermütig, mut¬
los und etwas mißtrauisch geworden, ohne auch nur den kleinsten
Teil ihrer großen Herzensgüte eingebüßt zu haben.
Der Doktor gab zu diesem Urteilsspruche seiner Frau durch ein Lächeln
sein stillschweigendes Einverständnis kund und erwiederte: Also, Herr Josef, der
Rum ist nicht für euch bestimmt.
Warum nicht? Er ist für die armen Kranken eures Sprengels bestimmt.
Ich bin arm, weil ich lange noch nicht die entsprechenden Mittel, ich will gar¬
nicht sagen zur Befriedigung meiner Wünsche, sondern auch nur meiner Be¬
dürfnisse habe; ich bin krank, denn wir haben es als eine ausgemachte Sache
festgestellt, daß ich ein solches chronisches Leiden, wie wir vorhin besprachen,
an mir habe. Und endlich bin ich nicht bloß in euerm Sprengel, in bin sogar
in euerm Garten.
Ach so! Ihr seid also auch Sophist? Ich werde euch Cognac geben.
Jetzt fuhr Devannis, als ob seine frühere Rede gar keine Unterbrechung
erhalten hatte, fort, indem er sich wieder an Adele wandte: Und für diese
Leiden, wiederhole ich, giebt es keine andern Ärzte als die Frauen. Man pflegt
zu sagen, der Mann macht die Frau; und das hat in allem, was sich bei diesen
empfindlichen und verliebten Wesen auf die schlechte, ich wollte sagen auf die
weniger gute, die lächerliche Seite bezieht, seine Richtigkeit. Die Frau hat lediglich
dem Manne die Koketterie, den albernen Kleideraufwand, kurz, die schlimme Sünde
der Eitelkeit zu verdanken. Dagegen vermag die Frau auf das Herz des Mannes
in weit höherm Grade den wohlthätigsten Einfluß auszuüben, sie hat als Tochter,
als Liebende, als Gattin, als Mutter das Schicksal der Menschheit und aller
menschlichen Individuen in der Hand.
In diesem Augenblicke erschien der Diener mit der Cognacflasche.
Heda! Laß doch einmal sehen, ob das ein wirklicher Sonnenstrahl ist, den
man da in Likör abgezogen hat!
Er schenkte sich ein Gläschen ein und hielt es vor die Augen. Das Licht
durchleuchtete es mit seinen goldgelben Strahlen und brach sich an den Rändern
mit einem Gefunkel, der an einen von der Sonne getroffenen Saphir erinnern
konnte. Darauf ließ er seine Zunge gegen den Gaumen schnalzen und schlürfte
den Likör mit der größten Aufmerksamkeit.
Paul machte eine Bewegung mit seinem Kopfe, um die Blicke seiner Schwester
und seines Schwagers auf diese originelle Figur zu lenken, und sagte laut, aber
ganz so, als ob sein Freund nicht zugegen wäre: Ihr werdet bald erkennen,
welch seltenem Kopfe ich das Glück hatte, zu begegnen. Inzwischen will ich euch,
damit ihr sofort eine Idee davon bekommt, erzählen, wie wir miteinander be¬
kannt geworden sind.
Devannis fuhr zusammen.
Da haben wirs! Ich lege mein Veto ein.
Und ich höre nicht darauf. Ich habe dir schou immer gesagt: Meine
Schwester ist die Vertraute aller meiner Schmerzen und aller meiner Freuden —
soweit solche anvertraut werden können. Und mein Schwager ist die Hälfte
meiner Schwester. Geh spazieren oder überlaß dich deinen Gedanken, oder thue,
was du willst und achte nicht auf uns.
Nun gut!
Devannis setzte sich mit seinem Sessel weiter zurück, versammelte die
Knaben um sich und begann mit ihnen zu spielen, sodaß schon nach kurzer Zeit
seine männliche und wohlwollende Stimme von dem hellen, herzlichen, harmo¬
nischen Gelächter der Kleinen begleitet wurde, Paul warf einen Blick auf die
Gruppe lind begann folgendermaßen.
Ich war, wie Ihr wissen müßt, in Mexiko. Es giebt dort eine Mestizen¬
gesellschaft, welche aus der Kreuzung des allerverdorbensten Abschaums der spa¬
nischen mit den wildesten und ungesittetsten Elementen der indianischen Rasse
hervorgegangen ist. Sie besitzt maßlosen Stolz, kolossale Prahlerei, widerwärtige
Trägheit und eine Wildheit, die ebenso groß ist wie ihre Feigheit. Mit dieser
Gesellschaft kommt der Fremde sofort, mit dem bessern Teile der Bevölkerung
erst spät und schwer, vielleicht nie in Berührung, übrigens würde es eine schwere
Verleumdung sein, wollte man sagen, es gäbe dort nicht ebensogut wie anderswo
ehrliche Leute, nur daß die Zahl derselben verhältnismäßig klein ist.
Diese Klasse von Schurken wird nun noch durch ein Kontingent von elenden
Glücksrittern vermehrt; es sind ruchlose Kerle von jeder Art, welche das alte
Europa von Zeit zu Zeit wie einen schmutzigen Schaum aus dem Strudel des
bürgerlichen Lebens an diese Gestade auswirft.
Der Mexikaner, von dem ich rede, hat etwas vom Knaben und vom
Räuber an sich. Alles was glänzt, blendet ihn, es freut ihn, Blut zu sehen.
Er hat rasche, ungestüme, aber flüchtige Leidenschaften, er ist einer augenblick¬
lichen Kraftanstrengung fähig, weiß aber nicht, was Hartnäckigkeit und Wider¬
stand ist; er ist ein Eisenfresser, ein Prahlhans und Klopffechter in höchster
Potenz. Er liebt rasch, haßt rasch und mordet am raschesten. Das ganze Un¬
gestüm seiner wilden Natur ist auf die Sucht nach Geld gerichtet. Wenn er
nach etwas verlangt, so raubt er es, ohne sich die geringsten Skrupel zu machen,
und wenn es sein muß — und das kommt sehr oft vor —, so mordet er.
Seine größte Leidenschaft, die zur förmlichen Phrenesie geworden ist, ist das
Spiel. Er berauscht sich gern an jenem wilden Fluidum, wie es der Rum ist,
aber noch lieber spielt er; sein größter Genuß ist es, das eine Vergnügen mit
dem andern zu paaren. Er mogelt mit einer grenzenlosen Frechheit und hat
deshalb auch immer sein Messer und seinen Revolver bei der Hand. Ein großer
Teil der Spiclnächte endigt in blutigen Raufereien, welche zu wirklichen Schlachten
werden. Zu den Spielern gesellen sich Weibspersonen, bei denen die Scham¬
losigkeit die Stelle der Schönheit vertritt; diese suchen, trunken vom Alkohol
und vom Laster, die Spieler anzufeuern, den Gewinnern den Tribut ihrer
verbrauchten und verwelkten Reize darzubringen, sie werden bald geherzt und
freigebig beschenkt, bald zurückgestoßen und mit Beleidigungen und Stößen ge¬
mißhandelt. An den schauderhaftesten Henkerszenen, welche dann folgen, be¬
lustigen sich diese zu Megären gewordenen Bajaderen, als ob sie einem festlichen
Schauspiele beiwohnten; sie reizen mit Wort und Stimme die Kämpfer an,
klatschen bei den schönsten Stößen in die Hände, jubeln und hüpfen in dem
schmutzigen Gemisch von Blut und Gold, und raffen von dem Gelde, das mitten
unter den Leichnamen und den im Todeskampfe sich krümmenden Verwundeten
liegt, zusammen, soviel sie können.
Das fast allgemein übliche Spiel heißt ZU irwrcks, es ist eine Art Pharao,
noch richtiger Landsknecht. Die Summen, die dort gesetzt und beinahe im
Handumdrehen verloren oder gewonnen worden, sind geradezu fabelhaft. Da
findet man den Abenteurer, der mit einem Vorräte von Gold aus Kalifornien
gekommen ist, den Straßenräuber, der die Nacht oder den Tag vorher — denn
die allerfrechsten Angrisse erfolgen am hellen, lichten Tage — eine eskortirte
Ladung mit Geld ausgeraubt hat, die möglicherweise sogar der Regierung ge¬
hörte und von einer Mandel Ulanen geleitet war, welche aber bei den ersten Ne-
volverschüssen im Galopp Reißaus nahmen; da findet man den Sohn, der die
väterliche Erbschaft bei einer Wucherer gegen eine Handvoll baaren Geldes um¬
gesetzt hat. Sie alle haben sich mit fieberhaften Aufregungen um den Monte-
tisch versammelt. Bei dem Spiel sind alle Gelder gleich. Ein und dieselbe
Leidenschaft steckt in den goldgestickten Kleidern eines glücklichen Abenteurers und
in den schmutzigen Lumpen des Lepero — so heißt der Lazzarone dieser Gegend —
aber es ist ein viel verdorbener und schlechterer Lazzarone als der träge Be¬
wohner Neapels.
Sieht man diese Menschen mit den bronzenen, krampfhaft verzogenen Ge¬
sichtern, den borstigen Haaren, den fieberhaft leuchtenden Augen, den zitternden
Händen, wie sie sich vor den verschiednen Tischen zusammendrängen, auf denen
kleine Berge von Goldmünzen aufgehäuft sind und glänzen und funkeln, so
denkt man unwillkürlich an einen Trupp Wolfe, welche sich um eine gemeinsame
Beute scharen und zugleich bereit sind, sich einer auf den andern zu werfen und
sich gegenseitig zu zerfleischen; und jene zerzausten, halbnackten, trunkenen Weiber,
die mit ihren heiseren Stimmen, ihren rohen Geberden mitten unter den
Spielern erscheinen, kommen einem wie Hyänen vor, welche mit ängstlicher Un¬
geduld die Zeit nicht abwarten können, wo sie von der Orgie des blutigen
Schmauses ihren Teil abbekommen.
Man spielt gewöhnlich in den eigens dazu bestimmten Zimmern, aber die
herrschende Leidenschaft, welche die ganze Bevölkerung gepackt hat, begnügt sich
nicht mit diesen zur Befriedigung ihrer Spielwut eingeräumten Kampfplätzen
und länft frank und frei nach jeder Richtung. In jedem beliebigen Orte,
sogar in dem kleinsten Dorfe, in welchem ein Zulauf von Volk ist, mag es ein
kirchliches Fest, eine Messe oder ein Jahrmarkt sein, etablirt sich das Monte
in dem ersten besten Hause, und der gemeine Mann spielt im Freien und auf
offner Straße.
Eines Abends trat ich in eine jener Höhlen wilder Tiere. Es war ein
hellerlcuchteter Saal; die Spieler drängten sich um sechs Spieltische, aber das
größte Gedränge bildete sich um einen Tisch im Hintergrunde, an welchem das
Spiel lebhafter und hitziger geworden zu sein schien. Im allgemeinen herrschte
Ruhe, aber von Zeit zu Zeit platzten hie und da greuliche Gotteslästerungen,
wilde Drohungen, grobe Schmähungen hervor, und schlimmer als alles andre
hörte sich das heisere und wiehernde Lachen irgend einer trunkenen Mu-
chacha an.
Ich ging an den Tisch, wo der größte Zulauf war. Am obern Ende saß
der Bankhalter; es war ein Mann, der die Aufmerksamkeit eines jeden, der ihn
ansah, auf sich ziehen mußte. Ich hatte noch nie in meinem Leben einen so
schönen, aber von den Spuren der schmutzigsten Laster so verwüsteten Kopf ge¬
sehen. Er hatte eine hervortretende Stirn, auf welcher der Angstschweiß in
hellen Tropfen zum Vorschein kam; seine zerzausten Haare waren von tiefem
Schwarz, und von derselben Farbe die Augen, welche, in ihren fahlen Augen¬
höhlen versenkt, etwas ruchloses und grimmiges und doch zugleich eine magne¬
tische Kraft an sich hatten, die einen anzog und faseinirte. Der Mund war zu
einem Grinsen verzogen, das einen guten Humor bedeuten sollte, aber sarkastisch
erschien; und der Gegensatz zwischen diesem falschen Lächeln und seinem wilden
Blicke verliehen dieser Physiognomie einen ganz besondern Typus, der jedem
vorsichtigen Manne einen gewissen Schrecken einjagen mußte. Es war ein Mensch
von kräftigem, aber verirrten und verdorbenem, vielleicht sogar infam gewor¬
denen Naturell, der aber auf den ersten Blick erkennen ließ, daß er von Gott
die allervorzüglichsten Eigenschaften empfangen hatte.
Er war ganz und gar ins Spiel versunken, sprach sehr schlecht spanisch,
aber fluchte vortrefflich im piemontesischen Dialekt.
Sieh da, ein Landsmann! rief ich aus, näherte mich mit noch größerer
Neugierde dem Spieltische und achtete noch mit größerer Aufmerksamkeit auf die
Wechselfälle des Spiels.
Ich hatte ganz und gar nicht die Absicht, zu spielen, und in meinem
Innern waren meine Wünsche, ohne nur darauf Acht zu geben, alle für den
Bankhalter. Er gewann auch in der That, und sein zur Schau getragener
guter Humor gewann bei jedem glücklichen Koup etwas schneidigeres, imperti¬
nenteres. Ich sah mit einer Aufregung, die ich nicht für möglich gehalten
hätte, ganze Berge von Piastern sich vor diesem Individuum aufhäufen, und
diese Aufregung war zuerst beinahe ein Vergnügen, wurde aber zu einer Art
von Neid. Die heiße und schwüle Luft des elenden Zimmers war von dem
Gewinnfieber, welches die Lippen dieser leidenschaftlichen Spieler austrock¬
nete und, das Blut in ihre Augen trieb, gewissermaßen imprcignirt, und
der Atem ihrer Leidenschaft vermengte sich mit den Miasmen dieser unreinen
Atmosphäre. Mit einemmale merkte ich, daß auch ich mit dem Leibe nach dem
Tische gebeugt, schweren Atems und mit aufgerissenen Augen dastand und auf¬
merksam auf die Karten achtete, welche die Hand des Bankhalters hin und her,
eine nach der andern auf den Teppich warf.
Macht euer Spiel, meine Herren! sagte der Bankhalter auf Spanisch, nach¬
dem er soeben einen Koup, ebenso günstig wie die vorigen, abgeschlagen hatte.
Dreißig Piaster auf meine Rechnung! sagte ich auf einmal im piemonte¬
sischen Dialekt.
Der Bankhalter fuhr wie erschrocken zusammen, wandte sich nach meiner
Seite und fixirte mich mit seinen brennenden Augen, in denen ich Mißtrauen
und Verdacht lesen konnte. Aber er beruhigte sich sofort, da er ein ihm völlig
unbekanntes Gesicht sah.
Ha ha! rief er und zeigte mir sein sarkastisches Grinsen. Ein Bruder
Landsmann. Seid willkommen und bezahlt Euer Entree, das ist nicht mehr
als billig.
Meine paar Worte und die Antwort des Bankhalters veranlaßten einen
in der Nähe mit dem Rücken an die Wand gelehnten Mann, auf den ich bis
dahin garnicht geachtet hatte, zu mir zu treten und seine Hand auf meinen Arm
zu legen.
Ich drehte mich, schon vom Dämon des Spiels besessen, ungeduldig um
und sah deu fahlgelben Bart und die himmelblauen Augen von Josef Devcmnis,
den ich bis zu diesem Augenblicke noch nie in meinem Leben gesehen hatte.
Auch ich bin Piemontese, sagte er.
So? Das freut mich, antwortete ich gleichgiltig und heftete meine Augen
auf das Packet Karten, welche der Bankhalter vor dem Abzüge mischte.
Ihr seid wohl erst seit kurzem hier?
Ja.
Ihr kennt den Menschen nicht, der die Bank hält?
Nein.
Wie er in unserm Vaterlande hieß, weiß ich nicht; hier nennt man ihn
Mondejo.
So? antwortete ich gleichgiltig und ungeduldig.
Ihr kennt diesen Mann nicht einmal dem Gerüchte nach?
Nein.
Nun denn, da Ihr ein Landsmann und jung und ein neuer Ankömmling
seid und mir ehrlich zu sein scheint —
Mein Herr! rief ich ärgerlich aus.
Diese Voraussetzung kränkt Euch? sagte er lachend. Wahrhaftig, hier an
diesem Orte, wo Ihr seid, ist es viel leichter, das Gegenteil vorauszusetzen.
Ich unterbrach ihn ungeduldig: Ihr seid ja auch hier!
Das ist richtig. Und ich gebe Euern Voraussetzungen über mich volle
Freiheit. Übrigens könnt Ihr den guten — unentgeltlichen — Rat, den ich
Euch jetzt geben will, und den Ihr wahrscheinlich nicht befolgen werdet, mit
einem voreiligen Urteile vergelten. Dieser Rat ist der: spielt nie an dem
Tische, an welchem Baldomar Mondejo sitzt.
Aber ich achtete kaum darauf, denn der Bankhalter hatte schon angefangen,
die Karten abzuziehen, und Auge und Seele waren ganz und gar von diesem
Anblicke in Anspruch genommen.
Während nun die Karten abschlugen und diejenige, welche den Ausschlag
geben mußte, herauszukommen zögerte, wollte es der Zufall, daß ich auf ein
an und für sich unbedeutendes Ereignis achtgab, welches eine Katastrophe herbei¬
führen sollte.
Ein großer und starker Mann in der prächtigen Kleidung eines reichen
Mexikaners, der wie alle übrigen verlor, und dessen unangenehme und wilde
Gesichtszüge sich bei jedem unglücklichen Koup immer mehr verdüsterten, hatte
eine von jenen Weibspersonen, von denen ich vorhin sprach, zu sich gewinkt
und ihr etwas ins Ohr geflüstert. Diese Person hatte aufmerksam zugehört
und auf Mondejo und, wie mir vorkam, auf den Revolver, den er auf dem Tische
zu seiner Rechten in Handlänge vor sich liegen hatte, das Auge gerichtet; sie
hatte, nachdem sie ein paar Worte mit jenem gewechselt, ein Zeichen der Be-
jcchung gegeben, ihre Augen funkelten vor wilder Gier, vermutlich durch ein
Versprechen angereizt. Dann hatte sie sich von dem Mexikaner entfernt, sich
langsam dem Bankhalter genähert und hinter ihm auf seine rechte Seite ge¬
stellt; nun lehnte sie sich mit einer herausfordernde!: Haltung auf seine Schultern.
Mondejo wandte sich mit einem grimmigen Blick nach ihr um.
Geh weg, Teufelsbrut, du bringst mir Unglück wie der Wärwolf!
Laß mich doch, mein süßer Engel. Ich will dich ebensvvielmal auf den
Mund küssen, so vielmal du gewinnst. Und sie legte liebkosend ihren Arm um
seinen Hals.
Er wollte sich davon losmachen.
Hervor mit den Karten! schrie der dicke Mexikaner und im Chor mit ihm
die ungeduldige Spielergesellschaft.
Mondejo fuhr fort, die Karten abzuziehen, hielt schließlich bei einer der¬
selben an, stieß einen lauten Ruf aus und warf einen Blick des Triumphs um
sich, welchen die ganze Tafelrunde mit einem Wutgeschrei erwiederte. Er hatte
wieder gewonnen.
Der Mexikaner stand auf und raffte, während Mondejo den Rechen aus¬
streckte, um die Einsätze an sich zu ziehen, mit der größten Geschwindigkeit das
Geld, welches er vor sich liegen hatte, zusammen und steckte es in die Tasche.
Was soll das heißen? schrie der Bankhalter und runzelte mit wilder
Drohung die Stirn.
Das soll heißen, erwiederte der Mexikaner, daß du ein ganz gemeiner
Gauner bist, und du sollst nicht bloß das Geld nicht haben, sondern sollst uns
alles das wiedergeben, was du uns bis jetzt geraubt hast.
Mondejo wurde leichenblaß, und eine höllische Flamme funkelte in seinen
Augen. Er streckte die Hand aus, um seinen Revolver zu ergreifen, aber dieser
war verschwunden. Die Weibsperson hatte ihn geschickt beseitigt und hielt ihn
von weitem mit triumphirendem Grinsen in die Höhe.
Der Schwindler begriff sofort, daß es einen Kampf auf Leben und Tod
galt, und daß ihn nur ein Wunder und seine Kühnheit retten könnten. Er
verlor keineswegs seine Fassung, sprang im Nu auf die Füße, erfaßte den Stuhl,
auf dem er gesessen, und handhabte ihn mit seinem kräftigen Arm, wie es unser¬
eins mit einem Stocke macht.
Du verdammte Hündin! rief er dem Weibe zu. Ich wußte gleich, daß
unter deinen Schmeicheleien irgendein Teufelsstück verborgen war; aber es soll
nicht lange dauern, so wirst du's bereuen!
Das Weib schien über diese Drohung in keine geringe Furcht zu geraten;
sie war mit einem Sprunge an der Thür und blieb dort stehen, um sich das
weitere Schauspiel anzusehen.
Sämtliche Spieler hatten sich tumultuarisch erhoben, hundert Hände streckten
sich nach dem Gelde aus, welches auf dem Tische lag, und der Teppich war in
die Luft geflogen. Die wütendsten Drohungen gegen Mondejo gaben sich durch
Rufe, Blicke und Zeichen kund.
Ein Dieb! Ein Dieb! Schlagt ihn tot!
Schlagt ihn tot, diesen Mörder, schrie die kreischende Stimme des Weibes
an der Thür. Schlagt ihn tot, sonst mordet er mich!
(Fortsetzung folgt.)
In den letzten Verhandlungen des Abgeordnetenhauses
über die Jagdordnung haben sich die Redner aller Parteien eine so merkwürdige
Beschränkung bezüglich der Wildschadenfrage aufgelegt, daß man unbedingt an¬
nehmen muß, man habe wesentliche Rücksicht ans die Zuhörer außerhalb des Hauses
genommen. Vielleicht ist es daher nicht unzweckmäßig, hier, wo solche Rücksichten
überflüssig sind, über den Wildschaden einige Mitteilungen zu macheu, welche
sämtlich der Wirklichkeit entnommen sind; sie stammen alle aus dem richtigen
dMschen Walde. Zur Vermeidung von Mißdeutungen sei jedoch gleich im voraus
bemerkt, daß der Einsender dieser Zeilen die Ansicht vertritt, der Wildschaden müsse
unbedingt dem Geschädigten ersetzt werden.
Die Ansicht, daß der Wildschaden eine ungemeine Last für die davon Be¬
troffenen sei, herrscht meistens in den Städten, wo man der Jagd sehr fern steht,
und in der Theorie, und so kam auch der Verfasser dieser Mitteilungen mit solcher
Ansicht aus einer größern Stadt mitten in den Wald, in eine Gegend, wo noch
nach allen Richtungen hin mit Recht berühmte Wildbestände sind, und da fand er
es denn wesentlich anders. Gewiß, Wildschaden kam Vor und wurde nach den
dort giltigen Gesetzen gut bezahlt, es wurde auch viel darüber — öffentlich —
gesprochen, im Grunde genommen aber galt der Wildschaden als eine vortreffliche
Einnahmequelle! ein Grundstück, welches „Wildschaden hatte," galt im allgemeinen
höher als ein solches gleicher Güte, welches vom Wilde nicht heimgesucht wurde,
weshalb denn ein dicht vor dein Walde liegendes Gut, nachdem es mit einem
Wildzaune vor dem von den Pächtern und Eigentümern des Gutes stets so lebhaft
beklagten Wildschaden geschützt worden war, bei der nächsten Verpachtung im Pacht-
Preise herunterging! ES wurde deshalb oft künstlich darnach getrachtet, Wildschaden
zu erhalten, durch die Art der Kultur und der Bestellung des Grundstückes, im
Notfalle auch durch künstliches Herstellen von einer dem Wildschaden ähnlichen
Beschädigung der Feldfrüchte.
Eine Gemeinde hatte an einem größern Wiesenkomplexe ihrer Gemarkung die
Viehhute nach der Ernte. Ein Teil dieser Wiesen war der Bewässerung fähig und
deshalb zweischürig, auf sie durfte also der Hirt erst nach der Grnmmeternte treiben,
ein andrer Teil ohne Möglichkeit der Bewässerung war stets nur einmal gemäht
worden nud konnte also unmittelbar nach der Heuernte behütet werden. Aber diese
Wiesen lagen unmittelbar vor dem Walde, und so begannen ihre Besitzer Plötzlich,
begünstigt durch einige Rcgensommer, darauf Grummet zu machen, was zu einem
langwierigen Hutprozesse führte; es war aber öffentliches Geheimnis, daß diese
angebliche „Umwandlung" der einschürigen Wiesen in zweischürige dem Wunsche,
Wildschaden ersetzt zu bekommen, entsprungen war. Eine häufig befolgte Regel ist
es, daß unmittelbar vor dem Walde, mag das betreffende Grundstück sich dazu
eignen oder nicht, eine Feldfrucht gebaut wird, welche das Wild anlockt; denn die
Ernte müßte sehr reich sein, welche einem einigermaßen gut bezahlten Wildschaden
gleichwertig wäre. So säte ein Gutsbesitzer auf ein am Nordsaume eines Waldes
gelegenes ziemlich schlechtes Stück Land Jahr aus Jahr ein immer nur Raps, den
Raps fraßen die Hirsche, und der Gutsbesitzer bezog eine schöne Rente. Da kam
der Eigentümer des Waldes endlich auf die Idee, das fragliche Grundstück vor dem
stets wiederkehrenden Schaden zu schützen, und ließ einen Wildzaun um das Grundstück
ziehen. Sofort fiel der Wildschaden weg, aber es wurde auch nie wieder auf dieser
Stelle Raps gebaut. Man kann aber auch den Wildschaden künstlich machen und
beschädigt die Feldfrüchte genau so, als hätte sich das Wild darin geäst. Mit
einem abgeschnittenen Hirschlaufe wird täuschend die Fährte nachgeahmt. Es kam
sogar, allerdings in einer andern Waldgegend, einmal ein Fall vor, daß ein Land¬
mann seinen Hafer sehr geschickt abrupfte, als wenn Hirsche darüber gewesen wären,
Fährten brauchten nicht angegeben zu werden, weil der Boden infolge der Sommer¬
hitze so hart geworden war, daß ein darüber gehender Hirsch schlechterdings keine
Fährten zurücklassen konnte. Zum Glücke hatte ein Nachbar die Manipulation mit
angesehen und den betreffenden Oberförster davon in Kenntnis gesetzt, die Sach¬
verständigen erklärten, daß sie ohne diese Angabe die Nachahmung des Wildschadens
von dem echten nicht würden bilden unterscheiden können, so täuschend war sie her¬
gestellt. Infolge der Anwesenheit des Zeugen aber endete die Geschichte mit einer
Verurteilung wegen Betrugs.
Wir sagten oben, es sei auch vielfach in unsrer Gegend über den Wildschaden
öffentlich geredet worden; auch dafür mag ein Beispiel gegeben werden. Ein sehr
ausgedehntes Jagdrevier, welches stark mit Hochwild besetzt ist, war ohne Wildzaun;
infolge dessen entstand allgemeines Gemurre über diesen Zustand, an welchem sich
namentlich ein Landwirt und eifriger Pächter benachbarter Jagdreviere beteiligte.
Es gelang nnn, den Eigentümer des Jagdreviers zur Herstellung eines Wildzauues
zu veranlassen, aber nun stellte gerade der genannte Landwirt einen förmlichen
Aufruhr der Bewohner der umliegende:! Ortschaften in Aussicht. Seitdem hat der
Wildstand und damit die Jagd in den nicht eingezäunten Jagdrevieren sehr nach¬
gelassen.
Nach einem dem Verfasser dieses Aufsatzes bekannten Gesetze muß der Wild¬
schaden zweimal taxirt werden, einmal alsbald nach seiner Entstehung und dann
kurz vor der Ernte; regelmäßig, wenn nicht gerade Wildschweine das Land zerwühlt
haben, ist dann bei der zweiten Taxation der Schaden ein ganz ungemein viel
geringerer, als er anfangs erschien, da er zum großen Teil durch die Natur wieder
geheilt wird.
Wie schon gesagt, ist es unbedingt nötig, den Ersatz des Wildschadens gesetzlich
zu gebieten, nicht nur aus allgemeinen Rechtsgrüuden, sondern auch wegen des all¬
gemeinen Rechtsbewußtseins. Galle es auch nur dies zu befriedigen, so müßte man
schon darin allein einen genügenden Grund für eine solche Bestimmung finden.
Aber man behandle diese Materie in aller Ruhe und Unbefangenheit und hüte
sich, die thatsächlich garnicht so erhebliche Frage künstlich aufzubauschen. Schließlich
mag zur Beseitigung jeder Mißdeutung noch ausdrücklich bemerkt sein, daß der
Verfasser kein Jäger ist, was wohl schon aus seiner Ausdrucksweise hervor¬
gehen dürfte.
Die Verlagsbuchhand¬
lung von Hermann Bostan in Weimar hat an die Subskribenten der neuen,
großen kritischen Gesamtausgabe von Luthers Werken folgende von v. Kuaake
und v. Kawerau unterzeichnete Mitteilung versandt:
Mannichfache Anfragen an den Verleger der neuen kritischen Ausgabe der
Werke Luthers betreffs des Erscheinens des zweiten Bandes machen es nötig, über
den Stand und das Fortschreiten des Werkes öffentlich Bericht zu geben. Leider
hat sich der zweite Band nicht so rasch und ungehindert fertigstellen lassen, als es
bei dem ersten der Fall gewesen ist. Die Bearbeitung der Einleitungen zu den
zahlreichen Schriften, welche hier zur Mitteilung kommen, hat bei der außerordent¬
lichen Schwierigkeit der sich als nötig erweisenden Detailuntersuchungen Ver¬
zögerungen gebracht, die nur auf Kosten des wissenschaftlichen Wertes und der
Zuverlässigkeit des Werkes hätten vermieden werden können. Daneben hat eine
vorübergehend eingetretene körperliche Erschöpfung, eine Folge der angestrengtesten
Arbeit für die Herausgabe, den Bearbeiter des zweiten Bandes zeitweise behindert,
mit voller Kraft und Frische das Werk fördern zu können. Um denselben vor
einer Überanstrengung zu bewahren, hat die vom preußischen Kultusministerium
zur Überwachung der Herausgabe eingesetzte Kommission den Mituuterzeichnetcn,
dessen Mitarbeit von vornherein in Aussicht genommen war, jetzt schon zu so¬
fortigen Eintritt in die Redaktion berufen und ihm die Bearbeitung des dritten
Bandes übertragen. Da in Band 2 Luthers Schriften soweit chronologisch zum
Abdruck kommen, daß im nächsten Bande die Overationss in l^tuos von 1519 fig.
folgen müßten, so ergab sich hier die geeignete Stelle, um Luthers älteste, von ihm
handschriftlich hinterlassene Arbeiten über die Psalmen (Wolfenbiittler und Dresdner
Psalter) einzuschalten und somit die Entwicklung der Theologie Luthers in diesen,
Stücke der Schriftcrklärnng in chronologischer Folge vorzuführen. Diese Psalmen¬
arbeiten werden also als Band 3 jetzt zur Herausgabe kommen; der Druck der¬
selben wird gleichzeitig neben der Vollendung von Band 2 (dessen schwierigster
und Verzögerung bietender Teil bereits gedruckt ist) betrieben werden, sodaß für
dieses Jahr neben Band 2 auch das Erscheinen des dritten Bandes in Aussicht
gestellt werden kann. Es liegt in der Natur dieses Unternehmens, daß die frühesten
Bände dem Herausgeber die meisten Schwierigkeiten bieten; die Subskribenten
werden gebeten, mit diesen Verhältnissen rechnen zu wollen. Sowie die Schriften
aus den ersten Jahren des reformatorischen Kampfes überwunden sind, gelangt der
Herausgeber sozusagen auf ebenes Terrain. Es wird dann auch möglich werden,
uoch weiter andre Mitarbeiter heranzuziehen, während für jetzt eine Teilung der
Arbeit unter mehrere Herausgeber nur eine Schädigung des gleichartigen Charakters
des Werkes zur Folge haben würde.
Den Sammlern „deutscher Inschriften an Haus
und Gerät wird die Mitteilung folgenden Spruches willkommen fein, der sich auf
dem Titelblatt eiues Rechnungsbuches des Leipziger Georgenhospitals aus der ersten
Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts findet:
Wem du was giebst, schreivs eyn behende
Jnn das Buch vnnd nicht ahn die wendt,
Empfehestu dem vonn jemcmdt was,
Desgleichen thue, so weisen, das
Dein Rechnung trifft recht ober ein,
Sonst möchstu kommen vmb das dein.
Solch Regel halt, vnnd stets betracht:
Vergessenheit viel Jrethumbs macht.
Die Hand werk erfrage. Von Franz Droste. Bonn, Hanstein, 13L4,
Arier den sozialpolitischen Fragen hat in den letzten Jahrzehnten die über
Besserung der Arbeiterverhältnisse wohl den ersten Platz behauptet. Es war infolge
dessen wenig Neigung vorhanden, den Verhältnissen andrer Bevölkerungsklassen in
ausgedehntem Maße spezielle Studien zu widmen. Jetzt, wo die Arbeiterfrage aus
dem Stadium rein theoretischer Erörterung in das praktischer Durchführung getreten
ist, ist es vor allen: die Handwerkerfrage wert, als Teil der großen soziale» Frage
einer gründlichen Beleuchtung und womöglich Lösung teilhaftig zu werden. Insofern
ist das Erscheinen einer Spczialarbeit wie der vorliegenden willkommen zu heißen,
wenn auch, was hier der Fall, nicht viel neue, selbständige Gedanken darin zu
Tage gefördert werden und eine Lösung der wichtigen Frage nicht eigentlich das
Ergebnis der Untersuchung bildet.
Der Verfasser giebt zunächst eine kurze geschichtliche Übersicht über die ver-
schiednen Phasen der Handiverkerfrage, über das geltende Gewcrberecht, die Folgen
der Gewerbefreiheit und die Reaktion gegen dieselbe, um dann zu einigen positiven
Vorschlägen zur notwendigen Besserung in unsern Handwerkerverhältnissen zu
gelangen. Er erwärmt sich namentlich für Einführung eines vollständigen „Hand-
wcrkerrechts," indem er meint, daß die allgemeinen Privat- und öffentlichrechtlichen
Gesetze den Anforderungen der Interessen der Handwerker nicht gehörig Genüge
leisten könnten, es sei daher notwendig, für den Handwerkerstand, wie für andre
soziale Stände (Bauern- Handelsstand u, s, w,), ein besondres materielles und
formelles Recht zu schaffen.
Dies scheint uns doch eine zu weitgehende Forderung zu sein. Abgesehen
davon, daß es anßer für den Handelsstand ein Sonderrecht thatsächlich nicht giebt,
ist daran zu erinnern, daß der Handelsstand von alters her Rechtsgewohuheitcn
ausgebildet hatte, die zu kodifiziren die weitgehenden Beziehungen des fast über
die ganze Erde gleichmäßig ausgebreiteten Handels gerechtfertigt erscheinen ließen.
Die Schwierigkeiten, ein besondres „Handwerkerrecht" zu schaffen, verkennt der
Verfasser übrigeus selbst uicht. Wir möchten jedoch bei der großen Verschiedenheit
der Verhältnisse im Handwerksbetrieb und bei dem gänzlichen Mangel an ge-
wohnheitsrechtlichen Ausgangspunkten den Aufbau eines solchen Rechtes geradezu
für eine Unmöglichkeit halten, außerdem aber noch auf die Konsequenzen hinweisen,
welche eine Zersplitterung unsers Privatrechts in soziale Standesrechte mit sich
sichren würde.
Abgesehen von solchen etwas utopischen Wünschen können wir uns mit den
Ausführungen des Verfassers, insbesondre mit dein, was er über die Fachschulen,
die Handwcrkcrprüfuugen, die Bildung, Organisation und Aufgabe der Innungen :c.
sagt, im wesentlichen einverstanden erklären. Eine Erschöpfung der Frage ist, wie
gesagt, hier nicht geboten, einzelne Punkte, welche der Erörterung bedürfen, sind
nur oberflächlich berührt; auf eine wissenschaftliche Spezialuntersuchnng geht der
Verfasser nicht ein. Das Buch erscheint als ein namentlich für Laien geschriebener
Leitfaden und ist als solcher zur Orientirung auf dem Gebiete der Handwcrker-
frage wohl brauchbar.
le im Bundesrat unter persönlicher Leitung des Reichskanzlers
verhandelte Frage über ein verantwortliches Neichsministerium
hat die liberalen Kirchturmspolitiker zu allerlei mehr oder minder
geschmackvollen Betrachtungen veranlaßt, nicht aber — wie es
eigentlich der wahren Sachlage entsprochen hatte — zu einer
Einkehr in sich selbst. Vor Schaffung des Norddeutschen Bundes bez. Gründung
des Reiches haben zwei anscheinend unversöhnliche Strömungen den politischen
Gedanken der Nation bewegt; die eine, von der Mehrzahl der liberalen Führer
getragene, drängte zum Einheitsstaate mit parlamentarischem Regiment, die
andre, von den Regierungen begünstigte, suchte mehr und mehr das politische
Band der deutschen Stämme zu lockern, in der gerechtfertigten Furcht, daß
mit der Herstellung eines Einheitsstaates die Herrschaft der einzelnen Bundes¬
regierungen zertrümmert werden würde. Diese Gegensätze, begründet in der
ganzen Entwicklung deutscher Geschichte, in dem zu dem Gemeinsamen wie zu
dem Besondern strebenden Charakter des einzelnen deutschen Volksstammes, schienen
einer Aussöhnung unzugänglich. Nicht die Schützenseste des Herzogs von Koburg
und der Frankfurter großdeutschcn Demokraten, noch die Sangesfeste des Herrn
von Beust, noch der Natioualvcrein des Herrn von Bennigsen waren imstande,
diese Gegensätze auszugleichen; es bedürfte hierzu eines mächtigern Kieles und
eines größern Geistes. Blut und Eisen haben erst das große Werk zustande
gebracht und die weise Politik eines von einem erleuchtete» Staatsmanne
beratenen Monarchen.
Die Reichsverfassung hat es verstanden, den beiden Seiten des deutschen
Charakters einen festen und sichern Halt zu geben; stramme Einheit mit fast
ausschließlich preußischer Herrschaft, soweit es sich um den Schutz nach außen
in der Politik und in der Verteidigung des Vaterlandes handelt, freiere Be¬
wegung der einzelnen Bundesglieder und Stämme für die Entwicklung der
innern Knlturzwecke des Reiches. Wer nur mit einiger Unbefangenheit und
Kenntnis die Geschichte seit 1867 verfolgt, der wird keine einzige Thatsache
ermitteln können, aus welcher bewiesen werden könnte, daß Kaiser Wilhelm
oder Fürst Bismarck unitaristische Bestrebungen hegten oder förderten. Soweit
sich das deutsche Volk jetzt in Recht und Gesetz einer größern Einheit erfreut,
ist diese durch das Zusammenwirken der Bundesstaaten entstanden, ohne daß
ihnen gegenüber ein solcher Zwang geübt zu werden brauchte, wie er vonseiten des
österreichischen Präsidialgesandten angewendet zu werden pflegte, wenn er zur Zeit
des Bundes eine österreichische Maßregel durchsetzen wollte. Eben dieses weise
Verhalten der preußischen Regierung, diese Aufrichtigkeit in dem Beobachten
der Bundestreue hat zwischen den deutschen Regierungen und insbesondre in
dem Verhältnis zu Preußen ein Vertrauen hergestellt, wie es kaum für möglich
gehalten worden wäre. Keine Befürchtung gegen die früher behauptete Ma߬
losigkeit des preußischen Ehrgeizes, keine Mißgunst gegen das neidlos anerkannte
Übergewicht Preußens, kein Schmollen verletzter Eitelkeit. Hand in Hand mit
Preußen sind die andern deutschen Bundesregierungen für die Ziele der von
dem Fürsten Bismarck geleiteten Politik nach außen und innen eingetreten und
haben selbst die Opfer ihrer eignen Machtverringerung uicht gescheut, wenn sie
im Interesse des Reiches gefordert wurden. Es wird genügen, wenn — um
von anderen zu schweigen — daran erinnert wird, daß der Bundesrat es ge¬
wesen ist, der den deutschen Volkswirtschaftsrat bewilligte, dem Tabaksmonopol
keinen Widerstand entgegensetzte, den Sozialgesetzcn in betreff der Arbeiter zu¬
stimmte, obwohl alle diese Maßregeln nicht ohne eine gewisse Schwächung der
partikularen Machtbefugnisse der Einzelstaaten zu erreichen sind. Wenn in den
Jahren nach 1867 im Reichstage und in den Blättern der damals herr¬
schenden nationalliberalen Partei davon die Rede war, daß der Reichstag das
nationale Gegengewicht zu deu zentrifugalen Bestrebungen des Bundesrath und
der Bundesstaaten bilden müsse, so sind wir gerade jetzt bei dem Gegenteil dieses
Satzes angelangt. Der Bundesrat ist es. der den nationalen Gedanken stützt
gegen die Partikularistischen und zersetzenden Bestrebungen der Reichstagsfrak¬
tionen. Die Fortschrittspartei, welche zu dem Kriege des Jahres 1866 keinen
Groschen bewilligte, gegen deren Stimmen die Reichsverfassung vereinbart wurde,
hat die ihr nach den Großthaten von 1866 und 1870 untreu gewordenen Ele¬
mente wieder an sich gezogen und bedroht in ihrem einzigen Bestreben nach
parlamentarischem Absolutismus die Grundlagen des jungen Reiches. Auf der
andern Seite verfolgt das Zentrum lediglich hierarchische und welfische Ten¬
denzen und unterstützt alle diejenigen Ziele der andern Partei, die auf eine
Schwächung des Reiches gerichtet sind. Heutzutage ist keine Ncichstagsmehrheit
mehr vorhanden, auf welche der größte Staatsmann, den Deutschland besessen
hat, sich verlassen könnte. Die revrganisirte Fortschrittspartei beginnt in ihrem
neuen Parteiprogramm wieder ihre alten Zwecke zu verfolgen; wie sie sich nicht
scheut, trotz des grenzenlosen Fiaskos, das sie mit ihrer Kousliktspolitik erlitten hat,
an der militärischen Organisation zu rütteln, wie sie sich nicht schent, trotz der
beiden Attentate gegen das Lebe» des Wiederherstellet des Reiches den sozial¬
demokratischen, auf Umsturz gerichteten Plänen freien Lauf zu geben, so strebt
sie auch dahin, die Grundlagen der Reichsverfassung zu erschüttern, indem sie
die Forderung auf Bildung eines verantwortlichen Neichsmiuisteriums stellt.
Unter diesen Verhältnissen darf man sich nicht wundern, wenn der Kaiser
wie der Reichskanzler Halt ruft.
solange der Reichskanzler noch eine Mehrheit hatte, die — wenn sie
auch nicht ganz zuverlässig war — doch immerhin auf Stärkung des Reiches
ihre Ziele richtete, war ein Zurücktreten des Bundesrates ohne Gefahr. Durch
diese Partei ist es dahin gekommen, daß die Entwicklung der Reichsverfassung
in der Praxis eine ganz andre warte, als sich ihre Begründer vorgestellt
hatten. Der Entwurf der verbündeten Regierungen im Jahre 1866 hat das
Schwergewicht der deutschen Einheit weder in den Reichskanzler noch in den
Reichstag verlegt; man dachte an eine Bundesversammlung mit preußischer
Spitze und frei von den Gebrechen des alten Bundestags, man dachte den
Reichskanzler etwa in der Stellung des preußischen Präsidialgesandten, mit
einer starken Initiative der Einzelstaaten und mit dem Schwerpunkt der Re¬
gierung des Reiches im Bundesrate, in dem Organ der verbündeten Re¬
gierungen. Die Einheitsbegeisterung des Volkes, wie sie sich in den ersten
Reichstagen verkörperte, drängte die Politik in eine andre Richtung. Man
suchte die Position des Kanzlers gegen den Sinn der Verfassung zu stärken,
freilich auch in der Absicht, ihn destomehr vom Parlament abhangig zu machen;
man strebte, den Bundesrat in den Hintergrund zu drängen. Diese Richtung
ist ohne Gefahr für das Reich, solange der Reichstag, vom nationalen Gedanken
erfüllt, die Politik des Kaisers unterstützt, sie wird gefahrvoll, wenn der
Reichstag selbst partikularistisch wird und wenn die Stärkung der parlamen¬
tarischen Macht als Parteiprogramm gilt.
Der Reichskanzler konnte bei der Macht seiner durch seine große Persön¬
lichkeit großgewordenen Stellung die Entwicklung der Dinge eine Zeit lang ab¬
warten; er hält jetzt, wie es den Anschein hat, den Augenblick für gekommen,
diesen Bestrebungen der Parteien entgegenzutreten. Die ursprüngliche Be¬
geisterung hat eben nicht lange vorgehalten, sie ist wie ein Rausch verflogen,
und die Stütze der Einheit ruht in den Bündnisverträgen und in dem treuen
Festhalten der Bundesgenossen an diesen. Es liegt daher im Interesse des
Reiches wie des Reichskanzlers, die Stellung der Bundesregierungen wie des
Bundesrates so zu gestalten, wie sie nach der Verfassung ursprünglich beabsichtigt
war und aus Sinn und Wortlaut derselben sich ergiebt. Schon seit einiger
Zeit werden die Vorlagen an den Bundesrat nicht immer mir vom Reichs¬
kanzler, sondern von den einzelnen Bundesregierungen eingebracht, unter denen
selbstverständlich Preußen seinen natürlichen Vorrang einnimmt. Von diesem
Gesichtspunkte fand deshalb auch die Erörterung der Frage nach einem verant¬
wortlichen Reichs Ministerium im Bundesrate die bekannte Erledigung.
Die liberalen Blätter haben nicht angestanden, diese Tendenzen als parti-
kularistische, eine Schwächung der Reichsgewalt herbeiführende zu brandmarken.
Sie haben natürlich nicht bekannt, daß es sich nur um Folgen ihrer eignen
reichszerstöreudcu Thaten handelt. Eine Stärkung der Reichsgewalt,
d. h. der Neichsregierung, ist noch nicht identisch mit einer Stärkung des
Reiches. Ein kleinlicher Geist, wie er sich vielleicht einmal in dem künftigen
liberalen Reichskanzler zeigen wird, würde sein Augenmerk darauf richten, die
eigne Macht zu kräftigen. Wer aber weiter sieht und das eigne Interesse selbstlos
dem des Ganzen opfert, der besinnt sich nicht, zurückzutreten und der ihm auf¬
gedrängten Prärogative zu entsagen.
Diese Entwicklung der Dinge ist gewiß keine erfreuliche, aber sie zeigt, wie
sehr wir auf der Hut sein müssen und wie ahnungslos das deutsche Volk, mi߬
leitet von der liberalen Phrase, wieder dem Abgrunde zueilt, aus dem zu er¬
retten nicht immer ein Kaiser Wilhelm und ein Fürst Bismarck die hilfreiche
Hand darbieten werden.
eit einiger Zeit spielt sich in Norwegen zwischen dem Stvrthing
und der königlichen Regierung ein Streit über das Vetorecht des
Königs in Verfassungsfragen ab, über dessen Natur diese Blätter
vor kurzem (in Ur. 13 d. I.) berichtet haben. Obgleich dieser
Streit auf den ersten Blick sich nur auf einen Puukt der innern
Politik Norwegens zu beziehen scheint, bietet er doch eine Seite, welche die
internationale Stellung dieses skandinavischen Königreiches angeht. Die Ursache
des Konfliktes ist, wie wir in der Kürze rekapituliren, folgende: Das Storthing,
das Parlament Norwegens, in welchem die Demokraten die Mehrheit bilden,
hatte in zwei aufeinanderfolgenden Sessionen eine Abänderung der Verfassung
beschlossen, nach welcher hinfort die Gegenwart der Minister bei den Sitzungen
dieser Versammlung erforderlich sein sollte. Nachdem der König dieser Neuerung
zweimal seine Zustimmung versagt hatte, beschloß das Storthing dieselbe zum
drittenmal und forderte unter Anrufung eines Artikels der Verfassung, der sich
auf die gewöhnlichen Gesetze bezog, die öffentliche Verkündigung des neuen Ar¬
tikels des Grundgesetzes, also feierliche Aufnahme desselben unter die kon¬
stitutionellen Pflichten und Rechte des Landes und seines Souveräns. Auf
Anraten der Minister weigerte sich der König dessen, indem er dafür den Grund
geltend machen ließ, daß das Einspruchsrecht der Krone in Sachen der gewöhn¬
lichen Gesetzgebung nur suspcnsiv, dagegen absolut sei, wenn es sich um Ab¬
änderung einer Bestimmung der norwegischen Konstitution handle. Infolge dieser
Entscheidung hielt sich die Majorität des Storthings, da sie die Person des Königs
nicht antasten konnte — am Willen dazu würde es diesen verkappten Republi¬
kanern nach verschiednen Kundgebungen derselben unter günstigen Umständen nicht
gefehlt haben —, an die Minister, gegen die man bei dem höchsten Gerichte des
Landes einen Prozeß anstrengte. Dieser Prozeß hat, nachdem er fast ein Jahr
in Anspruch genommen hatte, vor einigen Wochen mit der Verurteilung der
angeklagten Minister und Staatsräte zum Verlust ihrer Ämter und zu mehr
oder minder bedeutenden Geldbußen geendigt. Der König hat darauf, nachdem
er sich mit seinen verschiednen norwegischen und schwedischen Räten ins Einver¬
nehmen gesetzt, mit einer Erklärung geantwortet, in welcher er das Urteil des
Höchstengerichts zurückweist, aber die von den verurteilten Ministern erbetene
Entlassung annimmt. Zuletzt ist er zur Bildung eines neuen norwegischen
Kcwinets verschütten, welches vor etwa acht Tagen die Geschäfte übernommen hat.
Die neuen Minister gehören den Reihen der gemäßigten Konservativen an.
König Oskar II. dachte zuerst an ein Kabinet der konservativen Ultras, ein
„Kampfministerium," an dessen Spitze der Advokat Stang treten sollte, fand
sich indes zuletzt bewogen, es zunächst mit versöhnlicher gesinnten Männern zu
versuchen. Aber deren Bemühen, mit der radikalen Mehrheit des Storthings
zu einer Verständigung zu gelangen, ist bis jetzt erfolglos gewesen, da Sverdrup,
der Präsident des letztern, ihre dahin gerichteten Vorschläge als völlig unan¬
nehmbar bezeichnet hat. Über die Persönlichkeiten der neuen Minister wird
folgendes berichtet. Staatsminister Schweigcmrd gehörte als Staatsrat dem
zurückgetretenen Kabinet seiner an, der vom Höchstcngericht zwar zu einer
Geldstrafe von achttausend Kronen, aber nicht zum Verluste seines Amtes ver¬
urteilt worden war. Man setzt große Hoffnungen auf feine Wahl, indem man
ihm ebensowohl ein gründliches Wissen als edeln Sinn und feinen Takt nach¬
rühmt, auch erfreut er sich von seinem Vater her eines im ganzen Lande, vor¬
züglich aber in Christiania, hochgeachteten Namens. Der Staatsrat Ebbe
Hertzberg, bis jetzt Professor der Volkswirtschaft und nicht zu verwechseln mit
dem bisherigen Staatsrate gleichen Namens, und sein Kollege Dr. Andere,
bis vor kurzem Professor der Rechte, sind sehr achtbare Gelehrte, die sich durch
hervorragende wissenschaftliche Arbeiten bekannt gemacht haben. Der zuletzt
genannte verbindet damit parlamentarische Vefähignng; er lieferte den größten
Teil der wissenschaftlichen Untersuchung, welche dem Gutachten der juristischen
Fakultät zu Christiania über die Frage des königlichen Veto zur Grundlage
dient, und war einer der tüchtigsten Opponenten im Kampfe mit den Stvrthings-
demokrciten. Der Staatsminister Lövcnskiold ferner, der nach der Verfassung
als Vertreter Norwegens in Stockholm seinen Wohnsitz zu nehmen hat, ist
einer der größten Gutsbesitzer des Landes. Früher Offizier in der Kriegs¬
marine, hat er dann lange Zeit Gelegenheit gehabt, als Verwalter der aus¬
gedehnten Besitzungen seines Schwiegervaters, des Barons Harald Wedel-
Jarlsberg, eines der wenigen Adelichen Norwegens, praktische Erfahrungen zu
sammeln und die Bedürfnisse des Landes kennen zu lernen. Er wird als ein
Mann von klarem Verstände, vielseitiger Bildung, lebhaftem Interesse für die
öffentlichen Angelegenheiten und warmer Vaterlandsliebe geschildert. Mitglied
des Storthings war er noch nicht, wohl aber beteiligte er sich wiederholt an
Volksversammlungen, in denen er die Verfassung gegen die „Fortschritte" ver¬
teidigte, welche die Radikalen den königlichen Rechten gegenüber durchzusetzen
bemüht waren. Der Kriegsminister, Feldzeugmeister Dayll, der sich des Rufes
eines gründlichen Kenners aller militärischen Fächer erfreut, gilt als ein Mann
von ungewöhnlicher Arbeitskraft und sehr festem Willen. Der Marineminister
Johannsen gehörte wie Schweigaard dem abgetretenen Kabinet an. Der
Expeditionssekretär Reimers hat wie sein Vorgänger in der Verwaltung der
Finanzen, Staatsrat Helliesen, tüchtige akademische Studien hinter sich und
wird in sein Amt einen klaren Blick und eine sichere Hand mitbringen. Der
Amtmann Bang endlich, der das Ministerium des Innern übernommen hat,
hat sich in seiner bisherigen Stellung als ein tüchtiger Beamter erwiesen und
sich zugleich in den parlamentarischen Verhandlungen hervorgethan; er war
Urheber der Vorschläge, welche die Minorität im Storthing im Protokoll- und
im Vollmachtskomitee machte. So berechtigen alle Mitglieder des neuen
Kabinets zu guten Hoffnungen, die dadurch erhöht werden, daß dieselben mit
Ausnahme des Vorstandes des Kriegsdepartements, der einundsechzig Jahre alt
ist, sämtlich verhältnismäßig Männer im besten Mannesalter sind. Auch das
kommt ihnen schließlich zu gute, daß ein Teil von ihnen bereits Ministerposten
in der zurückgetretenen Regierung innehatte, da so die Tradition der Ver¬
waltung nicht abgebrochen wird. Infolgedessen begrüßt das „Morgenblad" das
neue Kabinet mit großer Genugthuung. Andrerseits aber urteilt „Dagbladet,"
das Hauptorgan der Partei, die im Storthing die Mehrheit hat, nunmehr
„bleibe nichts mehr übrig als der Kampf bis aufs Messer." Die Herren hatten
offenbar gehofft, der Unionskönig werde sich gezwungen sehen, die leer gewordnen
Ministerstühle mit den radikalen Demokraten zu besetzen, die bei der Aufrührung
des Streites die Führer waren — eine Hoffnung, welche bekanntlich auch
anderwärts in der Regel die Vorfechter der Opposition zu beseelen pflegt und
ihnen besondern Eifer einflößt.
Das sind die Thatsachen. Wie man sieht, ist der Konflikt mit dem Aus¬
gange des Prozesses und dem Ministerwechsel noch keineswegs beendigt. Der
Prozeß selbst wird in Norwegen von der öffentlichen Meinung sehr verschieden
beurteilt. Die Radikalen betrachten das Urteil des Höchstengerichts als einen
großen Sieg des Rechts oder ihrer Deutung desselben, ihrer Doktrin. Nicht
wenige andre Leute sind entgegengesetzter Ansicht, die besonders starken Ausdruck
in einer Korrespondenz fand, welche „ein Freund Norwegens" der limss zu¬
gehen ließ, »ut in welcher es u. a. hieß, die hier begangene Ungerechtigkeit müsse
notwendig in kurzem eine Reaktion zur Folge haben; denn der Teil des nor¬
wegischen Volkes, der Vermögen und Verstand besitze, könne unmöglich damit
einverstanden sein, sich von einem Haufen doktrinärer Professoren und banke¬
rotter Anwälte regiert zu sehen, die von allen unterstützt würden, was weder
Charakter noch etwas im Beutel habe.
Das sind starke Ausdrücke. Aber die Erbitterung, die sie eingab, ist nicht
unbegreiflich. Die Zusammensetzung des Höchstengerichts, wie sie von der Stor-
thingsmajorität, der Klägerin in der Sache, bestimmt wurde, war eine entschieden
Parteiische: die politischen Gegner der angeklagten Minister konstituirten sich un-
gescheut zugleich als die Richter dieser hohen Beamten, sie schlugen damit dreist
dem großen juristischen Grundsatze ins Gesicht, nach welchem niemand Richter
in eigner Sache sein kann, ja sie ließen sich für ihre richterliche Thätigkeit mit
den Strafgeldern bezahlen, welche die Verurteilten zu erlegen hatten. Dieser
schreiende Mangel des Verfahrens muß in erster Reihe dem moralischen Gewicht
und Werte des Verdikts Abbruch thun, indem er die Angeklagten als ungerecht
verurteilt erscheinen läßt. Indes ist dieser Punkt neben der sehr ernsten Frage
nach den politischen Wirkungen des Urteils von vergleichsweise geringerer Wichtig¬
keit. Der höchste Gerichtshof in Christiania, welcher die Minister verurteilt
hat, ist, genauer besehen, identisch mit der Storthingsmehrheit, welche den An¬
spruch erhob, der König müsse einen Zusatzartikel zum Grundgesetze, der von
der Volksvertretung beschlossen, von ihm selbst aber verworfen worden, schlie߬
lich verkünden und ihm dadurch Gesetzeskraft verleihen. Vom juristischen Stand¬
punkte betrachtet kann es streitig erscheinen, ob eine vorübergehende Mehrheit,
ein Erzeugnis zeitweiliger Ansichten und Stimmungen unter der Wählerschaft
des Landes, befähigt und befugt sein könne, in authentischer Weise einen Artikel
des öffentlichen Rechts zu interpretiren; vom politischen Standpunkte aus ge¬
prüft, kann diese Interpretation selbst keinerlei Wirkung haben, sofern der König
ihr nicht seine Zustimmung erteilt.
Die Meinung des Auslandes hat in diesem Konflikte vielleicht kein großes
Gewicht. Indes ist es trotzdem nicht unnütz, wenn wir konstatiren, daß diese
Meinung sich im allgemeinen mit derjenigen der Minorität des Storthings im
Einklange befindet. Die norwegische Verfassung von 1814 ist nach ihrem Ur¬
sprünge ein zwischen dem Storthing und dem Bewerber um die Krone Nor-
wcgcns gemeinschaftlich abgeschlossener Vertrag, an dem keiner der beiden Teile
ohne die Zustimmung des andern rühren darf. Es fragt sich nicht, ob König
Oskar wohl daran gethan hat, einem dreimal wiederholten Beschlusse des nor¬
wegischen Parlaments gegenüber von seinem Vetorechte Gebrauch zu machen.
Es fragt sich einzig, ob er dazu berechtigt gewesen ist, und das muß nach deu
Grundsätzen des öffentlichen Rechtes Norwegens bejaht werden. Der Spruch
des Höchstengerichts in Christiania hat also die Rechtsfrage nicht gelöst, und
der Konflikt bleibt, was er vor dem Ministerprozesse war, nur mit der Er¬
schwerung, daß der König durch Erklärung zum Protokoll des Ministerrates die
Doktrin zurückgewiesen hat, welche dem Urteilsspruche des Höchstengerichts zur
Grundlage diente.
Hier ist nun der Punkt, wo die Frage einen politischen und völkerrecht¬
lichen Charakter annimmt. König Oskar hat sich, bevor er jene Erklärung abgab,
erinnert, daß er Souverän zweier Reiche ist, welche durch einen Vertrag ver¬
einigt sind, dem die Parlamente derselben aus freiem Willen beigestimmt haben.
Zufolge des Unionsvertrages ist der König stets von Ratgebern aus beiden
Ländern umgeben. Wenn er in Stockholm residirt, ist ein norwegischer Minister
zu ihm delcgirt, um an gewissen beide Königreiche angehenden Verhandlungen
teilzunehmen, und zu gleichem Zwecke begleitet ihn, wenn er seinen Aufenthalt
in Christiania nimmt, ein schwedischer Minister uach der Hauptstadt Norwegens.
So verlangte er auch nach dem gegen den Minister seiner ergangenen Urteile
den Rat des schwedischen Ministeriums über die Tragweite dieses Urteils in
Betreff der Union. Die einstimmige Ansicht des schwedischen Ministeriums ging
dahin, daß der Unionsvertrag die Einführung von Veränderungen in der Kon¬
stitution des einen wie des andern Reiches ohne Beistimmung des Königs nicht
zulasse. Es handelt sich also jetzt nicht mehr allein um eine Meinungsver¬
schiedenheit zwischen dem Könige von Norwegen und der gegenwärtigen Mehr¬
heit der Volksvertretung dieses Landes, sondern die Frage schwebt zwischen der
letzter», der Stvrthingsmnjorität, und dem Königreiche Schweden, d. h. soweit
sie die Union zwischen den beiden Staaten berührt, und aus diesem Grunde
lenkt sie die Aufmerksamkeit Europas auf sich. Interessant ist in dieser Be¬
ziehung eine Besprechung des Konflikts in dem bekanntlich österreichische An¬
schauungen vertretenden NemorM DixloiriÄticius, in der es am Schlüsse heißt:
„Die drei skandinavischen Staaten befinden sich heutzutage nicht mehr in der
Lage, in der sie sich vor dreißig Jahren befanden, damals, als Dänemark noch
einen Staat zweiten Ranges repräsentirte, der sehr wohl befähigt war, be¬
deutenden Einfluß auf das Gleichgewicht der Uferstaaten der Ost- und Nordsee
- auszuüben. Es ist gegenwärtig ein beträchtlich verkleinerter Staat, der höchstens
imstande ist, sich als Bruchteil an einer mächtigen Gruppirung zu beteiligen.
Ehedem konnte man sich ein Dänemark denken, welches das Haupt eines Bundes
der drei skandinavischen Königreiche wäre. Dieser Kombination haben die Er-
eignisse von 1864 ein Ende gemacht, welche, es sei das bei dieser Gelegenheit
gesagt, für das norwegische Storthing eine Warnung sein sollten. Die Geschichte
wird eines Tages sagen, daß die radikale Partei im dänischen Parlamente ^die
Eiderdcinen), indem sie den König Christian zu hartnäckigem Widerstande gegen
die maßvollen Ratschläge der Kabinette dieser Epoche nötigte, den Krieg be¬
schleunigt und so die Zerteilung der dänischen Monarchie veranlaßt hat, die
Europa nicht wollte. Möge das norwegische Storthing oder vielmehr die Partei,
welche dort gegenwärtig die Mehrheit bildet, sich also nicht mit ähnlichen Agi¬
tationen aushalten, es schadet damit der Union mit Schweden und damit vielleicht
der Unverletzlichkeit und Unabhängigkeit seines Landes. Die Konjunkturen der
jetzigen Epoche sind den kleinen Staaten nicht günstig, und Norwegen könnte
mit seinen kaum zwei Millionen Einwohnern auf einer Fläche von zwei Dritteln
der Ausdehnung Frankreichs nicht hoffen, seine Unabhängigkeit lange zu be¬
haupten. Außerdem beweist dies seine Geschichte; denn es ist abwechselnd von
dänischen und schwedischen Königen regiert worden. Seine Union mit Schweden
hat ihm siebzig Friedensjahre eingetragen, in denen es sich regelmäßig entwickelt
hat und zu Wohlstand gelangt ist. Getrennt von Schweden, ist Norwegen ins
ungewisse gestoßen. Dänemark ist nicht mehr die Großmacht von ehedem, um
es unter seine schützenden Flügel zu nehmen. Zerreißt man den Unionsvertrag,
so verliert Norwegen die Bürgschaften für seine Autonomie und wird ein Gegen¬
stand von Eroberungsgelüsten, und die eroberten Länder empfangen ihr Gesetz
vom Sieger. Es ist zu hoffen, daß die Männer, welche die geistige Befähigung
Norwegens vertreten, die Gefahr dieser furchtbaren Möglichkeiten begreifen und
sich bemühen werden, dem Verstände ihrer Landsleute die Notwendigkeit klar¬
zumachen, auf doktrinäres Rechtsgezänk zu verzichten und die Lösung des Kon¬
fliktes in einem ehrenvollen Kompromisse zwischen den öffentlichen Gewalten zu
suchen, einem Kompromisse, zu dem sich König Oskar mit der versöhnlichen
und großherzige« Denkart, welche die Regierung dieses Monarchen bezeichnet,
gewiß bereitfinden lassen wird."
Werfen wir schließlich noch einen Blick auf das Urteil des Höchstengerichts
in Christiania zurück, um zu sehen, ob dadurch das letzte und eigentlichste, was
die Demokraten mit der Ministerverantwortlichkeit wollen, erreicht ist, so müssen
wir mit Nein antworten, da in der Verurteilung der früheren Räte des Königs
Oskar zum Verlust ihres Amtes keinerlei Zwang für den Monarchen lag, ein
Kabinet, wie es die Majorität des Storthings haben wollte, zu wählen, d. h.
ein solches, das aus der Mitte der Professoren und Advokaten zusammengesetzt
wäre, welche jene Majorität am Zügel führen. Herr Sverdrup ist nicht Premier
geworden, seine nächsten Parteigenossen haben sich nicht in die übrige Beute
teilen dürfen, der König von Norwegen hat sich der Auffassung, welcher die radi¬
kalen Herren von ihrem und seinem Rechte in diesem Punkte huldigen, nicht
gefügt, es giebt vorläufig in Norwegen noch keine unbeschränkte Herrschaft des
Parlaments, Wir weisen darauf hin, weil der Bundesrat des deutschen Reiches
soeben sich mit einer hiermit verwandten Frage beschäftigt hat, die schon mehr¬
mals von unsern Liberalen aufs Tapet gebracht und jetzt wieder von der Koa¬
lition des Fortschritts mit den Sezessionisten angeregt worden ist. Die fort-
geschrittnen Liberalen Deutschlands »vollen Verantwortlichkeit der Rcichsminister,
d. h. das Recht der Mehrheit im Reichstage, Minister, die ihnen nicht gefallen,
nicht zu ihrer Partei gehören, durch Absetzung beseitigen zu lassen und die Leit¬
hammel ihrer Herde an deren Stelle zu bringen. Der Bundesrat hat sich zu
dieser Forderung ablehnend verhalten, und die preußische Negierung hat ihr
Votum in der Sache im wesentlichen wie folgt begründet: „Der Gedanke an
die Errichtung eines verantwortlichen Reichsministeriums, wie er nicht bloß in
Gestalt eines Programms, sondern auch in den Verhandlungen des Reichstages
in den Jahren 1869 und 1878 zu tage getreten ist, ist nach der Überzeugung
der königlichen Regierung überall da, wo er im Reichstage und bei den Wahlen
geltend gemacht wird, im Interesse des Reiches, seiner Verfassung und der Sicher¬
heit seines Fortbestandes zu bekämpfen, einmal weil er sich nicht verwirklichen
läßt, ohne die vertragsmäßigen Rechte der Reichsglieder und das Vertrauen
auf die Sicherheit der Bundcsverträge zu schädigen, dann aber auch, weil er
eins von den Mitteln bildet, durch welche der Schwerpunkt der Neichsregierung
in die wechselnden Majoritäten des Reichstages hinübergeleitet werden soll, und
weil diese Überleitung, wenn sie gelänge, die Wiederauflösung der deutschen
Einheit nach der Überzeugung der Negierung im Gefolge haben würde." Der
Reichskanzler befürchtet also, daß der deutsche Einheitsgedanke in seiner jetzigen
Verwirklichung durch politische Mißgriffe gefährdet werden könne. Er hält jede
„Überschreitung der Bedürfnisgrenze in unitarischer Richtung" für einen der¬
artigen Mißgriff, und erblickt in der Errichtung eines der Volksvertretung Ver¬
antwortlicher Reichsministeriums eine solche Überschreitung. „Die Negierung
eines großen Volkes, so erklärt er weiter, durch die Mehrheit einer gewählten
Versammlung ist untrennbar von allen den Schäden und Gefahren, an welchen
nach der Erfahrung der Geschichte ein jedes Wahlrcich zu Grunde geht. Die Re¬
gierungsgewalt, geübt von Parlamenten, welche aus allgemeinen Wahlen hervor¬
gehen, unterliegt derselben Gefahr, die Bedürfnisse des Landes dem Bedürfnisse
des Gewähltwerdens unterzuordnen, durch welche bisher jedes Wahlreich seinem
Verfall und seinem Untergänge entgegengeführt worden ist." England läßt sich
hiergegen nicht anführen, da es bisher kein allgemeines Wahlrecht wie Deutsch¬
land besaß. Setzt Gladstone seinen Plan, etwas der Art einzuführen, durch,
so wollen wir uns in zehn Jahren wieder sprechen, das Parlament oder richtiger
das Unterhaus wird dann ein wesentlich andres sein als jetzt. Auch ist Gro߬
britannien weit stärker zentralisirt als das deutsche Reich. Für letzteres sind
die Ideen des Parlamentarismus einfache und absolute Unmöglichkeiten. Das
gestehen sogar englische Blätter ohne weiteres zu. So u. a. der LtMäg-ra in
einem Artikel, dessen Ausführungen wir zum Schlüsse dieser Betrachtung in
ihren Hauptsätzen folgen lassen. Es heißt da: „Seit den Tagen des unfrucht¬
baren Frankfurter Parlaments, welches den demokratischen Träumen des Jahres
1848 entsprang, machten sich in der deutschen Politik zwei Strömungen be¬
merkbar. Die Liberalen und Radikalen verlangten einen gemeinschaftlichen
gesetzgebenden Körper für das ganze Reich, die Konservativen andrerseits bestrebten
sich, die lokalen Einrichtungen zu erhalten. Sie erkannten die Vorteile eines
Reichsrates für die gemeinschaftlichen Angelegenheiten Deutschlands an, aber selbst
diejenigen preußischen Staatsmänner, die sür das Einigungswerk soviel thaten,
weigerten sich, die preußischen Angelegenheiten einem Zentralkörper zu übertragen,
dessen Mehrheit aus NichtPreußen zusammengesetzt sein sollte. Ebensowenig
bereit würde der Süddeutsche sein, dem Norddeutschen in heimatlichen Fragen
das entscheidende Wort zu gestatten. Das föderative System ist für Deutsch¬
land das natürliche, und dieses System macht die Verantwortlichkeit der
Minister vor dem Reichstage zur Unmöglichkeit. Ein verantwortliches Ministerium
würde sich genötigt sehen, die Beschlüsse der Mehrheit des Reichstags zur Aus¬
führung zu bringen, und die vertragsmäßigen Rechte der Einzelstaaten würden
dann vor den Launen der Wählerschaften verschwinden, die über Nacht auch den
am höchsten geschätzten Einrichtungen Baierns, Sachsens, Würtembergs u. a. ein
Ende zu machen imstande wären. Unter diesen Umständen kann es nicht wunder¬
nehmen, daß sich der Bundesrat einstimmig gegen die Verantwortlichkeit der
Minister vor dem Reichstage ausgesprochen hat. Es muß eine Gewalt geben,
die für die Erhaltung wohleingebürgerter Einrichtungen eintritt, und Fürst
Bismarck ist augenscheinlich nicht gesonnen, auf diese Gewalt zu verzichten."
or etwa zwei Jahren wurden die Freunde altdeutscher Dichtung
durch ein Buch überrascht, das sich als eine Nachdichtung des
Nibelungenliedes in Oktaven ankündigte. Angesehene Blätter priesen
das wunderbare Werk des Herrn Dr. Adalbert Schröter gleich
beim Erscheinen so über die Maßen, daß die Abfertigung, welche
ihm kurz darauf in den Grenzboten zuteil wurde, nicht wenige befremdet haben
mag. Während nun viele, die das Buch bereits kannten, der Ansicht waren,
daß mit jenem Strafgerichte dem Autor kein Umecht widerfahren, der Sache
aber ein guter Dienst erwiesen worden sei, und die ganze Angelegenheit für wichtig
genug erachteten, um einen Rezensenten zu veranlassen, durch eine prinzipielle
Erörterung derartiger Übersetzcrexperimente und eine ins einzelne gehende Analyse
der Schröterschen Nachdichtung auch dem wohlwollendsten Leser die völlige Ver¬
kehrtheit des Unternehmens und die klägliche Ausführung desselben im vorliegenden
Falle recht klar zu machen, wurde von andrer Seite dem unbarmherzigen Kri¬
tikus seine herzhaft-schneidige Auslassung sehr verübelt. Kein Wunder freilich,
daß in einer Zeit kritischer Sachtetreterei der scharfe Ton gegen ein Buch,
welches dem schlechten Modegeschmack huldigt, in weitern Kreisen aufregt und
verletzt, wenn der Rezensent, wie es diesmal geschehen war, zu gleicher Zeit ge¬
dankenlosen Kollegen und einem urteilsmatten Publikum unter der Hand eins
abgiebt, einem Publikum, das sich nicht gern in dem Wahne stören läßt, daß
es aus sogenannten historischen Romanen die Denk- und Empfindungsweise der
Vorzeit und aus seichten VerWässerungen das Wesen unsrer alten Dichtung
kennen lernen könne. Daß für Leute wie Herrn Schröter die Vlumensprache
nicht eben angebracht war, hat er selber durch den hochmütigen Ton bewiesen,
den er jüngst über Voßens Homerübersetzung anzuschlagen sich angemaßt hat.
Zur Beleuchtung solcher Versuche, die alten Dichtungen und Sagen in der
Gegenwart wieder lebendig zu machen, dürfte es noch jetzt nicht überflüssig und
vielleicht auch andern Lesern als jenem Grenzboten-Rhadamanthys willkommen
sein, wenn wir, etwas xost tsswm freilich, wie wir selber fühlen, das Urteil
eines Mannes nachtragen, dem selbst Herr Dr. Schröter Wohl nicht wagen wird,
poetischen Sinn abzusprechen, um in dieser Angelegenheit mitreden zu dürfen.
Es ist kein andrer als Jakob Grimm, der vor nahezu siebzig Jahren den
thörichten Einfall, das Nibelungenlied in Stanzen zu verhunzen, mit gebührendem
Unwillen gebrandmarkt hat. Sollte etwa gar jener erste Versuch und der Bei¬
fall, der einer neuen Nachdichtung in Stanzen selbst von namhaften Gelehrten
verheißen war. Herrn Schröter zu seinem Opus angespornt haben? Oder hielt
er sich für den „vollbegabten Dichter," der „nach vorausgegangenem ein¬
dringenden Studium sich an eine Übersetzung wagen" dürfe? Im erstem Falle
müßte man es sehr beklagen, daß der ohne Zweifel form- und sprachfertige
Übersetzer, ehe er an die Ausführung seines Unternehmens schritt, nicht I. Grimms
bündige Rezension jener Nibelungenverdolmetschung hat lesen können, die jetzt
im sechsten Bande von Grimms Kleinen Schriften, Seite 200, jedermann bequem
zugänglich ist. Im Jahre 1816 nämlich schrieb I. Grimm in der Leipziger
Literaturzeitung über die bereits 1812 veröffentlichte Umbildung des Nibelungen¬
liedes, die ein Herr Joseph von Hinsberg*) im „Stile der Wiclandschen Schule"
riskirt hatte, folgendes. „Von diesem Buche steht nicht viel gutes zu sagen,
und wir wollen dafür auch den Irrtum, wodurch es entstanden ist, in die kurzen
Worte zusammenfassen: daß sein Verfasser zu den wohlmeinenden Poesiever-
derbern gehört. Es ist schon schlimm, wenn Ramler (ein nicht so unschuldiger)
an frühern deutschen Dichtern, die er herausgiebt, steckt und schnitzelt, oder
wenn Mathisson einer ganzen Schar von Vorgängern Liebesdienste anthut,
damit sie, glaublich, seinen Mantelzipfel, wenn er zur Unsterblichkeit auf¬
fliegt, zu fassen kriegen und ihre Seelen nicht verloren werden. Der Trieb
dergleichen zu thun, ist mich nichts andres als die Lügenhaftigkeit neuerer Zeit
überhaupt, welch Geschichte verfälscht, um einen historischen Roman, oder der alten
Dichtung zusetzt, um einen Kämpfer- und Heldenroman hervorzubringen. Solche
Machwerke vergehen freilich wie Heu, aber die Lesebibliotheken zehren davon u. s. w."
Da der in den letzten Worten enthaltene Wunsch in bezug auf Schrö-
ters Nachdichtung sich leider noch nicht erfüllt hat, so dürfte es nicht nutz¬
los sein, hier das Urteil mitzuteilen, das ein philologisch geschulter Freund
darüber abgab, zumal da es jene Grenzboten-Rezension in der Haupt¬
sache bestätigt, in einem wichtigen Punkte wesentlich ergänzt. „Welch ein Ge¬
danke, das Nibelungenlied in Stanzen umzugießen! Mich dünkt, dadurch wird
jeder letzte Hauch von Schlichtheit und Naivität erstickt. Ein Versmaß, bei
dem man unwillkürlich an die phantastisch-liederlich-ironischen Gedichte der
Italiener und ihrer Nachahmer denkt, gerade dies auf ein so treuherziges,
schwerbewegliches, tiefernstes, ehrliches, deutsches Werk.'wie die Nibelungen an¬
zuwenden, scheint mir der Gipfel des Ungeschmacks. Und daß die Nibelungen¬
strophe so gänzlich ungenießbar sein soll, das ist auch nur ein Zeichen unsrer
überreizten, abgehastcten, blasirten Zeit. Zum Teufel, wer Schwarzbrot und
frische Butter nicht vertragen kann, der soll meinetwegen Paprika lecken und
Austern schnappen, und wem das einfach Schöne und Keusche nicht mundet,
ergötze sich an---, aber unsrer alten jugendfrischem Poesie soll er fern¬
bleiben. Und wie albern ist bei dieser Untreue gegen den Geist die Sklaven¬
ehrfurcht vor dem Buchstaben, d. h. der zufälligen Überlieferung. Wenn einmal
keine Übersetzung, sondern eine Neudichtung gegeben werden soll, wozu dann
die poesielosen, leeren Interpolationen von Siegfrieds Jugend auftischen? Da
wäre doch aus der Thidrekssage so hübsches zu holen gewesen. Ich muß
gestehen, Schröter gegenüber steigt meine Achtung vor Papa Simrock, obgleich
der den Schlafrock und die Pfeife nie auf die Dauer entbehren kann und etwas
sehr holterdipolter ist." Und das ist auch unsre Meinung. Wer an den
Simrockschen und ähnlichen Neudeutschungen keinen Geschmack finden kann, was
wir niemand verübeln wollen, der begnüge sich mit Vilmars immer noch un¬
übertroffener Analyse der Dichtung; nur lasse er sich durch die sprachliche
Virtuosität, die Herrn Schröter unbestritten sein soll, und die platt-glatten
Verse moderner Hinsberge nicht über den wahren Charakter des echten Nibelungen¬
liedes täuschen.
Wie unendlich viel besser als solche anspruchsvolle, eitle Erzeugnisse — pure
Fälschungen, nichts weiter — dienen der Sache jene bescheidnen Prosaerzählungen,
mit denen unsre Jugend bisher bedacht worden ist. Die bessern unter ihnen
— denn der Verballhornungen giebt es leider auch auf diesem Gebiete der
Jugendschriften genug — haben Interesse und Verständnis für den Gegenstand
geweckt und gefördert, und lief auch hie und da in der Wiedergabe der alten
Berichte manches Subjektive, auch schiefes mit unter, allzuviel schadete das nicht,
hielt sich der Bearbeiter nur sonst im ganzen an seine Vorlage. Das wenigstens
ist zu rühmen von A. Richters nicht mit Unrecht beliebten deutschen Helden¬
sagen u. ahnt. Sie haben bewirkt, daß die Kenntnis des Nibelungenliedes und
der alten Heldensage überhaupt unter der Jugend weite Verbreitung gefunden
hat und die rechte Freude daran gewachsen ist, wie Jakob Grimm es wollte,
„mehr von selber, als es durch Schulunterricht geschehen kann." Freilich kaum
eines dieser Bücher, die, wie Bäßlers und Osterwalds Bearbeitungen, oft mit
mehr als behaglicher Breite sich ausspinnen, wird Erwachsenen, die sich mit
Inhalt und Geist der alten Heldensagen bekannt zu machen wünschen, befriedigen
können. Gerade für sie, die Erwachsenen, hat es unsers Wissens bis vor kurzem
an einem geeigneten Führer gemangelt. Denn das vorzügliche Werk Ludwig
Uhlands über die deutsche Heldensage (in seinen Schriften zur Geschichte der
Dichtung und Sage, Band 1) erfordert zu vollem Verständnis und Genuß schon
eine gewisse Vertrautheit mit den Einzelheiten der Sage, während Wilhelm
Grimms deutsche Heldensage wertvoll und nutzbar zunächst nur für den Ge¬
lehrten ist. Auf ein Buch nun, das diese Lücke ausfüllt, indem es der reifern
Jugend sowie den Erwachsenen den überreichen Schatz der heimischen Heldensage
eröffnet, aufmerksam zu machen, ist uns willkommener Anlaß geboten durch das
Erscheinen von Gotthold Klees Deutschen Heldensagen.*)
In richtiger Erwägung der fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, die einer
Wiedergabe der alten Sagen in poetischer Form entgegenstehen, hat Klee sich be-
schieden, dieselben, wie so mancher minder Berufene vor ihm, in „schlichter Prosa"
nachzuerzählen. Daß es für ihn ein leichtes gewesen wäre, das Nibelungen¬
lied ig, Schröter, d. h. besser als Schröter, nachzudichten, ist für uns nicht
zweifelhaft; hat er die Befähigung zur rechten Lösung einer solchen Aufgabe
doch schon mehrfach dargethan, so durch vorzüglich gelungene Erneuerungen des
reizenden, leider in so entstellter Gestalt uns erhaltenen mittelhochdeutschen Epos
von Alpharts Tod und des allerliebsten Gedichtes von König Rother, für welches
er den köstlich humoristischen Ton der alten Spielmannsdichtung sehr glücklich
getroffen hat. Wie eine Dichtung von der Art des Nibelungenliedes zu über-
setzen wäre, um ein leidlich treues Abbild des Originals geben zu können, zeigt sein
Versuch einer Übersetzung der Gudrun, die, wenn auch keineswegs ein Ideal,
doch nirgends die Härten und Holprigkeiten aufweist, welche die Simrockschen
Übertragungen so oft nicht bloß unverständlich, sondern geradezu ungenießbar
machen, in der er aber den prunkvollen Wortschwall Schröters wohlweislich
verschmäht hat. Gründliche Kenntnis der Sprache und die klare Einsicht,
wie viel noch fehlt, um an die Möglichkeit einer das Original nahezu ersetzenden,
d. h. kongenialen Übersetzung schon jetzt glauben zu können, sowie vermutlich auch
eigne Versuche, haben Klee vor der Versuchung bewahrt, den Geist der alten
Dichtung und Sage, der in schlichter, aber Stil- und geschmackvoller Prosa weit eher
zu seinem Rechte kommen kann, in Versen zu verwässern und zu verflachen. Die
bescheidene, aber keineswegs zu unterschätzende Aufgabe, wie sie der Erzähler in
Prosa sich stellen muß, hat bisher wohl keiner so ernst genommen wie Klee.
Er sieht dieselbe, und wir können ihm nur beistimmen, nicht darin, „die alten
Geschichten," wie es so vielfach geschehen, „mit pikanten Zuthaten und eignen
Erfindungen aufzuputzen und zuzustutzen." Dem Dichter will er das Recht nicht
bestreiten, „den überkommenen Stoff frei zu gestalten," so wie es Geibel, Jordan,
Richard Wagner, wie es Simrock in seinem prächtigen Gedichte „Wieland der
Schmied" gethan hat und andre, „welche einzelne Abschnitte der Heldensage zu
Vorwürfen ihrer dichterischen Werke gewählt haben." Aber ein andres ist das
Verhältnis des Prosaerzählers zu den Stoffen. „Obgleich dieser nicht nur
Sprach- und Sachkenntnis und natürlichen Takt, sondern auch einen gewissen
Poetischen Sinn bewähren muß, so ist er doch noch lange kein Dichter. Mithin
steht es ihm auch nicht zu, die Tradition willkürlich, nur nach subjektiven Mei¬
nungen und ästhetischen Erwägungen zu korrigiren. Wer dies thut, der verliert
gar bald den festen Boden unter den Füßen, verfällt in haltloses Schwanken
zwischen echter Sage und selbsteigncr Produktion und findet in seinen Schlimm-
bcsserungen meistens weder Maß noch Ziel. Ich kenne mehr als ein Buch, in
welchem die deutschen Heldensagen fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind.
Man sollte doch meinen, daß schon die einfache Pietät und der wissenschaftliche
Sinn, zwei Tugenden, ans die wir Deutsche uns etwas einbilden und die wir
gern im Munde führen, vor so pietätslosem und unwissenschaftlichen Thun
warnen müßten." Welcher mit dem Gegenstand Vertraute wollte solchen Grund¬
sätzen nicht aus vollem Herzen beistimmen und die Ausführung hochwillkomner
heißen! Für eine solche Arbeit war Klee, wie sein prächtiges Buch beweist, der
rechte Mann. Daß er seinen Gegenstand wissenschaftlich durchaus beherrscht,
darüber belehrt uns schon ein flüchtiger Blick in die reichhaltigen Anmerkungen,
die dem Werke beigegeben sind, und daß er natürliche dichterische Begabung
mitbringt, beweist die sinnige, geschmackvolle Erzählung. Möchte es daher dem
vortrefflichen Buche recht bald gelingen, alle die unbedeutenden und schlechten
Machwerke zu verdrängen, die in Ermangelung eines gediegnen Werkes sich
bisher einer gewissen Beliebtheit und Verbreitung rühmen durften.
Die hervorragendsten Quellen der deutschen Heldensage sind die in Prosa,
freilich einer vielfach sehr poetisch gefärbten Prosa, abgefaßte altnordische
Thidrelssage und Völsungasage, die gleichfalls altnordischen Eddalieder und die
bekannten mittelhochdeutschen Volksepen von den Nibelungen, Gudrun, die Ge¬
dichte von Dietrich von Bern u, s. w. Die poetische Form nun hat Klee zwar
durchaus aufgegeben, darum aber nicht auch auf den poetischen Schmuck der
Rede, wie diesen ihm die alten Vorlagen zum Teil selber an die Hand gaben,
verzichtet. Durch die gesamte Darstellung, die nach des Verfassers Worten
nichts andres sein will als schlichte Prosa, geht ein durch und durch dichte¬
rischer Schwung, wie es der Stoff ja auch unbedingt erheischt. Auch Klee hat
im Stile dem modernen Geschmacke, natürlich im besten Sinne, Zugeständnisse
machen müssen, da wo einzelne seiner Quellen ihm weiter nichts als die trocknen
Thatsachen boten, indes, wie eine Nachprüfung einzelner Partien, z. B. der
Völsungasage, jedem zeigen kann, seiner Erzählung im Grunde doch das ur¬
sprüngliche altertümliche Gepräge, wofern dies nur die nie alternde Sprache der
Natur ist, gelassen; in Affektirtheit und Manier des Stiles, das können wir
versichern, ist er bei dem Bestreben, den Duft, der so charakteristisch für das
altgermanische Epos ist, nicht zu verwischen, nirgends verfallen. Der Stil hat
natürlich, so verschiedenartig auch die Sprache der altnordischen Berichte, z. B. in
der Edda oder der Völsungasage, von der der mittelhochdeutschen Epen ist, einen
mehr einheitlichen Charakter erhalten müssen, schon damit die verschiednen Sagen
als Teile eines geistig zusammengehörigen Ganzen erscheinen. Daß der Ver¬
fasser in der Erzählung der Siegfriedsage nach dem Berichte der Völsungasage
und der Edda in Übereinstimmung mit dem sachlich abweichenden Charakter auch
einen andern Ton in der Sprache vorklingen läßt, als da, wo er die jüngere
oberdeutsche Überlieferung bietet, versteht sich von selbst. Die Färbung des
Stils aber ist durchgängig derart, daß jeder Leser den Eindruck haben wird,
auch in dieser Beziehung das alte echte Epos zu besitzen; Farbe und Kostüm
desselben hat der Nacherzähler nicht verwischt, geschweige denn schonungslos zerstört,
sondern ist vielmehr bemüht gewesen, es in den wesentlichen Eigentümlichkeiten
möglichst treu wiederzugeben. Dies ist z. B. der Fall, wo er sich in höchst
wirksamer Weise des altertümlichen Stabreimes oder einer altüberlieferten Formel
bedient, oder wo die Rede rhythmischen Fall gewinnt, wie bei den feierlichen Ge¬
lübden, Verwünschungen, bei den markigen Streit- und Wechselreden der alten
Helden u. dergl. Feines poetisches Gefühl, <ZW rstits of,?«z> das, was wir mit
Takt bezeichnen, und vor allem die volle Vertrautheit mit der alten Dichtung
warnt ihn, daß er nicht zu viel thue. An vielen Stellen konnte ihm die alte
Vorlage unmittelbares Vorbild sein, doch hat er deren zufällige Mängel nicht
mit in seine Darstellung herübergenommen.
Fragt man uns: Worin liegt das Geheimnis von Klees meisterlicher Nach¬
erzählungskunst, so ist die Antwort ebenso einfach wie natürlich. Klee ist in
seinem Gegenstande ganz zu Hause, er geht darin auf. Liebevoll und ernst hat
er sich in die Herrlichkeit der alten Sagenwelt versenkt, und mit seltener Em¬
pfänglichkeit für das wahrhaft Dichterische in ihr die empfangenen Eindrücke
dank seiner vollen Herrschaft über die Sprache treu wiedergegeben. Aus reinster
Hingebung an die Sache ist das Buch entstanden, es atmet nichts von der Un¬
ruhe und Hast der Mache.
Obgleich sich aber Klee „treu an die besten alten Quellen gehalten" hat — aus
modernen Bearbeitungen und Neudichtungen ist nirgends geschöpft worden —,
so hat er bei all seiner Treue gegen die Überlieferung sich keineswegs der Kritik
begeben. Und hierin erkennt man den Unterschied der selbständigen, von echt
wissenschaftlicher Gesinnung erfüllten Arbeit Klees gegenüber den landläufigen
populären Bearbeitungen, die zum Teil nichts als wirre Kompilationen sind.
In der Art, wie Klee sich der Quellen bedient, zeigt sich der geschulte Philolog,
der ganz vertraut ist mit den gesicherten Ergebnissen der gelehrten Forschung.
Vorzügliche, sogar fesselnd geschriebene Anmerkungen geben Rechenschaft nicht
bloß über die Differenzen seiner Erzählung und der benutzten Quellen, sondern
versetzen jeden Laien, der redlichen Willen mitbringt, sozusagen in die noch im
Fluß begriffene Forschung. Einzelne Züge der alten Sage, die dem modernen
Menschen roh und grausam erscheinen mögen, hat er nicht ausgemerzt, wohl
aber in den Anmerkungen in die rechte Beleuchtung gerückt, andre freilich, wie
es der Zweck seines Buches erforderte, dem sittlichen Gefühle der Jugend zulieb
zart ändern müssen oder gemildert, indes überall, wo ihm dergleichen Änderungen
unabweisbar tauchten. dem reiferen Leser in den Anmerkungen die etwa wünschens¬
werte Auskunft gegeben. Wie geschickt er zu gruppiren und natürlichen Zu¬
sammenhang in die einzelnen Teile desselben Sagenkreises zu bringen versteht,
beweist er u. a. in den Büchern, welche die um den Namen Dietrichs sich sam¬
melnden Sagen enthalten. Da diese nach ganz verschiedenartigen und ungleich¬
wertigen Quellen bearbeitet werden mußten, in denen es bei der trümmerhaften
Überlieferung unsers Epos begreiflicherweise an Widersprüchen nicht fehlt, so
konnte hier der Erzähler sein Geschick als ordnender und klärender Kritiker ent¬
falten. Daß er da, wo die elende Überlieferung der einzigen Quelle die echte
Sage stellenweise in einen Wust von Ungeschmack eingehüllt bietet, gründlich
die Kritik hat walten lassen, oder wenn die Überlieferung völlig versagte, sogar
einmal zu eigner Erfindung seine Zuflucht genommen hat, war im Interesse der
Gesamtdarstellung notwendig; Klee, der so ganz in den Dingen lebt, hat wohl
kaum einen Zug hineingetragen, der nicht dem Geiste des alten Epos gemäß
wäre. Manchem ist er vielleicht zu keck und unbarmherzig mit der Überlieferung
umgesprungen bei der Umänderung der Namen, welche in der Geschichte von
Dietrichs Zug nach Bertangenland vorkommen; bedenkt man aber den Wirrwarr
der Sage an diesem Punkte, so erscheint einem Klees Verfahren, zu dem ihn die
offenbare Wirrnis nötigte, als ein glücklicher Ausweg. Jedenfalls hat seine
Kombination gegenüber der phantastischen Erfindung der alten Quelle das für
sich, daß sie eine ganz plausible Übereinstimmung mit der sonstigen Sagen¬
überlieferung herstellt. Wer also all die Sagen von Gudrun, von Wittig und
Dietrich, vom Zwerge Laurin, von Alpharts Tod, von Siegfried und Brunhild
und Krimhild auch schon kennt, die Lektüre des Kleeschen Buches wird jedem,
der auf solche Bearbeitungen sich angewiesen sieht, manche Einzelheit in ganz
neuem Lichte, die Zusammenhänge der Sagen klarer, das Ganze verstündlicher
zeigen.
Und wie fein trifft er den Ton für die verschiedenartigsten Stimmungen
und Situationen! Wie glücklich ist ihm die Darstellung des Reinen, Innigen,
Treuherzigen gelungen! Ein Ton „herzlicher Vertraulichkeit" durchwärmt oft die
Darstellung; es ist jene kindliche anmutende Heimlichkeit, die uus Erwachsenen
noch Grimms Märchen so anziehend macht. Wie ließe sich diese Sprache durch
sonst etwas in der Welt ersetzen! Doch um das Verdienst des Nacherzählers
auch in dieser Beziehung nach Gebühr zu würdigen, müßte man von Rechtswegen
einzelne Abschnitte in Klees Buch mit den entsprechenden Vorlagen vergleichen.
Dem Ergreifenden in der lieblichen Sage von Helgi und Sigrun ist nirgends so
schön, selbst von Weinhold nicht, Ausdruck geliehen worden; für die gewaltige Tragik,
die nach der echten, ursprünglichen Sage in dem verhängnisvollen Verhältnisse
Siegfrieds zu Brunhilde liegt, hat er geradezu eine erschütternde Sprache ge¬
funden. Überhaupt gehört die Erzählung der Nibelungensage, die er vollständig
nach nordischen und deutschen Berichten mitteilt, zu dem prächtigsten und ge¬
lungensten. Mag dies auch am Stoffe selber liegen, ein großer Teil der Wirkung
gebührt ihm, der so fein nachzuempfinden und so stimmungsvoll nachzuerzählen
verstanden hat. Dabei darf freilich nicht unerwähnt bleiben, daß die Geschichten
laut, jedenfalls mit Bedacht und genießend sozusagen, gelesen sein wollen; nur
dann wird der Stil, wie ja bei jedem guten Schriftsteller, zu seiner vollen
Wirkung kommen können.
Sollen wir nach all dem Gesagten Klees Buch noch einmal kurz empfehlen,
so darf es mit den Worten geschehen, die Karl Müllenhvff unserm alten Epos
gespendet hat, daß „an seinem Reize sich jeder erfreuen wird, der mit jugend¬
licher Anspruchslosigkeit und Hingebung zu genießen nicht verlernt hat." Mit
dem wackern Verfasser aber teilen wir den Wunsch, daß sein Werk „dazu bei¬
tragen möge, unsrer Jugend den alten herzhaften deutschen Sinn zu wecken und
zu stärken, dem modernen Geckentum aber und der nüchternen Vlasirtheit, die
das innerste Mark unsers tüchtigen Volkes anfressen möchten, entgegenzuwirken."
in 19. Juni abends, also nach achttägiger Reise, näherten sich
die Reisenden ihrem Ziele Amsterdam.
Eine sende Stunde vor der Stadt kam uns Herr Nmiuorm-inn
^ mit seiner Liebsten und Sohn entgegen. Der Willkommen war
zärtlich, die beiden Schwestern fielen einander um den Hals und
weinten für Freude. Ich stieg wieder in den Postwagen wegen der LaZÄssv,
Herr setzte sich zu mir. Die Andern fuhren mit Uaciaius 2. in ihrer Kutsche
nach Hause. Wir aber fuhren durch unvergleichlich schöne Gärten, die ich als ein
anderes Paradies betrachtete; die Gärten folgten sich eine halbe Stunde laug, einer
schöner als der andere. Im Posthause stund eine Schleife, vor mich hineinzusetzen,
schon x-u-at; aber keine, wie hier zu Lande die Fuhrleute haben, sondern auf der
Schleife ist eine Kutsche festgemacht. Ich wagte es und setzte mich mit Herrn 2.
hinein, aber diese UWvliillö machte mich so lachen, daß Herr 2. mit mir lachen
mußte.
Nun war ich also in Amsterdam; ich dachte, ich hätte die ganze Welt aus¬
gereift. Ich wurde von Herrn und Mdme. 2. sehr wohl aufgenommen und
speisete mit ihnen sammt meinen Reisegefährtinnen zu Nacht. Die holländische
Kost gefiel mir sehr wohl, weil ich gern gute Fische esse. Am folgenden Morgen
offerirten sie mir das Logis, aber ich dankte für ihre Höflichkeit, weil ich lieber
für mein Geld leben wollte als Mull't sein. Ich ging uun in das Haus, dessen
Adresse ich in meiner Schreibtafel hatte, fand dort ebener Erde vorn heraus ein
Prächtig mit grün Damast tMeirt Zimmer, ein schön Bett mit eben solch Vorhang,
van^poo und Sessel, alles xioxrs. Ich machte ein aoeorcl, täglich 2 mal Speise
und Thee, sie forderten nicht mehr als einen Gulden den Tag. Wer war ver¬
gnügter als ich! Ich befahl das Bett zu decken, ich würde meinen Koffer schicken,
und mich den Abend einfinden. Inzwischen machte Madame einige Besuche
mit mir und führte mich denn auf den Nenenmarkt. Da sah es aus, wie wenn
zu Frankfurt die Messe ist. Ein Laden neben dem andern mit den kostbarsten
Waaren. Von da ging es auf die Börse. Von oben auf der Gallerie, wo auch
Läden sind, kann man Alles übersehen. Mit was für Verwunderung hab' ich da
herabgeschaut! Tausend und tausend Menschen, wie ein Bienenschwarm, Einer
rennt gegen den Andern, und ist so voll von Käufern und Verkäufern, Herren
und Bedienten, Jungen, Makler, Juden, Bauern, daß man sein eigen Wort kaum
verstehen konnte, und wer so was noch nicht gesehen, steht voll Verwunderung da.
Nun aber war ich verrathen. Es bemerkten mich, ich weiß nicht, wie sie es
gemacht, 0orrv8xomlontön von meinem Liebsten, bewillkommten mich und bedauerten
nur, daß sie mich nicht schon am Postwagen abgeholt, da sie meine Ankunft erst
auf der Börse erfahren. Die beiden Herren versicherten, daß mein IivMs schon
3 Tage in ihrem Hause x-u's-t stände. Ich wollte es durchaus nicht soesM-M,
da ich schon ong^ire sei und nicht ohne Prostitution zurücktreten könnte. Sie
antworteten aber, wir wollen Alles auf uns nehmen und in Richtigkeit bringen,
und wir gehen hier nicht weg, bis Ng-ä^ins ihr Wort geben. Was sollte ich
thun! Ich konnte ihrer Höflichkeit nicht länger widerstehn.
Ich fand bei diesen Freunden ein vortreffliches IwAis mitten in der Stadt,
ein schön tapeziert Zimmer, mit Sesseln, den Fußboden mit Decken belegt, ein
kostbares Bett, mit schöner Aussicht aufs Wasser, wie jeden Morgen die Schiffe
mit Waare:: beladen ankamen; es war nahe an der Börse. Meine Freunde
machten mir so viel Veränderung als möglich.
Man zeigte ihr nun die Sehenswürdigkeiten der Stadt und führte sie zu¬
nächst in das Rathaus und das Zeughaus.
Ganz unten sind entsetzliche Gefängnisse. In den leidlichsten sitzen die bösen
Zahler und müssen so lange sitzen, bis sie selbst oder Andere für sie zahlen. Ganz
unten in den Kellern waren wir auch; da sitzen die Gefangnen, so auf Leben
und Tod warten. Es sieht aber auch hier xroxrs zur Verwunderung aus, Alles
schön helle geweißt, aber mit entsetzlichen dicken Eisenstäben und eisernen Thüren
verwahrt. Oben auf dem Rathhaus besahen wir das schöne Glockenspiel . . . .
Das kostbare Zeughaus gleicht dem in Köln gesehenen durchaus nicht. Denn es
war hier Alles blaue und propre und in solche Ordnung ravssirt, als sähe man
in einen Glasschrank.
Sie besuchen dann die neugebaute Kirche, woran das ganz in Kupfer
gedeckte Dach bewundert wird, welches der König von Schweden geschenkt hat.
Sie fahren am Waffer spazieren und ergötzen sich an den Schiffen aller Nationen.
Einmal ging es zu einer Entladung in einen Lustgarten auf der Amstel,
morgens um acht Uhr.
Nach dem Va-Kes machten sich die Herren eine Uotiou mit Kolbenschieben, bis
Essenszeit war. Die vaines gingen im Garten spazieren, der Tisch ward ganz in
Volktor Porzellan servirt. Hier bekam ich das erste Wasser Soäiou ^Sodawassers,
die Schüssel für 14 Personen hat 3 Dukaten gekostet. Die vamss mußten die
Butterbrode schmieren. Bei dieser Tafel zeigte sich kein übermäßiger Luxus. Die
Holländer halten viel auf Gemüse und haben wohl mehr als viererlei ans dem
Tisch; ein gut Stück Rindfleisch, der Braten von einem Kalb, die. Scheibe genannt,
so recht delikat. Der Nachtisch ist schönes Obst, je nach der Jahreszeit, etwas
Lontset, süße Butter, Rahm, Käse. Mau erwies uns alle Ehre; die Herren
tranken fleißig die Gesundheit uuserer Hinterlassenen. Nach der Mahlzeit wurde
nach holländischer Uf-nor embr^Sire. Die va>ass setzten sich in xs,rg,t> gehaltene
Kutschen und fuhren durch die vortrefflichen Gärten und 1?Ig,uta,g'<zu spazieren,
unterdessen die Herren auf der Kolbenbahn spielten. Dann wurde noch zu Nacht
gespeist und nach Hause gefahren.
Des andern Tages besorgte ich meine Briefe zur Post und ließ mich bei
Herrn Rösiclsut 1Z. melden. ^Vermutlich der Frankfurter Konsul.j Dieselbe waren
auf ihren: Landgute Louwx1a.es, 6 Stunden von ^mstoräam, und mußte es erst
dorthin gemeldet werde::. Aber schon Nachmittags kam eine Kutsche, darin er
selbst in eigner Person saß, um mich auf das Landgut abzuholen. Ich machte
mich fertig mit etwas Kleidung und Wäsche, um einige Wochen dort zu bleiben,
und nahm Abschied von meinen Reisegefährtinnen, die meine Abreise sehr be¬
dauerten oder — beneideten. Wir passirten die Stadt ^Vssor ^, eine der ältesten
holliind. Städte, wo viele Schiffe im Canal liegen; wir mußten auf der 6 stündigen
Fahrt so viel Brückengeld bezahlen, daß es 2 si, betrug. AÄäams L. war sehr
vergnügt über meine Ankunft. Gleichzeitig kam die Mama der Frau L. U-"°. Osssi'u
und deren Schwester, welche so lange blieben, wie ich. Dies vortreffliche Landgut
heißt MrävwlM^AM, hat gesunde Luft und süßes Wasser; es ist 2S Morgen
groß, hat ein prächtig Haus, Nebengebäude, Treibhaus, Stall mit sechs schönen
Pferden, Remis-z mit 2 Staatskutschen, ein?uastoll, 2 Halbchaisen:c. Ein großes
Kalb wurde in einem so engen Ställchen gemästet, daß es sich nicht herumdrehen
konnte; es erhielt Milch mit Mehl und gehackten Eiern dreimal täglich; als man
es schlachtete, wog es 400 Pfd. Rings um das Gut war eine geschnittene Allee,
darüber wölbten sich große Bäume. Mitten im Garten befindet sich ein großer
Weiher mit Springwerk und allerlei Fischen. Viel kostbares Obst und Gemüse,
dann eine Allee von lauter gepfropften Kirschbäumen. Am 3. Juli habe ich
Trauben und Pfirsige gegessen, freilich aus dem Treibhaus.
Heute am 27W fghrm wir in einer mit 4 schönen Pferden bespannten
Staatskntsche in das Dorf Helfershcim; es hat 800 Häuser, und wohnen lauter
reiche Bauern darin. Es sind aber so böse Leute, daß, wenn sie sich an jemand
rächen wollen, sie die Fertigkeit besitzen, mit einem besonders geformten Messer
ihrem Gegner einen Galgen auf die Stirn zu schneiden. Gesehen hab' ich's nicht,
aber erzählt hat man mir's. Wir stiegen in einem Gasthaus ab, darin es nach
holländischer Mode sehr xi-opro war. Aber für ein wenig Thee und Butterbrod
mußten si. 5 bezahlt werden; dies ärgerte mich sehr, obwohl ich's nicht be¬
zahlen durfte.
Noch andre Ausflüge in die Umgegend wurden gemacht, meist vierspännig.
Einmal besuchten sie einen Bauern.
Der führte uns in seine Baumschule voll vieler schöner Bäume. Der Herr
Resident erstand einige. Der Bauer erzählte, daß ihm alle seine Bäume nicht
für 300,000 si. feil wären. Da dachte ich an unsere armen Bauern in Deutsch¬
land. Er hat Stücke für 1—10 Gulden. Am 2. Juli sind wir 6 Personen in
einer 4spännigen Staatskutsche und dem 2 spännigen?baswu morgens 6 Uhr nach
der Herrenhuther doloris AsM gefahren. Es ist ein stiller Ort, wo lauter fromme
Leute wohnen. Im großen Bruderhaus suchte ich einen Landsmann auf, der mich
voll Verwunderung bewillkommnete. Er hatte ein groß Gebund Schlüssel und
öffnete mir ein Zimmer nach dem andern. Es waren lauter Verkaufladen, der
Erste ein Kalimtris-Laden, im zweiten englische Waaren, im 3ten Tuche, Zeuge,
Spitzen, im 4ten Sattlerarbeiten, im 6den Pelzwaaren, der gehörte meinem Lands¬
mann, im Kein Spenglerarbeiten, im 7 ton Kupfer, Messing und lackirte Sachen, im
8den Schuhwcmrcn, im 9den xeriwkW, im 10den kostbare Möbeln. Alles war sehr
theuer; was sie fordern, muß man zahlen, von aoooräirsii keine Rede. Wir gingen
dann nach dem Schwesternhaus, allwo sonst Niemand zugelassen wird, weil manchmal
junge Herren gekommen sind, um mit den Jungfern Spaß zu machen. Ich wollte
nun gern eine Jungfer von Frankfurt sprechen und bat meinen Landsmann, mir
Einlaß zu verschaffen. Er zog die Schelle, und eine alte ehrwürdige Jungfer
erschien in der halb geöffneten Thür und fragte mit leiser Stimme nach unserm
Begehr. Der gute Bruder antwortete, ich wolle die Jungfer von Frankfurt
sprechen. Sie erwiderte abermals sehr leise: Ich werde sie herunterkommen lassen.
Darauf sagte ich: Ich will Ihnen die Mühe ersparen und zu ihr hinaufgehen. Das
Wird nicht erlaubt, war die Antwort. Oh, dachte ich, hier wirst du nicht viel zu
sehen bekommen, und so war es, Wir wurden in ein Zimmerchen geführt. Dahin
kam das gute Kind, von einer Schwester begleitet, die ihr etwas ins Ohr flüsterte.
Ich brachte ihr von ihren Eltern und Verwandten voinplimsuts und auch einen
Brief. Auf meine Frage: Kennst du mich nicht? — sie war mit 9 Jahren hierher
gekommen und ist jetzt 16 Jahr alt — antwortete sie sehr einfältig. Ich weiß
nicht, war es Heiligkeit oder Betrübniß, denn sie sprach sehr leise und mochte kaum
deu Mund bewegen. Aus meine wiederholte Frage, ob ich nicht die Anstalten und
Einrichtungen des Hauses sehen könnte, erhielt ich immer dieselbe Antwort wie
zuvor, es sei nicht erlaubt. So dachte ich denn: Ihr eigensinnigen Dinger, ist
das Eure Liebe zum Nächsten? Nun so laßt es bleiben!
Wir gingen nun in das Schloß und bewunderten dort eine 2 Mann hoch
geschnittene Allee, es soll die höchste der Welt sein. Eben läutete es zum Gottes¬
dienste. Da kamen sie alle ordentlich in einem Zug. Zuerst die jungeu Brüder
paarweise, hernach die Männer, dann die Alten; jetzt die Jungfern Schwestern,
sehr modest gekleidet, die Hauben mit rosenfarbenen Bändern gebunden; nun die
verheirateten Frauen mit blauen Bändern, dann die Wittwen und die Alten mit
Violetten Band. Alles ging paarweise und sehr stille zur Kirche, wir hinten nach.
Sie verrichteten ein stilles Gebet auf den Knien. Dann setzten sie sich auf die
Bänke. Die Orgel spielte gedämpft, ein Vers ward leise gesungen. Dann betrat
ein Geistlicher die Kanzel und predigte über die Liebe und Erkenntnis Gottes,
was mir sehr wohl gefiel. Abermals ward lautlos gebetet, leise gesungen und mit
der gedämpften Orgel gespielt. Dann zogen sie lautlos und paarweise ab, wie sie
gekommen waren. Wir nahmen unsern Bruder mit nach dein Gasthaus, und Herr
Resident war so höflich, ihn als meine» Landsmann zur Tafel zu behalten. Beim
Essen sagte ich, der Gottesdienst habe mir wohl gefallen, aber warum singen Sie
so leise? Nach einigem Besinnen erwiderte der Bruder: Unser Herrgott ist ja
nicht taub; und so ist es auch. Wir schieden in Freundschaft.
Am dritten Juni besuchten wir vtroelit, die wunderbar gebaute Stadt. Sie
liegt viel höher als Amsterdam, der Fluß also viel tiefer. Auf beiden Seiten sind
breite Straßen, von denen Stiegen hinunter führen. Da sind nun unten am
Wasser Häuser, wo geringe Leute wohnen, als Färber, Gerber, Bierbrauer, und
oben an der hohen Straße sind vornehme Hänser für die Reichen, als L-mauiers,
Kaufleute, Materialisten, Silberarbeiter u. s. w. Im vom sahen wir einen Mann
in Stein gehauen, der sein eigen Kind gemordet hatte. Das war so zugegangen.
Als man den vom baute, vermochte kein Baumeister Rath zu schaffen, wie man
den Grund zu den großen ?it->,ron >im Wassers befestigen könne. Deshalb schrieb
der Magistrat ein Z?iÄSmium von 1000 vue-u,thu ans, dein zu zahlen, der ein Mittel
ausfindig machen würde. Nun kam dieser in Stein gehauene Mann, ein armer
Handwerker, in der Nacht, da er darüber nachdachte, zu einem praktischen Mittel.
Bein: Erwachen erzählte er solches in seiner Freude seiner Frau und schwelgte in
dem Gedanken, sein Leben lang glücklich zu sein. Dabei achtete er nicht auf sein
8jähriges Kind, das noch zu schlafen schien. Das Kind aber hatte Alles gehört,
und als es nun zum Bäcker geschickt wurde, Brod zu hohlen, erzählte es diesen:
die ganze Geschichte und nannte das Mittel, das in Ochsenhäuten bestand. Der
Bäcker aber lief sofort zum Magistrat und erhielt die 1000 Ducaten. Da ergrimmte
der Bater ob des verlorenen Glücks und schlug sein Kind todt.
Ich übergehe die weitere Beschreibung Utrechts und lasse eine andre Stelle
folgen, worin sich unsre sonst immer praktische Chronistin als gefühlvolle Frau
zeigt, die hie und da selbst einen sentimentalen Anflug hat. Zugleich gewährt
die Stelle einen hübschen Einblick in das Landleben einer reichen holländischen
Familie.
Diesen Morgen ging ich nach dem Frühstück in den Garten; es war noch früh,
ein unvergleichlich schöner Morgen. Ich kam an die Kirschenallce und machte mich
an's Abbrechen. Als ich genng hatte, ging ich weiter, ganz allein, durch den Ge¬
müsegarten, in das Treibhaus, wo schon schöne große Trauben hangen, Pfirsiche,
Zwetschken, Birnen, Aepfel, und allerlei sonst. Am Weiher sah ich die Fische
spielen und die Guten schwimmen. Dann weiter zur Uhu^cris; endlich dnrch eine
Allee nach der Lusoacis, eine durch die Kunst gemachte Wildniß, und kam in ein
so dichtes Gebüsche, daß ich fast nicht mehr wußte, heraus zu kommen. Ich fand
einen Platz, wie eine Sommerlaube, darinnen eine Bank, auf die ich mich setzte.
Ach wie schön sangen hier die Vögelein, ein sanfter Wind bewegte die Blätter zu
angenehmem Rauschen; ein Maulwurf störte mich, verschwand aber bald wieder in
seinem Loch. Ich dachte an unsere ersten Eltern im Paradies; wie schön muß es
da gewesen sein! Doch bald mißfiel mir diese Einsamkeit; es fiel mir der Spruch
ein: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Ich hatte Mühe, den Weg aus
dem Gebüsche zu finden; aber es kam mir der Bediente entgegen, der mich suchte.
Madame 1Z. hatte die Büchclei, und ich half nach holländischer Manier Alles zu
der Mange zu recken und strecken, und damit verging dieser Tag.
Nach mancherlei ländlichen Vergnügungen gab es zuletzt ein großes Trcck-
tcment, und dann ging es mit der vierspännigen Staatskutsche zurück nach
Amsterdam.
Aber nicht gleich in mein I^o^is, sondern erst nach dem Hanse der Schwester
der Frau Rcsideutiu. Vor der Thür des Hauses saßen wohl 30 Mann, alle mit
Weißen Schürzen und großen t?orllcincmz als die Kutsche ankam, standen sie alle
auf und warfen die Hüte ub. Was sind denn das für Leute? frug ich. Dies
sind meine Knechte, sagte der Herr, sie haben jetzo Feierabend gemacht und ruhen
vou der Arbeit aus. Worin besteht denn die Arbeit? Im Bierbrauen. Also
war ich bei einem vornehmen Bierbrauer zu Gast. Der Hausehren war mit
Marmor belegt, auf der Tafel 2 kostbare VIiirs-näol-Leuchter, eine prächtige Wand¬
uhr, 2 große Pfcilerspiegel mit goldnen Rahmen, rothe Fenstervorhänge, kostbare
Sessel und prächtige Abendmahlzeit. Ich aber sagte ihm: Es ist Alles gut in
Holland, wenn man nur uicht Durst leiden müßte. Euer gelbes Regenwnsser ver¬
leidet einem das Trinken, und will man schon auch einmal Bier trinken, so sitzt
gleich unter im Glas Fingers dick der Satz. El, sagte er, ich werde Ihnen ein
IZoutsll'chen Bier geben, wie Sie uoch kein's getrunken haben. Nun schenkte er
mir ein; ich trank, und stutzte. Ah das schmeckt gut; schön hell und klar; ein
zweites Glas noch besser. Aber was geschah? ich spührte es im Kopf, und wenn
ich noch ein drittes Glas getrunken hätte, wäre ich berauscht nach Hause ge¬
kommen.
Nach der Rückkehr nach Amsterdam wurden noch verschiedne Sehenswürdig¬
keiten der Stadt besucht, der botanische Garten, das Spinn- und Raspelhaus.
Im botanischen Garten bekamen wir lauter fremde, rare Gewächse zu sehen,
als Thee- und Kaffeebüume, Kräuter, Wurzeln, Blumen, so zu Arzeneien gebraucht
werden. Alles ist numerirt und mit Namen versehen. Dort werden 4- mal in
der Woche, 2 mal in lateinischer, 2 mal in holländischer Sprache LollsAia. gehalten.
Dazu ist ein besondrer Platz im Garten angewiesen; um den ?roth88or herum
stehen die Zuhörer, junge und alte ^xotsors, Materialisten und Barbiergehülfen.
Wer ausbleibt, muß 4 Stüber Strafe zahlen. Wir sahen noch viele Llos, darunter
eine blühende, Dattelbäume, Zuckerrohr, Zimmt, V-urille, I^ba-rdsi-g,, 0aoao, ost-
indischen Pfeffer, Ingwer und einen Milchbaum, der mir übel zu Statten kam.
Meine Neugier trieb mich, einen Tropfen, so aus einem Blatt gedrückt wurde, zu
trinken. Aber das biß und brannte die Zunge, daß ich's 2 Stunden lang spührte,
und wurde dazu noch tüchtig ausgelacht.
Anderntags besuchten wir das Spinnhaus. Da waren alte und junge Hurer,
Diebinnen und Mörderinnen, welche ihre Strafe nach Verdienst absitzen und 3,
10, 20 Jahre und auch Zeitlebens da bleiben. Sie befinden sich in einem großen
Saal, dessen Fenster mit Spiegelscheiben und weißen Vorhängen, aber auch mit
dickem eisernen Krause versehen sind. Ans dem Fußboden liegen holländische Matten,
mitten im Saal steht auf einem etwas erhobenen Tritt ein großer Sessel, darauf
sitzt die Aufseherin,- vor ihr steht ein Arbeitstisch. Nun sitzen die Verbrccherinnen
alle in Reihen, wie in einer Nähschule. Jede bekommt auf, was sie den Tag über
fertig machen muß, und wenn eine im Rückstände bleibt, so wird sie an einen
Pfahl gebunden nud auf den bloßen Rücken gegeißelt. Nahe bei der (Zsonvsrncmts
saß eine schöne dicke, schwarzäugige Dame mit Krenz und Ohrringen von Diamant.
Eine andere, ebenfalls sehr AA.Ig.ut geputzt, kam auf mich zu und forderte von mir
iMeld^ vor einen OoSs. Ich fragte, warum sie hier wäre und was sie angestellt
hätte. Ich habe meinem Manne nicht gut Haus gehalten. Ich sagte, sie solle es
künftig besser machen, und gab ihr etwas zum Lotte, Die <?onvsl'n-uiw dagegen er¬
zählte mir, daß diese Frau ihren Mann ermordet und vorgegeben habe, er sei ihr
in's Messer gelaufen; sie habe alle Grade der Folter ausgestanden und müsse nun
noch 3 Jahre hier bleiben. Wenn die Gefangenen ihre Arbeit früher fertig haben,
dürfen sie für sich arbeiten. Sie sind alle sehr xwxrg angethan, man kann gar
nicht sehen, daß es Gefangene sind. Auf der einen Seiten fitzen alle, so nähen,
ans der andern die, so stricken, ans der dritten die, so spinnen. Die Kost ist
Wasser und Brod, 3 mal Warmes in der Woche, Saubohnen und Speck. Wenn
Amsterdamer Kirmes ist, bekommen sie einen Tag, sich lustig zu machen. Da ziehen
sie ihre besten Kleider an und tanzen in einem großen Hof. Dabei werden Zu¬
schauer für's Geld zugelassen. Wenn sie dann einen wohlgekleideter Herrn zu Ge¬
sicht bekommen, so muß er den Beutel ziehen, und thut er es nicht, so xrostiwirvu
sie ihn überlaut und sagen wohl: Jetzt kennt er mich nicht, aber da und dort, da
er bei mir war, hat er mich wohl gekannt u. s. w. Es müssen 3 in einem Bette
schlafen; was sie arbeiten, bekommt das Waisenhaus.
Gleich neben diesem Saal ist die Amtsstube. Darin erblickte ich ein Gemählde,
so mir lebhaft in die Augen fiel. Es stellte die erste Person dar, so in diesem
Hause gestraft wurde, ein schönes junges Frauenzimmer, vor der Verwalterin auf
den Knien liegend. Sie schlägt die Augen nieder, Thränen rinnen über die Wangen,
sie küßt die Geißel. Hinter ihr steht ihr Buhle mit spöttisch lächelndem Gesicht,
anch die alte Kuplerin, ängstlich erwartend, wie Alles ablaufen werde. Auf einem
andern großen Gemählde sieht man auf der einen Seite eines großen Tisches die
Herren DsMirton schreiben und Gold zählen, auf der andern die og.nnzs, so Lein¬
wand zuschneiden und zu Hemden für die Waisenkinder nähen.
Nun gingen wir uach dem Naspelhcms, wo lauter böse Menschen, so theils
gel'rcmdmarkt sind, theils Todesstrafe verdient haben, verwahrt werden. Dieser An^
blick ist Grausen erregend und mit der Hölle zu vergleichen. Die Leute waren
alle halb nackend und von Blauholzstaub schwarz. Weil sie bei der harten Arbeit
des Blcmholzraspelns stark schwitzen, so läuft ihnen dieser Staub als eine schwarze
L-iues an Gesicht und Leib herunter. Man kann es ohne Schauder nicht ansehen,
und das Lcunentiren um ein Döpelcheu Meine Münze> ist so groß, daß ich Alles,
was ich bei mir hatte, hingab. Im großen Hofe lagen 20 000 Zentner Blauholz.
Ein jeder muß ein bestimmtes Quantum täglich raspeln, was eine sehr harte und
saure Arbeit ist. Bleibt er im Rückstand, so muß er im Wasserkeller pumpen, und
wo er nicht fleißig pumpt, muß er ertrinken.
Die Wißbegierde unsrer Chronistin ging aber noch weiter; sie wollte auch
ein gewisses Gäßchen sehen, „damit sie davon reden könnte."
Der Herr, so mich führte, sagte mir: Jetzt muß ich auf Ihre rechte Seite
gehen, sonst ziehen sie mich Ihnen von der Seite weg. Da stunden sie nun unter
den Thüren, galant, geschminkt, gepflastert, weiße Nesselschürzen, goldne Uhren :c.
Ich war froh, als wir durch waren. Man sagte mir: Wann diese nicht wären, so
wär kein ehrlich Mädchen auf der Straße sicher.
Die Verfasserin des Tagebuchs machte noch in Begleitung eines holländischen
Kaufmanns mit Madame M—z. eine Reise durch die Provinz Holland. Sie be¬
suchten den Haag, Loo, Scheveningen, Delft, Rotterdam, Gonda, Leyden. Ihre
besondre Aufmerksamkeit erregen immer wieder die außerordentliche Reinlichkeit,
die überall herrscht, und solche Kultureinrichtungen, die, wie die Straßenbeleuchtung,
in ihrer Heimat noch unbekannt oder selten waren; ferner die transatlantischen
Merkwürdigkeiten, namentlich die fremdartigen Tiere, die in Schloß- und
Privat-Luxusgärten zu sehen waren.*) In Scheveningen fühlt sie sich am
„offenbaren Meer" und bewundert die Allmacht Gottes, die dem großen Meer
eine Grenze durch den kleinen Sand gesetzt habe. Dort sah sie auch ein klein
Schiff, „so von Mxiör inaolls artig gebacken war, und sie versicherten uns, daß
dies Schifflein schon dreimal mit Personen im offnen Meer gewesen sei. Ich
will's glauben, für meinen Theil aber werde ich mich nicht hineinsetzen; es geht
mir wie dem Jud: das Wasser hat keine Balken." In Rotterdam kehrten sie
im „Marschall Turenne" ein.
Bei der Tafel waren wir 2 Frauenzimmer allein unter lauter Herren. Es
waren rechte National-Holländer; sie behielten alle die Hüte auf dem Kopfe und
fielen wie hungrige Adler über die Schüsseln her, so daß wir meist das Nachsehen
hatten. Wir beide sahen uns über diese Aufführung verwundert an und lachten.
Ich aber drehte nun den Spieß um, rief den Kellner zuerst zu mir, nahm nun
für uns die besten Stücke und schob die Schüssel mit dem Neste (es war ein Fisch)
Weiter fort. Nun sahen die Herren auf uns und fingen an höflich zu werden.
Ein Schiffscapitän, so einen Mohr zur Aufwartung hinter sich stehen hatte, schnitt
nun Stücke vom Braten ab und ließ sie durch seinen Mohren mir und meiner
Freundin vrcisentireu. Das gefiel uns Wohl; nun tranken sie auch auf unsere
Gesundheit. Nach Tische stellte der of-xitäu sich uns vor und wir unterhielten
uus in franz. Sprache, auch wvitirts er uns auf sein Schiff. Aber man rieth
uns ab, dahin zu gehen, weil er ganz segelfertig sei und uns Wohl gegen unsern
Willen mitnehmen könnte.
Kurz darauf ließen sich 2 Herren bei mir melden. Ich sagte mir: man ist
doch überall gleich verrathen. Es waren aber Korrespondenten von meinem Liebsten;
sie machten mir das volrixliiusnt, drückten ihre Freude über meine Ankunft aus
und baten mich und meine Reisegefährten, ihnen in ihrer Kutsche nach Hanse zu
folgen, wo seine Frau mit dem OaSss warte. Wir folgten der Einladung. Als
wir aber der V. v. H. das Vomxliment gemacht hatten, sagten die beiden
Herren: Nun sind Sie unsere Gefangnen, Sie müssen bei uns wohnen! Ich
ägxrseirts dagegen; ich könne meine Reisegesellschaft nicht verlassen. Nun, die
müssen dann auch bei uns Jo^irsn. Was konnten wir thun? Sie ließen nun
sogleich unsere Ls,MAö holen, und so loM-wu wir alle 3 bei ihnen. Jeder bekam
ein Axg-rtss Zimmer, xroxre moublirt, vorn auf die Straße, da die großen Bäume
so hoch wie die Häuser als eine ^.llss gepflanzt find. Wir konnten Ebbe und
Muth vom Fenster aus beobachten.
In Gonda bewundert unsre Freundin die dreißig herrlichen gemalten
Kirchenfenster; sie bemerkt, daß diese schöne Kunst ausgestorben sei, die Kölner
hätten einige dieser Fenster feil machen wollen, um sie in ihrem Dom auf¬
zustellen und hätten für jedes Fenster viertausend Gulden geboten, aber Gonda
sei nicht darauf eingegangen- Nicht weniger interessirt sie die holländische
Tabakspfeifenfabrik. In einem großen Saale sitzen achtzig Personen, und jede
Pfeife muß zwölfmal durch die Hand eines jeden Arbeiters gehen. Pferde be¬
sorgen das Kneten des Teiges. Es ist ihr unbegreiflich, wie die Unkosten heraus¬
kommen können. Auf dem Landgute Oranienboom wurde ein splendides Abend¬
essen eingenommen. „Viererlei Gemüse, zwei R^vues, viererlei Gebratenes, vier
Obst, vier Salat, viererlei Fisch. Das Desert wurde im Garten genommen und
war der Tisch sechs Ellen lang mit Lonllwrsn belegt. Nach der Mahlzeit
wurde getanzt und um drei Uhr morgens uach Hause gefahren. Derjenige, so
traktirte, ist ein reicher Kaufmannssohn, dem sein Vater jährlich dreitausend
Gulden zur äsxönZL giebt." In Leyden, das „schön gebaut, ziemlich groß, aber
sehr still" ist, vermißt sie jede Handlung. „Aber es hat einen interessanten Thier¬
garten und die Universität, die ihr einige Nahrung giebt." Bei dem Besuche
der Akademie fürchten die Damen neckische Streiche der Studenten; aber sie
fassen Mut und finden glücklicherweise den großen Hörsaal leer. „Nun wollte
U—den DoktorMg-auro, haben, unser holländischer Freund machte
den Professor, ich war der oxxousut, und so ging es ans Examen. Die
?Mtowiinö lief gut ab, und der vootor war geschwind gemacht." In der
Anatomie gefiel es ihnen nicht, weil es sehr übel roch, aber die Sammlungen
von Skeletten, Mißgeburten und naturwissenschaftlichen Raritäten besahen sie
mit großem Interesse. Am 21. Juli fuhren sie in einer scheute nach Harlem
und am 22. in einer Lustjacht zurück nach Amsterdam. Dort gab es noch viele
Gastereien, einmal bei einem Minister, „wo es recht holländisch zuging. Man
saß um den Theetisch herum, die Herren separat mit der Tabakspfeife und das
Speypott ^Spucknapfj neben der Theetasse. Der Thee ward natürlich ohne
Zucker eingeschenkt, dann wurde aber in einer Schale ein Klümpchen ^unleserlich^
präsentirt zur Bedienung." Am 24. Juli wurde ein Ausflug nach het Ey gemacht.
Bei schönem Wetter, günstigem Wind und schäumenden Wogen fuhren sie über
die Südersee und kamen bis nach Türkendam; des Abends auf der Rückfahrt
begegneten sie zwei reichbeladnen Schiffen mit Walfischborten und Thran. Eine
Fahrt nach Saardam dauerte bei großer Windstille ziemlich lange, aber als fremde
Damen wurden sie von einem Kauffahrteischiffe mit sechs Kanonenschüssen salutirt.
wofür sie mit Tücherschwenken dankten. „Saardam ist ein Dorf, so einer Stadt
gleichet, lauter schöne Häuser! Jeden Sommer streichen sie dieselben selbst frisch
mit Öhlfarbe an. Sie haben Spiegelscheiben und Fenstervorhänge von Nessel¬
tuch. Es sind eben reiche Bauern! Über hundert Windmühlen stehen herum."
Die Reisenden besahen noch eine Papiermühle, „wo die fertigen Bogen wie bei
uns die Wäsche zum Trocknen aufgehängt werden," dann die Vorgänge bei der
Glasfabrikation, fuhren über das Thuner Meer an den prächtigsten Gärten
vorbei und auf der Maillebahn nach Amsterdam zurück. Hier ward noch eine
Nachlese des Sehenswerten gehalten. Man besuchte das Alte-Männerhaus, eine
ähnliche Stiftung für alte Frauen, die ostindischen Packhäuser, die persische und
jüdische Kirche, die Kornbörse, den Blumenmarkt, den Krempelmarkt, das
Generalitätshaus und andres. Endlich schlug die Stunde der Trennung. Am
29. Juli wurde bewegter Abschied von den holländischen Freunden und Wohl¬
thätern genommen und am 30. die Rückreise angetreten. „Ich verließ das an¬
genehme Holland, wo ich soviele Freunde gehabt, die mir soviel Ehre und
Vergnügen angethan, daß ich es mein Lebtag nicht vergessen werde." Ohne
weitere Abenteuer kamen sie am 1. August in Köln an und stiegen wieder im
Post- und Gasthaus zur Goldner Gans ab, wo sie früher so gut logirt hatten.
Auch hier in Köln und dann in Bonn erweisen sich die Korrespondenten und
Kommissionäre des Herrn „Liebsten" überaus dienstbeflissen. Von Bonn aus
wird noch eine gründliche Besichtigung des Schlosses in Brühl unternommen
und ausführlich beschrieben. „Alle diese Kostbarkeiten sind nicht zu beschreiben,
es würde dem Leser überdrüssig werden, vielleicht unglaublich erscheinen. Ich
hatte den vornehmsten Laiuzmör, der am Hofe so in Gnaden stand, daß ihm
Thür und Thor geöffnet war, zum Führer, und dieser gab sich die größte Mühe,
uns Alles sehen zu lassen." Die Weiterreise ging mit Extrapost über Koblenz,
und nach einem neuntägigen Aufenthalt in Ems gelangten sie wieder in ihre
Heimat. Das Reisetagebuch schließt mit dem frommen Erguß: „Gelobt sei der
Herr aller Heerschaaren, der uns so viele Wohlthaten erwiesen und uns vor
allem Uebel und Unglück so väterlich bewahrt hat. Ihm sei Lob, Ehr, Preis
und Dank gesagt von Ewigkeit zu Ewigkeit."
on Zeit zu Zeit wird die katholische Welt durch die Nachricht in
Bewegung gesetzt, daß der Papst Rom zu verlassen und in einem
andern Lande eine Zufluchtsstätte zu suchen beabsichtige, wo er
in freierer und würdigerer Weise seines hohen Amtes walten
könne, als es die selbstgewählte Klausur im Vatikan gestatte.
Neuerdings hat die klerikale Presse gemeldet, daß die Entscheidung des italienischen
Obertribunals in Angelegenheiten der liegenden Güter der ?ropg.Ag.riäA lläs! den
Papst zur Ausführung dieses schon mehrfach erörterten Projekts zwinge und
daß die Abreise Leos XIII. unmittelbar bevorstehe. Wir halten diese Nachricht
mehr für einen vgllon ä'6ssg.i, berechnet für die Stimmung der Kabinette und
die Empfindungen gläubiger Katholiken, als für das Resultat einer ernsten
Erwägung. Zunächst leuchtet ein, daß eine Auswanderung ohne Reiseziel, ein
Aufgeben Roms, ohne daß ein andres Asyl gesichert wäre, ganz undenkbar ist.
Wenn wir auch nicht bestreikn wollen, daß sich dem erhabnen Pilger viele
Thüren öffnen würden, so bleibt doch gewiß, daß die meisten Regierungen, auch
wenn sie die Gastfreundschaft nicht versagten, in der Anwesenheit des katholischen
Kirchenoberhanptes innerhalb ihrer Landesgrenzen eine Quelle von Verlegen¬
heiten erblicken würden. Die europäischen Kabinette sind zu sehr mit eignen
Angelegenheiten beschäftigt, die konstitutionellen Regierungen außerdem durch
die Rücksicht auf die Stimmung katholischer oder radikaler Elemente zu sehr
gebunden, als daß der Papst eine lebhafte Verteidigung seiner Interessen von
dieser Seite her erwarten könnte. Die Beziehungen zum italienischen Hofe
und die politischen Verbindlichkeiten, welche der Wunsch nach Erhaltung des
europäischen Friedens den Mächten auferlegt, erheischen in dieser Frage die
größte Vorsicht und Reserve.
Wenn es darnach sehr unwahrscheinlich ist, daß der im Vatikan laut
gewordene Wunsch nach Verlegung der Residenz beim Auslande irgendwelche
Ermutigung erfahren sollte, so wird eine vorurteilsfreie Prüfung der Zustände,
welche die Annexion von 1871 geschaffen, vielleicht auch zu der Überzeugung
sichren, daß jene Art der Lösung der bestehenden Schwierigkeiten keineswegs die
einzige oder gar die beste sei; vielmehr wird jede andre Art, welche eine Ver¬
ständigung der streitenden Teile voraussetzt, für die Interessen der Kurie sowohl
als des italienisches Königtums nützlicher sein.
Es ist ein diesseits wie jenseits der Alpen verbreitetes, wir möchten fast
sagen geographisches Vorurteil, daß Rom die gegebene Hauptstadt des König¬
reiches Italien sei und die Zentralregierung nnr dort ihren Sitz haben könne.
Dieser Irrtum hat die italienische Regierung bereits in eine Serie von Schwierig¬
keiten und Konflikten gebracht, ihre Stellung zwischen den radikalen Italienern
und den Anhängern des Vatikans auf höchst unbequeme Weise verschoben und
die Politik des Königreiches mit Rttcksichteu und Konzessionen belastet, welche
die freie Entschließung in manchen wichtigen Fragen beeinträchtigen. Was hat
den König Viktor Emanuel bewogen, seine Residenz von Florenz nach Rom zu
verlegen? War es der Druck der öffentlichen Meinung, der liberalen Majo¬
ritäten, welche das Werk der Einigung erst dann für vollständig erachteten,
wenn das italienische Parlament seine Sitzungen auf dem Monte Cittorio ab¬
hielt? Oder wollte der Nachkomme der Herzöge von Scwoyen die Erbschaft
der Cäsaren antreten? Was aber hat das antike Rom mit dem konstitutionellen
Königreich Italien zu schaffen? Liegt nicht zwischen beiden die mehr als tausend¬
jährige Herrschaft der Päpste? Wenn jenes von den Grundsätzen der Real¬
politik abweichende Programm durchgeführt werden sollte, dann mußte auch der
Papst Rom verlassen und der Sitz des katholischen Kirchenoberhauptes nach
Malta, Avignon, Fulda oder allenfalls nach irgend einem kleinern Provinzialort
Italiens verlegt werden.
Wir wissen, daß der Plan eines solchen Exodus des Papstes damals auf¬
tauchte und in ernstliche Erwägung gezogen wurde, seine Ausführung aber'an
dem Widerstande der Jesuiten scheiterte. Schon bei der Proklamirnng des Un¬
fehlbarkeitsdogmas war von der Kurie ausgesprochen worden, daß die Autorität
der Dekrete und sx og-tlisär» erlassenen Dogmen durch eine Verlegung der päpst¬
lichen Residenz nicht beeinträchtigt werden und die Stellung des Kirchenober-
hauptcs in keiner Weise dadurch alterirt werden könne, wenn der..Papst der
weltlichen Herrschaft und der römischen Besitztitel entkleidet werden sollte.
Wenn Pius IX. das Mcirtyrertum der Gefangenschaft vorzog, so
war dies ein Wink für die italienischen Staatsmänner, auf dem Wege nach
Rom Halt zu machen und die Konsequenzen in Betracht zu ziehen, welche die
Koexistenz der höchsten weltlichen und geistlichen Machthaber an einem und dem¬
selben Orte notwendig ergeben mußte. Wir glauben, daß, wenn die Übersied¬
lung des Hofes nach dem Quirinal damals nicht so eilig und unüberlegt
ausgeführt worden wäre, ja wenn man nur sechs Mouate damit gezögert hätte,
eine besonnenere Erwägung der Thatsachen stattgefunden haben und König
Humbert heute im Palazzo Pitti^ residiren würde. Ob dort oder in Neapel
oder wechselsweise in beiden Städten — das soll hier natürlich nicht untersucht
werden. Nur nach Rom durfte man nicht gehen, nur die Stadt nicht wählen,
in welcher die Kurie ihren Sitz hatte, und aus welcher sie zu vertreiben man
machtlos oder doch nicht willens war. Die Hast, mit der die italienische Re¬
gierung die öffentlichen Gebäude Roms okkupirte, hat einen Zustand geschaffen,
der eine Annäherung der beiden extremen Parteien erschwert, eine Aussöhnung
ohne völlige Unterordnung des einen Teiles aber fast unmöglich macht. Schon
heute nach dreizehn Jahren hat sich bei dem größten Teile der politischen Führer
des Landes die Überzeugung Bahn gebrochen, daß dieser Zustand auch sür die
nationalen Ziele nachteilig, für die auswärtige Politik Italiens beengend und
somit das Resultat eines Mißgriffes ist, den man leicht hätte vermeiden können.
Schon jetzt erkennt man in Regierungskreisen, daß eine Notwendigkeit, das
Zentrum der Administration gerade nach Rom zu verrücken, keineswegs vorlag
und der Unterschied, der zwischen den Anschauungen, Gewohnheiten und Eigen¬
tümlichkeiten der Bewohner Nord- und Süditaliens besteht, durch die Wahl
einer ihrer Lage und Geschichte nach mehr neutral erscheinenden Hauptstadt
nicht ausgeglichen werden kann. Wenn bei der Eifersucht der italienischen Stämme,
welche das feudale Städtewesen, die große Zahl der kleinen Republiken und
Dynastien des Mittelalters zelligem und nährten, eine Einigung über die Wahl
eines nationalen Mittelpunktes Schwierigkeiten bieten mochte und die Neapo¬
litaner den König ebenso ungern in Florenz oder Turin als die Piemontesen
ihn in Neapel hätten residiren sehen, so wäre doch der Streit derartiger Sonder¬
interessen für die Regierung nicht so unbequem geworden wie der Widerstand
eines duldenden, aber unversöhnlichen Gegners.
Eine historische Verpflichtung, Rom zur Hauptstadt des neuen Einheits¬
staates zu machen, bestand nicht. Mit demselben Rechte hätte man erwarten
können, daß der Sitz der deutschen Reichsregieruug nach Aachen, Frankfurt
oder Regensburg verlegt werden müsse. Diejenigen, welche das deutsche Reich
von 1871 schufen, haben aber in kluger Vorsicht jede Anlehnung an die Tradi¬
tionen des einstigen „heiligen römischen Reiches deutscher Nation" vermieden.
Eine neue Schöpfung, ein neues Staatswesen wurde ins Leben gerufen, auf
breiterer Grundlage und von kräftigerem Bau als das alte Reich. Die Wahl
einer Hauptstadt muß vor allem den Bedürfnissen des Zeitalters entsprechen;
eine weltliche Regierung wirkt für die Lebenden. Das Wachrufen und Auf¬
frischen alter, verblichener Traditionen ist unter solchen Umständen unpraktisch,
denn es beirrt die Vorstellungen der Menge über Ziele, Pflichten und Rechte
des neuen Staatswesens. Es kann sogar verhängnisvoll werden, wenn es
Rücksichten auferlegt, die dem Zeitgeist oder den Machtmitteln nicht mehr ent¬
sprechen. Die Vororte und politischen Zentren der Staaten des Mittelalters
hatten ihre Führerrolle ihrer geographischen Lage, der Abgrenzung des Landes¬
gebiets und den Ansprüchen der damaligen Zeit zu verdanken. Aber die
Veränderungen im Verkehrswesen, die wirtschaftliche Entwicklung mancher damals
noch unzivilisirten Gebiete haben eine Verschiebung jener Ansprüche und Interessen
zur Folge gehabt.
Alle diese Gesichtspunkte hat die italienische Regierung außer Augen ge¬
lassen, als sie nach Rom übersiedelte. Aber noch andre Beweggründe hätten
sie von diesem Schritte abhalten solle». Als Metropole eines modernen Staates
erscheint Rom seines ungesunden Klimas, der öden Umgegend, des Wassermangels
und der zahlreichen Ruinen in und außerhalb des Weichbildes wegen ganz
besonders ungeeignet. Die historischen Trümmer, welche einen Hauptreiz der
ewigen Stadt ausmachen und die zu beseitigen pietätlos wäre, hindern eine
zweckmäßige Umlegung der Straßen, beeinträchtigen die Ausbreitung, welche der
natürliche Menschenzuwachs fordert, und werden nie ermöglichen, daß Rom in
volkswirtschaftlichen und merkantilem Sinne der Mittelpunkt Italiens wird.
Warum also die prächtige Stadt am Arno verlassen, die durch Lage, Klima,
Terraiuverhciltnisfe und landschaftliche Reize der Umgegend für die Hofhaltung
der Könige von Italien wie geschaffen war? Daß sie der ungebildeten, ent¬
arteten Bevölkerung des Südens der Halbinsel mehr entrückt und dem Stamm¬
lande der Dynastie Savoyen näher gelegen ist, konnte doch nur zu ihren Gunsten
sprechen, und den Ansprüchen der apulischen Bevölkerung wäre durch einen
zeitweiligen Aufenthalt des Hofes in einem der bourbonischen Schlösser leicht
Genüge geschehen.
Doch was nützen diese kritischen Rückblicke? Die Thatsache bleibt doch
bestehen, daß Viktor Emanuel die zweite Etappe seiner Via triunixn^lis gegen
den Quirinal vertauschte und daß die Gebeine des ersten Königs von Italien
im Pantheon bestattet find. Mau hat aus diesem letztern Akt schließen wollen,
daß das Königtum damit seine Schiffe verbrannt habe, und die Möglichkeit
eines Rückzuges aus der unbequemen Nachbarschaft des Vatikan für immer
ausgeschlossen sei. Die Radikalen wenigstens suchen daraus eine Fessel für die
Negierung zu schmieden und folgern mit der ihnen eignen Logik, daß, weil
König Humbert Rom nicht mehr verlassen könne, der Papst daraus weichen
müsse. Sie würden es nicht ungern sehen, ja sie knüpfen weitgehende Hoffnungen
daran, daß Leo XIII. durch die Langeweile des einförmigen Internats, durch
Rücksichten auf seine Gesundheit und das Bedürfnis nach Luft, Freiheit und
Bewegung endlich zur Auswanderung getrieben werden würde. Sie rechnen
auf die UnHaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes und meinen, daß, wenn auch
der jetzige Papst in der selbstgewählten Gefangenschaft ausharrt, sein Nachfolger
die verkümmerte Erbschaft vielleicht nicht antreten werde. Aus diesen Kreisen
wird die Regierung unausgesetzt mit Vorschlägen einer weitern Bedrückung und
Beschränkung der Garantien von 1871 bestürmt, und es ist nicht unwahrscheinlich,
daß bei einer Wiederkehr innerer Zerwürfnisse der Pöbel Roms von den
Agitatoren dieser Partei zu Ausschreitungen gegen die Person des heiligen
Vaters aufgereizt und die Sicherheit der Bewohner des Vatikans gefährdet
werden wird.
Die Frage, ob angesichts dieser Gefahren der Papst nicht verpflichtet sei
sich selbst, seinen Hofstaat und die Kongregationen unter das Protektorat eines,
befreundeten Souveräns zu stellen und bei einer andern Nation Schutz und
Zuflucht zu suchen, ist noch vor zwei Jahren in der nächsten Umgebung Leos XHI.
ernstlich erwogen worden, aber auch diesmal, wie unter Pius IX., siegte die
Ansicht derer, die zum Bleiben riete». Wenn dieser Gedanke jetzt wieder auf¬
taucht und die Nachricht verbreitet wird, die Langmut des Papstes sei erschöpft,
seine Lage unerträglich und die Abreise nunmehr beschlossen, wenn der Ncmitöur
ä«z Roms sogar verkündet, daß alle Reisevorbereitungen getroffen und nur der
Tag und das Ziel des Auszuges noch ungewiß seien, so halten wir diese Nach¬
richt zunächst für ein tendenziöses Preßmanöver. Die Stimmung des Auslandes
war bisher nicht ermunternd.
Am willfährigsten würden sich allenfalls noch die protestantischen Mächte
zeigen. Großbritannien, die Vereinigten Staaten, die Schweiz oder die Nieder¬
lande könnten dem Papste ein Asyl anbieten, ohne dadurch in Konflikt mit der
italienischen Regierung zu geraten oder die Kräftigung einer katholischen Oppo¬
sition befürchten zu müssen. Aber würde der Papst nicht in diesen Ländern
stets ein Fremdling, ein geduldeter, vielleicht unbequemer Gast bleiben? Würde
er etwas bei diesem Tausch gewinnen? Die vatikanische Presse verbreitet freilich
in emphatischen Worten die Ansicht, daß jedes Land, jede Stadt sich glücklich
schätzen müßte, den erhabenen Verbannten zu beherbergen, und daß die neue
Residenz als Mittelpunkt der katholischen Welt zu Glanz und Ansehen erhoben
werden würde. Italien aber werde die materielle Schädigung tief beklagen,
welche Rom wie dem ganzen Lande aus der unklugen Politik der Regierung
erwachse. Diese Ausführungen entbehren der Begründung. Eine päpstliche
Residenz läßt sich nicht ohne weiteres improvisiren. Eine Insel wie Malta oder
eine der Balearen ist ihrer isolirten Lage wegen als Sitz einer Zentralbehörde
wie als Wallfahrtsort besonders ungeeignet.
Wo in der That fände die Kurie einen so durch Tradition geheiligten, so
würdig ausgestatteten Sitz, wie ihn die Residenz in Trasteverc bietet? Gewiß,
ein Palast wäre leicht aufgefunden, der an Raum, Anlage und Ausstattung
geeignet wäre, dem Haupte der Kirche ein Asyl zu bieten. Sicherlich wären
unter den erzbischöflichen Residenzen in Deutschland, Österreich oder Spanien
manche geeignet, den Papst und sein Gefolge aufzunehmen, aber würden dort
auch die Baulichkeiten vorhanden sein, welche zur Unterkunft des Kardinalkol¬
legiums, der geistlichen Zentralbehörden, der Chefs der Orden und Kongre¬
gationen, der akkreditirten Botschaften des großen geistlichen Gefolges des
Papstes notwendig sind? Und wenn auch diese Schwierigkeit gehoben würde,
wenn in Salzburg, Köln, Rheims oder Toledo alles zur Aufnahme der Prälaten
und ihres Anhanges bereit stünde oder geschaffen würde, könnten diese Orte
jemals die Bedeutung und Weihe erlangen, welche eine achtzehnhundertjährige
Geschichte dem Sitz der Nachfolger Petri verliehen hat? Kann man die
Gräber der Apostel, die Sarkophage der Päpste, die durch das Blut der ersten
Märtyrer geweihten Stätten ersetzen, können die deutschen Münster, die spanischen
Kathedralen für die Gläubigen aller Länder dieselbe Anziehungskraft ausüben
wie die Kuppel Michel Augelos? Nein, die römisch-katholische Kirche ist so fest
lind unauflöslich an Rom gekettet, daß jeder Versuch, den Sitz der Kurie zu
verlegen, immer nur als ein Interim oder als ein Exil betrachtet werden würde.
Die Päpste dürfen deu Vatikan nur mit dem Gedanken verlassen, bei der nächsten
Wendung der Dinge wieder zu ihm zurückzukehren. Hat doch die Kirche sogar
ihren Namen der alten Siebenhügelstadt entlehnt! Bei den Einrichtungen des
weltlichen Staatslebens mag das Neue, wo es sich aus dem Bedürfnis jüngerer
Geschlechter herausbildet, unbeschadet an die Stelle des Alten treten, aber eine
kirchliche Verfassung ist auf die Pflege der Tradition und die Schonung des
Herkommens begründet. Ans diesem Kultus schöpft sie ihre innere Kraft, ihr
Ansehen nach außen. Die Macht der Erinnerungen, die sich an geweihte Stätten
knüpfen, läßt sich durch nichts ersetzen. Die Blicke der katholischen Christenheit
sind nun einmal durch mehr als tausendjährige Gewöhnung auf Rom gerichtet,
wie die der alten Jsmcliten auf Zion oder die der Muhammedaner auf Mekka.
Schon eine längere Unterbrechung dieses Kultus der heiligen Stätte wäre der
Einheit der römischen Kirche gefährlich. Würden bei der immer mehr zunehmenden
Unkirchlichkeit unsrer Zeit Leo XIII. und seine Nachfolger sicher sein, aus dem
Exil oder der Gefangenschaft nach Rom zurückzukehren, wie einst Gregor XI.
aus Avignon oder Pius IX. aus Gaöta? Auf wessen Hilfe, auf welche welt¬
liche Macht könnten sie dabei zählen? Und würde die Bevölkerung Roms sie
dann auch willkommen heißen?
Nein, freiwillig dürfen, können und werden die Papste die Residenz im
Vatikan niemals aufgeben. Die Könige von Italien aber werden sie nicht mit
Gewalt daraus vertreiben.
Wenn dies aber feststeht, so erübrigen nur die Fragen: Können beide Ge¬
walthaber, der weltliche und der geistliche, auf die Dauer nebeneinander in
Frieden und versöhnt in Rom residiren, oder muß der weltliche das Feld
räumen?
(Schlusz folgt.)
er große Mexikaner richtete eine Pistole auf Mondejo und gab
Feuer.
Schlecht getroffen. Vilojo! rief jener, der durch eine schnelle
Wendung nach der Seite dem Schusse ausgewichen war, Pa-
rire dies!
Und der Stuhl flog mit einem Ungestüm, als ob er aus einer Wurf¬
maschine geschleudert würde, gegen Vilojos Stirn, daß dieser blutend zu Boden
stürzte.
Der Tumult, der nun folgte, läßt sich nicht beschreiben. Da ich aber sah,
daß alle sich auf Mondejo werfen wollten, so hielt ich es für meine Pflicht,
mich auf seine Seite zu stellen, weil er einer gegen alle stand und noch dazu
mein Landsmann war. Doch eine kräftige Hand hielt mich davon zurück; sie ge¬
hörte dem Unbekannten mit dem fahlgelben Barte.
Ihr wollt Euch für einen Gauner abschlachten lassen? Die Anklage ist
gerecht! Ihr könnt Euer Leben für eine bessere Sache opfern, wenn es Euch
gefällt, es wegzuwerfen. Euer Beistand würde ihm nichts nützen, Ihr würdet
beide zu Boden gedrückt werden. Wenn es einen Ausweg für ihn giebt, zu
entweichen, so wird ihn dieser Teufel schon allein zu finden wissen.
Nun folgte ein Höllenlärm. Alle stießen die greulichsten Flüche aus.
Mondejo hatte mit Blitzesschnelle den großen Spieltisch gefaßt und auf seine
Angreifer geworfen, hatte sein Messer gezückt und sich behende wie ein Tiger
nach dem nächsten Fenster gestürzt, indem er jeden, der ihm im Wege stand,
zu Boden warf. Zwei oder drei Pistolenschüsse wurden nach ihm abgefeuert.
Das Weib an der Thür schrie wie eine Besessene: Laßt ihn nicht entschlüpfen!
Schlagt ihn tot, er hat die Taschen voll Geld! Heilige Jungfrau, wenn er
entschlüpft, bin ich ein Kind des Todes!
Ich stand währenddessen ganz betäubt da; eine Pistolenkugel hatte mir
die Stirn gestreift, ich hatte beinahe den Kopf verloren. Mit einemmale fühle
ich einen Stoß gegen meine Brust, und in demselben Augenblicke sehe ich vor
mir einen Mann, der von dem Faustschläge meines Gefährten getroffen ist, zu
Boden stürzen; meine Uhrkette hing zerrissen herunter, sie hatte einem Lepero,
der sich mittlerweile eingeschlichen, in die Augen gestochen, und der Spitzbube
hatte den Wirrwarr benutzen wollen, um sich ihrer zu bemächtigen.
Jetzt bleibt uns nichts übrig, als uns auf die Beine zu machen, sagte
Josef. In diesem Höllcntrnbel wird man bald nicht mehr Fuß fassen können.
Ich wußte, wie gesagt, nicht mehr, was ich thun sollte. Dieser Riese hier
nahm mich auf seinen linken Arm, als ob ich ein kleines Kind wäre, machte
sich mit dem rechten Arme Bahn, indem er nach rechts und links Faustschläge
austeilte, und im Nu fanden wir uns unten an der Treppe, hinter der Muchacha,
welche wie eine Verzweifelte lief und aus voller Kehle schrie, was sie nur konnte:
Ach, die Hunde, sie lassen ihn entschlüpfen! Ich bin verloren!
Als wir auf der Straße waren, setzte mich mein Retter zu Boden und
sagte: Könnt Ihr Euch auf den Füßen halten? — Ja. — Gut. So folgt mir.
In diesem Augenblicke hörten wir ein Geklirr von zerbrochenen Fenster¬
scheiben, die auf die Straße stürzten, und gleichzeitig fiel eine dunkle Masse
wenige Schritte vor uns auf den Boden.
Es war Mondejo, dem es geglückt war, aus dem Fenster zu springen. Er
lag ausgestreckt unbeweglich da, als wäre er tot. Die Weibsperson, welche ihn
aus dem Fenster hatte springen sehen, sofort einen Angstschrei ausgestoßen und,
um nicht zu fallen, sich an die Mauer eines Hauses gelehnt hatte — so war
ihr der Schreck in die Glieder gefahren —, faßte wieder frischen Mut, als sie
Mondejo unbeweglich liegen sah, klatschte in die Hände und rief: Er hat das
Genick gebrochen! Wohl bekomms ihm! Die Madonna hat mir beigestanden.
Die heilige Jungfrau sei gepriesen! Alle Heiligen des Paradieses seien ge¬
priesen!
Aber ihr Jubeln sollte nicht von langer Dauer sein. An dem Fenster,
durch welches sich Mvndejo seinen Verfolgern entzogen hatte, erschienen in dem
rötlichen Schimmer, welchen die Lichter im Innern in die Dunkelheit warfen,
fünf oder sechs Männer, welche mit ihren Waffen bandirten. Wo ist er? Wo
ist er? riefen sie, und bogen sich über die Fensterbrüstung, um ihre Blicke in
die Dunkelheit der Straße zu senken.
Ich sehe da unten etwas liegen, was sich bewegt! rief einer, und zeigte
nach jener Stelle, wo wir uns befanden.
Gebt Feuer auf ihn! schrieen die meisten.
Fort, fort! sagte mein Gefährte zu mir und nahm mich bei dem Arme,
UM meinen Schritt zu beschleunigen. Diese Schufte sind imstande, uns mit
ihren Kugeln das Fell zu durchlöchern.
Aber mit einem Angschrei hatte sich schon vor uns das Weib aufge¬
macht und eilte spornstreichs davon. Mondejo war wieder zu sich gekommen,
hatte sich leise aufgerichtet und machte sich nun, dicht an die Mauer gedrückt, auf
die Beine.
Wir bogen in vollem Laufe um eine Straßenecke, um uns vor den Re¬
volvern der Spieler in Sicherheit zu bringen. Wir hörten noch fünf oder sechs
Pistolenschüsse in der Straße, die wir eben verlassen hatten, und ein verwirrtes
Schreien, dann war alles still.
Nun hielten wir einen Augenblick an, um Atem zu schöpfen. Mit einem
male kam es uns vor, als ob ein heftiger Windstoß an uns vorbeiführe: ein
schwarzer Schatten stürzte sich auf das Weib, faßte sie und packte sie bei den
Haaren; die Ärmste hatte nicht mehr die Kraft zu schreien und fiel betäubt zu
Boden. Es war Mondejo, er hatte sich auf sie wie ein Tiger auf seine Beute
gestürzt. Mit der linken Hand hielt er sie bei den Haaren, und in der Rechten
funkelte die breite Klinge seines Messers.
Du glaubst mir zu entrinnen, Scheusal! sagte er mit wilder Stimme und
mit wildem Grinsen, und schüttelte sie mit ebensolcher Wildheit. Oh, weißt du
uicht, daß man dem Messer des Mondejo weder mit dem Beistande Gottes noch
mit dem Gebete der Hölle entflieht?
Die Ärmste krümmte sich vor Schrecken in krampfhaften Zuckungen.
Zu Hilfe! Zu Hilfe! brachte sie mühsam aus den vor Angst klappernden
Zähnen hervor. Edle Herren! Habt Mitleid! Laßt doch nicht ein armes Weib
ermorden!
Ich konnte mich nicht länger halten, stürzte vor und rief dem Wüterich
zu: Halt da! Ein schwaches, wehrloses Geschöpf zu töten, das thut nur ein
Feigling!
Da hörte ich, wie der Mann, der mich bis dahin geführt hatte — dieser
Teufelskerl von Josef hier —, halb verwundert, halb ärgerlich ausrief: Schön!
Da habe ich mir ja einen neuen Don Quijote gekauft. Was fällt ihm denn
ein, daß er sich für dieses Frauenzimmer, das keinen roten Heller wert ist, das
Fell durchstechen lassen will?
Mondejo hatte sich mit einem verächtlichen Erstaunen gegen mich gewandt,
so wie es etwa ein Löwe machen würde, der in seinem Geschäfte, ein Lamm zu
zerreißen, von einem Knaben durch Steinwürfe gestört wird. Ach so! Der
Landsmann! Du bist wohl verrückt? Höre meinen Rat, ich gebe ihn dir ein¬
für allemal, und mag er zu deinem besten dienen. Mische dich nun und nimmer
in die Angelegenheiten von Baldomar Mondejo! Nun geh deiner Wege.
Nein! antwortete ich fest; ich will Euch hindern, ein schändliches Verbrechen
zu begehen.
Ohne auch nur einen Blick auf mich zu richten, hob Mondejo jetzt sein
Messer über das Haupt des Weibes. Ich stürzte mich auf ihn, um ihn beim
Arme zu packen. Er brüllte wie ein wildes Tier, ließ das Weib los, schüttelte
mich ab, und im Nu fand ich mich der Länge lang zu Boden gestreckt, seine
Kniee auf meiner Brust und seine Klinge vor meinen Augen.
Aber in demselben Augenblicke sah ich einen großen, langen Körper sich
über uns beugen, einen großen fahlgelben Bart über Mondejos Haupte er¬
scheinen, zwei große Arme ihn packen und von mir reißen, und unmittelbar
darauf lagen wenige Schritte von nur zwei Männer in einen Knäuel ver¬
wickelt auf der Erde, um miteinander zu kämpfen. Ich atmete wieder frei und
dachte natürlich sofort daran, meinem Retter zu Hilfe zu kommen; aber die
beiden rangen so dicht Leib an Leib und gleichsam ineinander verschlungen, daß
ich, während ich dies entsetzliche Schauspiel voll Angst und Schrecken ansah, gar
nicht wußte, woran ich meinen Gefährten erkennen sollte. Von keinem von beiden
hörte man ein Wort, einen Ruf, aber sie atmeten schwer und röchelten, und
ab und zu kündigte Mondejos Gebrüll bei den Wechselfällen des Kampfes seine
Freude oder seine Wut an. Wie lange der Kampf dauerte, kann ich nicht sagen,
mir schien er wie eine Ewigkeit, obgleich er vielleicht nur wenige Minuten währte.
In jener Dunkelheit der Nacht und bei der Art und Weise, wie er stattfand,
kam er meiner aufgeregten Seele wie ein Gigantenkampf vor. Es schien mir,
als ob mein gutes und mein böses Schicksal, mein guter und mein böser Dämon
miteinander kämpften, und als ob von dem Ausgange dieses Kampfes mehr als
mein Leben, das Geschick meiner ganzen Zukunft abhinge. Und doch konnte ich
weiter nichts thun, als ängstlich stehen bleiben und meine Ohnmacht ertragen;
es war wie eine Art von Alpdrücken, wobei uns die Glieder gefesselt sind und
der Gott des Schreckens uns mit den fürchterlichsten Visionen bedroht.
Endlich hörte das hastige Drehen und Wenden auf. Einer der beiden
Kämpfer lag auf dem Boden ausgestreckt und ließ Kopf und Arme hängen, der
andre stand langsam auf und heftete sein Auge auf den Gegner, als fürchtete
er in dieser Ruhe einen Anschlag.
Der sich erhoben hatte, war mein Campion. Mondejo lag unbeweglich auf
der Erde. Ich warf mich dem mir bisher noch ganz unbekannt gewesenen
Manne an den Hals, fühlte, daß er mein Freund fürs Leben sei, und umarmte
ihn in ungestümer Aufwallung des Dankes und der Bewunderung.
Sachte, mein Junge! sagte er zu mir; ich habe hier am Kreuze und am
Arme einige Risse, die mir weh thun.
Ich hatte allerdings bei meiner Umarmung gefühlt, daß meine Hände von
einer lauwarmen Flüssigkeit benetzt wurden.
Seid Ihr verwundet?
Ein wenig. Dieser Schuft wollte mich mit seinem Messer bearbeiten, um
mir den Garaus zu machen, aber ich ließ ihm kein freies Spiel mit dem Arme,
er hat mir nur das Fell ein bischen zerhacken können. Jetzt dürfen wir uns
aber bei dem Kerl nicht länger aufhalten. Kommt mit und begleitet mich nach
Hause.
Das Weib hatte unterdessen unsre Dazwischenkunft benutzt und die Flucht
ergriffen.
Und der da? fragte ich meinen Gefährten und deutete auf Mondejo; ist
er tot?
O nein! Dazu gehört mehr, diesem Teufel in Fleisch und Knochen das
Leben zu nehmen. Ich habe nur für einen Augenblick seinen Atmungsapparat
außer Dienst gesetzt, indem ich ihn ein bischen fest an der Gurgel drückte; aber
zweifelt nicht, daß er wieder zu sich kommen wird. Ich hätte ihn töten könne»,
hätte einen Bösewicht, dessen ganzes Dasein zu nichts weiter dient, als Böses
zu thun, vom Erdboden beseitigen können, aber mir widersteht das, ich überlasse
dieses Amt der sozialen Sicherheit lieber andern Leuten. Laßt uns gehen.
Josef Devannis lag nun einen Monat im Bett, ich verließ ihn nicht. —
Adele wandte sich zu dem Freunde ihres Bruders und sagte im herzlichsten
Tone der Rührung: Nehmen Sie meinen Dank, daß Sie mir meinen Paul
erhalten haben!
Josef hatte sich eine große Havannazigarre angezündet und seinen Bart
ganz mit Dampf angefüllt, der nun nach allen Seiten hinauszog, sodaß er
aussah wie ein Köhlermeiler.
Den verdiene ich garnicht, antwortete er. Derartige Dinge machen sich ge¬
wissermaßen von selbst, ohne vorheriges Urteilen. Überdies war mir Paul
gleich beim ersten Anblick sympathisch gewesen. Es war so lange her, daß ich
unter jenen Kanaillen das Gesicht eines ehrlichen Mannes nicht gesehen hatte!
Und Mondejo? fragte der Doktor.
Josef hatte Recht gehabt, antwortete Paul; der Schurke hatte nicht ge¬
zögert, wieder zu sich zu kommen, denn am Tage nachher fand man den Kopf
des Weibes, welches ihm den Revolver entwendet hatte, auf der Schwelle des
Spielhauses, wo jene Szene vorgegangen war. Aber in der Stadt selbst ließ
er sich während der ganzen Zeit, wo wir noch dort blieben, nicht wieder sehen,
auch hörte man nichts von seinen Thaten. Und doch sollten wir schließlich
nochmals mit ihm zu thun bekommen.
Also doch? Und was geschah denn noch? fragte Cerci mit lebhafter Teil¬
nahme.
Zwei Monate nachher, vielleicht noch etwas später, wollten wir uns nach
Vera-Cruz begeben, um dort an Bord zu gehen und abzureisen. Wir hatten
erfahren, daß die Regierung ich weiß nicht wieviel Geld mit einer Kavallerie¬
eskorte dorthin senden wollte, und beschlossen, uns diesem Convoi anzuschließen,
denn wir wußten nur zu gut, wie unsicher die von zahlreichen Räuberbanden
beunruhigten Straßen waren. Wir erhielten leicht die Erlaubnis dazu und
rasten in einer Art von Diligence in Gesellschaft zweier Franzosen ab. Es
waren Leute in den besten Jahren, lebhaft und entschlossen, und so muntre
Reisegefährten, wie man sie sich garnicht besser wünschen konnte. Weiter waren
keine Passagiere da, und mit dem Regierungsbeamten, der die Geldsumme zu
überbringen hatte, waren wir im ganzen unsrer fünf. Nicht doch! Ich hatte
ja anch meinen braven Moschillo, der ebensoviel und wohl noch mehr gilt als
ein Mann, wie er das auch bei dieser Gelegenheit gezeigt hat.
Der Neufundländer, der sich in der Nähe träge ausgestreckt hatte, um der
Verdauung zu Pflegen, hatte kaum seinen Namen gehört, so hob er den Kopf
in die Höhe, guckte mit seinen schonen, hellen, klugen Augen den Herrn an und
wedelte vergnüglich mit dem Schwänze; als er aber sah, daß alles friedlich
zuging, daß man ruhiger Unterhaltung pflog und daß man seiner nicht
bedürfte, nahm er die Schnauze zwischen die Pfoten und sank wieder in seine
vorige Ruhe.
Paul fuhr fort: Die Eskorte bestand aus etwa zwanzig Ulanen, alle auf
prachtvollen Pferden, alle mit dem stolzen Gesicht von Helden, welche die ganze
Welt herausfordern wollen. Einer der Franzosen zeigte lachend mit dein Finger
auf sie und fragte: Wieviele Briganten genügen wohl nach Ihrer Ansicht, um
diese braven Verteidiger der ehrlichen Leute in die Flucht zu schlagen?
Sechs, antwortete Josef.
Gut! Ich sehe, daß Sie schon seit einiger Zeit hier im Laude sind. Und
nun, was uns betrifft, wieviel Briganten können wir nach Ihrer Ansicht auf
uns nehmen?
Zehn bis zwölf.
Sehr schön! Das will sagen, Ihr Herren Italiener, daß Ihr, wenn die
Gelegenheit sich darbietet — und sie wird sich ganz zweifellos darbieten —,
geneigt seid, die Partie zu übernehmen?
Ganz gewiß, rief Josef aus, und ich bin überzeugt, wir werden sie ge¬
winnen.
Wir waren an einer bergigen Gegend angelangt, die El Pincil heißt, weil
sie mit Pinien bedeckt ist; sie liegt dicht bei Huamantla, einem wegen seiner
Räuberanfälle wohlbekannten Orte. Auf Feld und Flur herrschte das tiefste
Schweigen, welches nur durch das Traben der Pferde und das Rollen des
Wagens gestört wurde. Plötzlich knallt dicht vor uns eine Art Pelotonfeuer,
ein Schreckensschrei erhebt sich, der Wagen schwankt, als ob er umstürzen wollte,
und bleibt stehen. Wir hören ein lautes Pferdegetrappel, hören, wie der Po¬
stillon der Diligence, der mit den von einer Gewehrsalve zum Tode getroffenen
Pferden an der Erde liegt, um Gnade fleht. Nun greifen wir zu den Waffen
und springen schnell aus dem Wagen, vor uns Moschillo, der wütend bellt.
Die mexakcmischen Ulanen hatten, ihrem System getreu, Kehrt gemacht und
verschwanden im vollen Galopp an einer Straßenbiegung; rings um uns zeigte
sich ungefähr ein Mandel Straßenräuber mit ihren tabaksbraunen Gesichtern
und ihren funkelnden Gewehrläufen; ein stattlicher, prächtig gekleideter Reiter,
welcher ihr Hauptmann zu sein schien, brach aus einem zur Linken gelegenen
Busche hervor, ließ sein schönes Pferd nach der Straße zu wenden und sprengte
auf uns zu, indem er mit der Meisterschaft eines vollendeten Kunstreiters kur-
bettirte. Der Postillon lag mit dem Schenkel unter seinem Pferde und schrie
Ach und Weh; der Regierungsbeamte, ein Mann in vorgerückten Jahren, hatte
seinen Rosenkranz herausgezogen, sich hinter den Wagen auf die Knie geworfen
und murmelte ?g.ehr nostsr und ^.of.
Josef faßte mich am Arme, deutete mit seinem Nevolverlaufe auf den
Räuberhauptmann, der immer näher kam.
Mondejo! rief ich aus. Ich hatte ihn sofort wiedererkannt.
Das heißt soviel, daß unser Schuß auf ihn nicht fehlgehen darf, seiner wird
sonst ganz gewiß nicht fehlgehen.
Nun wandte er sich zu den Gefährten und rief mit dem entschlossenen
Tone eines Mannes, der im Momente der Krisis sich würdig fühlt, das Kom¬
mando und die Führung zu übernehmen: Jeder nehme seinen Briganten aufs
Korn, ich nehme den Hauptmann auf mich.
Mondejo war mit der stolzen Miene eines edelmütigen Siegers heran¬
gekommen.
Holla! herab mit Euern Gewehren, rief er, und streckte die Rechte kom¬
mandomäßig ans; Euch soll nichts Übles widerfahren. Wir wollen nichts von
Euch, wir wollen mir die Regierungsgelder, die sind für solche brave Leute,
wie wir sind, bestimmt. Was habt Ihr damit zu thun?
Sollen wir Feuer geben? fragte ein ungeduldiger Franzose, der an seinem
Schnurrbart kaute.
Noch nicht, antwortete Josef ruhig.
In diesem Angenblicke hatte uns Mondejo wiedererkannt.
Ha, ha! meine Grünschnabel, sagte er auf Piemontesisch, mit wilder
Freude in den Augen; wußte ich es doch, daß mir der eine oder der andre noch
einmal in die Klauen fallen würde.
Zur schlechten Stunde für dich! schrie Josef, und feuerte auf ihn ab.
Aber der Bandit hatte den Schuß vorausgesehen. Er ließ plötzlich das
Pferd sich bäumen und schlitzte sich durch dessen Körper, da es auf die Hinter¬
beine zu stehen kam. Das arme Tier war in die Brust getroffen, stieß ein
schmerzhaftes Gewieher aus und fiel zu Boden. Mondejo hatte mit einer
indianerartigen Behendigkeit sofort die Füße aus den Steigbügeln gezogen und
stand mit einem Sprunge, seinen Revolver in der Hand, vor uns.
Leb wohl, Paul! rief Josef. Ich bin ein toter Mann! Denn er sah den
Lauf der nie fehlenden Waffe Mondejos auf sich gerichtet.
Der Schuß ging ab, und die Kugel durchbohrte — Josefs Hut zwei Finger
hoch über dem Kopfe, Wie das zugegangen war? Der brave Moschillo hatte
sich mit dem Ungestüm eines Löwen unserm Feinde an die Kehle gestürzt und
ihn in dem Augenblicke, wo er losfeuerte, zu Boden geworfen.
Die Räuber stießen einen Schreckensschrei aus.
Lapo! Lravc» Is ouisu. irons 1s, viotoirs! riefen die Franzosen, die
sich heldenmütig mitten unter den Kugelhagel schlagen, der rings um sie regnete.
In demselben Augenblicke hörte man das Getrampel einer Reiterschar und
erblickte an der Strcißenbiegnng die Lanzen der Mexikaner, welche ihre Scham
zurückführte, um zu sehen, was vorgefallen sei. Nun kam die Reihe an die
Räuber, Reißaus zu nehmen. Hätten diese Stand gehalten, so würden die
Ulanen sich wahrscheinlich von neuem auf die Beine gemacht haben, aber da
jene die Flucht ergriffen, so avancirten sie mit Siegermienen, um das Schlacht¬
feld zu behaupten.
Ruft diesen verdammten Hund weg! rief Mvndejo mit heiserer Stimme,
als er die Seinigen fliehen sah.
Ich machte Moschillo, der ihm das Garaus machen wollte, mit vieler
Mühe von ihm los; dann übergaben wir den Räuber den eben angekommenen
Ulanen.
Es wäre mir lieber, Ihr andern schlüge mich tot, sagte Mvndejo, als
daß Ihr mich dieser Kanaille in die Hände liefert.
Das ist nicht unser Handwerk. Wenn ich das gewollt hätte, so hätte ich
das schon in jener bewußten Nacht thun können, antwortete Devannis.
Nun gut. Aber wehe Euch, wenn ich entkomme.
Was werdet Ihr mit diesem Gefangnen machen? fragte Josef den Offizier
der Ulanen.
Wir bringen ihn nach Mexiko, da wird er füsilirt.
Einer von den beiden Franzosen war ziemlich schwer verwundet; ich hatte
eine Schramme an der einen Seite, alle übrigen waren unverletzt geblieben.
Wir spannten zwei Ulanenpferde an den Wagen, ein Soldat setzte sich an
die Stelle des Postillons, der einen Schenkelbruch erlitten hatte, und wir
konnten unsre Reise fortsetzen.
Vierzehn Tage nachher reisten wir auf einem französischen Dampfer von
Vera-Cruz ab, ohne je wieder etwas von Mvndejo gehört zu haben.
Moschillo schien es verstanden zu haben, daß von ihm und seinen Thaten
die Rede war. Er hatte sich aufgerichtet und war dicht an seinen Herrn ge¬
kommen, um ihm seinen großen Kopf ans die Kniee zu legen und ihn liebevoll
und Verständig anzuschauen, und als er an den lebhaftern Worten und Accenten
merkte, daß die Erzählung zu den Momenten, wo es am heißesten hergegangen,
gelangt war, La legte er sein Interesse durch ein leidenschaftliches Schwänzeln an
den Tag und ließ mit halber Stimme, als wohlerzogener Hund, ein anmutiges
Bellen ertönen.
Sie sind es, der das gethan hat, sagte Paul, als er zu Ende war,
und legte seine Hand auf den schönen Kopf Moschillos, Sie sind ein
braver Hund.
Und alle machten ihm den Hof. Adele liebkoste ihn voller Rührung mit
ihrer zarten Frauenhand, die Knaben streichelten sein dichtes wolliges Haar,
und selbst der Doktor schmeichelte ihm mit Wort und Hand. Er lief ver¬
gnüglich und mit sichtlichem Stolze von einem zum andern und nahm
diese Beweise der Hochachtung und der Liebe als eine höchst erfreuliche, aber,
wie ihm sein Gewissen sagte, durchaus nicht unverdiente Belohnung entgegen.
Und da der abseits sitzende Josef an dieser Ovation gar keinen Teil nahm und
das brave Tier mit Recht der Meinung war, daß es auch an ihn einen An¬
spruch auf Dankbarkeit habe, so begab sich Moschillo zu ihm, hob mit
brüderlicher Vertraulichkeit die Vorderpfoten in die Höhe und legte sie ihm
auf die Brust.
Ha! bist du da, mein edler Freund? sagte Devcmnis, nachdem er seinen
Trabucos aus dem Munde genommen hatte. Du bist derjenige, dem ich mein
Leben verdanke, nicht wahr? Gewiß, gewiß!
Und nun nahm er den Kopf des Hundes zwischen beide Hände, näherte
ihn seinem Gesicht und rieb seinen dichten Bart an der Schnauze Moschillos,
der sich als der glücklichste Hund auf der ganzen Welt vorkam.
Mit einemmale spitzte Moschillo die Ohren und stürzte nach dem Garten¬
gitter zu.
Von der Richtung, wo das Bade - Etablissement lag, kam in demselben
Augenblicke eine zahlreiche Kavalkade von eleganten Herren, an ihrer Spitze eine
Dame im Amazonenhabit von dunkler Farbe, mit langen, im Winde um ihr
Gesicht flatternden Locken des reichsten blonden Haares, mit einem vom Hute
wallenden Schleier von himmelblauer Farbe. Diese ganze Kavalkade schwatzte,
so laut sie konnte, um das Geräusch der galoppirenden Pferde zu übertönen, und
mancher Mund brachte nur mit keuchender Stimme einen Witz hervor, um zu
der allgemeinen Unterhaltung, welche die Dame um jeden Preis lebhaft sehen
wollte, seinen Beitrag zu liefern. Ab und zu ertönte ein lautes Gelächter, und
die Dame brauchte nur anzufangen, so teilte sich dies Lachen allen Gesichtern
dieser Kavaliere, welche sich gleichsam tumultuarisch um die schöne Amazone
drängten, wie eine Parole mit und lief durch Reih und Glied. Wir nannten sie
schön, denn man muß wissen, diese Dame war, und ganz besonders in diesem
Augenblicke, von einer wundervollen, geradezu verführerischen Schönheit.
In dieser Art von Sturmwind, welchen Pferde, Reiter, Staub und Stimmen
verursachten, behielten die Federn, der Schleier und das laute und silberne Lachen
der Dame die Oberhand. Und alles das näherte sich mit reißender Schnelle
und mit Donnergepolter wie eine Lawine dem Garten des Doktors. Moschillo
hatte sich bei dem unbändigen Geräusch auf seine Pfoten postirt und erhob mit
seiner sonorsten Hundestimme dagegen Widerspruch.
(Fortsetzung folgt.)
(Vergl. den Aufsatz „Zu einem
preußischen Schuldotatiousgesetz im 13. Hefte.) Unter „Volksschulen" verstehen
wir die der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienenden ein- oder mehr-
klassigen Lehranstalten, in welchen die Kinder während des schulpflichtigen Alters
nach den ministeriellen Regulativen vom 1ö. Oktober 1872 unterrichtet wer¬
den. Für die Erteilung dieses Unterrichts sollte der Staat (unter gewissen
später zu erwähnenden Verhältnissen unentgeltlich) Sorge tragen. Alle weiter¬
gehenden Kenntnisse, welche man als höhere Gymnasial- oder Realschul¬
bildung zu bezeichnen Pflegt, sollte man sich nur auf den staatlichen höhern Lehr¬
anstalten oder in Privatschulen auf eigne Kosten erwerben dürfen. Gymnasien
und ähnliche höhere Lehranstalten aus Komnmncilmitteln einzurichten, halten wir
für nicht zulässig, denn die Schule ist ihrer Entstehung und ihrem innern Wesen
nach keine Kommunalanstalt, sondern eine Staatsanstalt. Es involvirt eine schwere
Verletzung der Rechte und Interessen derjenigen Gemeindemitglieder, welche von
einer solchen höhern Lehranstalt für ihre Kinder keinen Gebrauch machen können und
keinen Gebrauch machen wollen, wenn die Errichtung derartiger Schulen durch
Mehrheitsbeschlüsse der Gemeindevertretungen durchgesetzt wird. Den Gemeinden
sollte das Recht, derartige Beschlüsse zu fassen, durch Gesetz entzogen werden.
Dies würde sich umsomehr empfehlen, als wir in betreff der höhern Lehranstalten
an einer schädlichen Überproduktion leiden. Wenn das so fort geht, werden wir
bald in jeder kleinen Stadt und in jedem größern Dorfe ein Gymnasium oder
eine Realschule höherer Ordnung entstehen sehen. Die Gründe für diese Er¬
scheinung sind keineswegs in erster Linie in dem Streben nach erhöhter Bildung
zu suchen (abgesehen davon, daß über den Begriff „Bildung" die merkwürdigsten
Irrtümer herrschen). Im Gegenteil geht das Streben in der Regel nur dahin,
den Kindern die Qualifikation zum einjährig-freiwilligen Dienste zu verschaffen und
zwar am Wohnsitze der Eltern und von Lehrern, welche ihre Existenz der Ge-
meinte und den Eltern verdanken. Auch geschäftliche und wirtschaftliche Rücksichten
sprechen oft mit bei der Errichtung solcher gelehrten Gemeindeschulen, denn man
erwartet von dem Zuzug der Schüler und von der öftern Anwesenheit der Eltern
und sonstigen Angehörigen der Schüler in dem Städtchen mancherlei Vorteile in
gewerblicher Hinsicht. Die Eifersucht auf andre kleine Städte, welche mit der
Gründung derartiger anscheinend lukrativer Anstalten vorangegangen sind, ist ebenfalls
oft das Motiv zur Nacheiferung, und so entsteht denn ein förmliches Wettrennen
nach höhern Lehranstalten. An und für sich mag das alles garnicht so übel und
auch Wohl hie und da von einem gewissen Erfolge begleitet sein, aber es entspricht
nur nicht dem Wohle des Landes in seiner Gesamtheit und auch nicht den: Wohle
der überstimmten Minoritäten innerhalb der Gemeinden. Wohin ein solches Vor¬
gehen schließlich führt, zeigt sich recht deutlich in dem Umstände, daß die Kosten
für die auf diese Weise gegründeten höhern Schulen der Gemeinde bald drückend
werden, und daß dann die Anträge kommen, der Staat möge die Anstalt über¬
nehmen. Solche Anträge sollten grundsätzlich zurückgewiesen werden in allen Fällen,
in denen das Bedürfnis zur Vermehrung der höhern Lehranstalten bei der Gründung
derselben von feiten des Staates nicht anerkannt worden ist. In der Regel wird
angenommen, daß der Staat einer vollendeten Thatsache gegenüber nicht wohl
anders könne, als die Anstalt zu übernehmen; darin liegt aber ein unzulässiger
Druck auf die Entschließungen der zuständigen Behörden, welche allein zu ermesse»
haben, wie viele höhere Lehranstalten für den vernünftigen Bedarf erforderlich sind.
Diese Einschränkung ist nötig, weil sich sonst garnicht übersehen läßt, welche Mittel
erforderlich sind, um diese Anzahl willkürlich geschaffener Anstalten zu unterhalten.
Hat man erst auf diese Weise das Ausgabe-Soll festgestellt, so wird es sich
darum handeln, auch für das Einnahme-Soll die nötigen Anhaltepunkte zu ge¬
winnen. Hierbei hat mau keineswegs davon auszugehen, daß sich die Mittel nur
durch eine allgemeine Schnlsteuer decken ließen, vielmehr muß darauf Bedacht
genommen werden, zunächst einen allgemeinen Schulfonds oder Schulfiskus zu
schaffen. Derselbe hätte, soweit es sich um die staatliche Unterhaltung der Volks¬
schule handelt, seine Einkünfte zu entnehmen aus dem vorhandnen Schulvermögen.
Das letztere besteht teils in liegenden Gründen und in Gebäuden, teils in An¬
sprüchen auf gewisse Leistungen gesetzlich verpflichteter Grund- oder Kapitalbesitzer
und müßte, in Geld umgewandelt, dem Schulfiskus zufließen.
Es ist uns sehr wohl bekannt, daß die im Z 6, Absatz 2 des Gesetzes vom
2. März 1850 (Geh.-Samml. S. 77) und im § 2 des Gesetzes vom 15. April 1857
(Geh.-Samml. S. 363) gedachten, hierher gehörigen Lasten bis jetzt nicht ablösbar
sind; der Grund hierfür liegt aber darin, daß man diese Reallasten mit Rücksicht
auf die Währung des öffentlichen Interesses erhalten zu müssen glaubte, wobei
man annahm, daß dies öffentliche Interesse die Erhaltung der dort bezeichneten
Lasten zur sichern Erfüllung der dem Gemeindewohl dienenden Zwecke erheische.
Dieser Grund fällt aber weg, sobald der Staat die Volksschule allein übernimmt,
weil er „sicher" genug ist; es würde also nichts entgegenstehen, jene Lasten nunmehr
dnrch Gesetz für ablösbar zu erklären und dieselben sodann auch wirklich abzulösen
und den Ertrag dem Schulfiskus zuzuführen. Dahin gehören die in dem All¬
gemeinen Landrecht (Teil II, Tit. 12, ZK 33 und 36) erwähnten Verpflichtungen
der Gutsherren, welche sich als wirkliche Rcallasten darstellen und abgelöst den
Vcrkaufswert der Grundstücke ebenso erhöhen, wie sie denselben jetzt herunter¬
drücke». Auch das Stiftungsvermögen der Volksschulen (a. a. O. Z 29) müßte dem
Schulfiskus zufließen, soweit sich dies nach den Stiftnngsurkunden rechtfertigen ließe.
Alle diese Mittel im ganzen Staate zusammengenommen würden schon eine an¬
sehnliche Summe repräsentiren und dem Staate die Erhaltung der Volksschule
erleichtern helfen. Eine fernere Erleichterung wäre aber auch in der Bildung
zweckmäßiger Schulbczirke zu finden, welche jetzt bei den vielfach konkurrirenden
und divergirenden Interessen der bei der Erhaltung der eignen Schulen beteiligten
Gemeinden nicht überall zu finden sind.
Sollten auch dann noch Mittel zur Bestreitung der Kosten fehlen, so müßte
freilich eine Schnlsteuer erhoben werden, es läge aber darin auch gar keine Härte,
nachdem den Ceusiteu die Schulunterhnltungslast (Lehrergehalt und Schnlbaukosten)
abgenommen wäre. Diese Schulsteuer sollte mau auf die landrätlichen Kreise
kontiugentiren und mit den Kreiskommunälstenern (vgl. Z 10 der Kreisordnung
vom 13. Dezember 1872, 19. März 1381, oder die betreffenden Bestimmungen in
den neuen Provinzen) zur Erhebung gelangen lassen*); den Kreisen wäre als Ersatz
der Ertrag des Schulgeldes zu überweisen, und der letztere wäre den Gemeinden
und Gutsbezirken bei der Unterverteilung wieder gutzuschreiben. Dadurch würde
dann auch gleichzeitig das Neklamationsverfahrcn (a. a. O. Z 19) geregelt, und der
Abschnitt III des Tit. V des Zuständigkeitsgesetzes vom 26. Juli 1376 (später
Tit. VII des Zuständigkeitsgesetzes Vom 1. August 1383, Geh.-Samml. S. 253)
würde entbehrlich, diese gesamte Materie mithin erheblich vereinfacht werden.
Was das Schulgeld betrifft, so geht die Verfassung (Art. 25. Abs. 3) in ihren
theoretisirender Bestrebungen offenbar viel zu weit, wenn sie dasselbe gänzlich ab¬
schaffen will. Das jetzt übliche Schulgeld (zwei bis drei Mark jährlich für das Kind,
und das dritte Kind frei) kann anch den Ärmsten nicht bedrücken und bietet außerdem
für Eltern und Erzieher einen Antrieb, die Zwecke der Schule fördern zu helfen.
Wird der zur Zahlung des Schulgeldes verpflichtete zuweilen daran erinnert, daß
ihm sein Kind oder Pflegebefohlener durch die Schule Kosten verursacht, so wird
er für sein Geld auch Erfolge sehen wollen und wird in der Regel ein Interesse
daran nehmen, daß die Schule auch ordentlich besucht und benutzt werde. Ganz
ungehörig und ungesetzlich ist es aber, den Kindern schulgeldfreien Unterricht in
Gegenständen erteilen zu lassen, welche über das obenbezeichnete eigentliche Ziel
der Volksschule hinausgehen. Dies ungesetzliche Verfahren führt nur zur Überfüllung
der betreffenden Schulen oder Klassen mit unnützen Faulenzern, die von Vätern
und Erziehern ruhig in der Schule gelassen werden, weil es ja doch nichts kostet.
Mag sich der Lehrer mit den Schlingeln hcrumärgeru. Wollte man diesem
Schulverstantlichuugsgcdanken, der ja hier nur in dem allgemeinsten Umrissen an¬
gedeutet werden kann, Gestalt geben, so würde sich bald herausstellen, welchen
Segen der Lehrerstand, die Schule und damit der Staat davon haben würde.
Auskömmliches Gehalt und zweckmäßige Wohn- und Schulräume, vollständige Un¬
abhängigkeit von der Gemeinde und den einzelnen Mitgliedern derselben, das
Aufhören der zahlreichen und widerwärtigen Kämpfe zwischen dem Lehrer und der
Gemeinde wegen der Existenzmittel und der Wohnungsaugelegenheiten der Lehrer,
das alles wären doch für die Gemeinde selbst und für die Lehrer keineswegs zu
unterschätzende Vorteile und ganz besondre Anrcizmittel für dieselben, die Zwecke
des Staates zu fördern. Mit Recht legt die Staatsregierung einen großen Wert
auf die erste Erziehung des künftigen Staatsbürgers, welcher in wahrhaft patriotischen
Anschauungen aufwachsen muß, um nicht später den Einflüssen der staatsfeindlichen
Elemente gar zu leicht zu unterliegen.
Was die Rekrutirung des Lehrerstandes betrifft, so wird vielfach darüber
geklagt, daß die Lehrer zu jung ins Amt kommen und für die Anfechtungen des
Lebens dann noch zu unreif sind. Das hat manches für sich. Man sollte deshalb
die jungen Leute erst uach vollständiger Erfüllung der Militärpflicht in das Amt
einsetzen und sie vor der definitiven Anstellung noch einen seminaristischen Wieder¬
holungskursus durchmachen lassen. Dann würden sie sowohl mit den erforderlichen
Kenntnissen, als auch mit den richtigen Begriffen von Gehorsam und Disziplin
ausgerüstet in das Amt eintreten, denn wer erziehen will, muß erst selbst er¬
zogen sein. Gerade dem „gedienten" Lehrer sollte man bei den Anstellungen überall
den Vorzug einräumen, dann würde der jetzt oft so empfindliche Lehrermangel schon
aufhören. Die weitere Ausführung dieses Gedankens in betreff der Zivilversorgungs-
bercchtigungen wollen wir vorläufig dem Nachdenken des vorurteilsfreien Lesers
überlassen.
Es giebt namentlich in den gebildeten Ständen eine Menge von Leuten,
welche mit den politischen Zuständen im neuen deutschen Reich unzufrieden sind,
es beklagen, daß eine große Mehrzahl der Nation so schnell das große Einigungs¬
werk vergessen hat, daß sich der Partikularismus wieder breit macht, die gedanken¬
lose Phrase vorherrscht und ein unfruchtbarer Parlamentarismus die praktischen,
sichern und selbstbewußten Ziele unsers großen Staatsmannes mit kleinlichen
Mitteln zu vereiteln bestrebt ist. Pessimisten dieser Art sind keine Parteimänner,
im Gegenteil, sie haben an jeder einzelnen Fraktion und Gruppe etwas auszusetzen,
und so kommt es denn, daß das vorliegende Buch, soviel wir haben sehen können,
gänzlich totgeschwiegen wurde. Denn in dieser Beziehung ist die deutsche Tages¬
presse einig, so sehr sie auch sonst miteinander in Fehde liegt. Wer nicht in das
Parteihorn bläst, gilt als abgethan, und wer gar gegen alle Parteien auftritt, der
wird von allen zu den Toten geworfen. Ein solches Schicksal verdient das
vorliegende Buch durchaus nicht, obwohl der Verfasser, nach dem begeisterten Ton,
den er anschlägt, den Wert desselben zu überschätzen scheint. Es ist ganz gut,
wenn ein gebildeter Mann nach den eingangs geschilderten Motiven ein Bild
unsers Volkes namentlich in politischer Richtung entwirft und demselben einen
Spiegel Vorhalt, aus dem uicht gerade schöne Züge zurückstrahlen. Aber in den
Einzelschilderungen ist der Verfasser zu sehr ins Breite gegangen, denn für die¬
jenigen, die seine Ansicht auch nur im allgemeinen teilen, braucht es diese Aus¬
führungen nicht, und der großen Menge gegenüber ist nicht die Quantität der
Gründe maßgebend. In Einzelnheiten müßte dem Verfasser vielfach entgegen¬
getreten werden, und es würde auch nicht schwer werden, ihm sein erstes Ideal,
das englische Volk und das englische Staatsleben, nach seinem Wert um ein Be¬
deutendes herabzusetzen. Auch ließe sich wohl streiten, ob Herr Miquel in der
That der große Politiker und Staatsmann sei, dessen Kräfte die deutsche Nation
so dringend bedarf. Endlich ist der Polemik gegen Herrn Eugen Richter, so
zutreffend sie auch ist, doch ein größerer Spielraum gegeben, als ein Politiker
dieses Schlages verdient. In dem letzten Abschnitte entwickelt der Verfasser seine
Gedanken über den plastischen Aufbau der Nation. Leider findet sich hier kein
einziger nennenswerter Vorschlag, der als praktisch gelten könnte. Selbst wer in
allen Punkten dem Verfasser beistimmen wollte, der wüßte nicht, wie diese Ideen
zu verwirklichen wären, oder würde sie in sehr verschiedner Weise angreifen können.
Kurz, der Verfasser verfällt selbst in die Methode des Philosophirens, den er als
einen Fehler der Nation geißelt.
Die Wechselwirkung zwischen der Verfassung der Gesamtheit und der Ver¬
fassung der einzelnen Glieder ist auch in Deutschland stets hervorgetreten, und
daher findet sich aus allen Etappen, welche das deutsche Verfassungsleben seit einem
Jahrhundert etwa durchgemacht hat, eine Sammlung der im Reiche geltenden Ver¬
fassungen. Den Beginn bilden die Sammlungen I. I. Mosers und Pütters, welche
aus den letzten Zeiten der Agonie des heiligen römischen Reiches deutscher Nation
stammen, Klüber und Mariens bringen uns die Verfassungen aus der Zeit von
Deutschlands tiefster Erniedrigung im Rheinbund und aus dem Anfang der ge¬
täuschten Hoffnungen nach den Freiheitskriegen. Die letzte große Sammlung von
H. A. Zachariä hat den alten Bund nach seiner Rekonstruktion von 1850 zur
Grundlage und giebt die vielfach tumultuarischen Verfassungsergebuisse des Jahres
1843, wo namentlich in den kleineren Staaten die Domanialfrage noch ungelöst
war. Das Bild hat sich mit der Gründung des Norddeutschen Bundes und des
deutschen Reiches bedeutend geändert; mit dem deutschen Bunde und dessen völker¬
rechtlicher Akte sind auch die Verfassungen von Österreich, Luxemburg, Liechtenstein,
Hannover, Kurhessen, Nassau, Holstein, Lauenburg, Hamburg und Frankfurt dem
Rahmen des deutschen Verfassungsrechtes entfallen, andre sind nen erstanden, wie
die Verfassung von Lübeck (1875), Hamburg (1879), Schaumburg-Lippe (1368),
eine Reihe andrer hat erhebliche Änderungen erfahren. Es ist ein mühseliges
Unterfangen, sich aus den verschiedenen Bänden der Gesetzsammlungen der einzelnen
Staaten das z. Z- geltende Verfassungsmaterial zusammenzusuchen und daher ein
sehr verdienstliches Unternehmen, welches der Herausgeber der vorliegenden Samm¬
lung verfolgt. Derselbe stellt die Verfassungen und die konstitutionellen Gesetze
des Reiches und der einzelnen Bundesstaaten in ihrer gegenwärtig geltenden Form
zusammen. Ausgenommen ist nur Mecklenburg, dessen beide Großherzogtümer
sich bekanntlich noch keiner sogenannten Konstitution erfreuen. Die obsolet ge¬
wordenen Bestimmungen sind überall hervorgehoben, sodaß das Buch gleichzeitig
auch eine Übersicht der Verfassungsgeschichte gewährt.
Der Verfasser dieses Buches ist gewiß von den besten Absichten durchdrungen,
und seine Erkenntnis, daß das deutsche Volk in seiner breiten Mehrheit noch lange
nicht zu einer ordentlichen Politischen Durchbildung gelangt sei, wird als richtig
und zutreffend bezeichnet werden müssen. Aber nicht jeder, der gute Absichten
verfolgt und gesunde politische Einsicht besitzt, ist berufen, Bücher zu schreiben.
Eine Inhaltsangabe dieses umfangreichen Buches zu geben würde bei aller Gast¬
lichkeit der Grenzboten den Raum der Zeitschrift und die Geduld der Leser er¬
schöpfen, denn es fehlt jeder logische Zusammenhang. Der Verfasser selbst giebt dem
Leser den Rat, mit dem vierten Kapitel zu beginnen, d. h. zunächst einmal
214 Seiten zu überschlagen. Mitten in die Abhandlung über die Volksseele
kommt eine banale Reisebeschreibung dnrch Deutschland und die Schweiz, vermischt
mit politischer Kannegießeret. Dabei ist der Verfasser von einem außerordentlichen
Selbstbewußtsein durchdrungen und stellt Briefe der Höflichkeit, wie sie ihm für
die Übersendung seiner Schrift über die Notwendigkeit einer sozialpolitischen Pro-
pädeutik zugesandt worden sind, als vollwichtige Zeugnisse über den Wert seines
Buches hin. Es ist uns mehr als zweifelhaft, ob die Veröffentlichung dieser
Briefe im Sinne der Schreiber erfolgt sei. Auf die Grenzboten ist der Verfasser
besonders schlecht zu sprechen, weil der erste Rezensent der vorerwähnten Schrift
— Grenzboten 1882, Heft 27 — sich bemühte, die breiten Gedankenausführungen
des Verfassers in einfaches Deutsch zu übertragen und kein Entzücken über die
erster» verriet. Auch diese Vorwürfe werden ertragen werden müssen. Die
kritische Gerechtigkeit muß gegen links und rechts beobachtet werden, und das
Sprichwort „Gott bewahre uns vor unsern Freunden" möchte auch den literarischen
Ergüssen des Verfassers gegenüber am Platze sein.
Diese Betrachtungen sind eigentlich nur eine Kritik der vortrefflichen Lassonschen
Rechtsphilosophie, aber sie sind, wie es bei Carriere nicht anders zu erwarten steht,
geistvoll geschrieben und enthalten eine Reihe beherzigenswerter Sätze. Einen
derselben wollen wir besonders hervorheben, in der Hoffnung, daß auch Carrieres
Freund, der Abgeordnete Bamberger, diesen Satz nicht bloß lesen, sondern anch für
sich und seine politischen Gesinnungsgenossen der deutsch-freisinnig-liberal-fortschritt¬
lichen Partei nutzbar machen werde. Es ist dieser Satz die beste Kritik der von
dem manchesterlichen Dreigestirn Bamberger, Barth, Brömel — die drei B wiegen
uoch lange nicht den einen Bismarck auf — verfaßten Anathems des Staats¬
sozialismus. Carriere schreibt: „Daß der große Kanzler nach Politischen Thaten
von weltgeschichtlicher Bedeutung, nach den Siegen der Diplomatie und der Wieder¬
aufrichtung des Reiches vor die Sphinx des zu Ende gehenden und des künftigen
Jahrhunderts, vor die soziale Frage mit offenem Mute getreten, daß er die Lösung
derselben, die mannichfaltig sein muß, wie sich die Frage aus vielen Elementen
zusammensetzt, vor aller Welt in die Hand genommen, das wird ihm die Nachwelt
so hoch anrechnen, wie es jetzt nur wenige Einsichtige thun. Mit kühnem Griffe
hat er den unfruchtbaren formalen Debatten gegenüber diese gewichtige Frage auf
die Tagesordnung gesetzt, und niemand wird sie davon wieder abbringen. Bis
jetzt haben die parlamentarischen Kräfte sich weder ihm, noch der Sache gewachsen
gezeigt; statt die dargebotene Hand zu erfassen und die Angebote weiter zu führen,
verlor man sich in konstitutionelle Bedenken; Mißgriffe fürchtend, die ja kaum
ausbleiben werden, wo neues geschaffen, aus dem Chaos ein Kosmos gemacht
werden soll, zögert man, überhaupt ordentliche wirksame Griffe zu thun."
utersuchcn wir zunächst die erstere der beiden aufgeworfenen
Fragen. Ist denn eine Aussöhnung der streitenden Teile un¬
möglich? Kann denn nicht die für beide Gruppen beengende
unbequeme Gegnerschaft durch einen Kompromiß ausgeglichen, das
gegen den Eroberer von 1871 geschleuderte Anathema aufgehoben
und die Einheit Italiens von dem Haupte der Kirche anerkannt werden? Diese
Frage werden alle diejenigen verneinen müssen, für welche die Herstellung des
Kirchenstaates ein Glaubenssatz ist. Wir scheiden eine Erörterung derselben
aus, weil das religiöse Gebiet hier nicht berührt werden soll. Aber angenommen,
daß die Kurie den Grundsatz des lolsrkri xossg auch auf das gegenwärtig
faktisch bestehende italienische Staatswesen zur Anwendung brächte, und daß
die Frage der weltlichen Herrschaft des Papstes bei den Verhandlungen über
einen Kompromiß ausgeschlossen bliebe, so kann es zweifelhaft sein, ob ein
solcher Kompromiß beiden Gruppen die gewünschten Vorteile brächte. Eine
der ersten Folgen der Aussöhnung würde sein, daß der Papst die für die An¬
hänger des Vatikans von Pius IX. ausgegebene, von seinem Nachfolger aufrecht
erhaltene Parole elfte-i us Ästtori wieder aufhöbe und der Klerus mit
seiner ganzen Gefolgschaft offen in den Wahlkampf der Parteien einträte.
Die Aufhebung jenes Interdikts würde eine große Masse bisher müßig ge¬
wesener Wähler an die Urnen führen und eine bedeutende Verschiebung in
dem Stimmenverhältnis der parlamentarischen Gruppen zur Folge haben. Ja
man kann voraussehen, daß die konservative Rechte einen großen Teil ihrer
Mitglieder an die neue klerikale Partei abgeben und diese auch aus den andern
Fraktionen noch alle diejenigen Individuen an sich ziehen würde, welche mit
ihrer kirchlichen Gesinnung nur deshalb zurückhalten, weil sie in dem Papste
den Gegner der Einigung Italiens erkennen oder doch vermuten. In einem
Punkte ist die große Masse des italienischen Volkes einig, in dem uner¬
schütterlichen Festhalten nämlich an den nationalen Errungenschaften der sech¬
ziger Jahre. In der politischen Phase, welche gegenwärtig die öffentliche
Meinung Italiens beherrscht, wird jedes Parteiprogramm, das der nationalen
Idee entgegentritt oder sie auch nur abzuschwächen sucht, mit dem Stigma des
Vaterlandsverrates belegt werden. Die äußere Machtstellung des Königreichs,
seine diplomatischen Verbindungen und die politischen Aussichten, welche sich
dem Lande als Seemacht am Mittelmeer eröffnen, haben zuviel verlockendes,
schmeicheln zu sehr dem nationalen Selbstgefühl, als daß die Parteien der
verschiedensten Schattirungen sich nicht in dem Wunsche der Erhaltung dieser
Vorteile begegnen sollten. Das Mißtrauen aber gegen eine klerikale Partei
muß natürlich schwinden, sobald das Haupt dieser Partei die Fehde mit dem
Königtum aufgegeben hat, und eine Bekämpfung nationaler Interessen von dieser
Seite her nicht mehr befürchtet wird. Aus dem konservativen Lager würden
die Anhänger des Vatikans bei ihrem Eintritt in die parlamentarische Arena
sogar freudig begrüßt werden, denn eine mächtige Stütze böte sich jenen in dem
Kampfe mit den Radikalen und republikanischen Elementen der Nation. Der
Einfluß des Klerus wird auch in Italien nicht unterschätzt, wenn er gleich
dort weniger mächtig ist als in andern katholischen Ländern. Wird aber
die Kurie aus dem Eintritt in die parlamentarischen Wahlmanöver und Ma¬
joritätsbeschlüsse dauernd Vorteil ziehen? Kann der Papst, das geistliche
Oberhaupt aller katholischen Christen, die Führung einer politischen, trotz ihrer
kirchlichen Sonderinteressen immer doch nationale Ziele verfolgenden Partei
übernehmen? Wird er nicht stets als der eigentliche Leiter dieser Fraktion
angesehen und seine erhabene Person in die Parteimanöver, Wahlagita¬
tionen und Preßfehden verstrickt werden, welche das Beiwerk des modernen
Konstitutionalismus bilden? Man kann uns entgegnen, daß eine solche stille
Teilhaberschaft an der Parteitaktik klerikaler Fraktionen verschiedner Parlamente
bereits bestehe, daß das Zentrum des deutschen Reichstages sein Not ä'orclrs
aus Rom erhalte, daß die Kurie zu keiner Zeit Anstand genommen habe, ihr
Ansehen und ihren Einfluß auch auf unkirchlichen Gebiete durch politische
Agitationen und Kabinetintriguen aller Art zu befestigen oder zu erhalten.
Aber der Vorwurf, der sich gegen die ultramontanen Genossenschaften richtet,
daß sie ihre Befehle und Instruktionen von einem außerhalb des Landes lebenden,
über die nationalen Interessen schlecht oder ungenügend unterrichteten Chef
empfangen, dieser Vorwurf muß in Wegfall kommen, wenn jener Chef im
Lande selbst residirt, die Gastfreundschaft der Nation genießt und die Anhänger
seiner Partei eben dieser Nation angehören. Die Haltung der Partei und ihres
Führers wird damit der Kontrole aller Bewohner des Landes überantwortet,
und man kann erwarten, daß im vorliegenden Falle die italienische Nation ein
wachsames Auge für die Wahrung ihrer weltlichen Interessen haben würde.
Und was das Schlimmste ist, der Papst kann auf diese Führerschaft nicht ver¬
zichten, sobald seine Anhänger ihren Sitz auf dem Monte Cittorio einnehmen.
Einmal in den parlamentarischen Kampf hineingezogen, muß die konservativ¬
klerikale Partei auch die Majorität in der Kammer zu gewinnen trachten. Denn
von dieser Majorität hängt es dann ab, ob die Garantien von 1871 erweitert
oder der Kurie gewisse Vorrechte, welche sie vordem besaß, wieder eingeräumt
werden. In Fragen des Schulwesens, der Priestercrziehung, der Temporalien,
der Befreiung vom Militärdienste würde jene Majorität zweifellos der Kirche
einen Teil der alten Privilegien zurückerobern. Die Einrichtungen aber, welche
eine parlamentarische Mehrheit trifft, bestehen nur solange, als diese Mehrheit
dauert. Einen längern Bestand davon zu hoffen ist eine Täuschung, wenngleich
eine sehr verbreitete. Und wer garantirt eine längere Herrschaft der klerikalen
Partei? Sollen die Rechte der Kirche jedesmal vom Ausgange der Wahl
abhängig gemacht werden? Wird man bei einer so erregbaren Bevölkerung,
wie die italienische ist, auf die längere Dauer überhaupt irgend einer Partei¬
herrschaft rechnen können? Wir brauchen auf diesen Punkt nur hinzudeuten,
so wird es verständlich, warum der Papst das Verbot der Wahlbeteiligung noch
aufrecht erhält und dem italienischen Volke lieber als Sankt Petrus in vinoulis
erscheinen will, denn als Führer einer parlamentarischen Fraktion. Die un-
kontrollirbare Thätigkeit der Agenten der Leolssia ilMwns wird durch jene
äußere Abstinenz natürlich nicht beschränkt.
Nehmen wir aber selbst den, wie gesagt, unwahrscheinlichen Fall an, daß
eine friedliche Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche in Italien aus¬
führbar sei und die Abgrenzung der Rechte ohne stete Erneuerung des Konflikts
eingehalten würde, so würden damit die Bedenken gegen die enge Nachbarschaft
der beiden Residenzen noch nicht beseitigt sein. Denn der Papst ist und bleibt
souverän, und er ist für alle katholischen Höfe der erste und höchste Souverän
der Welt. Auch ohne weltlichen Besitz bleibt ihm diese Eigenschaft erhalten. Sie
ist auch von der Revolution respektirt worden. Jetzt, wo eine breite Kluft die
feindlichen Hoflager scheidet und die Parteien der biWvni 6 nsri jede gesellschaft¬
liche Berührung vermeiden, hat die Koexistenz der beiden Souveräne an einem
und demselben Ort schon eine Reihe von Unzuträglichsten zur Folge. Noch
unbequemer, noch schwieriger würde die Lage werden, wenn die Schranken der
Gegnerschaft fielen. Wer ist dann der Herr auf dem Platze? Soll der Papst
stets nur Gast des Königs sein, mit dem Genuß der Exterritorialität vielleicht,
welche auch den Botschaftern zugestanden wird? Oder soll der jüngste der
katholischen Könige dem Primas der Souveräne den Vortritt lassen? Wird
nicht die Strahlenkrone der Tiara den Glanz des Vürgcrtonigtums ver¬
dunkeln?
Welche unabsehbaren Schwierigkeiten im Verkehr, in der Etikette werden
da nicht heraufbeschworen? Als der Kronprinz des deutschen Reiches vor we¬
nigen Monaten den Weg nach Rom einschlug, lag die Frage in aller Munde:
Wem gilt eigentlich der Besuch, dem Papst oder dem König? Wenn die An¬
wesenheit eines protestantischen Fürsten schon eine Reihe kleinlicher Etikettefragen
hervorrief, welche fast geeignet waren, den Zweck der Reise und den Wert der
ausgetauschten Höflichkeiten in Frage zu stellen oder doch zu beeinträchtigen,
wieviel peinlicher werden diese Schwierigkeiten von den katholischen Regenten
empfunden, für die eine Reise nach Rom zugleich eine Wallfahrt ist! Im
Quirinal aber legt man umso größern Wert auf die persönlichen Beziehungen
zu den alten europäischen Höfen, als der Eintritt Italiens in die Reihe der
Großmächte erst neuen Datums ist. Der junge Adel ist in diesem Punkte
immer anspruchsvoller als der feudale. Man hat es am italienischen Hofe
längst empfunden, daß der Besuch des Königspaares in Wien noch immer un-
erwiedert geblieben ist. Gewiß, der Papst ist von dem persönlichen Verkehr
mit den katholischen Regenten abgeschnitten, aber der König nicht minder. Der
Besuch auswärtiger Souveräne an einem Hoflager in Mailand oder Venedig
wird in den Augen aller Italiener niemals dieselbe Geltung haben, als wenn
er in der Hauptstadt erfolgt. Den Kaiser von Österreich dürften überdies von
dem Besuch jener nordischen Städte noch alte Erinnerungen abhalten.
Aber wenn auch die peinlichen Zustände in Rom durch eine Auflösung der
Gegensätze eine äußerliche Änderung erfahren sollten, immer wird das Bestehen
zweier so verschiedenartigen Höfe innerhalb der Mauern Roms gesellschaftliche
Unbequemlichkeit und administrative Verwirrung schaffen. Welche unabsehbare
Reihe von Rangstreitigkeiten, kleinlichen Befehdungen, Kompetenzkonflikten in
polizeilichen oder Justizangelegenheiten stünde bevor! Und wenn auch zwischen
den beiden Spitzen Einigkeit und Friede herrschte, wird der Geist der Versöhn¬
lichkeit und der gegenseitigen Rücksicht sich den unteren Organen mitteilen lassen?
Kann man von der subalternen Welt der Behörden, von der städtischen Ver¬
waltung, von den niedern Volksschichten soviel Takt und Vorsicht, soviel Pietät
und Zurückhaltung erwarten, als das gemeinsame öffentliche Auftreten der beiden,
auf gleiche Würdigung Anspruch machenden Souveräne erfordern würde?
Nein — die Königsburg liegt zu nahe dem Palast der Päpste!
Alle die hier angedeuteten Schwierigkeiten würden nie zu Tage getreten,
die schon jetzt vorhandenen Unzuträglichkeiten niemals entstanden sein, wenn das
königliche Hoflager und der Sitz der Regierung sich an einem andern Orte
Italiens befänden. Wäre denn eine Übersiedlung dahin nicht auch jetzt noch aus¬
führbar? Die radikalen Italiener werden eine derartige Zumutung entrüstet
zurückweisen. Aber auch die ruhiger denkenden machen geltend, daß die Gründe,
welche Viktor Emanuel seinerzeit bestimmt haben, den Sitz der Regierung nach
Rom zu verlegen, jetzt ein Hindernis bieten für das Verlassen dieses Ortes.
Sie weisen darauf hin, daß das Königreich bereits in Rom zu fest etablirt sei,
daß es dort in der Grabstätte des Begründers der Monarchie ein Sanktuarium
habe, an dessen Schwelle es Wache halten müsse. Ein Zurückverlegen der ad¬
ministrativen Zentralbehörden und des königlichen Hoflagers nach Florenz oder
einer andern Stadt erscheint ihnen als ein feiger Rückzug, als schwere Nieder¬
lage in dem Kampfe mit dem heiligen Stuhle, als eine Art politischen Wider¬
rufs, als Ableugnung der großen nationalen Prinzipien, welche das Haus
Savoyen vom Fuße der Alpen an die Ufer des Tiber führte. Andre wieder
befürchten, daß die Kurie, wenn man ihr Rom überließe, diesen Sieg in jeder
Weise ausbeuten und Rom zum Mittelpunkte einer die Wiederherstellung der
weltlichen Herrschaft bezweckenden Agitation machen würde.
Nun, dieser Agitation ließe sich durch Präventivmaßregeln vorbeugen. Auch
glauben wir nicht, daß unter den bigottesten Schichten der italienischen Bevöl¬
kerung ein Verlangen nach Rückkehr der alten Zustände des Kirchenstaates vor¬
handen sei oder wiedergeweckt werden könnte. Das Pfaffenrcgiment jener Zeit
ist mit den Bedürfnissen und Ansprüchen der jüngern Generation unvereinbar.
Ein Kardinal-Kriegsminister, ein geistlicher Gerichtshof zur Aburteilung in Zivil¬
prozessen sind Institutionen, die unser Staatsleben nicht mehr verträgt. Die
Geschichte erneut sich, aber wiederholt sich nicht, und das Zeitalter der geist¬
lichen Kurwürden, der fürstbischöflichen Höfe und der kanonischen Gerichte ist
vorbei, für immer vorbei. Mag es bedauern wer will, auf die Wiederher¬
stellung eines geistlichen Staatswesens, einer weltlichen Regierung des Papstes
muß ein- für allemal verzichtet werden. Nicht das junge Königtum Italien,
nicht der ü,s MlMwomo, nicht der Condottiere von Caprera, nicht Cavour oder
Mazzini haben den weltlichen Thron der Päpste umgestürzt, der, zweimal in
diesem Jahrhundert durch fremde Hilfe wieder aufgerichtet, nur durch fremde
Hilfe gestützt und gehalten werden konnte. Die, welche dem Papste die Krone
entrissen, um ihm nur die Priesterbinde zu lassen, vollendeten vielmehr das
längstbegonnene Werk derer, welche in allen andern Kulturstaaten die Säkulari¬
sation der geistlichen Güter durchgeführt und den geistlichen Fürsten statt des
Schwertes den Krummstab in die Hand gedrückt hatten. Wo immer das ?a-
triinonmw, ?6tri sich befunden hätte, die Herrschaft darüber war nur haltbar,
wenn der Sturmwind der Revolutionen an seinen Grenzen aufgefangen und
dem Strom des modernen Zeitgeistes der Eingang verwehrt wurde.
Man kann aber sehr wohl von der Unmöglichkeit einer Restauration des
weltlichen Pontifikats überzeugt und doch von dem Wunsche beseelt sein, den
Papst aus der gegenwärtigen beengten und andre beengenden Lage befreit zu
sehen. Man kann es für nützlich halten, daß der Papst allein in Rom resi-
dire, ohne daran die Voraussetzung zu knüpfen, daß er auch als weltlicher Re¬
gent dort herrschen müsse. Rom kann die Metropole des Katholizismus, das
Zentrum der geistlichen Propaganda, der Sitz eines souveränen Kirchenfürsten
sein, ohne daß Magistrat und Präfektur, Kommunalverwaltung und Polizei zu
diesem Kirchenfürsten in ein Verhältnis der Abhängigkeit treten. Mit einem
Worte: Rom werde wieder, was es war, der Mittelpunkt der katholischen Welt,
aber bleibe, was es geworden ist, eine italienische Stadt. Unter diesen Ver¬
hältnissen kann es der Vorteile einer administrativen Zentralstelle entbehren.
Die historischen Erinnerungen, die sich an die Siebenhügelstadt knüpfen, seine
Jahrtausende alten Denkmäler, seine Kunstschätze und Galerien, seine Paläste
und Basiliken sichern ihm ohnehin den ersten Rang unter den Städten der Halb¬
insel. Und gerade das, was es besitzt, was ihm nie genommen werden kann,
macht es unfähig, jene wirtschaftlichen und industriellen Vorteile auszunutzen,
welche sich an den Mittelpunkt eines modernen Staatsorganismus anheften.
Ob die Exterritorialität der päpstlichen Residenz alsdann über die bisherigen
Grenzen hinausgeschoben wird, ob sie das ganze Trastevere umfaßt oder nur
einen Teil desselben, ob Castel Gcmdolfo oder andre Sommerresidenzen dem Papste
wieder zur Verfügung gestellt und dem heiligen Kollegium, den Kongregationen
und dem Hofstaat sonst irgendwelche Vergünstigungen eingeräumt werden, ob
die Palastwände der Schweizergarde verstärkt, der Schatulle des Papstes eine
reichere Dotation zugemessen wird, welche es möglich machen würde, die Kirchen¬
feste wieder mit dem äußern Pomp und der prächtigen nuff su soöus zu feiern
wie ehedem — alles das sind Detailfragen untergeordneter Gattung, deren
Regelung leicht wäre, sobald das Prinzip der neuen Ordnung feststünde.
Und warum sollte eine Verständigung,auf dieser Grundlage nicht gefunden
werden, warum sollte die Übereilung von 1871 nicht gut gemacht werden können?
Es ist kein Kanossagang, der dem König von Italien zugemutet wird. Man
wende nicht ein, daß die Grabstätte Viktor Emanuels ein Hindernis bilde. Die
Königsgräber von Samt Denis, die Mausoleen von Potsdam, die prächtige
Totenstadt des Eskurial sind Beweise dafür, daß eine Dynastie nicht an die
Grabstätte ihrer Ahnen gebannt ist. Ebensowenig stichhaltig ist der EinWurf,
daß Rom als die größere Stadt den Vorzug etwa vor Florenz verdiene.
Neapel ist noch größer als Rom. Moskau übertraf lange Petersburg an Ein¬
wohnerzahl. Newyork ist ungleich bedeutender als Washington. Genf und
Rotterdam sind bevölkerter als Bern und der Haag. Haben nicht die französischen
Herrscher Paris den Rücken gekehrt und die Schlösser der Touraine bezogen?
War nicht der Sitz der Regierung lange in Versailles? Giebt es irgendeinen
stichhaltigen Grund dafür, daß das italienische Parlament nur in Rom und
nicht anderswo tagen könne?
Natürlich wird eine Verlegung der Hauptstadt des Königreichs mit jedem
Jahre schwieriger, der Transport des büreaukratischen Apparates immer um¬
ständlicher. In dem Maße, wie sich die Akten in dem Staatsarchive anhäufen
und die Interessen der Beamtenwelt mit den kommunalen verwachsen, wird ein
Exodus, falls er geplant würde, störender auf den Gang der Geschäfte ein-
Wirken und bei den Beteiligten selbst Widerstand erwecken. Aber noch ist es
nicht zu spät. Was sind dreizehn oder vierzehn Jahre in der Geschichte eines
Staates? Noch ist der Königshof nicht heimisch geworden in Rom. Noch
hat sich die Regierung nicht häuslich eingerichtet. Wir sind überzeugt, daß ein
großer Teil der „Weißen" dem ungastlichen Wohnort gern den Rücken kehren
und wieder zu den lachenden Fluren des Arnothals zurückkehren würde. Man
wende auch nicht ein, daß eine solche Umkehr verletzend wäre für das Selbst¬
gefühl der Nation und des Königshauses. Eine praktische Politik weiß nichts
von Empfindlichkeiten. Hier handelt es sich lediglich um die Frage, ob den
Interessen des Landes mehr gedient wird, wenn der gegenwärtige Zustand er¬
halten bleibt, oder ob dieselben einen Wechsel erheischen. Das eine wäre zu be¬
denken, daß die Negierung einen in liberalen Kreisen jedenfalls sehr mißliebigen
Schritt nur dann unternehmen kann, wenn sie sich stark genug fühlt, ihn durch¬
zuführen. Noch steht die Monarchie dort nicht so fest, daß unpopuläre Akte
nicht bedenkliche Erschütterungen zur Folge haben könnten. Aber gerade von
diesem letztern Gesichtspunkte aus muß ihr eine Kräftigung der konservativen
Elemente erwünscht sein, und diese kann nicht leichter, nicht vollständiger bewirkt
werden, als durch Heranziehung und Befriedigung aller kirchlich Gesinnten. Ein
M0ÄU8 vivöiiäi, wenn er gefunden wird, kommt in erster Linie dem Königtum
zu statten; die Kurie hat weniger Interesse daran, denn sie geht von dem
Grundsatze aus, daß der Kirche schließlich doch der Sieg bleiben müsse.
Andrerseits ist die italienische Negierung auch gezwungen, in ihrem gegen¬
wärtigen Verhältnis zum heiligen Stuhle eine gewisse Schonung walten und
es durch kleinliche Reibungen nicht zum äußersten kommen zu lassen. Ein ver¬
triebener, in der Verbannung lebender Papst wäre für sie noch unbequemer sein
als ein gefangener. Prätendenten sind außerhalb der Landesgrenzen fast immer
gefährlicher als innerhalb derselben. Noch ist der niedere Klerus Italiens nicht
direkt an dem Kampfe beteiligt und auch zu sehr mit den untern Volksklassen
verwachsen, um gegen die Regierung geradezu feindlich aufzutreten. Es wäre
unklug, die offne Gegnerschaft desselben zu provoziren. Wozu also die nutzlose
Fehde, wenn beide Gegner, zu wechselseitiger Schonung gezwungen, sich nur
mit geballten Fäusten gegenüberstehen? Was nützt ein Kampf, den man nicht
endgiltig auszufechten imstande ist? Ein solcher Zustand ist überhaupt nur in
Italien möglich, wo Bigotterie und Radikalismus hart nebeneinander wohnen,
wo das Volk vor den Dienern der Kirche willig das Knie beugt und zugleich
die „Pfaffen" bespöttelt, wo man seit Jahrhunderten gewohnt ist, dem „Apostel¬
fürsten" im Staube zu huldigen und zugleich seinen Anordnungen mit den
Waffen zu trotzen.
Wie lange dieser unleidliche Zustand noch währen kann, ist nicht abzusehen.
Ein unerwartetes Ereignis, ein Krieg mit dem Auslande, eine soziale Revolution
kann eine zeitweilige Änderung herbeiführen, die niemand im voraus zu be-
stimmen Vermag. Das aber ist sicher: ein definitives Ende des Streites zwischen
Vatikan und Quirinal — hinter welchem sich doch nur der uralte, niemals
ausgefochtene Kampf zwischen Staat und Kirche verbirgt — kann nur erwartet
werden, wenn das italienische Parlament den Monte Cittorio verläßt, der König
von Italien sein Hoflager nach einer gastlichern Stätte verlegt und der Papst
wieder im Lateran die Messe zelebrirt.
Und nun noch eine Schlußbemerkung. Die Frage der römischen Dvppel-
residenz ist eine interne Angelegenheit Italiens. Sie kann ebenso wie der ganze
Streit zwischen Papst- und Königtum nur im Wege des freiwilligen gegen¬
seitigen Einvernehmens gelöst werden. Wir haben uns daher in der vorstehenden
Erörterung auch darauf beschränkt, das Interessengebiet der streitenden Parteien
abzugrenzen und den Weg einer Verständigung anzudeuten. Jede Art direkter
Parteinahme oder gar der Einmischung des Auslandes halten wir für in¬
opportun, ja für gefährlich. Eine Verschärfung der Krisis wird den meisten
Kontinentalmächten unerwünscht sein, weil die Bedrängnis des Papstes von
ihren katholischen Staatsangehörigen peinlich empfunden werden würde; allein
die Rücksichten der auswärtigen Politik werden selbst einer dem Klerus freundlich
gesinnten Regierung große Reserve auferlegen. Was uns Deutsche betrifft, so
können wir dem Ausgange des Streites mit dem Gefühle der Ruhe zusehen,
welches unsre Machtstellung in Europa und die freundschaftlichen Beziehungen
unsers Kaiserhauses zur italienischen Königsfamilie wie auch zum gegenwärtigen
Inhaber des päpstlichen Stuhles uns gewähren. Eine Pression im Sinne der
Nachgiebigkeit auf die eine oder die andre der beiden Parteien auszuüben kann
nicht in den Intentionen der Neichsregierung liegen. Für die gegenwärtige
Phase unsrer auswärtigen Politik werden in erster Linie die Verbindlichkeiten
des Dreibundes maßgebend sein, und die römische Frage erscheint uns nicht von
der Art, daß sie auf die Beziehungen zwischen der deutschen und italienischen
Regierung irgendwelchen Einfluß auszuüben vermöchte.
me alte märkische Familie war die der Marwitz. Noch erinnern
sich wohl Mitlebende jenes Friedrich August Ludwig von der
Marwitz, der im Jahre 1811 den Reformen Hardenbergs so ener¬
gisch entgegengetreten war und dies mit einer kurzen Festungshaft
hatte büßen müssen. Streng rechtlich, tapfer, ein Edelmann der
alten Zeit im besten Sinne, war er unfähig gewesen, auf die Forderungen seiner
Tage auch nur mit dem leisesten Zugeständnis einzugehen, kämpfte und litt für
eine Ansicht vom Staate, die den damaligen Menschen meist für lange über¬
wunden galt, ja die ihnen bereits wie jenseits des Jahrhunderts zu liegen schien.
Sein jüngerer Bruder Alexander von der Marwitz aber ist eine der
merkwürdigsten Erscheinungen in einer merkwürdigen Zeit. Von der Milch der
Romantik genährt, mit sich und mit der Welt in stetem Zwiespalt, von modischen
Zweifeln gequält, war er so recht ein Gegenbild Friedrich Augusts, eine ganz
und gar moderne Natur, ein Kind des neuen Jahrhunderts.*) Er war nicht
wie sein Bruder eine politische Individualität, er hat nicht wie dieser ein langes
Leben hindurch in einer für die Öffentlichkeit nicht gleichgiltigen Weise eine
Idee vertreten, er war kein Politiker und kein General, hat keine Denkschriften
geschrieben und einem Verleger nie einen Groschen zu verdienen gegeben. In
jungen Jahren starb er hin und war sein Lebtag nichts gewesen als ein
Leutnant und Referendar. Aber das wenige, was wir von ihm wissen, ist
eine edle Spur, die nicht ganz verweht werden soll. So wie er war, dachte,
litt und starb, gab es viele unberühmte Jünglinge, sie alle aber hatten in den
Tagen der Freiheitskriege so gut ihren Anteil an der Weltgeschichte wie die
Könige, Feldherren und Minister.
1787 war Alexander geboren. Mit den Brüdern wuchs er auf. Die Kinder
seines Geschlechts waren nun einmal alle unbändig wie junge Löwen, Alexander
schlug nicht aus der Art, that ihm etwas weh, so verbiß er grimmig die
Thränen. Umsonst suchte die böse Gouvernante den harten Sinn durch barbarische
Strafen zu beugen, im Winter setzte sie die Buben dem bittern Frost aus, im
Sommer der ärgsten Mittagsglut am offnen Fenster. Es half nichts. An
Alexander lobten hernach die Lehrer Wohl seinen stillen Ernst, seinen edeln,
reinen Sinn, tadelten aber, daß er unerhört heftig und auffahrend sei. Die
Studien betrieb er mit Feuereifer, in den alten Sprachen und in der Geschichte
zeichnete er sich schon auf dem Gymnasium vorzüglich aus. Die Schweizer¬
geschichte Johannes von Müllers ergriff ihn so, daß er sich in enthusiastischer
Kühnheit persönlich an den Gefeierten wandte. Dieser schrieb dann an den
Philologen Wolf in Halle, zu dem Alexander im Jahre 1804 sich begab: „Ich
brauche ihn Marwitz^ nicht zu empfehlen, weil Sie selbst bald sehen werden,
wie viel an ihm ist."
Die Universität Halle befand sich damals in einer Periode glücklichen Auf¬
schwunges und regster Thätigkeit. Schleiermacher war dort, der schon die „Kritik
der Sittenlehre" geschrieben hatte, Wolf, Bekker, endlich der Naturforscher und
Naturphilosoph Steffens. Man wird heute nicht in den Vorwurf einstimmen,
der sich gegen diese Männer einmal erhob, sie hätten phantastische Träumer
großgezogen; aber allerdings war weniger von einer wissenschaftlichen Arbeit
in modernem Sinne die Rede, als vielmehr von dem Streben, durch einen
Überblick in die vornehmsten Zweige des Wissens eine „Weltanschauung" zu
gewinnen und ein verhältnismäßig dürftiges Material philosophisch zu verarbeiten.
Jede Erscheinung in Natur, Geschichte und Gesellschaft wurde in ihrem Ver¬
hältnis zum Weltganzen, — wenn man will — zu Gott gefaßt, und alles,
was man lernte, durchdrang man mit einer Art von religiöser Empfindung.
Auch an den Staat wurde sehr oft gedacht, und die Theorie von seiner organischen
Natur bildete sich hier frühzeitig aus. Romantisch-restaurative Tendenzen ent¬
wickelten sich so, das revolutionäre Frankreich und der welterobernde Diktator
konnten hier keine Sympathien finden, wohl aber waren hier Bildungselemente
für die künftigen Befreier des deutschen Vaterlandes in Fülle vorhanden. Der
junge Marwitz nahm sie mit Begierde auf, neben ihm sein späterer Biograph
Varnhagen, der Geologe Karl von Raumer, der Philologe Böckh, die Theologen
Neander und Strauß. Jener aber, der jüngste, der just erst von der Schule
kam, errang sich bald unbedingten Einfluß und große Gewalt über die andern.
Sein Lehrer Steffens glaubte in ihm einen jungen Mann zu sehen, dessen
starke Gesinnung und geistige Bedeutung einst mächtig in die Verhältnisse der
Welt eingreifen würde. Denn in seiner Natur lag einmal etwas furchtbar
Gewaltsames, nur zurückgedrängt durch eine strenge und edle Gesinnung, eine
besonnene, ruhige, ja scharfe Außenseite barg eine tiefe innere Glut.
Als der Krieg von 1806 begann, eilte der ältere Marwitz ins Feld, und
Alexander mußte die Bewirtschaftung der Güter desselben auf Friedersdorf
übernehmen. Er war kaum zwanzigjährig und hatte sich bis dahin nie um
Landwirtschaft gekümmert. Doch trat er voll Eifer in die neuen, höchst ver¬
wirrten Verhältnisse. Denn Friedrich Ludwig hatte jene Güter erst vor ein
paar Jahren übernommen und, wie er sich selbst ausdrückt, „allmählich die
ganze Wirtschaft über den Haufen geworfen." Er hatte den starken Kartoffelbau,
den Klee- und Rapsbau sowie die Stallfütterung eingeführt, dann in Warschau
etwa hundert Stück podvlische Ochsen angekauft, um sie zu mästen — lauter
sehr kühne Versuche für einen märkischen Landmann jener Zeit. Und sie waren,
noch bevor Alexander in Friedersdorf eintraf, zum großen Teil bereits so gut ^
wie mißlungen. Zuerst war eine Kartoffelernte zugrunde gegangen, und das
teure Vieh mußte rasch und mit starkem Verlust losgeschlagen werden. Eine
längere Abwesenheit des Herrn hatte dann die ganze Wirtschaft gleichsam ins
Stocken gebracht: auf dem Boden lag für achttausend Thaler Fechsung, die
längst hätte verfahren werden sollen, der Dünger war vergeudet, das noch
übrige Vieh im schlechtesten Stande. Und kaum hatte der Zurückgekehrte
begonnen, die notdürftigste Ordnung wiederherzustellen, so brach ein Feuer aus,
das fast alle Wirtschaftsgebäude in Asche legte. So traf Alexander das Gut,
das er nun verwalten sollte. Auf dem Brandplatze lag noch der Schutt,
von einem Neubau konnte für die nächste Zeit keine Rede sein, denn Kapitalien
waren nicht vorhanden, die Zeit war schlecht und das Anwesen bereits verschuldet.
Und bald darauf überzog das Land mit Blitzesschnelle jedes Leid eines un¬
glücklichen Krieges, die Ackerpferde wurden geraubt, der Rest des baren Geldes
durch Plünderung und Kontribution verzehrt, das Rindvieh geschlachtet, das Korn
requirirt, die Weinkeller geleert, das Hausgeräte verwüstet. Und doch, als
nach Jahresfrist der Besitzer sein Heim wiedersah, fand er alles in bessern:
Zustande, als er es verlassen. Er staunte, wie ein Jüngling bloß durch Fleiß
und festen Willen in so schwierigen Zeiten dies hatte vollbringen können.
Freilich war nicht immer alles glatt abgegangen. Ein Streit mit einem unehr¬
lichen und gewaltthätigen Nachbarn hatte Alexander in Konflikt mit den Franzosen
gebracht, die damals jede Behörde vertraten. Sein Gegner wußte sich mit diesen
auf bessern Fuß zu stellen als er. Dies hatte er zu fühlen, und als er sich
gegen eine offenbar ungerechte Entscheidung geradezu auflehnte, kam er auf die
Festung nach Küstrin. Dort konnte er über den Zustand des deutschen Staates,
den er auf der Universität erträumt, nachsinnen. Und es mochte ihn nun wohl
auch selber drängen, sobald als möglich den Fremden mit den Waffen in der
Hand entgegenzutreten. Die Erhebung Schills erschien dem Jugendlichen zuerst
als die rechte Gelegenheit.
An der Geschichte Alexanders von der Marwitz sehen wir deutlich, wie
persönliche Erlebnisse — private Motive gleichsam — in der damaligen Jugend
den Anstoß zu der allgemeinen Agitation gaben, die den preußischen Staat
zwischen 1808 und 1813 nicht ungefährlich durchwühlte. Steffens mag auch
nicht Unrecht haben, daß die Offiziere vor allem von dem Gedanken beseelt
waren, die Schlappe von 1806 auszuwetzen. Aber von entscheidender Bedeutung
war hier doch auch, daß die jugendlichen Elemente alle, die sich von den
grandiosen Erfolgen der neu emporgekommenen Weltmacht in ihrer Individualität
beeinträchtigt und verletzt sahen, die Bildung der Zeit aufgenommen hatten wie
kein Stand irgendwo in Deutschland. Sie waren von dem Idealismus Schillers
und Fichtes erfüllt, und nun zündete in ihnen gewissermaßen die politische Idee
eines Gentz. Von Soldaten mit Leib und Seele — so von Hirschfeld, dem
tollkühnen Husaren von Talavera — wird uns erzählt, wie sie ganz und gar
in den idealen Gestalten der Schillerschen Heldenjünglinge lebten. Der eiserne
Jork konnte spotten und zürnen, daß jeder Fähnrich sich schon zu einem Marquis
Posa aufwerfen möchte. Und sehr wahr, in diesem selbstbewußten Enthusiasmus
lag eine Gefahr für die Formen des absoluten Staates. Die jungen Leute
wollten ja Weltgeschichte treiben auf eigne Faust, unbekümmert um König und
Gesetz. Schon in den Zeiten des österreichischen Krieges, besonders aber später
tritt dies sehr grell hervor. Über die Schillsche Unternehmung schrieb Niebuhr:
„Das ist das Erste, Neue und Unerhörte, was seit vielen Jahren geschah. Die
Auflösung der bürgerlichen Bande und Formen ist vollendet. Da beginnt nun
entweder völlige Zerstörung und Fäulnis, oder es bildet sich ein neues Leben."
Aber skeptisch setzt er die Frage hinzu: „Wo sind die Keime?"
Es legt Zeugnis ab für die politische Einsicht des jungen Marwitz, daß
er die Hoffnungslosigkeit des tollkühnen Versuches gar bald erkannte. Aber
feiern wollte er deswegen nicht: mit seinem jüngern Bruder Eberhard trat er
in österreichische Dienste — Friedrich, der ältere, blieb daheim, er wollte nichts
sein als ein guter Preuße, ihm widerstrebte es, unter einem „fremden Monarchen"
zu dienen. Aber seine guten Wünsche begleiteten die Ausziehenden. Eberhard
kehrte nicht wieder zurück, er blieb in der Schlacht von Aspern.
Alexander nahm an dem Kampfe dieses Tages keinen Teil. Und als er
dann in der Kampagne des Juni und Juli in anstrengenden Märschen, lang¬
weiligen Biwaks und tausend Dienstlappcilien hin- und Hergetrieben wurde,
da regte sich in ihm bald ein Funke romantischen Geistes: er klagte, daß die
weltgeschichtliche Aktion in alltäglichen Einzelheiten des militärischen Lebens sich
zersplittere. Unwillkürlich gedenken wir der Worte des Pylades in Goethes
Iphigenie:
Wir möchten jede That
So groß gleich thun, als wie sie wächst und wird,
Wenn Jahre lang durch Länder und Geschlechter
Der Mund der Dichter sie vermehrend wklzt.
Der Guerillakrieg der spanischen Berge, wo man in ungebundener Freiheit
jeden Tag aufs neue das Leben in die Schanze schlug und doch ein großer
historischer Hintergrund den tollkühnen Abenteuern jugendlichen Mutes wahrhaft
politische Bedeutung verlieh — das wäre Alexander wohl erwünschter gewesen.
Gewiß schloß er sich auch dem vorschnellen Urteil jener ungeduldigen Offiziere
an — der Zichy, O'Donnell, Paul Eszterhazy — die leichthin über den Erz¬
herzog-Feldherrn den Stab brachen, ohne daß sie dabei eine Kenntnis der
politischen Motive besessen hätten, die jenen bei seinen Operationen leiten mußten.
Und so erschienen ihm bald die Faktoren, denen die Befreiung der Welt, die
Neugründung einer würdigen politischen Existenz unter den Deutschen anheim¬
gegeben war, Feldherren und Regierer, schwach und unfähig, die Aussicht in
die Zukunft hoffnungslos.
Nach Abschluß des Friedens blieb er noch eine Zeit lang in österreichischen
Diensten: er wußte nicht gleich, was er nun sollte. Aber lange trug er nicht
„die toten Formen des militärischen Lebens.. . Sie vernichten nur den Sinn
für die großen, innig begeisterten Regungen der Natur und das stille Bilden
des Landlebens," schrieb er an eine Freundin.
Die wenigen Briefe, die uns von Alexander von Marwitz erhalten sind,
datiren alle aus den Jahren 1811 bis 1813; sie sind an Rahel gerichtet. So
tritt uns denn jetzt zuerst ein bestimmteres, lebensvolleres Bild des seltsamen
Jünglings entgegen, wir sind nicht mehr bloß auf die Worte der Zeitgenossen
und auf notdürftige Rückschlüsse angewiesen, wir hören ihn selber reden. Er
spricht aber sehr viel von sich, steht auch „mit der Seele vorm Spiegel," wie
so viele aus der damaligen Generation. Nicht müßige Eitelkeit ist es bei ihm,
er will sich bessern, einen dumpfen, innern Zwiespalt loswerden, sich zur Klarheit
ringen: Rahel besaß ja die Gabe des Hörens, des Lauschers — Prinz Louis
Ferdinand hatte sie einmal im Scherz eine 8gM isruius für die Geister genannt.
Marwitz naht sich ihr wie einer Priesterin, er legt ihr völlige Beichte ab. Einem
Freunde schrieb er: „Solltest du nach Berlin kommen, so befehle ich dir, die
Bekanntschaft mit Rahel zu machen. Sie mag wohl jetzt das größte Weib sein
auf Erden."
Jener Zwiespalt in ihm war doppelter Art. Er strebte einmal umsonst
nach jenem edeln Gleichmut, der bei allem Gefühle höhern Wertes doch die
Gemeinheit der Alltagswelt nicht mit deren eignen Waffen bekämpft. Die lo.3,26
der mittelhochdeutschen Dichter war ihm schier unerreichbar. In Olmütz lag er
bei einem Manne in Quartier, der von unerhört rohem und jähzornigem Wesen
war. Dieser begegnete einst Marwitz mit Schmähworten und Drohungen. Dem
erschien es unerträglich, dies zu dulden, er ließ sich soweit hinreißen, den Degen
zu ziehen. Jener aber ließ nicht ab, drang in seiner Wut blindlings auf ihn
ein und stürzte so in die vorgehaltene blanke Waffe. Und er blieb tot am Platze.
Ein solcher Vorfall mußte Marwitz aufs heftigste erschüttern, erfüllte ihn mit
tiefem Mißmut über sich selbst. Gewiß, er war unschuldig, aber hätte er sich
nicht mehr beherrschen können? War jener auch nur einer Aufwallung wert?
Nun lastete doch der Tod eines Menschen auf seiner weich fühlenden Brust.
Von Friedersdorf aus, wohin er aus dem Felde zurückgekehrt war und in
mannichfache geschäftliche Händel geriet, schrieb er an Rahel: „Ich kann die
Berührung des Gemeinen nicht dulden, aber (und das ist der faule Fleck in
mir), ich kann es auch nicht verachten, wie ich soll, und ich kann es nicht mit
Besonnenheit abwehren." Und in rührender Selbstanklage setzt er hinzu: „Ich
klage nicht über die Zeit, ganz dumm, wer das thut. Und worüber? Daß ich
dem Gemeinen Gewalt in mir gegönnt habe."
In der That aber trugen doch die Zeitverhältnisse ein gut Teil Schuld
daran, daß die heftig gährende Natur nicht zur ersehnten Klarheit gelangen
konnte. Denn welcher Platz im Vaterlande stand ihm denn offen? 1807 war
er in Memel dem Ncichsfreiherrn vom Stein vorgestellt worden; es war der
Moment, wo trotz der furchtbaren Nachwirkungen der letzten Katastrophe doch
mit der aufkommenden Reformrichtung sich neue Hoffnungen bilden konnten:
eine innere Revolution des Staatswesens sollte demselben auch gegen außen die
frühere Selbständigkeit und das frühere Ansehen zurückerobern. Für Marwitz
eröffnete sich damals die Aussicht auf einen ehrenvollen Eintritt in den Staats-
dienst. Er aber wies sie von sich, fühlte sich noch zu jung, zu unerfahren und
unerprobt. Jetzt, nach vier Jahren, kehrte er zurück, hatte ein Stück Welt
mehr gesehen, Menschen kennen gelernt, einen bedeutungsvollen Krieg mitgefochten
und dem Wesen des Staates gewiß tiefer nachgesonnen. Aber wie hatte sich
seitdem die Lage der Dinge verändert! Hardenberg war Staatskanzler geworden.
Die Steinschcn Ideen von einer möglichst großen Ausdehnung des Selfgovern-
ments, um hierdurch politische Teilnahme in der Nation zu erwecken, waren
sogut wie aufgegeben, sein Programm zur Reorganisation der Staatsbehörden
war nur in einer wesentlich veränderten Form zur Ausführung gekommen.
Dafür hatte sich ein breiter Strom von Neuerungen in den geschwächten Staat
ergossen, die weniger der Natur desselben und seinen augenblicklichen Bedürft
rissen entsprachen, als vielmehr durch den Geist der Zeit eingegeben waren und
auf eine absolut büreaukratische Verfassung nach dem großen französischen
Vorbild abzielten. Wenn wir den Bildungsgang Alexanders, seine Abkunft,
seine Familienverbindungen erwägen, so werden wir annehmen dürfen, daß er
mit der neuen Richtung keineswegs einverstanden war. Er spricht es überdies
in seinen Briefen gelegentlich auch aus. Die Hardenbergschen Gesetze erscheinen
ihm seicht und verderblich. Auch war in der That deren momentane Wirkung
— insbesondre auf die Stimmung der Bevölkerung — eine äußerst nachteilige.
Unter solchen Umständen konnte der Eintritt in den Staatsdienst nichts ver¬
lockendes für Marwitz haben. Aber müßig bleiben wollte er nicht. Die Tage
freilich waren längst verschwunden, in denen er sich freudig als Staatenlenker
dachte, er hätte sich in eine bescheidenere Thätigkeit gefunden, wenn sie nur
irgendeine Jdealisirung gestattet hätte, in irgendeiner geistigen Verbindung mit
dem Leben der Nation und den großen Angelegenheiten der Menschheit ge-
anden hätte. Aber wie schwer war es damals, auch nur diese zu finden! „Soll
ich mich anschließen an die leibliche Seite meines Vaterlandes, ruft er aus,
die ich erst begeistern, erst einer großen spekulativen Ansicht unterwerfen muß,
wenn sie mir nicht ganz gebrechlich und tot erscheinen soll?" Viel mehr reizte
es ihn doch, nach England zu gehen, dort an dem Hauch wahrhaft politischen
Lebens sich zu erfrischen und dann einer Expedition nach Spanien sich anzu¬
schließen in einem erneuten Kampfe von höherm Schwung entweder Sieg und
Ehre oder den Tod zu finden. Aber wie er es hin und her erwog, zuletzt
schien es ihm doch, daß er im Vaterland die „starken Wurzeln seiner Kraft"
besitze, und wie mit einem heroischen Entschluß trat er in die bescheidne Stel¬
lung eines Referendars. „Ich muß mir beweisen, schrieb er an Rahel, daß ich
Kraft und Sinn genug habe, um die unscheinbare Thätigkeit des bürgerlichen
Lebens zu beseelen." Aber er besaß beides doch nicht genug, und zufrieden
wurde er nicht. Wie sehr er den Kontrast fortwährend fühlte, der zwischen den
hohen Forderungen seines Innern und der Art seiner täglichen Umgebung be¬
stand, drückt am besten eine Schilderung aus, die er der Freundin von seinen
Amtsgenossen entwirft: „Ich erstaune von neuem sin einer Gesellschaft) über
die unglaubliche durchgängige Nichtigkeit der meisten jungen Männer, ich bin
nun ganz über sie blasirt und behandle sie mit der bequemsten Rücksichtslosig¬
keit. Wie selten ist nur ein Anklang des echten Wesens, nur eine Spur roher
oder gebildeter Kraft, nur ein schmerzliches Andenken der Vergangenheit. Ecossaise,
Quadrille sind die Blüten ihres Daseins, der Mittelpunkt ihrer Gedanken."
So lebt und webt er denn in der Einsamkeit, bei den Büchern, nicht in seinem
Beruf, nicht im gesellschaftlichen Verkehr. Dies aber wollte er nicht, vergebens
schmeichelt ihm Rahel, daß in einer Welt, wo Griechen, Römer und Barbaren
aufgehäuft haben, nur das Heldentum der Wissenschaft mehr übrig sei — seuf¬
zend ruft er aus: „O die Einheit des Lebens zu finden, in der Beruf und
Trieb ineinander aufgehen!" Rahel ist tief erschüttert, daß auch dieser „ganz
reine, sittlich vollkommene Mensch" leidet, daß sie von ihm „so trübe, zerstockende
Klagetöne" vernehmen muß. Doch endlich weiß sie keinen Rat mehr: „Einsam
steht jeder, auch liebt jeder allein, und helfen kann niemand dem andern." Aber
sie meint: „Leben, lieben, studiren, heiraten, Wenns so kommt, das ist immer
gelebt, und dies wehrt niemand." Marwitz gesteht ihrs zu, ihre Worte seien
golden, göttlich — aber er kann sich nun einmal nicht verbieten, mehr zu wollen,
vergebens ruft er sich zu: Stille, mein Herz! In den trübsten Stunden naht
sich gar der Gedanke an Selbstmord. Freilich will es ihm eine „verruchte
Roheit" scheinen, „das heilige Gefäß zu blutig überlegt zu zerstören," aber
zuletzt „kann es doch nicht vermieden werden."
Da kam der Krieg von 1813. Marwitz mag wie befreit aufgeatmet haben.
Er ging in die Provinz Preußen und agitirte dort, wie uns sein Bruder kurz
berichtet, für Rußland und für Jork, der soeben die Konvention von Tauroggen
geschlossen hatte. Dies führt uns zu der Annahme, daß er einer von den ge¬
heimen Verbindungen angehört habe, die in den teilweise noch trägen Volks¬
massen als mächtiger Gührungsstoff wirkten. Sie waren von dem sogenannten
„Tugendbund," der übrigens schon zwei Jahre früher in aller Stille aufgelöst
worden war, sehr verschieden, entbehrten oft alles Formelkrams, der Statuten:c.,
und machten keine großen Worte, aber ihre Wirkung, der wir noch nicht genau
nachgehen können, muß sehr groß gewesen sein. Das Haupt ihrer Agitation
war Justus Grüner in Prag, der in beständiger Verbindung mit dem Deut¬
schen Komitee in Se. Petersburg war. Dieser Mann, der freilich sehr bald in
einer ungarischen Festung verschwinden sollte, organisirte ein Korps von Kund¬
schaftern, die sich über ganz Deutschland verbreiteten und der Zentrale Mittei¬
lungen über den Stand der französischen Armee und über die Volksstimmung
zukommen ließen, zugleich auch autorisire waren, Deutsche für die russische Armee
— in der es ja eine eigne „Deutsche Legion" gab — anzuwerben oder kleine
Guerillabanden zu formiren, die nach spanischer Art auf eigne Faust den Kampf
gegen die Franzosen beginnen und unterhalten mochten. Am dringendsten war
jedenfalls in der Provinz Preußen eine Anregung zur Sammlung der Kräfte,
sollte der Nutzen der Dorischen That nicht wieder verloren gehen. Die Land¬
stände, die hier auf Steins Betreiben zusammentraten, beschlossen die Organi¬
sation der Landwehr und votirten Gelder für deren Ausrüstung — ganz ohne
Zusammenhang mit den legalen Autoritäten in Berlin, von denen sie auch
durchaus nicht berufen worden waren. Daß aber die Beschlüsse der Versamm¬
lung ohne alle Schwierigkeiten ausgeführt werden konnten, ja die Begeisterung
der Massen ihnen gleichsam vorauseilte, ist nur der Thätigkeit jener geheimen
Gesellschaften zu danken, deren Geschichte — wie gesagt — erst geschrieben werden
muß. Nur im Anschluß an eine solche — an der ja so ruhige und in andrer
Beziehung so konservative Männer wie Chasot und Schleiermacher teilnahmen —
konnte Alexander von der Marwitz für die Sache der Befreiung thätig sein.
Als dann der Kampf wirklich begann, trat er zuerst in das Korps jenes Dörn¬
berg, der bereits im Jahre 1809 eine Schilderhebung in Westfalen versucht
hatte, und nahm auch an der Schlacht bei Lüneburg teil, später kämpfte er
unter Czernicheff. Briefe besitzen wir von ihm aus dieser Zeit nur sehr wenige
mehr, auch geben die erhaltenen nur sehr spärliche Nachricht von seinen Erleb¬
nissen und feinem innern Leben. In einem Billet vom 31. Dezember 1812
klagt er über den „schauderhaften Mangel an Charakteren," der sich in einer
solchen Krisis erst recht offenbare. Sein Bruder wieder erzählt uns, er sei dann in
Dörnbergs Korps getreten und habe bei Lüneburg gefochten, später kämpfte er
unter Czernicheff. Nach dem Waffenstillstande, zu Ende August, wurde er bei
Wittenberg von polnischen Reitern jämmerlich zusammcngehauen und kam in elendem
Zustande nach Leipzig, wo ihn die Franzosen in das Stadtgefängnis warfen. Auf
dem Transport nach Frankreich entfloh er in einer stürmischen Nacht und eilte nach
Prag. Dort traf er Rahel und Gentz. Die Freundin wollte ihn mit dem genialen
Epikuräer freundschaftlich verbinden; vielleicht daß sie sich davon eine wohlthätige
Einwirkung auf den Düstern versprach. Marwitz konnte sich nun freilich dem
Zauber nicht ganz entziehen, den jene merkwürdige Persönlichkeit ausstrahlte,
schon bei einer frühern flüchtigen Begegnung in Teplitz hatte er Gentz lieb¬
gewonnen, weil er „so allerliebst kindlich, ja kindisch ist." Gentz dagegen hatte
den jungen Mann damals „ganz starr, steif, eisern, über alle Maßen un¬
jugendlich" gefunden, er wagte es garnicht, ihn etwas zu fragen, „wobei das
Herz im Spiel ist." Auch jetzt vermochte er nicht, ihm näher zu treten. Rahel
warf es ihm vor. „Ich habe garnichts wider ihn, entgegnete er, er ist ge¬
scheit und brav und ein sehr achtungswerter Mensch, für meine weichlichen
Gemütsnerven aber zu hart, sowie gewisse Leute, die einem immer so weh
thun, wenn sie einem die Hand drücken." Der Freundin zu lieb giebt er sich
zwar nochmals alle Mühe und ist mit Marwitz „milde zum Zerschmelzen."
Umsonst! „Über Marwitz breche ich ab, schreibt er, das Leben ist mir zu kurz,
als daß ich jedes interessante Individuum für mich gewinnen könnte. Der mag
nur gehen." Ist es nicht, als ob in dieser persönlichen Antipathie sich der
Gegensatz zweier Zeitalter kundgäbe? Was Gentz einmal an Johannes Müller
als Verrat und Ketzerei gebrandmarkt hat, des „sich Andenkens" machte er sich
nun selbst schuldig; er war nicht mehr der Manu, der die „Fragmente" ge¬
schrieben, und gestand es zu. Die orphische Duldsamkeit der Freundin mochte
es zufrieden sein und ihn wieder so nehmen, wie er war, Marwitz konnte
keinen Kompromiß mit der vornehmen Blasirtheit des Diplomaten eingehen, er
empfand vielleicht mit feinem Instinkt, daß. solange diese zu Regierern der Welt
berufen seien, sein Ideal von einem Staat und von einer Thätigkeit des Einzelnen
im Staate noch in weiter Ferne lag. Ob er nun mit frischer Hoffnung noch
einmal aufs Schlachtfeld eilte oder in dumpfer Resignation — wer weiß es?
Nachdem er Prag verlassen, entschwindet er unsern Augen für immer. Kcunpf-
geuossen sahen nur, wie er im Getümmel des Treffens von Montmirail, am
12. Februar 1814, plötzlich nach der Stirne griff und dann vom Pferde sank.
Seine Leiche hat man nicht gefunden.
In der Nähe des Kurortes Baden bei Wien bilden die östlichen Anslüufer
des Wiener Waldes das liebliche Helenenthal. Links und rechts auf den ein¬
schließenden Bergen ragen gewaltige Burgruinen auf. Ersteigt man die Höhen,
so genießt man des entzückenden Ausblicks über die waldige Umgebung und die
Ebene. Ein freundlicher Weg führt von der Stadt dahin, an einer Mühle
vorbei und dann dem treibenden Wasser entlang. Hier wandelte Nadel in den
Tagen, wo aller Glanz des Kongresses sich da zusammengefunden hatte, um
sorgloser Muße zu genießen. Im Anschauen der herrlichen Natur gedachte
sie der vergangnen Zeiten, und die Gestalt des jungen, kaum geschiedncn Freundes
stieg vor ihr empor. Stille betete sie ihm nach: „Hnldrciche, milde, trostvollc
Natur, nimm ihn auf in deinen unendlichen Schoß, verwese ihm Menschenspur
aus dem geängstigten, mißbrauchten Herzen."
Droben aber in der märkischen Heimat verzeichnete der zurückkehrende
Neitergeneral in das „Haushund" das Ende des Bruders; er preist ihn glücklich,
daß er einen ehrlichen Soldatentod im Dienste sür König und Vaterland ge¬
funden.
Am Grabe Alexanders pflanzte so Friedrich August das alte Banner des
Geschlechtes auf. aber dem, den der Rasen deckte, hat doch etwas ganz andres
die Brust bewegt als die Traditionen der Vorfahren: in ihr schlugen stürmisch
die Wogen eines Zeitalters, das nach neuer Gestaltung rang.
hilosophischc Streitfragen werde» im allgemeinen gewiß am
besten den Fachzeitschriften überlassen; aber wenn es sich, wie in
unserm Falle, um die Berechtigung der Philosophie überhaupt
und ihre Bedeutung für alle andern Wissenschaften, sowie um
eine historische Würdigung der deutschen Philosophie unsers Jahr¬
hunderts handelt, so dürfte doch vielleicht ein größerer Kreis von Lesern sich
für die Frage interessiren. Im Jahre 1876 gab Albrecht Krause ein Buch
heraus, welches — die Frucht vieljähriger fleißiger Arbeit — zum erstenmal
zeigte, wie man die Kantische Erkenntnislehre, die Kant selbst mir auf Natur¬
erscheinungen angewandt hatte, in weiterer Fortbildung verwerten könne für die
Erklärung der Thatsachen des menschlichen Gefühls. Krause hatte damit ange¬
fangen, der exakten Forschung ein Gebiet zu unterwerfen, welches bis dahin
jeder exakten wissenschaftlichen Methode Widerstand geboten hatte. Krauses
Werk wurde nun zwar in der Presse nicht geradezu totgeschwiegen, aber es
begegnete doch, besonders in den fachmännischer Kreisen auf den deutschen Uni¬
versitäten, der vollendetsten Ablehnung, um nicht zu sagen geradezu feindseliger
Stimmung; Kuno Fischer sagte, daß es „kein besseres Schicksal haben konnte
als die Vergessenheit, die es in der Stille begrub."
Indessen stellte sich bald heraus, daß es außer dem ganz gewöhnlichen
Zunftneid doch noch ein andrer wesentlicher Grund war, der das Verständnis
des Buches erschweren mußte: der Umstand nämlich, daß stillschweigend in dem
Buche die Voraussetzung gemacht war, daß Kants Erkenntnistheorie eine ganz
andre Bedeutung habe und ganz andre Ziele verfolge, als die gesamten deutschen
Philosophen unsers Jahrhunderts glaubten. Besonders war Krause der
Meinung, daß Kant sich in seinen Werken der Sache nach niemals selbst wider¬
sprochen habe, und alle Widersprüche, die man ihm von jeher vorgeworfen, nur
dem mangelhaften Verständnis der Ausleger entsprungen seien. Das war nun
freilich eine starke Zumutung, ein krasser Verstoß gegen altehrwürdige Über¬
lieferungen, sodaß man sich eigentlich nicht so sehr wundern konnte, wenn die
Gelehrten das Buch für unreif und konfus hielten, denn sie konnten es in der
That wegen des Bannes der historischen Überlieferung, in dem sie sich befanden,
nicht verstehen.
Der Streit der Auffassungen dreht sich im wesentlichen um die Frage,
ob Kant gelehrt und bewiesen habe, daß wir die wirkliche Welt und das Dasein
wirklicher Dinge um uns erkennen können oder nicht. Die historische Ent-
Wicklung ist ja bekanntlich die gewesen, daß bald nach dem Auftreten Fichtes,
Schellings und Hegels Kant in der Hauptsache für überwunden und übertrumpft
galt, und zwar besonders deswegen, weil die menschliche Vernunft nicht still
stehen könne an den Grenzen, die er ihr bestimmt habe, daß uns das Haften
an der Erscheinung, die allein uns erkennbar sein sollte, nicht genügen könne,
daß nur den Kern der Natur, den Grund der Erscheinung, das „Ding an sich,"
welches Kant für unsre Erkenntnis unerreichbar hingestellt habe, doch zum
eigentliche» Gegenstande unsrer Bemühungen und Forschungen machen müßten.
Nach Schillers Tode war es in unserm Jahrhundert nur der einsame große
Denker Goethe, der sich von dieser Auffassung nicht bestechen ließ, und der — was
bis jetzt freilich noch niemand weiß, was aber durch eine neue Analyse des
Faust demnächst klar werden dürfte — vollständig festhielt an den unvergäng¬
lichen Wahrheiten, die in der „Kritik der reinen Vernunft" niedergelegt sind.
Da nun aber die Spekulationen über das „Ding an sich," oder welche voll¬
tönende Namen man sonst diesem letzten Ziel aller Forschung geben wollte,
niemals auf die Dauer sichern Kredit erhalten konnten, so kam es bald dahin,
daß die Philosophie vollständig auf den Sand gesetzt wurde. Nichts ist be¬
greiflicher, als daß alle Wissenschaften, denen es um positive Fortschritte in
ihrem Gebiete zu thun war, sich abwandten von einer Wissenschaft, die zwar
prätendirtc, die erste von allen zu sein, aber nirgends bleibende Resultate auf¬
zuweisen hatte. Es kam dahin, daß man es zwar noch als ein Zeichen höherer
Bildung oder als einen Schmuck gelten ließ, einige philosophische Phrasen zu
gebrauche!? oder durch das Erwähnen berühmter Namen wie Kants sich den
Anschein zu geben, als sei man allen Geistern gemeinen Schlages doch etwas
voraus; aber das eigentliche Unterordnen wissenschaftlicher Arbeiten unter die
Leitung Philosophischer Grundsätze hörte geradezu auf.
Man kann die Urteile, die sich in den andern Wissenschaften über die Be¬
deutung und deu Wert der Philosophie während der letztenvierzig bis fünfzig
Jahre gebildet haben, ungefähr so zusammenfassen. Die einen sagen: Die
Philosophie ist eine Fachwissenschaft so gut wie jede andre; möge sich mit ihr
beschäftigen, wer sich dazu berufen fühlt und Zeit und Liebe dazu hat, wir
wollen uns aber nicht durch sie stören und von unserm Berufe abziehen lassen.
Die andern sagen: Die Philosophie ist schädlich, denn sie kann nur eingebildete
Hirngespinste an die Stelle positiver Erfahrungen setzen und ist deswegen für
den, der auf dem geraden Wege zur Wahrheit in seiner Fachwissenschaft vorwärts
strebt, nur ein Hemmnis; darum hassen wir sie unverholen und halten sie für
nichts besser als betrügerischen Schwindel. Noch andre sagen: Die Philosophie
ist überflüssig; es mag eine Zeit gegeben haben, wo in Ermangelung eines
Bessern die strebsamen Geister sich an ihr erfreuten, aber da wir nun die Natur-
wissenschaften in Aufschwung gebracht und die empiristische Methode der Forschung
uns angeeignet haben, so sind wir ja glücklicherweise der Mühe überhoben, uns
mit so mühsamen Begriffsbildungen und Wortspaltereien zu befassen, wie sie in
der Philosophie getrieben werden. Endlich giebt es noch eine völlig verneinende
Anschauung, die behauptet, daß die Philosophie als Wissenschaft überhaupt gar¬
nicht existire, sondern nichts andres sei als der Mißbrauch einer eigens zu
diesem Zwecke erfundnen sinnlosen Terminologie. Die Fassung dieser Urteile ist
keineswegs übertrieben; man kann sie täglich von den Jüngern unsrer Univer¬
sitäten so aussprechen hören. Und doch werden alle, die sich im allgemeinen
mit Absicht so negativ gegen jeden Einfluß der Philosophie Verhalten, bei jeder
ernstlichen Arbeit in ihrem Fachstudium dahin getrieben, irgendwelche philosophische
Grundsätze aufzusuchen und anzuwenden, freilich in der Regel so, daß man ihre
Unbekanntschaft mit jeder gründlichen Schulung auf diesem Gebiete leicht gewahr
wird. Wenn Helmholtz z. B. in seiner philosophischen Optik sagt, daß er zwar
nicht ganz vermeiden könne, von den in den Sinneswahrnehmungen wirksamen
Seelenthätigkeiten zu reden, aber dn selbst Kant in diesen abstrakten Folgerungen
keine allgemeine Übereinstimmung unter den Gebildeten habe hervorbringen
können, doch versuchen wolle, die Lehre von den Gesichtswahrnehmungen „von
allen Ansichten über Seelenthätigkeit frei zu erhalten, welche in das Bereich der
zwischen den verschiednen philosophischen Schulen bisher und vielleicht für immer
streitigen Punkte fallen, um nicht die für die Thatsachen zu gewinnende mögliche
Übereinstimmung dnrch Streitigkeiten über abstrakte Sätze zu stören, welche in
das uns vorliegende Geschäft nicht notwendig hineingezogen zu werden brauchen,"
so wird sein Verhältnis zur Philosophie unter die erste und dritte der oben an¬
geführten Kategorien unterzuordnen sein. Wenn er trotzdem über die Entstehung
der Raumanschauung spekulirt nud die geometrischen Axiome auf ihre Entstehung
untersucht und dabei zum Zweifel an ihrer allgemeinen Giltigkeit gelangt, so
giebt er damit den deutlichsten Beleg, daß er die Philosophie zwar nicht ent¬
behren, aber ohne exakte Schule bei Kant nichts Bleibendes darin leisten kann.
So erleben wir es denn jetzt, daß jeder „Narr ans eigne Hand" sich
berufen glaubt, ein neues philosophisches Shstem zu erfinden, und diejenigen,
die wirklich noch sachkundig sind, sich auf historische Arbeiten und Darstellungen
beschränken. Man kann diesen Zustand wohl die Herrschaft des allgemeinen
Skeptizismus nennen, in welcher es zur Modethorheit geworden ist, sich förm¬
lich zu brüsten mit der Unmöglichkeit, sichere Erkenntnis der Wahrheit zu er¬
langen. Die Philosophie ist von den Fachwissenschaften ihrer Würde und Be¬
deutung völlig entsetzt worden, und an ihre Stelle ist eine Verehrung der
Empirie und der nackten Thatsachen getreten, die immer gerade solange dauert,
bis man sich nach einer tiefern Erklärung der Thatsachen umsieht.
Diesem Zustande, der wirklich nicht zu pessimistisch geschildert ihl, wollte
Krause entgegenarbeiten, und er fand in diesem Streben allein in Kant sein un¬
vergängliches Vorbild. Er überzeugte sich, daß von allen deutschen Philosophen
Kant der einzige gewesen sei, der feste, dauernde Grundlagen für die Wissen-
schaft geschaffen habe, auf dessen absolute Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe man
sich überall verlassen könne, und der sich sachlich niemals in Widersprüche ver¬
wickelt habe. Die zahlreichen Irrtümer und Schwächen, die man ihm von jeher
vorgeworfen hatte, erwiesen sich nach und nach als Fehler der Jünger und Aus¬
leger, und so zerfiel das Gerede von der Überwindung Kants, von der Un¬
fruchtbarkeit seiner Kritik, vou der Unbrauchbarkeit derselben in den Wissenschaften
der Erfahrung nach und uach in sich selbst. Wenn Kant gesagt hatte, daß er
das Wissen habe aufheben müssen, um für den Glauben Platz zu gewinnen,
so war das durch bloßes Mißverständnis so gedeutet worden, als wenn das
Wissen von wirklichen Dingen in der Welt damit gemeint sei, und nicht viel¬
mehr das Wissen von übersinnlichen, metaphysischen Dingen. Krause erkannte
durch selbständiges Studium, daß Kant, weit entfernt von jeder Verkleinerung
der Erfahrungswissenschaften, gerade die Erfahrung der wirkliche» Welt als das
Ziel der theoretischen Vernunft hingestellt hatte. Gerade weil er bewies, daß
wir die Dinge in der Welt nur als Gegenstände der Wahrnehmung, d. i. als
abhängig vou unserm Vorstellungsvermögen, auffassen und beobachten können,
darum können wir mit Hilfe der Analyse unsers Vorstellungsvermögens eine
vollkommene Erkenntnis dieser Dinge erstreben und erreichen. Weil wir aber
das, was von unserm Vorstellungsvermögen abhängig ist, Erscheinung nennen
müssen und nicht „Ding an sich," so haben wir es in der wirklichen Welt nur
mit Erscheinungen zu thun, und nach „Dingen an sich" fragt kein Forscher, der
sich klar geworden ist über seine eignen Fähigkeiten und Aufgaben.
Es ist einleuchtend, daß die Gegensätze der verschiednen Auffassungen Kants
sich also zuspitzen in der Frage, wie 5tant den Begriff „Ding an sich" verstanden
haben wollte. Die philosophischen Schulen sagten: selbstverständlich ist das
„Ding an sich" das letzte Ziel aller Erkenntnis, und wenn Kant es für un¬
erkennbar erklärt hat, so ist er zwar dahin durch seine scharfsinnigen kritischen
Untersuchungen über das Vermögen der menschlichen Vernunft auf einem Wege
gekommen, den wir nicht widerlegen können, aber wir dürfen uns nicht fesseln
lassen durch die Schranken, die er uns auferlegt hat, wir wollen nicht nur die
Erscheinungen keimen, sondern vielmehr den tiefsten Grund, der hinter den Er¬
scheinungen verborgen ist; vielleicht zeigen sich bei Kant selbst einige Schwächen
und Jnkonsequenzen, die es uns möglich machen, uns frei und mit gutem Ge¬
wissen seiner Tyrannei zu entziehen. Und richtig: es ließe» sich zunächst die
Kategorien angreifen als ein überflüssiges, lästiges, nur zur künstliche» Ver¬
zierung des verzopften Systems dienendes Beiwerk. Sodann findet sich, daß
Kant in der zweiten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft" sich selbst
geradezu widersprochen und das, was er früher Erscheinungen nannte, für
„Dinge an sich selbst" erklärt hat. Es findet sich ferner, daß er in der „Kritik
der praktischen Vernunft" einen ganz andern und positiven Gebrauch von dem
Begriff des „Dinges an sich" gemacht hat als in der der theoretischen Ver-
uuuft; man kann zwar diese noch heute nicht widerlegen, aber es ist doch aus¬
gemacht, daß sie unzulänglich sein muß, denn das „Ding an sich" ist und bleibt
die Hauptsache, die wir erkennen wollen, mag es auch gelegentlich viel schönere
und volltönendere Namen bekommen, wie das „Absolute," oder der „Weltgrund,"
oder der „Wille," oder das „Unbewußte," oder das „Autilogische" und der¬
gleichen mehr. Diese Auffassungen werden anch insoweit von den Erfahrungs-
wissenschaften unterstützt, als sie jegliche Anwendung der Grundsätze der
„Kritik der reinen Vernunft" ans ihre Gegenstände abgelehnt haben und offen
zum englischen Empirismus zurückgekehrt sind, d, h, zu einer durch Kant über¬
wundenen Epoche in der Entwicklung des menschlichen Denkens. Dagegen ver¬
trat Krause die Ansicht, daß Kant in seinem ersten Hauptwerke den Weg gezeigt
habe, wie wir Menschen wirklich, was bis dahin kein Mensch begriffen hatte,
die Dinge außer uns, die Welt, wie sie sich nach ewigen Naturgesetzen bewegt
und immer bewegt hat, ihrem wahren Dasein nach mit unsrer Erkenntnis fassen
und begreifen können. Freilich war das nicht möglich, wenn die menschliche
Vernunft in jedem Individuum sich durch zufällige Verhältnisse der Ernährung
des Gehirns aus der Materie heraus entwickelte, sondern nur wenn die Ver¬
nunft jedes Einzelnen in der Anlage die gleiche Konstruktion hatte, d. h. nichts
andres als — um jeden technischen Ausdruck zu vermeiden — ein Ausfluß des
göttlichen Geistes war. Nur unter dieser Bedingung konnte das großartige
Unternehmen gelingen, die Erklärung für die Möglichkeit zu geben, daß wir
Dinge in Natur und Welt erkennen können, die doch nicht in uns sind. Denn
nun müssen sich die Gesetze, nach denen die Dinge alle da sind und sich bewegen
und verändern, richten nach den Gesetzen unsers Wahrnehmens und Denkens.
Damit hat denn das „Ding an sich" vollständig seine Bedeutung und sein In¬
teresse verloren; für die äußere Natur ist es nichts als ein Gedanke, wenn auch
ein notwendiger Gedanke von uns, dem keine Existenz außer uns entspricht;
nur in unserm eignen Innern finden wir Freiheit und Unabhängigkeit, die
man zwar nicht glücklich, aber doch ohne Widerspruch „Ding an sich" nennen
kann.
Von diesem Standpunkte aus unternahm es nun Krause, unsre Kenntnisse
über Zeit, Raum, Bewegung, Empfindung, Wahrnehmung und Gefühle zu er¬
weitern, indem er die Kategorien weiter und weiter mit den Daten der Sinn¬
lichkeit in Verbindung brachte, und kam auf diesem Wege zu vielen überraschenden
Resultaten, unter andern zur Begründung der Axiome der Geometrie aus den
Gesetzen der Vernunft. Bald wurden dieselben Prinzipien auf die Thatsachen
des Sehens und der physiologischen Optik angewandt, und überall zeigten sich
schnell die schönsten Ergebnisse in der Aufhellung dunkler Gebiete und die
fruchtbarsten, vielversprechendsten Ausblicke in weitere Fernen. Aber alle diese
Arbeiten hatten ziemlich dasselbe Schicksal, nicht oder mir halb verstanden zu
werden, weil niemand den Kantischen Standpunkt teilte.
Krause entschloß sich darauf, im Jubeljahr von Kants Hauptwerk (1881)
eine populäre Darstellung der „Kritik der reinen Vernunft" zu veröffentlichen,
die ganz besonders die Lehre vom Gegenstand der Erfahrung im Unterschiede
von dem leeren Begriff des „Dinges an sich" hervorhob. Diese Schrift wurde
zwar von den eigentlichen Fachphilvsophen anch ignorirt oder sehr geringschätzig
behandelt, aber sie fand doch bei unverdorbenen Gemütern in Kreisen jüngerer
Leute soviel Beifall und selbst Nachahmung, daß in kurzer Zeit eine zweite
Auflage nötig wurde.
Seit 1882 min sind nach und nach in der „Altpreußischen Monatsschrift"
die Bogen des verloren gewesenen Manuskripts, welches Kant seiner Zeit sür
sein Hauptwerk erklärt hatte. „Vom Übergang von der Metaphysik zur Physik"
erschienen, und aus ihnen leuchtete sür jeden Einsichtigen die Thatsache deutlich
hervor, daß Kant stets geradeso gedacht hatte über deu Gegenstand der Er¬
fahrung und „das Ding an sich," wie Krause es aufgefaßt und dargestellt
hatte und nicht wie die Fachphilvsophen.
Dieser letztere Umstand bietet allein den Schlüssel zur Erklärung dafür,
daß zwei ganze Jahre lang, in denen nach und nach die Blätter des umfang¬
reichen Manuskriptes des größte» deutschen Philosophen durch Dr. Reicke in
Königsberg veröffentlicht wurden, nach dem Zeugnis dieses Herausgebers selbst
kein einziger der dazu berufenen Lehrer der Philosophie auch nur ein Wort
von sich gab, daß er davon Notiz genommen hätte. Kuno Fischer wiederholte
in seiner neuen Auflage der Darstellung der Kantischen Philosophie mir, was
er schon früher gesagt hatte: „Man kann den Wert dieser Schrift ohne weiteres
bezweifeln, wenn man den hinfälligen Zustand des Philosophen erwägt und zu¬
gleich bedenkt, bis zu welchem Abschluß er seine Lehre geführt hatte; es ist
nicht abzusehen, was neues zu leisten Kant noch übrig geblieben war." Dieser
stolze Satz würde zwar wahrscheinlich nicht von allen Fachgenossen unterschrieben
werden, ist aber doch gerade im Munde des berühmten Historikers der Philo¬
sophie außerordentlich charakteristisch, um die Situation zu kennzeichnen. Wenn
in der That Kant die Grenzen der menschlichen Vernunft zu enge gezogen und
sich selbst später widersprochen hatte, wenn nach der Verurteilung seines Sy¬
stems neue Systeme gebaut werden sollten, die freilich noch überall erst Kredit
erwerben sollten und noch keine Erfolge aufzuweisen hatten, dann war es höchst
unangenehm, wenn neue, von Kant selbst herrührende Dokumente erschienen, die
möglicherweise zu einer Revision der überlieferten und längst festgesetzten Urteile
über ihn zwingen konnten. Die Geschichte des seit dem Tode Kants ver¬
schwundenen und neuerdings wieder entdeckten Manuskriptes, an welchem Kant
nachweislich mindestens in den letzten sechzehn Jahren seines Lebens gearbeitet
und welches er sein Hauptwerk und eine notwendige Ergänzung seiner „Kritik
der reinen Vernunft" genannt hatte, ist ausführlich in der neuesten Schrift
Albrecht Krauses mitgeteilt, die den Titel führt: Immanuel Kant wider
Kuno Fischer zum ersten Male mit Hülfe des verloren gewesenen
Kantischen Hauptwerkes: Vom Übergang von der Metaphysik zur
Physik verteidigt. (Lahr. Schauenburg, 1884.) Die großartige Bedeutung
des Kantischen Werkes kommt erst nach und nach den Zeitgenossen zum Bewußtsein.
Da Krause das Manuskript käuflich erworben hat, so wird für seine weitere
wissenschaftliche Verwertung gesorgt werden.
Die neueste Schrift Krauses nennt sich „eine Ergänzung der Populären
Darstellung der Kritik der reinen Vernunft in der Lehre vom Gegenstand
und Ding an sich." Es war nämlich nach dem Erscheinen der neuesten
Auflage vou Kuno Fischers Darstellung Kants in den Grenzboten ein anonymer
Artikel veröffentlicht worden, an dessen Abfassung wir beide, Krause ebenso wie
ich, Anteil haben, und in welchem Fischer beschuldigt wurde, Kant vollkommen
mißverstanden zu haben eben in dem Begriffe vom Gegenstand der Erfahrung
und vom „Ding an sich." Es war das vielleicht das erstemal, daß der berühmte
Philosoph, dessen Ruf durch seine historischen Arbeiten unerschütterlich und
zweifellos festbegründet war, so rücksichtslos angegriffen wurde. Er reagirte
darauf in seiner kleinen Schrift: „Die Kritik der Kantischen Philosophie," indem
er sich bemühte, alles, was von Krause ausgegangen war, als der vollständigen
Verachtung und Vernichtung würdig zu keunzeichnen. Sehr bald darauf schrieb
ich in diesen Blättern einen kleinen vorläufigen Artikel zur Abwehr, in welchem
ich mir schließlich die Bemerkung erlaubte, daß alles schmutzige Wasser, welches
Fischer eimerweise auf unsre Häupter ausgegossen habe, bis auf den letzten
Tropfen wieder auf ihn zurückfallen würde, und das ist in der Krauseschen
Schrift jetzt geschehen.
Indessen sind wir uns sehr Wohl bewußt, daß der Streit selbst niemand
Freude macht; er ist höchstens insofern zu entschuldigen, als durch ihn die
Wahrheit erhärtet wird. Wem die Polemik in der neuen Schrift zu grell vor¬
kommt, der möge auf Widerlegung bedacht sein. Die Hauptsache ist, daß hier
nun alle die Punkte, um die in der Auslegung Kants vorher gestritten wurde,
mit einem bis jetzt nicht vorhanden gewesenen Hilfsmittel aus dem wieder¬
gefundenen Kantischen Manuskript in el» so klares Licht, in so scharfe Be¬
leuchtung gesetzt werden, daß man wohl auf die Bekehrung mancher Zweifler
hoffen darf. Schließlich ist es am Ende gleichgiltig, ob die Zeitgenossen
sich daran ärgern, ob sie es willig oder unwillig aufnehmen; die Zeit
wird kommen, wo die Philosophie die Rolle einer feilen Dirne, die nur
um den erborgten Schmuck volltönender sinnloser Phrasen buhlt, ablegt und
auf den Standpunkt zurückkehrt, deu ihr Kant erobert hatte, die exakteste und
damit zugleich die unentbehrlichste und vornehmste Dienerin aller Wissenschaften
zu sein. Und wenn diese Zeit gekommen sein wird, so wird man Albrecht
Krause zu denen rechnen, die in erster Linie sie herbeizuführen gestrebt haben.
el der Schilderung der Kämpfe, welche zum Passauer Vertrage
und zum Augsburger Religionsfrieden von 1555 geführt haben,
spricht der große Altmeister der deutschen Geschichtschreibung Leo¬
pold von Ranke das kurze, aber gewichtige Wort: „So viel hatte
Karl V. doch bewirkt, beiß^sich der protestantische Geist nicht der
ganzen deutschen Nation und ihrer großen Institute bemächtigen konnte." Er
eröffnet damit die Perspektive auf die Tage der Gegenreformation und des
dreißigjährigen Krieges, aus die dauernde Trennung der Nation, welche in ge¬
wissen glücklichen Momenten zur Parität gewandelt, in vielen andern mit dem
Mantel der Parität nur schlecht verhüllt worden ist. Er deutet auf Jahrhunderte
lange Kämpfe, welche seitdem jede Periode der deutschen Kultur begleitet haben
und deren Ernst und Tiefe dem heute lebenden Geschlecht in tausendfacher Art
wieder zum Bewußtsein kommen sollte. Er stellt damit fest, daß neben der
wesentlich aus protestantischen Geiste stammenden Entwicklung der deutschen
Dichtung und der deutschen Wissenschaft eine Seitenentwicklung stattfinden
mußte, die, in ihrer eigentümlichen Bedeutung viel zu wenig beachtet, gleichwohl
nicht einflußlos geblieben und in jüngster Zeit zu steigendem Einfluß gelangt ist.
Die Geschichte der deutschen Literatur verzeichnet eine Reihe von katholischen
Dichtern, unter denen sich eine bedenklich große Zahl von Konvertiten befindet,
aber selten hat man Zeit gefunden die jeweilige Stellung dieser Dichter zum
politischen und gesellschaftlichen Dasein, die besondre Beziehung derselben zu den
eben vorherrschenden Kulturaufgaben unsers Volkes schärfer ins Auge zu fassen.
In der Gewißheit, daß die Hanptentwicklung von protestantischer Seite ausgehe
und daß der Anteil der deutschen Katholiken an den höchsten literarischen
Leistungen und Schöpfungen nicht einmal im Verhältnisse zu ihrer Zahl stehe,
glaubte man eine Bürgschaft für alle Zukunft zu erblicken. Man ließ mehr
oder minder außer Acht, daß im Verlaufe der Jahrhunderte und — bei dem
raschem Tempo der modernen Entwicklung — der Jahrzehnte eine Verstärkung
des Gewichts der katholischen Elemente eintreten mußte. Man vergegenwärtigte
sich nicht, daß auch fremde Bäume, denen anfänglich Boden, Luft und Wasser
Widerstand leisten, am Ende Wurzel fassen können und daß. wenn sie einmal
feststehen und ihre Krone entfalten, sich jederzeit Leute finden werden, die ihren
Schatten erquicklicher und ihren Duft würziger finden als den aller andern
Bäume des Gartens.
Um die Wende des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, in jenen
wunderlichen Zeitläuften, in denen die Sache der alten Kirche durch die Gegen¬
reformation in den süddeutschen Stiftern, durch den mit spanischer Hilfe
errungnen Sieg im „kölnischen Kriege," durch die bairische Eroberung von
Donauwörth bereits ein Stück deutschen Bodens um das andre zurückgewann,
während die Hoffnungen der Protestanten sich auf die fortschreitende Bekehrung
des Adels und der Städte in den ostdeutschen kaiserlichen Erbländern stützten,
trug die deutsche poetische Literatur ein so ausschließlich protestantisches Gepräge
wie nie zuvor und nie nachher. Denn in den Tagen der eigentlichen Reformation
hatte zwar der größte Teil der geistlichen und weltlichen Dichtung, aber doch
nicht die ganze Dichtung unter den Einflüssen von Wittenberg und Zürich ge¬
standen. Auch unmittelbar nach dem Augsburger Religionsfrieden, als der
weitaus größte Teil Deutschlands der neuen Kirche zugefallen war und die alte
Kirche zumeist durch den „geistlichen Vorbehalt" eben dieses Friedens aufrecht
erhalten blieb, hatte es nicht völlig an literarischen Vertretern des alten Glaubens
und der mit ihm verknüpften poetischen Empfindungen gefehlt. Selbst nicht an
solchen, die sich ursprünglich der protestantischen Bewegung angeschlossen hatten
und, durch einzelne Momente derselben zurückgeschreckt, auf halbem Wege wieder
umgekehrt waren, wie jener Georg Witzel (Wicclins), den Luther einst selbst zum
evangelischen Pfarrer ordinirt hatte und der in seinen spätern Tage in Vers
und Prosa als Streiter für die alte Kirche auftrat.
Wie tapfer sich diese und ähnliche Männer aber auch dem großen Strom
der protestantischen Bewegung entgegenstemmen, wie energisch sie an die Pietät
für das Altüberliefertc, an das Gefühl für die große Einheit der abendländischen
Kirche, die nun schon über ein Jahrtausend bewahrt worden sei, mahnen
mochten, sie waren doch sämtlich weit entfernt, „Römlinge" zu sein. Sie ver¬
fochten keineswegs die schweren Mißbräuche, die zu Luthers erstem Auftreten geführt
hatten, und wo sie poetisch die Jungfrau Maria und alle lieben Heiligen priesen,
da wollten sie wahrlich der Idolatrie, welche die Evangelischen schmähten, nicht
das Wort reden. Sie hofften Jahrzehnte hindurch auf das große Konzil,
welches der Christenheit den Frieden wiedergeben sollte, sie verwahrten sich, wie
der „Bock von Leipzig," Hieronymus Emser, eifrig dagegen, Luther in den Arm
zu fallen, wenn er der Geistlichen, Mönche und Nonnen Leben strafe, sie standen
mehr oder minder auf dem Standpunkt jenes Interims Kaiser Karls V., das
den Protestanten von echtem Schrot und Korn soviel Grauen erregt hatte, als
es Reichsgesetz werden sollte und wollte. Sie träumten von einer deutschen
Kirche, welche sich nicht von der großen katholischen Einheit löse, aber eine
freiere Stellung zu Rom einnehme und gewisse dem deutscheu Nationalbedürfuis
unentbehrliche „Reformen" aus eignem Recht unternehme. Sie vergaßen, daß
alle Kompaktaten mit dem Basler Konzil die böhmischen Utraquisten nicht davor
geschützt hatten, als Ketzer gebrandmarkt zu werden, sie erstrebten ehrlich eine
Unmöglichkeit, die noch unmöglich sein wird, wenn der Papst in einem Neurom
am stillen Weltmeer residirt und Macaulays vielzitirter Neuseeländer auf den
Trümmern der Londoner Paulskirche sitzt. Wo die Gesinnungsgenossen dieser
deutschen, der alten Kirche zuneigenden Dichter einen politischen Einfluß erlangten,
wie beispielsweise unter Herzog Wilhelm in Kleve, da wurden die kirchlichen
Dinge momentan in ihrem Sinne geordnet und ohne Abfall von Rom eine Zwischen¬
kirche aufgerichtet, die keinen Bestand hatte, keinen haben konnte. Die alten Eras-
mianer, die Humanisten, welche ihre Ideale weder den Scholastikern von Köln
noch den flacianischen Fanatikern von Jena unterordnen und anpassen mochten,
einzelne Politiker, welche die Gefahr der dauernden Spaltung klar voraus¬
empfanden, zur Vermittlung neigende Naturen, welche am Glauben der Väter
und Großväter festhalten und doch gewinnen wollten, was sie aus dem Leben
und Wesen der Evangelischen ansprach, bildeten eine kleine, aber nicht unwichtige
Partei, welche in einzelnen Momenten wähnen mochte, das Zünglein der Wage
zu halten. Im Geist und Sinn dieser Partei dichtete Witzel, dichtete Johann
Leisentrit von Olmütz, der das Budissiner katholische Gesangbuch von 1667
herausgab, versuchte der Kaiserswerther Pfarrer Kaspar Ulenberg seine Be¬
arbeitung der Psalmen Davids den lutherischen und calvinistischen Gesängen
gegenüberzustellen, deren Macht man nicht leugnete und deren erbauliche Wirkung
man für höchst erstrebenswert hielt.
Allein der Gang, den die Gegenreformation seit den sechziger Jahren des
16. Jahrhunderts nahm, die Wendung, welche auf dem Konzil zu Trient ein¬
trat, legten den Eifer der charakterisirten Partei vollständig lahm. Die Macht
des Papstes, welche diese deutschen Katholiken zu beschränken gedacht hatten,
erfuhr durch die tridentinischen Beschlüsse eine neue Steigerung. „Die katholische
Kirche erkannte ihre Beschränkung an; auf die Griechen und den Orient nahm
sie keinerlei Rücksicht mehr: den Protestantismus stieß sie mit unzähligen
Anathemen von sich. In dem frühern Katholizismus war ein Element des
Protestantismus inbegriffen; jetzt war es auf ewig ausgestoßen. Aber indem
man sich beschränkte, konzentrirte man seine Kraft und nahm sich in sich selber
zusammen." (Ranke, Die! römischen Päpste; drittes Buch.) Diese Konzentration
fand indes durchaus auf Kosten des germanischen Geistes statt, sie ging von
den Romanen aus, sie entsprang spanischen und italienischen Bedürfnissen, sie
berücksichtigte weder die deutsche Natur, noch die deutsche kirchliche Vergangen¬
heit. Sie war bis ins innerste Mark hinein romanischer Weltanschauung
gemäß; Autorität, Unterwerfung, äußere Zucht, strenge Regel, der sich jeder
einzelne ohne Prüfung fügt, waren die Losung geworden, und die deutschen
Träumer, die so lange auf das große christliche Konzil gehofft und erwartet
hatten, daß dasselbe allen berechtigten Forderungen Rechnung tragen werde,
sahen sich jetzt vor die Wahl gestellt, entweder noch nachträglich zu der ver¬
haßten Ketzerei abzufallen oder sich bedingungslos zu unterwerfen. Die
neueste in Spezialitäten schwelgende Geschichtsdarstellung des 16. Jahrhunderts
kann unzählige Variationen zu diesem einen großen Grundthema aufzählen.
Wie schwer und wie gepreßten Herzens entschloß man sich, die tridentinischen
Beschlüsse als endgiltig bindend anzusehen! Welchen Widerstand leisteten die
Einzelnen! Wie widerwillig blickten unzweifelhaft gute Katholiken auf die ersten
Sendboten der Gesellschaft Jesu hin, die um eben diese Zeit nach Deutschland
kamen! Wie unerträglich erschienen die neuen strengen Satzungen dem deutschen
Kapiteladel, wie langsam vermochte sich selbst das Landvolk mit den Pfarrern
zu befreunden, die aus den ersten neugegründeten bischöflichen Seminarien hervor¬
gingen! Das Pathos und der sittliche Ernst der Gegenreformation wirkten
natürlich auch auf deutschem Boden, aber das Bewußtsein, daß sie in Ursprung
und allen Besonderheiten wälsch seien und fremd blieben, erhielt sich lange Zeit.
Und natürlich war es auch, daß die seitherigen Wortführer der katholischen
Anschauung in Vers und Prosa verstummten, daß die Literatur noch ausschlie߬
licher protestantisch erschien als bisher. Natürlich, daß es geraume Zeit
währte, bevor eine neue Generation allmählich in den Schulen der Jesuiten
erwuchs, die schou in den siebziger und achtziger Jahren zu Mainz, Köln und
Trier, zu Würzburg und Speier, zu Paderborn und Fulda, zu Dillingen und
Ingolstadt, zu München und Landshut ins Leben traten. Die Jesuiten, auch
soweit sie Deutsche waren, trugen die Spuren ihrer ausländischen Erziehung
und hatten die Aufgabe, ihre Zöglinge so fest als möglich an Rom und die
römische Sache anzuschließen. Sie bevorzugten stärker, als es ohnehin schon
in der Zeit lag, die lateinische Sprache; ihre Dichtungen und ihre vielgepriesenen
und für ihre Zwecke wichtiger werdenden theatralischen Spiele waren zumeist
lateinisch geschrieben. Soviel uns bewußt ist, existirt noch keine vollständige
und zugleich kritische Übersicht jener neulateinischen Poesie, die teils von deutschen
Gliedern der Gesellschaft Jesu selbst ausgegangen, teils unter ihrem unmittel¬
baren Einfluß entstanden ist. Aber ein Blick in jede alte Bibliothek Süd-
und Westdeutschlands oder der Niederlande belehrt uns, daß die Zahl der
hierher gehörigen lateinischen Dichtungen eine ungeheure gewesen ist. Doch je
allseitiger und entschlossener man in diese Art poetischer Produktion eintrat,
umso scheuer gingen die Jesuiten der ersten Generation und ihre unmittel¬
baren Schüler der deutschen Dichtung aus dem Wege. Die Nachbildung
protestantischer Muster, welche die ältern obengenannten katholischen Liederdichter
noch völlig naiv betrieben hatten, galt nicht mehr für zulässig. Eine neu¬
katholische, die seit der Gegenreformation vorherrschenden Ideale und Stim¬
mungen wiedergebende Literatur bildete sich im Süden erst allmählich aus. Was
nun entstand, hatte die Zustimmung der kirchlichen Autorität erst zu er¬
warten — die Glieder der Kompagnie Jesu begnügten sich keineswegs damit, daß
jedes poetische Werk in Italien und Spanien einer strengen Zensur unterlag;
sie entschieden sich nur für die Dichtungen, die der strengern kirchlichen Tendenz
entsprachen und haben sich ihrerseits beispielsweise lange bemüht, die Verball¬
hornung und Abschwächung des „Eroberten Jerusalem," welche Torquato Tasso
aus seinem „Befreiten Jerusalem" herstellte, zu Ehre und Ansehen zu bringen.
Auf alle Fälle währte es eine geraume Weile, bis unter den deutschen Ka¬
tholiken poetisch begabte Naturen den Drang empfanden, in Anlehnung an
romanische Muster ihre innern Empfindungen wieder in deutscher Sprache kund¬
zugeben.
An Prosaschriftstellern des alten Glaubens, namentlich an energischen,
streitfertigen Polemikern, fehlte es in diesem Zeitraum, in welchem die Katho¬
liken aus der deutschen Dichtung zu verschwinden schienen, keineswegs. Die
literarischen Hauptquartiere des restaurirten Katholizismus: München, Ingol-
stadt, Dillingen (als Haupt- und Residenzstadt des Fürstbistums Augsburg)
förderten aus ihren Pressen die gewaltigen Streitschriften: den Traktat of
Äutonomis,, die schmähenden Darstellungen von Luthers Leben, die höhnischen und
witzigen Flugschriften des Johannes Nasus gegen die Konkordienformel und
die evangelischen Polemiker seiner Zeit zu Tage, zwischendrein flog auch eine und
die andre Satire „reimcnsweis." Zeigten sich schon diese Prosaisten den gleich¬
zeitigen der Protestanten nicht gewachsen, selbst wenn man von einer hervor¬
ragenden Erscheinung wie Johann Fischart absieht, so waren es bis zu dem
Augenblicke, wo alle deutsche Literatur der Nachahmung des Auslandes verfiel,
die vereinzelten Dichter noch weniger. Wie unbedingt und fest die Blicke der
literarisch gebildeten deutschen Katholiken der Fremde zugewandt blieben, dafür
erscheint beispielsweise die Thätigkeit des Ägidius Albertinus, des Hof¬
sekretärs und Bibliothekars Herzog Maximilians I. von Baiern, im höchsten
Maße charakteristisch. Der deutsche Bearbeiter des Schelmenromans „Land-
störtzer Gusman von Alfarache" und zahlreicher Schriften des Guevara bringt
es als selbständiger Schriftsteller über, einige schwache Kopien seiner spanischen
Vorbilder nicht hinaus und vermag sich allenfalls mit der Reflexion, aber nie¬
mals mit der frischen Weltwiedergabe und lebendigen Gestaltung zu denselben
zu erheben. Seine Übersetzungen stellen sich vielfach als freie Bearbeitungen dar,
welche mit großer Geschicklichkeit den Bedürfnissen der katholischen deutschen
Laienwelt angepaßt wurden. Die theologischen, moralischen und historischen
Elemente der Sammelwerke: „Der Weltschauplatz," „Der Teutschen Recreation
oder Lusthaus," bieten weit mehr Interesse als die poetischen. Auch in den
gerühmtesten Versuchen des Albertinus: „Lucifers Königreich und Seelengejaid"
und „Christi Seelengejaid" bringt er es über die ärmlichste moralisirende Alle¬
gorie nicht hinaus. Er bezeichnet trotz alledem den Stand des katholischen
Teiles deutscher Literatur um die Wende des sechzehnten und siebzehnten Jahr¬
hunderts in verhältnismäßig günstiger Weise. In seinen literarischen Arbeiten
liegen ganz sicher einzelne Wurzeln zu der spätern Thätigkeit Grimmelshausens,
dennoch wird niemand behaupten können, daß diese Arbeiten dem besten, was
damals die poetische Literatur auf protestantischer Seite hervorbrachte, irgend
zu vergleichen wären.
Doch sollte die Ausschließlichkeit, mit welcher die Protestanten das Gebiet
der poetischen Literatur beherrschten und zu beherrschen meinten, nur noch kurze
Zeit währen. Der Hauptvorzug, den Fischart und Rollenhagen, Spangenberg,
und ähnliche Dichter für sich geltend machen konnten, lag in ihrem selbständig
nationalen Gepräge, im Anschluß an die lebendig kräftige volkstümliche Sprache
der Dichter des sechzehnten Jahrhunderts. In demselben Augenblicke, wo dieser
Vorzug verloren ging, wo die Abhängigkeit von fremden Mustern, welche den
katholischen Dichtern durch die historische Entwicklung und die Besonderheit ihrer
Bildung auferlegt war, auch bei den evangelischen begann, ward die bisher be¬
hauptete Hegemonie oder doch die Alleinherrschaft in Frage gestellt. Völlig
neue Fragen: nach dem Wert und der Bedeutung der ausländischen Muster,
nach dem Verhältnis, in welchem der einzelne Dichter zu seinen Vorbildern stehe,
traten in den Kreis der Erwägung. Und da gleichzeitig mit dem beginnenden
dreißigjährigen Kriege die Sache des deutschen Katholizismus einen wenige Jahr¬
zehnte zuvor kaum erhofften Aufschwung nahm, so wuchs von nun an die Be¬
deutung der katholischen Elemente für das Gesamtleben der Literatur.
Der dunkelsten Arbeitszeit Deutschlands, der Zeit des großen Krieges und
der beiden ihm folgenden Menschenalter, gehören die ersten katholischen deutschen
Dichter an, welche über die Kreise aller der alten Kirche treugebliebenen oder
zu ihr zurückgezwungenen hinauswirkten. Die Zahl der letzteren hatte in den
ersten Jahrzehnten des Krieges gewaltig zugenommen, und alle Siege des
Schwedenkönigs und seiner Feldherrn vermochten der Gegenreformation das
Terrain, das sie in Süd- und Westdeutschland, immer unter der thätigen Mit¬
wirkung der Gesellschaft Jesu, neu gewonnen hatte, nicht wieder zu entreißen.
Der westfälische Friede, welcher die Erfahrung des verwüstenden und greucl-
vollen Krieges: daß keine der beiden Parteien die andre vernichten könne, ledig¬
lich besiegelte, ließ eine Stimmung gedeihen, die der Anerkennung katholischer
Dichter im protestantischen Deutschland förderlich genug war. Eine weitver¬
breitete Gleichgiltigkeit gegen die Streitfragen, welche die Deutschen im ganzen
sechzehnten Jahrhundert und noch auf den ersten Schlachtfeldern des dreißig¬
jährigen Krieges bis zum Wahnsinn gegeneinander erhitzt hatten, ja ein förm¬
licher Ekel gegen diese Fragen griff in weiten Kreisen um sich. Die feiner ge¬
arteten Naturen waren unsicher geworden in der Überzeugung, daß Leib und
Seele, Blut und Wohlfahrt an jeden Satz eines ererbten Glaubensbekenntnisses
gewagt werden müsse. Sie verstiegen sich selbst zu dem Traum einer Wiederver¬
einigung der getrennten Kirchen, sie begleiteten die theologische Thätigkeit eines
Calixtus in Helmstedt, die von den alten Wittenberger Zionswächtern als
„Syncretismus" gebrandmarkt und verrufen wurde, mit innerm, warmem Anteil
und empfanden sie als eine Wohlthat. Bei solcher Stimmung, die auf pro¬
testantischer Seite häufiger und verbreiteter gewesen zu sein scheint als auf ka¬
tholischer, thatsächlich und scheinbar aber doch auch auf letzterer existirte, bei dem
stärkern Interesse überdies, welches die eigentümliche Bildung des akademischen
Jahrhunderts der poetischen Form entgegenbrachte, war für die Wirkung einzelner
katholischen Dichter Raum vorhanden. Die Abhängigkeit der katholischen Poesie
von romanischen Vorbildern, die eigentümliche Verwandtschaft ihres Ausdrucks
mit dem von Guarini und noch mehr mit dem von Marini in Italien gepflegten,
der poetische „Jesuitenstil," wie man die wundersame Mischung von Schwulst
und Innigkeit, von übergeistigter und sinnlicher Bildlichkeit, von Pathos und
spielendem Getändel mit Recht getauft hat, konnte ein Geschlecht nicht abschrecken,
welches im Barocken die ideale Steigerung seines eignen Lebens und Empfindens
erkannte und schätzte. Immerhin bedürfte es noch besondrer Eigenschaften und
Auszeichnungen für einen katholischen Dichter, um ihm eine größere Geltung
auch in Mittel- und Norddeutschland zu verschaffen. Daß die Marienlicder
Jakob Baldes, die „Pastorellen" des Schlesiers Johann Christian Hallmann
oder die „mirantischen" Hirtentöne des Franziskaners Laurentius von Schnüffis
eine weitere Verbreitung gehabt oder gewonnen hätten, dürfte schwer nachzu¬
weisen sein. Wohl aber erreichten drei katholische Dichter: Friedrich Spec,
Johann Scheffler (Angelus Silesius) und H. I. Eh. von Grimmelshausen
neben einer hervorragenden Bedeutung in der deutschen Literatur des siebzehnten
Jahrhunderts auch eine tief eingreifende Wirkung. Ja es läßt sich nicht be¬
zweifeln, daß in Anbetracht der Eigenart aller drei genannten Dichter diese
Wirkung der höchsten und glücklichsten, welche man von der Dichtung fordern darf,
viel näher gekommen ist als die Wirkung beinahe sämtlicher Dichter, welche größern
literarischen Ruf genossen und den großen Entwicklungsgang der damaligen Lite¬
ratur bestimmten. Sie wurden meist nicht angesungen und durch Vergleich mit den
lateinischen Dichtern gepriesen, nicht in die Sprach- und Poetengescllschaften der
Zeit aufgenommen, sie wurden weit spärlicher als andre zum Mittelpunkte
ästhetisch-literarischer Erörterungen gemacht, aber sie wurden gelesen und ge¬
nossen, sie hinterließen in bestimmten Kreisen tiefere Eindrücke und halfen, jeder
in seiner Art, empfänglichen Naturen über das Grauen und die Öde der Zeit
hinweg.
Der ältern und ersten Generation jesuitischer Dichter und zugleich den ita¬
lienischen Mustern der Zeit am nächsten stand unter den genannten der Dichter
der „Trutz-Nachtigall," Friedrich Spec, dessen Lyrik erst nach seinem Tode ka¬
tholische wie protestantische Seelen zu trösten und zu erheben begann. Neben
den innigsten und reinsten Klängen fehlte es bei Spec keineswegs an den künst¬
lich überhitzten Bildern, die aus Marinis Schule stammten, an den süßlichen
sinnlich-übersinnlichen Spielereien, welche in der italienischen Kunstdichtung jener
Tage den Mangel wahrer Leidenschaft und echten Gefühls ersetzen mußten.
Allein zweierlei unterscheidet ihn von den Jesuitendichtern gewöhnlichen Schlages.
Neben den italienischen Barockpoeten galten Spec auch die alten Hymnendichter
als Muster, und ihnen lauschte er kräftigere und ergreifendere Töne ab. So¬
dann ist nicht zu verkennen, daß die wirkliche innere Ergriffenheit und das
warme Herzensleben des Dichters durch seine tändelnden Formen und seinen
schwülstigen oder spielenden Ausdruck hindurchleuchten. Spees Inbrunst, die
Reinheit seiner Empfindung, die Tiefe seiner Todes- und Friedenssehnsucht sind
in seiner Dichtung so wenig in Zweifel zu ziehen, als der unerschrockne und
edle Freimut, mit dem er den Greueln der Hexenprozesse und dem stupiden Wahn
seiner Tage gegenübertrat.
Aber noch viel mächtiger und ergreifender wirkten die Dichtungen des
Angelus Silesius. Die Thatsache, daß der Dichter ursprünglich vom Anschluß
an den gutprotestantischen Mystiker Jakob Böhme, den Schuster von Görlitz,
ausgegangen, kann allein nicht hingereicht haben, ihm ein Publikum auch unter
den Evangelischen zu sichern. Aber ihm kam die obengedachte Stimmung der
Zeit, die wachsende Abneigung der Gebildeten gegen konfessionellen Fanatismus
bereits zu Hilfe. Dazu trugen die „Sinn- und Schlußreime" seines „Cherubi¬
nischen Wandersmanns" entschieden kein katholisch-kirchliches Gepräge, so ent¬
schieden die Vorstellungen der tiefern Geister des Mittelalters und die leiden¬
schaftliche Gottessehnsucht der ekstatischen und mystischen Dichter in ihnen
nachklingen. Bekanntlich ist die Anschauung und Empfindung, welche den Reim¬
sprüchen Schesflers zugrunde liegt, oft genug heilloser Pantheismus gescholten
worden. Die katholischen Stimmführer der Zeit nahmen, soviel wir sehen können,
keinen Anstoß daran, sie hielten sich an die tiefreligiöse, keinem Dogma und
keiner Überlieferung der Kirche klar widersprechende Gesinnung, sie fühlten, daß
in einem Dichter mit solcher Grundanlage und Seelenstimmung das Bedürfnis
des innigsten Zusammenschlusses mit der kirchlichen Überlieferung nur wachsen
müsse, und spürten kein Verlangen, jeden dunkeln oder überschwänglichen Aus¬
druck argwöhnisch zu prüfen. Die wunderbare, ja einzige Kraft des Dichters,
für die zitternden, die selig verzückten, die sehnsuchtsvoll klagenden, die gott¬
erfüllten, weltverachtenden Stimmungen ein Bild, einen poetischen Ausdruck zu
finden, brachte auch innere Erfahrungen und Erlebnisse, die keinem fühlenden
Katholiken fremd waren, ans Licht. Daß sich daneben Seelenstimmungen und
Reflexionen im „Cherubinischen Wandersmann" lebendig und wirksam erweisen,
welche seinen ursprünglichen Glaubensgenossen näher lagen als seinen spätern,
wird darum niemand leugnen. Unverkennbar aber half die Vorstellung, daß
ein allgemeines, über den Konfessionen stehendes vorhanden sei, eine christliche
Empfindung und Frömmigkeit höherer Potenz dem „Cherubinischen Wanders¬
mann" die Pfade ebnen. Zu den noch unerörterten kulturgeschichtlichen That¬
sachen gehört es, daß die alte und alleinseligmachende Kirche jedes Emporkeimen
solcher Vorstellung und Anschauung in der sichern Zuversicht gefördert hat, daß
das letzte Endresultat derselben ihr und immer nur ihr zu gute kommen müsse.
Eben damals, als Angelus Silesius seine himmelssehnsüchtigcn und heilsdurstigen
Reimsprüche niederschrieb, hatte die Konversion der Königin Christine von Schweden
der Kirche wieder einmal Recht gegeben. Die Tochter Gustav Adolfs hatte sich
auch im Geiste über die engherzige Konfessionalität erhoben, hatte unruhig
zwischen freier religiöser Erhebung und weltlichem Wissen und Erkennen hin-
und hergetastet und am Ende im Schoße der römischen Kirche Zuflucht gesucht.
Was einmal geschehen war, konnte tausendmal geschehen, und im Grunde war
es mit dem Dichter Johann Scheffler nicht viel anders gegangen als mit der
nordischen Königin. Das aber hinderte nicht, daß sich der schlesische Mystiker
und Konvertit eines großen Publikums erfreute und zum Lieblingsdichter aller
Stillen im Lande ward, vollends als er neben den wie in Granit gegrabenen
Sprüchen des „Wandersmanns" die herzergreifenden und ohrbestrickenden Klänge
seiner „Heiligen Seelenlust," die „Geistlichen Hirtenlieder der in ihren Jesum
verliebten Psyche" veröffentlichte, denen Goedeke (Elf Bücher deutscher Dichtung,
S, 425) mit Recht nachrühmt, daß sie „eine Innigkeit der Auffassung haben,
wie sie kaum wieder getroffen wird." Wohl machte sich auch in ihnen der
Jesuitenstil in Bildern und Wendungen geltend, wohl haben die spielend sü߬
lichen Überschriften für spätere Generationen einen fremden und befremdlichen
Klang, wohl vermag auch Angelus Silesius den Zwiespalt und die Zweideutig¬
keit dieser Lyrik, die mit allen Bildern der irdischen Liebe die Liebe zu Gott
und Heiland schildern will, nicht völlig zu überwinden. Aber in seinen Ge¬
sängen wie „Ich will dich lieben, meine Stärke," „Die Seele Christi heil'ge
mich," „Mir nach, spricht Christus, unser Held," „Liebe, die du mich zum Bilde
deiner Gottheit hast gemacht" waren doch das Höchste und Schönste, was diese
Seelenstimmung hervorzurufen vermochte. Sie ragten weit über die italienischen
Muster hinaus in der Kühnheit und dem Schmelz der Bilder, ja sie versuchten
sich selbst mit ihrem Wohlklang neben den weichen Lauten der wälschen Hirten¬
dichtung zu behaupten. Kein Wunder, daß diese Dichtungen über den engen
Kreis hinausdrangen, in dem die katholische Lyrik bis hierher gewirkt hatte, daß
sie von gläubigen Protestanten mit gleichem Entzücken wie Paul Gerhardts un¬
vergängliche Kraft- und Trostlieder begrüßt wurden und der Unterschied zwischen
den einen und den andern kaum empfunden ward.
Auch der Dichter des „Simplicissimus" war Katholik, es ist nicht völlig
klar, ob von Haus aus oder in den Wandlungen und Wechselfällen des Krieges
dazu geworden. Aber das konfessionelle Element trat bei ihm, trotz des poetischen
Glanzes, mit dem er die Gestalten seiner Einsiedler umgiebt, hinter die welt¬
liche Tüchtigkeit und Weltkenntnis zurück. Und jene Unterredung mit einem
eifrigen reformirten Pfarrer im zwanzigsten Kapitel des dritten Buches seines
berühmten Romans, in welcher sich der Held dagegen verwahrt, voreilig sich zu
einer bestimmten Glaubenspartei zu schlagen, ist der Stimmung, die unmittelbar
nach dem dreißigjährigen Kriege herrschte, entschieden verwandt. Aus den
Schriften des Schultheißen von Renchen sprach eine freie und lebendige An¬
schauung, eine ideale Sehnsucht nach dem Ewigen, aber keine konfessionelle Eng¬
herzigkeit.
So waltete in den hervorragendsten katholische» Dichtern Deutschlands um
diese Zeit eine Empfindung, welche ebenso wie die herrschende Auslandnach¬
ahmung der gelehrten Poesie den Unterschied zwischen dem katholischen und pro¬
testantischen Publikum einigermaßen ausgleichen half. Mit den eben charakteri-
sirten Dichtern trat nicht etwa eine völlige Versöhnung der Gegensätze, aber ein
Vergessen derselben über gemeinsamen Momenten ein. Die Abwehr aller Anders¬
gläubigen, die am Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts und noch bei Beginn
des großen Krieges beiderseits allgemein gewesen war, erschien jetzt minder ent¬
schieden und schroff. Die Literatur wurde weit weniger unter dem Gesichts¬
punkte der Tendenz betrachtet, und die allgemein poetischen, tröstlichen und erquick¬
lichen Eigenschaften der katholischen Dichter wurden unumwunden anerkannt. Die
Voraussetzung dabei blieb doch immer, daß die Streitdichter und Polemiker der
alten Jngolstädtcr Schule anch von katholischer Seite nicht ferner als Vertreter
katholischer Gesinnungen und katholischen Lebens in der deutschen Dichtung be¬
trachtet wurden — eine Voraussetzung, die keineswegs überall zutraf.
(Fortsetzung folgt.)
as Gerücht, daß Chartum in die Hände der Aufständischen ge¬
fallen und General Gordon ihr Gefangner sei, hat sich zwar
nicht bestätigt, wohl aber hat es die Aufmerksamkeit der politischen
Kreise wieder auf die kläglichen und beunruhigenden Zustände
gelenkt, welche die Haltung Gladstones gegenüber der ägyptischen
Frage in den Nilländern herbeigeführt hat. Hier wird zunächst der Aufstand
im Sudan von Post zu Post, die von dort beiläufig nur noch auf indirekten
Wege eintrifft, bedenklicher. Die Umgebung von Chartum hat sich in den letzten
Wochen in ein ungeheures Rebellenlager verwandelt, alle Versuche, mit Dampfern
nordwärts und bis Berber zu gelangen, schlugen fehl, und wenn berichtet wird,
daß ein am 6. April von den Insurgenten unternommener Sturm auf die
Schanzen, die Gordon bei Om Dnrman angelegt hat, mißlungen ist, so werden
diese und ähnliche kleine Erfolge die Katastrophe ebensowenig noch lange auf-
halten als der Umstand, daß auch der Mcchdi mit Gegnern zu kämpfen hat.
Er wird sie, wenn nicht alles trügt, allmählich überwinden, Gordon und die
ägyptischen Garnisonen des Sudan werden, falls ihnen nicht in elfter Stunde
noch englische Truppen zu Hilfe kommen, nicht zurückkehren, wenigstens nicht
über Berber oder Suakim, und der Rückzug nach Habesch oder über die Reiche
an den Nilquellen ist wohl ebenso unmöglich, wenigstens mit riesigen Schwierig¬
keiten verbunden. Der Plan der britischen Negierung, dem Aufstand im Sudan
auf friedlichem Wege ein Ende zu machen, ist unleugbar gänzlich ins Wasser
gefallen, und wenn Gladstone das vor dem Parlamente in Abrede stellen konnte,
so muß er entweder eigne Augen oder ein eignes Gewissen haben. Unparteiische
Sachkenner sind völlig entgegengesetzter Meinung. So der österreichische Konsul
für den Sudan, Herr Hanhai, in einem von ihm nach Wien erstatteten Berichte,
in welchem er u. ni. sagt, das Aufgeben der ägyptischen Oberherrschaft in Zentral¬
afrika, die Abtretung der vizeköniglichen Gewalt an örtliche Häuptlinge ohne
Einsetzung eines starken obersten Herrschers bedeute nichts andres als die Ein¬
führung der Anarchie. Ein Rassenkrieg sei unvermeidlich, und die kleinen Ge¬
walthaber würden einander so lange bekämpfen, bis der Mcchdi sie alle unterwürfe.
Die Zeit der Bahara, der jährlichen Züge stromaufwärts zur Sklavenjagd in
den heidnischen Negerländern, würde wieder aufleben, Raub, Mord und Brand¬
stiftung würden als Heldenthaten betrachtet werden, und unter solchen Umständen
sei an ein Verbleiben von Europäern im Sudan nicht zu denken; andrerseits aber
wüßten sie schon jetzt nicht, wohin sie fliehen sollten.
Fällt Gordon, so bedeckt sich die bisherige englische Politik am Nil mit
unauslöschlicher Schmach, und so erscheint sie sür die nächste Zeit, was praktisch
mehr ist, vor den orientalischen Völkern als ohnmächtig.
Betrachten wir den Verlauf der Ereignisse. Am 17. Februar erreicht
Gordon Chartum, die Bevölkerung küßt ihm, dem Befreier, jubelnd Hände und
Füße, drei Abende hindurch strahlen die Lehmmauern der Hauptstadt des Sudan
von einer allgemeinen Illumination. Es ergeht eine Proklamation, welche die
Freude steigert, und man beruft Notabeln, um deren Rat über die Gestaltung
der Zukunft zu hören. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen
ist die Parole. Alles erwartet guten Fortgang. Aber nur zu bald entwickeln
die Dinge sich anders. Gegen das Ende des Monats wird ein Versuch gemacht,
Dampfer nilaufwcirts nach Sennaar zu senden, und derselbe mißlingt. Ein
zweiter Versuch hat dasselbe Schicksal, er findet zu starken Widerstand. Ju
der ersten Woche des März geht das Gerücht, auf der Nordseite von Chartum
habe sich der Scheich El Obeid für den Mcchdi erklärt, die Telegraphendrähte,
welche die Stadt mit Kairo in Verbindung erhalten, werden durchschnitten, in
Berber fühlt man sich beunruhigt und bittet um Hilfe. Einige Tage später
wird die Passage des Nil beim sechsten Katarakt bedroht, es glückt zwar, die
dortigen Rebellenhaufen zu zerstreuen, und die Postdampfer können wieder nach
Norden fahren, aber bald ist die alte Not wieder da: die Insurgenten haben
sich in stärkern Haufen gesammelt. Am 16. März ist Gordon abermals ge¬
zwungen, Gewalt anzuwenden, aber seine Truppen laufen davon, und er muß
zwei Paschas, die dabei Verrat geübt, vor ein Kriegsgericht stellen und erschießen
lassen. Darauf vergehen vierzehn Tage ohne Nachrichten von ihm und der
Garnison Chartums. Erst am 31. erfährt man in Kairo, daß er zwar noch
lebt, aber nicht imstande ist, die Stadt zu verlassen, und daß er nicht wagen
darf, sich mit seinen Ägyptern wieder auf freiem Felde zu zeigen. Dann war
geraume Zeit wieder alles still von ihm, und als wieder eine Botschaft von
ihm eintraf, lautete sie nicht tröstlicher als die zuletzt von ihm ausgegangene.
Er scheint nicht einmal zu wissen, daß Glcidstone sein Verlangen, Zibehr Pascha
zum Maki des Sudan zu ernennen, abgelehnt hat; denn er hat jenen jetzt zur
Übernahme des Postens aufgefordert. Zu derselben Zeit telegraphirte Hussein
Pascha Chalifa, der einzige treue und tapfere General des Chedive im Sudan
und zugleich nebst dem Mahdi und Zibehr der einflußreichste Mann in dieser
Gegend, aus Berber im größten Tone der Verzweiflung nach Kairo. Er be¬
findet sich etwa sechsunddreißig deutsche Meilen von Chartum, und der Geist
der Empörung hat seine Stämme ergriffen, er fürchtet, daß ihm die Gewalt über
seine Leute rasch entgleiten werde, und will, da keine Hoffnung auf Hilfe durch
britische Truppen vorhanden sei, die Verantwortlichkeit für das, was kommen
wird, nicht länger tragen.
Angesichts dieses Umstandes, der sich inzwischen verschlimmert haben wird,
kann es sich kaum noch fragen, was englischerscits zu thun ist, und ob noch
länger gezögert werden soll, Maßregeln zur Rettung der Europäer in Chartum
zu ergreifen. Nur über den Weg, der dabei einzuschlagen wäre, kann man in
Verlegenheit sein. Man könnte Gordon vielleicht über Habesch Hilfe bringen
und dabei die Garnisonen von Kassala und Sennaar aus ihrer Klemme befreien.
Nassau hält dies nicht sür ratsam, Kapitän Speedy dagegen, dessen Bekanntschaft
mit dem Njcgusch Johannes von neuerem Datum ist, spricht die feste Überzeugung
aus, daß die Abessynier, wenn man ihnen ein Stück Land überläßt und ihrem
Handel deu Hafen von Mciffaua öffnet, bereit sein werden, gegen die 'auf¬
ständischen Stämme am blauen Nil zu marschiren und selbst Gordon Er¬
leichterung zu schaffen. Es scheint, als ob Admiral Hewetts Sendung nach
Massaua etwas der Art zum Ziele hätte. Ein zweiter Weg zur Rettung der
Eingeschlossenen von Chartum wäre ein Marsch englischer Regimenter von
Snakin nach Berber. Demselben stehen aber große Schwierigkeiten gegenüber,
zunächst die Wasserarmut der elf bis zwölf Tagemarsche langen Strecke, dann
sehr gefährliche Defileen. Hicks Pascha kämpfte sich allerdings durch, fand aber
nicht den Widerstand, den Osman Digma, der sich von seinen Niederlagen erholt
hat, jetzt den Engländern ohne Zweifel leisten würde. Auf alle Fälle müßte
das betreffende Expeditionskorps der Hauptmasse nach aus indischen Truppen
bestehen, die an die jetzt im Sudan herrschende Sonnenglut gewöhnt sind, und
vorzüglich ans Reitern zusammengesetzt sein. Dann ist drittens die Route von
Kairo nilaufwärts bis Korosko und von da durch die Tamurwüste nach Abu
Hamed und weiter nach Berber. Dabei hätte man indes sechsundfünfzig Meilen
weit durch fast ganz wasserlose Gegenden zu marschiren, und hierzu bedürfte
es umfassender Vorbereitungen, die viel Zeit in Anspruch nehmen würden.
Immerhin aber würde die Schwierigkeit hier nicht erheblich bedeutender sein als
die, welche General Roberts bei seinem berühmten Marsche von Kabul nach
dem von Ejub Chan belagerten Kandahar zu überwinden hatte. Endlich könnte
das Entsatzkorps der Engländer den Weg von Korosko über Wadi Halfa und
Dongola einschlagen, also der großen Beugung des Nil folgen. Das erforderte
einen längern Marsch, wäre aber bequemer. Die Truppen könnten den größten
Teil des Weges auf Dampfern zurücklegen, und wenn man beizeiten dazu thäte,
könnten die Ingenieure viele der Hemmnisse, welche die Wasserfälle, richtiger
die Stromschnellen, bilden, durch Sprengung der Felsen hinwegräumen. Eng¬
lische Berichte behaupten, daß Sir Samuel Baker, „der jeden Fuß breit dieser
Route kennt," dieselbe für sehr empfehlenswert hält. „Es würde hier nicht
übermäßig viel zu marschiren und nicht so grausame Not von Wassermangel
und Hitze zu leiden sein als anderwärts in der Wüste. Einmal auf der andern
Seite dieses ungeheuern Sandmeeres, des natürlichen Schutzwalls Ägyptens
gegen den Sudan, würden die englischen Generale wahrscheinlich keinem sehr
ernsten Widerstande begegnen, und nach Verlauf von drei Monaten, von jetzt
an gerechnet, könnten Gordon und Stewart gerettet, ihre dreitausend Ägypter
befreit sein, und über das Schicksal der achthundert in Sennaar eingeschlossenen
Soldaten des Chedive brauchte man keine Befürchtungen mehr zu hegen."
Aber zu einem Unternehmen der Art müßte ohne Verzug verschritten
werden. In dieser ägyptischen Frage haben jedoch von Anbeginn bis heute die
Pessimisten stets Recht behalten. Wer die hartnäckige Zauderpvlitik Gladstones,
die freilich, wie wir sehen werden, zum Teil erklärlich ist, verfolgt hat, wer
seine Entschlossenheit, nichts zu thun, bis die Katastrophe vor der Thür steht,
sich vergegenwärtigt, kann mit moralischer Gewißheit schweres Unheil voraus¬
sagen. Wenn Gordon gezwungen sein wird, deutlich militärischen Beistand zu
fordern, werden sich die dazu nötigen Regimenter mit ihren Geschützen, Pferden
und Train in Indien und England befinden , und sehr wahrscheinlich werden
sie dann zu spät kommen. Es geht nicht an, daß man alles der Diskretion
Gordons überläßt. Wir wissen nicht, was der tapfere, aber etwas zu optimistisch
denkende General vertraulich der britischen Negierung berichtet hat, aber in den
Briefen an seine Freunde hat er in den letzten Wochen seine Befürchtungen
nicht verhehlt. Schon am 10. März schrieb er einem Bekannten in Kairo, er
glaube, daß er bald von der übrigen Welt abgeschnitten und ringsum von
Feinden umgeben sein werde, daß er zweifle, ob der Freund seinen Brief je er-
halten, daß er fürchte, daß Chartum erstürmt werden, und daß dessen Fall das
Schicksal des ganzen Sudan besiegeln werde. Seitdem haben sich die Dinge
zum schlimmeren entwickelt, und seine Lage kann jetzt schon eine verzweifelte
sein. Die letzten Weisungen, die ihm von Downingstreet zugingen, sind uns un¬
bekannt, aber wir können vielleicht aus den Äußerungen des Obersten de Coetlogon
schließen, der vor Gordon in Chartum den Oberbefehl führte. Er ist, wie alle
Militärs, der Meinung, daß Gordon Beistand geleistet werden müsse. Gleich
den englischen Ministern legt er zwar aus den Besitz Chartums geringen Wert
und würdigt die militärischen Schwierigkeiten der Absendung einer Expedition
dorthin in vollem Maße. Er hofft jedoch, daß Gordon bis zum Mai, wo der
Nil zu steigen beginnt, sich halten könne, und daß er dann in der Lage sein
werde, sich in Dampfern den Weg nach Sennaar zu erzwingen, die dortige
Garnison abzuholen und, durch sie verstärkt, sich in Chartum solange gegen die
Macht der Insurgenten zu verteidigen, bis er von Kairo aus durch britische
Truppen befreit wird. Das ist die hoffnungsvollste Auffassung seiner Lage im
Kreise der Sachkenner. Aber auch sie läuft praktisch auf die Forderung hinaus:
Es muß Gordon zuletzt durch eine mit englischen Soldaten unternommene Expedi¬
tion Hilfe gebracht werden, und unverzüglich zu ergreifende Maßregeln zur Vor¬
bereitung eines solchen Feldzuges sind dringende Notwendigkeit. Man kann die
Beweggründe eines Ministers, der mit dem Blut und dem Gelde seines Landes
sparsam zu wirtschaften hat, begreifen, aber die Zeit zu derartigen Erwägungen
ist vorbei. Gordon muß gerettet werden, koste es, was es wolle, und es sind
sofort dahin gehende Anstalten zu treffen, wenn nicht weit mehr verloren gehen
soll, als alle voraussichtlichen Kosten betragen würden. Bis zum Oktober zu
warten, was die einzige Alternative zu sein scheint, würde aller Wahrscheinlichkeit
nach nichts andres bedeuten als ein weiteres Opfer auf die bereits zu lange
Liste der in dieser Angelegenheit von England nutzlos gebrachten setzen. Der
gegenwärtige unselige Zustand der Ungewißheit und Spannung kann unmöglich
länger währen, ohne Englands Ansehen im Orient erheblich zu schmälern und
Geringschätzung desselben von seiten des Volkes zu erzeugen, dessen Lage man
bessern zu wollen vorgiebt, und das bisher davon sehr wenig gesehen hat. Der
Segen, den die englische Wirtschaft seit Tel El Kebir den Ägyptern gebracht
hat, existirt beinahe nur auf dem Papier der Regierungsblätter. Die eng¬
lischen Beamten leben nicht bloß mit den einheimischen, sondern auch unter
einander in Unfrieden. Sie stoßen in ihrer Hast, das Land für die Annexion
oder doch für eine Schutzherrschaft Großbritanniens reif zu machen, überall an,
schießen über das Ziel hinaus und machen so die englische Verwaltung täglich
unbeliebter, zumal bei allen großen Phrasen von Freiheit und dergleichen im
wesentlichen mit den Mitteln des frühern grausamen Despotismus regiert und
die Peitsche bei den Fellahin nicht gespart wird. Dabei noch im Sudan ohn¬
mächtig zu erscheinen, heißt zur Verhaßtheit das Verachtetsein hinzufügen.
Es klingt nun zwar recht schön, wenn Sir Samuel Baker einen Brief über
diesen Zustand mit den Worten schließt: „England muß Ägypten mit materiellem
Beistande, mit Truppen und Geld unterstützen, und zwar ohne Verzug und
Ausflüchte. Daun und nicht eher werden die Ägypter die radikale, aber allein
mögliche Kur, das Protektorat Großbritanniens willkommen heißen." Gladstone
möchte das Protektorat sicherlich auch, weiß aber, daß er damit auf kaum über-
windliche Schwierigkeiten stoßen würde, und so mag er sich dafür nicht in Kosten
setzen, nichts wagen und nichts opfern. Namentlich Frankreich flößt ihm Be¬
denken ein, und mit diesem sich zu überwerfen nimmt er schon deshalb Anstand,
weil es als liberale Macht erscheint. Seit zwei Jahren haben sich die französischen
und die englischen Blätter, die in politischen Dingen weit mehr bedeuten als die
deutsche Presse, gegenseitig die bittersten Wahrheiten gesagt. So in der Frage
Ägyptens und des Suezkanals, in Sachen Tonkins und Madagaskars und be¬
züglich der nach Neukaledonien zu verschickenden Sträflinge. In Frankreich
traten die Blätter beinahe aller Farben, die klerikalen, die opportunistischen und
die intrasigenten, der englischen Politik feindselig, oft grob entgegen. Jetzt ge¬
schieht dies auch von maßvoller Seite und von Journalisten, die der Regierung
nicht fern stehen, und zwar offenbar im Hinblick auf die schwächliche und un¬
sichere Haltung Gladstones in der ägyptischen Sache und andrerseits auf die
Erfolge, welche Ferrys entschlossene und kräftige Kolonialpolitik in Tonkin China
gegenüber aufzuweisen hat.
So steht die Uouvslle Rsvus nach einem Blick auf Gladstones neuerliche
Haltung nicht an, zu erklären, daß die Rolle, die der englische Premier bei der
letzten Debatte über Gordons Mission gespielt, den Beweis liefere, „daß er die
Wahrheit weder hören noch sprechen will." Nach Herrn Gladstone habe Gordon,
der Mann der Vorsehung, der Prophet der Zivilisation, auf eigne Rechnung
gehandelt, und das Auswärtige Amt in London sei dafür nicht verantwortlich
zu machen. „Gordon hat, so heißt es weiter, nichts erreicht, daher diese un-
geuirte Hinwegsetzung über die Thatsachen (ässinvolturö), der wir in den Reden
des Herrn Gladstone lieber nicht begegnet wären. Gewiß wird Gordon sich jeder
Lage gewachsen zeigen und nicht ohne Ruhm untergehen, aber Englands Ansehen
wird nichtsdestoweniger schwer kompromittirt sein."
Noch bemerkenswerter ist in diesem Zusammenhange ein Artikel von
Franyais Charmes im Journal clss Vvv-M. Dieser talentvolle und sehr geachtete
Publizist schien früher geneigt, sich mit vollendeten Thatsachen zufriedenzugeben
und offen das Recht Englands anzuerkennen, das Werk, an dem Frankreich mit¬
zuarbeiten verweigert, allein auszuführen. Jetzt zieht er völlig andre Saiten
auf, indem er mit Wohlgefallen bemerkt, daß sich in der französischen Presse eine
allgemeine Bewegung gegen die Errichtung eines englischen Protektorats über
Ägypten kundgebe. „Die britische Presse brachte, so ruft er aus, die Idee
einer Oberherrlichkeit aufs Tapet, als ob sie scheu wollte, wie der Gedanke auf-
genommen werden würde. Treten wir ihm entgegen. Die französische Presse
wird in diesem Kampfe einmütig sein." Charmes versucht hierauf darzuthun,
wie unweise und unberechtigt ein solcher Anspruch Englands sein würde, und
ermutigt durch die schwankende Politik Gladstones, geht er soweit, zu erklären,
daß der ägyptische Handel mit dem tunesischen und tonkinesischen nicht in Vergleich
zu stellen sei. Die englischen Zeitungen bewiesen, so heißt es in dem Artikel
weiter, eine vollständige Unkenntnis der einfachsten Grundsätze des Völkerrechts.
Ägypten sei keineswegs, wie jene ungefähr behaupteten, ein eben erst entdecktes
Land, sondern mehr als alle andern Länder durch diplomatische Verträge be¬
stimmt und gebunden und mehr als alle andern mit Hypotheken belastet.
Moralische und materielle Interessen vermischten sich dort so innig, daß sie
kaum von einander zu trennen wären. Frankreich habe seine Schutzherrschaft
über Tunis und Tonking, ja sogar über Annain auf die klarsten und sichersten
Grundlagen gebaut, und so müsse man sich gegen jeden Vergleich dieser
Protektorate mit dein englischen in Ägypten verwahren. Jene Länder seien
stets unabhängig gewesen, wenigstens habe dies Frankreich immer behauptet
und Europa (der Verfasser scheint die Türkei nicht zu Europa zu rechnen) es
niemals bestritten. Niemand könne europäische Verträge nachweisen, welche der
Pforte eine Suzeränetät über Tunis, oder China die Oberherrlichkeit über Arran
zusprächen. Was die Franzosen mit dem Bei von Tunis ohne Mittelsperson
gethan hätten, dürsten die Engländer nicht ohne Vermittlung mit dem Chedive
thun; denn dieser sei eben nicht unabhängig, er stehe unter einem Höheren, dem
Sultan, und könne keinen Vertrag wie den von Bardo oder den von Huo unter¬
zeichnen. Vielleicht entschlösse er sich dazu, wenn ihm das Messer an die Kehle
gesetzt würde, dann aber würde sofort Einspruch dagegen erfolgen, zunächst von
feiten der Pforte, dann von feiten Europas. Eine Genehmigung würde lange
auf sich warten lassen. Der Tag der Aufrichtung eines englischen Protektorates
würde sofort die orientalische Frage Wiederaufleben lassen, und einer solchen
Prüfung seiner Macht würde England in einem Augenblicke, wo Europa über
seine Impotenz im Sudan erstaune, gewiß nicht gewachsen sein. Wenn aber
auch Chedive und Sultan sich mit der Errichtung einer englischen Oberherrschaft
über Ägypten einverstanden erklärten, fo würde England noch nicht dazu be¬
rechtigt sein. Enropn habe sich in die ägyptischen Fragen wiederholt als wesent¬
licher Faktor gemischt, und dabei habe Frankreich immer neben England die
Hauptrolle gespielt. England habe ans dem Berliner Kongresse in authentischer
Weise den Franzosen volle Freiheit erteilt, hinzugehen, wohin es ihnen beliebe;
dagegen lasse sich keine französische Depesche aufzeigen, die den Engländern ge¬
stattete, in Ägypten sich festzusetzen. England habe, als es dorthin gegangen,
Europa förmlich mit Beteuerungen seiner Uneigennützigkeit überschüttet und
Gladstone dabei seine Ehre als Politiker und Christ verpfändet. Es sei daher
zu hoffen, daß die ganze Protektoratsidcc bis jetzt lediglich auf Zeitungs¬
artikeln beruhe.
Europa soll also Einspruch thun, weil Frankreich dies in seinem Interesse
findet. Wir glauben, daß Herr Franyois Charmes vorläufig nur seine eigne
Meinung und die vieler Pariser Redakteure ausspricht, nicht aber einen Entschluß
der Negierung andeutet, die jetzt noch andres zu thun hat. Wie sich das später
gestalten würde, wenn man sich freier fühlte und der Unterstützung der französischen
Ansprüche durch eine wohlwollende Macht sicher wäre, ist eine andre, jetzt nicht
zu entscheidende Frage.
Für jetzt scheint — wir betonen das „scheint" — Charmes mit der Hoffnung,
mit der er seinen Artikel schließt, Recht haben zu sollen. Es erinnert aber doch
an den Fuchs vor den Trauben, wenn Harcourt, der englische Minister des
Innern, in der Rede, die er in diesen Tagen zu Derby hielt, sich etwa folgender¬
maßen vernehmen ließ: Wir interveniren in Ägypten nur mit Widerstreben. Wir
wollen, nachdem wir das Land der Anarchie entrissen haben, die Angelegenheiten
der Ägypter ^natürlich nach Maßgabe unsrer Interessen, nicht aus purer
Menschenfreundlichkeit^ ordnen und sie sich selbst regieren lassen. Von dieser
Politik werden wir uns nicht abdrängen lassen. Eine dauernde Verwaltung
Ägyptens durch England ist eine Unmöglichkeit; denn in diesem Falle würden
die Streitigkeiten zwischen uns und Europa kein Ende nehmen. Auch ließe sich
von England aus ein Land, wo die Hcuissklaverci herrscht und noch lange
Bestand haben wird, nicht regieren. Ohne die unseligen und unerwarteten
Ereignisse im Sudan würden wir unsre Soldaten schon zurückgezogen und uns
die Verantwortlichkeit für Ägyptens Zukunft vom Halse geschafft haben. Das
heißt doch wohl: wir möchten, aber es macht sich nicht. Wir fürchten „Europa,"
eigentlich nur Frankreich. Wir sind ohnmächtig. Das klingt im Munde des
Ministers einer Großmacht nicht gerade sehr rühmlich, ist aber vielleicht ver¬
ständig und sachgemäß. England besitzt eine gewaltige Flotte und daneben eine
Armee, die gegen Abessynier, Afghanen, Neger von Dahome, Zulnkaffern und
sudanische Araber vortrefflich zu brauchen ist, die aber, wie es scheint, nicht ein¬
mal Gordon in Chartum ohne große Anstrengung entsetzen kann und gegen einen
Einspruch Frankreichs gegen Verwirklichung des Wunsches nach einem Protektorat
über Ägypten nichts vermöchte, wenn dieser Einspruch durch französische Va-
jonnette und Kanonen unterstützt werden sollte. Eine solche Armee läßt sich
auch nicht sofort schaffen, wieviel Geld der englische Staatssäckel auch darauf
zu verwenden hätte. Ein englisches Protektorat über Ägypten würde also zu
den vielen kleinen Verlegenheiten, die Gladstone mit seinem Feldzuge nach
Ägypten für England geschaffen hat, eine große hinzufügen, es wäre denn,
daß er sich des Beistandes einer Macht des Festlandes sichern könnte, die in
Ägypten keine unmittelbaren Interessen hätte, oder daß es ihm gelänge, sich
mit Frankreich schließlich zu verständigen. So lange keins von beiden gelingt
— und keines von beiden wird leicht zu erreichen sein —, wird England gut
thun, sich auf die Notwendigkeit vorzubereiten, seine Position am Nil zu räumen,
und sein Rückzug wird dem Lorberkrcmze seiner jetzigen liberalen Regierung kein
Blatt hinzufügen.
edselige alte Herren, die für jeden Vorfall im Leben eine „Ge¬
schichte" in Bereitschaft hatten — sagen wir z. B. Benjamin
Franklin, Abraham Lincoln, Franz Deal, oder besser noch der aus
allen deutschen Lesebüchern bekannte Tobias Witt —, würden jetzt
vielleicht ein „Histörchen" folgenden Inhalts erzählen.
Da waren einmal zwei Verwandte, Herr Fürst und Herr Michel, die wegen
der Art der Verwaltung eines gemeinsamen Besitztums lange Zeit miteinander
gehadert und prozessirt hatten. Endlich kamen sie zu der Erkenntnis, daß der
Streit keinem von beiden Gewinn bringe, wohl aber ihren Nachbarn großes
Vergnügen mache. Deshalb schlössen sie einen verständigen Vertrag, in welchem
die beiderseitigen Rechte und Pflichten genau und nach Billigkeit geregelt waren.
Und eine kurze Zeit ließ sich auch alles gut an, ihr Besitz gedieh, und die ge¬
treuen Nachbarn, welche schon darauf gerechnet hatten, gelegentlich ein Stück
davon sich anzueignen, mußten sich die Finger lecken. Allein dem Herrn Michel
behagte dieser ruhige Gang der Dinge für die Dauer nicht. Eines schönen
Tages mutete er dem Herrn Fürst zu, er solle ihm einen erheblichen Teil seiner
Rechte überlassen. Denn, sagte er, unser Gut müßte einen ganz andern Ertrag
abwerfen, wenn die Verwaltung in einer Hand wäre. Dafür bist aber du
nicht der geeignete Mann. Du gehörst noch zur alten Schule, bist zufrieden
mit einer bescheidnen, sichern Einnahme und dem Rufe eines soliden Geschäfts¬
mannes. Ich dagegen bin ein moderner Mensch, habe Unternehmungsgeist, be¬
absichtige Spekulationen im großen Stil, welche von sich reden machen und
hundert oder tausend Prozent bringen. Dabei darf ich jedoch nicht immer an
deine Zustimmung gebunden sein, muß mir Leute aussuchen können, die rasch
fassen, rasch handeln, etwas wagen, und die ich fortschicken kann, wenn sie mir
nicht mehr zu Gesichte stehen.
Und was bietest du mir dasür, daß ich dir die unbeschränkte Verfügung
zugestehen soll? fragte lächelnd Herr Fürst.
Die Wahrscheinlichkeit eines großen Gewinnes, war, die Antwort, und die
Aussicht, bald auch von der Last der übrigen Rechte befreit zu werden, sodaß
du dich um garnichts mehr zu bekümmern brauchst.
Wenn aber deine Spekulationen mißglücken sollten?
Mißglücken? Mir? Lächerlich! Sollte indessen das Unglaubliche sich er¬
eignen, nun, dann bleiben wir natürlich beide verpflichtet.
Lieber Vetter, sagte darauf der andre, dn scheinst vergessen zu haben, daß
unsre frühern Zwistigkeiten sich eben um den Punkt drehten, wieviel jeder von
uns zu sagen habe, und daß wir eben den Vertrag geschlossen haben, um jenem
Zustande ein Ende zu machen. Aber was dn jetzt forderst, geht noch weit über
deine damaligen Ansprüche hinaus. Ich erfülle meine Verbindlichkeiten, unsre
Angelegenheiten stehen gut — auf neue Zugeständnisse lasse ich mich nicht ein,
ungeachtet der verlockenden Perspektive, gänzlich in den Ruhestand versetzt zu
werden.
Hier würde Herr Tobias Witt wohl die Frage einschalten: Wie dunkel
Ihm? Hatte der Mann Recht? Und der Zuhörer würde antworten: Ohne
Zweifel! Und das muß auch der Herr Michel eingesehen haben.
Fehlgeschossen! Der wurde gewaltig böse, lief bei allen seinen Bekannten
herum und klagte bitterlich über den Eigensinn und die Ungefälligkeit seines
Verwandten, der ihm nicht erlauben wolle, alles aufs Spiel zu setzen. Und
seine guten Freunde und getreuen Nachbarn bedauerten ihn aufrichtig, und sprachen
ihm zu, sich ein so schreiendes Unrecht nicht gefallen zu lassen, verhießen auch,
ihm gern beizustehen gegen den neuen Shylock mit seinem unbequemen Schein. .. .
Der Zuhörer des Herrn Witt hätte die Geschichte vielleicht unwahrscheinlich
gefunden; wir haben ein Seitenstück derselben soeben erlebt.
Man konnte wohl geteilter Ansicht darüber sein, ob das Programm der
„vernewerten" Fortschrittspartei die ihm erwiesene Ehre verdient habe. Aber
die Art, wie die Frage der verantwortlichen Reichsministerien von den „Frei¬
sinnigen" und deren Bundesgenossen außerhalb Deutschlands erörtert worden ist,
hat bewiesen, daß es gut war, diese Erörterung der Frage herbeizuführen.
Über die rechtliche Seite derselben kann ja kein Zweifel bestehen. Aber daß man
das Durchschnittsmaß politischen Verstandes garnicht niedrig genug annehmen
darf, das wurde wieder einmal erschrecklich klar. Es ist der Fluch des Dilettan¬
tismus, der sich auch im öffentlichen Leben breit macht, sich selbst und andre
mit Schlagwörtern abzuspeisen und der Mühe des Nachdenkens über den Sinn
solcher Schlagwörter bequem aus dem Wege zu gehen. Wollte man die liberalen
Philister, welche sich jetzt haben einreden lassen, daß das deutsche Reich kein
dringenderes Bedürfnis habe als Verantwortlichkeit der Minister, befragen, was
sie sich darunter eigentlich vorstellen, so würde sicherlich in vielen Fällen nur
herauskommen, daß alle „freien Staaten" die Einrichtung haben, namentlich
Norwegen! Denn augenscheinlich hat der Staatsprozeß in Christiania die Ge¬
müter mit heißer Sehnsucht und bitterm Neid erfüllt. Über Minister zu Gericht
sitzen, sie zur Amtsentsetzung und zu hohen Geldstrafen — die Hälfte für die
Ankläger! — verurteilen zu können, der Gedanke muß freilich Gevatter Sportel-
schneider und Phrasenmacher förmlich berauschen. Und auf ein Bergnügen,
welches sich norwegische Bauern erlauben dürfen, sollen deutsche Staatsmänner
in x-n-Mus verzichten? Das ist zu demütigend. Wie dereinst ein kleiner Fürst
eine Eisenbahn verlangt haben soll, und wenn sie tausend Thaler koste, so lechzen
die kleinen Politiker nach einer Ministeranklage — wenn auch das Reich darüber
aus den Fugen gehen sollte. Ob nicht der eine oder der andre im stillen den
Satz umkehrt, die allgemeine Konfusion ersehnt und die „konstitutionellen Garan¬
tien" nur als Mittel zum Zwecke schätzt, das vermöchten wir nur zu beurteilen,
wenn uns, wie den Spiritisten und Zeitnngskorrespondenten, die Gabe verliehen
wäre, die geheimsten Gedanken andrer zu lesen.
Natürlich rümpfen die Stimmführer der Fortgeschrittener vornehm die
Nase über den Satz von den Gefahren, an welchen jedes Wahlreich zugrunde
gehe, hüten sich aber wohlweislich, denselben ernstlich zu prüfen. Ihrem Publikum
nie die ganze Wahrheit zu sagen, ist ja ein bewährtes Mittel der leitenden
Zeitungen. Wie viele, die ihre Leser täglich schmunzelnd von dem norwegischen
Prozesse unterhielten, haben anch nur erwähnt, daß die Juristenfcckultüt der
Universität Christiania um ein Votum angegangen worden, geschweige, wie dies
ausgefallen ist? Wie aber würde es ausgebeutet worden sein, wenn es anders
gelautet hätte!
Da die guten Leute gar so kurz von Gedanken sind, mag es verstattet sein,
an einige Thatsachen ziemlich neuen Datums zu erinnern.
Als Friedrich Wilhelm IV. bei dem Dombaufest im August 1848 in Köln
von einer Deputation der Frankfurter Versammlung begrüßt wurde, sprach er die
Überzeugung aus, die Herren würden nie vergessen, daß es in Deutschland Fürsten
gebe, und daß er zu diesen gehöre. Vergessen hatten sie das allerdings nicht,
uur war in allen die Erinnerung an den leichten Sieg im März noch so lebendig,
daß die Einen meinten, die Fürsten würden sich jede Maßnahme des Parlaments
so ruhig gefallen lassen, wie damals die Beschlüsse eines aus eigner Macht¬
vollkommenheit zusammengetretenen Vorparlamentes und ähnlicher Körperschaften,
und daß die Andern hofften, eines schönen Tages alle Fürsten pensivniren oder
sonstwie abschaffen zu können. Der König von Preußen handelte im April des
folgenden Jahres im Sinne jener Kölner Worte. Wie die größern Fürsten es
ihm dankten, wie selbst kleinere jenem Beispiel folgten, sobald sie des Mangels
an Energie auf preußischer Seite innegeworden waren oder auf Österreichs
Schutz rechnen zu dürfen glaubten, das lehrt die klägliche Geschichte der Unions-
bestrebungen, des Drei- und des Vierkönigs-Bündnisses, die beide geschlossen
wurden, um nicht gehalten zu werden, des zum Vereinstage zusammengeschrumpften
Reichstages in Erfurt, dessen Beschlüsse Makulatur waren am ersten Tage, des
Interims, des Fürstenkongrcsses und fo fort bis zur Realisirung des Bundes¬
tages. Wohin man damals blicken mochte, herrschte entweder Mißtrauen gegen
Preußen oder Ranküne gegen die Hohenzollern oder beide Empfindungen ver¬
einigt. Lieber wieder den alten ohnmächtigen Bund, lieber wieder die alte
Abhängigkeit von Österreich, als ein Dentschland, in welchem Preußen mehr zu
sagen hätte als die Raubstaaten! „Wenn mein Kaiser befiehlt, marschire ich!"
sagte König Wilhelm von Würtemberg in Bregenz; einen Habsburger wollte er
über sich anerkennen, einen Hohenzollern niemals.
Und standen diese Fürsten in ihrer Opposition gegen Preußen etwa allein?
Hatten nicht die meisten die große Mehrheit ihrer Völker hinter sich? Die
Furcht vor dem Preußischwcrden, die alte Abneigung der Stämme gegeneinander
war im Volke nicht minder stark ausgeprägt als in den regierenden Häusern.
Das erklärt sich keineswegs nur daraus, daß die patriotische Begeisterung des
Revolutiousfrühlings verraucht war. Auch in jener Begeisterung überwog die
Gedankenlosigkeit, schon im März tobten und höhnten Süddeutsche gegen die
preußische Führung, die Ultramontanen schürten von Anfang an die Glut; und
als man aus der Region der großen Reden über Grundrechte auf den trocknen
Boden der Konstruktion und Organisation übergegangen war, kam heraus, daß
Tausende und Abertausende nichts weniger wollten als ein einiges Deutschland,
von dem sie getoastet und gesungen hatten.
So blieb es bis 1866 und nach 1866, nur Preußen hatte sich geändert.
Vielleicht würden auch einzelne Regierungen wie gewisse Redner von Schützen¬
tagen und Volksversammlungen sich nach Frankfurt unter die Flügel des Bundes¬
tages und endlich nach Wien gerettet haben, hätten sie nur Land und Volk im
Koffer mitnehmen können. Und ohne Zweifel sind noch heute an manchem Hofe
die harten Bissen von 1866 und 1871 nicht völlig verdaut — das muß man
der menschlichen Natur zugute halten. In der Hauptsache aber hat die Politik
des deutschen Kaisers und seines Kanzlers sich des glänzendsten Triumphes
gerade in dem Verhältnis der Reichsregierung zu den Einzelregierungen zu
rühmen.
Und da wundern sich die — Spatzenköpfe, daß Kaiser und Kanzler sich
dem mutwilligen Unterfangen, das Gewonnene wieder in Frage zu stellen, sofort
entgegenstellen. So gern urteilen die Herren über büreaukratische Beschränktheit
ab, deren Blick nicht über den Schreibtisch hinausreiche, und doch hören und
sehen sie selbst nur, was in ihrer Fraktion, ihrer Zeitung, ihrer Partei¬
versammlung existirt. Das ist ihr Volk, ihr Staat, ihre Welt. Die verbündeten
Fürsten, welche thatsächlich heute die Bürgschaft des Bestandes des Reiches
bilden, möchten sie wieder mißtrauisch und besorgt machen, sie sollen nicht mehr
im Reiche die Gewähr ihrer eignen Existenz erkennen. Und zu welchem Ende
das Experiment? Zur Befriedigung der heillosen Parlamentseitelkeit. Ministerien
bilden, die Stellen unter die Parteifreunde und Helfershelfer bei den Wahlen
verteilen, Agitatoren belohnen, nach jedem Oppositionssiege die ganze Verwaltung
von unterst zu oberst kehren, wie in dem gesegneten Frankreich — das ist das
Ideal. Und wirklich scheinen sie anzunehmen, daß in Deutschland sich eine
Verschmelzung der Stämme vollzogen habe — in zehn Jahren! — wie in
Frankreich seit zweihundert Jahren, und daß Berlin schon der Mittelpunkt des
gesamten Lebens der Nation geworden sei wie Paris. Die Blinden und Tauben!
Nicht bloß in Baiern und Würtemberg, in den meisten Ländern könnten sie
erfahren, mit welcher Zähigkeit das Volk an seinen Besonderheiten und an
seinen Dynastien hängt, und wie weit es häufig noch von dem Vertrauen entfernt
ist, welches jetzt die Fürsten hegen. Ein Konvent in Deutschland würde es mit
gar vielen Vendeer zu thun bekommen.
Doch wer weiß, wozu es gut ist. Vielleicht dient gerade die jetzt angezettelte
Agitation dazu, manchem guten Deutschen darüber die Augen zu öffnen, was
er von den Nachäffern der französischen Gleichmacher zu erwarten hätte. Schon
jetzt scheinen ja die norddeutschen Reiseprediger durch die Aufnahme, welche ihre
Heilswahrheiten in der Pfalz gefunden haben, gegen die vernagelten süddeutschen
Brüder sehr verstimmt worden zu sein.
„Wie dünkt Ihm, Herr Wilts? Was verdienten die Menschen, denen
Ordnung und Friede im deutschen Reiche schon zu lange währen?" Wir denken,
Herr Wilts würde mit Moritz Busch antworten: „Jn'n Froschpfnhl!"
le Dame drehte ihr Köpfchen um, stieß einen Ruf aus und brachte
sofort mit fester Hand ihren schönen, feurigen Braunen, einen
Vollblut-Engländer, zum Stehen, wie es nur eine „Miß" aus
der Grafschaft Wallis imstande gewesen wäre. Um sie herum war
es, als ob einer in vollem Sturm zum Angriff ansprengenden
Kavallerieschwadron plötzlich das gebieterische „Halt" zugerufen worden wäre.
Es war sozusagen ein Gewirr von schwankenden Leibern, welche sich im Gleich¬
gewicht zu halten suchten, von Pferdeköpfen, die sich hin und her bewegten und
dem plötzlichen Zügelanziehen widerstrebten, und von wallenden Staubwolken.
Ach, der schöne Hund! rief die Dame, welche jetzt das Pferd in langsamem
Schritt gehen ließ und ganz dicht bei dem Gitter angelangt war.
Moschillo hatte vor diesen schönen, leuchtenden, ihn mit Bewunderung an¬
blickenden Augen sofort begriffen, daß ein ferneres Bellen eine UnHöflichkeit ge¬
wesen wäre, aber er vermochte doch nicht, sein nicht nur reservirtes, sondern
sogar feindseliges Benehmen abzulegen. Er stand in stolzer Haltung aufgepflanzt
da und beobachtete ernst und mit einem gewissen Mißtrauen das schöne, leb¬
hafte Gesicht der Amazone und die spitzgedrehten Schnurrbärte und die Pincenez
der sie begleitenden Kavaliere.
Als Cerci den Lärm hörte, trat er aus dem Kiosk, wo ihn die Rosen-
hecke an der freien Aussicht hinderten, hervor, um in der Richtung nach dem
Gartengitter zu sehen.
Aha, sagte er, es ist die Gräfin Beldoni.
Paul machte eine leichte Bewegung der Überraschung, die nicht besonders
freudig erschien.
Die Gräfin Beldoni aus Florenz?
So ist es.
Was? Dies Original ist hier?
Sie ist die Königin des Bades und führt auf Berg und Thal ihren Ge¬
neralstab von Anbetern mit sich. Du kennst sie?
Ja, oberflächlich, antwortete Paul etwas verdrießlich, als ob ihm das Ge¬
spräch nicht behagte. Ich habe sie in Florenz kennen gelernt.
Richtig. Sie hat mich neulich gefragt, wie es dir ginge.
Oho! rief Paul mit einer Gleichgiltigkeit, in welcher viel Ironie verborgen
lag. Allzu höflich!
Ach, welch schöner Hund! wiederholte die Dame, die wir nun als die Gräfin
Beldoni kennen. Ach, was für ein wundervoller Hund! Wo zum Kukuk hat
denn der Spitzbube von Doktor dieses Juwel von Hund aufgetrieben? Komm,
Leo, komm!
Und nun beugte sie sich mit unsäglicher Grazie von ihrem Pferde und
streckte eine kleine, vielleicht etwas zu kurze, aber elegant behandschuhte Hand
herab, um den Hund mit freundschaftlichen Zurufen an sich zu locken. Moschillo
aber blieb unempfindlich.
Aber wenn ich nicht irre, fügte sie hinzu, während sie sich wieder hoch auf¬
richtete und ihren scharfen Blick in das Innere des Gartens richtete, so ist der
Doktor selbst anwesend, er soll mir über dieses Meisterstück von Vierfüßler etwas
näheres mitteilen.
Darauf erhob sie ihre Stimme und rief in hellstem Tone, in welchem sich
unter der feinen Neckerei eine gewisse herrische Ungeduld verriet: He, Doktor!
Hochgeehrtester Herr Doktor! Verstecken Sie sich doch nicht hinter Ihren Rosen-
hecken wie die Nymphe eines Idylls; kommen Sie doch einmal hierher, ich habe
mit Ihnen zu reden. .
Cerci trat aus dem Kiosk und kam mit höflicher Dienstfertigkeit auf das
Gartengitter zu.
El! g,rri?62 äouo! rief die Gräfin und fuchtelte mit dem goldnen Knopfe
ihrer Reitpeitsche in der Luft. Es sind schon zwei Minute», daß ich nach Ihnen
verlange.
Zwei Minuten zuviel, antwortete der eben anlangende Doktor lachend, öff¬
nete das Gitter und schüttelte die Hand, welche ihm die Gräfin, um die eng¬
lische Sitte nachzuahmen, darreichte.
Ich kann zu meinen Gunsten mildernde Umstände vorbringen, fuhr Cerci
fort. Ich bin in Gesellschaft. Wäre ich allein gewesen, so würde ich mich längst
beeilt haben, der Königin des Bades meine Huldigungen darzubringen.
Die Gräfin brach in ein Gelächter aus; man konnte darin möglicherweise
nur geringe Aufrichtigkeit und desto mehr erkünstelte Heiterkeit finden, aber es
klang harmonisch, wie wenn Perlen in ein silbernes Gefäß herabfallen.
Mein Königreich! rief sie und zeigte, noch immer lachend, die Reihe ihrer
blendend weißen Zähne zwischen ihren üppigen, blutroten Lippen. Ich würde
mein ganzes Königreich hingeben und meinen braven Goodlh mit in den Kauf,
wenn ich diese vierpfötige Rarität besitzen könnte.
Sie deutete mit der Spitze ihrer Reitpeitsche auf Moschillo, der aber aus
seinem reservirten Benehmen ganz und gar nicht herausging.
Ach, Gräfin! sagte einer der Kavaliere, Sie demütigen uns, Ihre Unter¬
thanen — auf zwei Beinen.
Der Hund, fügte ein andrer mit absichtlicher Bosheit hinzu, ist das Sinn¬
bild der Treue.
Die Gräfin wandte sich rasch nach ihm um. Was wollen Sie damit
sagen?
Und der Angeredete beeilte sich hinzuzufügen: Welche allen Ihren Anbetern
eigen ist. .
Die Gräfin schlug ihn mit der Gerte leicht auf die Schulter, und wandte
sich dann wieder zu dem Doktor: Wie nennen Sie ihn?
Moschillo.
Ach, mein Gott! Was sagen Sie mir da für einen Namen! Das ist doch
kein Name sür einen christlichen Hund.
Es ist mexikanisch.
Ich wollte schon sagen, daß es wohl eine Art Türkisch sei. Und wo haben
Sie ihn aufgetrieben?
Er gehört garnicht mir.
Nicht? Wem gehört er? Kann man ihn kaufen? Was soll er kosten?
Er gehört meinem Schwager, und der wird wahrscheinlich nicht geneigt
sein, sich von ihm zu trennen.
Ihr Schwager? Herr Amardi?
Ganz recht.
Paul?
Jawohl, gnädige Frau. Ich habe nur den einen.
Sie haben mir vor einiger Zeit gesagt, er sei in der neuen Welt.
Das war er. Er ist jetzt zurückgekehrt und hat diesen Hund mitgebracht.
Er ist gerade heute bei uns angekommen.
So, das also war die Gesellschaft, welche Sie abhielt, sofort zu mir zu
kommen, die des Herrn Amardi, was?
Und eines Freundes von ihm, der mit ihm gekommen ist.
Ach, er ist also dort? rief die Gräfin mit lebhafter Neugierde, und deutete
auf die Personen, welche von weitem zwischen den Blättern der Rosenhecke zum
Vorschein kamen.
Sagen Sie dem Herrn Amardi, fügte sie ein wenig verdrießlich hinzu, daß
wir hinlänglich miteinander befreundet gewesen sind, sodaß er sich hätte herab-
lassen können, mich wenigstens zu begrüßen. Und daß ich ihn heute Abend er¬
warte, damit er wegen seines Unrechts Abbitte thue. Und sagen Sie ihm noch,
daß ich sterblich verliebt in seinen Hund bin.
Dann grüßte sie den Doktor mit der Reitpeitsche, wie ein Offizier mit
dem Säbel, brachte ihr Pferd, um den Spazierritt fortzusetzen, wieder zum
Galopp, und fort flog sie, und hinter ihr die ganze Schar.
Während die Gräfin so mit dem Doktor redete, war Paul aufgestanden,
hatte sich zwischen den die Wände des Kiosks bildenden Zweigen etwas aus¬
gestreckt und die Gräfin beobachtet. Anfangs war sein Auge kalt, beinahe feind¬
selig geblieben, aber dann schien es beim Anblick dieser verführerischen Schönheit
den Eindruck eines mächtigen Zaubers zu erleiden und von einem heftigen Ver¬
langen ergriffen zu werden.
In diesem Augenblicke war sie aber auch wirklich eine Kreatur, die das
Blut eines jeden Mannes, und wäre er auch der Traumdeuter des ägyptischen
Königs gewesen, in Wallung bringen mußte. Sie war allerdings eher klein als
groß, aber in den breiten und schön gemeißelten Schultern, aus denen der auf
dem Schwarz des Kleides sich von der weißen Halskrause anmutig abhebende
zierliche Hals hervortrat, in der dünnen Taille, welche sich den im herrlichsten
Ebenmaß hervorspringenden Hüften anschloß, in dem nur wenig entwickelten,
von dem engen Kleide eingezwängten, fast mädchenhaften Busen — kurz, in der
ganzen Persönlichkeit, in den Bewegungen des Köpfchens, in der Haltung der
Manieren lag eine Grazie, eine Harmonie, die einen bezauberte und die den
Eindruck machte, daß, wenn nur eine Linie dieses schönen Ganzen verändert
würde, die übermächtige Wirkung solcher Anmut verloren gehen müsse.
Die Gräfin war keine klassische Schönheit zu nennen. Aber die Unregel¬
mäßigkeiten ihrer Züge trugen sogar dazu bei, ihr jene originelle Liebenswürdigkeit
zu verleihen, welche ihr in allen Gesellschaften der vornehmen Welt, in jedem
Wettstreite der Eleganz die Oberherrschaft verschafften. Sie hatte die schönsten
blonden, ins aschgraue spielenden Haare und wußte sie in einer künstlichen
Unordnung frisirt zu tragen, durch die der Zauber ihrer kecken Physiognomie
noch erhöht wurde. Sie hatte die herrlichsten Augen, deren dunkle Farbe zu
den blonden, an dem Oval ihres Gesichts in reicher Fülle herabfallenden Locken
den schönsten Gegensatz bildete. Unüberwindlich war das Brillantfeuer ihrer
Augen, und wer sie ansah, dem war es, als ob ihre Pupillen sich erweiterten
und ihm mit einem wirklichen Lichtstrahle bis ins Innerste drangen. Wenn
sie es darauf ablegte, so war kein Mann imstande, diese Flamme auszuhalten,
ohne die Augen in geheimnisvoller seelischer Verwirrung niederzuschlagen. Und
doch hätte bei alledem ein genauer Beobachter bemerken können, daß sich ihr
Herz durchaus nicht offenbarte; das Ganze war ein Blendwerk, unter welchem
weder Tiefe, noch Sanftmut, noch Innigkeit des Gefühls verborgen lag. Der
Hauptcharakter dieser Frauengestalt war Stolz und Sinnlichkeit: ein Stolz, der,
Wenn er sich der Schönheit eines Weibes zugesellt, im Manne das unüberwind¬
liche, heiße und qualvolle Verlangen erzeugt, ihn zu überwinden und unter die
Herrschaft der Liebe zu bändigen, eine Sinnlichkeit, die den Mann schon durch
den bloßen Gedanken, er könnte sie durch das Ungestüm seiner Leidenschaft aus
dem Schlummer erwecken, mit heißer Trunkenheit erfüllt. Diese vollen und
weichen, mutwilligen, purpurrotem Lippen schienen die allersüßesten Küsse zu
versprechen, und die heißeste Flamme sinnlosen Verlangens schien aus diesen
schwarzen, einer Aspasia, in gewissen Augenblicken einer Phryne würdigen Pupillen
zu leuchten. In ihrer ganzen Erscheinung lag etwas Uuruhiges, Rücksichtsloses,
was die Herzen bewältigen, aber nie mit sanfter Rührung erfüllen kann, Ihr
Äußeres machte den Eindruck, als ob sie zwar den plötzlichen und flüchtigen
Aufwallungen der Leidenschaft, aber nie der süßen und ausdauernden Innigkeit
einer wahren Herzensneigung zugänglich sein könnte; es war überhaupt nur der
gekünstelte, launische, blendende Glanz einer Königin des Salons, nicht die ruhige
Klarheit, die erhabene und doch milde Majestät einer idealen Schönheit, welche
in dem Herzen eines wackern Mannes Ehrfurcht zugleich mit Sympathie erweckt
und Hochachtung mit Liebe verbindet.
Als Josef die Aufmerksamkeit, mit welcher Paul in der Richtung nach dem
Gartengitter blickte, wahrgenommen hatte, erhob anch er sich und legte sein Gesicht
dicht an das Gesicht des Freundes, um ebenfalls seine Beobachtungen anzustellen.
Zum Teufel! rief er mit dem Enthusiasmus des Kenners aus. Was für
ein leckerer Bissen! Indessen merkte er sofort, daß derartige Redensarten in
Gegenwart einer Dame nicht sehr schicklich waren, verbeugte sich mit seinem
langen Körper gegen Adele und fügte hinzu: Entschuldigen Sie! Ich wollte
sagen, daß es ein appetitliches Stück von Dame sei — das heißt eine absonder¬
liche Gestalt, welche einem sündhaften Menschen gefallen kann.
Dann fuhr er fort, sie noch länger zu betrachten. Hin! Die äußere Tünche
des Gefäßes ist schön, aber das Innere? Ich kann mich irren, aber ich habe
in meinem Leben schon manches dieser Angenpcmre gesehen und habe immer
gefunden, daß die Frauen, denen sie angehörten, nicht zu den Engeln, sondern
zur Gattung der Sirenen zählten.
Dn hast Recht, sagte Paul, indem er sich mit einiger Entschlossenheit aus
seiner Betrachtung losmachte und wieder seinen Platz einnahm. Das wesentliche
Attribut dieser intrigante» Schönheit nennt sich Koketterie. Sie hat statt des
Herzens einen Eiszapfen, und statt des Kopfes eiuen kleinen Vulkan, der fort¬
während kapriziöse Launen und Tollheiten auswirft. Sie ist bis zum äußersten
stolz auf ihre Schönheit und anf den vornehmen Titel, der erst seit zwei Jahren
den neuen, jeder historischen Vergangenheit entbehrenden Geschlechtsnamen ihres
Mannes verherrlicht. Als sie diesen alten, kränklichen Mann heiratete, verkaufte
sie ihre Schönheit gegen einen Reichtum und gegen ein Wappen. Sie will
die vornehme Dame spielen, hat mit deren feinen Manieren auch alle die Lacher-
lichkeiten dieses geschraubten Wesens angenommen und übertreibt sie noch mit
parvenüartiger Affektation durch ihren jämmerlichen Hochmut, ihre einfältige
Geringschätzung, ihren insolenten Hohn. Sie glaubt, sie sei allein auf der Welt,
und bildet sich ein, daß alle Menschen auf Erden uur dazu da seien, ihren
Füßen zum Schemel zu diene». Die unerschütterliche Sicherheit tritt bei ihr
an die Stelle des Geistes, und der Zauber ihrer Schönheit stellt alle ihre Fehler
in noch helleres Licht.
Adele fiel ihm mit ihrer sanften Stimme in mild verweisenden! Tone ins
Wort: Ach! Was seid ihr Männer doch immer so unerbittlich und absprechend
in euern Urteilen! Wer sagt dir denn, lieber Paul, daß uuter diesen Äußer¬
lichkeiten nicht eine Seele wohnt, welche größere Schonung verdient? Ist man
denn seiner Sache sicher, daß man den Charakter einer Frau richtig beurteilt,
wenn man sie nnr in der trüben Atmosphäre der großen Welt zu sehen bekommt?
Kannst du behaupten, daß die schlechten Eigenschaften dieser Fran — selbst an¬
genommen, daß sie solche besitzt —-, daß ihre Fehler und, wenn du willst, auch
ihre Verirrungen aus ihrer eignen Natur und nicht aus äußeren Verhältnissen
entspringen? Kann nicht der Zufall mehr als ihr eigner freier Wille daran schuld
sein? Begehst du nicht, wenn du sie so streng verurteilst, eine Ungerechtigkeit?
Umsomehr, setzte Josef hinzu, da in deinen Worten, wenn ich den Klang
deiner Stimme richtig gedeutet habe, ein gewisses bitteres Gefühl liegt, welches
auf einen persönlichen Verdruß oder dergleichen schließen läßt.
Paul blieb einen Augenblick stumm, als ob er mit sich selber kämpfte;
dann gewann sein besseres Gefühl die Oberhand, und er sagte frei und un¬
gezwungen : Ihr habt alle beide Recht. Jawohl, diese Frau hat mir wohl den
größten Verdruß, ich kann sagen den wütendsten Ärger bereitet, den ich je in
meinem Leben empfunden habe; und doch soll man bei keiner menschlichen
Kreatur an ihrer Seele verzweifeln. Aber wir können nicht alle, meine liebe
Adele, deine Milde und die wohlwollende Ruhe deines Urteils haben.
Jetzt kam Cerci zu der Gesellschaft zurück, er war von dem braven Mos-
chillo begleitet, der in stolzer Haltung einhermarschirte, wie ein Hund, der sich
bewußt ist, den Lockungen des Fremden gegenüber ein vornehmes Betragen an
den Tag gelegt zu haben.
Diese Närrin, sagte Adelens Gatte zu Paul, will deine» Hund haben, und
will wer weiß was darum geben, ihn zu bekommen. Inzwischen hat sie mir
aufgetragen, dir zu sagen, daß sie dich heute Abend im Badekasino erwarte.
Gut! sagte Paul mit einem Blick auf seine Schwester und seinen Freund;
ich will hingehen, um für meine Härte von vorhin Buße zu thun.
Das ist eine Buße, die dir ebenso gefallen wird, wie dir deine Sünde ge¬
fallen hat, bemerkte Josef halblaut.
Bösewicht! antwortete ihm Paul und lachte. Damit ihr aber seht, daß,
wenn ich auch nicht ganz unparteiisch in meinem Urteile war, ich doch keines-
Wegs ein Verleumder bin, so wollen wir doch einmal hören, was der Doktor
über diese Persönlichkeit denkt, denn die Richtigkeit und das Gewicht seiner Ab¬
schätzung wird gewiß von niemand in Zweifel gezogen werden.
Von wem ist die Rede? fragte der Doktor. Was ich über die Gräfin
Beldoni denke?
Ganz recht.
Meiner Treu! Ich habe mich nie mit einem psychologischen Studium
dieses originellen kleinen Gehirns befaßt; tausenderlei Wünsche und Begierden
folgen und stoßen sich darin mit einer schwindelartigen Schnelligkeit, und lassen,
wenigstens nach meinem Dafürhalten,dieser unruhigen Seele nie die Zeit, zu
sich selbst zu kommen. Es ist der Übermut einer unbesonnenen Jugend, sie
nimmt alles, was in: Leben vorkommt, für einen Scherz, worüber sie sich amü-
sirt, und betrachtet jeden Mann und jedes Ding, worauf sie stößt, als ein
Spielzeug, das dazu da ist, ihr die Langeweile zu vertreiben.
Jugend, Jugend! fiel ihm Paul mit einem gewissen ironischen Lachen in
die Rede. Weißt du nicht, daß es sechs Jahre her sind, daß ich sie zu Florenz
in dem luxuriösesten Prunke einer auf ihrem höchsten Gipfel angelangten Schön¬
heit gesehen habe? Müßte sie nicht schon damals ihrem Taufscheine und dem
Gesetzbuche nach sür majorenn erklärt worden sein?
Was thut das? Die Gräfin Beldoni gehört zu denjenigen, welche in
betreff ihres Gehirnes niemals alt werden, sondern noch mit sechzig Jahren
trotz ihrer Runzeln im Gesichte und ihrer falschen Locken dieselben jugendlichen
Thorheiten im Kopfe haben wie in ihrem zwanzigsten. Zum Ersatz dafür haben
diese Geschöpfe, die man in gewisser Beziehung beneiden, aber noch mehr bemit¬
leiden muß, niemals diejenige Jugendfrische des Herzens, worin die echte, schöne
und begehrenswerte Jugend besteht. Die Gräfin ist eine Närrin, welche die
ganze außerordentliche Lebenskraft ihrer kleinen Person dazu verbraucht, um sich
zu betäuben. Sie ist den ganzen Tag in Bewegung. Sie reitet mit unermüd¬
lichem Eifer, wie eine Heldin Walter Scotts, über Berg und Thal, brütet über
eines der originellen Gcistcswerte von George 'Sand, schießt aus der Pistole,
klettert zu Fuß auf die Berge und tanzt dann im Kasino mit einer fieberhaften
Hitze, welche die Schenkelkraft von zwei Dutzend Ballerinen aufreiben könnte,
und am Morgen nachher erscheint sie frisch und mit rosigroten Wangen und
sieht mit ihren strahlenden Augen aus wie ein reines Kind, welches ohne alle
quälenden Träume in seinem jungfräulichen Bette geschlafen hat. Dann kommt
einmal wieder eine Zeit, wo ihre Kräfte ganz und gar erschöpft sind; da liegt
sie tagelang auf ihrem Bettchen, hat eine ganze Heerschar von Kissen um sich,
und ihre Augen, ihre Stimme, ihre Bewegungen und ihre herabwallenden reichen
Locken kommen einem schier verschmachtet vor. Dann steht sie in allem, was
rings um sie lebt, nichts als Schatten, läßt sich von der bittersten Enttäuschung
Worte und Klagen eingeben und jammert in einem Tone wie die Trcwiata im
letzten Akte! Komödie! sagt ihr. Nicht doch, ein psychologisches Rätsel, welches
zur Wirklichkeit geworden ist. Unter ihrer Muskelschwäche liegt eine phänome¬
nale Nervenstärke, welche bei passender Gelegenheit, wenn die Umstände es er¬
fordern, ihr die Kraft zu allem möglichen verleiht. Jetzt ist sie ungefähr vor
einem Monat nach unserm Bade gekommen, um den chronischen Husten ihres
Mannes und ihre eignen Launen und Kaprizen hier einzulogiren. Sie hat
mit allgewaltiger Zauberkraft, obgleich sie hier noch ganz unbekannt war, sich
der Gesellschaft sofort als Souveränin aufgedrängt, hat mit Energie die Zügel
in die Hand genommen und lenkt diese kleine Welt hier durch das Gesetz ihrer
Worte, ihres Lächelns lediglich nach der Richtschnur ihrer tollen Launen. Alle
Männer sind ihre Unterthanen, keine von den Frauen kann sie leiden.
Bravo, Herr Schwager, sagte Paul und klatschte in die Hände. Ich kenne
sie ganz und gar wieder in diesen Zügen. Sie ist es selbst und immer noch
dieselbe wie damals, als ich sie zum erstenmale sah.
Es ist ein ganz gefährliches Frauenzimmer, wie ich gleich von Anfang an
geurteilt habe, bemerkte Josef. Es giebt garnichts treuloseres als diese Ge¬
schöpfe, die sich uuter der Form von Sphinxen einführen. Der Mann will das
Rätsel lösen, es gelingt ihm aber nicht — vielemale hat auch das Rätsel gar
keinen Sinn —, und der arme Teufel stürzt wie ein Dummkopf in den Abgrund.
Meine Herren, sagte Adele halb ernsthaft, wissen Sie auch, daß man hier
schon seit zwanzig Minuten sitzt, um seinen Nächsten zu verlästern?
Seinen Nächsten! rief Josef aus. Pah! Ich bin von dieser Prcziosa weiter
entfernt wie von den Pampas.
In diesem Augenblicke hörte man das Geräusch eines Kleides, und zwischen
den Zweigen erschien eine schwarzgekleidete Dame, welche in eiligem Schritte
näher kam. man vernahm eine liebliche Frauenstimme, welche sich anhörte wie
der Gesang einer Malibran zur Nachtzeit beim Vollmond auf dem Comersee.
und welche rief: Adele, Adele, bist du da?
Pauls Schwester stand sofort auf, sie war vor freudiger Überraschung rot
geworden. Es ist Rina, sagte sie, und ging auf den Ausgang des Kiosks zu.
Kaum hatten die Knaben, welche im Garten spielten, den Namen vernommen,
so legten sie alles beiseite und liefen mit Freudengeschrei und herzlichem Froh¬
locken herbei, um die Ankommende zu begrüßen.
Noch ehe Adele Zeit gehabt hatte, aus dem Kiosk zu treten, zeigte sich
schon am Eingange desselben, mit zweien von Adelens Knaben, die stolz auf
diese Gunstbezeugung waren — den beiden kleinsten —, an der Hand und mit
den beiden andern an ihrer Seite, etwas erregt, woran das schnelle Gehen schuld
war, einfach und vornehm in ihrem Benehmen, die Heldin dieser Geschichte —
Nina. (Fortsetzung folgt.)
Ein Schreibfehler bei Lessing. Im Feuilleton der „Frankfurter Zei¬
tung" hat kürzlich ein Gymnasiallehrer, Herr Limpert in Lindau, auf einen Fehler
in der „Enna Galotti" aufmerksam gemacht, über den länger als hundert Jahre
hinweggelesen worden ist. Im sechsten Auftritt des zweiten Aufzuges erzählt
Enna ihrer Mutter das Abenteuer, das sie mit dem Prinzen in der Kirche ge¬
habt, worauf die Mutter sagt: „Gott! Gott! wenn dein Vater das wüßte! —
Wie wild er schon war, als er nur hörte, daß der Prinz dich jüngst nicht ohne
Mißfallen gesehen!" Natürlich muß es heißen: „nicht ohne Wohlgefallen," und
so hat Lessing wohl auch schreiben wollen. Der Fehler klingt aber bei flüchtigem
Lesen so richtig und einleuchtend, daß er, wie gesagt, länger als hundert Jahre
nicht entdeckt, wenigstens nicht aufgestochen worden ist. Nur die Übersetzer, die ge¬
nötigt gewesen sind, sich jedes Wort und jede Silbe genau anzusehen, haben ihn
bemerkt und sind ihm aus dem Wege gegangen.
"
In Ur. 14 der „Gegenwart bemüht sich nun ein Herr or. Theodor Maurer
nachzuweisen, daß Lessing sich keineswegs verschrieben, wohl aber, daß Herr Limpert
den Dichter nicht verstanden habe. Die Mutter wolle sagen: Nach dem Sinne
deines Vaters durfte dich der Prinz „nicht ohne Mißfallen" sehen, und weil er
dich „nicht nicht ohne Mißfallen" gesehen, eben darum schon ward der Vater so
wild. Der Satz Claudias sei also um das eine „nicht" zu kurz gekommen; aber
er würde mit dem doppelten „nicht" unerträglich geworden sein, und lieber lasse
sich die Sprache von dem gestrengen Logiker schulmeistern und spare sich das eine
der beiden „nicht."
Ob Herr Dr. Maurer durch diesen gekünstelter Erklärungsversuch irgend jemand
überzeugt haben wird, ist uns sehr fraglich, wiewohl sich bis jetzt unsers Wissens
niemand die Mühe genommen hat, ihm zu entgegnen. Die Sache ist in Wahrheit
viel einfacher, und zwar so, Lessing hat aus Versehen (für manche Leute scheint
es freilich undenkbar zu sein, daß Lessing sich jemals versehen haben sollte; lieber
nehmen sie zu den wunderlichsten Jnterpretativnskünsten ihre Zuflucht) eine doppelte
Litotes*) geschrieben, wo der Gedanke eine einfache verlangt. Einmal schwebte ihm
auf der Zunge die geläufige Litotes „nicht ohne," zu gleicher Zeit aber auch die
andre, ebenso geläufige „nicht alß-", und unwillkürlich flössen ihm beide zusammen
und ergaben uun die komische und sinnwidrige Häufung „nicht ohne Mißfallen,"
Zum Beweise dafür, daß dergleichen in der That möglich ist, geben wir gleich
noch ein andres Beispiel. In der Vorrede zu einem kürzlich erschienenen Buche
— wenn nur uns recht erinnern, war es ans der Feder eines unsrer namhaftesten
Historiker — heißt es, der Leser werde nicht unschwer erkennen, daß ze.
Hier haben wir genau denselben Fall, Der Verfasser wollte natürlich schreiben
entweder „nicht schwer" oder aber „unschwer"; er schrieb aber beides zugleich —
geunu so wie Lessing,
Die Litotes gehört in der Stilistik unter die elo^arti-ro, und darum wird sie
mit Vorliebe angewendet von solchen, die sich gern etwas geziert ausdrücken. Wo
aber Ziererei ist, da ist auch die Gefahr des Stranchclns, und so hat denn auch
die Litotes in der Sprache noch anderwärts komische Blüten getrieben. Das ein¬
fältige „sich nicht entblöden" (anstatt „sich entblöden"), das man alle Tage, und
das ebenso einfältige „entnüchtert werden" (anstatt „ernüchtert werden"), das man
much bisweilen lesen kann, sind beide auf denselben lapsus zurückzuführen. So gilt
es auch für gewählt, einen Comparativ durch das verneinende „weniger" zu an¬
schreiben und zu sagen: „B. gefällt mir weniger als A,," anstatt „A gefällt mir
mehr als B," Auch dabei kann man leicht Unglück haben. Im 14. Bande
der „Allgemeinen Deutschen Biographie" Seite 6 schreibt Herr Hofrat Professor
Dr, Joseph Kürschner (er verzeihe uns, wenn uns etwa eine seiner neuesten
Rangerhöhungen unbekannt geblieben sein sollte!) in dem Artikel über Jff-
land: „Jfflnnd stammte aus guter, in Hannover wohlangesehener Familie;
weniger als Mutter und Vater, der Registrator bei der königlichen Kriegskauzlei
war, übte seine Schwester einen bestimmenden Einfluß auf ihn aus, Sie war
die eigentliche Leiterin seiner Jugend." Wie elegant, dieses negative
„weniger"! Man kann es „nicht anders leugnen." Und doch, wie unsinnig!
Daß der Fehler bei Lessing hnudertundzwei Jahre laug nicht bemerkt worden
ist, hat gcirnichts auffälliges. Was für tolle Dinge — Druckfehler freilich, uicht
Schreibfehler — hat Bernahs aus dem Goethischen Texte beseitigt! Und doch
war vorher jahrzehntelang von Tausenden und Abertausenden auch darüber hin¬
Liederbuch des deutschen Volkes. Herausgegeben von Carl Hase, Felix Dahn und
Carl Reinecke. Neue Auflage. Leipzig, Breitkopf Hnrtel, 1883.
Als Hoffmnuu von Fallersleben 1369 zum dritten und letzten male sein
prächtiges Buch „Unsre volkstümlichen Lieder" aussandte, erging er sich in einem
Nachwort in folgenden Klagen:
„Es ist eine betrübende Erscheinung, daß diejenigen Schriftsteller, von welchen
wir glaubten, daß ihnen mit unserm Buche am meisten gedient sein müßte, sich
um dasselbe um wenigsten bekümmern. Vor nun beinahe zehn Jahren erschien
mein Büchlein »Unsre volkstümlichen Lieder« in zweiter Auflage, ich habe aber
uicht gemerkt, daß es bis jetzt von sonderlicher Wirkung gewesen ist: die Sammler
von Liedern Verfahren meist alle noch immer auf dieselbe unverantwortliche Weise
wie ihre Vorgänger. Man schlage mir eine beliebige Sammlung auf, da findet
man schlechte, oft ganz verstümmelte Texte, unrichtige Angaben über die Verfasser¬
schaft oder, was am Ende noch das bessere ist, gar keine. Niemandem fällt ein,
zu den Quellen zurückzugehen und den wahren Verfasser zu ermitteln, und beides
wäre ihm doch hier bequem genug gemacht. Und das gilt nicht allein von den
vielen Kommers- und Liederbüchern und den vielerlei Sammlungen für die Schul¬
jugend, sondern auch von den Blumenlcsen, die unter allerlei hochklingenden, viel¬
versprechenden Titeln in Prachtvollen Einbänden mit Goldschnitt, oft sogar mit
teuren Illustrationen, nebenbei auch wohl unter einem beliebten Schriftstellcrnamen
erscheinen und so auf den Weihnachts- oder Putztisch wandern. Ein guter Kauf¬
mann liefert gute, reine Ware, aber unsre Anthologcn oder mehr noch ihre Brot¬
herren nehmen das nicht so ängstlich, beide verlassen sich aufeinander, jene suchen
mit ihrem Namen, diese mit ihrer Firma für die Vortrefflichkeit ihrer Erzeugnisse
einzustehen (die Flagge deckt die Ladung!) und beide wissen dann noch, durch
willfährige Tagcsschriftsteller und eigne kostspielige empfehlende Anzeigen das
Publikum anzulocken. . .. Doch man muß so vieles im Leben thun, dessen Erfolg
man nicht erlebt, und so mag es denn auch mit meiner Arbeit sein, die bei aller
Mühe doch für mich die Freude des Suchens und Findens und so vorläufig auch
Lohn genug hatte."
Seitdem sind wieder fünfzehn Jahre dahingegangen, und noch immer haben
die Klagen Hoffmanns ihre Berechtigung. Auch der vorliegenden Sammlung
gegenüber. Es ist ja gewiß erstaunlich, wenn für den billigen Preis von drei Mark
tausend Liedertexte und zu den meisten überdies noch Singweiseu geboten werden,
und dies alles in einem handlichen Bande übersichtlich geordnet, durch drei
Registerthüren bequem zugänglich gemacht und auf gutes Papier gut und deutlich
gedruckt. Aber wie steht es um die Beschaffenheit der mitgeteilten Texte? Muß
es einen uicht eigentümlich berühren und stutzig machen, wenn man sofort beim
ersten Aufschlagen auf der ersten Seite den Anfang des bekannten plattdeutschen Kinder-
liedchcns: „Bulo von Halberstadt, bring unserm kleinen Kindchen was" (plattd. wat)
in folgender Form findet: „Bukkv von Halberstadt, bring doch meinem Kind was
mit (!), und dann in der Fortsetzung: „Was soll ich ihm denn bringen? Rote
Schuh mit Ringen, rote Schuh mit Gold beschlagen" die urkräftige und un¬
zweifelhaft originale Anaphora abgeschwächt und verfälscht findet zu: „Rote Schuh
mit Ringen, schöne (!) Schuh mit Gold beschlagen"?
Es ist von dem Verfasser einer Buchanzeige nicht zu verlangen, daß er eine
Sammlung von tausend Liedern auf ihre Korrektheit hin prüfe; er wird sich auf
eine kleine Stichwahl beschränken müssen. Machen wir also eine Probe, eine nahe¬
liegende Probe!
Die Sammlung enthält 4.5 Lieder von Goethe. Wir haben sie sämtlich genau
mit dem Texte der Berliner Ausgabe verglichen und gefunden, daß, abgesehen von
andern, unwesentlichen Abweichungen, nicht weniger als zwölf einen inkorrekten
Text bieten! Hier sind sie:
Der freut' sich traun so läppisch
bekannt bei Weibern
mit Erquickung sullst
ein Ständchen singt
eine junge Schäferin
crtrat das arme Veilchen
vertraue den Verlust
wir schießen darein
Da droben auf jenem Berge,
Da steh' ich tausendmal
doch alles ist leider ein Traum
auf immer dank' ich dir
sah nach dem Angel
Es ist der junge Jäger
der Schneider in den —
den liebt' er gar nicht wenig
Man sieht, es sind alle die guten, alten Bekannten, die hier mit größter
Gemütsruhe weitergeschleppt werden. Wenn das aber bei Goethe geschieht, den
der neue Herausgeber, Herr Prof. Felix Dahn, doch wohl auf seinem Bücherbrette
stehen hat und nur herauszuziehen braucht, um zu vergleichen, was soll man dann
bei den Hunderten von Liedern erwarten, deren Originaltext in entlegeneren
Quellen steht?
Machen wir noch eine zweite Probe! Suchen wir uns einen Leipziger Dichter
heraus! Hier ist einer: Wilhelm Gerhard. Der Sprung von Goethe zu Gerhard
ist nicht so groß, sie haben in vielfachen Beziehungen zu einander gestanden. Gerhard
hat drei Lieder gedichtet, die sehr populär geworden sind: ABCD, wenn ich dich
seh' — Ans, Matrosen, die Anker gelichtet — Bin der kleine Tambour Veit. Das
erste steht in der Dcchnschen Sammlung mit drei Fehlern: Ser. 1. die bewegte
Brust (statt: die empörte Brust), Ser. 3. trafen wie Blitze schnell (statt: trafen
mich blitzesschnell), Ser. 6. mach' einen Knix (statt: mach' ihm den Knix). Von
dem zweiten Liede ist in der Sammlung nur die erste Strophe zu finden, darauf
folgen zwar uoch drei andre, die aber uicht Gerhard, sondern Gott weiß wer
gedichtet hat. Das dritte Lied endlich — ja, wo ist das dritte Lied? Im
alphabetischen Register ist es als Ur. 837 verzeichnet. Dort steht aber „König
Enzio"; der „kleine Tcunbonr" hat vielleicht in einer frühern Auflage einmal hier
gestanden. Also auch das Register nicht ganz zuverlässig?
Zur Herausgabe einer Sammlung wie die vorliegende braucht man wahrlich
kein „edler vaterländischer Dichter" zu sein, sondern nur ein sachkundiger Philolog,
mit dem nötigen wissenschaftlichen Gewissen und der nötigen Treue im Kleinen,
wenn mau auch nicht den hundertsten Teil von der „Berühmtheit" des Herrn Felix
Dahn besitzt. Aber freilich, das verehrte Publikum will ja immer einen schönen
Namen haben, auf den Wert der Sache kommts ihm garnicht an. Habest sibi.
cWb
M)er das hohe Ziel, welches Fürst Bismarck sich gesteckt hat — das
Ziel, den auf Verbesserung ihrer Lage gerichteten Ansprüchen der
Arbeiter, soweit sie berechtigt und erfüllbar sind, gerecht zu
werden —, billigt und zu fördern bestrebt ist, sollte sich doch
jedenfalls vor Übertreibungen hüten, welche unerfüllbare Dinge
als Ziel aufstellen, und welche nur geeignet sind, den Gegnern Waffen in die
Hand zu geben, um den „Staatssozialismus" im Prinzip zu bekämpfen. Wie
vorsichtig der Reichskanzler selbst in solchen Fragen ist, wie wenig Neigung er
besitzt, blindlings auf alle in Arbeiterkreisen gestellte Forderungen einzugehen,
hat er unter anderm durch die vortreffliche Rede vom 9. Januar 1882 gezeigt,
worin er die Bedenken darlegte, welche die Schaffung eines Normalarbeitstages
und ähnlicher Beschränkungen der Arbeit sich entgegenstellen.
Für eine solche Übertreibung müssen wir es erachten, wenn in dem Auf¬
satze „Recht und Arbeit" in Ur. 16 dieser Blätter es als ein Ziel staatlicher
Entwicklung hingestellt wird, dem Arbeiter auch gegen jede aus der Konjunktur
hervorgehende Arbeitslosigkeit Sicherheit zu gewähren. Eine solche „Organi¬
sation der Arbeit" wird dort mit der im Laufe staatlicher Entwicklung einge¬
tretenen „Organisation des Rechts" in Parallele gestellt. Wir können dieser
Analogie keinen Wert beilegen, weil unsers Erachtens beide Dinge ganz ver-
schiedner Natur sind. Wir werden deshalb auch im weiteren diese Analogie
beiseite lassen und uns nur mit der Möglichkeit einer Organisation der Arbeit
in dem entwickelten Sinne beschäftigen.
„Die Arbeit," wird in jenem Aufsätze gesagt, „ist die Grundlage der
Existenz, und zu leben ist doch wohl das erste und wichtigste aller Interessen."
Gewiß. Aber das Leben garantirt auch jetzt schon der deutsche Staat allen
seinen Angehörigen. Diese Garantie des Lebens bietet die Armenversorgnng,
welche keinen verhungern läßt, ohne Zweifel ein echtes Institut des Staats¬
sozialismus. Allerdings aber beschränkt die Armenversorgnng das, was sie
gewährt, auf das knappste Maß der Lebensnotdurft. Und das muß sie,
wenn sie nicht zu dem schlimmsten Mißbrauch verleiten will. Wollte mau dem
Armen mit Rücksicht darauf, daß seine Armut doch auch eine unverschuldete
sein könne, einen reichlichen Lebensunterhalt gewähren, so könnte man sicher
sein, daß unzählige auch ohne Not „arm" werden und die Armenunterstützung
für sich in Anspruch nehmen würden. Es ist ja bekannt, daß schon jetzt nicht
selten die Armenunterstützung zum Gegenstand übler Spekulationen gemacht wird,
daß z. B. Personen sich solche zu verschaffen wissen, welche sich später als leidlich
vermögend herausstellen, daß man unter der Voraussicht des „Armwerdens"
an Orte übersiedelt, wo die Armen sich besonders gut stehen, und dort durch
zweijährigen Aufenthalt den „Unterstützungswohnsitz" erwirbt. Wie würde es
erst werden, wenn die Armenunterstützung eine reichliche Versorgung in sich
schlösse? Nur darin, daß der Arme auf das geringste Maß der Lebensnotdurft
beschränkt wird, liegt ster unzählige der Antrieb, so lange als möglich sich selbst
eine Existenz zu schaffen und sich vor dem „Armwerden" zu bewahren.
Nun giebt es aber Fälle — und in dieser Erkenntnis liegt der Fortschritt
der Neuzeit —, in welchen es eine unverkennbare Härte enthält, wenn der Ver¬
armte auf das äußerste Maß der Lebensnotdurft verwiesen sein soll. Es tritt
dies ein, wenn ein solcher, der bisher durch redliche Arbeit sei» Brot verdient
und damit den Beweis geliefert hat, daß es ihm ernstlich darum zu thun ist,
ein arbeitsames Leben zu führen, durch einen erkennbaren Unglücksfall in die
Lage äußerster Hilfsbedürstigkeit versetzt wird. Hier ist die Frage berechtigt:
Soll ein solcher Unglücklicher, der bisher als nützliches Mitglied der Gesellschaft
sich bewährt hat, auf das knappste Maß des Unterhalts beschränkt sein? Oder
ist es nicht vielmehr geboten, ihm eine seinen bisherigen Verhältnissen ent¬
sprechende reichlichere Existenz zu gewähren? Diese Frage stellt sich umso
dringender, wenn der Unglücksfall den Arbeiter gerade bei seiner Arbeit betroffen
hat, er also das Opfer seines im Interesse der Gesellschaft geübten Berufs ge¬
worden ist. Auf einer Bejahung dieser Frage beruht der Gedanke der Kranken-
und der Unfallversicherung. Dem zeitweise erkrankte», sowie dem durch einen
Unfall bei der Arbeit verunglückten Arbeiter soll eine reichlichere Unterstützung
als die bloße Armenversorgnng zuteil werden. Freilich ist auch auf diesen Gebieten
die Möglichkeit eines Mißbrauchs nicht ganz ausgeschlossen. Es kann jemand sich
krank stellen, um der Arbeit sich zu entziehen und statt dessen die Krankenhilfe zu
genießen. Gerade aus diesem Grunde verordnet das Krankenversicherungsgesetz,
daß die Geldunterstützung der Erkrankten erst nach Ablauf von drei Tagen
beginnen soll. Auf die Länge der Zeit eine Krankheit zu simuliren, ist sehr
schwierig. Noch schwieriger aber ist es ohne Zweifel, einen den Arbeiter
schädigenden Unfall gänzlich zu erdichten. Eher wird es möglich sein, die
Folgen eines solchen übertrieben darzustellen. In der bisherigen Gesetzgebung
lag dadurch, daß dieselbe dem Verunglückten aus dem Gesichtspunkte der „Ent¬
schädigung" seinen vollen Lohn gewährte, ein ständiger Anreiz zu solchen Simu¬
lationen, wie dies in der Praxis der beteiligten Kreise sehr wohl bekannt ist.
Es ist daher eine sehr verständige Bestimmung, wenn das neue Gesetz, um
diesen Anreiz zu mindern, dem verunglückten Arbeiter nicht mehr seinen ganzen
Lohn, sondern nur einen sachentsprcchenden Teil desselben als Lebensunterhalt
gewähren will. Jedenfalls ist aber auf diesen Gebieten die Gefahr des Mi߬
brauchs nicht so groß, daß in ihr ein Grund läge, den Anforderungen der
Humanität nicht gerecht zu werden.
Auch die Altersversorgung der Arbeiter hat ihrer Idee nach unzweifelhaft
volle Berechtigung. Es ist gewiß eine natürliche Empfindung, daß derjenige,
welcher sein ganzes langes Leben in Fleiß und Arbeit zugebracht hat, dann,
wenn er durch Alter arbeitsunfähig wird, nicht dem Mangel und Elend preis¬
gegeben sein, vielmehr eine bessere Existenz als die der bloßen Armenversorgung
genießen solle. Aber die Ausführung dieses Gedankens wird mit noch größern
Schwierigkeiten zu kämpfen haben als die Kranken- und Unfallversicherung.
Die Hauptschwierigkeit bei derselben liegt in der Unmöglichkeit sicherer Erkenntnis
der Grenze, von welcher an jemand als durch Alter arbeitsunfähig geworden
zu betrachten und deshalb der Altersversorgung würdig sei. Es ist zu be¬
fürchten, daß viele vor der Zeit diese Wohlthat für sich in Anspruch zu nehmen
versuchen werden, ohne daß man in der Lage fein würde, ihre Berechtigung
hierzu mit Sicherheit zu bejahen oder zu verneinen. Wie es möglich sei, dieser
Schwierigkeit zu begegnen, welche Lösung namentlich der erfindungsreiche Geist
des Reichskanzlers hierfür in Bereitschaft habe, lassen wir hier dahingestellt.
Es genügt uns, darauf hinzuweisen, daß schon die Altersversorgung auf der
Grenze dessen zu liegen scheint, was mit menschlichen Mitteln durchführbar ist.
Nun sagt der Verfasser des obengedachten Aufsatzes: „Auch im Falle einer
aus Konjunktur hervorgegangenen Arbeitslosigkeit darf der Staat den Arbeiter
nicht im Stich lassen! Wenn in Oberitalien die Maulbeerbäume erfrieren, soll
der Krefelder Seidenweber mit seiner Familie verhungern?" Der Gedanke ist
also der, daß auch in Fällen dieser Art der Staat für den arbeitslos gewor¬
denen Arbeiter eintreten und einen reichlicheren Unterhalt als die bloße Armen-
untersttttzuug in Bereitschaft haben solle. Wir wissen nicht, ob der als Beispiel
angeführte Fall wirklich vorgekommen ist oder vorkommen kann. Aber Fälle
dieser Art, in welchen die augenblickliche Brotlosigkeit den Arbeiter schwer trifft,
sind ja vielleicht denkbar. So z. B. wenn eine Fabrik abbrennt und dadurch
Hunderte von Arbeitern plötzlich ihren Unterhalt verlieren. Daß für solche Fälle
eine Hilfe wünschenswert sei, wer wollte das in Abrede stellen? Meistens wird
denn auch die öffentliche Mildthätigkeit sich der Sache annehmen und die schlimmste
Not zu beseitigen suchen. Eine ganz andre Frage aber ist es, ob der Staat
imstande sei, dem Arbeiter seinen Arbeitsverdienst zu garantiren, ohne die aller-
mißlichsten Folgen auf sich zu laden. Ein Beweis dafür, wie bedenklich dies
sein würde, liegt wohl schon in dem Umstände, daß, soviel uns bekannt, keine
unsrer Versicherungsgesellschaften eine Versicherung für Fälle dieser Art zu
schaffen jemals unternommen hat. Der Staat würde eine solche Garantie der
Arbeit nur nach einem festen, allgemeinen Prinzip eintreten lassen können, welches
er gegen alle gleichmäßig zur Anwendung brächte. Wie aber soll dieses Prinzip
bestimmt werden? Es liegen ja nicht alle Fälle so klar, wie der oben ange¬
nommene Fall einer abgebrannten Fabrik. Auch bei ganz andern Gelegenheiten
würden unzählige auftreten und sagen: „Ich bin durch die Umstände arbeitslos.
Staat, hilf mir!" Mit welchen Mitteln soll nun der Staat feststellen, ob der
so auftretende wirklich durch die Umstände und nicht durch seine eigne Schuld
arbeitslos geworden ist? Und mit welchen Mitteln soll der Staat ihm Hilfe
zuteil werden lassen? Soll er ihm Arbeit gewähren, für welche der Arbeiter
dann Bezahlung erhielte? Dann müßte der Staat Werkstätten für alle mög¬
lichen Arbeiten bereit halten. Er müßte in diesen Werkstätten eine Art eigner
Güterproduktion treiben. Das alles sind unmögliche Dinge. Sie sind auch
bereits versucht worden in den Pariser Nationalwerkstätten; man weiß, mit
welchem Erfolge. Oder soll der Staat dem Arbeiter, welcher über seine durch
die Konjunktur eingetretene Arbeitslosigkeit klagt, einstweilen ohne Arbeit Ver¬
sorgung gewähren? Wie lange soll er dies thun? Wie soll er kontrvliren,
ob der beschäftigungslose Arbeiter sich auch ernstlich um Wiedererlangung von
Arbeit bemüht? Ja ob er nicht vielleicht im stillen schon Arbeit hat und doch
die Unterstützung fvrtbezieht? Die öffentliche Mildthätigkeit hat in allen solchen
Dingen eine weit freiere Stellung. Sie kann nach den Verhältnissen des ein¬
zelnen Falles ab- und zuthun. Der Staat aber, der nach bestimmten Grund¬
sätzen handeln muß, würde bei einem Eingreifen in diese Dinge stets zwischen
der Gefahr schweben, schmählichem Mißbrauch zu unterliegen oder der Unge¬
rechtigkeit geziehen zu werden. Die einzige Garantie dafür, daß jeder Arbeits¬
fähige ernstlich sich bemüht, mit seiner Arbeit sein Brot zu verdienen, liegt
darin, daß, wenn er es nicht thut, er nicht mehr zu leben hat, als im äußersten
Falle die Armenversorgung ihm gewährt.
Wir können nicht umhin, hier auf ein nahe verwandtes Gebiet einzugehen,
auf welchem man sich gerade jetzt manchen Täuschungen hinzugeben scheint. Wir
meinen die Bekämpfung des Landstreichertums, wofür man als Mittel die Schaf¬
fung von Arbeiterkolonien und von Naturalverpflegungsstationen vorschlägt.
Für diejenigen, welche im Lande umherziehen, weil sie wirklich nach Arbeit suchen,
werden allerdings Arbeiterkolonien zeitweise eine Aushilfe gewähren. Für die
nicht geringe Zahl derjenigen aber, welchen es garnicht um Arbeit, fondern nur
um ein fahrendes Leben zu thun ist, haben die Arbeiterkolonien keinen Wert
Die Strolche werden garnicht dorthin gehen oder denselben bald wieder ent¬
laufen. Große Landstriche Deutschlands haben überdies für solche Arbeiter-
kolvnicn gar keinen Raum. Und auch die bereits geschaffenen Kolonien lassen
wohl die Frage offen, wie lange sie imstande sein werden, jedem, der da kommt,
Arbeit zu gewähren. Was die Verpflegungsstationen betrifft, so sind ja auch
diese, zumal wenn sie zugleich sich die Aufgabe stellen, die Nachweisung von
Arbeitsgelegenheit zu geben, ein Werk der Humanität solchen gegenüber, welche
wirklich nach Arbeit suchen. Wir fürchten aber, daß es das gewerbsmäßige
Vagabundentum geradezu vermehren wird, wenn der fahrende Geselle an jedem
größern Ort ein Tischchendeckdich findet, an welchem er behaglich sich satt essen
kann. Denn was hindert ihn wohl, statt die ihm nachgewiesene Arbeitsgelegen¬
heit aufzusuchen, direkt nach dem andern Orte weiterzuwandern, wo ihm
wiederum gleiche Verpflegung zuteil wird? Was hindert ihn, auf jedem da¬
zwischenliegenden Dorfe wieder in die Häuser einzufallen und zu betteln? —
während doch gerade auf dem minder geschützten platten Lande diese Bettelei sich
oft zu einem wahren Raub- und Erpressungssystem gestaltet! Jene Humanitären
Einrichtungen würden nur dann einen Wert haben, wenn sie zugleich mit
der äußersten Strenge gegen jeden Mißbrauch verbunden wären, wenn der¬
jenige, welcher eine ihm nachgewiesene Arbeitsgelegenheit nicht benutzte oder trotz
der Statiousvcrpflegung der Bettelei obläge, unnachsichtlich strenger Bestrafung
und dem Zwangsarbeitshause versiele. Um eine solche Strenge walten zu lassen,
bedürfte es aber ganz andrer Kontrolmaßregeln, als zur Zeit bestehen. Ohne
eine solche die Kehrseite bildende Strenge werden jene Einrichtungen, so wohl¬
wollend sie auch gemeint sind, ihr Ziel verfehlen.
„Nach ewigen, ehrnen, großen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins
Kreise vollenden." Dieses Dichterwort gilt auch hier. Es ist ein hartes Gesetz,
welches die Natur allem Lebenden auferlegt: der Kampf um das Dasein. Un¬
zähliges geht dabei zugrunde. Und doch ist dieses Gesetz das einzige, wodurch
sich alles Bestehende erhält und vervollkommnet. Das gilt in gleicher Weise
wie von der physischen, auch von der moralischen Welt. Der Staat kann seinen
Angehörigen diesen Kampf um das Dasein nicht abnehmen. Er würde damit
die Grundlage seiner Existenz zerstören. Der Gedanke der Sozialdemokratie,
daß der Staat von oben herab alle Arbeit ordnen, jedem seinen Anteil daran
zuweisen und jedem seinen Lohn bestimmen könne, wird allen Einsichtigen als ein
wahnwitziger erscheinen. Aber auch in weit beschränkteren Maße kann der Staat
niemandem seine Arbeit und sein daraus erwachsendes Verdienst garantiren.
Jeder muß in dieser Beziehung für sich selbst sorgen.
ach dem Reichsgesctz vom 27. Juni 1871 betreffend die Pensionirung
und Versorgung der Militärpersonen des Reichsheeres und der
kaiserlichen Marine erhält jeder Offizier und im Offizierrangc
stehende Militärarzt, welcher seinen Gehalt aus dem Militäretat
bezieht, eine lebenslängliche Pension, wenn er nach einer Dienstzeit
von wenigstens zehn Jahren zur Fortsetzung des aktiven Militärdienstes unfähig
geworden ist und deshalb verabschiedet wird. Ist die Dienstunfähigkeit die Folge
einer bei Ausübung des Dienstes ohne eigne Verschuldung erlittenen Verwundung
oder sonstigen Beschädigung, so tritt die Pensionsberechtigung auch bei kürzerer
als zehnjähriger Dienstzeit ein. Der Betrag der Pension ist, wenn die Verab¬
schiedung nach vollendetem zehnten, jedoch vor vollendetem elften Dienstjahre
eintritt, 2°/gg und steigt von da ab mit jedem weiter zurückgelegten Dienstjahre
um i/so des pensionsfähigen Diensteinkommens. Über den Betrag von °"/g<,
dieses Einkommens hinaus findet eine Steigerung der Pension nicht statt. Im
Falle der Invalidität durch Beschädigung bei kürzerer als zehnjähriger Dienstzeit
beträgt die Pension des pensionsfähigen Diensteinkommens. Wird ein
Offizier oder im Offizierrange stehender Militärarzt vor Vollendung des zehnten
Dienstjahres auf andre Weise als infolge einer bei Ausübung des Dienstes
ohne eignes Verschulden erlittenen Verwundung oder sonstigen Beschädigung
dienstunfähig und deshalb verabschiedet oder zur Disposition gestellt, so kann
ihm bei vorhandner Bedürftigkeit eine Penston entweder auf bestimmte
Zeit oder lebenslänglich bewilligt werden, welche aber höchstens des
pensionsfähigen Diensteinkommens beträgt. Die gleichen Bestimmungen hat das
Ncichsgesetz vom 31. März 1873 betreffend die Rechtsverhältnisse der Reichs-
bcamten hinsichtlich der Pensionsansprüche und des Betrages der Pension dieser
Beamten getroffen.
Die Reichsregierung hat nun die Beträge der Pensionen in dem bisher
gesetzlich festgestellten Maße als zu niedrig bemessen erkannt und deshalb im
letzten Jahre eine Vorlage beim Reichstage eingebracht, nach welcher die jährliche
Quote des pensionsfähigen Dienfteinkommcns künftig ^« statt des bisherigen
^8v betragen soll. Hinsichtlich der Zivilbeamten des Reiches hat diese Vorlage
die Zustimmung des Reichstages gefunden, hinsichtlich der Militärpersonen ist
dieselbe von einer Regelung der Besteuerung der Offiziere und Militärärzte
abhängig gemacht worden, und da die Regierung auf eine solche sich nicht ein¬
lassen wollte, ist das Gesetz nicht zustande gekommen. Dieser Gesetzentwurf ist
darauf abermals von der Negierung bei dem gegenwärtig versammelten Reichstage
eingebracht worden und von dem letztern zunächst zur Beratung an eine Kom¬
mission verwiesen worden. Die von dem Reichstage gewünschte Regelung der
Besteuerungsfrage hat auch in dem neuen EntWurfe keine Berücksichtigung
gefunden.
Es kann als bekannt vorausgesetzt werden, soll aber hier ausdrücklich
wiederholt werden, daß unser Standpunkt von einer Animosität gegen die
Offiziere und deren Ansprüche weit entfernt ist, daß wir vielmehr im wohl-
verstandnen Interesse des Reiches die günstige Gestaltung ihrer Lage in jeder
Beziehung befürworten und deshalb deren Gleichstellung mit den Zivilbeamten
des Reiches hinsichtlich der Pensionsverhältnisse nicht nur nicht entgegentreten,
sondern dieselbe für durchaus gerecht und billig halten. Da dies aber der Fall
ist, so wird auch die im folgenden vorgetragene Ansicht in den betreffenden
Kreisen keiner falschen Auffassung begegnen.
Die Tüchtigkeit und Brauchbarkeit unsers Heeres beruht in erster Linie auf
der Leistungsfähigkeit feiner Offiziere, und diese steht in wesentlichem Zusammen¬
hange mit den Bcsörderungsverhältnissen und hierdurch mittelbar mit den Pen¬
sionsbestimmungen. Wie von berufener Seite mehrfach dargethan worden ist, läßt
sich die Kraft des Offiziers nicht in der Weise bis zum Schlüsse ausnutzen, wie dies
bei dem Zivilbeamten möglich ist; es ist von weit einschneidenderer Bedeutung, stets
den geistig und körperlich vollkommen leistungsfähigen Offizier zur Verfügung zu
haben, weil ein Maugel in dieser Richtung im Felde von den verderblichsten
Folgen sein kann. Einerseits kann nun aber die vollkommene Leistungsfähigkeit
über ein gewisses Alter hinaus nicht erhalten werden, andrerseits ist auch bei
vorhandner vollständiger Leistungsfähigkeit die individuelle Begabung nicht immer
derart, daß sie die Übertragung wichtigerer Funktionen bei der in Frage
stehenden Gefährdung der höchsten Interessen an jedermann gestatten würde;
es muß deshalb Sorge dafür getragen werden, einmal daß die Mehrzahl der
Offiziere, wenn sie in die verantwortungsvolleren höheren Stellen einrückt, sich
nicht schon in einem Alter befinde, welches ihrer Leistungsfähigkeit bereits Ab¬
bruch thut, sodann daß die als notwendig erkannten Verabschiedungen nicht
durch die Rücksicht auf die Unzulänglichkeit des den betroffenen in Aussicht
stehenden Ruhegehaltes für ihre weitere Existenz verhindert werden. Die Ver¬
minderung der allgemeinen Leistungsfähigkeit aber muß notwendig eintreten,
wenn, wie dies gegenwärtig eintrifft, die Lentnantszeit fünfzehn bis sechzehn
Jahre, die Zeit des Hauptmanns oder Rittmeisters etwa zwölf Jahre dauert
und hiernach die Mehrzahl der Stabsoffiziere erst nach zurückgelegtem fünfund¬
vierzigsten Lebensjahre diese Stellung erreicht. Es ist deshalb vollständig be¬
gründet, wenn die Regierung darauf bedacht ist, durch Verbesserung der Pensions-
Verhältnisse die Verabschiedung von Personen, die nicht vollkommen diensttauglich
sind, zu ermöglichen, ohne diese in eine Lage versetzen zu müssen, in welcher
sie zum Dank für langjährige treue Dienste nur mit Sorgen ihrer Zukunft ent¬
gegensehen können. Diesen Zweck sucht die Regierung mit dem wieder ein¬
gebrachten veränderten Pensionsgesetz zu erreichen, und es fragt sich nun, ob
das im Reichstage als Bedingung der Annahme des Gesetzes aufgestellte Ver¬
langen, die Offiziere zu den Kommnnalsteuern heranzuziehen, berechtigt sei
oder nicht.
In erster Linie wird sich nicht bestreiten lassen, daß die Regelung der Be¬
steuerungsverhältnisse der Offiziere in keinem sachlichen Zusammenhange mit der
Frage über die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit der Pensionsbeträge steht;
die gleichzeitige Erledigung beider Fragen ist nun aber einmal zur Bedingung
der Annahme gemacht worden, und es dürfte sich Wohl fragen, ob nicht ein
Entgegenkommen der Negierung in der Befteueruugsfrage sachdienlicher wäre
als ein strenges Beharren auf der Forderung der Steuerfreiheit der Offiziere.
Die Gründe, welche für die Forderung der Regierung angeführt werden, sind
im wesentlichen die, daß der Offizier seinen Wohnsitz nicht frei wählen könne,
daß er vermöge gesetzlicher Vorschriften teilweise von den Rechten des Bürgers
(Zulassung zu den Kommuualämtcrn u. dergl.) ausgeschlossen sei, daß er an den
Vorteilen und Aufwendungen der Gemeinden nicht wie die übrigen Einwohner
teilnehmen könne und daß die Kommunalsteuerfreiheit ein althergebrachtes, bei
den knappen Besoldungen wohlbegründetcs Vorrecht der Offiziere sei. Nun treffen
aber bei dem Zivilstaatsbeamten, welcher mit seinem Dienst- und Privateinkommen
zur Besteuerung herangezogen wird, die beiden ersten Gründe ebenso zu wie beim
Offizier, denn von den Gemeindeämtern ist er ebenfalls ausgeschlossen, und seinen
Wohnsitz kann er, wenn er überhaupt vorwärtskomme» will, so wenig frei wählen
wie der Offizier, er muß vielmehr an den Ort ziehen, an welchem eine Stelle
frei wird. Trotzdem wird für ihn die Steuerbefreiung uicht in Anspruch ge¬
nommen. Aber auch an den Vorteilen und Aufwendungen der Gemeinden
(Schulen, sanitäre Einrichtungen u. s. w.) nimmt der Offizier in gleichem Maße
teil wie jeder andre Einwohner, und es wäre deshalb nicht unbillig, wenn er
zur Tragung der betreffenden Kosten verhältnismäßig beitrüge. Die Steuer¬
freiheit der Offiziere ist allerdings in Preußen ein althergebrachtes Vorrecht
derselben; in Baiern aber, in Würtemberg, in Hessen genießen sie dasselbe nicht.
In den letztgenannten Ländern wird der Offizier wie der Zivilstaatsbeamte mit
seinem vollen Einkommen zur Kommunalsteuer herangezogen, und zwar nicht
nur mit seineni Privateinkommen, sondern auch mit seinem Diensteinkommen.
Es haben sich schon gewichtige Stimmen dafür erhoben, daß das dienst¬
liche Einkommen des Beamten wie des Offiziers von jeder Steuer befreit sein
solle, und es läßt sich sür diese Ansicht mit Recht anführen, daß der Staat seinen
Funktionären nicht das mit der andern Hand wieder nehmen solle, was er ihnen
mit der einen giebt. Die Frage der Steuerfreiheit des Diensteinkommcns des
Beamten soll bei dieser Gelegenheit nicht weiter berührt werden; was diejenige
des Offiziers betrifft, so kann ohne weiteres zugegeben werden, daß gegen die
Heranziehung des Diensteinkommens zur Kommunalsteuer alle Gründe sprechen,
vor allem der, daß der kleine, beim Subalternoffizier zur Existenz schon unzu¬
reichende Dienstgehalt nicht noch durch Auflagen verringert werden soll. Was
aber das Privat einkommen der Offiziere betrifft, so wird man stichhaltige
Gründe gegen Heranziehung dieses Einkommens zur Besteuerung geltend zu
machen kaum in der Lage sein. Die Steuerfreiheit des Privateinkommens be¬
ruht bloß auf dem Herkommen in Preußen, und eine Einrichtung, deren Zweck¬
mäßigkeit und Berechtigung keine andre Stütze für sich anzuführen weiß, wird
sich auf die Dauer nicht aufrechterhalten lassen. Unter den süddeutschen
Offizieren selbst kann man die Übereinstimmung mit dieser Ansicht aussprechen
hören.
Liegt nun die Sache so, daß man die Zustimmung zu dem Pensivns-
gesetze erlangen kann, wenn man auf die Steuerfreiheit des Privateinkommens
der Offiziere verzichtet, so wird man mit Recht diesen Verzicht als wünschens¬
wert bezeichnen, um der großen Mehrzahl der Offiziere die günstigeren Be¬
stimmungen des neuen Pensionsgesetzes zu sichern. Denn wenn das Gesetz an
dem Beharren auf der Forderung der Steuerfreiheit scheitert, so sind alle die¬
jenigen, welche kein nennenswertes Privateinkommen haben — und das ist wohl
die Mehrzahl unsrer Offiziere —, zu gunsten der wenigen, welche in der glück¬
licheren Lage günstiger Privatvermögensverhältnisse sind, geschädigt. Die un¬
günstige» Pensionsverhältnisse aber für einen großen Teil unsers Offizierkorps
aufrecht zu erhalten, um auf einem innerlich nicht gerechtfertigten Vorrechte,
das nur einer kleinen Zahl nutzt, zu beharren, steht nicht im Verhältnis zur
Bedeutung der Wahrung dieses Rechts.
in ungewöhnlich glückliches Dasein hat in der stillen Woche vor
Ostern seinen Abschluß gefunden. Nicht daß die Tage Emanuel
Geibels von der Wiege bis zum Grabe eitel Sonnenschein be¬
gleitet hätte. Er selbst wäre der letzte gewesen, eine so verhäng¬
nisvolle Huld der Götter für sich zu erbitten. Neben zahlreichen
kleinern oder größern Verdunkelungen seiner Lebenstage sind zwei schwere Heim-GMK^
suchungen über ihn verhängt gewesen: der frühe Tod seiner inniggeliebten Gattin
und die langwierige Krankheit, welche Jahrzehnte lang täglich während vieler
Stunden ihn zu qualvoller Unthcitigkeit verdammte und der er endlich erlag.
Aber wie er seine Seelen- und seine Körperschmerzen zu einem Läuterungs¬
prozeß zu machen verstand, der den Schwingen seines Genius immer höhere
Flugkraft lieh, so ziemt es auch uns, durch ein liebevolles Versenken in die
lichteren Seiten seines Bildes die lebensfreudige Persönlichkeit, als welche er in
unserm Gedächtnis fortzudauern verdient, uns klar vor Augen zu stellen.
Fasten wir nur das Wesentliche zusammen. Was kann einem Kinde besseres
zuteil werden als die Hut geachteter, treuer, liebevoller Eltern, als Geschwister,
mit denen es in innigem Zusammenhange aufwächst? Beider Geschenke des
Himmels durfte er in vollem Maße froh werden. Er war das siebente von
acht Geschwistern, und sein väterliches Haus, ein Pfarrhaus, ehrbar wie die
alte Hansestadt Lübeck selbst, aber gleich dieser den heitern Seiten des Daseins
keineswegs verschlossen, entließ den Jüngling erst, als für die ungebundenere
Lern- und Lebensweise des Studenten seine Vorbildung wie sein Charakter be¬
reits in reichem Maße Gewähr boten. So zog der junge Poet — denn schon
gelangen ihm poetische Improvisationen — nach Bonn an den Rhein. An den
Rhein! War das etwa kein Sonnenblick? Und wie er nun dort, von dem
Zauber des neuen Daseins durchleuchtet, sich der Göttergabe der Poesie immer
deutlicher bewußt wird, wie er der Theologie entsagt und sich am Ende des zweiten
Semesters nach Berlin wendet, um bei Böckh Metrik zu hören, bei Lachmann
Properz, bei Droysen Aristophanes, bei Erdmann endlich philosophische Un-
sterblichkeitslehre, wie er so mit vollen Segeln in das Meer hinausschiffen darf,
aus dessen fernster Ferne die Insel der Seligen lockt, das Eden der Poesie,
fügt es sich da nicht auch noch glücklich, daß es die Zeit ist, wo in der sonst
als bloß kritisch und geistreich verrufenen märkische» Metropole wirkliche Poeten
von Gottes Gnaden heimisch sind — ich nenne nur Eichendorff und Chamisso —,
und was noch mehr sagen will, daß sie den jungen Genossen freudig willkommen
heißen? Und wie reiht sich nun eins ans andre! Curtius, ein Landsmann und
Freund Geibels, hat eine Hauslehrerstelle in Athen angenommen. Wird Geibel ver¬
urteilt sein, Semester um Semester im märkischen Sande den Lippen eines Pro¬
fessors zu lauschen? O nein! Ehe er sich dessen versieht, ist bei dem russischen
Gesandten in Athen eine Hauslehrerstelle valant geworden, und Bettina hat ihn
in ihrer unwiderstehlichen Weise schon dahin empfohlen. Eine ganze Schar
Bewerber zieht nieder, unser Poet kommt mit der Glücksnummer heraus. We¬
nige Wochen später steht er auf dem heiligen Boden seiner Sehnsucht, trinkt
er mit vollen Zügen aus dem lebendigen Born klassischer Erinnerungen, läßt er
die Wonnen der südlichen Natur sein ganzes schönheitsdnrstiges Wesen durch¬
dringen und erfüllen. Zwei beglückende Jahre — das letzte in fast völliger
Ungebundenheit — enteilen ihm unter dem gesegneten Himmel des alten Hellas
Wie ein entzückender Traum, ein Traum, der auch nicht der poetisch fruchtbaren
Stunden entbehrt und der daneben aus seinem überreichen Füllhorn erweiterte
Weltkenntnis wie klare Einblicke in die Bildungsfundgruben der Menschheit ver¬
schwenderisch ausstreut.
Da kam's mir ins Gemüt:
Hier unter diesem blauen
Gezelt, wo's ewig bliebe,
Wie gut wär's Hütten bauen! Es würde dir der Baum,
Es würden Fels und Reben
Dir mühlos wie im Traum
Des Lebens Notdurft geben. Ein Weib von dieses Lands
Gvttähnlichcm Geschlechte,
Sie fischte Liebesglanz
In deine Tag und Nächte. Nicht in gelehrten Wust,
In Nebel nicht begraben,
Genössest du die Lust,
Der großen Mutter Gaben.Du silbst im Sonnenschein
Ihr formenbildend Walten,
Und dürftest weise sein
Und heiter wie die Alten, So träumt' ich vor mich hin,
In selig Schaun versunken,
Es war mein ganzer Sinn
Vom Glanz des Südens trunken. Doch froh gedacht ich's kaum,
Da sprach das Herz mit Beben:
Das ist ein schöner Traum,
Doch ist's ein Traumbild eben. Wie sollte dir, o Thor,
Erblühen Rast und Friede,
Wo nimmermehr ein Ohr
Aufhorchte deinem Liede!
Also in die Heimat zurück! Schon aus Athen hatte er dahin geschrieben,
sein Poetenbcruf gönne ihm in der Fremde nicht Ruhe. „Platen ist tot, schrieb
er, Chamisso ist tot, Uhland schweigt schon lange, Rückert zersplittert sich;
unter den jüngeren ist nur Freiligrath von Bedeutung. Es ist Zeit, daß neue,
kräftige Stimmen durchdringen, sonst verliert sich alles in charakterlosen Ge-
zwitscher."
Man traut seinen Ohren nicht! Von solcher Wichtigkeit war damals noch
die Poesie. Aber wir Ältern wissen es ja, sie hatte zu jener Zeit in der That
eine führende Rolle; gab es doch noch keine freie Presse, nahm die Journal¬
lektüre doch noch nicht wie heute die Mußestunden eines großen Teiles der Ge¬
bildeten in Anspruch, war es doch höchstens erlaubt, in gebundener Rede an¬
zudeuten, wie vieles in der Welt und vor allem in nächster Nähe anders sein
sollte, als es war. Aus dem „Gezwitscher" wurde denn auch gar bald das
grelle Schreien der Vögel, die dem Sturm vorausziehen, unter ihnen als der
vernehmbarste Georg Herwegh in seinen „Gedichten eines Lebendigen." Mußte
aus der Poetenschaar ihm einer antworten — und wohl war die Aufforderung
dazu eine dringende —, so konnte es nur Geibel sein. In ihm vor allen lebte
die Überzeugung, daß Deutschland eine Beute der Erbfeinde an der Newa und
an der Seine werden würde, wenn es durch einen Bürgerkrieg das Gerüst zu¬
sammenstürze, auf welchem seine Scheineinheit beruhe. Doch wozu in nüchterner
Prosa sagen, was der stebenundzwanzigjährige Geibel im Februar 1842 als
Antwort an Georgs Herwegh volltönig ins deutsche Land hinaussang!
Es scholl dem Lied mir in das Ohr
So schwertesscharf, so glockentönig,
Als oder' aus seiner Gruft empor^
Gewallt ein alter Dichterkönig.
Und doch! Ich weis' es nicht von nur,
Ich muß dich in die Schranken laden;
Komm an in voller Harnischzier,
Auf Tod und Leben Kampf mit dir,
Kampf, du Poet von Gottes Gnaden! Bist du dir selber klar bewußt,
Daß deine Lieder Aufruhr läuten;
Daß jeglicher nach seiner Brust
Das Ärgste mag aus ihnen deuten?
Der Zwerg, der matte Pfeile schmilzt,
Wohl — schieß' er ohne sest zu zielen;
Doch wer vom Wetterlicht umblitzt
Im Donnerwagen grollend sitzt,
Der soll nicht mit den Zügeln spielen. Wozu sonst dieses Schwertertlirr'n,
Die Kriege, die dein Lied gefodert,
Die hast'ge Glut, die durch dein Hirn
In tausend Funken prächtig lodert?
O nein! Das ist nicht deutsche Art!
Wohl kämpfen wir auch für das neue;
Um's Freiheitsbanner dichtgcschart
So stehn anch wir; doch aufbewahrt
Aus alter Zeit blieb uns die Treue.Verhaßt auch uns ist der Baschkir,
Der Untcrjochcr der Gedanken,
Und keinen Deut begehren wir
Von jenen übermnth'gen Franken.
Wir wollen auch, daß frei das Wort
Durch alle Lüfte möge finden;
Es dünkt auch uns in Süd und Nord
Das Wort der beste Freiheitshort —
Doch soll darum dein Volk verbluten? Nein! Glaub, der Tag ist bald erwacht,
Der Morgen naht, wo wir's erringen,
Nicht ohne Kampf, doch ohne Schlacht,
Der Geist ist stärker als die Klingen.
Geharnischt steht er auf dem Plan,
Er, der mit Luthern einst gefochten;
Durch tausend Lanzen bricht er Bahn,
Und mag die Hölle dräuend nahm:
Der Lorbeer bleibt ihm doch geflochten. Drum thu dein Schwert an seinen Ort,
Wie Petrus that, da er gesündigt;
Die Freiheit geht nicht auf aus Mord,
Blick nach Paris, das dir's verkündigt.
Vom Geist will sie gewonnen sein;
Doch wer ihr Kleid so rein und heiter
Mit blut'gen Makel mag entweihn,
Und sang' er Engelsmoledein:
Der ist der Welt, nicht Gottes Streiter. Ich sing' um keines Königs Gunst,
Es herrscht kein Fürst, wo ich geboren;
Ein freier Priester freier Kunst
Hab' ich der Wahrheit nur geschworen.
Die werf' ich keck dir in's Gesicht,
Keck in die Flammen deines Branders;
Und ob die Welt den Stab mir bricht:
In Gottes Hand ist das Gericht;
Gott helfe nur! — Ich kann nicht anders.Fürwahr, ein Sämann schreitest du,
Der Samen streut, doch der Zerstörung;
Ein Glöckner, der aus ihrer Ruh
Die Völker stürmt, doch zur Empörung.
Du willst die Flamme, die so rein
Und heilig strahlt durch alle Lande,
Du willst den warmen Gottesschein
Zur Fackel Herostrats entweihn,
Und schwingst sie wild zum Tempelbrande.
Ob in der That ohne gewaltsamen Umsturz des Bestehenden durchzukommen
gewesen wäre, wer will- es sagen? Hören wir heute die Wortführer der Ar¬
beiter nach jenem letzten Mittel, nach der Revolution, rufen, so empfinden wir
ähnliches, wie in der Zeit des heraufziehenden achtundvierziger Sturmes Geibel
und diejenigen empfinden mußten, denen das Hereinbrechen gesetzloser Zustände
ein Greuel war. Daran, daß auch Freiligrath damals auf gleichem politischen
Boden stand und eine Pension des Königs von Preußen bezog, sei hier nur
erinnert, um damit ein Streiflicht auf die noch nicht zur klaren Sonderung der
Parteien gelangte Zeitstimmung fallen zu lassen.
Es war begreiflich, daß jenes Gedicht nicht allein in der breiten Masse des
Volkes Aufsehen erregte. Kurz nach dem Weihnachtsfeste 1843 wurde Geibel von
seinem Gönner, Herrn von Rumohr, zu einem kleinen Mittagsmahle eingeladen. Als
der Gast die schön gesattelte Serviette aufhob, lag unter derselben ein Schreiben
aus Berlin: Friedrich Wilhelm IV. hatte dekretirt, dem Dichter Emanuel Geibel sei
eine lebenslängliche Pension von dreihundert Thalern zuzusichern — wieder ein
warmer Sonnengruß des Geschicks, aber nicht allein für ihn, nein, auch für uns.
die wir jetzt beim Überschauen seines Lebensganges und der reichen Ernte, die
uns allen aus demselben erwuchs, diese königliche Ermunterung zum Beharren
auf dem Platze des amtlosen Poeten segnen dürfen, einer Lebensstellung, für
welche mit Recht die Mehrzahl der Gelehrten, der Geschäftsleute und der Leute
in Amt und Würden kein Verständnis hat, und ohne welche doch das volle
Ausreifen einer Begabung, wie diejenige Geibels, ganz undenkbar gewesen wäre.
Ja, wir wollen uns freuen, daß Geibel Poet und einzig Poet blieb. Oder
hätte es nicht seine Richtigkeit mit dem, was Geibel einem guten Gedichte nach¬
rühmt — und wie reich ist die Fülle guter Gedichte, die wir ihm jetzt ver¬
danken !
Ein gut Gedicht ist wie ein schöner Traum,
Es zieht dich in sich, und du merkst es kaum;
Es tragt dich mühlos fort durch Raum und Zeit,
Du schaust und trinkst im Schaun Vergessenheit,
Und gleich als hättest du im Schlaf geruht,
Steigst du erfrischt aus seiner klaren Flut.
„Steigst du erfrischt aus seiner klaren Flut." Wer möchte behaupte», daß
solches Seelenbad ein bloßer Luxus sei, daß es nicht vielmehr Leib und Seele
im Kampfe mit den Tagesmühen dieses Daseins stärke und stähle?
Was in dem früh begonnenen und spät beschlossenen Dichterschaffen Gei¬
bels alles zutage gefördert worden ist, liegt jetzt in den acht Bänden der Ge¬
samtausgabe seiner Werke vor. Ich muß es mir versagen, auch selbst nur auf
ein Skizziren der einzelnen Rubriken einzugehen, ebenso auf die Frage nach dem
Wert seiner Dramen, denen, wie man weiß, von der Bühne wenig Sympathie
entgegengebracht worden ist. Dafür will ich noch anreihen, was zu den freund¬
lichen Schicksalsfügungen zählt, die den Pfad des Dichters immer von neuem
mit heiterm Glänze erfüllten. Zunächst die seiner Verlobung im November 1852
fast auf dem Fuße gefolgte Berufung nach der kunstreichen Hauptstadt Baierns,
als «Msi Ehrenprofessor der deutschen Literatur und Ästhetik, wiederum mit
einem so geringen Anspruch an reglementmäßige Leistungen, daß seiner Muse
keine wirkttcheu'Fesseln angelegt wurde», wie Geibel es denn auch mit Beziehung
auf König Max in der Schlußstrophe des Gedichtes „Abschied von Lindau"
deutlich ausspricht:
Wohl mag ich treu ihm danken,
Der für den Wanderstab
Mir frommen Wirkens Schranken,
Mir Herd und Heimat gab,
Und, weil er selbst tief innen
Die heil'ge Flamme nährt,
Mit fürstlich hohen Sinnen
Des Dichters Freiheit ehrt.
Aber mehr noch als diese ehrende Berufung, mehr selbst als die schöne Be¬
ruhigung, die ihm aus dem sanft anschmiegenden Wesen seiner jungen Lands¬
männin und Lebensgefährtin Ananda Trummer und, als der Tod sie ihm
entrissen hatte, aus den kindlichen Augen ihres Töchterchens erblühte, mehr als
alle Erfolge, die ihm bewiesen, er habe nicht umsonst gelebt — und er hatte
nach Ruhm gestrebt! — mehr als alles dies mußte ihm bedeuten, daß zugleich
mit der Neugeburt des deutscheu Reiches und mit der Wiederaufrichtung des
deutschen Kaisertums der Umschwung in den Gemütern sich in der von ihm
immer festgehaltenen Richtung auf das Maßvolle, Besonnene vollzog, daß ihm
jetzt nicht mehr vorzugsweise die von seinen Jugendliedern zu süßen Regungen
entflammten Herzen entgegenschlugen, nein, daß die kleine Gemeinde der Gebil¬
deten und Umsturzfeindlichen, die dankbar zu ihm emporgeblickt hatte, jetzt von
allen Seiten Zuwachs erhielt, und daß die Zeit nahe war, in der es nicht mehr
von dem, was seine Nation ihm zuerkannte, zu heißen brauchte:
Ist's kein Ruhm auf weiter Erde,
Ist's ein Blumenkranz am Herde;
Ist's kein jauchzend Volk, Poet,
Ist's ein Freund, der dich versteht.
Dies jauchzende Volk, wie es einst Herwegh, dann Freiligrath, Uhland, Kinkel
auf den Schild hob, er hatte es schmerzlich vermißt, und immer wird es derjenige
vermissen müssen, der nicht durch ein politisches Martyrium das Mitgefühl der
großen Masse erregt. Aber wenn wir es nicht niedrig anschlagen dürfen, daß
Geibels Lebensabend von der Hoffnung verklärt wurde, sein dichterisches Wirken
werde nun im Laufe der Zeit immer weiteren Kreisen zum Halt und zum Labsal
gereichen, so müssen wir ihm doch vor allem die weit höhere Wonne nach¬
empfinden, mit der gerade ihn die Thatsache der Neugeburt Deutschlands er¬
füllt haben wird. Immer wieder, wir Wissens ja, ist von Geibel der Ruf nach
Wiederaufrichtung des deutschen Reiches erhoben worden, hier sei nur an eins
seiner frühesten .Kaisergedichte erinnert, an „Friedrich Rotbart". Es ist so
volkstümlich geworden, daß, wie es in solchem Falle zu geschehen pflegt, fast
niemand fragt: wer hat es denn gemacht, ja daß die Wenigsten auf diese
Frage zu antworten wüßten.
Tief im Schoße des Kyffhäusers
Bei der Ampel rotem ScheinSitzt der alte Kaiser Friedrich
An dem Tisch von Marmorstein.
Ihn umwalt der Purpurmantel,
Ihn umfängt der Rüstung Pracht,
Doch auf seinen Augenwimpern
Liegt des Schlafes tiefe Nacht. Vorgesunken ruht das Antlitz,
Drin sich Ernst und Milde paart;
Durch den Marmortisch gewachsen
Ist sein langer, goldner Bart. Rings wie eh'rne Bilder
Seine Ritter um ihn her,
HarnischglKnzcnd, schwertumgürtet.
Aber tief im Schlaf, wie er. Heinrich auch, der Ofterdinger,
Ist in ihrer stummen Schaar,
Mit den liederreichen Lippen,
Mit dem blondgelockten Haar. Seine Harfe ruht dem Sänger
In der Linken ohne Klang;
Doch auf seiner hohen Stirne
Schläft ein künftiger Gesang. Alles schweigt, nur hin und wieder
Fällt ein Tropfen vom GesteinBis der große Morgen plötzlich
Bricht mit Feuersglut herein; Bis der Adler stolzen Fluges
Um des Berges Gipfel zieht,
Daß vor seines Fittichs Rauschen
Dort der Rabenschwcmn entflieht. Aber dann wie ferner Donner
Rollt es durch den Berg herauf,
Und der Kaiser greift zum Schwerte,
Und die Ritter wachen auf. Laut in seinen Angeln dröhnend
Thut sich auf das eh'rne Thor;
Barbarossa mit den Seinen
Steigt im Waffenschmuck empor. Und den Sieg in seiner Hand;
Schwerter blitzen, Harfen klingen,
Wo er schreitet durch das Land.Ans dem Helm trügt er die Krone Und dem alten Kaiser beugen
Sich die Völker allzugleich
Und aufs neu zu Aachen gründet
Er das heil'ge deutsche Reich.
Alles, was ich bis hierher über Geibel gesagt habe, giebt aber nur all¬
gemeine Andeutungen über seinen Lebenslauf und über den Umfang seiner poe¬
tischen Anlagen. Wie war er sonst geartet? Ich habe das Glück gehabt, ihn
noch persönlich kennen zu lernen; etwa vor einem Jahrzehnt brachten meine
Frau und ich einen schönen Sommerabend mit ihm in dem ländlichen Schwartau
zu, auf der Rückreise von Ranzen, von wo uns der jetzt ja leider auch schon
dem Leben entrückte, mit Geibel von Athen her herzlich befreundete Graf Wolf
Baudissin Grüße für ihn aufgetragen hatte. Vor sechs Uhr nachmittags war Geibel
damals nicht schmerzenfrei und daher auch nicht zugänglich. Da aber trat er
uns mit solcher Frische und Lebendigkeit entgegen, daß wir den Eindruck hatten,
er sei noch in seinen besten Jahren. Während des stundenlangen Umherstreichens
mit ihm in dem schönen Buchenwalde der Nachbarschaft bestätigte sich dann auch,
was er in einer seiner Episteln sagt: „Leicht fließt mir das Wort in lebendiger
Rede, wenn die Sache mich reizt." Geibel war mittelgroß, hatte dunkles Haar
und blitzend schwarze Augen, vielleicht ein Vermächtnis von jenseits der Vogesen,
denn mütterlicherseits floß in seinen Adern ja ein Tropfen Emigrantenbluts.
Er hat uns nach dem Abendbrote dann noch den hohen Genuß bereitet, ihn
eine seiner Balladen vorlesen zu hören, mit klangvollen Organ und schöner
Klarheit, und wir sind spät abends mit der Zuversicht geschieden, daß wir uns
nicht zum letztenmal die Hände schüttelten — eine Zuversicht, die sich nun doch
als trügerisch erwiesen hat.
Im Gegensatz zu Leimn, Hölderlin, Möricke, Rückert und so vielen Dich¬
tern, die sich abseits zu halten liebten, hat Geibel frühzeitig sich und seine
Muse gewöhnt, auch in enger Berührung mit der Welt sich nicht zum Feiern
verurteilen zu lassen, und die Leichtigkeit, mit der er improvisirte, legt Zeugnis
ab für die durch aufmerkende Hörerkreise gesteigerte poetische Erregbarkeit seines
Naturells. Vor ewigen Tagen ist eine Improvisation dieser Art in einer
Wochenschrift mitgeteilt worden. Sie wurde, als sie entstand, sofort nach der
Melodie „Freude, schöner Götterfunken" gesungen und lautet wie folgt:
Trinklied. Thee beherrschet die Bezirke,
Wo die lange Mauer steht;
Heißen Kaffee trinkt der Türke,
Und der Perser schlürft Sorbet. Bei des Kumis Hellem Gusse
Wird der Sohn der Steppe froh,
Qnas und Fusel trinkt der Russe,
Walfischthran der Eskimo. Schwärmt der Franzmann beim Champagner,
Glotzt der Brite stumm ins Ale,
Heißen Leres trinkt der Spanier,
Hier mußte Geibel einen Augenblick nach dem Nein auf Ale suche«, dann aber
fuhr er fort:
Kaltes Wasser — das Kameel. Aber wir bekränzten Hauptes
Trinken unsers Stromes Wein;
Soll die Welt sich drehn, o glaubt es,
Muß die Welt auch trunken sein.
Nicht aber diese gesellige Gabe allein, weit eher noch sein offnes, zutrauen¬
erweckendes Wesen bahnte ihm, schon ehe er berühmt und deshalb gesucht war,
allerorten die Pfade. Im Laufe der Zeit kamen dann seine Wanderlust und
die völlige Unabhängigkeit, die er sich erhalten hatte, den nach seinem Umgang
verlangenden Gastfreunden auf halbem Wege entgegen. Ernst von Houwald
auf Schloß Neuhaus, Freiherr von der Malsburg auf Schloß Escheberg in Hessen,
Fürst Carolath, Graf Haugwitz und viele andre musenfrcundliche Männer hielten
den geistvollen, weitgewanderten, mitteilsamen Kunstjünger oft viele Monate lang
in ihrem Kreise fest, erfreut, daß ihm nirgend die Muse ihr Geleit versagte.
Und wie wohlthuend war für ihn selbst das Aufatmen unter Menschen, die
nicht fragten, ob er sich denn nicht etwa doch nach einem Amte umsehen solle!
Denn bis zum Irrewerden an sich selbst war er durch diese Fragen gebracht
worden:
Bestürmt von Zweifeln rang ich damals, o wie oft,
Umsonst nach Klarheit in mir selbst, verfehlt erschien
Mir all mein Streben, Täuschung selbst der Muse Ruf,
Der immer wieder lockend an mein Herz erging
Und wenn ich dann, von hast'ger Arbeit tief erschöpft,
Hier Stille suchte. fand ich heiße Thränen mir,
Wie sie auf oder Klippe weint, wer scheiterte.
Doch Rettung sandte mir ein Gott; du riefest mich,
Mein edler Malsburg — Segen deiner Gruft dafür! —
Gastfreundlich in dein wcildumrcmschteS Escheberg,
Und dort auf sonn'gen Höhn mich lüftend, losgelöst
Vom kleinen Druck des Lebens, lernt' ich zuliebe'ger bald
Die Flügel rühren und der eignen Kraft vertraun.
In diesem Gedicht wie in gar vielen andern kommen Trübungen zu Worte,
die wir, um sein Bild in richtiger Beleuchtung zu halten, nicht leicht nehmen
dürfen; war der Dichter in manchem Sinne ein Glückskind, gab ihm ein Gott,
daß er immer wieder der Furien, die anch ihm nachstellten, Herr zu werden
vermochte — dafür, daß sein Inneres nicht sobald zur Ruhe kommen sollte, war
dnrch höhere Mächte gesorgt; ist doch ein Gemüt, dessen Saiten bei jedem Anlaß
zittern und klingen, gerade wegen dieser hochgradigen Reizbarkeit, gegenüber dem
Wechsel von Sturm und Sonnenschein, aus dem nnn einmal das Leben besteht,
halb wehrlos. Von solchen Gegensätzen erfüllt, von solchen Widersprüchen hin-
nnd hergerissen, ist denn auch das Bild, das er vo» sich selbst entwirft:
Leichtsinnig, redlich, Mann und Kind zugleich,
Voll Übermut und Demut, starr und weich,
Von Sinnen wild und stets damit im Streit,
Verfolgt von Lieb und doch in Liebesleid,Ein Wandervogel voll Begehr nach Ruh,
Ein Weltkind, das sich sehnt dem Himmel zu —
O Bild des Widerspruchs, wann kommt der Tag,
Der allen deinen Zwiespalt sühnen mag!
Wann kam für ihn der Tag? Bis zu seinem sechsunddreißigsten Jahre,
bis zu jener Berufung nach München, war er unverheiratet geblieben, hatte
er „verfolgt von Lieb' und doch in Liebesleid" ein unstetes Leben geführt. Als
ihm endlich war, als keime in seinem Herzen ein Gefühl, das er nicht nieder¬
kämpfen dürfe — eben zu Ananda Trümmer, der Ada seiner Lieder —, da
sehlte ihm der Mut, ein so junges Dasein noch an das seine zu binden.
Noch webt der Kindheit Dttmmrung ihr ums Haupt
Und läßt sie träumen kaum vo» kiinft'ger Blüte:
Dein Wahn nur ist's, der mehr zu spüren glaubt;
Drum still, mein Herz, und dein Geheimnis hüte.Doch einst, ach, wird sie einst die Deine sein?
Wirst du noch, alternd, ihrer Jugend rangen?
Mein glttnbig Herz spricht: Ja! — Mein Kopf spricht: Nein,
Und heiß vom Herzen schießt mir's in die Augen.
So Schwank' ich Stund' um Stunde. Nacht wird Tag,
Und Tag wird Nacht im lange», bangen Warten.
Wann kommst du, Mai? Wann blüht die Ros' im Garten?
Daß ich mein Schicksal wissen mag!
Nun, der Mai kam, die Rose blühte und bald konnte er singen:
Weil mein Mund den klugen Leuten
Oft mir halbe Antwort stammelt,
Heißen sie mich den Zerstreuter,
Doch ich bin in dir gesammelt.Und so leb' ich Stund' um Stunde
Einsam mitten im Getriebe,
Still dnrchsonnt im Herzensgrunde
Vom Bewußtsein deiner Liebe.
Aber die Ruhe sollte, wie wir schon wissen, eine kurze sein. Hier nur
noch zur Charakterisierung des liebenden Wesens, das er so bald unter den Nasen
betten mußte, die rührenden Worte, die sie von ihrem letzten Krankenlager an
ihre Geschwister schrieb: „Ich weiß nicht, warum ihr mich alle so beklagt!
Wenn ich nicht auch etwas zu tragen hätte, so wcirs ja des Glückes zuviel, und
du kennst wohl Fouques Vers:
Wenn miles eben käme,
Wie du gewollte hast,
Wenn Gott dir gar nichts nähme
Und gäbe keine Last,
Wie wär's denn um dein Sterben,
O Menschenherz, bestellt?
Du müßtest schier verderben,
So lieb wär' dir die Welt!"
In strenger Arbeit hat der tief danieder gebeugte den schweren Schicksals¬
schlag zu überwinden gewußt, und der Glaube an eine höhere Macht, die das
Menschcnloos bestimme, ist ihm dabei Trost und Kräftigung gewesen. Von
dieser Seite seines Wesens gewinnt man erst jetzt eine klarere Anschauung,
nachdem Geibel vielen lauge für einen Orthodoxen gegolten hat. Das Gegenteil
ist der Fall. So heißt es in den Sprüchen:
Erspart doch mir und euch die Qual
Und drängt mich nicht mit eurer Lehre!
Denken und Glauben liegt einmal
Nicht in des guten Willens Sphäre.
Und ferner:
Soll ewig denn als Pförtnerin
Am Kirchthvr die Dogmntik stehen?
Gönnt endlich jedem einzugehen,
Der sich bekannt zu eures Heilands Sinn.
In dem Gedichte „Während einer Krankheit" faßt er seine Sehnsucht dann in
die Bitte „an den Genius" zusammen, nicht abgerufen zu werden, ehe er, der
Dichter, sein Tagewerk vollendet habe.
Du Genus, der von co'gen Herd
Mein Wesen all gesetzt in Flammen,
O halte diesen Leib zusammen,
Bis ich ein Werk schuf deiner werth;
Dann mag in Erde, Luft und Wellen
Der Staub dem Staube sich gesellen,
Ein Tropfen, der zum Meere kehrt. Mir schläft im He
O bin ich einer d
Erbarme dich des
Gieb Leben, Lebe
Daß ich dort unte
Und Trostes voll
Um mein verstumrzen noch so viel;
er Erkorueu:
Ungebornen,
n bis ein's Ziel!
n Ruhe finde,
der Kranz sich winde
mend Saitenspiel.Du legtest tief in diese Brust
Die Sehnsucht, Gott und Welt zu schauen,
Dem Lied es selig zu vertrauen
Mit Wort und Klang, was mir bewußt;
O laß mich fahren nicht von hinnen,
Bis einmal ich mit reinen Sinnen
Gekostet der Erfüllung Lust.
Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Geibel hat sich ganz ausleben dürfen,
und das giebt seinem Bilde etwas so wohlthuend harmonisches. Vor uns steht er
mit dem sanften Lächeln redlich, mutig und heiter vollbrachten Tagewerks. Seine
Sendung war: in trüber Zeit uns durch Poesie zu erquicken, zu erheben, zu
festigen. Der Mißmut hatte sich in viele Herzen eingenistet. Er aber sang:
„Wer recht in Freuden wandern will, der geh' der Sonn' entgegen." Er sang
von dem Dichter: „Er trägt erblüht im reinen Herzen den Rosengarten jeder
Lust." Er sang: „Heiter senke, was vergangen, in den Abgrund jede Nacht."
Er sang: „Keine Ferne darf uns kränken, denn uns hält ein froh Gedenken."
Und wahrend sich Stimmen erhoben, welche die Gabe der Poesie für einen
Fluch erklärten, sang er:
Aus tiefster Seele Dank dem Herrn,
Der mir das Lied gegeben!
Kann's für die Welt nicht sein ein Stern,
Ein Stern ist's für mein Leben.
Aber er hat uns auch erhoben. Auf Fürst und Volk hat Einfluß geübt, daß
er Gesetzestreue predigte, daß er nach oben wie nach unten als das, was allein
uns Heil bringen könne, das Wort Vertrauen in die deutschen Lande hinaus¬
rief, daß er, wie kein andrer es gethan, für den von uns losgerissenen Bruder¬
stamm zwischen Nord- und Ostsee eintrat und damit der faulen Rast des guten
deutschen Schwertes ein Ende machen half. Er hat uns endlich gefestigt. Es
war das Wort Frömmigkeit in Mißkredit gekommen, nicht minder das Wort
Uuterthanentreue. Das eine hieß Frömmelei, das andre Unterthänigkeit. Geibel
hat seinen Teil daran, daß sich der berechtigte Stolz des deutschen Mannes
mit beiden Worten endlich auf guten Fuß gesetzt hat.
Und so will ich denn mit dem Liede schließen, in welchem er selbst seine
Sendung als vollendet bezeichnet hat:
Der als Morgenstern am Himmel
GlNnzle, bei des Tages Schluß
Ave dem andern Stcrugewimmel
Geht er auf als Hesperus.Früh und spät vom selben Golde
Gluht der Saum des Firmaments,
Und des Herbstes letzte Dolde
Gleicht der ersten Dold' im Lenz.Also gehn, wie sich dazwischen
Auch in buntem Unbestand
Der Entfaltung Stufen mischen,
End' und Anfang Hand in Hand.Und so kann ich, rauscht in leisen
Melodien mein Saitenspiel,
Ein Gefühl nicht von nur weisen,
Das mir sagt: dn bist am Ziel.Denn die letzten meiner Lieder,
Wenn ich recht zu hören weis?,
Klingen wie die ersten wieder,
Und vollendet ist der Kreis.
in folgenden ist keine Rücksicht ans die Zustände der großen Städte
genommen, welche hinsichtlich ihrer künstlerischen Bestrebungen sich
Ausnahmestellungen errungen haben. Das im ersten Kapitel be¬
rührte möchte auf deu ersten Blick allzu speziell fachmännisch er¬
scheinen. Allein wir kommen damit mitten in die Sache, zu
welcher, wie der Leser bald finden wird, der Gegenstand eng gehört.
Es war vor einigen Jahren, als bei Gelegenheit eines sogenannten
Organistentages über das Zwischenspiel folgende Resolution angenommen wurde:
„Der Zwischensatz im Chorcck mit Orgel sei empfohlen, wenn er harmonisch,
melodisch, rhythmisch, straff und choraliter (3 bis 4 Viertel) gebildet wird, wozu
ein ganzer Musiker gehört. Wer diesen Anforderungen nicht zu genügen imstande
ist, der spiele lieber ohne Zwischenspiele, statt zu stören."
„Der Zwischensatz im Choral mit Orgel sei empfohlen." Das genügt.
Denn der hinzugefügte Passus über die wünschenswerte Beschaffenheit des
Zwischenspieles enthält so selbstverständliches, daß angenommen werden darf, er
sei nur mit Rücksicht auf jene gegeben, welche, überzeugt von der unbedingten
Unentbehrlichkeit des Zwischenspiels, etwa die Ansicht hegen möchten, es sei
besser, etwas mittelmäßiges zu bieten als garnichts. Was den Ausdruck „ein
ganzer Musiker" betrifft, so leidet er, ähnlich dem vulgären Ausdruck „ein
ganzer Kerl," an großer Unklarheit. Die meisten Musiker glauben auch „ganze"
zu sein, besonders aber die, welche kaum aus dem ABC der Musik heraus¬
gekommen sind.
Die Empfehlung des vielgeschmähten Zwischenspiels durch die Majorität
einer Versammlung von voraussätzlich urtcilsberechtigten, urteilsfähigen und
vorurteilsfreien Männern war im Interesse der Sache dankbar zu begrüßen.
Allein indem sie sich so vorsichtig hält, sich auf jene eigentlich selbstverständliche
Handhabung des Zwischenspiels zu beschränken, welche grundsätzlichen Gegnern
und oberflächlich aburteilenden jede Handhabe zum Angriff möglichst entwinden
soll, läßt sie nach wie vor das Zwischenspiel als etwas lediglich fakultativ
wünschenswertes und geduldetes bestehen und spricht sich keineswegs sür eine
innere Notwendigkeit seines Daseins aus. Wir unsrerseits möchten dagegen
behaupten, das Zwischenspiel sei, wo es sich einmal als wünschens- und
empfehlenswert erweise, da in demselben Grade auch notwendig, denn — ab¬
gesehen von der künstlerischen, noch näher zu berührenden Seite der Sache — im
Gebiet der Kirche niuß alles für notwendig gelten, was sich einmal als
wünschenswert herausgestellt hat. Wenigstens geraten wir, sobald wir von
diesem anscheinend schroffen Grundsatze abweichen, auf die von vielen Seiten be¬
kanntlich schon längst beliebte Schlußfolgerung, daß alles kirchliche überhaupt
unnötig, d. h. entbehrlich sei. Durch den aus etwa zeitweilig bestehender Un-
ausführbarkeit des einen oder des andern entspringenden Mangel wird noch
nicht die Notwendigkeit aufgehoben. Wenn die Resolution betont, zur Aus¬
führung von Zwischenspielen der erforderlichen Beschaffenheit gehöre ein „ganzer
Musiker," so schwebte ihr wahrscheinlich der überaus zutreffende Gedanke vor,
daß jeder, der außer stände ist, ein Zwischenspiel von entsprechender Natur zu
bilden, Anspruch auf den Namen eines guten kirchlichen Organisten nicht erheben
dürfe — freilich angesichts der wirklichen Sachlage ein drakonisches Urteil!
Es mag an einem Vorurteil mit liegen — und die Erfahrung hat uns
in einzelnen Fällen über ein erfreuliches Gegenteil belehrt —, aber niemals
konnten wir uns den Auslassungen eines „Antizwischenspielers" gegenüber, auch
wenn wir ihn, wenigstens seiner amtlichen Stellung nach, als „Mann von Fach"
gelten lassen mußten, des heimlichen Verdachtes erwehren: er fühlt sich eben auf
diesem Gebiete nicht heimisch und sicher. Uns vermag durchaus nichts von dem,
Mas bisher gegen die Zulässigkeit oder für die Unzulässigkeit des Zwischenspiels
vorgebracht worden ist, von unsrer Vorliebe fiir dasselbe abzubringen. Sollte
diese Vorliebe wirklich rein subjektiver Natur sein? Ist die Berechtigung des
Zwischenspiels nicht vielmehr für eine innerlichere und tiefere zu halten, als für
eine solche, welche etwa aus Gründen äußerer Zweckmäßigkeit hergeleitet und
dann nicht selten mit Glück bestritten wird? Die Frage hängt mit der Erwägung
gar manchen Unistandes zusammen, welcher ihr scheinbar fernliegt. Ihre Be¬
antwortung führt uns auf das weitere Gebiet des heutigen Protestantischen
Choralgesanges überhaupt. Es sei uns daher erlaubt, im folgenden darauf
mit einzugehen, nachdem wir kurz unsre Ansicht über die Stellung der Orgel
im Gottesdienst vorläufig dargelegt haben.
Zunächst bleibt natürlich die oben geforderte musikalische und technische
Korrektheit die unerläßliche Anforderung an das Zwischenspiel im allgemeinen.
Gesetzt jedoch, das Zwischenspiel erwiese sich in der That als durchaus entbehrlich,
z. B. für eine taktisch straffe Führung des Gesanges, für Erneuerung des Be¬
wußtseins von der Tonlage, für Milderung und Ausgleich der Schroffheit beim
Absatz u. dergl. mehr, so müßten wir trotzdem von unserm Standpunkte aus
auch dann noch für seine Beibehaltung und nur immer liebevollere Kultivirung
plaidiren. da uns für diese zunächst eine höhere Anschauungsweise von der
kirchlichen Aufgabe der Orgel überhaupt einnimmt. Denn die Orgel ist uns
nicht eine untergeordnete Dienerin — etwas höher etwa rcmgirend als die
Glocken —, sondern ein gewichtiger Hauptfaktor, eine Beeinflusserin und Mit¬
beherrscherin des Gottesdienstes, an dessen äußerer und innerer Gestaltung sie
hervorragenden Anteil zu nehmen vermag, und das sowohl ihrem Wesen als
ihrer Bestimmung nach. Zur Erfüllung aller nötigen Anforderungen müssen
bei dem wahren Organisten — auch für das Zwischenspiel —, ganz abgesehen
von kirchlichem Sinne und der Tugend ernster Hingabe, musikalische Invention
und poetischer Sinn in erster Linie vorhanden sein. Das soll auch ohne Zweifel
in der Bezeichnung „ganzer Musiker" begriffen sein, einer Bezeichnung, welche
ein Minus von Qualifikation überhaupt gänzlich auszuschließen scheint.
Drei Künste — wenn wir zunächst von den bildenden absehen — sind
es, denen beim Gottesdienste der protestantischen wie der katholischen Kirche die
Aufgabe zufällt, auf die Gemüter der Gläubigen zu wirken: die Beredsamkeit
(die wir in der That, soweit es sich nicht um das Element rein dogmatischer
Belehrung handelt, in dein hier fraglichen Sinne zu den Künsten zählen), die
Poesie und die Musik. Die beiden letztern Pflegen im engsten Vereine einander
gegenseitig tragend, hebend und ergänzend aufzutreten, und der Dienst, den sie
leisten, besteht in ihrem Zusammenwirken, in ihrer Gesamtwirkung. Demgemäß
besteht jeder vollständige Gottesdienst in einem rednerischen und einem musi¬
kalischen Teile. Der Unterschied der Konfessionen aber, und namentlich ihre An¬
schauungsweise von der Teilnehmerschaft der Gemeinde am Gottesdienst, haben
von jeher eine wesentlich verschiedne Praxis erzeugt.
Einmal überwiegt in der katholischen Kirche der musikalische Teil wie seiner
Unterlage nach an dogmatisch inhaltlichen Gewicht (Hochamt), so naturgemäß
an zeitlicher Ausdehnung und qualitativer Ausstattung den rednerischen um
ein beträchtliches. Die erhabenste der Künste gelangt hier zu einem Rechte, das
vom puritanischen Standpunkte aus bestritten werden mag, dessen Ausübung
aber zu jeder Zeit mit einer notorischen Anziehungskraft auf die Menge der
Gemütvollen verbunden war, einem Rechte, das sich nach der Darstellung des
Evangeliums aus dem Verfahren der himmlischen Boten während der heiligen
Nacht selbst herleiten läßt, welche ihr Gloria der Welt ja nicht einfach zu¬
gerufen, sondern zugesungen haben sollen. Warum — so folgert die katholische
Kirche — soll diese Kunst, welche zur Erhebung der Gemüter, zur Wirkung
auf die Herzen das gewaltigste Moment liefert, auch nur einen Schritt zurück¬
treten ?
Die protestantische Kirche geht viel negativer zu Werke. Sie sagt: nicht
in dem überwältigenden Gcfühlstcmmcl künstlerischen Genusses (denn ähnlich
Pflegt sie zu deduziren, wenn von den kirchlich-künstlerischen Intentionen des
Katholizismus die Rede ist), soll die Gottesverehrung bestehen; vielmehr muß
vor allen Dingen der Verstand zu seinem Rechte kommen, dessen sich der Gläubige
begiebt, wenn er sich von dem Zauber des der Phantasie entsprungenen in
Fesseln schlagen läßt. Dies ist nun gewiß insofern richtig, als der Mensch ohne
Führung seiner Verstandeskräfte an ein ernstes Ding überhaupt weder gehen
soll noch mit Erfolg gehen kann. Allein man hat nach und nach ganz über¬
sehen gelernt, daß da, wo es sich auch nur um eine annähernde Erhebung des
Herzens zum göttlichen Wesen handelt, die bloße Vcrstandesthätigkeit ein mehr
als unzureichendes Mittel zum Zwecke ist, daß man zu einem Wesen, das gänzlich
außerhalb der Verstandesfassung liegt, wohl vermittelst des Verstandes zu
sprechen vermag, niemals aber ohne Hilfe der Phantasie — welche in diesem
Falle von der Kunst getragen wird — sich soweit emporzuschwingen, daß man
zum durchdringenden Gefühl seiner Allgegenwart und, was daraus folgt, eigner
Abhängigkeit ihm gegenüber, zu einer gewissen Anschauung seiner heiligen Natur
gelangt.
Das Evangelium hat uns keinerlei Vorschriften betreffs irgend eines gottes¬
dienstlichen Modus hinterlassen. Denn für den vollendeten Christen würde es
eines formalen Gottesdienstes nicht bedürfen. Und weiter dürfte das Evangelium
voraussetzen, daß wahrer Glaube und ein nach dem Göttlichen verlangendes
Gemüt hier auf das beziehungsweise Richtige und Entsprechende wohl von selbst
führn? müsse. Gewiß. Aber das Gefühl will genährt und auf seiner Höhe er¬
halten werden. Geschieht dies nun innerhalb des protestantischen Kultus in
wünschenswerten Umfange? Da für uns nur das Musikalische in Frage kommt:
wo treffen wir denn die beste Kirchenmusik? Man sollte doch meinen, in der^
Kirche? Durchaus uicht. Im Konzertsaal (zu welchem hin und wieder die Kirche '
allerdings auch selbst dienen muß). Die kirchliche Musik hat. um sich nicht auf¬
geben zu müssen, ihre eigne Bahn, abgesondert vom Kultus, eingeschlagen und
befindet sich dabei wohl, dient aber freilich nun weniger mehr der eigentlich
kirchlichen, als der spezifisch musikalischen Erbauung. Weitaus der größte Teil
der protestantischen Kirchenkomponisten schreibt seine Sachen garnicht mehr für
den Gottesdienst, und tritt einmal das Bedürfnis an einen der begabtern
Geister, ein Werk zu liefern für praktisch ritnale Zwecke, dann schreibt er —
eine Messe ein Requiem, eine Vesper oder dergl,, geeignet für den protestantischen
Konzert-, für den katholischen Kirchengebrauch. Wir wissen ja, daß die katholische
Kirche in dieser Hinsicht protestantischen Komponisten auch in der neuesten Zeit
sehr bedeutendes verdankt, obwohl wir nicht verbürgen können, daß sie solche
Frucht von häretischer Abkunft dankend acceptirt.
Allein zurückgeblieben ist die Musik in der Kirche der Protestanten den¬
noch — einem Teile nach; nämlich, abgesehen von den in ihrer Bedeutungs¬
losigkeit bisher unübertrefflichen liturgischen Anläufen, deren Ausführung wenige
Minuten beansprucht, in dem Choralgesang und dem Orgelspiel und in der
gemeinsamen Wirksamkeit beider.
Die protestantische Kirche verachtet die Mitwirkung der Tonkunst bei der
Verehrung Gottes uicht. Aber sie weist ihr mit einer vornehmen Rigoristik
zunächst quantitativ allerhöchstes eine Art von Gleichberechtigung mit dem
rednerischen Elemente zu, ja sagen wir es gerade heraus — was die Ordner
des ritualen Wesens natürlich nicht sagen, was aber thatsächlich umsomehr in
die Angen (oder ins Gehör) springt — sie duldet die Musik nur in cmbetracht
ihrer praktischen Verwendbarkeit zur Ausfüllung der Zeit, während welcher nicht
gesprochen werden kann, sowie zur Einkleidung der Liturgie, von welcher nun
einmal die unabweisbare Überlieferung bezeugt, daß sie bereits in der urchrist-
licher Zeit bestand und musikalisch vollzogen wurde. Das klingt hart, es
verhält sich aber in Wahrheit nicht anders.
Indem die Kirche die Präponderanz des gesprochenen Wortes in seiner
angeblich überlegnen Bedeutung für religiöse Erbauung — für Belehrung ist
sie ja selbstverständlich — statuirt, liegt ihr vollends eine Begünstigung des
musikalischen Teiles des Gottesdienstes erheblich ferner als ihrer Schwesterkirche.
Welchem Elemente innerhalb des protestantischen Kultus, dem rednerischen oder
dem musikalischen, der Preis durchschnittlicher qualitativer Überlegenheit müsse
zugesprochen werden, das bleibt dabei noch immer eine für uns offene Frage.
Bei der Erheblichkeit lokaler, individueller und andrer maßgeblichen Umstünde
dürfte sich die Richtigkeit einer etwaigen Durchschnittsbestimmung auch schwer
verbürgen lassen.
Wie die Sache zur Zeit steht, so wagen wir zu behaupten, daß die
protestantische Kirche einem Elemente, dessen Erhabenheit schier in den untersten
Formen noch den göttlichen Funken hervorleuchten läßt, und das seine mächtig
bewegende und erregende Kraft für das Menschenherz in Freude wie in Leid
bewahrt, für Zwecke des vulgären Gottesdienstes eine keineswegs entsprechende
und ihr selbst zum Frommen gereichende Beachtung zuwendet. Wo es ja einmal
in bemerkenswertcrm Umfange geschieht, darf es örtlich sowohl wie zeitlich als
Ausnahmefall gelten; es geschieht dann in einer willkürlich und gelegentlich
gehandhabten Weise, nicht in einer festen, von der Kirche gebilligten Norm und
Form. Dann musizirt auch nicht die Kirche, sondern sie läßt sich vielmehr vor-
musiziren; sie gestattet innerhalb ihres Gebietes der Musik, sich eine Freiheit
zu nehmen, weil sie sichs nicht verhehlen kann: in diesem Falle liegt die
Wirksamkeit ihrer außerordentlichen Unterstützung zu nahe, als daß man sie
zurückweisen dürfte. Und darum nimmt die Kirche gerade für ihre wichtigsten
und feierlichsten Handlungen Zuflucht zu solchen Ausnahmen, die dann freilich
zumeist auch die unvermeidlichen und unzuträglichen Folgen von Ausnahmefällen
mit sich bringen und eben als Ausnahmen niemals in Fleisch und Blut weder
der Gottesdienste noch der Gemeinde übergehen können.
So bildet denn für die protestantische Gemeinde auch höchstens in Aus¬
nahmefällen das musikalische Element an sich in seinen Äußerungen ein anregendes
Motiv zum Kirchenbesuch (wir können nicht einmal sagen zum Besuch des
Gottesdienstes). Man begiebt sich bekanntlich zur Kirche entweder aus innerm
Drange, oder aus alter Gewohnheit, oder aus Langerweile, oder aus Neu¬
gierde, oder aus Eitelkeit, oder aus bürgerlichem Anstandsgefühl, oder in
offizieller Veranlassung, oder um einen guten Prediger zu hören, oder aus
wer weiß was für äußerlichen Gründen. In diesem Sinne macht man dann
seinen Entschluß allenfalls auch noch von der Beantwortung der Frage ab¬
hängig: Werden wir heute „Kirchenmusik" haben? Choral- und Orgelmusik
gelten garnicht mehr als solche. Denn wer vernahm je die Frage: Was singen
wir heute? Oder wie selten wird man zu hören bekommen: Die Predigt ist zwar
schlecht, ich gehe aber des Gesanges halber in die Kirche. Und doch besteht
aus Gesang und Orgelspiel ein Hauptteil des Gottesdienstes. Kurz, wir finden
die Zustände im allgemeinen so, daß da, wo die Beschaffenheit der Predigt
nicht in Betracht kommen kann, die übrigen künstlerischen Faktoren des Kultus
einen Ausschlag für die Frequenz des Kirchenbesuches nicht geben. Schlimm,
wo das rednerische Element bis zum Verlust seiner Anziehungskraft herab¬
gekommen ist; aber davon zu reden, steht uns hier nicht zu. Noch schlimmer
jedoch von unserm Standpunkte aus, wo der gleiche Fall bezüglich des musikalisch
kirchlichen Elements stattfindet; ja noch weit bezeichnender für letzteres, da seine
Wirksamkeit als eine höchst unmittelbare unter den meisten Umständen mit
günstiger Aussicht auf Anerkennung und Erfolg bethätigt werden kann. Das
musikalische Element hat im voraus die Chance größter Popularität für sich,
und während ihm diese Chance auf weltlichem Gebiete, ja auch auf dem
kirchlich kouzertirenden sich in immer weiteren Umfange verwirklicht, hat das Ver¬
halten der kirchlichen Gemeinde der recht eigentlich volksgemäßen, obligaten
Kirchenmusik, d. i. dem Choralgesang mit Orgel — nicht der „Kirchenmusik"
xg.r oxosllsnos — gegenüber, also einem integrirenden Bestandteil des mindestens
allwöchentlich einmal gepflogenen Gottesdienstes gegenüber eine Gleichgültigkeit
angenommen, die uns freilich als gewohnheitsmäßig überkommen kaum mehr
aufzufallen vermag, deren thatsächliches Vorhandensein aber nicht allein den
musikalisch, sondern in gleichem Grade auch den wahrhaft kirchlich wohlgesinnten
betrüben muß, und deren Grund dennoch nicht in einer etwa erfolgten Um¬
gestaltung der natürlichen Gefühlsanlagen liegen kann, sondern nur darin, daß
die Kirche dem ihr angehörenden Publikum musikalisch nicht soviel bietet, als
dasselbe Publikum an weltlich musikalischen Genußmaterial um geringen Aufwand
schon von jeder mittelmäßigen Stadtkapelle beansprucht und erlangt.
Ein zweiter Unterschied zwischen katholischer und protestantischer Praxis
ist der, welcher naturgemäß aus dem der Musik bei den Katholiken eingeräumten
Vorrang entspringt. Dort liegt nämlich die Ausführung des musikalischen Teiles
des Gottesdienstes neben dem Organisten (und Geistlichen) besonders ausübenden,
zumeist gleicherweise für den regelmäßigen Dienst wie für die besondre Ge¬
legenheit eingeschulten Musikern oder Sängern ob, welche denn auch meist etwas
wenigstens relativ fertiges und neues, die Erhebung der Gemeinde stets in
Schwung haltendes zu bieten vermögen; hier aber, auf protestantischer Seite,
ist die Gemeinde, deren Teilnahme am Gottesdienst, den Grundsätzen unsrer
Kirche gemäß, als eine aktive gefordert wird, wesentlich und direkt an der
Exekutirung der ritualen Kirchenmusik, d. i. des Chorgesanges, beteiligt. Schon
je nachdem sich deshalb die Gemeinde sich selbst gegenüber zur Ausführung dieser
ihrer Aufgabe mehr oder weniger tüchtig erweist, in desto höherm oder
geringerm Grade wird sie sich durch den Eindruck ihrer eignen Leistungen ge¬
hoben, von deren Qualität je nach Umständen angezogen oder gleichgiltig gelassen
fühlen. Aber sich selbst gegenüber wird man alsbald leicht das letztere. Die zur
Aufrechthaltung des Gesanges existirenden Schülerchöre haben nur da wirklicken
Wert, wo sie ihre Existenz sozusagen der Sache ausdrücklich mit widmen,
(Thomanerchor in Leipzig, Kreuzschülerchor in Dresden, Seminaristenchöre
u. dergl.); für gewöhnlich erheben sie sich nicht über das Niveau der Gemeinde.
Man sagt zwar, Verbesserungen seien „angebahnt"; wir wissen aber nicht, worin
die „Anbahnungen" bestehen. Es wird langsam genug gehen. Der Katholik
thut sehr viel für seine Kirche auch in äußerlichen Dingen, die protestantischer-
seits nur solange die Garantie des Bestandes haben, als sie bezahlt werden.
Übrigens hat sich auch in der katholischen Kirche Choralgesang teilweise ein¬
gebürgert; aber er bleibt von untergeordneter Bedeutung und ist stets entbehrlich.
Greift nun die Musik — und hier kommen wir nochmals auf die oben¬
berührten Ausncihmcsälle zu sprechen —, abgesehen von den Intonationen des
Geistlichen und den rcsponsorialen Sätzen, deren sich infolge des Jndifferentismus
der Gemeinden die Sängerchöre nachgerade als einer Art von Monopol zu
bemächtigen genötigt gewesen sind, selbständiger Platz als beim Choralgesang,
so geschieht das eben in der Gestalt sogenannter „Kirchenmusik," eines geistlichen
Konzerts während einer Pause im Gottesdienste, das unter Umständen sicher
nicht wenig zur Verherrlichung des letztern beiträgt, aber als gänzlich fakultativ
und außer organischem Zusammenhange mit dem Ritual, zur Integrität des
Gottesdienstes entbehrlich bleibt und daher auch unbestreitbar von einer Seite,
welche sich aus irgendwelchen Gründen mit ihm nicht einverstanden befände, nicht
mit Unrecht als ein fremdartiges Element bezeichnet werden könnte, dem man
höchstens die Rechte der Gastfreundschaft zuzugestehen sich herbeiläßt. Schon der
Name „Kirchenmusik" im Volke, unter welchem auch reinvokale Leistungen (Mo¬
tetten u, dergl.) begriffen werden, deutet auf die isolirte Existenz der Sache hin.
Wir könnten uns nun hier auf das Gebiet der hochamtartig zu erweiternden
Liturgie begeben, ein neues, reiches Feld für die protestantische Komposition.
Allein das liegt außer unsrer Betrachtung. Fest steht nach wie vor: die Aus¬
führung des wesentlich musikalischen Teiles in der protestantischen (evangelischen)
Kirche liegt auf feiten der mit der Orgel verbündeten Gemeinde.
(Schluß folgt.)
bwohl Gladstone im Parlament noch die letzten Tage ziemlich
sicher auftrat und der Opposition hinsichtlich der ägyptischen Gefahr
nichts einräumte, so scheint er sich doch nach dieser Seite hin in
starker Verlegenheit zu fühlen. Gewiß ist, daß er Sir Evelyn
Varing, den obersten Vertreter seiner Politik in Kairo, nach London
zitirt hat, um seinen Rat über die Zustände am Nil zu hören, und daß von
ihm bei den europäischen Mächten der Zusammentritt einer Konferenz angeregt
worden ist, die sich allerdings nur mit Regelung der finanziellen Frage be-W
schäftigen soll, aber wahrscheinlich auch andre Fragen erörtern und zur Ent¬
scheidung zu bringen bemüht sein wird. Jene schließt das nächste und dringendste
Bedürfnis ein. Die Finanzlage Ägyptens mußte, das sah man schon seit
geraumer Zeit, endlich einmal die zögernde Hand der britischen Regierung
zunächst nach einer Seite hin zu positivem Handeln nötigen, und dieser Zwang
wird vermutlich die Folge haben, daß man sich in Downingstreet entschließen
muß, das ägyptische Problem, welches man durch eine Politik voll Widersprüche,
halbe Maßregeln und Unklarheiten zu einer schweren Gefahr für das Interesse
und die Ehre Großbritanniens hat werden lassen, in seinem ganzen Umfange
ins Auge zu fassen. Jene Politik erinnerte in vielen ihrer Züge an den wackern
Micawber des Dickensschen Romans, der immer erwartete, „es werde sich schon
etwas zu seinen Gunsten ereignen," und sie würde vielleicht noch eine Weile in
solchem Stile weiter gehofft und weiter an dem Motto „Rettung und Rückzug"
festgehalten und sich damit in ärgere Not und Verlegenheit hineingeritten haben,
wenn der vörvus rsrum nicht zum Einlenken gemahnt hätte. Die sehr bedenkliche
Lage Gordons, die Niedermetzelung der Garnison von Schendy, die Bedrohung
Berbers durch die aufständischen Sudanesen würden bald eine militärische Hilfe¬
leistung unmöglich gemacht haben, aber Gladstone hätte davor wahrscheinlich
auch ferner die Augen geschlossen, wenn die finanzielle Krisis nicht endlich zu
starken Druck auf ihn geübt hätte. Die andern Mächte sahen ziemlich gleich¬
mütig zu, als das Ministerium Nubar-Lloyd nichts ordentliches zustande
brachte und jeden Tag auseinanderfallen wollte, und sie bewahrten dieselbe
Kühle dem entschieden mißlungnen Versuche Gordons gegenüber, den Mahdi
und seine Genossen durch einen Esel mit Goldsäcken zu besiegen. Wo aber ihre
Interessen unmittelbar berührt waren, wie bei der Verzögerung der Entschädigung
ihrer Angehörigen wegen der beim Bombardement Alexandriens erlittenen
Verluste, wurden sie natürlich zuletzt ungeduldig, und so haben sie vor kurzem
der englischen Verwaltung in Kairo zu verstehen gegeben, daß die Opfer der
Kanonen Admiral Sehmours auf ihr Geld warten. Um dies zahlen und andre
dringende Bedürfnisse bestreiten zu können, muß Ägypten eine Anleihe machen,
und dazu bedarf es des englischen Kredits, und um diesen gewähren zu können,
muß den Engländern gestattet sein, gewisse Bestimmungen des Liquidationsgesetzes
aufzuheben oder für eine gewisse Zeit zu suspendiren, wozu es, da dieses Gesetz
einen völkerrechtlichen Charakter trägt, der Einwilligung der Staaten bedarf,
die an seinem Zustandekommen beteiligt waren.
So weit sieht die Kette von Schlüssen, welche die englische Regierung
bewogen haben wird, an das Auskunftsmittel einer Konferenz zu denken, ganz
logisch aus; denn da die Frage des ägyptischen Defizits mit jeder Woche
dringender wird, reicht die Zeit zur Behandlung der Sache in Depeschen nicht
mehr ans. Rings um einen grünen Tisch in London oder sonstwo geschart,
können die Vertreter der Mächte die Finanzfrage ohne Zweifel rascher ent-
scheiden, als dies auf dem Wege schriftlicher Verständigung geschehen würde.
Aber zunächst fragt es sich vom englischen Standpunkte, ob sich das nicht noch
besser und schneller durch England allein hätte machen lassen. Dann aber
wird es Herrn Gladstone nicht leicht fallen, die Konferenz abzuhalten, über
die Schranken seines Programms Hinauszugeheu; denn die Finanzlage Ägyptens
wird sich schwer von dem ganzen Vorgehen Englands am Nil trennen lassen.
Solange aus letztern für die nichtenglischen Mächte keine Nachteile hervorgingen,
solange Gladstone der Staatskasse in Kairo mit britischen Kredit unter die
Arme griff, hatten jene keine Veranlassung, sich um die Entwicklung der
ägyptischen Krisis besondre Gedanken zu machen. Erheblich anders gestaltet
sich die Sache, wenn Gladstone ihnen zumuten sollte, für seine Politik in den
Landen am Nil und am Roten Meere Opfer zu bringen. Daraus würde sich
für sie nicht bloß das Recht, sondern auch ganz offenbar die Pflicht ergeben,
die ganze Politik Englands daraufhin zu prüfen, ob dieselbe an der gegen¬
wärtigen Finanznot der Regierung des Chedive schuld oder doch wesentlich mit
schuld ist, und ob sie bestimmt hoffen läßt, daß bald bessere Verhältnisse ein¬
treten werden. Einfache Zustimmung zu den etwaigen Vorschlägen Gladstones
ist wohl nur von wenigen Regierungen zu erwarten. Man wird jedenfalls nur
mit Vorbehalten zu solchen jasagen und vorher Aufschluß verlangen, wie die
britische Regierung den ägyptischen Wirren ein Ende zu machen vorhat.
Kurzum, mau wird sich in London, wenn man seine finanziellen Pläne gut¬
geheißen sehen will, herbeilassen müssen, die bisherige verdeckte Politik auf¬
zugeben, in allen Hauptsachen Farbe zu bekennen und dann abzuwarten, was
Europa dazu meint, und ob es Gladstone ein Mandat in der ganzen An¬
gelegenheit zu erteilen geneigt ist. Damit aber wäre das System der Nicht¬
einmischung der Mächte verlassen, und die Frage wegen der Neugestaltung
Ägyptens hörte auf, eine ausschließlich englische zu sein, sie nähme wieder einen
internationalen Charakter an.
Betrachten wir diesen Fall etwas näher. Wenn Gladstone die Vertreter
der Mächte mit Einschluß der Türkei als der in Ägypten suzeräncn Macht in
London oder in einem andern Orte versammelt, so wird sichs in erster Linie
um die Suspension des Gesetzes handeln, welches das Verhältnis des ägyptischen
Staates zu seinen Gläubigern behandelt; denn ohne diese ist die dringend not¬
wendige Anleihe des Chedive nicht zu erlangen. In bezug hierauf läßt sich
die Meinung der verschiedenen Mächte, so sehr ihre Interessen und Wttusche auch
sonst auseinandergehen mögen, leicht erraten. Die Pforte wird sicherlich die
Konferenz als Mittel willkommen heißen, Fragen aufs Tapet zu bringen, die
dem englischen Ministerium des Auswärtigen ungelegen sein werden, und Frank¬
reich wird, wenn die Erörterung über die Interessen französischer Privatpersonen,
wie vorauszusehen, hinausgeht, seine politischen Ziele zu fördern bemüht sein.
Kein Zweifel aber kann darüber obwalten, daß in der Frage, wem die Ver-
antwortlichkeit für die Ordnung der Finanzverhältnisfe im Nilthale und die
Sicherstellung der Ansprüche der Staatsgläubiger und der in Alexandrien zu
Schaden gekommenen Europäer aufzuhalsen sei, alle Mächte einstimmig sich dahin
aussprechen werden, daß dies England sei. In mehr oder minder zarter Form
werden sie Herrn Gladstone zu Gemüte führen, daß, wenn er die Suppe ein¬
gebrockt, er sie auch aufessen müsse. England habe Alexandrien in Brand ge¬
schossen und die dortigen Metzeleien unter den Kanonen seiner Panzerschiffe vor
sich gehen lassen, es sei also verpflichtet, die Entschädigung für die davon be¬
troffenen zu ermöglichen, zumal da es seit Tel El Kebir mit einem Heere auf
dem ägyptischen Staatsschatze laste und von demselben für Geld, das für ihn
mir zu drei Prozent Zinsen aufgenommen worden, fünf Prozent beziehe. Mit
andern auf der Hand liegenden Gründen werden die Vertreter der Mächte be¬
weisen, daß es Sache Englands sei, die Wunden zu heilen, die es selbst geschlagen
oder nicht abgewendet hat. Frankreich aber wird — wenn wir uns in seine
Gedanken versetzen dürfen, und wenn es sür geraten hält, auf der Konferenz
ganz offen zu reden — weitere Anliegen haben. Es wird in dem zuletzt an¬
genommenen Falle unter Hinweis auf die unentschlossene Haltung der Minister
der Königin Viktoria, auf den Mangel aller Klarheit und Fruchtbarkeit in deren
ägyptischer Politik, auf die Ziellosigkeit und Halbheit ihres Verhaltens gegen¬
über dein unglücklichen Schattenfürsten, dessen Regierung sie zertrümmert haben,
und ans den Wirrwarr und die Not, die von ihnen nicht bloß in Unterägypten,
sondern auch im blutüberströmten Sudan angerichtet worden sind, aus der Mitte
der andern Mächte heraustreten und sich erbieten, finanziell und politisch in
Ägypten Englands Stelle einzunehmen, um es besser zu machen. Ein solcher
Vorschlag würde jedenfalls einem großen Teile des französischen Volkes, das
mit der Erwerbung von Tunis und den Erfolgen in Tonking nur halb be¬
friedigt ist, sehr wohl gefallen. Er würde, wenn er durchginge, wie eine Rek¬
tifikation der in Paris vielbeklagten Unterlassungssünde, mit der man sich an
der Niederwerfung Arnbis zu beteiligen weigerte, und wie eine Wiederauferstehung
der Doppelkontrole aussehen und mit Jubel begrüßt werden.
Natürlich würde man sich, falls die Konferenz zustande käme, englischerseits
bemühen, das politische Element möglichst fernzuhalten, aber wahrscheinlich um¬
sonst; denn, wie gezeigt, ist die jetzige ägyptische Verlegenheit untrennbar mit
seiner zukünftigen Verwaltung verknüpft. In dem Augenblicke, wo man der
Sache ernsthaft nähertritt, erhebt sich die Frage: Wer soll Ägypten in Zukunft
regieren? Die Ägypter, seine Bewohner? Der Sultan, sein Suzerän? Die
beiden Aufsichtsmächte von ehedem, die nicht zusammenstimmten, als die Krisis
eintrat, oder eine von ihnen, und welche? Man braucht dabei nicht von Ein¬
verleibung oder Protektorat zu reden, wenn solche Ausdrücke jemand unangenehm
in die Ohren klingen. Der erste würde ohne Zweisel wie ein Zankapfel unter
Gladstones diplomatische Gäste fallen und die orientalische Frage wieder auf-
leben lassen. Der zweite ist ein harmloses Wort, aber England kann ohne
dasselbe auskommen, solange man begreift, daß Ägypten mit geschickter und ent¬
schlossener Hand wieder auf die Beine gebracht und eine unbestimmte Reihe von
Jahren hindurch von außen her regiert werden muß. Und hier stoßen wir auf
harten Boden. Die Ägypter können sich gegenwärtig schlechterdings nicht selbst
regieren, die Türken werden nicht die Erlaubnis erhalten, die Verwaltung zu
übernehmen; wenn England und Frankreich sich zusammen wieder der Aufgabe
unterziehen wollten, so käme es sicherlich wieder zu Intriguen und Hader zwischen
ihren Vertretern, die schließlich zu ernster Gefahr für den Weltfrieden werden
müßten, und was den Gedanken betrifft, Ägypten den Franzosen zu überlassen,
so lebte das britische Ministerium, das ihn laut werden ließe, keine acht Tage
länger.
Was bliebe also übrig? Der og-it^ 1s1sg'rg.r>Il antwortet darauf: „England
ist in Ägypten, und England muß die Pflicht auf sich nehmen, die ihm sicherlich
überlassen, wenn nicht geradezu aufgedrängt werden wird. Dazu muß es
kommen, wenn der Finanzplan unsers Kabinets aus den Schubladen in Dowuing-
street feierlich hervorgeholt worden ist. Ist die Erörterung einmal begonnen,
so wird sie sofort nach der Zentral- und Hauptfrage der administrativen Kon-
trole in allen Departements Ägyptens für die nächsten zehn oder zwölf
Jahre hingravitiren, und die Versammlung, die zusammentrat, um zu entscheiden,
wie die in Alexandrien durch England ruinirten Europäer zu ihrem Gelde
kommen sollen, wird Nil, Sudan, Chedive und dergleichen mehr Herrn Gladstone
in den Händen lassen, nicht damit ers annektire oder protegire, sondern damit
er zusehe, wie er es aus der greulichen Verwirrung herauslotse, in welche
seine mangelhafte Politik und sein stumpfer Blick das unglückliche, aber immer
noch rettbare Land gestürzt haben."
Ähnlich äußern sich andre große englische Blätter, wobei gelegentlich
Drohungen gegen Frankreich einfließen, die dann von der Pariser Presse mit
bitterm Spotte erwiedert werden. So sagt der sonst maßvolle NMoimI: „Wir
wissen in Frankreich, was solche Einschüchterungsversuche in Wahrheit bedeuten.
John Bulls Anfälle krampfhaften Ärgers rufen bei den Kabinetten, die ihn in
Irland, Indien, Südafrika und im Sudan am Werke gesehen haben, nur
Lächeln hervor. England würde nimmermehr zur Erhaltung seiner ausschlie߬
lichen Herrschaft über Ägypten einen Krieg wagen. Das betreffende Blatt
merkt nicht den schrecklichen Anachronismus, dessen es sich schuldig macht, wenn
es eine solche Palmerstonsche Miene annimmt, die keine Menschenseele täuscht
und nur das Kabinet lächerlich macht, dessen Chef vor einiger Zeit sin der
Alabamafrage^ demütig vor den Drohungen der Vereinigten Staaten das
Haupt beugte."
Dieselbe Sprache führen verschiedne andre Pariser Journale, wie denn
überhaupt die Animosität der französischen Presse gegen England sich an der
ägyptischen Frage in den letzten Wochen erheblich gesteigert hat. In Sachen
der Konferenz aber ist die öffentliche Meinung Frankreichs, soweit sie in Zeitungs¬
artikeln zutage tritt, verschiedner Ansicht. Dies gilt namentlich von den beiden
Hauptblättern, dem -lorirng,! ass Oödg-es und der KöxubliWö ?rg.nyg.iss. Jenes
ist gegen den Gedanken einer Konferenz, dieses erklärt sich sehr entschieden für
denselben.
Das erstere sagt ungefähr folgendes: Die Mächte, die zu der Konferenz
eingeladen werden sollen, werden die sein, die auf dem Berliner Kongreß ver¬
treten waren, aber wir vermögen keinen Zusammenhang zwischen den letztem
und jener zu entdecken. Über Ägypten wurde in Berlin offiziell garnicht ver¬
handelt, sondern nur privatim und nur zwischen den Vertretern Frankreichs
und Großbritanniens, Waddington und Beaconsfield. Waddington hätte im
Gefühl der Rechte Frankreichs und seiner darauf sich gründenden Stellung
sicherlich keinen dritten zugelassen. Er begriff bereits die Gefahr der Politik,
die Freycinet später empfahl, und zu der man jetzt zurückkehren zu wollen
scheint. Man entgegnet uns vielleicht, es werde sich nicht um Regelung der
politischen Stellung Ägyptens handeln, sondern nur um dessen Finanzlage.
Gut, aber dieselbe ist nicht nur von den sechs Großmächten, sondern von vierzehn
Mächten bestimmt worden, sie kann also auch nur von den letztern geändert
werden. Darunter sind mehrere von Großmächten abhängig, deren Stimmen
sie sich auf der Konferenz anschließen würden. Läßt man sie zu, so hat ihre
Stimme gleiches Gewicht wie die Stimme Englands und Frankreichs, und das
wäre eine Unbilligkeit; denn wir Franzosen sind Inhaber von mehr als der
Hälfte der ägytischen Schuld. Läßt man sie nicht zu, weil sie annehmen
würden, was die großen für gut befänden, so ist zu erwiedern. Warum sollte
nicht auch die Mehrheit der Großmächte annehmen, was England und Frankreich
beschlossen haben? Es ist dies ja früher in dieser Angelegenheit geschehen.
Begnügte sich aber die Konferenz mit einfacher Negistrirung dessen, worüber sich
die beiden Westmächte vorher verständigt hätten, so wäre sie zwar ungefährlich,
aber zwecklos. Wollte sie dagegen die Frage gründlich durchberaten, so müßte
der französischen Regierung die ollereinfachste Vorsicht abhanden gekommen sein,
wenn sie sich an der Sache beteiligen wollte. Wir hoffen daher zuversichtlich,
daß sie dies nicht thun wird. Sie hat sich mit der englischen vor allen Dingen
direkt ins Einvernehmen zu setzen, oder vielmehr diese muß sich mit ihr zu ver¬
ständigen suchen; denn an England ist es, Vorschläge zu macheu. Entschließt
es sich dazu, so werden wir diese Vorschläge prüfen, aber es liegt auf der
Hand, daß die französische Regierung ihre Angehörigen, welche ägyptische Schuld¬
titel besitzen, nur dann zur Annahme niedrigerer Zinsen nötigen kann, wenn
ihnen neue und dauerhafte Bürgschaften für die gute Verwaltung der ägyptischen
Finanzen französische Mitvcrwaltung wie früher ist offenbar gemein^ darge¬
boten werden.
Ganz anders verhält sich das Hauptblatt der Gambettisten zu der Sache.
Es erklärt sich ganz entschieden für eine internationale Konferenz, wobei es
beiläufig seinen verstorbenen Meister verleugnet, dessen Ansichten über die ägyp¬
tische Frage sich in die Worte zusammenfassen: Zusammengehen mit England
und Unabhängigkeit vom europäischen Konzert um jeden Preis. Statt dessen
spricht sich die Rchuvliaus Z?rg.n^iss jetzt mit Nachdruck dahin aus, daß Europa
das Recht und die Pflicht habe, über die Geschicke Ägyptens endgiltig zu be¬
schließen. „Wer kann uns, fragt das einflußreiche Blatt, 1884 noch von dem
englischen Bündnisse reden? Herr de Freycinet führte den ersten Schlag nach
ihm, als er sich weigerte, seinen Teil der Last auf sich zu nehmen, und Lord
Dufferin vollendete den Bruch, als er den Vertrag über die Doppelkontrole zer¬
riß. Die Mächte würden gewiß noch heute jede Verständigung, die zwischen
Frankreich und England zustande käme, annehmen, aber die Würde Frank¬
reichs würde denselben verbieten, bei derartigen Verhandlungen die Initiative
zu ergreifen. Wenn die englische Regierung Vorschläge macht, so werden wir
sie der Prüfung unterziehen. Wie aber, wenn sie einfach lächerlich sind? Wie,
wenn sie, statt uns einen Plau zur Wiederherstellung wenigstens eines Teiles
unsrer Rechte zu bringen, wiederum uns nur um Zugeständnisse in betreff
eines Teiles des Geldes unsrer Steuerzahler ersucht, die sie durch ihr Bom¬
bardement und zahllose Chikanen mehr als halb zu gründe gerichtet hat? Wir
haben jetzt sechzehn Monate gewartet. Dieser Zustand der Dinge kann nicht
ewig fortdauern. Als England sich in Ägypten festsetzte, brachte es die orien¬
talische Frage wieder aufs Tnpet. Jetzt ist es England, welches wieder eine
Sache zur Entwicklung bringt, die zwischen ihm und uns allein hätte verhandelt
werden sollen, und die nun für ganz Europa die höchste Wichtigkeit erlangen
wird." Die Hauptstelle des Artikels, der stark auf die Pariser Börse wirkte,
schließt mit den, wie uus scheint, doppelsinnigen Worten: „Hat England nichts
von der Annäherung zwischen Rußland und Deutschland gelernt?"
Fragt man, was wir von der Konferenzidee Gladstones halten, so können
wir nicht umhin, dem gambettistischen Blatte in wesentlichen Stücken beizupflichten.
Jedenfalls ist die Hindeutung des ^ourng,! ass V6og,t8 auf eine Wiederaufrichtung
des englisch-französischen Kondominats in Ägypten ein unglücklicher Gedanke.
Frankreich kann sich weder seine Verlornen Rechte von England für nichts
zurückjchenken lassen, noch durch Teilnahme an der Bekämpfung des Mahdi
zurückkaufe». Es kann sich vor einem englischen Protektorat am Nil nicht wohl
anders bewahren als dadurch, daß es an das europäische Konzert appellirt.
Anders wäre selbst die Verwandlung Ägyptens in eine englische Kolonie schwerlich
zu verhindern; denn es ist kaum anzunehmen, daß man daraus in Paris einen
oasus Kslli machen würde. Niemals wird selbst ein Gladstone die Hand dazu
bieten, wenn Frankreich die Wiederherstellung des französischen Rechtes auf
Mitregierung am Nil verlangt. England hat dieses Recht nie aufrichtig an-
erkannt und immer, vom ersten Augenblicke an, untergraben, und unter solchen
Umständen wird es wohl für das Kabinet Ferry das geratenste sein, die
ägyptische Frage vor das Forum Europas bringe» zu helfen, wo ihm allem
gerettet werden kann, was sich gegenwärtig überhaupt noch retten läßt.
M^>^
MVim war von hohem Wuchs, in ihrer Haltung ungezwungen, bei an-
geborner Reserve und elegant ohne jedes Studium. Die ganze
Gestalt war in der kunstvollsten Weise nach dem Typus der
griechischen Formen modellirt, jener Formen, welche in ihrem
ganzen Zusammenhange so harmonisch zu einander stimmen, daß
ein ungeübtes Auge den Inbegriff dieser Vollkommenheit garnicht spürt, weil
sich demi Blicke nichts hervorspringendes und überraschendes darbietet. Ein
Körper, biegsam wie eine Stahlklinge, mit schlankster Taille, von unvergleich¬
licher Schönheit in der Zeichnung der Schultern, der Wölbung des züchtig
verhüllten Busens. Ein Körper, wie man ihn nur bei den vollkommensten
Bildungen des italienischen Blutes findet, die sich von der trocknen britischen
Strenge und von der deutschen Gemessenheit ebensoweit entfernen wie von der
Dürftigkeit, wenn man so sagen darf, und von der Unstetigkeit französischer
Formen, und in denen sich in wunderbarster Harmonie Würde und Anmut,
Hoheit und Unbefangenheit zu einem bezaubernden Gesamtbilde vereinen.
Sie war bleich, hatte schwarze Augen, kohlschwarzes Haar, ihr Blick und der
Ausdruck ihrer nur schwachgefärbten Lippen war schwermütig. Aber die Augen
leuchteten wie zwei brennende Flammen unter der weißen Stirn, die ebenso
glatt war wie die eines unschuldigen Kindes, und die in ihrer Reinheit und
Schönheit eigens dazu geschaffen zu sein schien, einen Geist zu beherbergen, in
welchem nie und nimmer ein böser Gedanke auftauchen kann. Aber in dem
Ausdrucke ihrer Gesichtszüge, in der darüber ausgebreiteten Schwermut, in der
Wangenbläße erschien doch ab und zu, wie ein Sonnenstrahl, der die
Wolken zerreißt, eine gewisse Kindlichkeit, und zwar der schönste und göttlichste
Vorzug der Jngend, die Arglosigkeit, Unbefangenheit, hingebende Zutrau¬
lichkeit, welche das Böse nicht fürchtet und nicht argwöhnt, weil sie garnicht
fähig ist, es zu begreifen.
Daher kam es denn auch, daß alle Kinder sich zu ihr hingezogen fühlten,
weil sie selbst eine instinktmäßige, tiefe und innige Zuneigung zu diesen lieben
kleinen Geschöpfen empfand. Man mußte sie sehen, wenn sie ihren einzigen
Knaben auf dem Schoße hielt, sehen, wie sie Adelens Söhne um sich hatte,
mit ihnen scherzte und lachte und mit Herzensfreude an ihren Spielen teilnahm
und Freude und Leid mit ihnen teilte; es war ein anmutiges Schauspiel,
welches den Pinsel eines feinfühligen Künstlers hätte herausfordern können.
In solchen Momenten würde man kaum jene ernste und schwermütige Gestalt
wiedererkannt haben, welche des Abends, ganz in Schwarz gekleidet, auf
einsamem Pfade dcihinwandelte. den Kopf in tiefes Nachdenken versunken hängen
ließ und von der Last eines schweren Unglücks, welches sie mitten in den hei¬
tern Tagen ihrer Jugend getroffen, niedergebeugt schien. Aber zu allen Zeiten,
mochte sie heiter, mochte sie, wie das gewöhnlich der Fall war, ernst und
traurig erscheinen, erkannte man an ihr die vollkommenste Herzensgüte und
das angeborne vornehme Wesen, wodurch sie jedem die Hochachtung einflößte,
welche selbst die schlechtesten Menschen — wenigstens im geheimen — einer
so begnadeten Seele gegenüber empfinden müssen.
Was für ein Unterschied zwischen der würdevollen Zurückhaltung dieser
Frau und dem Stolze der Gräfin Beldoni! Dieser war geradezu verletzend
und erschien in den meisten Fällen als eine Zudringlichkeit, während man die
Zurückhaltung jener Frau als eine natürliche Offenbarung ihres moralischen
Übergewichts aufnahm und sich gern und willig zu der untergeordneten Stellung
bequemte, die man ihr gegenüber einnehmen mußte.
Nina war, als vertrauteste Freundin Adelens, auf der Rückseite des Hauses
durch ein Pförtchen eingetreten, welches auf den Fußsteig im freien Felde, ihren
Lieblingsspaziergang, führte; sie hatte von der Magd gehört, daß ihre Freundin
und der Doktor im Kiosk wären, und hatte sich in größter Eile, weil sie mit
dem Doktor zu sprechen hatte, hierher begeben, in der Voraussetzung, daß sie
hier den Doktor und seine Frau allein mit den Kindern, wie es ihre Ge¬
wohnheit war, antreffen würde. Adele hatte ihr allerdings mitgeteilt, daß sie
die Ankunft ihres Bruders erwartete, aber Nina war in diesem Augenblicke
von einer ihrer Haupttugenden, der Barmherzigkeit, beseelt, sodaß sie an nichts
andres dachte, sondern nach dem Kiosk eilte, wo wir sie haben eintreten sehen.
Alle hatten sich bei ihrem Erscheinen erhoben, und Cerci war ihr ein paar
Schritte entgegengegangen.
Ach, Doktor, sagte sie ohne weiteres, gerade Sie sind es, den ich nötig habe.
Da erblickte sie zwei ihr ganz fremde Personen, wurde etwas verlegen und
eine leichte Röte, als ob sie sich ihres lebhaften Eindringens schämte, überzog
ihr schönes Gesicht.
Mvschillo erhob sich aus seinem Winkel und ging langsam auf die Neu¬
angekommene zu, gleichsam um sie zu examiniren, und er schien mit diesem
Examen so zufrieden, daß er vergnüglich mit dem Schweife wedelte und die
Weiße Hand leckte, welche die Dame herabhängen ließ.
Sie haben mich nötig? sagte der Doktor mit lebhafter Teilnahme. Doch
nicht Ihretwegen? oder wegen Ihres Sohnes?
O nein! entgegnete sie schnell. Gott sei Dank! mein Guido ist ganz wohl,
Sie werden ihn sogleich hier sehen; ich habe ihn bei seiner Wärterin zurück¬
gelassen, um schneller laufen zu können. Sie sind in einer armen Hütte nach
dein Berge zu nötig, da liegt ein armes junges Weib im Sterben.
Das konnte ich mir denken! Sie haben irgend ein neues Elend hier in
der Gegend aufgestöbert, nur um Gelegenheit zu haben, ein gutes Werk zu
verrichten. Sie haben das Genie der Polizei, wenn es sich um Wohlthätigkeit
handelt.
Rina machte eine leichte Geberde des Mißvergnügens und gebot mit einem
Wink dem Doktor Schweigen, dann wandte sie sich ohne weiteres zu Pauls
Schwester, deren Hand sie noch immer in der ihrigen hielt.
Wir haben uns heute den ganzen Tag noch nicht gesehen. Ich habe nicht
zu dir kommen können, ich mußte das Gebot des Doktors befolgen, der mir
eine strenge Kur vorschreibt.
Wonach Sie recht gut thun, sich zu richten, fiel ihr der Doktor ins Wort.
Sie haben eine lauge, ausdauernde, sorgfältige Kur nötig, damit Sie sich von
den Erschütterungen und Schäden, die irgend ein großer Schmerz Ihrem Orga¬
nismus zugefügt hat, wieder erholen.
Ach, reden wir nicht davon! erwiederte sie lebhaft, und ihre Wangen schienen
noch bleicher zu werden, ihre schöngewölbten, seinen Augenbrauen zogen sich
schmerzlich zusammen. Alles deutete darauf, daß eine noch immer offene tiefe
und blutige Wunde in ihrer Seele brannte.
Adele zeigte, um die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand zu bringen,
auf Paul und sagte zu der Freundin: Hier stelle ich dir meinen Bruder vor.
Paul verbeugte sich, Nina begrüßte ihn mit unbefangener, heiterer Höf¬
lichkeit.
Meine gute Adele, sagte sie, hat Sie schon längst mit Sehnsucht erwartet.
Herr Josef Devcmnis! fuhr Adele fort und zeigte auf unsern langen Freund,
der seinen ungepflegten Bart zu einem zwar anmutloscn, aber ehrerbietigen
Gruße neigte. Ein Freund meines Bruders, er kommt auch aus Amerika.
Ah! rief Rina aus, um den Gruß in höflicher Weise zu erwiedern; aber
bei den letzten Worten Adelens zog eine leichte Verlegenheit über ihre Stirn,
und die Augenbrauen zogen sich wieder in derselben Weise zusammen wie
vorher.
Die drei Personen hatten sich und jener Offenheit, die vor einander nichts
zu verbergen und nichts zu fürchten hat, angeschaut, und ihre Augen, die sich
gegenseitig in die Augen des Gegenüberstehenden versenkten, fühlten sofort den
wechselseitigen Strom jener Sympathie, welche die menschlichen Seelen an¬
einander fesselt und die gleichgestimmten vereinigt, mögen sie in noch so
verschieden gestalteten und unähnlichen Körpern wohnen. Schon nach dem ersten
Gruße und dem ersten Blicke war an eine Verlegenheit oder auch nur Gleich-
giltigkeit nicht mehr zu denken. Es kam diesen offnen und empfäng¬
lichen Naturen so vor, als ob sich ihre Seelen schon seit langer Zeit gekannt
und sich schon früher in einer weit entfernten Vergangenheit — vielleicht in
einem frühern Leben — zusammengefunden hätten, sich jetzt durch ein glückliches
Spiel des Zufalls von neuem vereinigt fänden und sich ohne weiteres Bedenken
und Staunen einander wieder nähern konnten.
Begegnet es dir, lieber Leser, nicht manchmal, daß dein Geist, wenn er
auch mit dem vollkommensten Bewußtsein in Berührung mit der Gegenwart ge¬
blieben ist, doch in einen eigentümlichen traumähnlichen Zustand verfällt? daß
die Eindrücke, die du in diesem Zustande empfängst, mögen sie noch so neu und
nahe sein, eine gewisse Vermengung der Gegenwart mit der Vergangenheit an¬
nehmen? daß diese Eindrücke dir ganz bekannt und alt und nur gelegentlich
wieder erweckt und durch eine sonderbare Übereinstimmung der Verhältnisse wach¬
gerufen erscheinen? Ist es dir nie eingefallen, vielleicht bei den gleichgiltigsten
Vorkommnissen des Lebens, und zwar ohne alles Erstaunen, als wäre es etwas
ganz gewöhnliches, dir zu sagen: Aber das ist mir ja schon einmal begegnet,
aber das hat man mir ja alles schon einmal in ganz derselben Weise, bei ganz
derselben Gelegenheit zu mir gesagt? Hast du alsdann nicht gleichzeitig in
Gedanken gewissermaßen erraten, was nun erfolgen, was dir gesagt werden würde?
Wann ist dir das, was du jetzt kommen siehst, schon begegnet? Wo? Du weißt
es nicht! Ist es eine Täuschung? Ist es eine Erinnerung? Wer weiß es?
Es kommt dir vor, als ob in deiner Seele mit einemmal ein Spalt aus dem
Dunkel der Vergangenheit sich öffnete, und als ob du durch diesen Spalt in
verwirrten Umrissen etwas von deinem frühern Leben zu sehen bekämest. Aber
dann schließt sich dieser Spalt sofort wieder ganz und gar zu, der Eindruck
verschwindet im Nu, und dir bleibt weiter nichts als die Erinnerung, worüber
du nach einem Augenblick der Täuschung ungläubig lächelst.
Ein Gefühl dieser Art, wie wir es eben geschildert haben, war das, welches
Cerci und seine Frau, Rina, Paul und Josef beim Zusammentreffen miteinander
empfanden, sie fühlten sich der gegenseitigen Hochachtung wert, als ob sie bereits
früher Proben davon gehabt hätten, und da dies Gefühl zugleich vom auf¬
richtigsten Wohlwollen erfüllt war, so ließ ein jeder sich gern von diesem Zauber
bestricken.
Auch dem braven Neufundländer schien dieses Gefühl nicht fremd geblieben
zu sein, denn er ging mit solcher Zuthunlichkeit und Fröhlichkeit von Cerci zu
Rina, als ob er schon seit langer Zeit mit ihnen vertraut gewesen wäre.
Aber warum wollen wir denn stehen bleiben? sagte der Doktor. Setzen
wir uns.
Nein, antwortete Rina. Ich lasse Ihnen keine Ruhe. Denken Sie doch,
daß es ein armes Geschöpf ist, welchem Sie das Leben retten können.
Ach, richtig! rief Cerci und schlug sich, wie es seine Gewohnheit war, mit
der flachen Hand vor die Stirn. Aber Sie müssen mir jetzt sagen, wo die Un¬
glückliche ist.
Auf dem Wege nach dem Berge, rechts an der Straße das erste Häuschen
unter dem Häufchen von armen Hütten, welches man Colleretto nennt, da wohnt
die alte Magdalena.
Was? Die arme, alte Person, der vor drei Jahren die Tochter davonlief,
um sie allein in ihrem Elende zurückzulassen?
So ist es, und die Kranke ist eben diese Tochter, die reuig und gebrochen
mit einem armen, unschuldigen Knaben zurückgekehrt ist, um in der Hütte, wo
sie geboren ist, in den Armen und mit der Verzeihung ihrer Mutter zu sterben.
Ich sattle mein Rößlein selbst und fliege.
Und wißt ihr, was wir thun wollen? rief Adele. Sobald die Bonne
mit Guido ankommt, wollen wir alle ein Stückchen die Straße hinausgehen
und dir bei deiner Rückkunft entgegenkommen.
Wir auch? Wir auch? riefen die Kleinen und drängten sich um ihre
Mutter.
Ja, wenn ihr artig seid, ihr auch!
Und nun tanzten sie und riefen aus vollem Halse: El! Wir sind artig,
und da gehen wir auch mit!
Sogar Rina nahm an diesen kindlichen Ergüssen Anteil, sie klatschte in
die Hände und rief: Bravo, Adele. Das ist ein Vorschlag, der einen Kuß ver¬
dient. Und sie küßte sie mit der Unbefangenheit der vollendetsten Anmut.
Einen Augenblick! sagte der Doktor. Ich habe Ihnen allerdings gestattet,
geehrte Frau Rina, sich Bewegung zu machen und den Unglücklichen unsers
Thales Ihren Trost und Ihre Hilfe zu bringen. Ein wenig Bewegung thut
Ihnen gut, und mehr als alles nützt Ihnen das moralische Vergnügen eines
guten Werkes, denn bei Ihnen hat das Moralische das Übergewicht über das
Physische. Aber diese Bewegung wird Ihnen doch zu viel sein.
Spielen Sie nicht den Bösewicht, Doktor. Ich habe mich den ganzen
Tag über aus dem Kurhause noch nicht weiter gewagt als bis zur Hütte der
alten Magdalene. ehe ich hierher kam.
El! Ich sollte denken, das wäre genug, sagte der Doktor.
Ich versichere Ihnen, ich fühle mich heute so kräftig, daß ich viermal und
öfter den Weg machen könnte.
Nun gut! Diesmal sollen Sie Ihren Willen haben, sie kleine Rebellin,
sagte lächelnd der Doktor, streckte seine Hand nach seiner Frau und nach Rina
aus und entfernte sich eilends.
Fünf Minuten später hörte man den Galopp seines Pferdes auf der
Straße nach Collcretto. Während man auf die Bonne mit dem Knaben
wartete, erzählte Rina, in welchem Zustande sie die Tochter der armen Magda-
lene gefunden hatte.
Es ist der reine Zufall, der mich zu dieser Unglücklichen geführt hat. Die
Lage dieser Hütten am Fuße des Berges, am Rande dieses dichten Kastanien¬
waldes hat mich schon seit langer Zeit gereizt. Ich sehe die Umrisse des Dorfes
von meiner Wohnung am Kurhause und sage mir jeden Tag: Welcher Friede
muß dort wohnen! Ich muß doch einmal hingehen, mir einen Napf voll Milch
geben lassen und ein Stündchen ausruhen. Und heute habe ich diesen Borsatz
ausgeführt.
Ich hatte nicht darauf gerechnet, daß auch dort soeben als grausamer
Gast der Schmerz eingekehrt sein könnte. Es gab viel Frieden dort, aber auch
zugleich viel Elend. Ich trat in jene Hütte ein; die größte Dürftigkeit, noch
größerer Schmutz. Nicht die geringste Spur von Kultur war zu diesem
armen Volke gedrungen, das Notwendigste ist dort das Überflüssige. Die Männer
waren abwesend bei der Arbeit auf dem Berge, mit Ausnahme von einigen
Alten, die sich M der Sonne wärmten, die Weiber kauerten auf den Thür¬
schwellen mitten unter den Haufen belebter Lumpen, die ihre Kinder waren,
und ließen ihre mißtönenden Stimmen in ihrem Dialekte erschallen. Mein
Guido bekam Furcht, und die Bonne mußte ihn auf den Arm nehmen. Kein
Fußboden in den Stuben, statt dessen nur zerstampfter, unebener, höckeriger Boden,
dessen Schmutz einem überall an den Füßen kleben blieb. Alle sahen mich mit
weitaufgerissenem Munde an, und wenn sich in ihrem Erstaunen irgend ein
Ausdruck kundgab, so war es nur der des, Argwohns.
Ich ging mit gepreßtem Herzen hinweg, als ich auf einmal bei der Hütte,
welche etwas abseits von den übrigen nach dem Walde zu liegt, eine alte Frau
auf der Erde sitzen sah. Sie hielt den Kopf gesenkt, hatte die Arme auf die
Kniee gestützt und weinte bitterlich. Aus dem zerrissenen baumwollenen Tuche,
welches sie als Kopfbedeckung trug, hingen die wirren grauen Haare hervor;
und durch das schmerzensvolle Seufzen und Weinen geriet ihr ganzer Körper
in solche Zuckungen, daß es einen wahrhaft bemitleidenswerten Anblick gewährte.
Ich trat zu ihr, ohne daß sie auch nur im geringsten meine Anwesenheit
gemerkt hätte. Aus dem Innern der Hütte drang ein qualvolles Röcheln, als
ob jemand in Krcimpfen läge. Ich klopfte der armen Alten auf die Schulter
und sagte zu ihr: Was habt Ihr, gute Frau?
Sie richtete sich auf, strich die Haare zurück, welche ihr über die Stirn ge¬
fallen waren, sah mich mit ihren weinenden Augen beinahe erzürnt an und schüttete
dann ihren Schmerz mit einer Redseligkeit aus, die ich garnicht erwartet hätte.
Was ich habe? Meine Tochter, die im Sterben liegt, meine arme Tochter,
meine einzige Tochter! Das habe ich! Es waren drei Jahre, daß ich sie nicht
gesehen hatte, meine Gegia, Drei lange Jahre. O, zu lange für eine Mutter.
Sie hat mich schmachten lassen wie eine arme Seele in der Hölle, diese liebe
Kreatur! Ob sie mich hat schmachten lassen! Und doch ist es immer meine
Tochter, nicht? immer mein Fleisch und Blut, nicht wahr? Ich hatte sie ver¬
flucht. Ach, ich hatte übel daran gethan, denn das hat ihr Unglück gebracht.
Ich hatte sie verflucht, aber ich liebte sie noch wie früher, und ich dachte an
weiter nichts als an sie. Und um erscheint vor einigen Tagen hier gerade
auf derselben Stelle, wo Sie jetzt stehe», eine abgemagerte Person, blaß wie
eine Leiche, auf den Armen ein armes, unschuldiges kleines Wesen, das noch
abgemagerter und blässer aussieht. Guter Gott! Mir zitterten die Kniee
von dem bloßen Ansehen. Und ich sah sie an! sah sie alle beide an! Und ich
sagte mir im stillen: Was können denn die von dir wollen? Ein Almosen
von dir, die du die ärmste und hilfloseste Alte bist, die es ans der Welt giebt?
Ihr armen Seelen im Fegefeuer! Wer hätte sie in diesem Zustande und in
diesem Aufzuge wiedererkannt? Und doch fühlte ich eine große Verwirrung
und sagte mir: es ist unmöglich! es ist unmöglich! Und nun sprach sie. Mutter!
sagte sie mit jener Stimme, die ich so gut kannte, die mir im Herzen eingeprägt
war, die ich immer in meinem Innern hörte, mit jener Stimme, mit der sie
mich so freudig, wie schon früher, angeredet hatte. Sie war es, war es wirklich
selbst! Mir war, als ob sich mir etwas ins Herz ergösse, als ob es in Thränen
gebadet würde. Ich wollte etwas sagen, wollte etwas thun, ich konnte und
wußte nicht was, ich hatte den Kopf verloren. Ich that, was mir der Pfarrer
so manches mal gesagt hatte. Ich öffnete ihr meine Arme. Sie warf sich
schluchzend an meine Brust. Mutter, Mutter! sagte sie, ich bin gekommen, um
bei dir zu sterben. Sie hatte das Herz, mir diese garstigen Worte zu sagen,
die Undankbare! und heute hat sie das Herz, es zu thun. Und da drinnen
liegt sie und stirbt!
Laßt mich sie sehen, sagte ich zu der Alten. Sie erhob sich und ging mir
voran in die Hütte. Hier war noch größeres Elend, als ich es schon in den
andern Wohnungen gesehen hatte. Auf einer Art von Lade, die mit trockenen
Kastanienblättcrn angefüllt war, sah ich in einer schmutzigen und zerrissenen
Bettdecke gehüllt eine junge Frau, der die körperlichen und seelischen Leiden
jede Spur von Schönheit genommen hatten. Ein Fieberanfall hatte ihr etwas
Duukelrot auf die abgezehrten Wangen getrieben, aus den trockenen und schwarz¬
blauen Lippen drang mit Mühe jenes Keuchen und Röcheln hervor, das ich
schon gehört hatte; die Augen waren geschlossen und die Hände hatten die Bett¬
decke krampfhaft gepackt. Neben diesem Lager saß ein Knabe von etwa zwei
Jahren auf der Erde, halbnackt, mager, wachsbleich von Farbe, und schaute mit
seinen großen Augen, ohne sich zu rühren, beinahe ohne Atem zu holen, gerade
vor sich hin, als ob er blödsinnig wäre.
Sehen Sie, sagte die Alte, und fing wieder bitterlich an zu weinen, sehen
Sie, wohin es mit ihr gekommen ist? Ach, wenn Sie sie vor vier Jahren gekannt
hätten! Es war das schönste Mädchen in der ganzen Gegend. Leider zu schön!
Eines Tages war sie verschwunden. Ach, daß ich an diesem Tage nicht gestorben
bin! es war ein Wunder der Madonna von den sieben Schmerzen. Ich habe
sie überall gesucht, habe sie gerufen auf Berg und Thal. Aber ich sollte sie
erst so wiedersehen. Gott hat es so gewollt! Sie, die Arme, ist von ihm ge¬
züchtiget, und ich, die arme Mutter, mit ihr. Aber es ist nicht ihre Schuld
allein. O nein, die größte Schuld hat ein andrer! Es ist ein Bösewicht auf
der Welt, der alle diese Thränen einer armen Mutter und all das Elend dieser
unschuldigen Wesen bezahlen soll.
Damit nahm sie den Knaben auf den Arm, der alles mit sich geschehen
ließ, ohne das geringste Zeichen einer Empfindung von sich zu geben.
Die Kranke rührte sich etwas und verlangte mit schwacher Stimme zu
trinken. Die Alte legte schnell den Knaben nieder, eilte an das Kopfkissen der
Tochter, um ihre Lippen aus einem Becher mit Wasser anzufeuchten.
Habt Ihr denn nicht den Arzt gerufen? fragte ich sie.
Wie konnte ich das? Ich bin ja mutterseelenallein, wie konnte ich dies
arme Geschöpf verlassen?
Und Eure Nachbarn?
Sie antwortete mit einem ergebungsvollen Tone, in welchem auch nicht
die geringste Bitterkeit lag: Ach, jeder hat hier mit sich selbst genng zuthun
und sein eignes Unglück zu tragen. Keiner hat hier soviel Zeit und soviel
Herz, um einer armen alten Frau beizustehen.
Ich versprach ihr, ich würde sofort unsern guten Doktor schicken, und eilte
hierher.
Rina hatte kaum ihre Erzählung beendigt, als die Wärterin mit Guido an
der Hand ankam. Es war ein hübscher Knabe von fünf Jahren, etwas zu
klein für sein Alter, auch sah er etwas schmächtig aus und schien von zarter
Gesundheit zu sein. Aber man konnte dreist behaupte», daß der Mangel seiner
körperlichen Entwicklung durch seine geistigen Fortschritte ausgeglichen sei, denn
in seinen Blicken, wie auch in seinen Worten lag eine außerordentliche Frühreife
des Verstandes. Zwischen Mutter und Sohn bestand eine große Ähnlichkeit.
Es war derselbe Blick, dasselbe Lächeln, manchmal sogar dasselbe Benehmen;
aber an dem Knaben zeigte sich von Zeit zu Zeit etwas Entschlossenes, Stolzes,
man hätte sagen können etwas Trotziges, wovon die Physiognomie der Mutter
nicht die geringsten Spuren aufwies, sodaß es nur von dem Charakter seines
Vaters herrühren konnte.
Guido lief eiligst auf seine Mutter zu, welche die Arme nach ihm aus-
streckte, er erwiederte ihre Umarmung mit einer liebevollen, aber ernsten und be¬
dächtigen Zärtlichkeit. Rina war in diesem Augenblicke ganz in ihm aufgegangen,
und konnte sich nicht satt an ihm sehen, ih» nicht genug küssen und an ihre
Brust drücken. Man sah, daß sie mit dem Erscheinen ihres Sohnes alles andre
auf der Welt vergessen hatte, als ob es garnicht mehr für sie vorhanden sei.
Man hätte sagen können, daß das an nud für sich so enge Band, welches
Mutter und Sohn miteinander verbindet, zwischen diesen beiden Wesen noch
enger als bei andern angezogen war, und daß das Leben des Einen von dem
Leben des Andern abhing und ganz und gar in ihm aufging.
Bist du müde, Guido? fragte die Mutter mitten in ihren Küssen.
Nein, antwortete der Kleine ernsthaft, und ließ seine schönen schwarzen
Augen mit einem gewissen anmutigen Stolze im Kreise um sich umher¬
schweifen.
Ich habe ihn ein paarmal auf den Arm genommen, sagte die Wärterin.
Das ist wahr, siel der Kleine lebhaft ein; aber wenn ich merkte, daß Anna
müde war, ließ ich mich auf die Erde fallen und ging zu Fuß.
Die jugendliche Mutter belohnte ihn dafür mit wiederholten, noch leiden¬
schaftlicheren Küssen.
Jetzt machten sich alle auf den Weg, um dem Doktor, wie es Adele vor¬
geschlagen hatte, entgegenzugehen; die Kinder liefen in einem Trupp voran,
Rina und Pauls Schwester gingen zwischen den beiden Männern, zuletzt folgte
die Wärterin. Mvschillo trabte wacker auf und ab und war der Gesellschaft
voraus.
Die Sonne ging mit dem ganzen Glänze eines schönen Sommerabends
unter, das Thal war mit den herrlichsten Tinten gefärbt, welche das Auge des
Landschaftsmalers entzückt und ihn doch in Verzweiflung gebracht hätten, wie
er solche auf die Leinwand übertragen sollte; die gleich Phantasiegebilden im
Westen aufgetürmten Wolken verhinderten hie und da den Erguß des goldigen
Lichtes und bewirkten durch ihre breiten Schattenflecke, daß die hell gebliebenen
Partien noch lebhafter abgetönt wurden; und wenn sich die Wolken zerteilten,
so brachen in dem dichten, durch den übermäßigen Glanz beinahe undurchsichtig
scheinenden Kranze die Sonnenstrahlen hervor, überzogen den Abhang des Hügels
und hüllten alle Gegenstände in einen leuchtenden Nebel. Auf den Wiesen, die
den Mittelpunkt des Thales bildeten und durch die sich der von der Gesellschaft
eingeschlagene Fußpfad schlängelte, weideten hie und da die elenden Kühe der
armen Landleute, sie waren von Kindern, Knaben wie Mädchen, gehütet, welche
halbbekleidet, barfuß, mit der Gerte in der Hand dastanden und aus Heller
Kehle langsame, schwermütige Weisen ertönen ließen. Von Zeit zu Zeit streckte
eine Kuh ihren einfältigen Kopf in die Höhe, machte ihren Hals lang und
übertönte den Gesang der Kinder durch ein langes und klagendes Gebrüll, welches
im ganzen Thale wiederhallte. In dem ganzen Schauspiele lag ein Schwermut,
welche bis ins Innerste der Seele dringen und sie für die sanftesten und
friedlichsten Empfindungen empfänglich machen mußte.
Alle waren in Schweigen versunken, nur die Knaben tummelten sich
lachend und spielend umher; aber in dem Schweigen, welches unsere vier
Personen beobachteten, lag ein viel freundschaftlicherer Gedankenaustausch als in
manchen Gesprächen.
Mit einemmale näherte sich eine von den weidenden Kühen dem Fußpfade,
erhob den Kopf und glotzte mit ihren großen Augen die Vorübergehenden an.
Moschillo stellte sich ihr gegenüber und bellte. Die Kleinen bekamen Furcht
und nahmen mit Angstgeschrei Reißaus. Guido war der einzige, der nicht
schrie, sondern er zog sich langsam in die Nähe seiner Mutter zurück und ließ
nicht ab, sein schönes, kluges Auge fest auf das Tier zu richten.
(Fortsetzung folgt.)
Der Antrag Büchtemann-Eberty im Reichstage. In der Reichstcigs-
sitzung vom 23. April beantragten die „Freisinnigen" unter der Devise „Büchtemann-
Eberty," „den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, eine Vorlage an den Reichstag zu
erwirken, welche allen im Reichsdienst beschäftigten Zivilpersonen, beziehungsweise
deren Hinterbliebenen, ohne Rücksicht auf das Dienstalter eine ausreichende Pension
zusichert für den Fall, daß diese Personen durch Unfälle oder Beschädigungen im
Dienste des Reiches in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt werden oder das Leben
verlieren."
Die Harmlosigkeit dieses Antrages ist in der That bewundernswert! Während
die Reichsregierung seit Jahren bemüht ist, die Unfallversicherung zunächst für einen
Teil der Arbeiter einzuführen, mit der ausgesprochenen Absicht, hiermit vorläufig
nur eine Basis zu gewinnen, auf welcher die Versicherung weiter erstreckt werden
kann, und während die „Freisinnigen" diesem Bestreben den bekannten Hemmschuh
entgegenwerfen, kommen die letzteren gleichzeitig mit einem speziellen Unfallvcr-
sicherungscmtrage für eine bestimmte Personcnklcisse! Statt zunächst an der Grund¬
lage mitzuarbeiten und das Prinzip zu proklmniren: Der Staat ist als solcher zur
Erzwingung der Uufallentschädignng verpflichtet, bestreiten sie dieses Prinzip und
wollen es doch gleichzeitig in einem speziellen Falle zur Geltung bringen. Es
wäre dasselbe Verfahren, wenn jemand der Aufführung eines Gebäudes wider¬
spräche, und doch eine gewisse Figur, welche an dem fertigen Gebände allenfalls
angebracht werden könnte, ohne dasselbe aber in der Luft schweben würde, nicht
missen wollte, weil er gerade an dieser Figur ein besondres Interesse hatte. Er
würde offenvar besser thun, für die Herstellung des Gebäudes zu sorgen; dann
würde sich darüber reden lassen, ob auch sein Spczialwunsch ausführbar sei und
die Figur angebracht werden könne.
Der Ideengang der „Freisinnigen" ist einfach der. Die Unfallversicherung ist
zu populär, als daß sie nach dem üblichen Berneinnngsprinzip schlechthin abgelehnt
werden könnte, ohne daß dies verhängnisvolle Folgen für die Wahlen haben würde.
Daher wird das Prinzip scheinbar anerkannt, jedoch erklärt, der Modus, die Aus¬
führung sei nicht annehmbar. Daß hiermit das Prinzip selbst, die Realisirung
der Unfallversicherung, in Frage gestellt wird, entgeht den „freisinnigen" Herren
keineswegs, ist ihnen aber gerade erwünscht. Um die Durchsichtigkeit dieser Methode nun
einigermaßen zu verschleiern, verlangen sie jetzt Plötzlich die Unfallversicherung für
eine spezielle Personenklassc, obwohl dieselbe für diese nicht dringlicher ist als für
alle andern, welche dabei in Frage kommen. Daß ihr Antrag, selbst wenn der
Reichstag ihn xuie angenommen hätte, gar keine weitere Bedeutung gehabt hätte,
konnte den Antragstellern nicht zweifelhaft sein; denn sie konnten unmöglich erwarten,
daß die mit dem Hauptgebäude, dem eingebrachten Unfallgesetz, vollauf beschäftigte
Reichsregicrung dieses plötzlich im Stich lassen würde, um die von Herrn Richter
beabsichtigte Kaptivirung der Reichsbeamten für die Wahlen zu unterstützen. Dies
umsoweniger, da die Antragsteller nicht einmal einen fertigen Gesetzentwurf vor¬
gelegt haben, über welchen sich eventuell debattiren ließe, sondern die Mühe, dies
für sie zu thun, der Reichsregierung aufbürden wollen. Dabei ist hundert gegen
eins zu wetten, daß, wenn die Regierung einen Gesetzentwurf in dieser Materie
vorlegte, die vergrößerte Fortschrittspartei ihr altes „Nein" aufs neue erschallen
lassen würde, weil irgend etwas in den Details des Gesetzes ihrer „Frcistnnigkeit"
nicht zusagen würde. Diese Art zu opponiren ist in der That ebenso wohlfeil
als frivol, und dies hätte genügen sollen, um den Antrag einfach abzulehnen.
Abgesehen hiervon ist derselbe aber auch sachlich aus den oben hervorgehobenen
Gründen verfehlt. Denn die Reichsrcgieruug kann verlangen, daß der großartige
Bau, den sie projektirt, unter Dach gebracht werde. Sie hat einen Bauplan vor¬
gelegt; ehe sie auf SpezialWünsche eingeht, die hiermit zusammenhängen, fordert
sie mit Recht die Stellungnahme des Reichstages zum Hauptplan, schlimmsten¬
falls die Erklärung, daß dieser Reichstag diesen Bau nicht aufführen helfen wolle.
Dann wäre die Sache aber auch vorläufig erledigt, denn man wird der Regierung
nicht zumuten können, daß sie Spezialiuterefsen, welche im Rahmen dieses Gesetzes
zur Geltung gebracht werden konnten, nun ohne dieses berücksichtige, daß sie sich
ihren Bauplan für das große Gebände von den Gegnern zerstören lasse und für
denselben dann beliebige kleine Zierfiguren errichte. Denn sobald das Unfallgcsetz
durchgebracht ist, steht nichts entgegen, daß weitere, bisher nicht namhaft gemachte
Personenkreise hereingezogen, oder wenn dies nicht möglich, in analoger Weise
versichert werden. Dann allerdings könnte die Versicherung auch der fraglichen
vom Reich beschäftigten Personen gefordert werden, und das Reich würde umso
lieber darauf eingehen, als es, zwar nicht dringlicher, wohl aber direktere Pflichten
gegen diese Personen hat, als gegen die zunächst allein ins Auge gefaßte Arbeiter¬
bevölkerung. Ein Unfallversicherungsgesetz für die Reichsbeamten kann nur auf
demselben Prinzip beruhen, welche das jetzige Hauptgesetz proklamiren will: die
Trennung der Entschädigungspflicht von Privatrechtlichen Grundsätzen und allgemein
zivilprozessunlischen Formen, und Konstituiruug derselben auf Publizistischer Grund¬
lage in speziellen geeigneten Formen. Ist dieses Prinzip einmal gesetzlich anerkannt,
so kann es beliebig ausgedehnt werden, und das Gesetz, welches Herr Büchtemann
jetzt beantragt hat, Wäre nur eine der vielen Manifestationen, deren das Hcmpt-
und Grundgesetz fähig ist. Die Unfallversicherung der im Dienste des Reiches
stehenden Personen erschiene dann im Geiste dieses Gesetzes als eine Berufs-
genossenschaft, deren einziger Unternehmer und Versicherungspflichtiger das Reich
ist, oder falls hierzu die Berufsarten der fraglichen Personen zu mannichfach sind,
das Reich als Teilnehmer einzelner Berufsgenossenschaften, z, B, in bezug auf die
vom Abgeordneten Richter besonders protegirten Postillone: als Teilnehmer einer
Berufsgenossenschaft der Fuhrherreu,
Zunächst muß erst das gestaltende Prinzip festgestellt werden, nachher mögen
alle diejenigen Kreise, welche sich seines Segens erfreuen wollen, ihre Wünsche an¬
melden, und dann mag auch der Herr Abgeordnete Richter als Mandatar der
Postillone auftreten. Inzwischen ist nicht einzusehen, weshalb die Postillone besser
fahren sollen als Privatrossclcnker, indem Herr Richter jenen die Unfallversicherung
gewähren will, welche er diesen versagt. Weshalb aber einstweilen in bezug auf
den Umfang der Versicherungspflichtigen Personen die größte Einschränkung geboten
ist, erklärte ja kürzlich der Herr Reichskanzler: die Fortschrittspartei nebst Anhang
sucht, wie überall, so auch hier Angriffspunkte, und je breiter sich das Gesetz von
Anfang um ausbreitet, eine umso größere Angriffsfläche wird den „freisinnigen"
Streitern geboten.
Man sieht eben hier wieder, wie in allem, die Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit
der Fortschrittspolitiker. Wie kleine Kinder, wollen sie einzelne Dinge, welche
ihnen gefallen oder mit denen sie Staat machen zu können glauben, haben, ohne
zu überlegen, auf welchen Voraussetzungen ihre Postulate beruhen. Sie wollen
deu Frieden — aber nicht seine einzige Bürgschaft, die Größe und Schlagfertigkeit
der Armee. Sie wollen die persönliche Sicherheit — aber sie versäumen keine
Gelegenheit, die „Polizei" in Mißkredit zu bringen. Sie wollen die Ordnung —
aber die Revolntionspartei muß frei schalten und walten können. Sie wollen für
die deutsche Politik eine gewandte Diplomatie — aber dem genialsten aller Poli¬
tiker und Diplomaten verleiden sie das Dasein derart, daß sie ihn nach seinem
eignen klassischen Zeugnis längst „weggegrault" hätten, wenn nicht der Wunsch
des Kaisers ihn hielte. Sie wollen Solidität im Geschäftsleben — aber der Wucher
muß erlaubt sein. Ihr Richterstand soll Vertrauen und Ansehen genießen — aber
sie depravircn denselben durch Elemente, denen beides fehlt, nämlich die jüdischen.
Sie wollen dem Staat reiche Geldmittel für Schulen, Kunst und Wissenschaft ge¬
währen — aber nicht reiche Quellen des Geldes. Sie fordern die Billigkeit,
Exaktheit und Bequemlichkeit des Eisenbahnbetriebes — aber der Staat soll sich nicht
darum bekümmern. Sie tadeln die Berücksichtigung ultramontaner Begehrlichkeiten —
aber sie zwingen die Regierung hierzu, indem sie dieselben in Kardinalfrage» (im
doppelten Sinne) im Stiche lassen. So wollen sie auch (oder geben sich wenigstens
den Anschein, als ob sie es wollten) die Unfallversicherung der vom Reich beschäf¬
tigten Personen, aber das Publizistische Versicheruugsprinzip, welches die alleinige
und notwendige Voraussetzung dieser Versicherung ist, wollen sie nicht anerkennen,
angeblich nicht, weil es sozialistisch sei, in Wahrheit, weil sie überhaupt blind sind
gegen die mannichfachen realen Lebensbedürfnisse des Volkes und des Staates.
Leider ist der Antrag Büchtemcmu nicht einfach abgelehnt, sondern an eine
Kommission verwiesen worden. Möge er dort die verdiente Ruhe und Vergessen¬
heit finden! Der Zweck der Antragsteller ist ja erreicht: sie haben vor dem
Lande gezeigt, daß es der „Feisinnigen" bedarf, um die deutsche Reichsregierung
an ihre Pflichten gegen ihre Angestellten zu erinnern, und die Wähler werden
nun erkennen, wie ungerecht es ist, wenn böse Meuschen den „Freisinnigen" nach¬
sagen, sie wollten die Sozialreform des Reichskanzlers vereiteln.
Der Verfasser dieser Schrift sieht den Rückgang der Landwirtschaft und den
Notstand des Grundbesitzes lediglich in den nachteiligen Kreditverhältnissen, Um
die letzteren recht grell hervortreten zu lassen, scheint er uns die übrigen Seiten der
Landwirtschaft mit allzurosigen Farben dargestellt zu haben. Gegen diesen Teil
seiner Arbeit werden sich sehr erhebliche Einwendungen machen lassen, so z, B,
unterschätzt der Verfasser durch sehr willkürliche Gruppirung von Zahlen und Be¬
rechnungen die amerikanische Konkurenz und zieht u. a, den dortigen Raubbau,
den der jungfräuliche Boden ganz gut vertragen kann, garnicht in Betracht, Da¬
gegen ist die Darstellung über die gegenwärtigen Kreditverhältnisse sehr klar, und
die Kritik, abgesehen von einzelnen Ausfällen gegen die Gesetzgebung, zumal da
diese Ausfälle für die Sache selbst ohne Bedeutung sind, im ganzen zutreffend.
Mit Recht tritt der Verfasser gegen die zur Zeit bestehende Vermischung des Real¬
kredits mit dem Persvnalkredit in die Schranken, eine Vermischung, welche die
Gesetzgebung zum Teil schon als schädlich anerkannt hat, ohne sie ganz zu beseitigen.
In Preußen hat zwar das Gesetz vom 5, Mai 1372 die Grundschuld als reine
Realkreditsform eingeführt, aber daneben die Hypothek mit ihrer fortbestehende»
persönlichen Verbindlichkeit aufrechterhalten. Dasselbe gilt auch noch von der
neuesten Subhastationsordnung, die noch immer dahin führt, daß der Schuldner außer
seiner Habe, die er völlig einbüßt, persönlich seine Lebenszeit hindurch verpflichtet
bleibt. Zu solchen halben Maßregeln rechnet der Verfasser auch die Höfeordnungcn,
die gar keine Gewähr bieten, daß auch in den spätern Generationen schädliche
Erbtcilnngcn verhindert werden. Der Verfasser zeigt sodann, daß die gegenwärtigen
Formen des Realkredits keine Abhilfe gewähren; die alten landschaftlichen Kredit¬
verbände sind vermöge ihrer ganzen Organisation und der Beleihungsgrundsätze
innerhalb sehr enger Grenzen nicht mehr geeignet, ihren ursprünglichen Zweck zu
erfüllen. Was aber die neuen Hypothekenbanken betrifft, so führt der Verfasser
mit Recht aus, daß sie weder den Gläubigern eine Sicherheit gewähren — ihren
Namen führen sie mit Unrecht, er ist nur geeignet, im Publikum Täuschungen zu
erregen —, uoch den Schuldnern und Darlehnssuchern Hilfe, Letztere sind ihnen
auf Gnade und Ungnade ergeben und bezahlen eine Entschädigung, die nur durch
die komplizirte Berechnung die alles Maß übersteigende Zinshöhe verschleiert.
Der Verfasser berührt auch verschiedne neuere Reformvorschläge, wie die Inkor¬
poration des Hypothekenkredits von Schäffle und die Versuche zur Einführung einer
Heimstätte (noms-stWä) nach amerikanischem Muster. In der letztgedachten Insti¬
tution sieht er zwar einen gesunden Kern, glaubt aber — und leider müssen wir
ihm trotz des Gampschen Versuches, der dem Verfasser unbekannt geblieben zu
sein scheint, beistimmen —, daß die Vorschläge nicht ansführbnr sein und auch
zu keinem befriedigenden Ergebnis führen würden. Denn selten wird ein bäuer¬
liches Grundstück so groß sein, daß von ihm ein den Unterhalt der Familie ge¬
währendes Stück abgetrennt werden kann. Das Gleiche gilt aber anch von einer
etwaigen dem Pfand nicht unterworfenen Summe. Der Verfasser sieht lediglich
zwei Mittel, die zur Heilung des Notstandes führen können. Diese sind einmal
die Beseitigung des jetzigen Erbrechts in bezug auf ländlichen Grundbesitz, welcher
unbelastet durch Erb- und Pflichtteile vererbt werden müßte, und sodann die Ab¬
schaffung der Verschuldbarkeit des ländlichen Grundbesitzes, Beide Mittel sind zwar
radikal, aber nicht neu. Ihre Durchführung und etwaige Wirkung zu beurteilen
liegt jedoch außerhalb des Rahmens dieser Anzeige.
Ein Prvfessorengezänk, doppelt unerquicklich, da die Sprache sich nicht einmal
immer in den parlamentarischen Schranken hält. Menger hatte in seineu Unter¬
suchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und die politische Ökonomie
insbesondre sich gegen diejenige Richtung der deutschen Nationalökonomie gewendet,
deren Vertreter die Hauptaufgabe jener Wissenschaft in geschichtlichen und statistischen
Einzeluntersuchungen erachtet. Hiergegen war Professor Schmoller, der sich am
meisten getroffen fühlte, in seinen Jahrbüchern in einer sehr heftigen Kritik auf¬
getreten, und gegen diese Kritik richtet sich die vorliegende, aus sechzehn offenen
Briefen bestehende Schrift. Wie immer, wird auch hier die Wahrheit auf der
goldenen Mittelstraße zu suchen sein, und trotz aller Heftigkeit und aller Widersprüche
scheinen uns die beiden Geguer auf nicht so unversöhnlichem Standpunkt zu ver¬
harren, denn ihre Gegensätze sind weniger qualitativ als quantitativ und graduell.
Auch Menger will die geschichtliche und statistische Ökonomie als eine sehr bedeut¬
same Hilfswissenschaft nicht entbehren, und Schmoller sucht in den kleinen und
munitiösen Einzelforschungen gewiß nicht die alleinige Aufgabe unsrer heutigen
Sozialwissenschaft, Mau kaun eben nach beiden Richtungen übertreiben. Ge¬
lengnet kann nicht werden, daß die ersten Anfänge der Nationalökonomie aprio-
ristische, jeglicher genaueren Forschung und Kenntnis der Vergangenheit entbehrende
Darstellungen waren; namentlich haben sich die Väter des Sozialismus weder an
die vergangenen noch an die gegebenen Zustände gekehrt und sind so ungehindert
zu ihren Phantasien gelangt. Dem gegenüber geben die geschichtlichen und statistischen
Untersuchungen der Nationalökonomie erst ihren wissenschaftlichen Charakter wieder.
Ein Übertreiben dieser Richtung liegt unsrer Meinung nach nicht vor, aber die
Gefahr einer solchen Übertreibung doch nicht allzuferne. Der Mengersche Warnruf
wäre gewichtiger, wenn er höflicher, und die Schmollersche Kritik bedeutender, wenn
sie weniger heftig gewesen wäre. Weder die Wissenschaft noch das Publikum
werden aus diesem Streit Gewinn haben.
Der Verfasser, welcher sich ausdrücklich (S. 370) als Anhänger Hegels bekennt,
bespricht in diesem Buche fast alle laufenden Fragen der modernen Musikwissenschaft.
In dem Aufbau der Harmonielehre folgt er Moritz Hauptmann (S. 15 fig.); zugleich
preist er aber auch die physikalisch-physiologische Theorie, die wir Helmholtz ver¬
danken, als bewunderuswert und für die musikalische Ästhetik unermeßlich wichtig
(S. 306), während doch Hauptmann (Briefe II, S. 2ö8) der Ansicht war, daß
Helmholtz von dem, worauf es bei der Musiktheorie ankommt, gar keine Ahnung
habe. Wer hieraus kein Bedenken entnimmt und überhaupt Hegelscher Philosophie
zuneigt, wird, wie wir glauben, beim Lesen des Buches Genuß finden.
ekanntlich bedürfte es der beiden Attentate vom 11. Mai und
vom 2. Juni 1878 auf das geheiligte Haupt unsers Kaisers, um
den deutschen Philister soweit aus seinem Traume aufzurütteln,
daß es der Regierung mit Hilfe des damals neugewählten
Reichstages gelang, das Gesetz gegen die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie zur Annahme zu bringen. In den Motiven
zu diesem Gesetze war gesagt, daß es für Staat und Gesellschaft, die durch die
Sozialdemokratie in ihren Grundvesten bedroht seien, ein Gebot der Selbst¬
erhaltung sei, der sozialdemokratischen Bewegung mit Entschiedenheit entgegen¬
zutreten. Freilich könne der Gedanke nicht durch äußern Zwang unterdrückt,
die Bewegung der Geister nur in geistigem Kampfe überwunden werden. Die
Mittel zu ihrer Ausbreitung aber müßten einer solchen Bewegung, wenn sie
falsche Bahnen verfolge und verderblich zu werden drohe, auf gesetzlichem Wege
entzogen werden. Dem Staate allein werde es zwar auch mit Hilfe der im
EntWurfe vorgeschlagenen Mittel nicht gelingen, die sozialdemokratische Bewegung
zu beseitigen; diese Mittel brächten nur die Vorbedingung für die Heilung des
Übels, nicht die Heilung selbst. Es bedürfe vielmehr der thätigen Mitwirkung
aller erhaltenden Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, um durch Belebung der
Religiosität, durch Aufklärung und Belehrung, durch Stärkung des Sinnes für
Recht und Sitte, wie durch weitere wirtschaftliche Reformen die Wurzeln des
Übels zu beseitigen, das gemeine Strafrecht reiche wegen seines vorwiegend
repressiven Charakters, vermöge dessen es einzelne Rechtswidrigsten, nicht aber
eine fortgesetzte Staats- und gesellschaftsfeindliche Thätigkeit im Auge habe, nicht
aus, um jener Agitation Einhalt zu thun. Deshalb lasse sich eine Revision
auf diesem Gebiete nicht empfehlen, zumal da eine solche, um wirksam zu sein,
über das Bedürfnis hinaus zu allgemeinen und dauernden Rechtscinschränkungen
führen müßte. Es bedürfe vielmehr eines Spezialgesetzes, welches das Vereins¬
und Versammlungsrecht, die Freiheit der Presse und des Gewerbebetriebes, sowie
die Freizügigkeit ausschließlich den gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozial¬
demokratie gegenüber wirksamen Beschrcinknngen unterwerfe, wie ja überhaupt
außerordentliche und krankhafte Zustände im Staatsleben auf eine Abhilfe durch
Spezialgesctze hinwiesen, welche sich ausschließlich auf die Anwendung der vor¬
handenen Gefahr richteten und mit der Erreichung dieses Zieles ihre Wirksamkeit
von selbst verlören.
Das Gesetz wurde in richtiger Würdigung dieser Motivirung angenommen,
unter dem 21. Oktober 1378 mit einer Dauer bis zum 31. März 1881 ver¬
kündigt und durch Gesetz vom 31. Mai 1880 bis zum 30. September 1884
verlängert.
Man sollte nun glauben, die in der Zwischenzeit gemachten Erfahrungen
hätten die Aufklärung über die drohende Gefahr auch in den unbelehrbarsten
Köpfen soweit gefördert, um der von der Regierung jetzt geforderten weiteren
Verlängerung der Geltuugsdauer des Gesetzes auf den kurzen Zeitraum von
zwei Jahren die sofortige Zustimmung zu sichern. Die Beschlüsse der Reichs¬
tagskommission aber, in welcher dieses Gesetz sich gegenwärtig zur Beratung
befindet, lassen leider das Gegenteil befürchten. Wein freilich auch jetzt noch
nicht klar geworden ist, auf welches Ziel die Sozialisten lossteuern, wenn er
die Tag für Tag in ihren Blättern sich wiederholende» Aufreizungen zu ge¬
waltsamen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung kennt, wenn er die
von Tag zu Tag sich häufenden Mordthaten sieht und deren Verherrlichung
in den sozialistischen Blättern liest, wenn er weiß, daß in jeder dieser Schriften
mit dürren Worten ausgesprochen wird, daß die Sozialisten nie an die Mög¬
lichkeit einer friedlichen Revolution geglaubt haben und daß die beiden Richtungen
der Sozialisten, die Sozialdemokraten und die Anarchisten, uur in der einzu¬
schlagenden Taktik, nicht aber in dem zu erstrebenden Endziele auseinandergehen,
insofern die ersteren die Unterwühlung, die letzteren die sofortige Sprengung des
heutigen Systems anstreben, beide aber darin vollständig einig sind, daß dies
nur auf dem Wege der Gewalt geschehen könne, wer angesichts dieser That¬
sachen noch mit der lächerlichen Phrase vom gemeinen Recht kommt und damit
einer Partei begegnen zu können glaubt, welche sich selbst auf einen ganz andern
Boden als den des sogenannten gemeinen Rechts stellt und dieses ganze gemeine
Recht mit samt der auf ihm beruhenden Gesellschaftsordnung in die Luft sprengen
will, der muß entweder ein Interesse an der Herbeiführung dieses neuen Zu¬
standes haben oder in einer Verblendung befangen sein, deren Größe ihm vielleicht
dann zum Bewußtsein kommen würde, wenn er selbst einmal mit einer Dynamit¬
ladung in die Luft flöge.
Daß der gewaltsame Umsturz der ganzen bestehenden Gesellschaftsordnung
nicht nur von den Anarchisten, sondern auch von den Sozialdemokraten unver¬
hohlen gepredigt wird, haben die bei der Beratung des Verlängerungsgesetzes
im März 1381 von der Regierung im Reichstage mitgeteilten Proben aus den
zwei Parteiblättern der beiden Richtungen, dem „Sozialdemokraten" und der
„Freiheit," zur Genüge dargethan. Es mag nur an wenige Sätze aus diesen
beiden Blättern und aus dem im August 1880 nach Schluß des Wydener Kon¬
gresses an die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands erlassenen Manifeste er¬
innert werden. In dem letztern heißt es: „Die erdrückende Mehrzahl der deut¬
schen Sozialdemokraten hat sich niemals dem Wahne hingegeben, daß sie ihre
Grundsätze in aller Friedlichkeit auf dem rein gesetzlichen Wege würde durch¬
führen können, das heißt, daß die bevorrechteten Klassen freiwillig und oben
Zwang ihre bevorrechtete Stellung aufgeben würden. Daran aber, daß wir,
wenn uns die herrschenden Klassen jeden gesetzlichen Weg abschneiden, deshalb
auf die Durchführung unsrer Grundsätze verzichten würden — daran hat noch
kein deutscher Sozialdemokrat je gedacht, und es galt von jeher für selbver-
ständlich, daß uns in diesem, nach den Erfahrungen der Geschichte voraussicht¬
lichen Falle jedes Mittel recht sein müsse. Will es nicht biegen von oben herab,
so muß es brechen von unten hinauf. In diesem Fall befinden wir uns heute
in Deutschland." Im „Sozialdemokraten," dem offiziellen Parteiblatt der „Ge¬
mäßigten," vom 20. Februar 1881 ist zu lesen: „Heute wissen wir alle, daß
nur durch einen gewaltsamen Umsturz der sozialistische Volksstaat erreicht werden
kann, und daß es unsre Pflicht ist, diese Erkenntnis in immer weitern Kreisen
der Bevölkerung zu verbreiten." In Ur. 6 desselben Blattes wird der
Kampf mit dem Proletariat in Aussicht gestellt, der allerdings ein Kampf auf
Tod und Leben sein werde. In Ur. 12 desselben Blattes vom 20. März
1881 wird über die Ermordung Kaiser Alexanders II. gesagt, daß noch nie
ein Todesurteil so gerechtfertigt gewesen sei wie dieses. In der „Freiheit," dem
Organ der Anarchisten, heißt es in Ur. 33: „Nicht mehr die Aristokratie
und das Königtum kann das Volk vernichten wollen — hiergegen sind vielleicht
nur noch einige Gnadenstöße nötig — nein, im kommenden Schlachtendrange
gilt es, die Bourgeoisie bis zur völligen Vernichtung zu treffen." In Ur. 46
vom 6. November 1880: „Nicht durch Schreiben von Vrandartikeln . . . kann
allein schon eine Revolution durchgeführt werden . ., der eigentliche Kampfesfaktor
ist die That. Fort mit jedem Zweifel und nichtssagenden Gedanken, welche
euch noch zurückhalten! ... Es giebt nur ein Ziel, nur einen Weg, welchen wir
einzuschlagen haben, das ist der gewaltsame Umsturz der heutigen Gesellschaft."
In Ur. 51 vom 18. Dezember 1880: „Rottet sie aus, die erbärmliche Brut!...
Einem Revolutionär muß im kritischen Augenblick stets der Richtblock vor Augen
schweben. Entweder er schlägt die Köpfe seiner Feinde ab, oder er wird selbst
geköpft. ... Die Wissenschaft giebt jetzt Mittel an die Hand, welche es er-
möglichen, daß man ganz trocken und ruhig die Bestienvertilgung im großen
zu besorgen vermag, Fürsten und Minister, Staatsmänner, Bischöfe, Prälaten
und andre Großwürdenträger der verschiednen Kirchen, ein gut Teil des Offi¬
zierkorps, der größte Teil der höhern Bureaukratie, diverse Journalisten und
Advokaten, endlich alle bedeutenderen Repräsentanten der Aristokratie und
Bourgeoisie — das werden die Subjekte sein, über die man den, Stab zu
brechen hat,"
Man sollte meinen, die im Sozialistengesetz der Regierung gegebene
Möglichkeit, derartige, auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesell¬
schaftsordnung gerichtete Bestrebungen, wo sich dieselben in Vereinen, Versamm¬
lungen und Druckschriften zeigen, mit allen Mitteln zu unterdrücken und insbesondre
der gefährlichen Verbreitung solcher Tendenzen durch die Presse möglichst ent¬
gegenzuwirken, sei ein Gebot der Selbsterhaltung der bestehenden Gesellschaft,
das jedem vernünftigen Menschen ohne weitere Erklärung einleuchten müsse; es
sei daher ein Zweifel darüber nicht möglich, daß die Befugnisse der Regierung
nicht geschwächt werden dürfen, wenn man nicht die notdürftigsten Waffen vollends
aus der Hand legen wolle. Aber nein, das Parteiinteresse oder der Doktrina¬
rismus steht einem Teile der Herren weit höher als die allgemeine Wohlfart;
und so wird das Gesetz entweder ganz verworfen oder mit Amendements ver¬
sehen, welche es seiner Wirksamkeit berauben und deshalb für die Regierung
unannehmbar find.
Das Gesetz enthält unter anderen die Bestimmung, daß Druckschriften
wie die oben bezeichneten, in Proben mitgeteilten, zu verbieten sind und daß
das Verbot sich auch auf das fernere Erscheinen einer solchen Druckschrift er¬
strecken kann, sobald auf Grund des Gesetzes das Verbot einer einzelnen Nummer
erfolgt. Gegen dieses Verbot ist eine an die zu diesem Zwecke besonders ein¬
gesetzte Kommission gehende Beschwerde zulässig, welche aber keine aufschiebende
Wirkung haben soll, Herrn Windthorst sind diese Bestimmungen zu rigoros;
es genügt ihm nicht, wenn ein solches Blatt einmal zum Massenmord auffordert,
er will das mindestens zweimal lesen, und auch dann noch muß nach seiner
Ansicht dem Verleger, Herausgeber und Verfasser eines solchen Blattes eine
Beschwerde zustehen, welche das Verbot außer Wirkung setzt, weil sie auf¬
schiebende Wirkung hat; das ungehinderte Forterscheinen der Mordartikel muß
garantirt werden. Der Verfasser erhebt also gegen das ergangene Verbot die auf¬
schiebende Beschwerde und läßt sein Blatt inzwischen ruhig weiter erscheinen.
Die Beschwerde-Instanz entscheidet über die Beschwerde, verwirft sie als unbe¬
gründet, und unterdessen hat das erschienene Blatt die gewünschte Wirkung
gethan. Bis zum Eintreffen der Beschwerdeentscheidung hat man dann dafür
gesorgt, daß das Blatt unter einem andern Namen erscheint; es bringt wieder
zum Umsturz aufreizende Artikel, wird wieder verboten, erhebt wieder Beschwerde,
erscheint unterdessen wieder fort u. s. w. Kurzum, das ganze, auf möglichst
rasche Unterdrückung der schädlichen Preßerzeugnisse abzielende Verfahren ist in
einer Weise zweckwidrig verzögert, daß mit der ganzen Gesetzesbestimmung nichts
mehr anzufangen ist.
Das Gesetz enthält weiter die Bestimmung, daß Versammlungen, von
welchen durch Thatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, daß sie zur Förderung
sozialdemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer, auf den Umsturz der
bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichteter Bestrebungen bestimmt
sind, zu verbieten sind. Herrn Windthorst geht diese Bestimmung zu weit; er
wünscht die Abhaltung solcher Versammlungen, damit die Umsturzbestrebungen
zunächst den Anwesenden bekannt gemacht werden. Wenn diese dann genügend
instruirt sind, kann die Versammlung ja aufgelöst werden.
Das Gesetz enthält ferner die (den sogenannten kleinen Belagerungszustand
regelnden) Bestimmungen über die Möglichkeit der Anordnung vorheriger polizei¬
licher Genehmigung von Versammlungen mit Ausnahme von Wahlversammlungen
für Reichs- oder Landtag, des Verbots des Straßenverkaufs von Druckschriften,
der Ausweisung von der öffentlichen Sicherheit gefährlichen Personen und der
Beschränkung des Verkaufs und Tragens von Waffen. Herr Windthorst ver¬
langt die Aufhebung dieser sämtlichen Bestimmungen für das ganze Reich mit
Ausnahme von Berlin (wo er sie mit Rücksicht ans die persönliche Ansicht des
Kaisers zunächst noch zugeben will); die Sicherheit der Gesellschaft ist nach seiner
Meinung nicht in der Weise gefährdet, daß die Grundrechte der Menschen, die
Versammlungs-, Vereins- und Preßfreiheit, in der durch das Sozialistengesetz
geübten Weise noch länger beeinträchtigt werden dürften.
Solche „Verbesserungsvorschläge" hat Herr Windthorst in der Reichstags¬
kommission eingebracht, und sie haben Zustimmung gefunden! Die Regierung
hat deutlich genug erklärt, was sie mit solchen Vorschlägen zu thun gesonnen
ist, und man kann nur wünschen, daß der Reichstag in seiner Mehrheit sich der
Einsicht nicht verschließe, daß es seine Pflicht sei, im Interesse der gefährdeten
Gesellschaft derartige Verbesserungen zu verwerfen und die von der Regierung
geforderten, im Sozialistengesetze ans das nötigste beschränkten Befugnisse der¬
selben zu gewähren. Sollte dies nicht der Fall sein, so wird hoffentlich ein
neugewähltcr Reichstag dasjenige Maß von Einsicht und patriotischem Pflicht¬
bewußtsein zusammenbringen, welches nötig ist, um die Verlängerung des
Sozialistengesetzes herbeizuführen.
ünfundstebzig Jahre sind verflossen, seitdem der Major Ferdinand
von Schill (am 28. April 1809) an der Spitze des zweiten
brandenburgischen Husarenregiments aus Berlin ausrückte, um auf
eigne Faust den Krieg gegen Napoleon zu eröffnen, und so die
schon hochgehenden Wogen des Patriotismus in heftige Bran¬
dung versetzte.
Das Unternehmen Schills ist sehr verschieden beurteilt wordeu. Arndt
hat gesungen:
Es zog aus Berlin ein tapferer Held,
Er führte sechshundert Reiter ins Feld,
sechshundert Reiter mit redlichem Mut,
Die bürsteten alle Franzosenblut.Auch zogen mit Reitern und Rossen im Schritt
Wohl tausend der tapfersten Schützen mit.
Ihr Schützen, geseg'n euch Gott jeglichen Schuß,
Durch welchen ein Franzmann erblassen muß!So zieht der tapfere, mutige Schill,
Der mit den Franzosen schlagen sich will.
Ihn sendet kein Kaiser, kein König aus,
Ihn sendet die Freiheit, das Vaterland aus.
Ja die bewundernde Auffassung seines Unternehmens steigerte sich sogar bis zu
leidenschaftlichen Vorwürfen über die geringe Nachfolge, die ihm geworden:
Mögen jene druckgewohnten Feigen,
Die den Tod mehr als die Schande scheun,
Sich im Staube vor dem Fremdling beugen,
Knechte kann kein Heldengeist befrein.
Zu dieser Verherrlichung Schills stand die militärische Auffassung seines
Unternehmens in entschiedenem Gegensatze. Ein Armeebefehl, datirt Königsberg,
den 8. Mai 1809, drückt sich noch verhältnismäßig milde aus; da heißt es:
Seine Majestät der König machen der Armee bekannt, daß der Major von
Schill mit seinem Regiments unter dem Vorwande, vor den Thoren der Stadt zu
manövriren, über die Grenze gegangen ist. Höchstdieselben finden nicht Worte genug,
um darüber Ihre Mißbilligung in dem Grade auszudrücken, als Sie dies empfinden.
Sie vertrauen, daß die Armee von derselben höchsten Mißbilligung durchdrungen
sein wird und von einem guten Geiste beseelt ist. Der Major von Schill und
alle, die mit ihm gegangen sind, sollen einem strengen Militärgerichte unterworfen
werden.
Viel schärfer sprach sich Schills nächster Vorgesetzte aus, der kurmärkische
Brigadegencral Generalleutnant von Tauentzien, der nachmalige Graf Tauentzien
von Wittenberg. Dieser hatte in höchster Erregung sofort bei der Meldung
von dem Ausmarsche des zweiten brandenburgischen Husarenregiments seinen
Abschied erbeten. Der König hatte unter Ablehnung des Abschiedsgesuches ge¬
antwortet, daß er die Anzeige von dem beispiellosen Unternehmen des Majors
von Schill mit ebenso großem Befremden wie Mißfallen vernommen habe und
sich vorbehalte, eine strenge Untersuchung anstellen und alle Schuldigen aufs
strengste bestrafen zu lassen. Darauf war Tauentzien vom Dienste suspendirt,
und mit der Untersuchung der Generalmajor von Stutterheim beauftragt worden.
In der Korrespondenz Tauentziens mit Stutterheim findet sich nun ein vom
16, Mai 1809 datirter Bericht vor, in welchem ersterer die „Entweichung"
Schills mit dem ihm anvertrauten Regiment und die kurz darauf erfolgte „De¬
sertion" der Kompagnie des leichten Bataillons als „Frevel" bezeichnet, ja noch
härtere Worte braucht. Über den Ausmarsch Schills wird in folgender Weise
berichtet:
Einige Tage vor der Entweichung des Major von Schill erfuhr ich, daß
man Mißtrauen in sein Benehmen setze, große Unruhe bei ihm verspüre und Äuße¬
rungen von ihm und seinen Untergebenen für sehr verdächtig hielt. Dies waren
Mutmaßungen, aber keine Thatsachen. Es war schwer, ein so schändliches Vor¬
haben zu ergründe::, da er es bis zum letzten Augenblick mit dem größten Geheim¬
nisse umhüllte. Unter diesen Umständen glaubte ich nichts zweckmäßiger, als den
Major von Schill zu mir rufen zu lassen, ihn als einen Mann von Ehre zu be¬
handeln und auf Pflicht und Gewissen über die mir zu Ohren gekommenen Ge¬
rüchte zu befragen. Seine Äußerungen waren frei und unbefangen: er widerlegte
alles, was ich ihm vorhielt, nicht nur auf eine befriedigende Weise, sondern der¬
gestalt, daß beim Auseinanderscheiden ich ihm Lobsprüche über seinen Patriotismus
und Diensteifer beilegte.
Ich gestehe, daß ich bis jetzt eine zu hohe Meinung vom Ehrenworte eines
Offiziers gehabt, als daß ich selbigem nicht hätte Glauben beimessen sollen; ich
war also beruhigt und betrachtete die Sache wie ein lügenhaftes Stadtgerücht, deren
täglich soviel ausgestreut werden.
Einige Tage nachher befahl ich dem Major von Schill, mit seinem Regimente
ein Manöver zu exkutiren, welches hauptsächlich zum Grunde hatte, die Art und
Weise zu sehen, wie er Gebrauch von seiner reitenden Artillerie machte. Das Ma¬
növer fiel schlecht ans und gab mir einen Beweis, wie wenig der Major von Schill
vom großen Dienst Begriff hatte. Tags darauf kam er zu mir und bat um die
Erlaubnis, mit dem Regimente nachmittags ausrücken zu dürfen, er wollte nicht
exerciren, aber endlich das Raugircn des Regiments beendigen, welches ihm wegen
der Menge junger Leute viel Schcererei verursachte. Er bemäntelte dies mit einen:
so großen Diensteifer, daß, nachdem ich ihn ermahnt, die Pferde zu schonen, ich
das Ausrücken des Regiments bewilligte.
Hierbei muß ich bemerken, daß das späte Ausrücken nichts auffallendes hatte,
denn da die Witterung sehr ungünstig war, so hatte ich zu verschiednen malen
nachgegeben, das Regiment des Nachmittags zu exerciren.
In der Nacht erfuhr ich, daß das Husarenregiment noch nicht zurück wäre.
Diese Nachricht erweckte Verwunderung in mir, ohne jedoch eine so schändliche That
ahnen zu können. Bevor ich Lärm machte, ließ ich die Ställe untersuchen, und
da fand es sich, daß das ganze Regiment komplett davongegangen war. Ich ging
sogleich zum Gouverneur und meldete den Vorfall, welcher den Kommandanten,
Major von Chazot, zu sich rufen ließ. Dieser versicherte, daß es das erste wäre,
so er erfuhr. Da ich keinen Rapport erhielt, so machte ich ihn auf selbigen auf¬
merksam, wodurch er das Außenbleiben des Regiments hätte wissen können. Es
war keine Kavallerie bereit oder disponibel, mit welcher hätte nachgesetzt werden
können, und der Vorsprung war zu groß, als daß Infanterie die Entwichenen
hätte einholen können. Der Major von Zepelin vom Leib-Infanterie-Regiment
ward daher mit einem Schreiben des Generalleutnant von L'Estocq dem P. Schill
nachgesandt, in der Hoffnung, dnrch die darin aufgestellten Beweggründe ihn zur
Rückkehr zu bewegen. Diese Sendung blieb fruchtlos, und der p. von Schill setzte
seinen Marsch ohne Zweck und Plan fort. Seinen Untergebenen versicherte er,
daß er geheime Instruktion von Sr. Majestät dem Könige hätte, und zeigte ein
Portefeuille, welches er von Ihrer Majestät der Königin erhalten, und welches
selbige aufbewahren sollte.
Am 4. Mai verließ von dem leichten, den Namen „von Schill" führenden
Bataillon des Leibregiments, unter Führung der Leutnants von Quistorp 2,
von Pannewitz und von Hertel, fast die gesamte Leibkompagnie (1 Feldwebel,
11 Unteroffiziere, 4 Spielleute und 104 Gemeine) Berlin; von andern Kom¬
pagnien schlössen sich 1 Junker, 6 Unteroffiziere und 25 Gemeine an; der Leut¬
nant von Blomberg folgte später nach. Über diese „Desertion" äußerte sich
Tauentzien in folgender Weise:
Durch den Anhang und Konnexions, welche der p. von Schill im leichten
Bataillon hatte, war es ihm nicht schwer, auch bei selbigem die Leute zu seinem
Vorhaben umzustimmen. Das Bataillon war schon einige male plötzlich und ins¬
geheim aufgebrochen, wie z. B. der Marsch nach Spenden, daher eine geheime
Ordre beim Soldaten kein Mißtrauen erregte. Der Leutnant von Quistorp be¬
nutzte dieses, ließ die Kompagnie in der Nacht aus ihren schlechten Quartieren
vorm Königsthore zusammenrufen, sammelte sie auf dem Georgenkirchhofe und mar-
schirte mit selbiger zum Prcnzlaner Thor ab, indem er versicherte, er sei die Avant¬
garde und der Major Von Reuß würde aus einem andern Thor mit dem Bataillon
folgen. Dem Unteroffizier, welcher die Thorwache hatte, gab er sich als komman-
dirt an, mit der Weisung, ihn zwei Stunden später melden zu lassen. Am Morgen
meldete mir der Major von Reuß das Ereignis.
Ich befahl ihm,- das Bataillon sogleich zu sammeln, um genau zu wissen,
wieviel Mannschaften fehlten. Ich ritt gegen sechs Uhr zum Gouverneur, welcher
ebenfalls von nichts wußte. Den Major von Reuß schickte ich in Arrest, und da
ich erfuhr, daß das Regiment unruhig sei, so begab ich mich auf den Alexander-
platz, Iließ das dortselbst aufmarschirte Bataillon einen Kreis um mich schließen,
und nach einer kurzen und passenden Anrede rief mir alles ein Vivat zu.
Nachdem ich das Bataillon gerichtet, ritt ich die Front langsam hinunter und
ließ selbiges nochmals bei mir Vorbeimarschiren, alles ging alsdann zufrieden aus¬
einander. Nachmittags wurde mir gemeldet, daß eine Gährung im Bataillon statt¬
fände, und die Leute anfingen, ihre Montirungsstücke bei dem Trödler zu ver-
äußern. Hierauf befahl ich die strengsten Maßregeln, Ein jeder, der nur im
geringsten sich eine Widersetzlichkeit zu schulden kommen ließ, wurde mit der größten
Schärfe behandelt, dergestalt, daß 5 Mann scharf gehauen wurden. Gegen Abend
kommandirte ich starke Kavalleriepickets, welche Patrouilliren mußten, und hatte vom
Garde-Jägerbataillon, Leib-Infanterieregiment und Greuadierbataillon an verschie¬
denen Orten Trupps aufgestellt, sogar die Maßregel getroffen, daß nötigenfalls zwei
reitende Kanons mit Kartätsch in Bereitschaft waren. Ich blieb die ganze Nacht
zu Pferde; die kommenden Tage befolgte ich die nämlichen Maßregeln, bis ich die
Ruhe wiederhergestellt, welche Ew. Hochwohlgeboren bei Ihrer Ankunft werden ge¬
funden haben. Der Kapitän von Petersdorff, ein sehr braver und geschickter Offi¬
zier vom leichten Bataillon, wurde am Morgen mit dem Leutnant von Rüllmann
gedachten Bataillons der entwichenen Kompagnie nachgeschickt; ein Detachement
Husaren vom ersten Regiment begleitete ihn, und zu diesen stieß in Potsdam ein
andres vom Kürassierregiment, welches ans Spandau zu diesem Behuf dahin be¬
ordert war. Ein reitendes Kanon folgte. Hinter Potsdam holte der Kapitän von
Petersdorff die Deserteurs ein, redete sie an und hätte den ganzen Trupp zurück¬
gebracht, wenn der Leutnant von Quistorp uicht die Infamie begangen, selbst zweimal
auf den Kapitän von Petersdorff schießen zu lassen und seiue Leute dergestalt im
Busche zu postircn, daß das Kavallcriedetachement nichts dagegen ausrichten konnte.
Der Kanon war zurückgeblieben, dem ohngeachtet glückte es dem Kapitän von Pe¬
tersdorff, 13 Mann vom leichten Bataillon und einige Husaren vom zweiten Re¬
giment zurückzubringen.
Noch deutlicher drückt den Standpunkt Tauentziens folgender Parolebefehl
oder Aufruf aus den ersten Tagen aus:
Soldaten! Der König und jeder gute Vaterlandsbürger hat Eure im letzten
Kriege bewiesene ruhmvolle Tapferkeit geehrt. Ihr wäret Helden^bei^ allen Ge¬
fahren und echte Verteidiger von Kolbcrgs Mauern. Ihr seid vom König und
von allen Patrioten des Vaterlands belohnt und geachtet. Undankbar würdet Ihr
sein, wenn Ihr so ehrenvolle Auszeichnung zu vergessen imstande sein könntet.
Schwer ist es, Ruhm und Lorberen zu erringen, leicht aber, sie zu verlieren.
Laßt Euch daher nicht vom Mutwillen ergreisen, um nur^zur strafbaren Empörung
herabzusinken.
Mehrere Eurer Kameraden haben verblendete Mittel ergriffen, welche ihre
Anführer nie rechtfertigen werden, sie sind von den Fahnen des Vaterlandes ge¬
wichen, die kein chrlicbender Soldat verlassen muß — ihr Vorsatz, Gutes stiften
zu wollen, kann sie nicht in Schutz nehmen, diese Unglücklichen stellen sich einem
Schicksale Preis, was Folgen hat und keiner von ihnen zu berechnen imstande ist.
Der König unser Herr nnr allein hat das Recht, uns zur Ergreifung der Waffen,
wenn es Not ist, zur Verteidigung des Vaterlandes aufzufordern — und kein Un¬
befangener darf sich dazu berufen lassen; wenn aber früh oder spat der König
zur Verteidigung des geliebten Vaterlandes ruft, dann werdet Ihr Gelegenheit
genug finden, Euch als wackere Streiter zu zeigen, und als Euer General werde
ich eine Ehre darin suchen, an Eurer Seite mit Euch zu wetteifern. Aber ein
Volk, das seinen König liebt, zeigt nur dann wahre Größe und Mut, wenn es
seinen gerechten Landesherrn auch im Unglück ehrt und nicht verläßt. Ein beharr¬
liches Volk, sage ich, muß auch nicht dann sich als Schiedsrichter aufwerfen wollen,
wo es die Verhältnisse, worin Staaten gegen- und miteinander stehen und sich ab¬
wägen, nicht kennt, und zu schwachsichtig ist, solche zu beurteilen.
Soldaten! Verwahrt Eure schönsten Tugenden — Euern bisher so herrlich
gekrönten Mut und bewiesene Folgsamkeit vor jeder Befleckung von Untreue. Schützet
ferner die mit dem Tode erkaufte, von Euern Waffenbrüdern und mit Eurer eignen
Lebensgefahr errungene Ehre, damit diese nicht in Verachtung übergehe und den
Fluch unglücklicher Opfer auf sich ladet.
Der echte Vaterlandsfreund gehorcht nur einer Stimme! Dies ist bei uns
die Stimme des Königs, und ein Volk ist nur dann stark, wenn es zusammenhält,
wenn es die Gesetze ehrt, wenn es den König liebt und den Obern gehorcht. In¬
dem ich des Königs Majestät von allem, was kürzlich hier vorging, Bericht er¬
stattet, unterließ ich nicht, mein Zutrauen hinzuzufügen, was ich in Euch setze, und
ich gab die Versicherung in Euerm Namen: daß niemand mehr unter Euch sei, der
den König und die Fahnen des Vaterlandes verlassen werde: daß keiner mehr unter
Euch sei, der die schwere Bürde auf sich laden und die bestehende Ordnung auf¬
lösen, ein solches Verbrechen verantworten wolle.
Rechtfertigt dies Vertrauen und ruft mit mir: Es lebe der König!
Das nach der Katastrophe von Stralsund unter dem Vorsitze des General¬
leutnants von Blücher zusammengetretene Kriegsgericht schrieb denn auch die Ver¬
antwortlichkeit ausschließlich Schill zu; die Gründe sehen es als konstatirt an,
daß das Regiment voll Mut und voll Vertrauen auf seinen Chef an die Ge¬
setzmäßigkeit des Schrittes geglaubt habe und dem Major von Schill blindlings
gefolgt sei in der Überzeugung, daß er auf Befehl seines Königs und Herrn
handle; ferner wird ausgeführt, wie es den Offizieren, nach den in der preu¬
ßischen Armee bestehenden Subordinationsverhältnissen, als Untergebenen nicht
erlaubt gewesen sei, nach der Nechtmcißigkeit oder Unrechtmäßigkeit dieses Be¬
fehls zu fragen, vielmehr würde bei Vernachlässigung des Befehls ein Offizier
sich eines starken Subordinationsvergehens schuldig gemacht haben.
Der König bestätigte das kriegsgerichtliche Urteil in allen seinen Teilen
am 10. September. Der Armee gegenüber erhielt das Unternehmen Schills
seinen Abschluß durch folgenden, gleichzeitig mit der Bestätigung des kriegs¬
gerichtlichen Urteils ergangenen Armeebefehl:
Se. Majestät macheu der Armee bekannt, daß die über das Verbrechen des
Major von Schill geführte Untersuchung geschlossen und kriegsrechtlich erkannt ist.
Die Untersuchung hat ergeben, daß der Major von Schill der alleinige Urheber
desselben gewesen ist, und daß er seine Untergebenen zu der falschen Meinung, als
handle er auf königlichen Befehl, verleitet, sie also getäuscht hat. Aus ihn fällt
daher das ganze Gewicht der Schuld, und seine Strafe würde so schwer sein, als
sein Verbrechen beispiellos ist, wenn nicht der Tod, den er im Gefecht von Stral¬
sund gefunden hat, ihn dieser Strafe entzogen hätte. Seine Untergebenen, die ihm
in jener Voraussetzung aus pflichtschuldigen Gehorsam folgte», siud als solche, die
unbekannt mit seinem strafbaren Zweck, bloß ihrer Dienstpflicht gehorchten, durch
das Kriegsgericht für straflos erklärt, diejenigen seiner Gefährten aber, welche ihm
aus freier Wahl gefolgt siud, nach dem Grade ihrer Verschuldung zu mehrjähriger
Festungsstrafe verurteilt worden, und gegen die, welche noch nicht in das Land zurück¬
gekehrt find, soll der Desertionsprozeß eröffnet werden.
Wenn wir uns, nachdem fünfundsiebzig Jahre seit dem Unternehmen Schills
verflossen sind, die Frage vorlegen: Ist es erlaubt, einen Regimentskommandeur,
der sein Regiment zur Desertion mit Pferd und Waffen veranlaßt und auf
eigne Hand den Krieg beginnt, als Helden zu verherrlichen? so dürfen wir wohl
getrost diese Frage bejahen. Unstreitig hatte ja Schill Leib und Leben verwirkt.
Dennoch dürfen wir seine Verherrlichung als berechtigt ansehen, weil sein Fehl¬
tritt durch die edelsten Motive veranlaßt war und volle Sühne gefunden hat.
Übergroße, wenn auch verblendete Liebe zu König und Vaterland trieb ihn zu
seinem Unternehmen; durch seinen Heldentod hat er sein Vergehen gegen die
Disziplin gebüßt. „Und sank er geächtet — er sank mit Ruhm." So hoch
auch die Pflicht des unbedingten Gehorsams steht, der Offizier wird doch häufig
mit dieser in Konflikt kommen. Es giebt kaum ein bezeichnenderes Beispiel
hierfür als das Leben des Generals von Aork, der doch sicher als der Typus
eines altpreußischen Offiziers aufgestellt werden muß. Als junger Offizier wird
er kassirt, weil sein Ehrbegriff sich nicht mit der Disziplin verträgt. Er schließt
die Konvention von Tauroggen und tritt mit seinem ganzen Korps zum Feinde
über, obwohl er das Bewußtsein in sich trägt, nach militärischen Gesetzen den
Kopf verwirkt zu haben. Sowie aber die Ehre höher stehen kann als das
militärische Gesetz, so kann auch die Liebe zum Vaterlande zur Verletzung des
geschriebenen Buchstabens führen. Viele Fälle sind denkbar, in denen die Worte
des Obersten von Kottwitz in Kleists „Prinz von Homburg" dem Soldaten aus
der Seele gesprochen sind:
Herr, das Gesetz, das höchste, oberste,
Das wirken soll in deiner Feldherrnbrust,
Das ist der Buchstab' deines Willens nicht,
Das ist das Vaterland, das ist die Krone,
Das bist du selber, dessen Haupt sie trägt.
Eine That wie die Schills darf von der Nachwelt nicht ausschließlich nach
juristischen Begriffen, sie muß auch aus den Zeitverhältnissen und aus der Per¬
sönlichkeit heraus beurteilt werden. In unsrer nüchternen Zeit können wir uns
schwer hineindenken in die schmerzlichen Gefühle, welche die Brust des preußischen
Patrioten nach der Niederlage von Jena und Auerstädt, bei dem Niedergange
der Armee und des Staates Friedrichs des Großen erfüllten, in die Empfin¬
dungen einer Zeit, die sich in wilden Träumen nach dem Kampfe sehnte und
nur den einen Gedanken zu denken vermochte:
Zu den Waffen, zu den Waffen,
Was die Hände blindlings raffen.
Hierzu kommt aber der eigentümliche Charakter Schills. Derselbe ist vielfach
geschildert worden. Trotzdem wird es nicht ohne Interesse sein, die kurz nach
seinem Tode niedergeschriebene, bisher ungedruckte Schilderung eines seiner
Waffengefährten zu vernehmen. Ein Aufsatz des als Führer des königlich preu¬
ßischen Freikorps bekannt gewordenen nachmaligen Generalmajors Adolf von
Lützow: „Schill und dessen Charakter" spricht sich in folgender Weise aus:
Schill war von Natur mit vielem Verstand, einem unerschütterlichen persön¬
lichen Mut und vorzüglicher Verschlagenheit begabt. Als Soldat war er kühn,
jedoch wo er als Feldherr, d, h. als Befehlender auftrat, da tragen seine Unter¬
nehmungen, seine Pläne nicht den Stempel der Kühnheit.
Lächerlich ist es, ihn als einen verwegenen Parteigänger zu schildern, da alle
seine Umgebungen bezeugen, daß er jede Gelegenheit Vorbeigehen ließ, sich als solchen
zu beweisen. Jedoch hatte er in seinem vortrefflichen Korps Offiziere, Volontäre
und Unteroffiziere, welche zu dieser Art des Krieges viel Talent hatten, und deu
von diesen unternommenen Streifereien verdankt der Major von Schill ausschlie߬
lich diesen Ruhm.
Er war außerordentlich thätig, kannte kein andres Vergnügen als die Pflichten
seines Standes, in deren Details er sich nur zu sehr einließ. Seine Thätigkeit
artete in eine Unrnhe aus, welche von einem geschickten Gcueralchirurgus für Krank¬
heit geHallen wurde. Seine Menge Von Ideen waren oft bewunderungswürdig,
sie waren^aber nie geordnet, und er war außer stände, Haupt- und Nebenideen zu
trennen. Ein beständiges Chaos war in seinem Kopfe, strudelte in demselben, ver¬
wickelte sich und machte ihn selbst wankelmütig.
Es ist zu bedauern, daß Schill mit seinem großen Genie nicht durch eine gute
Erziehung gebildet worden ist Es ist zu bedauern, daß seine wirklich genialen
Ideen sich nicht ordneten und zu einem bestimmten Plane hinarbeiteten. Doch dies
war ihm unmöglich, und selbst die ernstlichen Bestrebungen seiner Umgebungen konnten
ihn nie dazu bringen.
Er hatte die Absicht, sich Freunde zu erwerben, und war daher aus Grund¬
satz gegen jedermann artig und freundlich, besonders aber gegen die geringere Volks¬
klasse, bei der er dann auch seinen Endzweck völlig erreichte, und ich behaupte daher
mit Gewißheit, daß es in Deutschland keinen Menschen gab, der das Talent, auf
den großen Haufen zu wirken, in dem Grade besaß als er, der stundenlang den
fadesten Gesprächen eines Bauern zuhören und es immer durch neue Fragen in
Gang erhalten konnte; der nie einen Bauer von sich weggehen ließ, ohne ihn zum
wenigsten durch Versprechungen oder freundschaftliches Zureden getröstet und für sich
eingenommen zu haben. War es daher möglich, Deutschlands Volk unter die Waffen
zu bringen, so war es durch Schills Namen und durch Schills persönliche Eigen¬
schaften.
Er war ein geborner Redner. Mangel an Bildung machten sich zwar auch
hier bei der gebildeten Klasse kenntlich, jedoch riß sein Feuer fort, selbst hingerissen
im höchsten Enthusiasmus, welches sich durch Stimme und Geberde in jeder Miene
aussprach. Der tapfere Schill flößte bei jeder Gelegenheit seinen Untergebenen die
Tapferkeit ein. Selbst durchdrungen und fühlend, was er sprach, teilte er schnell
seine Gefühle der Menge mit. Kein Mittel war ihm unerlaubt zu seinem Zweck.
Schills höchster Wunsch war Ehre, und für jeden Preis wollte er glänzen. Welche
schönere Aussicht konnte sich einem ehrgeizigen Charakter zeigen als die Befreiung
Deutschlands?
Die übergroße Anerkennung, die Schill für seine Verdienste vor Kolberg
fand, war ganz dazu angethan, eine Art von Größenwahn bei ihm zu erzeugen.
Sein Name hatte den Namen Gneiscnaus verdunkelt, Gneisenau selbst hatte es
zugelassen, „Mag die Welt immerhin glauben, daß er Kolberg verteidigt hat,
für den Staat ist das desto besser. Schill ist noch jung und kann der deut¬
schen Sache noch wichtige Dienste leisten. Durch seine Popularität und allver¬
breiteten Namen können noch schöne Dinge gethan werden; wir müssen daher
solchen verherrlichen, soviel wir können."
Der Triumphzug Schills von Kolberg bis Berlin an der Spitze des zweiten
brandenburgischen Husareuregiments und des leichten Bataillons, der Einzug in
Berlin am 10. Dezember 1808 mußte berauschend wirken. Die Begeisterung
des Volkes, die ihm in gleicher Weise wie die Gunst des Königs zuteil wurde,
konnte auf eine Natur wie die- seine nicht ohne beirrenden Einfluß bleiben.
Wie er in Verkennung der thatsächlichen Verhältnisse sich für den eigentlichen
Verteidiger von Kolberg hielt, so glaubte er sich auch, um Worte eines Zeit¬
genossen zu gebrauchen, „berufen, sein Vaterland von der drückenden Abhängig¬
keit von einer fremden Macht zu retten, welche er so unaussprechlich haßte;
sein feuriger Geist ließ ihm die Hindernisse in verkleinerten Maßstabe erscheinen;
unaufhörlich beschäftigte ihn jener Gedanke, der seit Jahren schon das einzige
Ziel seines rastlosen Strebens war, dem er alle seine Kräfte widmete." In
diese Auffassungen mischte sich eine phantastische Verehrung der Königin Luise.
Als er das Regiment aufforderte, ihm Folge zu leisten, zeigte er eine Brief¬
tasche als Wahrzeichen vor, welche ihm die Königin mit der Aufschrift „Für
den braven Major von Schill" geschenkt hatte.
Die politischen Verhältnisse waren 1809 so komplizirr, daß es sür Schill
schwer war, die Ziele zu erkennen, welche die Politik der Regierung des Königs
verfolgte. Unter gewöhnlichen Verhältnissen hat sich der Offizier sicher nicht um
die Politik zu kümmern; er hat nur seine Befehle abzuwarten und zu befolgen.
Die außerordentlichen Zeitverhältnisse hatten aber Schill in außergewöhnlicher
Weise in die Politik hineingezogen. Der durch den Tilsiter Frieden herbei¬
geführte Zustand hatte nicht als ein dauernder, sondern nur als eine Art Waffen¬
stillstand angesehen werden können; namentlich im Winter 1803 auf 1809 war
der Wiederausbruch des Krieges jeden Augenblick zu erwarten gewesen. Es
hatten daher Mittel ersonnen werden müssen, um der kleinen preußischen Armee
die Möglichkeit zu geben, sich gegen die französische Übermacht möglichst lange
zu wehren. Als ein solches Mittel war die Einleitung eines Vvlksaufstandes
erschienen, der im Rücken der französischen Armee in den ehemals preußischen
Ländern, wie Westfalen, Ostfriesland, Ansbach-Bayreuth u. s. w., sowie in
Hessen unter Benutzung der zahlreich dort vorhandenen ehemaligen preußischen
resp, hessischen Offiziere und Soldaten hatte ausbrechen sollen. Mit Hilfe eines
solchen Volksaufstandes wollte man — wie der nachmalige Kriegsminister von
Boyen sagte — „einen kleinen Krieg gegen die Ernährung und nächtliche Ruhe
der feindlichen Heere führen, während praktisch gebildete Linientruppen und ihre
möglichst starken Reserven sich um vorbereitete, wohlbefestigte Stellungen be¬
wegen und im übelsten Falle in ihnen eine Zuflucht finden sollten, bis auf
diesem Wege der Gegner ermattet und das kriegerische Vertrauen im eignen
Heere und Volke gesteigert sei, um dann in die Offensive überzugehen." Die
Erhebungen, die in Spanien stattgefunden, hatten den Glauben an die Ausführ¬
barkeit eines Volksaufstandes genährt.
Auf Veranlassung Schcmihvrsts war in Berlin ein Nachrichtenbüreau ein¬
gerichtet worden, Verbindungen mit frühern Offizieren und patriotisch gesinnten
Männern waren angeknüpft, sowie für die verschiednen Gegenden Offiziere
bestimmt worden, die in ihnen Freikorps als Mittel- und Stützpunkte der auf¬
stehenden Volksmassen errichten sollten. Die Aufstände sollten überall aufs
schnellste losbrechen, es sollten Handstreiche gegen die von der französischen Armee
besetzten Punkte ausgeführt werden; infolge der Kämpfe mit Spanien und des
bevorstehenden Krieges mit Österreich war Nord- und Westdeutschland von
französischen Truppen entblößt.
In diesen Plänen war dem Major von Schill als der damals populärsten
Persönlichkeit eine besonders wichtige Rolle zugefallen; ihm war die Aufgabe
zuerteilt worden, Mitteldeutschland zu insurgiren und einen Handstreich auf
Magdeburg zu unternehmen. Ein im Anfang Januar 1809 von Scharnhorst
an Schill gerichtetes Schreiben soll gelautet haben: „Sie sind auf einem guten
Posten, und die Zeit ist nahe, wo wir auf kräftige Handlungen rechnen müssen.
Haben Sie ein gutes Auge auf die Dinge in Österreich; der Krieg wird dort
ganz wahrscheinlich in diesem Jahre noch ausbrechen, vielleicht schon zum Früh¬
jahr. Wir müssen alsdann überall fertig sein, um den kleinen Krieg zu unter¬
nehmen, und auf Sie rechne ich dabei am meisten. Es wäre gut, wenn Sie
sich alsdann Magdeburgs zu bemächtigen suchten und Mitteldeutschland insur-
girten. An Teilnahme wird es Ihnen unter der dortigen Bevölkerung nicht
fehlen. Doch warten Sie das Zeichen ab, und übereilen Sie nichts." Auch
Gneisenau soll Schill gegenüber geäußert haben: „Fahren Sie fort, die Ge¬
müter zu erfrischen, wo das Blut etwas stocken will. Meine treue Mitwirkung
für Ihre Pläne sage ich Ihnen von Herzen zu."
Es war in dem Charakter Schills begründet, daß er sich in einer die In¬
tentionen Scharnhorsts weit überschreitenden Weise engagirte. Er hatte sich
persönlich in unhaltbarer Weise kompromittirt, teils durch Beziehungen zu dem
in letzter Stunde aufgegebenen Unternehmen der Leutnants von Wedell und
von Hirschfeld, den König Jerome in Kassel aufzuheben, teils durch Beziehungen
zu dem am 2. April in Stendal versuchten Aufstande des Leutnants von Katte
und zu dem am 21. April in Kassel versuchten Aufstande des Oberstleutnants
Freiherrn von Dörnberg. Nicht in seinem Charakter begründet ist es aber,
daß das Gefühl, sich persönlich kompromittirt zu haben, allein ihn zu dem Ent¬
schlüsse, mit dem ganzen Regiment auszumarschiren, getrieben haben sollte; er
hatte Mannesmut genug, die Folgen seiner Schritte, auch wenn sie ihm den
Kopf hätten kosten sollen, zu tragen; überdies waren sie doch nur die Folge
von Weisungen, die ihm durch Scharnhorst zugegangen waren. Das Gefühl
Persönlicher Kompromittirung mag den verhängnisvollen Entschluß gezeitigt
haben; hervorgerufen wurde er durch die Vorstellung, daß es unter allen Um¬
ständen zum Anschlusse Preußens an Österreich in dem bereits von diesem be¬
gonnenen Kriege kommen und der vorbereitete Volksaufstand in Hessen und
Westfalen auf diesen Krieg von größtem Einflüsse sein müsse, daß es sich jedoch
nur um Tage handle, wenn dieser Aufstand noch zustande kommen solle. Die
Richtung seines Marsches ging auf Kassel, bis er gleichzeitig mit der Nachricht
von der Verlornen Schlacht bei Regensburg Kenntnis von dem vollständigen
Scheitern der Aufstandsversuche in Hessen erhielt.
Über das Ungesetzmäßige seines Schrittes wurde Schill auch durch unklare
Vorstellungen über die spanischen Vorgänge des Jahres 1808 getäuscht, als
hätte eine energische Erhebung der spanischen Nation das Schicksal der Regenten-
samilie retten können. In der Ansprache, die er beim Ausmarsche an das Re¬
giment hielt, erwähnte er Spanien mit den Worten: So wie der treulose
Tyrann Spanien behandelt, das ihm so viele Opfer gebracht, so werde er ge¬
wiß nicht ruhen, als bis er auch dem Vaterlande den geliebten König entzogen
und den erlauchten Regentcnstamm, unter dessen weiser Regierung Preußen sich
zur höchsten Stufe des Ruhmes erhoben, des Thrones beraubt hätte. Wie er
die Vorstellung in sich trug, durch sein persönliches Eingreifen die Festung Kol-
berg gerettet zu haben, so glaubte er auch durch sein persönliches Eingreifen
die Monarchie retten zu können.
Als zweifellos darf es angesehen werden, daß, wenn die Schlacht bei
Regensburg glücklich für Österreichs Fahnen ausgefallen wäre und Preußen
gleichzeitig den Krieg erklärt hätte, das schnelle Erscheinen des brandenburgischen
Husarenregiments in Hessen nicht unwichtig gewesen wäre und einen Volksauf¬
stand in Westfalen und Ostfriesland zur Folge gehabt hätte; der Aufstand im
Rücken der französischen Armee würde aber in hohem Grade lähmend auf diese
gewirkt und der preußischen Armee Zeit verschafft haben, sich zu mobilisiren.
Schill erfuhr am 4. Mai mit Bestimmtheit, daß die Aufstandsversuche in Hessen
als gescheitert anzusehen seien, sowie daß der Erzherzog Karl, am 23. April vor
den Mauern von Regensburg geschlagen, sich im unaufhaltsamen Rückzüge nach
dem Böhmerwalde befinde, Napoleon dagegen im Marsche ans Wien sei. Adolf
von Lützow berichtet über das Benehmen Schills angesichts dieser unglücklichen
Nachrichten in folgender Weise:
Bis zu diesem Augenblicke hatte die Glücksgöttin sich für ihn erklärt, ver¬
änderlich verließ sie ihn, da er sie am nötigsten brauchte. Schill hatte zuviel Ver¬
stand, um nicht nach diesen unglücklichen Nachrichten schnell zu begreifen, daß sein
Unternehmen unausführbar sei. Imi Unglück zeigt sich der große Mann durch
ruhige Überlegung und unerschütterliche Entschlossenheit. Schill bewies jetzt, daß er
keiner war. Der bravste Soldat, der keine Todesgefahr kannte, konnte die Angst
seines Gewissens nicht bekämpfen; er machte sich innerlich Vorwürfe, ein so gefähr¬
liches Ziel begonnen zu haben. Ein Brief des Generalleutnants von L'Estocq, voll
der stärksten Vorwürfe, brachte ihn außer sich, er konnte zum Unglück für sich, seinen
Ruhm und sein Korps sich nicht fassen.
Schill war bereit, dem Befehle des Generalleutnants von L'Estocq nach¬
zukommen, auf der Stelle zurückzukehren und sich den Folgen seiner Handlungs¬
weise zu unterwerfen. Bei Ausführung dieses Schrittes wäre jedoch die Person
Schills geopfert worden. Die zu einer Beratung versammelten Offiziere er¬
klärten einstimmig, „es sei unwürdig, von dem einmal gefaßten Entschlüsse ab¬
zugehen, den Freund und Führer im Stich zu lassen; es gelte, keinen Schritt,
der mutig gewagt worden, feigherzig zurückzuthun und das Zutrauen der
wackeren Landsleute, die dann zu keinem ähnlichen Unternehmen je sich hergeben
würden, zu täuschen; vorwärts winke die Ehre und im äußersten Falle ein
rühmlicher Untergang; rückwärts warte nur Strafe und Schande." Gleich¬
zeitig drang Lützow in Schill, den Entschluß zu fassen, durch die Altmark und
das Hannöversche nach Ostfriesland zu marschiren, wo alles zum Aufstande vor¬
bereitet sei; man könne dort abwarten, ob das Waffenglück der österreichischen
Armee und vielleicht auch die preußische Politik sich ändern werde; im ungün¬
stigsten Falle werde es immer möglich sein, sich nach England einzuschiffen.
Lützow wurde in seinem Vorschlage durch seinen jünger» Bruder Leo von Lützow,
damals Premierleutnant im Gencralquartiermeisterstabe (als Generalleutnant
und Kommandant von Berlin gestorben), unterstützt; dieser war mit Einrichtung
eines Nachrichteubürccms in Berlin betraut gewesen und hatte nach Einreichung
eines Abschiedsgesuches sich Schill zur Verfügung gestellt, um ihn in Kenntnis
von den durch Scharnhorst in Thüringen, Westfalen und Ostfriesland ange¬
knüpften Verbindungen zu setzen. Von andern Offizieren wurden andre Vor¬
schläge gemacht; einer derselben ging dahin, die Elbe aufwärts nach Böhmen
zu marschiren und sich der österreichischen Armee anzuschließen.
Der Unschlüssigkeit Schills wurde durch die Nachricht ein Ende gemacht,
daß aus Magdeburg ein Teil der französischen Garnison gegen ihn ausgerückt
sei. Bei Dodendorf wurde Lützow schwer verwundet; er war der einzige, der
auf Schill größern Einfluß hatte, und er würde ihn voraussichtlich zum Marsche
nach Ostfriesland bestimmt haben. Es ist bekannt, wie Schill dann die Elbe
abwärts nach Dönitz und von dort nach Stralsund marschirte. Arndt hat
gesungen:
O Schill! O Schill! Du tapferer Held!
Was sind dir für bübische Netze gestellt!
Viele ziehen zu Lande, es schleichet vom Meer
Der Däne, die tückische Schlange, daher.
O Schill! O Schill! Du tapferer Held!
Was sprengst du nicht mit den Reitern ins Feld,
Was schließest in Mauern die Tapferkeit ein?
In Stralsund, da sollst du begraben sein.
Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit. Der
Entschluß, sich in Stralsund festzusetzen, aus Stralsund ein zweites Saragossa
zu machen, ist schwer begreiflich. Lützow sagt darüber:
Dem Major von Schill fehlte der Geist eines Parteigängers; Kolberg war
seine Kriegsschule gewesen; er wollte stets einen festen Ort haben. Hätte er nur
etwas vom Geiste eines Partisans gehabt, er hätte seinen Replipunkt in Ostfries¬
land gesucht, aber nein, das war ihm zu entfernt. Er wählte den nächsten festen
Ort, er wählte Dönitz, und kein Mensch begriff, was er dort wolle. Von Dönitz
ging er nach Stralsund, hier hielt er sich, anstatt sich einzuschiffen, die einzige Ret¬
tung, die ihm in dieser Ecke übrig blieb; er hielt sich für unüberwindlich.
Durch diese falsche Ansicht starb ein Mann, der, ohngeachtet er kein Feldherr
war, dennoch Eigenschaften eines würdigen Offiziers besaß, den viele tadeln, aber
wenige erreichen werden. Wer ihn kannte, wird ihn mit mir herzlich bedauern.
Durch diese falsche Ansicht wurde ein Korps zertrümmert, das der, der es
kennt, lieben und achten muß.
seinem vortrefflichen Korps ist kein andrer Vorwurf zu machen, als Kühn¬
heit und der rege Wunsch, Deutschlands Freiheit zu erkämpfen. Denen, die so
schrecklich über dasselbe herfallen, gebe ich zur Antwort, daß sie wahrlich diesen
Vorwurf nicht verdienen, noch jemals verdienen werden.
Schill ist nicht zu beklagen; er starb in Stralsund am 31. Mai 1809
einen schonen Neitertod, mit dem er alle seine Schuld führte.
Seine Brust durchglühten heil'ge Flammen,
Rächen wollt' er edler Völker Schmach,
Pöbelscelen werden ihn verdammen,
Da des Schicksals Grimm er unterlag.
Ein trauriges Gefühl beschleicht uns nur betreffs derjenigen Gefährten Schills,
welche teils in Stralsund fielen, teils später in Wesel den Tod auf dem Sand¬
haufen durch französische Kugeln erlitten. Ein Waffengefährte, eins der ersten
Opfer der Befreiungskriege, Alexander von Blomberg, rief ihnen nach:
Und erlieget ihr des Schicksals Schlagen,
Ruft auch euch der Sterne ernster Schluß,
Faltet freudig für der Völker Segen,
Für das Höchste sterben ist Genuß;
Und des Vaterlandes Genius
Bringt der Freiheit Palme euch entgegen.
Aber auch die Waffengefährten Schills sind nicht umsonst gestorben; aus ihrem
Vinde wuchsen unzählige neue Streiter empor. Das Beispiel der aussichtslosen,
todesmutigen Hingabe an das Vaterland ist von dem größten Einfluß für die
Erhebung des Jahres 1813 gewesen. „Der Zug Schills — so urteilt ein andrer
seiner Waffengefährten, der nachmalige Chef des Generalstabs der Armee, Ge¬
neral von Nehher, damals Wachtmeister und Regimentsschreiber im zweiten
brandenburgischen Husarenregiment —, obwohl er unglücklich endete, gehört
nichtsdestoweniger zu den Erscheinungen, welche damals mitten im Siegeslaufe
der französischen Heere wie Blitze den politischen Horizont durchzuckten und so
gleichsam das Herannahen des Gewitters verkündeten, welches einige Jahre
später sich über dem Haupte Napoleons zusammenzog und durch rasch aufeinander¬
folgende Schläge ihn und seine Macht zertrümmerte." Schenkendorf hatte bei
Schills Tode weissagend gesungen:
Tag des Volkes! Du wirst tagen,
Den ich oben feiern will,
Und mein freies Volk wird sagen:
Ruh' in Frieden, treuer SchillI
le Gemeinde soll also zusammen mit der Orgel musiziren. Da
fragt es sich um: Hat sich die Gemeinde nach der Orgel oder
die Orgel nach der Gemeinde zu richten? Soll die Gemeinde
singen und die Orgel begleiten? Oder soll die Orgel das Wort
führen und die Gemeinde nur „mitsingen"?
Für das gegenwärtige Bedürfnis — angesichts der vollendeten Natur der
Orgel gegenüber der kläglichen Verfassung des von der Gemeinde gebildeten
musikalischen Faktors — darf man offenbar das letztere für zweckmäßig halten.
Im Ideal freilich sollte keines von beiden der Fall sein. Vielmehr haben Orgel
und Gemeinde vereinte Mittel und Absichten darauf zu richten, daß, im steten
Hinblick auf den Charakter der Gelegenheit, speziell auf den Inhalt des vor¬
zutragenden Gesanges, der Gottesdienst sich zu einer einheitlichen, abgerundeten
musikalischen Gesamtleistung gestalte, und zwar so, daß auch derjenige Zuhörer,
welcher nach Bekenntnis oder Gesinnung etwa außerhalb der sich erbauenden
Religionsgemeinde stünde, dennoch eine „Aufführung" zu vernehmen meint,
wert mit voller Hingabe angehört zu werden und ausgiebig wie für die „Mit-
Wirkender" zugleich an religiöser, so sür den Hörer an rein musikalischer
Erbauung.
Erkennen wir diesen Standpunkt als einen idealen an, der nicht erreicht
werden kann, so ist er damit doch zugleich als ein Standpunkt anerkannt, der
auf jeden Fall erstrebt werden soll. Wie verteilt sich nun die Aufgabe
einerseits der Gemeinde, andrerseits der Orgel an einer solchen „Choralcmf-
führung"?
Es läßt sich nicht hinwegleugnen, daß bei aller erhöhten Gegenanstrengung
der leitenden Kantoren der Gemeinde-Kirchengesang zur Zeit an einer Art von
Schwindsüchtigen Siechtum laborirt. Gewiß steht dies im Zusammenhang mit
dem Einfluß einer unkirchlichen und geradezu antigottesdienstlichen Richtung
der Gegenwart. Allein es fragt sich, ob diese Richtung nicht mit einem Teil
ihrer Wurzeln in dem Grunde der Mangelhaftigkeit dessen fußt, was der kirch¬
liche Kultus durch die Sinne dem Gemüte bietet. Warum soll, wenn eine
gute Rede — in oder außer der Kirche — ihre Anziehungskraft nach wie vor
ausübt, dies nicht in gleichem Maße mit einer guten Choralmusik — in unserm
Sinne — der Fall sein können? Überdies in einer Zeit, wo das Verständnis
für musikalische Leistungen und Formen längst begonnen hat, mehr und mehr
Gemeingut zu werden? Und in einer Zeit, wo jener Richtung zum Trotz auch
von kirchlicher Seite die rührigsten Kundgebungen sich geltend machen? Wenn
man uns einwirft: Das sind nicht die wahrhaft christlichen Kirchgänger, welche
der Musik in der Kirche nachgehen, so fragen wir: Warum denn nicht? wird
etwa die Musik in der Kirche zu andern als zu kirchlichen Zwecken gehandhabt?
Und zeugt es etwa von einem niederen Grade christlichen Bewußtseins, ein
musikalisches Gemüt zu besitzen, oder von einem höhern, lediglich der guten
Rede nachzugehen? Kann man leugnen, daß das eigentlich Gottesdienstlichc
schlechterdings wo anders als im Anhören der Predigt liegen müsse? Man
denke an Israel, an das „Volk Gottes," das doch seinerzeit Gott am ange¬
messensten zu feiern verstand, weil, wie berichtet wird, der ganze Kultus auf
Jehovahs ausdrückliche Vorschriften eingerichtet war, und sehe zu, wie gewaltig
dort, z. B. bei Einweihung des Tempels, musizirt wurde! Doch alles dessen
bedarf es nicht. Wem es auf musikalischen Genuß ausschließlich ankommen
sollte, der wird meist außerhalb der Kirche Gelegenheit haben, ihn die Fülle
zu finden. Die Anzahl derer aber, welche einem guten Gesänge nachgehen und
dabei eine gute Rede verschmähen sollten, dürfte gering genug sein. Und es
bleibt nach heutiger Sachlage eine der ersten Pflichten der Kirche, nichts zu
versäumen, was dazu dienen kann, um vermehrtem Kirchenbesuch Vorschub zu
leisten, vorausgesetzt, daß alle derartigen Bestrebungen nicht unkirchlicher Natur
sind. Wo heutzutage musizirt wird, da stellt sich, wie angedeutet, selbst in den
letzten Schichten des Publikums schon strenge Kritik ein; man ist längst in
dieser Hinsicht verwöhnt und verlangt von der Tanzmusik an bis hinauf zum
Kirchenkonzert das beste. Nur für den sonntäglichen Gottesdienst hat man ver¬
gessen, daß es anders, nämlich besser sein könnte, und daß auch hier Mittel¬
mäßigkeit nicht das höchste ist, was erstrebt zu werden verdient. Musik hat
nur da Berechtigung, wo sie nach Vervollkommnung strebt. Sollte sie sich von
diesem Streben für die Kirche, und wäre es nur (!) für den Choralgescmg,
dispensiren dürfen? „Der liebe Gott sieht aufs Herz!" Nun, dann wird es
dem lieben Gott auch besser gefallen, wenn wir aus gutem Herzen gut singen,
anstatt schlecht. Oder brächte etwa die sonntägliche Gewohnheit unabweisbar
das Mittelmäßige, welchem früher oder später das Schlechte folgen müßte, mit
sich? Wie Marx sagt, wird kaum ein Mensch ohne musikalische Anlage, d. h.
ohne musikalische Empfänglichkeit geboren. Aber eben weil die musikalische
Empfänglichkeit Gemeingut ist, so hat sich seit den ältesten Zeiten die Kirche,
um selbst Gemeingut zu werden, derselben als Vermittlerin bedient. Wenn man
um eine Naturanlage, wenn auch nur nach gewisser Seite hin, im kirch¬
lichen Choralgesang, mit einer Konsequenz vernachlässigt, die ans Grundsätzliche
streift, so darf das eine Schmach genannt werden, die sich, wie die Vernach¬
lässigung jedes andern Natnrgeschenkes, umso bitterer rächt, je mehr gerade
das Musikalische zu dem gehört, was wahrhaft geiht-menschlich und darum
menschenwürdig ist.
Es sei erlaubt, an dieser Stelle kurz die Sitte der griechisch-katholischen
(orthodoxen) Kirche zu berühren.*) Diese gestattet keine Instrumentalmusik,
sodaß also von der Mitwirkung beim Gottesdienste auch die Orgel ausgeschlossen
bleibt. Der Chor der Psalmensänger allein hat die Aufgabe den musikalischen
Teil des Gottesdienstes (und da die Predigt zu den Seltenheiten gehört, so
besteht der Gottesdienst eben nur aus Musik), rituale vier- und mehrstimmige
Gesänge oft sehr komplizirter Natur, auszuführen. (Vom Sängerchor aus¬
geschlossen ist übrigens auch jedes weibliche Element.) Diese Einrichtung bringt
es mit sich, daß die Sängerchöre, auf deren Leistungen die Würde des Gottes¬
dienstes beruht und deren Vorträge von der Gemeinde mit der gespanntesten
Aufmerksamkeit verfolgt werden, der möglichsten Vollkommenheit sich zu be¬
fleißigen haben. Diese Vollkommenheit ist, auch in Anbetracht dessen, daß nur
aus dem Gedächtnis gesungen wird, eine wahrhaft bewundernswürdige und
bei der Jugendlichkeit eines Teiles der Mitwirkenden fast unbegreifliche, und
dürfte nach dem Urteil der berühmten Catalani in einigen Kirchen (Se. Alexander
Newski, Muttergottes von Kasan, Se. Jsaak, Hofkathedrale u. a.) von den
weltbekannten Leistungen der Sixtinischen Kapelle kaum erreicht, geschweige denn
übertroffen werden. Dem Publikum wird die direkte Teilnahme am Gesang
natürlich nicht gestattet. Allein die passive Teilnahme, die es diesen Gesängen
von Jugend auf entgegenbringt, bewirkt, daß es auch in den kleinern Kirchen
niemals an Kräften mangelt. Vielmehr ist bei zeitweilig entstehenden Lücken
der erste beste vom neunjährigen Knaben an bis zum gereiften Manne bereit,
die seiner Stimmlage entsprechende Partie zu übernehmen, und imstande, die
Partie ohne sonderliche Schwierigkeit durchzuführen. Um es kurz auszudrücken:
hier ist der Kirchengesang — und zwar trotz schwierigerer Verhältnisse —
Populär.
Kein Zweifel: der Gesang der Gemeinde muß eine gründliche Neuschulung
erfahren. Wodurch kann das geschehen? In erster Linie schwerlich durch andres,
als durch Vermittelung der Schule, welche wie bisher ihren Bedarf an zuver¬
lässigen Kirchensängern heranzubilden, im Augenmerk ans ein weiteres und
künftiges Ziel aber überhaupt den Grund zu einer in kirchlich-musikalischer
Hinsicht möglichst tüchtigen Generation zu legen hat. Das hat die Schule zu
thun, niemand anders! Aber nun müssen wir für die. welche etwa flugs bei
der Hand sein sollten, um die Schule für die bisherige Kalamität verantwortlich
zu machen, hinzufügen: Wenn die Erfüllung der Aufgabe den Männern, denen
die Verwaltung des Lehramtes in der Schule und zugleich des Gesangsdienstes
in der Kirche obliegt, künftighin von der kirchlichen Gemeinde im Verein mit
allen zuständigen Behörden nicht in erheblichem Grade erleichtert, ihr Wirkungs¬
kreis samt der Dispositionsberechtigung über die Mittel nicht beträchtlich aus¬
gedehnt und ihre Situation nach dieser Richtung nicht in bestimmter Weise
geregelt wird — dann bleibt alles beim alten! Und sollte es nicht beim alten
bleiben, so würde es in diesem Falle nur schlechter werden. Wenn wir nun
sehen, daß die Schule zur Zeit vielleicht mehr als je auf dem Gebiete systema¬
tischer Gesangspflege wirkt, so bleibt für den Chordienst vorläufig nur das zu
thun übrig, was zu thun nicht in der Macht der Schule steht.
Erstens müßte wirklicher Chorzwang eintreten, nicht bloß formeller oder
fakultativer, und zwar geregelt durch Verordnung von oben. Er müßte sich
auf die Fortbildungsschule mit erstrecken (ob auch auf die Mädchen, wäre zu
erwägen). Und warum auch nicht? Waren die frühern „Sonntagsschulen"
nicht vielfach obligatorisch? Die gegenwärtige Generation remonstrirt ein wenig,
die künftige weiß es nicht anders.
Zweitens müßte an jeder Schule wöchentlich mindestens eine Gesangstunde
der vereinigten Klassen unter dem Kantor stattfinden, zu welcher die einzelnen
Klassen vorgeübt zu erscheinen hätten. Der Kantor führt jetzt seinen Namen
meist sehr mit Unrecht; er besitzt als Kantor wenig Einfluß und — viel Ärger.
Diese Stunden würden sich selbstverständlich zunächst auf Pflege des kirchlichen
Gesanges zu richten haben — die Fortbildungsschule ebenfalls mit einge¬
schlossen.
Drittens müßte wöchentlich mit den vereinigten Klassen einmal Gesang¬
übung in der Kirche abgehalten werden, teils s, og,xs11g,, teils mit Orgel. Ob
die einzelnen Klassen hierzu ebenfalls in der Kirche vorzuüben wären, bliebe wieder
zu erwägen.
Soviel ließe sich auf obligatorischen Wege erreichen.
Viertens müßten aber die zahlreich emporgeschossenen und noch empor¬
schießenden Gesangvereine ihre Intentionen mehr, und nicht nur gelegentlich, der
kirchlichen, auch der Choralmusik zuwenden; die zünftige Liedertafeln steht
ohnehin höherm Aufschwung nur entgegen.
Fünftens müßten Einladungen an die Gemeinde ergehen zur Beteiligung
an Gesangs- (Choral-) Übungen in der Kirche, zunächst unter dem Kantor, mit
oder ohne Ausschluß von passiver Zuhörerschaft. In diesen Stunden könnten
die vom Geistlichen für den nächsten Gottesdienst vorgeschriebenen Melodien
zur Einübung gelangen.
Sechstens müßten feierliche Liturgien, Tedeums u. s. w. eingeübt werden.
Die Kahlheit der neuerdings wieder in ihr Recht eingesetzten Liturgie vermag
namentlich an hohen Festen und vollends bei mangelnder musikalischer Bildung
der Geistlichen uoch wenig zu erwärmen.
Siebentens ist unbedingtes Erfordernis musikalische Ausbildung des Geist¬
lichen, wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Soll er nicht imstande sein,
den Kantor und den Organisten zu kontroliren? Soll er allein privilegirt
sein, schlecht und falsch zu singen? kein Urteil über das kirchlich-musikalische
Bedürfnis der Gemeinde haben? Denn verhehlen wir es uns nicht: die gegen¬
wärtig auf der Universität betriebenen „liturgischen Übungen" sind Farce — ein
Kinderspott in den Augen und Ohren des letzten Dorfkantors.
Über dies alles aber sollte man mehr und mehr den Grundsatz anerkennen
und würdigen: Musikalische Bildung ist nicht allein eine sehr erfreuliche und
wünschenswerte Beigabe fürs Leben, sondern, sofern wir in ihr einen der
mächtigsten Faktoren zur Erzielung ästhetischer Urteilsfähigkeit und zur Gründung
eines ausgiebigen Gemütsfonds erblicken, auch eine sehr notwendige — not¬
wendig an erster Stelle natürlich für Kirchendiener jeden Ranges, notwendig
ferner für die Gesamtheit derer, welche mich aus dem kirchlichen Kultus kirch¬
liche Gesinnung schöpfen sollen, notwendig endlich für die Genossen eines
Volksstammes, der berufen erscheint, sich vor seinen Nachbarn noch durch etwas
höheres auszuzeichnen als durch die Kraft seiner Fäuste.
Und der Anteil der Orgel? Man nennt die Orgel eine Königin unter
den Instrumenten. Sie ist es in mehrfacher Beziehung: in Anbetracht ihres
Reichtums und der Vollständigkeit der in ihr vereinigten musikalischen Aus¬
stattung. Da, wo sie die verschiedenen Spezialinstrumente nicht ersetzt, syn-
bolisirt sie dieselben gleichsam musikalisch und assimilirt sie einander zum Dienste
einer einheitlichen Gesamtwirkung, wie sich solche durch die Hand eines einzelnen
nur mit ihr verwirklichen läßt. Aber auch in Anbetracht ihrer kirchlichen Be¬
stimmung, für welche sie entschieden einzig geschickt bleibt. So soll sich denn
die Orgel mit dem Gesänge der Gemeinde verschmelzen, aber ohne ihr Königtum
aufzugeben, vielmehr indem sie solches so entschieden als nur möglich geltend
macht, wenn auch ohne Despotismus. Wir behaupten geradezu: nach dem
heutigen Stande der Dinge fällt es der Orgel als Hauptaufgabe mit zu, die
Gemeinde musikalisch heranzubilden, den Gesang zu restauriren und zu reno-
viren, das verdorbene Element unvermerkt zum bessern Schulen zu helfen.
Das aber wird sie nicht vermögen, wenn sie dem Gemeindegesang lediglich
als Begleiterin sich unterordnet und damit natürlich auch auf das Zwischenspiel
verzichtet. Was dem Gemeindegesang an Fülle, Vollkommenheit, Würde, Er-
hebungs- und Erbauungsfähigkeit abgeht, und alles, was ihm in dieser Hinsicht
als einer Leistung von Nichtkünstlern auch für jede Zukunft abgehen wird, das
hat die Orgel zu ersetzen.
„Weg mit dem Zwischenspiel!" rufen die Gegner, „es zerreißt auf wider¬
sinnige Weise den Text." Welch oberflächliche Auffassung! Mit dem Zwischen¬
spiel fällt ein gutes Teil von der Selbständigkeit der Orgel. Kann der sein
Instrument wahrhaft hochachtende und mit Hingebung behandelnde Organist jene
Ansicht aufrichtig hegen? Zur simpeln Begleitung bedürfte es eines Apparates
von solch königlicher Vollkommenheit, überwältigender Tonkraft und Fülle,
Mannichfaltigkeit der Färbung, und dennoch zugleich fast absoluter Ergebung in
Hand und Geist des Spielers? Jahrhunderte hätten ihren Scharfsinn erprobt
und dies alles erfunden, vervollkommnet, hergestellt und — bezahlt, nur damit
es sich in den sekundären Sklavendienst einer womöglich noch weniger als
musikalisch gebildeten Menge füge, oder, ganz entgegen der dnrch seinen
Charakter selbst angezeigten Bestimmung, etwa im Konzert hin und wieder zur
Geltung gelange? Ein Harmonium oder ein dem ähnliches Surrogat würde
sich zu solchen, Zweck unter den meisten Umständen als durchaus genügend er¬
weisen, und die Konsequenz wäre vernünftigerweise: man verbanne die unnötige
und dabei so kostspielige Orgel aus dem Gotteshause, man ersetze sie durch ein¬
facher zu traktirende Instrumente, und man wird neben andern Ersparnissen
zugleich den Gehalt, den ein tüchtiger Organist beansprucht, zum größten Teil
mit ersparen.
Der Schwerpunkt der Wirksamkeit der Orgel liegt, wenn anders jeder
Choralgesang in der Kirche zu einem wahrhaften musikalischen Gottesdienste,
jeder Choral zur „musikalischen Aufführung" werden soll, außer in der mit ein¬
geschlossenen Begleitung, in der orgelmäßig orchestralen und dabei von Geist
und poetischem Verständnis durchdrungenen musikalischen Interpretation des von
der Gemeinde gesungenen Textes, dessen erhebendes Moment ja an sich nicht
in dem wurzelt, worüber der zergliedernde Verstand ohne weiteres sich Rechenschaft
zu geben vermag, sondern in dem, was bezüglich seiner unmittelbaren Ansprache
ans Gemüt universell und demnach gewissermaßen irrational und unfaßbar ist.
Wo nun der Gemeinde die ausreichende harmonische Schulung abgeht, da mag
sie unter Führung des Chores den Gesang vmisouo ertönen lassen, weil andern¬
falls harmonische Kollisionen, die schlimmsten von allen, unfehlbar sich einstellen
müßten. Indes läßt es sich gar nicht bezweifeln, daß der Organist im Verein
mit einem wohlgeschultcn Sängerchor imstande sein müßte, die Gemeinde am
Ende musikalisch soweit heranzubilden, daß sie seinen Modulationen auch mehr¬
stimmig zu folgen sich befähigt fühlt. Das inkorrekte Element der gänzlich
„Musikbaren," Unverbesserlichen, deren Beteiligung vom kirchlichen Standpunkte
aus dennoch nicht abgelehnt werden kann, würde unter dem Tonschwall der
Majorität gleich Terz- und Quintenstimmen u. dergl. im vollen Werke auf¬
gehen. Freilich stellt es sich nach dieser unsrer Auffassung als wünschenswert
heraus, daß dem Organisten die Fertigkeit zu einer möglichst mannichfaltigen
Harmonisirung geläufig sei, wiewohl seine Intentionen nicht ins Kleinliche,
Buntscheckige und Manierirte ausarten dürfen. Denn die konsequente Wieder¬
holung gleicher Harmonie an dem gleichen Abschnitte, bei wesentlich abweichenden
Jnhaltscharakter, hat, mag sie sich auch aus äußerlichen Gründen empfehlen,
in nicht wenigen Fällen etwas schablonenhaftes, felbst ganz widersinniges,
jedenfalls einer freien Durchgeistigung fremdartiges, ja gelegentlich peinlich
widerstrebendes.
So übernimmt also die Orgel — als Kirchenorchester im eigentlichsten
Sinne — den instrumentalen (symphonischen) Teil der Choralaufführung mit
allen regelmäßig zu ermöglichenden Orchestralaffektcn, die hier dem Charakter
des Instrumentes nach zwar mißlingen, niemals aber zu rein weltlichen, pro¬
fanen ausarten können; sie erhebt den Choral vom simpeln Gesangstück — Lied —
zum Musikwerk im höhern Stil und in einer der Kirche würdigen Majestät,
verschieden noch gar sehr vom geistlichen Konzertstück im vulgären Sinne, in
seiner erbauenden Wirkung aber einzig in seiner Art. Sie thut es, indem sie
die Melodie einführt und stützt, die Harmonie trägt, die mannichfachsten Klang¬
farben und Nüancen für das Bedürfnis der Situation des Inhaltes herleiht,
und endlich ganz allgemein, indem sie die poetischen Gedanken bei gewissenhafter
Beobachtung und feiner Detaillirung ihrer charakteristischen Potenz zum Aufbau
eines architektonisch regelrecht gestalteten Ganzen verwendet und dies der Ge¬
meinde gewissermaßen als Gabe darbringt. Die Orgel sagt uns, wie es im
Moment der Erbauung in unserm eignen Innern aussieht.
Zu dem allen bedarf es auch des Vor-, Zwischen- und, wenn nötig, Nach¬
spiels. Den Einwand, daß das Zwischenspiel Text und Sinn zerreiße, müssen
wir für eine ideale Auffassung als hinfällig erklären; und mag er ausnahms¬
weise seine Richtigkeit haben, so steht es eben dem Spielenden auch frei, Aus-
nahmen zu machen. Das Zwischenspiel hilft die Summe, die Quintessenz des
stellenweise vielleicht recht prosaischen Textes ziehen. Der Fluß des Textes
wird durch musikalische Einkleidung jeder Art verzögert. Die Behauptung der
Gegner entspricht einer einseitigen, schiefen Anschauungsweise rein äußerlicher
Art. Wer in dem Vorhandensein des Zwischenspiels an sich (nicht in dessen
sinnwidriger Behandlung) Störung und Zerrissenheit erblicken wollte, der müßte
solche in den Kirchcnwerken unsrer größten Meister, Bach und Händel an der
Spitze, im Überfluß vorfinden. Das Zwischenspiel trennt wohl die Worte; aber
— und darauf kommt es an — es erhöht und potenzirt den Sinn, es steigert
und macht für letztern, den der schlichte Verstand vielleicht nicht einmal zu fassen
vermag, das Gefühl empfänglicher, vermittelt und erleichtert dadurch das seelische
Verständnis des Gesungenen und vermehrt somit Tiefe und Innerlichkeit der
Erbauung — kurz, was es äußerlich trennt, daraus macht es vom höhern
Standpunkte aus innerlich gerade recht ein einheitliches Ganzes. Es lenkt den
Geist ohne Verwendung des Wortes über das Gebiet der Töne auf das hin,
was beim Gottesdienste vor allem not ist; aber es lenkt ihn dennoch nicht ab
vom Faden der jeweiligen Betrachtung, und weit entfernt, den Zusammenhang
zu alteriren, stellt es vielmehr ein organisches „Erbauuugsganzes" her, gegen
welches auch das begeistertste Wortwerk mit seinem unvermeidlichen logisch-
grammatikalen und sachlich reflektirenden Beigeschmack an sich kalt erscheinen
muß, gegen welches der perlendste und rollendste Wortflnß lückenhaft bleibt.
Es bewahrt das Andachtsgefühl, welches eben dann am innerlichsten zu sein
pflegt, wenn es keine Worte findet, vor der Gefahr, in der Reflexion Schiff¬
bruch zu leiden. Was sagen all diese Worte gegen das, was mich bewegt?
Alls dem Gesagten erhellt, daß alle für schwache Organisten auf Vorrat
gelieferten Zwischenspiele meist technisches Bindematerial der handwerksmäßigsten
Sorte sind, Leim, vermittelst dessen der Arbeiter die farbigen Teile zum Ganzen
aneinanderfügte.
Fällt das Zwischenspiel weg, dann wird sichs der Hauptsache nach nur
noch um die banalen Unterscheidungen von torts und Muo handeln. Dann
bedürfen wir wenigstens für Zwecke des Gottesdienstes auch keiner Organisten
— im nobleren Sinne des Wortes — mehr. Denn die Fähigkeit zur leid¬
lichen Ausführung einer Choralbegleitung samt einiger als Vorspiel fungirenden
Harmoniegriffe darf, wenn auch zur Führung eines amtlichen Titels, so doch
keineswegs zum Anspruch des Bürgerrechtes auf dem Gebiete der Kunst be¬
rechtigen.
Ein „ganzer Musiker" soll die Orgel traktiren. Das heißt noch lange nicht
ein Virtuos, aber auch nicht ein solcher, dem, abgesehen von seiner für eine
möglicherweise recht billig ausführbare Obliegenheit zur Not genügenden tech¬
nischen Schulung, so ziemlich alles mangelt, was man von einem Musiker ver¬
langen darf, vielmehr ein Musiker von noch etwas höherer musikalischer Anlage,
als sie den Sterblichen durchschnittlich angeboren zu sein Pflegt, und überdies
ein Mann von poetischem Verständnis, endlich eine Persönlichkeit, die sich vor
aller handwerksmäßigen Auffassung und Ausübung ihrer Kunst hütet. Der
Organist kann und soll die Gemeinde musikalisch heranziehen und dadurch heran¬
bilden. Die Gemeinde, die jetzt gewohnheitsmäßig, abgebrochen, schleppend, zu¬
meist nur ihrem weiblichen Teile nach, zum großen Teile garnicht „mitsinge,"
wird, wenn sie ein beständiges „Wach' auf!" vernimmt, unbewußt aufmerksam
und ergrissen werden; eine passive Empfänglichkeit wird sich mit der Zeit bis
zur selbstbewußten, ihres Resultates sichern Mitwirkung steigern. Der Einzelne
wird nicht mehr „mitsingen," sondern fortan „singen."
Freilich wenn auch der Organist ein „ganzer" Musiker ist, dann bleibt es
noch immer Pflicht, daß man seiner kirchlichen und künstlerischen Wirksamkeit
womöglich nnr solche Aufgaben unterbreite, aus welchen er, wie der landläufige
Ausdruck lautet, „etwas machen kann," d, h. zunächst Texte, deren Inhalt, als
von poetisch-musikalischen Charakter und Werte, eine musikalische Bearbeitung
gestattet und rechtfertigt. Metrisch abgemessene, womöglich noch so Wohl gemeinte
und gereimte Sitten- und Verhaltungsregeln, rein dogmatisirende Explikationen
und ähnliches taugen hierzu absolut nicht. Dennoch wird in dieser Beziehung
sehr viel gesündigt. Noch immer enthalten einzelne Gesangbücher des Ab¬
geschmackten soviel, daß man staunen muß. In einigen wimmelt es von un-
poetischen, ohne die äußerste Resignation und Gewaltsamkeit musikalisch garnicht
verwertbaren Mißgeburten, mögen auch die in denselben niedergelegten moralischen
Anschauungen den Beifall jedes Biedermannes noch so sehr verdienen. Ein
Einvernehmen des amtirenden Geistlichen mit der Chorleitung bei Auswahl der
jeweilig in Frage kommenden Gesänge wäre hier gewiß von Nutzen, ebenso würde
es sich in dieser Hinsicht lohnen, Musiker wie Gemeinde jedesmal im voraus
mit den Nuancen der Gesänge des nächsten Gottesdienstes, vielleicht dnrch die
Presse, bekannt zu machen, nicht anders, als wie es mit den Predigttexten längst
geschieht. Denn so wichtig wie die Predigt ist auch das Lied.
Ein guter Prediger hat bisher noch immer seine Anziehungskraft auf die
Gemeinde ausgeübt,, und ein guter Gemcindegescmg, verbunden mit erhebenden
Orgelspiel, frei vom Schlendrian, wird das gleiche vermögen, ja selbst imstande
sein, die fruchtranbende Wirkung einer mangelhaften Predigt aufzuheben. Leider
steht es freilich so, daß die lange Gewohnheit das Gefühl für besseres vielfach
bereits ertötet hat, oder daß man sich mehr und mehr in das Schicksal ergiebt,
auf Wiedererlangung eines würdigern Zustandes zu verzichten.
Wir gehören nicht zu den Desperaten. Aber wir wollen auch nicht ver¬
schweigen, daß neue Choralbücher und neue Gesangbücher es nicht allein thun.
Eine Art allgemeiner Erweckung, entsprungen aus einem ernstlichen Augenmerk
auf den kläglichen Zustand, muß durchaus auf dem Wege zum bessern voran¬
schreiten.
in vor mir liegender hoher Stoß von Akten, außerdem eine
Sammlung von drei halben Menschenschädeln und einigen fünfzig
Urnen, ein halbes Dutzend alter Bücher und die drei ersten Nummern
der „Zeitschrift für Universal-Wissenschaft in Zentraleuropa" geben
Zeugnis von der Thätigkeit der „Universalwissenschaftlichen Gesell¬
schaft" zu Krakau an der Lusse. Wiewohl die Bedeutung dieser
Gesellschaft weit über die Grenzen des engern Vaterlandes hinaus von allen Ver¬
wandten, Vettern und Freunden der Mitglieder „voll und ganz" anerkannt
wird, so würde sie doch noch eine viel allgemeiner gewürdigte sein, wenn
nicht die Bescheidenheit der Angehörigen des genannten Vereines hindernd im
Wege stünde. Wir glauben keinen Verrat an dieser Tugend zu üben, wenn wir
auf Grund des uns bereitwilligst zur Verfügung gestellten authentischen Materials
dem gelehrten Gründer des Vereines und seinen mutigen Mitstreitern hier einen
Ehrcntempel erbauen. Es ist ja nur der kleinste Teil einer nationalen Ehrenschuld,
den wir abtragen.
In dem Aktenstück Ur. 1 „Gründung und Auflösung des Vereins betreffend"
lesen wir das nachfolgende Protokoll: „Verhandelt Krakau an der Lusse, den
ö. September 18 . . Die Unterzeichneten, welche am heutigen Tage im »Goldner
Löwen« zu einer Nachfeier der denkwürdigen Exkursion nach dem Karnickelbcrge
versammelt sind, beschließen einstimmig wie folgt: § 1. Am heutigen Tage kou-
stituirt sich die Universalivisseuschaftliche Gesellschaft von Zcntraleuropa mit dem Sitze
Krakau an der Lusse. § 2. Zum ständigen Präsidenten der genannten Gesellschaft
wird Herr Doktor Krimper auf und zu Großschleme in Anerkennung seiner Ver¬
dienste um Hebung der Universalwissenschaft ernannt. K 3. Die Unterzeichneten
treten der Gesellschaft als ordentliche Mitglieder bei. Es wird ausdrücklich vor¬
behalten, die Zelebritäten der Wissenschaft zu korrespondirenden Mitgliedern zu
ernennen. Z 4. Mit dem Entwürfe des Statuts wird der Schriftführer des¬
selben, Herr Subrektor Siamesen, beauftragt." Folgen die Unterschriften.
Wir würden über die begleitenden Umstände, welche zur Gründung der
Universalwissenschaftlichen Gesellschaft geführt haben, im dunkeln verharren müssen,
wenn nicht — augenscheinlich von der nämlichen Hand wie das Protokoll ge¬
schrieben — ein ausführlicher Bericht darüber beigeheftet wäre. Dieser Bericht
war ohne Zweifel für das „Krakauer Tageblatt" oder die „Neue freie Lusse-
Zeitung" bestimmt gewesen, niber — ein Zeugnis für die Gesiuuuugsniedcrtracht
gewisser Kreise — mit der Bemerkung abgelehnt worden: „Nicht geeignet; zu
lang, von zu wenig allgemeinem Interesse."
Hören wir, was der Bericht erzählt.
„Es war am 5. September 18 .., Temperatur 10,5 Grad Celsius, Barometer¬
stand 763,4 Millimeter, als Herr Doktor Georg Friedrich Krimper auf und zu Groß-
schleme seinem Versprechen gemäß im »Goldenen Löwen« eintraf. Die Teilnehmer
an der Expedition hatten sich bereits eingefunden; wir bemerkten den Herrn
Apotheker Schwamm, den Herrn Subrektor Sinnlichen, den Herrn Rentier Flock und
den Herrn Uhrmacher Pflnumel, den wohlverdienten Erfinder eines seiner Vollendung
entgegengehenden ?eixotuuw rnodils.
Um 10 Uhr 11 Minuten setzte sich der Zug in Bewegung, indem er eine
norduordöstliche Richtung einschlug. In genau S3 Minuten war das Ziel, der
Karnickclberg, erreicht. Man befand sich ans einem in meridionaler Richtung
streichenden Bergrücken. Dieser Umstand, sowie die Nähe der Grcmsdvrfer wüsten
Lehde, ebenso die vorhcmdne Fauna und Flora — selbst die Birke (Sanskrit:
dlmrsk, littauisch: bsi'2g,s, russisch: bsrsüa,) ist daselbst in einigen Exemplaren zu
treffen —- führt nach den Untersuchungen von Geiger und Krimper zu der ge¬
bieterischen Annahme, daß nirgend anders als hier das indogermanische UrVolk in
ungeteiltem Zustande gesessen habe. Der Beweis für diese Behauptung lag in dem
vor uus befindlichen Hünengrabe geborgen und sollte durch Aufdeckung desselben
erbracht werden. Das Grab besteht aus einem Hügel von sphäroidaler Gestalt;
größte Länge: 9,33, größte Breite: 7,93, Gipfelhöhe: 3,04 Meter.
Nach einem lichtvollen Vortrage des Leiters der Expedition über Gräberfunde
in Mitteleuropa und die Bedeutung Prähistorischer Forschung für die Sprach¬
vergleichung wurde der Befehl gegeben, die Arbeit zu beginnen. Unter umsichtiger
Leitung wurde ein Graben von 3,33 Meter Sohlenbreite, radial auf den Mittelpunkt
des Hügels zuführend, ausgehoben. Man fand: ^) Humusschicht: 0,03 Meter;
b) Trümmer und Geröll: 0,79 Meter; o) eine Steinplatte: 0,23 x 0,47 Meter;
g) ein 10 Centimeter langes, flach gekrümmtes Stück Eisen, welches, von einem
Loche durchbohrt, die Spuren starker Abnutzung zeigte. Fundstelle 3,04 Meter vom
Eingänge des Forschungsgrabens, 2,29 Meter unter der Erdoberfläche. Es möge
gleich hier bemerkt werden, daß mit siegreichen Gründen der Meinung entgegen¬
getreten wurde, als sei das Fuudstück ein Stück Hufeisen; es erwies sich vielmehr
als ein ehemals an einer Schnur getragnes Schmuckstück prähistorischer Art, was
vou umso größerm Interesse ist, als eiserner Schmuck unter Gräberfnnden der
Steinzeit zu deu allergrößten Seltenheiten gehört und als bei dem Fehlen coincidenter
Bezeichnungen dem indogermanischen UrVolke die Metalle nicht bekannt gewesen sein
sollen, s) Drei Scherben 4, 15 und 22^/z Centimeter seitwärts von dem eisernen
Schmuckstücke. Leider konnte das Grab für unberührt nicht erachtet werden. Man
fand weder die Cella, uoch die charakteristischen Deckplatten, noch Gefäße, noch
Spuren von Leichenbrand, sondern nur Erdschichten in stark geneigter Lage, unter¬
mischt mit Feldsteinen. Doch waren die gemachten Funde bedeutungsvoll genug, um
die Expedition als eine reich belohnte erscheinen zu lassen. Man schied in dem
erhebenden Bewußtsein, durch fünfstündiges angestrengtes Arbeiten dreier Tagelöhner
der Wissenschaft einen entschiednen Dienst geleistet zu haben.
Ein Mahl vereinigte die Mitglieder der Expedition an demselben Abend im
»Goldenen Löwen.« Es galt die Feier der am Tage errungenen Erfolge. Die
Fundstücke waren bereits numerirt, etikettirt und inventarisirt auf einer Tafel
aufgestellt. Die Versammlung befand sich in froher Erregung, in jener Stimmung,
in der weittragende Beschlusse am leichtesten gefaßt werden. Der erste Toast galt
dem Herrn Doktor Krimper auf Groszschleme, dem Leiter und der Seele der wissen¬
schaftlichen That, welche mit dem Namen Karnickelberg unauflöslich verbunden
bleiben wird. Hierauf hatte der Referent das Glück, einen fruchtbaren Gedanken
etwa mit folgenden Worten anzuregen: »Meine Herren. Die Wissenschaft schreitet
mächtig vorwärts; mit Riesenschritten eilt sie der Vollendung ihrer Titanen-Auf¬
gaben entgegen, und es bedarf des ganzen Mcmncsmutcs, hinter diesen Fortschritten
nicht zurückzubleiben. Auch Krakau an der Lusse wird nicht zurückbleiben. (Bravo!)
Meine Herren, es ist hente viel gethan worden, aber es muß mehr geschehen;
wertvolle Schätze sind gehoben worden, wertvollere harren noch ihrer Auferstehung
entgegen. Ja, meine Herren, das große Problem des indogermanischen Urmenschen
ist trotz der bahnbrechenden Arbeiten Geigers noch ungelöst, die heutige That hat
die Lösung mächtig gefördert, und diese Lösung wird und muß gefunden werden.
Meine Herren, konstituiren wir uns als Prähistorische Gesellschaft zu Krakau an
der Lusse!«
Diese zündenden Worte blieben nicht ohne Echo; und Krakau darf stolz sein,
daß es von heute an eine Prähistorische Gesellschaft in seinen Mauern giebt, welche
gewillt ist, ein neues Ruhmesblatt in den Lorberkrcmz der Wissenschaft zu flechten"
Soweit der Bericht. — Wir sind nunmehr verpflichtet, Aufklärung zu geben
über die Entstehung der mehrerwähnten Bezeichnung „Universalwissenschaftliche
Gesellschaft von Zentraleuropa," und dürfen dabei nicht verschweigen, daß dieser
Name in den Akten überall erst später hineinkorrigirt ist.
Es ist logisch unanfechtbar, daß ein Verein seine Vereinszwecke zu verfolgen
hat, und so waren die Mitglieder der neugegründeten Krakauer Gesellschaft bemüht,
ihrem Werke diejenige Ausdehnung zu geben, welche der Größe der Aufgabe ent¬
sprach. Von dem Vorsitzenden, der seine Wohnung in Großschleme hatte, und dessen
umfassender Blick mehr auf Zeutraleuropa als auf den Kreis Krakau ging, konnte
in dieser Beziehung nicht soviel geschehen als von seinen! Adjunkten, dem Herrn
Subrektor, welcher unermüdlich thätig war, Mitglieder für die Gesellschaft zu werben,
und sowohl in der Ressource als auf der Kegelbahn dem Verein Boden zu ver¬
schaffen suchte. Bald kam es soweit, daß es fast für nicht standesgemäß galt,
den Beitritt zu versagen. Und so war denn zur ersten regelmäßigen Monats¬
sitzung im „Löwen" eine illustre Versammlung vereinigt. Man erblickte den Herrn
Landrat, welcher als „Spitze der Behörden" als Ehrengast eingeladen war, den
Herrn Obcrpfarrer, den Herrn Diakonus, den Herrn Oberlehrer Klcinpcml, eine
entomologische Autorität, einen ausgezeichneten Kenner der Fortpflanzungswerkzeuge
der Schlupfwespen, den Herrn Oberförster, eine Autorität in der Kynologie — seine
Jagdhunde pflegen nach seiner Versicherung Proben von mehr als menschlicher In¬
telligenz zu geben —, den Herrn Apotheker Schwamm, der den Vorzug hat, einen
Kalksteinbruch zu besitzen, welcher wegen gewisser geologischen Spezialitäten irgendwo
auch von Karl Voigt erwähnt worden ist. Auch >der Rentier Flock war er¬
schienen, der seit seiner mit der Stangenschcn Gesellschaft ausgeführten Reise nach
Oberägypten in Krakau und Umgegend mit Recht für eine Autorität in allen orien¬
talischen und speziell ägyptischen Fragen angesehen wird.
Es herrschte eine feierliche, erwartungsvolle Stimmung. Man stand in Gruppen
und flüsterte angelegentlich. Der Herr Subrektor flüsterte mit allen. Die Wichtig¬
keit des Augenblicks gewann sowohl dnrch einen bereitgestellten Vorstandstisch,
Lichter, Glocke und Schreibzeug, wie durch die dienstliche Anwesenheit des Herrn
Löwenwirtes in eigner Person einen sichtbaren Ausdruck. Wer hätte nicht erwar¬
tungsvoll auf diesen Tisch geblickt, zwischen dessen zwei Lichtern das Licht der
Wissenschaft auch in Krakau und Umgegend emporstrahlen sollte, wer hätte nicht
im Geiste sich selbst dort stehen und vor einer lautlos lauschenden Versammlung
das Wort ergreifen sehen?
Zwei Herren fehlten noch, der Herr Vorsitzende, der eben noch durch eine
Sitzung des Volksbilduugsvereins in Großschleme in Anspruch genommen war,
und der Stabsarzt Doktor Schnittig, der es für angemessen hielt, in demselben Ver¬
hältnisse zu spät zur Sitzung zu kommen, als er durch ein Versehen des Vereins-
botcn zu spät eingeladen worden war. Das Versehen war umso bedauerlicher,
als es die zwischen Doktor Krimper nud Doktor Schnittig bestehende Spannung noch ver¬
schärfte. An der Entstehung dieser Spannung trug übrigens Doktor Krimper keine
Schuld. Es war vielmehr Doktor Schnittig gewesen, der sich eines Abends soweit
vergessen hatte, zu behaupten: die Agronomen in Halle seien Mistiker und keine
Studenten, den Jenaer Doktor könne jeder machen, und das Buch Krimpers über
das Verhältnis der Gräberfunde zur Sprachvergleichung sei Blech in höherer
Potenz. Diese gehässigen Äußerungen waren herumgetragen worden und störten
nun das freundschaftliche Verhältnis zwischen zwei Männern, welche vereinigt das
wissenschaftliche Leben Kralaus hätten unbestritten beherrschen können.
Endlich brachte „Fritz" eine Botschaft. Der Herr Löwenwirt rückte eiligst
noch ein Paar Stühle zurecht und meldete dann — so war es ausgemacht worden —
mit lauter Stimme: „Der Präsident der Gesellschaft, Herr Doktor Krimper auf Gro߬
schleme."
Wir haben bis jetzt noch unterlassen, den Leser mit der Person des Herrn
Präsidenten näher bekannt zu machen. Wir holen dies jetzt nach. Die äußere Er¬
scheinung dieses ausgezeichneten Mannes läßt nicht ahnen, welchen geistigen Schätzen
sie als Umhüllung dient. Vor nicht ganz fünf Jahren baute Doktor Krimper noch
Zuckerrüben; als er aber sein Gut vorteilhaft verpachtet hatte, benutzte er die ge¬
wonnene Zeit, zu den Füßen Treitschkes, Virchows und Mommsens zu sitzen und
in einem Alter ein Lernender zu werden, wo andre sich zur Ruhe zu setzen an¬
fangen. Die Universität Jena ehrte gegen Erlegung der vorgeschriebenen Geld¬
summe die Verdienste unsers Krimper durch Verleihung des vovtor in s,dö<z»dia>.
Aufsätze verschiedenen Inhalts im Feuilleton der „Neuen freien Lussezeitung" gaben
Zeugnis vou dem Wachstum seines Geistes, bis das in Kommission bei Maier in
Frettchenstedt erschienene, bereits mehrfach zitirte Werk über das Verhältnis der
Gräberfunde zur Sprachvergleichung die freudige Zustimmung seiner Freunde, wie
die gehässige Herabsetzung seiner Gegner herausforderte.
Ich muß es mir leider versagen, eine ausführliche Analyse der Eröffnungs¬
rede Doktor Krimpcrs zu geben, in welcher nicht nur die Kulturzustände prähistorischer
Zeiten beleuchtet, sondern auch die absichtliche Verblendung der wissenschaftlichen
Gegner gekennzeichnet, und endlich zur Beteiligung an dem nationalen Unternehmen,
kein Grab unzerstört zu lassen, aufgefordert wurde. An diese Eröffnungsrede sollte
sich eigentlich eine wissenschaftliche Diskussion anschließen, aber überwältigt von
den empfangenen Eindrücken meldete sich niemand zum Worte, sodaß der Vor¬
sitzende, um die Pause auszufüllen, einen Auszug aus dem eben gehaltenen Vortrage
gab, und da in diesem Angenblicke Herr Doktor Schnittig eintrat, so entstand die
Notwendigkeit, abermals eine gedrängte Übersicht zu geben. Darauf erhob sich der
Herr Subrektor und sprach: „Meine Herren, da wir der Zuversicht sind, daß Sie
alle, alle die erhabenen Ziele unsers Vereins voll und ganz teilen, so dürfen
Wir wohl die Prinzipalfrage als erledigt ansehen. Ich habe den ehrenden Auftrag
erhalten, die Satzungen des Vereins den erweiterten Umständen entsprechend aus¬
zubauen, und darf ich mir wohl erlauben, diese Satzungen nunmehr vorzulesen.
Paragraph eins lautet —"
"
„Bitte ums Wort! rief es dazwischen.
„Herr Oberlehrer Kleinpaul hat das Wort."
„Meine Herren, die verehrten Anwesenden wollen ins Prähistorische ziehen;
da gilt es Gräber aufzudecken, da gilt es Scherben zu sammeln, da gilt es das
Bindeglied zwischen dem historischen Menschen und seinem quadrumcmen Vorgänger
aufzufinden. Aber, meine Herren, haben wir nicht näherliegende Aufgaben zu
erfüllen? Die Kenntnis der Schlupfwespen hat noch nicht die allgemeine Ver¬
breitung gewonnen, welche doch so dringend wünschenswert ist. So herrschen z. B.
über die Fortpflanzungswerkzeuge der Schlupfwespen noch immer die wider¬
sprechendsten Ansichten. ..."
Wir übergehen die nun folgende interessante Ausführung über die Fort-
pflcinzungswerkzcuge der Schlupfwespen und fügen sogleich das Schlußwort an:
„Darum, meine Herren, solange nicht der Schlnpfwespenfragc ihr gebührendes
Recht geworden ist, kann ich mich für Prähistorie nicht begeistern."
Es folgte nun eine eingehende Diskussion darüber, welche Frage als die
brennendere anzusehen sei, die der Prähistorischen Gräberfunde oder die der Schlupf¬
wespen. Der Vorsitzende leitete die Debatte mit überlegner Besonnenheit, resümirte die
Frage und stellte — ein Beweis dafür, daß er die Bedeutung des Moments „voll und
ganz" erfaßt hatte, — den Antrag, daß der Verein, weit entfernt, exklusive Tendenzen zu
verfolgen, den Namen führen möge: Prähistorisch-entomologische Gesellschaft. (Lcmgan-
haltendcr freudiger Beifall.) Der Herr Subrektor schüttelte dem Vorsitzenden die
Hand, dieser dem Herrn Kleinpanl, dieser dem Herrn Apotheker u. s. w. Es
entspann sich eine lebhafter Meinungsaustausch, in der alles nochmals vorgebracht
wurde, was schon vorgebracht war. Darauf »ahn der Herr Subrektor wieder
das Wort: „Demnach, meine Herren, würde der erste Paragraph lauten: Unter
dem Namen prähistorisch-entomologische Gesellschaft konstituirt —"
„Bitte ums Wort!" erscholl es abermals.
„Herr Oberpfarrer Weigelt hat das Wort."
„Meine Herren, ich habe hier eine alte Münze, sie ist sogar sehr alt. Die
eine Seite zeigt einen Reichsapfel und ein Kreuz, die andre ein Wappen und die
Umschrift: R. M. B. R Z. oder S. Sie ist mir von einem lieben Amtsbruder,
der sie im Klingelbeutel gefunden hat, übergeben worden mit dem Auftrage, sie
dieser gelehrten Gesellschaft vorzulegen. Meine Herren, die Numismatik bedeutet
in historischer Zeit, was Gräberfunde in prähistorischer bedeuten. Sie siud eherne
Dokumente vergangener Zeiten. Im Auftrage meines lieben Amtsbrnders möchte
ich Ihnen daher die Pflege der Numismatik aus Herz legen und Sie bitten,
auch ihr ein Plätzchen in Ihrem Tuskulum einzuräumen." (Bravo.)
Die Diskussion kam. bald zu dem Schlüsse, daß mit Rücksicht auf diejenigen
Herren, welche Müuzenfreunde waren und deren Anwesenheit in der Gesellschaft
man doch nicht gern missen möchte, auch dieser Zweig der Altertumswissenschaft
den Vercinsbestrebungen einzuflechten sei.
Darauf fuhr Herr Subrektor Siamesen fort: „Paragraph eins unsrer
Satzungen würde demnach nunmehr folgende Fassung erhalten: Unter dem Namen
prähistorisch-entomologisch-numismatische Gesellschaft konstituiren sich die hier Unter¬
zeichneten in der Absicht —"
„Bitte ums Wort!" ertönte es zum drittenmale,
„Herr Uhrmacher Pflaume! hat das Wort."
„Sie werden gütigst entschuldigen, meine Herren, wenn ich auch meinerseits
es wage, einer mich lebhaft intcrcssirende Frage anzuregen, nämlich die Frage
bezüglich des Perpetuum raobils.
In diesem Augenblicke erscholl aus der äußersten Ecke des Saales ein unbändiges
Gelächter, Es war der Doktor Schnittig, der sich kaum zu halten vermochte und
eine Gelä'chtcrsalvc uach der andern losschoß. Alles war über diesen Zwischenfall
starr. Der Herr Doktor Schnittig aber erhob sich, wischte sich die Augen und
sagte: „Nichts für ungut, meine Herren, aber ich konnte mir nicht helfen. Was
für ein Monstrum konstruiren Sie denn da zusammen? Prähistorisch-entomologisch-
numismatische Gesellschaft — und nun kommt gar noch der kleine Pflaumcl mit
seinem unglückseligen r>sroowum raodilo! Sie sind ja die leibhaftigen Pickwickier!"
'
Der Herr Subrektor schoß in die Höhe und rief zornbebend: „Ich Protestire
gegen den Ausdruck Monstrum."
„Der Protest wird leider dem Herrn Subrektor nichts helfen, fuhr Doktor
Schnittig fort, denn was Sie da machen, bleibt monströs, auch wenn Sie es nicht
so nennen. Meine Herren, das müßigste Spiel ist: Wissenschaft spielen. Die
Wissenschaft braucht ernste Arbeit, es ist ihr mit Dilettantismus uicht gedient. Die
Wissenschaft ist ja soweit in guten Händen und würde nicht untergegangen sein,
auch wenn der Kcirnickclbcrg unerforscht geblieben wäre. Lassen Sie also die
Finger davon, jeder thue in seinem Amt und Beruf seine Schuldigkeit, so ist allen
gedient, das übrige ist — Blech. Guten Abend, meine Herren."
Alle Anwesenden waren außer sich und fanden vor Entrüstung kein Wort der
Erwiederung. Doktor Schnittig hatte unzweifelhaft Unrecht, er hatte sogar bitteres
Unrecht. Er durfte den Erfolg der guten Sache nicht in der Weise zu hindern
suchen, wie er es gethan, er durfte den Ehrgeiz der Versammlung nicht in der
Weise verletzen, er mußte bedenken, daß Erfolge nur dann zu erzielen sind, wenn
man bedacht ist, andre zu loben und sich von andern loben zu lassen.
Wer weiß, was in diesem kritischen Augenblicke geschehen wäre, wenn nicht
der Herr Vorsitzende seine ganze Ruhe und Überlegenheit bewahrt hätte. Er erhob
sich und sagte mit ruhiger, nnr von innerer Bewegung ein wenig bebender Stimme:
„Der Herr Doktor Schnittig, den ich mich freue nicht mehr in unsrer Mitte zu
sehen (hört! hört!), ist gewöhnt, dasjenige Blech zu nennen, was außerhalb seiner
engbcgrenzten Berufssphäre liegt. (Sehr richtig!) Es ist glücklicherweise um die
Wissenschaft noch nicht so ärmlich bestellt, daß sie ausschließlich von professionellen
Wissenschaftlern vertreten zu werden brauchte. Ich sehe Männer um mich versammelt,
welche vor Doktor Schnittig und seinesgleichen die Augen nicht niederzuschlagen
brauchen. (stürmisches Bravo!) Ich sehe Herrn Oberförster Zahn, Herrn Ober¬
lehrer Kleinpaul, beide Autoritäten in ihren Berufssphären, ich sehe den Herrn
Subrektor Siamesen, meinen Freund und Helfer auf dein Gebiete prä¬
historischer Forschung, ich sehe deu Herrn Apotheker Schwamm, einen wackern
Vertreter der Naturwissenschaft, den Herrn Oberpfarrer, einen hervorragenden
Theologen, den Herrn Postsekretär Lämmermeicr, der als Berichterstatter für
die „Provinzialzeitung" sich einen geachteten literarischen Namen erworben hat,
alles Männer, die darum wahrlich nicht geringer zu achten sind, weil Sie das
wissenschaftliche Planet bei Herrn Doktor Schnittig nicht nachgesucht haben. (Jubelnder
Beifall.) Der mehrerwähnte Herr hat unser Unternehmen monströs genannt. Er
irrt sich. Nicht einer lebensunfähigen Mißgeburt gleicht es, sondern einer hoffnungs-
reichen Knospe. In einem hat Herr Doktor Schnittig vielleicht recht. (Oho!) Der
Reime unsrer Gesellschaft darf nicht so lauten, wie mehrfach vorgeschlagen worden
ist. Nennen wir uns, meine Herren, nicht entomologische, nicht prähistorische, nicht
numismatische, nennen wir uns einfach universalwissenschaftliche Gesellschaft für
Zentraleuropa mit dem Sitze Krakau an der Lusfe!" (Begeisterter, langanhaltender
Beifall.)
Die späte Stunde, zu der sich die Mitglieder der neubegründeten Gesellschaft
trennten, gab am besten Zeugnis von der Begeisterung, mit welcher das geniale
Projekt des Doktor Krimper aufgenommen worden war. Die Wahl des Wortes
„Universalwissenschaft" erwies sich als überaus glücklich. Sie gab die Möglichkeit,
für die Aufnahme neuer Mitglieder die allerweitesten Gesichtspunkte gelten zu lassen.
So traten denn nicht allein die Mitglieder des Tierschntzvereins, der sich gerade
am Rande der Auflösung befand, in <wrM-s bei, auch hervorragende Industrielle,
wie Löwenthal u. Ko. und Salomo Cassel Söhne, stellten ihre Pekuniären Kräfte
in gewissem Umfange zur Verfügung. In Jahresfrist hatte die Gesellschaft die
Zahl von hundertundzehn Mitgliedern erreicht, die, da sie nicht allein in allen
Teilen Deutschlands, sondern auch über die Grenzen Deutschlands hinaus zerstreut
waren, den Namen Zentralenropäische Gesellschaft mit dem Sitze Krakau an der
Lusse sehr wohl rechtfertigten. Aus der Zahl der letztern möge nur Herr Müller
in Kopenhagen, ein Schwager des Herrn Subrektor, und Herr Fischer in Preß-
burg, ein Freund und Geistesverwandter des Herrn Vorsitzenden, erwähnt werden.
Von der Ausdehnung, welche bereits damals die wissenschaftliche Korrespondenz des
Präsidenten gewonnen hatte, giebt der Umstand beredte Kunde, daß der Schrift¬
steller Karl Atem, Pseudonym für Baronin Meta von Karlsteiu, seine Manuskripte
über die Philosophie des Spiritismus der Gesellschaft zur Prüfung übersandte,
und daß aus Trieft ein Schreiben einlief, in welchem ein Herr X. ausgestopfte
Vögel zum Kauf anbot.
Der unglückselige Doktor Schnittig aber hatte sich durch seine Rede sehr ge¬
schadet. Man konnte ihm nie vergeben, daß er durch gehässige und kleinliche
Kritik Krakau beinahe um das Vergnügen gebracht hatte, eine wissenschaftliche Ge¬
sellschaft von europäischem Rufe in seinen Mauern zu beherbergen. Seitdem
vollends sein Kollege und Konkurent, Doktor Schmiedefeld, der Gesellschaft beige-
treten war, wodurch er erheblich an Vertrauen und Kundschaft bei der Bürgerschaft
gewann, war Doktor Schnittig völlig isolirt. Man wird nicht irren, wenn man
mit diesem Umstände die Thatsache in Verbindung bringt, daß Doktor Schnittig
bald darauf Krakau verließ, um eine Stelle als Kreisphysikus in Schlesien an¬
zunehmen.
Auch dem Redakteur des „Krakauer Tageblattes" blieb es uicht erspart, dem
Subrektor Siamesen seine Entschuldigung Wege« Zurückweisung seines Referats
über die Ausgrabungen auf dem Karmckelberge auszusprechen, da Annoncen und
Berichte der Gesellschaft nunmehr der „Neuen freien Lusse-Zeitung" zugingen,
einem Blatte, dessen „destruktive Tendenz und gemeine Gesinnung" das „Tageblatt"
täglich nachwies, und da die „Provinzialzcitung," für welche, wie wir wissen,
der Postsekretär Lämmermeier schrieb, keinen Stimmungsbericht aus Krakau brachte,
ohne dem „Tageblatt" einen Stich zu versetzen. Aber der Herr Subrektor war
zu stolz, seinen Bericht noch nachträglich drucken zu lassen.
Diesem äußern Erfolge entsprach durchaus der innere, wissenschaftliche
Gewinn. Nach dem Vorbilde größerer naturforschender Vereine teilte sich die
Gesellschaft bald in eine Reihe von Sektionen. Es bedarf nicht der Versiche-
rung, daß der Vorsitzende ihnen allen das Gepräge seines Geistes gab, während
der unermüdliche Subrektor überall, hier als Sektionsvorstand, da als Protokoll¬
führer und dort als Mitglied thätig war. Man hatte siebenundzwanzig Sektionen
in Aussicht genommen, welche in ihrer Gesamtheit das Gebiet des Universal¬
wissens in Zentralcuropa umspannen sollten. Von diesen waren einstweilen drei,
eine prähistorisch-linguistische, eine entomologische und eine mechanisch-Physikalische
ins Leben gerufen und formell konstituirt worden. Alle diese Sektionen berannten
monatliche Sitzungen an; leider mußten von deu Programmmäßigen sechsunddreißig
Scktionssitzuugen fünfundzwanzig wegen Mangel an Beteiligung ausfallen.
Selbstverständlich nahm das lebhafteste Interesse die vrähistorisch-linguistische
Sektion für sich in Anspruch. Handelte es sich doch bei diesen Arbeiten um die
vitalsten Interessen des Menschengeschlechts, war es doch der Boden, auf welchem
der Genius des Doktor Krimper sich am freiesten entfalten konnte. Die Aus¬
grabungen wurden fortgesetzt und von einem fabelhaften Glücke begünstigt. Bei
der Anlegung eiuer über die wüste Lehde führenden Kreischciussce wurde in der
obern Kiesschicht ein Totenfeld von anscheinend unerschöpflichen Zuhalte aufge¬
schlossen. Es wurden vierundfünfzig Urnen, „beziehentlich" Urnenteile ausgegraben
und dabei konstatirt, daß von den ausgegrabenen vierundfünfzig Urnen eine wie
die andre aussah. Diesem Resultat gegenüber darf die für die Ausgrabungen
aufgewendete, den Jahresbeitrag der Mitglieder erheblich überschreitende Summe
gewiß nicht als zu hoch angesehen werden.
Außer diesen vierundfünfzig Urnen fanden aber in: Museum «och Aufnahme
verschiedene wertvolle Steinabdrücke verschiedener geologischen Epochen, eine wert¬
volle Photographie des Karnickelberges, eine wertvolle Chronik der Stadt Krakau,
sowie ein wertvolles Brustbild (kolorirter Kupferstich) des Fürsten Johann Leopold
Von Ritzebüttel-Dünensand, welcher zu Anfang oder zu Ende des vorigen Jahr¬
hunderts irgendwo gelebt hatte. Die Presse nahm auf gegebene Anregung von
dem segensreichen Wirken des jungen Vereins fleißig Notiz. Wir weisen auch
mit Genugthuung auf das umfängliche Aktenstück hin, in welches Herr Subrektor
Siamesen die Sitzungsprotokvlle mit größter Ausführlichkeit aufgezeichnet hat.
Ein ganz besondres Zeugnis von dem geistigen Leben der Gesellschaft gab
bald die „Bethätigung" des Fragekastens. Diese Bethätigung wurde in erster
Linie dem Herrn Apotheker Schwamm verdankt, der eine wirklich erstaunliche Er¬
findungskraft in Aufstellung interessanter Fragen entwickelte. Der nachfolgende
kurze Auszug wird wenigstens von fern ahnen lassen, welcher Umfang und welche
Tiefe des Wissens von der Universalwissenschaftlichen Gesellschaft beherrscht wird.
'"
Frage 6: Ob das ?olMunin mobile des Herrn Pflcmmcl bald „fertiggestellt
sei. Antwort: Die „Fertigstellung" ist nach der Versicherung des Herrn Pflaumet
in wenigen Tagen zu erwarten. Frage 11: Wie die Großmutter des Kaisers von
China heiße? Antwort: Kann nicht genan festgestellt werden. Jedenfalls führt
sie einen chinesischen Namen. Sie gehört überhaupt der Maudschudynastie an und
ist erheblich älter als der jetzige Kaiser. Frage 13: Ob das ?orxöwum wvdils
bald fertig sei? Antwort: Ja, in den nächsten Tagen. Frage 21: Warum der
Hohlweg zwischen dem Galgenberge und dem Einsicht bei Krakau die Kerbe heiße.
Antwort: Kerbe ist volkstümlicher Ausdruck für Jahre, Sanskrit: Kar, machen.
Wr-min-a, bedeutet Arbeiter in Erz, in der Zigeunersprache heißt Icor-^v Schmiede¬
arbeit, tcors-v bull schmieden. Daher heißt diese jedenfalls uralte Kulturstätte:
Ivert' Schmiedeort. In der That findet sich am Eingänge des Hohlweges eine
Schmiede. Ans I«er- wird aber auch durch Metathesis loa-; Krakau bedeutet
also Schmiedestadt, während sich die ursprüngliche Wurzel Icar wiederum in Kar¬
nickelberg erhalten hat. Dieser Berg ist also ebenfalls eine prähistorische Schmicde-
stätte. Frage 34: Ob Gold- oder Silberwährung vorzuziehen sei? Antwort:
Gegenwärtig wird die Goldwährung vorgezogen. Nach dein Gesetze der Wirkung
und Gegenwirkung wird später die Silberwährung wieder vorgezogen werden.
Übrigens wird auf den betreffenden Artikel des Konversationslexikons aufmerksam
gemacht. Frage 47: Ob das ?Erx<zona mobile fertig sei? Und ob ein Perpetuum
mobile eine mögliche oder unmögliche Sache sei? Antwort: Da die Universal-
wisfenschaftliche Gesellschaft diese allerdings schwierige Frage in ihren Arbeitskreis
gezogen hat, darf sie als unmöglich nicht bezeichnet werden. Die weitere Be¬
gründung wurde Herrn Pflaumcl für die nächste Sitzung übertragen, blieb je¬
doch unerledigt, da Herr Pflaumel nicht erschien.
Noch erübrigt es, der Expedition zu gedenken, welche kürzlich die liternrisch-
entomologische Sektion nach Kloster-Rehdorf zur Besichtigung der dortigen Kloster¬
bibliothek, sowie der neurestaurirten Stiftskirche unternommen hat. Sie wurde
unternommen von einer gemischten Deputation unter der Führung des Herrn Sub-
rektors Siamesen; als Mitglieder waren beteiligt die Herren Flock und Klein-
Paul, als Gast nahm der hochverehrte Chef der Gesellschaft, Herr Doktor Krimper,
selbst teil.
Es sei gestattet, indem ich der in gegenwärtiger Zeit so beliebten Gewohnheit
folge, wissenschaftliche Dinge feuilletonistisch einzukleiden, meine Darstellungsweise
an dieser Stelle etwas zu ändern und zu schildern, statt zu berichten. Ich ver¬
danke das Material zu der nachfolgenden Erzählung dem Herrn Flock, der zwar
bald darauf, als die Sitzungen in den „Roten Hirsch" verlegt wurden, ausschied,
weil dort das Essen zu schlecht sei, in dessen Wahrheitsliebe jedoch keine Zweifel
gesetzt werden dürfen.
Es war an einem schönen Sommertage, als der Postomnibus sich von
Schladeberg nach Kloster-Rehdorf in Bewegung setzte. Der Himmel war so blau,
die Wiese so grün, die Sonne so hell und der Wald so dunkel! Dies em¬
pfanden auch unsre vier Freunde in ihrem Postonmibns, oder vielmehr drei von
ihnen, denn der vierte, Herr Kleinpanl, war vorausgegangen und fing Schlupf¬
wespen. Herrn Doktor Krimper war der Ehrenplatz im Kabriolet eingeräumt worden.
Im Innern des Wagens befand sich Herr Subrektor Siamesen, Herr Privatier
Flock, eine Witwe in den besten Jahren und ein Herr, der mit einem energischen
Knebelbnrte ausgerüstet war, wie ihn Ingenieure und andre Piloten der natur¬
wissenschaftlichen Weltbeherrschung zu tragen pflegen. Daß er zum Reiche der neuesten
Großmacht, der Elektrizität gehöre, ließ eine Rolle neben ihm liegenden Telegraphen¬
drahtes vermuten. Dies war dem Herrn Subrektor, der in seiner Bürgerschule
Physikalischen Unterricht zu erteilen hatte, höchst interessant. Er beschloß ein wissen¬
schaftliches Gespräch anzuknüpfen und begann:
„Ich sehe, mein verehrter Herr, daß Sie eine Rolle Draht mit sich führen.
Irre ich nicht, so ist das Telegraphendraht." — „Jawoll." — „Ich glaube mich
nicht zu täuschen, wenn ich einen Elektriker in Ihnen erblicke." — „Stimmt. Habe
mit der Sache zu thun." — „Ist mir sehr interessant, mit einem Herrn dieses
Faches zusammenzukommen. Sagen Sie mir, verehrter Herr, was halten Sie
von der Zukunft der Elektrizität?" — „Was ich von der Zukunft der Elektrizität
halte? Ganz enorm. Unter allen Umständen." — „Nicht wahr, enorm! Ganz
meine Meinung. Diese Elektromotore, diese Glühlampen, dieser Edison! Was
halten Sie, mein Herr, von Elektroden?" — „E—lektroden? Na ob! Niemals ohne
Elektroden. Das kann ich Ihnen sagen, die Elektroden sind unter allen Umständen
das Fundament vous Janze." — „Das Für—da—neue! Ganz meine Meinung!
Diese Elektroden sind in der That grundlegend. Haben Sie die Ausstellung
derselben in Wien gesehen?" — „Natürlich. Und auch bei Siemensen in Berlin." —
„Ja, aber — verehrter Herr, gestatten Sie mir die Frage — wie Verhalten sich nun
diese Elektroden zu den Molekülen? Sind die Elektroden bedeutender oder sind die
Moleküle bedeutender." „Das kommt ganz darauf an. Zum Beispiel, wenn ich
Meidingersche Elemente habe, die haben einen konstanten Strom, sind aber nicht
sehr ausgiebig. Wenn das hier zum Beispiel das Zink und das die Kohle ist,
so ist das hier die Erdleitung, die ist negativ. Denn warum? einen Draht braucht
man dazu uicht, und dies ist die Luftleitung. Das können Sie mir nun glauben
oder nicht, wenn die Isolatoren nicht richtig eingeschraubt und die Drahtenden
nicht ordentlich verlötet sind, dann helfen Ihnen Ihre Moleküle nichts und die
Elektroden auch nicht." — „Natürlich nicht. Ganz meine Meinung."
Soweit war das wissenschaftliche Gespräch gediehen, als der Herr Privatier
Flock und die Witwe von mittlern Jahren gleichfalls zu einem Abschluß ihrer
Verhandlungen gekommen waren. Die eventuelle Schließung eines Ehebündnisses
war zwar noch in dem Stadium der offnen Fragen gelassen, dagegen stand fest,
daß es zu Mittag Forellen und Hähnchen geben werde; denn die Witwe war die
Wirtin von Klosterrehberg, und Herr Flock war Autorität auf dem Gebiete alles
Eß- und Trinkbaren.
So gab es denn eine heitere und sehr ausführliche Tischsitzung, und die Sonne
neigte sich bereits merklich, als die Kommission zur Erledigung ihres Fvrschuugs-
unternehmens schritt.
Der Kastellan war benachrichtigt worden, das wissenschaftlicher Besuch bevor¬
stehe. Das imponirte ihm in demselben Maße, als er sich vornahm, der Kommission
seinerseits zu imponiren. Denn in Sachen Klosterrehdorfs war niemand anders als
er die unbestrittene Autorität, nachdem er den ersten Autoritäten der Kunst und
Wissenschaft als Führer gedient und seit vollen vierzig Jahren seine Anekdoten und
Sprüche zu den einzelnen Sehenswürdigkeiten zum besten gegeben hatte. Er zog
also seinen besten Rock an und setzte sich in der Vorhalle der Kirche an sein Pult
hinter ein dickes, verwittertes Buch.
Die Kommission trat ein, der Herr Kastellan erhob sich feierlich und bewegte
in seinem Gemüte die Frage, welche seiner drei Anreden er heute anwenden sollte.
Die erste Pflegte zu beginnen: „Meine Herren, die Betrachtung der Meisterwerke der
glorreichen deutschen Vergangenheit ist ein ebenso erfreuliches wie verdienstvolles
Unternehmen, und ich spreche Ihnen meine Befriedigung aus, Ihnen die Thür zu
dem Heiligtum altdeutschen Andenkens öffnen zu dürfen." Diese Anrede wurde
gebraucht bei Personen von Distinktion und solchen, von denen zwei Mark Trinkgeld
oder mehr zu erwarten war. Die zweite Anrede begann: „Meine Herren, Sie
wünschen dies ehrwürdige Kloster in Augenschein zu nehmen, ich werde mir erlauben,
Ihnen hierbei die nötigen Aufschlüsse zu geben." Diese wurde bei einem zu er¬
wartenden Trinkgeld von einer Mark gebraucht. Bei der übrigen massa xorclitionis
hieß es einfach: „Der Eintritt kostet 50 Pfennige; so, jetzt treten Sie ein. Dieser
Grabstein ist das Denkmal des Ritters Berchtold von Rehburg, er hatte seine eigne
Schwester zur Frau und starb 1686 u. f. w."
Der Kastellan entschied sich, obwohl die Kommission nicht wie Drei-Markbesucher
aussah, wegen des universalwissenschaftlichen Titels für die erste Anrede, woran sich
eine längere historische Erläuterung anschloß, die von umso größerm Interesse war,
da in derselben Fürsten und Herren figurirten, deren Existenz historisch noch nicht
mit Sicherheit hatte festgestellt werden können. Die Kommission hörte den Vortrag
mit wohlwollender Protektvrmiene an und schwieg philosophisch.
Nun trat man ein. In der That, es war eine alte Klosterkirche von mindestens
byzantinischem Stile. Man sah Glasgemälde, Altäre, Kreuze, Epitaphien, In¬
schriften, Messingtaseln, Holzschnitzwerk, Teppiche, Kelche, Kapitäle und Triglyphen,
Lettner und Chorraum, kurz alles, was Besucher an solchen Orten zu sehen Pflegen,
und man hörte auch alles, was Küster oder Kastellane dazu zu sagen pflegen. Schade,
daß die Zeit so drängte und daß es nicht möglich war, ein Protokoll aufzunehmen.
Indessen hatte man doch einen „Gesamteindruck" erhalten und erfahren, daß irgend
Wann im Mittelalter ein gewisser Mönch Meinhardt von Recklinghausen gelebt habe.
Denn wie jeder sehenswerte Ort einen Helden oder eine Heldin hat, welche von
den Vorzeigern der Denkwürdigkeiten mit einer gewissen Rührung gepflegt werden,
so hatte Kloster-Rehdorf den Mönch Meinhardt von Recklinghausen.
Als man in die Bibliothek eintrat, fing es bereits an zu dunkeln. Jedoch war
es noch immer hell genug, um in ein aufrichtiges Erstaunen über die vielen, noch
dazu in Schweinsleder gebundnen Bücher zu geraten. Es wurde in Aussicht ge¬
nommen, den Vereinsdezernenten für Literatur, Postsekretär Lämmermeier, nochmals
nach der Bibliothek zu ihrer nähern Untersuchung zu senden; später sollte ein
Vortrag bibliographischen Inhalts mit besondrer Beziehung auf Rehdorf gehalten
werden. Um auch über Details einigermaßen unterrichtet zu sein, zog Herr Sub-
rektor Siamesen ein besonders altertümlich aussehendes Buch aus dem Regal und
notirte sich nicht ohne Mühe den Titel. Er wird nicht unterlassen, auf dies Buch
als auf das Kleinod der Klosterbibliothek bei gegebener und nicht gegebener Ver¬
anlassung hinzuweisen.
Die Kommission war von den Ergebnissen über Expedition höchst befriedigt.
Herr Doktor Krimper hatte repräsentirt, Herr Subrektor Siamesen gesprochen,
Herr Flock gegessen und getrunken und Herr Oberlehrer Kleinpaul Schlupfwespen
gefangen.
Wie die Akten ausweisen, hatte die Universalwissenschaftliche Gesellschaft auch
in den folgenden Jahren Bestand. Aber freilich das erste Feuer der Begeisterung
war niedergebrannt. Die Versammlungen wurden nur noch schwach besucht. Die Mit¬
glieder fanden sich durch Zahlung ihres Beitrages mit ihrem wissenschaftlichen Ge¬
wissen ab, und die Vorträge bekamen immer mehr den Charakter von Monologen.
Dem scharfen Geiste des Doktor Krimper entging diese Veränderung nicht; auch
war es nicht zweifelhaft, worin der Grund dieser Erscheinung zu suchen sei. Es
war nicht die Langeweile über Vorträge von Leuten, die über Sachen redeten,
welche sie selbst nicht verstanden, es war nicht der Überdruß an den endlosen Ver¬
handlungen über die Schlupfwespenfrage, auch nicht die natürliche Trägheit, die am
Ende doch immer wieder Recht behält, es war vielmehr — mit diesen Worten
entwickelte Doktor Krimper den treugebliebenen Mitgliedern seine Ansicht — der
ureigne Geist des neunzehnten Jahrhunderts, des Jahrhunderts des Papiers und
der Schnellpresse, es war die natürliche, nie trügende Empfindung des unter diesen:
Einflüsse stehenden Individuums, es war der Wunsch, die wertvollen Aufschlüsse
nniversalwissenschaftlichen Inhaltes nicht bloß am Ohr verklingend zu hören,
sondern schwarz auf weiß zu besitzen, einbinden zu lassen und aufs Bücherbrett zu
stellen. „Darum, meine Herren, widersetzen wir uns nicht der Allgewalt des Zeit¬
geistes, unterwerfen wir uns dem Genius, dem die Zukunft gehört, gründen wir
eine Zeitschrift unter dem Titel: Krakauer Zeitschrift für Univcrsalwiffenschaft in
Zentraleuropa!"
Dieser Vorschlag wurde mit einem so stürmischen Beifall aufgenommen, wie
ihn die neun anwesenden Personen nur fertigbringen konnten, und gab zu langen
Verhandlungen und Protokollen Veranlassung. Nach Ablehnung aller eingebrachten
Amendements ging der Vorschlag des Vorsitzenden durch, die Vorsitzenden der
Sektionen zu eiuer Redaktionskommission zu vereinigen. Die Manuskripte sollte»
bei diesen Herren zirkuliren und mit dem Votum jedes einzelnen versehen werden.
Ihm selbst aber, als dem Präsidenten, stand das Superarbitrium zu, gegen welches
nnter sieben genau bezeichneten Voraussetzungen eine Appellation an die General¬
versammlung möglich war.
Daß Doktor Krimper wirklich ein großer Mann ist, der in „selbstlosester"
Hingabe an die große Sache der Universalwissenschaft auch Opfer zu bringen
weiß, zeigte sich bei dieser Gelegenheit. Er schoß das zur Gründung der Zeitschrift
erforderliche Kapital aus eignen Mitteln vor.
Werfen wir zum Schlüsse unsers Berichtes noch einen Blick auf die Thätigkeit
der Redaktions-Kommission. Bald nach Ankündigung der Zeitschrift lief ein Aufsatz
eines jungen Gelehrten ein, welchem von befreundeter Seite die Universalwissen¬
schaftliche Gesellschaft warm empfohlen worden war, mit der Überschrift: „Knltur-
historische Zustände des indogermanischen UrVolkes vor der sprachlichen Teilung."
In betreff der wichtige» Frage, ob diesem UrVolke die Metalle bekannt gewesen
seien, kam der Verfasser zu einem negativen Resultate. Das Manuskript hatte in vier
Monaten die Zirkulation glücklich durchgemacht und kehrte reichlich mit Not- und
Blaustift bearbeitet zu dem Vorsitzenden zurück. Auf dem Titelblatte trug es
folgende Gutachten: 1. „Der Aufsatz ist in gegenwärtiger Form nicht aceeptabel.
Verfasser geht von unrichtigen Voraussetzungen aus und hat bei aller sprachver¬
gleichenden Kenntnis die Verwertung prähistorischer Funde für seine Frage unter¬
lassen. Dementsprechend konnte das Resultat auch kein andres als ein negatives
sein. Dr. Krimper." 2. „Warum hat Verfasser die Ausgrabung auf dem Karnickel¬
berge nicht herangezogen? Dieselbe weist das Vorkommen von Eisen eklatant nach
und war durch dem Bericht der »Neuen freien Lussezeitung« von Ur. 201, Bei¬
lage 1, bekannt gegeben worden. Siamesen, Subrektor." 3. „Ich kann nicht für
die Aufnahme eines solchen Artikels stimmen, ehe nicht die Fortpflanzungswerkzeuge
der Schlupfwespen in ausführlicher Weise behandelt worden sind. Kleinpanl."
4. „Es sind unbedingt einige stylistische öder Kritiker bevorzugte die Schreibung
mit Änderungen nötig." Lämmermeier, Postsekretär. 5. „Einverstanden. Schwamm."
6. „Einverstanden. Pflaumel." 7. „Einverstanden, or. Schmiedefeld." Das
Manuskript wurde auf wiederholtes Drängen dem jungen Gelehrten zurückgeschickt
mit dem „Anheimgeben," dasselbe in angedeuteter Richtung umzuarbeiten, namentlich
das Vorkommen des Eisens als bewiesen anzusehen. Die Antwort desselben habe
ich vergebens in den Akten gesucht.
Durfte mau sonach auf die Mitarbeiterschaft des jungen Gelehrten nicht
rechnen, so wurde man bald durch eine höchst umfangreiche Zusendung eines Herrn
Doktor Joncis entschädigt, ein Werk von eminenter Bedeutung. Der Autor wirft alle
philologische Sprachforschung über Bord. Sanskrit ist für ihn ein überwundener
Standpunkt. Er erklärt die Wortbildung aus einem sprachphysiolvgischen Prozesse.
Der empfcmgne Eindruck wirkt unmittelbar wortbildend: das tiefe Rot heißt
R-o-t, die sanfte Himmelsfarbe: bi-an, der farbengcsättigte Wald ist gr-ü-u. Wie
kann die Seele anders heißen als S-ec-l-e, die Liebe anders als L-in-b-e! Da nun
bei allen Völkern die psychologischen Voraussetzungen dieselben sind, so sind auch
die Wortbildungen einander ähnlich.
Das Werk wurde von allen Rezensenten höchlichst anerkannt. Schwamm schrieb:
Einverstanden, Pflaumet: Einverstanden, Dr. Schmiedefeld: Einverstanden. Nur Post-
sekretär Lämmermeier wünschte wieder einige „stylistische" Änderungen. Etwas
störend war die große Länge der Arbeit. Man proponirte dein Verfasser einige
Kürzungen, wogegen derselbe ernstlich remonstrirte. So wird jedenfalls eine un¬
verkürzte Veröffentlichung erfolge», wiewohl Herr Kleinpaul wiederum im Interesse
der Schlupfwespen protestirt hat.
Nachschrift. Soeben erfahre ich, daß vom Minister, welchem die ersten Nummern
der Zeitschrift zugeschickt worden find, eine sehr verbindliche Antwort eingelaufen ist,
und daß die Absicht besteht, den Präsidenten der so allgemein anerkannten
Gesellschaft als Bibliothekar an die Landesanstalt zu Schwitzach zu berufen. Doktor
Krimper wird, wie er feierlich versichert, ablehnen, aber den Subrektor Siamesen
für die Stelle vorschlagen.
neue Woche hat mit keinerlei günstigeren Aussichten in der
ägyptischen Frage begonnen. Nirgends, weder am untern Nil
! noch im Sudan noch um der Seite des Horizonts, hinter welchem
W^^^M Habesch liegt, zeigt sich ein Auseinandergehen der Wolken, ja man
kann sagen, vom vorigen September an bis heute hat sich der
Himmel mit jedem Tage mehr verfinstert, und zwar sowohl über Chartum
als über Kairo. Ersteres ist jetzt hermetisch abgesperrt, Berber zwar noch
nicht von den Scharen des Mcchdi besetzt, aber, nachdem ein Teil der Regierungs¬
truppen zu jenen übergegangen, dem Falle nahe und schon von der größer»
Hälfte seiner Bewohner geräumt. Osman Digma ferner rüstet sich zu einem
Angriffe auf Suakin. Das ist aber nur Fortsetzung, nicht Schluß des Dramas,
das 1881 begann. Aufstünde wachsen, wenn Erfolge sie nähren, und bald wird
der, dessen Fahne der Prophet von Darfur trägt, an der großen Wüste an¬
gelangt sein, welche das eigentliche Ägypten vom Sudan trennt. Zunächst wird
auch der Telegraphendraht, der Chartum mit Dongola verbindet, durchschnitten
werden, und kurz darauf werden wir erfahren, daß der letztere Platz in die
Hände der Insurgenten gefallen ist.
Niemand weiß jetzt noch genau, wie es am Zusammenflusse des weißen
und blauen Nil steht, aber man kann sich die Lage wenigstens ungefähr ver¬
gegenwärtigen. Der gottesfürchtige Kriegsmann, der in Gladstones Auftrag
und zugleich als vom Chedive ernannter Maki hier regiert, hat unter seinen:
Befehl eine Truppenmacht, die aus Weißen und Negern gemischt ist. Als ge-
Schickler Ingenieur hat er seine Stellung so befestigt, daß sie die schmalste Ver¬
teidigungslinie darbietet, die sich mit der Vorsicht verträgt. Er besitzt ein Arsenal,
von dem man annehmen darf, daß es ausreichend mit Munition für Gewehre
und Geschütze versehen ist, und er gebietet über eine Flotille, deren Dampfer,
mit Kesselplatten und Baumwollenballen gegen feindliche Schüsse gesichert, ihn
in den Stand setzten, sich bei seinen Operationen ziemlich ungestraft der Ge¬
legenheit zu bedienen, welche die beiden Flüsse boten. In den letzten Wochen
wird ihn der niedere Stand des Wassers hier am offensiven Vorgehen verhindert
haben, aber wahrscheinlich hat er wenigstens Feuerholz und andre Vorräte
sammeln können. Die Bevölkerung der Stadt ist ihm ergeben und unterstützt
ihn, doch hat sich bereits gezeigt, daß sich Verräter unter sie eingeschlichen haben,
und man darf schließen, daß direkt von Mahdi gekommene Boten, die seine An¬
erbietungen ablehnten und seine Geschenke zurückbrachten, selbst die Treue der
loyalen Einwohner etwas erschüttert haben. Sehr groß war der Vorteil, dessen
er sich bisher erfreute, daß ihm auf dem weißen Nil fortwährend allerlei Lebens¬
bedürfnisse, Getreide, Vieh u. dergl., zukamen, die ihm wahrscheinlich von den
Landleuten, welche im Winkel zwischen den beiden Flüssen wohnen, sowie vom
westlichen Ufer her geliefert wurden. Seine Gegner haben keine Artillerie und
sind nicht gewohnt, Verschanzungen zu stürmen. So lange es also in
Chartum nicht an Pulver und Kugeln mangelt, solange man dort genügend
mit Nahrung und Brennholz versorgt bleibt, und solange die Bevölkerung zu
ihrem Gouverneur hält, wird die Stadt nicht leicht die Residenz des Propheten
werden. Man kann auch noch an das Genie Gordons denken, das ihm schon
mehrmals aus schwerer Bedrängnis geholfen hat, damit ist aber auch alles an¬
geführt, was für ihn hoffen läßt, und das wird durch das, was für ihn fürchten
läßt, fast aufgewogen.
Chartum ist jetzt von Kairo wie von Suakin abgeschnitten, keinerlei Kunde
von England und Ägypten erreicht Gordon mehr, und diese Vereinsamung muß,
wo nicht auf ihn selbst, doch auf seine Umgebung entmutigend wirken, zumal
im Verein mit der jetzt zur Gewißheit gewordenen Beobachtung, daß der Mahdi
zusehends mächtiger wird. Angefeuert durch fast ununterbrochene Erfolge, werden
die Aufständischen bald noch unternehmender werden als bisher, es wird mehr
Einigkeit unter ihnen herrschen, mehr Einheit und Konsequenz in ihre Operationen
kommen, und sie werden, wie der General schon in den ersten Tagen des Mürz
voraussagte, versuchen, Chartum auszuhungern, und zuletzt vermutlich mit Erfolg.
Man hat geschlossen, weil der Mahdi sich nicht sofort nach der Vernichtung
des Hicksschen Heeres zur Einnahme von Chartum aufmachte, sondern sich in
El Obeid einschloß, müsse er eine Persönlichkeit von geringer Bedeutung sein.
Das erscheint jetzt als Irrtum und Mißverständnis. Eher darf man jetzt an¬
nehmen, daß er zu rechnen versteht. Hätte er eine regelmäßige Armee zur
Verfügung gehabt, als er damals unthätig blieb, so würde man mit jener Ansicht
recht gehabt haben. Er ist aber der Führer von halbwilden Araber- und
Negerstämmen, die bis vor kurzem zum Teil in Feindschaft miteinander lebten,
er arbeitet mit Marabuts, die als seine Agenten wirken, und man hat an dem
Ausbruch unter den Bischarin und Hcidendcmas bei Suakin, der deu kurzen
Feldzug Gradaus veranlaßte, und später an der Ansammlung seiner Anhänger,
durch welche Schendy verloren ging und Chartum abgesperrt wurde, erkennen
können, wie weit sich in nicht langer Zeit sein Einfluß und seine Macht durch
jene Propaganda ausgebreitet haben.
Wenn die Dinge sich zu einer für England so traurigen Krisis gestaltet
haben, so trägt vor allem die unerhörte Verblendung und Unentschlossenheit
Gladstones die Schuld, der hier nie begriff, daß wer A sagt, auch B sagen
muß. Es hat ihm nicht an Warnungen gefehlt. Der Mahdi erhob seine
Fahne schon vor vielen Monaten, und die Siege, die er und seine Unterfeldherrn
erfochten, sind bereits älter als ein Vierteljahr. England mußte Augen dafür
haben, es mußte nach dem Tage von Tel El Kebir ohne Verzug eine feste,
folgerichtige Politik adoptiren, nicht aber mit kleinen Mitteln Hantiren und,
was ganz und rasch gethan werden mußte, halb und mit Unterbrechungen thun.
Hielt man es in London für geraten, den Sudan als ägyptische Provinz auf¬
zugeben, so mußte man die Sache geschäftsmäßig betreiben und durch wohl¬
überlegte Maßregeln die Garnisonen bis zur letzten in den Stand setzen, sich
wohlgeordnet und unbelästigt zurückzuziehen. Es war das die Aufgabe eines
geschickte» Generals, der das Land und sein Volk hinreichend kannte, nicht
Arbeit für den grünen Tisch eines quäkerisch denkenden Ministers. Der Verlauf
der „friedlichen Mission," welche dieser ausklügelte, hat gezeigt, daß die Be¬
rechnung, auf der diese beruhte, durchweg auf schwachem Grunde ruhte, und
der Quäker in Downingstreet hat mehr Blut vergossen, als der energischste
Soldat bei Behandlung der Angelegenheit hätte vergießen können. Ähnliche
Mängel haben aber das gesamte bisherige Verfahren Gladstones in der
ägyptischen Frage bezeichnet, und die öffentliche Meinung Englands erkennt
das jetzt beinahe einstimmig und verlangt dringend eine tingere und ent¬
schlossenere Politik. Nur könnte sie damit jetzt zu spät kommen, und jedenfalls
hat es heute, angesichts des Konferenzplanes Gladstones, seine schweren Be¬
deuten, wenn Stimmen der Londoner Presse jetzt noch die Mitwirkung andrer
Mächte bei der Neugestaltung auch der politischen Verhältnisse gänzlich aus¬
geschlossen sehen wollen.
So können wir nur teilweise beistimmen, wenn der van^ ^eäsAiÄpK meint:
„Wenn wir den Sudan aufgegeben haben, so haben wir das untere Nilthal nicht
verlassen... Die Franzosen trachten begierig darnach, von einer Gelegenheit
Vorteil zu ziehen, die nach ihrem Dafürhalten ihnen Aussicht auf Wieder¬
belebung der Doppelkontrolc verheißt. Man schob uns die Arbeit der
Unterdrückung der militärischen Anarchie und der Vereitelung im Dunkeln
schleichender Ränke zu, und was wir dabei gewonnen, darf nicht geopfert
werden. Es ist notwendig, daß die Verhandlungen Europas streng auf Finanz-
angelegenheiten beschränkt werden, und daß keinerlei Zweifel hinsichtlich unsrer
Stellung in Ägypten zugelassen wird. Die politische Verantwortlichkeit, die
wir auf uns zu nehmen gezwungen wurden, darf mit niemand geteilt werden.
Die Frauzosen würden sehr entrüstet sein, wenn England, Italien oder Spanien
in Tunis oder Tonking den Anspruch aus Teilhaberschaft erheben wollte, und
obwohl sie die Ungehörigkeit einer solchen Forderung sehen würden, sind sie
nicht imstande, zu begreifen, daß ihr Wunsch, vom Erfolge unsrer Operationen
in Ägypten zu profitiren, gleich unannehmbar ist. Micht völlig gleich; denn
Frankreich regierte früher in Kairo mit, während England in Tunis und
Tonking rechtlich nicht dreinzureden hattet Die zukünftige Konferenz sollte
in der That die wirklichen Absichten der Regierung Ihrer Majestät zu tage
fördern, aber man sollte kein Mandat irgendwelcher Art von den versammelten
Mächten erbitten. Man hat zugestanden, daß die Interessen Englands in
Ägypten allen andern voranstehen, und dieses Zugeständnis weist uns korrekt
eine Stellung an, die ohne Wanken behauptet werden sollte. Binnen kurzem
wird das Publikum im Besitze weniger unvollständiger Kunde in bezug auf die
Konferenz, ihrer Ziele und Gegenstände sein, aber es kann kein Zweifel über
die Absicht der Regierung obwalten, jene Stellung für England festzuhalten,
die es zögernd sich verschafft hat, noch über dessen Entschluß, die Pflichten
gegen sich selbst und gegen Ägypten zu erfüllen, die es übernahm, als es in
dieselbe eintrat."
Weniger überzeugt scheint die liinss von der Möglichkeit, die Verhand¬
lungen der Konferenz auf die Besprechung und Entscheidung finanzieller An¬
gelegenheiten zu beschränken. „Thatsache ist, sagt sie, daß sich Finanzfragen von
der Politik nur in Gedanken trennen lassen. Sobald diese Erörterung praktisch
wird, wird man finden, daß die beiden Dinge überall sich miteinander verschlingen.
In dem Augenblicke, wo die Regierung einen bestimmten politischen Plan hat,
wird sie auch die Mittel haben, die Geldangelegenheiten zu regeln; wenn sie
aber, wie wir fürchten, nur nach einem solchen Plan herumsucht, wird sie bei
Europa ebensowenig der Neigung begegnen, ihr die Verantwortlichkeit abzu¬
nehmen, die ihr eigentlich selber zukommt, als früher auf der Konferenz in Kon¬
stantinopel."
Was Gladstone betrifft, so sind wir nicht der Meinung derer, die hinter
seiner unklaren und zweideutigen Politik einen nur vorläufig vertagten und ver¬
hüllten Plan vermuten. Er befindet sich hinsichtlich Ägyptens offenbar fort¬
während in Verlegenheit. Am liebsten überließe er das unbequeme Nilland sich
selbst, um in Ruhe die Ziele seiner innern Politik verfolgen zu können. Aber
er muß Rücksicht auf die Opposition im Parlament, die ihm über den Kopf
wachsen könnte, wenn er das wichtigste auswärtige Juteresse Großbritanniens
ganz außer Acht lassen wollte, und auf einen großen Teil der Presse nehmen.
Seine Abneigung vor einer Übernahme des Protektorats über Ägypten oder
überhaupt stärkeren Eingreifen in dessen Regierung ist aufrichtig, und im Sudan
interessirt ihn nur die Rettung Gordons, weil dessen Untergang einer Blamage
der liberalen Politik gleichkommen und ihn vom Staatsruder wegstoßen würde.
Die voraussichtliche Niedermetzelung der ägyptischen Garnisonen macht ihm schwer¬
lich schlaflose Nächte.
Inzwischen ist es ziemlich gewiß geworden, daß die Konferenz zustande
kommen wird. Alle Mächte haben sich im Prinzip damit einverstanden erklärt,
daß man die ägyptische Finanzlage gemeinschaftlich gedeihlicher ordnen müsse,
nur wird der Zusammentritt ihrer Vertreter nicht so bald stattfinden, da Frank¬
reich seine Zustimmung an Bedingungen geknüpft hat. In seiner Beantwortung
des Gladstoneschen Vorschlages, die in freundschaftlichsten Tone gehalten ist,
nimmt das Kabinet Ferry die Einladung zur Konferenz an, macht aber zu
gleicher Zeit kein Hehl daraus, daß es der Meinung ist, die finanzielle Seite
der ägyptischen Frage lasse sich von der politischen nicht trennen. Es ersucht
infolge dessen die britische Regierung, Maßregeln zu treffen, damit vor Zu¬
sammentritt der Konferenz ein Austausch der Ansichten der beiden Kabinette
über die politische Lage Ägyptens stattfinden könne. Dies wird schwerlich je¬
mand überraschen, der die Aeußerungen der französischen Presse in den letzten
Wochen verfolgt hat. Es war vom ersten Augenblick an klar, daß die fran¬
zösische Regierung nicht den Mißgriff begehen würde, dem Zustandekommen der
Konferenz unübersteigbare Hindernisse in den Weg zu legen, und es war ebenso
bestimmt vorauszusehen, daß sie nicht in den gleich schweren Irrtum verfallen
würde, in die Beschränkung der Beratungen auf reine Geldfragen zu willigen,
ohne vorher mit Gladstone sich darüber verständigt zu haben. Ferry hat sich
entschlossen, einen Mittelweg einzuschlagen, der ihm vollkommen freie Hand läßt
und ihm doch gestattet, eine Frage wieder aufs Tapet zu bringen, zu deren
Wiederaufnahme man französischerseits seit Monaten Gelegenheit gesucht hat.
Hätte er sich schlechthin geweigert, die Konferenz zu beschicken, was verschiedne
Politiker empfehlen zu müssen glaubten, so wäre Gladstones Plan notwendig
gescheitert, und das britische Kabinet würde, durch solche Schroffheit angespornt,
sich vor die Notwendigkeit gestellt sehen, endlich entschlossener vorzugehen, und
die damit Verlorne Aussicht Frankreichs, auf gütlichem Wege vielleicht wenigstens
einige von seinen Wünschen zu erlangen, würde wahrscheinlich nicht sobald wieder
gewonnen worden sein. Hätte die Pariser Regierung aber die Einladung Glad¬
stones einfach angenommen, ohne offen ihr Verlangen nach einer vorgängigen
Erörterung der Sache zwischen den beiden Regierungen allein auszusprechen, so
würde sie sich entweder zu verhängnisvollen Stillschweigen in einer Angelegen¬
heit, die ihr ungemein am Herzen liegt, verurteilt haben oder genötigt gewesen
sein, den Gegenstand, auf den sie Verzicht geleistet, auf der Konferenz mit einem
Erfolge zur Sprache zu bringen, den kein Politiker bestimmt vorauszusehen im¬
stande ist.
Man weiß also jetzt, daß Frankreich nicht geneigt ist, die politischen Fragen
in der ägyptischen Sache von den finanziellen zu trennen — wenigstens nicht
in den Vorverhandlungen —, und da dies von Anfang an seine Absicht war,
liegt es auf der Hand, daß es klug verfuhr, als es die englische Regierung
offen davon in Kenntnis setzte und so jedes Mißverständnis seiner zukünftigen
Haltung von vornherein ausschloß. Welches Ergebnis diese Vorverhandlungen
haben werden, ist abzuwarten. Doch möchten wir ihnen kein günstiges Pro-
gnostikum stellen. Auch mäßige Forderungen Frankreichs werden bei der öffent¬
lichen Meinung in England entschiednen Widerstande begegnen, und so wird
auch Gladstone schwerlich auf solche einzugehen wagen. Andrerseits wird die
öffentliche Meinung in Frankreich kaum dulden, daß Ferry die Hand zur Aus¬
führung von Plänen leiht, deren Vorteile von allem den Engländern zu gute
kommen und für Frankreich kaum viel Bedeutung haben würden. Ferry würde
einen schweren Stand haben, wenn er nach der Konferenz vor die Kammern
träte, ohne imstande zu sein, ihnen eine Befriedigung wenigstens einiger der
wichtigern von den Interessen mitzubringen, die Frankreich in Ägypten hat. Er
wird darum, wenn Gladstone auf Vorverhandlungen eingeht, die bündigsten und
wirksamsten Zusagen und Bürgschaften dafür verlangen, daß man englischerseits
an kein Protektorat, geschweige denn an eine Einverleibung denkt, und wenn
England solche Bürgschaften für seine Enthaltsamkeit zu geben ablehnt, so wird
Frankreich sich zweifelsohne an der Konferenz nicht beteiligen, und das Glad-
stonesche Projekt wird unausgeführt bleiben. Denn die britische Regierung würde
sich einer schweren Täuschung hingegen, wenn sie erwartete, andre Großmächte
könnten gewillt sein, ihre Ansichten von dem, was recht und billig sei, gegen
Frankreich zu unterstützen. Im Gegenteile, die Meinungen und Ansprüche
Frankreichs in dieser Angelegenheit erfreuen sich, soweit man sie kennt, der
Billigung der übrigen Mächte, die von der Art und Weise, wie England seine
Aufgabe am Nil aufgefaßt und ausgeführt hat, keineswegs erbaut zu sein
Ursache haben. Sei dem aber auch, wie ihm wolle, zunächst ist Deutschland
ohne Anlaß, sich Englands gegen Frankreich anzunehmen, und wir dürfen mit
Sicherheit erwarten, daß, wenn Frankreich nicht auf der Konferenz erscheinen
sollte, das deutsche Reich, das außer der Erhaltung des Friedens in der
ägyptischen Sache kein Interesse zu wahren hat, gleichermaßen weg¬
bleiben würde.
Frankreich hat ganz recht, wenn es neben der Finanzfrage auch die
politische erörtert wissen will. Wir haben das schon in voriger Nummer dar¬
zuthun versucht. Hier noch einige weitere Beweisgründe, auf welche das Journal
als V6dg,t>8 in ausführlicherer Weise aufmerksam machte. Das Blatt erinnerte
an die Übereinkunft, durch welche die Staatsschuld Ägyptens geordnet wurde,
und weist mit Anführung von Ziffern nach, daß das Budget bis zum Jahre 1881
ansehnliche Überschüsse zeigte, woraus es den gewiß nicht unrichtigen Schluß
zieht, daß jene Übereinkunft, das vielbesprochene Liquidationsgesetz vom Jahre 1879,
nicht dafür verantwortlich gemacht werden könne, wenn es zu keiner ersprießlichen
Verwaltung der ägyptischen Finanzen gekommen sei. Vielmehr sei daran die
Art, wie von England verwaltet worden, schuld. Man wird daher, so fährt
der betreffende Artikel ungefähr fort, wenn jenes Abänderung des Liquidations¬
gesetzes fordert, mit dem Gegenverlangen antworten können, England möge erst
Bürgschaften für gute Handhabung des abzuändernden Gesetzes geben. „Ägypten
kann doch unmöglich in zwei Jahren so heruntergebracht worden sein, daß sein
Budget, welches unter englisch-französischer Oberaufsicht allen Dienstzweigen
gerecht werden konnte, nicht länger imstande wäre, bei erträglicher Verwaltung
die gegenwärtigen Bedürfnisse des Landes zu bestreiten. Aber sehen wir hiervon
ab, revidiren wir das Gesetz, kommen wir auf für die von England begangnen
Fehler; nur müßten wir dann mindestens bestimmt wissen, daß dies nicht bald
abermals geschehen muß, und so muß die Konferenz von den Finanzen zur
Politik übergehen. Freilich aber liegt neben dieser Notwendigkeit auch eine Gefahr,
da sich den politischen Fragen keine Grenzen ziehen lassen, und wir somit zwar
wissen, wie die Konferenz beginnen, aber nicht wissen, wie sie enden wird. Es
ist wahrscheinlich, daß sie nicht zum Vorteil Englands ausschlagen wird, aber
es ist auch möglich, daß sie die Ruhe Europas stören wird."
Nächst Frankreich wird vermutlich die Türkei Schwierigkeiten schaffen. Die
Absichten der Psorte in betreff Ägyptens sind bekannt: man weiß, daß der eifrige
Wunsch derselben dahin geht, die alten Oberhoheitsrechte des Sultans nicht bloß
in der Theorie, sondern auch in der Praxis wieder Geltung gewinnen zu sehen.
Hierauf wird sich nun England sicher nicht einlassen und nicht einmal auf Ver¬
handlung dieses Anspruchs eingehen. Lord Dufferin wird angewiesen werden,
den Türken dadurch Schweigen aufzuerlegen, daß er freundschaftlich andeutet,
daß die armenische Frage und einige andre noch der Erledigung harren, und
daß man wohlthun werde, erst dafür Sorge zu tragen. Dieser Rat wird ver¬
mutlich wenigstens 'bewirken, daß die Pforte sich hinsichtlich Ägyptens bis auf
weiteres bescheidet, da sie des guten Willens Englands Rußland gegenüber bedarf.
In Paris dagegen hat Gladstone solche Karten nicht auszuspielen. Hier weiß
man, daß man die Hände frei hat, daß keine Großmacht darauf sinnt, die franzö¬
sische Politik in Sachen Ägyptens zu beschränken oder zu durchkreuzen, solange
sie sich selbst auf Verfolgung von Interessen beschränkt, welche, abgesehen von
England, allgemein als wohlberechtigt angesehen werden. Liegt hierin schon eine
starke Ermunterung für Frankreich, so kommt dazu noch die sympathische Haltung
einiger Mächte zweiten Ranges, welche die Übereinkunft über das Liquidations¬
gesetz unterzeichnet haben, aber von Gladstone nicht zur Beschickung der jetzt
vorgeschlagenen Konferenz eingeladen worden sind. Dazu gehört in erster Reihe
Spanien, welches gegen diese Nichtberücksichtigung bereits Protest eingelegt haben
soll. Die Pariser Presse benutzt natürlich diese Stimmung und empfiehlt nicht
ohne Geschick der Regierung, sie zu benutzen und sich zur Fürsprecherin der
Schwächern und von England mundtot Gemachtem aufzuwerfen. Sie begreift
das Verlangen Spaniens, auch gehört zu werden, da es als Kolonialmacht im
südöstlichen Asien ein Interesse an dem Lande habe, durch das der Suezkanal
führe. Sie findet es unbillig, daß Gladstone von den vierzehn Staaten, welche
das Liquidationsgesetz geschaffen, nur die großen und die Pforte bei der Ab->
änderung desselben zu Worte kommen lassen will. Selbstverständlich ist diese
tcilnahmvolle Fürsorge für das Recht der Kleinen nur Maske und Schein, die
man auch früher immer annahm, wenn man die Mächte zweiten Ranges brauchen
zu können meinte. Aber stets haben die Manöver ganz leidliche Dienste gethan;
denn England hat im Laufe der Jahre mit einer großen Selbstsucht so viele
Interessen verletzt, daß jeder Appell gegen deren Operationen geneigte Ohren
findet und Leute um sich schart, die in ihn einstimmen. Frankreichs Stellung
zu der Angelegenheit ist mithin gegenwärtig eine ziemlich sichere und für die
Engländer bedenkliche, und es wird sich aus ihr gewiß nicht leicht verdrängen
lassen. Die englischen Staatsmänner aber sollten wissen, daß die diplomatische
Lage Europas sich seit etwa zwei Jahren erheblich verändert hat, namentlich
was die orientalischen Angelegenheiten anlangt. Die beiden Kaiserreiche Mittel¬
europas haben sich zur Aufrechterhaltung des ses-of ano in diesem verbündet,
andre sich ihnen zugesellt, auch Rußland erkennt im Berliner Vertrage jetzt die
Richtschnur seiner Politik. Es ist also für niemand gut, isolirt im Orient vor¬
zugehen, und Schwierigkeiten, die zu gefährlichen Verwicklungen führen können,
lassen sich nur vermeiden oder doch verringern, wenn alles, was dort geschehen
soll, im Einvernehmen mit ganz Europa geordnet wird.
ürchte dich nicht! sagte die Mutter, indem sie eine von Guidos
Händen ergriff und liebreich drückte.
Oh! Ich fürchte mich garnicht! sagte der Kleine keck und sah
immer gerade vor sich. Er befand sich zwischen Paul und
Nina. Letztere hatte ihn bei der rechten Hand genommen, und
da Guido beim Spazierengehen immer gewohnt war, sich auf der einen Seite
von der Mutter, auf der andern von der Wärterin an der Hand fassen zu lassen,
so hatte er auch diesmal aus alter Gewohnheit seine linke Hand ausgestreckt,
und Paul hatte sie ergriffen. Jetzt merkte Guido, daß es nicht die Hand seiner
Anna war. Er wandte seinen Blick daher von dem Tiere ab und hob ihn in
die Höhe, um dem Besitzer dieser unbekannten Hand ins Gesicht zu schauen.
Pauls Augen leuchteten voll inniger Freude.
Wer bist du? sagte Guido mit jener Vertraulichkeit, wie sie den unter
mütterlichen Liebkosungen aufgewachsenen Kindern eigen ist. Ich kenne dich nicht.
Du wirft mich kennen lernen, antwortete Paul; und wenn du willst, so
wollen wir auch Freunde werden.
Guido sah die Mutter an, und da er auf ihren Lippen ein billigendes
Lächeln wahrnahm, so beruhigte er sich und ließ seine Hand in der des Un¬
bekannten.
Gut! fügte er hinzu und marschirte mit seinen kleinen Schritten mitten
zwischen Rina und Paul weiter; aber ich habe dich noch nie gesehen.
Es ist der Bruder deiner besten Freundin Adele, sagte die Mutter.
Ach so! rief der Kleine lebhaft aus und sah Paul mit der größten Neu-
gierde an. Und bist du ebenso gut, wie die gute Tante Adele?
Ach, ich wollte nur, ich wäre es! sagte Paul mit einem Seufzer des auf¬
richtigsten Bedauerns.
Wenn du so gut bist wie Tante Adele, so will ich dich auch ebenso lieb
haben wie sie. Aber wo bist du denn bisjetzt gewesen? Wo kommst du her?
El! ich komme weit, weit her.
Von wo denn?
Aus einem großen, großen Lande, welches Amerika heißt.
Ach! Mein Papa ist auch nach Amerika gegangen. Aber der wird nicht
wiederkommen, nicht wahr, Mama?
Rina antwortete gerührt: Nein, du weißt, daß er dort oben ist.
Ja ja! beeilte sich der Kleine hinzuzufügen, als ob es ihn rente, sich diese
Worte habe entschlüpfen zu lassen; du läßt mich ja jeden Abend für seine
Seele beten.
Die Mutter wandte ihr Gesicht ab und blieb einen Augenblick in Schweigen
versunken. Paul suchte nach einem andern Gesprächsstoff und wußte ihn nicht
zu finden, und doch verursachte ihm dieser Spaziergang an dem wundervollsten
Abend mitten unter sovielen Schönheiten der Natur, an der Hand den anmutigen
Knaben, der zwischen ihm und dieser so bescheiden lieblichen, in ihrer Schwermut
so vornehm und würdevoll anzuschauenden jungen Frau ein Verbindungsglied
zu bilden schien, ein neues, überaus angenehmes Gefühl, welches er sich selbst
garnicht zu erklären wußte und doch mit tiefem Nachsinnen kostete.
Rina war die erste, welche die Unterhaltung wieder aufnahm. Denken Sie,
fragte sie, jetzt Ihren Aufenthalt hier zu nehmen?
Das weiß ich nicht, antwortete Paul, indem er beinahe aus seinem Nach¬
denken aufschreckte. Ich stehe allem auf der Welt, eine wildwachsende Pflanze,
welche jedem Windstöße preisgegeben ist, und kann mich in jedem Augenblicke
hier- und dorthin versetzen lassen. Ich habe keine Wurzeln, welche mich an irgend
einen Erdenwinkel fesseln könnten.
Rina sah ihn erstaunt an, als ob sie mit dieser Antwort nicht zu¬
frieden wäre.
Wie? sagte sie. Die gute Adele liebt Sie mit solcher Innigkeit, und Sie?
Ach! Ich liebe sie auch unsäglich wieder, fiel ihr Paul in die Rede; aber
die Neigung einer Schwester, mag sie noch so tief sein, gehört doch nicht zu
denjenigen, welche eine launenhafte Seele, einen unstäten Willen und — sagen
wir nur das wahre Wort — eine sich und andre quälende Tollheit, wie die
meine, lange an einen Ort fesseln können. Ich bin ein unvollkommenes Wesen,
das nicht weiß, was ihm gut ist, und das vielleicht dazu bestimmt ist, dicht
bei seinem Glücke vorbeizugehen, ohne es zu erkennen und zu ergreifen. Ich
schwanke zwischen zwei entgegengesetzten Zielen, und es sind zwei Extreme, welche
mich anziehen. Bei mir heißt es: entweder sich den Schädel mit dem albernen
Getöse der albernen Aufregungen der albernsten Welt anzufüllen, oder sich in
eine vollständige Einsamkeit, wohin nicht die leiseste Echvstimme des geselligen
Lebens gelangt, zu verbannen, und die eigne Existenz in dein großen, unerkannten
Leben der Natur aufgehen zu lassen. Hier kann man weder das Eine noch das
andre. Im Winter das langweilige Landleben, im Sommer eine Parodie der
eleganten Gesellschaft, mit den Affektationen der Badegäste.
Bist du müde, Guido? sagte Nina, komm! komm auf meinen Arm! Und
sie nahm den Kleinen auf den Arm, flüsterte ihm freundliche Worte ins Ohr
und ging voran.
Schön! dachte Paul bei sich. Da habe ich wie ein wahrer Dummkopf
geredet und habe ihr gefallen, wie der Rauch den Angen. Was ist das doch
für eine thörichte Sucht, immer von sich selbst zu reden! Ich muß ihr als
ein lächerlicher Lamentirer vorgekommen sein. Doch was thuts?
Die Gesellschaft war jetzt auf einem Punkte angelangt, wo die Straße sich
teilt; der linke Arm senkte sich in das Thal hinab, durchschnitt dasselbe, führte
auf einer kunstlos angelegten Brücke über den in der Tiefe rauschenden kleine»
Fluß und endigte an der Spitze des von den beiden Gewässern gebildeten Kens,
auf welchem das große Bade- und Kurhaus lag; der rechte Arm der Straße
dagegen wurde allmählich immer steiler und führte auf das Gebirge.
Auf dieser letztern Straße war es, wo man den Doktor auf seinem Grau¬
schimmel in scharfem Trabe herankommen sah; er gab der Gesellschaft ein Zeichen,
sie möchten stehen bleiben. Dies that sie auch und erwartete den Doktor.
Bald war Cerci bei der Gesellschaft angelangt. Er stieg vom Pferde, nahm
die Zügel über den Arm und trat näher. Moschillo bewillkommnete ihn mit
fröhlichem Gebell und tanzte um das Pferd, »in auch diesem seine Freude zu
bezeuge». Aber Nina konnte, wie es schien, diese übergroße Vertraulichkeit nicht
vertragen, sondern bäumte sich auf.
He! willst du wohl ruhig sein, alte Närrin! rief Cerei und gab ihr einen
leichten Schlag mit den Zügeln.
Hierher, Moschillo! Schnell! rief nun auch Paul; und der brave Hund
kam sofort und gehorsam zu seinem Herrn und sah ihn im Gefühle seiner
Unschuld ganz unbefangen an, als wollte er sagen: Ich habe doch garnichts
böses gethan. Dieses alberne Geschöpf ist es, das keinen Spaß versteht.
Nun also? fragte Rinn dringend; wie haben Sie die arme Frau gefunden?
Schlecht, antwortete der Doktor. Sie hat Fieberanfälle, die einen gefähr¬
lichen Charakter angenommen haben. Kommt es noch zu einem solchen Anfalle,
so ist es mit ihr vorbei. Aber ich hoffe, daß ich noch zur rechten Zeit gekommen
bin. Indessen wenn mich diese Fieberanfälle anschüren, so haben wir noch
immer nicht gewonnen. Es ist ein Organismus, der von Kummer und Ent¬
behrungen gebrochen ist, und den man wieder stärken und, wenn es möglich
ist, durch die größte Sorgfalt von neuem aufrichten muß. Indessen eine ruhigere
Seelenstimmung, die bessere Kost — und diese ihr zu verschaffen, ist Sache
der Barmherzigkeit —, die Liebe ihrer Mutter, die Luft ihres Heimatlandes
werden hoffentlich Wunder thun. Sie, Frau Rina, haben ja schon in dem
ersten Drange Ihrer Herzensgüte dieser armen Frau soviel gegeben, daß sie
davon zwei Monate lang gemächlich leben können.
Rina wurde rot, Cerci schien sich an dieser Verwirrung zu ergötzen, denn er
fuhr fort: So ist es! Sie haben sich wohl gehütet, mir das zu erzählen. Aber das
erste, was Sie gethan haben, war, das Portemonnaie herauszuziehen und in
den Schoß der alten Magdalene auszuleeren. Als ich vorhin in die Hütte
trat, saß die Alte am Bett ihrer Tochter und schaute noch immer die in ihrem
Schoße funkelnden Goldmünzen an, als ob sie ihren Augen nicht traute. Sie
waren dieser armen Frau wie eine überirdische Erscheinung vorgekommen. Ach!
Herr Doktor, sagte sie mit gefalteten Händen, wenn Sie diese schöne Dame
gesehen hätten! Wie? Giebt es denn überhaupt solche Frauen auf der Welt?
Und wie sie meine Gegia anblickte! Es waren Augen aus dem Paradiese!
Und mit welcher Stimme sie sprach! Sie drang mir bis zum Innersten meines
Herzens.
Ach, Doktor! Doktor! sagte Rina ganz verlegen und drohte ihm lachend
mit dem Zeigefinger.
Ich bin nichts als ein getreuer Berichterstatter und das Echo jener Worte.
Und doch hat Ihre Großmut der alten Magdalene nicht aus der Verlegenheit
geholfen, es geht ihr wie dem armen Araber in der Wüste, der vor Hunger
und Durst verschmachten wollte und als Almosen eine Handvoll Perlen und
Diamanten empfing. Sie wußte nicht, was sie mit all dem Gelde machen sollte.
Ich sagte ihr, was sie sich damit verschaffen könnte. Nun will ich nach der
Apotheke, will das fiebervertreibende Mittel holen und der Kranken bringen,
damit sie es noch diese Nacht einnehmen kann. Inzwischen wird Frau Rina
die Güte haben, diese Straße einzuschlagen und nach dem Kurhause zurückzu¬
kehren, denn des Spazierengehens hat sie nun genug gethan; wir werden hier
warten und die Ausführung dieser ärztlichen Vorschrift übernehmen.
Was für ein unerbittlicher Tyrann ist dein Mann! sagte Nina lächelnd zu
Adelen; aber man muß ihm gehorchen. Lebe wohl, Geliebte, und gute Nacht.
Die beiden Freundinnen umarmten sich; Guido küßte die Tante Adele; man
wechselte die üblichen Grüße, und dann machten sich Rina und der Kleine mit
seiner Wärterin auf den Weg. Aber als sie keinen einige Schritte gegangen
waren, blieb Guido stehen.
Was giebts denn? fragte ihn die Mutter.
Ich habe dem Herrn dort keinen Kuß gegeben, antwortete der Knabe, indem
er auf Paul zeigte; und weil er der Bruder der guten Taute Adele ist, so
schickt es sich doch, daß ich auch ihm einen Kuß gebe.
Und nun lief er auf seinen kleinen Beinen zurück.
Wie heißt du? fragte er Paul, welcher ihm entgegengekommen war, um
zu sehen, was er von ihm wollte.
Paul.
Also, Onkel Paul, gieb mir einen Kuß.
Adelens Bruder empfand ein unerklärliches, überaus süßes Gefühl. Er
schloß den Knaben in seine Arme und küßte ihn wiederholt.
Jetzt laß mich aber gehen, sagte Guido mit der Autorität eines Knaben,
welcher fühlt, daß man ihn lieb hat.
Paul setzte ihn wieder nieder.
Wirst du uns auch besuchen, wie die Tante Adele?
Guido! schnell! komm, komm!
Lebwohl, lebwohl! rief der Kleine und lief, um die Mutter wieder ein¬
zuholen.
Adele und ihre Gefährten blieben auf ihrem Posten stehen und verfolgten
mit ihren Blicken das schwarze Kleid Rinas, welche sich mehr und mehr ent¬
fernte. Von Zeit zu Zeit wandte sie sich um, um zurückzublicken und Adelen
einen Gruß zuzuwinken, und dann beleuchtete das sanfte Dämmerlicht ihr Profil
mit rosigen Reflexen. Der linde Abendwind spielte mit den schwarzen Bändern
ihres Hutes und ließ sie in den phantastischsten Wendungen um ihre bleichen
Wangen flattern, und manchmal trug derselbe Lufthauch dem Ohre den Wohl¬
laut ihrer Stimme zu, wenn sie zu Guido redete.
Als Nina an der Thür des Kurhauses angelangt war, wandte sie sich
noch einmal um, winkte mit der Hand den letzten Scheidegruß und verschwand.
Paul hatte sie bis zu diesem Augenblicke unausgesetzt im Auge behalten.
Jetzt stieg der Doktor wieder aufs Pferd.
Nun geht ihr andern auch nach Haus, sagte er, ich reite jetzt zum Apo¬
theker, und dann wieder zurück zu der alten Magdalena, und in einer halben
Stunde bin ich wieder bei euch.
Hierauf gab er seiner Nina ein aufmunterndes Wort und einen Fersenstreich,
und fort gings in dem Trabe, an den der brave Grauschimmel gewohnt war.
Adele schob ihren Arm unter den Arm des Bruders, der des Doktors
Worte nicht verstanden zu haben schien, und sagte: Laß uns gehen! Und so
machte man sich auf den Weg.
Eine schöne und imponirende Gestalt, diese Frau Nina! fing Josef De-
vannis an. Er hatte, wie es schien, die besondre Eigenschaft, das in Worten
auszudrücken, was in seines Freundes Paul innersten Gedanken verschlossen blieb.
Ja wahrhaftig! antwortete Paul, und dankte seinem Freunde unwillkürlich
durch einen Blick der Erkenntlichkeit.
Und eine Seele, wie es deren wenige oder gar keine weiter giebt, sagte
mit wahrer Begeisterung Adele, bei der es keines großen Ansporns bedürfte,
um zur Lobrednerin ihrer angebeteten Freundin zu werden.
Kennst du sie schon seit längerer Zeit? fragte Paul.
Seit längerer Zeit eigentlich nicht, antwortete die Schwester. Aber ich
kann dreist behaupten, das es mir so ist, als ob ich sie von Kindheit an ge¬
kannt hätte. Das heißt, soweit es ihr Herz und ihr Gemüt, nicht ihre Lebens¬
schicksale betrifft, denn die Erinnerung daran ist ihr viel zu schmerzlich, aber
ich weiß, daß diese Schicksale im höchsten Grade unglücklich gewesen sind, ohne
daß ich wünschen möchte, sie des näheren kennen zu lernen. Es sind nun zwei
Monate, daß sie hier im Bade ist. Sie kam gleich beim Beginn der Saison
und brachte meinem Manne Empfehlungen von einem alten Freunde und
Kollegen, zu dessen Worten Cerci das größte Vertrauen hegte. In seinem
Briefe teilte dieser Arzt mit, daß Mutter und Sohn die sorgfältigste Behand¬
lung bedürften, namentlich die erstere, denn diese hätte ihre schon durch vieles
Mißgeschick angegriffene Gesundheit bei den rasch aufeinanderfolgenden Krank¬
heiten ihres Sohnes aufgeopfert, und wenn der Sohn durch ein Wunder ge¬
nesen wäre, so habe man dies hauptsächlich der Liebe und dem unermüdlichen
Eifer der Mutter zu verdanken, sodaß man Wohl sagen könnte, sie habe ihrem
Sohne nicht einmal, sondern zehn-, ja zwanzigmal das Leben gegeben. Er fügte
noch hinzu, daß er, um sie zu bestimmen, die hiesigen, ihr gewiß sehr wohl¬
thätigen Bäder zu gebrauchen, ihr die Versicherung habe erteilen müssen,
es wäre dies für die Gesundheit des Kleinen unumgänglich notwendig, was,
beiläufig gesagt, nicht eigentlich der Fall sei.
Ich hatte sie kaum gesehen, so fühlte ich schon die lebhafteste Sympathie
für sie. Und es schien, daß auch Rina etwas ähnliches für mich empfand,
denn sie wurde bald mit mir ungemein vertraut, während sie die Bekanntschaft
und Gesellschaft aller übrigen Damen, die hierher gekommen sind, stets mied.
Ihr aufrichtiges, liebevolles, wohlwollendes Wesen, ihr den wärmsten und edelsten
Gefühlen und Empfindungen zugängliches Herz, ihr entschlossener und ehrenhafter
Charakter blieben mir nicht lange verborgen, ich lernte diese Eigenschaften mit
jedem Tage besser kennen, und sie flößten mir eine solche Liebe und Hochachtung
zu ihr ein, daß ich sagen kann: ich habe noch keine Freundin gehabt, die mir
auch nur den hundertsten Teil so wert gewesen wäre wie diese.
Und wie ist ihr Familienname? fragte Josef.
Sie ist eine geborene Berbolini, aus jeuer Familie Berbolini, welche in
Piemont am Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts wegen ihrer
Treue zu ihrem Fürsten so berühmt geworden ist. Rinas Vater war der letzte
männliche Sprosse dieser Familie, mit ihm erlosch der Name. Rina heiratete
in den letzten Lebensjahren ihres Vaters einen gewissen Mandozzi.
Mcmdozzi? wiederholte Josef. Den Namen kenne ich nicht.
Mir ist er durchaus nicht fremd, sagte Paul. Zu der Zeit, wo ich zuerst
in der große» Welt erschien, gab es einen dieses Namens, der durch seine
eleganten Tollheiten das Gespräch aller Salons war. Ein wütender Spieler,
ein zügelloser Wüstling, besaß er im Superlativ alle Laster, welche die Be¬
wunderung der vornehmen Gesellschaft erregen.
Der muß es sein. Er hat diese arme Nina zwei oder drei Jahre hindurch
unglücklich gemacht, hat sie eines schönen Tages, als sie eben Mutter werden
wollte, sitzen lassen und ist schuldenhalber, oder wie es heißt noch wegen etwas
schlimmeren, nach Amerika geflüchtet. Von dort hat er seiner Frau nur selten
Nachricht gegeben, und schließlich, es werden etwa sechs Monate sein, erhielt
sie die Nachricht von seinem Tode. Dies ist ein Gegenstand, den man in
Gegenwart der Ärmste» nicht berühren darf, und wenn du, mein lieber Paul,
diesen Menschen gekannt hast —
Ich, nein. Ich kenne ihn kaun: dem Namen nach und habe ihn nie ge¬
sehen. Ich hörte nur von dem Aufsehen, welches seine tollen Streiche erregten,
und jetzt, wo ich mein Gedächtnis zusammen nehme, erinnere ich mich, daß es
in Neapel war, wo ich das letztemal von ihm sprechen hörte, es mögen ungefähr
sieben Jahre her sein. Ein Landsmann von uns, dem ich auf der Via Toledo
begegnete, teilte mir als größte Neuigkeit mit, daß der famose Mandozzi an¬
gekommen sei, daß er den vielen Thorheiten, die er begangen, ein Ende gemacht
und eine Frau genommen habe. Eine brillante Partie, sagte er mir, eine Heirat
aus Liebe; er habe Schönheit und Reichtum zugleich erjagt und mache jetzt
seine Hochzeitsreise, die Frau sei ein wahres Wunder von Schönheit. Er
wollte mich mit ihm bekannt machen, aber ich lehnte es ab. Und seit jener Zeit
habe ich nichts wieder von ihm erfahren.
Jedenfalls mußt du dich in Acht nehmen, auch nur die geringste Anspie¬
lung auf diese vergangene Zeit zu machen.
Beruhige dich, Adele, ich werde kein Wörtchen davon sagen.
Eine Heirat aus Liebe! bemerkte Josef Devaunis. Ist es denn möglich,
daß eine Frau, wie sie uns Frau Adele geschildert hat, sich in einen solchen
Menschen verliebt? Wahr ist es freilich, daß die Frauenzimmer, auch die aller-
tngendhaftestcn, immer eine gewisse Zuneigung für schlechte Subjekte haben,
um sie zu bekehren. (Fortsetzung folgt.)
Sprachmoden. Gegen Modethorheiten zu predigen, ist ein undankbares
Geschäft. Das weiß jedermann, aber nicht jeder gewinnt es über sich, gleichmütig
dem Unfug zuzuschauen. Wozu sich erhitzen! sagen die Jmmerwciseu; Moden sind
Wellen und Wellchen, welche von jedem Lufthauch in Bewegung gesetzt werden,
heute in östlicher, morgen in westlicher Richtung. Es mag uns verdrießen, wenn
das Bild des Himmels und der Ufer durch das rastlose Hinundwieder so wunderlich
zerrissen und verzerrt wird; aber wie langweilig würde ein ewiges Einerlei des
Wasserspiegels werden! Und vor allem: dieser stete Wechsel geht ja nur auf der
Oberfläche vor sich, die Tiefe bleibt unberührt.
Allein dieser Vergleich paßt doch nur auf das Gebiet der Modenzeitungen,
Modistinnen u. s. w., und auch da nur mit Einschränkung. Ob der Mann das
entwürdigende Joch der breiten Frackschöße abschüttelt und kühn nach den spitzen
greift, die ihn gottähnlich machen, ob die fortschreitende Bildung verlangt, daß die
Fran als Kleid ein Regenschirmfutteral oder einen Luftballon wähle, das darf uns
bis zu einem gewissen Grade gleichgiltig sein, obwohl sich auch in diesen Dingen
oftmals der Einfluß schlechter Gewohnheiten nachweisen lassen würde. Und in andern
Fällen ist das Beispiel des Wassers, auf dessen glatter Oberfläche Wellenkreise und
Kahnfurcheu so rasch verschwinden, überhaupt uicht anzuwenden. Da handelt es sich
um festen, fruchtbaren Boden, in welchem der Same von Unkraut so rasch und
rascher keimt und Wurzel schlägt, als die Brotfrucht oder die Zierpflanze, welche
dort angesäet worden ist. Solch ein Feld ist unleugbar das der deutschen Sprache.
Freilich möchte man mutlos werden, wenn man mitansehen muß, wie jedem Land¬
streicher gestattet wird, die Saat zu zertrampeln und das nichtsnutzigste Zeug da-
zwischeuzupflanzen, und wie dann ehrbare Leute daherwcmdeln und sprechen: El, die
herrlichen Wucherblumen, der anmutige Schwindelhabcr, die originellen Disteln!
Wie gut ist es doch, daß „ungenannt bleiben wollende" Wohlthäter uns so holde
Abwechslung verschaffen! Und nehmt euch ein Beispiel daran, ihr lieben Kinder,
sammelt sein die Flora der Schutt- und Misthaufen und pflanzet sie hier sorg-
smnlich ein zwischen Weizen, Reben und Rosen, die wir schon so lange gesehen
haben, daß sie uns zum Überdruß geworden sind. Ja, man möchte den Mut ver¬
lieren angesichts so weitverbreiteter Stumpfheit gegen das Wohl und Wehe der
Muttersprache. Mau fragt sich, ob denn ini Elternhause und in der Schule uicht
mehr reines Deutsch — in diesem Falle: richtiges, nicht dialektfreies — gesprochen
werde, ob unsre Klassiker nicht mehr gelesen werden, daß das Sprachgefühl von
Tag zu Tage mehr schwindet? Die gewerbsmäßigen Verderber des Schriftdeutsch
trifft dabei ein nicht so schwerer Vorwurf, denn den meisten von ihnen ist nicht das
Deutsche Muttersprache, sondern das Hebräische, das Polnische, Slowakische oder
was sonst, oder sie haben keine ordentliche Schulbildung genossen. Aber das geht
wie bei den Kleidermoden: der Friseur, der Schneider, die Kokotte geben die Ge¬
setze, denen sich Hoch und Niedrig willig unterwirft!
Der Einzelne kann das nicht ändern, kann nicht täglich das ganze Feld ab¬
schreiten und alles Unkraut ausjäten. Indessen sollte jeder, der noch ein Ohr für
die Sprache hat und Liebe zu derselben, wenigstens zugreifen, wo ihm wieder ein
Mißgewächs entgegenstarrt oder entgegeustinkt, und von Zeit zu Zeit einen Berg
davon auftürmen und anzünden; erstens zur Befriedigung des eignen Sprach-
gewisseus, dann in der Hoffnung, daß doch eine oder die andre Samenkapsel dabei
zu gründe gehe, oder daß wenigstens dieser Opferduft einem oder dem andern in
die Nase steigen und ihm zum Bewußtsein bringen werde, welche Kräuter
er kultivirt.
Machen wir einen kleinen Anfang!
„Die Leiche wurde überführt." Das köunen wir täglich in Zeitungen des
Nordens und des Südens, des Ostens und des Westens lesen. Entsetzlich! Sonst
Pflegte die Untersuchung eingestellt zu werden, wenn der Verbrecher aus dem Leben
geschieden war; jetzt wird noch die Leiche inquirirt und eines Verbrechens über¬
führt, welches offenbar sie — also nicht der Lebendige, der sie einst war — be¬
gangen haben muß. Schauderhaft, höchst schauderhaft! Oder wäre der Ausdruck
etwa einem süddeutschen Dialekt entlehnt und sollte besagen, daß die Leiche über¬
fahren, unter die Räder gekommen sei? Auch das wäre eine schaurige Vorstellung.
Doch beruhigen wir uns. Jemand, der der deutschen Sprache nicht mächtig war,
hat sagen wollen, daß die Leiche in die Gruft gebracht, übergeführt worden sei.
Und weil die Form, die er da anwandte, zwar falsch, aber neu war, fand sie
sogleich Beifall, und nun wimmelt es in der Tagesliteratur von überführten
Dingen aller Art. Wer der Erfinder dieses Unsinns gewesen ist, mögen die Götter
wissen. Interessanter ist die Frage, wie jemand darauf verfallen sein kann und
wie es möglich ist, daß wirklich gebildete Männer dergleichen nachschreiben und in
den Mund nehmen. Bekanntlich war die Vorsilbe ge zur Bildung des Partizips
der Vergangenheit nicht immer erforderlich, und in Oberdeutschland läßt man sie
auch jetzt noch häufig weg (ich bin gangen n. dergl.); dem ersten, welcher das Wort
überführt oder ein ähnliches für den Druck niederschrieb, klang dasselbe vielleicht
mit dem Ton auf der Partikel, aber der Leser legt unwillkürlich den Ton auf das
Verbum. Und da begegnen einander Halbbildung und cmmaßliche Schulmeistere!
in dem Bemühen, die deutsche Grammatik zu verbessern. Die germanische Eigen¬
tümlichkeit trennbar zusammengesetzter Zeitwörter — eine Eigentümlichkeit, un¬
schätzbar für denjenigen, der überhaupt eine Sprache zu gebrauchen weiß, und nnr
für den Ungeschickten ein Hemmnis — soll als „Unregelmäßigkeit" beseitigt werden.
Fast niemand erkennt mehr etwas an, sondern fast jeder anerkennt u. f. w.
Doch die Sprache in ihrem Eigensinn macht bei gewissen Zusammensetzungen Unter¬
schiede, welche, sollte man glauben, nicht so einfach zu beseitigen wären. Ich über¬
gehe einen Umstand, aber ich gehe zu einem andern Gegenstande über; ich
unterstehe mich, etwas zu thun, aber ich stehe unter meinem Vorgesetzten; ich
widerspreche einem, und was ich vorbringe, spricht wider ihn; ich umgehe
einen Feind, indem ich um einen Wald gehe; ich durchlaufe ein Verzeichnis, oder
ich laufe durch ein Feld; ich hintergehe jemand noch nicht, wenn ich hinter
ihm gehe. Unbetont ist die Präposition untrennbar, betont behält sie ihre Beweg¬
lichkeit, und je nachdem wird auch der Sinn des Wortes ein andrer. Dieser Um¬
stand läßt sich doch nicht ignoriren, meint der beschränkte Lmcnverstand. Aber der
Höhergebildete kennt keine schwächliche Rücksicht. Er übergeht zu einem andern
Gegenstande, er untersteht seinein Vorgesetzten u. s. w. Es giebt keinen Fluß,
der nicht schon übersetzt worden wäre, wenn auch nicht aus einer Sprache in eine
andre, so doch zu Pferde oder mit einem Kahne. Es wird notwendig werden,
die Nationalliteratur einer gründlichen Revision zu unterziehen, denn die guten
Leute, die vor achtzig und hundert Jahren dichteten, ahnten noch nichts von der
heutigen Entwicklungsfähigkeit unsrer Sprache.
Als Schopenhauer seiue „Materialien zu eiuer Abhandlung über den argen
Unfug, der in jetziger Zeit mit der deutschen Sprache getrieben wird,"*) sammelte,
also vor 25 bis 30 Jahren, war es noch neu, „Bezug" statt „Beziehung" zu
setzen, und in seinem Zorne schrieb er nieder: „Kopfkissen, Sofas und Stühle
haben Bezüge, Menschen und Dinge haben Beziehungen. So ist's Deutsch." Wenn
er erst die Nachkommenschaft der Bezüge erlebt hätte! Das Wort beziehentlich
scheint gänzlich in Vergessenheit geraten zu sein, es giebt nur noch „bezüglich,"
und dies hat den Wechselbalg „diesbezüglich" in die Welt gesetzt, dem mau gar¬
nicht mehr entgehen kann. In 99 von 100 Fällen ist es ein Völlig überflüssiges
Flickwort, kann einfach weggestrichen werden, ohne daß man eine Lücke bemerken
würde, und in allen übrigen wäre es durch „darauf," „hierzu," äußerstenfalls durch
„mit Beziehung hierauf" und ähnliches zu ersetzen. Natürlicherweise wird die
Sprachindnstrie sich dnrch den großen Erfolg dieser nouvs^nes angespornt fühlen,
weiterzufabriziren, wir werden „dasbezüglich," „wasbczüglich," „werbezüglich" nud
andre Spottgeburtcn ihr Wesen treiben sehen — immer unter dem Beifall oder
dem Schweigen des Volkes der Denker, welches ein so kostbares Gut wie die
Sprache sorglos dem Mutwillen und der täppischen Neuerungslust des Ersteubesteu
preisgiebt.
Eine der neuesten und saftigsten Früchte aus dem Worttreibhanse ist anch die
Anwendung des Adverbiums „selten" vor einem Prädikat, um dies zu verstärken.
Der Vorgang trägt den Stempel der Affektation deutlich an sich! Unsre Zeit
kommt im allgemeinen mit nichtübertreibenden Ausdrücken nicht mehr ans: Hyperbeln,
welche sonst mir scherzhaft in Kreisen von Studenten oder Offizieren gebraucht
wurden, sind gäng und gäbe, und die Dame, welche sich des Besitzes einer „riesig
kleinen" Uhr rühmte, steht durchaus nicht allein. Folglich ist jeder dritte Mensch
ein „seltner" Mensch, und da mau doch Unterschiede machen muß, erfolgt die Rück¬
bildung aus dem Adjektiv selten ----- ausgezeichnet zu einem zweiten Adverbium.
„Ein selten tapferer Offizier, eine selten tugendhafte Frau." Dergleichen schreibt
ein Tropf nieder, die Leute lesen es, ohne den komischen Sinn auch nur zu merken,
und sprechen es gedankenlos nach. Sähen sie das, was sie reden, in einer fremde»
Sprache vor sich, wie würden sie lachen! Vn «Meisr rarsmönt dra>of, a soläom
viiwou8 >vns — das würde man als Anekdote weiter erzählen; für die Mutter¬
sprache sind sie abgestumpft. Abgestumpft? Beileibe nicht! Bestehen und wirken
doch große Vereine für die Erhaltung des Deutschen in Ländern mit gemischter
Bevölkerung. Ja freilich, aber daheim läßt man es verkommen.
Genug für diesmal. „Schreibt schlechtes und dummes Zeug soviel ihr wollt:
es wird mit euch zu Grabe getragen und schadet weiter nicht; aber die Sprache
laßt unangetastet: sie ist das Eigentum der Nation und das Werkzeug, dessen künf¬
tige wirklich denkende Geister sich zu bediene» haben, daher ihr es ihnen nicht ver¬
derben sollt." Und: „Wie wenig Gehalt und Gewicht muß man doch seineu Ge¬
danken beimessen, um zu meinen, sie könnten nicht das volle Quantum der ihnen
entsprechenden Worte und Silben ausfüllen und tragen! — Wenn ein neues Ge¬
schlecht heranwächst, welches sich das infame Kauderwälsch der unfähigen »Jetztzeit«
zur Norm nimmt, so ist es um die deutsche Sprache geschehen." (Schopenhauer n. a. O,
S. 60 und 67.)
elche von den vielen trüben Perioden unsrer Geschichte soll denn
hier in Betrachtung gezogen werden? so wird vielleicht mancher
Leser fragen. Und nicht mit Unrecht. In dem langen und tief¬
bewegten geschichtlichen Leben der deutschen Nation giebt es nur
wenige Perioden, auf welche die nachgebornen Generationen mit
gehobener Seele, mit freudigen und stolzen Empfindungen zurückblicken konnten.
Allenthalben Anstrengung, Mühe und Kämpfe und selten befriedigende Resultate.
Zu diesen trüben Zeiten gehören auch die letzten Jahrzehnte des sttnfzehnten
Jahrhunderts, mit denen sich die folgenden Blätter beschäftigen sollen, die
Übergangsperiode vom Mittelalter in die neuere Zeit. Zu der Wahl wurde
ich durch die Revision des neunten Bandes meiner „Allgemeinen Weltgeschichte"
behufs einer zweiten Auflage bestimmt. Da ich es mir zur Aufgabe gestellt
habe, die neueren Geschichtswerke, die seit der ersten Bearbeitung erschienen sind,
mit meiner eignen Darstellung zu vergleichen und, wo ich es zweckmäßig finde,
die gewonnene Belehrung zu verwerten, so hatte ich das befriedigende Gefühl,
drei hervorragende Werke benutzen zu können: das bekannte, seit Jahren viel¬
besprochene Buch von Johannes Janssen und die zwei umfassenden, noch im
Werden begriffenen Geschichtswerke über das deutsche Reich unter Kaiser
Friedrich III. und Maximilian I. von Adolf Bachmann und Heinrich Ulmann.
Wachmanns „Deutsche Neichsgeschichte" behandelt in dem ersten bis jetzt er¬
schienenen Bande (Leipzig, 1884) die geschichtlichen Vorgänge der Jahre 1460
bis 1468. Auch der vor kurzem publizirte erste Band des Ulmcmnschen Werkes
(Stuttgart, 1884) geht nicht über das fünfzehnte Jahrhundert hinaus. Zur
Ergänzung konnten zwei gründliche monographische Schriften beigezogen werden:
„Das Nürnberger Reichsregiment" von Viktor von Strauß (Innsbruck, 1883)
und „Philipp der Großmütige von Hessen und die Restitution Ulrichs von
Wirtenberg" von Jakob Wille (Tübingen, 1882). Die vier letztgenannten
Schriften von Wachmann, Ulmann, Strauß und Wille sind glänzende Beweise,
wie sehr die auf archivalischen Forschungen beruhende moderne Historiographie
im Erobern und Fortschreiten begriffen ist, wie sehr durch die genaue und
sorgfältige Erforschung des Einzelnen das Gesamtbild eines Zeitraumes an
Klarheit und Wahrheit gewinnt. Man erkennt daraus, daß die Lehren und
Beispiele eines Ranke, Waitz, von Sybel u. a. gute Früchte tragen. Die
gründliche und genaue Erforschung des Details bereitet den sichern Boden zum
Aufbau einer Welt- oder Völkergeschichte. Nur mit solidem Material vermag
eine geübte Hand ein festes und harmonisches Kunstwerk zu schaffen und dem¬
selben den Grad von Sicherheit zu geben, der ihm Dauer und Geltung auch
bei künftigen Geschlechtern verleiht.
Es ist nicht meine Absicht, die erwähnten Geschichtswerke einer Rezension
zu unterziehen. Kritische Gymnastik muß in einem jüngeren Lebensalter getrieben
werden, in den Jahren des Sturmes und Dranges, wo die Affekte der Be¬
wunderung wie des Widerspruchs noch in ungeschwächter Kraft sich regen und
nach Ausdruck ringen. Ich will nur auf Grund der angeführten Schriften
einige Betrachtungen anstellen über die hervorragendsten Erscheinungen und
Bestrebungen jenes Zeitalters, das im großen und ganzen bisher wenig erforscht
und dargestellt worden ist, und das doch so reich erscheint an individuellem
Leben, an Vorsätzen und Entwürfen, an Thaten und Leiden. Entsprachen auch
die Errungenschaften nicht den Erwartungen und Anstrengungen, so traten
doch deutliche Symptome zu tage, daß das deutsche Volk die Übel erkannte,
an denen es erkrankt war, und nach Hilfe und Heilung verlangte und suchte.
Jedes Buch, das seinen ersten Lebensmorgen antritt, muß ans einen „Kampf
ums Dasein" gefaßt sein. Diesen kritischen Moment hat die „Geschichte des
deutschen Volkes" von Janssen längst überwunden. Vor uns liegt bereits die
achte, verbesserte Auflage, ein Erfolg, der kaum irgend einem andern Geschichts¬
werke zuteil geworden ist. Dürfte man diesen Erfolg als Beweis der wissen¬
schaftlichen Bedeutung- oder künstlerischen Vollendung des Buches auffassen, so
müßte man mit Bewunderung, ja mit einem gewissen Neid auf solche Vorzüge
eines Geschichtswerkes, auf so seltene Begabung eines Autors blicken; aber es
bedarf keines gründlichen Studiums, um die Überzeugung zu gewinne», daß hier
ganz andre Hebel thätig sind als der wissenschaftliche oder literarische Wert,
daß das Buch als Feldzeichen dienen, soll, um das sich die Gesinnungsgenossen
scharen, als ein Schlachtruf, der die Getreuen sammelt und daher in den Reihen
derselben bekannt sein muß. Es soll nicht geleugnet werden, daß der Verfasser
eine große Belesenheit der Geschichtsliteratur besitzt und daß er seinen Stoff
mit sicherer Methode behandelt; wir wollen ihn: gern glauben, daß er die Legion
von Büchern und Schriftstücken, der dem ersten Bande auf achtzehn enggedruckten
Seiten vorangestellt ist, wirklich durchgelesen oder doch Einsicht davon genommen
hat; man kann aus jedem Buch Materialien für seine Zwecke finden, wenn
man das Brauchbare herausschält und das Widersprechende ignorirt oder bei¬
seite läßt. Er hätte kaum nötig gehabt, mit seiner Gelehrsamkeit zu prunken und
nach Art angehender Schriftsteller die reichen Schätze der Studirstube auf offenem
Markte auszubreiten; jede Seite seines Buches liefert deu Beweis, daß er mit
Schutz- und Trutzwaffen wohl versehen auf den Kampfplatz tritt, aber auch daß
er sorgfältig und mit prüfendem Auge die Rüstkammer durchmustert hat, um
solche Geschosse herauszufinden, die er für dienlich hielt zu seiner Kampfesweise.
Es ist bekannt genng, daß Janssens deutsche Geschichte viele Anfechtungen er¬
fahren hat; sah er sich doch selbst veranlaßt, eigne apologetische Broschüren
gegen seine Widersacher zu veröffentlichen. Ich habe weder von den Angriffs¬
gefechten, die der Verbreitung des Werkes nur nützlich waren, noch von dem
Vertcidigungssystem prüfende Einsicht genommen. Zu meiner nachfolgenden
Betrachtung und Auseinandersetzung liefert das Buch selbst den Text.
Der erste Eindruck, den ich bei dem Lesen des Janssenschen Buches
empfand, war eine gewisse Verwunderung, wie verschiedenartig sich doch die
Welt bei verschiednen Individualitäten abspiegelt. Dasselbe Gefühl hat man
ja oft auch im wirklichen Leben, sodaß man manchmal in Zweifel gerät, ob von
denselben Dingen und Menschen die Rede ist.
Den Ausspruch Goethes über den Wandel der geognostischen Theorien
könnte man auch auf die Janssensche Geschichtschreibung anwenden: „Und so
wäre denn die liebe Welt auch historisch auf den Kopf gestellt." Es hat frei¬
lich in neuester Zeit nicht an Stimmen aus dem ultramontanen Lager gefehlt,
die da meinten, bisher sei die Geschichte gefälscht worden, erst jetzt sei sie in
ihrer wahren Gestalt hergestellt. Aber heutzutage scheut man sich ja nicht
mehr, paradoxe Aussprüche und Ansichten vorzutragen. Der Versuch, die
Geschichte zur Folie für politische oder religiöse Prinzipien und Doktrinen
zu machen, ist übrigens keineswegs neu. Die Methode ist schon früher ange¬
wendet worden und wird auch später wieder auftauchen, je nachdem eine be¬
stimmte Zeitströmung auf die öffentliche Meinung einzuwirken sich bemüht. Zum
Glück läßt sich die erhabene Muse Klio nicht auf die Dauer zu einer dienenden
Magd herabwürdigen; sie wandelt ihren erhabenen Schritt in stiller Majestät
weiter, unbekümmert um die Fechterkünste, die sie aus ihrem Gange verdrängen
wollen. Was die eine Partei mit mühsamer Kleinmeisterei aufgebaut, stürzt eine
andre mit leichtem Tritt wieder zusammen; die Tochter des Zeus und Gefährtin
Apollos aber kommt immer wieder zu ihrer Ehre, und der alte Spruch „Die Welt¬
geschichte ist das Weltgericht" behält stets seine Geltung. Sie ist noch immer
der hohe Tempel, dessen goldene Kuppel und harmonischer Bau in erhabener
Würde und Majestät ruhig fortbestehen, unbekümmert um die Stürme, die den
Eingang umbrausen, und um das eitle Bemühen, falsche Götter in das Heilig¬
tum einzuführen.
Man legt der Geschichtschreibung oft den Charakter einer subjektiven oder
einer objektiven Behandlungsweise bei. Aber diese Bezeichnung ist keine richtige
Grenzscheidung. Nur der Chroniken- und Regcstenschreiber steht seiner Arbeit
ganz objektiv gegenüber; jeder Urheber einer pragmatischen Geschichte dagegen
wird etwas von seinem Herzblut in die Darstellung hineintragen, wird stärker
oder schwächer den Anteil durchblicken oder durchfühlen lassen, den seine eigne
Seele an dem Inhalte, an den geschichtlichen Vorgängen und Erlebnissen seiner
Schöpfung nimmt. Wie in dem wirklichen Leben je nach dem Temperament
die einen Individuen größern Anteil an den Schicksalen der Menschen nehmen
als andre, so werden auch die Historiker je nach ihrer Naturanlage, Lebens¬
stellung oder Geistesrichtung eine verschiedne Haltung kundgeben gegenüber den
darzustellenden Weltbegebenheiten und den dabei thätigen Persönlichkeiten. Beide
Richtungen haben ihre Berechtigung. Eine Scheidung in zwei abgegrenzte Heer¬
lager, eine Trennung in Gerechte und Ungerechte ist ganz unzulässig. Der
Historiker steht nicht wie der Naturforscher einem fremden Organismus gegen¬
über; er ist selbst ein Teil der Menschenwelt, die er darzustellen unternimmt.
Die Gegenwart ist nur eine fortlebende, sich neugestaltende und entwickelnde Ver¬
gangenheit; was den Vätern widerfahren ist, was die Vorzeit geschaffen hat,
geht auch die Söhne und die Nachwelt an. Ahnen und Enkel sind von dem¬
selben Fleisch und Blut. Je nach seiner Natur oder Weltanschauung wird nun
der Geschichtschreiber mit mehr oder weniger Wärme und persönlicher Teil¬
nahme in die Werkstätte eintreten, wo die Schicksale der Menschheit erzählt und
erklärt werden. Die Palme des Historikers wird uur dem zuteil werden, der
den Lauf der Dinge und die Charaktere der Menschen mit dem Maßstabe der
Gerechtigkeit mißt und zugleich die Gesetze künstlerischen Schaffens und Ordnens
anwendet. Weder der einseitige Subjektivismus, der alle Erscheinungen im
Spiegel bestimmter Doktrinen und Parteiprinzipien anschaut, noch die farblose
Weltbetrachtung, welche mit stoischen Gleichmut über Erdenglück und Menschen¬
elend hinschreitet und die höchste Aufgabe des Historikers in dem Eintragen und
Verbunden alles Geschehenen und Gewordenen erblickt, wird den Preis davon¬
tragen. Der wahre Geschichtschreiber darf nicht wie der Goethische Fischer
kühl bis ans Herz hinan in das Meer des Weltlebens schauen, auch nicht mit
dem Zorne und der Morositcit eines Pessimisten auf die dunkeln Seiten und
die Zeichen des Verfalls und der Entartung hinweisen. Keine Geschichtsperiode
ist so sehr von Schatten verhüllt, daß nicht einige Lichtblicke in das Dunkel
hineinleuchteten; kein Menschengeschlecht ist so sehr von allen guten Göttern
verlassen, daß nicht auch die Botschaft des Heils eine Stätte fände, wo man
an sie glaubt. Die Aufgabe des echten Historikers ist es nun, daß er wie ein
schöpferischer Künstler die Außendinge in ihrer Wahrheit und Realität in seine
Seele aufnimmt und sie verklärt und veredelt zurückstrahlt. Die Geschicht¬
schreibung ist, wie man sie mit Recht aufgefaßt hat, zugleich Wissenschaft und
Kunst: sie muß das wirkliche Leben treu und wahrhaft darstellen, dasselbe aber
zugleich mit Kttustlerhaud und mit liebevoller Vertiefung in die ewige Menschen¬
welt schöpferisch neugestalten.
Aber es giebt auch eine Geschichtschreibung, bei der die subjektive Auffassung
der Menschen und Dinge in eine ungesunde Tendenztheorie sich verirrt, wo die
Geschichte nur als Grundlage benutzt wird, um ein einseitiges Parteiprogramm
darauf aufzubauen und stützende Argumente für dasselbe daraus zu schöpfen.
Hier handelt es sich nicht darum, die Quellen und Hilfsschriften ehrlich zu
Prüfen und den wahren Verlauf und die echten Motive der Handlungen unbe¬
fangenen Blickes zu eruiren, sondern man bedient sich der Studien nur zu dem
Zweck, um Beweisstücke für gewisse im voraus festgesetzte Ansichten und
Prinzipien zu finden, man durchforscht ältere und neuere Schriftstücke, um ge¬
schichtliche Unterlagen für moderne Parteianschauungen zu gewinnen, man sucht,
was man brauchen kann, und läßt das andre beiseite. Von der Art ist das
Janssensche Buch. Vor zwei Menschenaltern war die Nottccksche Weltgeschichte
das Evangelium des gebildeten liberalen Mittelstandes. Sie hatte eine Ver¬
breitung, der die Geschichte des deutschen Volkes von Janssen nicht von ferne
gleichkommt, und übte einen mächtigen Einfluß auf die öffentliche Meinung.
Auch das Rottecksche Geschichtswerk verfolgte eine bewußte Tendenz: es ver¬
kündete eine freisinnige Lebensanschauung auf politischem und religiösem Gebiete.
Aber es war der Ausdruck einer kräftigen männlichen Überzeugung, der Erguß
einer freien Seele; es kam von Herzen und ging darum zu Herzen, es bedürfte
keiner künstlichen Hebel, keiner Reklame und Posauncnstöße, ja es mußte stets
gegen zahlreiche und mächtige Widersacher kämpfen. Auch das Rottecksche Buch
stellte die Tendenz über die historische Treue, auch es betrachtete nicht selten
die Vergangenheit im Lichte moderner Zeitbildnng; aber diese Zeitbildung war
eine menschlich freie und gesunde, es wehte ein Geist darin, der dem Leser zu¬
zurufen schien: Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte. Wohl
ist das Rottecksche Buch heutzutage vergessen und verschwunden, weil die echte,
wahre Geschichtschreibung, die keine Nebenzwecke verfolgt, sich in weitere Kreise
Bahn gebrochen hat. Aber schwerlich wird die Janssensche Geschichte eine so
lange Lebensdauer erzielen. Sie ist ein Produkt des Kulturkampfes und das
Organ ihrer lautesten Rufer und Heißsporne; sie ist durchweht von einem kleri¬
kalen knechtischen Geist und dient dem Jesuitismus als Bahnbrecher Aber
über das ehrliche deutsche Volk wird einst wieder ein Tag der Versöhnung und
Aufklärung hereinbrechen, dann werden die finstern Gestalten und ihre Or¬
gane verschwinden.
Das fünfzehnte Jahrhundert, das in dem ersten Bande von Jansscns
Geschichte des deutschen Volkes in allen Erscheinungen und Lebensäußerungen
zur Darstellung kommt, hat in manchen Beziehungen Ähnlichkeit mit der ersten
Hälfte des neunzehnten. Dort wie hier durchzieht das lebhafte Gefühl un¬
gesunder Zustände in Kirche und Staat die Seele und erzeugt das heiße Ver¬
langen und Bestreben nach Abhilfe und Besserung. Die Stürme der Hussitenkriege
richteten den Blick zunächst auf kirchliche Reformen. Das Basler Konzil sollte
die religiösen Gegensätze versöhnen, den päpstlichen Absolutismus beseitigen und
den ökumenischen Synoden, wie in den ersten Jahrhunderten, die höchste Autorität
in Sachen der Lehre, des Kultus und der Sitten beilegen. Es wäre keine allzu
schwierige Aufgabe, gewisse Parallelen zu ziehen zwischen der Basler Kirchen-
Versammlung und dem Rcichsparlamente in der Frankfurter Paulskirche. Beide
wurden getragen von den Hoffnungen der Völker und zogen ihre Stärke aus
der Begeisterung der öffentlichen Meinung, beide vereinigten die intelligentesten,
von Liebe zu Freiheit und gesunden Reformen erfüllten Männer in ihrem Schoß,
in beiden wurde der edle selbstlose Kern überflügelt von einer radikal-demo¬
kratischen Richtung und dadurch ihre einmütige Kraft gebrochen; beide sahen
ihre Reihen gelichtet durch Abfall und Fahnenflucht, beide endeten durch die
eigne Erschöpfung und die eigensüchtigen Kompromisse der regierenden Häupter
uuter Beihilfe abtrünniger Räte und egoistischer Unterhändler. So ging das
Papsttum aus den gewaltigen Kämpfen zu Konstanz und Basel siegreich hervor;
aber die Ideen, die daselbst aufgestellt und verkündigt worden waren, wurden
sowenig aus der Welt geschafft wie die Schöpfungen der Paulskirche. Der
Gedanke einer unsichtbaren Kirche, deren Haupt Christus sei, begann sich von
seiner entarteten Erscheinung zu lösen. Da bei den Fürsten und Mächtigen
kein Heil zu finden war, richteten sich die Hoffnungen auf Volk und Gemeinde;
da die Hilfe von oben versagte, mußte man an Selbsthilfe denken.
Janssen hat das Basler Konzil nicht in den Rahmen seiner Geschichts¬
darstellung gezogen. Erst als im Jahre 1449 Kirche und Pontifikat wieder
in die alten Bahnen einlenkten, um die Mitte des Jahrhunderts, hebt sein Werk
an. Auch darin läßt sich eine Parallele zwischen den beiden großen Ver¬
sammlungen in Basel und Frankfurt ziehen. Als im Jahre 1849 das Reichs¬
parlament zersprengt ward und die letzten Zuckungen der radikalen Opposition
ausgetobt hatten, da machten sich die Jesuiten auf, um als Bannerträger der
allgemeinen Reaktion voranzugehen. In Heidelberg, von wo die Bewegung
ihren Ausgang genommen, hielten drei beredte Glieder der Gesellschaft Jesu
eine Woche lang ihre Missionspredigten, um die Ernte aus den vorangegangnen
„tollen" Jahren für ihre Sache einzuthun. Eine ähnliche Mission erfüllt auch
das Janssensche Geschichtswerk. Hier und da fallen auch noch einige Streif¬
lichter auf die Basler Väter.
Zu den hervorragendsten Mitgliedern des Konzils gehörte Nikolaus Cnscmus,
ein Mann von niedriger Geburt aus Cues an der Mosel, der sich durch seine
großen Talente und sein vielseitiges Wissen mit der Zeit zu den höchsten
Kirchenämtern aufschwang und auf verschiednen Gebieten der Wissenschaft bahn¬
brechend und erfolgreich gewirkt hat. Durch den Kardinal Julian de' Cesarini,
dem man den Vorsitz übertragen hatte, in die Versammlung berufen, war er
anfangs ein beredter Verfechter der Kirchenreform, die er in einem berühmten
Werke „Von der katholischen Einheit" verfocht. Aber bald schied er aus den
Reihen der Liberalen aus und trat in das kuricile Lager über, wo er mehr
Ehre und Vorteil zu erlangen hoffen konnte, und wurde zuletzt als Bischof
von Brixen und Kardinal in einem Streite mit Herzog Sigmund von Tirol
über das Vogteirecht des Stiftes Sonnenburg ein so eifriger Verfechter des
klerikal-hierarchischen Supremats, daß sogar der Papst seinem heftigen Vorgehen
Einhalt gebieten mußte. Es war ein Nachspiel des Investiturstreits im
kleinen. Auch in die politische Reformbewegung, die wir bald kennen lernen
werden, hat er sich eingemischt und durch Schriften und Vorschläge eine neue
Rcichsvcrfcissung zu begründen gesucht, wie er früher in Basel im Sinne einer
„parlamentarischen Ordnung der Kirche" gewirkt hatte. Dieser geistliche Herr,
der in allen Sätteln gerecht war, in allen Situationen seinen Platz fand, den
Bachmann, Professor der Geschichte in Prag, mit den kurzen Worten charakterisirt:
„es war ihm vieles gegeben, nur nicht Selbstbeherrschung und Charakter," wird
von Jenssen als einer der größten Männer seiner Zeit verherrlicht. „Er war
ein Mann des Glaubens und der Liebe, ein Apostel der Frömmigkeit und der
Wissenschaft. Sein Geist umfaßte alle Gebiete des menschlichen Wissens, aber
all sein Wissen ging von Gott aus und hatte kein andres Ziel als die Ver¬
herrlichung Gottes und die Erbauung und Besserung der Menschen. Man kann
darum aus seiner Wissenschaft wahre Weisheit lernen." Er bezeichnet ihn als
den „geistigen Riesen, der an der Wende des Mittelalters für das Wohl der
Kirche so erfolgreich gewesen sei wie sein Zeitgenosse Gutenberg durch die Er¬
findung der Buchdruckerkunst."
Nachdem das gottlose Basler Konzil Schiffbruch gelitten hatte, trat nach
Janssen in allen deutscheu Landen „mit Ausnahme der Mark Vrandcnbnrg"
eine Periode des Glückes und der allgemeinen Wohlfahrt ein. Das Schulwesen
stand in der schönsten Blüte, auf den Universitäten, vor allem in Köln und
Wien, herrschte ein reges wissenschaftliches Leben, auf allen Gebieten der Kunst
entwickelte sich eine fruchtbare Thätigkeit; die Poesie hob und erheiterte das
Herz und füllte die Gemüter mit edeln und frommen Gefühlen; die Landwirtschaft
war im besten Stand, die Leibeigenschaft fast überall aufgehoben, der gutshörige
Bauer und Tagelöhner in einer behaglichen Lage; das gewerbliche Arbeitsleben
erreichte unter der Pflege der Bischöfe und Klöster einen hohen Grad von
Vollkommenheit; die deutschen Städte waren im Besitze des Welthandels; kurz,
„in allen deutschen Territorien herrschte ein so frisches, reges Leben, wie nie
zuvor und nie in einer spätern Zeit geherrscht hat."
Und diese Zeit wird in der Überschrift als eine trübe Periode deutscher
Geschichte bezeichnet? ES soll nicht geleugnet werden, daß in den einzelnen Aus¬
führungen, in denen Janssen die Richtigkeit seiner Behauptungen nachzuweisen
sucht, viel schönes und wahres enthalten ist, daß seine umfassende Belesenheit,
seine gründlichen Studien sich allenthalben dokumentiren. Vor allem wird man
ihm beistimmen, wenn er die Kunstblüte der Zeit vorzugsweise der Kirche zu¬
schreibt, wenn er nachweist, „daß die Kirchen die monumentalen Darstellungen
der heiligen Geschichte und zugleich die stets offenen Museen für jedermann
aus dem Volke" waren. Die Religion ist zu allen Zeiten und bei allen Na¬
tionen der tiefe Urgrund gewesen, auf dem die künstlerischen Gebilde empor¬
gewachsen sind; allenthalben und allezeit hat der religiöse Sinn dahin gestrebt,
die im Innern verborgenen Vorstellungen auch für das Auge zu beleben, den
heiligen Gefühlen einen sinnlich faßbaren Ausdruck zu geben. Niemand wird
leugnen, daß die christliche Kirche diesen natürlichen, in der Menschenbrust
schlummernden Keim gefördert und zur Entfaltung geführt hat. Sie war ja
reich genug an idealen und materiellen Gütern, um diesen religiösen Vorstellungen
zum Ausdruck zu verhelfen, und diente dadurch ihren eignen Interessen. Auch
in den übrigen Abschnitten trifft man auf wahre und richtige Angaben und
Ausführungen. Und dennoch tritt auch in diesem Gemälde des inneren Ge-
schichtslebcns eine schroffe Parteitcndenz zu tage, dennoch merkt man auch hier
allenthalben die Absicht, die verstimmt und den Totaleindruck schwächt, dennoch
wird anch hier durch einseitige Auffassung, durch absichtliche Verschweigung, durch
ungerechte Verteilung von Licht und Schatten das Gesamtbild entstellt und ins
Unwahre verzerrt. Mit Recht rühmt Janssen den bedeutsamen Einfluß der in
den Niederlanden gegründeten „Brüderschaft vom gemeinsamen Leben" auf die
gesamte deutsche Bildung. Wenn er aber die Hauptvertreter dieser Schule, einen
Langen, Agricola, Hcgius, Dringcuberg als Stützen und Pfleger der christlichen
Frömmigkeit für die Kirche in Anspruch nimmt, verfolgt er wieder seine einseitige
Tendenz. Sie waren die Förderer der humanistischen Bildung, die man als den
Mutterschoß der reformatorischen Bewegung des folgenden Jahrhunderts erkannt
hat. Wird doch Johannes Wessel, der gleichfalls der Schule von Zwoll an¬
gehörte, von einem namhaften Kirchenhistoriker geradezu als „Vorläufer Luthers"
bezeichnet. Und war denn die Mystik eines Thomas von Kempen, mit dem
anch Wesfel in der Jugend befreundet war, so ganz übereinstimmend mit der
Kirchenlehre Roms? Von jeher hat die päpstliche Hierarchie in der Mystik eine
fremdartige, ja feindselige Richtung herausgefühlt, die sie mit allen ihr zu Ge¬
bote stehenden Waffen bekämpft hat. Ging denn nicht Luther selbst von der
Mystik aus? Eine religiöse Richtung, welche die Vermittlung der Kirche zur
Seligkeit nicht als obersten Glaubenssatz aufstellt, sondern durch den uumittel-
baren Zug der Seele das Göttliche zu erfasse» strebt, wird von der kirch¬
lichen Autorität stets als ein Irrweg verurteilt werden. Der Humanismus,
zu dem die „Brüder des gemeinsamen Lebens" in der innigsten Beziehung
standen, hatte seinem ganzen Wesen nach einen der Kirche abgewandten, ja feind¬
seligen Charakter. Wenn dieser Charakter in Deutschland anfangs weniger
schroff hervortrat als im sechzehnten Jahrhundert, nachdem die Gegensätze sich
geschärft hatten, so folgte er doch naturgemäß dem italienischen Humanismus,
aus dem er hervorgegangen und dessen Grundzug die Opposition gegen das
herrschende hierarchische System und die Scholastik war.
Diese negirende, polemische Richtung der neuen, ans die Wiedergeburt des
Altertums in Sprache, Denkweise und Lebensanschauung gegründeten huma-
nistischen Bildung kam allerdings in dem kühleren Norden weniger rasch und
eingreifend zur Entwicklung als bei den heißblütigen Südländern. Dies ver¬
anlaßt Janssen einen Unterschied zu machen zwischen den älteren Humanisten,
welche die antike Kultur in das Christentum einzuführen und zur Ehre Gottes
und zur Mehrung der religiöse!, Erkenntnis und Frömmigkeit zu verwerten
strebten, und zwischen den revolutionären, zerstörenden Elementen des sechzehnten
Jahrhunderts. Aber der ganze geistige Prozeß, den wir als Humanismus be¬
zeichnen, wurzelt in demselben Boden, war nnr ein naturgemäßer Entwicklungs¬
gang; die Keime und Saatkörner waren allenthalben dieselben, nur daß die
italienische Sonne die Früchte rascher zeitigte. In Italien war die Blütezeit
des Humanismus bereits im Verwelken begriffen, als in Deutschland Hütten
und die Briefe der Dunkelmänner mit elementarer Gewalt die kirchlich-scholastische
Weisheit niederwarfen.
Und welche Stellung nehmen von Anfang an die italienischen Humanisten
gegenüber der herrschenden Kirche ein? Die Anschauungen des Altertums bildeten
die geistige Atmosphäre der gesamten humanistischen Gesellschaft, die einen inter¬
nationalen, kosmopolitischen Charakter trug und ihre Schriften und Briefe als
Gemeingut betrachtete. Christlich kirchliche Vorstellungen aber lagen diesen auf
ihr Wissen so stolzen und ihrer aristokratischen Überlegenheit so bewußten Rittern
vom Geist sehr fern. Wer ausschließlich in dem Jdeenkreis der heidnischen
Kulturvölker verweilte, wer ihre Meister als Vorbilder betrachtete, wer die
griechische Philosophie als Führerin des Lebens erkor, dem mußte unvermerkt
die strenge Autorität der Kirche und der einfältige christliche Glaube entschwinden.
Die heidnische Götterlehre mit ihrer reichen Poesie zog die lebensfroher und
genußsüchtigen Gelehrten mehr an als das Evangelium vom leidenden Heiland
und die Religion der Enthaltsamkeit und Entsagung. Nicht als ob aus den
Reihen der Humanisten, wenigstens in Italien, kühne Feinde der Papsteskirche
oder ernste Reformatoren erstanden wären: dies Geschlecht der Schön- und
Freigeister betrachtete den Boden der Kirchenlehre als einen ihm gänzlich ferne
liegenden. Wenn es in seinen Schriften die heidnischen Götter anrief und die
stoischen Grundsätze im Munde führte, so beteuerte es auch gelegentlich sein-
Unterwerfung unter alle Glaubensformeln der Kirche und wußte sich mit dialek-
tischer Gewandtheit und philosophischer Leichtigkeit über diesen Konflikt hinweg¬
zusetzen. Man gewöhnte sich, an das humanistische Treiben und Schriftstellern
einen freiern Maßstab zu legen, eine unschuldige Liebhaberei darin zu erkennen.
Wenn Dominikaner und Franziskaner, die das gefährliche Gift für die kirchliche
Rechtgläubigkeit wohl witterten, gegen die frivolen Poeten und das Spiel mit
dem Heidentum eiferten, so lachte man über ihren befangenen, beschränkten
Mönchsgeist, der sich nicht zu der Höhe der modernen Bildung aufzuschwingen
vermöge, und über ihren pöbelhafter Zclotismus. Ebensowenig hielt sich das
leichtfertige Gelehrtengeschlecht ii? seinem Lebenswandel an die christliche Ethik
gebunden. Der sittliche Wandel der Jünger der neuen Weisheit stand außer
den Regeln der gewöhnliche» Moral; ihre Satiren und Epigramme, ihre Facetten
und Novellen und besonders ihre Schmäh- und Streitschriften wühlen mit Vor¬
liebe im Schmutz der Unsittlichkeit und Unzucht, und ernste Männer hatten
daran ihre Freude und nahmen keinen Anstoß an solcher Lektüre. Jedes Be¬
denken schlug im Hinweis auf die Autorität des Altertums, auf Ovid oder
Catull nieder.
Bei den lebhaften Wechselbeziehungen, die von jeher zwischen Italien und
Deutschland bestanden und die durch die großen Konzilien neue Anregung er¬
hielten, war es ganz natürlich, daß dieser italienische Humanismus in allen seinen
Richtungen und Wirkungen auch über die Alpen drang und sich in die gebildeten
Kreise des deutschen Volkes Eingang verschaffte. In der zweiten Hälfte des
fünfzehnten Jahrhunderts war Italien den deutschen Gelehrten das ersehnte
Land der feinen Geistesbildung und höheren Wissenschaft. Viele strebsame
Männer zogen dahin, um die gefeierten Größen der Literatur kennen zu lernen,
neue Anschauungen und Anregungen zu sammeln und die erworbenen Schätze
in der Heimat zu verwerten. Die Schilderung der wissenschaftlichen und litera¬
rischen Thätigkeit dieser Gelehrtenrepublik der Humanisten gehört zu den besten
und belehrendsten Partien des Janssenschen Buches, und das große Interesse
und der warme Eifer der gebildeten Stände Deutschlands für die neu erschlossene
antike Welt zu den erfreulichsten Erscheinungen der Zeit. Die Kirche und Geist¬
lichkeit in Deutschland hatten jedoch wenig Anteil daran, und auch unter dem
deutschen Fürsten- und Adelsstaud fanden sich selten Mäcenate. Allein es liegt
in dem Wesen jeder wahren Begeisterung, daß sie sich auch ohne äußere Unter¬
stützung, ohne Gunst und Schutz der Mächtigen Bahn bricht, Eroberungen
macht und Siege erringt. Der Humanismus stand auf eignen Füßen und
suchte selbständig seine Wege, nicht ohne schwere Kämpfe und Mühen gegen die
herrschenden Gewalten, gegen überlieferte Vorurteile und gegen die Mächte der
Finsternis und veralteter Doktrinen.
Alle freisinnigen und patriotischen Männer in Deutschland hatten von dem
Basler Konzil eine Reform der Kirchenverfassung, eine selbständige Stellung der
deutschen Kirche unter Nationalsynoden und einen einheimischen Primat erwartet.
Diese Hoffnungen waren zerronnen. Das Wiener Konkordat vom Jahre 1448
hatte die Kirche bei ihrer Entartung und das Papsttum in seiner absoluten
Machtstellung gelassen, und das Oberhaupt und die Würdenträger der aus der
Sündflut geretteten Arche feierten ihren Triumph durch rücksichtslosen Widerstand
gegen alle liberalen und reformatorischen Anforderungen der Zeit, durch eine
retrvgmde oder konservative Kirchenpolitik. So blieb denn allen freisinnigen
und vaterländischen Geistern nur das Gebiet der Wissenschaft und Literatur
als Arena für ihre Oppvsitivnsideen, nur die politischen Reichsversammlungen
fiir ihre reformatorischen Bestrebungen offen. Daher nahm in der zweiten Hälfte
des Jahrhunderts der Humanismus und die aus ihm hervorgehende geistige und
literarische Bewegung vorwiegend einen negirenden Charakter an, und alles
Politische und staatliche Interesse vereinigte sich in dem Rufe nach einer durch¬
greifenden Reform der Reichsverfassung und des Reichsregiments.
(Schluß folgt.)
cum man den französischen Nationalcharakter analhsirt, wird man
unter den zahlreichen Widersprüchen desselben einen besonders
merkwürdigen darin finden, daß die Franzosen oder vielmehr die
Pariser — denn die tyrannische Herrschaft von Paris über Frank¬
reich scheint unerschütterlich zu sein — das Pathos in der Hi¬
storienmalerei für ein ganz natürliches und unumgänglich notwendiges Element
halten, während ihnen die pathetische oder auch nur romantische Auffassung
einer Landschaft schlechterdings unverständlich ist. Es ist daher auf französischen
Gemälden etwas ganz gewöhnliches, daß Helden und majestätische Frauen mit
den wuchtigen Schritten des Corneilleschen Tragödieustils in einer Landschaft
umherwandeln, welche aus den primitiven Materialien einer Nürnberger Spiel-
Mgschachtel zusammengesetzt ist. Der Franzose nennt das „naiv" und sieht
darin den höchsten Triumph der „Aufrichtigkeit." Die Erklärung dieses selt¬
samen Widerspruchs ist in jener Tyrannis zu suche», welche Paris seit der Re¬
volution von 1789 über ganz Frankreich übt, dessen Provinzialhauptstädte, bei
einer verhältnismäßig ebenso großen Summe von Intelligenz und einem un¬
gleich größern Besitztum an Charakter und Moralität, sich willenlos den Launen
und den Geschmacksrichtungen der bunt zusammengewürfelten, nicht organisch
erwachsenen Pariser Gesellschaft unterwerfen. Der Pariser ist ein abgesagter
Feind des Reisens. Sein geographischer Horizont wird gewöhnlich durch den
Wald von Fontainebleau im Süden und durch die lieblichen Ufer der Oise bis
Jsle Adam im Norden begrenzt. Reisen nach Dieppe, Trouville, Boulogne
sur Mer, nach Nizza oder nach den Pyrenäenbäderu bilden den Luxus der vor¬
nehmen Welt. In diesen Orten vermißt der Pariser nicht sein Paris, weil sich
Paris im Hochsommer auf jene Bäder verteilt. Ein Pariser, den die Umstände
zwingen, außerhalb seines Landes zu reisen, bewegt sich noch unbehilflicher als
ein Siamese, welcher zum erstenmale nach Europa kommt.
Das Auge des Parisers hat sich infolgedessen derartig in die Landschaft
der Seine und ihrer Nebenflüsse eingewöhnt, daß ihm das Verständnis für
andre Landschaftscharakterc nicht beizubringen ist. Neben der Formation aber,
dem Bleibenden in der Landschaft, interessirt ihn vorzugsweise oder noch mehr
das Veränderliche in Luft und Himmel, der Wechsel der atmosphärischen Er¬
scheinungen. Deshalb sind ihm eine orientalische Landschaft und eine venezia¬
nische Laguuennnsicht ungleich sympathischer als eine Alpenlandschaft, deren
massiges Gerüst der Luft wenig Spielraum übrig läßt, zumal da die Durch¬
sichtigkeit derselben in den höhern Vergregioncn der feinen Abstufung verschiedner
Lnfttöne wenig günstig ist. Unter dieser Abneigung der Franzosen gegen die
Gebirgslandschaft hat auch Gustav Dore leiden müssen, dessen Schweizeransichten
trotz des schönsten Alpenglühens bei seinen Landsleuten, welche so melodrama¬
tisch angelegt sind wie kaum ein andres Volk, keinen Beifall zu erringen ver¬
mochten. Aber Dore konnte sich mit seinen andern Erfolgen trösten, nicht so
der Romantiker der Alpenlandschaft Alexander Ccilame, den es aufs schwerste
verdroß, daß seine Werke in Frankreich nicht dieselbe Würdigung fanden wie in
Deutschland, Rußland, Amerika und anderswo. Diese Klage zieht sich mich
durch die vor kurzem erschienene Biographie des Meisters von E. Rambert,
die erste authentische, die sich auf Dokumente und Mitteilungen der Familie
stützt,*) und die uns den Anlaß giebt, hier eines Künstlers zu gedenken, welchem
gerade in Deutschland von seinem ersten Auftreten bis zu seinem Ende die
wärmsten Sympathien begegnet sind, und dessen Popularität auch heute noch
so wenig erschüttert ist, daß man es vor begeisterten Laien kaum wagen darf,
auf die Schwächen Calames, auf seine mehr zeichnerische als malerische Auf¬
fassung, auf die in größern Arbeiten hervortretende Neigung zu dekorativer
Behandlung, auf das Streben nach gewagten und unnatürlichen Beleuchtnngs-
kontrasten hinzuweisen.
Umso bedauerlicher ist es, daß Rambert in seiner sonst so ausführlichen
und breit angelegten Biographie das Verhältnis Calames zu Deutschland nur
obenhin berührt hat. Während er sorgfältig alle Stimmen der Pariser Presse
über die in der französischen Hauptstadt ausgestellten Gemälde Calames regi-
strirt, erwähnt er die Urteile der deutschen Presse mit keinem Worte. Und doch
war Calame in Deutschland bereits ein angesehener, sogar vielgepriesener Meister,
bevor er in Paris auch nur die geringste Anerkennung erlangt hatte. Ein im
Salon von 1835 ausgestelltes Bild, eine Ansicht von Bouveret am Genfersee.
blieb unbeachtet, während ein paar in demselben Jahre auf die Berliner Aus¬
stellung gesendeten Bilder dort so gefielen, daß A. Schöll in dem Berichte über
die Ausstellung des nächsten Jahres in Kuglers „Museum" schreiben konnte:
„A.,Calame ist unsrer Ausstellung schou befreundet." Schotts Kritik heftet sich
mit besondrer Vorliebe an ein Gemälde, welches den Eingang in den Wald bei
Avenches schilderte: „Dem verweilenden Auge öffnen sich viele Vorzüge eines
schön angelegten und mit stets wacher Empfindung ausgeführten Ganzen. An¬
setzend am Vordergrund bei einigen rnndgewipfelten Eichen einer grünen Wald¬
seite, die im Nebengrund schön ausgebildet und sauber unter Schatten getönt
ist, zieht sich der Weg schräg ins Bild hinein dnrch heitere Lichteinfälle in leicht¬
abgesetzten Senkungen hinunter nach dem Thal, das ferne Hügel duftig vor¬
tretend schließen. Vorn zur Rechten des Weges glänzt ein blauer Sumpf;
ober seinem Rande sitzen Pferdejungen; hinter ihnen am Sumpfe grasen
die Pferde. Ein kühler Morgenhimmel liegt über dem stillen Waldweg; das
Wetter ist freundlich, erleuchtete Stellen im Boden des Weges und saftige
Flächen der Gründe sind in lieblichem Glänze gehöht. Das Gelände der
vorder» Bäume wird durch eine sehr zeichnende und schmale Behandlung etwas
erkältet, sodciß es keinen lebendigen Eindruck kräftiger Vegetation entwickelt;
doch ist schon im ganzen mehr schmucke Reinheit und zarte Deutlichkeit als
Warme beabsichtigt und in dieser Richtung ein befriedigendes Gefühl der Glie¬
derung, eine ungestörte und beseelte Stimmung mit Geist und Besonnenheit
erreicht."
Wir haben diese feinsinnige und eingehende Analyse vollständig wieder¬
gegeben, um zu zeigen, wie liebevoll und gemächlich sich die Kunstkritiker vor
fünfzig Jahren selbst in eine Landschaft versenken konnten. Wir heutigen können
ihnen auf diesem Wege leider nicht folgen. Einmal hat die Politik einen großen
Teil des öffentlichen Interesses, welches damals fast ausschließlich den bildenden
Künsten, der Musik und dem Theater galt, so vollständig absorbirt, daß der
Kunstkritiker in Tageszeitungen und Wochenschriften, welche womöglich das ge¬
samte moderne Kulturleben wiederspiegeln wollen, sich kurz fassen muß. Andrer¬
seits hat er eine bei weitem gesteigerte Kunstproduktion zu bewältigen, lind
überdies darf er sich nicht einer ruhigen Betrachtung hingeben, da ihn die krank¬
haften Auswüchse der modernen Kunstbewegung oft zwingen, das Schwert scharfer
Polemik in die Hand zu nehmen. Auch für den Kunstkritiker sind die Zeiten
der Idylle vorüber.
Es scheint, daß Calame nur dem Beispiele seines Lehrers Diday folgte,
als er sein Glück in Berlin versuchte und fand. Vielleicht haben ihn auch die
Beziehungen des Kantons NeuckMel zu Preußen zur Beschickung der Berliner
Ausstellungen veranlaßt. Obwohl Calame in Vevey geboren war, nannte er
sich doch in den Katalogen einen NeuckMcller, weil seine Mutter aus NeuckMel
gebütig war und der Vater bald nach Alexanders Geburt vou Vevey nach Cor-
taillod im Kanton NeuckMel übersiedelte. Samuel David Calame war nicht ein
einfacher Maurer, wie in allen vor Namberts Buch gedruckten Biographien
wiederholt worden ist, sondern ein geschickter Steinmetz und Marmorarbeiter,
welcher ornamentale Skulpturen für Häuser und Villen nach eignen Zeichnungen
anfertigte. Alexander Calame ist also kein vom Himmel heruntergefallenes Genie,
sondern der Sprößling eines Mannes, welchem nur die äußern Umstände ver¬
sagt hatten, sich ganz über das Handwerk hinaus zu erheben. Die beste Bio¬
graphie des Meisters, welche wir in der deutschen Literatur besitzen, die von
Wilhelm Rvßmanu, deutet diesen Zusammenhang bereits an, wenngleich sie noch
an dem traditionellen Maurer festhält.*) Einige andre Irrtümer, welche diese
Biographie noch enthält, sind auf ihre Quelle, eine Arbeit des Malers Bachelin,
zurückzuführen, welche, wie Rainbert in seinem Buche nachweist, an zahlreichen
Mißverständnissen und Ungenauigkeiten leidet. So wurde z. B. Calames Name
nicht erst 1837 bei der Ausstellung der „Waldpartie bei Manches" in Ham¬
burg zum erstenmale in Deutschland bekannt, sondern, wie wir gezeigt haben,
schon zwei Jahre früher. Im Jahre 1838 — Calame war damals achtund¬
zwanzig Jahre alt — wird er in Berliner Kunstberichten bereits der „Meister"
genannt, und zum Zeugnis, wie schnell die Begeisterung für Calame in Deutsch¬
land wuchs, wollen wir eine sehr merkwürdige Kritik aus einer anonym er¬
schienenen Broschüre mitteilen, welche jetzt ziemlich selten geworden ist. Dieselbe
ist der Berliner Kunstausstellung von 1838 gewidmet und hat, wie ich von
einem kundigen Buchhändler erfahren habe, den später durch seine Dramen und
seine äußerst weitschweifig angelegte „Geschichte des Dramas" bekannt gewor¬
denen Julius Leopold Klein zum Verfasser. Wer mit der sonderbaren Aus¬
drucksweise dieses genialen, aber durch und durch bizarre» Mannes vertraut ist,
der wird auch an der- Form seiner Kritik über Calame keinen Anstoß nehmen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Klein in derselben nur der Stimmung
Ausdruck gab, welche damals die kunstfreuudlicheu Kreise Berlins in bezug auf
den schweizerischen Maler beherrschte. Keiner von den heimischen Künstlern kam
so sehr den romantischen Neigungen der Berliner Thectischphilosophen entgegen
wie Calame, und deshalb war es ein wonniges Behagen, in diesen Fluten
einer romantischen Naturauffassung unterzutauchen. Calame hatte 1838 drei
Bilder in Berlin ausgestellt: Waldinneres bei Sonnenuntergang (Gegend von
Thun), einen Eichenwald und einen Gewittersturm. Das letztere machte na¬
türlich den tiefsten Eindruck auf die Berliner Kunstfreunde, und Klein wurde
zu folgender Beschreibung begeistert, welche zugleich charakteristisch sür die An¬
sprüche ist, die man damals an einen „geistreichen" Ästhetiker stellte: „Über
ein in den Gründen bergiges, im Vorraum hügelig durchbrochenes Land saust
ein finsterer Aufruhr hin, dessen drohende Geberde in den dürftigen Spuren,
welche die Physiognomie der Landschaft darbietet, mit plötzlichem Überfälle sich
hinwühlt. Er wirft der dünnstämmigen Baumgruppe, die nahe an einem Erd¬
fall wurzelt, die Haare nach hinten. Nächtliches Regengewölke umwallt, in
Eilmärschen gleichsam, das Gebirge. Die ganze Landschaft ist auf der Flucht,
wir sehen den Wind über die Pfade fegen, daS Knüppelholz scheint sich zu¬
sammenzunehmen und wie ein Wanderer zu ducken. So große Wahrheit mit
so geringen Mitteln vors Auge zu bringen, ist eine Kunst, von der wenige,
selbst der bessern Künstler, kaum eine Ahndung haben. In der Pfadmitte sind
Figuren erkennbar, Leute, die der Sturm bei der Arbeit überrascht; neben ihnen
ein Reiter, der die Wegrichtung zu erkunden scheint, um vor dem Unwetter sich
und sein Tier zu flüchten. In der Ecke links ein Sumpf, der seinen Riedmantel
öffnet und stirnrunzelnd nach dem Sturm aussieht. Das Geberdespiel von
Luft, Wolkeneilc, wirren, gleich Vögeln aufgescheuchten Lichtern, von Zweige¬
flattern und schauernder Gräserflucht ist von unübertrefflicher Wahrheit: hastig,
überflügelnd, düster, fortreißend, wild hinfegend."
Es geht aus dieser und andern Kritiken ähnlicher Art deutlich hervor, daß
der Inhalt und die poetisch-romantische Auffassung Calames in erster Linie den
Erfolg seiner Gemälde in Deutschland bewirkt haben. Während der Romane
bei seinem stark entwickelten Formensinn zunächst auf den malerischen Vortrag
und die Zeichnung sieht, ist dem Deutschen von Durchschnittsbildung alles For¬
male und Technische Nebensache. Der Franzose fühlt selbst aus der rohesten
Skizze die Absicht des Malers heraus, weil sein Ange befähigt ist, plastisch zu
sehen, während es dem Deutschen, wenn er einmal die technische Seile eines
Gemäldes berücksichtigt, vor allen Dingen ans die Deutlichkeit der Zeichnung
ankommt. Deshalb haben auch die Baumstudien Calames und seine durch die
Lithographie vervielfältigten Zeichnungen ähnlichen Inhalts in Deutschland einen
ungeheuern Erfolg und ein wahrhaft kanonisches Ansehen erreicht. Die letztern
haben Jahrzehnte hindurch als Vorlagen für den Zeichenunterricht gedient und
werden auch heute noch in manchem Lehrmittclapparat und in den Schaufenstern
der Knnstmaterialienhändler gefunden. Die Ölstudien wurden vielfach von der
Industrie gemißbraucht, indem spekulative Kunsthändler von mehr oder minder
geschickten Künstlern eine Staffage hinzumalen ließen, und diese also hergestellten
Calames als „Originalgemälde" in den Handel brachten. Da der Künstler
ohnehin schnell und leicht produzirte, sanken seine Arbeiten bald in der allge¬
meinen Wertschätzung, und oft genug wurde auf Ausstellungen das boshafte
Wort wiederholt, welches auf Toepffer deu älteren, den Vater des Verfassers
der „Genfer Novellen," zurückgeführt wird: „Hu (Älains! cieux Og-Jams! trois
Og-Jams! Huf as LalamMs!"
Indessen fehlte es auch in Deutschland nicht an kritischen Stimmen, welche
auf die kupferstecherische Art seiner Zeichnung und auf seine illuminirende Mal¬
weise aufmerksam machten. Ein Blick ans seinen künstlerischen Entwicklungsgang
giebt eine volle Erklärung sür diese Eigentümlichkeiten Calames. Obwohl er
im Alter von zehn Jahren beim Spiel mit seinen Kameraden ein Auge ver¬
loren hatte, offenbarte sich schon frühzeitig sein künstlerischer Trieb, und der
Vater würde seine Ausbildung auch gefördert haben, wenn er nicht plötzlich
sein Vermögen verloren hätte. Er siedelte nach Genf über, wo er beim Bau
einer Villa Beschäftigung fand. Der junge Alexander mußte einen andern Beruf
erwählen und trat mit fünfzehn Jahren in das Bankgeschäft des Herrn Diodati.
Ein Jahr darauf traf die Familie ein neuer Schlag. Der Vater wurde bei
seiner Arbeit von einem herabfallenden Stein getroffen und starb nach langer
Krankheit, welche das Elend der Familie noch vermehrte. Obwohl der junge
Calame äußerst schwächlich war, fühlte er doch die Energie in sich, das Loos
seiner ebenfalls leidenden Mutter erträglich zu machen. Wenn er des Abends
aus dem Kondor heimkehrte, kolorirte er kleine Ansichten der Schweiz, welche
damals mit Vorliebe von den Fremden gekauft wurden, wie man heute Photo¬
graphien als Andenken in die Heimat mitnimmt. Diodati empfahl ihn einigen
Kunsthändlern, und seine Arbeiten fanden wegen ihrer verständnisvollen Aus¬
führung bald zahlreiche Abnehmer. Im Jahre 1829 durfte er endlich den ersten
Schritt in die wirkliche Kunst thun. Diodati wollte sein Talent prüfen und
gab ihm die Mittel, um auf einige Zeit bei Francois Diday, dem ersten Land¬
schaftsmaler Genfs, welchen man den schweizerischen Salvator Rosa genannt
hat, Zeichenunterricht zu nehmen. Nach drei Monaten sprach Diday seine Mei¬
nung dahin aus, daß Calame genug Talent besitze, um sein Glück als Künstler
versuchen zu können. Diodati erlegte noch einmal für drei Monate das Lehr¬
geld bei Diday, und Calame kehrte nicht wieder in das Kondor zurück. Seinen
Lebensunterhalt bestritt er nach wie vor aus der Anfertigung von kolorirten
Alpenlandschaften. Als Diday ihm spelter die in seinem Atelier angefertigten
Arbeiten bezahlte, konnte er ganz auf die Unterstützung Diodatis verzichten.
Seine Lage war aber immer noch eine so ärmliche, daß er nicht imstande war,
sich Leinwand, Pinsel und Farben zu kaufen, um sich an die Ölmalerei zu wagen.
Er malte fernerhin Aquarelle und führte Zeichnungen mit dem Bleistift, in
Sepia und auf dem Lithographirstein aus. Erst im Jahre 1830 konnte er sich
die zur Ölmalerei nötigen Requisiten anschaffen, und uun begann er einen neuen
Lehrkursus bei Diday. Leider konnte Calame im Kolorit nicht viel von Diday
lernen, denn dieser, im Jahre 1802 geboren, also nur acht Jahre älter als
Calame, hatte sich damals bei weitem noch nicht zu der Bedeutung entwickelt,
welche er in den vierziger Jahren erreichen sollte. „Man warf seiner Palette
Mattigkeit und Monotonie vor; seinem Pinsel fehlte es an Leichtigkeit, seinem
Kolorit an Durchsichtigkeit; die Luft war in seinen Gemälden nicht schwebend
genug." Diese Mängel übertrugen sich auch auf Calame, welcher im Zeichnen
bereits zu einer ungleich höhern Stufe emporgestiegen war. Namentlich hatte
Calame in der Perspektive eine ungewöhnliche Meisterschaft erlangt. Man er¬
zählt, daß er einst die Zeichnung einer von oben gesehenen Treppe siebzigmal
immer von neuem begann, was Diday, der leine gleiche Ausdauer besaß, in
großes Erstannen versetzte. Das Kolorit blieb jedoch weit hinter der Zeichnung
zurück, und so ist es auch sein Leben lang gewesen, wenngleich es nicht an Ge¬
mälden fehlt, in welchen es Calame dennoch gelang, die Disharmonie zwischen
Farbe und Zeichnung auszugleichen. Zu diesen seltenen Werken gehören z. B.
die „Ruinen von Pästum," welche das städtische Museum in Leipzig besitzt.
Die Entstehung dieses Gemäldes, welches mit dem „Gewittersturm an der
Haudeck" und der oft gemalten „Kette des Monte Rosa bei Sonnenaufgang"
zu seinen Hauptwerken gehört, ist so interessant und für das ganze Schaffen
Calames so charakteristisch, daß wir ihre Geschichte nach Rambert erzählen
wollen. Im September 1844 unternahm der Meister mit acht Schülern die
erste Reise nach Italien, welche er bis ins nächste Jahr ausdehnen wollte. Aus
seinen Briefen in die Heimat erfahren wir, welch einen tiefen Eindruck die ita¬
lienische Natur auf ihn machte, was von seinen frühern Biographen geleugnet
wurde. Seltsam ist aber, daß er die Idee zu dem Gemälde von Pästum be¬
reits fertig mitbrachte. Sie beschäftigte ihn schon längere Zeit vor dem An¬
tritt der Reise, und sie scheint sogar die unmittelbare Veranlassung derselben
gewesen zu sein. „Thatsache ist jedenfalls, daß er sich mehr als einmal mit
seinen vertrautesten Schülern von einem Werke unterhielt, dessen Idee ihn ver¬
folgte, und um deswillen er sich schlechterdings nach Pästum begeben müßte."
Als sie endlich auf dem Wege nach Pästum waren, dachte Calame fortwährend
an sein Gemälde und sagte wiederholt: „Ich habe mein Bild!" „Das war
sein Glück; denn wenn er es nicht bereits gehabt hätte, so würde er es auch
nicht gefunden haben. Der Zufall spielte ihm übel mit. Als man unterwegs
war, begann es zu regnen, und als man ankam, war der Himmel ganz grau.
Man besuchte die Ruinen, man packte die Eßvorräte aus und nahm unter einem
beliebigen Schutzdach ein frugales Mahl ein. Dann widmete Calame, immer
noch bei Regenwetter, die wenigen Stunden, die ihm blieben, einer Terrainstudie.
Sobald er sie vollendet hatte, mußte man sich auf den Weg machen. Die Vor-
ficht erforderte es (bei dem schwächlichen Gesundheitszustand Calames), bei Zeiten
aufzubrechen. Die Wege waren nicht sicher, und man mußte die Abendluft
vermeiden. Auf dem Rückwege verschaffte sich Calame die unumgänglich not¬
wendigen Hilfsmittel, Kupferstiche mit einer getreuen architektonischen Repro¬
duktion der stolzen Ruinen. Dann reiste er nach Rom, während das Bild sich
immer weiter in seinem Kopfe gestaltete. Bald wurde die Idee desselben durch
eine gemalte Skizze festgehalten, und bevor der Maler nach der Schweiz zurück¬
gekehrt war, fand sein „Pästum" einen ersten Liebhaber in der Person des
Herrn Bingham, des großbritannischen Geschäftsträgers in Turin. Die Aus¬
führung folgte unmittelbar. Um die Mitte des August, fünf Monate nach der
Rückkehr Calames, war das Gemälde abgeliefert; dann wurde es in Brüssel
ausgestellt und brachte seinem Schöpfer den Leopoldsorden ein. Um dieselbe
Zeit, aber mit größerer Muße, wurde es noch einmal für Herrn Schickler in
Leipzig in der Größe des früher von diesem Kunstfreunde gekauften »Monte
Rosa« ausgeführt." (Das Leipziger Bild trägt die Jahreszahl 1847.)
Nach dieser Schilderung kann es nicht Wunder nehmen, weshalb das weit
ausgedehnte Vorterrain des Bildes den Eindruck außerordentlicher Naturwahr¬
heit und die abendliche Sonnenbeleuchtung denjenigen einer poetischen Erfin¬
dung macht. Calame war zu sehr an sorgfältige Detailstudien gewöhnt, als
daß er mit so geringen Vorarbeiten das vollkommen treue Abbild einer Nntur
hätte wiedergeben können. Ans der andern Seite war aber seine dichterische
Phantasie kräftig genug, um auch mit dürftigem Material eine fesselnde Bild¬
wirkung zu erreichen.
Die Schnelligkeit, mit welcher ihn die Not des Lebens zu produziren zwang,
ließ ihn im Beginn seiner Laufbahn als Ölmaler (1830) garnicht dazu kommen,
seine Technik zu großer Geläufigkeit und Geschmeidigkeit auszubilden, umso-
weniger, als seine Gemälde sofort Käufer fanden. Das erste derselben kaufte
ein aus Belgien stammender Musiklehrer Müntz-Berger, zu welchem Calame
bald in die engsten freundschaftlichen Beziehungen trat. Im Herbst 1834 hei¬
ratete er dessen einzige Tochter, und die beiden Gatten suchten nun in gemein¬
samer Thätigkeit die Kosten ihres Haushalts zu bestreiten. Die junge Iran
gab Musikstunden, und Calame malte Bilder und erteilte Zeichenunterricht.
Im Jahre 1835 hatte sich sein Schülerkreis bereits derartig erweitert, daß er
in Genf eine geräumige Wohnung mietete, in welcher er zwei Unterrichtsklasscn,
eine für Herren und eine für Damen, eröffnete. Diese Lehrthätigkeit übte na¬
türlich einen großen Einfluß auf sein eignes künstlerisches Schaffen aus und
trug das letzte dazu bei, um Calames technische Fähigkeiten vollends nach
der zeichnerischen Seite zu entwickeln. Im Jahre 1835 machte er auch seine
erste Studienreise, die er bis nach Thun, Meiringen und zur Handeck aus¬
dehnte, und von der er etwa zwanzig zum größten Teil vor der Natur ausgeführte
Entwürfe heimbrachte. Erst im Jahre 1838 konnte er jedoch auf den Verkauf
seiner Bilder eine so sichere Existenz gründen, daß er es wagen durfte, seine
Zeichenschnle zu schließen. Auf einer Reise nach Paris und einer zweiten nach
Holland, die er unternahm, um tiefer in den Charakter der holländischen Land¬
schaftsmalerei einzudringen, hatte er seinen Horizont beträchtlich erweitert. Wenn
er auch keine Motive aus Holland bearbeitete, so hatte er doch aus dieser Reise
soviel gewonnen, daß er unmittelbar nach seiner Rückkehr eines der ergreifendsten
und stimmungsvollsten Werke seines Lebens schuf, den „Gewittersturm an der
Handeck." Dasselbe machte sowohl in Genf, wo er es zuerst ausstellte, als im
Pariser Salon einen bedeutenden Eindruck und verschaffte ihm endlich in Paris
dasjenige Ansehen, welches einem Künstler der französischen Schweiz zu seinem
Glücke unentbehrlich erscheint. Die Kritik behandelte das Gemälde mit großem
Wohlwollen, und Calame wurde dadurch ermutigt, auch die ferneren Ausstel¬
lungen zu beschicken. Im Jahre 1842 erhielt er sogar, zugleich mit seinem
Lehrer Didah, das Kreuz der Ehrenlegion. Damit hatte er aber auch den
Gipfel der Gunst erreicht, welche ihn, die Franzosen jemals zugewandt haben.
Umstände verschiedner Art hinderten ihn, sich regelmäßig an den folgenden Aus¬
stellungen zu beteiligen, und so geriet sein Name in Frankreich allmählich in
Vergessenheit, während er in den übrigen Ländern Europas immer größern
Glanz gewann. Calame fühlte sich innerlich abgestoßen durch den niedrigen
Realismus, welcher in der französischen Landschaftsmalerei immer mehr die
Führung erlangte. Der poetische Corot war der einzige, dem er Verständnis
und Sympathie entgegenbrachte. Corot steht ihm in erster Reihe, „was die
Idee anbetrifft, den ruhigen und sanften Eindruck." Schade nur, daß auf seinen
Bildern fast immer zwei Töne erscheinen: ein weißlich-grauer, sehr leichter
Himmel, Bäume und Terrain in grün angehauchten Sepiaton. Schade auch,
daß die Ausführung so unvollkommen, so nachlässig ist. „Rousseau erschien ihm
sehr ungleich; seine guten Bilder sind wahr in ihrer äußern Erscheinung und
in ihrer Färbung; aber die Wahl der Motive ist zu naiv, naiv im schlechten
Sinne des Wortes." Diese Eindrücke kleidete er zwar erst in Worte, als er
sich 1855 zum Bestich der Weltausstellung nach Paris begab; aber er hatte
doch schon früher genug gesehen und gehört, um sich ein Urteil über die na¬
turalistische Richtung der französischen Landschaftsmalerei bilden zu können.
Seine Freunde hatten ihn dringend aufgefordert, die Erinnerung an seine
frühern Erfolge in Paris dadurch aufzufrischen, daß er sich an der Weltaus¬
stellung beteiligte. Er gab nach und schickte eine große Ansicht des Vierwald-
stätter Sees nach Paris. Der Erfolg, den diese bei den Künstlern und der
Presse fand, mußte sein Selbstgefühl auf das äußerste verletzen. Die Künstler
fragten einander, was dieses „blaue Bild" eigentlich bedeuten sollte. Es gäbe
keine blauen Länder, das sei etwas Konventionelles, eine theatralische Phantas-
magorie, eine dekorative Tapisseriearbeit ohne Wahrheit und „Aufrichtigkeit."
Die Kunstkritiker ignorirten das Gemälde entweder ganz oder fertigten es mit
kühlen Worten ab, „Calame und Didciy, schrieb der (üoustiwtiounsl, haben
Bilder von jenen Dingen da, die man in der Schweiz sieht; sie sind nicht besser
und auch nicht schlechter als alles, was sie uns schon gezeigt haben. Es ist
kein Fortschritt zu konstatiren." Für dieses harte Urteil wurde Calame einiger¬
maßen dadurch entschädigt, daß Napoleon der Dritte das Gemälde für 15 000
Franks ankaufte, und daß dem Künstler schließlich noch eine Medaille erster
Klasse zuteil wurde. Aber diese Auszeichnung war nicht ohne einen bittern
Beigeschmack. Es gab vier Kategorien von Medaillen: zehn Ehrcnmedaillcn,
zwanzig Medaillen erster Klasse und eine größere Anzahl zweiter und dritter
Klasse. Die Namen der zu prcimiirenden Künstler wurden numerirt. Derjenige
Calames befand sich unter den Vierzigern. Er hätte demnach nur eine Me¬
daille zweiter Klasse erhalten sollen. Da wollte es der Zufall, daß Winter¬
halter, der Günstling der Tuilerien, noch mehrere Nummern hinter ihm kam.
Dies wurde bei Hofe bekannt, und man wußte die Jury zu bestimmen, die Reihe
der ersten Medaillen bis zur Nummer 48 auszudehnen, damit Winterhalter eine
Medaille erster Klasse erhielte. Da Calame vor ihm rangirte. profitirte auch
er von dieser Verschiebung.
Noch absprechender als über den lebenden Calame wurde in Frankreich
über den toten geurteilt. Die über ihn in den französischen Blättern veröffent¬
lichten Nekrologe behandelten ihn durchweg sehr geringschätzig. In einem der¬
selben wurde gesagt, sein Talent habe nichts außerordentliches gehabt, und er
habe sich hauptsächlich durch Vorlegeblätter für Landschaften bekannt gemacht,
die bei den Kupferstichhändlern zu sehen gewesen wären. Diese Malice veran¬
laßte einen ehemaligen Schüler Calames, Vive, damals Maire von Bourg, zu
einer energischen, im ^ourv^l as veröffentlichten Abwehr, in welcher sehr
treffend auf die gründliche Verschiedenheit der französischen und germanischen
Naturauffassung hingewiesen wird. Denn trotz seines französischen Ursprungs
war Calame als Künstler vollkommen deutsch, d. h. in diesem Falle romantisch
angelegt. „Die Malereien Calames, schrieb Vive, waren und sind in Paris
noch wenig gekannt und geschätzt. Seine Manier lag so sehr außerhalb der¬
jenigen der französischen Schule, war ihr so schroff entgegengesetzt, opponirte
ihr so stark, daß man sich nicht darüber wundern kann. Ich will hier nicht
über den Wert der beiden Schulen sprechen, beide haben ihre Vorzüge und ihre
Fehler, und es ist umso schwieriger, sich darüber zu verständigen, als dasjenige,
was dem einen fehlerhaft erscheint, für die andern zum Vorzug wird— Vor
einigen Jahren war die Mode auf das leicht Hingeworfene, auf die flüchtige
Skizze, auf das Inkorrekte gerichtet. Calame konnte mit seiner abgerundeten,
feinen, geschickten und vollendeten, fast zu vollendeten Malerei nicht in der Mode
sein. Paris ist die Sklavin der Mode. Es liegt also nichts erstaunliches darin,
daß Calame in Paris wenig gekannt und geschätzt war. Aber Paris ist, was
man auch sagen möge, nicht Frankreich und noch weniger die Welt. In Eng-
land, in Deutschland, in Holland, in Rußland hat kein moderner Landschafts¬
maler den Ruhm Calames übertroffen. Seine Gemälde sind dort in großer
Zahl verbreitet. Es giebt kaum ein öffentliches Museum, eine fürstliche oder
Privatsammlung, welche nicht einige besitzt, Sie haben dort enorme Preise
erreicht, und selbst die kleinsten seiner Bilder sind von Königen, Fürsten, vor¬
nehmen Herren und Bankiers mit Gold bedeckt worden,"
Noch schärfer und bitterer spricht sich Rambert über das unwürdige Ab¬
hängigkeitsverhältnis der romanischen Schweiz von Frankreich aus, welches die
gesamte geistige Kultur des kleinen Landes so beherrscht, daß es alle selbstän¬
digen Regungen tyrannisch unterdrückt und nichts in Gnaden aufnimmt, was
nicht sklavisch der an der Seine ausgegebenen Parole folgt. Ganz anders sei
das Verhältnis der deutschen Schweiz zu Deutschland. Hier sei der Rhein nur
eine politische Grenze, und Schriftsteller und Künstler hätten keine Mühe, sie
zu überschreiten.
Wenn das Urteil der Franzosen auch in verschiednen Punkten von natio¬
naler Befangenheit zeugt, so wird mau ihnen doch zugestehen müssen, daß bei
Calame die poetische Befähigung die malerische Kraft überwog. Wir haben
gesehen, daß sich dieser Zwiespalt aus seiner künstlerischen Erziehung vollkommen
erklärt; aber die Kritik hat am Ende doch nur mit dem Gewordenen, nicht mit
dem Prozeß des Werdens und mit seinen etwaigen Hindernissen zu rechnen.
Wir haben auch gesehen, daß es Calame gelungen ist, in einige» seiner reifsten
Schöpfungen jene» Zwiespalt so vollkommen auszugleichen, daß man ihm auf
Grund derselben den Namen eines großen Landschaftsmalers nicht vorent¬
halte» kann.
Die Massenproduktion und namentlich die häufige Wiederholung desselben
Motivs haben Calames Ruhme geschadet. Vor vielen seiner Schöpfungen hat
man den Eindruck, als hätte ein geschickter Kalligraph unaufhörlich dieselben
Zicrbuchstaben, dieselben Schnörkel geschrieben. Es fehlt die Wärme, das innere
Leben; die Handfertigkeit erstickt die Begeisterung, und unter dem tiefsten Blau
und dem leuchtendsten Not blickt immer der Zeichenlehrer hervor, der mit sau¬
berem Stift die Kontourcu vorgezeichnet hat; der schwungvolle Dichter hat oft
genug dürre Prosa geschrieben. Gleichwohl werden noch Generationen vor den
Gewitterstürmen Calames jenen heiligen Schauer empfinden, den nur ein großer
und erhabener Geist einflößen kann.
mfang und Tiefe eines künstlerischen Talents vermag mit Sicherheit
nur der zu beurteilen, der es einmal nackt gesehen, ohne jene
künstlichen Verbrämungen und Umhüllungen, die den Blick vom
Innern auf das Äußere, vom Wesentlichen auf das Nebensächliche
lenken und vielleicht lenken sollen, in der unlautern Hoffnung,
es möchten auch in künstlerischen Dingen Kleider Leute machen. Mag deshalb
die Wahrnehmung, daß heutzutage die erzählende Kunst vorzugsweise gern in
das Gebiet einer phantastischen Vergangenheit zurückgreift, an und für sich recht
befriedigend sein, weil sie eine unbefangene Würdigung wichtiger, lange
Zeit hindurch vom Parteienhaß verzerrter Perioden unsrer nationalen Ent¬
wicklung gewährleistet: eine besonnene Kritik wird den Herren Autoren immer
wieder vorhalten müssen, daß sie durch alle jene, bis in die entlegensten Jahr¬
hunderte zurückgreifenden Darstellungen noch nicht bewiesen haben, was sie
können, und ob sie das können, was allein sie zu Dichtern machen würde,
nämlich die Darstellung des Menschen schlechtweg, des freistehenden, innerlich
dnrch die Einheit seiner Natur, nicht äußerlich durch den frappirenden Aufputz
ungewohnter Lebensumstände zusammengehaltenen Menschen. Diesen Beweis
anzutreten müßte sich, sollte man meinen, ein wirkliches Talent schon durch das
Bedürfnis getrieben fühlen, einmal einen ganz unberührten, nicht bereits durch
eine hergebrachte Schablone in einzelne Architekturstücke zugehauenen oder durch
die Kulturbedinguugen eines bestimmten Jahrhunderts vorgeformten und ge¬
färbten Stoff behandeln zu können. Wer trotzdem zaudert, an jenes gxg.in.su.
rissorosum heranzugehen, thut das auf eigne Gefahr und darf sich nicht wundern,
eines Tages gewissen braven und wohlmeinenden Leuten beigezählt zu werden,
die mir in seltenen Fällen in der Weinlaune oder im Kreise tobender und be¬
scheidener Freunde auf Unsterblichkeit Anspruch machen, und deren literarisches
Erdendasein die künstlerische Kritik gutmütig anzuerkennen pflegt, solange sie
selbst ihren Ernst nicht herausfordern.
Unsre Zeit liest viel, aber selten mit derjenigen Sammlung und seelischen
Ruhe, die der Genuß eines Kunstwerks erfordert. Gleichwohl steht jeder moderne
Leser, sobald er sich nur mit seinem geistigen Leben über das allerniedrigste
Niveau, das der geistige» Masseufütterung, erhebt, seinem Autor im Grunde
nicht anders gegenüber, als der literarisch geschulte und künstlerisch fein em¬
pfindende dem seinigen. Beide erwarten von ihrem Dichter den geordneten und
gereinigten Ausdruck alles dessen, was ihnen selbst, mehr oder weniger klar
empfunden, in der Seele bebt. Deshalb hat, wie heute — und nicht bloß
heute — die Dinge liegen, gerade das Talent zweiten und dritten Ranges un¬
bestritten den äußern Erfolg für sich. Die Feinheit und Stärke ihrer Em¬
pfindung, die Decenz und die Gewalt ihrer Darstellung reicht gerade so weit,
daß der Durchschnittsgebildete sie als eben noch über sich stehend, aber doch
durch und durch erfaßlich und seiner Urteilskraft angemessen erkennt. Er schätzt
seinen Dichter hoch, er preist und empfiehlt ihn, weil er in ihm genau das
findet, was er suchte: leise, uicht zu sehr aufregende Erhebung über Gesichtskreis
und Stimmung des Tages, eindringliche, weil in künstlerische Form gefaßte
Bestätigung dessen, was er als Ideal seelischen Lebens sür sich und seinesgleichen
ansieht. Und da er recht wohl weiß, daß seinesgleichen sehr viele sind, so wird
ihm sein Dichter unvermerkt zum Interpreten einer sittlichen Weltordnung,
Die Kritik mag hin und wieder eines dieser beliebten und verbreiteten
„Kunstwerke" mit scharfem Schlage treffen, zur Wahrung ihres höhern Stand-
Punktes und um dem literarischen Treiben dieser Art, das sich naturgemäß sehr
breit zu machen Pflegt, ein für allemal seinen bescheidenen Platz anzuweisen.
Hat sie aber einmal diesen ihren Vorbehalt gemacht, so mag sie unbeschadet
ihrer Würde und ihres Berufs wohl auch lächelnd aufmuntern und anerkennen.
Kann doch ein glücklicher Griff, ein sicheres und behagliches Sichtummeln im
engen Kreise und eine gesunde, einfache Empfindung auch hier einmal etwas
zustande bringen, das auch verfeinerten Geschmack und ernsteren Ansprüchen
ein paar angenehme und durchaus nicht Verlorne Stunden bereitet.
Julius Wolff hat in diesen Blättern früher einmal eine sehr ungünstige
Beurteilung erfahren. Mit Recht, setzen wir gleich hinzu. Denn selbst die große
ästhetische Anspruchslosigkeit, das sehr einfach gegliederte Empfindungsleben
unsrer „Gebildeten" vermochte seinen ungewöhnlichen Erfolg nicht zu erklären.
Die Schalden des „Eulenspiegel r<zäivivu8," die geradezu beleidigende Dürftig¬
keit des „Rattenfängers," die lahme und hölzerne Leidenschaftlichkeit des „Wilden
Jägers" hätten schwerlich eines dem bescheidensten Bedürfnis genügt, wenn ihnen
nicht etwas durchaus abseits liegendes zu Hilfe gekommen wäre. Die liebens¬
würdige Gepflogenheit des freien deutschen Mannes, am möglichst unpassenden Ort
und aus einem an den Haaren herbeigezogenen Anlaß grobe Witze über „Pfaffen,
Junker und Tyrannen" zu reißen, fand an dem ersten jener Werke el» preis¬
würdiges Vorbild; die grobgliedrige, von Biederkeit strotzende, Sarges- und
schützenbrüderliche Hausbackcnhcit, die leider noch immer in weiten Kreisen po¬
litischen „Fortschritts" für einfach ehrlichen Sinn und ungeschminkte Natür¬
lichkeit gilt, durchwehte anheimelnd und gemütlich die andern. Das war es,
was sie in immer neuen Auflagen erstehen ließ, während der Nimbus einer
fernen historischen Vergangenheit den schwindsüchtiger Figuren einen Schein
von Gesundheit verlieh und die Talcntgrenzen des Autors nicht ohne weiteres
und für jedermann ersichtlich machte. Hier war es wirklich am Platze, durch
dies Gewebe von äußerem Schein und unharmonischen, Herz und Phantasie
beirrenden Zuthaten hindurchdringend, das Platte und winzige Nestchen aufzu¬
decken, das unter jenen trügerischen Umhüllungen verborgen war.
Nun ist auf jene „poetischen" Werke eine Erzählung in Prosa gefolgt:
Der Sülfmeister,*) und sie bedeutet einen so entschiedenen Fortschritt in der
Gestaltungskraft ihres Autors, daß eine gerechte Kritik sich nicht einfach schweigend
verhalten darf. Ein sehr glücklicher Griff am Steuer seines dichterischen Be¬
wußtseins hat den Verfasser diesmal aus allen jenen oben besprochenen Klippen
gerettet. Während von seinen früheren Stoffen kein einziger innerhalb der
Grenzen seiner Befähigung lag, ist der vorliegende ganz dazu angethan, dieselben
gefällig zu verdecken und nebenher eine Art von derbem, aber unschuldigem
Humor zu zeitigen, der einen sehr zweckmäßigen Ableitungskanal für die allzu¬
reichlich strömende biedere Natürlichkeit früherer Werke bildet. Scharfe Satire,
die zu zweckloser Witzelei, tief aus dem Innersten quellende Leidenschaft, die zu
hohlen Rodomontaden, bestrickender Zauber hingebender Empfindung, der zu
ungenießbarer Sentimentalität wurde, kann hier garnicht in Frage kommen,
weil es sich lediglich um schlicht bürgerliches Leben, um einfache Menschen in
engbemessenen Kreisen hergebrachter Denk- und Empfindungsweise handelt, und
doch besitzt die Handlung Anziehungskraft genug, um uns ohne Gefühl von
Ermüdung durch die zwei Bände des Buches zu führen.
Ein Städtebild aus dem deutschen Mittelalter wird uns geboten. Und
daß uns der Autor eben auch nichts andres bieten will, sondern mit allen Ver-
gleichungen und Beziehungen auf naheliegende Gebiete modernen Lebens zurück¬
hält, spricht ebenso für seinen historischen Sinn wie für eine im Laufe der Zeit
erheblich reiner gewordene ästhetische Überzeugung. Ob nicht am Ende auch
für eine richtigere Schätzung seiner Kraft? Ist er sich bewußt geworden, daß
es gefährlich sei, ein Talent, wie wir es oben wollten, nackt zu zeigen, nach¬
dem man mit dem verhüllten so schöne Erfolge erzielt? Daß es für einen
Autor, dem psychologische Vertiefung, energische Individualisirung, lebendige
Charakteristik schwerlich gelingt, doch wohl das klügste sei, sobald es sein Stoff
nur einigermaßen gestattet, einfach und schlicht zu erzählen, wie sich das Leben
der Handelnden in seinem äußern Rahmen abspielt? Und der Stoff gestattet
das ja nicht bloß, er fordert dazu heraus. Wenn wir einst eine Geschicht¬
schreibung haben werden, die uns von Generation zu Generation die Wand¬
lungen des Empfindungslebens und der Anschauungen vou der Stellung des
Menschen zur Welt aufzeigt, so werdeu wir erst recht inne werden, wie sehr sich
ein Jahrhundert seelisch vom andern unterscheidet. Eine innere subjektive Freiheit
des Denkens und Empfindens beansprucht und besitzt die Kulturmenschheit erst
seit wenigen Menschenaltern, etwa solange, als es eine dramatische Dichtung
im modernen Sinne des Wortes giebt. Denn die dramatische Dichtung setzt
eben voraus, daß die Auflehnung eines Individuums gegen die sittliche Welt¬
ordnung aus dem innern Bedürfnis kräftiger Charaktere, sich frei zu äußern,
verstanden wird. Ist eine fortschreitende Entwicklung des Individualismus
freilich bis zu einer Zerfaserung des seelischen Lebens, bis zu einer Höhe ge¬
diehen, daß die Seelenprozesse des einen von keinem andern mehr völlig nach¬
empfunden werden können, so muß es mit jener höchsten aller Dichtungsarten
wieder, wie im modernen Leben, bergab gehen. Es ist aus diesen Gründen
leicht verständlich, wie bei den Kulturvölkern Europas gerade im sechzehnten und
siebzehnten Jahrhundert, also bald nach der Ausbildung des Humanismus, das
Drama sich zur Blüte entfaltete.
Wolffs neues Buch zeigt uus in dieser Beziehung vorsüudflutliche Meuschen,
die von keinem seelischen Zwiespalt angekränkelt sind, fest im Rahmen einer sehr
straffen Ordnung stehen, und diese doch nicht als Zwang, sondern als Schutz¬
wehr vor ungebundener Leidenschaftlichkeit empfinden. Dieser völkerpsychologische
Gegensatz macht das Werk für den aufmerksamen Leser interessant, ohne daß
der Autor dabei ein andres Verdienst hätte als das der Enthaltsamkeit von
allen Versuchen psychologischer Vertiefung. Und doch ist er nicht ohne Verdienst,
denn daß uns diese im guten Sinne beschränkten Menschen, denen wir uns auf
Schritt und Tritt innerlich überlegen fühlen, trotz dieses Gefühls fortdauernd
interessant bleiben, das danken wir doch wohl nur der Frische und ungesuchten
Natürlichkeit, mit der der Dichter sie schildert; ein wenig wohl auch dem stillen
Eingeständnis, daß diese schlichten Menschen in der Kraft und einfachen Folge¬
richtigkeit des Handelns uns Empfindungsmenschen überragen.
Nun soll gewiß nicht geleugnet werden, daß eine starke Dichterkraft aus
demselben Stoff andres und größeres hätte machen können. Schon oben wurde
gesagt, daß eine ernsthafte Kritik Werke wie das vorliegende nur unter einem
bestimmten Vorbehalt willkommen heißen könne. Wer gewohnt ist, sich mit
voller Hingabe in die Schöpfungen unsrer großen Dichter oder auch nur in die
Dichtungen der ersten unter den Zeitgenossen zu vertiefen, wird freilich diese
Art von Produkten kleinen Stils wie ein bescheidenes Blümchen im Vorbeigehen
Pflücken. Aber der großen Menge derer, die der Lektüre höchstens ein Stündchen
der dem Ausruhen gewidmeten Muße opfern, ist in der That mit einem einfach
harmlosen Buch am meisten gedient. Die moderne Literatur mit ihrer Neigung
zum Virtuosentum, ihrer Ausbeutung monströser und krankhafter Bildungen des
Zeitgeistes hat für den Weiterblickenden ja sicher auch nur ephemere Bedeutung,
ist aber für alle jene Sonntagsgäste im Reiche der Dichtung zum mindesten
zwecklos, während ihnen aus einer mäßig gehaltvollen, aber ungesuchten Dar¬
stellung fremden Lebens und Empfindens das eigne zu ihrer Freude wie aus
einem Spiegel zurückstrahlt. Unsre dichterische Produktion ist ja glücklicherweise
nicht so arm, daß sie nicht diesen bescheidenen Schwestern stolzer Geisteskinder
ein wenig Lebensluft gönnen könnte. Dem Autor aber wünschen wir aufrichtig,
daß ihn ein guter Genius auch künftig davor bewahre, nach Objekten hohen
Stils zu greifen. Es ist ja auch etwas darum, weiten Kreisen eine gesunde
Nahrung der Phantasie und des Herzens zu geben. Sollte es so schwer sein,
sich damit zu bescheiden?
on den „Memoiren" des Oberregierungsrats Wagener, die unter
dem Titel Erlebtes erscheinen, ist nun auch die zweite Abteilung
und damit der Schluß der Schrift in unsern Händen, und wenn
der Nebentitel „Memoiren" dem gewöhnliche» Begriffe dieses Aus¬
druckes gegenüber etwas anspruchsvoll erscheint (das Ganze um¬
faßt wenig mehr als 170 Seiten), so ist die Arbeit des talentvollen und vielfach
eingeweihten Verfassers auch in ihrer zweiten Hälfte immerhin ein wertvoller
Beitrag zur Geschichte der letzten Jahrzehnte und namentlich, wie wir schon bei
Besprechung des ersten Abschnittes bemerkten, eine lehrreiche Charakteristik der
Kreuzzcitungspartei, über die wir auch hier mancherlei neues erfahren. Vielen
von den Urteilen des Autors, z. B. denen über die Staatsmänner der „neuen
Ära," über die demokratischen Helden der Konfliktszeit und über die Wortführer
der Nationalliberalen und der Fortschrittspartei mit ihrem sezessionistischcn
Appendix können wir rückhaltlos zustimmen, andre dagegen, z. B. die über
die Bedeutung der sozialdemokratischen Bewegung, vermögen wir uns nur teil¬
weise anzueignen, und wenn Wagener sich von den gegen deren Ausschreitungen
gerichteten Ausnahmegesetzen nichts, von den zur Befriedigung der Arbeiterwelt
vorgeschlagenen Reformen wenig verspricht, so werden wir so lange bei unsrer
entgegengesetzten Meinung verbleiben, bis uns die weitere Entwicklung der Sache
eines bessern belehrt.
Ganz richtig sagt der Verfasser, daß nichts thörichter sei als die Behaup¬
tung der Fortschrittlcr, Fürst Bismarck habe durch seinen Verkehr mit Lassalle
die deutsche Sozialdemokratie ins Leben gerufen und großgezogen; denn dieselbe
war nichts als das Zutagetreten eines bis dahin mühsam verhüllten Gegensatzes
der Interessen, und gleichfalls wohlbegründet erscheint uns die Bemerkung, daß
die Schwäche Lassalles und seiner Nachfolger darin bestehe, daß sie bei ihren
Angriffen immer nur das produzirende und nicht das spekulirende Kapital, welches
alle unsre Verhältnisse beherrscht, ins Auge faßten. Auch dagegen wird sich
auf den erste» Blick nicht viel einwenden lassen, wenn Wagener die Entwicklung
der Sozialreform wie folgt kritisirt: „Hier bewegt man sich in dem unlös¬
baren Widerspruche, gleichzeitig die Ziele jener Reform und die kapitalistische
Grundlage der heutigen Gesellschaftsordnung festhalten zu wollen, und das
Parallelogramm dieser gegeneinander wirkenden Kräfte kann natürlich kein andres
sein als eine äußerliche Vermischung beider Systeme und eine wachsende Ver¬
stimmung beider Teile. Während der Vertreter der Sozialdemokratie in diese,:
Tagen im Reichstage aussprach, daß die Regierung sich immer mehr von dem
eigentlichen soziale» Gedanken abgewandt habe und der Bourgeoisie entgegen¬
gekommen sei, behaupten die Vertreter des Kapitalismus im Gegenteil, daß die
Vorlagen der Negierung noch immer viel zu sehr nach Sozialismus schmecke»,
und daß auch der Rest dieses Beigeschmacks abgethan werden müsse. Zwischen
beiden stehen die Negierung und die konservative Partei mit der Absicht der
Ausgleichung und ^der) Versöhnung, die, wenn man auf dem bisherigen Wege ver¬
harrt, wahrscheinlich solange fortgesetzt werden müssen, bis von den Vorlagen
selbst nicht viel mehr übrig bleibt." Aber bewegt sich der wahre Fortschritt
denn nicht immer in Kompromissen, in Ausgleichungen der streitigen Interessen?
oder weiß der Verfasser in der Sache andern Rat? Nun ja, er sagt: „Sozial-
rcform und Sozialistengesetz — es wird dies beides gleichmäßig umsonst sein,
wenn nicht die Geisteskraft der Kirche die kvrrumpirte Gesellschaft erneuert und
wenn man nicht dem Tempel sein Eigentum zurückgiebt." Unter dem letztem
Bilde versteht der Autor „Zurücktreten auf den bekannten Boden der preußischen
Verfassungsurkunde," was doch wohl Wiederherstellung der 1873 aufgehobenen
Paragraphen derselben heißen soll. Man wird damit die Zcntrumsfraktion ge¬
winnen. Aber wie soll die „Geisteskraft der Kirche" ihr Erneuernngswerk be¬
ginnen? Wie Bischof Ketteler sichs dachte? Durch Predigt, durch Almosen, durch
Klöster? Durch andre Wiederbelebung des Mittelalters? Wenn nun die Sozia-
listen nicht wollen? Sollen wir sie zwingen, oder wie stellt sich der Verfasser
sonst den Weg zu praktischem Erfolg vor?
Besser als das, was Wagener in dieser Beziehung vorbringt, erscheint uns
das, was er an verschiednen Stellen seiner Schrift über die Fortschrittspartei
und die Liberalen überhaupt bemerkt, und sehr beherzigenswert sind die Mah¬
nungen, die er daran knüpft. „Während die nationalliberale Partei, sagt er,
anfangs mit großer Vorsicht und Mäßigung mir auf dem sozialen und volks¬
wirtschaftlichen Gebiete vorging und erwartete, daß die politische Herrschaft ihr
demnächst als reife Frucht von selbst in den Schoß fallen würde, hat die Fort¬
schrittspartei stets daran festgehalten, beides gleichmäßig zu erstreben und um
deswillen alle politischen Kompromisse zurückzuweisen; doch ging auch die natio¬
nalliberale Partei niemals weiter, als dies unbedingt nötig war, um ihre poli¬
tische Basis nicht zu gefährden und die Fühlung mit dem leitenden Staatsmanne,
dessen Unterstützung man damals noch für unentbehrlich hielt, nicht zu verlieren.
Je mehr das Selbstvertrauen wuchs, umso dreister trat man auf, und es war
insbesondre die Mehrzahl der anerkannten Führer, welche je länger desto mehr
nach links drängten und kein Bedenken trugen, die Maske fallen zu lassen, als
die Reichsregierung Miene machte, sich auf dem sozialen Gebiete rückwärts zu
konzentriren. Mit diesem Momente wurde der Reichskanzler in denselben Kreisen,
welche ihn bis dahin als eine Art von politischem Halbgott verehrt hatten, der
bestgehaßte Mann, ein Changement, welches sich allmählich in der Person des
Herrn Richter dahin zuspitzte, daß dieser Vorsänger des Liberalismus seine
Hauptaufgabe darin findet, den Reichskanzler persönlich anzugreifen und zu ver¬
letzen. Die eigentliche Signatur der augenblicklichen Situation ist deshalb auch
dahin zusammenzufassen, daß man heute auf liberaler Seite die Person des
Fürsten Bismarck als das eigentliche Objekt des Angriffs betrachtet, und daß
die neue »deutsch-freisinnige Partei« hauptsächlich zu dem Zwecke gebildet wird,
um Bismarck, den man nicht mit Unrecht als den Schlußstein des deutschen Ge¬
wölbes und als den Tragpfeiler der gegenwärtigen Politik würdigt, seine Stel¬
lung und Aufgabe möglichst zu verleiden und zu erschweren und so durch den
Personenwechsel zu einem Systemwechsel zu gelangen. Ob und wieweit diese
Spekulation gelingen wird, ist freilich eine andre Frage ^die, so lange Kaiser
Wilhelm lebt, mit vollster Sicherheit verneint werden darf^, zumal Sta^ der Staats¬
mann, welcher die Erbschaft des Fürsten Bismarck übernehmen könnte, unter
den gegenwärtigen Koryphäen der Freisinnigen ^auch unter denen der andern
Parteien^ doch wohl ^wir sagen: unzweifelhaft^ vergeblich gesucht wird. Immer¬
hin aber müssen wir darauf vorbereitet sein, den vermeintlich gelösten Konflikt
wieder aufleben und den Kampf um die soziale und politische Herrschaft im
deutschen Reiche und zwar hier unter weitaus ungünstigeren Bedingungen neu
entbrennen zu sehen. Nicht allein, daß die Stellung des Kaisers im deutschen
Reiche eine weniger klar definirte ist als die des Königs von Preußen, und
daß insbesondre in bezug auf die Etatsverhältnifse und das Veto mancherlei
Zweifel obwalten: wir haben es heute nicht bloß mit den alten Preußen, in
welchen die monarchischen und sonstigen geschichtlichen Traditionen noch stark
genug waren, um den Konflikt zu überwinden, sondern auch mit Ländern und
Reichsangchörigcn zu thun, in und bei denen anderweite Traditionen vorhanden
sind, und wo ^ mau eher geneigt ist, der falschen konstitutionellen Theorie ^dem
Parlamentarismus, dem Streben nach der Herrschaft der wechselnden Majori¬
täten^ Zugeständnisse zu machen. Außerdem haben wir heute kaum eine Aussicht,
innere Konflikte unter auswärtigen Erfolgen begraben zu können, und es ist
deshalb die dringendste Pflicht, in den bevorstehenden, in seinen Grundzügen
schon heute klar zu übersehenden Konflikt mit dem festen Entschlüsse einzutreten,
die deutsche Kaiserkrone ebenso treu und furchtlos zu verteidigen als seinerzeit
die preußische Königskrone."
Wagener ist selbst ein Bürgerlicher, und er hat wiederholt gezeigt und zeigt
es in seiner Schrift von neuen an vielen Stellen, daß er auf Freiheit und
Selbständigkeit hält. Man wird ihm darum glauben, wenn er in Abrede stellt,
bei seinen Betrachtungen von Haß gegen die Bourgeoisie und Übelwollen gegen
die Freiheit geleitet zu sein. Er urteilt nach der Erfahrung, wenn er weiter
sagt: „Wer heute noch imstande ist, in Frankreich Freiheit zu finden und Amerika
als das Land der Zukunft zu feiern, der sieht die Welt überhaupt nur durch
seine trübe Parteibrille an und sollte billig nicht den Anspruch erheben, als
Staatsmann verbraucht zu werden. Während in Frankreich der Baron Roth¬
schild der wirkliche geheime König ist und die effektive Verfassung Frankreichs
als eine durch die hohe Finanz geleitete und gemäßigte Ministerdiktatur bezeichnet
werden muß, ist die Verfassung Amerikas kaum noch etwas andres als eine
aller Flittern entkleidete Korruption und Bestechung und der durch den Revolver
gemäßigte Despotismus des allmächtigen Dollars. Wer eine derartige Ver¬
fassung auch für Deutschland wünscht, der mag den Kapitalismus auch bei uns
weiter poussiren. Nur die äußerste Verblendung kann die Bourgeoisie heute
noch in der Meinung erhalten, den Konsequenzen ihrer eignen Vordersätze ent¬
gehen und die andringende soziale Revolution nachhaltig mit Freiheitsphrasen
beschwören zu können."
Von besondern, Interesse sind die Charakterskizzen, die der Verfasser unsrer
Schrift von den Führern der Nationalliberalen entwirft. Nachdem er bemerkt
hat, daß die innere Politik Deutschlands während der letzten zehn Jahre nur
dann richtig verstanden werde, wenn man sich erinnere, daß der National¬
liberalismus zu jedem politischen Kompromisse bereit gewesen sei, wenn er dafür
eine volkswirtschaftliche Errungenschaft einzuheimsen vermocht habe, und daß
er seine politischen Grundsätze sofort verleugnet habe, wenn man ihm ein ma¬
terielles Zugeständnis gemacht, fährt er fort: „Ebenso wird es nur dadurch
verständlich, daß im Laufe der Entwicklung ein Teil der nationalliberalen Führer
als Sczessionisten beiseite ging, weil die Schwankung in der volkswirtschaftlichen
Politik seitens >?j des Reichskanzlers die sozialen Errungenschaften in Frage stellte,
und daß der gesamte Nationalliberalismus sein langjähriges Haupt verleugnete,
weil dieses der sozialen Entwicklung gewisse Konzessionen machen zu sollen glaubte."
sVon Bismarck zu sagen, er sei das Haupt des Nationalliberalismus gewesen,
ist man nicht berechtigt; er ist als Minister niemals Parteimann gewesen.) Der
Versasser zeichnet nun einige der betreffenden Führer und zwar zuerst Bennigsen:
„Der langjährige Führer der Opposition in dem annektirten Königreiche
Hannover, Schöpfer und Leiter des Nationalvereins, war derselbe unter einer
festen und sichern Hand und Leitung ein sehr brauchbarer Mitarbeiter an dem
Baue des deutschen Reiches und hatte sogar, solange er als geistiger und po¬
litischer Kostgänger des Fürsten Bismarck figurirte, eiuen gewissen staats-
männisclM Anstrich, welchen er noch durch ein feierliches und reservirtes Wesen
zu heben verstand, das ihn umso besser kleidete, als es ein durchaus natür¬
licher Zustand war. Für mich enthielten seine Reden kaum jemals etwas neues,
da ich den wesentlichen Inhalt derselben schon immer vorher entweder gelesen
oder gehört hatte. Daß er mchtsdestoweniger im ganzen ein schlechter politischer
Akteur war, hat er durch die Art und Weise seines Abganges bewiesen."
Von Laster spricht Wagner an verschiedenen Stellen seiner Schrift. Zu¬
nächst konstatirt er, „daß der Einfluß und das Ansehen, dessen er sich während
seiner parlamentarischen Wirksamkeit erfreute, wohlverdient waren. Es war
nicht bloß seine Befähigung, sondern sein beharrlicher Fleiß, welcher ihn auf
allen Gebieten in den Stand setzte, die einschlagenden Fragen zu beherrschen
und durch Arbeit seine minder informirten Parteigenossen zu beeinflussen. Eine
parlamentarische Stellung wie die seinige, während deren sich selbst eine gewisse
Spielart des Beamtentums um seine Protektion bewarb, gewinnt man nicht
durch Nichtsthun. Unrichtig ist es freilich, daß derselbe ganz ohne Ehrgeiz
gewesen. Politiker ohne Ehrgeiz giebt es überhaupt nicht; doch war der
Dr. Laster allerdings scharfsichtig genug, um sich über die Grenze des von
ihm Erreichbaren nicht zu täuschen, sodaß er mir stets den Eindruck machte, als
sei sein Bestreben darauf gerichtet, in Deutschland die Rolle des Ungarn Deal,
wenn auch nicht ganz mit derselben Freiwilligkeit, zu spielen. Es ist dies
eben der Ehrgeiz einer Art von politischem Diogenes. Überaus heuchlerisch
und widerlich ist die Art und Weise, in welcher neuerdings sein Andenken von
seiten der Fortschrittspartei nebst Anhang gefeiert wird. Man scheint dort
ganz vergessen zu haben, daß für den Dr. Laster in den letzten Jahren seines
Lebens in seinem engern Vaterlande überhaupt kein Mandat mehr zu finden
war, daß er im deutschen Reiche als Meininger auftreten mußte, und daß es
namentlich die Fortschrittspartei war, welche ihm einen förmlichen Absagebrief
schrieb. Mehr als seltsam war sein persönliches Verhältnis zum Fürsten
Bismarck. Ich glaube nicht, daß die Persönlichkeit Lasters dem Reichskanzler
jemals sympathisch gewesen ist ^gewiß nicht!), und daß es dem letztern besondre
Schmerzen bereitet hat, als sein »Mitarbeiter« in die Brüche ging. Laster
war einer von den vielen, die zu schieben meinten, während sie geschoben wurden,
und die sich einbildeten, Faiseurs zu sein, während sie doch nur Werkzeuge
waren." Über die vielgefeierte Rede, mit welcher Laster 1873 als Börsen¬
moralist auftrat, sagt Wagner, er habe sie „insofern mit einer Unwahrheit er¬
öffnet, als er versichert, sich bis dahin niemals mit den betreffenden Angelegen¬
heiten beschäftigt zu haben, obschon er kurz vorher eine Denkschrift über die
Beteiligung des Prinzen Biron, des Fürsten Putbus und der Herzöge von
Ujest und Rcitibor an den bekannten Eisenbahnunternehmungen gefertigt." Im
übrigen weist er darauf hiu, daß A. Wolff kürzlich überzeugend dargethan habe,
wie Laster bei dieser Gelegenheit am meisten die eigne Partei verwundet habe;
der Genannte bemerkt in seiner Broschüre: „Im Februar 1873 verleugnete die
liberale Partei, wenn anch nicht um der Sache willen, sondern mehr aus
politischen Gründen, auf wirtschaftlichem Gebiete ein Stück ihres Werkes, und
im April desselben Jahres sah sich der Reichstag von Petitionen überflutet, die
sich gegen das ganze Werk richteten, und zwar mit ausdrücklicher Berufung
auf den ersten wuchtigen Stoß gegen das Werk von Laskerscher Hand, und
seitdem hat der Ansturm gegen dasselbe nicht aufgehört. Herr Laster wollte
allerdings, nachdem er seiner Rancune gegen Wagener Luft gemacht und sich
als den sittlichen Helden Deutschlands hingestellt hat, daß damit die Sache
vorbei sei. Die Sonne sollte stille stehen, aber sie bewegt sich doch."
Über einen dritten Führer der Nationalliberalen, den einstigen Kampfge¬
nossen Bennigsens, Miquel, bemerkt Wagener, es sei ihm „vergönnt gewesen,
die Stufenleiter vom Sozialdemokraten bis zum Oberbürgermeister im gleichen
Schritt und Tritt mit seinem politischen und sozialen Freunde, dem bekannten
roten Becker, zu erklimmen. Herr Miauel ist ein sehr kluger und praktischer
Mann, der aus seiner sozialistischen Jugendliebe noch ein gewisses sachverständiges
Interesse für den Handwerkerstand und dessen Hebung sich bewahrt, im übrigen
aber den Beweis geführt hat, daß Herr Pereire in Paris nicht der einzige war,
dem der große Sprung vom Sozialdemokraten bis zum bedeutenden Bankier gelang.
Gegenüber der im Jahre 1873 incmgurirten moralischen Auffassung des Börsenspiels
scheint ihm seine Stellung bei der Diskontogesellschaft die fernere politische Thätigkeit
verleidet zu haben. Mre unrichtige Annahme, wie Miquels Auftreten in Neustadt an
der Haardt zeigt.^ Aus etwas anderen Soffe ist der gefeierte Nationalökonom
und volkswirtschaftliche Prophet des Liberalisinus, Herr Bamberger, gebildet.
Bekanntlich hat auch dieser jetzige Repräsentant der Goldwährung ganz klein
und ziemlich rot angefangen, und zählte im Jahre 1348 zu den Freiheits¬
kämpfern, welche das strategische Manöver des Rückwärtskonzentrirens verstanden.
Seitdem beschäftigte er sich mehr mit reellen Dingen und zählt unbedingt zu
denjenigen, die auf dem volkswirtschaftlichen und sozialen Gebiete am besten
orientirt sind und Verstand und Witz genug besitzen, um für ihre Ware stets
Abnehmer zu finden. Auf »unsern Braun« möchte ich ohne jeden verletzenden
Beigeschmack das bekannte Wort anwenden: Von allen Geistern, die verneinen,
ist mir der Schalk am wenigsten zur Last. Geborner Leiter und Vorsitzender,
wie es scheint, aller mauchesterlicheu Bestrebungen und Vereine und, soviel ich
weiß, auch Ehrenmitglied des Cobdenklubs, betrachtet er das Manchestertum
als seine Domäne und dessen Vertretung als seine Lebensaufgabe, wobei er
sich freilich wohl kaum noch verhehlen kann, daß jedes Ding seine Zeit hat,
und daß er sich bereits in einer bedenklichen Defensive befindet. Mit seinem
gutmütigen süddeutschen Witze weiß er indes seine Vorträge noch immer
schmackhaft zu machen."
Wir schließen unsre Auszüge mit einer Bemerkung, die ganz zu unsern
eignen Erfahrungen und Beobachtungen stimmt. „Der beste Bundesgenosse für
die antisozialen Parteien Uortschrittler und Sezesfionisten^ war die liberale
Bureaukratie, und ich habe deshalb auch niemals Anstand genommen, unver¬
hohlen auszusprechen, daß es viel leichter sei, mit einem schweren Frachtwagen
im Sande Galopp zu fahren, als mit einer manchesterlichen Bureaukratie und
gleichgesinnten Ministern sDelbrück und Camphausen siud gemeint^ soziale Reform-
Politik zu treiben. Daß ich mir durch diese Offenherzigkeit keine Freunde er¬
worben habe, wird jeder leicht begreifen, zumal ^de^ die Entwicklung mir alsbald
Recht gegeben und man demnächst nach Beseitigung einiger manchesterlich-büreau-
kratischer Koryphäen wenigstens den Versuch gemacht hat, das Versäumte nach¬
zuholen. Mit welchem Erfolge, liegt klar vor Augen; denn der versäumte
Augenblick ist leider auch hier unwiederbringlich. Außerdem ist es ein leidiger
Irrtum, die Beseitigung von drei oder vier liberalen Ministern mit einer Purifi-
kation der Bureaukratie zu verwechseln. Wer das bürokratische Treiben ans
der Nähe beobachtet hat, der weiß, daß die Geheimen Räte mächtiger sind als
die Minister, und daß selbige, wenn sie auch zu schüchtern sind, offen zu wider¬
streben oder zu widersprechen, dennoch vortrefflich verstehen, Friktionen zu er¬
zeugen, ihren Chef zu ermüden, eine ihnen mißliebige Sache hinzuhalten und
schließlich im Sande verlaufen zu lassen. So lange man sich nicht entschließt, für
neuen Most neue Schläuche und für neue Aufgaben neue Organe zu schaffen, so
lange muß mau sich seines guten Willens getrosten, erreichen wird man nicht viel."
Daran ist viel wahres, nur vergißt Wagener uns zu sagen, wie das Bedürfnis
nach solchen neuen Schläuchen, solchen neuen Organen befriedigt werden könne.
Jedenfalls wird seine Purifikation der Beamtenwelt viel Geld kosten, und wo
man die passende» Persönlichkeiten hernehmen soll, deren es doch nach dem Be¬
merkten nicht wenige bedürfte, ist in einer Zeit, wo seit einem Menschenalter
fast alle Welt dnrch die manchesterliche Schule gegangen ist, auch nicht leicht
zu ersehen.
eim Einbruch der Reiche war Cerci von seinem barmherzigen Aus¬
ritte zurück und sagte zu seinen beiden Gästen: Wenn Ihr zum
Knrhause gehen wollt, so will ich Euch hinbringen, ich habe dort
noch einige Krankenbesuche zu machen, Dn, Paul, wirst an¬
kommen, wenn im Kasino der Ball und der Abendtrinmph der
Gräfin begonnen hat; Ihr, Herr Devannis, findet das Zimmer in Bereitschaft,
welches ich dem Briefe meines Schwagers gemäß für Euch ausgesucht habe. Ich
hoffe, Ihr werdet zufrieden sein, es ist eins der besten und gesündeste».
Besten Dank!
Und jetzt, da wir einander kennen, sage ich Euch aufrichtig, es würde mir
noch größere Freude machen, wenn wir Euch bei uns behielten —
Nein »ein, unterbrach ihn Devannis; das möchte ich unter keiner Be¬
dingung, Ich komme hierher, um auch eine Kur zu machen, und begebe mich
unter Eure Unterthanen, Doktor, Und die Kur kann man doch am bequemsten
im Knrhause machen. Ich habe die echte Krankheit unsrer Zeit, die Krankheit,
welche unsrer Generation, unsrer Literatur, unsrer Kunst, kurz all nud jedem
den wahren Charakter verleiht: die Leberkrankheit, Erleichtert mich etwas,
teurer Hippokrates, weiter verlange ich nichts; aber wenn Ihr mir den Schaber¬
nack spieltet, mich ganz und gar zu kuriren, so wäre das ein Verrat, den ich
Euch nie und nimmer verzeihen könnte. Dieser Krankheit verdanke ich die Phi¬
losophie meines Lebens und einen großen Teil meines eigentümlichen Wesens.
Wenn mir nichts davon mehr bliebe, so müßte ich alle meine Ansichten und
Meinungen reformiren, mein ganzer Charakter würde mir unvollkommen und
verkrüppelt vorkommen, und ich bin schon zu alt, um mir einen neuen zuzulegen.
Wolle» sehen, wollen sehen, antwortete Cerci lachend. Inzwischen könnt
Ihr Euch beruhigen, Ihr müßt wissen: von einer schönen Leberkrankheit kommt
man nicht wieder davon. Adele, bringe jetzt die Kinder zu Bett, Wir wollen gehen.
Sie verließen das Haus. Die Schlafstube der Kiuder lag an der rechten
Seite der Thür, durch welche man in den Garten gelangte, unmittelbar dem
Speisezimmer gegenüber. Die Vorhänge dieses Stübchens waren geschlossen,
aber durch die Spalten derselben drang das Licht der beim Schlafengehen der
Kinder leuchtenden Lampe, und diese rötlichen, halb durchbrochenen Strahlen
fielen auf die Blätter der vor dem Hause aufgepflanzten Blumen und Sträucher.
Da es die heißeste Jahreszeit war, so ließ man die Fenster solange als möglich
offen, und daun kam immer aus dem Nebenzimmer die Mutter auf den Fu߬
spitzen, um das Fenster behutsam zu schließen, konnte sich aber den Genuß nicht
versagen, auf diese weißen, in Schlaf versunkenen Stirnen, über welchen der
Engel der Unschuld schwebte, eiuen leichten Kuß zu drücken. Auch heute war
das Fenster noch offen, man hörte daher von außen die zarten Stimmen der
im Einschlafen begriffenen Kinder, welche ihre Abendgebete kaltem, hörte von
Zeit zu Zeit zugleich mit ihnen die ernstere Stimme der Mutter, welche einhalf
und verbesserte. Josef fühlte sich so angezogen, daß er sich an die Vorhänge
stellte, um durchzublicken.
Devannis! Was machst du? fragte Paul.
Bök! antwortete Devannis leise. Schweigt und kommt hierher, Ihr sollt
ein Schauspiel bewundern, welches in seiner Einfachheit das rührendste ist, das
es geben kann.
Cerci und Paul traten nun auch an das Fenster.
Vor einem schwarzen Kruzifix, auf welchem sich die in Elfenbein geschnitzte
Gestalt Christi abhob, hatte Adele ihre beiden Jüngsten auf einem Stuhle nieder¬
knien lassen und hielt sie mit den Armen liebevoll umschlungen. Die Kleinen
hatten die Hände gefaltet und sagten die heiligen Worte des Gebetes her, und
die Mutter wiederholte solche im stillen, hatte die Augen zu dein Abbild des
vergöttlichten Schmerzes erhoben und flehte die Vorsehung für ihre Söhne an.
Ab und zu überwältigte der Schlaf die Kleinen, ihre kleinen Blondköpfe sanken
herab, die Augen fielen ihnen zu, und die Worte erstarken auf ihren Lippen;
dann erweckte sie die Mutter mit einem Kusse und flüsterte ihnen den Satz, bei
welchem sie stehen geblieben waren, wieder zu.
Laßt uns gehen, antwortete Josef, indem er so leise sprach, wie die An¬
dächtigen in der Kirche; und Ihr, Doktor, verzeiht mir diese Indiskretion, die
ein Stück aus dem Schatze Euers Familienglücks ausgeforscht hat. Ich bin
ein Profaner, das gebe ich zu, aber ein Profaner, der wohl imstande ist, dies
Paradies zu begreifen.
Mein lieber Herr Devannis, bemerkte scherzend der Doktor; wißt Ihr wohl,
was ich thun würde, wenn ich Anhänger von Galls Schädellehre wäre? Ich
Würde sofort die Knoten auf Euerm Haupte untersuche». Ihr müßt einen gro߬
artig entwickelten Knoten der Vaterliebe haben.
Kann sein! antwortete Josef Devannis ernsthaft.
Jetzt strahlte der herrlichste Mond, der je auf das sehnsüchtige Antlitz eines
verliebten Mädchens herableuchtete. Die Straße, welche sich durch die grüne
Flur des Feldes hinzog, erglänzte wie ein Streifen schneeweißen Leinens; der
mit sanftem Gemurmel dahinmuschende Fluß funkelte von tausend silbernen
Flimmern, welche sich unruhig auf und ab bewegten und seine Wellen umzu¬
wälzen schienen. Das Kurhaus mit seiner hohen Vorderfront lag im Dunkeln,
und aus fünf oder sechs Fenstern schimmerte der rote Wiederschein des hell¬
erleuchteten Kasinos, wo sich die Badegäste versammelt hatten.
Die drei Männer gingen still, in tiefen Gedanken versunken. Josef war
der erste, der das Schweigen brach.
Ihr also, sagte er zum Doktor, als ob er dem Faden der Gedanken, die
ihn bis dahin beschäftigt hatten, folgte, ihr also werdet Eure Söhne zu ebenso
vielen Gläubigen machen?
Cerci blieb stehen, sah dem Fragenden ins Gesicht und blieb einen Augen¬
blick die Antwort schuldig. Dann sagte er: Warum stellt Ihr eine solche
Frage?
Weil darunter ein sehr ernstes Problem liegt, woran ich schon verschiedne
male gedacht habe, ohne die Auflösung zu finden, und weil ich gern die Gründe
kennen lernen möchte, durch die Ihr, wie das Faktum zeigt, zu dieser Auflösung
gekommen seid. In meinem Nomadenleben, in welchem ich gezwungen bin, ohne
Ruhe und Rast wie der ewige Jude und unter den Peitschenhieben einer krank¬
haften Aufregung hin und her zu schweifen, habe ich mich selbst doch schon oft
gefragt, welche Regel ich, vorausgesetzt, daß es mir gelänge, irgend wo festen
Fuß zu fassen und eine Familie zu begründen, meinen Söhnen gegenüber im
Punkte der Religion beobachten würde. Sollte ich sie ganz und gar dieses
Trostes, der doch, wie ich zugeben muß, das menschliche Gemüt erhebt und auf¬
richtet, berauben, oder sollte ich eine Heuchelei begehen, wenn ich sie in einem
Glauben unterrichtete, den ich selbst nicht habe?
Der Doktor unterbrach ihn: Und wer sagt Euch, daß ich diesen Glauben
nicht habe?
Was? Ein Arzt?
Auch ein Arzt kann unter dem Messer des Anatomen, der Analyse des
Chemikers Gott erkennen. Allerdings hat die Wissenschaft heutzutage materia¬
listische Tendenzen, die Physiologie will in ihrem ungemessenen Stolze die
Psychologie verschlingen, und der Materialismus verschluckt die Ontologie. Die
Physikalisch-chemischen Kräfte trachten darnach, die Seele zu zerstören, und die
allgemeinen, notwendigen Gesetze, welche zugleich mit den, Stoffe und seinen
Kräften bestehen, haben den Schöpfer entthronen wollen. Nur der ewige, un-
zerstörbare Urstoff mit allen Fähigkeiten der höchsten Potenz, soll der alleinige
Oberherr, soll Gott sein. Aber mit allen diesen subtilen Erklärungen erklärt
die Wissenschaft garnichts; und es mag recht fein klingen, wenn sie den Geist
eine Neurosie, das Denken eine Absonderung des Gehirns, den Verstand die
allervollkommenste Materie nennt; das menschliche Bewußtsein empört sich da¬
gegen und weiß, daß alle diese herrlichen physikalisch-chemischen Kräfte, wenn
man sie noch so sehr in Bewegung setzt, doch nicht hinreichen, um einen
Menschen oder überhaupt irgend ein Wesen hervorzubringen, weiß, daß alles
ein großer Unsinn ist, wenn man einen letzten Grund ausschließt. Auch die
Gründe des Materialismus sind Hypothesen, viel leichtsinnigere Hypothesen
als die der Ontologie; dahin gehört zum Beispiel die Hypothese von den in
den Urstoffen versteckten Kräften, welche sich bald entwickeln, bald nicht. Alles
dies wird uns von unserm menschlichen Hochmut eingeblasen. Weil wir den
großen Plan der Schöpfung nicht begreifen — und wie sollten wir ihn be¬
greifen, wir, die wir nur einen unendlich kleinen Teil davon bilden? ich möchte
einmal eine Ameise hören, wie die über das Dasein auf Erden räsonuirte! — so
verachten wir diesen Plan, stoßen uns an eine Ungereimtheit, welche es aber
nur relativ, das heißt mit Rücksicht auf unsern höchst beschränkten Verstand
ist, und zerstören die Welt des Geistes, um nur die Welt der Materie be¬
stehen zu lassen, da wir dann wenigstens die siolze Genugthuung haben, das
letzte und vollkommenste Produkt zu sein, und dann verfällt man unvermerkt auf
andre Ungereimtheiten und gelangt schließlich zu der Absurdität, daß das ganze
Universum unnütz sei. Dieser Nutzen des Universums wird in den ontologischen
Hypothesen, wenn auch nicht handgreiflich erfaßt, so doch in logischer Weise
begriffen; nach den Hypothesen der Materialisten kann er garnicht existiren.
Ihr seid ein Arzt und sprecht wie ein Theologe, sagte Josef. Ich ziehe
meine» Zweifel von vorhin zurück. Von Euerem Standpunkte war die Lösung
der von mir gestellten Frage sehr natürlich, aber was würdet Ihr denn einem
Vater, der sich nicht in eben solchem Gnadenzustande wie Ihr befindet, für
einen Rat geben können?
Ganz denselben. Die Erziehung und der allererste Unterricht gehören
notwendigerweise und von Rechtswegen zu den Aufgaben der Mutter; einen
wesentlichen Teil dieser Erziehung bildet der Religionsunterricht, mithin muß
die Mutter das Bewußtsein in sich fühlen, ihn ihren Kindern zu erteilen.
Denn das Weib hat den Glauben, wie es die Liebe hat. Ich weiß nicht, ob
die bürgerliche Korruption soweit vorgeschritten ist, daß es atheistische Frauen
giebt. Wenn dem so wäre, so würde ich Euch raten, macht ja keine von ihnen
zu Eurer Lebensgefährtin und zur Mutter Eurer Kinder. Die Wissenschaft
mag den Verstand des Mannes befriedigen, nie wird sie dem Gemüte des
Weibes genügen; wehe dem Weibe, welches keinen Glauben hat! Aber warum
fragt Ihr mich denn überhaupt, Herr Devannis? Ihr habt ja selbst die Antwort
auf Eure Frage soeben erst durch Eure eigne Rührung erhalten, als Ihr dem
Abendgebete meiner Buben zuschautet! Ihr habt gefühlt, daß in jenem mütter¬
lichen Amte etwas Heiliges, Erhabenes, Ehrfürchtiges liegt, und Eure Seele
war gerührt. Sagt mir doch, ob dies auch ein materieller Eindruck war und
ob es in Euch der Inbegriff der physisch-chemischen Kräfte gewesen ist, die
davon berührt wurden?
Die Freunde waren jetzt im Kurhause angelangt. Der Wiederhall der
Tanzmusik im Kasino breitete sich durch die langen Korridore in immer näher
kommenden Tonschwingungen aus. Als unsre drei Freunde den ersten Stock
bestiegen hatten, konnten sie mitten unter den musikalischen Tonwellen mich
fröhliche menschliche Stimmen und lantes Gelächter hören. Am Ende des
langen Korridors öffnete sich eine Terrasse, hier standen große Vasen mit
Oleandern, das Silberlicht des Vollmondes fiel herein, und oben an dem tief¬
blauen Himmel glänzten die funkelnden Sterne. Manches Pärchen hatte den
heißen und hellerleuchteten Tanzsaal verlassen und suchte in der frischen Nacht¬
luft dieser offnen Terrasse Kühlung und Erholung. Einige helle Damenkleider
wandelten langsam in anmutigen Geflüster zwischen den Oleandern. Am
Horizonte erschien in tiefem Schwarz das Profil des nahen Kamins der
Apenninen.
Als Cerci, Paul und Josef bis zu dieser Terrasse gekommen waren, be¬
schlossen sie sich zu trennen.
Ich überlasse Euch nun den Verführungen des Tanzes, sagte der Doktor,
ich mache jetzt meine Krankenbesuche.
Wenn es Euch nicht zuviel Mühe macht, erwiederte Josef, so führt mich
jetzt gleich auf mein Zimmer. Der Tanz hat garnichts Verführerisches mehr
für mich, und Paul hat meine Gesellschaft nicht nötig, um der Gräfin Beldoni,
die ihn erwartet, die Stirn zu bieten.
Ach, richtig! sagte Paul. Das hatte ich ganz vergessen.
Gut Glück! rief Josef lachend; ich werde ja hören, wie die Schlacht abläuft.
Und ich, fügte Cerci hinzu, werde dich abholen, wir gehen dann ganz
prosaisch nach Hause und legen uns zu Bett.
Paul blieb mithin allein auf der Terrasse. Der Tanz hatte wieder be¬
gonnen, alles war in den Saal geeilt. Die Hauptthttre desselben ging auf
deu Korridor, aber man konnte auch aus der Terrasse in ein dazwischen¬
liegendes Zimmer mittelst eines großen, in der Regel durch ein Glasfenster
verschlossenen Bogeneinganges in den Saal selbst gelangen. Dieses Glasfenster
stand ausnahmsweise offen, und Paul, der sich an eine der obenerwähnten
großen Vasen lehnte, konnte seinen Blick bis in den Saal hinein senden. Und
nun sah er vor der Zuschauergruppe, die sich in einer Thüröffnung gebildet
hatte, die tanzenden Paare vorbeifliegen und Haare, Blumen, Gesichter, Schleier
und Kleiderfalbeln in dieser heißen Atmosphäre wie einen Wirbel der ver-
schiedcnartigsten Elemente sich hin und her bewegen. Und als vollkommenster
Gegensatz dazu lag rings um ihn Feld und Flur im tiefsten Schweigen ver¬
sunken, und die Stille der Nacht wurde nur hie und da durch das scharfe und
durchdringende Gezirpe der Grillen auf den Wiesen unterbrochen.
Obwohl Pauls Blicke stets auf dieses ausgelassene Drängen und Treiben
gerichtet waren, so waren doch seine Gedanken fern von dem Schauspiele.
In seiner Phantasie erschien das entzückende Bild einer schwarzgekleideten Frau,
welche langsam, ernst, anmutig im Mondesschein wandelte, so wie er erst wenige
Stunden vorher Rinci das Thal, welches jetzt zu seinen Füßen lag, hatte durch¬
schreiten sehen.
Dies Bild hatte sich seinem Gehirne dargestellt und es unwillkürlich ein¬
genommen. Er fuhr zusammen, denn es nahm festere Gestalt an und formte
sich in einen Namen, der in seinem Kopfe wiedertönte, als wenn sein Schutz¬
engel ihn seiner Seele eingehaucht hätte: Rina! (Fortsetzung folgt.)
Der englische Oberst Colborne, der dem Stäbe
des Generals Hicks angehörte, aber kurz vor der Katastrophe von El Obeid wegen
Erkrankung seinen Abschied nahm, hat einen Teil seiner Tagebücher veröffentlicht,
Aufzeichnungen, denen wir einiges, was den nächsten Rückzugsweg der ägyptischen
Garnisonen und die kürzeste Straße für Truppen zu ihrer Unterstützung im Sudan
schildert, in Auszügen entnehmen. Es ist die Reise zu Kameel, die er im Juli
vorigen Jahres von Berber nach Suakin unternahm, und die er hier sehr anschau¬
lich schildert. Er schreibt darüber:
Nach einer viertägiger Nilfahrt von Chartum kam ich in Berber an, wo ich
dem Dampfboote Valet sagen und durch die Wüste nach dem Roten Meere weiter
gehen mußte — im Monat Juli nichts weniger als eine Vergnügungstour. Berber
ist eine GrnPPe von Lehmhütten mit spärlich dazwischen gebauten Häusern, die
etwas besseres sein wollen. . . . Als ich den hohen Akazien und Palmen der Stadt
den Rücken kehrte und mich der Wüste zuwendete, kam mir der elende Ort mit
seinen schwarzbraunen Töchtern, die nichts am Leibe tragen als einen schmalen
Schurz von Ledcrstreifen, welche am untern Ende mit Bleikügclchen beschwert sind,
immerhin noch wie innerhalb des Kreises der Zivilisation gelegen vor. . . . Wir
brachen um sieben Uhr abends ans. Die Gesellschaft bestand außer mir in einem
gleichfalls kranken ägyptischen Offizier, zwei Baschibozuks, die mir Hicks als Eskorte
mitgegeben, und den Kameeltreibern vom Stamme der Bischarin mit sieben Kameelen,
von denen drei für mich und das Gepäck bestimmt waren, während die andern
Säcke mit Durrah und Wasserschläuche trugen. . . . Die Bischarin sind schöne, hoch¬
gewachsene Leute, mager, aber sonst wohlgebaut. Sie haben regelmäßige blendend¬
weiße Zähne, was teils von ihrer einfachen Diät, teils von der Gewohnheit kommt,
unaufhörlich Rcikiwurzel zu kauen. Wie die andern Araber des östlichen Sudan
tragen sie das Har lang und verwenden einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit darauf,
es in die Höhe zu kämmen und mit Hammeltalg zu pomadisireu. Ihre Kleidung
besteht in einem Stück weißer Leinwand, das sie um die Hüften winden und oben
über die Schultern schlagen. Jeder trägt ein breites, gerades Schwert, einen kleinen
Schild aus Flußpferd- »der Rhinozeroshaut und in der rechten Hand einen Speer.., .
Nach einem dreistündigen Marsche in ostnordöstlicher Richtung von Berber lagerten
wir uns für die Nacht bei Bir Mahobeh, wo sich ein großer, mit Steinen einge¬
faßter Brunnen befindet. Hier füllten wir unsre Schläuche mit Wasser; denn
zwischen diesem Punkte und Obok giebt es keinen Tropfen. Am nächsten Morgen
betraten wir die Wüste. Zuerst Passirte unsre kleine Karawane noch einige Strecken,
die mit grobem Grase und stachlichten Mimosen bewachsen waren, dann führte unser
Weg über eine weite Ebene bedeckt mit rötlichein Sand und Kies; immer dürftiger
wurden die gelblichgrauen Halme und Krautstengel, und zuletzt hörte alle Vegetation
auf. Wir machten an einer Stelle Halt, wo diese Ebene vor einem Wirrsale von
stets beweglichen Flugsandhügeln endigt. Am Morgen begannen wir die Passage
dieser wandernden Dünen, des beschwerlichsten und gefahrvollsten Teils der 280
^englische^ Meilen langen Wüstenstrecke zwischen Berber und dem roten Meere.
Mit Mühe wateten die Kameele durch den tiefen Sand, der unter jedem ihrer Tritte
nachgab. An diesem Tage war die Luftspiegelung mit ihren Schcinbildern von
außerordentlich täuschender Kraft und Wirkung. ... Oft sind Reisende dabei zu¬
grunde gegangen, indem sie Wasser zu erblicken oder ferne Höhen ganz in der
Nähe zu sehen wähnten, weshalb die Araber die Erscheinung Bachr Esch Scheitau,
d. h. Satausmeer nennen. . . . Einmal wurde eine Abteilung ägyptischer Truppen
durch diese Wüste uach Berber geführt, während die Luftspiegelung besonders in¬
tensiv erschien. Die Soldaten glaubten die Berge von Obok, wo Quellen sind,
in geringer Entfernung vor sich zu haben und bald erreichen zu können, und so
tranken sie trotz aller Warnungen der Führer ihren Wasservorrat aus. Aber die
nahen Berge zogen sich während des Weitcrmarsches immer mehr zurück, und die
Hitze war schrecklich. Bald sank einer erschöpft von Glut und Durst zu Boden,
andre folgten, und nach einigen Stunden kämpfte die Mehrzahl in grauenvoller
Weise mit dein Tode.
Wir blieben, erzählt Colborne weiter, diese Nacht oder vielmehr einen Teil
derselben zwischen den Wellen und Senkungen dieses Flugsandmeeres, und ich dankte
Gott von Herzen, als ich am folgenden Morgen fand, daß mein Kameel festern
Boden betrat und wir in eine Ebne von ähnlicher Beschaffenheit gelangten, wie
die, welche wir passirt hatten, bevor wir in die Dünenregion gekommen waren.
Endlich hörte die Straße auf und wir erreichten Obok. Diese kleine Oase hat
gegen dreißig Quellen, deren Wasser brackig und kaum trinkbar ist. Die Brunnen
füllen sich unablässig, und man gräbt fortwährend neue. Ehe wir diesen Halteplatz
erreichten, kamen wir an Vielen Gräbern von Leuten vorüber, die in der Wüste
umgekommen waren. Man hatte sie im Umkreise mit Steinen belegt. Sie stimmten
trübe als einfache Denkzeichen einfachen Lebens, dem einsames Sterben ein Ziel ge¬
setzt hatte. Ferner passirten wir uoch vor Obok einen seltsamen Granitblock, dessen
unterer Teil von den daran hinstreifendeu Flugsandwcllcn in der Weise abgeschliffen
worden ist, daß er die Gestalt einer Birne bekommen hat. Diese wohlbekannte
Landmarke wird von den Arabern Abu Odfa genannt. Einige Meilen weiterhin
stießen wir auf eine andre Felsmasse, die ebenfalls wunderlich geformt war und
wie jene einsam in der Wüste stand.
Nachdem wir El Bot oder Obok verlassen, hatten wir abermals eine Stunde lang
in tiefem Sande zu waten, bevor wir wieder ans kiesigen Boden traten. Es ist
eine Ebne, die gleichermaßen ohne Wasser und Pflanzenwuchs ist, auf der sichs
aber weniger beschwerlich reist. Dieselbe wird nach ihrem östlichen Ende hin, wo
sie Wadi Ed Darut heißt, immer schmaler. Hier ruhten wir aus, dann reisten wir
weiter, wobei wir den Dschebel Gurrat in der Ferne zur Rechten hatten. Ehe wir
an diesem Punkte eintrafen, durchschritten unsre Kameele das düstere Thal von
Bernb. Hier bemerkte ich ein Rudel von Eseln, flinken, zierlichen Geschöpfen mit
grauen Rücken und weißen Bäuchen, die, als wir uns ihnen näherten, sofort
davongaloppirten. Ob sie ursprünglich zahm gewesen und sich erst bei Gelegenheit
in die biblischen „wilden Esel in der Einöde" verwandelt hatten oder von Geburt
aus wild gewesen waren, weiß ich nicht zu sagen. Sie schienen aber, abgesehen
von einigen Antilopen, die einzigen vierfüßigen Bewohner dieser Wüste zu sein,
und von beflügelter Geschöpfen begegneten wir nur vielen Geiern und einigen
Birkhühnern, die sich in der Nachbarschaft einer Quelle aufhielten. . . . Wir strengten
unsre Kameele aufs äußerste an und setzten unsre Reise nach kurzer Rast die
ganze Nacht hindurch fort. Um sechs Uhr morgens kamen wir in Ariab an. . . .
(Hier stießen die Reisenden auf schwarze Sudanesen mit .langen Speeren, die
auf dem Kriegspfade nach dem von Osman Digma bedrohten Sinkat waren, aber
sie ließen die Karawane des Obersten unbelästigt.) Unser Lagerplatz, so erzählt
dieser weiter, war unter einem niedrigen Hügel zu unsrer Rechten. Wir fanden
hier einen Brunnen und eine Quelle mit ziemlich gutem Wasser. Dieser Punkt
bezeichnet die Grenze zwischen den Gebieten der Bischarin und des Stammes der
Hadendana. Die letztern sind reicher und mächtiger, sie besitzen außer Kameelen
auch andres Vieh und bauen in der Gegend von Kassala Durrah und selbst etwas
Baumwolle. . . . Wir verließen die Stelle an dem niedrigen Hügel und der Quelle,
die Roah heißt, und verfolgten den gewundenen Pfad, der zwischen niedrigen
Felsen uach dem 14^ Meilen entfernten Kokreb cmporführt. Letzteres erschien
uns nach der langen Wüstenreise wie ein Eden, denn es besitzt eine köstliche reichlich¬
sprudelnde Quelle und einige Vegetation. Wir waren auf der ganzen Reise bisher
bergauf gestiegen und hatten jetzt eine Höhe von 2300 Fuß über dein Meere
erreicht. Nachdem wir von Kokreb aufgebrochen waren, Passirten wir eine Berg¬
kette von wilder Schönheit. Der gewundene Paß führt in ein dürres, baumloses
Thal hinab, dessen Sohle mit Brocken von Porphyr- und Trappmassen in male¬
rischer Verwirrung bestreut ist. Es sieht wie ein schauerliches Zauberbild aus,
wie wenn Giganten hier mit Felsstücken Kegel geschoben hätten oder Seine Sa¬
tanische Majestät mit einer Anzahl guter Freunde einen Tanz excludirt hätte und
die Ballgesellschaft Plötzlich durch den Spruch eines Höhern in Stein verwandelt
worden wäre.
Wir machten in Ahab oder O Habdil Halt. Weiterhin folgt eine Ebne, auf
der steinigtcr Boden mit Stellen wechselt, wo eine dünne Humusdecke grobes und
dürftiges Gras und Kraut nährt. Die Ausläufer der niedrige» Felsenkamme auf
der nördlichen Seite schießen wie Sporen in die Ebne hinein, welche sparsam mit
verkrüppelten Mimosen und unheimlich gestalteten Drachenbäumen besetzt ist. Auch
begegneten wir hier dem Karaib, einem Baume, der mit seinen flügelförmigen,
stachlichten und gezähnten Zweigen in seltsamem Einklange mit seinem Standorte
in der Wildnis steht. Indem wir die Ebne verließen, betraten wir ein wieder
aufwärtsführeudes enges Thal, das zuerst nach Nordosten und dann nach Osten
lief und uns in einigen Stunden nach der Wasserscheide zwischen dem Nil und
dem roten Meere, dem höchsten Punkte der ganzen Straße, 2870 Fuß über dem
Spiegel der See, brachte. Dasselbe verengerte sich zu einer Schlucht, durch die wir
nach Haratri kamen, wo wir zwei Brunnen mit gutem Wasser fanden und für die
Nacht ein Lager bezogen. Die Felsen starren hier wie gigantische, dunkle, grimme
Riesengebilde empor. An der ganzen Route hin erheben sich granitne Zacken und
solche von Porphyr und Grünstein, und alle bieten eine bis jetzt noch unerklärte
Erscheinung dar. Welche Farbe sie auch haben, alle sind mit einer Art Palma,
einer schwarzen Haut bedeckt, die ihnen ein düsteres, abschreckendes Aussehen verleiht
und die ganze Gegend höchst unheimlich macht. Jenseits Haratris betraten Wir
eine noch schauerlichere Region, wo die ungeheuern schwarzen Felsklumpen in der
tollsten Verwirrung umherlagen und Scitcuschluchten in ein chaotisches Labyrinth
von phantastisch geformten Klippenfragmenten blicken ließen, die aufeinander ge¬
schichtet waren. Als wir diese Gegend Passirten, brach ein fürchterlicher Gewitter-
sturm über uns herein. Derselbe überfiel uns ganz plötzlich. Unaufhörlich zuckte
und blitzte die Wolke, Feuerstrahl auf Feuerstrahl fuhr am Erdboden hin und durch
die Felsschluchten zur Seite und erleuchtete deren dunkle Klippen und Zinken mit
bläulichem Lichte. . . . Acht Stunden, nachdem wir von Haratri aufgebrochen waren,
trafen wir in O Oched ein. Dann folgte die Straße schmalen, von niedrigen
Felswänden eingefaßten Schluchten, die zuletzt zu einem Engpasse zusammentraten,
der sich in eine weite Ebne öffnete. Dann wieder Sandwehen zwischen steinernen
Buckeln, einzelnen krüppelhaften Bäumen und einigen Brunnen mit gutem Wasser,
wo wir uns lagerten. Darauf eine weitere Schlucht unter Felscnsporeu, von denen
einer dicht mit Gebüsch bewachsen war. Von diesem hinabsteigend, wandten wir
uns von neuem durch labyrinthische Schluchten. Von hier an ging die Straße
stetig bergab und nach Osten, woran ich erkannte, daß wir uns dem langersehnten
Ziele, dem User des roten Meeres näherten. Am Rande eines Thalkessels machten
wir Halt. Am nächsten Morgen entzückte uns ein herrlicher Sonnenaufgang über
den zackigen Höhen, die uns einschlossen. Wieder überschritten wir Ausläufer kahler
Berge, die von zahlreichen Schluchten durchschnitten waren. Noch einmal rasteten
wir, dann brachen wir uach Bir Hcmdnk ans. Die Gegend trug denselben Charakter
wie zuletzt, vegetationsleere Chors und Hügelkämme, uur standen hier die Mimosen¬
büsche unten dichter als bisher. ... In Handuk schienen die Araber geneigt, die
Karawane zu belästigen, unterließen es aber. Vier Tage darauf fand der erste
Angriff auf Sinkat statt, und die Revolte hatte anch hier begonnen. (Von Handuk
gelangte Colborne wohlbehalten nach dem zwölf Meilen von dort entfernten
Sucikin — der letzte Europäer, der von Berber dahingcrittcn war.)
Da die Frage, ob die Engländer durch Absenkung eines Hilfskorps nach
Berber dieses und Chartum zu retten vermocht hätten, wenn Gladstone sich im
März dazu entschlossen hätte, in England jetzt viel erörtert wird, fo fügen wir
dem obigen die Beantwortung derselben von einem Sachkundigen hinzu, die wir
im vint^ relessiaxli finden. Der Verfasser, welcher den kurzen Feldzug Gradaus
mitmachte, widerlegt nach seiner Erfahrung in überzeugender, wenigstens schwer zu
bestreitender Weise die Meinung, daß der Marsch einer Abteilung britischer Reiterei
durch die Wüste zwischen Suakin und Berber wegen Wassermangel und aus vielen
andern Ursachen unmöglich sei, indem er in der Hauptsache folgendes bemerkt:
Die Entfernung Sualins von Berber wird von einigen auf 250, von andern
auf 280 »ngliM Meilen geschätzt. In friedlichen Zeiten ist der Weg zwischen
beiden Orten eine häufig betretene Karawanenstraße, die auch von Europäern oft
benutzt wird. Herr Augusto Michell, ein Italiener, der in Chartum ein kauf-
närrisches Geschäft besitzt, hat die Tour wohl zwanzigmnl gemacht. Bei ihm und
andern, welche hier gereist waren, habe ich sehr genaue Erkundigungen eingezogen,
mich kenne ich den Weg bis Sibil aus persönlicher Beobachtung, und alles, was
ich als Begleiter der Rekognoszirungsritte Geueral Herbert Stewards sah, überzeugte
mich, daß einem Marsche nach Berber hier kein Hindernis entgegenstehen könne.
Mit einem Kamel legt man die Strecke in hundert Stunden oder acht Tagen
zurück, und als die einzige bedenkliche Stelle auf der gauzen Reise gilt der Weg
dnrch die wasserlose Wüste zwischen Obok und Berber, die etwa siebzig Meilen
lang ist. ... Das Itinerarium des Herrn Michelis lautet kurz: 1. Tag: 3 Stunden
von Sucikin nach Hcmduk, wo reichlich Wasser zu haben ist. 2. Tag: 7 Stunden
uach Sibil, wo gute Brunnen sind. 3. Tag: 18 Stunden über Arrata (Quellen)
nach Kokreb, wo drei Brunnen mit gutem Wasser. 4. Tag: 15 Stunden bis
Hariab, mit schlechtgebauten Brunnen, aber vorzüglichem Wasser. 5. Tag: 1,3 Stunden
Weges bis Obok, wo sich Wasser in Fülle findet. Dann ist es noch dritthalb
Tagereisen bis Berber, wahrend deren die Karawanen da Halt machen, wo Futter
für ihre Kamele wächst, und wo man, hauptsächlich in den Chors hinter den Berg¬
zügen zur Seite, einige arabische Hütten und Dörfer antrifft.
Vor dem Treffen von Tcunai hatte General Stewart sich sorgfältig überlegt,
ob die Truppen oder ein Teil derselben bis Berber vorrücken könnten, um Gordon
zu unterstützen und die Anhänger des Mahdi im Nilthale einzuschüchtern, und
dieser Plan schien damals so ausführbar, daß die Offiziere jeden Tag über die
dazu am besten geeigneten Leute, deren Ausrüstung, Versorgung mit Lebensmitteln,
überschüssige Pferde u. dergl. Untersuchungen anstellten. Nach dem Siege bei Tcmiai
rückte, wie man sich erinnert, die Reiterei bis zu den Quellen von Handuk, 3 Meilen
von Sucikin, vor, und alle Welt glaubte, dies solle nur die erste Station für eine
berittene Truppe von 500 bis 1000 Maun auf dem Marsche nach Berber sein. . . .
Gräsern war nach den Berichten der Kundschafter überzeugt, daß vom Feinde kein
ernsthafter Widerstand zu befürchten sei. Man sah nach dem Sattelzeuge, striegelte,
tränkte und fütterte die Pferde und erwartete jeden Augenblick den Befehl zum
Aufbruch. . . . namentlich am 13. März, wo Vollmond eintrat, der nächtliche Märsche
begünstigte. Alles Erforderliche war vorbereitet. Um Wassermangel zu vermeiden,
sollte zunächst nur eine Abteilung vou 500 Reitern ohne Infanterie abgesandt
werden. . . . Später sollte, wo nötig, ein Trupp von gleicher Stärke folgen, der in
den Brunnen ebenfalls das genügende Wasser gefunden hätte. In der That, die
Generäle Grahcim, Butter und Stewart sowie die Obersten Clery und Taylor,
mit denen ich die Sache besprach, schienen keinen Zweifel zu hegen, daß eine Reihen¬
folge von Detcichements, jedes 500 Mann stark, rasch bis Berber vorgeschoben
werden könne. Man nahm an, daß die Hadendauci nicht genug Leute zusammen¬
bringen könnten, um 500 Reiter aufzuhalten. Das Gebiet dieses Stammes erstreckt
sich auf dieser Route uur bis Hariab, wo die Bischarin ihn als Wächter derselben
ablösen, die uns damals nicht feindselig waren, vielmehr als wohlgesinnt betrachtet
werden konnten. . . . Die Kunde von dem, was im Gange war, verbreitete sich unter
unsern Mannschaften, und die meisten zeigten großen Eifer, sich an dem Ritte zu
beteiligen. Man wußte, daß Stewart seinen Plan für denselben dem Obergeneral
vorgelegt hatte, und daß dieser und Admiral Hewett ihn der Negierung empfohlen
hatten. Aber Tag ans Tag verfloß, ohne daß die Erlaubnis zum Aufbruch ein¬
getroffen wäre. Die Mondscheinnächte blieben unbenutzt, aber noch immer hätte
der sternenhelle Himmel des Sudan nächtliche Märsche ausführen lassen. Als
General Stewards Regimenter um diese Zeit eine Rekognoszirung nach Olav und
Tcnubuk unternahmen, waren die Soldaten schon mehrere Stunden vor Sonnen¬
aufgang auf dem Wege. Die erwähnten beiden Ortschaften sind Stationen auf der
Straße nach Sibil, und an beiden fand sich fiir die Kavallerie Wasser in Überfülle,
Die Araber leisteten an diesem Tage nicht den geringsten Widerstand, und als wir
am Nachmittag nach einem Ritte von mehr als dreißig Meilen wieder im Lager
eintrafen, hatten weder Mannschaften noch Pferde gelitten.
General Stewart, ein sehr geeigneter Beurteiler der Angelegenheit (er und
General Drury-Löwe hatten die fliehenden Ägypter nach dein Siege bei Tel El
Kebir so hitzig verfolgt, daß sie in etwas mehr als 24 Stunden über 70 Meilen
zurückgelegt hatten), hat wiederholt versichert, daß er feine 600 Reiter in sechs
Tagen von Suakin nach Berber zu bringen imstande sei. Er hatte bestimmt, daß
jeder Mann 20 Pfund Lebensmittel ans dem Marsche mit sich führen dürfe. Die
Pferde sollten nach dem herkömmlichen Maße gefüttert und getränkt werden, und
jedes ledige Pferd sollte Fourage, Munition und, sobald es nötig würde, Wasser
in Schläuchen tragen, auch gelegentlich als Ersatz für müde gewordene oder gefallene
Tiere verwendet werden. So viele Leute als möglich sollten mit der langen Büchse
bewaffnet werden, und in die Listen der zur Expedition empfohlenen Mannschaften
wurde auch die berittene Infanterie des Kapitän Humphrey aufgenommen. Es war
nicht außer Berechnung gelassen worden, daß man auf dem Marsche Extrarationen
für die Leute in Gestalt von frischem Fleische, desgleichen Durrah für die Pferde
von den Arabern kaufen konnte. Indes bedürfte man solcher Beihilfe keineswegs,
um auf einen erfolgreichen Marsch hoffen zu können. Ich habe bereits angedeutet,
daß General Stewards Plan zum Teil darin bestand, daß die Truppen vorzüglich
bei Nacht marschiren sollten, und für diesen Zweck hatte man zuverlässige Führer
ausgewählt. Bis Hariab würde uns wahrscheinlich der Sohn Mahmud Abif oder
einige von den mit uns Verbündeten Fadlahs als Wegweiser gedient haben.
So begierig manche sich nach dem Aufbruche sehnten, hätten wir die Lage
Gordons genan gekannt, so würde unser Eifer gewiß noch größer gewesen sein und
noch stärker unsre Ungeduld, als die Erlaubnis ausblieb. Wenn man die Sache,
die unsre Gedanken so ganz und gar in Anspruch nahm, mit den kommandirenden
Offizieren besprach, drückten sie ihr Erstannen aus, daß der Befehl zum Abmarsch
sich so lange verzögerte und die Regierung zu keinem Entschlüsse kam. Niemand
wußte eine bestimmte Erklärung zu geben. Man riet nur auf eins: Gordons
Stellung war von der Art, daß er einer Unterstützung durch britische Truppen von
Suakin her entraten konnte. Major Chermside, der kurz zuvor von Kairo in
Suakin eingetroffen war, und den man mit der politischen Mission beauftragt hatte,
die noch nicht feindseligen Araberstämme der Gegend uns zu Bundesgenossen zu
gewinnen, sprach mit der größten Entschiedenheit den Wunsch ans, ohne Verzug
sich nach Berber begeben zu können. Er sagte mir, die Regierung habe ihn an¬
gewiesen, mit einer Karawane oder Eskorte von Eingebornen aufzubrechen. Er für
seine Person glaube, ja wisse, daß die Straße jetzt für eine Gesellschaft von zehn
gutberittenen Leuten vollständig offen und gefahrlos sei, und es sei sein innigster
Wunsch, mit dieser Zahl als Begleitung sofort die Reise anzutreten. Was auch
General Grahnm bei näherer Betrachtung der Sache von der Ausführbarkeit des
Projektes gedacht haben mag, im März mit einer Streitkraft von 500 Reitern
durch die Wüste zwischen Suakin und Berber zu marschiren, ich bin sicher, daß er
und die meisten Oberoffiziere es damals für ein solches gehalten haben, das einem
Soldaten wohl anstehe. Die Kaufleute in Suakiu und die mit der Lcmdesnatur
bekannten Eingebornen empfahlen das Unternehmen als ein solches, welches geeignet
sein würde, die Arciber zu beruhigen. Seit meiner Rückkehr nach England habe
ich verschiedene Militärs von hohem Range gesprochen, die alle der Meinung waren,
daß man mit einem Rcitergeschwader leicht nach Berber hätte Vordringen können,
und wenn ich Lord Wolseley nicht mißverstanden habe, so hat er niemals auch nur
den geringsten Zweifel gehegt, daß ein solcher Zug dnrch die Wüste unter Füh¬
rung Herbert Stewards gelungen sein würde. Wir alle begreifen jetzt zu spät,
daß diese einfache Expedition Berber, Chartum und den großherzigen Gordon ge¬
rettet hätte.
Der Schluß von dieser Betrachtung auf die Versicherungen Gladstones in der
hier zu beurteilenden Angelegenheit ergiebt sich von selbst.
Strafkammern. Der obengenannte Antrag ist von den fortschrittlichen Abgeordneten
Mnnckel und Leuzmnnn kürzlich im Reichstage eingebracht und zunächst zur Be¬
ratung an eine Kommission verwiesen worden. Da zur Begründung desselben nicht
nnr juristische, sondern auch politische Gesichtspunkte geltend gemacht werden, so
wird eine Erörterung der Frage in den einer nichtfachwissenschaftlichen Zeitschrift
gezogenen Grenzen auch für nichtjuristische Kreise Interesse bieten.
Bekanntlich hat die Reichsjustizgesetzgcbung in Zivilsachen die Berufung gegen
alle in erster Instanz erlassenen Endurteile zugelassen, während sie dieselben in
Strafsachen auf die Urteile der Schöffengerichte (die mit einem rechtsgelehrten
Richter und zwei Laien besetzten Gerichte niederster Ordnung) beschränkt. Der
Regierungsentwurf hatte nach Einholung der Ansicht der verschiedenen Bnndes-
stacitcn, insbesondre Badens, Württembergs, des Königreichs Sachsen, Oldenburgs
und Hamburgs, welche schon früher mit Beseitigung der Berufung vorgegangen
waren und ihre Erfahrungen darüber als günstige bezeichnet hatten, die Berufung
in Strafsachen, als mit dem mündlichen unmittelbaren Verfahren unvereinbar,
überhaupt nicht in das System aufgenommen, und nur mittelst eines Kompromisses
wurde dem aus der Mitte des Reichstages (von den Abgeordneten Struckmcmn,
or. Mayer, Dr. Volk, Hauck und Pfafferott) gestellten Antrage auf Einführung
der Berufung gegen die Urteile der Schöffengerichte und der Strafkammern insoweit
Folge gegeben, daß nunmehr die Berufung gegen die Urteile der Schöffengerichte
zugelassen wurde. Die Urteile der Strafkammern sind also nach dem bestehenden
Prozeßrechte „inappellabel."
Von den jetzigen fortschrittlichen Vertretern des Antrages auf Wiedereinführung
der Berufung wird zu seiner Begründung vorgebracht, daß die Strafkcunmerurteile
zu schwerem Mißtrauen in die Rechtsprechung der rechts gelehrten Gerichte Anlaß
geben, daß die Richter ihrer Neigung zum Verurteilen im Bewußtsein der Un¬
anfechtbarkeit ihrer Sprüche ohne genügende Begründung nachgeben, daß der An¬
geklagte infolge des ihm hänfig beiwohnenden Mangels an Verständnis erst durch
die Entscheidungsgründe des ihn verurteilenden Erkenntnisses über die Tragweite
der gegen ihn erhobenen Anklage aufgeklärt werde und nun infolge des Mangels
eines ordentlichen Rechtsmittels uicht mehr in der Lage sei, die ihm vielleicht
schon vorher bekannten, von ihm aber im Bewußtsein seiner Unschuld für über¬
flüssig erachteten Beweismittel zu seinen Gunsten geltend zu machen. Zum Beweise
der Richtigkeit dieser Behauptungen werden dann die seit dem 1. Oktober 1379
(dem Eiuführungstermine der Justizgesctze im Reiche) im Wege des Wiederauf¬
nahmeverfahrens ergangenen, die erstinstanzlichen Strafkammerurteile aufhebenden
freisprechenden Urteile angeführt.
Was nun die letzteren — eine im Verhältnisse zu der Zahl der jährlich
erlassenen Urteile übrigens verschwindend kleine Summe — anlangt, so muß in
erster Linie darauf hingewiesen werden, daß die überwiegende Mehrzahl derselben
auf der Produktion neu aufgefundener Beweismittel beruht, diese aber erst nach
einem längern Zeitraume, als der der Berufungsfrist sein würde, aufgefunden
worden sind, daß also für diese Fälle das Bestehen der Berufung völlig gleich-
giltig gewesen wäre. Was die Behauptung betrifft, daß die rechtsgelehrten Richter
eine hervorragende Neigung zum Verurteilen haben, so wird diese Ansicht aller¬
dings von den meisten Verurteilten geteilt werden; daß sie aber richtig sei, dafür
haben wir außer der Behauptung der betreffenden Antragsteller keinen Beweis.
Von einer Unanfechtbarkeit des Strafkammerurteils kaun ebenfalls nicht gesprochen
werden, denn einerseits steht gegen dasselbe die Revision zu, wenn auch nur auf
die Verletzung einer Rechtsnorm begründbar, andrerseits ist durch das Rechts¬
mittel der Wiederaufnahme des Verfahrens ein weitgehendes Rechtsmittel gewährt.
Dasselbe kann auf falsche Beweismittel, Amtspflichtverletznngen, Aufhebung eines
grundlegenden zivilgerichtlicher Urteils, neue Thatsachen oder Beweismittel gestützt
werden, ist an keine Frist gebunden und kaun, wenn nur von dem Angeklagten
oder zu seinen Gunsten von der Staatsanwaltschaft erhoben, kein härteres als das
frühere Urteil herbeiführen. Einer mangelhaften Begründung seines Urteils sich
deswegen eher schuldig zu machen, weil dasselbe nicht mit der Berufung ange¬
fochten werden kann, wird einem Richter wohl schon sein Pflichtbewußtsein ver¬
bieten; ein Berborgenbleiben etwaiger Mangelhaftigkeit seiner Entscheidungsgründe
kann er nebenbei schon deswegen nicht hoffen, weil das Urteil sowohl im Wege
der Revision als auf andre Weise (Visitation u. s. w.) zur Kenntnis der höhern
Behörde gelangen kann. Der Vorwurf, daß der Angeklagte erst durch den Gang
der Verhandlung und den Inhalt des Urteils über den Schwerpunkt der gegen
ihn erhobenen Anklage unterrichtet werde, enthält in der Hauptsache die Be¬
hauptung, daß dem Angeklagten durch das crstinstcinzliche Verfahren nicht genügende
Gelegenheit zu sachgemäßer Verteidigung geboten werde, daß er demgemäß durch
eine zweite Instanz die Möglichkeit erhalten müsse, seine Versäumnisse nachzuholen.
Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, daß nach der bestehenden Prozeßordnung
dem Angeschuldigten vor der Hauptverhandlung die von der Staatsanwaltschaft
verfertigte Anklageschrift, welche die That, die Beweismittel und die anzuwendenden
strafgesetzlichen Bestimmungen enthält, zugestellt wird, auf welche er sich zu erklären
hat, ob er eine Voruntersuchung oder einzelne Beweiserhebungen vor der Haupt¬
verhandlung beantrage, daß zwischen der Ladung zur Hauptverhandlung und dieser
eine Frist von mindestens einer Woche liegen muß, und daß, wenn in der Haupt¬
verhandlung eine andre als die in der Anklage gegen ihn geltend gemachte Ge¬
setzesbestimmung in Frage kommt, er auf diese besonders aufmerksam gemacht werden
muß, auch Wegen ungenügender Vorbereitung die Vertagung der Verhandlung
bewirken kann. Abgesehen von diesen Sicherungsmaßregeln kann man aber Wohl
bei den meisten, auch den ganz ungebildeten Angeschuldigten annehmen, daß sie
alle zu ihrer Verteidigung dienlichen Angaben wohl kennen und sicherlich sobald
als möglich geltend machen, ebenso wie man von Gericht und Staatsanwalt mit
Recht annehmen kann, daß sie alle Mittel anwenden, um die Wahrheit an den
Tag zu fördern, und nicht, wie es nach der Begründung der Antragsteller den
Anschein gewinnen muß, mit vereinten Kräften auf die Verurteilung des Ange¬
klagten, sei dieser schuldig oder nichtschuldig, hinarbeiten. Will man aber noch
ausgedehntere Maßregeln zu allseitiger, umfassendster Vorbereitung und Verteidigung
des Angeschuldigten treffen, als solche die bestehende Prozeßordnung schon enthält
— und diese ist nicht karg in solchen Vorschriften —, so wird gegen solche Ma߬
regeln von den Gerichten und Staatsanwälten keinerlei Einwendung erhoben werden.
Was gegen den eingebrachten Antrag auf Wiedereinführung der Berufung
spricht, ist bei der Beratung der Justizgesetze im Reichstage geltend gemacht worden;
es ist insbesondre die Erwägung, daß mit dem Prinzip einer auf mündlicher
Verhandlung beruhenden Urtcilsfälluug, und zwar einer solchen, die nicht auf
Grund positiver Beweisregeln, sondern auf freier Bcweiswürdigung beruht, die
Berufung grundsätzlich unvereinbar ist. Will man ein andres, mit den Grund¬
sätzen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit vereinbares Rechtsmittel als das in
der bestehenden Gesetzgebung gegebene der Wiederaufnahme des Verfahrens, so
kann dieses Rechtsmittel konsequenterweise nur ein solches sein, welches die vollständig
neue Verhandlung der ganzen Sache und eine wiederholte vollständige Beweis-
crhebnng vorschreibt, denn andernfalls würde man der aus den Akten geschöpften
Auffassung des Bernfungsrichters den Vorzug vor derjenigen des Richters erster
Instanz einräumen, obgleich diese auf Grund der lebendigen, vor ihm abgehaltenen
Verhandlung gewonnen wurde. Die gegenwärtig bestehende Berufung gegen
Urteile der Schöffengerichte mit ihrer Mischung aus schriftlichen und mündlichem
Verfahren ist allerdings eine Inkonsequenz; dies ist aber nicht der Fehler des
Negicrungsentwurfs, sondern, wie oben gezeigt, eine Folge des durch den Antrag
der Kommission notwendig gewordenen Kompromisses. Will man die konsequent
durchgeführte Berufung einführen, so wird sich hiergegen in den Kreisen der Richter
kein erheblicher Widerstand geltend machen; nur muß man dann aber auch wirklich
konsequent zu Werke gehen, also insbesondre auch dem Staatsanwalt die Berufung
gewähren, denn es ist kein Grund abzusehen, warum sich ein Gericht uicht auch zu
Gunsten des Angeklagten sollte irren können; für eine bloße Vermehrung der
Möglichkeiten aber zu sorgen, daß auch ein schuldiger Angeklagter ungestraft durch¬
verteidigt werden kann, ist kein Grund vorhanden. Ist eine Bcrufuugsinstanz die
unabweisbare Forderung eines gerechten Strafverfahrens, so ist eine weitere Kon¬
sequenz die, daß auch gegen die Urteile der Schwurgerichte sowohl dem Staats-
anwalt als dem Angeklagten die Möglichkeit der Berufung gegeben sein muß, weil
nach den eignen Einräumungen der Verteidiger dieses Jnstitus selbst ein Schwur¬
gericht irren kann. Da selbstverständlich den Parteien weiter die Möglichkeit ge¬
geben sein muß, beurteile,: zu können, ob ihr Vordringen die genügende Würdigung
durch das Gericht gefunden hat, um ermessen zu können, ob von einer zu er¬
hebenden Berufung ein andres Ergebnis der Verhandlung zu erwarten sein wird,
diese Möglichkeit aber nur durch dem Urteile beigegebene Entschcidungsgrttude
gewährt werden kann und solche die Geschworenen aus Mangel an entsprechender
Befähigung uicht geben können, so muß folgerichtig dieses ganze Institut beseitigt
und durch ein rechtskundiges Gericht ersetzt werden, dessen Urteile auf Gründe
gestützt und mit solchen Versehen sind.
Wird die gegenwärtige Agitation für Wiedereinführung der Berufung gegen
die Urteile der Strafkammern dahin führen, bei einer nähern oder fernern Revision
der Prozeßordnung die oben angeführten Konsequenzen sämtlich zu ziehen und
wird sie infolgedessen insbesondre dazu führen, uns von dem absurden Institut
der Geschwornengerichte zu erlösen, so wird der Vorteil ein so großer sein, daß
mit demselben verglichen die Nachteile klein erscheinen werden, welche die allgemeine
Wiedereinführung der Berufung mit sich bringen wird. Sollte diese Agitation
aber einzig das von den Antragstellern verfolgte Ziel erreichen, so würde sie bloß
den vorhandenen Mängeln der Strafprozeßordnung noch einen weitern beifügen
und, weit entfernt, einen Praktischen Nutzen zu schaffen, nur dazu dienen, einer
geordneten und über den Interessen der Verbrecher diejenigen der Gesellschaft und
des Staates nicht vergessenden Rechtspflege zu deu vielen vorhandenen noch ein
weiteres Hemmnis zu bereiten.
Anspruchslos, wie die Fortschrittsherren immer sind, werfen
sie, wenn das Gespräch sich eigentlich um das Wetter oder um die Unfallversicherung
oder welches Thema sonst dreht, die tiefsinnigsten Betrachtungen und die scharf¬
sinnigsten Beobachtungen über weit, weit entlegene Dinge in einem Tone hin, als
wiederholten sie nur alltägliches und allbekanntes. Dem von solchen Geistes¬
funken und Lichtstrahlen geblendeten Hörer wird es zuerst grün und blau vor den
Augen, dann aber sieht er Plötzlich alles in einem neuen Lichte und sinnt und
staunt, während der große Redner schon wieder ganz andre Fragen spielend löst.
So zum Beispiel: „Das Sozinlistcngcsetz hat die der Gesellschaft drohenden Ge¬
fahren nicht abgeschwächt, sondern verstärkt, indem es die bis dahin öffentlich
betriebene Agitation in eine geheime verwandelte." Das wurde nur gesagt, um
unwiderleglich zu beweisen, daß die Verlängerung jenes Gesetzes ein Fehler oder
eigentlich ein Verbrechen sein würde; und nun die verblendete Mehrheit dennoch
der Verlängerung zugestimmt hat, zuckt der Redner die Achseln, wäscht seine
Hände und denkt nicht an jenes Argument. Doch wir gewöhnlichen Sterblichen
kommen uicht so rasch von dem angeregten Gedankengange ab, wir sind die Kärrner,
denen die Könige der Rede und des Leitartikels zu thun geben. Das eine Wort
hat den Schleier zerrissen, deutlich erkennen wir jetzt die Ursache alles Übels. Die
leidigen Gesetze, Verbote, Strafen! Und daß wir diesen Zusammenhang nicht
längst bemerkt haben! Oder will jemand behaupten, daß Moses und Lykurg und
Konsorten mit ihren Strafgesetzen die Menschheit vervollkommnet, die Verbrechen
ausgerottet haben? Im Gegenteil. Bleiben wir aus verschiednen Gründen bei
dem erstern, auch in fortschrittlichen Kreisen anerkannten Legislator. Er verbietet
den Götzendienst, und in der That werden Moloch und Astarte und dem goldnen
Kalbe die Opfer nicht mehr öffentlich dargebracht, und wie die Griechen und
Römer sich Hausgötter aus gebranntem Thon hielten, verehrt der aufgeklärte
Staatsbürger des neunzehnten Jahrhunderts photographische Schönheiten, Eugen
Richter, Ludwig Löwe, Taglicma n. dergl. in. Wer stiehlt oder mordet, wird
bestraft; was ist die Folge? Der arme Mensch, dessen Handwerk nun einmal
stehlen oder morden ist, der kein andres gelernt hat, sieht sich gezwungen, es
heimlich auszuüben. Dadurch wird erstens sein Charakter verdorben. Anstatt
ritterlich den Feind am hellen Tage und Angesicht in Angesicht anzufallen, wie
das in freien Ländern, den glücklichen Republiken Mittel- und Südamerikas
geschieht, lauert er ihm auf, schießt ihn von hinten nieder; anstatt das Geld oder
Gut, dessen er bedarf, dem Eigentümer offen wegzunehmen, bricht er bei Nacht
ein und läuft mit seiner Beute feig davon. In ebenso schlimmer Lage sind wir
andern. In den erwähnten freien Ländern trägt jeder den Revolver schußbereit
überall mit sich herum und weiß, daß er jeden Augenblick in die Lage kommen
kann, seinen Besitz und sein Leben zu verteidigen, während wir uns einem
trügerischen Gefühl der Sicherheit überlassen. Wieviel Unheil wird durch das
Verbot des Brcmdstiftens verschuldet! Wenn der Brandstifter von Beruf sein
Geschäft ohne Furcht vor lästigen Gerichtsverhandlungen, Gefängnis u. s. w. be¬
treiben könnte, könnte auch gleich gelöscht und gerettet werden, es würden nicht
soviel Wertgegenstände und selbst Menschenleben zu gründe gehen, wie jetzt, wo
jenem nichts andres übrigbleibt, als den roten Hahn aufs Dach des Nachbarn zu
setzen, während alles schläft.
So könnten wir alle Gebote und Verbote, sämtliche Paragraphen aller Straf¬
gesetze und Polizeiverordnungen durchgehen, immer würden wir finden, daß ihnen
zum Trotz die Menschheit hurtig geblieben und heuchlerisch geworden ist. Also
fort mit allen Gesetzen, fort mit Gerichten, fort vor allem mit der Polizei, bei
deren Nennung den freien Bürger eine Gänsehaut überläuft!
Christus lehrt auch, daß wir Achtung vor der Obrigkeit haben sollen.
Achtung! Das Kennzeichen des Liberalen von echtem Schrot und Korn ist ja, daß
er jede Obrigkeit haßt und verachtet. Höchstens wird er die eine Instanz zu achten
vorgeben, um eine andre destomehr zu kränken. Und daß die Verunglimpfung
der Behörden zu den höchsten Rechten des Staatsbürgers gehört, ist ja in allen
konstitutionellen Ländern durch Gewährleistung der Immunität förmlich anerkannt.
Aber gerade auf diesem und Nachbargebieten bekundet die Rechtspflege eine Er¬
findungsgabe, welche abschenlich ist. Kaum hat jemand eine Lücke zwischen den
Gesetzesparagraphen ermittelt und benutzt, so soll sie auch schou zugestopft werden.
Einen Verbreiter beunruhigender Lügengerichte hat man wegen „groben Unfugs"
bestraft! Der Mann hatte das Gerücht „von einem, der es ihm selbst gesagt
hatte" — wie konnte er an der Wahrheit zweifeln? Wenn diese Praxis allgemein
wird und noch dazu die Bosheit, den Verbreiter nicht mit einer Geldstrafe, die
ihm ersetzt wird, sondern mit Haft zu belegen: wer zum Kuckuk wird dann noch
Neigung haben, durch Zeitungsartikel den Fortschritt zu fördern? Wenn einer
der Regierung die Absicht andichtet, eine Klasse von Staatsbürgern zu ruiniren,
damit es einer andern wohlergehe, oder wenn er von Machinationen mit andern
Mächten fabelt, oder des Börsengeschäftes halber erfundene Nachrichten in die Welt
schickt u. s. w., so kann dergleichen ja gewiß grober Unfug genannt werden, wenn
auch jener eine sich ans die zuverlässigste Quelle beruft, nämlich auf einen, ders
ihm selbst gesagt hat, und wenn sogar dieser zweite eine mit dem ersten einen
dieselbe Person ist. Unter solchen Zuständen wäre es nicht so leicht, eine Zeitung
interessant zu machen, wie jetzt, und nicht nur in ihrem Geschäfte würden zahlreiche
gewiegte Journalisten benachteiligt werden. Man stelle sich doch vor, daß Herr T
alle die Lügen, welche er seinen Lesern aufzutischen Pflegt, im lieben Gemüte be¬
halten sollte, in kürzester Frist müßte er platzen wie ein Bovist, und uoch dazu
ohne das schöne Bewußtsein, daß die Lügcnsporen, wie die Sporen jenes ehren¬
werten Bauchpilzes, auch nach seinem Tode fortleben und fortzeugen werden.
Hoffentlich werden die Hüter jeder Freiheit bei Zeiten gegen diese Bedrohung
der Lügfreiheit ernstlich einschreiten. Zwar haben sie selbst eben jetzt der Neichs-
regierung zugerufen: „Mehr Strafgesetze! Schütze uus vor dem Dynamik!" Aber
selbstverständlich wollen sie nur an einem neuen Beispiel die Unmöglichkeit, Ver¬
brechen wegzubringen, darthun. Wie mögen sie heimlich über den kurzsichtigen
Kanzler lachen, der ihnen auf den Leim gegangen ist, und mit welcher vernichtenden
Schärfe werden sie ihm das nächstemal die Frage ins Gesicht schleudern: „Hat
das Dyuamitgesetz den Mißbrauch des Dynamits verhindert? Im Gegenteil, jetzt
wird es heimlich fabrizirt, jeder macht sich sein Dynamik selbst."
ur mit knapper Not ist das liberale Ministerium in London vor
einigen Tagen einem Tadelsvotum des Unterhauses entgangen,
das ihm wegen seiner Politik im Sudan drohte, und das, wenn
es durchgegangen wäre, nach englischem Brauch den Rücktritt der
Minister vom Amte zur Folge gehabt haben würde. Nicht mehr
als achtundzwanzig Stimmen betrug das Plus, welches den Ausschlag für die
Firma Gladstone und Kompagnie gab, und mit Bestimmtheit darf behauptet
werden, daß nicht der zehnte Teil der Herren, welche durch ihr „Nein" den
Antrag von Hicks-Beach zu Falle brachten und so den Kabinctsmitgliedern noch
einmal ihr Portefeuille retteten, der Überzeugung gewesen sind, damit der
Gerechtigkeit zu dienen und im Sinne der Mehrheit ihrer Wähler zu handeln.
Solche hohle und innerlich bedeutungslose Abstimmungen sind aber in der letzten
Zeit im Hause der Gemeinen nur zu gewöhnlich geworden. Alle, die Sieger
wie die Unterlegenen, wissen ganz genau, was dieselben eigentlich bezwecken, und
geben sich kaum Mühe, vor dem Auge der öffentlichen Meinung zu verbergen,
daß sie es wissen. Man sah sich an mit dem bekannten Augurenblick, als das
Haus an dem betreffenden Morgen mit jener dürftigen Majorität die Erklärung
abgab, es billige eine Politik, die kaum von andern als Ministern ernstlich
verteidigt worden war, und von der man deutlich fühlte, daß die Nation sie
mit Entrüstung verurteilt. Indes hat die Opposition Ursache, sich über ihre
Niederlage zu trösten. Die Posse der Abstimmung wird Gladstone nach der
Lektion, die ihm die Debatte erteilte, kaum mehr darüber täusche», daß es mit
seiner Sache übel steht. Wir meinen damit nicht so sehr die starken Wahrheiten,
welche Redner wie Lord Churchill, Chaplin, Laing und Goschen bei dieser
Gelegenheit den Ministern ins Gesicht sagten, wir denken nicht sowohl an den
schneidigen Angriff, den die Regierung von feiten Försters, der ihr vor kurzem
noch selbst angehörte, erfuhr; die Hauptsache ist uns die Lehre, welche der
Premierminister aus dem ganz unverkennbaren Mißlingen seiner Verteidigung
gegen jene Angriffe ziehen konnte. Wohl zum erstenmale geschah es, daß er
nicht einmal imstande war, auch nur vorübergehend den Schein hervorzurufen,
seine Zuhörer überzeugt zu haben. Seine Rede blieb, obwohl sie wie immer
voll Leben, Schwung und Feuer war, ohne Wirkung auf das Haus und später
gedruckt auch ohne Einfluß auf das öffentliche Urteil. Der Zauberer schwang
seinen Stab vergeblich, die Geister, die er damit beschwor, kamen nicht, kamen
sowenig, als ob er ein gewöhnlicher Taschenspieler gewesen wäre. Es würde
für England ein großer Vorteil sein, wenn er auf Grund dieser Gefahren zu
der Einsicht gelangte, daß es gewisse Begriffe von Ehre und Pflicht giebt, die
sich auch mit seinen oratorischen Gaben nicht aus dem Herzen der Nation
hinausmanövriren lassen.
Eine Probe der Stimmung, die ihm gegenüber in weiten Kreisen der Be¬
völkerung Platz gegriffen hat, bekam Gladstone schon vor der Entscheidung
des Unterhauses über das beantragte Tcidelsvotnm. Es war bei seinem Be¬
suche der South Kensington-Ausstellung. Als er hier bei seinem Eintritt mit
Zeichen der Verehrung empfangen wurde, erhob sich sofort ein fast allgemeines
Zischen, welches jene völlig übertäubte und geraume Zeit fortdauerte. Bei
seinem Weggange wiederholte sich diese Kundgebung mit gleicher Stärke. Die¬
selbe schien den Minister sehr zu überraschen, zumal da die hier versammelte
Menge keineswegs aus Pöbel, sondern aus den Klassen der Gesellschaft zusammen¬
gesetzt war, welche gute Sitten pflegen und auf Grund ihrer Bildung wissen,
was sie thun. War die Demonstration trotzdem eine Ungebühr, so war sie doch
begreiflich: ein Protest des englischen Publikums dagegen, daß Gladstone und
seine Amtsgenossen in dessen Namen im Sudan eine undankbare und mutlose
Politik betreiben. Wenn man in die rhetorischen Übertreibungen der journa¬
listischen Redeweise einstimmen dürfte, bei denen vergessen wird, daß es einen
Pitt und einen Fox gab, so hätte Gladstone noch vor wenigen Wochen so hoch
gestanden wie kaum ein britischer Minister des Jahrhunderts, und jetzt zischte
man ihn bei der Eröffnung einer Ausstellung schmählich aus wie einen un¬
geschickten Komödianten. Das kam aber nicht daher, daß die ungewöhnlichen
Gaben, die ihn auszeichnen und mit denen er seine Landsleute bisher wie mit
Zauber an sich bannte, irgendwelche Abschwächung erlitten hätten. Seine Meister¬
schaft in glatt dahinfließender, honorer und imposanter Rede ist so groß wie je
vorher, aber es zeigt sich, daß sie es doch zuletzt nicht allein thut. Er ist im
Begriffe, als Staatsmann zu verlieren, was er als redegewaltigcr Parlamen¬
tarier gewonnen und sich jahrelang erhalten hat. Mit Worten mag man kleine
Gruppen von Menschen, Vereine, Versammlungen, Parlamente beherrschen, das
Urteil des Volkes läßt sich am Ende immer nur durch Thaten bestimmen. Wer
solche hinter sich oder bei seiner Ansprache im Auge hat, darf sich auch in
Parlamenten viel erlauben. Wenn z. B. Bismarck zum Reichstage redet, so
macht er, obwohl er kein Redner im landläufigen Sinne des Wortes ist, un¬
streitig mehr Eindruck als die größte Redegabe, die ihm opponire. Man hört
bewußt oder unbewußt den Geist der Geschichte sprechen, die eben aus Thaten,
nicht aus Doktrinen und Phrasen besteht. Er darf selbst Argumente brauchen,
die, von einem andern vorgebracht, wirkungslos bleiben, ja heiter stimmen würden,
er darf halb oder garnicht zu erweisende Thatsachen anführen und sich Über¬
treibungen gestatten, ohne sein staatsmünnisches Ansehen zu gefährden. Man
beurteilt ihn eben nach seiner Gesamtstellung im öffentlichen Leben, nach dem,
was er geleistet hat, nach seinen unvergänglichen Verdiensten um Preußen und
ganz Deutschland. Man vergleiche damit die rasch dahingeschwundene Bedeutung
von parlamentarischen Rednern wie Georg von Vincke, wie Radowitz, Gagern
und Laster, man vergleiche damit Gladstone.
Aber noch ein andrer Vergleich des Nedekünstlers, der die politischen An¬
gelegenheiten Großbritanniens gegenwärtig verwaltet, liegt nicht fern. Unter
den griechischen Handschriften des Erzherzogs Rainer in Wien hat man in
diesen Tagen eine bis jetzt unbekannt gewesene Rede des Jsokrates entdeckt,
und Jsokrates erinnert in mehr als einem Zuge an Gladstone. Der Freund
des Sokrates und des Plato, der Lehrer des Demosthenes, hatte das Verdienst,
der erste zu sein, welcher mit klarem Blick den Wert und Nutzen der An¬
wendung der Redekunst auf das öffentliche Leben und die Angelegenheiten des
Staates einsah. Zu gleicher Zeit aber bemühte er sich, die politische Oratorik
auf gesunde sittliche Grundsätze zu basiren und sie so dem Einflüsse der So-
phistik zu entziehen, die sie zu allen und jeden Zwecken mißbrauchte; denn Jso¬
krates war zwar von den Sophisten Gorgias und Prodikos gebildet, aber später
der erklärte Gegner ihrer Schule. Indes war er keineswegs ganz frei von
ihrem Einflüsse, und was in seinen politischen Vorträgen ganz besonders
deutlich zu tage tritt, ist der Mangel an aller praktischen Kenntnis des wirk¬
lichen politischen Lebens, infolgedessen alle seine schönen Theorien, obwohl sie
ganz wohlgemeint sind, eine starke Ähnlichkeit mit den Träumen eines Schwärmers
haben. Stellen wir Gladstone neben den attischen Redner, so mag jener von
sich rühmen, sich gleichfalls bestrebt zu haben, die politische Beredsamkeit auf
gesunde sittliche Grundsätze zu basiren, aber er wird auch bekennen müssen, daß
er gleichfalls nicht imstande gewesen ist, sich von der Sophistik völlig frei zu
halten. Er unterscheidet sich unleugbar dadurch vorteilhaft von seinem Pro¬
totyp, daß es ihm nicht wie diesem an praktischer Kenntnis des wirklichen po¬
litischen Lebens mangelt, aber seine politischen Theorien haben dieselbe starke
Ähnlichkeit mit den Träumen eines Schwärmers wie die des Jsokrates, oder,
um es deutlicher zu sagen, er ist, wenn wir von seinen Leistungen als Finanz¬
mann absehen, in der Politik, namentlich in der auswärtigen, ein Jdeolog, ein
Phantast. Jsokratcs lebt im Andenken der modernen Welt nicht als Redner,
sondern als Patriot fort. Seine Rhetorik wirkt auf unser Gemüt nur noch
wenig, wohl aber rührt es uns, wenn wir uns erinnern, daß er als hochbe¬
tagter Greis die Folgen der Schlacht bei Chaironeia nicht überleben mochte.
Als solcher ist er eine unvergleichlich imposantere Gestalt als in seiner Eigenschaft
als Verfasser des vielgerühmten „Panegyrikos" mit seinem sorgfältig abge¬
rundeten Periodenbau, auf dessen Glättung er zehn Jahre verwendet hatte.
Gleichviel ob seine politischen Grundsätze klug und praktisch waren, er liebte
sein Vaterland und arbeitete in seiner Weise für die Größe und den Ruhm
Athens, und hierdurch, nicht durch die Schönheit und Fülle seiner rhetorischen
Vlnmen und Figuren, ist er unsterblich geworden. Nun liegt es uns fern,
Herrn Gladstone zu bestreiten, daß er sein Vaterland liebt, und daß er, wie
er sich Ruhm und Größe vorstellt, für den Ruhm und die Größe desselben
arbeitet, aber ebensowenig wird ein Kenner der neuesten englischen Geschichte
bestreiten, daß er für diese Art Arbeit keinerlei Erfolge aufzuweisen hat, und
daß die Zahl derer, die ihm für seine hierher gehörigen Bemühungen Dank
wissen, fortwährend und zuletzt mit reißender Schnelligkeit kleiner geworden ist.
Er begeistert sich für das, was er Freiheit nennt, nicht bloß im Innern, er
will auch dazu beitragen, daß alle Welt frei wird und bleibt, er wollte die
Halbwilden der Balkanländer, die Afghanen und wen nicht noch frei sehen, er
ist abgeneigt, den Mcchdi bei seiner Befreiung des Sudan zu bekämpfen, obwohl
hier wie am Balkan und wie in dem Lande zwischen Britisch-Jndien und
Russisch-Turkestan die „Freiheit" der Eingebornen dem englischen Interesse
schnurstracks zuwiderläuft und in Chartum auch die englische Ehre schwer ge¬
fährdet ist. Eine solche Liebe zur Freiheit, eine solche Sorge für die Freiheit
andrer Völker, die vor zwanzig Jahren auch in Deutschland grassirte und sich
für die Insurrektionen der Polacken, unsrer geschwornen Feinde, enthusiasmirte
— man erinnere sich der Opposition gegen den russisch-preußischen Vertrag
von 1863 im preußischen Landtage — ist Traum und Schwärmerei und
gehört in dieser Eigenschaft in das Narrenschiff der politischen Welt. Sie
mag sich unter den Phrasen der parlamentarischen Beredsamkeit unsrer und
andrer Fortschrittler recht stattlich ausnehmen, aber mit der Größe und dem
Ruhme des Vaterlandes hat sie nichts gemein. Ein Land kann nicht groß und
ehrenvoll dastehen, dessen Regierung sich über die Pflichten hinwegsetzt, welche
ihr die auswärtigen Interessen, die Weltstellung desselben auferlegen, dessen
Minister günstige Gelegenheiten, Notwendiges zu erwerben und Hemmnisse zu
beseitigen, bewußt versäumen und Beauftragte, die sie in gefahrvollen Missionen
ausgesandt haben, im Stiche lassen, weil eine liberale Doktrin sie verblendet und
lähmt, und Gladstone wird bei aller seiner Beredsamkeit seine Landsleute niemals
vom Gegenteile überzeugen. Er hat sein möglichstes gethan, er hat allen seinen
Scharfsinn und alle seine Sophistik aufgeboten, um die Verpflichtung der
Regierung gegen Gordon abzuschwächen, aber die Demonstration in South
Kensington und der einer Niederlage sehr nahekommende Sieg über den Antrag
von Hicks-Beach müssen ihn belehrt haben, daß es jene Künste parlamentarischer
Beredsamkeit nicht sind, die ihm die Stelle am englischen Staatsruder bisjetzt
bewahrt haben.
Die Ablehnung des Tadelsvotums der Opposition bedeutet durchaus kein
unbedingtes Vertrauensvotum. Die Mehrheit erklärte sich für Gladstone und
Konsorten nicht wegen seiner ägyptischen Politik, sondern trotz derselben. Man
sprach deutlich aus, daß dieselbe schwächlich, unsicher, ungeschickt, kurzum ver¬
werflich sei, daß das Land über sie mit Entrüstung den Stab breche, daß man
aber Ursache habe, die Opposition nicht zur Gewalt gelangen zu lassen. Nur
diese Rücksicht bestimmte das Ergebnis des Votums, ohne sie hätten nicht 28 Ab¬
geordnete über die Hälfte des Unterhauses für die Regierung gestimmt, sondern
drei- oder viermal soviele über die Hälfte für die Motion der Gegner Gladstones.
Einzig und allein damit die Wahlreform der Liberalen, die Übertragung des
Wahlrechts auch auf bisher in dieser Hinsicht mundtote Klassen der englischen
Landbevölkerung noch in dieser Session Gesetz werde, durch die jetzt herrschende
Partei Gesetz werde, aus reinem Parteigeist und Parteiinteresse also, fristete
man einer Regierung das Leben, deren auswärtige Politik fast allgemein ver¬
dammt wird, und der man zwar noch keinen direkten Verlust an Macht vor¬
werfen kann, durch deren Irrtümer und Mißgriffe aber die Ehre und das An¬
sehen Großbritanniens offenbar schwer gefährdet sind, was nicht bloß in betreff
des Sudan und Ägyptens, sondern auch von Nordindien und China gilt.
Die Aufregung über das Ergebnis der hier besprochenen Abstimmung ist
in den politischen Kreisen Englands allgemein. Das zeigen deutlich die Äuße¬
rungen der Presse. Selbst die liberalen Blätter der Provinz erklären, die Re¬
gierung habe trotz der Majorität eine Niederlage erlitten; denn erstens hätten
die Mitglieder derselben angestimmt und natürlich gegen das vorgeschlagene
Tadelsvotum, sich also selbst ein Zeugnis des Vertrauens ausgestellt, und zweitens
hätten sich 32 Liberale, welche die ägyptische Politik Gladstones mißbilligten,
der Abstimmung ganz enthalten. Die Aweh schreibt: „Hätten die Minister im
Einklang mit ihrer Überzeugung und den Gefühlen ihrer Wähler votirt, so
wäre augenscheinlich die Majorität zur Minorität geworden. . . . Sie haben
viele Gelegenheiten unbenutzt gelassen und an ihrem Rufe gelitten. Noch ist es
vielleicht möglich, die begangnen Fehler gutzumachen, wenn man zu aufrichtiger,
thatkräftiger und unerschrockener Politik übergeht. Geschieht dies nicht, so wird
die Regierung bald innewerden, daß die neuliche Abstimmung nur der Anfang
vom Ende gewesen ist." Ähnlich äußerte sich der Ltauäm'ä, und noch stärker
andre große Blätter Londons. Sehr gut und wahr ist endlich, was in der
Kölnischen Zeitung in Hinblick auf Churchills Rede über die allgemeine Situa¬
tion bemerkt wird. Es heißt da u. a. von den Cheers, die dessen Rede be-
gleiteten, „sie bezeugten, daß die Zeit, in der man jede beliebige Frage mit
absoluten Prinzipien wie Menschenliebe, Völkerfreiheit, unbeschränktem Parlamen¬
tarismus u. dergl. ohne weiteres Nachdenken lösen zu können vermeinte, unwider-
bringlich dahin ist. Der Gladstonismus ist in England sogut im Niedergange
begriffen, wie in Deutschland die wahlverwandte Prinzipienreiterei der Richter,
Bamberger und Genossen. Man zieht nicht mehr und ausschließlich die großen
Grundsätze der Humanität und Freiheit zu Rate, man fragt sich auch, wie ihre
unbedingte Durchführung die Interessen der Völker und die erhaltenden Kräfte
des Staates berührt." Nach dem oben entwickelten können wir uns dieses
Urteil von Anfang bis zu Ende rückhaltlos aneignen.
le bedeutendsten Schriftwerke, die aus den Kreisen der Humanisten
hervorgingen, waren satirischer und ironischer Art mit dem Zweck,
die Schäden in Kirche, Staat und Gesellschaft aufzudecken und
zu heilen. Erasmus schrieb ein Lob der Narrheit; Thomas Morus
setzte der entarteten Welt einen platonischen Idealstaat entgegen,
der in Wirklichkeit nirgends zu finden war; Sebastian Braut belud sein Schiff
aus Narragonien mit Repräsentanten menschlicher Thorheiten und Verkehrtheiten;
gelehrte und witzige Spötter aus dem um Reuchlin und Hütten gescharten
Kreise entwarfen in den „Briefen der Dunkelmänner" eine der Wirklichkeit so
entsprechende Karikatur von der Dummdreistigkeit der Klostergeistlichen in ihrem
eignen Küchenlatein, daß die Gezeichneten den Schalk anfangs garnicht merkten
und das Buch empfahlen und verbreiteten, gegen das dann die Kirche vergebens
Bannflüche aufbot. Selbst das uralte Tierepos vom Reineke Fuchs wurde im
Geiste der Zeit umgearbeitet und gestaltete sich zu einem satirischen Spiegelbilde
der Gegenwart.
Janssen verkennt diese Richtung des Humanismus keineswegs, aber er trennt
denselben in eine ältere und eine jüngere Schule. „Die älteren Humanisten
hatten das klassische Altertum von dem Standpunkte der absoluten Wahrheit des
Christentums aufgefaßt und dasselbe in den Dienst des Glaubens gestellt, der
jüngere Humanismus war der Urheber einer folgenschweren Revolution auf
geistigen! Gebiete," die zur „sogenannten Reformation" führte. Eine solche
Unterscheidung ist historisch ganz unzulässig. Die Häupter des Humanismus,
ein Erasmus und Reuchlin, ein Braut und Gener von Kaisersberg, ein Hütten
und Celtes waren alle Zeitgenossen, lebten und wirkten alle in den letzten Jahr¬
zehnten des fünfzehnten und in den ersten des sechzehnten Jahrhunderts. Alle
wandelten in den Fußtapfen der Italiener und verfolgten dasselbe Ziel, die
faulen, verlotterten Zustände in Kirche, Staat und Gesellschaft zu beleuchten
und, soweit ihre Kräfte reichten, eine Besserung herbeizuführen, die Zeitbildung
„menschlicher" zu gestalten, dem entarteten Geschlechte einen Spiegel vorzuhalten.
In der großen humanistischen Gemeinde, welche ihre Mitglieder unter allen
Klassen der europäischen Kulturwelt zählte, gab es Männer von verschiedner
Naturanlage und verschiednen Temperamente, und so waren denn auch die Wege,
die sie einschlugen, und die Waffen, mit denen sie kämpften, verschieden. Sie
zogen getrennt ins Feld, fochten aber gegen denselben Feind. Und dieser Feind
lag geborgen in dem Labyrinthe des kirchlichen Organismus, in der Möncherei
und Scholastik, in dem Kurialsystem, das ihnen nicht wie bei Janssen mit dem
Christentum identisch war. Seit der Ruf nach einer Besserung der Kirche an
Haupt und Gliedern, welcher die gemeinsame Parole der großen Konzilien ge¬
wesen, unerhört geblieben und erfolglos verhallt war, hatte die reformatorische
Opposition kein andres Schlachtfeld als die Literatur und die Polemik des
Wortes. Allerdings schlug der Stadtsyndikus und kaiserliche Rat von Stra߬
burg, Sebastian Braut, eine andre Tonart an als der geniale Literat Erasmus
und der feurige Pamphletist Hütten. Der morose philisterhafte Standpunkt,
von dem aus Braut die Welt anschaut, trägt nur wenig Spuren der Sturm¬
und Drangperiode des aggressiven Hnmanistcnbundes an sich. Wenn aber Janssen
das Narrenschiff als ein „im tiefsten Kern religiöses Gedicht" bezeichnet und
den Verfasser einen tief religiösen Dichter nennt, „der alle diejenigen für Narren
ansieht, welche für kurzen Gewinn und flüchtigen Genuß die ewige Glückseligkeit
aufs Spiel setzen," so trifft er doch neben das Ziel. Braut schöpft sein Ideal
eines religiös-sittlichen Menschen keineswegs aus Thomas von Aquino, sondern
aus der praktischen Tugendlehre des Altertums, aus Plato und Aristoteles.
Er behandelt die Laster und Fehler nicht als Sünden, die den Geboten der
Kirche entgegen sind und darum von Gott gestraft werden, sondern als Thor¬
heiten, die der menschlichen Vernunft widerstreben und die man daher schon im
Gefühle der Menschenwürde ablegen müsse. Bei aller Ehrfurcht vor Religion
und Christentum rügt er doch die Entartung des Klerus, die verderbliche Werk¬
heiligkeit und die träge Zuversicht auf Gottes Barmherzigkeit ohne eigne An¬
strengung. Ihm hat nur die Weisheit Wert, die der Seele Ordnerin ist und
den Menschen zum Menschen macht. Darum ist Selbsterkenntnis der Mittel-
Punkt seiner Morallehre, darum weist er beständig auf die Griechen hin, deren
Praktische Weisheit, frei von Selbstsucht und Eigennutz, edle Freundschaft, gute
Kinderzucht und Vaterlandsliebe erzeugt habe, während jetzt unter dem herrschenden
Egoismus die öffentliche Wohlfahrt zu gründe gehe. Janssen aber sieht die
Sache anders an: „Die ältern Humanisten faßten das klassische Altertum von
dem Standpunkte der absoluten Wahrheit des Christentums auf und stellten
dasselbe in den Dienst des Glaubens. Sie suchten in den Werken der Alten
die tiefreligiösen Grundgedanken, die Nachklänge der Uroffenbarung ans, waren
aber entschiedne Gegner und Vekämpfer heidnischer Weltanschauung und Lebens¬
richtung." Diese Auffassung erinnert an die Romantiker und Symboliker, an
Görres und Creuzer.
Von Erasmus von Rotterdam entwirft Janssen im zweiten Bande seines
Werkes ein sehr anschauliches, wenn auch in einzelnen Zügen verzerrtes
Porträt. Dieser gewandte, vielseitige Schriftsteller gilt ihm als Typus des
übermütigen eingebildeten Literatenbundes der „jüngern" Humanisten, die den
„Kultus des Genius" über Kirchenglauben und Gottesdienst stellten. Man
sieht nicht recht ein, warum der Verfasser, der doch den Cuscmus so hoch stellt,
seine ganze Galle auf das gefeierte Hnmanistenhanpt ausgießt und kein gutes
Haar an ihm läßt. Und doch lassen sich verwandte Züge leicht aufstellen. Cusanus
hielt zur Reformpartei, solange sie von der öffentlichen Meinung getragen war
und auf Triumphe hoffen konnte, und wandte sich dann, als ihr Stern dem
Niedergange zuneigte, der kurialem Sache zu. Und hat nicht auch Erasmus in
seinen spätern Jahren seine Feder dem Dienste der römisch-katholischen Partei
gewidmet und den flüchtigen Hütten, den alten Gesinnungsgenossen und Mit¬
streiter, von seiner Thüre in Basel gewiesen? In erregten tiefbewegten Zeiten
ist es keine seltene Erscheinung, daß ein Saulus zum Paulus wird. Bei
Cusanus vollzog sich diese Metamorphose vollständig: er war am Ende seines
Lebens ein eifriger Papist und Ultramontaner. Eine solche schroffe Umwandlung
hat sich Erasmus nicht zu Schulden kommen lassen. Er folgte nur dem
Beispiel, das weltkluge Leute in wechselvollen, stürmischen Zeitläuften schon ost
gegeben haben und stets geben werden. Er hatte die Saat streuen helfen,
wollte sich aber nicht an der Ernte beteiligen. Ein Martyrium zu ertragen ist
nicht jedermanns Sache. Schon die alten Stoiker beherzigten den Imperatoren
gegenüber den weisen Spruch: schicket euch in die Zeit. Sie priesen die
Großthat Catos, dienten aber doch den siegreichen Göttern.
Aber das „Lob der Narrheit" war doch ein zu starker Schlag gegen das
herrschende Kirchensystem. Darum wird Erasmus auch jetzt noch, trotz seiner
spätern Reue und Buße, von den Ultramontanen in die Hölle gestoßen. Ein
Buch muß aufs heftigste verdammt werden, in welcher die Narrheit, die
mächtige Göttin, die scholastischen Theologen, die Geistlichen und Mönche unter
die getreuesten Diener ihres weiten Reiches zählt, in welchem es von den
damaligen Ordensbrüdern heißt, sie hielten es für ein Zeichen der Frömmigkeit,
wenn sie die Unwissenheit bis zur Unkenntnis des Lebens trieben und glaubten,
wenn sie unverstandene Psalmen herbrüllten, die Ohren der Himmlischen zu
entzücken. Schmutz und Betteln achteten sie für große Tugenden, und über
den wichtigen Fragen, wieviel Knöpfe der Gürtel, welche Farbe die Kutte haben
und wie groß die Kapuze sein müsse, vergaßen sie die christlichen Gebote. Einst
aber werde Christus sprechen: „Woher dieses neue Geschlecht der Juden? Nicht
denen habe ich das Himmelreich versprochen, die in der Mönchskutte einher-
ziehen oder mit Rosenkränzen und Fasten mich anrufen, sondern die die Werke
des Glaubens und der Liebe verrichten." Über die Heuchelei und Anmaßung,
die marktschreierischen Predigten und die Verketzerungssucht der Mönche ergießt
Erasmus alle Bitterkeit des Witzes. Dann geht es an die Bischöfe, die nach
Geld und Gut, nach Pracht und Üppigkeit strebten, statt für das Seelenheil
ihrer Herde zu sorgen, und endlich an die Päpste, die Glanz und Freude für
sich behielten, Mühe und Sorgen dem Petrus und Paulus überließen und von
der Nachfolge Christi ganz abgewichen seien.
In den Augen der Ultramontanen war Erasmus auch „der geistige Vater
des umfangreichen Pamphlets," das uns unter dem Titel „Briefe der Dunkel¬
männer" bekannt ist. Nicht als ob er an der Abfassung Anteil gehabt hätte,
bemerkt Janssen (II, S7), aber ihrem wesentlichen Inhalte nach sind die Briefe
nur das ins Rohe und Persönliche übertragene „Lob der Narrheit." „Das
schmählichste in jenen wie in diesem ist der mit der heiligen Schrift getriebene
Spott. Erasmus mißbrauchte die heilige Schrift zu possenhaften Anführungen,
die »Briefe unberühmter Männer« legten den verhöhnten Mönchen daraus
Stellen in den Mund zur Beschönigung unzüchtiger Dinge. Erasmus, selbst
ohne tiefern sittlichen Ernst, warf sich zum rhetorischen Sittenprediger auf und
machte insbesondre den ganzen Mönchsstand verächtlich, aber er nannte
niemanden beim Namen, seine Nachfolger Crotus und Hütten spritzten den
Schmutz, worin sie wateten, bestimmten Persönlichkeiten ins Gesicht, sogar dem
makellosen Arnold von Tungern, den sie schändliches schreiben ließen und den
sie eines ehebrecherischen Verhältnisses mit der Frau des ihnen verhaßten
Pfefferkorn bezichtigten."
Mit diesen Worten leitet Janssen den Übergang ein zu einem der folgen¬
reichsten literarischen Ereignisse, deren die Weltgeschichte gedenkt, zu dem gro߬
artigen Kulturkampf zwischen den Reuchlinisten und den Kölner Dominikanern,
der sich durch viele Jahre hinzog, an dem nicht nur Kaiser und Reich, sondern
die gesamte gebildete Welt Europas sich beteiligte, und der endlich, als
der Papst allen wettern Federkrieg in der Sache untersagte, schließlich mit
dem Siege der Humanisten endigte, die dann, um sich zu rächen und zugleich
ihr Vorgehen zu rechtfertigen, in den Obskurantenbriefen die Blößen und
Schwächen der Gegenpartei schonungslos in herber Satire aufdeckten. Der
Verlauf und Ausgang des Streites war ein Triumph der Aufklärung und
freien Wissenschaft. Wie wird aber die mächtige nationale Angelegenheit von
Janssen behandelt? In seiner Darstellung erscheint Reuchlin anfangs als ein
schwacher Gelehrter, der nicht recht weiß, wie er sich in dem Gutachten, das
der Erzbischof von Mainz als Reichskanzler ihm abverlangte, benehmen
sollte, der, als der „Augenspiegel" veröffentlicht worden war und Aufsehen
erregte, an die angesehensten Theologen der Kölner Universität, Tungern, Collin,
Hochstwten, entschuldigende Briefe schrieb mit der Versicherung, „daß er in
treuen: Glauben verharren wolle und Irriges zu verbessern bereit sei." Erst
allmählich hätten sich die destruktiven Geister, der Humanisteukreis der „Poeten,"
der Sache bemächtigt und Reuchlin mit ihren Netzen umstrickt, und nun sei
„unter der Einwirkung streitsüchtiger und kirchenfeindlicher Männer eine völlige
Änderung seiner Stellung wie seiner Sprache eingetreten." Er habe nicht nur
seine Behauptungen aufrechtgehalten und die Kölner indirekt in spitzen Be¬
merkungen angegriffen, er habe sich auch der deutschen Sprache bedient, um
seine Ansichten unter dem Volke zu verbreiten. Den in lateinischer Sprache
verfaßten ruhig und würdig gehaltenen Schriften der Kölner habe der gereizte
Gelehrte Schmähungen, Verleumdungen und ehrenrührige Beschuldigungen
entgegengestellt. Seitdem sei Reuchlin von der Poetcnlegion als Fahnenträger
ihrer Sache, als der „siegreiche Herkules über die barbarischen Ungeheuer"
gefeiert worden. Die lautesten Rufer seien Crotus Mutianus und Ulrich vou
Hütten gewesen, ihr Triumphgesang die höhnische Satire der Episteln, durch
welche ehrbare, würdige und rechtschaffene Männer dem Spotte der Freigeister
und des literarischen Pöbels preisgegeben worden seien. Zu diesen übermütigen
Schöngeistern habe sich auch der Kurfürst Erzbischof Albrecht von Mainz ge¬
halten, der Hütten in seine Dienste gezogen und gleich den Mediceern seinen
Hof zum „Sammelplatz von Humanisten und Künstlern" herangebildet habe.
Vor einigen Jahrzehnten gingen aus dem Heerlager der Jesuiten Geschichts¬
bücher hervor, in denen die Verbreitung der französischen Revolution in deu
Rheingegenden hauptsächlich dem Mainzer Erzbischof Karl Josef von Erthal
Schuld gegeben wurde, weil er den Aufklärungsideen gehuldigt, Toleranz geübt
und mehrere literarische Berühmtheiten protestantischen Glaubens wie Johannes
Müller, Forster, Sömmering, Heinse in seine Nähe berufen. Man sieht: „Alles
wiederholt sich nur im Leben." Die Ultramontanen sahen die Quelle der
Sündflut und des Umsturzes nicht in dem Verderbnis und Ärgernis, das
vorausgegangen, sondern in den böswilligen Agitationen einiger Aufwiegler und
unruhigen Köpfe. Aber die Flamme greift nur dann um sich und wird un-
auslöschbar, wenn sie reichliches Brennmaterial vorfindet.
Während in den lateinischen Gedichten der Humanisten ein lebendiger, wenn
auch nicht schwunghafter, doch die Luft reinigender Geist wehte, ging die epische
Ritterpoesie einem raschen und tiefen Verfall entgegen. Ein bitterer Klageton
durchzieht die Verse eines Teichner und Suchcnwirt, daß die echte Minne mit
ihrer Treue, daß Rittersinn und Edelmut aus der Welt geschwunden, daß an
die Stelle der alten Kraft und Biederkeit Raubsucht, Wucher, Spiel- und Trink¬
lust und weichliches „Verliegen" getreten seien. Als Wohldiener und Schmeichler
der Großen zog Michael BeHeim von einem Fürstenhof an den andern, ohne
Lohn oder dauernden Lebensunterhalt zu gewinnen. Als hungernder Schma¬
rotzer verweilte er am Hofe Friedrichs des Siegreichen in Heidelberg und der
österreichischen Erzherzoge. Als Herolde und Wappendichter fristeten die fah¬
renden Sänger der Zeit ein kümmerliches Dasein, verachtet und vor die Thüre
gestoßen. Und auch die Lyrik, die sich in die Reichsstädte flüchtete zu den
„Meistern des Handwerks," war für Herz und Phantasie dürr und öde, wie
lobenswert und ehrenhaft auch die Bestrebungen der bürgerlichen Sänger sein
mochten. Diesen Verfall der Poesie erkennt auch Jenssen an, er meint aber,
man würde irre gehen, wenn man daraus auf eine „Erlahmung des dichterischen
Vermögens im Volke" schließen wollte. Die schöpferische Kraft sei noch vor¬
handen gewesen und hätte neue Kunsterzeugnisse hervorbringen können, „wenn
nicht im sechzehnten Jahrhundert eine gewaltsame Störung der geistigen Kultur
eingetreten wäre."
Die „Poesie im Volke" ist eins der anziehendsten Kapitel im ersten Bande
des Jcmssenschen Geschichtswerkes und enthält viel Schönes und Wahres. Den¬
noch fühlt man auch hier die Parteitendenz heraus. Indem er das Volkslied
und die geistliche Dichtung dem fünfzehnten Jahrhundert zuschreibt und aus
einzelnen Strophen des reichen Liederschatzes die fromme, christlich-religiöse Ge¬
sinnung darlegt, will er die Verdienste Luthers um den deutschen Kirchengesang,
der von protestantischer Seite mit Recht so hochgestellt worden, herabziehen.
Freilich kann er nicht umhin, einzugestehen, daß in dem katholischen Kultus
niemals der deutsche Kirchengesang einen Teil der Liturgie gebildet habe, daß
nur lateinische Hymnen gesungen worden seien; aber er sucht aus mehreren
Beispielen zu beweisen, daß die vom Volke gesungenen Lieder einen christlich¬
religiösen Inhalt gehabt hätten, der „Erguß eines glaubensfreudigen Herzens"
gewesen seien. Allerdings hat die gütige Gottheit dem deutschen Volke einen
tiefen Born poetischen Gefühls in die Seele gelegt, aus dem zu allen Zeiten
ein reicher Liederschatz hervorströmte. In diesen Liedern aber fanden alle Stim¬
mungen und Empfindungen ihren Ausdruck, es waren Naturlaute, in denen sich
der momentane Gemüts- und Seelenzustand in Worten und Tönen kundgab
oder auch vorherrschende Zeitrichtungen zum Ausdruck kamen. Daß diese Kund¬
gebungen des innern Lebens mehr wehmütig, elegisch, ernst waren, die Freude
nur selten in Dithyramben und Jubelhymnen erschallte, zeugt nicht von einer
heitern, gehobenen Stimmung, nicht von einer zufriedenen Weltanschauung; viel¬
mehr geht daraus die Trauer hervor, daß das Erdenleben soviel Leid in sich
trage. In solchen Seelenzuständen wendet sich bei allen Menschen das Gemüt
dem Göttlichen und dem Ewigen zu, und die Christenwelt sucht es in den Vor-
Stellungen, die ihr durch die Kirche zugeführt werden, wie es die Heidenwelt in
ihren Hymnen, in den Aussprüchen ihrer Tragiker gesucht hatte. Diese ethische
Kraft des Volksgesanges der Kirche erworben zu haben, „alles Süße, was
Menschenbrust erhebt," in die volkstümlichen Töne des geistlichen Liedes ein¬
gewebt zu haben, ist die große Errungenschaft der Reformation. Und ist denn
nicht das tiefbewegte Jahrhundert, das man nach diesem mächtigen Ereignis
nennt, der eigentliche Mutterschoß, die fruchtbarste Geburtsstätte dieser „Poesie
im Volke" gewesen?
An den lyrischen Kirchengesang reiht Janssen das geistliche Schauspiel, dem
er eine große Bedeutung für die innere Volksbildung beilegt. Er verweilt
dabei am längsten bei dem Spiele „Vom Aufgang und Untergang des Anti¬
christs," wobei es nahe liegt, den Gegensatz der katholischen Kirche zu der Re¬
formation zwischen den Zeilen herauszulesen. Die Ausführung leitet der Ver¬
fasser mit folgenden Worten ein: „Von früher Zeit an gestaltete sich der ganze
christliche Gottesdienst mehr zu einem symbolisch-liturgischen Drama aus. Der
Mittelpunkt des Gottesdienstes, die heilige Messe, ist eine dramatische Gedächtnis¬
feier und eine unblutige Wiederholung des größten und heiligsten Weltschau¬
spiels auf Golgatha. Alle einzelnen Teile stellen den Fortgang der göttlichen
Opferhandlung dar, die sich gleichsam in fünf Akten vor den Augen der an¬
wesenden Mitopfernden entwickelt und die ganze Tonleiter der religiösen Stim¬
mung umfaßt." Es ist nicht zu verkennen und wird auch von Protestanten
nicht geleugnet, daß in den Kultushandlungen der katholischen Kirche manche
poetische Elemente enthalten sind, welche die Phantasie anregen und zur An¬
dacht stimmen. Allein der großen Menge ist diese symbolische Bedeutung des
Meßopfers ein unverständlicher Begriff. Diese denkt sich unter der vom Priester
bewirkten Substanzverwandlung nicht einen symbolischen Akt, sondern einen sinn¬
lich-materiellen Vorgang und wird in dieser Auffassung von der kirchlichen
Dogmatik unterstützt. In dieser Beziehung hatten die Verfasser des Heidel¬
berger Katechismus in der Sache nicht ganz Unrecht, wenn sie mit einem derben
Ausdruck die Transsubstantiationslehre eine „vermaledeite Abgötterei" nannten.
Zu einem Gemälde des innern Lebens am Ausgang des Mittelalters liefert
kein Buch so ergiebigen Stoff, als die alte allegorisch-epische Tiersage von
Reineke Vos, die am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in niederdeutscher
Sprache in Lübeck gedruckt ward und durch die Übertragung Goethes Gemein¬
gut der gesamten gebildeten Welt geworden ist. Umso auffallender muß es er¬
scheinen, daß dieses wichtige Dokument für die Sitten- und Zeitgeschichte mit
wenigen Zeilen abgethan wird. Zu einer Geschichtschreibung, worin erwiesen
werden soll, daß im fünfzehnten Jahrhundert das religiöse und literarische, das
politische und gesellschaftliche Leben im besten Stande gewesen und erst durch
das revolutionäre Treiben des folgenden Jahrhunderts ins Arge verkehrt worden
sei, ist freilich der Reineke Fuchs ein störender Mißton. Liegt ihm doch die-
selbe pessimistische Weltanschauung zu gründe wie der satirischen Poesie der
Humanisten. In dem Tierstaat wird mit grellem Realismus und Naturalismus
der moralische Abgrund geschildert, in den das ganze öffentliche Leben, Staat
und Kirche, Hof und Hierarchie, alle Stände und Gesellschaftsklassen gestürzt
sind. Auf den Papst selbst achtet niemand in Rom, die ganze Macht hat Kar¬
dinal Nimmersatt in Händen; sein Schreiber heißt Johann Partei; Krümmsrecht
ist päpstlicher Notarius, Moneta, Nummus und Denarius sind die zwei Richter
und ihr Sekretarius; durch Weiber und Geld kann in Rom alles erreicht werden,
Bann und Interdikt wie Absolution. Das dichterische Gemälde trägt zu sehr
das Gepräge der Wirklichkeit, als daß es nicht aus der unmittelbaren Wahr¬
nehmung der herrschenden Gebrechen und Laster geschöpft sein sollte.
Als die Hoffnungen, welche die Völker auf das Basler Konzil setzten, durch
das Wiener Konkordat zwischen Kaiser und Papst zerronnen waren, richteten
sich die Bestrebungen der deutschen Patrioten auf eine Reform der Reichs¬
verfassung und des Reichsregiments und auf die Aufrichtung einer Friedens¬
und Rechtsordnung für die zerrissenen und zerrütteten deutschen Lande. Und
hier begegnen wir einem Manne, der in Basel mit Enea Silvio und Cusanus
zusammengegangen, solange sie in den Reihen der Freisinnigen sich bewegten,
dann aber sein ganzes Leben lang ihr entschiedensten Gegner war, dem fränkischen
Rechtsgelehrten Gregor Heimburg. Ein schöner, stattlicher Mann von hohem
Verstand, diplomatischer Gewandtheit und imponirenden Wesen hat er bis zu
seinem Tode (1472) in allen öffentlichen Angelegenheiten eine hervorragende
patriotische Rolle gespielt, ohne jemals seine Grundsätze zu verleugnen. „Gerade
und bieder," so schildert ihn Bachmann in der Deutschen Biographie, „voll echter
Frömmigkeit und echter Treue, glänzte er ebenso dnrch natürliche Begabung wie
erworbenes Wissen, durch die Kunst der Rede und den Scharfsinn des Staats¬
mannes und Juristen." Von dem Papste gebannt, von dem Kaiser verlassen,
blieb er dennoch treu dem Gedanken an eine Regeneration des Reiches, zu
deren Verwirklichung er selbst den Bund mit dem Böhmenkönig Georg Podiebrad
und die Freundschaft des Ungarnkönigs Matthias Corvinus anstrebte. Von
diesem vaterländischen Manne erfahren wir in Janssens Geschichte nichts. Was
konnte auch von einem Staatsmanne und Juristen Gutes kommen, der an den
Reformideen der Basler Väter festhielt, der den von ihren frühern Grundsätzen
abgefallenen Hierarchen Aeneas Sylvius (Pius II.) und Cusanus so energischen
Widerstand leistete? Dagegen füllen die „Reformvorschläge" des Brixener
Bischofs sechs volle Seiten. Sie liefen im wesentlichen darauf hinaus, daß
man die monarchische Zentralgewalt stärken, das Fehderecht durch eine kräftige
Landfricdensordnung abstellen, Reichsgerichte einsetzen, über Heerverfassung
und Steuerwesen Anordnungen treffen und in das Verhältnis zwischen Kaiser
und Reichstag durch gesetzliche Bestimmungen eine feste Ordnung schaffen sollte.
Es waren dies lauter politische Theorien, welche die Notstände der Zeit nahe¬
legten, welche in der Luft schwirrten und mehrere Jahrzehnte hindurch alle
Reichsversammlungen beschäftigten, deren Verwirklichung das eifrigste Bemühen
des Erzbischofs von Mainz, Berthold von Henneberg, war, wie wir aus der
ausführlichen Darstellung dieser Reformbewegung in Rankes Deutscher Geschichte
und in Ulmanns „Kaiser Maximilian I." erfahren. Auch dieser geistliche Fürst,
der die Seele der großen Reformbewegung in den achtziger und neunziger
Jahren war, der auf dem Wormser Reichstag (1495) einen Verfassungsentwurf
durchsetzte, wonach die föderative Gewalt gegenüber der monarchischen auf die
Spitze geführt war, der den Schwäbischen Bund, den ersten Versuch eines solchen
föderativem Organismus der Nation, gründen half, wird in der „Geschichte des
deutschen Volkes" nur gelegentlich mit einigen Worten erwähnt. Die Wormser
Beschlüsse waren von großer Tragweite: sie schufen in dem Landfrieden, in
dem Kammergericht, in der allgemeinen Reichssteuer Institute, die das ganze
Reich zusammenfaßten, aber nicht sowohl unter kaiserlicher Hoheit, als unter
einer ständischen Regierung.
Das Urteil der Historiker, ob eine solche Schwächung des monarchischen
Prinzips durch eine ständische Oligarchie zu billigen oder zu verwerfen sei, geht
nach zwei Richtungen auseinander; daß Janssen in seiner Vorliebe für die
Anschauungen des Mittelalters sich auf die Seite des Kaisers stellt und dessen
Widerstand gegen eine solche Minderung seiner Autorität rechtfertigt, ist be¬
greiflich, kann er sich doch dabei auf viele Aussprüche zeitgenössischer Autoren
berufen. Er erhebt bittere Klage, „daß die Fürsten die Tyrannen der Nation
geworden, die einen obersten Herrscher nicht zu ertragen wußte und nun unter
das Joch so vieler gebeugt sei." Dagegen bemerkt Ulmann, daß bei der da¬
maligen Lage der Dinge der Föderalismus seine Berechtigung gehabt habe.
„Weil heute Stärkung der monarchischen Gewalt nationale Politik ist, sagt
er in der Vorrede, war sie es doch mit nichten zu allen Zeiten unsrer ver¬
worrenen Geschichte. Bei richtiger Schätzung der zu Maximilians Lebzeiten
in der Nation vorhandnen und unter ihre natürlichen Häupter verteilten
Staatskräfte wird man vielmehr zu der Überzeugung gelangen, daß es damals
wahrhaft nationale Realpolitik war, die vorhandnen ständischen Institutionen
zu allgemeiner, jeden Sonderwillen bindender Wirksamkeit auszugestalten."
Der tiefe Grund des Widerstandes der Fürsten und Stände gegen eine
kräftige Zentralgewalt war neben dem Streben nach Ausdehnung ihrer eignen
landesherrlichen Rechte und Machtbefugnisse ein gerechtes Mißtrauen in die
Habsburger Hauspolitik. Diese strebte zu allen Zeiten konsequent nach einer
vom Reiche unabhängigen, selbständigen Stellung der österreichischen Lande. Es
war der kritischen Forschung unsrer Tage vorbehalten, den Nachweis zu liefern,
daß schon Herzog Rudolf IV. (1358—1365), der von seinen Zeitgenossen der
„Stifter" oder der „Sinnreiche" genannt wurde, eine solche Ausnahmestellung
durch gefälschte Urkunden zu begründen suchte, „Gestützt auf diese Privilegien,
sagt der berühmte Staatsrechtslehrer Hermann Schulze in Heidelberg in der
Deutschen Revue, nimmt Rudolf IV, für sich und seine Lande volle souveränes
und eine so unumschränkte Gewalt in Anspruch wie ein absoluter Monarch.
Er ist der oberste Gesetzgeber in seinen Landen, er kann in Ermangelung von
Geblütserben ohne Rücksicht auf die Oberlehnsherrlichkeit des Reiches frei über
seine Lande verfügen, er erhält die freieste Erwerbsbefuguis neuer Länder, auf
welche alle diese Vorrechte von selbst übergehen sollen. Nur dem Namen nach
bleibt der Herzog Vasall des Reiches, er braucht aber seine Lehen nur auf
österreichischem Boden zu empfangen und leistet so gut wie keine Lehusdienste;
als „Pfalz-Erzherzog" hat er alle Rechte der Kurfürsten und kann in jeder
Gefahr vom Reiche Hilfe fordern, aber zu Kriegsdiensten und Geldleistungen
ist er dem Reiche sowenig verpflichtet wie zum Besuche der Reichstage. Er
ist der Reichsgerichtsbarkeit selbst nicht unterworfen und in feinen Landen
der oberste und einzige Gerichtsherr. Jeder Einfluß der Reichsgerichte ist
von den österreichischen Erbländer ausgeschlossen. Bezeichneten diese Privi¬
legien vorläufig auch nur die Tendenz der österreichischen Politik, so wurden
sie doch nach und nach vollständig durchgesetzt und bildeten die Grundlage der
fast souveränen Stellung Österreichs zum Reiche. Diese Stellung, die jeden
Vorteil, welchen die Reichsverbindung gewährte, verschaffte, ohne irgend eine
Verpflichtung aufzuerlegen, hat Österreich durch alle Jahrhunderte behauptet.
In keinem Lande galt die Reichsgewalt sowenig als in den eignen Erbländer
des Kaisers." Auf diese von Herzog Rudolf IV. selbst niedergesehriebenen Ur¬
kunden, die von den spätern Habsburgern immer wieder bestätigt wurden, ist
das ganze österreichische Staatsrecht und seine Staatsgeschichte bis zur Auflösung
des deutsch ^römischen Kaisertums gegründet worden.
War es unter solchen Umständen zu verwundern, wenn die deutschen Reichs¬
stände ihre erworbenen oder angemaßten Territorialrechte in Sicherheit zu bringen
suchten? Wir »vollen dem Partikularismus und den zentrifugalen Bestrebungen
nicht das Wort reden; sie haben Deutschlands Erniedrigung herbeigeführt. Aber
gegenüber einem Herrscherhause, welches nur auf Mehrung seiner eignen Macht und
seiner Lündergebiete bedacht war und dazu die Kräfte des Reiches benutzen wollte,
läßt es sich begreifen und entschuldigen, wenn die Fürsten und Stände sich einem
Habsburger Kaiser nicht mit gebundenen Händen auszuliefern gesonnen waren,
nicht eine Autorität gründen helfen wollten, durch welche ihre eignen Hoheits¬
rechte bald untergegangen wären. Die Wormser Beschlüsse kamen nur un¬
vollkommen zur Ausführung. Österreich entzog sich dem Reichskammergericht,
und das Nürnberger Reichsregiment hatte weder Dauer noch Lebenskraft. „Max
ist schließlich gerade stark genug gewesen, heißt es bei Ulmann, die Organisation
einer beschlußkräftigen und handlungsfähigen Regierung, in die er sich mit den
Ständen hätte teilen müssen, zu hintertreiben; aber er hat keineswegs vermocht,
die verrosteten Prärogativen des mittelalterlichen Königtums zur bewegenden
Kraft wiederum zu erheben." Die anarchischen Zustände, die unter Friedrich III.
obgewaltet und den Ruin des Reiches herbeigeführt hatten, wurden unter
Maximilian nur wenig verbessert. Auch Janssen entwirft ein trauriges Bild
von dieser Zeit des Faustrechts, da die Kriegsfurie durch die deutschen Lande
zog, Leben und Eigentum ohne Rechtsschutz war und nur die Selbsthilfe
Sicherheit gewährte, so sehr auch diese Schilderung mit seiner Geschichtstendenz,
die wir früher kennen gelernt haben, in Widerspruch steht. Das fünfzehnte Jahr¬
hundert endete, wie es begonnen. In der ersten Hälfte war der Ruf nach einer
Reform der Kirche an Haupt und Gliedern unerhört geblieben, in der zweiten
hatte man sich umsonst abgemüht, eine Autorität im Staate zu schaffen, welche
eine „leidliche ehrbare Ordnung im Reich" begründen und eine Wehrkraft gegen
innere und äußere Feinde errichten sollte. Es war eine trübe Periode deutscher
Geschichte, wie wir sie in der Überschrift bezeichnet haben. Die Landeshoheit
der Fürstentümer nahm eine bestimmtere, in sich geschlossene und befestigte Gestalt
an; die Ritterschaft übte ihr altes Fehdewesen; die Städte hatten Mühe, sich
ihrer fürstlichen und adlichen Bedränger zu erwehren und in der allgemeinen
Unsicherheit den Geschäften des Friedens nachzugehen; in den Bauern gährte
es unheimlich. Laut klagte man, daß die Gerichte unredlich oder unfähig
seien, daß des Reiches Acht keinen mehr schrecke, daß nicht Pilger noch
Handelsmann die Straße ziehen könne, daß die entlassenen Landsknechte den
Geist der Kriegslust und des Aufruhrs allenthalben verbreiteten. Zu solchen
entsetzlichen Zuständen war das deutsche Reich gelangt, und keiner konnte ab¬
sehen, wie hier Heil und Rettung zu schaffen sei. Die Mißstünde in der
Staatsverfassung und dem gesellschaftlichen Leben vermischten und vereinigten
sich endlich mit einer noch gewaltigeren Bewegung auf kirchlichem und religiösem
Gebiete. Imi Reformationszeitalter floß die Gährung und Aufregung, das
Ringen auf allen Lebensgebieten in einen mächtigen Strom zusammen.
In diesem mächtigen Strome sieht die „Geschichte des deutschen Volkes"
nur eine revolutionäre Bewegung, welche von der Literatur in die Kirche und
in das gesellschaftliche Leben eindringt. Sind wir in der Auffassung des fünf¬
zehnten Jahrhunderts, wie die obigen Ausführungen darthun, zu verschiedenen
Ergebnissen gelangt, so sei es gestattet, aus dem zehnten Bande der „Allgemeinen
Weltgeschichte" auch über das Reformationszeitalter unsre abweichende Ansicht
zum Schlüsse darzulegen: Es ist eine historische Wahrheit, durch die ganze Welt¬
geschichte bewährt, daß alle großen, ans sittlichen Grundlagen ruhenden Institute,
wenn sie im Laufe ihrer Entwicklung vom ursprünglichen Geiste abgewichen sind
und fremdartige oder ungesunde Elemente in sich aufgenommen haben, einen
inneren Regenerationsprozeß erleiden, durch welchen die späteren Ansätze abge¬
stoßen werden und mittelst einer Rückkehr zu der alten Basis eine neue Ent-
Wicklung versucht wird. Man mag diese Wahrheit Naturgesetz oder göttliche
Vorsehung nennen, immerhin giebt sie Zeugnis von der in der Menschheit lebenden
geistigen Kraft, die nach Erfüllung ihrer Aufgabe ringt, die das heilige Feuer
der Seele ohne Unterlaß hütet und nährt, die den guten und edeln Teil zum
Siege und zur Herrschaft zu führen bestrebt ist. Im irdischen Dasein ist die
geistige Kraft in Körperschranken gebannt, an materielle Fesseln geknüpft, die
sie vielfach hemmen und ablenken, die sie oft falsche Mittel und Wege ergreifen
lassen. Dadurch werden die Ideen im Laufe der Zeit so mannichfaltig um¬
rankt, verdunkelt, entstellt, daß das Nebenwerk die ursprüngliche Gestalt und
sittliche Bedeutung kaum mehr erkennen läßt und ein Reinigungs- und Ver-
jüngnngsakt als notwendige Selbsthilfe von dem Lenker der Menschengeschicke
zugelassen oder hervorgerufen wird. Daß auch bei diesem Prozeß wieder die¬
selben guten und schlimmen Mächte mitwirken und anstreiten, liegt in der Un¬
Vollkommenheit alles Irdischen und Kreatürlichen; aber wer an einen, wenn auch
mitunter verdunkelten und unterbrochenen, Fortschritt der Menschheit zum Guten
und Vollkommenen glaubt, wird in allen diesen inneren und äußeren Lebens¬
kämpfen, in diesem ewigen Konflikte der Werdelust gegen das Bestehende den
notwendigen, naturgemäßen und darum von der Vorsehung gewollten Ent¬
wicklungsgang in der Erziehung des Menschengeschlechtes erblicken. Bei dem
mangelhaften, unvollkommenen Zustande alles Bestehenden und Gewordenen ist
ein Ankämpfen, ein Widerstreit der individuellen Freiheit und menschlichen
Willenskraft gegen die auf Macht und Autorität gegründeten Ordnungen gerecht¬
fertigt und geboten, soll nicht das geistige Ringen und Streben in eine stabile
Form gepreßt, das Seelenleben zu einem starren Dasein krystcillisirt werden.
Das Gesetz der Selbsterhaltung, der Kampf ums Dasein wird dann aus
diesen Konflikten für die menschliche Gesellschaft einen Zustand herbeiführen, worin
die Gegensätze von Autorität und Freiheit entweder ausgeglichen oder zu einem
notwendigen Kompromiß gebracht werden. Dieser Widerstreit der geistigen und
sittlichen Kräfte ist in dieser Welt der UnVollkommenheiten für das Seelenleben
so unerläßlich wie dem Körper das Atmen; aber es giebt in der Weltgeschichte
Momente der Erregung, wo alles zu erhöhter Thätigkeit drängt. Solche Mo¬
mente brechen nicht so plötzlich hervor, sie sind nur das Überschäumen des
Gefäßes, in dem allmählich der flüssige Stoff gesammelt worden war. Sie be¬
dürfen zu ihrem Hervortreten oft nur eines kleinen Anstoßes; aber sie müssen,
sollen sie anders zu fruchtbringenden Resultaten führen, eine vorbereitete Zeit,
ein empfängliches Geschlecht und eine geschickte leitende Hand vorfinden. Wenn
die Zeit erfüllt ist, dann wird die Arbeit der Regeneration unter der Führung
einer mächtigen Persönlichkeit stets zu einer durchgreifenden Verjüngung und
Lebenserneuerung gelangen.
Die kirchliche Bewegung ist nur einer der Faktoren in dem allgemeinen
Aufcrstehungsprozeß dieser gewaltigen Zeitperiode; auch andre Seiten des
geschichtlichen Lebens haben Umgestaltungen erfahren: im westlichen Europa
ist die Feudalherrschaft gebrochen und zersetzt worden; selbst in dem viel¬
gestaltigen deutschen Reiche wurde eine Rechts- und Verfassungsform geschaffen,
die wenigstens das fürstliche Fehderecht und die ritterschaftliche Anarchie unter
ein Landfriedensgesetz beugte; auf allen Gebieten der Wissenschaft und Kunst
wurden dauernde Eroberungen gemacht; der Entdeckungsmut kühner Seefahrer
hat der menschlichen Thätigkeit und Regsamkeit unbekannte Regionen erschlossen.
Und dennoch wird diese ganze mächtige Zeit mit richtigem instinktiven Takt und
Verständnis als das „Zeitalter der Reformation" bezeichnet, und keine klügelnde
Kritik und Kleinmeisterei, keine tendenziöse Geschichtschreibung hat diese Be¬
zeichnung aus der Weltgeschichte zu verbannen vermocht. Die kirchliche Re¬
formation bildet den Herd, auf dem die ganze Glut des heiligen Feuers gesammelt
ward, auf dem sich alle Strahlen der Begeisterung und des Seelenlebens konzen-
trirten, wo alle Bestrebungen und Kräfte, welche die neue Zeit begründeten,
ihren Ausgang nahmen, ihre Impulse erhielten. Auch in dem Reformationswerk
treten die Licht- und Schattenseiten, die allen menschlichen Gebilden anhaften,
deutlich genug hervor, ringen die guten und schlimmen Mächte um den Sieg,
sind reine und unreine Elemente, lautere und unlautere Triebe und Motive
vielfach vermischt und verschlungen; dennoch ist die Reformation die große That,
aus der das moderne Staats- und Gesellschaftsleben hervorgegangen ist, der
reiche gährende Mutterschoß, der die neue Zeit geboren und ihr alle Keime zur
fruchtbaren Fortpflanzung, zur mannichfaltigsten Gestaltung eingesenkt hat. Nur
wer diesen großartigen Prozeß, der sich um die Wende der beiden Jahrhunderte
abgespielt hat, mit ehrlichem Sinne und aufrichtigem Bemühen um Wahrheit
zu erfassen und darzustellen unternimmt, kann als redlicher Haushalter im
Dienste der Klio angesehen werden. Jedes andre Verfahren zerrinnt wie die
Tagesströmung, in der es sich bewegt.
eun ich über unsre Zeit nachdenke, so beschäftigen mich am wenigsten
die politischen Fragen. Die Geschichte hat mich gelehrt, daß die
Leitung der Politik zu allen Zeiten von einzelnen Personen aus¬
geht, mögen es Selbstherrscher, allmächtige Minister, Parteihüupter
oder andre sein. Es liegt deshalb auch der Fortschritt in poli¬
tischen Dingen weniger in den Formen der Verfassungen, die immer etwas mehr»5
v»«M
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oder weniger äußerliches sind, als in jener Kontrole der politischen Vorgänge,
welche von der Öffentlichkeit ausgeübt wird, die sich mit der fortschreitenden
Kultur mehr und mehr potenzirt und verfeinert. Ich meine nicht die öffent¬
liche Meinung, die ja im einzelnen Falle gar trügerisch und schwankend ist,
sondern jene Öffentlichkeit, die mittelst der Presse und unsrer sonstigen Kultur¬
einrichtungen jede politische Handlung in verhältnismäßig kurzer Zeit ans Tages¬
licht bringt, und damit den politischen Lenkern die sittliche, wenn auch nicht
immer die rechtliche Verantwortlichkeit für ihre Thaten vor dem öffentlichen
Gewissen zum Bewußtsein bringt.
Je weniger mich bei solcher Anschauung die eigentliche Politik berührt,
desto wichtiger erscheinen mir die gesellschaftlichen Zustände, die ja der eigent¬
liche Boden sind, auf welchem die Politik, die Geschichte erwächst und deren
Klärung und Förderung die Aufgabe, oder deren Verwirrung und Störung
das Verhängnis derselben ist. Es kommt mir, wie ich als einsam lebender
Zuschauer mir auszusprechen gestatte, weniger darauf an, ob wir heute unter
einer bessern Staatsverfassung leben als vor hundert und zweihundert Jahren,
als darauf, ob sich die Menschheit heute sittlich und materiell in besserer Lage
befinde wie ehedem; und mein Blick in die Zukunft wird tröstlicher, wenn ich
glauben kann, auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände hoffen zu
dürfen, als wenn ich etwa nur auf die Herrschaft des reinen Parlamentarismus
oder der republikanischen Stacitsform rechnen konnte.
Diese wenigen Worte gestatte mir der Leser zur Bezeichnung meines all¬
gemeinen Standpunktes. Ich will auch noch hinzufügen, daß es nicht entfernt
meine Absicht ist, hier oder anderswo die Gesamtheit unsrer sozialen Zustände
zu umfassen oder gar ein System aufzustellen, denn ich bin der Ansicht, daß
das erstere kein Sterblicher zu thun imstande ist, und was das letztere betrifft,
so halte ich nach den abschreckenden Vorgängen von Plato, Montesquieu,
Rousseau, Baboeuf und manchen andern, Systeme in Dingen wie Staat und
Gesellschaft für äußerst verderblich, weil dies historische Gebilde sind und niemals
willkürlich konstruirt werden können, wenn es sich auch auf dem Papier ganz
artig ausnehmen mag und äußerst populär ist. Mir scheint die einzig richtige
Methode in diesen Dingen die des Naturforschers zu sein, der ein einzelnes
oder mehrere verwandte Phänomene ins Auge faßt und sie einer so sorg¬
fältigen Prüfung unterwirft, als er zu thun imstande ist. So will ich denn
hier lediglich von einem Phänomen sprechen, welches ich die Zentripetalität
nenne. Ich gewahre dies Phänomen, wohin ich auch meine Blicke wende, und
erkenne darin eine Krankheit unsrer Zeit, ohne das Phänomen selbst, das Streben
nach Konzentrirung der Kräfte, an und für sich gut oder schlecht nennen zu
wollen. Denn ich bin der Meinung, daß in politischen und sozialen Fragen
alles relativ sei und daß es da nichts gebe, was unter allen Umständen als
ein absolutes Heilmittel oder als ein unbestreitbares Übel gelten könnte.
Wir sehen nach dem Untergange des römischen Reiches die Welt in Stücke
zerfallen und diese Stücke sich unter dem System des Feudalwesens mühsam
am Leben erhalten. Es entsteht ein wüstes Chaos kleiner Dynasten und
Staaten, ein Zustand schreiender Willkür, immerwährender Fehde und äußerster
Bedrückung des Volkes. Die Welt ist zentrifugal geworden, sie ist aus den
Angeln gewichen. Was sie zusammenhalten sollte, das römisch-deutsche Kaisertum,
hat sich als unzulänglich erwiesen; die Zentralität der katholischen Kirche im
Papste ist einige Jahrhunderte lang allein imstande, der Menschheit das Gefühl
der Zusammengehörigkeit zu erhalten, bis auch dies durch die Emanzipation
des modernen Geistes zerstört wird.
Aus diesem Chaos entwickelt sich zunächst in Frankreich das Bestreben
nach Zusammenfassung der politischen und sozialen Kräfte, Schaffung der
französischen Nation, wobei es merkwürdig ist, daß die hervorragendsten Träger
dieses Strebens ganz rechtgläubige und kirchliche Könige sind, wie Ludwig XI.,
teils Kirchenfürsten, wie Richelieu und Mazarin, die ihr staatliches Ideal
offenbar der katholischen Kirche entnommen haben. Das Prinzip der Zentrali-
sation ist seitdem in Frankreich nicht wieder aufgegeben worden; es ist von
Ludwig XIV., dem Konvent, den beiden Napoleons, dem Königtum und der
Republik mit gleichem Eifer gefördert worden und hat politische und soziale
Wunder erzeugt, die heute noch das Staunen der Welt erregen.
Nun ist es ja ganz begreiflich, daß wenn man die politischen und ma¬
teriellen Kräfte eines großen Volkes in seiner Hauptstadt konzentrirt und die
Verfügung darüber in einige wenige Hände legt, die großartigsten Kraft¬
äußerungen und Erfolge erzielt werden müssen. Ebenso begreiflich ist es aber
auch, daß die Schwachen allmählich die Ursache ihrer Schwäche in dem Mängel
der Zentralisation erkennen müssen, also auch ihrerseits bedacht sein werden,
ihre Kräfte zusammenzuhalten.
Frankreich sollte der welthistorische Beruf zufallen, der Welt die Wunder¬
kraft der Zentripetalität vor Augen zu führen; es hat sich darin durch keine
politische oder soziale Erfahrung, noch durch Mahnrufe tiefblickender Denker
stören lassen; es hat seine Aufgabe zu Ende geführt und mit dem Brillant¬
feuerwerk der Milliardenbeschaffung für die deutsche Kriegskontribution und
für die Herstellungen (rstMiLWiruznts) und Revancherüstungen beschlossen.*)
Nach Angabe der französischen Budgetkommission hat Frankreich von 1871 bis 1883,
abgesehen von der deutschen Kontribution, an Mehrausgaben folgende Millionen aufgewendet:
So ist es gekommen, daß der Zentripetaltrieb bewußt und unbewußt das
Leben der Menschheit, auch der Deutschen, von denen ich vorzugsweise reden
will, derart durchdrungen hat, daß dies Prinzip als das wirkungsreichste Agens
unsrer Gesellschaft bezeichnet werden kann. Wie schwer es uns Deutschen ge¬
worden ist, uns unsrer Kräfte bewußt zu werden und sie allmählich zusammen¬
zufassen, eine Nation zu werden und uns von fremder Herrschaft sittlich, geistig
und materiell einigermaßen zu emanzipiren, weiß jedes Kind. Es ist dies alles
mittelst der Zentripetalität geschehen, einer Kraft, die wir demnach als eine
überaus heilsame erkennen müssen, und die, wenn wir weiter fortschreiten wollen,
auch nicht erlahmen darf.
Wenn wir sagten, der welthistorische Beruf Frankreichs sei gewesen, die
Wunder der Zentralisation in Staat und Gesellschaft zu zeigen, so können wir
Deutschland gegenüberstellen und sagen, sein Beruf sei gewesen, den Segen der
Centrifugalität darzuthun, durch welchen es dei? Deutschen möglich war, eine
gleichmäßigere Entwicklung in allen Teilen des Landes und Volkes zu zeitigen.
Wenn wir nun in Deutschland den Mangel der zentralisirenden Kraft, in Frank¬
reich aber eine Erschlaffung in den einzelnen Teilen als pathologische Mo¬
mente erkennen, so werden wir daraus den Schluß ziehen, daß in unsern
Tagen einem gedeihlichen Zustande weder die Zentrifugalität noch die Zentri-
Petalität entspreche, daß vielmehr nur ein gesunder Kreislauf der Kräfte
heilsam sein könne, wenn nicht Hypertrophie des Zentrums oder Atrophie der
Teile entstehen soll.
Damit ist zugleich die wahre Aufgabe der Staats- und Gesellschaftsdoktoren
angedeutet. Ans dem politischen Gebiete, das ich jedoch nicht betreten will, wird
ihre Aufgabe weit leichter sein als ans dem ökonomischen und sozialen; denn
hier sind die Phänomene weit verwickelter, ja sie sind oft so verwickelt, daß sie
nicht gleichzeitig von allen Seiten behandelt werden können. Buckle*) hat in
geistreicher Weise nachgewiesen, daß Adam Smith in der Erkenntnis dieser
Schwierigkeit den Gegenstand seines Philosophirens, nämlich die menschlichen
Handlungen, in zwei ganz verschiednen und von einander unabhängigen Werken
behandelt habe. In seiner Insoris ok rrwM ssutimsutZ betrachtet er die Hand¬
lungen der Menschen von der moralischen Seite; er sührt sie alle auf die
Sympathie zurück und proklamirt als seinen Imperativ, daß der Mensch seine Hand¬
lungen so einzurichten habe, daß sie den Beifall der Nebenmenschen verdienten;
in dem zehn Jahre später erschienenen Werke ^VsaM ot' nations begründet er
alle Handlungen aus den Eigennutz. Seine Schule hat aber das erste Werk
und seinen innern Zusammenhang mit dem zweiten so vollständig ignorirt, daß
die ?usoi'is ok mors,1 Mutimsnts ganz in Vergessenheit gekommen und in Deutsch-
land fast unbekannt ist, obwohl eine gute Übersetzung von Kosegarten existirt
(Leipzig, 1792). Buckle hat mit seiner Auffassung der Absicht Adam Smiths
unzweifelhaft recht, denn ein so scharfer Denker, wie Adam Smith war, konnte
unmöglich verkennen, daß jede Handlung eine doppelte Seite haben muß, eine
materielle und eine moralische, und daß daher, wo die eine dieser Seiten unbe¬
achtet bleibt, eine unvollkommene, eine tadelnswerte Handlung vorliegt. Um
dies klar zu machen, führe ich ein Beispiel an. Wenn Smith in dem Buche
^Vs^leb. ok imtioiis zeigt, daß der Arbeitslohn durch das Verhältnis von Angebot
und Nachfrage bestimmt werde, so wollte er damit nicht sagen, daß dies so sein
solle, sondern nur, daß es in dieser schlechten Welt meist so sei. Zieht man
aber seine Illsoris ok inorAl^söntiinents zu Rate, so würde seine Lehre, sein
Imperativ folgender sein: der Arbeitgeber bestimme den Lohn nicht, wie es sich
ein Arbeiter in verzweifelter Lage gefallen lassen muß, sondern so, daß die
Meinung der Mitmenschen den Lohnsatz billige, mit andern Worten so, daß der
Arbeiter ein menschenwürdiges Dasein zu fristen vermöge. Dies klingt freilich
etwas sozialistisch; aber es war doch die eigentliche Meinung des Begründers
der Manchesterschule.
Da die Roral sövtimönts so wenig bekannt sind, will ich hier einige Stellen
einschalten, die ohne Widerspruch beweisen, daß Adam Smith nicht der Apostel
des erbarmungslosen Egoismus ist.
„Wessen Herz, sagt er, den Gefühlen der Menschlichkeit sich niemals öffnet,
der sollte auf gleiche Weise von aller Teilnahme seiner Mitgeschöpfe ausge¬
schlossen werden und inmitten der Gesellschaft wie in einer großen Einöde
leben, wo niemand nach ihm fragt und keiner sich um ihn kümmert. . . . Freilich
ist ein jeder von Natur sich selbst der nächste, sich selbst ist er die nächste
Rücksicht schuldig, und da niemand tauglicher ist, für ihn zu sorgen, als er
selbst, so ist es auch recht und billig, daß er für sich sorge. Allein wenn
uns auch unsers Nächsten Untergang nicht mehr rühren mag als irgend ein
kleiner eigner Unfall, so dürfen wir doch seinen Untergang nicht herbeiführen,
um diesem geringen Unfall vorzubeugen, ja nicht einmal um unsern eignen
Untergang zu verhüten. Wir müssen hier, wie in allen andern Fällen, uns
selbst nicht so sehr in dem Lichte betrachten, in welchem wir von Natur uns
selbst erscheinen, als vielmehr in demjenigen, in welchem wir andern vorkommen.
Mag es auch wahr sein, daß jeder Mensch im Herzen sich allen andern
Menschen vorzieht; er darf es den Menschen doch nicht ins Angesicht gestehen.
Er fühlt, daß sie in diesem Vorzug nie mit ihm übereinstimmen können,
und daß derselbe, so natürlich er ihm auch sein möge, ihnen immer übertrieben
und ausschweifend vorkommen möchte. Will er so verfahren, wie denn jeder
Menfch zu verfahren dringend wünscht, daß der unparteiische Zuschauer die
Grundsätze seines Verfahrens genehmigen möge, so muß er bei dieser wie bei
allen andern Gelegenheiten die Anmaßungen der Eigenliebe dämpfen und
sie zu etwas herabstimmen, was andre Menschen ihm nachempfinden können.
Im Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Beförderung mag er so stark
rennen, als er kann, und jeden Nerv und jeden Muskel anstrengen, um allen
seinen Mitbewerbern den Rang abzulaufen. Sollte er aber irgend einen von
ihnen niederrennen, so hat die Nachsicht des Zuschauers durchaus ein Ende.
Er beeinträchtigt die Gleichheit des Spiels, ein Verfahren, das kein Mensch
gutheißen kann."
Jedermann wird sogleich die Schwäche von Smiths moralischem System
erkennen; denn seine Tugend beruht auf Heuchelei, und eben dies ist wohl der
Grund, daß dies Buch, welches bei seinem Erscheinen so großes Aufsehen machte,
so rasch vergessen wurde. Der Engländer sagte sich einfach: Ich folge meiner
Eigenliebe (vsMu ok nations) und schere mich den Teufel um die iuora1 ssu-
tiinsuts meiner Mitmenschen, die ja selbst am besten wissen, daß sie auch ihrer¬
seits vom Eigennutz sich am liebsten leiten lassen.
Indem die Wissenschaft der Nationalökonomie die moralische Seite der
Handlungen aus ihrem Gebiete verbannte und der nackten Eigenliebe freie
Bahn machte, hat sie eine lange und höchst erfolgreiche Periode zentripetaler
Strömung der materiellen Kräfte eröffnet, welche in ihren letzten Zielen die
materiellen Kräfte des Volkes, d. h. seinen Reichtum in wenigen Händen konzen-
triren und unter diesen ungeheuern Reichtum, also Hypertrophie, nnter der Menge
aber Atrophie, d. h. Mangel und Elend erzeugen muß. Denn es ist gewiß,
daß wo der Eigennutz entscheidet, immer und überall der Starke über den
Schwachen siegen muß.
Trotz alledem kann kein verständiger Beobachter leugnen, daß diese Zentri¬
petalströmung, diese Zusammenfassung und Konzcntrirung der materiellen Kräfte
durchaus nötig war, um uns aus Armut und Barbarei zu besseren Zuständen
zu erheben. Aber es ist jetzt Zeit, daß dies ein Ende nehme, daß die mo¬
ralische Seite der wirtschaftlichen Handlungen zu besserer Geltung komme, um
eine Apoplexie des sozialen Körpers zu verhüten, um einen Teil des Blutes
zurück in den Körper zu leiten, damit er gesunde.
Es ist das unbestreitbare Verdienst der Sandschen Lehre in ihrer mate¬
riell egoistischen Auffassung, der Kapitalbildung eine außerordentliche Anregung
gegeben zu haben. Wie die politische Zentripetalströmung in Frankreich die
kleinern Dynasten, den hohen und niedern Adel, die Magistrate, ja selbst die
Geistlichkeit der Zentralbehörde unterwarf, sie in ihrer frühern Bedeutung ver¬
nichtet und damit der Staatsgewalt eine Kraft verliehen hat, die ganz Europa
fühlen mußte, so hat die zentripetale Manchesterlehre des Gehen- und Ge-
schehenlafsens alle jene Dämme eingerissen, welche ehedem einer schrankenlosen
Herrschaft der wirtschaftlich Starken über die Schwachen entgegenstanden. Die
wenigen Starken haben die Kräfte der zahlreichen Schwachen aufgesogen und
mit dieser zentralisirten Kraft eben solche Wunder auf wirtschaftlichem Gebiete
erzeugt, wie es die französische Staatsgewalt auf politischem Gebiete gethan
hat. Dies Phänomen tritt in besonders auffälliger Weise in Frankreich selbst
zu tage, wo die Macht der wirtschaftlichen Oligarchie noch weit mehr als die
Plntokraten in England das gesamte Staatswesen derart beherrscht, daß bis
zum heutigen Tage ein Versuch der Befreiung des Staates von diesen Fesseln
nicht einmal ernstlich gewagt werden konnte.
Man wird behaupten dürfen, daß es keinen unbefangenen National-
ökonomen oder Politiker gebe, der nicht einräumen würde, daß die Ansammlung
ungeheurer Kapitalien in wenig Händen eine allgemeine Quelle vieler wirt¬
schaftlichen Übelstände sei. Während aber die einen diesen Zustand für eine
natürliche und notwendige Erscheinung erklären, die man walten lassen müsse,
auch wenn man ihre Existenz beklage, erblicken die andern darin ein Übel, das
zu bekämpfen sei. Diese letztern sind die Urheber einer Mißgunst, die sich in
unsern Tagen gegen das Kapital geltend macht, einer Mißgunst, die in ver¬
schiedenen Formen auftritt, bald in dem wüsten Geschrei unverständiger Dema¬
gogen, bald in unreifen Theoremen sozialistischer Schriftsteller, bald in mehr
oder minder verhüllten Akten der Gesetzgebung, welche der allgemeinen Strömung
nachgeben zu müssen glaubt.
Ich weiß nicht, ob man behaupten kann, die öffentliche Meinung sei für diese dem
Kapital mißgünstige Strömung bereits gewonnen; aber Thatsache ist es doch, daß
diejenigen, welche ihr entgegentreten, nicht gerade populär sind, vielmehr Gefahr
laufen, als Feinde des Volkes, als Begünstiger der Ausbeutung der Arbeit durch
das Kapital verschrieen oder mindestens mit den strengen Manchesterleuten als
unversöhnliche Gegner der Sozialpolitik in einen Topf geworfen zu werden.
Untersuchen wir daher, wie es mit der Sache in Wirklichkeit steht, wieviel
begründet ist, was als Irrtum bezeichnet werden muß, und wo die Hebel anzu¬
setzen find.
Wir müssen natürlich vom Begriff, vom Wesen des Kapitals ausgehe»,
wollen dabei aber alle Schulgerechtem Definitionen vermeiden, da wir auf Schul¬
weisheit weder Anspruch machen, noch sie an diesem Platze für erforderlich halten.
Für unsre Betrachtungsweise ist Kapital nichts andres als wirtschaftliche
Vergangenheit. Denn jede wirtschaftliche Thätigkeit hat notwendig die Absicht,
einen möglichst günstigen Erfolg, d. h. einen Überschuß über die aufgewendete
Kraft und Auslage, zu erzielen. Dieser Überschuß ist Kapital, und alle wirt¬
schaftliche Thätigkeit ist daher auf Kapitalerzcugung gerichtet. Das heute vor¬
handene Gesamtkapital ist der Überschuß der gesamten Vergangenheit bis rück¬
wärts auf Adam und Eva. Mit andern Worten: Das Gesamtkapital ist die
materielle und geistige Kultur, in der wir leben, und wer das Kapital anfeindet,
der legt die Axt an den Ast, auf dem wir sitzen!
Dies wollen nun freilich auch die wildesten Kommunisten angeblich nicht
thun; sie behaupten vielmehr, nur den Eigentümer des Kapitals wechseln, ihren
Staat oder ihre Kommune an die Stelle der Privaten setzen zu wollen. Ge¬
mäßigtere Leute wollen mit ihrer Mißgunst nur das sogenannte mobile, das
Geldkapital treffen, die Besitzer von Staatspapieren, Aktien, Pfandbriefen und
sonstigen cmsgeliehcnen Geldern, weil sie meinen, daß diese Leute den Drohnen
zu vergleichen seien, die nur genießen, ohne zu arbeiten. Manche aus dieser
letztern Klasse von Sozialpolitikern würden ihre Ansicht wohl wesentlich berich¬
tigen, wenn sie sich vergegenwärtigen wollten, daß sich im wirklichen Leben die
Kapitalisten und die Arbeiter keineswegs als zwei getrennte Klassen gegenüber¬
stehen, sondern daß in der unendlichen Mehrzahl der Fälle sich beide Eigen¬
schaften in demselben Individuum vereinigt finden. Ein Advokat, ein Arzt, ein
Beamter, ein Offizier, ein Handwerker ist wesentlich Arbeiter; daneben aber be¬
sitzt er ein Kapital, das er dnrch seine Arbeit erworben oder das ihm die
Arbeit seiner Vorfahren hinterlassen hat. Mit welchem Rechte kann solche
Personen und die Frucht ihrer eignen oder von ihrer Vorfahren Arbeit eine
Ungunst treffen? Sollte man sie nicht vielmehr mit allen Mitteln ermuntern,
ihre Ersparnisse zu steigern und ihre Kapitalien vermehrt auf ihre Nachkommen
zu bringen?
Ich sagte oben, daß jede wirtschaftliche Thätigkeit ihrem Wesen nach auf
Überschuß gerichtet sei. Derselbe wird zunächst als baares Geld in der Kasse
des Erwerbers liegen. Nun will ich nicht untersuchen, ob solches müßige Geld
den Namen des Kapitals verdiene; es genügt mir zu sagen, daß jeder, der einen
solchen Überschuß erzielt hat, sofort bemüht sein wird, denselben nutzbringend
anzulegen, und daß auch die bürgerliche Gesellschaft, der Staat im allgemeinen
Interesse wünschen muß, daß solches Geld nicht müßig liegen bleibe. Dies klingt
so einfach, daß es fast überflüssig erscheint, es auszusprechen. Die Sache war
aber nicht immer so einfach, wie sie es heute ist. Wer seine Überschüsse nicht
im eignen Geschäfte verwenden wollte oder konnte, war im Mittelalter und bis
tief in die neuere Zeit in ziemlicher Verlegenheit. Man kaufte Grundeigentum;
dies war aber nicht immer möglich und zumal mit kleineren Beträgen nicht aus¬
führbar. Geld auf Zinsen auszuleihen, war nur den Juden erlaubt, die das
kanonische Recht nichts anging. Der Rentenkauf war kein genügender Ersatz,
weil das Kapital niemals zurückkehrte und Urkunden, die auf den Inhaber lauten,
noch nicht erfunden waren, daher die Übertragung der Rente auf einen andern
sehr schwierig war. Die Verlegenheit wurde groß; nicht gerade in Deutschland,
wo ewige Fehden und Kriege dafür sorgten, daß der Wohlstand nicht zunahm,
Wohl aber in den Niederlanden und in England, wo bei innerem Frieden und
ausgedehntem Handel der Reichtum rasch und mächtig wuchs. In katholischen
Ländern half die gute Mutter Kirche den Besitzern von Überschüssen gern aus
der Verlegenheit. Auch die Vaulust, wie wir sie in vielen Städten z. B. Belgiens
bewundern, mag auf die Schwierigkeit anderweiter Geldanlage wenigstens teil¬
weise zurückzuführen sein. Macaulay giebt eine anziehende Schilderung der Lage,
in welcher sich englische Kapitalisten am Ende des siebzehnten Jahrhunderts
befanden, als es noch keine Staatsschuld gab, die heute bekanntlich nach starken
Tilgungen der letzten Jahrzehnte die schöne Summe von etwa 850 Millionen
Pfd. Sterl. beträgt. Er sagt, daß die Schwierigkeit Geld anzulegen so groß ge¬
wesen sei, daß die Sitte Geld zusammenzuscharren ganz allgemein gewesen sei.
Er erzählt, daß der Vater des Dichters Pope, welcher sich um diese Zeit von den
Geschäften zurückzog, ein Geldkiste mit ungefähr 20 000 Pfd. Sterl. mit sich auf
seinen Landsitz führte und derselben von Zeit zu Zeit soviel entnahm, als zur
Bestreitung der Haushaltung nötig war. „Es ist, sährt Macaulay fort, in hohem
Grade wahrscheinlich, daß dieser Fall nicht vereinzelt war. Gegenwärtig ist das
von Privatpersonen aufgehäufte gemünzte Metall so gering, daß, wenn es plötz¬
lich in Umlauf gesetzt würde, die dadurch bewirkte Vermehrung der umlaufenden
Geldmenge kaum bemerkbar sein würde. Aber in der ersten Zeit der Regierung
Wilhelms III. waren alle berufenen Schriftsteller einig, daß eine sehr erhebliche
Menge baaren Geldes bei den Privaten hinter Schloß und Riegel liege."
Es ist einleuchtend, wie sehr der Nationalwohlstand dabei gewinnen mußte,
als jene Schwierigkeit beseitigt wurde und als mit der Möglichkeit auch die
Sitte, überflüssige Baarbeträge alsbald nutzbringend anzulegen, allgemein wurde.
Tausende von Bürgern wurden erst jetzt wahre Kapitalisten, d. h. Inhaber von
Beträgen, welche in der Nationalwirtschaft produzirend mitarbeiten, und Mil¬
liarden wurden vom müßigen Liegen in der Kasse zu nutzbringender Ver¬
wendung hingeleitet. Jetzt erst konnte Wohlstand allgemeiner werden, und jetzt
erst konnten zahlreiche große Unternehmungen ausgeführt und dadurch Unmassen
von Arbeitern beschäftigt werden. Immer also sind es das Kapital und der
Kapitalist, auf welchen Wohlstand, Fortschritt und Kultur beruht. Es wäre
müßig, dies noch des weitern begründen zu wollen. Sie sind die Wohlthäter
der Menschheit, kein Denkender kann dies bestreiten. Und doch jene Mißgunst!
Sie muß also auf etwas anderm beruhen, als ans dem, was das Wesen des
Kapitals ist.
(Schluß folgt.)
velde ist mir auch in der Folge nicht gerecht geworden, insofern
ich mich nämlich denn doch, trotz allem Abstände, für den besten
halte, der nach ihm und Schiller gekommen ist — mit diesen
Worten schließt Grillparzer den Bericht über seinen Besuch bei
Goethe in Weimar, der zu den interessantesten Partien seiner
Selbstbiographie gehört. (Werke, Bd. 10, S. 176.)
Dieser von einem sichern Gefühl des eignen Wertes zeugenden „Selbst-
cinschätzung" des Dichters widersprach lange Zeit hindurch, namentlich außerhalb
Österreichs, das allgemeine Urteil, und erst in unsern Tagen, seitdem dnrch die
Gesamtausgabe von Grillparzers Werken die Bekanntschaft mit ihm größer
geworden ist, fängt man an, wenn auch mit gehöriger Betonung der von ihm
selbst gemachten Einschränkung, die hohe Meinung des Dichters von seiner
Bedeutung gelten zu lassen.
Am leichtesten sällt diese Zustimmung bei Grillparzers Novelle „Der arme
Spielmann," die sich wohl ohne Bedenken dem besten an die Seite stellen läßt,
was ans diesem Gebiete aus Goethes Feder hervorgegangen ist. Obwohl leider
noch wenig bekannt, ist dieser Schöpfung Grillparzers doch allenthalben von den
berufenen Beurteilern, z. B. von Paul Heyse, die verdiente Würdigung zuteil
geworden.
Aber auch bei einem andern Werke Grillparzers liegt eine Vergleichung
mit Goethe nahe: wir meinen seine Selbstbiographie. In Goethes „Wahrheit
und Dichtung" besitzen wir, ganz abgesehen von dem künstlerischen Werte des
Buches, die unübertroffene Darstellung seines Lebens und Wirkens. Trotzdem
ist durch diese Autobiographie, wie jeder Kundige weiß, der Versuch, mit allen
Mitteln der historischen Kunst den Entwicklungsgang und die Schicksale des
Dichterfürsten zu zeichnen, keine müßige Aufgabe geworden. Obwohl vielleicht
die wahrste Schilderung eines Menschenlebens, ist Goethes „Wahrheit und
Dichtung" doch nicht frei von Irrtümern, vor allem aber viel mehr das Werk
eines Künstlers, als das eines Historikers. Dazu kommt noch der Umstand, daß
Goethe die Erzählung bekanntlich nur bis zu seinem sechsundzwanzigsten Lebens¬
jahre, bis zu seinem Eintritt in Weimar, geführt hat, sodaß schon dadurch die
Notwendigkeit sich ergiebt, das von ihm unvollendet Gelassene zu Ende zu führen.
Ähnlich liegen, schon rein äußerlich betrachtet, die Dinge bei Grillparzer.
Zur größten Überraschung selbst seiner Freunde hat Grillparzer eine eigne
Auszeichnung über sein Leben hinterlassen. Zwar wies er, zu einer solchen
Arbeit aufgefordert, sie regelmäßig von sich, indem er sein Leben für unwichtig,
seine Werke, die ja zu jedermanns Beurteilung vorlagen, für die Hauptsache
erklärte. Weil aber von der kaiserlichen Akademie, der Grillparzer angehörte,
herkömmlich von jedem Mitgliede eine Lebensgeschichte verlangt wurde, schrieb
auch er, wie immer, pflichtgetreu, die seine nieder, konnte es aber nicht
über sich zu gewinnen, mit dieser seiner Arbeit an die Öffentlichkeit zu treten,
sodciß sie erst nach seinem Tode als die kostbarste Perle seines Nachlasses entdeckt
wurde. Wie Goethes Werk ist auch Grillparzers Selbstbiographie unvollendet
geblieben: sie reicht nur bis zum Jahre 1836 und wird durch „Reiseerinnerungen
an Rom und Neapel" (1819) und ein „Tagebuch aus dem Jahre 1836," das
sich auf einen Besuch von Paris und London bezieht, in ähnlicher Weise ver¬
vollständigt, wie Goethes Reisebeschreibungen „Wahrheit und Dichtung" er¬
gänzen. Mehr aber als durch tiiese äußerlichen Zufälligkeiten, die für einen
Vergleich mit Goethes Meisterwerk ohne Belang sein würden, erinnert uns
Grillparzers Selbstbiographie an die Goethes durch die „ungeschminkte Wahr¬
haftigkeit" und die sichere Kenntnis des eignen Wesens, in welcher er mit
Goethe wetteifert. Diese innere Wahrhaftigkeit hindert jedoch nicht, daß auch
bei Grillparzer sich mancherlei Unrichtigkeiten finden, zumal da sein Gedächtnis
nach seinem eignen Geständnis sich in kleinern Dingen nicht immer scharf und
treu erwies, sodaß er wohl die eine Begebenheit mit der andern verwechselte.
Während jedoch Goethe mit großartiger Offenheit die Geschichte seiner wechselnden
Liebesneigungen in seine Erzählung aufnahm, schwieg Grillparzer bei seiner
Scheu vor der Öffentlichkeit in persönlichen Dingen über seine Erfahrungen in
dieser Beziehung und ließ daher eine Lücke in seinen Aufzeichnungen offen, die
das volle Verständnis seiner Persönlichkeit verhinderte. So war auch bei ihm
der Gedanke nahegelegt durch eine neue Biographie das Fehlende zu ersetzen,
zumal seitdem Scherer in seiner Abhandlung über Grillparzer einen hervor¬
ragenden Beitrag zur Würdigung des Dichters als Dramatiker gespendet hatte.*)
Ein großer Fortschritt in dieser Richtung geschah durch die Bekannt¬
machung des Grillparzer-Albums, welches der Senatspräsident des obersten
Gerichtshofes in Wien, Baron Theobald von Rizy, im Jahre 1877 als Ma¬
nuskript herausgab.^) Das Grillparzer-Album geht zurück auf. eine hand¬
schriftliche Sammlung von Grillparzers Gedichten, welche sich seit dem Jahre
1846 im Besitze eines gewählten Kreises in Wien lebender Freunde befand.
Seinen Wert erhält es in erster Linie durch die den hier vereinigten Gedichten
beigegeben er Anmerkungen und biographischen Erläuterungen, die umso will-
kommener sind, als sie von Männern ausgingen, welche durch enge Familien¬
bande dem Dichter nahestanden und die meisten seiner lyrischen Produktionen
sozusagen unter ihren Augen entstehen sahen. Während Josef Weilen, der
Herausgeber von Grillparzers Gedichten in der Gesamtausgabe der Werke, von
einer chronologischen Anordnung derselben absehen mußte, ist im Grillparzer-
Album möglichst die zeitliche Aufeinanderfolge festgehalten und um des bio¬
graphischen Interesses willen auch mancherlei eingefügt worden, was von rein
ästhetischem Standpunkte aus betrachtet von geringer Bedeutung ist, Auf
diese Weise ist Grillparzers Ausspruch: „Meine Gedichte sind meine Biographie"
vollkommen anschaulich gemacht worden. Wir erhalten hier die tiefsten Einblicke
in das bis dahin den Fernerstehenden fast ganz verschlossene Gemütsleben des
Dichters, das sich nunmehr als weit über alles Erwarten reich und bewegt
darstellt. Gleichzeitig wurde durch Wilhelm Vollmer der Textgestaltung ein
sorgfältiges Augenmerk zugewandt. Baron Rizy selbst ließ sich die Auffindung
des ersten Druckes von Grillparzers Gedichten angelegen sein, deren Bedeutung
für die Chronologie ans der Hand liegt, und hat mit diesem ersten Versuche
treffliches, wenn auch nicht vollkommenes geleistet.
Es lag nahe, das im Grillparzer-Album dargebotene Material für eine
neue Darstellung des Lebensganges Grillparzers zu verwerten, da ja durch das¬
selbe noch keine fortlaufende Erzählung, sondern nur eine Menge wertvoller
biographischer Einzelheiten zu tage gefördert waren. Dieser Aufgabe hat im
vorigen Jahre Adalbert Fänlhmnmer, Professor am Staatsgymnasium zu
Grciz, sich unterzogen und hat sie mit großem Geschick gelöst.*) Fänlhammer
begnügte sich nicht damit, das von seinen Vorgängern gesammelte Material
aufs neue zu prüfen und zusammenzustellen, er unternahm auch die mühevolle
Arbeit, das in den österreichischen und deutschen Zeitschriften und Almanachen
aufgespeicherte Material durchzuarbeiten, nicht um uns „nach bekannten Mustern"
durch bloße Exzerpte mit dem Urteile der Zeitgenossen bekannt zu machen,
sondern um sie vielmehr in kritischer Weise für die Entstehungszeit von Grill¬
parzers Werken, zumal der Dramen, zu verwerten und den Einfluß nachzu¬
weisen, den die zeitgenössische Kritik auf seine Entwicklung als Menschen und
Dichter gehabt hat. Da nun Fäulhammer auch ein volles Verständnis für
die Schönheiten und eigentümlichen Vorzüge in den Werken seines Helden hat
und gleichzeitig das seltsame Wesen des Menschen mit feinem psychologischen
Verständnis erfaßt, so muß seine Studie als die beste Arbeit gelten, die wir
nächst Scherers obenerwähnter Abhandlung über Grillparzer bis jetzt besitzen.
Daß auch sie nicht abschließend werden konnte, lag vor allem daran, daß sich
noch eine Fülle wertvollen Qnellenmaterials der Benutzung durch Fäulhammer
entzog. Es sind dies die Papiere Kathy Fröhlichs, der langjährigen Lebens¬
gefährtin des Dichters, ferner diejenigen Rizys, der selbst eine unvollendete Bio¬
graphie Grillparzers hinterließ, und vor allem Grillparzers eigner Nachlaß von
autobiographischen Aufzeichnungen, von denen nur ein kleiner Bruchteil an die
Öffentlichkeit gelangt war.
Umsomehr mußte die Verehrer des Dichters die Nachricht erfreuen, daß
Heinrich Laube mit einer Biographie desselben beschäftigt sei. Durfte man
doch hoffen, daß Laube, dessen intime Beziehungen zu Grillparzer längst bekannt
waren, und der schon bei dessen Lebzeiten als Theaterleiter soviel für ihn ge¬
leistet hatte, nicht nur unbeschränkte Einsicht in den genannten Quellenapparat
erhalten, sondern auch gestützt auf solche treffliche Hilfsmittel eine abschließende
Arbeit liefern würde. Leider ist diese Hoffnung zu schänden geworden. Das
soeben erschienene Buch Laubes*) entspricht nicht den gehegten Erwartungen
und steht in wissenschaftlicher Hinsicht weit hinter Fäulhaminers Arbeit zurück,
obwohl diese nicht schon lange vorher so wie Laubes Buch als epochemachende
Leistung ausposaunt worden war. Laube hat schon früher in seiner von uns
hochgeschätzten Geschichte des Wiener Burgtheaters eine Reihe gehaltvoller Ur¬
teile über Grillparzers Dramen geboten, die, da sie von einem so kundigen
Dramaturgen wie Laube ausgehen, jederzeit Anspruch auf Beachtung haben
werden. Er hat dann der von ihm besorgten Ausgabe der Werke Grillparzers
eine kurze Einleitung vorausgeschickt, die ebenfalls nicht ohne Wert für die
Würdigung Grillparzers ist. In seinem neuesten Buche nun giebt er nur
eine dürftige Erweiterung des früher Gesagten, welche unsere Kenntnis wenig
bereichert. Selbst von so manchem, was hier als neu erscheint, kann nicht
behauptet werden, daß es neu sei, so z, B, von den beiden Jugendgedichten
„Schlecht und recht" und „Abschied von der Hofbibliothek." Beide stehen be¬
reits im Grillparzer-Album.
Obwohl aber Laubes eigne Arbeit nicht von Bedeutung ist, kann sein
Buch doch nicht als wertlos betrachtet werden. Laube hatte Zutritt zu den
Schätzen, die Fänlhammer verschlossen blieben. Außer den von Baron Rizy
gesammelten Notizen über Grillparzer stand ihm noch die mündliche Belehrung
des Medizinalrath Dr. Preß zur Seite, der als langjähriger Arzt und Freund
Grillparzers ihn über manche fraglichen Punkte unterrichtete. So konnte Laube
mancherlei Jnedita in sein Buch einflechten, auf die hier kurz hingewiesen
werden soll.
Es ist schon längst bekannt, daß Grillparzer im Alter von fünfzehn Jahren
eine dramatische Arbeit „Blanka von Kastilien" verfaßte. Sie fand sich im
Nachlaß vor, und Laube, der sie gelesen, rühmte schon früher an ihr ein unge-
meines Kompositionstcilcnt. Jetzt berichtet er, daß „Blanka von Kastilien"
das Werk des siebzehnjährigen Franz sei (welche Angabe ist nun richtig?) und
giebt genauere Auskunft über den Inhalt des Stückes, welche den bereits von
Füulhammer ausgesprochenen Wunsch nach der Veröffentlichung dieser Jngend-
schöpfung mit erneuter Stärke rege macht. Fast noch wichtiger als das Drama
selbst erscheint jedoch ein Blatt des Nachlasses von Grillparzers Hand, „Studien
zur Blanka von Kastilien" überschrieben, das uns zeigt, mit welcher strengen
Selbstkritik der junge Dichter an seine Arbeiten ging, und wie weit entfernt er
war, sich selbstgefällig in denselben zu bespiegeln.
Lange Zeit hindurch wurde Grillparzer um seiner „Ahnfrau" willen mit
den Dichtern der Schicksalstragödie auf eine Stufe gestellt, obwohl er weniger
für die Hereinziehung der Schicksalsidee in sein Drama verantwortlich ist als
sein Ratgeber Schrehvogel, der später eine geharnischte Vorrede zu dem Stücke
schrieb, die lange als aus Grillparzers Feder hervorgegangen gegolten hat. Wie
sehr Grillparzer jedoch durch jene damals brennende Frage beschäftigt wurde,
beweist ein Blatt des damals Zweinndzwanzigjährigen, das diese Frage behandelt.
„Die Griechen, so führt er hier aus, waren weit entfernt, mit der Idee vom
Fatum einen bestimmten abgeschlossenen Begriff zu verbinden. Die verschiedene
Art, in welcher das Fatum in der griechischen Tragödie erscheint, liefert hierzu
den sprechendsten Beweis. Es war ihnen wohl nichts als der unerklärte Grund
(das unbekannt Absolute), das allen Veränderungen, allem Wollen, Handeln,
Wohl auch sein zu Grunde liegt. Daher kommt es in ihren Tragödien bald
als unausweichliche Notwendigkeit, bald als schadenfrohe Opposition, bald als
rächende Nemesis vor, und es kann deshalb (mich abgesehen von der Form
des Christentums) allerdings noch in der neuen Tragödie gebraucht werden.
Was Schlegel davon sagt, ist, aufs gelindeste gesprochen, einseitig. — Die Idee
der Vorsehung an die Stelle des Fatums als Prinzip der romantischen Tragödie
einzuführen, wie dieses in der antiken Welt gewesen sein soll, ist Unsinn. Wenn
einmal die Vorsehung den höchsten Grad ihrer Jntensionen erreicht hat und
durchaus praktisch geworden ist, hört überhaupt die Möglichkeit eines Trauer¬
spiels auf, denn aus diesem Gesichtspunkte ist der Schmerz und der Tod kein
Übel mehr, und jede mit der Vorsehung im Kampf stehende Leidenschaft ist ver¬
brecherisch und hört auf, tragisch zu sein.,,
Unter allen Stücken Grillparzers war es die „Sappho," mit der auch der
Dichter am meisten zufrieden war. Er hat einen längern Aufsatz über sie hinter¬
lassen, der dieser Befriedigung Ausdruck giebt und mit dem schüchternen Geständnis
schließt, „daß er sich auf den zweiten Akt etwas eingebildet habe."
Für das Verständnis von Grillparzers Seelenleben sind besonders die¬
jenigen Partien des Laubeschen Buches von Wert, in denen von des Dichters
Liebesschicksalen die Rede ist. Eigenhändige Aufzeichnungen ergänzen hier in
willkommener Weise die Lücken der Selbstbiographie. Liebesbedürftig wie we-
nige, war Grillparzer doch nie glücklich in seiner Liebe. Das lag freilich zum
großen Teil an seinem Charakter, der eine volle Hingabe an die geliebte Person
nicht möglich machte. Mit erschreckender Deutlichkeit tritt uns derselbe in seinem
Verhältnis zu Katharina Fröhlich entgegen, über welches Grillparzer im Mai
1826 entscheidende Worte niederschrieb, die Laube zusammen mit einem Briefe
an Altmutter mitteilt. Noch klarer aber wird uns das Seltsame dieses Liebes¬
verhältnisses durch das Gedicht „Jugenderinnerungen im Grünen" (Tristia
Ur. 16), das Rizy in das Frühjahr 1825 verlegt und Lanbe nach Fäulhammers
Vorgang hier herbeizieht. Der Dichter sieht sich darin im Geiste wieder auf
der Bank im grünen Hain, wo er oft als Jüngling, „das dunkle Schulbuch
in der Hand," frohen Zukunftsträumen nachgehangen hatte. Aber sie sind nicht
in Erfüllung gegangen; die Freundschaft, die er suchte, ist ihm nicht zuteil ge¬
worden, und die erste Liebe brachte ihm Täuschung. Dann heißt es weiter:
Da fand ich sie, die nimmer mir entschwinden,
Sich mir ersetzen wird im Leben nie;
Ich glaubte meine Seligkeit zu finden,
Und mein geheimstes Wesen rief: nur die!
Doch wieder hat er sich betrogen, seine Sehnsucht findet keine Befriedigung, denn:
In Glutnmfassen stürzten wir zusammen,
Ein jeder Schlag gab Funken und gab Licht;
Doch unzerstörbar fanden uns die Flammen,
Wir glühten, aber ach, wir schmolzen nicht.Denn Hälften kann man aneinanderpassen,
Ich war ein Ganzes, und auch sie war ganz;
Sie wollte gern ihr tiefstes Wesen lassen,
Doch allzufest geschlungen war der Kranz.So standen beide, suchten sich zu einen,
Das andre aufzunehmen ganz in sich;
Doch all umsonst, trotz Ringen, Stürmen, Weinen,
Sie blieb ein Weib, und ich war immer ich!Ja, bis zum Grimme ward erhöht das Mühen,
Gesucht im Einzeln, was im Ganzen lag,
Kein Fehler ward, kein Wort ward mehr verziehen,
Und neues Quälen brachte jeder Tag.Da ward ich hart. Im alö'gen Spiel der Winde,
Im Wettersturm, von Sonne nie durchblickt,
Umzog das stiirkre Bäumchen sich mit Rinde,
Das schwächre neigte sich und war zerknickt!
Dies Bekenntnis ist erschütternd. Augenscheinlich ist die im ganzen so trübe
Stimmung des Dichters, abgesehen von seiner Naturanlage, auf dieses Schei¬
tern seiner liebsten Wünsche, an dem er obendrein selbst die größte Schuld trug,
zurückzuführen. Wenn er später in seinem „Armen Spielmann" in der er-
greifcndsten Weise das Schicksal eines Menschen vorführt, der vor lauter Un-
beholfenheit und Zurückhaltung nicht dazu kommt, derjenigen, die er liebt und
die ihn wiederliebt, seine Neigung zu erklären, so hat er ein gutes Stück seiner
eignen Lebensgeschichte in diese Erzählung verflochten.
In diesem ScelciMstande und obendrein noch verstimmt durch die Ver¬
drießlichkeiten, die ihm sein „Ottokar" bei den Zensurbehörden eingetragen hatte,
trat Grillparzer im Sommer 1826 jene Reise nach Deutschland an, über deren
Verlauf er eingehend in der Selbstbiographie berichtet. Im Nachlasse haben
sich einige abweichende Beobachtungen über dieselbe vorgefunden, unter denen
namentlich ein überraschend günstiges Urteil über die Berliner und die Preußen
auffällt. „Die Menschen, schreibt er in Berlin, habe ich hier angenehmer vor¬
gefunden als ich sie mir vorgestellt. Ein hoher Grad Gutmütigkeit ist ja hier
nicht seltner als in Wien. Nur die Art, sich anzukündigen und daher auch zu
erkennen, ist verschieden. Der Österreicher erscheint im Auslande leicht ein
Tölpel, der Preuße ein Großsprecher; zu Hause sind sie beide etwas andres,
wenn sie gleich beide einen kleinen Beigeschmack davon behalten mögen." Mit
gleicher Unbefangenheit pflegte er sich auch sonst in ruhiger Stimmung günstig
über Norddeutschland auszusprechen, obwohl sein Herz an Österreich hing. Da
sagt er gelegentlich: „Schickt unsre jungen Männer nach Norddeutschland, damit
sie was lernen, und holt junge norddeutsche zu uns, damit sie warm werden."
Vollkommen klar war er sich über den Grund von Österreichs Unglück. „Der
Katholizismus, schreibt er einmal, ist an allem schuld. Gebt uns eine zwei¬
hundertjährige Geschichte als protestantischen Staat, und wir sind der mächtigste
und begabteste deutsche Volksstamm. Heute haben wir nur noch Talent zur
Musik und — zum Konkordate."
Über Grillparzers Reisen nach Italien, Frankreich und England besitzen
wir, wie schon erwähnt, eigenhändige Aufzeichnungen von ihm. Laube teilt
nun auch das Tagebuch einer Reise nach Konstantinopel und Griechenland mit,
die im Herbste 1843 unternommen wurde. Es zeigt in Stil und Haltung ganz
denselben Charakter wie das Tagebuch über den Aufenthalt in Paris und London;
vielleicht daß es sogar noch unausgeführter als jenes ist. Es sollte freilich
auch nur als „Erinnerungsbehelf" dienen und war sicherlich niemals zur Ver¬
öffentlichung bestimmt. Trotzdem ist es von Wert, weil es reich an charakte¬
ristischen Zügen ist, die eine intimere Bekanntschaft mit dem Verfasser vermitteln.
Um seiner hypochondrischen Unentschlossenheit mit einem Gewaltmittel ent¬
gegenzutreten, hatte Grillparzer die Reise unternommen, aber der ersehnte Er¬
folg blieb aus, zumal da über der ganzen Reise ein eigner Unstern waltete.
Als er nach Athen, dem Ziel seiner Wünsche, kam, fand er die Stimmung gegen
die Bavaresen, zu denen er als Deutscher mitgezählt wurde, aufs höchste er¬
bittert, sodaß er unter der Maske eines Jtalieners die Denkmäler einer großen
Vergangenheit besuchen mußte und sich immer der Gefahr ausgesetzt sah, von
einem Pöbclhaufen mißhandelt zu werden. Ein wie schwerer geistiger Druck
fast während der ganzen Dauer seiner Abwesenheit von Wien auf ihm lastete,
zeigt ein Gedicht, das er am 23. September morgens im Bette, einen Tag vor
seiner Abreise-aus Konstantinopel, niederschrieb:
Schon bin ich mild' zu reisen,
Wär's doch damit am Rand!
Vor Hören und vor Sehen
Vergeht mir der Verstand.So willst du denn nach Hause?
O nein! nur nicht nach Haus!
Dort stirbt des Lebens Leben
Im Einerlei mir aus.Wo also willst du weilen?
Wo findest du die Statt?
O Mensch, der nur zwei Fremden
Und keine Heimat hat.
Doch treffen wir in dem Tagebuche auch auf Stellen, wo sein unverwüstlicher
Humor durch die düstere Stimmung hindurchbricht, nicht minder solche, welche
uns deutlich über seine Sympathien und Antipathien unterrichten. So gleich im
Anfang, wo er in Preßburg aus Müdigkeit Zuflucht im Theater sucht, um nur
sitzen zu können, und dann wegen der sich immer gleichbleibenden Dekoration
das Theater so eingerichtet findet, als ob es Tieck angegeben hätte. Auf der
Weiterfahrt zu Schiff von Preßburg ab trifft er mit einem einäugigen Berliner
zusammen, der, obwohl obendrein Jude, doch nicht von der doppelten Be¬
rechtigung, unangenehm zu sein, Gebrauch macht. Als er in Syra angekommen,
sich sür einige Zeit in das Quarantänegebäude eingesperrt sieht, zieht er
Chalybäns' Geschichte der neuen Philosophie aus seinem Koffer hervor. „Die
Seiten wurden gezählt und fünfzig für jeden Tag schien genug, um die neun
Tage der Gefangenschaft auszufüllen. Da wird denn aufgestanden, der ent¬
setzliche Kaffee getrunken, ein wenig im Winde spazieren gegangen, dann ge¬
lesen, wo uns denn Herbarts Menades (soll wohl heißen Monaden) andern
gescheiten Männern unerklärlich (sie), Schellings System aber höher als die
Klippen, widriger als der Wind und unfruchtbarer als das Meer vorkamen."
In Wien bereiteten die dortigen Schriftsteller dem Zurückgekehrten zu
seinem Geburtstage ein Fest, das der Ausdruck der hohen Verehrung war,
welche in diesen Kreisen für den Dichter herrschte. Aber seine erneute Bewerbung
um die erste Kustosstelle an der Hofbibliothek blieb ohne Berücksichtigung und
verbitterte den wiederum Zurückgesetzten noch mehr.
Inzwischen begannen sich in Österreich politische Fragen und Bewegungen
zu erheben, die dann zur Wiener Märzrevolution führten. Das Verhältnis
Grillparzers zu derselben ist ein ganz eignes. Auch darüber fand sich ein
längerer Aufsatz im Nachlasse vor, der uns willkommenen Aufschluß giebt.
Laube hat wohl recht, wenn er meint, daß der Eindruck desselben kein günstiger
sein könne. Grillparzer war eben kein Politiker, er wollte den Zweck, aber
scheute die Mittel. Seine innerste Natur hinderte ihn, persönlich an den Er¬
eignissen sich zu beteiligen. „Menschen, sagt er, die sich ihr ganzes Leben
mit dem reinen Verhältnisse der Kunst und Wissenschaft beschäftigt haben, über¬
fällt gegenüber der jede Möglichkeit einer Berichtigung übersteigenden Ver¬
kehrtheit leicht das Gefühl eines bis ins innerste gehenden Ekels, und man
weiß wohl, daß der Ekel die entnervendste Stimmung des menschlichen Wesens
ist." Wohl wünschte er eine Änderung des vormärzlichen Zustandes, aber er
fand die Zeit für Reformen nicht geeignet, weil ihm sein Österreich derartigen
Stürmen durchaus nicht gewachsen erschien, während er in Preußen alle die
Bedingungen vorhanden glaubte, eine revolutionäre Bewegung ohne nach¬
haltigen Schaden zu bestehen. Deshalb erklärte er auch die zur Erreichung
des Umsturzes eingeschlagenen Wege für ebenso kindisch wie gefährlich, um sich
schließlich doch mit den neugeschaffenen Verhältnissen auszusöhnen. Dennoch
hat Grillparzer einmal mit ungeheuerm Erfolg in die Bewegung eingegriffen.
Es war damals, als das österreichische Reich auseinanderzufallen drohte und
alle Hoffnung auf den Fortbestand desselben auf Radetzky und seinem Heere
ruhte. Da sang Grillparzer sein Lied auf den Feldmarschall Radetzky, das
noch heute das populärste aller seiner Gedichte ist.
Die Mitteilung des obenerwähnten Aufsatzes bildet den Höhepunkt aller
von Laube aus dem Nachlasse hervorgezogenen eigenhändigen Aufzeichnungen
des Dichters. Was darauf folgt, ist wiederum bekannt, mit Ausnahme jenes
Epigrammes, das Grillparzer auf Laube als seinen Paladin dichtete, als unter
dessen Leitung des Burgtheaters Grillparzers Dramen eine glänzende Wieder¬
erstehung in Wien zuteil wurde. Auf einen Zettel schrieb Grillparzer fol¬
gende Worte:
Laube — mein Paladin. Schon tot, wieder lebend geworden
Durch dich, mein tollkühner Sohn —
So nimm den Grillparzer-Orden,
Sonst hast du garnichts davon.
Laube hatte sich damals dieses Lob des Dichters redlich verdient. Umso-
mehr ist es zu bedauern, daß er sich die schöne Gelegenheit hat entgehen lassen,
seinen frühern Verdiensten um Grillparzer durch eine sorgsame Darstellung
seines Lebens die Krone aufzusetzen, und sich damit begnügt hat, einzelne wertvolle
Bruchstücke des Nachlasses durch eine mühelose und sehr unvollständige Wieder¬
erzählung bekannter Dinge zu einem Buche zusammenzustellen, das weder der
Bedeutung seines Helden noch der seines Verfassers entspricht.
n diesen Tagen findet eine Wiederholung des Devrientschen Luther-
Festspieles in Jena statt, welches zuerst im November vorigen
Jahres von einer großen Zahl von Bürgern, Dozenten und
Studenten Jenas aufgeführt wurde. Wir kommen also mit einem
Berichte über jene Novembertage jetzt gerade zu rechter Zeit.*)
Die Idee, den Reformator Luther zur Festfeier in lebender Nachbildung
darzustellen, hat ihr bedenkliches. Die Vorführung der Person Luthers auf den
Festzügen zu Erfurt und Eisleben darf als gänzlich mißglückt gelten. Die
Nachbildung tritt uns viel zu leibhaftig entgegen und viel zu nahe, um nicht
bei der handgreiflichen Unähnlichkeit Mißvergnügen zu erregen. In günstigerer
Lage ist die Bühne, welche über künstliches Licht, Szenerie und den ganzen
Theaterapparat verfügt. Aber auch hier bleibt des Mißlichen genug übrig.
Jeder hat in sich ein Bild Luthers, und jeder hat ein andres. Jeder verlangt,
daß dem geistigen Porträt auch das äußere Bild entspreche, und jeder liebt bei
der vielseitigen Person Luthers eine andre Seite. Es gehört, was Drama und
Aufführung betrifft, eine Meisterleistung dazu, um auf einen Erfolg rechnen
zu können.
Die Jenenser Aufführung kann sich eines großen Erfolges rühmen, sie ist
auch in der That nach Stoff und Darstellung eine ganz eigenartige Mcister-
leistung. Daß Otto Devrient, der bekannte Charakterspieler, welcher auch durch
seine originelle Jnszcnirung des „Faust" Aufsehen erregt hat, das Drama in noch
nicht vier Monaten vollendet hat, soll nur nebenbei erwähnt werden. Denn es
gereicht einem Kunstwerke nicht zur Entschuldigung, wenn es weniger gut aus¬
gefallen ist, weil man damit geeilt hat. Aber das muß rühmend hervorgehoben
werden, daß das Schauspiel, keineswegs ein Drama im fachmännischer Sinne,
den köstlichen historischen Stoff gut verwertet und künstlerisch gestaltet hat.
Hierzu kommt eine ausgezeichnete Juszenirung, welche auch der Schwierigkeit
einer räumlich ungenügenden Bühne in einer Weise Herr wird, daß man dieselbe
sehr wenig empfindet. Nicht minder bewunderswert aber ist, was er aus seinem
kleinen Heer von Dilettanten gemacht hat. Es sind Dilettanten geblieben; gerade
bei denen unter ihnen, welche sich bemühen, ein „durchdachtes" Spiel zu spielen,
merkt man es am meisten, bei andern, welche sich geben, wie sie sind, am
Wenigsten. Aber es ist von wohlthuendsten Eindrucke, einmal ganz von den
berufsmäßigen Schauspielermanieren verschont zu bleiben — um deswillen nimmt
man gern eine Unebenheit oder eine mißlungene Person in Kauf. Wie das
ineinander greift, wie flott das geht, wie natürlich sich jene Szenen gestalten,
in denen alles scheinbar ungezwungen durcheinander redet, das ist eine wahre
Freude! Das Stück - Inhalt und Aufführung — besteht siegreich die schwere
Probe, daß der Zuschauer sechs Stunden mit nur zwei kurzen Unterbrechungen
auf seinem Sitze aushält, ohne zu ermüden.
Das Festspielhaus ist nur ein kleines Gartentheater. Da nun ganz Jena,
halb Weimar und ein großer Teil des umliegenden Landes zu der Feier strömte,
so war es trotz vielfacher Wiederholung des Stückes für einen Auswärtigen
nicht leicht, Eintritt zu erhalten. Mir selbst ist es trotz langer Vorausbe¬
stellung nur durch Zufall möglich geworden, ein Billet zu bekommen. Schon
aus diesem Grunde, d. h. um auch weiter» Kreisen den Besuch des Festspielcs
zu ermöglichen, ist eine Wiederholung des Spieles im gegenwärtigen Mai will¬
kommen zu heißen.
Dem Drama geht eine Festouvertüre voraus, die der Komponist leider hat
zu gut machen wollen. Wir hätten sie einfacher, volkstümlicher gewünscht.
Und muß es denn immer nur „Ein' feste Burg" sein? Die alte choralmäßig-
rhythmische Volksweise wäre meines Trachtens angemessener gewesen als jene in
den Händen Meyerbeers nicht besser gewordene „feste Burg," die sich mühsam
aus einem wahren Dornbusch Wagnerschcr Harmonien hindurcharbeitet. Immer¬
hin störte sie nicht, wenn sie auch nicht den Hörer bis auf die Höhe der Si¬
tuation brachte. Wenn der Vorhang aufgeht, schauen wir in die vortrefflich
gemalten altertümlichen Straßen Erfurts. Das Gespräch von Erfurter Studenten
und Magistern, prächtigen Gestalten, buntfarbig und lebensfrisch, versetzt uns in
die Situation, den Streit des jungen Humanismus mit der alten Scholastik
und verkommenen Kirche. Bereits ist es die Bibel, ist es Luther, auf die sich
die Augen der Gegner Roms lenken. Da verkündigt Link, der nachmalige
Ordensgenosse Luthers und Prediger in Nürnberg, Luthers beabsichtigten Ein¬
tritt ins Kloster. Die Freunde sind entsetzt, Emser frohlockt. Luther geht auf
seinem Wege zum Kloster vorüber und ist durch nichts zu bewegen, den ver¬
hängnisvollen Schritt zu unterlassen.
Die folgende Szene zeigt uns seine Seelenkämpfe im Erfurter Kloster.
Es ist natürlich, daß Devrient hier seine ganze schauspielerische Kunst entfaltete.
Wir müssen jedoch in M-siM<zsi bemerken: etwas weniger wäre mehr gewesen.
Nüancen, die auch nur von ferne an Richard III. erinnern, muß ein Schau¬
spieler mit umso größerer Sorgfalt vermeiden, wenn er dem Publikum gerade
in dieser oder ähnlichen Rollen bekannt ist. Dann erscheint Staupitz, welcher
Luthern tröstet, auf die Schrift verweist und nach Wittenberg sendet. Dies
alles, sonst nur im Dialog verlaufend, kann als Exposition gelten.
Die zweite Abteilung führt ins eigentliche Neformationsdrama ein, sie be¬
handelt den Anschlag der Thesen und ist nach meinem Ermessen der vollendetste
Teil des ganzen Werkes. Hier deckt sich auch die Person Devrients mit der
Luthers, nämlich mit dem feurigen, jugendlichen Luther, am meisten. Der
Schauplatz ist natürlich der Platz vor der Schloßkirche in Wittenberg. Die
Kirche, deren untern Teil man sieht, ist zwar nicht in historischer, aber in
praktischer Weise auf eine Estrade gestellt, zu der eine Treppe emporführt.
Dies Arrangement gestattet eine höchst malerische Entfaltung der Massen.
Zunächst schreiten Luther und Staupitz über die Bühne, Luther mit Pergament,
Hammer und Nägeln; die Ablaßfrage bewegt beide. Luther voll Feuereifers
erhebt sich gegen den Frevel Roms am Evangelium. Stanpitz mahnt zur
Vorsicht.
Die Schuld trifft den nur, der den Unfug lehrt.
Staupitz.
Den trifft sie mit, der nicht dem Unfug wehrt!
Duell alle nur euch unters Joch,
Jetzt schlag' ich dieser Pauke ein Loch,Luther. (wendet sich.)
Staupitz (ihn aufhaltend). Nur nit mit dem Kopf durch die Mauer gerannt,
Es giebt ja Thüren in der Wand!
Luther. Recht! An die Thür schlag' ich die Thesen,
Da kanns die ganze Gemeine lesen.
Staupitz rät ab mit dem Hinweis auf seinen Schützer und Gönner, den Kur¬
fürsten Friedrich, der seine Reliquien in der Kirche habe; gegen ihn und seinen
Ablaß richte sich also Luthers Vorgehen ebensosehr. Luther denkt höher von
seinem Kurfürsten: „Er heißt der Weise, hier mag ers zeigen." Staupitz läßt
es dann geschehen, zufrieden, wenn er von der That nichts wisse, und geht.
Die Glocken beginnen zu läuten. Luther tritt an die Kirchthür, faltet die Hände
über seiner Rolle und kniet betend nieder. Dann erhebt er sich kräftig und
schlägt mit vier Nägeln das Pergament an die Thür, indem er bei je einem
der Nägel spricht:
Gekreuzigter! in deinem Namen streit' ich,
Gekreuzigter! dein Lösungswcrk bereit' ich,
Gekreuzigter! dem' Nägelmale schlag' ich,
Gekreuzigter! Vergönn's! dein Leiden trag' ich.
Wenn man das so liest, macht es vielleicht keinen Eindruck; in der Aufführung
aber war es ein Moment von fast sakramentaler Weihe.
Luther steigt dann die Treppe herab und begegnet den ersten Kirchgängern.
Wenige hin- und hergesprochene Worte geben Zeugnis von seiner Seelsorge
in der Gemeinde. Da steht ein Schmiedegeselle und blickt scheu beiseite.
Hast du's gestanden?
Luther. Wetter hergetragen.
Claus (dumpf).
Das genügt nit, du mußt's deinem Meister sagen!
Luther. Da schlät er mich.
Claus. Das leid'!
Luther. Er weeß ja nichts.
Claus. Kannst du ihn ansehn offnen Angesichts?
Luther. Herr Dukter!
Claus. Soll er dir ins Auge schaun,
Arglos und dürfte doch dir nit vertraun?Luther.
Claus. Die schulg' sin's nich! ich Scham' mich bloß so sehr!
Drückt das Gefühl, ein Dieb sein, nit viel mehr?
Luther. (Legt ihm die Hand auf die Schulter:)
Geh' hin, mein Jung'! Richt's aus! Und komm froh wieder.
Dann schlägst du nimmer deine Augen nieder.
Eine kleine Szene, aber vortrefflich gespielt und von sehr guter Wirkung. In¬
zwischen kommen andre Kirchgänger, Bürger und Handwerker, darunter auch
Kranach, man schreitet durch die Thür, ohne von dem Anschlag Notiz zu nehmen.
Da bleibt einer wie zufällig davor stehen. Ein andrer gesellt sich dazu; während
das Leben auf dem Platze ruhig seinen Gaug geht, wird die Gruppe vor der
Kirchthür immer größer. Die Schrift ist lateinisch, man ruft einen Studenten,
der schlägt halloh und ruft die Bursche herbei. Die eilen von allen Seiten
heran, umlagern die Thesen, rufen Vivat ans Luther und übersetzen den Text
den Bürger». Jeder neue Satz fährt wie eine Brandfackel in die Menge. Die
Aufregung wird immer größer. Da kommt — so präzis, wie es freilich nur
auf der bretternen Welt zu geschehen pflegt — ein Ablaßkrämer mit seinen
Gehilfen die Straße herauf. Emser führt den Zug und vertritt die katholische
Lehre gegen die Freunde Luthers. Uuter den Studenten geht etwas vor, offen¬
bar präparirt man einen Schabernack. Inzwischen hebt der Ablaßkrämer seine
Kapuzinerpredigt an. Eine arme Frau, welche glaubt, durch eine Verwünschung
das schlimme Auge ihres Kindes verschuldet zu haben, bittet um Ablaß; da
sie keinen Gulden hat, wird sie schnöde abgewiesen. Eine andre Frau mengt
sich ein:
Frau Lindemann . Komm Jüngelin! dein Augur zeig!
'Ja, s ist ein lumpig Gerstenkorn,
Dn ist's nicht viel mit Gottes Zorn.
Mein Mann ist Arzt, der heilt dein'n Sohn
Ohr Ablaßzettel mit Milch und Mohn.(lachend:)
Daß die so belehrte Frau die schwere Not über den Ablaß ruft, ist natürlich.
Da kommt einer der Studenten, eine prächtige, frische Figur mit erheuchelter
Sündermiene, reicht seinen Gulden und will Ablaß für künftige Sünden. Es
ist der bekannte Streich, der von einem sächsischen Edelmanne Tetzel gespielt
wurde, der aber hier geschickt eingeflochten ist. Der Student weiß für sechs
Dukaten einen Zettel zu erlangen; kaum hat er ihn, stürzt er mit seinen Kom¬
militonen über den Ablaßkrämer her, wirft seinen Kram um, zerstreut die Zettel
in alle Winde und treibt allerlei Unfug. Es ist ein Moment von solcher un¬
mittelbar packenden Wirklichkeit, daß man das Theater ganz vergißt. Wenn
auch zu einer solchen Szene Jenenser Studenten geborene Schauspieler sind,
so ist es doch keine Kleinigkeit, die Sache künstlerisch zu inszeniren. Eben als
der Ablußkram mit einem Spottrequicm zu Grabe getragen werden soll, erscheint
Luther in eiligen Schritten und stiftet Ordnung. Man will ihn für den Unfug
verantwortlich machen; er lehnt es ab. Man fordert, daß er seine Thesen
zurücknehme, daß er fürchten solle, vor den Papst gefordert zu werden; er
entgegnet:
Und zündet ihr ein Feuer an
Vom Höllenschlund bis himmelan,
So stelle ich mich und lass' mich hören,
Und sollten zehntausend Teufel wehren!
Dies letzte Wort, das eigentlich kurz vor der Reise nach Worms gesprochen wurde,
leitet uns unmittelbar zum Wormser Akte über.
Aber es ist nicht möglich, in gleicher Ausführlichkeit eine Analyse des ganzen
Stückes zu geben. Wir beschränken uns auf einige Reflexionen. Devrient ist
der Versuchung entgangen, das Wormser Bild mit dem versammelten Reichstage
zu beginnen; das hätte ein malerisches, aber kein dramatisches Bild gegeben.
Wir sehen in den noch leeren Saal; hier treffen sich die Freunde des Reformators,
Spalatin, Jonas und Amsdvrf, hier erscheint auch Luther, indem angenommen
wird, daß er durch den leeren Saal in das Wartezimmer geführt wird, hier
spricht Frundsberg die bekannten Worte. Nun füllt sich der Saal, die Kur¬
fürsten, die geistlichen Würdenträger erscheinen in großem Ornate, der Kaiser
gar — in Krone und Mantel. Wenn ich nicht irre, habe ich irgendwo gelesen,
daß der Kaiser am ersten Tage lange auf sich habe warten lassen, da er auf
der Jagd weilte, und daß er der Sitzung im Jagdkostüm beigewohnt habe.
Doch das sind Nebensachen. Bedenklicher ist, daß Devrient im Interesse der
dramatischen Belebung den Verlauf der Sache so tumultuarisch gestaltet hat,
daß eigentlich der Kaiser hätte seine Leibwache rufen müssen. Nachdem die
Sitzung, wie es denn auch historisch ist, in formloser Weise geschlossen worden
ist,° bleibt Luther mit seinen Freunden in dem leeren Saale zurück, und hier
werden nun die Szenen angeschlossen, die sich eigentlich in der Herberge oder
bei den Verhandlungen der nächsten Tage abspielten. Kurfürst Friedrich äußert
zum Schluß seine Absicht, Luther in der Wartburg verschwinden zu lassen.
Die Wartburg, Luthers innere Kämpfe, seine Arbeit an der Bibel und sein
Aufbruch nach Wittenberg werden im nächsten Bilde gezeigt. Hier ist die dra¬
matisch nicht unbedenkliche Szene mit dem Tintenfaß sehr geschickt umgestaltet
worden. Der Junker Georg greift im Monologe zum Schwert, um Teufel und
Antichrist damit zu vertreiben, er schwingt die Klinge, daß sie saust, hält aber
plötzlich ein und ruft:
Was summst denn da sür ein Gebrumm
Mir miickenhast uns Haupt herum.
Flöße mit dem Stachel spitz und sein
Die Scttansmuck ihr Gist mir ein?
Ein' Muck sitzt mir im Kopfe drin!
Das ist das Ritterjörgcntum,
Das kitzelt deinen Eitelsinn
Und lüftet nach Martyrium!
„steck ein das Schwert an seinen Ort,"
Du falscher Junker! Dein' Wehr ist's Wort!
^.xsgs, axsxo 8at,g,uns!
Mein' Waffen ist das Tintenfaß!
Die schwarze Flut dir über'n Schöpf!
(er wirst das Tintenfaß, daß es an der Wand zerschellt.)
Das ist das Blut, das fließt für mich!
Die Faust thut's nit! hier thut's der Kopf!
Den Fcdcrflamberg schwinge ich,
Das ist mein' Waffen und mein' Wehr!
In der fünften und sechsten Abteilung kommt die individuelle Seite der
Reformation zu „ihrem Rechte. Das Kloster Nimpschen zeigt uns den Kampf
der persönlichen Überzeugung mit den starren kirchlichen Formen. Im Vorder¬
grunde steht Katharina von Vora, um sie gruppiren sich die Nonnen. Hierauf
werden wir in das bekannte treu nachgebildete Lutherzimmer im Augustinerkloster
zu Wittenberg versetzt und sind Zeugen der Verlobung Luthers und sogar seiner
Vermählung. Man könnte Bedenken haben, daß diese Szenen dramatisch vor¬
geführt werden, Luthers Verlobung, die auch von vielen seiner Freunde lange
gemißbilligt wurde und noch heute ein Angriffsobjelt der Gegner bildet, und
seine Vermählung, welche als ein religiöser Akt nicht auf die Bühne gehört.
Auf jeder Bühne möchte ichs auch nicht sehen. Aber in diesem Orte und in
dieser Vorführung hat es nichts peinliches, sondern sogar rührende und er¬
greifende Momente.
Die letzte Abteilung, welche schon vor der ersten Aufführung verschiedene
Umarbeitungen erfahren hat, könnte eine abermalige Umarbeitung und Kürzung
vertragen. Die Handlung liegt zwanzig Jahre später, und die Bemühung des
Dichters, im Dialog den Zusammenhang mit dem vorigen Akte herzustellen,
führt zu Wiederholungen und Stockungen. Es genügt, den Moment, wie er
ist, zu schildern und die Töne, welche erklingen sollen, den Streit der Refor¬
matoren untereinander, die Befürchtungen wegen des drohenden Schmalkaldischen
Krieges und die Todesahnungen Luthers, nur je einmal anzuschlagen. Aber
wir werden durch den Schluß entschädigt und befriedigt. Luther feiert Weih¬
nachten im Kreise seiner Familie; zuletzt ergreift er seine liebe Laute und singt
mit Weib und Kind fromm und leise:
Mit Fried' und Freud' ich fahr' dahin
In Gottes Wille.
Keiner der Zuschauer hat sich dem tiefen Eindrucke dieses Schlusses entziehen
können.
Der Leser wird aus dieser Skizze hoffentlich den Eindruck gewonnen haben,
daß wir in dem Jenenser Festspiele eine Gabe des Lutherjahres besitzen, deren
wir uns aufrichtig freuen können, und daß es sich wohl verlohnt, dahin zu reisen.
Einen Wunsch möchte ich zum Schluß aussprechen: wenn die Absicht bestehen
sollte, auch später eine Wiederholung des Festspieles zu veranstalten, daß dies
nicht zu bald geschehen möchte.
aut fühlte eine Art von Ärger über sich selbst. Ich zähle
dreißig Jahre, sagte er zu sich, das ist das Alter des männ¬
lichen Verstandes und des mutlosen Skeptizismus. Ich habe
an den Schläfen Weiße Haare, welche mir sagen, daß die Ju¬
gend dahin ist. Ich habe unter allen Breitengraden mit Frauen
jeder Farbe die Komödie der Leidenschaften gespielt, unter den verschiedenartigsten
Schattirungen der Haut das Zittern der Sinnenlust gefühlt, und heute, wo ich
einem sanften Auge und einem unbefangenen Lächeln begegne, lasse ich es in
meine Seele eindringen, wie das erste beste Gesicht einer nicht gar zu häßlichen
Frau in das Neulingsherz eines Schulbuben dringt? Ach was! Soll ich denn
ewig ein Knabe sein?
Aber darauf suchte er nach mildernden Umständen für sein Vergehen. Ja,
ich habe bis jetzt in der Liebe nichts weiter als Gefühlskomödie und Sinnenlust
gefunden. Die eine wie die andre wurde mir schließlich zum Ekel. Aber wenn es
nun in Wirklichkeit etwas größeres und besseres gäbe und meine Seele darnach
verlangte, um für die Schmerzen sovieler Enttäuschung Vergeltung und Be¬
lohnung zu finden? Glaube ich, oder glaube ich nicht? Ich habe gemeint, ich
wäre stark, nachdem ich jeden Glauben abgeworfen. Aber mir ist nichts als
die Ode und Leere der Verneinung geblieben, und die ist für meine Seele das¬
selbe, was die Entbehrung der Luft für die Lungen ist. Bin ich überhaupt
noch so geartet, daß die Hand eines irdischen Engels mich aufrichten und zu
den blumigen Ufern des Glaubens und der Liebe geleiten kann?
Er schüttelte das Haupt, als wollte er sich aus dem Wirbel dieser Ge¬
danken losreißen, und sagte entschlossen mit erzwungener Heiterkeit zu sich selbst:
Sehen wir uns jetzt nach einer meiner bittersten Enttäuschungen um, wie sie
in der bestrickenden Schönheit einer Kokette verkörpert ist. Ich will bei der
Gräfin Beldoni den Geistreichen spielen!
Er schritt durch das dazwischenliegende Zimmer, trat in den Tanzsaal und
lehnte sich mit einer Schulter an den Thürpfosten, sodaß er vor dem Gedränge
der Zuschauer geschützt blieb.
Man tanzte einen Kontretanz. Die Gräfin gehörte zu einem der Paare,
welche in diesem Augenblicke pausirten. Vor ihr bewegten sich im schönsten
Takte die ZZn-avMt-äenx und die Vömi-ciuöug3-as-<zeig.t. Sie benutzte die Pause,
um mit ihrem Kavalier und einer Gruppe der hinter ihr sich drängenden Stutzer
laut zu plaudern und zu lachen. Die jungen Herren waren alle untadelhafte
Befolger der Vorschriften des letzten Pariser Modejournals. Mähnen, Bärte,
die Hemdenkragen, Kravatten, Fracks, Schuhe, Handschuhe, alles entsprach mit
Peinlicher Genauigkeit dem neuesten Mas der Mode. Der erste Friseur und
der erste Schneider der Welt würden einen Ruf der Bewunderung ausgestoßen
haben. Man hätte sie Ausschnitte aus den Modejournalen nennen können, die
ins Leben gerufen waren, um der Gräfin als Gefolge zu dienen.
Mitten in diesem Trupp von zahmen „Löwen" stand die Gräfin und
schüttelte ihre in reizendster Unordnung herabfallenden Locken. Sie war er¬
sichtlich bemüht, in jener Art der Konversation, in welcher das Wort wie der
Ball zum Vallnetze zurückfliegt, zu schlagen und zurückzuschlagen; und doch
schien diese Heiterkeit durch eine gewisse Zerstreuung und einen leichten Verdruß
verschleiert zu sein, denn ihr Blick richtete sich häufig auf die Korridorthür,
durch welche die Neuankommenden einzutreten pflegten.
Paul bemerkte dies.
Sie erwartet jemanden, sagte er zu sich. Wen? Vielleicht mich?
Er mußte selbst darüber lächeln.
Es kann sein, fügte er hinzu, daß mein Herz noch nicht ganz abgestorben
ist, aber jedenfalls ist diese verdammte Eitelkeit in mir noch immer so lebendig
und stürmisch wie früher.
Und doch hatte diesmal seine Eitelkeit Recht. Ein Blick der Gräfin war
durch Zufall auf die Thüröffnung gefallen, in welcher Pauls kluges und
forschendes Gesicht erschien. Mit einemmale hörte sie auf, nach dem andern
Eingange zu blicken, und wandte ihre Augen nicht mehr von der Stelle, wo
Paul stand.
Als der Kontretanz zu Ende war, sagte sie zu ihrem Kavalier: Man
erstickt hier vor Hitze, ich muß auf der Terrasse frische Luft schöpfen.
Sie ging, und hinter ihr zog der ganze Schwarm ihre Anbeter. Als
Paul sah, daß sie mit ihrem Gefolge auf ihn zukam, hatte er erst die Absicht,
ihr auszuweichen und, ohne mit ihr zu sprechen, davonzugehen. Er war über¬
zeugt, daß der eigentliche Zweck, welcher sie nach dieser Richtung trieb, kein
andrer sei, als ihn zon Zeugen ihrer Triumphe zu machen und ihn in die
frühern Liebesnetze zu verstricken. Aber die Gräfin kam näher und näher,
plauderte und scherzte ganz unbefangen mit ihrem Begleiter und blickte nach
allen Richtungen, nur nicht nach der Stelle, wo Paul stand, sodaß dieser an¬
nehmen konnte, sie suche ihm auszuweichen.
Es ist entschieden! sagte er zu sich, sie will mich nicht bemerken. Desto
besser!
Als sie indessen nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, warf sie
auf ihn einen Blick, der klar und deutlich wie ein Kommando sagen sollte: He!
seid Ihr hier? Gut! Dann kommt und sprecht mit mir.
Paul gehorchte beinahe unwillkürlich, er trat näher und verbeugte sich.
Inzwischen hatte das Auge der Zauberin schon wieder eine» andern Aus¬
druck angenommen. Sie fixirte unsern Helden, als ob sie sich auf seinen Namen
nicht zu besinnen vermöchte.
Ah! rief sie auf einmal aus, Herr Amardi, wenn ich mich nicht irre?
Paul verbeugte sich zum zweiten male.
Die Gräfin reichte ihm kameradschaftlich die Hand. Es macht mir großes
Vergnügen, Sie zu sehen. Ich habe schou vom Doktor gehört, daß Sie an¬
gekommen sind. Sonst hätte ich Sie garnicht wiedererkannt. Es sind schon
einige Jahre her, daß wir uns nicht gesehen haben. Ich glaube zwei bis drei.
Sechs, antwortete Amardi kühl.
Sie schüttelte ihre langen Locken, um eine leichte Röte auf ihrem Gesichte
zu verbergen. Jedenfalls, sagte sie kokettirend, hat diese Zeit genügt, um Ihre
Freunde bei Ihnen in Vergessenheit zu bringen.
Nein, Frau Gräfin, mir hat es keine Mühe gekostet, Sie wieder zu
erkennen.
Ha! Das ist eine Spöttelei!
Ich habe geglaubt, Ihnen ein Kompliment zu machen. Ich wollte damit
sagen, daß diese sechs Jahre über Ihre Stirne hinweggezogen sind wie eine
Stunde.
Die Gräfin gab ihm mit dem Fächer einen leichten Schlag auf die Hand.
Inzwischen war in den frisirten und pomadisirten Köpfen der Begleiter
die Neugierde und Eifersucht rege geworden. Man flüsterte einander zu, der
Unbekannte sei ein Journalist, der, um sich ein größeres Ansehen zu ver¬
schaffen, über das Weltmeer gegangen und nun aus Amerika zurückgekehrt sei.
Aber das sei doch noch kein hinreichender Grund, um die Auszeichnung
eines schmeichelhaften Empfanges von einer Dame zu erlangen, die in der Regel
nur für vornehme und elegante Verehrer ein Lächeln übrig habe. Noch
schlimmer wurde es, als man sah, daß die stolze Gräfin ihren Arm aus dem
ihres hochmütigem Kavaliers zog und mit einer beinahe herausfordernden Ver¬
traulichkeit in den Arm des Neuangekommenen legte. Sie sagte: Sie müssen
einen Vorrat von amerikanischen Geschichten mitgebracht haben, die ebenso
interessant sind wie die Märchen von tausend und einer Nacht. Und Sie wissen
ja, daß ich ganz erpicht auf Erzählungen bin. Hat Ihnen denn der Doktor
gesagt, daß ich förmlich vernarrt in Ihren Hund bin? Sie sollen mir beim
Scheine der Sterne manch hübsches Abenteuer erzählen, und Sie müssen mir
Ihren Azor mit dem unaussprechlichen Namen verkaufen.
Die Gräfin betrat, um unbemerkt zu bleiben, auf Pauls Arm gestützt die
Terrasse. Ihre Schultern waren entblößt, und das helle Rot der zartesten
Haut trat ans dem hellblauen, ausgeschnittenen Kleide in der verführerischsten
Weise hervor. Das Kleid war von so überaus feinem Stoffe, daß es die
schönen Glieder nur mit einem Nebeldunst zu verhüllen schien. Die Locken
fielen wie ein seidener Schleier von blaßgoldner Farbe über die von der Hitze
des Tanzens belebten Wangen herab, die Verlangen und Sehnsucht atmenden
Lippen wetteiferten an Röte mit ihrem korallenen Halsbande, eine heiße Flamme
strahlte aus ihren schwarzen, großen, weitgeöffneten, feuchten, lachenden, ge¬
bieterischen Augen.
Warum seid Ihr so spät gekommen? fragte sie mit strengem, beinahe mi߬
mutigen Tone. Sie redete Paul mit „Ihr" an, nach einer von den Floren¬
tiner Damen angenommenen Gewohnheit. Hat Euch der Doktor nicht gesagt,
daß ich hier sei und Euch erwarte?
Paul Pflückte von dem in der Nähe stehenden Oleander eine Blüte, labte
sich an ihrem Duft und betrachtete den in sanfter Ruhe strahlenden Mond, der
jetzt am höchsten Himmelszelte erschienen war.
Was für eine schöne, zaubervolle Nacht! sagte er. Mond, Blumen, Schön¬
heit — die drei herrlichsten Elemente der Poesie.
Die Gräfin stampfte in fieberhafter Ungeduld mit den Füßen auf das
Pflaster der Terrasse.
Ich bin der schönen Redensarten satt. Diese Herrchen versehen mich damit
zu Hunderten bei jeder Walzertour. Glaubt Ihr, ich hätte Euch diese Unter¬
redung bewilligt, nur um von Euch eine andre Ausgabe von solchen Gemein¬
plätzen zu hören?
Ah! Frau Gräfin, Sie haben mir ein viel zu großes, unverdientes Glück
gewährt, wodurch ich mir schon ein Dutzend unversöhnlicher Feinde zugezogen
habe. Ich sehe unter jenen Bärten Z, 1'g,nZ1al8s und unter jenen zugeschnürten
Pariser Kravatten das schlecht verhehlte Knirschen des Neides.
Die Gräfin zuckte mit den Achseln.
Bekümmert Ihr Euch denn um dieses Volk?
Warum nicht? Sie scheinen mir alle einer solchen Gunst weit würdiger zu
sein als ich. Jedem von ihnen ist ein Wappen auf dem stolzen Gesichte auf¬
geprägt.
El! Da haben wir wieder Eure demokratische Ironie!
Nein! Ich rede in allem Ernste. Ich kenne Ihre Vorliebe, Glasir.
Das ist recht schlecht, Herr Paul. Ich komme als Freundin zu Euch, und
Ihr empfangt mich mit einem Feuer von Spottreden.
Blindes Feuer, Frau Gräfin.
Ihr habt ja auch ein Wappen.
Ich? Das habe ich noch nie entdeckt.
Euer Talent.
El! Das klingt ja noch schlimmer als Spott.
Das Genie verleiht den Adel.
Wirklich? Glauben Sie das?
Das wißt Ihr recht gut!
Wahrhaftig nicht.
Die Gräfin warf ihm einen ihrer zärtlichsten Blicke zu.
Erinnert Ihr Euch nicht an Florenz?
Eine Wolke zog über Pauls Stirn.
Oh! Ob ich mich daran erinnere!
Hört mich an! fuhr sie fort mit jenem Florentiner Accent, der im Munde
einer jungen Dame wie die reizendste Musik klingt. Hört mich an! Kommt
Euch diese Nacht nicht vor wie eine von jenen, die wir dort verlebten? Vor
allem ist mir eine im Gedächtnisse geblieben. Es war bei den Cascinen. Ich
zu Wagen, Ihr zu Roß. Wenig Equipagen, noch weniger Spaziergänger.
Die Luft im tiefsten Schweigen, die Erde besäet mit Leuchtkäfern, der Himmel
mit Sternen —
Paul fiel ihr ins Wort: Es wäre besser, wir sprächen nicht von dieser Zeit.
Warum nicht? Merkt Ihr denn nicht, daß ich diese Unterredung mit Euch
nur zu dem Zwecke angeknüpft habe, um das Gespräch auf dieses Thema zu
bringen? Ihr habt damals plötzlich Florenz verlassen, ohne daß ich jemals
habe erfahren können, warum. Ihr habt mir ein Rätsel zu raten aufgegeben
und mich neugierig gemacht, weil ich immer allen Dingen auf den Grund sehen
möchte. Es ist ja möglich, daß Ihr Euch in Euerm wunderlichen Kopfe ein¬
gebildet hattet, ich hätte Euch irgendein Unrecht zugefügt. Ich erinnere mich,
daß ich Ihr immer den Empfindlichen spieltet. Aber Ihr habt jedenfalls
xas trox «Ävalierörukiit gehandelt. Heute — ich hatte kaum gehört, daß Ihr
hier wäret, so sagte ich mir: Vortrefflich! nun wird man endlich die Auflösung
des Rätsels zu hören bekommen.
Wohlan, es sei! sagte Paul entschlossen. Er sann einen Augenblick nach
und fuhr dann fort: Sie haben mir vorhin gesagt, daß Sie gern kleine Ge¬
schichten hören. Ich will Ihnen eine erzählen, aber sie spielt nicht in Amerika,
sondern in Florenz.
Herrlich! Erzählen Sie nur! erwiederte die Gräfin mit einem sarkastischen
Tone, unter dem sich ein wenig Aufregung verbarg.
Paul fing also an zu erzählen: Es war einmal —
Ein König? fiel ihm die Gräfin lachend ins Wort.
Nein, eine Königin im Reiche der Grazie und Mode. Sie hieß —
Sagt nur gerade heraus: Laurette.
Ihr eigner Name, Frau Gräfin, paßt vortrefflich. Sie hieß also Laurette.
Sie empfing die Huldigungen von tausend und abertausend Kavalieren, aber —
halt! Einen Augenblick! Es ist doch selbstverständlich, daß die Frau Gräfin
mir für diesen Ausnahmsfall absolute Redefreiheit gestattet?
Ihr seid an den Mißbrauch der Preßfreiheit gewöhnt, ich werde wegen
dieser eingewurzelten Gewohnheit gnädig sein.
Paul verbeugte sich und fuhr dann fort: Aber die tausend und abertausend
der vornehmsten und wackern Sklaven genügten ihrem Stolze als Souveränin
nicht, sie wollte die ganze Welt unter ihr Joch beugen.
El! Also ein Napoleon in Weiberkleidern?
Und in blonden Locken. Aber sie war so launenhaft, daß jeder, der sich
in die Liste ihrer Unterthanen hatte eintragen lassen, in ihren Augen bereits
die Hälfte seines Wertes einbüßte; wenn aber einer gegen ihre Herrschaft wider¬
spenstig oder gleichgiltig war, auf den richtete sie alle ihr zu Gebote stehenden
Verführungskünste.
Mein Herr!
Wir sind erst beim Anfange. Wollen Sie, daß ich schweige, so brauchen
Sie nur ein Wort zu sagen, und ich breche hier ab, ohne das „Fortsetzung
folgt" hinzuzufügen.
Nur weiter, weiter!
Nun kam zu jener Zeit in ihr Königreich auch ein armer Fremder —
Ein unschuldiger? fragte die Gräfin ironisch.
Eine ehrliche Seele. Er zählte vierundzwanzig Jahre und brachte einen
unendlichen Schatz voll Liebe und, um ihn der Dame seines Herzens zu Füßen
zu legen. Er gehörte zu denen, die von Haus zaghaft und ehrerbietig sind.
Er hatte allerdings schon das leichtfertige Leben der Welt kennen gelernt, hatte
aber noch über gewisse tiefe, zarte und schüchterne Gemütsstimmungen zu ver¬
fügen. Er hielt sich dieser triumphirenden Schönheit gegenüber für ein wahres
Nichts. Und doch brachte ihn soviele Herrlichkeit ganz außer Fassung. Er
beschränkte sich darauf, sie von weitem zu bewundern, wie ein armer Teufel es
mit dem an der Stirn einer Herzogin erglänzenden Diamantendiadem macht.
Aber ein glücklicher Zufall warf einen Lichtstrahl auf den Namen dieses ganz
obskuren Menschen, und dadurch wurde die Aufmerksamkeit jener Dame auf
diese arme Null gezogen. Warum, sagte sie sich, soll ich diese Ziffer nicht auch
zu der Totalsumme meiner Anbeter hinzufügen?
Seid Ihr ganz sicher, daß sie dies so gesagt hat?
Lassen Sie mich das Privilegium der Romanschriftsteller benutzen, wonach
sie im Herzen und Hirn ihrer Helden lesen dürfen.
Ach ja, ich vergaß, daß Ihr einen Roman erzählt.
Eines schönen Tages sagte ihm ein edler junger Florentiner — er war
ein Freund des Fremden, aber nicht von Adel —: Weißt du was? Die Frau
Laurette wünscht, daß du dich vorstellen läßt. Ach, Gräfin! Welche Wonne
für den Ärmsten! Wer könnte Ihnen die verführerische Anmut schildern, mit
der die Zauberin ihm entgegenkam! Sie wollte geliebt sein. Kurz, es dauerte
keine acht Tage, so liebte sie der junge Mann so leidenschaftlich, daß er an
nichts dachte als an sie, daß er in der Sehnsucht nach einem Lächeln von ihr
alles, Vaterland, Familie, Ruhm und Manneswürde vergaß!
Da hat er sehr Unrecht daran gethan. Und sie hatte auch Unrecht, daß
sie aus Edelmut oder aus Höflichkeit es unterließ, bei den ersten Worten von
Liebe, die er sich unterstand an sie zu richten, ihm Stillschweigen aufzuerlegen.
Sie reden wie ein moralisches Buch. Aber wissen Sie, was nun geschah?
Hören Sie! Es war schon ein großer Schritt, daß der Treuherzige durch seine
flammenden Blicke seine Leidenschaft offenbarte, aber das genügte der Dame
noch nicht, denn der blinde Liebhaber hatte im Gefühle seines Nichts noch kein
Sterbenswörtchen von Liebe zu sagen gewagt. Sie wollte erst noch das
Wunder vollbringen, dem Stummen die Sprache zu verleihen, und war neu¬
gierig, zu hören, in welcher Sprache der ebenso furchtsame als leidenschaftliche
Anbeter reden würde. Er hatte bisher immer vermieden, mit ihr allein zu sein,
und war schon durch den bloßen Gedanken daran in Schrecken gesetzt worden.
Überdies war die Blödigkeit des Neulings durch gewisse Skrupel verdoppelt.
Es gab nämlich noch einen Ehemann, welcher dem Unerfahrnen als die Figur
eines Edelmanns von altem Schrot und Korn erschien; und der Treuherzige
war noch zu jung, um unter der äußern Gutmütigkeit beißende Ironie und
ohnmächtige Bosheit wahrnehmen zu können.
El! Ihr verschont ja niemand. Ihr müßt zugeben, daß ich mehr als
gutmütig bin, wenn ich Euch noch weiter zuhöre.
Eines Tages befanden sich, in Laurettens Salon jener junge Mann,
ferner der Freund, der ihn vorgestellt hatte und selbstverständlich auch die
Dame. Sie sah in der schmachtenden Haltung einer Romanheldin schöner aus,
als je. Der Freund erhob sich und streckte die Hand aus, um Abschied zu
nehmen, der junge Mann machte eine Bewegung, um dem Beispiele zu folgen;
er saß dicht neben ihr, und seine Knie berührten leicht ihr aufgebauschtes Kleid.
Da ergriff eine kleine, aber nervigte Hand heimlich die seinige und preßte sie
heftig, und eine leise, aber befehlshaberisch und demütig zugleich ertönende
Stimme flüsterte ihm zu: Bleibe! Der Ärmste fiel auf seinen Sessel zurück
und wurde kreidebleich, und das Herz begann ihm so heftig zu schlagen, daß
es seine Brust zu zersprengen drohte. Sie blieben allein.
Gehen wir darüber hinweg.
Er liebte sie von nun an noch mehr als zuvor, wenn das überhaupt
möglich war. Er hätte sein Leben für diese Frau dahingegeben. Aber sie
mußten sich trennen. Sie ging auf ihr Landgut, er in seine Heimat. Die
Konvenienz erheischte es. Er fühlte beim Abschiede einen unbeschreiblichen Schmerz,
der nur durch den Gedanken an die Freude des Wiedersehens gemildert wurde.
Dagegen war sie die heiterste Frau von der Welt. Der junge Mann nahm,
um sich zu trösten, den Gedanken an sie und an die erlebten Stunden mit.
Das Leben erschien ihm so schön wie nie, seine Familie, die ihn mit offenen
Armen empfing, erkannte ihn garnicht wieder, von seiner früheren Verzagtheit
und Schwermut war nichts mehr zu bemerken. Endlich kehrte er zurück und
durfte sie wiedersehen. Aber mit welcher Kälte nahm sie ihn auf! Welche
Scheidewand wußte sie jetzt zwischen sich und dem Unglücklichen zu ziehen! Ich
kann Ihnen nicht sagen, was der Ärmste duldete. Es würde meine Geschichte zu sehr
aufhalten. Ich eile also zur Krisis, die entweder seinen Tod oder seine Genesung
herbeiführen mußte. Wie Ihnen nicht unbekannt sein wird, ist er nicht gestorben.
Ach! und diese Krisis? sagte sie halb neugierig, halb verdrießlich, in einem
ironischen und übermütigen Tone.
Jetzt kommt die Auflösung des Rätsels, wie Sie es früher nannten. Es
war auf einem Balle, auf einem von jenen glänzenden Festen der geistreichen
und gastlichen Gesellschaft von Florenz. Wie schön war Laurette! Die ganze
Männerwelt huldigte ihr, alle Damen wollten vor Neid und Ärger vergehen.
Sie war gegen jedermann heiter, freundlich, liebenswürdig, ich möchte sagen,
herausfordernd; aber zwischen ihr und dem unglücklichen Verliebten hatte sie
eine Scheidewand von Eis aufgetürmt. Er verzehrte sich vor Wut, und wilde
Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Um die in Fieberhitze glühenden Schläfen
durch die frische Nachtluft abzukühlen, eilte er auf einen Balkon. Eine große,
herabfallende Portiere entzog ihn den Blicken der Gesellschaft. Unmittelbar
darauf kamen zwei Damen und nahmen ganz nahe bei ihm Platz, und zwar
so, daß zwischen ihnen und dem jungen Manne sich nur der Vorhang befand.
Ha!
Es waren Laurette und eine ihrer Freundinnen. Er fühlte, daß sein
ganzes Innere sich plötzlich in Aufruhr befand. Aber wie wurde ihm erst, als
er hörte, daß von ihm die Rede war!
Und Ihr hörtet?
Der Unglückliche hörte alles!
Ihr könnt Euch denken, daß ich nach sechs Jahren mich nicht an jedes
Wort erinnern kann, welches auf einem Balle gewechselt wird.
Sie erinnern sich nicht? Nichts natürlicher als das. Aber ich erinnere
mich an jedes dieser Worte, denn es hat sich meiner Seele mit feurigen Buch¬
staben eingeprägt.
Euer Horchen war eine Indiskretion.
Es war das Werk des Schicksals. Und wenn ich auch gewollt hätte, ich
hätte mich nicht entfernen können. Gieb Acht, sagte die Freundin, dieser arme
Amardi irrt hier mit einem so verzweiflungsvollen Gesichte umher, daß man
einen Exzeß befürchten muß. Er wird dich am Ende kompromittiren! — Mich
kompromittiren? rief sie stolz im Gefühle ihrer verletzten Würde aus. Mich
könnte ein solches Dings da kompromittiren? Ein Tintenklexer? Geh!
Mein Herr!
Es waren genau diese vornehmen Ausdrücke. Und doch, erwiederte die
Freundin, empfängst du ihn, und er gehört zu deinen Juliner. . . . Pah! fiel
ihr die Frau Gräfin ins Wort, mit dieser Art von Leuten hat das keine Kon¬
sequenzen. Sie dienen zum Amüsement der Gesellschaft und quälen sich irgend
ein Bonmot zu sagen, welches geistreich erscheinen soll. Dieser spielt mit meinem
Manne Whist. Und dient als Ableiter, fügte die andre Dame mit boshaftem
Lachen hinzu; darauf klopften Sie ihr mit Ihrem Fächer auf die Finger —
ganz ebenso wie Sie es vor zehn Minute» mit mir machten —, und riefen lachend
und im Tone des Zugeständnisses: Boshafte! Heutzutage, so fuhren Sie
fort, ist es Modesache, im Salon einen Poeten und ein englisches Hündchen
zu haben, wenn sie einen zu sehr ennuyiren, so setzt man den einen wie den
andern vor die Thür.
Nein! Das habe ich nie gesagt. . .
Das haben Sie gesagt! Dann erhoben Sie sich vergnügt, um mit Ihrem
gewohnten Feuereifer zu tanzen. Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich damals
empfunden habe. Aber als ich hinter diesem verwünschten Vorhange hervor¬
trat, war ich um zehn Jahre älter geworden. Ich glaubte in aller Augen Hohn
und Spott zu erblicken, sah in der honigsüßen Höflichkeit des Grafen Beldvni
die schmachvollste Ironie. Die Geißel der Verachtung pfiff vor meinen Ohren,
und all meine Liebe versank in einen Abgrund der Scham. Ich ging wie
ein Wahnsinniger davon. Was ich thun sollte, das wußte ich nicht. Ich fühlte,
daß meine Jngend verloren, mein Leben gebrochen war. Ich eilte nach meiner
Wohnung, packte meinen Koffer und reiste ab. (Fortsetzung folgt.)
In diesen Tagen
wird in London ein Diamant von ungewöhnlicher Größe eintreffen oder ein¬
getroffen sein, der am 27. März am Kap ausgegraben worden ist. Derselbe
hat eine Lauge von fast 2 und einen Durchmesser von 1^ Zoll und wiegt
nicht weniger als 302 Karat. Mit dieser Größe und diesem Gewicht ist er der
größte Edelstein seiner Art, der je in Südafrika, jci, wenn wir den Pitt und den
Mattcim in ungeschliffenen Zustande und ein paar Diamanten mit apokrypher
Geschichte ausnehmen, überhaupt irgendwo gefunden worden ist.
Wir müssen hier auf einen weitverbreiteten, auch oft gedruckten Irrtum
aufmerksam macheu, der in der Meinung besteht, daß die großen an verschiednen
Orten aufbewahrten und als Weltwunder betrachteten Diamanten alle so wohlbe¬
kannt und ihrem Werte nach festgestellt seien wie etwa Bilder alter Meister von
zweifelloser Herkunft. In Wahrheit verdienen vielmehr einige der sogenannten
Riesendinmanten ihren Ruf keineswegs. So glaubt man z. B. allgemein, der
Braganza, der sich unter den Portugiesischen Staatsjuwelen befindet, sei größer,
schwerer und wertvoller als alle andern bekannten Diamanten, während dies
durchaus nicht der Fall ist. Der Braganza wurde in Brasilien gefunden, welches
bisher nur wenige große Diamanten geliefert hat, obwohl hier jährlich zwischen
25- und 30 000 Karat ausgegraben werden. Davon sind höchstens 9000 Karat
des Schleifens wert, die übrigen sind klein oder sonst von geringer Güte. Wäre
der Braganza, der fast 1700 Karat wiegt und beinahe die Größe eines Gänseeies
hat, unzweifelhaft ein Diamant, so würde er einen geradezu unberechenbaren
Handelswert haben. Er ist jedoch nie geschliffen worden, und die portugiesische
Regierung hat sich stets abgeneigt gezeigt, ihn vou Sachverständigen untersuchen
zu lassen, sicherlich in der Befürchtung, das Ergebnis möchte für den Ruf des
Steines unvorteilhaft sein. Viele Fachleute glauben darum, er sei nur ein weißer
Topas. Auch der Mattam ist von diesem Verdachte nicht ganz frei. Er wurde
auf Borneo gefunden und befindet sich seit anderthalb Jahrhunderten im Schatze
eines dortigen Radschas, dessen Familie ihn als einen Talisman betrachtet, welcher
seinem Besitzer Glück und langes Leben verbürgt. Infolgedessen sind mehrmals
Kriege um ihn geführt worden, und um keinem Preis würde man ihn verkaufen.
Er soll 367 Karat wiege«, hat eiförmige Gestalt und ist ebenfalls noch unge¬
schliffen. Der größte geschliffene Diamant ist, soviel bekannt, der Orlow, der,
1941/z Karat schwer und von reinstem Wasser, einst den Thron Nadir Schäds
zierte und jetzt das Szepter der russischen Zaren schmückt, in deren Besitz er unter
Katharina II. gelangte. Nächst ihm rangirt der Großherzog von Toskana, der
139^2 Karat schwer und von etwas gelblicher Farbe ist, und der zu den öster¬
reichischen Kronjuwelen gehört. Sehr berühmt ist ferner der im französischen
Kronschatze befindliche Pitt, welcher 136^ Karat wiegt und sehr verschiedene
Schicksale erlebt hat. Der Großvater des ersten Carls of Chatham kaufte ihn von
einem indischen Juwelenhändler um 12 500 Pfund Sterling und überließ ihn
dann dem Regenten, Herzog von Orleans, für die Summe von 100 000 Pfund
Sterling. Während der ersten französischen Revolution war er in Berlin beim
Kaufmann Treskow verpfändet. Napoleon löste ihn ein und ließ ihn in seinen
Degenknopf setzen. Nach der Schlacht bei Waterloo wurde er mit andern Kleinodien
des Kaisers von den Preußen erbeutet. Er ist von sehr reinem Wasser, aber nicht
ganz tadellos geschliffen. Ein sehr prachtvoller und großer Diamant ist endlich
der Kohinur, der früher den Namen Großmogul führte und 1850 Eigentum der
Königin von England wurde. Seine Geschichte reicht bis in das graueste Altertum
zurück und gleicht in ihrer wechselvollen Entwicklung der Biographie des leuchtenden
Opals, von dem in Walter Scotts Roman „Anna von Geierstein" die junge
deutsche Baronesse ihrem Bekannten Arthur Philipson erzählt, und der, von einem
Ahnherrn derselben dem Sultan von Trapezunt abgenommen, die Eigenschaft hatte,
wenn Gift in seine Nähe kam, zu erbleichen. Nach indischer Sage wurde der
Kohiuur schon vom Helden Karna, den das Epos Mahcibharcita feiert, getragen.
Sicheres weiß man aber von ihm erst seit dem Anfange des vierzehnten Jahr¬
hunderts, wo ihn der furchtbare Radscha von Malwa, Alcieddin Kildschi, in Nord-
karatik raubte und nach Delhi brachte. Er soll damals 793 Karat gewogen haben,
und man legte ihm einen so hohen Wert bei, daß Sultan Baber bei der Eroberung
Agras keinen andern Tribut als seine Auslieferung verlangte. Als der Großmogul
ihn 166S dem französischen Reisenden Tciverier zeigte, hatte er, von einem un¬
geschickten venetianischen Steinschleifer zerbrochen, nur noch ein Gewicht von
280 Karat. Als Nadir Schah an der Spitze seiner wilden Tatarenhorden 1739
die blauen Berge jenseits des Indus überstieg und Delhi erstürmte, verlangte er
Herausgabe des ganzen Schatzes der Dynastie des Großmoguls. Der Urenkel
Aurcngsibs, Mohamed Schah, schätzte aber den Kohinur, hauptsächlich als geheim¬
nisvolle, zauberhafte Bürgschaft für die Wohlfahrt und Macht dessen, der ihn
besaß, so hoch, daß er ihn nicht auslieferte, sondern ihn in den Falten seines
Turbans verbarg. Indes verriet eine Frau seines Harems, die er ungebührlich
behandelt hatte, dem Eroberer den Ort, wo der Stein verborgen war, und so ging
er doch zuletzt verloren. Die beiden Fürsten saßen eines Tages in Delhi bei
einem großen Feste zusammen und ergingen sich mit orientalischer UnWahrhaftigkeit
gegenseitig in Versicherungen ewiger Liebe und Freundschaft, und zum Zeichen
solcher Gefühle forderte Nadir Schah plötzlich seinen Nachbar zu dessen größtem
Schrecken auf, mit ihm die Kopfbedeckung zu wechseln. Mohamed Schah hatte,
als er der Aufforderung notgedrungen entsprach, noch eine leise Hoffnung, der
versteckte Schatz möge den Augen seines Freundes entgehen, nud es könne gelingen,
ihn wiederzuerlangen. Aber Nadir Schah war kaum in sein eignes Zelt zurück¬
gekehrt, als er begierig die Falten des Turbans, den er sich eingetauscht, auflöste
und das Kleinod fand und herausnahm. Als er nach Chorassan zurückging, be¬
gleitete ihn der „Lichtberg" in seine Hauptstadt und wurde von ihm fortan wie
sein Augapfel gehütet. Aber sein schwacher Sohn vermochte den Schatz nicht fest¬
zuhalten. Der Kohinur ging von ihm auf Achmed, den Begründer der Dynastie
von Kabul, über und wurde schließlich das Eigentum Schah Sudschas, der, nachdem
er aus Kabul Vertrieben und des Augenlichts beraubt worden war, den Edelstein
mitnahm und mit mehr Zähigkeit als an seinem Leben an ihm hing. Seine
Irrfahrten brachten ihn zuletzt an den Hof von Lahore, wo er der Gast des
Maharadscha Rcmdschit Sing, des „Löwen des Pendschab," war. Als es diesem
Fürsten zu Ohren kam, daß sein Besuch den Kohinur bei sich trug, Versuchte er
mit allerlei Listen, Bitten, Schmeicheleien und Drohungen, ihn auf gütlichem
Wege in seinen Besitz zu bringen, aber lange Zeit ohne Erfolg. Zuletzt er¬
reichte er seineu Zweck durch die Begum, die Gemahlin Schah Sudschas. Am
1. Juni 1813 übergab dieser das Kleinod seinem Besieger mit dem Wunsche,
es möge stets dem zufallen, der über seine Feinde triumphire. Als Randschit
Sing auf dem Sterbebette lag, versuchte man ihn mit allen Mitteln zu bewegen,
den Kohinur dem Götzenbilde von Dschaggerncmth zu vermachen, aber er zog vor,
ihn seinem Nachfolger als Neichstalismcm zu übergeben. Der Kohinur bewährte
sich indes in jener Eigenschaft nicht: das Reich der Sils wurde von den Engländern
erobert und mit ihren indischen Besitzungen verbunden, und die Kronjuwelen von
Lahore wanderten aus den Händen des jungen Maharadscha Dhulip Sing in die
der ostindischen Kompagnie, die den Kohinur der Königin von England zu schenken
beschloß. Lord Dalhousie sandte ihn mit zweien von seinen Beamten nach London,
wo er am 3. Juli 1850 der zukünftigen „Kaiserin von Hindh" überreicht wurde.
1851 war er einer der Glanzpunkte der Weltausstellung. Man schätzte seinen
Wert damals auf 150 000 Pfund Sterling. Er war indes so ungeschickt geschliffen,
daß Sir David Brewster vorschlug, einen Amsterdamer Sachverständigen, den Juden
Voorsnnger, kommen und den Stein anders schleifen und fassen zu lassen. Dies
geschah, am 6. Juli übergab der Herzog von Wellington den Diamanten Herrn
Voorsnnger, und die Umschleifung begann, nach deren Vollendung derselbe, der
zuletzt noch ein Gewicht von 186 Karat gehabt hatte, nur noch 102 Karat wog.
In den letzten Jahren ist Südafrika mit Erfolg in den Wettstreit mit Ceylon,
Brasilien und Australien um den Ruhm eingetreten, als ein Fundort kostbarer
Steine zu gelten. Der Dudley und der Stewart, beide vom Kap, waren bereits
sehr achtbare Diamanten, und es ist nicht unmöglich, daß der jetzt in den Minen
von Kimberley ausgegrabene Stein sich bei der Prüfung, der ihn der Juwelen-
kcnner Bryce-Wright unterziehen wird, sich dem Pitt und dem Kohinur an Glanz
und Wert ebenbürtig erweist. Auch an Käufern wird es dem neuen Weltwunder
dann kaum fehlen. Zwar ist die Nachfrage nach Diamanten gegenwärtig nicht
groß, da der Handel gegenwärtig nirgends besonders florirt, aber große Steine
von reinem Wasser haben noch immer auf Liebhaber zu rechnen. Karl von
Braunschweig, der „Diamantenherzog" mit der vollen Börse, ist zu seinen welfischen
Vätern versammelt, und Fürst Demidoff, sein Rival, kauft auch keine Brillanten
mehr. Aber in Amerika fehlt es nicht an Liebhabern solcher Sachen und ebenso¬
wenig an Millionären, die in der Lage sind, sich dergleichen zu genehmigen. Die
Herren Mackay und Vcmderbilt z. B. könnten sehr wohl Neigung empfinden, sich
den neuen Nebenbuhler des Kohinur anzuschaffen, und ob sie dreihundert oder
bloß zweihundcrtundncunzig und dreiviertel Millionen besitzen, kann ihnen am Ende
kein Kopfzerbrechen verursache«. Wie dem aber auch sei, die Kreise in London,
welche sich für Diamanten interessiren, sehen der Ankunft des Kimberley wie einem
Ereignisse ersten Ranges entgegen.
Bei einer öffentlichen Verhandlung
traten unlängst Meinungsverschiedenheiten über den Gebrauch der Fürwörter Ihr
und Sie bei der Anrede zu Tage. Sie hatten zum Teil ihren Grund in einer
nur oberflächlichen Kenntnis der Verhältnisse und Sitten unter der ländlichen Be¬
völkerung, und wir ha ben aufs neue die Beobachtung anstellen können, daß mancher
Städter glaubt, bei der Behandlung dörflicher Verhältnisse und Zustände ein Wort
mitreden zu können, während er doch dabei den städtischen Maßstab anlegt und sich
herausnimmt, ländliche Gewohnheiten damit zu messen.
Der Städter hat eben seine Denk- und Sprechweise, nicht minder aber anch
der Landmann die seinige. Manche Eigentümlichkeit haben die letzten Jahrzehnte
ins Weichen gebracht, darunter auch recht schöne und anmutende, zum lebhaften
Bedauern des Volksfreundes und des Kulturhistvrikers. Wer sein Leben bis in die
fünfziger und sechziger Jahre gebracht hat, um von einem höhern Lebensalter ganz
zu schweigen, welche Umgestaltungen und Wandlungen in Sitte, Tracht, Denk- und
Sprechweise hat er an sich vorübergehen sehen! Noch aber ist bei dem tiefgreifenden
Gegensatz zwischen Städter und Bauersmann manches bis auf den heutigen Tag
geblieben, das dem Stadtbewohner naturgemäß weniger zur Kenntnis kommt als
dem Beobachter auf dem Lande, welcher für die Verschiedenheiten zwischen Stadt
und Dorf ein offnes Auge und Ohr hat. Das ist auch bei vorliegendem Gegen¬
stande der Fall. Der Strich Landes, innerhalb dessen unsre Erfahrungen gesammelt
sind, erstreckt sich etwa von Trier und Saarbrücken bis nach Kassel; es sind die
Gegenden zwischen Saar, Nahe, Mosel, Rhein bis zur Lahn, Werra und Fulda
hin. Wir sind aber sicher in der Annahme, daß in weiten Strichen unsers deutschen
Vaterlandes ganz oder doch beinahe ganz dieselben Eigentümlichkeiten und Sprach¬
gewohnheiten bestehen, die wir in der Kürze darzulegen im Begriff siud. Der
deutsche Bauer in den verschiedensten Teilen unsers gemeinschaftlichen Stammlandes
hat über Erwarten viel gemeinsames. Gewisse sehr in die Augen springende
Merkzeichen des Charakters, der Anschauung, Sitte und Urteilsweise finden sich
weithin in merkwürdiger Übereinstimmung.
Dem Städter ist Personen gegenüber, mit welchen er nicht näher bekannt und
vertraut ist, das „Sie" bei der Anrede schon seit geraumer Zeit zur Gewohnheit
geworden. Das „Ihr" (französisch-----vous) ist, man kann sagen ganz, außer Übung
getreten; in seltenen Fällen redet das Kind seine Eltern noch mit „Sie" an; das
vertraulichere „Du" ist an dessen Stelle getreten. Doch giebt es auch heute noch
Familien, in welchen die Eltern oder Verwandten den Kindern, Neffen u, f. w.
das mehr gleichstellende „Du" nicht gestatten.
Unter den Landbewohnern dagegen ist die Anrede „Sie" bis jetzt nur in sehr
geringer Übung, wenn die Leute sich unter ihresgleichen im Gespräche bewegen.
Vielmehr nennt, wenn das Lebensalter ein nicht zu verschiedenes ist, einer den
andern einfach „Du." Ob mau sich von früher her kennt oder sich vielleicht im
Leben zum erstenmale sieht und spricht — z, B. auf Märkten, bei Festen, anf
Reisen, beim Militär n. s, w, —, thut nichts zur Sache: der Junge nennt den
Jungen, der Alte den Alten „Du."
Die Kinder reden ihre Eltern nur in selteneren Fällen mit „Du," in der Regel
mit „Ihr" an. Gerade diesen Gebrauch des „Ihr" haben wir in sehr ver-
schiednen Gegenden gleichartig gefunden; noch ganz vor kurzem hörten wir einen
jüngeren Lehrer seinen Vater, der emeritirter Magister ist, nicht mit „Sie," sondern
mit „Ihr" ansprechen. Dieselbe Anrede „Ihr" gebrauchen meist die jüngern Dorf¬
bewohner den ältern gegenüber, sowie sie überhaupt zwischen Jung und Alt, auch
im Verkehr zwischen einander bisher unbekannten Landbewohnern in Übung ist.
Selbst Beamte, welche mit dem Volke in öftere Berührung treten, z. B. Bürger¬
meister, Geistliche, Lehrer, Förster u. s. w,, bekommen hie und da, zumal aus dem
Munde älterer Lnndleute, von Männern wie Frauen ein „Ihr" zu hören und
lassen es sich gern gefallen. Der Bauer ist eben in dem Maße an das „Ihr"
gewöhnt, daß es ihm bisweilen auch dann in den Mund kommt, wo er in der
Regel sonst das modernere „Sie" gebraucht. Andrerseits ist es ein weitverbreiteter
Gebrauch, und wir haben auch diese Übung in sehr verschiednen Gegenden vorge¬
funden und uns selber ihr gefügt, daß die Beamten, welche im Kontakt mit den:
Volke stehen, die Landbewohner mit „Ihr" anreden. Es ist nun einmal diese Form
der Anrede die den letztern vertrautere, liebere und gebräuchlichere. Wir sind fest
überzeugt: wollte man bei vielen Landleuten Umfrage halten, ob sie mit der An¬
rede „Sie" oder „Ihr" im täglichen Verkehr beehrt sein wollten, sie würden in der
entschiednen Mehrzahl sich für das „Ihr" erklären, weil sie nicht entfernt daran
denken, in dem „Ihr" der Anrede eine Herabsetzung oder Beleidigung zu erblicken.
Es war daher ganz und gar nicht nötig, daß in einem gegebenen Falle eine solche
Frage zu einem erimsn Ikvsao aufgebauscht wurde. Noch jüngst, Anfang Februar
dieses Jahres (1884), wohnten wir der Überreichung des Allgemeinen Ehrenzeichens
an einen ältern, verdienten, seit Jahresfrist erkrankten rheinischen Ortsvorsteher bei.
Im Namen des feierlichst versammelten Gemeinderates sprach der designirte Nachfolger
jenes Mannes Worte der Anerkennung und Beglückwünschung. Von Interesse war
uns dabei die Beobachtung, daß bei der Anrede der um etwa zwanzig Jahre jüngere
Mann (er ist 46 Jahre alt) an seinen Vorgänger stets die Anrede „Ihr," nicht
„Sie" gebrauchte; und der so redende gehört ohne Frage zu den im Sprechen wie
im Schreiben gewandtesten Vorstehern der ganzen Gegend. Es war uns aufs neue
ein im eigentlichsten Sinne des Wortes „sprechender" Beweis dafür, wie tief das
„Ihr" noch im Volksleben wurzelt. Auch dein Vorsteher oder Bürgermeister des
Dorfes gegenüber gebrauchen die jüngeren Ortseinwohner immer nur die Ansprache
„Ihr," die ältern und die etwa gleichaltrigen das „Du." Selbst das „Er" taucht in
ländlichen Kreisen noch hin und wieder auf und bringt uns die Zeit des großen
Friedrich ins Gedächtnis.
Spricht — dies nebenbei zum Schlüsse — die Frau vom Manne, so gebraucht
sie nicht selten die Bezeichnung „der Herr" (Hausherr); redet der Mann von seiner
Frau, so sagt er kurzweg „sie" oder auch „es" (das Weib?). Nur im Verkehr mit
den Juden, welche den Bauer leider öfter heimsuchen als dem Volksfreunde lieb
sein kann, wird, gleichviel ob einer jung oder alt ist, fast allgemein das „Du" ge¬
braucht. Wo immer sich ein Jude blicken läßt, gilt das „Du" als selbstverständ¬
lich — wahrscheinlich als redendes Zeichen der Ehrerbietung und des tiefen Re¬
spektes vor der uneigennützigsten Nation.
Nachschrift. Soeben erhalten wir einen Brief, dessen Anfang noch einen
prächtigen Beleg zu dem hier ausgeführten giebt: „Niederalben den 10. Mai 1384.
Werthester Herr ......., Eiren Brief habe ich richtig erhalten, und habe darin
gesehen, daß ihr das Kapietal verlangen, ich kann es ihnen auf der Stelle
gerade nicht geben, aber ich will es ihnen sagen, daß ich biß den nächsten Harbst
biß Michaelie es ihnen besorgen will ?c." Also „Ihr" und „Sie" bunt durch¬
einander! — Nicderalben liegt im Kreis Se. Wendet im Regierungsbezirk Trier.
Von Herrn or. H. Stürcnburg in Leipzig
erhalten wir folgende Zuschrift: Der geehrten Redaktion wird es nicht uninter¬
essant sein, zu erfahren, daß die in Ur. 18, S. 263 besprochene überschüssige Ne¬
gation bei Lessing doch schon länger bemerkt war. Ich selbst bin schon in den
sechziger Jahren darauf aufmerksam gemacht worden und entsinne mich, sie seitdem
öfter besprochen gefunden zu haben. Zur Hemd ist mir z. Z. die Erklärung von
Wolff-Bellermann zu Sophokles' Antigone (3. Aufl. 1378). Vers 4 ovV a^e^
vo^ «r^s et're^»: „Zu vergleichen sind Verbindungen aus neuern Schriftstellern,
die denselben Fehler zeigen, wie Lessings Emilia Galotti 2, 6: Wie wild er schon
war u. s. w., Schiller an Goethe (23. November 179ö): Da man sich nie bedacht
hat, die Meinung über meine Fehler zu unterdrücken." Wit der letztem Stelle
verhält es sich allerdings etwas anders, da „sich bedenken" durchaus nicht nur
„Bedenken tragen" ist. S. Grimm, Deutsches Wörterbuch, I, 1223.> Derselbe
Bellermann hatte schon in der Berliner Zeitschrift für Gymnasialwesen 1872,
S. 608 fig. und 922 die Lessingsche Stelle herangezogen, und Polle fügt eben¬
daselbst 1378, S. 641 weitere Beispiele hinzu, von denen gleich das erste ein
„nicht unschwer" aus Mösers Patriotischen Phantasien ist.
Zusatz der Redaktion. Da durch die vorstehende Zusendung die Frage noch
einmal angeregt worden ist, so teilen wir nachträglich auch das von uns aufge¬
stochene „nicht unschwer" noch mit, das uns durch Zufall wieder in die Hände
gelaufen ist. Es stammte nicht, wie wir meinten, aus der Feder eines unsrer
namhaftesten Historiker, sondern aus der eines Schülers eines unsrer namhaftesten
Historiker. Im Vorwort zu L. von Heinemanns „Heinrich von Braunschweig"
(Gotha, 1882) ist zu lesen: „Der Kundige wird in der Detailuntersuchung manche
selbständige Ansicht des Verfassers nicht unschwer entdecken."
Die „Marquise von
O . . . erschien im Februarheft des Kleistschen „Phönix (1808) mit dem Zusatz
im Register „nach einer wahren Begebenheit, deren Schauplatz vom Norden nach
dem Süden verlegt worden." Die allerdings nur in dem Hauptpunkte benutzte
Quelle der Erzählung glaube ich in einer Begebenheit gefunden zu haben, über
welche Heinrich Voß in einem Briefe an Goethe vom 31. Januar 1807 (Goethe-
Jahrbuch 5, S. 60 fig.) berichtet.
„Ich muß Ihnen noch von einer Krankengeschichte Bericht erteilen, die hier
nicht bloß unter den Ärzten, sondern auch bei uns Laien viel Aufmerksamkeit erregt
hat, und einen Beweis abstattet, wie geheimnisvoll die Kräfte der Natur wirken.
Unser Professor Weidenbach, ein Leipziger Gelehrter, der vor einigen Jahren beim
(Reichs-) Freiherrn von Münch Hofmeister war, verliebte sich in die schwerreiche
Tochter des Hauses und die Eltern versprachen sie ihm, sobald er ein Amt erhielte,
das der Familie Ehre brächte. Er wird darauf Privatdozent in Heidelberg und
endlich Professor der Philosophie. Michaelis geht er nach A. um seine Braut
heimzuholen. Wie ganz anders findet er diese, als er sie vor vierzehn Monaten
verlassen hatte! leidend an den Folgen einer Verletzung und darauf eingetretenen
kalten Fiebers; der Unterleib ist geschwollen und verhärtet, es zeigen sich unver¬
dächtige Spuren der Wassersucht, und das Übel wächst täglich. Der trostlose
Bräutigam erwirkt sich von den Eltern die Erlaubnis, sie nach Heidelberg führen
zu dürfen, wo Creuzers sich erbieten, sie bis zur Wiederherstellung aufzunehmen.
Ackermann wird ihr Arzt; nach der dritten Untersuchung zeigt sich, daß sie nicht
bloß Wasser, sondern auch ein Gewächs im Unterleibe habe. Bald mehren sich
die Schmerzen so, daß das Mädchen einmal nach Mitternacht halb wahnsinnig aus
dem Hause läuft, und zu ihrem Bräutigam eilt. Dieser läßt sie statt seiner in
seinein warmen Bette ruhen, und wird ihr getreuer Krankenwärter. Starke
Digitalisdekoktc, die das Mädchen einnehmen muß helfen nichts. Nach drei Tagen
wird es dem Mädchen höchst unruhig im Leibe, sast wie einer Schwangeren, die
Schmerzen nehmen immer zu—xarturiuut mortos/se NÄseitur riäieulus —- doch
keine Maus, kein Wasser, kein Gewächs, auch nicht dies und jenes, sondern ein
frischer, gesunder, derber Junge. Bräutigam und Braut sahen sich darauf fünf-
viertel Stunde an, ohne ein Wort zu reden; keiner kann begreifen, wie das zugehe.
Endlich besinnt sich die Braut eiuer Schäferstunde mit einem französischen Offizier
kurz nach der Belagerung von Ulm, und bittet ihren Bräutigam mit Thränen um
Vergebung. Diese Geschichte hat uns viel Spaß gemacht, nur der Rudolfi nicht,
der dies Beispiel nicht in ihren Erziehungsplan paßt. Jetzt sind Braut und
Bräutigam sehr vergnügt miteinander, und.freuen sich des Unterpfandes ihrer
Liebe. Sie werden nun von hier gehen, und dann auf einem der Güter des
Herrn von Münch einen fröhlichen Lebenswandel beginnen."
Bei Kleist ist es ein russischer, hier ein französischer Offizier; in beiden Fällen
nimmt die mysteriöse Begebenheit ihren Ausgangspunkt von einer Belagerung. Daß
Kleist die Heldin seiner Erzählung ohnmächtig sein läßt, ist ein feiner psychologischer
Zug, durch welchen der Charakter erheblich gewonnen hat.
ährend zahlreiche und wichtige Gesetze im Reichstage und Land¬
tage ihrer Erledigung harren und man daselbst bei der vor¬
rückenden Jahreszeit bemüht ist, jede Stunde wahrzunehmen, um
die Geschäfte zu fördern, hält die Fortschrittspartei es fortwäh¬
rend für angebracht, mit allerlei Gesetzesvorschlägen hervorzutreten,
welche, selbst ihre Zweckmäßigkeit vorausgesetzt, in keiner Weise dringlich, zugleich
aber bei dem unzweifelhaft feststehenden Standpunkt der Regierung völlig aus¬
sichtslos und deshalb eine wahre Plage sür die vielbeschäftigten gesetzgebenden
Körperschaften sind. Das neueste Elaborat dieser Art ist der Antrag der Ab¬
geordneten Philipps und Lenzmann im Reichstage, für die politischen und die
durch die Presse begangenen Vergehen und Verbrechen — als welche anzusehen
sind die nach ZZ 80—90, 92, 94, 95, 97, 99, 101—104, 107—111, 115,
125, 127—131 des Strafgesetzbuches strafbaren Handlungen*) — die Schwur¬
gerichte für zuständig zu erklären.
In Rücksicht auf die gegenwärtige Belastung des Reichstages wird man
zunächst fragen, ob denn dieses Gesetz, selbst vom fortschrittlichen Standpunkte
aus, irgendwie dringlich sei. Stehen bei uns die politischen Verbrechen auf
der Tagesordnung? oder sind unsre Zustände derart, daß solche zahlreich zu
erwarten sind? und wäre dies der Fall, sind die jetzt zuständigen Gerichte
— Landgerichte und für Hochverrat und Landesverrat das Reichsgericht —
derart korrumpirt und unzuverlässig, daß Willkürlichkeiten gegen etwaige poli¬
tische Verbrecher zu befürchten sind und die nötige Garantie fehlt? Aus der
notwendigen Verneinung dieser Fragen ergiebt sich, daß das beantragte Gesetz
in keiner Weise dringlich ist, und daß für dasselbe eine Veranlassung überhaupt
nicht vorliegt. Da es ferner außer Frage steht, daß die Neichsregierung dem
Antrage unter keinen Umständen ihre Zustimmung geben kann, so würde auch
keine Veranlassung vorliegen, sich außerhalb des Reichstages mit dieser Frage
zu beschäftigen, wenn der gestellte Antrag nicht für die Fortschrittspartei be¬
sonders charakteristisch wäre. Von diesem Gesichtspunkte aus dürften einige Worte
darüber gestattet sein; denn was geeignet ist, die Tendenzen derjenigen Partei,
welche Fürst Bismcirck neulich sür gefährlicher — weil mächtiger, freier ope-
rirend und den Wählern unverdächtiger — als die Sozialdemokraten erklärte,
nachzuweisen und dadurch vor dieser Partei zu warnen, kann nicht über¬
flüssig sei».
Unter politischen Verbrechen und Vergehen versteht man bekanntlich die¬
jenigen strafbaren Handlungen, welche ein politisches Motiv haben, und obwohl
diese Begriffsbestimmung ebenso schief wie unbestimmt ist, so wird sie doch seit
der I>ox ^ullÄ ing.jöst,g,ti8 von Cäsar bis auf die neueste I>sx Philipps-Lenz¬
mann festgehalten, um singuläre Rechtsbestimmungen darauf zu gründen; nur
daß der römische Kaiser solche Handlungen besonders scharf treffen wollte,
während der deutsche Neichstagsabgeorducte sie besouders milde behandelt
wissen will — denn darauf läuft der Antrag, wie sich sofort zeigen wird, hinaus.
Ein weiterer Unterschied ist der, daß das römische Gesetz nur gewaltsame Unter¬
nehmungen gegen Kaiser und Reich als politische Verbrechen betrachtet, während
der vorliegende Antrag fast jede gegen die öffentliche Ordnung und die Autorität
der Staatsgewalt gerichtete Handlung ein politisches Vergehen nennt, wobei
man sich stets vergegenwärtigen muß, daß die Fortschrittspartei mit dem Begriff
„politisches Verbrechen" nicht etwa etwas Verächtliches oder auch nur Odiöses
verbindet, sondern im Gegenteil einen Heiligenschein und eine Märtyrerkrone!
Der Antrag zählt z. B. auch den Aufruhr und den Landfriedensbruch (W IIS, 123)
unter die politischen Vergehen; wenn also z. B. ein halbes Dutzend Knechte
auf dem Lande eine Person mißhandeln und dem einschreitenden Ortsvorsteher
oder Gendarmen Widerstand leisten, so sind dies in den Augen der Herren
Philipps, Lenzmaun und Genossen „politische Verbrecher," viel zu schade, nur
von einem gewöhnlichen Landgericht bestraft zu werden, sondern des feierlichen
Schwurgerichtsapparates würdig. Dazu sollen noch alle durch die Presse ver¬
übten Vergehen kommen, ohne Rücksicht darauf, ob diese wirklich politischer
Natur sind! Auch die in dem Antrage anfgezühltcn strafbaren Handlungen
sollen nicht etwa nur dann als, politische Vergehen betrachtet werden, wenn sie
aus politischen Motiven geschehen, sondern unbedingt, sodaß das politische Motiv,
welches in vielen Fällen ja ganz fehlen kann, z. B, in dem obigen Falle, wo
vielleicht Betrunkenheit, Differenzen über den Tagelohn u. dergl. die Veranlassung
gegeben haben, einfach vorausgesetzt wird.
Aber auch abgesehen hiervon ist die Ausscheidung dieser Handlungen aus
den „gemeinen" Vergehen ganz ungerechtfertigt. Denn das Motiv ist für die Be¬
stimmung der Begriffe und Kategorien der strafbaren (übrigens auch der er¬
laubten) Handlungen unbrauchbar, weil es mit dem objektiven Thatbestande
derselben nichts zu thun hat. Mit Recht protestirte daher kürzlich Fürst Bismarck
gegen die Definition des Mordes an einem Souverän als „politisches Verbrechen"
und fuhr fort: „Wir können auf dieselbe Weise auch politischen Diebstahl und
Politische Falschmünzerei konstruiren, wie sie in so ausgedehntem Maße in
russischen Assignaten vorgekommen ist, ja es giebt keine Gattung von Verbrechen,
die nicht schließlich unter politische Motive subsumirt werden könnte." (Reichs¬
tagssitzung vom 9. Mai.)
Um eine weitere, mehr juristische Erörterung zu übergehen, so ergiebt sich
hiernach jedenfalls theoretisch, daß der Antrag verfehlt ist, weil er eine Klasse
von strafbaren Handlungen ans dem allgemeinen Gebiete derselben ausscheidet
und mit gewissen Privilegien ausstattet, welche ihrem Begriff und Thatbestände
nach überhaupt nichts besondres haben, weil das angebliche unterscheidende
Merkmal ihnen weder eigentümlich ist, noch notwendig anhaftet, sondern in
Wahrheit mit einer politischen, sachlich unabhängigen Rücksicht verwechselt wird.
Logisch ist dies ebenso verkehrt, als wenn man z. B. Armuth-, Eifersuchts-,
Rache-Verbrechen unterscheiden wollte, je nachdem eine Handlung aus Not,
Eifersucht u. s. w. begangen worden ist, während diese Motive offenbar immer
nur den Grad der Strafbarkeit beeinflussen könnten, ohne die Handlungen
objektiv nach der Qualität der Rechtsverletzung zu unterscheiden.
Diese mehr theoretischen Einwendungen gegen den Antrag Philipps würden
indessen allenfalls zurücktreten können, wenn praktische Gründe, das reale Be¬
dürfnis, das Gesetz rechtfertigten; aber auch dies ist, wie bereits bemerkt, ab¬
solut nicht der Fall. Man kann getrost behaupten, daß, abgesehen von den
Sozialdemokraten, niemand im Lande mit den bestehenden Zuständen derart un¬
zufrieden sei, daß er auf politische Verbrechen sänne; wenigstens versichern die
Oppositionsparteien bei jeder Gelegenheit, daß sie ihre Ziele nur auf legalem
Wege verfolgen, und weisen selbst die Insinuation, daß sie irgend eine funda¬
mentale Verfassungsänderung anstrebten, stets mit sittlicher Entrüstung zurück.
Die Sozialdemokraten aber kommen hierbei deshalb nicht in Betracht, weil sie
ihr soeben wieder verlängertes Ausnahmegesetz haben, und doch keine Rede davon
sein kann, dieses durch Annahme des vorliegenden Antrages wieder in Frage
zu stellen. Es ist überhaupt naiv von den Antragstellern, daß sie gerade in
demi Augenblick, wo dnrch Verlängerung des Sozialistengesetzes und durch das
Dynamitgesetz die Aspiranten des politischen Verbrechertums unter besonders
strenge Strafvorschriften gestellt werden, die fragliche Handlungen mit einem
Privilegium ausstatten wollen, welches jene Maßregeln vollständig in Frage
stellen würde.
Es muß nämlich auf das bestimmteste behauptet werden, daß dies nicht
nur die Folge dieses Gesetzes wäre, sondern daß es auch die Absicht des Antrages
ist, und daß die Antragsteller nicht etwa von der rein sachlichen Zweckmäßig-
kcitsfrage ausgegangen sind. An sich ist ja die Frage, inwieweit man die Schwur¬
gerichte zulassen will, eine rein technische. Denn da über den Zweck des Straf¬
verfahrens, die Wahrheit zu ermitteln und den Thäter möglichst sicher und
angemessen zu treffen, eine Meinungsverschiedenheit nicht obwaltet, so fragt es
sich nur, wie dieser Zweck am besten erreicht wird, ob durch Schwurgerichte oder
Berufsgerichte, und in dieser Hinsicht gehen freilich die Meinungen derart aus¬
einander, daß es bei Beschließung der deutschen Strafprozeßordnung keiner von
beiden gelang, die andre zu verdrängen, sondern jede sich zur Geltung zu bringen
wußte, sodaß wir bekanntlich jetzt beide Arten von Gerichten und, als eine Art
Verbindung beider, noch die Schöffengerichte haben. Die Inkonsequenz dieses
Kompromisses ist klar, da doch eine der drei Arten von Gerichten die zweck¬
entsprechendste sein muß und jede strafbare Handlung, ob groß oder klein, einen
Anspruch auf die zweckdienlichste Art der Untersuchung hat; doch ist ja ohne
Kompromisse bei unsern parlamentarischen Zuständen nichts auszurichten.
Nun ist es zwar bekannt, daß die Schwurgerichte überhaupt sich der besondern
Gunst der Fortschrittspartei erfreuen; wenn aber dies der Grund des vorliegenden
Antrages und dieser also nur dem Wunsche entsprungen wäre, das schwnr-
gerichtliche Verfahren als das technisch vollkommenste zur Geltung zu bringen,
weshalb wird dann nicht beantragt, dasselbe für das ganze Strafverfahren aus¬
schließlich für zuständig zu erklären? Weshalb sollen dann neben den schwersten
Verbrechen, bei denen es schon jetzt der Fall ist, nur gerade die politischen Ver¬
brechen und Vergehen, und zwar ganz ohne Rücksicht auf die größere oder geringere
Strafbarkeit, vor die Schwurgerichte kommen? Giebt es etwa irgend ein Moment
im Schwurgerichtsverfahren, welches gerade für die politischen Vergehen besonders
zweckdienlich wäre? Objektiv, dem Verfahren nach, offenbar nicht; wenigstens
ist irgendeine Beziehung zwischen der Politik und dem Schwurgerichtsprvzeß als
solchem nicht abzusehen. Subjektiv, der Person der Richter nach, werden die Ver¬
teidiger des Antrages natürlich die größere „Unabhängigkeit" der Geschworenen
hervorheben; aber wer ist wohl unabhängiger, der Berufsrichter, welcher amtlich
durch die Unabsetzbarkeit gedeckt und dem Publikum gegenüber nach jeder Richtung
hin frei ist, oder der Geschäftsmann, der Landwirt, der Arzt, der Handwerker
u. s. w., welcher meist von unzähligen Rücksichten und Geschäftsinteressen ab¬
hängt? Hierzu kommt das Erfordernis der inneren Unabhängigkeit, der Mut der
Überzeugung, und das Pflichtgefühl, den wahren Zweck der Untersuchung im
Auge zu behalten, unbeirrt durch Abscheu oder Mitleid, unbeirrt namentlich durch
die politische Ansicht. Diese Freihaltung des verstandesmäßigen Urteilens von
jeder Art von Empfindungen ist bekanntlich sehr schwer, besonders für denjenigen,
welcher darin nicht geschult ist; namentlich aber in politisch aufgeregten Zeiten
bedarf es, um die eignen polnischen Ansichten und Wünsche vollständig ans dem
innern Urteilsprozeß auszuscheiden und sie derart latent zu macheu. daß sie an
dem Resultat dieses Vorganges unbeteiligt bleiben, nicht nur des sehr energischen
Willens, dies zu thun — welcher nicht immer vorhanden sein wird —, sondern
auch eines geschulten Verstandes. Denn es ist bekannt, daß politische Leiden¬
schaft ebenso blind machen kann wie jede andre, und die Frage nach der Schuld
und der Art der Schuld kann bei einem anscheinend politischen Vergehen sehr
schwierig zu beantworten sein.
Man stelle sich einen einfachen Fall vor: der Angeklagte, ein Redakteur,
hat irgend eine Maßregel der Regierung, z. B. eine Bestimmung der Zollgesetze,
nach fortschrittlicher Methode kritisirt und sich dabei einer Beleidigung des Reichs¬
kanzlers schuldig gemacht. Er kommt nach dem neuen Gesetz als politischer
Märtyrer vor die Geschworenen. Unter diesen fühlt sich einer oder fühlen sich
mehrere gerade durch die vom Angeklagten bekämpfte Bestimmung in ihren Ge¬
schäftsinteressen schwer geschädigt, und der Angeklagte hat ihnen in dem inkri-
minirten Artikel so recht „aus der Seele gesprochen." Sind dies geeignete
Richter? Das Ablehnungsrecht bietet gegen dergleichen offenbar keine Garantie,
im Gegenteil würde dieses von allen Seiten nach politischen Rücksichten in ver¬
hängnisvoller Weise ausgebeutet werden. Nun nehme man hierzu eine zeitweise
allgemeine politische oder religiöse Aufregung und schwerere, kapitale Vergehen,
so werden Resultate, wie die Freisprechung der Mörderin Wem Sassulitsch
allgemein sein, bei deuen man doch von „Justiz" schlechterdings nicht mehr reden
kann. Wäre z. B, im Jahre 1866 Blind vor ein Schwurgericht gekommen, so
hätten wir leicht denselben Fall erleben können, denn derselbe erfreute sich in
den Kreisen der damaligen Fortschrittspartei, wenn auch nicht unbedingter Billi-
gung. so doch großer Sympathien, wie der Reichskanzler uns erst kürzlich ius
Gedächtnis zurückgerufen hat. Wer trotzdem der Geschworenenjustiz für diese
Verbrechen das Wort redet, ist offenbar nicht von dem Wunsche beseelt, den
Zweck des Strafversahrens zu fördern und den Schuldigen sicherer zu treffen,
sondern will ihn im Gegenteil unsicherer treffen und mit dem Mantel der
Politischen Liebe vor der verwirkten Strafe schützen.
Aus alledem ergiebt sich die politische Tendenz des vorliegenden Antrages,
und dadurch wird zunächst die allgemeine Erfahrung bestätigt, daß die für die Fort¬
schrittspartei maßgebende Zweckmäßigkeit nicht die der Sache, sondern die für
ihre politischen Parteiziele ist, mögen diese nähere oder entferntere sein. Das
nächste Interesse der fortschrittlichen Reichstagsfraktion ist, wie bei jedem Wesen,
der Trieb der Selbsterhaltung, und deshalb ist die oberste Richtschnur ihrer
Entschließungen: Popularität! Es kommt für die Entscheidung der Fraktion
nicht darauf an, ob die Sache als solche gut ist, sondern ob sie den Wählern
sympathisch ist. ob man den vermeintlichen Interessen der letztern einen Dienst
erweist. Da z. B, die fortschrittlich-freisinnigen Abgeordneten fast ausschließlich
in den größern Städten gewählt werden, so halten sie sich nicht für verbunden,
nach ländlichen Interessen zu fragen, obwohl diese qualitativ natürlich den¬
selben und quantitativ einen höhern Wert haben wie jedes andre Berufs¬
interesse, weil die Zahl der von der Landwirtschaft lebenden Personen größer
ist als die Zahl aller Personen, die andern Berufsarten angehören, und ob¬
wohl nach der preußischen wie der Reichsverfassung jeder Abgeordnete „Ver¬
treter des gesamten Volkes" ist. Neben diesem unmittelbaren Fraktiousinteresse
kommen als entferntere Parteiziele die demokratischen Bestrebungen der Fort¬
schrittspartei in Betracht, welche in der möglichsten Stärkung der „Volksrechte"
und implicite Minderung der Rechte der Staatsregierung, insbesondre derjenigen
der Krone gipfeln und damit, bewußt oder unbewußt, zunächst der Parla¬
mentsherrschaft und dann dem republikanischen Ideal zutreiben. Nach diesen
beiden Gesichtspunkten — Popularität und Demokratie — wird der Strom
oder das Bächlein der fortschrittlichen Politik geleitet und ist auch der vor¬
liegende Antrag entstanden.
Die Volksrechte gewinnen einen offenbaren Zuwachs durch die Ausdehnung
der schwurgerichtlichen Kompetenz, da diese eine wahre Justiz des „Volkes" ist,
worin ja ihr Vorzug liegen soll. Insbesondre aber die Rechtsprechung über
politische Vergehen involvirt nicht nur überhaupt einen Machtzuwachs für die
Volksrechte, sondern eine direkte politische Stärkung derselben, weil es sich
eben dabei um politische Dinge handelt, über welche dann das Volk durch den
Mund der Geschwornen mitspricht. Die Popularität dieses Antrages er¬
scheint zwar zweifelhaft, da die große Masse des fleißigen und mit seinen eignen
Angelegenheiten vollauf beschäftigten Volkes überhaupt kein Interesse an der
Frage nehmen dürfte. Letzteres wäre vielleicht der Fall, wenn wir in ungesetzlichen
Verhältnissen, unter einer absoluten und willkürlich gehandhabten Regierungs-
gewalt lebten, wenn die Gerichte korrnmpirt und die staatlichen Verhältnisse
unerträglich wären, sodaß auch der fleißige und anständige Staatsbürger der
Gefahr eines politischen Delikts ausgesetzt wäre; da aber hiervon keine Rede ist,
so fehlt, wie das Motiv zu politischen Verbrechen, so auch das Interesse für
gesetzliche Bestimmungen über solche. Aber die Popularität kann „gemacht" werden.
Denn dadurch, daß auch die Vergehen durch die „Presse," ohne jede Rücksicht
auf ihre wirkliche Qualität, den Schwurgerichten überwiesen werden, wird die
ganze oppositionelle Presse für denselben eingefangen, welcher bei ihren vielfachen
Konflikten mit dem Gesetz eine mildere Handhabung desselben sehr erwünscht
sein muß, und eine solche können sie mit Recht hoffen, weil in den größern
Städten, und namentlich in Berlin, die Geschwornen meist selbst der Fortschritts¬
partei angehören. Also der mächtigen Bundesgenossenschaft der liberalen Presse
ist der Antrag sicher, und diese wird schon wissen, „Stimmung" dafür zu machen,
d. h, den lieben Wählern „Sand in die Augen zu streuen,"
Wir resümiren : Der Antrag Philipps-Lcnzmann ist zunächst eine ungehörige
Belästigung des Reichstages, weil er unannehmbar und der Reichstag ohnehin
mit Arbeiten überhäuft ist. Der Antrag entspringt keinem praktischen Bedürfnis,
weil bei unsern wohlgeordneten gesetzlichen Anstünden keine Veranlassung zu
sogenannten politischen Verbrechen vorhanden, und eventuell die hierfür jetzt
zuständigen Gerichte uicht nur ausreichend, sondern auch geeigneter sind. Das
Gesetz wäre juristisch verfehlt und unlogisch, weil es eine Klasse von strafbaren
Handlungen fingirt, welche überhaupt uicht existirt, indem es dieselbe nicht nach
der rechtlichen Qualität, sondern nach dem Motiv konstruirt; es ist aber auch
Praktisch unannehmbar, weil es strafbaren Handlungen ein Privilegium verleiht,
und zwar nicht, was sich allenfalls mit dem direkt angegriffenen Staatsinteresse
rechtfertigen ließe, ein Privilegium ocliosum, sondern ein Privilegium kg,vorg,hilf,
und nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit in der Sache selbst, sondern aus
davon unabhängigen politischen Rücksichten, nämlich um dem Fraktivnsinteresse
und den demokratischen Parteizielen der Fortschrittspartei zu dienen.
Somit ist dieser Antrag der Fortschrittspartei, wie soviele seiner Ge¬
schwister, an sich harmlos, weil er niemals zum Gesetz erhoben werden wird;
trotzdem aber interessant, weil er ein eklatanter Beleg sür die gefährliche Politik
dieser Partei und deshalb ein neues Argument für das Ostsrum osnsso des
Fürsten Bismarck bei der Debatte über das Sozialisteugcsetz ist, daß, wer es
mit dem Vaterlande gut meint, keinen Fortschrittler wählen darf!
Während von dem fortgeschrittenen und doktrinären Liberalismus nicht
genug hervorgehoben werden kann, daß für den friedlichen Bürger Schutz im
Staate nicht durch irgendwelche Verwaltungs- oder gar Polizeibehörden, sondern
einzig und allein durch die Gerichte gewährt werden kann, welche deshalb nicht
unabhängig und selbständig genug gestellt werden können, wird neuerdings die
Ansicht aufgestellt und stark vertreten, daß selbst der richterliche Schutz nicht
mehr genüge, daß man vielmehr Schutz gegen die Gerichte haben müsse, weil
diese gar so viele Unschuldige verurteilten. Wenn in dieser Richtung konsequent
weitergegangen werden soll, dann wird man bald zu der Ansicht gelangen,
daß derjenige Richter am besten seine Pflicht erfülle, welcher am meisten freispricht,
daß also der Richter nicht mehr unparteiisch über beiden Seiten, dem Ankläger
und dem Angeschuldigten, thronen, sondern die Rolle des Verteidigers des An-
geschuldigten übernehmen soll. Gewiß werden sehr viele, welche jetzt so leb¬
haft für die Entschädigung unschuldig Verurteilter eintreten, derartige Schlu߬
folgerungen weit von sich weisen, aber wohin anders muß eine Agitation führen,
welche jeden, der infolge mangelhafter Verteidigung verurteilt oder, nachdem das
Gericht erster Instanz auf Verurteilung gekommen war, in zweiter Instanz frei¬
gesprochen wurde, mit der Mcirtyrcrkrvne des „unschuldig Verurteilten" schmücken
oder welche alle politischen und Preszvergehen ausschließlich den Schwurgerichten
zuweisen will, und dabei jeden Widerstand gegen die Staatsgewalt, jede Straßen-
emeute für ein politisches Vergehen erklärt? Sprach doch der Abgeordnete
Lenzmann in der Reichstagssitzung vom 2. Mai bei der Verhandlung über den
Feingehalt der Gold- und Silberwaren es ausdrücklich aus, daß er sich nicht
bewogen sehe, ein besondres Vertrauen auf das „Wohlwollen" der Richter für
die Angeschuldigten zu hegen, womit ja geradezu die richterliche Unparteilichkeit
perhorreszirt und „Wohlwollen" für die eine Partei, natürlich für den Ange¬
schuldigten, verlangt wird. Gewiß, es mag Fälle geben, in denen man eine
gewisse, wenigstens moralische Verpflichtung des Staates zur Entschädigung
eines Verurteilten, dessen Unschuld sich später herausstellt, anerkennen kann, aber
der Staat hat nicht für eine schlechte Verteidigung einzustehen, auch nicht dafür,
daß eine That zu einer Zeit als ein Vergehen gilt, uach Ablauf eines gewissen
Zeitraumes aber anders ausgelegt wird, oder daß verschiedene Richterkollegien
aus derselben Verhandlung verschiedene Folgerungen ziehen. Rücksicht für den
Verbrecher ist bekanntlich Rücksichtslosigkeit gegen diejenigen, welche sich keine
Gesetzesübertretungen zu Schulden kommen lassen, und so wäre es vielleicht
gegenüber den Agitationen zu Gunsten der unschuldig Verurteilten auch einmal
an der Zeit, statistische Erhebungen über die Zahl der in erster Instanz Frei¬
gesprochenen zu erheben, deren Verurteilung erst in zweiter Instanz erfolgte
oder die trotz aller Bedenken gegen ihre Freisprechung freigesprochen bleiben
mußten, weil es, wie z. B. beim Wahrspruch der Geschworenen, keine Rechts¬
mittel gegen das freisprechende Urteil gab. Es würde dann die Thätigkeit
unsrer Gerichte wohl in einem andern Lichte erscheinen, als wie sie jüngst im
Reichstage dargestellt worden ist. Damit soll kein Vorwurf gegen die Richter,
sondern gegen die jetzige Gesetzgebung ausgesprochen werden, unter der jetzt alle
Richter, gelehrte, Schöffen und Geschworene, gleichmäßig leiden; es wird bei
der doch unvermeidlichen Revision unsrer Strafprozeßordnung, mit welcher sich
eigentlich niemand befreundet hat, alles das auszumerzen sein, wobei mit Rücksicht
auf den Schutz des Angeschuldigten gegen die Anklage des Guten zuviel ge¬
schehen ist.
Es mögen hier einige einschlagende Punkte bezüglich der Verteidigung des
Angeschuldigte!,, einschließlich des Kontumazialverfahrens, der Untersuchungshaft,
der Urteilsfindung und der Stellung der Staatsanwaltschaft gegenüber den
Gerichten erörtert werden.
Der Angeschuldigte soll ohne Zweifel sein volles Recht zur Verteidigung
haben, und in schweren Sachen hat der Staat von Amtswegen für einen Ver¬
teidiger zu sorgen; aber weiter hat keine Gesetzgebung zu gehen. Schon die
Zulassung des Angeschuldigten und seines Verteidigers bei den Zeugenver¬
nehmungen und Besichtigungen während der Voruntersuchung ist eine sehr
zweifelhafte Einrichtung, da sie das beste Mittel ist, um die Ergebnisse der
Voruntersuchung in Frage zu stellen.
Unbedingt aber bedürfen die Bestimmungen wegen des Ausbleibens
des Angeklagten in dem für die Hauptverhandlung bestimmten Termine
einer gründlichen Revision. Es ist zuzugeben, daß nach dem jetzt im Straf¬
verfahren herrschenden und gewiß nur richtigen Grundsatze der Erforschung
der materiellen, nicht wie im Zivilprozcsse der bloß formellen Wahrheit
em reines Kontumazialverfahren, wonach der ausbleibende Angeklagte einfach
nach dem Wortlaute der Anklage schuldiggcsprochen werden müßte, unzulässig
ist und sein muß. Daß aber nach der jetzigen Gesetzgebung ohne Anwesenheit
des Angeklagten — mit geringen, gleich zu erörternden Ausnahmen — garnicht
verhandelt werden darf, geht andrerseits zu weit. Es empfiehlt sich vielmehr
das Verfahren, wie es die preußischen Strafprozeßordnungen vom 6. Januar 1849
und vom 25. Juni 1867 für die bei den Kollegialgerichten außer den Schwur¬
gerichten zu verhandelnden Sachen regeln, wonach dem ausbleibenden Ange¬
klagten gegenüber unter Erhebung der von der Anklage angebotenen Beweise
verhandelt wird, wenn das Gericht nicht aus besondern Gründen die An¬
wesenheit des Angeklagten für nötig erachtet und deshalb dessen Vorführung
beschließt; denn wer es vorzieht, nicht im Termine zu erscheinen, räumt damit
nach allgemein menschlicher Ansicht die ihm zur Last gelegte That im allge¬
meinen ein und kann sich nicht beschweren, wenn man die von der Anklage bei¬
gebrachten Beweise für genügend zur Beurteilung dieser That in ihrer Spezialität
hält. Wie verhält es sich aber jetzt? Bleibt der Angeschuldigte, welcher gegen
einen polizeilichen oder einen amtsrichterlichen Strafbefchl Widerspruch erhoben
oder welcher gegen ein Urteil der ersten Instanz die Berufung erhoben hat, im
Verhandlungstermine aus, so gilt der Widerspruch oder die Berufung als
zurückgenommen. In Abwesenheit des Angeklagten kann verhandelt werden
gegen ausgetretene Militärpflichtige, in Steuerprozessen und in Verhandlungen
auf erhobene Privatklage, wenn wenigstens ein Vertreter erschienen ist, außerdem
kann in Sachen, bei welchen es sich um eine Geldstrafe, Haft bis zu sechs
Wochen oder Einziehung handelt, der Angeklagte auf seinen Antrag vom per¬
sönlichen Erscheinen entbunden oder, wenn in der Ladung darauf hingewiesen
wurde, überhaupt beim Ausbleiben des Angeschuldigten verhandelt werden;
ebenso gegen einen im Auslande oder in unbekannter Ferne weilenden Ange¬
klagten wegen einer nur mit Geldstrafe oder Einziehung bedrohten Gesetzes¬
übertretung. Da nun auch ein amtsgerichtlicher Strafbefehl nur erlassen werden
kann, wenn es sich um eine Übertretung oder ein Vergehen außer Beleidigung,
Körperverletzung, Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, Hehlerei oder Sachbe¬
schädigung handelt, und zwar nur bis zum Strafmaß von ISO Mark Geld¬
strafe, sechs Wochen Haft oder Einziehung, und die polizeilichen Strafverfügungen
sich bekanntlich in noch viel engeren Grenzen bewegen, so weiß man, wie außer¬
ordentlich gering der Kreis der Gesetzesübertretungen ist, über welche in Ab¬
wesenheit des Angeklagten verhandelt werden kann. Das Prinzip ist aber
doch durchbrochen; denn abgesehen davon, daß trotz der Tendenz des Gesetzes,
nur die materielle Wahrheit zu erforschen, in diesen geringen Sachen die formelle
Wahrheit ganz oder teilweise als Urtcilsgruud anerkannt wird, enthält es einen
ganz direkten Widerspruch, wenn das Schöffengericht in allen uicht geradezu
ausgenommenen Fällen ohne den Angeklagten überhaupt nicht verhandeln kann,
die Berufung gegen ein schössen gerichtliches Urteil aber für zurückgenommen
gilt, wenn der Angeklagte, welcher die Berufung ausgeführt hat, nicht im Ver¬
handlungstermine erschienen ist. Es ist dies letztere ein Widerspruch, der
namentlich mit Rücksicht auf die jetzige Agitation für die Ausdehnung der Be¬
rufung als eines notwendigen Schutzes gegen falsche Verurteilungen durch den
ersten Richter sehr ins Gewicht fällt.
Aber was hilft denn überhaupt die Anwesenheit des Anschuldigten im
Termine? Bedeuten wir doch die Bestimmung in den Z§ 136 und 242 der
Strafprozeßordnung, nach welcher dem Angeschuldigten vor seiner Vernehmung
sowohl in der Voruntersuchung als in der Hauptverhandlung die Belehrung
zuteil werden muß, daß es ganz von ihm abhänge, ob er etwas auf die gegen
ihn erhobene Beschuldigung erwiedern will oder nicht. Dem Verbrecher gegen¬
über wirkt diese Bestimmung wahrhaft lächerlich; denn der weiß schon selbst,
ob und was er zu erwiedern oder ob er besser zu schweigen hat. Der Richter
braucht ihm das nicht erst zu sagen. Für den letztem aber ist es geradezu
erniedrigend, wenn er zunächst den Angeschuldigten bei Vermeidung der gefäng-
lichen Vorführung zum Termine vorlädt, dann den Termin aufheben muß, weil
der Angeklagte es vorzog, uicht zu erscheinen, hierauf den Angeklagten verhaften
und vorführen läßt, womit unter Umständen eine Freiheitsberaubung von mehreren
Tagen verbunden sein kann, und nun nach allen diesen Vorbereitungen dem
endlich zur Stelle geschafften Angeklagten eröffnen muß, er sei zwar nun gewalt¬
sam sistirt, dürfe sich aber doch als abwesend benehmen, da er zu irgendwelcher
Erklärung nicht gezwungen sei. Dem modernen Grundsatze des möglichsten Schutzes
der persönlichen Freiheit entspricht eine solche Bestimmung auch nicht, einen
Angeschuldigten, der nicht erscheinen will, zum Erscheinen zu zwingen oder vielleicht
mehrere Tage in Haft zu halten, mir damit er mit Gewalt in den Termin zu
einer Handlung geschafft werde, die man garnicht von ihm erzwingen kann und will.
Aber es läßt sich auch noch ein ethischer Grund gegen die jetzigen Be¬
stimmungen anbringen, und obwohl die Ethik jetzt sehr hinter dem Begriff der
Persönlichen Freiheit des Individuums zurücktreten muß, so hat doch auch die
Strafprozeßordnung noch Anklänge hieran, indem sie die Vorführung des An¬
geklagten zum Termine, wenn auch nicht zur Verantwortung im Termine, und
die Verhängung der Untersuchungshaft zuläßt. Dieser ethische Grund ist darin
zu suchen, daß es als eine Pflicht des Staatsbürgers anzusehen ist. wenn das
durch sein Organ, den Staatsanwalt, vertretene staatliche Gemeinwesen gegen
ihn eine Beschuldigung erhebt und ihn vor das zur Aburteilung solcher Sachen
berufene anderweitige staatliche Organ, den Richter beruft, daß er dann auf
diese Beschuldigung etwas zu erwiedern habe, wie es ja doch schon im gewöhn¬
lichen Leben für anständig gilt, eine gestellte Frage zu beantworten, und daß
er auch eine Übertretung der Gesetze seinen Mitbürgern gegenüber sühne. Diese
Beschuldigungen werden ja auch nicht so leichtfertig erhoben. Zunächst sichtet
der Polizeibeamte die bei ihm gemachten Anzeigen und scheidet die ganz un¬
begründeten aus; dann sichtet der Staatsanwalt und stellt in zahlreichen Sachen
alsbald oder nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens die Verfolgung ein;
in den vom Staatsanwalt für genügend begründet angesehenen Sachen prüft
darauf die Strafkammer, ob sie der Ansicht des Staatsanwaltes beitreten will.
Dann hat wieder der Angeschuldigte das Recht, erst noch eine Voruntersuchung
zu beantragen, nach deren Ergebnis die Strafkammer nochmals über die Ein¬
stellung oder Fortsetzung des Verfahrens zu entscheiden hat. Wenn nach allen
diesen Vorsichtsmaßregeln die Vertreter der öffentlichen Ordnung den Ange¬
schuldigten der ihm zur Last gelegten That für genügend verdächtig halten,
dann sollte man doch wirklich glauben, die Anschuldigung habe eine gewisse
Grundlage und die Mitbürger des Angeschuldigten hätten ein Recht, nun auch
von diesem eine Verantwortung zu verlangen, wenn nicht ein Privilegium zu
Gunsten der Gesetzesverächtcr auf möglichste Straflosigkeit anerkannt werden soll.
Diese Verpflichtung des Angeschuldigten zur Rechtfertigung seiner That
gegenüber seinen Mitbürgern muß wieder scharf hervorgehoben werden, und es
würde das am besten geschehen durch Einführung eines Kontumazialverfahrcns in
Anlehnung an die altpreußische Gesetzgebung und durch Herstellung der Verpflich¬
tung des Angeklagten zu einer Erklärung. Der Angeklagte würde dann unter der
Androhung vorgeladen werden, daß, falls er im Termine überhaupt nicht er¬
scheinen oder eine Erklärung verweigern würde, angenommen werden müsse, daß
er für seine Person sich der Anklage so, wie sie erhoben worden ist, unter¬
werfen wolle und die weitere Entscheidung lediglich von der Prüfung des durch
die Anklage angebotenen Beweises abhängen werde.
Flucht und Ausbleiben des Angeklagten würden aber oft zu vermeiden
sein, wenn die Bestimmungen über die Zulässigkeit der Untersuchungshaft
nicht so sehr gegen früher abgeschwächt wären. Nach preußischem Strafprozesse
gehörte dazu objektiv die Wahrscheinlichkeit, daß eine strafbare Handlung durch
den Verdächtigen begangen worden sei, jetzt sind dringende Verdachtsgründe
gegen den Angeschuldigten erforderlich. Als subjektives Erfordernis für die
Verhängung der Untersuchungshaft werden jetzt aufgestellt Fluchtverdacht auf
seiten des Angeschuldigte» oder das Vorliegen von Thatsachen, aus denen
zu schließen ist, daß der Angeschuldigte Spuren der That vernichten oder daß
er Zeugen oder Mitschuldige zu einer falschen Aussage oder Zeugen dazu
verleiten werde, sich der Zeugnispflicht zu entziehen; der Verdacht der Flucht
bedarf aber keiner nähern Begründung, wenn ein Verbrechen den Gegenstand
der Untersuchung bildet, wenn der Angeschuldigte ein Heimatloser oder Land¬
streicher oder nicht imstande ist, sich über seine Person auszuweisen, oder endlich,
wenn er im Auslande ist und gegründeter Zweifel besteht, ob er sich auf
Ladung vor Gericht stellen und dem Urteile Folge leisten werde. Nach preußischem
Gesetze genügte die Besorgnis, daß nach Lage der Sache und in Betracht seiner
persönlichen Veihciltnisse der Angeschuldigte fliehen oder seinen Aufenthalt ver¬
heimlichen oder durch Einwirkung auf Zeugen, Verabredung und Mitschul¬
digen oder durch Vernichtung der Spuren der That die Untersuchung vereiteln
oder erschweren werde; Angeschuldigte, welche voraussichtlich eine länger
als einjährige Gefängnisstrafe zu erwarten hatten oder bereits früher zu
mindestens einer sechsmonatlichen Gefängnisstrafe verurteilt worden waren,
mußten in Haft genommen werden, wenn der Verdacht der Flucht nicht aus¬
drücklich ausgeschlossen war, und wenn mindestens Zuchthausstrafe zu erkennen
oder bereits gegen den Angeschuldigten früher erkannt war, so konnte unter
keinen Umständen vou der Verhaftung abgesehen werden. Es geht hieraus hervor,
daß sowohl in objektiver wie in subjektiver Beziehung die neue Gesetzgebung
wesentlich laxer ist als die frühere, das Recht des Staates, den Angeschuldigten
zur Verantwortung zu ziehen, wesentlich zu Gunsten der Freiheit des An¬
geklagten von Strafe abgeschwächt ist. Auch hierin muß Wandel eintreten,
Staatsanwalt und Richter müssen wieder eher in der Lage sein, den An¬
geklagten energisch zur Verantwortung zu ziehen. Wir haben gewiß keine Ursache
zu fürchten, sie würden dies Recht mißbrauchen.
Ferner hat die Strafprozeßordnung bezüglich der Urteilsfindung Mängel.
Eine Verurteilung kann nur stattfinden bei einer Mehrheit von mindestens zwei
Dritteln der Stimmen aller mitwirkenden Richter, es ist also wieder, entgegen
dem althergebrachten Grundsätze der einfachen Stimmenmehrheit, die Grenze
wo der natürlich stets zu Gunsten des Angeschuldigten in Anschlag zu bringende
Zweifel aufhört, sehr weit nach der Seite des Angeklagten hin verschoben, es
verriet sich wieder eine ungerechtfertigte Voreingenommenheit des Gesetzes für
den Angeschuldigten. Hierzu kommt noch die — allerdings jetzt überall in den
Gesetzgebungen durchgeführte und auch in Preußen schon giltig gewesene —
Bestimmung der ZZ 314 und 317 der Strafprozeßordnung, wonach ein frei¬
sprechender Wahrspruch der Geschwornen für das Gericht unbedingt bindend ist,
und nur ein verurteilender, wenn das Gericht einstimmig andrer Ansicht ist,
Von diesem verworfen werden kann. Mein mag sich bei Einführung des Schwur¬
gerichts gedacht haben, daß die Geschwornen leicht zum Verurteilen geneigt sein
möchten; die Erfahrung aber hat das gerade Gegenteil gezeigt, und es konnte
auch garnicht anders kommen, weil man den Geschwornen nicht die bestimmten
spezialisirten Fragen über die Einzelheit des Thatbestandes, sondern mir ganz
allgemein die Schuldfrage vorlegt, dnrch deren Beantwortung der Geschworne
nicht nur die ihm allein zukommende Würdigung der Bewcisverhandlung über
das thatsächliche Moment der Anklage, sondern gleichzeitig die Unterstellung der
That unter das Strafgesetz vornimmt, damit aber einen Teil der Rechtsfrage
entscheidet, sodaß dem Richter nur noch die Ausmessung der Strafe übrig bleibt.
Daß unter diesen Umständen die Geschwornen oft lieber die Schuldfrage ver¬
neinen als bejahen, da sie ja nicht wissen köunen, welche Strafe im Falle der
Bejahung ausgesprochen werden wird, ist vollkommen erklärlich und sollte in
erster Linie zur möglichst baldigen Ersetzung der Geschwornen dnrch Schöffen
führen, die viel leichter eine Schuldfrage bejahen werden, da sie auch über die
zu erkennende Strafe mit zu urteilen haben. Will Man aber die Geschwornen
aus — hier freilich wenig am Platze befindlichen — politischen Gründen auf¬
recht erhalten, dann schaffe man wenigstens die Stellung der allgemeinen Schuld¬
frage ab und lasse die Geschwornen alle einzelnen in Betracht zu ziehenden that¬
sächlichen Momente auf dem Wege von spezialisirtcn Fragen beantworten, ans
Grund von deren Beantwortung dann die Richter die Subsumtion der bewiesenen
That unter das Strafgesetz vornehmen und danach die Strafe ausmessen. Vor
allem aber gebe man den Richtern das Recht, auch einen freisprechenden Wahr¬
spruch der Geschwornen, wenigstens wenn sie einstimmig andrer Ansicht sind,
zu verwerfen, damit die Sache dann nochmals geprüft werden könne.
Endlich bedarf die Stellung der Staatsanwaltschaft gegenüber den Richtern
einer Erörterung, und zwar erstens die Stellung des Staatsanwaltes als
Mitglied des Präsidiums der Kollegialgerichte und sodann die Unterstellung
der Gefängnisse unter die Staatsanwaltschaft. Wie kommt der Staatsanwalt
in das Präsidium der Gerichte? Er ist Partei vor dem Richterstuhle des Richters,
nicht Vorgesetzter des letztern; wird er zu letzterm gemacht, während der Richter
in seiner wichtigsten Amtsthätigkeit wieder über diesem Vorgesetzten steht, so
muß unwillkürlich in der Absicht der Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit
eine gewisse Voreingenommenheit gegen alles vom Staatsanwalt ausgehende
beim Richter entstehen, welche der Rechtsprechung nur ungünstig ist. Dann
aber stehen die Gefängnisse unter der Aufsicht des Staatsanwaltes, obwohl die
in den Gefängnissen verwahrten Gefangenen zur Verfügung des Gerichtes ge¬
halten werden sollen. Es wird damit dem Richter die Disposition über
seine eignen Gefangenen entzogen, er ist nicht immer sicher, daß die von ihm
für verhaftet erklärten Angeschuldigten vom Staatsanwalt im Gefängnis auf¬
genommen oder darin behalten werden. Es sind Fälle vorgekommen, wo trotz
richterlichen Haftbefehls der Staatsanwalt die Aufnahme Angeschuldigter in das
Gefängnis verweigerte, weil sie nicht zuvor einem Reinigungsverfahren unterzogen
worden waren, und einen Verhafteten wieder, trotz des richerlichen Haftbefehls, ent¬
ließ, weil derselbe mit einem körperlichen Leiden behaftet war, welches sein Ver¬
bleiben im Gefängnisse mit dessen Ordnung und Reinlichkeit unverträglich erscheinen
ließ. Nimmt aber auch der Staatsanwalt einen Angeschuldigten in das Gefängnis
auf, so thut er dies nur auf Grund eines richterlichen Haftbefehls, wodurch die
Bestimmung, daß der Richter einen Tag Frist zur Vernehmung des verhaftet
Angeschuldigten habe (§ 115 der Strafprozeßordnung), illusorisch wird; der
Richter muß vielmehr den von der Polizei ihm Angeführten Angeschuldigten sofort
mitten zwischen seiner übrigen Geschäften gleichsam im Sturme vernehmen, um
ihn nur loszuwerden, da er selbst ein Verhaftungslokal nicht besitzt. Ob eine
derartige Vernehmung dem Interesse der Strafrechtspflege entspricht, mag
dahingestellt bleiben!
Es sind hier nur einige Punkte hervorgehoben worden, welche im Interesse
einer energischen Verfolgung der Gesetzesübertretungen einer Revision bedürfen.
Wenn sich die Gesetzgebung selbst von der Tendenz leiten läßt, in übertriebner
Weise den Angeklagren geradezu bei der Aburteilung der Gesetzesübertretungen
zu begünstigen, dann ist es selbstverständlich, daß die Gerichte hieraus die
Konsequenz ziehen müssen und danach auch immer mehr die Anklage vom Ge¬
sichtspunkt des Angeklagten aus betrachten lernen. Das Leben aber zieht daraus
noch weitere Konsequenzen und begehrt bereits jetzt, wie wir eingangs gesehen,
Schutz gegen die Gerichte. Hier gilt es also einzuschreiten, ehe es zu spät ist.
Kaum sind die großen Justizgcsetze etwas über vier Jahre in Wirkung,
und schon werden zahlreiche Stimmen laut, die eine Revision derselben in ein¬
zelnen, mitunter den prinzipiellsten Punkten verlangen. Insbesondre ist es die
Strafprozeßordnung, die den Stein des Anstoßes in wichtigen Bestimmungen
bildet. Ich erinnere nur an das Verlangen nach Wiedereinführung der Be¬
rufung, das bereits lebhafte Diskussionen hervorgerufen hat und sich schon in
dem verhältnismäßig vorgerückten Stadium gesetzgeberischer Behandlung befindet.
Hieraus läßt sich schließe», daß in kürzerer oder längerer Frist eine mehr oder
weniger umfassende Revision der Strafprozeßordnung und der etwa dadurch be¬
rührt werdenden Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes bevorsteht. Zweck
dieser Zeilen ist es, auf ein Bedürfnis aufmerksam zu machen, das dem Praktiker
sehr häufig fühlbar wird und für das Abhilfe zu treffen vielleicht bei einer
baldigen Revision der Strafprozeßordnung der geeignete Augenblick wäre. Es
ist das Bedürfnis nach einer gemeinschaftlichen obersten Instanz in Übertretungs¬
sachen zur Herbeiführung einer gleichmäßigen Rechtsprechung in diesen Sachen.
Zur Zeit geht die Berufung von den mit den Übertretungen in erster Instanz
befaßten Schöffengerichten an die Strafkammern der Landgerichte. Gegen die
Urteile der Berufungsinstanz ist dann noch die Revision durch das vorgeordnete
Oberlandesgericht zulässig, das in letzter Instanz endgiltig entscheidet. Die Folge
dieser Vorschrift ist, daß in diesen Strafsachen eine einheitliche Rechtsprechung
nicht zu ermöglichen ist. Jedes Oberlandesgericht entscheidet nach seinem Ermessen,
und so kommt es, daß in einzelnen Fragen die allerverschiedensten Urteile von
Oberlandesgerichten vorliegen. Eine Rechtsunsicherheit und eine Störung des
Rechtsbewußtseins im Volke sind die natürliche Folge dieses Zustandes. Man
wende nicht ein, daß die betreffenden Strafsachen viel zu unbedeutend ihrer Natur
und ihren Folgen nach seien, als daß von einer ungleichmäßigen und ver-
schiednen Behandlung eine Störung des Rechtsbewußtseins zu erwarten sei.
Gerade solche Handlungen, welche oft den gewissenhaftesten und feinfühligster
Mann mit dem Gesetze in Konflikt bringen, sind durch die Gesetze als Über¬
tretungen charakterisirt. Ich erinnere nur an die Verstöße gegen das
Jmpfgesetz, die Gewerbeordnung, das Neichsstempelgesetz und zahlreiche andre.
Auf diesen Gebieten ist seither eine einheitliche Rechtsprechung nicht erzielt
worden. Das eine Oberlandesgericht erkannte beispielsweise die wiederholte
Bestrafung eines Jmpfgesctzrenitenteu für zulässig, ein andres hielt sie sür
ausgeschlossen. Das Neichsstempelgesetz vom 1. Juli 1881 erfährt in diesem
Bezirke die eine, in dem andern eine gerade entgegengesetzte Auslegung. Dieselbe
Handlung wird von dem einen Oberlandesgericht als strafbar angesehen, von
dem andern als straflos. Das Volk versteht das nicht. Es meint, wenn das
Reich Gesetze gebe, müsse, soweit es geht, auch sür eine gleichmäßige Auslegung
dieser Gesetze gesorgt werden. Diese gleichmäßige Auslegung kann nur herbei¬
geführt werden durch Übertragung der Nevisionsentscheidung in allen diesen
Übertretungssachen an ein Gericht. Das geeignete Gericht ist im Reichsgericht
bereits vorhanden, es braucht nur eine Ausdehnung seiner Zuständigkeit ein¬
zutreten. Man wende nicht ein, daß es der Würde des Reichsgerichts nicht
entspreche, sich mit Übertretungssachen zu befassen, oder daß es durch die vor¬
geschlagene Erweiterung seiner Zuständigkeit überlastet werde. Erfahrungs¬
gemäß kommen nur sehr wenige Übcrtretungssachen in die Revisionsinstanz;
von diesen wenigen würden selbstverständlich die wegfallen, die gegen landes¬
gesetzliche oder statutarische Bestimmungen verstoßen, da hier der für die Über¬
tragung der Sachen an das Reichsgericht sprechende Grund die Herbei-
führung einer einheitlichen Rechtsprechung für das ganze Reich empfiehlt.
Ferner würde, wenn das Reichsgericht einmal gesprochen, eine Prinzipienfrage
entschieden hat, eine erneute Umgebung desselben wegen derselben Prinzipienfrage
nicht erfolgen. Es würde also mit der Zeit eine Reduktion der anhängigen
Sachen auch schon deswegen eintreten. Was die Schädigung der Würde des
höchsten deutschen Gerichtshofs durch Überweisung solcher Bagatellsachen anlangt,
so braucht nur darauf hingewiesen zu werden, daß eine gewissenhafte Interpre¬
tation z. V. des Reichsimpfgesetzcs oder des Neichsstempelgesctzes oft mehr
Scharfsinn erfordert als die Beurteilung irgendeiner durch langjährige praktische
Übung und die Wissenschaft jedem geläufig gewordenen strafrechtlichen Frage.
Auch müßte meines Erachtens die Würde des höchsten Gerichtshofs zurücktreten
hinter dem eminenten öffentlichen Interesse an einer im ganzen Reiche überein¬
stimmenden Interpretation solcher in das wirtschaftliche und individuelle Leben
tief eingreifenden Gesetze. Abgesehen von den praktischen Juristen, die das Be¬
dürfnis nach einer festen Rechtsprechung in diesen Fragen zweifellos haben, hat
sich denn auch im Handelsstande der Auslegung des Neichsstempelgesctzes wegen
eine Strömung gezeigt, die wenigstens in bezug ans dieses eine einheitliche
Rechtsprechung herbeiführen will. Der deutsche Haudclstag hat sich mit der
Frage befaßt, und wenn er auch nicht klar ausgesprochen hat, daß die Über¬
weisung der Verstöße gegen das Reichsstcmpclgesetz an das Reichsgericht als
Nevisionsinstanz zu wünschen wäre, so ist doch keinem Zweifel unterworfen, daß
der gefaßte Beschluß die Voraussetzung hat, daß das Reichsgericht die haupt¬
sächlichsten Mängel des Gesetzes durch seine Interpretation zu beseitigen habe.
Das kann jetzt nur in seltenen Fällen geschehen, denn die Verfehlungen gegen
das Gesetz vom 1. Juli 1831 charakterisiren sich in der großen Mehrzahl der
Fälle als Übertretungen und können daher nicht an das Reichsgericht gebracht
werden. Es muß also die Frage in der in diesem Aufsatz vorgeschlagenen Weise
gelöst werden, und es ist kein Grund vorhanden, das, was bezüglich des Ncichs-
stempelgesetzes sich als dringendes Bedürfnis erwiesen, nicht auch in vielen andern
Fällen als notwendig anzusehen.
er Gedanke, daß es ein „Recht auf Arbeit" gebe, tritt öffentlich
zuerst in dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts auf,
er gehört zu den Forderungen der ersten französischen Revolution.
Schon die Verfassung von 1791 bezeichnete es als eine Pflicht
des Staates, eine „öffentliche Einrichtung" zu schaffen, die sie
in den Stand setze, „den gesunden Armen Arbeit zu geben, wenn sie sich felbst
keine verschaffen könnten."*) Die hierin liegende Verheißung blieb unerfüllt,
und so geschah es, daß die extreme Partei zu Angriffen auf das Eigentum
vorging. Robespierre war dagegen. „Wir wollen die Gleichheit der Rechte,"
erklärte er 1792 in seinem Blatte vstsirssur av 1a Ocmstiwtion, „weil es
ohne sie weder Freiheit noch soziales Glück giebt; was aber das Eigentum
betrifft, so wird es niemand antasten, sobald die Gesellschaft ihrer Obliegenheit
nachkommt, ihren Mitgliedern den Erwerb ihres notwendigsten Bedarfes durch
die Arbeit zu sichern." In dem EntWurfe einer Erklärung der Menschenrechte,
mit dem er 1793 hervortrat, betonte er wiederum die Pflicht der Gesellschaft,
„für den Unterhalt aller ihrer Mitglieder zu sorgen, sei es, daß sie ihnen
Arbeit verschafft, sei es, daß sie denen, die nicht arbeiten können, die Mittel
sichert, ihr Leben zu fristen." Die Konstitution von 1793 bezeichnete die
„öffentlichen Unterstützungen" als eine „geheiligte Schuld." Dabei aber blieb
es. Es kam nur zu Postulaten und Zusagen, die nicht viel mehr Wert als
Phrasen hatten. Daß geholfen werden, daß ein gewisses subsidiäres Recht ge¬
schaffen werden müsse, welches neben dem als „unverletzlich und heilig" anerkannten
Eigentumsrechte wirksam wäre, stand den damaligen Staatsleitern und Gesetz¬
gebern fest; aber die Hauptfrage, wie, mit welchen Maßregeln und Einrichtungen
das anzufangen und durchzuführen sei, wußte keiner von ihnen zu beantworten,
und uach dem Sturze der Schreckensherrschaft geriet die Sache in Vergessenheit.
Die Erbschaft der französischen Revolution trat das preußische Lambrecht
an, das, am 1. Juni 1794 pnblizirt und zu Gesetzeskraft gelangt, in seinem
zweiten Teile, Tit. 19, § 2 bestimmte, daß denen, welchen es nur an Mitteln
und Gelegenheit mangle, ihren Unterhalt und den der Ihrigen selbst zu er¬
werben, Arbeiten, die ihren Kräften gemäß seien, angewiesen werden sollten.
Indes gelangte auch diese Bestimmung der Gesetzgebung bisher nicht in Gestalt
dauernder Einrichtungen, sondern nur gelegentlich, indem man z. B. Arbeitslose
bei Wege- oder Eisenbahnbauten beschäftigte, zur Verwirklichung, und in die
neuesten Ausgaben des Allgemeinen Landrechts sind die ZK 1—15 des Titels
„Von Armenanstalten und andern milden Stiftungen" überhaupt nicht mehr
aufgenommen worden.
In der sozialistischen Bewegung, die unter der Regierung Ludwig Philipps
sich entwickelte, wurde dann das Recht auf Arbeit wiederholt gefordert; zu
einem populären Stichworte aber machte es erst die Revolution des Februars
1848. Am 25. Februar, als noch alles unklar und unsicher war, drang
plötzlich ein Zug bewaffneter Arbeiter, geführt von einem gewissen Marche, in
das Pariser Stadthaus ein und verlangte von der hier versammelten provi¬
sorischen Regierung Anerkennung des Rechtes auf Arbeit. Auf Anregung Louis
Blancs, des Verfassers der „Organisation der Arbeit," welcher damals noch
bei der Leitung der Staatsgeschäfte eine bedeutende Rolle spielte, erging darauf
folgendes Dekret: „Die provisorische Regierung der französischen Republik
verpflichtet sich, dem Arbeiter seinen Unterhalt durch Arbeit zu verbürgen, sie
verspricht, allen Bürgern Arbeit zu gewähren, sie erkennt an, daß die Arbeiter
sich untereinander assoziiren müssen, um den rechtmäßigen Ertrag ihrer Arbeit
zu genießen." Wie verständige Männer ein solches Manifest in die Welt
schicken konnten, ist nur begreiflich, wenn man die Gefahr, in der sie schwebten,
und die rücksichtslose Dreistigkeit des sozialistischen Doktrinärs, der es ihrer
momentanen Kopflosigkeit empfahl, in Rechnung bringt. Louis Blaue selbst
sagt in seinen ,?a.A68 ä'Kistoirs as 1a Revolution: „Ich wußte genau, daß
dieses Dekret nur durch eine soziale Reform zu verwirklichen war, welche die
Assoziation als Prinzip und die Aufhebung des Proletariats als Ziel aufstellt."
Mit andern Worten: das Dekret war die Erklärung, daß die Revolution sich
aus einer politischen in eine soziale verwandeln und die Regierung sich an die
Spitze der sozialen Reform stellen werde. Praktische Wichtigkeit gewann das
anfangs nicht sehr beachtete Dekret jedoch erst dadurch, daß es unmittel¬
bar nach dem Aufstande an Arbeit zu fehlen begann, die Werkstätten sich
schlössen und die Arbeiter mit dem Hinweis auf jenes Versprechen der Re¬
gierung Hilfe verlangten. So erging schon am 26. Februar ein zweites Dekret,
das nachstehenden Wortlaut hatte: „Die provisorische Regierung verordnet die
sofortige Errichtung von Nationalwerkstätten. Der Minister der öffentlichen
Arbeiten ist mit der Ausführung dieser Verordnung beauftragt." Der letztere
erließ darauf am 28. folgende Bekanntmachung: „Arbeiter! Durch Beschluß
vom heutigen Tage hat der Minister der öffentlichen Arbeiten angeordnet, daß
die Arbeiten, die in der Ausführung begriffen sind, ohne Verzug wieder auf¬
genommen werden sollen. Von Mittwoch den 1. März werden Arbeiten auf
verschiednen Punkten eingerichtet werden. Alle Arbeiter, die sich daran beteiligen
wollen, haben sich an einen der Maires von Paris zu wenden, die ihre Ge¬
suche entgegennehmen und sie sofort nach den Arbeitsplätzen absenden werden."
Die hier gemeinten Arbeiten waren Nivellirungen und andre Beschäftigungen
grober Art. So lange die Zahl der sich hierzu meldenden nur etwa 7000
betrug, ging alles gut. Bald aber mehrte sich dieselbe, und jetzt war guter
Rat teuer; die Regierung mußte jetzt entweder neue Wege der Beschäftigung
finden oder Unterstützung ohne Arbeit bewilligen. Sie wählte das letztere, und
nun geschah folgendes.*) Jeder auf den Werkstätten zugelassene Arbeiter
erhielt vom Staate ohne Rücksicht auf seine Leistung täglich zwei, jeder, dem
keine Arbeit angewiesen werden konnte, Franks. Natürlich sagten sich die
Leute: besser, ohne Arbeit Franks, als sür schwere Arbeit 2, und ebenso
natürlich mehrte sich die Zahl der Arbeitsuchenden in dem Maße, als die Ar¬
beitsgelegenheit abnahm. Die Regierung geriet dadurch in Verlegenheit, und
da sie die Nationalwerkstätten nicht aufzulösen wagte, mußte sie Ordnung in
die Verteilung ihrer Unterstützungen zu bringen suchen und die letztern von der
Leistung irgendeiner Arbeit abhängig machen. Sie folgte dabei dem Plane
eines jungen Mannes, Emil Thomas, dessen Vorschläge im wesentlichen auf
zwei Punkte hinausliefen. Zuerst sollte ein Zentralbüreau für alle Unterstützung
der Arbeiter errichtet werden, wo jedem derselben ein Arbeitsbuch gegeben werden
sollte. Die aufgenommenen Arbeiter sollten in Brigaden mit eignen Vorständen
und eigner Zahlung der Unterstützung eingeteilt werden. Der Minister der
öffentlichen Arbeiten sollte dem Vorstande der Werkstätten täglich die Arbeiten,
die man ausführen wolle, und die Zahl der Arbeiter mitteilen, die man dabei
unterbringen könne. Zweitens aber sollte das Institut als eine Art Nach-
weisungskomtoir für die Privatindustrie dienen, wo jeder Arbeiter nach seinem
Handwerk eingezeichnet und daraufhin, wenn ein Meister Gehilfen bedürfte,
demselben zugeteilt werden sollte. Am 6. März wurde Thomas als Regierungs¬
kommissar an die Spitze dieser Organisation gestellt, eine Reglement desselben
ordnete die Unterstützung, und es schien wirklich etwas brauchbares geschaffen
zu sein.
Aber der Mangel an Arbeit nahm fortwährend zu und ebenso die Zahl
der Arbeitsuchenden, zumal da man auch die Nichtbeschäftigten bezahlte. Mitte
März war sie bereits auf 49000 gestiegen. Vergebens wendete sich Thomas
mit der Bitte um Arbeit an die Direktion der Brücken und Wege. Dazu kamen
noch zwei andre Umstünde, die dem Institute seinen ursprünglichen Charakter
nahmen. Nur in Paris ansässige Arbeiter sollten nach der Absicht der Re¬
gierung in den Nationalwerkstätten Arbeit und Unterstützung erhalten, und die
Vorsteher konnten bei dem großen Zudrang zu ihren Brigaden unmöglich in
jedem einzelnen Falle feststellen, ob der sich meldende ein Pariser sei. Die
Folge war, daß aus der Provinz Massen unbeschäftigter Menschen den Nationat-
werkstätten zuströmten und Unterstützung beanspruchten. Die Gefahr, die in
dem ganzen Institute für die Besitzenden lag, wuchs dadurch täglich, indem es
schwerer zu kontroliren wurde, und in gleichem Maße wurde dasselbe kost¬
spieliger. „Zweitens zeigte sich, sagt Stein, sofort das an sich verkehrte in
einer solchen, plötzlich aus den streng organischen Grenzen der industriellen
Thätigkeit herausgerissenen, neugeschaffenen Arbeit. Denn es meldeten sich
natürlich Leute aus alleu möglichen Arten der Gewerke, Leute also, die alle
ihre Kraft und Fertigkeit bisher nur auf eine ganz bestimmte Thätigkeit ver¬
wendet hatten. Diese sollten nun plötzlich in eine Arbeit eintreten, für die in
der That nur wenige geschaffen waren. Da klagten dann einige, daß sie, an
sitzende Lebensart gewöhnt, nicht imstande seien, den ganzen Tag Hacke und
Schaufel zu führen; andre erklärten, daß sie unmöglich streng arbeiten könnten,
da sie sich damit die Hände verdürben und so ihren künftigen Unterhalt ver¬
nichteten; man fand die Arbeiter am Wege sitzend, lesend, erzählend, ausruhend.
Mit den tausenden von Händen wurde nichts beschafft, Mutlosigkeit trat ein,
die Menschen waren von der Arbeit besiegt, die sie nicht achteten und zum teil
nicht ertragen konnten — es war ein Zustand wie der einer geschlagenen
Armee. Zugleich aber konnten dabei großartige Unterschleife nicht fehlen. Viele
ließen sich ihre Unterstützung am Morgen auszahlen und gingen dann anderen
Erwerbe nach, andre wußten doppelte Erhebung möglich zu machen, dann wurde
das Geld verthan, die Arbeit überhaupt kam in Mißkredit. Und nun fingen
sogar die Arbeiter, die in Privatwerkstätten ihren Unterhalt erwarben, an, diesen
sauern Verdienst zu verlassen, um ein leichtes Brot bei den Werkstätten der
Nation zu finden. Die Privatindustrie, ohnehin tief gedrückt von den allge¬
meinen Zuständen, litt immer mehr. Es war umsonst, daß sich die Meister
und Fabrikherren an die Werkstätten wendeten, um von ihnen Gesellen zuge¬
wiesen zu erhalten; teils hatten dieselben keine Lust, aus dem freien Leben in
die Stadt und ihre strenge Arbeit zurückzukehren, teils konnten die mit Arbeit
überhäuften Bureaus sich nicht zurechtfinden.... Es war umsonst, daß von
seiten der Direktion alles mögliche im einzelnen versucht wurde. . .. Thomas
wollte anfangen, die verschiedenen Arbeiter in den ihnen eigentümlichen Gewerken
zu verwenden. Er ließ zu dem Ende für Bedürfnisse, welche sie selbst be¬
friedigen konnten, namentlich in Beziehung auf Reparatur der Werkzeuge und
Herstellung von Kleidungsstücken, eigne kleine Werkstätten errichten. . . . Allein
die Leute wußten nicht, wie lange sie bleiben würden, und hatten daher keine
Lust, nachdrücklich zu arbeiten. Der Lohn ferner wuchs doch nicht im Ver¬
hältnis zu ihrer Thätigkeit, und so hatte auch das keinen Erfolg. . . . Auf diese
Weise schritt nichts vorwärts als die Zahl der Arbeitbcgehrenden und die
Summe der Ausgaben." Schon am 11. März belief sich die letztere auf mehr
als 20 000 Franks täglich. Am 19. Mai war sie auf 182879 Franks und
die Zahl der vom Staate bezahlten Arbeiter auf 87942 gestiegen, und in der
Zeit vom 27. Mai bis zum 10. Juni gab man pro Tag 208127 Franks
aus. Das war ein Zustand, der für die Dauer nicht zu ertragen war. Mit
dem Mangel an Arbeit war die Ordnung, mit der Masse von Faulenzern das
gute Element verschwunden, die Nationalwerkstätten, von Anfang an nicht viel
mehr als Auskunftsmittel der Verlegenheit einer Regierung, deren Mehrheit
nur widerwillig den Forderungen der Sozialisten nachkam, waren rasch zu
bloßen Almoseninstituteu geworden, welche den brodlosen und zu Gewaltthätig¬
keiten aufgelegten Arbeitern der französischen Großstädte einstweilen Unterschlupf
gewährten.
In der Pariser Bürgerschaft waren die ^,te-1iki8 ng,tiong,ux infolgedessen
niemals beliebt. Man sah sie hier überdies als Hauptzeichen der sozialistischen
Tendenz der Revolution an, welche die besitzende Klasse bedrohte, die aber keines¬
wegs die Mehrheit der Franzosen für sich hatte. Die verunglückten Putsche der
Arbeiter vom 17. März und 16. April enthüllten jener Klasse, die auch in der
Regierung stärker vertreten war als die Gesinnungsgenossen Blancs, die Schwäche
und Ratlosigkeit der sozialistischen Republikaner. Auch die Wahlen zur National¬
versammlung, die am 27. und 28. April stattfanden, zeigten, daß jene in der
Minderheit waren; denn die Kandidaten der sozialdemokratischen Klubs erhielten
von den 400 000 Wählern des Seinedepartements nur 15- bis 20 000 Stimmen,
und das ganze Land gab nur wenigen der sozialistischen Wortführer ein Mandat.
Eine neue Demonstration der Radikalen, die am 15. Mai stattfand, wurde noch
müheloser als die früheren vereitelt. Die Anhänger der alten sozialen Ordnung
drangen nunmehr auf schärferes Vorgehen gegen die Revolutionäre und nament¬
lich gegen die Nationalwerkstätten, die Herde der beständigen Unruhen, und
Mitte Juni beschloß die Negierung deren Beseitigung. Die Arbeiter aber waren
entschlossen, dieser Maßregel Widerstand zu leisten.
Mitten in diese gespannte Lage fielen die Beratungen der Verfassungs-
kvmmission. Der Verfassungsentwurf derselben wurde am 20. Juni veröffent¬
licht. Im Vorworte zu diesem EntWurfe befand sich ein Paragraph (der siebente),
der folgendermaßen lautete: „Das Recht auf Arbeit ist das Recht, das jeder
Mensch hat, durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Die Gesellschaft
muß durch die produktiven und allgemeinen Mittel, über die sie verfügen kann
und die noch organisirt werden sollen, allen Arbeitsfähigen, die sich nicht auf
unteren Wege Arbeit verschaffen können, dazu verhelfen." „Das Recht auf Arbeit
war damit, sagt Stein, zum Prinzip der Staatsverwaltung erhoben. Wie die
besitzende Klasse in der Verfassung, so herrschte die nicht besitzende jetzt in der
Verwaltung."
Dieser erste Verfassungsentwurf erscheint erklärlich, wenn man sich erinnert,
daß die auf die Verwaltung bezüglichen Bestimmungen unter dem Eindrucke der
damals noch bestehenden Nativnalwerfftätten und der Macht des Arbeiterstandes
entstanden, und daß man sich bis zum Juni über den sozialen Gegensatz jener
beiden Klassen noch unklar war. Die Junischlacht öffnete auch dem Blinden
über beides die Augen: dieser Gegensatz war jetzt Thatsache geworden, und das
sozialdemokratische Element hatte bewiesen, daß es machtlos war. So konnte
das Maß der Berechtigung, das man in jenem Entwürfe vom 20. Juni der
noch uicht besiegten Klasse zugestanden hatte, der jetzt besiegten nicht mehr gegeben
werden. Ein neuer Verfassungsplan wurde ausgearbeitet und am 29. August
in der Kammer verlesen. Die Hauptänderungen des neuen Entwurfes betrafen
die Artikel des alten, welche das Recht auf Arbeit anerkannten. Der erstere
setzte an die Stelle jenes Rechtes in Artikel 8 des Vorwortes folgende Be-
Stimmung: „Die Republik soll den Bürger in seiner Person, seiner Familie,
seiner Religion, seinem Eigentum, seiner Arbeit beschützen und jedem den allen
notwendigen Unterricht zugänglich machen, sie schuldet den bedürftigen Bürgern
den Unterhalt, sei es, daß sie in den Grenzen ihrer Hilfsmittel ihnen
Arbeit verschafft, sei es, daß sie, wo die Familie nicht ausreicht, denjenigen, die
nicht arbeiten können, die Mittel zur Existenz giebt." Statt des Artikels 7
bestimmte der neue Verfassungsentwurf in Artikel 13: „Die Verfassung ge¬
währleistet den Bürgern die Freiheit der Arbeit und der Industrie. Die Ge¬
sellschaft begünstigt und ermuntert die Entwicklung der Arbeit durch den unent¬
geltlichen Elementarunterricht, die gewerbliche Erziehung, die Gleichheit der
Beziehungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, durch Spar- und Kreditinstitute,
die freiwilligen Assoziationen und die von seiten des Staates, der Departements
und der Gemeinde hergestellte Einrichtung öffentlicher Arbeiten, die geeignet sind,
im Falle von Arbeitsmangel die unbeschäftigten Hände zu beschäftigen, sie bietet
den verwaisten Kindern, den Schwachen und den hilflosen Greisen, denen ihre
Familie nicht helfen kann, Unterstützung."
Man sieht: während im ersten Entwürfe die Arbeit die Staatsverwaltung
beherrscht, ist sie, obwohl ihr Name noch dasteht, aus dem zweiten verschwunden
und die soziale Aufgabe des Staates in das Gebiet der Armenpflege herab¬
gezogen. Der Bericht der Verfassungskommission giebt über die betreffenden
Vorgänge in den Bureaus Aufklärung. „Wir sind überzeugt, heißt es dort,
daß eine Gesellschaft schlecht eingerichtet ist, wenn tausende ehrenwerter, gesunder,
fleißiger Leute, die kein andres Eigentum haben als ihre Arme, keine andern
Existenzmittel als den Arbeitslohn, sich, betroffen durch Umstände, die stärker
als ihr Wille find, zu den Schrecken des Hungers, zur Verzweiflung oder zur
Erniedrigung des Almosens verurteilt sehen. . , , Wenn ein Bürger, an dessen
Arbeit das Leben haftet, sich zur Arbeit meldet . . ., und die Gesellschaft un¬
empfindlich die Augen abwendet und antwortet: Ich habe nichts für dich zu
thun, suche dir Arbeit oder stirb, du mit den Deinigen, so ist diese Gesellschaft
ohne Herz, ohne Tugend, ohne Sittlichkeit und ohne Sicherheit; sie beleidigt
die Gerechtigkeit, empört die Menschlichkeit und verstößt gegen alle Grundsätze,
welche die Republik verkündet. Im Namen dieser Grundsätze haben wir in die
Verfassung das Recht, durch Arbeit zu leben, das Recht auf Arbeit geschrieben.
Diese Formel ist verdächtig und gefährlich erschienen. Man hat gefürchtet, sie
sei eine Prämie für Müßiggang und Ausschweifung, und die Arbeiter würden
diesem Rechte eine Tragweite geben, die es nicht hatte, und sich seiner als eines
Rechtes zum Aufstande bedienen. Dazu kommt noch eine gewichtigere Einwen¬
dung: wenn der Staat sich verpflichtet, allen denen, die aus dem oder jenem
Grunde keine Arbeit haben, welche zu geben, so muß er auch jedem die Arbeit
zuleiten, die für ihn paßt, er wird also Fabrikant, Kaufmann, Produzent werden
müssen, belastet mit allen Bedürfnissen, wird er das Monopol jeder Industrie
haben müssen. Solcher Art sind die Ungeheuerlichkeiten, die man aus unsrer
Formulirung des Rechts auf Arbeit herausgelesen hat, und da dieselbe unserm
Gedanken so entgegenstehende Auslegungen zuließ, so haben wir denselben klarer
und bestimmter machen wollen, indem wir das Recht des Einzelnen durch die
der Gesellschaft auferlegten Pflicht ersetzten. Die Form ist gewechselt, die Sache
bleibt dieselbe. . . . Kann die Gesellschaft nichts erstreben, nichts organisiren,
um die arbeitsame Bevölkerung auf der Stufenleiter des Unterrichts, der Sitt¬
lichkeit, des Wohlstandes höher zu heben, ohne Furcht, sich in alle Zufälle der
Unordnung zu stürzen? Ihr werdet es, Bürger Volksvertreter, ebensowenig
glauben als wir, und wir haben gesehen, was ihr bereits im Interesse der Ar¬
beitenden gethan habt. ... Die Republik darf ihre Wirksamkeit nicht auf Be¬
schützung der Freiheit, des Eigentums, der Familie beschränken. Ihr Glaube
weist, ihr eine größere und edlere Aufgabe zu. Sie ist die werkthätige Be¬
schützerin aller ihrer Kinder, sie läßt dieselben nicht in Unwissenheit verkommen,
nicht im Elende verderben, sie bleibt nicht gleichgiltig bei jenen Krisen des Ge-
werbfleißes, welche Armeen von Lohnarbeitern mit Neid im Herzen, Rachgier
und Gotteslästerung auf den Lippen auf die öffentlichen Plätze werfen. Un¬
erbittlich streng gegen den Aufruhr, ist sie mitleidig, menschlich, vorsorglich
gegen das Unglück; sie empfiehlt, ehrt, schützt die Arbeit durch ihre Gesetze und
verbürgt ihr die Freiheit, aber wenn gezwungenes Feiern diese Arbeit lähmen
will, verschließt sie ihr Herz nicht, begnügt sie sich nicht, seufzend zu wieder¬
holen: Verhängnis! Sie greift im Gegenteile zu allen ihren Hilfsmitteln und
ruft: Brüderlichkeit! . . . Hilfsmittel? Fehlen sie etwa in diesem weiten Ge¬
biete, von dem ein Fünftel noch unbebaut ist, bei einer so fleißigen Bevölkerung,
in einem Staate, der so viele Ländereien ertragsfähig, so viele Wasserläufe nutzbar
zu machen, so viele Straßen und Kanäle anzulegen, so viele Häuser und Denk¬
mäler zu errichten, so viele Berge wieder zu bewalden hat? . . . Fehlen sie,
während die Landwirtschaft die Arme fordert, welche die Industrie ihr entzieht,
während die Arbeitskräfte so übel ins Gleichgewicht gebracht sind, daß unsre
Dörfer an der Schwindsucht und unsre Städte an Saftüberfluß sterben? Nein,
nicht die Hilfsmittel sind es, die uns mangeln; was gefehlt hat, ist der Wille,
die Hingebung, der ernste und glühende Wunsch, die produktiven Mittel, über
welche der Staat verfügt, zum Vorteil aller zu verwenden."
Die Fassung dieses Berichts ist stark rhetorisch, der Ton pathetisch und
bisweilen sentimental. Aber das Schriftstück verrät, daß die Verfasfungs-
kommission nur widerstrebend den auf Abschwächung des ersten Entwurfs ge¬
richteten Absichten der Bureaus gefolgt ist, und daß sie nicht aufrichtig verfährt,
wenn sie in der Ersetzung der ursprünglichen Fassung des betreffenden Artikels
durch die nunmehrige nur einen Wechsel der Form sehen will. Die, welche auf
die neue Fassung hindrängten, wußten, daß dem nicht so war, sie waren sich
klar darüber, daß die dem Staate auferlegte Pflicht, „in den Grenzen seiner
Hilfsmittel" für Arbeit zu sorgen, nicht viel mehr als eine Phrase ohne Inhalt
war und bleiben würde. Die Gegenpartei in der Nationalversammlung gab
sich daher mit der virtuellen Beseitigung des Rechtes auf Arbeit nicht zufrieden,
sondern brachte ein auf Wiederherstellung desselben abzielendes Amendement ein.
Der Verlauf der Debatten im Plenum (11. bis 13. September) zeigte jedoch,
daß für das von Matthieu de la Drone formulirte Amendement: „Die Republik
erkennt das Recht aller Bürger auf Unterricht, Arbeit und Unterstützung an"
keine Mehrheit zu gewinnen war. Die Führer des Proletariats verfuhren
dabei nicht offen: statt den wahren Sinn des etroit an trg.og.it auszusprechen,
der in dem Rechte auf das Arbeiten, auf die Ausübung seiner Arbeitsfähigkeit,
in dem Rechte, stets einen Stoff für die Arbeit verlangen zu dürfen, besteht,
bemühten sie sich beständig, das etroit g.v. trg?g.i1 mit dem etroit as no xg.s
mcmrir as taiin, zu identifiziren. Kein Wort ließen sie sich über die durch¬
greifende Umgestaltung des ganzen gesellschaftlichen Organismus entschlüpfen,
die doch ganz offenbar mit jener Formel begründet war. nachdrücklich ver¬
wahrten sie sich dagegen, kommunistische Ideen zu hegen, ebenso nachdrücklich
wiesen sie die Meinung von sich, sie verlangten, der Staat solle jedem Hand¬
werker Beschäftigung in seiner Profession verbürgen. Die Rechte ließ sich nicht
überzeugen, sie focht das Recht auf Arbeit in doppelter Weise an. Marlet
Barthe zeigte, daß es nicht bloß an sich eine Umgestaltung der Gesellschaft
enthalte, sondern von dem Proletariat und dessen Wortführern auch so ver¬
standen werde. Dann versuchten Tocqueville, Duvcrgier de Hauranne und
namentlich Thiers die praktischen Folgen eines solchen Prinzips deutlich zu
machen. Der letztere sagte ganz unumwunden, daß „keine der verschiednen
sozialistischen Richtungen bis jetzt irgendetwas ernsthaftes, etwas neues, etwas
von Interesse für den Staatsmann vorgebracht hätte," ging dann auf die
Klage der Sozialisten ein, daß gegenwärtig der Arbeiter der Knecht des
Hungers sei, wobei er mit Thatsachen bewies, daß der Lohn jetzt höher sei
als er jemals gewesen, nannte das Recht auf Arbeit ein sg,Ig.ii6 aux cmvrisrs
oisit's und zeigte schließlich, daß die Finanzen keines Staates der Welt eine
solche Unternehmung gestatten würden. Vergebens trat Considercmt mit
einer Empfehlung seines Systems dagegen auf; ebensowenig Erfolg hatte
Martin Bernard mit einer Rede, in welcher er das Recht auf Arbeit als „das
heiligste, das unverletzlichste aller Rechte" pries. Endlich fiel auch das Amen^
temere, welches Glais-Bizoin statt des Matthicuschen einbrachte und in welchem
das „Recht auf Arbeit" durch das „Recht auf Existenz durch die Arbeit" er¬
setzt war, nach kurzer, aber stürmischer Debatte. 596 Stimmen waren dagegen,
nnr 187 dafür. Am 15. September wurde der oben angeführte 8. Artikel des
Vorworts, am 22. der 13. Artikel des neuen Entwurfs der Verfassung in erster
Lesung mit großer Majorität angenommen. Bei der zweiten Lesung brachte
Felix Pyat am 2. November ein drittes Amendement ein, in dem er statt des
Ausdrucks äroit g,u irg-van die Worte ciron as travail vorschlug. Aber es war
jetzt schon nicht mehr zu hoffen, daß noch wesentliches an der Verfassung ge¬
ändert werden könne. „Pyats Rede, bemerkt Stein, gehört zu dem besten, was
für das Recht auf Arbeit gesagt worden ist. Er brachte dasselbe in Verbindung
mit der Freiheit, dem Christentum?, der Liebe, der Gefahr des Besitzes, dem
Elende. »Man muß. sagte er, den Feind entwaffnen, ihm diesen treuen und
verhängnisvollen Bundesgenossen, den er immer bereit findet, entführen, das
Elend.« Gegen ihn trat besonders Cordon auf, der ihm zurief: »Das ist der
unbeschränkte Despotismus oder, wenn Sie wollen, die Gütergemeinschaft.« Doch
war die Sache schon entschieden. Felix Pyats Amendement wurde mit 638
gegen 86 Stimmen verworfen, und der Kampf war zu Ende... Die besitzende
Klasse hatte entschieden gesiegt... Die Konstitution als Ganzes wurde am
4. November angenommen. Sie war entschieden der Ausdruck der industriellen
Republik."
Einen Nachhall fand dieser Kampf im ersten deutschen Parlamente, als
dasselbe schon ohnmächtig war. Zu dem 30. Paragraphen des zweiten Ent¬
wurfes der Grundrechte waren von außen her verschiedne Anträge auf Sicherung
der Arbeit eingegangen. Zunächst hatte ein in Berlin zusammengetretener
Kongreß deutscher Handwerker- und Arbeitervereine verlangt, daß „der Staat
jedem, der arbeiten wolle, eine seinen Kräften angemessene Arbeit und mensch¬
lichen Bedürfnissen gerecht werdenden Lohn verbürge, die Invaliden der Arbeit
versorge und der Jugend unentgeltlichen Unterricht gewährleiste," und daher an
die Nationalversammlung die Bitte gerichtet, „dieselbe wolle die Grundbedingungen
alles sozialen Lebens an die Spitze ihrer Betrachtungen stellen und zum Mittel-
Punkte des deutschen Verfassungswerkes machen." Ferner forderte die Zentralstelle
für Gewerbe und Handel in Stuttgart die Herren von der Paulskirche auf, in
die Grundrechte eine Bestimmung aufzunehmen, welche geeignet wäre, „die
große Zahl der Arbeitenden auf dem Gebiete der Industrie und des Handels
darüber zu beruhigen, daß auch ihnen eine materielle Errungenschaft geworden
sei in der Neugestaltung des deutschen Vaterlandes." Das Volk wolle festgestellt
haben, „daß der Staat seinen Bürgern das natürliche Feld ihrer Thätigkeit
stets offen und unvertummert erhalten werde." Die Vertreter und Lenker der
deutschen Nation hätten das Feld der nationalen Arbeit als unter ihrer be¬
sondern Fürsorge stehend anzusehen und dies in den Grundrechten auszusprechen.
Es werde schon Befriedigung gewähren, wenn in letztere eine Bestimmung auf¬
genommen würde, wie folgende: „Der deutschen Arbeit wird ein wirksamer Schutz
Purch Zollmaßregeln^ gegen fremde Mitbewerbung gewährleistet." Der Bericht
des volkswirtschaftlichen Ausschusses leugnete dem Berliner Antrage gegenüber,
daß der Staat jedem angemessene Arbeit und genügenden Lohn verbürgen könne,
und erklärte, könnte er es, so dürfte er es nicht. Das Prinzip des Eigentums
sei die Arbeit, aber die Triebfeder der letztern sei der Besitz; werde dieser in
Frage gestellt, so höre jene Triebfeder auf zu wirken. Wolle der Staat jedem
eine seinen Kräften angemessene Arbeit und einen diesen entsprechenden Lohn
verbürgen, so würden die Arbeiter unmündig werden und erschlaffen, der Trieb
zur Selbsthilfe, alle Intelligenz würde erlöschen, die große Masse sich mit dem
täglichen Brote begnügen, den Staat als Vormund betrachten, u. s. w. im Fahr¬
wasser der manchesterlichen Sophistik, die Wahres mit Falschen vermengt.
Auch die demokratische Linke brachte Anträge auf Verbürgung der Arbeit
ein. Simon von Trier schlug unter andern Zusätzen zu Z 30 folgende vor:
„Die Vorsorge für mittellose Arbeitsunfähige ist Pflicht der Gemeinden, be¬
ziehungsweise des Staates. Dem unfreiwillig Arbeitslosen muß die Gemeinde,
beziehentlich der Staat Arbeit gewähren." Nauwerck wollte zu dem genannten
Paragraphen einen Zusatz, der nur eine Kopie des in Paris zuletzt in der An¬
gelegenheit beschlossenen war, bekannte sich aber dabei zu dem Glauben an das
Recht auf Arbeit im strengen Sinne, wie es dort verworfen worden war. In
der Debatte traten außer ihm noch Schütz von Mainz und Simon von Trier
für dieses Recht ein, wobei der letztgenannte dem nackten Grundsatze der freien
Konkurrenz das Recht der Notwehr gegenüberstellte. „Der Rechtsstaat habe,
so giebt Stöpel seine Argumentation wieder, die Konkurrenz des Todschlags,
der Mißhandlung, des gewaltsamen Wegnehmens mit Strafe bedroht, wenn
man aber das Recht, nicht zu verhungern, leugne, so werde der Arme zu jenen
Gewaltmitteln greifen und in die vorrechtsstaatliche Konkurrenz zurücktreten.
Auch die Mißhandlung durch den Geist, die Klugheit und Spekulation müsse
in derselben Weise wie Todschlag und Raub ihre rechtlichen Grenzen finden.
Wenn eine Nation einer andern Nation gegenüber sich im Zustande der Schwäche
befinde und es als notwendig erachtet werde, Maßregeln des Schutzes für die
Schwächern gegen die Stärkern zu ergreifen, so müsse man sich fragen, ob die
Anerkennung dieser Pflicht nicht notwendig zur Folge habe, daß auch im Innern
der Nation das schwächere Einzelindividuum gegen das stärkere, weil im Besitze
größerer Mittel befindliche, geschützt werde." Eisenstück endlich, ein Fabrikant
und daher begreiflicherweise einer Einrichtung abhold, welche für die Beschäf¬
tigung der Arbeiter noch eine andre Instanz als das Interesse des Privatkapitals
einsetzen sollte, war doch arbeiterfreundlich genug, um Institutionen zu be¬
fürworten, „die jedem Arbeitgeber nach Maßgabe der Arbeitskraft, die er
verwendet, die Verpflichtung auferlegen, während der Verwendung der Arbeits¬
kraft, d. h. während der faktischen Dauer des Kontraktes, eine Steuer zu be¬
zahlen, nur zu Gunsten der Arbeiter; diese Steuer muß in die Staatskassen
fließen und öffentlich verwaltet werden, und die Verwendung derselben darf
nicht anders sein als die Ausgleichung der Arbeitskraft, wenn sie sich absorbirt
hat, d. h. zu materieller Unterstützung von Arbeitsinvaliden, Errichtung von
Pensionshäusern u. dergl." Man bemerke, der demokratische Fabrikant entwickelte
bereits vor 36 Jahren Gedanken, deren Verwirklichung die Gegenwart erstrebt.
Natürlich — so darf man wohl bei einem Rückblick auf die Zusammen¬
setzung der Versammlung in der Paulskirche sagen — wurden alle diese Zusätze
zu Z 30 der Grundrechte von der Majorität mit großer Stimmenmehrheit
verworfen, und in der Zeit der bald darauf eintretenden Reaktion gerieten die
sozialen Gedanken der Revolution und unter ihnen auch das Recht auf Arbeit
in Vergessenheit. Erst in der neuesten Zeit ist der Ruf nach letzterm aus sozial¬
demokratischen Kreisen gelegentlich wieder vernommen worden, indes ohne daß
er Gegenstand lebhafter Agitation geworden wäre. Unter denen, die dem
Sozialismus sein Recht lassen, aber auch der individuellen Freiheit im Ge¬
sellschaftsleben den ihr zukommenden Platz gewahrt wissen wollen, ist unsers
Wissens zuerst Stöpel (1881 in der Schrift „Die freie Gesellschaft") ent¬
schieden wieder für das Recht auf Arbeit eingetreten. Die Presse hat seine
Anregung teils totgeschwiegen, teils mit dem Ausrufe: Unmöglich! teils mit
der Behauptung beantwortet, daß dieses Recht ein Raub am Eigentum sei.
Die zuletzt erwähnte Auffassung sucht er im ersten Kapitel seiner jetzigen Flug¬
schrift von neuem zu widerlegen, die Ausführbarkeit der Sache, ihr Nutzen und
ihre Heilsamkeit für die Gesellschaft sind der Gegenstand der drei letzten Ab¬
schnitte, aus denen wir nur mitteilen, daß der Verfasser sich als das Hauptfeld
für Befriedigung des Bedürfnisses nach Arbeit durch den Staat Unternehmungen
denkt, welche (wie Trockenlegung von Moore», Bewässerung von Haiden, Korrek¬
tion von Wasserläufen, Bau von Straßen, Eisenbahnen, Kanälen und Brücken)
nicht sowohl die Produktion von verbrauchsfähigen Waren als die Vorbereitung
und Unterstützung dieser Produktion zum Zwecke haben.
an sagt, das Kapital habe die Neigung, die Arbeit oder den Ar¬
beiter auszubeuten, und es fröhne dieser Neigung in ausgedehntem
Maße. Mag sein. Aber ich bemerke auch das umgekehrte Ver¬
hältnis in zahlreichen Fällen. Ich sehe großartige Fabriken, in
welchen Millionen angelegt sind, Fabriken, die zwar fortfahren,
die alten oder selbst gesteigerte Löhne zu zahlen, aber ihren Aktionären keine
oder doch nur solche Dividenden geben, welche hinter dem gewöhnlichen Zins¬
fuß zurückbleiben. Einige arbeiten sogar mit wirklichem Verlust und schreiten
nur deshalb nicht zur Auflösung, weil sie Anstand nehmen, ihre zahlreichen Ar-
beiter brotlos zu machen. Wieviel tausend größere und kleinere Industrielle setzen
ihr Kapital bis zum letzten Heller zu, fahren aber fort, ihren Arbeitern bis
zum Ende regelmäßig ihren Lohn zu zahlen! Ist dies nicht Ausbeutung des
Kapitals durch die Arbeit? Und liegt der ganze Unterschied nicht lediglich darin,
daß in dem einen Falle das Kapital, in dem andern die Arbeit in der gün¬
stigern Lage ist? daß das Kapital bald rücksichtslos herrschen kann, bald ge¬
duldig seiner Zerstörung entgegengehen muß? Dergleichen Übervorteilungen sind
aber immer Ausnahmefälle, und solche begründen kein entscheidendes Urteil.
Fest aber steht, daß das Kapital nicht ohne den Arbeiter nutzbar werden, und
der Arbeiter nur mittelst des Kapitals Beschäftigung finden kann. Kapital
und Arbeit sind zwei gleich nützliche und gleich notwendige Elemente unsers
Wirtschaftslebens, sie verdienen gleiche Ehre, und wenn auch nicht gleiche För¬
derung vom Staate, weil das Kapital sich eher selbst zu helfen weiß, so doch
gleich wenig Hemmnis und Mißgunst.
Ich sprach von der Schwierigkeit, kleine Beträge anzulegen. Dieselbe be¬
steht nicht sowohl in dem Mangel passender Gelegenheit, als hauptsächlich darin,
daß eine Summe Geldes eine gewisse Größe haben muß, um nutzbringend Ver¬
wendung zu finden. Es ist nicht wohl möglich, diese Grenze ziffermäßig zu
bestimmen; man kann nur sagen, daß solche kleine Beträge solange zusammen¬
gelegt werden müssen, bis sie anlagefähig werden. Nach der objektiven Seite
hin schiebt sich diese Grenze höher und höher hinauf, wenn es sich darum han¬
delt, für großartige Unternehmungen die erforderlichen Kapitalien zusammenzu¬
bringen. Auf diese Weise bedingt der Anlagetrieb der vorhandenen Überschüsse
eine Zusammenlegung derselben, mit andern Worten, es wohnt dem Kapital die
zentripetale Kraft inne.
Das Geschäft, welches diesem Bedürfnis des Zusammenlegens genügt, ist
daher an und für sich nicht nur ein berechtigtes, sondern auch ein überaus nütz¬
liches, ja unentbehrliches. Es wird von den verschiedenartigsten Personen und
Anstalten unter den verschiedensten Namen bald im kleinen, bald im großen
betrieben. Eine Sparkasse sammelt die kleinsten Beträge, eine Bank oder ein
Konsortium von Banken und Geldfürsten sammelt die Millionen, wie sie für
die Durchstechung der Landengen, von Suez, von Korinth und Panama er¬
forderlich sind. In allen Fällen ist ein solches Geschäft sehr gewinnreich. Denn
der Sammler verdient nicht nur eine ansehnliche Belohnung für seine Müh-
waltung, sondern er gewinnt auch die Macht, welche mit der Verfügung über
ein großes Kapital verbunden ist; er übt eine Macht aus, die ihm seine Kunden
übertragen, die aber unendlich viel größer ist als die ihrige, weil der Nutz¬
effekt des angesammelten Großkapitals weit bedeutender ist als die Addition
der kleinen Beträge. Wer über eine Million verfügt, ist viel mächtiger als
tausend Menschen, von denen jeder nur tausend hat. Aus diesem Grunde folgen
die Ansammler selbst wieder dem zentripetalen Gesetze, indem sie sich zu Gesell-
schaften und diese wieder zu Konsortien verbinden, und so entstehen an der
Spitze der Pyramide jene allmächtigen Geldfürsten, welche mit ihren großen
und kleinen Vasallen mittelst der Börse die Welt beherrschen.
Mit ihrer absoluten Gewalt ist der Natur der Sache nach Selbstsucht und
Rücksichtslosigkeit verbunden. Ihre an sich berechtigte und gemeinnützige Funk¬
tion, die Geschäfte und Interessen der kleinen Kapitalisten zu vertreten, tritt
hinter den eignen Vorteil zurück, und der Mißbrauch der anvertrauten Gewalt
ist ebenso unvermeidlich, wie er es zu allen Zeiten bei absoluter politischer Ge¬
walt gewesen ist. Die einzige Macht, die sie kontrvliren, in ihren Ausschrei¬
tungen beschränken könnte, die Presse, steht leider in ihrem bezahlten Dienst.
Auf diesem Wege kommen die kleinen oder richtiger die unselbständigen
Kapitalisten in eine gedrückte Lage; sie haben keinen Einfluß auf das Anlage¬
geschäft, auf die Festsetzung der Bedingungen :e., sondern sie haben nur die
Wahl, ob sie sich bei dieser oder jener Anlage beteiligen wolle». Sie werden,
nicht unähnlich dem Arbeiter, nach bestimmten Sätzen gelohnt, müssen sich (z. B.
bei Konvertirungen) Abzüge gefallen lassen, und können selten oder niemals
streiken.
Der Kreis der unselbständigen Kapitalisten umfaßt auch verhältnismäßig
recht reiche Leute, Besitzer von Hunderttausenden, wenn sie nicht durch Verbin¬
dungen oder regelmäßigen Besuch der Börse die Gelegenheit haben, oder wenn
sie es verschmähen, sich den herrschenden Großen als dienende Klienten anzu¬
schließen.
Es ist bekannt, daß diese Selbstherrscher des Kapitals großenteils Juden
sind. Aber es wäre ungerecht, die Abneigung, welche jene etwa verdienen, auf
sie allein zu konzentriren. Überhaupt sind es ja nicht Personen, die an dem Übel
schuld tragen, sondern es ist ein Prinzip, an dem wir kranken. Die Juden,
auch wenn ihr Geschick zum Handeln nicht eine Nationaleigenschaft wäre, sind
von der Geschichte ausdrücklich dazu erzogen und ausgebildet worden. Alles
sonstige Gewerbe war ihnen verboten, der Handel allein stand ihnen offen. Die
persönliche Unsicherheit, in der sie lebten, nötigte sie, ihr Vermögen so zu ge¬
stalten, daß es leicht verborgen und im Notfall geflüchtet werden konnte. Dazu
waren Edelsteine und — baares Geld am besten geeignet. Die Juden wurden
daher Meister des Geldhandels, ein Geschäft, worin ihnen vielleicht nur die
Italiener gleichkamen. Indessen hatte das baare Geld in früherer Zeit durchaus
nicht die umfassende Bedeutung wie heute. Ein erheblicher Teil des Geldes
lag, wie schon erörtert, müßig im Kasten, im übrigen herrschte das System der
sogenannten Naturalwirtschaft, d. h. der Handel war großenteils Tauschhandel
und eine unendliche Menge der bestehenden Verpflichtungen wurde durch Na¬
turalleistungen erfüllt, sei es durch Wirtschaftsprodukte oder durch persönliche
Dienste. Aus diesen Gründen war in jenen Zeiten die Überlegenheit der Juden
im Geldhandel weniger fühlbar; ja ihre Gewandtheit darin wurde vielfach als
eine Wohlthat empfunden. Als aber die Welt seit dem vorigen Jahrhundert
sich anschickte, zur Geldwirtschaft überzugehen und nach anfänglichen schüchternen
Versuchen auf diesem Wege rasch vorwärtsging, als das Geld — fast plötzlich —
eine vorher ungekannte Bedeutung gewann, da fühlte sich jedermann in den
neuen Verhältnissen unbeholfen, außer den Juden, die nun bald im großen und
öffentlich mit gewohnter Meisterschaft ausüben durften, was sie vorher im kleinen
und stillen getrieben hatten, und wozu sie von der Geschichte erzogen worden
waren. So gelangten sie zu der finanziellen Überlegenheit, die wir heute an
ihnen bewundern. Die Nasse hat aber damit nichts zu schaffen ^, was schon
der Umstand beweist, daß viele, in deren Adern kein Tropfen semitischen Blutes
fließt, sich ebenfalls zu Finanzgrößen emporgeschwungen und alles dasjenige in
kurzer Zeit gelernt haben, wozu ihre jüdischen Kollegen seit Jahrhunderten vor¬
bereitet waren.
Es wird nützlich sein, die wesentlichen Kunstgriffe, mit welchen die Geld¬
mächte ihre Zwecke zu erreichen suchen, wenigstens andeutungsweise zu berühren.
Da ihre Macht wesentlich in ihrem Gelde besteht, so ist es ihre erste Sorge,
daß das ausgeliehene oder angelegte Geld samt dem erzielten Gewinn in mög¬
lichst kurzer Zeit wieder in ihre Kasse zurückfließe, zugleich aber auch, daß der
etwaige Verlust einer Unternehmung möglichst auf andre, d. h. auf das unselb¬
ständige Kapital, abgewälzt werde. Führt ein Geldfürst diese Grundsätze mit
Geschick und Konsequenz durch, so muß sein Reichtum fast mit mathematischer
Sicherheit und unaufhaltsam wachsen, auch wenn ringsum schlechte Zeiten, Not
und Elend herrschen. Es soll dies mit wenigen Worten anschaulich gemacht
werden.
Während der Privatmann es nur auf stetige und möglichst vorteilhafte
Verzinsung seines Kapitals absieht, geht der Geldfürst immer nur auf Kapital¬
gewinn aus; der Zins läuft nur nebenher als Kassenrechnung und ist ihm,
wenigstens seiner Höhe nach, ziemlich gleichgiltig. Er leihe dem Staate oder
der Gemeinde, er gründe eine Eisenbahn, eine Versicherungsanstalt, eine
Spinnerei, so ist es niemals seine Absicht, Gläubiger des Staates und der
Gemeinde zu werden, oder Eigentümer oder selbst nur starker Miteigentümer
der genannten Anstalt; er denkt nicht entfernt daran, sein Geld in dieser Weise
an- und festzulegen; was er allein beabsichtigt, ist das Geld der unselbständigen
Kapitalisten, die seine Klienten sind oder seiner Lockung folgen, für jene Anlagen
heranzuziehen, für sich selbst aber außer dem laufenden Zins einen Kapital¬
gewinn zu machen. Da der Geldfürft den Darleiher oft nur nach der Maßgabe
befriedigt, wie er, der Geldfürst, die Partialscheine veräußern wird, oder wenn
dies nicht vollständig oder garnicht der Fall ist, da er vermittelst der Börse
die Anlehenstitel oder Aktien schon vor deren Ausgabe auf Lieferung verändert
oder sie zur Unterzeichnung auflegt, so hat er immer nur eine unbedeutende Vorlage
auf kurze Zeit zu machen, während sich sein Gewinn auf die ganze, in dem
Unternehmen angelegte Summe berechnet. Angenommen z. B., es handle sich
um zehn Millionen und er müßte ein Fünftel mit zwei Millionen vorlegen,
der Gewinn aber sei zwei Prozent, also 200 000, so verdient er auf seine
Vorlage, außer dem laufenden Zins zehn Prozent. Nun aber wickelt sich ein
solches Geschäft im regelmäßigen Verlaufe in zwei bis drei Monaten ab; er
kann also im Jahre mit dem nämlichen Kapital drei, vier, ja fünf solcher
Operationen machen und also dreißig bis fünfzig Prozent Nutzen erzielen. Man
sieht, wie in solchen Geschäften der eigentliche Kapitalzins fast zur gleichgiltigen
Nebensache herabsinkt.
Man kann zugeben, daß so günstige Operationen, wie unser willkürlich
gewähltes Beispiel, nicht die ausnahmslose Regel seien; aber es ist auch gewiß,
daß in besonders flotten Zeiten, z. B. in den fünfziger Jahren, als die ameri¬
kanischen Eisenbahnbonds zum erstenmale bei uns eingeführt wurden, es sich
noch um ganz andre Prozentsätze gehandelt hat. Immer kommt es natürlich
darauf an, daß es an guten Gelegenheiten nicht fehle. Kommen sie nicht von
selbst, was übrigens meistens der Fall sein wird, so muß sie sein Scharfsinn
aufspüren oder seine Gewandtheit künstlich erzengen.
Wir haben in der neuesten Zeit erlebt, daß bei gesichertem Weltfrieden
die Unternehmungslust schlummerte und deshalb das Privatkapital, welches feste
Anlage sucht, in Verlegenheit war. Der Zinsfuß ging infolge dessen bedeutend
zurück. Diese Konjunktur wußten die Geldfürsten sofort mit großem Vorteil zu
benutzen. Sie veranlaßten die Staaten, Gemeinden, Aktiengesellschaften u. s. w.
ihre fünf- und vierundeinhalbprozentigen Schulden zu kündigen und dagegen vier-
prozentige Anlehen auszugeben. Bei diesen (durchaus soliden) Konvertirungs-
geschäften haben die Geldfürsten erhebliche Gewinnst? erzielt, die Privatkapitalisten
dagegen hatten den Verlust mit einem Fünftel ihres Einkommens zu tragen.
Auch nach vollständiger Abwicklung solcher Geschäfte bleiben noch namhafte
Vorteile für den Geldfürsten übrig, bei Anlehen die Besorgung der Zins-
und Rückzahlungen, bei Aktiengründungen die einträglichen Stellen der Auf¬
sichtsrate und der Einfluß, den sie auf die Gesellschaften üben, welche ihre
direkte Klientel vermehren.
So sind diese Geldfürsten, da sie fast immer ihr ganzes Kapital verfügbar
haben, stets zum Sprunge bereit und müssen daher bei allen Konjunkturen, Z, 1s,
uausss und a ig, va,i8Zs, verdienen, gleichviel wie es der sonstigen Welt ergeht, wenn
sie nur gewandt genug sind, den andern oben angedeuteten Kunstgriff immer zu be¬
folgen, d. h. die etwaigen Verluste ihrer Operationen auf das unselbständige Kapital
abzuwälzen. Da der Geldfürst sich auf kein Unternehmen einläßt, welches sich
nicht für ihn in wenigen Monaten abwickelt, so ist es schon an und für sich
nicht wahrscheinlich, daß ihn ein Verlust treffen werde; denn in so kurzer Zeit
ändern sich die Umstände nicht leicht, unter denen er sich auf das Unternehmen
eingelassen hat und die natürlich gewinnverheißend waren; zur Paralysirung
leichter Schwankungen aber besitzt er allerlei geräuschlose Mittel, die das Ver¬
trauen, die „Stimmung," wenigstens solange erhalten, bis er selbst nicht mehr
wesentlich beteiligt ist. d. h. den Kopf aus der Schlinge gezogen hat.
Es würde zu weit führen, die Mittel zu schildern, durch welche die Geld-
fürsten einen drohenden Verlust von sich abzuwenden wissen. Es würde dies
nicht ohne Anführung von Beispielen geschehen können und nicht ohne auf
Persönlichkeiten hinzuweisen, welche, wenn auch uicht ausdrücklich genannt, doch
von Kundigen würden erraten werden. Dies aber wollen wir vermeiden. Wir
müßten von Gesellschaften sprechen, welche den Großen im Notfalle als Prügel¬
knaben dienen, ja von solchen, die man eigens gegründet hat, um Verluste zu
übernehmen oder gar in Gewinnst zu verwandeln u. dergl. Es genügt uns,
Prinzip und allgemeine Richtung anzugeben. Wir wollen daher nur noch von
einer großen Erfindung der neuern Zeit sprechen, welche die Möglichkeit bietet,
den Vorteil eines Unternehmens ins unglaubliche zu steigern, ohne die damit
verbundene Gefahr im mindesten zu vermehren. Diese Erfindung ist die soge¬
nannte Option. Folgendes ist im wesentlichen ihr Verfahren.
Ein Staat, der nicht ganz auf festen Füßen steht, soll in der Lage sein,
eine Anleihe von zweihundert Millionen zu machen. Nun können die Bankiers
ganz genau beurteilen, daß der Markt fünfzig Millionen willig aufnehmen
werde, wenn der lockende Zins in Gold und zahlbar in Berlin, Frankfurt,
Paris versprochen wird, unsicher aber ist es, ob ein höherer Betrag noch mit
Vorteil oder überhaupt unterzubringen wäre. Die Bankiers kontrahiren daher
mit jenem Staate nur auf fünfzig Millionen fest, behalten sich aber vor,
binnen Jahresfrist nach ihrer Wahl (Option) weitere Teile der beabsichtigten
Anleihe zu übernehmen. Hat der Markt, d. h. das Privatkapital, nun jene
fünfzig Millionen aufgenommen und hat das Papier einen guten Kurs ge¬
wonnen, wozu die Bankiers selbst ja bekanntlich vieles wenigstens vorübergehend
beitragen können, so übernehmen sie weitere Millionen zu den ersten Be¬
dingungen und können nun fast ohne Vorlage den Nutzen auf die optirten
neuen Millionen einstreichen. Hatte das Unternehmen aber nicht den gewünschten
Erfolg, so optiren sie nicht und überlassen es dem Staate, wie er sich auf
anderm Wege Geld verschaffen mag. Sie find es vielleicht selbst, welche dem
Staate unter härteren Bedingungen eine andersbenannte Anleihe verschaffen,
an der sie dann wieder verdienen. Die unselbständigen Kapitalisten aber, die
Redner der ersten Anleihe tragen dann den Verlust, wenn der Kurs der¬
selben fällt.
Der Jagd der Bankiers auf die unselbständigen Kapitalisten kommt die
Zwangslage der letztern auf halbem Wege entgegen, weil teils infolge neuer
Ersparnisse, teils durch Rückzahlung aus angelegten Kapitalien sich immer von
neuem baares Geld anhäuft, welches Anlage sucht. Um diese Gelder an sich zu
ziehen, wirken die Großen geräuschlos wie Naturgewalten, diejenigen aber, die erst
groß werden wollen, lärmend und und allen Mitteln der Verführung zu Spe¬
kulation und wildem Spiel, So findet sich eben jetzt fast täglich in allen
größern Zeitungen folgendes Inserat:
lürksn
steigen, Spekulation angezeigt, — M. 100,— baar oder in Effekten
genügen als Unterlage zum Kauf von Mk, 10000, (Löst, 500,)
'Homvergers Börsen-Comptoir, Frankfurt a, M,
Dies soll natürlich nur dazu diene», den Leser im allgemeinen aufzuregen. Nun
aber folgt ein wahres Nsssisurs, k-ütss votrs ^jhn! durch folgende im schönsten
Börsianerdeutsch verfaßte Annonce:
Lor86.
?. ?.
Hiermit erlaube ich mir, Sie auf die SteigerungsfKhigkcit folgender
Swatspapicre aufmerksam zu machen:
- ->.) 4»/„ spanische Steines-Obligationen, Kurs 62»/»,
°- v) 4/» russische „ von 1880, Kurs ca, 76°/,,
°°- <-) 4/.. ägyptische „ Kurs ca. 68/„,
Nachdem eine bedeutende Kurserholung der leitenden Spcknlations-
effekten stattgefunden hat, kann eine Steigerung der oben angegebenen,
im Preise überaus billigen Werte nicht ausbleiben und halte ich deshalb
einen Kauf auf Spekulation fast risikolos.Ich begnüge mich deshalb auch mit sehr kleinem Sicherheitsdepot,
und zwar:-
- bei si Für Frs, 1200V ---- M. 9600 mit M, 500.
- „ b) „ Rubel 5000 „ 16000 „ „ 800.
- „ o) „ Pfund 500 --- ., 10000 „ „ 500.
Die von Ihnen beim Kauf und Verkauf zu zahlenden Spesen (Pro¬
vision, Courtage und Stempel) betragen zusammen bei ») M. 15,40.
bei d) M. 25,—, bei <-) M, 16,-.Ich bitte meinem Rate zu folgen und das eine oder das andre der
angegebenen Effekten zu wählen oder auch mit sämtlichen dreien einen
Versuch zu machen,Ihren werten Nachrichten entgegensehend, zeichne
hochachtungsvoll
Homberger's Börsen - Comptoir.
Beispiel der Abwicklung einer solche» Operation:
- Kauf Frs. 12000 M, 9600 4°/„ Spanier s, 62 M. S9S2,—
- meine Provision .....M, 9,60
- Vs Courtage u. Styl, , . . M, 5,80 „ 15.40
- M. S967,40
- Verkauf Frs. 12000 9600 deo. 5 72
- M, 6912.—
- ab Spesen Wie oben , . M, 15 40_6896,60
- M, 929.20
- Als Depot sind M, 500 nlltig, entweder baar oder in Wertpapieren.
Steigen die Kurse und realisirt der Spieler zur rechten Zeit, so ist alles in
schönster Ordnung; fallen sie aber z, B. um fünf Prozent, so genügt das ge¬
leistete Depot nicht mehr zur Deckung des Börsenkomptors, und der Spieler
muß weitere Deckung liefern, wenn er nicht so klug ist, die Finger ans dem
Feuer zu ziehen. Ich habe es selbst mit angesehen, wie ein vermögender Mann
sich durch solches Spiel völlig zugrunde gerichtet hat. Das Börsenkomptor
aber kann bei dem Geschäfte garnicht verlieren, weil es entweder die angeprie¬
senen Papiere garnicht gekauft hat, oder wenn dies geschehen wäre, weil es die¬
selben in dem nämlichen Augenblicke verkauft, wo das Depot des Spielers die
Kursdifferenz nicht deckt. Das Börsenkomptor ist also in einer vorteilhafterer
Lage als der gemeine Bankhalter, und das Spiel ist verderblicher, weil man im
Roulette nur mit baarem Gelde, beim Börsenkomptor aber auf Kredit spielen kann.
In dem engen Rahmen, den ich mir gezogen habe, kann es nicht meine
Absicht sein, weiter ins Einzelne einzugehen. Es genügt mir, auf die zentripetale
Kraft hingewiesen zu haben, welche dem Kapital innewohnt, gezeigt zu haben,
wie dadurch jene Kluft entsteht zwischen den herrschenden kosmopolitischen
Geldfürsten, welche nur nach Kapitalgewinn streben, und dem dienenden, un¬
selbständigen Privatkapital, welches feste Anlage und Verzinsung sucht, wie jene
fast ausnahmslos gewinnt und dieses fast immer die Verluste trägt.
Es ist einleuchtend, wenn es auch nicht ziffermäßig bewiesen werden kann,
daß vermöge dieser zentripetalen Strömung das herrschende Kapital unauf¬
haltsam wachsen, das dienende Kapital ebenso unaufhaltsam abnehme» muß. Es
ist nur die Frage, ob dieser Abgang durch die Arbeit der Nation, welche neues
Kapital erzeugt, ersetzt wird. Denn nur in diesem Falle würde die Anbauer
des gegenwärtigen Zustandes, wenn auch nicht tröstlich, so doch ohne Verarmung
der Nation denkbar sein.
Es ist schwer, auf diese Frage eine positive Antwort zu geben, und es
kann nur konstatirt werden, daß es noch andre Verhältnisse giebt, welche an
der regelmäßigen Zerstörung des Privatkapitals mitarbeiten. Die Statistik hat
zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß jeder Mensch ein Kapital repräsentirt,
welches durch die Kosten seiner Erziehung und Ausbildung bis zum erwerbs¬
fähigen Alter gebildet wird. Da dies Kapital mit dem Tode erlischt, so muß
es während der erwerbsfähigen Lebenszeit nicht nur verzinst, sondern auch
amortisirt werden, wenn nicht für das Nationalvermögen ein Verlust entstehen
soll. Dieses Mcnschenkapital ist natürlich verschieden groß, je nach der sozialen
Stufe des einzelnen Falles. Es- wächst aber auch selbst auf der untersten Stufe,
wenn das Minimum der Ausbildungskosten zunimmt. Dies ist aber infolge
unsrer Kulturfortschritte andauernd der Fall. So ist es garnicht unzweifelhaft,
daß z. B. nur vermöge der allgemeinen Schulpflicht der heutige Arbeiter, der lesen,
schreiben, rechnen und manches andre gelernt hat, ein höheres Kapital re¬
präsentirt als sein Vorfahr oder als sein Kollege in einem andern weniger
hoch entwickelten Lande. Für das Endergebnis, d. h. für die Höhe dieses
Kapitals, ist es dabei natürlich ganz gleichgiltig, ob die Ausbildungskosten von
der Familie allein, oder ob sie teilweise vom Staate oder der Gemeinde auf¬
gebracht werden. Wenn nun der Arbeitslohn nicht gleichmäßig mit der Er-
höhung des Arbeitermenschenkapitals wächst, wie dies denn nach der Überzeugung
der Urteilsfähigen der Fall ist, so wird der Arbeitslohn zur Verzinsung und
Tilgung des Menschenkapitals nicht ausreichen, es'wird also Zerstörung von
Nationnlkapital stattfinden. Fremde Hilfe, die dem Arbeiter durch wohlthätige
Einrichtungen, wie Kranken-, Unfall- und Lebensversicherung, geleistet wird,
kann zwar seine Lage erleichtern, aber dem Menschenkavitalverlustc nicht steuern.
Den nämlichen Prozeß gewahren wir auch in höhern Gesellschaftsstusen. Ich
will als Beispiel nur die Staatsbeamten anführen. Es ist gar kein Zweifel,
daß die hohen Ausbildungskosten eines Richters, der erst mit Anfang der
dreißiger Jahre zu erwerben beginnt, in der unendlichen Mehrzahl der Fälle
ihre Verzinsung und Tilgung nicht finden.
Solche und ähnliche Verhältnisse nagen fortwährend an dem National¬
kapital, und es ist dabei eine betrübende Erscheinung, daß gerade in dem
Fortschritte unsrer Gesittung mit ein Grund oder doch eine Förderung des
Übels zu liegen scheint. Man kann zwar einwenden, daß den vielen, welchen
die Verzinsung und Tilgung ihres Menschenkapitals nicht vergönnt ist, andre
gegenüberstehen, welche in dieser Beziehung desto großartigere Erfolge erzielen.
Aber selbst zugegeben — was übrigens garnicht denkbar ist —, daß der Gewinn
der wenigen Fälle der letztern Art den Verlust der unzähligen Fälle der erstem
Art ausgleichen könnte, so würde zwar kein Verlust am Gesamtkapital entstehen,
Wohl aber würde die zentripetale Kraft des Kapitals aufs neue bestätigt werden,
indem die Ärmsten von ihrem Menschenkapital soviel abgeben würden, als er¬
forderlich ist, um das Menschenkapital der höhern Stufe zu erhalten.
Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet, erscheint die Auswanderung
solcher Personen, welche im Inlande keinen genügenden Lohn finden, um ihr
Menschenkapital zu erhalten, durchaus nicht als Verlust für den National¬
wohlstand; denn das Menschenkapital, welches solche Auswandrer repräsentiren,
würde im Inlande verloren gehen, und auch das Geldkapital, welches sie etwa
besitzen, würde aufgezehrt werden, um jenen Ausfall zu decken.
Nachdem ich gezeigt habe, wie dem Kapital eine zentripetale Kraft innewohnt,
vermöge deren es gleichsam mit elementarer Gewalt aus den Händen der Kleinen,
Schwachen und Unselbständigen in die Fäuste der Hohen und Mächtigen zu¬
sammenströmt, gezeigt habe, wie dadurch das Bild unsrer gesellschaftlichen
Zustände auf der einen Seite als trübes Nachtstück, auf der andern Seite als
ein märchenhaftes Wunder von Glanz und Pracht erscheint, wie diese Gegensätze
fortwährend zunehmen und sich in ihrer verderblichen Wirkung steigern, bleibt
nur noch übrig, zu untersuchen, ob das Übel heilbar sei, und wo die Hebel an¬
zusetzen seien. Aber wer vermöchte darauf eine befriedigende Antwort zu geben?
Wir bemerken eine ähnliche Erscheinung in der zentripetalen Neigung der
Bevölkerung unsrer Staaten, ein fortgesetztes Zusammenströmen der Menschen
in den großen Städten, deren ungeheuerlichen Wachstum die Verödung des
platten Landes gegenübersteht. Wir sehen, daß die Eisenbahnen im großen
und ganzen nicht — wie man hoffte — dazu gedient haben, das Gedeihen der
von ihnen berührten Zwischenplätze zu fördern, sondern daß sie die ganz ent¬
gegengesetzte Wirkung gehabt haben, dem Abzüge ihrer Einwohner nach den
Zentralwohnstätten neue Antriebe zu geben. Was soll — so fragen wir
bedenklich — aus Dörfern, Flecken, aus Land- und Provinzialstädten in ihrer
Verödung werden, was aus den Großstädten mit ihrem unheimlichen Wachstum?
Wer mag eine Antwort auf diese Fragen geben, wer getraut sich zu sagen, wie
unsre Landkarten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aussehen werden!
Wir bescheiden uns in der Überzeugung, daß die Vorsehung überall und
zu allen Zeiten dafür sorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Aber der Himmel ist hoch, und niemand hat eine Ahnung, wie lange es dauert,
bis die Bäume an das Gewölbe stoßen. Und dann ist die Vorsehung wie die
Natur oft grausam in ihren Mitteln, oder um eine andre Ausdrucksweise zu
gebrauchen, die Ratschläge Gottes sind unerforschlich! Wir müssen hoffen, daß
es sich um Evolution, nicht um Revolution handeln werde. Wir Menschen
aber können nichts weiter thun, als die drohenden Gefahren erkennen, versuchen,
was sie aufhalten und vielleicht in einzelnen Fällen beseitigen, in allen Fällen
vermeiden, was sie fördern kann. Jedenfalls, um mit einer ganz nüchternen
Bemerkung zu schließen, sind Hombergers Börsenkomptor und die Kapitalrenten¬
steuer keine geeigneten Heilmittel gegen die zentripetale Neigung des Kapitals,
die wir als eine Hauptursache unsrer sozialen Gebrechen erkannt haben.
le Stimmgabel für den Ton, den die populärsten katholischen
Schriftsteller deutscher Nation um die Wende des siebzehnten und
achtzehnten und während der ersten beiden Drittel des letzter» Jahr¬
hunderts anschlugen, hielt der weitgepriesene, in neuern Zeiten
mehr berühmte als gelesene Hofprediger Kaiser Leopolds I.,
Ulrich Megerle, genannt Pater Abraham a Sancta Clara. Die merk¬
würdige Erscheinung dieses schwäbischen Augustiners, der zu der Unsterblichkeit,
die er sich mit seinen eignen Schriften erworben, bekanntlich auch uoch diejenige
erhielt, welche ihm Schiller durch die Figur des Kapuziners in „Wnllensteins
Lager" verlieh, hat in späterer Zeit auch im protestantischen Deutschland zahl-
reiche Freunde und Bewunderer gefunden. Es scheint jedoch nicht, daß die
witzig erbaulichen Schriften des Paters rasche Verbreitung gewonnen hätten,
und im Augenblick ihres Erscheinens über das katholische Süddeutschland hinaus
gelesen worden wären. Immerhin datiren die ersten Nachdrucke der (in Salz¬
burg erschienenen, in Luzern, Bonn und Wien alsbald nachgedruckten) Schriften
Megerles im gut protestantischen Nürnberg bereits von 1718, und die Eigen¬
art des Autors äußerte bereits zu dieser Zeit Wirkungen, welche den eigent¬
lichen Absichten des Paters fremd, wenn nicht entgegengesetzt waren. Das
morcilisirende, ja katholisch-propagandistische Element ging für die Empfindung
zahlreicher Leser, und namentlich aller Protestanten, in dem prächtigen Humor
und der virtuosen Sprachbehandlung des Wiener Hvfpredigers unter, und ob-
schon niemand das Hauptwerk Pater Abrahams, „Judas der Ertzschelm," für
einen humoristischen Roman erklären und halten wird, so ist er doch wie ein
solcher gelesen und genossen worden. Die eigentümliche Gattung des Autors
rief mannichfache Nachahmungen seiner Werke ins Leben, und die Gegnerschaft,
die er fand, stammte hauptsächlich aus dem Lager der Katholiken selbst.
Pater Abraham brachte die alte und in vielen Fällen so glänzende als
eindringliche Kapuzinerberedsamkeit zu literarischen Ehren. Der tapfere Schwabe
welcher in Pest- und Kriegszeiten seine persönliche Unerschrockenheit bewährt,
hatte, stand unter der vollen Einwirkung jener wunderlichen Bildung, die seit
der Gegenreformation im katholischen Deutschland weit und breit herrschte. Er
hatte seinen Geist vorzugsweise an der von den Jesuiten begünstigten Literatur
genährt und sich namentlich die Kunst- und Kraftstücke der jesuitischen Rhetorik
angeeignet. Aber sein Naturell war kräftig genug, diese Einwirkungen so weit
zu schwächen und zu mindern, daß der Pater die dogmatischen Fragen meist
beiseite setzte und sich mit den Subtilitäten der Kasuistik so wenig als mög¬
lich befaßte. Er, der nach Scherers Wort zeitlebens ein Plebejer blieb, über¬
ließ den Vätern der Gesellschaft Jesu die Dinge, für die er sich nicht geschaffen
fühlte, und begnügte sich schlechtweg, Moralprediger im größten und allerdings
auch derbsten Stile zu sein. Die Wiener seiner Zeit schienen ihm Anlaß genug
zur Entfaltung seines besondern Genius, einer gewaltigen, fortreißenden, den Hörer
(und Leser) gleichsam herumwirbelnden, schlagfertigen und in ihrer Art außer¬
ordentlich geistreichen Beredsamkeit, gegeben zu haben. Das Laster und die
Thorheit bewegten sich frei und ungescheut und nicht eben maskirt vor seinen
Augen, so hatte auch der Bußprediger keinen Anlaß, Versteckens zu spiele» und
durfte sich in der Bekämpfung des Übels nach Herzenslust gehen lassen. Sein
Mutterwitz, seine scharfsinnige, zutreffende Beobachtung, seine bilderreiche Phan¬
tasie, seine Kunst der Parallelen und seine sprachschöpferische Genialität wären
alle verloren gewesen, wenn er sie für andre Zwecke als für die der derben,
hausbackenen, unverwüstlichen Moral in Bewegung gesetzt hätte. Daß sich in
seinen Schriften, und namentlich in „Judas dem Ertzschelm," zu den ursprüng-
lichen Anlagen und Tendenzen nach und nach eine entschiedn« Künstlerfreude
an dem, was er vermochte, an der drastischen, unwiderstehlichen Komik und dem
Feuerwerk witziger Reime und Alliterationen hinzugesellte, leuchtet ein; Scherer
hebt in seiner Abhandlung („Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen
Lebens in Deutschland und Österreich") zutreffend hervor, daß erst in den letzten
Schriften des originellen Paters die humoristischen Elemente die beherrschenden
werden und „schrankenlos und ungehemmt alle möglichen Possen sich auf offner
Bühne bewegen/' Ernstgestimmte Katholiken nahmen und nehmen noch jetzt
gewaltigen Anstoß an den „Hcmswurstiaden" des großen Humoristen, und ganz
sicher giebt es selbst in seinem bedeutendsten Buche Kapitel, welche an die Pre¬
digt des Bruders Cipvlla in der sechzigsten Novelle des „Decamerone" erinnern,
mit der Boccaccio die unerschrockene Mönchsbercdsamkeit verhöhnt. Gleich¬
wohl waren es die natürliche Komik, die unbefangene Fröhlichkeit und daneben
die überwiegende Betonung der allen Christen gemeinsamen Moral, welche dem
populären Schriftsteller ein Publikum auch bei den Protestanten verschafften.
Pater Abraham ist ohne Frage ein guter, in gewissem Sinne selbst fanatischer
Katholik, er hat kaum eine Vorstellung davon, daß die Andersgläubigen auch ein
Lebensrccht besitzen, und berichtet gelegentlich seiner Hörer- und Leserschaft haar¬
sträubende Dinge von den schlimmen Wirkungen der Ketzerei. In den Schlu߬
kapiteln des „Judas" — „Judas der verzweifelte Verräther und Heneter seiner
eigenen Person" — erzählt Pater Abraham ganz fröhlich von den Wirkungen
des heiligen Grabes dem Baronius nach: „Ein vornehme Dame mit Namen
Cosmicma habe einmahl an einem Sonntag bei nächtlicher Weil wollen das
heilige Grab besuchen, verehren, es sehe aber der Eingang von der Mutter
Gottes, so ihr sichtbarlich erschienen, verbotten worden, nur weil diese edle Frau
ein Ketzerin war; also gezieme sich nicht, daß eine solche Persohn solle ein so
heiliges Orth betretten. — Desgleichen setzt erstgemeldter Author hinbey, daß
ein Fürst in Palestina habe ebenfalls in das heilige Grab wollen hineingehen,
sey aber mehrmahlen von einem großen Widder abgetrieben worden, als welcher
mit seinen Hörnern dem Fürsten den grösten Gewalt angethan, biß endlich dieser
in sich selbst gangen, seinen Fehler erkannt, den wahren katholischen Glauben
angenommen und seine Sünd bereuet hat." Trotz dieses naiven Kctzerhasscs
ist jedoch Pater Abraham durchaus vom Geiste einer Zeit erfüllt, welche ein
Grauen vor den ansgeklungenen Losungen der Glaubensschlachten empfand. Er
ist gutmütig und klug genug, den lieben Frieden, der zur Notdurft hergestellt
ist, auch zu halten, und sein Humor hilft ihm über die Anstöße, die ein andrer
genommen haben würde, hinweg. So fällt es dem Schriftsteller zwar nicht ein,
Toleranz zu predigen, aber er übt sie stillschweigend, und indem er jederzeit
wieder auf Empfindungen und Gesinnungen Wert legt, die auch auf protestan¬
tischer Seite zu finden waren, weist er der katholischen Literatur einen Weg zur
Versöhnung.
Mit Recht betont der neueste Herausgeber von Pater Abrahams „Ertz-
schelm" (Felix Bobcrtag) die großen Vorzüge des Wiener Hofpredigers, die ihn
nächst Grimmelshausen zu dem „für uns lesbarsten und interessantesten Prosa¬
schriftsteller der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts" erheben. Wir
müssen mit Bobertag zugeben, daß er mit der deutschen Sprache in grammatischer
und stilistischer Beziehung äußerst gewaltsam, mißachtend, ja roh verfährt, daß
er von Sprachreinheit keine Ahnung hat, daß er an dem Schwulst der Zeit
seinen gehörigen Anteil nimmt, indem er, freilich halb parodierend, Phrasen
und Perioden 5, Lobenstein und Ziegler drechselt, und daß er in seinen Pointen
und Überraschungen mit Wortverdrehungen und unmöglichen 8a,1ti inortAli der
Sprache und des Sinnes Erstaunenswertes leistet; aber sein Stil hat die großen
Vorzüge der Lebhaftigkeit, Anschaulichkeit und Bestimmtheit an sich und fesselt
durch die sonderbaren Künste, die man fortwährend zu hören bekommt.*) Bobertag
hätte hinzufügen können, daß diese Lebendigkeit und Anschaulichkeit im ent¬
schiedensten Gegensatz zu der steifen, schleppenden, urbildlichen und mit zweck¬
losen Zitaten überladenen Belletristik des Jahrhunderts stand, während darin die
kühne und sinnreiche Sprachvirtuosität eines Fischart wiederauflebte. Und er
hätte noch stärker die allgemein wirkungsfähige und wirksame Kraft des Autors
betonen können, die neutrale Stellung, die aus seiner überwiegenden Verständigkeit,
aus seiner gesunden Moralisirlust und dem glücklichen Vermeiden aller versteckten
Propagandistischen Spitzen erwuchs. Wo wir den Pater aufschlagen, da be¬
stätigt jedes Kapitel, daß er Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat. Man
greife eine beliebige Schilderung, z. B. diejenige von der Heimkehr des Ver¬
lornen Sohnes und die daran geknüpften Nutzanwendungen gegen den Platten
und alltäglichen Neid heraus, der am Wohlsein des Nächsten Anstoß nimmt,
man wird überall zugeben müssen, daß zwar kein protestantischer Schriftsteller
der Zeit gerade diese besondre, in der Mönchsschule gewachsene Art der Bered¬
samkeit zu entfalten vermocht hätte, aber doch auch kein protestantischer Leser
an der lebendigen, humorvollen Darstellung und an der mit ihr verbundenen
moralischen Reflexion Anstoß nehmen konnte. Hören wir den Pater selbst; der
wackre Bußprediger hat immer wieder ein Recht, vernommen zu werden. Die
Episode ist in das Kapitel, welches erzählt, daß „Judas in der Insul Jscarioth,
von dero er den Namen geschöpfft, bei Hof als ein königlicher Printz anfherzogen,"
mit all der Freiheit und humoristischen Willkür eingeschaltet, der wir auf Schritt
und Tritt bei dem Verfasser begegnen:
Was der verlohrene Sohn vor ein Landsmann geWest, ist eigentlich nit be-
kandt, ich glaube aber ein Jrländer; wie er geheissen hat, ist nicht bewust, ich glaube
aber AÄölÄLius, von was vor einem Orth er sich geschriben hat, allweil er ein
Edelmann, hat man noch nit erfahren, ich glaub aber wol von Mädlsperg und
Frauhofen, was er im Wappen geführt, hat es Niemand beschrieben, ich glaub aber
wol ein Saumagen im grünen Feld: diser Gesell reiste mit wolgespicktem Beuthel
in die Länder und Provintzen, aber auß denselben ist er nit frömmer sondern
schlimmer kommen und werden noch gar offt manchem adelichen Jüngling die Länder
in Elender verwandlet, auch reiset nicht selten ein guter Vorwanus auß und kombt
ein schlechter Uermimus nach Hauß; Was Ehr und Ruhm ist es denn dem an¬
sehnlichen Fluß Donau, daß er in die Länder reist, durch Schwaben, Bayren,
Oesterreich, Ungarn, endlich aber in die Sau fließt; Der fromme Jacob hat auff
seiner Reiss ein Leiter gen Himmel gesehen, aber leyder viele auß unserem Adel
finden aufs ihr Reiss ein Leiter in die Höll: Wann der Zeit niemand gereist ist,
so hält man ihn für einen Stubenhocker, der sein Lager hinder dem Ofen auff-
geschlcigen, aber sagt mir liebe halb Teutsche, denn gantze seyet ihr schon lang nicht
mehr gewest, ist es nicht wahr? Ihr schicket euere Sohn auß, damit sie in frembden
Ländern mit grossen Unkosten frembde Laster lehrneu, da sie doch mit wenigeren
Unkosten zu Hauß die Tugenden erwerbten, spitzfindiger kommen sie nit zurück, auss-
genommen, daß sie neue Modi von Spitzen mit sich bringen, galanter kommen sie
nit zurück, must nur seyn daß galant vom K^Äiiisirou herrühret; herrlicher in
Kleydern kehren sie zwar offt nach Hauß, es wäre aber besser ehrlicher als herr¬
licher, neue Noäi-Huck, Nocli-Parocken, Urcu-Krägen, Noäi-Röck, Noäi-Hosen, Noäi-
Strümpff, Noäi-Schueh, Noäi-Bänder, Uoäi-Knöpff, auch Uocii-Gewissen schleichen
durch euere Reiß in unser liebes Teutschland und verändern sich euere Narrentuttel
täglich mit dem Mondschein, es werden bald müssen die Schneider ein hohe Schuck
auffrichten, worauff sie vootor-mässig gr^äisrön und nachmahls den Titi Ihr Gestreng
Herr Noäi-Doctor erhalten; wann ich alle Rodi-Röck von vier- und zweintzig Jahren
bey einander hätt, ich wolte darmit fast einen Fürhang vor die Sonnen machen,
daß man beym Tag muste mit der Latern gehen, oder wenigist getraute ich mir
gantz Türkey darmit zu verhüllen, daß ihnen die LonsiMtinovolitÄNör möchten ein¬
bilden ihr Uabomst wolt mit ihnen blind Katzen spilen. — Rinde also gar zu
stark überHand die Kleyder Pracht, welche mehrist andere Nationen uns mit höchstem
Schimpfs sxsnäirsu, bringt demnach das Außschweiffen in frembde Provintzen uns
Teutschen offt mehrer Last als Lust ins Land set> Auff gleichen: Schlag hat wenig
guts erlehrnt der verlohrene Sohn in frembden Ländern, sondern sein 8tlläisr«zu
war Kalg-nisisröii, seine Bücher waren die Becher, sein Lateinisch reden war ^ro-
Keiat, fein Welsch reden war Lrinclisi, sein Böhmisch reden war SiMravi, sein
Teutsch reden war gesegne es Gott set. mit einem Wort, er war ein sauberer
Bruder voller Luder, ein Vagant, ein LaeK-me,, ein ^,ma>ut, ein rurbewt, ein vistil-
laut set. Nachdem er nun dergestalten das seine verschwendt in frembden Pro¬
vintzen und sambt dem Gewissen auch die Kleyder zerrissen, welcher wol mit War-
heit hat könne» sagen dem Vatter, was die Brüder >Jos<Zod ohne Warheit dem
^Äcob vorgetragen, als sie ihm den blutigen Rock gezeigt, ksrg. xsssima, set, ein
übles Thier hat den ^osoxd also zugericht: ein übles Thier hat den verlvhrenen
Sohn also zugericht, ein übles Thier der güldene Adler, ein übles Thier der
güldene Greiff, ein übles Thier der güldene Hirsch, ein übles Thier der guldene
Beer sol. Diese Thier der Wirthshäuser haben das Bürschel also zugericht, daß
ihme die Hosen also durchsichtig worden, wie ein Fischer-Netz, daß ihm der Magen
zusammen geschnurfft wie ein alter Stiffelbalg, und der Spiegel seines Elends auff
dem schmutzigen Wammes-Ermel zu sehen war. Nachdem endlich diesem Früchtl das
Sau vonviet nicht mehr geschmeckt, seynd ihm heylsamere Gedanken eingfällen, er
solle unverzüglich zu seinem alte« Vatter kehren und bey dessen Füssen ein glück¬
liches Gehör suchen, welches ihme dann nach allen Wunsch von statten gangen, und
ist dem schlimmen Voe-Mvo sein eygener Vatter ganz lielihafft um den Halß ge¬
fallen, dem sonst ein Strick am Halß gebühret, ja mit absonderlichen Freuden und
Jubeln ist er in die Bäuerliche Behausung eingeführt worden, alle schnelle Anstalt
gemacht zur Kunst und Keller, und muste gleich das beste und gemeste Kalb ge-
schlacht werden, kocht werden, gerest werden, braten werden cet, auff die Seiten
mit den zerrissenen Lunden, ein sammeten Rock her, ein Huck mit Blumäschi her,
ein güldenen Ring her, Spielleuth her, allegro; Unterdessen kombt der andere Bruder
uach Hauß, hört aber von fern geigen, Pfeiffer, teuren, tantzen, hupffen, jugetzen,
jaugetzeu. Holla sagt er was ist das! Potz Tttubel was ist das! es wird ja mein
Schwester nicht Hochzeit haben, hab ich doch heut frühe noch umb kein Braut ge¬
Wust, in dem er in disen Gedanken schwebet, so bringt ihme einer ein Glnß Wein
zum Fenster herauß, der Hcmßknecht laufst ihm entgegen mit der Zeitung, sein
Bruder seye nach Hnuß kommen, deine so schlecht in der Frembde gangen, er soll
hurtig hinein gehen auff ein kälbernes Brätl, diser wurde alsobald hierüber gantz
bleich vor lauter Neyd, umb weilen man seinem Bruder also auffgewartet, er setzte
steh vor der Haußthür nider, er kifflet die Nägel, er knarret mit den Zähnen, er
kratzt im Kopff, er rumpfft die Nasen, er senfftzet von Hertzen, er fast und plagt
sich also durch den Neyd, daß wenig gefühlt, daß er vom Schlag nit getroffen
worden, O Narr! Wäre diser visxus lieber hinein gangen, hätte den Bruder be-
willkombt und so er ihm endlich auch ein Filtz hätt geben, der ohne das kein Huck
mit sich bracht, hätt es wenig Schaden verursacht, wär er mit ihm zu Tisch gesessen,
hätte den Mbernen Bratten helffen verzehren, etliche Gesund-Trünck fein wacker
bescheid gethan, auch bey der hellklingenden Schcilmayen ein öfteren Hupff herumb
gesprungen und anderthalb Schreb-Sohlen abgetcmtzt, so wär es vit besser geWest
und Gott nicht also belcydiget, aber mit seinem Fasten, mit seinem Neyd, der ihn
mehr gequellt als die feurige Schlangen das Volk Israel, hat er die Höll verdient,
sonst ist Trübsaal ein Straß zum Himmels-Saal, sonst ist Leyden ein Weeg zun
ewigen Freuden, sonst seynd Schmerzen allezeit ein Vortrab deß ewigen Schertzen,
aber deß neidigen Lappen sein Marter ist ein Leykauff der ewigen Verdambnuß!
Die Wirkungen so volkstümlich frischer Darstellung konnten nicht andres
als glückliche sein, was Pater Abraham von Roheiten und grellen Geschmack¬
losigkeiten reichlich aufweist, teilt er mit den — katholischen und protestantischen —
Zeitgenossen; die rüstige Lebenskraft, den unbefangenen Blick über die mensch¬
lichen Zustände, den gesunden Humor besitzt er beinahe allein. Natürlich blieb
eine Manier und Virtuosität wie die seinige nicht ohne mnanichfache Nachahmung,
die freilich meist nur sein Abspringen vom Thema, seine Beispielhäufungen, seine
derben Scherze, nicht aber seine eigentlich geistreichen und poetischen Momente
aufzuweisen hatten. Direkt als Nachahmer bekannte sich Albert Josef Loncin
von Gomin, der Verfasser eines zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts er¬
schienenen und öfter wieder aufgelegten Buches „Der christliche Weltweise be¬
weint die Thorheit der neuentdeckten Narrenwelt." Der Verfasser erzählt in
seiner Vorrede, daß Pater Abraham a Sancta Clara zu den Kupfern seines
Buches einen Text zu schreiben („einige Materie zu machen") versprochen, durch
andre Arbeiten aber abgehalten worden sei, daher er denn selbst „solches Werk
kompilirt." Der Schriftsteller muß neben den Werken seines Vorbildes die
alten Narrenbücher der Sebastian Braut, Murner und andrer gekannt haben,
er kündigt auf seinem Titel ausdrücklich an, daß er die in diesem Buche befind¬
lichen Narren ziemlich durch die Hechel gezogen habe, und weist durch die Be¬
merkung, daß in seinem „Christlichen Weltweisen" über zweihundert lustige und
lächerliche Begebenheiten, deren sich nicht allein die Herren Pfarrer auf der
Kanzel, sondern auch jede Privatperson bei ehrlichen Gesellschaften nützlich be¬
dienen könne, zugleich auf den didaktischen und unterhaltenden Zweck seiner Arbeit
hin. In zwanzig Abschnitten: Der Weiber-Narr, Der Prozeß-Narr, Der ver¬
liebte Narr, Der Asm-Narr, Der passionirte Narr, Der Kinder-Narr, Der
Spiel-Narr, Der gefräßige Narr, Der versoffene Narr, Der faule Narr, Der
Tauben-Narr, Der eifersüchtige Narr, Der Complimentir-Narr, Der Tanz-Narr,
Der grobe Narr, Der chymische Gold-Narr, Der diebische Narr, Der kritische
Narr, Der Geiz-Narr, werden die Anekdoten und historischen Beispiele ohne
sonderlichen Witz, aber mit viel Behagen aufgereiht. Charakteristisch ist nur, daß
der Verfasser mit bestimmtester Absicht die Betonung der konfessionellen Mo¬
mente unterläßt, das stärkste Gewicht auf die Moral legt, die allen Konfessionen
gemeinsam ist. Nur an ganz vereinzelten Stellen, wenn er etwa einmal die
Unbill beklagt, welche die hochwürdige Geistlichkeit und namentlich die Ordens¬
leute durch unberechtigte Kritik zu erdulden haben, und im häufigen Zitiren der
Kirchenväter und katholischer Schriftsteller tritt Loncins Bekenntnis zu tage.
Auch im zweiten Teile seines Buches, wo er sich im wesentlichen in Wieder¬
holungen ergeht, wo die Kapuzinaden stärker und zum Teile selbst unflätig
werden, erzählt er zwar ziemlich häufig Legenden und Anekdoten, um Verächter
der Heiligen, „ehrabschneidrische Narren," die frommen Religiösen und Nonnen
übles nachsagen, zu tadeln, aber er läßt auf sich beruhen, von wem dergleichen aus¬
gehe, er polcmisirt nicht, wie es die jesuitischen Schriftsteller beinahe unablässig
thun. Und das gleiche wird wohl von andern und den meisten Nachahmern Pater
Abrahams gelten. Da nun die Rechtgläubigkeit derselben gewiß nicht in Zweifel
zu ziehen war und die ersten Wirkungen der Aufklärung des achtzehnten Jahr¬
hunderts sich doch wesentlich später geltend machten, so stehen wir hier der Um-
stimmung gegenüber, welche als eine der wohlthätigst?» Folgen des dreißig¬
jährigen Krieges betrachtet werden muß.
Die Schriftsteller dieser Art hatten jedenfalls das Verdienst, die Schlag¬
bäume zu entfernen, welche die Bildung des katholischen Deutschlands von der
des protestantischen schieden. Ohne ihre Glaubensanschauungen zu verleugnen, er¬
gingen sie sich in Empfindungen und Darstellungen, welche bei protestantischen
Schriftstellern zum guten Teil wiederzufinden waren. Freilich wäre es irrig,
anzunehmen, daß alle Polemik, alles Hervorkehren des alten Ingrimms in der
neutralen Moral der geistlichen Humoristen und Didaktiker vom Schlage und
im Stile Pater Abrahams untergegangen sei. Der gleichen Zeit mit Abraham
a Sancta Clara mit Colin und Loncin gehört ein Schriftsteller wie Johann
Nikolaus Weißlinger, der Pfarrer zu Capell im Breisgau, an, welcher in
seinen berüchtigten Satiren und Burlesken („Friß Vogel oder stirb") die ganze
wilde Erbitterung des mönchischen Fanatikers gegen die bloße Existenz der
Andersgläubigen zur Schau trägt, den Himmel der „Ketzer" schlechtweg einen
„Hundsstall" nennt und aus den Schmähschriften des sechzehnten Jahrhunderts
seine besten Trümpfe entnimmt. Er bringt entschieden zum Bewußtsein, wie
allein Wandel der Zeiten und allem innern Bedürfnis der Läuterung zum Trotz
in gewissen katholischen Kreisen die alten verleumderischen Legenden über die
Reformation und ihre Träger als die eigentliche Nahrung der katholischen Recht¬
gläubigkeit und der katholischen besondern Bildung angesehen ward. Was
Constans schon im 16. Jahrhundert in seinen (lateinischen) Kommentaren zu den
Thaten und Schriften Luthers ausgestreut hatte, ward bei Weißlinger mit grober
halbpoetischer Phantasie weiter ausgeführt. Wenn Luthers Reise nach Worms
beschrieben wird, heißt es wörtlich: „Luther aber machte sich mit seinen Reise¬
gesellen und hundert wohl ausgerüsteter Reuter, welche ihn zu beschützen frei¬
willig unter dem Befehl des lutherschen Josua, Franciscus von Sickingen,
angeritten, auf den Weg nacher Worms. Unterwegs in den Wirthshäusern
gings mit Fressen, Saufen und Tanzen so lustig drunter und drüber her, daß
fromme Christen diese Gesellen nebst ihrem Propheten wohl nicht für einge¬
zogene evangelische Menschen, sondern ehender für bachantische Marktschreiers¬
burschen, abgedankte Spielleut und flcmkirende Landsknecht angesehen, denn
Luther unter seiner Mönchskutte spielte unter lustigem Possenreißer, unterschiedliche
gassenhauerische Tänze auf der Lauten, dabei die andern wacker herumgehüpft
und die Gesundheiten unter Hellem Vivatgeschrei so lang gesoffen, bis Kropf
und Kopf voll war."*)
So stellt sich in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine ge¬
teilte Richtung der katholischen deutschen Schriftsteller dar. Die einen nähern
sich, ohne klar ausgeprägte Absicht, einfach ihrem bessern Naturell, ihrer Eigenart
folgend, der Durchschnittsbildung der Nation und verzichten aus dem Gefühl,
daß diese Frieden haben wolle und der wüsten Verbitterung müde sei,
auf die Besonderheiten der gegenreformatorischen Polemik und gewisse Waffen
der streitenden Kirche. Sie finden Teilnahme auch bei den Protestanten und
reden (wie der wackere Abraham a Sancta Clara vielfach thut) einer gemein-
samen und festen Nationalgesinnung das Wort. Die andern setzen den Glaubens¬
krieg fort, betrachten ihn als die vornehmste, wenn nicht als die einzige Aufgabe
der katholischen Literatur und erwecken natürlich so immer von neuem das
Gefühl eines unversöhnlichen Zwiespalts und einer doppelten Bildung, die nirgend
einen Schritt breit gemeinsamen Bodens hat.
urz vor seinem Tode hat Berthold Auerbach in einem Schreiben
an Friedrich Spielhagen den Wunsch ausgesprochen, daß die Briefe,
welche er während eines halben Jahrhunderts an seinen Freund
Jakob Auerbach gerichtet hatte, mit gewissen Auslassungen ver¬
öffentlicht würden, da sie „das wichtigste der Entwicklung seines
allgemeinen und besondern Lebens" enthielten. Da die beabsichtigte Selbst¬
biographie nicht geschrieben worden war, sollten jene Briefe deren Stelle ein¬
nehmen. Das ist gewiß ein schönes Zeugnis für den überlebenden Freund;
aber welcher Grad naiven Selbstbewußtseins spricht sich auch in der Verfügung
aus! Auerbach hätte unzweifelhaft aus seinem fast siebzigjährigen Leben viel
des Allgemeininteressanten berichten können, und die 730 Briefe an seinen ver¬
trautesten Jugendfreund hätten ihm dabei als Leitfaden, als Repertorium
dienen, oft wörtlich aufgenommen werden können. Doch alle die Briefe und nichts
als die Briefe, die sich mit andern Personen und Dingen nur befassen, insofern
diese in unmittelbare Beziehung zu der Person des Schreibers treten, einmal
über dessen Beschäftigungen, Absichten, Gefühle, Appetit und Schlaf u. s. w.
mit tagebuchartiger Umständlichkeit Rechenschaft geben, dann wieder weite Zeit¬
räume überspringen — für eine derartige Publikation wäre wohl „Manuskript
für Freunde" die richtige Bezeichnung. Als Goethe seinen Briefwechsel mit
Schiller herausgab, glaubten A. W. Schlegel u. a. sich darüber aufhalten zu
dürfen, daß so viele kleine persönliche Beziehungen der Nachwelt überliefert
würden; und was ist mit größerm oder geringerm Rechte gegen das Publi-
ziren aller möglichen Reliquien von allen möglichen Ganz-, Halb- und Viertel¬
berühmtheiten schon bemerkt worden! Daß aber ein Autor noch selbst seinen
Hinterbliebenen den Vorwurf der Indiskretion oder der übelverstandenen Pietät
erspart, das ist neu. Die Nachfolge wird nicht ausbleiben.
Andrer Ansicht freilich ist Friedrich Spielhagen. Die in zwei stattlichen
Bänden unter dem Titel Berthold Auerbach. Briefe an seinen Freund
Jakob Auerbach. Ein biographisches Denkmal (Frankfurt a. M., Lite¬
rarische Anstalt, 1884) erschienene Briefsammlung trägt nämlich an der Spitze
einen „Friedrich Spielhagen an den Leser" »verschriebenen Beitrag, den zu
klassifiziren wir in einiger Verlegenheit sind. „Standrede" ist wohl der passendste
Ausdruck dafür. Der beliebte Romanschriftsteller scheint selbst das Mißliche
des ihm gewordenen Auftrages gefühlt und aus dieser Stimmung sich in eine
Hitze hineingeschrieben zu haben, die ihn wie einen Don Quixote sich geberden
läßt. Nachdem er ganz gelassen ausgesprochen hat, der Herausgeber habe
Anspruch auf „den Dank aller Freunde Auerbachs, d. h. aller, welche
für deutsches Geistesleben und deutsche Dichtkunst Herz und Ver¬
ständnis haben," geht er scharf ins Gericht mit denen, welche, wie es scheint,
jenes Herz und Verständnis nicht oder nicht in genügendem Maße haben.
Wenn wir die in sehr gereiztem Tone vorgetragenen Sätze richtig verstehen,
so beklagt der Verfasser derselben, daß dem Schriftsteller von Beruf nicht die
gebührende Ehre erwiesen und nicht die gebührenden Honorare gezahlt werden.
Wozu der Lärm? möchte man fragen; was steht den Herren denn noch zu
Diensten? Ihre Romane erscheinen in drei oder vier Zeitungen zugleich und
erleben viele Auflagen, sie selbst haben ihre eignen Zeitungen, ihre eigne Kritik
und ihre eigne Literaturgeschichte, sie geben Gastspiele wie die Opernsänger, und
wenn die letztern vielleicht noch höhere Spielhonorare beziehen, so ist zu be¬
rücksichtigen, daß im Durchschnitt die Produktionskraft eines Schriftstellers
länger vorhält als eine Singstimme. Oder begingen wir etwa Unrecht, das
Beispiel derjenigen zu zeigen, welche Erfolg haben, beliebt sind? Wäre Spiel¬
hagen so edel, das, was ihm zugefallen ist, für seine sämtlichen, weniger glück¬
lichen Genossen als ein Recht zu fordern? Wir hegen wahrlich alle Achtung
vor dem Schriftstellerstande und glauben gern, daß derselbe oft einem beschränkten
und unbilligen Urteil begegnen mag. Aber diesem Übelstande wird nicht dadurch
abgeholfen, daß der Schriftsteller nnn ein ebenso beschränktes und unbilliges
Urteil über andre Stände fällt. Wenn Auerbach es in seiner Jugend ver¬
schmähte, Rabbiner zu werden, und in höhern Jahren eine Bibliothekarstelle
ablehnte, um unabhängig zu bleiben, so kann ihm das niemand zum Vorwurf
machen. Indessen darf man den Spieß nicht umkehren und die Sache so dar¬
stellen, als würde Auerbach einen Verrat an seiner Mission begangen haben,
wenn er sich einem praktischen Berufe gewidmet hätte. So reden die Herren,
welche Goethe so gern und oft so unnütz im Munde führen! Dergleichen
Fragen lassen sich nicht nach dem Schema „erledigen," für jedes Individuum
liegen sie anders. Wer die Kraft in sich fühlt, lediglich dem Schriftstellerberufe
zu leben, der weiß, daß er auf sich selbst gestellt ist, und darf darüber hinterher
so wenig klagen wie der Beamte über sein Gebundensein. Das Schriftstellern,
wird uns pathetisch versichert, sei keine Spielerei, sondern ernste, rastlose Arbeit.
Natürlich! Aber wird etwa in andern Lebensstellungen das „gemächliche Ans-
kommen" für nichts präsentirt, und hat, wer auf die Pflugschar drückt oder
deu Hammer schwingt, über Akten oder über alten Handschriften schwitzt u, s. w.,
nicht auch seinen „heiligen Beruf"? wirkt er nicht auch für die Menschheit?
Es ist doch ein heilloser Dünkel auf dem Grunde solcher Unzufriedenheit mit
dem freigewählten Lose! Spielhagen hat den Aufsatz im März dieses Jahres
geschrieben; seitdem wird seine Aufregung sich hoffentlich gelegt habe» und er
imstande sein, ruhig zu erwägen, ob nicht gerade der Mann, dessen Wort von den
Leuten, die ihren Beruf verfehlt haben, ihn so tief gekränkt zu haben scheint,
beweist, daß auch ein Staatsbeamter ein recht respektabler Schriftsteller sein kann.
Einen viel günstigeren Eindruck hinterläßt das zweite, von dem Empfänger
und Herausgeber der Briefe geschriebene Vorwort. Mit einer einzigen Aus¬
nahme, die ihm in seiner Stellung zugute gehalten werden kann, ist es ruhig
und würdig geschrieben, macht verständlich, weshalb Berthold Auerbach gerade
diesem Manne stets sein Herz öffnete, und läßt bedauern, daß dieser bescheidne
Mann sich eben nur als Empfänger der Briefe seines Freundes giebt. Eine
strenge Auswahl der letztern in Verbindung mit den Gegenreden würde ein wert¬
volleres Buch geliefert haben.
Damit ist bereits gesagt, daß der Leser nicht gänzlich unbelohnt bleibt.
Vor seinen Blicken enthüllt sich eine liebenswürdige, gutmütige, treue, dankbare
Natur voll unverdrossenen, redlichen Strebens, der seinem Stamme eigentüm-
tümliche Familiensinn, aufrichtige Anhänglichkeit an das deutsche Land und Volk,
und der Wunsch, diesem zu nützen. Seine hohe Meinung von der Bedeutung
seines Schaffens, seine kindliche, oft kindische Freude über jedes Lob, jede
Höflichkeit mögen im persönlichen Verkehr leicht die Form einer (ihm ja häufig
vorgehaltenen) lästigen oder lächerlichen Eitelkeit angenommen haben; in diesen
Briefen berühren sie selten unangenehm. Er giebt sich rasch und vertrauens¬
voll hin; wollte man alle die Freunde, alten Freunde, innigen Freunde, die in
den Briefen vorkommen, zusammenzählen, sie könnten vielleicht eine Legion bilden.
Und über alle Freunde urteilt er enthusiastisch. Schon bei flüchtigem Bei¬
sammensein entdeckt er „gediegne Seelenkraft," immer wieder durchlebt er „große
Stunden," „die tiefste Seelenquelle speisende Stunden," führt er „bedeutende,
bedeutsame, ins höchste hineinragende Gespräche" u. s. w. Aber gerade von dem
Inhalte solcher Gespräche erfahren wir äußerst selten etwas.
Übrigens ändert sich sein Urteil schnell, wenn jemand die Huldigung nicht
erwiedert, wie z. B. der Dichter Anzengruber (den er herabzusetzen meint, indem
er ihn als Nachahmer von Dickens bezeichnet; für Dickens und überhaupt für
Humor hat er nämlich gar kein Verständnis), zu schweigen von Gutzkow, oder —
wenn die Judenfrage ins Spiel kommt. Das geschieht natürlich oft, in dem
letzten Jahrzehnt immer öfter, und wir müssen bei diesem Punkt etwas verweilen,
weil wir in Auerbach den Repräsentanten und Wortführer der ungeheuern Mehr¬
zahl der gebildeten Juden in Deutschland vor uns haben.
Auerbach hat sich die Ansicht gebildet, daß der Unterschied zwischen den
Deutschen und den Juden nur im Bekenntnis liege, er hält sich für einen Deut¬
schen mosaischer Religion; er erwartet, daß die Christen, welche nur noch äußerlich
mit dem Christentum zusammenhängen, wie viele Juden mit dem Mosaismus,
sich in einer freien Kirche der Zukunft, im reinen Humanismus mit den letztern
zusammenfinden werden. In diesem Sinne ist er für Ronge, für Uhlich und
in spätern Jahren für Strauß begeistert. Hundert kleine Züge und Äußerungen
verraten, wie tief er in der jüdischen Nationalität wurzelt, aber er wird dessen
so wenig gewahr, wie des konsequenten Gebrauchs jüdischer Wendungen, wie
z. B.: „Ich habe heute Brief erhalten." (Woher mag diese Elision stammen?
Aus dem Börseudeutsch?) Ein sehr merkwürdiges Eingeständnis zwingt ihm der
Anblick des greulichen Treibens in der Amsterdamer Judengasse ab. „Hätte ich,
schreibt er (II, S. 367), diese Form gekannt, wie die Juden sich hier in ihrem
Freiheitsbewußtsein auf der Straße bewegen, ich hätte sie noch ganz anders in
meinem Spinoza geschildert. Und eine mit Abscheu gemischte Erbitterung Spi¬
nozas gegen solche Genossenschaft ist mir nun neu erklärlich, und die Abson¬
derung der gebildeten Juden ist eine innere Notwendigkeit." Diese Erkenntnis
ist jedoch von kurzer Dauer; als ihm ein Glaubensgenosse gesagt hat, er könne
bei dem schnapstrinkenden christlichen Pöbel der Hafenstadt „noch grauenhafteres"
erleben, ist er wieder getröstet. Noch andre Bemerkungen auf der Reise in
Holland, wo er (1878) den Spuren Spinozas nachgeht, sind sehr bezeichnend.
Von den portugiesischen Juden sagt er (II, 372): „Was haben diese Männer
erduldet und wurden nicht müde! Was ist die antike Vaterlandsliebe gegen die
Religionsliebe und ihren Opfermut?" Und als ein Vorsteher der portugiesischen
Judengemeinde in Amsterdam von Spinoza nichts andres zu sagen weiß, als
„in heftigem Tone": „Er war ein Feind der Juden," setzt Auerbach hinzu:
„Ich kann dem angesehenen Manne, der seine besten Tagesstunden für Gemeinde-
angelegenheiten hingiebt, wohl nachfühlen, daß er nicht human gegen den Zer¬
störer sein kann." Ein andermal it, 393) berichtet er, daß er in Leipzig „in
ein Anfremdendes" (!) zu Felix Mendelssohn gekommen sei, weil er bei dem¬
selben eine entschiedn? Abwendung von allem, was die Juden betrifft, gefunden
habe. Seine Rede bei einem Bankett der ^tu^nos isrg-Lues schloß er mit dem
Satze, daß „die Juden der Bibel gleichen, die, in alle Nationalsprachen über¬
setzt, denselben unvergänglichen Inhalt habe. Das führte ich weiter aus und
das schlug ein" (I, 407). „Bei der Goethefeier jm Berlin 1880Z muß man
sich doch wieder der Kulturbedeutung der hiesigen Juden erinnern. Die Rachel,
die Herz und Eduard Gans u. a., die Waren's, die die große Bedeutung
Goethes zuerst (!) erkannten und die Weltstellung des Dichters propagirten"
(II, 232). Also bis in die ersten Jahrzehnte unsers Jahrhunderts war die
Bedeutung Goethes nicht erkannt worden, und ohne die Berliner ästhetischen
Thees wäre sie möglicherweise dem deutschen Volke und dann den übrigen
Nationen niemals klar geworden! Hier läßt sich auch eine aus dem Elsaß
1861 datirte Stelle (I, 178) anziehen. „Diese französischen Elsässer sind
wie getaufte Juden, sie bekennen sich, um nicht ewig in Opposition zu
sein, zum herrschenden Frcmzosentum, aber ihre innersten Sympathien, die
Sprache ihrer unwillkürlichen Träumereien und Empfinduugsregnngen ist deutsch,
und die so getauften Franzosen werden keine wirklichen Franzosen, erst bei der
dritten Generation mag das werden, wie bei den getauften Juden." Wie ihm
hier völlig entgeht, daß eben die Nationalität dasjenige ist, was so nachhaltigen
Widerstand leistet, und daß die Assimilation des Juden noch durch die nationale
Religion erschwert wird, so läßt er dort alle naheliegenden Betrachtungen un¬
berührt. Wäre er fähig gewesen, diese Dinge vorurteilsfrei anzusehen, so hätte
ihm auffallen müssen, daß die Juden in Holland, wo sie seit bald drei Jahr¬
hunderten volle Freiheit genießen, der nationalen Absonderung, dem Schacher,
dem Schmutz u. s. w. ebenso treu bleiben wie in Polen und Nußland, daß also
gewisse Erscheinungen, welche immer neue Abneigung hervorrufen, doch wohl
nicht auf Unterdrückung und Verfolgung um der Religion willen zurückzuführen
sind. Andrerseits findet er es entschuldbar, wenn der orthodoxe Fanatismus
den „Zerstörer" noch heute nicht amnestiren will; wenn hingegen die Deutschen
und andre Nationen die Zerstörung ihres Volkstums nicht zulassen wollen,
dann stimmt er die Klage über das Schwinden der Hnmcinitcit, über Schädigung
des deutschen Volksgeistes an. Und begreiflicherweise tritt das Mißverstehen
der heutigen Bewegung noch viel greller hervor, wenn Auerbach sich direkt mit
Äußerungen derselben beschäftigt. Während er unablässig wiederholt, daß ihn
Angriffe auf das Judentum nicht anfechten, verzeichnet er doch sorgsam jedes
Symptom der antisemitischen Strömung, bald traurig, bald ingrimmig, bald ver¬
ächtlich. Professor Billroth in Wien hat ein abfälliges Urteil über jüdische
Studenten der Medizin abgegeben; dazu schreibt Auerbach (II, 266): „... noch
jüngst im September waren wir in Aussee einen halben Tag sehr gut beisammen,
und damals hatte der Mann doch bereits die giftige Stimmung gegen Juden
in der Seele. Man könnte ganz irre an den Menschen werden. In Zeiten
der Reaktion letzten sich viele am Judenhaß, und jetzt in der Zeit der Erfüllung
tritt ein unerklärlicher germanistischer (sie) Zug der Antipathie heraus. So
z. B. auch bei Treitschke in einem unbewachten Momente jüngst in einem von
Umstehenden vernommenen Zwiegespräch im Parlament. Wo soll das hinaus
und was sollen wir da thun?" Hier behandelt er Treitschkes Auffassung der
Judenfrage noch wie eine geheime Schwäche, deren sich Treitschke eigentlich
schäme. Bekanntlich ergriff aber der Historiker auch in diesem Falle rücksichtslos
Partei, und nun — war er ein Verlorener. Früher hatte er „einen großen
Blick," sah „alle Dinge politisch," und noch am 24. April 1875 war er „voll
scharfen Denkens, satten Wissens und von seltenem kühnem sittlichem Schwunge,
. . . überraschend oder auch selbstverständlich das Stück gläubiger Luthersnatur
in ihm, der sich aber (!) eine gewisse Vornehmheit in Denken und Empfinden
und in der Formgebung zugesellt." Doch bald will er ihm nicht mehr begegnen
und meint, Treitschke habe sich „unter den Pöbel begeben." Der Titel einer
Broschüre (denn daß er sie gelesen habe, geht aus der Stelle nicht hervor):
„Der zerstörende Einfluß des Judentums im deutschen Reich" veranlaßt ihn
zu dem Ausrufe: „Die Verfasser wissen, daß sie lügen, und thuns doch! Da
muß man sich wieder zu seinen Stammesgenossen stellen." Und das thut er
denn auch kräftiglich. Da fliegen „Gemeinheit, Hochmut, Ekel, Schande des
Vaterlandes" u. dergl. so munter herum wie in den jüdischen Zeitungen. Die
„Judenhetze" wird ihm begreiflich, da „wir bald zwei Jahrzehnte im Sinken der
idealen Werte stehen." Wer am meisten zu solchem Sinken beigetragen hat,
das sieht er nicht. „In den Freiesten steckt ein Hochmut und Widerwille gegen
die Juden, der nur aus Gelegenheit wartet, um zutage zu kommen." Bei Virchow
findet er ein mitfühlendes Herz. Der „klagt auch, daß der Knechtssinn in den
höheren Schichten und die Kulturfeindlichkeit der niederen Sphären das Wirken
für die Öffentlichkeit erschwere und die eigentliche Freudigkeit dafür raube,
. . . daß das Niveau der Wohlanständigkeit sich gesenkt habe."
In einem vortrefflichen Briefe, welchen, den Zeitungen zufolge, Viktor
Scheffel kürzlich an einen jüdischen Literaten gerichtet hat, kommt folgende Stelle
vor: „Die Abneigung der germanischen Völker gegen die Semiten beruht nicht
aus der Verschiedenheit von Religion und Dogma, sondern auf Verschiedenheit
von Blut. Rasse. Abstammung, Volkssitte und Volksgcsinnung. sie läßt sich weder
schaffen noch in Abgang dekretiren. sie wird auch bei der freiesten religiösen
und politischen Anschauung beider Parteien fortbestehen, wie die der Amerikaner
und Chinesen, die auf dem freien Boden von Texas neben und mit einander
leben. Oft habe ich mit meinem Freunde Berthold Auerbach über diese Dinge
gesprochen." Davon finden wir in den Briefen Auerbachs keine Erwähnung,
und genutzt hat es freilich nichts, denn noch im Dezember 1880 scheut er sich
nicht, als eine der Ursachen der Bewegung anzuführen: den „Ärger der Beamten¬
söhne, daß auch Juden in die ihnen zuerst gehörende Beamtenkarriere eintreten."
Da kann man Virchow in betreff des Niveaus der Wohlanständigkeit allerdings
nicht ganz Unrecht geben. Zu unfreiwilliger Komik versteigt sich Auerbach in
seinem Ärger nach der Lektüre von Heines Bekehrungsgeschichte (II, 404): „Ich
habe Heine vielfach Unrecht gethan, er ist ein Schelm, ein Nichtsnutz, aber wie
ist ers geworden? Wie schwer und bitter hat er kämpfen müssen! Und wie steht
Friedrich Wilhelm III- da! Fritz Reuter muß auf die Festung und Heine
sich taufen lassen."
Wenn Auerbach, ein Mann von philosophischer Bildung und voll des
besten Willens, ein guter Deutscher zu sein, sich so völlig unfähig zeigt, das
zu begreifen, was Scheffel so treffend in wenige Worte zusammengefaßt hat.
wenn auch er so von nationalem Hochmut erfüllt ist, daß er es nicht einmal
der Mühe wert findet, über die Erscheinung ernstlich nachzudenken, daß er selbst
bei den nach seiner Ansicht Freiesten Widerwillen gegen seine Nasse bemerkt,
wenn auch er nur rohe Unterdrückung und unverschuldetes Leiden sehen will,
dann wird einem freilich klar, wie weit wir noch von der Möglichkeit einer
Lösung der brennenden Frage entfernt sind!
Wie sich von selbst versteht, wird auch der Anteil Auerbachs an der Politik
vom Rassengefühl bedingt. Zuerst ist er allgemein „liberal"; 1848 im Oktober
geht er nach Wien, „und wenn mein Kind nicht wäre, wäre ich auf den Wiener
Barrikaden gewiß gefallen," schreibt er im November jenes Jahres aus Breslau.
meint aber im März 1850, wenn er zwei Jahre früher ganz in die Politik
eingetreten sei, müßte er „für Erfurt sein und könnte es doch nur mit halbem
Herzen." Dann schließt er sich der Richtung der Nationalliberalen an, wird
nach 1866 ein Bewundrer Bismarcks, füllt aber ab, als dieser Laster fallen
läßt. Denn Laster ist doch sein Ideal, der Journalist Oppenheim „eine be¬
deutende staatsmännische Kraft," Bamberger und Mommsen kommen auch nicht
zu kurz. In dem letztgenannten zeigt sich „eine metallene Festigkeit und
Sicherheit der Haltung, Es war einmal die Rede davon, daß er Kultusminister
werden solle. Das wäre ein weitwirkender Fortschritt, aber es kommt nicht
dazu." Wie schade!
Von Auerbachs unglaublich ausgebreitetem Verkehr mit Berühmtheiten aller
Art hat der Leser, wie schon angedeutet, wenig. Wird etwas aus Gesprächen
oder Briefen angeführt, so bezieht es sich meistens auf Auerbachs Schriften.
An den letztern übt er selbst wohl manchmal Kritik oder geht auf die Be¬
merkungen des Freundes ein, aber die ungeheure Meinung von seiner Stellung
in der Literatur bleibt davon unberührt. Er wundert sich darüber, daß einem
jungen Manne Zschokke nicht einmal dem Namen nach bekannt gewesen sei;
aber nachdenklich macht ihn das nicht, obgleich Zschokkes Novellen einst eben¬
soviel gelesen worden sind wie die seinigen. Fremde werden glutrot, zittern
vor Aufregung, wenn sie erfahren, daß der Verfasser des „Barfüßelc" ihnen
gegenüberstehe. Daß auch das „Barfüßele" seine Zeit haben könne, wäre ihm
augenscheinlich unfaßbar gewesen. Als der Bildhauer Cauer das Günsemädchen
modellirt hat, schreibt Auerbach ganz unbefangen: „Wieviel Glück ist mir be-
schieden. Ich darf dem Plastiker eine Figur geben, die sich nun neben Rot¬
käppchen, Dornröschen und all die ewig Fortlebenden stellt" (I, 333). Überdenkt
man seine Aussprüche über frühere und neuere Größen der Literatur, so ergiebt
sich folgende Stufenleiter: Goethe, Lessing (als Dichter des Nathan), Schiller,
Auerbach.
Neu war uns, daß Auerbach, wie soviele Schriftsteller, eine wahre Leiden¬
schaft für eine Gattung der Produktion hatte, für die ihm alles fehlte, nämlich
für das Drama. 1843 meldet er, im Wiener Burgtheater werde ein Trauerspiel
von ihm, aber anonym, gegeben werden: „Alfred oder der Schwur"; es scheint
nicht dazu gekommen zu sein, da in Wlassaks Chronik jenes Theaters der Titel
nicht erscheint; und von da an bis nahe an seinen Tod schlingt sich durch den
Briefwechsel eine Kette von Mitteilungen über dramatische Pläne, die nicht zur
Ausführung kommen, Stücke, die nicht gegeben werden oder nicht gefallen.
Wie frühzeitig eine gesuchte Ausdrucksweise ihm so zur andern Natur
geworden ist, daß er die Briefe wie für den Druck schreibt, das ist höchst
auffallend. „Grundmäßig erlogen" — „Se.s find permanent wohlgeheizte Herzen,
die gehören zu meinen liebsten, zugehörigsten Menschen auf der Welt" u. s. w. —
es wird einem, als lese man den „Kollaborator" (dessen 1000, sage tausend
Sentenzen nicht sämtlich gelesen zu haben Auerbach seinen Rezensenten vorwirft)
oder das entsetzliche „Landhaus am Rhein." Oder sollte er etwa beim Schreiben
der Briefe schon daran gedacht haben, daß sie einmal viele Druckbogen füllen
könnten? Auffallend ist es, daß er nicht bloß Heine beschuldigt, er habe „jedes
Briefchen kokett auf die Publikation stilisirt," sondern auch Goethe und Zelter
etwas ähnliches imputirt. Über alles das wird „die Geschichte der Literatur"
urteilen, wie Spielhagen sagt. Was alles der armen Literaturgeschichte auf¬
gebürdet werden soll!
inen Augenblick waren beide in Stillschweigen versunken. Laurette
hatte ihr Gesicht abgewandt, man konnte nicht sehen, welchen Aus¬
druck ihre Blicke hatten. Nach einer kleinen Weile sagte sie ruhig:
Sie haben den Sinn einiger Worte, die ich mir aus gewissen
Kvnvenienzrttcksichten vielleicht habe entschlüpfen lassen, überschätzt.
Wenn die Liebe, die Sie zur Schau trugen, eine wahre Liebe gewesen wäre,
so wären Sie nicht so abgereist und hätten mich nicht ungehört verdammt.
Jedenfalls bin ich jetzt mit den allerfreundschaftlichsteu Gefühlen zu Ihnen
gekommen, und Sie haben mir gezeigt, daß Sie deu Krieg zwischen uns wollen.
Den Krieg? Nun und nimmermehr! Wie kann es Krieg geben zwischen
zweien, die in verschiednen und weit getrennten Ländern weilen? Ihre Welt
ist nicht die meine, Frau Gräfin, und meine Welt wird nie die Ihrige sein
können.
Wir wollen sehen! Inzwischen geben Sie mir Ihren Arm und führen
Sie mich in den Saal zurück.
Sie gingen bei einem Tische vorüber, an welchem vier Herren mit den
Karten in der Hand saßen. Der Graf Beldoni war damit beschäftigt, zu husten
und Whist zu spielen. Laurette blieb stehen und klopfte ihrem Gatten auf die
Schulter. Der Alte drehte in übler Laune seinen kahlen Schädel und sein
bleiches Antlitz um.
Ich stelle dir hier den Herrn Amardi vor; er ist aus Amerika zurückgekehrt.
Der Graf kniff die dünnen Lippen zusammen und machte große Augen.
Du weißt doch, fügte sie hinzu, es ist der junge Schriftsteller, den wir in
Florenz kennen lernten.
Ach ja! Ach ja!
Er reichte Paul seine Hand, die so feucht und kalt war wie die Haut einer
Schlange, hustete und hieß ihn willkommen.
Paul sand in dem halberloschenen, unter den runzligen, gelblichen Augen¬
lidern zwinkerndem Blicke wieder dieselbe boshafte Ironie, welche er schon vor
sechs Jahren darin hatte aufblitzen sehen.
Laurette hatte Pauls Arm verlassen und sich entfernt.
Spielen Sie immer noch Whist? fragte der Graf mit seiner dünnen und
schwachen Stimme. Ich erinnere mich, daß Sie recht gut spielten. Wenn Sie
hier im Bade bleiben, so können wir wie damals unsre Partie machen.
Paul fühlte sich versucht, ihm irgendeine Ungezogenheit zu sagen, aber er
bezwang sich. Ich danke! antwortete er trocken. Ich spiele nicht mehr.
Darauf ging er aus dem Saale.
Nun werde ich Josef gute Nacht sagen, dann meinen Schwager aussuchen,
und wenn ich ihn finde, so mache ich, daß ich zu Bette komme, sagte Paul zu
sich selbst, während er in den Korridoren des Kurhauses umherging. Aber nun
war die große Verlegenheit die. daß er weder wußte, wo Josefs Zimmer war
noch wo er den Doktor finden sollte. Er stieg in das obere Stockwerk, ging
gemächlich den Korridor entlang und betrachtete zerstreut die Namen der Bade¬
herrschaften, welche hie und dort auf den an den Thüren ihrer Logirzimmer
angehefteten Karten geschrieben standen.
Woran er dachte? Das wußte er eigentlich selbst nicht. Er durchlief noch
einmal das Gespräch mit der Gräfin, sagte sich, er hätte vielleicht besser gethan,
garnicht zu reden, und meinte dann wieder, er hätte noch härter sein sollen;
er glaubte mit einer gewissen Genugthuung behaupten zu tonnen, daß zwischen
ihm und dieser Frau alles zu Ende sei, und dann flüsterte ihm wieder der sinn¬
liche Teil seines Ichs die verlangenden Worte ein: Was für ein schönes Ge¬
schöpf! Dann vergegenwärtigte er sich gewisse Bewegungen, gewisse anmutige
Mienen, gewisse Modulationen ihrer Stimme. Mit einemmale verschwand dies
dann wieder alles und lag nur noch in weiter, weiter Ferne vor ihm. Sein
Gemüt beruhigte sich vollends und er beschäftigte sich damit, die an den Thüren
angeschlagnen Namen mit derselben Aufmerksamkeit zu lesen, mit der ein Müßig¬
gänger, um die Zeit hinzubringen, in die Glasfenster der Verkaufsladen guckt.
Aus dieser Gleichgiltigkeit riß ihn plötzlich ein Name. Er war in den
schönsten englischen Schriftzügen geschrieben, und jeder dieser zierlichen Buch¬
staben schien sich aufs freundlichste seinen Augen einzuprägen:
SIMONE U^M0WI-L^W0I.I5II.
Er blieb an der Thür in Betrachtung versunken stehen, ohne zu wissen,
warum. Mit einemmale kam ihm der Gedanke: Wenn sich jetzt die Thüre
öffnete und Rina. zeigte sich, was würde sie sagen, wenn sie mich hier sähe,
und welche Figur würde ich spielen?
Er errötete über sich selbst und machte eiligst Anstalt, sich zu entfernen.
Im übrigen war er zufrieden, die Wohnung dieser Frau ausfindig gemacht zu
haben. Aber sogleich gab ihm eine Baritonstimme, welche ein von ihm bereits
in Mexiko gehörtes spanisches Lied ertönen ließ, Anlaß, wiederum stehen zu
bleiben. Das ist kein andrer als Josef! dachte Paul und öffnete eine halb¬
angelehnte Thür, aus welcher ein Lichtstreifen drang.
Weißt du schon? rief er lebhaft eintretend aus. Dieser Zufall! Dein
Zimmer ist dicht neben ihrer Wohnung!
Devmmis saß rittlings auf der Fensterbrüstung, hatte sich in eine
Wolke von Rauch aus seiner Havanna gehüllt und richtete an den Mond,
der ihn mit seinen Strahlen übergoß, die Huldigung seines spanischen
Gesanges.
Bei dem lebhaften Eintreten Pauls und bei seinen Worten riß er die
Augen auf. Neben welcher Wohnung? Was ist denn los? Was fällt dir ein?
Paul konnte eine gewisse Verlegenheit nicht verbergen.
Ich wollte sagen: Frau Rinas Wohnung. Rina wohnt hier nebenan,
links von deiner Thür.
Josef zog das Bein, welches er nach außen hatte hängen lassen, ins Zimmer
zurück, faßte den Freund an den Schultern und zog ihn in das Licht des
Mondes, um ihm ins Gesicht zu sehen.
Haha! Sind wir schon dahin gekommen? sagte er halb scherzhaft, halb
vorwurfsvoll. Aber höre, das ist keine Frau, die verdient, der Gegenstand
einer vorübergehenden Laune eines Wüstlings zu werden.
Paul fiel ihm etwas ärgerlich ins Wort: Bin ich denn ein Wüstling?
Nicht von Geburt, aber aus Gewohnheit. Du bist jetzt beinahe ein ebenso
großer Skeptiker wie ich, und in jedem Skeptiker, der eine Anwandlung von
Verlangen nach einem Weibe fühlt, steckt ein Wüstling.
Ach, mein Bester, steck deine Moral wieder ein, denn hier liegt durchaus
kein solcher Fall vor.
Desto besser! Ich glaubte dich schon im Handgemenge mit deiner Sirene.
Es war nur ein Zusammenstoß.
Wie war der Ausgang?
Wie bei den amerikanischen Panzerschiffen. Sie trägt das »«8 trixlsx
ihrer unempfindlichen Eitelkeit vor der Brust; ich wappne mich mit der Er¬
innerung an die Vergangenheit.
Dieses Weib hat also wirklich eine garstige Rolle in der Komödie deines
Lebens gespielt.
Eine unheilvolle. Es fehlte nicht viel, so hätte sie ein Drama daraus ge¬
macht. Aber nichts mehr davon. Ich nenne dir als Gegensatz eine andre Frau,
eine wahre Heilige. Das ist meine Schwester Adele. Sie hat Mutterstelle an
mir vertreten, hat dem Knaben die vortrefflichen Eigenschaften ihres eignen
Herzens einzuflößen versucht, hat die geringen Verstandesgaben, welche in ihrer
Einbildung größer waren, als sie es verdienten, geweckt und ausgebildet. Ihr
sehnlicher Wunsch war es, mich zu einem nützlichen Mitgliede der menschlichen
Gesellschaft, zu einem glücklichen Ehemann und Vater zu machen. Zwei andre
Frauen haben ihr Werk zerstört, zwei Delilas, obgleich ich mich durchaus keinen
Simson nennen will; sie sind Schuld daran, daß ich mißtrauisch gegen mich
selbst, mißtrauisch gegen andre wurde, und daß mein Herz vertrocknete. Ich litt
die Qualen des Ixion, der aus seinem Stolze über die vermeintliche Umarmung
der Göttin in ewige Verdammnis stürzte, nachdem er entdeckt hatte, daß er nur
eine leere Wolke umarmt hatte. Die Gräfin ist eine dieser beiden Frauen.
Lassen wir die rhetorischen Phrasen erwiederte Josef. Ich wollte lieber, du wärest
weniger aufgebracht, gleichgiltiger gegen die Gräfin, dagegen weniger eingenommen
von der Frau Rina. Du wandelst zwischen zwei Abgründen: entweder fällst du
wieder in die Netze der Sirene, oder du stürzest in eine neue Liebe zu einer
Frau, welche die Anbetung eines braven Mannes verdient. Nimm dich in Acht!
Und falle wenigstens auf die Seite, wo es mehr Rosen als Dornen giebt. Jetzt
laß uns gehen und deinen Schwager im Kasino aufsuchen.
Adelens Gatte befand sich wirklich im Tanzsaale, wo er Paul anwesend
glaubte.
Ach, Doktor, sagte die Gräfin und hielt ihn an, als er bei ihr vorüber¬
gehen wollte. Sie müssen meine Neugierde befriedigen. Ich habe Sie gesehen,
wie Sie heute Abend auf der Straße nach Colloretto auf- und abritten, und
zwar in einem Trabe, wie ich ihn nie bei Ihrer braven Nina bemerkt habe.
Was ist denn vorgefallen?
Nichts, was Sie interessiren könnte. Es handelte sich darum, eine arme
Kranke dem Tode zu entreißen.
Und ist das Ihnen geglückt?
Ich hoffe es.
Welcher Eifer, Herr Doktor!
Dieser Eifer gehört zu meinem Berufe. In dem vorliegenden Falle war
überdies mein Herz durch die warme Empfehlung einer liebenswürdigen und
mildthätigen Dame angespornt.
Hoho! Ich wette, es ist Frau Mandozzi.
Es ist unmöglich in Worten auszudrücken, was dabei in dem Tone der
Gräfin lag: Ironie, kleinlicher Neid, Bosheit, Hohn; und das alles war ge¬
flissentlich unter einer vornehmen Gleichgiltigkeit versteckt.
In diesem Augenblicke traten Paul und Josef heran. Die Gräfin winkte
dem erstem unbefangen mit einem Gruße, der ihm das Recht geben sollte, sich
ihr zu nähern. Paul, welcher Rinas Namen gehört hatte, trat eiligst näher.
Habe ich nicht Recht, fuhr Laurette fort, daß von ihr die Rede war?
Ja, gnädige Frau.
Das war nicht schwer zu erraten. Jedermann weiß, daß der Herr Doktor
von dieser Dame im höchsten Grade eingenommen ist. Ach, Herr Amardi,
sagen Sie um Gotteswillen hiervon Ihrer Schwester nichts.
Paul empfand eine ähnliche Erbitterung wie einer, der von einem Gegner
seine innigste Überzeugung verhöhnen hört, aber er schwieg. Cerci schüttelte
lächelnd den Kopf.
Wir haben uns getäuscht, sagte Josef zu Paul, nachdem er ihn am Arme
mit sich fortgezogen hatte. Die da gehört nicht zu dem Geschlechte der Sirenen,
sondern zu dem der Vipern. Sie haßt bereits die Frau Rina, ohne daß diese
ihr je etwas zu Leide gethan hätte, und wird sie aus demselben Grunde täglich
mehr hassen. Sie haßt sie, weil sie sieht, daß die Schönheit dieser Fran über¬
irdischer ist als die ihrige, weil sie fühlt, daß diese ein edleres und erhabeneres
Wesen ist, und weil sie selbst zu ihrem größten Ärger sich bewußt sein muß,
daß sie nicht den hundertsten Teil von ihr wert ist. An dem Tage, an welchem
ihr ein Interesse, eine Laune, eine Leidenschaft zu Kopfe steigt, wird die Viper,
um der Taube einen Schmerz zu bereiten, einer Infamie fähig sein.
Paul war wieder auf seinem Zimmer im Hause der Schwester angelangt.
Durch das offne Fenster konnte er zur Rechten das vom Lichte des Mondes
beleuchtete Kurhaus sehen. Er betrachtete es mit starren Blicken. Er dachte
an die Gräfin, sah sie ausgelassen heiter, aufgeregt, übermütig, verführerisch,
spöttisch. Ihre Schönheit hüllte sich vor seiner Phantasie in tausenderlei
Formen der herausfordernden Sinnenlust. In seinen Ohren erklang ihre in
den einschmeichelndsten Schwingungen ertönende Stimme, auf ihren Wangen
sah er ihre weichen Locken wie vom Winde getragen herabfallen, fühlte auf
ihren Lippen den warmen Hauch, der den halbentblößten Busen verführerisch
hob und senkte. Dann erschien ihm wieder das Mephistogesicht des Grafen
mit den bleifarbenen, zu einem falschen Lächeln zusammengezogenen Lippen, wie
es hinter den Karten, welche die fleischlose und gekrümmte Hand wie einen
Fächer vor sich hielt, einen boshaften, spöttischen Blick auf ihn abschnellte, und
eine Stimme wiederholte ihm die neulich von Josef gebrauchten Worte: Es
sind zwei Vipern, und wehe der Taube, auf welche sie stoßen!
Die Taube war Rina. Er sah sie in Gedanken vor sich erscheinen, rein
und keusch in ihrer vornehmen Schönheit, freundlich und wohlwollend in ihrer
Schwermut, ihren Blick erstrahlend von sanftem Lichte, gleich dem milden
Morgenstern am heitern Himmel. Der ganze Sinnenaufruhr, den das Bild
jener andern Frau erregt hatte, verschwand vor dieser edeln, von einem Heiligen¬
scheine engelhafter Unschuld umgebenen Gestalt. Dann erschien ihm Adele, die
Schwester, welcher Paul alle guten Eingebungen seiner Jugend zu verdanken
hatte, sie wiederholte ihre glühenden Lobeserhebungen Rinas und zeigte auf sie
als das allein würdige Ziel der unvergänglichen Liebe eines Mannes.
Du stehst schon ganz nahe an dem gefährlichen AbHange, der zur Ver-
trocknung des Herzens führt, zu dem abscheulichen Egoismus, welcher jedes
andre, ihn an die Menschheit fesselnde, ihn bessernde, ihm das Recht zu leben
verleihende Liebesband zerreißt — so sprach in Pauls Seele das Gewissen,
welches Adelens Stimme angenommen hatte. Wehe, wenn du dich nicht zurück¬
ziehst, solange dir diese letzten Jahre deiner Jngend es noch erlauben! Du
hast dich schon zu lauge von mir entfernt gehalten, als daß meine schwesterliche
Liebe auch jetzt die süße Sorge für deine Jugend wieder übernehmen und dich
zu dem höhern Enthusiasmus deines Glaubens zurückführen könnte. Aber siehe!
ein Engel kommt dir entgegen, er streckt dir lächelnd die Hand entgegen und
kann dich mit der wunderthätigen Macht seiner Liebe aus diesem Abgrunde
ziehen und dich zur ungetrübten Höhe der Tugend emporrichten. Wende dich
an diesen Engel, beuge dich, glaube und liebe.
Und dann kam es ihm vor, als ob er unter der Herrschaft zweier ent¬
gegengesetzten Meinungen stünde. Die eine war die irdische, sinnliche Macht
des Stoffes, die andre das erhabene, reine Licht des Geistes. Die erstere ver¬
körperte sich in dem wollüstigen Kuß von Laurettens rosigen Lippen, die zweite
in Rinas milden und demütigen Blicken.
In diesem Augenblicke gewann der Einfluß der bescheidnen Räume, welche
ihn mit der gesunden Luft der gastlichen Familie umgaben, die Oberhand und
versetzte ihn in den Glauben, daß dem guten Engel der vom Schicksal bestimmte
Sieg leicht und sicher gelingen werde.
Ach! mein Herz ist noch nicht tot, ist noch nicht ganz verdorben! So sagte
er sich mit innerlicher Freude, und richtete noch aufmerksamer, noch heißer
sein Auge auf jenes Haus, auf die Wohnung der Frau, welche, obgleich
er sie heute zum erstenmale gesehen, schon jetzt eine so große Macht auf ihn
ausübte, und wie sein inneres Gefühl ihm sagte, in Zukunft noch mehr aus¬
üben würde.
Was die Gräfin betrifft, so empfand sie beim Auskleiden eine Unruhe, die
sie in hohem Grade peinigte, und ihr die Erinnerung an die Triumphe des
heutigen Tages verbitterte. Hatte jener Impertinente sie nicht geradezu heraus¬
gefordert? Nicht beschimpft? Noch nie hatte jemand so zu ihr zu sprechen
gewagt, und sie wunderte sich über sich selbst, daß sie von dem Ungeschliffenen
soviel ertragen hatte. Aber mit einemmale wunderte sie sich noch mehr, ja
sie ärgerte sich über sich selbst, daß Pauls zurückgehaltener Zorn, seine schlecht
verhehlte Feindseligkeit sie doch interessirt und beinahe gerührt hatten. Auf
jeden Fall wollte sie sich wegen seiner Worte und seines Benehmens an ihm
rächen. Aber wie? Sie lächelte, als ein echt weiblicher Gedanke in ihrer
Seele aufstieg. (Fortsetzung folgt.)
M
^le sehr innerhalb des letzten halben Menschenalters alles in
Deutschland sich geändert hat, können wir unter anderen auch an
dem Maße des Interesses erkennen, mit welchem wir jetzt auf
Vorgange in den kleinen deutschen Ländern Hinblicken. Früher
waren Nachrichten, die aus Dresden oder Darmstadt kamen, für
ganz Deutschland von Wichtigkeit. Der kurhessischc Verfassuugskouflikt, der
badische Kircheustreit nahm alle Welt in Anspruch. Wer kümmert sich heute
außerhalb der Laudesgrenzcu noch um die Dinge, die in den kleineren deutschen
Ländern vorgehen! Nur das, was in Berlin und vielleicht noch in München
geschieht, hat für das Allgemeine noch Interesse. Wenn wir nun hier ein
Verhältnis darstellen, welches in einem der kleinsten deutschen Länder spielt, so
geschieht es nicht, um für die Sache selbst in weitern Kreisen besondre Teil¬
nahme zu erwecken. Vielmehr wollen wir nnr ein Kulturbild zeichnen, welches
geeignet ist, uns frühere deutsche Zustände lebhaft vor Augen zu führen.
Eines der ärmsten deutschen Länder ist das Fürstentum Waldeck mit seinen
etwa 50000 Einwohnern. Es ist in der That eine zwischen Hessen und West¬
falen liegen gebliebene „Waldecke," reich an Berg und Wald, aber arm an
Bodenschätzen, ohne schiffbaren Fluß, ohne größere Stadt, ohne entwickelte In¬
dustrie, ohne Eisenbahn, weil diese in dem gebirgigen Boden nicht leicht Eingang
fand. So ist das Ländchen gleichsam hinter der ganzen modernen Kultur zurück¬
geblieben, während doch Deutschland ihm hervorragend begabte Männer, wie
Kaulbach und Rauch, verdankt. Nur in einer Beziehung stand Waldeck den
übrigen deutschen Ländern nicht nach: es hatte auch seine Verfassungskämpfc,
deren Hauptgegenstand das Douinniaivcrmögen war. Völlig veraltete ständische
Einrichtungen hatten im Jahre 1848 einer neuen Verfassung Platz gemacht.
Gleichzeitig wurde eine Vereinbarung über das Domanium getroffen, durch
welche dieses für Staatsgut erklärt und die Hofhaltung auf eine feste Zivillistc
angewiesen wurde. Aber die Reaktion forderte auch hier ihre Opfer. DaS
StaatSgrundgesetz vom 23. Mai 1849 wurde durch die Verfassung vom 17. August
1852 außer Wirksamkeit gesetzt, und dabei jene Vereinbarung über das Do¬
manium wieder umgestoßen. Nach der neuen Verfassung sollte von den Ein¬
künften desselben vor allem wieder der standesmäßige Unterhalt des Fürsten
und des fürstlichen Hauses bestritten werdeu. Jedoch wollte der Fürst ein- für
allemal eine Grenze für die von ihm aus den Domauialcinkünften zu beziehenden
Baarentnahmen bezeichnen. Sobald das Domanialvermögen über diese Grenze
hinaus einen Neinüberschuß gewähre, sollte dieser dem Lande, und zwar bis zur
Höhe von 10000 Thalern ganz, darüber hinaus aber noch zur Hälfte zufließen.
Durch Verordnung vom 15. November 1853 setzte dann der Fürst die von ihm
ans dem Domanialcinkommen zu beziehende Summe auf 70000 Thaler fest,
wozu noch gewisse Naturalbezüge kamen.
Nun hatte bereits im Jahre 1835 der frühere Fürst zur Abtragung älterer
Schulden bei dem Hanse Rothschild ein Darlehn von 700000 Thalern auf¬
genommen, für welches neben der Verzinsung eine bestimmte Amortisation aus-
bedungen war. Die Zinsen und Kapitalabträge mußten aus den Einkünften
des Domaniums bestritten werden. Diese Einkünfte aber waren doppelter Art.
Es waren teils die Früchte und Zinsen des Domaninlbestandes, teils waren
es eingehende Domauialstammgcldcr für abgelöste Gefälle. Als uun zum ersten¬
male bei dem Voranschlag der Domanialvcrwaltung für die Jahre 1863—1865
ein Reinüberschuß der Domanialerträge über die zunächst von der Hofhaltung
zu beziehende Stimme von 70000 Thalern hinaus sich in Aussicht stellte, ent¬
stand zwischen den Ständen des Landes und dem Fürsten ein Streit über die
Frage, aus welchen Einnahmen die auf die Rothschildsche Schuld zu leistenden
Kapitalabträge zu entrichten seien. Die Stände verlangten, daß die Kapital¬
abträge aus den eingehenden Domanialstammgeldcrn geleistet würden, wobei dann
ein vom Lande zu beziehender Überschuß des Domanialreinertrages verblieb. Der
Fürst dagegen behauptete, es dürften die aus dem Stammvermögen eingehenden
Gelder nicht zur Amortisation verwendet werden. Er wollte deshalb, ebenso
wie die Zinsen, auch die Amortisationsbeträge aus den Revenüen entrichten, was
denn die Folge hatte, daß ein dem Lande zufließender Überschuß nicht mehr vor¬
handen war. Dieser Streit bewegte sich in der Form eines Budgetstreites und
drohte zu einem förmlichen Verfassuugskvnflikt zu werden. Da verständigte man
sich endlich, die streitige Frage durch ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen,
dessen Mitglieder aus den Richtern eines oder mehrerer höchsten deutschen Ge¬
richtshöfe durch das fürstliche Obergericht zu Arolsen gewählt werden sollte.'
Gewühle wurde die Juristcufakultät zu Jena, und diese entschied durch einen
Schiedsspruch vom 22. Februar 1864 die obige Frage zu Gunsten der Ansicht
des Fürsten.
Als dann das Jahr 1867 und mit ihm die Schöpfung des Norddeutschen
Bundes auch an Waldeck herantrat, wurde es bald klar, daß das kleine Land,
dessen Budget bisher ungefähr auf der Summe von 270000 Thalern balancirt
hatte, die Lasten, welche der neue Verband von ihm forderte, zu tragen außer
stunde war. Die waldeckischen Stände erteilten deshalb der Verfassung des
Norddeutschen Bundes nur unter der Bedingung ihre Zustimmung, daß mit der
Krone Preußen Einrichtungen vereinbart würden, welche die Überbürdung der
waldeckschen Staatsangehörigen abzuwenden geeignet seien. Preußen kam diesem
Begehren nach durch deu sogenannten Acccssionsautrag, welcher am 18. Juli 1867
vorläufig auf zehn Jahre abgeschlossen wurde. Durch ihn übernahm Preußen
auf seine Kosten die gesamte Verwaltung des Landes. Dagegen überließ es
dem Fürsten die Verwaltung und die Einkünfte des Domaniums, letztere ohne
jeden Abzug. Gerade dieser Punkt rief in Waldeck eine lebhafte Agitation
gegen den Vertrag hervor, da man befürchtete, daß nach Ablauf der zehn Jahre
der Streit über die Domänen von neuem beginnen und dann die weitergehende
Rcchtsausübung des Fürsten an denselben während der Vertragszcit dem Lande
zum Präjudiz gereichen könne. Gleichwohl beruhigte man sich infolge einer
bündigen Erklärung des Fürsten. Auch im preußischen Abgeordnetenhause ging
der Vertrag nicht ohne Bedenken vorüber, da es klar war, daß Preußen durch
denselben mit einer nicht unerheblichen jährlichen Mehrausgabe würde belastet
werden. Indessen fand der Vertrag lebhafte Vertretung durch den Grafen
Bismarck, welcher dessen Abschluß zur Konsolidation der deutschen Verhältnisse
für dringend notwendig erklärte. So kam der Vertrag zustande.
Der Zuschuß, welchen Preußen zu der Verwaltung Waldecks leisten mußte,
stellte sich noch höher heraus, als man anfangs erwartet hatte. Er betrug
jährlich 290 000 Mark, obwohl man daneben noch den Anteil Waldecks an
der französischen Kriegskontribution für die notwendigen Bedürfnisse des Landes
verwendete. Nach dessen Aufzehrung mußte jener Zuschuß für das Etats¬
jahr 1878—79 sogar auf 310 000 Mark erhöht werden. Diese Belastung
des preußischen Budgets führte mehrfach zu unliebsamen Erörterungen im
preußischem Landtage. Als daher die zehn Jahre, für welche der Vertrag ab¬
geschlossen war, zu Ende gingen, sah sich die preußische Regierung veranlaßt,
ans eine Änderung desselben zu dringen. Durch einen neuen, Abermals auf
zehn Jahre abgeschlossenen Vertrag wurde bezüglich der Beitragspflicht des
Domauialvermögens zu den Landesausgaben das frühere Verhältnis wieder¬
hergestellt, der Fürst also für verpflichtet erklärt, Überschüsse nach Maßgabe der
frühern Bestimmungen an die Landeskasse zu zahlen. Wie^ Staatsminister
von Bülow im preußischen Abgeordnetenhause mitteilte, hatte der Fürst „in ge¬
wissenhafter Prüfung seiner Stellung" nur mit größtem Widerstrebe» und unter
dem Vorbehalt einer ihm selbst schon nach drei Jnhren zustehenden Kündigung
in den neuen Vertrag gewilligt. Von seinem Kündignngsrechte hat er indessen
bis jetzt keinen Gebrauch gemacht.
Nun entstand wieder die Frage nach dem Bestände des Domcmiums, dessen
Einkünfte, sobald sie eine gewisse Höhe erreichten, dem Lande zufließen sollten.
Da ergab sich denn, daß der Fürst während der Zeit, wo er ausschließlich
das Domcmium verwaltet und dessen Einkünfte bezogen hatte, für richtiger
befunden hatte, die Kapitalabträge der Nothschildschen Schuld nicht nach der
früher von ihm dem Lande gegenüber erstrittenen Art der Abführung aus den
Domanialreveuücn, sondern aus den eingegangnen Domanialstammgelderu zu
bewirke». Dadurch hatte sich der Domauialbcstaud um 662 662 Mark verringert;
und in gleichem Verhältnisse verringerten sich also anch dessen Einkünfte. Die
Stände des Landes vermeinten aber, der Fürst habe auch während der Dauer
des Aceessiousvertrages bei der frühern Art der Abführung verbleiben müssen.
Sie nahmen deshalb Ersatz jener 662 662 Mark zu Gunsten des Domauial-
bestaudes von dem Fürsten in Anspruch. Der Fürst seinerseits hielt sich zu
dem eingeschlagenen Verfahren für berechtigt und verweigerte deu Ersatz.
Zunächst wurde versucht, diesen neuen Streit im Wege des Zivilprozesses auf-
zutragen. Sowohl das Obcrlandesgcricht als das Reichsgericht wies jedoch
die Klage zurück, weil sie annahmen, daß hier ein Verfassuugskonflikt vorliege,
für dessen Entscheidung die Gerichte nicht zuständig seien. Gegenwärtig haben
nun die Stunde unter Beziehung auf Art. 76 Abs. 2 der Reichsverfassung
ihren Anspruch beim Bundesrate anhängig gemacht, und dieser hat verlangt,
den Fürsten darüber vernehmen zu lassen.
Wir wollen ans die Rechtsfrage (bei welcher man sich versucht fühlen
könnte, an den fast verschollenen Pandektentitel (juoä cMseius juris in Msrnnr
8wworit, rak ixM soäem jure uwtur zu denke») hier durchaus nicht eingehe».
Der Bundesrat wird die wenig erquickliche Aufgabe haben, sie zu entscheiden.
Wir haben hier nur ein bis in die Gegenwart hereinragendes Bild kteinstaat-
licher Zustände zeichnen wollen. Auf der einen Seite ein Land, so arm, daß
es die Aufgaben des modernen Staates zu erfüllen ganz und gar außer stände
ist; ein Land, das in der Luft der Neuzeit weder leben noch sterben kann. Auf
der andern Seite ein Fürst, der zur Erhaltung seiner Stellung sich genötigt
sieht, eine Subsistenzsumme aus dem Lande in Anspruch zu nehmen, größer
als der vierte Teil des ganzen Landesbudgets und mehr als vier Mark auf
deu Kopf der Bevölkerung betragend. Dazu ein viele Jahre hindurchlaufender,
mit allen Künsten der Jurisprudenz betriebener Streit, bei welchem jeder Teil
dem andern einen kleinen Vorteil abzuringen bemüht ist. Das ist das beklagens¬
werte Bild, welches uns in diesem noch andauernden Kampfe entgegentritt. Vor
hundert Jahren gab es in unserm deutschen Vaterlande noch unzählige klein-
staatliche Existenzen, in welchen Streitstoff dieser Art in Hülle und Fülle auf-
gehäuft war. Auch heute mag ja wohl noch in dem einen oder dem andern
deutsche» Lande solcher Streitstoff vorhanden sein und bei irgendeiner Gelegenheit
wieder zum Ausbruch kommen. Im allgemeinen aber mutet uns doch ein
solcher Streit, wie er hier vorliegt, bereits als etwas Antediluvianisches an.
Und wenn wir uns dessen bewußt sind, so werden wir auch frohen Herzens
uns sagen: Es ist doch besser in Deutschland geworden.
meer dieser Überschrift ist im September vorigen Jahres in den
Grenzboten ein Aufsatz erschienen, welcher sich speziell mit den
Anwaltsgebührcu beschäftigt. Der Verfasser desselben sucht den
Nachweis zu führen, daß nicht bloß die Gerichtskosten, sondern
insbesondre auch die Anwaltsgebühren ermäßigt werden müßten,
wenn der allzuschwere Druck erleichtert werden solle, welchen die Prozeßkosten-
gcsetze des Reiches den Rechtsuchenden aufgelegt haben. Auch anderwärts läßt
sich die Klage über zu hohe Anwaltsgcbühren in der Presse vernehmen, und
an aufmerksamen Zuhörern hat es noch nie gefehlt, wenn dieses populäre Thema
zur Erörterung gebracht wurde.
Das Interesse des Anwaltsstandcs, sich an dieser Erörterung zu beteiligen,
ist weit weniger ein finanzielles als ein Interesse der Standesehre; denn vor
allem von der Nnwaltschaft gilt das Wort Iherings: „An das Geld knüpfen
sich die gerechten und ungerechten Vorwürfe des Volkes ^ gegen die Juristen^,
an dem Gelde klebt der Schmutz unsers Standes und die Erniedrigung unsers
Berufs." Kaum etwas ist mehr geeignet, den Anwaltsstand zu diskreditiren und
ihm die zu wahrhaft ersprießlichem Wirken so nötige Achtung zu rauben, als
wenn er mit Recht oder mit Unrecht dem Verdacht ausgesetzt ist, ein im Ver¬
hältnis zu den andern freien Berufsarten und zu der Qualität seiner Dienst¬
leistungen ungerechtfertigt hohes Einkommen zu beziehen. Es möge deshalb
einem Mitgliede dieses Standes gestattet sein, in die Erörterung einzutreten
und zur sachlichen Klärung der Frage einen Beitrag zu liefern.
Die Entstehungsgeschichte der „Gebührenordnung für Nechtsanwcilte des
deutschen Reiches" ist von dem Verfasser des erwähnten Aufsatzes nicht unrichtig
erzählt worden; es ist vor allem wahr, daß in der Reichstagskommission zur
Beratung des Entwurfes unter 21 Mitgliedern 10 Anwälte sich befunden haben,
lind daß diese in Übereinstimmung mit allen ihren Standesgenossen der Meinung
waren, die Sätze des Entwurfs für die niedern und mittlern Wertklassen seien
zu gering bemessen. Aber die Gerechtigkeit gegen die Mitglieder dieser Kom¬
mission, speziell gegen die in dieselbe gewählten Anwälte, hätte wohl erfordert,
etwas mehr, als dies von dem Verfasser geschehen ist, hervorzuheben, daß da¬
mals alle Faktoren der Gesetzgebung darüber einig waren, daß es sich um ein
Experiment handle, dessen Ergebnis, wie die Motive sich ausdrücken, sein sollte,
„dem für die Rechtspflege notwendigen Berufsstand eine angemessene Belohnung
für seine Leistungen und damit zugleich eine würdige Lebensstellung zu sichern,"
ein Experiment, von welchem niemand wußte, ob es dieses Ergebnis auch wirk¬
lich haben würde.
Wir glauben deshalb nicht, daß man den in der Kommission befindlichen
Anwälten mit Grund einen Vorwurf machen kaun, weder daraus, daß sie die
Wahl überhaupt angenommen, noch daraus, daß sie die Erhöhung der Gebühren¬
sätze für die untern und mittlern Wertklassen für notwendig erachtet haben.
Zur Feststellung aller derartigen Normen gehört in ganz anderen Maße, als
wenn es sich etwa um die Bestimmung eines fixen Jahresgehalts für eine
Richterstelle handelt, die genaueste Kenntnis der spezifischen Thätigkeit des be¬
treffenden Standes und seiner Berufsverhältnisse, und deshalb werden mit Recht
die Gcbührcntaxen für Ärzte und Architekten cmsucchmslos eben auch von
Ärzten und Architekten aufgestellt. Die einzige Gewähr für eine angemessene,
d. h. nach beiden Seiten gerechte Normirung kann nach Lage der Sache immer
nur darin gefunden werden, daß man zur Begutachtung eines derartigen Ent¬
wurfes solche Fachgenossen herbeizieht, welche das Vertrauen genießen, daß sie
frei von persönlichem Eigennutz das sachgemäße anstreben, und es ist wohl
anzunehmen, daß die Reichstagsparteicn zu den in ihrer Mitte befindlichen An¬
wälten dieses Zutrauen gehabt und gerade deshalb sie in die Kommission ent¬
sendet haben.
Wir wollen uns indessen bei diesen und sonstigen Ausführungen des Ver¬
fassers, welche zu mehr persönlicher Abwehr Anlaß geben könnten, nicht auf¬
halten, sondern sofort in die Sache selbst eintreten.
Der Staat kann auf Kosten der Gesamtheit der Steuerzahler die Recht¬
sprechung unentgeltlich gewähren; er könnte auch die Advokatur zu einem be¬
soldeten Staatsamte machen und so auch die Dienste der Anwälte den Staats¬
bürgern unentgeltlich zur Verfügung stellen. Solange aber die Advokatur ein
freier Erwerbsberuf bleibt, ist bei jeder gesetzlichen Regelung der Anwaltsgebühren
der Anspruch der Anwälte auf eine würdige, den übrigen freien Berufsarten
ungefähr gleiche Lebensstellung ein Faktor, der sich, wenn der Staat nicht Un¬
recht thun will, durch keine Staatsraison beseitigen läßt, und wir müssen uns
daher entschieden dagegen erklären, daß der Verfasser für diesen wesentlichen Ge¬
sichtspunkt kaum ein Wort hat, vielmehr die gesamten „Prozeßkosten," d. h.
Gerichts- und Anwaltsgebühren, unterschiedslos unter dem Gesichtspunkt einer
auf ungerechtes Prozessiren gesetzten Strafe betrachtet.
Die Extrasteuer, welche der Staat in den Gerichtsgcbühren den Prozeß-
Parteien als Beitrag zu den staatlichen Kosten der fundamentalen Institution
der Rechtspflege auferlegt, hat mit dem Entgelt, welches der Anwalt für seine
Mühewaltung von seinem Auftraggeber bezieht, prinzipiell nicht das mindeste
gemein. Deshalb kann auch nicht die Rücksicht auf den unterliegenden Teil für
die Höhe der Anwaltsgebühren maßgebend sein; ihr einziges Maß finden diese
vielmehr in ihrem Wesen als sachgemäße Vergütung sür geistige Arbeit. Es
dürfte überhaupt eine Verkennung der Sachlage sein, wenn der Versasser die
Klagen über die Höhe der Prozeßkosten hauptsächlich vom Standpunkte des
Unterliegenden betrachtet. Wenn man diesem Standpunkte gerecht werden
und diese Klagen aus der Welt schaffen will, dann muß man mit dem Grund¬
satze brechen, daß der Unterliegende in der Regel schlechtweg alle Kosten zu
tragen habe. Aber die Klagen über die Höhe der Gerichtskosten gehen weit mehr
von denjenigen aus, welche erst ihr Recht suchen müssen, und betreffen nicht
bloß die Höhe der Gebühren, sondern fast noch mehr die Art und Weise, wie
der Kläger, auch wenn er siegt, zu der Steuer herangezogen wird. Es ist an¬
zuerkennen, daß die Gerichtskostenuovclle vom Jahre 1881 hierin manches ge¬
bessert hat, namentlich durch Herabsetzung und Beseitigung der vielen unerträg¬
lichen Nebengebühren für zahlreiche, in jedem Prozeß wiederkehrende Akte. Es
besteht aber noch die unbedingte Vorschußpflicht des rechtsuchenden Klägers bei
Anstellung der Klage, die Zahlungspflicht des siegenden, also mit Recht strei¬
tenden Klägers für einen namhaften Teil der Gerichtskosten, die Steigerung
der Gebühren ins Grenzenlose. Die Beträge, welche auf diese Weise der Kläger
gewissermaßen einsetzen muß, um zu seinem Rechte zu kommen, und welche er
verliert, wenn sein Gegner zwar verurteilt wird, aber nichts besitzt oder sein
Vermögen beseitigt, sind besonders in den höhern Wertklassen für einen wenig
bemittelten Mann, der nicht arm genug ist, um sich ein öffentliches Armuts¬
zeugnis ausstellen zu lassen, unerschwinglich hoch. Ans eine ihm zugefallene
Erbschaft, ans Schadenersatz wegen Körperverletzung, auf Alimente und dergleichen
höher in der Skala stehende Objekte kann ein solcher Mann fast nicht klagen,
ohne ein Armutszeugnis in der Tasche zu haben. Ganz anders liegt die Sache
bei den Anwaltsgebühren. Wenn hier die Rücksicht auf den „armen Mann"
ins Feld geführt wird, der hohe Kosten an die Anwälte zahlen müsse, so wird
übersehen, daß auch der Minderbemittelte, wenn er auch nur einen Schein von
Recht aufzuweisen hat, stets einen Anwalt finden wird, der sich seiner annimmt.
Kein gewissenhafter Anwalt, der eine einigermaßen noble Auffassung von seinem
Beruf hat, wird einem solchen Manne die Thüre weisen, wenn dieser auch nicht
imstande ist, die taxmäßige Gebühr vorzuschießen; und zwar wird dies umso-
weniger geschehe», je besser im übrigen die Anwälte in finanzieller Beziehung
gestellt sind. Gewinne der Mann seinen Prozeß, so bezieht der Anwalt seine
Gebühren von dem unterliegenden Gegner oder von seinem durch den Prozeß
reicher gewordenen Klienten; verliert er ihn, so wird jeder anständige Anwalt
sich mit einem bescheidnen, den Vermögensverhältnissen angemessenen Ersatz für
den gehabten Zeitaufwand begnügen, vielleicht auch auf jedes Honorar verzichten.
Die Verweisung auf ganz ähnliche Verhältnisse bei den Ärzten liegt nahe. Der
Unterschied ist nur der, daß man den Anwalt zwingt, der ganz armen Partei
seine Hilfe völlig unentgeltlich zu leisten, während der Arzt auch dann durch
die Gemeinde bezahlt wird; daß man ferner beim Anwalt die Taxe, an die er
auch dein Reichen gegenüber bei Gefahr, gegen die Standesehre zu fehlen oder
gar unter das Strafgesetz zu fallen, gebunden ist, nach den Verhältnissen des
„armen Mannes" zuschneiden will, während man den Arzt an keine Taxe
bindet. Der Staat aber kennt kein Erbarmen; die volle Gerichtsgebühr wird
mit dem Augenblicke, wo die Klage eingereicht ist, unter Androhung der sofor¬
tigen Zwangsvollstreckung rücksichtslos eingetrieben, und das ist vor allem ein
Grund, warum das Publikum sich mit Recht beschwert, daß durch die Gerichts-
kosten nahezu eine Rechtsverweigerung herbeigeführt werde.
Auf diese prinzipiellen und in der praktischen Anwendung sich ergebenden
Unterschiede zwischen Gerichts- und Anwaltsgcbühren mußten wir gegenüber der
Parallelisirung beider durch den Verfasser hinweisen. Die Kritik der bestehenden
Anwaltsgcbührenordnung wird sich also einzig mit der Frage zu beschäftigen
haben, ob ihr System dein Durchschnitt der beschäftigten Anwälte die von der
Negierung beabsichtigte „würdige Lebensstellung" sichert, und ob dieser Zweck
durch eine vernünftige, sachgemäße Verteilung der Gebühren ans die einzelnen
Auftraggeber erzielt wird oder nicht.
Wie es scheint, ist der Verfasser der Ansicht, daß wenigstens der erste Teil
dieser Frage durch den Hinweis ans die bisherigen preußischen Verhältnisse be¬
jaht werde. Aber ganz abgesehen davon, daß die Ansichten sehr geteilt sind,
ob das Einkommen der Anwälte unter der frühern preußischen Taxe ein so
günstiges war, wie der Verfasser voraussetzt/') ist es ein gründlicher Irrtum,
zu glaube», man habe das Ergebnis des Experiments von 1879 schon in der
Hand, wenn man den frühern preußischen Tarif ziffernmäßig mit dem neuen
vergleicht und daraus auf eine Verbesserung der Lage der Anwälte schließt.
Es fehlen nahezu alle Voraussetzungen zu einer Parallele. Früher Ernennung
einer geschlossenen Zahl von Nechtsnnwälten, also ein Monopolsystcm, bei
Welchem es dem ernannten Anwalt möglich war, mehr oder weniger fremde
Kräfte für sich arbeiten zu lassen — jetzt vollständig freie Advokatur; früher
ein mündliches Scheinverfahren, wobei die mündliche Verhandlung meist nur in
der Bezugnahme auf die Schriftsätze bestand — jetzt das Prinzip der vollen
Mündlichkeit, welches die ganze Kraft des Urwalds erfordert und eine Ver¬
tretung durch Substituten fast vollständig ausschließt. Dazu kommt noch, um
die Unmöglichkeit einer Vergleichung voll zu machen, der Umstand, daß in
Preußen regelmüßig das einträgliche Notariat mit der Anwaltschaft verbunden
war, sodaß sich für dritte wohl niemals ermitteln läßt, wieviel an dem Ein¬
kommen der preußischen Anwälte auf Rechnung des Notariats und wieviel auf
Rechnung der Advokatur zu setzen war und ist, während der außerpreußischc
Anwaltsstcmd, der doch wohl auch ein bescheidnes Recht auf Existenz hat, aus¬
schließlich auf das Einkommen aus der Advokatur, wie es sich nach der jetzigen
Ordnung der Dinge gestaltet, angewiesen bleibt.
Wie lautet uun die richtige Antwort auf die Frage nach dem Ergebnis
des Experiments von 1879?
Im Jahre 1881 ist auf Anregung des Reichsjustizamtes von deu einzelnen
Landesministerien an die Vorstände der Anwaltskammern die amtliche Anfrage
gerichtet worden, ob und inwieweit die Urwalds gebühren eine Herabsetzung er¬
tragen könnten; dabei waren indessen nur einige spezielle Punkte, hauptsächlich
die sogenannten „Schreibgebühren," als revisionsbedürftig bezeichnet. Auf diese
Anfrage hat der Vorstand des deutschen Anwaltsvereins an das Reichsjustizamt
die Bitte gerichtet, noch die Sammlung mehrjähriger Erfahrungen über die
Wirkung der bestehenden Gebührenordnung abzuwarten, bevor ein Gesetzentwurf
im Sinne einer Ermäßigung der Gebühren eingebracht werde. Aus der Be¬
gründung dieses Gesundes mögen hier folgende Sätze angeführt sein:
Nach den bisher möglich gewesenen Ermittelungen scheint gewiß, daß zunächst
unter der neuen Gesetzgebung das Durchschnittseinkommen der deutschen Rechts¬
anwälte auch an denjenigen Orten, an denen eine Vermehrung der Zahl der An¬
wälte nicht eingetreten ist, sich vermindert hat. Vielfach wird sogar die Befürch¬
tung laut, daß der Anwaltsstand in seinen Existenzbedingungen erschüttert sei. Ein
tüchtiger Anwaltsstand kann nur bestehen, und der Thätigkeit des Urwalds wird
nur dann der entsprechende Lohn zuteil, wenn dem Anwälte die von ihm geleisteten
Dienste dergestalt angemessen honorirt werden, daß — unter Voraussetzung regel¬
mäßiger Beschäftigung desselben — der Anwalt sich und seine Familie standes¬
gemäß ernähren und für die Tage seines Alters, beziehungsweise seiner Arbeits¬
unfähigkeit, sich entsprechende Subsistenzmittel sichern kann. Ob dies durch die
Sätze der bestehenden Gcbührenordnuug erreicht wird, ist äußerst zweifelhaft. Aus
den Erfahrungen der bisherigen Geltungszeit der Gebührenordnung läßt sich ein
sicherer Schluß in dieser Beziehung noch nicht ziehen. Die Gebührenordnung wirkt
bei dem ihr zu gründe liegenden System der Bauschgebühr nur in denjenigen Be¬
zirken angemessen, wo neben geringfügigen Prozessen mich solche mit höhern Streit¬
werten vorkommen. Denn die Sätze derselben entsprechen nur bei den mittlern
Wertklassen der Aufwendung des Urwalds an Zeit und Arbeitskraft. Bei den
niedern Weltklassen ist die Vergütung an und für sich ungenügend. Anwälte,
welche nur oder fast uur in Angelegenheiten der niedern Wertklassen beschäftigt
sind, können durch die angestrengteste Thätigkeit bei den Sähen der Gebührenord¬
nung das gerechte Ziel ihrer Arbeit — die Sicherung einer standesgemäßen Exi¬
stenz -— nicht erreichen. Wo daher die von der Gebührenordnung vorausgesetzte
Kompensation durch die bei hohen Streitwerten erwachsenden Gebühren ausbleibt,
muß die Einnahme des Urwalds sich unzureichend und hinter dem Lohne, welcher
der Arbeit gebührt, zurückbleibend gestalten. Da in vielen deutschen Landschaften
hohe Streitwerte verhältnismäßig selten vorkommen, so bedarf es einer mehrjäh¬
rigen Beobachtung darüber, ob der Anwalt in einer gewissen Periode (von etwa
drei oder fünf Jahren) eine Gesamteinnahme erlangt, welche, auf die einzelnen
Jahre verteilt, als eine angemessene Jahreseinnahme bezeichnet werden darf. Zu
einer Übereilung der Revision im Sinne einer Gebührenermäßigung dürfte daher
kein zwingender Anlaß vorliegen.
Der deutsche Anwaltsvcreiu hält sich für verpflichtet, mit alleu Kräften für
eine befriedigende Ordnung der Prvzeßkostenfrage einzutreten. Sobald sich ergeben
wird, daß das Durchschnittseinkommen der Anwälte im Interesse der Rechtsuchenden
eine Veränderung erleiden kann, so wird der Verein wie jeder einzelne Anwalt
gern einer solchen Minderung zustimmen. Zur Zeit ist aber die Frage noch nicht
reif zur Entscheidung.
Ganz ähnlich lautet der Inhalt sämtlicher, von den Vorständen der An-
waltskcimmern abgegebenen Gutachten; vor allem findet sich darin eine aus¬
nahmslose Übereinstimmung, daß das Einkommen der Anwälte sich bei der neuen
Gebührenordnung durchweg vermindert habe, soweit nicht besondre lokale Ver¬
hältnisse in großen Städten, Industrie- und Handelsbezirken, wo Prozesse mit
besonders hohen Streitsummen häufiger sind, ein andres bewirken. Der Reichs¬
tagsabgeordnete Payer (Rechtsanwalt in Stuttgart) hat im Reichstage erklärt,
daß die Anwälte der ames- und landgerichtlichen Praxis Gott danken, wenn
das Jahr herum sei und sie sich ehrlich durchgebracht haben, und jeder Jahr¬
gang der Juristischen Wochenschrift (Organ des deutschen Anwaltsvereins) ent¬
hält Betrachtungen und Befürchtungen trübster Art über die jetzigen Einkom-
inensverhältnisse des deutschen Anwaltsstandes. neuestens ist in dieser Zeitschrift
eine statistische Berechnung, deren Prämissen sehr vorsichtig angenommen sind,
angestellt worden, wonach aus den im Jahre 1881 im deutschen Reiche ver¬
handelten Zivil-, Konkurs- und Strafprozessen die vorhandenen 440V Anwälte
durchschnittlich ein Einkommen von nicht mehr als 3500 Mark bezogen haben
können; legt man aber auch den doppelten Betrag, also 7000 Mark, als Durch¬
schnittseinkommen der vollbeschäftigten Anwälte zu gründe, so ist darüber
wohl kein Wort zu verlieren, daß ein solches Einkommen, weit davon entfernt,
ein überreiches zu sein, nicht einmal in einer Provinzicilstadt hinreicht, um neben
den Kosten für das standesgemäße Leben und die Erziehung von Kindern dem
Inhaber die Ersparung eines bescheidnen Vermögens für das Alter zu er¬
möglichen.
So also liegt in Wahrheit die Sache. Von der einen Seite wird erklärt,
die Prozesse seien mit zu hohen Kosten belastet und das Staatsinteresse her¬
lange eine Reduktion der Anwaltsgebühren; zu gleicher Zeit wird in weiten
Kreisen des deutschen Anwaltsstandes bittere Klage erhoben, daß ihm durch die
Reichsgesetzgebung das zugesicherte ausreichende Einkommen nicht gewährt, ja
die früher bessere Stellung verschlechtert worden sei. während die Anstrengungen
und die Verantwortlichkeit des Berufes durch das neue Verfahren sich gesteigert
haben. Von der einen Seite wird die Befürchtung geäußert, daß die Anwälte
ein zu großes Einkommen beziehen, von der andern Seite wird gerade von
solchen Anwälten, die ihren Stand vor allem geachtet wissen möchten, darauf
hingewiesen, daß man mit ungenügender Bezahlung der Anwälte die Gefahr
eines Advokatenproletariats, wie es noch vor einem Menschenalter leider in
Deutschland bestanden hat, wieder heraufbeschwöre, und diese Kehrseite möge
man doch nicht übersehen. Wenn ein Teil der Anwälte aus Not der Versuchung
unterliegt, ihre Pflicht weniger gewissenhaft zu erfüllen, so leidet darunter das
Ansehen des ganzen Standes, und das muß notwendig zur Folge haben, daß
sich die bessern Elemente im Laufe der nächsten Jahrzehnte wieder von der Ad¬
vokatur zurückziehen. Solange man also daran festhalten will, daß der Berufs-
stand der Nechtscniwälte ein gesichertes und, wir wollen nicht sagen reichliches,
aber doch eine sorgenfreie Existenz ermöglichendes Einkommen bezieht, welches
dafür bürgt, daß Männer von Talent und Charakter sich ihm zuwenden, so¬
lange wird man den vorhandenen Zwiespalt mit einer einfachen Ermäßigung
der Gebührenskala nicht aus der Welt schaffen; es kann sich vielmehr nur darum
handeln, ob durch Ausgleichung mancher Härten und durch Ausmerzung mancher
unzweckmäßige» Bestimmungen des Experiments von 1879 ein Zustand geschaffen
werden kann, der beiden Seiten gerecht wird, oder ob das ganze System der
Gebührenordnung kleinern oder größern Modifikationen unterzogen werden kann
und muß, um eine befriedigende Lösung zu finden.
In einer Entscheidung des Reichsgerichts ist dieses System zutreffend fol¬
gendermaßen bezeichnet worden: „Nach dem System der Vauschgebühren ist es
die Absicht des Gesetzes nicht, für jeden Prozeß die entsprechende Gebühr zu
bewilligen oder überhaupt die Gebühren nach dem Maße der im einzelnen Pro¬
zesse aufgewendeten Thätigkeit zu normiren, vielmehr war sich der Gesetzgeber
vollkommen bewußt, daß von diesem Standpunkte aus seine Gebühren in manchen
Fällen viel zu hoch, in andern aber viel zu niedrig sein würden; allein er suchte
die Ausgleichung im Durchschnittscrtrage der Prozesse, von dem Pflichtgefühl
der Anwälte erwartend, daß sie trotz der Ungleichheit der Honorirung nicht
unterlassen würden, allen Prozessen die gleiche Sorgfalt zuzuwenden." Immer
wieder spitzt sich also die Frage darauf zu, ob der Durchschnittsertrag der
Prozesse die erhoffte Ausgleichung bringt. Welches ist nun der Durchschnitts¬
ertrag?
In dem mehrerwähnten Aufsatze werden die Zahlenreihen vorgeführt, welche
der Staatssekretär or. von Schelling am 28. April 1881 dem Reichstage mit¬
geteilt hat, und dabei wird bemerkt, das deutlichste Zeugnis dasür, wie sehr die
Laienwelt in dieser Angelegenheit im unklaren sei, liege in dem Staunen, womit
der Reichstag diese Zahleneingaben entgegengenommen habe. Zunächst allerdings
verfolgen diese Zahlen nur den Zweck, die frühere preußische Skala mit der
jetzigen zu vergleichen. Aber sicherer als diesen Zweck werden sie, und zwar
nicht bloß bei Laien, den Erfolg erreichen, daß man nicht nur über die rela¬
tive, sondern mehr noch über die absolute Hohe der Anwaltskosten in Entrüstung
gerät. Wenn man auch darüber hinweggehen will, daß die Überschrift über der
Ziffcrnreihe der „Anwaltsgebühren" lautet „Gebühren für zwei Rechtsanwälte,"
während die ausgesetzte Gebühr sich in Wahrheit unter die vier, von Klasse 10
an sogar unter die sechs Rechtsanwälte, welche in den zwei, bez. drei in der
Tabelle vorausgesetzten Instanzen thätig zu sein haben, verteilt, so ist es doch
schwer zu begreife», wie das Rcichsjustizamt bei Aufstellung seiner Tabelle als
Regel voraussetzen konnte, daß in den beiden ersten Instanzen die Bauschgcbühr
dreifach zur Berechnung komme, was, abgesehen von dem immerhin seltenen
Falle eines Vergleichs, nur möglich ist, wenn ein Beweisverfahren stattfindet. Das
müßten wahrlich schlechte Richter und schlechte Anwälte sein, welche alle Pro¬
zesse, und noch dazu in beiden Instanzen, auf ein Beweisverfahren hinaus¬
brächten. Die überwiegende Mehrzahl der Prozesse wird vielmehr zum Glück
ohne Beweisverfahren zum Endurteil geführt, und eine geradezu monströse Selten¬
heit ist es, wenn es gar in zwei Instanzen zu einer Beweisführung kommt.
In einer sehr großen Zahl von Fällen kommt dagegen der Anwalt nicht
einmal zum Bezug der doppelten Grundgebühr; wenn der Prozeß vor Zu¬
stellung eines Schriftsatzes erledigt wird, erhält er nur die halbe, wenn er ohne
mündliche Verhandlung erledigt wird, erhält er nur die einfache, wenn er durch
Versäumnisurteil erledigt wird, nur die anderthalbfache, und nur wenn eine
sogenannte kontradiktonsche Verhandlung stattgefunden hat, erhält er die Gebühr
in zweifachen Betrag; daß die Gebühr dreifach erhoben wird, wenn es zu einem
Beweisverfahren kommt, ist schon bemerkt worden; dagegen sind im Urkunden-
und Wechselprvzeß überdies die Gebühren auf der sonstigen Beträge er¬
mäßigt.
Nun ist es aber eine Thatsache, welche von dem System der Gebühren¬
ordnung viel zu wenig gewürdigt ist, deren spezieller Nachweis jedoch hier zu
weit führen würde, daß die Anwaltsthätigkeit im Beginn des Prozesses, bei
der Information und bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, wo
der Prozeßstoff aus dem Rohen herausgearbeitet und unter die maßgebenden
Gesichtspunkte gebracht werden muß, am intensivsten und schwierigsten ist. Wenn
es nun zu einer mündlichen Verhandlung und vollends zu einem Beweisver-
cchren kommt, dann allerdings ist die Gesamtgebühr, welche dem Rechts-
anwalt zusteht, d. h. der doppelte, bez. dreifache Betrag der Grundgebühr etwa
von der 7. und 8. Wertklasse ab, durchschnittlich eine ausreichende Vergütung
seiner gesamten Thätigkeit, aber nur in dem Sinne, daß die verhältnismäßig
zu hohe Bezahlung für die spätern Prozeßabschnitte (mündliche Verhandlung
und Beweisverfahren) einen Ausgleich bildet für die viel zu gering bemessene
Gebühr, welche für die Information und den sogenannten Prozeßbetrieb zu er¬
heben ist (Prozeßgebühr). Diese Thatsache würde nicht so stark ins Gewicht
fallen, wenn nicht die Hälfte sämtlicher Prozesse, welche einem Anwalt über¬
tragen werden, in diesem ersten Stadium erledigt würde, sodaß nach dem System
der Gebührenordnung der Anwalt gerade dann am allerschlechtesten bezahlt wird,
d. h. sich mit der Hälfte oder höchstens mit dem einfachen Betrag der Grund¬
gebühr begnügen muß, wenn er es durch seine Geschicklichkeit dahin gebracht
hat, daß der Beklagte den Anspruch des Klügers schon vor der mündlichen Ver¬
handlung anerkennt und bezahlt, oder wenn der Anwalt den Beklagten durch
seinen guten Rat von aussichtslosen Streiten abgehalten hat. Wer nur einiger¬
maßen mit der Anwaltsthätigkeit bekannt ist, der weiß, wieviel leichter es in
den meisten Fällen ist, dem Klienten den Willen zu thun und es zu einer
richterlichen Entscheidung kommen zu lassen, als ihn schon vorher von der Aus¬
sichtslosigkeit seiner Sache zu überzeugen.
Es kann uach den verschiednen Mitteilungen, die über diese Frage vor¬
liegen,*) mit annähernder Sicherheit angenommen werden, daß von hundert
Prozessen sich mindestens fünfzig ohne mündliche Verhandlung erledigen; in
fünfzehn dieser Prozesse wird nur die halbe, in 3S die volle Grundgebühr zum
Ansatz kommen, je nachdem die Erledigung vor oder nach Zustellung eines Schrift¬
satzes stattfindet. Von den fünfzig übrigen zu einer mündlichen Verhandlung ge¬
kommenen Prozessen werden etwa fünfundzwanzig durch Versäumnisurteil, also mit
der anderthalbfachen Gebühr, etwa fünfzehn durch kontmdiktorisches Urteil ohne
Beweis und etwa zehn durch kontradiktorisches Urteil mit Beweiseinzug beendigt,
und es ergiebt sich hiernach auf Grund einer einfachen Rechnung, daß für einen
Prozeß die Bauschgebühr durchschnittlich nicht dreifach, wie man nach den
Zahlen des Reichsjustizamtes annehmen sollte, sondern nur 1,4fach oder sagen
wir rund anderthalbfach zur Erhebung kommt, wobei die Minderung im Ur¬
kundenprozeß noch nicht berücksichtigt ist. In der Berufungsinstanz ist das Ver¬
hältnis noch ungünstiger, weil die Zurücknahme von Berufungen nach erfolgter
eingehender Information sehr häufig und ein Beweisverfahren überaus selten
Vorkommt. Man weist nun freilich auf jene Nebengebühren hin, welche in Höhe
von '/ig bis "'/i<i der Grundgebühr für gewisse Akte zu berechnen sind. Aber
es ist eine Übertreibung, wenn man diesen Nebcngebühren irgend einen erheb¬
lichen Einfluß auf das Einkommen des Urwalds zuschreibt, und bei einer be¬
friedigenden Regelung der Bauschgebühr könnten diese Neben gebühren, wo sie
nicht schon jetzt durch die Hauptgebühr absorbirt sind, wohl entbehrt werden.
Es ist also daran festzuhalten, daß ein Anwalt für die von ihm geführten
Prozesse im Durchschnitt nicht mehr als höchstens den anderthalbfachen Betrag
der Grundgebühr bezieht, und diese Thatsache ist gegenüber den Riesenzahlcn,
welche Herr Staatssekretär Dr. von Schelling dem Reichstage vorgeführt hat,
wohl zu beachten. Will man wissen, welche Gebühr der einzelne Anwalt
durchschnittlich für einen Prozeß bestimmter Wertklasse enthalt, so hat man
die betreffenden Zahlen der Spalte „Gebühren für zwei Rechtsanwälte" in den
ersten zehn Wertklassen jener Tabelle mit der Zahl 8, in den folgenden mit
der Zahl 12 zu dividiren. Um nun aber zu berechnen, welches Durchschnitts¬
honorar in der ganzen Praxis auf den einzelnen Prozeß fällt, und welches
Durchschnittseinkommen ein Anwalt beziehen kann, muß man zuvor noch fest¬
stellen, in welchem Verhältnis sich die vorkommenden Prozesse auf die verschiednen
Wertklassen verteilen. Leider fehlt gerade über diese wichtige Frage eine zu¬
verlässige Statistik,*) und solange eine solche nicht existirt, werden alle Ände¬
rungen an der Gebührenskala unsicher tastende Versuche bleiben; aber alle ein¬
zelnen Erhebungen, welche darüber aus Anlaß der Beratung der Gebührenordnung
bekannt geworden sind, haben übereinstimmend das Resultat ergeben, daß sich
auch in wohlhabenden Bezirken der weitaus größte Teil der Prozesse in den
Wertklassen unter 1000 Mark bewegt.**) Selbst wenn man aber auch von
der günstigen Voraussetzung ausgeht, daß sich die Prozesse, welche ein bei einem
Landgericht beschäftigter Anwalt zu führen hat, gleichmäßig auf die Wert¬
klassen zwischen 300 Mark und 2000 Mark verteilen, so ergiebt sich für einen
Landgerichtsprozeß eine Durchschnittsgebühr von etwa 36 Mark.
Nun soll weiter angenommen werden, daß ein fleißiger Anwalt, der sich
ausschließlich seiner Zivilprozeßpraxis beim Landgericht widmet, jährlich 175
Prozesse zu bewältigen vermöge (ein solcher Anwalt wird zu den sehr beschäf¬
tigten gehören), so stellt sich heraus, daß er ein Einkommen von 6300 Mark
beziehen kann, wovon er aber noch einen erheblichen Teil zur Bestreitung seiner
Kanzleikvsten zu verwenden hat. In Wahrheit ist jedoch die Annahme, daß
sich die Prozesse gleichmäßig auf die Wertklassen bis zu 2000 Mark ver-
teilen, eine viel zu günstige. Vielmehr überwiegen weitaus die Prozesse um
einen Betrag von weniger als 1000 Mark, und je mehr in einer bestimmten
Praxis diese Gravitation des Durchschnittes nach unten stattfindet, desto schlimmer
gestaltet sich die Sache für den Anwalt. Bei einem ausschließlich auf amts¬
gerichtliche Prozesse angewiesenen Anwalt hört die Existenzmöglichkeit nahezu
auf. Hier beträgt das Durchschnittseinkommen aus einem Prozeß nur 7 oder
8 Mark; wenn also auch ein solcher Anwalt jeden Tag im Jahre einen Prozeß
fertig bringt, so kann er daraus doch nur ein Einkommen von rund 2400 Mark
beziehen.
Daß das System einer prozentualen Steuer auch nach der andern Seite
zu Übertreibungen, ja zu Absurditäten führt, und daß solche Anwälte, welche
in der Lage sind, in der Hauptsache Prozesse über höhere Objekte zu führen,
ein reichliches Einkommen beziehen, ist von keiner Seite bestritten worden. Aber
man übersieht über dem glänzenden Einkommen weniger die sorgenvolle Existenz
der großen Mehrzahl. Und wenn man sagen hört, daß einmal ein Anwalt,
wie der Verfasser erzählt, für erteilten Rat eine Gebühr von 59000 Mark be¬
rechnet habe, so möge man doch bedenken, daß neunzehntel aller Anwälte Wohl ihr
ganzes Leben lang nicht einen einzigen Prozeß zu sehen bekommen, dessen ganzes
Objekt 50000 Mark beträgt, geschweige denn einen solchen über ein Objekt,
wo die einfache Gebühr soviel ausmacht. Unter der Voraussetzung, daß jene
ungeheuerliche Gebühr überhaupt richtig berechnet wurde (A 48 der Gebühren¬
ordnung!), muß das Objekt einen Betrag von nahezu 59 Millionen Mark reprä-
sentirt haben, und vielleicht interessirt es manchen Leser, zu erfahren, daß für
eine einzige Instanz die einfache Gerichtsgebühr, welche im Prvzeßfcille der
Kläger baar vorzuschießen hätte, bei einem solchen Objekte die Kleinigkeit von
zweihuudcrtfüufuudnelinzigtausend Mark, und im Falle einer kontradiktorischen
Verhandlung das doppelte betragen würde. Im übrigen ist die ganze
deutsche Rechtsanwaltschaft darüber einig, daß gerade die Gebühr für die „Nats-
erteilung" bei höhern Streitsummen eine so hohe ist, daß anstandshalber in der
Praxis niemals davon Gebrauch gemacht werden kann, vielmehr ein Maximum
von hundert Mark, auch für die höchsten Fälle, als angemessen erachtet wird.
Nach dem bisher Gesagten wird es verständlich, daß und warum sich die
ganze Debatte und insbesondre das Verlangen der Anwälte bei den Reichs¬
tagsverhandlungen im wesentlichen darum gedreht hat, daß die Gebühren für
die Weltklasse», in welche die überwiegende Zahl von Prozessen fällt, d. h. für
die kleinern und mittlern Streitwerte, erhöht werden. Man hat eindringlich, aber
vergebens darauf hingewiesen, daß das Bestreben des Gesetzes, die zu schlechte
Gebühr bei kleinen und mittlern Prozessen durch die Gebühr für höhere Ob¬
jekte auszugleichen, mißlingen werde, weil die Voraussetzung nicht zutreffe, daß
sich die Prozesse verschiedner und insbesondre höherer Wertklassen sowohl im
ganzen als unter die einzelnen Anwälte durchschnittlich gleich verteilen.
Nun aber die Schreibgebühren, richtiger Abschriftsgebühren, jene
„Apothekerrcchnnngen," die sich zu so unverhältnismäßigen Beträgen „zusammen¬
läppern"! Darüber ist nachgerade soviel gefabelt worden, daß es dringend ge¬
boten ist, diesem Schreckgespenst endlich einmal zu Leibe zu gehen.
Jedermann weiß, daß jeder Anwalt eine Kanzlei oder ein „Bureau" unter¬
halten muß, aber nicht jedermann weiß, was das kostet. Wir werden nicht zu
hoch greifen, wenn wir die Summe der Auslagen, welche ein Anwalt von
mittlerer Praxis für Geschäftszimmer, für einen bis zwei Schreiber, für Hei¬
zung und Beleuchtung, Schreibmaterialien u. s. w. aufzuwenden hat, auf zwei-
bis dreitausend Mark jährlich anschlagen. Entweder müssen nun die Gebühren
so hoch bemessen sein, daß der Anwalt jene Auslagen davon bestreikn und da¬
neben noch standesgemäß leben kann, oder es muß dem Anwalt für diese Aus¬
lagen ein gewisser Ersatz verschafft werden, welcher sich nach den Verhältnissen
des einzelnen Falles richtet. Das Reichsgesetz hat in Übereinstimmung mit
sämtlichen, zuvor in den einzelnen Bundesstaaten in Geltung gewesenen Ge¬
bührenordnungen den Weg gewählt, daß der Anwalt als Ersatz für diese Aus¬
lagen „Schreibgebühren" bezieht, welche sich nach der Große und Anzahl der
in dem einzelnen Prozesse nötig gewordenen Abschriften richten. Diese Abschrifts-
gebührcn sind aber so niedrig bemessen, daß der Anwalt dabei nicht einmal ans
die Selbstkosten kommt, und deshalb gehört es in der ganzen Debatte um die
Anwaltsgebühren zu dem ungerechtesten, daß man das Publikum glauben machen
will, irgendein Anwalt im deutschen Reich lasse um dieser Schreibgebühreu
willen auch nur eine einzige Seite unnützes Schreibwerk anfertigen. Wohlver¬
standen, sür seine eigne Thätigkeit des Konzipirens erhält der Anwalt unter
keinen Umständen eine besondre Gebühr! Die Reinschrift kostet ihn mindestens
soviel, wo nicht mehr, als er dafür bezahlt erhält, nämlich vierzig Pfennige für
den Bogen, und doch ist der Unsinn behauptet und geglaubt worden, daß die
Anwälte zuviel schreiben, um mit Schreibgebühren etwas zu verdienen. Ganz
im Gegenteil klagen die Gerichte schon jetzt darüber, daß die Schriftsätze, welche
zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung dienen und den Hauptfaktor für
die Abschriftsgebühren bilden, zu sparsam und zu mager abgegeben werden, und
es heißt die Laienwelt geradezu irreführen, wenn man mit diesen Abschrifts¬
gebühren Propaganda gegen die Anwälte macht.*) Eine andre Frage, deren
Erörterung hier jedoch zu weit führen würde, ist die, ob es nicht anginge, die
Entschädigung für Schreibwerk u. s. w. in jedem Prozeß mit einer Banschsumme
abzufertigen, welche in amtsgerichtlichen Prozessen zwei bis drei Mark, in lcmd-
gerichtlichcn Prozessen fünf bis zehn Mark betragen würde; unsers Trachtens
wäre das starre Bauschsystem bei dieser mechanischen Seite der Anwaltsthätig¬
keit weit besser angebracht als bei der Honorirung der geistigen Arbeit.
Der Zweck dieser Zeilen ist erreicht, wenn die geneigten Leser dieser Zeit¬
schrift den Eindruck gewonnen haben, daß die Frage einer sachgemäßen Nor-
miruug der Anwaltsgebühren im Sinne einer Ermäßigung derselben nicht so
einfach liegt, wie man gewöhnlich glaubt. Die Legende von der glänzenden
Stellung der Anwälte ist eine so verbreitete geworden, daß es nachgerade eine
falsche Scham wäre, mit dem Bekenntnis zurückzuhalten, daß die große Mehr¬
zahl derjenigen Standesgenossen, welche nicht erheblich über den Durchschnitt
hervorragen, durch das System der Gebührenordnnng zu eiuer mehr als be¬
scheidnen Existenz herabgedrückt ist. Daß die Gründe davon in dem System
der Gebührenordnung liegen, haben wir mit Zahlen nachgewiesen. Würden
die Bestimmungen, wonach der Anwalt, wenn der Prozeß ohne mündliche Ver¬
handlung beendigt wird, nur die Hälfte, höchstens den einfachen Betrag der
Grundgebühr bezieht, dahin abgeändert, daß in allen Fällen mindestens die
volle, wenn aber ein vorbereitender Schriftwechsel stattgefunden hat, mindestens
die 1^/zfache Gebühr zur Hebung kommt, auch wenn die mündliche Verhand¬
lung wegfällt, so wäre nach unsrer Überzeugung für den Anwaltstand schon viel
gewonnen, ohne daß dadurch das rechtsuchende Publikum beschwert würde. Wenn
dann noch weiter die Gebühren der untern und mittlern Wertklassen in ab¬
steigender Progression, d. h. unten am meisten erhöht würden, dann könnte
füglich eine Reduktion der obern Weltklassen, am besten die Fixirung eines
Maximums und eine Ausmerzung andrer Bestimmungen, durch welche sich das
Publikum mit Recht beschwert fühlt, eintreten.
Die Redaktion der Grenzboten hat den vorstehenden Aufsatz dem Verfasser
des frühern Aufsatzes über diesen Gegenstand zu etwaiger Meinungsäußerung
mitgeteilt und von diesem darauf folgende Bemerkungen erhalten.
1) Der Verfasser des vorstehenden Aufsatzes, der, wie ich mit Freuden an¬
erkenne, die Interessen seines Berufsstandes in durchaus objektiver Weise ver-
tritt, gesteht alle von mir angeführten Thatsachen teils ausdrücklich, teils still¬
schweigend zu. Gegen das, was diese Thatsachen für sich selbst reden, hat er
also keine Einwendungen. Damit ist in der That der wesentliche Inhalt
meiner ganzen frühern Ausführung zugegeben.
2) Gegen die Anwälte, welche in großer Zahl in die Reichstagskommission
für die Anwaltsgcbührenordnung gegangen sind und dort mit wenigen andern
Mitgliedern die ständige Mehrheit für die höchsten Gebühren gebildet haben,
habe ich meinerseits keinen Vorwurf erhoben. Unrichtig aber ist es, wenn der
Verfasser jenen Vorgang damit rechtfertigen will, daß nur Anwälte die Wirk¬
samkeit einer entworfenen Anwaltsgebührenordnung beurteilen könnten. Jeder
andre praktisch gebildete Jurist kann das auch, zumal wenn für den Entwurf
ein schon bekanntes Gesetz die Grundlage abgiebt.
3) Die Ansicht des Verfassers, daß die Gerichtskosten nur eine dem Prozeß-
führenden auferlegte (also wohl ungerechtfertigte) Extrasteuer zu einer funda¬
mentalen Staatseinrichtung seien, die Anwälte dagegen ihre Gebühren nach den
Grundsätzen eines freien Erwerbsbernfes und nach dem Maßstabe ihrer geistigen
Arbeit sollten bemessen können (also eigentlich eine Taxe garnicht bestehen
dürfte), halte ich für nicht zutreffend. Der Wunsch, daß der Staat die Justiz
ganz umsonst gebe, wird wohl noch lange an den realen Verhältnissen scheitern.
Von einem so idealen Standpunkte aus könnte man auch dahin gelangen, daß
jedem sein Recht auch ohne fremde Beihilfe zuteil werden müsse, und daß
deswegen alle Anwälte überflüssig seien. Aber auch dieser Gedanke würde an
den realen Verhältnissen scheitern. Was sodann die Auffassung des Verfassers
von der Natur der Anwaltsgebühren betrifft, so entspricht dieselbe nicht dem
Wesen des Rechtes. Sie entspricht noch weniger einem Prozesse, welcher den
Anwaltszwang anordnet. Wenn jemand dem 'Architekten, der ihm sein Haus
baut, dem Maler, der ihm ein Bild malt, oder dem Arzte, der an ihm eine
Kur vornimmt, tausende bezahlt, so ist das seine Sache. Es berührt keinen
dritten. Wenn aber jemand einen Prozeß führt und von dem unterliegenden
Gegner verlangt, daß dieser ihm die aufgewendeten Kosten ersetzen soll, so
darf mit Recht die Frage gestellt werden: Wieviel an Kosten soll denn nun
dieser Gegner zu ersetzen schuldig sein? Und wenn nun jemand, der einen
Prozeß über hundert Mark geführt hat, dem Gegner erklärte: „Ich habe
meinem Anwalt, seiner geistigen Arbeit entsprechend, tausend Mark bezahlt, und
diese mußt du mir ersetzen!" so würde jeder vernünftige Mensch sagen: „Wer,
um über hundert Mark zu Prozessiren, für tausend Mark geistige Arbeit in
Bewegung setzt, handelt unsinnig, weil stets das Mittel zu dem Zwecke in
einem angemessenen Verhältnis stehen muß." Damit nun ans diesem Gebiete
nicht alles der Willkür überlassen bleibe, ist eine Gebührenordnung da, welche
das Maß bestimmt, nach welchem der siegende Ersatz der aufgewendeten
Kosten von dein Unterliegenden in Anspruch nehmen kann. Daß ein solches
Maß bestehe, ist vernünftig und notwendig. Und ebenso ist es vernünftig,
daß sich dieses Maß anknüpfe an den Wert des Streitgegenstandes. Ans
seiner eignen Tasche, d. h. ohne Anspruch auf Ersatz vom Gegner, kann jeder
auch seinem Anwälte soviel bezahlen, wie er will. Ja die Reichsgcbühren-
vrdnung gestattet sogar (im Gegensatz fast zu allen frühern Gesetzen), daß der
Anwalt sich ein solches ExtraHonorar ausdrücklich ausbedinge.
4) Wenn der Verfasser seine Beschwerde gegen die Ordnung der Gerichts-
kosten jetzt vorzugsweise darein setzt, daß dieselbe dem Kläger den Vorschuß
dieser Kosten auferlege, so ist dieser Gesichtspunkt bei der bisherigen Agitation,
soviel mir bekannt, niemals aufgetaucht. Es kaun ja diese Vorschußpflicht hie
und da eine Härte enthalten. Sie zu beseitigen, würde aber nichts andres
sein, als dem Armenrecht thatsächlich eine noch weit größere Ausdehnung geben.
Denn gar mancher Kläger würde einen Prozeß beginnen in der Hoffnung,
auch im Falle des Verlustes sich der Kostenzcihlnng später auf irgendeine
Weise entziehen zu können. Wer nun die Gefahren kennt, welche das Armcnrecht
in sich trägt (ich habe dieselben schon in dem frühern Aufsatze geschildert), wird
auch gegen die Beseitigung jener Vorschußpflicht Bedenken tragen.
5) Der Verfasser beanstandet die von dem Staatssekretär Dr. von Schelling
im Reichstage angeführten, von mir vervollständigten Zahlenreihen über die
Kosten eines vollen Prozesses, weil dieselben doch keinen Maßstab für die
wirkliche Höhe der Kosten jedes einzelnen Falles abgeben. Das sollten sie
auch nicht. Sie sollten nur nachweisen, daß die Anwaltskosten, im Vergleich
mit den Gerichtskosten, den bei weitem größern Teil der Prvzeßkvsten aus¬
machen. Die Kosten des einzelnen Falles können allerdings in Vergleich mit
jenen Zahlenreihen geringer, sie können aber auch noch höher sein. Nicht jeder
Prozeß geht durch alle Instanzen; nicht stets wird in jeder Instanz ein Beweis¬
verfahren eingeleitet. In solchen Füllen sind die Anwaltskostcn geringer. Aber
auch die Gerichtskosten. Und wenn man also in Fällen dieser Art keinen
Grund hat, über die Anwaltskosten zu klagen, so hat man noch weniger Grund,
über die Gerichtskosten zu klagen. Es können aber auch mancherlei bei jenen
Zahlenreihen unberücksichtigt gebliebene Weiterungen im Prozesse entstehen.
Wenn auswärtige Geschäfte vorkommen, und die Anwälte dafür Tagegelder und
Reisekosten beziehen, wenn Ncbcnpunkte (prozeßhindernde Einreden, Arrest¬
anträge :c.) selbständig verhandelt werden und alle Instanzen durchlaufen, wenn
der Hauptprozeß von der höhern Instanz an die untere Instanz zurückverwiesen
wird und dann nochmals durch die Instanzen geht, wenn in der Vollziehungs¬
instanz Streitigkeiten entstehen und zu neuen Verhandlungen führen — in allen
diesen Fällen können die Gesamtkosten des Prozesses und anch die Anwalts-
kvsten noch weit über die in jenen Zahlenreihen angeführten Summen hinaus
anschwellen. Die wirklichen Kosten stellen sich also doch nicht so gering dar,
wie der Verfasser meint. Wären sie wirklich so gering, dann hätte man auch
keinen Grund, über die Gerichtskosten zu klagen. Denn diese gehen stets mit
den Anwaltskosten Hand in Hand; nur daß letztere ihnen immer einen Schritt
voraus sind. Die Hinweisung des Verfassers darauf, daß in die in jener
Tabelle aufgeführten Anwaltskosten die beiderseitigen Anwälte und die Anwälte
der verschiednen Instanzen sich teilen, ist doch wohl ohne Bedeutung. Natürlich
wird jeder Anwalt nur bezahlt für das, was er gethan hat.
6) Als Beispiel, wie unter Umständen die neue Gebührenordnung wirkt,
hatte ich angeführt, daß jüngst ein Rechtsanwalt wider eine Partei sür Rat,
den er ihrem Generalbevollmächtigten gegeben, an Gebühren 59 019 M. 70 Pf.
eingeklagt habe, vorläufig jedoch wegen Unzuständigkeit des Gerichts abgewiesen
worden sei. Der Verfasser meint, bei dieser Angelegenheit müsse ein ganz ungeheures
Streitobjekt, wie es praktisch niemals vorkomme, in Frage gewesen sein. So
ist die Sache doch nicht. Der klagende Anwalt hatte aus der Zeit vor der
Reichsgebührenordnung für 493 mit dem Generalbevollmächtigten gehaltene
„Konferenzen" je 7,50 M., aus der spätern Zeit für 83 Konferenzen ganz
gleicher Art (über vier Prozesse, die je 15 000 M. betrafen), je 91,20 M.,
endlich für 79 Konferenzen über einen Streitgegenstand im Werte von
1900 000 M. je 596 M. gefordert. Hieraus, sowie aus der Gebühr für
„Prüfung" einiger Schriften hatte sich die obige Summe zusammengerechnet.
Gegenwärtig ist die Klage von neuem bei dem zuständigen Gerichte erhoben.
Es sind in dem Prozesse bereits fünf Schriften gewechselt, welche insgesamt an
Abschriften 752 Seiten umfassen, also allein an Abschriftsgebühren 75,20 M.
kosten. Selbstverständlich unterbleibt hier jede Meinungsäußerung über die
Begründung des Anspruchs. Solche Prozesse sind auch nicht ganz unerhört.
Auch von einem andern Anwalt war die nämliche Partei bei dem nämlichen
Gerichte kurz vorher auf eine enorme Gebühreusumme belangt worden, und auch
vor einem Berliner Gericht (Landgericht I, Zivilkammer XI) hat vor kurzem
ein ähnlicher Prozeß gespielt, bei welchem ein Anwalt zur Rückzahlung von
10 357 M. zuviel erhobener Gebühren verurteilt wurde. Werden auch solche
Ansprüche mitunter von den Gerichten für unbegründet erkannt, so erbringt
doch schon der Umstand, daß sie erhoben werden können, den Beweis, daß die
neue Gebührenordnung so ganz unschuldig nicht ist.
7) Die Frage, in welchem Maße die Reichsgebührenorduung dem Anwälte
eine „würdige Lebensstellung" sichere, würde sich bei der sehr relativen Natur
dieses Begriffes mit größerer Sicherheit beantworten lassen, wenn man das
wirkliche Einkommen beschäftigter Anwälte kennte. Vielleicht hätte der Ver¬
fasser in dieser Beziehung einiges beibringen können, was sehr sachdienlich
gewesen wäre. Ich selbst habe verschmäht, von irgendwelchen Privat¬
kenntnissen auf diesem Gebiete Gebrauch zu machen, und unterlasse das auch
jetzt. Thatsache aber ist, daß die meisten Preußischen Anwälte mit den weit
geringern Gebühren vor 1879 und mit den noch geringern Gebühren vor 1875
der äußern Erscheinung nach recht anständig gelebt haben. Über das wirkliche
Einkommen, welches ein gutbeschäftigter Anwalt schon damals hatte, will ich
nur ein einziges, aber wie ich glaube klassisches Zeugnis anführen. Als im
Jahre 1879 die Neichsregicrung für die Mitglieder des Reichsgerichts einen
Gehalt von zehntausend Mark vorschlug, beantragte der Abgeordnete Laster,
diesen Gehalt auf zwölftausend Mark zu erhöhen. Er sagte dabei: „Es handelt
sich nicht allein um Richter, sondern der Gerichtshof wird sich ergänzen müssen
durch Professoren und Rechtsanwälte, wenn er in seiner Rechtsprechung den
lebendigen Zusammenhang mit der ganzen Jurisprudenz Dentschlands erhalten
will; und solchen Beamten wird immer schon großes Opfer auferlegt, wenigstens
eine beträchtliche Verminderung des Einkommens, wenn sie in das Reichsgericht
eintreten." Hiernach konnte man also schon unter den damaligen Verhältnissen
einem Anwälte nicht zumuten, für die Bagatelle von zehntausend Mark jährlich
in das Reichsgericht einzutreten. Er brachte schon ein beträchtliches Opfer,
wenn er sich für zwölftausend Mark dazu verstand. Der Abgeordnete Laster
steht gewiß nicht in dem Verdacht, hierbei die Anwälte verleumdet zu haben.
Unzweifelhaft ist es freilich, daß nicht alle Anwälte ein solches Einkommen
genießen. Das liegt aber in der ganzen Stellung der Anwälte, zumal bei
einem mündlichen Verfahren und bei völliger Freigebung der Advokatur. Bei
dem mündlichen Verfahren bringt die Rednergabe, auf welche es vor allein der
Partei für ihren Sieg anzukommen scheint, leicht eine kleine Anzahl von An¬
wälten obenauf, zu welchen sich alle Kundschaft hindrängt. Wenn nun hinter
diesen noch ein langer Schweif andrer Anwälte sich angesiedelt hat, so müssen
die letzten in dieser Reihe darben. Aber sollen denn darunter die Rechtsuchenden
leiden? Wenn man heute sämtliche Anwaltsgcbühren verdoppelte, so würde
doch das Verhältnis dasselbe bleiben. Die Prozesse würden sich noch mehr,
als jetzt schon geschehen, vermindern. Die Zahl der Anwälte würde wahr¬
scheinlich noch größer werden. Die hochstehenden nnter ihnen würden ein noch
reichlicheres Einkommen haben; auch die mittlern halbbeschäftigten würden noch
sehr gut leben können; aber die letzten, welche wenig oder nichts zu thun
hätten, würden doch wieder mit der Lebensnot kämpfen müssen. Allerdings
hat in dieser Beziehung die Freigebung der Advokatur ungünstig gewirkt. Man
hätte diese Freigebung auch in der Weise ordnen können, daß jeder Befähigte
nach einer bestimmten Reihenfolge in den Anwaltstand einzutreten sür berechtigt
erklärt worden wäre, unbeschadet der Beibehaltung einer geschlossenen Zahl von
Anwälten für jedes Gericht. Dann würden jene Mißstände nicht in gleichem
Maße eingetreten sein. Jetzt aber, wo Anwälte in jeder beliebigen Zahl bei
jedem Gerichte sich niederlassen können, zu sagen, das Gesetz habe dafür zu
sorgen, daß jedem Urwald ein Einkommen zuteil werde, welches ihm eine
würdige Lebensstellung sichere, ist ein völlig unhaltbares Begehren. Nur die
Frage, was billigerweise den Parteien zugemutet werden kann, an Prozeßkosten
zu zahlen, darf für die Bestimmung der Gebühren maßgebend sein. Übrigens
leben ja die Anwälte, auch wo sie nicht zugleich Notare sind, nicht bloß von
den Prozeßgebühren, sondern sie haben meist noch manche Geschäfte andrer
Art, welche ihr Einkommen ergänzen.
8) Neben der Freigebung der Advokatur wird für die Aufrechterhaltung
der hohen Anwaltsgcbühren von dem Verfasser, sowie dies auch schon früher
öfters geschehen, betont, daß die mündliche Verhandlung des neuen Prozesses
dem Anwälte eine überaus große geistige Anstrengung auferlege. Daß diese
neue mündliche Verhandlung für den Anwalt weit anstrengender ist, als die
frühere halbmttndliche des preußischen Prozesses, ist unbestreitbar. Aber wie
sind wir denn zu diesem Verfahren gekommen? Selbst der allervortrefflichste
Prozeß würde, wenn dabei die geistige Kraftanstrengung so hoch hinaufgeschraubt
wird, daß sie nur von wenigen zu erreiche» und mit enormen Kosten zu be¬
zahlen ist, vom praktischen Standpunkte eine unverständige Institution sein.
Denn was haben die Rechtsuchenden von dem schönsten Prozeßverfahren, wenn
der Prozeß so teuer ist, daß sie ihn doch nicht führen können? Aber ist denn
unser Prozeß wirklich von so hoher Vortrefflichkeit? Über diese Täuschung ist
man doch wohl jetzt allerorten hinaus. Gerade von Nechtscmwältcn, und zwar
von solchen, die ich sehr hoch stelle, habe ich die bittersten Klagen über diesen
Prozeß vernommen, welcher eine solche Summe von Willkür in die Hand des
Richters lege, daß er wahrhaft demoralisirend auf die ganze Justiz wirke.
Fragen wir nun aber, wie man dazu gekommen, ein solches Verfahren ein¬
zuführen, lesen wir die Verhandlungen früherer deutschen Juristentage, wo
zuerst die Agitation dafür auftauchte, so finden wir, daß es vor allem Anwälte,
namentlich Anwälte aus Hannover waren, welche diese Agitation in Szene
setzten. Und das ist auch sehr verständlich. Ganz abgesehen davon, daß nach
den dem Reichstage gemachten Mitteilungen das mündliche Verfahren in
Hannover für die Anwälte sich sehr einträglich erwiesen hatte, gewährt dieses
Verfahren, wenn man die mündliche Verhandlung abrechnet, den Anwälten die
größten Annehmlichkeiten und Erleichterungen. Sie haben den ganzen Prozeß
in ihrer Hand. Sie können Schriften abfassen und nicht abfassen. Sie können
in diese Schriften hineinschreiben, soviel und sowenig sie wollen. Sie haben,
anßer den wenigen Notfristen für Rechtsmittel, keine Fristen zu wahren. Sie
haben unter keiner Dekretur des Gerichts zu leiden. Sie können auch, wenn
sie beiderseits einig sind, jederzeit die mündliche Verhandlung hinausschieben,
indem sie nicht erscheinen und das Gericht sitzen lassen. In allen diesen und
noch vielen andern Beziehungen ist der Prozeß ganz und gar für die An¬
nehmlichkeit der Anwälte eingerichtet; wobei übrigens nicht verschwiegen werden
soll, daß er auch für Richter, welche nicht gern Akten lesen, oder welche dazu
neigen, bei der Entscheidung ihr möglichst freies Belieben walten zu lassen,
große Annehmlichkeiten gewährt. Wenn man nun aber von der Last redet,
Welche die mündliche Verhandlung dem Anwälte auferlege, dann sollte man
doch auch jene Erleichterungen in Gegenrechnung bringen, umsomehr, als beide
Dinge in naher Wechselbeziehung stehen. Hat man eine Sache gründlich in
einer Schrift bearbeitet, dann ist man Herr des Stoffes, und dann ist es auch
nicht allzuschwer, sie mündlich gehörig vorzutragen. Viele Anwälte betrachten
es aber bereits als eiuen veralteten Standpunkt, noch sorgfältige Schriften
auszuarbeiten, wobei ihnen freilich entschuldigend zur Seite steht, daß ja auch
das Gericht die Schriften nicht zu lesen braucht. Haben sie dies aber unter¬
lassen, dann fällt ihnen natürlich die mündliche Verhandlung umso schwerer.
Dann kommen bei dieser überraschende Dinge vor, auf welche niemand vor¬
bereitet ist, und infolge deren dann entweder — zur großen Belästigung der
Anwälte — die Verhandlung ausgesetzt werden muß oder der Zufall seine
Rolle spielt. Ein Hauptgrund für die große Last des Verhandlungstermins
liegt also in der Erleichterung, welche die Anwälte selbst bei Abfassung der
Schriften sich gestatten. Übrigens betrachtet sicherlich ein Teil unsrer Anwälte
die mündliche Verhandlung nicht bloß aus dem Gesichtspunkte einer Last, sondern
mehr noch als eine ihnen erwünschte Vorschule für die glänzende Laufbahn,
welche in unsern heutigen Verhältnissen dem gewandten Redner sich eröffnet.
Und dieser Umstand hat ohne Zweifel wesentlich dazu beigetragen, daß dem
deutschen Volke dieser mündliche Prozeß zuteil geworden ist. Die Rechtsuchenden
aber, wenn sie ihren Prozeß vielleicht auf eiuen schnöden Grund hiu verlieren
und dann noch enorme Kosten bezahlen müssen, finden nur genügen Trost darin,
daß diese Kosten im Namen des Mttndlichkeitsprinzips ihnen abgenommen
werden.
8) Wie man aber mich über die vorstehenden Fragen denken mag: darüber
kann selbst nach den Ausführungen des Verfassers kein Zweifel sein, daß, wenn
durch die gegenwärtige Höhe der Prozeßkosten, wie der Abgeordnete Dr. Wolffson
sagte, „ein wahrhaft unerträglicher Zustand" erzeugt ist, dieser Zustand nur
zum geringern Teile in der Höhe der Gerichtskosten, bei weitem zum größern
Teile in der Höhe der Anwaltskosten seinen Grund hat, und daß deshalb eine
lediglich gegen die Höhe der Gerichtskosten gerichtete Agitation ans eine Täuschung
hinausläuft.
s giebt noch immer viele Leute heutzutage, welche glauben, daß
die eigentliche Thätigkeit des Dichters im Versemachen bestehe,
und wenn einer es dahin gebracht habe, die Sprache geschickt zu
beherrschen und die Gesetze der Metrik zu kennen, dann fülle er
als Dichter seinen Beruf aus und könne mit demselben Rechte
wie jeder andre Gewerbetreibende sein ehrliches Brot verdienen. Einen solchen
Dichterbcruf zu wählen sei zwar gewagt, da man alsdann doch für alle andern
Fächer unbrauchbar sei und daher nicht so leicht die richtige Anerkennung finde;
indessen ist man doch dem Dichter im allgemeinen wohlgesinnt, weil wir uns
doch manche heitere Stunde durch seine Gaben verschaffen können. Wenn aber
ein Dichter, den alle als solchen gelten lasse», es sich herausnimmt, nicht über
Kunst allein und besonders seine eigne Kunst, sondern noch dazu in wissen¬
schaftlichen Fächern ernstlich mitzureden, dann hat er einen schweren Stand.
Und wenn er in diesen Fächern nicht nur lernen, sondern auch lehren und die
wissenschaftlichen Kenntnisse weiterfördern will, dann mag er sich hüten, daß
er nicht von allen Seiten durch die eigentlichen Fachmänner zurückgewiesen und
zugedeckt wird. Niemand wird leugnen, daß es Goethe geradeso ergangen ist,
und daß seine wissenschaftliche Bedeutung heutzutage noch von vielen und sehr
gewichtigen Seiten den härtesten Angriffen ausgesetzt ist. Auffallend gering ist
die Zahl derjenigen, die sich einfach dem Verdienste des Genius beugen und
anerkennen, daß ein ächtes Genie sich nicht in die Schranken eng eingeteilter
Fächer, sei es in Kunst oder in Wissenschaft, zwängen läßt, sondern daß es
überall Tüchtiges und Gediegenes leistet, wohin es sich mit allem Eifer und
allen Kräften wendet. Das ist es ja eben, was ein bloßes Talent vom Genie
unterscheidet, daß ersteres nur leicht und schnell in dem ihm angemessenen Fache
weiterkommt und technische Schwierigkeiten in kurzer Zeit überwindet, während
das letztere nicht nur die Fertigkeiten schnell erwirbt, sondern darüber hinaus
das Wesen der Wissenschaft oder Kunst tiefer erfaßt und über die bekannten
Grenzen hinaushebt. Auch ein bloßes Talent ohne irgendwelchen Zusatz von
Genialität kann es in der Wissenschaft sehr weit bringen; denn jede Wissenschaft
ist ein System von Erkenntnissen, in allen Erkenntnissen herrscht der logische
Beweis, die Logik ist anerkanntermaßen trocken, und es kann einem Talent ge¬
lingen, alle technischen Schwierigkeiten schnell zu beherrschen, ohne die Idee des
Zusammenhanges des Ganzen gefaßt zu haben. Es kann einer ein sehr be¬
rühmter und selbst einflußreicher Gelehrter sein, ohne jemals einen genialen
Gedanken gehabt zu haben. Aber in der Kunst ist es anders. Dort wird
Genie gefordert. Während man im Gebiete der Wissenschaften geradezu streitet,
ob Genie überhaupt darin zu gebrauchen sei, ist es für die Kunst unerläßlich.
Wer ein großer Künstler heißen will, der muß jene geniale Kraft besitzen, die
in allen Einzelheiten der Anschauung den idealen Zusammenhang erfaßt, und
von Ideen geleitet, muß er Werke schaffen können, die uns über die bloße
Nachahmung der Natur hinaus- und emporheben. Die Wissenschaft dagegen,
die unsre Erfahrung bereichern soll, muß sich überall und durchaus auf An¬
schauung stützen, und nicht jedes Hinaussehen unsrer Gedanken über das Ge¬
gebene in der Anschauung ist ihr von Nutzen; sondern nur zu oft haben wir
es leider erlebt, wie durch ein übereiltes Hereinziehen allgemeiner philosophischer
Ideen in die Naturwissenschaft die letztere ihre wahren Ziele ganz aus deu
Augen verloren hat. In der Wissenschaft ist das Genie vielmehr an das Ge¬
gebene gebunden wie in der Kunst. Es kann nicht so frei aus sich heraus
Neues gestalten, Gedachtes in Formen der Anschauung hineingießen, sondern
es kann nur im Mannichfaltigen der Anschauung den tiefern Zusammenhang
entdecken, erfinden, erklären, und die Freiheit des schöpferischen Denkens wird
ihm leicht gefährlich. Darum heißt in der Wissenschaft nur diejenige Entdeckung
und Erfindung, nur diejenige Erklärung genial, welche viele Erscheinungen in
einen gemeinsamen Zusammenhang bringt, allenfalls auch die Hypothese, aber
diese nur, wenn sie mit den Gesetzen der möglichen Erfahrung überhaupt über¬
einstimmt. Es kann also auch in der Wissenschaft die Kraft des Genies ver¬
wendet werden, aber sie muß sich engere Fesseln gefallen lassen als in der
Kunst, wenn sie nicht mit den Gesetzen der Erfahrung überhaupt in Widerspruch
geraten will.
So ist es gekommen, daß man versucht hat, Goethes geniales Schauen
und Forschen in der Naturwissenschaft für gänzlich unfruchtbar zu erklären.
Niemand hat das so klar ausgesprochen wie Helmholtz. Zwar giebt er zu,
daß die Morphologen in der Botanik wie in der Anatomie Goethe als Pfad¬
finder und bahnbrechenden Wegweiser anerkennen, aber er betrachtet die be¬
schreibende organische Formenlehre überhaupt nicht als eine berechtigte Wissen¬
schaft. In dem Vortrag über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten (1853)
sagt er, daß bei dem jetzigen Zustande der Wissenschaft (d. i. vor Darwins Buch
über die Entstehung der Arten) man von Gesetzen der Bildung und Entwicklung
der Formen garnicht reden könne, „kaum daß die Art erkannt wird, wie die
Fragen zu stellen sein werden." Goethe habe geahnt, daß ein Gesetz da sei,
und habe die Spuren desselben scharfsichtig verfolgt; aber welches Gesetz die
organischen Formen beherrschte, habe er nicht erkannt, auch uicht darnach gesucht,
weil es nicht „in der Richtung seiner Thätigkeit lag." Wolle man z. V. seine
botanischen Gedanken über die Verwandtschaft der verschiedenen Pflanzenteile
miteinander in der Form wissenschaftlicher Begriffsbestimmungen aussprechen, so
käme man zu dem Satze: „Die Blütenteile sind seitliche Anhänge der Pflanzen¬
achse"; um das aber zu sehen, habe nicht erst Goethe zu kommen brauchen.
Noch entschiedener spricht Helmholtz den optischen und chromatischen Studien
Goethes jede wissenschaftliche Bedeutung ab, höchstens für das Studium sub¬
jektiver Lichterscheinungen läßt er ihm Gerechtigkeit widerfahren.
Noch weiter hat Dubois-Reymond diese Hinausweisung Goethes aus der
Naturwissenschaft in seiner berüchtigten Rektoratsrede getrieben; er hat ihm
geradezu die Fähigkeit abgesprochen, den Begriff mechanischer Kausalität zu
fassen, d. h. genau genommen, er hat ihm die geistige Gesundheit abgesprochen,
denn ohne Anwendung des Stammbegriffs der Kausalität ist gar kein normales
Denken möglich. Wir haben schon früher einmal in diesen Blättern uns mit
diesem merkwürdigen Berliner Produkt befaßt.
Diesen Urteilen stehen nun freilich auch andre gegenüber. Virchow erkennt
das Streben Goethes, in der organischen Welt nach einheitlichen Ideen und
Typen zu suchen, an, und hält sogar sein eignes Bestreben, in der Zelle den
reinsten Ausdruck organischer Einheit zu finden, für nahe verwandt mit
Goethes Richtung. Häckel zitirt Goethe sogar bestündig als Autorität für
seine Weiterbildung des Darwinismus und behauptet mit unbegreiflicher Ver¬
blendung, daß Goethe seinem Vorschlage zugestimmt haben würde, den Mecha¬
nismus der Materie als die einzige Ursache für die Bildung organischer
Formen anzusehen.
Bei diesem durchaus unklaren Zustande des Problems, welche Bedeutung
Goethe in den Naturwissenschaften zukomme, ist es ein höchst dankenswertes
Unternehmen Rudolf Steiners, eine zusammenhängende Ausgabe sämtlicher
naturwissenschaftlichen Schriften Goethes zu veranstalten. Der erste
Band derselben ist soeben als siebenundzwanzigster Band der „Deutschen National-
literatur" (Stuttgart und Berlin, Spemann) erschienen und ist von einem vor¬
trefflichen Vorworte K. I. Schröers, sowie eiuer eingehenden Einleitung von
Steiner selbst begleitet. Wir begrüßen dieses Unternehmen umso freudiger, da
wir in Goethes Studien die ewig frischsprudelnde Quelle finden, aus der die¬
jenige Richtung in der Naturwissenschaft schöpfen muß, die dem modernen
Materialismus entgegengesetzt ist.
Mit vollem Rechte hebt Steiner ebenso wie Schröer hervor, daß bei Goethe
von einem wissenschaftlichen Dilettantismus garnicht die Rede sein, und daß
man seine wissenschaftlichen Arbeiten nur unter dem Gesichtspunkt würdigen
könne, daß sie das Produkt desselben Genius seien wie seine Dichtungen. Nur
im Zusammenhange mit der ganzen Entwicklung seines Denkens und Dichtens
ist seine Stellung zur Wissenschaft zu verstehen. Nicht die einzelnen Ent¬
deckungen, die mit seinem Namen verknüpft sind, bilden sein gewichtigstes Ver¬
dienst, sondern die großartige, alle Einzelheiten zusammenfassende und von
einem Zentralpnnkt aus betrachtende Anschauungsweise.
So lebhaft wir indessen das große Verdienst Steiners anerkennen, Goethes
Standpunkt hoch über das Niveau der gewöhnlichen philisterhaften Angriffe
emporgehoben zu haben, so dürfen wir doch nicht unterlassen, in einem Punkte
seiner Einleitung ihm entgegenzutreten. Das Verhältnis Goethes zu Spinoza
und zu Kant scheint uns nicht völlig richtig dargestellt zu sein.
Der Spinozismus erklärt bekanntlich das Weltganze für einen Inbegriff
vieler, einer einigen, einfachen Substanz inhärirenden Bestimmungen, wobei
die innere Zweckmäßigkeit, die uns in allen organisirten Körpern entgegentritt,
garnicht weiter begreiflich gemacht wird. Die Bedingung aller Zweckmäßigkeit
ist allerdings die Einheit des Grundes, und diese behauptet Spinoza; aber
über das Verhältnis dieses einheitlichen Weltgrundes zu dem Zwecke, der in
den Organismen verwirklicht ist, darüber fehlt es seinem System an jeder
Erklärung, und es kann auch auf diesem Wege gar keine Erklärung geben,
wenn man nicht diese Substanz — was eben Spinoza nicht wollte — als
denkenden Verstand, d. h. als einen zweckthätig wirkenden, gleichsam architek¬
tonischen Verstand vorstellen will. Ein solcher Verstand würde, wie Kant
auseinandersetzt, wieder ein andrer sein müssen als der menschliche, denn dieser
ist diskursiv und geht immer von Einzelheiten aufsteigend zum allgemeinen,
während der architektonische Verstand von der Einheit aus die Mannich-
faltigkeit der Erscheinung begreifen würde. So hatte Kant geleugnet, daß der
Spinozismus -ein Erkenntnisprinzip für die Naturwissenschaften enthalte, er
leugnet überhaupt, daß der menschliche Verstand die nach einem Ziele strebende
zweckmäßig wirkende Lebenskraft in den organischen Körpern je würde begreifen
können. Er sagt: wir müssen jeden Organismus freilich so beurteilen, als wenn
ein einheitlicher Plan, in welchem sich alle Glieder und Teile der Idee des
Ganzen unterordnen, in ihm verwirklicht wäre, aber das Wesen dieses Planes
und der Kraft, welche ihn hervorbringt, werden wir nie erkennen, denn diese
werden aus der Anordnung der Einzelheiten, die wir sehen, nur erschlossen, aber
sie sind nicht selbst in der Anschauung gegeben; sie sind nur von uns gedacht,
nicht wahrgenommen, und da unser Verstand so eingerichtet ist, daß wir nur
das erkennen können, was in der Anschauung gegeben wird, so bleibt uns das
eigentliche Prinzip des Lebens stets verschlossen. Wahrhaft erkennen können
wir nur das, was wir selbst machen oder mindestens bis auf die letzten Ursachen
seiner Entstehung verfolgen können. Darum können wir alles mechanische Ge¬
schehen auch in den Körpern der lebenden Wesen sehr wohl begreifen, aber
niemals können wir sie willkürlich nachmachen, weil uns der Hauptfaktor, die
eigentliche, den Plan des Ganzen bestimmende Lebenskraft unbegreiflich ist und
bleibt. Wenn man eine Entwicklung aller Formen der organischen Wesen von
den übriggebliebenen Spuren der ältesten Erdrevolutionen an bis auf die Zeiten,
wo die Artenbildung weniger schwankend und mehr stabil geworden war,
annehmen will, so steht dies nach Kant dem Archäologen der Natur frei, ohne
gegen die Prinzipien der Vernunft zu verstoßen, aber es fehlt überall an dem
genügenden Nachweis durch die Erfahrung, obwohl Kant eine Menge von
äußern Einflüssen zugesteht, die recht wohl einen Einfluß auf die Veränderung
der Arten haben könnten — ganz dieselben Gedanken, die Darwin später aus¬
geführt hat. Aber er nennt eine solche Hypothese, die doch weit über alle
Erfahrungen hinausgeht, nicht eine Wissenschaft, sondern ein gewagtes Abenteuer
der Vernunft, „und es möge,? wenige, selbst von den scharfsinnigsten Natur¬
forschern sein, denen es nicht bisweilen durch den Kopf gegangen wäre."
Diese Stelle in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" beweist nebenbei
in ganz besonderm Maße den liebenswürdigen und grundehrlichen Charakter Kants,
der jedem strebsamen Forscher so weiten Spielraum gönnt wie irgend möglich,
und obwohl er einen offnen Blick hat für das Reizende und Interessante, welches
in einer solchen genetischen Betrachtung der organischen Formen liegt, doch der
Verlockung nicht folgt, sondern einwendet, daß die Prinzipien der theoretischen
Vernunft, die er einmal sichergestellt hat, auf jenes Gebiet sich nicht erstrecken.
Er bedauert es fast, daß der menschliche Verstand nun einmal nicht hinreicht,
um Ideen als Ursachen von materiellen Körpern zu erfassen. Er leugnet nicht,
daß jeder organischen Bildung ein übersinnlicher Grund zu gründe liegen müsse,
ja er behauptet sogar, daß wir garnicht anders können, als die Organismen
unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen. Aber er sieht keinen Weg, wie die
Gedanken, die in der Schöpfung der organischen Welt verwirklicht sind, zum
Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis werden könnten. Er gesteht zu, daß,
wenn man auf diesem Wege weiterzugehen versuche, man nicht von vornherein
gegen die Prinzipien der theoretischen Vernunft verstoße, findet es aber aben¬
teuerlich, einen solchen Weg zu wagen, wo uns die sichern Kriterien der wahren
Erkenntnis im Stich lassen. Nur dann setzt man sich nach Kant in Widerspruch
mit den Prinzipien der Vernunft, wenn man die einheitliche Idee eines
Organismus, die ein, wenn auch für uns unbegreifliches übersinnliches Prinzip
voraussetzt, aus dem Mechanismus der Materie nach dem Kausalgesetz erkläre»
will, wie Häckel es heutzutage thut.
Wie verhält sich um Goethe zu diesen Richtungen? Steiner sagt, daß Kant
den alten Irrtum vollkommen geteilt habe, der vor Goethe allgemein war, daß
wir nur die unorganische Natur erklären könnten; bei der organischen höre das
menschliche Erkenntnisvermögen auf. Goethe aber sei durch das Studium
Spinozas so vorbereitet und gerüstet gewesen, daß er diesen Irrtum habe wider¬
legen und der Kopernikus und Kepler zugleich für die organischen Naturwissen¬
schaften habe werden können. Jene erste Behauptung muß aber doch dahin
modifizirt werden, daß Kant alles mechanische Geschehen im Organismus nach
mechanischen Grundsätzen wie bei einer Maschine erklärt haben wollte, nur auf
das Begreifen derjenigen Kraft, welche den Plan der Maschine entworfen hat,
darauf verzichtete er in Bescheidenheit. Und Goethe war freilich in jungen
Jahren, wie er selbst berichtet, mächtig von dem Studium Spinozas angeregt
worden, aber er lernte dann Kant kennen, wahrscheinlich am meisten durch den
Verkehr mit Schiller, und er freute sich, wie Eckermann uns mitteilt, noch kurz
vor seinem Lebensende der völligen Übereinstimmung mit Kant. Es sind nur
sechzehn Stellen in dem Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, in denen
Kant erwähnt wird, aber sie sind schwerwiegend genug. Schiller war es, der
Goethe zuerst in dem berühmten Gespräch über die UrPflanze vom Spinozismus
bekehrte, in jenem Gespräch, welches Goethe später als ein glückliches Ereignis
schilderte, und welches den Anfang ihres innigen gegenseitigen Verständnisses
bildete. Während Goethe in völlig naiver Weise seine Art die Natur zu be¬
trachten als die erfreulichere und fruchtbarere pries im Gegensatz zu der gewöhn¬
lichen empiristischen Methode, während er als treuer Spinozist die Teile der
Pflanze als entstanden aus dem Typus des Ganzen schilderte, schüttelte Schiller
mit dem Kopfe und sagte: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee."
Goethe, anfänglich durch den Widerspruch gekränkt, nahm sich zusammen, und
durch Schillers eingehend liebenswürdige und verständnisvolle Art zu disputiren
gefesselt, versetzte er: „Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne
es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe." Darauf entwickelte sich ein stunden¬
langes Gespräch über Kantische Philosophie, über Realismus und Idealismus,
und von Stund an ist Goethe niemals wieder aus dein gewaltigen Einfluß Kants
herausgekommen. „Nach diesem glücklichen Beginnen, sagt Goethe, entwickelten
sich in Verfolg eines zehnjährigen Umganges Sinn Schillerj die philosophischen
Anlagen, inwiefern sie meine Natur enthielt, nach und nach; davon denke
möglichst Rechenschaft zu geben, wenn schon die obwaltenden Schwierigkeiten
jedem Kenner sogleich ins Auge fallen müssen." Daß er das im zweiten Teil
des Faust gethan hat, soll demnächst an andrer Stelle nachgewiesen werden.
Im Anfang ihres Briefwechsels bemüht sich Schiller noch gelegentlich, die
Kautische Philosophie anzupreisen (28. Oktober 1794) und ihren rigoristischen
Charakter, der keine Duldung ausübt, als Vorzug zu rühmen, indem er ihre
Fundamente als völlig sicher und unzerstörbar schildert. Später ist Goethe
derjenige, der Schiller auf jede neue Produktion Kants aufmerksam macht, in
den vorkritischen Schriften aus den siebziger Jahren bereits die Entwicklung der
kritischen Grundsätze bemerkt und alle Angriffe gegen Kant von deutscher wie
von französischer Seite mit der größten Teilnahme und dem Gefühl der uner¬
schütterlichen Sicherheit des Alten von Königsberg begleitet. Mit wunderbarer
Schnelligkeit war Goethe aus dem Schüler zum Meister auch auf diesem ab¬
strakten Gebiet geworden, der selbständig dies System Kants zu erweitern suchte.
Er gab zwar seine unter dem Einfluß des Spinozismns begonnenen Natur¬
studien nicht auf, aber er suchte beständig das Rätsel zu lösen, wie die Idee
des Archetypus im Organismus mit der sinnlichen Erscheinung zusammenhänge.
Er löste natürlich diese Rätsel, welche Kant für unlösbar erklärt hatte, auch
nicht, aber er brachte doch die Probleme soweit wie keiner vor und keiner nach
ihm. Beide Freunde, Goethe und Schiller, waren darin einig, daß die Gebiete
der Ideen, welche Kant unter dem Namen der praktischen Vernunft vereinigt
bearbeitet hatte, die Grundlagen von Religion und Recht und des Gefühles
überhaupt, nicht abgeschlossen seien. Goethe regte im Briefwechsel die Frage
vom freien Willen an, über die er bei Kant nicht befriedigend aufgeklärt wurde,
und Schiller verwarf die gar zu mönchische Strenge in der Kantischen Theorie.
Die Prinzipien der theoretischen Vernunft, die eigentliche Theorie der Erkenntnis
durch Erfahrung stand ihnen gleichmäßig unerschütterlich fest; da diese Prinzipien
aber in der praktischen Vernunft nicht angewandt waren, so fanden sie hier eine
Lücke im System, die eine Ergänzung verlangte. Freilich fühlten beide sich selbst
nicht berufen, diese Lücke auszufüllen (Schiller, 2. August 1799).
In seinem Briefwechsel mit dem Privatdozenten Ernst Meyer in Göttingen
(Goethe-Jahrbuch Bd. 5, S. 141) schreibt Goethe (10. September 1822):
„Lassen Sie mich das Einzige sagen, worin wir im ganzen zusammentreffen;
die Wissenschaft, anstatt sich in die Mitte zu stellen zwischen Natur und Subjekt,
geht darauf aus, sich an die Stelle der Natur zu setzen und wird nach und
nach so unbegreiflich als diese selbst. Will nun der unbewußte Mensch sich
hier in Worten aussprechen, so haben wir den traurigen Mystizismus, der das
Labyrinth verwirrt." Meyer hatte sich ganz in die Ideen Goethes über die
Metamorphose der Pflanzen vertieft, und Goethe macht ihn gleichsam warnend
aufmerksam auf das Unbegreifliche darin und die Gefahr des Mystizismus.
Was will es gegen diese schwerwiegenden Zeugnisse bedeuten, wenn Steiner
den Goethischen Aufsatz „Anschauende Urteilskraft" von 1820 anführt, um zu
zeigen, daß Goethe sich gegen Kant gewandt habe. Dort heißt es: „Als ich
die Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte,
wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch,
indem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien,
bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink
hinausdeutete." Es folgt dann ein Kantisches Zitat über die Möglichkeit eines
intuitiver Verstandes, der auch die Idee des Archetypus begreifen könne,
aber nicht der menschliche Verstand sei. Darauf fährt er fort: „Zwar scheint
der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir je
im Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine
obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen, so dürfte es
wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das Anschauen
einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen
würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerm Trieb auf
jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine
naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter
verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst
nennt, mutig zu bestehen." In diesen Worten ist doch nirgend verraten, daß
Goethe das Wort Abenteuer mißbilligt; es ist nur gesagt, daß er die Kluft
zwischen Idee und Erfahrung sehnlichst zu überschreiten gewünscht hatte, aber
nicht, daß es ihm gelungen sei. Im nächstfolgenden Aufsatze „Bedenken und
Ergebung" gesteht er sogar mit deutlichen Worten ein, daß der Widerstreit
zwischen dem, was der Verstand durch sinnliche Wahrnehmung erkennt, und der
Idee, die wir uns bilden, um die Gedanken der Schöpfung nachzudenken,
„immerfort unaufgelöst" bleibe. Deshalb flüchtet er in die Sphäre der Dicht¬
kunst zu den Versen im „Faust" vom Webermeisterstück, der Form, in welche er
seine philosophischen Gedanken am liebsten einzukleiden pflegte.
Welcher Abstand tritt uns entgegen zwischen dem philosophischen Denken
und Streben jener Tage mit unsrer Zeit! Als uoch weder Fichte noch Schelling
noch Hegel die Gemüter der hervorragenden Geister beirrt hatten, da gab es
bei ihnen noch keinen Zweifel an der entscheidenden Bedeutung Kants für alle
Wissenschaften. Die grundlegenden Prinzipien der Erkenntnistheorie wurden
richtig verstanden und unerschütterlich festgehalten; man fühlte nur den Mangel,
daß die Gebiete der praktischen Vernunft nicht denselben Prinzipien unterworfen
waren, darum erschienen diese Gebiete nicht vollendet im System, und Schiller
wie Goethe suchten, jener in der Ästhetik, dieser in der Naturbetrachtung, nach
neuen Wegen, wie jene Prinzipien auf Gegenstände andrer Seelenvermögen als
des bloß erkennenden Verstandes auszudehnen seien. Wenn der Verstand keine
Intuition haben sollte, kraft deren er das Ganze zuerst anschauen und die
Teile sodann aus demselben ableiten konnte, so forderte Goethe eine anschauende
Urteilskraft. Denn er selbst wußte es, daß der Künstler zuerst das Ganze
seines Werkes geistig erfaßt, bevor er es in die Einzelheiten gliedert; und
waren nicht die Organismen offenbar Kunstwerke der Natur vor unsern Augen?
mußte nicht gerade deshalb dem genialen Künstler zunächst und vor allen andern
der Gedanke kommen, die Ideen zu erfassen und zu verfolgen, die er in den
Kunstwerken der Natur verwirklicht sah?
Wieweit dies Bestreben der Naturwissenschaft zu gute gekommen ist, das
ist nun eben die Frage. Unstreitig hat die Morphologie einen großartigen
Anstoß durch Goethe bekommen, in die beschreibende Ordnung und Einteilung
in Klassen, Familien und Verwandtschaften der Spezies ist ein neuer Geist ge¬
kommen; der Botaniker wie der Geologe, der nicht mit Goethes Metamorphosen¬
lehre vertraut ist, wird seine Zuhörer nicht fesseln können. Unerträglich trocken
muß der Lehrer erscheinen, der nur das mechanische Kausalgesetz in der orga¬
nischen Natur aufsucht und den unendlichen Reiz unbeachtet läßt, den die Be¬
trachtung der Formen nach Analogien verwandter Teile mit sich bringt. Wenn
daher Steiner Goethe den Kopernikus der organischen Naturwissenschaft nennt,
so geben wir das zu; denn es ist eine große That gegenüber dem bloß em¬
piristischen Suchen nach einzelnen Thatsachen, das ideelle Prinzip in der Be-
trachtung der Naturerscheinungen emporgehoben zu haben. Aber ihn auch den
Kepler zugleich zu nennen, das geht zu weit, denn auf Analogieschlüsse allein
baut sich keine vollendete Wissenschaft auf. Das wußte Goethe selbst am besten.
Sein „Faust," der Repräsentant des forschenden Verstandes, wird von seinen
Irrtümern nicht durch die vollendete Erkenntnis dessen erlöst, was ihm durch
den Erdgeist verschlossen war in den Worten: „Du gleichst dem Geist, den du
begreifst, nicht mir"; sondern durch die That, die gewaltige, segenbringende,
große That, welche auf viele Generationen belebend und befruchtend wirkt.
Zwar hat Dubois-Reymond die Meinung ausgesprochen, daß ein holländischer
Wasserbaumeister die Eindämmung der Meeresfluten wohl besser gemacht haben
würde als Faust, aber er wußte nicht, daß dieses Meer das Meer des Wahns,
der Unwissenheit und der Dummheit bedeute, welches durch rastloses Streben
des Menschengeistes zwar mühsam, aber doch nicht ganz ohne Erfolg be¬
kämpft wird.
Die Arbeit Steiners soll den Lesern jedenfalls aufs beste empfohlen sein.
as „Deutsche Theater" in Berlin, bei dessen Gründung und Taufe
die ergrauten Altmeister der Reklame Paten gestanden haben, ist
so schnell von Stufe zu Stufe herabgestiegen, daß selbst eine so
flinke Wochenschrift wie die Grenzboten den verschiedenen Wand¬
lungen dieses Instituts nicht hätte folgen können, anch wenn es
sich der Mühe gelohnt hätte, sich mit demselben zu beschäftigen. Da dus
„Deutsche Theater" gegenwärtig das Prinzip verfolgt, nur das aufzuführen,
was nach der — meist untrüglichen — Berechnung seines kaufmännischen Leiters
„Kasse zu machen" berufen ist, und selbst vor den rohesten französischen Sen-
sationsdramen nicht zurückschreckt, würde auch jetzt keine Veranlassung vorliegen,
dieser Gründung eines klugen Spekulanten einige Worte zu gönnen, wenn die¬
selbe nicht kürzlich zum Gegenstand einer Broschüre gemacht worden wäre, die
uns zur Besprechung zugeschickt worden ist.*) Seit einiger Zeit hat nämlich
auch Berlin seine „Theaterbroschüren," ein Genre, welches bisher nur in den
gemütvolleren Kunstkreisen deutscher Mittelstädte ein üppiges, aber auch dort
schnell verbindendes Dasein geführt hatte. In dem herzlosen Berlin rufen
Theaterbroschüren keine tiefe Erregung hervor. Das Berliner Publikum steht
in seiner großen Mehrheit auf dem Boden einer praktischen Ästhetik. Es glaubt,
daß die gegenwärtige Theatermisere nicht auf theoretischem Wege durch Bro¬
schüre» mit Verbesserungsvorschlägen beseitigt werden könne, sondern nur durch
gute Stücke, durch gute Schauspieler und durch gute Theaterdirektoren. Da an
allen dreien zur Zeit schwerer Mangel ist, faßt man sich ruhig in Geduld.
Mau legt sich im Theaterbesuch die größte Zurückhaltung auf und riskirt nur
das Eintrittsgeld bei Stücken, welche in der öffentlichen Meinung so sicher
fundirt sind wie der „Bettelstudent" von Millöcker und der „Probepfeil" von
Oskar Blumenthal.
Als im Jahre 1876 die Frage der Reform des deutschen Theaters in
Berlin aufs Tapet kam, erschien eine Reihe von Broschüren mit gutgemeinten
und wohldurchoachteu Ratschlägen, welche teils auf die Errichtung einer Theciter-
alademic von Staatswegen, teils auf die Gründung einer Musterbühne hinaus¬
liefen. Die meisten Zeitungen nahmen sich dieser Bewegung mit mehr oder
minder warmer Teilnahme an; aber sie ist völlig resultatlos geblieben, und die
alten Verhältnisse, welche als haltlos und unerträglich bezeichnet wurden, haben
sich nicht um ein Haar geändert. Die besonneneren Kritiker, welche sich damals
der Reformfrage gegenüber kühl verhielten, haben also Recht behalten, und in
der Tagespresse ist die Diskussion über dieselbe denn auch verstummt. Damit
können sich aber idealistisch angelegte Gemüter durchaus uicht zufriedengeben.
Ab und zu taucht ein junger Schriftsteller auf, der es schlechterdings nicht
begreifen kann, daß die erfahrenen Theaterkritiker ihre Hand von diesem Wespen¬
nest lassen, und der sich mutig in die Gefahr begiebt, weil er nichts zu ver¬
lieren hat, nicht einmal einen Namen, wenn er sich lächerlich macht.
Im vorigen Jahre war es ein Herr Paul Schlenther, welcher in einer
Broschüre Sturm gegen das königliche Schauspielhaus lief und wie Jeremias
auf den Trümmern von Jerusalem über den Ruin der Schauspielkunst Wehe
rief, mit der tröstlichen Perspektive auf das „Deutsche Theater," in diesem Jahre
ist es ein Herr Conrad Alberti, welcher in einem kritischen Resümee über die
bisherige Thätigkeit des „Deutschen Theaters" ein gleiches Klagelied anstimme
und am Ende wieder die Sonne der Gnade über dem königlichen Schauspiel¬
hause aufgehen läßt. Im vorigen Jahre haben sich „Herr von Hülsen und seine
Leute" über die Augriffe des Herrn Schlenther mit einigen Scherzworten hin¬
weggesetzt, in diesem Jahre thut Herr L'Arronge ein gleiches, zumal da er in der
angenehmen Lage ist, daß der größte Teil der Berliner Presse mit ihm durch
Dick und Dünn geht und alle Leistungen seiner Bühne „großartig" findet, wäh¬
rend Herr von Hülsen umgekehrt die Parteigänger des „Deutschen Theaters"
z» Gegnern hat. Der letztere befand sich auch insofern noch im Nachteile, als
die Broschüre des Herrn Schlenthcr glatt geschrieben war und auch sonst in
der Form keinen Angriffspunkt bot, während der erste schriftstellerische Versuch
des Herrn Alberti an Geschmacklosigkeit und Ungeschick nichts zu wünschen übrig
läßt. Der „Börsenkonrier" hätte also garnicht nötig gehabt, aus zärtlicher Be¬
sorgnis für seinen Schützling eine ängstliche Miene aufzusetzen, als die Kunde
von dem Erscheinen dieser Broschüre in die Öffentlichkeit drang. Offenbar haben
die Lorbern des Herrn Paul Lindau dem Verfasser derselben die Nachtruhe ge¬
raubt. Die Manier, sich unter dem Mantel einer fingirten Korrespondenz in
dem saloppsten Plauderstile gehen zu lassen, ist längst in Mißkredit gekommen,
und auch das Motto von den „goldnen Rücksichtslosigkeiten" hat seine Bedeu¬
tung verloren, seitdem Herr Lindau in dem Altersvcrsorgungsinstitut eines großen
rheinischen Blattes lammfromm geworden ist. Heutzutage noch Herrn Lindau
nachzuahmen, kommt beinahe auf eine Fälschung von Antiquitäten hinaus. Um
eine Probe von dem Witze des Herrn Alberti zu geben, zitiren wir nur zwei
Stellen. Auf S. 12 schreibt er: „Herr L'Arronge Hütte gar zu gern den be¬
rühmten König der Reklame, Herrn Barnum, für sein Unternehmen gewonnen,
allein da dieser voraussichtlich nicht zu gewinnen war, wandte er sich an Herrn
Barnay," und aufs. 57: „Herr L'Arrouge besitzt hoffentlich selbst kaum den
Köhlerglauben, daß er jemals durch künstlerische Thaten floriren werde,"
wobei zum Verständnis dieses Witzes zu bemerken ist, daß am „Deutschen
Theater" ein Schauspieler namens Köhler und zwei Schauspielerinnen namens
Thäte und Flor thätig sind. Mau sieht, daß Herr Alberti mit bestem Er¬
folge in die Schule Oskar Blumenthals gegangen ist, wofür er sich auch er¬
kenntlich zeigt, indem er mit der beneidenswerten Unbefangenheit der Jugend
Vlumenthals „Probepfeil," ein Gemisch von Feuilleton und Räubergeschichte,
das „beste deutsche Lustspiel seit Freytags Journalisten" nennt. Wenn wir
auf S. 5 einen Satz lesen wie: „Ich finde beim besten Willen nicht den hellsten
Schatten eines Grundes," wenn auf S. 21 von einer „unendlichen Feile" (ver¬
mutlich dem Seitenstück zu der Schraube ohne Ende) und auf S. 23 von einem
„Strudel der Begeisterung" die Rede ist, so kann man nach solchen literarischen
Vorbildern und solchen Stilprobeu nur erstaunt sein, Herrn Alberti nicht in
der Gefolgschaft des „Deutschen Theaters" zu finden, wo er weit besser am
Platze wäre als in dem Lager der Gegner.
Unter diesen Umständen wird man dem sachlichen Inhalte der Broschüre,
auch da, wo er begründet ist, kein Gewicht beilege» dürfen. Wo ein solches
Schwanken des Urteils vorhanden ist, fehlt überhaupt die Legitimation, in
ernster Diskussion ein Wort mitzureden. Daß die Entwicklungsgeschichte des
„Deutschen Theaters" einen so kläglichen Verlauf genommen hat, liegt ebenso¬
sehr an den Personen, welche dabei in Frage kommen, als an dem ganzen
System, welches durchaus nicht mit demjenigen identisch ist, durch welches
das ?1i6S.er<z trsmygäs in Paris seine dominirende und tonangebende stelln»g
unter den Bühnen Frankreichs gewonnen hat. Die Mitglieder des „Deutschen
Theaters" zerfallen in zwei Kategorien: in „Sozietcire" und in engagirte Schau¬
spieler, von denen die letztem von dem Willen der erstem abhängen, die zusammen
mit dem Direktor die artistische Verwaltung führen. Ursprünglich gab es
vier „Sozietäre": die Herren Friedrich Haase, Ludwig Barnay, August Förster
und Siegwart Friedmann. Außer ihrer künstlerischen Thätigkeit brachten sie
noch ein klingendes Einlagekapital mit, über dessen Höhe mau erst Klarheit
gewinnt, wenn einer der Herren den Versuch macht, sich mit Hilfe eines
Strafgeldes aus deu von Herrn L'Arronge sehr fein zusammengeflochtenen
Schlingen des Kontrakts zu ziehen. Von vornherein war also deu „Sozietären"
gegenüber den cngcigirten Mitgliedern ein Ausnahmestellung eingeräumt, welche
sie nicht ausschließlich ihrer künstlerischen Bedeutung, sondern ihrem Besitztum
an materiellen Gütern verdankten. Mithin geriet das übrige Personal in eine
mißliche Lage, die noch dadurch verschlimmert wurde, daß sich auch in seiner
Mitte zwei Kategorien bildeten. Um nämlich das ganze Personal nicht
aus unbekannten Provinzicilkräften zusammenzustellen, wurden zwei namhafte
Künstlerinnen, von denen wenigstens die eine ein erprobter Kassenmagnet ist,
unter außergewöhnlich günstigen Bedingungen engagirt: Frau Niemann-Rabe
und Fräulein Haverland. Schon in dieser Verfassung lag der Todeskeim des
neuen Instituts. Nicht nur daß sich die drei Kategorien untereinander mit
mißgünstigen Augen betrachteten, auch das Publikum lernte sehr bald unter¬
scheiden und folgte anfangs nur den Lockungen der neuen Bühne, sobald die
großen Virtuosen auf dem Theaterzettel standen oder ein Schauspiel inszenirt
wurde, bei welchem der Hauptanteil des künstlerischen und materiellen Verdienstes
den Dekorationsmalern, Tapezierern, Möbeltischlern und Koulissenschiebern zufiel.
Am auffallendsten war es, daß gerade derjenige der großen Virtuosen,
welcher bisher eine so unverwüstliche Zähigkeit entwickelt hatte, daß selbst die
phlegmatischen Mukees durch seine zahlreichen Darstellungen des „Königs¬
leutnants" nervös wurden, Herr Friedrich Haase, sich zuerst mit einem erheb¬
lichen Geldopfer von dem zweifelhaften Glück, „Sozietär" des „Deutschen Theaters"
zu sein, loskaufte. Er behauptete, selbst an Nervosität zu leiden; aber die
ärztlichen Älteste, welche er beibrachte, waren nicht imstande, über den Schein
zu triumphiren, welchen der neue Shylock vorwies. Mit Friedrich Haase ging
dem „Deutschen Theater" ein Schauspieler verloren, welcher sich zwar mit der
Eigenwilligkeit des rücksichtslosen, nur seiner Persönlichkeit dienenden Virtuosen
über die Gebote echter Kunst hinwegsetzte und oft gegen die Gebilde des Dichters
die gröbsten Gewaltthaten verübte, dessen schauspielerische Individualität aber
selten ihre Anziehungskraft auf das große Publikum verfehlte. Vergebens hatte
derjenige Teil der Presse, welcher die Eröffnung des „Deutschen Theaters" mit
Jubelhymnen begrüßt und jede Aufführung eines klassischen Dramas auf dem¬
selben als eine wahre Rettungsthat gepriesen hatte, den Versuch gemacht, den
Bruch zwischen Herrn Hause und L'Arronge zu vertuschen. Vor der nackten
Thatsache mußte selbst die unverschämteste Reklame, die vor keiner Lüge zurück¬
schreckt, die Segel streichen. Dank dieser Reklame, welche nicht bloß in den
beiden Parteiblättern des „Deutschen Theaters" ihr Wesen trieb, sondern
sich auch bei der Indolenz mancher Redakteure in sonst sehr vorsichtigen und
maßvollen Zeitungen einnistete, war der Besuch des Publikums ein so lebhafter
geworden, daß Herr L'Arronge durch seine dienstfertigen Trabanten triumphirend
verkünden ließ, daß der Austritt Haases dem Institut nicht die geringsten pe¬
kuniären Verluste verursacht hätte. Jetzt stand seiner Diktatur nur noch ein
Triumvirat von „Sozietären" im Wege, von denen aber eigentlich nur einer,
Herr Barnay, sich eine gewisse Selbständigkeit zu wahren suchte. Dem mußte
gesteuert werden, und es gelang auch bald, Herrn Barnay durch rücksichtslose
Behandlung zu reizen und einen Streit zu provoziren, der vorerst freilich nicht
zu dem gewünschten Ziele führte. In Geldsachen ist Herr Barnay mindestens
so klug wie Herr L'Arronge. Ein plötzliches Ausscheiden aus der „Sozietät" würde
ihn ein starkes Reugeld oder gar den Verlust seines Einlagekapitals gekostet haben,
und er zog daher vor, erst die Entscheidung des Gerichts anzurufen und bis
zum Spruche desselben in dem Verbände des „Deutschen Theaters" auszuharren.
Was bei einer solchen Stimmung unter den „Sozietären" für die künstlerischen
Leistungen der Bühne herauskommt, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden.
Sogar die dem „Deutschen Theater" ergebenen Zeitungen konnten nicht umhin,
darauf hinzuweisen, daß die Gereiztheit des Herrn Barnay selbst in seinen schau¬
spielerischen Schöpfungen zum Ausdruck käme, was, nebenbei bemerkt, kein Un¬
glück ist, da Herr Barnay neuerdings die aschgraue Langeweile zum obersten
Prinzip seiner Kunst erhoben hat. Mit den Herren Förster und Fricdmann
wird Herr L'Arronge schwerer fertig werden. Wer Herrn Förster aus seiner
Leipziger Direktionsführung kennt, weiß, daß er nicht leicht zum Weichen zu
bringen ist, und Herr Friedmann ist auch nicht der Mann, der sich einschüchtern
läßt, wo materielle Gesichtspunkte in Frage kommen. Aber am Ende werden
diese beiden Lichter der Schauspielkunst auch im L'Arrongc-Theater, der nächsten
Entwicklungsphase des „Deutschen Theaters," an ihrem Platze sein. Herr Förster
wird allgemein für einen begabten Schriftsteller gehalten, und er soll auch dem
„Deutschen Theater" durch einen in einer Leipziger Zeitung veröffentlichten
Brief literarisch unter die Arme gegriffen haben; ein hervorragender Schau¬
spieler ist er aber nicht. Er spielt Bonvivants, Helden- und komische Väter mit
der gleichen larmoyautcn Eintönigkeit, die ein Seitenstück in den trocknen Böse¬
wichter und Intriganten des Herrn Friedmann findet, welche sämtlich nach der
Dawisvnschen Manier, aber ohne die Dawisonsche Genialität bearbeitet sind.
Eine künstlerische Superioritcit genießen diese beiden Herren also nicht vor dem
übrigen Ensemble, welches ungefähr auf der Höhe einer mittleren Provinzial-
bühne steht. Frau Niemann-Rabe gehört demselben nur als Gast an. Leider
ist ihre bedeutende Begabung während der letzten Jahre ans schlimme Abwege
geraten. Ihr schauspielerisches Naturell ist von Hanse aus auf die Darstellung
solcher Charaktere angelegt, bei welchen sich die Gefühlsäußerungen stets im
Extremen bewegen. Sie hat, wie man zu sagen pflegt, Lachen und Weinen in
einem Sack. Sie springt mit wunderbarer Schnelligkeit aus dem bittersten
Thränenstrom in das hellste Gelächter, und da unter ihren schauspielerischen
Mitteln dieses niemals seine Wirkung versagt, so wählt sie natürlich solche
Stücke mit Vorliebe, in welchen sie ihr beliebtestes Virtuosenkunststück verwerten
kann. In der deutschen Literatur sind sie äußerst selten; dagegen haben die
modernen Franzosen desto reichlicher für solche Reizungen abgestumpfter Nerven
gesorgt, und Frau Niemann hat keinen Augenblick Bedenken getragen, ihr Talent
in den Dienst dieser Muse zu stellen. Ihrem Einfluß ist es zum größten Teile
zu danken, daß das „Deutsche Theater," welches bisher stets mit Emphase
seine nationale, d. h. deutsche Tendenz betont hat, und welches sogar trotz des
Einspruchs der Behörde den deutschen Reichsadler auf seinen Ankündigungs-
zettcln führt, sich dazu entschlossen hat, ein französisches Sensationsdrama
gröbsten Kalibers, den „Hüttenmeister" von Georges Ohnet, zur Aufführung zu
bringen, ein Vorzug, den es mit einem Vorstadttheater teilen muß.
An und für sich würde die Aufführung eines französischen Stückes nichts
bedenkliches haben, wenn das Theater zugleich den redlichen Willen bekundet
hätte, der deutschen Bühnenprodnktion seine Pforten zu öffnen. Das hat aber
das „Deutsche Theater" nicht gethan. Es hat im Laufe von acht Monaten
nur zwei wirkliche Novitäten zur Aufführung gebracht: das „Heimchen," welches
Herr L'Arronge nach dem Dickensschen Weihnachtsmärchen bearbeitet hat und
welches bei der ersten Aufführung ausgezischt wurde, und den „Probepseil" von
Oskar Blumenthal, der einen so lebhaften Zuspruch fand, daß er wochenlang
abwechselnd mit Schillers Don Carlos gegeben wurde. Jenes französische
Drama kommt erst zur Aufführung, wo wir diese Charakteristik des „Deutschen
Theaters" abschließen.
Vorurteilsfreie Kenner der deutschen Bühnenvcrhältnisse haben sich über
die Zukunft des „Deutschen Theaters" keinen Augenblick einer Täuschung hin¬
gegeben. Sie sind aber immer noch in der Minorität. Derjenige Teil der
Presse, welcher in Berlin kraft seiner materiellen Mittel und der Denkfaulheit
des großen Publikums einen vollständigen Terrorismus über die öffentliche
Meinung ausübt, hat im Verein mit den freilich sehr schnell ernüchterten
„Sozietärcn" die Reklametrommel mit solcher Energie und Konsequenz gerührt,
daß der Ruf des „Deutschen Theaters" bis tief in die Provinz hinein gedrungen
ist. Die Stimme der wenigen, welche sich diesem Terrorismus nicht beugen
wollen, verhallt natürlich in dem Lärm der Korybanten. Aber der Zerstörungs¬
prozeß schreitet trotz allen Lärmes im Schoß dieser Gründung unaufhaltsam
fort, und der destruktive Charakter jener Schwarmgeister bürgt dafür, daß sie
an einer Schöpfung, die sie im Anfang als eine nationale Sache hingestellt
in Jahre 1831 äußerte ein Schriftsteller, der früher in Paris
gelebt hatte: „Heine muß ein neues Buch vorbereiten," und auf
die Frage, woher er das mutmaße, gab er zur Antwort: „Aus
den Zeitungen, die fortwährend Nachrichten über Heines Krank¬
heit bringen — das ist ein untrügliches Zeichen," Das Zeichen
hatte in der That nicht getrogen, wenige Monate später erschien „Romancero."
Und aus den Briefen des Dichters, welche zehn Jahre nach seinem Tode ver¬
öffentlicht wurden, ersah man, daß dieser nicht allein der deutschen Lyrik für
Jahrzehnte seinen Stempel aufgedrückt, nicht allein in trautem Verein mit
seinem Todfeind Börne das deutsche Feuilleton geschaffen habe, sondern daß er
auch der Erfinder der organisirten literarischen Reklame sei. Nun, er braucht
sich seiner Schüler nicht zu schämen. Wie sie seit Jahren das deutsche Lese¬
publikum auf das Erscheinen der Memoiren Heines vorbereitet haben, das
hätte der Meister selbst nicht besser machen können.
Sie existiren, sie existiren nicht mehr, sie haben niemals existirt, sie existiren
doppelt, dreifach; der hat sie gesehen, jener sie in Händen gehabt, wenige Bogen,
nein, ganze Berge von Blättern; aber wo sind sie geblieben? er selbst hat sie
vernichtet, nein, seine Familie hat sie verbrannt, nicht doch, die österreichische
Negierung hat sie angekauft und verbirgt sie im k. k. Haus-, Hof- und Staats¬
archive, deshalb ist ja Österreichs Schuldenlast so groß! aber die Pfiffigen
Diplomaten haben sich getäuscht, Heine hat wieder von vorn angefangen und
viel, viel schärfer — so tauchte die Seeschlange immer aufs neue empor, und
als endlich niemand mehr auf die Schiffernachrichten achtete, da hatte man
plötzlich den Versteck aufgefunden und konnte melden, daß sie, Heil uns! dem¬
nächst im Druck erscheinen würden.
Wie gesagt, meisterhaft in Szene gesetzt. Aber das war noch nicht genug.
Der kaltblütige Leser der Zeitungen konnte sagen: Was schiert mich eine Auto¬
biographie Heinrich Heines? Ich lese seine Schriften nicht mehr, die sich schon
meist mit seiner werten Person und deren großen Schmerzen beschäftigen. Was
kann er noch zu erzählen haben? Politische Geheimnisse, deren Verrat irgend
eine Macht zu fürchten hätte? Lächerlich. Ihm hat niemand etwas anvertraut,
und wäre es doch geschehen, so würde Heine den kostbaren Stoff bei Lebzeiten
verwertet haben.
Solchen Einwänden war schwer zu begegnen. Deshalb wurde uns von
Gutunterrichteten feierlich versichert, die Memoiren seien der Rache gewidmet,
alle Feinde Heines, alle, die ihm jemals auf die Zehen getreten hätten, alle,
die ihm antipathisch gewesen seien, würden darin erbarmungslos gezüchtigt, ge¬
schunden, begeifert. Also freue dich, geliebtes Publikum, es giebt einen große»
Skandal! Du weißt, wie viel der edle Dichter in diesem Fache schon geleistet
hat, aber es war alles Kinderspiel gegen das, was jetzt kommt.
Mußte da nicht unsre Erwartung auf das höchste gespannt werden? In
alter Pracht sollte die große Zeit aufsteigen, in welcher das Gezänk der „Lite-
raten" Labsal der gebildeten Welt war, die Heroen des jungen Deutschlands
sich gegenseitig noch grimmiger verfolgten, als die Polizei des durchlauchtigen
deutschen Bundes sie alle miteinander, einer den andern um ein Gedicht, eine
„Rezension" beneidete und der kranke Dichter in Paris seine jüngern Freunde
anlernte, den literarischen Gegner an den schwachen Stellen seines Privatlebens
anzupacken. Das ist wohl etwas lange her, wir werden die Namen der Menschen
nicht mehr kennen, gegen welche Heine sein Gift ausgespritzt hat. Indessen,
was thuts! Witzig war er ja stets, wir werden lachen wie über die Balgerei
zweier Clowns.
Endlich sind sie da, die ersehnten Memoiren, als Supplementband von
Heinrich Heines „sämtlichen Werken" bei Hoffmann und Campe in Hamburg
erschienen.*) Und was steht drin? Wir fürchten, daß die skandalsüchtigen
nicht volle Befriedigung finden, die übrigen aber sagen werden, eine schnödere
Buchmachern sei noch nicht dagewesen.
Die sogenannten „Memoiren" füllen wenig mehr als hundert Druckseiten
Kleinvktav. Ein so winziges Heftchen würde gar zu sehr an das Mäuschen
erinnert haben, das aus dem kreißenden Berge schlüpft; wie macht man also
einen anständigen Band daraus? Zunächst tritt man den alten Quark noch
einmal breit: „Zur Geschichte der Heineschen Memoiren" — giebt achtzig
Seiten; dann hängt man an: Varianten zu den Memoiren, hochwichtige natür¬
lich! — ferner „Helgolünder Briefe," zwar bekannt, aber von Heine als ein
Stück seiner Memoiren bezeichnet, folglich hier nicht zu entbehren — endlich
gereimte und ungereimte Einfälle, welche Heine selbst nicht hat drucken lassen
wollen, oder welche wenigstens des Druckes nicht wert sind — endlich Briefe,
die zum Teil schon anderweitig publizirt waren oder ohne Schaden hätten un-
publizirt bleiben können; das alles giebt abermals 150 Seiten, und so kommen
fast 23 Bogen heraus. Mehr kann man nicht verlangen.
Gottfried Keller äußerte bei der Publikation seiner köstlichen Satire „Der
Apotheker vou Chamounix" Bedenken, ob sie nicht zu spät komme. Jetzt wird
er erkennen, wie zeitgemäß sie noch immer ist. Die Anerkennung Gottes, die
Begegnung mit Börne an dem Tintenpfuhl, bei dessen Anblick Heine wie Lady
Macbeth die Hände beschaut und mit schlauem Lächeln ausruft:
Rein ist meine Hand von Tinte,
Denn schon lang schrieb ich mit Bleistift
Meine allerschlimmsten Sachen —
das wird ja alles wieder „aktuell." Aber zu der Strophe:
Manch ein Eckermcinnchen harrte
Aufmerksam an seinem Bette,
Schreibbereit mit seinem Griffel,
Den es still im Ärmel barg
müßte Keller jetzt eine neue dichten. Die Gilde der Chiffonniers, die keinen
Ekel kennen, die in den unsaubersten Winkeln nach Zeugnissen der Existenz des
Dichters spähen und, was sie ergattert haben, der gläubigen Welt als Reliquien
darbieten, sie verdiente doch auch Berücksichtigung.
Der Herr, welcher das geschilderte Kunststück der Aufblähung der „Me¬
moiren" zu einem (äußerlich) anständigen Buche vollbracht hat, nennt sich
Eduard Engel. Der Name klingt deutsch, aber sein Träger, ist gewiß kein
Deutscher, sonst würde er z. B. nicht schreiben: „Dort hat Heine — und
seit einem Jahre auch Mathilde Heine — seine letzte Ruhestätte gefunden."
Vor allem jedoch würde er sich nicht dazu herbeigelassen haben, den Unflat
aufzurühren. Wie niedrig man Heine als Menschen auch stellen mag, so lange
nach seinem Tode noch in seiner abschreckendsten Häßlichkeit gemalt zu werden,
hat er umso weniger verdient, als er selbst über seine Ruchlosigkeit längst
keinen Zweifel mehr hatte bestehen lassen. Und angenommen, Herr Engel habe
den toten Heine absichtlich beschimpft, er habe dem Dichter oder dem Spötter
oder dem Juden oder dem abtrünnigen Juden oder dem Franzosenfreunde irgend-
etwas noch heute nicht verziehen: als Deutscher hätte er empfinden müssen, daß
es die Nation beleidigen heißt, wenn man ihr jetzt noch Interesse an solchen
Erbärmlichkeiten zumutet. Die thatenlose Zeit von damals und die Gegenwart!
Man möchte Uhland parodiren: Nach solchen Opfern solcher Klatsch und Tratsch!
Aber der Herausgeber weiß offenbar garnichts davon, daß Deutschland nicht
mehr unter den Nationen die Rolle des armen Magisters spielt, den man auf
feinem Stübchen brodlose Künste treiben läßt und nicht befragt, wenn es sich
um ernste Geschäfte handelt."
„Neue Funde aus Heines Nachlaßpapieren ist ein Abschnitt überschrieben.
Und was haben die Glücklichen gefunden? Ein Bruchstück eines Testaments¬
entwurfs, eine Beschwerde darüber, daß die Allgemeine Zeitung einen franzö¬
sischen Artikel Heines ohne dessen Ermächtigung übersetzt hatte, und ein
„Offenes Sendschreiben an Jakob Venedey." „Jetzt, wo Venedey tot, liegt
keine Veranlassung vor, dies Stück echthcinescher Polemik zu unterdrücken,"
bemerkt der Herausgeber dazu. Das soll doch wohl heißen, daß man den
lebenden Vencdeh durch die Veröffentlichung nicht habe kränken dürfen. Uns
dünkt, er würde höchstens darüber Scham empfunden haben, zu dem Verfasser
des Sendschreibens jemals in ein freundschaftliches Verhältnis getreten zu sein.
Wohl aber hätte dem Andenken Heines diese Verunglimpfung erspart bleiben
sollen. Da wird zuerst ein Notizenblatt voll Schimpfworten und andern Ge¬
meinheiten abgedruckt, und dann die Verarbeitung dieses saubern Materials,
ein Aufsatz, der an Rohheit alles überbietet, was Heine jemals in seinen
Litewtengezänken zu tage gefördert hat. Vielleicht hielt ihn selbst ein Rest
von Anstandsgefühl ab, die Schmähschrift herauszugeben, vielleicht wollte kein
Blatt sich damit besudeln, und nun, nach dreißig Jahren, zieht man „dies Stück
cchtheinescher Polemik" ans Licht, und auch den Wisch mit der „Disposition,"
um einen „Einblick in die Art zu geben, wie Heine arbeitete"!
Und die Gedichte, welche aus dem Nachlaß ausgegraben worden sind!
Nichtigkeiten, Invektiven, welche der Verfasser mit gutem Bedacht vor dem Drucke
des Wintermcirchens gestrichen hatte, Witze von dem Kaliber des Vergleiches der
blauen Blume der Romantik mit „der blauen Nase einer mitschwindsücht'gen Base"!
Aber die Memoiren selbst? Sie sind wirklich nicht der Rede wert. Wahr¬
scheinlich meint Herr Engel, er habe die unverschämten, witzlosen Zoten den
Literarhistorikern nicht vorenthalten dürfen, um ihnen „einen Einblick" in die
Phantasie eines Nückenmarksleidendcn zu geben.
Eine heitere Seite hat die Publikation aber doch. Mit dem Aplomb eines
gewiegten Kommentators schreitet der Herausgeber neben dem Autor daher und
unterbricht denselben jeden Augenblick, um dem Leser zu sagen: „Ganz dasselbe
steht bereits Band soundsoviel seiner sämtlichen Werke." Um so eingehend nach¬
weisen zu können, daß der Supplementband völlig überflüssig sei, bedürfte es
einer Belesenheit in Heines Schriften, die Verwunderung erregt. Desto auf¬
fallender ist in den mit grotesker Feierlichkeit und Weitschweifigkeit durchge¬
führten Untersuchungen, welche „Geschichte der Memoiren" betitelt sind, die Be¬
hauptung: „Wenn Heine Geld brauchte, so war Campe ohne allen Zweifel mit
Freuden bereit, jeden beliebigen Vorschuß auf das kostbare Memoiren-Manuskript
zu zahle», ohne daß Heine darum nötig gehabt hätte, sogleich die Veröffent¬
lichung der Memoiren vorzunehmen." Hiernach scheint Herr Engel die gedruckten
Briefe Heines doch nicht genau gelesen zu haben, aus welchen deutlich zu er-
kennen ist, daß Heines Verleger, ein vorsichtiger Geschäftsmann und vielleicht
auch dnrch Erfahrungen gewitzigt, sehr wenig zu dergleichen Vorschußgeschäften
aufgelegt war; wie oft erhebt sich da die Klage, daß Julius Campe auf Projekte
des immer geldbedürftigen Dichters nicht einmal eine Antwort habe!
Und zu welchem Ergebnis führen eigentlich jene Untersuchungen? Daß
dieseni überflüssigen Supplementbande möglicherweise noch weitere ebenso über¬
flüssige folgen werden. Da wird hänfig Gustav Heine genannt, jener Bruder,
von welchem Heinrich Heine gesagt hat: „Er wird mich auch im Tode nicht
vergessen, er wird mir einen Leichenstein setze» lassen und daraufschrciven: »Dieses
Denkmal für Heinrich Heine errichtete ihm sein Bruder Gustav Heine, Redakteur
des Wiener Fremdenblattes, Jnsertionspreis sechs Kreuzer.«" Dieser Herr Gustav
Heine soll zwar nicht die ursprünglichen Memoiren, aber Briefe und andre
Manuskripte von biographischen Werte besitzen, meint Herr Engel. Mithin ist
die Hoffnung nicht ganz unbegründet, daß noch mehr alter Tratsch werde auf¬
gerührt werden — zum Besten der deutschen Nationälliteratur! Und es sind
ja in der That so manche Zweifel noch zu lösen. Zum Beispiel: War Heines
Mutter eine geborne von Geldern, wie die Familie behauptet, oder eine hollän¬
dische van Geldern, wie Herr Engel versichert? Das ist doch von äußerster
Wichtigkeit und dadurch nicht entschieden, daß der Wiener Bruder sich auf diesen
Namen hat baronisiren lassen. Ferner ist nicht ganz klar, wieviel Geld Heine
von seinen reichen Verwandten bezogen hat. Das alles muß noch aktenmäßig dar¬
gestellt werden. Hoffentlich finden sich die Herren Gustav Heine und Eduard Engel.
a! den, der mich herausfordert, der sich so sicher vor mir glaubt,
den zu meinen Füßen zu sehen, zappelnd, demütig, bittend, ra¬
send! Und ihm dann zu antworten! Oh, ich weiß schon, was
ich ihm antworte. Und diese Rache, sollte sie unmöglich sein?
Laurette besah sich im Spiegel, sah die reiche Schönheit ihrer
zweiunddreißig Jahre in der Frische von vier Lustren erglänzen und lächelte,
von ihrer Eigenliebe zufriedengestellt, sich selbst mit einem wohlgefälligen und er¬
mutigenden Lächeln zu.
Es wird gelingen! Und nun schlüpfte sie wie ein spielendes Kind oder
wie ein verzogenes Kätzchen in ihr Bett, um ruhig zu schlummern, trotz des
von Zeit wiederkehrenden geräuschvollen Hustens ihres Gatten, der in dem be¬
nachbarten Zimmer von Schlaflosigkeit gepeinigt wurde.
Und Rina? Sie hatte ihren Knaben zu Bette gebracht, hatte sich dann
an das von der Porzellankuppel der Lampe zurückgeworfene Licht gesetzt und
wollte lesen; aber zwischen das Buch und ihre Gedanken hatten sich sofort die
Bilder der Vergangenheit eingedrängt, und diese Bilder mußten Wohl recht
schwermütig und schmerzerregcnd sein, denn die Hand und das Buch in ihr
waren auf die Knie herabgefallen, das Haupt hatte sich ans die Brust gesenkt,
und stille, heiße Thränen flössen über ihre Wangen. Wer sie so gesehen hätte,
wie sie in ihrem langen, weißen, faltenreichen Kleide dasaß, weinend und gott¬
ergeben, der hätte sie für das Abbild der gekränkten Unschuld, welche duldet
und verzeiht, halten können.
Sie fühlte, daß die immer höher ansteigenden Wogen ihrer schmerzlichen
Erinnerungen ihre Seele ergriffen und in Bitterkeit versenkten, und sie wollte
vor den Stürmen der Vergangenheit einen Schutz in der Hoffnung auf die Zu-
kunst suchen. Die Zukunft lächelte ihr aber nur in dem harmlosen, kindlichen
Lächeln ihres Guido zu. Sie erhob sich leicht wie ein Schatten, näherte sich
dem Bett des Kleinen, zog die weißen Vorhänge zurück und betrachtete liebe¬
voll den sanften Schlummer des Knaben, der wie ein von Raffaels Hand ge¬
malter Engel erschien. Zur Dankbarkeit gegen Gott hingerissen, faltete die
Mutter ihre Hände, fiel neben dem Bette auf die Knie, die Stirn an das weiße
Kissen gelehnt, ans welchem der Kleine ruhig atmend im süßesten Schlummer
versunken lag, und betete lange.
Paul war erst spät in der Nacht eingeschlafen. Am Morgen wurde er
durch ein leichtes Klopfen an seiner Thür geweckt, als eben ein heiterer, durch die
Vorhänge dringender Sonnenstrahl seine Bettdecke mit goldnen Streifen überzog.
Herein! rief er in die Höhe fahrend, und warf einen halb unsichern, halb
verwunderten Blick um sich, wie jemand, der ganz gegen seine Gewohnheit beim
Aufwachen sich an einem ihm fremden Orte befindet.
Das reinliche, freundliche, bescheiden möblirte Stübchen, am Fenster das
Tischchen mit der darüber gespannten grünen Decke, ein kleines Bücherbret mit
einigen Reihen von dunkel eingebundenen Büchern, die alten, ihm wohlbekannten
Kupferstiche an den Wänden: alles erinnerte ihn so an seinen Jugendaufenthalt
im Vaterhause, daß es ihm vorkam, als ob seine ganze bisherige Vergangen¬
heit nur ein Traum gewesen sei, und daß er sich jetzt, wo er erwachte, in Wirk¬
lichkeit noch immer an jenem Ort befände. Und um diesen Eindruck zu erhöhen,
erschien ganz in derselben Weise, wie in jenen längst vergangenen Tagen, die
gute Schwester im Stübchen, den Teller mit der Tasse und der kleinen Kaffee¬
kanne in der Hand. Zwar war die Zeit nicht spurlos an ihr vorübergegangen,
sie hatte ein paar Falten auf ihr liebevolles Gesicht gegraben, aber die waren
zu dieser Stunde, bei dem matten, gebrochenen Lichte nicht sichtbar, und auf
ihren sanften Gesichtszügen leuchtete ebenso wie früher, vielleicht noch lebhafter,
die Herzensgüte als Zeichen der ewigen Jugend ihrer Seele.
Bist du es, meine gute Adele? sagte Paul. Immer noch dieselbe! Weißt
du wohl, daß ich mir wirklich so vorkomme wie der Faulpelz von ehemals, der
sich so gern von dir bemuttern ließ?
Adele lachte und goß mit der Würde einer Gouvernante den von ihr selbst
bereiteten Kaffee ein.
Trink, antwortete sie, und sage mir, ob dir der Kaffee noch ebenso schmeckt
wie damals. Und als sich ein Getöse von muntern Kinderstimmen vor der
Thür vernehmen ließ, fuhr sie fort: Du wirst dich gleich überzeugen, daß man
sich Mühe giebt, deine Illusionen von der Vergangenheit zu zerstören und dir
die Gegenwart vor Augen zu bringen.
Jetzt brachen die vier Neffen Pauls in das Stübchen ein, unter Anführung
des größten, und alle schrieen um die Wette, um sich nach seinem Befinden zu
erkundigen.
I nun, antwortete Paul in bester Laune, ich habe sehr gut geschlafen und
befinde mich ganz vortrefflich. Paulchen, mach das Feuster auf.
Der Pate gehorchte, und eine Flut des Sonnenlichtes ergoß sich über
das Zimmer.
Und ihr, fragte Paul, seid ihr schon lange auf?
O ja, antwortete der Älteste, der an das Bett des Oheims herangetreten
war, um die Unterhaltung zu führen, während seine kleinern Brüder die ver-
schiednen, zerstreut herumliegenden Toiletten- und Reisegegenstände neugierig
prüften und heimlich angriffen. Die Mutter hat uns schon unsre Aufgabe
schreiben und die Lektion lernen lassen, und wir haben auch schon gefrühstückt.
Potztausend! Das ist ja in der That ein reckt netter Vorwurf der Faul¬
heit für Euern Onkel.
Jawohl, mein Herr! unterbrach ihn scherzend Adele. Du wirst daher jetzt
auf der Stelle so gut sein und aufstehen.
Und wirst du mir auch eine Morgenausgabe stellen?
Ganz gewiß. Du sollst mich auf einem Morgenspaziergange begleiten, der
dir sehr heilsam sein wird.
Das nehme ich an.
Also hinaus, ihr Jungen! Laßt den Onkel aufstehen!
Noch einen Augenblick! Erst kommt einmal her und gebt mir jeder zwei
ordentliche Küsse. Das gehört zu den Vorrechten eines Onkels, und ich will
es sofort ausüben.
Die Knaben stürzten sich mit unbändigem Lärm alle zugleich auf das Bett.
Dann nahm die Mutter die beiden Kleinsten, welche alle jene schönen Sachen
gern noch länger besehen und betastet hätten und sich nur mit schwerem Herzen
von ihnen trennten, bei der Hand, schickte die beiden andern voraus und ließ
den Bruder allein.
Paul empfand eine innerliche Freude und Seelenruhe, wie er sie seit langer
Zeit nicht gehabt hatte. Die Küsse dieser Buben schienen sein Blut erfrischt zu
haben. Im Nu kleidete er sich an und eilte zur Schwester, welche ihn im
Parterrezimmer erwartete.
Und wo ist Johann? fragte er sie.
Er ist schon bei Tagesanbruch fortgeritten, um seine Krankenbesuche zu
machen.
Gut! Und wohin wollen wir gehen?
Nach Colloretto zu jener Alten, von welcher gestern Abend die Rede war,
zur alten Magdalene.
Dem Schützling der Frau Nina?
Ganz recht.
Dann laß uns gleich gehen, sagte Paul mit einer gewissen Lebhaftigkeit.
Und die Kleinen, fügte er hinzu, werden die mitgehen?
Nicht doch, es ist zu weit.
Schade, ich möchte sie gern bei mir haben.
Das freut mich, aber man muß nichts übertreiben. Der angenehme Ein¬
druck wird dann umso länger dauern, und du wirst dann desto länger bei uus
bleiben.
El, du Böse! Das klingt ja wie ein Vorwurf.
Laß uns nur machen, daß wir fortkommen, jetzt haben wir keine Zeit zu
Erörterungen. Siehst du dort den Korb auf dem Tische?
Groß genug ist er.
Gut, so nimm ihn.
O weh! Ist das aber schwer! Was ist denn da drin?
Etwas Lebensvorrat für jene armen Leute.
Und du willst, daß ich ihn bis dort hinauf trage?
So anmaßend bin ich nicht. Wir werden ihn abwechselnd eines nach dem
andern tragen.
Du? Bist du toll? Du würdest dir ja den Arm zerbrechen.
Ich habe Kräfte!
Nichts da! Weder du noch ich werden ihn tragen.
Und doch muß es sein. Ich habe keinen Diener.
Aber ich habe einen.
Du?
Allerdings, du sollst ihn gleich sehen.
Er pfiff, und im Augenblick hörte man Moschillos sonore Stimme eine
lebhafte, fast lustige Antwort erteilen, und da das Zimmer zur ebenen Erde
lag, so hatte das wackere Tier seine Pfoten außen an die Mauer gelehnt und
hob seinen klugen Kopf über die Fensterbrüstung.
Den Hund? fragte Adele.
Freilich! Er ist eines solchen Vertrauensamtes würdig, und du wirst sehen,
wie er es erfüllt. Mache nur rasch die Thür auf, sonst ist er imstande, durchs
Fenster zu springen und noch ein Unheil anzurichten.
Kaum war die Thür geöffnet, so sprang Mvschillo ins Zimmer und er¬
wies seinem Herrn und Adelen die lebhaftesten Freudenbezeugungen. Paul nahm
den Korb in die Hand und sagte kommandirend: Hierher, Moschillo!
Der Hund stellte sich vor ihm hin, in Positur, rührte sich nicht und sah
ihm fest und ernsthaft ins Gesicht, als ob er sagen wollte: Kommandire nur,
ich werde schon gehorchen.
Paul zeigte ihm mit der Linken den Korb und hob den Zeigefinger der
rechten Hand in gebieterischer Haltung in die Höhe: Du wirst jetzt diesen Korb
tragen, aber ganz ruhig, hörst du? ganz behutsam, darfst nicht, wie das deine
Gewohnheit ist, hierhin und dorthin laufen, sondern mußt geradeswegs, sachte
vor uns gehen. Hast du verstanden? Wie?
Moschillo schien durch ein leises Bellen Ja sagen zu wollen.
Gut! Wir haben uns verstanden. Da!
Der Hund faßte mit seinen derben Zähnen den Henkel des Korbes und
lief nach der Thüre. Paul reichte seiner Schwester den Arm, und so gingen
sie hinweg. Moschillo hatte wirklich seine unruhige Lebhaftigkeit abgelegt und
trabte einige Schritte vor den beiden her; wenn er zu sehr voraus war und
der Raum zwischen ihm und dem Herrn zu groß wurde, so blieb er stehen,
blickte um und wartete, bis die frühere Entfernung wiederhergestellt war.
So kamen sie nach Magdaleuens Hütte. Adele war die erste, welche hier
eintrat, sie nahm dem Hunde den Korb aus den Zähnen und stellte ihn auf
den Tisch. Paul blieb auf der Thürschwelle stehen und genoß mit einem un¬
beschreiblich wonnigen Gefühle das Schauspiel, welches sich jetzt seinen Blicken
darbot.
Eine dritte mitleidige Seele war ihnen bereits in dem Werke der Barm¬
herzigkeit zuvorgekommen. Nina, dicht neben der Kranken stehend, hatte ihr die
rechte Hand überlassen, und die Kranke drückte diese Hand und warf auf ihre
Wohlthäterin den Blick der innigsten Dankbarkeit; auf der andern Seite der
vornehmen Dame hatte die auf den Knieen gleichsam im Gebet versunkene alte
Mutter sich der linken Hand bemächtigt, um sie in feurigster Aufwallung mit
Küssen zu bedecken. Rina schien der Engel des Trostes zu sein, von Gott ge¬
sandt, um die Schmerzen und das Elend dieser Menschen zu mildern.
Das Lager der Kranken war mit frischer Wäsche überzogen, die Kissen,
auf denen sie lag, waren blendend weiß; vor ihr auf dem Bette saß ihr Knabe,
dem ein in Eile zurecht gemachtes Kleidchen Guidos das jämmerliche Aussehen,
welches seine Lumpen am Tage vorher gewährt hatten, benommen hatte.
Der Fieberanfall der Kranken war vorübergegangen, und das Mitleid und
die Verzeihung der Mutter, Rinas Hilfe und ihre frommen Worte hatten ihre
Seele wieder etwas aufgerichtet. Die Heimathluft in der noch immer so hei߬
geliebten Stätte, ihre Kindheit und vor allem die Liebe zu dem unschuldigen
Geschöpf, welches ihr der Herrgott gegeben hatte, hatten wieder den Wunsch
zum Leben in ihr geweckt, und der Arzt, der schon am frühen Morgen ge¬
kommen war, um sie zu besuchen, hatte versichert, daß sie wieder gesund werden
würde. Sie aber fühlte, daß sie ihr Leben und ihren Herzenstrost lediglich der
jungen Dame zu verdanken habe, welche durch ihre demutsvolle Schönheit,
ihren friedlichen Blick die elende Hütte zu verklären schien.
Als Rina die Alte zu ihren Füßen sah, gebot sie ihr aufzustehen und
die ihr von der Dankbarkeit eingegebenen Worte, welche ihr übertrieben er¬
schienen, zu unterlassen, und da in diesem Augenblicke Adele eingetreten und
Pauls Gestalt auf der Schwelle der Thür erschienen war, so wurde ihr Gesicht
über und über rot.
Nachdem auch Adele das, was sie mitgebracht, der alten Magdalene über-
reicht und von Mutter und Tochter für diese von ihnen auch nicht im Traum
ersehnten Gaben den schuldigen Dank empfangen hatte, drückte Gegia ihren
noch immer schweigsamen und verstört aussehenden Knaben an die Brust und
fing mit einem lebhaften Ausdrucke des Gesichts, welches das erste Zeichen der
wiederkehrenden Gesundheit zu sein schien, zu sprechen an.
Paul hatte inzwischen in einer dunkeln Ecke des Stübchens einen Schemel
erspäht und sich zum Sitze ausersehen. Hier hatte er gerade Rinas schönes
Profil vor sich, welches in blendender Weiße sich von dem Dunkel der Wand
abhob, an der sich das Bett der Kranken befand. Rina hatte beinahe Pauls
Anwesenheit vergessen und vermutete garnicht, daß dieser sie mit so gespannter
Aufmerksamkeit beobachtete, denn sie ließ in ihrem offenen Gesicht ihre barm¬
herzige Seele deutlich ersehen.
Seit einem Jahre, sagte Gegia, ist dies, so wahr ein Gott lebt, wieder
der erste gute Augenblick in meinem Leben. Und das verdanke ich Ihnen, Sie
Engel des Paradieses — möge Jesus und die Jungfran Maria Sie dafür
segnen! — verdanke ich Ihnen beiden, Sie heiligen Geschöpfe Gottes.
Und da Rina Miene machte, die Kranke zu unterbrechen, so fuhr diese noch
lebhafter fort: O, lassen Sie mich sprechen. Es thut mir ja so wohl! Ich
muß mein Herz ausschütten. Es sind schon drei Jahre her, daß ich es keiner
menschlichen Seele geöffnet habe, denn mein Unglück fing mit dem Tage an, an
welchem ich meine arme Mutter verließ. Ach! ich hatte damals den Kopf
verloren und wußte uicht, was ich that. Die Heiterkeit, die ich zuweilen zur
Schau trug, war erkünstelt und ließ einen bittern Nachgeschmack zurück. Sie
hörte ganz und gar auf, als mich mein Verführer verlassen hatte. Dann kam
ein Jahr, in welchem mein ganzes Leben eine Hölle war. Ich hatte alle Achtung
vor mir selbst verloren und war nahe daran, entweder ganz schlecht zu werden,
mich den allerverworfensten Kreaturen beizugesellen, oder mir das Leben zu nehmen.
Und nur dies unschuldige Kind hier hat mich davor bewahrt.
Ach ja, rief Rina tief bewegt aus, denn sie dachte an ihr eignes schweres
Herzeleid, im Unglück sind die Kinder die tröstenden, rettenden Engel.
Gegia umarmte und küßte ihren Kleinen aufs zärtlichste. Dann fuhr sie
fort: Ich habe es meinem Kinde zu verdanken, daß ich mich nicht der Schande
überließ und lieber die größten Entbehrungen duldete. Aber meine Kräfte waren
erschöpft, Hunger und Kummer hatten mich krank gemacht, ich zitterte vor dem
Gedanken, daß ich dies hilflose Wesen hier allein auf der Welt zurücklassen sollte.
Ich hatte nicht den Mut, mich meiner Mutter zu Füßen zu werfen und sie um
Verzeihung zu bitten, ich fürchtete ihren gerechten Zorn und sagte mir: was
soll daraus werden, wenn sie dich aus dem Hause, das du so gottlos verlassen
hast, zurückweist?
Ö, Gegia! rief die Mutter, als wollte sie gegen solchen Gedanken Wider¬
spruch erheben.
Aber als ich glaubte, daß es mit mir zu Ende ging, da schöpfte ich wieder
Mut. Ich mußte ihr Gesicht noch einmal sehe», ehe ich stürbe. Ich wollte ihr
mein Kind anvertrauen. Wenn sie mir ihre Arme verschlösse, so wollte ich auf
der Schwelle dieser geliebten Hütte sterben, dann würde die Mutter sich nicht
weigern, dies unschuldige Kind aufzunehmen, da es doch ihr Fleisch und Blut ist.
O, Gegia, Gegia! wiederholte die Mutter mit dem Kopfe schüttelnd und
hinter ihrer Schürze, welche sie sich mit beiden Händen vor die Augen hielt, in
Thränen zerfließend.
Ich kam hierher, der liebe Gott hatte Mitleid mit meinen Leiden und be¬
lohnte mich für meine guten Vorsätze. Die Mutter verzieh mir, und Sie,
gnädige Frau, haben mir das Leben gerettet. Aber das nicht allein, Sie haben
auch meine Seele wieder aufgerichtet, mich getröstet durch Ihre liebevollen,
barmherzigen Worte, mich bestärkt in meinen guten Vorsätzen. Ihre Worte
klangen mir wie die Stimme eines Engels aus dem Paradiese.
Damit führte Gegia Rinas Hand an die Lippen und benetzte sie mit Thränen.
Es war ein rührendes Schauspiel, welches sich dem stillen Beobachter Paul
darbot. Rina erschien ihm wie das Bild der Tugend, welche nicht den Stein
auf die Sünderin wirft, sondern Glaube, Liebe und Hoffnung bringt.
Die seelische Erregung, welche unsre Heldin bei dem Werke der Barmherzig¬
keit gefühlt hatte, sowie die körperliche Anstrengung am Tage vorher blieben
nicht ohne Folgen. Unsre drei Personen hatten nach dem Weggange aus
Magdalencns Hütte noch nicht den dritten Teil des Weges zurückgelegt, so fühlte
sich Rina so angegriffen, daß sie sich kaum noch auf den Füßen halten konnte.
Adele, die es bemerkte, schlug vor, Rast zu machen, aber Rina suchte ihre
Schwäche zu verbergen und sagte: Nein nein! Ich habe keine Zeit zu ver¬
lieren. Ihr wißt doch, daß mein Guido entgegenkommen will?
Dann stütze dich wenigstens auf den Arm meines Bruders. Paul, schnell!
gieb Frau Rina deinen Arm.
Paul hatte schon seit einiger Zeit daran gedacht, ihr den Arm anzubieten,
und hatte sich nur durch eine gewisse Zaghaftigkeit davon abhalten lassen. Die
Aufforderung der Schwester entsprach seinen Wünschen, und Rina nahm seinen
Arm dankend an.
So gingen sie eine gute Strecke Weges nebeneinander hin. Obgleich Nina
zu Anfang nur ihre Hand in Pauls Arm gelegt hatte, so kam es ihm doch
vor, als ob aus dieser Hand ein süßes Gefühl strömte und sein ganzes Innere
durchdränge. Und dieses Gefühl wurde noch süßer, als sich mit der zunehmenden
Ermüdung die Hand immer schwerer auf Pauls Arm legte und ihr ganzer
Körper sich mehr und mehr an den Begleiter anschmiegte und sich vertrauens¬
voll und unbefangen seiner Stütze überließ. (Fortsetzung folgt.)
er österreichische Rcichsrat hat seine Sommerferien angetreten
nach einer langen, aber, wie ihm die Zeitungen ins Zeugnis
schreiben, unfruchtbaren Session. Wir halten das Urteil für zu
hart, denn nach unsern Beobachtungen hat dieser Abschnitt par¬
lamentarischer Thätigkeit und Unthätigkeit manches zur allge¬
meinen Aufklärung beigetragen; und „Aufklärung" schätzen doch sonst gerade
diejenigen besonders hoch, welche jetzt so grämliche Gesichter ziehen. Sie meinen
allerdings, daß auch die Aufklärung ihre Grenzen haben müsse und daß, wenn
das Volk anfange, an der Unfehlbarkeit seiner priveligirten Führer im Reichsrate
und in den Zeitungen zu zweifeln, das Ende aller Dinge vor der Thür stehe.
Ganze Kapitel der Klagelieder des Propheten Jeremias werden in Leitartikel
umgesetzt. „Wie liegt die Stadt so wüste, die voll Volks war; alle ihre Nächsten
verachten sie und sind ihre Feinde geworden. Juda ist gefangen im Elend und
schweren Dienst. Ihre Widersacher schweben empor, ihren Feinden geht es
wohl u. s. w." Nur die Verse, in welchen der Jammer Zions als die Strafe
großer Sünden erscheint, werden übersprungen. Immerhin hat dieses alttesta¬
mentarische Pathos etwas ergreifendes, und unwillkürlich geraten wir selbst in
die biblische Redeweise, indem wir uns anschicken, die Ursache der Trauer zu
berichten.
Die Verfassungspartei oder jetzige Vereinigte Linke sitzt nun seit fünf
Jahren an den Wassern von Babylon weinend und harret eines Kyros, welcher
den Belsazer-Taaffe stürzen und sie aus den Banden der Ungläubigen erlösen
möchte. Und da sie unverwandt in die Ferne nach dem unbekannten Erretter
ausschaut, kann sie freilich nicht wahrnehmen, daß ihr ein über das andremal
die Gelegenheit, selbst das Werk der Befreiung zu versuchen, bequem vor die
Füße gelegt wird. Rüttelt man sie aber aus ihrem dumpfen Brüten auf und
schreit ihr in die Ohren: Da ists, greife herzhaft zu! dann seufzt sie: Herz¬
haft! Das ist leicht gesagt; aber weise Männer lassen Vorsicht, Nachsicht,
Rücksicht walten. Was man so eine günstige Gelegenheit nennt, ist gemeiniglich
ein stachlichtes Ding, und es will wohl überlegt sein, wie man es angreifen
könnte, ohne jemand weh zu thun, vor allem sich selbst. Und ehe die Weisen
noch mit ihren Erwägungen zu Ende sind, hat gewöhnlich schon eine derbe
Hand zugegriffen und hält das stachlichte Ding fest — unter mißbilligendein
Kopfschtttteln der Weisen.
So geschah es in jüngster Zeit mit der „Nordbahnfrage."
Am 4. März 1836 erteilte Kaiser Ferdinand dem Wechslerhanse S. M. Roth¬
schild in Wien el» (zwei Monate später an eine Aktiengesellschaft abgetretenes)
Privilegium zum Bau einer Eisenbahn von Wien nach Vochnia mit den Seiten¬
linien nach Brünn, Olmütz, Troppau, Dworny und Wieliczka. Der Kaiser soll
der Ansicht gewesen sein, daß die leichtsinnigen Unternehmer ihr Kapital ein¬
büßen würden, da in dem einen auf der Brunner Poststraße verkehrenden Eil¬
wagen ja immer noch überflüssiger Platz sei. Darin hat er sich bekanntlich
getäuscht. Die „k. k. ausschließend privilegirte Kaiser-Ferdinands-Nordbahn"
besitzt heute außer den Linien von Wien nach Brünn, Oderberg, Krakau, Marchegg
(Anschluß an die Bahn nach Budapest) noch eine Anzahl ebensogut rentircnder
Zweigbahnen; das ursprüngliche Aktienkapital von rund 17 Millionen Gulden
ist nach und nach auf 78^ Millionen erhöht worden und hat den Aktionären,
ohne die fünfprozentige Verzinsung, 209^ Millionen Dividenden gebracht. Das
Privilegium gab der Gesellschaft ausgedehnte Freiheiten, und sie hat es be¬
greiflicherweise mit der äußersten Zähigkeit verteidigt, als der Verkehr die Ver¬
mehrung der Verbindungen erheischte, sie hat sich aber auch nicht die mindeste
Konzession abringen lassen, zu der sie nicht durch die Abmachungen verpflichtet
war, welche zu einer Zeit getroffen wurden, in der noch niemand eine Ahnung
von der wirtschaftlichen Bedeutung der Schienenwege haben konnte. Die
Nordbahn hat die Personeutarife auf einer Höhe gehalten, welche das Reisen
in Österreich so teuer macht. Die Strecke von Wien bis Oderberg kostet in
der zweiten Klasse mit dem Postzuge 9 Gulden 83 Kr., mit dem Eilzuge
11 Gulden 79 Kr., die um 1,2 Kilometer längere von Oderberg bis Lissa 17
und 18.18 Mark, also 8 Gulden 50 Kr. und 9 Gulden 9 Kr.; und seitdem
andre österreichische Bahnen in Staatsbetrieb genommen worden sind, berechnen
sie den Kilometer mit 3,03 und 4,10 Kr. gegen 3,SS und 4,17 der Nordbnhn.
Allein vielmehr ins Gewicht füllt die Preisdifferenz bei den Frachten und ganz
besonders bei den Kohlen, für welche die Nordbahn die Zufuhr aus den
schlesischen Kohlendistrikten nach Wien hat. Eine Kohlenladung, welche ans
100 Kilometer Bahnen des deutschen Reiches 1000 Gulden und auf die gleiche
Entfernung der westlichen österreichischen Bahnen 1230 Gulden zu zahlen hat,
kommt durch die Nordbcihn befördert auf 2060 Gulden. Die Berichte der
schlesischen Handels- und Gewerbekammer in Troppau haben noch durch viele
andre Beispiele belegt, wie schwer die Tarife der Nordbahn auf der Industrie
und der Landwirtschaft lasten — so läßt eine stark exportirende Fabrik gebogener
Möbel ihre Ware aus dem östlichen Schlesien über Auschwitz und Breslau
nach Wien und Trieft gehen, weil dieser Umweg die Fracht billiger macht! —
aber die Kohle macht diese Mißstände allen Schichten der Bevölkerung täglich
fühlbar. Daher ist seit Jahren die Kohlenteuerung und deren Einfluß auf die
allgemeinen Lebensverhältnisse, die Konkurrenzfähigkeit der Industrie u. s. w.
ständiges Thema der Besprechung und Klage, und mit wahrer Sehnsucht
erwartet man den endlichen Ablauf des funfzigjährigen Privilegiums der
Nordbahn.
Als nun die Regierung mit dem ganz unbegreiflichen Ansinnen, der
Nordbahngesellschaft ein neues Privilegium unter verhältnismäßig unbedeutenden
Einschränkungen zu verleihen, an den Reichsrat herantrat, konnte dieser ohne
alle Anstrengung die verlorene Popularität wiedergewinnen, konnte die Linke
der Regierung und der Regierungspartei die empfindlichste Niederlage beibringen
unter einmütiger Zustimmung der ganzen Bevölkerung nach Abzug der Ver¬
waltungsräte, Aktionäre und Satelliten jener Bahn. In der That wurde in
der Presse die Vorlage kritisirt, aber so zaghaft, mit soviel Vorbehalten und
Rücksichten, daß die vielbetonte Unabhängigkeit wieder einmal sich in eigentüm¬
licher Beleuchtung darstellte. Konsequenterweise wurde denn auch jenen Kreisen
der Bevölkerung, welche eine andre Behandlung des Themas forderten und ihre
Stimme für die Verstaatlichung der Bahn erhoben, die Berechtigung mitzureden
kurzweg abgesprochen. Volksstimme ist nur dann Gottesstimme, wenn sie sich
zum Echo der Zeitungsstimme macht! Die Verlängerung des Privilegiums
bloß mit dem Zugeständnis eines gewissen Einflusses des Staates auf die
Tarifsätze konnte zwar niemand ganz in Schutz nehmen; allein man leugnete
vor allem das Recht des Staates, die Bahn zu übernehmen, stellte ihn ferner
als unfähig hierzu dar und schilderte endlich die großen Gefahren für Staat
und Volk, welche von der Verstaatlichung untrennbar seien.
Ohne Zweifel wäre die Frage, ob der Bahnkörper nach Erlöschen des Privi¬
legiums dem Staat zufalle oder nicht, ein vorzüglicher Bissen für Advokaten.
Im Privilegium ist das Heimfallsrecht nicht ausdrücklich gewahrt, und die ge¬
setzliche Bestimmung, aus welcher dies deduzirt werden könnte, ist um vier Jahre
jünger als das Privilegium. Doch ist ebensowenig der Nordbahngesellschaft das
Eigentum des Bahnkörpers über die Privilegiumsdauer hinaus zuerkannt,
sondern nur die „Real- und Mobilarzugehörungen," worunter nach dem bürger¬
lichen Gesetzbuch und Analogien nur der Fahrpark u. s. w. verstanden werden
kann. Die Frage ist also streitig. Daraus folgern die Nordbahn-Juristen, der
Staat werde den Bahnkörper ablösen müssen und zwar nicht nach dem Boden-
Werte, sondern nach dem Erträgnis der Bahnunternehmnng! Das klingt stark,
allein es kommt noch besser. „Nach Ablauf der fünfzig Privilegialjahre wird,
Wenn der Unternehmer . , . sich zur Fortsetzung der Unternehmung melden sollte
und diese als nützlich sich bewährt hätte, die Staatsverwaltung keinen Anstand
nehmen, sich zu einer Erneuerung des Privilegiums herbeizulassen," sagt das
Privilegium in Z 10. Der Unternehmer meldet sich, dieser Punkt ist in
Ordnung. Die Nordbahn hat sich als nützlich bewährt, folglich muß das Pri¬
vilegium erneuert werden. Mit Verlaub, wenden die Gegner ein, ihr vermengt
verschiedne Dinge! Die Bahnen zwischen Wien und Brünn, Wien und
Krakau u. s. w. sind gewiß nützlich, sie sollen auch erhalten bleiben; aber die
Unternehmung, der Betrieb durch diese Gesellschaft hat sich jene Bezeichnung
ganz und gar nicht verdient, wie zur Geniige bekannt ist. Und darauf ist,
nicht etwa von einem Satiriker, die Antwort gegeben worden, so dürfe jene
Klausel nicht gedeutet werden, es sei nur gemeint, daß die Unternehmung sich gut
rentirt haben müsse! Übrigens verwalte der Staat schlecht und teuer, man
dürfe ihm eine solche Last nicht aufbürden, er werde die Gelegenheit benutzen,
um in den gemischtbevölkerten Ländern das slavische Element zu stärken u. s. w. —
Bedenken, deren Haltlosigkeit entweder von selbst einleuchtet, oder die wenigstens
bei den Haaren herbeigezogen sind. Denn der Staat verwaltet die von ihm
erworbenen Bahnen sür das Publikum entschieden vorteilhaft und kommt selbst
dabei besser weg, als da er dieselben Bahnen subventioniren mußte; Lasten
wie eine so einträgliche Bahn aber dürfen wir dem österreichischen Staate noch
recht viele wünschen; und da das Slavisiren der übrigen Beamtenschaft in den
betreffenden Kronländern bisher mit wenig Erfolg betrieben worden ist, so
kann man wohl auch zu den Eisenbahnbeamten einiges Zutrauen haben, abge¬
sehen davon, daß die Ewigkeit des heutigen Regimes nicht gewährleistet ist.
In der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 2. Mai gelangte die Vorlage
zur ersten Lesung. Ein Abgeordneter aus Schlesien, als einem der am meisten
beteiligten Kronländer, griff das Abkommen lebhaft an, faßte indessen nur dessen
Korrektur ins Auge; und auf eine solche hatten die Herren von der Nordbahn
sich längst gefaßt gemacht, da sie Wohl wußten, daß sie leicht einige „Opfer"
bringen könnten. Dann erhob sich der Abgeordnete Ritter von schönerer.
Dieser Mann rühmt sich, zu den am meisten Verlästerten im Reiche zu gehören.
Gewiß reizt er die Gegner vielfach und schadet auch oft der eignen Sache durch
Leidenschaftlichkeit und durch die ungehobelte Form seiner Angriffe. Aber eins
können sie ihm nicht absprechen: er ist, was man eine ehrliche Haut nennt, und
treffen seine Hiebe nicht selten daneben oder gehen in die Lust, so sitzen sie doch
wenigstens ebensooft, und das namentlich in Fällen, wo er allein es wagt,
auf eine heikle Angelegenheit einzugehen. Auch seine Rede vom 2. Mai war
weder ein oratorisches Meisterstück noch eine staatsmännische Leistung. Er brachte
wenig vor, was nicht schon in der Monatsschrift „Deutsche Warte" — einem
der wenigen wirklich unabhängigen Organe in Wien — gesagt worden wäre,
und er brachte es formlos, abspringend, fremde, persönliche Momente einmischend;
die Linke zeigte auf jede Weise ihr Mißfallen und ihre Mißachtung, und auch
die Rechte ermüdete in ihrer Aufmerksamkeit. Trotzdem erzielte er einen außer¬
ordentlichen Erfolg. Was bis dahin von den „Maßgebenden" klüglich ignorirt
worden war, er sprach es aus. Er malte mit ungemildertcn Farben die Aus¬
beutung Österreichs durch die privilegirte Gesellschaft, mahnte die Volksvertreter,
sich nicht vor Rothschild zu beugen, auch wenn dies Minister und noch höhere
Faktoren thun sollten, er fragte, ob denn die Verstaatlichung nur gegenüber
notleidenden Bahnen zulässig sei, und warf denen, welche insgeheim äußern,
nicht nur diesem Ministerium, nein, überhaupt diesem Staatswesen dürfe eine
derartige Macht nicht in die Hände gegeben werden, die Worte hin: „Dann
müssen Sie über diesen österreichischen Staat den Konkurs verhängen und dann
ist Ihr österreichischer Patriotismus einfach Heuchelei!" Er verlas tausende
von Orten aus allen Teilen des Reiches, aus welchen ihm Petitionen um Ver¬
staatlichung der Nordbahn eingeschickt worden waren. Er enthüllte aber anch
rückhaltlos die Beziehungen zwischen jener Gesellschaft und der Presse, nannte
die Namen der Ehrenmänner, welche bei solchen Anlässen die „Beteiligung" der
Zeitungen besorgen. Und er apostrophirte schließlich den Abgeordneten Herbst,
er möge „sich an die Spitze der Verstaatlichungsaktion stellen," im Interesse
der Sache und — seines Abgeordnetenmandats.
Die ungeheure Wirkung dieser Rede äußerte sich zunächst in der Haltung
der von schönerer so vehement angegriffenen Zeitungen. Sie waren wie nieder¬
gedonnert, stießen Wehrufe aus über den Verfall des Parlamentarismus, wenn
eine solche Sprache geführt werden könne; aber die gewohnten Späße wollten
nicht aus der Feder fließen, und wider Willen gestanden die Artikel ein, daß
schönerer der Held des Tages gewesen sei. Ein Redakteur und Abgeordneter
ließ den Kollegen auf Pistolen fordern. Möchten ihn gern zusammenschmeißen;
daß sie ihn Lügner geheißen hätten, ist nicht bekannt geworden. Und den Ab¬
geordneten, welche seine Rede mit Lachen und Höhnen begleitet hatten, war
nachträglich garnicht so fröhlich zu 'Mute. Der Name des Gehaßten ist seitdem
in aller Munde. Eine Sache, die alle ohne Ausnahme angeht, allen verständlich
ist, vor der nationale, politische und religiöse Parteinnterschiede verschwinden,
war unverantwortlichcrweise aus der Hand gelassen worden; nun können sie
der Verstaatlichungsfrage nicht mehr ausweichen, Herbst selbst ist dem Rufe
gefolgt, und wie der Handel ausgehen möge, der Ruhm bleibt schönerer, er
hat das Vertrauen ungezählter Massen gewonnen, die von ihm mehr erwarten,
als er halten kann, dagegen wenig mehr erwarten von der „Vereinigten Linken,"
nichts von deren Preßorganen.
Klug sind freilich diese beiden dadurch noch nicht geworden, das beweist
die Behandlung, welche sie allen Fragen der sozialen Reform angedeihen lassen.
Daß der österreichische Liberalismus weiter blicke als der deutsche, wird
wohl oft versichert, und „im Prinzip" erkennt jener auch die Notwendigkeit
großer, schöpferischer Maßregeln an. Allein in jedem konkreten Falle entpuppt
sich die Partei als unbedingt manchesterlich, als Fabrikantenpartei. Hört man
die Wortführer reden, so staunt man nur, daß sie ihre Fabriken nicht lieber
heute als morgen an den Erstenbesten abtreten, um als Arbeiter einzutreten.
Denn sie verdienen ja nichts, sie lassen nur arbeiten, um den Arbeitern Brot
zu geben, und diese selbst verlangen die zwölf-, dreizehn-, vierzehnstündige
Arbeitszeit, verlangen die Frauen- und Kinderarbeit, sie wünschen sichs garnicht
besser und können sichs auch garnicht besser wünschen, als auch noch die Ruhe¬
stunden neben der geliebten Maschine auf einem Wollsacke zu liegen, in derselben
überhitzten, von Gas und Ausdünstungen aller Art und Atomen des Arbeits¬
materials erfüllten Atmosphäre, in welcher sie den so laugen Tag verbracht
haben. In den Fabriken lebt man herrlich und in Freuden, aber in den Werk¬
stätten des Kleingewerbes und bei den ländlichen Arbeitern, da geht es grauen¬
haft zu, da muß Abhilfe geschaffen werden! Da die Grundbesitzer sich der
Fabrikarbeiter, die Fabrikanten der ländlichen Arbeiter annehmen, könnte übers
Kreuz beiden Teilen geholfen werden; aber es geht ihnen ähnlich wie der Wä¬
scherin der Heineschen Polen, sie erhalten nichts, weil keiner zahlen will. Was
jemals von Privilegirten für den Fortbestand ihrer Privilegien angerufen worden
ist, wird stets aufs neue auf den Markt gebracht, und nicht um ein Haar er¬
leuchteter zeigen sich die liberalen Fabrikanten als die Baumwollenbarone in
den Südstaaten. Rüttelt man an der unbegrenzten Arbeitszeit, will man die
Kinderarbeit beseitigen, die Frauenarbeit beschränken, dann stürzt man die gött¬
liche Ordnung um, dann müssen alle Fabriken aufhören zu arbeiten, die In¬
dustrie wird durch die ausländische Konkurrenz erstickt, der Arbeiter verhungert,
die Kinder verwildern, die Frauen verfallen der Prostitution. Genug, es ist
gräßlich; erst geköpft, dann gehangen u. s. w., wie Ofnir singt. Einen förm¬
lichen Haß haben manche auf das Handwerk geworfen, von dem können sie nicht
ohne Erbitterung sprechen, weil es sich nicht von dem Konfektionär und ähn¬
lichen Wohlthätern der Menschheit gänzlich unterjochen lassen will.
Niemand schürt mehr den „Klassenhaß," niemand diskreditirt mehr den
Liberalismus und alles parlamentarische Wesen, als dergleichen verblendete
Redner und ihre journalistischen Helfershelfer. Das arbeitende Volk, diesen
Ausdruck im weitesten Sinne genommen, muß sich abwenden von einer parla¬
mentarischen und publizistischen Vertretung, welche in letzter Instanz immer
nur Klasseninteressen vertritt, teils nicht das Verständnis, teils nicht den Willen
hat für die Forderungen der Zeit. Und es wendet sich auch mehr und mehr
ab. Das ist immerhin ein Fortschritt. Die letzten Wahlvorgänge in Wien
haben das Anwachsen der Partei dargethan, welche sich von keiner Seite her
gängeln lassen will. Ein Mann, welcher lange Jahre dem Gemeinderate an-
gehört hatte, fiel in seinem bisherigen Wahlbezirk und dann in zwei andern
durch, weil ihm nachgewiesen worden war, daß er als Journalist sich jeder
Regierung zur Verfügung gestellt hatte; ein sehr geachteter Abgeordneter, Dr.
Kopp, erhielt von seinen Wählern (Vorstadt Mariahilf) ein Mißtrauensvotum,
weil er sich nicht verbindlich machen wollte, für die Verstaatlichung der Nord¬
bahn einzutreten, und bei der Neuwahl war von ihm keine Rede mehr, ein
Kandidat der Linken und ein Kandidat der Partei Schöncrers standen einander
gegenüber, und der letztere, welcher fast die ganze hauptstädtische Presse gegen
sich hatte, brachte es auf nahezu 1000 Stimmen gegen 1200, während Kopp
nur als Ersatzmann Kurcmdas in der inneren Stadt, dem Hauptquartier der
liberalen Bourgeoisie, in den Reichsrat gebracht werden konnte. Das sind nicht
zu unterschätzende Mahnungen, und der Prozeß würde einen viel schnelleren
Verlauf nehmen, wenn eine Zeitung existirte, die nicht kapitalistisch, nicht jüdisch,
aber auch nicht offiziös oder klerikal wäre. Mittlerweile entstehen wenigstens
Wochen- und Monatsschriften, welche, größtenteils von jüngeren Gelehrten ge¬
schrieben, für Deutschtum und Sozialreform eintreten, ohne Aussicht, sich durch
offene oder verkappte Inserate („Texteinschaltungen" euphemistisch genannt) zu
bereichern.
meer einem mit der vorstehenden Überschrift gleichlautenden Titel
ist vor kurzem ein Schriftchen erschienen von or. Gustav Leh-
mann, Rechtsanwalt in Dresden. Der Verfasser ist kein ganz
unbekannter Mann. Er hat bereits im Jahre 1865 ein ähnliches
Schriftchen veröffentlicht unter dem Titel „Der Notstand der
Schädenprozesse." Mit beredten Worten legte er damals dar, daß durch die
Engherzigkeit ihrer Auffassung die Richter bei Schädenprozessen mitunter den
Wald vor lauter Bäumen nicht sehen und daß hierin eine Besserung notwendig
sei. Es hat, wie wir glauben, diese Arbeit wesentlich dazu beigetragen, daß
seitdem in vielen Gesetzen und jetzt auch in der Reichsgesetzgebung dem Richter
bei Schädenprozcssen ein weitgehendes freies Ermessen eingeräumt ist.
Gleichsam als Fortsetzung dieses Themas führt der Verfasser gegenwärtig
aus, wie es ein Mangel unsrer Rechtsbildung sei, daß sie nur vermögensrechtliche
Schädigungen als zur Klage berechtigend anerkenne. Er vertritt mit Lebhaftigkeit
die Ansicht, daß auch wegen ideeller (moralischer) Schädigungen ein Anspruch
auf Schadenersatz gegeben sein müsse, welchen der Richter nach freiem Ermessen
zusprechen soll. Er meint, es empfehle sich deshalb, in ein deutsches Gesetzbuch
den Satz aufzuuehme»: „Der Richter kann auch auf Ersatz nichtvermögens-
rechtlichen Schadens erkennen." Diese Vorschrift soll jedoch der Richter nur
da anwenden, wo sie ihm nach den Verhältnissen des Falles passend erscheint.
Wir zweifeln nicht, daß es auch hier ein lebendiges Rechtsgefühl gewesen
ist, was den Verfasser zum Worte gedrängt hat. Aber wir müssen doch gegen
seine Ansichten einige Bedenken geltend machen. Da wir nicht für eine fach¬
wissenschaftliche Zeitschrift schreiben, so lassen wir alle gelehrten Ausführungen
(z. B. über die Frage, was in dieser Beziehung das römische Recht enthält)
beiseite und behandeln die Sache lediglich vom allgemein menschlichen Standpunkte.
Zunächst wollen wir einmal feststellen, was wir auf diesem Gebiete bereits
besitzen. Erst darnach wird sich bemessen lassen, was uns noch uotthut. Da
ist es nun zunächst unzweifelhaft, daß unsre Rechtsprechung nicht allein Klagen
auf vermögensrechtliche Interessen, sondern auch auf Leistungen jeder Art, bei
welchen überhaupt nur ein erkennbares Interesse des Klägers obwaltet, zuläßt.
Zum Belege hierfür brauchen wir nur auf den vor wenigen Tagen erschienenen
zehnten Band der Reichsgerichtsentscheidungen hinzuweisen, wo (unter Ur. 32)
ein Rechtsfall mitgeteilt wird, welcher die Überlassung der Erziehung eines
Kindes betraf. Fälle dieser Art lassen sich noch vielfach denken. Wir nehmen
keinen Anstand, uns ganz und gar mit der (auch vom Verfasser erwähnten)
Ansicht Iherings einverstanden zu erklären, welche dieser bei Gelegenheit
des in der Schweiz verhandelten Gänbahnprozesses 'in so ansprechender Weise
entwickelt hat. Hat ein Kellner sich ausbedungen, daß er die Sonntagnachmittage
frei habe, hat der Mieter sich die Mitbenutzung eines zum Hanse gehörigen
Gartens ausbedungen, oder hat eine kränkliche Dame sich ausbedungen, daß
sie von ihrem Abmieter nicht durch Klavierspielen gestört werde (lauter Bei¬
spiele, die Jhering aufstellt), so haben wir keine Bedenken, mit Jhering allen
diesen Personen eine Klage auf Erfüllung des Ausbedungenen, obgleich dasselbe
direkt keine Vermögensrechte zum Gegenstande hat, zu gestatten. Dies ist aber
auch die vorherrschende Ansicht unsrer deutschen Gerichte, und Jhering hatte
in der That nur gegen die abweichenden Ansichten dreier Professoren anzu¬
kämpfen, welche die Gegenpartei für ihr Interesse engagirt hatte. Die Klage
würde zunächst auf Erfüllung in Natur zu richten sein, und die Verurteilung
zu solcher würde der Richter für die Zukunft durch Strafen erzwingen. Eine
andre Frage ist freilich die: Wie soll der Richter die in der Vergangenheit
liegende Verletzung des betreffenden Rechtes ausgleichen? Auch in dieser Be¬
ziehung nehmen wir keinen Anstand, übereinstimmend mit Jhering in allen
denjenigen Fällen, wo sich das Interesse des Klägers auf einen Geldwert
zurückführen läßt, dem Verletzten eine Geldentschädigung zuzusprechen. Dem
Kellner, welcher vertragswidrig bei der Arbeit zurückgehalten wird, dem Mieter,
welchem vertragswidrig der Garten verschlossen wird, u. s. w, gebührt eine Geld-
entschädignng, da das betreffende Interesse sehr wohl in Geld auszudrücken
ist. Dahin gehört auch der vom Verfasser angeführte Fall, daß jemand in
einem Bade sich ein schönes Zimmer gemietet hat, der Eigentümer aber es
vorweg einem andern giebt. Wir möchten glauben, daß in diesem Falle der
Mieter eine Geldentschädiguug einklagen könnte. In Fällen dieser Art leistet
auch der gemeinrechtliche Würderungseid wertvolle Dienste. Bedenklicher stellt
sich der von uns oben zuerst angeführte Fall, daß jemandem die ihm gebührende
Erziehung eines Kindes längere Zeit hindurch rechtswidrig vorenthalten worden ist.
Soll nun auch dieser eine Geldentschädigung beanspruchen dürfen? Nach dem
bestehenden Rechte würde ihm, wie wir glauben, der Richter eine solche nicht
zusprechen, weil das Interesse, welches jemand dabei hat, daß er selbst ein Kind
erziehe, absolut nicht in Geld zu veranschlagen ist. Aber auch die Frage, ob
etwa das Gesetz für einen solchen Fall einen Anspruch auf Geldentschädigung
schaffen solle, vermögen wir nicht zu bejahen, und zwar aus dem Grunde, weil
doch ein anständiger Mensch eine solche nicht fordern würde, für unanständige
Menschen wir aber kein Recht zu schaffen brauchen. Dem letztern Falle analog ist
auch der vom Verfasser angeführte Fall, daß von einem Equipagenbesitzer das
Kind einer armen Witwe schuldvoll überfahren und getötet wird. Soll da nicht,
fragt der Verfasser, die arme Witwe für ihren Schmerz und ihre Trostlosigkeit
eine Entschädigung — vielleicht dreitausend Mark — beanspruchen dürfen?
Gewiß wären der armen Witwe, eben weil sie eine arme Witwe ist, die drei¬
tausend Mark sehr zu gönnen, und wenn der Equipagenbesitzer reich genug
ist, so würden wir es durchaus anständig finden, wenn er in die Tasche griffe
und der armen Witwe dreitausend Mark oder eine ähnliche Summe aufzählte.
Giebt man aber der armen Witwe ein Recht auf Geldentschädigung, dann müßte
man dieses Recht doch auch dem reichen Manne, dessen Kind überfahren wird,
zugestehen. Dieser würde aber vielleicht sagen: „Für mich ist der Verlust meines
Kindes noch nicht mit 300 000 Mark ersetzt, und ich fordere deshalb diese
Summe als mindeste Entschädigung." Wir wüßten kaum, was dagegen einzu¬
wenden wäre.
Eine Erscheinung auf unserm Rechtsgebiete, in welchem sich der Gedanke
des Verfassers bereits verwirklicht hat, ist das Schmerzensgeld. Von jeher hat
die deutsche Praxis, trotzdem daß das römische Recht sie dabei im Stich ließ,
bei Körperverletzungen dem Verletzten auf Begehren ein Schmerzensgeld zuer¬
kannt. Neuerdings hat das Reichsgericht diese Praxis bestätigt. Eine Bestätigung
derselben liegt auch in dem Z 231 des deutschen Strafgesetzbuches, welcher bei
Körperverletzungen die Anerkennung einer Buße, und zwar nicht (wie die Buße
des Z 188) in der Beschränkung auf vermögensrechtliche Nachteile, zuläßt. In¬
soweit besitzen wir also schon dasjenige, was der Verfasser begehrt.
Ein weiterer Fortschritt auf diesem Gebiete wird jetzt angebahnt durch die
Agitation für Gewährung einer Entschädigung an unschuldig Verhaftete. Wir
find der Ansicht, daß in Wahrheit unser Rechtsgefühl diese fordert als Sühne
für die ausgestandene Pein der Haft. Wenn statt dessen die im Reichstage
eingebrachten Entwürfe die Entschädigung nur auf deu Ersatz vcrmögcnsrecht-
licher Nachteile richten wollen, so ist diese Beschränkung allerdings ein Erzeugnis
der vom Verfasser mit Recht bekämpften engherzigen Anschauungen mancher
Juristen. Und wenn in dieser Weise das Gesetz zustande kommen sollte, so
würde, da doch unzählige Richter die Entschädigung in einem ganz andern
Sinne bemessen würden, unser Leben nur um eine „konventionelle Lüge" reicher
sein. Der Sache nach würde das Gesetz einen Teil der Wünsche des Verfassers
befriedigen. Bekannt ist aber, wie schwierig es ist, die Fälle, in welchen eine
solche Sühne von unserm Rechtsgefühl gefordert wird, scharf abzugrenzen. Und
auch hierin liegt wieder ein Beweis, daß die Gedanken des Verfassers nicht so
leicht zu verwirklichen sind.
Der Verfasser selbst führt an, daß das römische Recht zahlreiche Privat¬
strafen wegen Rechtsverletzungen gekannt habe, und er bedauert, daß die deutsche
Praxis dieselben habe verschwinden lassen. Wir können hier nicht auf die Ge¬
sichtspunkte eingehen, welche vor Zeiten Ursache wurden, daß diese Privatstrafen
keinen Eingang in Deutschland gefunden haben. Vollkommen würdigen lassen
sich solche Erscheinungen nur mittelst genauer geschichtlicher Untersuchungen.
Aber eine dieser Erscheinungen liegt unserm Zeitalter noch ganz nahe. Wegen
Beleidigungen giebt das römische Recht dem Beleidigten wider den Beleidiger
eine Klage aus Zahlung einer der Größe der Beleidigung entsprechenden Geld¬
buße an die Kläger. Diese Klage hatte in der deutschen Praxis vollkommen
Eingang gefunden und bestand in allen deutschen Ländern, solange dort ge¬
meines Recht galt. Was ist nun aus dieser Klage — die ganz und gar dem
Sinne des Verfassers entsprechen würde — geworden? Die deutsche Reichs-
gesetzgebung hat sie jüngst aufgehoben und die Sühne von Beleidigungen le¬
diglich in den Strafrechtsweg verwiesen. Aber auch ehe noch dies geschehen,
war in vielen deutschen Ländern jene sogenannte cistimatorische Klage bereits
abgeschafft und durch andre Schutzmittel ersetzt worden. Wir unsrerseits be¬
klagen die Verweisung der Jnjnriensachen an die Strafgerichte, weil der Anspruch
auf Sühne einer zugefügten Beleidigung ein echt privatrechtlicher ist, weil dnrch
jene Verweisung den Parteien das Beweismittel der Eidcszuschiebung entzogen
wird und sie dadurch manchen Beleidigungen gegenüber völlig rechtlos hingestellt
werden, und weil der vor den Strafgerichten geführte Prozeß durch die Be¬
gnadigung des Verurteilten illusorisch gemacht werden könnte. Daß aber die
Klage auf eine dem Kläger zu leistende Geldstrafe beseitigt ist, können wir nicht
beklagen, da auch nach den von uns gemachten Erfahrungen diese Klage zu den
häßlichsten Mißbräuche» die Hand bot. Solche Erfahrungen darf man aber
doch bei Verfolgung des von dem Verfasser vertretenen Gedankens nicht über¬
sehen.
Wir kommen endlich zu den Fällen, welche recht eigentlich das Gebiet be¬
zeichnen, auf welchem der Gedanke des Verfassers eine völlige Umwälzung her¬
beiführen würde. Derselbe führt folgendes Beispiel an. Es kauft jemand eine
Weinbergsvilla, zu der zwei Wege führen, ein ganz steiler, beschwerlicher und
ein bequemer. Kaum hat er sich eingerichtet, so versperrt der Nachbar den be¬
quemen Weg unter der Behauptung, daß ein Recht zu dessen Gebrauch nicht
bestehe. Durch einstweilige Verfügung erlangt der Villabesitzer die Beseitigung
des Hindernisses. Er muß dann sofort Klage erheben. Nach Jahr und Tag
wird der Prozeß zu seinen Gunsten entschieden. „Es geht aus allem hervor,
daß dieser Streit leichtfertig vom Gegner provozirt ward." Was erhält nun
der Kläger für seine Mühe, für seinen Ärger, was dafür, daß ihm die Freude
an seiner Besitzung während des Prozesses gänzlich vergällt war? „Nichts,
absolut nichts. Gegen solche Zustände bäumt sich das natürliche Rechtsgefühl."
Hier müsse dem Kläger zustehen, seine Klagbitte darauf zu richten, daß Beklagter
auch zur Zahlung einer namhaften Entschädigungssumme an den Kläger ver¬
urteilt werde. In diesem Falle ist also dem Besitzer der Villa ein materieller
Nachteil garnicht zugefügt. Er ist durch das Provisorium im Besitze des be¬
quemen Weges geblieben. Dieser ist ihm auch schließlich definitiv zugesprochen
worden. Aber er hat Mühe und Ärger von dem Prozeß gehabt, und dafür, meint
der Verfasser, müsse ihm eine namhafte Entschädigung zuteil werden, „wenn
hervorgehe, daß der Streit leichtfertig provozirt sei." Ist denn aber der Ver¬
fasser der Ansicht, daß das Urteil über diesen letztern Punkt stets ein so ein¬
faches sei? Und hat er sich wohl klar gemacht, in welchem Maße hierdurch
erst recht das Prozeßstreiten losgehen würde? Mühe und Ärger macht na¬
türlich jeder Prozeß, und zwar für beide Teile. Damit wäre also in jedem
Prozeß für jeden Teil das Substrat einer Entschädigungsforderung gewonnen.
Jeder, der einen Prozeß führt, wird auch behaupten, daß er mit bestem Rechte,
mindestens in bestem Glauben, dagegen der andre mehr oder minder leichtfertig
den Prozeß führe. Dies würde dahin führen, daß in unzähligen Prozessen
neben dem Hauptanspruch auch noch der Anspruch auf eine namhafte Entschä¬
digungssumme für Mühe und Ärger als Klage und Widerklage figurirten. In
allen solchen Sachen würde also der Richter nicht allein darüber zu erkennen
haben, wer in der Sache selbst Recht hat, sondern auch ob der unterliegende
Teil leichtfertig prozessirt habe und deshalb zu einer Extraentschädigung zu
verurteilen sei. Wie sich dadurch die Last richterlichen Erkennens und die Kost¬
spieligkeit des Prozessirens für die Parteien erweitern würde, bedarf keiner Aus¬
führung. Sicherlich hat auch der Verfasser als Anwalt schon Fälle erlebt, in
welchen er von dem Rechte seiner Partei sehr stark überzeugt war und doch
damit unterlag. In solchen Fällen hat ihn gewiß der Ausgang des Prozesses,
zumal in Hinblick eins die enorme Höhe der jetzigen Prozeßkosten, sehr schmerzlich
berührt. Was würde er aber wohl gesagt haben, wenn in Fällen dieser
Art seine Partei anch noch zu einer Entschädigung für Mühe und Ärger der
Gegenpartei verurteilt worden wäre? Freilich sagt der Verfasser, der Richter
solle den Ersatz moralischen Schadens ablehnen, wo solche Anträge sichtlich nur
aus Chikane oder Habsucht oder sonstigen unlautern Gründen gestellt werden.
Aber welche Garantie liegt dafür vor, daß der Richter diese schwierige Schranke
einhalte? Welche Mittel hat der Richter, um den Leuten ins Herz zu sehen?
Wir können nicht umhin, die Wirksamkeit des vom Verfasser vertretenen
Grundsatzes noch in Beziehung auf eine besondre Klasse von Prozessen zu be¬
trachten. Wir meinen die Prozesse, die mittels des Armcnrcchts geführt werden.
Bekanntlich ist das Armenrccht, in Verbindung mit dem Anwaltszwang und den
hohen Gebührensätzen, ein sehr gefährliches Recht. Der Arme kann jederzeit
gegen den Wohlhabenden auftreten und sagen: „Bezahle mir soundsoviel, oder
ich hänge dir einen Prozeß an, der dich noch mehr, als ich fordere, an Ge¬
bühren kostet, die du von mir, dem Armen, nicht ersetzt bekommst!" Das ist
nichts andres als eine legale Form der Erpressung. Ein gewisser Schutz hier¬
gegen liegt jedoch noch immer darin, daß der Arme wenigstens einen gewissen
Anhaltspunkt haben muß, an welchen sich scheinbar ein Rechtsanspruch knüpfen
läßt. Sonst bekommt er nicht leicht einen Anwalt. Welche Ansprüche und
welche Summen würden aber wohl mit Hilfe des neuetablirten Grundsatzes,
daß auch für moralische Schäden Ersatz zu gewähren sei, von den mit Armen¬
recht begabten in Zukunft zum Gegenstand einer Klage gemacht werden können?
Und wer würde denn in solchen Prozessen dem unglücklichen Beklagten, wenn
er auch schließlich siegte, seine Mühe und seinen Ärger, auf deren Ersatz doch
anch er ein Recht hätte, ersetzen? — von den Kosten, die er nicht ersetzt be¬
käme, ganz zu schweigen.
Könnten wir Richter schaffen, die mit der Allwissenheit und der Weisheit
Gottes ausgerüstet wären, so würden wir noch viele ganz vortreffliche Einrich¬
tungen in unser Rechtssystem aufnehmen können. Wir könnten dann einen großen
Teil dessen, was wir jetzt der Moral, dem Anstand und der Sitte überlassen,
in das Gebiet des Rechts einordnen. Die Justiz würde gewissermaßen die Ord¬
nung Gottes auf Erden verwirklichen. Da aber unsre Richter nur Menschen
sind, mit der Schwäche menschlichen Erkennens behaftet, so müssen wir unser
gesamtes Recht darnach einrichten, daß es, soweit irgend möglich, mit menschlich
erkennbaren Dingen arbeitet. Alle moralischen Schädigungen zu repariren geht
über die Kraft des Rechtes hinaus. Wenn fremde Nationen ihrer Rechtsprechung
solche Aufgaben stellen, so mögen sie das thun. Dort bekommt man dann auch
öfters gerichtliche Entscheidungen, in welchen keine Spur von Recht mehr zu
erkennen ist, und über welche die Beteiligten Ach und Weh schreien. Wir aber
sollten uns davor hüten. Mag man da, wo ein besondres Bedürfnis sich zeigt
und der Gegenstand einen genügend faßbaren Charakter annimmt, in einzelnen
Beziehungen unser Recht nach der gedachten Richtung weiterbilden. Einen all¬
gemeinen Grundsatz, wie ihn der Verfasser vorschlägt, aufzustellen, müssen wir
deshalb für bedenklich halten, weil damit das hohe Maß von Willkür, welches
unsre neuere Gesetzgebung schon jetzt in einer sehr bedenklichen Weise in die
Hand des Richters legt, noch um ein erhebliches vermehrt werden würde.
eder Freund der deutschen Kunst blickt mit Bewunderung auf das
sechzehnte Jahrhundert hin, die Zeit, die wir mit dem Namen der
Renaissance bezeichnen. Aber so sehr wir auch diese Blütezeit
unsrer altdeutschen Kunst bewundern, so müssen wir doch die
Thatsache anerkennen, daß ein weit großartigeres Schauspiel als
in Deutschland im Laufe des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts in Italien
sich abspielt. Es entstehen die bedeutendsten Werke der modernen Baukunst:
diese Werke werden außen mit plastischem Schmuck, im Innern mit großen
Freskencyklen versehen; Architektur, Plastik und monumentale Wandmalerei stehen
in gleicher Blüte. Ganz anders in Deutschland. Hier sind im fünfzehnten und
im Beginne des sechzehnten Jahrhunderts nur sehr wenige neue Bauwerke ent¬
standen; die Architektur fehlt zunächst vollständig. Durch dieses Fehlen der
Baukunst war aber auch der Plastik und der Malerei der Boden entzogen, ans
dem die italienische Kunst groß geworden war. Da keine Bauwerke auszuschmücken
waren, so war die Skulptur auf kleinere Aufgaben, Grabdenkmäler u. a., be¬
schränkt. Den Malern war versagt, gleich den Italienern im Fresko zu wirken;
es blieb allein die Tafelmalerei übrig. Aber auch diese gelaugte in Deutschland
nicht zu der Blüte wie in Italien. Statt in Bildern mußten unsre größten
Meister in den unscheinbaren Holzschnitt- und Kupferstichblättern ihre tiefsten
und herrlichsten Gedanken niederlegen.
Der Grund, weshalb der Umkreis unsrer deutschen Kunst ein soviel be¬
schränkterer ist als der der italienischen, ist nicht schwer zu finden. Unsre Kunst
hat nie eine so nachhaltige Unterstützung im großen gehabt wie diejenige Ita¬
liens. Von allen deutschen Städten des sechzehnten Jahrhunderts reicht keine
einzige ein Florenz heran. Während dort umfangreiche Bauten, herrliche Denk¬
mäler, großartige Wandmalereien den Künstlern immer von neuem Beschäf¬
tigung zuführten, konnte Dürer vier Jahre vor seinem Tode an den Rat von
Nürnberg schreiben: „Ich habe auch, wie ich in Wahrheit schreiben kann, die
dreißig Jahre, die ich zu Hause gesessen bin, in dieser Stadt nicht für fünf¬
hundert Gulden Arbeit bekommen." Auch von den reichen deutschen Patriziern
läßt sich kein einziger, selbst Jakob Fugger nicht, mit Agostino Chigi vergleichen.
Wenn sie Altartafcln zum Heile ihrer Seelen, wenn sie Porträts zur Aufrecht¬
erhaltung ihrer Familientraditionen stifteten, so glaubten sie genug für die Kunst
gethan zu haben. Und ähnlich war es mit den deutschen Fürsten. Während
uns in Italien eine ganze Reihe von Fürsten entgegentritt, deren Kunstliebe
sprichwörtlich geworden ist, ist die Zahl derjenigen, welche in Deutschland die
Künste nachhaltig unterstützten, eine sehr geringe. In welcher Weise Maximilian I.
die Kunst förderte, ist unlängst in diesen Blättern*) ausführlich behandelt worden.
Heute wollen wir dem damaligen weltlichen Oberhaupte Deutschlands das geist¬
liche anschließen: dem deutschen Kaiser den Fürstprimas Kardinal-Erzbischof
Albrecht von Brandenburg.
Albrecht von Brandenburg nimmt unter den Fürsten des Reformations¬
zeitalters eine der ersten Stellen ein. Als der zweite Sohn des Kurfürsten
Johann Cicero von Brandenburg am 28. Juni 1490 geboren, wächst er neben
seinem ältern Bruder Joachim heran und wird, kaum achtzehn Jahre alt, zum
geistlichen Stande bestimmt. Auf der vom Kurfürsten Joachim I. nach dem
Muster von Paris und Prag zu Frankfurt a. O. gegründeten Universität voll¬
endet er seine Studien und lernt hier den geistvollen Ulrich von Hütten kennen.
An die Spitze eines reichen Stiftes zu treten, ist früh sein Streben. Und so
finden wir ihn 1509 als Domherrn im Mainzer und Magdeburger Erzstift
vrcibendirt, schon damals mit der Hoffnung, dereinst selbst eines dieser Bistümer
zu erhalten. Und seine Hoffnung verwirklicht sich bald in der glänzendsten
Weise. Als im Jahre 1513 Erzbischof Ernst von Magdeburg stirbt, wird der
junge brandenburgische Prinz seiner hohen Geistesvorzüge wegen einstimmig zum
Erzbischof von Magdeburg und zum Administrator des damit verbundenen Bis¬
tums Halberstadt erwählt. Aber kaum ist die Nachricht von der Bestätigung
Albrechts aus Rom in Berlin eingetroffen, als über seinem Hanpte schon ein
neuer Stern sich zeigte, welcher ihm und dem erlauchten Hause der Hohenzollern
noch mehr Glanz und Größe verkündet. Auch der Erzbischof von Mainz war
im Februar 1514 gestorben. Alle Blicke richten sich auf den jungen, kaum
vierundzwanzigjährigen Albrecht, der soeben die Gunst des Papstes erfahren
hat und von dem man glaubt, daß er auch imstande sein werde, die Kosten des
Palliums selbst nach Rom zu zahlen. Die kanonischen Satzungen, wonach der
Wahlkandidat dreißig Jahre alt sein mußte und noch kein andres Bistum be¬
sitzen durfte, werden beiseite geschoben. Im Frühling 1514 halt Albrecht, be¬
gleitet von seinem Bruder, dem Kurfürsten Joachim, in Mainz seinen feierlichen
Einzug. Zwischen Mainz und Halle ist von jetzt an sein Aufenthalt geteilt,
dazu kommt als Sommerresidenz das schon früher wegen feiner anmutigen Lage
von den Mainzer Kurfürsten besonders bevorzugte Aschaffenburg.
Das Äußere des jungen Erzbischofs ist uns aus dieser Zeit in einem
künstlerischen Meisterwerke erhalten. Auf dem Reichstage in Augsburg 1518,
wo er gleichzeitig auch die Kardiualswürde erhielt, kam er zum erstenmale mit
dem größten deutschen Künstler der damaligen Zeit, der als Vertreter der
Stadt Nürnberg auf den Reichstag geschickt worden war, mit Dürer in Be¬
rührung. Nicht nnr den Kaiser Maximilian, auch den Erzbischof Albrecht hat
Dürer damals gezeichnet. Die Originalzeichnung, welche Dürer anfertigte, ganz
breit mit der Kohle entworfen und heute gleich derjenigen Maximilians in der
Albertina in Wien bewahrt, zeigt uns den Kurfürsten in dreiviertel Lebensgröße,
etwas uach links gewandt, mit Pirett und Morett bekleidet. Diese Zeichnung
gefiel Albrecht so sehr, daß er einen Kupferstich darnach anfertigen lassen wollte.
Dürer zeichnete mit der Feder die Vorlage für denselben, die sich heute in der
Kuusthalle zu Bremen befindet, und fertigte nach ihr 1619 den Kupferstich an,
der unter den Werken des Altmeisters unter der Bezeichnung „der kleine
Kardinal" bekannt ist. Zweihundert Gulden in Gold und zwanzig Ellen Damast
bekam er für die Arbeit von Albrecht geschenkt.
Es ist ein vornehmes, feines Gesicht, jedoch ohne den Ausdruck energischer
Thatkraft, das uns in dem Stücke des „kleinen Kardinals" entgegentritt. Die
Züge haben eine gewisse Ähnlichkeit mit denen Leos X., mit dem Albrecht
überhaupt viel gemein hat. Beide leben in einer Zeit, die mit dem Alten
bricht, neue Anschauungen zur Geltung zu bringen sucht. Beiden ist Gelegenheit
geboten, tief in den Gang der Reformation einzugreifen, mit trotziger Kraft die
Kirche zu verteidigen. Aber beide suchen sich geflissentlich über die ganze Be-
wegung zu täuschen, beide sind nicht zu thätiger Arbeit, sondern zu genußreichen
Leben geboren. „Laß uns das Papsttum genießen, da es Gott uns beschieden
hat," ruft gleich nach seiner Wahl Leo X. seinem Bruder zu; sein vornehmster
Günstling, der Kardinal Bibbiena, aber findet, daß zur Vollkommenheit des
römischen Hofes nichts fehle als die Anwesenheit schöner Frauen. Beide
Äußerungen lassen sich sehr wohl auch im Munde Albrechts von Brandenburg
denken. Albrecht steht gleich Leo X. der Kirche ziemlich gleichgiltig gegenüber.
Die Humanisten mit Erasmus an der Spitze gelten ihm mehr als Moses und
die Propheten. Er weiß, daß die überlieferten kirchlichen Zustände verdorrt
und verknöchert sind und hält sie einer Reformation nicht für wert. Er belacht
mit Erasmus die Orthodoxen und nimmt von Hütten ebensowohl elegante
lateinische Verse wie die trockenste Prosa „über die französische Krankheit" als
Nenjahrsgeschenk an. Ein sonderbares Gemisch von Scholastik und Humanismus,
von Christentum und Heidentum ist seine Philosophie. Er will das Leben
genießen und weiß, daß die Kunst den Lebensgenuß erhöht, nicht die Kunst des
Mittelalters mit ihren Spitzbogen, die sehnsüchtig zum Himmel emporstreben,
mit ihren asketischen Heiligen und ihren singenden Engeln, sondern die Kunst,
die soeben jubelnd von Italien über die Alpen in die deutschen Lande herab¬
gestiegen war, mit ihren antiken Rundbogen, die zum behaglichen Verweilen
auf der Erde einladen, mit ihren schönen nackten Körpern, ihren spielenden
Pudel. Die Kunst ist seine Frende und dient ihm gleichzeitig dazu, die wankenden
Grundpfeiler der Kirche äußerlich aufzuputzen. Sie erhöht seinen eignen Lebens¬
genuß und giebt zugleich der gealterten Kirche einen neuen Glanz und einen
goldigen Nimbus. In diesem Sinne haben wir die Knnstbestrebungen Albrechts
aufzufassen. Er würde geschichtlich viel größer dastehen, wenn er, anstatt die
Schäden der Kirche mit äußerm Blendwerk zu verdecken, an dem innern Neubau
derselben mitgearbeitet hätte. Aber das, was der Historiker beklagt, erkennt
freudig der Kunsthistoriker an. Er bewundert die vielen Kunstwerke, die Albrecht
ins Leben rief, und begrüßt in ihm einen der ersten Beschützer der deutschen
Renaissancekunst.
Gleich die erste Kunstsammlung, die Albrecht gründete, macht uns mit
dem ganzen Geiste dieses Kirchenfürsten bekannt, zeigt uus, daß Albrecht kein
Mittel scheute, um seiner Kunstliebe fröhnen zu können. Wie Kaiser Maximilian,
war auch er vom Beginne seiner Regierung bis zu seinem Tode in steter Geld¬
verlegenheit. Er konnte die Kunst nicht lediglich aus persönlicher Liebhaberei
pflegen, sondern mußte auch versuchen, durch Kunstwerke, die er öffentlich aus¬
stellte, Geld in seine leeren Taschen zu lenken. Der fromme Glaube der Menge
kam ihm dabei zu Hilfe. Es ist bekannt, welche bedeutende Rolle der Reliquien¬
dienst in der katholischen Kirche spielte. Schon als Justinian mit seiner
Sophienkirche den Tempelerbauer Salomon zu übertreffen hoffte, ließ er in
die Schichten ihrer Kuppel heilige Gebeine einmauern, und zu Ende des Mittel¬
alters besaß sogar jedes Bürgerhaus sein kleines Heiligtum. In jede Stadt,
die einen reichen Reliquienschatz besaß, strömten die Wallfahrer und ließen große
Geldsummen zurück. Aus diesem Grunde hatte selbst Friedrich der Weise, der
spätere Beschützer der Reformation, um hausväterlich für seine Residenz zu
sorgen, in dem sogenannten Wittenberger Heiligtumsbuch den Zeitgenossen 1509
die Bedeutung seines Reliquienschatzes vorgelegt. Er hatte von Lukas Cranach
alle Heiligtümer, die in der Stiftskirche zu Wittenberg bewahrt wurden, ab¬
zeichnen, sie dann in Holz schneiden und in einem besondern Bändchen heraus¬
geben lassen, das jetzt nur in wenigen Exemplaren noch erhalten ist/") In
ähnlicher Weise wollte auch Kurfürst Albrecht seine leeren Taschen füllen.
Schon sein Vorgänger im Erzstift Magdeburg, Ernst von Sachsen, hatte eine
Menge Reliquien zusammengebracht und in der dazu errichteten Kapelle der
heiligen Magdalena auf dem Hofe seiner Burg aufgestellt. Diesen Gedanken
nahm Albrecht auf. Glaubte er auch nicht mehr an die Wunderkraft der
Reliquien, so konnte er doch an den schönen Gefäßen, worin sie bewahrt wurden,
die edelsten Kunstwerke bewundern. Und so vermehrte er die Sammlung un¬
aufhörlich; in fremden Ländern erwarb er Beiträge durch Kauf, in den eignen
erpreßte er sie, an den Fürstenhöfen erbat er sie. Bald hatte er eine gro߬
artige Sammlung zusammengebracht. Sie umfaßte Hunderte von Meister¬
werken der kirchlichen Kunst, von uralten elfenbeinernen Brotbüchsen an bis zu
den feinsten Gebilden der eben aufblühenden Renaissance. In ganzen Reihen
waren die uns so selten erhaltenen Prachtsärge aufgestellt, von den zierlichsten
aus lautern Gold, von denen einer ein Stückchen von der Ruthe Mosis
enthielt, bis zu den kolossalen, deren jeder mehrere Gerippe oder ganze Leiber
von Heiligen bewahrte. Dazu kamen ganze Reihen prächtiger Monstranzen,
Büchsen, welche Reliquien bargen, Heiligenbilder u. a. Alles war in neun
Gängen aufgestellt, um die Pilgerschareu bequem hindurchführen zu Wurm.
Im ersten befanden sich die Reliquien aus dem heiligen Lande, im zweiten
folgten die des Heilandes, im dritten diejenigen der „Königin Maria," im
vierten die der Patriarchen, im fünften die der Apostel, im sechsten die der
Märtyrer, im siebenten die der Bekenner, im achten die der heiligen Jungfrauen,
im neunten die der erwählten Frauen und Witwen.
Diese Heiligtümer sollten an einem Tage des Jahres in Halle von den
Priestern dem herbeigeftrömtcn Volke gezeigt werden. Und damit sie der Reihe
nach „gezeigt" oder „ausgerufen" werden könnten, ließ Albrecht dafür ein be¬
sondres liturgisches Buch, eine Agende anfertigen. Er beauftragte einen Maler,
wahrscheinlich Simon von Aschaffenburg, auf großen Pergamentblättern die
Abbildungen der Reliquien in Wasserfarben niederzuzeichnen. Dieses prächtige
Miniaturwerk, in einen Band gebunden, umfaßte 344 Abbildungen. Sieben
stellen kostbar verzierte Bücherdecken vor, fünfzig vergegenwärtigen verschiedene
Monstranzen in der reichsten Fülle gothischer Architekturformen, zweiundfünfzig
zeigen ganze Figuren von Heiligen, insbesondre zwölf Silberstatuetten der
Apostel, fünfzehn Brustbilder und Köpfe; dazu kommen die unzähligen Ab¬
bildungen von herrlichen kleinen Altären und künstlerisch gestalteten Neliquiarie».
Den Anfang des prächtigen Manuskripts bilden die Worte: „Dicße tzcigunge
und Wahsunge deß allerhochwürdigsten Heyligthumbs ist geleitet und verordnet
in Newn teile oder Genge." Dem Akt des „Zeigers" unmittelbar vorher
ging ein Warnruf an die Volksmasse: „Stehet stille und dringet nicht einander,
und ob sich einigerlei Aufruhr, Geschrei von Feuer oder anderem begebe, sollt
ihr euch daran nicht kehren, bis so lange man euch hinwegzugehen erlaubt."
Diese wenig feierlichen Worte leiteten das „Ausrufen" ein, welches der Priester
nach dem Text vornahm: „Erstlich wird hier gezeiget eine ganz goldene Rose,
die Papst Leo X. unserm gnädigen Herrn dem Kardinal gegeben hat" u. s, w.
Aber es genügte nicht, daß dieser Schatz in .Halle aufgestellt war und den
Einheimischen gezeigt wurde; allerorten mußten die Gläubigen erfahren, was
in Halle zu sehen sei und welchen Ablaß man durch ein Gebet bei diesen
Heiligtümern gewinnen könne. Deshalb ließ Albrecht die vorzüglichsten der
vom Meister Simon entworfenen Zeichnungen in Kupfer stechen und unter
dem Titel „Vorzeichnuß und zeichung des hochlobwürdigen Heiligthums der
Stiftskirchen der Heiligen Se. Moriz und Maria Magdalena zu Halle" heraus¬
geben. Dieses kleine Buch, welches ausdrücklich alle Gläubigen zur Heilig-
tnmsfcchrt nach Halle aufforderte, erschien Ende 1520 und umfaßt im ganze»
238 Abbildungen. Als Titelblatt ist das Porträt Erzbischof Albrechts, der
„kleine Kardinal" von Dürer vorausgeschickt. Mit Blatt 3 beginnen die Ab¬
bildungen der Heiligtümer, die bis Blatt 120 gehen. Es ist ein Auszug aus
dem Miniaturwerk und führt wie jenes die Kostbarkeiten in neun Gängen vor.
Nun galt es aber auch, diesem kostbaren „Heiligtum" eine würdige Be¬
hausung zu schaffen. Und so begann denn Albrecht im Jahre 1520 die gothische
Kirche, die bereits sein Vorgänger Bischof Ernst als „Se. Moriz- und Magda-
lenenkirche" für sein „Stift" bestimmt hatte und in der das „Heiligtum" auf¬
gestellt war, in neuem glänzenden Stile umzubauen.
Im Jahre 1S20, noch vor dem Erscheinen des Hallischen Heiligtumsbuches,
wurde mit dein Umbau und der Erweiterung der alten Stiftskirche begönne».
Leo X. gab seine Einwilligung, und der Rat der Stadt Halle bewilligte zum
Neubau ein Zuschuß von 8000 Thalern. Man hat früher oft angenommen,
daß die Stiftskirche von Albrecht ganz neu erbaut worden sei. Gegen diese
Annahme schreien aber die Steine. Die Hauptteile, welche Albrecht beibehielt,
sind nach ihrem Stil in viel älterer Zeit, der Chor im vierzehnten Jahrhundert,
das Schiff im fünfzehnten entstanden. Aber man bedarf gar keiner stilistischen
Beweise. Das zweite Blatt des Heiligtumsbnches enthält einen Holzschnitt,
welcher die beiden Bischöfe Ernst und Albrecht das Modell der Stiftskirche
tragend darstellt. Beide werden hier als die Erbauer bezeichnet.
Albrecht war während des Baues selten in Halle. Streitigkeiten in Mainz,
die Krönung Karls V. in Aachen, die Reichstage von Worms und Nürnberg
erforderten seine Anwesenheit. Namentlich die doppelte Anwesenheit in Nürn¬
berg aber, 1522 und 1522—23, regte wieder vielfach seinen Kunstsinn an. Er
lernte die berühmten Künstler der alten Stadt persönlich kennen, erfreute sich
an ihren Werken und gab ihnen wiederholt Aufträge.
Es ist wahrscheinlich, daß er damals in Nürnberg bei einem der vortreff¬
lichen Stein- und Stempelschneider sein Staatssiegel bestellte, das mau heute
noch an verschiednen Urkunden des Kardinals, wie an seinem Testamente, sowie
in besonders schönem und gut erhaltenem Abdrucke an einer Urkunde des städtischen
Archivs in Augsburg findet, welche im dortigen Museum ausgestellt ist. Es
stellt Albrecht als Kurfürsten-Erzbischof, Kreuz und Schwert haltend, in einer
im Renaissancestil gebildeten Nische dar; über seinem Haupte schwebt die Taube
des heiligen Geistes, und auf beiden Seiten stehen Engel; oben sieht man die
Jahrzahl 1522 und unten das mit dem Kardinalshute bedeckte reiche Staats¬
wappen. Zeichnung und Gravirung stehen in Feinheit des Geschmackes und
trefflicher künstlerischer Ausführung den Arbeiten der vorzüglichsten damaligen
Stempelschneider Italiens nur wenig nach.
Den Nürnberger Jlluministen und Miniaturmaler Nikolas Glockenton be¬
auftragte Albrecht, ihm ein prächtiges Meßbuch anzufertigen. Auch von Dürer
sich nochmals zeichnen zu lassen fand er Gelegenheit. Die Zeichnung, auf weiß
grundirten Papier sehr sorgfältig ausgeführt, befindet sich gegenwärtig im
Louvre zu Paris. Dürer legte sie dann einem neuen Kupferstiche zu gründe,
der im Unterschiede zu dem kleineren Stiche von 1518 als der „große Kardinal"
bezeichnet wird. Die Zeichnung ist genau beibehalten, nur ist der Kardinal
nicht barhäuptig, sondern mit dem Pirett bedeckt. Dürer übersandte dem Erz-
bischof noch im Jahre 1523 die Kupferplatte samt 500 Abdrücken und gab in
dem Schreiben, das er seiner Sendung beifügte, gleichzeitig Nachricht über den
Fortgang der Arbeit an Glockendons Missale, dessen Vollendung Albrecht sehr
am Herzen lag.
Als der Kurfürst im August 1523 vom Nürnberger Reichstage nach Halle
zurückkehrte, war dort inzwischen der Umbau der Stiftskirche zur Vollendung
gediehen, sodaß sie eingeweiht und dem öffentlichen Gottesdienste übergeben werden
konnte. Die Einweihung geschah am 23. August 1523 und wurde von Albrecht
selbst vollzogen. Freilich verriet weder der Stil der Außenseite der Kirche be¬
sondern Geschmack, noch war die Eilfertigkeit Albrechts der Gediegenheit seines
Baues nützlich. Zwei schöne Türme an der Westseite des Domes waren so
lüderlich angelegt, daß man sie schon im Jahre 1541 wieder abtragen mußte.
Und so macht denn das turmlose Kirchengebäude heute, von außen betrachtet,
den Eindruck der Schwerfälligkeit und sieht mehr einem weltlichen als einem
kirchlichen Baue gleich.
Dieses unscheinbare Äußere ließ kaum ahnen, was für Schätze im Innern
der Kirche verborgen waren. Schon im Jahre 1524 hatte Albrecht das Ver¬
gnügen, das nencmgefertigte Glockendonsche Missale ausstellen zu können, ein
Buch, an dessen Pracht kaum ein andres Meßbuch heranreichte. Da sehen wir
zunächst auf der Einbanddecke Albrechts Bildnis nach dem Dürerschen Kupfer¬
stiche auf einer großen Silberplatte angebracht. Darauf folgt im Innern ein
Kalender mit reichen Arabeskenverzierungen und zwölf Mouatsbildern. Die
Randverzierungen haben viel ähnliches mit Dürers klassischen Randzeichnungeu
zum Gebetbuche Kaiser Maximilians. Eine Fülle von Blumen ist auf dem
Rande ausgestreut. Darin treiben kleine Käfer und bunte Schmetterlinge ihr
Wesen. Vögel, stolze Pfauen, Hirsche, Hasen, Eichhörnchen, Hunde, Katzen,
Affen, Störche, Eulen find herbeigeeilt, um mit einander zu spielen. Auch an
heiteren, scherzhaften Darstellungen fehlt es nicht. Da braten die Hasen den
Jäger; Schwein, Storch und Eule geben Konzert; auch zahlreiche Szenen aus
der Fabel von Reinere Fuchs kommen vor. Die Monatsbilder gehen ihrem
Inhalte nach auf diejenigen zurück, die man schon im Mittelalter den Kalendern
beigegeben hatte, nur daß im Meßbuche die Ausführung eine feine, künstlerische
ist. Im Januar wärmt man sich am Feuer, im Februar werden Pfähle herbei¬
getragen, um die Neben daran zu binden, im März pflügen die Bauern, im
April werden die Herden auf die Weide getrieben, im Mai sitzen die Liebes¬
pärchen unter den blühenden Linden, im Juni wird geankert, im Juli gemäht,
im August das Getreide geschnitten, im September die Ernte eingebracht, im
Oktober die Winterfrucht gesät, im November Holz gehackt, im Dezember das
Schwein geschlachtet. Das alles wird in sorgfältigster Weise vorgeführt, sodaß
sich die Bilder sehr wohl mit den gleichzeitigen vortrefflichen Blättern des
Breviariums Grimani vergleichen lassen. Darnach folgen noch dreiundzwanzig
blattgroßc Miniaturen, welche das Leben Christi und der Maria von Christi
Geburt an bis zum jüngsten Gerichte vorführen. Auch diese sind vortrefflich;
freilich darf man nicht übersehen, daß mir weniges Glockendous eigne Erfindung
ist, das meiste auf Blätter Schongauers, Dürers oder Crcmachs zurückgeht.
Rechnet man dazu noch die übrigen 116 kleinern Bilder, so ergiebt sich ein
Prachtwerk, wie es schöner kaum gedacht werden kann. Auf der letzten Seite
steht die einfache Notiz: „Ich Niklas Glockenton zu Nuremberg Hab Disses
Buch illuminirt Und Bollent Im Jar 1524."
So wurde allmählich die Ausschmückung der Kirche beendet. Im Jahre
1526 entstand die Kanzel, eins der reichsten Skulpturwerke unsrer Renaissance,
völlig mit Laubwerk und spielenden Putten geschmückt, über dem Aufgang mit
einem Loos llomo, an der Trcppcnbrüstung mit den Kirchenvätern, an der obern
Einfassung mit den Aposteln und Evangelisten geziert. An jedem der vierzehn
Pfeiler des Mittelschiffes stand in der Höhe der Empore ein steinernes Apostelbild,
im großartigen Stile Dürerscher Kunst gehalten. Von derselben Pracht war
die Thür der Sakristei, mit reichen Reliefs geschmückt und von zwei ganz in
Bildwerk aufgelösten Säulen eingefaßt.
Ebenso wie die Plastik wirkte aber auch die Malerei. Es läßt sich nicht
mit Sicherheit angeben, in welchem Jahre das berühmte Altarwerk der Kirche
entstand, das soviel Staub in der Kunstgeschichte aufgewirbelt hat. Es besteht
aus einem Mittelbild und vier Seitenflügeln. Das Mittelbild zeigt die Be¬
kehrung des heiligen Mauritius, des Schutzherrn der Kirche, durch den heiligen
Erasmus. Erasmus, im vollständigen reichen bischöflichen Ornate, in der Linken
einen prächtigen goldnen Bischofsstab führend, steht, von einem alten, ehrwürdigen
Geistlichen in rotem Talar begleitet, auf der einen Seite. Ihm tritt der Mohr
Mauritius im Ritterharnisch des sechzehnten Jahrhunderts, von mehreren
Kriegsknechten umgeben, entgegen. Unten am Fuße des Gemäldes sind die
drei Wappenschilder der Bistümer Mainz, Magdeburg und Halberstadt an¬
gebracht. Von den Flügelbildern ist das erste der zweiten Patronin der Kirche,
der heiligen Magdalena, gewidmet, die man in der modernen Tracht des sech¬
zehnten Jahrhunderts mit dem Salbgefäß in beiden Händen in einer Landschaft
stehen sieht. Daran schließen sich die Verwandten der Magdalena, die heilige
Marthci, mit Weihwassergefäß und Sprengwedel über dem Drachen stehend,
und der heilige Lcizcirus. Im vierten Flügelbilde endlich wird der heilige
Chrysostomus im bischöflichen Ornate mit Buch und Stab vorgeführt. Dieses
Altarwcrk spielt, wie gesagt, in der Kunstgeschichte eine wichtige Rolle. Man
hat es früher dem Mathias Grünewald aus Aschaffenburg zugeschrieben und
sich namentlich aus den Flügelbildern ein Urteil über den Stil dieses Meisters
zu bilden gesucht. Erst Woltmann wies nach, daß nur das Mittelbild von
Grünewald herrührt, während die Flügelbilder nichts mit ihm zu thun haben.
Da hat man nun seitdem angenommen, daß die Flügelbilder erst in Halle selbst
von einem sächsischen Künstler, wahrscheinlich Lukas Cranach, hinzugefügt seien.
Da jedoch die feierliche Würde und Ruhe der Gestalten zu dem mehr kleinlichen
Wesen Cranachs nicht Wohl paßt, wird man wahrscheinlich auch diesen fallen
lassen müssen und eher ein einen andern Künstler, etwa Meister Simon von
Aschaffenburg, zu denken haben, der gerade damals, wie die Urkunden nachweisen,
mehrere Zahlungen von Albrecht erhielt und von dem aller Wahrscheinlichkeit
nach auch die Miniaturen des Heiligtumsbuches herrührten.
Aber nicht nur der Altar, auch die Wände der Kirche waren mit vielen
Bildern geschmückt, namentlich werden die Bildnisse Karls V. und Albrechts
selbst, auch eine Statue des heilige» Mauritius, eine in Silber getriebene
Arbeit, erwähnt; herrliche, kunstvoll gewirkte Teppiche aus flandrischen Fabriken
schmückten den Chor. Rechnet man dazu das in der Stiftskirche aufgestellte
„Heiligtum," so ergiebt sich eine wahrhaft märchenhafte Pracht, und man
begreift das Lobgedicht, das der Dichter Sabinus nach Vollendung des Baues
in klassischem Latein anstimmte:
Da wo die Saale in Halle bespült die städtischen Mauern,
Ragt, aus mächtigen Steinen gefügt, ein heiliger Tempel;
Albert, der edle Fürst, baute das herrliche Werk.
Dir, Mauritius, ist es geweiht, und jener Maria,
Die des erstandenen Herrn Züge vor andern geschaut.
Werke von Marmor schmücken des Hauses hochragenden Eingang,
Unter dem wandelnden Fuß leuchtet das bunte Gestein.
Ringsum wallet herab von den Wänden der Teppiche Zierde,
Welche des belgischen Volks künstliche Nadel gestickt;
Fäden von strahlendem Gold durchziehen das reiche Gewebe,
Die feinbildende Hand hell in die Fläche gewirkt.
Mit den Gemälden, die hier voll Anmut prangen, verglichen,
Schwindet der Göttin Gestalt, welche Apelles erschuf;
Doch kein sinnebethörendes Werk ist hier zu erblicken,
Venus, der lockenden, sind heilige Orte versagt.
Wie von Qualen zerfleischt starkmütig die Gläubigen litten,
Zeigt dem ergriffnen Gemüt rührend das reine Gebild;
Wie uns der Jungfrau Sohn, dem Himmel und Erde gehorchen,
Heilig in Leben und That, lehrte des Vaters Gebot;
Wie sein heiliges Blut hinströmt am Stamme des Kreuzes,
Welches von Sünde und Tod löset der Menschen Geschlecht;
Wie er am Ende der Welt einst naht als mächtiger Richter,
Wägend Verdienst und Schuld, göttlich bestrafet und lohnt.
Dort steht Karl, der Beherrscher des Reichs, in würdigem Abbild,
Strahlend im lockigen Haar tragend des Reichs Diadem,
Wie er erscheint, wenn Herrschergewalt ausübend im Rate
Er rechtskräftigen Spruch mächtigen Fürsten erteilt;
Goldenes Vließ, und die Hand fasset das blitzende Schwert.
Albert selbst steht hier in ähnlich gestaltetem Bildnis,
Der aus eignem Schatz kaufte den kirchlichen Schmuck.
Edles Gestein umfaßt weitlcuchtend die doppelte Krone,
Während den Bischofsstab kräftig die Rechte umschließt.
Doch vor sämtlichen ragt ein silbcrgetricbenes Bildwerk,
Panzergeschmeide bedeckt schützend die Rittergestalt.
Held Mauritius ist es, im Bilde auch zeiget die Kraft sich,
Seine Gebeine bewahrt sorglich der innere Raum.
Endlos reihen sich goldne Gefäße an goldne Gefäße,
Kelche zum frommen Gebrauch heilige» Dienstes geweiht;
Nicht so zahlreich leuchten die Tag im kreisenden Jahre
Als die Gewänder, die hier starren von edlem Metall.
Was ans Minen zu Tag Pannonien fördert an Silber,
Was von Gold ihm gewährt nimmer versiegender Schacht,
Was in den Wellen der Tagus wälzt und der reiche Paktolus
Scheint den einzigen Ort herrlich zu schmücken vereint.
Köstlich verziert umschlingt ihm den Nacken des phrygischen Widders
Als die Ausschmückung der Stiftskirche im wesentlichen vollendet war,
wendete sich Albrecht sofort andern Plänen zu. Er fühlte sich nicht wohl,
wenn er nicht neue Kunstwerke entstehen sah. Es war die Zeit, wo der Gräber¬
luxus die größte Rolle spielte, wo jeder Fürst schon zu Lebzeiten sein Grabmal
errichten ließ. Wie Kaiser Maximilian schon zehn Jahre vor seinem Tode
tausend Hände für sein Grabmal in Innsbruck in Bewegung gesetzt hatte, so
dachte auch Kardinal Albrecht sehr früh daran, fein Grabmal fertigen zu lassen.
Schon im Jahre 1523 wendete er sich an den Patrizier Kaspar Nützel in
Nürnberg, der sowohl Kaiser Maximilian wie Kardinal Albrecht in Kunstsachen
vielfach behilflich war, und ließ durch diesen mit dem berühmten Erzgießer Peter
Bischer unterhandeln. Wischers Sohn wurde an Albrecht abgeschickt, um mit
diesem die Einzelheiten des Werkes zu beraten. Im Jahre 1525 war das
Grabmal vollendet und wurde in der Stiftskirche zu Aschaffenburg aufgestellt.
Auf einer großen Platte ist in mäßigem Relief die lebensgroße Gestalt des
Kirchenfürsten dargestellt, in würdevoller Haltung, von schweren Gewändern um-
flossen. Auf dem reichverzierten Rahmen sind die verschieden Wappenschilder
des Kurfürsten symmetrisch verteilt. Am Fuße des Reliefs liest man: 0x>. ?stri
Visotier MrimdörZ. 1525.
In der Zeit, als dieses Grabmonument gefertigt wurde, war Albrecht selbst
in strotzender Gesundheit. Wir sehen dies aus verschiednen Bildern, welche
Lukas Cranach damals von ihm entwarf. Da haben wir zunächst das vor¬
treffliche Porträt in Berlin, Albrecht in halber lebensgroßer Figur nach rechts
gewendet, in Kardinalstracht. Wir haben ferner zwei Tafeln, welche uns den
Kirchenfürsten unter dem Bilde des heiligen Hieronymus vorführen. Die eine
ist der sogenannte Hieronymus im Gehäus vom Jahre 1525, welcher sich heute
in der Darmstädter Galerie befindet. Die andre vom Jahre 1527, die heute
im Berliner Museum bewahrt wird, zeigt Albrecht als heiligen Hieronymus
zwischen Buschwerk vor einem auf Baumstümpfen hergerichteten Tische sitzend,
von verschiednen wilden Tieren friedlich umgeben. Weshalb Albrecht mit be¬
sondrer Vorliebe sich unter dem Bilde des heiligen Hieronymus darstellen ließ,
ist unersichtlich.
Daneben entstand eine Reihe von Kunstwerken an andern Orten. Um auch
den Bürgern von Mainz seine Sorgfalt für ihr Wohl zu beweisen, errichtete
Albrecht im Jahre 1526 zur Verherrlichung des Sieges Karls V. über Franz I.
bei Pavia den schönen Brunnen auf dem Markte in Mainz, eine der frühesten
Schöpfungen der vollendeten Renaissance in Deutschland. Ein dreiseitiger Zieh¬
brunnen ruht mit dem obern Gebälk auf drei Pfeilern, die aus der untern
steinernen Brüstung hervorwachsen. Derbe Konsolen vermitteln den Übergang
zwischen Pfeilern und Architrav. Aus den Kapitalen erheben sich geschweifte
Streben und schließen sich an eine in der Mitte stehende Pyramide an, die
dnrch einen auf den Gesimsen ruhenden Sockel getragen wird; an dieser Pyra¬
mide sind drei Nischen übereinander angebracht, in welchen die Bildnisse der
Bischöfe Martin, Bonifacius und Ulrich in ihren bischöflichen Ornaten stehen,
während die äußern Säulenflächen mit Attributen der Feldarbeit, des Fleißes,
der Künste und des Krieges in Relief verziert sind.
Aber auch damit waren Albrechts Baupläne noch nicht erschöpft. Die
Ausschmückung der Stiftskirche war kaum beendet, als der Erzbischof den Plan
faßte, noch ein andres großes Gebäude errichten zu lassen. Das neue, mit
„weltlichen Kanonikern" besetzte Kollegiatstift sollte auch mit einer Universität
verbunden werden. Die Kanoniker und Marien des Stiftes sollten zugleich
Lehrer einer neuen Hochschule werden. Das Gebäude, welches Albrecht zu
diesem Zwecke errichten ließ, ist die heutige Residenz. Sie war an der Stelle
gebaut, wo vorher ein Hospital gestanden hatte, und man begann bald darin
Vorlesungen über katholische Theologie zu halten. Das Gebände hat jetzt, arg
verbaut und entstellt, wenig mehr von seinem ursprünglichen Glänze bewahrt.
Zwei große Bogenportale, jedes mit einem kleinern Pförtchen zur Seite, in
einfachen Frührenaissanceformen gehalten, führen in das Innere. Ein Säulen¬
gang, von dem jetzt noch Teile erhalten sind, umgab das Erdgeschoß. Der
weite, unregelmäßige Hof muß ehemals einen bedeutenden Eindruck gemacht
haben.
Nachdem Stiftskirche und Universität vollendet waren, unternahm Albrecht
sofort andre neue Kirchenbauten. Er ließ die beiden alten Kirchen auf dem
Markte, die Marienkirche und die Gertrudenkirche, 1529 abbrechen und an ihrer
Stelle eine neue Marienkirche bauen. Die Kirche, deren Bau 1530 begann,
wurde freilich erst am 8. Dezember 1554, wie die über der südlichen Eingangs¬
thür befindliche Inschrift bezeugt, durch den Baumeister Nikolaus Hofmann voll¬
endet. Nichtsdestoweniger hat Albrecht schon während des Baues für ihre innere
Ausstattung gesorgt. Ein feierliches Altarbild, 1529 vollendet, schmückte das
Innere. In der Mitte steht Maria, auf der Mondsichel ruhend, mit dem
Jesuskind auf dem Arme, von geflügelten Engelsköpfen umgeben. Links vor der
Himmelskönigin kniet betend Kardinal Albrecht im Purpurgewande. Auf den
Seitenflügeln des Bildes sind der heilige Moritz und andre Heilige fast lebens¬
groß dargestellt. Auch über den Meister dieses Bildes sind wie über den des
Altarwerkes der Stiftskirche die Ansichten geteilt. Die einen betrachten das
Werk als eine der vortrefflichsten Arbeiten Lukas Cranachs, während die andern
darin das Hauptwerk des Pseudogrünewald (Simon von Aschaffenburg) er¬
blicken.
Auch ein prächtiges Gebetbuch war wiederum nötig, und abermals wurde
Glockenton damit beauftragt. Das Buch wurde im Jahre 1531 vollendet.
Auf der ersten Pergamentseite ist von Albrechts eigener Hand eingeschrieben:
^.11110 Ooillim NVXXXI ooiQplewrQ L8t xr^s8sus oxus Liibd^to xost Invoog-vit,
^1dörw8 Og,räivÄliL niauu xroxrig. soripsit. Wenn die Miniaturen sämtlich von
Glockenton herrühren, so hat dieser darin alle seine frühern Arbeiten übertroffen.
Namentlich ein Blatt — wie in einem Kirchhofe vier Mönche einen Sarg in
die Erde lassen, der Pfarrer denselben mit Weihwasser besprengt und der Toten¬
gräber gleichgiltig zur Seite blickt — ist so vortrefflich, daß man unwillkürlich
an einen niederländischen Meister denkt.
Aber noch von einem zweiten Künstler ließ der Kardinal damals arbeiten.
Hans Sebald Beham hatte um das Jahr 1630 seiner Vaterstadt Nürnberg
den Rücken gekehrt und kam aus seiner Wanderung mit Albrecht in Berührung.
Von diesem Künstler rührt zum Teil ein zweites, nach Albrechts eigenhändiger
Inschrift ebenfalls 1531 vollendetes Gebetbuch her. Von den acht vorzüglichen
in dem Buche enthaltenen Miniaturen, welche die Beichte, die Vorbereitungen
zur Messe und die Messe selbst darstellen, sind zwei mit Glockendons, vier mit
Behams Monogramm bezeichnet.
Diese vortrefflich gelungenen Blätter veranlaßten den Kardinal dem kunst¬
fertigen Beham noch einen größern Auftrag zu geben, den dieser im Jahre 1534
ausführte. Er schmückte eine Tischplatte in Albrechts Schlosse zu Mainz mit
vier Szenen aus dem Leben des David, welche darstellten, wie der König aus
siegreicher Schlacht heimkehrend vom Volke empfangen wird, wie er die schöne
Bathselm im Bade belauscht, wie Urias, Bathsebas Gatte, in der Schlacht fällt,
und wie der Prophet Nathan dem königlichen Sünder die Bußpredigt hält.
Die zweite dieser Szenen ist die fesselndste. Es handelt sich dabei nicht um den
König David, der nur in weiter Entfernung auf einem Balkon sichtbar ist,
sondern um den Kardinal Albrecht selbst, welcher von seinem Hofstaate umgeben
an der Brüstung des Bassins lehnt und der Badenden zuschaut. Diese Badende
ist nicht Bathseba, sondern die schöne Margaretha Riedinger, die Geliebte des
Kardinals, mit der Albrecht trotz aller Anfeindungen Luthers viele Jahre hindurch
in Verbindung blieb.
Als Margaretha im Jahre 1536 starb, ließ Albrecht ein prächtiges
Bronzegrabmal für sie anfertigen, das in der Stiftskirche zu Aschaffenburg
aufgestellt wurde. Die Master sowie die Decke desselben sind mit Arabesken,
dann mit Engelsgestalten und Leidenswerkzengcn des Heilands in Niello verziert.
Auf den vier Ecken der Decke ruhen bronzene leuchterhaltende Genien. An der
untern Deckplatte, welche den Sarg trägt, erblickt man ein Herz mit einer Stich¬
wunde und die Jahreszahl 1536. Auf dem Friese siud die Sprüche des
Psalmisten zu lesen: läso last-sens sum w dis, <zMg üiots, suirt milli. In
«Zoinum clomini iviwus. Ohne Zweifel rührt auch dieses Werk aus der Werkstatt
Peter Vischers her.
Während so Albrecht durch prächtige Werke, die er entstehen ließ, die
sinkende Kirche zu stützen, das Volk wieder für dieselbe zu gewinnen suchte,
hatte Luther auf andre Weise den Weg zum Herzen seiner Nation gefunden.
Nicht nur in den benachbarten Fürstentümern, dem Kurfürstentum Brandenburg
und dem Herzogtum Sachsen hatte die Reformation die Oberhand gewonnen,
selbst in Albrechts Erzbistum hatten sich schon lange die Neuerungen Bahn
gebrochen. Albrechts Schöpfung, das neuerrichtete Kollegiatstift, das er als
einen Damm gegen den Einbruch der Reformation geschaffen, brach zusammen;
von den Angehörigen des Stiftes wurde einer nach dem andern lutherisch.
Selbst das „Heiligtum" zog keine Wallfahrer mehr herber, denn Luthers
Schriften hatten dem Volke den Glauben an den „Abgott in Halle" genommen.
Es muß ein erschütternder Augenblick in Albrechts Leben gewesen sein, als ihm
im Jahre 1540 die Gewißheit aufging, daß er sich in Halle nicht mehr halten
könne, als er sich genötigt sah, die ihm von jeher so lieb gewesene Residenz,
die er mit Bauten und Bildwerken geschmückt hatte, für immer zu verlassen.
So ließ er denn alle die vielen von ihm gesammelten Heiligtümer, Kirchen¬
zierden und Kostbarkeiten, die sich in der Stiftskirche und in der Marienkirche
zu Halle befanden, einpacken und nach Mainz schaffen. Der ganze Reliquienschatz
wanderte von der Saale an den Rhein, und Luther konnte es sich nicht ver¬
sagen, in der „Neuen Zeitung vom Rhein Anno 1542" ihm einen Denkzettel
in seine neue Heimat nachzusenden, als der Kardinal sein altes Spiel damit
wieder begann und den Ablaß seines Heiligtums auch in Mainz zu verwerten
versuchte.
Albrecht selbst lebte seit dem Jahre 1540 größtenteils in seinem stillen
Aschaffenburg, das er wie ein horazisches Tibur liebte. Er war ein gebrochener
Mann und machte noch im Jahre 1540 sein Testament, wonach der ganze
Kirchenschatz samt vier Bildern — einem Selbstporträt, einem Mos Iiomo, einer
„Barmherzigkeit" von Dürer und einem jüngsten Gericht — dem Dome zu
Mainz, alles übrige der Stiftskirche zu Aschaffenburg zufiel. Aber trotz alles
Lebensüberdrusses und trotz aller bittern Erfahrungen verließ ihn auch in diesen
letzten Lebensjahren nicht seine frühere Baulust. Schon im Jahre 1528 hatte
er den Bau einer Kirche in Aschaffenburg beschlossen, der wegen politischer Ver¬
wicklungen und vielfachen Geldmangels nicht zur Ausführung kam. Jetzt im
Sommer 1542, als er fast immer in Aschaffenburg wohnte, tauchte der frühere
Plan wieder auf. Die Stadt und einige Bürger gaben den Boden unentgeltlich
her, das Kollegiatstift in Aschaffenburg lieh das nötige Geld für den Bau, und
so wurde in den Jahren 1543 bis 1544 die sogenannte Heiligegrabkirche in
Aschaffenburg ausgeführt.
Diese Kirche war das letzte Werk, welches Albrecht ins Dasein rief. Am
24. September 1545, im fünfundfünfzigsten Jahre seines Lebens, starb er und
wurde nicht, wie ursprünglich beabsichtigt gewesen war, in Aschaffenburg in
dem Grabmale Peter Wischers, sondern in Mainz unter einer Grabplatte, die
er sich erst im Jahre 1540 hatte anfertigen lasten, beigesetzt.
An dem, was er geschaffen, haftete kein Segen. Was unter ihm in Halle,
Mainz und Aschaffenburg entstand, ist jetzt zum größten Teil in alle Welt
zerstreut oder spurlos von der Erde verschwunden. Seine Bauten in Halle
sind teils verfallen, teils durch spätere Zuthaten vollkommen verändert. Von
seinem Hauptwerk, dem Halleschen „Heiligtum," ist wenig mehr übrig. Alle
nach Mainz gekommenen und mit dem dortigen Domschatze vereinigten pracht¬
vollen Gefäße, Paramente, Kirchenzierden und Gemälde teilten mit diesem bis
auf weniges zur Zeit der französischen Invasion im letzten Jahrzehnt des
achtzehnten Jahrhunderts das Schicksal der Veräußerung und Zerstreuung in
alle Welt. Selbst Behams Tischplatte wanderte aus dem Mainzer Schlosse in
den Louvre und kann in Deutschland nur in einer Kopie, welche Louis Philipp
1844 Friedrich Wilhelm dem Vierten schenkte und welche jetzt im Berliner
Kupferstichkabinet aufbewahrt wird, bewundert werden. Nur was nach Aschaffen-
bürg gelangte, findet sich bis auf das berühmte Grünewaldsche Altarwerk, das
1836 in die Münchener Pinakothek geschafft wurde, größtenteils noch dort vor.
Die Stiftskirche ist voll von Werken der Plastik und Malerei. In der
Bibliothek bewundern wir Glockendons und Behams prächtig illuminirte Bücher,
während uns gleichzeitig Meister Simons Miniaturwerk die Pracht des Hallischen
Reliquienschatzes ahnen und seinen Verlust aufs tiefste beklagen läßt. Aber
auch in dem stillen Aschaffenburg war nicht alles geborgen. Die Heiligegrab¬
kirche, Albrechts letztes Werk, überlebte ihren Erbauer nicht lange. Sie wurde
in den bald darauf erfolgten Religionskriegen zerstört, wahrscheinlich ein Raub
der Flammen. Jetzt steht von ihr nur noch ein verfallenes Gemäuer in einem
der Seen des königlichen Hofgartens Schönthal, von Trauerweiden umschattet,
welche das Malerische des Baues erhöhen und ihm einen wehmütigen Ausdruck
verleihen. Die Ruine erzählt von längst vergangenen Zeiten, von der Ver¬
gänglichkeit des Menschen und seiner Werke. Oben auf dem First prangt nur
noch unerschüttert der brandenburgische Aar, den Albrecht zur Erinnerung an
seine Abstammung an allen seinen Bauten anbrachte und der seitdem mit seinen
Flügeln Europa beschattete.
er Humor, den Pater Abraham ni Sancta Clara in seinen Schriften
entwickelt, konnte nicht leicht vererbt werden, aber die gesunde
Grundstimmung dieser Schriften und die Abkehr von der drama¬
tischen Polemik, welche bei ihm bemerkbar und welche seinen Nach¬
ahmern eigen sind, mußten naturgemäß im Verlaufe des ganzen
achtzehnten Jahrhunderts wachsen. Die „Aufklärung" drang mit unwidersteh¬
licher Gewalt auch in die katholische deutsche Welt ein und lähmte, was noch
von den Nachwirkungen der Gegenreformation her lebendig war. Die dem
Namen und dem äußern Bekenntnis nach katholischen Schriftsteller Frankreichs
standen im entschiedensten Gegensatz zu dem Geiste, welcher die Gesellschaft Jesu
und die leitenden Kreise der alten Kirche dereinst belebt hatte, und machten,
auch wo sie nicht mit der Entschiedenheit der Encyklopädisten auftraten, kein
Hehl aus ihrer tiefen Abneigung gegen jede Art von Fanatismus. Wo die
Macht und der Einfluß der katholischen Kirche dazu noch hinreichten, wurden
einzelne besonders feindselige Bücher verbrannt und durch Hirtenbriefe und geist¬
liche Ansprachen gebrandmarkt, aber der Einfluß Voltaires, seiner Gesinnungs¬
genossen und Nachbeter wuchs trotz alledem von Tag zu Tag. Die unmittel¬
baren Wirkungen, welche die Schriften der französischen Aufklärer ausübten,
waren verhältnismäßig eng begrenzt, unbegrenzt aber und kaum zu ermessen
erscheinen jene mittelbaren, abgeschwächten fragmentarischen Wirkungen, die vom
Vvltairiauismus ausgingen. Sind doch die ultramontanen Heißsporne der
Gegenwart in der Lage, einen guten Teil der Geschichte der katholischen Kirche
in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entweder nur unvollständig,
tendenziös gruppirt oder im Ton der Mißbilligung und gelegentlich entschiedner
Verdammung zu erzählen. Der Druck, den die staatliche Gewalt bei der Auf¬
hebung des Jesuitenordens geübt, die aufklärerisch weltliche Richtung, welche
eine ganze Reihe deutscher geistlichen Fürsten und Landesherren ihrer Regierung
und Verwaltung gegeben hatte, die tyrannischen Maßregeln des „Josefinismus"
in Osterreich bilden für die katholischen Tendenzschriftfteller von heute ebenso¬
viel« nicht unberechtigte Anklagepunkte. Gleichwohl lehrt jeder Blick auf die
Literatur der Zeit und vollends jedes tiefere Eindringen in die Stimmungen
und Bestrebungen der gebildeten Katholiken jener Tage, namentlich auch der
deutschen Katholiken, daß die obenangedeuteten großen Katastrophen und Kämpfe
im Leben der alten Kirche nur als Resultate, wenn man will, sogar dürftige
und unzulängliche Resultate des großen Bildungsumschwunges erscheinen, welcher
seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts eingetreten war. Jener merkwür¬
digen politischen Veränderung, die in den letzten Dezennien des achtzehnten Jahr¬
hunderts im deutschen Reiche eintrat und die Ranke mit den Worten charcck-
terisirt: „Die geistlichen katholischen Stände und die weltlichen protestantischen
traten einander näher. Für die ersten hielt ihre alte Regel, ihr Heil in der
Verbindung mit dem Kaisertum zu suchen, nicht mehr aus. Die andern er¬
blickten in der Entzweiung des Kaisers und der Hierarchie einen Beginn der
Befreiung von dem drückenden Übergewicht, dem sie durch die Verbindung beider
unterlagen. Es erfolgte, daß die einen und die andern von ihrem prinzipiellen
Gegensatz absahen und in freundlichere Beziehungen untereinander traten" („Die
deutschen Mächte und der Fürstenbund," I, 89), war die unbedingte Annäherung
der seither abseits stehenden und vereinzelt wirkenden katholischen Literatur an
die protestantische längst vorausgegangen. Die deutsche Entwicklung glich hier
nur der allgemein europäischen. Wie die katholischen französischen Schriftsteller
der Aufklärung von den protestantischen Deisten Englands angeregt und be¬
stimmt worden waren, so machten sich in der Wendung, welche die katholische
deutsche Dichtung seit den sechziger und siebziger Jahren des achtzehnten Jahr¬
hunderts nahm, den Dichtern vielfach selbst unbewußt, die Einflüsse des Pro¬
testantismus geltend. Indem die Katholiken ihre aus den Jcsuitcnschulen stam¬
mende Bildung unzulänglich und einseitig fanden, näherten sie sich der Bildung
der andern, von denen sie bisher die Fehde getrennt hatte, welche seit dem
sechzehnten Jahrhundert wütete und auch jetzt nur ein Scheinende erreichte.
Auf dem Boden der Aufklärung begegneten sich die den katholischen wie den
protestantischen Teilen entstammten deutschen Talente. Sie waren meist weit
davon entfernt, die letzten Konsequenzen oder den kirchenhassenden Geist des
echten Voltairianismus zu teilen. Aber ihre ganze Bildung strebte doch darnach,
sich über die Schranken der Konfession zu erheben und den eigentlichen Gehalt
der Poesie als ein Gut aufzufassen, das weit über den Äußerlichkeiten des
Bekenntnisses stehe und gemeinsam sei. Die größere Zahl der katholischen
Talente folgte zum erstenmale seit dem sechzehnten Jahrhundert dem allgemeinen
Zuge der Literatur. Dem protestantischen Deutschland gehörten ohne Ausnahme
alle führenden und bahnbrechenden Talente an. Im katholischen Süden und
Osten erfolgte der Anschluß an die literarischen Führer immer um einige Jahre
oder auch Jahrzehnte später als in Mittel- und Norddeutschland. Cornelius
von Ayrenhvff in Wien dichtet seine Trauerspiele im Gottschedischeu Geschmack
und Stil ein Vierteljahrhundert nach dem „Sterbenden Cato" des Leipziger
Geschmacksdiktatvrs, der Freiherr vou Gehler seine halb weinerlichen, salzlosen
Lustspiele etwa ebensolange nach Gellerts und nahezu solange nach Weißes
Versuchen auf diesem Gebiete; unmittelbarer an Wieland schloß sich Johann
Baptist von Alxinger, der Dichter des „Dovlin von Mainz" und des „Bliomberis"
an. Jedenfalls waren alle diese und zahlreiche andre Dichter, obschon der Kon¬
fession nach Katholiken, den seitherigen spanisch-italienischen und lateinisch-jesuitischen
Vorbildern der katholischen deutschen Dichtung vollständig entrückt. Selbst wo
einer und der andre der katholischen Dichter wie der Mannheimer Exjesuit und
Ästhetiker Anton von Klein in den Stoffen seiner Dichtungen der alten
Richtung treu blieb (Klein schrieb u. a. die Tragödien: „Der jüngste unter den
sieben makkabäischen Helden," „Das triumphirende Christentum im großmogo-
lischen Kaiserreich," einen „Rudolf von Habsburg" u. a.), da ist doch von den
Tendenzen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts wenig mehr zu spüren.
Unter den Klopstvcknachahmern nehmen die Wiener Jesuiten Michael Denis
und Karl Mastalier eine bedeutende Stellung ein. Niemand wird ihre Oder
denen des Meisters vergleichen, aber ein spezifisch katholisches kirchliches Element,
welches sie von ihrem Vorbilde getrennt und nach einer andern als der Talent-
scite hin unterschieden hätte, ist ebensowenig darin. Kaum in den Oden Sincds „Auf
die Genesung Theresiens" (der Kaiserin Maria Theresia) oder „Bardeufeuer am
Tage Theresiens" findet sich eine Wendung, aus der die Konfession des Dichters
zu erraten wäre; um den frommen Gellert stimmen die beiden Jesuiten (Denis
wie Mastalier) herzergreifende Klagen an, als ob es sich um Friedrich Spec
oder Jakob Bälde handelte. Goethe, der in den „Frankfurter Gelehrten An¬
zeigen" von 1772 die „Lieder Sineds des Barden" besprach und mit Ein¬
schränkungen empfahl, hob hervor: „In allen diesen Gedichten atmet menschliches
Gefühl, Patriotismus, Haß des Lasters und der Weichlichkeit und Liebe der
Heldeneinfalt. Oft spricht der Barde kühn, oft eindringend, oft sanft und
zärtlich — oft thränend." Aber auch Goethe schreibt aus dem Gefühl, daß
in diesen „Barden" die Unterschiede, die bis zu ihnen zwischen katholischen und
protestantischen Dichtern obgewaltet haben, verwischt sind und die seither Ge¬
trennten der allgemeinen Literaturentwicklnng folgen.
Die deutschen Katholiken selbst wurden in eben diesem Zeitraum über die
Inferiorität so vieler von Bischöfen gebilligten und von katholischen Prälaten
empfohlenen Dichtungen höchst empfindlich. Charakteristisch erscheinen in dieser
Beziehung die Rezensionen, welche die in den ersten achtziger Jahren (zu Coburg)
erscheinende, offenbar von der „Aufklärung" durchhauchte Zeitschrift „Litteratur
des katholischen Deutschlands, zu dessen Ehre und Nutzen" über ganze Reihen
geistlicher und geistlich sein wollender Lieder brachte. Da heißt es über die
„Sammlung geistlicher Lieder von S, C. Turin, Kurmainzischem geistlichem
Rat und Pfarrer bei Se. Jgnatz" im ersten Stück des vierten Bandes: „Wenn
doch alle, die sich in das Heiligtum der Dichtkunst wagen, Horazens Regel
überdachten, daß mittelmäßige Dichter schon unerträglich sind. Bei Kirchen¬
gesängen scheint sie uns hauptsächlich wichtig. Was gewinnt die heilige Religion,
wenn die gottseligsten Wahrheiten in sprach- und gedankenlosen Liedern abgefaßt
und ohne Empfindung gesungen werden? Ein aufgeklärter Kopf, dnrch Lesen
der Alten gebildet und durch den Reiz neuer zärtlicher Dichter hingerissen, wird
immer bei einem bilderreichen Wieland und sanften Jacobi Nahrung suchen, so
lange er bei magern Kirchenliedern, wie die gegenwärtigen sind, hungern muß.
Wenn der Vater im Weihnachtsliede, welches eine Idylle sein soll, seine Freude
gegen seine Kinder ausdrückt: »Ihr Kinder haltet mich, für Freude kann ich
nicht mehr stehen!«, wenn man mit Perioden exklamiret, fast alle Sätze mit
»welches« und »daß« auflöset, schier in einem jeden Liede die nämlichen Lieb-
lingswörtchen und abgelernten Formeln wiederholet, muß nicht Religion und'
Gottesdienst denkenden Köpfen zum Ekel werde»? Die guten Leute, die, in ihre
Amtsgeschäfte vertieft, gar zu fremd in der Literatur bleiben und es dennoch
wagen, ihre schlechte Ware zu Markte zu bringen, die schaden wahrhaftig ihrer
Religion, ohne es zu wissen. Aus ebeu dieser Absicht müssen dergleichen Werke
auf das schärfste beurteilt werden. Übrigens ist es immer viel, daß der Herr
Verfasser, der wenig dichterische Anlagen verrät und noch weniger in diesem
Fache mag gelesen haben, soviel Geduld besitzt, Verse und Reime dem Tausend
nach zu verfertigen, und Advents-, Weihnachts-, Fasten- und andre Lieder alle
dem Dutzend nach herauszubringen." Zum Schluß läuft die Rezension auf den
Rat hinaus, „die Ausführung heiliger Gesänge Genien zu überlassen, die dem
erhabenen Klopstock nachfliegen oder sich vielleicht gar über ihn hinauf schwingen
können." Also auch hier die unumwundenste Anerkennung der Bedeutung prote¬
stantischer Dichter, kein Versuch mehr, auf andre als vaterländische Muster hin¬
zuweisen.
Mehr als einer der katholischen Dichter der letzten Hälfte des Jahrhunderts
geht unbewußt oder bewußt einen Schritt weiter, als die Annäherung an die
große Nationalliteratur erfordert Hütte. Wir erinnern nur, zu welchem An¬
sehen durch Pater Abraham die derb volkstümliche Kapuzinerbcredsamkeit gelangt
war, und welche Possen und Zoten, welche Wagnisse und Kühnheiten zu Gunsten
und Ehren kräftiger Moral literarisches Bürgerrecht erhalten hatten. Wie nun, wenn
der derb humoristische Ton, an den sich ein Teil des Publikums gewöhnt hatte,
einmal nicht in Verbindung mit der sittlichen Strenge, sondern mit einer be¬
haglichen Laxheit erklang, wenn er nicht zu Gunsten der kirchlichen Gesinnung
und Überlieferung, sondern zu ganz andern Zwecken anstimme wurde? Die
Gährung, welche die AufMrungslitcratur in allen Geistern und Gemütern her¬
vorrief, mußte da die wunderlichsten Blasen werfen, wo sie gleichsam über Nacht
und mit einemmale begann. Die heutigen ultramontanen Schriftsteller, welche
die Erscheinungen vom Ende des vorigen Jahrhunderts so bitter als nur
immer möglich charakterisiren, übersehen in der Regel, daß die Aufklärung
unsrer litterarischen Lebensciußcrungen in Nord- und Süddeutschland so grund¬
verschieden auftritt, als etwa der brav bornirte Friedrich Nicolai und der Ex-
jesuit Alohs Blumauer sind. Was im Norden mit einem gewissen — oft genug
spröden und sauern — Ernst zu Nutz und Frommen „vernünftiger Erleuchtung"
vorgebracht wird, steht meist nur in einer entfernten Verwandtschaft zu Vol¬
taire und seinen Nachahmern. Im katholischen Süden fühlte man sich zu dem
parodistischen, frechwitzigcn Ton der französischen Aufklärer weit stärker hin¬
gezogen. Zwar kam es nur unter dem Einfluß besondrer Umstände zu jenem
Äußersten, was wir in einzelnen Szenen vom Blumauers „Travestirter Äneide"
vor uns haben. Allein die heimliche Bewunderung für die Kühnheiten der
Voltairescücn „Pucelle" und ähnlicher Werke begegnete und vermischte sich in
großen süddeutschen katholischen Kreisen mit einem behaglichen Leben und Lcbcn-
lassen, mit der volkstümlichen Gewöhnung an derbem Spaß und unbefangene
Lust. Wer vermöchte hier zu sagen, wo die Grenzen ineinander verliefen, wer
bei den einzelnen genan zu unterscheiden, ob sie der bewußten tendenziösen Auf¬
klärung, ob sie der gutmütigen Indifferenz näher stand, wer könnte aus zahl¬
losen vergessenen poetischen Werken der Zeit die zahlreichen Grade der besprochenen
Mischung ausweisen! Gewiß bleibt, daß das katholische Deutschland von da¬
mals einige Dichtergestalten hervorbrachte, wie sie weder vorher noch nachher
in unsrer Literatur vorhanden gewesen sind.
Der schwäbische Volksdichter Sebastian Salier, welcher hier in erster
Linie zu nennen ist, kann als ein Geistesverwandter und letzter Ausläufer der
von Abraham a Sancta Clara eingeschlagenen Richtung angesehen werden.
Freilich war diesem Landsmanne Megerles der Humor Selbstzweck, und die mo-
ralisirenden Elemente traten in seinen durchweg in schwäbischen Dialekt ge¬
schriebenen Dichtungen zurück. Der Dichter selbst (1714 in der Nähe von Ulm
geboren, 1777 als Kapitular des Prämonstratenserordens in Marchthall ge¬
storben) scheint ein geistlicher Herr vom behaglichsten Schlage der sechziger und
siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gewesen zu sein. Nach de» Anek¬
doten, welche in der Vorrede des Sixt Bachmann zu „Sebastian Saliers
Schriften" (Breban, 1819) erzählt werden, erfreute er sich als Kanzelredner
wie als witziger Tischgenosse außerordentlicher Beliebtheit bei Vornehm und
Gering. Beim Grafen Stadion auf Warthausen, in dessen Hanse Wieland seine
Weltstudien machte, brachte er ein Riechflcischchen mit Weihwasser zum Vorschein
und erläuterte, wegen des weibischen Gebrauchs von Riechfläschchen gescholten,
daß er noch nie in Seiner Gräflichen Gnaden Hause einen Tropfen Weihwasser
erblickt und nur soviel mitgebracht habe, um den Grafen und sich selbst zu ge-
segnen, „wenn das Teufelholen angehe." Die Art Saliers, gewisse biblische
Vorgänge volkstümlich darzustellen, grenzt an Parodie, ohne daß ihr parodistische
Absicht zugrunde liegt. In demselben realistisch kecken Ton, mit deiner „Die sieben
Schwaben oder die Hasenjagd," „Die Schultheißenwahl zu Limmelsdorf" oder
„Schwäbischer Sonn- und Mvndfang" darstellt, behandelt er in den „Dramen":
„Die Schöpfung des ersten Menschen," „Der Sündenfall und dessen Strafen"
und „Der Fall Lucifers" die Themen, welche das geistliche Schauspiel früherer
Zeiten bevorzugt hatte. Er soll diese Gedichte halb gesungen und halb ge¬
sprochen unter Begleitung der Geige selbst vorgetragen und dabei ein komisches
Talent ersten Ranges entfaltet haben. Wenn in der „Schöpfung" und dem
„Sündenfall" Gott Vater seine verschiednen Arien zum besten giebt und sich
zum Beispiel über die harten Mühen bei der Herstellung der Welt ohne irgend¬
welche Werkzeuge beklagt:
Ohne Hammer, ohne Schlegel,
ohne Bretter, ohne Regel,
ohne Schaufel, ohne Kella,
ohne Buaba, ohne G'Sella,
ohne Schifer, ohne Stvi,
i sealbar a loi.Ohne Ziagel, ohne Bladen,
ohne Sparra, ohne Latta,
ohne Katch und ohne Meatel,
frchli mit ganz b'sondere Vcatcl;
ohne Hobel, ohne Seaga
haun i alles broche so z'wega.Ohne Feila, ohne Zcmga,
ohne Raitel, ohne Stanga,
ohne Zirkel, ohne Schnüera,
ohne Riß, und oh Probier«,
ohne Richtscheit und Lingier
ischt's g'rotha glei aler.
Ohne Foara, ohne Damm,
ohne Diegel, ohne Pfauen,
ohne Klammer, ohne Wind«,
ohne Nepper dünn is tinta,
ohne Menscha, ohne Goischter
bin i sealt dar Zimmcrmoischtcr.
so mag es für den ernstesten Zuhörer unmöglich geworden sein, ernst zu
bleiben. Auf alle Fälle wirkten die eigentümlichen Dichtungen, und Salter selbst
war so sicher in seinem Tone, daß er ihn unter keinen Umständen mit einem
andern vertauschte. Als 1770 Marie Antoinette auf ihrer verhängnisvollen
Brautreise nach Frankreich ein Nachtquartier im Kloster Marchthall nahm,
brachte Salter der Kaisertochter in einem Festspiel „Beste Gesinnungen schwä¬
bischer Herzen" seine Huldigung; er nimmt darin wohl zum Schein den Anlauf,
im Stil der allegorisch höfischen Gelegenheitsspiele zu reden, läßt aber gleich
darauf frischweg seine Schwabenbauern auftreten und ihre Glückwünsche aus¬
sprechen. Das Andenken Saliers erhielt sich noch in Zeiten hinein, in denen
eine naive Behandlung heiliger Gegenstände, wie sie ihm eigentümlich ist, kaum
noch dem frechsten Parodisten möglich erschienen wäre. Der alte pensionirte
Lehrer in Auerbachs Dorfgeschichte „Der Lcmterbachcr," welcher in Erinnerung
an die lustigen Dichtungen Saliers förmlich schwelgt, giebt einen Zug lebendigster
Wirklichkeit wieder.
Die letzten Resultate der Aufklärung, die keine wahrhafte Bildung ge¬
worden war, verkörpert poetisch, wie schon angedeutet, der Exjesuit, nachmalige
Zensor und schließliche Buchhändler Aloys Blumauer aus Steyr, dessen
„Abenteuer des frommen Helden Annas oder Virgils Äneide travestirt"
ihrerzeit das Entzücken zahlreicher deutschen Katholiken, welche sich der neu¬
gewonnenen Freiheit nachdrücklich erfreuen wollten, bildeten und dessen „Ode an
den Nachtstuhl" selbst Schiller gelegentlich bewunderte. Der unbedingte An¬
schluß Blumauers an die josefinischen Tendenzen und sein Kampf für die Auf¬
klärung, wie er sie verstand, ließen die Zeitgenossen die schreienden Mängel
seines Gedichts und gewisse Unwürdigkciten, ja Unflätigkeiten des Tones voll¬
ständig übersehen. Es scheint, daß die Stelle in Schillers Abhandlung „Über
den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst," welche lautet:
„Deswegen ergötzen wir uns an Parodien, wo Gesinnungen, Redensarten und
Verrichtungen des gemeinen Pöbels denselben vornehmen Personen unter¬
geschoben werden, die der Dichter mit aller Würde und Anstand behandelt hat.
Sobald es der Dichter per Parodie^ bloß auf ein Lachstück anlegt und weiter
nichts will als uns belustigen, so können wir ihm auch das Niedrige hingehen
lassen, nur muß er nie Unwillen oder Ekel erregen" sich direkt auf Blumauer
bezieht. Daß Schiller Unwillen und Ekel gegen den Blnmauerschen Genius
der Travestie wirklich empfand, dafür zeugen die scharfen Schlußworte der
Einleitung, mit der er 1791 seine eignen Übertragungen aus der Äneide bei
den Lesern der „Neuen Thalia" einführte: „Von dem Gedanken weit entfernt,
sich an eine Übersetzung der ganzen Äneis wagen zu wollen, verspricht der
Übersetzer in der Folge noch einige Bruchstücke aus dem vierten und sechsten
Buche; wäre es auch nur, um den römischen Dichter bei unserm unlateinischcn
Publikum in die ihm gebührende Achtung zu setzen, welche er ohne seine Schuld
scheint verscherzt zu haben, seitdem es der Blumauerscheu Muse gefallen hat,
ihn dem einreißenden Geist der Frivolität zum Opfer zu bringen." Aber wie
gesagt, diese Frivolität ward zunächst nur von vornehmeren Naturen und am
allerwenigsten im Kreise der Glaubensgenossen Blumauers empfunden. Die
ästhetische Anschauung trat völlig hinter der tendenziösen zurück. Zu lange
waren Päpste und Kardinäle, päpstliche Nuntien und Allditoren der Nota,
jesuitische Kasuisten und Jngolstädter Professoren Objekte einer gewissen Furcht,
eines unbestimmten Druckes gewesen, als daß man sich nicht daran hätte er¬
quicken sollen, daß sie in der trcivestirteu Äneide Objekte des kecksten Spottes
und zwar des Spottes eines ehemaligen Jesuitenzöglings wurden. Es scheint
nicht, daß in der damaligen Kritik irgendwer darauf hinwies, daß auf diese
zügellose Keckheit und diese bewußte Frechheit notwendig ein Rückschlag folgen
müsse. Man schwelgte in der Verspottung dessen, was man nur zu lange als
eine Macht empfunden, und log sich in Stimmungen und Erwartungen hinein,
wie wir sie in unsern Tagen, in den Anfängen des „Kulturkampfes," genugsam
selbst erlebt haben.
Daß Vlumauer zahlreiche Nachahmer fand und im josefinischen Wien als
eine Art Klassiker galt, blieb, wie sich schon vor dem Ausgange des achtzehnten
Jahrhunderts erweisen sollte, ohne tiefere Wirkung. Über das eigentliche Ziel,
die Vereinigung der katholischen und Protestantischen Talente in einer gemein¬
samen Empfindung und Bildung, waren die Wiener Aufklärer aus dem Kreise
Blumenaucrs, wie die Illuminaten, die sich um Wcishaupt in Ingolstadt gesammelt
hatten, weit hinausgeschossen. Daß aber das Ziel erreicht war, dafür bürgt
die große Mehrzahl der deutschen Dichtungen vom Ende des vorigen Jahr¬
hunderts. Otto Brahm hat in seiner eingehenden und mannichfach interessanten
Studie „Das deutsche Ritterdrama des achtzehnten Jahrhunderts" (Straßburg,
1880) den Nachweis gegeben, daß die stärkste und beste Nachwirkung des
Goethischen „Götz von Berlichingen" bei jener bairischen Dichtergruppe eintrat,
deren hervorragendster Vertreter Graf Josef August von Törring, der Dichter
der Dramen „Kaspar der Törringcr" und „Agnes Vernauer" ist, und der u. a.
Babos „Otto von Wittelsbach," A. Nagels „Bürgeraufruhr in Landshut,"
Blaimhofers „Schweden in Baiern" angehören. Kaum in dem letztern Stück, wo
der Stoff dazu unbedingt herausfordert, findet sich eine Betonung des kon¬
fessionellen Moments. Sonst herrscht ein bairischer Stammespatriotismus vor,
welcher die mchrhundertjährige Herrschaft der Gegenreformation auf bairischen
Boden beinahe völlig ignorirt und alles in allem mit denjenigen Lebcnselcmenten
für die poetische Darstellung ausreicht, die in der Sturm- und Drangperiode
die vorherrschenden waren.
cum diese Zeilen vor die Augen der Leser gelangen, wird der
große Staatsakt der Grundsteinlegung des neuen Reichstags-
gcbäudes nicht nur bereits erfolgt, sondern auch in den Tages¬
blättern zu den verschiedensten Leitartikelmotiven verarbeitet sein.
Nur wenige aber — davon bin ich überzeugt — werden sich dieses
neuen Symbols des einigen und geachteten Vaterlandes wahrhaft freuen. Wenn
der Deutsche fröhlich ist - ich habe dies manchesmal bei Landpartien unter
dem Volke beobachtet — so singt er elegische Lieder. „Ich weiß nicht, was soll
es bedeuten, daß ich so traurig bin," dies scheint sogar — wenigstens in der
Hauptstadt des deutschen Reiches — das Lieblingslied zu sein, mit dem der
fröhliche Tag einer Landpartie geschlossen wird. Eine höchst merkwürdige
Natur, dieser Deutsche! Hat jahrhundertelanges Gedrücktsein und der Trübsinn
eines unbefriedigten Völkerdascins so schwere Spuren im Gemüte hinterlassen,
daß eine allgemeine und reine Freude niemals aufkommen kann? Ist die Zer¬
klüftung der Stämme, die Pflege der besondern Eigentümlichkeiten so nachhaltig,
daß der Fraktionsgcist den Patriotismus zu Boden schmettert? Der Fortschritt
knüpft um die Grundsteinlegung den Wunsch, daß die Volkssouveränetät in das
Gebäude einziehe und der Herrscher — für den eine ostensible Loyalität zur
Schau getragen wird — an dem Gängelbande der zeitweiligen Parlaments-
mchrheit geleitet werde. Die Sezession stimmt nicht ganz für die Verwirklichung
dieses Programms, wünscht aber doch, daß es verwirklicht werde, und daß sie
alsdann bei der an die Sieger zu verteilenden Beute auch den eignen Anteil
erhalte. Die dritte Schattirung der Liberalismus — Demokratie und Fortschritt
sind Geschwister und wir brauchen daher erstere nicht gesondert zu betrachten —,
die Nationalliberalen, mögen daran denken, wie ganz anders sie dieses Fest
feiern würden, wenn Doktrinarismus und Eitelkeit ihre Wege von denen des
großen Staatsmannes nicht getrennt hätten. Mit größerer Zuversicht werden
die konservativen Parteien in die Zukunft des neuen Reichstagsbaues blicken,
sie sind dem Rufe des Reichskanzlers zur Wahrung der wirtschaftliche» Interessen
williger gefolgt, sie haben es erfahren, wie gerade durch diese letztern sich in
der öffentlichen Meinung ein Umschwung zu Gunsten einer konservativen An¬
schauung vollzogen hat. Und in der That, in diesen Interessen liegt die Zukunft
des Reiches und die Wohlfahrt des deutschen Volkes, und wenn der Reichstag
in dem neuen Gebäude das wirtschaftliche Wohl der Nation fördern will, dann
soll auch uns diese Grundsteinlegung das Symbol einer glückverheißenden Zu¬
kunft sein.
Es gehört zu den bekanntesten Agitationsmitteln des Fortschrittes und seines
ganzen Anhanges, zu behaupten, daß die Regierung und die sie unterstützenden
konservativen Parteien Verfassung und Parlament beseitigen oder doch möglichst
herunterdrücken wollen. Den Konservativen wird dabei die Rückkehr zum
Feudalismus — ein Wort, das den biedern Spießbürger, der es nicht versteht,
natürlich gruseln macht — mit allen seinen Schrecken, der Bauernschindcrei und
dem Ms xrinmo noetis noch besonders angedichtet. Die Zeiten haben sich aber
gewaltig geändert; die Sensft-Pilsachs und Waldows des preußischen Herren¬
hauses, die Krautjunker aus den Zeiten der preußischen Reaktion sind „versunken
und vergessen." Die konservative Partei — leider erinnert sie sich dessen nicht
immer — hat die Erfahrung gemacht, daß auch sie einmal der Ambos war, und
daß gerade eine Minorität ohne den Schutz der individuellen, persönlichen Rechte,
wie sie durch den Parlamentarismus im guten Sinne, durch Freiheit der Presse,
des Vereins- und Versammlungsrechtes gesichert sind, nicht zu kämpfen und zu
siegen vermag, sondern bedingungslos dem Gegner preisgegeben ist. Heute
wird sich in der ganzen konservativen Partei, selbst deren rechtesten Flügel in-
begriffen, niemand mehr finden, der die Verfassung beseitigen und an Stelle des
Parlaments wieder die Herrschaft der Bureaukratie setzen wollte. Vergeben,
aber nicht vergessen ist es, daß die Büreaukratie gerade in den Sturmzeiten des
Jahres 1848 sich sehr wenig zuverlässig bewiesen hat und daß der liberale
Kreisrichter jahrzehntelang unsrer jungen konstitutionellen Periode den Stempel
eines verbohrten Doktrinarismus aufdrückte. Auch der selbständigste Geist unsrer
heutigen Zeit, auch der Reichskanzler hat wiederholt erklärt, daß er die Büreau-
kratie gegen den Parlamentarismus nicht eintauschen möchte, und mir zu oft
hat er, der mächtige Mann, den Widerstand der vis inertme, wie sie naturgemäß
in einem stabilen Beamtentum sich gerade in den höchsten Stellen geltend macht,
durch die brausende Kraft des Parlaments brechen müssen. Es ist eine bewußte
Lüge, wenn man das Volk glauben machen will, daß Fürst Bismarck und seine
Anhänger den neuen Reichstagsbau nur als ein Dekorationsstück betrachten, das
schön aussehen, aber nichts in sich bergen soll.
Wir stehen heute unter allen Völkern der Erde, die Republiken mit eingerechnet,
als diejenige Nation da, welche sich des gesichertsten Rechtszustandes und der
größten persönlichen Freiheit erfreut. Das Staatswesen Rußlands ist in steter
Furcht vor Verschwörungen, das freie Albion zittert vor den Dynamitattentaten
der Bewohner einer ganzen Provinz, Frankreich schwankt unter den Kämpfen
der einzelnen Fraktionsherrschaftcn, unterwühlt von Kommune lind Anarchie,
Italien fehlt zu einem gesicherten Rechtszustande die Autorität eines starken Re¬
giments, Österreich kommt vor den Eifersüchteleien und Feindseligkeiten seiner
verschiednen Volker nicht zur Ruhe, in den Vereinigten Staaten von Amerika
dcmoralisiren die jedesmaligen politischen Sieger durch eine rücksichtslose Aus¬
beutung der Besiegten Staatswesen und Volk. Nur das deutsche Reich zeigt
nach innen und außen feste Stetigkeit und eine ruhige Entwicklung. Nirgends
ist der Bürger in seiner freien Bewegung weniger gehemmt, nirgends herrscht
ein solches Vertrauen zu Gericht und Verwaltung; die Freiheit der Rede und
Presse ist gesichert, ohne daß der friedliche Bürger dem Nevolvertnm eines Miß-
brauchcs ungestraft ausgesetzt wäre. Alles dies sind Errungenschaften und Güter,
die von keiner Seite streitig gemacht werden.
Aber freilich, das liberale Philistertum zeigt sich nicht ganz befriedigt.
Eben weil es in seiner Existenz in keiner Weise bedroht ist, weil durch segens¬
reiche Institutionen und dnrch eine autoritative Regierung ihm jede Sicherheit
verbürgt ist, folgt es den Maulhelden der Gasse und findet ein Vergnügen
daran, die Maßregeln der Regierung zu bekritteln und zu verkleinern. Es strebt
nach der Herrschaft und glaubt in dem parlamentarischen Vollregiment das
Ideal der Freiheit verwirklicht zu sehen, wo die Helden des Wortes die Männer
der That unterdrücken. In diesen billigen Bestrebungen ist der Liberalismus
blind gegen alles, was ringsumher geschieht. Er hat kein Verständnis dafür,
daß seit 1789 und 1348 eine neue wirtschaftliche Entwicklung und eine Ver¬
schiebung der Besitzverhültnisse eingetreten ist, daß sich zu den bekannten drei
Ständen noch ein vierter Stand gesellt hat, und daß die sogenannten Ent¬
erbten der Gesellschaft auch ihren Anteil an den Gütern begehren, die ohne ihre
Mitwirkung garnicht erzeugt werden können. Der Liberalismus lebt von der
Gegenwart, er denkt nicht an den kommenden Tag und glaubt, in der allein¬
seligmachenden Lehre des Manchestertums befangen, daß sich die Gegensätze schon
von selbst ausgleichen werden. Er hat das Höchste in dem Dynamitgcsetz ge¬
than und glaubt, weil er sich zur Zeit, von der Polizei geschützt, ruhig schlafen
legen kann, daß damit die Ruhe der Welt gesichert sei.
Wenn Kaiser Wilhelm und sein großer Kanzler ebenso dächten, dann würden
wir freilich die Grundsteinlegung des neuen Reichstagsgebändes in eitlem Freuden¬
rausch begehen können. Für die wenigen Jahre, die beiden nach der Natur der
Dinge noch beschieden sind, würde gewiß der bestehende Zustand noch ausreichen.
Sie haben der Lorbern genug gepflückt, um auf ihnen mit Fug und Recht aus-
ruhen zu können. Aber beide sind nicht nur Männer der Gegenwart, sondern
auch der Zukunft; sie haben nicht allein das deutsche Reich begründet, sie wollen
es auch befestigen und wollen die Gegensätze ausgleichen, welche die wirtschaft¬
liche Entwicklung mit ihren ungleichen Besitzverhältnissen mit sich bringt. Sie
haben eingesehen, daß das Ig-isssr lÄirs zu einer Unterdrückung der Schwächern
führt, daß die sozialdemokratische Bewegung in dem vierten Stande sich mir des¬
halb so unglücklich hat entwickeln können, weil der liberale Kapitalismus lediglich
an sich selbst denkt und in seinem verblendeten Egoismus ruhig dem Drohen der
Zukunft gegenüber die Hände in den Schoß legt und die Gegenwart genießt.
Kaiser Wilhelm ist auch als Kaiser der traditionelle preußische roi clss Aueux
geblieben, er scheut es nicht, an seinem Lebensabend sich mit neuen Sorgen und
Kämpfen um das Wohl der arbeitenden Klassen zu belasten. Sein großer Kanzler
will die soziale Frage nicht ungelöst dem Nachfolger überlassen, und er hat das
Werk der Lösung nicht mit Utopien, sondern mit praktischen Maßregeln begonnen.
So groß noch ist die Macht des Monarchen — Gott sei Dank! — und so
mächtig noch die Kraft des Staatsmannes, daß sie Schritt für Schritt dem
Widerstreben des Liberalismus einen Sieg nach dem andern abgerungen haben.
Ungeachtet der Opposition ist das Krankenversicherungsgesetz der Arbeiter mit
großer Mehrheit durchgegangen, steht die Annahme des UnfallversichcrungS-
gcsetzes in dieser Session unzweifelhaft bevor. Die weiteren Schritte werden
und müssen nachfolge!?. Die neue Zoll- und Gewerbegesetzgebung sichert dem
Arbeiter die Möglichkeit, sich seinen Unterhalt zu verdienen und schützt sein
Recht auf Arbeit vor Armut und Bettelei, die Krankenversicherung giebt ihm
Gewähr, daß in Tagen der Not sein Hauswesen nicht zu Grnnde geht, die
Unfallversicherung bewahrt ihn vor dem Elend, wenn ihn ein schweres Schicksal
befällt, und weiß er erst, daß er auch in den Tagen der Invalidität auf eine
kleine, aber sichere Rente rechnen kann, dann wird anch für ihn das Dasein
nicht eine Kette bitterer Kämpfe sein, dann wird auch er sagen können: vivors
llrbot.
Aber bis dahin ist noch eine große Arbeit zu thun, und Sache der künf¬
tigen Reichstage wird es sein, die Vestrcbniigen der Regierung in dieser Rich¬
tung zu unterstützen. Nicht mit unfruchtbaren Reden gilt es die kostbare Zeit
zu vergeuden, nicht mit liberalen Phrasen die Unzufriedenheit der Massen auf¬
zustacheln, nicht nach einer Freiheit zu streben, die in Wahrheit niemand be¬
streite und deren sich jeder bereits erfreut. Die wirtschaftliche Wohlfahrt muß das
Programm der Zukunft sein, die Förderung des Wohlstandes der Gesamtheit
und jedes Einzelnen die Devise des Reichstages und der Parteien. Sollte
diese unsre Hoffnung in Erfüllung gehen, dann wird auch für das deutsche Volk
die Grundsteinlegung des neuen Reichstagsgebäudes kein bloßer Zeremonialakt
sein, dann wird das junge Parlament dem alten Königtum würdig an die
Seite treten.
n der Pfittgstwoche liefen im Auswärtigen Amte zu London er¬
freulich lautende Nachrichten aus dem Sudan ein. Ein Angriff
Osman Digmas auf Suakin war ohne Mühe abgeschlagen worden,
Berber hielt sich gegen die Insurgenten noch, und der dort be¬
festigende Pascha hatte verschiedene kleine Siege über ihre Scharen
erfochten, von Dongola und Kassala wurde ähnliches gemeldet, endlich behauptete
sich auch Gordon in Chartum gegen den Mahdi, dem in Darfur ein Konkurrent
entgegengetreten sein sollte. Der letztere scheint nur eine Fata Morgana der
sndanischen Wüste zu sein, ein Prophet, der nur unter den englischen Liberalen
Gläubige findet, die in ihrer Verlegenheit etwas derart dringend bedürfen und
ersehnen. Mit größerer Bestimmtheit tritt dagegen die Behauptung auf, daß
in der Konfcrcnzfrage noch nicht die von Gladstone gewünschte Verständigung
mit Frankreich erreicht sei. Jener sei, so wird berichtet, zwar zur Annahme
der Ferryschen Bedingungen geneigt gewesen, die im wesentlichen darin bestanden,
daß England sich verpflichte, Ägypten binnen drei Jahren zu räumen und in¬
zwischen in die Einsetzung einer aus Vertretern aller Großmächte gebildeten
Kvntrolbehörde willige. Natürlich aber ist die öffentliche Meinung in England
gegen so weitgehende Nachgiebigkeit, und um nicht zuletzt allen Boden zu ver¬
lieren, soll der Premier seine Ansicht geändert und nach Paris telegraphirt
haben, er brauche wenigstens fünf Jahre, um am Nil Ordnung zu stiften. Noch
sicherer ist, daß ein Artikel der radikalen I'orwis'b.et/ L,6ol<zö, der im Junihcft
dieser Zeitschrift erschien und das allgemeinste Aussehen erregte, wenn er nicht
Gladstone selbst zum Verfasser hat, wenigstens von ihm eingegeben oder ihm
in seinen Hauptstellen abgelauscht ist, da er nach allem, was wir von dem
leitenden Minister der Königin Viktoria wissen, die politischen Grundanschauungen
desselben, seine Sympathien und Antipathien und die Ziele seines Thuns und
Lassens der jetzigen Weltlage gegenüber mit dankenswerter Deutlichkeit zusammen¬
faßt und ausspricht.
Da der Artikel mit dieser seiner Eigenschaft sehr lehrreich und von bleibender
Bedeutung ist, so lassen wir eine ausführliche Analyse desselben folgen und
bitten, dieselbe für die Zukunft im Gedächtnis zu behalten. Wir haben allen
Grund dazu: es wird uns manches sonst unbegreifliche erklären und uns vor
Irrtümer» und Enttäuschungen bewahren. Der Aufsatz führt den Titel „Die
auswärtige Politik Englands," und sein Gedankengang ist etwa folgender.
Das Von uns geschaffene ausgedehnte Reich muß erhalten bleiben; denn
unsre überseeischen Besitzungen entsprechen einem wirklichen und zunehmenden
Bedürfnisse der Nation. Bei andern Völkern Europas ist dieses Bedürfnis
entweder nicht vorhanden oder es wird künstlich übertrieben. Wenn England
eine Kolonie gründete, so war stets das Vorhandensein tüchtiger Kolonisten die
Vorbedingung. Dies läßt sich von Frankreich und andern europäischen Staaten
^Deutschland? Angra Pequcnna?^ nicht behaupten. Wer es für unvereinbar mit
unsrer großen und ruhmreichen Vergangenheit ansieht, daß wir uns darauf be¬
schränken, unsern Besitz zu schützen und zu befestigen, wird gut thun, sich die
Schwere und die weite Ausdehnung dieser Aufgabe zu vergegenwärtigen. Sehen
wir von China und Madagaskar ab, so giebt es an der westlichen Küste Afrikas
Fragen von der größten Wichtigkeit für die kommerzielle Bedeutung Großbri¬
tanniens. In Australien ferner hat uns die Abneigung unsrer dortige» Mit¬
bürger, ihr Land zu einem Zufluchtsorte für französische Sträflinge machen zu
lassen, in heikle Verhandlungen mit der französischen Republik verwickelt.
Das sind mir einige der lästigen Obliegenheiten, die uns auferlegt sind, so sehr
wir uns von der europäischen Arena, in der wir früher eine leitende Rolle
spielten, zurückziehen mögen. Wir müssen jedoch eine europäische Macht bleiben,
und würde es zu dem Zwecke nicht klüger sein, wenn wir uns begnügten, unsre
Beziehungen zu den übrigen Mächten Europas den Bedürfnissen unsers Reiches
entsprechend zu gestalten, als daß wir eine Politik abenteuerlicher Einmischung
in Ländern betrieben, wo uns nur ein Schatten von Ansehen verbleibt? Niemand
kann voraussehen, was für Projekte, Bewegungen und Erschütterungen aus den
gegenwärtig in Europa wirkenden Kräften hervorgehen werden. Was aber auch
geschehe, England muß möglichst frei von Verbindlichkeiten bleiben, die Logik
der Thatsachen anerkennen und sich, wo es nicht zu leiten imstande ist, der Ein¬
mischung enthalten.
Hierauf heißt es in dem Artikel wörtlich weiter: „Wenn der deutsche
Kanzler uns herablassend erlaubt hat, in der Regelung der griechischen und
montenegrinischen Angelegenheit die Initiative zu ergreife,? und in Ägypten unsern
eignen Weg zu gehen, so hat er das, wir mögen dessen gewiß sein, aus andern
Beweggründen als denen bloßer Höflichkeit gethan, d. h. weil er die Überzeugung
hegte, daß keine hervorragenden deutschen Interessen auf dem Spiele standen,
und weil es, obgleich diese Fragen in Wahrheit durch seinen Einfluß bestimmt
wurden, zu seinem Zwecke paßte, uns die gehässige Lösung sich widerstreitender
Ansprüche zu überlassen, während er der Pforte und den übrigen Mächten
gegenüber die Rolle des ehrlichen Makkers spielte. Mit andern Worten: der
deutsche Kanzler ist gegen England zuvorkommend gewesen, insofern er erkannte,
daß er unsre Einfalt und unsre Achtung vor der internationalen Moral zu
seinem eignen Vorteil verwenden könne. Er hat thatsächlich unsre Ehrlichkeit
zum besten gehabt und sich von uns die Kastanien ans dem Feuer holen lassen."
Auf diese Gründe hin meint der Verfasser, daß England seine Interessen
am besten wahren werde, wenn es sich Frankreich und Nußland nähere. Mit
beiden Ländern stehe es in nahen und verschieden gearteten Beziehungen, während
es sich mit Deutschland, Österreich und Italien nur in geringem Maße berühre.
Französische und englische Interessen gingen, so wird des weitern ausgeführt, in
allen Weltteilen nebeneinander her und stünden sich an vielen Punkten gegenüber,
ähnliches gelte von den Beziehungen Rußlands zu England, welche die Zukunft
betrafen und selbst die Gegenwart des angloindischen Reiches berührten, und
so empfehle sich als Hauptbcstreben der auswärtigen Politik Großbritanniens
die Erhaltung zufriedenstellender Verhältnisse zur westlichen und zur östlichen
Großmacht des europäischen Kontinents. „Das Vorschreiten Rußlands in
Mittelasien läßt, so fährt der Artikel fort, gegenwärtig eins jener periodisch
wiederkehrenden Schreckgespenster entstehen, die solange wieder auftauchen werden,
bis unsre Haltung gegenüber der Petersburger Negierung von Grund aus eine
andre geworden ist. Über vierzig Jahre haben wir in Nußland unsern natür¬
lichen Gegner erblickt. Wir haben es drei Jahrzehnte hindurch bekämpft und
es offen mit seinen Feinden gehalten. Als es später siegte, ergriffen wir die
Initiative, um ihm den Genuß seines Erfolges zu verkümmern. Was hat uns
das für Vorteil gebracht? Die Folge des Krimkrieges war der Aufstand in
Indien, die des russisch-türkischen Krieges der Feldzug nach Afghanistan. Vor
einem Vierteljahrhundert ließ sich unsre Feindschaft gegen Rußland in Osteuropa
wenigstens begreifen, viele unsrer Staatsmänner hegten die feste Überzeugung,
daß das osmanische Reich das Bollwerk unsrer indischen Besitzungen gegen den
heranziehenden Moskowiter sei. Jetzt bilden sich nur noch einige ängstliche Leute
ein, daß das Vorrücken der Russen gegen Konstantinopel unsern Halt in Indien
lockern könne. England könnte in Wirklichkeit eine Festsetzung Rußlands am
Bosporus gelassener betrachten als viele andre Staaten. Findet jene nicht
statt, so ist der Grund nicht der Widerspruch Englands, sondern der Umstand,
daß die Staaten, die sie verhindern können, daß Deutschland und Österreich sie
nicht zulassen wollen. Wie die Sache aber liegt, führt England fort, Rußland
zu reizen, indem es einen Druck auf dasselbe zu üben wähnt, der thatsächlich
nicht von ihm, sondern vom deutschen Reiche ausgeht. Dieselben Rücksichten,
nach denen England den Groll Rußlands beschwichtigen sollte, sollten es auch
bewegen, ein freundschaftliches Einvernehmen mit Frankreich anzustreben. Aller¬
dings liegt manches im französischen Charakter, was dem englischen entgegen
ist. Palmerston behandelte, so sagt man, im Hinblicke hierauf Frankreich als
unsern natürlichen Feind und verwendete alle seine Thatkraft auf dessen Be¬
kämpfung. Er erkannte aber bald die schrankenlose Macht Frankreichs, die
Hindernisse, denen England bei der Durchführung seiner Reichszwecke begegnete,
zu verstärken, und seitdem war die Eintracht zwischen Frankreich und England
einiger als je, infolge einer klugen Mischung von Freundlichkeit und Festigkeit
auf unsrer Seite ging alles gut von statten, und auftauchende Schwierigkeiten
wurden auf das geringste Maß beschränkt. Als in Frankreich zum erstenmale
seit seiner Niederlage ein Minister mit bestimmten Absichten und Plänen
auftrat, war Gelegenheit gegeben, ein Einverständnis mit Frankreich herzustellen,
das bei der Lenkung unsrer auswärtigen Angelegenheiten mehr nützen wird als
alles andre. Während wir unsre Interessen in Ägypten verteidigen, dürfen wir
nicht außer Acht lassen, daß auch Frankreich im Nilthale Interessen hat, die
infolge des Wachstums seines Kolonialreiches wichtiger werden. Solange dieses
Reich sich nicht auf unsre Kosten erweitert, brauchen wir ihm nicht feindlich
gegenüberzutreten. Es reicht hin, wenn wir bei Bedrohung unsrer Besitzungen
und Interessen Festigkeit an den Tag legen. Gehen wir daher allen Mi߬
verständnissen gegenüber den beiden einzigen Nationen, mit denen wir uns fort¬
während und nahe berühren, ans dem Wege, so können wir das Verhalten
festländischer Diplomaten und Strategen vergleichsweise mit Gelassenheit be¬
trachten."
Dieser mit G. unterzeichnete Artikel wurde von der limss dem Minister
Gladstone zugeschrieben, und derselben Meinung waren andre englische Blätter,
z. B. der Äods und die Le. ^g.ins8 (Z-g^sete, von denen die letztere den Aufsatz
wegen seiner Feindseligkeit gegen Deutschland und Österreich als „politisches
Dynamik" und als „das ärgste Versehen, das bisher vom Premier begangen
worden/ bezeichnete. Dagegen erklärte die NÄI Unedle, „zu der Mit¬
teilung autoristrt zu sein, daß der Artikel von Herrn Gladstone weder verfaßt,
noch eingegeben worden sei," und ähnliches brachte der Ovssiver, desgleichen
ließ Gladstone durch seinen Privatsekretär Seymour der limss ein Dementi
ihrer Vermutung zugehen. So sollte man wohl an seine Unschuld glauben.
Gleichwohl fällt uns das schwer, und wenn das vielen andern, namentlich auch
in Frankreich, ebenso ergeht, so beruht es auf guten Gründen. Zwar läßt es
sich hören, wenn die ?all UM O^steh meint, daß der monströse Ausfall des
Herr G. auf den deutschen Reichskanzler ein Beweis dafür sei, daß der Aufsatz
der ^orwig-M^ Revisv nicht von Gladstone stammen könne. „Denn, so argu-
mentire jenes Blatt, wir befinden uns am Vorabend einer großen diplomatischen
Kampagne, bei welcher Frankreich Zugeständnisse zu erlangen bemüht sein wird,
welche die öffentliche Meinung unter keiner Bedingung zu bewilligen gesonnen
ist. Unsre hauptsächliche, wo uicht unsre alleinige Hoffnung besteht darin, daß
Fürst Bismarck, der als der »Schiedsrichter Europas« in dieser Angelegenheit
zuerst hätte befragt werden sollen, uns wiederum jene Geneigtheit zeigen und
jene Unterstützung zukommen lassen wird, die uns bei frühern Veranlassungen
von so großem Nutzen gewesen ist. In einem solchen kritischen Augenblicke
nun, wo selbst der beschränkteste Kopf begreifen muß, daß der Leitstern der
englischen Politik der Spruch sino SörmaniÄ rmllg. sa.1u3 sein muß, erscheint
ein anonymer Aufsatz, in welchem der deutsche Reichskanzler als ein ehrloser
Gesell dargestellt wird, der England für seine Zwecke aufhenke, und die rimss
beeilt sich, Herrn Gladstone als Urheber, wo nicht Verfasser des Machwerks
zu bezeichnen. Fürwahr, wenn der britische Premier jemals Ursache gehabt hat,
keinen Seitensprung zu machen, um den Fürsten Bismarck an der Nase zu
zupfen, so ist dies im jetzigen Momente der Fall, wo wir eine Konferenz zu¬
sammenberufen, auf welcher, wie G- selbst zugiebt, Deutschland das entscheidende
Wort zu sprechen haben wird."
Das klingt recht plausibel, vermag uns aber doch nicht davon abzubringen,
daß die liinss richtig geraten haben könne. Zunächst hat Gladstone häusig
mit oder ohne seinem Namen seine politischen Ansichten in Zeitschriften vertreten.
Dann sind wir unbesonnene und rücksichtslose Äußerungen in betreff europäischer
Großmächte von ihm als Redner gewöhnt. Ferner gilt im diplomatischen
Handwerk noch heute allenthalben die Regel: 8i tsoisrl, usAg.. Endlich aber
ist der in Rede stehende Artikel, wie anfangs bemerkt wurde, nur eine Zu¬
sammenfassung der Grundsätze, nach denen der englische Premier früher,
z. B. 1870, und seit er an Beaconsfields Stelle trat, auswärtige Politik
treiben zu müssen gemeint hat.
Wir begegneten Herrn Gladstone wiederholt als Journalisten in englischen
und selbst in amerikanischen Magazinen und Reviews, z. B. vor einigen Jahren
im Uortu ^inöriiAn Revier. Im höchsten Grade unbesonnen, eine indirekte
Aufforderung zum Verbrechen war es, als Gladstone, damals schon Minister,
behauptete, die Explosion am Gefängnis von Clerkcnwell habe die Staatskirche
in Irland zusammenbrechen lassen. Bei der Wahlkampagne in Midlothian
schleuderte er Österreich die gröbsten Beleidigungen ins Angesicht, warum sollte
er jetzt Anstand genommen haben, dem Fürsten Bismarck Unehrlichkeit, Ver¬
stellung und die Absicht vorzuwerfen, England zur Katzenpfote für gewisse im
Feuer liegende Kastanien zu machen? Warum nicht, wenn er sich damit in
Paris und Petersburg zu empfehlen hoffte? Er lehnte die Verfasserschaft des
Artikels, von dem die Rede ist, entschieden ab, er will ihn auch nicht veranlaßt
haben. Aber man weiß, was solche Dementis bedeuten. Das seine erfolgte
erst, als das Opus nicht den vermutlich erwarteten Beifall fand. In den
ersten siebziger Jahren geschah in Stockholm etwas ganz ähnliches. Der ver¬
storbene König von Schweden hatte in einer dortigen Zeitung Aufsätze, mit C.
(Carl) unterzeichnet, erscheinen lassen, die von Invektiven gegen die deutsche
Politik überflossen. Sie machten peinliches Aufsehen, und der schwedische Ge¬
sandte in London mußte sie in der Minieh als nicht von seinem Herrn und
Gebieter herrührend bezeichnen, aber kein Eingeweihter glaubte seiner Erklärung,
und namentlich in gewissen Kreisen Berlins lächelte man darüber. Wenn hier
trotz des Dementis C. Carl war, weshalb nicht jetzt G. Gladstone?
Viele Stellen des Artikels endlich sind so echt gladstonisch als irgend
etwas, was der jetzige britische Premier jemals öffentlich gesprochen hat. Ge-
wisse Sätze klingen wie ein Echo des eigentümlichen zaghaften Tones, den der¬
selbe zuweilen nimmt, wenn er von der Größe des britischen Weltreichs redet.
Die Stelle, wo gesagt wird, wie ngM^, vast, a.na uviauitous die Verantwort¬
lichkeiten der englischen Regierung seien, schmeckt ganz entschieden nach den
Tagen, wo alle Anstrengungen Glcidstones darauf gerichtet waren, die imperiale
Politik Beaconsfields zu stürzen und vom Ruder zu verdrängen. Der im
Artikel des großen G. betonte Wunsch, England möge untrg,mwöleä, rmoom-
wittsä und <ztög,r ot M ooinxroraisivA elltg-nAlöinsuts bleiben, gehört gleichfalls
in das Register der Gedanken des Ministers; und dasselbe gilt von der dort
empfohlenen politischen Enthaltsamkeit. In nicht wenigen Reden und Abhand¬
lungen hat der Premier die Engländer wegen ihres Strebens nach Macht und
Einfluß getadelt und ihnen die Schönheit der Nachgiebigkeit und des Rückzuges
aus Stellungen gepredigt, über deren moralische Stärke man nicht völlig sicher
war. Die Stelle, wo der Anonymus ^äventurous wierköronos in ^u-u-lors,
vnsrs or»1^ g, sdg.äov ok autnorit^ rsinNns to us, stimmt ganz und gar zu
jenem schwachen Vertrauen auf die Hilfsquellen Großbritanniens, das jedem
mit den Schriften Gladstones einigermaßen vertrauten aufgefallen sein muß.
Die Bezeichnung des Auswärtigen Amtes als „der kostspieligsten Abteilung der
nationalen Verwaltung" entspricht den wirtschaftlichen Ideen, von denen die
Seele des Nationalökonomen am Staatsruder Englands erfüllt ist und viele
seiner Handlungen bestimmt werden. Die Art, wie ein Bündnis mit Rußland
und Frankreich empfohlen und motivirt und ein Absehen von jedem Zusammen¬
gehen mit den mitteleuropäischen Großmächten und Italien als gute Politik
dargestellt wird, ist nur der Widerschein des Verhaltens der jetzigen englischen
Negierung in den letzten Jahren, verstärkt durch einige Ausbrllche bisher ver¬
haltenen Grolles und Hasses. Kurz, wir haben hier einen guten Teil des
innern Menschen Gladstones und seiner Partei vor uns, soweit sie sich mit
nnswürtiger Politik befassen. Wollen wir uns das Bild ergänzen, so läßt sich
dazu einiges Material aus der Studie über den Gladstonismus entnehmen, die
Edward Sullivan in diesen Tagen in der Norninx?ost veröffentlicht hat.
Es heißt da u. a. — wir lassen die stärksten Urteile weg —: „Der Gladstonismus
ist eine Politik edler Gefühle, überfeiner Absichten, erhabener Beweggründe, die
natürlich Spiegelfechterei sind. Man thut so, als ob man die Welt für besser
hielte, als sie ist. . . . Zum Programm des Gladstonismus gehört es, alles
Nationalgefühl beiseite zu lassen, nationalen Sympathien zu mißtrauen, Ver¬
trägen, die »auf der Tafel des Herzens« verzeichnet sind, vor den auf Pergament
geschriebenen den Vorzug zu geben, den Wahrspruch der gesitteten Menschheit
anzurufen und dergleichen Thorheit mehr. ... Der Gladstonismus ist Kirch-
spielstrciben, angewandt auf Staatsgeschäfte. Wan könnte auch sagen, Phi¬
listertum auf hohe Politik gepfropft oder umgekehrt.j Er verwirft den Patrio¬
tismus, macht sich lustig über den Nationalstolz, nimmt Niederlagen Me
Erfolge der neuesten französischen Kolonialpolitik waren solches gleichmütig
hin ... er ist völlig unverträglich mit dem Fortbestande des politischen Welt¬
reichs ... Er hat kein Rückgrat. Er kennt keine feste Grenze zwischen Ordnung
und Unordnung, zwischen dem, was innerhalb der Verfassung und außerhalb
derselben liegt, zwischen nationaler Würde und nationaler Erniedrigung, zwischen
gesundem Menschenverstande und empfindsamen Unsinn. . . . Das stolze Wort:
vivis roniMus suiri trifft sein Ohr wie Kirchenglockenton dasjenige des
Mephistopheles. Er ist unnational, feig, unentschlossen und vor allem immer
voll Entschuldigungen, er bittet allenthalben und bei jedermann um Verzeihung,
er entschuldigt sich bei den Schwärmern für deu ewigen Frieden, daß er eine
zur Abwehr feindlicher Einbrüche genügende Kriegsmacht unterhält, bei den
Dissenters, daß er die Staatskirche unterstützt, bei den Demokraten, daß er ein
Oberhaus bestehen läßt, bei den Republikanern, daß er den Thron nicht umstößt;
er bittet Parnell um Verzeihung, daß er die Union mit Irland nicht aufgiebt,
die reichen Eingebornen in Kalkutta, daß wir unsre Herrschaft über Indien be¬
haupten, die Boers, daß wir in Südafrika verbleiben, und bald wird er sich,
wie es scheint, bei Europa entschuldigen, Ägypten zu Grunde gerichtet zu haben
und die Kostenrechnung bezahlen."
Fragen wir zum Schlüsse, was der Verfasser des Artikels im ^orwiANtl^
Il.6pleno, sei er nun Gladstone selbst oder von diesem beauftragt oder auch nur
ein indiskreter Belauscher und Veröffentlicher seiner geheimen Gedanken, mit
seiner Arbeit in Frankreich erreicht hat, so scheint es, nach der Pariser Presse
zu urteilen, sehr wenig zu sein. Die Ausfälle desselben auf die deutsche Po¬
litik und deren Leiter waren selbstverständlich Wasser auf die Mühle der chau¬
vinistischen Blätter, aber der journalistische Annäherungsversuch des Gladstonis-
mus an Frankreich hat eine kalte Aufnahme gefunden. Man wird Ursache zu
dem Glauben haben, daß mau des Wohlwollens der Herren in Downingstrcet
entraten könne, und die RöMdliHno ^ran^iss — welcher der unglückliche Ar¬
tikel achtuiidvicrzig Stunden vor seinem Erscheinen im Druck mit dem Be¬
merken zugesandt wurde, er sei von einem der ersten Staatsmänner Eng¬
lands verfaßt — erblickt in den Liebenswürdigkeiten, die deu Frauzosen gesagt
werden, gar nur den naiven Ausdruck des englischen Egoismus. In Peters¬
burg wird man kaum anders denken.
bete, welche auf dem Gebirgspfade hinter dem Paare herging,
kam mit einemmale auf einen Gedanken, der ihr wie eine Offen¬
barung des Himmels erschien/ Josef Devannis hatte am Tage
vorher behauptet, daß die krankhafte Seelenstimmung ihres
Bruders durch das wunderthätige Werk einer tugendhaften
Frau geheilt werden könne. Gab es denn auf der Welt eine Frau, welche
sich besser dazu geeignet hätte als ihre Freundin? Beide paßten in jeder Be¬
ziehung zu einander. Adele war sofort entschlossen, alles aufzubieten, um diese
Verbindung zustande zu bringen; sie war überzeugt, daß hierdurch auch Ninas
Zukunft sich glücklicher gestalten würde.
Und Nina? Hatte sie gemerkt, daß ihre Gefährten sich in ihren Gedanken
so lebhaft mit ihr beschäftigten? Soviel stand fest, daß sie sich einer Sorg¬
losigkeit und Heiterkeit überließ, die man garnicht an ihr gewohnt war.
Auch Moschillo nahm an der heitern Stimmung der kleinen Gesellschaft
teil; er schien mit sich und den andern sehr zufrieden zu sein. Die untadel-
hafte Ausführung des ihm erteilten Auftrages hatte ihn stolz gemacht. Er sah
seinem Herrn und den beiden Damen mit einem gewissen Selbstbewußtsein ins
Gesicht, als ob er sagen wollte: Ihr habt gesehen, was ich zu leisten vermag!
Und da der Korb, den er zwischen den Zähnen trug, jetzt leer war, so that
er sich nicht den geringsten Zwang mehr an, sondern trabte nach seiner Gewohn¬
heit bergauf, bergab und beschrieb rings um die Gesellschaft die weitesten Kreise.
Mit einemmale zog Nina ihren Arm aus dem ihres Begleiters und eilte
mit einem Freudenrufe in schnellem Laufe voraus; ihre Müdigkeit schien Plötzlich
verschwunden zu sein. An der Biegung des Fußpfades nach dem AbHange zu
war Guido erschienen; er hatte seine Wärterin im Stiche gelassen, war der
Mutter entgegengeeilt und streckte jetzt die Hände nach ihr aus, indem er ihr
laut zurief: Mutter! Mutter!
Rina hob ihn in die Höhe, drückte ihn an ihre Brust und überschüttete
ihn mit Küssen. Dann wollte Guido auch die gute Tante Adele küssen und
den Onkel Paul begrüßen. Bist du auch da? sagte er übermütig zu Paul.
Du bist ein Mann und sollst mir die Hand geben.
Auf Adelens Vorschlag wurde jetzt beschlossen, ein wenig Halt zu machen
und auszuruhen. Man wählte einen Platz, von wo aus das Auge mit ent¬
zückten Blick auf die weite, mit Reben, Ölbäumen und Kornfeldern geschmückte
Thalebene schweifen konnte.
Der Vergabhang bildete an dieser Stelle zwischen der Biegung zur rechte»
und dem Bache zur linken Seite eine kleine Bucht, und das in ein tiefes Bett
eingedrängte Wasser strömte in jähem Abfalle heraus, um den im Thalgrunde
fließenden Waldstrom einzuholen. Die dicht an der Straße auf dem Rasen
aufgetürmten Steine schienen eigens dazu da zu sein, den Spaziergängern,
welche ausruhen und das wundervolle Landschaftsbild genießen wollten, zu
Sitzplätzen zu dienen.
Hier nahm denn auch die ganze Gesellschaft Platz. Guido begann sofort
mit Paul ein lustiges Spiel, und Moschillo beteiligte sich daran, ohne seinen
Korb fahren zu lassen, mit der Bescheidenheit eines wohlerzogenen Hundes, er
tanzte, lief auf und ab, ließ Guido auf seinem Rücken reiten, diente ihm zum
Fußschemel und duldete mit gönnerhaftem Wohlwohlen alles, was der Kleine
von ihm verlangte.
Nina lächelte glückselig ihrem Knaben zu, und auch Paul empfing manchen
freundlichen Blick aus ihren freudestrahlenden Augen. Adele dachte im stillen,
daß ihr Plan unzweifelhaft gelingen würde.
Die friedliche Ruhe wurde bald in unangenehmster Weise gestört. Man
hörte ganz in der Nähe das spöttische Lachen einer Fran, das Gelächter der
sie begleitenden Männer. Unsre drei Personen wandten ihre Blicke nach jener
Richtung; vor ihren Augen erschien an der Straßenbiegung nach rechts die
Gräfin Beldoni hoch zu Pferde mit ihrem Gefolge.
Warum wirkt diese Erscheinung auf Paul und Rina wie ein kalter Strahl?
Weil Paul sich im stillen darüber ärgert, daß ihn jene Frau in dem Augen¬
blicke, wo er sich den angenehmsten Gefühlen überließ, überrascht hat. Er hätte
viel darum gegeben, wenn sie ihn nicht mit Rina getroffen hätte. Und Rina
hat den boshaft blitzenden Blick, welchen die Gräfin ihr zuwirft, recht wohl
bemerkt, sie hat die Ahnung, daß ihr eine unversöhnliche Feindschaft droht,
und fühlt das Unbehagen, welches gutherzigen Seelen das unverdiente Übel¬
wollen andrer Leute verursacht.
Auch Adelen war der Blick der Gräfin nicht entgangen; und schon war
sie um den Plan, der ihre Phantasie so angenehm beschäftigte, besorgt geworden.
Der Ausdruck in Laurettens Gesichtszügen war aber auch sehr geeignet,
diese unerfreulichen Eindrücke hervorzubringen. Es lag darin Wild, Bosheit
und Ironie. Sie hatte Paul gewissermaßen zu Ninas Füßen gesehen, hatte
gesehen, wie sein Antlitz von innerer Freude glänzte, und hatte mit weiblichem,
in solchen Fällen nie trügendem Scharfblicke herausgefunden, daß Paul diese
Frau liebte oder im Begriff stand, sich in sie zu verlieben. Sie erinnerte sich
jetzt daran, daß Paul am Abend vorher bei den Worten, welche sie über Nina
geäußert hatte, in seinen Mienen eine gewisse Verwirrung, wenn nicht gar eine
schlecht verhehlte Entrüstung an den Tag gelegt hatte; sie wußte jetzt auch den
wahren Grund, weshalb Paul ihren Verführungskllnsten getrotzt und in so
vermessenen Tone zu ihr gesprochen hatte; die Ursache hiervon war nicht dem
Ärger über die längst verjährte Beleidigung, sondern der neuen Liebe beizumessen.
Nun war ihr alles klar, und wenn sie schon früher die Absicht gehabt
hatte, Paul wieder in ihre Liebesnetze zu ziehen, so wurde sie in diesem Vorsatze
durch den Haß gegen jene Frau und das Verlangen, sich an beiden zu rächen,
noch mehr bestärkt.
Alle diese Gedanken zogen in einem Augenblicke vor ihrer Seele vorüber.
Sie hatte ihren Plan mit derselben Schlagfertigkeit gefaßt, welche das Genie
eines Feldherrn bei dem unvermuteten Andrängen des Feindes offenbart. Und
ebenso schnell hatte sich die Wolke auf ihrer Stiru zerteilt, war der boshafte
Blitz ihrer Augen erloschen; sie spielte die Heitere und Liebenswürdige, als ob
ihr die angenehmste Überraschung widerfahren wäre. Die beiden Damen begrüßte
sie durch ein leichtes Kopfnicken, zu Paul aber wandte sie sich mit vollendeter An¬
mut und streckte ihm mit der Vertraulichkeit einer alten Freundin die Hand entgegen.
Guten Tag, Amnrdi! Sehr erfreut, Euch wohl zu sehen. Ich hoffte, Ihr
würdet heute früh kommen. Vergeßt es nicht! Ich wünsche, daß wir unsre
alten Gewohnheiten wieder aufnehmen. Angenehmen Spaziergang!
Paul war aufgestanden; die Aufregung, in der er sich befand, ließ ihn zu
keinem passenden Entschlüsse kommen. Am liebsten Hütte er die Hand der Gräfin
zurückgewiesen und gesagt: Geht Eurer Wege und laßt mich zufrieden, denn
ich habe nichts mit Euch zu schaffen! Und nur die Besorgnis, in Ninas Augen
als ein Grobian zu erscheinen, hielt ihn davon ab. Aber er berührte den an
der Hand der Gräfin eng angepreßten Handschuh nur mit den Fingerspitzen
und statt der Antwort machte er nur eine leichte, hochmütige Verbeugung.
Die Gräfin flog mit ihrem Gefolge davon.
Was denkt sich dieser Herr da mit seinem stolzen Benehmen? fragte einer der
Kavaliere, welcher es Paul nicht vergeben konnte, daß er am Abend vorher Lau¬
retten eine halbe Stunde lang seinen Anbetungen entzogen hatte.
Er ist ein Original, antwortete die Gräfin mit erzwungenem Lächeln. Es
ärgert ihn, daß wir in dieser Einsamkeit das verliebte Duett, welches er mit
dieser Wachsfigur im schwarzen Kleide ausführen wollte, gestört haben.
Was? Was? rief ein andrer. Sollten die beiden eine Liebschaft miteinander
haben?
Die Gräfin zuckte leicht mit den Schultern, als wollte sie zu dem Fra¬
genden sagen: Ihr müßt sehr unschuldig sein, wenn Ihr das nicht bemerkt habt.
Dann fügte sie hinzu: Ich bin überzeugt, die beiden haben sich hier im Bade
ein Rendezvous gegeben.
Da haben wir ja das Geheimnis der mysteriösen Witwe heraus! rief ein
dritter. Unter dem Scheine der Trcincr für den Toten versteckt sich die Leiden¬
schaft für den Lebendigen.
Auf Ehre! ließ sich ein Unbesonnener entschlüpfen, dieser Herr Amardi ist
sehr glücklich.
Glaubt Ihr? fragte ihn ironisch die Gräfin, und warf ihm einen bitter¬
bösen Blick zu.
Gewiß, antwortete jener, der seine Äußerung wieder gut machen wollte.
Gewiß, denn glücklich ist jeder Mann, der einer Frau eine Leidenschaft einflößt,
mag auch noch so wenig daran sein.
Haltet Ihr diese Frau für schön? fragte Laurette unwirsch ihr ganzes
Gefolge.
Die jungen Herren waren viel zu gewandte Hofleute, um eine andre Ant¬
wort als die von der Gräfin erwartete zu geben.
Sie ist nicht geradezu häßlich, aber —. Und um befleißigten sie sich um
die Wette, diesen oder jenen Fehler aufzufinden. Mit jedem neuen Fehler aber,
der an Nina entdeckt wurde, heiterte sich Lcmrettens Antlitz mehr und mehr
ans, bis es als ausgemacht galt, daß man Rina mit der ausgesuchtesten Gro߬
mut behandle, wenn man sie nicht für grundhäßlich erkläre: zum Lohne für
dieses Verdikt spendete die Gräfin ihren Schmeichlern ein Lächeln, das nicht
heiterer und huldvoller hätte sein können.
Übrigens war, wie schon jetzt erwähnt werden mag, der von der Gräfin
scheinbar unabsichtlich ausgestreute Keim der Verleumdung auf gutes Erdreich
gefallen. Noch an demselben Tage wußte die ganze Badegesellschaft, daß die
Einsamkeit und Zurückgezogenheit, in welcher Nina lebte, nichts als Lug und
Trug und der Deckmantel für eine ziemlich skandalöse Liebschaft sei, und daß
sie, während sie noch in tiefer Trauer für ihren verstorbenen Ehemann einhcr-
qehe, sich ohne Zucht und Scham einem zweideutigen Verhältnisse überlassen
und sich hier im Bade mit ihrem Liebhaber ein Rendezvous gegeben hatte,
einem unmoralischen Menschen, der ein Vagabund, ein Thunichtgut, ein Li-
terat, ein Journalist, ein Pamphletschreiber und dergleichen genannt werden
müsse.
Die kleine Badegesellschaft war nur zu sehr bereit, jene Verleumdung mit
offenen Armen aufzunehmen und sich wie eine glückliche Beute einander zuzu¬
werfen. Bisher hatte es niemand gewagt, den Ruf der jungen Witwe, deren
würdevolles und zurückhaltendes Benehmen keinen Anlaß zu Klatschereien gab,
anzutasten. Als es aber nun zum Vorscheine kam, daß Rina durchaus keine
Tugendheldin war, machte sich eine allgemeine Reaktion geltend, und die ganze
Badegesellschaft wurde gegen sie feindselig gesinnt. Überdies wollten ihr die
Damen nicht wohl, weil — den Grund kann man sich denken, und die
Herren nahmen es ihr übel, ^>aß jeder Versuch einer galanten Annäherung
wirkungslos geblieben, ja in einer Weise abgelaufen war, welche die Eigenliebe
im höchsten Grade demütigen mußte.
Aber kehren wir zu unsern drei Freunden, zu Rina, Adele und Paul zurück;
sie haben nicht den geringsten Argwohn von dem Unheile, welches über ihren
Häuptern schwebt.
Rina und Paul standen noch immer im Banne jener Kälte, welche ihnen
die plötzliche Ankunft der Gräfin eingeflößt hatte. Nina war durch die heraus¬
fordernde Vertraulichkeit der koketten Frau unangenehm überrascht gewesen, sie
war sofort, als sie Pauls Verlegenheit bemerkt hatte, ebenfalls verlegen geworden
und ärgerte sich nun im stillen über ihre eigue Verlegenheit, von der sie sich
keine Rechenschaft geben konnte. Aber noch unzufriedener war Paul; er fürchtete,
daß jene Szene, welche sich vor Rinas Augen abgespielt hatte, gar leicht deu
Verdacht erwecken könnte, als ob wer weiß welche Beziehungen zwischen ihm
und der Gräfin stattfanden.
Guido bemerkte sofort, daß in der Seelenstimmung seiner Gefährten andres
Wetter eingetreten war, und sagte mit der größten Unschuld eines erkant
terrivlv: Was ist denn passirt, Onkel Paul? Was ist denn der lieben Mutter
passirt? Weshalb seid Ihr denn alle beide so verändert? Seid Ihr böse auf¬
einander? Ist jene Frau dort Schuld daran?
Man kann sich denken, daß diese Worte nicht dazu dienten, die Verwirrung
der beideu zu zerstreuen. Keines von ihnen wußte Guido etwas zu antworten,
aber Adele half ihnen aus ihrer Verlegenheit, indem sie mit dem Knaben über
andre Dinge sprach.
Indessen war auch der Kleine übler Laune geworden, er entfernte sich
sacht und kletterte auf den Abhang, ohne daß in diesem Augenblicke jemand ans
ihn Acht gab, mit Ausnahme Moschillos, der seinen Korb immer noch getreu¬
lich zwischen den Zähnen tragend dem Knaben mit wachsamen Augen folgte.
Plötzlich fuhr Rina zusammen, als ob ein sechster Sinn ihr eine dem
Knaben drohende Gefahr angekündigt hätte, drehte sich um, um zu sehen, wo er
wäre, richtete sich im Nu auf und stieß einen Schreckensschrei aus, der mit
einem Hilferuf zusammentraf, welchen der Kleine ertönen ließ.
Alle standen auf und sahen sich um. Guido war auf der abschüssigen
Anhöhe, welche über dem Flusse lag, ins Schwanken geraten. Aber in demselben
Augenblicke stürzte sich jemand ans ihn, und es polterte etwas in den Abgrund.
Es war Mvschillo, der seinen Korb hatte fahren lassen, den Kleinen flugs beim
Kleidchen ergriff und den beinahe in der Luft über dem Abgrunde schwebenden
festhielt.
Guido hatte am Uferrande eine Blume pflücken wollen und war mit dem
Fuße ausgeglitten; ohne den braven Neufundländler wäre er unrettbar verloren
gewesen.
Im Sprunge war Paul bei dem Kleinen, nahm ihn auf den Arm und
brachte ihn der Mutter, welche die Hand auf ihr Herz preßte und sich auf
Adelen stützen mußte, um nicht zu Boden zu sinken, denn es waren ihr alle
Kräfte vergangen.
Rina nahm den Knaben auf den Schoß und küßte ihn lange und leiden¬
schaftlich. Du Bösewicht! sagte sie. Willst du, daß ich sterben soll?
Und der Kleine, der über die entstellten Züge seiner Mutter ganz erschrocken
war, schlang seinen Arm um ihren Hals und rief: Sei nicht böse, Mutter!
Ich habe es' nicht mit Fleiß gethan.
Inzwischen war auch der Hund herbeigekommen, stellte sich vor die Gruppe,
wedelte ernsthaft mit dem Schwänze und guckte einem nach dem andern ins
Gesicht.
Adele war die erste, die ihm eine Artigkeit sagte. Bravo, Moschillo!
sagte sie und streichelte ihm liebevoll den Kopf. Du bist ein braves Tier.
Moschillo gab seine Freude durch ein lebhaftes Wedeln zu erkennen; dann
lief er zu seinem Herrn, hob sich auf die Hinterpfoten, stützte sich mit den
Vorderpfoten auf Pauls Schultern und lehnte seinen Kopf an dessen Brust.
Ja ja, du bist ein braver Hund; das wissen wir ja, sagte Paul, indem
er ihn mit innigem Wohlgefallen liebkoste. Es ist ja nicht ohne Grund, daß
ich dich so lieb habe. Jetzt aber genug, hinunter!
Moschillo gehorchte und näherte sich Nina, als wollte er auch von ihr
den schuldigen Tribut von Lobeserhebungen und Liebkosungen entgegennehmen.
Da er aber bemerkte, daß sie ganz und gar mit ihrem Sohne beschäftigt war,
so blieb er stehen, um sie in ihren Herzensergießungen nicht zu stören. Als ihn
aber Nina mit einem komm, komm! freundlich heranwinkte, war er sofort bei
der Hand, um seinen mächtigen Kopf auf das Knie der Mutter dicht neben
Guido zu legen, und war offenbar sehr befriedigt, als Nina ihm mit der Rechten
den Kopf streichelte und der Knabe seine kleinen Hände in die von den langen
Ohren herabfallende Mähne steckte.
Als man sich wieder auf den Weg machen wollte, mußte Guido eingestehen,
daß ihm der eine Fuß so weh thue, daß er ihn nicht auf die Erde setzen könne.
Er hatte sich, als er merkte, daß er fallen wollte, zu sehr angestrengt, sich
aufrecht zu erhalten; dabei war ihm der Fuß umgekippt und hatte sich verrenkt.
Man zog ihm den Stiefel aus, der den Knöchel zu sehr drückte, und da der
Fuß zusehends anschwoll, so nahm Paul ohne weiteres den Knaben auf den Arm,
so liebevoll wie ein Vater seinen eignen Sohn.
Auch Rina streckte ihre Arme aus, um ihn emporzunehmen.
Nein, nein, sagte der Kleine, laß mich uur hier. Onkel Paul hält mich
ganz gut! Du würdest müde werden, Mutter.
Und nun legte er seinen Arm um Pauls Hals und lehnte den Kopf an
seine Wange. Paul gab ihm einen zärtlichen Kuß und segnete ihn im Herzen.
Es schien ihm, als ob diese Probe der Liebe und des Vertrauens, welche der
Kleine ablegte, die zwischen ihm und Rina durch den Zwischenfall mit der
Gräfin veranlaßte Entfremdung bereits wieder ausgeglichen habe.
(Fortsetzung folgt.)
Heutige Volkspoesie. Daß die Volksdichtung und der Volksgesang in
Deutschland im Aussterben begriffen seien, namentlich in den großen Städten, ist
eine oft ausgesprochene Behauptung, die aber trotzdem der Begründung entbehrt.
Das Volk singt, wenn es unter sich ist und sich unbelauscht glaubt, noch ebenso
gern wie früher, und auch der Quell der Volksdichtung sprudelt noch genau so
munter wie in alten Zeiten. Soldaten auf dem Rückmarsch vom Exerzierplatze,
„Urlauber" im Eisenbahnwagen, „Arbeiter" und Fabrikmädchen auf ihren gemein¬
schaftlichen Sonntagsspaziergängen durch den Wald — sie alle singen unermüdlich
und stecken voller Lieder. Aber freilich, daß sie etwa von den beiden Königs¬
kindern singen sollten, die einander so lieb hatten und doch nicht zueinander
konnten, das darf man nicht erwarten. Das heutige Volkslied ist durchaus Ge¬
legenheitsdichtung und spiegelt die Lebenskreise und Lebensverhältnisse, aus denen
es hervorgeht, getreulich wieder.
Schwer ist es, eins oder das andre von diesen jüngsten Kindern der
UnW vu1Shiva>g-Ä einzufangen. Sobald die Singenden merken, daß ihnen zugehört
wird, daß etwa gar ein Fremder Miene macht, das Gesungene festzuhalten, so
verlieren sie ihre Unbefangenheit, und einer nach dem andern verstummt Leider
ist diese Schämigkeit in manchen Fällen berechtigt, denn was man da in den
langgezogenen Tönen einer sentimentalen Weise zu hören bekommt, sind höchst be¬
denkliche Scherze, an denen merkwürdigerweise die jungen Schönen, welche am
Arme der Sänger dahinwandeln, keinen Anstoß nehmen. In den meisten Fällen
aber ist jene Schämigkeit glücklicherweise unnötig. Im folgenden teilen wir ein
Lied mit, das der letzte große Maurerstreik in Leipzig geboren hat und das man
an schönen Frühlingsabenden vor Leipzigs Thoren oft mit wahrhaft herzerschütternder
Ernsthaftigkeit und Inbrunst erklingen hören konnte. Es wurde nach der Melodie
„Still ruht der See" gesungen.
Still ruht der Bau, die Maurer schlafen,
Das FKßchen steht in guter Ruh,
Der Kalk vertrocknet in der Sonne,
Weil niemand gießet Wasser zu. Drum haltet aus, ih
Es fließt ja immer
Ist euch auch jetzt
Dann legt ihr einer edlen Meier,*)
Geld noch zu,
die Wurst zu teuer,
n Schinken zu.Ach laßt sie gehn, die armen Maurer,
Nicht lange dauert ihre Ruh,
Denn wie man kann in Blättern lesen,
Da geben die Meister kleine zu.
Der sozialdemokratische Abgeordnete Bebel hat den Verfasser des vorliegenden
Buches wegen Übertretung des Sozialistengesetzes bei der Berliner Staatsanwaltschaft
denunzirt — ein Beweis, wie sehr sich die Sozialdemokratie oder rote Inter-
nationale durch die Veröffentlichung dieses Buches getroffen fühlt. Es ist ein
schwerer Irrtum, wenn mau an die friedlichen Tendenzen der Sozialdemokratie
glaubt; die parlamentarischen Führer derselben, welche sich den Anschein geben, an
den gesetzgeberischen Aufgaben mitzuarbeiten, benutzen den Parlamentarismus nur
als Mittel zum Zweck. Ju Wahrheit glaubt auch der gemäßigte Flügel der Partei
nur durch gewaltsamen Umsturz eine Neuerung der Dinge in ihrem Sinne herbei¬
führen zu können. In sehr übersichtlicher und klarer Weise zeigt der Verfasser
die Phasen, welche die sozialdemokratische Bewegung bei uns durchlaufen hat, und
weist an der Hand ihrer Programme und offiziellen Äußerungen ihre Umsturz¬
pläne nach. Der echte Sozialdemokrat kennt aber auch kein Vaterland; deshalb
besteht eine Verbindung unter den revolutionären Elementen aller Länder. Das
vorliegende Buch verfolgt dieselben in ihren einzelnen Erscheinungen unter den
bestehenden Kulturvölkern und liefert gleichzeitig den Beweis des Zusammenhanges
und Zusammenwirkens. Das Buch ist ohne Tendenz und objektiv gehalten und
jeder, der seine Augen nicht eigensinnig verschließt, muß die Notwendigkeit ein¬
sehen, daß die staatserhaltenden Teile sich zusammenscharen. Gegenüber den vom
Verfasser mitgeteilten Thatsachen, die natürlich noch nicht den kleinsten Teil von
dem enthalten können, was sich in den Archiven der Polizei vorfindet, schwinden
alle Phrasen der Freisinnigen über Ausnahmegesetze und der jesuitischen Welfen-
inoral über die anzubahnende Versöhnung durch Milderung des Sozialistengesetzes.
Freilich liegt eine Besserung für die Zukunft nicht bloß in der polizeilichen Nieder-
haltung der anarchischen Kräfte, vielmehr gilt es die berechtigten Forderungen der
arbeitenden Klasse zu befriedigen und diejenige Versöhnung herbeizuführen, die nicht
durch gedrechselte Phrasen, sondern durch thatkräftige Menschenliebe erreicht wird.
Die sozialpolitischen Entwürfe der Reichsregiernng haben den letztgedachten Weg
betreten, aber zweifelhaft ist es, ob das Ziel unter Überwindung der entgegen¬
stehenden Parteiinteressen erreicht werden wird.
Fürst Bismarck soll gesagt haben, daß Frankreichs Antagonismus gegen Deutsch¬
land und das gegenseitige Schachhalteu der beiden Reiche lediglich dazu diene, daß
England und Rußland unbehindert ihre Kolonien erweiterten und ihrem Handel neue
Wege öffneten. Für die Vergangenheit ist dieser Satz jedenfalls richtig, dagegen
bildet es für die Gegenwart und Zukunft einen Streitpunkt, ob für das neu er¬
starkte und mächtige deutsche Reich eine Kolonialpolitik anzustreben sei. Der Ver-
fasser behandelt diese Frage in sehr beachtenswerter Weise. Mit seinem Vorwort
zwar, in welchem er die allgemeine Politik Deutschlands für die nächste Zukunft
zu skizziren sucht, wird er manchem Zweifel begegnen. Dergleichen Blicke in die
Zukunft sind mißlich, da sie sich doch nur innerhalb sehr weiter Grenzen bewegen
können und der realen Grundlage entbehren. Man weiß, welche Zufälligkeiten oft
in der politischen Konstellation die weittragendsten Folgen herbeiführen. Unsrer
Ansicht nach wäre die beste Politik für Deutschland die des Fürsten Bismarck, und
es wäre nichts andres zu wünschen, als daß es dem deutschen Kaiser und dem
deutschen Volke noch lange beschieden sein möge, den jetzigen Reichskanzler an der
Spitze der Geschäfte zu sehen. Das eigentliche Thema des Verfassers dagegen wird
sicherlich mehr Beifall finden. Was die Ackerbaukolonien betrifft, fo besitzt solche
eigentlich nur noch England, ohne jedoch daraus Vorteile zu ziehen; denn politisch
sind diese Kolonien fast völlig unabhängig vom Mutterlande, und kommerziell vermag
England nur dort — wie die Warenstatistik ergiebt — mit den andern Nationen
zu konkurrire«. Der Verfasser tritt dafür ein, daß das Auswcmderuugswesen ge¬
regelt, den Absatzgebieten ein größeres Augenmerk zugewendet und insbesondre das
Kvnsnlntswesen geeigneter gestaltet und für den Handelsverkehr mehr ausgenutzt
werde. In letzterer Hinsicht wird er vielfach in dem Reichskanzler einen Bundes¬
genossen finden. Gegenüber der Entwicklung des Deutschtums im Auslande will
der Verfasser auch durch innere Kolonisation die nicht genügend kultivirten Teile
des Reiches besetzen. Endlich sind noch besondre Abschnitte den Deportations- und
Handelskolonien gewidmet. Man wird von der Lektüre des Buches nicht ohne
Gewinn scheiden, und es mag daher allen denen empfohlen sein, welche sich für
eine sachgemäße Ausdehnung unsrer wirtschaftlichen Beziehungen interessiren.
Geschichte der Gegenwart ist eigentlich ein Widerspruch und eine Unmöglich¬
keit; die Gegenwart wird erst Geschichte, wenn sie vergangen ist, und selbst über
die jüngste Vergangenheit läßt sich noch nicht wohl Geschichte schreiben, da das
Material zu einem solchen Unternehmen fast nur aus oberflächlichen Zeitungs¬
artikeln besteht, zu denen höchstens noch eine Anzahl von Bekanntmachnngen, ver¬
öffentlichten Noten und Depeschen und ähnlichen Dokumenten kommt, die ohne
Kommentar nicht vollständig nach ihrem Werte und ihrer Bedeutung gewürdigt
werden können. Indes nehmen wir es mit der Sache, wenn sie bescheiden auf¬
tritt und nicht mehr sein will als eine gutgruppirte, uach Möglichkeit verständig
referirende und wohlgesinnte Aufzählung der in einer gewissen naheliegenden Pe¬
riode vollendeten Thatsachen, nicht genau, und da dies bei den Müllerschen Pu¬
blikationen der hier in Rede stehenden Art der Fall ist, stehen wir nicht an, auch
diesen neuesten Band zu empfehlen. Selbst im wesentlichen aus Zeitungsnachrichten
zusammengestellt, eignet er sich auch vorzüglich für Zeitungsleser, denen er als
Nachschlagebuch und Revue ergänzt, was das Konversationslexikon selbst mit seinen
Nachträgen nicht in allen Fällen leisten kann.
Dies Buch bildet den Beginn eines Memoirenwerkes, dessen einzelne Ab¬
schnitte sich immer um eine bestimmte, mehr oder minder bekannte Persönlichkeit
aus gelehrten, künstlerischen oder politischen Kreisen gruppiren, mit welcher der
Verfasser im Verlaufe seines wechselvollen Lebens in Berührung gekommen ist und
zu deren Charakterbild er hie und da interessante Züge mitzuteilen hat. Wertvoll er¬
scheint uns vor allem eine Seite seiner Aufzeichnungen! der Beitrag, den er mit
denselben zur Beurteilung gewisser, jetzt glücklicherweise vergangnen Anstünde, Be¬
strebungen und Stimmungen in Preußen liefert. Der Verfasser stammt seiner
geistigen Entwicklung und seinen gesamten politischen und religiösen Anschauungen
nach ans der Zeit und den Gesellschaftskreisen, aus welchen kurz vor den Berliner
Märztagen und während der denselben unmittelbar folgenden Jahre jene verhältnis¬
mäßig auffallend große Anzahl von Malkontenten mit militärischer Bildung
hervorging, die uach verschiedenartiger Beteiligung an der in den Ereignissen von
1848 gipfelnden Bewegung freiwillig oder gezwungen dem Vaterlande den Rücken
kehrte und das Heer der politischen Flüchtlinge schwellte, und er repräsentirt mit
den meisten seiner Ansichten jene Zeit und jene Periode noch jetzt. Die faule
Gährung, das unklare Streben der vierziger Jahre wirkte auch in die Sphäre
des Heeres hinein und erzeugte hier in aufgeweckten und strebsamen, aber nur
halbgebildeter Köpfen einen Radikalismus, dessen frivoles, nicht selten cyuisches
Gebühren man jetzt schwer noch begreift. Von Frankreich aus importirte
Schwärmerei für revolutionären Fortschritt, lichtfreundlicher Rationalismus, Jung¬
hegelei, die Standpunkt auf Standpunkt überwand, bewirkten im Verein mit einem
starken Selbstgefühl, dem Triebe, etwas zu leisten und zu gelten, und dem Ver-
drusse darüber, daß der Eifer keine Gelegenheit sah, sich mit Erfolg zu bethätigen,
eine Stimmung, welche die betreffenden Leutnants binnen kurzem in Konflikt mit
Staat und Kirche geraten und sie schließlich an den heimatlichen Verhältnissen
völlig verzweifeln ließ, sie über die Grenzen drängte und zu Abenteurern und
Sonderlingen machte. Beispiele der Art sind Heinzen, Rüstow, Techow, der „Volks¬
kämpfer" von Corvin und in gewissem Maße auch Held. Wie diese, war auch
der Baron von Gagern eine Zeit lang preußischer Offizier, dann Soldat der
Demokratie, Republikaner und religiöser Freigeist von der flachen Sorte, und gleich
der Mehrzahl seiner Gesinnungsgenossen wendete er zuletzt dem Lande seiner Geburt
verdrossen den Rücken, um sich, so gut es gehen wollte, anderwärts zu akklimatisiren
und es zu etwas zu bringen. Es gelang ihm, während es andern nicht glückte:
er fühlt sich jetzt als Beamter der glorreichen Republik Mexiko, wie es scheint,
glücklich, aber ein Leben voll Unruhe, Abenteuer und herber Enttäuschungen ist
auch ihm nicht erspart geblieben.
Den Anstoß zu der Entwicklung, die sein Denken und Streben nahm, gab
seine Bekanntschaft mit dem Berliner Turnlehrer Eiselen, die zu einem Besuche
beim Vater Jahr in Freiburg führte. Gemähre, teilweise auch wesentlich verändert
wurde die hier empfangene Anregung, als er, nach einem stark bewegten Gymnasial¬
leben in Berlin stndirend, oder, wie er selbst sich ausdrückt, „sich Studireus halber
aufhaltend," mit dem „Rutil" in Verkehr trat, einer Gesellschaft, die genügend
bezeichnet ist, wenn wir sagen, daß ihr der querköpfige Junghegelianer Max
Stirner, dem zuletzt auch der Standpunkt der Scham nicht unüberwindlich war,
die beiden Bauer, der Pessimistische Poet Titus Ulrich, mehrere Herren, die später
den Kladderadatsch mit ihrem Witz speisten, und die emanzipirte Louise Aston
angehörten. Später besuchte er die Universität Leyden, wo er viel mit dem be¬
kannten Naturforscher und Kenner Japans, von Siebold, einem Verwandten, ver¬
kehrte und daneben fleißig mit holländischen Studenten kneipte. 1848 sehen wir
ihn im Baskenlande umherziehen, wo er als Volontär für die Sache der Karlisten
thätig war, den Versuch unternahm, Espartero für dieselbe zu gewinnen, und
Während dieses für einen Liberalen von reinem Wasser nicht gerade sehr passenden
Treibens bei einem Haare von den Christinos mit Pulver und Blei hingerichtet
worden wäre. Heimgekehrt, zog er nach dem Willen seiner Mutter „des Königs
Rock" an, in welchem es ihm indes begreiflicherweise nicht gefiel, sodaß er ihn,
nachdem er mündig geworden, sofort ablegte. Der Genosse des „Rtttli" wurde
nun —- was glnnbt man wohl? — Redner einer freien Gemeinde in Zeitz, in
welcher Stellung er Wislicenus zu seinen Freunden zählte. 1863 wanderte er nach
Amerika aus, zunächst nach den Vereinigten Staaten, dann nach Mexiko^ wo er
anfangs in der Armee, dann als Zivilbcamtcr Anstellung fand, mehrere ^Fcldziige
auf feiten der Republikaner mitmachte und und hervorragenden Persönlichkeiten wie
Santa Anna, Miramon und Jurncz in freundschaftliche und gegnerische Be¬
rührung kam. -, ! ,^ , v ^ v / ^: ^.^^
Das Buch ist nicht ohne Geschick und Geist geschrieben. Es enthält mich
manchen guten Gedanken und manches richtige Urteil. Es erzählt ziemlich hübsch
und bringt hie und da eine amüsante Anekdote. Hin und wieder wird das starke
Selbstgefühl, das aus alleu Kapiteln heraussieht und den Leser verstimmt, zu
komischer Eitelkeit. Besonders unangenehm wird das oberflächliche Gerede über
religiöse Dinge, wo der Verfasser sich mit seinem Atheismus zu präsentiren für
schön und rühmlich hält. Auch daß er soviel von seinen mittelmäßigen Poesien
einschaltet, ist geschmacklos. Welcher Unsinn neben richtigen Bemerkungen vor¬
getragen wird, mögen ein paar Beispiele zeigen. Indem unser radikaler Baron
dagegen polemisirt, daß manche Professoren sich bestreben, die studirende Jugend
von der Beteiligung an der Tagespolitik zurückzuhalten, fragt er (S. 109): „Haben
denn die Perücken aus der Geschichte nicht gelernt, daß neue weltumstürzende und
weltverbessernde Ideen zumeist in Konventikeln jugendlicher Geister geboren wurden?
Ist nicht z. B. die deutsche Einheit . . . eine Frucht der Burschenschafter?" An
einer andern Stelle (S. 130) erklärter: „Fälschlich nur wird der Teufel als Geist
der Finsternis, als Mephotophilos, der das Licht nicht liebende, bezeichnet. Die
Licht suchende Wissenschaft ist die geschworene Feindin jeder Religion, obwohl
schmachvollerweise manche ihrer Vertreter ihr noch immer Handlangerdienste
leisten. . . Wenn ich ein Gegner der Religion bin, so ist es, weil ich die feste
Überzeugung habe vou dem verhängnisvollen Einflusse, welchen sie auf die Ent¬
wicklung des Menschengeschlechtes ausgeübt hat und noch ausübt. . . Der alte Lukrez
wunderte sich, daß wnwm relissio xotnit suaLsrs wÄlorum. . . Ich wundre mich
nicht darüber. Ich finde es vielmehr logisch, daß die Religion zur Unmenschlichkeit
führt, weil in dem Maße, daß unsre Gefühle sich zu Gott wenden, sie von den
Menschen abgezogen werden." Schließlich noch die Bemerkung, daß dem Verfasser
bisweilen die Grammatik abhanden gekommen ist. S. 122 schreibt er von seiner
Wanderung im spanischen Gebirge bei Se. Jean de Luz: „Von dem vielen^ Umher¬
klettern ermüdet, klebte die Zunge mir am Gaumen!" Nicht weniger schön ist
(S- 206) folgender Satz, in welcher er von der Seereise nach Newyork erzählt:
„Bei der langen Fahrt, mit bis dahin fremden Personen heterogenster Bildung
auf engen Raume zusammengepfercht, von früh bis spät zu fast fortwährendem
Zusammensein mit ihnen verdammt, traten leider die schlechten Eigenschaften, die
ihnen anhafteten, schärfer hervor, machten die Leute eckiger, stachliger, unverträglich,
verwandelten das »gesellschaftliche Tier« in ein äußerst ungeselliges."
as kleine und entlegene Norwegen hat an sich für uns Deutsche
nur ein geringes Interesse, Aber es hat in den letzten Jahren
insofern Bedeutung für uns gewonnen, als es zu einer Lehre
und Warnung für die geworden ist, welche die doktrinäre Demo¬
kratie, wie sie in der Fortschrittspartei vertreten ist, für ungefährlich
halten. Wir sehen hier, wie diese Partei, begünstigt dnrch die Umstünde, immer
weitergehende Forderungen stellt und immer deutlicher ihr wahres Wesen und
ihr letztes Ziel enthüllt, und so erscheint es durchaus nicht überflüssig, dieser
Bewegung mit Aufmerksamkeit vou Stadium zu Stadium zu folgen und
gelegentlich über den Stand der Dinge Bericht zu erstatten. Anlaß, dies jetzt
wieder einmal zu thun, giebt die Nachricht, daß seit einiger Zeit in Christiania
eine neue Ministerkrisis ausgebrochen ist, nachdem erst vor kurzem vom Könige
das vom Reichsgerichte verurteilte Kabinet seiner durch ein andres unter dem
Staatsrat Schweigaard ersetzt worden war.
Schon sehr bald nach dem Amtsantritte des letztern Kabinets sprach man
davon, daß es wanke. Die Regierung hatte gegen gewisse Blätter der radikalen
Partei wegen Majestätsbeleidigung bei den Gerichten Klage erhoben, der König
aber, wie immer versöhnlich gesinnt und darauf bedacht, der Gefolgschaft
Sverdrups Beweise davon zu geben und womöglich alles zu vermeiden, was
den Herren mißfallen könnte, ließ seinen Räten den Wunsch zugehen, die
Untersuchung möge unterbleiben oder eingestellt werden. Das Ministerium
geriet dadurch in eine unbequeme Lage, und die ganze regierungsfreundliche
Partei fühlte sich entmutigt und im Stiche gelassen. Man war fest überzeugt,
daß die Demokraten das rücksichtsvolle und nachsichtige Auftreten des Monarchen
nur als Beweis auffassen würden, daß er sich ihnen gegenüber schwach fühle,
und man sah diese Ansicht ohne Verzug bestätigt: die radikale Presse ging zum
Danke für die ihr bewiesene Schonung nur umso dreister und gröber vor und
enthüllte ziemlich deutlich ihre letzten Ziele. Man sprach daraufhin von der
Absicht Schweigaards, sein Amt niederzulegen, ja einige wollten wissen, er
habe den König bereits um seine Entlassung gebeten und letzterer werde demnächst
nach Christiania kommen, um den Versuch zur Bildung eines neuen Kabinets
zu macheu, das den Demokraten besser gefiele als das bisherige. Doch unter¬
blieb dies, und die Sverdrupsche Partei glaubte nun stärkere Hebel zum Sturze
der ihr nicht genügenden Regierung ansetzen zu müssen: ihr Führer stellte im
Storthing den Antrag, die Versammlung sollte Schweigaard vor sich zitiren,
ihm die Frage vorlegen, ob das Kabinet gewillt sei, die Beschlüsse des Storthings,
wegen deren Nichtausführung das Ministerium seiner verurteilt worden war,
gutzuheißen und darnach zu verfahren, und falls er dies verneine, sofort eine
neue Anklage gegen die Regierung beim höchsten Gerichte zu erheben. Schweigaard
und seine Kollegen antworteten hierauf damit, daß sie ihr Entlassungsgesuch
wiederholten, und König Oskar nahm dasselbe jetzt an, nachdem er vorher durch
Führer des weniger feindlichen Flügels der Linken mit den Radikalen wegen
einer Verständigung hatte unterhandeln lassen.
Am 5. Juni traf der König in Christiania ein, nahm das Demissions¬
gesuch der Mitglieder des Ministeriums entgegen und beauftragte Dr. Brvch,
Professor der Nationalökonomie und früher Minister, zuletzt aber Hauptwort¬
führer jener zwischen den Politikern von der Farbe Schweigaards und den Ra¬
dikalen stehenden Gruppe der norwegischen Demokratie, mit der Bildung eines
neuen Kabinets. Schweigaard war eine Konzession nach links hin gewesen,
Broch ist eine zweite. Als solche wird er — vorläufig und unter stillschwei¬
gendem Vorbehalt natürlich, denn das letzte Ziel der Advokaten, Poeten und
höhern Schulmeister, die unter Sverdrups Ägide in Norwegen dem Könige
Opposition machen, ist die Republik, in der sie gebieten — auch von der radi¬
kalen Presse aufgefaßt. „Dr. O I. Brvchs politische Vergangenheit, so äußert
sich »Dagbladet,« das Hauptorgan der Linken, beweist uns, daß er ein aufrich¬
tiger Freund der konstitutionellen Grundsätze ^d. i. der Parlamentsherrschaft!^
ist; er ist ein hochbegabter und praktisch erfahrener Mann, ohne Vorurteil und
mit dem europäischen Staatswesen wohlvertraut. Er begreift infolge dessen,
daß eine Regierung, die stark und einflußreich sein will, ihre Stütze in der Ma¬
jorität der Volksvertretung suchen muß, und er sieht auf Grund dessen wieder
ein, daß kein Mitglied des jetzigen Ministeriums in dem neuen Rate Aufnahme
finden kann pu Kabinet Schweigaard befanden sich mehrere Staatsräte, welche
unter dem Premier seiner Stellen innegehabt hatten^, der durchweg aus Män¬
nern zusammengesetzt sein muß, denen die Majorität des Storthings Verständnis
und Vertrauen entgegenbringt."
Am 6. Juni fand zwischen dem Könige, dem neuen Premier und Sverdrup
eine Besprechung statt, und da der letztere sich mit dem Ergebnis derselben zu¬
frieden erklärte, so scheint die Existenz des Ministeriums Broch bis auf wei¬
teres gesichert zu sein.
Über den Kompromiß, der im Schlosse zu Christiania am 6. Juni zur
Welt kam, erfährt man folgendes. Der Konflikt, um dessen Beilegung sichs
handelte, entstand, wie wir früher gezeigt haben, hauptsächlich daraus, daß die
Majorität des Storthings eine Verfassungsveränderung beschloß, nach welcher
die Mitglieder der Regierung (Minister, Staatsräte) verpflichtet sein sollten,
an den Verhandlungen der Versammlung persönlich teilzunehmen, daß der König
diesen Beschluß nicht scmktionirte, was doch nach der Konstitution bei Ver¬
fassungsveränderungen zur Giltigkeit solcher Beschlüsse erforderlich war, und
daß die Mehrheit des Storthings ihren Beschluß trotzdem für ein rechtmäßig
zustande gekommenes Gesetz ansah und darnach den Ministern gegenüber verfuhr.
Die Regierung hatte sich, als der Streit ausbrach, bereit erklärt, jenen Stor-
thingsbeschluß gutzuheißen, falls ihr dafür gewisse Befugnisse eingeräumt würden,
die demokratische Mehrheit aber war hierauf nicht eingegangen. Jetzt hat man
sich dahin geeinigt, daß der König dem Beschlusse des Storthings hinsicht¬
lich des Erscheinens der Minister bei den Kammerverhandlungen zustimmt,
während die Radikalen sich anheischig machen, dem Könige die Befugnis zur
Auflösung des Storthings zu erteilen und dahin zu wirken, daß den zurück¬
tretenden Staatsräten verfassungsmäßig bestimmte Pensionen ausgeworfen werden.
Ferner vernimmt man, daß der König sich herbeigelassen habe, dem gleichfalls
zu den Streitpunkten zählenden Beschlusse des Storthings seine Sanktion zu¬
zusichern, nach welchem zwei Mitglieder der Volksvertretung in die Zentral¬
verwaltung der Staatseisenbahnen eintreten sollen. Endlich soll der König auch
in betreff des Schützenwesens seinen bisherigen Standpunkt aufgegeben haben.
Der Kompromiß ist auf Drohungen der Radikalen hin abgeschlossen worden.
Jetzt steht die Sache ungefähr fo, daß der König der Form nach aus eigner
Machtvollkommenheit handelt, dem Inhalte nach aber die Forderungen der
Demokraten erfüllt. Die Frage, ob er in Verfcifsungsfragen ein unbeschränktes
Vetorecht besitze, scheint für jetzt noch unentschieden bleiben zu sollen. Kommt
Zeit, kommt Rat, denkt vermutlich Herr Johann Sverdrup. Eine Partei, die
dem König Oskar das absolute Veto in Sachen des Grundgesetzes abspricht,
kann allerdings keine Minister liefern, die demselben passen. Aber andrerseits
fragt es sich doch sehr, ob ein Ministerium aus der Mittelpartei, wie es jetzt
ans Ruder kommt, auf die Dauer besser mit dem das Storthing vollständig
beherrschenden und mit seinen Forderungen stets weiter und höher greifenden
Radikalismus zurecht kommen wird als Schweigaard und seiner. Alles hängt
hier von den neuen Wahlen zum Storthing ab, die im nächsten Jahre statt¬
finden werden. Bestätigen dieselben die Behauptung, daß die Zahl der Friedens-
freunde in den letzten Monaten allenthalben erheblich zugenommen habe, so wird
das Kompromiß-Ministerium sich halten; wo nicht, so werden die Anhänger
Sverdrups ohne Zweifel weiter Krieg führen und dann die Verbindung Nor¬
wegens mit Schweden zersprengen.
Ein solcher Riß kann aber weder dem Norweger noch dem Schweden,
wenn er sich die Sache reiflich überlegt und über den Horizont des Partei-
Pferchs hinwegsieht, gleichgiltig sein. Es kann die Gemüter in Stockholm,
Götaborg, Upsala n. s. f. sehr kalt lassen, wer in Norwegen Minister ist; nicht
so aber steht es mit der Frage, ob das Storthing ohne Zustimmung des
Unionskönigs Gesetze machen oder umgestalten oder ob es ein norwegisches
Heer schaffen darf, dem der Unionskönig nichts zu befehlen hat. Man wird
sich ferner nicht sehr wundern, wenn viele Schweden angesichts der Anmaßungen
und der republikanischen Gelüste ihrer Nachbarn etwa das Gefühl haben, das
den einen siamesischen Zwilling quälte, als der andre schwer erkrankte, und wird
an die Trennung denken. Indes hat diese auch eine sehr zu beachtende Schatten¬
seite, nicht bloß für Norwegen, das allerdings den meisten Schaden davon haben
und seine Selbständigkeit wahrscheinlich ebensowenig auf die Dauer bewahren
würde, als es sie in der Vergangenheit zu bewahren vermocht hat. Auch in
Schweden muß man schwere Bedenken hegen. Norwegen ist und bleibt, was
anch komme, Schwedens Nachbar, und Mißverständnisse und Reibungen, wie
sie dieses Verhältnis mit sich bringt, werden am schicklichsten und raschesten be¬
seitigt, wenn man die Union aufrecht erhält, die jetzt fast sieben Jahrzehnte
besteht. Möchte Europa den Norwegern einen König besorgen — viele Prinzen
würden sich für die Würde, die vielmehr Bürde wäre, höflich bedanken, aber
einer oder der andre würde das Thrönchen doch am Ende annehmbar
finden — oder möchte es gestatten, daß Sverdrup und sein guter Freund
Björnson mit ihrer Republik ihr Heil versuchten, immer würde der neue Staat
weniger bequem für den östlichen Nachbar sein als das bisherige Norwegen.
Besonders würde das bei einem republikanischen Norwegen sich herausstellen,
denn Republiken machen gern Propaganda und treten, wo Gelegenheit ist,
Monarchen gegenüber gern anmaßend auf, wie z. B. in den fünfziger Jahren
der Streit um Neuenburg gezeigt hat. Beide Staaten würden getrennt von
einander weniger Ansehen im europäischen Konzert genießen als vereint, und
es würde vermutlich über kurz oder lang zu verdrießlicher Einmischung fremder
Mächte kommen, die unter Umständen auch für Schweden gefährlich werden
könnte. Man kann dabei an England denken, wie es Griechenland in der
Sache des Juden Pacifico brutalisirte, desgleichen daran, daß Rußland ein
Stück Küstenland an der Nordsee brauchen könnte, das jetzt norwegisches Gebiet
ist, woraus sich Streitigkeiten entwickeln können, die auch den Schweden nicht
gleichgiltig sein dürften. Also lieber Aufrechterhaltung der Union trotz ihrer
unerfreulichen Seite, so muß man sich in Schweden sagen, lieber Aufrecht-
erhciltung derselben mit Opfern, vielleicht im Notfalle sogar mit den Waffen,
als Hingabe der Verbindung, in der allein beide Länder ihre geachtete Stellung
in der Welt und ihr Gedeihen hinreichend gesichert sehen.
achten unserm Zeitalter zur Heilung seiner Schmerzen und Ge¬
brechen von gewissen Seiten her schon das Nirwana des Buddhis¬
mus empfohlen worden ist, tritt jetzt in der Person des Würz¬
burger Professors der Medizin Dr. Alois Geigel ein Streiter
für die Asen unsrer Altvordern auf, der sein gutes Schwert
auffordert zuzustoßen für Wodan, Donar und Saxnot.*) Man merkt es an
mehreren Stellen seines Büchleins, daß er, wohl äußerlich der römischen Kirche
zugehöreud und die römische Lehre mit der apostolischen verwechselnd, die Asen
und den „aus den Asen erstandenen" Altvater samt Balder und Freya gegen
Roms Wahnansprüche, die Welt zu beherrschen, gegen Roms eitles Vorgeben,
das Menschenherz zu beglücken und zum Frieden zu bringen, ins Feld führt;
auf den letzten Blättern aber spricht er es noch einmal deutlich aus, gegen wen
er sein nordisches Schwert schwingt: gegen die wälschen „Kuttenträger und
Hungerleider," gegen die „geschorenen Knechte," die sich an Gottes Statt stellen.
So steht er, der Lehrer der Medizin, selbst da als ein wahrer „Einherier,"
den es „ahnend faßt," so oft Freyas goldner Stern auf ihn herniedcrblickt.
Und ein Eiuherier dürfte er bleiben in dieser schönen und doch so un¬
vollkommenen „Sinnenwelt Vallhöll," ein Einzelkämpfer, der schwerlich auf
dieser Männererde und in deutschen Landen große Scharen für seine Asenlehre
begeistern und in seiner Nachfolge sehen wird. Darum aber wollen wir nicht
ganz und gar absprechen über sein mannhaftes Auftreten gegen Jötunheims
Hrimthursen; behauptet er doch selbst zum Schlüsse nicht, daß er „die Wahrheit
errungen," sondern nur, „daß getreu und tapfer er nach ihr gerungen."
Es ist in der That ein wunderlich klingendes Büchlein, das Dr. Geigel
„über Wissen und Glauben" geschrieben hat und auf das wir hiermit die Auf¬
merksamkeit unsrer Leser lenken wollen. In eigentümlich poetisch angehauchten,
orakelhaftem Satzgefüge, das man hie und da wiederholt durchlesen muß, um
des Sinnes mächtig zu werden, und das dann doch mit einem Zauber Wahr¬
heit suchender Dichtung umstrickt, führt er zunächst zur Weltesche Jggdrasil,
dann nach Asgard, zum Allvater, zu Balder und zu Freya, denn das sind die
Überschriften der fünf Abschnitte.
In „Aggdrasil" zeigt er des Mannes zweifellosen Glauben an sein eignes
Dasein, aber auch seinen Glauben an Unendlichkeit von Raum und Zeit, der
wie ein unschätzbares Kleinod aus bodenloser Tiefe herausleuchtet, er behandelt
Kraft und Stoff, die Unzerstörbarkeit der chemischen Elemente, die Erhaltung
der Kraft, indem er so modern wissenschaftliche Anschauungen mit nordischer
Mythologie würzt. Wenn er Ginnungagab, drein Hwergelmirs wallende Wasser
aus Nifelheim sich wälzen, mit der unciusfüllbar gähnenden Kluft von Zeit und
Raum identifizirt, wenn er auf Midgards Urdbrunnen Kraft und Stoff, Ur¬
sache und Wirkung, Werden und Vergehen als silberweiße Schwäne sich spie¬
geln läßt, und wenn er auf dem lautlos dunkeln Grunde des Mimirborns die
„nackten Wesen in den Dingen" ruhen sieht, so hat er wirklich die heiligen
drei Brunnen, bis zu denen die grüne Weltesche der Mythologie ihre Wurzeln
hinabsenkt, in die Wissenschaft übergeleitet.
In „Asgard" lehrt er: Wahr kann es sein, daß das Ding, welches leibt
und lebt, wesenhaft sei, von Leib und Leben unabhängig, doch kann das bloße
Selbstbewußtsein solche UnVergänglichkeit nicht verbürgen. Es „bleibt einzig
denkbar möglich, daß in den Dingen allen eine Mehrzahl unerschaffter grund¬
einheitlicher Wesenheiten sei." „Dann ist das ganze Weltall ewig wandelbar
erfüllt mit zahllos manmchfachen, zur Wirklichkeit gewordenen Möglichkeiten
lebendigen Wollens und Empfindens, deren eine kleine Zahl von wahren Da¬
seinswesen fähig ist." Nichts völlig Todes giebt es dann, lebendig schwingen
unaufhörlich in allem Erscheinenden die gleichen Wesen, die sich weiterhin wirk¬
sam in den Aufbau des Enderfolges fügen. Diese „nackten" Wesen sind mit
den Sinnen nicht zu fassen, müssen aber folgerichtig gedacht werden. Und so
baut sich der Gedanke auf den letzten und äußersten Grundfesten sinnlicher Ge¬
wißheit die luftige Brücke Bifröst hinüber nach Asgard, dem Wohnsitz der himm¬
lischen Mächte, der einzig selber unerschaffenen, unwandelbaren Asen. Diese
erfüllen zusammen mit Dingen ureinfachster Eigenart, mit Grundstoffen und
Urkräften Zeit und Raum von Ewigkeit und in Unendlichkeit.
Der dritte Abschnitt „Allvater" weist nach: Wenn endursächliches Ge¬
schehen an ureinfachsten Dingen angefangen und lange genug gedauert hat, so
muß auf dieser Erde „Mannesdasein endlich werden," d. h. das Menschen¬
geschlecht muß entstehen; doch wird an vielen Orten noch im Sternenall Leib
und Leben, irdischem verwandt, sinnen und denken. Mannesdenken aber reicht
bis in die Ewigkeit. Einmal endlich irgendwo muß aller Zusammenwirkung der
Asen, Stoffe und Kräfte ein „Enderfolg" geworden sein. Vielleicht ist dieser
Enderfolg „zusammen im Geschlecht," dann sind alle Zugehörigen unmittelbar
aus Asengeschlecht, göttergleich, Unsterbliche. Aber der Erstgewordme dieser
Gattung muß unendlich mächtiger und gewaltiger sein als die übrigen. So
gelangt das Denken unsers Einheriers zu Gott, der nicht außerhalb, sondern
in der Welt zu suchen ist, „nach Mannesart leibhaftig," den aber die Grund¬
schuld des Bösen in der Welt belastet, weshalb man sein Dasein nie stichhaltig
beweisen kann. Denn seine schöne Welt ist von Grund aus mangelhaft, die Erdrinde
selbst ist eine riesige Leichenstätte des mörderischen Kreislaufes aller Stoffe.
Vollendet gute und vollkommen böse Wesen giebt es nicht. „Und also muß
auch der lebendige Gott zu aller Zeit gerungen haben, muß immer fort um
Gutes gegen Böses in eigenem und anderem Dasein ringen." Doch ist er ein
guter Vater, der allem Heere voranschreitet, wenn er auch nie die dem Tode
gleiche Ruhe gänzlicher Vollendung erreichen kann. Allvater lebt im Himmel;
dieser aber ist nicht ein wolkenhafter Geisterspuk, sondern das blane Welten¬
meer voll Sonne, Mond und goldner Sterne. Felsenfest steht dort oben in
unermeßlicher Ferne Asenheim, das glückselige Eiland (während doch die Asen
selbst Zeit und Raum überall füllen sollen).
Besonders streitet der Verfasser dabei gegen den Gedanken der Schöpfung
aus nichts, den er „unbesonnen" nennt. Und seltsamerweise meint er, daß
deutsche Mütter, die noch heute ihre Kinder auf Allvater im Himmel hinweisen,
dies eigentlich noch thun auf Grund des heidnischen Mythos der Vorfahren,
ja daß diese Mütter Allvater zwar „furchtbar herrlich, allgewaltig wohl, doch
nach Mannesart leibhaftig, Fleisch und Blut, mit voller sinnlicher Gewißheit
greifbar" denken.
Zu viere folgt „Balder." Das Dasein auf Erden ist ewiges Werden, um
immer wieder zu vergehen. Leben aber liebt sein Dasein und flieht den Tod,
sodaß Leben oft genug schon gedacht hat, besser wäre wohl, die Welt bestünde
garnicht. Da wuchs hervor „seuchenhaft aus dem tiefen Abscheu vor dem Da¬
sein, der cibgehauste, an Lust und Schmerz erschöpfte Völker jenseits der Berge
dnrch und durch ergriffen hatte," die wälsche Satzung, welche dieser Welt Sünd¬
haftigkeit jammervoll schilderte, auf den Rächer, auf das Gericht zu ewiger
Verzweiflung hinwies, und doch wieder überfloß vom Preise der Liebe des für
uns gestorbenen und wieder auferstandenen Menschensohns, der Mittler sein
sollte und an dessen Statt doch traten „armselige Menschen selber wieder, in
Knechtschaft auferzogen, ausgesendet von dem Hohenpriester einer fremden, falschen
Zunge." Diese „seltsam neue" Lehre hielt nieder und verbog das schlanke Edel¬
reis, verdrehte und verdunkelte den Gedanken von den unerschaffenen Asen und
dem leibhaftigen Gotte. Aber trotzdem blieb geborgen für alle Zeit der Nibe¬
lungen Hort, daß ohne Mittler sich selbst das Menschenherz zu seinem Gotte
finden kann. Allvater und Mensch sinnen und denken in gleicher Weise, auch
zu Allvater redet sein Gewissen, auch ihn begleitet unselige Erinnerung und
mahnt ihn ewig, „wieder gut zu macheu, was sein eignes Dasein verschuldet
hat an anderen Dasein." Der unsterbliche Gott muß die Schuld mit tragen,
und wir erflehen von ihm nicht Barmherzigkeit und Gnade, sondern wir er¬
warten Gerechtigkeit und Treue von ihm. Und Odin flüsterte Balder, ehe der
zu Hel fuhr, das Wort zu: „Sowahr es Gerechtigkeit und Treue giebt, dein
Leib und Leben, dein Sinnen und Denken, nicht auf immer soll es unter¬
gehen."
Endlich der fünfte Abschnitt: „Freya." Alles ruht auf den Asen, aus
denen auch Allvater erstanden ist, der kein Wunderthäter ist, der aber siegreich
ringt, sodaß sich sein Dasein von Erscheinung zu Erscheinung göttlicher gestaltet.
(Ob zu dieser göttlichem Gestaltung auch Erscheinungen wie die Dynamit¬
attentate mit beitragen, darüber hat sich der Verfasser nicht ausgesprochen.)
Redeselige Raben tragen ihm seit grauer Urzeit getreue Kunde von allem zu,
sie heißen Gedanke und Erinnerung. Soll es ein wiederauferstandenes Leben
geben, dessen Möglichkeit zu leugnen Überschätzung wäre, so müßte zuvor auch
„Allvaters Leib und Leben zur Ruhe gehen, um sich und alles Dasein zu ver¬
jüngen." Dann wieder wäre heilige Schöpfungsnacht. Auch Jggdrasil wird
zusammenbrechen, nur die Asen bleiben, aus ihnen muß Allvater zu neuen
Schöpfungstagen immer wieder auferstehen. Die Liebe wird ihre Toten wieder¬
sehen, und zwar in leibhafter Wirklichkeit, nicht als wesenlose Schatten. Darum:
Überwindet das Böse, aber liebet und ehrt selbstlos die Schönheit. Heraufsteigt,
alles Dasein verklärend, „der Asen ewig letztgcreiftc Frucht lind allezeit wieder
jüngsterschlossene Knospe, die hohe Himmelskönigin, Allmutter Freha!"
So lautet im Auszug, möglichst mit des Verfassers eigenen Worten, die
Botschaft, die Dr. Geigel uns zu verkünden hat. Sie ist, wenn auch „seltsam,"
doch ein neues Zeichen dafür, daß unsre Zeit, unbefriedigt durch den in ihrer
Wissenschaft waltenden materialistischen Zug, nach sittlichem Grunde und ewiger
Aussicht verlangt. Was fehlt unserm Verfasser, daß sein Sehnen gestillt werde?
Nach unsrer Meinung fehlt ihm, der die wälsche Satzung, den „glatten Erb¬
feind" „glühend mit allen Fasern seines Herzens" haßt, nur die von Roms
Mache gereinigte christliche Lehre. Würde er diese unbefangen prüfen, so würde
er wohl in dem Stifter unsrer Religion etwas andres sehen als den „Sender
geschorener Knechte," und würde nicht mehr die nicht abzuleugnende Sünde des
Menschengeschlechts auf „Allvater" selbst abwälzen wollen. Kann etwa Freyas
Bild, sowie Geigel die Mythologie überbietend es im offenbaren Gegensatz zum
römischen Marienbilde zeichnet, das Bild des gekreuzigten Weltheilandes er¬
setzen?
Der Verfasser redet auch noch orakelhaft von einem „herrlichen Helden,"
durch den sich gewaltiger Kriegslärm zum Erzittern des Römers erhob, der
aber, selbst ein „Geschorener," „nichts mehr wußte von den alten Göttern."
Aber wahrhaftig, Eddas Asen, Mimir, Balder, Freya, nimmermehr hätten sie
einen Glaubenshelden wie unsern Luther zeitigen können. Wenn nur diesen
herrlichen Helden und sein Wiederbringen reiner apostolischer Lehre die unter
Rom geknechteten annehmen wollten, so würde es hell werden vor ihren Blicken
und in ihren Herzen, ohne etwelche Götterdämmerung. Die Zentrumsmciuner
aber, die mit unfaßbarer Anmaßung trotz dem Zeugnis der Geschichte immer
so thun, als ob Rom zweifelsohne wirklich das wäre, was es gern sein möchte,
als ob es Wahrheit und volles Genügen brächte und allein bringen könnte, sie
mögen Geigels Büchlein lesen und — erröten, wenn sie es vermögen. Für sie
ist es eigentlich geschrieben, gegen sie zeugt diese seltsame Flucht zu den Asen.
Von dem, wofür Luther gestritten hat, dürfte unser Autor trotz seiner über
Schöpfung und Erlösung absprechender Worte nicht so gar ferne sein.
Aber was fehlt diesem Professor der Medizin, dem poetisch angelegten,
stillforschenden Denker noch? Es fehlt ihm Immanuel Kant mit den Ergeb¬
nissen seiner Kritik. Ist der Glaube an die Unendlichkeit von Raum und Zeit
- der Verfasser nennt es einen Glauben — wirklich ein „unschätzbares Kleinod" ?
Nein, diese in gemeiner Anschauung und wissenschaftlicher Forschung nicht ab¬
zuleugnende Unendlichkeit, sie erhebt nicht, sie beängstet und bedrückt; aber Kant
zeigt uns, daß in Raum und Zeit nur Dinge uns erscheinen, daß die Dinge
an sich nicht diesen Tyrannen Raum und Zeit unterworfen sein können. Er
bricht den schmählichen Sinnenbann von Raum und Zeit, daß unser Denken
frei wird, nicht für einen aus Asen erstehenden Allvater, wohl aber für den
lebendigen Gott.
Kants Kritik und die wirklich apostolische christliche Lehre, sie sind zu¬
sammen unserm Geschlechte in seiner wissenschaftlichen Unbefriedigtheit nötig,
um zu rechter Erkenntnis und zum Frieden der Herzen zu kommen. Das lehrt
negativ Geigels Büchlein. Das Forschen und Wahrheitsuchen des Asen-Ein-
heriers bleibe in Ehren, aber verfehlt ist es, weil keine Wissenschaft heute sich
brüsten darf, ohne vor dem Königsberger sich zu legitimiren, und weil kein
Glaube — fo man doch einmal Glauben sucht — vernünftiger und zeitgemäßer
sich darstellen kann als der christlich-apostolische Glaube.
on Anfang seiner Regierung an hat Karl der Fünfte nicht die
geringsten persönlichen Sympathien für die Sache der deutschen
Reformation gehabt.*) Alle früher bekannten Urkunden beweisen
dies, und ebenso was neuerdings von Bakar in den Nouumsntg,
rskorinÄtionis I^ntNörM^e (Regensburg, Pustel, 1883) veröffentlicht
worden ist. Aleander nennt den Kaiser am 26. Mai 1521 ig, iinMor xsrsong,
äst irirmäo und ist überzeugt, daß alle scheinbare Nachgiebigkeit Karls des Fünften
gegen die Ketzerei bloß den Zweck gehabt habe, von den Deutschen 24000 Mann
gegen Frankreich herauszuschlagen und dann erst die Maske fallen zu lassen,
wenn es unnötig geworden sein würde, sie länger vorzunehmen. Wenn der
Kaiser trotzdem siebenundzwanzig Jahre auf dem Throne saß, ehe er gegen die
Protestanten den Degen zog, so hatte das zwei Gründe. Fürs erste besaß Karl
vor dem Frieden zu Crespy (24. September 1544) niemals die volle Aktions¬
freiheit, ohne welche ein Krieg in Deutschland schlechterdings nicht zu führen
war. Von Franzosen und Osmanen, von Baiern und der Kurie waren ihm so
ost Steine in den Weg gewälzt worden, daß er noch nie auch nur in die Lage
gekommen war, ernstlich über einen Krieg gegen die Schmalkaldener nachzu¬
denken. Dann aber hatte er auch immer sich darauf verlassen können, daß die
Bäume der Ketzer nicht in den Himmel wachsen würden, daß auf allen Reichs¬
tagen die offizielle Mehrheit der sitz- und stimmberechtigten Fürsten altgläubig
sein würde; mochte auch von den Städten die größere Zahl, wie denn gerade
jetzt auch Regensburg abfiel, lutherisch sein, und mochte auch die ziffermäßige
Majorität im Volke überall sich der neuen Lehre zuneigen, so hatte das auf
die Reichsversammlungen keinen unmittelbaren Einfluß. Hier wog die Stimme
eines Abtes von Kempten, dem einige tausend Menschen gehorchen mochten,
so schwer als die eines Herzogs von Würtemberg, der seine Unterthanen nach
Hunderttausenden zählte.
Solange das so blieb, konnte der große politische Schachspieler stets die
eine Partei gegen die andre ausspielen; er war im Nürnberger Bund und sicherte
den Protestanten den Genuß der „geraubten" Kirchengüter zu. Jede Partei
bedürfte seiner, solange sie nicht ein entschiednes Übergewicht hatte; solange also
dieser Zustand annähernden Gleichgewichtes erhalten blieb, mit thatsächlichem
Übergewicht der Protestanten, mit formellem der Katholiken, solange hatte auch
ein Krieg keine Eile; der Kaiser mochte in verhältnismäßiger Ruhe seine Zeit
abwarten.
Nun aber kam der Augenblick, wo sich beides änderte: der Kaiser bekam
durch den Frieden mit Frankreich vom 24. September 1544 und einen andert¬
halbjährigen Waffenstillstand mit den Türken vom 10. November 1545, der in
Adrianopel vereinbart wurde, die Freiheit der Aktion, und gleichzeitig erfolgte
eine solche Zunahme der Lutheraner, daß auch die formelle Herrschaft des alt¬
gläubigen Prinzips in Frage gestellt wurde.
Zu den andern Fürsten, welche schon früher sich zu den Protestirenden
gesellt hatten, kam nunmehr Herzog Otto Heinrich von Pfalz-Neuburg, den die
Rücksicht auf seine katholischen Vettern aus dem Hause Wittelsbach in München
nicht abhielt, den Prediger Andreas Osiander aus Nürnberg zu sich zu berufen.
Von dem Kurfürsten Friedrich dem Zweiten, der als Pfalzgraf im Türken-
kriege kommandirt hatte und 1544 auf seinen Bruder Ludwig in der Re¬
gierung zu Heidelberg gefolgt war, wußte man ebenfalls, daß seine Sympathien,
obwohl er eine Tochter Christians des Zweiten von Dänemark, also eine Nichte
des Kaisers, zur Gattin hatte, dem Evangelium gehörten; sein Verhält¬
nis zu Karl erlitt dadurch einen heftigen Stoß. Nun begann aber der
festeste Pfeiler zu wanken: das geistliche Kurfürstentum. In Köln nahm seit
März 1515 den erzbischöflichen, mit der Kurwürde verbundenen Stuhl Graf
Hermann von Wied ein, ein Mann von ernstem Geiste, der von Anfang an
der katholischen Reformation geneigt war, wenn er auch auf den Reichstagen
gegen Luther und seine auf Vernichtung der Hierarchie gerichteten Versuche ge¬
stimmt hat. Lange hat man dem Vorwurf geglaubt, den Karl 1546 gegen ihn
aussprach: „Er kann kein Latein, hat sein Leben lang nicht mehr denn drei
Messen gethan: er kann das LioMteor nicht" (d. h. das Glaubensbekenntnis).
Wir aber wissen jetzt,*) daß gleich damals Landgraf Philipp dem widersprach
und hervorhob, daß er fleißig in deutschen Büchern lese; wir wissen aus Me-
lanchthons Munde, daß er „dogmatische Streitpunkte geschickt zu entscheiden"
verstand; und daß Erasmus unter seinen Korrespondenten war, daß Johannes
Sturm „dem Freunde der Wissenschaften und Gelehrten" einen Band seiner
Ausgabe ciceronianischer Reden gewidmet hat, ist auch ein Beweis von der Ein¬
seitigkeit jenes kaiserlichen Urteils. Aber auf alle Fälle war, wie auch seine
Gelehrsamkeit beschaffen gewesen sei, eines rein und echt: sein Wille. Soweit
wir sehen können, gehörte er von Anfang zu jener Mittelpartei, welche auf
einer Reihe von Reichstagen in dem Sinne thätig war, die Kirche in ihrer
Einheit zu erhalten und ihr die Reinheit zurückzugeben. In Hagenau trat er,
im Jahre 1640, mit Hedio, Capito und vor allem mit Nutzer in Berührung
und veranlaßte Besprechungen seines Humanisten Gropper, welcher auch zur
kirchlichen Reformpartei gehörte, mit dem Straßburger Prediger. Mehr und
mehr lenkte der Erzbischof von da an, wenn wir so sagen dürfen, von der
katholischen Linken zur protestantischen Rechten hinüber; unter Berufung
auf den Regensburger Abschied vom Jahre 1541, welcher den Prälaten die
Aufrichtung „christlicher Ordnung und Reformation" einschärfte, that er zu
Ende 1542 den entscheidenden Schritt und berief Nutzer zu sich, welcher schon
am 17. Dezember in der Münsterkirche zu Bonn predigte: es war Hermann
von Wieds Wille, daß zunächst die Predigt des reinen Evangeliums, das Abend¬
mahl unter beiderlei Gestalt und die Priesterehe durchgeführt werden sollten.
Im April 1543 erschien auch Melanchthon im Kurfürstentum, auf die wieder¬
holte Einladung des Erzbischofs, um Nutzers Werk zu unterstützen. Ohne Gegner¬
schaft ging das freilich nicht ab: der konservative Reformer Gropper wich mit
Abscheu zurück vor Nutzer, welcher natürlich den Bruch mit der Kurie als selbst¬
verständlich behandelte; der aristokratische Rat der Reichsstadt Köln, das Dom¬
kapitel richteten Vorstellungen an den Erzbischof. Aber die weltlichen Stände
des Landes pflichteten im März 1643 ihrem Fürsten bei, und auf protestan¬
tischer Seite hat man den Gedanken gefaßt, diese kölnische Reformation zum
Ausgangspunkt einer neuen kirchlichen Organisation zu machen und an Stelle
des Summepiskopats der Landesherren, infolge dessen die religiösen Interessen
oft genug vernachlässigt wurden, in ähnlicher Weise, wie dies in Englands
bischöflicher Kirche geschehen ist, die Bischöfe zu setzen; diese sollten ihre ganze
kirchliche Stellung, ihre geistliche Gerichtsbarkeit und ihre Einkünfte unter der
Bedingung behalten, daß sie „die rechte Lehre und christlichen Gebrauch der
Sakramente pflanzen" wollten. In einer von Butzer und Melanchthon ver¬
faßten „Kölner Reformationsschrift," sowie in der von dem letztern allein her¬
rührenden „Wittenbergischen Reformation," welche als Grundlage für die 1644
in Speier in Aussicht genommenen Unionsbestrebungen dienen sollte, wurde
diese Idee eines Kompromisses der Reformation mit dem Bistum ent¬
wickelt; die seitherige Praxis, welche auf Abschüttelung der bischöflichen Juris¬
diktion beruht hatte, wurde damit eventuell — wenn das Bistum die „rechte
Lehre" annehmen wollte — aufgegeben. Welche Aussicht eröffnete sich damit
für unser deutsches — kirchliches wie nationales — Leben! Eine deutsche, Na¬
tionalkirche unter einem protestantischen Episkopat, frei von allen römischen
Fesseln, taucht vor unsern Blicken auf. Schon waren Bischof Franz von
Münster und der neue Kurfürst von Mainz, Sebastian von Heusenstamm,
welcher im September 1545 auf Kardinal Albrecht gefolgt war, bereit, in
Hermann von Wieds Fußtapfen zu treten; bereits wankte die katholische
Mehrheit im Kurfürstenkollegium, wo nur noch auf Böhmen und Trier Verlaß
war; schou kündigte sich eine Veränderung des geistlichen Fürstentums an, welche
anch hier den Evangelischen zur Mehrheit verhelfen mußte.
Wenn das alles durchging, so blieb für das Haus Habsburg nichts übrig,
als anch ketzerisch zu werden; dann aber vermochte es den Zusammenhang seiner
Besitzungen nicht zu erhalten: Spanien ließ sich keinen lutherischen König ge¬
fallen. Diese Erwägung war für Karl entscheidend, seine europäische Stellung
zwang ihn zu einem Kampfe gegen die deutschen Protestanten; daß von Köln
aus seine Niederlande durch die Ketzerei aufs neue und in verstärktem Maße
angesteckt werden würden, war eine Aussicht, die ihn nur noch mehr zur Energie
antreiben mußte.
War dieser Punkt für den Kaiser eine Lebensfrage, so stellt sich ein andrer
als ein Ehrenpunkt dar. Wir wissen, daß Paul der Dritte auf den Sonntag
Lcitare 1545 das Konzil nach Trient berufen hatte, einer italienischen Stadt,
die aber dem Namen nach samt ihrem Bischof unter König Ferdinand stand.
Gegenüber dem ersten Entwurf, Mantua als Ort des Konzils zu wählen, lag
darin ein wenn auch sehr mageres Zugeständnis an die Deutschen. Allein die
Protestanten verharrten ans dem Reichstage zu Worms, welcher am 24. März 1545
durch König Ferdinand eröffnet wurde, auf ihrer Weigerung, das Konzil zu be¬
schicken, das vom Papste und dessen Legaten geleitet werde und also die not¬
wendigsten Bürgschaften einer freien Diskussion vermissen lasse. Luther hatte
in einer Schrift „Wider das Papsttum vom Teufel gestift" in den schroffsten Aus¬
drücken, deren Leidenschaftlichkeit selbst bei seiner Gesinnung gegen die Päpste
noch auffällt, dem allerhöchsten Vater den Absagebrief geschrieben. Für Karls
Stellung zum Papst ist immerhin die Vermutung sehr bezeichnend, welche
neuerdings August von Druffel aufgestellt hat, daß Granvella dem Witten-
berger Reformator das päpstliche Breve über den Abschied zu Speier in die
Hände gespielt habe, das Luthers Zorn so sehr erregte. Aber wenn auch
Karl ganz andre Gedanken mit dem Konzil hatte als Paul der Dritte, so
mußte er doch auf alle Weise suchen, die Protestanten zur Beschickung des
Konzils zu bringen, das seit Jahrzehnten das Alpha und Omega der kaiserlichen
Kirchenpolitik war; insofern gingen seine Wege und die Paris des Dritten eine
Strecke weit zchammen.
Wie um der Kaiser diese Einsicht gewonnen hat, daß der Kampf gegen
die Evangelischen das einzige Mittel sei, um seine monarchische Gewalt in
Deutschland zu behaupten und um die Einheit der Kirche herzustellen, da
durchdringt er sich allmählich mit diesem Gedanken, die Ultimi rg,tlo riz^um
anzuwenden. Aber nur sehr langsam schreitet er zur Ausführung, es ist wie
ein Gewitter, das lange am Himmel droht, sich zu verziehen scheint und doch
endlich plötzlich losbricht. Man hat die Vertrauensseligkeit der Protestanten
bitter gerügt, vermöge deren sie sich hätten überfallen lassen; aber in der That
wußte Karl bis zum letzten Augenblicke selbst nicht, ob er denn wirklich zum
äußersten schreiten solle. Noch im Mai 1546, wenige Wochen vor dem Zu¬
sammenstoß, schwur Grcmvella beim Kreuze Christi, daß der Beschluß zum Kriege
noch nicht gefaßt sei, und er schwur keinen Meineid.
Ehe Karl mit Aussicht auf Erfolg losschlagen konnte, galt es, sich einer
Anzahl von Bundesgenossen zu versichern. Der erste war Paul der Dritte,
welcher von vornherein überzeugt war, daß man, wie Pallavicino sich geistreich
ausdrückt, „die synodalen Blitze der Canones stärken müsse durch die militärischen
der Kanonen."*) Im Juli wurde der Bündnisvertrag in Rom festgestellt, nach
welchem der Papst zum Kriege gegen die Schmalkaldcner zwölftausend Mann
zu Fuß, fünfhundert Reiter und dreißigtausend Dukaten hergeben und die Er¬
laubnis zur Erhebung von Kirchensteuern in den spanischen Reichen erteilen sollte.
Da aber vor Mitte September die Heeresmassen in Deutschland nicht hätten zu¬
sammengezogen werden können, so setzte Karl den Anfang des Kampfes auf den
nächsten Sommer 1546 fest, gewiß auch im Geiste jener gründlich vorurteilsfreien
Politik, welche sich in jedem Augenblick vorbehielt, auch noch andre Wege ein¬
zuschlagen und sich vom Papst und Konzil wieder loszureißen. Viel wichtiger
war es aber noch, daß es dem Kaiser und seinen Räten gelang, sich Bundes¬
genossen in den Reihen der Protestanten selber zu erwerben. Wie fast alle
Dynastengeschlechter, so war auch das Haus Wettin durch innern Zwist und
Rivalität gespalten; die kurfürstlichen Ernestiner in Wittenberg und die herzog¬
lichen Albertiner in Dresden verstanden sich nicht zum besten, und letztere blickten
mit Neid auf die glücklichern Vettern, welche ihnen an Rang und Würde, wie an
Macht den Vorsprung abgewonnen hatten. Merkwürdigerweise hat die religiöse
Stellung beide Familien einander nicht näher gebracht, vielmehr erwüchse»
aus ihr nur neue Zwistigkeiten: in Wittenberg wie in Dresden hegte man den
Wunsch, sich direkt oder indirekt der in Sachsen eingesprengten Bistümer Naumburg,
Meißen, Merseburg, Halberstadt, des Erzbistums Magdeburg zu bemächtigen.
Naumburg hatte Johann Friedrich 1641 an sich gebracht; über Würzen wären
er und sein Vetter Moritz fast in offnen Krieg geraten. Wenn Herzog Moritz auf
diesem Jagdgebiet etwas erbeuten wollte, so mußte er Karls des Fünften Hilfe
suchen. Der jüngere Fürst wurde durch keinerlei Skrupel von einem solchen
Bündnis abgehalten. Die politischen Motive wogen allein bei ihm, die religiösen
ließen ihn kühl bis ans Herz hinan; es ist nicht zuviel gesagt, wenn man in
seinem Gegensatz zu Johann Friedrich eine der wesentlichsten Vorbedingungen
für den schmalkaldischen Krieg erblickt; aus dieser Sachlage erwuchs Karls dem
Fünften Mut zum Losschlagen. Luther hat nicht ohne richtigen Instinkt geurteilt,
daß der Satan hinter dem Herzog stecke: zwar blieb derselbe bei der Religionsform,
in welcher er von seinem Vater Heinrich erzogen war; aber er hielt sich fern
Von allem Schmähen auf die Papisten, er urteilte, daß auch bei diesen viel
echt Geistliches zu finden sei; es schien ihm, als ob man allerseits auf Augustinus
zurückgehen sollte. Wie von ihm, so hätte man auch von seinen Räten (er
hatte die Vertrauensmänner Herzog Georgs wieder hervorgezogen) und namentlich
von dem ältern und jüngern Carlowitz nicht sagen können, welcher religiösen
Schattirung sie zuzurechnen seien; sie hielten sich am ehesten zu den Erasmicmern.
Der absoluten Ablehnung eines Konzils sah man Moritz sich nicht anschließen,
dem schmcilkaldischen Bunde gehörte er kaum dem Namen nach an, an dem
Braunschweiger Kriege vom Jahre 1542 beteiligte er sich bloß mit Geldzahlung,
obwohl er Agnes, die Tochter Philipps von Hessen, zum Weibe genommen
hatte. Dagegen focht er mit Ruhm gegen die Türken ; bei der Belagerung von
Ofen im Jahre 1642 geriet er, in glänzender Rüstung, mit wehendem Helmbusch,
unter zwanzig türkische Reiter; er verlor sein Pferd, aber er schlug die Barbaren
in die Flucht, nur von wenigen treuen Männern unterstützt. Auch am französischen
Feldzuge vom Jahre 1544 hat er teilgenommen; es heißt, daß er dreizehn¬
hundert Reiter herangeführt habe. Vitry ist unter seiner Leitung genommen
worden: man bemerkte, daß Karl der Fünfte ihn auszeichne. So waren ihm
die Wege zum Kaiser geebnet; ohne daß er sich je den Rückzug zu den Schmcil¬
kaldischen gänzlich hätte verlegen lassen, traf er am 20. Juni 1546 auf dem
Reichstage zu Regensburg sein Abkommen mit Karl dem Fünften. Zu dem
Bistum Merseburg, als dessen Administrator sein jüngerer Bruder August
schon im Mai 1544 gewählt worden war, stellte man ihm die Schirmherrschaft
über Magdeburg und Halberstadt in Aussicht, unter der Bedingung, daß er den
Erzbischof, den Bischof und ihre Unterthanen bei ihrer alten Religion verbleiben
lasse und der Kaiser das ganze Verhältnis nach Belieben auch wieder aufheben
könne. Dies wurde schriftlich fixirt, über das weitere vermied es Karl, etwas
Schriftliches von sich zu geben, man verhandelte „auf fürstliche Ehre und Treue,"
aber ohne Zweifel kam man darüber zum Einvernehmen, daß der Herzog, der
jedoch die Einwilligung seiner Landstände vorbehielt, am Kriege teilnehmen und
Land und Kurwürde seines zu achtenden Vetters empfangen sollte.*)
Außer Moritz von Sachsen näherten sich noch zwei protestantische Fürsten
dem Kaiser. Markgraf Hans von Küstrin war der Schwiegersohn des zur Zeit
von den Schmalkaldnern gefangen gehaltenen Herzogs Heinrich von Braun¬
schweig-Wolfenbüttel; Herzog Erich von Kalenberg war Heinrichs Vetter — beide
grollten ihren Glaubensgenossen wegen des Loses ihres Verwandten; der erste
trat geradehin dem Abkommen bei, das Moritz getroffen hatte. Beide waren
freilich ohne große Macht; aber umso schwerer wog es, daß Herzog Wilhelm
von Baiern, dort nach seines Bruders Ludwig Tode der alleinige Herr,
30 000 Gulden und sonstige Unterstützung verhieß. Nicht so sehr auf positive
Hilfe aber kam es hierbei dem Kaiser an, als auf Loslösung des seither immer
frondirendcn Vaiern von der protestantischen Opposition; er trug kein Bedenken,
dem willfährigen Wittelsbacher den pfälzischen Kurhut in Aussicht zu stellen,
falls Friedrich der Zweite nicht zur alten Kirche sich bekehre. Um solchen Preis, der
freilich erst achtzig Jahre später errungen worden ist, lenkte Baiern in einem
Augenblicke in kaiserliche Bahnen ein, wo selbst der gefangene Braunschweiger von
Karl dem Fünften das äußerste für die „deutsche Libertät" fürchtete. Dieser politische
Gewinn war von größtem Wert für den Kaiser; aber auch militärisch fiel der
Zutritt Bciierns zur kaiserlichen Partei deshalb schwer in die Wagschale, weil
erst jetzt Karl in der Lage war, die aus Italien kommenden Kriegsvölker, die
ihm der Papst und die andern verbündeten Fürsten sandten, im Reich selbst zu
erwarten; andernfalls hätte er sich, um sie an sich zu ziehen, nach Tirol oder
Österreich begeben müssen.
So hatte die umsichtige und schlaue Diplomatie des Reichsoberhauptes
überall sich Helfershelfer geschaffen, und doch hatte sie nicht vermeiden können,
einen schweren prinzipiellen Widerspruch in all ihrem Thun zuzulassen. Paul
der Dritte faßte selbstverständlich den bevorstehenden Krieg als einen Religions¬
krieg auf; ohne diese Überzeugung würde er nicht einen Dukaten dem Kaiser
gereicht haben, mit dem ihn italienische Gebietsfragen fortwährend entzweiten;
offen wurde von Rom aus der heilige Krieg verkündigt. Auch den Spaniern
gegenüber mußte man diese Saite anschlagen, um sie opferwillig zu machen.
Aber Deutschland durfte das nicht gesagt werden; für dieses Land, um dessen
Niederwerfung es sich handelte, bedürfte es eines Vorwandes, wenn nicht bei
der übergewaltigen Ausdehnung der neuen Lehre eine populäre Explosion wie
vor einundzwanzig Jahren erfolgen sollte. Deshalb wurden Moritz von Sachsen
und den Hohenzollern Hans von Küstrin und Albrecht Alcibicides von Bayreuth-
Kulmbach, der Werbungen für den Kaiser veranstaltete, beruhigende Ver¬
sicherungen zuteil, daß der Kaiser, auch wenn es auf dem Konzil mit der
allgemeinen Annahme der Rechtfertigung durch deu Glauben, der Priesterehe
und des Lcncnkelchs Schwierigkeiten haben sollte, doch hinsichtlich dieser
Punkte Nachsicht haben werde; eine Art von Reservatrechten auf kirchlichem
Gebiet faßte man für die Deutschen ins Auge; selbst die Verwendung der
geistlichen Güter für Schulen und Universitäten glaubte Granvella nicht an¬
fechten zu sollen. Wie gestaltete sich nun aber die Lage durch solche Ab¬
machungen, auf welche hin Karl dem Markgrafen die Hand reichte als Zeichen
der Verpflichtung? Von zwei Fällen mußte nun einer eintreten: entweder der
Kaiser hielt den mit ihm verbündeten Protestanten sein Wort, dann war der
Konflikt mit Papst und Konzil unausbleiblich, welche eine solche Abkunft mit
den Ketzern ohne Zweifel mit Abscheu von sich stießen; oder, was ihm freilich
an sich nicht schwer fiel, er brach dieses feierlich durch einen Handschlag be¬
kräftigte Wort, dann mußte er sofort nach dem eventuellen Siege über die
Schmalkaldischen mit seinen jetzigen Alliirten in Kampf geraten; hinter diesen
aber stand dann die Masse des deutschen Volkes in Nord und Süd, und nicht
am wenigsten in den Habsburgischen Landen selbst, in Schlesien, in Österreich,
in Tirol, wo die Negierung schon jetzt offenen Aufstand fürchtete. Es war
sicher, daß für Karl aus dem Siege selber neue schwere Verwicklungen erwachsen
würden, und mehr als fraglich, ob sein Plan, unter falscher Flagge kirchliche
Reaktion zu treiben, die Möglichkeit des Gelingens in sich trug.
Wenige Monate, ehe die Dinge auf den äußersten Punkt gediehen waren,
hatte der Mann die Augen geschlossen, welcher den Anstoß zu der gewaltigen
Bewegung der Geister gegeben hatte, über deren endgiltiges Schicksal jetzt die
eisernen Würfel fallen sollten, Martin Luther war am 1s. Februar 1646 in
seinem Geburtsorte Eisleben aus der Welt geschieden. Sein letztes Werk, um
dessenwillen er die Reise von Wittenberg her trotz seiner dreiundsechzig Jahre
und trotz seines durch das qualvolle Steinleiden geschwächten Leibes unternommen,
hatte ein Friedenswerk sein sollen: die Ausgleichung eines Streites, welcher uuter
den Grafen von Mansfeld wegen des Kirchenpatronats und andrer Rechte ent¬
brannt war. Kein Kaiser, kein Feldhauptmann, kein Staatslenker hat unsre Nation
auch nur von ferne so in ihren Grundlagen bewegt und erneuert wie dieser
Vauernsohn und Mönch. Ohne Einfluß auf den Gang der Dinge ist auch
sein Tod nicht geblieben; zu gewaltig war seine Stellung gewesen, als daß er
nicht hätte eine breite Lücke hinterlassen sollen, die niemand ausfüllen konnte.
Es war nicht übertrieben, wenn ihm sein treuer Freund Melanchthon in die
Gruft nachrief: „Dahin ist der Lenker und Wagen Israels"; es haben sich
sogar Stimmen erhoben, die für möglich hielten, daß bei längerem Leben
Luthers Herzog Moritz die „Rolle des Judas Ischarioth" nicht zu spielen
gewagt haben würde. Eine reizvolle Aufgabe ist es, dem gewaltigen Propheten
unsers Volkes auch zu folgen in seine täglichen Lebensbeziehungen, in seine
häuslichen Verhältnisse, in seine Gemeinschaft mit Weib und Kind. Wenn
andre durch Aufdeckung solcher intimen Dinge wohl verlieren, so gewinnt
Luthers Bild dadurch nur noch an menschlicher Liebenswürdigkeit. Wir sehen
den Mann, welcher im Mittelpunkt einer der größten Epochen unsers Geschlechts
steht, sich mit seinen Kindlein kindlich freuen; wir sehen ihn, obschon er „traurig
ist im Fleisch," doch „fröhlich im Geist" und gottergeben am Sarge seines
Töchterleins Magdalena knien; wir finden ihn immer bereit zu helfen und, so
bescheiden seine ökonomische Lage ist, allezeit freigebig für Arme und Not¬
leidende. Eine Kindesseele, das ist der Gesamteindruck, und die Seele eines
Titanen war in der einen Brust vereinigt.*)
Auch nach dem Frieden von Crespy noch, inmitten der Vorbereitungen
zum Schlagen, hat Karl es nicht unterlassen, Vergleichsvcrsnche zwischen den
religiösen Parteien anzustellen, Sie hatten selbstverständlich keinen Erfolg; auf
den Verhandlungen zu Regensburg, die dem letzten daselbst vor dem Kampfe
gehaltenen Reichstage vorangingen, hat der spanische Dominikaner Pater Malvenda
sogar die Rechtfertigung wieder ganz in altkirchlichem Sinn nicht nur an den
Glauben, sondern auch an die Mitwirkung des Menschen und die Heilsmittel
der Kirche geknüpft; im März 1646 wurden die Konferenzen als aussichtslos
abgebrochen. Noch immer war man im Vatikan in Sorge, ob Karl nicht doch
vor dem heiligen Kriege zurückschrecke; der Friede zwischen England und Frank¬
reich, der am 6. Juni zu Guines ausgerufen ward, konnte ihn möglicherweise
noch zur Zurückhaltung aus Furcht vor französischer Intervention bestimmen.
Aber am 7. Juni unterzeichnete der Kaiser den in Rom festgestellten Vertrag
mit dem Papste; am gleichen Tage den mit Baiern; am 16. empfingen die
Schmalkaldischen auf ihre Anfrage, was die kaiserlichen Werbungen in Ober-
und Niederdeutschland zu bedeuten haben, die Antwort: „Der Kaiser werde
gegen die, welche ungehorsam seien, wie man erachten könne, seine Autorität der
Gebühr nach gebrauchen." Namen wurden nicht genannt; aber jedermann wußte,
daß Kursachsen und Hessen gemeint waren; darin, daß sie auf dem Reichstage
nicht durch ihre Fürsten vertreten waren, sondern nur durch Gesandte, glaubte
der Kaiser Unbotmäßigkeit erblicken zu müssen. Sie von ihren Bundesgenossen
zu isoliren, das lockere Gefüge des Bundes zu sprengen, war Karls Absicht");
wie seine Obersten überall, in Füssen, in Riedlingen, in Veilngries bei Eich-
stätt, in Niedersachsen Werbungen — seit dem 10. Juni — veranstalteten, so
waren überall die Abgesandten Karls thätig, um die Ritterschaft, die alten
Waffenbrüder Sickingens, gegen die Fürsten aufzuwiegeln; Nürnberg, das ohne¬
hin von dem Bunde zurückgetreten war, Augsburg, Ulm, Straßburg wurden
beschickt und ihnen versichert, „daß der Krieg nicht über die Städte gehen werde."
Ulrich von Würtemberg, dem der Kaiser 1643 vor dem clevischen Krieg in
Stuttgart gnädig eiuen Besuch abgestattet hatte, wurde ebenfalls dnrch den Truchseß
von Hirnheim bearbeitet. Aber dieser ganze diplomatische Feldzug, welcher
Sachsen und Hessen ebenso isoliren sollte, wie drei Jahre vorher Cleve,
schlag total fehl; der schmalkaldische Bund erwies sich fester, als der Kaiser
gemeint hatte; nicht einmal Augsburg, wo man doch große Rücksichten auf
die Welthandelshäuser der katholischen Fugger, Welser und Baumgärtner
zu nehmen hatte, zeigte sich nachgiebig. „Gott hab Lob," konnte der wackere
Arzt Gereon Salter am 5. Juli aus Augsburg an den Landgrafen schreiben,
„hie oben im Oberland sind wir einig und aufrecht. Es wird wahrlich nicht
anders sein, wir müssen fechten, wie man sagt, pro aris und toois, um unsres
Gottes und Vaterlandes wegen; der wird uns nicht verlassen!" Die glatten
Worte der kaiserlichen Sendboten stießen auf taube Ohren; Anwandlungen von
Schwäche und Mißtrauen in die Genossen gingen rasch vorüber. „Es ist dahin
gerichtet," so charakterisirt ebenderselbe städtische Politiker des Kaisers innerste
Absichten, „daß teutsche Nation ein schön Königreich und der Teufel die
Monarchie hätte." „Noch war kein Schuß gefallen, sagt Lenz, und schon hatte
Karl eine entschiedene Niederlage erlitten, auf dem Felde, wo er sonst Meister
war, der politischen Berechnung. Er hatte nicht, wie er eben noch hoffte, zwei
verlassene Fürsten, sondern den schmalkaldischen Bund, nicht eine politische
Rebellion, sondern eine religiöse Partei, das auf dem Grunde des Evangeliums
politisch geeinigte Deutschland zu bekämpfen. Seit den Zeiten der hohenstau-
fischen und salischen Kaiser hatten sich niemals in so kompakter Masse nord-
und süddeutsche Stämme gegen die Krone zusammengefunden, und niemals war
eine die Sondcrintercsscn so neutralisirende Idee die einigende Kraft gewesen.
Jahrhunderte hindurch hatten Fürsten und Städte, wechselseitig von den Kaisern
unterstützt und verlassen, um ihre Sonderintcressen auf Leben und Tod gerungen;
jetzt standen die meisten und weitaus mächtigsten Kommunen von den Alpen
bis an das Meer und die kraftvollsten Fürsten Seite an Seite, um gegen den
Kaiser eine Konstitution zu verteidigen, welche ihre besondern Interessen auf
einem gemeinsamen Boden zu einer ganz neuen Einheit verbinden wollte. Sie
traten auf für eine Lehre, welche aus den Tiefen der Volksseele und der all¬
gemeinen Kulturbewegung geschöpft, in dem Gewissen eines Mannes unter
heißen Scelenkümpfen Raum gewonnen, allezeit sich an die persönliche Über¬
zeugung gewandt, die Befreiung des religiösen Lebens von den Fesseln äußern
Zwanges behauptet hatte." Den Schmalkaldischen fehlte es an Zuversicht nicht,
so sehr sie auch des Kaisers Macht kannten: „Hast du Kriegsleute," ruft auf
einem Flugblatt Frau Germania dem Kaiser zu, „ich habe sie auch; Gott im
Himmel, den du nicht hast, habe ich." Karl und seine Kriegsknechte werden
wohl mit den Legionen des Varus verglichen, die ein sächsischer Fürst Arminius
bewältigt habe; mau hofft, daß es den Wälschen wieder so ergehen werde.
Die Zuversicht der Verbündete» war keineswegs eitel. Ihre geographische
Position war so, daß sie den Kaiser in Regensburg von seinen Niederlanden
gänzlich abschnitten; von der Elbe bis zum Rheine bildeten die kursächsischen
und hessischen Gebiete eine zusammenhängende Linie, die durch starke Plätze
wie Torgau, Wittenberg, Gotha, Kassel, Ziegenhain, Gießen, Rüsselheim, Nhein-
fels verteidigt war; im Süden hielten sich die größten Städte zu dem Bunde,
Von denen jede für sich der ganzen Armada des Kaisers trotzen konnte. Herzog
Ulrich verließ sich auf den hohen Twiel, die Teck bei Kirchheim, den Asperg;
er hatte 600 Reiter, so schöne Mannschaft und Rosse, daß er sie garnicht ins
Gefecht lassen mochte. Die Geschützmacht des Bundes, dem die großen fecit-
lischen Gießereien zur Verfügung standen, war die gewaltigste der Welt; den
Landsknechten war zwar das Geld ihr Gott, aber doch ist es auch vorgekommen,
daß sie schwuren, die Spieße niederzulegen, wenn der Kaiser gegen das Wort
Gottes streiten wolle.
Der Gunst der militärischen Lage entsprach die der politischen, Wohl
blieben viele Protestanten neutral, wie Brandenburg, das sich durch das Ab¬
kommen von 1541 für gebunden hielt, wie die Pfalz, welche für die Ober¬
pfalz fürchtete, wie Lüneburg, Münster, selbst Köln, wo man sich durch den
kaiserlichen Feldhauptmann in den Niederlanden, Friedrich von Büren, bedroht
sah und der rein religiös gerichtete Hermann von Wied die volle erforderliche
Energie nicht fand; aber ein Sieg der Bündner mußte sofort diese unentschlossenen
Elemente zu offnem Hervortreten ermutigen. In den Niederlanden herrschte
eine dumpfe Gährung; mit Recht hat man den Aufstand Genes von 1340 als
den Vorläufer jener großartigen Erhebung bezeichnet, durch welche wenigstens
ein Teil dieser Lande späterhin das spanische Joch abgeschüttelt hat; die Un¬
zufriedenheit war nicht erloschen: die Kölner Reformation erweckte in diesen be¬
nachbarten Gebieten alle, die in der Stille lutherisch waren, zur Hoffnung auf
einen religiösen Umsturz, Ebenso ließ sich auf die Mitwirkung der Dünen und
Schweizer hoffen, die beide einen Sieg des Hauses Habsburg nicht ohne schwere
Sorgen mit ansehen konnten; wenn die eidgenössische Tagsatzung auch einen
offnen Bruch, einen Angriff auf Tirol vermied, wie ihn schmalkaldische Gesandte
in Vorschlag brachten, so ließ sie es doch geschehen, daß neun Fähnlein ihrer
Knechte den Glaubensgenossen im Reiche zuzogen.
Auf eines kam es in diesem Augenblicke an: die Gunst der Lage voll und
rasch auszunutzen. So jäh Karl der Fünfte mit seiner Antwort vom 16. Juni
die Maske abgeworfen hatte, so war er doch so wenig zum sofortigen Los¬
schlagen fertig wie Napoleon der Dritte im Jahre 1870. Seine Rechnung
war, wie die des Bonaparte in jenem Jahre, darauf gegangen, die Oberdeutschen
von den Niederdeutschen zu trennen; nun dieser Pfeil weit vom Ziele niederfiel,
war Karl für geraume Zeit ohne die Möglichkeit, den scharfen Worten auch
die entsprechenden Thaten folgen zu lassen. Mit einigen hundert Mann zu
Pferd und zu Fuß stand er in dem protestantischen Regensburg; nicht einmal
seine Person war völlig in Sicherheit, sein Geschütz, seine Spanier waren von
Wien, von Ungarn her erst im Anmarsch; ebenso setzten sich erst seine italie¬
nischen HilfsVölker, seine niederländischen Truppen in Bewegung; die vier großen
Regimenter oberdeutschen Fußvolks, welche er auf den Musterplätzen Niedlingen,
Füssen, Beilngries anwerben ließ, waren noch in der Formation begriffen. Es
kam nur darauf an, den Grafen von Büren abzuhalten, die oberdeutschen Werbe¬
plätze zu überfallen, die Alpenpässe in Tirol wegzunehmen, so war Karl ohne
Schlacht besiegt, zu eben der Flucht aus Deutschland genötigt, welche er sechs
Jahre später hat ergreifen müssen. Alle diese Erfolge ließen sich erreichen,
wen» die Bündner einem Willen rasch und sicher gehorchten. Schon im Herbst
1545 hatte Nutzer vorgeschlagen, man solle, um dem seit dem 8. Januar 1546
exkommunizirten Kölner Kurfürsten mit Erfolg beizustehen, dem kühnsten aller
evangelischen Fürsten, dem Landgrafen Philipp, die Gewalt eines Diktators über¬
tragen;^) es war ein Vorschlag, ebenso richtig als unausführbar: auch die
Schmalkaldcner sollten erfahren, daß eine Koalition an innern Gebrechen mit
Notwendigkeit krankt, daß eine einheitliche Leitung bei ihr fast unmöglich ist.
Die ganze Kriegführung des Bundes ist eine Kette von Versäumnissen und
Fehlgriffen, von halbgedachten und hnlbausgeführten Maßregeln. Das zwar
war ganz richtig, was Karl selbst in seinen Denkwürdigkeiten (ooimnsiMirss)
den Gegnern als ersten und schwersten Fehler vorrückt, daß man die oberdeutschen
Streitkräfte nicht sogleich gegen Regensburg dirigirte, sondern gegen Tirol;
nicht der Kaiser mit seinen paar hundert Mann war gefährlich, sondern die
Ansammlung von Fußvolk auf den genannten Werbcplätzcn, der Anmarsch der
Italiener; waren diese Gefahren beseitigt, so brauchte man nur gegen Regens¬
burg zu demonstriren, und Karl entfloh dann von selbst. Aber eben die Ope¬
rationen auf Tirol, welche mit zwei Heeresabteilungen unternommen wurden
— Sebastian Schärtlin als Oberstkommandirender rückte von Augsburg aus,
Schenkwitz, sein Leutnant, kam von Ulm her —, wurden nicht schneidig genug
ins Werk gesetzt, weil die Anordnungen der beiden Hauptleute teils nicht völlig
durchgeführt werden konnten, teils sich kreuzten: die kaiserlichen Söldner ent¬
kamen aus Füssen mich Landsberg ins Bairische, und man mußte sich mit der
Einnahme von Füssen (10. Juli) begnügen, dessen Bürgerschaft sofort von ihrem
Herrn, dem Augsburger Bischof, zu den Siegern abfiel und dem Bunde hul¬
digen wollte. Von Füssen aus ließ Schärtlin seinen Leutnant den Lech auf¬
wärts gehen und mit 1500 Mann das Schloß Ehrenberg überrumpeln, bei
welchem sich ein die Heerstraße total absperrendes Thor befand, die be¬
rühmte „Ehrenberger Klause"; die 150 von Innsbruck gesandten Schützen
wurden im Schlaf überwältigt und der wichtige Paß, der das ganze Lechthcil
abschließt, in die Gewalt der Bündner gebracht. Gewiß waren dies wertvolle
Erfolge; aber es wäre mehr gewesen, wenn man die abziehenden Söldner des
Kaisers frischweg ins Bairische verfolgt lind zersprengt, wenn man sich Tirols
bemächtigt und den Brennerpaß besetzt hätte, welcher nun der einzige Weg war,
auf welchem die italienischen Kriegsvölker ohne großen Zeitverlust nach Regens¬
burg hinabsteigen konnten. An Schärtlin lag es nicht, wenn diese Maßnahmen
nicht getroffen wurden, welche unbedingt durch die Sachlage ermöglicht, also
unbedingt geboten waren; aber er hatte die Hände nicht frei, der oberländische
Kriegsrat hielt Bniern noch für neutral, was es seit fünf Wochen nicht mehr
war, er glaubte an die Möglichkeit, daß der König Ferdinand sich am Kampfe
nicht beteiligen werde: beide durften nach seiner Ansicht nicht gereizt werden,
also wurde der weitere Verfolg der Operationen auf Landsberg und bis ins
Hochland untersagt. Dazu kam die beständige Sorge von Ulm und Augsburg,
die bei weiter Entfernung des Heeres einem Angriffe bloßgestellt zu werden
fürchteten; Schcirtlin, der schon an eine Kooperation mit Venedig und dein
Herzog von Ferrara — über Tirol — gedacht hatte, mußte am 14, Juli nach
Ulm zurückgehen, von wo aus dann das ganze Heer (ohne die würtembergischen
Reiter, denen sich die zu Niedlingen angeworbenen Knechte auch entzogen hatte»,
60 Fähnlein oder gegen 20000 Mann stark) auf Donauwörth vorging und
diese wichtige Stadt an demselben Tage erstürmte, wo der Kaiser die Acht über
den Kurfürsten und Landgrafen aussprach (am 20. Juli),
Auch diesen beiden war unterdessen eine schöne Gelegenheit halb unter den
Händen zerronnen. Graf Christoph von Oldenburg hatte im Dienst des Kur¬
fürsten von der Pfalz, der seine Pläne auf Dänemarks Krone noch nicht ganz
aufgegeben hatte, 3000 Reiter und 7000 Knechte in Niedersachsen angeworben;
angesichts des deutschen Krieges wurde ein Vorstoß gegen Dänemark unthunlich,
und die Kriegshauptleute verhandelten mit den Bundesfürsten über Eintritt in
schmalkaldische Dienste. Eine große Macht wäre damit den Bündnern zuge¬
fallen; aber am Ende folgten nur 4000 Maun zu Fuß und etwa 1000 Reiter
deren Fahnen, die andern liefen den Kaiserlichen zu. Immerhin hatten die
Sachsen und Hessen, weil zu ihrem großen Glück der Herzog von Braunschweig
schon das Jahr vorher losgeschlagen hatte und in ihrer Gefangenschaft saß, die
Möglichkeit, nach dem Süden aufzubrechen, ohne Furcht vor einem Angriff im
Rücken hegen zu müssen. Am 20, Juli vollzogen Johann Friedrich und Philipp
ihre Vereinigung bei Meiningen; am 25. Juli erreichten sie den Main bei
Schweinfurt, Der Kaiser hatte damals uach der Berechnung von Lenz im
allerhöchsten Falle 10000 Mann zu Fuß und 2000 Reiter, einschließlich der
600 Pferde, welche Hans von Küstrin herangeführt hatte; die Verbündeten
verfügten über mehr als 50000 Mann, darunter 6000 Reiter. Nichts lag
jetzt näher, als daß man gleichzeitig von Donauwörth und von Schweinfurt
her Regensburg zum Operationsobjekt nahm; am 3. August, ehe die Italiener
anlangen konnten, vermochten das Nord- und Südheer sich vor der Stadt die
Hand zu reichen; auch jetzt noch war der Sieg durch richtige Dispositionen zu
gewinnen, ohne daß man die Chancen einer Schlacht lief. Aber nicht einmal
der leiseste Gedanke, „getrennt zu marschiren und vereint zu schlagen," kam den
Bündnern: die Fürsten richteten ihren Marsch auf Donauwörth, wo sie, über
Dinkelsbühl und Nördlingen ziehend, am 4. August ankamen. Ein gewaltiges
Heer war nun versammelt; aber Karl hatte auch Zeit, bei Landshut sich mit
den Italienern zu verbinden und mit einem Heere, das — freilich wohl zu hoch —
auf 34000 Mann zu Fuß und 5000 Reiter geschätzt wird, nach Regensburg
zurückzukehren. Die Aussichten der Schmalkaldeuer waren noch nicht dahin,
aber ohne Frage begannen sie sich zu trüben,
Noch freilich waren sie dem Kaiser überlegen; in einer Antwort auf die
Achtscrklärung bezeugten sie vor aller Welt, daß sie die bürgerliche und kirch¬
liche Freiheit vor „hispanischer Sklaverei" zu verteidigen hätten: sie übersandten
dem Kaiser einen Fehdebrief mit der Aufschrift: „An Karl den Fünften, der
sich römischer Kaiser nennt." Der Krieg zog sich mittlerweile unter die Mauern
von Ingolstadt, wo es aber zu keiner Schlacht kam, obwohl es wiederholt den
Anschein dazu gewann: die Protestanten begnügten sich das feindliche Lager
mit den hundert Kanonen, welche sie nach Avila hatten, zu beschießen. Mit
Staunen berichtet Turins, daß sie an einem Tage neunhundert Kugeln ins
kaiserliche Lager geworfen hätten, von deuen gleichwohl nur ein Mann und
zwei Pferde getötet und ein Feldzeichen zerschossen worden; den Kaiser selbst,
vor dessen Füßen die Kugeln einschlugen, habe Gott sichtlich beschützt. In¬
zwischen überschritt Graf Max von Büren mit fünfzehntausend Mann nieder¬
ländischer Truppen von niemand gehindert den Rhein bei Mainz und stieß
zum Kaiser, am 17. September. Zwar zogen nun auch die Bündner ihre Wcst-
armee unter Christoph von Oldenburg, Reiffenberg und andern Anführern an sich;
aber die Initiative ist von nun an bei Karl dem Fünften, welcher das anfänglich
kaum möglich scheinende erfüllt sah: er verfügte nun an einem Punkte über
alle seine Kriegsleute, welche bei Beginn des Krieges fast über ganz Mittel¬
europa zerstreut gewesen waren. Trotzdem ließe sich nicht sagen, daß der Kaiser,
welcher nun Neuburg und Donauwörth einnahm und sodann den Krieg west¬
wärts, nach Schwaben, spielte, dort irgend einen entscheidenden Erfolg errungen
hätte. Bei Nördlingen, bei Ulm, bei Giengen an der Brenz lagerten die
Gegner nahe beieinander, nirgends erfolgte ein größerer Zusammenstoß, keine
der großen Städte, auf denen die Position der Schmalkaldener in diesen
Gegenden ruhte, nicht Augsburg, nicht Ulm ging in die Gewalt Karls über;
die naßkalte Novemberwittcrung nahm wohl beide Teile übel mit, aber ver¬
heerender wirkte sie doch unter den Kaiserlichen, da Spanier und Italiener der¬
selben sich nicht gewachsen zeigten; auch die rote Ruhr raffte viele hinweg.
Man wollte berechnen, daß der Kaiser, ohne eine Schlacht bestanden zu haben,
dnrch Scharmützel, Wetter und Krankheiten 15 000 Mann eingebüßt habe.
In diesem Moment aber sprang die Mine, welche am 20. Juni gelegt
war: Herzog Moritz, welchem der Kaiser am 27. Oktober im Lager zu Sontheim
an der Brenz die Kurwürde des Hauses Sachsen übertragen hatte, schlug los.
Mit Mühe brachte er seinen in Freiberg versammelten Landtag zur Ein¬
willigung in einen Angriff auf seines Vetters Land: nur die Angst, daß König
Ferdinand sich Kursachsens bemächtige, wenn die Albertincr zögerten, und die
beruhigendsten Versicherungen in religiöser Hinsicht schlugen endlich durch. Mit
demselben Mittel machte Ferdinand seinen böhmischen Landtag trotz dessen utra-
quistischer, d. h. hussitischer Mehrheit willig: wenn Böhmen nicht marschiren
lasse, erklärte er, so werde Herzog Moritz auch die böhmischen Lehen in Sachsen
an sich reißen. So erreichten beide ihr Ziel: als Verbündete fielen sie über das
fast wehrlose Kursachsen her und nahmen es mit Ansncchme von Wittenberg
und Gotha im November in Besitz.
Man kann leicht ermessen, wie diese Hiobspost auf die schmalkaldischen
Bundesgenossen wirkte. Ohnehin war auch ihnen der Mut gesunken, da es
allmählich an Geld für die Knechte fehlte, und die Städte, die hauptsächlich
gcldkräftig waren, nichts mehr zahlen zu können erklärten; die Verhandlungen
mit Frankreich und England rückten bis jetzt nicht recht vorwärts. Anfänglich
gedachte Johann Friedrich noch im Süden auszuhalten; aber bald kamen die
Vündncr zum Entschluß, das Heer bis zum Frühjahr aufzulösen. Am 24. No¬
vember wurde der Entschluß zur That: jeder kehrte in seine Heimat zurück;
und schon überhäufte» sich die Verbündeten gegenseitig mit Vorwürfen, keiner
wollte die Schuld tragen, daß das große Heer nichts erreicht hatte.
Für den Kaiser war dies ein ungeheurer Glücksfall: die feindliche Feld¬
armee verschwand in dem Augenblick, wo sein auf sechs Monate lautender Ver¬
trag mit dem Papste zu Ende ging und dieser seine Soldaten abrief, von deren
Brauchbarkeit die Spanier freilich nur eine mittelmüßige Meinung gewonnen
hatten. Der Beschluß, sechstausend Mann zu Fuß und fünfzehnhundert Reiter
in einem Winterlager bei Giengen beisammeuzuhaltcu, wurde nicht ausgeführt,
weil kein Geld vorhanden war; als Karl bald hernach seine Straftaxen ansetzte,
war dasselbe freilich vorhanden; freiwillig aber wollte niemand zahlen. Immer
noch hatte der Kaiser die beschwerliche Aussicht auf einen langen Belagerungs¬
krieg, wenn Ulm und Augsburg fest blieben. Allein in Ulm fragte man sich,
ob man denn etwas durch längern Widerstand erreichen könne — schon wurden
von Rothenburg, das Karl auf der Verfolgung der Fürsten besetzt hatte, die
Kanonen zur Belagerung Ukas herangeführt; den Ausschlag gab aber doch
erst, daß Grcmvella dieselben Bürgschaften auf religiösem Gebiete anbot, welche
dem Herzog Moritz gewährt worden waren. So beschloß der Rat von Ulm am
14. Dezember, sich „in höchster Unterwürfigkeit" vor dem Kaiser zu demütigen;
Heilbronn, Hall, Eßlingen, Augsburg, Frankfurt folgten nach; den Großen
schlössen sich, wie man sieht, auch die Kleinen an; nur Konstanz blieb fest.
Alle mußten bedeutende Strafgelder zahlen, Augsburg hundertsünfzigtausend,
Ulm hunderttausend, Eßlingen vierzigtausend, Heilbronn und Neutlingen zwanzig-
tausend Guloeu; Augsburg empfing auch eine kaiserliche Besatzung; der Religion
wurde fast überall so gedacht, wie es halten zu Wollen der Kaiser dem Herzog
Moritz und dem Hause Brandenburg zugesichert hatte, sonst würde er eine
Bevölkerung sich gegenüber gesehen haben, welche zum Kampf auf Tod und
Leben entschlossen gewesen wäre. Das Herzogtum Würtemberg hätte Karl gern
mit Gewalt eingenommen, und König Ferdinand schmeichelte sich mit der
Hoffnung, dieses Land wiederzugewinnen; allein der Kaiser erfuhr, daß Land¬
graf Philipp „uoch einige Leute zu Fuß und zu Pferd in der Werken» ver-
sammelt habe," und erwog, daß die Einnahme des Landes eine „lange und kost¬
spielige Sache, auch die Haltung Frankreichs übelwollend sei."*) Deshalb
wurde Herzog Ulrich auch zu Gnaden angenommen, nachdem er in Ulm de¬
mütig Abbitte vor dem Kaiser gethan und dreihunderttausend Gulden versprochen,
auch drei Festungen an kaiserliche Völker ausgeliefert hatte. Nun war auch
das Schicksal des siebzigjährigen Kurfürsten von Köln besiegelt: am 26. Fe¬
bruar 1547 legte Hermann von Wied seine Würde nieder — er ist dann am
15. August 1552 als glaubenstreuer Evangelischer in der Zurückgezogenheit
auf seinem Grafensitz gestorben — und sein Nachfolger, der seitherige Koadjntor
Adolf von Schaumburg, stellte trotz der evangelischen Gesinnung der Landstände
den alten Gottesdienst wieder her.
„Karl der Fünfte, sagt Ranke, war in diesem Kriege ganz grau geworden,
seine Krankheit (die Gicht) griff ihn mit ungewöhnlicher Heftigkeit an, man
bemerkte es fast mehr an der Bewegung seiner Lippen, als an dem schwachen Ton
seiner Stimme, wenn er redete; wer ihn sah, so leichenblaß, an allen Gliedern
gelähmt, ward von Mitleiden ergriffen, aber eben dies war der Augenblick,
wo er Herr zu werden begann, wo das unbesiegte Deutschland ihm zu gehorchen
anfing. Von allen Seiten kamen Fürsten und Herren und die Gesandten so
vieler Städte, um sich vor ihm zu demütigen. Man sah sie knien, »die ehren¬
fester, hochgelahrten, fürsichtigem und weisen,« wie die Urkunden sie nennen, die
ihm so oft Widerpart gehalten, in der Mitte des versammelten Hofes, einer
hinter dem andern, in langer Reihe, mit niedergeschlagenen Augen, bis dann
einer von ihnen das Wort nahm und Seine kaiserliche Majestät um Gottes
des Allmächtigen und seiner Barmherzigkeit Willen anflehte, die gegen sie
gefaßte, allerdings wohlverdiente Ungnade fallen zu lassen; nachdem der Kaiser
nicht selbst, sondern durch den Mund seines Vizekanzlers ihnen dies zugesagt,
aus angeborner kaiserlicher Milde und weil er das Verderben der Reichsstände
nicht wolle, gelobten sie dafür unterthänigen Gehorsam so für ihre Nachkommen
als für sich selbst in den demütigster Ausdrücken, die sich finden ließen; obwohl
man sie aufstehen hieß, so wagten sie das doch nicht eher, als bis der Kaiser
selbst ihnen,mit einem Wink seiner Hand das Zeichen dazu gab." Einer der
letzten, welche so vor dem Kaiser erschienen, war Jakob Sturm, welcher, auf
den Tod niedergedrückt, am 21. März 1547 vor dem Sieger in Nördlingen
erschien, um Straßburgs Unterwerfung zu erklären. Er, vielleicht der einzige
staatsmännische Kopf unter den Schmalkaldenern, mußte es besonders bitter
empfinden, daß eine so große Macht so ruhmlos erlag; doch erwirkte die Be¬
sorgnis, Straßburg möchte sich dem französischen König in die Arme werfen,
der Stadt verhältnismäßig milde Bedingungen: sie hatte nur 30 000 Gulden
aber freilich auch zwölf Kanonen mit aller Munition zu geben, zu deren Ab¬
holung kaiserliche Hauptleute in Straßburg sich einfanden.
Und gleichwohl war Karls Lage auch jetzt nicht ohne Schwierigkeiten. Paul
der Dritte zeigte sich in kirchlicher Hinsicht den vermittelnden Tendenzen Karls
so abgeneigt als möglich; das Konzil zu Trient (eröffnet am 13. Dezember 1545)
bestand überwiegend aus Spaniern und Italienern, welche eben der dominikanischen
Lehrausprägung anhingen, gegen welche sich Luther erhoben hatte, Deutschland
war des Krieges wegen garnicht, Frankreich kaum vertreten. Die päpstlichen
Legaten hielten stramme Disziplin und wahrten sich allein das Recht, Vorschläge
machen zu dürfen; so war es nicht zu verwundern, daß eine Reihe von Be¬
schlüssen gefaßt wurde, welche alle Aussicht auf Versöhnung mit den „Ab¬
gewichenen" abschnitten und diesen bloß stumme Unterwerfung oder äußersten
Widerstand offen ließen. Beispielsweise wurde die sogenannte Vulgata, die
alte lateinische, von dem Kirchenvater Hieronymus 385 bis 405 bearbeitete
Bibelübersetzung, als unfehlbare Autorität aufgestellt und damit alle Fortschritte
in der Bibelkunde und Bibelauslegung, welche dieses sprachgewandte humanistische
Zeitalter gemacht hatte, über Bord geworfen, alle abweichenden Erklärungen
verketzert, im Punkte der Rechtfertigung wurde die Mitwirkung der Kirche, d, h.
der Priesterschaft, sowie die des Menschen gefordert und damit nach der Über¬
zeugung der Protestanten die Priesterherrschaft und der Mißbrauch mit den
„guten Werken" verewigt. Vergeblich forderte der Kaiser, dessen Versprechungen
an die Protestanten wir kennen, wenigstens Geheimhaltung dieser Beschlüsse,
damit sie später noch abgeändert werden könnten; der Papst rief seine Soldaten
aus Deutschland ab, weil die Zeit des Vertrages abgelaufen war, und als
Karl sich weder bei der Belehnung des Pier Luigi Farnese mit Parma und
Piacenza seine Oberlehnsherrlichkeit abdingen ließ, noch die Statthalterschaft
über Mailand an Pauls Enkel Ottavio Farnese übertrug, da kam es zum
offnen Bruch, der Papst näherte sich wieder Frankreich, mit dem auch die
Protestanten fortwährend verhandelten, und verlegte das Konzil im März 1547
aus dem österreichischen Trient nach dem päpstlichen Bologna. In ganz Italien
entstand eine Gährung und Opposition wieder die spanische Hegemonie. In
jenen Tagen, im Januar 1547, hat Gian Luigi de Fieschi, Graf von Lavagna,
versucht, die Doria in Genua zu stürzen und die Stadt zu Frankreich hinüber¬
zuführen; nur der Umstand, daß der Graf von einer Galeere ins Wasser des
Hafens stürzte und wegen seiner schweren Rüstung ertrank, bewirkte das Scheitern
dieser Unternehmung.
Diese Vorgänge waren es aber nicht allein, wodurch sich der Kaiser
beunruhigt fühlte. Oberdeutschland hatte er zwar unterworfen, aber Nord¬
deutschland war noch ungebeugt. Ja noch mehr: Johann Friedrich hatte nicht
bloß fein Land wieder von Moritz und von den Böhmen zurückgewonnen; er
war auch mit einer Energie, die man an ihm nicht gewohnt war, ins
herzogliche Sachsen eingedrungen und hatte dasselbe größtenteils erobert, nur
Leipzig, Dresden, Zwickau, Pirna hielten sich, Moritz ließ schon für einen
äußersten Fall den Königstein auf einen Monat verproviantiren und Schanz¬
körbe auf demselben Herrichten; man glaubte, daß er bald ganz von Land und
Leuten vertrieben sein werde, zur Strafe dafür, daß er „um Judaslohn
tyrannisches, unchristliches, hussnrisches Volk" zu Hilfe gerufen. Den Kaiser
hielt man für tot oder doch für krank auf den Tod. In Böhmen loderte
der Aufstand hell empor, ein Feldhauptmann der Stände, Kaspar Pflug von
Rabenstein, sollte das Land gegen den Kaiser wie gegen König Ferdinand ver¬
teidigen, die Stände wollten sich mit dem Kurfürsten, welcher auch wie sie Leib
und Blut Christi unter beiderlei Gestalt genieße, unlöslich verbinden, so,
daß kein Teil ohne den andern Frieden schließen sollte. Wie im Süden von
Sachsen, so im Norden: die großen Kommunen, welche sich zum Evangelium
hielten, waren zu äußerstem Widerstand entschlossen. Johann Friedrich hätte
überall Elemente genug zum Krieg auf Leben und Tod gefunden, wenn er
sich selber zum „Kaiser der protestantischen Stände, der Städte und Bauern"
hätte aufwerfen wollen; aber statt solche unzähmbare Entschlossenheit zu zeigen,
fing er an mit seinem Vetter Moritz zu verhandeln. Er begriff nicht, daß der
Moment kritisch war, daß für ihn galt: uns, sg-Ius viotis, rmllaro. «xerMv
salutsm, daß er entschlossen sein mußte, alles einzusetzen, zu siegen oder zu
sterben, uicht aber mit einem Feinde verhandeln, der ihn verderben wollte.
Umso besser erfaßte der Kaiser die Gefahr der Situation; so heftig sein
Leiden ihn quälte, so brach er doch auf die Hilferufe seines Bruders und des
Herzogs Moritz aus dem Süden auf und zog über Nürnberg nach Eger, wo
er sich mit den beiden Fürsten vereinigte. Die Unvorsichtigkeit und Energie¬
losigkeit der Böhmen hat ihm diesen ersten Erfolg ermöglicht; es zeigte sich,
wie wenig klug der Kurfürst daran that, daß er „den hochfahrenden Reden und
den tumultuarischen Haufen der Böhmen vertraute und sie als Helfer in seinem
Lande erwartete."*) Aber auch Johann Friedrich beging nicht minder schwere
Fehler als die Böhmen; er war vollständig überrascht, als ihm am 24. April
1547, während er in Mühlberg an der Elbe die Sonntagspredigt hörte, die
Meldung zuging, daß man drei große Geschwader jenseits des Stromes gesehen
und daß man trommeln gehört habe. Es war der Kaiser mit Ferdinand und
Moritz; nach den Berechnungen von Lenz**) führten sie 6300 Reiter und
23 000 Mann zu Fuß heran. Der Kurfürst hatte nur 1600 Reiter, 3000
Knechte zu Fuß und 21 Kanonen; allein da seine Truppen Stadt und Schloß
Mühlberg besetzt hielten und das linke Elbufer ohnehin niedriger ist als das
von den Sachsen verteidigte rechte, das noch überdies durch einen Damm ge¬
krönt wurde, so hätte sich diese vortreffliche Stellung ohne große Mühe bis
zum Abend halten lassen. Allein nachdem die Kaiserlichen durch eine Furt
marschirend den Elbübergang erzwungen hatten, wurde die immer noch vorzüg¬
liche Stellung von den Sachsen aufgegeben, und nun erst, wie der Feind abzog
und Gefangene seine geringe Stärke verrieten, entschieden sich der Kaiser und
sein Feldhauptmann, Herzog von Alba, zur Verfolgung ans der Lochcmer
Haide; auf dieser wurde das kurfürstliche Heer, in dem die Zerfahrenheit der
Führer mit der Disziplinlosigkeit der Untergebenen wetteiferte, die sich zu un¬
besonnener Offensive statt zu zäher Defensive fortreißen ließen, am Ende ver¬
nichtet; es ist bemerkenswert, daß es doch heiß herging, daß schon damals
Herzog Moritz in Lebensgefahr schwebte; eine Feucrbüchse ward gegen seinen
Rücken angelegt, ein Ring seines Panzers vom Spieß eines Landsknechts
„zerstreut"*). Der Sieg blieb deswegen doch der Übermacht; 2500 Mann wurden
niedergehauen, Johann Friedrich selber verwundet und gefangen vor den Kaiser
geführt. Es ist bekannt, wie der Kurfürst den Kaiser anredete: „Allergnädigster
Kaiser," und Karl ihn sofort barsch unterbrach: „Bin ich nun Euer gnädiger
Kaiser? So habt Ihr mich lange nicht geheißen." Den Spaniern nötigte
Johann Friedrichs würdevolle Haltung doch Bewunderung ab; aber sein Schicksal
war trotzdem bitter genug. Zwar das Todesurteil, das Karl über ihn und
seinen Mitgefangenen Ernst von Braunschweig unerhörterweise „wegen Rebel¬
lion" verhängte, wagte man doch nicht auszuführen; aber in der „Wittenberger
Kapitulation" vom 18. Mai mußte Johann Friedrich nicht bloß sein Land samt
der Kurwürde abtreten, die noch unbesiegten Festungen Wittenberg und Gotha
an den Kaiser ausliefern und sich mit Zusicherung eines Einkommens von
50 000 Gulden für seine Söhne begnügen; er mußte auch wohl oder übel mit
der Umwandlung der Todesstrafe in ewiges Gefängnis sich einverstanden er¬
klären. Er hätte sich wohl bessere Bedingungen auswirken können, wenn er
sich dem Konzil unterworfen hätte; aber jetzt, in der bittersten Not, als ab¬
gesetzter Kurfürst, die endlose Haft vor Augen, zeigte Johann Friedrich, welch
eine Kraft religiöser Überzeugung in ihm war; als der jüngere Grauvella,
Sohn des Reichssiegelbewahrers und Bischof von Arras, ihn hierüber befragte,
„fand er ihn so hitzig und eifrig, wie er nie einen Mann gesehen." Die Be¬
völkerung war nicht minder standhaft; es kostete Mühe, Wittenberg zur Unter¬
werfung zu bestimmen; dafür hauste das spanische Kriegsvolk überall wild und
ohne Erbarmen; der Kaiser selbst war überzeugt, daß man die rechte Manns-
zucht der Nationalfehler wegen nicht erhalten könne; den Deutschen könne man
das übermäßige Trinken, den Spaniern das Stehlen nicht abgewöhnen.
Noch'war der Landgraf Philipp zu bezwingen, seine Stellung aber war doch
nicht isolirt, Bremen leistete einer kaiserlichen Armee von 29000 Mann unter
Erich von Braunschweig nicht bloß erfolgreichen Widerstand und zwang die
Belagerer zum Abzug; diese wurden auch durch die vereinigten Scharen der
niederdeutschen Städte unter Graf Christoph von Oldenburg, zu dem u, a, ein
kursächsisches Korps stieß, das nach der Niederlage bei Mühlberg die Waffen
nicht ablegte, auf dem Rückzüge bei Drakenburg angegriffen und so total ge¬
schlagen (am 23, Mai 1547), daß sie 6000 Mann und alles Geschütz ein¬
büßten; auch Magdeburg verharrte in trotzigem Widerstande. Aber trotz so
tapferer Bundesgenossen, trotz der Aussicht auf französische Hilfe läßt sich wohl
begreifen, daß der Landgraf die Vermittlung seines Schwiegersohnes Moritz und
des Kurfürsten Joachim des Zweiten annahm. Es wurde vereinbart, daß Philipp
vor Karl in Halle einen Fußfall thun, seine Festungen schleifen und dafür nicht
„mit Leibesstrafe oder immerwährendem Gefängnis" belegt werden sollte. Auf
Grund dessen erschien Philipp am 19. Juni vor dem Kaiser, dessen Erfolge
er durch seine Leichtgläubigkeit so sehr hatte vorbereiten helfen; er war heiter
und guter Dinge, denn er glaubte, daß alles mit dem Fußfall abgemacht sein
werde: man sah ihn lächeln, was den Kaiser dermaßen reizte, daß er auf
niederländisch sagte: „Wart, ich will dich lachen lehren." Am Abend speisten
Philipp, Moritz und Joachim auf dem Schloß beim Herzog von Alba; als sie
sich zwei Stunden nach Mitternacht zurückziehen wollten, wurde ihnen bedeutet,
daß der Landgraf als kaiserlicher Gefangener hier zu bleiben habe. Wie fuhren
da die zwei Kurfürsten auf! Der Landgraf nahm sich die Sache so z» Herzen,
daß man glaubte, „er werde verzweifeln";*) sein Schwiegersohn mußte die Nacht
bei ihm bleiben, um ihn zu trösten. Ohne allen Zweifel ist der Kaiser nach
dem strengen Wortlaut des Vertrages im Rechte gewesen; geschrieben war, daß
mir „immerwährendes Gefängnis" dem Landgrafen erspart sein sollte;**) aber
es ist doch wahr, daß der Kaiser sich den Vermittlern gegenüber so geäußert
hat, daß dieselbe« die Absicht heraushören zu dürfen glaubten, wenn der Land¬
graf sich beuge, so werde er garnicht eingekerkert werden. Freilich waren sie
zu leichtgläubig gewesen, sie hatten optimistisch in den Worten des Kaisers mehr
gefunden, als dieser hineinlegen wollte: er durfte sich auf den Vertrag berufen,
und dreimal, sagt der offizielle Bericht, gestanden die Kurfürsten am Ende zu,
daß Karl nur sein Recht geltend mache, und wenn jemand eine Schuld trage,
sie selbst es seien. Aber der Kaiser bestand auf seinem „Recht" wie Shylock
auf seinem Schein; in den Kurfürsten, vor allem in Moritz, blieb eine tiefe
Verstimmung zurück, und die öffentliche Meinung sah in dem Vorgange doch
nicht ohne allen Grund einen Beweis hispanischer Tücke: sie widmete ihr Mit-
geh'ihl den beiden Fürsten, die vor Jahresfrist noch die Häupter eines den
größten Teil Deutschlands umfassenden Bundes gewesen waren, und nun als
Gefangene mit dem kaiserlichen Hoflager überallhin mitgeschleppt wurden.
An demselben Tage, wo Landgraf Philipp, „der unruhigste Opponent," un¬
schädlich gemacht wurde, unterzeichnete Karls und Ferdinands Gesandter Welt-
whck in Konstantinopel einen Friedensvertrag auf fünf Jahre. Der Tod des
Königs Franz des Ersten von Frankreich am 31. März, die Schlacht bei Mühl¬
berg machten auf die hohe Pforte einen gewissen Eindruck: gegen eine allemal
im März zu zahlende „Pension," d. h. einen Tribut von jährlich 30000 Dukaten,
ward der Besitz des nicht türkischen Ungarns dem König Ferdinand zugestanden,
Kaiser und Papst, Frankreich und Venedig sollten in dem Frieden eingeschlossen
sein. Von dem neuen Geiserich, von Chcnreddin Barbarossa, war Karl schon
am 4. Juli 1546 durch den Tod befreit worden.
Wie König Ferdinand so auf einige Zeit in den anerkannten Besitz von
Ungarn gelangte, so bemeisterte er auch die böhmischen Rebellen; von Moritz
mit Reitern und Fußknechten unterstützt, nahm er am 8. April Prag ein,
strafte viele Anführer an Hab und Gut, Leib und Leben und entriß den böh¬
mischen Stünden ein äußerst wichtiges Recht: das der Königswahl. Der stän¬
dische Feldhauptmann, Kaspar Pflug, schmachtete bis an seinen Tod in einem
Burgverließ.
MKH
Mx<eher Gouvernanten-Elend, Überfüllung des Lehrerinnenfaches und
dergleichen ist in letzter Zeit viel geschrieben worden, und wenn
auch Versuche gemacht worden sind, hierbei angeblich vorgekommene
Übertreibungen auf ihr richtiges Maß zurückzuführen, so scheint doch
soviel festzustehen, daß diese Berufe in der That wenig verlockendes
nur einer vergleichsweise kleinen Minderzahl die Aussicht auf
was man eine „gesicherte Zukunft" nennen kann. Ebensodarbieten und
dasjenige öffnen,
scheint es richtig zu sein, daß die Anforderungen an Lehrerinnen und Gouvernanten
in einem Verhältnisse wachsen, dem sehr viele selbst unsrer „gebildeten" Mädchen
nicht zu entsprechen imstande sind, und zwar gilt dies vielleicht weniger hin¬
sichtlich des Wissens, als vielmehr hinsichtlich der Fähigkeit, sich in mannichfache
Lagen und Ansprüche zu schicken und auch unter schwierigen Umständen die per¬
sönliche Würde aufrecht zu erhalten.
Knüpfen wir bei diesem letztern Punkte an, um eine Idee darzulegen, die,
wie wir nicht zweifeln, von zahlreichen jungen Damen mit einem Schrei der
Entrüstung beantwortet werden wird, die aber doch unsrer Überzeugung gemäß
recht vielen derselben das Thor zu einer befriedigende» Lebensstellung öffnen
und jedenfalls der ganzen Stellung ein Maß von Selbständigkeit und innerer
Festigkeit verleihen würde, auf welches die Durchschnittsgouvernante gänzlich
Verzicht leisten muß.
Bekanntlich wird Gouvernanten und Gesellschaftsdamen sehr oft zugemutet,
sich ein wenig um dieses und jenes bei der Haushaltung mit zu bekümmern,
und häufig genng bildet dies ja den Stein des Anstoßes, welcher den auf ihre
Schulweisheit stolzen jungen Damen eine sonst leidliche Stellung unerträglich
macht — sei es, daß sie solchen Ansprüchen nicht nachzukommen imstande sind
oder daß sie jede Befassung mit derartigen Dingen für unter ihrer Würde halten.
Ohne Zweifel ist der Fall nicht selten, daß rücksichtslose Forderungen, sich der
Hauswirtschaft in dieser oder jener Weise anzunehmen, in noch rücksichtsloserer
Form gestellt werden, und es mag wvhlbegrttndet sein, wenn den jungen
Damen der Rat gegeben wird, bei der Übernahme einer Stellung das ganze
Gebiet dessen, was sie leisten sollen, scharf abzugrenzen. Aber betrachten wir
auch einmal die Kehrseite. Gewöhnlich denkt die junge, in ein gutes Haus,
z. B. einer Gutsbesitzerfamilie, eingetretene Gouvernante, hier sei eitel Wohlleben
und Reichtum, und es sei lediglich eine eigensinnige Grille oder Engherzigkeit, wenn
die Frau vom Hause hie und da zu sparen und u. ni. auch die Kräfte der jungen
Gouvernante bei diesen und jenen kleinen hauswirtschaftlichen Geschäften mit
zu verwerten sucht. Ach, wüßte sie, mit welchen Sorgen viele dieser Familien
zu kämpfen haben, wie die Erhaltung der Söhne auf der Universität und in
der Armee nur durch die schwersten Opfer und Einschränkungen zu ermöglichen
ist, wie in schlechten Jahren die Zahlung der Schuldzinsen drücken kann, welche
tausenderlei Anforderungen des Standes an eine solche Familie herantreten und
mit lächelndem Munde getragen werden müssen! Vielleicht glaubt man einem
solchen Bilde den guten, aber billigen Rat entgegenhalten zu dürfen, sich dann
doch lieber ohne Gouvernante zu behelfen. Aber wie soll die Familie das
machen? Töchter sind da; sie in eine standesgemäße Pension zuschicken, würde
noch weit teurer sein; die benachbarte Landschule kann unter günstigen Um¬
ständen für die erste Jugend genügen, aber weiterhin doch auch bei den be¬
scheidensten Ansprüchen nur selten; der Geistliche kann zuweilen aushelfen, aber
nicht immer, ist oft genug auch nicht der geeignete Mann; die Eltern selbst
mögen garnicht selten die nötige Fähigkeit und den besten Willen wohl haben,
aber sie haben ganz gewiß die Zeit nicht. Was bleibt übrig? Auch wird uns
aus mancher Erfahrung bestätigt werden können, daß gerade unter solchen ge¬
drückten Umständen einer Gouvernante das Haus zur Heimat wurde und sie
sich nachher aus äußerlich viel glänzenderen Verhältnissen dahin zurückwünschte.
Aber auch da, wo die Lage keine so bedrängte ist, wie hier angenommen
worden ist, kann die Familie sich dennoch durch die ehrenhaftesten Beweg¬
gründe zu einer recht ökonomischen Lebensweise veranlaßt sehen. Es sind für
einen bestimmten Zweck Kapitalien anzusammeln, oder es sollen Kapitalien ab¬
getragen werden, oder es müssen Opfer gebracht werden für verkommene Ver¬
wandte und dergleichen. Mit Leuten, welche überhaupt nichts von „Standes¬
rücksichten" hören wollen, reden wir nicht. Kurzum, auch Familien, die man
für glänzend situirt hält, können in der Lage sein, den Gouvernantengehalt für
den bloßen Unterricht nicht zahlen zu wollen noch zu können. Ist nun dabei
etwas zu verwundern oder zu tadeln, wenn die Frau vom Hause, deren Töchter
stets mit haben angreifen müssen, auch bei der Gouvernante Willigkeit und
Fähigkeit zu häuslichen Geschäften voraussetzt? Wir wiederholen, daß dies na¬
türlich übertrieben werden kann und ohne Zweifel in vielen Füllen auch über¬
trieben wird, und daß wir es in der Ordnung finden, wenn eine Gouvernante
sich von vornherein sichert und sich mit Takt innerhalb einer bestimmten Linie
zu behaupten weiß; aber keineswegs sind wir der Meinung, daß es ohne wei¬
teres als eine „unerhörte Zumutung" abgewiesen werden müsse, wenn einmal
Arbeiten dieser Art von der Gouvernante begehrt werden, und am allerwenigsten
können wir finden, daß eine Gouvernante dadurch an und für sich ihrer Würde
etwas vergiebt. Im Gegenteil, wir glauben, daß ihre Stellung eine umso
würdigere ist, je mehr sie nach allen Seiten als eine Gehilfin der Hausfrau
auftritt, wenn auch das Schwergewicht dieser Gehilfenschaft bei den Kin¬
dern ruht.
Je mehr wir diesem Gedankengange folgen, desto mehr werden wir finden,
daß er für die Hauseltern der natürliche und gegebene ist, und daß, wie die
auf denselben eingehende Gouvernante sich eine gesicherte und angenehme Stellung
schaffen kann, so diejenige, welche dies prinzipiell ablehnt, dadurch mit innerer
Notwendigkeit ihre Stellung schief und unhaltbar macht. Die Frau ist vielleicht
ihrer Zeit eine geistig angeregte, der Welt durchaus nicht fernstehende junge
Dame gewesen; sie ist gereist, sie hat vielleicht ihre Heimat in andrer Gegend.
Nun rechnet sie doch darauf, daß die Gouvernante ihr manches zu erzählen
und mitzuteilen wissen werde, und daß es allerhand mit ihr zu bespreche» giebt.
Welche tüchtige Hausfrau aber könnte den Gedanken ertragen, daß sie mit einer
jungen Dame täglich sprechen und verkehren soll, ohne von Haushaltuugssachen
mit ihr sprechen zu dürfen? Darin liegt von vornherein etwas Widernatür¬
liches, was gerade die gesündesten und bravsten Naturen, und gerade auch die¬
jenigen, welche am meisten persönliches Interesse an den in ihr Haus verschla¬
genen jungen Mädchen zu nehmen bereit sein würden, am meisten abstoßen
muß. Die Hausfrau will von ihrer Hauswirtschaft, von den Leiden und Sorgen
derselben, von möglichen Verbesserungen — ja auch von Ersparnissen, die sich
vielleicht machen ließen, sprechen können; da muß es ihr unerträglich und wider-
sinnig erscheinen, wenn das gemietete junge Mädchen sich zu „vornehm" für
solche Sachen dünkt. Dazu kommt noch etwas. Auch die jungen Töchter des
Hauses sollen doch einmal Hausfrauen werden. Gewiß sollen sie auch etwas
lernen; aber je mehr sich dies in vollem Einklange mit ihrem künftigen Haus-
frauenbernfe vollzieht, je mehr die Erziehung sich als einheitlich, nach keiner
Seite hin abgerissen, sondern überall dem praktischen Ziele zustrebend darstellt,
desto größere Freude wird eine verständige Mutter an diesem Unterrichte haben,
und desto geneigter wird sie sein, hervorragende Leistungen auf dem Gebiete
des eigentlichen Unterrichts anzuerkennen. Es mag ja hin und wieder vor¬
kommen, daß ein Mädchen größere Neigung für abstrakte Studien als für die
solide Alltagsbildung zeigt, daß sie Schauspielerin werden will und dergleichen
(wir sind, so zweifelhaft und übertrieben uns auch die jetzige Reklametrompete
für das Theater zu sein scheint, keineswegs so philiströs, dies nicht angesichts
einer wirklichen Begabung für zulässig zu halten), aber wir müssen doch sagen,
daß wir die inbrünstige Hoffnung hegen, dergleichen werde bei unserm Volke
stets nur als Ausnahmefall auftreten und als das Normale werde stets die
Ausbildung auf den Hausfrauenberuf hin anerkannt bleiben. Nun ist eines von
drei Dingen möglich: die Gouvernante ist in häuslichen Dingen ungeschickt,
unwissend, oder sie könnte zwar mithelfen, will aber nicht, oder endlich sie be¬
teiligt sich auch an dem häuslichen Leben der jungen Mädchen und weiß Schule
und Erfüllung der häuslichen Pflichten bei denselben taktvoll miteinander zu
verbinden. Es kann Wohl nicht zweifelhaft sein, welches der bessere Weg ist,
über die jungen Mädchen Einfluß und Autorität zu gewinnen und also auch
dem eigentliche» Unterricht sowie der Erziehungsthätigkeit im engern Sinne den
Pfad zu ebnen.
Man wolle uns nicht mißverstehen. Nichts liegt uns ferner, als eine
pflichttreue Gouvernante nur in einem solchen Mädchen erblicken zu wollen, die
zugleich als „Stütze der Hausfrau" figurirt. Vielleicht hilft ein Gleichnis,
welches zudem von einem ganz analogen Falle hergenommen ist, am leichtesten
zum Verständnis dessen, was wir meinen. Keinem vernünftigen Menschen wird
es einfallen, zu bestreiten, daß der Schullehrer auf dem Lande so gut wie in
der Stadt vor allem um des eigentlichen Unterrichts willen da ist; die Kinder
sollen Lesen, Schreiben und Rechnen, sie sollen Sprüche und Lieder, sie sollen
biblische Geschichte, etwas Vaterlandskunde und dergleichen bei ihm lernen und
sollen zugleich eine gewisse Summe von Erziehungseinflüssen von ihm empfangen.
Aber ebenso wird heute nur noch von wenigen bestritten werden, daß der Land¬
schullehrer, der seinen Buben nicht Pfropfen, Okuliren und Beschneiden, der den
Bauern nicht die Behandlung der Bienenstöcke und ähnliches zeigen, der nicht
überhaupt auch in den Erscheinungen des täglichen Lebens vielfach als Helfer
und Ratgeber auftreten kann, sich zu seiner Stelle mir wenig eignet, und sowohl
eines Haupthilfsmittels, sich selbst darin zufrieden und glücklich zu fühlen und
sie sich bestens einzurichten, als auch eines wesentlichen Schlüssels zu dem Herzen
seiner Kinder und der Eltern derselben entbehrt. Ganz ähnlich fassen wir die
Stellung der Gouvernanten auf. Nicht Haushälterinnen sollen sie werden,
aber sie sollen auch nicht in der Haushaltung hilflose, ihrem natürlichen Berufe
abgewendete Geschöpfe sein!
Im allgemeinen wird es schon als eines der glücklichen Loose betrachtet,
welche eine Gouvernante ziehen kann, wenn sie i» einem Hause eine bleibende
Stätte findet und schließlich zu einem „Hausmöbel" wird, welches niemand ent¬
behren möchte, wenn auch der eigentliche Zweck ihrer Anwesenheit längst auf¬
gehört hat. Dieses ist auch in der That da, wo ein gewisser Überfluß und
bei den Besitzern desselben die Fähigkeit herrscht, sich seiner mit Behaglichkeit
zu bedienen, garnicht so übel; immer doch besser, in einem solchen Hause als
allgemein geliebte und geehrte alte Gouvernante zu wohnen, als sich in einem
ärmlichen „Lehrerinncnheim" mit noch ein paar Dutzend andrer alten Jungfern
zu langweilen. Sage sich nun jeder selbst, wie verschieden die Chancen zu einer
solchen immerhin leidlichen Zukunft für zwei Mädchen sind, von denen die eine
im Hause mit angreife», will und kann, die andre nicht. Ja noch mehr: man
kann geradezu sagen, daß ein Mädchen, welches auch diese Seite ihrer Fähig¬
keiten einigermaßen zur Entwicklung brachte, eine starke Wahrscheinlichkeit hat,
eine Zukunft dieser Art sich jederzeit — wenn sie denn doch in der Lage ist,
darauf reflektiren zu wollen oder zu müssen — sichern zu können. In un¬
zähligen, auch wvhlsituirten Familien ist das Verlangen und das Bedürfnis
nach einer alten Haustaute oder einem ähnlichen Wesen überaus groß, und
eine alte Gouvernante, welche sich nützlich zu macheu gewußt hat, wird sich
unzählige male auch unentbehrlich machen können. Die Verhältnisse mögen
auch dann hie und da schwierige sein, aber mit Takt und gutem Willen läßt
sich über vieles hinwegkommen.
Und hier berühren wir einen Punkt, der uns von der allergrößten Wichtig¬
keit zu sein scheint. Zahllos und bitter sind die Klagen über die Demütigungen,
denen Gouvernanten — häufig nicht nur wohlerzogene, sondern auch guten
Familien ungehörige Mädchen — ausgesetzt sind, und gewiß manche dieser acht¬
baren Damen hat Erfahrungen gemacht, daß sie nicht ohne Grauen daran
denkt, in einem solchen Hause, wie sie deren kennen gelernt hat, das „Gnaden¬
brod" essen zu sollen. Aber das wollen wir ja nicht, sondern das gerade Gegen¬
teil; es kann und muß so sein, daß die Hausfrau bei dem bloßen Gedanken,
eine so vortreffliche Person wieder zu verlieren, vor Entsetzen ans dem Kopfe
steht. Natürlich nicht überall, aber sehr oft ist es möglich, daß ein brauch¬
bares, anstelliges Mädchen, ohne ihre Pflicht zu vernachlässigen oder ihrer
Würde etwas zu vergeben, völlig in das Getriebe einer großen Haus- und
Gutswirtschast hineinwächst, sodaß man sie um alles in der Welt nicht mehr
missen möchte; und so ziemlich der gewöhnliche Fall wird der sein, daß sich
irgendein Feld darbietet, wo unter den eigentlichen Berufsgeschäften eine nütz¬
liche Thätigkeit entfaltet werden kann. Welche Gouvernante wird nun wohl
am ehesten Demütigungen ausgesetzt sein: die, deren Abgang allgemein als
ein Verlust empfunden werden würde, oder die, welche es sich vornehm verbittet,
ihr etwas andres als den eigentlichen Beruf zuzumuten? wobei von der mora¬
lischen Kräftigung, welche ein nach alleu Seiten hin nach Erfüllung ihrer Pflicht
strebendes Mädchen hieraus für sich selbst gewinnen muß, noch ganz abgesehen
ist. Es giebt Leute, mit denen schwer umzugehen ist. Aber manchmal sind
dieselben in Wirklichkeit garnicht so schlimm, und bald hier bald da hört man
wohl einmal, daß der und der ganz gut mit dem und dem sertig geworden sei.
Es kommt gar oft nur darauf an, daß man die Leute zu nehmen versteht, daß
man eine rauhe Schale durchdringt, daß man Rücksicht nimmt auf allerhaud
Verhältnisse und Lebenserfahrungen, die einen wohl manchmal verbittern können.
Immer aber bleibt es unzweifelhaft richtig, daß der Weg anch zu solchen schwie¬
rigen Gemütern am sichersten durch ein Gebiet praktisch-nützlicher Bethätigung
führt, welches man sich selbst zu schaffen weiß.
Nun gehen wir aber noch einen Schritt weiter, und zwar einen starken,
kühnen Schritt. Muß man denn durchaus Gouvernante oder Gesellschafterin
werden? Ist „Arbeiten" wirklich eine so schlimme harte Sache, daß, um nicht
prinzipiell zu solcher herangezogen zu werden, lieber alle Kümmernisse und
Demütigungen des Gouvernantenlebens in den Kauf genommen werden? Wenn
vielleicht manche ehrbare Gouvernante auf unsre obigen Ausführungen mißmutig
antworten sollte: Jetzt soll man auch noch Wirtschaftsmamsell werden — so ant¬
worten wir fröhlich: Warum denn nicht? Werden Sie doch eine tüchtige Wirt¬
schaftsmamsell, meine Verehrteste, und Sie werden sehen, wie viele gute Familien
sich um Sie reißen, wie anständig man Sie bezahlt und behandelt, und wie
ernstlich der Herr Papa dem Söhnchen seine Galanterien, die Frau Mama den
lieben Töchterchen ihre schnippischen Mienen legen wird, wenn eine so tüchtige
und brauchbare Person über „Demütigungen" Beschwerde führt! Ja, es ist nun
einmal so, und wir wissen noch nicht einmal, ob es darum gerade so schlimm
ist! Wir fragen einfach: Welches ist der Maßstab für die größere Würdigung
einer gesellschaftlichen Stellung? Doch gewiß die Schätzung von feiten der
maßgebenden Kreise. Daß irgend jemand der Meinung sein sollte, es sei an
und für sich „nobler" oder „anständiger," keine reelle Handarbeit zu thun,
sondern nur „Erziehung" zu treiben, wollen wir nicht glauben; es kann sich
also nur darum handeln, welches das thatsächliche Urteil der in Betracht
kommenden Kreise ist. Nun mag es ja einmal so gewesen sein, daß jede in
das Lehrfach schlagende Thätigkeit verhältnismäßig hoch, jede hauswirtschaftliche
dagegen recht niedrig gewürdigt wurde. Aber, es sei uns lieb oder leid: diese
Zeit ist vorüber. Der Lehrstand ist gewiß im allgemeinen ein hochgeachteter,
wiewohl wir inzwischen vou gewisse» Überspannungen auch hier wieder zurück-
gekommen sind; der Gouvernantenstand ist aber, man gebe sich darüber keinen
Illusionen hin, keineswegs ein sonderlich geachteter, weil eben die kolossale
Überfüllung nicht nur geschäftlich (wenn dies Wort hier gestattet ist), sondern
auch gesellschaftlich eine Herabdrückung zur Folge gehabt hat; und der Stand
der Hauswirtschafterinnen, der Köchinnen, Wirtschaftsmamsells, weiterhin auch
der „Meierinnen" ?c. ist keineswegs mehr ein geringgeschätzter und ebensowenig
schlechtbezahlter. Eine Gasthofsköchin tauscht heutzutage mit keiner Jnstitnts-
vorsteherin, und manche Meierin auf einem Gute hat nicht nur eine materiell
bessere, sondern auch eine „würdigere" Stellung inne als die Gouvernante.
Sollen wir dies beklagen? Wir unsrerseits sehen wirklich nicht recht ein warum,
da doch nun einmal nicht alle Mädchen Gouvernanten und Gesellschafterinnen
werden können, und uns doch fortwährend soviel von der Notwendigkeit vor¬
geredet wird, nur passende Berufszweige für das weibliche Geschlecht zu finden.
Gut, hier habt ihr einen! Ist euch der wirklich nicht „anständig" genug?
Das, was für die ungeheure Mehrzahl unsrer Frauen den natürlichen und
notwendigen Hauptteil ihrer täglichen Beschäftigung bildet, das soll ihren ein
Unterkommen suchenden Schwestern nicht anständig genug sein?
Wir sind in vollem Ernste der Meinung, daß unzählige unsrer mittellosen
jungen Damen sich gerade so gut, sehr viele sogar weit besser zu Hauswirt¬
schafterinnen und ähnlichen Stellungen eignen würden als zu Gouvernanten,
und daß sie dabei in mehrfacher Hinsicht ebensogut, in mehrfacher aber ungleich
besser daran sein würden wie als Gouvernanten. Auch auf diesem Gebiete hat
es leider Gottes an künstlicher Bildungseintrichternng und an verlorenen
Existenzen nicht gefehlt, die hauptsächlich daran zu gründe gingen, daß sie zu
allem auf Gottes Erdboden eher geeignet waren als zu dem Gouvernanten¬
beruf, diesen aber doch als den einzig „anständigen" hatten ergreifen müssen.
Sollte man nicht Gott danken, wenn da eine neue, doch eigentlich für das
weibliche Geschlecht in hohem Maße passende Klasse von Stellungen geöffnet
wird? Man glaube nicht, diese Stellungen erschienen doch dadurch etwas
deklassirt, daß sie keine schulmäßige Ausbildung voraussetzten. Das ist jetzt
freilich noch vielfach der Fall, aber wir stehen schon mitten in der sich voll¬
ziehenden Umwandlung. Schon in den sechziger Jahren erinnern wir uns von
einer Art „Hausfrauen-Akademie" in Worms gelesen zu haben. In Baden ist
neuerdings auf Anregung der Großherzogin eine hauswirtschaftliche Bildungs¬
anstalt auf der Insel Mairan im Bodensee begründet worden, und nur der
zehnte Teil der sich anmeldenden konnte berücksichtigt werden. Im nördlichen
Deutschland bestehen längst die Meiereischulen. Wir sind überzeugt, daß sich
ähnlicher Ansätze auch sonst noch würden mitteilen lassen; jedenfalls fehlt es
an Gelegenheit zu ordentlicher Ausbildung in diesen Fächern auch heute schon
nicht, denn selbst wo die Schule noch fehlen sollte, da würde doch für eine
Volontärin mit leichter Mühe sich eine entsprechende Stelle finden lassen.
Und nun noch einen Schritt weiter — den allerkühnsten und bedenklichsten.
Das Wort: „Wenn ich den Kindern nichts andres mitzugeben habe, so will ich
ihnen wenigstens eine gute Erziehung und Bildung mitgeben" ist uns solange
eilf etwas selbstverständliches in die Ohren geflüstert und geschrien worden,
daß wir den Mut verlieren, dem Worte auf den Grund zu gehen. Fassen
wir uns, allen entsetzenvollen, abscheuatmenden Blicken zum Trotz, einmal ein
Herz und gehen wir ihm auf den Grund! Also „weil den Kindern kein Geld
hinterlassen werden kann, darum" u. s. w. Ja, aber warum kann ihnen denn
kein Geld hinterlassen werden? Weil das Geld eben in die „Bildung" gesteckt
werden muß. Der Satz ist also grundfalsch ausgedrückt; er muß heißen: „Ich
will meinen Kindern lieber eine tüchtige Bildung als ein Stück Geld hinter¬
lassen." Ist das richtig? Darauf kommts an! In einem bestimmten Sinne
nun wird gewiß kein wohlmeinender Mensch sich finden, der den Satz so, wie
zuletzt gefaßt, nicht unterschriebe. Ja, sofern es sich um die harmonische „Aus¬
bildung" des ganzen Menschen handelt, die den Endzweck jeder Erziehung bildet,
ist es gewiß besser, gebildet und arm als ungebildet und mit einem Stück Geld
ausgerüstet zu sein, schon darum, weil man mit letzterem wahrscheinlich nichts
rechtes anzufangen wüßte. Aber ist „Bildung" wirklich identisch mit einer
gewissen Menge formalen Wissens, die dem Menschen zugeführt wird? Oder ist
sie gar ohne weiteres identisch damit, daß ein Mädchen allenfalls ihr Brot als
Gouvernante verdienen kann? Ist das Mädchen, welches eine einfache Heirat
macht — das Mädchen, welches sich mit feinen Handarbeiten ihr Brot ver¬
dient — das Mädchen, welches eine künstlerische Beschäftigung in Blumen-, Por¬
zellan-, Gold- und Silberwaarenfabriken gefunden hat — das Mädchen, welches
sich zur Telegraphistin oder zum Postdienst ausbildete — das Mädchen, welches
Buchhalterin oder Komtordame werden konnte — sind alle diese in irgend¬
einem Betreff schlechter als die Gouvernante? Und ist dies ein Vorteil oder
ein Nachteil, daß gottlob ihre Ausbildung nicht soviel kostet? Da sitzt des
Pudels Kern. Ist es wirklich unerläßlich, daß in unendlich bescheidenen Ver¬
hältnissen unter den schwersten Sorgen die Mittel dafür beschafft werden müssen,
die Tochter zur Gouvernante ausbilden zu lassen? Wir bestreikn das aufs
entschiedenste und behaupten geradezu, daß unzähligen dieser armen Mädchen
ein ihnen hinterlassenes bescheidenes Stück Geld tausendmal bessere Dienste ge¬
leistet haben würde als die ganze Bildungsherrlichkeit!
Kein mit den Verhältnissen des Mittelstandes vertrauter wird es uns
abstreiten, daß tausende von Mädchen, die sich heute mühsam für ihr tägliches
Brot durchs Leben kämpfen müssen und als alte Jungfern versäuern (mögen
sie nun Gouvernanten oder Arbeiterinnen heißen), sich gut verheiraten hätten
können, wenn sie nur die bescheidene Summe von tausend Mark gehabt Hütten.
Tausend Mark — wie leicht fließen die in unzähligen kleinen und großen, direkten
und indirekten Kannten der „Ausbildung" eines junge» Mädchens zu! Und
doch, diese tausend Mark sind eine Summe, die für den entscheidendsten Schritt
im Leben des Menschen gar schwer ins Gewicht fallen kann. Der junge Mann
bedarf eines kleinen Betriebskapitals, oder einer Kaution, oder eines Einschusses,
es braucht vielleicht nur wenig zu sein, aber etwas ist nötig. Und nun denke
man sich ein Mädchen im Besitze dieser tausend Mark, die nicht mit Bildung
vollgepfropft ist und keine blaue Brille trägt, die sich nicht abquält, ihre Zög¬
linge über Lessings Laokoon oder über englische Literaturgeschichte zu unterrichten,
sondern die ein Geschäft treibt, welches sie ganz besonders tüchtig macht zur
Haushaltung, welches sie gesund und frisch und thätig erhalten hat, sodaß ein
frischer, gesunder Mensch auch wirklich seine Freude an ihr haben kann. O
ihr alten Mädchen, schlägt euch nicht das Herz, wenn ihr euch fragt, was
hätte werden können, wenn dies statt des elenden Gouvernantenloses euer Los
hätte sein mögen?
Erzieht unsre Mädchen zu künftigen Hausfrauen, laßt sie lernen, sich auf
diesem Wege nötigenfalls ihr Brot zu verdienen, und sorgt, daß sie lieber ein
Stück Geld als einen Haufen Schulweisheit haben! Gouvernanten aber mögen
in Zukunft nur diejenigen werden, die wirklich für dieses Fach eine starke,
natürliche Neigung und Begabung an den Tag legen; dann wird sich auch die
Wertschätzung dieses Standes allmählich wieder heben.
meer andern „Novitäten" gelangte kürzlich ein Epos und ein
Bändchen gesammelter Gedichte auf unsern Büchertisch, das letztere
mit „siebente," das erstere gar mit „zwanzigste Auflage" bezeichnet,
und wir enthaltnen uns nicht einmal, den Namen des Dichters,
F. W. Weber, schon vernommen zu haben! Auflage und Auflage
kann allerdings etwas sehr verschiednes sein, und wer in literarischen Verhält¬
nissen kein Neuling ist, hat gewiß schon von Gedichten gehört, die immer gleich
zu vier Auflagen auf einmal die Presse zu verlassen pflegten. Aber neunzehn
Auflagen bedeuten unter allen Umständen eine ansehnliche Menge von Exem¬
plaren, und daß diese so in der Stille abgesetzt werden konnten, damit muß
es eine eigne Bewandtnis haben. Vielleicht dieselbe, wie mit Redwitzens
„Amaranth," dem vergessenen Büchlein, von dessen Existenz die nichtkatholische
Welt erst erfuhr, als der Verfasser im andern Lager bereits ein berühmter
Mann war? Paderborn, wo die Gedichte Webers bei F. Schöningh erschienen
sind, ist allezeit eine Burg der Rechtgläubigkeit gewesen, eine deu beiden Bändchen
beigegebene Sammlung von Kritiken enthält vorwiegend „zentrale" Stimmen,
und beim Durchblättern der Gedichte fiel mancherlei in die Augen, was den
verschiedenen „Volkszeitungen," „Volksfreunden," „schwarzen Blättern" freilich
wohlthu» muß: Ausfälle auf den „Doktor von Wittenberg," Prophezeiung,
daß die Enkel wieder „in Sankt Peters Dom beten werden" und ähnliches.
Allein es fanden sich auch ganz andre Dinge, die zum Weiterlesen ermutigten,
und da zeigte sich denn, daß die ultramontanen Schrullen eben Schrullen, daß
der Dichter im übrigen ein ganzer Mann und der Mann ein ganzer Dichter
ist, der ganz und gar nicht verdient, von den Kaplansblcittern als ihr Partei¬
poet ausposaunt und kompromittirt zu werden. Zur Beruhigung Mißtrauischer
zitiren wir gleich einige Aussprüche:
Für Leben und Sterben. Nun schaffe nur leise, leise
Ein jeder in reiner Weise
In seinem Kreise früh und spät:
Die Arbeit ist das beste Gebet.
Or», ot l^dort. Wenn du dich thatlos auf die Knie warfst,
Verlangst du, daß dein Heil vom Himmel regne?
Die Hand ans Werk! Daß Gott dein Schaffen segne,
Das ist's, was du demütig bitten darfst.
Mit Ultramontanen von solchem Schlage ist ja wohl auszukommen — oder
wäre, wollen wir sagen! Überhaupt werden wir nur ausnahmsweise an den
konfessionellen Standpunkt des Dichters gemahnt. Und wenn das epische Ge¬
dicht „Dreizehnlinden" vom September 1873 an jährlich drei bis vier Auflagen
erlebt hat, so ist dieser außerordentliche Erfolg zwar zum Teil wohl auf Rech¬
nung der Landsmannschaft zu bringen, zum größten Teil aber gewiß eine
Wirkung der echten poetischen Kraft und der gesunden Empfindung, welche sich
darin offenbaren. Wir freuen uns, daß solche Eigenschaften noch solche Wirkung
ausüben.
Weber ist ein Westfale und erinnert häufig an zwei andre, unter sich
wieder sehr verschiedne Kinder der roten Erde, an Ferdinand Freiligrath und
Annette von Droste. Die hartköpfige Art, welche die Westfalen in ihrer Er¬
zählung von der Erschaffung ihres Urahnen selbst behaglich verspotten, die Lust
gegen den Strom zu schwimmen und die Ellenbogen zu gebrauchen, und auch
die Vorliebe sür Eigentümlichkeiten im Versbau hat er mit dem (übrigens nur
um drei Jahre) älteren Landsmanne gemein, der sich aus der in exotischen
Naturbildern schwelgenden Romantik kopfüber in den politischen Radikalismus
stürzte, um endlich durch die wirkliche Erhebung Deutschlands selbst erhoben
und geläutert zu werden; und die tiefe Religiosität, welche Weber (nach der
Versicherung einer „freisinnigen" Zeitung) „von der großen Mehrheit des deut¬
schen Volkes trennt," äußert sich manchmal in ähnlicher Weise wie bei der
genannten Dichterin, nur, möchten wir sagen, männlich. Gleich das schöne
Gedicht „Am Ambos," welches wie eine Selbstcharakteristik und ein Glaubens¬
bekenntnis an die Spitze der Sammlung gestellt ist, berührt wie ein Ton aus
Freiligraths bester Zeit. Z. B.:
Da hub ich an, mit Mut und Fleiß
Zu ernsten Schlägen auszuholen;
Den spröden Stahl bezwang mein Schweiß,
Und mancher Tropfen, herb und heiß,
Fiel zischend in der Esse Kohlen.Und ob im Lenz die Schwalbe, sang,
Ob draußen Ros' und Lilie sprossen,
Ob fern vom stillen Waldcshcmg
Der Herdenglocken Läuten klang:
Ich stand am Feuer unverdrossen.
Und Verwandtes ließe sich in Menge herausheben, namentlich aus den land¬
schaftlichen Stimmungsbildern, zu welchen der Dichter ebensoviel Begabung als
Neigung hat. Auch aus der andern Tonart möge hier eine Probe stehen:
Du Mensch, du Menschenkind, ich bin dir hold,
Sei deine Tugend auch nicht echt wie Gold,
Nicht rein wie Sonnenlicht in Himmelsbläue;
Sei sie auch oft das kranke Kind der Reue,
Der Not, der Schwäche und der Eigensucht:
Ein wilder Schößling trägt nur wilde Frucht.
Du bist so gut, als dir der Staub gestattet,
Von dem du kommst. Wenn deine Schwing' ermattet,
Es ist der Staub, der in den Staub dich drängt,
So lang er lastend dir am Fuße hängt.
Doch hob're Ziele wird dein Flug erreichen,
Folgst du dem Königssohn und seinem Ruf.
Drum sei getrost, dein Gott, der schwach dich schuf,
Er wird dir grad'gar sein als deinesgleichen.
Die Gedichte sind in drei Bücher geordnet: Lyrisches, viel klangvolles und
sinniges, willkommene Gaben für die Komponisten enthaltend und manches Lied,
das den Volkston aufs glücklichste trifft; Sprüche und Epigramme, süß und
bitter, meistens kernig; Balladen und Verwandtes, in den erstern hcinfig eine
bedeutende Gestaltungskraft und fast durchweg meisterliche Handhabung der Form.
Die Dichtung, mit welcher Weber zuerst hervorgetreten ist, „Dreizehnlinden,"
vermögen wir nicht ganz so hoch zu stellen wie die meisten seiner Rezensenten,
von denen einige kaum noch irgendeinen Poeten der neuern Zeit neben ihm
gelten lassen möchten. Das gewählte Versmaß, Strophen von vier Zeilen vier-
füßiger Trochäen, bringt etwas eintöniges mit sich, die Fabel ist von äußerster
Einfachheit, und die handelnden Personen haben zumeist mir bekannte Roman-
Physiognomien, Der letzte Widerstand der heidnischen Sachsen gegen das ihnen
aufgezwungene Christentum und gegen fränkisches Regiment und fränkische Sitte
wird in der Geschichte eines jungen Sachse» geschildert, den die Ränke eines
fränkischen Beamten von der Geliebten trennen und in die Verbannung treiben,
und der als Verwundeter von Mönchen gepflegt und bekehrt wird. Begreiflicher¬
weise ist mancherlei latent Polemisches hineingeslochten, sehr ergötzlich, wo es
aus dem Schnabel des Uhus kommt, welcher am meisten „ideale Schwärmerei"
haßt und Sätze wie die folgenden verkündet:
Was wir thun, das ist das Wahre,
Und ihr sollt uns nicht bezichten;
Will's mit der Moral nicht stimmen,
Müßt ihr die Moral berichten (!).Vaterland? Mir gilt es wenig,
Wo ich jage, wo ich Schmause;
Jagd, nur Jagd und gute Beute,
Und ein Uhu ist zu Hause.
In andern Fällen aber kehrt der Dichter, wie er sich wohl sagen mußte, die
Waffe gegen sich selbst und seine Freunde — worauf wir hier nicht näher
eingehen wollen. Der Hauptreiz des Gedichtes liegt in der Lokalfarbe, der
glücklichen Naturbeobachtung, den Bildern von Wald und Haide, in welchen
noch alter Glaube und alte Sage leben.
Scheint es uns, wie gesagt, auch nicht angemessen, sofort diesen Dichter
neben Goethe und Schiller zu stellen, den Besten der Gegenwart muß er un¬
bedenklich beigezählt werden, und das ist, denken wir, Ehre genug, da schon
die Zahl der Guten leider eine sehr beschränkte ist.
is man beim Kurhause angelangt war, stand die Wärterin
auf der Schwelle und wollte Paul den Knaben abnehmen; aber
Guido klammerte isles noch fester an den Hals seines neuen
Freundes und erhob Widerspruch.
Laß mich, laß mich! sagte er. Kein andrer als Onkel Paul
soll mich aufs Zimmer tragen. Nicht wahr, das willst du?
Ja, mein Junge.
Hörst du's? Hörst du's auch, Mutter, daß er es will!
Nun bat auch Rina, daß Paul mit hinauf in ihr Zimmer kommen möge.
Gleichzeitig wurde die Wärterin nach dem Doktor abgesandt; man wußte, daß
er sich im Kurhause befinde, da es gerade die Stunde seiner Krankenbesuche war.
Paul überschritt Rinas Schwelle in einer gewissen Aufregung. Er hielt
sich in diesem Augenblicke sür den glücklichsten aller Menschen.
Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern; das eine war für Rina und
ihren Knaben, das andre für die Wärterin bestimmt. Jenes war das größere
von beiden und stieß unmittelbar an das Zimmer, welches Devannis bewohnte.
Rina und Adele machten sich mit dem Kleinen zu schaffen und kleideten
ihn mit jener Bedächtigkeit und Behutsamkeit aus, deren nur Mütter fähig sind;
Paul nahm die Gelegenheit wahr, mit einem Blick voll lebhaftesten Interesses
das Zimmer zu mustern. Es war ein Zimmer wie alle andern im Kurhause,
mit denselben Möbeln, denselben Fenstergardinen, denselben Bettvorhängen und
Bettdecken, ganz ebenso beschaffen wie das benachbarte von Paul am Abend vorher
in Augenschein genommene Zimmer seines Freundes. Aber hier schaltete und
waltete eine liebenswürdige Frau. Auch das Unbedeutendste, die Falte einer
Portiere, eine Blume in einem mit frischem Wasser gefüllten Krystallgefäße,
in welchem sich das Licht brach, ein Arbeitskästchen mit einer angefangenen
Stickerei, eine darauf gesteckte Nähnadel und der daneben liegende Fingerhut,
ein offenes Buch auf einem Tischchen, eine Mantille, ein Taschentuch, ein über
einen Sessel geworfener Schleier, ein Handschuh — alles schien ihm höchst
anmutige Dinge zu erzählen und ihn in das innerste geheimnisvollste Leben
Ninas zu versetzen.
Neben ihrem Bette stand Guidos Bettchen, ebenso sauber mit Weißen Vor¬
hängen versehen wie das ihre. Zwischen beiden Betten hing an der Wand ein
Bild der Madonna, wie es sich in den übrigen Zimmern des Hauses nicht vor¬
fand; es war Ninas Eigentum. Das Bild schien mit seinen liebevollen Zügen
über der Ruhe dieser beiden reinen Geschöpfe zu wachen, welche sich unter seinen
heiligen Schutz begeben hatten. Vor dem Bilde stand ein Sessel, auf welchem
ein Rosenkranz und ein Andachtsbuch lag; beides schien erst vor kurzem in
Gebrauch gewesen zu sein. Paul dachte sich, daß dieser Sessel wohl der frommen
Mutter zum Betstuhl diene, und daß sie von dieser Stelle aus recht oft ihr
inbrünstiges Gebet zu der Trösterin der Bedrängten erheben müsse. Es kamen
ihm die Worte seines Schwagers in den Sinn, welche dieser am Abend vorher
geäußert hatte: daß eine Frau ganz Glaube, ganz Liebe sein solle, und daß
eine Uebelsein weder Liebe noch Sympathie verdiene. Der Skeptizismus Pauls
kam in dieser ganzen Umgebung in arge Bedrängnis.
Der sofort herbeigeeilte Doktor untersuchte den Fuß des Kleinen, legte
einen Verband an und versicherte, daß Guido schon nach wenigen Tagen wieder
so flink würde laufen können wie vorher.
Paul eilte jetzt in das benachbarte Zimmer seines Freundes. Josef schlief
noch, lang auf seinem Bette ausgestreckt; er hatte die Arme herabsinken lassen
und die Fäuste zusammengeballt. Moschillo, welcher nicht gewagt hatte, mit
seinem Herrn in Ninas Zimmer einzutreten, hatte sofort ausgewittert, daß
nebenan ein alter, mit größerer Vertraulichkeit zu behandelnder Freund wohne,
hatte mit seiner Schnauze die Thür, welche nur angelehnt war, aufgestoßen
und war ins Zimmer eingetreten. Als er gesehen, daß Josef noch in tiefem
Schlummer lag, hatte er Gewissensskrupel bekommen, ihn aufzuwecken, hatte sich
ruhig zu Füßen des Bettes gelegt und wartete nun auf den Augenblick, wo
Josef die Augen öffnen würde, um ihm durch sein Bellen einen freundlichen
guten Morgen zu wünschen.
Paul war nicht so rücksichtsvoll. Heda! rief er und schüttelte seinen Freund
am Arme. Du schläfst noch? Fanlpelz, weißt du nicht, daß es schon neun
Uhr ist?
Devannis wachte auf und erlangte sofort nach alter Gewohnheit die Herr¬
schaft über sich und seine Gedanken.
Nein, das weiß ich wirklich nicht! antwortete er, indem er sich im Bette
aufrichtete. Solange ich schlafe, Pflege ich nicht nach der Uhr zu sehen! El,
bist du auch da. Moschillo? Guten Morgen! Wie geht's?
Der Hund fühlte sich durch diese Frage veranlaßt, seine ganze Liebe in
ein Geheul auszuschütten, daß die Fenster bebten.
Alle Wetter! Was für ein tiefer Baß! rief Josef lachend.
Willst du wohl still sein! Leg' dich! herrschte Paul den Hund an.
El, laß ihn doch! Du hast gesagt, daß es neun Uhr sei; zu dieser Stunde
kann er, ohne zudringlich zu sein, schon das Echo der Korridore erwecken.
Hier nebenan wohnt Frau Nina.
Meinetwegen! Glaubst du etwa, daß ein solches Wunder von Frau so
affektirt sei, daß ihr von dem loyalen Bellen dieses treuherzigen Hundes die
Nerven weh thäten?
Ihr Kleiner muß das Bett hüten.
Krank? fragte Josef ganz besorgt.
Er hat sich den Fuß verrenkt. Es ist eine lange Geschichte. Wir gingen
zusammen spazieren. Das heißt, wir trafen uns bei der alten Magdalene. Ich
hatte Adelen begleitet. Ach, mein Bester, wenn dn sie dort gesehen Hüttest, die
Frau Nina, wie schön sie war! Als wir zurückgingen, fehlte nicht viel, so
wäre Guido in einen Abgrund gestürzt. Und Moschillo hat ihn gerettet. Auch
muß ich dir noch sagen, kurz vorher — wir saßen so vergnügt beisammen und
schwatzten, und wie reizend war sie! — kam die Battoni vorbei. Den Blick
hättest du sehen sollen! Was für ein Gesicht sie zog! Soll ich dir was sagen?
Seit heute Morgen fühle ich, daß ich diese Frau hasse. Oh! Ich habe leine
Furcht mehr vor ihren Schmeicheleien und Kunststücken. Ich bin noch mehr
gepanzert als gestern. Auf dem Rückwege habe ich Guido auf dem Arme bis
hierher getragen. Der arme kleine Schelm! Wie hübsch er ist! Es giebt Augen¬
blicke, da macht er ein Gesicht, daß er ganz und gar seiner Mutter ähnlich
sieht. Ich habe ihn bis in ihr Zimmer getragen. Es ist das Zimmer hier
nebenan; die Thür an deinem Bettende, wenn sie offen stünde, würde hinein¬
führen. Du hättest sehen müssen, wie sie um ihren Knaben sich zu schaffen
machte. Welch liebevolle Sorge! Welche Anmut in allem und jedem!
Josef sprang ans dem Bette und unterbrach den Freund ziemlich barsch:
Paul, seit den zwei Jahren oder noch länger, daß ich dich kenne, habe ich
dich nicht so gesehen, wie du heute bist. Du hast ja einen neuen Menschen
angezogen. Ich kann dir noch nicht sagen, ob mir dieser neue Menfch gefällt
oder nicht, denn ich habe bisher noch nicht die Ehre, seine genaue Bekanntschaft
zu machen; aber ich werde es dir bei der ersten Gelegenheit sagen, und zwar
ohne alle Umschweife. Indessen scheint mir, daß dir das Gehirn wirbelt, und
da ich mich nie darauf verstanden habe, Rätsel zu lösen, so bitte ich dich,
während ich mich anhose, etwas Ordnung in deine Rede zu bringen und mir
mit der Regelmäßigkeit eines Klassikers das romantische Abenteuer des heutigen
Morgens zu erzählen.
Als Paul alles nochmals getreulich berichtet hatte, sagte Josef: Weißt du
wohl, was mir aus dieser ganzen Geschichte jetzt klar wird? Du bist im Be¬
griffe, dich ernstlich in diese Frau zu verlieben.
Und wenn dem so wäre? fragte Paul ärgerlich.
Wenn dem so wäre? Bei meiner Treu, du würdest je nachdem entweder
der glücklichste oder der unglücklichste Mensch auf der Welt sein.
An demselben Tage hatte Paul mit seiner Schwester wieder eine jener
vertrauliche» Unterredungen, wie sie früher in glücklicher Jugendzeit oft zwischen
ihnen stattgefunden hatten. Damals hatte es sich um die Hoffnungen der Zu¬
kunft gehandelt, heute bildete» die Täuschungen der Vergangenheit den Gegen¬
stand des Gesprächs.
Du hast auf meiner Stirn die Spuren von Leiden bemerkt, sagte Paul;
ja, ich habe fortwährend gelitten, ich bin mit mir und der ganzen Welt unzu¬
frieden geworden. Nichts hat den Vorstellungen entsprochen, die ich mir von
der Wirklichkeit gemacht hatte. Ich träumte von Ruhm, meine Phantasie ver¬
stieg sich zu hohem Fluge, ach, mir schlug alles fehl! Vielleicht wäre mir
manches gelungen, wenn ich, statt in einem alltäglichen und jammervollen Dunst¬
kreise zu atmen, in gesünderer Lust gelebt hätte. Aber ich mochte anklopfen,
wo ich wollte, jiberall wurde mir ein Nein! entgegengerufen. Mußte ich da
nicht von selbst zu dem Bewußtsein meiner Mittelmäßigkeit gelangen? Lord
Byron hat gesagt, das letzte Wort des menschlichen Lebens sei der Schmerz;
mir schien es vielmehr der Ekel zu sein. Ich fragte mich: Wozu nützest du
aus der Welt? Vielleicht besteht die wahre Lebensklugheit nur darin, daß man
ebenso unwissend bleibt wie die Proletarier, die sich weder um soziale, noch
um philosophische oder theologische Fragen kümmern. Soviel weiß ich, ich habe
meinen eigentlichen Lebensberuf verfehlt; jetzt, nachdem ich dreißig Jahre alt
geworden bin, bin ich nicht mehr imstande, einen andern zu ergreifen. Ich muß
mich also in mein Schicksal ergeben.
Adele gab sich alle Mühe, dem Bruder Trost zuzusprechen: Das kommt
nur davon, daß du den Weg zum wahren Glück verlassen und einem trügerischen
Schattenbilde nachgejagt hast. Leider fehlen mir die Worte, um das, was ich
darüber denke, aussprechen zu können. Aber ich will dir meine Meinung sagen,
so gut ich kann. Sieh, alles hängt von dem Ziele ab, welches sich der Mensch
gesteckt hat. Wehe ihm, wenn er dies Ziel nur in der Befriedigung seiner
eignen Wünsche findet, mögen diese Wünsche an und für sich noch so edel sein.
Dann führt sogar das Streben nach Ruhm zum Egoismus. Nein, unser
Lebensberuf, unser höchstes Glück soll darin bestehen, daß wir die uns verliehenen
Gaben zum Wohle andrer verwenden. Das ist die Aufgabe jedes bedeutenden
Menschen, und du hast alle Anlage dazu, ein solcher zu werden.
Ich verstehe dich recht gut, sagte Paul, aber der Weg, den du mir zeigst,
ist ein Opferpfad; weißt du, welchem Ungeheuer man dort zuerst begegnet? Der
Undankbarkeit.
Und doch ist es und bleibt es der wahre Weg zum Glücke. Das Ver¬
langen nach Dankbarkeit ist auch weiter nichts als Egoismus. Wer seine
Pflicht erfüllt, soll sich mit seiner eignen Zufriedenheit begnügen. Vielleicht
wäre es für dich besser gewesen, wenn du dich auf den engern Wirkungskreis
des Familienvaters beschränkt hättest; du fühltest dich aber von je zu etwas
höherm berufen. Glaube mir, die Täuschungen, die dir soviel Leid gebracht
haben, rühren nur davon her, daß es dir an der wahren Richtschnur deiner
Handlungen gefehlt hat. Dn hast immer nur die Verherrlichung deines eignen
Ichs im Ange gehabt.
Paul blieb ein Weilchen in Gedanken versunken, dann sagte er: Du hast
Recht. Gestern hätte ich vielleicht diesen Grund uicht eingesehen; heute bin ich
eher dazu geneigt.
Adelen that es leid, etwa zu harte Worte gesagt zu haben; sie ergriff
daher die Hand des Bruders und fuhr mit sanfter Stimme fort: Du sagtest
vorhin, du wärest zu alt geworden, um ein andres Lebensziel zu verfolgen.
Das kann ich nicht zugeben. Das reifere Lebensalter, in welches du eingetreten
bist, ist gerade die beste Zeit, um große und edle Vorsätze zu fassen. Du bist
aus einem Extrem ins andre geraten, deine Geringschätzung gegen dich selbst
kommt daher, daß du niemanden auf der Welt geliebt hast.
Das ist wahr! Ich liebte niemanden, dich ausgenommen, aber du wärest
zu weit von mir entfernt. Ich setzte meinen Stolz darein, die ganze Welt zu
verachten und zu Haffen, weil mich selbst niemand liebte. Erst als ich Josef
Devannis näher kennen lernte, fühlte ich zu ihm eine Liebe, wie sie mir bis
dahin nur mein Moschillv wegen seiner treuen Anhänglichkeit an mich eingeflößt
hatte, und an dem Tage, wo ich mir dieses Gefühls bewußt wurde, war ich
uicht wenig darüber verwundert.
Und von diesem Tage an bist du ein besserer Mensch geworden. Deine
vollständige Heilung aber wird erst der wahren und echten Liebe gelingen. Nicht
durch Thätigkeit allein, sondern auch durch Liebe erfüllt der Mensch seine
Lebensaufgabe, sie ist eine soziale, eine religiöse Pflicht. Mag jemand noch so
unglücklich, noch so bekümmert sein, in der Liebe findet er den besten Trost.
Aber man muß es verstehen, einen der Liebe würdigen Gegenstand zu finden.
Ja> hier steckt der Knoten! Giebt es denn wirklich für mich eine solche
Liebe, auf welche du mich hinweisest? Ich habe leider schon zu schlimme Er¬
fahrungen gemacht. Als Jüngling bin ich in die Netze einer herzlosen Kokette
geraten, als Mann der Spielball einer Buhlerin geworden. In Amerika über¬
zeugte ich mich, daß das Gefühl, welches man mit dem edeln Namen Liebe
belegt, nichts weiter als ein schnöder Handel sei, der zur Befriedigung der
Selbstsucht und des Eigennutzes dient, und daß die angebliche Sittenstrenge
nur in religiösen Bedenken, gesellschaftlichen Vorurteilen oder Kälte des „Blutes
ihren Grund habe. Und die Männer waren nicht besser, als die Weiber. Überall,
wohin ich kam, gab es eine arme Gegia, welche ein ehrloser Wüstling aus dem
Hause ihrer Mutter entführt, verraten und schmählich verlassen hatte. Ich fühlte
mich oft veranlaßt, das Wort des Brutus: Tugend, du bist nur ein Name!
auszusprechen, und unterließ es nur, weil ich deiner gedachte. So! Nun siehst
du, in welcher Stimmung ich zu dir zurückgekehrt bin, meine arme Adele, die
du mich so gern zu einem liebevollen, gläubigen Menschen machen wolltest.
Bitte, schweig! Ich weiß, was du sagen willst; weiß, daß das Unrecht auf
meiner Seite ist. Ich hatte falsches und wahres Licht vor den Augen; statt
meinen Blick auf die Sterne des Himmels zu richten, bin ich Irrlichtern nach¬
gelaufen und habe mich in den Sumpf locken lassen. Kemist du hier auf der
Welt ein Wesen, zu welchem ich wie zu einem Sterne emporblicken könnte?
Ja, ich kenne es.
Nenne es nicht, ich bitte dich. Der Stern, den du mir zeigen willst, steht
vielleicht zu hoch für mich, und ich bin noch immer zu stolz, als daß ich mich
ohne weiteres für besiegt erklären könnte. Laß mich gewähren, meine gute
Adele. Ich habe seit gestern mit einer innern Aufregung zu kämpfen; ich fühle,
daß ich der körperlichen Abspannungen und der Öde in meiner Seele müde
geworden bin. Ist dies der Einfluß der friedlichen Luft, die mich in deinem
Hause umgiebt? Wird er ebenso wie früher mein Seelenleiden lindern?
Vielleicht mich ganz und gar heilen? Ich weiß es noch nicht, ich will erst
darüber nachdenken. Es wird das beste sein, daß ich mich den Eindrücken
meiner Seele überlasse und abwarte, wohin sie mich sichren. Wenn ich am
Ziele angelangt sein werde, so wird es mir klar werden, ob ich dies Ziel segnen
oder verwünschen soll.
(Fortsetzung folgt.)
Man darf sagen, daß das
neue Leben, welches seit dem Heidelberger Tage, dem 23. März 1334, in den
nativnalliberalen Kreisen erwacht ist und sich vom Süden aus unwiderstehlich auch
über den Norden ausgebreitet hat, seine Entstehung gutenteils der festen Haltung
verdankt, welche die „deutsche Partei" Schwabens in allen Reichsfragen seit 1371
beobachtet hat. Was von dein Generalstab der 42 in Heidelberg entworfen, was
in Neustadt a. d. H. vor fünftausend Wählern aus nah und fern erläutert, was
in Berlin von dem gesamtdeutschen Parteitag von 480 norddeutschen und 70—80
süddeutschen Delegirten — darunter 50 Baiern, 15 Badenern und 4 Würten-
bergern — gutgeheißen worden ist, das hat die deutsche Partei Würtembergs von
jeher verfochten. Nur in der Frage der Reichseisenbahnen, die unleugbar an die
Grundlage der Existenz der Einzelstaaten rührt, wenn wir auch nicht behaupten
wollen, daß sie dieselbe notwendig zerstören müßte — nur in dieser hat die Partei
sich gespalten und in ihrer Mehrheit eine ablehnende Haltung angenommen; in der
Frage des Tabaksmonopols hat sie tapfer Stand gehalten, und die ihr angehörigen
Abgeordneten zum Reichstage haben mit einer begreiflichen Ausnahme alle für eine
Steuer gestimmt, die nach der hierzulande feststehenden Ansicht ebenso notwendig
als nützlich ist und die früher oder später doch kommen wird. Auch die Sozial-
und Wirtschaftsreform des Kanzlers hat bei uns von Anfang an volles Verständnis
gefunden und ist nach Kräften unterstützt worden. Durch diese ganze Haltung hat
die deutsche Partei dazu beigetragen, daß ein fester Stamm jener nationalliberalen
Partei erhalten blieb, welcher von 1366 bis 1873 Hand in Hand mit Bismarck ging
und die unzerstörbaren Grundlagen für das neue Reich in den Boden senken half.
Bei uns hat jene schwächliche Haltung nicht Platz gegriffen, die sich im Norden der
Nationcilliberalcn bemächtigte. Wir sind Männer nostri.juris geblieben und haben
die Impertinenz, mit welcher Herr Eugen Richter sich anmaßte, den Vollgewichts¬
grad liberaler Denkart nach seinem souveränen Ermessen zu bestimmen und das
Planet zu erteilen oder zu versagen, mit kühler Verachtung abgewiesen. Wir haben
dafür gesorgt, daß der Name „natioualliberal" seinen guten Klang nicht ganz verlor
und daß sein Sinn von denen ausgelegt wurde, die ihn tragen wollten, nicht von
unsern Totengräbern zur Linken, welchen es nur darum zu thun war, unsre Wahl¬
kreise möglichst bald mit Haut und Haar an sich zu bringen und uns zu beerben,
ehe wir testirt hatten. Vor allen hat der „Schwäbische Merkur" unter der Leitung
Otto Elbens und Wilhelm Längs tapfer die Fahne der altnationalliberalen Partei
aufrecht gehalten, die sich gut bewährt hatte, und in Baiern hat die „Süddeutsche
Presse" ebenso mutig und intelligent den analoge» Standpunkt der Volk und Schauß
verföchte». Wir waren lange allem, und nicht bloß von fortschrittlicher Seite wurde
uns das Recht, nationalliberal zu heißen, abgestritten und gesagt, wir seien eigentlich
konservativ — womit beiläufig gesagt weiter nichts bewiesen wäre. Endlich aber
besannen sich unsre Gesinnungsgenossen im übrigen Süden doch auch darauf, daß es
mit dem Sichschmiegen und Sichducken gegenüber dem fortschrittlichen Dresseur nicht
weitergehe, daß man ihm die Zähne weisen müsse, wenn man nicht total abdanken
wolle, und daß man angesichts der Vereinigung der halben und der ganzen Fort¬
schrittler sich zu einer Politik des Bis hierher und nicht weiter! aufraffen müsse.
Der Ruf: Hie Waldung! der in Heidelberg erscholl, und den dort sieben Mitglieder
der deutschen Partei mit erhebe» halfen, mußte in unsern alten Kaisergauen einen
donnernden Wiederhall finden. Wir hatten seither, seit im Jahre 1879 v. Treitschke,
Hölder, Volk und Schauß aus der nationalliberalen Partei hinausgedrängt wurden,
mißtrauisch zur Seite gestanden, und unsre Abgeordneten wählten ihre Sitze bei der
deutschen Reichspartei, deren Haltung ihnen und uns mehr zusagen mußte als die
des nationalliberalen Rumpfes. Erst als eben die Herren, welche 1879 andre
hinausgetrieben hatten, selber die Thürklinke zur Hand nahmen und „secedirten,"
erwachte wieder Zutrauen zum alten Banner, welches uns, welches nicht wir ver¬
lassen hatten, und seit Heidelberg und Neustadt fühle» wir uns wieder eng und
fest zusammengeschlossen mit den Brüdern im Süden, seit dem Berliner Tage vom
13. Mai auch wieder mit denen im Norden. Dieses Gefühl der Solidarität ist
nicht zu unterschätzen; auch der Einzelne kämpft tapferer, wenn er eine dichte Schar
von Waffenbrüdern neben sich weiß, und die Solidarität beruht ja auf der großen
Idee, für die Sozialreform des großen, begeistert verehrten nationalen Staatsmannes
einzutreten, für den bei uns die Herzen voll deutscher Treue und deutscher Dank¬
barkeit schlagen. Der Kampf wird vo» uns bei den Neuwahlen mit Energie geführt
werden, und soviele Volksparteimänner überhaupt Berlin wiedersehen — prinzipielle
Gegner der Sozialreform werden auch sie nicht sein; der einzige „Deutschsreisinnige,"
den wir haben, Schwarz von Edinger, wird diesmal voraussichtlich entweder Sö
souwötti'E on 8ö äewöttrs. Wir Ivünschen nur, daß die Klarheit, mit welcher das
Gros unsrer Partei die Konsequenzen der Lage zieht, auch ini Norden nachgeahmt
werde. Da wir ein Aktionsprogramm, eben das von Heidelberg, aufgestellt haben,
so wollen wir es auch durchführen; wer es billigt, und das thun die Parteien rechts
von uus, den unterstützen wir und von dem erwarten wir Unterstützung; wer es
bekämpft, den bekämpfen auch wir mit aller Macht, aus Gründen patriotischer Logik;
dieser Feind aber steht links von uus: es sind die deutschfreisinnigen Demokraten,
Je weniger von ihnen wiedergewählt werden, desto besser für das Heidelberger
Programm, desto besser für das Vaterland.
Der
in der Pfingstwoche dieses Sommers zu Dresden versammelt gewesene deutsche An¬
waltstag hat sich unter andern, auch mit der Frage beschäftigt: „Wie ist die Berufung
gegen die Urteile der Strafkammer in erster Instanz zu gestalten?" Referenten waren
die Herren Rechtsanwalt Härte aus Ansbach und Rechtsanwalt und Privatdozent
Jakobi aus Berlin. Nach lebhaften Debatten wurden zum größten Teil einstimmig,
zum kleinern Teil mit überwiegender Majorität folgende Sätze angenommen:
1. Die Berufung ist ein den jetzigen Kulturverhältnissen entsprechendes, zur
Zeit unentbehrliches Mittel der Rechtsverteidigung sowie der Kontrole nud Be¬
richtigung erstinstcmzlicher Entscheidungen im Strafverfahren. 2. Beschwerden über
strafgerichtliche Irrtümer, namentlich über ungerechte und zu harte Verurteilungen
sind (vorbehaltlich der Revisions- oder Nichtigkeitsinstanz) soviel als möglich im
Wege des ordentlichen Rechtsmittels der Berufung zu erledigen. Ihre Verschiebung
auf den Gnadenweg widerspricht dem Rechtsgefühle, abgesehen davon, daß dieser
Weg regelmäßig erfolglos ist und die Verurteilung nicht beseitigt. Ihre Verweisung
auf den Weg der Wiederaufnahme des rechtskräftig geschlossenen Verfahrens ist
ungenügend und schädlich, dieser letztere Rechtsbchelf vielmehr nur zur Aushilfe
neben dem ordentlichen Rechtsmittel der Berufung zweckmäßig zu verwenden.
3. Soll die Berufnngsinstanz ihren Zweck erfüllen und segensreich wirken, so ist
sie derartig einzurichten, daß der thatsächliche Gebrauch des Rechtsmittels so wenig
als möglich erschwert, das Prüfungsrccht des Berufuugsrichters so wenig als
möglich eingeengt wird. Die Aufrechthaltung der erstinstanzlichen Urteile darf
nicht durch Erschwerung ihrer Anfechtung, sondern muß dadurch angestrebt werden,
daß die Ermittlung der materiellen Wahrheit, überzeugender Schuldbeweis, als
Voraussetzung der Strafanwendung schon in erster Instanz sichergestellt, rechtzeitige
und ausreichende Verteidigung als im Staatsinteresse liegend anerkannt, demgemäß
behandelt und thatsächlich gewährt wird. 4. Die Berufung gehört vor Strafsenate
des Oberlandcsgcrichts, nicht vor bei spor den'j den Landgerichten zu bildende Bern-
fungskammern. 5. Die Bildung auswärtiger Strafsenate für den Bezirk eines oder
mehrerer Landgerichte ist nur ausnahmsweise und nur als Notbehelf zulässig.
6. Die Verurteilung durch geteiltes Votum genügt nicht den Erfordernissen eines
überzeugenden Schuldbeweises. 7. Unter der Voraussetzung, daß die Schuldfrage
zum Nachteile des Angeklagten nur mit Einstimmigkeit entschieden werden kann,
genügt Besetzung der Strafkammern und der Strafsenate mit drei bez. fünf Mit¬
gliedern. 8. Berufung der Staatsanwaltschaft zum Nachteile eines freigesprochenen
Angeklagten ist unzulässig. Dazu ein Eventualcmtrag: 3ki. Berufung der Staats¬
anwaltschaft zum Nachteile eines freigesprochenen Angeklagten ist nur im Falle der
Beibringung neuer Beweismittel oder Thatsachen zulässig. 9. In das Sitzungs-
prvtokoll müssen auch die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmung aufgenommen
Werden. 10. Ist in erster Instanz einem ans Verbesserung oder Ergänzung des
Protokolls gerichteten Antrage, welcher die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Aus¬
sagen eines Zeugen oder Sachverständigen betrifft, nicht stattgegeben worden, so
ist auf Antrag der Zeuge oder Sachverständige von Amtswegen vor das Berufungs¬
gericht zu laden bei Vermeidung der Nichtigkeit. 11. Die Geltendmachung solcher
zur Entlastung des Verurteilten geeigneten neuen Thatsachen und Beweise, welche
erst nach Ablauf der Berufungsfrist bekannt werden, und damit die Erlangung der
Wiederaufnahme des Verfahrens (Z 399, Abs. 5 der Strafprozeßordnung) wird
zur Zeit durch die Vorschriften des Z 404 der Strafprozeßordnung übermäßig
erschwert.
Weiter wurde noch die Aufstellung und Veröffentlichung einer Haftstatistik für
das deutsche Reich und die Anrechnung der Untersuchungshaft auf die zu ver¬
büßende Strafe nach dem Grundsätze verlangt, daß die Verlängerung der Unter¬
suchungshaft, insoweit sie lediglich durch den Gebrauch der gesetzlichen Verteidigungs¬
rechte (Entlassungsanträge, Rechtsmittel und dergleichen) herbeigeführt wird, als eine
unverschuldete zu erachten ist.
Der deutsche Anwaltstag hat also, wie aus diesen Beschlüssen hervorgeht, sich
nicht damit begnügt, die Einführung der Berufung zu verlangen, sondern er hat
auch in ziemlich bestimmter Form ausgesprochen, wie er sich das neue Rechts¬
mittel gegen die Urteile der Strafkammern denkt. Und hierbei hat er meines
Erachtens weit über das Ziel hinausgeschossen. Man mag über die Wiedereinführung
der Berufung in unsrer Strafprozeßordnung denken, wie man will, jedenfalls müssen
auch die Gegner derselben zugestehen, daß viele und gewichtige Gründe für sie
sprechen. Dagegen kann nicht genug davor gewarnt werden, das neue Rechtsmittel
gleichzeitig auch zu einem neuen Hindernis der jetzt schon genugsam erschwerten
Strafverfolgung zu machen. Und das wird es sein, wenn die Vorschläge des
Anwaltstages durchgehen. Freilich enthält der dritte der oben mitgeteilten Sätze
den Gedanken, daß die Wiedereinführung der Berufung, wie sie sich der Auwaltstcig
denkt, auch zur Ermittlung der materiellen Wahrheit in Strafsachen beitragen soll.
Indessen dieser Gedanke ist sehr versteckt und kauu unter den übrigen Sätzen leicht
übersehen werden. Ein Blick auf diese übrigen Sätze genügt, um zu zeigen, daß
der Anwaltstag, bewußt oder unbewußt, die Ermittlung der materiellen Wahrheit
im Strafverfahren uur insoweit für notwendig hält, als dadurch dem Angeklagten
genützt wird. Will der Staatsanwalt gegen ein freisprechendes Erkenntnis, das den
Thatsachen nicht entspricht, mit der materiellen Wahrheit also nicht im Einklang
steht, die Berufung einlegen und damit der Wahrheit im Interesse der von ihm
vertretenen bürgerlichen Rechtsordnung zum Siege verhelfen, dann, sagt der An¬
waltstag, ist dies unzulässig (vergleiche den achten Satz). In gleicher Weise be¬
denklich ist das Verlangen, wonach nur ein einstimmiges Votum des Gerichts
zu einer Verurteilung führen soll. Es wird dadurch etwas neues in unsern
Strafprozeß eingeführt, denn abgesehen meines Wissens von Braunschweig, wo
Einstimmigkeit der Geschwornen über die Schuldfrage zur Verurteilung gefordert
wurde, gilt und hat von jeher gegolten der Grundsatz, daß eine mehr oder weniger
große Mehrheit der Richter bei Bejahung der Schuldfrage zur Verurteilung
genügt. Freilich würde der Umstand, daß die Sache nen ist, an sich kein Grund
sein, sie abzulehnen. Allein das Verlangen der Einstimmigkeit geht auch aus
materiellen Gründen viel zu weit. Jeder Praktiker weiß, aus welchen oft garnicht
in der Sache liegenden Gründen einzelne Richter geneigt sind, Freisprechung ein¬
treten zu lassen. Ich bin weit entfernt, hieraus deu betreffenden Richtern einen
Vorwurf zu machen. Auch die Richter sind Menschen, die nicht selten Nebendinge,
Formsache» und dergleichen, für wichtiger halten, als die Feststellung der materiellen
Wahrheit. Solche Richter wurden nun in der Lage sein, entgegen der Ansicht
eines ganzen Kollegs, das sein Amt ebenso gewissenhaft nimmt wie der Opponent,
die Freisprechung eines in den Augen aller Welt überführten Angeklagten herbei¬
zuführen. Mit der Beseitigung der Zulässigkeit eines geteilten Votums und der
Einführung des Erfordernisses der Einstimmigkeit bei Bejahung der Schuldfrage
würden allerdings die Freisprechungen bedeutend zunehmen; wie aber dabei die
materielle Wahrheit wegkäme, das ist eine andre Frage, deren Beantwortung nicht
schwer fällt.
Endlich glaube ich mich noch gegen den Beschluß aussprechen zu müssen, nach
welchem eine Anrechnung der Untersuchungshaft auf die zu verbüßende Strafe nach
dem Grundsatze stattfinden soll, daß die Verlängerung der Untersuchungshaft, soweit
sie lediglich durch deu Gebrauch der gesetzlichen Verteidignngsrechtc herbeigeführt
wird, als eine unverschuldete zu erachten ist. Eine Anrechnung der Untersuchungshaft
findet meines Wissens bei den deutschen Gerichten, falls sie nicht frivol veranlaßt
und verlängert worden ist, fast ohne Ausnahme statt. Diese Anrechnung aber obli¬
gatorisch zu machen, wie es der Auwaltstag verlangt, geht wiederum viel zu weit.
Man nehme nur den ans der Praxis gegriffenen Fall, daß ein zu Zuchthaus
Verurteilter lediglich um der Vorteile der Untersuchungshaft willen und um die
Strafzeit im Zuchthaus abzukürzen, Rechtsmittel verfolgt. Soll einem solchen
Menschen, der ebenfalls nnr gesetzliche Verteidigungsmittel gebraucht, auch die
Untersuchungshaft angerechnet werden, oder geschieht es ihm nicht vielmehr ganz
recht, wenn er seinen Zweck nicht nur uicht erreicht, sondern auch der Nachteile seines
frivolen Beginnens teilhaftig wird? Ich glaube, man solle es ruhig, wie seither,
den Gerichten überlassen, wenn sie von ihrer Befugnis, die Untersuchungshaft an-
zurechnen, Gebrauch machen wollen. Ein Mißbrauch ist bis jetzt nicht nach¬
gewiesen worden.
Doch genug. Ich habe keine erschöpfende Erörterung über die Frage der
Wiedereinführung der Berufung und auch keine eingehende Besprechung der Be¬
schlüsse des deutschen Anwaltstages geben wollen. Ich wollte nur kurz auf die
meines Erachtens bedenklichsten Punkte, sowie darauf hinweisen, daß der deutsche
Anwaltstag bei der Behandlung der Frage offenbar vergessen hat, daß neben dem
Interesse des Angeklagten auch ein eminentes öffentliches Interesse an einer kräftigen
und wirkungsvollen Strafverfolgung besteht.
Diesen von Ästhetikern wie von Kunsthistorikern oft
breit und umständlich behandelten Gegensatz legt Karl Woermann in dem soeben
erschienenen ersten Hefte des dritten Bandes seiner Geschichte der Malerei
(Leipzig, E. A. Seemann) in folgenden kurzen und treffenden Sätzen dar:
„Bezeichnet die Kunstgeschichte als »Stil« die besondre Gestaltung, welche die
Welt der Formen durch einen großen, aus seiner eigensten Überzeugung heraus
schaffenden Meister in vollkommenem Einklange mit dem dargestellten Inhalte er¬
fährt, so versteht sie unter »Manier« die Formensprache, die ein Künstler ohne
sonderliche Rücksicht auf ihren Inhalt, ohne innere Notwendigkeit und daher auch
ohne überzeugende Kraft einem andern Meister oder manchmal auch seinen: eignen
bessern Selbst entlehnt. Dieselben Modcmotive werden äußerlich, ohne Rücksicht
auf den geistigen Vorgang, dem sie ursprünglich entstammten, wiederholt. Daher
die raffaclischen Schönheitslinien ohne eignes, angebornes Schönheitsgefühl; daher
die michelangelesker Posen und Muskclanschwellungen ohne Anlaß zu den körper¬
lichen und seelischen Bewegungsmotiven, denen sie entsprachen; daher das Spiel
mit dem Helldunkel Correggios ohne dessen zauberduftige Geistesstimmnng. Überall
fehlt die Frische; überall merken wir die Absicht; überall werden wir an längst
bekannte ältere Kunstwerke erinnert; und trotz der warmen Färbung, die wenigstens
einige der Manieriften erstreben, ist ihr Gesamteindruck kalt und langweilig; trotz
ihrer sorgfältigen Kompositivnsstudicn erscheint ihre Anordnung schablonenhaft und
konventionell; trotz ihres bewußten Strebens nach Ausdruck haftet ihnen eine er¬
schreckende geistige Leere an. Sie verfügen über eine bedeutende malerische Technik
und über eine große Leichtigkeit der Hand; aber ihren historischen Kompositionen
läßt sich in der Regel doch alles andre eher nachrühmen als malerischer Reiz.
Nur wo sie gezwungen sind, sich einfach an die Natur zu halten, wie im Bildnis¬
fache, tritt ihre bedeutende Auffassungsgabe und ihre glänzende Technik unverfälscht
zutage; und gerade ihre Bildnisse zeigen uns, daß manche von ihnen von Haus
aus begabter sind als viele der frühern, aufstrebenden Meister, denen sie in unsrer
Wertschätzung nur deshalb nachstehen, weil der Fluch des Epigonentums, der auf
ihnen lastete, ihnen keine selbständige, freiere Regung gestattete."
Diese Darlegung bildet einen Teil der einleitenden Betrachtungen, mit denen
der Verfasser den dritten Band seines Werkes, „Die Malerei der neueren Zeit,"
eröffnet und die auf die Schilderung der Nachahmer und Manieriften, wofür — mit
Ausnahme der großen venetianischen Meister (Tintoretto und Paolo Veronese) —
selbst die Italiener aus der Mitte und dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts
gelten müssen, vorbereiten. Die vorliegende erste Lieferung dieses Bandes be¬
handelt zunächst die italienische, darauf die spanische, endlich die niederländische
Malerei des angegebenen Zeitraumes. Von dem vierten Abschnitt: „Die Malerei
der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in den übrigen Ländern" enthält
das Heft noch den Anfang.
Auch diese Lieferung zeigt wieder die erstaunliche Bilderkenntnis, die sich
der Verfasser auf seinen Reisen nach allen größern Museen der Erde erworben
hat, in Verbindung mit einer umfassenden Literaturkenntnis. Sein Buch ist freilich,
wie man's nehmen will, entweder weniger oder mehr als eine Geschichte der Malerei;
weniger, insofern die großen, entscheidenden Strömungen in der Kunst und ihr Zu¬
sammenhang mit dein übrigen Geistesleben der Völker natürlich nicht fehlen, aber doch
vor der Masse der kleinen und kleinsten Ncbenläufe fast dem Auge entschwinde«;
mehr, insofern die Darstellung fast eure Art von Repertorium der Geschichte der
Malerei bildet, Künstlerlexikou und Kunsttvpvgraphie zugleich. Eigentliche Leser
wird das Buch daher auch weniger finden, als dankbare Benutzer; es ist kein
Lesebuch, es ist ein Nachschlagewerk. Daß der Verfasser es selbst mehr in diesem
Sinne aufgefaßt wissen will, zeigen die zahllosen Randtitel des Textes, die dem
Buche typographisch nicht gerade zur Zierde gereichen, die Benutzung aber in dem
angedeuteten Sinne sicherlich erleichtern werden. Die Verlagshandlung hat auch
dieses Heft wieder mit einer großen Anzahl charakteristischer Illustrationen geschmückt,
und zwar nicht bloß mit Proben ihres reichen, durch die „Kuusthistorischeu Bilder-
bogcu" weltbekannt gewordnen Vorrates, sondern zum guten Teil auch durch neue,
besonders für das Werk angefertigte Holzschnitte.